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Eugen Drewermann

Das Johannes-Evangelium
Bilder einer neuenWelt

Erster Teil: Joh 1-10

Patmos
Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort.» – 1. Teil . . . . . . . . . . . . . . . 13


Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort.» – 2. Teil . . . . . . . . . . . . . . . 30
Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» – 3. Teil:
Johannes der Täufer oder: «Der nach mir kommt,
ist mir zuvor.» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Joh 1,19-34: Das Bekenntnis des Täufers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Joh 1,35-51: Von der Nachfolge oder: Zwei Arten von Berufung . . . 84
Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 1. Teil:
Die Verwandlung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 2. Teil:
Das Wunder der Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
Joh 2,13-25: Die Tempelreinigung oder:
Von Götzendienst und Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Joh 3,1-13: Das Nachtgespräch mit Nikodemus oder:
Der Wind weht, wo er will . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Joh 3,14-21: «der habe unendliches Leben» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
Joh 3,22-36: Aus dem Himmel oder aus der Erde? . . . . . . . . . . . . . . 171
Joh 4,1-42: Die Frau am Jakobsbrunnen
oder: Stufen der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Joh 4,43-54: Geh, dein Sohn lebt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
Joh 5,1-18: Die Heilung des Gelähmten oder: Der Sabbat Gottes . . . 218
Joh 5,19-30: Auferstehung zum Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Joh 5,31-47: Vertrautet ihr Mose, vertrautet ihr mir . . . . . . . . . . . . . 249
Joh 6,1-21: Brotvermehrung und Seewandel oder:
Großzügiges Geben und furchtloses Gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Joh 6,22-51: Ich bin das Brot des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
Joh 6,52-71: Worte unendlichen Lebens hast du . . . . . . . . . . . . . . . . 292
Joh 7,1-31: Die rechte Zeit, der rechte Ort –
in Verborgenheit und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
Joh 7,32-53a: Der unerreichbare Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
Joh 7,53b; 8,11: Wer unter euch ohne Sünde ist … . . . . . . . . . . . . . . 336
Joh 8,12-20: Ich bin das Licht der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

5
Joh 8,21-47: … und die Unverborgenheit Gottes
wird euch freimachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
Joh 8,48-59: Wenn jemand mein Wort hält,
wird er den Tod nicht schauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388
Joh 9,1-17: Die Heilung eines Blindgeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Joh 9,18-41: … laßt ihn für sich selber reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Joh 10,1-21: Der gute Hirt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
Joh 10,22-42: Das Zeugnis der Werke und
das Zeugnis des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473

Bildbeschreibungen und Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491

Register der Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494

Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

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Vorwort

«Alles ist gut und reine Güte, wenn ich gut bin, und alles ist gut und reine
Güte, wenn keine Angst das Böse ruft – nur still, nur still, nur das Böse
nicht gerufen, nur nicht ins Böse kommen mit der Angst, die allein das
Böse bringt.» Diese Worte des Bildhauers Ernst Barlach (Plastische Mei-
sterwerke, mit einer Einf. v. Anita Beloubek-Hammer, Ratzeburg 1996,
100) geben in einfachen Worten eine zentrale Aussage der Botschaft wie-
der, die das Johannes-Evangelium mit der Person des Jesus aus Nazaret
verbindet. Wie kein anderes biblisches Zeugnis (außer der Geheimen Of-
fenbarung, die bezeichnenderweise von alters her mit dem Verfasser des
Vierten Evangeliums in Verbindung gebracht wird) arbeitet es mit der
Sprache absoluter Gegensätze: von Teufel und Gott, von Lüge und Wahr-
heit, von Dunkelheit und Licht, von Blindheit und Sehen, von Tod und
Leben, von Gericht und Glauben, von den «Juden» und dem «Christus».
Doch spätestens die letztgenannte Gegenüberstellung macht erschrek-
kend deutlich, wie gefährlich die johanneischen Antithesen sein können,
wenn man sie dogmatisch verabsolutiert. An jeder Stelle wird es nötig sein,
den theologischen Antijudaismus der «christlichen» Kirchen, der gerade
im Johannes-Evangelium seine vorzügliche Grundlage finden konnte, aus
seinen historischen Voraussetzungen zu lösen und als Teil eines typologi-
schen Gegensatzes zweier konträrer Verstehensweisen von «Religion» zu
interpretieren: Wem «Gott» immer schon für eine feststehende Größe gilt –
aus der Tradition überkommen, von den lehramtlichen Autoritäten mora-
lisch und rechtlich festgelegt, in den Formen des Gruppendenkens institu-
tionell verankert –, der wird den Aufbruch und Aufstand des Jesus aus
Nazaret immer von neuem als einen widergöttlichen Aufruhr bekämpfen
müssen, – selbst den «Brüdern» Jesu kann im Johannes-Evangelium dieses
Mißverständnis widerfahren (Joh 7,3-5); doch dann begreift man sofort die
Entscheidungsfrage, auf die das Johannes-Evangelium hinauswill: kann
man denn leben mit einem solchen «Gott» der doktrinären Außenlenkung,
der vorgeschriebenen Verfestigung in Redensarten und Riten, der verord-
neten Seelenumdüsterung und Herzensverfinsterung?
Übersetzen wir die Rede des Johannes von den «Juden» daher am besten
mit dem Wort «Gottesbesitzer», und fragen wir uns, wie unsere eigene
Frömmigkeitshaltung von den Elementen dogmatischer Erstarrung und
magischer Veräußerlichung geprägt ist. Wie von selber wird dann die Per-
spektive des Johannes-Evangeliums verständlich, in welcher die ganze

7
Wirklichkeit der menschlichen Existenz sich vor ein unausweichliches Ent-
weder-Oder gestellt sieht. Wie versteht man «Abraham» (Joh 8,37-
40.56.58)? Wie versteht man «Mose» (5,46; 7,22-23; 9,28-29)? Wie betet
man Gott an in «Geist» und in «Unverborgenheit» (Joh 4,23.24)? Nicht
um das «Judentum» geht es, es geht im Namen des Gottes Israels um uns
als Menschen: woraus leben wir – von «unten» oder von «oben»? Von der
«Welt» her oder von «Gott»? Für diese unbedingte Alternative existentiel-
ler Entschiedenheit steht die Person Jesu im Johannes-Evangelium.
Die Zeit und Kultur, in die es hineinspricht, erfaßt im Hellenismus des 1.
nachchristlichen Jahrhunderts zum ersten Mal ein Problem, das fortan für
alle Fragen des Menschseins grundlegend geblieben ist: Man kann von der
«gnostischen» Infragestellung des antiken Weltbildes sprechen, wenn man
den Begriff «gnostisch» nicht in religionshistorischer Absicht überdehnt
und alle möglichen (kosmologischen und synkretistischen) Systeme im
Johannes-Evangelium repräsentiert finden möchte. Antworten will das
Johannes-Evangelium auf Menschen, denen die Welt, der «Kosmos» der
Griechen, zutiefst fremd und unheimlich geworden ist – eine Stätte der
Heimatlosigkeit und der Leere, ein Ort der Angst und des Todes, ein Raum
des Unlebens und der Verweigerung. Die Frage hat in der Neuzeit gerade-
wegs dramatisch an Aktualität gewonnen: Indem die modernen Wissen-
schaften uns immer genauer in die Wirkungsweise der Natur einführen,
wird zugleich die Kluft um so größer, die den Menschen von der ihn umge-
benden «Welt» unterscheidet. Niemals dürfen wir Menschen, wollen wir
diesen Namen verdienen, mit den Lebewesen an unserer Seite in der Art
verfahren, wie die Natur es jederzeit tut. Wir bedürfen eines menschlichen
Gegenübers, um unsere Menschlichkeit zu finden, und eben ein solches ab-
solutes Gegenüber unserer Menschlichkeit wollte der Jesus des Johannes-
Evangeliums uns vermitteln durch die Nähe seiner Person, die geformt ist
von dem Vertrauen zu seinem «Vater».
Während ich diese Zeilen schreibe, in den Mittagsstunden des 19. März
2003, wird es wohl nur noch wenig dauern, und die Welt befindet sich in
einem neuen Krieg, nach dem Willen von US-Präsident George W. Bush in
einem Präventivkrieg gegen «das Böse». Auch im Sinne einer moralisieren-
den Schwarz-Weiß-Malerei läßt sich das Johannes-Evangelium offenbar
mißverstehen und sogar zum Kriegführen ideologisch mißbrauchen. In
Wahrheit geht es bei der johanneischen Auseinandersetzung auf Leben und
Tod zwischen Gott und dem «Teufel» (Joh 8,42-44) indessen nicht um
einen ethischen Dualismus, es geht um den Antagonismus der Überwin-
dung eben jenes Abgrunds an Angst, der dazu gehört, ein Mensch, ein In-

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dividuum zu sein: Überwindet man die Angst des einen vor dem anderen
durch immer schrecklichere Formen der Angstverbreitung, durch die Stei-
gerung der wechselseitigen Bedrohung mit stets noch «effizienteren» Gerä-
ten zum Ausrotten von immer mehr Menschen in immer kürzerer Zeit, mit
der Flucht in die Pose der Macht beziehungsweise in die Angleichung an
die Masse, so bleibt man in den Zwangsmechanismen gebunden, deren
Summe Johannes als Welt bezeichnet – als den immer gleichen Kreislauf
von Lüge, Blindheit und Tod. Oder es gelingt, das Meer der Angst in
einem Vertrauen zu überschreiten, das sich «am anderen Ufer» festmacht;
was dann geschieht, ist jenes «von vorn geboren werden» (Joh 3,3), wel-
ches das ganze Dasein von Gott her, «aus Geist», sich vollziehen läßt. «Un-
endliches Leben» (Joh 5,24), das keinen «Tod» mehr kennt (Joh 8,51), ist
das Ergebnis eines solchen «neuen Seins». In dieser «Krisis» verläuft unser
Leben, – so oder so.
Johannes übernimmt nicht die Vorstellung der ersten drei Evangelien
eines zeitlichen Nacheinanders, demzufolge «diese Welt(zeit)» unter der
Herrschaft des Bösen abgelöst werde durch das Kommen des Messias und
die Ankunft des Reiches Gottes. Da Jesus «gekommen» ist, lagern beide
Wirklichkeiten: die Gottesnähe wie die Gottesferne, in unserem Herzen in-
einander, und es ist «nur» die Frage, ob und wie die Botschaft des Mannes
aus Nazaret bei uns «ankommt».
Eine Hauptschwierigkeit bei der Auslegung des Johannes-Evangeliums
ergibt sich aus der vermeintlichen «Geläufigkeit» der Begriffe und Vorstel-
lungen, die es verwendet. Stelle um Stelle wird es notwendig sein, die im
kirchlichen Dogma verfestigten Worte in Erfahrungen rückzuübersetzen,
die insbesondere die schroffen Entgegensetzungen der johanneischen
«Christologie» verständlich machen können. In Barlachschem Sinne gilt
es dabei, immer neu die Problematik der Angst im Untergrund und Hinter-
grund des «Bösen» im menschlichen Leben zu thematisieren und ihr die
Haltung eines jesuanischen Vertrauens gegenüberzustellen. Statt die jo-
hanneische Sprache zu metaphysizieren und darin eine Art Selbstdarstel-
lung des «Wesens» Gottes zu erkennen, kommt es vielmehr darauf an, die
paradigmatisch aufgeführten Konflikte vor allem der «Offenbarungs-
reden» des Johannes-Evangeliums psychologisch durchzuarbeiten. Sowohl
die «Worte» wie die «Taten» des johanneischen Jesus verweisen dabei sym-
bolisch aufeinander und lesen sich als eine Deutung der menschlichen Exi-
stenz, wie sie im Sinne des Vierten Evangeliums erst mit dem Auftreten des
Mannes aus Nazaret möglich wurde. Die Bedeutung der Person Jesu wird
bei einem solchen Versuch einer symbolisch-psychologischen Auslegung

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keinesfalls «relativiert», sie gewinnt allererst ihre Verbindlichkeit und Gül-
tigkeit; sie hört auf, eine «fremde» Rede zu sein, und spricht statt dessen
mit Macht in unser eigenes Leben und Erleben hinein. Deutlich wird, daß
und warum die ganze «Welt» sich ändern muß, um zu einem wirklichen
«Leben» zu gelangen: all unsere Gewohnheiten, die Normen unserer soge-
nannten Normalität, die angeblichen Unvermeidbarkeiten der «Realität»
heben sich auf wie eine Nebelbank an einem Frühlingsmorgen, wenn die
ersten Strahlen der Sonne das Dunkel durchdringen. «Notwendig» haben
das Johannes-Evangelium einzig die Menschen, denen unter einem hohen
Maß an Leid und Sehnsucht nach einer ganz anderen «Welt» die scheinba-
ren Selbstverständlichkeiten der Geschichte der Natur wie der Menschen
unerträglich geworden sind.
Der Auftrag zu einer solchen Übersetzungsarbeit ergibt sich aus der
Eigenart des Johannes-Evangeliums selbst. Es ist, noch weit stärker als die
ersten drei Evangelien, in wörtlichem Sinne «Verkündigung», nicht ein hi-
storischer Bericht über das Auftreten des Mannes aus Nazaret. Statt die
Worte aufzugreifen, die in der mündlichen (und zum Teil auch schon
schriftlich fixierten) Jesus-Überlieferung tradiert wurden, bietet es eine
durch und durch eigenständige Deutung des Jesus-Geschehens, die es frei-
lich mit dem Gestus authentischer Jesus-Rede zu autorisieren sucht. Johan-
nes möchte, daß wir den Mann aus Nazaret über den wachsenden Abstand
der Zeit hinweg, den die Geschichte zwischen das Damals und Heute legt,
unmittelbar in unsere Existenz hineinsprechen hören. Eine solche «homile-
tische» Auslegung der Bedeutung der Person, der Worte und der Taten Jesu
verlangt selber nach einer «Übersetzung», die predigtartige Züge trägt.
Gerade das soll in dem vorliegenden 1. Bd. eines Kommentars zum Jo-
hannes-Evangelium versucht werden. Nicht um einen Kommentar zum ge-
genwärtigen Stand der historisch-kritischen Erforschung des Vierten Evan-
geliums handelt es sich, angestrebt ist vielmehr eine meditative Vermittlung
der johanneischen Texte als eines dringend benötigten Medikaments zur
Linderung der Not unseres Daseins. Die sprachliche Seite dieser «Überset-
zungs»-Arbeit, die Wortwahl und der Satzbau in der Wiedergabe des jo-
hanneischen Griechisch im Deutschen, ist ausführlich begründet in «Das
Johannes-Evangelium in der Übersetzung von Eugen Drewermann, Zürich
– Düsseldorf 1997, 5–33» und ist im Anhang des 2. Bandes noch einmal
abgedruckt. Die Hinweise und Anspielungen auf bestimmte Zusammen-
hänge und Sachverhalte in Literatur, Kultur und Geschichte sind in den
entsprechenden Anmerkungen belegt; darüber hinaus allerdings verbietet
die Stilform der Predigt eine wissenschaftliche Diskussion der oft unter-

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schiedlichen exegetisch möglichen Auffassungen und Hypothesen bei der
Auslegung einzelner Stellen. Die Geschichte der Forschung spiegelt sich in
den berühmten Kommentaren von Rudolf Bultmann (Das Evangelium des
Johannes, Göttingen 1941) und Rudolf Schnackenburg (Das Johannes-
evangelium, 4 Teile, Freiburg 1979–1984); den neuesten Stand der For-
schung vor allem um die Worte Jesu im Vierten Evangelium bietet Michael
Theobald (Herrenworte im Johannes-Evangelium, Freiburg 2002) … Die
Diktion des ursprünglich freien Predigtvortrags ist bei der Drucklegung
nur geringfügig verändert worden; die Auslegung jeder einzelnen Perikope
sollte als in sich ruhende Meditation verständlich sein; gewisse Wiederho-
lungen mußten daher in Kauf genommen werden.
Was hier versucht wird, zeigt am besten wohl das Bild von Rembrandt:
Der Auferstandene Christus von 1661 (Leinwand, oval; 78,5 x 63 cm; Alte
Pinakothek, München; in: Rembrandt. Das Städel, Frankfurt/M 1. Fe-
bruar–11. Mai 2003, Nr. 38, S. 198–199). Dargestellt ist nicht der «wieder-
kehrende» Christus der ersten drei Evangelien, wiedergegeben ist der Chri-
stus, der sich im gesamten Johannes-Evangelium ausspricht: eine
Lichtgestalt, die den Tod überwunden hat; sie schaut den Betrachter «mit
halbgeschlossenen Augen» an, «die voller Verständnis und Mitleid sind.
Über seinem Kopf ist kaum sichtbar ein Nimbus angedeutet. Sein voller
Bart und das lange, gelockte Haar deuten auf Weisheit hin.» Die Wunden
der Kreuzigung sind auf dem entblößten Leib verschwunden. «Auf seinen
Schultern liegt ein Mantel in der weißen Farbe der Unschuld, der an der
linken Seite herabfällt und rechts in Falten gerafft ist … Das Licht fällt auf
die entblößte Brust und auf einen Teil des Gesichts mit dem durchdringend
schauenden rechten Auge, das einen zentralen Platz im Gemälde einzuneh-
men scheint. Doch auch das verschattete linke Auge strahlt eine gewisse
Kraft aus.» Es ist gerade dieser Kontrast von Hell und Dunkel, der dem
johanneischen Bild des «Auferstandenen» so nahe kommt. Noch ist der
Rembrandtsche Christus in zwielichtiges Halbdunkel gehüllt; doch alles
wartet darauf, daß das von dem «erhöhten Herrn» ausgehende Licht an
der Person des Betrachters sich reflektiere und die Gestalt des «Auferstan-
denen» in reine Helligkeit hülle …
Besonderer Dank bei der Fertigstellung dieses Buches ist Frau Gisela
Kranz zu sagen, die mit großer Sorgfalt und erheblicher Mühe diese im
Goerdeler-Gymnasium zu Paderborn Mitte der neunziger Jahre in «Wort-
gottesdiensten» frei gehaltenen «Predigten» vom Band abgeschrieben hat,
sowie Frau Beate Wienand, die ebenso zuverlässig wie engagiert die Fas-
sung für die Diskette erstellte. Paderborn, 19. März 2003

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Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort.» – 1. Teil

1Am Anfang steht worthafter Geist.

Denn worthafter Geist geht nach Gott.


Gott selber ist worthafter Geist (17,5; Gen 1,1).
2Von Anfang an geht er nach Gott.
3Alles entsteht nur durch ihn,

und ohne ihn entsteht gar nichts.


Was immer entsteht,
4ist Leben durch ihn.

Leben – das ist der Menschen Licht (8,12).


5Das Licht scheint im Dunkeln,

doch das Dunkel begreift’s nicht (3,19).


6Da ward ein Mensch, ein Gottgesandter, geheißen Johannes

(Mt 3,1; Mk 1,4).


7Der kam zum Zeugnis,

Zeugnis zu geben vom Licht.


Alle sollten darauf vertrauen – um seinetwillen.
8Er selber war nicht das Licht,

er war, das Licht zu bezeugen.


9Worthafter Geist, der ist das Licht,

das einzig wahrhaftige,


das jeden Menschen erleuchtet,
indem es eingeht in diese Welt.
10Er ist in der Welt,

durch ihn gibt es die Welt,


doch die Welt kann ihn nimmer erkennen.
11In das, was er selber ist, kommt er,

doch obwohl sie er selbst sind,


begreifen sie’s nicht.
12Doch die ihn ergreifen,

denen schenkt er die Freiheit,


Gottes Kinder zu werden,
denen, die glauben an seine Art,
13die nicht als Erzeugnis des Blutandrangs sind, –

die «Natur» hat’s gewollt, –


der Mann hat’s gewollt, –
sondern von Gott her (3,5.6).
14Der worthafte Geist ward selber «Natur»,

er schlug sein Zelt auf, – in uns,


daß wir seine Herrlichkeit schauten (Ex 33,18; Jes 60,1;
2 Jes 60,1; 2 Petr 1,16.17),
herrlich, weil einzig stammend vom Vater,
erfüllt mit Gnade, mit der Unverborgenheit Gottes.
15Johannes bezeugt ihn nur.

13
Laut und deutlich hat er gesagt:
Der ist’s ja, von dem ich gesprochen:
Der nach mir kommt, ist mir zuvor;
denn er ist der Ursprung, nicht ich.
16Ja: aus seiner Fülle empfangen wir alle

Gnade um Gnade (3,34).


17Denn: das Gesetz ward durch Mose gegeben;

die Gnade, die Unverborgenheit Gottes ward durch Jesus


Christus (Röm 10,4).
18Gott hat niemand jemals gesehen (6,46).

Der einzig Gottgeborene,


dessen Sein hingeht zum Erbarmen des Vaters,
der ist die Deutung (Mt 11,27).

Im Aufbau des Johannes-Evangeliums sind die Worte des sogenannten Pro-


logs eine Art vorgreifender Verdichtung, ein deutendes Schicksalslied über
das Leben des Mannes aus Nazaret und ineins damit der gesamten
Menschheit, der gesamten «Welt». Darin verarbeitet ist ein älterer gnosti-
scher Hymnus, der indessen auf Christus bezogen ist. Doch was heißt da
«gnostisch», was «hymnisch»? In den ersten zweihundert Jahren unserer
Zeitrechnung war das, was wir heute, mit sehr offenen Rändern, nicht klar
definierbar, als Gnosis bezeichnen, eine weltanschauliche Haltung, ähnlich
in manchem dem, was die Romantik am Anfang des 19. Jhs. ausmachte
oder den Existentialismus in der Mitte des 20. Jhs. Die Romantik wußte,
sehr im Gegensatz zur Philosophie der Aufklärung und ihres Fortschritts-
glaubens, um die Gebrochenheit des menschlichen Lebens, das nie etwas
anderes zu bieten vermag, als das Ganze im Fragment zu spiegeln, – stets
unvollendet, immer ausständig nach dem Unendlichen, das im Gefühl sich
ahnen, doch niemals in Begriffen sich ausformulieren läßt. Dieses Unendli-
che ist die Lebensbedingung dafür, daß ein Mensch wirklich existiert, und
doch gerade deshalb scheitert die menschliche Existenz immer wieder am
Gestade des Ozeans, der wie eine Brücke zu jener anderen Welt sich vor
uns breitet, zu der wir auf Erden niemals gelangen. Einzig die Liebe ver-
leiht die Energie, uns träumen zu machen und manchmal sogar uns zu trö-
sten; aber auch sie schenkt auf Erden nur ein flüchtiges Glück; auch sie
macht uns leiden an ihrer Unerfüllbarkeit. So die Romantik.
Ähnlich der Existentialismus im 20. Jh. Die Menschen leben, meinte als
einer seiner Hauptvertreter Albert Camus1, in einer absurden Welt, und
zwar nicht, weil die Zeitläufte gerade so sind, sondern wesentlich. Wer be-
greift, was für eine unglaubliche Kostbarkeit ein Mensch ist, und dann den
kalten Zynismus der Natur betrachtet, die ungerührt über ihn hinweg-

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schreitet, der kann nur revoltieren gegen diese blutige Mathematik einer
sich selbst organisierenden Inhumanität; ein solcher bestätigt sich einzig in
seinem Protest einen Rest an verbleibender Menschlichkeit. Die «Welt» ist
unter diesen Umständen nicht zu verstehen, es gilt, ihr entgegenzustehen,
ihr standzuhalten. Jedes gesprochene Wort, meinte Martin Heidegger als
der Wegbereiter des Existentialismus, entberge das Sein, führe es auf die
Lichtung, werde gehütet vom Menschen als seinem Hirten. Schon die Hei-
deggersche Sprache klingt ungewöhnlich; es ist eine Kunstsprache, die er-
funden wurde, um etwas zu sagen, das im gewöhnlichen, im alltäglichen
«Gerede» eher erstirbt als lebendig zu werden; doch diese Sprache verrät
das Bemühen, einen Rest an Menschlichkeit zu bewahren vor ihrer Bedro-
hung. Späteren Jahrhunderten vermutlich wird die gesamte Literatur des
Existentialismus als sehr merkwürdig erscheinen; einzelne Worte wie
«Ausständigkeit», «Vorläufigkeit», «Sorge» oder «Entwurf» wird man
kaum noch verstehen, ja, es läßt sich vorhersehen, daß kommende Genera-
tionen bald schon sich weigern werden, die Probleme auch nur an sich her-
anzulassen, die mit Hilfe dieser Begriffe gelöst werden sollten. Doch dann
wiederum kann es auch sein, viele Jahrhunderte später, daß Archäologen
des Geistes auftreten, die all das wieder ausgraben, es enträtseln und es
mitmal ganz modern finden. – So ähnlich ist unsere Situation, wenn wir
das Johannes-Evangelium lesen und dabei den geistigen Hintergrund zu
verstehen suchen, aus dem heraus es redet und in den hinein es sich wen-
den möchte: in eben jene Zeitströmung, die wir als Gnosis bezeichnen. Es
tut an dieser Stelle nicht not zu erläutern, aus was für Quellflüssen sich der
Riesenstrom jener geistigen Bewegung, welche die Gnosis wohl einmal
war, gespeist haben mag. Das Alte Ägypten spielte dabei eine überragende
Rolle, dieses Kulturland, das immer schon wußte, daß das Leben zwiefach
ist: überirdisch, sternengleich, ewig kreisend in sich selbst, und dann wie-
der anheimgegeben der irdischen Turbulenz, die nichts ist als Sinnentrug: –
hier noch das bebaute Land unter den Füßen der Menschen, das frucht-
bare Ackerland, der nahrhafte Boden, künstlich bewässert, und wenige
Meter weiter die Wüste, der Tod, das Westland des Schweigens. Wie ver-
stehen sich Menschen, die mit ihrem Dasein hineingestellt sind in diesen
Kontrast? Das wollten, jenseitssüchtig, die Menschen am Nil im Schatten
des Reichs der Pharaonen dreitausend Jahre vor Christus schon wissen.
Ganz ohne Zweifel bildeten sie einen Ursprung auch für die Gnosis, für
den Willen zu «erkennen», wenn man das Wort wörtlich nimmt.
Eine andere Quelle bot der iranische Dualismus, die Mithras-Religion,
die Frömmigkeit römischer Legionäre, hinaufgetragen von ihnen bis weit

15
in den Norden Europas. Ihre Sicht zeigt: Die Welt ist aus ihren Gegensät-
zen nicht zu retten, man muß mit Mut ihre Kontraste klar und deutlich ge-
geneinanderstellen und als unversöhnbar nebeneinander stehen lassen. Es
gilt, das Licht und die Finsternis, den Himmel und die Hölle, das Gute und
das Böse anzuerkennen; beide kämpfen miteinander, und ihr Schlachtfeld
ist das menschliche Herz; die Guten, die Mutigen ergreifen Partei für die
richtige Seite; – sie befreien die Spuren des Lichts durch ihr Leben aus allen
Trübungen und sammeln sie zurück in Gott.
Ähnlich die Strömung des Neuplatonismus. Gedanken des griechischen
Philosophen Platon aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert entwickelten
sich weiter. Nicht auf Erden liege der Sinn des Lebens, nicht in den Er-
scheinungen, sondern dahinter, in den Ideen, in dem, was Geist ist, was
nur gebrochen unseren geistigen Augen sichtbar wird, flüchtig, vergänglich
im Sinnlichen; Menschen aber, die Augen haben, geistig zu sehen, offen-
bare sich gleichwohl ein Schimmer der Wahrheit.
Wieder sind da zwei Welten, die voneinander getrennt sind wie Sünde
und Erlösung, wie Diesseits und Jenseits, wie Welt und Gott, wie Lüge und
Wahrheit, wie Finsternis und Licht, wie Tod und Leben.
In einen solchen Sprachraum hinein redet das Johannes-Evangelium.
Will man wissen, was Gnosis ist, welch ein Problem sie zu lösen beabsich-
tigt, so muß man sich vor allem – wie in der Moderne heute – eine Welt
vorstellen, in der die überkommenen Religionen geistig gestorben sind. Die
alten Mythen aus dem Erbe von Jahrtausenden liegen brach, museal kon-
serviert wie in einer Totenkammer. Die Alten Ägypter zum Beispiel wollten
den Menschen im Spiegelbild des Himmels rückverbinden mit der irdi-
schen Welt; sie wollten die Sonne, den Mond, das Getreide, den Nil, alles,
was man sinnenhaft fühlen kann, sinnbildlich zur Heimat des Menschen
machen, zum Zeichen seiner Anwartschaft auf die Ewigkeit; sie wollten
helfen, den Menschen als Teil des Kosmos zu verstehen. Das alles scheint
vor rund 1900 Jahren schier wie vorüber gewesen zu sein. Osiris, Diony-
sos, Adonis-Attis, – das ganze Götter-Pantheon der Antike ist den Gebilde-
ten unglaubwürdig geworden. Wohl, man importiert aus dem Orient ins
Römische Reich alle möglichen Göttergestalten. Doch ist dieser Synkretis-
mus der Volksfrömmigkeit glaubwürdig? Den Ägyptern sind die Götter
längst schon verstorben; die Pharaonen mußten ihre Krone niederlegen vor
den Siegern. Es war, wie wenn der Papst heutigentags abdanken müßte,
oder wie 1945 der Tenno, der japanische Kaiser, sich seiner Macht begab
und aufhörte, Gott zu sein. In einer solchen Zeit ist die Welt aus den
Fugen. Und die Frage stellt sich dringlich und unvermeidbar: Gibt es so

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etwas überhaupt wie Geborgenheit oder Schutz, wie Trost oder Heimat für
den in der Welt verlorenen Menschen?
Vielleicht läßt sich, was Gnosis ist, in einem Bild als Frage formulieren.
Wir besuchen eine ägyptische Ausstellung, und manchmal finden wir eine
Mumie, aus dem ersten Jahrhundert womöglich, nicht christlich, ägyp-
tisch, geschaffen von Menschen – man fühlt es förmlich –, die glauben
mochten wie die Alten und es doch kaum noch vermochten. Die Toten er-
wecken zum Leben, Hoffnung setzen gegen die Sterblichkeit – wie? Da fin-
den wir etwa den Körper eines Verstorbenen, umwunden mit den Binden,
mit denen man einen Säugling umwickelt, fest geschnürt wie ein Baby. Der
Sinn dieses Ritus ist eindeutig: Da soll der Tote erscheinen wie jemand, der
sich vorbereitet auf die Wiedergeburt; wohl ist er verstorben, doch gerade
im Tode soll er noch einmal werden zum Kind. Erinnerungen und Bildver-
weise sind das an die alte Vegetationsreligion: Tod, das ist, daß ein Mensch
zum Samen der Erde wird … Aber nun kommt etwas wirklich Erschüttern-
des. Man bleibt bei den Bildern der Alten nicht stehen; man legt auf das
Antlitz eines verwesenden Körpers, gemalt auf einen Untergrund von
Gold, das Portrait des Verstorbenen. Seine Person soll unsterblich sein, er
– als ein individueller Mensch – soll ewig leben. Die paar Jahrzehnte seiner
irdischen Existenz sollen sich behaupten gegen eine ganze Ewigkeit des
Nicht-Seins. Kann man so denken? Darf man so glauben? Ist das eine
Hoffnung, die sich plausibel machen läßt über den Abgrund der Angst hin-
weg? Was sagen die Götter? Was redet die Welt?
In den Wirbel von Fragen dieser Art taucht die Weltanschauung, die wir
die Gnosis nennen. Es sind ihre Vokabeln, ihre Fragen, die das Johannes-
Evangelium aufgreift, indem es seinen Jesus in einer Weise reden läßt, wie
dieser niemals im Hebräischen, im Aramäischen, in der Sprache Galiläas,
geredet hat. Das Johannes-Evangelium läßt ihn zugleich Antworten auf
Problemstellungen geben, die der Mann aus Nazaret historisch nie kannte;
und doch, für das Vierte Evangelium ergeben sich die Lösungen der ent-
sprechenden Rätselfragen aus gerade seiner Botschaft und verbinden sich
mit gerade seiner Person. – Lesen wir den Prolog des Johannes-Evange-
liums, so zerfällt er in zwei Teile; ein Teil entstammt der Tradition dieses
Hymnus; darin eingeschaltet aber sind eine Reihe von Stellen über Johan-
nes den Täufer. Alles zusammen klingt dann wie folgt:

Am Anfang steht worthafter Geist.


Denn: worthafter Geist geht nach Gott.
Gott selber ist worthafter Geist.

17
Von Anfang an geht er nach Gott.
Alles entsteht nur durch ihn,
und ohne ihn entsteht gar nichts.
Was immer entsteht,
ist Leben durch ihn.
Leben – das ist der Menschen Licht.
Das Licht scheint im Dunkeln,
doch das Dunkel begreift’s nicht.
Da ward ein Mensch, ein Gottgesandter, geheißen Johannes.
Der kam zum Zeugnis, Zeugnis zu geben vom Licht.
Alle sollten darauf vertrauen – um seinetwillen.
Er selber war nicht das Licht, er war, das Licht zu bezeugen.
Worthafter Geist, der ist das Licht,
das einzig wahrhaftige,
das jeden Menschen erleuchtet,
indem es eingeht in diese Welt.
Er ist in der Welt,
durch ihn gibt es die Welt,
doch die Welt kann ihn nimmer erkennen.
In das, was er selber ist, kommt er,
doch obwohl sie er selbst sind,
begreifen sie’s nicht.
Doch die ihn ergreifen,
denen schenkt er die Freiheit,
Gottes Kinder zu werden,
denen, die glauben an seine Art,
die nicht als Erzeugnis des Blutandrangs sind, –
die «Natur» hat’s gewollt, –
der Mann hat’s gewollt, –
sondern von Gott her.
Der worthafte Geist ward selber «Natur»,
er schlug sein Zelt auf, – in uns,
daß wir seine Herrlichkeit schauten,
herrlich, weil einzig stammend vom Vater,
erfüllt mit Gnade, mit der Unverborgenheit Gottes.
Johannes bezeugt ihn nur. Laut und deutlich hat er gesagt: Der ist’s ja, von
dem ich gesprochen: Der nach mir kommt, ist mir zuvor; denn er ist der
Ursprung, nicht ich.
Ja: aus seiner Fülle empfangen wir alle Gnade um Gnade.

18
Denn das Gesetz ward durch Mose gegeben; die Gnade, die Unverborgen-
heit Gottes ward durch Jesus Christus. Gott hat niemand jemals gesehen.
Dereinzig Gottgeborene, dessen Sein hingeht zum Erbarmen des Vaters,
der ist die Deutung.

Was bedeutet im Sinne des Johannes-Evangeliums das Leben Jesu, des


«Christus», für eine Menschheit, die sich wie verloren fühlt inmitten einer
ihr fremd gewordenen Welt? Was hat er zu sagen für das Empfinden derar-
tiger Asylanten des Daseins? Oder, mehr in die Gegenwart hinein formu-
liert: Wie erreicht er uns, die Verlaufenen, die Verstoßenen, die auf immer
ungeborgen Existierenden?
Am Anfang steht worthafter Geist. – Das klingt wie der Spruch einer
philosophischen Überzeugung, und tatsächlich ließe ein solcher Satz sich
gut begreifen auf dem Hintergrund einer langen geistesgeschichtlichen
Überlieferung, die mit der ionischen Naturphilosophie im 7., 6. Jahrhun-
dert vor Christus beginnt. Was ist die gestaltende Kraft in allem? Das ist
die Vernunft, das ist der Geist, das sind die Gesetze, die alles ordnen – so
das griechische Denken. Dieser gnostisch-christliche Hymnus indessen
meint: das alles genüge nicht, im Gegenteil, es spotte unser! Gründe für
diese Behauptung sind zahlreich.
Längst waren die Griechen sehr erfolgreich dabei, den Mechanismus der
Naturgesetze zu erkennen. Wir wissen heute, daß es einzig der Mangel an
handwerklicher Präzision war, der sie daran hinderte, Kraftmaschinen zu
bauen, wie wir sie dem 18. Jh. verdanken: die Bohrungen hätten dem
Druck nicht standgehalten; die Konstruktion, das geistige Können dazu al-
lerdings besaßen sie bereits Jahrhunderte vor Christus. Das Ergebnis ihrer
Anstrengungen jedoch war ambivalent: Die Gesetze der Natur bilden eine
Form von «Ordnung», von Kosmos, aber sie antworten nicht auf die we-
sentlichen Fragen des Menschen. Die Natur bewegt sich, wie sie muß, aber
gerade deshalb tut sie es kalt, gleichgültig und mitleidlos. Als fühlende
Menschen, eingespannt mit unserem schmerzempfindenden Fleisch in die-
ses Räderwerk, erleben wir diese gesetzmäßig geordnete Welt als eine Zu-
mutung! Vernunft? Wir Menschen können sie denken, aber mit Physik
Tränen trocknen – das können wir nicht.
Dieser Hymnus am Anfang des Johannes-Evangeliums erklärt, daß die
ganze Weltvernunft so lange nicht gelte, als sie sich nicht verpaare mit
einer Güte, die sich zwar nicht denken, nicht beweisen, nicht durch eine
philosophische Theorie demonstrieren lasse, die aber durch lebendige
Menschlichkeit fühlbar, berührbar werde und uns zu einer inneren Erfah-

19
rung und Überzeugung gereichen könne. Nur: wie sollten wir eine solche
Erfahrung gewinnen?
An genau diese Stelle einer möglichen Antwort, in das Zentrum all die-
ser Fragen, in den Fluchtpunkt all dieser Perspektiven setzt dieser Hymnus
des Johannes-Prologs den Mann aus Nazaret. Er soll am Anfang – nicht
sowohl von allem, was es gibt, aber von allem, was uns wirklich etwas an-
geht, – in unserem Leben stehen. Dieser Hymnus traut Jesus zu, daß er mit
seiner Person den sonst unbegreiflichen Hintergrund der Welt in einer nie
zuvor gehörten Weise für uns zum Sprechen gebracht habe und immer von
neuem bringe. Deshalb sei er, mehr als alle griechische Weltvernunft, wort-
hafter Geist, wortgewordener Sinn.
Eine Aussage wie diese kann man zunächst gar nicht schwebend und zö-
gernd genug aufgreifen. Die Welt, die uns schweigend umgibt, das All, das
auf uns herniederschaut, ohne uns zu meinen oder besonders wahrzuneh-
men, soll von der Gestalt Jesu entdeckt werden als etwas, das zu uns zu
reden beginnt? In der Sichtweise dieses Mannes wäre etwas verborgen, das
sich mitteilen ließe in einer Sprache der Güte, wie sie nie gehört wurde?
Und diese Sprache der Güte sei Gott – nicht als Kraft, die sich selber sucht
in den Dingen, nicht als Vernunft, die sich selber entwickelt auf den ver-
schiedenen Stufen ihrer irdischen Gestaltung, sondern als etwas, das zu
uns reden möchte grad so, wie der Mann aus Nazaret es gefunden hat
in seinen Worten und Taten, in seinem Verhältnis zu Gott und in seinem
Verhalten zu den Menschen? Daß es sich gerade so verhalte, bildet die
Grundüberzeugung des Johannes-Evangeliums. Alles, was der Mann aus
Nazaret sagen wollte, verdichtet dieser Hymnus, indem er den an sich
schweigenden, den an sich unsichtbaren Gott zur Sprache bringt für uns
Menschen.
Ja, es geht dieser Hymnus so weit, daß er in zwei Versen das Verhältnis
zwischen Gott und «Wort», zwischen «Schöpfer» und «Offenbarer» aus-
tauscht: Wir entdecken nicht nur in den Worten Jesu die Gottheit noch ein-
mal ganz neu als eine Person, die mit uns und zu uns reden will, sondern
auch umgekehrt: Gott selbst ist worthafter Geist. Erst mit dieser Fest-
stellung ist für Johannes die Bedeutung der «Offenbarung» Jesu wirklich
erfaßt. Jedes andere Welterleben, das diese Entdeckung nicht einschließt,
erscheint ihm als soviel wie eine Ablenkung, wie eine Irritation. Es muß
deshalb nicht schon falsch sein, aber es bietet keine Antwort auf unser Fra-
gen, soweit es religiös gelten soll. Aus dem Abgrund, in den wir uns ohne
die Botschaft Jesu verlieren müßten, erhebt sich an der Seite des Mannes
aus Nazaret ein Grund, uns selber zu finden. Aus dem stummen Schweigen

20
der Welt, das kein Echo zurückwirft, nicht einmal für den Schrei der Ver-
zweiflung, wird in seinem Munde ein Lied, das sich singt, wenn die Nacht
anbricht, wenn das Dunkel uns umfängt. Alles, was uns umgibt, kann und
soll, mit seinen Augen gesehen, verstanden werden als ein Geschenk, das
uns gegeben wird wie ein Zeichen der Liebe, als ein Gegenüber, das uns
etwas zu sagen hat, schon einfach dadurch, daß es zu uns spricht.
Nehmen wir ein Beispiel. Es ist mitunter, daß eine Frau nach Hause
kommt, sie öffnet die Tür und findet einen kleinen Strauß Blumen vor oder
irgend ein Kästchen mit Süßigkeiten oder ein schönes Tuch, das sie einmal
in einer Auslage gesehen hat. An sich ist die Blume, das Kästchen, das
Tuch nur ein Gegenstand: er liegt einfach da; diese Frau aber weiß, daß der
entsprechende Gegenstand ihr gelten und ihr etwas mitteilen möchte. Der
andere, der es ihr schenken möchte, ist womöglich abwesend, er kommt
erst später nach Hause, er redet nicht jetzt schon mit ihr, und doch ist er
gegenwärtig, er ist ein Erwarteter; schon jetzt beginnt ein Austausch der
Sehnsucht: Bald wird er kommen!
So ähnlich beschreibt sich die Welt für johanneische Augen – für Men-
schen, die aus der Gnosis befreit werden möchten und sollen zu einem
neuen Gefühl, das sie heimisch zu machen vermag auf dieser an sich so
fremden Erde. Die Rede ist von einem Gott, wie er durch eine rein philoso-
phische oder naturwissenschaftliche Welterklärung nie zu finden sein wird,
einzig durch die Entdeckung des Mannes aus Nazaret erscheint er als mög-
lich; nur durch ihn, meint das Johannes-Evangelium, sei es uns vergönnt,
den schweigenden Urgrund des Kosmos anzureden, wie ein Kind seinen
Vater anredet: Abba – Väterchen, lieber Vater; oder sagen wir: Mutter –
liebe Mutter eben, als eine Macht, der jeder Mensch sich verdankt, weil er
aus ihr stammt.
Und so wäre es die Übung des «Glaubens» nun, alle Welt anzuschauen!
Jedes Ding besitzt da eine eigene Kostbarkeit; ein jedes entdeckt sich in
einer Schönheit, die in ihm spielt; ein jedes offenbart sich in einer Größe,
die eine eigene Form sucht; in jedem Ding liegt da ein bestimmtes Wort,
eine Melodie verborgen, die darauf wartet, gehört beziehungsweise zum
Flüstern, zum Schwingen gebracht zu werden. Ohne ein solches worthaftes
Geschehen, ohne ein solches «Gischten» des Geistes, meint das Johannes-
Evangelium, würde gar nichts sein, oder wenn es denn wäre, so bliebe es
buchstäblich nichtig und leer in unseren Augen.
Denn so fährt dieser Hymnus fort: Was immer entsteht, ist Leben durch
ihn, durch solch einen worthaften Geist. – Die Rede ist hier, wohlgemerkt,
nicht von der Tatsache, daß es Leben gibt im Sinne der Entstehung organi-

21
scher Verbindungen aus dem Anorganischen, Prozesse, die wir bioche-
misch langsam zu entziffern und naturwissenschaftlich zu erklären vermö-
gen. Die Frage hier geht dahin, wie es denn kommt, daß die Lebewesen
überhaupt leben wollen, was ihnen geistig die Kraft gibt, sich zu vollzie-
hen. Leben bezeichnet hier nicht die äußere Tatsache der Existenz von
etwas, sondern die innere Bedeutung, die Stellungnahme eines Existieren-
den in Wahrheit. Wie vermag es ein Mensch, wie vermag es ein Lebewesen,
dieses Dasein zu akzeptieren in all seinen Belastungen und Zumutungen?
Das ist die Frage.
Die johanneische Erklärung dazu lautet: Leben – das ist der Menschen
Licht.
Lassen wir, um diese Aussage zu verstehen, einmal beiseite, was die Bio-
logie von der überragenden Bedeutung des Lichtes zu erklären weiß, – daß
es der wesentliche Energielieferant auf dem kleinen Planeten Erde ist, ein-
gefangen mit Hilfe des Chlorophylls, genutzt zur Synthese von Zuckern,
eingelagert in die Strukturen der Pflanzen, imstande, alle Tiere davon zu
ernähren. Licht ist in der Tat die Brücke des Energiestroms der Sonne, dem
alles Leben auf unserer Erde sich verdankt. Doch das ist es nicht, worum
es hier geht. Licht hier ist soviel wie eine bestimmte Poesie über unser Da-
sein, ist eine erhellende Betrachtung inmitten einer Welt ohne Aussicht, in-
mitten einer Sphäre von Dunkelheit und Finsternis; Licht hier ist keine
elektromagnetische, sondern eine buchstäblich existentielle Energie.
Was der Aufgang von Licht bedeuten kann, haben wir vielleicht schon
einmal erfahren, wenn wir im Spätherbst, sagen wir: an einem Oktober-
morgen, von Westen her im Rheintal hinüberschauten nach Osten und
sahen, wie über den Bergen langsam die Sonne sich erhebt. Noch liegt über
dem Fluß das Wolkenmeer des Nebels, aber dann, vorsichtig, langsam,
durchdringen die ersten Strahlen der Sonne den Schleier, berühren die Was-
seroberfläche, und plötzlich schimmert und funkelt der ganze Strom; wie
gewelltes Silber liegt er da, blendend für die Augen, und führt ein bizarres
Schauspiel vor uns auf. Da sehen wir auf den Höhen Burgen und Ruinen
liegen, Kirchen inmitten der Dörfer und Städte, und offensichtlich wird es
vor dem Hintergrund dieses Meers von Schönheit, daß all diese Prunk-
stücke der Kulturgeschichte der Menschheit nichts sind als nichtige Versu-
che, Angst aufwachsen zu lassen zu einer trotzigen Gebärde der Wehrhaf-
tigkeit oder zu einer Gottesverfestigung hinter heiligen Mauern; das
wirkliche Leben erglänzt über dem Fluß, und es kann nur unendlich sein.
Alle Formationen und Maßnahmen, die es einzufangen und einzugliedern
suchen, wirken wie ein Verrat. Das Leben selber ist fließend.

22
Manche mittelalterlichen Mystiker konnten so sprechen: Das fließende
Licht der Gottheit, nannte Mechthild von Magdeburg das Zentrum
ihrer Frömmigkeit2. Etwas Ähnliches ist hier gemeint: eine «Metaphysik»
der Existenz, in der die Menschen sich einem solchen Hellwerden über
dem Dunkel verdanken.
Alles entscheidet sich an dieser unterschiedlichen Art, die Dinge zu
sehen. Es ist wahr: sieht man nur die Welt, wie sie ist, welch eine Mühsal,
welch ein Verschleiß breitet sich dann vor den Augen aus, – eine Schopen-
hauersche Welt gewissermaßen3. Man betrachte nur, meinte er, dieses
wahre Tier der Nacht, dieses animal nocturnum, den Maulwurf: all seine
Angst hat ihn unter die Erde gezwungen, damit kein Feind ihn mehr findet;
seine feingliedrigen Finger sind zu Grabschaufeln umgeformt worden,
seine Haut, sein Fellchen ist mittlerweile so transpirierend, daß er nicht
einmal schwitzt bei seiner schweren Arbeit, – er darf es ja nicht, sonst
würde die Erde sich auf seiner Haut verklumpen; doch nur schon, daß er
sich von Fall zu Fall aufrichtet, um sich zu erholen, macht ihn zu einem
Feind des Wiesenbesitzers über ihm: – er wird ihm nachstellen, dem un-
schuldigen Tier! Was in all dem bietet sich für ein Gleichnis auf das
menschliche Dasein dar, dachte Schopenhauer. Hatten nicht die alten La-
teiner völlig recht, wenn sie meinten: sterben, das sei am besten bezeichnet
als defunctus – als «abgewirtschaftet», als «zu Ende funktioniert», als «die
Pflicht erfüllt habend»? Was sonst weiter wäre es gewesen? – Ein anderes
Bild, das Schopenhauer nicht einfiel, das aber mehr Bezug auf den Men-
schen gehabt hätte, bot sich schon damals durch die Industrieform seiner
Tage, um 1840, an: Man zwang zum ersten Mal Tiere, Grubenpferde,
unter Tage zu arbeiten, den Haspel zu drehen, tagaus, tagein, Hunderte
von Metern unter der Erde, und nie mehr die Sonne zu sehen, nie mehr fri-
sches Gras duftend wahrnehmen zu können mit ihren Nüstern, nie mehr
laufen zu dürfen und die weiche Erde unter ihren Hufen zu spüren. – So
etwas muß es heißen: zu leben im Dunkeln.
Der russische Dichter Fjodor M. Dostojewski in seinem Roman Die
Brüder Karamasow konnte in der Gestalt des Dimitri einmal sprechen von
solchen «unterirdischen Menschen»4; doch er sann darauf, wie man gerade
diese Niedergedrückten, diese Perspektivelosen, diese Geschundenen, diese
Hoffnungslosen ins Leben zurückführen könnte. Welch eine Antwort hätte
die «Welt» schon parat als: Mach weiter so! Oder praktischer: Halt dich
gesund! Oder sozialer: Denk mal an Urlaub! Oder wirtschaftlicher: Achte
auf deine Rente! Oder familiärer: Regle dein Erbe! All das kann doch nicht
Leben heißen! – Leben, das ist der Menschen Licht, schreibt Johannes; es

23
ist ein unerhörter Satz. Es muß und soll demnach etwas geben, das, wenn
wir morgens aufwachen, einem jeden von uns hilft, in den Tag zu schauen,
etwas, das einen Zielpunkt der Freude darstellt! Man kann sich gar nicht
klar genug machen, welch ein Standpunktwechsel da gemeint ist.
Ein Beispiel: Wir bringen viel Zeit damit zu, unseren Terminkalender
mit allen möglichen Eintragungen zu füllen; wir laufen wie ein Hamster in
der Trommel durch die Zeit. Wer aber hat uns denn gesagt, daß es zwar
Planungen geben soll für die Pflicht, nicht aber für die Freude? Wo finden
sich in unserem Leben Planungen für das Licht? Wenn es morgens hell
wird, was tun wir dann, damit sich unser Herz weitet, damit es während
des kommenden Tages Augenblicke gibt, von denen wir zuversichtlich an-
nehmen, sie gereichten zu unserer Freude, – wir müßten nur auf die Uhr
schauen und die Stunden noch zählen, um zu wissen: endlich kommt das
Licht! Alles andere dazwischen mag uns vorkommen wie ein Tunnel an
Düsternis, dann aber tritt unser Weg heraus, und wir erschauen die Sonne.
So etwas wie ein solcher Sonnenaufgang ins Licht wollte Jesus für unser
Leben sein, etwas, an dem wir uns aufranken könnten, etwas, das uns
unser eigentliches Leben zurückgäbe in einer Freiheit, wie wir sie nie ge-
spürt haben.
Tatsächlich ist diese Sicht auch historisch betrachtet nicht nur eine theo-
logische Konstruktion des Johannes-Evangeliums. So war der Mann aus
Nazaret wirklich. Nehmen wir nur das 6. Kapitel des Matthäus-Evange-
liums in der sogenannten Bergpredigt; da sagt er – sinngemäß –: «Ihr
bewundert König Salomo als den mächtigsten Mann in ganz Israel. Ihr
bewundert ihn seiner Kleider wegen, seiner Speisen wegen, ähnlich der
Königin von Saba; sie sah in ihm einen Wallfahrtsort an Glück und Weis-
heit. Ich aber sage euch: Jeder von euch ist viel mehr wert als so ein König
in all seiner Pracht. Wohl, ihr seid nur arme Leute; aber ihr seid wunder-
bar. Jeder von euch trägt in sich einen Funken Licht, der nur in ihm zur
Flamme werden kann; jeder spürt in sich ein Stück Liebe, das nur er einer
ganzen Welt zu schenken vermag. Und dafür zu leben ist alles, was göttlich
ist. Das ist Leben, wirkliches Leben.» (Mt 6,25-34)
Dabei denkt das Johannes-Evangelium nicht rein phantastisch oder idea-
listisch. Es geht vielmehr aus von einem vollkommenen Paradox: Das
Licht scheint im Dunkeln, doch das Dunkel begreift’s nicht, schreibt es.
Dem russischen Dichter Leo TolstoJ waren diese zwei Zeilen ein
ganzes Theaterstück wert5. Das Licht scheint im Dunkeln, aber das Dun-
kel begreift’s nicht. Es ist das unglaubliche Rätsel, wieso wir Menschen
sehr genau wissen können, was uns glücklich macht, wo unsere Freiheit

24
liegt, wie es uns atmen läßt, und wie wir dann trotzdem immer wieder an
uns selber vorbeigehen und uns förmlich weigern können, ja, anscheinend
sogar uns weigern müssen, uns auf dieses unser Wissen einzulassen. Das ist
ja «Gnosis» als Karikatur, daß jemand sehr genau ahnt, was für ein
Mensch er sein könnte, und daß er dennoch immer wieder Ausreden und
Schutzgründe parat hat, die ihn dahin bringen, sich selber zu verraten.
Tolstoj zum Beispiel schildert in seinem Drama einen alten Mann, in des-
sen einfacher Seele so etwas lebt wie die Botschaft des Jesus aus Nazaret:
die Menschen sollten das Brot, das sie haben, teilen mit den Hungernden,
und das Geld, das sie haben, denen geben, die es brauchen; niemand mehr
wäre dann eingeschlossen in seinem Elend. So einfach könnte das Leben
sein. Doch schaut man sich um – wie anders sind die Menschen, wie gierig
bis zum Verbrecherischen, wie ausbeuterisch gegeneinander, wie hart ge-
sonnen im Besitzstand ihrer Rechte! Tolstoj geht all diese Zustände der
Seele wie der Gesellschaft durch. Das, was wir die Jurisprudenz nennen,
die Wirtschaftswissenschaft, die Staatskunst, die Politik, das Bankwesen –
die ganze bürgerliche Welt –, was ist sie anderes als ein einziger verlogener,
unmenschlicher Irrgarten, gemessen an dieser ganz einfachen Botschaft der
Menschlichkeit! Und doch kommt man, so wie Leo Tolstoj, mit rein mo-
ralischen Mitteln gegen eine solche Welt nicht an. Man hinterläßt am Ende
die Zuschauer der Aufführung eines solchen Dramas mit lauter Schuldge-
fühlen, zerknirscht womöglich, aber im ganzen noch hilfloser. Ein derarti-
ger rigoros prophetischer Ansatz verschlägt nicht. Viel richtiger wäre es,
sich um die Angst zu kümmern, die uns Menschen daran hindert, selber zu
sein. Statt johanneisch von Finsternis zu sprechen, müßte man deutlicher
reden von Verzweiflung, und augenblicklich würde man begreifen, daß
man sehr leise reden muß zum Herzen von Menschen, die man aus der
Dunkelheit ihres Lebens herausholen will. Eines jedenfalls darf man dabei
nie: statt ihrer Not nichts weiter zu sehen als das Böse, das sie, rein mora-
lisch bewertet, tun.
Freilich mag man sich fragen, ob das, was Jesus meinte, nicht vielleicht
doch utopisch ist, – die Menschen scheinbar sind nicht so. Und überhaupt:
Kann man die ganze Welt ändern wollen? Ist es nicht genug, für sich selber
das Richtige zu tun, und dann einfach basta? – Offenbar nicht; weil es
nicht genügt, zu sagen: es gibt das Gute, und es gibt das Böse, es gibt das
Richtige, und es gibt das Falsche, und nun strengen wir uns an mit dem
guten Willen, richtig zu handeln. Die ganze Schwierigkeit liegt darin, zu
merken, daß kein Mensch etwas wirklich Böses will. Wann nur begreifen
wir, wieviel an Seelenumdüsterung auch und gerade in einem Verbrecher

25
wohnt! Vorher wird niemals Frieden sein auf Erden, ehe wir diese Innen-
ansicht der menschlichen Tragödie uns nicht erarbeitet haben. Wie hebt
das Dunkel sich auf, daß es das Licht nicht mehr als Bedrohung spürt? Das
ist die Frage auch an das Johannes-Evangelium.
Dieses aber fährt fort: Worthafter Geist, der ist das Licht, das einzig
wahrhaftige, das jeden Menschen erleuchtet, indem es eingeht in diese
Welt. – In der Tat, darauf käme es an, auf ein Wort, das den Menschen von
innen her ergreift und ihm zu einer eigenen Überzeugung wird. Erst wenn
man einen Menschen lehrt, das heißt, nicht von außen an ihn heranträgt,
sondern in ihm das Gefühl, das Empfinden reifen läßt, wieviel er wert ist,
welch eine Kostbarkeit in ihm lebt, was mit ihm in seiner Person gemeint
ist, gewinnt er den Mut, wirklich und richtig zu leben. Dann geschieht es,
wie wenn es ihn durchfluten würde, so als dränge Licht durch die hohen
Fenster einer Kathedrale, und ihr ganzer Innenraum würde erfüllt von Hel-
ligkeit. Noch einmal: Licht ist dabei soviel wie Liebe, die wärmt, wie
Kraft, die uns hell macht, wie eine Energie, die uns beseelt mit Freude.
Doch dann steigert sich das johanneische Paradox zum Extrem, wenn es
heißt: Er ist in der Welt, durch ihn gibt es die Welt, doch die Welt kann ihn
nimmer erkennen.
Man kann es offenbar nur einander gegenüberstellen, auf Entweder-
Oder, wirklich auf Licht oder Finsternis, wirklich auf Gott oder Welt.
Immer wenn wir denen zuhören, die sagen: die Menschen verdienen kein
so maßloses Vertrauen, gegen die Bosheit der Menschen müssen wir uns si-
chern, gegen die Freiheit der Menschen müssen wir Schutzmaßnahmen ein-
richten, so beruft man sich dabei auf die «Welt», wie sie ist: – auf die Her-
kunft des Menschen aus der Steinzeit, aus der Tierreihe, aus der Biologie.
Vermutlich war im 20. Jh. niemand schrecklicher in dieser Logik der
«Welt» als der Diktator des «tausendjährigen Reiches». Wenn man ihm
zuhört, vernimmt man, wie er von Gott spricht als von der «Macht, die
will, daß der Stärkste siegt». Gewiß ist nichts bestürzender damals gewe-
sen, als daß, dieses lesend, dieses hörend, dieses wissend, keine der Kirchen
in Deutschland dem widersprochen hat. Der «Führer» galt den Bischöfen
und Theologen als ein gläubiger Mensch, er schien wert, das Konkordat
zwischen katholischer Kirche und «Reich» mit ihm zu schließen; ja, 1933
wagten es Bischöfe, die Christen einzuladen, in seine Partei, in die NSDAP,
zu gehen, um mit ihm gemeinsame Sache zu machen für den Aufbau des
Deutschen Reiches. Was aber nannte denn dieser Mann Gott, außer einen
Willen, der da gebietet: Vogel, friß oder stirb! Für einen solchen Mann gab
es keinen Frieden, für ihn gab es nur Kampf; für ihn war Friede nichts als

26
die Vorbereitung auf den nächsten Waffengang. In seinen Augen bedurfte
es eines unerbittlichen Hasses, um sich als Held zu beweisen und auf dem
Schlachtfeld als dem Felde der Ehre zu kämpfen, da Gott einem feigen
Volke keine Freiheit gibt und ihm seine verlorenen Gebiete umsonst nie-
mand je zurückschenken wird; vielmehr männlichen Zorn und rücksichts-
lose Stärke, das will der Gott, der das Vaterland gründete und der die
Menschen nicht als Weichlinge schuf, sondern ihnen die Pflicht gab, rüstig
zu ringen um ihren Bestand. Alles Schwächliche, so die Nazi-Philosophie,
gehört ausgerottet; das ist das Gesetz der Natur, das ist die Welt. Immer
wird der Löwe die Gazelle fressen und die Katze die Maus und der Adler
die Schlange – und der Adler des Deutschen Reiches seine Feinde! Bis
dahin aber gilt es, brutal und fanatisch die eigenen Interessen in Gottes
Namen zu verteidigen. Das war damals Religion, das war die «Welt», die
wir kennen: – pragmatischer Zynismus!
Es gibt zu dieser Hölle auf Erden nur eine Alternative; sie besteht darin,
die Dinge noch einmal ganz anders zu sehen. In jener welthaften Haltung
erkennt man gar nichts, begreift man gar nichts, da wird keine Gnosis,
keine «Einsicht» geboren; es kommt vielmehr darauf an, in den Hinter-
grund der Dinge zu schauen: Die Menschen sind keine Tiere. Und selbst
bei den Tieren gibt es so viel an Güte, daß wir durchaus keinen Grund
haben, unsere eigenen gesellschaftlich und psychologisch bedingten Sadis-
men in sie hineinzuprojizieren. – Unglaublich zärtlich zum Beispiel kann
ein Gorillaweibchen sein. Durch die Presse der ganzen Welt ging im Sep-
tember 1996 die Nachricht, wie in einem Zoo ein Kind in ein Gorillage-
hege gefallen war und das Gorillaweibchen es auf den Armen zurück zu
den Menschen trug, als es entdeckte, daß das Kleine von sich aus nicht ste-
hen konnte; es war zu verletzt. Diese Ungeheuer an Kraft denken ganz of-
fensichtlich nicht so brutal, wie man es uns Menschen mit Berufung auf sie
als Pflicht zum eigenen Handeln einreden will. Recht betrachtet, könnten
wir so viel selbst von den Gesetzen der Natur lernen, die uns umgeben.
Doch dazu müßten wir vorweg die entscheidende Frage beantworten: Wie
halten wir als Menschen stand? Wie lernen wir aus der Freude zu leben, in
der Liebe zu reifen und uns in Freiheit zur Menschlichkeit zu entwickeln?
Einzig eine solche Haltung verwandelt alles. Sie allein macht aus Gegnern
Freunde, aus Feinden Verbündete, und nur sie verhindert es, daß die Ver-
bündeten schon wieder bloß die Koalitionäre eines noch ausgedehnteren
Kampfes sind. Es war die Idee des Mannes aus Nazaret, alle internationa-
len Beziehungen umzuformen zugunsten einer universellen, globalen
Menschlichkeit ohne Grenzen, ohne Ende.

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Auch dafür ein Beispiel. «Ja, soll das denn heißen», fragte dieser Tage je-
mand, «daß jeder hier nach Deutschland kommen kann und bei uns woh-
nen darf? Offenbar entgeht Ihnen, was auf dem Lande los ist. Da sind die
Fremden verhaßt; die drehen Däumchen, und die andern müssen arbeiten,
die Bauern auf den Höfen schuften sich kaputt, und die sitzen einfach da
und leben in den Tag hinein; das sind einfach Drückeberger und Faulen-
zer!» Eine solche Meinung ist weit verbreitet. Aber wäre es nicht ganz im
Gegenteil möglich zu denken, daß niemand aus dem Land seiner Herkunft,
Tausende von Meilen weit, fortgeht und alles preisgibt, was er einmal
besaß: – den Klang seiner Muttersprache, die Nähe seiner Verwandten,
daß er herausfällt aus jedem sozialen Netz und es lernt, Ächtung und Ver-
achtung zu akzeptieren, indem er seine Heimat unter den Arm nimmt wie
eine Erinnerung an etwas, zu dem er nie mehr zurückfinden wird, – außer
er hätte unendlich viel durchgemacht? Aus jedem «faulen Hund», wenn
man denn schon so reden will, wird bei solcher Betrachtung eher «ein
armes Schwein». In jedem Falle hätten wir keinen Grund, die Nase zu
rümpfen, soviel stünde fest; vor allem: es gäbe überall nur Menschen zu
sehen, nicht Einheimische und Fremde, nur Menschen. Da würde das Licht
scheinen in dieser Welt, und es gäbe eine Welt überhaupt nur durch dieses
Licht, durch die Art einer hell gewordenen Weltsicht. Anders reden wir ja
gar nicht von Welt, allenfalls von Interessensphären, von strategischen Ein-
flußzonen – vom Zerfall der «Welt», von der Gegenwelt.
Wie zur Zusammenfassung erklärt das Johannes-Evangelium dann: In
das, was er selber ist, kommt er, doch obwohl sie er selbst sind, begreifen
sie’s nicht. Die ganze Frage unserer Identität hängt nach diesen Worten
einzig daran, inwieweit wir begreifen, daß wir wesentlich Gott zugehören.
Wir finden uns selber nur, wenn wir auf ein Gegenüber treffen, das uns
leben läßt; biblisch gesprochen, vermöge einer reinen Güte, die uns akzep-
tiert ohne Voraussetzung und die es uns dadurch ermöglicht, zu unserer
Wahrheit zu stehen. Wie notwendig schließt sich daran die alles entschei-
dende «christologische» Erfahrung und Botschaft des Johannes-Evange-
liums an: Der worthafte Geist ward selber Natur und schlug sein Zelt auf
in uns; ja, aus seiner Fülle empfangen wir alle Gnade um Gnade. – Einzig
wer begreift, wie sein Leben noch mal ganz neu beginnt unter dieser Per-
spektive, in diesem Lichtkegel der Wahrnehmung, den die Person Jesu ver-
mittelt, lernt eine Menschlichkeit, die anders kaum vorstellbar wäre. Da
wird es die Frage nach dem Weltentwurf, wie wir uns sehen, – ob von die-
ser neuentdeckten Art her, Gott so wahrzunehmen, wie Jesus ihn uns brin-
gen wollte, oder von dem her, was vermeintlich immer schon galt: es gibt

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die Natur, es gibt die Welt, es gibt die Interessen, es gibt die Rücksichtslo-
sigkeit. Die einzige Alternative besteht wirklich darin, zu denken wie Jesus:
Das, was der Welt zugrunde liegt, ist gütiger Natur, ist «väterlich» gesinnt
(oder «mütterlich»), es meint uns und will uns. So sein zu dürfen – welch
ein Geschenk! Ein jeder Tag, verbracht in solcher Dankbarkeit, ist selbst
ein Hymnus an die Freude, eine Wandlung zum Licht, ein Anfang wirkli-
chen «Lebens».

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Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort.» – 2. Teil

Wir haben uns bemüht, in einige Grundaussagen, vor allem in einige


Grundbegriffe des Johannes-Evangeliums hineinzuhören. Doch sollten wir
in einem zweiten Durchgang noch einmal versuchen, uns die gewonnenen
Einsichten kulturgeschichtlich, vor allem aber persönlich näherzubringen.
Die Schwierigkeiten mit der sehr eigenen und eigenartigen Weltsicht des
Johannes-Evangeliums beginnen bereits mit der Sprache.
Man kennt die Mühe, die Goethes «Faust» überkommt, als er die
Worte aus dem Johannes-Evangelium übersetzen will: «Im Anfang war das
Wort.» «Ich kann das Wort», denkt Faust, «so hoch unmöglich schätzen,
ich muß es anders übersetzen, wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn.» Aber dann überlegt er: «ist es
der Sinn, der alles schafft? Es sollte stehen: im Anfang war die Kraft.» Aber
so kann es auch nicht heißen; eine rohe Energie für sich allein ist niemals
schöpferisch; da endlich weiß sich Faust doch Rat und schreibt: «Im An-
fang war die Tat.»1 – Das dichterische Genie Goethes rät bei diesem Über-
setzungsvorschlag gar nicht so falsch. Denn wirklich meint die Bibel, wenn
sie vom «Worte Gottes» spricht, nicht bloß Rede, sondern Schöpfung und
Tat2. So wie das Wort eines Königs in sich selbst ein entscheidendes Han-
deln darstellt – was er sagt, schafft eine neue Wirklichkeit –, so wie das
Wort eines obersten Richters, in Vollmacht gesprochen, indem es den Sinn
eines Gesetzes verkündet, Realität setzt, so wird, wenn Gott spricht, mit
höchster Kraft, geleitet von Vernunft und Sinn, etwas an Wirklichkeit in
diese Welt hineingesetzt: daß wir leben, weil Gott gesagt hat, daß es so sein
soll, – das heißt: «Im Anfang war das Wort». Johannes denkt dabei, wie
Goethe meinte, gewiß auch an Kraft und Tat und Weisheit Gottes. Doch
eben darin liegt ein erstes Problem. Was heißt: im Anfang? Wir hören die-
ses Wort als eine Erklärung über den Anfang der Welt. Wir hören das Wort
«Anfang» als Beginn in der Zeitreihe. In Wirklichkeit redet das Johannes-
Evangelium zwar griechisch, aber es denkt semitisch, und das heißt: völlig
unphilosophisch, oder wenn schon philosophisch, dann existentiell. Seine
Frage ist nicht, wie die Welt entsteht, sondern woraus wir selber leben.
Welch einen Grund wir unter den Füßen haben, um zu sein – das möchte
Johannes beantworten; was uns wesentlich, zu aller Zeit, grundlegend
trägt, das nennt er den «Anfang» im Sinne von Ursprung und Halt3. We-
sentlich lebten wir einzig aus dem Wort Gottes, meint er (vgl. Mt 4,4).
Den Sinn dieser Aussage versteht man am ehesten, wenn wir uns ihr von

30
der anderen Seite her nähern: wenn wir ausgehen von unserem eigenen
armseligen Menschenwort, von der Tatsache, daß wir reden und Sprache
verstehen können.
Immer mehr bestätigt sich die Ansicht der meisten Anthropologen, daß
nichts uns Menschen so sehr eigentümlich sei wie die Fähigkeit zu spre-
chen. Essen, schlafen, kämpfen, träumen, lieben, hassen, sich erinnern – all
das können in analoger Weise Tiere auch; sogar arbeiten, nachdenken, ler-
nen und erfinden sind Tätigkeiten, die sich in etwa auch im Tierreich beob-
achten lassen. Das einzige, was kein Tier kann, was uns von allen Lebewe-
sen der uns bekannten Welt wesentlich unterscheidet, ist das Sprechen4.
Worte zu formen, die etwas bezeichnen, Laute zu bilden, die einen unsicht-
baren Gegenstand vertreten, diese Fähigkeit besitzen nur wir Menschen;
sie erst macht uns zu dem, was wir sind.
Manchmal erleben wir, staunend und erleichtert, mitten im Alltag noch
einmal nach, wie ein Wort uns vermenschlicht. Ein Tier, wenn es Angst
hat, kann schreien oder fliehen; wir Menschen können uns hinsetzen und
sprechen; wir können die Gründe unserer Angst zur Sprache bringen,
lallend und stockend oft, und doch beruhigend und klärend. Wie in den
Anfangstagen der Menschwerdung, als vor vielen Jahrhunderttausenden
jedes neu entdeckte Wort wie eine magische Formel zur Verzauberung der
Dinge, zur Milderung ihrer Unheimlichkeit, zu wirken vermochte, so erle-
ben wir, daß wir der Angst Herr werden können, wenn wir ihre Stimmun-
gen in Worte fassen und das sonst Unfaßbare aussprechen. Indem wir es
sagen, erleben wir, wie mit jedem Wort der Abgrund der Angst ein Stück
weit sich schließt und die Dinge wieder näher an uns heranrücken. Nur die
Welt, für die wir Worte haben, ist uns wirklich vertraut; nur sie nimmt uns
auf und gibt uns das Gefühl, in ihr zu Hause zu sein. Nur was wir sagen
können, ist uns nicht unheimlich.
Ein Tier, wenn es gereizt wird, faucht, knurrt oder bellt. Wir Menschen
können sagen, was uns stört. Uns müssen die Emotionen nicht fortreißen;
wir können ein Gespräch beginnen, und mit jedem Worte merken wir, wie
der Andrang der Gefühle sich beruhigt, wie der Schwall der Stimmungen
sich verläuft und wie allmählich Übersicht und Nüchternheit zurückkeh-
ren. Nur das, was wir besprechen können, wird für uns beherrschbar, so
daß wir schließlich nicht nur reden, sondern sogar hören können.
Vielleicht ist kaum eine Entdeckung des 20. Jhs. deshalb so wichtig ge-
worden wie die Entdeckung der Psychotherapie, daß Menschen krank wer-
den können, ja, müssen, wenn ihnen für die eigenen Gefühle, für den
Reichtum der eigenen Bilder Worte fehlen oder wie mit Absicht entzogen

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werden, und umgekehrt, daß sie oft nur gesund werden können, wenn sie
lernen, von dem zu sprechen, was sie eigentlich wissen, was aber doch erst
bewußt zu werden vermag, wenn die Erlaubnis gegeben wird, es ins Wort
zu setzen. Um Menschen zu heilen, kommt es entscheidend darauf an, die
so peinlich gehüteten und vor unserem eigenen Ich so wohl versteckten
Empfindungen und Neigungen aussprechbar zu machen, indem man das
seit jeher Unaussprechliche mit Wortvorstellungen verbindet. Doch dazu
müßte man die Angst vor Spott und Verurteilung überwinden durch ein
tieferes Vertrauen: Es wäre nicht nötig, ganze Teile unserer Seele zu ver-
drängen, wenn es gelingen könnte, das ehedem peinlich Gemiedene zu ver-
worten und ins Gespräch zu bringen5.
Anhand der Lebensbeschreibung eines blinden und taubstummen Mäd-
chens an der Wende zum 20. Jh. läßt sich verdeutlichen, was es bedeutet,
zum ersten Mal die Fähigkeit der Sprache zu entdecken6. Oft schon hatte
man Helen Keller gezeigt, daß bestimmte Bewegungen ihrer Finger ein
Wort ergäben, aber sie hatte nie begreifen können, was ein Wort ist. Eines
Tages nun machte ihre Lehrerin mit ihr einen Spaziergang, und da ereig-
nete sich in ihrem Bewußtsein das Geheimnis der Sprache. «Sie brachte mir
den Hut», liest man in ihren Erinnerungen von 1902, «und ich wußte, daß
ich in den warmen Sonnenschein hinausgehen würde. Dieser Gedanke,
wenn man eine wortlose Empfindung überhaupt so nennen darf, ließ mich
vor Vergnügen hüpfen und springen. Wir gingen den Pfad zum Brunnen-
haus hinunter, angezogen vom Duft des Geißblattes, mit dem es überwach-
sen war. Jemand pumpte gerade Wasser, und meine Lehrerin hielt meine
Hand unter den Strahl. Als der kühle Strom über meine Hand floß, schrieb
sie in die andere das Wort Wasser, erst langsam, dann schnell. Ich hielt
still, meine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Bewegung
ihrer Finger. Plötzlich empfand ich ein nebelhaftes Bewußtsein wie von
etwas Vergessenem – den Schauer eines wiederkehrenden Gedankens, und
irgendwie offenbarte sich mir das Mysterium der Sprache. Da wußte ich
auf einmal, daß W-a-s-s-e-r jenes wunderbare kühle Etwas meinte, welches
mir über die Hand floß. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele,
schenkte ihr Licht, Hoffnung, Freude und machte sie frei! Es gab zwar
noch Schranken, aber die ließen sich mit der Zeit beseitigen. Ich verließ
das Brunnenhaus voller Lerneifer. Jedes Ding hatte seinen Namen, und
jeder Name gebar einen neuen Gedanken. Als wir nach Hause zurückkehr-
ten, schien jedes Ding, das ich berührte, vor Leben zu zittern. Das rührte
daher, daß ich alles mit dem seltsamen neuen Sehvermögen, das mir zuteil
geworden war, sah.»

32
Es ist die gleiche Entdeckung, die vor 300 000 Jahren oder mehr, auf der
Stufe des homo erectus vielleicht schon, unsere Vorfahren gemacht haben,
als sie, vermutlich einen magischen Gegenstand (eine Feuerstelle, einen
Baum, eine Quelle, eine Stoßlanze) umtanzend und dabei ekstatisch lal-
lend, herausfanden, daß sie die gleichen Empfindungen von Rausch und
Wonne auch ohne ihren fetischähnlichen Kultgegenstand durch einen
bloßen Laut, der ihn bezeichnet, jederzeit wiederholen konnten; daß alle
Dinge zu uns in eine innige Beziehung treten und zu uns gehören, wenn
wir ein Wort für sie in uns tragen, das wir zu Gehör bringen können; daß
sie sich uns aufschließen und mit uns zu reden anfangen, wenn wir sie be-
nennen und ihnen einen Namen geben. Alles wird für uns «ansprechend»,
wenn wir beginnen, in menschlichen Worten die Dinge auszusprechen7.
Keine Erfindung am Anfang der Menschheit dürfte grundlegender und fol-
genreicher gewesen sein als die Entdeckung der Sprache. Selbst heute, wo
wir als Erwachsene über ein vollständiges, unsere individuelle Vernunft
weit übersteigendes, hochgradig geordnetes und sinnreiches System von
Sprache verfügen, benötigen wir viele Monate, um ein Neugeborenes in
den Stand zu versetzen, sein Plappern und Lallen zu festgelegten Lauten
mit einer festgelegten Bedeutung im Rahmen festgelegter Regeln zu for-
men8. Erst dann kann ein neugeborenes Menschenkind als ein wirkliches
Mitglied der menschlichen Gesellschaft betrachtet werden, erst dann be-
ginnt es wirklich zu sein.
Vor diesem Hintergrund ist der Gedanke des Johannes-Evangeliums un-
geheuerlich: «Im Anfang war das Wort.» Es ist eine Weltsicht, wie sie in
dieser Weise nie bestanden hat, vor allem, wenn Johannes noch hinzufügt:
«Und Gott war das Wort.» Schon in unserem eigenen kleinen Leben fällt
es uns unglaublich schwer, so zu denken: alles, was uns umgibt, sei wie ein
Wort Gottes an uns, in allem spreche Gott zu uns, in allem lebe ein Stück
seines Geistes. Allenthalben stehen wir in der Gefahr, aus lauter Angst Be-
reiche der Wirklichkeit zu verdrängen, aus Ekel zu fliehen oder aus Scham
zu verschweigen, – ihnen gewissermaßen also das Wort zu verbieten. Und
nun gar zu denken: alles in der ganzen Welt existiere überhaupt nur, weil
Gott es selbst zur Sprache habe bringen wollen! Nichts sei in sich dem
menschlichen Begreifen verschlossen, nichts in sich dämonisch, nichts an
und für sich geistlos oder stumpf, im Gegenteil, alles, was existiere, sei in-
nerlich worthaft und erfüllt von Geist und Leben! Doch gerade das meint
Johannes, wenn er sagt: «Nichts, was geworden, ward ohne das Wort.» In
jedem Ding liege etwas, das Gott uns zu sagen habe. Die Folgen allein die-
ser Aussage, macht man sie sich zu eigen, sind enorm.

33
Es ist, wie wenn Johannes mit diesem Gedanken all die sonstigen
philosophischen oder mystischen Welterklärungsversuche durch eine ge-
wissermaßen poetische Weltsicht ergänzen oder gar ersetzen wollte. Indem
Johannes uns beschwört, zu glauben, nichts an Geschaffenem sei außer-
halb des Wortes Gottes selbst entstanden, möchte er, daß wir ein Stück
weit lernen, diese Welt zu sehen nach der Weise der Dichter. «Im Anfang
war das Wort» bedeutet gerade nicht, von allem in der Welt auf eine Weise
zu reden, daß es uns immer ferner rückt, daß es zu einem Objekt der Er-
kenntnis eingefroren wird, daß es zu einem Lupen- und Seziergegenstand
herabfällt, sondern gerade umgekehrt, daß alles, was uns umgibt, sich be-
seelt, so als trüge es uns selbst mit unseren Gefühlen, unseren Sehnsüchten
in sich und redete auf eigene Weise unsere Sprache; mehr noch, als lebte
etwas in ihm, das Gott uns zu sagen hätte in unseren eigenen Worten. Und
so ist es in der Tat.
In den Jahrmillionen, da unsere menschliche Seele wurde, ist all das,
was wir Schöpfung nennen, zu einem Bild geworden, um uns selbst zu fin-
den. Wir brauchen nur die Dinge der Welt zu benennen, und wir sprechen
die Sprache der ewigen Poesie, einer unsterblichen Dichtung. Sterne sind
für ein dichtendes Gemüt keine explodierenden Wasserstoffusionsreakto-
ren, wie wir sie in Physik und Astronomie kennenlernen, mythisch sind sie
seit Urzeit Bilder von Bewußtwerden und Sehnsucht, von Traum und Him-
mel, von Leben und Tod, von der Überwindung unserer Sterblichkeit. Der
Mond ist nicht einfach ein Körper am Firmament, womöglich zeitgleich
aus dem Staub des Kosmos gebildet mit unserer Erde9, er ist für unser
träumendes Fühlen eine Lichtquelle des Liebens, des Hoffens, des Wahr-
nehmens in eigentümlich verschwimmenden Formen, Ursprung des Rau-
schens von Ebbe und Flut am Gestade des Meeres wie in unserem Herzen,
der Unruhe wie der Beruhigung unserer rastlosen Seele. Und so quer durch
das All: ob die Bäume, das Wasser, die Höhlen, die Meere – in allem leben
wir selber; alles, was ist, redet die Sprache der Ewigkeit hinein in unser
Leben, ist ein Wort Gottes und nie nur «Begriff», viel eher eine Einheit aus
Malerei und Musik, aus Bild und Ton, also eine Aufforderung, das Spre-
chen noch einmal ganz anders zu lernen. Die Frage freilich ist dann er-
laubt: Wo nur verfügen wir Heutigen in unserer Kultur und in unserer Zeit
über eine Sprache, die «magisch» genug ist, um religiös zu sein, die so zau-
berhaft eigenes Erleben verdichtet, daß der Himmel die Erde berührt, die
Bilder der Vorstellung freisetzt und ein Stück der Musik der Welt in unser
Leben zurückträgt? So aber müßten wir sprechen lernen, um Menschen zu
werden, um uns selbst als «begründet» zu erleben.

34
Der Unterschied ist deutlich. Was haben wir Menschen nicht alles unter-
nommen, um herauszufinden, welch einem Sinn oder Zweck bestimmte Er-
scheinungen der Natur wohl dienen könnten, und doch sind wir dabei
niemals viel weiter gekommen, als daß wir bestimmte allgemeine Gesetz-
mäßigkeiten hätten formulieren können, im 19. Jh. etwa den Satz von der
Erhaltung der Energie oder die anderen Hauptsätze der Thermodynamik.
Trotz all dieser Theoreme sind wir indessen außerstande, einen wirklichen
Grund für die Existenz eines Kieselsteins am Bachbett, eines Dinosaurierske-
letts im Museum oder einer Platane im Stadtpark zu geben. Gewiß, wir kön-
nen bestimmte zufällige Ursachenkombinationen dafür aufzählen, warum es
etwas gibt; aber die einfache Umkehrprobe zeigt, daß wir nicht glauben dür-
fen, auf diese Weise die Existenz des Kiesels, des Dinosaurierskeletts oder
der Platane begriffen zu haben: Wenn es all diese Dinge nicht gäbe, kämen
wir niemals darauf, daß es sie geben müßte! Die Dinge haben in diesem
Sinne keine notwendigen Ursachen, die sie hervorgebracht hätten; mit ihnen
ist kein erkennbarer Zweck verbunden, für den sie schlechthin existieren
müßten. Wohl, bestimmte Bedingungen haben sie ermöglicht; aber daß es
sie wirklich gibt, – das bleibt für uns ein unlösbares Rätsel.
Gleichwohl ziehen die Dinge uns gerade deshalb nur noch mehr in ihren
Bann und lassen uns nicht los. Immer von neuem müssen wir sie bedenken,
beschreiben und zu erfassen versuchen, und hier entsteht der eigentliche
Ort der Dichtung. Die naturwissenschaftliche Formel, das Gesetz, erklärt
niemals die Existenz oder die Eigenart des Einzelnen. Allein die Poesie ver-
mag ein einzelnes Wesen als in sich notwendig auszusprechen; erst wenn
ein Dichter einen Kiesel beschreibt, wie er silbern schimmernd am Flußufer
liegt, wie ihn die Wellen umspülen und mit der geduldigen Sanftmut von
Jahrtausenden glätten, wie er mit undurchdringlicher Selbstverständlich-
keit einfach da liegt und ist, verlieren unsere Fragen nach Ursache und
Zweck ihren Sinn, und wir beginnen, an die unabdingbare Notwendigkeit
gerade dieses Kiesels zu glauben. Für jeden beliebigen anderen Kiesel mag
nach wie vor zutreffen, was Geologie und Chemie von ihm sagen: er sei
ein Silikatgemisch von bestimmter Menge, Zusammensetzung und Größe;
aber von einem Kiesel, den wir durch die Worte eines Dichters kennenler-
nen, wird das nicht länger mehr gelten; von einem solchen Kiesel wissen
wir, daß es ihn geben muß. Denn die dichterischen Worte haben den ver-
meintlich so unscheinbaren Stein in seiner nie geahnten Schönheit offenbar
gemacht; fast könnte man sagen, wir hätten ihn liebgewonnen; ja, es
würde nicht viel fehlen, und wir müßten für ihn einen Namen erfinden, der
nur ihm gehört, ist es doch stets eine Beleidigung, etwas mit einem Gat-

35
tungsbegriff anzureden, das eine individuelle Seele besitzt und schon des-
halb eine eigene Bezeichnung verdient, so wie absichtlich ein Lehrer ein
Kind in der Schule manchmal nicht mit seinem Vornamen anredet, sondern
ihm zuruft: «Mensch, paß auf», eben um es zu kränken. Die frühesten
Worte der Menschheit dürften Namen gewesen sein, Benennungen, die
jedem Dinge sagen wollten: «Ich kenne dich; du gehörst zu meinem Leben;
du bist mein Baum, mein Stein, mein Blatt, du trägst meinen Namen; und
daher weiß ich, daß es dich geben muß; für mich muß es dich geben.»
«Und nichts, was geworden, ward ohne das Wort», – nach diesem Satz
einer ganz und gar poetischen Weltsicht ist Gott wie ein umfassender, alles
umgreifender Künstler, der seine Freude daran hat, jedes einzelne Wesen
für sich zu beschreiben und es gerade damit als in sich wichtig, ja, in ge-
wissem Sinne als notwendig zu erweisen. Es ist eine Formel zwischen der
abstrakten Geistigkeit etwa der Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten
der Naturwissenschaften, in denen das Einzelne als unbedeutend unter-
geht, und der geistlosen Zufälligkeit des nur Individuellen, das sich jeder
allgemeingültigen Erfassung und Begreifbarkeit entzieht. Johannes meint,
es sei der letzte Grund der Dinge, daß Gott mit ihnen spricht beziehungs-
weise daß Gott selber sich in ihnen ausspricht; die einzige Antwort auf die
zahllosen Rätsel und Schrecken der Natur liege in dem Gedanken eines
ewigen Zwiegesprächs Gottes mit seinen Kreaturen in ihren zahllosen Un-
begreifbarkeiten und wunderbaren «Spielen». Welch eine andere Antwort
sollte man auch sonst auf diese Frage finden können, warum es den ganz
unglaublichen Phantasiereichtum der Schöpfung gibt?
Manche Naturforscher meinen, der Sinn der Evolution liege darin, so
viel an Möglichkeiten zu realisieren, wie es nur irgend gehe; in jedem Lebe-
wesen, von den Seerosen bis zu den Makaken, sei ein Drang angelegt, sich
so vollkommen zu entfalten und auszureifen, wie es die Umstände gerade
noch gestatteten10. Auskünfte dieser Art, so nüchtern sie anmuten, rühren
doch unmittelbar an die poetische Weltsicht des Johannes, an das Geheim-
nis allen Schöpfertums und an die Quelle aller Phantasie; sie sind nicht
weit entfernt von dem Satz aus Ps 104,26, daß Gott die Meeresungeheuer
geschaffen habe, um über sie zu lachen.
Ein Denken ausschließlich nach Ursachen und Zwecken wird in seiner
humorlosen Starrheit der Natur offensichtlich nicht gerecht. Aber der Ge-
danke des Johannes ist bestechend: alle Dinge in der Welt seien mit den
Augen eines Künstlers zu betrachten, bis daß wir sie in ihrer Schönheit und
Harmonie als vollendete Kunstwerke zu erfassen vermöchten, und selbst
dann, wenn dies unserem begrenzten Geiste niemals gelingen könnte, dürf-

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ten wir doch glauben, daß an sich alles, was existiert, fähig zur Dichtung
sei, offen zum Wort hin, ein möglicher Ursprung schöpferischer Freude.
Ein jedes Ding, so betrachtet, sei notwendig, es sei fortan nicht wegzuden-
ken, so wenig wie die kleine Zugbrücke von Langlois oder das Café von
Arles, wenn es erst einmal ein Van Gogh gesehen und gemalt hat. Alles
muß sein, wenn Gott selbst es durch sein schöpferisches Dichterwort ge-
staltet hat.
Schaut man genau hin, so geht es niemals nur um eine Art Rechtferti-
gung des Seins durch eine «Kunstanschauung» aller Dinge11, es geht in
Wirklichkeit um Religion. Nichts in unserem Leben läßt sich verstehen, so-
lange wir es allein nach den Kategorien von Zweck und Ursache abhan-
deln. Im Grunde entspricht uns einzig eine existentielle Poesie der Liebe:
man steht einem fremden Dasein gegenüber und weiß doch genau, daß
hier etwas Einmaliges, etwas absolut Vertrautes und wesenhaft Verwand-
tes uns gegenüber steht, das wir in immer neuen Bemühungen zeichnen
und beschreiben müssen, um es zu verstehen.
Wer ist der andere wirklich?
Wir sehen die Schönheit seiner Gestalt, wir vernehmen den Klang seiner
Stimme, wir versuchen den Gehalt eines flüchtig dahingeworfenen Wortes
zu erfassen, und all diese Bemühungen gelten einzig dem Ziel, uns seiner
Einmaligkeit und unwiederholbaren Notwendigkeit zu versichern, so als
müßten wir es erst langsam lernen, seinen Namen mit allem Liebenswerten
anzufüllen. Wie in einer nicht endenden Litanei müssen wir den Namen
des anderen liebend wiederholen, denn nur in diesem Namen können wir
das Wort erleben, das Gott sprach, als er den anderen erschuf und mit ihm
zugleich die ganze Welt.
Das muß es heißen, wenn Johannes sagt: «Nichts, was geworden, ward
ohne das Wort.» Es drückt die Überzeugung von der prinzipiellen Liebes-
fähigkeit und Liebenswürdigkeit aller Dinge aus, und ganz besonders sagt
es uns, daß wir mit unserem Leben im Grunde einer uns zwar noch nicht
wirklich bekannten, aber doch sich vollendenden Dichtung beiwohnen.
Mag sein, wir wissen ganz und gar nicht, was ein Leben wie das unsere für
einen Sinn oder für eine Bedeutung haben soll; mag sein, wir sind im Ge-
genteil fest davon überzeugt, daß wir mit unserem Dasein eigentlich voll-
kommen überflüssig oder jedenfalls gänzlich unbedeutend sind; gleichwohl
versucht doch dieser Anfangssatz aus dem Johannes-Evangelium uns des-
sen zu versichern, auch über unser Leben habe Gott ein ganz bestimmtes
Wort der Poesie, der Liebe und der Weisheit ausgesprochen, und nur um
dieses Wortes willen seien wir wirklich auf der Welt.

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Vielleicht gibt es in der Literatur der Gegenwart keine Stimme, die so
eindringlich wie die des mundtot gemachten Propheten und christlichen
Dichters Alexander Solschenizyn reden könnte über den Grund, aus
dem wir leben, fragt der russische Dichter doch gerade in seinem Roman
Die Krebsstation selber einmal, was das sei, die Quelle, aus der heraus wir
uns vollziehen. Eine der Hauptgestalten seines Romans ist Efrem, der
genau weiß, daß er zu Tode erkrankt ist. Dieser Mann hat ein kleines Bänd-
chen von Geschichten Leo Tolstojs in die Hand bekommen; die liest er,
darunter eine Erzählung mit dem Titel Wovon die Menschen leben12; und
diese Frage läßt ihn nicht los; er gibt sie weiter an seine Zimmernachbarn:
«Du, wovon lebst du?» fragt er. Und der eine antwortet: «Halt’s Maul,
Mensch; von Brot und Wodka.» So hätte Efrem auch gedacht, vor einer
Weile noch: Leben, das ist am Leben bleiben, so gut es irgend geht, und die
Fragen darüber wegzuspülen, sie zu vergessen … Aber er fragt weiter, es in
ihm fragt weiter: «Wovon lebst du?» Und ein anderer, ein junger Physiker,
sagt, er wolle noch eine bestimmte Isotopenverbindung in bestimmten Mi-
neralien finden. Das ist nicht gleich: woraus Menschen leben, aber doch
ein Grund, wofür sie leben. Efrem findet, daß die Antwort irgendwie etwas
taugt, aber nicht für ihn. Er ist kein Physiker, er ist kein Geologe. Also
fragt er den dritten, und der, wie wenn er im Bett unter der Decke die
Hacken zusammenschlüge, antwortet: «Für die Partei.» – «Du Dumm-
kopf!» murmelt Efrem; allein gelassen schaut er zurück in das Bändchen
Tolstojs. Dort steht: «Die Menschen leben von der Liebe.» Und das ist
bitter wahr. Bitter, weil Efrem durchaus weiß, daß seine Frau Apollina,
wenn sie Birkenschwämme sammeln ginge, vielleicht noch sein Leben ret-
ten könnte – die Ärzte haben so etwas gesagt –, aber seine Frau, nur schon
wenn er zu ihr kommen würde, sammelte keine Birkenschwämme, sie
würde einen Scheuerlappen holen und ihn zur Tür hinausjagen; – so hat er
sie behandelt! «Die Menschen leben von der Liebe», das ist wahr, aber die
Antwort kommt zu spät für Efrem, das fühlt er, und daran wird er ster-
ben13.
Das eigentlich ist die Antwort, die das Johannes-Evangelium im wesent-
lichen geben möchte. Die Menschen leben, aber sie wissen nicht zu leben,
es sei denn, sie spürten etwas, das sie nicht sehen. Dieses Unsichtbare gibt
ihnen Licht und Mut und Hoffnung; dieses Unsichtbare ist die Barmherzig-
keit oder die Güte, dieses Unsichtbare ist die Liebe im Grund aller Dinge.
Niemand nimmt unmittelbar, wenn er die Welt betrachtet, diese Tatsa-
che wahr, so sehr anders erscheint ihm die Wirklichkeit. Ist die Natur, aus
welcher wir stammen, nicht von ganz anderen Gesetzen geprägt? Da sind

38
die Menschen, in der Sprache des Johannes-Evangeliums, das Erzeugnis
des Blutandrangs (Joh 1,13) – ein Produkt ihrer Gene, würden wir in
der heutigen Biologie sagen, geboren aus der Macht des Egoismus der
Gene14–; die erschaffen sich in dem individuellen Körper eine Überlebens-
maschine für ein paar Jahre und bestimmen ihn dazu, sie weiter zu repro-
duzieren, so zahlreich, als es nur irgend möglich ist. Das ist der Lebens-
drang, der élan vital, der innere Motor der Natur. Er ist so stark, daß wir
Menschen dieser Allmacht der Biologie gegenüber oft genug wie hilflose
Marionetten scheinen. «Die Natur hat’s gewollt!» so sagen die Männer.
«Mein Mann hat’s gewollt!» so sagen die Frauen. Mit Schopenhauer ge-
sprochen, gibt es eigentlich nur einen blinden Willen, und auch dieses
Wort ist schon eine metaphorische Umschreibung, eine Vermenschlichung
für eine Energie, der wir einen «Willen» zusprechen, während sie, ohne
irgendein subjektives Gefühl für sich selbst oder für irgend etwas an ihrer
Seite zu kennen, sich selber aufführt15.
Leben wir so, sind wir nichts weiter als Überlebensapparaturen in einer
Welt, die uns in absoluter Gleichgültigkeit gegenüber dem individuellen
Leben hervorbringt und wieder zurücknimmt. Eine solche Welt ist grau-
sam, und sie erzieht zur Grausamkeit. Denn überleben wollen wir alle;
«Kampf ums Dasein» aber, mit Charles Darwin gesprochen, das bedeu-
tet, zu kämpfen um den Platz, an dem man steht16. Unter dieser Vorausset-
zung hat der griechische Philosoph Heraklit so unrecht nicht, wenn er
sagt: «Der Krieg – der Kampf, der Gegensatz, die Auseinandersetzung – ist
der Vater aller Dinge.»17 Doch dieser «Vater aller Dinge» hat keine Augen,
er hat kein Herz, er hat keine Hände, er hat keinen Mund, und am aller-
wenigsten hat er Ohren, um die Schreie der Leidenden zu vernehmen. Er
ist taub. Er ist nichts als eine gestaltende Kraft in den Dingen, ein «Wol-
len», das sich selbst nicht begreift. Und begreifen etwa die Menschen sich
in dieser «Welt»?
Schauen wir uns die menschliche Geschichte an, so vermittelt sie kaum
einen anderen Eindruck. Es ist, als wenn wir immer noch nach dem Vor-
bild der Jahrhunderttausende, die uns vorangegangen sind seit der Stein-
zeit, die Gesetze der Natur abzubilden versuchten in derselben Härte, in
derselben Grausamkeit, in derselben Strenge des Widerspruchs, ganz so,
als sei «Humanität» nichts weiter als eine kleine, verträumte Insel, die es
manchmal wohl auch gibt, zusammengesetzt aus biologisch begründbaren,
doch auch menschlich begreifbaren Regungen wie Brutpflege, Partner-
schaft, Rangerhalt, Schutz von Schwächeren; – doch das alles verliert sich
wie ein Wirbel im Strom; es handelt sich um Gefühlszustände, die sich

39
manchmal wohl unter dem Druck des Fließgleichgewichts des Ganzen ein-
stellen mögen, die aber nach eben denselben Gesetzen sehr bald auch
schon wieder sich abstellen werden18.
Wie, muß man sich fragen, ist es möglich, in diesen Alptraum des Le-
bens, in diese Finsternis des Menschlichen, Licht und Helligkeit zu brin-
gen? Wie ist es möglich, eine Sicht von den Dingen zu gewinnen, die dem
Wort «Leben» eine wirkliche Bedeutung verleiht?19
An dieser Stelle berühren wir ein Problem, das in der Zeit der Entste-
hung des Neuen Testamentes, also in den ersten beiden nachchristlichen
Jahrhunderten, jene geistesgeschichtliche Strömung zutiefst geprägt hat,
die wir bereits unter dem griechischen Namen Gnosis (= «Erkenntnis»)
kennengelernt haben. Ihren Ausgangspunkt bildete, im Erbe der griechi-
schen Naturphilosophie (oder Naturwissenschaft), die Fremdheit des Men-
schen inmitten der Natur20. Gerade diesen Gedanken sollten wir uns noch
einmal verdeutlichen.
Die unbestreitbare Leistung der Griechen war es, die Naturabläufe auf-
grund von Beobachtung und mathematischer Berechnung bereits vor 2500
Jahren als nach Gesetzen «geordnet» erkannt zu haben. Diese «Ordnung»,
dieser «Kosmos», galt ihnen als Inbegriff der «Welt». Nicht zweifelhafte,
launische Götter regelten fortan das Geschehen der Natur; was es heraus-
zufinden galt, waren quantitative Beziehungen zwischen bestimmten Ur-
sachen und bestimmten Wirkungen, waren die «Anfangsursachen», die
«Prinzipien», aus denen die Einzelursachen sich ableiten ließen. Dieser An-
satz griechischer Naturwissenschaft war um 500 v. Chr. wohlgemerkt viel
weiter entwickelt als um 1500 n. Chr.; – zu rabiat hatte das Christentum
die gewonnenen Einsichten zugunsten uralter mythologischer Anschauun-
gen wieder zurückgedrängt; doch läßt sich der «christliche» Widerstand
gegen die griechische «Aufklärung» zum Teil gut begreifen. In der Sicht-
weise der Naturwissenschaft läßt sich (vielleicht) erklären, welche Gesetze
der Natur zugrunde liegen, doch so etwas wie «Poesie» oder wie «Liebe»
findet man in einer so erklärten Natur gewiß nicht. Eben deshalb mußten
alle Versuche der Theologen vom 2. Jh. an bis in die Gegenwart scheitern,
Gott aus der «Schöpfungsordnung» zu demonstrieren.
Die «Gnostiker» vor 1800 Jahren formulierten das Problem radikal. Es
war in ihren Augen nicht allein die «Kontingenzlücke» aller einzelnen Le-
bewesen, deren konkretes Dasein durch kein allgemeines «Gesetz» be-
gründbar ist; der eigentliche Widerspruch zu den Vorstellungen speziell der
Religion ergab sich für sie vor allem aus der «Lieblosigkeit» der Natur. Es
ist dieselbe Frage, die unter dem Begriff der «Theodizee», der «Rechtferti-

40
gung» Gottes angesichts «seiner» Welt, die gesamte Theologiegeschichte
der Neuzeit durchziehen wird. Die ebenso ungelöste, wie unlösbare Frage
lautet: wie kann ein Gott, der die Weisheit, Güte und Allmacht selbst sein
sollte, eine Welt wie die tatsächlich existierende erschaffen – eine Welt
voller Drangsal, Qual und Not? Es verhält sich ja keinesfalls so, daß all die
Grausamkeiten und Gräßlichkeiten dem Naturverlauf äußerlich oder rein
zufällig wären; in den Tagen der Gnosis bereits beginnt man zu ahnen, was
sich am klarsten dann in der Mitte des 19. Jhs. bei Charles Darwin ausspre-
chen wird: daß all dieses Furchtbare innerlich in die Gesetze der Welt ein-
geschrieben ist.
Wie der Anblick der Welt auf ein religiös empfindsames Gemüt wirken
kann, wirken muß, zeigen in ihrer Sensibilität wohl am eindrucksvollsten
die Tagebuchaufzeichnungen der französischen Dichterin Marie Noël. In
ihren Erfahrungen mit Gott persifliert sie einmal auf ihre Weise einen Aus-
spruch Racines: «Den jungen Vögeln gibt Gott Nahrung. Und seine Güte
breitet sich über die ganze Natur.» Sie schreibt:

«Nimm dich in acht, Mücke, nimm dich in acht! Der kleine Vogel braucht
Futter, und der liebe Gott hat dich zu seiner Nahrung gemacht.
Nimm dich in acht, kleiner Vogel, nimm dich in acht! Der Habicht
braucht Futter, und der liebe Gott hat dich zubereitet für seine Mahlzeit.
Nehmt euch in acht ringsum, nehmt euch in acht in der Runde: Ein Bauch
wartet auf dich, ein Hunger erspäht dich. Nimm dich in acht vor der Erde,
nimm dich in acht … und komme dem Himmel nicht zu nahe.
Da ist die Güte Gottes, die den Hunger erschuf und die Beute. Die Güte
Gottes, tief und schwarz wie ein Abgrund, der Angst macht.»
Und sie fährt fort:
«Am Tage deiner Geburt hat der Tod mit deiner Belagerung begonnen.
Von allen Seiten hat er dich eingeschlossen. Du hast während einiger Jahre
die Belagerung ausgehalten, während du Vorräte hattest und Hilfsquellen,
und am Ende –
Der Leib, den du so sehr genährt hast, eines Tages löst er sich auf,
Der Geist, über den du so sehr gewacht hast, eines Tages geht er zugrunde,
Der Tod, den du so oft besiegt hast, eines Abends tritt er ein.»21

Ein großer Theologe und Kirchengründer wie der von der «Orthodoxie»
konsequent totgeschwiegene, schlechtweg verdrängte Marcion22 sah sich
von gerade diesem Konflikt derartig bedrängt, daß er nicht länger glauben
mochte, die Einrichtung der Welt könne von einem «guten» Gott stam-

41
men, wie ihn im Neuen Testament Jesus gelehrt habe; viel zu deutlich
verrieten die Züge dieser Welt das Bild eines bösen, grausamen Gottes
als Weltenbaumeister, als «Demiurgen». Nach Marcions Meinung wider-
spricht das neue Gesetz der Bergpredigt diametral den Gesetzen der Natur
und ebenso den Gesetzen des Alten Bundes. Wie im persischen Dualismus
lehrte Marcion zwei Götter: einen, der die Welt geschaffen und die «alte»
Ordnung erlassen habe, und einen, der als der «Vater» Jesu die Menschen
aus dieser Welt herausführen wolle und könne. Nicht in der Welt draußen,
nur im Inneren der eigenen Seele, wenn es so steht, offenbart sich der
wahre Gott. Noch einmal in den Worten der Marie Noël:

«Der wahre Gläubige hat keine Fenster.


Er hat sein Licht im Innern. Wenn es anderswo Tag wird, draußen,
was weiß er davon? Seine Lampe hat die Welt ausgelöscht.
Ich habe zu viele Fenster geöffnet, den Tag draußen zu sehr geliebt.
Diese Seele mit den offenen Fenstern, der Wind und die Sonne trü-
ben in ihr ihre Wahrheit, die flackert, schwankt und schlecht leuch-
tet …
Aber welche Wahrheit, welcher Stern steht fest? Die Sterne bewe-
gen sich, zittern am Himmel, beben manchmal vor Kälte. Der Stern
der Weisen entzog sich ihren Blicken an einer Straßenkrüm-
mung.»23

Alles Irdische ist zweifelhaft, es bleibt ambivalent, es leitet eher von Gott
weg, als zu ihm hin. Das ist die Erfahrung, die auch das Johannes-Evange-
lium teilt. Es übernimmt dabei (natürlich) nicht die Vorstellung von zwei
einander widersprechenden Göttern; aber es akzeptiert die Weltsicht der
Gnosis: Wer (philosophisch oder naturwissenschaftlich) nichts weiter sieht
als die Welt, die uns umgibt, der kann nicht dahin kommen, sich selbst als
Menschen zu erkennen, der wird zur Wahrheit Gottes nicht finden, über
dessen Leben lagert als letzte Bestimmungsmacht seines Daseins der Tod.
Und der Grund: er wird Gott nicht erkennen; er wird die Liebe nicht fin-
den. Alle Versuche der Theologen vom 2. Jh. an bis heute, Gott zu demon-
strieren aus der «Schöpfungsordnung», sind im Grunde müßig, sie sind
mißlungen, denn sie führen eher in Verwirrung, als daß sie hilfreich wären.
Dieser Abgrund zwischen Welterfahrung und Gottsuche läßt sich nicht
schließen, weder aus der Deduktion rein metaphysischer Begriffe, wie das
Wesen Gottes an und für sich ist, noch viel weniger empirisch-induktiv,
indem man aufsteigt von den Erfahrungen der Welt, wie sie wirklich ist.

42
Eben deswegen geht Johannes einen ganz anderen, einen dramatisch an-
deren Weg. Man hat seine «Christologie» oder besser, seine radikale Chri-
stozentrik immer wieder zu einem Steinbruch dogmatischer Lehrgebäude
genommen, gefüllt mit äußerst schroffen, ja, unversöhnlichen Aussagen,
nicht zuletzt gegenüber dem Judentum, aber auch gegenüber anderen Reli-
gionen. Um so wichtiger ist es, sich die existentielle Wahrheit der Aussagen
des Johannes-Evangeliums klarzumachen: Erst wer einen Grund für sein
Leben in der Liebe findet, vermag diese Welt als die Schöpfung eines
guten Gottes zu entdecken; und nur der wird imstande sein, diese Welt
überhaupt als «Schöpfung» wahrzunehmen. Dieser alles verändernde
Ausgangspunkt einer Evidenz der Liebe, dieser Anfang eines neuen
Menschseins aber ist für das Johannes-Evangelium einzig in dem Mann aus
Nazaret gegeben. Zu Recht, muß man sagen. Denn dieser Mann glaubte
beim Starren in den Abgrund etwas zu sehen, das er auf seine Art väterlich
nannte. Es war nicht länger der «Gott» Heraklits (oder das Naturgesetz
Darwins), es sollte ein «Vater» mit menschlichen Gefühlen sein, anredbar,
weil selber redend, hörend, weil selber verstehend, – mütterlich auch
könnte man ihn, wie gesagt, nennen, denn das ist es, was Johannes eigent-
lich von ihm sagen möchte: Er ist die Barmherzigkeit. Wörtlich sagt er: auf
seinen Schoß hin ist alles; hebräisch ist «Schoß» ein Wort, das in der
Mehrzahl (rachamim) eigentlich «mütterliches Erbarmen» bedeutet. Und
das ist es, was Jesus entdeckte: daß wir einzig leben aus der Liebe, ja, daß
wir überhaupt nur wirklich leben wollen, solange wir ein Gegenüber
spüren, das uns anredet und uns meint, das will, daß wir sind. Eben deswe-
gen nannte Jesus diese Macht «Väterchen» – so zutraulich wie ein Kind –;
und eben deswegen nannte man ihn den Sohn, vergröbert übersetzt: das
(ewige) Kind, der Kind-Gott hätten die Mythen der alten Griechen gesagt.
Der Sohn wird die Lieblingsaussage denn auch des Johannes-Evangeliums
sein.
Von daher läßt sich der Anfangssatz des Johannes-Prologs noch einmal
anders, richtiger, übersetzen. Statt von «Anfang» sollten wir sprechen von
«Grund», und statt von «Wort» sollten wir sprechen von «Angeredetwer-
den». Der erste Satz des Johannes-Evangeliums müßte dann lauten:
Grundlegend (für das menschliche Dasein) ist es, angeredet zu sein. Ent-
scheidend aber ist jetzt, daß Johannes dieses Angeredetsein ganz und gar in
der Person und Gestalt des Mannes aus Nazaret verkörpert («inkarniert»)
findet. Seine Sprache von dem «Wort» Gottes korrigiert nicht allein die
Vorstellungswelt der Gnosis, sondern in gewisser Weise auch die des Ju-
dentums jener Tage.

43
In der Vorstellung des Spätjudentums lag der Gedanke enthalten, daß
Gott sich eigentlich nicht mehr in der Macht seiner eigenen Person offen-
bart, – sie ist zu groß für den Menschen, zu schreckgewaltig, und das
kleine Menschenwesen ist zu furchtsam geworden, als daß es den Blicken
seines Schöpfers standzuhalten vermöchte. Waren nicht die ersten Men-
schen schon, Adam und Eva, gekrümmt von Schamgefühl aus dem Garten
der Welt verstoßen worden, weil sie die Nähe des Kommens Gottes nicht
mehr vertrugen? Mußte Gott selbst ihnen nicht Fellröcke nähen, um ihre
Scham voreinander zu bedecken (Gen 3,10.21)? Seither jedenfalls hat es nie
mehr aufgehört mit der Angst und dem Schamgefühl. Als Gott selber re-
dete im Wolkendräuen am Sinai, war’s da nicht nötig, daß Gewitterwolken
sein Antlitz umhüllten (Ex 19,18)? Mußte nicht Mose sogar eine Mauer er-
richten, auf daß das Volk nicht zu nahe an den Heiligen Berg heranträte
(Ex 19,21-24)? Und leuchtete nicht am Ende sein Antlitz auf Grund der
Gottesbegegnung so strahlend, daß er es verhüllen mußte, um die Men-
schen seiner Zeit nicht zu blenden (Ex 34,29-35; 2 Kor 3,7)? Wer vertrüge
es schon, Gott zu schauen, und bliebe am Leben? Das ist die Erfahrung;
also daß es genügen mußte, der Kraft Gottes zu begegnen, nicht mehr ihm
selbst, wie er an sich ist. Vor diesem Hintergrund bildete sich die Vorstel-
lung des Spätjudentums und der mittelalterlichen kabbalistischen Mystik,
daß Gott seine eigene Weisheit, sein «Wort», seine Einwohnung (seine
«Schechinah») wie eine Verstoßene, wie eine in die Fremde Verbannte
unter den Menschen Wohnung nehmen lasse, als ein Etwas, das sich verirrt
habe in die Herzen der Menschen und in den Trubel der Geschichte, doch
das nun zurück möchte zu seinem eigenen Ausgangspunkt. Wo irgend
Menschen von dieser Weisheit Gottes etwas in sich einlassen, kehrt sie ein
Stück weit zurück in den Schöpfungsmorgen. Das Wort Gottes oder die
Weisheit Gottes wurde auf diese Weise zu einem verselbständigten, im
Herzen der Menschen lebenden Gebilde, das zwischen Gott und Mensch
vermittelt. Johannes nun will sagen, daß Jesus, der Christus, eben das sei:
eine Person, in der die Vermittlung lebe zwischen Himmel und Erde, zwi-
schen Schöpfermacht und Menschenangst. Das ist es, was Johannes meint,
wenn er sagt, Jesus sei das Wort, das seit Ewigkeit bei Gott war und das
nun in die Nacht, in die Verzweiflung und Dunkelheit unseres Lebens ge-
treten sei, in eine Welt voller Widerstände und Widersprüche, und doch
imstande, jeden, der es einlasse, zum Sohn Gottes zu machen, zu «versöh-
nen» mit der Macht, der wir uns verdanken, und zu «versöhnen» mit dem,
was wir selber sind.
Ein Haupt«argument» dabei bilden im Johannes-Evangelium zugunsten

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einer solchen «Christozentrik» die «Zeichen», die der Mann aus Nazaret,
auch historisch beglaubigt, wirkte. Wenn Jesus in den ersten drei Evange-
lien immer wieder Wunder der Heilung vollbringt, oft genug darunter an
Menschen, die stumm sind, wenn er ihnen die Zunge öffnet, indem er ihr
Herz von den Dämonen befreit, die den Menschen stumm machen, so of-
fensichtlich deshalb, weil er uns selber Redefreiheit zurückgibt. Es ist die
äußerst wichtige Erfahrung, daß es nichts gibt in dieser Welt, das einfach-
hin schlecht wäre, unbrauchbar, überflüssig, teuflisch womöglich. Erst vor
dem Hintergrund der Heilungserzählungen der synoptischen Evangelien
gewinnt die Aussage des Johannes-Evangeliums von Jesus als dem «Wort»
Gottes ihre tiefste Bedeutung: sie löst die therapeutische Dimension von
Sprache und Poesie in unserem Leben ein.
Von daher können wir alle Evangelien noch einmal ganz neu lesen,
indem wir nur darauf achten, wie Jesus dort redet, wie einfach, wie klang-
voll, wie viele Stimmungen und Gefühle ausdrückend, wie mutig, indem er
es wagt, Probleme beim Namen zu nennen. «Eure Rede», sagt er, «sei: das
Ja ein Ja, das Nein ein Nein» (Mt 5,37). Es wäre das Ende der babyloni-
schen Sprachverwirrung. Manch ein Zyniker möchte vielleicht denken, die
ganze menschliche Kulturgeschichte bestehe in der wachsenden Fähigkeit,
mit Hilfe der Sprache immer Ja und Nein gegeneinander auszutauschen
und die Lüge zu vermehren unter dem Druck des immer engeren Zusam-
menlebens, – eine Flucht in die Sprache der Tarnungen. Seelische Heilung
jedenfalls besteht in der Sprache einer reifenden Wahrhaftigkeit, gegründet
in Vertrauen («Glauben») und Erkennen («Gnosis») und ermöglicht durch
eine «Gnade», die kein «Gesetz» zu verordnen vermag.
Immer wieder gibt es freilich Irritationen und Widersprüche, die sich ge-
rade an der Absolutsetzung der Person Jesu in der «Theologie» des Johan-
nes-Evangeliums entzünden. Deshalb ist es nicht ohne Bedeutung, darauf
hinzuweisen, daß selbst eine solche Aussage wie: «Im Anfang war das
Wort» nicht so singulär ist, wie sie erscheint; religionsgeschichtlich folgt
diese Aussage vielmehr einem «archetypischen» Vorstellungsrahmen, zu-
mindest dann, wenn man das «Wort» weit genug nimmt, um es mit Poesie
und Musik ineins zu setzen. Vielleicht gibt es in der Geschichte der
Menschheit keinen Gesang, der dem Prolog des Johannes-Evangeliums so
ähnlich kommt wie ein aztekischer Hymnus aus dem 16. Jh. auf Nahuatl,
der Sprache der Azteken, über den Anfang der Musik. Setzen wir statt
«worthafter Geist» den «Geist der Musik» als eine Schwingung, die uns zu
Herzen geht und die uns Freude schenkt über alle Trauer hinweg, die uns
Lebensmut gibt anstelle von Verzweiflung und die uns ein Gefühl der Ein-

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heit vermittelt von allem, was ist, statt der zerspaltenden Feindschaft un-
tereinander, dann läßt sich leichthin eine Brücke schlagen zwischen der
Botschaft des Johannes-Evangeliums und der Erfahrung der Völker. Stoßen
wir uns beim Zuhören dieses Gesangs im folgenden nicht an den indiani-
schen Namen; wir erleben eine wunderbare Geschichte, wie die Musik ent-
stand: Der Gott, der da heißt «der rauchende Spiegel», der Gott der Erde
und der Materie, in welcher das Sonnenlicht reflektiert, Tezcatlipoca also,
bat eines Tages Quetzalcoatl, den Gott des Windes, die sich windende
Schlange, den Hurakan also, der über die Steppe dahingeht, ins Haus der
Sonne zu reisen, von der doch das Leben selbst stammt. Tezcatlipoca gab
ihm genaue Instruktionen: Wenn er die Küste erreichte, sollte er sich der
Hilfe der drei Diener Tezcatlipocas versichern: «Rohr und Meerschnecke»,
«Wasserfrau» und «Wasserungeheuer», die ihm als Brücken zum Hause der
Sonne dienen würden. Dort angelangt, sollte er um Musikanten bitten, um
sie zur Erheiterung der Menschen auf die Erde zu bringen. Die Musikanten
aber, von der Sonne gewarnt, weigerten sich. Nur ein einziger der
Musikanten, in weiße, rote, gelbe und grüne Gewänder gekleidet, wider-
stand der Versuchung des Windgottes nicht. Er ging mit Quetzalcoatl zur
Erde und schenkte den Menschen die Musik; dieser Musikant war ein
menschgewordener Himmelssohn, ein Gott, der herabsteigt, um die Men-
schen die Sprache des Gesangs zu lehren. Der Gesang, aus dem Nahuatl
übersetzt, lautet wie folgt24:

Tezcatlipoca, Gott des Himmels


und der vier Himmelsrichtungen,
kam auf die Erde und war traurig.
Von den äußersten Punkten
der vier Himmelsrichtungen rief er:
Komme, o Wind!
Komme, o Wind!
Komme, o Wind!
Komme, o Wind!
Über die traurige Erde verteilt,
hörte ihn der klagende Wind,
erhob sich über alles Geschaffene,
peitschte die Wasser des Ozeans
und zauste die Bäume,
bis er zu Füßen des Himmelsgottes
Ruhe fand und seine Sorgen abschüttelte.

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Da sprach Tezcatlipoca:
Wind, die Erde ist des Schweigens überdrüssig.
Sie hat Licht, Farbe und Früchte,
doch fehlt ihr die Musik.
Aller Kreatur soll Musik geschenkt werden.
Dem erwachenden Tag,
dem träumenden Mann,
der wartenden Mutter,
dem fließenden Wasser und dem Vogel in der Luft,
alles Leben soll die Musik erfüllen.
Eile durch die grenzenlose Trauer
zwischen dem blauen Dunst und dem Raum
zum hohen Haus der Sonne.
Umgeben sitzt dort Vater Sonne
von Musikanten,
die süße Töne ihren Flöten entlocken
und mit glühendem Gesange
das Licht ausstreuen.
Eile, bringe die besten
Musikanten und Sänger zur Erde.
Die schweigende Erde durcheilte der Wind,
durchmaß sie mit der Kraft seines treibenden Atems,
bis er erreichte das Dach des Himmels,
wo alle Melodien im Lichte wohnten.
Vierfarbig waren die Musikanten gekleidet:
in Weiß die Sänger der Wiegenlieder,
in Rot die Liebe und Krieg besangen,
in Himmelblau die Troubadoure der wandernden Wolke,
in Gelb die Flötenspieler, die Gefallen fanden
am Golde, das die Sonne von den Gipfeln der Welt holte.
Keine dunkelgekleideten Musikanten gab es.
Glänzend und glücklich waren sie,
ihr Blick war nach vorn gerichtet.
Als die Sonne den Wind entdeckte,
warnte sie ihre Musikanten:
Da kommt der lästige Erdenwind.
Stellt die Musik ein!
Hört auf zu singen!
Gebt keine Antwort!

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Wer nicht gehorcht, muß ihm
auf die schweigende Erde folgen.
Auf den Lichtstufen des Sonnenhauses
rief der Wind mit lauter Stimme:
Kommt, Musikanten!
Da antwortete keiner.
Der listige Wind erhob seine Stimme und rief:
Musikanten, Sänger!
Der höchste Gott ruft euch!
Doch blieben die Musikanten stumm
und tanzten im gleißenden Lichte der Sonne.
Da ergrimmte der Windgott.
Aus der Ferne trieb er schwarze Wolken
mit seiner blitzenden Peitsche heran,
das Haus der Sonne zu bestürmen.
Donner ließ er grollen.
Alles verkehrte sich, und die rote
Sonne schien zu ertrinken.
Angstvoll suchten Musikanten und Sänger
nun Schutz beim Windgott.
Sanft, damit er die zarten Melodien nicht verletze,
nahm der Windgott sie mit sich zur Erde.
Unten erhob die Erde ihr Antlitz
zum Himmel und lächelte.
Die erwachte Stimme seines Volkes,
die Schwingen des Quetzalvogels,
die Blumen und Früchte grüßten den Gott.
Als die Musikanten sich über die Erde verstreuten
und das Glück einkehrte,
da vergaß der Wind seine Klagen und sang,
Täler, Wälder und Seen liebkosend.
So kam die Musik auf die Erde.
So lernte alles zu singen:
der erwachende Tag,
der träumende Mann,
die wartende Mutter,
das fließende Wasser und die Vögel in der Luft.
Seit damals ist das Leben voll Musik.

48
Die Vorstellung von einem «Musikanten», der aus dem Sonnenhause zur
Erde kommt, um den Menschen die Musik zu bringen, besitzt zweifellos
eine große Nähe zu der Konzeption von Jesus als dem «Wort» Gottes, das
aus der Sphäre Gottes in diese Welt gekommen ist. Einwenden mag man,
daß der aztekische Mythos über die «Herkunft» der Musik keine «ge-
schichtliche» Dimension besitze, wohingegen sich im Johannes-Evangelium
gerade das Ewige mit dem Zeitlichen in der historischen Person des Jesus
aus Nazaret verbinde. Ein solcher Unterschied besteht, und er ist zweifel-
los sehr wichtig; doch vergleicht man lediglich die archetypischen Darstel-
lungsformen miteinander, so hebt sich diese Differenz natürlich auf; ja, um
diese Vorstellungsformen aus den verschiedenen Religionen und Kulturen
in ihrer Aussageweite besser zu verstehen, sollte man sie als einander kom-
plettierend und sich wechselseitig kommentierend betrachten.
So erzählen die südamerikanischen Yahuna-Indianer am Rio Apaporis,
einem Nebenfluß am Oberlauf des Amazonas, von Milomaki, der ihnen
die Musik brachte und mit ihr das Wissen um das Geheimnis von Tod und
Auferstehung. Die Mythe, die Anfang des 20. Jhs. von dem deutschen Eth-
nologen Theodor Koch-Grünberg entdeckt und veröffentlicht wurde,
lautet wie folgt25:

«Vor vielen, vielen Jahren kam aus dem großen Wasserhaus, der
Heimat der Sonne, ein kleiner Knabe, der so wunderschön singen
konnte, daß viele Leute von nah und fern herbeieilten, ihn zu sehen
und zu hören. Der Knabe hieß Milomaki. Als aber die Leute, die ihn
gehört hatten, heimkehrten und Fische aßen, fielen sie alle tot nie-
der. Da ergriffen ihre Angehörigen Milomaki, der inzwischen zum
Jüngling herangewachsen war, und verbrannten ihn auf einem
großen Scheiterhaufen, weil er schlecht wäre und ihre Brüder getötet
hätte. Der Jüngling aber fuhr bis zu seinem Ende fort, wunderschön
zu singen, und als schon die Flammen an seinem Leib emporleckten,
sang er:
‹Jetzt sterbe ich, mein Sohn, jetzt verlasse ich diese Welt!› Als sein
Leib von der Hitze anschwoll, sang er noch immer in herrlichen
Tönen: ‹Jetzt zerbricht mein Leib, jetzt bin ich tot!› Sein Leib zer-
platzte. Er starb und wurde von den Flammen verzehrt; seine Seele
aber stieg auf zum Himmel. Aus seiner Asche erwuchs noch an dem-
selben Tage ein langes, grünes Blatt. Es wurde zusehends größer und
größer, breitete sich aus und war am anderen Tag schon ein hoher
Baum, die erste Paschiubapalme. Denn vorher gab es diese Palmen

49
nicht. Die Leute aber machten aus ihrem Holz große Flöten, und
diese gaben die wunderschönen Weisen wieder, die einst Milomaki
gesungen hatte. Die Männer blasen sie bis auf den heutigen Tag, je-
desmal, wenn die Waldfrüchte reif sind, und fasten und tanzen zu
Ehren von Milomaki, der alle Früchte geschaffen hat. Die Weiber
aber und kleinen Knaben dürfen die Flöten nicht sehen, sonst müs-
sen sie sterben.»

Eine solche Erzählung kann uns helfen, die Aussage des Johannes-Evange-
liums von Jesus als dem «Wort» Gottes so wiederzugeben, daß der Mann
aus Nazaret uns lehren könnte, die geheime Musik der Welt im eigenen
Herzen zu vernehmen und im eigenen Leben zum Klingen zu bringen.
Ganz gewiß aber hilft uns ein solcher Vergleich zwischen den Religionen,
die Botschaft des «Christus» nicht länger ausschließend gegenüber den
fremden Kulturen und religiösen Überlieferungen zu interpretieren, son-
dern ihre in Wahrheit universal menschliche, einladende Bedeutung klarer
herauszustellen. Erst so verstehen wir richtig. Denn wie anders als univer-
sell könnte die Person und die Botschaft Jesu wirklich sein das Licht, das
im Dunkeln scheint? Warum die «Welt» es gleichwohl nicht «annimmt»,
wird die weitere Lektüre des Johannes-Evangeliums nach und nach zeigen;
immer wieder werden wir dann erleben, daß das «Licht» sich an der
Grenzschicht zur «Dunkelheit» bricht und eine verwirrende Fülle von
«Mißverständnissen» bei den «Menschen» der «Welt» erzeugt.

50
Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» –
3. Teil: Johannes der Täufer oder:
«Der nach mir kommt, ist mir zuvor.»

In den Johannes-Prolog ist Zug um Zug eine theologische Interpretation


eingeschaltet worden, auf die wir in den beiden vorangegangenen Aus-
legungen noch nicht zu sprechen gekommen sind, betreffend die Gestalt
Johannes’ des Täufers. Aus den ersten drei Evangelien oder aus einer Son-
dertradition ist dem Johannes-Evangelium überkommen, daß Jesus von
Nazaret, bevor er in die Öffentlichkeit trat, selber fasziniert gewesen sein
muß von einem anderen, seinem «Vorgänger», eben von dem Täufer. Von
dieser Person überliefert das Vierte Evangelium kein einziges historisches
Wort, schon weil es an dem historischen Auftreten dieses Mannes offenbar
nicht interessiert ist. Was das Johannes-Evangelium gleichwohl zu der
theologischen Auseinandersetzung um den Täufer bestimmt hat, war ver-
mutlich die Tatsache, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt die Johannes-
Bewegung noch parallel zur Jesus-Bewegung existierte; dieser Gruppe
gegenüber hält das Vierte Evangelium daran fest: Johannes der Täufer war
nicht der Messias, er war nicht das Licht, er wollte es niemals sein! Die
Worte, die dem Täufer als Zeugnis für den «Christus» in den Mund gelegt
werden, sind in dieser Form sicher nicht historisch zu bewerten. Was aber
aus diesen – geschichtlich gesehen – theologischen «Verfälschungen» sich
geformt hat, ist eine Frage von äußerstem religiösem Gewicht: Wie findet
man als Grundlage des Lebens die Liebe?
Historisch wie existentiell ist eine Erfahrung vorauszusetzen, die sich
unauflöslich mit einem Mann wie Johannes dem Täufer verbindet: das ist
das Leiden an der Wirklichkeit, das ist die Unmöglichkeit, das, was wir
Geschichte nennen, noch länger zu ertragen.
In den Tagen Jesu war es die Bewegung der Apokalyptik, die in die
Erlebnisgrundlage gerade der Frömmsten Eingang gefunden hatte. Man
will nicht länger, daß die Welt, die von Menschen gestaltete geschichtliche
Wirklichkeit, sich weiter so darbietet, wie sie es tut. Johannes dem Täufer
ist dies offenbar klar geworden: Es kann nicht länger mehr dauern, so wie
es zugeht, – diese Kette endloser Lügen, endloser Niedertracht, endloser
Kriege und Verheerungen. Da soll doch Gott endlich aufstehen und drein-
fahren! Das ist der Wunsch dieses Mannes. Das ist seine Gewißheit. Wenn
denn Gott ist, wird er die gleiche Ungeduld verspüren, wird er bereitstehen

51
zum Gericht. So lautet der religiöse Anteil der Predigt Johannes’ des Täu-
fers.
Was dieser Mann zu sagen hat, was seinen Widerspruch gegen die
«Welt» motiviert, ist bei näherer Betrachtung das, was wir in unserer Spra-
che heute Moral nennen würden. Der Täufer will den Menschen seiner
Zeit die Leviten lesen, und er tut es, wie kaum jemand vor ihm, mit äußer-
stem Ernst. Weil in seinen Augen keine Zeit mehr bleibt, drängt ihn alles.
In unglaublichen Katarakten von Fluch und Verwünschung, von Straf-
androhung und Warnung redet dieser letzte der Propheten Israels, und es
ist so viel, als wollte er auf widerspenstige Pferde mit der Peitsche einschla-
gen, um sie in die richtige Richtung zu zwingen. Die richtige Richtung sind
für Johannes die Vorschriften des Gesetzes, die Weisungen richtigen Han-
delns entsprechend der gottgebotenen Moral.
Im Johannes-Evangelium ist die Gestalt des Täufers reduziert auf die
Funktion einer «christologischen» Ansage; von einer Taufe Jesu durch
Johannes ist nicht mehr die Rede, und die Erfahrung Jesu während seiner
Taufe von der Herabkunft des Geistes (Mk 1,10) ist zu einer Bekenntnisvi-
sion des Täufers geworden (Joh 1,32). Doch um sich ein Bild von der Art
des Auftretens dieses Mannes zu machen, stehen uns immerhin einige
Worte zur Verfügung, die in der Spruchsammlung (der sog. Q-Quelle) ent-
halten waren und in Mt 3,1-12 und in Lk 3,1-18 aufgegriffen werden; – ra-
dikale, eindeutige und einfache Worte lesen wir da. Die Frage aber ist: Wie
verhalten sich der «Täufer» und der «Christus», Johannes und Jesus,
«wirklich» zueinander, «wirklich» in dem Sinne, daß es für unser Leben
einen entscheidenden Unterschied bewirkt?
Die übliche kirchendogmatische Auskunft über den Täufer lautet etwa
so: Er trat auf und verkündete die Buße, er führte die Taufe ein; doch das
war das «Unvollkommene». Danach kam Jesus Christus, der Sohn Gottes,
und mit ihm begann das Eigentliche. Ein Bild, das Matthias Grünewald
gemalt hat, kann diese Vorstellung verdeutlichen: Da steht ein Mann vor
uns, unrasiert, halb nackt, mit einem wilden Gewand um die Schultern,
seine ganze Person konzentriert in einem langausgestreckten Zeigefinger:
Johannes der Täufer, wie er hinweist auf das «Lamm Gottes». Auch dieses
«Opferlamm» hat Grünewald gemalt, so erschütternd wie niemand vor
ihm: ein Mensch, der sich in Schmerzen windet am Kreuz, vor einem
schwarzen, verfinsterten Himmel. Dazwischen, irgendwo, an der Nullstelle
aller Erklärungen, soll wie ein Morgennebel etwas eindringen von der
«Freude», die uns Christen beim Anblick dieser beiden Gestalten verheißen
ist. Bei Zuordnungen dieser Art versteht indessen niemand, wieso eigent-

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lich wir uns «freuen» sollen, daß es so kam, und vollends unklar muß blei-
ben, was Johannes der Täufer denn nun wirklich bedeutet hat, wieso er
das «Vorläufige» gewesen sein soll. Wäre es ihm nur darum gegangen, die
«Buße» zu predigen, so hätte er getrost seine Sache dem Mann aus Naza-
ret überlassen können, denn auch Jesus, weiß Gott, rief zur «Umkehr» auf
(Mk 1,15), was immer das heißen mag; und die Taufe des Johannes ist
vollends absorbiert von der Sakramentenpraxis der christlichen Kirchen.
Worin also besteht das Eigentliche dieses Mannes, das, was sich wirklich
als Zugangsweg zum Wesentlichen darbietet und was dann doch liegen-
bleiben muß, weil es von sich aus nicht weiterführt, ja, weil es gerade für
die, die es ernst nehmen, sich als unzulänglich und unzugänglich erweist?
Im Grunde sympathisieren wir alle wohl weit mehr und weit eher mit
Johannes dem Täufer, als daß wir die wahre Botschaft des Jesus von Naza-
ret an uns heranlassen würden. Selbst die verfaßten Kirchen stehen der
Botschaft des Täufers weit näher als der Provokation des Mannes aus
Nazaret. Immer wenn wir uns umschauen, ist uns der Mann am Jordan
höchst sympathisch. Wohl, er macht Angst, er redet furchtbare Dinge, er
beschimpft seine Zuhörer als «Natterngezücht», aber was er sagt, ist uns
so unbekannt und unvertraut gar nicht, – wir denken im Grunde genauso,
wie er, bis in die Alltagspraxis hinein. Dieser Mann steht da, und sofort ist
die Welt eingeteilt in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse, in Gott und
Teufel, ganz klar. Wenn ein Johannes richtig loslegt, gibt es eine klare De-
vise, was zu machen ist, – er weiß das. Wenn die Leute ihn fragen: «Was
sollen wir tun?», hat er, aus dem Ärmel, die richtige, die einzig klare Ant-
wort: unbedingt so und nicht anders.
Wir brauchen uns bloß umzuhören in irgendeinem Restaurant, wie die
Leute miteinander reden, wir brauchen nur mal mit einem Tonband aufzu-
nehmen, wie wir selber reden, wenn wir über andere reden, – es ist genau
derselbe Stil: Die Frau X hat dies und das falsch gemacht: – «und weißt
du, dieser Mann da, – ganz unmöglich!» Wir wissen scheinbar stets, wie es
richtig ist, nur leider unsere Zeitgenossen noch nicht in gleichem Maße;
aber das läßt sich ändern. Zwar besitzen wir in aller Regel nicht ganz den
Mut eines Johannes des Täufers, wir treten nicht gleich in der Öffentlich-
keit mit unserer Erkenntnis auf, aber im Grunde wüßten wir’s schon.
Darum bereitet uns ein Mann wie der Täufer bei allem Erschrecken eigent-
lich ein geheimes Vergnügen. Er redet all die Aggressionen frei aus sich
heraus, mit denen wir nicht klarkommen. Und diese scheinbar so verdam-
menswerte Welt, geordnet und eingeteilt unter seinem Krakeel und Ge-
schimpfe, steht uns im Grund sehr nahe. Ja, wir müssen sogar feststellen:

53
Die Kirche, die wir bis heute erleben, 2000 Jahre danach, ist nach wie vor
recht eigentlich eine Johannes-Kirche. Ihre Anweisungen sind streng, ihre
Gebote sauber geregelt, das Kirchenrecht ist da ein dickes Buch, und in all
dem verwaltet sich das Heil der Menschen nach Rezeptur und Anweisung.
Dabei sind die wenigen im Neuen Testament aus dem Munde des Täu-
fers erhaltenen Worte ethisch an sich durchaus bemerkens- und bedenkens-
wert. Lukas 3,11 zum Beispiel: Wer zwei Röcke hat, der gebe einen dem,
der keinen hat, und wer zu essen hat, tue ebenso, lesen wir da. In der Tat,
wie anders sähe die Welt aus, würden wir so handeln! Oder: «Wer Soldat
ist, verzichte auf Plünderungen, er lasse sich genügen an seinem Sold.» (Lk
3,14) Auch das ist ein Wort, das die Welt hätte verändern können. Welch
ein Soldat wird schon Kopf und Kragen in der Schlacht riskieren außer für
Plünderung? Wie sprach Stalin, als die Rote Armee in das deutsche Reichs-
gebiet von Osten her flutete? Es gab für die Rotarmisten kein Motiv mehr,
für Volk und Vaterland und Frauen und Kinder zu kämpfen, um sich bis
Berlin durchzuschlagen; es brauchte neue, andere Motive: die des Hasses
und der Vergewaltigung. Kriegsverbrechen? Völkerrecht? Vielleicht gäbe es
überhaupt keinen Krieg mehr, würde das Motiv der Habgier bei den Söld-
nern abgestellt, und nicht nur bei dem einzelnen Soldaten, sondern vor
allem bei den Auftraggebern: den Staaten und den Hintermännern der Po-
litik. Es würde keine Kriege mehr geben für Erdöl, für Absatzmärkte, für
Rohstoffe, für strategische Einflußzonen … Eine Moral, wie Johannes der
Täufer sie wollte, wäre wirklich in sich das Ende der «Welt», wie wir sie
kennen. Und der Mann am Jordan spricht’s klar aus: Entweder wird Gott
uns abschaffen – wir würden heute in säkularisierter Form sagen: wir zer-
stören die Voraussetzungen zum Überleben, wir richten uns selber zu-
grunde –, oder aber wir richten unser Handeln noch einmal neu aus, allein
weil es keine Alternative gibt.
Sagen wir selbst: Kann ein Mann mit gutem Willen, mit reiner Mensch-
lichkeit, etwas anderes tun, als so zu reden? Alle haben sie es auf diese
Weise versucht, die großen Moralisten der Weltgeschichte, die großen
Menschheitsführer. Sie haben Gebote erlassen: – gegen das Chaos das Ge-
setz, gegen die Willkür die Ordnung, gegen den Abgrund das Gebirge eines
moralisch zensierten und sozial organisierten Lebens.
Wie auch soll es anders gehen?
«Was ist zu tun heute?» fragte man vor Jahren Ex-Bundeskanzler Hel-
mut Schmidt. «Woran sollen wir uns halten?» Und er sagte: «An die Zehn
Gebote»; dann fügte er hinzu, im Wissen, daß es allmählich nur noch eine
verschwindende Minderheit sein dürfte, die von den Zehn Geboten irgend-

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eine Ahnung hat: «Und wenn nicht schon an die, dann an die Ordnung der
Freien Hansestadt Hamburg.» Er wollte ganz simpel sagen: Herrschen
sollte die Vorstellung, daß Pflichten sein müssen und daß Ordnung zu sein
hat. Diese Überzeugung vermittelt einem jeden der gesunde Menschenver-
stand, und das genügt erst einmal. Nicht gesagt hat Helmut Schmidt, daß
wir derzeit eine Jugend erziehen, der wir durch unser wirtschaftliches Han-
deln alle Werte zerstören, während wir ihr andererseits unentwegt den
Werteerhalt predigen. Wir leben in einer Welt, in der im Namen des Geldes
jede Art von Wert in der Natur zum Ausverkauf erklärt wird: – Berge,
Flüsse, Meere, Wälder, was man will, Menschen, ganze Kontinente stellen
sich dar als Spekulationsobjekte für die Meistbietenden. Da besitzt nichts
mehr einen Wert, außer dem, was sich auf dem Markt in Geldform als
Preisindex realisieren läßt. Was für ein Wertbewußtsein soll unter solchen
Umständen eine Jugend entwickeln? Welche Werte soll sie fühlen, wenn sie
sieht, mit welcher Gefühllosigkeit über fühlende Wesen, Tiere wie Men-
schen, hinweggegangen wird? Dieses Gesellschaftssystem, das auf seiten
seiner Moral immer wieder von Werten redet, zerstört in Wahrheit alle
Werte, und dazwischen, zwischen Wertbeteuerung und Wertzerstörung,
zermahlt es die Menschen und alles, was lebt.
Die Moral ist, so betrachtet, eine schwankende Größe. Man muß noch
hinzufügen, daß sie in sich selbst widersprüchlich ist. Sie formt sich in aller
Regel durch die Begriffe von Gut und Böse. Aber taugen diese Begriffe
wirklich in Verbindung mit Gott? Es war der große Mystiker Meister
Eckhart, der im 14. Jh. verurteilt wurde unter anderem dieses Satzes
wegen: «Es ist ebenso sinnlos, Gott gut zu nennen, wie es sinnlos ist, ihn
schwarz oder weiß zu nennen.» – «Irrtum!» sagte die Kirche, «todeswür-
dig»! sagte die Kirche, aber nur, weil ihre Theologen zu wenig nachdach-
ten. Was hat es für einen Sinn, zu sagen: «Gott ist gut», oder: «Gott ist
böse», im moralischen Betracht? Was macht es für einen Sinn, zu sagen:
«Es gibt Hell und Dunkel», oder: «Es gibt Blau und Rot»? Nicht einmal
die Wirklichkeit, wie sie uns optisch erscheint, läßt sich in derart einfachen
Typologien begreifen; denn hinter diesen bloßen Einteilungen nach dem
Augenschein wird man niemals darauf kommen, daß das Licht weder weiß
noch schwarz noch blau oder rot ist, sondern daß da elektromagnetische
Wellen existieren, die von unserem Auge in bioelektrische Impulse umge-
wandelt werden, die unser Gehirn als Farben interpretiert. Die Hertzschen
Wellen, die Maxwellschen Gleichungen – wie soll man sie finden, wenn
man bei der polaren Zweiteilung der sichtbaren Oberfläche stehenbleibt?
Und wie soll man Gott finden, indem man die Wirklichkeit, oder was man

55
dafür nimmt, prima vista moralisch in zwei Kategorien zerlegt, um dann
zu verkünden: Wir sehen das Absolute?
Gleichwohl erklärt das Vierte Evangelium über Johannes den Täufer, er
habe mit seiner Existenz Zeugnis gegeben für das Licht; er habe in seiner
zugespitzt moralisierenden Predigt etwas entdeckt, das dieser Welt der Fin-
sternis entgegensteht. Und in der Tat, wenn Johannes recht hätte, so wäre
es nicht einfach mehr selbstverständlich, daß Willkür und Barbarei sich
hinwegsetzen würden über jede moralische Ordnung der Kultur. Es scheint
durchaus nicht verkehrt, es erst einmal mit der Moral zu versuchen oder,
genauer gesagt, mit dem Gesetz, das in hebräischen Ohren mit dem Mann
Mose und der Verkündigung der Zehn Gebote am Sinai verschmilzt. In der
Vorstellung des Gesetzes liegt zumindest eine Erinnerung daran, daß es
noch etwas anderes geben muß als die bloßen Regungen und Regelungen
der Natur, um als Menschen zivilisiert miteinander zu leben. Die entschei-
dende Frage lautet nur, wem man das Predigen einer solchen Moral wirk-
lich glauben kann. Diese Einleitung zum Johannes-Evangelium behauptet
mit einer unglaublichen Kühnheit: Johannes der Täufer kam, um für das
Licht Zeugnis abzugeben, – damit man an das Licht glaube, etwas freier
übersetzt. Diese Aussage ist allerdings erstaunlich. Denn sie besagt, das
einzige, was die Moral glaubwürdig mache, sei der Umstand, daß sie von
einer bestimmten Person gelebt werde; sie lasse sich nicht einfach über das
Gesetzbuch verordnen oder über das Strafgesetzbuch durchsetzen; sie lasse
sich auf keinem Verwaltungswege den Menschen nahebringen; glaubhaft
mache sie sich einfach durch die Person eines Menschen, der sie lebt. Und
das freilich hat Johannes der Täufer offenbar getan; darin war er groß. Sei-
netwegen sollte man zu Gott in ein neues, radikal umstürzendes Verhältnis
treten, – «Moral» nicht als eine allgemeine Kategorie des sittlichen Impe-
rativs in logisch eindeutigen Ableitungen, sondern «Moral» als eine
menschliche Haltung, die sich fortzeugt, wie Feuer sich fortzeugt, indem
der entflammende Glutbrand ein anderes Material erfaßt, das sich in es
hineinhält. So Johannes der Täufer.
Historisch gesehen, spricht manches dafür, das Johannes der mönchs-
ähnlichen Bewegung der Essener von Qumran nahestand, die, noch phari-
säischer als die Pharisäer, aus streng orthodoxer Gesetzesfrömmigkeit den
Tempelkult in Jerusalem in den Händen der Sadduzäer strikt ablehnten
und die Zeit einer göttlichen Endabrechnung mit Israel wie mit den Völ-
kern für gekommen hielten. Johannes muß diese Überzeugung als letzte
Chance zur «Umkehr» nach außen getragen haben. Doch wie gesagt: das
Johannes-Evangelium interessiert sich nicht für Geschichte. Es traut dem

56
Täufer etwas zu, das historisch ihm nicht zuzutrauen ist und dennoch im
Sinne Jesu sich aus seiner Botschaft wie von selber ergibt: das Gespür näm-
lich für die Vorläufigkeit aller Moral. Wir berühren hier einen Punkt, der
auch mitten im Christentum nur sehr schwer begreifbar zu machen ist. In
den meisten Gesprächen über die Art, wie Menschen leben sollten, wird
man heute zuvörderst politische Auskünfte erwarten, und wenn diese nicht
weit tragen, dann zumindest moralische; doch daß das Nachdenken tiefer
gehen sollte, wirklich in den Grund und in die mögliche Begründung aller
Moral in der Existenz des Menschen, das ist kaum zu vermitteln. Und den-
noch muß es sich so verhalten, einfach deswegen, weil man die Moral nur
bis zu einer bestimmten Stelle hin ernst zu nehmen braucht, um zu merken,
daß sie nicht tragen kann.
Ein Beispiel dafür. Die Moral arbeitet mit dem Wort Gerechtigkeit als
mit einem ihrer besten Begriffe. Zweitausend Jahre nach Johannes dem
Täufer wären wir in der Tat glücklich, wenn wir sie fänden: Gerechtigkeit
zwischen Nord und Süd, Gerechtigkeit zwischen arm und reich, Gerechtig-
keit zwischen Mann und Frau, Gerechtigkeit zwischen Schwarz und Weiß
– es wäre unerhört, hätten wir endlich Gerechtigkeit auf dieser Erde. Alle
moralischen Forderungen hängen an diesem Begriff, so daß ein Papst wie
Pius XII. sogar eine Enzyklika schreiben konnte: Opus Justitiae Pax – Das
Werk der Gerechtigkeit ist der Friede. Und dennoch sehen wir, daß immer
wieder Kriege geführt wurden und werden, um «Gerechtigkeit» auf Erden
herzustellen, und wir müssen feststellen, daß die «Gerechtigkeit» stets
auch eine Kampfvokabel ist zum Rechthaben. Das genau aber war es, was
Jesus historisch gesehen hat. Wenn Menschen sich hinstellen und Gerech-
tigkeit verlangen, der eine von dem anderen, so machen sie sich hart in den
Forderungen ihrer eigenen Interessen und Ansprüche. Gilt ihnen ihr Anlie-
gen erst einmal für recht, ist es erst einmal Recht, so entsteht sogleich die
Pflicht, es mit geeigneten Mitteln durchzusetzen, wenn nötig mit den
äußersten Mitteln. Eben darin besteht die Gerechtigkeit, daß sie aus einer
Forderung sich zur Pflicht, zum Gesetz für jedermann verwandelt. Darin
liegt zweifellos ihre Stärke, darin liegt aber zugleich auch ihre Schwäche.
Jesus hat diesen Aspekt an der «Gerechtigkeit» von Gesetz wegen so deut-
lich gesehen: Was Menschen Gerechtigkeit nennen, ist soviel, wie wenn
Wasser seine «Ordnung» gewinnt, indem es einfriert – eine glasklare Ord-
nung entsteht, eine kristallen strukturierte Ordnung; im Unterschied zu
allen anderen Flüssigkeiten wird das Eis beim Einfrieren sich sogar ausdeh-
nen. Aber nichts lebt in dem Eis; alles erstirbt in dieser «Ordnung»; man
muß im Gegenteil zu dieser Struktur einer Ordnung des Erfrierungszustan-

57
des Energie hinzufügen, um das Wasser wieder zu verflüssigen, um es
schließlich in einen dritten Aggregatzustand zu bringen, daß es sich erhebt
und wolkenförmig wird und sich austauscht zwischen Regen, Tau und den
aufsteigenden Luftmassen, immer im Kreis. Das wäre die Dynamik des Le-
bens: ein ungeheurer Energiestrom ständiger Übergänge und ständigen
Wechsels. Es geht demnach nicht mehr darum, «Gerechtigkeit» als ein
Prinzip der Begrenzung des Egoismus des einen am Egoismus des anderen
mit den Mitteln der herrschenden Gewalt durchzusetzen, es geht im Sinne
Jesu darum, den anderen wahrzunehmen in seiner Not und dem gerecht zu
werden, was der andere notwendig braucht. «Wenn euere Gerechtigkeit
nicht größer ist als die der Pharisäer und der Schriftgelehrten», konnte
Jesus sagen (Mt 5,20), «werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen.»
Wie also wird da aus dem Zeugnis für das Licht im Sinne der Moral das
Licht selber, das Wissen um die unbedingte Notwendigkeit der Liebe?
Es ist so schwer nicht, diesen Übergang zu finden, wenn wir nur erst
einmal unseren Blick in dieselbe Perspektive richten, in die Johannes uns
drängen wollte. Nehmen wir an, Menschen wollten wirklich versuchen, so
gut es geht, nach der Gerechtigkeit zu leben. Werden sie dann nicht augen-
blicklich wieder beginnen, die Welt einzuteilen in Gut und Böse, in Gerecht
und Ungerecht eben, und wieder Gott zum Produzenten von Stacheldraht
erklären, indem sie wohlabgegrenzte Demarkationslinien zwischen den
Menschen errichten? Was aber ist es dann mit den Ausgegrenzten? «Die
sind selbst schuld», wird man sagen, «die haben die Gebote gekannt und
haben sie übertreten; deshalb müssen wir, die Guten, dafür sorgen, daß sie
bestraft werden. Es ist das Gesetz der Gruppe, daß man Regeln niemals
übertritt, außer daß der Übertreter Strafen für sein Vergehen erleidet. Das
ist die ganze Logik der Gerechtigkeit. Das Maß der Strafe drückt das Maß
des Wertes aus, den das Gesetz besaß, als es übertreten wurde. Je höher die
Ordnung, desto tiefer die Schuld, und um beide Schalen wieder ins Gleich-
gewicht zu bringen, bedarf es der Strafe.»
So einfach also könnte es sein unter uns Menschen, folgte man der
Moral des Gesetzes; aber so einfach geht es nicht, das spürte Jesus in der
«Nachfolge», in der letzten Konsequenz der Johannes-Predigt. Der Mann
aus Nazaret fühlte ganz einfach Mitleid mit den Menschen, die vom Ge-
setz im Stich gelassen werden, – ähnlich der Parabel Franz Kafkas von
dem Mann vom Lande, der zum Gesetz zitiert wird und keinen Eingang
findet, weil der Türhüter ihn nicht passieren läßt; er versteht durchaus
nicht, wo er sich befindet bzw. mit wem er es wirklich zu tun hat oder was
er selber tun soll. Die entscheidende Szene spielt bei Kafka in seinem

58
Roman Der Prozeß in einer Kirche: – die Religion selbst erscheint als reine
Gesetzesfrömmigkeit, die in ihrer Unmenschlichkeit die Menschen nicht
zum Leben zuläßt. Ewig werden die Menschen Kafkas sich vor diesem
«Gesetz» verhocken und nicht wissen, wie sie zu sich selbst gelangen
könnten1.
Machen wir die Probe aufs Exempel, um diese Sicht der Dinge zu be-
stätigen. Immer wenn wir uns umschauen und einen Menschen vorfinden,
der wirklich Hilfe braucht, werden wir geneigt sein, mit moralischem An-
spruch sein Leben zu ordnen: Dies und das muß er tun, – es ist so vernünf-
tig, es liegt so deutlich auf der Hand; der andere ist selber schuld, wenn er
einen so guten Ratschlag, wie wir ihn parat haben, nicht sofort aufgreift;
er muß ganz von Sinnen sein, wenn er sein Leben nicht entsprechend ein-
richtet. Aber vielleicht ist der andere in seiner Not ein Stück weit von Sin-
nen; vielleicht ist es ihm gar nicht möglich, das, was wir Vernunft nennen,
einfach so in sein Leben zu übernehmen. Je mehr ein Mensch in Not ist,
desto deutlicher werden wir sogar mit Sicherheit feststellen, daß es sich so
verhält. Hinter dem, was der andere tut, steht eine ganze Geschichte; oft
genug ist es gerade das, was er selber auf viele Jahre hin hat vermeiden
wollen. Bald schon werden wir merken, daß es mit keinem Gesetz der Welt
möglich ist, daran irgend etwas zu verbessern. Vor allem, wenn wir sehen,
wie Menschen an den Gesetzen, die sie eigentlich einhalten möchten,
immer wieder zerbrechen, werden wir spüren, wieso Johannes der Täufer
sehr wohl Zeugnis gibt für das Licht und doch niemals selber das Licht
sein kann: Er lebt nichts weiter als das Gesetz des Mose; das aber langt
nicht aus für die Verzweifelten, für die am Boden Liegenden, für die Zer-
brochenen.
Schauen wir uns also einmal an, wie die Welt aussähe, wenn Johannes
der Täufer das letzte Wort Gottes an uns geblieben wäre und wir die Ab-
sage, die Abwendung seines eigenen Schülers Jesus von Nazaret nie ken-
nengelernt hätten. Unser Leben verliefe dann so, wie wir es überall bei
denen antreffen, die im Gesetzessinne nicht «rechtschaffen» sind, sondern
die im bürgerlichen Sinne als Gescheiterte gelten müssen. Eigentlich nur
aus deren Perspektive, an den Rändern unserer Normalität, stellt sich das
moralisch-bürgerliche Weltbild, das wir gewohnt sind, «notwendig» in
Frage. Wenn wir uns aber erst einmal auf diese Infragestellung einlassen,
beginnt die Welt sich zu drehen, am Anfang sehr verunsichernd, fast chao-
tisch, dann aber äußerst lebendig, äußerst kreativ, von innen heraus frucht-
bar. Dazwischen liegt eine Phase, die fast unerklärbar ist, zu der man im
Grunde keinen Menschen zwingen kann; doch wer sie einmal an sich

59
selbst oder im Kontakt mit den Menschen, die ihm am liebsten sind,
durchlebt und durchlitten hat, gerät unweigerlich in diesen merkwürdigen
Strudel einer Umorientierung in allem.
Es beginnt damit, daß wir merken, wie Menschen an der Über-Ordnung
zerbrechen. In den Ohren all der Leute, die das Sagen darüber haben, wie
man den Sozial-Körper Kirche oder Gesellschaft durchformen muß, hört
sich der folgende Satz vermutlich skandalös an, aber er drückt eine einfa-
che menschliche Wahrheit aus: Jede gewaltsame Ordnung ist Unordnung;
und jede Ordnung enthält ein Stück Gewalt, die nicht von innen her, aus
der Identität eines Menschen mit sich selber erwächst, sondern die ihm von
außen «verordnet» wird.
Was da gemeint ist, hat nichts Abstraktes an sich. Ich kenne Menschen,
die wortwörtlich zu Mördern geworden sind einfach aus verzweifelter
Liebe. Sie haben wochenlang alptraumartig von dem, was sie nie tun woll-
ten, geträumt, sie haben Nächte durchlitten in Lady-Macbeth-Visionen
voller Blut, aber in Wirklichkeit suchten sie nur nach Leben, und die ein-
zige Stelle, an der sie es fanden, verweigerte sich, kränkte sie, tötete ihre
Seele. – Ich kenne Menschen, die haben abgetrieben, nur weil die Frucht
ihrer zerstörten Liebe sie selbst fast umgebracht hätte. – Ich kenne Men-
schen, die homosexuell geworden sind, weil ihr Bemühen um «Reinheit»
so groß war, daß sie es nie wagten, eine Frau zu berühren. – Andere sind
zu chronischen Dieben geworden nur aus dem Unvermögen, irgend etwas
erlaubtermaßen als ihr Eigentum zu empfinden. – Ich kenne Menschen, die
in ihrer Ehe zerbrochen sind, nur weil unter dem Schatten ihrer morali-
schen Ideale kein wirkliches Gefühl und keine gerade Rede reifen konnte.
– Ich kenne Menschen, die heute 30 Jahre alt sind und vollkommen asozial
leben, aber ich kannte sie bereits, als sie fünfzehn waren, damals hatte die
ganze Gemeinde sie lieb, damals führten sie die Ministrantenjugend an, da-
mals opferten sie sich für den bankrotten Haushalt ihrer allzu früh verwit-
weten Mutter, – sie führten ihr Geschäft, sie suchten für sie nach einem
Mann, aber es gab ihn nicht, und sie konnten ihn nicht ersetzen.
In all dem zeichnet sich immer wieder die gleiche Tragödie ab. Was
Menschen umbringen kann und immer wieder umbringen wird, ist dieses:
daß sie sich verzweifelt an eine Ordnung klammern, innerhalb deren sie es
ganz gut meinen; es fragt aber in ihrem Leben niemand, wie es ihnen selber
dabei geht. Menschen mit einem derart überfordernden Überich, psycho-
analytisch gesprochen, stehen da, wie die Figuren an manchen Häusern um
1900, die mit der Kraft eines Atlas oder Herkules den Balkon vor dem
Fenster im 2. Stock über der Tür tragen müssen. Das Firmament der

60
ganzen Welt ruht auf ihren Schultern; der Himmel würde offenbar einstür-
zen, wenn es sie nicht gäbe. Irgendwann aber brechen sie unter der Last
zusammen. Dann sind die andern erschrocken, dann schicken sie zum
Arzt, dann wissen sie nicht, woran das liegt, dann verstehen sie die Welt
nicht mehr. Aber wie, wenn ein solches Nichtverstehen einmal sich wan-
deln würde zu einem tieferen Nachschauen? Das zweifellos wäre das Ende
all der richtigen, so vernünftigen, so gradlinigen Redensarten. Es wäre
auch das Ende der religiösen Verklärung oder Stilisierung Johannes’ des
Täufers zu einer eigenen Lichtgestalt, wie sie in den Kreisen seiner Jünger
sich in der Bewegung der Mandäer2 zum Teil erhalten hat. Dieser Mann
wäre wirklich vorläufig. Ja, es gäbe auch und gerade ihm etwas Entschei-
dendes zu sagen, das etwa so klingen würde: «Als wenn die Welt aus
Schwarz und Weiß bestünde! Genau dazwischen, guter Johannes, liegt das
ganze Spektrum des wirklichen, farbigen Lebens; du aber erklärst es nicht,
du leugnest es einfach zugunsten deiner Schablonen, zugunsten deiner fer-
tigen praktischen Einteilungen. Noch nicht mal Grautöne sind in deiner
Wahrnehmung vorgesehen! Was also verstehst du, gutwillig prophetischer
Mann, vom Leben? Du magst denken, in der Wüste sähest du klar; aber
komm nach Jerusalem, komm nach Galiläa; geh über irgendeinen Basar in
Nazaret – du wirst dich wundern, wie unterschiedlich die Menschen wirk-
lich sind! Sie sind keine Steine, über die der Wind weht, um sie blankzu-
schmirgeln. Dein Mund hat nicht das Recht, derart rigoros über Men-
schenköpfe hinwegzureden. Was in den Herzen der Menschen vor sich
geht, das müßtest du sehen; dann würdest du merken, wie ein bißchen
Tau, wie ein bißchen Wasser, wenn es in den Boden eindringt, mitten in der
Wüste üppiges Leben erschafft. Im wirklichen Leben ist alles kompliziert.
Da ist überhaupt nichts erklärt mit deinen Worten eines moralischen Ent-
weder-Oder. Da wächst ein reines Wunder in den Herzen der Menschen
auf, wenn man es nur zuläßt.»
Mit solchen Worten geschähe es, daß wir das Leben noch einmal ganz
von vorn lernen würden und wir wüßten, daß niemandem geholfen ist,
indem wir ihm sagen, was er tun muß. Wenn wirklich ein Mensch nicht
weiß, was er tun muß, dann wissen wir es als Außenstehende gewiß auch
nicht; dann ist die seelische Verwirrung des anderen so groß, daß sie sich
nicht beruhigt, indem wir ihm erklären, wo es nach unserer Auffassung
langgeht. Dann hilft nichts anderes, als daß wir uns zu ihm setzen und ihm
einen kleinen Raum schaffen – von Gnade, müßte man sagen, wäre dieses
Wort in der Kirchensprache nicht so verfeierlicht, daß es nurmehr als eine
frömmelnde Redensart empfunden würde. Aber wollten wir im Sinne Jesu

61
dem anderen Augenblicke schaffen, in denen er in Ruhe atmen kann, in
denen er gerade nicht mehr denken muß: Was soll ich tun?, sondern: Wo
stehe ich eigentlich? Wie bin ich dahin gekommen? Was geht in mir vor
sich? – dann würden womöglich in ihm Kräfte freigesetzt, die noch nie-
mals zum Leben zugelassen waren; bis dahin galten diese Seiten in ihm als
das nicht weiter Ansehnliche, als das Unpraktische, als das Abweichende;
jetzt aber zeigt sich, daß es zu seinem Leben gehört, und er begreift, daß er
unvollständig, ja, eigentlich gar nicht wirklich gelebt hat und leben kann,
solange er das verdrängte Material nicht in sich einläßt.
Allem Anschein nach gehen wir mit dem Leben immer noch so um, wie
man es uns in der Schule beigebracht hat. In Geometrie zum Beispiel haben
wir gelernt, wie man Dreiecke, Vierecke, Kreise und Ellipsen berechnet,
und wir haben eine Menge Arbeiten über solche Themen geschrieben, die
uns im Rückblick womöglich immer noch stolz machen auf jene glorreiche
Zeit, in der wir all das wußten. Dann aber schauen wir uns um in der
Welt, und wir finden, daß es eigentlich keine Wolken gibt, die Kugeln
wären, keine Berge, die aussähen wie Dreiecke, keine Bäume von vierecki-
ger Gestalt. Und dennoch halten wir fest an den idealen Formen der eukli-
dischen Geometrie. Das Strauchwerk, die Zweige passen absolut nicht zu
dieser Geometrie, sie lassen sich überhaupt nur summarisch berechnen,
und doch berechnen wir die Stämme immer noch als angenäherte Säulen
mit kreisförmiger Grundfläche. Denn in der Tat: In jedem Sägewerk be-
währt sich diese Art von Geometrie, nur in der Natur kommen wir mit ihr
nicht zurecht. Genau besehen wissen wir nicht die Dynamik und Gestalt
einer einzigen Wolke exakt zu beschreiben. Wohl verfügen wir über eine
Menge an Meßstationen, Computerdaten, satellitengestützten Großauf-
nahmen, aber das einzige, was wir jeden Abend beim Wetterbericht erle-
ben, ist die Tatsache, daß wir für den morgigen Tag vielleicht die Großwet-
terlage einigermaßen richtig beschreiben können, daß aber die lokalen
Ereignisse, ob es in Bad Driburg schneien wird oder ob es in Paderborn
regnet, sich nur vermuten lassen, weil die Natur viel zu kompliziert ist, um
präzise Vorhersagen zu erlauben. Doch nun brauchen wir diese Einsicht
nur auf den Menschen zu übertragen. In jedem Fingerhut unseres Gehirns
sieht die Welt unendlich viel komplizierter aus als in den Turbulenzen einer
Wolke. In unseren Köpfen bestehen 1014 Verbindungen zwischen etwa 14
Milliarden Neuronen. In unserem kleinen Finger ereignet sich unablässig
an Zufälligkeiten weit mehr als in den Strömungen aller Weltmeere und als
in allen Vorgängen der gesamten Atmosphäre. Und das ist erst der Anfang
dessen, was für uns Menschen Leben bedeutet. Unsere Seele indessen ist

62
das Allerkomplizierteste. Wir haben am Ende des 20. Jhs. vielleicht zum
ersten Mal eine gewisse Ahnung davon bekommen, wie weit Gott uns ge-
schaffen hat, wie groß das ist, was wir Menschsein nennen; dieses Weite
und Große umfaßt alles, auch das uns ungeheuerlich Erscheinende, selbst
das Verbrecherische; es umfaßt alle Triebbereiche, alle Sehnsucht, alle Lei-
denschaft; es umschließt freilich auch die Hochherzigkeit, auch die Güte,
auch das Streben nach Vollendung, auch den Mut, sich immer wieder auf-
zurichten, auch die Fähigkeit, unsere Träume zu bewahren und nicht auf-
zuhören, weiter zu kämpfen, weiter zu leiden und weiter zu dulden. Wir
Menschen sind etwas Großartiges auf dieser Erde, und alles, was uns ver-
kürzt, und wär’s im Namen Gottes oder bestimmter heiliger Gebote, scha-
det am Ende weit mehr, als es nützt. Gott jedenfalls möchte, daß wir leben,
ganz und intensiv und groß – nicht weniger, sondern mehr.
Dann freilich ist keine «Ordnung» unter «Gläubigen» länger mehr
glaubhaft, die sich eher mit Johannes dem Täufer vereinbaren würde als
mit der Botschaft des Jesus von Nazaret. Denn dann hat es keinen Zweck
mehr, zurückzukehren in die heimlichen Beruhigungen, es sei trotz allem
möglich, Menschen den Kopf gerade zu setzen oder ihnen gegebenenfalls
den Kopf abzuschlagen. Wir könnten insgesamt damit aufhören, uns auf-
zuführen wie große, verängstigte Kinder; wir könnten die Herausforderun-
gen der Wirklichkeit, die ebenso verwirrend ist wie wunderbar, an uns her-
anlassen und auf sie antworten mit der Kraft, sie gelten zu lassen, sie zu
bejahen und, so gut es geht, sie zu verstehen.
Das Johannes-Evangelium gelangt bei der Interpretation der Gestalt Jesu
im Gegenüber der Botschaft des Johannes schließlich zu einer schier un-
glaublichen Formel: «Das Gesetz», sagt es, «ward durch Mose gegeben;
die Gnade, die Unverborgenheit Gottes (die Wahrheit) ward durch Jesus
Christus.» Dieser Satz, der wie eine Zusammenfassung der gesamten pau-
linischen Theologie klingt, stellt es in aller Klarheit in der Person des Täu-
fers und in der Person Jesu einander gegenüber: Verurteilen oder Verste-
hen, Anklagen oder Annehmen, Gesetz oder Gnade, – dazwischen gilt es
zu wählen als zwischen Entweder-Oder. Alle Moral, sagten wir, wirke wie
ein Licht im Winter: – es weise Wege in eine vereiste Welt, doch es schenke
nicht die Kraft, diese Wege zu gehen, es bringe kein Leben in diese Welt.
Nun aber, aus der Unmöglichkeit, mit Hilfe von Gesetzen menschliches
Leben zu gestalten, entdeckt sich plötzlich etwas ganz Neues, etwas viel
Tieferes, und das muß Gott sein: nicht ein oberster Gesetzgeber nach Maß-
gabe des Mose am Sinai, sondern eine Güte, die begleitet und versteht. Sie
ist die Grundlage aller «Wahrheit», der Unverborgenheit, in der er, Gott,

63
selber erscheint, als eine Energie, die macht, daß in unserem Leben über-
haupt so etwas wie Wahrheit zustande kommt. Keine Macht führt dahin,
daß wir mit uns selber zusammenwachsen und zu unserer eigenen Identität
hinreifen, als dieses Gespür: Es darf uns geben.
Der Psychoanalytiker Erich Fromm, vor fünfzig Jahren schon in seinen
frühen Schriften, stellte sich einmal zur Erläuterung der Botschaft Jesu
vom «Reich Gottes» vor, wie eine Gesellschaft aussähe, in welcher es keine
staatlich verfügten Strafen mehr gäbe3. Man wird von seiten unserer Poli-
tiker sofort sagen, wer so denke, sei ein Phantast, ein Träumer, ein Utopist;
aber Erich Fromm meinte es sehr ernst. Er meinte, eine Gesellschaft, die
strafe, weigere sich zu verstehen, sie bleibe patriarchalisch, denn ihre Stra-
fen seien nichts weiter als der Stock, den der Herr im Hause schon auf den
Schrank gelegt habe, um notfalls den Kindern «heimzuleuchten». So werde
nicht Moral begründet, sondern Gewalt; nicht Menschlichkeit, sondern
Herrschaft werde da ausgeübt. Wirklich von innen her lasse ein Kind, lasse
ein Mensch, lasse ein Erwachsener sich nur verändern, wenn man ihm
Raum gebe, sich selbst zu begreifen. Das stimmt. Alles weitere mögen
Schutz- und Notmaßnahmen sein, – Aktionen einer Hilflosigkeit, in der
wir immer wieder uns wohl befinden; Worte aber wie «Gerechtigkeit»
oder «Strafe» sind unendlich weit entfernt von dem, was im Johannes-
Evangelium sich mit der Person Jesu verbindet.
Von daher versteht man die nur scheinbar zeitliche Zuordnung, die der
Täufer vornimmt, wenn er von Jesus erklärt: Der nach mir kommt, ist mir
zuvor; er ist der Ursprung, nicht ich. Es geht bei diesen Worten nicht um
eine historische Abfolge von vorher und nachher; es geht um die Frage,
was unserem Leben «Ursprung» zu geben vermag: Was ist der Quell, was
ist die Energie, die uns trägt? Johannes erklärt sinngemäß: «Es ist wie bei
Wasser, das fließt: Man sieht nicht die Quelle, man sieht nur zunächst den
strömenden Fluß, und so mag auch ich manchem erschienen sein; aber der
Ursprung, der Ort, da das Gestein aufbricht und seinen Mund gewinnt,
um Leben zu schenken, das bin ich nicht, das ist etwas anderes; die sich
verströmende Energie, die alles kanalisiert, verkörpere nicht ich.» Sagen
wir so: Hinter aller «Gerechtigkeit», wenn sie den Namen verdient, kann
und darf nur die Liebe stehen. So ist der «Anfang», der «Ursprung» der
«Welt». Das jedenfalls macht die Erfahrung des Jesus von Nazaret aus; des-
halb ist er die Deutung unseres Lebens, das entscheidende Wort, der
Schlüssel zum Verständnis von allem.
Unvermeidbar erhebt sich an dieser Stelle die Diskussion bis heute zwi-
schen Juden und Christen: Ist in Jesus der «Messias» gekommen? Ist er der

64
Messias, der «König»? Antworten läßt sich auch im Sinne des Johannes-
Evangeliums auf diese Frage nur, daß dieses Problem sich nicht mit Bibel-
zitaten entscheiden läßt, sondern einzig in der Weise des Täufers: durch die
eigene Existenz, unseretwegen, der «Glaubenden» wegen, sollte man’s
glauben, wenn man’s denn glauben kann. Gerade da aber wird es schwer
halten, einen Menschen zu finden, der aufgrund eigener Erfahrung sagen
würde: «Was ihr Christen uns vorlebt, führt tatsächlich dahin, daß man
wirklich denken darf, die ganze Welt im entscheidenden habe sich verän-
dert durch die Ankunft jenes Mannes aus Nazaret, den ihr als den Gründer
des Christentums versteht.»
Was demnach bleibt, ist eine Vertiefung der Erkenntnis im eigenen
Leben, die wie von selbst in die Entdeckung Jesu hindrängt: Keines Men-
schen Leben löst sich nach Art der Gebotemoral; die zu Ende gedachte
«Gerechtigkeit» ist der Tod, und zwar nicht nur für den Schuldiggeworde-
nen, sondern auch und gerade für den, der meint, sie zu befolgen. Die ein-
zige Erklärung, die «Deutung», dafür, daß es uns überhaupt gibt, liegt in
der Haltung, die der Mann aus Nazaret im Namen Gottes in unsere Welt
bringen wollte; sie besteht darin, wahr zu werden in der Liebe und so zu
lieben, daß es in uns und um uns wahr wird.
Es gibt in der Spruchsammlung Q einen Satz, der im Lukas-Evangelium
(16,16) so aufgegriffen wird; er lautet: «Das Gesetz und die Propheten rei-
chen bis zu Johannes. Von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes
gepredigt.» – Sich zu Jesus zu bekennen ist diesen Worten nach identisch
damit, in Gott nichts weiter zu sehen, zu glauben, zu hoffen als eine Liebe,
die nicht verstößt. Das ist das «Reich Gottes», das «Wort», das Jesus zu
bringen kam und in seiner Person verkörpern wollte. Es ist die einfache
Wahrheit, die Jesus am Ende der Bergpredigt so formuliert: «Richtet nicht,
damit ihr nicht gerichtet werdet.» (Mt 7,1) Oder, wie Paulus (Röm 2,1)
schreibt:

«Worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst, weil du eben


dasselbe tust, was du verurteilst.»

65
Joh 1,19-34: Das Bekenntnis des Täufers
19Dies ist das Zeugnis des Johannes: Als die Juden von Jerusa-
lem aus Priester und Leviten zu ihm sandten, ihn zu befragen:
Du, wer bist du? – 20da legte er sein Bekenntnis unzweideutig
ab; er bekannte: Ich bin nicht der Messias. 21Da fragten sie ihn:
Was dann? Bist du Elia (Mal 3,23; Mt 17,10-13)? Und er sagt:
Ich bin es nicht. – Bist du der Prophet (Dt 18,15)? Und er ant-
wortete: Nein. 22Da sagten sie ihm: Wer bist du? – damit wir
denen Antwort geben können, die uns gesandt haben. Was
sagst du von dir selbst? 23Er sprach:
Ich: die Stimme eines, der ruft: In der Wüste
Macht gerade den Weg des Herrn,
wie der Prophet Jesaja gesprochen (Jes 40,3).
24Doch die Abgesandten waren von den Pharisäern. 25Und so

befragten sie ihn weiter; sie sagten zu ihm: Warum taufst du


dann, wenn du nicht der Messias bist und nicht Elia und nicht
der Prophet?
26Geantwortet hat ihnen Johannes, er sagte: Ich taufe in Was-

ser. Mitten unter euch steht einer, den ihr nicht kennt (Lk
17,21); 27der kommt nach mir; dem auch nur die Sandalen zu
lösen bin ich nicht wert. 28Das geschah in Betanien, jenseits des
Jordans, wo Johannes zum Taufen war.
29Tags darauf sieht er Jesus auf sich zukommen und sagt: Da,

das Lamm (der Knecht) Gottes, das die Sünde der Welt hinweg-
trägt (Jes 53,7). 30Der ist es, von dem ich sprach: Nach mir
kommt einer, der ist mir zuvor, denn er ist der Ursprung, nicht
ich (1,15). 31Auch ich kannte ihn nicht; doch daß er Israel
sichtbar werde, deswegen bin ich gekommen, in Wasser zu tau-
fen. 32Und Johannes hat es bezeugt, er sagte: Ich habe geschaut,
wie der Geist herabstieg, gleich einer Taube vom Himmel, und
er blieb auf ihm. 33Auch ich kannte ihn nicht; doch der mich
schickte, in Wasser zu taufen, der hat mir gesagt: Auf wen du
den Geist herabsteigen und auf ihm bleiben siehst, der ist es,
der in heiligem Geist tauft. 34Ja, ich, gesehen hab ichs und be-
zeuge es hiermit: Dieser ist der Sohn Gottes.

Gott hat niemand jemals gesehen. Der einzig Gottgeborene, … er ist die
Deutung – das waren die Worte des sogenannten Prologs. Eingestreut dort
waren Hinweise auf Johannes den Täufer, der seinerseits, wie das Vierte
Evangelium es sieht, ein Hinweis ist auf den Mann aus Nazaret. Nicht
wer war er, wer ist er? In immer neuen Kreisen greift es diese Frage auf,
formuliert seine Antworten, legt ihre Bedeutung aus und legt dabei ältere,
überaltert erscheinende Vorstellungen wie unbemerkt beiseite.

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Gott hat niemand jemals gesehen, nur er, der Sohn. Das ist die Zusam-
menfassung des johanneischen Prologs. Sie erfährt im Munde des Täufers
jetzt noch einmal eine Vertiefung. Was haben wir bisher gehört? Der Mann
aus Nazaret, meinte der Johannes-Prolog, ist, wie wenn aus den Weiten des
Kosmos Licht hineindrängt in die Tiefe der Nacht. Er ist, wie wenn aus
dem Schweigen des Dunkels eine leise Stimme sich erhebt. Er ist, wie wenn
aus dem Rauschen des Meeres die Brandung Leben ans Land spült. Er ist,
wie wenn aus dem Wehen des Windes sich ein sanfter Atem um einen
Menschen legt. Jesus, meint das Johannes-Evangelium, hat in die Wortlo-
sigkeit der Welt eine Anrede an uns Menschen getragen. Weil er selber sich
angeredet fühlte, begann er, das schweigende Geheimnis der Welt, den un-
sichtbaren Urgrund von allem, anzureden wie ein Gegenüber, wie etwas,
das uns gleichförmig ist, um uns selber sich gleichförmig zu machen. Das
Rätsel des Daseins gewinnt so seine Auflösung: Der «Sohn» ist’s, der den
«Schöpfer» der «Welt» erscheinen läßt als väterlich. Dieser mit sich ver-
söhnte Mensch, Jesus von Nazaret, wird die Deutung von allem.
Es war im 20. Jh. Martin Buber, der theologisch wohl am tiefsten dar-
über nachgedacht hat, was wir als Person bezeichnen. Buber meinte, kein
Mensch vermöge sein eigenes Ich auszusprechen, außer es habe über ihm,
«vor ihm» einen Mund gegeben, der ihn angesprochen hätte als Du, als
mein Du, und sei zu ihm in ein ganz und gar inniges Verhältnis der Liebe,
der Zugewandtheit, der Geborgenheit getreten1. Wann irgend jemand auf
ein solches Du mit seinem eigenen Ich antwortet, beginnt eine wirkliche
menschliche Rede, ein Dialog zwischen Ich und Du, in dem beide sich aus-
tauschen und beide sich wechselseitig einander verdanken. Ein solcher
Dialog, meinte Buber, sei der Grund aller Religion. Wie wir mit Men-
schen, wie wir mit Lebendem, mit Tieren, mit Pflanzen, mit Dingen, in
einen Dialog träten oder einen solchen Dialog verweigerten, das entscheide
darüber, ob sich unsere Welt öffne für Gott oder sich schließe vor ihm.
Beginnen wir, um diesen Zusammenhang zu erläutern, mit einem einfa-
chen Beispiel. Es ist möglich, etwa einen Hund, eine Katze, zu betrachten
wie einen Gegenstand. Es, das Tier, ist und bleibt in solcher Betrachtung
ein Es. Es ist ein Gegenstand von Zuchtversuchen, von Dressurversuchen,
von Manipulationen, um es auf dem Markt besser zu verkaufen, es ist eine
Ware, die sich austauscht gegen Geld. Was dieses Es fühlt und empfindet,
gilt dabei für nichts, es spielt keine Rolle, es ist nur ein Es, es ist niemals
ein Teil unserer menschlichen Welt. Aber wie menschlich ist eine solche
Welt, die ein fühlendes Wesen als Neutrum, als Es betrachtet und behan-
delt? Wie eng macht sie sich, wie verroht wird sie sein? Ein Kind schon

67
wird mit seinem Hund, mit seinem Kätzchen anders verfahren. Ein Kind,
das seinen Hund oder sein Kätzchen streichelt, tritt, kaum daß es reden
kann, mit diesem ihm eigentlich unbekannten Wesen in ein Gespräch. Für
ein spielendes Kind wird sein Tier ein Gegenüber, ein Du; es gibt diesem
Du einen Namen, und fortan ist dieses Du nicht mehr irgendein Hund,
irgendeine Katze; das angeredete Tier tritt in die Welt dieses Kindes als
etwas Einzigartiges ein, das nur (zu) ihm gehört; und eines Tages wird
sich’s begeben, daß allein schon das lautmalende Geräusch der Tonfolge
seines ausgesprochenen Namens dem Hund, der Katze, sagt, daß sie ge-
meint sind von diesem Kind, von diesem einen Menschen, und eine Brücke
spannt sich zwischen Mensch und Kreatur. Zwei ganz verschiedene Weisen
sind das, Welt zu erleben: das Es oder das Du, und je nachdem, welche die-
ser beiden Weisen wir bevorzugen, entscheiden wir darüber, was für Men-
schen wir sind. Es entscheidet auch darüber, wie wir die Kernaussagen des
Christentums verstehen.
In der christlichen Dogmatik wird Jesus der Sohn Gottes genannt. Wie
aber, wir sähen in ihm ein Du, das uns nie zu einem Es macht, das nie zum
Zentrum einer Aktivität wird, die uns in Objekte verwandelt, sondern das
bleibend etwas ist, das mit sich reden läßt und das wir anreden dürfen?
Dann verstünden wir das Johannes-Evangelium in seiner «christologi-
schen» Aussage sehr tief. Denn in der Tat, das wollte Jesus sein: Träger der
Überzeugung, Gott lasse mit sich reden, er sei ein ewiges Du, freilich so,
daß bei ihm all unser Reden ans Ziel kommt und sich selber wiederfindet
in seinem Ursprung. Mit Gott reden wir, weil wir immer schon angeredet
wurden von ihm. Dieses Du ist ein Ich, Jesus aber steht in den Augen des
Johannes-Evangeliums dazwischen als die Person, die uns mit seinem Ich
ein absolutes Vertrauen in jenes unsichtbare Du schenken möchte. Er
spricht, um uns einzuladen, selber zu reden. Er kommt auf uns zu, um uns
anzubieten, mit ihm zu gehen. Er streckt seine Hand aus, damit wir ihm
die unsere reichen und uns von ihm die ganze Welt und unser eigenes
Leben noch einmal ganz neu zeigen lassen.
Auch unter uns Menschen ist dieser Unterschied zwischen Du und Es
oder Sie und Er deutlich spürbar. Wir reden über einen anderen Menschen
in der dritten Person: da ist er, der Sowieso, oder sie, die Sowieso, und
scheinbar wissen wir von ihm oder von ihr allerhand; wir tauschen über
ihn, über sie Informationen aus, richtige oder erdichtete, wohlmeinende
oder gehässige, ehrliche oder hämische; in solcher Rede verfügen wir über
den anderen als über einen Gegenstand unserer Beurteilung, denn unsere
Worte und Qualifikationen legen ihn fest, sie machen ihn zu einem Beute-

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gut unserer Vorurteile und Redensarten, wir wissen vermeintlich Bescheid
über ihn. Da ist er oder sie nichts weiter als Er oder Sie, als ein Teil der ob-
jektiv festlegbaren Es-Welt. Wie aber, der Spuk löste sich auf und aus dem
Nebel träte die Person des anderen wirklich an uns heran? Wir könnten
gar nicht mehr über sie reden, sondern es wäre unvermeidlich, mit ihr zu
sprechen, mehr noch, sie sprechen zu lassen. Alles verflöge dann plötzlich,
außer der andere, gezwungen vom Druck der ihm auferlegten fremden
Meinung, wäre sich selbst gegenüber bereits so entfremdet, daß er nur
noch den Redensarten getreu beziehungsweise in Reaktion von Widerstand
und Widerspruch darauf zu antworten vermöchte. Wirkliches Menschen-
wort, das den anderen anspricht als Du, schenkt ihm Freiheit, sich wirklich
zu äußern; Ich und Du aber finden zueinander einzig in der Liebe. Deshalb
bezeichnet das Vierte Evangelium Jesus als den Sohn, sagen wir besser: als
den Versöhnten, als den in der Mitte seiner selbst anderen Frieden und
Liebe Schenkenden.
Kann man Gott beweisen? Kann man zeigen, wie aus der Hand eines
absoluten, allmächtigen Wesens die Welt hervorging? Im Sinne des Johan-
nes-Evangeliums entzieht sich das Geheimnis der Schöpfung jeder Einsicht,
jeder «gnostischen» Spekulation. Aber ein Mensch, der selber als Mensch
leben will, setzt eben dieses unergründbare Geheimnis als duhaft voraus,
ohne diese seine Voraussetzung tiefer begründen zu können, als daß allein
eine solche Perspektive auf ein absolutes Du den Grund dafür bietet, sich
überhaupt als ein individuelles Wesen, als ein Ich, zu riskieren, das Skla-
vendasein wechselseitiger Verfügbarkeiten zu verlassen und als eine freie
Person in diese Welt zu treten.
Das Johannes-Evangelium hat diese Zusammenhänge in eigentümlichen
Wendungen, die der Gnosis entlehnt sind, zu beschreiben versucht. Mit sei-
ner Schilderung der Person des Täufers aber knüpft es an Überlieferungen
an, die in den ersten drei Evangelien vorliegen: Alles beginnt dort mit dem
Auftreten des Täufers. So auch hier. Doch nicht wie dieser Mann historisch
gewirkt hat, ist die Frage des Johannes- Evangeliums, sondern wie er dazu
tauglich ist (oder tauglich gemacht wird), das Geheimnis der Person Jesu
wiederzugeben, der zum Grund des Muts wird, selber als Menschen Perso-
nen zu werden, – das ist die Frage hier. Da kommen von Jerusalem aus
Priester und Leviten an den Jordan und richten an den Täufer ihre Fragen.
Noch bei Matthäus (3,7), noch bei Lukas (3,12-14) sind es (entsprechend
der Überlieferung der sogenannten Q-Quelle) alle möglichen Gruppen, die
sich zu ihm drängen: Sadduzäer und Pharisäer bei Matthäus, Zöllner und
Soldaten bei Lukas, und sie fragen nicht: Wer bist du?, sondern: Was sol-

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len wir tun? Sie sind dort allesamt selber Betroffene, selber Suchende, sel-
ber Fragende, weil persönlich In-Frage-Gestellte. Nur solche, auch histo-
risch gesehen, dürften sich damals aufgemacht haben an den Step-penrand
der judäischen Wüste, um ihr Leben unter der Botschaft des Täufers vor
Gott in Ordnung zu bringen. Hier, im Johannes-Evangelium, verhält es
sich anders. Sie kommen – man bekommt das Wort in dieser Betonung
schwer über die Lippen – als Juden zu Jesus. Das Wort bezeichnet für das
Vierte Evangelium eine Gruppe von Menschen, die über ein festgelegtes
Vorwissen von Gott verfügt, das in ihren Augen unveränderlich und un-
korrigierbar gilt und das als gegebenes Wort Gottes durch keine neue Er-
fahrung zu erschüttern ist. Bezogen auf das Judentum, das es wirklich gibt,
kann diese Darstellung wie eine bittere Karikatur erscheinen; doch bezo-
gen auf uns selbst kann sie eine gültige Typologie für eine Gefahr abgeben,
die in jeder Religion zu jeder Zeit und an jeder Zone der menschlichen Ge-
schichte schlummert. Nur jedenfalls wenn wir die Darstellung des Johan-
nes-Evangeliums von den «Juden» in diese Richtung auf uns selbst hin
weiterverfolgen, läßt der theologisch begründete Antijudaismus, der in die-
sen Wendungen immer wieder durchschimmert, sich ein Stück weit auflö-
sen. Machen wir uns den Text also für unseren eigenen Gebrauch zunutze,
statt selber gegenüber «den Juden» in einem falschen Wissen dazustehen,
wonach wir, die Christen, die Hände erheben, mahnend und strafend über
jene anderen, jene Mörder an ihrem Messias, wie es das ganze sogenannte
christliche Abendland aus Texten wie diesen abgeleitet hat. Nehmen wir
deshalb auch «Jerusalem» und den «Tempel», in dem die Priester und Levi-
ten ihren Dienst verrichten, für einen symbolisch auf uns selber bezogenen,
nicht länger mehr historischen Raum. Dann müssen wir sagen, die Frage
der Leute am Jordan gehe im Johannes-Evangelium danach, wie überhaupt
ein religiöses Reden von Gott sich beglaubigen lasse.
Der erste Ort einer solchen Beglaubigung steht scheinbar schon immer
ganz einfach fest: Was man von Gott weiß, lernt man im Kultus, lernt man
im Ritual, vollzieht man in bestimmten Zeremonien; in diesen wohnt dann
die Gottheit. Es gibt in der Religionswissenschaft tatsächlich die Meinung,
man habe die Gottheit als ein Du überhaupt erst bezeichnet in den Zu-
rufen, in den Akklamationen des Kultes, wenn die Gemeinde bis an den
Rand des Ekstatischen gedrängt wurde und es aus ihr herausschrie: oho!
und joho! In solchen Erfahrungen sei Gott als Jo oder Johu geboren wor-
den, als eine Anrede im Taumel der Sinne2. Der Kult in Israel war in den
Tagen des Johannes weit weg von großen ekstatischen Erlebnissen, doch
immer noch hielt sich die Vorstellung, gegenwärtig sei Gott, wo Priester

70
ihn herbeiriefen, wo Rauchopfer zum Himmel stiegen und das Blut der
Tiere dampfend mit dem Fettgeruch ihm in die Nase dringe, um den Zorn
der Gottheit wie in den Tagen des Noah zu versöhnen mit der Schuld der
Menschen (Gen 8,20-22). Blutrünstige und archaische Opfer erschienen
nötig, damit Gott aus der unendlichen Ferne seiner Gerechtigkeit und
Strafmacht, ein wenig milde geworden, sich wieder herabbeuge zum Men-
schen – eine religionspsychologisch schreckliche Vorstellung, weil immer
wieder gebunden an Opfer, an Vorleistungen, an Einschränkungen und
an die Qualen unschuldiger Lebewesen, aber – so will es die Religions-
geschichte – immer auch ein bequemer Weg, das Persönliche an das ver-
meintlich Objektive des Priesterdienstes zu delegieren. Da ist die Antwort
auf jede lebendige Frage des menschlichen Lebens schon immer vorhan-
den. Nichts Neues gilt es zu entdecken, nur immer gründlicher das Voran-
gegangene zu erforschen. Ihm getreu zu obliegen ist der ganze Inhalt einer
solchen Religion.
So also kommen sie von «Jerusalem», Priester und Leviten, erstaunt
über Johannes den Täufer. Indem er messiasgleich den Anschein erweckt,
etwas Eigenes, anscheinend Neues, so noch nie Gehörtes unabhängig vom
Tempel- und Priesterdienst zu sagen, muß er sich ohne jeden Zweifel erst
einmal vor den Hütern von Tradition und Gesetz beglaubigen. Die Gründe
einer solchen Beglaubigung aber liegen längst fest: Der Messias am Ende
der Tage wird die jüdische Religion wiederherstellen in ihrer Reinheit, er
selbst wird auftreten als der Oberste der Priester; eigentlich unvorstellbar
deshalb, daß er nicht selbst aus der Kaste der Priester hervorgehen würde!
Aber selbst wenn man Gott freie Hand gäbe, seinen Messias in unsere Welt
und Geschichte zu senden, wie es ihm beliebte, so bestünde die einzige Le-
gitimation im Grunde darin, die (sadduzäische) Priesterherrschaft abzulö-
sen durch die Herrschaft des Messias. Wenn er käme, so würde neu einge-
setzt werden, was König David einmal verkörperte, das Großreich Israel,
die nationale Macht des auserwählten Volkes, der Krafterweis Gottes
durch den Sieg der Tochter Zion. Religion und Thron, Ideologie und Herr-
schaft, Kult und Königsdienst werden in dieser Vorstellung austauschbar,
ja, sie sind ein und dasselbe, Himmel und Erde würden so miteinander ver-
schmelzen.
Johannes der Täufer, gefragt, wer er sei, kann auf dieses Ansinnen im
Johannes-Evangelium nur mit einem einzigen Wort entgegnen: Das ist er
nicht! Das heißt: so will er’s nicht. Was ihm vorschwebt, ist etwas voll-
kommen anderes. Man muß, in Erinnerung an die ersten drei Evangelien,
auch unter historischer Perspektive nur einmal sehen, wie dieser Mann da-

71
steht: Nichts hat er an sich von einem David oder Salomo, ganz im Gegen-
teil: hären gewandet, asketisch, bettelarm, todernst, bohrend, suchend wie
eine ausgestreckte Hand, die zum Himmel weist, wartend, ob dort Ant-
wort zu vernehmen sei. Ein Messias-Anspruch läßt sich durchaus nicht
verbinden mit einem Mann wie Johannes dem Täufer.
Doch man ahnt in seiner Nähe die Richtung, in die hinein man weiter-
fragen muß. Es gibt andere historisch tradierte Hoffnungen, die Erwartung
der Wiederkunft des Propheten Elia zum Beispiel. Auch das würde sich
priesterlich und levitisch reimen. Elia ist nach einem Prophetenwort aus
Maleachi 3,23 verheißen für das Ende der Tage. Noch heute, bei jeder Pes-
sah-Feier im jüdischen Kult, wird man im Kreis der Familie einen Stuhl frei
lassen, könnte es doch sein, daß, wie damals in den Tagen des Aufbruchs,
der Befreiung aus dem Glutofen Ägyptens, der Engel Gottes erneut auf-
träte in der Gestalt des Elia. Was dieser Mann bedeutet, ist verschmolzen
mit dem Sturz des heidnischen Götterglaubens, mit dem Kampf gegen die
Religion Kanaans, mit dem Sturz des Baalskults (1 Kön 18,1-40). Elia war
es, in der Legende vom Gottesurteil auf dem Karmel, der die Altäre der
Fremdpriester zerstörte, der die Priester selber vernichtete und den zerfalle-
nen Altar Jahwes neu errichtete. Wenn Elia wiederkäme in dieser Pose
eines Propheten mit dem Schwert, könnten die Priester zufrieden sein. Er
würde sein Werk in ihnen erfüllt sehen und ihnen selbst die Vollendung
ihres Tuns unter göttlichem Segen schenken. Johannes der Täufer aber hat
mit dem Tempel in Jerusalem historisch so wenig zu tun wie mit dem Kö-
nigsthron in Jerusalem. Nicht nach der Art versteht er sich; Prophet ja,
aber der wiedergekehrte Elia, zum ideologischen Freibrief der Sadduzäer
womöglich, – so nicht.
Ob er denn der Prophet sei? So erwartete man nach einem Rätselwort
aus dem Buch Deuteronomium (Dtn 18,15) Mose selbst. Er war der Pro-
phet, von dem es heißt: Niemand mehr aber trat auf in Israel, der gewesen
wäre wie er, mit all den Taten und Wunderzeichen und Krafterweisen, ein
Mann, mit dem der Herr geredet hätte von Angesicht zu Angesicht (Dtn
34,10-12). Mose verkörpert religiöse Führung und Erneuerung in einem
Umfang, dem Johannes nicht entsprechen kann; was er predigt ist kein
neuer Aufbruch, sondern Gottes Abbruch, das Ende dieser Welt.
Wie überhaupt kommt die Vorstellung zustande, es müsse aus der Ver-
gangenheit jemand wiederkommen, um das Alte wiederherzustellen und
damit das Neue in seine Wahrheit zu setzen? – Es geht uns Menschen
immer wieder so, daß wir in Zeiten geraten, in denen wir vor lauter
Schmerz kaum in die Zukunft zu schauen vermögen. Wenn es gegen den

72
Druck der Wirklichkeit irgend noch Hoffnung geben soll, dann muß sie in
Bildern dessen liegen, was wir einmal erlebt haben. Wir träumen uns
zurück, um die Gegenwart zu ertragen; wir malen in den Bildern der Ver-
gangenheit die Verheißungen der Zukunft. Nicht eigentlich um Reinkarna-
tion geht es dabei, daß etwa Elia, noch einmal wiedergeboren, in einer an-
deren Gestalt käme, oder Mose, es geht darum, daß das, was sie damals
taten, dringend heute geschehen müßte. Nur wie soll es geschehen? Und
wie kann es überhaupt geschehen? Wie kann ein Mensch auf die Frage ant-
worten: Du, wer bist du?
Negativ kann er viele Antworten geben. All die Modelle, die man über
ihn zu legen sucht, erscheinen unzulänglich. All den Schubladen, in die
man ihn zu stecken trachtet, wird er entsteigen, – er findet sich an jeder
Stelle anders. Aber wie bestimmt er sich positiv?
Das eigentümliche Geheimnis dessen, was wir eine menschliche Person
nennen, besteht darin, daß wir auf die Frage: Du, wer bist du? eigentlich
aus uns selber heraus gar nicht zu antworten vermögen. Im Johannes-
Evangelium wird es später immer wieder die Frage auch an Jesus sein:
Womit begründest du dein Zeugnis? Und die Antwort Jesu wird lauten,
daß jedes Selbstzeugnis ein Trugbild sei, eine Wunschphantasie, ein Ideal,
das ein Mensch sich zurechtmacht. Wer ist er wirklich? Jesus wird sagen:
Nicht ich beglaubige mich, sondern der, der mich gesandt hat (Joh
5,31.32.36.37). In diese Richtung hinein spricht auch hier schon Johannes,
den wir den Täufer nennen.
Verdeutlichen wir uns das Gemeinte in einem Gedankenexperiment.
Wenn man uns fragt, wer wir sind – einen jeden von uns –, werden wir nur
sagen können, nicht: «Ich bin dies und das», sondern: «Ich verhalte mich
wesentlich zu diesem und jenem. Um mich zu verstehen, muß ich dich ein-
laden zu schauen, was mir wirklich wichtig ist, woraus ich lebe, was für
Überzeugungen, was für Motive es sind, die mich tragen, auf welch ein
Ziel hin ich blicke, wenn ich sage: Ich existiere. Was ist der Inhalt, der Sinn-
entwurf meines Daseins? Daraus bestimmt sich, was für eine Person ich
bin.» Wir müßten nur, statt von «Entwurf» und «Sinnrichtung» zu reden,
erneut für uns ein bestimmtes Gegenüber wählen, das uns wesentlich ist.
An dem gemessen, auf das hin bestimmt sich, wer und was eine Person in
ihrem Innersten ist. Die einzige Antwort auf die Frage: Du, wer bist du?
müßte demnach heißen: «Was ich bin, ergibt sich aus dem, was ich liebe;
das ist’s, was meine Seele sucht; das ist’s, wohin meine Gefühle wandern,
ungewiß noch, wo ihr Halteort sein wird. Dieses andere bedeutet für mich
eine Zone der Ruhe, ein Angekommensein, ein Mich-selber-Finden.»

73
Keine Person gründet in sich, sondern was sie von sich sagen kann, ist
einzig diese Bewegung, in der sie sich zu etwas verhält, von dem her sie auf
sich zurückkommt und dem sie sich eigentlich verdankt. So redet an dieser
Stelle Johannes der Täufer, indem er als erstes ein Wort des Propheten Je-
saja (40,3) zitiert: Ich – eines Rufers Stimme. Soll man daraus schließen,
Johannes definiere sich hier als eine reine Sehnsucht, als jemanden, dessen
ganzes Ich darin bestehe, etwas mitzuteilen, das weit über ihn hinausgehe?
So viel ist wahr: Der Inhalt von all dem, was er ausruft, was er anruft, ist
dieses Prophetenzitat, das wahr werden soll in seiner Gestalt in der Wüste:
Macht gerade den Weg des Herrn!
Wir sind gewöhnt und werden so erzogen, in der Religion im wesentli-
chen ein bestimmtes Ensemble von lehrhaften und satzhaften Wahrheiten
zu erblicken. Religion erscheint uns als stimmig, wenn wir in ihrem Um-
kreis bestimmte Thesen, bestimmte Dogmen hersagen können, aufsagen
können, ansagen können. Ganz anders, viel einfacher indessen ist die Er-
fahrung im Judentum mit seinem Gott: Gott findet sich gerade nicht im
Aufsagen von Doktrinen, Gott ist vielmehr das Gegenüber, das uns meint,
das Gegenüber, das mit sich reden läßt, das Gegenüber, das uns zur Spra-
che bringt.
Und jetzt Johannes der Täufer. Er wählt zu seinem Aufenthalt den Land-
schaftsraum der Wüste, aber doch nur, um zu zeigen, wie wir leben, – wie
verwüstet unser Dasein ist. Da hinein, in eine Welt, die keine ist, in einen
Ort, der niemals Heimat wird, in eine Verlassenheit, die ein Überleben
nicht gewährleistet, da hinein will er Wahrheit und Richtung bringen.
Macht gerade den Weg (des Herrn)!
Als Lebenskunst erklärt man uns in aller Regel nicht, wie man richtig
lebt, sondern wie man überlebt, mit welchen Tricks und Finten, mit wel-
chen Verstellungen und Verdrehungen. Alles geht da kreuz und quer, nie-
mals geradeaus. Aber das, meint Johannes der Täufer, sei doch der Anfang
von allem: Macht gerade den Weg! Denn nur auf einem solchen werde
Gott in unser Leben treten.
Es ist ungeheuer viel, was Johannes der Täufer sich hier vornimmt, denn
er mutet uns zu, diese «Begradigung» unseres Lebens wirklich zu finden, –
keine Ausreden mehr, keine Tricks mehr, keine Doppelbödigkeit mehr, nur
noch geradeaus! Es wäre das Ende der Versteckspielerei, es wäre das Ende
der Angst des einen vor dem anderen, es wäre das Ende der ständigen Mi-
mikry, nach außen anders zu scheinen, als man in Wirklichkeit ist. – Gera-
deaus leben, das ist, daß Außen und Innen endlich eins werden. Alles
schon steckt in diesem so kurz formulierten Programm, und die Frage stellt

74
sich allein, wie wir’s denn können. Die Sehnsucht danach hätten wir alle
gewiß, so sein möchten wir schon; nur: wie gelangen wir dahin, an die
Stelle, wo der Weg gerade wird?
Es wirkt fast hilflos, wenn Johannes im folgenden ein zweites Mal auf
die Fragen der Abgesandten aus «Jerusalem» antworten muß. Das Johan-
nes-Evangelium erklärt sie für «Pharisäer». Das kann historisch kaum sein.
Die Pharisäer waren eine zwar kleine, aber mächtige Laienbewegung, die
sich einer möglichst genauen Gesetzesbefolgung hingab, die Priester aber
im Tempel sind keine Pharisäer, sondern Sadduzäer, sie vertreten eine gänz-
lich andere Geistesrichtung, die, gestützt nur auf die Thora (die ersten fünf
Bücher Mose), in Kooperation mit den Römern Religion und «Realpoli-
tik» als gleichberechtigte Ziele betrachtet; – gleichviel, das Johannes-Evan-
gelium verbindet mit den «Juden» schlechterdings diejenigen religiösen
Kräfte, die in seiner Entstehungszeit (Ende des 1. Jhs.) wirksam sind. Das
sind die Pharisäer, indem diese nach der Zerstörung des Tempels im Jahre
70 und nach dem Ende der Sadduzäer mit der Konzentration auf die Bibel-
auslegung die Grundlage des Talmuds und des Judentums heutiger Prä-
gung schufen; diese Kreise sind Johannes bekannt als sehr genau untersu-
chende, eben gesetzeskundige Leute, die alles auf Gramm und Milligramm
auf die Waagschale ihrer Thorainterpretation legen. Denen traut er die fol-
gende Frage zu: «Wie kommst du, Johannes der Täufer, dahin, taufen zu
wollen im Jordan, wenn du alles das nicht bist, was wir eben noch von dir
hören wollten: nicht der Messias, nicht ein zweiter Elia, nicht ein zweiter
Mose – wer also dann?» Das soll heißen: «Was gibt dir das Recht, einen
Kult zu begründen, der nicht von uns, den Gesetzestheologen, oder von
uns, den priesterlichen Autoritäten, ausgeht? Berufen kannst du dich nicht
auf die Weissagung des Ezechiel (47,1-12) von dem Strom, der dem Tem-
pelinneren entspringe wie im Paradies die vier Quellströme (Gen 2,10-14),
er durchfließe die ganze Stadt und mache die Wüste fruchtbar. Hier fließt
der Jordan, wild und frei, er hat nichts zu tun mit Jerusalem, und an seinen
Ufern stehst du, Johannes! Wieso?» Nichts steht über diesem Mann, der
sich vermißt, Gottes Wort den Weg zu bereiten, keine Behörde, keine
Instanz, vor der er sich beglaubigen könnte. So aber wollen sie’s; anders
sprechen sie ihm jede Legitimation ab. Also noch einmal: Wie kommt er
dazu, zu taufen?
Johannes der Täufer wiegelt in seiner Antwort die Frage als unwichtig
ab. Priesterlich ist es zu denken, daß allererst der Kult Gott in die Kirche
bringe, daß es die Priester seien, die im Kult zu «Gottesvätern» würden:
die Priester zeugten und erzeugten durch ihre rituellen Aufführungen aller-

75
erst die Gegenwart des Göttlichen. So die Vorstellung der Priester in allen
Religionen. – Johannes der Täufer denkt da viel einfacher, viel persönli-
cher, weil «prophetischer»: «Ich habe getauft», sagt er, «mit Wasser»; will
sagen: «Alles, was ich tun konnte, bestand darin, der Sehnsucht der Men-
schen nach Reinheit rechtzugeben.» Sie lebt in allen. Irgendwann möchten
sie aussteigen und aufsteigen aus dem Schmutz, aus dem Elend, aus dem
ständigen Hinabgezogensein in den Morast von Lüge, Anpassung, Korrup-
tion und Selbstverrat; irgendwann möchten sie noch einmal ganz von vorn
anfangen, wie wenn sie wieder neu zur Welt kämen, so ursprünglich, so
unverfälscht wahr, wie sie’s im Grunde sind. «Bewirken kann ich das
nicht», sagt Johannes ausdrücklich dabei, «aber den Menschen Recht
geben in ihrem Verlangen nach einem unverfälschten Leben, das muß und
möchte ich unbedingt. Denn den Menschen das abzusprechen, das hieße,
sie für Gott unfähig zu machen.»
In der Tat: die Sehnsucht der Menschen am Jordan nach Reinheit und
Wahrheit ist unendlich viel mehr wert als all die geheiligten Zeichen und
Bilder der Tempelverwaltung. Hier sind Menschen, die einfach sich vor
Gott hinstellen. Und für diese Haltung der Gottunmittelbarkeit steht selber
Johannes der Täufer; das ist die Art seiner Gottesvorbereitung, seiner
«Prophetie». Worauf er hinweist, ist etwas schlechterdings Unbekanntes,
Neues, Unableitbares, das keine Gesetzesauslegung und Schriftauslegung
zu erklügeln vermag. Es wohnt mitten im Menschen und ist dennoch nicht
greifbar. Das Paradox der «Menschwerdung» ergibt sich immer wieder
daraus, daß das, was uns am Ende rettet, sich nicht einstellt aus verbesser-
ten Verfahren kirchlicher oder gesellschaftlicher Einordnung; im Gegenteil,
wir lassen uns ein auf etwas, das mitten in uns lebt; und dieses «etwas»
tritt in Erscheinung, völlig überraschend für die anderen, unvermutet in
jeder Hinsicht, ganz anders als von uns selber gedacht. Doch eben darin
besteht die Chance unserer Personwerdung; da ist etwas, das in jedem ge-
schehen kann, wenn ein wenig Liebe ihn berührt. Plötzlich entsteht da
etwas, das in ihm schon immer angelegt war, und trotzdem: es existierte
noch nicht, so daß man’s hätte vorhersehen oder vorhersagen können.
Wenn es jetzt in Erscheinung tritt, so offenbart es sich deshalb wie ein rei-
nes Wunder.
In einer merkwürdigen Verschränkung von Zeitlichem und Wesentli-
chem fügt Johannes jetzt hinzu: «Das, was da kommen wird, ergibt sich
nicht aus dem, was ich bin, sondern umgekehrt verhält es sich: indem ich’s
vorbereiten will, erweist es sich als Grund von allem, was ich möchte.»
Sagen wir so: Alle Sehnsucht der Menschen wäre nicht vorhanden,

76
wenn sie sich nicht einer Wahrheit verdanken würde, die schon immer in
ihnen liegt. «Du würdest», sagte der französische Philosoph Blaise Pascal
einmal, «mich doch nicht suchen, wenn du mich nicht immer schon gefun-
den hättest.»3 Von keinem Gegenstand auf Erden läßt sich so etwas sagen.
Unsere Brille, wenn wir sie suchen, haben wir eben nicht gefunden, ja, wir
finden sie um so schwieriger, als wir sie, ohne es zu wissen, auf der Nase
tragen. Bei jeder sachlichen Wahrheit, bei jedem Verhältnis zu einem Es, ist
das erkenntnistheoretische Prinzip des Blaise Pascal schlechterdings un-
sinnig; aber im Persönlichen, im Religiösen, gilt es unbedingt: Wir sehnen
uns nur nach etwas, das uns im Grunde immer schon gemeint hat. Wir lie-
ben eigentlich immer nur das, was uns als innere Kraft von Ewigkeit her
durchströmt, nur daß es sich plötzlich zusammenfügt: Es wird in uns ganz,
es verschmilzt mit uns in einer neuen, so nie gekannten Form des Daseins.
All die Fragen der Priester, der Leviten, der Pharisäer an Johannes den
Täufer müßten wir jetzt noch einmal durchgehen, um sie in der Gestalt des
«Christus», wie Johannes ihn sieht, konvergieren zu lassen. Er, dieser bis
dahin Unbekannte, sagt der Täufer, sei das Lamm Gottes. Die Bibelaus-
leger haben die begründete Vermutung, daß wir dieses Wort noch anders
übersetzen sollten, weil das aramäische Grundwort im Griechischen schon
mißverstanden worden sein könnte. Die johanneischen Schriften, so viel
steht fest, also das Vierte Evangelium, die Johannes-Briefe und vor allem
dann die Geheime Offenbarung, die ebenfalls unter dem Namen Johannes
firmiert, stellen die einzige Schicht im Neuen Testament dar, die von Jesus
redet als dem Lamm Gottes. Was sich damit verbindet, entstammt im
Grunde priesterlichem Gedankengut und bietet eine Deutung des Kreuzes-
todes Jesu nach dem Vorbild einer Prophezeiung aus Jesaja 53,7: der
Knecht Gottes werde wie ein Opferlamm an der Schlachtbank sterben,
ohne Widerstand, ohne Klage. Auch das Pessahlamm, das man schlachtete,
um im Vergießen seines Blutes Gott mit den Sünden der Menschen zu ver-
söhnen, verband sich mit dieser Vorstellung.
Das also sieht Johannes der Täufer vor sich, als ihm Jesus begegnet. So
der wörtliche Text des Johannes-Evangeliums. So denn auch malten es vor
allem die Maler des Mittelalters und der Renaissance-Zeit: Johannes der
Täufer weist hin auf ein Lamm, aus dessen Seite das Blut in den Kelch
der christlichen Abendmahlsfeier fließt (Abb. 1). So betrachtet, wiese Jo-
hannes der Täufer auf Jesus hin als auf den Neubegründer eines nun nicht
mehr jüdischen, sondern christlichen Kultes. So aber denkt der Evangelist
eigentlich nicht; gerade dem Johannes-Evangelium liegt nicht an der Ein-
richtung von «Sakramenten», sondern an der Änderung der menschlichen

77
Existenz durch das Wort, das in der Person Jesu erklingt. Dem griechi-
schen «Lamm» liegt denn auch der aramäische Ausdruck talja zugrunde,
der soviel heißen kann wie Diener oder Knecht, und so wäre ursprünglich
der Text wohl zu verstehen gewesen: Nicht das Lamm, sondern der Knecht
Gottes im Sinn des Jesaja, sei Jesus in den Augen des Johannes, er sei die
Verkörperung des leidenden Gerechten, der durch seine Person alle Men-
schenschuld auf sich geladen und fortgetragen habe, um uns zu befreien.
Der Unterschied zwischen beiden Vorstellungen liegt auf der Hand. In
dem einen Fall geschieht das Entscheidende durch ein priesterliches Ritual,
in dem anderen Fall durch die persönlich gelebte Existenz. Beide Auffas-
sungen müssen sich nicht absolut widersprechen, aber richtig verstehen
läßt sich beides wohl nur, wenn wir begreifen, was denn unter der Schuld
zu verstehen ist, die weggenommen wird durch das «Opfer» eines Un-
schuldigen (Tiers oder Menschen).
Gewöhnt sind wir an die Lehre der kirchlichen Dogmatik, daß Jesus
durch das Opfer seines Lebens Gottes Zorn beschwichtigt habe; er, der all-
zeit Gerechte, habe uns, den Ungerechten, schließlich vergeben aufgrund
des Sühneopfers des einzig Sündelosen. Lehren, die so paradox sind, lassen
sich nicht rational auflösen; sie sind schlechterdings archaisch; wenn man
sie überhaupt sinnvoll interpretieren will, muß man sich an die Psycholo-
gik der Vorstellungen und Mechanismen im Unbewußten des Menschen
halten. Es geht um die Frage: wie ereignet sich «Erlösung»?
Gehen wir, statt von dem kultischen Bild des sterbenden «Gottesknech-
tes», einmal aus von der Erfahrung, wie ein Mensch einem anderen
«Schuld» «fortnehmen» kann. Ein Erfahrungsraum, an dem das geschehen
kann, ist idealtypisch ein therapeutisches Gespräch, ein heilsamer Dialog
zwischen Ich und Du, bei dem einer der Gesprächspartner eintaucht in die
Fragen, Klagen, Anklagen, Vorwürfe, Entwürfe, Übertragungen, kurz, in
die unbeglichenen Rechnungen im Leben des anderen. Was man dabei
deutlich spürt, ist die Tatsache, daß es nicht möglich ist, sich über Schuld
zu unterhalten wie über einen fremden Gegenstand, also sich gewisser-
maßen von Amts wegen wie ein Pastor im Beichtstuhl, in objektiver
Distanz, anzuhören, wie der andere seine Vergangenheit ausbreitet. Nur
wenn der Hörende selbst mitbetroffen ist durch die Erkenntnis seiner eige-
nen Fehlbarkeit, kann sich zwischen zwei Menschen Vergebung ereignen.
Es ist natürlich nicht damit getan, daß der eine dem anderen sagt: «Ich
habe hier und da dies und das falsch gemacht», es geht vielmehr darum,
daß der eine dem anderen hilft, die Frage zu beantworten: Wer bin ich
denn selbst, wenn ich auf diesem Wege gegangen bin, der mir im Rück-

78
blick oder schon damals als Schuld erscheinen muß oder mußte? Wo stand
ich damals? Wer war ich damals? Diese Frage: wer bin ich denn selbst?
läßt sich nur beantworten, wenn jemand ohne Vorwurf und ohne zu rich-
ten begleitend mitgeht.
Eben deshalb kann das Beispiel eines psychotherapeutischen Gesprächs
als Modell hilfreich sein. Eine Frau, ein Mann klagen sich wegen bestimm-
ter Vorkommnisse oder Verhaltensweisen in ihrem Leben an; Erlebnisse
sind das, derentwegen sie sich immer schon geschämt haben bis in die Ge-
genwart, – so wie sie damals waren, wollten sie nicht sein. Sie haben sich
ihren Fehler im Grunde niemals verziehen, vor allem weil ihnen die Folgen
ihres Tuns so deutlich vor Augen stehen. Sie haben anderen Menschen weh
getan, sie haben andere Menschen durch ihr Verhalten für immer geschä-
digt; das ist ihre Schuld, und sie läßt sich nicht durch irgendeine magisch-
sakramentale Absolutionsformel aus der Welt schaffen. Wie soll ein sol-
cher Konflikt sich anders lösen, als indem der eine (der «Therapeut») mit
dem anderen sich auf den Weg macht und noch einmal alles durchgeht,
was damals war? Zu fragen ist also: Wie stellte die Situation sich damals
dar, als es zu der Schuld kam? Wie viele Möglichkeiten, sich anders zu ver-
halten, gab es eigentlich? Wieviel Spielraum hatte das eigene Ich, anders zu
handeln, als es dann tat? Wieviel Einsicht stand ihm zur Verfügung? – Je
genauer man hinsieht, desto gerechter wird das Urteil, das heißt genauer
gesagt: desto sicherer hebt all die «Gerechtigkeit» einer äußeren Bewer-
tung sich auf; es gibt keine Maßstäbe mehr, die starr die Welt einteilen
könnten nach Richtig und Falsch, nach Gut und Böse; und vor allem: der
übliche retrospektive Trick versagt, das Zurückliegende vom sicheren Ufer
der Gegenwart aus zu bewerten, sozusagen aus Schaden klug geworden.
Alles, was war, erzählt sich unabgegolten noch einmal, so offen, wie es da-
mals war, und die Frage stellt sich, was jetzt zu tun ist. Eine Antwort dar-
auf läßt sich nicht von außen finden; nur durch eine langsam reifende Be-
wußtwerdung der damaligen Motive und Zusammenhänge, nur durch eine
tiefere Einsicht in die Art der eigenen Persönlichkeit, legt nach und nach
eine Lösung sich nahe. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die alte Schuld
der Seele eingebrannt wie ein fremder Besitzstempel; und sie läßt sich ins
Leben nur integrieren, wenn man die Situation von damals durch eine neue
Stellungnahme in die eigene Freiheit übernimmt. Je dichter ein Mensch
einem anderen auf den Stadien seines Lebensweges kommt, wird dieses
Gefühl einer Akzeptation im ganzen, einer Aufhebung der Schuld, sich
ausbreiten.
Und wie hängt dies mit dem Bild von dem Opferlamm oder dem Got-

79
tesknecht zusammen? mag man sich fragen. Nun, da wird jemand willent-
lich belastet durch das, was einem anderen Menschen so schwer war; er
kann das um so leichter, als es ja sein Leben nicht ist; nur – er trägt es weg
durch seine Nähe, er nimmt es fort durch seine Worte, durch seine Person
und am meisten durch seine Liebe. Das alte Bild in den Gottesknechts-
liedern des Jesaja meint: Menschen, die so handeln, tun, was Gott will;
sie sind die Dienstboten Gottes; – der Ausdruck «Knecht Gottes» klingt in
unseren Ohren, wie aus dem Umfeld der Sklaverei entlehnt, entwürdigend;
sagen wir daher: Sie sind Gottes Lieblinge, sie sind seine wirklichen Kin-
der, sie sind seine eigentlichen Söhne. In dieser Deutung ahnen wir auch
bereits, was das Johannes-Evangelium sagen will, wenn es Jesus immer
wieder als den Sohn (Gottes) bezeichnet; das Bild vom Lamm Gottes aber
setzt nur kultisch nach außen, was mit der Rede vom Knecht Gottes ge-
meint ist.
Erst damit löst die Paradoxie der christlichen Opfertheologie sich auf.
Denn natürlich möchten wir das niemals, daß jemand stellvertretend für
uns leidet; wir wollen nicht durch eigene Schuld einen anderen Unschuldi-
gen zugrunde richten.
Was bleibt, ist allerdings die Notwendigkeit, daß wir manchmal durch
verschlossene Türen gehen müssen; daß dabei mancher Weg, der sich neu
öffnen könnte, oft genug verbarrikadiert wird von alten Ängsten; daß die
Umgebung in aller Regel Menschen ablehnen wird, die etwas Neues versu-
chen; daß insbesondere in Sachen Gottes jede Freiheit wegzensiert zu wer-
den pflegt von den Festeingefahrenen, von den Gottesbeamteten, die als
Gottesdiener auftreten, von den Gottesexperten, die den Suchenden im
Wege stehen, von den mit Gott Geld und Geltung Verdienenden, die alle
Sich-Öffnenden als eine Gefahr empfinden.
Eben daran liegt es, daß das Schicksal von dem «leidenden Gerechten»
in Israel in den letzten Jahrhunderten vor Christus zu einem Typus religiö-
ser Existenz werden konnte: Wer im Namen Gottes den Menschen Freiheit
bringen möchte, gerät notgedrungen immer wieder in einen Konflikt auf
Leben und Tod. Die Größe Jesu ohne Zweifel lag und liegt darin, daß er
vor dieser Herausforderung nicht zurückwich. Normalerweise macht der
Tod uns Angst, wir ziehen uns zurück, wir lassen uns von der drohenden
Zukunft wieder zurückdrängen in den breiten Strom des Immer-Gewese-
nen; das Überschreiten der Schwelle fällt uns zu schwer. Jesus aber war
diese Öffnung quer durch die Sperrwand der Angst; er ging hindurch
durch seine Angst. Deshalb war er der Gottesknecht oder das Gotteslamm
oder schlechtweg: die Tür. Es wird eines der schönsten Worte der Gehei-

80
men Offenbarung schließlich sein, wenn es gleich am Anfang schon heißt:
«Ich sah eine Tür geöffnet im Himmel.» (Offb 4,1) Das ist die wohl spre-
chendste Deutung des Bildes vom Gotteslamm: Grenzen zu überschreiten,
Zwingburgen der Vergangenheit für die Zukunft zu öffnen, Menschen zu
erlösen von Angst und Schuld – eine Tür zu werden für Eingeschlossene.
Von daher können wir das, was einmal Messias oder Elia oder Mose
hieß, in unsere Sprache neu übertragen. Jesus nimmt wirklich das auf, was
Johannes nicht sein konnte und wollte. Wohl, er ist kein «König» nach der
Art von David oder von Salomo, er ist kein nationaltheologischer Heros,
er ist kein Führer auf dem Weg in einen heiligen oder gerechten Krieg, bei
dem die himmlischen Heerscharen auf seiten der schärferen Schwerter stets
siegreich fechten, ganz im Gegenteil: Jesus tritt auf als jemand, der den
Menschen ein Gefühl für ihre eigene Souveränität, für ihre eigene königli-
che Natur schenkt. Das macht ihn zum «Messias» am «Ende der Tage»,
das zum Vollender des Glaubens.
In gleichem Sinne ist Jesus in gewisser Weise auch ein wiedergekehrter
Elia, doch wieder ganz anders als das historisch-legendäre Vorbild. Jesus
mordet nicht wie jener die Baalspriester, er kämpft nicht mit Haß und Fa-
natismus gegen die Götzen der Heiden, er löst ganz einfach die Angst in
unserer Seele auf, die immer wieder geneigt macht, Gott zu einem Götzen
zu erniedrigen und die eigene Psyche in eine Vielzahl von Schreckgestalten
zu zerlegen. Das Vertrauen, das der Mann aus Nazaret vermittelte, gab
den Menschen ihr Ich zurück und zeigte ihnen Gott als eine einzige in sich
vertrauenswürdige Person. Das in der Tat ist Jesus: ein Elia, der nicht mehr
gewalttätig kämpfen muß gegen die Zersplitterung der Seele des Menschen
in eine Vielzahl widersprüchlicher «Götzen», sondern der die zugrundelie-
gende Angst auflöst durch seine gütige Gegenwart.
Eine Nebenbemerkung scheint sinnvoll. In der Religionsgeschichte der
Menschheit gab es niemanden, der dieser Elia-Zeichnung des Jesus näher
käme als im Alten Indien der Buddha. Er kämpfte nicht wie Elia am Kar-
mel gegen den Götzen-, Dämonen- und Brahmanenglauben, er beseitigte
all das ganz einfach, indem er zeigte, woher in der Seele des Menschen all
diese Vorstellungen aufsteigen; wenn ein Mensch sich nur ruhig hinsetzt
und zu sich selbst findet, so die Erfahrung und Lehre des Buddha, so wür-
den all die Gespenster von selber sich auflösen; der Buddha mußte die Göt-
ter des Brahmanismus nicht ausrotten; eine Seele, die sich klärt, beseitigt
wie von selbst die Projektionsformen der abgespaltenen Anteile der
menschlichen Psyche nach außen. Ist dazu eine Taufe nötig? Der Ritus des
Taufens war schon im Alten Indien bekannt; aber der Buddha erledigte das

81
Baden im Ganges unter den Augen der Priester mit einem einzigen Satz:
«Warum zum Flusse gehen? Er ist nur Wasser!» – Daß ein Mensch rein
wird nicht durch eine Formel noch durch einen Ritus, sondern allein durch
die Reinheit seines Lebens, das war um 500 v. Chr. gelebte geistige Über-
zeugung in Indien.
Johannes der Täufer wird selbst die Gestalt des Mose in Jesus vorwegge-
nommen und wiedergekehrt finden, dargestellt in dem Bild vom Auszug
aus Ägypten, in dem Symbol für das Ende der Unterwürfigkeit unter frem-
dem Machtbefehl. Für eine solche Befreiung nach innen wie außen steht
die Person Jesu auch in historischem Sinne. Wer aufhört, Gott auf neuroti-
sche Art zu fürchten, wer frei wird im Vertrauen auf Gott, für den gibt es
auch keine menschlichen Mächte mehr, die im Namen Gottes über ihn re-
gieren könnten. Was für ein Irrtum deshalb, aus diesem Mann aus Nazaret
einen neuen Römischen Staat in Form einer zentral regierten Kirche ent-
wickelt zu haben, erneut mit der Unterwerfungsforderung gegenüber den
allzu gehorsamen Untertanen! Welch ein Irrtum dann, die Freiheit des
Mose beim Auszug aus dem Land der Fremdherrschaft in Ägypten rückzu-
verwandeln in ein vatikanisches Staatswesen, in das Menschen eingeglie-
dert werden wie gehorsamspflichtige, weisungsabhängige Untertanen!
Welch ein Unding vor allem, aus diesem zweiten Mose in Gestalt der
Papstmonarchie einen römischen Cäsar gemacht zu haben, zum Verwech-
seln ähnlich dem historischen David, aber nicht diesem neu verstandenen
Bild des Messias!
Johannes der Täufer wird im Johannes-Evangelium seine Überzeugung
in der Gestalt eines neu sich entwickelnden Mythos wiedergeben. Die er-
sten drei Evangelien sprechen von einer Erfahrung, die Jesus bei seiner
Taufe gemacht habe; das Vierte Evangelium hingegen erklärt, Johannes
habe gesehen, wie der Geist Gottes zu dem Mann aus Nazaret herabstieg
gleich einer Taube und auf ihm ruhte. Die Frage bleibt natürlich, wie man
die Geistbegnadetheit eines Menschen erkennt, außer indem man sich sel-
ber vergeistigt. Nur ein inneres Sehen mit den Augen der Seele nimmt den
Herabstieg einer solchen Taube des Geistes wahr.
Sucht man für die Taube als Bild des Heiligen Geistes ein religionsge-
schichtliches Vorbild, so müßten wir es unter anderem im Alten Babylon
suchen. Die Taube war dort ein Symbol für die Göttin der Liebe, für die
Göttin Ischtar. In dieser Bedeutung übernehmen im 4. Jh. vor Christus die
Griechen das Symbol der Taube. Überall in den Tempeln der Astarte oder
der Aphrodite findet sich ihr Bild. Die Griechen nannten sie denn auch
«das Tier der Astarte» – so eng gehörten für sie die Taube und die göttli-

82
che Kraft der Liebe zusammen. Auch in der christlichen Ikonographie ist
das Bild des Heiligen Geistes identisch mit der Liebe Gottes, die alles
durchzieht.
Was Johannes der Täufer, so verstanden, bei der Herabkunft des Geistes
über den Mann aus Nazaret im Bilde der Taube sieht, weist darauf hin,
daß das ewige Gespräch zwischen Ich und Du, zwischen Mensch und Gott,
daß der Dialog der Liebe sich so verinnerlicht und so vergeistigt, daß er
den ganzen Menschen umgreift. Der Mann, der ausziehen wird, den Men-
schen die Augen zu öffnen im Dunkeln, auf daß sie das Licht sehen, das sie
umspielt, und der sie erfüllt mit dem Traum einer schwebend fragenden
Liebe, der selber wird hier gesegnet mit eben der Kraft, auf die er zugeht.
Alles ist da ganz innerlich, alles gebunden an den Rapport eines unzerstör-
baren Vertrauens. Dieser Mensch ist für das Johannes-Evangelium der
Sohn. Wir können auch sagen: Er ist das ewige Du; er ist der, mit dem wir
sprechen können, wenn sonst niemand sich findet; er ist das Zwischen-uns,
wann immer ein Mensch den andern findet. Er ist in allem das Wort, das
Licht, die Wahrheit, die Gnade, das Leben … Noch haben wir nicht einmal
auch nur das erste Kapitel des Johannes-Evangeliums miteinander gelesen,
da halten wir bereits die Aussage des Vierten Evangeliums in Form einer
fraktalen Darstellung des Ganzen in Händen; und wir lernen vor allem be-
reits, wie sich die sonst nur sehr schwer verständlichen, weil dogmatisch
verfestigten (und zudem antijudaistisch belasteten) Christusbekenntnisse
und Offenbarungsreden des Johannes-Evangeliums Zug um Zug in unser
eigenes Leben und Erleben übersetzen lassen.

83
Joh 1,35-51: Von der Nachfolge oder:
Zwei Arten von Berufung
35Tags darauf stand Johannes wiederum da und zwei von sei-
nen Jüngern. 36Und sein Blick fiel auf Jesus, wie er eben des
Wegs kam; da spricht er: Da, das Lamm (der Knecht) Gottes!
37Da hörten die beiden Jünger, wie er sprach, und sie sind Jesus

gefolgt. 38Umgewandt hat sich Jesus, er sah sie folgen, und sagt
zu ihnen: Was sucht ihr? Die aber sprachen zu ihm: Rabbi – das
heißt übersetzt: Meister –, wo ist deine Bleibe (14,2)? 39Sagt er
ihnen: Kommt, seht selbst. Sie gingen also und sahen, wo seine
Bleibe war, und sie blieben bei ihm jenen Tag. Es war um die
zehnte Stunde. 40Nun war Andreas, der Bruder des Simon Pe-
trus, einer von den beiden (Mt 4,18-20), die es von Johannes
her gehört hatten und ihm gefolgt waren. 41Der findet zuerst
seinen eigenen Bruder, den Simon, und sagt ihm: Wir haben ihn
gefunden, den Messias! – das heißt übersetzt: Christus (den Ge-
salbten). 42Geführt hat er ihn zu Jesus. Als sein Blick auf ihn
fiel, hat Jesus gesagt: Du bist Simon, der Sohn des Johannes.
Du sollst Kephas genannt werden, übersetzt: Petrus (der Fels)
(Mt 16,18).
43Tags darauf wollte er ausziehen nach Galiläa. Da findet er

Philippus, und Jesus sagt ihm: Folge mir! 44Philippus aber war
aus Betsaida, aus der Stadt des Andreas und Petrus. 45Philippus
findet Natanaël, und er sagt ihm: Von dem Mose schrieb im
Gesetz (Dtn 18,18) und auch die Propheten (Jes 53,2; Jer 23,5;
Ez 34,23), den haben wir gefunden: Jesus, den Sohn des Joseph
von Nazaret. 46Doch Natanaël hat ihm gesagt: Aus Nazaret –
kann da was Gutes sein (7,41)? Sagt ihm Philippus: Komm,
sieh! 47Gesehen hat Jesus Natanaël auf sich zukommen und
sagt über ihn: Da, wahrhaftig, ein Israelit, an dem kein Trug
ist. 48Sagt ihm Natanaël: Woher kennst du mich? Geantwortet
hat Jesus, er hat ihm gesagt: Bevor dich Philippus rief, als du
unter dem Feigenbaum warst, hab ich dich gesehen. 49Geant-
wortet hat ihm Natanaël: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du
bist der König Israels (6,69; Ps 2,7; Jer 23,5; Mt 14,33; 16,16).
50Geantwortet hat Jesus, er hat ihm gesagt: Weil ich zu dir

sprach: Gesehen habe ich dich unterm Feigenbaum, vertraust


du? Mehr als das wirst du sehen! 51Und er sagt ihm: Bei Gott,
ja, bei Gott, ich sage euch: Ihr werdet sehen: den Himmel
geöffnet und die Engel Gottes aufsteigen und niedersteigen
über dem Menschensohn (Gen 28,12; Mt 4,11).

Im Deutschen liegen die Worte Beruf und Berufung dicht beieinander; sie
kommen zusammen, wenn Innen und Außen ganz zusammenstimmen, –

84
wann aber ist das der Fall? Der «Beruf», in dem jemand sein Geld verdient,
um zu leben, steht oft genug im Widerspruch zu dem, wozu er sich eigent-
lich «berufen» fühlt. Wer schon hätte nach eigener Wahl entscheiden dür-
fen, was er beruflich macht und was im Beruf aus ihm gemacht wird? In
rein mechanischem Tun mehr als ein Drittel des Lebens vollkommen sinn-
los, von außen getrieben, in Zusammenhängen, die die eigene Person kaum
meinen, dahinzubringen, – das ist das Schicksal der absolut überwiegenden
Zahl der Menschen in den Industrienationen.
In seinem Film-Drehbuch Rote Erde erzählt Peter Stripp zum Beispiel
die Geschichte des Ruhrbergbaus; Klaus Emmerich hat in den achtziger
Jahren im Auftrag des WDR in neun Teilen den Stoff für das Fernsehen be-
arbeitet. Gezeigt werden Menschen, die von früh bis spät unter der Last
der gesellschaftlichen Verhältnisse leiden und kaum dazu erwachen, ihre
eigene Persönlichkeit zu entfalten. Diese Männer unter Tage leben wie in
ewiger Nacht, selbst wenn sie erschöpft und ermüdet schließlich ausfah-
ren. Und die Frauen an ihrer Seite nicht anders. Sie mögen schön sein, sie
mögen intelligent sein, sie mögen voller Träume sein, – sie werden in Wirk-
lichkeit immer wieder dieselbe Wäsche waschen, verschmutzt bis zur Un-
kenntlichkeit, für die Gefährten ihres Lebens, an die sie in einer Art Haß-
liebe und durch wirtschaftliche Abhängigkeit gebunden oder gefesselt sind.
Nur ganz selten geschieht es, daß so etwas in ihr Leben dringt wie ein Ruf
zu sich selbst, und wenn er sich ereignet, so führt er in aller Regel zu einem
Leben am Rande des Legalen, des Verborgenen, des wieder Dämmrigen
und Zwielichtigen. Eigentlich sollte die Religion Menschen, die so leben
müssen, um so mehr und um so notwendiger zeigen, wozu sie berufen
sind, was mit ihnen als Personen gemeint ist. Aber die Religion, die diese
Menschen vorfinden, besteht im wesentlichen aus Riten und Redensarten.
Eine der Schlüsselszenen dieses Films, etwa um 1910 spielend, behandelt
die Frage, ob ein evangelisch Getaufter und eine Katholische einander hei-
raten dürfen. Die Kirche steht dagegen; die Römische Kirche erlaubt eine
solche Eheschließung nur im Fall des Versprechens, daß alle Kinder katho-
lisch erzogen werden – eine Bestimmung, die im Prinzip sich bis heute
nicht geändert hat. In dieser Situation geht der pommersche Kumpel Bruno
Kruska zu dem alten Pfarrer, der mit ihm so oft zusammen getrunken hat,
– man hat ihn versetzt auf eine andere Stelle wegen seiner arbeiterfreundli-
chen, gewerkschaftsnahen Haltung. Der Pfarrer schenkt wieder als erstes
dem heiratswilligen Bruno ein Glas ein, aber auch er kann nicht anders
sprechen, als es die katholische Kirche ihm vorsagt. Es kommt sinngemäß
zu folgendem Dialog:

85
«Ich will mal so fragen: Was würde denn Jesus Christus über die
Sache denken, nehmen wir mal an, wenn es gar keine Kirche gibt,
keine katholische und auch keine protestantische?
– Du bist dir hoffentlich klar darüber, … daß solche Fragen nur ein
Ketzer stellt?
– Ich meine ja nur … Würde er uns seinen Segen geben oder nicht?»1

An Problemen dieser Art scheitern unter der Verwaltung des Glaubens im


Namen der Kirchen Menschen seit vielen Generationen. Das, was sie von
Gott hören, ist nicht das, was Gott sagen würde und was sie brauchen
würden, um zu leben und zu lieben. Alles muß deshalb offenbar noch ein-
mal von vorn anfangen. Aber wie?
Im kirchlichen Sinn durchaus kein Gläubiger war der norwegische
Maler Edvard Munch; eines seiner schönsten Bilder widmete er dem
Thema der Berufung. In einer weißen norwegischen Nacht unter dem Spiel
des Mondes malte er eine blau-weiß gekleidete Frau, die Arme auf den
Rücken gelegt, wie passiv hingegeben, den Kopf nach hinten geneigt, auf
etwas lauschend – einen unhörbaren Ruf, der nur sie meint und der aus
der Stille ihr Herz berührt. Die Stimme heißt denn auch dieses Bild, das
Edvard Munch immer wieder in verschiedenen Techniken dargestellt hat
(Abb. 2). Jeder spürt beim Anblick dieser Frauengestalt, daß sie eine
sehnsüchtig Wartende ist; ihr Ruf, – das wäre ein leises Wort der Liebe, das
nur ihr, ganz intim und persönlich, gilt, unvertauschbar, nur an sie gerich-
tet; man weiß nicht, träumt sie oder erfährt sie’s wirklich, glaubt sie’s nur
oder trifft es ein? Wo ist die Trennung zwischen dem einen und dem an-
dern? Ununterscheidbar in dieser Mondnacht fließt alles ineinander, wie
das Licht und das Wasser, wie Meer und Festland, wie Wind und Ufer.
Seit dem 19./20. Jh. wird man Religion gar nie mehr anders verstehen
denn als eine Form der Wiedergeburt in jenem allerpersönlichsten und
allerprivatesten Raum, den wir Liebe nennen. Das Johannes-Evangelium
jedenfalls schildert die Religion in gerade dem Zustand, der in manchem
der Not und dem Leid, dem Zerbrechen und dem Suchen vieler Menschen
in der Moderne entspricht.
Alles bei der Berufung durch Jesus und zu Jesus beginnt im Kreise Jo-
hannes’ des Täufers, in einer Gruppe von Menschen also, die der offiziel-
len Religion der Sadduzäer und der Pharisäer den Rücken gekehrt haben.
Die meisten Interpretationen des Johannes-Evangeliums, wenn sie sich mit
der Gestalt des Täufers beschäftigen, übersehen diesen Ausgangspunkt. Sie
stellen in christlicher Absicht die Zusammenhänge sehr harmonisierend

86
dar: Johannes der Täufer sei der «Vorläufer» gewesen, Jesus die Erfüllung;
in dieser Betrachtung ist Johannes im Grunde selber ein vorweggenomme-
ner Christ. Aber man vergißt bei dieser Darstellung, daß Johannes der
Täufer als erstes mit dem Jerusalemer Tempel, mit dem Kult des priester-
verordneten Gottes im Heiligtum ebenso gebrochen hat wie mit den thora-
juristischen Ableitungen der Schriftgelehrten, die mittlerweile Gott kasui-
stisch in einem unglaublichen Netzwerk von verschachtelten Erklärungen
verpackt hatten. Johannes der Täufer demgegenüber meint den Menschen,
weil er sich selber von Gott gemeint fühlt. Er ist selber die gestaltgewor-
dene Berufung, und daraus resultiert sein Beruf, Gott durch sein Ich, durch
seinen Mund, durch seine Person zur Sprache zu bringen und die Men-
schen herauszurufen aus dem Gitterwerk der vorgefertigten Erklärungen
aus verfeierlichter Tradition und verwalteter Macht. Johannes der Täufer
möchte die Menschen zurückbringen zu ihrem Ursprung.
Dieses Ziel verrät vor allem das Bild der Taufe. Niemand – soviel besagt
allein diese äußere Szenerie seines Auftretens – wird die Person Jesu su-
chen, finden oder verstehen, der sich nicht vom Offiziellen weg bis zu die-
sem Grenzort am Jordan, am Rande der Wüste, hinbewegt hat, – nicht
räumlich, sondern existentiell. Wer immer noch festhält an der einfachen
Gleichung: das Tradierte ist das Wahre, das Volksübliche und Allgemeine
ist das in sich selber immer schon Göttliche, wer diese Vermengung der
herkömmlichen Art von Gottesauskunftei mit wirklichem Glauben nicht
überwindet, der braucht Jesus nicht wesentlich, der darf sich nicht einmal
erlauben, auch nur die Fragen zu stellen, auf welche der Mann aus Naza-
ret entscheidend antworten könnte. Alles entsteht hier aus einem ungeheu-
ren Aufbruch, aus einer göttlichen Ungeduld, aus einem Wissenwollen
unter Inkaufnahme des Zerbrechens von allem, was war.
Erst nachdem diese Bewegung vollzogen ist, soll und kann, nach der Er-
klärung des Johannes-Evangeliums, der Täufer selber seine eigenen Jünger
hingewiesen haben auf den Mann, der da kommt, auf Jesus von Nazaret.
Erkannt hat er ihn selbst für sich am Vortage schon; nun aber gibt er diese
seine innere Erkenntnis den eigenen Schülern mit auf den Weg: Er ist das
Lamm Gottes. Das ist ein Wort, von dem wir schon wissen, daß es nur in
den johanneischen Schriften auftaucht und vermutlich eine Fehlüberset-
zung aus dem Aramäischen darstellt. Gemeint gewesen sein dürfte einmal
die Aussage, Jesus sei der Diener oder der Knecht Gottes; beide Vorstellun-
gen gehen zurück auf Texte des Zweiten Jesaja und meinen, ineinander-
fließend, die Person eines Menschen, der nichts weiter will als zu tun, was
Gott von ihm möchte; doch indem er das tut, wird er notwendig ausgesetzt

87
sein allem Spott, allem Haß, aller Verfolgung und schließlich sogar einem
ehrlosen Tod; er wird ihn auf sich nehmen wie ein Lamm an der Schlacht-
bank (Jes 53,7). Beides, die Dienerschaft Gottes und das Eintreten bis zum
Opfer, ist da ein und dasselbe.
Wenn wir von dem Lamm Gottes hören, ist uns die rituelle Vorstellung
unausweichlich, daß Gott ein Opfer dargebracht werden soll, um ihn, den
Gerechten, mit der Schuld der Menschen zu versöhnen. Wir haben dieses
theologische Konstrukt bereits erörtert; hinzufügen müssen wir aber, daß
religionspsychologisch diese Rechnung niemals aufgeht. Solange Menschen
ihrer Gottheit opfern müssen, leben sie in der Angst vor Strafe, vor Hin-
richtung für ihre Schuld, wähnen sie, daß sie Vorleistungen bieten müssen,
um den Zorn der Gottheit, im letzten Moment womöglich noch, von sich
abzuwenden. Unter diesen Umständen lieben sie Gott und hängen sie an
ihm; aber indem sie ihn fürchten und als bedrohlich erleben, hassen sie ihn
auch immer wieder als einen unabwendbaren Verfolger, als einen unnach-
sichtig Strafenden, als einen grimmigen Würgeengel, und zwischen Liebe
und Haß kommen die Menschen nicht zurecht; in ihnen spaltet sich das
Bild von Gott, und damit spaltet sich zugleich ihr eigenes Ich. Wenn sie
Gott unter diesen Umständen «gehorsam» sind, dann sind sie zugleich
auch immer rebellisch; nie sind sie in sich geschlossen, nie einfach ganz.
Es ist deswegen außerordentlich wichtig zu begreifen, daß gerade der
Prophet Jesaja Gott immer wieder schildert als jemanden, der vergibt:
Wenn eure Schulden rot wären wie Scharlach, abwaschen will ich sie,
spricht der Gott Israels, daß sie weiß werden wie Schnee, weiß wie Wolle.
Würde selbst Vater und Mutter dein vergessen, dann doch nicht ich, dein
Gott (Jes 1,18; 49,15). Es ist der Prophet Jesaja, der Israel in ein Vertrauen
rufen möchte, das unbedingt und absolut gilt über jeden Bruch, über jede
Zerstörung. Gerade das aber muß die Gestalt des Gottesknechtes bei Je-
saja immer wieder in den Augen der Priester und der Schriftgelehrten zwei-
felhaft und suspekt gemacht haben: Dieser Mann wird durch die Gassen
gehen, nicht laut schreiend und rufend, sondern mit leiser Stimme. Er wird
die zerbrochen am Boden Liegenden nicht unter den Füßen seiner Rechtha-
berei zertreten, er wird sie aufrichten. Er wird den glimmenden Docht, der
doch ringt, Licht zu sein und zu bleiben, nicht verlöschen lassen. Er wird
die Wärme und das Licht retten im Wind und seine Hände und sein Herz
darum schließen (Jes 42,2-4).
In diesem Sinn hat das Zeugnis, das Johannes dem Täufer in den Mund
gelegt wird, vollkommen recht: Jesus ist der Knecht Gottes, der Diener
Gottes, das Lamm, das hinwegnimmt die Sünden der Welt. Nicht daß

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Jesus selber sich hätte opfern wollen, um Gott zu versöhnen – diese prie-
sterliche Idee war ihm vollkommen fremd so wie vielen Propheten seines
Volkes –, aber er scheute nicht die äußerste Auseinandersetzung. So war
es. Er wollte nicht einen Zentimeter zurückweichen hinter seine Überzeu-
gung, hinter das, was ihm für seine Berufung galt, was ihm als Wille
Gottes feststand. Wenn denn einzutreten für Gott immer wieder bedeuten
muß, über gewisse Grenzen hinwegzuschreiten und einzudringen in die
Verteidigungszonen der Gesetzesbesitzer, dann wagte er’s, dann riskierte
er’s. Das war’s ihm wert. Wenn man den Einsatz von allem für etwas, das
sich lohnt, als Opfer bezeichnet, dann freilich wäre es nicht ganz falsch, zu
sagen: Jesus «opferte sich»; zumindest wollte er nicht vermeiden, was sich
aus seinem Verhalten ergab; da wurde er zum Lamm Gottes.
Das alles bis dahin ist nichts weiter als ein Hinweis aus dem Munde des
Täufers, es ist soviel wie das johanneische Glaubensbekenntnis. Wir Heu-
tige aber haben gerade damit ein Problem. Mehr oder minder nämlich gibt
es wohl niemanden, der nicht im Rahmen einer «christlichen Erziehung»
in dieser Auffassung geradewegs erzogen wurde; so hat man’s ihm beige-
bracht, so mußte er’s glauben: Jesus Christus ist das Ziel aller menschli-
chen Bemühungen. Doch nun kommt etwas ganz Erstaunliches. Zum einen
sollte man denken, daß Johannes der Täufer selber sich aufgemacht hätte,
Jesus zu finden. So weit aber geht die historische Verformung offenbar
denn doch nicht, um die Zusammenhänge in dieser Weise darzustellen. Er-
zählt wird zum anderen, aus dem Jüngerkreis des Johannes hätten zwei
sich aufgemacht, Jesus zu suchen; aber wie sie das tun und daß sie es über-
haupt tun, wird im folgenden zu einem symbolischen Leitfaden existentiel-
ler Sinnsuche.
Wie findet man Jesus?
Offenbar genügt es für den Vierten Evangelisten überhaupt nicht, eine
bestimmte Formel, ein bestimmtes Bekenntnis über Jesus vernommen und
sich so eingeprägt zu haben, daß man es wieder und wieder hersagen
könnte. Entscheidend für ihn ist, daß alles, was man jemals von Jesus
gehört hat, zu einer Standortveränderung führt, weg von all dem, was man
bis dahin ideologisch gelernt hat. Es gilt, dem nachzugehen, was man da
gehört hat, ganz wörtlich, ganz buchstäblich, doch dieses «Nachgehen»
kann sehr, sehr lange währen. Durchsetzt ist es in aller Regel mit eigenen
Zweifeln, mit eigenen Stufen der Verzweiflung. Weiß man denn, ob es so
stimmt? Wie wird das von außen Gehörte zu einer eigenen Überzeugung
und Einsicht? Wie findet man im eigenen Leben Anruf und Berufung, und
welch eine Rolle kann dabei die Person des Mannes aus Nazaret spielen?

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Vorgelegt ist uns auch und gerade im Johannes-Evangelium eine Art garan-
tiert richtiger christologischer Bekenntnisformel, aber wie erfüllt sich ein
solch fertiges Bekenntnis in unserem Leben? Das ist das Entscheidende.
Die dogmatische Formel selber kann in der Tradition noch so oft geschrie-
ben sein, – entdecken wir nicht, jeder für sich, ihre Wahrheit, so ist oder
bliebe alles umsonst.
Niemand hat in diesem Punkte klarer gesehen als vor 150 Jahren der
dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard. Er meinte, zweitausend
Jahre Christentum bewiesen überhaupt gar nichts, weder für seine Wahr-
heit noch für die eigene persönliche Existenz als Kirchen-Christ. Daß je-
mand mitmarschiert, wie man’s ihm beigebracht hat, daß er dabei im
großen Haufen ist, – was hat das zu tun mit der eigenen Person? Selbst daß
bestimmte Lehren der Kirche durch die Geschichte gehen und sich eine
Weile lang dort erhalten, beweist keinerlei Wahrheit, im Gegenteil, es ist
gerade das religiös Verführerische; es bringt uns dahin, uns sicher zu wäh-
nen in dem Geschichtlichen, statt selber zu leben heute2. Nicht die Beru-
fung damals, sondern die eigene Existenz jetzt ist entscheidend. Religion
ist durchaus nichts zum Aufsagen, sie ist ein Anruf zum Selber-Tun, besser:
zum Selber-wirklich-Werden. Wie entdeckt man Jesus im eigenen Leben?
Wie wird man ihm «gleichzeitig»? Das war die Frage, die Herausforderung
dieses Vaters der Existenzphilosophie, wie man ihn nennt, in Wirklichkeit
dieses womöglich letzten großen Propheten des «christlichen» Abendlan-
des: Sören Kierkegaards.
Das Johannes-Evangelium erzählt, daß Menschen, die suchend dem
nachgehen, was sie gehört haben, etwas Eigentümliches erleben werden.
Sie suchen nach Jesus von Nazaret, der aber sieht sie kommen und dreht
sich zu ihnen um, er wendet sich ihnen zu und redet sie an mit der Frage:
Was sucht ihr? Was in dieser Szene erscheint wie eine einmalige Bewegung,
stellt in unserem Leben oft einen Prozeß dar, der lange Zeit in Anspruch
nehmen kann. Über weite Strecken können wir in Unruhe zubringen, ohne
recht zu wissen, wonach wir eigentlich suchen, was der Inhalt unserer Ver-
mutungen, unserer Sehnsüchte, unseres Verlangens ist. In der Tat stellt es
die erste wirklich religiöse Aufforderung dar, einmal zu klären, wonach
wir eigentlich unterwegs sind. «Wonach sucht ihr? Was ist das Ziel eurer
inneren Bewegung?»
Diese Frage ist nicht nur psychologisch von Bedeutung, sie steht am An-
fang jeder menschlich glaubwürdigen Form von Religion. Die Antwort der
Jünger auf diese Frage hält sich durchaus auf der Höhe der Herausforde-
rung, die Jesus an sie richtet. Sie fragen nicht: «Meister, wer bist du?»,

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oder: «Hat die Erklärung unseres Meisters recht, wenn er behauptet, du
seiest das Lamm, das die Sünden der Welt hinwegträgt?» In der ersten
Annäherung der Jünger geht es um so etwas wie eine Vergewisserung: Mei-
ster, Rabbi, wo ist deine Bleibe? Es ist eine erschütternde Frage. Denn
etwas anderes suchen wir religiös und menschlich überhaupt gar nie als
eine derartige Stätte der Ruhe, der Einkehr, des Bleibendürfens. Wir sollten
die Stelle nicht übersetzen wie es gewöhnlich geschieht: Meister, wo
wohnst du? so als ginge es um die Erkundigung nach einer bestimmten
Straße oder nach einem bestimmten Gebäude; in Wahrheit zielt die Frage
auf den Punkt einer inneren Übereinstimmung, einer Ruhe an dem «Ort»,
an dem ein Verweilen möglich wird; wo Jesus selbst einen solchen
(Stand)Ort findet, das ist die Frage, um die es geht. Und richtig: Nie würde
die Person des Mannes aus Nazaret sich beglaubigen können, außer sie
verstünde zu zeigen, woher ihr inneres Gleichgewicht kommt, worin sie
selbst sich «zu Hause» fühlt.
Denn tatsächlich wird es im ganzen Johannes-Evangelium so weiterge-
hen: Jesus wird auf diese «Welt» immer zugehen, wie wenn er aus einer an-
deren Wirklichkeit käme. Und fragt man ihn, woher er die Kraft gewinnt
gegenüber all den Anfeindungen, gegenüber all den Irritationen, die er aus-
löst, so wird er immer von neuem auf diesen unsichtbaren Punkt verwei-
sen, den er Gott nennt.
Freilich sollte man nun denken, daß Jesus an dieser Stelle eben davon
gesprochen hätte; des längeren und ausführlich hätte er erklärt, worin er
gründet, was ihn denn hält, woher seine Ausgeglichenheit kommt. Die Ge-
legenheit zu einem solchen Kommentar böte sich gerade jetzt. Wie denn
auch sollte ein Mensch von Gott anders Zeugnis geben, als indem er sich
in solch einem Lehrvortrag selber zum Thema machte, – es wäre immerhin
noch das Beste, das Persönlichste, was jemand über Gott sagen könnte,
wenn er mitteilte, wie er ihn selber erfahren hat. Alle «charismatischen»
Bewegungen setzen mittlerweile auf dieses Stilmittel der «Verkündigung»
und der «Neuevangelisation». Um so erstaunlicher mutet es an, daß Jesus
von sich selber an dieser Stelle mit keinem Wort redet. Er fordert die Jün-
ger lediglich auf, mit ihm zu kommen und selber zu sehen. Mit Erstaunen
hört man da völlig richtig. Religion, so verstanden, besteht in keiner Form
in der Mitteilung einer inhaltlichen Lehre, sie legt niemals einen anderen
Menschen auf das Vorbild der eigenen Biographie fest, sie ist als erstes ein
Weg zu einer eigenen Einsicht, zu einer eigenen Erfahrung. Jeder, der die-
sen Text zum ersten Mal liest oder hört, müßte erwarten, daß zumindest
nachgeholt jetzt irgendeine Erklärung käme, irgend etwas Begriffliches for-

91
muliert würde, das als fertige Formel sich tradieren ließe; doch statt dessen
hören wir nichts weiter als diese Einladung, selber zu schauen, selber ein
Einsichtiger, ein Sehender, ein Visionär zu werden.
Es gibt im «orthodoxen» Christentum eigentlich nur sehr schwach aus-
gebildete Überlieferungen und Lehrverfahren, die jenseits der Dogmatik
den Menschen dahin führen könnten, eine Schule innerer Einsicht und
eigener Wahrnehmung zu bilden. Gegeben hat es die Bewegung der Mystik,
doch stets unter kirchlicher Zensur, stets verdächtigt als zu subjektivi-
stisch, als zu personalistisch, stets angesiedelt am Rande der Ketzerei. Reli-
gionsgeschichtlich betrachtet, steht das Johannes-Evangelium mit der Er-
zählung der ersten «Nachfolger» Jesu deshalb eigentlich dem Buddhismus
näher als dem verfaßten Christentum. Dort, in der Schule des Buddha,
würde man eine Szene wie diese augenblicklich verstehen; denn so hätte er
selber gesagt, der weise gewordene Siddharta Gautama; auf die Frage:
«Wo wohnst Du?», hätte er geantwortet: «Du möchtest irgendwo bleiben;
gut denn, so komm und versuche zu bleiben, versuche als erstes in Dir sel-
ber zu wohnen. Du nimmst Platz bei mir, doch schon die Art, wie Du sitzt,
drückt aus, wie Du selber Dich fühlst. Du krümmst Deinen Rücken, und es
zeigt, daß Du keine Ruhe findest; Du atmest wie unter einer Last, und es
zeigt, wie quälend Deine Gedanken sind. Versuch einmal, ruhig zu werden,
versuch, bei Dir selber zu bleiben, versuch, Dich zu klären wie Wasser, das
nicht mehr von Strömung und Wind verwirbelt wird. Nimm Deine Frage
wirklich mal ernst: Wo ist eine Bleibe? Wo ist Deine Bleibe?»
Wie lernt man, mit dem inneren Auge auch nur einen Sonnenaufgang
wahrzunehmen oder einen Baum im Herbst zu betrachten oder einem spie-
lenden Hund zuzusehen? Was für ein Schauspiel! Wieviel Schönheit liegt in
all dem! Doch um sie wahrzunehmen, bedarf es einer eigenen Aufmerk-
samkeit. Mitunter sehen wir Tiere daliegen, einen Hund auf dem Sofa, eine
Katze im Körbchen, – sie sind eine einfache hingegossene Ruhe. Wir benei-
den solche Tiere, ja, sie machen uns Menschen gerade in ihrer Ruhe nicht
selten sogar ein wenig traurig, denn sie kennen die Aufregung nicht, die
unser Dasein durchzieht. Sie werden bald schon, ohne zu klagen, hinweg-
gehen aus ihrem Leben, als wären sie nie gewesen. So können wir Men-
schen nicht leben. Wir lagern dicht an dem Abgrund, gerade mit unserer
Suche nach stiller, wissender Ruhe. Deshalb verändert sich unter der Hand
die Frage, die Jesus an die Jünger stellt: Was sucht ihr? Eigentlich meint
sie: «Wen sucht ihr?» Stets suchen wir, um ruhig zu werden, nicht etwas,
keine Sache, sondern eine Person. Den ganzen Tag über seien die Jünger
bei ihm geblieben, erzählt das Johannes-Evangelium. Wenn man so will,

92
unterscheidet dieses Moment das Christliche denn doch vom Buddhisti-
schen. Der Buddha hätte, wenn ein Schüler in der Meditation versunken
war, sich leise von ihm verabschieden können, denn der Schüler hätte sei-
nes Meisters nicht länger bedurft. Die Erfahrung, die wir christlich nen-
nen, besteht hingegen darin, Bleibe nur finden zu können in der Nähe eines
Menschen, der nicht weggeht, der nie weggeht. Erst eine solche Zuversicht
schafft die Ruhe, nach der wir uns sehnen. Die «Versunkenheit», das «Blei-
ben» der Johannes-Jünger, findet statt in einem Austausch ohne Worte; sie
ist ein einfaches Miteinandersein, ein gemeinsames Zueinander-Kommen
unter den Augen dessen, der unausgesprochen und schweigend zwischen
ihnen vermittelt; dieses Zwischen, dieser Grund allen Vertrauens, ist das,
was Jesus selbst seinen (und unseren) «Vater» nennen wird und worin er
sein «Bleiben» gefunden hat. (Vgl. Lk 2,49!)
Das alles, erzählt das Johannes-Evangelium, habe sich ereignet um die
zehnte Stunde. Die meisten Interpreten halten diese Zeitangabe für nichts
weiter als für eine genaue Erinnerung, für eine quasi historische Reminis-
zenz. Unmöglich ist das an sich nicht. Es gibt durchaus Erfahrungen, die
unser ganzes Leben entscheiden und die wir schon deshalb nie mehr ver-
gessen werden, weil in ihnen die Zeit stillzustehen scheint; da bildet sich
ein einziger Augenblick, der alles enthält und zusammenfaßt, was vorher
war und späterhin wurde. Die zehnte Stunde hier aber bezeichnet nicht
einen Zeigerstand der Uhr, sondern eine Stunde, da das Leben in gewisser
Weise schon zur Dämmerung reift. Da ist etwas, das man erst in älteren
Jahren findet, eine Lebenseinstellung, die nur langsam reift, eine Innerlich-
keit, mit welcher das Leben nicht beginnen kann, auf die es nur nach und
nach in den zehn Stunden des «Tages», bis über die Lebensmitte hin, sich
hinauszuentwickeln vermag. Diese innere Reifung ist die Voraussetzung
für die wichtigste Entdeckung im Leben der beiden Johannes-Jünger. «Wir
haben ihn gefunden, den Messias», den König, den «Gesalbten», den Chri-
stus, so sagen sie.
Das Eigenartige an dieser Stelle ist, daß überhaupt die Rede von einem
König sein kann. Wann immer sonst in der menschlichen Geschichte von
Mächtigen die Rede geht, sollte so etwas wie eine öffentliche Proklamation
zu erwarten stehen, eine öffentliche Huldigung durch das Volk, prunkvolle
Aufmärsche und Kundgebungen – irgend etwas dergleichen müßte jetzt ge-
wissermaßen standesgemäß organisiert werden. Statt dessen erleben wir
erneut etwas geradezu Intimes, bei dem die Intensität der Innerlichkeit dem
Anspruch der öffentlichen Bedeutung diametral zu widersprechen scheint.
Wir haben ihn gefunden, den Messias, sagen Andreas und der andere Jün-

93
ger. Nirgendwo sonst beglaubigt man auf diese Art einen König; und man
versteht richtig: Es geht überhaupt nicht um ein «Königtum» der Herr-
schaft und der Macht, es geht durchaus nicht um den Titel eines römischen
Cäsaren oder um die Neuerrichtung eines davidischen Großreichs; worum
es geht, ist eine innere Entdeckung: So wie der Mann aus Nazaret denkt
und lebt, so stellt es die einzige Macht dar, die das Herz eines Menschen zu
regieren vermag, ohne es zu entfremden. Alle Macht gehört nur dem, der
es vermag, das Menschenherz zu beruhigen, und das ist er, der da einlädt
zum Bleiben, zum Verweilen, zum In-sich-Stillwerden.
Im Grund findet hier zwischen den Zeilen etwas Ungeheures statt: Hat
man je davon gehört, daß ein «König» so beschrieben wird wie hier, mit
dem Anspruch, die gesamte Tradition Israels in einer einzigen Erfahrung
zu verdichten? Die beiden Jünger haben gerade ihren Eindruck von Jesus
gewonnen, und nichts geben sie weiter als diese ihre Erfahrung. Auch der
Andreas-Bruder Simon kann nur eingeladen werden, sich auf diese Erfah-
rung einzulassen und ein Gleiches zu erleben. Man bringt ihn zu Jesus, und
der spricht ihn an auf seine Herkunft, auf seine Person: Du bist Simon.
Das hieß bislang nichts weiter als: Du bist der Sohn des Johannes; du bist
jemand, der ganz und gar geformt ist von seinem Elternhaus, von dem,
was ihm Erziehung und Erbgut und soziale Prägung wie ein Schicksal auf-
erlegt haben. Doch einem Mann wie Jesus zu begegnen, das bedeutet, an-
gesprochen zu werden auf seine wirkliche Berufung. Da wird aus dem, was
einmal «Simon» war, eine Stütze und ein Halt für andere Menschen: –
Kephas wirst du heißen.
Sprachen wir eben noch davon, daß es so etwas zu lernen gebe wie: zu
ruhen und zu bleiben, so ist Kephas, «der Fels», offenbar der Mann, der
mit seiner Person wieder anderen Grund und Grundlage, Festigkeit und
Halt schaffen wird. Mit keinem Wort wird hier gesagt, wie so etwas mög-
lich ist; im Gegenteil, wir werden später noch eben diesen «Kephas», die-
sen Felsenmann «Petrus», erleben als jemanden, der seinen Herrn verraten
wird vor lauter Angst (Joh 18,15-18). Wir werden ihn – im 8. Kapitel bei
Markus (8,32) – erleben als jemanden, der Jesus förmlich mit Zwang
davon abhalten möchte, sich nach Jerusalem zu begeben und sich in die
Hände der Schriftgelehrten, der Pharisäer und der «Heiden» zu geben;
Jesus aber wird ihn geradewegs schroff zurückweisen und ihm entgegen-
schleudern: Du denkst nur, wie Menschen halt denken; weiche von mir,
Satan (Mk 8,33). Wenn irgend etwas felsenhaft Festes in diesem «Simon»
steckt, so ergibt es sich jedenfalls nicht aus seiner besonderen Charakter-
festigkeit; entscheidend ist, daß Simon im Gegenüber dessen, den er seinen

94
Meister, seinen Rabbi nennt, lernt, was Menschlichkeit bedeutet. Wirklich
zu sein, das bedeutet, aufzuwachsen zur Größe der eigenen Person, doch
das ist nur möglich, wenn jemand begreift, wofür zu leben sich lohnt, –
was seine Berufung ist.
Es ist am anderen Tag, es ist mit anderen Worten eine komplementäre
Szene, daß Jesus Philippus findet. Alles kehrt sich nun um und schließt sich
zu einem Ring des Erlebens. Nicht mehr die Jünger ziehen hier aus, um
Jesus zu finden, sondern er, Jesus, findet zum ersten Mal einen eigenen
Jünger und redet Philippus einfach an mit «Folge mir!», wie ein Befehl,
wie ein Auftrag. Der gleiche Mann, der Menschen Bleibe und Ruhe gibt,
der Festigkeit und Halt in den sonst Schwachen wachsen läßt, sagt offen-
bar nur, was für den anderen stimmt; er drückt mit diesem Befehl «Folge
mir!» offensichtlich nur aus, was der andere selbst sich schon immer er-
sehnte und wünschte. In einem bloßen Nebensatz wird erklärt, daß Philip-
pus aus Betsaida war, aus der Stadt des Andreas und Petrus, ganz so, als
hätte sich in räumlicher Nähe innerlich alles schon vorbereitet, was diese
neuerliche Berufung aus dem Munde Jesu bewirkt. Und wie wenn ein Stein
ins Wasser geworfen wird und nun ringförmig Kreise zieht, die sich am
Ufer brechen und wieder zurückschlagen, so setzt sich’s fort: Philippus fin-
det Natanaël und erklärt ihm, was der christlichen Schriftauslegung ent-
spricht: Von dem Mose schrieb im Gesetz und auch die Propheten, den
haben wir gefunden. Jesus als die «Erfüllung» von «Gesetz» und «Prophe-
tie» – die gesamte Verheißung Israels verdichtet in ihm, in Jesus von Naza-
ret – so ist es die Überzeugung aller Texte des Neuen Testamentes. Uns
aber nötigt dieser Standpunkt zu der Frage, wie denn der Mann Mose
und die Prophetie Israels zusammenkommen können. Mose war jemand,
der einem ganzen Volk sagen konnte: Folge mir!, und indem die Leute es
taten, wurden sie frei von aller Menschenabhängigkeit im Glutofen Ägyp-
tens. Dieser Ruf des Mose «Folge mir!» bedeutete nichts weiter als eine
solche Anrede und einen solchen Auftrag, alle Angst zu überwinden bis hin
zu jener Szene am Schilfmeer, als die Reiterwagenabteilungen des Pharao
von hinten her, aus der Vergangenheit, die Flüchtenden einzuholen drohten
und vor den Flüchtenden nichts mehr stand als das unwegsame Meer (Ex
14,1-31). Wie durchschreitet man eine Angst, die von hinten und von vorn
einen Menschen im Würgegriff umklammert hält? Die verkörperte Ant-
wort darauf war Mose; daß das, was in ihm geschah, sich wiederhole,
war alle Hoffnung in Israel. Doch diese Hoffnung gilt jetzt für erfüllt in
dem Mann aus Nazaret, nicht freilich für ein ganzes Volk zunächst, so als
sei Jesus ein Volks- oder Heerführer, sondern so, daß in der Seele jedes Ein-

95
zelnen eine neue Form der Identität sich bildet: nicht mehr Sohn des Johan-
nes zu sein, wie es eben hieß, sondern ein Petrus zu werden, nicht mehr
Kind in Betsaida zu bleiben, sondern heranzureifen wie hier Philippus zur
Nachfolge einer Berufung.
So auch jetzt Natanaël. Mit ihm schließt sich diese Kette von Berufun-
gen. In Natanaël verkörpert sich, was sein Name bereits ausdrückt: Gott
hat’s gegeben; er selber ist ein Gottesgeschenk, ein Israelit, der in Recht-
schaffenheit so denkt, wie es getreulich und wahr ist. Es ist eine Stelle, an
der man vorweg schon lernen kann, wie der angebliche «Antijudaismus»
des Johannes-Evangeliums zu verstehen ist. Gerade als «Israelit, an dem
kein Trug ist», der also sagt, was er denkt, und der tut, was er sagt, ist
Natanaël beladen mit Vorurteilen und behindert von Scheuklappen; eine
stehende Redewendung zum Beispiel lautet: Aus Nazaret – kann da was
Gutes sein? Rein räumlich schon ist es die Frage: Wie können Prophetie
und unmittelbare Gottesrede sich erfüllen in einem Mann, der von drau-
ßen kommt, aus Galiläa, nicht aus dem Kernland, aus Judäa? – Doch ge-
rade wenn man die jüdische Orthodoxie konsequent ernst nimmt, wird
man hinfinden zu Jesus, zu dem Juden aus Nazaret. Waren nicht gerade die
Propheten immer wieder aufrührerisch wesentlich auch und gerade in
Judäa? Für Natanaël beginnt eine Welt auseinanderzubrechen. Die Ord-
nung, der er so treu und lauter dienen wollte und mochte, und dieses ganz
Neue, dieses über Mose hinaus jetzt wahrhaft Prophetische, – wie soll
beides zueinander zu bringen sein? Doch es ist und bleibt die Hoffnung
des Johannes-Evangeliums, daß man gerade durch die Treue zu dem, was
«Israel» ist und meint, Jesus ganz und gar verstehen wird.
Genau betrachtet geht es indessen nicht einmal darum, daß Natanaël
Jesus verstünde, sondern umgekehrt: Ich habe dich gesehen, Natanaël,
unter dem Feigenbaum.
Jedes Moment an diesem Satz ist kostbar. Wir suchen nach unserer
Berufung; wir möchten das Ziel unseres Lebens kennen; wir müssen, um
sinnvoll zu sein, erkennen, was mit uns gemeint ist; doch eben deshalb
endet alles Suchen damit, zu entdecken, daß wir immer schon angeblickt
worden sind. Wir schlagen unsere Augen auf, eigentlich nur, um das her-
auszufinden: umfangen zu sein von den gütigen Augen eines anderen! Alle
Einsicht, die wir im menschlichen Leben gewinnen können, wird darin kul-
minieren, ein Ansehen, buchstäblich, immer schon gehabt zu haben. Die
Philosophie des Existentialismus, Jean-Paul Sartre, diskutierte immer
wieder die Frage, ob unter den Augen eines anderen zu leben nicht damit
identisch sei, bis ins Innerste hinein entfremdet zu werden und eine Ansicht

96
von sich selbst präsentiert zu bekommen, die man niemals teilen werde,
weil sie ganz fremde Qualifikationen und Wertungen über das eigene Ich
lege3. Ist nicht gerade der Blick des Anderen das Bedrohliche, das Fixie-
rende, bedeutet er nicht in sich schon das Ausgesetztsein unter einer frem-
den Wahrnehmung? Die Wahrheit ist, daß ein Mensch nur zu sich finden
kann, wenn er in einem Gegenüber Augen wahrnimmt, die ihn voller Güte
anschauen und deshalb sein Herz zu öffnen imstande sind auch für sich
selbst. Immer schon, Natanaël, müßte man sagen, habe ich dich gesehen.
Aber der Ort dieses «Ansehens» ist der Feigenbaum. Er ist in der Antike
ein Bild für den Tod, indem seine Früchte verführerisch süß sind wie das
Leben, aber in ihrer Süßigkeit im Munde schon bitter werden; sie zeigen
an, wie schwer der Abschied vom Leben sein kann. Ein Feigenbaum ist ein
Ort, an dem ein Mensch, wach werdend, begreift, daß er, mitten im Genuß
des Daseins, ein dem Tode Verfallener ist. Wie hält ein Mensch dieses Wis-
sen aus, im Unterschied zu dem schlafenden Tier, im Unterschied zu dem
einfachen glücklichen Dasein der Kreaturen? Es ist so unendlich wichtig,
angesichts aller Todesangst den Blick ins Weite zu richten und diese Augen
zu sehen, die uns immer schon gütig anblickten, nie richtend, nie wertend,
nie vorwurfsvoll, niemals zensierend, nicht maßnehmend oder maßgebend,
sondern die uns meinen in unserem Sein und uns darin berufen wollen, das
eigene Leben zu ergreifen. Wenn Religion im Sinne dieser Texte irgend-
einen wesentlichen Sinn machte und aufhörte, nur eine äußere und ver-
äußerlichende Rede zu sein, so bestünde sie in dieser Erfahrung, wie es
möglich ist, einen Menschen dahin zu bringen, daß er sich entdeckt, in dem
Vertrauen, schon immer entdeckt und umfangen, geliebt und gemocht wor-
den zu sein und eben deshalb im Schatten des Feigenbaums leben zu dürfen.
Natanaël ist über diese Feststellung beinah erschrocken. Nun, als ein
stets schon Erkannter, bekennt er Jesus mit eben der Formel, die im Johan-
nes-Evangelium eine entscheidende Rolle spielt: Du bist der Sohn Gottes,
du bist der König Israels. Beide Worte sind austauschbar. Was Natanaël
meint, ist, daß Jesus als Versöhnter vor ihm steht und dies nur sein kann in
der Dichte eines Vertrauens, das gründet in Gott, nicht im Abgrund der
Welt, sondern in dem Halt eines anderen in sich absoluten Daseins. Jesus
wird dieser Überzeugung nicht widersprechen, er wird sie nur fortführen.
Natanaël erkennt sich und bekennt sich zu dem Mann aus Nazaret, weil er
selbst sich von ihm umgriffen fühlt. Aber mehr als das wird er sehen,
indem er entdeckt, daß über dem Haupte des Menschensohns die Engel
Gottes aufsteigen und niedersteigen – wie in dem Traum des Jakob in Bet-
El: In dem Gotteshaus, auf der Flucht vor seinem härenen Bruder Esau,

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sah der Sohn Isaaks eine Leiter an den Himmel gestellt, darauf hernieder-
steigend die Engel Gottes über dem Steinkreisheiligtum von Luz, wie es
vormals hieß (Gen 28,10-22). Da hebt sich der Unterschied zwischen Him-
mel und Erde vollkommen auf; da wird der Sperr-Riegel zwischen Gott
und Mensch beseitigt. Und gerade das ist es, was sich an der Seite Jesu, in
seiner Nähe lernen läßt: Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Gott
und Mensch in der Kluft der Schuld, im Abgrund des Vorwurfs, in der
Hinfälligkeit des menschlichen Daseins, sondern alles an Schutz, an Behü-
tetheit, an Geborgenheit geht hin und her in einem ständigen Austausch,
so wie es im 4. Kapitel bei Matthäus (Mt 4,6.11) heißt, nachdem Jesus den
ewigen Verführer zur Linderung aller nur äußeren Not, zu teuflichem
Machtgewinn und zum Ausprobieren des göttlichen Beistandes in Aber-
glauben und Magie, zurückgeschickt hat in die Wüste: daß Engel kamen,
ihm zu dienen, und daß das Versprechen sich einlöste, sie würden ihn tra-
gen auf Händen, daß er niemals mehr strauchele und sich stoße den Fuß
an einem Stein (Ps 91,11.12). Über die Erde zu gehen wie schwebend und
leicht durchs Leben zu schreiten, das ist die Art der Engel, – hinaufstei-
gend, herabsteigend, über dem Haupte Jesu. So zu leben wird Natanaëls
«Einsicht». Alles, was die christliche Religion sagen möchte, und vor
allem: wie sie sich selber begründet, indem sie sich erfahrbar macht, verra-
ten diese zwei Berufungsszenen im Johannes-Evangelium. Sie lassen etwas
aufleuchten von der Schönheit unseres eigenen Seins und von der Größe
unserer eigenen Berufung. Wie wunderbar ist ein jeder Mensch, wenn wir
ihn nur richtig sehen, wenn wir ihn mit den Augen Jesu wahrnehmen, so
wie dieser Natanaël schaute! Wie wunderbar sind die Worte eines Men-
schen, wenn sein Mund sich öffnet und er uns sagt, was er als sein Heilig-
stes erfuhr, und es wird uns zur Einladung, mit ihm und geführt durch ihn
ein Gleiches zu erfahren! Alle religiöse Überlieferung hörte dann auf, bloße
Lehre, bloße Doktrin, bloßes Dogma zu sein. Sie würde wieder Eingang
finden in unsere gelebte Existenz. Es könnte dann sein, daß wir äußerlich
womöglich unser Leben weiter verbringen in einem Beruf, den man uns so-
zial wider Willen aufgepreßt hat; und doch wird es die innere Berufung
nicht mehr zerstören. Selbst das scheinbar Sinnlose wird sich erfüllen
durch unsere innere Berufung, und sie wird uns durchtränken wie ein
Bachbett die Wüste, denn jenseits der Entfremdung haben wir Heimat ge-
funden, haben wir eine Bleibe erlangt. Ein einziger Augenblick solcher Er-
fahrung, eine einzige solche zehnte Stunde, wie hier bei Andreas, bei Simon
und bei Natanaël muß und mag oft für ein ganzes Leben genügen.

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Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 1. Teil:
Die Verwandlung des Lebens
1Und am dritten Tag fand eine Hochzeit statt im galiläischen

Kana, und die Mutter Jesu war dort. 2Eingeladen war aber
auch Jesus und seine Jünger zur Hochzeit. 3Und als es an Wein
zu mangeln begann, sagt die Mutter Jesu zu ihm: Wein haben
sie keinen (mehr). 4Da sagt ihr Jesus: Was mir, was dir, Frau?
Noch ist nicht gekommen meine Stunde (7,30; 8,20; 13,1;
17,3). 5Sagt seine Mutter den Dienern: Was immer, – wenn er
zu euch spricht, tut’s! 6Es waren aber dort steinerne Wasser-
krüge, sechs (an der Zahl), aufgrund des Reinigungsbrauchs
der Juden aufgestellt, mit einer Fassung bis zu zwei oder drei
Maß. 7Sagt ihnen Jesus: Füllt die Krüge mit Wasser. Und sie
füllten sie bis oben. 8Und er sagt ihnen: Schöpft jetzt und
bringt dem Oberkellner. Da brachten sie es (ihm). 9Wie aber
kostete der Oberkellner das Wasser – Wein war es geworden,
und nicht wußte er, woher es ist, die Diener aber wußten es, die
das Wasser geschöpft hatten –, ruft den Bräutigam der Ober-
kellner 10und sagt ihm: Jedermann als erstes setzt den besten
Wein vor, und (erst) wenn sie berauscht sind, den geringeren.
Du hast aufbewahrt den besten Wein bis jetzt!
11Dies wirkte als Anfang der Zeichen Jesus im galiläischen

Kana, und aufscheinen ließ er so seine Herrlichkeit, daß zum


Vertrauen an ihn kamen seine Jünger (1,14). 12Danach stieg er
hinab nach Kafarnaum (7,3), er und seine Mutter und seine
Brüder und seine Jünger (Mt 13,55). Doch dort blieben sie
nicht viele Tage.

Der Autor des Vierten Evangeliums, den wir Johannes nennen, hat als eine
seiner Quellen eine Sammlung von Wunderlegenden aus einer Tradition
übernommen, in der sechs verschiedene Erzählungen zusammengefaßt
sind, beginnend mit dieser ersten Geschichte vom Weinwunder, endend
schließlich mit der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11).
Was diese offenbar im griechischen Bereich angesiedelten Erzählungen ein-
mal von Jesus, auf den sie übertragen wurden, aussagen mochten, zeigt
sich in einem der letzten Sätze der Erzählung aufs deutlichste: So wirkte als
Anfang der Zeichen Jesus … und aufscheinen ließ er so seine Herrlichkeit.
Das soll heißen: er ließ sich erkennen als der große, machtvolle Wundertä-
ter. Wer von seinen Taten hört, muß ins Staunen geraten über die Wunder,
die zu vollbringen er imstande war, und eben diese ungewöhnlichen wun-
derbaren Taten waren der Grund auch, weswegen seine Jünger zum Glau-

99
ben kamen und alle, die jetzt davon hören, zum Glauben kommen sollten.
Dennoch fragt man sich gerade bei dieser Geschichte vom Weinwunder,
was da eigentlich so Wunderbares sich begibt. Scheint da nicht ein Über-
maß an Kraft auf eine beinahe lächerliche Nebensache vergeudet zu wer-
den? An Not in der Welt, weiß Gott, gäbe es ein Ungeheures zu lindern
und zu heilen, – da wünschte man Gott am Werke! Aber daß irgendwo ein
Bräutigam, dem der Wein ausgeht, seine Gäste für eine Weile auf dem
Trockenen sitzen läßt, nachdem sie offensichtlich schon genug getrunken
haben bis zum Rauschzustand – also daß da ein Gott ausgerechnet in die-
ser Situation aktiv wird in der Person des Jesus von Nazaret, das spottet
beinahe mehr, als daß es tröstet angesichts des Leids der Menschen. Was
soll das? fragt man sich, gerade wenn es den gesamten vorweggenomme-
nen Inhalt, die Ouvertüre von allem weiteren, darstellen soll.
Es kommt, wenn man sich dieser Geschichte nähert, an Verquerem der
Gebrauch hinzu, der speziell in der römischen Kirche von dieser Erzählung
Jahr für Jahr gemacht wird. Man nimmt sie, um in der Leseordnung der
Gottesdienste an den Jahresanfang eine Erzählung zu setzen, die Jesus mit
der Szene einer Familiengründung in Zusammenhang bringt, Grund genug
für die Kirche, gleich zu Jahresanfang alle Verheirateten und solche, die es
werde möchten, in die Pflicht zu nehmen. Das ganze Jahr soll so begangen
werden, daß Christus jederzeit gegenwärtig sein könnte, bei jeder Hoch-
zeit, bei jeder «Lustbarkeit» unter den Menschen, dann aber auch näher-
hin im ehelichen Leben selber – man merke die Moral von der Geschichte.
Andererseits dient umgekehrt wieder gerade diese Erzählung als ein Alibi,
daß bei so viel Lustfeindlichkeit der katholischen Moral man denn doch
als Christ nicht denken dürfe, es sei Jesus selber schon so fernab aller
Sinnenfreude gewesen, war er doch Zeuge selbst einer Hochzeit. Voilà.
Da muß doch auch Freude gewesen sein, Wein wurde getrunken, es ging
offenbar nicht asketisch zu. Und wie auch nicht gar! Der rechte Christ hält
halt die Mitte zwischen Selbstbeherrschung und Freude, und just diese
Wohltemperiertheit der Seele geht merklich aus der Geschichte hervor.
Wieder fragt man sich: was soll das alles? vor allem, wenn das Johan-
nes-Evangelium selber sagt, der ganze Christenglaube hänge an diesem
«Anfang», das heißt, er hänge wesentlich an dem, was hier erzählt – oder
ganz wörtlich: aufgetischt wird.
Man begreift die Bedeutung der Geschichte ein wenig besser, wenn man
die Übermalungen von ihr nimmt und ihren Wurzeln nachgräbt. Dann
springt’s eigentlich jedem, der im griechischen Kulturraum ein wenig zu
Hause ist, in die Augen: Ein Gott, der seine Macht zeigt und bezeugt,

100
indem er Wasser in Wein verwandelt und ihn den Menschen zu trinken
gibt bis zur Ekstase, bis zur Weinseligkeit, das ist ursprünglich nimmer-
mehr ein Christengott; das kennt man in Griechenland seit Jahrhunderten
vordem von einem ganz anderen Gott, von Dionysos. Und kaum fällt die-
ses Stichwort, öffnet sich ein breiter, langer Weg zu einer ganz bestimmten
Deutung des menschlichen Daseins. Was da auf dem Spiel steht, hat ver-
mutlich zum erstenmal wieder Friedrich Nietzsche vor 130 Jahren gese-
hen. Er hat das Christentum im Kern angreifen wollen der Verleugnung
des Dionysos wegen. Nietzsche war der Meinung, daß die ganze Moral
des Christentums geboren sei aus dem Ressentiment von Zukurzgekomme-
nen, die sich die Welt mit Skrupeln und kleinlichen Moralvorstellungen
verbieten1. Mickrige, muckrige Seelen, die sitzen zu Rate, wie die Welt sein
solle und wie Gott sie zu schaffen habe; sie selbst aber kommen mit nichts
zurecht, das war Nietzsches Meinung, – mit sich selber nicht, mit der
Welt nicht, mit der Geschichte nicht, nicht einmal mit ihrem eigenen Reli-
gionsgründer. Das Ganze fände überhaupt erst wieder Ehrlichkeit und
Wahrheit, wenn man statt des Gekreuzigten Dionysos zum Gegenstand der
Frömmigkeit machen würde, zurück hinter zweitausend Jahre Christen-
tum, rückwärts in die Vergangenheit, um nach vorn hin die Zukunft zu
retten. Denn wer war Dionysos?
Für Nietzsche verbarg sich hinter der Chiffre dieses Gottes ein gewalti-
ges Panorama der Welt. Die Wirklichkeit der Natur, die Majestät des Kos-
mos läßt sich nicht beckmesserisch nach den Vorstellungen der menschli-
chen oder gar der christlichen Moral begreifen. Alle Einteilungen von Gut
und Böse, von Richtig und Falsch, von Lohn und Strafe zerbrechen an die-
ser grausigen, großartigen, unheimlichen, schrecklichen, beglückenden
Weltwirklichkeit. So wie sie ist, erweist sie sich an jeder Stelle ungleich viel
größer als all unser menschliches Fragen; dieses Geheimnis aber lebte in
Dionysos, in dem Gott, der kurz nach seiner Geburt zerrissen und gegessen
wurde und gleichwohl in seinem Tode lebendig blieb. In Dionysos malt
sich das Geheimnis des Lebens selber, er selbst ist die gestaltgewordene Ve-
getation. Sie stirbt, um sich durch den Tod zu vervielfältigen2. Das Ge-
heimnis der Welt gründet darin, daß alles von allem lebt; selbst der
Schmerz erfüllt seinen Dienst als Teil in einem höheren Maße an Lust. Statt
an der kosmischen Ordnung zu leiden, war es Nietzsches Bestreben, die
Menschen zu lehren, diese Welt auszuhalten, und nicht nur auszuhalten,
sondern in sie einzutauchen als in eine taumelnde Freude3. Jeder, der
wähnt, diese Welt sei gemacht von einem Gott, der rational plant, von dem
Gott des Isaac Newton oder womöglich des Thomas von Aquin, wird

101
das, was sich vor unseren Augen darbietet, niemals verstehen. Aber wollte
man denken, Gott sei der Komponist eines großen Kunstwerks, er sei wie
ein Maler, wie ein Musiker, wie ein Dichter, dann begreift man plötzlich,
daß die Dissonanzen der Welt nicht fehlen dürfen, um ihre höhere Harmo-
nie zu tragen und vorzubereiten. Dann versteht man, daß die Kontraste
nicht weggelassen werden können, sondern daß sie um so stärker die Ein-
heit des Ganzen, die Schönheit des Werks, hervorheben. Gott als Künstler,
das hieß für Nietzsche auch, daß da ein taumelnder Gott in einem Über-
maß seiner Kraft sich ausdrücken will. Nichts ist da nur rational berech-
net, alles ist vitaler Drang, dem Unbewußten entsteigend, sich selber auf-
führend im Werk.
Vielleicht gibt es in der Gegenwart keinen besseren Parallelvergleich zu
dem, was Nietzsche unter der Chiffre des griechischen Dionysos meinte,
als den Hindugott Shiva, wie er im Süden des indischen Subkontinents ver-
ehrt wird4. Shiva wird dort vorgestellt als der Tänzer in einer Feuerman-
dorla von vierundzwanzig aufscheinenden Weltenflammen; immer von
neuem erschafft er den Kosmos und vernichtet ihn wieder, und der Rhyth-
mus seines Wirkens ist der Kreistanz seiner Lust. Gefragt, warum das alles,
bietet dieser Tänzer von Gott keine andere Erklärung, als daß der pulsie-
rende Rhythmus seiner Musik, die in ihm Gestalt gewinnt, lustvoll bis zum
letzten sich aufführt. «War das das Leben?» läßt Nietzsche seinen Zara-
thustra einmal sagen, «wohlan, noch einmal!»5 Nichts gibt’s da zu be-
reuen, sondern immer nur von vorn zu beginnen, immer neu eintauchend
in den Kreislauf. Nietzsche meinte, daß Schmerz, daß Leid nur möglich
sei bei Menschen, die in einem Übermaß der Freude spürten, wie ihre
Kräfte in sich selbst zurückbrächen. Der Schmerz sei nur der Teil eines
größeren Empfindens an Lust und Leben. Die Tragödie, meinte Nietz-
sche, werde geboren aus diesem Wissen eines zerreißenden Widerspruchs,
der doch umfangen werde von einer beseligenden Ahnung, wie alles sich
zusammenfüge6. Da war einmal eine Religion in Griechenland, die das
Entstehen und Blühen der Pflanzen begriff als die Zeit, da Dionysos auf
seinem Wagen Einzug hielt auf den Fluren und die Menschen lehren
wollte, in der Freude des Frühlings den Schmerz des Todes zu akzeptieren,
öffnet doch auch er sich nur wieder zu einem neuen Anfang. Weise werden
sollten die Menschen am Schauspiel der Natur; sie sollten als Kreaturen ihr
Maß finden an der Größe des Kosmos.
Wenn das den Hintergrund dieser Geschichte von einer Hochzeit im ga-
liläischen Kana bildet, ahnt man zumindest die Aufgabe, die Johannes sich
stellt, wenn er nicht zögert, diese auf Jesus übertragene Geschichte in sein

102
Evangelium aufzunehmen. Natürlich kann die Erzählung nicht so bleiben,
wie sie erzählt wurde, – es läßt sich nicht einfach aus Dionysos schnell ein
«Christus» machen. Der Sinn der ganzen Erzählung muß geändert werden;
doch daß es um eine Interpretation auf Leben und Tod und von Leben und
Tod geht, das kann und muß bleiben; das ist ein gültiges Thema.
Zudem muß man noch hinzufügen, daß Johannes seine gesamte sechs-
teilige Wunderquelle in jedem Betracht nicht so übernimmt, wie es die er-
sten drei Evangelien noch getan hätten: die Tradition ist heilig, und die
Taten als solche verdienen berichtet zu werden als quasi historische Doku-
mente. Johannes glaubt in diesem Sinn an überhaupt kein «Wunder». Was
immer als Wunder aus dem Leben Jesu überkommen ist, bedeutet ihm kein
Mirakel mehr, keinen Krafterweis im Zerbrechen der Naturordnung, son-
dern ein Zeichen, das innerlich verstanden sein will. Nichts liegt da im
Äußeren. Es geht nicht darum, daß an irgendeinem Nachmittag oder
Spätabend ein Bräutigam vor einer Blamage bei seiner Hochzeit bewahrt
wurde und daß die Hochzeitsgäste nun wirklich noch einmal kräftig zulan-
gen konnten, um den Pokal mit noch besserem Wein zu erheben. Eine sol-
che Auslegung, so oft sie auch klerikal schmunzelnd vorgetragen wird,
bliebe ähnlich albern wie später, im 6. Kapitel des Johannes, als Jesus Brot
verteilt an die Menge; sehr scharf wird er da sinngemäß sagen: Ihr glaubt
lediglich, weil ihr Brot gegessen habt; aber das ist kein Grund zum Glau-
ben – für nichts ist das ein Grund zum Glauben; denn es ist genau die
falsche Religion, auf Essen (und Trinken) seine Hoffnung zu setzen (Joh
6,26.27). Alles ist innerlich für Johannes oder überhaupt nicht. Darum
kennt er eigentlich nur ein einziges Wunder, – das sind die Worte, die Jesus
spricht. Sie verwandeln den Menschen, der sie versteht, oder sie lassen
endgültig denjenigen draußen, der sich ihnen verschließt. Licht oder Fin-
sternis, Helligkeit oder Schatten, beides ereignet sich je nach der Einstel-
lung, aber entschieden wird’s im Moment, da es geschieht; so denkt Johan-
nes über die «Wunder» Jesu. Man kann sie nur verstehen, wenn man ihre
Bedeutung verwortet und die Worte selbst für so wichtig nimmt, daß sie
ein ganzes Leben ändern.
Also erzählen wir uns die Geschichte von der Hochzeit in Kana noch
einmal. Achten wir dabei vor allem auf die Worte, die da gesprochen wer-
den, von wem sie ergehen, an wen sie gewendet sind, und wie man sie auf-
greift.
Alles beginnt mit dem Bild der Hochzeit selbst. Der Ort Kana in Galiläa
ist eigentlich gleichgültig, er ist nur ein Verweis darauf, daß bei allem, was
jetzt gesagt wird, die Person des historischen Jesus nicht aus den Augen

103
verloren gehen soll. Aber was sich jetzt begibt, ist eine dichterische Aus-
deutung der überzeitlichen Bedeutung des historischen Wirkens dieses
Mannes.
Die Hochzeit ist seit eh und je in den Märchen, in den Mythen, ein Bild
für die Einheit des Menschen mit sich selbst, für die Verschmelzung von
Geist und Körper, von Seele und Gefühl, von Apoll und Dionysos grie-
chisch gedacht, eine Einheit der äußersten Gegensätze. Wenn ein Mensch
selber aus den Kontrasten seiner Seele zur Harmonie findet, wenn der
Himmel die Erde berührt, wenn Gott und Mensch aufhören, wie unver-
söhnte Gegner, wie unverständige Widersacher einander gegenüberzuste-
hen, dann begibt sich dieses Liebeslied der Welt, dann ereignet sich die
Hochzeit des Menschen, dann gelangt zur Aufführung die Symphonie des
Alls.
Da geht an diesem «Hochzeitstag» das Mittel der Freude, der Wein, zur
Neige, und es ist die Mutter Jesu, die ihren Sohn darauf hinweist, es ver-
halte sich so. Darin liegt schweigend eine Aufforderung, nun etwas zu tun.
Es ist mehr als schroff, wenn wir Jesus abrupt und kraß seiner eigenen
Mutter entgegensetzen hören: Was mir, was dir, Frau? – Fremder, entfrem-
deter läßt sich nicht sprechen; es ist das genaue Gegenteil jeglicher Ver-
trautheit. Schon deswegen hat es an Auslegern nicht gefehlt, die gerade an
dieser Stelle so etwas erblicken wollten wie eine Familiengeschichte aus
dem Leben Jesu. Sie nahmen’s zum Beweis, wie miserabel Jesus sich mit
seiner eigenen Mutter verstanden habe, sie wiesen darauf hin, daß sein
Vater in der Erzählung gar nicht erst erwähnt werde. Daß am Ende einver-
nehmlich seine Mutter und seine Brüder (solche hatte Jesus offenbar, vgl.
Mk 6,3) zusammen mit den Jüngern nach Kafarnaum hinabziehen, wird
als artig gelobt, aber schwierig bleibt es für eine Familienidylle denn doch:
am Anfang offensichtlich versteht Jesus sich mit seiner Mutter ganz und
gar nicht. Der Fehler solcher Auslegungen liegt von vornherein darin, daß
man vorschnell biographisch psychologisieren möchte, was als ein Symbol
zu verstehen ist. Die Mutter Jesu ist für Johannes keinesfalls die historische
Maria aus Nazaret. Sie wird ein zweites Mal, aber nur dann, noch einmal
auftauchen unter dem Kreuz, wo keiner der ersten drei Evangelisten sie ge-
sehen hat, Johannes ja (Joh 19,25-27).
Es geht also nicht darum, Wein zu vermehren, es geht auch nicht um die
Frage, wie sich ein Junge zu seiner Mutter verhält, – es geht um die Frage:
Wie steht Jesus zu der Verwandlung unseres Lebens? Er kam, den Men-
schen alles Glück zu bringen, doch was für ihn selbst draus werden wird,
ist ein geradliniger Weg nach Golgota, hinein in den Karfreitag. Das wird

104
die Hochzeit seines Lebens sein. Alles, was eine Mutter, was seine Mutter
dazu sagen könnte, sähe sie es kommen, wäre gewiß nichts als ein entsetz-
ter, sorgenvoller Widerspruch. Jeder, der einen Menschen liebt und ein sol-
ches Schicksal für ihn ahnt, wird versuchen, ihn davor zu bewahren. Welch
eine Mutter könnte damit einverstanden sein, zu sehen, wie Folter, Ver-
leumdung und Kreuzigung ihres Sohnes warten? Tatsächlich war es ein
schwerer Fehler und ist es noch heute, wenn die römische Kirche immer
wieder hervorhebt, mit wie freudiger Opferbegeisterung Maria ihren Sohn
am Kreuz dahingegeben habe. Eine solche fälschlich historisierende Theo-
logie ist weitab von allem menschlichen Empfinden. Aber wenn man ein-
mal denken würde, wie es noch vor 60 Jahren in Deutschland möglich
war, eine Mutter müsse sich fragen, wozu sie ihren Sohn erzieht, was für
Ideale sie ihm auf dem Lebensweg mitgibt, was eigentlich sie für ihn wün-
schen kann, so würde gewiß auch die Leidvermeidung die Pflicht und die
Aufgabe vieler Bemühungen bleiben; könnte es aber dann nicht sein, daß
es Zeiten gibt, in denen eine Mutter unter sehr vielen Schmerzen, doch in
gewissem Sinne auch nicht ohne Stolz erleben wird, wie ihr Junge sich
wehrt gegen die Dunkelmänner, gegen die Seelenverfinsterung, gegen die
ständige Schikane, die man im Namen Gottes über Menschen legt, und
daß er Mut genug aufbringt, dagegen anzugehen und Worte zu setzen, die
den Menschen das Rückgrat stärken, um ihr eigenes Leben zu riskieren, ja,
daß selbst die Angst und die Einschüchterung, daß die ständige Drohung
ihn nicht zurückweichen lassen?
Dann könnte man denken, daß die Szene am Kreuz von Johannes so ver-
standen worden wäre: Da erfüllt sich all das, was menschlich ist, und die
eigene Mutter, als Bild für den Ursprung des Lebens, stünde am Ende dabei
und fühlte mit ihrer Liebe, mit ihrem Wohlwollen, mit ihrem Wunsch nach
Glück sich nicht widerlegt, sondern trotz allem bestätigt. Sie hat es so
nicht gewollt, wie es kam, aber daß es, als es drauf ankam, nicht vermie-
den wurde, das mußte sie wollen, weil nur auf diese Weise Ehrlichkeit,
Menschlichkeit und Glück in unser Leben zurückkehren können. Wenn
das der Preis ist, ist er selbst dann nicht zu hoch bezahlt.
Entscheidend ist, so betrachtet, in der Geschichte von der Hochzeit zu
Kana, daß Jesus auf seine Mutter gar nicht erst hört. Sie selber wird im Jo-
hannes-Evangelium bis zum Ende lernen müssen, wer Jesus ist, worin seine
Mission besteht, wen sie da eigentlich zur Welt gebracht hat. Doch das ist
das Übliche. Welch eine Mutter, welch ein Vater wüßten schon um das Ge-
heimnis ihrer Kinder, – was Gott in ihnen sprechen wird? Viele Jahre gehen
dahin, in denen Eltern ihren Kindern sagen, was es von der Welt und für

105
die Welt zu lernen gibt. Aber immer mehr werden sie selbst lernen müssen,
auf etwas zu hören, das nur Gott im Leben ihrer Kinder zu sagen vermag.
Es ist deshalb unbedingt nötig, die ganze Spannung am Anfang schon zu
formulieren: Frau, was mir? was dir? – Es sind zwei völlig getrennte
Sphären des Lebens, zwei vollkommen verschiedene Zonen der Wirklich-
keit. Es ist nicht möglich, noch länger zu hören, was die Mutter möchte.
Es gibt eine andere Bestimmung. Jesus nennt sie hier «meine Stunde». Nur
wenn sie gekommen ist, wird sich das Entscheidende tun lassen. Im Johan-
nes-Evangelium ist es nicht einen Augenblick lang zweifelhaft, was «die
Stunde Jesu» meint; es ist der Augenblick im 13. Kapitel des Johannes-
Evangeliums, da Jesus in einer langen Rede Abschied nimmt von seinen
Jüngern und hinübergeht in seinen Tod, wie ein König der Romanik, maje-
stätisch, wissend, unangefochten und groß (Joh 13,1). Nichts liegt für
Johannes an Demütigung, Schwäche und Erniedrigung in der Kreuzigung
Jesu. Es verrät eine ungeheure Dimension, über den Menschen derart zu
denken, derart an ihn zu glauben: Physisch kann man Menschen vernich-
ten, aber ihnen die Würde zu rauben, das ist nicht möglich, solange sie an
sich selber glauben im Namen Gottes. Die Stunde der Entscheidung läßt
sich nicht willkürlich bestimmen. Schon das ist, dogmatisch betrachtet, ei-
gentümlich, daß auch Jesus, der «Sohn Gottes», nicht weiß, was geschieht,
wann etwas zur rechten Zeit geschehen muß. Es gibt auch für ihn nur ein
Warten auf den Augenblick, da es reif ist. Dann entscheidet sich’s, indem
alle Energie und alle Kraft auf diesen Moment konzentriert sind. Maria
scheint in diesem Augenblick zu ahnen, daß es sich so verhält; jedenfalls
gibt sie den Dienern keine speziellen Weisungen mehr, sondern nur noch
die Empfehlung, sich bereitzuhalten für das, was er sagt.
Da stehen nun, aus Gründen der Reinigungszeremonien der Juden, stei-
nerne Krüge, sechs an der Zahl, zwei bis drei Maß messend, aber nicht mit
Wasser gefüllt, wie man erwarten sollte. Es ist an Jesus, den Dienern zu
sagen, sie sollten das notwendige Wasser für die Krüge holen; und dann
plötzlich geht alles sehr geschwind: Augenblicklich eingefüllt, sollen die
Diener dem Oberkellner von dem geschöpften Wasser bringen, und siehe,
es ist Wein. Eine launige Szene, ganz im Sinne der Manifestation des
Dionysos, folgt: Der Oberkellner läßt den Bräutigam strammstehen und
lehrt ihn Mores; – das alles war einmal gewiß sehr lustig, aber so ist es
nicht länger gemeint. Wenn wir schon wissen, daß es um die Verwandlung
von Wasser in Wein äußerlich gar nimmer geht, dann sollten wir den Wein,
der so gewandelt wurde, nicht wieder aufs neue verpanschen, indem wir’s
oberflächlich verwässern oder asketisch zu Essig umkippen lassen. Worum

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also geht es? Nehmen wir die gesamte Erzählung einmal wie ein Bild, wie
einen Traum, den jemand haben könnte zur Deutung seines eigenen Le-
bens, so wäre alles ein Symbol für etwas, das in ihm und mit ihm gemeint
ist; insbesondere das Bild der leeren Krüge und der Reinigungswasser be-
dürfte dann einer eigenen Interpretation. Was besagen diese Chiffren über
das Leben eines Menschen? Zugegeben, die Vorstellung, eine biblische Er-
zählung in ein Traumbild aufzulösen, erscheint ungewöhnlich und mutet
irgendwie «gespenstig» an; doch wenn bereits die «Hochzeit» selbst als ein
Symbol der Vermählung des Himmels mit der Erde (oder Gottes mit der
Tochter Zion) verstanden werden kann, warum sollte man dann die Hoch-
zeitsrequisiten nicht auch als Bilder lesen?
Unter dieser Voraussetzung müßten wir speziell die «leerstehenden
Krüge» und die Gestalt des «Bräutigams» ohne «Wein» als Bilder für ein
bestimmtes Lebensgefühl in etwa so deuten: Denken wir uns einen Men-
schen, der sich sein Leben lang schämt für das, was er ist. Alles könnte
äußerlich sein wie ein Fest; mit seinem ganzen Dasein könnte er sich fühlen
wie eingeladen zu einer Stunde der Freude, und trotzdem fühlt er sich sel-
ber wie abgetrennt, wie gar nicht wirklich dazugehörig, wie blamiert bis
ins innerste Herz. Denn was er den anderen zu bieten hat, scheint niemals
genug. Grad in der Stunde, da es drauf ankommt, ist er entlarvt als Versa-
ger. Und diese Sequenz der «Traumgeschichte» ist ein Wesensbild für sein
Grundgefühl, für die Stimmung seines ganzen Lebens. Denn das ist jetzt
die Frage der eigentlichen Verwandlung von Wasser in Wein: Wie ist eine
Heilung möglich aus einer solch negativen Selbstwahrnehmung der
Schande, der Demütigung, des ewigen: Ich hab’s nicht! Ich kann’s nicht!
Ich bring’s nicht! Wie läßt ein Mensch sich retten, so daß das anfangs
überaus Vermißte am Ende überreich zuhanden ist? Wie läßt sich ein sol-
ches Wandlungswunder im Leben eines Menschen bewirken, das aus dem
ewigen Zuwenig ein Überreich zum Vorschein bringt?
Es gehört zur Art von Erzählungen, wie sie diese Wundergeschichte dar-
bietet, daß sie uns in keinem Betracht helfen, zu verstehen, was sich da
Schritt für Schritt in der Seele eines Menschen begibt; noch weniger geben
sie uns Anweisungen, wie man denn ein Gleiches zu tun vermöchte. Es soll
offensichtlich ganz betont um diesen Eindruck gehen: Was da geschieht, ist
ein Wunder, – für keinen «Kellner» auf Erden begreifbar, einzig für die
Diener. Doch dann scheint es beachtenswert, wozu diese «Diener» bestellt
wurden: sie sollten das Reinigungswasser nachliefern, das sonderbarer-
weise nicht vorhanden ist. Setzen wir dieses Traumbildmotiv uns einfach
einmal so vor Augen: Da wartet in uns etwas wie ein leeres Gefäß; es hat

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nie zu etwas getaugt, es war nie gefüllt. Aber wie nun wäre es, wir selber
könnten in unserem Leben oder für einen anderen zu einem solchen «Die-
ner» werden – wir würden in Anbetracht unseres eigenen Lebensverlaufs
oder in Anbetracht einer fremden Biographie ein solches «Reinigungswas-
ser» herbeischaffen? So besehen, wäre dies das erste und Wichtigste, was
wir aus dem Munde Jesu hören sollten: Es wäre möglich, ein wie leer da-
stehendes Leben zu füllen, es wäre möglich, das vermeintlich so Unreine zu
«reinigen», bis daß es sich unter den Augen der anderen wieder zum Vor-
schein bringen könnte.
Konkret gesprochen: Immer wieder werden Menschen uns mitteilen,
daß sie sich vorkommen wie etwas Schmutziges, wie etwas Unansehnli-
ches, wie etwas Zu-kurz-Gekommenes oder Ewig-Vertanes. Dann bestün-
den die Wasser der Reinigung ganz oft einfach darin, daß jemand es uns
erlaubte, mit ihm noch einmal durchzu«waschen» oder durchzuarbeiten,
was denn an Möglichkeiten in uns wirklich vorhanden ist. Die «Reini-
gungswasser» können oft genug in immer wieder sich ausweinenden Trä-
nen bestehen, sie können in immer wieder neuen Gedanken von Traurig-
keit und Schmerz Gestalt gewinnen, – dann aber ließe sich gerade aus
solchen Gestimmtheiten schöpfen, und es würde aus der Trauer die
Freude, es würde aus dem Unglück von einst ein so nie zu ahnendes Glück.
Allein diese Möglichkeit schon stellt etwas an sich Unglaubliches dar; doch
wenn wir dies nicht verstehen, begreifen wir die Verwandlung, die Jesus in
unser Leben tragen möchte, durchaus nicht.
Versuchen wir deshalb, uns diese «unglaubliche Möglichkeit» mit ein
paar Beispielen zu verdeutlichen. Eine Frau berichtet davon, daß sie sich
chronisch unzufrieden fühlt. Sie hat regelmäßig einen angestrengten, lan-
gen Arbeitstag, und doch gibt es niemals so etwas wie die Empfindung:
Jetzt war es genug, jetzt kann ich froh sein, es geschafft zu haben. Es kann
sein, daß die Kollegen die Frau sogar loben für das, was sie getan hat – sie
hat im Büro einen ganzen Stoß von Akten durchgearbeitet, auch ihr Chef
ist mit ihr wirklich zufrieden; sie aber wird ganz umgekehrt empfinden: Er
lobt mich nur, wird sie denken, damit ich noch fleißiger arbeite. Es ist fast
so wie in dem Grimmschen Märchen vom Rumpelstilzchen, in dem eine
Müllerstochter einem König versprochen wird unter der Auskunft, sie sei
imstande, Stroh in Gold zu spinnen, – ein Bild, das ähnlich paradox ist wie
die Verwandlung von Wasser in Wein. Nacht um Nacht muß die arme
Müllerstochter unter Androhung der Todesstrafe eine ganze Kammer von
Wertlosem in Gold spinnen. Das Mädchen ist über diese Forderung schier
verzweifelt; einzig indem es einen Teil seiner selbst von sich abspaltet, nur

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mit Hilfe eines Gnoms, des Rumpelstilzchens, gelingt es ihm, aus dem Un-
werten das Kostbare zu machen; doch je besser ihm das gelingt, werden
die Aufgaben, die man ihm stellt, nur immer größer und immer größer. Es
ist am Ende wie verhext. Nicht einmal das «Kind», das es zur Welt bringt,
wird ihm selbst gehören, – der Rumpelstilzchen-Gnom wird es für sich be-
anspruchen. Es selbst hat keinerlei «Eigentum», nichts, worauf es An-
spruch hätte, es gehört sich selbst nicht; sein ganzes Leben ist nichts als
eine einzige Schikane, und je besser es seine Aufgaben erledigt, desto höher
wächst der Grad seiner Ausbeutung.
Ganz so erzählt diese Frau: «Wenn man mich lobt, ist das niemals eine
Beruhigung, sondern nur ein neuer Anspruch: noch mehr! noch besser!,
denn im Grunde bin ich des Lobes des andern gar nicht wert. Würde er
mich kennen, wie ich wirklich bin, hätte er gar keinen Grund, positiv von
mir zu denken; also muß ich seine Anerkennung nacharbeiten, um sie hin-
terdrein wenigstens zu verdienen.»
In dieser Weise kann ein ganzes Leben dahingehen, jahraus und jahrein,
und es ist nichts anderes als – im Bild gesprochen – eine Anzahl von sechs
Krügen, die leer dastehen; und es ist schon viel, wenn es sich nach und
nach wenigstens mit reinigenden Tränen füllt; denn sie zeigen doch zumin-
dest, daß ein Gefühl für sich selbst dabei wächst, eine Art Einsicht auch in
den «Sinn» des Schmerzes. Wenn ein Gespräch erst einmal bis zu diesem
Punkt gekommen ist, kann es durchaus sein, daß sich nach und nach die
ganze Wahrnehmung ändert. Plötzlich entdeckt sich, daß diese Frau, die
bislang immer wieder beteuerte, sie habe alles falsch gemacht, in Wahrheit,
betrachtet man es auch nur ein bißchen freundlicher, ja gerechter, über alle
Maßen wertvoll war und ist. Was sie permanent entwertet, ist überhaupt
nicht der Zustand ihrer Person, durchaus nicht das, was sie wirklich tut,
sondern ein fixer Maßstab, der in ihrem Kopf steckt. Dieser absurde und
erniedrigende Bewertungsmaßstab erklärt ihr jeden Tag, jede Stunde, daß
das, was sie macht, nicht gut genug sei. Woher dieser Maßstab kommt, ist
dann natürlich eine entscheidende Frage. Um sie zu beantworten, müssen
wir meist weit in die Kindheit zurückgehen: Die Mutter dieser Frau, der
Vater dieser Frau, der Bruder dieser Frau – wer eigentlich hat ihr gesagt,
daß sie «unwert» sei?
Als Erklärung kann es hunderterlei Formen biographischer Tragödien
geben. Eine Frau kann als Mädchen sehr schön gewesen sein; das aber
reizte den Vater, mit frivolen Bemerkungen alles ins Zweideutige zu setzen.
Was soll ein Mädchen unter solchen Umständen denken außer, es sei gar
nicht schön, es habe überhaupt kein Recht, als eine Frau sich zu entfalten,

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es sei zu verführerisch, es sei moralisch schlecht und gemein? Es ist unter
diesen Umständen ein «gutes» Kind nur, wenn es sich selber verhüllt, wenn
es sich selber verachtet und unterdrückt; nur wenn es traurig ist, ist es mo-
ralisch einwandfrei. Da ist ein Kind vielleicht erst zwölf Jahre alt, und
doch geht die Sonne über seinem Leben bereits unter. Viele Jahre werden
später damit hingehen, zu betteln und zu suchen, ob es so etwas wie Aner-
kennung nicht trotzdem finden könnte.
Kommen solche Zusammenhänge erst einmal zur Sprache, so zeigt sich
gewiß nur um so mehr noch, wie kostbar in Wirklichkeit das Leben eines
solchen Menschen ist, wieviel Glück darin liegt, wenn er es nur erst einmal
wagt, sich mitzuteilen! Freilich, innerlich stehen da immer noch die «Kell-
ner» herum, die Leute, die ganz einfach wissen, wie man lebt; vor allem
für die erste Phase des Lebens: da kommt das Beste, da muß «serviert»
werden; in den ersten dreißig bis vierzig Jahren muß das äußere Leben auf-
gebaut werden, da muß man erfolgreich sein und den Grundstein der Kar-
riere legen. Glück, Sinn, Persönlichkeit, Selbstentfaltung – all das kommt
später. Erst gilt es nach «Kellner»-Logik, die erwarteten «Leistungen» zu
erbringen und die Gesellschaft zufriedenzustellen, dann erst erlaubt sie
Fehler und kleinere Schwächen, aber zunächst einmal, in den ersten drei-
ßig, vierzig Jahren kommt es vermeintlich darauf an, das Leben zu mei-
stern, sich durchzubeißen, die Umwelt von sich selber zu überzeugen.
Wenn so die «Strategie» des «normalen», des standardisierten Lebens
aussieht, fragt es sich natürlich, was mit all denen sein wird, bei denen das
Beste überhaupt erst am allerspätesten auftaucht, weil sie an sich selber
erst in der zweiten Lebenshälfte zu glauben beginnen? Dann freilich ge-
schieht es zur Überraschung all dieser «Kellner»: sie werden niemals wis-
sen, was im Leben eines Menschen sich plötzlich verändert hat, der nach
langen Phasen des Leerstehens, des Nicht-mehr-weiter-Wissens, mit einer
unvermuteten Kostbarkeit aufwartet. Die «Diener», die unmittelbaren Hel-
fer wissen im Grunde auch nicht, wie es kam, allenfalls, wie es vor sich
ging, können sie sagen; doch etwas Wunderbares bleibt es: Wasser der Rei-
nigung wurde zu Wein.
Man muß die Szene jetzt nur so nehmen, und man hat das Wunder eines
ganzen Lebens vor sich, und man begreift plötzlich all das, was Jesus in
diese Welt zu bringen kam. Im 15. Kapitel des Johannes-Evangeliums sagt
er einmal, er selber sei wie ein Weinstock, und man könne überhaupt nur
etwas «wirken» im Verbund mit ihm. Man kann auch so sagen: Jesus kam,
um uns zu lehren, wie wir Menschen betrachten könnten mit den Augen
der Güte und der Liebe, nicht des Vorwurfs; er mochte, daß wir das: ich

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kann nicht! und: ich habe nicht! des anderen nicht länger triumphal aus-
beuten, um uns selber wichtig zu machen; im Gegenteil, er wollte, daß wir
genau hinschauen, indem wir dem andern nicht glauben, daß er nichts sei,
nichts habe, nichts könne, nichts werde, sondern daß wir durchaus uns
fragen: Warum kommt dieser andere zu einem solchen Eindruck? Denn
dieser Eindruck stimmt in aller Regel überhaupt nicht. Kein Mensch kann
nur schlecht sein; was also hat ihm den Blick auf sich selber derart ver-
stellt? Das müssen wir herausfinden, um klarer zu sehen. Vor unseren eige-
nen Augen werden wir dann die Verwandlung von «Wasser» in «Wein»
miterleben, den Übergang von dem vermeintlich Wertlosen in das berau-
schend Schöne; es hängt nur alles von der Art ab, mit welchen Augen wir
sehen beziehungsweise bildlich gesprochen: auf welch einem «Zweig» die
«Früchte» wachsen sollen. Selbst wenn ein Mensch objektiv all die Jahre
über wirklich so belastet war, daß er kaum noch hochkam, geht daraus
schon hervor, daß sein Leben vertan ist? Kann man nicht auch denken, es
solle doch erst einmal ein anderer mit der Hypothek, die er zu tragen
hatte, fertigwerden?
Vor einer Weile erklärte ein junger Mann, wie sein Leben aussah, – ein
Frührentner, knapp über dreißig, äußerlich gescheitert, für seine Eltern
eine chronische Belastung, für die Krankenkasse eine Katastrophe, für die
Sozialversicherung erbärmlich – was also soll aus einem solchen werden,
aus diesem ständigen Versager, der mehrfach in die Psychiatrie mußte? Was
dieser Mann selber schildert, zeigt ihn indessen als einen ganz anderen, als
es nach außen hin erscheint. «Ich», sagt er jetzt, «habe das, was ich sagen
möchte, seit vielen Jahren geahnt, aber nie wirklich gewußt. Sie dürfen das
folgende nicht so verstehen, wie wenn ich mein Leben nach einem be-
stimmten Mythos eingerichtet hätte, es war umgekehrt: Was man mir spä-
ter sagte, hat nur bestätigt, was ich all die Zeit über spürte – nämlich daß
ich verflucht war, schon als ich zur Welt kam. Eines Tages hat meine Mut-
ter es mir gestanden. Sie wollte mich nicht katholisch taufen lassen, aber
der Pastor am Ort hat mich dafür verflucht. Ich sei und ich bleibe ein Kind
des Teufels, hat er erklärt. Alles, was ich bin, ist deshalb falsch, war seither
falsch, und auch was das Christentum sonst noch lehrt, hat mir nie gehol-
fen. Sagen Sie selber, – was ist das für eine Lehre, wonach jemand getötet
und gegessen werden muß, damit die Menschheit erlöst wird! Das ist doch
Wahnsinn! Das ist doch kannibalistischer Wahnsinn! Eine solche Theolo-
gie ist ein prähistorisches Relikt. Aber wie lange hat es gedauert, bis ich
mir sagte: Nicht ich bin verrückt, sondern die so sagen, das sind die Leute
für die Psychiatrie. Mir hat man beigebracht: Ich bin ein Sünder! Ich bin

111
ein Sünder! und ich hab’ das geglaubt. Ich glaube heute an gar nichts. Aber
ich suche nach Gott. In jeder Gruppe fühle ich mich belastet. Sobald je-
mand sagt: ‹Du mußt etwas›, ist es wie ein Erdbeben, das meinen ganzen
Körper erschüttert, alles verspannt sich, und ich kann die einfachsten
Dinge nicht mehr.» – Seit vielen Jahren ist dieser Mann nun dabei, sein
Leben aufzuzeichnen, tagebuchähnlich, Eintragung für Eintragung; «viel-
leicht», denkt er, «kann ich doch mit meinem Empfinden für das, was
Schmerz ist, anderen helfen. Ich weiß nicht, was Religion sein könnte, aber
ich weiß, was sie sein müßte, und vielleicht nutzt es irgend jemandem.»
Vielleicht lohnt es sich, diese Erfahrung, die ganz von innen kommt,
gegen ein rein äußeres «Glück» abzugrenzen. Unter dem Titel Rausch der
Verwandlung erschien 1982 aus der Feder Stefan Zweigs7 ein Roman aus
dem Nachlaß, der von einer einfachen Postassistentin erzählt, die von ame-
rikanischen Verwandten ins Engadin eingeladen wird und dort für eine
Adlige gehalten wird; das unscheinbare Wesen, gedrückt unter den Sorgen
der Nachkriegszeit, erlebt eine märchenhafte «Verwandlung», ein «rausch-
haftes» Glück – sie lebt endlich so, wie sie es immer schon sich hätte wün-
schen mögen; dieses neue Leben ist (fast) ihre Wahrheit. Doch in Wirklich-
keit führt Stefan Zweigs «Christine von Boolen» ein reines Doppelleben;
sie wagt nicht, ihre eigentliche Identität kundzutun, sie muß fürchten, daß
die Wahrheit alles zerstören würde, was doch zu greifen sich nahelegt; und
in der Tat: kaum lüftet sich das Geheimnis ihrer Person, zerbricht diese
Welt eines äußeren Mißverständnisses, und das Elend, das ihrer wartet,
wird nur noch bitterer und verzweifelter. – Auch in dieser Erzählung
kommt es zu einem «Rausch der Verwandlung», doch handelt es sich er-
kennbar nur um eine Verwandlung der Lebensumstände, nicht des Wesens
eines Menschen. Im Gegensatz dazu möchte das Johannes-Evangelium
gerade das «Wunder» der Wesensverwandlung im Leben eines Menschen
beschreiben, und so beginnt es gerade mit der «Katastrophe», mit dem Ein-
sturz der bisherigen Lebenseinstellung, mit der Entdeckung innerer Kost-
barkeit. Die Hochzeit zu Kana erzählt uns nicht das Leben als Märchen,
sie verdichtet und deutet vielmehr in märchenhaften (beziehungsweise my-
thischen) Bildern die Verwandlung des menschlichen Daseins; und eine
wichtige Frage, die sich dabei stellt, gilt gerade uns, den Zeugen des «Wun-
ders»: Was können wir dazu beitragen, daß derlei sich ereigne? Wir kön-
nen eigentlich nur die Begleiter einer solchen «Wandlung» sein, indem wir
an den anderen glauben trotz aller Widerstände: wie, wenn sein «Wasser»
doch «Wein» ist?
Freilich, da wir keine «Kellner» sind, werden wir nie verfügen können,

112
was aus dem Leben eines anderen Menschen wird; aber in diesen Momen-
ten, in denen jemand gegen ein Meer von Leid, gegen einen Abgrund von
Selbstmißtrauen und Angst langsam keimend den Mut gewinnt, an sich
selber zu glauben, wird deutlich, wie aus dem Wasser der Tränen irgend-
wann ein Wein der Freude wird, ein «Rauschtrank» sogar für die anderen,
wenn sie’s nur recht begreifen. Freilich: wieviel an Leid und Auseinander-
setzung ist nötig, um auch nur im eigenen Leben diesen «Wein» des Glücks
zu keltern! Es ist der Punkt, an dem sich das Wunder der Verwandlung von
Wasser in Wein mit der Deutung des Karfreitags im Johannes-Evangelium
verbindet.
Denn das ist der eigentliche Sinn der Geschichte von der Hochzeit zu
Kana im Vierten Evangelium: Es sei durchaus nicht nötig, daß wir aus
falschen Gründen das Leid scheuen, das darin besteht, uns selber zu
fühlen, uns selber zu sehen und herauszufinden, wer wir selbst sind. Immer
wieder laufen wir davor weg, eine ehrliche Bilanz zu machen und uns
selbst anzuschauen; immer wieder haben wir Angst vor der Verurteilung
der anderen, wir weichen ihnen aus, wir verbiegen die Wahrheit. Wie aber,
das Johannes-Evangelium hätte in einem seiner kostbarsten Sätze vollkom-
men recht, wenn es sagt: die Wahrheit (die Unverborgenheit) wird euch
freimachen (Joh 8,32)? Man müßte dann nicht länger sich selber auswei-
chen. Es wären wirklich, wie in der Religion des Dionysos, Freude und
Leid, Schmerz und Seligkeit ein und dasselbe; es käme zu dem Erleben
einer großen Entfaltung, nur nicht länger mehr in der äußeren Natur, son-
dern mitten in unserer Seele.
In dieser Art wird das Johannes-Evangelium auch späterhin all die vor-
liegenden Geschichten seiner «Wunderquelle» aufgreifen. Aus dem Mythos
der Natur macht es eine existentielle Parabel, in dem, was draußen spielt,
sieht es das Symbol für die Aufführung einer seelischen Reifung, für eine
Verwandlung in allem, für die Heilung von Leid in Glück, für die Umfor-
mung von Tod in Leben, für den Aufgang des Lichts aus der Nacht.
Die Geschichte selbst endet quasi familiär. Der engste Umkreis Jesu setzt
sich einmütig und in Eintracht jenseits der anfangs anklingenden Spannun-
gen wieder zusammen: Alle gehen gemeinsam hinunter an den See von
Gennesaret, hinüber in die Stadt, die in den ersten drei Evangelien als
seine, als Jesu Stadt selber, bezeichnet wird, nach Kafarnaum; aber man
bleibt dort nicht lange; das neu gefundene Glück ruht, wenn man so will,
nicht aus, es wird weitergehen, es wird auf Wanderschaft bleiben.
Was also ist die Geschichte von der Hochzeit zu Kana? Wir haben vor
uns eine einzige kleine Wundergeschichte, die indessen all das verdichtet,

113
was man wissen muß, um Jesus zu verstehen, eine Geschichte zwischen
Licht und Schatten, zwischen Verzweiflung und Hoffnung, zwischen Trau-
rigkeit und Freude, kurz, die Geschichte eines Wunders der Verwandlung,
die erzählt, wie aus angstgeprägtem Menschenwillen Gotteswille wird, wie
menschliche Not in Begnadung mündet und wie aus dem Empfinden des
allzu Geringen sich ein Kunstwerk Gottes gestaltet.
Vielleicht geht es uns ja in allem so: Wir können unser Leben stets dar-
aufhin betrachten, wie ein Stück nach dem anderen von uns weggenom-
men wird; kaum fünfzig geworden, können wir die Unterschiede deutlich
erkennen: Was waren wir noch vor fünfzehn Jahren, und was sind wir
heute? Wir sind erkennbar schwächer geworden, und viele Möglichkeiten
unseres Lebens sind gar nicht erst zur Entfaltung gekommen; immer wie-
der gab es Behinderungen; und sehen wir nur das, so können wir in eine
nicht endende Klage darüber geraten. Vielleicht aber hat sich mitten in all
dem, worin wir uns unglücklich fühlen und worüber wir uns beschweren
möchten, auch etwas ganz anderes vollzogen. Vielleicht war es, wie wenn
Gott unsichtbar ein Stück Holz in die Hand genommen hätte, um Span für
Span, Fuge für Fuge etwas daraus wegzunehmen und herauszuschneiden,
um eine schönere, zuvor nie so gesehene Gestalt daraus zu modellieren.
Jeder Holzschnitzer weiß, daß die Gestalt im Holz selbst liegt und daß
man am Material bereits ersieht, wie sich’s gestalten wird. Doch nur ein
Künstler hat solche Augen, nur er wird, wenn er wegnimmt, in Wirklich-
keit schenken. Die «Hochzeit zu Kana» aber möchte uns lehren, Menschen
zu werden, die mit Künstleraugen zu sehen vermögen – liebevoll, kreativ
und gerade dadurch alles verwandelnd.
Es mag sein, daß sich gegen eine solche Betrachtung immer noch der
Selbstzweifel richtet: ist das alles vielleicht nicht doch nur ein allzu from-
mes Wähnen? Was ein Mensch ist, steht ja unverändert immer noch da:
verwachsen, verkrümmt, unscheinbar. Vielleicht hilft deshalb ein anderer
Vergleich. Es ist gewiß nicht gleichgültig, wo jemand aufwächst. Es kann
sein, daß wir im Hochgebirge Meter für Meter der Sonne entgegenwan-
dern, aber der Wind wird kälter, das Wetter schroffer, irgendwann gelan-
gen wir in die Zonen, an denen die Wälder aufhören; anstelle der stattli-
chen Kiefern finden wir jetzt nur noch Krüppelkieferbewuchs; – aber soll
man deshalb diese Bäume der Höhe verachten, weil sie von Wind und Wet-
ter modelliert wurden? Sollte man nicht viel eher sagen: Diese Bäume sind
Zeugnisse dafür, bis wohin das Leben sich vorwagt? In dieser Höhe gibt es
überhaupt keine Häßlichkeit mehr, es gibt nur noch Dokumente des Muts,
dort auszuharren; keine Verachtung gebührt sich dort, sondern Anerken-

114
nung und Stolz darauf, unter den Umständen, das zu leben: – keine noch
so schöne Kiefer irgendwo im Wald, windgeschützt, hat einen Anspruch
auf soviel Wertschätzung und Dankbarkeit. Wirksam gegen die sonst
drohende Gletschergefahr sind wesentlich diese vereinzelten Bäume am
Hang …
Es gibt einen anderen Akzent, der in der Geschichte der Hochzeit zu
Kana mitschwingt, das ist die Frage von Gebet und Erhörung, von Men-
schenwille und Gotteswille. Davon jedoch in einer zweiten Meditation.

115
Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 2. Teil:
Das Wunder der Verwandlung

Es gibt Evangelien, die auf besondere Weise aktuell zu sein scheinen. Das
Evangelium von der Hochzeit zu Kana gehört dazu. Denn es scheint, als
wenn die Zeit erst richtig käme, für die es aufgeschrieben ist. Hochzeit zu
Kana – das heißt, daß Heilige Nacht zur Karfreitagsnacht wird. Und über
unsere Zeit ist solche Nacht her-eingebrochen; unsere Schatten werden
länger, die Straßen liegen dunkel da. «Als sie noch jung war, unsere Reli-
gion, da hatte sie noch Liebhaber; sie umarmten sie aus Leidenschaft; sie
heirateten sie aus Hoffnung. Mit ihr heirateten sie ihr Reich von Morgen,
das wunderbar auf Erden zu wachsen begann. Nun, da sie alt geworden
ist, hat unsere Religion nur Söhne noch, Ernährer der Familie, die sie
behüten, ernähren, halten werden wie eine verarmte Mutter, die ihnen zur
Last fällt; und eine große Zahl hat sie von denen, die von ihrem Ersparten
leben, auf ihre Kosten, und die sie dennoch nie besuchen kommen.» So
schreibt die französische Schriftstellerin Marie Noël1. Die Hochzeitstafel
unseres Königs ist sehr klein geworden.
Manch einer kennt wohl noch den brasilianischen Spielfilm aus den
sechziger Jahren: 40 Stufen zur Gerechtigkeit. Dieser Film erzählt die Ge-
schichte eines Mannes, der bettelarm ist; sein einziger Besitz ist ein alter
dürrer Esel, der ihm zu allem helfen muß: als Lasttier, als Reittier, zum
Pflügen und zum Dreschen. Da stürzt eines Tages das Tier so unglücklich,
daß es sich ein Bein bricht und sich kaum noch richtig bewegen kann. Für
diesen armen Bauern ist das eine Katastrophe, und so fleht er in seiner Not
zum Himmel um die Gesundung seines Esels; er gelobt Opfer und Wall-
fahrten, wenn nur sein Tier gesund wird.
Im Leben eines jeden von uns gibt es derartige Momente, äußerste Au-
genblicke unserer Not, in denen wir ganz ähnlich zu Gott gerufen haben
um seine Hilfe und um seinen Beistand.
Jener brasilianische Film wurde gedreht, um die Religion mit bitterem
und beißendem Spott verächtlich zu machen: «Du bekommst von Gott nie-
mals das, was du gern möchtest; Gott und seine Beamtenschaft, die soge-
nannten Geistlichen, verstehen dich doch nicht; niemand von ihnen hört
dich. Verlasse dich auf dein eigenes Handeln. Was du selber nicht machst,
wird auch der liebe Gott nicht tun.» Das war die Botschaft dieses Films.
Es ist stets richtig, Fragen, die das Leben stellt, so intensiv und provoka-
tiv wie möglich aufzugreifen; erst dann wird man entdecken, daß dieses

116
Evangelium von der Hochzeit zu Kana von gerade dem Gefühl sprechen
möchte, wie es ist, wenn man bei allem berechtigten Bitten abgewiesen
wird. Vielleicht macht unsere Zeit religiös zum ersten Mal nach dem Ende
aller Magie und aller Verklärung der Wirklichkeit in der Breite der Bevöl-
kerung diese Erfahrung mit der Religion: Beten rentiert sich nicht; beten ist
Zeitvergeudung. Nicht einzelne nur, fast alle erleben das so. Die Frau, die
für ihr krankes Kind betet, der Mann, der sich mit dem Gebet vor einem
Arbeitsunfall schützen möchte, das Schulkind, das um eine gute Note betet
– an wen wenden sie sich? Früher vielleicht, da gab es dieses unbändige
oder abergläubige Vertrauen auf Gott; über uns aber hat sich eine bleierne
Müdigkeit gebreitet, die die Hände sinken läßt, ohne sie zu falten, und die
die Augen schließen läßt, ohne das Kreuz an der Wand noch zu sehen, wie
in einer stumpfen Resignation, wie bei einem, der allzu lange um Hilfe ge-
rufen hat und der nun mit Entsetzen wahrnimmt, daß das, was er als Ant-
wort hörte, nur sein eigenes Echo von den Wänden war. So etwas erfährt
ein Mensch nicht nebenher, so etwas verwandelt ihn. Es gibt keine Erfah-
rung, die trauriger und trostloser wäre als diese: wie jahrein, jahraus ge-
plagte Menschen in ihrer Not sich zu Gott wenden, und es ist niemand da,
der hilft.
Doch gerade so verhält es sich in der Erzählung von der Hochzeit zu
Kana! Maria kommt und bittet den Herrn in ihrer Not. Sie tut es nicht ein-
mal für sich; sie tut es aus lauter Mitleid, für andere. Sie kennt den Herrn
und steht ihm näher als nur irgend sonst ein Mensch. Und dennoch dieses
schroffe: «Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?» – Nichts anderes als
Antwort als die Ablehnung! So spricht der Herr zu seiner eigenen Mutter!
Warum das? Warum Maria gegenüber? Wenn er nicht hören könnte, nun,
man könnte lauter rufen; aber er hört, er lehnt nur rundweg ab! «Meine
Stunde ist noch nicht gekommen.»
Damit begründet Jesus seine Abweisung. Er lehnt nicht ab wegen der
Menschen – Maria ist nicht eine unwürdige Beterin wie wir; ihre Beweg-
gründe sind nicht selbstsüchtiger Art wie oft bei uns –, aber wann ist schon
Not imstande, an andere zu denken! Nicht um des Menschen willen lehnt
Jesus die Bitte seiner Mutter ab; er tut es offenbar einzig um seinetwillen:
«Meine Stunde ist noch nicht gekommen». Der Herr darf offenbar nicht
handeln. Das ist die Erklärung.
Wir wissen, was im Leben Jesu «seine Stunde» bedeutet: Sie ist gekom-
men in Getsemane, auf Golgota. Da wird er selber beten, wie ein Mensch
nur beten kann, am Rande der Verzweiflung «unter lauten Schreien und
Rufen» (Mt 27,46.50) – und Gott wird den Kelch nicht vorübergehen las-

117
sen. Das ist seine Stunde: der Augenblick der tiefsten Ohnmacht, ein Lei-
den äußerster Erniedrigung.
Und eben dies ist für Johannes die Hochzeit zu Kana: das Bild einer
furchtbar scheinenden und doch scheinbar fruchtbaren Verwandlung von
Wasser in Wein, von Menschenwillen in Gotteswillen. «Meine Stunde ist
noch nicht gekommen», sagt Jesus, und doch, indem er diese Worte
spricht, ist sie im Grunde schon gekommen. Wer sich so restlos in den Wil-
len Gottes stellt, der steht bereits unter dem Kreuz der Ergebung!
Die französische Dichterin Marie Noël zog schon vor Jahren daraus
diesen Schluß: «Man kann auf Gott nicht rechnen, um von irgendeinem
Unglück verschont zu bleiben, denn Unglück ist nicht Unglück, Tod ist
nicht Tod in den Augen Gottes. Wir werden ohne Barmherzigkeit den
Kelch der bösen Viertelstunde trinken, den Kelch der Geißelung, den Kelch
der Eisennägel. Aber kommt das Unglück, kommt der Tod, so bitten wir
Gott dennoch um Erlösung. Wir werden ihn bitten wie ein kleines Kind.
Wenn das Kind betet, fleht der Glaube: Verschone mich … gib mir … rette
mich … Die Ergebung fügt hinzu: Wie du willst. Die Erfahrung, der Zwei-
fel murmeln zitternd: Oft, fast immer, willst du nicht. Die Hoffnung ver-
hüllt sich. Aber die Anbetung beugt sich: Wie du willst. Und die Liebe,
traurig-vollendet, sagt: ich danke dir.»2
Nur so geschieht das Wunder der Verwandlung. Über ihm liegt das un-
besiegbare Versprechen der Erlösung und der Auferstehung. Denn es be-
deutet, daß ich einmal alles, was zu mir gehörte, Gott übergebe – und Gott
gibt es mir zurück. Es ist die einzige Art, in der ich zu mir selber komme:
ein Verzicht, der dennoch keine Resignation ist, ein Überlassen, das den-
noch am Ende dazu führt, daß wir uns selbst gehören.
Und was ist zu tun, wenn wir Gott alles überlassen?
Nicht viel. Nur, was Maria tut. In unserer Zeit bleibt vielleicht über-
haupt nur dieser bescheidene Dienst Mariens. Von Jesus hat sie nichts an-
deres gehört als Ablehnung, und es scheint die unbegreifbare Härte unserer
Zeit zu sein, immer wieder auf diesen Widerstand Gottes zu stoßen, auf
sein glattes Nein zu unserem Wollen. Und dennoch hofft und vertraut
Maria weiter. «Was immer, – wenn er zu euch spricht, tut’s!»
Vielleicht ist es nur das, was Gott von uns heute verlangt: ihm blind, die
Ablehnung noch in den Ohren, die Krüge, die Gefäße hinzustellen, die
seine Liebe füllen und verwandeln kann. Dann ist es möglich, daß am
Ende auch die Speisemeister dieser Zeit jene merkwürdige Verwandlung
spüren; sie werden nur erstaunt sein, – nichts weiter. Aber die Diener
Gottes werden wissen, woher der Wein in ihren Krügen stammt.

118
Joh 2,13-25: Die Tempelreinigung oder:
Von Götzendienst und Gottesdienst
13Denn nah war das Pessah der Juden, und so stieg hinauf nach
Jerusalem Jesus (5,1; 7,10). 14Da fand er im Heiligtum die
Händler: Rinder, Schafe, Tauben, und die Münzwechsler, wie
sie da saßen; 15da machte er eine Peitsche aus Stricken, und al-
lesamt warf er sie hinaus aus dem Heiligtum, auch die Schafe,
auch die Rinder, und von den Wechslern schüttete er aus die
Münze, und die Tische stieß er um, 16und den Taubenhändlern
sagte er: Schafft das weg von hier! Macht nicht das Haus mei-
nes Vaters zu einem Handelshaus. 17Erinnert wurden seine Jün-
ger daran, daß geschrieben ist: Der Eifer um dein Haus ver-
zehrt mich (Ps 69,10). 18Geantwortet haben da die Juden (die
Gottesbesitzer) und ihm gesagt: Welch ein Zeichen weisest du
uns, daß du das tust (Mt 21,23)? 19Geantwortet hat Jesus und
hat ihnen gesagt: Löst diesen Tempel auf, und in drei Tagen er-
richte ich ihn (Mt 26,61)! 20Gesagt haben da die Juden (die
Gottesbesitzer): In 46 Jahren wurde dieser Tempel gebaut, und
du – in drei Tagen errichtest du ihn?! 21Er aber sprach vom
Tempel seines Leibes (1 Kor 6,19). 22Als er dann auferweckt
ward von den Toten, wurden erinnert seine Jünger, daß er das
gesagt hatte, und sie gelangten zum Vertrauen durch die Schrift
(Hos 6,2) und durch das Wort, das Jesus gesprochen hatte.
23Wie er dann in Jerusalem war zum Pessah, in der Festmenge,

gelangten viele zum Vertrauen auf seine Wesensart hin (3,18),


schauten sie doch von ihm die Zeichen, die er tat. 24Selbst aber
brauchte Jesus auf sie kein Vertrauen zu gründen, dadurch daß
er wußte um alle 25und weil er nicht nötig hatte, daß jemand
sich erklärte über den Menschen; er selbst wußte ja, was im
Menschen war (Mk 2,8).

Nach der Geschichte der Hochzeit zu Kana im 2. Kapitel erzählt das Jo-
hannes-Evangelium von der Tempelreinigung in Jerusalem, – ein scheinbar
scharfer, kontrastreicher Szenenwechsel; wir aber werden sehen, daß beide
Themen innerlich zusammengehören, indem die «Tempelreinigung» so
etwas enthält wie eine Grundsatzerklärung, wie das Programm, das Jesus
sich für alles Weitere setzen wird. In der Tat war die Tempelreinigung,
geistig betrachtet, nicht ein einmaliger Aufstand, eine Symbolhandlung,
die sich wie zufällig zu Jesu Leben verhielte; sie drückt vielmehr aus, was
der Mann aus Nazaret insgesamt wollte. Literarisch betrachtet, ist die
Geschichte von der Säuberung des Tempels eine der wenigen Stellen im
Johannes-Evangelium, die mit den Texten der drei ersten sogenannten

119
synoptischen Evangelien übereinstimmen. Wir haben deshalb noch einmal
Gelegenheit, die Art, wie Johannes vorgegebene Stoffe übernimmt und be-
arbeitet, an dieser Stelle genauer zu betrachten.
Was sich schon im Markus-Evangelium in dieser Szene begibt (Mk
11,15-17), läßt sich historisch einigermaßen zuverlässig rekonstruieren.
Von einem bestimmten Zeitpunkt an muß Jesus von Galiläa aufgebrochen
sein, um hinüberzugehen in das Zentrum des Glaubens seines Volkes. Es
wird ein Gang gewesen sein, der eine Entscheidung erzwingen wollte. Vor-
angegangen war die Phase einer großen, begeisterten Aufnahme seiner
Worte beim einfachen Volk in den Dörfern Galiläas, zugleich aber auch
eine Zeit der wachsenden Entfremdung gegenüber den Jerusalemer Behör-
den. Wenn uns das Markus-Evangelium ein getreues Bild von den Ereignis-
sen malt, muß sehr früh bereits das Mißtrauen der religiösen Institutionen
begonnen haben (Mk 3,6.22). Da scheint sich in der Person Jesu etwas zu
verselbständigen, da passiert mit diesem Mann etwas nicht Kontrollierba-
res, da entgleitet etwas der zentralen Lenkung und Aufsicht; ja, hört man
genau hin, so folgt es nicht den Weisungen, die von den Thora-Theologen
in Auslegung der Gebote des Mose für alle verpflichtend gemacht werden.
Zudem kommt offensichtlich etwas noch Ärgeres hinzu.
Unter Theologen ist es eine weitgehend offene Frage, wie Jesus zum
Jerusalemer Tempel stand. Eines kann man von vornherein mit Sicherheit
sagen: Er hat sich nie als zugehörig in irgendeinem Sinne zum Tempelper-
sonal verstanden. Er wollte nie in irgendeinem Betracht Priesterdienste ver-
richten. Und vor allem, es gibt ein Gleichnis aus seinem Munde, das so zu-
gespitzt kritisch zu all dem steht, was da im Tempel passiert, daß man den
Einfluß seines Lehrers, Johannes’ des Täufers, darin wiederzuhören meint.
Es ist die Geschichte aus dem 10. Kapitel des Lukas-Evangeliums (Lk
10,25-37), die antworten soll auf die Frage, was denn das wichtigste aller
Gebote sei, was Inhalt und Kern von allem darstelle, was Mose vom Sinai
für sein Volk und für die Menschen aller Zeiten mitgebracht habe. Jesus
hat in Lk 10,27 ganz nach Schriftgelehrtenart unter Berufung auf zwei Bi-
belstellen (Dtn 6,5; Lev 19,18) zur Antwort gegeben: Liebe Gott und liebe
deinen Nächsten. – Aber wer ist das, mein Nächster, und wie kann das
aussehen, den Nächsten zu lieben? – Darauf erzählt er das folgende Gleich-
nis: Ein Mann ist am Wege von Jerusalem nach Jericho überfallen worden
und liegt schwerverletzt da. Da kommt ein Priester vorbei – jeder, der die-
sen Satz hört, muß denken, nun erführe er, wie man sich zu verhalten
habe. Ein Priester ist das Vorbild, die institutionalisierte, die beamtete Ant-
wort auf die Fragen des menschlichen Lebens, er ist das Offizielle in Per-

120
son; so wie er sich verhält, ist es verpflichtend und beispielgebend für
jeden. Von daher begreift man den Affront, der darin liegt, wenn Jesus
fortfährt: Der Priester sah den Verletzten – und ging vorüber, – weiter
nach Jerusalem, soll man denken, um pünktlich, nach Ritus und Gesetz,
koscher, mit nicht-entheiligten Händen, kultisch rein seinem Dienst zu ob-
liegen und damit den Willen Gottes ungeschmälert abzuleisten. In seinen
Fußspuren, gleich ihm folgend, geht des Wegs ein Levit, und auch er ver-
hält sich ganz wie sein vorangegangener geistiger Führer: Auch er sieht
und übersieht den Verletzten am Wegrand; er geht vorüber. – Da wird eine
Geschichte erzählt, die schockierend wirkt und schockieren will, und zwar
weil man das alles nur allzu gut kennt: diese Zwänge, diese heiligen Tradi-
tionen, diese verordneten Denkbahnen und Vorschriften. Danach hat ein
Priester sein Leben lang nicht den Leichnam eines Menschen zu berühren,
hat er sich die Hände nicht «schmutzig» zu machen an dem Blut eines Ver-
letzten, wenn er das Opferblut am Altare des Herrn darbringen will und
muß! Von derart festgelegten «Amtsträgern» ist nicht zu erwarten, daß sie
aus ihren Gleisen ausscheren. Ihre scheinbare Unmenschlichkeit ist ein
fester Bestand und ein integraler Bestandteil der verordneten Ordnung
ihrer Religion. Man spürt, daß Jesus den Zorn seiner Hörer mobilmachen
will. Das ganze Gleichnis – als Antwort auf die Frage: wie liebe ich meinen
Nächsten? – enthält eine massive Polemik gegen den Tempelkult mit all
den entsprechenden Auflagen: Menschen sind nach Priesterlogik vor Gott
angenehm, wenn sie sich an Moral, Ritus und Gesetz orientieren, genau
das aber führt sie erkennbar an dem Menschen vorbei, der in Not ist, denn
ein derartiges Reglement ist nicht flexibel, es ist ein ewiges ödes Einerlei, es
ist in sich selbst das immer Richtige und also das dauernd Falsche.
Schon wer die Geschichte Jesu bis dahin begleitet, weiß, daß jemand,
der so spricht, sich um jeden Kredit bei den vorgesetzten Instanzen bringen
wird, daß er sich um Kopf und Kragen redet. Nun aber treibt Jesus es zum
Äußersten, wenn er ausgerechnet einen Samariter in die Geschichte ein-
führt. Ein Samariter war in den Tagen Jesu jemand, den ein orthodoxer,
nationaltheologisch denkender Jude hassen mußte, wenn er seinen Glau-
ben bekennen wollte. Die Samariter hatten sich mittelbar schon mit dem
Nordreich (Israel) im 10. Jh. v. Chr. vom Süden (Juda) gelöst, und vollends
als sie um 520 nach dem babylonischen Exil nicht als wahre Israeliten
anerkannt wurden, weil sie nur die fünf Bücher Mose als Gotteswort ver-
standen, war der Bruch unvermeidbar. Die ganze Weiterentwicklung der
judäischen Rabbinen nach der Rückkehr aus dem Exil war an ihnen
vorübergegangen, und wie immer, wenn Menschen eng zusammengehören

121
und sich dennoch nicht verstehen, haßten sich Samariter und Juden am
heftigsten – in Gottes Namen! Sie waren «Erbfeinde» seit einem halben
Jahrtausend! Wenn Jesus also gerade einen Samariter in sein Gleichnis ein-
führt, stockt einem der Atem, denn ausgerechnet von dem erzählt er, dieser
sei hinübergegangen zu dem Verletzten, und er habe alles getan für ihn,
was er tun konnte! Und der Grund: Er hat offensichtlich nicht den Opfer-
dienst und die Reinheitsvorstellungen der Priester und Schriftgelehrten im
Kopf; und eben deshalb hat er die Augen und das Herz frei, zu sehen und
zu tun, worauf es vor Gott und den Menschen einzig ankommt: Menschen
in Not zu helfen, so gut es geht.
Eine solche «Lehre» freilich ist revolutionär. Sie besagt: Vergiß alles,
was sie dir über Gott beigebracht haben unter den Augen der Zensoren in
Jerusalem, streif das ganze Offizielle des religiösen Betriebs ab, laß alles
Beamtete beiseite, – es bringt Gefahr, dich falsch auf den Weg zu schicken;
es treibt nicht, was Gott will, es macht aus Gott einen Popanz, einen Göt-
zen, eine fixe Idee. Denn es gibt keinen anderen Gottesdienst, als auf Men-
schen zuzugehen, die Hilfe benötigen. Nur in solchem Tun wohnt Gott.
Wer aber sagt, Gott wohne im Tempel in Jerusalem, dort müsse man ihn
besuchen und dann erst könne man den Weg zu den Menschen finden, der
stellt alles auf den Kopf. Ein solcher Tempelgott ist gleichbedeutend mit
der Leugnung Gottes, ein solcher Tempeldienst ist der Inbegriff der Un-
menschlichkeit; er ist überflüssig, hinderlich und schädlich.
Eine solche Rede besitzt tatsächlich den Atem der Wüste, sie verrät
deutlich den Geist Johannes’ des Täufers, sie ist radikal kritisch gegenüber
dem Jerusalemer Tempel; und sie hebt diese Kritik ins Wesentliche. Die
Wüstenväter von Qumran lehnten den Tempel ab, weil in ihren Augen die
Einhaltung der Riten von den Priestern der Söhne Sadoks, den Sadduzäern,
nicht genau genug beachtet wurde und weil die gesamte Beamtenschaft am
Tempel für korrupt galt; Johannes der Täufer ignorierte offenbar aus pro-
phetischen Gründen den Tempelkult, und in den Fußspuren dieses Mannes
begann Jesus seine eigene Mission, Gott und Mensch in ein vertrauensvol-
les, entängstetes, heilsames Verhältnis zueinander zu bringen.
Man kann kaum anders denken, als daß Jesus die Hohen Priester im
Umkreis des jüdischen Heiligtums ernst genug genommen hat, um sie mit
seinem Gang nach Jerusalem zu einer Entscheidung zu nötigen.
Es wird ihm nicht verborgen geblieben sein, wie die Dinge im Unter-
grund zusammenhingen. Was er in Galiläa in den Dörfern rund um den
See Gennesaret immer wieder antraf und zu bekämpfen suchte, nennen wir
in verharmlosendem Theologendeutsch die Frage der Vergebung der Sün-

122
den: ist sie «priestervermittelt» lebbar? Das Wort «Sünde» ist derart ver-
staubt, verfeierlicht und mystifiziert, daß so recht niemand mehr etwas
damit anfangen kann. Würden wir statt «Er vergab die Sünden» sagen:
«Er kämpfte gegen jede Art von Außenlenkung, Unterdrückung, Angst-
abhängigkeit und verinnerlichter Gewalt», dann würden wir die Dinge
beim Namen nennen. Denn das sah Jesus: wie man die einfachen «Leute
auf dem Lande» im Namen Gottes immer wieder einsperrte in die Fesseln
einer Gehorsamsethik, die sie erstickte und nicht leben ließ und die am
Ende aus Gott einen Tyrann machte, so daß man ihn nur fürchten und ver-
meiden konnte, statt zu ihm Vertrauen zu gewinnen und sich ihm zu öff-
nen. Diese Art von Religion, da glaubte Jesus sich sicher, verleumdet Gott,
der väterlich ist zu den Menschen und der uns miteinander leben lassen
möchte als Geschwister.
Was auf der einen Seite die Tyrannei im Sprechen von Gott ist, stellt sich
auf der anderen Seite als Ursache und Folge, als Motiv und Ziel, als ein
sehr berechnetes, wohlkalkuliertes System von Macht und Geldgewinn
dar. Die Art, wie man an der Religion verdient, ist immer wieder die glei-
che. Sie läßt sich festmachen an zwei Punkten, die strukturell die Religion
zu stabilisieren vorgeben, während sie diese in Wirklichkeit unterminieren.
Das eine ist: man verwandelt die Gotteserfahrung, die persönliche Begeg-
nung, in eine Lehre von außen, eben in eine Doktrin von Gesetzlichkeit
und Zwang, gerade wie Jesus sie im Herzen der Menschen als Besessenheit
und Krankheit wiederfand und aufzulösen suchte; das andere ist: man beu-
tet die religiöse Angst der Menschen aus zu Machtanhäufung und Berei-
cherung.
Machen wir die Probe aufs Exempel, wie das Christentum sich darstellt.
Bei einiger Ehrlichkeit kommen wir nicht umhin zu sagen, spätestens seit
dem 4. Jh., seit 1500 Jahren also, präsentiere sich das Kirchenchristentum
wesentlich, ja, fast ausschließlich als Lehrbetrieb, eingerichtet von be-
stimmten Schichten, die auslegen, wie man an Christus glauben muß, das
heißt besser: welche Formeln man sprechen muß, um zu beteuern, daß
man an Christus glauben würde; und wer diese Sprache nicht exakt zu
Wege bringt, gilt nicht als Mitglied der Kirche, der ist als Ungläubiger aus-
zustoßen. Um ein solches System aufrechtzuhalten, braucht man sehr viel
Geld, ganz ohne Frage: man benötigt Geld für eine jahrelange Ausbildung
der Gottesexperten – mehr als 600 000 Euro pro Priester, Geld für die Ein-
richtung gewaltiger Bibliotheken, Geld für den Aufbau eines riesigen Sy-
stems zur Machtverteilung, stets wie bei einer Pyramide von oben nach
unten. Ein solches System erhält sich, indem dem kleinen Mann vorge-

123
macht wird, daß seine Erfahrungen, seine Gefühle nichts gelten vor Gott,
es sei denn, sie würden beglaubigt durch das Sprachspiel der Experten. Die
wissen, wann man gläubig ist und auf dem rechten Wege befindlich, und
bevor nicht dies gewährleistet ist, gilt nichts in Sachen Gott und Jesus
Christus. Was würde Jesus tun, käme er nach 2000 Jahren zurück in diese
Welt? Mit was für Peitschen müßte er zuschlagen, um uns heute zu treffen?
Man braucht viel Macht, um das kirchlich etablierte System fortzuset-
zen. Man braucht den Zugang zu den Bildungsmonopolen, man braucht
die Kollaboration mit der Staatsmacht, man braucht die Rückversicherung
der öffentlichen Ordnung, man ist am Ende sogar selber systemerhaltend
für die bürgerliche Ordnung, man liefert die metaphysische Rechtfertigung
ihrer Ethik, und man wird immer abhängiger, immer ohnmächtiger und
entfernt sich immer weiter von Gott. Gibt es, wenn wir Jesus vor Augen
haben, nicht diese Traurigkeit, die uns überkommen muß, wenn wir die
kostbarsten Leistungen des Christentums im Abendland aufgereiht sehen
in großartigen Domen und Kathedralen, so schön, daß sie als Museen ein
erhabenes Zeugnis der Baukunst, der stilistischen Sensibilität, des Opfer-
mutes und des Reichtums vergangener Epochen darstellen, aber wie behaf-
tet mit Blut und Krieg! Die römischen Basiliken – sie wurden ausgekleidet
mit dem Gold der Azteken und der Inka-Peruaner, geschändeter und er-
würgter Kulturen, im Dienst für Gott, gewiß, aber für welchen Gott, muß
man fragen. Den Vater Jesu Christi? Sicher nicht.
Dann muß man sich vorstellen, daß es all das ja nicht nur draußen gibt,
daß es nicht nur in einer Institution existiert, sondern wesentlich noch ein-
mal in uns selber, die wir es besser offenbar nicht wünschen, die wir uns
damit beruhigen, daß die Dinge einfachhin so laufen, wie sie sind, die wir
dazugehören und uns nicht zu entscheiden wagen zwischen den Evangeli-
aren aus Gold, die man an erhabenen Stellen aufblättert, um das Wort Jesu
vor Kaisern und Königen, Fürsten und Statthaltern sorgfältig und weise
auszulegen, und dem Evangelium – nach dem Vorbild des heiligen Franzis-
kus etwa, der seine letzte Bibel nahm, um sie für einen Bettler zu verkau-
fen. Wenn Gott nur im Herzen spricht, ist alles, materiell betrachtet, sehr
billig, aber wir selber sind, geistlich betrachtet, sehr reich. Und das ohne
Zweifel wollte Jesus. Darin muß der Sinn seines «langen Marsches» be-
standen haben, mit dem er an der Spitze seiner Anhänger von Galiläa aus
hinübergeht in die Heilige Stadt.
Alles wartet in den Pessah-Tagen darauf, wie man dort reagiert. Jeder,
der sich als Berater Jesu in pragmatischen Fragen des Vorgehens hätte ver-
dient machen wollen, würde gewiß geraten haben, er solle unmittelbar mit

124
den dort amtierenden Hohen Priestern reden, vor allem, er solle abwarten,
er solle Geduld walten lassen, er solle die nötigen Verhandlungen einleiten
und sich überhaupt erst einmal in diesen Kreisen, die ihn nur vom Hören-
sagen und durch die Aussagen von Spitzeln kennen, persönlich bekannt
machen; er solle etwa vorhandene Vorurteile – auch auf seiner Seite! –
womöglich abbauen. Statt dessen kam von Anfang an alles ganz anders.
Wir sehen einen Jesus vor uns, der auf Taktik offensichtlich nicht den ge-
ringsten Wert legt. Nichts wird da klug überlegt, nichts auf seine Folgen
hin berechnet. Jesus will keine «Verhandlungen», er will Entscheidungen.
Doch was er dann erlebt, als er den Tempel betritt, übersteigt schlicht
all seine Vorstellungen. Was er anstelle des «Gebetshauses» im Sinne des
Jesaja (56,7) vorfindet, nennt Johannes ein Handelshaus, – die Synoptiker
nennen’s mit einem wörtlichen Zitat aus Jeremia 7,11 eine Räuberhöhle.
Spätestens dieser Anblick stellt auch Jesus vor ein Entweder-Oder; ange-
sichts dieses Zustandes gibt es für ihn keinen Kompromiß. Die Synoptiker
erzählen, Jesus habe die Händler hinausgewiesen; Johannes fügt hinzu, er
habe sich eine Peitsche aus Stricken geflochten und draufgeschlagen; er
habe sie hinausgejagt – die Händler, die Tiere – raus! Mit einem heiligen
«Eifer», das heißt empört und wütend.
Was in der Szene der Tempelreinigung auf dem Spiel steht, ist auch hi-
storisch klar. Es geht, äußerlich betrachtet, zunächst darum, daß man im
Tempel nicht mit römischem, heidnischem Geld handeln darf; also muß
am Tempeleingang die römische Münze eingetauscht werden gegen jüdisch
geprägtes Geld, und das tun die Münzwechsler. Die Tierhändler wiederum
sind nötig, um sich die Tiere zu kaufen, die man für die Opferstätten
braucht. Von all dem lebt die offizielle Religion. Dahinter aber waltet «die
unsichtbare Hand», sie kassiert die Mehreinnahmen; sie kontrolliert den
gesamten Geldumlauf. Die «unsichtbare Hand», das sind die Hände des
Hannas; nach ihm sind die Hallen benannt, in deren Umgebung diese
Szene spielen muß. Hannas ist der Schwiegervater des Hohen Priesters
Kajaphas. Den Mann kennen wir näher; ihm wird später das Todesurteil
über Jesus zugeschrieben, und es wird von ihm nicht zuletzt auch politisch
motiviert: «Ihr bedenkt nicht einmal», spricht er, «daß es nur zuträglich ist
für euch, daß ein Mensch stirbt für die Leute und nicht das ganze Volk
zugrunde geht.» (Joh 11,50) In dieser Haltung taktierender Angst hat
Kajaphas das Kunststück fertigbekommen, als Hoher Priester länger als
ein Dutzend Jahre Freundschaft zu pflegen mit den heidnischen Römern,
die das Land seit 63 v. Chr. besetzt halten. Mindestens nach außen muß
Kajaphas von diplomatischer Raffinesse gewesen sein. Als Realpolitiker

125
muß er verstanden haben, daß die römische Militärmacht nicht durch die
Wahnideen der Bandenkrieger, der «Zeloten» (Eiferer) und «Sikkarier»
(Dolchmänner) in den Bergen Galiläas, aus Palästina zu vertreiben ist; man
muß sie dulden, man darf sie nicht reizen, man muß mit ihr koalieren, ge-
rade wenn man als Hoher Priester für das Volk Gottes Verantwortung
trägt. Schon daß man statt des einen Hohen Priesters von den Hohen Prie-
stern spricht, liegt im Grunde an den Römern. Denn ursprünglich waren
die Hohen Priester aus dem Geschlecht der Makkabäer Besitzer des Königs-
titels; erst Herodes «der Große» und die Römer, als deren Kreatur er re-
gierte, nahmen ihnen diesen Titel und hoben auch die Erblichkeit des
Amtes auf, das fortan nicht mehr lebenslänglich ausgeübt wurde. Dafür
wurden alle Mitglieder der fünf hohenpriesterlichen Familien als «Hohe
Priester» bezeichnet. Zudem baute Herodes den wiedererrichteten Tempel
aus der Zeit nach dem Exil äußerlich prachtvoll in erweiterter Form mit
großen Säulenhallen wieder auf; in dem äußeren Tempelvorhof, der auch
von «Heiden» betreten werden durfte, wird die «Reinigungsszene» hier ge-
spielt haben. Doch was dort stattfindet, ist ein Spiegelbild der ganzen Kon-
struktion dieses Tempels: es wendet nach außen, was innerlich sein müßte;
und im Rahmen dieser Mesalliance von Thron und Tempel, von Macht
und Ideologie, fungiert auch der «Hohe Priester». Mit anderen Worten:
Kajaphas verkörpert Religion, wie sie in etablierter Form immer wieder
auftritt: Es gilt, das Volk zu organisieren, zu «führen», durch die Jahrhun-
derte zu bringen und nur ja nicht zu beunruhigen; es gilt, den Gefahren
auszuweichen; man sieht Religion daher immer auch als eine Spielart der
Politik. So scheint es «pragmatisch», so scheint es erfolgreich; aber ist es
auch legitim? Um diese Frage geht es in der Szene von der Tempelreini-
gung.
Was eigentlich ist unter «Gottesdienst» zu verstehen? Je konservativer
geprägt die Gedanken über Gesellschaft, Frömmigkeit, Moral und Recht
sich gestalten, desto paradoxer wird man immer wieder auf zwei Elemente
stoßen, die sich scheinbar nicht miteinander vertragen und die im Unter-
grund doch logisch einander bedingen. Der eine Gedanke ist der des Op-
fers. Immer wieder wird im konservativen Raum dem Einzelnen gepredigt,
daß er sich «opfern» muß für den Dienst am Allgemeinen, daß er zumin-
dest auch «Opfer» bringen muß für die Notwendigkeiten des Ganzen. Der
Einzelne hat, so betrachtet, kein Recht auf sein eigenes, nur privates
Glück, sondern er ist verflochten mit allen, er hat sich der Allgemeinheit
(der Kirche, dem Staat, der Partei, der Ordensgemeinschaft) einzuordnen
und unterzuordnen, indem er den Anordnungen und Weisungen Folge lei-

126
stet; er muß Verzicht tun. So die soziologische Doktrin, so auch das theo-
logische Dogma. Da ist ein Gott, dem man sich nur nahen kann, indem
man Opfer darbringt. Ein Mensch gilt da für so angenehm, für so will-
kommen und für so wertvoll, als er an Opfern mitzubringen und einzu-
bringen hat. So die subjektive Seite, die zeigt, was diese Einstellung den
Menschen abverlangt. Auf der anderen Seite liegt das ganze Bestreben in
diesen Gedankenbahnen darauf, Reichtum, Macht und Geld anzuhäufen, –
in dieser Zielsetzung zeigt sich die objektive Seite des Systems. Dieselbe
Gesellschaft, dieselbe Religionsgemeinschaft, die dem Einzelnen jede Art
von Entsagung auferlegt, legt selber den größten Wert darauf, Macht, Geld
und Geltung für sich selber zu erwerben. Und man versteht: im Grunde ist
das eine nur das Mittel für das andere. Je weniger der Einzelne für sein
persönliches Glück, für seine Entfaltung Energien übrigbehält, desto mehr
wird an seinem Opfer sich die Allgemeinheit mästen; sie wird das aber
wiederum nur können, wenn sie den Erwerb von Geld und Macht für
etwas Unverzichtbares, für etwas Gottgewolltes verklärt.
Gerade so finden wir’s hier, im Alten Israel. Jeder, der sich Gott nahen
will im Tempel, hat Opfer darzubringen, indem er den Priestern den Mitt-
lerdienst überläßt. Gleichzeitig wird die Tempelverwaltung, werden die
Hohen Priester ihre Machtmittel und Geldmittel aus den Händen der
Gläubigen immer stärker vermehren. Die Erniedrigung des Einzelnen und
eine quasi kapitalistische Wirtschaft als Ordnung des Allgemeinen – beides
sind nur die zwei Seiten ein und derselben Prägung, ein und derselben
Münze, und dies seit den Anfängen eines institutionalisierten Priesterdien-
stes in tempelähnlichen Gebäuden. Historisch gesehen, waren die Tempel
als erstes Banken, in denen die Schuldgefühle der Menschen in Opfergelder
der Tempelkasse verwandelt wurden1.
Man könnte sich fragen, was Jesus denn gegen diese so weit verbreitete,
in jeder Religion und in jeder Kultur vorkommende Einrichtung und Ge-
wohnheit geltend zu machen hatte. Statt in historischen Detailbegründun-
gen stecken zu bleiben, sollten wir noch einmal die Frage weitergeben an
den Zustand der Religiosität heute, zum Beispiel der römisch-katholischen
Kirche als der mitgliederstärksten religiös-staatlichen Institution.
Wie predigt man das Evangelium im 3. Jahrtausend?
Die Antwort der römischen Zentrale darauf ist ganz klar: Was wir als
erstes brauchen, ist Macht und Einfluß, und zu deren Unterhalt benötigen
wir Geld. Nur ein gut ausgestatteter, mit Geldmitteln wohl versehener Ap-
parat kann sich stark genug durchsetzen auf dem Markt der meinungsbil-
denden Medien, nur er verfügt über die Energie, die Seelen der Einzelnen

127
zu beeinflussen und große Menschengruppen zu erreichen. Geld ist die
Seele der Verkündigung, gewissermaßen die Basisvoraussetzung von allem
anderen. Ohne Geld läuft überhaupt nichts, bringt man uns bei; Geld ist
das Energiemittel, das Adenosintriphosphat sozusagen, das in jedem ener-
getischen Prozeß des Körpers sich austauschen muß, um das Leben einer
religiösen Gemeinschaft, wenn sie so verfaßt ist, in Gang zu halten. Den
Propheten der Kirchengeschichte stellt sich quer durch zwei Jahrtausende
das Problem immer wieder: Girolamo von Savonarola im 15. Jh. zum
Beispiel – er wurde verbrannt auf dem Marktplatz von Florenz2; oder
Martin Luther, als er die Ablaßpredigt, mit deren Hilfe man in deutschen
Landen den Menschen in ihrer Angst vor dem Fegefeuer Geld zum Bau des
Petersdoms abpreßte, nicht länger als eine göttliche Botschaft dulden
wollte. Immer ging es auch um Geldopfer dabei; – 86. These beim An-
schlag an der Schloßkirche zu Wittenberg deshalb: Wenn denn der Papst,
wo er der reichste Krassus ist, zum Bau des Petersdoms Geld nimmt,
warum dann nicht sein eigenes statt das der armen Gläubigen?3 Wahr-
scheinlich war diese These Luthers noch viel schlimmer für die römischen
Ohren als seine Meinung, daß Gott die Sünde der Menschen vergebe aus
reiner Gnade, ohne jede Vorleistung. Denn diese Aussage griff lediglich
den Theologenstand an und brachte ihn geistig auf neue Gedanken, der
Satz vom Geld des Papstes aber war gerichtet gegen die materielle Ausbeu-
tung als ein Prinzip geistlicher Herrschaft. Da steht buchstäblich für eine
so verfaßte Frömmigkeitsordnung alles auf dem Spiel.
Beides hängt auf diese Weise zusammen, das Opfer wie das Geld, und
wir müssen, schon gestützt auf das Zeugnis der Synoptiker, denken, daß
Jesus beides ineins abschaffen will: die Opferrituale im Tempel ebenso wie
die Geld- und Schuldeneintreiberei für die Tempelkasse – vor allem das
Thema der obligaten Tempelsteuer, die jeder fromme Jude zwangsweise zu
entrichten hat, spielt da mit (vgl. Mt 17,24-27). Das Handeln Jesu wird
von Johannes nach Psalm 69,10 wie ein sich erfüllendes Schriftwort darge-
stellt: Der Eifer um dein Haus verzehrt mich. Und in der Tat, es geht
darum, Gott für die Menschen zurückzugewinnen. Übersetzen wir, was
sich da abspielt, nur in unsere Tage; begeben wir uns an irgendeinen Wall-
fahrtsort, ob nach Fatima, Lourdes, Kevelaer, Tschenstochau oder Guade-
lupe, oder gehen wir direkt nach Rom, – wir finden überall dasselbe
Schauspiel: man macht aus der Religion ein Geschäft, und der Grund: man
hat immer einen Gott, der zuerst versöhnt sein will durch seine Priester,
aus deren Händen die Opfer dargebracht werden müssen, die die Gläubi-
gen zu bringen haben, damit endlich die Heilswerke der Kirche den Him-

128
mel erreichen können. Genau so nicht! meint Jesus, meinen alle Reforma-
toren. Wenn die Prophetie je irgendeinen Sinn gehabt hat im jüdischen
Volk, wenn irgend sie in der Person Jesu Gestalt gewonnen hat, dann kann
man nur laut sagen: So nicht! Diese Überzeugung ist es, die Jesus anschei-
nend schon übernommen hat von Johannes dem Täufer, aber er setzt sie
unverzüglich ins Werk. Raus und Schluß damit! das ist seine Reaktion auf
die Aufführungen der Priester, ohne jeden Kompromiß, ohne jede Diskus-
sion. Es gibt bei Johannes zur Begründung nicht einmal mehr das Wort des
Jesaja: Mein Haus ist ein Haus des Gebetes. Für das Johannes-Evangelium
genügt es, daß Jesus von dem Tempel als dem Haus seines Vaters spricht.
Kindliches Vertrauen und priesterlicher Opferdienst gehen nicht zusam-
men. «Wenn ihr betet», sagte er einmal sinngemäß, «stellt euch nicht an die
Straßenecken und in die Synagogen. Es genügt, ihr geht in euer eigenes
kleines Zimmerchen, und Gott wird euch hören. Er sieht im Verborge-
nen.» (Mt 6,5) Überhaupt nichts ist nach Jesu Meinung nötig an offizieller
Vermittlung zwischen Gott und Mensch. Ein Mensch, der spricht aus sei-
nem Inneren, so daß es stimmt, der ist bei Gott; besser braucht es nicht zu
sein; alles andere ist nichts weiter als mutwillige Komplikation, als Ver-
mehrung von Zwang, als Ausnutzung menschlicher Angst; ein solches Vor-
gehen hilft nicht, es tötet – erst die Tiere, dann die Menschen, schließlich
die Seele. Am Ende ist überhaupt kein Gott mehr, nur noch ein priesterli-
cher Fetisch.
Wofür Jesus eingetreten ist in Galiläa und jetzt in Jerusalem, ist erkenn-
bar die Unmittelbarkeit eines jeden zu der Macht, die er seinen und unse-
ren Vater nannte. Da bedarf es keiner Opfer, keiner Vorleistungen, das ein-
zige, was nötig ist, besteht darin, zu wissen, daß wir allesamt nur leben aus
der Liebe und aus dem Verstehen. Über die Klippe der Angst hinwegzu-
springen und Gott zuzutrauen, daß er nicht der Strafende, der ewig Ambi-
valente ist, der in einer Priesterreligion gehätschelt und gepflegt werden
muß, das schon ist der ganze Mut einer vermenschlichten Religiosität im
Sinne Jesu; es ist identisch mit dem Überflüssigwerden alles Priesterlichen.
Da ist der Tempel dem Prinzip nach längst zu Ende, ehe daß er «gereinigt»
wird; er wird einfach freigegeben für alle. Er braucht keine Kontrolle mehr,
er benötigt keine Beamtenschaft mehr, er legt keinen Wert mehr auf dienst-
tuende hierarchische Instanzen. Gott wohnt, wo er will, im Herzen jedes
Menschen, der sich ihm nahen möchte. So bereits die Synoptiker.
Allerdings haben die Synoptiker diese Geschichte ganz am Ende des
Lebens Jesu erzählt, – historisch wohl zu Recht; danach ging alles sehr
schnell, ein Katarakt sich überstürzender Ereignisse, der Jesus hinweg-

129
spülte. Seine Aktion und Provokation im Tempel muß das Faß zum Über-
laufen gebracht haben. Hetz- und Haßtiraden in Galiläa, das mag man
sich geduldig von ferne angehört haben, aber jetzt: Insubordination, Un-
ruhe, Chaos und Aufstand unter den Augen des Tempelpersonals und der
Römer mitten in Jerusalem – da muß Schluß sein, endgültig Schluß sein.
Und es wird ganz rasch Schluß gemacht werden. Historisch wird es wohl
so gewesen sein.
Es hat ein Wort gegeben, das Johannes hier aufgreift und das eine ge-
wisse Rolle wohl auch historisch im Verhör vor Kajaphas gespielt haben
wird. Es ist schwierig, herauszufinden, wie weit man der Überlieferung an
dieser Stelle historisch trauen kann, aber daß Jesus ein Wort zum Vorwurf
gemacht wurde, das zwischen ihm und dem Tempel einen Vergleich an-
strebt, das scheint sicher. So ähnlich muß Jesus wohl wirklich gesagt
haben: Löst diesen Tempel auf, und in drei Tagen errichte ich ihn – ein
Rätselwort offenbar, ein Maschal, ein sehr sonderbarer Satz. Markus
(14,58) schreibt dabei, die zwei Zeugen, die den Satz vorgetragen hätten,
seien im Widerspruch zueinander gewesen; gestützt nur auf dieses Wort,
hätte man Jesus nicht zum Tode verurteilen können. Aber wenn wir den-
ken, die Aussage: Ihr könnt den Tempel niederreißen, hätte Jesus wirklich
gemacht, dann wären wir dicht an der Stelle eben des Konfliktes, der sich
wohl auch historisch so zugetragen haben wird: der Kampf gegen die ver-
waltete Religion, gegen den Tempelkult.
Wir können diesen Gedanken allein gar nicht ernst genug nehmen. Vor
allem die Dogmatik der römischen Kirche behauptet bis heute, daß Jesus
eine neue Priesterschaft in seinem Namen gegründet habe. Nichts ist histo-
risch unglaubwürdiger als dieser Gedanke; denn niemals hat Jesus gegen
die Priesterschaft in Jerusalem, sozusagen in Konkurrenz zu ihr, eine eige-
ne priesterdienstliche Kaste gestiftet. Was dem Mann aus Nazaret vor-
schwebte, war die Überzeugung, daß nur Menschen, die zu Gott unmittel-
bar sind, untereinander hilfreich sein können, entstehende Hindernisse auf
dem Wege zu Gott beiseite zu räumen. Wenn wir «priesterlich» jeden Men-
schen nennen, der dem anderen Mut macht zu sich selber und ihm zu dem
Vertrauen hilft, Gott umfange sein Dasein ganz, dann mag man sagen,
Jesus habe ein «neues Priestertum» gegründet. Doch dann muß man alle
Worte in diesem Zusammenhang anders definieren, als es in der Religions-
geschichte üblich war. Keine neuerliche Behörde, keine Instanz mit rituel-
lem Vermittlungsauftrag kann im Sinne des Mannes sein, der den jüdi-
schen Tempel «gereinigt» hat.
Das Johannes-Evangelium, indem es die Tempelszene vor Augen hat,

130
weiß natürlich um die Tödlichkeit ihres Ausgangs. Um so eigenartiger
mutet es an, daß es die Begebenheit, die bei allen anderen Evangelisten am
Ende des Lebens Jesu steht, programmatisch nach vorne zieht: Noch ehe
Jesus in die Öffentlichkeit hineinspricht, ereignet sich dieser Aufstand am
Ort des Heiligtums in Jerusalem. Für das Vierte Evangelium liegt in dieser
zeitlichen Anordnung die wesentliche Aussage, daß Jesu Kampfansage
gegen die verfaßte und verhaßte Religion eine fundamentale, prinzipielle
Bedeutung besitzt und in sich bereits alles Weitere, inklusive des tödlichen
Ausgangs, enthält. Johannes ist diese thematische Einheit so bewußt, daß
er die Zerstörung des Tempels geradewegs identisch setzt mit der Hinrich-
tung Jesu, mit der Tötung seines Leibes; Jesus wird den Tempel abschaffen,
er wird ihn wirklich einreißen, um den Preis seines eigenen Lebens, aber er
wird ihn (in Wahrheit, geistig) wiedererrichten in drei Tagen durch seine
«Auferstehung». Siegen wird das Leben; doch gerade hier beginnt dieser
Neuanfang.
Man mag zwischendrein fragen, was denn überhaupt noch bleibt. Soll
denn diese prophetische Radikalität, mit der Jesus hier agiert, wirklich gel-
ten? Abräumen kann schließlich jeder, etwas für unnötig zu erklären, das
scheint ein leichtes, aber was kommt danach? Am Ende hat man vielleicht
nichts als Chaos, als Beliebigkeit, als Willkür! Wie beschreibt sich nach so
viel Negation der positive Inhalt?
Das Matthäus-Evangelium hat sich bei dieser Szene genau darüber Ge-
danken gemacht. Matthäus «erfindet» den positiven Inhalt der Tempelrei-
nigung, indem er erzählt, als Jesus den Tempel gereinigt habe, seien zu ihm
die Lahmen, die Blinden gekommen und auch die Kinder; die einen habe
Jesus geheilt, die anderen hätten ihn gepriesen (Mt 21,14-15). Man kann
nicht anders sagen, als daß eine der wichtigsten Weichenstellungen für die
Interpretation dessen, was Jesus sagen wollte, an dieser Stelle des Ersten
Evangeliums vorliegt. Matthäus will offensichtlich bewußt akzentuieren:
Gott wohnt bei den Armen, er wohnt bei den Bettlern, er ist nahe den
Kranken, er steht bei den Notleidenden; die Solidarität mit den Menschen,
die ihn brauchen – das ist der ganze Gottesdienst; mehr ist in seinen Augen
nicht nötig, als sich Menschen zuzuwenden, die wie blind, wie in einem
dunklen Raum, sich bewegen; ihnen Licht zu schenken heißt zu tun, was
Gott will. Wer die Umdüsterung einer Menschenseele auflöst und schenkt
ihr den Schein des Himmels wieder, der «dient» nicht nur Gott, der schafft
den Raum eines Heiligtums; der ist, in seiner Art zu leben, selber der Tem-
pel. Und einen anderen braucht es nicht. Das ist so viel wie die Weiter-
führung des Gleichnisses Jesu vom barmherzigen Samariter aus dem

131
Lukas-Evangelium in der Interpretation des Matthäus. Der Tempel, mit
einem Wort, wird «gereinigt», damit eine zweckfreie, reine Menschlichkeit
nachwachse. Und es sind die Kinder, die diese Botschaft verstehen. Sie sind
dem Jesus von Nazaret dankbar. In diesem Bild geht es natürlich nicht um
kleine Kinder in nazarenerbildchenhafter Süßlichkeit, es geht darum, daß
man, um Jesus zu verstehen, ein Mensch geworden sein muß, der noch ein-
mal neu zu leben gelernt hat, reinweg aus Güte. Nicht mehr, was von den
«Erwachsenen» an Anstand und Wohlstand, an Opfer und Geldgewinn
abverlangt wird, – einzig das, was im Herzen der Menschen wirklich leben
möchte, das atmet plötzlich auf, das fühlt sich befreit und wird ein großer
Lobgesang. Das heißt es im Sinne Jesu, wie Matthäus ihn versteht, Gott zu
verehren. Und diese Deutung bietet die Brücke auch für das Johannes-
Evangelium.
Natürlich steht hinter der Auseinandersetzung um den Tempel die
scharfe Dissonanz zwischen der frühen Jesusgemeinde und dem nach dem
Jahre 70, nach dem Untergang Jerusalems, pharisäisch neu organisierten
Judentum. Die frühe Jesusgemeinde hatte zum Tempel von Anfang an kei-
nen Zugang, jetzt nach dem Jahre 70 will sie ihn auch nicht mehr haben;
sie hofft durchaus nicht mehr auf Rückkehr zu den alten Verhältnissen,
und so rechtfertigt sie ihre Einstellung auch mit Geschichten dieser Art.
Das freilich bleibt das Bitterste am Johannes-Evangelium, daß der Vierte
Evangelist, der so viel sonst von der Liebe spricht, das Wort «Jude» auf
eine Weise intoniert, die durch das ganze Abendland schrecklich hallen
wird. Sie ist nicht übersetzbar. Wollte man den Johannestext ins Deutsche
bringen, käme man an vielen Stellen nicht umhin, von Juden in historisch
korrektem Sinne zu sprechen: Es war aber das Pessah der Juden – in einer
solchen Wendung ist deutlich, daß Johannes für Nichtjuden schreibt, doch
bietet er eine religionsgeschichtlich korrekte Erläuterung. Aber wenn es
dann heißt: Die Juden aber fragten ihn: Welch ein Zeichen weisest du uns,
daß du das tust – dann darf man nicht mehr von «Juden» sprechen als von
den Menschen, die wir als Juden kennen; dann haben wir es mit einem be-
stimmten Typ von Religiosität zu tun, den man am besten durch die Be-
hauptung, Gott zu wissen und rituell zu besitzen, gekennzeichnet findet;
statt «die Juden» sollte man daher besser setzen «die Gottesbesitzer», die-
jenigen, die sich scheinbar völlig klar sind, wie man Gott verehren muß;
Tradition, Institution und Autorität sagen es ihnen ja unzweideutig und
unfehlbar. Vielleicht aber läßt sich gerade von den Propheten Israels ler-
nen, daß man Gott gar nicht besitzen kann, daß Religion sich gar nicht
verwalten läßt, sondern daß die verwaltete Religion in sich selbst das Ende

132
der Religiosität darstellt. Dann ist dieser Konflikt überhaupt nicht zu be-
ziehen auf eine bestimmte historische Gruppe, sondern er geht quer durch
alle konfessionellen und religiösen Grenzziehungen.
Schauen wir uns den Satz aus dem Johannes-Evangelium daraufhin noch
einmal genauer an, wenn Jesus erklärt: Löst diesen Tempel auf, und in drei
Tagen errichte ich ihn. Im Johannes-Evangelium ist dieser Satz die Antwort
auf die Zeichenforderung der «Juden»; das also ist das Zeichen, auf das
sich alles gründet! Aber wieso? Was meint das Vierte Evangelium gegen-
über den Synoptikern? Matthäus hatte es zu tun mit einem gewissermaßen
moralischen Appell; dieser Evangelist mochte, daß man aus der Botschaft
Jesu eine gelebte Menschlichkeit ableite, und darin liegt gewiß eine richtige
Nutzanwendung des Tempelmotivs. Doch für Johannes ist diese Den-
kungsart offenbar immer noch zu äußerlich. Was ihm vorschwebt, ist eine
vollkommene Neuinterpretation. Wo ist der «Tempel» Gottes? Die Ant-
wort des Matthäus lautete: an jeder Stelle, an welcher Menschlichkeit ge-
lebt wird. Aber wie kann man das? Darauf antwortet Johannes, indem er
erklärt, wahre Religion liege natürlich nicht im Räumlichen, aber auch
nicht einfach in einem bestimmten Verhalten, sie liege in dem «Körper», in
der Person des Jesus von Nazaret. Diese «christologische» Zentrierung be-
deutet: Religion, wie Jesus sie lebte und lehrte, hört auf, institutionalisier-
bar zu sein; sie ist in ihrem wesentlichen Inhalt gebunden an die Person; sie
ist eine Form des Lebens, die überhaupt nicht an etwas Äußeres zu delegie-
ren ist. Das Niederreißen des Tempels und die Zerstörung des äußeren Le-
bens Jesu, beides parallel, vermittelt einen Wechsel von der Religion der
abgeleiteten Zwänge und der äußeren Vorschriften zu der reinen Innerlich-
keit persönlicher Überzeugung. Das Ende des Tempels und die Auferste-
hung des Menschen, das ist es, was Johannes in der Interpretation der Bot-
schaft des Mannes aus Nazaret vorschwebt.
Überlegen wir, angesichts dieser Texte, wo wir selber heute stehen, so
werden wir sehr bald merken, wie genau wir in dieselbe Problematik und
möglicherweise in ihre Lösung eintreten. Jeder, der die westliche Gesell-
schaft betrachtet, wird zugeben, daß das, was bisher Religion hieß, in eine
schwere Krise geraten ist. Schon 1995 brachte die Gewerkschaft für Erzie-
hung und Wissenschaft in Hannover ein neues Heft heraus, darauf, auf
dem Vorderblatt, die Situation des Religionsunterrichtes: Da sieht man am
Katheder einen Lehrer sein Bestes tun, um einer Reihe von papierenen At-
trappen sein Wissen zu vermitteln, während die Schülerinnen und Schüler
auf allen vieren hinter den Bänken zum Ausgang streben; unterschrieben
war die Karikatur mit den Worten: Das rauslaufende Modell 4. Die GEW

133
wollte sagen, es liege nicht an den Lehrern – sie täten, was sie könnten; es
liege auch nicht an den Schülern – sie würden schon bleiben, sie hinter-
ließen ja sogar ihre Pappmachéimitationen zum Zeichen ihres Willens zur
Anwesenheit; nur, es paßt offenbar beides nicht zusammen: was gelehrt
wird und was gefühlt wird, was gepredigt wird und was gedacht wird, was
gesagt wird und was gelebt wird. Die Folge: die gesamte Jugend stirbt der
religiösen Erziehung weg; die noch um religiöse Erziehung im Kirchensinn
bemühten Eltern leiden darunter am meisten. Es genügt heute, dreizehn
Jahre alt zu sein, und man kommt mit der Sprache der Kirche nicht mehr
zurecht; sie paßt nicht nur nicht in unsere Zeit, sie ist in den vermittelten
Inhalten einfach falsch, weil viel zu äußerlich, zu objektivistisch, zu funda-
mentalistisch. Das geht bis in den Kern des Gottesbildes hinein. Äußerlich
herrscht da die Vorstellung von einem Gott, der von außen die Welt lenkt
wie ein altorientalischer König seinen Staat: Er nimmt das Szepter und be-
fiehlt, und dann laufen die Boten, und es geschieht, was er sagt. Nach die-
ser Vorstellung sitzt Gott immer noch irgendwo auf seinem Thron im Him-
mel und sorgt dafür, daß die Welt in Ordnung bleibt; doch da dies offenbar
eine zu schwere Arbeit für ihn darstellt, hat er seine Stellvertreter auf
Erden, an der Spitze den Papst und die Bischöfe, installiert, und die aller-
dings würden es schon richten, wenn man nur auf sie hören wollte. Das
ganze Vorstellungsschema ist wie eine dogmatisierte Repräsentation der
staatlichen Verhältnisse im Alten Orient vor 5000 Jahren. Im Geschichts-
unterricht indessen wird jeder Heranwachsende mit zwölf, dreizehn Jahren
darüber belehrt werden, daß die Monarchie seit 200 Jahren zugunsten
einer demokratischen Verfassung abgeschafft wurde; in Erdkunde, Physik
und Biologie wird er belehrt, daß die Natur viel zu kompliziert ist, als daß
man sie von außen regulieren könnte. Es war der Pastorensohn Charles
Darwin, der vor 150 Jahren begriff, daß sich das größte Wunder auf dem
Planeten Erde ganz von innen ereignet durch das Spiel des Lebens selber,
inklusive freilich der grausamen Kämpfe zwischen den Lebewesen; die Ma-
schinerie zur Gestaltung lebender Formen liegt im Inneren der biologi-
schen Strukturen, sie ist nicht von außen vorweggedacht, sie wurde nicht
vorwegkonstruiert. Die Natur bewegt sich demnach niemals auf etwas zu,
sie entwickelt sich nur weiter.
Derartige Paradoxa müssen spätestens die Sechzehnjährigen in Biologie
begreifen. Vorstellungen dieser Art passen aber nicht zu den Theorien der
Stunde darauf im Religionsunterricht; im Gegenteil, sie gelten für Unglau-
ben; hinzu kommen die Absurditäten einer bestimmten Art von Moral, die
sich für Empfängnisverhütung, Abtreibung und vorehelichen Verkehr

134
brennend interessiert, nicht aber gleichermaßen für die Probleme der Über-
bevölkerung oder für Gewalt in der Ehe; und dann ist da die ohnmächtige
Langeweile des Rituellen, die auch mit Papstevents in Megameßfeiern
nicht langfristig verändert wird. Gewußt haben um diese Zusammenhänge
die Intellektuellen vor 200 Jahren schon in den Tagen der Aufklärung, es
erreicht nur heute die Masse der Zeitungsleser, der Fernsehkonsumenten,
es erreicht jeden mehr oder minder. Aus dieser Krise gibt es keinen anderen
Weg, als ihn vor 200 Jahren verschiedentlich Philosophen und Dichter
bereits vorgeschlagen haben: Alles Äußere soll und muß in der Religion so
schnell verschwinden wie möglich, damit das Innere wächst. Denn nur
dort, im eigenen Denken, im eigenen Fühlen, im eigenen Urteilsvermögen
kann die Person Gottes selber sich aussprechen. Nichts, was nicht Person
ist, kann ihr Echo bilden. Alles Äußere, alles nur Mechanische, alles nur
Maschinelle hingegen kann nicht Träger des Religiösen sein. Nur die
Dichte des persönlichen Lebens zeugt von Gott.
Die kleine Szene der Tempelreinigung markiert in johanneischem Sinne
gerade diesen Übergang vom äußerlich Verfaßten weg ganz und gar ins
Innerliche der persönlichen Existenz. Dieser Übergang ist es, den Jesus an
dieser Stelle vorlebt. Wollten wir seinen Rätselsatz über den Tempel auflö-
sen, müßten wir sagen: «Ihr könnt mich für meine Haltung zu Gott tot-
schlagen, es wird sich überhaupt nichts an der Sache ändern. So zu leben
ist das einzige, was sich lohnt, und dafür einzutreten die ganze ‹Wahrheit›
eines Menschen. Ihr werdet sie nicht aus der Welt schaffen, ihr werdet sie
nicht töten können; alles wird von innen her wieder auferstehen. Und zwar
schneller als gedacht! Mögt ihr unter eurem famosen König Herodes dem
‹Großen› sechsundvierzig Jahre lang herumgebaut haben an eurem schö-
nen Tempel – daß Menschen wach werden in ihrem Leben und auferstehen
zu ihrem Leben, das läßt sich schneller machen. Das ist keine Frage der
zeitlichen Erstreckung, das ist eine Frage der Intensität der Lebensfüh-
rung.»
An dieser Stelle lernen die Jünger, was Glauben im Sinne Jesu ist. Das
Johannes-Evangelium entwickelt keine theologische Theorie über den
Glaubensbegriff, aber in einem einzigen Satz verschlüsselt es, was darunter
zu verstehen sei. Die Jünger, sagt es, gelangten zum Vertrauen (an Jesus)
durch die Schrift und (jetzt) durch das Wort, das Jesus gesprochen hatte.
Das soll heißen, daß alles, was an heiligen Überlieferungen einmal tradiert
wurde, sich erst verstehen läßt, wenn es lebendig wird durch die Worte
eines lebenden Menschen. Beides steht im Wechsel: Erst von der «Schrift»
her läßt sich verstehen, was Jesus sagte, und umgekehrt von ihm her all

135
das, was ihm vorausging. Plötzlich öffnen sich die Augen, wie im Lukas-
Evangelium den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24,13-35). Es
war nicht alles falsch, was in der Tradition lag, aber sie bekommt jetzt erst
ihre Seele zurück, da sie durch den Mund eines lebenden Menschen sich
selbst verlebendigt und sich in seiner Gestalt neu gestaltet.
Natürlich kann man gleich sagen: Aber auch das, was Jesus sprach, ist
uns wiederum doch nur zugänglich in einem Buch, das wir lesen müssen,
das jedoch schon sehr alt geworden ist und grau. Wer überhaupt wird
noch die Bibel lesen? Und wenn er es tut, wie wird er sie dann verstehen,
und wenn er sie versteht, wie wird er sie dann nicht mißverstehen? Muß
man sie nicht Stelle um Stelle erklärt bekommen? Was aber gilt dann von
all dem? Die Antwort des Johannes auf diesen berechtigten Einwand wäre
gewesen so wie vor zweitausend Jahren: Es gilt bei allem Geschriebenen
einzig, was das persönliche Leben betrifft, so wie Jesus es uns vorgemacht
hat. Einzig durch die Erfahrung, was Menschen leben läßt, wird sich her-
ausfiltern lassen, was an überlieferten Worten Gottes wirklich von Gott
war und ist.
Man könnte denken, diese Feststellung bilde den Abschluß, sie lasse sich
nicht weiter steigern. Und doch wird da noch etwas angehängt, etwas sehr
Merkwürdiges: in der Festmenge gelangten viele zum Vertrauen auf seine
Wesensart hin, schauten sie doch von ihm die Zeichen, die er tat. Johannes
hat aus der Tradition, wie gesagt, eine Reihe von Wundergeschichten über-
nommen, die er als «Zeichen» interpretiert. Aber wieder: was er darunter
versteht, ist die Durcharbeitung alles Äußeren auf die innere Bedeutung
hin. An dieser Stelle hier, im Zusammenhang der Tempelreinigung, er-
wähnt er überhaupt keine Wunder, keine Taten, nichts, was man spekta-
kulär festmachen könnte, sehr im Unterschied zu Matthäus 21,14, der von
der Heilung der Blinden und der Lahmen erzählt. Das einzige Zeichen für
Johannes ist Jesus selber, die Art, wie er lebt. Wenn man daran nicht mer-
ken würde, wie zu leben sei, wie sollte man es dann verstehen? Auf ihn
muß man schauen, wie er als Mensch vor uns steht, und daran Mensch-
lichkeit lernen. Der «Inhalt» dann, was es in formalem Sinne zu lernen
gibt, ist eigentümlich formuliert. Die Menschen glauben an Jesus, sie fas-
sen in seiner Nähe Vertrauen, sie lernen an ihm, sich aufzuranken und
Halt zu gewinnen; von Jesus aber sagt Johannes: Selbst brauchte Jesus auf
sie kein Vertrauen zu gründen, dadurch daß er wußte um alle und weil er
nicht nötig hatte, daß jemand sich erklärte über den Menschen; er selbst
wußte ja, was im Menschen war. – Worte wie diese hören sich sehr danach
an, als wollte Johannes fast im dogmatischen Sinne so etwas wie die All-

136
wissenheit des Gottessohnes Jesus Christus andeuten. Tatsächlich aber läßt
sich das, was er wirklich sagt, auf eine weit einfachere und verbindlichere
Art verstehen.
Wie denn faßt ein Mensch Vertrauen in der Nähe eines anderen, außer
er fühlt sich von dem anderen verstanden? Es gibt zwei Arten, wie Verste-
hen erlebt werden kann: Es ist möglich, daß man sich «durchschaut», im
Sinne von «ertappt» fühlt; dann ist das vermutete Wissen des anderen
etwas Unheimliches, Bedrohliches, es raubt einem jeglichen Schutz, dessen
man doch bedarf, um selber einen Rest noch an eigener Identität und Si-
cherheit zu behalten; man kann sich vor den Augen des Wissenden nicht
verstecken. Es kann aber das Verstehen um den anderen, statt bedrohlich
und ängstigend zu sein, auch ganz im Gegenteil angstlindernd und vertrau-
enfördernd wirken, dann nämlich, wenn ein Mensch spürt, er werde von
seinem Gegenüber auch in den bislang unliebsamen Seiten seiner Person
akzeptiert, der andere gebrauche sein Verstehen nicht dazu, Macht zu ge-
winnen in der Pose: ich doch kenne mich aus! ich weiß Bescheid um dich!,
sondern er verwende sein «Wissen» einzig dazu, daß ich mir selbst auf die
Spur komme und merke, wo meine Wahrheit liegt, wo meine Person am
schönsten, reichsten und glücklichsten sein könnte, und er wolle mir hel-
fen, dieses Wissen auch zu leben.
Es ist so ungewöhnlich nicht, daß jemand mitunter besser Bescheid weiß
im Leben eines anderen als dieser selbst. Man muß nur denken, daß jeder,
der in Angst, in Niedergedrücktheit, in innerer Verwirrung lebt, seine zwei
Augen kaum dazu benützen kann, nach innen zu schauen; er wird viel-
mehr wie verloren, wie getrieben nach außen umherblicken und sichern; er
wird für sich selber kaum die genügende Sensibilität aufbringen, um zu be-
greifen, was in ihm vor sich geht. Ein anderer hingegen, der relativ ruhig
dabeisitzt, hat viel mehr Möglichkeiten, genauer hinzuschauen. Was Wun-
der, daß er manchmal klarer sieht als der Betroffene. Aber es gibt kein Kla-
rer-Sehen, außer es bestätigte sich durch den anderen und es verhülfe dem
anderen dazu, selber zu sehen; denn erst wenn es so zusammenkommt, be-
ginnt es der Entwicklung, der Selbstfindung, der Heilwerdung zu dienen. –
Gerade so müssen wir uns das Verhältnis Jesu zu den Menschen vorstellen.
Es muß geprägt gewesen sein durch ein solch tiefes, vorlaufendes Verste-
hen.
Man hat in der Psychoanalyse oft diskutiert, was Verstehen sein könnte.
Der Begründer der analytischen Psychotherapie, Sigmund Freud, hat über
lange Zeit hin gemeint, Verstehen sei so etwas wie ein vorurteilsfreies, un-
zensierendes, nicht von persönlichen Interessen geleitetes, tunlichst objek-

137
tiv beobachtendes Geschehen; eine frei schwebende Aufmerksamkeit
machte Freud sich und seinen Schülern deshalb zur Auflage; sie sollten
einfach innerlich notieren, feststellen, möglichst präzise beobachten, aber
sie sollten das, was sie sähen, nicht durch eigenes Wünschen, durch eige-
nen Gefühlswiderstand, durch persönliche Eintragungen verfälschen. Wir
wissen heute, daß Freud an dieser Stelle ein Ideal aufgestellt hat, das sich
so nicht halten läßt. Niemand wird einen anderen verstehen, wenn er sich
selber völlig aus dem Spiel hält. Ganz im Gegenteil. Das, was in ihm vor
sich geht, ist die einzige Art, Verbindung zu dem anderen zu bekommen.
Nicht eine schwebende Wolke hilft, den anderen zu erkennen, sondern nur
der gereinigte Spiegel der eigenen Seele vermag das Bild des anderen in sich
aufzunehmen. Aber dann geht es Punkt für Punkt um das Bemühen, dem
anderen sein Bild zurückzugeben, so rein, so schön, so liebenswert, wie es
nur irgend sein kann, und zwar nicht, weil man den anderen in idealer
Weise sehen wollte, sondern weil immer klarer wird, daß all die Gründe,
die das Bild des anderen verfälscht haben, vor allem historischer, biogra-
phischer Natur sind; sie gelten nicht dem Wesen des anderen, sondern le-
diglich all dem, was er durchgemacht hat. Es ist deshalb nicht anders
denkbar, als daß man selbst sich ins Spiel bringt, indem man aus eigener
Erfahrung das Fremde deutet und es zu sich zurückkehren läßt wie ein Ge-
schenk zur Deutung auch des eigenen Lebens.
Es ist dies der Punkt, an dem in allen Evangelien Jesus fast herausge-
nommen wird aus dem Dialog. In gewissem Sinne geht von ihm alles aus,
er wirkt auf die Menge hin, aber es wird nie gesagt, was von den Men-
schen zu ihm zurückkam. Aber so muß es doch gewesen sein. Es muß,
wenn Jesus einen «Blinden» heilte, auch um ihn und in ihm selber sehen-
der geworden sein. Die Entdeckung, daß Verstehen Menschen aufrichtet,
muß auch ihn selber aufgerichtet haben. Zu spüren, daß seine Vorstellung,
wie nah Gott dem Menschen sein könnte, bis in den Innenbereich von
Seele und Körper Menschen guttun kann, muß auch ihm selbst Mut ge-
macht haben, bis zum Äußersten sein Leben einzusetzen. Wohl mag das
Johannes-Evangelium recht haben: es gibt eine Art von Verstehen, die nicht
länger fragen muß, kein fremdes Zeugnis braucht, sondern in die Seele des
anderen so unmittelbar und offen fällt, wie Jesus, zum Himmel schauend,
Gott vor sich sieht; aber es liegt in dieser Durchsichtigkeit, in dieser Luzi-
dität der Wahrnehmung die große Dankbarkeit auch eines gemeinsamen
Gehens, eines Weges miteinander und nie mehr ganz allein. Wenn also
Johannes sagt, daß Jesus des Zeugnisses keines Menschen bedurfte, um
klar zu sehen, dann vor allem, weil er um seine eigene Menschlichkeit im

138
Vertrauen auf Gott ganz und gar «wissend» ward. Niemand sagt uns, wie
Jesus zu diesem Vertrauen angesichts der menschlichen Not gelangt ist.
Niemand überliefert uns biographisch, woher er wußte, daß Gott einzig im
Innern der Menschen zu Hause sei. Aber wir können spüren und merken,
daß, wenn wir diesem Gedanken nachfolgen, wenn wir auf seine Wesens-
art hin vertrauen, es sich Punkt für Punkt so bestätigen wird. Vielleicht hat
Jesus ein einziges Mal nur sein Herz genommen und in den Himmel ge-
worfen, und es ward ihm zurückgegeben als Geschenk für alle.
Als im 14. Jh. Meister Eckhart über dieses Evangelium predigte,
meinte er: Der Tempel von Jerusalem, den Jesus reinigte, das ist unser
Herz. Dort gibt es das alles, die Angst und die Antwort darauf: die Macht-
gier, die Geldgier, den Untertanengeist, die Abhängigkeit; es gibt darin aber
auch die Sehnsucht nach Freiheit, den Mut zu leben, das Glück der
Menschlichkeit und die Kraft der Liebe. Der Bereich, den Jesus im Tempel
reinigte, war, wie gesagt, der Vorhof der Heiden; doch gerade das wollte
er: daß es keine Religion mehr gebe, die sich vor den Menschen ver-
schließt. Jeder Mensch, und sei er ein «Heide», kann auch ohne Opferkult
und Ritual Gott finden, denn er ist als Mensch, als Geschöpf seines Vaters,
unmittelbar in den Händen des Ewigen. Wer ihn dort findet, lebt Jesus
Christus. Wer sich dem weigert, und sei es unter den frömmsten Formeln,
verrät ihn.
Zum Abschluß seien in eigener Übersetzung Worte aus dem im Text zi-
tierten Psalm 69 vorgetragen; sie werden in der hebräischen Überlieferung
auf David zurückgeführt, passen aber sehr viel besser zu dem Propheten,
der Jesus am nächsten war gerade im Ringen um die Deutung der Tempel-
zerstörung, zu Jeremia, diesem großen, schattenumwölkten, mutigen, tra-
gischen Propheten des 6. vorchristlichen Jahrhunderts.

Rette mich, Herr,


denn die Wasser stehen mir bis zum Hals.
Versunken bin ich in Schlamm und Morast,
und es gibt keinen Halt;
ich bin so tief ins Wasser geraten
– gleich droht die Strömung mich fortzuspülen.
Ich habe mich müde gerufen, meine Stimme ist heiser,
meine Augen sind stumpf vom Warten auf dich,
meinen Gott.
So viele hassen mich ohne Grund –
mehr als die Haare auf meinem Haupt;

139
stark sind, die mich vernichten wollen,
meine Feinde, voll Intrigen.
So soll ich zurückgeben, was ich nie genommen!
Ach Herr, du weißt um meine Torheit,
meine Vergehen – vor dir sind sie nicht verborgen.
Laß doch nicht meinetwegen die Menschen unglaubhaft werden,
die auf dich hoffen, mein Herr, du König der Scharen;
laß doch nicht meinetwegen Menschen sich schämen müssen,
die um dich ringen, du, Gott Israels …

Meinen eigenen Brüdern bin ich fremd geworden,


den Kindern meiner Mutter wie jemand von draußen.
Ja, der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt,
trotz des Spotts all der Spottenden, der auf mich fiel …

Über mich klatschen, die sitzen am Stadttor,


zum Witz für den Stammtisch bin ich geworden.

Aber ich – mein Gebet zu dir, Herr, wenn es recht ist,


o Gott, in der Fülle deiner Huld
gib Antwort mir;
auf deine Hilfe ist doch Verlaß …

Denn einer, der auf die Armen hört, ist der Herr;
die für ihn in Ketten gehen müssen, mißachtet er nicht.

Ach preiset ihn, Himmel und Erde,


Meer und alles, was sich tummelt darin.
Denn Gott wird Zion erretten,
die Stätte Judas baut er wieder auf.
Sie dürfen dort wieder wohnen;
sie dürfen es wieder zum Eigentum nehmen.
Die Nachkommen seiner Knechte werden es erben;
die seinen Namen lieben, dürfen darin wohnen.

140
Joh 3,1-13: Das Nachtgespräch mit Nikodemus
oder: Der Wind weht, wo er will
1Da war aber ein Mensch, aus (dem Kreis) der Pharisäer, Niko-

demus mit Namen, ein Anführer der Juden (7,50; 19,39). 2Der
kam zu ihm bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen,
daß von Gott du gekommen bist als Lehrer; niemand nämlich
kann diese Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm
ist.
3Geantwortet hat Jesus und hat ihm gesagt: Bei Gott! Ja, bei

Gott, ich sage dir: Wenn nicht jemand von vorn geboren wird,
kann er das Königtum Gottes nicht sehen (1 Petr 1,23). 4Sagt
zu ihm Nikodemus: Wie kann ein Mensch geboren werden, im
Alter noch? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter ein
zweites Mal eingehen und geboren werden! 5Geantwortet hat
Jesus: Bei Gott! Ja, bei Gott, ich sage dir: Wenn nicht jemand
geboren wird aus [Wasser und] Geist (Ez 36,25-27; Mt 3,11;
Tit 3,5), kann er nicht eingehen in das Königtum Gottes.
6Fleischgeborenes ist Fleisch (1,13; Röm 8,5-9), Geistgeborenes

ist Geist. 7Verwundere dich nicht, daß ich dir sagte: Nötig ist
euch, von vorn geboren zu werden. 8Der Wind, – wo er will,
weht er; wohl, sein Brausen hörst du, aber nicht weißt du,
woher er kommt und wohin er geht. So ist jeder Geistgeborene.
9Geantwortet hat Nikodemus und hat ihm gesagt: Wie kann

das geschehen? 10Geantwortet hat Jesus und hat ihm gesagt: Du


bist der Lehrer Israels, und das verstehst du nicht? 11Bei Gott!
Ja, bei Gott, ich sage dir: Was wir wissen, reden wir, und was
wir gesehen haben, bezeugen wir, doch unser Zeugnis nehmt
ihr nicht an. 12Wenn ich von Irdischem sprach zu euch und ihr
nicht Vertrauen gewinnt, wie, wenn ich spreche zu euch von
Himmlischem, werdet ihr Vertrauen gewinnen? 13Doch nie-
mand ist hinaufgestiegen in den Himmel, wenn nicht der aus
dem Himmel Herabgestiegene: der Menschensohn.

Der Sprache des Johannes zuzuhören ähnelt einer Erfahrung, die wir als
Kinder wahrscheinlich einmal gemacht haben: Man hielt uns das Gehäuse
einer Wellhornschnecke oder, konnte es sein, das Gehäuse einer Porzellan-
schnecke aus der Südsee ans Ohr und sagte uns: «Hörst du, wie es
rauscht? Das ist der Gesang des Meeres.» – Erwachsen geworden, wissen
wir, daß wir in den Gängen der Porzellanschnecke der Südsee oder in den
Windungen der Wellhornschnecke der Nordsee nichts anderes gehört
haben als das Rauschen unseres Blutes im eigenen Ohr. Aber was wir als
Kinder erlebt haben, machte uns sehnsüchtig nach dem Ufersaum des

141
Strandes, an dem diese Muscheln gesammelt wurden, ließ uns davon träu-
men, in die Weite des Windes einzutauchen und sich dem offenen Horizont
hinzugeben, und es schenkte uns den Wunsch, der Sonne zuzuschauen, wie
sie mit ihrem Strahlenband aus Silber und Gold sich teppichgleich über die
Fluten legt, vom Ende der Welt scheinbar her bis hin zu unseren Augen, bis
zu unserem Gesicht, bis zu unseren Füßen, und es war wie eine Einladung,
dem Weg der Sonne zu folgen. – Manche Ethnologen erklärten sich die
Eroberung der Weiten des Pazifiks, die großen Wanderbewegungen der
Polynesier zur See, unter anderem tatsächlich auch mit dem geheimnis-
vollen Rauschen des Windes. Man nennt diese Völker selber Nomaden des
Windes1, die sich mit ihren kleinen Booten dem Wehen des Westwindes
überließen, um hinauszusegeln in Tausende von Meilen eines unbekannten
salzigen Wassers, immer der Spur des Sonnenaufgangs entgegen, immer
folgend dem Funkeln der Sterne bei Nacht, in denen sie die Seelen der Ver-
storbenen oder die Inseln, auf denen sie lebten, zu erschauen meinten.
Alles, was da sich spiegelt im Himmel, auf der Erde und im Wasser, ist ge-
nommen aus dem Drang des Menschen nach Unbegrenztheit, nach Unend-
lichkeit, aber es braucht dieses Echo, das uns den Klang des Rauschens des
eigenen Herzens vernehmen läßt; – so das Johannes-Evangelium in diesem
Nachtgespräch zwischen Jesus und einem Ratsherrn aus Israel.
Die äußere Szene ist leicht vorstellbar. Wenn die Hitze des Tages vor-
über ist und langsam in der Dämmerung der Abendwind sich erhebt, zieht
man noch heute in den arabischen Dörfern in diesen Stunden sich gerne
zurück auf das Dach, das aus Estrich und Reisig geformt ist; man möchte
die beginnende Abendkühle wohltuend auf der Haut spüren, man möchte
das Aufziehen der Sterne am Himmel beobachten, und dann geschieht es,
daß alles, was Sinne und Sinnen uns schenken können, in uns zu träumen
beginnt und nachdenklich Einkehr hält.
Eine solche Stunde, wenn längst der Abendwind eingesetzt hat, muß der
Beginn dieser rätselhaften Unterredung gewesen sein zwischen Jesus und
einem Mann, den das Johannes-Evangelium als Vertreter der Partei der
Pharisäer, als einen Anführer der «Juden», vorstellt. Immer wenn dieses
Wort im Johannes-Evangelium fällt, stockt einem der Atem, man mag es
nicht aussprechen, so abgrenzend, feindselig, kontrastiv im Negativen wird
es gebraucht. Um es zu übersetzen, sollte man es durch ein anderes Wort
ersetzen, denn es geht nicht um Juden, weder ethnisch noch historisch; al-
lenfalls und allerdings geht es um einen bestimmten Typ von Frömmigkeit.
Ihn sollte man, wie vorgeschlagen, am treffendsten wiedergeben als die
Haltung der «Gottesbesitzer», als die Einstellung derer, die von sich zwar

142
glauben und erklären, daß sie Gott als Herrn anbeten, die aber in Wirk-
lichkeit Gottes Herren geworden sind, indem sie alles, was Gott ihnen
durch seine Offenbarung zu sagen hat, bereits wissen, so daß Gott ihnen
lebendig und neu nimmermehr etwas mitzuteilen vermag. Alles ist da er-
storbenes Wort und gegenwärtiges Gerede. Da wird die lebendige Erfah-
rung erstickt im Vergangenen, da wird jeder Aufbruch verbarrikadiert
durch die Weisungen des Gestrigen, und alles verkehrt sich in die Tret-
mühle einer endlos ritualisierten, justifizierten Praktik aus Magie, Gehor-
sam und Aberglauben. Das Gottesbesitzertum ist das wirkliche Thema im
Johannes-Evangelium, wenn es von «Juden» spricht. Es macht damit ein
wesentliches Problem an einer historischen Gruppe fest, die wir sinnvoller
in unserem eigenen Herzen suchen sollten, in unserer Gegenwart, in jenem
Typ von Religion, der sich festlegt auf den bekannten Gott. Es wird immer
wieder der Trick dieser Gottesbesitzer sein, daß sie zwar zugeben, man
könne Gott nicht wissen, daß sie dann aber – voller Demut, versteht sich –
betonen, Gott habe sich ja in den «Vätern» «geoffenbart» und es sei also
die Pflicht, ihn zu kennen; der ganze Inhalt eines solchen Glaubens besteht
fortan darin, das fertige Wissen der Gottesgelehrten um Gott zu akzeptie-
ren und hinzunehmen, ganz so, wie diese Partei der «Ausgelosten» oder
der «Ausgesonderten», der «Kleriker» oder der «Pharisäer», in wörtlichem
Sinne es immer schon wußte. Treue, Gehorsam, Anpassung und Knecht-
schaft bilden den ewigen Ausweis dieser Art von Religion.
Ein einziges Bild des Johannes-Evangeliums hingegen bringt jeden, der
diesen Text liest, erneut ins Träumen von einer anderen Welt: Er sieht sie
vor sich, offen bis zum Horizont, uneingegrenzt von jedem Sperr-Raum
äußerer und innerer Gefangenschaft. Allein schon das Bild des Windes gibt
wieder, was als Verlangen nach Unabhängigkeit, Freiheit und Selbständig-
keit in einem Jeden von uns atmet und was wir brauchen, um als Men-
schen wirklich zu leben: Du hörst das Rauschen des Windes, aber du weißt
nicht, woher er kommt und wohin er geht.
Für den französischen Filmregisseur Robert Bresson bildete dieses
Wort aus dem 3. Kapitel des Johannes-Evangeliums im Jahre 1956 das
Leitmotiv und den Grundgedanken eines seiner besten Filme, Ein zum
Tode Verurteilter ist entflohen. Geschildert wird nach einem Bericht von
André Devigny in Form einer Parabel auf die menschliche Existenz die
Geschichte des Widerstandskämpfers Fontaine, der in der Zeit der Beset-
zung Frankreichs in einem Gefängnis der Gestapo inhaftiert ist. Ihm gehört
nichts mehr, man hat ihm alles genommen. Er hat kein Recht mehr auf sich
selbst, er gilt als gefährlich für das Regime des Terrors und der Unter-

143
drückung. Ab und an schiebt man ihm einen Blechteller und einen Löffel
in die Zelle. Aber da gelingt es ihm einmal, das Gerät der Nahrungsauf-
nahme, den Löffel, zu verstecken. Es ist fortan das einzige, was er besitzt,
und es soll ihm zu einem Instrument der Freiheit werden. Er beginnt, an
der Zellenwand den Griff des Löffels zu schleifen, bis seine Kante scharf
wird wie ein Messer, und diese Gerätschaft nun benutzt er, um Span für
Span die Zellentür im Bereich des Riegels aufzuschneiden. Aus den Spira-
len der Matratze und aus dem Leinenstoff des Bettuchs fertigt er eine eini-
germaßen haltbare, elastische Aufhängung, grad lang genug, daß sie aus
dem Gefängnis herausführen könnte. Das verzweifelte Vorhaben kostet ihn
den Einsatz von allem. Sein ganzes Leben ruht auf dieser einen mutigen
Aktion. Aber: ist nicht die Gefangenschaft selbst schon der Tod? Rechtfer-
tigt der Aufbruch in die Freiheit nicht jegliches Wagnis? – In dem Film von
Robert Bresson wird im Grunde kaum ein Wort gesprochen. Ein einziges
Mal nur im Waschsaal, an dem großen Bassin, wo die Männer bei der
Morgentoilette zusammenkommen, fällt dieses Losungswort: Der Wind
weht, wo er will; du hörst sein Rauschen, aber du weißt nicht, woher er
kommt und wohin er geht. – Das ganze Geheimnis des Menschen spiegelt
sich für Robert Bresson in diesem einen Satz; er drückt für ihn die ganze
Göttlichkeit des Menschen aus. Denn in der Tat: Wer Menschen beherr-
schen will, muß sich einreden, genau zu wissen, woher der andere kommt.
Kennt er seine Biographie, weiß er, wie er großgeworden ist, kennt er seine
Eltern, das Milieu, die Einflüsse der Erziehung, die Inhalte der Prägung,
scheint ihm das Menschenleben aufzugehen wie eine sichere Rechnung,
und sogar ganz sicher wird er sich wähnen, wenn er weiß, wohin der an-
dere geht, wenn er seine Ziele kennt. Ein Mensch scheint so leicht bere-
chenbar, auf so simplem Wege ausnutzbar, wenn man erst einmal weiß,
woran er glaubt, wonach er sich richtet, worauf er hofft. Alle Kerkermei-
ster des Menschen stellen sich ihre Verfügungsgewalt so einfach vor, wie
man einen Hund mit einer Wurst lenken und führen kann: Man weiß um
die Ausrichtung seines Instinkts, dem er triebhaft folgen wird, und schon
kann man mit ihm machen, was man will. – Wie aber wäre es, das
menschliche Leben sei unbekannt, sowohl in seiner Herkunft als auch in
seinem Ziel? Dann fiele jede Herrschaft von außen über Menschen dahin.
Nur: woran merken wir, daß es sich so verhält, durch welche Erlebnisse
entdecken wir unsere scheinbar so selbstverständliche Gefangenschaft, und
woher gewinnen wir den Mut, ihr zu entfliehen?
Der Aufbruch des Nikodemus im Johannes-Evangelium hat zu tun mit
einer Beobachtung. Jesus, so sagt er, hat Zeichen gewirkt, an denen sich

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erkennen läßt, daß der Mann aus Nazaret aus Gott sein muß. Was für Zei-
chen? möchte man fragen. Bis zu dieser Stelle des Johannes-Evangeliums
war nur von einem einzigen Zeichen die Rede, bei der Hochzeit von Kana,
in der Geschichte, wie sich Wasser wandelt in Wein, wie die vermeintlich
unwerte Außenseite des menschlichen Lebens sich füllt mit berauschendem
Glück und mit einer Seligkeit, die alles verändert.
Johannes wird von den «Zeichen» Jesu noch manches Mal berichten.
Wenig später nach dem Gespräch mit Nikodemus, im 4. Kapitel, wird er
erzählen, wie ein römischer Hauptmann zu Jesus kommt und für seinen
Sohn bittet, der sterbenskrank darniederliegt (Joh 4,43-54). Aufs bloße
Wort hin wird Jesus ihn heilen. Ein Gelähmter liegt im 5. Kapitel des Evan-
geliums an einem Teich in Jerusalem, und Jesus wird ihn anreden: Nimm
deine Bahre und geh selber – und er wird’s tun (Joh 5,1-9). Ähnlich wird
Jesus im 9. Kapitel einen Blinden heilen (Joh 9,1-7) und im 11. Kapitel
einen schon Verstorbenen auferwecken (11,1-44), und in all dem spürt
man, daß es kein einziges «Wunder» Jesu gibt, das nicht auf eine Wand-
lung des ganzen menschlichen Lebens hinausliefe. Es gilt, aufzustehen in
eine eigene Freiheit; es gilt, nicht länger mehr zu warten in der ständigen
Angst der Konkurrenz vor anderen, – sie könnten uns zuvorkommen; es
gilt, den Engel der Gnade, der das Wasser im Teich von Betesda aufrührt
und in dessen Wirbeln nur ein einziger Gelähmter geheilt zu werden ver-
mag, als Führer in ein Selbstvertrauen zu betrachten, das es erlaubt, selber
die Bahre zu nehmen und mit Mut in das Leben zu treten, das Gott für uns
vorgesehen hat. Blindheit und Tod, Gelähmtheit und Krankheit – das sind
für Johannes Symptome eines Lebens, das an sich selber zerbricht.
Diese Sicht vom Menschen, die das Johannes-Evangelium von Anfang
an einnimmt, wird es nie verlieren; es wird uns Menschen schildern wie
Grubenpferde, die 700 Meter unter der Erde, in ewiger Nacht, den Haspel
drehen, wohlgenährt zwar und gestriegelt, um als Sklavenvieh tauglich zu
bleiben, aber unfähig, auch nur einen eigenen Schritt noch zu gehen,
außerstande, am Tage die Augen zu öffnen. Es ist eine Sicht, wie sie im
Hintergrund dieser Denkweise von dem griechischen Philosophen Platon
geprägt worden ist. Er erzählt in seinem Dialog Der Staat2 in dem berühm-
ten Höhlengleichnis einmal von Menschen, die so sehr an die Nacht ge-
wöhnt sind, daß sie die Wirklichkeit draußen nur sehen wie ein Schatten-
spiel von fern; sie halten die Abbildung der Wirklichkeit für die Realität,
für die Wahrheit der Dinge selber. Käme nun aber jemand und würde sie
herauszulocken suchen, auf daß sie die bunte Welt in all ihrer Schönheit zu
sehen vermöchten, so würden sie gewiß Klage führen über den Schmerz

145
ihrer Augen. Sie würden lieber sich weiter verhocken, als in die offene
Sphäre von Sonnenlicht, Weite und Wind zu treten.
Das Motiv, das Jesus im Gespräch mit Nikodemus für ein solches Ver-
halten nennt, lautet eigentlich: Scham und Angst. Es kann sein, daß wir
sehr deutlich so viel schon falsch gemacht haben und uns so sehr in das
Netz der eigenen Lügen, der eigenen Fehler verstrickt haben, daß es die
Reste unseres besseren Ichs gewissermaßen sind, die uns daran hindern,
frei zu werden. Es kann sein, daß wir so sehr identifiziert sind mit dem Ne-
gativen, daß wir schließlich unseren Stolz in das setzen, was ersichtlicher-
weise nicht stimmt, und wir behaupten unsere Würde, reklamieren unser
besseres Sein grad an den Punkten, wo wir’s am wenigsten sollten. Wir
fürchten, alles zu verlieren, würde uns auch das noch genommen. Einfa-
cher ausgedrückt: Es kann sein, daß wir eines Tages wie Fledermäuse, wie
nachtaktive Tiere, an die Dunkelheit so sehr gewöhnt sind, als wäre unser
ganzer Biorhythmus auf diese Phasen des Schattens eingestellt, als müßte
das ganze Leben noch einmal umgekrempelt werden, sollten wir hervorge-
zogen werden aus den Höhlen und den verhuschten Angstformen des Da-
seins in die Ruhezonen des Lichts und der Helligkeit des Tages. Genau das
aber ist es, was Jesus uns zumutet. Er möchte, daß wir die eigentliche
Sehnsucht nach einem Leben der Helligkeit, der Freude und des Glücks
nicht weiter mit Füßen treten.
Ganz so sieht es Johannes in seinem Evangelium. Fragen wir uns, welche
Zeichen denn Nikodemus bisher gesehen haben sollte, so müßte man im
Sinne dieses Evangelisten sagen: im Grunde gar keins. Es genügt, daß Jesus
selbst ein «Zeichen» wird. Da weht eine erste Ahnung ihn an, daß es in-
mitten seiner bisher völlig geschlossenen Welt noch etwas anderes geben
könnte. An dieser Stelle kann Nikodemus sich durchaus nicht erklären,
was dieses andere sein könnte, aber da ist ein Zeichen, ein winziges Zei-
chen, und das beweist alles.
Man hat vor Jahren einmal das Kinderbuch von Hector Malot Hei-
matlos3 aus dem 19. Jh. für eine Serie des Deutschen Fernsehens verfilmt.
Darin gibt es eine erstaunliche Episode. Der kleine Rémi ist unter der Not
seines Vaters an einen umherziehenden Musikanten verkauft worden.
Fortan ist er ganz in die Hand dieses betagten Vitalis gegeben, eines Man-
nes, der mit zwei Hunden, einem Äffchen und einer Harfe durch die Lande
zieht. Der Junge ist diesem alten Mann nach anfänglicher Scheu recht zu-
getan, denn was Vitalis dem Kind beibringt, ist viel an Weisheit, beruhend
auf seiner eigenen Nomadenexistenz, seinem Vagabundenleben, seiner
Sehnsucht, den Straßen Frankreichs zu folgen. Eines Nachts sitzen die bei-

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den in einer Scheune; es ist stockdunkel und kalt. Da richtet Vitalis die
Frage an Rémi:

– Schau mal in die Ecke dieser Scheune. Ob du etwas siehst?


Und Rémi, um dem Alten eine Freude zu machen, sagt:
– Ja, ich sehe, ganz hell.
Aber Vitalis wird böse:
– Du sollst nicht lügen. Kein Künstler darf lügen, sagt er. Jetzt noch
einmal: Schau in die Ecke; was siehst du?

Und Rémi sagt:


– Ich sehe langsam, ganz langsam ein kleines Licht, da hinten in
der Ecke ein winziges, kleines Licht, das näherkommt.
– Du bist ein großer Künstler, sagt Vitalis, du hast Begabung.

Ein kleiner Funken Licht, der nur zu sehen ist mit der Kraft der Imagina-
tion, das ist das ganze «Zeichen», – nichts Beweisbares, nichts nach außen
zu Tragendes, etwas ganz und gar innerlich zu Entdeckendes. Glaubt man
dieser Vision, zeigt sich mit mal eine ganz andere Welt. Es öffnet sich eine
Scheune und wird zu einer lichtdurchfluteten Kathedrale, und selbst deren
Fenster sind in den großen Glasstürzen Öffnungen für das Licht von
draußen, in dem wir sehen, was uns sonst verborgen wäre. So tritt Jesus im
Johannes-Evangelium in unsere Kerkerwelt mit betondicken Wandungen
ein als ein «Zeichen» dafür, daß eine ganz andere Welt existieren muß.
Man kann an dieser Stelle schon protestieren und erklären: Das wollen
wir nicht. Wir wollen nicht hören und nicht sehen, eine andere Welt sei
möglich und wirklich; diese unsere Welt genügt uns vollkommen! Gewiß,
man kann an der Seite des Nikodemus sich sehr anders entscheiden. Man
muß durchaus nicht auf der Suche sein nach einem Mann, der selbst in sei-
ner Existenz sich als ein Zeichen begreift für eine andere Welt, die von
Gott sei. In den synoptischen Evangelien wird die Gruppe der Pharisäer,
von der Johannes hier historisch redet, augenblicklich, im 3. Kapitel des
Markus schon, sich festlegen darauf, daß Jesus mit all seinen Zeichen,
wenn er denn Kranke heilt, in Wirklichkeit nichts weiter tut, als dem Satan
zu dienen (Mk 3,22), denn es kann in ihren Augen nicht sein, daß man für
die Menschen Partei ergreift gegen die Gotteswisser, gegen die Gefängnis-
verwalter des Menschen im Namen der Religion. Also gilt der Aufbruch
zur Freiheit, für den Jesus steht, als nichts weiter denn als Anmaßung, In-
subordination, Anarchie und Phantasterei – als das Gegenstück von dem,

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was ein frommer Bürger leben sollte. Es ist unter solchen Umständen sehr
mutig von Nikodemus, seinem eigenen Urteilsvermögen zu folgen und die
Heilung von Kranken für einen Ausweis von Wahrheit zu erachten.
Man weiß nicht, ob dieses Gespräch nicht auch deshalb zur Nachtzeit
geführt wird, weil man Angst hat, es öffentlich zu halten. Ganz sicher be-
ginnt für Nikodemus in diesem Moment ein Gang durch die zwölf Stunden
der Nacht, da der Himmel sich verdunkelt in Erwartung eines anderen,
neuen Sonnenaufgangs. Denn was ist es mit diesem rätselhaften Bild, gebo-
ren zu werden «von vorn»? Alles, was Jesus mit der Freiheit des Windes,
mit der Nichtfestgelegtheit des Menschen meint, wird in diese Chiffre einer
neu beginnenden Existenzform gekleidet; für Nikodemus ist dies ein sinn-
loses Bild, ist doch ein wirklicher Neuanfang schon biologisch ganz un-
möglich. Die Uhr des Alterns dreht sich unerbittlich weiter, und was in der
Biologie so klar erscheint, sollte das nicht auch so sein in der Psyche des
Menschen? Ist nicht die Idee eines Neuanfangs eine unsinnige Hoffnung,
der Traum von einer Kindlichkeit, der sich nie erfüllt? Was Jesus meint, gilt
dennoch, wenn man es nur richtig versteht. Er meint nicht: «von vorn» ge-
boren zu werden als Ungeschehenmachen des Zeitablaufs, was er meint,
ist: «von oben», vom Himmel her geboren zu werden. Plötzlich stehen ein-
ander zwei ganz verschiedene Arten, das menschliche Leben zu sehen,
gegenüber: «fleischlich» nennt das Jesus einen Satz später. Fleischgebore-
nes ist fleischlich, sagt sein Rätselwort, Geistgeborenes aber Geist. Da
hätte es ein Mensch in der Hand, wie er sich selber versteht: von unten
oder von oben, und alles hängt davon ab, wieweit er diese Entscheidung
sich überhaupt zutraut und sie ergreift.
Ein Mann, der sehr verzweifelt war um 1920, war der österreichische
Dichter Joseph Roth, ein Träumer, ein wehmütiger, melancholischer
Phantast. Er litt unter der Dekadenz seiner Zeit und betrauerte dennoch
voller Schmerz den Niedergang von soviel Schönheit. Österreich, die Donau-
monarchie, würde untergehen, das stand ihm fest, längst ehe es geschah,
und als es dann soweit war, verklärte er immer noch den kaiserlichen
Glanz einer Herrschaftsform, die so viele Völker umspannt hatte. Joseph
Roth beschreibt in der Gestalt des Leutnants Tunda einmal ein Leben,
das einer einzigen Flucht gleichkommt, – schon der Titel seiner Novelle
heißt dementsprechend Die Flucht ohne Ende. Äußerlich geht es erneut
darum, daß jemand aus Gefangenschaft entkommen ist. Leutnant Tunda,
1918 in russischer Gefangenschaft, erlebt in Sibirien eine Odyssee, inner-
lich wie äußerlich. Kaum willens oder fähig, in die Heimat zurückzu-
kehren, gelingt es ihm am Ende dennoch, wieder in Wien aufzutauchen,

148
doch was er dort vorfindet, ist eine völlig fremd gewordene Welt. Die
Weite Rußlands, die Andersartigkeit der Menschen, denen er begegnete,
haben ihn so entrückt von allen alten Vorurteilen, daß er nicht mehr weiß,
wie er mit den Menschen in den Alltagsgewohnheiten gemeinsam sein soll.
Da wird er eines Abends zu einem Diner geladen und steht mit einem Mal
mitten in einem Kreis arrivierter Leute, die es schon wieder zu etwas ge-
bracht haben. Man befragt ihn nach seinen Erfahrungen, jetzt, nach 1917,
nach der russischen Revolution. Was hat sich verändert nach dem Sturz
des Zaren? Tunda weiß von allen diesen Dingen, die gesellschaftlich und
politisch gewiß überaus interessant sind, kaum eine Auskunft zu geben.
Schon fällt ein Dozent für Slawistik ihm ins Wort, ein wirklich gelehrter
Mensch, der sich auskennt. Tunda indessen möchte erzählen von den
Abenderinnerungen am Kaspischen Meer in der Stadt Baku, wie es war,
wenn abends der Wind hereinfiel über Batumi am Schwarzen Meer. Doch
niemanden scheint das zu interessieren. Später dann nimmt ein Textilfabri-
kant Tunda beiseite und sagt zu ihm sinngemäß: «Hab’ ich denn eben
nicht genau verstanden, was Sie da sagen wollten, Tunda, als Sie vom
Wind über Baku erzählten? Ja, aber ich frag’ Sie: Sind wir denn hier Me-
teorologen? Niemanden interessiert der Wind in Baku. Schon wenn Sie
sich umschauen: wie die Leute hereinkommen in den Saal, wie sie gekleidet
sind, wie sie reden, wie sie auftreten – von weitem schon können Sie sagen,
was sie dann sprechen werden, wie sie denken werden. Hier gehört nie-
mand sich selbst; die Haut, in der ein jeder steckt, ist ihm fremd. Jeder lebt
hier unter einem bestimmten Gesetz, nach dem er antritt, und dieses Ge-
setz wird seine Augen bei Tag und bei Nacht über ihm nicht schließen. Als
ich Fabrikant für Textilien wurde, wußte ich denn, was aus mir wurde?
Hab’ ich Zeit für Museen, Synagogen, Kathedralen oder zum Lesen von
Büchern? Jeder lebt festgelegt, streng geformt, so wie das Gesetz es will.
Den Wind von Baku, Tunda, – niemand hier hört ihn.»4
Was Joseph Roth mit dieser kleinen Episode der Flucht sagen will, ist
wie eine schmerzhafte, wehmütige Erinnerung daran, daß es im Menschen
doch wenigstens eine Ahnung gäbe, er wäre als Bürger nicht einfach die
Prägeausgabe des Allgemeinen, er wäre nichts weiter als ein Exemplar des
Offiziellen, sondern er hätte die Kraft zu einem eigenen Wort, zu einer ei-
genen Existenz, zu einer eigenen Freiheit. Dann würde er spüren, daß er
nicht festgelegt ist durch Herkunft und Ankunft, sondern genau dazwi-
schen selber entscheidet und sich von neuem formt. Freilich, das zu ent-
decken ist wie der Beginn eines neuen Lebens, es ist eine neue Geburt.
Alles Alte vergeht dort, es hat keine Macht mehr.

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Beziehen wir die Situation des Nikodemus nur einmal unmittelbar auf
die Ebene des Religiösen in unseren Tagen. Jahrhunderte sind dahingegan-
gen in einer Religion, die sich verfestigt hat, indem sie als «Wahrheit» ihre
Dogmen zur Vorschrift erhob. In dieser Religion war der Einzelne gehal-
ten, so zu sein, wie alle sein mußten; er durfte keine Ausnahme bilden, er
hatte nicht ein Individuum zu sein, etwas, das unvertauschbar nur er selber
wäre. – Ein Beispiel: Am 21. Juni 1995 veröffentlichte die Bischofskonfe-
renz der katholischen Kirche in Deutschland den Erwachsenenkatechis-
mus, Teil 2, den Moral-Katechismus. Dieses Buch wird aller Wahrschein-
lichkeit nach Gültigkeit haben für die nächsten dreißig Jahre; es war die
Ouvertüre des vor uns liegenden Jahrtausends. Im Index festgehalten ist
das Wort, gegen das dieser Katechismus sich am allermeisten richtet:
Selbstverwirklichung; «selbstverwirklichen» wird sogar im Kleindruck als
Verb in ein Wort gepreßt5, denn es bedeutet das Gegenteil von allem, was
der Römischen Kirche lieb ist. Besser ist es offenbar, nicht sich selbst zu
verwirklichen, sondern, – ja, was: Kirche zu verwirklichen, Kirchenmoral
zu verwirklichen, gesellschaftliche Moral zu verwirklichen, im Grunde je-
denfalls sich selber abzuschaffen. Irgendwo kommt dann noch vor, daß
zum Beispiel zur Wahrhaftigkeit die Ganzheit gehöre, aber wo soll sie
wohl herkommen, die Wahrhaftigkeit, wenn der Mensch sein Selbst nicht
verwirklichen darf? Wie soll Integration, Personalisation, Individuation,
kurzum Vermenschlichung, Humanisation, gelingen, wenn ein Mensch nur
existieren soll im Gehorsam nach außen, wenn er ständig einer Institution
bedarf, um sich in den paar Jahrzehnten seines Lebens zurechtzufinden?
Immer erklärt man ihm – um in dem Anfangsbild zu bleiben –, daß es die
Muschel sei, die das Geräusch mache, nie sein eigenes Herz. Stets hält man
ihn wie ein Kind, dem man beibringt, daß das Fremde das Eigene ersetzen
könnte. In Wirklichkeit ist das Äußere nur die Echowand des Inneren, ist
es nur der Aufnahmetrichter, um auf sich selbst sensibler zu hören.
Doch um diese Frage geht es nun entscheidend bei jener Neugeburt des
Religiösen. Es ist möglich, daß man sogar Religion im Sinne des Johannes-
Evangeliums auf die Art von «Fleisch» hat. Das ist ein Wort, das ins Deut-
sche sich wörtlich nicht übersetzen läßt, man muß es paraphrasieren: als
ein Verständnis des menschlichen Daseins, das ganz und gar irdisch ist.
Eine solche «fleischene», sagen wir besser: geistlose Religion hat einen
mächtigen Sinn und Hunger für und auf alles Irdische. Sie versteht sehr
gut, mit Geld und Macht umzugehen, sie rechnet in großen Zahlen, in
Mega-Events von Jugendfestspielen und Papstschauspielen zum Beispiel,
sie ist besser zu Hause in ihrem Gottes-Staat als alle Staatsverwalter sonst,

150
denn zusätzlich zur Macht über die Menschen beansprucht sie eine abso-
lute Beglaubigung durch Gott selber. Sie ist, mit einem Wort, ein Cäsaro-
papismus reinster Form, sie ist die Gefangenschaft der Menschen, proji-
ziert in Gott hinein, und ideologisiert mit himmlischem Anspruch.
Keinerlei Freiheit, keinerlei Geist ist da erlaubt, – Dostojewskis Vorstel-
lung vom Großinquisitor ist die offenbare Erfüllung veräußerlichter Reli-
gion6.
Aber es ist trotz allem möglich, in die verordnete Gefangenschaft ein
eigenes Denken, den Atemwind der Freiheit, die Offenheit des Geistes zu
tragen. Dazu gehört, daß fortan nichts akzeptiert wird, was nicht durch
eigene Erfahrung, durch eigenes Urteil, durch eigene Menschlichkeit gelebt
und beglaubigt wird. Dann kann religiös nichts richtig sein, was nicht in
unserem eigenen Leben Gestalt gewonnen hätte und unser eigenes Leben
als unvertauschbar prägen würde. Die Alten Griechen glaubten, es sei der
Wind selber, der die Blüten der Blumen und Bäume bestäube, sie glaubten
sogar, er sei die Kraft, welche die Tiere gebären lasse, – eine zeugende
Macht, welche die ganze Welt durchatme. So müßte es sein, wenn unsere
eigene Schönheit und Vitalität aufblühte im Atemwind eines solchen Gei-
stes.
Wovon da die Rede geht, kann uns schmerzlich ankommen, denn es
mag zunächst erscheinen wie ein geistiges Sterben. Rückkehr in den Mut-
terschoß – dieses Bild ist nicht ganz falsch, wenn wir es setzen für den
Schoß der Mutter Erde selbst, für die Auflösung mithin von allem, was wir
sind. Anders als derart total wird ein solcher Neuanfang sich nicht gestal-
ten können. Worum es dabei aber geht, ist dieses «von vorn» oder «von
oben», vom Himmel her. Man müßte genauer sagen: Die geheime Kraft
allen Lebens, das nichts ist als Fleisch, das geistlos bleibt, abhängig also
und gefangen, besteht wesentlich in der Angst des einen vor dem anderen.
Jede Verformung der eigenen Person besteht darin, daß man nur auf das
schaut, was die anderen tun, was die anderen wollen, was die anderen
sagen, schlimmer noch: was die anderen sagen könnten, was sie sagen wer-
den, was sie sagen würden. Diese Abhängigkeit vom Urteil anderer ge-
winnt am Ende eine fast allmächtige Kraft über uns. «Von oben» geboren
zu werden, das ist soviel, wie daß der Himmel selber eine gütige Gottheit
ist, wie es die Alten Ägypter in der Gestalt der Nut sich vorstellten, einer
Muttergöttin, die uns am Ende des Lebens empfängt, so wie sie die Sonne
an jedem Abend im Westen fortküßt und in ihre Arme aufnimmt, um sie
neu im Sonnenaufgang wiederzugebären, jünger und schöner denn je.
Es ist die Meinung des Johannes-Evangeliums über die Person Jesu, daß

151
man ihn nur versteht als den Menschensohn, indem man erkennt, daß er
buchstäblich «von oben» herabgekommen ist, vom Himmel auf die Erde.
Nur deshalb kann er so hoch steigen, daß er alle Menschenangst, alle Ab-
hängigkeit und irdische Gefangenschaft in Überlegenheit überwindet. Er
ist insofern das Vorbild für uns alle auf dem Wege, Menschen zu werden.
Mit den Worten des Johannes-Prologs können wir, fast platonisch, wie-
derum sagen, daß ein Mensch nicht geboren ist aus dem Staub der Erde,
nicht aus dem Wollen des Mannes, nicht als Erzeugnis des Blutandrangs,
nicht also aus Soziologie, Psychologie und Biologie, sondern buchstäblich
aus Gott (Joh 1,12-13). Es ist, als wäre im Himmel ein Kunstwerk herge-
stellt worden, dem wir nun auf Erden gleichzuwerden versuchen sollten,
eine Leihgabe an die Zeit, die langsam reifen möchte zu ihrem Urbild.
Darin lag die Größe der Hoffnung Jesu für dieses unser Leben; diese Über-
zeugung war es, die er in seiner eigenen Person nach dem Zeugnis des
Johannes verkörperte. Würde diese Vision wahr, so entstünde eine völlig
neue Form der Religion, die darin gründete, daß die Menschen, vom Him-
mel auf die Erde kommend, alle Fußfesseln einer rein irdischen Existenz in
Freiheit aufzulösen vermöchten. Nichts mehr könnte sie halten, nichts
mehr besäße schreckende und schreckliche Kraft über sie; sie würden be-
ginnen, sich selbst zu gehören.
Und mit einem Mal schließt sich das Bild zum Verständnis auch von
allem anderen. Heilung von Krankheit – wie oft sieht man Menschen ge-
rade so vor sich: Sie leiden entsetzlich darunter, daß sie förmlich erstickt
werden durch all das, was ihnen seit Kindertagen aufgeprägt wurde und
was in immerwährenden Zyklen sich nun wiederholt, und es gibt keinen
Horizont, kein Aufschauen, keinen leuchtenden Funken in dem dunklen
Kerker ihres Lebens.
Vor einer Weile sagte eine Frau: «Ich sehe bei meiner Mutter deutlich,
was man ihr zu glauben beigebracht hat. Ihre Knie tun ihr seit Kindertagen
weh vom vielen Knien, aber sobald die Glocke am Sonntagmorgen läutet,
muß sie in die Kirche gehen. Der Arzt sagt ihr, sie solle sich schonen, ich
sage ihr, sie solle sich schonen, aber sie trägt in sich eine solche Angst, daß
sie eine schwere Sünde begehe, wenn sie die Sonntagsmesse versäume. Und
wenn ich ihr sage: ‹Mutti, es hat doch der liebe Gott nicht gern, daß du
dich quälst›, sagt sie: ‹Halt den Mund!›, und so sprach sie immer schon.
Ich entsinne mich, wie es war, wenn ich als ein kleines Mädchen in die Kir-
che gehen mußte. Es konnte passieren, daß ich, vielleicht nicht ganz auf-
merksam, im Gesangbuch herumblätterte; dann kam sie von hinten nach
vorn in die Reihe der Kinder, um mich zur Rede zu stellen; ich sollte auf-

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passen. In solchen Momenten war meine Mutter wie ausgewechselt, sie
war nicht mehr meine Mutter. Ich weiß heute, unter wieviel Angst sie sel-
ber litt; aber diese Angst gab sie weiter – diese Gewissensnot, etwas falsch
zu machen; und das Schuldgefühl, ihr Kind nicht richtig zu erziehen, hin-
derte sie, menschlich zu sein, das hindert sie noch heute, eine Frau weit
über siebzig, mit sich selbst ein bißchen gütig umzugehen. Das ist doch»,
sagte diese Frau, «keine Religion! Das hat doch Gott so nicht gewollt! Da
macht man alles falsch, indem man alles richtig macht!» – Das ist wahr.
Eine solche Form von Religion treibt nicht die Sache des Menschensohnes
aus Nazaret, sie treibt nichts weiter als die Interessen der Gottesbesitzer
und der Gottesverwalter.
Ein anderes Beispiel: Eine Frau erzählt, wie sie als Kind aufgewachsen
ist. Sie fühlt sich heute völlig am Ende, leistet im Beruf nicht mehr, was sie
möchte und sollte, sie fühlt sich unnütz und wie zerbrochen. Dabei läge ein
halbes Leben noch vor ihr. Wenn sie redet, taucht sie ihr Gesicht mitunter
in die Hände, stammelt vor sich hin, fährt sich mit den Händen durch die
Haare wie wirr, reißt die Augen auf voller Angst. «Was soll ich denn tun?
Schaff’ ich’s noch? Sagen Sie mir, daß ich’s noch schaffe.» – «Und was
möchten Sie schaffen?» – «Ich will wieder die alte sein.» Aber genau das
geht nicht. «Die alte», das war einmal ein Mädchen, dem man alles übel-
nahm, was es tat, was es hatte, was es wünschte, was es mochte. Als es
sechs Jahre alt war, kamen die Russen in sein Dorf, und es wurde seine
Schuld, ein deutsches Mädchen zu sein. Dieses Kind konnte nichts dafür,
aber das Volk, dem es angehörte, um so mehr. Später dann, als die Mutter
mit noch drei anderen Kindern, für die sie sorgen mußte, irgendwo Unter-
schlupf gefunden hatte, gelang es nach und nach durch Sparsamkeit, Fleiß
und chronische Überarbeitung, daß dieses Mädchen schließlich sogar die
höhere Schule besuchen durfte. Dort hatte es fleißig zu sein, strebsam zu
sein und gute Noten zu bringen; doch wenn es nach Hause kam, nahmen
die anderen drei Geschwister ihm übel, daß es was Besseres sein wollte,
daß es nicht körperlich hart arbeiten mußte wie die anderen. Diese Frau
war noch nicht fünfzehn Jahre alt, da hatte sie ihr ganzes Leben sich ver-
dienen und ständig gegen einen Wust von Schuldgefühlen rechtfertigen
müssen. Das, was sie konnte, das, was sie an Möglichkeiten sich selbst er-
arbeitet hatte, war für sie nie etwas Selbstverständliches, es blieb vielmehr
ihr ständiges Gefühl: «Wenn du irgendwo zu Hause sein möchtest, werden
sie wiederkommen und werden dich erneut vertreiben – aus dem Herzen
deines Mannes, aus dem Haus, das du bewohnst, aus dem Beruf, den du
ausübst – im Grunde gibt es keine Rechte, nur Pflichten, nur Ängste, nur

153
Schuldgefühle; und vor allem: alle anderen sind besser als du.» Im Grunde
fühlte und fühlt diese Frau sich immer noch wie fremd. – Jetzt, wo dieser
ganze Lebensaufbau zusammenbricht, wo es ihr vorkommt wie ein Tod, da
hofft sie, so zu sein wie früher, und es ist für sie schwer zu merken, daß
Gott sei Dank nichts mehr sein wird wie früher und endlich alles sich än-
dern darf. Was ihr bevorsteht, ist wirklich wie eine neue Geburt unter
einem gütigeren, mütterlicheren Himmel. Ihr ganzes Leben müßte noch
einmal neu gelernt werden. Heute noch kommt es vor, daß es, wenn sie im
Bett liegt, für sie das Schlimmste ist, aufzuwachen; der ganze Tag liegt vor
ihr wie eine riesige Müllhalde, unübersteigbar, grau und eklig. Schlafen –
das ja, das ist ihre ständige Sehnsucht; aber Aufwachen und Die-Augen-
Aufmachen, da beginnt der Alptraum. Wie aber wäre es, es sei ihr wirklich
vergönnt, endlich einmal in Ruhe zu schlafen? Und dieser Wunsch wäre
heute nicht länger mehr ein Symptom, er wäre in Gottes Namen endlich
berechtigt! Er wäre nicht eine Schwachheit, eine Krankheit, die man weg-
therapieren müßte, er wäre vielmehr etwas, das längst schon hätte sein
müssen: Es gäbe ein Recht für diese Frau, auch mal nichts zu tun; ja, in
ihrer «Krankheit» versteckte sich der überaus berechtigte Wunsch, einmal
gratis und unbeschwert leben zu dürfen. Tun das vergleichsweise nicht 99
Prozent aller Menschen? Sie legen sich irgendwo in die Sonne, irgendwo an
den Strand, stundenlang, tagelang, sie machen Urlaub. Wenn das nicht
reicht, gehen sie in Kur, sie schwänzen die Arbeit, sie gehen fünfmal um die
ganze Pader, bis hinten zum See und wieder zurück zum Quellgebiet, – der
kürzeste Fluß in ganz Deutschland, aber fünfmal abgeschritten, kann lang
genug sein zur Erholung. Oder der eigene Hund! Auch der lernt dabei,
wenn Frauchen endlich Freiheit hat. Wie schön wäre es, mit ihm springen
zu gehen, laufen zu gehen! Diese Frau läuft heute gern, aber nur, um zu erle-
ben, daß sie noch fit ist, daß sie’s noch kann, drei Kilometer im Dauerlauf. –
Wie wär’s, man liefe nicht der Gesundheit hinterher, sondern man wartete,
daß sie auf uns zu käme und schlösse uns in die Arme? Wohlbefinden – das
wäre kein neuer Zwang, so weiterzumachen oder noch mehr zu leisten, es
wäre die Erlaubnis, endlich selber zu leben!
Nichts im Leben derart entfremdeter Menschen wird jemals gut außer
durch eine buchstäblich neue Geburt. Im Leben dieser Frau lag keine
Schuld bei ihrer Mutter; sie hat alles getan, was sie konnte, nur daß es ob-
jektiv nicht langte, ein Kind glücklich in die Welt zu begleiten. Aber gerade
wer so aufgewachsen ist wie diese Frau, kann lernen, zur Schwester oder
zum Bruder des «Menschensohnes» zu werden und das eigene Leben «von
vorn» zu beginnen – als Gotteskind, als Kind des Lichts, – als «Nomade

154
des Windes» im Aufbruch in eine Freiheit, wie sie nie war. In deren Schat-
ten allein wachsen Glück und Mut und Reife und Menschlichkeit.
Auf diese Weise begreift man das erste Mal, daß ein Mensch mehr ist als
seine Pflichten, als der Terror der Umstände oder als die Angst vor den
Umstehenden. Da beginnt das Vertrauen, von Grund auf sein zu dürfen.
Du hörst das Rauschen des Windes, aber du weißt nicht, woher er kommt
und wohin er geht.
Eine Muschel, geboren in der Weite des Ozeans, angespült am Gestade
der Ewigkeit, geformt aus der Schönheit der Wellen nach den Gestaltungs-
gesetzen des Lebens – wir halten sie an unser Ohr, und wir hören die Sehn-
sucht unseres Herzens drin rauschen. Eine Wiedergeburt aus Geist nennt
das Johannes-Evangelium eine solche Erfahrung.

155
Joh 3,14-21: «der habe unendliches Leben»
14Und wie Mose die Schlange erhöht hat in der Wüste (Num
21,8.9), so erhöht werden muß der Menschensohn, 15damit
jeder, der in ihm ein Vertrauender ist, unendliches Leben habe.
16Ja, so geliebt hat Gott die Welt, daß seinen Sohn, den einzi-

gen, er gegeben hat, damit jeder, der auf ihn hin ein Vertrauen-
der ist, nicht zugrunde gehe, sondern unendliches Leben habe
(Röm 5,8; 8,32; 1 Joh 4,9). 17Denn nicht gesandt hat Gott den
Sohn in diese Welt, damit er die Welt richte, sondern damit ge-
rettet werde die Welt durch ihn (Lk 19,10). 18Wer auf ihn hin
ein Vertrauender ist, wird nicht gerichtet. Wer aber kein Ver-
trauender ist, der ist schon gerichtet, weil er nicht vertrauend
geworden ist, nicht einmal auf die Wesensart des einzigen Soh-
nes Gottes hin (2,23; 5,24; 12,48). 19Das aber ist das Gericht:
das Licht ist gekommen in diese Welt, und geliebt haben die
Menschen mehr die Finsternis als das Licht (1,5;12,47). Denn
böse war von ihnen das Tun. 20Ja, jeder, der faule Dinge tut,
haßt das Licht, und nicht kommt er ans Licht (Eph 5,13),
damit nicht nachgewiesen werde sein Tun. 21Wer aber jemand
ist, der die Unverborgenheit Gottes tut, kommt ans Licht,
damit sichtbar werde von ihm das Tun, denn in Gott ist’s getan
(1 Joh 1,6.7).

Im 3. Kapitel des Johannes-Evangeliums geht es – wie fast immer bei die-


sem Evangelisten – um die Beschreibung einer absoluten Alternative zwi-
schen Gott und Welt, zwischen Licht und Finsternis, um ein «Gericht», um
eine Trennung, um eine Entscheidung.
Wer den Worten des Johannes-Evangeliums zuhört, dem wird es ähnlich
gehen wie am 18. Dezember 1994 einer Gruppe französischer Paläontolo-
gen: Im Tal der Ardèche tat sich vor ihren Augen eine Höhle auf, und sie
entdeckten plötzlich zu ihrer Überraschung die vielleicht schönsten Male-
reien der Eiszeit, die Menschen je gesehen hatten, 20 000 Jahre alt. Was
sich ihren Augen darbot, war faszinierend und zugleich schwer interpre-
tierbar. Offensichtlich war alles, was da gemalt worden war, in irgendeiner
Weise religiösen Ursprungs. Es diente der Sehnsucht nach Leben. Tiere
waren da zu sehen, endlose Herden von Pferden, aber auch Löwen, Bären,
Wisente. All diese Tiere zeugten zugleich von den Schrecken des Todes. Be-
schworen wurde da tief im Schoß der Erde eine Welt mit magischen Ritua-
len, in Szenen, die schwer einander zuzuordnen sind; oft überlagern sie
sich, vermutlich im Abstand von Jahrhunderten oder von Jahrtausenden.
Was gehört da zu wem? Menschliche Gestalten sieht man fast gar nicht,

156
wie wenn sämtliche menschlichen Gefühle in die Dinge, in die Lebewesen
selber hineinverlegt worden wären, – kein einziges Menschengesicht,
nichts, was als ein unmittelbarer Ausdruck für das Leben der Spezies
Homo gelten dürfte1.
Hören wir das Johannes-Evangelium, so erfahren wir ganz analog in
einer Fülle von Szenen, die einander überlagern, die schwer voneinander
zu trennen, aber noch schwerer einander zuzuordnen sind, in einer Kas-
kade von Bildern und Worten immer wieder etwas von Gott als der Quelle
allen Lebens. Wir ahnen dann, daß wir gerade in dieser Welt, die da be-
schworen und bezaubert wird, leben können, leben sollen, doch ist es nicht
leicht zu verstehen, wie. An welcher Stelle halten wir uns da selber auf?
Gemeint, soviel ist von vornherein klar, sind all die Worte des Johannes-
Evangeliums als Beschreibungen der Wandbilder in jener Höhle, die unsere
irdische Existenz ist; Licht fällt darüber und verwandelt die Sehnsucht
nach Leben in Wirklichkeit.
Den Einstieg der vorliegenden johanneischen Meditation bietet eine
Szene aus dem Alten Testament, die wie im Zeitraffer zusammengedrängt
ist; wir müssen sie in einzelne Handlungen, einzelne Erinnerungen und ein-
zelne Erfahrungen zerlegen, um sie überhaupt verstehen zu können.
Ausgangspunkt ist jene Begebenheit im 4. Buch Mose (Numeri) im 21.
Kapitel, eine Erzählung, die wir literarkritisch dem sogenannten Elohisten
zuordnen, einer sehr frühen Quellenschrift der fünf Bücher Mose (des
«Pentateuchs»), die den Namen Gott, fast heidnisch, als «Gottheit», als
«Elohim», bezeichnet. Als Israel unter der Führung des Mose aus Ägypten
in seine Freiheit zog, wich es aus lauter Angst vor dem feindlichen Stamm
der Moabiter immer wieder aus ins Unwegsame und Unwirtliche, in die
Wüste. Die Folge dieser Manöver waren Entbehrung und wachsende
Angst, die sich entluden in einem Aufschrei gegen diesen Elohim, gegen
diese Gottheit und ihren Mose. Man hatte nichts zu essen, man war dabei,
zu verdursten, man sah den Weg nicht mehr vor den eigenen Füßen, und
aller Zorn, alle Verzweiflung kulminierte in einer Rückerinnerung: Besser
doch wäre es gewesen, in Ägypten zu bleiben; da hätte man gewußt,
woran man war! Zwar wäre man von früh bis spät hin und her komman-
diert worden von den Fronaufsehern des Pharao; zwar hätte man seine
Zwangsarbeit verrichten müssen, aber nach vielen Stunden Arbeit hätte
man doch auch gewußt, wofür: für Fisch, Gemüse und Gurken (Num
11,4.5) – für etwas Ordentliches zu essen und für ein paar Stunden ruhigen
Schlafs. Was will ein Mensch denn mehr? – besser als diese ungeheuerliche
Schinderei, die offensichtlich doch in einem Fiasko endet! An manchen

157
Stellen während des Wüstenzugs wird das Volk unter Mose sogar dahin zi-
tiert, daß sich der eigene Gott, dieser Jahwe, lächerlich machen werde in
den Augen aller anderen Götter wie aller anderen Völker. Sie werden
sagen, dies sei ein Dämon von Gott, der dem Mann an der Spitze eine
Wahnidee eingegeben habe; absichtlich führe dieser Mann Mose sein Volk
ins Nichts, nur um es vorzuführen in einer Narretei bis zum Untergang
(Num 14,1-3; 20,3-6). Freilich: welch ein Mensch weiß denn überhaupt,
wenn er aufbricht, was richtig und falsch ist, was Fortschritt oder Rück-
schritt darstellt? Nichts scheint mehr klar in dieser Stunde des 21. Kapitels
im Buche Numeri.
Doch es kommt noch ärger. Wie immer in der Bibel, wenn Gott straft,
tut er von sich her gar nichts. Er überläßt die Menschen ganz einfach dem
Zustand, den sie selber sich bereitet haben, nur daß die Menschen für ge-
wöhnlich keine Ahnung haben, daß sie selbst ihn sich bereitet haben. Gott
«strafte», erzählt die Bibel, «sein» Volk, indem er Schlangen in das Lager
der Israeliten schickte. Schlangen sind seit alters her Symbolträger mensch-
licher Angst2; sie verkörpern das gähnende Nichts unter den Füßen, sie
lauern im Wüstensand und im Gebüsch, unvorhersehbar greifen sie an, an-
gelockt durch die Körperwärme eines Säugetiers, sie sehen bei Nacht mit
Hilfe der Infrarotwahrnehmung; sie stoßen zu, wenn’s keine Rettung mehr
gibt. Der hebräische Ausdruck für die Schlangen an dieser Stelle lautet
Seraphe, in der christlichen Theologie ist daraus eine Gruppe von Engeln
geworden; aber ursprünglich handelte es sich um die mythische Gestalt
von Branddrachen, wie sie zum Beispiel in Gen 3,24 mit Flammenschwer-
tern in den Händen den Paradieseseingang den Menschen verstellen. Hier
ist es, als wollten sie endgültig den Weg in das Land der Verheißung ver-
sperren. Dann aber, als das Volk wieder um Hilfe schreit, gibt Gott dem
Mose ein Rettungszeichen: er soll aus Bronze, aus Erz, genau dieses Bild
der Angst seines Volkes formen und an einer Stange aufgereckt vor dem
Lager aufstellen. Jeder, der von den Branddrachen, von den Schlangen, ge-
bissen werde und schaue dieses Bild, der werde gerettet werden; – das ist
die Erzählung, auf die Johannes hier anspielt.
Die frühe Gemeinde muß an der Seite Jesu etwas gelernt haben, das die
Lektüre dessen, was wir heute das Alte Testament nennen (und was doch
in vielem ewig jung bleibt), völlig verändert hat. Ohne daß er je die fünf
Bücher Mose midraschartig ausgelegt hätte, scheint Jesus die Jünger ge-
lehrt zu haben, daß es nicht genügt, beim Ritual der Pessahnacht stehenzu-
bleiben und sich daran rituell zu erinnern, was unter Mose geschehen ist, –
ein kultisches Spiel, ein heiliges Gedächtnis, eben: eine etablierte Religion.

158
Im Sinne Jesu genügt es durchaus nicht, zu sagen: «Wir sind ein auserwähl-
tes Volk, denn ‹wir› sind unter Mose vor dem Pharao geflohen.» Wohl: Die
ganze Religion der Bibel kreist im Alten Testament um das Erlebnis am
Schilfmeer, als das Volk nicht mehr ein noch aus wußte: vor sich die un-
durchschreitbare Wasserwand des Meeres, hinter sich die Reiterwagen-
abteilungen des Pharao; und in dieser Ausweglosigkeit gerettet worden zu
sein, einfach weil an der anderen Seite des Meeres der Mann Mose stand.
Er nahm seinen Stab, der in der Berufungserzählung selber sich in eine
Schlange der Angst verwandelt hatte (Ex 4,3.4), und streckte ihn aus über
das Wasser und redete zu seinem Volk, es solle gehen in das Wasser hinein,
es werde ein Weg sich dort zeigen, wo er nie war, – dieses Wunder der Ret-
tung in schierer Ausweglosigkeit und Verzweiflung bildet den ganzen
Glaubensinhalt des sogenannten Alten Testamentes (Ex 14,21).
Das, was wir das Neue Testament nennen, kreist vor allem im Johannes-
Evangelium um ein anderes Bild, das mit der Exodusszene zu tun hat, aber
auch als Kontrast dazu empfunden wird. Das ist der Augenblick, da Jesus
am Kreuz wieder vor sich das reine Nichts sieht; er vernimmt den Hohn
und den Spott der Menge, und doch geht er durch die Wand des Todes hin-
durch, und doch spricht er solche Worte wie sie der Legende nach von
Lukas ihm zugetraut werden: In deine Hände geb’ ich meinen Geist, ja, er
sagt sogar: Vergib denen, die das tun, denn sie wissen nicht, was sie da
machen (Lk 23,34.46), und überwindet so den Haß durch das Verstehen
und die Verzweiflung durch das Hoffen.
Alle neutestamentliche «Theologie» kreist um diese Frage: was passierte,
als Jesus starb, oder genauer: was passiert, wenn ein Mensch stirbt so wie
er? Was ist die letztgültige Antwort auf alle Fragen und auf alle Klagen un-
seres Lebens? Soviel jedenfalls steht fest: Jesus wollte, daß wir die ganze
Exodus-Geschichte noch einmal aufrollen, jeder für sich in seinem Leben.
Die Ebene der Auseinandersetzung ist nicht mehr ein Volk, ein Kollektiv,
es geht nicht mehr um einen Aufbruch im Allgemeinen ins Allgemeine, es
geht um die Frage an jeden Einzelnen, wie denn er existiert. Was in dem
Gespräch mit Nikodemus zuvor in dem Bild von dem wehenden Wind als
Aufbruch in Freiheit umschrieben wurde, läßt sich jetzt wiedergeben als
Frage an unsere Existenz: wie, von innen her, machen wir uns frei von all
den falschen Fesseln?
Im Leben eines jeden von uns gibt es eine Reihe angemaßter Autoritä-
ten, existiert eine nie überwundene Pharaonenherrschaft, die immer wieder
nur eine einzige «Beglaubigung» besitzt: sie verfügt über die Macht zu
töten, und schlimmer noch, sie kann in den Tod treiben wie zur Strafe, so

159
als verdiente jemand durch eigene Schuld seine Hinrichtung. Die Angst vor
dem Tod und die Angst, schuldig zu sein auf den Tod hin, sind die beiden
Marterinstrumente, die die Menschen in Schach halten wie die Fangeisen
ein zu jagendes Tier, das sich aus Hunger vom Köder der Falle ins Tödliche
hat verlocken lassen. Wie befreit man Menschen dahin, den Tod nicht wie
hypnotisch als die letzte Macht über ihrem Leben zu betrachten, und wie
befreit man sie dahin, positiv an ihre Unschuld wieder zu glauben?
Der Ausgangskontrast ist im Johannes-Evangelium ganz deutlich. Er be-
steht in einer massiven Kritik an der Vorstellung von der ehernen Schlange
des Mose. Worum, müßte man mit Johannes fragen, handelt es sich da
eigentlich? In kulturhistorischer Erinnerung scheint alles recht einfach: In
der beginnenden Metallzeit, am Rande des Neolithikums, hat man einen
neuen Werkstoff gefunden. Schon in dieser Erfindung schwingt Furcht und
Magie mit: – die Schmiede stehen den Göttern nahe3. Zudem: Man kann –
auch dies ein technischer Fortschritt – fortan die Angst der Menschen in
einer neuen Form, mit Hilfe der Metallurgie, Gestalt gewinnen lassen. So
kommt es offenbar zu dem Bild der ehernen Schlange: Man nimmt den
Menschen ihre Angst, indem man die Angstfigur selber zur Anbetung frei-
gibt. Wo in der Religion ist nicht im Grunde die Angst selber Gott? Reli-
gion wird so zu einer Form von kollektivem Wahnsinn. Aber wo in der
Kulturgeschichte war sie je etwas anderes? In Mittelamerika zum Beispiel
konnten alleine bei der Thronbesteigung eines Aztekenhäuptlings wie
Ahuitzotl (1486–1502) an die über zehntausend Menschen in ein paar
Tagen geschlachtet werden auf den Tempelterrassen des Gottes Huitzilo-
pochtli, des Stammesgottes der kriegerischen mittelamerikanischen Indios4.
Und wie war es, als im Jahre 1099 die Kreuzfahrer unter Gottfried von
Bouillon wie in einem Blutrausch das Massaker von Jerusalem anrichteten
und die gesamte Bevölkerung niedermetzelten?5 Gerade das Bild von der
Erhöhung des Menschensohns, den Gott aus Liebe in diese Welt gegeben
hat, ist in seiner Interpretationsgeschichte nicht frei von derartigen Perver-
sionen geblieben, und es hat zum Teil gerade diejenigen Elemente, gegen
die es eigentlich gewendet war, in sich aufgesogen. Wie denn auch nicht?
Gott hat seinen Sohn in den Tod gegeben – ist dann der Tod nicht doch
etwas Gottwohlgefälliges? Und wenn schon Gott die Welt derart liebte,
daß er seinen eingeborenen Sohn am Kreuze dahingab, muß man dann
nicht geradewegs Mitleid haben mit einem derartigen Gott, mehr als mit
den geschundenen Menschen? Wird dann nicht alles an menschlichem Ge-
fühl in eine theologische Projektion hinein absorbiert, die wieder entfrem-
det, die wieder niederdrückt?

160
In bezug auf das «Zeichen» von der Schlange am Stab und dem Christus
am Kreuz sieht man erst wieder klar, wenn man sich zurückerinnert an
das, was Jesus tatsächlich wollte. Sein Tod ist ein deutendes, zusammenfas-
sendes Zeichen für sein Leben, darin sind alle Evangelisten sich einig; aber
es läßt sich das Leben Jesu nicht von seinem Tod her verstehen noch auf
seinen Tod hin auslegen; umgekehrt, nur aus dem Umkreis dessen, was er
für das Leben und als das Leben wollte, ist der Sinn seines Sterbens be-
greifbar; das Johannes-Evangelium spricht sogar von unendlichem Leben,
von einem Leben also, das den Tod aufhebt. Darin bestand in der Tat Jesu
Lösung, daß er die Angst nicht zur Religion erhob, sondern Gott als eine
Kraft setzte, die den Menschen, jeden einzelnen, aufrichtet zu einem Ver-
trauen, das ihn leben läßt!
Aus lauter Angst können Menschen die furchtbarsten Verbrechen bege-
hen, wie unter Zwang, wie vollkommen unfrei, als bloße Marionetten und
Spielzeuge ihrer Herren; wie aber, es ließe die Angst sich überwinden durch
ein neues Vertrauen? Das ist das Stichwort hier. Das griechische Wort heißt
eigentlich «Glauben» und ist in dieser Form mißinterpretierbar durch alle
möglichen dogmatischen Assoziationen; aber im Grunde meint das griechi-
sche pistis in seiner hebräischen Entsprechung soviel wie «Vertrauen», und
so lautet die Frage, die Johannes sich stellt: Was eigentlich hat man von
Jesus gelernt? Hat man wirklich auf ihn hin, auf seinen Namen hin, in An-
betracht all dessen, was er als wesentlich verkörpert, zurückgefunden zu
einem Vertrauen, das den Menschen erhöht? Auch dieses Wort ist im Jo-
hannes-Evangelium ganz und gar doppeldeutig. Noch ist die Rede ja nicht
von dem Sohne Gottes, sondern von dem Menschensohn, der erhöht wird.
Da ist der Unterschied deutlich: auf der einen Seite sehen wir das Angstbild
des Menschen, das sich in den Kultus hineinprojiziert, auf der anderen
Seite erleben wir jetzt umgekehrt eine heilige Verehrung der Größe des
Menschen voller Vertrauen. Es ist eine absolute Differenz, die Johannes
hier sieht und zieht, eine Differenz, die über alles entscheidet, eine Alterna-
tive wie immer im Vierten Evangelium zwischen Entweder-Oder: Es ist
möglich, in dieser Welt so zu leben wie die Israeliten in der Wüste, – dann
kämpft jeder für sich und das Volk kollektiv gegen eine unbarmherzige,
grausame Umwelt ums Überleben, und man wird daran ersticken, man
wird am Ende überhaupt nicht mehr wissen, wofür man existiert hat.
Oder man lernt an der Seite des Mannes aus Nazaret, sich noch einmal in
Ruhe zu fragen, was denn das für Kräfte sind, die tragen können, die wei-
terführen. Vertrauen oder Angst, Zugrundegehen oder Hoffen, das sind die
Vorzeichen vor der Klammer, die das ganze Leben umschließt.

161
Fragen wir, wie die Sprache von Gott bei Johannes gebraucht wird, fällt
der Ausdruck auf: «Gott hat gegeben». Er ist wieder eine zentrale Chiffre,
die man etwa so übersetzen kann: Ein Mensch, der lernt, Vertrauen zu fin-
den, wird merken, daß er als Mensch eine Größe hat und eine Würde be-
sitzt, die als ein unglaubliches Geschenk betrachtet werden muß. Diese
Haltung der Dankbarkeit muß man fast jeden Tag einüben. Menschen, die
immer wieder am Abgrund lagern, die sich wie schwebend über dem Ab-
grund fühlen, jederzeit angesogen von dem Loch unter ihrer Existenz, wer-
den keinen anderen Halt finden, als daß sie es buchstäblich trainieren, die
kleinen Dinge des Alltags zunehmend als ein Geschenk ihrer Schönheit, als
eine Gunst ihres Ansehens zu betrachten.
Alles, was ein solches Vertrauen begründen kann, verdient Beachtung.
Die paar Jahrzehnte, die wir hier auf Erden verbringen, können wir vertun
in einer permanenten Hast, in einer endlosen Fronarbeit, ständig imprä-
gniert mit dem Gefühl, in unserem ganzen Dasein unberechtigt zu sein und
überhaupt erst verdienen zu müssen, daß es uns geben soll. Wir können
aber auch denken, alles, was wir sind, sei ein wunderbares Geschenk, zu
dem wir mit unseren Möglichkeiten etwas beizutragen vermöchten, so daß
auch andere durch uns sich gefördert und bereichert fühlen; das wäre dann
unser eigentliches Leben. Wie wunderbar wäre es, wir könnten eines
Tages, gefragt nach der Summe von allem, sagen: «Es hat uns gegeben, und
es hat unser Leben das Dasein anderer ein wenig erleichtert» – es wäre
noch einmal ein weiterer Grund, von Herzen dankbar zu sein. Das Leben
des Menschen als ein Geschenk, und darin versöhnt zu werden mit der
eigenen Angst, mit der eigenen Schuld – das meint die Chiffre von dem
«Menschensohn» in seiner Erhöhung, in seiner Überhöhung, bezogen auf
unsere Existenz. Beide Themen: Angst wie Schuld, besitzen dabei ihr eige-
nes Gewicht.
Schlimmer noch als die Angst, daß wir irgendwann biologisch sterben
müssen, ist die Angst, schuldig zu sein. Wenn Sterben schließlich bedeutet,
hingerichtet oder beseitigt zu werden, weil alles irgendwie falsch war, weil
unser Leben nicht gelungen ist, weil es am Wesentlichen vorbeiging, oder
sogar vielleicht weil es mutwillig zu Schaden geführt hat, dann in der Tat
ist alles nur noch dunkel, zum Verzweifeln, zum Nicht-mehr-leben-Mögen.
Aber wieder auch umgekehrt: Wenn sich zeigen würde, daß wir selbst in
unseren Fehlern uns doch bemüht haben, richtig zu sein und das zu geben,
was wir geben konnten, und das zu werden, was in uns angelegt war, wenn
wir verstehen würden, daß selbst unsere sogenannten bösen Taten nichts
weiter waren als ein reifendes, ringendes Suchen nach uns selbst bezie-

162
hungsweise nach einem anderen Menschen, den wir dringend gebraucht
hätten, wäre es dann nicht möglich, Vertrauen zu setzen in alles und Ver-
söhnung zu spüren auch mit dem, was wir waren? Dann stünde das Bild
des Menschen(sohnes) groß und erhaben vor uns, – wir hätten eine Reli-
gion der Menschlichkeit, des Kults auf den Menschen. Das wäre die Er-
höhung des Menschensohnes, die Beseitigung aller Angst und Schuld.
Man muß den johanneischen Gedanken von der Vermenschlichung des
Menschen radikal nehmen. Denn genau das hat Jesus gewollt, davon ist
der Vierte Evangelist fest überzeugt; doch genau dafür hat man den Mann
aus Nazaret zu töten versucht, und zwar notwendigerweise. Derart an den
Menschen zu glauben schwemmt alles hinweg, was die Freiheit zu unter-
drücken trachtet. Da ist ein Kampf im Gange zwischen den Verwaltern der
Angst und der Auflösung der Angst, zwischen denen, für die Angst das
rechte Instrument ihrer Machtbehauptung ist beziehungsweise umgekehrt
die Ausrede für alle kleinmütig Gewordenen, für alle Eingeschüchterten,
für alle gefügig Gemachten auf der einen Seite und diesen ewig Aufständi-
schen auf der anderen Seite, die resistent sind gegenüber dem Ressenti-
ment, die sich nie bis dahin kujonieren lassen, daß sie ihre Haut zu retten
suchen, indem sie sie selber zu Markte tragen. Wenn irgend etwas in den
ersten drei Evangelien historisch zutreffend geschildert wird, ist Jesus nicht
blind in den Tod gegangen, sondern sehenden Auges, mit innerer Konse-
quenz. Irgendwann muß er sich gedacht haben: «Laß sie machen, was sie
wollen, es hat jedenfalls keinen Zweck, ihnen länger auszuweichen, und
auf gar keinen Fall ist es möglich, vor ihnen zurückzuweichen; vielmehr
gilt es, aufrecht und grade weiter zu sprechen, weiter zu tun, was der Frei-
heit der Menschen dient; und dann werden sie selber sehen, dann werden
sie noch einmal neu entscheiden, oder sie müssen ihre Blindheit zum Urteil
erheben. Das alles sei dann ihr Problem.» Es war jedenfalls nicht mehr das
seine, als er mit der Gruppe derer, die sich ihm angeschlossen hatten, hin-
überging nach Jerusalem – in sein Pessah, wie Johannes sagt. Da wird der
Menschensohn Jesus am Galgen des Kreuzes aufgehängt; doch das ist seine
Erhöhung, sein Ruhm, sein Triumph über alle Todesangst, seine Freiheit
gegenüber einem Rechtssystem, das nicht zum Leben hilft, sondern nur
töten kann im Getto der Obsessionen von Schuld und Strafe.
Freilich, es ist möglich, gerade mit dem Vorbild Jesu noch einmal alles
zu rechtfertigen und zu verteidigen. Jeder hat die Möglichkeit, zu sagen,
am Beispiel Jesu lasse sich erkennen, wie wenig bei einer solchen Lebens-
einstellung herauskomme, diese Freiheit sei eine Illusion, ein solcher
Glaube an den Menschen sei ein leerer Wahn; was real sei, was in der

163
Menschheitsgeschichte zähle, das seien halt die kleinen Regeln, wie man
Institutionen gründet, wie man Menschen in den Nacken tritt, wie man sie
am Boden herumkrebsen läßt, bis daß sie am Ende doch wieder als Skla-
ven ihre Arbeit tun; das Alte sei das Altehrwürdige, das Bewährte, und es
sei zäh, es lasse sich nicht einfach aus der Welt schaffen; vor allem: die
Menschen seien, wie sie sind; sie seien schon immer böse gewesen, und
gegen das Böse gebe es nun mal nur das Böse, gegen kläffende Hunde halt
die Peitsche, gegen Wölfe den Dreschflegel, gegen Kriminelle den Strang, –
so gehe das, und anders sei die Welt nun mal nicht, und so werde sie auch
bleiben, und jeder, der sie zu ändern versuche, sei halt ein blauäugiger
Phantast, ein betroffenheitsethisch verwirrter Gesinnungsmoralist, aber
kein Mann der Tat. Mit solchen Tiraden sind wir ihn los, den Jesus von
Nazaret; denn unter uns gesprochen: es hat mit ihm zwei Jahre zu lange
gedauert, in denen er den Menschen Illusionen und Halluzinationen wie
Drogen verabreichen konnte; jetzt aber ist Schluß; an uns liegt es, seine
Verführungskünste mit Vernunft und Pragmatik wieder zurechtzurücken.
Das Kreuz, ja! Wir zeigen ihn vor, – erhöht am Kreuz, damit jeder sieht,
wo er mit ihm dran ist. – So kann man denken.
Man kann aber auch anders denken. Man kann sagen: Dieser Mann hat
sich nicht kleinkriegen lassen; lieber war ihm der Tod als ein Leben, das
keines ist; lieber ließ er sich totschlagen, als ein ganzes Leben lang geduckt
zu gehen; lieber ließ er sich verhöhnen und verspotten, als ein ganzes
Leben lang sich selber zu begeifern und zu besudeln. Er hat es uns gezeigt:
Angst ist kein Argument. Besser für schuldig in allem gehalten zu werden,
als schon dadurch sich selbst und allen anderen alles schuldig zu bleiben,
daß man gar nicht selbst wird, daß man gar nicht selbst ist, daß man chro-
nisch unauffindbar bleibt, – ein anonymes Material, ein mustergültiges Ex-
emplar des Allgemeinen, aber kein Mensch. Besser, man macht in den
Augen aller anderen alles falsch, als daß man auf diese Weise, aus lauter
Angst, etwas falsch machen zu können, niemals zum Leben kommt und
niemals etwas richtig macht. Für diese Überzeugung steht er. Für sie ist
sein Leben das Zeichen und sein Tod der Beweis.
Wenn das so zu sehen ist, dann ist das Kreuz Jesu die Aufrichtung des
Menschen, dann ist seine Hinrichtung die überragende Erhöhung des Bil-
des eines Menschen, der mit sich versöhnt ist. Dann ist sie die Erhöhung
des Menschensohns.
Man begreift, daß hier buchstäblich alles zur Disposition steht. Wer
nach wie vor in den Kategorien des bürgerlichen Durchschnitts zu denken
gewöhnt ist, dem muß das alles an dieser Stelle wie Wahnsinn erscheinen,

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wie eine Versuchung geradewegs zu etwas Anomalem und Verrücktem, zu
etwas Pathologischem. Ordentlich leben, wie jeder doch weiß, das heißt als
erstes, Geld zu verdienen, ein Haus zu bauen und einen Hausstand zu
gründen, die Rente möglichst früh abzusichern, zu sorgen für die Kranken-
bezüge, – all diese Dinge, wohlgemerkt, müssen geregelt sein, sonst ist
nicht richtig zu leben. Zu schaffen, zu erwerben und Steuern zu zahlen – in
dieser Zirkulation von Arbeitskraft, Ware, Geld und Staatsmacht bleibt
bürgerlich die menschliche Existenz eingespannt. Wer so denkt: Leben, das
bedeutet, möglichst nett und gut zu leben, das bedeutet vor allem, abgesi-
chert zu leben, der merkt womöglich gar nicht, wie tief er diese beiden
Kräfte – die Angst vor dem Tod und die Angst vor der Schuld – verinner-
licht hat. Ihm ist der Rückenwind dieser Angst womöglich so selbstver-
ständlich, daß er meint, rasch voranzukommen, während er gar nicht
spürt, welch eine Energie ihn vor sich herschiebt. – Und wieder umgekehrt.
Wenn es möglich wäre, man könnte das tun, was Jesus wollte, man orien-
tierte sich statt an der Menschenangst in einem langsam reifenden Ver-
trauen an dieser unbekannten, unsichtbaren, unvorstellbaren Macht, die in
den Religionen Gott genannt wird, dann müßte man, dann dürfte man
tatsächlich sagen: Gott hat diese Welt geliebt, das heißt im Präsens: Er
steht ihr in unendlicher Liebe gegenüber.
Was Johannes da formuliert, ist nicht ungefährlich, weil es die übliche
Theologensprache nahelegt, in welcher aus der Perspektive Gottes auf den
Menschen hin gesprochen wird, und diese Sprechweise kann sehr entfrem-
dend wirken. Doch wenn wir das, was Johannes von Gott her sagt, aus der
Sicht des Menschen betrachten, so besitzt seine Aussage eine wirklich
große Energie von Aufbruch und Freiheit. Die entscheidende Entdeckung
lautet: Was die Welt im ganzen trägt, ist Liebe. An sie dürfen wir glauben,
an sie können wir glauben, ja, wir vermögen von daher sogar ein Stück
weit an uns selber zu glauben. Da formt sich unser Blick auf den Men-
schen noch einmal ganz neu. Ohne diese neue «Sichtweise» besteht die
ganze Welt nur aus Angst, doch selbst dieser Umstand muß uns nicht län-
ger irremachen. Die Menschen mögen in ihren Ängsten alle möglichen Ver-
brechen begehen, doch selbst in ihren Abgründen und Verlorenheiten blei-
ben sie nur um so mehr nach Liebe suchend und der Liebe bedürftig. Es ist
nichts als eine Selbsttäuschung, die Menschen einzuteilen in diejenigen, die
wir lieben können und sollen, weil sie die «guten» Menschen, die richtigen
Menschen sind, und in jene anderen, die wir abschieben und verabscheuen,
weil wir sie zu den «bösen» Menschen rechnen. Eine derart eingeteilte
Welt besteht nach Johannes immer noch nur aus Angst; sie mag sich nach

165
Gesetzen richten, doch sie kennt keine Gnade. Wer hingegen sie entdeckt,
dem ist’s, wie wenn ein Licht aufginge mitten in der Finsternis; der fängt
an, alle Dinge noch einmal ganz anders zu sehen. Da hat Christian
Fürchtegott Gellert völlig recht: «Wer sagt, er liebet Gott, und hasset
seine Brüder, der treibt mit Gott nur Spott und zieht ihn ganz hernieder.»6
(Vgl. 1 Joh 4,20.) Natürlich kann man das machen: man kann Gott benut-
zen, um im Namen Gottes Menschen untereinander entlang bestimmter
«Glaubens»grenzen zu trennen. Auch die Sprache des Johannes-Evange-
liums steht in dieser Gefahr, wenn sie die Menschen in Lichtbesitzer und in
Finsternisbewohner teilt, in zum Glauben Gekommene und in nach wie
vor Ausständige. Doch was das Vierte Evangelium als erstes vermitteln
möchte, ist dieses Erfahrungswissen, diese Möglichkeit zumindest: die
ganze Welt, in der wir uns befinden, ließe sich entdecken als getragen von
Liebe, und alle Menschen vorbehaltlos und unterschiedslos gehörten dazu.
Allerdings muß man das Johannes-Evangelium an dieser Stelle über den
Raum seiner unmittelbaren Einsichten und Gedanken hinaus interpretie-
ren; man muß die Richtung, in die es spricht, ein Stück weit extrapolieren
über den Bereich hinaus, den es verbal definiert. In den Tagen der Entste-
hung des Johannes-Evangeliums muß es eine schreckliche Erfahrung gewe-
sen sein, mitzuerleben, daß alles, was man Menschen sagen kann, gelebt
und erfüllt sein mag in der Person des Mannes aus Nazaret, und daß es
dennoch möglich ist, daß die menschliche Geschichte sich nach wie vor so
aufführt, als sei das Leben Jesu nichts weiter als eine belanglose Episode:
zu übergehen und zu verdrängen in der jüdischen Selbstreflexion, uninter-
essant für die römische Geschichtsschreibung, – sie wird das Leben Jesu,
außer einer kurzen Notiz bei Tacitus7, kaum erwähnen; für sie hat sich
nichts geändert auf der Welt. Da wird ein Mensch getötet seiner Mensch-
lichkeit wegen, und alles bleibt, wie es ist! Da kommt der Himmel auf die
Erde, und keiner will ihn haben! Es soll möglich sein, daß einem Menschen
alles angeboten wird, was er zum Leben braucht, und er verweigert es! Zu
spüren, daß es sich gerade so verhält, ist für Johannes so bitter, daß er aus
dem Licht heraus neue Schatten sich werfen und eine neue Dämmerung
über die Erde fallen sieht. Er, der vom Licht kündet, weiß im Grunde kein
Mittel mehr, die Finsternis zu besiegen. Der Kontrast bleibt in diesem
Evangelium bestehen. Johannes nennt das die «Krisis», die Entscheidung,
und er setzt sogar fest: das Gericht hat längst stattgefunden. Die Men-
schen, die jetzt immer noch sagen: «Wir sind, wie wir sind», die jede Ände-
rung ablehnen, sind schon «gerichtet», was soviel heißt wie: bei diesen
wird nie mehr etwas passieren, deren Einstellung hat sich endgültig festge-

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legt; bei denen ist nichts mehr zu machen. Das wirklich ist das Gefühl die-
ses Evangelisten; selbst Gott werde nicht, noch wolle er an diesem Zustand
je noch etwas ändern.
Es gibt indessen Menschen, an denen auch etwas anderes sichtbar wird,
und diese Beispiele möchte man Johannes gewissermaßen zur Korrektur
seines nahezu fatalistischen Standpunktes vorhalten. Geboren wird in die-
sen Menschen, ohne daß sie selbst zu sagen wüßten, warum, trotz allem
der Gedanke eines unendlichen Lebens aus der Freude an den Atemzügen
dieses so kurzen irdischen Daseins. Wie zu ihrer eigenen Überraschung
spüren sie den Wind der Liebe und tragen ihn hinaus; sie heben die
Grenzen fort; für sie gilt nicht die Todesdrohung des immer nur allzu
flüchtigen Existierens im Rhythmus der Zeiten. Solche Menschen möchten
nur eins: daß alles sich fortsetze und nie mehr aufhöre. Friedrich Nietz-
sche konnte so sagen im «Zarathustra»: man solle, gefragt: War das das
Leben?, antworten dürfen: Wohlan, noch einmal!8 Es sollte sich alles wie-
derholen, wünschte er. Dieses Gefühl, vital genug zu existieren, dachte er,
sei die höchste Annäherung an die Idee des Seins, und er stellte sich dabei
eine ewig kreisende Spirale vor – ohne Verzicht, ohne Reue – eine ständige
Bejahung. Nietzsche glaubte nicht an ein ewiges Leben im Sinne des
Christentums, und doch kam er dem nahe, was Johannes hier verspricht:
unendliches Leben aus einer Liebe, die vor nichts mehr zurückzaudert und
zurückschaudert, sondern die es wagt, zu sein.
Dann stellt sich um so mehr die Frage, was denn mit all denen werden
soll, von denen das Johannes-Evangelium erklärt, sie wagten nicht ans
Licht zu gehen, weil sie fürchteten, in der Wirklichkeit als diejenigen ent-
deckt zu werden, die sie sind? Soll man diesen bitteren Satz, der so wahr
ist, daß ihn jeder in seiner Realität gleich begreift, nicht gegen den Wort-
laut des Johannes-Evangeliums noch einmal beziehen auf das, was wir ge-
rade gehört haben? Es kam doch die Versöhnung von Gott, es kam doch
Jesus in diese Welt nicht, um zu richten, sondern, wenn schon, um zu ret-
ten, um aufzurichten; nicht um hinzurichten, sondern herzurichten, um
richtigzumachen! Dann müßten wir in diese Dunkelheit noch einmal hin-
einleuchten. Es ist für uns rein psychisch absolut wahr: Selbst wenn wir die
Chance erhielten, Licht in unser Leben zu bringen – wir könnten bewußt
noch einmal durchgehen, wie wir geworden sind –, so fehlte uns aller
Wahrscheinlichkeit nach der Mut, unser Leben anzusehen, aus lauter
Schamgefühl. Es wäre uns zu peinlich, zu erniedrigend, uns anzuschauen,
was wir sind, wie wir waren; – besser also, wir verdrängen’s, wir halten’s
im Unbewußten, wir schauen gar nicht erst hin, wir machen es uns nicht

167
klar; diese ganze Höhle unseres mißratenen und verpfuschten Daseins, –
das soll gar nicht zum Licht, das flüchtet angstgescheucht wie die Fleder-
mäuse lieber in immer tiefere Höhlengänge, es traut sich allenfalls hervor
bei Nacht im Laut von Stimmen, die für Menschenohren nicht gemacht
sind, – ein Heulen und Klagen eher als ein Reden. Und doch sollten wir
das Johannes-Evangelium an dieser Stelle wörtlicher nehmen, als es sich
selbst versteht: Es kam der Sohn Gottes, nicht um die Welt zu richten,
Jesus wollte Menschen nicht verloren geben, selbst wenn er historisch an
ihrem Widerstand scheiterte. Wäre es nicht möglich, zumindest Gott mehr
an Liebe und mehr an Geduld und mehr an Weisheit und mehr an Einfüh-
lung zuzutrauen, als wir angesichts der Verlorenheit von Menschen auf-
bringen? Oft werden wir erleben, daß ein Mensch so sehr aus Angst be-
steht, daß er mit ihr wie verwachsen scheint, er kennt sie nicht, er kann
von ihr nicht sprechen. Es wird schon viel sein, wenn wir entdecken, wie
sehr er sich zurückzieht aus Furcht, in dem, was er ist, entdeckt zu werden.
Nur wenn wir diese Fluchtbewegungen der Angst im Unbewußten, im
Dunkeln, mitvollziehen, wird langsam ein Mut wachsen, wenigstens ein
Stück weit sich festzumachen gegen die Angst. Eines Tages dann gelingt es
vielleicht sogar, Worte für all das zu finden, wofür man sich schämt, wofür
man fürchtet, vom anderen verlassen zu werden, weswegen man Angst
hat, auch der andere werde einen fallenlassen, wenn er dies erführe.
Wenn man erst einmal soweit wäre – weit noch entfernt von aller reli-
giösen Rede; noch sind wir nicht beim Sprechen von Gott –, wäre bereits
unglaublich viel gewonnen; wir würden das Gefühl begründen, selbst wir,
die wir nur Menschen sind, würden den anderen bestimmt nicht verlassen,
ihn bestimmt nicht im Stich lassen, ihn bestimmt nicht wegschicken, ganz
im Gegenteil. Schon weil der andere so fühlt, sehen wir ganz deutlich, daß
er nicht freiwillig, durch eigene Entscheidung, wie Johannes sich das in
etwa vorzustellen scheint, in die Dunkelheit hineingetaucht ist, sondern
daß da ganz sicher schon über seine Kindheit Schatten gefallen sind, über
die Schwäche seiner Jugend, über ganze Jahre seines Lebens. Was ist da-
mals passiert, als er fürchten lernen mußte: seinen Vater, seine Mutter, sei-
nen Pastor, seinen Lehrer, seinen Bruder, seine Schwester, seinen Onkel,
wen auch immer, in einem Ausmaß, daß er sich jahraus, jahrein nie auch
nur in Andeutungen vorzuwagen traute? Alle Angst in der Gegenwart, die
wir kaum aufzulösen vermögen, hat ihre Gründe in vergangenen Erlebnis-
sen, und sie nun hervorzuholen ist in der Tat eine Höhlenwanderung, eine
paläontologische Suche wie in der Höhle im Tal der Ardèche, wie in der
Grotte Chauvet. Da werden wir uralten Höhlenmalereien begegnen, die

168
wir neu deuten müssen, und es ist bereits viel wert, das Licht darauf zu
werfen und die Augen ans Licht zu gewöhnen. Nie ist die eigene Gestalt,
wenn wir sie nur erst richtig beleuchten, so, wie wir dachten: verächtlich,
häßlich, minderwertig, unansehnlich, ein Gespött; – im Gegenteil! Wenn
wir sie nur wirklich wahrnehmen, werden wir die Erhöhung des Men-
schen(sohnes) miterleben. Schon für das, was man Menschen angetan hat,
wird man sie oft genug lieben können. Schon für das, was sie sich angetan
haben, wie um vorgreifend auf die befürchtete Strafe sich selber zu quälen,
wird man sie lieben müssen. Und je mehr man sie versteht, wird man von
ihnen nicht mehr loskommen. Es wird immer enger sich miteinander ver-
binden, immer mehr sich versöhnen, immer tiefer eins werden. Am Ende
sind Himmel und Erde gar nicht die Gegensätze, für die wir sie hielten, sie
sind – das eine wie das andere – die eine einzige große, wunderbare Welt
Gottes; und der Psalm 23 stimmt dann aufs Wort, wenn er spricht von
dem Gott, der ein Hirte ist und uns lagert auf grüner Au:

Und müßt’ ich auch wandern durch Todschattenschlucht,


so fürcht’ ich kein Unheil,
denn du bist bei mir.

Es gibt in der Literatur nur schwerlich eine poetischere Bearbeitung jo-


hanneischer Sprache in den Ausdrucksformen unserer Tage als die Worte,
die der libanesische Dichter Khalil Gibran in seinem Buch Jesus Men-
schensohn einmal Maria von Magdala, dreißig Jahre nach dem Tod Jesu,
in den Mund gelegt hat und in denen er sich vor allem bemüht, die Verstel-
lungen des christlichen Dogmatismus dichterisch aufzulösen. Er läßt diese
Zeugin der Auferstehung, der Erhöhung des Menschensohnes, johanneisch
gesprochen, sagen9:

Noch einmal wiederhole ich, daß Jesus den Tod durch den Tod be-
siegte und daß Er vom Grabe auferstand als ein Geist und eine
Kraft. Er durchschritt unsere Einsamkeit und besucht die Gärten
unserer Passion. Er liegt nicht mehr dort in der Felsenspalte hinter
dem Stein.
Wir, die wir Ihn lieben, sahen Ihn mit diesen unseren Augen, die Er
sehend machte, und wir berührten Ihn mit diesen unseren Händen,
die Er lehrte, weiter als gewöhnlich zu reichen.
Ich kenne euch, die ihr nicht an Ihn glaubt. Ich war eine von euch.
Jetzt seid ihr noch zahlreich, aber eure Zahl wird schnell abneh-

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men. Ist es nötig, daß man eine Harfe oder Leier zerbricht, um die
Musik darin zu entdecken? Ist es erforderlich, einen Baum zu fäl-
len, um daran glauben zu können, daß er Früchte trägt?
Ihr lehnt Jesus ab, weil jemand aus dem Land des Nordens behaup-
tete, daß Er Gottes Sohn sei. Und ihr verachtet euch gegenseitig,
weil jeder von euch sich zu erhaben dünkt, um der Bruder seines
Nächsten zu sein.
Ihr haßt Ihn, weil jemand behauptete, daß Er von einer Jungfrau
geboren wurde und nicht aus dem Samen eines Mannes. Ihr kennt
nämlich weder Mütter, die als Jungfrauen begraben werden, noch
Männer, die, an ihrem eigenen Durst erstickt, zu Grabe getragen
werden.
Ihr wißt nicht, daß die Erde mit der Sonne vermählt wurde und
daß es die Erde ist, die uns in die Berge und Wüsten aussendet.
Es gibt einen klaffenden Abgrund zwischen denjenigen, die Ihn lie-
ben, und denjenigen, die Ihn hassen, zwischen denen, die an Ihn
glauben, und denen, die nicht an Ihn glauben.
Wenn aber die Jahre eine Brücke über diesen Abgrund geschlagen
haben werden, dann werdet ihr wissen, daß derjenige, der in uns
lebte, unsterblich ist, daß Er der Sohn Gottes ist, wie wir selber
Kinder Gottes sind, daß Er aus einer Jungfrau geboren wurde, wie
wir aus der Erde geboren werden, die – ohne einen Gemahl zu ken-
nen – das Leben schenkt.
Es mag seltsam erscheinen, daß die Erde den Ungläubigen weder
die Wurzeln verleiht, um sie an ihrer Brust zu stillen, noch die Flü-
gel, damit sie sich in die Lüfte aufschwingen und am Tau des Him-
mels erquicken. Ich aber weiß, und das genügt mir.

170
Joh 3,22-36: Aus dem Himmel oder aus der Erde?
22Danach kam Jesus und seine Jünger ins jüdäische Land, und
dort verweilte er mit ihnen und taufte (4,12).
23Es war aber auch Johannes beim Taufen, in Ainon, nahe

Salim, denn Wasser war dort viel, und sie fanden sich ein und
ließen sich taufen. 24Noch nicht war nämlich ins Gefängnis ge-
worfen worden Johannes (Mk 1,14).
25Es entstand nun eine Streiterei seitens der Jünger des Johan-

nes mit einem Juden über die Reinigung. 26Und sie kamen zu
Johannes und sagten ihm: Rabbi, der mit dir war jenseits des
Jordan, dem du Zeugnis gegeben hast, da, der tauft, und alle
kommen zu ihm (1,26-34). 27Geantwortet hat Johannes und
hat gesagt: Nicht kann ein Mensch etwas (an)nehmen, auch
nicht eins nur, wenn es ihm nicht gegeben worden ist vom Him-
mel (Hebr 5,4). 28Selbst seid ihr mir Zeugen, daß ich gesagt
habe: Nicht bin ich der Messias, sondern: ein Vorausgesandter
bin ich vor jenem her (1,30). 29Wer die Braut hat, ist der Bräu-
tigam. Der Freund des Bräutigams aber, der dabeisteht (als
Diener) und ihm gehorcht, der freut, ja, der freut sich ob der
Stimme des Bräutigams. Diese Freude, die meine, hat sich
erfüllt (Mk 2,15). 30Jener muß wachsen, ich aber abnehmen.
31Der von oben her kommt, ist oberhalb aller (8,23). Wer west

aus der Erde, aus der Erde ist der und aus der Erde redet der.
Der aus dem Himmel her kommt, ist oberhalb aller. 32Was er
gesehen und gehört hat, das bezeugt er; doch sein Zeugnis
nimmt niemand an. 33Wer sein Zeugnis angenommen hat, der
hat besiegelt, daß Gott wahr ist. 34Wen nämlich Gott geschickt
hat, – die Worte Gottes redet der, denn nicht mäßig gibt er
(Gott) den Geist (1,16). 35Der Vater liebt den Sohn; alles hat er
in seine Hand gegeben (5,20; Mt 11,27). 36Wer auf den Sohn
hin ein Vertrauender ist, hat unendliches Leben. Wer aber
(sogar) dem Sohn mißtraut, wird Leben nicht sehen, sondern
der Zorn Gottes bleibt bei ihm.

In den Worten des Johannes-Evangeliums soll nicht gesprochen werden


über Jesus, sondern es soll die Gestalt Gottes in der Person des Mannes aus
Nazaret unter uns Gegenwart werden; nicht Erinnerung an Vergangenes,
sondern Verwirklichung in lebendiger Erfahrung ist in der Sprache und in
der Form des Johannes-Evangeliums intendiert. Gleichwohl berührt uns
fast jeder Satz aus dem Vierten Evangelium wie fremd. Es ist, wie wenn
hier eine unglaubliche Fülle von Leben unter hohem Druck zusammenge-
preßt worden wäre und hätte nur noch versteinerte Spuren hinterlassen.
Texte wie diese auszulegen ähnelt fast einer paläontologischen Arbeit; wer
sich ihr unterzieht und die Mühe nicht scheut, kann immer wieder auf

171
überraschende, zum Umdenken nötigende Einsichten stoßen. – Im Bilde
gesprochen: In den siebziger Jahren des 20. Jhs. entdeckte ein britischer
Paläontologe beim Durchmustern von Funden, die 60 Jahre zuvor in der
kanadischen Provinz Britisch-Kolumbien gemacht worden waren, mittels
einer neuen Präparationstechnik, daß diese uralten Spuren des Lebens
nicht so flächig zusammengedrückt waren, wie man geglaubt hatte. Es ge-
lang ihm, die Abdrücke dreidimensional aufzulösen, die Schichten durch
eine bestimmte Bohrtechnik aufzufräsen und darunter Strukturen freizule-
gen, die so noch niemand gesehen hatte. Für die Fachwelt geriet das
Bemühen von Harry B. Whittington zu einer Sensation. Man entdeckte,
daß in der Frühzeit der Lebensentstehung, im frühen Kambrium, vor 540
Millionen Jahren, Leben in einer Fülle existiert haben muß, die alles über-
trifft, was seitdem auf Erden sich entwickelt hat. Über die Gesetze des Le-
bens selber mußte man und muß man offenbar seither noch einmal ganz
neu nachdenken1.
Fast so ähnlich verhält es sich mit dem Vierten Evangelium im Neuen
Testament. Da war einmal eine Dichte und Fülle von Erfahrung vorhan-
den, die jetzt wie abgestorben scheint. Nur noch ganz wenige Sprachfor-
men, um das Geheimnis der Person Jesu wiederzugeben, haben im Verlauf
der Kirchengeschichte überlebt. Das Kirchendogma ist daraus hervorge-
gangen; doch wie übersetzt man die versteinerte Sprache ins Leben zurück,
daß es der Fülle der Vielfalt, die einmal bestand, zurückgegeben wird? Für
die meisten Theologen ist allein schon durch einen solchen Abschnitt aus
dem Johannes-Evangelium eine ganz bestimmte Tradition der Dogmenge-
schichte festgeschrieben und festgelegt. Jesus ist der Sohn Gottes, wird hier
gesagt; er ist von Gott gekommen; Gott selber beglaubigt seine Wahrheit
einzig in ihm; und Johannes der Täufer ist der Vorläufer des Christus, –
seine Worte selber bezeugen es. – Die Worte, die man in der verfestigten
Form der Dogmatik wiedergibt, stehen dem Klang nach tatsächlich so da,
und dennoch sind sie, so oft man sie auch wiederholen mag, in unseren
Tagen nicht nur unverständlich geworden, sie erreichen vor allem nicht
mehr das, was sie einmal haben sagen und bewirken wollen. Wie gelingt es
uns, diese so zusammengedrückte Sprache wieder aufzulösen, so daß ihr
ursprüngliches Leben in ihr wieder erscheint?
Wir müssen den Gedankengang des Johannes uns so nacherzählen, daß
er schrittweise einen Prozeß formuliert, den wir durchlaufen können, um
an den letzten Sätzen dieses Abschnitts anzulangen: Der Vater liebt den
Sohn. Wenn das nicht eine reine dogmatische Bekenntnisformel bleiben
soll, sondern die Zusammenfassung einer erschütternden Erfahrung voller

172
Ergriffenheit vermitteln möchte, dann muß jeder Satz in diesem Text etwas
von unserem eigenen Leben wiedergeben. Tatsächlich zeigt denn auch die
Einleitung bereits, was gemeint ist. Dokumentiert wird der Bruch zwischen
der frühen Jesusbewegung und dem Judentum, parallel dazu herausgebro-
chen wird die Johannesbewegung; – das ist der historische Ort, den wir
noch greifen können. Mehrere Achsen der Entwicklung werden da ge-
formt, und nur eine einzige soll als von Gott beglaubigt erscheinen; alle an-
deren werden beiseite geschoben. Das ist das historische Thema: Religions-
formen in Konkurrenz miteinander. Aber was wirklich auf dem Spiel steht,
ist bei dieser Themenangabe etwas deutlich anderes; worum es geht, ist die
bohrende Frage nach dem, was Religion überhaupt sein kann und soll. Sie
ändert sich, soviel ist klar, aber warum? Aus welchen Kräften muß sie sich
ändern? Was bewegt sich, wenn sie sich ändert?
Fassen wir die Frage so auf, verstehen wir plötzlich, daß dieser schein-
bar so ferne Text sehr aktuell wird, denn genau dem wohnen wir heute in
geradezu dramatischer Weise bei: der Wandlung von Religion. Nichts
scheinbar gilt mehr von dem, was einmal war. Es hilft nicht, beschwörend
die alten Formeln immer wieder neu zu sagen, sie lassen sich nicht weiter-
geben, besonders an die Generation, die jetzt heranwächst, nicht. Eltern
erleben, wie sie ihren Kindern die Sprache der Bibel, die Sprache der Kir-
che schlechterdings nicht mehr vermitteln können. Man vermutet, daß pro
Jahr durchschnittlich eine halbe Million Menschen aus den verfaßten Kir-
chen weggeht, die Kirchen selbst aber scheinen sich nicht zu fragen, was
aus diesen Menschen wird. Man wird sie vermissen als Kirchensteuerzah-
ler, schon wohl, doch was wird aus ihnen selbst, und was geht in ihnen vor
sich, wenn sie weggehen? Wohin gehen sie? Was ist ihre Beanstandung an
all dem Ungenügenden, mit dem sie kirchenintern nicht leben können?
Scheinbar in historischen Wendungen schildert Johannes, was er als
überlebte, Gott sei Dank hinter sich gelassene Religion vor Augen hat. Da
kommt Jesus mit seinen Jüngern ins judäische Land, und es ist, wie wenn
er ein letztes Mal anknüpfen wollte an die Religion, in der er selber groß
geworden ist. Da soll in einer Rückwendung der Aufbruch des vollkom-
men Neuen noch einmal sich verwurzeln im Vergangenen. Auch Jesus
tauft, so wie sein eigener Lehrer Johannes der Täufer (im Widerspruch
freilich zu der Bemerkung in Joh 4,2!). Da wird die Zukunft noch einmal
verschmolzen mit der Vergangenheit. Aber Johannes muß das nur andeu-
ten, und er beschreibt gewissermaßen die Farce des Religiösen. Grade seine
historisch zu verstehenden Angaben wirken wie eine Travestie. Religion,
das heißt zu taufen? Das heißt, ein Ritual, eine bestimmte Formel einzuhal-

173
ten, in die hinein man Gott bannt? Es bedeutet, in dem rein Äußerlichen zu
verbleiben, daß man viel Wasser für den Ritus zur Verfügung hat und daß
man breite Menschenmassen anzieht? Um die Karikatur vollständig zu ma-
chen: Religion, auf solche Weise institutionalisiert, wird identisch mit den
entsprechend zufließenden Ressourcen, sie «bezeugt» sich selber durch ihr
ausgesprochenes Interesse an Massenbewegungen! In einem einzelnen sol-
chen Satz läßt sich der Verlust jeder wirklich innerlichen Erfahrung kaum
klarer beschreiben, als es hier geschieht. Und natürlich: augenblicklich
bricht Streit aus im Umkreis einer solchen Religion. Augenblicklich tritt sie
in einen rein quantitativen Rivalitätskampf darüber ein, wer in bezug zu
welchen Menschengruppen «erfolgreicher» sei. Der Streit aber hat ein dog-
matisches Thema: Was heißt Reinigung?
Diese Frage allerdings ist religionsgeschichtlich sehr alt, genau gespro-
chen, über ein halbes Jahrtausend älter als das Christentum. Es war im
Grunde einmal eine buddhistische Frage: Wie kann man dem Menschen
ein Gefühl für seine Unschuld, für den Einklang mit sich selber, für die In-
tegrität seines Lebens zurückgeben? Prinz Siddhartha hatte vor Augen, wie
es die Brahmanen am Ganges zu tun pflegten: Der große, breite Strom, der
aus dem Haupte Shivas, aus dem Berge Kailasha im Himalaya, dem Haus
des Schnees, entspringt, sollte das Reinigungswasser zwischen Leben und
Tod bilden. Bei Sonnenaufgang sollten die Menschen sich diesem breiten
Menschheitsstrom nähern und darin eintauchen, wie wenn sie ihr Leben
der Macht Gottes selbst überantworteten, und wenn sie sich aufrichteten,
sollten sie wie neugeborene Kinder zurückkehren in den Tag. Ein ehrwür-
diges, großes, uraltes Menschheitsritual von Erneuerung, Wiedergeburt
und dem Nachlaß aller Schuld bildete sich auf diese Weise. Dem Buddha
aber kamen Zweifel, ob so praktisch und pünktlich ein Mensch, sozusagen
morgens um sechs, weil ein Priester dabeisteht, all das als gültig erleben
kann, was der Ritus verheißt. Wir haben seinen Ausspruch schon einmal
zitiert: «Warum zur Ganga gehen? – Sie ist nur Wasser!» Der Tathagata,
der Hinübergelangte, der Buddha wollte sagen: «Reinigung des Menschen,
das ist ein innerer Vorgang; nichts Äußeres ist dazu nötig, zum allerwenig-
sten ein Kult, geleitet von einem Fachmann im Ausüben von Kulten. Ent-
weder es stimmt für dein Leben wirklich und wird zu deiner inneren Über-
zeugung, oder es gilt überhaupt nicht.»
Manchmal hat man den Eindruck, daß im Judentum Gedanken anderer
Kulturen sehr viel später nicht grade eingedrungen wären, sondern konge-
nial nacherlebt und auf eigenem Wege wiedergefunden worden seien. Was
bedeutet Reinigung für einen Menschen? Johannes der Täufer, der von den

174
eigenen Schülern hier in Ainon, nahe Salim, gefragt wird, antwortet, ent-
sprechend dem Johannes-Evangelium, indem er seine eigene Tätigkeit des
Taufens abgibt, sie übersteigt und für etwas im Grunde bereits Überwun-
denes erklärt. Weder er noch die Juden, sagt er, langen an das heran, wo-
nach sie sich eigentlich sehnen, was sie rituell bezeichnen, worauf sie in
Wahrheit hoffen. Sie müssen, um richtig zu sehen, begreifen, daß alles,
woran sie jemals geglaubt haben, noch einmal über sie hinweggehen wird.
Religion gelangt da zu ihrer Wahrheit, indem sie sich selber als Hinweis
begreift, nicht länger als Ziel, nicht länger als Zweck, einzig als Mittel.
Selbst seid ihr mir Zeugen, daß ich gesagt habe, erinnert Johannes hier
seine Jünger: Nicht bin ich der Messias, sondern ein Vorausgesandter bin
ich vor jenem her. Und als erste Zusammenfassung von allem Folgenden
spricht er die Worte: Nicht kann ein Mensch etwas nehmen, auch nicht
eins nur, wenn es ihm nicht gegeben worden ist vom Himmel.
Das ist das Zeugnis des Johannes über Jesus. Aber nehmen wir es ein-
mal als das Durchgangsstadium eines notwendigen Schrittes zur menschli-
chen Wahrheit, zur Reinigung unserer Existenz; dann wäre Johannes ein
Beispiel, wie wir uns selber verstehen könnten und sollten. Was sagt er
dann uns? Wieviel kostet es, einem Menschen das Gefühl seiner Reinheit
zu schenken?
Es ist fast paradox. Man sollte glauben, die Religion bestehe wesent-
lich – ob buddhistisch, ob johanneisch, ob christlich – in diesem einen
Bemühen um die Reinigung der menschlichen Existenz, und doch scheint
es, wie wenn alle etablierte Religion ein Interesse daran hätte, den Men-
schen als erstes beizubringen, wie unrein, wie unfähig, wie schuldig, wie
darniederliegend sie seien. Den Grund kennen wir bereits. Nur solange
Menschen sich ohnmächtig fühlen, braucht es des ganzen Apparats von
Vermittlungsinstanzen, um sie wieder aufzurichten. Rein werden die Men-
schen in Wahrheit auf diese Weise nie, allenfalls abhängig. Wie sensibel
muß man demgegenüber mit Menschen verfahren, ehe sie auszusprechen
lernen, was in ihnen seit Kindertagen verformt wurde! Unrein sind Men-
schen ja nicht an sich selbst. Wenn Religion überhaupt einen Sinn macht,
besteht sie in der Zuversicht, jeder Mensch sei unmittelbar aus den Hän-
den Gottes hervorgegangen. Nichts an ihm ist da unrein; aber man kann
ihm sehr bald die eigenen Augen dahin richten, sich selbst nur noch kri-
tisch zu betrachten. Dann beginnt der Ekel vor dem, was man ist; dann be-
ginnt der Wunsch, ein ganz anderer zu sein; dann beginnt das Gefühl, sich
selbst nicht riechen, nicht anschauen, nicht hören zu können; man ist für
sich selbst etwas Schmutziges geworden, und alle Menschen, die fortan in

175
unser Leben treten, versichern und bestätigen uns in dieser Basisüberzeu-
gung. Wenn sie freundlich reden, steht es uns fest, daß sie uns etwas vor-
machen; wenn sie auch nur andeuten, wir hätten einen Fehler gemacht,
wird sich das Echo der Kritik zwanzigfach in unserer Seele verstärken –
fast haben die anderen kaum eine Chance, uns noch etwas zu sagen, das
positiv bestätigend auf uns wirken könnte. Was also hilft da anderes, als
nicht mehr eine Taufe zu verabreichen, sondern mit einem Menschen das
lebendig zu machen, was eine Taufe dem Zeichen nach bedeutet? Das ritu-
elle Bild wirkt nicht durch sich selbst, es wird zu einem Auftrag psycholo-
gischer Durcharbeitung. Man muß den anderen bei der Hand nehmen und
zu seinem Ursprung zurückführen; man muß ihn auffordern, seine Erleb-
nisse, die schmerzhaftesten vor allem, noch einmal durchzugehen und zu
sagen, woran er gelitten hat, wie er darum gerungen hat, vielleicht doch
anders zu sein, als man’s ihm beigebracht hat. In welchen Augenblicken
der Kindheit gab es bestimmte Momente vielleicht doch des Protestes
gegen das Kleinmachen, das Herunterziehen, das Unreinmachen? Wo gibt
es gewisse Erinnerungen, daß vielleicht das fremde Urteil schon damals so
gar nicht gestimmt hat? Wie richtet ein Mensch sich langsam auf in dem
Empfinden einer Schönheit, die nach und nach wieder sichtbar wird? Rein-
heit, als Lebensgefühl, ist nichts, das man rituell erwaschen könnte; sie ist
etwas, das man, unter Tränen oft, nur nach und nach wiedererringen kann
als eine Form der Zuversicht.
Man ahnt bereits, worum es da geht. Es hat zu tun mit Sohnschaft und
Liebe im Gegenüber Gottes. Johannes spricht davon an dieser Stelle noch
gar nicht, aber was er bezeichnet, deutet schon in diese Richtung. Nicht,
sagt er, kann ein Mensch etwas nehmen, auch nicht eins nur, wenn es ihm
nicht gegeben worden ist vom Himmel. Das betont noch einmal die völlige
Ohnmacht des Menschen. Warum? Ein Satz wie dieser stimmt für alles,
was äußerlich, was pragmatisch zu geschehen hat, in dieser Form durchaus
nicht. Mit diesem Satz soll uns denn auch nicht so etwas wie praktische
Vernunft, wie eigenes Urteilsvermögen abgesprochen werden; was Johan-
nes meint, geht sehr viel tiefer: Das Entscheidende, eben dieses Gefühl der
Reinheit, das Empfinden, berechtigt zu sein, das Gespür, gut genug zu sein,
kann man mit keiner Anstrengung der Welt sich beschaffen; man kann so
viel unternehmen, wie man will, an Arbeit, an Leistung, an Engagement –
es wird nie dahin führen, sich selbst für in Ordnung zu finden. Alles, was
da geschieht, wird den Kessel der Kompensationen niemals verlassen.
Reinheit findet ein Mensch in diesem Sinne erst, wenn er nach und nach
spürt, daß sein Leben, sein scheinbar so verformtes und verhunztes Leben,

176
ein Geschenk des Himmels ist. Dann kann er sich’s nehmen, dann darf er
es sich herausnehmen, dann hat er die Fähigkeit, zuzugreifen in eine Wirk-
lichkeit voller Glück. Wie also schenkt man, noch einmal so gefragt, einem
Menschen das Empfinden, es sei gut, daß es ihn gibt, – er selbst sei ein Ge-
schenk des Himmels, er selbst sei etwas vom Himmel Ermöglichtes?
Was sich hier anbahnt, formuliert erneut ein Entweder-Oder. Es ist mög-
lich, Menschen zu sehen entweder von unten her oder von oben her. Man
kann sie betrachten als die Opfer eben der Prozesse, die sie ermöglicht und
hervorgebracht haben, man kann sie betrachten in den Fesseln der
Zwänge, in denen sie aufgewachsen sind, man kann sie insgesamt rein «ir-
disch» als festgelegt betrachten; – es ist aber auch möglich, in ihnen etwas
zu erschauen, das ein Stück vom Himmel auf die Erde bringt.
Wenn wir uns fragen, wie «Reinheit» sein kann und welche Kriterien es
dafür gibt, so antwortet dieser Text mit einem buchstäblich märchenhaften
Bild. Johannes der Täufer erklärt: Wer die Braut hat, ist der Bräutigam.
Das Bild der Braut und des Bräutigams, der Heiligen Hochzeit, steht aller-
orten als eine Chiffre für Menschen, die in sich ganz werden. Die Exegeten
werden es so verstehen, daß hier der Messias sich vereine mit der Jungfrau
Israel. Diese Erklärung wird religionshistorisch zutreffen, doch die Chiffre
selbst meint psychologisch sehr viel mehr. Denn wer ist der Messias, wer
ist der Gottesgesandte außer demjenigen, der Menschen dahin bringt, in
Liebe aufzublühen und in der Energie eines neu gefundenen Vertrauens in
sich selbst zusammenzuwachsen, zwischen den Kräften, die wir in männ-
lich und weiblich oder die wir nach Verstand und Gefühl, nach Denken
und Empfinden einteilen? Es geht um die Bewegung innerer Freude, und
schon das ist in der bleiernen Zeit der verwalteten Religion ein absolutes
Novum. Religion hört an dieser Stelle auf, eine von außen herangetragene
Last zu sein, sie beginnt, zur seelischen Erfüllung zu werden. Sehnsucht
reift da und Verlangen und wird zu dem erfahrenen Glück, endlich am Ziel
anzulangen, wie es Jesus mit der «Ankunft» des «Himmelreiches» aus-
sprach (Mk 1,15). Was eben noch als Suche nach «Reinheit» beschrieben
wurde, wird jetzt zu der Freude, sich als geschenkt zu entdecken und sich
als ein Geschenk an andere weitergeben zu können.
Schon sind wir hier in den Zonen, da Liebe Wirklichkeit wird im Bild
des Bräutigams. Fragen wir uns aber: Wie findet man denn eine solche
neue Religion?, so erhalten wir hier die erste gültige Antwort für alles.
Vorhin noch haben wir gehört, Religion bestehe darin, Gruppen von Men-
schen nach bestimmten äußeren Kriterien ein- und aufzuteilen. Dann geriet
diese ganze Einstellung in Zweifel, und wir wußten nicht mehr, woran wir

177
selber waren. Jetzt aber lautet die Antwort aus dem Munde Johannes’ des
Täufers: Es gibt etwas, das in allem noch so Unsicheren und Schwanken-
den Bestand hat, das ist: Du verstehst dein eigenes Leben, deine eigene Exi-
stenz als einen Auftrag, anderen Menschen zu helfen, zu ihrer Freude zu
finden, zu ihrer Reinheit zu gelangen, und es wird für dich selbst die
größte Freude sein, zu erleben, daß dir so etwas gelingt. Um dich her brei-
tet sich ein bescheidenes Feld von Glück; und was irgend du dazu
beiträgst, daß ein Mensch bei sich ankommt, daß er anfängt, bei sich selbst
sich zu Hause zu fühlen, daß er andere Menschen zu sich einlädt und sich
in die Nähe anderer hinüberwagt, – das zeigt dir den ganzen Inhalt der
Religion. Nur so wird es weitergehen; – kein neues Dogma, keine neue
Welterklärung, aber etwas überaus Wichtiges in Form gelebter Mensch-
lichkeit. Das ganze Konkurrenzgehabe zwischen den Religionen und Kon-
fessionen vergeht wie von selbst, wir bewegen uns nicht länger auf der
Ebene des Vergleichs in bezug zu anderen; es ist nur noch wichtig, den an-
deren zu fördern, daß er größer wird, selbständiger, kräftiger, unabhängi-
ger, strahlender, – und selber dahinter zurückzutreten. Das zu begreifen als
Freude und Glück, welch eine wunderbare Religion!
Man hat das Zeugnis des Johannes im Liturgiekalender mit dem Tag der
Sonnenwende verbunden – dem 21. Juni, dem Moment, an dem die Sonne
ihren Höchststand im Zenit erreicht, um dann langsam hinabzusinken in
den Herbst und in den Winter: Johannes der Täufer als Patron des Tags
der Sonnenwende, – da wäre er immer noch der Maßstab, der Kulminati-
onspunkt äußerer Größe. Wovon der Text hier wirklich spricht, ist indes-
sen etwas viel Schöneres: Das Größte unter den Menschen besteht darin,
andere Menschen groß werden zu lassen und ihnen beim Wachsen und
Reifen zu helfen; so etwas zu sein wie ein Bräutigamsführer, ist das Bild,
das Johannes für sich selber ersinnt. Wer die ersten drei Evangelien einiger-
maßen gut in Erinnerung hat, weiß, was der Vierte Evangelist hier macht:
Er nimmt ein Wort, das Jesus selbst für sich verwandt hat, aus dem 2. Ka-
pitel des Markus-Evangeliums und legt es Johannes dem Täufer in den
Mund. Jesus hat einmal wirklich so von sich sinngemäß gesagt: Wo der
Bräutigam ist, da wird nicht gefastet, sondern da ist Freude, und die
Freude des Bräutigams kennt keine Trauer (Mk 2,19). So wollte Jesus die
neue Religion: mit neuem Wein für neue Schläuche (Mk 2,22)! Eine Reli-
gion nicht in Zwang, Angst und Schuldgefühl, in menschlicher Erniedri-
gung, unter Priesterherrschaft und Theologendoktrin, sondern eine Reli-
gion des Glücks. Dazu beizutragen war die ganze Art, wie Jesus selber sich
verstand.

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Es bleibt an dieser Stelle überhaupt die Frage: Was ist ein Mensch? Was
nennen wir Person? Vielleicht hatte der dänische Religionsphilosoph
Sören Kierkegaard vollkommen recht, als er vor über 150 Jahren meinte,
man könne diese Frage nicht nach der Art der Metaphysik beantworten, so
als lasse sich die Person eines Menschen festschreiben wie ein substantiel-
les Fixum, als etwas, das objektiv zu bestimmen sei. Kierkegaard be-
schrieb als erster in der Philosophiegeschichte des Abendlandes den Begriff
der Person rein dynamisch. Er meinte, Person sei definiert durch das, wem
sie gegenüberstehe, Person sei für sich selbst wie ein Spiegel, der ein Bild
einfange von dem, woraufhin sie sich wesentlich verhalte. Mit anderen
Worten: wer wir selber sind, wird sich nie ergeben, indem wir nach innen
reflektieren, um es herauszufinden; das, worauf wir uns beziehen, die Ge-
meinschaft, in die wir eintreten, die Richtung, die unser Leben gewinnt, die
zeigt an, wer wir als Personen sind, was wir als Menschen sind; dadurch
erfahren wir den Inhalt unseres Lebens. Person für sich selbst ist in diesem
Sinne noch gar nichts; sie ist etwas, das sich entwirft, indem sie Inhalte
aufnimmt.
Gerade das aber ist nun die Frage des Johannes-Evangeliums, woraus
wir leben. Es ist ein wunderbares Bild: möglich, um zu verstehen, wer wir
sind, wäre es, unmittelbar vom Himmel her sich zu verstehen. Wer von
oben her kommt, ist oberhalb aller. Wer west aus der Erde, aus Erde ist
der und aus der Erde redet der. Dieses Wort gemahnt an das Fluchwort
Gottes auf den ersten Bibelseiten über Adam bei der Vertreibung aus dem
Paradies: Aus Erde genommen bist du, und zur Erde mußt du zurück (Gen
3,19). Wenn Gott den Menschen im biblischen Sinn verflucht, so redet er
nie nach der Art eines irdischen Richters; er stellt nur fest, was eingetreten
ist. Adam steht da für die Grundbefindlichkeit des Menschen ohne Gott:
Wenn Menschen den Grund ihres Lebens durchaus nicht mehr als Ge-
schenk empfinden, sondern als geradezu bedrohlich, wenn sie ein gewisses
Vertrauen in die Kräfte, denen sie entstammen, durchaus nicht mehr auf-
bringen, wenn sie sich im Gegenteil abgesprengt fühlen von jeder Güte,
dann bleibt in der Tat nur noch der Zynismus dieser Bestandsaufnahme
übrig: Menschen seien bloße Staubgeburten; und sie könnten schuften und
gegen den Staub anarbeiten, wie sie wollten, es werde ihnen nie wieder
etwas anderes zuteil werden als die reine Vergänglichkeit, als der Kreislauf
der Vergeblichkeit.
Der Dichter Hermann Kasack hat in einem seiner frühen Romane Die
Stadt hinter dem Strom diese Situation einmal zu beschreiben versucht. Da
existiert eine absurde Stadt, in der die Menschen wie Sklaven antreten

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müssen, um Steine in Staub zu zermahlen. Das Staubmaterial wird an-
schließend zum Stadtausgang herausgefahren zu einer Ziegelei, in der der
Staub zu neuen Ziegeln gebrannt wird, die an der anderen Seite der Stadt
wieder zurücktransportiert werden zur Gesteinsmühle2. Alles, was wir tun,
meinte Kasack, sei nichts weiter als eine solche sinnlose Vergeudung, als
ein Sich-Drehen im Kreise, als ein Selber-zermahlen-Werden in der Mühle
der Mühsal, der Zeit, der Zerstörung.
In der Tat ist dies etwa das Bild, das Johannes dem Täufer hier vor-
schwebt für Menschen, die sich verstehen aus Erde. Menschen dieser Art
lassen nur gelten, was man sehen kann. Ihre einzige Frage ist, wie man
über die Runden kommt. Ihr Hauptinteresse gilt allein dem Problem, wie
man sich die nötigen Lebensmittel beschafft und wie man nach außen so
viel für sich erwirbt, daß man keinen Mangel leidet. Eine solche Welt ist
die Hölle auf Erden, ein endloses Ringen, ein ständiges Kämpfen, als
wären wir Menschen wie in einem glitschigen Trichter gefangen und die
paar Jahrzehnte unseres Daseins bedeuteten nichts als ein unaufhaltsames
Gleiten nach abwärts. Ein jeder kann dabei sein Ende genau vorhersehen;
gleichwohl wird er versuchen, sich wie ein Ertrinkender an den anderen zu
klammern, er wird versuchen, auf dessen Kopf zu steigen, er wird mit sei-
nen Beinen gegen dessen Leib treten, er wird den anderen in das Loch sei-
nes eigenen Untergangs hineinstoßen, immer im Wahn, dadurch wenig-
stens für sein persönliches sinnloses Leben noch eine kleine Verlängerung
zu erhaschen: – eine endlose Grausamkeit, eine nicht endende Tortur! Die-
ses Denken von der Erde her ist wie ein Rachen, der den Menschen ver-
schlingt. Doch eben dieses Denken ist absolut «normal».
Wenn wir morgens die Zeitung aufschlagen, können wir sie lesen wie
einen Kommentar zu einem solchen Denken «aus der Erde». Wir können
so viele Seiten durchblättern, wie wir wollen, wir werden belehrt werden
über den Konkurrenzkampf des Geldes zur Vermehrung von viel Geld in
noch mehr Geld; ein Hauptthema auf vielen Seiten wird es sein, wie die
Mächtigen sich durchsetzen gegen die mächtig zu werden Drohenden, –
mit welchen Finessen sie einander auszutricksen suchen, wie sie um den
Beifall der Menge ringen, welche Informationen sie ausstreuen, damit man
auf sie schaut, wie man Menschen nach bestimmten Interesseneinheiten
von einander trennt, ideologisch womöglich zum Willen des Allerhöchsten
selber. So gestaltet sich das Reden aus Erde. Es ist ein endloser Schrei des
Entsetzens von unten, der sich selbst freilich nicht so begreift, sondern sich
intoniert als ein Jubellied auf die eigene Tüchtigkeit. Da glaubt man, alles
zu verstehen und alles zu sehen, und wird doch nur für jede Unmenschlich-

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keit die passende Rechtfertigung bereithalten: daß es anders nicht gehe,
daß es nur so realistisch sei, und daß es eben deshalb nur so verantwortlich
sei. Alles dreht sich da im Kreise, denn jede Vision darüber hinaus gilt für
eine Illusion, jedes Denken in Alternativen erklärt man für eine gefährliche
Träumerei. Es darf nichts anderes zugelassen werden, als so weiterzuma-
chen, um das System immer noch ein Stück weiter zu perfektionieren. – So
dieses Denken aus Erde.
Johannes freilich vertritt eine gewisse Hoffnung, nicht auf die Ge-
schichte, in der er lebt, nicht auf die Menschheit, mit der er lebt, nicht auf
den Fortschritt der Kultur, den er nicht sieht, sondern auf die einzige Per-
son, von der er Heilung erfahren hat, auf das einzige Wort, das er gehört
hat und für das er mit diesem Evangelium, mit gerade diesen Zeilen, Zeug-
nis ablegen möchte, so gut er kann, für die Menschen seiner Zeit, die es
hören möchten, und für die Menschen aller Zeit, die nach ihm kommen
werden. Er sagt gleich dabei, es werde ja doch niemand hören, aber – man
muß es fast im Konjunktiv übersetzen – wenn es doch jemand hören
würde, so würde er es besiegelt finden, daß Gott wahr ist. Allein diese
Aussage bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß alles, was man
zuvor erzählt hat, eine einzige Lüge war, daß nichts von all dem stimmt,
daß überhaupt nichts von dem sein mußte, was man sich selbst und ande-
ren zugefügt hat, womöglich im Namen Gottes, im Namen des Staates, im
Namen des Geldes, im Namen all der Mächte, die gelten, solange man von
unten, von der Erde her denkt. Von der Erde her sind Menschen über-
haupt nie etwas anderes als ein amorphes Material, – man wird sie sich
schon gefügig pressen; vielleicht in Massen sind sie stark, als Einzelne nie,
und so leicht kann man sie einschüchtern mit der Peitsche der Angst.
Aber es gibt ein alternatives Beispiel für Johannes, ein einziges: den
Mann aus Nazaret! Er zeigt ihm, daß alles ganz anders sein kann. Wenn
ein Mensch sich versteht aus dem Himmel her, dann ist er oberhalb aller,
meint in der Darstellung dieses Evangelisten der Täufer; er ist mit anderen
Worten nicht zu greifen von den Tentakeln der Angst, von den Wucherun-
gen der Schlingpflanzen des Geistes, er schwebt gewissermaßen darüber; er
taucht ein in alles, aber er ist trotzdem wie eine Wolke am Himmel: – man
sieht sie ziehen und weiß, daß es für sie keine Grenzen gibt. Sie wurde ge-
boren unter den Strahlenhänden der Sonne in den Weiten des Ozeans, und
sie wird das Land berühren zu nichts anderem, als unter dem Regen Er-
quickung und Fruchtbarkeit zu schenken. Sich «von oben» her zu verste-
hen, das heißt, Gott wieder unmittelbar zu spüren. Da ist der Aberglaube
zu Ende, Menschen hätten über Menschen etwas zu sagen oder zu ent-

181
scheiden, so als wären sie immer noch dieses Preßmaterial Kasackscher
Ziegelsteine. Da sind Menschen hervorgegangen unter den Händen Gottes,
der den Töpferton nahm und ihn zu seinem Kunstwerk bildete (Gen 2,7).
Kein Mensch hat daran mehr etwas zu verbessern, und kein Mensch kann
daran noch etwas verbessern. Menschen, die erst einmal spüren, wer sie
selber vor Gott sind, handeln anders, sie sind kreativ, sie finden neue Mög-
lichkeiten. Der Alptraum der Welt hat für sie ein Ende.
Es geht an dieser Stelle nicht schon darum, ein gültiges Jesus-Bekenntnis
abzulegen, es geht darum, sich zu fragen, ob solch eine Sichtveränderung
in allem, ob solch eine perspektivische Drehung um 180 Grad überhaupt
möglich ist – von oben her statt von unten her. Beides steht, wie gesagt,
alternativisch einander gegenüber, für Johannes existiert da kein Kompro-
miß, keine mögliche Synthese; nennen wir es noch einmal das johanneische
Entweder-Oder: Menschen leben entweder aus den Händen Gottes oder sie
sind Verlorene. Was dabei Gott heißt, hat Johannes gelernt aus dem
Munde Jesu selbst: Gott ist der Vater. Wie immer man dieses Wort an die-
ser Stelle übersetzt, es drückt die Zuversicht aus, daß es eine Hand gibt
über unserem Leben, die gütig ist, die uns behütet und der wir nie entglei-
ten können; da ist um uns ein Schutz, der uns niemals verlassen wird. Aus
solch einem Vertrauen heraus gestaltet sich ein Leben von oben her. Alles,
was wir eben Reinheit oder Freude oder Glück oder Hochzeit genannt
haben, gewinnt jetzt seinen tieferen Grund, seine innere Begründung: Der
Vater liebt den Sohn. Wie soll man derlei glauben, außer Menschen begön-
nen, sich im Gegenüber eines väterlichen Gottes mit sich selbst zu versöh-
nen, sie fingen an, sich selbst anzunehmen?
Es ist unter diesen Voraussetzungen nur natürlich, wenn Johannes er-
klärt: was dieser «Sohn» selbst gesehen habe und was er gehört habe,
davon rede er. Religion ist fortan nicht mehr das Hersagen von dem, was
andere vorsprachen, sondern sie besteht in der Wiedergabe und Weiter-
gabe einer eigenen Erfahrung. Vertrauen, das geboren wurde im eigenen
Herzen und das sich weiterzeugt und weiterschenkt an andere, das wird
jetzt zum Feld der Religion. Um zu verstehen, was diese Aussage bedeutet,
muß man sich wieder verdeutlichen, wie diese Wahrheit, diese Bestätigung
Gottes in unserem Leben, sich darstellt.
Wir treffen Menschen, die an sich selbst womöglich schon seit langem
nicht mehr glauben. Was sie kennengelernt haben, kommt ihnen vor wie
eine Bilanz, die ihnen bestätigt, daß sie keine Reserven mehr haben, um
weiterzumachen. Was wollen wir in diesem Falle tun, außer daß wir in
einen solchen Menschen womöglich mehr Vertrauen setzen, als dieser in

182
sich selber hat? Wir können ein solches Vertrauen wohlgemerkt nicht
rechtfertigen, wir kennen den anderen ganz sicher viel weniger als dieser
sich selbst. Wenn er sagt: «Ich weiß nicht weiter», – woher dann wollen
wir es wissen? Aber es ist möglich, mit einem gewissen Vertrauensvor-
sprung auf Menschen zuzugehen und zu denken, für irgend etwas müsse
das Leben des anderen doch gut sein. Wohl hat der andere sich selber nie
so sehen können, doch das allein will noch nicht viel besagen. Über der
Stirn eines jeden Menschen wölbt sich ein solcher offener Himmel, auf
den wir zugehen können. Es ist wie in einem amerikanischen Spiritual:
Wenn der Himmelswagen kommt, möchte ich dahinter nicht zurückbleiben.
Irgendwann wird der Himmelswagen kommen3 – so die Sehnsucht von
Menschen, denen man hier auf Erden von Geburt an nie etwas anderes ge-
sagt hatte in New Orleans oder in Alabama um 1830, als daß sie die Kin-
der von Sklaven sind und daß sie Sklaven zu sein haben, daß sie mit ande-
ren Worten nichts weiter sind als das variable Kapital in den Händen der
Großgrundbesitzer und der Menscheneigner; diese Sklaven werden nie
lesen und schreiben dürfen, sie werden nie frei sein dürfen, sie werden nie-
mals wählen dürfen, wen sie lieben – man wird ihnen vorschreiben, mit
wem sie sich zusammentun, um Kinder zu produzieren, die wieder nichts
weiter sein werden als die Leibeigenen ihrer Herrschaft; keinerlei Würde
werden sie besitzen; sie sind ja nur Farbige, Schwarze, Nigger. Ein solches
Spiritual sollte einen Ausblick bieten, daß man nicht bis zum Himmel
würde klettern müssen auf der Himmelsleiter Jakobs (Gen 28,10-22), Eze-
chiel würde recht haben: ein Wagen würde kommen und sie abholen, wie
wenn sie Prinzen wären, und alles wartete auf einen hochzeitlichen Festzug
(Ez 1,4-28; 10,1-22)!
Das Bild des Johannes-Evangeliums dreht auch diese Aussage noch ein-
mal um: nicht von der Erde hinaufschauen zum Himmel sollten wir, son-
dern ganz ruhig und sicher vom Himmel herab sollten wir uns verstehen.
Und wirklich, die Leute, die jene Spirituals sangen auf den Baumwollfel-
dern der Südstaaten der USA, konnten glauben, daß nicht einmal die Jahr-
zehnte der Schikane, daß nicht einmal die Peitsche ihrer Treiber, daß nicht
einmal die Fluchworte ihrer Aufseher ihre Würde zerstören würden; was
immer sie sozial wären, wie immer man sie definierte, – sie würden Men-
schen bleiben! Sie müßten sich nicht einmal wehren, um für ihre Würde zu
kämpfen! Sie besäßen sie einfach.
Da gewinnen Menschen plötzlich ungeahnte Möglichkeiten der Freiheit,
denn sie sind oberhalb aller. Sie erklären ganz simpel: «Ihr mögt zugunsten
eures Besitzstandes rechnen, wie immer ihr wollt; viel größere Sklaven als

183
wir seid ihr. Denn ihr werdet nie etwas verstehen, weil Gott für euch
nichts weiter ist als eine Unterschrift für eine falsche Rechnung. Menschen,
wißt ihr, sind frei, und ihr könnt sie nicht kaufen. Verhökern könnt ihr sie
auf dem Markt, zwingen zu allem Möglichen könnt ihr sie, aber jeder
Mensch, hört ihr, kommt vom Himmel, und dahin kehrt er zurück. Das
besiegelt, daß Gott wahr ist und daß er Geist ist.»
Es ist ein wunderschönes Wort, das Johannes hier vorwegnimmt: Er,
Gott, schenkt seinen Geist – wörtlich steht da griechisch noch dabei: nicht
nach Maß, –, was man im Deutschen wiedergeben kann mit den Worten:
Gott schenkt seinen Geist nicht mäßig. Mit anderen Worten: Gott rechnet
überhaupt nicht. Die ganze Zahlbarkeit und Zählbarkeit macht keinen
Sinn, wenn es um freie Menschen geht.
Was man da Geist nennt, ist wieder, äußerlich gesehen, schwer definier-
bar; kein Psychologe weiß genau, worum es sich da handelt, eher schon die
Biologen: Sie sagen, Geist sei eine Struktureigenschaft komplexer Systeme.
Dann kommen die Theologen und machen ein göttliches Prinzip aus dem
«Geist» oder eine «Person» in der Gottheit; und wieder wird «Geist» ge-
bunden an Ritus und Dogmatik. Was Geist eigentlich wirkt, beschreibt
dieser Text: aufzuatmen in einer Freiheit, die Gott schenkt, und von innen
her zu leben mit einer Kraft, die von außen nicht mehr zu manipulieren ist.
Der nächste Satz schon zeigt, was für Johannes Geist in diesem Sinne be-
deutet; seine begeisternde Erfahrung ist: Der Vater liebt den Sohn, – Gott
liebt den Menschen als sein «Kind»! Man kann eine solche «Versöhnung»
nicht herbeireden, nicht herbeizaubern, aber man kann einander geduldig
begleiten, um Teile davon zu verwirklichen. Alles, was wir einander zu
schenken vermögen, ist das Geschenk eines solchen wechselseitigen Emp-
findens der Liebe.
«Was denn sehen Menschen», fragte dieser Tage nach einem Vortrag je-
mand in der Diskussion, ein altgewordener, weiser Mann, «wenn sie sich
selber gefunden haben?» Ich versuchte, im Sinne dieser Johannes-Stelle zu
antworten: «Menschen, die sich selber gefunden haben, sind wie ein See
zwischen den Bergen, der ruhig daliegt und den Himmel in einem reinen
Spiegelbild in sich aufnimmt.» Ein Mensch, der sich selber findet, sieht
über sich die Liebe, sieht um sich her das Licht, sieht Gott, und er begreift,
daß alles, was er ist, sich dieser Macht verdankt, die er nicht sehen kann
und die doch alles Sichtbare erst richtig zu sehen lehrt.
Wie läßt sich ein Vertrauen begründen in einen solchen Hintergrund der
Liebe, der uns trägt? Es ist diese Alternative des Johannes, die sich bis zu-
letzt durchhält: Entweder man lernt, ein Vertrauender auf den Sohn hin zu

184
werden, dann wird man unendliches, äonisches Leben erlangen, oder man
mißtraut (sogar) dem Sohn, dann wird der Zorn Gottes bei einem solchen
Menschen verbleiben für immer. Diese Worte sind ein Paukenschlag, dun-
kel und dumpf, wieder eine Drohung, wieder die alte Angst-Religion
scheinbar. Was Johannes indessen sagen will, ist umgekehrt zu verstehen;
er will sagen: «Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten: Das Alte ist die Re-
ligion der Angst; in ihr ist Gott ungnädig, in ihr beharrt er auf Vorleistun-
gen, in ihr ist er ständig strafbereit, – ein zornmütiger Wüterich. Das ist die
Religion der Angst, wie wir sie kennen; sie frißt die Seelen der Menschen.
Aber es ist doch auch möglich, auf den Sohn hin zu glauben.» Jesus, ge-
fragt, warum er spricht, was er sagt, warum er tut, was er macht, konnte
immer wieder, auch in den ersten drei Evangelien, nur antworten, indem er
zum Himmel aufschaute. Man fragte ihn: «Warum kümmerst du dich um
Menschen, an die keiner mehr glaubt? Warum gehst du denen nach, die
keiner mehr haben will? Warum gehört ausgerechnet den Kranken, den
Hilfebedürftigen immer wieder dein Hauptinteresse? Was eigentlich liegt
dir an Huren, an Zöllnern, an Dirnen?» – Vernünftig war das nie, wie
Jesus sich verhielt, sozialpsychologisch zu rechtfertigen kaum; moralisch
wenigstens einwandfrei? Nicht einmal das. Aber für all das hatte Jesus eine
Erklärung: «Gott hat alle Menschen gemacht. Er ist traurig über jeden, der
verloren ist; und ich sage euch: Er freut sich über einen einzigen, den man
findet, mehr als über neunundneunzig andere (Lk 15,7.10). Und wenn Gott
so ist – wie sollten wir dann anders sein?»
Alle derartigen Vorstellungen von Gott entstammen erkennbar der
Menschlichkeit Jesu, aber sie begründeten von oben her alles, was er tat,
und es gab keine Grenzen mehr; es gab keinen Zwang mehr zu all den ver-
meintlich ethisch notwendigen, staatsverordneten, dogmenerzwungenen
Grausamkeiten. Plötzlich ließen sich die Mauern zwischen den Menschen
niederreißen, und die Menschen, auf der Suche nach sich selber, konnten
endlich den Mut gewinnen, in Gott auf sich selbst zu vertrauen. Plötzlich
begann und beginnt da ein Leben, von dem man nie mehr wünscht, daß es
jemals zu Ende sein könnte. Alle Religion der Angst lagert bleischwer auf
den Menschen, – irgendwann hält man sie nicht mehr aus. Zu denken aus
der Erde läßt es am Ende fast als Erlösung erscheinen, zu Erde zu werden.
Doch irgendwann muß Schluß sein mit all dem Sinnlosen, mit all dem Zer-
mürbenden, mit all dem Gleichgültigen, mit all dem seelenlos Grausamen.
Und umgekehrt: Diese Art der Menschlichkeit wirft sich aus in eine Zu-
kunft, die nie aufhören wird und in der wir einander nie loslassen. Geor-
ges Bernanos’ Roman Tagebuch eines Landpfarrers hat in diesem Punkte

185
sehr recht, wenn es aus dem Munde eines todkranken Priesters erklärt: «Es
gibt kein Reich der Lebenden und kein Reich der Toten, nur ein einziges
Reich der Liebe, in dem wir unabtrennbar zusammen sind.» «Alles ist
Gnade.»4
Ein kleines Kapitel aus dem Johannes-Evangelium, – ein Versuch, von
Jesus her eine ganze Welt zu verändern; eine Hoffnung, es lasse sich ent-
decken, daß Gott wahr sei und daß diese Welt, dieser Raum der Dunkel-
heit und Verzweiflung, durchdrungen sein könnte von Licht, wenn nur die
Menschen oberhalb aller frei leben würden: ungebunden und weit, daß
ihre Stirne träumend die Sterne streifte.
Es hat im «Stundenbuch» Rainer Maria Rilke einmal auf sehr sublime
Weise Gott als etwas beschworen, das wie ein Echo ist auf diese Worte des
Johannes-Evangeliums:

Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz,


an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen;
du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen,
du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen,
du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen,
du dunkles Netz,
darin sich flüchtend die Gefühle fangen.

Du hast dich so unendlich groß begonnen,


an jenem Tage, da du uns begannst, –
und wir sind so gereift in deinen Sonnen,
so breit geworden und so tief gepflanzt,
daß du in Menschen, Engeln und Madonnen
dich ruhend jetzt vollenden kannst.

Laß deine Hand am Hang der Himmel ruhn


und dulde stumm, was wir dir dunkel tun.5

186
Joh 4,1-42: Die Frau am Jakobsbrunnen oder:
Stufen der Wahrheit
1Wie nun Jesus erfuhr, gehört hätten die Pharisäer, daß Jesus

mehr Jünger mache und taufe als Johannes (3,22.26), – 2und


doch, Jesus selber pflegte nicht zu taufen, sondern (nur) seine
Jünger – 3verließ er Judäa und ging weg, wieder nach Galiläa.
4Er mußte aber (dabei) Samarien durchqueren. 5Er kommt also

in eine Stadt Samariens, genannt Sychar, nahe dem Feld, das


Jakob Josef, seinem Sohn, gegeben hatte (Ex 48,22; Jos 24,32).
6Es war aber dort eine Quelle Jakobs. Jesus also, ermüdet vom

Unterwegssein, setzte sich einfach an der Quelle nieder. Es war


etwa die sechste Stunde (12 Uhr mittags). 7Da kommt eine Frau
aus Samarien, Wasser zu schöpfen. Sagt ihr Jesus: Gib mir zu
trinken. 8Seine Jünger nämlich waren fortgegangen in die Stadt,
um Nahrungsmittel zu kaufen. 9Sagt da zu ihm die Frau, die
Samariterin: Wie? Du? Ein Jude? Von mir zu trinken bittest du?
Von einer Frau? Einer Samariterin? Nicht nämlich verkehren
Juden mit Samaritern (Lk 9,52.53 f.; Mt 10,5). 10Geantwortet
hat Jesus und hat ihr gesagt: Wenn du wüßtest um die Gabe
Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, – du
bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser (7,38.39). 11Sagt
ihm die Frau: Herr! Nicht einmal ein Schöpfgefäß hast du, und
der Brunnen ist tief. Woher also hast du Wasser, lebendiges?
12Nein! Du? Größer bist du als unser Vater Jakob? Der hat uns

den Brunnen gegeben, und er selbst hat aus ihm getrunken und
seine Söhne und sein Vieh … 13Geantwortet hat Jesus und hat
ihr gesagt: Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder
Durst bekommen (6,58). 14Wer aber trinkt von dem Wasser,
von dem ich ihm geben werde, nein, nicht wird der Durst be-
kommen ins Unendliche hin, sondern das Wasser, das ich ihm
geben werde, wird in ihm zur Quelle eines Wassers, das auf-
sprudelt zu unendlichem Leben (6,35; 7,38; Ps 36,10). 15Sagt
zu ihm die Frau: Herr, gib mir dieses Wasser, daß ich nicht
mehr Durst bekomme und nicht mehr hierher kommen muß,
um zu schöpfen. 16Sagt er ihr: Geh, ruf deinen Mann und
komm (wieder) hierher. 17Geantwortet hat die Frau und hat
ihm gesagt: Ich habe keinen Mann. Sagt ihr Jesus: Richtig hast
du gesagt: Einen Mann habe ich nicht. 18Fünf Männer nämlich
hast du gehabt, und jetzt hast du einen, der nicht dein Mann
ist. Da hast du Wahres gesagt.
19Sagt die Frau zu ihm: Herr, ich sehe: Ein Prophet bist du.
20Unsere Väter – auf diesem Berg haben sie im Gebet sich ver-

neigt; doch ihr sagt: In Jerusalem ist der Ort, wo man im Gebet
sich verneigen muß (Dtn 12,5; Ps 122). 21Sagt ihr Jesus: Ver-

187
traue mir, Frau, es kommt die Stunde, da ihr weder auf diesem
Berg noch in Jerusalem im Gebet euch vor dem Vater verneigen
werdet. 22Ihr verneigt euch im Gebet zu etwas, das ihr nicht
kennt (2 Kön 17,29-41); wir verneigen uns im Gebet zu etwas,
das wir kennen, denn Rettung ist (nur) von den Juden her (Jes
2,3). 23Aber: Es kommt die Stunde und jetzt ist sie, da die
wahrhaft im Gebet sich Verneigenden im Gebet sich verneigen
vor dem Vater in Geist und Unverstelltheit. Und ja: der Vater –
solche sucht er, die sich verneigen im Gebet zu ihm. 24Geist ist
Gott (2 Kor 3,17), und die sich verneigen im Gebet zu ihm,
müssen in Geist und Unverstelltheit im Gebet sich verneigen
(Röm 12,1). 25Sagt ihm die Frau: Ich weiß: Der Messias
kommt, der sogenannte Christus (der Gesalbte) (1,41); wenn er
kommt, wird er kundtun uns alles. 26Sagt ihr Jesus: Ich bin!
Der mit dir redet!
27Indem kamen seine Jünger und wunderten sich, daß mit einer

Frau er im Gespräch war. Niemand freilich hat gesagt: Was


suchst du? Oder: Was sprichst du mit ihr? 28(Stehen) gelassen
hat da ihr Wassergefäß die Frau; fortging sie in die Stadt und
sagt den Menschen: 29Dort! Seht einen Menschen, der hat mir
alles gesagt, was ich getan habe! Ob der nicht der Christus (der
Gesalbte) ist? 30Heraus gingen sie aus der Stadt und kamen zu
ihm.
31Indem unterdes baten ihn die Jünger und sagten: Rabbi, iß!
32Er aber hat ihnen gesagt: Ich? Eine Speise habe ich zu essen,

die ihr nicht kennt. 33Sagten die Jünger zueinander: Es hat doch
nicht jemand ihm zu essen gebracht! 34Sagt ihnen Jesus: Mein
Brot ist es, daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat
(6,38), und daß ich sein Werk vollende (17,4). 35Sagt ihr nicht
selber: Noch vier Monde ist es, dann kommt die Ernte? Da! Ich
sage euch: Hebt eure Augen und schaut die Felder - weiß sind
sie zur Ernte (Mt 9,37). Schon 36empfängt der Erntearbeiter
den Lohn und sammelt die Frucht zu unendlichem Leben, auf
daß der Sämann zugleich sich freue mit dem Erntearbeiter.
37Denn darin ist das Sprichwort wahr: Einer ist der sät, ein an-

derer ist der erntet. 38Ich habe euch gesandt zu ernten, um was
ihr euch nicht abgemüht habt. Andere haben sich gemüht; ihr
seid (nur) in ihre Mühe eingetreten.
39Aus jener Stadt aber gelangten viele zum Vertrauen auf ihn

von den Samaritern wegen des Wortes der Frau, die bezeugt
hatte: Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe. 40Wie sie also
zu ihm kamen, die Samariter, baten sie ihn, zu bleiben bei
ihnen. Und er blieb dort zwei Tage. 41Und noch viel mehr ge-
langten zum Vertrauen wegen seines Wortes; 42und der Frau
sagten sie: Nicht mehr deiner Rede wegen vertrauen wir; selber
nämlich haben wir gehört und wissen: Dieser ist wirklich der
Retter der Welt (Apg 8,5-8).

188
In dem Gespräch zwischen Jesus und dem Ratsherrn Nikodemus wurde
gewissermaßen mitten im Judentum über die Frage gehandelt, wie ein
Mensch von vorn geboren werden kann und was es heißt, aus Geist zu
leben, so frei wie der Wind und ebenso wenig festzulegen. Jetzt, im 4. Ka-
pitel des Johannes-Evangeliums, wird dieselbe Frage aufgegriffen mit einer
anderen Adressatin. Wieder wird die Rede sein von Geist, aber der Ge-
sprächspartner ist kein Mann, ist kein Jude, sondern, an der Grenzzone
zwischen dem Volk der Erwählung und den sogenannten Heiden im Gebiet
von Samaria, eine Frau aus dem Jakobsort Sychar. Daß all diese Details im
Johannes-Evangelium absichtsvoll arrangiert sind, läßt sich schon daran
erkennen, daß gleich im nächsten Abschnitt die Rede sein wird von einem
römischen Hauptmann; dieser gehört an sich gar nicht in diesen Zusam-
menhang, nicht einmal räumlich; Jesus muß lange Wanderungen von
Judäa nach Galiläa zurücklegen, um ihm zu begegnen. Aber diese Staffe-
lung: ein Jude, eine Samariterin und ein Römer (ein Heide), verrät, wie
Johannes seine Reden komponiert hat und wie seiner Darstellung zufolge
die Botschaft von Gott sich fortsetzt, indem sie sich vermenschlicht, indem
sie universell wird.
Die am meisten erregende und zugleich die am meisten hilflose Frage
der Religion im 20. Jh., gestellt von Eltern und Lehrern nicht minder als
von Theologen auf den Kathedern, lautet, wo und wie sich im Menschen
ein «Anknüpfungspunkt» finden lasse für die Rede von Gott. Ist nicht in
unseren Tagen schon das Wort von Gott oder von einem unendlichen
Leben etwas Fremdgewordenes, Mißbrauchverdächtiges, Herrschaftsideo-
logisches? Ist nicht allerorten und zu allen Zeiten die Furcht nur allzu be-
rechtigt, daß religiöse Verkündigung den Menschen in fremden Redens-
arten verformt, ihn von außen her prägt und ihm das eigene Leben stiehlt
statt ermöglicht? Zu viel Gewalt ist im Namen Gottes aus dem Munde der
Prediger und in den Händen ihrer Handlanger an Menschen verübt wor-
den. Das sogenannte Johannes-Evangelium stellt sich am Ende des 1. nach-
christlichen Jahrhunderts Zug um Zug derselben Erfahrung und derselben
Wirklichkeit. Gott, meint es, ist kein Gegenstand irdischer Erfahrung, we-
senhaft ist er anders als alles, was wir greifen und begreifen können, und
dennoch vermittelt gerade dieses Vierte Evangelium in diesem Gespräch
zwischen Jesus und der Samariterin auf klassische Weise die Art, wie wir,
auch in der Sprache des sogenannten historischen Jesus, uns den Weg vor-
stellen können, der zum Herzen der Menschen führt und ein Stück vom
Himmel auf die Erde holt.
Die ersten drei Evangelien berichten immer wieder, daß Jesus in Bildern

189
von Gott als von seinem Vater zu reden liebte. Er trug einfache Erfahrun-
gen vor, die er in Wegweiser und Fenster auf diese ganz andere Wirklich-
keit hin verwandelte, die wir doch spüren müssen, um inmitten der Angst
der Welt beruhigt und getröstet zu werden und aufrecht unser Leben
führen zu können. Alle Welt wurde für Jesus zu einem möglichen Gleich-
nis: eine Frau, die den Teig für ein Brot mengt (Lk 13,18-21), ein Sämann
auf dem Acker (Mk 4,26-29), eine Frau auf der Suche nach einer verlore-
nen Drachme (Lk 15,8-10), ein Hirt, der seine Herde begleitet (Lk 15,1-7),
– nichts war für Jesus zu niedrig, zu alltäglich, zu gewöhnlich, um von sei-
ner Poesie inmitten aller Vergänglichkeit nicht als ein Zeichen entdeckt zu
werden für das, was ewig gilt. Das Johannes-Evangelium enthält so gut wie
kein einziges Wort, das der historische Jesus so gesagt haben könnte; das
Johannes-Evangelium trägt vielmehr seine Worte weiter und formuliert sie
so, wie sie gesagt werden müßten zu Menschen, die kulturell und geistig
unter ganz anderen Verhältnissen leben.
Wo also ist der «Anknüpfungspunkt»?
Diese Frage stellt sich im Vierten Evangelium auf Schritt und Tritt.
Wenn Jesus mit einem jüdischen Ratsherrn wie Nikodemus über Gott
redet, spricht er zu jemandem, der über einen langen Zeitraum rückver-
bunden ist mit Mose und Abraham, mit einem Mann also, der sich selber
für eingeführt glaubt in die Geheimnisse Gottes. Ihm nahezubringen, daß
es nichts Fertiges gibt im Umgang mit Gott, sondern daß nur das Umge-
wandelte, das Wiedergeborene, den Atemwind des Geistes und der Begei-
sterung in sich trägt, ist das Kunststück, das diesem Gespräch zwischen
Jesus und der Samariterin vorausgeht. Wie aber redet man mit einem
Nicht-Juden? Kennzeichnend ist schon der Ausgangspunkt.
Jesus begibt sich von Judäa weg, nicht nur räumlich, sondern geistig. Er
ist angewidert von der dort herrschenden Religion in ihrer institutionali-
sierten und verwalteten Außenseite, etabliert als ein Tummelplatz merk-
würdiger Erfolge. Der Anblick ist uns vertraut. Religion, wie wir sie ken-
nen, ist ein Gegenstand fleißiger Statisten und Statistiker. Da hat man
Religion, wenn man einem bestimmten Bekenntnis, einem bestimmten
Ritus, einer bestimmten Tradition zugehört und gleichzeitig einen gewissen
Geldbetrag als Schmiermasse für die Funktionsfähigkeit dieses religiösen
Bekenntnissystems zur Verfügung stellt. Bekannt wird da eigentlich gar
nichts außer dem, was nicht längst schon bekannt ist, aber auch und ge-
rade um dieses allzu Bekannte kann man in Rivalität geraten. Wer hat
mehr Anhänger, wer bringt mehr an zählbarer, quantitativ bestimmbarer
Menschenmasse hinter sich, wer organisiert mehr an Menschenmaterial

190
zugunsten der Priesterherrschaft, – das sind jetzt die Fragen. Sogar die Re-
formbewegungen zur Zeit Jesu scheinen im Rückblick des Johannes-Evan-
geliums auf diese Weise sich zu zersetzen und zu vernutzen. Es gibt Ende
des 1. Jhs. immer noch offenbar eine Bewegung aus dem Erbe Johannes’
des Täufers; wir finden sie später wieder in ihren gnostischen Ausläufern
in der Religion der Mandäer, in Restspuren vertreten noch heute im Süden
des Irak1. Texte sind da entstanden von einer ehedem heißen Glut, doch
wie verlodert unter der Asche. Für die Bewegung der Gemeinde, die sich
um den Nazarener geschart hat, scheinen die Johannesjünger indessen rein
durch ihre Stoßkraft, die das sadduzäische Judentum zu zersprengen
drohte und sich auch gegenüber den Pharisäern als selbständig behauptete,
so etwas wie eine Konkurrenz geworden zu sein, und augenblicklich erhebt
sich jetzt die Frage: Ist man ein Johannesjünger, ist man ein Jesusjünger, ist
man noch ein Jude, und wenn ja, in welchem Sinne? Wie bleibt man im Be-
kenntnis zu Gott unter der Herrschaft von Menschen einzuordnen?
Jede dieser Gruppierungen glaubt, die ganze Wahrheit Gottes für sich zu
haben, in Erbpacht sozusagen, und wer das nicht glaubt, verletzt und ver-
läßt die Grenzen der jeweiligen Bezugsgruppe.
Es ist das Johannes-Evangelium, das mit Blick auf die gegenwärtigen
Streitereien rein hypothetisch, aber dann sehr energisch, affirmativ, rück-
wärts zu fragen sucht, was Jesus dazu hätte sagen mögen, – und also ge-
sagt hat! Er, behauptet das Johannes-Evangelium, würde mit Widerwillen
diesem Geschacher um Seelen und Menschen den Rücken gekehrt haben, –
und also hat er es getan! Er selber, Jesus, um es klar zu sagen, hat über-
haupt nicht getauft; auf dieser Ebene Johannes’ des Täufers und der Taufe-
rei der Jesusjünger ist ein Vergleich mit dem Mann aus Nazaret nicht mög-
lich. Nie hat Jesus sich an Riten festgemacht, um Menschen darauf
festzulegen. Wohl hat sich das Christentum sehr früh «sakramental» ge-
formt, – die Taufe wurde sogar zur formalen Eintrittsbedingung, um als
ein wirklicher Jünger Jesu in Erscheinung zu treten, doch das war durch-
aus nicht die Praxis Jesu selber. Nicht einmal das Grundsakrament aller
sieben Sakramente der Römischen Kirche stammt von Jesus selber, erklärt
das Johannes-Evangelium hier gleich in der Einleitung. Was da kirchendog-
matisch so über alles wichtig genommen wird, wie wenn das Heil der Welt
daran hinge, erscheint hier als ganz unwichtig; die entscheidende Frage
lautet vielmehr, wie man mit Jesus in ein inneres Gespräch kommt. Solange
man dabei bleibt: man hat die Religion quantifizierbar und garantierbar
im Rahmen eines undialogischen, weil ideologischen Wahrheitsanspruchs,
der einfach durch das Gefüge verwalteter Macht auf die Menschen herun-

191
tergedrückt wird, hat man von Jesus überhaupt nichts verstanden; man
vertreibt Jesus vielmehr immer von neuem – fort aus «Judäa».
Es ist dabei wieder nicht nur eine rein topographische Angabe, daß
Jesus auf dem Weg in seine Heimat (die doch unsere sein sollte), nach Ga-
liläa, quer durch Samaria ziehen muß. Wenn wir von Samaritern hören,
haben wir noch das Gleichnis des Lukas im 10. Kapitel in den Ohren (Lk
10,25-37). Da ist der Samariter die Gestalt einer vorbildlichen Menschen-
liebe, sozusagen der Tugendbock der Barmherzigkeit, der den Halbtoten
am Wege nicht liegen läßt, sondern seinen Weg unterbricht und alles dafür
einsetzt, ihn gesundzupflegen. Man ahnt bei dieser Erinnerung an ein
wichtiges Gleichnis Jesu nicht die Brisanz, die der Nazarener historisch in
diese Geschichte hineingelegt hat. Von Samaritern zu reden bedeutete in
seinen Tagen, wie schon bei der Erzählung von der Tempelreinigung erläu-
tert, den Erbfeind jedes ordentlichen, jedes orthodoxen Juden auf die
Bühne seiner Geschichte zu bringen. Die Samariter, die Bevölkerung des
sogenannten Nordreichs von ehedem, das bereits am Ende des 8. vorchrist-
lichen Jhs. unter dem Ansturm der Assyrer zusammengebrochen war,
haben sich nie ganz, auch religiös nicht, mit den Leuten im Süden, in
Judäa, gemeinsam gefühlt. Nachdem Anfang des 6. Jhs. auch der Süden,
Jerusalem, von den Babyloniern besetzt und seine Bevölkerung deportiert
worden war, machte man sich nach der Rückkehr aus der babylonischen
Gefangenschaft daran, den Tempel neu zu errichten, die heilige Stadt wie-
der aufzubauen und das Gesetz des Mose wieder einzusetzen; doch bei all
dem blieben die Juden unter sich; sie schlossen die Samariter aus. Diese
wiederum blieben treu den fünf Büchern Mose, der Thora, dem Gesetz,
aber sie schlossen sich nicht dem wiedereingerichteten Tempelkult an, sie
fügten sich nicht der Priesterherrschaft im Süden, sie hielten sich sozusagen
unabhängig. Historisch gesehen blieben sie stehen, traten sie auf der Stelle,
wurden sie in gewissem Sinn extrem konservativ. Aber ihr Zorn auf den
Tempel in Jerusalem, den sie von Anfang an nicht gewollt hatten, zu keiner
Zeit, nicht einmal unter Salomo, lieferte ihnen die Energie zur Selbstbe-
hauptung. In den Tagen Jesu streuten sie Leichenteile auf den heiligen
Platz, um ihn zu entehren und um jedem Juden einen Skandal zu bieten, –
so groß war der Haß zwischen den Samaritern und den Leuten in Judäa,
geschürt mehr als ein halbes Jahrtausend lang. Wenn Jesus also einen Sa-
mariter in seine Geschichte einführt, möglicherweise als ein Vorbild für ein
«richtiges Leben vor Gott», für die «größere Gerechtigkeit» (Mt 5,20),
dann will er nicht mehr und nicht weniger sagen, als daß der ganze Kult im
Tempel, daß der ganze Priesterdienst, Tiere zu schlachten für einen eifer-

192
süchtigen Gott, religiös null und nichtig ist. Es ist, erzählt er, möglich, daß
ein Priester Gott so koscher und so rituell richtig verehrt, daß er zu den
Menschen gar nicht mehr findet; doch das beweist nur, daß sein Gott
nichts weiter ist als ein ideologischer Popanz und daß die Priester in ihren
Ämtern ganz allein sich selbst zelebrieren. Gott dient das nicht, und den
Menschen dient es auch nicht. Ein Samariter indessen, der den Tempel
überhaupt nicht im Kopf hat, so ein antijüdischer Erzfeind womöglich, ist
frei genug, um außerhalb der ideologischen Zwänge menschliches Mitleid
gelten zu lassen. Er findet, nach dem Verständnis Jesu, Gott wirklich. Da
braucht’s keinen Tempel, – nur offene Augen, nur ein offenes Herz, nur
eine offene Hand; die tragen Gott. Das ist die Botschaft des historischen
Jesus.
Johannes hat daran scheinbar kaum eine Erinnerung. Für ihn ist Sama-
ria der Topos und Typos für ein gottloses Land. Wohl, daß darinnen noch
Spuren der Bibel zu finden sind, – Jakob, erinnert die Ortslegende, hat dort
gelebt; die Söhne Jakobs haben dort gesiedelt (Gen 48,22), manche Orts-
namen gehen bis in die Tage der Patriarchen zurück. Aber wie kann man
reden zu einem Volk, das von der Religion scheinbar nichts weiter mehr
weiß als die folkloristische Außenseite?
Nehmen wir diese Frage auf und machen wir uns ihre Problematik für
unsere Tage nur einmal recht deutlich. Wie können Eltern ihren Kindern
erklären, was Christentum ist? Es gibt dazu Gelegenheiten. Es gibt zum
Beispiel den Heiligen Nikolaus zu feiern am 6. Dezember; es kommt mit
aller Sicherheit der Heilige Abend, es wird Weihnachten sein; es wird das
Neujahr geben; es werden die Drei Könige kommen – die Kirchenfeste lau-
fen gewissermaßen durch die Zeit. Aber was von alledem läßt sich religiös
einem Kind noch vermitteln? Und was gar einem Erwachsenen? Man geht
in die Geschäfte, man sieht eine Menge Flitter, man verdient eine Menge
Geld, der Einzelhandel ist dankbar für die Gratisreklame, die Deutschen
konsumieren wie im Rausch und treiben damit die Konjunktur voran, –
eine Energiequelle für jede Form von Geldeinnehmen und Geldausgeben
erschließt sich, und das alles beruft sich nominell auf gewisse religiöse
Überlieferungen, doch erkennbar hat es damit nur entfernt noch zu tun.
Genau diesen Zustand des (religiösen?) Bewußtseins hat Johannes vor
Augen in Gestalt der Samariterin. Sie erklärt Jesus, daß der Platz, an dem
er sitze, die Quelle von Vater Jakob sei, einem ehrfurchtgebietenden Patri-
archen also. Von dem gibt es mithin ein Lebenselixier in Gestalt des Was-
sers, eine vorzügliche Kostbarkeit. Von ihm hat er getrunken und seine
Söhne, und die Frau vergißt nicht hinzuzufügen: auch sein Vieh. Alles ist

193
da gebannt ins ganz und gar Unmittelbare, ins Naturhafte; und mehr als
dies will nicht sein und soll nicht sein für diese Frau – und auch, wie es
scheint, auf seiten Jesu nicht. Er ist ermüdet vom Unterwegssein; er hat
Durst; das sind seine unmittelbaren Empfindungen; doch sonderbarer-
weise werden gerade diese Momente physischer Bedürftigkeit zu dem ge-
suchten Anknüpfungspunkt für ein Gespräch zwischen einem Mann und
einer Frau, zwischen einem Juden und einer Samariterin. Von Gott ist an-
fangs dabei gar noch nicht die Rede. Aber was wird in dieser «Einleitung»
menschlich geleistet! Was für Gräben werden da überbrückt! Die Frau sel-
ber wundert sich und spricht auf griechisch einen Satz, bei dem hinter
jedem Wort ein Fragezeichen zu setzen ist, so überrascht und erstaunt ist
sie: Wie? Du? Ein Jude? Von mir zu trinken bittest du? Von einer Frau?
Einer Samariterin?
Da werden wie selbstverständlich eine ganze Reihe von Tabuzonen
durchschritten, und die leise Ironie in der Sprache der Frau, im Vibrieren
ihrer Verwunderung, deutet an, wieviel an Menschlichkeit man braucht,
um die religiös kompakte Grenzziehung aufzusprengen. Für einen anstän-
digen Juden ist es nicht erlaubt, sich soweit herabzulassen, daß er als
Mann mit einer Frau ungeschützt ins Gerede kommt und sich selbst damit
fast ins Gerede bringt. Es ist ihm als Juden nicht verstattet, mit einer Sama-
riterin – in der Sprache des Kaiserreiches hätte man gesagt: – zu «fraterni-
sieren», mithin sie anzuerkennen als gleichberechtigten Menschen. Genau
das aber geschieht, und es ist bereits eine erste äußerst wichtige Lektion:
Wären wir auch nur imstande, auf der Ebene von Durst, Hunger und Mü-
digkeit uns einzufühlen in die Not eines anderen Menschen, so gäbe es
keine Grenzen mehr! Alles, was man uns beibringt: du bist ein Gläubiger –
du bist ein Ungläubiger, du bist ein Deutscher – du bist ein Sudanese, du
bist ein Katholik – du bist ein Protestant, all das erweist sich als bloßer
Spuk. Was es gibt, sind Menschen, die als erstes physiologisch empfinden
können. Sie haben Grundbedürfnisse; und diese Bedürfnisse haben sie alle
gemeinsam, Menschen wie Tiere. Allein das zu entdecken ist der Einstieg
in ein wahres Gespräch. Wer andere Voraussetzungen will als diese, wird
nicht auch nur einen Zentimeter religiöser Wahrheit im Leben eines ande-
ren erzeugen oder begleiten können.
So falsch wäre es daher nicht, den Menschen dabei zu helfen, in ihren
unmittelbaren Wünschen glücklich zu sein. Freilich deutet Johannes hier
bereits an, daß «Durst» noch viel mehr sein kann als Durst, er kann ein
Bild für ein geistiges Bedürfnis sein, aber es lassen sich transzendente Bil-
der nur formen, wenn man die Realität erst einmal zuläßt und für wirklich

194
nimmt; um Gott in Chiffren ins Gespräch zu ziehen, ist erst einmal die
Rede von durchaus kreatürlichem Verlangen. Die Antwort freilich, die
Jesus der Samariterin gibt, ist für sie eben dieser Spannung zwischen Ge-
genstand und Zeichen wegen nicht verstehbar; sie ist für niemanden ver-
stehbar, der diesen Text zum ersten Mal liest, und doch enthält diese Ant-
wort den ganzen weiteren Gang der Rede. Wenn du wüßtest, sagt Jesus,
um die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, –
du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser. – Es gibt also eine Gabe,
die Menschen einander schenken können, doch wenn sie diese Gabe einan-
der schenken, so liegt darin ein Hinweis auf etwas, das Gott uns schenkt;
was aber Gott uns schenkt, ist niemals eine Sache, niemals ein Gegenstand,
es ist immer eine Person, und zwar gerade die, die uns als wesentlich ge-
genübersteht, mit der unser Herz redet in all den Fragen und Einsam-
keiten. Sie ist das «Geschenk Gottes». Das Wasser aber, das lebendige, ist
an sich ein Motiv aus den Märchen oder aus der Poesie der Romantik:
Irgendwo fließt ein Quell, der wie ein Jungbrunnen ist; er erquickt die
Seele wie den Leib, er schafft unser Leben stets neu, er ist wie jenseits des
Alterns. Da wird etwas gefunden, mit dem wir so verwurzelt sind, daß es
uns schützend und begleitend durch die Zeit trägt. Doch deutlich wird
dabei der Unterschied und die Einheit, die in dem Wort Wasser zwischen
Begriff und Bild liegt. Was in den Märchen als ein magischer Gegenstand
gesucht wird, ist für den johanneischen Jesus von Anfang an gebunden an
die Form der Begegnung mit dem, der mit dir redet.
Auch diese neuerliche Umwandlung des Gegenständlichen ins Personale
kann die Samariterin noch nicht verstehen. Im Gegenteil, erneut ironisiert
sie, was sie da hört. Herr! sagt sie lächelnd, nicht einmal ein Schöpfgefäß
hast du, und der Brunnen ist tief. Sie spielt ihre Überlegenheit auf der
Ebene aus, an der sie sie besitzt. Auch darin aber liegt eine Nuance, die wir
nicht überlesen sollten, weil sie den Kontrast zu der Art markiert, in wel-
cher die offizielle Religion nach dem «Anknüpfungspunkt» für ihre «Mis-
sionsarbeit» oder für ihre «Neuevangelisierung» sucht. Zu «verkündigen»
ist für die verfaßte Form von Religion, die wir vor Augen haben, über-
haupt nur möglich unter dem Einsatz vieler Geld- und Machtmittel. Da
bedarf es einer Menge von «Schöpfquellen» und «Schöpfkellen», um den
Menschen etwas «aufzutischen», um ihnen etwas «zu geben», wie man
meint. In diesem Gespräch hier aber vertauschen sich die Rollen von
Geben und Nehmen vollständig. Wirklich gebend ist hier der Habenichts,
der auf die Hilfe des anderen angewiesen ist, – er braucht überhaupt
nichts, um von Gott zu reden, am wenigsten Macht, Geld und den Pomp

195
der Eitelkeiten! Ein Mann, der müde am Brunnenrand sitzt, wenn er nur
recht spricht in die Seele dieser Frau hinein, wird ihr Gott nahebringen, ja,
er wird in ihr selbst etwas freisetzen, das den Quell des Lebens nicht von
außen an sie heranträgt, sondern in ihr selber offenlegt.
Wir merken, daß nach wenigen Sätzen dieses Gespräch wirklich anfängt
zu sprudeln wie ein Wasser, dessen Wellen, vorangetrieben von einem
heißen, drängenden Wind, sich selbst fast überrollen. Gerade noch war die
Rede von einem Wasser, das lebt, da lautet der nächste Satz sinngemäß
schon: «Frau, du wirst es finden in dir selbst. Was ich dir zu geben habe als
ein Geschenk Gottes, besteht darin, daß in dir selbst etwas aufspringt, das
hinüberfließt in etwas Unzerstörbares, in eine Form von Leben, die dir nie
mehr genommen werden kann.» Auch diesen Satz versteht die Frau freilich
noch einmal auf ihre Art: Wäre es möglich, Wasser zu besitzen in dieser
Weise, so litte sie niemals mehr Durst, und das bedeutete, sie müßte nicht
Tag für Tag, womöglich in der Glut der Mittagshitze, aus dem Dorf Sychar
zur Jakobsquelle gehen, um mit einem Krug, schwer zu tragen auf dem
Kopf, das nötige Wasser in ihr Haus zu holen. Die Plage der täglichen
Mühsal wäre vorüber; ein artesischer Brunnen wäre gefunden, eine spru-
delnde Wasserleitung in der eigenen Kammer gewissermaßen. Wessen also
bedürfte man noch?
Es ist immer wieder die Frage, was für einen Zivilisations- und Kultur-
beitrag die Religion leisten kann, um den Menschen materiell zu helfen.
Diese Frage ist sehr dringlich, denn man kann von Gott nicht wahrhaft
reden, solange Menschen Durst und Hunger leiden, solange sie verdursten
und verhungern. Es gibt keine Gottesrede, die an diesem Problem sich vor-
beidrücken könnte. Auf der anderen Seite stimmt es nur um so mehr, was
der russische Dichter Fjodor M. Dostojewski in seinem Roman Der
Jüngling einmal gesagt hat: «Das ganze Geheimnis des Menschen besteht
darin, daß, wenn er gegessen und getrunken hat, er sich den Mund wi-
schen und fragen wird: Und was kommt jetzt?»2
Die Antwort, die der johanneische Jesus hier gibt, ist merkwürdig und
scheinbar unzusammengehörig. Sie drückt etwas aus, das wir zum Thema
Durst (und Hunger) vermutlich von der Weltreligion des Buddhismus am
tiefsten lernen können. Es war der Buddha, der unter dem Baum der Er-
leuchtung in Bodhgaya feststellte, wie sehr die Menschen sich im Rad der
Qual und der Mühsal drehen, und er erkannte, daß der Motor dafür der
Durst ist, die Trishna, die Lebensgier3. Immer wieder möchten Menschen,
daß ihr Mund, daß ihr Magen sich füllt, und immer wieder nur zieht sie’s
in die gleichen Kreisläufe hinein, welche die Natur ihnen vorschreibt, von

196
Wachen und Müdigkeit, von Hunger und Sättigung, von Begierde und Er-
füllung; immer mehr verklammern sie sich mit ihren Bedürfnissen in diese
Welt, pumpen sie die Erde aus wie Süchtige und werden doch am Ende nie-
mals befriedigt. An dieser Stelle findet sich die Botschaft des Johannes-
Evangeliums vorzüglich kommentiert in einer der weisesten und gütigsten
Religionsformen, denen wir in unseren Tagen begegnen können.
Da brauchen wir offenbar die ostasiatische Weisheit, um auch nur einen
einzigen wichtigen Satz über den Durst aus dem Munde einer Samariterin
in der Bibel zu verstehen. Der johanneische Jesus aber, nicht anders als der
Buddha es tat, nimmt diese Frau förmlich bei der Hand, indem er ihr Den-
ken sprunghaft auf einer anderen Ebene in Frage stellt. «Geh», sagt er,
«hole nicht Wasser, sondern ruf deinen Mann.» Das soll doch wohl heißen:
«Frau, selbst wenn du Wasser, wie du es verstehst, zum Trinken hättest,
äußerlich-materiell, in Hülle und Fülle, wäre dein Durst dann wirklich ge-
stillt? Wonach dürstest du wirklich? Was suchst du in deiner Sehnsucht?
Wenn du genügend gegessen und getrunken hast, wird nicht dann dein
Verlangen nach Liebe erst wirklich groß? Ist das, was dich sättigen und
deinen Durst stillen könnte, nicht in Wahrheit die Suche nach einem
Gegenüber, das dich in die Arme schließt, das dich meint und liebt und be-
gleitet und will?»
Man kann das seelische Bedürfnis nach Begegnung und Liebe ins
Äußere verschieben. Dann wird es wie eine Droge dahin wirken, das, was
eigentlich gesucht wird, suchtartig an einem Surrogat zu befriedigen; und
doch wird man nur um so deutlicher spüren, daß ein Mensch Hunger und
Durst nach einem anderen Menschen hat. Viel stärker noch als die Be-
gierde des Körpers nach Nahrung ist dieses Verlangen der Seele nach
Liebe. Die samaritanische Frau aber muß jetzt gestehen, was ihre Wahrheit
ist: keinen Mann hat sie.
An dieser Stelle lernen wir etwas, das zu dem entscheidenden Wende-
punkt dieses ganzen Gesprächs wird. Jesus greift verstärkt auf, was die
Frau sagt: Richtig hast du gesagt: Einen Mann habe ich nicht. Damit
unterstreicht er, daß in dem, was die Frau da mitteilt, ein Moment ihrer
Selbsterkenntnis liegt, das sie persönlich bemerken muß; und dieser Hin-
weis ist entscheidend. Immer ja verhält es sich in solchen Gesprächen, die
wir tief genug miteinander führen, so, daß der andere eigentlich alles sagt,
was ihm helfen könnte; er aber überhastet es, er überredet es, er merkt es
gar nicht selbst. Die ganze Hilfe besteht dann darin, dem anderen keine
fremde Wahrheit aufzuoktroyieren, sondern ihm dazu zu helfen, daß er die
Wahrheit selber erkennt, die er äußert. So sagt Jesus hier: Richtig hast du

197
gesagt: Einen Mann habe ich nicht. Und er erklärt’s: Fünf Männer nämlich
hast du gehabt, und jetzt hast du einen, der nicht dein Mann ist. Da hast
du Wahres gesagt.
Diese Frau hat in ihrer Sehnsucht offenbar in ewigen Enttäuschungen
sich an einen Mann nach dem anderen geklammert, ratlos, rastlos, nie zu-
frieden. Die Moralisten werden ihr naserümpfend sagen, daß sie nunmehr
gar eine Ehebrecherin oder eine billige Konkubine geworden sei; sie hat
einen Mann, der nicht der ihre ist, und man wird hinzufügen dürfen: er
wird ihr nie gehören, er darf ihr gar nicht gehören. Es ist ein durch und
durch verlorenes Leben, auf das sie da schaut. Aber das zu erkennen wird
nun das Wichtige: Man kann im Hunger nach Menschen unersättlich sein
und findet doch nie zu sich selbst, indem man das Eigene in den anderen
verlegt; man sucht in seiner Liebe, was im eigenen Herz aufsprudeln
müßte. Man will vom anderen das Leben empfangen, das man selbst in die
Hand nehmen müßte. Für diese Frau ist das eine entscheidende Erkenntnis:
Es gibt eine Überforderung des Menschlichen. Es ist möglich, sich an einen
anderen Menschen zu klammern, wie ein Ertrinkender an eine Planke, die
doch viel zu schmal und zu dünn ist, um über das Wasser zu tragen. Wie
findet ein Mensch Grund unter seinen Füßen? Wie findet er Ruhe und Halt
in all seinem Suchen am Abgrund? Wie kann ein Mensch einen Menschen
stützen und schützen, wenn doch alle gleichermaßen Haltlose und Hilflose
sind?
Es ist an dieser Stelle, daß die Frau ihrerseits das Thema zu wechseln
scheint. Die Suche nach Liebe, – das, so sieht sie, zieht sich wie ein roter
Faden durch ihr Leben. Aber was sie soeben erlebt hat, ist etwas für sie
ganz Neues: aus ihren eigenen Worten geht die Erklärung ihrer ganzen
Vergangenheit, ihres Leids, ihrer Tragödie hervor. Und dieser Schritt der
Selbsterkenntnis wird nun der Wendepunkt zu einem im eigentlichen Sinne
religiösen Gespräch. Einen Menschen, der dazu verhilft, daß ein anderer
sich selbst erkennt, den mag man als einen Gottesmann, als einen Prophe-
ten, bezeichnen und genau so redet diese Frau hier Jesus an: Herr, ich sehe:
Ein Prophet bist du. Das ist ein zentral religiöser Begriff; doch was ver-
steht die Frau darunter?
Kaum geht die Rede von Religion, fällt die Samariterin erneut zurück in
das, was man rein äußerlich für «Religion» nimmt. Da ist der ewige Wi-
derspruch zwischen Samaritern und Juden: in Jerusalem glaubt man anders
als in Samaria, auf dem Berg Zion anders als auf dem Berge Garizim; ver-
schiedene Völker haben verschiedene Götter, haben verschiedene Formen
der Anbetung, haben verschiedene Orte ihrer religiösen Zusammenkünfte.

198
Immer wieder scheint, wenn man sich umblickt, Gott eine lokale Größe zu
sein, grad dazu bestimmt, den Gruppenegoismus eines bestimmten Volkes,
einer bestimmten Überlieferung, zu legitimieren, zu rationalisieren, zu ver-
absolutieren. So diese Frau. Sie ist vollkommen hilflos gegenüber dem Ge-
rede der Theologen und all der scheinbar Wissenden, die es ihr so beige-
bracht haben. Ihre Frage ist mehr als berechtigt, und sie verlangt eine
Antwort: «Ihr sagt, in Jerusalem muß man sich verneigen vor Gott; wir
aber tun das nicht, wir verehren Gott in Samaria; und was von beidem ist
nun richtig, du Prophet, du Gottesmann, du Wissender sogar um mein
Leben?»
Es ist Jesus, der für das Johannes-Evangelium in einer unglaublichen
Dichte jetzt sich selbst auszusprechen beginnt. Nun ist der Moment reif,
nun ist die Stunde da. Jesus leugnet nicht, auch nicht im Johannes-Evange-
lium, daß die Rettung – buchstäblich dieses Wort steht da – die Rettung
des Menschlichen (nur) von den Juden her kommt, was soviel heißt wie:
aufgrund der Juden, auf Grund ihrer Überlieferung; dieser Grund ist die
Art, wie Jesus als Jude von Gott zu sprechen gelernt hat: Man darf sich
verneigen im Gebet vor dem Vater. Das ist sein Name für Gott, in diesem
Vertrauen ist Jesus ganz jüdisch. Diese Beziehung des Vertrauens existiert
aufgrund der jüdischen Religion. Nur muß man sie so nehmen, daß man
aufhört, unter den Augen dieses Vaters zu trennen zwischen Juden und Sa-
maritern, zwischen Juden und Nicht-Juden, zwischen Erwählten und Hei-
den. Ist Gott ein Vater, steht er allen Menschen gleich nah; ist er eine Mut-
ter, wie wir auch sagen könnten, schließt er keines seiner Kinder aus,
sondern er möchte, daß sie selber sich erkennen in der Güte seiner Liebe
und ihre Würde wahrnehmen unter dem Leuchten des Glücks seiner
Augen. Sich niederzubeugen vor diesem Vater bedeutet nicht, sich zu
demütigen. Er ist der einzige, vor dem es sich lohnt, sich zu verneigen.
Juden wissen dies eigentlich, sie müßten es wissen, aber auch die Samariter
tun es genau so. Da ist nicht einmal der Unterschied zwischen dem Belehrt-
sein und dem Unbelehrtsein entscheidend, das Tun selber zählt – ob es exi-
stentiell zur Wahrheit wird, ob es innerlich wird, oder ob es äußerlich ver-
festigt bleibt.
In solcher Weise wird man an dieser Stelle die Worte «in Geist und
Wahrheit» (Unverstelltheit) verstehen dürfen. Gewiß, wenn von Geist und
Wahrheit die Rede ist, wird das Theologische Lexikon darüber sagen,
damit gemeint sei das Göttliche selber, das Offenbarwerden Gottes, die Er-
mächtigung durch Gott; aber was ist das Offenbarwerden Gottes anderes,
als daß ein Mensch selber zum Offenbarungsort des Göttlichen wird und

199
darin wahr mit sich selbst? Nichts mehr kommt da von außen, sondern
wie im Gespräch mit Nikodemus (Joh 3,5.6) ist sein eigener Atem das, was
von Gott her zu seinem Leben wird. Die innere Überzeugung, nicht mehr
ein äußerer Vortrag ist da der Grund, etwas zu erkennen, vor dem sich zu
verneigen den Menschen erhebt zu seiner eigentlichen Größe.
Auch das sah Dostojewski vielleicht unter allen Dichtern des 19. und
womöglich des 20. Jhs. am besten: der Mensch muß etwas haben, das er
anbeten kann, das er verehren kann, das über ihm ist, um sich daran auf-
zuranken und aufzuheben4. Erst vor der Größe dessen, was dem Menschen
gegenübersteht, definiert sich des Menschen Größe selbst.
Dann aber ist jede Grenzziehung, jede lokale Differenz zwischen Zion
und Garizim, zwischen Judäa und Samaria (zwischen Jerusalem und
Mekka, zwischen Rom und Wittenberg usw.) vollkommen nichtig. Indem
ein Mensch sich findet in seiner Wahrheit, indem er sich klar wird in dem
Leid seiner Vergangenheit und indem er offen wird in seiner Hoffnung,
wird er auch zugleich fähig, den zu begreifen, dem er’s verdankt.
Die Frau, noch ein letztes Mal, definiert, wie Religion auch verstanden
werden kann und wie sie speziell im Judentum bis heute angetroffen wird.
Da ist es viel, zu wissen, daß das gegenwärtige Leben uns nie erfüllen wird,
daß es ein Unbehagen und ein Nie-zufrieden-Sein mit allem gibt, was uns
umgibt, da ist die Perspektive in die Zukunft entscheidend dafür, die Ge-
genwart zu ertragen. Festgemacht ist das in der Religion der Bibel in dem
Glauben an das, was kommen wird, an den Messias, an die Königsgestalt
des Menschen. Irgendwann wird sie in diese leiddurchfurchte Geschichte
eintreten. Fast resignierend sagt das die Frau: «Ich weiß, daß das sein
kann: Menschen leben geistig und wahr in der Gegenwart Gottes.» Aber,
fügt sie zwischen den Zeilen hinzu: «Davon trennt mich ein unendlicher
Abstand; das wird sein, wenn ich nicht mehr bin; da kommt etwas und
geht doch an mir selber vorbei.»
Es ist möglich, Hoffnung zu haben, ohne zu glauben, ohne Glück zu
empfinden in diesem Leben; man spannt sich aus nur noch in ein ganz
anderes, in ein unerreichbares, in ein wie von fern nur ersehntes Ziel. Reli-
gion, wie Jesus sie versteht, ist indessen nicht Zukunft, sondern Gegen-
wart, gebunden an das, was jetzt geschieht, im Augenblick heute, unbe-
dingt in Gleichzeitigkeit. Da ist der, mit dem die Samariterin redet, der
Ort, an dem sich alles klärt. Nie ist Jesus, mit anderen Worten, eine Größe
der Vergangenheit oder eine Größe der Zukunft; entweder er wird gefun-
den unmittelbar da, wo wir stehen, in jedem Augenblick neu, oder er war
nie und er wird niemals sein!

200
Wenn es zur konventionellen Dogmatik ein Gegenbild gibt, dann lebt es
hier. Belehrt in der dogmatischen Religion werden wir, daß Jesus einmal
gekommen ist vor zweitausend Jahren und daß er wiederkommen wird am
Ende der Tage, niemand weiß, wann; dazwischen aber bedürfen wir der
Vermittlungsinstanzen, die uns in die Vergangenheit und in die Zukunft
hinübergeleiten zu Christus. Solche Lehren werden zur Begründung der
Kirche ehrwürdig überliefert, doch mit ihnen stiehlt man den Menschen
ihr gegenwärtiges Leben. Johannes sagt deutlich: im Gespräch jetzt formt
sich der Ort, an dem erkannt wird, was Jesus bedeutet.
Die Folge dieser Erkenntnis für die Frau ist enorm: Sie läßt das Wasser-
gefäß stehen, – es ist unwichtig jetzt; sie läuft nach Sychar; sie sagt den
Leuten: Dort! Seht einen Menschen, der hat mir alles gesagt, was ich getan
habe! Ob der nicht der Christus (der Gesalbte) ist? Inzwischen kommen
die Jünger; sie wundern sich, doch sie stellen nicht in Frage, daß Jesus mit
einer Frau redet; was er da sucht, fragen sie sich, aber nicht ihn. Immerhin
laden sie ihn ein, zu essen, doch nur, um von ihm genauso über das Brot
belehrt zu werden wie die Frau über das Wasser: da ist ein Brot, das erfüllt
den Menschen innerlich mit Sinn, mit Beauftragung, mit Wert und mit
Glück; es ist ein Brot, das gegessen wird immer dann, wenn ein Mensch
spürt, wofür er wirklich da ist – der Wille meines Vaters, dessen, der mich
gesandt hat, meint Jesus. Es sind Gedanken, die in der Q-Quelle im Ge-
spräch in der Wüste bei der Versuchung durch den Teufel von Jesus
geäußert werden: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von
einem jeden Wort, das aus dem Munde Gottes geht.» (Mt 4,4; Lk 4,4) Ein
ähnlicher Gedanke klang bereits im Johannes-Prolog an (Joh 1,13) und erst
recht in der Erzählung vom Weinwunder von Kana (Joh 2,9); ja, es ist
durchaus zutreffend, dieses Gespräch am Jakobsbrunnen zu lesen wie
einen johanneischen Midrasch auf jene Verwandlung von «Wasser» in den
«Wein», der Jesus selbst ist (Joh 15,1).
Da ist es also möglich, innerlich und äußerlich erfüllt zu leben und in
der Gegenwart anzukommen. Da beugen wir uns vor einem Gott, der
möchte, daß es uns gibt. Immer werden wir dabei erleben, daß alles We-
sentliche zum Greifen nahe, erntereif ist. Nicht selber haben wir dafür die
Voraussetzungen geschaffen, sondern wir treten immer nur ein in etwas,
das es schon gibt; aber zu erleben, daß unsere Arbeit sich lohnt und daß
ihr Ertrag zu uns zurückkehrt, – welch eine Freude! Es ist das Glück
Gottes selbst, das zu erleben. So möchte er. Deshalb auch sendet Jesus
seine Jünger mit den Worten aus: Hebt doch eure Augen auf; «seht rich-
tig», könnte man auch formulieren, «nicht auf die Felder, sondern in die

201
Herzen der Menschen!» Es ist ein Wort voller Vertrauen. Wer sagt uns
denn, daß all die Menschen Ungläubige sind, Abständige sind, wie Kardi-
nal Karl Lehmann vor Jahren bei der Bischofskonferenz in Fulda erklärte?
Es gebe, meinte er, keine Kirchenkrise, es gebe eine Glaubenskrise, es gebe
ein Neuheidentum. Und Theologen, die ihm bei der Hand waren, bekamen
es fertig, zu sagen, es gebe eigentlich auch keine Glaubenskrise, es gebe
eine Gotteskrise; alles also sei noch viel abgründiger als gedacht. Das ist
soviel, wie daß man Menschen, die Durst haben, statt ihnen das Wasser
vom Brunnen zu bringen, erläutert, daß man zweihundert Meter unter der
vorhandenen Quelle graben müsse, um an das Wasser zu gelangen. In
Wahrheit kennt Gott keine Krisen. Was wir wirklich erleben, ist, daß es
eine Krise der kirchengemachten Gottesbilder gibt, und daran freilich zer-
brechen die Menschen, bis dahin, daß sie aufhören, noch irgend etwas zu
glauben. Vergiftetes Wasser wollen sie nicht länger trinken. Aber in Geist
und Wahrheit sich zu verneigen und reif zu werden für das Glück, – das ist
das Geschenk dessen, der uns gesandt wurde von Gott.
Wie verkündet man Religion? lautete die Eingangsfrage. Die Leute in
Sychar erklären schließlich der Frau: Jetzt haben wir selber gehört, und wir
glauben nicht mehr – man kann nicht sagen, deines Wortes wegen, son-
dern sehr milde übersetzt: – deiner Rede, genauer gesagt, deiner Rederei
wegen. Sinngemäß sagen die Samariter zu der Frau: «Es ist ja schön und
gut; deine Vergangenheit hat er dir erklärt, und dein Leben ist dadurch dir
selbst zurückgegeben worden. Das ist wunderbar. Aber wir selber müssen
hören, um selber zu glauben.» Jeder, der in Fragen der Religion vermitteln
möchte, wird erleben, daß er irgendwann zurücktreten muß, um sich über-
flüssig zu machen.
Vor Jahren erklärte ein Pfarrer auf seine Weise, wie Gott mit den Men-
schen redet. Er hatte es gelernt in der scheußlichen Zeit des sogenannten
Zweiten Weltkrieges als Soldat am Kuban-Brückenkopf. Er war auf der
Schreibstube beschäftigt und mußte die Schwerverletzten in der Verbands-
stube mit Namen, Diagnose und Krankheitsverlauf registrieren. Er sah mit
eigenen Augen, wie die deutsche Soldateska, wie die Großdeutsche Wehr-
macht, russische Dörfer «säuberte», wie sie um sich schoß auf alles, was
sich bewegte, und wie sie die Schwerverletzten auf der Straße liegen ließ,
schreiend und unversorgt; er wagte dem Befehlshabenden zu sagen, daß
sich die Deutschen beim Vormarsch in Rußland von Dorf zu Dorf auf diese
Weise nur in einen immer festeren Widerstand hineinfressen würden; wenn
sie schon so täten, sollten sie wenigstens die Schreienden von der Straße
holen, – ihr Ruf würde bis nach Moskau hallen. An einem Abend nun

202
hatte er im Dorf ein junges Mädchen kennengelernt und in seinem gebro-
chenen Russisch mit ihr über etwas zu reden versucht, das ihm aufgefallen
war. In der kleinen Hütte hatte er eine russische Ikone über dem Ofen der
Schlafstatt gesehen, und nun fragte er, wie denn das komme, sagten doch
die Bolschewiki, daß es keinen Gott gebe. Das Mädchen antwortete: «Die
Bolschewiki lügen.» – «Ja aber warum?» Und sie, um ihm die schwere
Sprache des Russischen nicht zuzumuten, zeigte über sich auf die Sterne
und auf den Fluß, dann auf sich selbst, «und», sagte sie, «Mutter hat ge-
sagt.» – «Ich», erklärte dieser spätere Pastor, «habe ein besseres Glaubens-
bekenntnis niemals vernommen. Es gibt das Zeugnis der Sinne: die Schön-
heit des Himmels, die Majestät der Welt; es gibt das leise Zeugnis des
eigenen Herzens; und es gibt die Sprache der Menschen, die wir am mei-
sten lieben; und kommen diese drei zusammen, bezeugt sich alles, wovon
die Menschen leben und wofür sie sind.»

203
Joh 4,43-54: Geh, dein Sohn lebt
43Nach den zwei Tagen aber ist er weggegangen von dort nach
Galiläa (Mt 4,12). 44Selber nämlich hat Jesus behauptet: Ein
Prophet in seiner eigenen Vaterstadt – Anerkennung findet er
nicht (Mt 13,57)! 45Als er nun nach Galiläa kam, nahmen ihn
die Galiläer auf, alles hatten sie ja gesehen, was er getan hatte
in Jerusalem beim Fest (2,23), denn auch sie selber waren zu
dem Fest gekommen. 46Gekommen ist er nun wieder nach Kana
in Galiläa, wo er das Wasser zu Wein gemacht hatte (2,9).
Und da war ein königlicher Beamter, dessen Sohn krank war, –
in Kafarnaum. 47Der, als er hörte, Jesus sei gekommen, aus
Judäa nach Galiläa, ist er losgegangen, zu ihm, und bat, daß
er hinabsteige und heile: von ihm den Sohn, drohe er doch zu
sterben. 48Gesagt hat da Jesus zu ihm: Wenn ihr nicht Zeichen
und Wunder seht, nein, nicht zum Vertrauen gelangt ihr (2,18;
1 Kor 1,22)! 49Sagt zu ihm der königliche Beamte: Herr, steige
hinab, ehe es stirbt, mein Kindlein! 50Sagt ihm Jesus: Geh, dein
Sohn lebt! Vertraut hat der Mann dem Wort, das ihm Jesus ge-
sagt hat – er ging! 51Doch noch während er hinabstieg, kamen
seine Knechte ihm entgegen und sagten, sein Kind lebe! 52Da
suchte er die Stunde von ihnen zu erfahren, in welcher er Besse-
rung fand. Sagten sie ihm: Gestern, zur siebten Stunde (ein Uhr
mittags), hat ihn verlassen das Fieber. 53Da erkannte der Vater,
daß es zu eben der Stunde war, in der zu ihm Jesus gesagt hatte:
Dein Sohn lebt. Und zum Vertrauen fand er und sein ganzes
Haus. 54Dieses aber erneut: als zweites Zeichen tat Jesus es
(2,11), nachdem er gekommen war aus Judäa nach Galiläa.

Unmittelbar nach dem Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin am


Jakobsbrunnen, das sich als ein langer Dialog mit vielen Schritten auf dem
Weg zu einem tieferen Vertrauen und zu einem neuen religiösen Bewußt-
sein erwiesen hat, beginnt, nach einigen Rückblicken, die Geschichte einer
Heilung, von der Johannes im 4. Kapitel seines Evangeliums erzählt.
Nach einem Bild des Propheten Ezechiel (Ez 1,5 ff.) liebt man es von
alters her, sich die vier Evangelisten in bestimmten Tiergestalten vorzu-
stellen. Johannes wird dabei verglichen mit einem Adler, und das nicht zu
Unrecht. Diese schweren, großen Raubvögel würden ihren Energiehaushalt
bei weitem überfordern, wenn sie weite Strecken mit eigenem Flügelschlag
zurücklegen sollten. Sie ziehen es daher vor, in den Wärmezonen über
Land, über sonnenbeschienenen, offenstehenden Waldflächen und Lich-
tungen, oder an den Hängen der Gebirge von den aufsteigenden Warmluft-
massen, von der Thermik, sich tragen zu lassen. Und so sieht man sie, wie
sie in immer höher sich windenden Spiralen ohne einen einzigen Flügel-

204
schlag bis in die Wolken emporschweben. Der Vergleich trifft. Das Johan-
nes-Evangelium, wie wenn es von einer unsichtbaren Kraft wie schwerelos
emporgezogen würde, mit der Kunst begabt, sich in immer dem gleichen
Aufwind, geboren aus Wärme und Licht, zu halten, kreist über stets iden-
tischen Themen, fällt mitunter ab, beginnt wieder von vorn, und immer
neu überstreicht es dieselben Gedanken, ähnliche Konflikte, übereinstim-
mende Lösungsansätze. Von daher darf es uns nicht wundern, daß Johan-
nes hier, noch ehe er von der Heilung eines Juden erzählt, jetzt schon, im
4. Kapitel, den Blick noch einmal zurückkreisen läßt.
Die Erzählung beginnt damit, daß Jesus sich in Samaria aufhält und sich
nun zurückbegibt nach Galiläa. In diesem Zusammenhang besteht eigent-
lich kein Grund, der Vorkommnisse im Jerusalemer Tempel Erwähnung zu
tun, die zwei Kapitel zuvor berichtet wurden; noch weniger Anlaß besteht,
eines der Worte aus den synoptischen Evangelien aufzunehmen – aus Mar-
kus 6,4 –, wo Jesus mit Blick auf seine Heimatstadt Nazaret erklärt: Kein
Prophet gilt irgend etwas in seinem eigenen Vaterhaus, in seiner eigenen
Vaterstadt. Warum tut Johannes das und fügt noch die Erinnerung an die
Hochzeit zu Kana hinzu, bei der Jesus Wasser in Wein verwandelte?
Man muß diese «Anklänge» zusammen nehmen wie ein Musikstück, das
sein Thema sucht und nach und nach auskomponiert; im Johannes-Evan-
gelium setzt dieses Thema der «Unverborgenheit» Gottes sich jetzt fort in
der Heilungsgeschichte des «Kindleins» eines Königsbeamten am Hofe des
Herodes. Da sollen es, nach johanneischer Auffassung, die Galiläer sein,
die zweierlei in eins sind: ablehnend im engsten Raum der Herkunft Jesu
selbst, im Raum Nazaret, dann aber geradezu begeistert von seinem Auf-
treten im Süden, in Jerusalem, wo sie aus Festtagsanlaß zu Zeugen wurden.
Wessen?
Nun, eben der Tatsache, daß Jesus dort gleich bei seinem ersten Besuch
im Heiligtum die Peitsche nahm und aus dem Tempel die Händler und
Geldwechsler vertrieb und Protest einlegte gegen den Schacher im Namen
Gottes zur Ausbeutung von Menschen (Joh 2,13-25)! Die Tempel im Alter-
tum, wie schon erläutert, waren unter anderem das, was sie zum größten
Teil auch heute noch sind: Schatzhäuser, in denen man unter heiligen Vor-
wänden den Menschen das Geld aus der Tasche ziehen konnte, ja, mußte.
Nach Jerusalem mußten alle Juden ihre Tempelsteuer entrichten, weit
strenger, als alle Katholiken heutigentags ihren «Tempel» finanzieren, wel-
cher steht in Rom. Alle möglichen theologischen Methoden gibt es, diese
Praktiken zu begründen, aber im Sinne Jesu im Johannes-Evangelium gibt
es dafür keinen einzigen Grund. Gott will nicht, daß man in seinem

205
Namen sich bereichert, daß man eine Priesterschaft – wohldotiert – ein-
richtet und einen Ritualdienst magischer Vermittlungen unterhält. Das
alles bringt den Menschen Gott nicht nahe, sondern entfernt die Menschen
von Gott, indem der Abgrund der Angst, der Abhängigkeit bei all den kul-
tischen Veranstaltungen ausufernd groß wird. Die Leute in Galiläa waren
in den Augen derer im Süden, der Judäer, nie so ganz fromme Juden,
schließlich lebten sie schon im Einzugsbereich des ehemaligen Nordreichs;
richtig orthodox, wirklich fromm fand man sich im Süden, in Judäa. Aus
Nazaret – kann da was Gutes sein? fragte am Anfang des Johannes-Evan-
geliums bereits Natanaël (Joh 1,46). Galiläa also gilt als religiös unzuver-
lässig, doch gerade dorther kommt Jesus, und in den Augen seiner unmit-
telbaren Landsleute, aller derer, die wie er den galiläischen Dialekt des
Aramäischen reden, hat er etwas Großartiges getan: Er hat die religiöse
Relativierung des Jerusalemer Tempels mitbegründet durch seine mutige
Tat. Darin erkennen sie ein Stück von sich selbst wieder, darin ist er für sie
prophetisch.
Aber wie nun, wenn man erkennen müßte, daß Propheten nicht irgend-
wann wie Kometen über den Himmel ziehen, um drohend irgendwo nie-
derzugehen, sondern daß das, was «prophetisch» genannt wird, eine Auf-
forderung enthält, im eigenen Leben sich genau so zu verhalten, daß es
zwischen dem Gewöhnlichen und dem Ungewöhnlichen keine Trennung
gibt? Dann beginnt das Problem, das Jesus historisch wohl schon bei sei-
nen eigenen Angehörigen, bei seinen eigenen Dorfgenossen, erlebt haben
wird. Es ist schwer, aus dem Neuen Testament jene Szene im 3. Kapitel des
Markus-Evangeliums zu tilgen (3,20-21), bei der Maria und die Brüder
Jesu kommen, um den zum Propheten sich Aufspielenden vor dem Zugriff
der Jerusalemer Behörden fast zu retten, denn schon erklären die Orthodo-
xen, nur im Namen des Obersten der Teufel könne Jesus die Wunder der
Heilung verrichten; auf Teufelspakt steht die Todesstrafe; besser daher,
wenn man Jesus im Privatgefängnis des eigenen Zuhauses als einen Gei-
steskranken einsperrt: «Er ist von Sinnen», – er ist verrückt geworden; das
ist historisch die Diagnose der eigenen Brüder und der Mutter Jesu über
den Zustand des Mannes aus Nazaret.
Und wie antwortet Jesus darauf?
Er stellt sich hin und sagt: «Wer sind denn meine Mutter, meine Brüder,
meine Schwestern, außer denjenigen, die verstehen, worum es geht. Die
stehen mir nahe.» (Mk 3,31-35) Da geht es nicht mehr um Familienbande,
sondern um eine innere Zusammengehörigkeit, um ein Leben aus der glei-
chen Glut. Aber wie will man das all denen verständlich machen, die es

206
einem übelnehmen, daß man an ihrer Seite aufgewachsen ist, in denselben
Gassen, unter demselben Himmel, in derselben Sprache, auf demselben
Marktplatz, und nun ganz neue, unerhörte Einsichten vorträgt und es
ihnen sogar zumuten will, mitzugehen? Ob man will oder nicht, es liegt ein
Vorwurf darin, daß man selbst nicht immer schon die Dinge genau so ge-
sehen hat; also wird die normale Antwort lauten, daß das, was man immer
schon gewußt hat, halt das Gültige sei und daß die Neuerungen gefährlich,
anmaßend, provokativ, eben eine Verrücktheit darstellten, die man unter
Dorfzensur halten müsse. Kein Prophet gilt viel in seiner Vaterstadt, das
heißt, er gilt nach hebräischer Sprachlogik gar nichts. Die Alternative be-
stünde darin, Gott zu finden gerade im Gewöhnlichen, im Vertrauten und
gleichzeitig im unerhört Freien, im Aufbruch zu einer neuen Welt. Nur so
kämen Tradition und Vision kreativ zusammen; doch wo wäre das er-
wünscht?
Ist diese Fragestellung die rechte Vorbereitung, so versteht man Johan-
nes, wenn er an das Geschehen in Kana erinnert, einem kleinen Dorf nord-
westlich des Sees von Gennesaret, wo Jesus bei einer Hochzeit – bei der
Feier wieder von etwas ganz Normalem – etwas absolut Unerhörtes ge-
wirkt hat: aus Wasser wurde Wein, aus Menschenwille Gotteswille (Joh
2,1-12).
Diese Umwandlung von dem scheinbar so Wertlosen in etwas überra-
schend Kostbares ist das Thema offenbar der Melodie, die sich bereits ein-
gespielt hat, noch ehe wir nun die Geschichte von der Heilung des Sohns
eines königlichen Beamten in Kafarnaum hören sollen. Es ist eine Ge-
schichte, die das Johannes-Evangelium aus seiner Wunderquelle, als zwei-
tes Zeichen, wie es selber sagt, übernimmt. Die Geschichte hat ihre Paral-
lele; sie wird uns bei Matthäus (8,5-13) und Lukas (7,1-10) gleichermaßen
überliefert. Auch dort spielt sie in Kafarnaum, einer Ortschaft, von der
Matthäus sich sogar ausmalt, Jesus habe dort eine feste Wohnung besessen
(Mt 4,13). Jedenfalls scheint dieses kleine Dorf unmittelbar am See von
Gennesaret eine Zeitlang der Lieblingsaufenthaltsort Jesu gewesen zu sein.
Statt eines königlichen Beamten freilich hören wir ursprünglich bei Mat-
thäus und Lukas von einem römischen Hauptmann und seinem «Knecht»,
und Matthäus wird die Geschichte im 8. Kapitel sogar zu einem Beispiel
dafür ausbauen, daß die Heiden, die Römer, womöglich eher zu der Bot-
schaft Jesu gelangen als die sogenannten Juden, als die Vertreter des auser-
wählten Volkes. So hat Matthäus es erlebt: Man hat Jesus getötet, man hat
diejenigen, die an seiner Seite einen neuen Weg zu Gott, zu sich selbst und
in die Welt zu finden meinten, nach und nach ausgegrenzt und ausge-

207
stoßen. Wie dem Meister selbst so geht es seinen Jüngern (Mt 10,25), aber
bei den sogenannten Heiden im hellenistischen Raum beginnt man zu ver-
stehen, was für eine neue Bewegung sich dort bildet. Kein Wunder also,
daß Matthäus versucht, aus einem römischen Hauptmann ein Vorbild des
Glaubens zu gewinnen.
Für das Johannes-Evangelium ist das alles schon kein Problem mehr; es
redet zu Menschen, denen die Juden so fremd sind, daß man ihnen ihre
Gebräuche, Einrichtungen und Ansichten eigens erklären muß. Der «Anti-
judaismus» im Johannes-Evangelium ist deshalb fast schon reaktionär, die
Frage der Differenz von Juden und Heiden jedenfalls stellt für die Adressa-
ten dieses Evangeliums kaum noch das Problem dar. Um so bemerkenswer-
ter bleibt es: bei Johannes geht es um einen königlichen Beamten, und es
geht nicht um einen Hauptmann, auch nicht um seinen «Knecht», es geht
um den Sohn dieses Mannes, – auch das im Unterschied zum 8. Kapitel bei
Matthäus. Man könnte einen Moment lang fragen: Na ja, kommt es dar-
auf an? Nun, diese Abweichungen zeigen uns etwas, das für das Verständ-
nis des johanneischen Jesus nicht unwichtig ist. Wohl, ob von einem
Knecht gesprochen wird oder von einem Sohn, kann sich ergeben durch
einen bloßen Übersetzungsfehler. Hebräisch «na‘ar» heißt eigentlich «der
Unmündige», derjenige, dem man mit Befehlen etwas sagen muß. Das
kann ein Kind, ein Junge sein, es kann aber auch ein Knecht, ein Sklave
sein. Im Deutschen gibt es kein brauchbares Wort, um diese Doppeldeutig-
keit wiederzugeben, außer man redet von dem Burschen. Ein «Bursche»
kann im Deutschen ein junger Mann sein, aber auch derjenige, der einem
Befehlsgeber zugeordnet ist; ein Bursche ist ein Junge oder ein Laufjunge.
Das Johannes-Evangelium hat zwischen beiden Möglichkeiten sich klar
entschieden: es geht um den Sohn. Doch eine ähnliche Mehrdeutigkeit er-
leben wir auch in den griechischen Übersetzungen der ursprünglichen Be-
zeichnungen für Jesus selber. Wer ist er, der Diener, der «Knecht» Gottes
(das «Lamm» Gottes) oder der Sohn Gottes (Joh 1,29-34)? Die entschei-
dende Leistung Jesu, die Botschaft seiner ganzen Existenz ist es, daß beides
nicht länger ein Unterschied sei! Wer versteht, wer Gott ist, der kann nicht
anders wünschen, als von innen her dem zu dienen, was Gott ihm zu sagen
hat; wer begreift, daß Gott sein ganzes Leben ist, dem wird Gott zum
Vater. Man kann da nicht sprechen mehr von «Knecht» und «Sohn», man
hat es zu tun mit einem erwachsenen Menschen, dessen ganzes Leben um-
hüllt, durchdrungen und bestimmt wird von dem Gegenüber einer unsicht-
baren Liebe, von jener Macht, die alles durchzieht. (Vgl. Gal 4,6.7.)
Das also ist der Hintergrund, den wir voraussetzen müssen, ehe wir uns

208
an die Seite eines leidenden, von Sorgen gepeinigten Mannes in Kafarnaum
versetzen. Der königliche Beamte dort hat gehört, daß Jesus nach Galiläa
zurückgekehrt sei, und was immer seine Hoffnung begründet, augenblick-
lich macht er sich auf, um den Mann aus Nazaret, den Propheten aus Ga-
liläa, aufzusuchen mit der Bitte um die Rettung seines Kindes, seines
«Kindleins», wie er zärtlich und notvoll bittend zugleich ihn anfleht.
Es gibt in den ersten drei Evangelien Szenen, die ein Stück verwandt mit
dieser Erzählung anmuten. Da ist in Markus 5 ein Synagogenvorsteher mit
Namen Jairus, der fast mit den gleichen Worten bettelnd zu Jesus kommt
zugunsten seiner Tochter, die im Sterben liegt. Mein Töchterchen, sagt die-
ser Mann zu Jesus (Mk 5,23). Er muß fürchten, daß jede Verzögerung der
Zeit ein Zu-Spät bedeuten könnte; wenn Jesus nicht bald kommt, und die
Sterbende berührt, so denkt er, wird ihr Leben unweigerlich verlöschen.
Ganz so dringlich fühlt dieser königliche Beamte im Johannes-Evangelium.
Entfernt erinnert sein Klagen auch an eine Geschichte aus dem 7. Kapitel
des Markus, die im Gebiet von Tyrus und Sidon spielt, als eine Frau, eine
Phönizierin, hinter Jesus hergelaufen kommt und ihn inständig um das
Heil ihrer Tochter bittet, die von Dämonen besessen ist (Mk 7,24-30). Sie
wird all der Angst, all der Not, der «Besessenheit» ihrer Tochter nicht
Herr, und Jesus, der sich weigert, ein Wunder außerhalb des Gebiets von
Israel zu wirken, lehnt sie immer wieder ab, bis daß sie sich flehentlich so
sehr an ihn hängt, daß er gar nicht anders kann, als sich ihrem Bitten zu
fügen: Dir geschehe, wie du willst – die Umkehrung der Vaterunser-Bitte
wird dort zum Grund einer Heilung!
Lesen wir die Heilungs-Geschichte im Johannes-Evangelium erst einmal
so, wie sie den Worten nach dasteht, bleibt sie uns sperrig und steil. Frei-
lich, die Fundamentalisten unter den Bibelauslegern werden versichern, die
Geschichte enthalte durchaus keine Schwierigkeiten: eine Fernheilung auf
räumliche Distanz hin stelle für einen Sohn Gottes natürlich kein Problem
dar; er, der allmächtige, der auf Erden nur weilt als Abglanz Gottes, kann
alles, was er will, wann er will und wie er will, und ob er jemanden phy-
sisch berührt oder ihn aus der Entfernung heil spricht, – was für einen Un-
terschied macht das schon, ist doch Gott überall gleich nah und gleich
weit; sein Wort ist mächtig allerorten. Grad so scheint denn Johannes seine
Geschichte auch zu erzählen und womöglich sogar selber zu verstehen –
als einen Kraftbeweis der göttlichen Natur des Jesus von Nazaret. Doch
wie will man bei einer solchen Auslegung dem Aberglauben wehren, auf
dem sie selber beruht? Erst einmal auf diesen Kurs der Interpretation ge-
bracht, ist selbstredend nichts mehr unmöglich. Eine Bibelstelle wie diese

209
scheint die Grundlage für Fernheilungspraktiken überhaupt zu bieten: Ir-
gendeine Geist- und Wunderheilerin, in der Schweiz sitzend, redet über das
Deutsche Fernsehen mit irgendeiner Kranken in Augsburg oder Hamburg,
und siehe, wer nur recht daran glaubt, wird gesund. Wie schnell wird da
aus Bibeltexten blanker Humbug, wie leicht aus Glauben in modernem
Gewande esoterischer Unfug!
Wie aber versteht man diese Stelle dann, daß sie mit uns so redet, daß
wir’s verstehen ohne Zauber und Hokuspokus? Wie kommen wir dahin,
die prophetische Kraft des Mannes aus Nazaret im eigenen Dorf, im ganz
Normalen, im durchaus Verständlichen zu spüren, so aber, daß eine Ener-
gie ausgeht, die uns Mut macht, ehrlicher zu hoffen, tiefer zu verstehen,
menschlicher zu leben?
Greifen wir, ganz ähnlich wie in der Geschichte aus Markus 5,22-24.35-
43, in der Erzählung von dem Synagogenvorsteher Jairus und seinem
«Töchterchen», nur einmal das eine Wort auf, das der königliche Beamte
hier gegenüber Jesus äußert: von seinem Sohn spricht er als von seinem
«Kindlein». Wir wissen nicht, wie alt dieser Sohn ist, wir wissen aber, wie
der Vater ihn sieht: als ein Kind, das zu sterben droht, noch bevor es wirk-
lich zu leben begonnen hat. Unter uns Menschen gibt es kaum ein Leid,
das man sich größer vorstellen könnte, als daß zwei Menschen ganz dicht
auf einander bezogen sind – sie hängen zusammen auf Sein oder Nicht-
sein –, aber es verhält sich so, daß der eine leidet und leidet, während der
andere durch Pflicht und Verantwortung in all seinem Bemühen darauf
konzentriert ist, das fremde Leid zu mildern, am besten ganz aufzuheben, –
ein ständiger Kampf gegen den Tod. Nun aber nehmen wir einmal an, daß
Beziehungen entstehen können, in denen Angst und Verantwortung, Not
und guter Wille einander so steigern, daß statt der erhofften Milderung
oder Heilung ganz im Gegenteil immer stärker Abhängigkeit und sogar
Zerstörung bis hin zu Krankheit und Tod sich vorantreiben.
Man wird vielleicht sagen: «So etwas kennen wir nicht.» In diesem Falle
müssen wir uns nur einmal anschauen, wie in einer Ehe Mann und Frau
miteinander umgehen, wenn einer der beiden Partner dem Alkoholismus
verfällt: Von außen wird ein Psychologe dann sehr leicht feststellen, daß
die Not des einen zur Überverantwortung des anderen führt, doch das
System der Ko-Abhängigkeit koppelt sich sofort zurück: das Schuldgefühl,
die Angst, die Anhänglichkeit auf der einen Seite – der wachsende Ärger,
die Verzweiflung, die Ungeduld, der Zorn, das neue Schuldgefühl, das
Wiedergutmachen auf der anderen Seite: – schon unter zwei erwachsenen
Menschen kann sich ein Teufelskreis derart aufschaukeln.

210
Oder: Denken wir uns ein Kind im Schatten seiner Mutter, seines Vaters,
das dabei ist, mit sechzehn Jahren, mit achtzehn Jahren drogenabhängig zu
werden. Wenn es schon furchtbar ist, mitansehen zu sollen, wie ein
Mensch, den man von Herzen liebhat, einfach leidet, und man kann versu-
chen, was man will, es ist endgültig kaum etwas zu verhindern, dann wer-
den wir rasch verstehen, daß noch viel schlimmer als diese Art des Leidens
jene andere ist, bei der insgeheim gespürt wird, welch eine Verstrickung
zwischen Krankheit und Gesundheit, zwischen dem Einsatz allen guten
Willens und dem Schaden, der trotzdem oder sogar gerade deshalb eintritt,
herrschen muß. Es genügt, sich vorzustellen, daß da eine Mutter oder, in
unserer Geschichte, ein Vater ist, der alles erdenklich Gute für seinen Sohn
(oder für seine Tochter) will, er sich aber so verhält, daß das Kind, durch
Gründe, die uns nicht näher genannt werden, dazu verleitet wird, sich an
den Vater, an die Mutter voller Angst zu hängen. Der Vater oder die Mut-
ter wollen natürlich, daß ihr Kind irgendwann selbständig wird; auch
fühlen sie sich selber überfordert, ein solches Kind immer wieder durch
sein Leben zu tragen; irgendwann wird es ihren Armen zu schwer. Sie
sagen ihm also: «Du mußt selber gehen.» Aus der Sicht des Kindes aber
findet etwas ganz anderes statt: Es fühlt sich nicht zu einer größeren
Selbständigkeit ermuntert, es spürt vielmehr, nicht zu Unrecht, daß es der
einzigen Person, auf die es sich doch angewiesen fühlt, die es als einzige
liebhat, zur Last wird. Also fühlt es sich bestraft, nicht dafür, die Mutter,
den Vater überfordert zu haben, sondern dafür, auf der Welt zu sein. Aus
seiner Sicht hat es nicht etwas falsch gemacht, sondern alles. Und darauf
wird es reagieren – verzweifelt, hilflos, fassungslos. Ohne es zu wollen,
wird ein solches Kind den Eltern daher noch schwerer fallen, als es vorher
schon war. Die wiederum werden sich schuldig fühlen, ein so hilfloses
Kind weggestoßen zu haben; und so werden sie schon zur Wiedergutma-
chung ihrer «Schuld», sich noch viel mehr engagieren. So entsteht eine Spi-
rale, die sich immer weiter mit der Kraft eines Drillbohrers ins Holz
schraubt, ein Teufelskreis, aus dem es scheinbar kein Entrinnen gibt. Was
ist zu tun gegen eine solche Form von zerstörerischer wechselseitiger Ab-
hängigkeit?
Es ist nur vermeintlich ein Paradox, daß wir einen Text wie diesen, in
dem wesentlich alles auf der Ebene der Theologie liegt, mit psychologi-
schen Mitteln zu lesen versuchen; denn auch der «Wunderglaube» des
Johannes-Evangeliums bleibt nicht äußerlich. Johannes läßt seinen Jesus
kategorisch, so, wie er in den ersten drei Evangelien niemals spricht, sagen:
Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, nein, nicht zum Vertrauen ge-

211
langt ihr. Das ist eine echt johanneische Zuspitzung. Dieser Evangelist hat
die Magie, den Wunderaberglauben ganzer Teile der eigenen Gemeinde of-
fenbar längst vor Augen, und er will nicht, daß man die Taten Gottes im
Äußerlichen nachstammelt, denn da ereignen sie sich nicht. Johannes
möchte, daß man davon herunterkommt, einen Jahrmarktgott zu bestau-
nen; er möchte, daß die «Wunder», die ihm berichtet werden, innerlich
interpretiert und verstanden werden, eben als Zeichen. Das freilich sagt
nicht der historische Jesus, das sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums zu
der zweiten und der dritten Generation; es handelt sich um einen Läute-
rungsprozeß schon innerhalb der Evangelien. Hier an dieser Stelle aber
wird ein solches Wort zu einem Mann gesagt, der um die Not seines eige-
nen Kindes ringt. In diesem Kontext macht das Wort Jesu zunächst nicht
theologisch, sondern psychologisch Sinn; es soll doch besagen: «Du erwar-
test, daß etwas an deinem eigenen Kind geschieht, aber sozusagen an dir
vorbei. Du denkst, alle Probleme seien gelöst, wenn nur dein Kind gerettet
ist. Aber vielleicht verhält es sich ganz anders. Vielleicht geht es als erstes
nicht um das Kind, so sehr es leidet und so sehr es all deine Sorgen absor-
biert. Vielleicht geht es wesentlich zuerst um dich selbst.»
So erlebt man es in der Psychotherapie ganz oft, fast regelmäßig. – Eine
Frau vor einer Weile sagte: «Als ich zu Ihnen kam, ging es mir wie einer
Katze, die nicht mehr weiterweiß, – ich legte Ihnen alle meine Kinder sozu-
sagen einfach auf die Treppe. Ich wollte, daß Sie für alle sorgen. Natürlich
konnten Sie das nicht. Aber heute weiß ich, daß ich für meine Kinder
nichts Besseres tun konnte, als was wir dann getan haben: Ich fing an, von
mir selber zu reden, warum ich mich überfordert fühle, weswegen ich mich
einsam empfinde an der Seite meines Mannes, wie ich selber groß wurde
als Kind, und vor allem, warum ich so viel Angst um meine Kinder habe.
Es ist gar nicht die Angst, die ich um meine Kinder habe, es war schon die
Angst meiner eigenen Mutter vor allem, was mir hätte passieren können.
Mein ältester Junge brauchte nur einmal Fieber zu bekommen, 39 Grad,
dann war ich wie in Panik. Ich saß an seinem Bett, ich fütterte ihn, ich
machte alles für ihn, – die bekömmlichsten Nahrungsmittel, die zweck-
mäßigsten Medikamente. Aber wenn er dann immer noch nicht gesund
wurde, konnte ich außer mir geraten. Es kam vor, daß ich ihn schlug, ein-
fach weil er krank war. Können Sie sich vorstellen, was ich für eine Mutter
war? Ich wollte nur, daß er lebt, daß er gesund ist, daß ihm nichts passiert.
Aber gerade dadurch konnte ich alles falsch machen.»
Es ist klar, daß man Ängste dieser Art nur beruhigen kann, indem man
einer Frau – oder in unserer Geschichte einem Mann – nach und nach ein

212
Stück Vertrauen vermittelt. Doch an dieser Stelle wird die Sache schwierig.
Denn es gibt zur Begründung eines solchen Vertrauens keine vorlaufenden
Wohltaten. Es ist nicht möglich, das Kind als geheilt zu präsentieren und
dann zu sagen: «Siehst du, nun ist alles wieder gut, nun brauchst du keine
Angst mehr zu haben.» Die ganze Schwierigkeit liegt darin, daß man die
Sache umgekehrt einfädeln muß. Erst wenn eine solche Frau – oder in der
Erzählung des Johannes-Evangeliums ein solcher Mann – Vertrauen genug
gewinnen könnte, würde sich auch die Angst des Kindes, des «Kindleins»,
beruhigen. Man begreift daher, wie recht Jesus hat, wenn er sich weigert,
irgend etwas zu tun, außer daß er diesen Mann förmlich nötigt, aus seiner
eigenen Verzweiflung herauszufinden und bedingungslos Vertrauen zu ler-
nen, Glauben zu haben. Es ist ein unerhörter Satz, mit dem Jesus an dieser
Stelle jemanden fortschickt, indem er wie ins Blinde erklärt: Geh, dein
Sohn lebt. So etwas kann er eigentlich nur sagen, weil er den Beamten mit
einer solchen Sicherheit erfüllt sieht, daß dieser Mann, ohne irgend etwas
davon bereits zu wissen, sich auf den Weg zu seinem Kind macht und
dabei voraussetzt: Es lebt.
Kann es sein, daß sich die meisten Erziehungsprobleme so und nicht an-
ders lösen? Wie viele Eltern gehen davon aus, ihr Kind lerne beispielsweise
zu schlecht, es sei faul, unaufmerksam, nicht intelligent genug, man müsse
seine Leistungen verbessern, man müsse es mehr fordern und fördern. Also
setzt man mit dem Kind Sonderstunden an. Ganze Nachmittage gehen
dahin, in denen der Vater oder die Mutter zunächst privat Nachhilfe
geben, dann wird ein professioneller Nachhilfelehrer bestellt. Das alles ko-
stet Geld, der Ärger summiert sich; das Kind aber nimmt die ganze Veran-
staltung völlig anders wahr. Es empfindet, daß es das, was die Mutter oder
der Vater will, niemals schaffen kann, daß, wenn tatsächlich so viel Geld
investiert werden muß, es überhaupt ein hoffnungsloser Fall ist. Außerdem
muß es am nächsten Morgen die Mathematikarbeit wirklich gut schreiben
oder mindestens ausreichend. Selbst uns als Erwachsene brächte es um den
Verstand, wenn wir jeden Morgen in einen ganz gewöhnlichen Berufsalltag
gehen sollten mit dem Dauergefühl, mal wieder zu versagen oder nur mit
einer ganzen Hilfskolonne von zusätzlichen Schubkräften ganz gewöhnli-
che Aufforderungen und Anforderungen erfüllen zu können. – Je mehr
äußerlich investiert wird, desto mehr wird innerlich verwüstet. Die ganze
Hilfeleistung von außen ruiniert das Selbstbewußtsein, das sich formen
könnte. Wie aber, wenn die Eltern feststellen würden, was vielleicht schon
längst der Fall ist: ihr Kind wäre ein ganz normales, ein ganz vernünftiges
Mädchen oder ein ganz tüchtiger Junge, es brauchte das Ganze an Mehr-

213
aufwand gar nicht, man müßte nur einmal sehen, was wirklich stimmt.
Statt vom vermeintlich Fehlenden auszugehen, müßte man die Perspektive
ändern und sich sagen: Was ist denn das Gesunde, das Richtige, das Freude-
machende, das das Leben Vorantragende? So betrachtet, fände man in
aller Regel eine Menge an Gründen zu einem buchstäblich heilenden Ver-
trauen. Aus dem kranken Kind würde ein gesundes Kind, nicht durch
fremden Zauber, sondern durch Verwandlung der Blickrichtung. Da würde
ein Vater oder eine Mutter es lernen, Vertrauen zu setzen in die Gesundheit
des eigenen Kindes, und wie weggeblasen wären die ganze Fürsorgeangst,
der Verantwortungsterror, die endlose Mühle von Schuldgefühlen, von
Frustrationen, von Vorwürfen, von Wiedergutmachungen. Man würde ler-
nen, miteinander zu leben und sich wechselseitig anzuerkennen.
Das Paradox aber liegt vor allem darin, daß dieses Vertrauen sich nur
bilden kann, wenn die Mutter oder der Vater als erstes sich das Recht
nimmt, nicht permanent der Krankenpfleger oder gar schon der Totengrä-
ber der eigenen Kinder zu sein, wenn es, mit anderen Worten, so etwas gibt
wie ein Recht auf ein eigenes Leben und wenn die Sorge, was aus dem
Kind wird, einmal zurückstehen darf. Offenbar darin besteht dieses Wun-
der des Vertrauens, mit dem jener königliche Beamte in sein Haus in Ka-
farnaum zurückkehrt. Er kann endlich frei durchatmen; die erstickende
Angst, was aus seinem Sohne werden wird, löst sich von seiner Brust;
plötzlich, auf ein Wort hin, liegt seine Verantwortung wie leicht zu tragen
auf seinen Schultern.
In unserem alltäglichen Leben ist ein solch einfacher Befehl: «Nun gehe
hin, denn alles ist gut!» natürlich schwer vorstellbar. Manche «Seelsorger»
gibt es, die es sich mit dem pastoralen Ton eines sonoren Basses förmlich
angewöhnt haben, Menschen «Trost zuzusprechen», indem sie bestimmte
Bibelstellen zitieren. «Es ist ja alles gut», sprechen sie. Aber natürlich ist
gar nichts «gut». Durchgearbeitet werden will über Monate und Jahre hin
all die Angst, die immer von neuem aufgetürmt wurde; sie kommt von Si-
tuation zu Situation wie mechanisch wieder; niemals löst sich etwas im
Handumdrehen. Aber in der Richtung eines solchen Wortes sich miteinan-
der auf den Weg zu machen, das wäre die realisierte Geschichte von diesem
königlichen Beamten in unseren Tagen. Dazu gehört auch, daß Jesus
äußerlich, räumlich, diesen Weg nicht mitgeht. Es gehört dazu, daß diesem
königlichen Beamten ein eigener Weg, eine eigene Selbständigkeit, eine
Identität in seiner eigenen Person angetragen und zugemutet wird.
Fast immer, wenn in der Psychotherapie ein Erziehungsproblem im Mit-
telpunkt steht, löst es sich auf solch indirektem Wege auf. Ein Mann, eine

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Frau, ein Vater, eine Mutter lernen, größeren Wert auf ihr eigenes Leben zu
legen, und je mehr das geschieht, fangen auch ihre Kinder an, sich mehr
und mehr wohlzufühlen. Je mehr Mütter und Väter beginnen, sich selbst
ein Stück weit zu mögen, hören auch ihre Kinder auf, sich im Schatten der
Eltern wie in einem Zerrspiegel negativ anzuschauen; die Freiräume wach-
sen, in denen man miteinander unbeschwert und unbelastet Umgang
pflegt, und man wird fähig, einander sogar etwas Freude zu schenken. Das
Beste, was Eltern für die Erziehung ihrer Kinder tun können, ein Mann für
seinen Sohn, eine Frau für ihre Tochter, besteht insofern darin, daß sie es
sich selbst erlauben, in ihrem Leben glücklich zu sein.
Manche Theologen werden an dieser Stelle gewiß sagen, die Geschichte
im Johannes-Evangelium erzähle gar nicht von privatem Glück, sondern
von dem Glauben an Jesus Christus als an den Sohn Gottes aufgrund der
Machterweise seiner Wunder, – hier Nummer zwei der Wunderquelle im
Aufbau des Johannes-Evangeliums. Wie aber, wenn alles gerade darum
kreisen würde, daß Menschen gesund werden einzig in einem Vertrauen,
das sie unter den Augen Gottes in ihr Leben und in das Leben ihrer Mit-
menschen zu setzen vermögen? Bei einer der Fuldaer Bischofskonferenzen
vor etlichen Jahren, im Oktober 1995, sprach der Vorsitzende der katholi-
schen Deutschen Bischofskonferenz, der heutige Kardinal Karl Lehmann
aus Mainz, davon, daß das Christentum nicht zu Sozialarbeit und Psycho-
therapie verkommen dürfe; das Christentum der Kirche orientiere sich am
Willen Gottes. – Wenn beides derart in eine absurde Alternative gestellt
wird, so wird diese Kirche niemals die Menschen erreichen, und sie wird
auch nicht zu der ursprünglichen Botschaft Jesu finden. Wenn Menschen
zu heilen nicht als Ausdruck und Inhalt dessen begriffen wird, was Gott
will, wird man eine Geschichte wie die von der Heilung des Sohnes jenes
königlichen Beamten niemals verstehen. Solange wir uns die Gottessohn-
schaft oder die Gottesknechtschaft des Jesus von Nazaret vorstellen wie
ein Schweben über den Wolken, wie etwas Überirdisches, gewissermaßen
als einen ätherischen Lichteinfall, der uns nur berührt, um über uns hin-
wegzugleiten, werden wir die Macht des Mannes aus Nazaret, mit der er
in die Angst und in die Not, in den Abgrund der Verzweiflung und in die
Verlorenheit des menschlichen Herzens hineinleuchtete, niemals als einen
Auftrag an uns selber ernst nehmen. Zudem werden wir stets ein falsches
Alibi für unsere «christliche» Existenz übrigbehalten; wir werden sagen:
«Wunder dieser Art hat Jesus gewirkt, eben weil er der Sohn Gottes war,
und darin zeigt sich seine Größe und seine Herrlichkeit; wir aber, die wir
nur Menschen sind, brauchen derlei gewiß niemals zu tun.» Doch genau

215
das wollte Jesus: daß wir die Art seines Vertrauens in Gott weitergäben
und umarbeiteten in ein Vertrauen zu den Menschen an unserer Seite und
zu uns selbst! Nur diese schwache Fähigkeit einer sich konkretisierenden
Zuwendung ist stark genug, alles zu verändern. Diese Kraft wirkt ganz
leise, ganz langsam, ganz von innen, und doch ist sie stark wie die Wech-
selwirkung im Inneren der Atome. Sie formt die ganze Welt; sie ist eine En-
ergie von enormen Konsequenzen.
Da hört, während er schon unterwegs zu seinem Sohn ist, der königliche
Beamte, daß tatsächlich eingetreten ist, was Jesus versprach: sein Junge ist
gesund, und es war, als die Genesung einsetzte, um die nämliche Stunde. –
Wie viel an Hoffnung gegen so viel Angst können Menschen einander
schenken! Wie oft muß man in das Leben eines Menschen viel mehr an
Vertrauen setzen, als der andere, der leidet, im Moment seiner Qual damit
zu verbinden wagt! Dieser Kreditvorsprung an Vertrauen ist das eigentlich
religiöse Moment dieser ganzen Geschichte, und es ist zugleich das wohl
am meisten historische. So war Jesus wirklich. Er wußte es auch nicht, er
konnte es auch nicht, aber er hoffte es immer wieder kraft einer Liebe, die
niemanden verlorengeben wollte.
Dann kann man dieselbe Geschichte noch einmal anders lesen, nicht so
sehr als eine Art Psychotherapie, die zwischen zwei wirklichen Personen
stattfindet, sondern als einen Prozeß, der sich in dem königlichen Beamten
selber vollzieht. Mit den Augen der Tiefenpsychologie von Carl Gustav
Jung ist es gut möglich, zu sagen: Ehe dieser Sohn im Hause des königli-
chen Beamten geheilt wird, muß erst einmal das Kind in ihm selber zum
Leben kommen. Wir könnten uns dieselbe Geschichte deshalb noch einmal
ganz anders vorstellen. Wir könnten uns denken, daß die Schädigung die-
ses «Sohnes» zustande kam, indem ein Mann schon als Kind sich selbst
mit seinen besten Eigenschaften, mit allem, was in ihm hätte leben mögen,
zum Opfer bringen mußte, um so hoch zu kommen, wie er jetzt steht: ein
königlicher Beamter, jemand, der sich mittlerweile an der Spitze seines Er-
folges in Repräsentation und Würde befindet. Niemand mehr wird ihn in
dieser Situation noch fragen, wie schwer es für ihn war, dahin gekommen
zu sein, wieviel an Tricks der Selbstüberlistung, an Verdrängung feinerer
Stimmungen, an Zerstörungen uralter Träume ihn dieser Weg zum Sieg
gekostet hat. Könnte es nicht sein, daß die Verletzungen dieses «Kindes»,
innerlich verstanden, damit zu tun hätten, daß ein Mann, um dahin zu
kommen, wo er jetzt steht, sich selbst als Kind, als kleinen Jungen schon
mit all dem Reichtum seiner Möglichkeiten auf dem Altar der Karriere hat
opfern müssen? Nun, ans Ziel gelangt, fehlen all die Voraussetzungen, um

216
dieses innere Kind nachreifen zu lassen, nun erstickt die eigene Übergröße
alle anderen, und es breitet sich ein Feld von Mißverständnissen und Miß-
trauen dort aus, wo dringlich Zuneigung und Verbundenheit benötigt wür-
den. Kann es insofern nicht auch sein, daß die Heilung jenes Kindes, das es
«wirklich», äußerlich, gibt, überhaupt erst möglich wird, indem der könig-
liche Beamte lernt, noch etwas anderes zu sein als nur ein Höfling, als nur
ein Streber, als nur ein Machtverwalter? Vielleicht muß als allererstes auf-
erweckt werden das Kind in ihm, das er einmal war; er selber müßte in sei-
nem Leben noch einmal oder zum ersten Mal so etwas wie Freude anstelle
von Leistung und Pflicht kennenlernen.
Wie viele Eltern sind, Frauen zumal, die ein Kind zur Welt bringen, um
sich selbst in ihm, in der Jugend, die sie selber nie hatten, noch einmal wie-
derzufinden! Aber wie schwer ist es, dem andern gerade das zu ermögli-
chen, was im eigenen Herzen darauf wartet, zu wachsen! – Ein königlicher
Beamter, wie Johannes sagt, – kein römischer Hauptmann mehr wie bei
Matthäus, sondern ein Emporkömmling im Hofstaat des Herodes – eine
bloße Variante scheinbar des Johannes-Evangeliums gegenüber der Tradi-
tion des Matthäus-Evangeliums: wie sprechend kann sie sein, wenn wir
uns vorstellen, was sie über uns Menschen aussagt!
Für beide, für den Beamten wie für seinen Sohn, gilt in jedem Falle eine
völlig neue Erlaubnis zum Leben. Da wird ein zweites Mal, wenn man so
will, Wasser in Wein verwandelt; da wird erneut das scheinbar ganz Ge-
wöhnliche kostbar, da wird abermals das vorgeblich so Unschmackhafte
zu einer berauschenden Essenz, da wird unser so kleines, gewöhnliches
Leben aufgehoben zu einem beseligenden Glück in Gemeinsamkeit. Da ist
nichts mehr in Geltung an Anstrengung, Pflicht und Verzicht, nicht einmal
mehr zu dem Zwecke der Heilung des anderen, sondern da gilt es zu ent-
decken, wieviel an Kostbarkeit in uns selbst und in den Menschen an unse-
rer Seite lebt. Von dieser Art sind die Zeichen und Wunder des Jesus von
Nazaret. Die ganze Welt, recht verstanden, ist ihrer voll!

217
Joh 5,1-18: Die Heilung des Gelähmten oder:
Der Sabbat Gottes
1Danach war ein Fest der Juden, und Jesus stieg hinauf nach Je-

rusalem (2,13). 2Es gibt aber in Jerusalem beim Schaftor einen


Teich (Neh 3,1), das hebräisch sogenannte Betzata (Bethchesda/
Betesda = Haus der Gnade), das fünf Hallen hat. 3In diesem lag
eine Menge Kranker: Blinder, Lahmer, Ausgezehrter [, die auf
die Bewegung des Wassers warteten. 4Ein Engel nämlich (des
Herrn) stieg (zuzeiten) in den Teich hinab, dann geriet das Was-
ser in Wallung. Der Erste dann, der hineinstieg nach der Auf-
wallung des Wassers, wurde gesund, mit welchem Siechtum er
auch behaftet war]. 5Es war aber ein Mann dort, der befand
sich 38 Jahre (schon) in seiner Krankheit. 6Den sah Jesus, wie
er dalag, und als er merkte, daß er schon lange Zeit sich so be-
fand, sagt er ihm: Willst du gesund werden? 7Geantwortet hat
ihm der Kranke: Herr, einen Menschen finde ich nicht, daß er,
wenn das Wasser aufwallt, mich in den Teich wirft; indem aber
ich komme, ich, – ein anderer, vor mir, steigt hinab … 8 Sagt
ihm Jesus: Steh auf, nimm deine Pritsche und geh umher (Mt
9,6). 9Und sogleich wurde gesund der Mann; er nahm seine
Pritsche, er ging umher.
Es war aber Sabbat an jenem Tag. 10Drum sagten die Juden (die
Gottesbesitzer) dem Geheilten: Sabbat ist es; also: es ist dir
nicht frei, deine Pritsche aufzunehmen (Ex 20,10; Jer
17,21.22)! 11Der aber hat ihnen geanwortet: Der mich gesund
gemacht hat, der hat mir gesagt: Nimm deine Pritsche und geh
umher. 12Fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der dir gesagt
hat: Nimm auf und geh umher!? 13Der Behandelte aber wußte
nicht, wer es sei; denn Jesus hatte sich der Menge entzogen, die
auf dem Platz war. 14Danach findet ihn Jesus im Heiligtum und
hat ihm gesagt: Da! Du bist gesund geworden. Sündige nicht
mehr (8,11), daß dir nicht Schlimmeres wird (Mt 12,45)!
15Fortging der Mann und meldete den Juden (den Gottesbesit-

zern), Jesus sei es, der ihn gesund gemacht habe. 16Und deshalb
jagten die Juden (die Gottesbesitzer) Jesus, weil er das getan
hatte – am Sabbat (Mt 12,14)! 17Er aber (Jesus) antwortete
ihnen: Mein Vater wirkt bis jetzt, und so wirke auch ich (9,4).
18Deshalb nur noch mehr suchten ihn die Juden (die Gottesbe-

sitzer) zu töten (7,30; 10,33), weil er nicht nur den Sabbat auf-
löste, sondern auch Gott seinen Vater nannte, identisch so sich
machend mit Gott!

Aus der «Wunderquelle», die dem Vierten Evangelium vorliegt, wird im


5. Kapitel die Überlieferung von der Heilung eines Gelähmten aufgegrif-

218
fen. So kurz die Geschichte ist, wurde sie doch mit späteren Eintragungen
aufgefüllt; für Johannes wird diese «Novelle» zum Ausgangspunkt eines
vertieften Nachdenkens über die Religion, über den Menschen, über die
Person Jesu und über Gott.
Da war ein Fest der Juden, so beginnt diese Geschichte, und jeder er-
wartet, daß sie sich fortsetzt in einer Begegnung Jesu mit den Juden im
Tempel von Jerusalem. Braucht nicht die Religion gerade solche Riten, hei-
lige Zeiten, heilige Festversammlungen? Ist sie nicht angewiesen auf vorge-
gebene geheiligte Traditionen, auf Brauchtum und Übereinkunft? So
stünde es zu erwarten, würde die Geschichte weitergehen, wie sie sich nor-
mal zu erzählen hätte. Um so abrupter wirkt der Einsatz, den Johannes
hier setzt. Alles, was «normalerweise» soziologisch oder psychologisch
über die Religion zu denken ist, gilt diesem Evangelisten für nichts weiter
als für Staffage, für die äußere Bühne eines ganz anderen Themas. Seine
Frage lautet nicht: Was gibt es religiös zu feiern? sondern: Wie findet man
Gott? Oder ins Räumliche versetzt: Wo hält Gott sich auf? Wo begegnet
man ihm?
Die Priesterauskunft auf diese Frage lautet bekanntlich: im Tempel.
Dort ist sein Heiligtum, dort sein Wohnsitz, dort die Achse der Welt: der
Zionsberg, das Zentrum der Völkerwallfahrt … Johannes aber glaubt all
das nicht und sein Jesus genausowenig. Was für ihn zählt im Namen der
Religion, ist eine bestimmte Teichanlage, die einen wunderbaren aramäi-
schen Namen trägt: Betzata wird sie hier, griechisch entstellt, wiedergege-
ben; heißen aber sollte sie aramäisch Beth-chesda – Haus der Gnade.
Immer wieder ist es erstaunlich, wie modern das Johannes-Evangelium
in den Problemstellungen ist, die es vor sich sieht und die es lösen möchte.
Fast in jedem Abschnitt dieses Evangeliums geht es um die Demontage der
Äußerlichkeit des Gottesverhältnisses, um die Beseitigung alles von fremd
her Aufgesetzten, um das Bemühen, von innen her das Überkommene neu
zu interpretieren. Gott wohnt, will Johannes sagen, nicht da, wo man
einen Ritus feierlich begeht, sondern dort, wo die Religion sich öffnet zu
einer Asylstätte für «alle, die elend dran sind», wie Matthäus (4,24) in sei-
ner Einleitung zur Bergpredigt formuliert. Wer Menschen sieht in ihren
Leiden, der sieht etwas von Gott. Religion ist da nicht länger ein Priester-
geschäft, sondern eine Angelegenheit heller Augen und eines offenen Her-
zens des Mitleids und der Menschlichkeit. Denn selbst dieses «Haus der
Gnade» läßt sich in gewissem Sinne noch magisch umschreiben.
In der «westlichen» Handschriftenüberlieferung, wie die Textkritiker
sagen, hat sich an dieser Stelle eine Einschaltung geltend gemacht. Das

219
«Haus der Gnade» wird damit begründet, daß in dem Teich manchmal das
Wasser von einem Engel in Wallung gesetzt ward. Religionshistoriker wer-
den angesichts solcher Erläuterungen bedächtig den Kopf wiegen und
sagen: «Ein Priestertrick! Der übliche Zauber: die Wasserzufuhr wird zum
Staunen der Menge reguliert, und dann ereignet sich, was man gerne
wünscht und glaubt.» Dieser Text aber erklärt tatsächlich: Ein Engel
kommt, wirbelt das Wasser auf, und dann kommt es darauf an, wer als er-
ster zum Teich gelangt – nur der wird geheilt. Welch ein ambivalentes Bild
von Gott! Auf der einen Seite ist dieser Gott gut, – dieser Aspekt kommt
zum Ausdruck in dem Namen «Haus der Gnade», aber diese Gnade Gottes
scheint kärglich bemessen, wie in einem Verknappungszustand befindlich,
und das treibt die Menschen untereinander zu einer makabren Konkur-
renz: wenn stets nur der erste das Heil dieses Engels erfährt, werden die
schon immer Enttäuschten nur ein weiteres Mal um ihre Hoffnung betro-
gen. Ist das wirklich ein Haus der «Gnade», in dem Gott derart «sparsam»
seine «Wunder» zugunsten eines Einzigen wirkt, nur um die Menge all der
anderen leer ausgehen zu lassen? Das Problem ergibt sich aus der üblichen
Bibelinterpretation bis heute: Gott gilt da für «allmächtig» im äußeren
Sinne, das heißt, er kann tun, was er will; warum aber will er dann so
wenig, nur in speziellen Fällen? Die Theologenantwort lautet, es stehe uns
Menschen nicht zu, herausfinden zu wollen, warum Gott bei dem einen ein
Wunder wirken wolle und bei dem anderen eben nicht, er werde schon
seine Gründe haben, er, der Allmächtige und der Allweise, doch diese
Gründe seien uns Menschen nun einmal nicht zugänglich. Stünde es so,
würden Menschen im Grunde wieder nur aufgerichtet, um sie zur «De-
mut» abzurichten. Eine solche «Theologie» widerspricht sich selber ebenso
wie dem Gott, den sie zu vermitteln sucht.
Was literarkritisch an dieser Stelle als eine Einschaltung gelten muß, ist
religionspsychologisch indessen zum Verständnis der Erzählung äußerst
sprechend, wenn man es, statt sich in dogmatischen Aporien zu ergehen,
mit psychologischen Mitteln zu verstehen sucht. Rund um den Teich, er-
zählt Johannes, liegen die Kranken: Blinde, Lahme, Ausgezehrte, und wir
müssen uns seelisch in die Gefühlslage dieser Dreiergruppe, die hier alle
Art von Krankheit vertreten soll, hineinversetzen, um zu begreifen, wie
diese verschiedenen Leidensformen miteinander zusammenhängen.
Gemeint ist im Grunde immer dasselbe zentrale Gefühl. Beginnen wir
mit der Blindheit. Jeder wird ein solches Symptom schon einmal mehr oder
minder ausgeprägt erlebt haben: Da geht am Morgen die Sonne auf, aber
man mag sie nicht sehen; es ist dunkel vor den Augen, nicht optisch, son-

220
dern psychisch; in der Seele herrscht kein Licht, keine Erleuchtung, es gibt
keine Perspektive, sondern man fühlt förmlich ein Verlangen nach Finster-
nis, Schatten und Nebel. Man will diese Welt nicht wirklich scharfumran-
det wahrnehmen, grell beleuchtet und belichtet; man will sie vermeiden,
denn sie scheint zu abstrus, zu unheimlich, zu gespenstisch, sie ist wider-
lich, – eine Zumutung, von der man am besten wegschaut, indem man die
Augen schließt.
Und von diesem Gefühl her versteht man auch schon das zweite Sym-
ptom: die Gelähmtheit. Sie wird erlebt als eine bleierne Müdigkeit: Man
kommt buchstäblich nicht hoch. Es ist, wie wenn das Lastgewicht der
Schwerkraft alles herunterdrücken würde und keine Muskelanspannung
mehr dagegen etwas vermöchte; es ist, als würde man bis zum Erdmittel-
punkt sinken, bis dahin, wo es tiefer nicht geht. Und wieder: man weiß
nicht, wird man in den Abgrund hinabgesaugt oder läßt man sich da hin-
einfallen, Schicksal oder Wunsch werden wie willenlos fast ein und das-
selbe. Und es gibt dagegen keine Kraft mehr, die wirksam werden könnte.
Die Auszehrung schließlich drückt nur noch physiologisch aus, was see-
lisch so wohl vorbereitet ist. Man mag nicht mehr essen, man weigert den
Appetit. Warum noch etwas in Gang halten, das ohnedies verloren ist?
Mitunter erlebt man in der Psychiatrie Menschen, die physiologisch ganz
gesund sind, aber umhergehen wie lebendig Tote, wie nur noch mühsam,
gewissermaßen von außen her, dirigierte Skelette. Man spricht von Ka-
chektikern und meint damit Menschen, die man künstlich ernähren muß,
weil jeder natürliche Hunger ihnen auf den Lippen wie erstorben scheint.
In allen drei Formen finden wir den Ausdruck einer einzigen Krankheit,
die darin besteht, nicht mehr leben zu können, nicht mehr leben zu wollen,
nicht leben zu dürfen, und das an jenem Ort, der da heißt das «Haus der
Gnade»! Alles wartet auf eine Antwort; die Frage ist nur, wie und woher
sie kommen soll.
Grammatikalisch sind die Sätze im Johannes-Evangelium so einfach ge-
formt, daß man sie jedem Anfänger in einer Griechisch-Übung in die Hand
geben könnte; man ahnt nicht, mit welch verhaltenem Atem man bei dieser
scheinbar so leicht lesbaren Prosa plötzliche Pausen setzen, Neueinsätze
formieren und eigene Akzente formulieren muß. So bei der Frage jetzt
nach einer möglichen Antwort auf all das Menschenleid. Sie steckt in
einem kleinen Satz: Da sah ihn Jesus. Diese kurze Bemerkung enthält wirk-
lich die Lösung. Mit welchen Augen muß Jesus in die Welt geschaut haben,
daß er unter der – wie Johannes versichert – Menge von Kranken diesen
einen sieht, ihn ansieht also, ihn ausersieht demnach! Wie «hellsichtig»

221
muß man das Leid von Menschen spüren, daß man den am meisten Be-
dürftigen am allerersten wahrnimmt! Alles, was wir später über Jesus
hören werden, daß er der Sohn Gottes sei, eine Formel, die für Johannes
christologisch eine zentrale Bedeutung besitzt, wird doch eingeleitet mit
dieser wunderbaren menschlichen Fähigkeit, die wir dem Mann aus Naza-
ret auch historisch ganz und gar zutrauen dürfen und müssen. Wenn er in
die Welt schaute, sah er Leidende, und auf sie ging er zu, wie telepathisch
angezogen von der Sehnsucht und dem Bedürfnis der Not der anderen. Er
sah – ganz einfach – ihn, wie er dalag. Auch das muß man hören, wie da
ein Mensch an den Boden gedrückt ist, wie wenn er mit dem Staub ver-
schmelzen wollte, als wäre er Erde längst vor seinem Tod.
Dann erfahren wir, wie lange dieser Mann schon daliegt. Um so erstaun-
licher ist jetzt die Frage, die Jesus an den Gelähmten richtet: Willst du ge-
heilt werden? Ist das nicht müßig? Man sollte doch denken, unter so viel
Not verstehe sich der Heilungswille dieses Kranken ganz von selber. Doch
er versteht sich überhaupt nicht ganz von selber. Je länger vielmehr eine
Krankheit dauert, desto mehr steht das eigene Ich unter dem Druck, sich
mit ihr in irgendeiner Weise zu arrangieren und sie in das Konzept des
eigenen Lebens einzubauen. Irgendwann spürt man, daß es keinen Sinn
mehr macht, gegen die Krankheit zu protestieren, sie wegzuwünschen, sich
selber dafür zu hassen; man muß lernen, mit ihr zu leben. Der lebendige
Teil des Ichs tritt bei dieser Anpassungsleistung eine beträchtliche Stätte
seiner selbst an die Krankheit ab. Und ist dies erst einmal geschehen, wird
man beginnen, nicht nur in der Krankheit zu leben, sondern in gewissem
Sinne auch aus der Krankheit, von der Krankheit.
Sigmund Freud hat einmal den merkwürdigen Begriff Krankheitsge-
winn geprägt. Er verwandte ihn gleich doppelt. Er meinte, unter bestimm-
ten Umständen könne eine seelische Krankheit schon dadurch einen gewis-
sen Vorteil besitzen, daß eine bestimmte Lebensaufgabe, ein bestimmtes
Lebensproblem anders als um den Preis einer Erkrankung gar nicht zu
lösen sei. Die Lehre von der Flucht in die Krankheit wurde von Freud for-
muliert, die, wenn man sie nicht richtig versteht, wie ein ständiger Vorwurf
klingt. Es ist so leicht, einem anderen vorzuhalten: «Du bist selber schuld
an deiner Krankheit, du läufst ja nur weg von der Anstrengung der Nor-
malität, du bist halt ein Schwächling, du bist ein Eskapist auf dem Boden
deiner eigenen Existenz.» Nie wollte Freud, daß man seine Erkenntnisse
zu solchen Vorwürfen gebrauchte oder mißbrauchte. Was er beschreiben
wollte, war einfach, daß das Ich sich manchmal in der Lage eines geschla-
genen Heeres angesichts eines übermächtigen Gegners befindet; ihm bleibt

222
nichts weiter übrig als der Rückzug, als die Räumung ganzer Korridore
seines eigenen Landes. Allein schon das Überleben unter so schwierigen
Umständen kann man als primären Krankheitsgewinn bezeichnen. Aber
wie jetzt? Man muß das verbleibende Areal natürlich in jeder Hinsicht
überbeanspruchen: Man muß, bildlich gesprochen, aus der verminderten
Fläche durch Intensivnutzung den doppelten und dreifachen Ertrag erzie-
len. Dann aber kann ein so reduziertes Leben auch voller Tricks sein. Es
wird sich zeigen, daß in gewissem Sinne die Krankheit sogar einen Vorteil
bietet, und den zu nutzen muß erlaubt sein. Für jeden, der in Not ist, sind
zusätzliche Hilfsmaßnahmen nicht nur erwünscht, sondern mehr als ge-
rechtfertigt. Es kommt zu einem sekundären Krankheitsgewinn. Freud,
der wollte, daß Menschen gesund würden und sich nicht völlig in ihrer
Krankheit einrichteten, zumindest dann nicht, wenn es nicht unbedingt
sein muß, gebrauchte ein berühmt gewordenes, aber ein wenig zynisches
Beispiel. Denken wir uns jemanden, der als Dachdecker gearbeitet hat,
aber für seine Tätigkeit schlecht bezahlt wurde. Eines Tages fällt er vom
Dach und bricht sich die Beine; und da entdeckt er, daß man als Bettler
womöglich mehr Geld verdienen kann denn vordem als Arbeiter. Ein sol-
cher Mann wird natürlich niemals mehr Grund haben, gesund zu werden1.
Die Frage: Willst du gesund werden? ist daher absolut notwendig. Es
muß geprüft werden, ob der andere überhaupt noch eine Möglichkeit be-
sitzt, sich ein Leben vorzustellen, in dem er nicht mehr krank ist. Wieviel
Spielraum verbleibt ihm, sich noch einmal über die Krankheit hinaus zu
entwerfen? Wie viele Kräfte lassen sich mobilisieren, um den ehedem ver-
lorenen Kampf noch einmal und jetzt mit verbesserter Einsicht und mit
verstärkter Hilfe aufzunehmen? Welche Anknüpfungspunkte gibt es, das
alte Leben, das wie zerbrochen scheint, zu reorganisieren und zu regenerie-
ren? Wir könnten psychoanalytisch die Frage: Willst du gesund werden?
als eine Art Behandlungsvertrag bezeichnen. Es muß geprüft werden, ob es
wirklich Sinn macht, sich gemeinsam mit dem Kranken für ein Mehr an
Hoffnung, für eine wiedererwachende Form von Glück und von Freude zu
solidarisieren. Denn eines steht fest: es ist nicht möglich, seelisch jemanden
zu heilen, der es von sich her nicht will noch wollen kann. Die Mitarbeit
des Kranken ist das ein und alles, um therapeutisch voranzukommen.
Was im Johannes-Evangelium wie eine simple Frage wirkt, das ist in
Wirklichkeit mithin das Ergebnis bereits eines längeren Prozesses; das ist
eine Einsicht, zu der wir fast immer gelangen, wenn wir die Wunderge-
schichten des Neuen Testamentes als einen Weg seelischer Heilung verste-
hen wollen. Die Antwort des Gelähmten wird in der Erzählung des Johan-

223
nes denn auch nicht einfach mit Ja oder Nein gegeben, sondern vielmehr
mit einer ausufernden Umschreibung für seine Situation. Die Antwort auf
die Frage, was jetzt möglich ist, was man überhaupt wollen kann, vermag
sich nur aufzulösen in dem, was wir heute als Anamnese und Diagnose
bezeichnen. Wir müssen als erstes sehen, wie der Zustand eines Kranken
beschaffen ist und wie er zustande gekommen ist. Achtunddreißig Jahre,
hören wir, hat dieser Mann in seiner Lähmung zugebracht, und nun er-
zählt er, wie’s ihm immer ergangen ist. Es gäbe für ihn eine einzige theore-
tische Hoffnung, in diesen Teich zu kommen: er wünscht, daß jemand zum
rechten Zeitpunkt ihn packt und «schmisse» ihn ins Wasser (– so steht es
wirklich im Griechischen da). Das würde ihm helfen, denkt er. Doch dann,
resignierend, fügt er hinzu: Einen Menschen dazu finde ich nicht.
Man kann sich im Raum seelischen Leids kaum etwas Bittereres vorstel-
len als diese einsame Klage nach einem Menschen, den es geben müßte,
aber offenbar in fast vierzig Jahren nicht gegeben hat und für den Rest des
Lebens nach aller Erfahrung auch niemals geben wird. Es ist trostlos, es ist
die Überschrift der Danteschen Hölle: Ihr, die ihr hierher kommt, laßt alle
Hoffnung fahren2. Es ist eine unmenschliche Welt, in der dieser Gelähmte
sich befindet, und selbst der Schimmer des Göttlichen, das Licht des All-
mächtigen, das diese kalte Erde beleuchtet, macht nur die Schatten länger
und läßt den Blick auf die Verlorenheit nur noch düsterer werden; es wäre
ja Heil nur zu erlangen, wäre man vor den anderen da!
Dieses Stichwort bietet offenbar die ganze Erklärung für diese beson-
dere Art von Gelähmtheit. Wenn wir uns eingangs überlegt haben, wie
Gefühlszustände von Blindheit, Gelähmtheit, Ausgezehrtheit – Nieder-
gedrücktheit in jeder Form – sich beschreiben ließen, so findet sich hier die
Erklärung. Die Formel, unter der all das zu verstehen ist, lautet: Die ande-
ren gehen vor, die anderen kommen mir zuvor. Die deutsche Formulierung
dieser Stelle beschreibt die gesamte Einstellung dieses Mannes: die anderen
gehen vor. So lautet das Pflichtprogramm für sehr viele Menschen. Es be-
schreibt, daß sie kein Recht auf eigene Wünsche haben; noch ehe sie irgend
etwas wollen können, arbeitet in ihnen ein unsichtbarer, unhörbarer Ge-
genwille, der ihnen erklärt: «Du mußt an die anderen denken, die anderen
sind wichtiger als du. Du mußt leben wie ein Bauer, der niemals sich an
den Abendtisch setzen darf, er hätte zuvor nicht all sein Vieh gefüttert und
den ganzen Hausstand versorgt (vgl. Lk 17,10!). Anders hast du kein Recht
zu leben; erst wenn alle Pflichten abgeleistet sind, wenn alle Ansprüche er-
füllt sind, darfst du an dich selber denken.» Die anderen gehen vor – das
ist soviel wie die komplette Rechtlosigkeit unter den Augen der anderen,

224
das ist identisch damit, in ständiger Abhängigkeit gleich einem Sklaven
leben zu müssen.
Die anderen gehen vor – das kann, ein Stück tiefer, sich noch komplexer
gestalten. Es muß ja nicht sein, daß einfach nur das, was die anderen wol-
len, was die anderen sagen, was die anderen brauchen, für wichtiger zu
gelten hat als die persönlichen Wünsche und Bedürfnisse; es kann auch
sein, daß jemand in gewissem Sinne aus Angst vor sich selber seine persön-
lichen Wünsche projektiv in die anderen hineinverlegt und das Eigene stell-
vertretend in den fremden Bedürfnissen sich zu erfüllen sucht. Die anderen
zuerst – eine solche Devise weitet das geforderte Engagement naturgemäß
alsbald auf die ganze Welt aus. Erst wenn die Gruppe, in der man lebt,
wenn die eigene Firma, wenn das eigene Kloster, wenn die eigene Kirche,
wenn die eigene Gesellschaft, wenn die Welt im ganzen in Ordnung ge-
bracht wäre, besäße man ein Recht, selber den Mund aufzumachen und
den anderen zu verkünden, was einem selber fehlt.
Wieviel an sozialem Einsatz gestaltet sich gerade so: Man nimmt bei den
anderen bevorzugt eben das wahr, was einem selber ermangelt. Doch das
merkt man nicht. Die anderen müssen «vorgehen», damit sie, vorlaufend
als Wegbereiter der eigenen Existenz, später dann die Rechtfertigung für
das selbst erwünschte Glück bilden. Natürlich kommt man auf diese Weise
niemals wirklich ans Ziel. Irgendwann bekommt man sogar ein Interesse
daran, immer an zweiter oder an dritter Stelle zu stehen. Das ganze Welt-
erleben wird resignativ und ressentimentbeladen getönt. Irgendwann wird
man erleben, daß diese Welt, die man mit soviel gutem Willen betreten hat,
sich zusammendrückt zu einer unentrinnbaren Falle. Da man selber es
nicht schafft, die ganze Welt glücklich zu machen, da man also niemals die
Erlaubnis erhält, selber glücklich zu werden, beginnt man irgendwann nei-
disch zu werden auf die anderen, die vermeintlich glücklicher sind, und
dies seit langem schon. Sie stehen überall da, und immer sind sie früher als
man selber. Es geht zu wie in dem Grimmschen Märchen vom Hasen und
Igel: man rennt sich zu Tode, und immer, wenn man meint, endlich anzu-
kommen, wird irgend jemand dastehen und sagen: «Ick bün all hier.»3 Und
wieder rast man über die Felder bis zum nämlichen Ergebnis: Immer wenn
man ankommt, besetzen schon andere die ersten Plätze, beanspruchen sie
die Territorien – ein Verdrängungswettbewerb unendlicher Konkurrenz
findet da statt und verschleißt am Ende den Rest aller Kräfte. Dabei ver-
kehrt sich jetzt alles ins Gegenteil: Einsamkeit, Verlassenheit, Isolation von
den anderen Menschen – das ist das Grundgefühl; gemeint aber war es
ursprünglich anders. Indem man die anderen vorgehen ließ, wollte man

225
ihnen eigentlich näherkommen; doch statt daß der Abstand zusammenge-
schrumpft wäre, wächst er und wächst er.
Es ist unglaublich viel, daß Jesus diesen Teufelskreis mit einem einzigen
Wort zu durchbrechen sucht. Steh auf, sagt er, nimm deine Pritsche und
geh umher. Dieses Steh auf! ist das Entscheidende. Doch man kann es voll-
kommen mißverstehen. Sagen könnte man: «Na klar, das haben wir uns
gedacht! Psychisch Kranke muß man streng anfassen, man muß sie direk-
tiv behandeln. Ein achtunddreißigjahrelanger Patient – da kann ja nur ein
Machtwort helfen! Da dieser Mann keinen eigenen Mumm mehr hat, muß
man ihm von außen Beine machen; ein klarer Befehl, eine strikte Anwei-
sung – so geht’s. Also: Steh auf!» Es ist sehr wichtig zu begreifen, daß es
genau so nicht geht. In Wahrheit spricht Jesus hier nur aus, was von innen
reif ist. Man muß dieses Steh auf! sehr leise sprechen. Denn es bedeutet so-
viel wie: «Du darfst endlich auch an dich selber denken. Höre, es ist nicht
wahr, daß immer die anderen zuerst drankommen und dir schon deshalb
zuvorkommen müssen. Du hast ein Recht, auch einmal, zumindest im Um-
gang mit dir selber, dich ernst genug und wichtig zu nehmen. Es ist mög-
lich, daß irgendwann einmal der erste Platz gerade für dich der richtige ist.
Beim Abzählen darfst du auch einmal ohne Umwege an dich selber den-
ken. Das macht dich nicht egoistisch, es richtet dich auf, es macht dich
selbständig. Da stehst du selber auf und trittst in dein eigenes Leben.»
Den Weg zur Heilung in dieser Weise zu beschreiben macht zugleich
deutlich, daß man gewiß viel Zeit verbrauchen wird, um nach der ständi-
gen Gewöhnung an die permanente Passivisierung aller eigenen Interessen
ein neues Verhalten, eine neue Überzeugung zu begründen. «Ich darf mich
einmal wichtig genug nehmen, als wäre ich jetzt der erste im Rang der
Wichtigkeiten», das würde heißen: «Ich habe jetzt einmal eine Stunde Zeit
für mich; ich darf heute nachmittag, heute abend, einmal irgend etwas tun,
was mir Freude macht. Das schließt die anderen nicht notwendig aus, es
stellt sie lediglich auf einen Platz, an dessen Seite ich selber wieder Luft
holen darf.» In einer solchen Gesinnungsänderung liegt vor allem ein
großer Freispruch von den alten Schuldgefühlen. Es muß fortan nicht mehr
sein, zuerst alle fremden Aufgaben zu erfüllen, es ist möglich, relativ um-
weglos zu sich selber zu kommen. Die Projektionen der eigenen Wünsche
können rückgängig gemacht werden, und man darf sich fragen, wieviel in
der fremden Not sich eigentlich von der eigenen spiegelt.
Es ist dies freilich gerade der Punkt, der den Moralisten in Gesellschaft
und Kirche immer wieder suspekt erscheinen wird, droht er doch darauf
hinauszulaufen, das so erwünschte soziale Engagement zu verringern,

226
droht er doch, den Einzelnen durchsetzungsfähiger zu machen. Der Ein-
zelne soll plötzlich an sich selber denken dürfen! Definiert man so nicht die
blanke Ichsucht? Das Paradox besteht darin, daß gerade in der Welt dieses
Gelähmten unsere so gewohnte «Ellenbogengesellschaft», die Sphäre stän-
diger Konkurrenz, ein brutaler Verdrängungswettbewerb, bei dem nur die
Fittesten siegreich sind, sich als feste Überzeugung etabliert hat. Drum ist
zur Hilfe zweierlei nicht möglich: Es ist nicht möglich, diesen Leidenden
«wettbewerbsfähiger» zu machen, es hilft aber auch nicht weiter, ihn
in seinen Resignationen und Minderwertigkeitsgefühlen zu bestätigen.
Worum es geht, besteht darin, die fremden Vergleichsmaßstäbe insgesamt
aufzugeben und das eigene Ich wieder wahrzunehmen. Erst wenn das er-
laubt und möglich wird, lassen sich auch die Folgeprobleme lösen. Die
Kette der ständigen Frustrationen löst sich auf: man kann nicht die ganze
Welt tragen; man muß nicht ständig doppelt unglücklich sein, indem man
einerseits daran scheitert, alle Welt glücklich machen zu wollen, und ande-
rerseits doch nur das eigene Unglück zelebriert, sondern umgekehrt: Man
darf sich sagen, daß man mit einem persönlich gelingenden Leben auch zu
dem Gelingen des Lebens anderer beiträgt. Was ich mir gönne, ist für die
anderen nicht vernutzt und vertan, sondern es geht durch mein Leben,
durch mein Herz, durch meine Augen, durch meine Hände hindurch und
erreicht auch sie. Es teilt sich mit und tauscht sich aus. Es ist überhaupt
nicht wahr, daß, wenn ich wirklich lebe, nur alle anderen weggedrängt
werden. Worauf es vielmehr ankommt, ist ein dritter Weg, auf dem es
möglich wird, dieses Leben in ständiger Konkurrenz zu verlassen.
Und das nun ist das Wichtigste: Dieser achtunddreißig Jahre lang
Gelähmte wird lernen müssen, sein eigenes Ich akzeptabel zu finden, so
wie es ist. Konkurrenz, das heißt: man muß ständig schauen, wie die ande-
ren sind; denn ob in Angst oder in realer Wahrnehmung, immer erscheinen
sie irgendwie besser, oder sie könnten doch besser werden, oder sie drohen
schon besser zu sein, und dagegen kommt man auf die Dauer nicht an.
Lenkt man indessen den Blick von den anderen weg, fragt man sich: wer
bin ich selbst? und lernt dafür ein Empfinden der Dankbarkeit, der inneren
Berechtigung, der Selbstbestätigung zu finden, so hat dieser ständige
Spießrutenlauf zu jenem phantastischen «Haus der Gnade» ein Ende. Es ist
durchaus nicht mehr nötig, auf fremde Hilfe zu warten, wenn man erst
einmal beginnt, sich auf sich selbst zu besinnen.
Nach achtunddreißig Jahren der völligen Lähmung erfordert eine solche
Umstellung der gesamten Lebenseinstellung zweifellos ein langsames Trai-
ning. Das Erstaunliche ist, daß in der johanneischen Erzählung mit einem

227
einzigen Satz Jesu sich alles wunderbar auflöst. Im Alltag wird man hinge-
gen über lange Zeit tagaus, tagein so etwas lernen müssen wie eine neue
Buchführung: Ständig bisher wurden sozusagen die Ausgaben für andere
wie Einnahmen für sich selber gebucht. Man hatte gelernt, zufrieden mit
sich erst zu sein, wenn man möglichst nützlich für die anderen war; jetzt
soll man ehrlich Soll und Haben im Umgang mit sich selbst bilanzieren.
Was ist, real gesprochen, bloßer Energieverschleiß, wo bietet sich ein Re-
servoir möglicher Erholung, wo gibt es Räume, um sich selber wieder ein-
zuholen? Lernt jemand es erst einmal, ein eigenes Ich haben zu dürfen, so
wird es möglich, aus dem Konkurrenzraum der anderen mit einem größe-
ren Selbstbewußtsein herauszutreten, und das bedeutet zugleich, sein eige-
nes Maß zu finden. Was kann ich und was möchte ich? das wird der Maß-
stab für das, was möglich und vielleicht sogar notwendig ist. Über dieses
Maß hinaus kann es keine Ansprüche geben, ja, man darf es sich sogar
sagen, daß man das Wenige, das man auf diese Weise zu sammeln lernt,
nicht sofort wieder reinvestieren muß für andere. Man darf Glück auch ein
wenig anhäufen; denn einzig im Glück gibt es keine Konkurrenz; Glück
teilt sich freiwillig mit, so wie die Schönheit der Blumen, so wie der Duft
der Rosen, so wie die Strahlen der Sonne, so wie das Schimmern des Was-
sers, so wie das Wehen des Windes. Da gibt es keine Konkurrenz und kei-
nen Neid mehr, nur eine Einladung zu gemeinsamer Freude. Alles geht zu
wie nach jenem Dichterwort: «Es möge jeder doch des eignen Glückes
warten. / Wenn sich die Rose schmückt, so schmückt sie auch den Gar-
ten.»
In unserer Geschichte geschieht das Wunderbare wirklich: Der Ge-
lähmte nimmt seine Pritsche und geht umher. An dieser Stelle hat die Er-
zählung der Wunderquelle einmal geendet. Nun aber macht der Vierte
Evangelist sich seine eigenen Gedanken über das, was er da eigentlich
überliefert bekommen hat und was er selber erzählt hat. «Ist’s denn», fragt
er sich, «damit geschehen, daß hier ein Mensch geheilt wurde? Hat das
nicht auch Auswirkungen auf die Art, wie man von Gott denkt, wie man
Religion versteht?» Diese Frage ist höchst aktuell. Immer noch haben wir
eine Theologie vor uns, die Religion und Psychotherapie streng von einan-
der trennt. Genau das Gegenteil indessen erzählt uns an dieser Stelle das
Johannes-Evangelium. Wer begreift, wie ein Mensch selber zu leben lernt,
der lernt zugleich die Welt neu verstehen, nicht nur sich selber, auch Gott.
Johannes jedenfalls diskutiert in einem Zusatztraktat das Verhältnis von
Religion und Therapie an einem für ihn typischen Thema: Es war aber
Sabbat.

228
Die Sabbatfrage war einer der Punkte, an dem die frühe Kirche Grund
hatte, sich vom orthodoxen Judentum zu trennen, doch geschah das an
sich auf der denkbar oberflächlichsten Ebene: Die Juden feiern ihren heili-
gen Tag am Samstag, die Christen mittlerweile am Sonntag – über solche
Ritualfragen kann man erneut trefflich streiten. Auch die Muslime können
ihren Beitrag dazu liefern, denn deren heiliger Tag ist der Freitag. Damit ist
die Konkurrenz der Religionen um den «richtigen» Tag der Gottesvereh-
rung schon mal über die halbe Woche verteilt. Doch was Johannes sagen
will, geht in eine andere Richtung. Für ihn sind die «Juden» zu einem Sinn-
bild starrer Gesetzesfrömmigkeit geworden. Der mögliche Antijudaismus,
der darin liegt, läßt sich nur überwinden, wenn man die damit verbundene
Problemstellung nicht historisch, sondern symbolisch beziehungsweise ty-
pologisch aufgreift. Dann hat man es mit einer überzeitlich gültigen Frage
zu tun: Wie läßt Religion sich so verstehen, daß sie der Heilung von Men-
schen hilfreich ist, oder umgekehrt: wie läßt eine Religionsform sich über-
winden, die selber zwanghaft und neurotisierend auf Menschen einwirkt?
Der Überprüfungsfall sei der Sabbat. An diesem Tage darf man bei
strenger Gesetzesauslegung nichts bewegen, nichts tun, alles muß stillste-
hen. Daraus folgt, daß gerade die «Frommen» dem Geheilten erklären: Es
ist dir nicht frei, deine Pritsche zu nehmen und umherzugehen; Gott ver-
bietet es! Plötzlich entdeckt man mit den Augen des Johannes, daß es im
Schatten von all dem, was wir psychologisch soeben entwickelt haben,
einen religiösen Grund für die Gelähmtheit geben kann: Es ist möglich,
Gott wie einen befehlgebenden Dämon wahrzunehmen und zu lehren, bis
daß aus der Gottesbeziehung nichts weiter wird als ein Zwangsverhältnis
voller Angst und Schuldgefühl. Da ist ein fremder, unverständlicher Befehl,
der festlegt, daß selbst das Gesundwerden eines Menschen im Namen
Gottes nur pünktlich, nur uhrzeitgerecht zu geschehen hat und daß des
Menschen Freiheit nichts weiter darstellt als eine widergöttliche Anma-
ßung. Plötzlich wird deutlich, daß die Gelähmtheit eines Menschen durch
eine zwangsneurotische Form des Religiösen bedingt sein kann. Eine sol-
che Religion, die Menschen nicht aufrichtet und ermutigt, sondern sie nie-
derdrückt und fesselt, eine solche Angstreligion kennt man quer durch die
Jahrtausende zur Genüge. Um einen solchen Gelähmten zu heilen, muß
Jesus ihn offenbar befreien von diesem widergöttlichen Typ von Religio-
sität, innerhalb dessen der tradierte Anspruch auf Gott identisch geworden
ist mit der Knechtung von Menschen, mit der Vergewaltigung der Persön-
lichkeit. Im Namen einer solchen Religion will man nicht Menschen, die
sich frei bewegen, – man will es am Sabbat nicht, und man will es über-

229
haupt nicht. Aber selbst wenn die Menschen es wenigstens außerhalb des
Sabbats täten, blieben sie gleichwohl dieselben Marionetten; sie erschienen
dann zwar äußerlich frei, aber nur weil man ihnen erlaubt hätte, daß sie an
Nicht-Sabbat-Tagen sich bewegen dürften; Menschen indessen, die darauf
warten, daß man ihnen erlaubt, wann sie frei sind, sind absolut unfrei,
allenfalls daß sich ihr Spielraum per Erlaubnis ein Stück erweitert. Im
Grunde bleiben sie dieselben Kettenhunde, auch wenn man ihre Leine um
ein paar Zentimeter verlängert an den Pfahl gebunden hält; je mehr sie im
Kreise um den Pflock herumlaufen, wird ihre Kette ohnedies wieder enger,
– Hunde sind zu dumm, zu merken, daß ihre eigenen Bewegungen zur Fes-
selung führen müssen. Jeder Affe würde merken, daß die Kette, wenn er
zwanzigmal um einen Baum springt, sich verkürzt und ihm die Luft aus-
geht, ein Hund eben nicht; er ist nicht klug genug, um frei zu sein. In die-
sem Sinne ist jederzeit eine Religion möglich, die die Menschen kujoniert
und sie zu Hunden macht, indem sie ihnen das Denken austreibt. Wenn
«Denken» unter Dogmenzwang nur noch soviel bedeutet, daß wir hören,
was man über Gott zu denken hat, dann ist es passiert. Dann gibt es keine
Freiheit, keine Selbständigkeit, kein eigenes Urteil. – Sabbat ist, und: es ist
dir nicht erlaubt! So steht es!
Gegen diese Art von Zwangsneurose in der Religion gibt es zunächst
einmal wirklich wohl nur den Schritt, den der eben Geheilte in der jo-
hanneischen Ausdeutung tut. Er kann nicht sagen: «Macht, was ihr wollt!
Ich bin ein Mensch; das habe ich gerade gelernt, und jetzt gehe ich weiter,
über euch hinaus oder über euch hinweg, wie ihr wollt; – nur: mir geht ihr
jetzt aus dem Weg!» Überhaupt nicht kann er so sprechen. Das einzige,
was er tun kann, besteht darin, den vermeintlichen Gotteswillen zu konter-
karieren durch eine andere, menschlichere Macht, die er soeben gefunden
hat in dem Manne, der zu ihm sagte: Nimm deine Pritsche und geh umher.
Bei jeder Behandlung einer Zwangsneurose wird man eine solche Phase
gegenläufiger Autoritätsbildung kaum vermeiden können. Vor allem die
unheimliche Angst, durch den Gebrauch der eigenen Freiheit schuldig zu
werden, wird sich kaum anders beruhigen lassen, als indem jemand eine
Weile lang eine Art Bürgschaft übernimmt und erklärt: «Laß deinen
Schuldschein ablaufen, wie er will, – ich übernehme ihn. Wenn du dich
derart schuldig fühlst, daß du glaubst, der liebe Gott stoße dich in die
Hölle, so schreib all deine Schulden für den Jüngsten Tag auf mein Konto;
ich werde vor Gott für dich einstehen. Jetzt aber lebe du, ob Sabbat ist
oder nicht. Bewege du deine Füße, bewege du dich in deinem Leben, und
alle Schuldgefühle, die sich dabei ergeben, buche auf das Leihkonto meiner

230
Existenz. Wenn sie dich fragen, warum du so tust, sage, ich hätte dir so
gesagt!»
Psychologisch läßt sich das Thema sogar noch vertiefen. Religionspsy-
chologisch müßte man sagen, daß hier ein bestimmtes Vaterbild, das zur
Gottesvorstellung überhöht wurde, widerlegt werden muß, indem ein an-
derer in die Rolle der Vaterautorität eintritt. Da muß ein anderer Mensch
mit seiner Person die alte Gottesabhängigkeit gegenbesetzen, auf daß sich
am Ende Gott wiederfinden läßt als ein wirklicher «Vater», wie Jesus sagen
wird, nicht mehr als ein schrecklicher Patriarch voller Willkür, sondern als
jemand, der möchte, daß ein Mensch lebt.
Und jetzt muß man Johannes sehr genau zuhören. Diese vermittelnde
Instanz zwischen den Menschen, die Gott zu fürchten gelernt haben, und
dem Gott, den sie wiederfinden sollen als nur bejahend, als nur bestäti-
gend, ist der Mann aus Nazaret, ist Jesus. Das Erstaunliche an diesem Text
ist die Tatsache, daß es bei dem Vorgang der Heilung offenbar nicht darauf
ankommt, sich von der Person Jesu ein geradewegs phantastisches, meta-
physisches oder dogmatisches Bild zu machen. Wohl, alle christliche Erzie-
hung sagt uns, das Erste und Wichtigste, die Grundlage von allem, sei es,
Jesus in seiner Göttlichkeit zu erkennen; wer das nicht lerne, komme nie-
mals zu Gott. Diese Geschichte indessen denkt ganz anders: Wer Jesus ist,
scheint zunächst völlig nebensächlich zu sein; nicht einmal sein Name ist
dem Geheilten bekannt. Einzig das, was von diesem Mann ausging und
was dem Gelähmten auf die Beine geholfen hat, bildet den Erfahrungs-
raum, aus dem alles weitere sich ergibt. Und umgekehrt darf man
schließen: Wo eine solche Erfahrung nicht gemacht wird, mag man von
Jesus reden, soviel man will, es wird ins Leere gehen, es wird genau so
falsch sein wie alles Reden von Gott zuvor.
Dann allerdings bleibt es dabei: ein nächster Schritt muß darin liegen,
daß man nicht mehr einer fremden Autorität, auch nicht einer wohlmei-
nenden, menschenfreundlichen, das eigene Ich bejahenden, Folge leistet,
sondern daß man das, was sie zu sagen hat, in gewisser Weise sich selber
sagt. Alles Fremde muß verinnerlicht werden zum Eigenen, und zwar jetzt
so, daß man darin zu sich selbst aufwachsen kann. Dieser Schritt läßt sich
wiederum nicht durch Beschluß herbeiführen. Es ist in diesem Text sehr
fein ausgedrückt, daß Jesus selber den ehedem Gelähmten wiederfindet,
nachdem er sich eine Zeitlang aus dessen Gesichtsfeld herausbewegt hatte,
vom Platz der Menge weg. Mit anderen Worten: Die Autorität, die einmal
unmittelbar gegenwärtig und in ihrer Nähe notwendig war, hat sich ent-
fernt; nun aber kommt sie innerlich zurück, um einen letzten Freispruch zu

231
erteilen: Es war vollkommen richtig, sein Leben in die Hand zu nehmen
und die Bahre, auf der man lag, selber als Traginstrument der eigenen Exi-
stenz anzuheben.
Was dann beginnt, ist eine Auseinandersetzung im Prinzip. Sie endet an
dieser Stelle vorerst ebenso schroff und abrupt wie am Anfang. Da machen
die «Juden», erklärt Johannes, Jagd auf Jesus. So muß es wohl sein. Denn
sobald man die verinnerlichte Gewalt, das Zwangssystem der Angst eines
bestimmten Typs der Religionspsychologie, vermenschlichen möchte, wird
man selber zum Haßobjekt dieser Art von Frömmigkeit. In einer Religion,
in der Gott zum Feind des Menschen geworden ist, wird als Gottes Feind
betrachtet werden müssen, wer für die Menschen Partei ergreift. Er gilt
dann als ein Gottloser, eben als ein Ungläubiger; er ist nicht im tradierten
Sinne mehr orthodox; und deshalb hat man jedes Recht, ihn in die Enge zu
treiben, ihn zu hetzen, ihn fertigzumachen. Denn der Gedanke auch nur,
da wäre eine Menschlichkeit, die sich aus tieferem Vertrauen zu Gott als
dem Vater formt, kann den «Gottesbesitzern» (den «Juden») nimmermehr
kommen. Sie sind im Recht, sie haben recht, und sie werden töten müssen,
um im Recht zu bleiben. Und selbst die Gräßlichkeit ihrer Hinrichtungen
wird in ihren Augen kein Argument ihrer Widerlegung sein, nur ein Mo-
ment ihres Triumphes; sie wird ihre Selbstsicherheit nur noch vermehren.
Was Jesus dagegensetzt, ist eine Neuinterpretation des Sabbatgebotes
und damit der gesamten Religion. Gott wirkt, sagt er – und man muß hin-
zufügen: auch am Sabbat. Es ist nicht möglich, Gott als einen Pensionär,
als einen Ruheständler oder als eine Schlafmütze zu denken, die sich gewis-
sermaßen an der Schöpfung der Welt überhoben hat und nun erst einmal
für 24 Stunden die Augen schließen muß, so daß in dieser Zeit auch die
Menschen wie in hypnotischer Starre liegen oder wie Lemuren nur ganz
langsam sich bewegen müßten. Gott wirkt. Er ist die einzige Wirklichkeit,
kann man auch sagen. Ein wahrer Sabbat müßte deshalb ein Freiraum der
Menschen statt ihre Strafzeit auf der Reservebank sein. Gott wirkt, das be-
deutet: Gott würde nie einen Menschen nutzlos und sinnlos auch nur eine
Stunde lang länger leiden lassen, als es unvermeidbar ist. Wo irgend man
Menschen helfen kann, da sollte man’s unverzüglich tun. Das ist die Wir-
kung, die von Gott ausgeht. So ist, sagt Jesus, mein Vater.
Natürlich, wer die Bibel mit dogmatischem Anspruch liest, der wird an
Stellen wie diesen wesentlich die Formel einer metaphysischen Christologie
heraushören: Jesus ist der Sohn Gottes, und gerade so verstehen es hier die
«Juden». Sie werden durch ein solches Bekenntnis noch haßerfüllter, sie
werden ihren Zorn gegen einen Jesus, der Gott in christlich-dogmatischem

232
Sinn seinen Vater nennt, sich selber mit ihm identifizierend, nur noch be-
gründeter finden. Es ist nicht zu leugnen: das Johannes-Evangelium möchte
in griechisch gedachtem Seinsdenken Gott und Jesus als seinen Sohn onto-
logisch ineins betrachten, so wie später der Kirchenlehrer Athanasius
gleichnishaft in seiner «Christologie» den Strahlenglanz der Sonne mit der
Sonne selber identifizieren wird. Doch an dieser Stelle sieht man deutlich
den Übergang: Es geht (noch) nicht eigentlich um eine Identität des Seins,
es geht existentiell um die Weise eines Vorbilds, das sich auswirkt. «Gott
wirkt als mein Vater» heißt: «Ich setze alles Vertrauen darin, daß Gott nur
gut ist. Und das ist meine Ermächtigung, zu allen Menschen gut zu sein
und nicht länger zu fragen, wann das sein darf und ob das denn sein soll.
Die Not der Menschen ist allgegenwärtig. Die Freiheit der Menschen muß
und darf genau so allgegenwärtig sein. Sie ist das, was Gott zu jeder Zeit
möchte. Und wer einem Menschen dabei zur Seite steht, der in Wahrheit
steht Gott zur Seite.» Mein Vater – das beschreibt ein neues Verhältnis,
nicht mehr der Angst, sondern einer kindlichen Offenheit, eines Auf-
blickens zu Gott mit Stolz und mit Würde. Ja, Jesus «identifiziert» sich an
dieser Stelle mit Gott, aber er tut es in seinem Handeln; er beansprucht bei
Johannes nicht göttliche Prärogative. So wie Gott ist, müßten auch wir
Menschen werden. Im Matthäus-Evangelium ist dies ein ganz kostbares
Wort einmal in der Bergpredigt gewesen: Seid darum vollkommen wie euer
Vater im Himmel vollkommen ist (Mt 5,48). Lukas gibt das wieder mit
den Worten: Seid barmherzig wie euer Vater barmherzig ist (Lk 6,36). Sol-
che Worte sprach der historische Jesus wirklich, darin rückte er Gott näher
oft als den Menschen, die an einem so grausamen Gott sich festmachen
mußten oder gar mochten.
Dann bleibt, wie zum Abschied, hier noch das Wort an den ehedem
Gelähmten übrig. Da! Du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr. Das
ist eine Formel, die Jesus später noch, im 8. Kapitel des Johannes-Evange-
liums, der Sünderin sagen wird (Joh 8,11). Sie setzt, wie in Mk 2,1-12,
einen Zusammenhang von «Lähmung» und «Sünde» voraus, doch geht sie
das Problem umgekehrt an: während in der Gelähmtenheilung bei Markus
die Vergebung der Sünden (im Plural!) allererst die Kraft zu einem eigenen
Umhergehen schenkt, taucht das Nicht-mehr-Sündigen erst in der jo-
hanneischen Reflexion auf. Man kann daraus erneut hören, es gehe wieder
um Gebote, um Gesetze und deren Übertretung, es gehe um Sünde in die-
sem äußeren Sinn. Nach allem aber, was wir gehört haben, verstehen wir
das Wort tiefer: Sünde, das bedeutet in johanneischem Kontext, die neu ge-
wonnene vertrauensvolle Beziehung zu Gott nicht wirklich zu lernen, son-

233
dern weiter im Feld der Entfremdung zu verbleiben, ohnmächtig, ausgelie-
fert, den anderen preisgegeben inmitten einer gnadenlosen Welt. Sünde in
diesem Sinne gibt es für Johannes (ganz wie für Paulus!) eigentlich nur in
der Einzahl; sie ist eine in sich geschlossene Macht, ein Zustand der Verlo-
renheit im Gefühl einer abgründigen Nicht-Akzeptiertheit. Niemand kann
diese «Sünde» wollen. Um bestimmte Gebote geht es dabei gar nicht, wohl
aber um eine Grundentscheidung: Wollte jemand immer noch die alte
Angst setzen gegen dieses neu sich ermöglichende Vertrauen, dann aller-
dings würde alles in seinem Leben immer nur noch schlimmer. Selbst die
Gelähmtheit bildete dann nur den Anfang einer noch tieferen, endlosen
Traurigkeit.
So entläßt diese Erzählung uns mit einer Wahl, die in Wahrheit gar keine
ist. Wer erlebt, wie Jesus Menschen anzuschauen vermag, wer vernimmt,
wie er mit Menschen zu reden imstande ist, der begreift, wie der eigene
Wille sich von neuem zu regen beginnt, wie die gelähmt erscheinenden
Glieder von innen her wieder lebendig werden. Und selbst wenn jeder
Schritt uns zunächst weh tut, – es ist, wie wenn man mit einem eingeschla-
fenen Bein aufsteht: es sticht wie mit Nadeln, und doch ist es ein reines
Glück und eine reine Freude, diesen Schmerz zu spüren, denn man weiß: er
wird vergehen; danach aber liegt vor unseren Füßen eine offene Welt,
Gottes Welt, so wie er sie für uns gemacht hat; und seine Hand ist es, wel-
che die unsere nimmt und uns führt. Eine solche schützende Hand ist das,
was Jesus war und sein wollte; dadurch wurde er wirklich zum «Licht-
glanz der Sonne», zum «Sohn» Gottes.

234
Joh 5,19-30: Auferstehung zum Leben
19Da antwortete Jesus und sagte ihnen: Bei Gott, ja, bei Gott,
ich sage euch: Nicht kann der Sohn wirken – von sich aus
nichts! – außer er schaut auf den Vater, was der tut (3,11.32).
Denn was (immer), – wenn er es tut, tut es gleichermaßen auch
der Sohn. 20Denn der Vater ist dem Sohn Freund (3,35); und
so: alles zeigt er ihm, was er selbst tut. Ja, noch größere als
diese wird er ihm zeigen – Werke, daß ihr euch wundert! 21Wie
nämlich der Vater die Toten erweckt und lebendig macht, so
auch der Sohn: die er will, macht er lebendig. 22Denn nicht der
Vater hält das Gericht, über niemanden (Dan 7,10.13.14), son-
dern alles Gericht hat er dem Sohn gegeben (Apg 10,42), 23daß
alle ehren den Sohn, wie sie ehren den Vater (Phil 2,10.11).
Wer den Sohn nicht ehrt, nicht ehrt der den Vater, der ihn ge-
sandt hat (Lk 10,16; 1 Joh 2,23).
24Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Wer mein Wort hört und

glaubt dem, der mich ausgesandt, hat unendliches Leben; ins


Gericht kommt er nicht, sondern hinübergeschritten ist er vom
Tod ins Leben (3,16.18). 25Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch:
Es kommt die Stunde und jetzt ist sie (4,23!), da die Toten
hören werden die Stimme des Gottessohns, und zum Hören ge-
kommen, werden sie leben (Eph 2,5.6). 26Wie nämlich der
Vater Leben in sich selbst hat, so hat er auch dem Sohn ge-
geben, Leben in sich selber zu haben (1,1-4). 27Auch Vollmacht
hat er ihm gegeben, Gericht zu halten, weil er (der) Menschen-
sohn ist (Dan 7,10.13.14). 28Nicht wundert euch darüber; denn
es kommt eine Stunde, in der all die Gräberbewohner hören
werden auf seine Stimme, und 29herauskommen werden sie: die
Gutes getan, zur Auferstehung des Lebens, die aber Schlechtes
verübt, zur Auferstehung des Gerichts (Dan 12,2; Mt 25,46; 2
Kor 5,16).
30Nicht kann ich wirken von mir aus – nichts! Wie ich höre, so

richte ich, und drum: das Gericht, meins, ist gerecht; denn
nicht suche ich meinen eigenen Willen, sondern den Willen des-
sen, der mich gesandt hat (6,38).

Das 5. Kapitel des Johannes-Evangeliums bietet eine eigenartige Medita-


tion. Was eigentlich ist passiert, als Jesus einen Gelähmten nach 38 Jahren
der Bewegungsunfähigkeit am Teich von Betesda in Jerusalem auf ein Wort
hin dazu brachte, seine Bahre zu nehmen und nach Hause zu gehen? Das
geschah am Sabbat, und augenblicklich richteten sich dagegen die Mahn-
reden und Verurteilungen der «Juden»: So etwas darf man nicht tun
gegen die Ordnung, die Mose gesetzt hat! Der Geheilte indessen hat für

235
sein Gebaren keine andere Erklärung, als auf einen Mann hinzuweisen,
den er nicht kennt, der ihm aber gesagt hat: Nimm deine Pritsche! Das war
der Anfang seiner Gesundung. Die «Juden» stellen Jesus zur Rede; der
aber hat für sein Tun keine andere Erklärung noch Entschuldigung, als
daß, wenn Gott wirkt, auch er wirken muß und darf. Sein Werk ist die
Freiheit der Menschen. Kaum gesagt, eskaliert die ganze Szene, wie Johan-
nes sie darstellt. Jesus identifiziert sich mit Gott, – er lästert Gott! Das ist
der Einstieg für jene Gedanken, die der johanneische Jesus nun äußert.
Mit den Texten des Johannes-Evangeliums verhält es sich vergleichbar
so wie in der modernen Rembrandt-Forschung mit den Gemälden eines
der größten Malergenies des Abendlandes. Die Kunstgeschichtler fragen
sich, ob die Bilder des niederländischen Meisters immer schon in diesem
charakteristischen Dunkel gemalt worden sind oder ob sie später, im Ver-
lauf der Jahrhunderte, ihre Helligkeit verändert haben, wie wenn sie eine
Patina an Dunkelheit auf sich gezogen hätten. Bei den Bildern von Rem-
brandt ist diese Frage offen; bei den Texten des Johannes-Evangeliums ist
sie eindeutig beantwortet: Alles, was der Vierte Evangelist schreibt, ist eine
Art Ikonenmalerei in Worten. Hellglänzend, auf Goldgrund, wie in den
Kirchen des Ostens, sollen die Bild-Texte dieses Evangeliums leuchten. Sie
ruhen in sich selbst, sie möchten ein Zeichen der Ewigkeit mitten in die
Zeitlichkeit hineinstellen. Sie möchten den Himmel auf die Erde holen,
indem sie die Person des Mannes aus Nazaret zeitenthoben, für immer gül-
tig, zu beschreiben unternehmen. Doch gerade weil dieser Anspruch das
ganze Johannes-Evangelium durchzieht, hat es tatsächlich das Schicksal
einer Ikone erlitten. Hunderte von rußig flackernden Kerzen sind von zit-
ternden, suchenden Händen andächtig davor aufgestellt worden, und der
Ruß und der Staub der Jahrhunderte hat sich dunkel darübergelegt. Alles,
was wir in dieser Lehrrede hören, kommt uns überaus vertraut vor und ist
doch merkwürdig fremd, fast unverständlich geworden. Allein die Aus-
drucksweise schon, in der die Auseinandersetzung zwischen Jesus und den
«Juden» geführt wird, zeugt von diesem schroffen und schmerzlichen
Schnitt, der zwischen dem «Messias» aus Israel und dem Volk Israel von
einem der Evangelisten gezogen wird. Dieser sein Jesus gehört nicht mehr
seinem Volk an, sondern einer Gemeinschaft von Glaubenden, die aus
Israel ausgewandert ist und die rückblickend den Ton des Vorwurfs, ja,
sogar des Fluchs über die Vergangenheit breitet. Bereits diese Situation ist
für uns Heutige schwer erträglich, ja, eine Zumutung, zumindest eine Auf-
gabe theologischer Selbstkorrektur. Nun aber hat die kirchliche Lehrtradi-
tion die Sprache des Johannes wie einen Steinbruch für fertig zu meißelnde

236
Dogmen gebraucht und mißbraucht. Jesus spricht an dieser Stelle von sich
als dem Sohn Gottes. Allein das schon ist zu dem kostbarsten Ausspruch
der gesamten christlichen Glaubenslehre geworden; und hier findet sich die
Beglaubigung, das Zeugnis eines Evangelisten: Jesus ist der Gottessohn; er
ist der Herr des Gerichtes, Herr also über Lebende und Tote. Er trägt in
sich göttliche Macht, aufzuerwecken zu ewigem Sein. – All das steht den
Worten nach in diesen Texten und ist doch in dogmatischer Verwendung
falsch gedacht, weil es in Aussagen des Seins verwandelt, was von den jo-
hanneischen Worten selber her sich einzig in einer Form der Beziehung
mitteilen läßt.
Der Unterschied ist deutlich. Man stelle sich einen schlechten Biogra-
phen, Journalisten oder Schreiber vor, der sich zum Ziel gesetzt hat, eine
bestimmte Person darzustellen. Er recherchiert, er informiert sich, er kom-
piliert, er setzt am Ende etwas zusammen, das einer äußeren Beschreibung
der geschilderten Person ähnelt. Alles, was er erzählt, tritt mit dem An-
spruch auf, objektiv, richtig also, realitätsbezogen, faktengesichert, wieder-
zugeben, wer oder was der Betreffende ist. Eine solche Darstellung liefe
Gefahr, alles zu wissen und buchstäblich nichts zu verstehen. – Man denke
sich umgekehrt einen guten Biographen, einen wirklichen Schriftsteller,
einen Mann, der die Gabe besitzt, sich in das Portrait dessen, den er schil-
dern will, hineinzudenken. Dann wird er nicht sagen, was für eine Person
jener «ist», den er charakterisieren möchte; er wird vielmehr mitteilen, was
seine Gedanken waren, mit anderen Worten: worum es ihm wesentlich
ging, was er wirklich wollte, worauf er sich entschieden und entscheidend
bezog. Das «Sein» der betrachteten Person, recht verstanden, stammt aus
diesem Verhältnis der inneren Einstellung, und das wird er abzubilden ver-
suchen. Welche Gedanken nahm die zu schildernde Person wesentlich
ernst? Mit welchen Menschen ging sie wesentlich um? In welchen Zusam-
menhängen und aus welchen Gründen existierte sie?
Es ist klar, daß diese zweite Form von Biographie die des Johannes-
Evangeliums bildet. Dieses Evangelium «vergißt» jedes Wort, das Jesus
historisch einmal gesprochen hat; es will nicht wissen, welche Taten Jesus
in Wirklichkeit zuzuschreiben sind. Ein paar Anhaltspunkte sind ihm voll-
kommen genug, – jene «Wunderquelle» zum Beispiel, die, in sich schon
legendär genug, von sechs besonderen «Werken» des Jesus aus Nazaret
berichtet; fast jede dieser «Taten» gibt das entscheidende Stichwort für den
Vierten Evangelisten, um lange Lehrreden, um christliche «Midrasche» der
vorliegenden Überlieferung hinzuzufügen. Alles ist da in eine quasi mysti-
sche Vision getaucht. Wenn du den Mann aus Nazaret verstehen willst,

237
legt das Johannes-Evangelium sich selbst und den Lesern als Grundvoraus-
setzung nahe, dann darfst du nicht fragen, wer er war und was er gemacht
hat, dann mußt du selbst mit deiner Existenz dich an den Ort begeben, der
für ihn entscheidend war. Diesen entscheidenden Punkt nannte er Gott;
und nun ist es die Frage, wie er davon sprach und wie er sich selber sah.
Da wird bei Johannes das Wort von Jesus als dem Sohn Gottes gespro-
chen, und er stellt eine Gleichsetzung auf: Wie der Vater wirkt, so wirkt
der Sohn; das ist eine Identität, aber sie ergibt sich aus der Dichte einer
Beziehung, sie wird erläutert aus dem Umraum der Liebe; einzig so, meint
Johannes, wird man das Rätsel des Nazareners begreifen können. Was
ihn trug, war das Vertrauen in eine Liebe, die ihn einhüllte und die ihn
bestimmte, so zu werden, wie er sein Vorbild sah. Denn der Vater ist dem
Sohne Freund; und so: alles zeigt er ihm, was er selbst tut; drum: wie näm-
lich der Vater die Toten erweckt und lebendig macht, so auch der Sohn.
Alles Leben in diesen Schlüsselworten ist getragen von Gabe und Aufgabe.
Fragen wir uns also, wie wir unser eigenes Leben so wahrnehmen können,
daß es von diesen Begriffen wesentlich erfüllt ist, so hören wir in der Spra-
che des Johannes-Evangeliums bereits heraus, wie in den Fluchtlinien die-
ser Worte alles zusammenlaufen wird in dem Satz aus den sogenannten
Abschiedsreden: Wie mich der Vater gesandt hat in die Welt, so sende ich
euch in die Welt (Joh 17,18). Alles soll sich fortsetzen durch uns, die wir
uns verstehen von Jesus her, so wie dieser sich verstand von Gott her.
Im Mittelpunkt von allem steht da der Gedanke der Sendung selber. Wir
sind auf diese Vorstellung bereits anläßlich des Themas der Berufung ge-
stoßen (vgl. Joh 1,35-42): Kein Mensch kann leben, ohne daß er spürt,
wozu er berufen oder gerufen ist. Jeder von uns fühlt diesen Punkt in sich,
in dem konzentriert ist, was er tun soll, was er werden soll, – etwas, das
nur in ihm sich realisieren kann. Darauf zu schauen, daraus zu existieren
ist das ganze Leben. Man wird es aber nur finden, wenn man sein Leben
selber wie etwas Gnadenhaftes, wie etwas Unverdientes, wie ein unglaubli-
ches Geschenk entdeckt, und dazu gehört das Grundgefühl, von einer
Liebe getragen zu sein, die alles im Leben begründet, obwohl sie selber
ohne Grund ist, die alles erklärt und klarmacht, obwohl sie selber nicht zu
erklären ist. Ihr sich zu verdanken ist unser ganzes Leben, und in Dankbar-
keit darin zu wachsen ist all unsere Größe; von dorther allein bestimmt
sich unsere Nähe zu Gott.
Der Ausdruck vom Sohn Gottes selber ist eine alte Chiffre, deren Her-
kunft wir zur Vermeidung von Mißverständnissen immer wieder betonen
müssen. Wenn wir die Sprache der Mythen, aus welcher der Begriff

238
stammt, uns in ein paar Klängen und Tonspielen zu Gehör bringen, so neh-
men wir augenblicklich eine bestimmte Poesie wahr, die wir mit dogmati-
schen Formulierungen nie erreichen können. Geschichten alter Religionen
konnten davon erzählen, daß die Blumen Töchter der Sonne seien, und sie
wollten damit sagen: ihre Schönheit macht sie den Strahlen der Sonne ähn-
lich, ihre Suche, mit der sie sich in die Wärme des Sonnenlichts aufrecken,
zeigt, daß sie selber sonnenhaft sind, ja, daß sie aus dem Inneren der Sonne
auf die Erde gekommen sind. – Oder wenn die Mongolen ihre Pferde die
Söhne des Windes nannten, so wollten sie damit sagen, ihre Pferde seien so
schnell wie die Wolken am Himmel, und aus ihren Nüstern in der Kälte
der Steppe bliesen sie selber den Wind vor sich her, der die Wolken treibt,
und mit ihren Hufen berührten sie kaum die Erde, so schnell seien sie.
Aussagen über den Himmel und über die Erde bilden dabei den maleri-
schen Hintergrund für die Wesensbeschreibung von etwas. So auch, wenn
man im Alten Ägypten davon sprach, daß der König, der Pharao, der Sohn
der Sonne und des Windes sei. Man wollte sagen, in ihm verkörpere sich
alles, was auf Erden leben läßt und allen Lebewesen Fruchtbarkeit schenkt,
was die durchfeuchtete niltrunkene Erde mit einem Überreichtum an
Leben begabt und was rauschend, unsichtbar, wie der Geist Gottes selbst,
als Atem des Lebens die Erde durchweht, um die Keime des Lebens weiter-
zutragen. Dieses Geheimnis des Lebens und der Fruchtbarkeit war für die
Alten Ägypter repräsentiert in der Macht ihres Königs, der selber nichts
war und sein sollte als die auf Erden lebende Gottheit, als die Verkörpe-
rung der Sonne und des Windes unter den Menschen am Nil. Ganz ähnlich
lautet die erste Antwort, die Jesus hier seinen Gegnern gibt: er wirke über-
haupt nichts aus sich selbst; alles, was er tun könne, habe er von seinem
«Vater» erschaut und erlauscht, und seine ganze Kunst bestehe darin, das
Geschaute nachzuahmen, – eine göttliche Imitation.
Fast immer wird man Menschen, die sagen, sie suchten nach ihrer inne-
ren Bestimmung, vorzuwerfen geneigt sein, sie suchten ja nur sich selbst,
sie seien nichts weiter als Narzißten und Egoisten, sie kreisten ja lediglich
um die Verwirklichung ihres Selbst. Nichts von all dem indessen ist wahr.
Ein Mensch, der seine Berufung, seine Sendung findet, tut nichts aus sich,
sondern er läßt sich tragen und durchströmen von einer Kraft, die sein
Wesen bestimmt, er schwingt ein in die Grundlage dessen, was in ihm lebt
und was in ihm zum Leben möchte. Darum macht er nichts aus sich selbst,
sondern er ist in wörtlichem Sinne «gehorsam».
Wenn wir hören, jemand könne nichts tun von sich her, sondern nur,
was er den Vater tun sehe, das tue er selber, so taucht wohl unvermeidbar

239
die Vorstellung drohender Entfremdung auf. Die Lehre der Kirche läuft
denn auch geradewegs auf die Aussage hinaus: «Du selber kannst von dir
her nichts Wahres und Rechtes tun; nur was von außen kommt, schenkt
dir die Wahrheit.» Wie aber sollte man auf Gott anders hören, außer man
würde seine Sprache vernehmen im eigenen Inneren? Niemals redet Gott
äußerlich, niemals ungeistig, sondern einzig im Zentrum des eigenen Her-
zens spricht er zu uns, sehr leise deshalb, doch um so wirkungsvoller. – «Er
identifiziert sich mit Gott», sagen die Gegner über Jesus; doch was der
johanneische Jesus in Wirklichkeit sagt, ist ganz einfach dies: «Ich will
doch nur tun, was Gott auch tut; ich möchte lediglich das, was er auch
möchte.» Jeder, der sich selber findet, wird auf solche Art «identisch» mit
Gott, und man kann auch in biblischem Sprachgebrauch, wie wir schon
sahen, dabei kaum unterscheiden: geht da die Rede von dem Sohn Gottes
oder geht da die Rede von dem Knecht Gottes? Beides auf hebräisch ist ein
und dasselbe Wort; es bezeichnet zudem eine Wesensgleichheit im Ur-
sprung, eine Gemeinschaft vollkommenen Gehorsams. Fragt man sich
daher: Wie wirkt denn Gott in seinem Sohn, johanneisch geredet, so müßte
man sagen: Das Geheimnis des Mannes aus Nazaret war es, daß er Gott
nicht im Weg stand, daß er mit seiner Person keinen Schatten über die
Menschen warf, sondern daß er sich durchsichtig machte zum Licht. Er
war als Person so gottzugewandt, daß die Menschen in seiner Nähe zu sich
selbst hinfinden konnten und ineins damit zu Gott als ihrem Ursprung.
Inhaltlich wird dieser Vorgang im Johannes-Evangelium bestimmt und
beschrieben als Übergang vom Tod zum Leben.
Die gesamte Rede ist erkennbar in zwei Ringhälften aufeinander bezo-
gen; zum ersten auf die Angriffe und Anschuldigungen der Gegner, – denen
wird gesagt: «Ihr werdet Taten sehen, daß ihr euch noch wundern wer-
det.» Zum anderen aber wird mit denen geredet, die schon vom Tod ins
Leben hinübergegangen sind, – denen wird gesagt: «Ihr braucht euch nicht
zu wundern.» Und kaum daß beide Ringe sich schließen, umschließen sie,
nach Art eines kostbaren Geschmeides, einen Stein, der verkörpert, wor-
aufhin diese beiden Ringteile geformt wurden. Denn der Schlußsatz ver-
dichtet die ganze Passage auf vollkommene Weise noch einmal: Das Ge-
richt, meins, ist gerecht; denn nicht suche ich meinen eigenen Willen,
sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.
Worum also geht es hier zwischen Leben und Tod, zwischen Auferste-
hung und Gericht? Wir müssen die Ausgangsszene dieses ganzen monolo-
gisch reflektierenden Gesprächs uns noch einmal vor Augen stellen, um zu
begreifen, was Johannes mit «Tod» meint.

240
Die ersten drei Evangelien verwenden ein ganz bestimmtes, zeitlich ge-
ordnetes Schema zur Formulierung menschlicher Hoffnung angesichts des
Todes. Danach gilt das Bibelwort: Des Menschen Leben währt siebzig
Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre, und all sein Dasein ist
Mühsal und Plage (Ps 90,10); dann ereilt ihn der Tod, und er tritt ein in
das Gericht; das trennt die Menschen voneinander: die einen für die Auf-
erstehung zum Himmel, die anderen für die Auferstehung zur Hölle, – so
in der jüdischen Apokalyptik, und so ganz sicher auch im Denken des hi-
storischen Jesus von Nazaret. Johannes aber denkt nicht derart mytholo-
gisch in zwei aufeinanderfolgenden Zeitstufen. Seine Vorstellung von Zeit
und Wirklichkeit ist viel eher «ägyptisch». Danach «wartet» der Himmel
nicht bis jenseits der Todesmarke, sondern er berührt die Erde jetzt bereits,
in jedem Augenblick, da wir richtig zu leben beginnen. So wie die Pharao-
nen ihre Pyramiden, ihre Totenkammern, ihre Stätten der Ewigkeit, für die
Göttin errichteten, «die das Schweigen liebt», für die Göttin Meretseger,
und wie sie zu Lebzeiten bauten für die Ewigkeit, so sollten, meint Johan-
nes, die Menschen, durch die Worte Jesu belehrt, ihren Himmel auf Erden
gestalten, sie sollten ihre «Lichthäuser» errichten, indem sie selber licht-
durchlässig würden für sich und für andere. Da gilt es nicht, auf den Über-
gang vom Leben zum Sterben hin zu leben und vom Tod dann zu einer
weltjenseitigen Wirklichkeit hinauszufinden, sondern alles, was von Gott
her Leben ist, jetzt schon zu erreichen. Die Stunde kommt – ein solcher
Satz klingt noch, wie die ersten drei Evangelien ihn hätten formulieren
können, aber: sie ist jetzt – so spricht nur Johannes, und zwar schon zum
zweiten Mal; er wiederholt das Wort Jesu aus dem Gespräch mit der Frau
am Jakobsbrunnen aus dem vierten Kapitel (Joh 4,23) und möchte, daß
alle Verheißung als in der Gegenwart zu realisieren betrachtet werde. All
die Fragen, die religiös normalerweise gestellt werden, lauten institutions-
abhängig und vorgeformt in aller Regel so: Wie lange kann es noch dau-
ern, bis daß wir richtig zu leben beginnen dürfen? Wann wohl wird man
uns Freiheit erlauben? Wann stellen die Weltenläufte sich so, daß die Bot-
schaft vom Himmelreich Wahrheit und Wirklichkeit wird? Im Sinne des
Johannes-Evangeliums könnte nichts unsinniger sein als die dauernde Ver-
schiebung der Wahrheit auf eine ausständige Zukunft. Alles für diesen
Evangelisten ist jetzt und heute oder es ist nie!
Man kann dabei nicht sagen, daß der historische Jesus so verschieden
dachte von der Interpretation, die Johannes hier gibt. Jesus verkündete das
Reich Gottes, wie jeder weiß, aber der Mann aus Nazaret konnte auch
sagen: Das Gottesreich ist mitten in euch (unter euch); es kommt nicht

241
daher mit Posaunengeschmetter, es kommt nicht in großem Prozessions-
aufzug durch die Stadt (vgl. Lk 17,20.21); entweder ihr lebt es jetzt, oder
ihr wartet umsonst; es ist zum Greifen nahe (Mk 1,15). Die ganze Person
des Mannes aus Nazaret ruhte in dem Glauben, Gott habe uns alles zur
Verfügung gestellt und es gelte jetzt nur, endlich zuzugreifen. Die kirchli-
che Erklärung allerdings lautet gerade umgekehrt: Jesus, so heißt es, ver-
kündete das Reich Gottes, aber Gott habe sich verzögert; und seither war-
ten wir nun schon zweitausend Jahre und wohl auch noch bis zum
Jüngsten Tag, immerzu, bis Gott sein «Reich» errichtet. Alle Geschichten,
die Jesus historisch erzählt hat, laufen genau umgekehrt: «Gott», erzählt er
zum Beispiel (Mt 22,1-14), «hat eine Hochzeit für seinen Sohn ausgerich-
tet, alles steht bereit und wartet darauf, daß die Eingeladenen kommen;
doch sie kommen nicht.» So in der Tat dachte der historische Jesus sich die
Gegenwart Gottes: nicht daß Gott sich verzögern könnte oder irgendeinen
Grund habe, das Heil der Welt auf die lange Bank zu schieben, sondern
daß einzig wir Menschen nicht den Mut fänden, die Wahrheit zu ergreifen,
die wir längst wissen und sehen könnten. Der Unterschied zwischen Jesus
und den Menschen seiner Zeit ebenso wie zu den Lehren der verfaßten
Kirchen lag und liegt wesentlich darin, daß der Mann aus Nazaret die
Rollos vor den Fenstern hochzog und die Sonne ins Innere fluten ließ. Er
akzeptierte nicht die Gegengründe der Entmutigung, der Schwäche, der
Angst, des Zauderns: jetzt nicht – später vielleicht!
Das allerdings schon zeichnet die Person Jesu als wahren Sohn Gottes
aus, daß er sich an die Seite oder auf die Seite Gottes stellte und von ihm
her jene wunderbare, zauberhafte Wirklichkeit konzipierte, zu der wir je-
derzeit zu finden vermöchten. Jesus wollte nicht den langen, schleppenden
Weg der endlosen Resignation gehen, sondern er war durchdrungen von
einer Hoffnung, die keine Ausreden und Ausflüchte mehr zuläßt. Wenn
man wissen möchte, was «Tod» in der Sprache des Johannes bedeutet,
dann ist es dies: Gott aus den Augen verloren zu haben und sich nur noch
wahrzunehmen unter den angsterfüllten Blicken anderer Menschen bezie-
hungsweise nur noch diese Erde zu kennen mit ihren tausend fallenartigen
Bodenlosigkeiten, mit ihren unendlichen Abgründen, mit ihrem ständigen
furchteinflüsternden Grauen. Was Tod ist, wird in diesem Zusammenhang
gedeutet durch die Szene des Gelähmten am Teich Betesda zu Beginn des
5. Kapitels, jenes Mannes, der 38 Jahre lang wartete, daß ein anderer
komme und ihn zur Heilung in das Wasser werfe. «Wann», fragt Jesus in-
direkt, «sehen Menschen eigentlich Gott vor sich, unmittelbar, ohne die
permanente Verzerrung der Angst, die sich immer noch verstärkt durch die

242
Ängste der anderen? Wann finden Menschen sich unverstellt unter den
Augen Gottes wieder?» Nur so würden sie zu «Söhnen», würden sie ver-
söhnt mit ihrem Ursprung und mit sich selbst.
Wenn die Bibel von Tod redet, so meint sie nicht das physische Sterben,
sondern die Bedeutung, welche die sichere Tatsache des physischen Ster-
bens für jeden von uns mitten im Leben gewinnen kann. Auf fast brutale
Weise schildert, auf den Anfangsseiten der Bibel, das 3. Kapitel der Gene-
sis die menschliche Tragödie (Gen 3,8-24). Da fällt nicht eigentlich das
Wort «Sünde», doch alles, was die Bibel, vor allem Johannes darunter ver-
steht, beschreibt sich dort in mythischen Bildern. Gezeichnet werden wir
dort als Menschen, die aus dem «Garten» der Welt sich vertrieben fühlen.
Die Erde, auf der sie stehen, brennt ihnen unter den Füßen. Sie selber wis-
sen um die Unausweichlichkeit ihres Todes, aber sie können damit nicht
leben. Alles, was sie machen, ist ein Kampf, um ihr Leben zu verlängern;
doch selbst ihr Überlebenskampf hat keinen Sinn. Und am schlimmsten:
vor dem Gefühl, mangelhaft zu sein, verlieren sie den Glauben an die Liebe
auch nur eines einzigen Menschen an ihrer Seite. Sie beginnen sich zu schä-
men, sie verhüllen sich, sie weichen einander aus; sie werden immer ver-
borgener, immer verbogener, immer verlogener, und sie sind immer über-
anstrengt. Das ist der Tod der Seele längst vor dem Sterben des Körpers.
Da erhebt sich ein Tag, doch es wird kein Morgen, sondern vor den Augen
senkt sich die Zeit wie fallender, rieselnder Staub immer wieder in die Fin-
sternis und verhüllt alles ringsum. Das ist Tod: – jeden Atemzug zu trinken
wie das Gift einer fortschreitenden Zerstörung; es macht keinen Sinn, zu
leben, und dennoch wird man, gepeinigt von endloser Angst, immer weiter
ins Leben getrieben.
Sigmund Freud dachte so. Ausgehend vom Lebensgefühl der Neuroti-
ker, hielt er es am Ende fast für das Lebensgefühl aller. Was die Menschen
suchten, meinte er, sei eigentlich die Rückkehr in den Tod, sei das Aufge-
hen im Anorganischen, sei das Auslöschen all der Plage, all der Last, all
der Mühsal; jedoch: beim Suchen, endlich Ruhe zu finden, würden die
Menschen nur tiefer ins Dasein hineinverflochten, denn sie hätten auch
Angst vor ihrer eigenen Auslöschung, und diese Angst treibe sie zu
immer bizarreren Handlungen, zu immer größeren Leistungen und immer
schrecklicheren Verbrechen. Ähnlich konnte Arthur Schopenhauer
sagen, das Lateinische bezeichne das Sterben am besten, indem es «defunc-
tus» dazu sage – abgewirtschaftet, erledigt, abgetan. Im Getto einer sol-
chen Lebensauffassung ist alles, was Menschen machen, tödlich, aber sie
halten die Tödlichkeit ihres Daseins am Ende für absolut normal.

243
Nehmen wir ein Beispiel: Es öffnet ein Politiker seinen Mund, und er
wird bis auf wenige Ausnahmen erklären, in der Bundesrepublik Deutsch-
land stelle die Wehrpflicht die Normalität dar, – für den jungen Mann sei es
also die «Normalität», das Töten zu lernen. Werbesendungen werden uns
Menschen zeigen, wie sie am Boden robben, wie sie mit Präzisionswaffen
trainieren, und eine weibliche Stimme wird uns erklären: «Emotionen sind
da nicht angesagt.» Dann wird man den jungen Mann zum Interview bit-
ten, daß er uns sage, was er fühlt, und «natürlich» wird er sagen: «Wenn es
sein muß, werde ich schießen.» – Vielleicht muß es ja sein, daß er schießen
muß, vielleicht muß es ja in einer Welt der Angst und der Verbrechen alles
das geben, was «man» auf dem Kasernenhof lernt, doch daß es normal sei,
diese Behauptung läßt jedes Gefühl für die Tragik, für das Grauen, für den
Abgrund unserer Existenz vermissen. Da schreitet man über das bloße
Nichts mit hohlen Redensarten hinweg, da ist der Tod nichts weiter als eine
instrumentalisierte Selbstverständlichkeit, nichts weiter als eine handhab-
bare Waffe gegen ihn selbst. Inzwischen haben wir Deutsche eine «Friedens-
armee» und finden selbst diesen Ausdruck «normal». George Orwells
1984 scheint längst übertroffen1. In der Sprache des Großen Bruders sind
alle Wörter dialektisch und geradezu widersinnig zusammengesetzt wie
«hölzerne Eisen»; aber wer merkt das noch?
Mit welchen Augen muß man diese Welt sehen, um sie als tödlich zu be-
greifen? Der johanneische Jesus nennt unsere scheinbar ganz normale Welt
ein Dasein von Gräberbewohnern. Das ist sein wörtlicher Ausdruck: Grä-
berinsassen. Worauf diese warten, was sie zumindest unbedingt brauchen
würden, wäre ein neues, ein ganz anderes Wort, wäre der Klang von etwas,
das sie so nie vernommen haben, das aber ihrer tiefsten Sehnsucht recht
gibt und ihnen Mut macht, unendlich viel mehr zu glauben, als man ihnen
bisher weisgemacht hat. Diese Hoffnung nennt Johannes aus dem Munde
seines Jesus: unendliches Leben. Die Form, in der Johannes dieses Wort
aufgreift, heißt in der Sprache des antiken Ägyptens ebenso wie in der
Sprache Pauli: Auferstehung. Gemeint ist erneut eine absolute Alternative
der Existenz: Entweder man ergreift diese neue Chance, man läßt sich ein
auf diese Umprägung von allem durch eine neu gewonnene Festigkeit des
Vertrauens, der Liebe, der Unmittelbarkeit zu Gott, dann entsteht eine
Wirklichkeit, die als «das Gute wirken» später beschrieben wird, – oder
man ergreift sie nicht, man läßt sich nicht darauf ein, dann wird alles beim
alten bleiben.
Wie lebt man richtig in diesen Visionen? Was heißt da Gericht? Es meint
im Grunde doch nur: Richtig lebt, wer selbst durch den Schrecken, den der

244
Tod über sein Dasein wirft, sich nicht irritieren läßt. Auch Vollmacht hat
er ihm gegeben, Gericht zu halten – weil er der Menschensohn ist. Das soll
heißen: der einzig gültige Maßstab für ein richtiges Leben ist die gestalt-
gewordene Menschlichkeit selbst. Alles, was du so tust, daß es menschlich
stimmt, daß es aufrichtet, daß es einem Gelähmten Mut macht, in sein
Leben zu treten, alles, was von der Art ist, daß es intensiver leben, leiden-
schaftlicher lieben und glühender hoffen läßt, wird selbst vom Tod nicht
zu widerlegen sein.
Da hebt sich die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Erde
und Himmel, zwischen Menschlichem und Göttlichem schlechterdings auf,
und das zu spüren ist die Auferstehung vom Tod zum Leben jetzt schon. Es
läuft hinaus auf ein großes Einverständnis, zu sein, auf der Erde beginnend
und doch hinüberweisend in jene andere Welt, die hineinragt in diese. Da
spüren wir ein unendliches Leben, ein nie vergängliches, eines, von dem
wir nur wünschen können, daß es auf ewig so weitergehe, und dieses Emp-
finden ist die Gabe, die Jesus auf die Welt bringen wollte. Jedes Verbre-
chen, jede Mißhandlung, alles Schreckliche und Unmenschliche, das Men-
schen einander antun können, hat im letzten darin seinen Grund: daß es
den Tod gibt und daß er erlebt wird im Status restloser Liebesentbehrung
und Gnadenlosigkeit, als ein Weggeworfenwerden und Verurteiltwerden,
als ein Beseitigtwerden wie für die Abfallgrube. Aber auch umgekehrt: un-
endliches Leben zu spüren, das bedeutet, daß sich die Liebe erweitert in
Ringen, die sich öffnen und schließen und wieder neue Formen gewinnen
und die bis ins Unabsehbare ihre Kreise ziehen, aufwachsend wie eine
Blume zur Sonne, wie ein Baum zum Himmel.
Bleibt noch zu fragen: Was ist das Gericht, gegeben dem Menschen-
sohn? In der jüdischen Apokalyptik bedeutete es die Entscheidung zwi-
schen Himmel und Hölle. Leben war da identisch mit dem Aufgenommen-
sein bei Gott, die Hölle aber galt als ein ewiges Verstoßensein. Hören wir
die Worte bei Johannes an dieser Stelle genau, so unterscheidet er eine Auf-
erstehung des Lebens bei denen, die Gutes getan haben, will sagen, die in
ihrer Menschlichkeit sich gefunden haben, indem sie Gott in ihr Herz
schlossen, und eine Auferstehung des Gerichts. Das griechische Wort dafür
ist «Krisis» – Krise. Der Begriff bezeichnet nicht die Hölle, sondern er läßt
ein weites Feld der Interpretation offen. Man kann sagen: Die Menschen,
die es jetzt nicht begreifen, werden es irgendwann gewiß bereuen. Aufer-
stehen werden sie alle, Klarheit über ihr Leben bekommen werden sie alle.
Für die einen ist dies dann ein Zustand der Bestätigung; sie werden sam-
meln, was sie spürbar jetzt schon richtig getan haben. Für die anderen aber

245
wird es gewissermaßen ein böses Erwachen sein, ein Auferstehen auch, ein
Ende des Grabes auch für sie, doch eben ein schreckliches Wachwerden.
Wie aber soll man sich dieses «Gericht» vorstellen? Der johanneische Jesus
erklärt sinngemäß: Dieses «Gericht» ist schon deshalb gerecht, weil ich
nur tue, wozu der Vater mich gesandt hat, auf daß ich’s von ihm her tue.
Wenn das gilt, bedeutet das Gericht nichts anderes, als unter die Augen der
Macht zu treten, die wir die ewige Liebe nennen.
Stellen wir uns einmal vor, es wäre uns vergönnt, an der Seite Jesu sitzend
und seinen Worten lauschend, unser Leben jetzt schon so zu betrachten, daß
es eine endgültige Bilanz erlaubte. Da würden wir uns so vieler Einzelheiten
schämen, in denen wir verengt, weit unter unserem Niveau, eingeschlossen
in unnötigen Sorgen und Ängsten, unser Leben verbracht haben. Aber es
gäbe klar sichtbar auch Momente, die wirtschaftlich, finanziell, karrierebe-
zogen womöglich als Verlust zu buchen sind, die aber ein Stück Menschlich-
keit, ein Stück Wärme und Licht in eine sonst unmenschliche, kalte und
dunkle Welt gebracht haben; und diese Momente sammeln sich; sie sind die
Anknüpfungspunkte jetzt für ein unendliches Leben. Mit dem Schmerz der
Erkenntnis wird es beginnen: – wegwünschen werden wir all das wollen,
was so deutlich nicht stimmt, und festhalten werden wir all die Momente
der Menschlichkeit wollen. Das ist eine solche Krise, eine notwendige, eine
heilsame, so oder so. Das Wort Jesu wird uns alle erreichen, nur: wie wir’s
begreifen, uns öffnend oder uns versperrend, als Rettung für uns selber an-
nehmend oder als Bedrohung zurückweisend, das ist eine Frage, die sich
jetzt schon stellt und die Johannes nicht losläßt. Immer wieder wird er in
vergleichbaren Bildern davon reden, daß Jesus den Kernpunkt dieser Aus-
einandersetzung, dieser Entscheidungsfrage, dieses Gerichts bildet: Er kam
wie von einer anderen Welt, wie von einem anderen Stern in unser Leben;
aber begreifen wir, wer er war, so verstehen wir diese ganze Welt und darin-
nen uns selber vollkommen neu.
Die Alten Ägypter meinten, daß «Sterne», die vom Himmel fallen, daß
Meteoriten so etwas seien wie ein Beweis des Göttlichen, wie das Zeugnis
der Götter für ihre eigene Existenz. Schon im Alten Reich müssen sie aus
Meteor-Eisen das Bild eines Dächsels geschmiedet haben, und sie verwand-
ten dieses Gerät im Ritual der Mundöffnung2. Sie wollten damit dem
Toten den Mund erschließen, daß Atem in ihn hineinströme, in ihn, den
Toten, den Mumifizierten, um ihn zu beleben. Der Schimmer der Sterne,
das Band der Milchstraße, das Rückgrat des Osiris, der Gang der Sonne
wurden zum Zeugnis aufgerufen dafür, daß die Liebe unsterblich sei und
das Leben selbst göttlich. Was die Ägypter in ihren Riten erahnten, was sie

246
magisch beschworen, ist, existentiell nachgebildet, die Gestalt des Naza-
reners im Johannes-Evangelium: etwas, das als Zeugnis Gottes vom Him-
mel auf die Erde fällt und den Toten den Mund öffnet, auf daß sie Atem
des Lebens zu schöpfen vermögen und ihre Stirn die Sterne berühre und sie
die Sonne tränken mit ihrem Herzen.
In seinem «Stundenbuch» hat Rainer Maria Rilke einmal eine solche
Lebensform als «mönchisches Leben» beschworen. Er schreibt3:

Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt,


und will niemals blind sein oder zu alt
um dein schweres schwankendes Bild zu halten.
Ich will mich entfalten.
Nirgends will ich gebogen bleiben,
denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.
Und ich will meinen Sinn
wahr vor dir. Ich will mich beschreiben
wie ein Bild das ich sah,
lange und nah,
wie ein Wort, das ich begriff,
wie meinen täglichen Krug,
wie meiner Mutter Gesicht,
wie ein Schiff,
das mich trug
durch den tödlichsten Sturm.

Und weiter:

Du siehst, ich will viel.


Vielleicht will ich Alles:
das Dunkel jedes unendlichen Falles
und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel.

Es leben so viele und wollen nichts,


und sind durch ihres leichten Gerichts
glatte Gefühle gefürstet.

Aber du freust dich jedes Gesichts,


das dient und dürstet.

247
Du freust dich Aller, die dich gebrauchen
wie ein Gerät.

Noch bist du nicht kalt, und es ist nicht zu spät,


in deine werdenden Tiefen zu tauchen,
wo sich das Leben ruhig verrät.

248
Joh 5,31-47: Vertrautet ihr Mose, vertrautet ihr mir
31Wenn ich Zeugnis ablege über mich selbst, ist mein Zeugnis
nicht wahr. 32Ein anderer ist es, der Zeugnis über mich ablegt,
und ich weiß: wahr ist das Zeugnis, das er für mich ablegt.
33Ihr habt zu Johannes gesandt, und er hat Zeugnis abgelegt für

die Unverborgenheit Gottes (1,7.32). 34Ich aber – von einem


Menschen das Zeugnis nehme ich nicht an, vielmehr: das sage
ich (nur), damit ihr gerettet werdet. 35Jener war die Leuchte,
brennend, scheinend, ihr aber wolltet (nichts als) euch vergnü-
gen für eine Stunde in seinem Licht (1,8).
36Ich aber habe das Zeugnis, das größer ist als das des Johan-

nes. Denn die Werke, die mir der Vater gegeben hat, daß ich sie
vollende, eben diese Werke, die ich tue, legen Zeugnis ab über
mich, daß der Vater mich gesandt hat (3,2; 10,25.38). 37Und
der mich geschickt hat, der Vater, er hat Zeugnis abgelegt über
mich. Weder seine Stimme habt ihr jemals gehört (Mt 3,17),
noch seine Gestalt gesehen. 38Und so: Sein Wort habt ihr nicht
in euch, daß es Bestand hätte, denn den er gesandt hat, dem
vertraut ihr nicht. 39Ihr durchforscht die Schriften, da ihr ver-
meint, in ihnen unendliches Leben zu haben; – auch sie sind es,
die Zeugnis ablegen über mich (Lk 24,27.44; 2 Tim 3,15-17).
40Und doch: nicht wollt ihr kommen zu mir, um Leben zu

haben.
41Verherrlichung von Menschen nehme ich nicht an, 42vielmehr

habe ich euch erkannt: Die Liebe Gottes habt ihr nicht in euch!
43Ich bin gekommen in der Wesensart meines Vaters, doch nicht

nehmt ihr mich an. Wenn ein anderer gekommen wäre in seiner
eigenen Art, – den hättet ihr angenommen (Mt 25,4)! 44Wie
könnt ihr zu Vertrauen gelangen, wo ihr Verherrlichung von-
einander annehmt, doch die Verherrlichung von dem einen
Gott her sucht ihr nicht (12,42.43; 1 Thess 2,6)! 45Vermeint
nicht, ich würde euch verklagen beim Vater. Er ist es, der euch
verklagt: Mose, auf den ihr Hoffnung gesetzt habt (Dtn 31,24-
27). 46Wenn ihr nämlich Mose vertrautet, vertrautet ihr mir; –
von mir nämlich hat er geschrieben (Dtn 18,15)! 47Wenn ihr
aber sogar den Schriften nicht vertraut, wie könnt ihr meinen
Worten vertrauen (Lk 16,31)?

Die Frage dieses Textes stellt sich nach dem rechten Zeugnis: Wer eigent-
lich legt es für Jesus von Nazaret ab? Um die Antwort des Johannes-Evan-
geliums zu verstehen, müssen wir allgemeiner fragen: Wer sind wir selber
eigentlich, und woher wissen wir’s? Auf was gründet sich unser Bild von
uns selbst und unserer «Berufung»?

249
Wenn wir im Johannes-Evangelium lesen, wird es uns ähnlich ergehen,
wie wenn wir in einer wolkenfreien Nacht die Augen zum Sternenhimmel
erheben. Seit Tausenden von Jahren blicken Menschen empor zu der flim-
mernden Schar der Sterne, und es scheint ihnen der Himmel über ihnen
wie eine Bestätigung des Gesetzes, das sie im eigenen Herzen tragen. So
noch erging es Immanuel Kant vor 250 Jahren. Dennoch wird der Blick
zu den Sternen mehr noch als durch die Wolken des Dunkels getrübt durch
bestimmte Deutungen des Gesehenen. In einem statischen Weltbild versi-
cherten die Sterne die Menschen der unwandelbaren Ordnung der Welt,
und in diese Überzeugung hinein mischte und mischt sich zudem allerhand
alte Magie und Mythologie. Manch einer glaubt wohl auch heute noch eher
den Jagdabenteuern des Orion am Himmel beizuwohnen, als daß er die
physikalische Erklärung von der Geburt neuer Welten im Kosmos verstan-
den hätte, von der Entstehung neuer Zentren der Schwerkraft im All, von
der Möglichkeit, daß da irgendwo neue Planeten und vielleicht sogar neues
Leben in den unendlichen Weiten des Raums und der Zeit sich bildeten.
Das Johannes-Evangelium redet eine Sprache, die wie schwebend, wie
zeitlos gültig wirkt und wirken soll. Es ist nicht leicht zu erkennen, daß sich
in ihr auch ein Blick in eine weit zurückliegende geschichtliche Bewegung
enthüllt, die damals einem geistigen Neuanfang gleichkam, einem ungeheu-
ren Ausbruch aus einer tradierten Enge hinaus in eine so nie gekannte my-
stische oder prophetische Weite und Freiheit. Gleichwohl haben die Lehren
des sich bildenden Dogmatismus der frühen Kirche gerade diese Texte
durch eine Fülle von archaisch zu nennenden Ansichten überlagert. Die
«Christologie» vor allem wurde wie etwas in sich Stehendes mit Ewigkeits-
anspruch aus gerade diesen Texten abgeleitet: der Vater und der Sohn, Jesus
Christus als Gottessohn, umkleidet mit göttlicher Macht – in dieser Sprache
reden diese Texte, und so nahm man es als «Gottes Wort»: – hoheitsvoll
schwebend, unendlich fern, leuchtend wohl nächtlichen Augen, doch wie
entrückt allen Qualen des Irdischen. Der Kampf gegen die «Juden» – viele
Stellen des Johannes-Evangeliums atmen die Auseinandersetzungen der
frühen Kirche mit der Synagoge: «Ihr beruft euch auf die Schriften, und
doch, ihr versteht sie nicht! Euch wird euer Mose anklagen, an den ihr
glaubt!» So war einmal die Sprache der frühen Kirche. Doch muß man
diese Sprache zweitausend Jahre lang haßerfüllt weitertragen, nur weil sie
vormals so geklungen hat? Und was eigentlich wollte man damals mit dem
Kampf gegen die Synagoge? Von welcher Menschlichkeit, von welcher reli-
giösen Erfahrung wollte man Zeugnis geben? Das müssen wir herausfinden;
denn bis in die Details hinein kann man alles mißverstehen.

250
Wenn ich Zeugnis ablege über mich selbst, ist mein Zeugnis nicht wahr.
Ein anderer ist es, der Zeugnis über mich ablegt. Aus solchen Sätzen kann
im Laufe der Kirchengeschichte eine Ordensregel werden, wie die jesuiti-
sche, die dem Ordensoberen erklärt: «Wenn du etwas wissen willst von
einem Mitglied der Ordensgemeinschaft, so frage nie ihn selber, frage die
Zeugen an seiner Seite im geheimen; verschicke Fragebögen, in denen du
dich erkundigst, was von ihm zu halten sei.» In den Oberen Christus zu
sehen, hat der heilige Ignatius in den Satzungen (1. Kap., Teil 6) denn auch
direkt befohlen.
Nehmen wir die Art und Weise, wie 1995 Pater Rupert Lay in Sankt
Georgen kaltgestellt wurde. Es beginnt immer mit der Einholung von «In-
formationen»: Was hat er gelehrt? Wie lebt er privat? Was denkt er? Wel-
che Gespräche führt er? Ist er kontaktfreudig? Welche Vorlieben, welche
Marotten hat er? Das alles muß man herausfinden, und wenn es soweit
ist, wird der Papst dem Orden selber die Jagderlaubnis, die Jagdpflicht auf-
erlegen; in der Sprache der Kirche: die Angelegenheit ist «ordensintern zu
regeln». Und augenblicklich werden selbst die sogenannten Mitbrüder an
der gleichen Hochschule ihren Bruder daraufhin anreden, daß er schon
immer in einer Art gelehrt hat, die Bedenken erregen mußte. Man läßt es
die Öffentlichkeit wissen wie einen Nekrolog: – der Mann ist tot, sobald
man über ihn schreibt; und selbst die Anstandsregel der alten Römer
«Über Tote nur Gutes» wird da zugunsten einer geistigen Leichenfledderei
gebrochen. – Das Zeugnis der anderen ist wahr? Nicht unbedingt! Befragt
man einen Menschen nicht auch selber, wird man nie etwas Gültiges über
ihn erfahren!
Doch wovon redet das 5. Kapitel des Johannes-Evangeliums wirklich?
Es darf nicht länger so mißverständlich und mißbrauchbar interpretiert
bleiben, daß am Ende eine dogmatische Christologie, eine Summe antiju-
daistischer Vorurteile und eine tiefgreifende menschliche Entfremdung die
Folgen sind. Was dieser Text wirklich meint, ist uns noch im Ohr aus der
vorangegangenen Betrachtung, aus Johannes, Kapitel 5, Vers 25: Bei Gott,
ich sage euch: Es kommt die Stunde und jetzt ist sie, da die Toten hören
werden die Stimme des Gottessohns, und zum Hören gekommen, werden
sie leben. Wie werden Tote zu Lebenden? Das ist die zentrale Frage des Jo-
hannes-Evangeliums bei seiner Deutung der Person und der Botschaft Jesu.
Greifen wir diese Frage einmal im Vergleich zu einem großen literari-
schen Gegenentwurf auf. 120 Jahre ist es schon her, daß Henrik Ibsen sein
Drama Gespenster auf die Bühne brachte1. Es ist die Tragödie einer Frau,
Helene Alving, die an entscheidender Stelle sagen wird: «Wir alle sind Ge-

251
spenster» und sinngemäß fortfährt: «Nicht nur, was wir geerbt haben von
Vater und Mutter kehrt in uns wieder, auch all die alten Vorurteile, die
Glaubenswahrheiten, die toten, vermoderten Überzeugungen, die wir in
uns tragen und nicht abzuschütteln vermögen. Ich lese die Zeitung, und
mir scheint, zwischen den Zeilen huschen die Gespenster. Sie sind überall,
zahlreich wie Sand am Meer. Deshalb fürchten wir uns so vor der Wahr-
heit.» Helene Alving ist eine längst verwitwete Frau, die dabei ist, all das
Geld ihres verstorbenen Mannes für ein Kinderheim aufzuwenden. Der fol-
gende Tag soll der Ehrung ihres Mannes, eines Großen beim Militär und
eines Großen in der Verwaltung, bei der Einweihung dieses Kinderheimes,
eines wohltätigen Zwecks also, gewidmet sein. In der Nacht zuvor aber
muß diese Frau sich mit ihrer Vergangenheit in Gestalt ihres Sohnes Os-
vald auseinandersetzen. Sie hatte ihn weggegeben, um ihn nicht dem Ein-
fluß seines Vaters auszusetzen. Sie wollte ihr Kind im Grunde vor einer bis
in die Wurzeln zerstörten Ehe retten. An der Stelle ihres Mannes hat sie
diesen Jungen voller Sehnsucht wie abgöttisch geliebt. Er aber, der in der
Fremde seine Mutter kaum kennengelernt hat, kehrt zu ihr zurück wie zu
einer Unbekannten. Nicht Liebe hat er von ihr erfahren, wie sie glaubt,
was er erlebt hat, erschien ihm wie Gleichgültigkeit. Dafür verklärte sich
sein Bild des Vaters zu einer Heiligen-Ikone, zu einem lebenden Denkmal,
das er in seiner Seele aufgerichtet hat. Es wird die Tragik dieser Mutter
sein, das Bild ihres Mannes in der Seele ihres Kindes zerstören zu müssen,
um ihn für sich selber als lebend wiederzufinden. So beginnt der Kampf
mit den Gespenstern.
Die Hauptursache für all die Verstrickungen bildet indessen Pastor
Manders, der seinerzeit, als die Ehe zu zerbrechen drohte und Helene
Alving schutzsuchend zu ihm kam, sie, gegen seine eigenen Gefühle der Zu-
neigung ankämpfend, dahin bestimmte, zu ihrem Mann zurückzukehren –
ein Triumph der Moral und des Anstands offenbar, ein Meisterstück gelun-
gener Seelsorge, wie er glaubte, doch in Wahrheit, wie Helene nun meint,
seine schlimmste Niederlage; denn er hat nichts begriffen von der mensch-
lichen Wirklichkeit. Die lautet, daß der alte Alving ein Alkoholiker war,
ein Frauenheld, ein Syphilitiker; jahrelang hatte sie ihn ertragen müssen.
Sie hatte den Betrunkenen ins Bett gehoben und ihm dann noch gehorchen
müssen, sie hatte ihm dienstbar zu sein, selbst wenn er berauscht war. Vor
der Öffentlichkeit mußte sie all die Zeit eine Fassade aufbauen, hinter der
eine Wirklichkeit lauerte, die niemand sehen durfte. Jetzt aber muß diese
Frau Schlimmeres erfahren: Ihr Sohn, der all ihre Hoffnung war, ein viel-
versprechender Maler in der Kommune in Paris, hat von einem Arzt sich

252
bescheinigen lassen, unrettbar krank zu sein. Hinter seiner Stirn haust die
Verwesung, modert der Tod, zerrütten sich die Nerven. Er hat Angst vor
den syphilitischen Zusammenbrüchen, deren ersten er schon über sich hat
ergehen lassen. Er hat Angst vor einem Leben, das schon tot ist, weil es an
sich selbst kein Leben mehr ist. Schuldlos wurde ihm all das zugefügt,
noch ehe er auf die Welt kam. Es ist sein Schicksal, an dem Helene ein
Stück tiefer noch die Wahrheit erkennt. War ihr Mann wirklich nur dieser
Wüstling und Säufer, dieser infame, skrupellose Menschenverächter? War
es nicht vielmehr, daß sich ein hohes Maß an Glück, an Empfindung für
Freude ausspannte in einer viel zu kleinen Welt und erstickt wurde, als
wäre da ein Waldboden, weich, durchtränkt und fruchtbar, in der Wärme
der Sonne begabt zu soviel Schönheit und Leben, aber dann abgeschnürt,
wie unter Cellophan verpackt, und es kämen nur noch Pilze und niedere
Moose aus dem Boden hervor und erstickten jede Regung höheren Da-
seins? Die Schuld des Kammerherrn Alving ist nicht einmal seine persönli-
che; sie liegt in den Gespenstergedanken einer ganzen Zeit, welche Entfal-
tung und Glück nicht zuläßt. Ein Mädchen, Regine, ist außerehelich von
ihm gezeugt worden und wird nun beschließen, auf seine Art ins Leben zu
treten; doch man weiß nicht, ob die Kühle und Kälte, mit der sie es ankün-
digt, eine wirkliche Fähigkeit zum Glück irgend noch zuläßt. Die letzte
Szene wird die einer Ibsenschen Pietà sein: eine Frau, die gebeten wird von
ihrem eigenen Sohn, ihm das Gift zu geben, das ihm die Qual der Leben-
den ersparen soll. Was da wird die Pflicht einer Mutter sein?
Es ist erschütternd, Ibsens Theaterstück der Grabesbewohner, der le-
bendig Toten, der Gespensterexistenzen des menschlichen Daseins im Ab-
stand von fast 2000 Jahren zu konfrontieren mit dem 25. Vers des 5. Kapi-
tels des Johannes-Evangeliums: Diese, die Toten, werden die Stimme des
Gottessohns hören. In Ibsens Drama hören wir die Worte des Gottessoh-
nes vermittelt durch den bürgerlich achtbaren Pastor Manders; doch dieser
Mann hat nichts, kein einziges Wort, außerhalb der gesellschaftlichen
Moral zu sagen. Er kennt das Gesetz so genau! Er weiß, was man verurtei-
len muß, er weiß, was man befehlen muß, er weiß, wie Menschen zu sein
haben, er weiß, wie eine Ehe auszusehen hat, er bestimmt, was richtig ist,
was schlecht, was Tugend ist, was Laster. Seine Welt ist so banal, so trivial,
so klein, daß er selber schon die eigentliche Geburtsstätte aller Gespenster
ist; dabei ist er ein gutwilliger Kerl, mit Blick für die Zeitläufte, soll man
denken. Und das wirklich Schlimme: schaut man sich in der Gegenwart
um, so hat sich nichts geändert! Ja, wären die heutigen Nachfolger dieses
Pastors Manders wenigstens noch von gleichem Schrot und Korn wie in

253
den Tagen Ibsens, daß sie mit dem Kreuz in der Hand in eine zerbrechende
Ehe eindringen würden, um Moral und Anstand wiederherzustellen! Man
könnte ihnen dann energisch gegenübertreten. Statt dessen haben sie nur
gelernt, sich noch geschmeidiger anzupassen. Die Gespenster sind flügge
geworden, gewissermaßen, aber von einer Botschaft, die Menschen aus
den Gräbern zu holen vermöchte, die sie lebendig machen könnte, die
ihnen eine Chance gäbe, selber zu reifen zu einem eigenen Glück, – davon
ist die Rede nicht.
Lesen wir demgegenüber einmal die Worte des Johannes-Evangeliums
unter Ibsenscher Fragestellung. Ganz einfach ist das nicht, weil die Aus-
drucksweise dieses Evangeliums an den Wortschatz dessen gebunden ist,
was wir als eine geistige Strömung in der Antike bereits als Gnosis bezeich-
net haben. Seine Wortwahl ist uns fremd geworden; doch das, was sie be-
zeichnet, ist auf eine überraschende, fast erschreckende Weise modern.
Wenn ich Zeugnis ablege über mich selbst, ist mein Zeugnis nicht wahr.
– Wovon ist da die Rede? Ein anderer ist es, der Zeugnis über mich ablegt.
Setzen wir statt «Zeugnis» «menschliche Wirklichkeit und Wahrheit» ein,
dann lautet die Frage, die in diesen Worten sich verbirgt: Wie kommt ein
Mensch dahin, zu wissen, wer er selber ist? Wie kann er die Wahrheit sei-
ner eigenen Person kennenlernen? Man sollte denken, jeder besitze ein ge-
wisses Gespür für das, was in ihm leben möchte, wozu er bestimmt ist,
und eine solche Annahme ist gewiß nicht ganz falsch. Dennoch verhält es
sich mit Menschen ähnlich wie mit Blumen: sie können nur leben unter der
Wärme der Sonne. Alle Kraft, sich selbst zum Vorschein zu bringen, emp-
fangen sie von außen. – Einfacher gesagt: Nicht einmal das Mienenspiel
unseres eigenen Gesichtes könnten wir erraten, ohne die Reflexion des Bil-
des in einem Spiegel, dem wir uns gegenüberstellen. Nicht einmal unser
Körper-Ich vermögen wir von uns selbst her vollständig zu erfassen; um
wieviel weniger dann das, was wir als Personen in der Wirklichkeit unseres
Menschseins sind. Kein Spiegel wird uns dabei helfen. Dringend benötigen
wir deshalb die Augen eines Menschen, der uns wirklich liebt. Genau das
aber ist die ganze Überzeugung, aus der heraus der johanneische Jesus
redet. Er nennt diese Augen, in denen er sich findet, die ihn gütig an-
schauen, die ihn bejahen und bestätigen, seinen Vater. In ihm fühlt er sich
geborgen, in ihm empfindet er sich selber als gewollt, als erwünscht, als ge-
liebt, und so erscheint ihm das ganze Leben wie ein Geschenk. Alles hat
der Vater seinem Sohn gegeben, sagte Jesus vorweg schon (Joh 5,27). Das
ist sein Grundgefühl, aus dem heraus er existiert. Es ist der Punkt, der ihm
für unerschütterlich gilt.

254
Versuchen wir herauszufinden, wie es sich mit dem «Zeugnis des ande-
ren» genauer verhält, so läßt uns das Johannes-Evangelium allerdings bald
schon im Stich; es ist, wie wenn es uns nur spurenhafte Hinweise geben
wollte, ganz so als möchte es förmlich vermeiden, uns mit fertigen Ge-
wißheiten zu erdrücken; lieber möchte es uns offenbar auffordern, diesen
fast verwehten Spuren selber nachzugehen, damit sie die Gültigkeit eines
Wegs zur Wahrheit in unserem Leben erweisen können. Eine dieser Spuren
immerhin lautet: Johannes der Täufer. Johannes hat Zeugnis abgelegt für
die Unverborgenheit Gottes, erklärt der johanneische Jesus; es ist ein wah-
res Zeugnis, aber allein ist es noch kein endgültiges Zeugnis. Warum?
Das Johannes-Evangelium spricht nicht eigentlich von dem historischen
Jesus, doch die Erfahrung, die der Mann aus Nazaret am Jordan gemacht
hat, als sein eigener Lehrer, der Täufer, ihn in die Fluten des Flusses
tauchte, muß nach dem Zeugnis der ersten drei Evangelisten auch in histo-
rischem Sinne zentral gewesen sein. Man kann zur Gestalt des Täufers ste-
hen, wie ein Abschnitt aus der Redequelle der Synoptiker (Mt 11,7-19; Lk
7,24-35) es unterstellt: er sei der Größte unter allen Menschen, nach
«menschlichem» Maßstab betrachtet. Denken wir uns das Auftreten dieses
Mannes indessen nur einmal in unseren Tagen. Da versucht jemand, in
Fragen der Religion einen neuen Ton, ein neues Wort zu singen und zu
sagen, und die Leute sind fasziniert: Hier spricht jemand, das spüren sie,
der nicht das Hergesagte, das Auswendiggelernte immer wieder repetiert,
er schöpft das, was er sagt, aus seinem eigenen Herzen; seine Worte sind
vermittelt durch eigene Erfahrung; und er hat etwas so Dringliches, Unbe-
dingtes in seinen Worten! Die Leute, mit einem Wort, kommen zu ihm in
Scharen. Gesetzt nun, so etwas wollte in unseren Tagen sich aufführen, so
könnten wir sofort wissen, was Jesus sagen will, wenn er, in der Sprache
des Johannes-Evangeliums, erklärt: Johannes war die Leuchte, brennend,
scheinend, ihr aber wolltet (nichts als) euch vergnügen für eine Stunde in
seinem Licht. Das trifft’s! Käme Johannes der Täufer in unseren Tagen
zurück, so hätten wir gewiß nichts weiter als ein Medienspektakel vor uns;
man würde die Kameras schnurren lassen, man würde die Mikrophone
einschalten, man hätte ein Mega-Event für eine Stunde, eine Unterhal-
tungskomödie, fast wie ein Papstbesuch – Religion einmal spannend, o ja!
Und wie viele gehen da hin? Und was haltet ihr von Johannes dem Täufer?
Seid ihr dafür oder dagegen? Und was tun die Priester im Tempel? O, diese
Herausforderung! Eine Volksbewegung in Religion! Das wäre «super-
cool», darüber zu schreiben – was für ein Amüsement!
Was der johanneische Jesus hier meint, ist soviel wie eine Forderung:

255
man muß durch Johannes den Täufer hindurchgegangen sein, sonst wird
man nichts begreifen. Dieser Mann ist wirklich entscheidend, doch nur für
die Menschen, die er zur Entscheidung zwingt. Das, was von seinem Licht
ausgeht, ist die Entdeckung eines ungeheuren Schattenwurfs, ein heilsames
Erschrecken. So muß Jesus selbst diesen Mann erlebt haben, betroffen, – er
war etwa dreißig Jahre alt. Der Tempel von Jerusalem hatte ihm bereits
nichts mehr zu sagen. Das Abschlachten von Tausenden von Schafen und
Stieren für irgendeinen eifersüchtigen Gott war ihm obsolet geworden.
Aber am Rande der Wüste, am Jordan, plötzlich dieser Klang, dieser Ruf
des Kostbarsten, was die Bibel kennt, die Stimme eines Propheten – das hat
Jesus wie so viele angezogen. Doch wie Johannes redet, läuft es hinaus auf
eine grandiose Dramaturgie der Angst, auf eine sich vollendende Apoka-
lypse. Die ganze Welt steht nach Meinung des Täufers am Abgrund, –
lange kann es nicht mehr dauern! Alles ist am Ende, woran die Leute glau-
ben und was sie für wichtig nehmen. Ihre Interessen, ihre Einrichtungen,
ihre Konventionen, ihre Gesetze, ihre Moral, – nichts stimmt von alledem.
Es ist daher nicht mehr getan mit irgendeiner Reparatur, – alles muß neu
werden. Fast hilflos setzt der Täufer dagegen das Zeichen des Untertau-
chens in den Jordan, das Bild einer neuerlichen Sintflut, der nur entkommt,
wer sie für sich vollzieht. Jesus muß all dem zugehört haben mit dem Ge-
fühl, daß der Mann am Jordan völlig recht hat: – Genauso verhält es sich:
Alles, was offiziell über Gott gesagt wird, ist eine einzige Lebenslüge, was
man gesellschaftlich für wichtig nimmt, ist ein einziger Irrtum, das, was
das Leben der Menschen bis in die Details hinein prägt, eine blanke Zeit-
vergeudung.
Aber wenn das alles so ist, ist’s denn dann möglich, zu sagen: «Ich än-
dere mein Leben»? Ist nicht auch das ein Irrtum? Hat es überhaupt Sinn,
zu glauben, wie Johannes das versucht, Menschen vermöchten ihr Leben
dramatisch, mit einem einzigen Entschluß zu ändern, gewissermaßen wie
im Ritual der charismatischen Bewegung: – heute nachmittag, im Beten
vor Gott, wird dein ganzes Leben in göttlicher Vollmacht vollkommen an-
ders? Kann und soll es wirklich so gehen?
Jesus muß seine Taufe im Jordan, wie die Synoptiker erzählen, wirklich
erlebt haben wie einen Untergang, wie ein Ende, wie einen Tod; ja, er muß
gemeint haben, gerade so verdiene er es; Johannes habe ganz recht, zu
sagen: Gott ist eine furchtbare Gewalt, die straft, und wir Menschen haben
keine andere Chance, als unsere Schuld vor ihm zu bekennen. In dem Mo-
ment aber, wo Jesus bis zu diesem Äußersten kam, muß er gespürt haben,
daß, wer sich Gott überläßt, einem anderen Gott begegnet. Die Sprache

256
des Mythos, der Legende schon im Markus-Evangelium (Mk 1,9-11) sagt:
in dem Augenblick seiner Taufe habe der Himmel sich vor Jesu Augen
geöffnet, und innerlich, geistig, habe er sich Gott verbunden gefühlt, wie
wenn Gottes Geist gleich einer Taube sich auf ihm niederließe und er ein
Wort vernähme, ein neues: Du bist mein geliebter Sohn. Theologisch wird
dieses Bekenntnis Gottes zu Jesus auf die Gottesknechtslieder des Jesaja
zurückgehen (Jes 42,1). Doch jenseits der Literarkritik handelt es sich um
eine ganz entscheidende menschliche Erfahrung, die Jesus an dieser Stelle
für sich macht und die er fortan jedem weiterschenken möchte: sich Gott
zu überlassen, das bedeutet, aufzustehen aus dem Jordan und frei zu sein
unter einem offenen Himmel, es bedeutet, zu leben aus dem Ursprung
einer grundlosen Vergebung. Und weil selbst die Vergebung immer noch
an dem Gefühl von Schuld und Sünde klebt, muß man sogar noch allge-
meiner sagen: Was sich da formt, ist das Empfinden einer grundlosen Be-
jahung. Deshalb das Bild von Gott als dem Vater oder der Mutter, weil da
etwas ist, von dem alles Leben kommt und ausgeht. Nur im Glanze dieser
Güte, nur im Licht einer solchen Liebe wird ein Mensch jemals dahin kom-
men, zu wissen, wer er ist. Das ist das ganze, das einzig gültige Zeugnis.
Johannes der Täufer ist auf dem Wege dahin nur ein Durchgang und ein
Übergang gewesen. Das nächste Stichwort aber, das der johanneische Jesus
in dieser Rede gibt, lautet: Denn die Werke, die mir der Vater gegeben hat,
daß ich sie vollende, eben diese Werke, die ich tue, legen Zeugnis ab für
mich, daß der Vater mich gesandt hat. Im Deutschen lieben wir es, Verben
zusammenzusetzen, also Komposita zu bilden; wie soll man deshalb das
einfache Wort «geben» verstehen? Soll es heißen: die Werke, die Gott «ge-
geben hat» im Sinne von «ermöglicht, geschenkt», oder soll es heißen: die
Werke, die Gott «aufgegeben», «aufgetragen» hat? Ganz sicher beides. Da
ist etwas, das als Geschenk erlebt wird, und daraus entsteht das Verlangen,
den anderen genau dasselbe Gefühl mitzuteilen. Die Wirklichkeit der Per-
son Jesu, die sich in seinen «Werken» spiegelt, ist keine andere als diese:
den Lichtglanz weiterzugeben, in den er selber im Moment der Taufe im
Jordan, nach dem Zeugnis der Synoptiker, eingehüllt wurde.
Das ganze Gespräch im 5. Kapitel des Johannes-Evangeliums hat, wohl-
gemerkt, seinen unmittelbaren Anlaß in der Wundergeschichte, die uns
erzählte, wie ein Mann nach fast vierzig Jahren von Lähmung, Hoffnungs-
losigkeit und Verzagtheit am «Teich der Gnade» in Jerusalem, am Teich
Betesda, von Jesus aufgefordert wurde, seine Bahre zu nehmen und sich
selber aufzumachen nach Hause, den Sabbat zu vergessen und einzutreten
in die wahre Ruhe, die Gott uns schenkt. Dies ist ein solches der Werke

257
Jesu im Johannes-Evangelium, die zeigen sollen, welch eine Wirkung
von dem Mann aus Nazaret ausgeht. Es ist wie bei der Frage mancher
aufgeweckter Kinder an einem schönen Sommertage: da funkelt die Sonne
ins Zimmer herein, und sie entdecken, daß ihre Strahlen auf den glitzern-
den Oberflächen einer kristallenen Schale oder auf der Brille ihrer Eltern
sich brechen, und erstaunt fragen sie, warum eine kleine Glasscheibe ihrer-
seits so viel Helligkeit verbreiten kann. Der Vater oder die Mutter erklären
dann dem Kind das Gesetz der Reflexion: Etwas, das ganz hell ist und alles
zurückgibt, was es aufnimmt, wirkt wie ein Spiegel. Das Kind wird dann
gern einen Spiegel nehmen und versuchen, wie weit es mit der Sonne aus
der eigenen Hand heraus leuchten kann, – kilometerweit, wird es ent-
decken, so daß es die Augen aller, die dort hineinschauen, blendet. – Was
wäre, wir lebten gerade so: wir nähmen die Sonne in uns auf, wir hielten
sie nicht für uns fest, sondern wir gäben sie weiter mit all ihrem Licht?
Johannes wollte das, aber von Jesus erfährt man’s: Seine Wirkung war es,
daß jahrelange Gelähmtheit einen Menschen nicht mehr festhielt und daß
die Totenkammern sich nicht endgültig schlossen.
Was also müßte man Helene Alving in Ibsens Theaterstück sagen, auf
daß sie leben könnte? Wie würde das Stück sich weitererzählen, wenn der
Vorhang fiele und das Leben im Zuschauer nach johanneischen Maßstä-
ben sich fortsetzen sollte? Ohne Zweifel müßten wir an der Stelle anknüp-
fen, wo Helene selbst sich am mutigsten zeigte: Ein Mensch hat das Recht,
glücklich zu sein. Er darf sich nicht erdrücken lassen von der Zwangsmo-
ral anderer. So etwas sagt Helene Alving bei Ibsen wirklich zu Pastor
Manders: «Gesetz und Ordnung, es kommt mir oft so vor, als rühre davon
alles Unglück hier auf dieser Welt her.» Das Unglück ergibt sich, indem
man nicht schaut, was in einem Menschen vor sich geht, sondern indem
man für alles schon das Korsett bereithält, auf daß man die Knochen –
statt sie sich auswachsen zu lassen – von vornherein so hinbiegen kann,
wie man sie vermeintlich braucht. Man müßte das Recht dieser Frau be-
stätigen, freie Gedanken zu hegen und das zu äußern, was sie selbst und
auch alle anderen längst schon fühlen, was nur keiner sagen darf unter der
Moderdecke der allgemeinen Moral. Man müßte sie in ihre schwerste
Stunde begleiten, da sie erkennen muß, daß das, was sie mehr liebt als sich
selbst, durch fremde Schuld zerstört ist und daß es nie wird wachsen kön-
nen ohne das Beispiel, das sie selber durch ihr eigenes Leben zu geben
hätte: eine Erlaubnis, im Leben glücklich zu sein. War es wirklich richtig,
aus Enttäuschung über den Kammerherrn Alving jede persönliche Liebe
aufzugeben und sich zum Opfer sogar noch den Verzicht abzuringen, zu

258
lieben heiße, das eigene Kind wegzugeben? War es richtig, dieses Kind
dann in der Ferne zu nehmen wie einen Ersatz für das eigene Dasein, wie
einen Trost? Dieses Kind ging zwar aus dem eigenen Leib und aus der eige-
nen Seele hervor, aber es hat doch auch ein eigenes Recht, selber zu sein.
Man müßte all die Verzweiflung in Frau Alvings Leben noch einmal ins
Wort kommen lassen und jedem, dem Kranken wie dem Gesunden, dem
Zurückbleibenden wie dem Aufbrechenden, die Wahrheit zumuten, die in
ihm selber liegt. Ibsen hat mit seinem Emanzipationsdrama so recht: Weil
die Welt voller «Gespenster» ist, sind wir voll falscher Schuldgefühle, voll
falscher Vorurteile, voll falscher Bewertungen, – riskieren wir uns selber
nicht. Aber genau darauf käme es an. Jene Ehrenfeier am anderen Morgen
für Kammerherrn Alving kann man ohnedies vergessen, – sie wird nie
stattfinden. Aber was soll dann die ganze bürgerliche Anerkennung, das
Ansehen vor den Augen der anderen? Wer wir selber sind, nur das ist
wichtig; doch was wir sind, wird sich zeigen in der Art, wie wir Güte wirk-
lich leben, an dem Glück, das wir weiterschenken. Es ist dabei nicht mög-
lich, beides voneinander zu trennen oder in eine logische Reihenfolge zu
bringen: erst das eine, dann das andere, sondern die eine Hand wird es
gemeinsam mit der anderen vollenden. Das Zeugnis des anderen wird da
zugleich zum Inneren und das Innere wird zu einer Realität, die auch das
Äußere verändert.
Freilich kann man an dieser Stelle noch einmal, grad weil es um alles
geht, alles mißverstehen. Es gibt, wie gesagt, die hysterische Attitüde des
Mißverständnisses. Da wird es zu einem Hauptanliegen, Religion als
«Entertainment» zu präsentieren und als einen Rummel von Veranstaltun-
gen zu zelebrieren. Es gibt daneben, ernster gemeint, aber nicht weniger
tragisch, das zwanghaft-schriftgelehrte Mißverstehen der Bibel: Es gibt das
Wort Gottes, bezeugt in Texten, in einer Überlieferung aufgeschriebener
Worte, die Gott gesagt hat; wer sich in diese vertieft, sollte der nicht ganz
von allein zur Wahrheit gelangen? Muß der nicht einfach nur tun, was da
aufgezeichnet steht? Es ist die feste Überzeugung des Johannes-Evange-
liums, daß man Gott niemals findet, wenn man ihn in fertig verfaßten Tex-
ten sucht. Jeder, der das Vierte Evangelium als eine Urkunde verstehen
wollte, in welcher die Wahrheit Gottes ein für allemal festgelegt stünde,
der würde es in seinem ganzen Kern mißverstehen. Johannes läßt bekannt-
lich vom historischen Jesus kaum ein einziges Wort vernehmen. Jahrzehnte
vorher schon gab es schriftliche Überlieferungen von dem, was der Mann
aus Nazaret wörtlich gesagt oder zumindest sinngemäß, durch bestimmte
Tradenten ergänzt und zusammengestellt, selber geäußert hat. Im Johan-

259
nes-Evangelium aber kommt dieses Überlieferungsmaterial überhaupt
nicht vor. Es möchte offenbar gar nicht, daß man sich an irgend etwas, das
jemand einmal gesagt hat, klammert, daß also irgendein Stück bloßer
Historie zum Rettungsanker erklärt wird, – ein solches Vorgehen könnte
nach seiner Meinung nur die Gegenwart verstellen. Entweder das Göttliche
redet jetzt, aus dem Inneren, ganz lebendig also – oder: überhaupt nicht!
Vor diesem Hintergrund entwickelt sich an dieser Stelle gleich der näch-
ste Vorbehalt. Nur die lebendige Wirklichkeit bezeugt etwas über einen
Menschen und über Gott; diese Einsicht bietet nun den Maßstab, um zu
begreifen, was man aus heiligen Schriften lernen kann und was nicht. Auch
die heiligen Schriften beziehen sich entweder auf das Leben selber, oder sie
gehen daran vorüber, sie tragen es, sie kommentieren es, sie ermöglichen
es, oder sie stehen ihm im Wege. Man kann das, was in geschriebenen
Worten lebendig ist, nur vom Leben und auf das Leben hin verstehen,
anders bleibt es nichts als der Tod. Alle theologische Schriftgelehrsamkeit
setzt das Vergangene an die Stelle des Augenblicks heute. Wie ein Wetter-
leuchten vornehmlich über der protestantischen Theologie des 19. Jhs. hat
um 1820 Friedrich Schleiermacher bereits erklärt: «Ein frommer
Mensch braucht nicht die Bibel, er ist die Bibel.» Er wollte damit sagen:
Entweder steht in der Bibel etwas, das uns, wie vorher schon gesagt, hilft,
stärker zu lieben, intensiver zu hoffen und uns selber mutiger zu leben,
dann trägt es das Wort Gottes in sich selbst; oder wir lesen in der Bibel
etwas ganz anderes, dann können wir sicher sein, daß es das göttliche
Wort nicht in sich birgt. Maßstab für Gott in den Schriften ist die Liebe
und die Menschlichkeit. Sie allein sind die Garanten, religiös Wahrheit zu
finden. Die Schriften zu messen am Leben selber, das ist das Zeugnis.
In den frühen Gedichten hat Rainer Maria Rilke – hundert Jahre fast
nach Schleiermacher – in vier Zeilen zu sagen versucht, wie sich das Bild
des Theologengottes, der Schriftgelehrtengott, dieser Prüfstein der Funda-
mentaltheologen und -ideologen, zu wandeln hat. Er meinte2:

Du darfst nicht warten, bis Gott zu dir geht


und sagt: Ich bin.
Ein Gott, der seine Stärke eingesteht,
hat keinen Sinn.
Da mußt du wissen, daß dich Gott durchweht
seit Anbeginn,
und wenn dein Herz dir glüht und nicht verrät,
dann schafft er drin.

260
Alles, was Johannes sagen möchte, besteht darin, daß Gott Geist ist, daß
Gott innerlich ist und daß er eine Wirklichkeit schafft, die sich nur geistig
und innerlich verstehen läßt. Alles äußere Zeugnis demgegenüber ist nich-
tig. Wohl: Es gibt, meint Jesus, das Zeugnis des Mose; es gibt das Zeugnis
der Schriften, – doch statt die Schriften zu repetieren, sollten wir den Mut
haben, zu leben, wovon die Schriften erzählen.
Ein Beispiel: Der berühmte französische Exeget und Patriarchenforscher
Roland De Vaux hat mehr als vierzig Jahre seines Lebens der Frage ge-
widmet, ob Abraham, Isaak und Jakob wirklich gelebt haben, ob sie wirk-
liche historische Gestalten waren. Ihr historischer Ort muß in der aramäi-
schen Wanderbewegung aus dem Inneren der arabischen Wüste gelegen
haben; zwei solcher Migrationen gab es damals offenbar um 1800 v. Chr.,
eine nach Osten, nach Mesopotamien, eine andere nach Westen, ins Ge-
biet Palästinas. Ist diese zweite westliche Wanderbewegung aramäischer
Stämme nun die Berufung Abrahams zum Zug aus Ur in Chaldäa nach Ka-
naan, wie Genesis 11,31.32 und 12,1-3 es erzählen? Es wäre möglich, aber
dann wären die Patriarchen die Verkörperung eines ganzen Volkes, dann
wären sie keine individuellen Gestalten. Und weiter: wie viele Jahrhun-
derte lang hätte diese Bewegung gedauert, wieviel Historie prägt sich in ihr
aus? – Am Ende seines Forscherlebens gestand der beste Experte der ka-
tholischen Exegese in Fragen der Patriarchenforschung, daß er nicht wisse,
wie man diese Frage beantworten solle, ob Abraham, Isaak und Jakob
wirklich gelebt hätten. Kann ein Leben, religiös gesehen, nutzloser ver-
bracht werden?
Wie wäre es, wir brächten vierzig Jahre einmal damit zu, Abraham und
seine Frau Sara auf ihren Wanderungen zu einer fernen Berufung in unse-
rem heutigen Leben zu suchen? Wir gingen mit ihnen, wie sie vor lauter
Hunger auf der Flucht nach Ägypten und später nach Gerar unterwegs
sind (Gen 12,10-20; 20,1-18; vgl. 26,1-11); wir fänden einen Mann vor, der
seine Frau verleugnet, damit man ihn nicht aus Eifersucht totschlägt, weil
sie so schön ist; dieser Mann wird sein Kind und seine Magd verstoßen vor
kleinlicher Eifersucht und rachsüchtigem Haß (Gen 16,1-16) aus dem
Mund einer Frau, die er selber nach der Geburt ihres Kindes Isaak, «zur
Freude geboren», «die Fürstin» nennen wird: Sara mit Namen (Gen 17,15);
plötzlich begriffen wir, wie gering wir Menschen unter einem offenen,
großen Himmel sein können und wie unendlich der Raum sein muß, in
dem wir reifen dürfen.
Die Frage wäre dann nicht mehr, was die Bibel uns von bestimmten ver-
gangenen Gestalten historisch berichtet; ihre Erzählungen würden zu einer

261
Anregung, sich selber auf den Weg zu machen in eine ferne Zukunft, die
wir nicht kennen, und selber auf die Suche zu gehen zwischen Enge und
Angst und Weite und Weisheit. Dann hätte es keinen Sinn, einen Glauben
an Jesus zu beschwören als an den Sohn Gottes, außer wir lernten, ein
absolutes Vertrauen zu finden, so groß, daß wir versöhnt würden mit
uns selbst, fähig, an unserer Seite auch andere Menschen so in die Arme
zu schließen, daß sie sich umfangen, geliebt und berechtigt fühlten. Nicht
Jesu Worte zu zitieren oder zu rezitieren, nicht Glaubensbekenntnisse über
ihn zu psalmodieren, sondern die Vollmacht, so zu existieren, das hieße es
zu begreifen, wieso die Schriften ihn bezeugen und wieso ihr Zeugnis
wahr ist.
Da kann selbst Mose zum Ankläger gegen die Mitglieder seiner eigenen
Religionsgemeinschaft werden. Wenn wir von Mose nur zur Kenntnis neh-
men, daß er eine Reihe von Gesetzen erlassen hat, die Zehn Gebote und
dann noch über sechshundert weitere Vorschriften, dann «haben» wir
Mose und haben ihn nicht. Sehen wir aber in Mose jemanden, der ein
ganzes Volk bei Nacht und Nebel an der Hand nahm und es hinausführte
in die Freiheit, durch Meer und Wüste, durch Krieg und Verzweiflung,
durch Hunger und Durst in ein Land, das es nicht kannte und das doch die
ihm bestimmte Heimat war, so hätten wir den Aufriß eines ganzen Lebens;
und das bildete den Maßstab, alles zu verstehen. Jesus muß da nicht ir-
gendeinen «antijudaistischen» Vorwurf erheben; das, was er selber histo-
risch gelernt hat von Mose, besteht darin, zu leben wie er, zu wirken wie
er. Das ermöglicht ihm Gott, das erwartet von ihm Gott, das ist seine
Gabe, seine Aufgabe, seine Größe, seine Gefahr, sein Suchen und seine Ver-
suchung, sein Weg und seine Verwegenheit.
Vor einer Weile traf ich einen alten Mann, der all diese Texte nicht im
Sinn trug, der aber sich vorbereitete auf sein Sterben, und ich dachte: ihm
zuzuhören wird mir helfen, zu verstehen, was es heißt: Die Toten werden
hören die Stimme des Gottessohns, und zum Hören gekommen, werden sie
leben. Dieser Mann hatte viel erlebt. Fast neunzig Jahre war er alt, von den
Ärzten schon totgeschrieben seiner unheilbaren Leukämie wegen, und
doch erklärte er fast heiter, keine Angst vor dem Ende zu haben, das unab-
wendbar näher heranrückte. Immer, wenn er nach kleinen Einkäufen im
Dorf nach Hause zurückkehrt, betritt er sein Heim, wie er es nennt, mit
dem Ausblick auf einen kleinen Garten, über dem die Sonne untergeht. In
diesem seinem Heim vermißt er eigentlich nichts, und der Grund dafür ist,
daß er gelernt hat, bei sich selbst zu Hause zu sein. Der Moment, da er es
lernte, ist für ihn gebunden an wenige Stunden einer unerträglich langen

262
Zeit in russischer Gefangenschaft. Von den zweihundert Leuten in seinem
Lager starben in den ersten drei Monaten mehr als hundertzwanzig, be-
richtete er; wenn er sich umschaute, konnte er schon im voraus fast sicher
wissen, auf wessen Stirn der Tod das nächste Zeichen prägen würde.
Irgend etwas in der Kälte, in dem Hunger, in der Nähe des Untergangs hat
ihn damals getragen. Er besitzt kein Wort für dieses Etwas; er zögert, es als
Gott zu bezeichnen. Er nennt es lieber das Gefühl, umfangen zu sein. Er
macht dabei dieselbe Bewegung, die er wie zufällig machte, als er über
seine Mutter sprach. Und wirklich, wenn er am Abend betet, fragt er sich
manchmal, ob sie es höre. Es gibt Augenblicke in seinem Leben, auf die er
stolz ist. Er war Lehrer gewesen, hatte sich aber um die Lehrpläne schon
vor über fünfzig Jahren nicht sonderlich gekümmert; statt dessen las er
sehr gern Adalbert Stifter, und er sagt: «Dichter wie Stifter können
das Verborgene, das Große zeigen und es im Kleinen und Unscheinbaren
bezeugen.» – «Menschen wie Sie», fragte ich ihn, «sprechen so tief, daß sie
im Grunde zu allen Dingen immer das gleiche sagen; was ist das Wort, das
Sie Ihren Schülerinnen und Schülern vor über einem halben Jahrhundert
sagen wollten?»

– «Daß sie leben sollten, was sie selber sind.» Er wiederholte es


noch einmal: «Daß sie leben sollten, was sie selber sind.»
– «Und woher wissen sie», fragte ich ihn, «was sie selber sind? – Die
ganze Umgebung erklärt ihnen, wie sie sein sollen!»
– «Ja, deshalb habe ich mit meinen Schülern ja Dichtung gelesen,
damit sie lernen könnten, tiefer zu hören, nicht nach außen, sondern
nach innen, und vor allem auf die Menschen, die sie wirklich lie-
ben.»

Das ist die ganze Geschichte vom Zeugnisgeben an der Schwelle des Todes
zugunsten des Lebens; das ist die ganze Wahrheit der Schriften. Das ist das
Ende zugleich, Zeugnis anzunehmen von anderen. Was die Geschichte
über uns schreibt, was die anderen aus uns machen, das alles ist so un-
wichtig; aber dahin zu gelangen, daß es im Augenblick gilt, das zählt. Und
so sagte dieser Mann wie zum Abschied: «Für mich ist jeder Tag, den ich
noch lebe, ein reines Geschenk. Unser Gespräch jetzt wird die Räume mei-
nes Heims ausfüllen.» Dieses Gespräch war gewandert von der Literatur
zu dem Tod seiner Frau, zu den Museen der Welt, zu den Bildern vor allem
der Renaissance-Zeit, und es endete mit dem Hinweis auf seine Gambe; die
Musik liebte er mehr als alle Worte und alle Bilder.

263
Die Geheime Offenbarung, aber auch Paulus (1 Thess 4,16), stellte sich
vor, daß sich die Toten aus ihren Gräbern erheben würden beim Stoß der
Posaune, die ein Engel blasen würde. Doch vermutlich ist alles viel leiser,
viel zärtlicher: Alle Menschen, die den Klang «ihrer» Musik im eigenen
Herzen wahrnehmen, werden «auferstehen» vom «Tode» und sich «erhe-
ben» aus ihren «Gräbern». Für unser irdisches Leben bereits gilt dies auf
Grund der Botschaft des Mannes, den Johannes das «Wort» Gottes nennt,
aber auch für jenes Leben jenseits des Todes. Sagen wir es mit den Worten
Jean Pauls3:

Zum Engel der letzten Stunde,


den wir so hart den Tod nennen,
wird uns der weichste, gütigste Engel zugeschickt,
damit er gelinde und sanft
das niedersinkende Herz des Menschen
vom Leben abpflücke
und es in warmen Händen
und ungedrückt
aus der kalten Brust
in das hohe, wärmende Eden trage.

Sein Bruder ist der Engel der ersten Stunde,


der den Menschen zweimal küsset,
zum erstenmal,
daß er dieses Leben anfange,
zum zweitemal,
daß er droben ohne Wunden
aufwache und in das andere lächelnd komme,
wie in dieses Leben weinend.

264
Joh 6,1-21: Brotvermehrung und Seewandel oder:
Großzügiges Geben und furchtloses Gehen
1Danach ging Jesus weg, nach jenseits des Sees von Tiberias.
2Es folgte ihm aber viel Volks, denn geschaut hatten sie die Zei-
chen, die er tat an den Kranken. 3Hinauf aber den Berg stieg
Jesus, und dort setzte er sich mit seinen Jüngern. 4Es war aber
nahe das Pessah, das Fest der Juden (2,13; 11,55). 5Aufhob da
Jesus die Augen, und wie er erschaut, daß viel Volks kommt, zu
ihm, sagt er zu Philippus: Woher sollen wir Brote kaufen, daß
sie zu essen haben? 6Das aber sagte er zur Erprobung für ihn;
er selbst nämlich wußte, was er tun wollte. 7Geantwortet hat
ihm Philippus: Für 200 Denare (ca. 75 Euro) Brot (ca. 1500
Fladenbrote) reicht nicht für sie, damit jeder (auch nur) ein
bißchen bekommt. 8Sagt ihm einer aus (dem Kreis) seiner Jün-
ger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: 9Da ist ein kleiner
Junge hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Doch
das – was ist das für so viele? 10Sprach Jesus: Macht, daß die
Menschen sich niederlassen. Es war ja viel Gras an dem Ort.
Sie ließen sich also nieder – (allein) die Männer an Zahl etwa
5000. 11Genommen hat nun die Brote Jesus, und nachdem er
den Dank gesprochen, teilte er den Gelagerten aus, ebenso auch
von den Fischen, so viel sie wollten. 12Wie sie aber voll gesät-
tigt waren, sagt er seinen Jüngern: Sammelt die überschüssigen
Brocken, daß nichts verdirbt. 13Sie sammelten also und füllten
zwölf Körbe mit Brocken – von den fünf Gerstenbroten, die
überschüssig waren denen, die gegessen hatten! 14Die Men-
schen nun, wie sie sahen, was er getan hatte, was für ein Zei-
chen, da sagten sie: Der ist wahrhaftig der Prophet, der kom-
men soll in diese Welt (Dtn 18,15). 15Jesus da, als er erkannte,
daß sie kommen und ihn gewaltsam wegführen wollten, um
einen König (aus ihm) zu machen (18,36), entwich abermals
auf den Berg, er allein.
16Wie es dann Abend geworden, stiegen seine Jünger hinab zum

See. 17Und sie stiegen in ein Boot und setzten über jenseits des
Sees nach Kafarnaum. Und da: Dunkelheit war schon angebro-
chen, doch noch nicht war Jesus zu ihnen gekommen, 18und der
See unter heftig wehendem Winde ging hoch. 19Sie hatten be-
reits zurückgelegt etwa 25 bis 30 Stadien (5–6 km), da schauen
sie Jesus, wie er einherschreitet auf dem See und nahe dem
Boot kommt, und Angst überkam sie. 20Er aber sagt ihnen: Ich
bin. Habt keine Angst. 21Da wollten sie ihn ins Boot nehmen,
und sogleich war das Boot am Land, auf das sie zuhielten.

265
Im vorhergehenden Abschnitt lautete die Frage: Wie kann ein Mensch wis-
sen, wer er selber ist? Woher bekommt er ein Zeugnis oder eine Bestäti-
gung für das, was er ist? Jetzt greift das Johannes-Evangelium zwei weitere
Begebenheiten aus seiner Wunderquelle auf: die Brotvermehrung und den
Seewandel Jesu, beides Bilder, die später zu einer langen Offenbarungsrede
über das, was Jesus selber ist, hinüberleiten werden.
Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? An einer Stelle seines großen
Josephromans macht Thomas Mann sich Gedanken darüber, wie in der
Bibel das individuelle Leben geschildert werde. Wer ist Jakob? Scheinbar
eine einzelne Person; doch untersucht man seine Geschichte, so führt sich
in ihr offenbar die Wiederholung eines älteren Schemas auf, das schon gül-
tig war bei seinem Vater Isaak; und in dessen Leben wiederum kam zum
Austrag, was bereits in Abraham vorgebildet war1. Bedeutet zu leben nicht
immer wieder, daß Uraltes, Vorgeprägtes, gestaltend und verpflichtend in
unserem Dasein tätig wird? Dann läge die Bedeutung des Individuums ge-
rade darin, sich an das Vorgefundene, weil das allgemein Gültige, anzuglei-
chen, und es gäbe dem Gemeinsamen nur noch zusätzlich seinen eigenen
Namen, um es weiterzutragen durch die Generationen. Der Einzelne, im
Schimmer des Mondlichts betrachtet, erschiene wie eine silberne Welle, die
sich aufwirft unter dem Drängen einer anderen Welle, die ihr voranging,
und stößt eine neue an, und immer so weiter. Alles Einzelne scheint da zu
zerfließen und selber nur ein Moment im Übergang zu sein.
Ganz so diese beiden Erzählungen im 6. Kapitel des Johannes-Evange-
liums, die auf merkwürdige Weise in ihrer Zusammenstellung eine Einheit
bilden und zum Teil alttestamentlichen Vorbildern folgen. Zusammenge-
stellt sind sie, denn wir finden sie in den sogenannten synoptischen Evan-
gelien unabhängig voneinander: Jesus geht über den See, – das erzählt uns
Matthäus im 14. Kapitel (14,22-27) und Markus (6,45-52)2 sowie Johannes
selber noch einmal in analoger Form in dem sogenannten Nachtragskapi-
tel, in Kapitel 21,1-14. Es handelt sich bei der Novelle (bzw. Mythe) vom
Seewandel Jesu erkennbar um eine Geschichte, die aus der Zeit nach
Ostern in das diesseitige Leben des Mannes aus Nazaret eingetragen wor-
den ist. Aber das wissen wir schon: Für Johannes gibt es eine solche Glie-
derung in vor- und nachösterlich gar nicht; er akzeptiert nicht die Zweitei-
lung, wonach dieses Leben hier auf der Erde spielt und dann der Tod
kommt, um etwas ganz anderes, Himmlisches, vorzubereiten; sondern das
Göttliche, das Himmlische, gestalte sich jetzt und hier, meint das Vierte
Evangelium. Diesseits und Jenseits sind da nicht gegeneinander abgezir-
kelt, sondern ganz im Gegenteil: das wirkliche Leben eines Menschen auf

266
Erden vollzieht sich in der Darstellung des Johannes überhaupt nur kraft
des Ewigen, kraft des Göttlichen. Wer diesen Hintergrund nicht findet, lebt
nimmer wirklich, der existiert im Tod, während er wähnt, doch zu leben.
Alles, was in den ersten drei Evangelien zeitlich nacheinander angeordnet
wird, bildet für Johannes eine Einheit, die je nach der Entscheidung sich
trennt zwischen Leben und Tod, zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen
Tag und Nacht – sagen wir hier schon: zwischen Festland und Meer. All
das sind Bilder im Vierten Evangelium, die Daseinsorte beschreiben, je
nachdem wie das Leben uns erscheint, je nach der Wahl, die wir im
Grunde für uns getroffen haben, oder – um Johannes genauer wiederzuge-
ben – nach der Wahl, die Gott mit uns getroffen hat, denn nie entscheiden
wir uns, meint dieser Evangelist, einfach nach freien Stücken; alles ist da
Geschenk aus Begegnung und Begnadung: niemand macht sich da selbst,
sondern alles vollzieht sich aus Gott oder gar nicht.
Jesus vermehrt Brote, – das berichtet das Markus-Evangelium gleich
zweimal, in Kapitel 6,30-44 und Kapitel 8,1-9. Daß Johannes beide Ge-
schichten – die vom Seewandel und von der Brotvermehrung – hier in eine
einzige Handlung zusammenfügt, als ein Geschehen am Tage und als ein
Geschehen bei Nacht innerhalb weniger Stunden, zeigt uns, daß er etwas
Neues im Sinn trägt, das weder bei Markus noch bei den anderen beiden
synoptischen Evangelisten so komponiert oder konzipiert war. Das ent-
scheidende Stichwort ist, wie beiläufig, eine Zeitangabe; doch nie spricht
Johannes eine solche aus, um uns über Kalenderdaten zu informieren. Es
war, sagt er, Pessah; und als wenn er es mit Lesern zu tun hätte, die vom
jüdischen Glauben, vom Alten (oder vom Ersten) Testament noch nie
etwas gehört hätten, fügt er noch hinzu: das war das Fest der Juden; es
war das Fest, müßte man sagen, es ist der Mittelpunkt aller jüdischen
Feste. Dann aber setzt Johannes merkwürdigerweise einfach voraus, daß
man schon versteht, was Pessah bedeutet, und zwar gerade für gläubige
Juden. Das Pessah-Fest ist verknüpft mit dem Gedanken des Ausbruchs
und Aufbruchs des Volkes Israel aus Ägypten, mit der Beendigung von Ab-
hängigkeit und Lohngefangenschaft, mit dem Ende des endlosen durch
Fronarbeit sich rechtfertigenden, mühsalgepeinigten Aufenthalts im Land
der Fremde. Pessah, das war die Stunde, in der Israel lernte, bei Nacht und
Nebel zu fliehen und alles zu verlassen, was ihm bisher Daseinssicherung
zu bieten schien (Ex 12,1-28; 13,1-16).
Man kann gleichzeitig Sklave sein und dennoch wohlversorgt; man
kann in fremder Menschen Hand gegeben sein und sich gerade dadurch
wie gesichert, wie sorgenfrei fühlen. Die Gefahr liegt darin, sich an diesen

267
Zustand so sehr zu gewöhnen, daß jede andere Möglichkeit, jede Alterna-
tive, zu leben, als ein zu hohes Risiko empfunden wird. Mose hat sein Volk
gelehrt, gerade dieses Wagnis seiner Freiheit einzugehen: lieber ins Unge-
wisse, hinein in die Wüste, lieber ins Niemandsland, hinein ins Noch-nie-
Begangene, als sich weiter zu verhocken in einem Leben, das wie gestohlen,
wie weggenommen ist, oder das umgekehrt wie eine Prämie für Bravheit
und Wohlgefälligkeit empfunden wird. Pessah, das bedeutet den Mut zur Frei-
heit, das bedeutet das Ergreifen eines eigenen Daseins für ein ganzes Volk.
Und so ging es dann weiter. Die Stunde kam unter der Führung des
Mose sehr bald, daß das Volk, angelangt an dem Ufer des Roten Meeres,
hinter sich die Reiterwagenabteilungen des Pharaos herannahen sah. Be-
drängt von der Vergangenheit und abgeschnitten von der Zukunft, wußte
es weder nach vorn noch nach rückwärts weiter. In dieser Situation wirkte
Mose ein Wunder, das wie die Vorlage ist für das, was Johannes hier er-
zählt: Er nahm die Seinen bei der Hand, er stellte sich ans Ufer, er streckte
seinen Stab über das Wasser, und er rief seinem Volke zu: Kommt! Und
dieses, indem es dem Anruf folgte, sah, wie das Meer vor seinen Füßen
sich öffnete, so daß es trockenen Fußes hindurchschritt auf den Mann zu,
der vom anderen Ufer her sein Vertrauen bildete (Ex 14,16-22).
Hernach dann begann die Sorge um das bloße Überleben in Wüstenei
und Trockenheit, zwischen Sand und Steinen; ein neues Wunder mußte
Gott wirken durch die Hand des Mose, daß er Manna vom Himmel reg-
nen ließ; an jedem Morgen hob das Volk vom Boden etwas auf, das weiß
war wie Koriandersamen und süß wie Honigkuchen in seinem Munde.
«Was ist das?» fragte es erstaunt und dankbar in jedem Sonnenaufgang:
Man hu – Manna nannte man’s (Ex 16,15.31). Am Ende aller Angst, am
Ende aller Unwegsamkeit, am Anfang dieser seiner neuen Freiheit weiß ein
Mensch offenbar niemals schon, wovon er leben soll. Er kann nur darauf
vertrauen, daß es irgendwie weitergeht; er lebt buchstäblich von der Hand
in den Mund, jeder Tag ein unverdientes Geschenk. Nichts ist gewiß,
nichts ist gesichert, und doch geht es Schritt für Schritt weiter.
Zum Thema Pessah und Exodus kam noch als ein weiterer Gedanke
hinzu, daß das Volk sich als solches forme vor dem Berg des Gesetzes. Da
stand Mose im Kreis der Ältesten und gab Israel das Gesetz, die Botschaft
Gottes, wie zu leben sei (Ex 19; 20). – Schon das Erste Evangelium, Mat-
thäus in den Kapiteln 5 bis 7, hat diese Szene vom Sinai zur Vorlage für
seine Bergrede genommen. Da verkündet der historische Jesus in den
Augen des Matthäus ein neues Gesetz, eine neue Ordnung, und er richtet
sie – ganz wörtlich – an all diejenigen, «die übel dran waren», an die Kran-

268
ken, näherhin an die Mondsüchtigen, die Gelähmten und die Besessenen
(Mt 4,24). Alles, was Jesus mit seinem neuen «Gesetz» bewirkt, ist zu ver-
stehen als Mittel zur Heilung menschlichen Leids.
Das nun wird das Stichwort am Anfang der Geschichte von der Brotver-
mehrung bei Johannes. Die Leute haben gesehen, wie Jesus Kranke heilt,
welche Zeichen er an ihnen wirkt. Davon hat Johannes uns bisher nur
dürftig berichtet. Der Sohn eines königlichen Beamten in Kapitel 4 (Joh
4,43-54); ein Gelähmter am Teich Betesda in Kapitel 5 (Joh 5,1-9), – das
ist, gemessen an dem Reichtum von Heilungsgeschichten in den ersten drei
Evangelien, merkwürdig wenig. Aber wir wissen bereits: für Johannes be-
deutet die Heilung auch nur eines einzigen Menschen den Anfang einer
völlig neuen Lebensform, die Gültigkeit für alle beansprucht. Da gibt es
etwas zu lernen, das dann in langen Gesprächen dargelegt wird; immer rei-
fer und reiner soll es sich klären, wer die Menschen an der Seite des Man-
nes aus Nazaret sind oder sein könnten, an der Seite des Mannes, der wie
von einer anderen Welt, aus der Sphäre des Göttlichen, zu uns kam. Von
ihm und dann auch von uns kann man jetzt nicht länger mehr sagen, wir
lebten, um uns in das Vorgeformte einzupassen, wir seien nichts weiter als
das Füllsel einer allgemeinen Exemplarform, und der Sinn unseres Lebens
gründe darin, uns möglichst genau dem Vorbild der Vorzeit anzugleichen;
ganz im Gegenteil: Es ist das Beispiel Jesu, durch die Kraft der eigenen Per-
son das Vergangene noch einmal ganz neu zu schreiben.
Gerade das deutet Johannes an, indem er Jesus selber in das Zentrum
von allem stellt: Er ist es, der das Brot verteilt, anders als Mose, obwohl
ihm ähnlich. Er bittet nicht zu Gott, es vom Himmel regnen zu lassen, auf
daß die Menschen gespeist werden mögen; er nimmt selber das Brot und
teilt es aus; alles geht durch seine Existenz hindurch, was für uns zu Vor-
bild und Gleichnis werden soll. Wie streng sich jetzt das Allgemeine vom
Einzelnen trennt, offenbart sich vor allem am Ende der Brotwunderge-
schichte: Kaum drängen die Menschen zu ihm, um aus Jesus einen Führer,
einen König zu machen, da zieht er sich auf den Berg zurück, er ganz al-
lein. Das ist ein Wort – so klar und offenbarend, daß deutlich wird, wie
vom Glauben johanneisch zu denken sei: Er wird nicht in der Masse ge-
wonnen, obwohl er allen zugute kommt; er will vielmehr bewahrt sein im
Einzelnen, damit er für alle allererst wirksam zu werden vermag.
Ganz so, wenn Jesus hier auf dem Berge Platz nimmt. Dieser Berg ist ge-
wissermaßen ein zweiter Sinai. Johannes überliefert nicht so etwas wie eine
Bergpredigt; doch das, was Jesus hier tut, ist für Johannes seine ganze Bot-
schaft: Menschen Brot zu geben, das ist der erste und wichtigste Inhalt von

269
allem, das ist die Zusammenfassung, die alles in sich schließt. Wenn Jesus
dann über das Wasser zu seinen Jüngern kommt, kehrt offenbar die alt-
testamentliche Bildvorlage noch einmal, nur in anderer Motivfolge, wie-
der: vom «Sinai» wird da nicht durch das Rote Meer, wohl aber über den
See von Gennesaret hinübergegangen in das Land, auf das sie zuhielten.
Das Land ist im Sprachgebrauch der Bibel zweifellos das verheißene Land,
es ist «Israel», aber wieder nicht äußerlich, sondern ganz und gar innerlich.
Diese kleine Geschichte will offenbar alles, was ehedem von «Israel» er-
zählt wurde, neu berichten und umkehren: Vom Berg der Verkündigung,
vom Sinai, hinüber, durch die Furt, über das Wasser, hin zu dem Land, zu
dem Gott uns bestellt hat – das beschreibt den Wüstenzug Israels in ent-
gegengesetzter Richtung bis hin zur Erfüllung. Der Berg, auf dem sich die-
ses Pessah ereignen mag, ist dann auch schon nicht mehr der Sinai, eher
der Berg Zion. Alles Kultische hebt sich da zu einer wahren Gottesver-
ehrung auf, indem man die Haltung der Frömmigkeit nicht mehr in be-
stimmten heiligen Zeichen zur Aufführung bringt, sondern indem man sie
in der eigenen Existenz lebt. So müßten wir diese beiden Wundererzählun-
gen, diese Zeichen, wie Johannes immer wieder bewußt sagt, verstehen als
ein Gleichnis für die Art, wie wir selber richtig unser Dasein entwerfen
sollten.
Eine Frage, die sich bedrängend, quälend, immer neu, zu allen Zeiten
und Orten stellen muß, lautet, wie wir mit der Not und dem Leid anderer
Menschen umgehen. Passiert es auf dieser Welt auch nur ein einziges Mal,
daß da so etwas wie ein Schimmer von Helligkeit durch die Nacht dringt,
daß da ein Ort sichtbar wird, an dem Hilfe möglich sei, so werden die
Menschen in Scharen sich dahin wenden wie Falter zum Licht: Da wird
eine Hoffnung erkennbar, von der sie wie magisch angezogen werden.
Grad so hat Jesus es historisch bereits erlebt. Im Johannes-Evangelium hat
er erst zweimal Kranke geheilt, und schon drängt sich viel Volks zu ihm. Es
ist eine ähnliche Szene wie in der eben erwähnten Stelle von Mt 4,24, in
der Einleitung zur Bergpredigt: da kommen sie alle mit ihren Krankheiten
zu Jesus. Der Sinn aller Religion bestünde demgemäß darin, den Menschen
in ihrer Not, der seelischen genau so wie der körperlichen, beizustehen, so
gut es irgend geht.
Es ist schwer, sich einen absurderen Einwand gegen diese Einheit von
Heil und Heilung, von Therapie und Frömmigkeit im Wirken Jesu vorzu-
stellen als denjenigen, der aus Theologenmund nicht selten lautet, Lebens-
hilfe sei nicht Religion, Psychotherapie sei nicht Teil des Religiösen – so als
ließe sich mit dem Blick auf Jesus die Kunde von Gott und die Güte zum

270
Menschen in getrennte Bereiche aufspalten, so als wäre nicht beides hand-
lungsgleich und miteinander auf das engste verbunden.
Demnach stellt sich die Frage hier zunächst einmal denkbar wörtlich
und äußerlich: Was läßt sich tun gegen den physischen Hunger der Men-
schen? In dieser Szene nimmt Jesus selber die Verantwortung auf sich. Er
war es, der die Menschen angelockt hat; wie und womit also soll er sie
speisen?
Die Frage begleitet uns durch jeden Tag. Wenn wir morgens die Zeitung
lesen, wird uns die bedrückende Wirklichkeit immer neu zur Herausforde-
rung: Da hungern die Menschen zu Millionen, und es scheint dagegen
jahraus, jahrein, Jahrzehnt um Jahrzehnt nicht nur keine Lösung zu geben,
sondern es scheint im Gegenteil nur immer schlimmer zu werden. Was ist
zu tun? Allein schon an der Außenseite des Problems macht sich diese
Frage fest.
Es gibt die eine, die fundamentalistische, die fromm-gläubige, die aber-
gläubische Auskunft: Jesus als Gottessohn konnte fünftausend Männer an
einem Nachmittag mühelos speisen, da er ja ausgestattet war mit göttlicher
Kraft. Eine solche Auffassung klingt nicht nur fromm, sie ist vor allem sehr
bequem, denn etwas Vergleichbares vermögen wir nicht, können wir nicht,
brauchen wir nicht; es genügt entsprechend dieser Deutung, auf die Knie
zu sinken und uns von Christus, dem Herrn, das Brot reichen zu lassen,
das er uns schenkt. Aus Fragen der Existenz wird da unter der Hand eine
Frage des Sakramentalismus. Das Brot, das Jesus uns gibt, ist dann die Eu-
charistie; den Mund zu öffnen und sich in Demut, Andacht und Ehrfurcht
beschenken zu lassen gilt da als einzig rechter Gottesdienst. Gefragt, was
die fünfzig Millionen Menschen davon haben, die jahraus, jahrein verhun-
gern, wird man sagen: «Nun wohl, wir sammeln bei solchen Gottesdien-
sten mindestens zweimal im Jahr, vor Weihnachten und Ostern, zu Adve-
niat und Misereor oder für ‹Brot für die Welt›, Gelder gegen das Leid der
Menschen.» So mag man sich trösten – oder belügen.
Die reale Wahrheit ist sehr simpel. Selbst wenn man annimmt, daß alle
Christen, die in die Kirche gehen, bei den entsprechenden Kollekten an die
30 Millionen Euro spenden – für jeden einzelnen ist das zweifellos eine
Menge Geld –, so muß man doch nur ein wenig rechnen und wird bald be-
greifen, daß die katholische wie die evangelische Kirche, daß alle Fürsorge-
organisationen in Deutschland, Westeuropa, Nordamerika, überall, wo
vergleichsweise wohlhabende Menschen wohnen, am Ende eines Jahres auf
diese Weise gerade so viel gesammelt haben werden, daß sie für vierzehn
Tage die Zinsen der Schulden der Länder der Dritten Welt zusammenge-

271
bracht haben. Das war’s dann. Von der Ausbeutung der Länder der Dritten
Welt beziehen wir einen erheblichen Teil unseres Wohlstandes, aber aus
dem erwirtschafteten Überfluß wollen wir dann wohltätig werden für die
Mittellosen – ein irrsinniger Kreislauf mutwilliger Selbsttäuschung.
Liest man die Erzählung von der Brotvermehrung, so stellt es eine Pro-
vokation dar, daß Jesus einen seiner Jünger fragt: «Wie speisen wir die
Leute? Was machen wir jetzt?» Philippus erklärt: «Nicht einmal zweihun-
dert Denare – wenn wir sie denn hätten! – würden ausreichen für all die
Leute.» So geht es uns stets: Die erste Antwort, die uns auf die Frage des
Massenelends der Menschen einfallen wird, ist die ganz normale Philip-
pus-Antwort, die absolut vertraute in Kirche und Gesellschaft; sie lautet:
«Gewiß, es gibt Notleidende, es gibt Hungernde; gewiß, 80 Prozent aller
Kapitalströme fließen an den 100 ärmsten Ländern vorbei; aber wir haben
Grenzen, wir können nicht viel tun. Alles, was wir haben, ist viel zu wenig.
Sobald wir anfangen zu rechnen, und das müssen wir, gerade in Wirt-
schaftsfragen, werden wir sehen, daß es nicht auslangt, um global wirksam
zu helfen.» – Selbst wenn wir nicht nur privat manchmal in Kirche und
Gesellschaft spenden würden, selbst wenn wir den Staat in Dienst nehmen
würden, um Mitleid und Menschlichkeit nicht als bloße Bürgerpflicht,
sondern zugleich als Staatsaufgabe zu definieren, bräuchten wir ein inter-
nationales Konzept; bei der Abrüstung zum Beispiel: 30 Milliarden Euro
geben wir in Deutschland immer noch pro Jahr für immer scheußlicheres
Kriegsgerät aus; die USA leisten sich sogar pro Tag 1 Milliarde Dollar für
die größte Vernichtungskapazität aller Waffensysteme der Welt. Wem soll
das nützen? Aber wir dürfen gewissermaßen nicht wirklich abrüsten in
«Bündnistreue» oder aus Solidarität im Anti-Terror-Krieg, als käme nicht
der größte Teil der weltweiten Gewaltbereitschaft aus dem erkennbaren
Unrecht zwischen Arm und Reich, Mächtig und Ohnmächtig, Überlegen
und Unterlegen. Auf diese Weise haben wir niemals Geld genug, um hilf-
reich zu sein. Zudem basiert unser Wohlstand auf einer riesigen Staatsver-
schuldung: Rund 60 Prozent der Nettokreditaufnahme des Staates gehen
immer noch pro Jahr für die Schuldentilgung, für die Zinsen der Altschul-
den drauf. Dann kommt die Opposition und erklärt, daß die Regierung
keine Manövriermasse zum Handeln mehr hat – selbst für wichtige Pro-
jekte nicht; wie sollen wir da zu strukturellen Verbesserungen der Lage der
Länder der Dritten Welt beitragen? In jedem Falle zeigt sich, daß wir bei
aller Rechnerei weder den notleidenden Menschen wirklich helfen können
noch daß wir selber richtig zu leben verstehen.
In der nun folgenden Darstellung der Brotvermehrung weicht das Johan-

272
nes-Evangelium von den Erzählungen der ersten drei Evangelien in einem
entscheidenden Punkte ab: Als Jesus seine Frage an Philippus richtete:
Woher sollen wir Brote kaufen, habe er ihn auf die Probe stellen wollen.
Dieses Wort: auf die Probe stellen oder: in Versuchung führen ist ein Aus-
druck, den die Bibel oft gebraucht und der Menschen, die die Bibel ernst
nehmen, zutiefst erschüttert. Ist denn das möglich, daß Gott mit uns Men-
schen derart verfährt? Und daß Jesus es hier auch tut? Vor allem die Vater-
unser-Bitte Und führe uns nicht in Versuchung (Mt 6,13) ist ein häufiger
und quälender Stein des Anstoßes. Die Stelle hier kann uns das Gemeinte
indessen ganz gut erläutern. Was Jesus im Sinn trägt, als er Philippus so
fragt, läuft offenbar darauf hinaus, sein Denken in eine gewisse Konse-
quenz zu treiben, mithin seine ganz normalen Überlegungen bis an den
Punkt zu führen, an dem es nicht mehr weitergeht, an dem eine Aporie ent-
steht, – und an genau dieser Stelle soll etwas Neues beginnen. Jesus will
Philippus erproben, das heißt, er will ihn in eine Krise bringen, an deren
Ende entweder alles sich blockiert oder die gesamte Lebensgrundlage sich
ändert. «Versuchen», «auf die Probe stellen» – das ist, biblisch geredet, die
Art Gottes, einen Menschen dahin zu bringen, daß er sieht, woran er mit
sich selbst ist. Solch eine Krise ist ein Augenblick, in dem wir spüren, daß
wir aus dem gesamten Alten und Tradierten und Gewohnten herausschrei-
ten müssen, wenn es noch Zukunft geben soll. So versteht man die Bitte im
Vaterunser: sie hofft und erfleht förmlich, daß eine solche «Probe» nicht
nötig sei und daß Gott uns von vornherein richtig leben lasse. Doch wo ist
das der Fall? Philippus jedenfalls muß seine Art, auf erwachsene Weise zu
kalkulieren und zu berechnen, was er, wohlverdient, in Händen hält und
was er davon abzugeben sich leisten kann, fahren lassen, oder es wird für
die fünftausend Männer (die Frauen und Kinder nicht mitgerechnet) am
Fuß dieses Berges niemals etwas Hilfreiches geschehen können.
An genau dieser Stelle führt Johannes gegenüber dem «erwachsenen»
Philippus einen kleinen Jungen ein, der fünf Gerstenbrote und zwei Fische
besitzt. Man ahnt zwischen den Zeilen, was jetzt passiert, – wie diese Krise
neu beantwortet werden soll: Wenn wir werden könnten wie die Kinder,
hat sinngemäß der historische Jesus im Markus-Evangelium einmal gesagt,
nur dann würden wir spüren, welche Macht Gott entfaltet, welch ein
Wunder er in unserem Leben wirken könnte (Mk 10,15). Und so verhält es
sich: Dieser Junge gibt Jesus, was er besitzt, und Jesus tut nichts weiter, als
das Geschenk dieses Kindes auszuteilen. Mitten in ihren Sorgen sollen die
Jünger nichts weiter machen, als daß sie die Menschen Platz nehmen las-
sen, als daß sich alle in Ruhe hinsetzen; das ist möglich, – die Gegend ist

273
grasbestanden genug, wie es beziehungsträchtig heißt: Eigentlich trägt
diese Erde genügend für jeden; und man begreift: das Wunder, das da ge-
schieht, besteht in dem Austeilen selbst, besteht in dem Mut, ein Kind zu
werden, das gibt, was der andere braucht. Ein ganzes Prinzip des Handelns
ändert sich. Man plant nicht mehr, man rechnet nicht mehr, man erwirt-
schaftet nicht länger durch die Ausbeutung der anderen den Überschuß,
den man dann wieder zu einem Bruchteil den Ausgebeuteten retournieren
könnte; dieses Kind nimmt, was es hat, es öffnet seine Hand, und aller
Leute Hände füllen sich.
Dazwischen freilich, bevor er das Geschenkte austeilt, spricht Jesus ein
Gebet der Dankbarkeit. Auch diese Haltung setzt sich fort. Jeder, der ein
Stück Brot nimmt, weiß zugleich, daß er es nicht verdient hat, es ist und
bleibt ein Geschenk; doch in gerade dieser Gesinnung wird es nicht
schwerfallen, weiterzuschenken. Und nun zeigt sich: Tun so alle, haben alle
nicht nur genug, sie haben im Überfluß. Nicht, daß das Brot damit gleich-
gültig würde; im Gegenteil: alles wird sorgsam aufgehoben bei Johannes,
natürlich auch, um die Größe dieses Wunders richtig würdigen und ab-
schätzen zu können. Da kommt am Ende wieder ein exakter Betrag zu-
stande, doch dieser Betrag, wohlgemerkt, rechnet sich nur, nachdem er
durch viele Hände des Teilens und Schenkens hindurchgegangen ist. Eine
neue Art zu kalkulieren entsteht da, eine neue Mathematik des Überschus-
ses statt der Notwirtschaft, denn dieser Überschuß ergibt sich nicht durch
Wegnehmen hier und Aufhäufen da, er ist das Resultat einer so nie emp-
fundenen Solidarität, einer Änderung im ganzen.
Was wir «Wirtschaften» nennen, besteht eigentlich immer noch darin,
die Schulden des einen gegen die Schulden des anderen zu verrechnen.
Jeden Geldschein, den wir in die Hand nehmen, können wir als eine Lei-
stungsforderung an die Schuld eines anderen betrachten, und je mehr der
eine bereits an Geld besitzt, desto mehr wird und kann er dem anderen aus
der Tasche ziehen. Auch das war ein Wort des historischen Jesus, überlie-
fert bei Lukas (14,13.14): Wenn ihr verleiht – nicht geradewegs schon
schenkt, sondern nur etwas verleiht –, dann tut es, ohne zu rechnen, ob es
euch zurückerstattet wird. Ladet ein, die es euch nicht vergelten können.
Das heißt im Grunde: Wenn ihr verleiht – wenn ihr es euch also überhaupt
leisten könnt, Geld zu verleihen –, dann schenkt es doch gleich weg und
wartet nicht darauf, bis der andere sich doppelt abrackert, um es euch
schließlich nach langer Zeit der Not zurückbringen zu können.
Wenn man so will, sind diese Worte der Kommentar des historischen
Jesus zu der «wunderbaren Brotvermehrung». Sie besteht nicht in irgend-

274
einer göttlichen Magie und Hexerei, die vor zwei Jahrtausenden sich ereig-
net hätte; der Akt des Glaubens besteht überhaupt nicht darin, an irgend-
einen Hokuspokus von vor zweitausend Jahren zu glauben; die Wahrheit
dieser Geschichte liegt darin, daß und wie wir sie heute abend noch oder
spätestens morgen früh wahrmachen in unserem Leben und damit Zukunft
gewinnen für die Menschen.
Doch nun kommt es wieder, wie es allerorten ist, wie es im Sinne Jesu
aber nicht geht. Bei so vielen Wohltaten könnte man meinen, es gelte nun,
eine objektive, allgemein verbindliche Struktur für die Menschlichkeit zu
finden, eine Institution einzurichten oder eine neue Verfassung zu kreieren,
die das «Wunder» der Einmaligkeit des Zufalls entreißt. Kaum begreifen
die Leute, was da für eine menschliche Überzeugungskraft, was für eine
Hypnose der Liebe von der Person Jesu ausstrahlt, wollen sie ihn zum
König erheben. Das besagt soviel, wie daß man das Wunder der Mensch-
lichkeit auf Dauer stellen möchte, auf daß es zu einem verbrieften Recht
umgewandelt werde. Was sich aus einer spontanen Regung des Mitleids
ergab, steht da gewissermaßen in der Gefahr einer bloß subjektiven Belie-
bigkeit; nötig scheint es der «Vernunft in der Geschichte», daraus eine ob-
jektiv gültige Gesetzgebung, ein verfassungsmäßig garantiertes Recht für
jedermann zu machen, und die Rolle des (messianischen) Königs böte die
Garantie für die Etablierung und den Bestand einer solchen Ordnung der
Welt. Der Gedanke scheint ganz vernünftig, und er wird sich uns immer
wieder nahelegen, aber Jesus wird dazu niemals ja sagen. Er ergreift im Jo-
hannes-Evangelium sogar schleunigst die Flucht vor diesem Ansinnen, er
zieht sich zurück auf den Berg und bleibt dort ganz allein mit sich und sei-
nem Gott. Das ist seine Antwort auf den Versuch, aus ihm einen messias-
theologisch begründeten Monarchen zu machen. Es ist für ihn soviel, wie
wenn der Teufel ihm noch einmal begegnen würde. Diese Geschichte ken-
nen wir aus Matthäus 4,8.9: Alle Reiche der Welt, spricht dort der Satan,
könnten ihm zur Verfügung stehen, er müßte nur kniefällig den Teufel
selbst anbeten. So erschien es Jesus, «König» zu werden und Macht über
Menschen zu gewinnen und auszuüben. Was er wollte war, daß Menschen
mächtig in ihrer eigenen Barmherzigkeit würden, doch eine institutionali-
sierte Menschlichkeit erschien ihm als Verrat an der Menschlichkeit, ein
fast so absurdes Unterfangen, wie den Willen der Menschen zum Frieden
militärisch zu organisieren.
Natürlich geht es zudem nicht immer um Brot im äußeren Sinn. Das,
wovon die Menschen leben, ist viel mehr als das, was man ihnen von
außen geben kann. Das, wonach sie Hunger tragen, ist mehr als Nahrung,

275
ist Liebe – ist das Wort Gottes, meinte Jesus (Mt 4,4; Joh 4,34). Da muß
man die Geschichte nur so erzählen, wie sie sich praktisch immer wieder
aufführt. Wie viele Menschen sind, die, wenn sie morgens aufstehen, ihre
Umwelt erleben wie einen Belagerungszustand, – fünftausend Leute rings-
um, sozusagen, die irgend etwas möchten, und man weiß nicht, was man
für sie tun soll. Frauen gibt es, die am Morgen schon nicht wissen, wie sie
mit ihren Kindern, mit ihrer Familie auch nur über die nächsten fünfzehn
Stunden kommen sollen. Alles liegt wie ein riesiger Berg vor dem Fenster
ihrer Seele und versperrt die Aussicht. Sie fühlen sich nervlich belastet, see-
lisch überfordert, – man kann nicht mehr, man will auch nicht mehr. Am
liebsten möchte man die Leute alle wegschicken und sagen: «Versorgt euch
selbst und bleibt, wo ihr seid: ihr wißt, wo ihr herkommt, und genau dahin
geht zurück!» Alles andere wäre geradewegs unverantwortlich! – Das
Wunder der Brotvermehrung beschreibt, daß Menschen tagaus, tagein, im
ganz Alltäglichen, ohne zu wissen oft, wie und woher die Kraft dazu
kommt, dem Druck standhalten: es geht immer wieder weiter, quer durch
die Wüste, als würde das Manna-Wunder immer wieder neu sich ereignen.
Da sind Menschen für andere da, obwohl sie nach menschlichem Maßstab
tausendfach überfordert sind. Kein Mensch weiß, woher sie die Energie
aufbringen, nur, indem sie so tun, kehrt, was sie ausgeteilt haben, zurück,
– vervielfältigt sogar, reichlich!
Das ist vermutlich die Erklärung für alles: Das, was wir dem anderen
geben, zunächst wohl nur mit dem Blick auf seine Not, das bereichert am
Ende uns selbst; es wird uns nicht weggenommen, es geht nicht perdu, son-
dern es kehrt zu uns zurück, es ist einzusammeln, körbeweise; – es lohnt
sich und belohnt sich, mit einem Wort. Das ist die Erfahrung. Und macht
man sie auch nur ein einziges Mal, so beginnt man für immer an diese Al-
ternative zu glauben, und sie wird, je öfter sie sich aufführt, zur Gewißheit.
Übrig bleibt eine Güte, die sich nicht verzwecken läßt, übrig bleibt eine
Einsamkeit und eine Freiheit auf den «Bergen des Herzens», welche die
Nähe zu Gott zwischen Himmel und Erde stets offenhält. Dieser Ort einer
Bergeseinsamkeit muß immer wieder aufgesucht werden, denn er allein
schenkt die Kraft zum Weitergehen und Weitermachen.
Konsequenterweise vollzieht sich dann auch die nächste Geschichte: der
Durchgang durch das Rote Meer, auf johanneisch. Abend ist geworden; da
hört man im Unterton dieses Satzes bereits die Stimmung von Düsternis
und Verzweiflung heraus, und sie erscheint fast wie die Seelenlage des-
selben Mannes, der eben noch die Tausende speiste. Da machen sich die
Jünger auf, hinüberzufahren ans andere Ufer. In wenigen Sätzen gestaltet

276
sich da unser ganzes Leben: als ein Unterwegssein mitten durch einen See,
der brodelnd wird unter stark wehendem Wind; fast richtungslos treibt’s
uns umher; alles erscheint wie ein mühsames Sich-Plagen ohne rechtes
Weiterkommen. Nacht, Wind, Wogen, See, – das sind die Chiffren einer
Existenz, die über dem Bodenlosen versucht, Halt zu finden, und die doch
wie in einer Nußschale auf offener See hin und her geworfen wird. Ein sol-
ches Leben gehört nicht sich selbst, es wird getrieben und geworfen von
Kräften, die nicht beherrschbar sind, obgleich doch gerade diese Kräfte
benötigt werden, damit überhaupt ein Fortkommen sein kann. Es gibt
keine Einsicht mehr, keine Aussicht mehr, keine Durchsicht mehr, alles ist
dunkel, nur einfach dunkel.
In solchen Momenten, erzählt das Johannes-Evangelium, kann es ge-
schehen und geschieht es immer wieder, daß die Person des Mannes aus
Nazaret vom anderen Ufer her, vom Ort seiner Gotteseinsamkeit her, in die
Abgründigkeit, in die Nächtlichkeit unseres Daseins kommt und uns zeigt,
wie man buchstäblich hindurch, das heißt: darüber hinweg gehen kann.
Immer wenn Menschen tief verzweifelt sind, äußern sie beides gleichzei-
tig: sie sagen, daß es so nicht weitergeht, und zugleich fragen sie händerin-
gend, was sie denn tun sollen. Alles, was ihnen als Antwort auf diese Frage
einfällt, läuft indessen darauf hinaus, so weiterzumachen wie bisher; doch
genau das können sie nicht, das gerade ermüdet sie, daran hat ihre Kraft
längst schon sich aufgezehrt. Im Grunde wollen sie nichts weiter als Ruhe:
doch diese Ruhe suchen sie äußerlich und finden sie schon deswegen nie.
Umgekehrt hier. Das ganze Vorbild Jesu gibt Zeugnis davon, wie man voll-
kommen ruhig durch den Sturm und durch die Wellen zu gehen vermag.
Man «macht» überhaupt nichts. Diese Einstellung führt in gewissem Sinne
weiter, was soeben bei der Brotvermehrung geschah. Das einzige, was die
Jünger da «machen» sollten, bestand darin, die Leute sich setzen zu lassen,
sie zur Ruhe zu bringen; das war schon der entscheidende Anfang von
allem. Und genauso hier. Äußerlich geschieht gar nichts, doch eine neue
Wirklichkeit wird da sichtbar, und sie kommt in Gestalt Jesu immer näher
an das Boot heran.
Paradoxerweise erscheint gerade dieses Gefühl: man braucht nichts zu
machen, als etwas furchtbar Bedrohliches; es ist identisch mit dem Gefühl,
man kann gar nichts machen, und das löst neuerdings Angst aus. Was
eigentlich Zuversicht bilden könnte, kommt einem vor wie eine Geister-
erscheinung, wie etwas Gespenstisches; es verkörpert genau das, was wir
zunächst nicht wollen, es erscheint uns wie eine neue Gefahr. Kann man gar
nichts mehr tun, ja, was soll man dann machen! Das Erstaunliche, das von

277
der Gestalt Jesu ausgeht, ist dieses Vermögen zu einer großen Beruhigung,
und sie liegt ganz in der Nähe seiner Person. Alle Angst beruhigt sich,
wenn auch nur einer nah genug an den anderen herantritt und ihm sagt,
wie hier Jesus zu seinen Jüngern: Ich bin. Das ist ein ungeheures Wort in
der Bibel; im Grunde darf es nur Gott selber sagen: Ich bin. Kein Mensch,
nach rabbinischer Überlieferung, kann so sprechen: Ich bin. Und wie
auch? Alles menschliche Personsein ist nur zu erkennen im Glanz dieses
einen Lichts, dieser einzig wirklichen, absoluten Person, dieses Ichs, das
wir Gott nennen, weil es nie Objekt, nie Gegenstand wird, sondern stets
ein Geheimnis, ein Subjekt bleibt. Aber genau diese Formel: Ich bin, mit
der Gott in der Bibel sich offenbart, übernimmt hier Jesus, und indem er
sie ausspricht für seine Person, beruhigt er damit die Angst seiner Jünger.
Ich bin. Habt keine Angst.
Alle menschliche Beziehung, die wahr ist, taucht ein in diese zwei
Worte. Da ist ein Mensch, der dem anderen in seinem Schrecken nichts
weiter sagt als: Ich bin: – ich bin bei dir, ich bin mit dir, ich bin da für dich,
und das allein wird zu dem Ort eines Vertrauens über dem Abgrund, mit-
ten im Sturm. Und: Habt keine Angst. Noch einmal: zu «tun» ist da nichts,
aber zu sein alles. Im gleichen Moment, als Jesus sich seinen Jüngern mit-
teilt, kommt er zu ihnen ins Boot, und da sind sie am Ziel, und das Boot ist
am Land, auf das sie zuhielten.
Es handelt sich um eine Erfahrung, die im abendländischen Kulturkreis
kaum je begriffen wurde. Man muß schon zur ostasiatischen Mystik
gehen, um zu verstehen, wovon da die Rede ist. Im 5. Jh. v. Chr. konnte der
altchinesische Weise Lao-Tse aller Menschen Angst mit Worten beruhigen,
die sinngemäß so klangen: «Durch das Nicht-Handeln», sagte er3, «ist
alles gemacht; durch das Wu wei geschieht alles»; und er wollte sagen:
«Solange die Menschen denken, sie lösten ihre wirklichen Probleme,
indem sie noch tapferer, noch tüchtiger, noch fleißiger, noch angestrengter
lebten, vermehren sie nur ihre Konflikte.» Es ist, wie wenn sie es sich
warm machen wollten, indem sie das Holz aus den Wänden ihres eigenen
Hauses im Ofen zu verbrennen suchten. Auf solche Weise wird es nicht
wärmer, sondern kälter. In dem Bild des Johannes-Evangeliums vom See-
wandel Jesu ist es das Vertrauen in die Nähe einer anderen Person, die,
wenn sie glaubwürdig und zuverlässig genug ist, so wie Jesus gelehrt und
gelebt hat, es möglich macht, über den See hinwegzugehen, Land unter den
Füßen zu gewinnen und wie im Nu den Ort der Bestimmung zu erreichen.
Das Ziel unseres Lebens besteht eigentlich in nichts anderem, als dieses
Vertrauen zu lernen: Platz zu nehmen mitten im Gras und ruhig zu werden

278
mitten im Sturm. Das ist das ganze Wunder. Alle Menschlichkeit, alle
Güte, aller Friede wächst augenblicklich daraus.
Noch einmal in der Sprache des Lao-Tse; er sagte: «Der Zwischenraum
zwischen den vier Wänden macht die Wohnlichkeit des Hauses aus. Der
Zwischenraum zwischen den Wänden aus Ton bewirkt die Brauchbarkeit
des Krugs; der Hohlraum zwischen den Speichen des Rades erzeugt die
Tragfähigkeit und Rundheit des Rades. Deshalb: Durch das Nicht-Tun ist
alles gemacht.»4 Sagen wir es johanneisch: Nur durch ein Vertrauen, das
Angst überwindet, leben wir wirklich. Die guatemaltekische Dichterin
Julia Esquivel5 faßte ihr Bekenntnis zu der Möglichkeit, die Wasser des
Todes zu überschreiten, in die Worte:

Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod;


ich weiß gut,
wie seine dunklen, kalten Flure
zum Leben führen.

Ich habe eher Angst vor einem Leben,


das nicht aus dem Tod herauskommt,
das unsere Hände verkrampft
und unsere Märsche verzögert.

Ich habe Angst vor meiner Furcht


und mehr noch vor der Furcht anderer,
die nicht wissen, wohin sie gehen,
die nicht aufhören, daran festzuhalten,
was sie für ein Leben halten
und von dem sie wissen, daß es der Tod ist!

Ich lebe jeden Tag, den Tod zu töten.


Ich sterbe jeden Tag, das Leben zu erzeugen.
Und in diesem Streben zum Tode
sterbe ich tausendmal und
werde noch einmal tausendmal wiedergeboren
durch diese Liebe
meines Volkes,
die die Hoffnung nährt.

279
Joh 6,22-51: Ich bin das Brot des Lebens
22Tags darauf: das Volk, das jenseits des Sees stand, die sahen,
daß ein anderes Boot nicht dort gewesen war, außer dem einen,
und auch, daß er nicht eingestiegen war mit seinen Jüngern,
Jesus, in das Boot; sondern allein hatten seine Jünger abgelegt.
23Andere Boote kamen aus Tiberias nah an die Stelle, wo sie

das Brot gegessen hatten, nach dem Dankgebet des Herrn.


24Als nun das Volk sah, daß Jesus nicht dort war und auch

nicht seine Jünger, stiegen sie selbst in die Boote und fuhren
nach Kafarnaum auf der Suche nach Jesus. 25Und als sie ihn
fanden, jenseits des Sees, sprachen sie zu ihm: Rabbi, wann bist
du hierher gekommen?
26Geantwortet hat ihnen Jesus, er sprach zu ihnen: Bei Gott, ja,

bei Gott, ich sage euch: Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen
gesehen, sondern weil ihr gegessen habt, von den Broten, und
satt geworden seid. 27Erwirkt nicht die Speise, die verderblich
ist, sondern die Speise, die bleibend ist ins unendliche Leben
(4,14), – die der Menschensohn euch geben wird. Denn ihn hat
der Vater mit seinem Siegel bezeichnet, Gott (5,36)! 28Sprachen
sie da zu ihm: Was sollen wir tun, daß wir die Werke Gottes
wirken? 29Geantwortet hat Jesus, er sprach zu ihnen: Das ist
das Werk Gottes, daß ihr vertraut auf den, den er gesandt hat.
30Sprachen sie da zu ihm: Was denn tust du für ein Zeichen,

daß wir sehen und dir vertrauen? Was wirkst du? 31Unsere
Väter haben das Manna gegessen in der Wüste, wie geschrieben
steht: Brot aus dem Himmel gab er ihnen zu essen (Ps 78,24;
Ex 16,4.15). 32Sprach da zu ihnen Jesus: Bei Gott, ja, bei Gott,
ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot aus dem Himmel
gegeben, sondern mein Vater gibt euch das Brot aus dem Him-
mel, das wahre. 33Denn das Brot Gottes ist er, der niedersteigt
aus dem Himmel und der Leben gibt der Welt. 34Sprachen sie
da zu ihm: Herr, allezeit gib uns dieses Brot. 35Sprach zu ihnen
Jesus: Ich bin das Brot des Lebens. Wer kommt zu mir, nein,
der wird nicht hungern, und wer vertraut auf mich, nein, der
wird nimmermehr dürsten (4,14; 7,37).
36Doch ich sprach zu euch: Wohl habt ihr (mich) gesehen, und

doch vertraut ihr nicht. 37Alles, was mir der Vater gibt, – zu
mir wird es kommen, und wer zu mir kommt, den stoße ich
nicht aus (Mt 11,28), 38denn niedergestiegen bin ich aus dem
Himmel nicht, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen
dessen, der mich gesandt hat (4,34). 39Das aber ist der Wille
dessen, der mich gesandt hat: alles, was er mir gegeben, nichts
davon lasse ich zugrunde gehen (10,28.29; 17,12), sondern
lasse es auferstehen am Letzten Tage (5,29; 11,24). 40Ja, das ist
der Wille meines Vaters, daß jeder, der den Sohn schaut und

280
vertraut auf ihn, unendliches Leben habe, und ich ihn auferste-
hen lasse am Letzten Tage (12,44-50).
41Da murrten die Juden (die Gottesbesitzer) über ihn, weil er ge-

sprochen hatte: Ich bin das Brot, das niedergestiegen ist aus dem
Himmel. 42Und sie sagten: Nein! Der ist Jesus, der Sohn des
Josef; von ihm kennen wir den Vater und die Mutter (Lk 4,22).
Wie jetzt sagt er: Aus dem Himmel bin ich niedergestiegen?
43Geantwortet hat Jesus, er sprach zu ihnen: Murrt nicht mitein-

ander. 44Niemand kann kommen zu mir, wenn nicht der Vater,


der mich gesandt hat, ihn zieht, daß ich ihn werde auferstehen
lassen am Letzten Tage. 45Geschrieben steht bei den Propheten:
Und es werden alle Gottesbelehrte sein (Jes 54,13; Jer 31,33.34;
Mt 11,25-29). Jeder, der von Gott her zu hören und zu lernen
begonnen hat, kommt zu mir. 46Nicht daß den Vater jemand ge-
sehen hätte, außer dem, dessen Dasein von Gott ist, – der hat
den Vater gesehen (1,18)! 47Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch:
Wer vertraut, hat unendliches Leben (3,16). 48Ich bin das Brot
des Lebens. 49Eure Väter haben gegessen, in der Wüste, das
Manna, und sind gestorben (1 Kor 10,3-5). 50Dies ist das Brot,
das aus dem Himmel niedersteigt, daß man davon esse und nicht
sterbe. 51Ich bin das Lebensbrot, das aus dem Himmel nieder-
gestiegen ist. Wenn man ißt von diesem Brot, wird man leben ins
Unendliche, und zwar: das Brot, das ich geben werde – mein
Fleisch ist es, für das Leben der Welt (Mk 14,22).
Im 6. Kapitel seines Evangeliums erzählt uns Johannes von der großen
Rede Jesu in Kafarnaum, einem Ort an der anderen Seite des Sees von
Gennesaret. Wenn man dem Johannes-Evangelium dabei zuhört, ergeht es
einem ähnlich, wie wenn man an einem Nachmittag irgendwo eine alte
Frau besucht und sie fragt:
– «Was war Ihr Leben?»
– «Wie meinen Sie das?» wird sie fragen.
– «Nun, woraus Sie gelebt haben», meine ich.
Dann kann es geschehen, daß diese Frau nur geheimnisvoll lächelt, sie
gibt eigentlich gar keine Antwort, sie steht vielleicht nur auf, geht zu ihrem
Wandschrank und holt ein Album mit vergilbten Photos daraus hervor.
Man erkennt auf den ersten Blick die unzulängliche Aufnahmetechnik der
Bilder, die mangelhafte Entwicklungsleistung des Labors; es sind sehr alte
Photos, mitunter ist kaum etwas Rechtes darauf zu erkennen, und doch
begreift man sofort: diese Frau möchte mit diesen Photos ihr ganzes Leben
erklären. Aus dem, was da zu sehen ist, hat sie gelebt, dafür war sie da, –
das möchte sie sagen. Aber sie hat dafür kaum Worte. Alle Worte, die sie
sprechen könnte, wären noch unzureichender als diese Bilder, die sie ja
nicht eigentlich zeigt, sondern in Wahrheit in sich trägt. Die Photos an sich

281
mögen für einen objektiven Betrachter nichtig sein, für diese Frau aber be-
deuten sie alles. Man versteht, daß das, was sie sagen möchte und was ihr
diese Bilder zu sagen haben, im Grunde in der Intensität eines dichten Ge-
fühls besteht. Diese Frau muß die Person, von der diese Bilder handeln,
einmal sehr geliebt haben. Wollten wir sie indessen fragen: «Aber warum
haben Sie jenen Mann oder jene Person so sehr geliebt, daß sie Ihnen alles
wurde?», so würde sie vielleicht sagen: «Weil er in mein Leben trat wie aus
einer anderen Welt.»
Das Johannes-Evangelium jedenfalls spricht ganz so; es erinnert sogar
die Stunde, in welcher die Jünger Jesus begegneten (Joh 1,39). Es bedeutete
ihnen den Eintritt in eine Welt, in der zu leben sich lohnt, in der die Be-
grenzungen des irdischen Daseins sich öffnen und man hinüberschauen
darf auf ein anderes Ufer, ja, in welcher man sich schon über den Abgrund
hinweggehoben fühlt, als lebte man förmlich bereits in jener anderen, ein-
zig wirklichen Welt. Alles hat sich verändert und markiert nun einen un-
endlichen Kontrast: Man verdiente, verstoßen zu werden und wurde ange-
nommen, man fühlte sich wie zum Tode verurteilt und bekam Leben
geschenkt, man kam sich verzweifelt vor, und doch begann alles noch ein-
mal neu und nun überhaupt erst eigentlich. Und so nun – man kann nicht
sagen: war Jesus, man muß sagen: so ist der Jesus des Johannes-Evange-
liums. Das jedenfalls möchte der Verfasser des Vierten Evangeliums, des-
sen Namen wir nicht einmal kennen, uns glauben machen.
Alles in dieser Rede in Kafarnaum beginnt mit einem sonderbaren Pro-
blem: Wie ist Jesus nach Kafarnaum gekommen? Wie kann er überhaupt
dorthin gelangt sein? Es handelt sich um ein typisch johanneisches Ver-
wirrspiel, um eine bewußte Irritation des Lesers bezüglich der Begriffe von
Raum und Zeit. Da haben Boote abgelegt, aber man hat Jesus in keines
einsteigen sehen; da kommen Boote an, und in denen sind viele nach Ka-
farnaum gelangt, aber Jesus ist unter ihnen nicht anzutreffen. Das alles
scheint so rätselhaft erzählt, daß es in der «wirklichen» Welt ganz unmög-
lich sich aufführen kann; wenn es Sinn macht, dann nur, wofern sich die
ganze Einstellung zur Wirklichkeit ändert.
Tatsächlich begreifen wir: der See von Gennesaret ist für diesen Evange-
listen nicht einfach ein räumlicher Punkt auf der Landkarte, und auch die
Jenseite des Sees, wo Kafarnaum liegt, ist nicht ein bestimmter Ort in der
Geographie; der See von Gennesaret markiert in dieser Nachtfahrt, in
diesem nachtwandlerischen Hinübergang Jesu durch den Wind, durch
den Wogenschwall, die Chiffre für einen Gang durch den Tod, für ein
Überschreiten des Nichts in eine andere Sphäre hinein; in diese andere

282
«Sphäre», zu diesem anderen Standpunkt muß gelangt sein, wer verstehen
will, wer Jesus ist und was er zu sagen hat.
Im Grunde entscheidet sich hier die Einstellung zur Religion im ganzen.
Offenbar kann man Religion so verstehen, wie sie in allgemeiner Form
wohl immer noch begriffen wird. Religion, so begründet, bedeutet, daß
man in Augenblicken der Not sich an Gott wenden kann, daß man be-
stimmte vorformulierte Bittgebete spricht, daß man Gott um Beistand an-
fleht; wenn Gott dann tut, worum wir ihn bitten, so sind wir ihm dankbar
für seine Güte und Huld. Immer, wenn es gut geht, wird da die menschli-
che Not von Gott her durch ein Wunder erlöst. Dementsprechend richtet
sich solcher Glauben ins gewissermaßen Unmögliche, ins alle natürlichen
Erwartungen Sprengende; der zentrale Inhalt der Beziehung zwischen
Mensch und Gott setzt sich da ins Unglaubliche. Die Gefahr einer solchen
Einstellung liegt schon in ihrer Enttäuschbarkeit: was, wenn Gott unsere
Bitten nicht erhört? Dann wird aus dem Vertrauen in das Unglaubliche
sehr leicht ein hart gewordener, verbitterter Unglaube. Dann wird es zum
Zeichen einer aufgeklärten Rationalität, sich selbst nach Hilfe umzu-
schauen. Man muß nicht auf den Beistand irgendeines wunderfähigen
Gottes hoffen, man muß lediglich die Naturzusammenhänge klar erkennen
und sich entsprechend einrichten. Die Krise des religiösen Bewußtseins am
Ende des 20./Anfang des 21. Jahrhunderts liegt wesentlich in dieser Polari-
sierung eines wundersüchtigen Aberglaubens auf der einen Seite und eines
bis zum Magieersatz geratenen Pragmatismus oder Unglaubens auf der an-
deren Seite begründet. Dazwischen, tiefer als der See Gennesaret, tut sich
die Sinnlosigkeit unter den Füßen der heutigen Menschen auf. Sie sollen
unter kirchlichem Dogmenzwang an einen Gott glauben, an den sie nicht
glauben können, und wenn sie aufhören, an ihn zu glauben, wissen sie gar
nicht mehr, worauf sie ihr Vertrauen werfen könnten.
In der Sprache des johanneischen Jesus geht es um einen Mittelweg zwi-
schen Magie und Aberglauben auf der einen Seite und einer pragmatisch
gewordenen Eindimensionalität auf der anderen Seite. Es geht darum, die
«Welt» und die Erfahrungen, die darinnen zu machen sind, als Zeichen für
eine ganz andere Art von Wirklichkeit zu nehmen. Wer das vermag, geht
trockenen Fußes über den See: Ihm wird diese so brüchige, fragwürdige
Welt zu einer Brücke zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen todverfalle-
nem Dasein und unendlichem Leben, zwischen Mensch und Gott. Es geht
darum, bestimmte Verweisungen und Hinweise an Stellen wahrzunehmen,
an denen sonst nichts wäre als eine erstickende Kammer eingesperrten Da-
seins, als eine Welt, die nichts weiter zu interessieren vorgibt, als zu wis-

283
sen, was man physisch ißt, was man braucht, um Nahrung zu beschaffen,
und wie in baldiger Zukunft schon dieses Leben, ganz wörtlich, «verlau-
fen» wird. Auf diese Weise Brot zu essen bedeutet in der Sprache des
Johannes-Evangeliums, verderbliches Brot zu essen. Die Speise, die man so
aufnimmt, wird immer wieder an sich selbst verkommen; die Menschen
aber, die von dieser Art Speise abhängig sind, werden bis zum Verderbli-
chen sich selber ruinieren. Es gibt in ihrem Leben keinen Grund zu Hoff-
nung, zu Vertrauen, zu einer Öffnung der Perspektive jenseits des Todes, es
gibt nur dieses eine Ufer, und ein anderes ist nicht. Die Überquerung des
Sees von Gennesaret ist innerhalb eines solchen «Realismus» nichts als
eine mechanische Bewegung im Raum; eine Antwort auf etwaige Fragen
des menschlichen Daseins liegt durchaus nicht darin.
Was es bedeutet, eine solche Fahrt über den See als Sinnbild zu sehen,
mag man lernen von den alten Völkern und Religionen, die unmittelbar
oder mittelbar die Visionen auch dieses Textes geprägt haben. Die Alten
Ägypter etwa legten es den Menschen nahe, wenn sie die Sonne im West-
meer in ihrer Schönheit sterben sahen oder wenn sie den altgewordenen
Gott Re in Gestalt des Atum, auf seinen Stab gestützt, mit länger werden-
dem Schatten in die Nacht schreiten sahen, sie sollten nicht in Dunkelheit
und Finsternis ein endgültiges Urteil über ihr eigenes Dasein erblicken,
vielmehr sollten sie sich anschicken, die Sonne auf ihrer Fahrt durch die
Nacht zu begleiten. Das Schiff wurde da zum Symbol der Unsterblichkeit:
Auf einem unterirdischen Strom würde die Sonne zurückgetragen vom We-
sten nach Osten, und dort würde sie schöner denn je an jedem Morgen von
neuem erstrahlen.
Oder ein anderes Bild: Auf der schönen schwedischen Insel Gotland fin-
den sich Steinsetzungen aus der Bronzezeit, in denen unsere nördlichen
Vorfahren in ganz ähnlichen Bildern sich ihr Schicksal angesichts des
Todes zu deuten suchten: Sie setzten am Ufersaum des Meeres ihren Ver-
storbenen zwanzig Meter lange steinerne Boote, in die hinein sie ihre An-
gehörigen betteten, wie um der Zuversicht Ausdruck zu verleihen, Sterben,
das sei ein Ablegen vom Ufer des Diesseits, ein Auslaufen zu den Gestaden
der Ewigkeit, ein Hinüberfahren in die eigentliche Heimat des Menschen,
dorthin, wo Gott selbst zu Hause ist.
Das Abschiednehmen von unserer irdischen Existenz als ein Ablegen
und Hinüberfahren zu einem jenseitigen Ufer, – das bedeutet es, ein Boot
zu besteigen und einen See zu überqueren, wenn man es als ein Sinnbild
versteht. In Kafarnaum ankommen heißt dann, beim Essen von Brot eine
neue Speise zu finden. Diese «Speise» ist kein irgend etwas, kein Ding

284
mehr, das man anfassen könnte, sie ist einzig eine Person. Es ist an dieser
Stelle, wie wenn sich, zwei Kapitel danach, das Gespräch mit der Frau am
Jakobsbrunnen über das Wasser des Lebens noch einmal erneuern und
fortsetzen würde, jetzt nicht sprechend von Wasser, sondern von Brot,
nicht von Durst, sondern von Hunger; doch beides ist erkennbar ein und
dasselbe, nur daß, was der Samariterin gesagt wurde, jetzt zu den «Juden»
gesprochen wird. «Juden» wie Samariter verfügen über eine ganz be-
stimmte Erfahrung, was es bedeuten kann, aus Gottes Händen gespeist zu
werden. Sie zitieren es an dieser Stelle sogar: wie da Gott in der Wüste
Manna vom Himmel regnen ließ, um «sein» Volk zu speisen, Morgen für
Morgen, Tag um Tag. Das ist es, was ihre «Väter» bereits kennengelernt
haben als das Brot, das vom Himmel kommt (Ex 16,4.15); also machen sie
es auf diese Art geltend und befragen Jesus selber danach. Doch kaum daß
sie so tun, antwortet ihnen Jesus mit einem Satz, der scheinbar die Tat des
Mose relativieren soll, denn nicht er, sondern Gott, «mein Vater», sagt
Jesus, hat das Brot gegeben. Eine solche Behauptung richtet sich ohne
Zweifel gegen die Überbewertung der Gestalt des Mose in der jüdischen
Religion; wahrscheinlich aber muß man vor allem die Zeitstufen hier ge-
geneinandersetzen; die Antwort Jesu lautet dann: Nicht Mose hat euch das
Brot aus dem Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das Brot aus
dem Himmel, das wahre.
Ein solcher Satz stellt die gesamte Überlieferung unter Gottes Augen in
die Gegenwart. Es ist möglich, daß man Religion gewinnt, indem man sie
ganz und gar in die Taten der Vergangenheit setzt: man reaktiviert sie im
kultischen «Gedächtnis», man erneuert sie in verfeierlichten symbolischen
Handlungen, man bindet sich an die Vorgeschichte, ohne jemals in die Ge-
genwart des eigenen Lebens zu treten. Gott hat da etwas getan, und dessen
sich zu erinnern ist schon die ganze Religion; sie ist nichts weiter als die
Paraphrase für ein überlebtes Leben, für den Tod selber. Da setzt man
nicht hinüber in eine offene Zukunft, sondern man verhockt sich, rück-
wärtsgewandt im Vergangenen, im längst Verstorbenen.
Was Jesus indessen möchte, ist ein anderes: etwas, das sich in der
Gegenwart ereignet, etwas, das sich «erfahren» läßt jetzt. Alles aber, was
Johannes darüber sagt, ist eingetaucht in die Sprache der Liebe; was er
formt, ist ein Bild, das, ähnlich jenen vergilbten Photos, mit eigenem
Fühlen, mit eigenem Denken belebt werden will. Da sagt Jesus von sich
selber, er sei als der Menschensohn gesandt worden von seinem Vater, und
er meint, auf sein Wort hin Gott als Vater zu glauben, das sei das ganze
Brot des Lebens, das sei die Speise der Unendlichkeit.

285
Jedes Moment gewinnt in solchen Sätzen eine eigene Bedeutung. Was
Jesus den Menschen schenken wollte, schenken will, ist das Bild eines ganz
und gar väterlichen, besser noch: mütterlichen Gottes; denn nur ein sol-
cher Gott begründet ein Vertrauen auf unendliches Leben.
Der Unterschied ist deutlich: Stets wenn wir von Patriarchalismus, von
Vaterautorität, sprechen, meinen wir, daß Menschen sich allenfalls auf
dem Hintergrund von Leistung, Wohlverhalten, Gehorsam und Anpassung
akzeptiert fühlen können, immer in einer Mischung aus Angst vor Strafe,
aus Gefügigkeit und Schwäche. Immer wandern da gewisse Schuldgefühle
mit, immer ist da durch Buße und Opfer um Vergebung anzuhalten, immer
geht es da letztendlich um die Unterordnung unter eine überlegene Macht.
Im Untergrund ist eine solche Gehorsamsreligion gegenüber dem göttli-
chen «Vater» immer auch aufsässig und revolutionär. Ab und an in ihrer
Geschichte bringt sie gar Helden hervor, die gegen ihren «Vater» aufstehen
und die, falls sie nicht niedergeworfen werden, trotz allem Wege in die
Freiheit finden. Auf dieser Stufe der Religionspsychologie findet sich
Mose. Jesus indessen, wenn er von Gott als dem Vater sprach, wollte,
daß man genau diesen Typ patriarchaler Frömmigkeit überwindet. Jesus
wollte, daß man Gott nicht zwiespältig, nicht ambivalent findet, sondern
«matriarchal», um religionspsychologisch und kulturgeschichtlich korrekt
zu bleiben1. Da soll die Grundlage des menschlichen Lebens eine Bejahung
sein, die allem vorausliegt; nicht verdient soll sie werden, sondern ge-
schenkt. Das ist nicht zufällig eines der Schlüsselworte dieses ganzen Tex-
tes: Gott hat gesandt, Gott hat gegeben, und zwar das Leben, als etwas,
das nicht erworben wurde und das es doch gibt. Um ein solches Leben
müht man sich nicht, man erwirkt es sich nicht, es gibt nichts zu machen,
um Gottes Werk zu vollbringen; da ist lediglich etwas zu erfahren, das ge-
schenkt wird; da findet man etwas vor, statt es erfinden zu müssen; da
wird nicht etwas erleistet und erlistet, sondern aufgenommen wird da
etwas, das so gerade nicht «verdient» war, das aber eben deshalb alles ver-
ändert.
Daß Jesus sich mit diesem Wort als Menschensohn einführt, paßt ganz
und gar dazu. Denn die Gestalt einer verkörperten Menschlichkeit er-
wächst einzig aus der Beziehung zu einem Gott, der den Menschen von
Grund auf bejaht, wie wenn er ihn ganz neu hervorgebracht hätte durch
seine Güte und seine Zuwendung.
Doch nun muß man die Härte des Widerspruchs sich vor Augen halten,
die gerade daraus entsteht. Jesus sagt von sich, er sei vom Himmel auf die
Erde gekommen. Wir müssen nur die Perspektive umkehren, um zu verste-

286
hen, was für eine Ungeheuerlichkeit in dieser Aussage liegt; denn tatsäch-
lich, – schauen wir, wie Jesus sich verhält, so scheint wirklich alles wie aus
einer anderen Welt gekommen zu sein, was er tut und sagt und mit den
Menschen macht, – kein Kontrast könnte größer sein.
Folgen wir dem, was wir in dieser Welt für «normal» betrachten, wer-
den wir den Mann aus Nazaret nie verstehen. In unserer vertrauten Welt
ist es normal, daß Menschen Angst haben und daß sie sich wehren; ihre
Art, sich zu schützen, wird wieder andere Menschen verletzen und diesen
Angst machen, und deren Angst schlägt erneut auf uns selbst zurück. In
der Welt, in der wir leben, herrschen Mangel, Hunger und Krieg wie eine
grausige Selbstverständlichkeit. In der Welt, die wir normal finden, hat ein
Recht zum Überleben nur derjenige, der gelernt hat, um sein Leben zu
kämpfen und sich im Kampf ums Dasein durchzusetzen. Es ist buchstäb-
lich eine Botschaft von einem anderen Stern, wenn Jesus uns lehrt, durch
unsere Angst hindurchzugehen, – über das Wasser hinwegzuschreiten und
den Tod nicht zu fürchten, sondern Vertrauen zu lernen. «So handelt das
wahre Volk Gottes», sagt er, «das schafft die Speise, von der man wirklich
leben kann.» Man geht über den Abgrund Schritt für Schritt einen neuen
Weg zum anderen Ufer. Man schaut auf diesen Punkt am Horizont, der da
Gott heißt und der da geglaubt wird als ein Gegenprinzip zu aller Angst,
zu allem Haß, zu aller Schuld, als eine Quelle der Liebe, die mehr ist als
alles, was wir sonst kennen.
Aus diesem Strahlenkranz einer unbedingten Zuversicht hat Jesus sein
Leben verstanden. Deswegen wird er bezeichnet als jemand, der kommt
aus dem Himmel auf die Erde, der sein Dasein selber von Gott hat. Man
kann es noch genauer sagen: Was in diesem schattenverhangenen irdischen
Dasein sollte uns die Rede von einem Brot, das Leben ins Unendliche
schenkt, außer wir trügen in uns bereits eine solche Sehnsucht nach Un-
endlichkeit und Ewigkeit? Der Dichter Reinhold Schneider konnte
gegen Ende seines Lebens in seinem Tagebuch Winter in Wien einmal
davon sprechen, daß er ein solches ewiges Leben gar nimmer mehr wün-
sche, so müde fühle er sich2; einfach zu schlafen sei ihm genug. An Ewig-
keit glauben, das könne doch nur, wer mit dem Leben selber versöhnt sei,
schreibt er; ihn aber habe das Leid wie erdrückt. – Es ist das Wunderbare,
zumindest manchmal im Raum der Liebe Momente erleben zu dürfen, die
eine solche Traurigkeit verbannen. Diese Momente machen uns wünschen,
eine bestimmte Form des Lebens erhielte sich auf immer. Der Gedanke
auch nur an ein ewiges Leben wird geboren allein in den Sehnsuchtsstun-
den der Liebe unter Menschen, nie anders. Dann möchte und kann man

287
das Glück sich gar nicht mehr als verloren oder verlierbar vorstellen; das,
was ist, muß ewig sein, so verkündet es die Sprache unseres Herzens, unse-
res Wünschens. Die Bestätigung dafür will Jesus verkörpern nach dem
Zeugnis des Johannes-Evangeliums. Er eifert seine Zuhörer förmlich dazu
an, sie möchten all das, was groß ist und schön ist im Leben, hinüberbrin-
gen an jenes Ufer, geheißen Kafarnaum.
An dieser Stelle der Rede Jesu kann man jenen Einwand erheben, der
prompt auch gemacht wird. Vom Himmel auf die Erde kommen, das ist
unmöglich, sagen die «Juden», die Jesus zuhören, denn, so ihre Begrün-
dung: wir kennen seine (Jesu) Mutter, wir kennen seinen Vater! – Nebenbei
gesagt, dieses Vierte Evangelium schließt die für die römische Dogmatik so
wichtig gewordene Vorstellung von einer jungfräulichen Geburt des «Men-
schensohnes» kategorisch aus, indem es mit Nachdruck die ganz natür-
liche Geburt Jesu voraussetzt. Von ihm kennen wir den Vater und die
Mutter, sagen die Leute, und das mit Recht, wie sie meinen. Aber die
Natürlichkeit der Existenz eines Menschen ist überhaupt kein Einwand
gegen das, was Jesus brachte. Wieder: nicht irgendein Mirakel, nicht ir-
gendeine Wundermagie, nicht irgendein übernatürliches Spektakel soll und
kann den Glauben begründen, sondern die Grundlage allen Vertrauens
liegt einfach in dem, was Jesus zu sagen hat, was er in seiner Person lebt,
in der Art, wie er sein Dasein vollzieht. Entweder also man lernt von ihm,
«unendlich» zu leben, oder man lernt es nicht. Das entscheidet darüber, ob
man nur Brot ißt oder ob man ein Zeichen der Unsterblichkeit darin sieht
und leben will bis ans Uferlose, bis zum anderen Gestade, das keine Gren-
zen mehr kennt noch zieht. Auch so spricht Jesus als von dem Inhalt seiner
ganzen Botschaft: Alles, was mir der Vater gibt, – zu mir wird es kommen,
und wer zu mir kommt, den stoße ich nicht aus. Diese Aussage umfaßt
alles, was schon der historische Jesus sagen wollte: Alles soll zu mir kom-
men, nichts soll an Begrenzungen scheitern, es soll nichts verlorengehen;
alles soll vielmehr in der Hand Gottes bleiben (vgl. Mt 11,28). Am Jüng-
sten Tag, in der Stunde des Todes, gerade da soll es sich bewähren, gerade
da wird es sich bewahren.
Aus dem Himmel niedergestiegen – wie läßt sich das erfahren und
leben? Der johanneische Jesus meint, man habe es in gewisser Weise nicht
in der Hand. Wenn denn alles Geschenk ist, kann man nicht einfach dar-
über verfügen, das Leben so oder so zu betrachten. Das Wichtigste in un-
serem Leben geschieht nicht durch Beschluß, durch willentlichen Vorsatz,
eben weil wir dies oder das so machen wollen, vielmehr begibt es sich, weil
es uns gegeben wird. Alles, was wunderbar ist an unserem Leben, hat sich

288
so zugetragen, daß wir es in aller Regel nicht vorweg hätten erfinden kön-
nen, daß wir es nicht vorweg gewußt noch geplant haben. Es war gewiß
äußerst kühn von Mose, ein ganzes Volk mit auf die Wüstenwanderung zu
nehmen, ohne Proviant, ohne strategische Reserve, ohne Ein- und Aus-
kommen; genau betrachtet aber verläuft unser Leben im ganzen so: Wir
sind unterwegs in eine Zukunft hinein, die wir nicht verrechnen können; –
wir wagen sie nur in einem Vertrauen, bei der Hand genommen zu werden,
geführt zu werden im ganzen und, am wichtigsten: nie und niemals ausge-
stoßen zu sein. Das ist es, was der Vater Jesu will: niemand möge ausge-
stoßen sein!
Freilich, immer wieder entsteht, wenn so innerlich, so existentiell gefüllt
von Gott gesprochen wird, ein weiterer Einwand: «Wir brauchen aber eine
belehrende Instanz, wir brauchen aber eine kirchliche Institution; wir
können Religion uns gar nicht anders vorstellen denn als die Vermitt-
lungsgröße einer fest geprägten Botschaft, vorformuliert in bestimmten
Sprachregelungen.» Das Johannes-Evangelium wagt einen unerhörten Auf-
bruch, indem es genau gegen diese Auffassung sich verwahrt.
Folgt man der kirchlichen Lehre bis heute, kann man zu Jesus nur kom-
men durch die Kirche selber. Man kann Gott nur zum Vater haben, wenn
man die Kirche zur Mutter hat, sagte bereits Cyprian3, und dieses sein
Wort wird bis in die Gegenwart hinein von den Dogmatikern auf den
Lehrstühlen gern nachgesprochen. Tatsächlich aber vertritt der Jesus des
Johannes-Evangeliums an dieser Stelle mit unerhörtem Mut den genau ge-
genteiligen Standpunkt: alle, die zu ihm finden, sind Gottesbelehrte. Dieser
Ausdruck erinnert an zwei Stellen bei Jeremia und bei Jesaja. Der Mann,
den wir den Dritten Jesaja nennen, findet im 54. Kapitel des Jesaja-Buches
für die Juden, die im 6. Jh. v. Chr. aus der Heiligen Stadt vertrieben wur-
den, mitten im Exil Worte des Trostes: Es werden die Mauern der nieder-
gebrannten Stadt auferbaut werden, verheißt er, und die Fundamente wer-
den bestehen aus Malachit und Saphiren und die Zinnen aus Rubinen, aus
kostbarem, lichtdurchlässigem Gestein (Jes 54,11.12). So schön wird die
neue Stadt erbaut werden, schöner, als sie jemals war. Aller Zusammen-
bruch gilt da nur für einen Neubeginn unter den Händen eines Gottes, der
für kurze Weile seines Volkes «vergaß». Kann man denn aber, fragt dieser
Dritte Jesaja, seine Jugendliebe verraten? Kann denn, will er sagen, Gott
sein Volk in der Fremde belassen? In diesem Zusammenhang spricht er
dann auch von den Schülern Gottes (Jes 54,13). Es gibt keinen Tempel
mehr, es gibt keine Priester mehr, es gibt keine schriftgelehrten Instanzen-
züge mehr zwischen Gott und Mensch; doch gerade das, meint dieser uns

289
unbekannte, wunderbare Prophet des Exils, biete die unerhörte Chance
eines göttlichen Neuanfangs.
Genau so dachte Jeremia, nur bereits vor dem Jahre 587: es werde die
Vernichtung Jerusalems der Anfang davon sein, daß Gott sich nicht mehr
mitteilen läßt, sondern selber sich mitteilt ins Herz der Menschen (Jer
31,33.34).
Der historische Jesus konnte an einer Stelle, die man freilich für «jo-
hanneisch» erklärt, im 11. Kapitel bei Matthäus einmal sagen: Ich preise
dich, Vater, ja ich preise dich, daß du all dies den Weisen und Großen ver-
borgen, den Kleinen und Unmündigen aber geoffenbart hast. Ja, Vater, so
war es wohlgefällig vor deinen Augen. (Mt 11,25.26)
Dostojewski schrieb einmal über die Geschichte des Christentums in
Rußland, über das sogenannte russische Volk, sinngemäß: «Dieses Volk
hat nie Lesen und Scheiben gelernt, es hat die Sprache der Popen in seinen
Kirchen kaum verstanden, aber hat man deshalb ein Recht, das russische
Volk für unchristlich zu halten?» Er meinte: «Dieses Volk hat Christus
kennengelernt in den Jahrhunderten seines Leidens, seiner Abhängigkeit,
seiner Sehnsucht, seines ungestillten Verlangens nach Freiheit. In all der
Zeit hat es Christus in sein Herz aufgenommen.»4
So etwas muß es sein, von Gott belehrt zu sein aus Innen. Das ist der
Grund, meint der Jesus auch des Johannes-Evangeliums an dieser Stelle,
daß Menschen zu ihm finden. Alles verschränkt sich hier. Immer wieder
spricht der johanneische Jesus davon, daß man zum Vater nur finden
könne, indem man dem Sohn glaube, hier aber, einen Moment lang, dreht
alles sich um: Man findet zu ihm nur als Gottesbelehrter.
Nähme man diesen Gedanken theologisch wirklich ernst, so läge darin
die Rettung aus der Krise der Religion seit der Aufklärung bis heute. Jen-
seits aller Konfessionalisierung, Regionalisierung und Dogmatisierung des
Religiösen müßte es so etwas geben wir eine neue Gottesunmittelbarkeit.
Es war der Traum schon des Gotthold Ephraim Lessing. «Warum
glaubst du, Nathan?» läßt er Saladin fragen; die Aussage: «Ich glaube, weil
ich ein Jude bin» mag er nicht hören und kann er nicht gelten lassen: «Ein
Mann wie du», sagt er, «bleibt da nicht stehn, wohin der Zufall der Geburt
ihn stellt! Aus was für Gründen, Nathan, aus was für Argumenten?»5 – Es
gibt aber kein anderes Argument zugunsten der Religion als zu lernen, was
es heißt, Menschen zu lieben jenseits der Grenzen von Rassen, von Klas-
sen, von Religionen und von Nationen. Beglaubigt wird eine Religion nicht
mehr durch das Rezitieren von alten Texten, sondern durch die Art und
Weise, in der man lebt. Das ist: belehrt von Gott. Aus einem Leben in

290
Gottesunmittelbarkeit wird plötzlich alles verständlich, was der johannei-
sche Jesus sagen möchte. Alles, was er bringen wollte, war er selbst. Er
wollte nicht als Ikone an die Wand gehängt werden, sondern er wollte ein
Lebens-Mittel sein, das man gebraucht und das sich nicht verbraucht,
wenn es sich in Energie zum Leben verwandelt. So war er, und so wollte er
werden: Brot des Lebens.
Das ist mein Fleisch, heißt es am Ende; und sogleich beginnt die dogma-
tisch geformte Auslegung darüber nachzusinnen, ob damit nicht das Mahl
der Eucharistie, das Abendmahl gemeint sei, das «Wunder» der Gegenwart
Jesu unter den sakramentalen Gestalten von Brot und Wein. Schon daß wir
von Wein kein Wort hier hören, macht alle Spekulationen in diese Rich-
tung nicht nur überflüssig, sondern erkennbar falsch. Was Jesus in Wahr-
heit mit den Worten «mein Fleisch» sagen will, meint etwa dies: «Meine
ganze Existenz, bis in jede Faser hinein, will und möchte nichts weiter, als
daß ihr es lernt, aus ihr zu leben. Wenn es euch Mut gibt, inniger zu lieben,
stärker zu hoffen, gerader durchs Leben zu gehen und mit der Stirn schon
im Diesseits die Sterne zu streifen, indem ihr von diesem Ufer übersetzt zu
jenem anderen, dann wäre es wie ein Brot, das vom Himmel auf die Erde
käme, dann wäre es eine Neugründung des Zerfallenen in Fundamenten
aus Edelsteinen; dann wäre es, daß die Sperrwände zwischen Himmel und
Erde sich hinweghüben und ein jeder als ein Nicht-Ausgestoßener, als ein
Sich-Wiedergegebener, als ein mit ewigem Leben Begabter aufwachsen
könnte zu seinem Glück und zu seiner Schönheit.»
So ganz sicher hat es Jesus gewollt: nichts Vergangenes, nichts Zukünf-
tiges, sondern alles jetzt, in der Gegenwart. Selbst der letzte Tag dann, der
die endgültige Auferstehung uns schenkt, ist im Grund schon der jetzige,
der das Ferne bestätigt, so wie er von daher bestätigt wird.

291
Joh 6,52-71: Worte unendlichen Lebens hast du
52Zerstritten waren da gegeneinander die Juden (die Gottes-
besitzer), sie sagten: Wie kann der uns (sein) Fleisch zu essen
geben? 53Gesprochen hat da zu ihnen Jesus: Bei Gott, ja, bei
Gott, ich sage euch, wenn ihr nicht eßt das Fleisch des Men-
schensohnes und trinkt sein Blut, habt ihr Leben nicht in euch.
54(Nur) wer mein Fleisch aufnimmt und mein Blut trinkt, hat

unendliches Leben (Mt 26,26-28); lasse ich ihn doch auferste-


hen am Letzten Tage. 55Denn mein Fleisch ist wahre Speise und
mein Blut ist wahrer Trank. 56Wer mein Fleisch aufnimmt und
mein Blut trinkt, in mir bleibt der und ich in ihm (15,4; 1 Joh
3,24). 57Wie mich der lebendige Gott gesandt hat und ich
wegen des Vaters lebe, so auch, wer mich aufnimmt: Auch der
wird leben wegen meiner. 58Das ist Brot, das aus dem Himmel
niedergestiegen ist, nicht, wie es die Väter gegessen haben und
gestorben sind; wer dieses Brot aufnimmt, wird leben ins Un-
endliche.
59Das hat er gesprochen, in der Synagoge lehrend, in Kafar-

naum. 60Viele da, wie sie es hörten, von seinen Jüngern, spra-
chen: Hart ist dieses Wort. Wer kann es anhören? 61Wissend
aber war Jesus bei sich, daß murrten darüber seine Jünger, und
so sprach er zu ihnen: Dies (schon) ist für euch ein Ärgernis?
62Wenn ihr nun schaut, wie der Menschensohn dahin aufsteigt,

wo er vormals war (Lk 24,50)? 63Der Geist ist das Lebendigma-


chende, das Fleisch – nein, es nützt nichts (3,6). Die Worte, die
ich euch gesagt habe – Geist sind sie und Leben sind sie.
64Doch gibt es von euch welche, die nicht vertrauen – es wußte

ja von Anfang an Jesus, welche die Vertrauenslosen sind und


wer es ist, der ihn ausliefern werde. 65Und so sagte er: Deswe-
gen habe ich euch gesagt: Keiner kann zu mir kommen, wenn
es ihm nicht vom Vater her gegeben ist.
66Von daher gingen viele (von) seinen Jüngern weg, zurück, und

nicht mehr mit ihm blieben sie auf dem Weg. 67Gesprochen hat
da Jesus zu den Zwölfen: Nicht auch ihr? Wollt ihr gehen?
68Geantwortet hat ihm Simon Petrus: Herr, zu wem sollten wir

gehen? Worte unendlichen Lebens hast du. 69Und wir: zu dem


Vertrauen, zu der Erkenntnis sind wir gelangt, daß du bist: der
Heilige Gottes (Mk 1,24!). 70Geantwortet hat ihnen Jesus:
Nicht ich? Euch, die Zwölf, habe ich auserwählt. Und doch:
von euch ist einer ein Teufel (13,18)! 71Er meinte damit Judas,
den Sohn des Simon Iskariot. Der nämlich sollte ihn ausliefern,
einer von den Zwölfen (Mt 26,14).

292
Das 6. Kapitel des Johannes-Evangeliums wird in katholischen Kreisen
gern als «die eucharistische Rede» bezeichnet, als ein Text, der die «Einset-
zungsworte» der Gegenwart Christi in den Gestalten von Brot und Wein
darstelle. Doch, wie gesagt, kann diese Rede so kaum verstanden werden.
Für Johannes ist es nicht die Frage, wann Jesus kommt oder wann Gott
sich zeigt – das ist überall der Fall; gegenwärtig, erfahrbar ist Gott an
jedem Punkt, da man ihn einläßt: – Gott kommt nicht, sondern umgekehrt
stellt sich die Frage, wann Menschen endlich darauf kommen, ihn zu er-
kennen! Alles, was Jesus zwischen Tod und Leben, zwischen Dunkelheit
und Licht, zwischen Diesseits und Jenseits von jener Speise sagt, die man
ißt, aber bei deren Genuß man doch stirbt, und von dieser wahren Speise,
die unendliches Leben verleiht, ergibt sich aus der Brechung von zwei
Arten des Wirklichkeitsverständnisses, eines äußeren, vordergründigen, im
Grunde zerstörerischen, und eines nur in der Tiefe gegründeten, eigentli-
chen, göttlichen, unzerstörbaren. Wie also gelangen wir von der Ober-
fläche in die Tiefe, oder wie steigen wir auf von dieser Erde zum Himmel?
Es gehört zum Johannes-Evangelium, daß es Gegensätze nicht mildert,
sondern möglichst betont herausarbeitet, daß es Widersprüchlichkeiten
nicht durch Kompromisse überbrückt, sondern im Gegenteil sie bis zum
äußersten treibt. Dieses Vierte Evangelium ist, wie schon einmal beschrie-
ben, in eine Erfahrung getaucht, die in der Moderne Gestalt gewonnen hat
etwa im Existentialismus, und es läßt sich von daher zum Teil recht gut
verstehen. Man kommt, dachten die Existentialisten, zur Wahrheit nicht
durch allmähliche Annäherung, nicht nach der Art der Wissenschaft:
durch Hypothese, Überprüfung und verbesserte Theoriebildung – mithin
durch einen wachsenden Erkenntnisfortschritt in kleinen, winzigen Schrit-
ten –, sondern ganz im Gegenteil: wenn es um Fragen des menschlichen
Lebens geht, wenn es um Sein oder Nichtsein geht, dann gilt es, eine Ent-
scheidung auf Entweder-Oder zu treffen. Unsere Lage ähnelt, so be-
trachtet, daher einem Manne, der oben an einem Steilhang steht und sich
ins Wasser hinabstürzen muß, um mit einem verzweifelten Sprung sein
Leben zu retten. Es gibt zwischen dem Standort, an dem er sich jetzt befin-
det, und seiner Zukunft keinen Schritt mehr in derselben Ebene zu tun; vor
ihm liegt eine Kluft, etwas ganz Anderes, Unvermitteltes, Unbekanntes,
Neues. Für seinen Sprung gibt es folglich keine Vermittlung, nur diesen
einen Grund, daß so wie bisher sein Leben nicht mehr weitergeht. Erst wer
sein Dasein in etwa so wahrnimmt, begreift die Radikalität der Sprache
und Vorstellungswelt des Johannes-Evangeliums.
Schroff und steil ist insbesondere das Ende dieses Abschnitts: Eine Rede,

293
in der Jesus die Leute in Kafarnaum in das Geheimnis seines Lebens ein-
führt, soll ihr Finale damit finden, daß einer unter seinen Jüngern als ein
Teufel bezeichnet wird. Was überhaupt soll diese Sprache einer totalen und
endgültigen Verurteilung gerade in einem Evangelium, das der Überliefe-
rung nach für das liebendste, geistigste und freiheitlichste unter allen Evan-
gelien gehalten wird? Und doch gelangt man vielleicht von diesem merk-
würdigen Ende her am besten in das Zentrum dieser sonderbaren Rede,
indem wir uns fragen, was denn für das Johannes-Evangelium die Person
des Judas, des Sohns des Simon Iskariot, bedeutet im Gegensatz zu der Ge-
stalt des Simon Petrus.
Schwierig beim Lesen des Vierten Evangeliums ist, daß wir alle seine
Worte irgendwie zu kennen glauben; sie tauchen in den ersten drei Evange-
lien bereits auf, sie haben die Dogmensprache der Kirchengeschichte ent-
scheidend mitbestimmt, und so denken wir beim Hören solcher Worte
unwillkürlich, daß das Johannes-Evangelium uns etwas Vertrautes, wenn
auch irgendwie Fremdes, etwas Schwebendes, wenn auch irgendwie Fest-
gelegtes vortragen möchte. In Wirklichkeit greift Johannes all das, was ihm
an Denkformen, an Sprachformen, an rituellen Überlieferungen vorliegt,
nur auf, um es neu zu interpretieren. Am Ende dieses Gesprächs deutet er
ein so nie zuvor gestelltes Problem an: Man kann im Kreis der Jünger blei-
ben, so wie Simon Petrus es tut, aber auch so, wie Judas, der Sohn des
Simon Iskariot, es tut. Letzterer gilt für Johannes nach seinem eindeutigen
Kommentar am Anfang der Abschiedsreden (Joh 13,2) als ein Mann, der
vom Teufel besessen ist; als Grund dafür gibt er an, es liege ihm einzig am
Geld – fügen wir noch hinzu: an der Macht.
Grundsätzlich formuliert: Es ist möglich, auch aus der Botschaft Jesu, so
wie aus jeder anderen Religion, so wie aus jeder einmal ernstgemeinten,
existentiell verbindlichen Lehre zum Leben, nichts weiter zu machen als
einen bloßen Mammondienst, als das Aufblähen einer bestimmten Institu-
tion im Raum der Gesellschaft, um auf äußere Weise erfolgreich zu sein.
Man kann Religion organisieren wie jeden Zweckverband sonst; man
kann inmitten der Religion sogar besonders gut die allerältesten verwerf-
lichsten Motive unter vornehmen und heiligen Titeln beibehalten. Ja, der
johanneische Jesus meint sogar, derlei gehöre unmittelbar in den Umkreis
dessen, was er selber wie unvermeidbar mit ausgewählt habe: Judas ist
einer der Zwölf. So sagt es schon das Matthäus-Evangelium (Mt 26,14). In
dieser Wendung wird immer noch eine gewisse Nähe, eine Verwandtschaft
zu Jesus trotz des Wortes vom «Teufel» sichtbar, als wenn auch Judas zuge-
billigt würde, der Sache Jesu auf seine Weise hilfreich sein zu wollen. Was

294
mit Judas (als Typ, nicht als historischer Person) sich im Johannes-Evange-
lium verbindet, stellt eine Perversion in allem dar, es ist ein Verrat im
ganzen, und dennoch geschieht es aus seiner Sicht anscheinend, um der
Sache Jesu einen Dienst zu erweisen.
Wir sind die Polarisierung zwischen Judas und Petrus in dieser Weise
nicht gewöhnt; wir verbinden – speziell im Raum der römischen Kirche –
im Gegenteil gerade die Gestalt des Petrus mit der Machtfülle eines be-
stimmten Amtes, mit einem Auftrag gewissermaßen zu einer organisierten
und institutionalisierten Form von Religion. Wollte man hingegen die Ge-
danken des Judas, so wie sie an dieser Stelle bei Johannes anklingen, ins
Prinzipielle denken und in ihrer ganzen Konsequenz ausprägen, so gäbe es
wohl keine bessere Szene als diejenige, die Dostojewski im Großinquisi-
tor entworfen hat: Man beruft sich auf Jesus, auf seine Güte zum Men-
schen, aber man macht daraus nichts weiter als die Entlastung des Men-
schen von seiner eigenen Freiheit, man enthebt ihn seiner eigenen Existenz
und seiner persönlichen Verantwortung, man entwirft eine Kirche der In-
quisition, der festgelegten Wahrheit, der gußeisern gegründeten Begrifflich-
keit; man häuft Macht und Geld in jeder Form auf, doch man suggeriert
sich selbst und den anderen immerfort, das alles geschähe zum Dienst an
den Menschen und in Verehrung des Gottes der Liebe.
Vielleicht muß man das Wort «Teufel» deshalb etymologisch verstehen.
Gemeint ist im Griechischen nicht das Gespenst, das in der christlichen
Dogmatik als Verkörperung des absolut Bösen umherspukt; das Wort
«Teufel» kommt von dem griechischen Wort diábolos, was so viel besagt
wie: alles durcheinanderbringen, unter dem Anschein der Wahrheit die
Dinge auf den Kopf stellen, so daß am Ende nichts als bloße Verwirrung
herrscht. Der «Vater» der Existenzphilosophie, Sören Kierkegaard, hat
das einmal so ausgedrückt: Wenn jemand mit Meißel und Hammer einen
Geldschrank aufsprengt, so nennt man ihn einen Einbrecher; aber wenn
jemand hingehen würde und brächte so viel Falschgeld, so viele gut ge-
machte «Blüten» auf den Markt, daß sie von den richtigen Geldscheinen
ununterscheidbar wären, so würde er damit die ganze Währung außer
Kraft setzen; unter dem Anschein des Gültigen wäre am Ende alles entwer-
tet. Kein Einbrecher, meinte Kierkegaard, gehe in Gelddingen so gemein
vor wie die Christenheit in Fragen des Christentums, indem sie die Worte
Jesu aufgreife, nur um am Ende sich daran vorbeizumogeln, daß man sie
wirklich lebe1.
Wirklich leben, – das ist es, was Petrus an dieser Stelle Jesus gegenüber
alternativelos ausspricht. Gefragt: Nicht auch ihr? Wollt ihr gehen?, fragt

295
er seinen Herrn: Zu wem sollten wir gehen? Worte unendlichen Lebens
hast du. Es ist dies das wohl schönste Wort, das ein Mensch im Johannes-
Evangelium überhaupt ausspricht. Petrus betont: Und wir: zu dem Ver-
trauen, zu der Erkenntnis sind wir gelangt, daß du bist: der Heilige Gottes.
Da hat sich ein Zentrum, ein fester Grund des Lebens gebildet, und nur so
noch lohnt es zu leben. Im Grunde ist dies das Ziel der langen Rede Jesu in
Kafarnaum.
Wie gesagt, man hat diese Rede katholischerseits als «die eucharistische
Rede» bezeichnet, in der Meinung, daß das Johannes-Evangelium, das
sonst von keinen Sakramenten weiß, an dieser Stelle, sozusagen ersatz-
weise, das Zentralstück des Zusammenlebens der Christen, das Abend-
mahl, in verhüllten Worten zwar, aber theologisch doch gültig und kor-
rekt, ausformuliere, ja, daß es im Tiefsinn seiner Gedanken, dabei die
ersten drei Evangelien sogar weit übertreffe. Tatsächlich klingen die Worte
an: mein Fleisch essen, mein Blut trinken – das ist die sakramentale Begrif-
flichkeit der Eucharistie; und dennoch versteht man alles, was Johannes
hier sagt, im Grunde nur, wenn man das Problem begreift, das seinem
Evangelium zugrunde liegt; um es vorweg zu sagen: die «Lösung» besteht
darin, alles «Sakramentale» aufzulösen in ein «Zeichen» der Innerlichkeit.
Es ist eine allgemein menschliche Frage, wie sich dichte und innige Be-
ziehungen auf Dauer stellen lassen. Zwei Arten sind dabei geläufig: be-
stimmte Dinge immer neu im Tun zu wiederholen und bestimmte Worte
immer neu zu sagen, auf daß aus dem Vertrauten und Bekannten eine
immer größere Sicherheit und Stabilität erwachsen möge. So lassen sich im
Christentum Ritus und Dogma verstehen. Sie garantieren scheinbar den
Bestand des Kostbaren in der Zeit. Wie es sich indessen mit beidem wirk-
lich verhält, erzählte eine Frau vor einer Weile. Sie sagte: «Meine Ehe ist
jetzt fast zwanzig Jahre alt, und es geschieht immer wieder, daß mein
Mann mich am Hochzeitstag auffordert, an denselben Ort mit ihm zu
fahren, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Wir müssen dann
dasselbe Restaurant aufsuchen, in dem wir damals durch Zufall miteinan-
der bekannt wurden, wir müssen um dieselbe Zeit dort erscheinen, wir
müssen dieselben Wege zurücklegen, wir müssen in demselben Hotel über-
nachten, in dem wir zum ersten Mal zusammen waren. Es muß alles, was
damals der Augenblick formte, unverändert so bleiben, damit es die Zeit
überdauere – so der Gedanke meines Mannes.»
Alles, man versteht, in dieser Beziehung ist gut gemeint, und doch
schwingt darin eine kaum zu beruhigende Angst und Unsicherheit mit.
Man möchte wie in einem Beschwörungsritual bestimmte Gebärden, be-

296
stimmte Ausdrucksweisen festhalten, weil man alle Veränderung, alle Neu-
werdung als eine Erschütterung fürchtet, so als wäre das Neue nicht nur
der Tod des Alten, sondern der Tod von allem überhaupt, was je gewesen
ist. Es wundert nicht, wenn die Frau noch hinzufügte: «Auch in unseren
Worten ist das so geblieben. Mein Mann benutzt ein Repertoire von Kose-
namen, die er immer wieder verwendet, aber ich frage mich: Wie weit bin
ich persönlich dabei gemeint? Wie weit komme ich darin vor? Mein Mann
möchte zärtlich sein, aber seine Worte sind wie abgegriffen und gleichzeitig
wie zugreifend; es ist in gewisser Weise erstickend.»
Bezeichnen wir die Art, das intensivste menschliche Gefühl: die Liebe, in
bestimmten Gebärden festzuschreiben, als Ritus, und bezeichnen wir die
Wiederholung bestimmter Ausdrucksweisen als Dogma, so haben wir, was
in jeder menschlichen Beziehung sich als eine Methode der Angstsicherung
zutragen mag, als eine Grundgefahr gerade im Raum des Religiösen vor
uns: Im Wahn, Gott zu sichern, verrät man ihn. Denn Gott ist etwas
Schwebendes, nie zu Greifendes, etwas Beunruhigendes, wenn auch einzig
Bergendes, etwas Gegenwärtiges stets und doch nie Faßbares, nie Erfaßba-
res. Alle Religion begründet sich in genau dieser Mischung aus Unsicher-
heit und Geborgenheit, aus Angst und Vertrauen. Alles, was sie sagen und
tun kann, ist in diesen Widerspruch getaucht; es ist offen für den rechten
schwebenden Gebrauch einer stets möglichen Erneuerung, aber es steht
auch in der Gefahr der eigenen Versteinerung.
Und genau diese Gefahr, diesen Zustand hat Johannes bereits am Ende
des 1. nachchristlichen Jahrhunderts vor sich. Er greift das Ensemble der
fertigen Gesten, der fertigen Sprachgebärden auf, zeichnet sie nach, über-
zeichnet sie mitunter sogar, um zu fragen, ob denn nicht eine neue Inter-
pretation möglich und nötig sei, – nicht als wäre das Alte, das Überlieferte,
falsch, aber doch so, daß alles falsch würde, wenn es so bliebe. In die Ge-
fahr ritueller Versteinerung gerät auch die Versicherung der kirchlichen
Dogmatik, Christus sei uns gegenwärtig unter den sakramentalen Gestal-
ten von Brot und Wein. Johannes läßt seinen Jesus sich selbst als «Brot»
und «Fleisch» und «Wasser» und «Weinstock» bezeichnen, aber er scheut
sich förmlich, etwas Rituelles als eine fertige Gegebenheit zu akzeptieren.
Nicht im Grunde an die «Juden» in Kafarnaum richtet sich deshalb diese
Rede, sondern an Menschen, die sich schwer tun, einen bloßen Ritus als
Gegenwart des Göttlichen zu akzeptieren, die mehr suchen als eine rituell
gebändigte Gebärde, die etwas Göttliches zu garantieren vorgibt.
Was denn überhaupt ist gemeint, was war gemeint damit, daß Jesus sich
gibt in seinem Fleisch, in seinem Blut? Bilder sind das, die in der Mensch-

297
heitsgeschichte tief in die Vorzeit zurückreichen, in dunkle, archaische Vor-
stellungskomplexe. Zum Bestand alter Jägerkulturen gehörte offenbar der
Glaube, daß Tiere, die man ißt, als göttlich zu verehren sind, weil sie die
Grundlage des Lebens, den Quell aller Nahrung bilden. Fleisch und Blut
bieten die Kraft zum Existieren. Die Tiere, die man erjagte, um davon zu
leben, wurden in den Mythen als unsterbliche, göttliche Lebewesen an den
Himmel versetzt, so wie wir des Nachts, wenn wir die Augen zu den Ster-
nen erheben, etwa dem Großen Bären oder den Jagdhunden begegnen. Der
Bär war vor zwanzig-, dreißigtausend Jahren ein heiliges, göttliches Tier,
verehrt im Himmel wie auf Erden. Später, vor achttausend Jahren, in der
Zeit der beginnenden Ackerbaukulturen, wurden ähnliche Vorstellungen
mit Pflanzen verbunden, speziell mit dem Korn und mit dem Wein. Der
ägyptische Gott Osiris, der griechische Gott Dionysos gaben sich im Ge-
schnittenwerden der Ähren, im Zerstampftwerden der Reben den Men-
schen als göttliche Speise. Es ging nicht mehr darum, Tiere zu töten, doch
man empfand auch das Ernten von Pflanzen im Raum der Natur als eine
Art Sterben zugunsten des Lebens. Die Menschen begriffen die Gesetze der
Vegetation, das ewige Stirb-und-Werde, in einer Tiefe und Dichte wie nie-
mals zuvor. Opferpraktiken breiteten sich aus, um das Göttliche über alle
Gefährdungen hinweg zu erhalten2.
Man kann gewiß nicht sagen, daß Jesus Vorstellungen dieser Art selber
begründet hätte, allenfalls wurden sie mit ihm begründet. Im griechischen
Kulturraum, in dem sie seit Jahrtausenden bereits wie selbstverständlich
existierten, drangen sie in das Christentum ein, um von ihm her neu belebt
und gedeutet zu werden. Doch das genau ist jetzt das zentrale Thema des
Johannes-Evangeliums in dieser Rede: Was ist das Neue in der Botschaft
Jesu?
Nimmt man die alten Opferriten im Sprechen von Fleisch und Blut
in Augenschein, so muten sie entsetzlich an; man möchte den «Juden» in
Kafarnaum völlig recht geben: so etwas ist nicht nur «hart» zu hören, es
ist unerträglich, es ist widerwärtig. Fleisch essen, Blut trinken, das sind für
jüdische Ohren inakzeptable, vollkommen heidnische religiöse Riten. Nie
wird ein orthodoxer Jude diese hellenistischen Mysterienkulte als sein
eigen betrachten. Das Johannes-Evangelium nimmt diesen Widerspruch
auf, um die Hörer, die Leser zu fragen, was sie denn meinen, was für sie
der überlieferte, der bereits christianisierte Ritus besagen will.
Wenn es überhaupt einen Grund gab, kultische Mahlgemeinschaften
unter den Zeichen von Brot und Wein im Umkreis Jesu einzurichten, so
wird man ihn finden in dem am meisten provozierenden Bild, das Jesus in

298
seinem Leben gestaltet hat und das ihn wohl tatsächlich an den Rand des
Todes gedrängt hat. Unter uns Menschen gibt es kaum einen Brauch, der
so einladend und so verbindend über all die Jahrmillionen der Menschwer-
dung und der menschlichen Geschichte hinweg wirkt, wie das gemeinsame
Essen und Trinken. Wer sich zu einem anderen an dieselbe Tafel setzt, zeigt
damit an, daß er buchstäblich ein Kumpane ist. Jesus hat dieses Sinnbild
des gemeinschaftlichen Mahles als ein Zeichen für seine Art genommen,
Israel neu zu gestalten: Es sollte nicht länger sein, daß im Volk der Erwäh-
lung Menschen sich als Unerwählte, als Ausgestoßene, als Ausgeschlossene
fühlten. Sind denn nicht die Verzweifelten eben diejenigen, die am meisten
hungern, zwar nicht nach Brot, aber nach Liebe? Sind nicht diejenigen, die
vom Gesetz als Ungläubige, als Unmoralische abgesondert wurden, in
ihrer Sehnsucht und in ihrem Suchen die am meisten Dürstenden nach
menschlicher Nähe? Gerade diejenigen, denen sonst keine Chance gelassen
wird, spüren stärker als die in der Normalität Versicherten, daß sie einzig
durch Annahme, durch Entgegenkommen zu sich selber finden können.
Darum ging Jesus auf sie zu, darum lud er sie ein, darum setzte er sich mit
ihnen an einen Tisch. Das Markus-Evangelium ist noch nicht zwei Kapitel
alt, da wird davon berichtet, daß man Anstoß an der Art nimmt, mit der
Jesus sich mit Sündern und Zöllnern zusammensetzt und wie er sogar den
Sabbat, wie er die heilige Gottesordnung, zugunsten von hungernden Men-
schen außer Kraft stellt (Mk 2,24; 3,2). «Ich», wird er sinngemäß sagen,
«bin gekommen wie ein Arzt zu den Kranken», und: «Der Menschensohn
hat Macht auch über den Sabbat.» (Mk 2,10.17) Wenn das bedeutet,
Mahlgemeinschaft zu feiern, so ist die Tafel, zu der Jesus ruft, so weit wie
der Himmel, der sich darüber wölbt. Da wird ein Gott verkündet, der die
Menschen einschließt statt ausschließt, da wird aus der Religion nicht län-
ger mehr ein Gesetzbuch erstellt, um Menschen in Richtige und Falsche
einzuteilen, sondern da breitet sich ein Feld aus, in dem die Menschen in
ihrer Verlorenheit Heimat finden können. Jeder darf da kommen, der
Durst hat und den hungert.
So wird es nun zur Frage des Johannes-Evangeliums, wie man das Bild
des Mahls von Fleisch und Blut, wie es die dogmatische Formel von der
Eucharistie bezeichnet, noch einmal weiter interpretieren kann, ohne Ver-
lust des Alten, aber so, daß Neues dabei möglich wird. Bis hierhin war die
ganze Zeit über die Rede von Fleischessen und Bluttrinken, doch plötzlich
sagt derselbe Jesus, es gehe um Geist; der allein sei das Lebendigmachende,
das «Fleisch» nütze nichts. In der Sprache des Johannes-Evangeliums sonst
sind Geist und Fleisch soviel wie die Wirklichkeit Gottes und die Wirklich-

299
keit rein irdischen Gepräges. Aber genau diese Denkform, diese Gegen-
überstellung, absorbiert jetzt auch das Reden der Sakramentensprache.
Das Fleisch – nein, es nützt nichts kann doch in diesem Zusammenhang nur
soviel bedeuten wie: die Formel vom «Fleischessen» kann genauso irdisch,
genauso oberflächlich, genauso nichtssagend und damit tödlich verstanden
werden wie alles andere. Geistig aufnehmen, das bedeutet, Jesus nicht in
sakramentalen Bildern, sondern in seinem Wort in sich aufzunehmen. Sehr
stark wird dieser Aspekt betont. Es ist das Wort, das ewiges Leben
schenkt. So erklärt es Petrus am Ende, und so hat er es ganz richtig ver-
standen. Zwischendrein betont der johanneische Jesus selbst immer wie-
der, durch sein Wort seien eine Speise, ein Trank gegeben, die den Namen
verdienten: eine wahrhafte Speise, ein wahrhafter Trank; sei er doch selbst
in seiner Person die Auferstehung am Letzten Tage. Bereits im Gespräch
mit der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4,1-42) tauchten derartige Gedanken
und Zusammenhänge auf.
Fragen wir uns, wie ein solches Wort zu verstehen ist, das wahrhaft sät-
tigt, das wirklich Durst stillt, so müßten wir uns im Sinne des Johannes
Fragen vorlegen, die hier nicht ausgedrückt, geschweige denn beantwortet
werden, die aber angeregt werden, genauer: die angeregt werden sollen. Da
ist die Frage, womit wir uns denn sonst «sättigen», was unser normales
«Leben» trägt. Im Jahr 1944 war es der französische Dichter Antoine de
Saint-Exupéry, der kurz vor seinem Tod, in dem berühmten Brief an einen
General, schrieb: «Monsieur le Général, die Menschen können nicht län-
ger leben nur mit Kühlschränken und mit Kreuzworträtseln. Es müßte
über diese Welt etwas herabtauen, das einem gregorianischen Choral gli-
che.»3 – Über fünfzig Jahre danach muß man saint-exupéry beinahe be-
mitleiden, wenn er meinte, es sei unmöglich, nur im Äußeren zu leben.
Man werde nach dem Krieg, sah er voraus, Musikinstrumente über den
Ozean in das vom Krieg verwüstete Europa schicken, um zu hohen Markt-
preisen dort Geigen und Celli zu verkaufen, aber werde man noch im-
stande sein, den Geist eines Mozart oder eines Beethoven zu verstehen?
Das Marketing ja, aber der Inhalt, wo würde der bleiben? Ein halbes Jahr-
hundert später verstehen wir sehr wohl, wie man leben kann von Kühl-
schränken und Kreuzworträtseln, wie man im Grunde die Gesetze des Ver-
kaufs bis hin zum Ausverkauf alles Menschlichen treiben kann und wie
man der Menge ständig ein Mitmachenmüssen suggeriert, wo im Grunde
nichts weiter sich selber verwaltet als buchstäblich der Tod. Wir begreifen
heute vielleicht besser noch als in den Tagen der humanistischen Sehnsucht
des saint-exupéry, daß wir einen Neuanfang brauchen nach Ablauf des

300
zurückliegenden blutigen, leidgetränkten zwanzigsten Jahrhunderts. Es
wären einfache Schritte, die da zu tun sind, sie lägen so nah, und doch er-
scheinen sie fast wie unmöglich.
Fragen wir uns, woraus denn wirkliches Leben entstehen kann, was die
Worte sind, die uns leben lassen, so sind es ausnahmslos Worte der Zunei-
gung, sind es Versicherungen einer persönlichen Nähe, die in der Existenz
des einen für den anderen sich bilden. Alles außerhalb davon ist bestenfalls
ein Hinweis, oft genug ein Hindernis. Wovon wir wirklich leben, gründet
in einer Sprache, die sich getraut, die Seele des anderen zu berühren, sein
Gefühl aufzuwecken, seine Phantasie zu beleben und ihm den Mut zum
Glück zu verleihen. Worte unendlichen Lebens hast du bedeutet, so über-
setzt: «Jesus, du hast in eine Welt der Feindseligkeit und des Hasses eine
Sprache der Liebe gebracht, die uns hoffen läßt und die uns aufrichtet. Du
hast uns in einer Welt der Trostlosigkeit und der Dunkelheit Hoffnung ge-
schenkt. Du hast uns mitten in dem Einerlei der Routine etwas vor Augen
gestellt, das so für uns nie noch zu sehen war.»
«Wohin denn sollen wir gehen», gibt der Theologe Horst Weber die
Worte des Petrus in Gebetsform wieder, «wohin, wenn nicht zur dir, Herr?
Auf wen denn sollen wir sehen, wenn nicht auf dich, Herr? – Auf wen
denn sollen wir trauen, wenn nicht auf dich, Herr? Auf wen denn sollen
wir bauen, wenn nicht auf dich, Herr? – Zu wem denn sollen wir beten,
wenn nicht zu dir, Herr? Zu wem denn sollen wir treten, wenn nicht zu dir,
Herr?»
Jesus selber erklärt hier, er sei gesandt von seinem Vater und er lebe
wegen seines Vaters, und ganz entsprechend werde jeder, der zu ihm
komme, leben seinetwegen. Das ist eine so unglaublich totale Aussage, daß
die meisten, wenn sie sie hören, sich wohl zunächst erschrocken fragen, ob
das denn stimmen könne. Vermöchte wirklich jemand, gefragt: «Warum
lebst du?», zur Antwort zu geben: «Weil es Jesus gibt», einzig seinetwegen,
ausschließlich für ihn.» Gleichwohl ist es einzig diese Haltung, die im
Johannes-Evangelium das Wort «Glauben» oder sogar «Erkenntnis» ver-
dient.
Um so wichtiger ist die Frage, wieviel Spielraum uns denn bei dieser
«harten» Rede bleibt. Würden wir auch nur einen Moment lang versu-
chen, wegzugehen wie eine große Anzahl der Jünger hier in Kafarnaum,
sogar noch begleitet von der Aufforderung Jesu: Nicht auch ihr? Wollt ihr
gehen?, so müßten wir uns allerdings sofort wie Petrus fragen, wohin wir
damit kämen. Die Antwort kann nur sein: wir fielen augenblicklich in eine
Welt zurück, die sich in ihrer eigenen Logik längst geschlossen hat. Wir

301
kennen sie tagaus, tagein: Da existiert gegen die Gewalt nichts anderes als
die Sprache der Gegengewalt, da gilt es, das Böse zu überwinden durch die
stets stärkere Macht des immer noch Böseren, da gilt es, Macht zu er-
obern, so als sei das allererst die Voraussetzung, überhaupt etwas Rechtes
in der Welt «bewirken» zu können, da gilt es, Fraktionen und Parteien zu
bilden, so als lasse sich erst dann im Raum der Gesellschaft etwas zum
Guten bewegen. In dieser Welt aus Geld und Macht und verwalteter «Ord-
nung», aus Spaltung unter den Menschen, aus dem Rechthaben im absolu-
ten Maßstab des Kampfes des einen gegen den anderen gibt es keinen
Trost, nicht gegen die Vergänglichkeit, nicht gegen die Angst, nicht gegen
den Tod. Es ist ein Leben, das nur so weitergehen kann, gleichgültig, ob
wir es dreißig oder vierzig Jahre lang mitmachen. Wir mögen es mit immer
schwächeren Kräften eine Weile lang mittragen wie eine Schicksalshypo-
thek, – es macht am Ende keinen Sinn, es zerfasert und verschleißt; das
ist das Grundgefühl. Schon deshalb gibt es keinen anderen Weg, als eine
Alternative dagegen zu setzen, so deutlich wie das Licht gegen die Finster-
nis, meint Johannes; und dazu gibt es nur einen einzigen Weg: ein Leben zu
beginnen, von dem wir hoffen können, es möchte in alle Ewigkeit dauern.
Machen wir einmal ein kleines Gedankenexperiment. Wir versetzen uns
um ein paar Jahre in die Zukunft; wir sind siebzig geworden, wir stehen
im letzten Abschnitt unseres Lebens, und wir machen uns Gedanken dar-
über, wofür und warum es uns gab; wie auf einem Sieb würde unser Leben
noch einmal durchgeschüttelt auf die Frage hin, welche Goldkörner denn
im Staub und im Sand all der Jahre sich als Kostbarkeit entdecken ließen;
würden dann wohl die Stunden übrig bleiben, in denen wir unsere Pflicht
und nichts als unsere Pflicht getan haben? in denen wir funktioniert
haben? in denen wir austauschbar waren durch jeden anderen an unserer
Seite, der das, was verordnetermaßen unseren Lebensinhalt bildete, genau
so gut und gern hätte tun können? Wann haben wir wirklich als Personen
existiert, so daß wir denken dürften, es hätte uns geben sollen? Da stünde
zur Frage, welche Augenblicke wir wirklich unser eigen nennen würden,
was die Momente sind, die wir bis ins Unendliche verlängern möchten, um
voller Freude zu sagen: «Das ist unser Eigentliches, das unser Bleibendes,
das sind die Stellen, an denen ein Schimmer der Ewigkeit in diese Welt
schon hineinleuchtete; in diesen Situationen lebten wir wirklich, davon
können wir auch im Rückblick ‹satt› werden und unseren «Durst» stillen.
Feststehen kann jetzt schon: Es werden ausnahmslos die Momente sein,
in denen wir anderen Menschen ein Stück weit Räume des Glücks er-
schlossen haben, Momente, in denen sie sich selber in ihrer Person tiefer zu

302
finden vermochten, Szenen, in denen wir mit unserem eigenen Ich ge-
braucht wurden und einem anderen so gegenübergetreten sind, daß er dar-
innen sich selbst finden konnte. Nur solche Momente werden zählen. In
diesen Momenten verfügten wir über keinerlei Macht, im Gegenteil, wir
mußten uns gänzlich schutzlos riskieren; in solchen Momenten verfügten
wir über keinerlei Wahrheit im voraus, im Gegenteil, wir mußten unsere
bereits fertigen Urteile oft genug wieder aufgeben; in solchen Momenten
wußten wir selber nicht, wer wir waren und woran wir uns halten konn-
ten, wir mußten uns selber in Frage stellen, um über unsere persönlichen
Grenzen hinaus zueinanderzufinden. In solchen Stunden galt nichts Vor-
weggegebenes, sondern es schob uns über das fertig Gegebene in ein
Neues. Und es gab, wie wir jetzt sehen, keine Augenblicke, in denen wir
mehr wir selber gewesen und geworden wären, als diese Momente.
Das ist gemeint, wenn Johannes seinen Jesus in Kafarnaum sagen läßt:
Wer vertraut, hat unendliches Leben, und: Ich bin das Brot des Lebens.
Dies ist das Brot, das aus dem Himmel niedersteigt, daß man davon esse
und nicht sterbe. Wenn man ißt von diesem Brot, wird man leben ins Un-
endliche. In all dem liegt eine Ermöglichung, die Welt noch einmal gänz-
lich neu zu betrachten.
Parallel zum sakramentalen Ritus der Zeichen von Brot und Wein lautet
die dogmatische Formel über Jesus von Nazaret: er ist aus dem Himmel
herabgestiegen, er ist als das Wort Gottes zur Erde gekommen, und er wird
wieder, so lautet das Bild vor allem der drei Evangelien vor Johannes, hin-
aufsteigen zum Himmel – in der Vision einer Himmelfahrt. Da existiert ein
quasi räumliches Schema von Niederkunft, Ankunft und Aufstieg des
Christus; doch das Johannes-Evangelium verinnerlicht und vertieft auch
diese Vorstellungen. Es gibt Worte, die soviel an Vertrauen, an Liebe und
Hoffnung erschließen, daß sie ein Leben begründen, das durch nichts mehr
zu zerstören ist. Wenn diese Erfahrung erst einmal gilt, versteht man dann
nicht zugleich auch, wieso man von Jesus sagen kann, er sei vom Himmel
auf die Erde gekommen und er kehre zurück in diese himmlische Sphäre?
Was sich da räumlich orientiert und dogmatisch ausformuliert, bedeutet
im Grunde erneut eine Verwandlung der ganzen Existenz, eine Neuord-
nung der gesamten Perspektive.
Sagen wir so: Es gibt Lebewesen, die nur in zwei Dimensionen die Welt
wahrnehmen können; es ist möglich, sie in vier kleinen Streichhölzern, zu
einem Quadrat gelegt, einzusperren; sie bleiben darin Gefangene, weil es
für sie die Dimension der Höhe nicht gibt. Gerade so bewegen wir Men-
schen uns in den meisten Konflikten unserer Welt. Wir sind Gefangene un-

303
seres eingeschränkten Vorstellungsvermögens, so daß wir auf Angst stets
nur antworten können, indem wir dem anderen Angst machen, so daß wir
auf den Schmerz, den wir empfangen, nur reagieren können, indem wir an-
deren Schmerz bereiten, so daß wir Unsicherheit mit Gewalt zu überwin-
den suchen, ganz so, wie im Raum der Natur an unserer Seite es die Tiere
auch tun würden. Wohl, wir Menschen können unseren Verstand gebrau-
chen, doch der ist eine zwiespältige Begabung; denn alle Ursachen der
Angst verlängern sich ins Unendliche durch den Verstand; aus lauter Angst
werden wir dann schlimmer als alle Tiere, ja, wir werden zu der größten
Gefahr dieser Erde. Wir können unsere Vernunft aber auch dazu benützen,
um unseren unendlichen Hunger, um unseren unendlichen Durst in den
Himmel zu werfen. Wir können unsere Vernunft dazu gebrauchen, alles
noch einmal ganz anders zu sehen, buchstäblich vom Himmel her. Es
erscheint dann vieles als derart klein, als derart eng, als derart primitiv,
daß wir uns dafür schämen müßten, bei dieser Sichtweise zu bleiben. Es
ist möglich, weitherzig und offen zu sein statt angstverengt und verschlos-
sen; es ist möglich, diese kleine Erde mit den Augen des Himmels zu be-
trachten.
Manchmal erklären Astronomen in Planetarien nicht nur die Entste-
hung der Sterne, sondern sie erläutern den Hörern auch, warum es gut ist,
sich überhaupt mit dem Sternenhimmel zu beschäftigen. Der Große Bär
verkörpert mit seinem Namen ein Stück Kulturgeschichte in der Zeit, – die
heutige Astronomie aber zeigt uns Fixsternsonnen in unglaublichen Entfer-
nungen und in unglaublicher Zahl – mehr als hundert Trillionen Sonnen,
sie alle Kernfusionsreaktoren, die aus Wasserstoff Helium erbrüten und
hernach alle Elemente, die später auf etwaigen Planeten unter bestimmten
Bedingungen lebende Organismen zu bilden vermögen. All das zu erken-
nen bedeutet einen großartigen Fortschritt der Wissenschaften; Weisheit
aber liegt in all dem womöglich erst, wenn wir lernen, anhand der wahren
Dimensionen des Alls hier auf dieser kleinen Erde Vernunft anzunehmen.
Unter unseren Fernrohren, in unseren Teleskopen wird eine Welt von uner-
meßlicher Ausdehnung in Raum und Zeit sichtbar. Wir aber kämpfen auf
der Erde immer noch um territoriale Grenzziehungen: An irgendeinem
Flußlauf, an irgendeinem Bergkamm beschließen wir, Völker, Rassen, Reli-
gionen voneinander zu trennen, und es ist uns dann dieser Flußlauf, dieser
Gebirgskamm immer noch das Opfer von Tausenden von Menschenleben
wert. Wann lernen wir, allein unter der Größe des offenen Himmels, den
wir mit bloßen Augen schon sehen können und den die Astronomen uns
nochmals vergrößern, die Winzigkeit unserer Probleme zu erkennen? Da

304
fiele der Schimmer der unzähligen Sterne auf unseren kleinen Stern mit
Namen Sonne und auf dessen winzigen Begleiter Erde, und wir, diese Ge-
bilde aus Sternenstaub, würden ein wenig Weisheit gewinnen und Beschei-
denheit lernen. Es wäre immer noch weit entfernt von dem, was Johannes
meint mit dem «Wort, das vom Himmel herabsteigt» und das wie ein
Wunder diese Welt verwandeln könnte mit eben dem Vertrauen, das Jesus
von Nazaret in diese Welt brachte; und doch wäre es ein erster Schritt in
Richtung dieser Überzeugung, die Liebe sei stärker als die Starrheit der
Angst, die Weichheit der Sanftmut sei siegreich über die Härte des Hasses,
das fließende Wasser sei mächtig über den Stein, die Wärme des Windes
schmelze die Schwere des gefrorenen Gletschers, und so sei das menschli-
che Herz dazu bestimmt, aufzuwachsen zum Licht der Liebe, der Güte und
des Verstehens, und der eine könne leben mit dem anderen, vom anderen,
zum anderen hin; jeder sei dem anderen so etwas wie ein Stück Brot und
wie ein Rauschtrank der Freude in seinem Inneren, um zu wissen, wofür er
lebt – Wein und Brot ein jeder für den anderen!
Wenn wir uns fragen, ob so etwas denn überhaupt zu leben sei, werden
wir in der Tat nicht viele Zeugnisse finden außer diesem einen: Jesus von
Nazaret. Wo immer wir in die Geschichte der Menschheit schauen, ist sie
zumeist erfüllt von Dunkel und Schmerz, von Rauch und Blut. Aber es gibt
dieses eine Vorbild, es gibt dieses eine Beispiel. Und das muß genug sein!
Mehr braucht es gar nicht, um nicht zurückzugehen in das Alte, sondern
auf diesem Wege weiter voranzuschreiten. Freilich, wir müßten der Evi-
denz unseres Herzens, der Wahrheit unserer Sehnsucht, der Erkenntnis-
kraft unserer Menschlichkeit alles, die Macht Gottes, zutrauen, und diese
Zuversicht sollten wir uns nicht nehmen lassen. Am Ende gelangten wir zu
einer Form der Gottesverehrung, die ganz und gar in Menschlichkeit grün-
dete. Sie wäre nützlicher, mächtiger, stärker und größer als alles, was sich
von außen her organisieren, formieren, dogmatisieren und institutionalisie-
ren ließe; da zählten am Ende nur noch Gott und der Mensch, und unter
den Menschen bildete die Liebe jenes Brot, das aus dem Himmel nieder-
steigt, bei dem kein Tod mehr ist, bei dem keine Angst mehr ist, und wir
lauschten nur noch dieser Rede jenseits des Sees.
Das Johannes-Evangelium ist ein Versuch, alles Überkommene noch
einmal neu zu deuten; es ist der Beginn, darüber nachzudenken, welche
Gründe uns denn bestimmen, sowohl in der Tradition auszuharren als
auch weiterzugehen, geistig, innerlich, nie mehr von außen bestimmt, ganz
und gar uns selber gehörig und darin einander zugehörig.
Es gibt ein kleines Bild, ein Gleichnis für den Unterschied zwischen Tod

305
und Leben, zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Brot, das man ißt
und über dem man stirbt, und Brot, dessen Verzehr unendliches Leben
eröffnet. In der Geschichte der Christenheit gab es vielleicht niemanden,
der so sehr dem Beispiel Jesu entsprochen hätte wie der heilige Franziskus.
Von ihm werden viele Geschichten tradiert, teils historisch glaubwürdig,
teils legendär. Eine historisch glaubhafte Erzählung überliefert, daß die
Schüler um den Poverello, den kleinen Armen von Assisi, irgendwann von
Dieben ausgeplündert wurden. Sie beklagten sich bei Franziskus und woll-
ten den Räubern nachstellen, um das verlorene Gut wieder einzutreiben.
Franziskus aber sagte ihnen, sie sollten schnell die Diebe und Räuber su-
chen gehen und sie fragen, ob sie noch etwas bräuchten4. Franziskus war
der Meinung, daß niemand stiehlt, raubt, mordet, außer er täte es in einer
großen, womöglich noch unbekannten Not. Alle bürgerlichen Gesetze
richten sich klar und eindeutig zugunsten der Besitzenden gegen die Nicht-
Besitzenden und schreiben damit die Differenz zwischen den Menschen
nur noch fester; sie erfordern ein ganzes Heer von Staatsbeamten, Polizi-
sten, Richtern und Gefängniswärtern; auf diese Weise stabilisieren sie ihre
Ordnung. Es war Franziskus, der durch all diese Mauern zwischen den
Menschen hindurchging wie der Jesus des Johannes-Evangeliums am
Abend nach seiner Auferstehung durch die verriegelten Türen (Joh 20,19).
Es wird von Franziskus ebenfalls historisch glaubhaft überliefert, daß er
eines Tages einem Mann begegnete, der auf einem Pferd saß, in Eisen ge-
panzert, ein mittelalterlicher Ritter wie aus dem Bilderbuch. Franziskus,
erstaunt, soll den Mann gefragt haben: «Wovor denn hast du solche
Angst?», und er wollte damit wieder sagen: Ein Mensch, der sich verpan-
zert in der Verfestigung einer «Sicherheit», die nur die eigene Angst ein-
friert, mag hoch zu Roß sitzen, – er hört auf, als Mensch unter Menschen
zu leben. Es ist möglich, Angst zu überwinden, indem man dem anderen in
die Augen statt ins Visier schaut.
Von Franziskus erzählt des weiteren eine Legende, daß in der Kälte des
Winters, als der Schnee hoch lag in den Averner Bergen und Wölfe in das
Dorf von Gubbio eindrangen, die Männer mit Dreschflegeln und Sensen
hinausgingen, um einem der Wölfe, der unter den Schafen der Herden
immer wieder seine Beute riß, den Garaus zu machen. Franziskus aber,
barfüßig, wie schwebend über den Schnee, ging den Männern voraus,
geradewegs auf die Bestie zu, die nach Hundeart seine Hand zu lecken
begann. Der heilige Mann soll den Wolf umarmt haben mit den Worten:
«Bruder Wolf, nur aus Hunger hast du solches getan.»5 – Man müßte im
Sinn der Legende zu uns ganz analog sagen: Es gibt unter uns immer wie-

306
der Menschen, die können wie reißende Wölfe sein; das, was sie tun, ist
objektiv womöglich noch viel schlimmer als das, was ein wildes, knurren-
des Tier unter Menschen anrichten kann, und immer wird man geneigt
sein, mit Gewalt die Grenzen zu schützen und dagegen anzugehen. Die Art
Jesu indessen war es, Nahrung zu schenken, die nicht tödlich ist, Brot zu
bringen, um das man nicht kämpfen muß, sondern das allen Hunger stillt
und das sich verteilen läßt an alle.
Dann freilich müßten wir uns fragen, nicht: was Menschen tun, son-
dern: was man ihnen angetan hat. Dann müßten wir uns fragen, nicht: was
da vor sich geht, sondern: was in Menschen vor sich gegangen ist, ehe sie
so vorgehen konnten. Dann ist die Frage, wieviel Hunger und wieviel
Durst Menschen hatten, ehe es sie zu etwas trieb, das wir ein Verbrechen
nennen und das doch in aller Regel nur das Wegbrechen von Zäunen ist,
außerhalb deren Menschen nicht länger glauben leben zu können. Außer
dem Beispiel Jesu, außer der Nachfolge des Franziskus gibt es im «christli-
chen» Abendland kaum einen Halt, der uns darin bestätigt, zu denken, so
etwas sei möglich: Wölfe zu umarmen, Brot zu verschenken und vom Him-
mel ein Wort in sich aufzunehmen, das unendliches Leben in diese Welt
bringt.

307
Joh 7,1-31: Die rechte Zeit, der rechte Ort –
in Verborgenheit und Öffentlichkeit
1Und danach zog Jesus in Galiläa umher (4,43). Nicht nämlich

wollte er in Judäa umherziehen, denn es suchten ihn die Juden


(die Gottesbesitzer) zu töten. 2Es war aber nahe das Fest der
Juden – die Laubhütten (Lev 23,34-36). 3Sagten da zu ihm
seine Brüder (2,12; Mt 12,46; Apg 1,14): Begib dich fort von
hier, auf, nach Judäa! damit auch die Jünger von dir schauen
von dir die Werke, die du tust. 4Niemand nämlich tut etwas im
verborgenen und sucht doch selbst in der Öffentlichkeit zu ste-
hen. Wenn du (schon) solche Dinge tust, tritt selbst vor der
Welt in Erscheinung! 5Nicht einmal nämlich seine Brüder ver-
trauten auf ihn. 6Sagt ihnen Jesus: Die Zeit, die meinige, ist
noch nicht da (2,4). Die Zeit, die eurige, ist allzeit bereit.
7Nicht kann die Welt in Haß sein zu euch, mich aber haßt sie,

denn ich bezeuge über sie, daß ihre Werke böse sind (15,18).
8Ihr – begebt ihr euch hinauf zum Fest! Ich – nicht begebe ich

mich hinauf zu einem derartigen Fest, hat sich doch meine Zeit
noch nicht erfüllt. 9Das also sprach er; – er selber blieb in Ga-
liläa! 10Wie aber seine Brüder sich hinaufbegeben hatten zum
Fest, da begab auch er sich hinauf, nicht in Erscheinung tre-
tend, sondern im verborgenen (2,13). 11Die Juden (die Gottes-
besitzer) nun suchten ihn auf dem Fest und sagten (immer wie-
der): Wo ist er (denn nur)? 12Und Gemurmel über ihn war viel
bei den Leuten. Die einen sagten: Gut ist er; andere sagten:
Nein, sondern in die Irre führt er die Leute. 13Niemand freilich
in Öffentlichkeit redete über ihn, aus Furcht vor den Juden
(den Gottesbesitzern) (9,22; 12,42; 19,38).
14Schon war das Fest halb vorüber, da begab sich Jesus hinauf

ins Heiligtum und lehrte (regelmäßig). 15Erstaunt waren da die


Juden (die Gottesbesitzer), sie sagten: Wie? Der? Die Schriften
kennt er, ohne Ausbildung (Mt 13,56)? 16Geantwortet hat da
ihnen Jesus, er sprach: Meine Lehre ist nicht die meinige, son-
dern dessen, der mich gesandt hat. 17Wenn jemand willens ist,
seinen Willen zu tun, wird er bezüglich der Lehre erkennen, ob
sie von Gott ist oder ob ich von mir selber aus rede. 18Wer von
sich selber aus redet – seine eigene Verherrlichung sucht der
(5,41.44). Wer aber die Verherrlichung dessen sucht, der ihn
gesandt hat, der ist in Gottes Unverborgenheit, und Unrecht in
ihm gibt es nicht. 19Hat nicht Mose euch das Gesetz gegeben?
Doch niemand von euch tut das Gesetz (Röm 2,17-24). Was
sucht ihr mich zu töten (5,16.18)? 20Antworteten die Leute:
Wer sucht dich zu töten (10,26)? 21Geantwortet hat Jesus, er
hat ihnen gesagt: Ein Werk habe ich getan, und alle erstaunt ihr
22deswegen (5,16). Mose hat euch die Beschneidung gegeben

(Gen 17,10-12; Lev 12,3) – nicht daß sie von Mose ist, sondern

308
von den Vätern –, und so auch am Sabbat beschneidet ihr einen
Menschen. 23Wenn eine Beschneidung erhält ein Mensch am
Sabbat, damit nicht aufgelöst werde das Gesetz des Mose, –
mir grollt ihr, weil einen ganzen Menschen gesund ich gemacht
habe am Sabbat (5,8 f.)? 24Nicht urteilt nach dem Augenschein,
sondern das gerechte Urteil sei euer Urteil. 25Sagten da einige
von den Jerusalemern: Ist das nicht der, den sie zu töten su-
chen? 26Und da – in Öffentlichkeit redet er, und nichts sagen
sie ihm! Haben nicht vielleicht wahrhaftig erkannt die Anfüh-
rer, daß dieser ist der Christus? 27Aber von diesem kennen wir,
woher er ist. Der Christus aber, wenn er kommt, – niemand
weiß da, woher er ist (Hebr 7,3). 28Laut und deutlich, während
er im Heiligtum lehrte, erklärte da Jesus und sagte: Ja, mich
kennt ihr und kennt auch, woher ich bin. Und doch: von mir
bin ich nicht gekommen, sondern es gibt einen Wahrhaftigen,
der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt (12,44). 29Ich kenne
ihn, denn von ihm bin ich, und er hat mich gesandt (Mt 12,27).
30Da suchten sie ihn zu verhaften, doch niemand legte Hand an

ihn, denn noch war seine Stunde nicht gekommen (8,20; Lk


22,53). 31Von den Leuten aber gelangten viele zum Vertrauen
an ihn; sie sagten: Der Messias, wenn er kommt, wird er etwa
mehr Zeichen tun, als dieser getan hat?

Im 7. Kapitel des Johannes-Evangeliums geht es um die Frage, was der pas-


sende Zeitpunkt sei, etwas Rechtes vor Gott und den Menschen zu tun.
Bohrende Fragen werden da gestellt, mit einer Eindringlichkeit, wie sie im
Johannes-Evangelium in dieser Konsequenz und Vielseitigkeit, in dieser
Spannung zwischen Erschrecken und Trost, in einzigartiger Weise arran-
giert wird.
Vielleicht gibt es keine bessere Einleitung zum Verständnis des 7. Kapi-
tels im Johannes-Evangelium, als einmal den 84. Psalm zu lesen, einen der
großen Wallfahrtspsalmen Israels. Er lautet (in eigener Übersetzung):
Wie schön ist deine Wohnung, Herr der Himmelsheere;
vor Sehnsucht, Herr, nach deinen Hallen,
erschöpft, verzehrt sich meine Seele.
Mein Herz, mein Leib
beben vor Glück
Gott, meinem Leben, entgegen.
Ja, selbst ein Sperling findet ein Nest,
die Schwalbe einen Nistplatz für sich –
ihre Jungen legt sie darein –
so deine Altäre, Herr der Scharen,

309
mein König, du mein Gott.
Ja, glücklich, die in deinem Hause weilen,
(die sich bei dir zuhause fühlen)
auf immer werden sie dich preisen.

Glücklich der Mensch, der seine Stärke in dir hat,


und die den Pilgerweg zu dir in ihrem Herzen tragen.
Gehen sie vorbei am Tal der Tränen,
so wandeln sie’s zu einem Bachquell,
ja, Segen hüllt sie ein
wie Regen, der nach Dürre fällt.
Sie ziehen hin von Kraft zu Kraft,
durchsichtig wird es auf Gott hin am Zion.

Herr, o Gott der Scharen, hör mein Beten,


vernimm, Gott der Verheißung,
Gott, unser Schild, sieh her,
schau an das Antlitz deines Königs.
Denn besser ist ein Tag in deinen Hallen
als tausend Tage sonst.
Und lieber möchte ich weiter bleiben im Hause meines Gottes,
als zu verweilen in der Sünde Zelt.
Sonne und Schild ist Gott, der Herr,
Gnade und Würde verleiht der Herr,
nicht hält er das Gute zurück
für die Wandrer im Lande der Unschuld.

Ja, Herr der Scharen,


selig ist der Mensch, der sich geborgen weiß in dir.

Mit den Worten dieses Psalms auf den Lippen, verbunden mit den Worten
der Psalmen 120 bis 135, begab man sich in Israel zum dritten der Wall-
fahrtsfeste hinauf nach Jerusalem, um Laubhütten zu feiern. Es war der
Erntedank für alle die Erträge der Tenne und der Kelter, für alles Korn und
allen Wein. Ein frohes, freudiges Fest war das, zu begehen mit Prozessio-
nen, mit Tanz und Musik, mit Geschenken für Gott und die Menschen, –
ein Fest der Dankbarkeit, fast der Ausgelassenheit. Der griechische Histo-
riker und Philosoph Plutarch stand nicht an, im Laubhüttenfest so etwas
zu sehen wie ein israelitisches Bacchus-Fest. Braucht nicht ein Mensch

310
diese Versicherung einer gemeinsamen Freude zu heiligen Zeiten, in heili-
gen Festen? Ist das nicht Religion: Menschen auf genau diese Art im Hei-
ligtum zusammenzuführen? Erst wenn man diese menschliche Selbstver-
ständlichkeit vor Augen hat und sie ein Stück weit historisch erinnert, wird
deutlich, wie weit das Johannes-Evangelium sich von all dem entfernt.
Es tut weh, zu spüren, wie hier allein schon von «den Juden» geredet
wird: Man wagte über Jesus in der Öffentlichkeit in Jerusalem im Tempel
nicht zu reden – aus Furcht vor den Juden, heißt es da wörtlich. Aber wer
in Jerusalem sollte sonst gelebt haben als Juden? Doch man muß richtig
hinhören. Es geht dem Johannes-Evangelium nicht mehr um die Juden zur
Zeit Jesu, es geht um die Auseinandersetzung am Ende des 1. Jhs. zwischen
den «Christen» und den «Juden». Die ursprüngliche Ausgangseinheit zwi-
schen ihnen hat sich aufgelöst bis zum Gegnerischen, bis zum Feindseligen.
Es ist sehr wichtig, darin die religionsgeschichtlich bedingten Gegensätze
wahrzunehmen, die als frühe Weichenstellungen in den theologischen Anti-
judaismus des Christentums geführt haben. Doch zugleich muß man auch
sehen, daß an «den Juden» typische Fragen abgehandelt werden, die in
jeder Religion, insbesondere im Christentum selbst, gestellt werden müs-
sen; erst so beginnt das Johannes-Evangelium am Beispiel zeitbedingter
Problemstellungen überzeitlich mit uns zu reden. Seine wichtigste Feststel-
lung lautet an dieser Stelle, daß es nicht möglich ist, sich vor Gott zu beru-
higen in der Ordnung eines festgelegten Zyklus von Ritual, von feierlicher
Verehrung und von freudig organisiertem Spiel. Das alles mag man tun,
und doch gilt es nicht, wenn es um Wesentliches geht.
Es ist nicht möglich, Gott zu finden in der organisierten Menge. Diese
Aussage zunächst einmal muß man sich in ihrer Ungeheuerlichkeit deutlich
vor Augen halten. Das Laubhüttenfest bietet dem Johannes-Evangelium die
Kulisse, den Anlaß, den äußeren Auslöser zu einer prinzipiellen Auseinan-
dersetzung. «Man» geht hinaus nach Jerusalem, und auch Jesus soll das
tun. Aber genau das zu tun weigert er sich. Es gibt, so betrachtet, keine
Verwurzelung der Botschaft Jesu im Volk, in der organisierten, stets vor-
auszusetzenden Gemeinschaft der Tradition.
Gibt es sie dann wenigstens im Kreise derer, die die Tradition vermitteln,
in der Gemeinschaft der Familie zum Beispiel?
Auch das verneint dieser Text mit aller Eindringlichkeit. In der kirchli-
chen Überlieferung herrscht die Idylle, wie Jesus inmitten seiner Familie,
unter der Obhut Mariens, in einer Gemeinschaft von stets und immer
schon Gläubigen aufgewachsen sei und gelebt habe. Das Johannes-Evange-
lium mag an dieser Stelle ein Stück der historischen Wahrheit treffen, wenn

311
es fast bitter bemerkt: Nicht einmal seine Brüder vertrauten auf ihn. (Vgl.
Mk 3,21!) Sie werden bei Johannes auf besondere Weise charakterisiert
und karikiert: Begib dich fort von hier, auf, nach Judäa!, sagen sie und
haben dabei im Sinn nicht einmal die äußere, ritualisierte Verehrung; das
Fest der Frömmigkeit soll für sie lediglich die Schaubühne für einen großen
Auftritt bilden: «Wenn du (schon) solche Dinge tust, tritt selbst vor der
Welt in Erscheinung, dann stell dich dar vor deinen Jüngern, vor der
Menge, dann ist es die rechte Gelegenheit jetzt für die Selbstpropaganda,
für deine ‹Promotion›, für deine ‹Vermarktung›! Da ist deine Chance, pu-
blikumswirksam zu agieren.» – So die Gedanken der engsten Angehörigen
Jesu, seiner Brüder! In gewissem Sinne möchten sie ihm womöglich gut, sie
sind die kompetenten Ratgeber einer bestimmten Art von Erfolg, wobei
man natürlich nicht ausschließen darf, daß auch sie selbst im Schatten des
dann so Erfolgreichen sich inszenieren und präsentieren möchten. Aber
was hat all das mit einer wahren Gottesbegegnung zu tun? Der Text ist
noch nicht ein paar Zeilen alt, da ist als ein gültiges Kriterium für ein rech-
tes Verhältnis des Menschen zu Gott alles verschwunden, was sich organi-
sieren läßt, nebst allem, was sich publik machen läßt; all das zählt nicht
länger und hat keine Bedeutung mehr.
Fragen wir uns deshalb einmal, wann denn religiös für uns überhaupt
etwas gilt. Die meisten, die «religiös» erzogen wurden, wird man seit Kin-
dertagen bei der Hand genommen und belehrt haben, daß am ersten Sonn-
tag pünktlich nach Frühlingsvollmond das Fest der Auferstehung zu feiern
sei; darüber freue sich die ganze Christenheit, weil an diesem Tage der Tod
endgültig besiegt worden sei. Oder am 25. Dezember: auch da ist Anlaß
zur Freude, weil zu Weihnachten der Heiland zur Welt gekommen ist. Alles
ist da in einem kultischen Festkalender genau auf Tag und Stunde geregelt,
– doch lassen sich Menschen so pünktlich dressieren, daß sie sich termin-
gerecht zu freuen verstehen? Ist das, was menschlich von Belang und
Bedeutung ist, so exakt im Kalender einzukalkulieren? Was eigentlich hat
Gehalt, zwischen uns Menschen, für uns selber, für Gott oder besser: vor
Gott? Jesus stellt sich seinen Brüdern an dieser Stelle fast schroff gegen-
über. Die Zeit, die meinige, sagt er, ist noch nicht da. Die Zeit, die eurige,
ist allzeit bereit. Dazwischen liegt eine ganze Welt.
Manche Leute verbringen ihr Leben damit, zu jeder Zeit alles, was von
außen ihnen angetragen wird, auch zu tun und es für richtig zu finden. Es
macht ihnen in ihrem Inneren überhaupt nichts aus, sich formen, prägen
und kommandieren zu lassen, wie es das äußere System verlangt. Es gibt
aber auch eine andere Einstellung zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zur Zeit.

312
Man kann etwas nur wahrhaft tun, wenn es von innen her stimmt, wenn
es reif geworden ist, wenn es aus der inneren Beauftragung sich ergibt.
Manche Historiker denken, daß allein schon die Art, wie wir kulturell
leben, kaum noch eine Erinnerung daran verrate, daß es eigentlich aus dem
eigenen Erleben heraus sich gestalten müsse, wann in der Zeit etwas rich-
tig zu tun und rechtens zu beurteilen sei. – Ein kleines Beispiel mag das
verdeutlichen. Wenn die sogenannten Wilden in Nordamerika, die Indi-
aner, in den Krieg zogen, brauchten sie viele Tage, um durch Tanz bis zum
Trancezustand ihre Seele auf das Große und Schreckliche vorzubereiten.
Die Weißen, die ihnen das Land wegnahmen, waren jederzeit bereit, zu
töten; es brauchte für sie nicht die geringste Einstimmung, es machte ihnen
nichts aus. So unterschiedlich kann es sein, Zeit zu erleben. Man kann
emotionslos sein Leben gewissermaßen abfahren, wie es verlangt wird; es
ist aber auch möglich, daß man die äußere Zeit so gestaltet, wie es von
innen her stimmt. Und erst dann und nur dann wird es dahin kommen,
religiös stimmig zu werden, um Gott zu begegnen.
Es ist eine Formel, die im Umgang auch der Menschen miteinander gilt.
Saint-exupéry im Kleinen Prinzen läßt den Fuchs einmal sagen: «Es
braucht Zeiten, es braucht bestimmte festgelegte Zeitpunkte der Begeg-
nung. Wenn du sagst, daß wir einander um vier Uhr begegnen, kann ich
um drei Uhr mich schon auf dich freuen.»1 – Da ist die Zeit etwas, auf das
hin es sich lohnt zu leben, weil sie in der Begegnung selber entsteht und
darin geboren wird. Wann sagt ein Mensch einem anderen, was er selbst
braucht, um sich verständlich zu machen? Es ist nicht möglich, einfach von
außen her zu tun, was erwartet wird; aber den Moment herauszuspüren,
da es stimmt und gilt, indem ein bestimmtes Wort sich in eine bestimmte
Situation fügt, sie verändert und sich darinnen selber noch einmal neu
formt, – das bewahrt und erhält alle Menschlichkeit. Alles, was menschlich
wahr wird, entsteht so. Und genau so vor Gott.
Wir werden später hören, wie es in der Erzählung von der Hochzeit zu
Kana schon anklang (Joh 2,4), daß die Zeit für Jesus, da seine Stunde ge-
kommen ist, identisch sein wird mit seinem Tod. Es wird der Zeitpunkt
sein, da Jesus sich nicht länger scheut, bis zum Äußersten zu gehen. Der
Grund dafür aber wird hier schon genannt: Er steht einer ganzen Welt ent-
gegen. In der Welt herrscht in diesem Kontext nichts als die bloße Äußer-
lichkeit: der Erfolgswille, die Durchsetzung, die Organisation, das Kalkül,
aber nicht eine einzige menschlich gültige Frage. Ihr – begebt ihr euch hin-
auf zum Fest, sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums bitter genug, wie
wenn er zwischen den Zeilen hinzufügen wollte: «Da gehört ihr doch hin!

313
Gottesbegegnung als Rummel, als Theatervergnügen, Religion als Volks-
fest, als Mega-Event, das ist eure Angelegenheit, nur zu!» Aber er selber
wird dort nicht sein. Es war schon ein Mißverständnis, ihm zu unterstel-
len, er wolle ja im Grunde nichts weiter, als durch die Heilung eines
Gelähmten in Jerusalem am Teich von Betesda (Joh 5,1-9) in die Öffent-
lichkeit hinein sich bekanntzumachen. Alles, was wirklich heilsam ist, ler-
nen wir hier bereits, geschieht im stillen, im verborgenen; es ist etwas Zärt-
liches, Privates, Intimes, das Menschen aufrichtet und sie gehen läßt gegen
die Angst. Nichts, was da verallgemeinert und in die Öffentlichkeit getra-
gen wird, kann Gültigkeit haben.
Es ist fast immer ein guter Maßstab für das, was unter Menschen
stimmt oder nicht, ob, wenn miteinander geredet wird, die Medien: die
Presse, das Fernsehen, dabei sind oder ob die Gespräche «im verborgenen»
stattfinden, so lange, bis etwas zustande kommt, das die Mitteilung nach
draußen überhaupt lohnt. Im ersteren Falle wird zum Fenster hinaus, also
aneinander vorbei, geredet; im letzteren Fall möglicherweise meint der an-
dere wirklich denjenigen, der ihm gegenübersitzt. Wohl schon deshalb
sollte man manche Bundestagsdebatten verschlossen vor der Öffentlichkeit
abhalten und zur Auflage erheben, daß die Abgeordneten nicht auseinan-
dergehen dürften, ehe sie nicht Einigkeit untereinander hergestellt hätten.
Denn sobald irgendeine Sitzung im Fernsehen oder im Rundfunk übertra-
gen wird, beginnen die Schaukämpfe, beginnt das Palaver im Werben um
Mehrheiten, hebt das Fertigmachen des Gegners an und drängt sich das In-
teresse an der Profilierung vor. Was da stattfindet, ist kein Reden mehr, es
ist ein rhetorischer Schlagabtausch. – Jesus besteht an dieser Stelle darauf,
daß, wenn es etwas Rechtes zu tun gibt, es im verborgenen bleiben muß.
Drum dieses Paradox: Kaum sind seine Brüder hinaufgegangen nach
Jerusalem, da geht auch er hinauf. Derselbe Mann, der eben noch erklärt
hat, er gehe nicht dorthin, dieselbe Person, von der es eben noch hieß, sie
habe Grund, Judäa zu meiden, weil «die Juden» ihr nachstellten und nach
dem Leben trachteten, begibt sich jetzt, freilich im verborgenen, in das
Heiligtum von Jerusalem, und laut Johannes erwarten Jesus dort bereits
alle. Sie fragen sich, wo er nur bleibe, sie forschen danach, wann er denn
auftrete, doch all das geht ins Leere. So sehen sie ihn nicht, so finden sie
ihn nicht. Noch hält er sich im verborgenen, noch tritt er nicht in Erschei-
nung.
Es gibt eine Form, religiös sich «kundig» zu machen, die gerade in die-
ser undurchsichtigen Zwischenzeit in Jerusalem praktiziert wird. Es ent-
steht ein Gemurmel über ihn. Was soll man von einem solchen Menschen

314
halten? Wieder erscheint die Öffentlichkeit hier als das Verräterische: Was
«man» redet über einen Menschen, ist in jedem Betracht falsch. Die einen
sagen: Gut ist er, und es ist ihre Art des Geredes; und die anderen sagen:
Nein, sondern in die Irre führt er die Leute, und das ist ihre Weise des
Klatsches. Und so geht es hin und her, pro und contra; es ist ein gerücht-
weises Sich-Annähern, ein ständiges Befragen nach den Mehrheiten, die
sich da bilden könnten. Nie kommen auf diese Art religiöse Überzeugung
und Wahrheit zustande. Doch was lernen wir da? Weder die Gesellschaft
mit ihren Festlichkeiten noch die Familie mit ihren Verbrüderungen noch
der Konsens der Menge mit ihren Meinungen bezeugen irgend etwas, das
für einen Menschen religiös wesentlich werden könnte. Es ist eine unglaub-
liche Erfahrung: Sollte man sich nicht mindestens manchmal ausruhen dür-
fen in der Überzeugung, daß die Wahrheit Gottes, die Wahrheit des Reli-
giösen, zumindest gelegentlich in einem großen, kolonnenähnlichen Trab
unterwegs sein könnte? «Das Volk (Gottes) sind wir» – es ist fast die beste
und kostbarste Vokabel im heutigen Kirchendeutsch, aber vielleicht gilt
nicht einmal sie, wenn es darauf ankommt! Es geht nicht um die Menge, es
geht nicht um die Herstellung von (All)Gemeinheiten, es geht nicht um die
Etablierung von «Gemeinden». Alles, was da hin und her diskutiert wird,
ist null und nichtig im Grunde.
Oft hat man daran erinnert, wie vieles in der Person des Jesus von Na-
zaret dem athenischen Weisen Sokrates gleiche. Der in der Tat dachte
ähnlich: «Wenn du ein krankes Pferd hast», konnte er einmal sagen, «wen
fragst du dann? Die Leute auf dem Marktplatz? Die werden dir sagen: ein
gutes Pferd, ein schlechtes Pferd, und kein einziger wird dir wirklich hel-
fen. Natürlich wirst du mit dem Pferd zu demjenigen gehen, der etwas von
der Behandlung von Pferden versteht, zum Tierarzt. Und wenn du selber
krank bist, gehst du auch nicht auf die Straßen und fragst: Was ist mit mir
los?, daß dir die einen sagen: es ist gut mit deinem Magen, und die ande-
ren: es steht schlecht mit deinem Magen; – du wirst zu einem verständigen
Arzt gehen, damit er dich behandle.»2 – Ein einziger, der wirklich etwas
versteht, ist der Ausschlaggebende, nie die Menge. Dabei ging es Sokrates
nur um das Wißbare, nur um das Vernünftige, nur um die philosophische
Klarheit der Gedanken; bei Jesus indessen geht es um die Reinheit der Exi-
stenz, um das Sich-Klarwerden im Innersten der Person, um die völlige Un-
abhängigkeit von dem, was andere positiv oder negativ sagen könnten. Es
geht, mit einem Wort, um eine Freiheit, die einzig aus Gott kommt. Schon
also wer darauf schielt, wie etwas bei Menschen wirken werde, vertut das,
woraus die «Wirkung» religiös kommt. Im Unterschied zum Politischen

315
kann man religiös nichts «erreichen» wollen, nicht einmal die Vermensch-
lichung der Gesellschaft oder die Reform der Kirche, – entweder die Dinge
stimmen in sich selbst, oder sie fügen sich nicht und erreichen nicht das,
worauf es ankommt.
In dem Moment aber, da es für ihn stimmt, tritt Jesus nun doch vor die
Öffentlichkeit und beginnt im Tempel selbst, im Heiligtum, seine Lehre.
Jetzt erstaunen die Leute, wie denn Jesus es überhaupt wagen kann, von
Gott zu sprechen. Er hat doch nicht studiert! Er ist kein theologisch ausge-
bildeter Rabbi!
Auch das mag ein Stück weit historisch korrekt im Johannes-Evange-
lium überliefert sein: Jesus war kein ausgebildeter Rabbi; er hat nie eine
ordentliche Ausbildung erhalten, die ihn zum Experten in den Fragen nach
Gott gemacht hätte, entsprechend der Tradition und der Gelehrsamkeit
seines Volkes; der Mann aus Nazaret war in allem, was er tat und sagte,
ein Autodidakt. Aber genau das wird jetzt das Thema. «Wie? Der? Die
Schriften kennt er, ohne Ausbildung? Woher hat er das nur, was er da
sagt?»
Es wäre so einfach, wir hätten in Theologie und Weisheitslehre nichts
weiter nötig, als daß bestimmte Leute weitergäben, was man ihnen vorge-
sprochen hat. Schon Arthur Schopenhauer konnte mit dem existentiel-
len Ernst des Sokrates in seiner Arbeit über die Universitätsphilosophie
voller Zorn die Meinung vertreten, es sei überhaupt nicht nötig, daß man
in jedem größeren Ort eine Universität halte, an welcher man einen philo-
sophisch ausgebildeten Schwätzer anstelle; es genüge, die Hauptgedanken
der Philosophiegeschichte von Thales bis Kant innerhalb von zwei Seme-
stern vorzutragen3, denn ein wirklicher Philosoph lerne seine Wahrheit in
der Dringlichkeit seiner Fragestellungen und in der Offenheit der Pro-
bleme, die sich immer wieder stellten: Warum sind Menschen so grausam?
Das war eine der Fragen Schopenhauers. Aber das Hersagen von: der hat
das gesagt, und der hat das gesagt, und dann ist dieser geboren worden,
und dann ist jener gestorben – das hat mit Weisheit nichts zu tun.
Und entsprechend nun gefragt: Wie sollte Theologie gelehrt werden?
Nach der Art des Auswendiglernens? Da wird «Gott» studiert mit der
Aussicht auf irgendein Pöstchen, der Lehrstoff wird zusammengeschnitten
auf die entsprechende Fachprüfung hernach, und dann berät eine Kommis-
sion, ob der Prüfling die Prüfung auch bestanden hat; zum Schluß reicht
man ihn an das Generalvikariat weiter für seinen Amtsantritt4. Von dieser
Art war Jesus nie. Woher hat er’s? fragen die Leute und rätseln herum.
Was ist der Grund seiner Beglaubigung?

316
Noch einmal: Hielte der Mann aus Nazaret sich treu an das, was die
Tradition sagt, so wäre und bliebe er ein Festtagsprediger beim Laubhüt-
tenfest, – und man würde ihm «glauben»! Hätte er sich erwiesen als ein
guter Kumpel und Gesell schon in Nazaret und erschiene er, gleich einem
Kometen um Mitternacht, nun ebenso launig in Jerusalem, – auch das
würde Eindruck machen. Spielte er auf der Leier der Menge flotte Weisen,
– man ließe sich’s gern gefallen. Redete er über Gott nur das, was alle an-
deren ohnedies reden, weil sie so sprechen müssen – auch da wäre nichts
an ihm auszusetzen. Das wäre die Welt. Aber genau von ihr sagt Jesus:
«Alles, was sie tut, all ihre Werke sind böse»; das heißt, die Menschen in
ihr sind selbstverloren, verzweifelt, blind, unfähig, zu sich selber zu finden.
Man könnte im Sinne der Masse den Vorwurf noch erweitern: Wenn
Jesus schon so auftritt, ohne jede Rücksicht auf die Zustimmung der
Leute, ist er dann nicht im Grunde ein reiner Narziß, jemand, der lediglich
sich selber gelten läßt und alle anderen bedenkenlos beiseite schiebt? – Es
gab um die Wende zum 20. Jh. in der Tat medizinische Gutachten, die
Jesus für einen Wahnsinnigen erklärten, genau aus diesem Grunde. Je-
mand, der so auftritt wie Jesus im Johannes-Evangelium, muß in gewissem
Sinn verrückt sein. Er zersprengt in maßloser Selbstüberschätzung alles,
wovon Menschen für gewöhnlich leben. Es war Albert Schweitzer, der
darauf hinwies, daß man das Johannes-Evangelium nicht «historisch»
lesen darf und daß man den Mann aus Nazaret sicher nicht als einen psy-
chiatrischen Fall verstehen kann5. Wie aber versteht man ihn dann?
Der Hinweis, den der johanneische Jesus an dieser Stelle selber gibt, ist
sehr fein, fast nur erst eine zaghafte Andeutung für jeden, der es begreifen
möchte. Meine Lehre, sagt er, ist nicht die meinige, sondern dessen, der
mich gesandt hat. Doch dann plötzlich kehrt er’s um: die Vorbedingung
dessen, was er sagt, liege darin, den Willen Gottes zu tun; wer sich auf
Gott beziehe, werde augenblicklich merken, von wem er, Jesus, wirklich
komme. Das ist eine Probe auf die Wahrheit Gottes, wie man sie in Gott-
hold Ephraim Lessings schon erwähntem Drama Nathan der Weise fin-
det: Welch ein Mensch kann auftreten und sagen: «Ich spreche von Gott»?
Woran will man erkennen, daß es sich so verhält? Die Antwort kann nur
lauten: Einzig wer sich bemüht, die Liebe zu leben, wird finden, was von
Gott gesprochen ist und was nicht. Nur aus dem Zentrum der Liebe lernt
man, Menschlichkeit zu schätzen und richtig einzuschätzen. Sie ist der
Maßstab; von ihr her begreift sich alles. Ganz entsprechend denkt Jesus
hier: Wer sich wirklich auf Gott bezieht, der wird ihn, den Mann aus Na-
zaret, in allem verstehen; niemals redete und lehrte Jesus, um sich zwischen

317
die Menschen und Gott zu stellen, sondern im Gegenteil: um die Menschen
unter den Augen Gottes zu sich selber zurückzuführen.
Kaum fällt das Stichwort «den Willen Gottes tun», kommt Johannes wie
naturnotwendig auf das Gesetz des Mose zu sprechen. Darin, so der jüdi-
sche Glaube, ist der Wille Gottes kodifiziert. Wenn es um Gottes Willen
geht, so wissen alle Gottesstellvertreter von Amts wegen, hat man be-
stimmte Gesetze, bestimmte Verordnungen, bestimmte Anweisungen zu
beachten. Wer diese erfüllt, wer die Gebote hält, der wird ohne Zweifel bei
Gott sein. – Doch der johanneische Jesus erklärt seinen Gegnern, daß sie
mit diesem Denken nicht einmal Mose wirklich verstehen. Ist denn das so
klar: Man erreicht Gott, wenn man einfach tut, was das Gesetz verordnet?
Ist man dann wirklich in Ordnung? Kann es nicht sein, daß man im Leben
mitunter Sachen machen muß, welche die Gesetze in ihrem Wortlaut zer-
treten, um auf diese Weise wenigstens ihren Inhalt zu erfüllen? «Wenn es
doch so einfach wäre», schrieb Hermann Hesse einmal, «nur den Geboten
zu folgen, und man wäre im Guten!»6 – Es ist oft nötig, Dinge zu tun, die
den Geboten geradewegs ins Gesicht schlagen, um Menschen aufzuhelfen!
Jesus greift, um ein Beispiel zu geben, noch einmal zurück auf die Szene
aus dem 5. Kapitel des Johannes-Evangeliums, als er den Gelähmten ausge-
rechnet am Sabbat geheilt hat. «Das darf man nicht!» haben sie ihm entge-
gengeschleudert. Am Sabbat einen Menschen heilen nach Art eines Arztes,
das ist verboten! Es ist ein Stück schriftgelehrter Diskussion, die da statt-
findet, wenn das Johannes-Evangelium entgegnet: Aber die Beschneidung
durchzuführen, das darf man auch am Sabbat, damit jemand in das Volk
der Erwählung eingegliedert wird. – Diese Argumentation möchte ein be-
stimmtes Gesetz widerlegen, indem sie ein anderes geltend macht; das rela-
tiviert den moralischen Anspruch, aber sehr viel weiter führt es noch nicht.
Was der johanneische Jesus in Wahrheit meint, ist indessen eine formale
Aufhebung des gesetzlichen Denkens insgesamt. Wenn es um die Rettung
eines Menschen geht, so hilft nichts weiter als Barmherzigkeit und Ermuti-
gung zum Leben, frei von jeder Gesetzesvorschrift. Was Menschen leben
läßt, ist nicht eine Ordnung von draußen, sondern eine Begegnung in Ver-
ständnis. So voller Güte waren seine Augen am Teich von Betesda, als er
unter all den Kranken, die da lagen, augenblicklich den einen sah, der so
viele Jahrzehnte dort verkrümmt und verhockt gelegen hatte, und er redete
ihn an (Joh 5,6-8).
Wann ist da etwas reif? Wann ist es die rechte Zeit? Im Kalender kann
stehen: «Es ist nicht die rechte Zeit, es ist Feiertag»; es kann aber sehr
wohl trotzdem an der Zeit sein, weil man einen Menschen nicht auch nur

318
eine Stunde länger noch leiden lassen darf, wenn es möglich ist, ihm zu
helfen. Und womöglich ist dies oft schon seine ganze Rettung, daß auch er,
wie in der Heilung des Gelähmten am Teich von Betesda, nicht länger
mehr auf all das hört, was die anderen wollen und längst schon über ihn
festgesetzt haben, sondern daß er den Mut gewinnt, geradeaus in sein eige-
nes Leben zu gehen.
«Das habe ich getan», erklärt sinngemäß Jesus, «einen Menschen geret-
tet am Sabbat; und jetzt erklärt ihr mir einmal, was der Wille Gottes ist:
Gott ruhe am Sabbat, sagt ihr, denn er habe gesehen, daß die Welt gut
war; so stehe es geschrieben (Gen 1,31; 2,3). Ich aber frage: Könnte Gott
denn wirklich ruhen, wenn er sähe, daß in seiner ‹guten› Welt Menschen
leiden müßten, nur weil andere es nicht wagten, hilfsbereit zu sein?» An-
ders ausgedrückt: Wäre es denn möglich, daß Menschlichkeit und prakti-
sche Nächstenliebe eine Art Ruhestörung für den Allmächtigen bedeuten
würden? Er, der Allgütige, behielte nach wie vor seine Gelassenheit,
während er den Gequälten in ihrer menschlichen Not zusähe? Wie pervers
kann man eigentlich über Gott denken? Gott fände nichts dabei, seinen
Frieden zu haben, wenn nur alles seinen von den Gesetzen geregelten Gang
ginge? Und er grollte gar den Menschen als Störenfrieden, die sich über die
Sabbatordnung hinwegsetzen, um einen Menschen zu heilen? – «Ihr», er-
klärt Jesus indirekt, «habt von Mose gar nichts begriffen. Was ihr vortragt,
ist kein Urteil, das wirklich gilt, sondern ihr urteilt rein äußerlich nach
dem Augenschein.»
Eine solche Diskussion zwischen Jesus und den «Juden» über die Rolle
des Gesetzes stellt Johannes sich in aller Öffentlichkeit vor. Insofern muß
man sich hier schon fragen, ob die Gegensätze, die in diesem Gespräch
auftauchen, nicht tatsächlich auf eine tödliche Zuspitzung hinauslaufen.
Warum geschieht es nicht jetzt schon, daß man Jesus verhaftet und hin-
richtet? Erstaunlich ist die Begründung, warum man so nicht tut: Da geht
die Frage hin und her, ob nicht inzwischen sogar die geistlichen Führer der
«Juden» begriffen haben müßten, er könne doch unter Umständen wirk-
lich der von Gott gesandte Messias, der Christus, sein. Aber selbst bei die-
ser Frage, noch ein letztes Mal, stellt sich die Alternative zwischen nur
äußerer Kenntnisnahme und wahrhaftigem innerem Begreifen. «Der Chri-
stus aber, wenn er kommt», sagen die Leute, «niemand weiß da, woher er
ist; er wird gesandt von Gott, er fällt gewissermaßen wie ein Stein vom
Himmel auf die Erde; aber von diesem kennen wir, woher er ist.» Fast
schließt sich da der Kreis. Von diesem kennen wir, woher er ist, das heißt:
wir kennen seinen Geburtsort, wir kennen seine Familie, wir kennen seine

319
Biographie, wir kennen so ziemlich alles, was beim Einwohnermeldeamt
und bei anderen Instanzen von Interesse ist; die ganze bürgerliche Außen-
seite ist uns bekannt; also kann er der Messias nicht sein. In der Tat: diese
Art von Kenntnisnahme hält einen Menschen im Griff. Da ist er nichts
weiter als alle anderen auch, heruntergedrückt zum ganz Gewöhnlichen,
Normalen, Allgemeinen; nichts Persönliches, nichts Individuelles, nichts
einzigartig Großes kann auf diese Weise zum Vorschein kommen. Jesus
ironisiert diese Anschauung geradezu: Ja, mich kennt ihr und kennt auch,
woher ich bin, bestätigt er, nur um zu sagen: «Ihr begreift gar nicht den
Grund meiner Existenz. Nichts, was ihr von außen über das Leben eines
Menschen in Erfahrung bringt, verrät euch auch nur ein wenig sein Ge-
heimnis.» Und laut sogar ruft er dabei: Von mir bin ich nicht gekommen,
sondern es gibt einen Wahrhaftigen, der mich gesandt hat, den ihr nicht
kennt. – Würden Menschen, ein Stück weit zumindest, während ihres Le-
bens etwas von Gott in ihr Dasein hineinlassen: von seiner Wahrheit, sei-
ner Güte, seiner Menschlichkeit, so würden sie alles in der Person des Jesus
von Nazaret wiederfinden, und sie würden begreifen: Gott bildet in seinem
Leben die Grundlage, die Basis, den Ausgangspunkt von allem. Von daher
ist Jesus gekommen.
Warum lebt ein Mensch? Sehr bitter hat einmal Jean-Paul Sartre in
seinem Roman Der Ekel gesagt: aus Angst vor dem Tod und aus
Schwäche, das Leben zu enden7. Wenn ein Mensch so dahinlebt, ist er
nichts weiter als ausgestreut an die Zeit, sich durch Nahrung am Leben
haltend in der Zeit und sehr bald vergehend mit der Zeit. Nichts hat da
Grund und Bestand, besitzt da Verläßlichkeit und Würde. Aber all dies
gilt, wenn Jesus sagt: «Ich kenne ihn, denn von ihm bin ich, und er hat
mich gesandt, und ihn zu bringen ist meine Mission.»
Man hat über Gott gesprochen in Festgemeinschaften und bei Familien-
feiern, in großer Menge und vor allem Volk, autorisiert von den Rabbinen-
und Katechetenschulen, – doch all das ist nicht gemeint und kann nicht ge-
meint sein. Hingegen ein einziger Mensch, der sich wagt und findet in sei-
nem Innersten eine Antwort auf die Frage: «Wofür denn bin ich?», der
schafft einen Ausgangspunkt für alle anderen – allerdings einen gefährli-
chen Ausgangspunkt, fast einen tödlichen; denn er stellt so unsäglich viel
in Frage, er provoziert derart enorm. Man stelle sich nur einmal vor, die
Rede von Gott ginge primär gar nicht mehr darum, ob man die Menschen
zu Tausenden oder zu Millionen zusammenführen und organisieren solle,
angesprochen wäre nur jeder Einzelne in seiner eigenen Not, in seinem
eigenen Fragen, – so bräche die gesamte Fassade der etablierten Frömmig-

320
keit zusammen! Dafür aber fühlte ein jeder Einzelne sich umfangen, ge-
liebt, bestätigt und aufgerichtet, er wäre von seiner «Gelähmtheit» geret-
tet, und es würde sein Leben ein nicht endender Feiertag, ein wirklicher
Sabbat Gottes. Denn aus der Stille und der Ruhe seines Lebens heraus ge-
schähe fortan alles, was irgendwann vielleicht auch nach außen hin groß
erscheinen mag, aber doch nur, weil es nie hat glänzen wollen.
Ein weiteres Wallfahrtslied Israels, der Psalm 121, ist wie eine Zusam-
menfassung des Gesagten und wie ein Trost auch gegen die Angst vor dem
Tod. Die «Juden» kommen noch nicht, sie wagen’s noch nicht, ihn festzu-
nehmen und wegzuschleifen! Noch gibt es einen heiligen Kreis, einen Be-
reich unsichtbaren Schutzes, der zumindest jetzt noch Jesus trennt von sei-
nen Gegnern und Verfolgern. All die «Werke», die er bereits getan hat,
zeigen doch längst: mehr könnte auch der Messias nicht tun! Es sind ge-
rade die Werke, die Menschen ermutigen, selber zu leben in dem Gefühl,
geborgen zu sein in Gott. So dieses Wallfahrtslied.
Der Psalm 121 lautet (in eigener Übersetzung):

Mein Blick geht hinauf zu den Bergen;


von wo meine Hilfe kommt.
Meine Hilfe kommt nur vom Herrn,
der Himmel und Erde erschafft.

Er wird deinen Fuß nicht unsicher lassen;


er schläft nicht, der dich behütet.
Nicht schläft er, nicht ruht er, der Israel schützt.

Der Herr – dein Beschützer,


der Herr – dein Schatten zu deiner Rechten.

Tags schlägt dich nicht die Sonne,


nicht der Mond in der Nacht,
der Herr beschützt dich vor allem Bösen,
er beschützt deine Seele.

Der Herr beschützt dein Kommen und Gehen,


jetzt und in Ewigkeit.

321
Joh 7,32–53a: Der unerreichbare Standpunkt
32Es hörten die Pharisäer die Leute murmeln über ihn derart;
da sandten die Hohen Priester und die Pharisäer Diener aus,
daß sie ihn verhafteten. 33Gesagt hat da Jesus: Noch kurze Zeit
bei euch bin ich, dann gehe ich fort zu dem, der mich gesandt
hat (13,33). 34Ihr werdet mich suchen und nicht finden, denn
wo ich bin, könnt ihr nicht kommen (8,21). 35Gesagt haben da
die Juden (die Gottesbesitzer) zu sich: Wohin will der (schon)
gehen, daß wir nicht ihn finden werden? Etwa in die griechi-
sche Diaspora will er gehen und die Griechen lehren? 36Was ist
das für ein Wort, das er da sagt: Ihr werdet mich suchen und
nicht finden, denn wo ich bin, könnt ihr nicht kommen?
37Am Letzten Tag aber, dem Großen des Festes (Lev 23,36),

stand Jesus da, und laut und deutlich erklärte er, er sagte: Wenn
jemand dürstet, der komme zu mir, und trinken soll, 38wer auf
mich vertraut: wie die Schrift gesagt (Jes 58,11): Ströme aus sei-
nem Leib werden fließen von lebendigem Wasser (4,14; Jes 55,1;
Offb 22,17). 39Das aber hat er gesagt über den Geist, den emp-
fangen sollten die auf ihn Vertrauenden; noch nicht nämlich war
da Geist, weil Jesus noch nicht verherrlicht war (16,7). 40Einige
aus den Leuten nun, die gehört hatten diese Worte, sagten: Der
ist wahrhaftig der Prophet (6,14). 41Andere sagten: Der ist der
Christus (Messias). Andere aber sagten: Nicht doch! Aus Ga-
liläa soll der Christus kommen (1,46)! 42Hat nicht die Schrift
gesagt, aus dem Samen Davids (Mt 22,46) und von Betlehem
(Mi 5,1; Mt 2,5.6), dem Dorf, wo David war, kommt der Chri-
stus? 43Ein Zwiespalt also entstand unter den Leuten seinetwe-
gen (9,16). 44Einige aber wollten von ihnen ergreifen – ihn, doch
niemand legte an ihn die Hand.
45So kamen also die Amtsdiener zu den Hohen Priestern und

Pharisäern, und es sprachen zu ihnen diese: Warum nicht habt


ihr ihn hergebracht? 46Geantwortet haben die Amtsdiener:
Noch nie hat geredet so ein Mensch (Mt 7,28.29; Mk 1,22)!
47Geantwortet haben da ihnen die Pharisäer: Nicht doch! Auch

ihr seid irre geführt? 48Nein, wer von den Anführern hat denn
zum Vertrauen gefunden auf ihn, oder von den Pharisäern?
49Aber diese Leute, die keine Kenntnis haben vom Gesetz, –

verflucht sind sie! 50Spricht Nikodemus zu ihnen, der gekom-


men war zu ihm früher (schon mal) (Joh 3,1f.), er war einer
von ihnen: 51Nicht doch! Unser Gesetz sollte einen Menschen
richten, ohne ihn zuerst anzuhören und zu erfahren, was er
getan (Dtn 1,16)? 52Geantwortet haben sie und ihm gesagt:
Nicht doch! Auch du? Aus Galiläa bist du (etwa auch)? For-
sche und sieh, daß aus Galiläa ein Prophet nicht erweckt wird.
53aUnd sie gingen ein jeder nach Hause.

322
Das 7. Kapitel des Johannes-Evangeliums enthält eine lange Auseinander-
setzung zwischen Jesus und «den Juden», sagen wir: zwischen Jesus und
den «Gottesbesitzern»; hinter dieser historisch bedingten Kontroverse am
Ende des 1. nachchristlichen Jahrhunderts verbirgt sich im Grunde ein zeit-
loses Ringen um das rechte Verstehen dessen, was Jesus eigentlich in diese
Welt bringen wollte. In mehreren Lagern, in mehreren Richtungen wird da
gesucht, gestritten, einander der gegenseitige Standpunkt vorgeworfen,
doch schaut man genau hin, sind die Themen, um die es dabei geht, immer
wieder dieselben, nur zerlegt in verschiedene Aspekte. Anders gesagt: In
stets dem gleichen Prisma erreicht uns das weiße Licht der Gottheit, das
Jesus in diese Welt werfen wollte, nur gebrochen, in einem bunten Kaleido-
skop einander widersprechender, manchmal ergänzender Farben. In diesen
verwirrenden «Spektralfarben» der Wahrheit liegt die Chance einer wich-
tigen Erkenntnis: durch einen Text wie diesen hätte man schon seit zwei-
tausend Jahren wissen können, wie groß die Kluft sein muß und immer
wieder sein wird, die Religion und Politik voneinander trennt.
Vermutlich gehört es zum Typ des Führers, des Gestalters, des Machers,
daß er sich nicht fragen darf, was etwas in sich selbst bedeutet, worin die
Wahrheit eines Menschen beziehungsweise eines bestimmten individuellen
Lebens liegt, sondern daß er sich fragen muß, was aus bestimmten Gedan-
ken für den Zusammenhalt der Gruppe, der er vorsteht, sich ergibt. Kaum
hören in Jerusalem die führenden Kreise, die «Pharisäer», die «Hohen Prie-
ster», was da unterschwellig im Volke über den Mann aus Nazaret für An-
sichten ausgetauscht werden, leise noch erst, murmelnd im Untergrund,
verschwiegen noch aus Angst vor der Reaktion der religiösen Autoritäten,
da ist für sie doch schon der Zeitpunkt gekommen, da es in ihren Augen
gilt, zu handeln, das heißt, festzustellen, festzuschreiben, festzusetzen, –
mit anderen Worten: zu verhaften. Da droht in ihren Augen in der Person
Jesu etwas zu beginnen, das sich ihrem Zugriff entziehen könnte, und also
müssen sie unverzüglich zugreifen. Sollte das Volk mit eigenem Urteil zu
der Entscheidung gelangen, der Botschaft des Mannes aus Nazaret hafte
Göttliches an, so bedeutete das für sie den Verlust ihres Einflusses und
ihrer Herrschaft, und ehe dies sei, unterliegen sie förmlich der Pflicht, im
Interesse des Volkes, dem sie Rechenschaft schulden, allen möglichen Tur-
bulenzen im voraus, entsprechend also dem Kalkül ihres Machterhalts,
den Mann aus Nazaret in ihre Gewalt zu bringen und damit jeder Art von
Unruhe zuvorzukommen. Ein solches Denken entspricht nicht unbedingt
schon bösem Willen; es entspricht einfach der Art, innerhalb der Katego-
rien politischen Handelns zu definieren, was Verantwortung sei.

323
Klarer allerdings kann die Differenz in den Zielsetzungen zwischen
Jesus und diesen «Anführern» nicht bestimmt werden: Erhält man eine be-
stimmte Struktur und Ordnung, ein bestimmtes Gefälle der Macht, be-
wahrt man sich seine Herrschaft, oder stellt man sich die Frage, was ein
bestimmter Mensch in seiner Person zu sagen hat, und sei es im Namen
Gottes? Zwischen beidem muß man wählen wie zwischen Leben und Tod,
wie zwischen Sein und Nichtsein, in johanneischer Sprache: wie zwischen
Welt und Gott, wie zwischen Durst und Quelle, wie zwischen Schatten und
Licht – ein absoluter Kontrast. Der johanneische Jesus tut dabei nicht das
geringste, diesen Widerspruch zu vermitteln und Brücken über den Ab-
grund zu schlagen, ganz im Gegenteil: Er steht an der einen Seite des Ufers,
und er markiert lediglich im Kontrast nur um so deutlicher, wo er steht, –
in seiner Person unfaßbar, auch für die Mittel der Macht nicht erreichbar;
doch das wird sich noch zeigen. Geistig indes gilt schon an dieser Stelle:
Wo ich bin, wohin ich gehe – im Grunde auch: wohin ich mich schon
immer begeben habe –, dorthin könnt ihr nicht kommen und werdet ihr
nicht kommen. Für seine gegnerischen Hörer ist dies eine Aussage, die ge-
rade so viel meint wie: er wird sich durch Flucht in den Tod unseren tödli-
chen Händen entziehen; er wird gewissermaßen einen Ort suchen, der in
seiner Freiheit unangreifbar ist, indem er das Urteil seiner Hinrichtung
freiwillig vorwegnimmt.
So etwas, tatsächlich, ist eine menschliche Möglichkeit. Es kann das
Leben so unerträglich werden, daß Menschen den letzten ihnen verbleiben-
den Ausweg aus der Gefangenschaft ihrer irdischen Existenz wie nach
rückwärts wählen: sie möchten zurück an den Ort, von dem sie gekommen
sind. Es ist möglich, daß ein Mensch gerade auf diese Art Gott zu finden
versucht. Viele Depressive gibt es, die das Leben in seiner Last abschütteln
möchten. Alle anderen erleben sie wie vom Schicksal bestellte Aufseher,
wie Kerkerwächter, wie Scharfrichter, und sie gehen unter ihren Augen,
unter dem Spalier ihrer richtenden Worte, tagaus, tagein so preisgegeben,
so ausgesetzt und so hilflos, daß sie nur noch den Wunsch in sich tragen,
irgendwohin zu gelangen, wo das Leben gütiger sei und milder. Wie viele,
die sich in den Tod stürzen oder die leise fortgehen aus dem Leben, möch-
ten im Grunde nur springen oder sich hineinwerfen in die Arme Gottes,
der sie nachsichtiger umfangen möge, wärmer, verstehender, menschlicher
als die Mehrzahl der Menschen.
Es ist eine üblich gewordene Lehre insbesondere der römischen Kirche,
daß kein Mensch das Recht habe, über sein Leben zu entscheiden; das, was
man den Freitod nennt, hat die Kirche seit eh und je bis in ihre jüngsten

324
Verlautbarungen hinein für eine Anmaßung und Vermessenheit des Men-
schen erklärt, für eine äußerste Sünde mit erhobener Hand. Kein Mensch
dürfe bestimmen über sein Leben, so die klare Doktrin. Aber tut denn das
wirklich jemand, der verzweifelt ist und nicht findet, was er zum Leben
braucht, nicht unter den Menschen, nicht auf dieser Erde? Ist es da mög-
lich, von außen her zu sagen, selbst diesen Gnadenweg der Natur gelte es
mit scharfem Gebot im Namen Gottes dem Menschen zu verstellen? Selbst
wenn die Kirche offiziell Verständnis für Menschen auf der Grenze zu
haben scheint, tut sie es so, daß es die Betreffenden kaum erreicht. Soge-
nannte Selbstmörder, die sich dorthin begeben, wo sie nicht erreichbar sind
für den Zuspruch der Außenstehenden, mögen kirchlich inzwischen wohl
doch beerdigt werden, aber nur unter der Schutzbehauptung, daß sie see-
lisch krank gewesen seien, unfrei also in ihren Entschlüssen, psychisch de-
rangiert mit anderen Worten. Was der Kirche sehr schwerfällt, ist offen-
sichtlich die Anerkennung gerade dieses tragischen Zwischenraums, daß
Menschen, wohl wissend, was sie tun, ganz einfach einen Schlußstrich zie-
hen, eine Art Bilanz, die ihnen zeigt, daß sie endgültig diese Welt nicht län-
ger ertragen noch vertragen. Friedrich Nietzsche etwa forderte, es sollte
uns der letzte Tag sein wie ein Feiertag, wie ein Freudenabschied vom
Leben1. Es läßt sich an dieser Stelle nur andeuten, daß wir eine völlig ver-
änderte Kultur hätten, würden die Menschen vor dem Tod keine Furcht
mehr haben, weil sie selbst bestimmen dürften, wann sie ihn zu sich riefen.
Gefährliche Gedanken sind das, jenseits der moralisch verfügten Angst.
In Dostojewskis großem Roman Die Dämonen wird einmal ein Mann
geschildert, der immer wieder von der erdrückenden Angst vor dem Tod
und der zu dichten Gefügtheit der Welt gepeinigt wird; grübelnd in sich
versunken gelangt Kirillow zu der Überzeugung: «Ein Mensch hat nicht
Angst vor dem Tod, sondern nur Angst vor dem Schmerz. Da ist ein Stein
an der Kante des Felsens, und er könnte dich treffen. Die Angst vor dem
Schmerz macht den Menschen zum Sklaven. Wer sie überwindet, ist frei,
ist Gott selbst.»2
Was hier «die Juden» Jesus zutrauen, ist eine solche Art der Selbstver-
gottung durch die Wahl des Zeitpunktes des eigenen Todes. So etwas, noch
einmal, ist eine menschliche Möglichkeit, nur liegt sie weit weg von dem,
was in Jesus in diesem Moment wirklich vor sich geht. Er deutet an, daß
ihn gerade nicht die Angst vor irgend etwas bestimmt, sondern daß er alle
Art von Angst überwindet durch ein Vertrauen, das für jedes Kalkül unbe-
greifbar und also auch unangreifbar ist. Ihrem Beschluß, ihn zu verhaften,
setzt er die Absolutheit seines Standpunktes gegenüber, gegründet in einer

325
Selbstgewißheit, die einzig bei Gott steht: Mögen sie doch tun, was sie
wollen, es geht ihn im wesentlichen nichts an. Mögen sie Beschlüsse fassen,
wes Inhalts auch immer, es wird das, was er meint, nicht einmal von wei-
tem gefährden!
Das ist der Unterschied im Prinzip, eine divergierende Weichenstellung
im Endgültigen. Alles politisch kalkulierende Denken wird sich fragen,
was bei bestimmten Handlungen, bei bestimmten Gedanken in der Öffent-
lichkeit erreicht wird, was damit bewirkt werden kann, was dabei an Risi-
ken entstehen könnte; – ein religiöser Mensch wird sich einzig und allein
fragen, was etwas in sich selbst ist, ob es wahr ist oder falsch, ob es
menschlich so stimmt oder nicht. Alles andere verschwindet dahinter. Es ist
der Eindruck einer unbedingten Forderung, die das Religiöse gestaltet, im
Widerspruch zu all den taktischen Finessen der Verwaltung des Opportu-
nen. Religion gründet geradewegs im Festmachen an diesem einen uner-
reichbaren Ufer, und schon deshalb ist sie (im Ideal) für alle äußeren Be-
stimmungen unzugänglich. Es gilt, etwas in einem Vertrauen zu leben, das
unbedroht ist durch alle Wechselfälle.
Das Johannes-Evangelium muß sich vom Judentum bereits weit entfernt
haben, wenn es, in Reaktion darauf, «die Juden», die Anführer des Volkes
in Jerusalem, mutmaßen läßt, ob er, Jesus, sich ihnen entziehen wolle,
indem er in die griechische Diaspora ausweiche, um dort seine Gedanken
vorzutragen. Dahinter steht, daß das Johannes-Evangelium selber wohl aus
der griechischen Diaspora stammt. Dort wird man Jesus die Heimat geben,
die ihm im orthodoxen Judentum religionsgeschichtlich gesehen verweigert
wurde; doch kein Ortswechsel ist hier gemeint, eher der Übergang in ein
anderes Denken, und zwar im wesentlichen nicht religionsgeschichtlich,
nicht kulturgeschichtlich, vielmehr geht es um einen Wechsel in der Exi-
stenz auf ein Neues zu. Ihr werdet mich suchen und nicht finden, sagt
Jesus, denn wo ich bin, könnt ihr nicht kommen. – Da fragen die Leute:
«Was ist das für ein Wort, das er sagt: Ihr werdet mich suchen und nicht
finden?» Es ist damit die entscheidende Frage gestellt: Wie findet man
dorthin, wo Jesus steht? Wie erreicht man eine Identität mit seinem Stand-
punkt? Wie gewinnt man seine Haltung des Vertrauens im Unbedingten?
Am letzten Tag aber, dem Großen des Laubhüttenfestes, stand Jesus da,
und es ist wie seine Antwort auf eben diese Frage, wenn er laut rufend
sagt: Wenn jemand dürstet, der komme zu mir, und trinken soll, wer auf
mich vertraut. – Das sind zwei Seiten ein und derselben nach Art eines
Angebotes formulierten Antwort.
Die erste: es geht um wirklichen Durst, doch in anderer Form als im

326
Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4,1-42). Das Hintergrund-
thema hier ist nicht die Liebe, sondern die Macht. Solange jemand im
Sinne der Anführer des Volkes es zum Kerninhalt seines Programms er-
hebt, so weiterzumachen wie bisher, darf er wirklichen Durst nicht zulas-
sen. Alles, was in einem Menschen aufbrechen könnte in einem noch nicht
gesättigten Verlangen, wird ein Verwalter und Sachwalter des Bestehenden
als Gefahr für sich selber betrachten. Religion aber ist wesentlich dieses
Gespür eines Durstes, der nie aufhören wird. Alle Religion besteht in der
Erklärung, daß es im Menschen einen Durst, einen Hunger gibt, den man
mit nichts Irdischem wird stillen können. Genau in diesem Verlangen nach
etwas, das so noch nie gesagt wurde, aber unbedingt gesagt werden müßte,
gründet alle Religion.
Es war 500 v. Chr. die Entdeckung am Königshof von Nepal, die ein
junger Prinz, Siddharta Gautama, machte, daß ein Mensch mitten in ver-
ordnetem Glück, mitten in wohlgesättigtem Reichtum, mitten in einer
durchorganisierten Sorglosigkeit sitzen könne, er selber von königlichem
Rang, von königlichem Gepränge und Gepräge, und er wisse bei all dem
immer noch nicht, was ein wirklicher Mensch sei. Die buddhistische Le-
gende erzählt, daß bei der Geburt des jungen Königssohns dem Vater
Suddhodana aus dem Munde des alten Sehers Asita geweissagt wurde, die-
ses Kind, das, ähnlich der christlichen Weihnachtslegende, jungfräulich aus
der Vermählung der Königin-Mutter mit der ziehenden Wolke am Himmel,
mit dem weißen Elefanten, hervorging, werde selbst eine Verbindung zwi-
schen Himmel und Erde darstellen: es werde groß sein, was immer es tue,
aber es müsse selbst wählen, ob es groß sein wolle im Reiche der Macht als
Herrscher der irdischen Welt oder ob es groß werden wolle im Reiche der
Religion zur Befreiung der Menschen. Siddharta Gautama, dem die
Wirklichkeit des menschlichen Lebens zu sehen vorenthalten wurde im
Palast von Kapilavastu, soll nach der buddhistischen Legende mit seinem
Wagenlenker Chandaka eines Tages hinausgefahren sein in die Stadt und
dabei ansichtig geworden sein der Realität unseres vergänglichen Daseins:
seiner Armut und Armseligkeit, seiner Kränklichkeit und Gebrechlichkeit,
seiner Bestimmung zu Alter und Ohnmacht sowie der bitteren Unaus-
weichlichkeit des Todes. Der junge Prinz soll darüber derart erschrocken
gewesen sein, daß eine tiefe Angst von ihm Besitz ergriff; doch was er
fühlte, war die Angst aller Menschen. Er verließ seinen Palast, um nie
mehr zurückzukehren, bevor er nicht des Menschen Sehnsucht, seinen
Durst nach einem Unendlichen an Ruhe und innerem Gleichmaß, gestillt
habe3. Wie antwortet man auf Armut, Krankheit, Alter und Tod?

327
Die Antwort des «Buddha», des zum erleuchtet Gewordenen in Bodh-
gaya, wird lauten: Wer den Durst verliert und nicht länger haftet an den
Dingen, der braucht keine Angst mehr zu haben, der spürt kein Leid mehr,
der wird eins mit dem All; er hört auf, in der irdischen Existenz, im Rad
der Geburten, immer von neuem hervorgebracht zu werden.
Es ist die vielleicht größte und weiseste Entgegnung, die auf den Da-
seinsdurst des Menschen je gegeben wurde. Sie ist das Gegenstück, viel-
leicht sogar die notwendige Ergänzung zu dem, was der johanneische Jesus
hier andeutet: Wenn jemand dürstet, sagt er, der komme zu mir. Mit die-
sem Wort möchte er antworten auf die Daseinsangst der Menschen, auf
ihren unersättlichen, unstillbaren Durst und Hunger, doch er hat zur Erwi-
derung offenbar nur seine eigene Person. Es ist in eine absolute Alternative
zu setzen: entweder alle Angst beruhigt sich, indem man jedes Begehren,
jedes Verlangen, jedes Wollen wie etwas staubhaft Beschmutzendes, wie
etwas Schädliches und Schändliches aus seiner Seele entfernt, oder umge-
kehrt: indem man die Nähe der Person eines anderen wie ein Mittel der
Reinigung, der Beruhigung, der Stillung von allem entdeckt. Entweder
die Vernichtung der Person oder ihre Verdichtung, eines von beiden wird
gelten.
Gerade so spricht hier der johanneische Jesus. Es ist die zweite Seite sei-
nes Angebots: Es gilt, diesen – sagen wir: buddhistischen – Durst zu ent-
decken und dann diese Unendlichkeit und Unabgegoltenheit der Sehnsucht
mit seiner Person zu verbinden! Wer das vermag, wird sich selber, wie es
die Schrift verheißt (Jes 55,1-3; 58,11), entdecken als den Anfang einer
neuen Quelle von lebendigem Wasser, das aus ihm entsteht. Johannes fügt
gleich wie zur Erklärung hinzu, Jesus habe hier hinweisend gesprochen von
dem Geist, der den auf ihn Vertrauenden aber noch nicht gegeben worden
sei, da Jesus noch nicht verherrlicht ward, das heißt in johanneischem
Sprachgebrauch: noch nicht durch seinen Tod hinübergegangen in die
reine Welt Gottes. Auch da gilt es offensichtlich, dieser Welt des Äußeren
zu sterben, um wahr zu werden in dem, woran der Mann aus Nazaret sich
in seinem Leben entscheidend festmachte.
Vielleicht läßt sich, was da gemeint ist, ein Stück weit nacherzählen
durch einen Film, der 1991 in den Vereinigten Staaten gedreht wurde.
Robert Redford hat unter dem Titel In der Mitte entspringt ein Fluß
über die Chiffre von strömendem Wasser auf seine Art nachgedacht. Er er-
zählt die Geschichte von zwei jungen Männern, den Brüdern Paul und
Norman, die unter der erzieherischen Aufsicht eines Pastors heranwach-
sen. Streng belehrt über die Bibel und über das Wort Gottes, entfalten sich

328
beide sehr unterschiedlich. Immer wieder kehren sie zurück an den Fluß,
auf dem sie als Kinder schon gemeinsam Boot gefahren sind und an dem
sie Fische gefangen haben. Aber der eine von beiden, Paul, eine Weile lang
am Ort als Journalist bei der Lokalzeitung tätig, wird nie etwas anderes
werden als ein guter Fischer; der andere hingegen, Norman, wird aufstei-
gen an einer ferngelegenen Universität zum Dozenten der Literatur. Sein
Bruder, ein Alkoholiker, ein Spielsüchtiger, wird von den Leuten des Dorfes
zusammengeprügelt werden und daran sterben. Seine rechte Hand wird
ganz zerfetzt sein, – immerhin: er hat sich gewehrt … Die erstaunte, er-
schrockene Frage stellt sich den Hinterbliebenen: Was war sein Leben? In
den Augen seines Bruders Norman formt sich aus der Gestalt eines schein-
bar so jung schon vergeudeten Lebens der Inhalt einer Art lebendiger Poe-
sie. «Ich sah», wird Norman eines Tages sagen, «daß er über den Gesetzen
der Welt stand; er war ein vollendetes Kunstwerk. Ich wußte, daß die Welt
kein vollendetes Kunstwerk ist und daß ein jeder Augenblick vergeht.»
– «Weißt du, wer er war?» wird sein Vater ihn fragen.
– «Ich weiß, er war ein guter Fischer.»
– «Du weißt noch mehr», wird der Vater sagen. «Er war wunderbar.»
«Alle Dinge», schreibt Norman im Rückblick auf das Leben seines Bru-
ders, «fließen zusammen, und aus ihrer Mitte entspringt ein Fluß. Seine
Quellen werden von einer großen Flut bedeckt; er aber fließt über die
Steine der Zeit. Auf manchen von ihnen bilden sich silbrig glitzernde Trop-
fen von Tau, doch unter den Steinen liegen die Worte, und manche von
ihnen verstehen wir. Mich aber zieht es zum Wasser.»
Da wäre es möglich, das Leben eines Menschen, der von uns gegangen
ist, so zu begreifen, daß es nicht aufhörte zu uns zu reden, und es wird in
uns, die wir es begreifen, zu einer neuen Quelle, die sich fortsetzt im Strom
der Zeit. Wir gewinnen Augen für eine Schönheit, die sich formt auf die
Ewigkeit hin, selbst wenn sie noch so flüchtig ist, und aus dieser Schönheit
und aus dieser Einsicht, daß ein Mensch aufblüht für einen anderen, voll-
zieht sich die Welt, gestaltet sich unser Leben jenseits der Angst, reift es
jenseits der Verstörungen. «Meine Kerze brennt an beiden Enden», wird
Norman sagen, «und sie wird diese Nacht nicht überleben; aber sie spen-
det meinen Freunden ein warmes Licht.»
Da dürften wir denken, die Person Jesu sei gerade so zu verstehen: er
nähme uns bei der Hand und führte uns an diese Stelle, an der alles zusam-
menfließt zur Mitte der Dinge, zu der Stelle, an welcher sie ihren gemein-
samen Ursprung haben, und alles würde ganz ruhig in uns, – ein tiefes Ge-
fühl, angenommen zu sein, geliebt zu werden; und eben darin: nicht zwar

329
alles zu erfassen und zu durchdringen, aber doch zu schauen und zu
ahnen, bildete sich diese Sphäre eines einfachen Seins, das sich mit der Per-
son des Jesus von Nazaret verbindet.
G. W. F. Hegel vor hundertachtzig Jahren, wenn er von Geist sprach,
betonte wie kein Theologe und Philosoph vor ihm, daß es nicht möglich
sei, etwas in seinem Wesen zu begreifen, ohne daß so etwas wie Trennung,
wie Tod, wie Zerbruch in dem Erkenntnisgegenstand eingetreten sei; alles
Unmittelbare, alles Sinnliche, alles in direkter Weise Aufgenommene bleibe
noch stehen an der Außenseite, es sei noch nicht Geist4. Bezogen auf die
Person des Mannes aus Nazaret ist es wohl stets wie der romantische
Traum einer noch ungeistigen, nur im Äußeren verhafteten Phantasie: man
würde so gerne bei ihm sein, man würde so gern an seiner Seite das Leben
verbringen, man würde mit dem Blick auf ihn so gern aus jeder Angst, aus
jeder Not sich hinwegheben lassen bis unter das Licht der Sterne; aber gei-
stig entscheidender noch, als aus der Quelle in äußerer Vermittlung zu trin-
ken, ist es, selber zur Quelle zu werden und die Worte Jesu so in sich auf-
zunehmen, daß sie von innen her stimmen. Es wäre ein zu Geringes,
wollten wir nur schauen auf ihn, wie er historisch wohl einmal war. Das
Entscheidende ist: zu werden wie er. Es kann nicht darum gehen, immer
wieder sich zu versichern: er hat gesagt, er hat getan, – es gilt, aus der glei-
chen Quelle zu schöpfen, aus der auch er trank. Das ist, Geist zu fühlen,
aus Geist zu leben: daß alle Dinge gelten, weil sie im eigenen Leben sich als
wahr zeigen und erweisen.
Gerade so spricht das Johannes-Evangelium über Jesus. Es zitiert nicht
den historischen Jesus von Nazaret, es führt nicht die Traditionen fort, die
es von ihm gibt, sondern es gestaltet alles, was er ist und verkörpern
könnte, noch einmal neu. Und so beschreibt der johanneische Jesus, was
Glauben ausmacht: zu leben aus dem gemeinsamen Ursprung. Den in sich
zu spüren bedeutet, Jesus zu (er)kennen.
Da beginnen die Leute mit Worten zu spielen und zu streiten. Die einen
erklären, an ihn zu glauben, ihn recht zu verstehen, das heiße, in ihm den
Propheten zu sehen. Das Wort ist kostbar und spielt tatsächlich in den
frühesten Deutungsversuchen des Neuen Testamentes über die Person des
Mannes aus Nazaret eine große Rolle. (Vgl. Mk 8,28.) Der Prophet –
damit verbindet sich eine endgültige, endlich wieder herbeigeführte Phase
der Gottunmittelbarkeit. Man wird über Gott nicht mehr von außen her
belehrt werden, sondern es ist gewissermaßen der Folgezustand jeder Art
von Geistigkeit, von Begeisterung, daß Menschen in ihrer eigenen Seele
sich Gott zutrauen und sein Wort wahrnehmen. Keine Vermittlung von

330
außen bestimmt da die Religion, sondern allein die Innigkeit im eigenen
Herzen. Der ist wahrhaftig der Prophet, das soll soviel heißen wie: er hat,
entsprechend dem Vorbild des großen Elia, wieder damit begonnen, Gott
im eigenen Leben zu suchen, ihn in eigenen Worten auszudrücken, ihn mit
eigenen Augen vor sich zu sehen. Er ist der Prophet, das heißt: er hat uns
die Erlaubnis gegeben, nach seinem Vorbild genau so zu tun. – Dagegen
hält eine andere Gruppe die Aussage: Der ist der Christus, der ist der Mes-
sias, mit anderen Worten: er ist der König, und auch darum rankt sich er-
neut eine schriftgelehrte Debatte. Der ist der Christus, das bedeutet soviel
wie: er ist der Sohn Davids, und das wieder bindet sich an bestimmte Vor-
stellungen und Auflagen. (Vgl. Mk 12,35-37.) Sohn Davids kann nur derje-
nige sein, der nach dem 5. Kapitel des Propheten Micha (Mi 5,2) in Betle-
hem zur Welt gekommen ist, dort, wo David selber als Kind gelebt hat, er,
der größte König in Israel. Matthäus und Lukas haben den Glauben an
Jesus als den Christus in diesem Sinne fortgesponnen; sie lassen Jesus sel-
ber in Betlehem zur Welt gekommen sein, um zu beglaubigen, daß er der
Sohn Davids war (Mt 2,5.6; Lk 2,4.6). Das Johannes-Evangelium tritt sol-
chen Bestrebungen fast schroff entgegen, ja, es erklärt sie für eine Form des
Unglaubens: für Johannes ist es ein Einwand gegen den Glauben an Jesus,
wenn die Leute sagen: es müsse der Messias aber geboren sein in Betlehem,
da, wo David war. So findet man eben nicht zum Glauben an Jesus! Für
Johannes ist es völlig egal, wo Jesus zur Welt kam. Selbst wenn er in Betle-
hem zur Welt gekommen wäre, so würde das überhaupt nichts bedeuten.
Wir verstehen an dieser Stelle längst, warum: Man erhielte erneut nur
ein äußeres biographisches Datum, auf das gestützt man wieder äußerlich
in den Schriften herumwühlen und äußerliche Beweise sammeln könnte;
es wäre genau der falsche Weg, der da beschritten würde. Entweder die
Botschaft Jesu erreicht uns im Inneren, oder sie wird uns falsch vermittelt
werden!
Was also heißt dann, an Jesus zu glauben als an den Christus? Es ist
schwerlich ein Wort denkbar, das so zentral auf Jesus bezogen wurde und
trotzdem seine Person so sehr ins Gegenteil verformt hat wie die uns im
Christentum liebgewordene Aussage: er war der Christus, der Messias, der
König. Das Wort vom Messias, vom König, ist alt und inzwischen un-
brauchbar, den Kindern, die heute heranwachsen, kaum noch zu sagen.
Jesus war der König, das bedeutet in der Kulturgeschichte des Abendlan-
des einen Status, den wir demokratisch für überwunden halten. Außenlen-
kung und Herrschaft im Namen Gottes zur Unterdrückung des Volkes
waren in Europa unauflöslich mit diesem Titel verbunden. König zu sein, –

331
das ist Machtentfaltung und Prachtentfaltung; da steht der eine an der
Spitze und strahlt, während alle anderen in einen langen Schatten getaucht
werden, den das Licht dieses Einen über sie wirft. Sie können ihn, ihren
König, nur sehen mit Augen, die vor lauter gleißendem Gold wie geblendet
sind, und sie werden niemals Augen gewinnen für sich selbst, sie werden
niemals sich aufranken zu ihrer eigenen Größe, weil alles konzentriert ist
ausschließlich um den einen und auf den einen: den König. Genau in die-
sem Sinne wollte Jesus nie, um keinen Preis, «Messias», König, sein. Wir
können anhand der Texte des Neuen Testamentes sogar sehr deutlich zei-
gen, daß Jesus die ganze Messiasvorstellung seines Volkes in keiner Weise
geteilt hat, weder als Beschreibung der Hoffnung im allgemeinen noch gar
in irgendeiner Anwendung auf sich selbst. (Vgl. Mk 8,31!) Er hat den Mes-
siasglauben links liegengelassen, ganz buchstäblich. Prophet ja, das war er
in der ganzen Form seines Auftretens, aber Messias oder König überhaupt
nicht.
Wenn es denn immer noch Sinn machen soll, Jesus als König zu bezeich-
nen jenseits von Betlehem, jenseits der «Davidssohnschaft», dann müßten
wir sagen: er verdient diesen Namen eines Königs so, wie es die Märchen
uns nahelegen. Da ist ein König derjenige, der, von weither, nach vielen
Jahren der Sehnsucht und des Wartens, in ein schier unerlöstes, verwun-
schenes Leben tritt, das nach Liebe sich ausstreckte und sie doch nie fand.
Jemand, der so kommt, fast allzu spät, viele Gefahren überwindend und
durch viele Mauern und Hecken sich hindurcharbeitend in diesen Innen-
raum der Seele, – der, weil er die Liebe zu uns trägt und erfüllt, mag wohl
als König bezeichnet werden. Er, der zu dem Kostbarsten uns wird, indem
er uns aufhebt aus aller Niedrigkeit und uns selbst zur Königin und zum
König macht, der mag, wie vom Himmel gekommen, als ein Sohn Gottes,
als König, als Messias diese Welt betreten. Gegen die Machtausübung von
Gewalt, Tyrannei, Unterdrückung und Haß bringt er eine Botschaft der
Weite, der Freiheit, des Glücks und der Größe.
Da gibt es immer noch Einzelne, die im Hin und Her, wer er nun sei,
Prophet oder Messias, Gottesbote oder Herrscher, ihn ergreifen wollen,
und doch, wie hypnotisiert, regt sich keine Hand; die ihn verhaften sollen,
werden unverrichteter Dinge zu ihren Auftraggebern zurückkehren. Die
Hohen Priester, die Pharisäer, mit anderen Worten: die beamteten Reli-
gionsdiener und die offiziellen Theologen, werden voller Zorn über die
Leute herfallen, die sie ausgeschickt haben, und sie werden sie fragen, ob
vielleicht nicht auch sie schon zu diesem Anführer möglicher Aufrührer
übergelaufen sind; die aber, zu ihrer Rechtfertigung, werden sagen: Noch

332
nie hat geredet so ein Mensch. Es gibt im Neuen Testament viele Ansätze,
Jesus zu verstehen, aber dieser ist gewiß der schönste: Einfache Leute fol-
gen da dem, was sie selber erleben, und spüren sich selber als Angespro-
chene. Ein anderes Zeugnis haben sie nicht; doch gerade das hemmt ihre
Hände beim Zugriff. Das ist der Grund, warum sie ihren Auftraggebern
nicht länger gehorsam sein können. Da bildet sich eine Heiligtumssphäre,
ein Taburaum um die Person Jesu, hervorgerufen durch das Gefühl, von
ihm im Innersten angeredet zu sein. Und was wäre Glauben sonst, als so
zu empfinden: Er hat mich berührt, er hat etwas gesagt, das mich betraf, er
hat mir, gegen die Angst, Gott zurückgeschenkt; denn er setzte gegen Aus-
sichtslosigkeit Vertrauen und gegen Verlorenheit Liebe. So war es noch nie.
Eben deshalb wird alles darauf ankommen, ihm weiter zuzuhören und
Worte zu finden, die wie ein murmelndes Echo im Strom der Zeit seine Ge-
danken weitertragen und weitersagen.
Für die Hohen Priester und Pharisäer, für die offiziellen Amtsträger und
Ausleger der «Schrift», wird bei all dem der Boden immer heißer. Sie wer-
den einen Fluch schleudern über die Leute, die nicht gebildet genug sind,
das Gesetz zu kennen. In ihrem «Gesetz» steht es ganz fest, wie Gott zu
sein hat; für sie ist dieser neue Glaube, der sich da breitmacht, etwas
Naives, Rudimentäres, argumentativ nicht genügend Abgesichertes, also
auch schon deshalb wieder etwas Unkontrolliertes, das man bekämpfen
muß von oben nach unten herab, streng in der Ordnung. Leute, die wüß-
ten, was das Gesetz will, würden doch parieren, sie würden in Reih und
Glied aufmarschieren, sie würden ihre Pflicht tun, und es käme nicht solch
eine gottesnärrische Aufregung in das Leben, – die ganze Verwirrung träte
nicht ein! Etwas Neues von Gott, eine Vermenschlichung mitten im Augen-
blick, ein Übergang von einem Dasein, das keines ist, in eine Wahrheit, die
Leben schafft, und selbst der Tod wäre kein Tod mehr, sondern nur eine
Chiffre für einen wirklichen Anfang, – wer soll sich da noch auskennen?
Wer soll da noch wissen, wie es um einen Menschen bestellt ist?
Es gibt einen Mann, der sehr früh im Johannes-Evangelium, im 3. Kapi-
tel schon, zu Jesus kam, des Nachts, aus Furcht vor den «Juden» und auch
aus Angst, sich zu schnell nach vorn zu wagen: Nikodemus, ein Ratsherr.
Der sprach mit Jesus gerade darüber, wie ein neuer Anfang, wie eine Wie-
dergeburt ganz von vorn möglich sei, einzig aus Geist und Freiheit (Joh
3,11-13). Man erwartete so sehnsüchtig nach all dem Gesagten, daß dieser
Mann nun käme und atmete frei und spräche zum ersten Mal ein Wort des
Geistes. Man weiß nicht, ob man ein Recht hat, enttäuscht zu sein, wenn
derselbe Nikodemus rein formalistisch an dieser Stelle jetzt juristisch den

333
Einwand geltend macht: Nicht doch! Unser Gesetz sollte einen Menschen
richten, ohne ihn zuerst anzuhören und zu erfahren, was er getan? Im
Grunde ist, johanneisch gesehen, auch dies eine Form von Unglauben, daß
man am Ende mit dem Bestehenden immer noch seinen Frieden machen
möchte, – vorausgesetzt, man könnte nur seine Möglichkeiten richtig
ausschöpfen und den ganzen legal bestehenden Spielraum wirklich ab-
schreiten. So denkt Nikodemus, der Ratsherr: Das Gesetz, ja – aber dann
auch wirklich das Gesetz, dann nicht Unrecht im Namen des Gesetzes;
würde man sich genau genug an das Gesetz halten, dann würde alles doch
noch innerhalb des Bestehenden das Zukünftige einleiten! Immer wieder
versuchen «verantwortlich» Denkende solche Kompromisse zu finden, und
immer werden sie scheitern.
Ein kleines Beispiel: Vor einem halben Dutzend Jahren befragte man auf
Bayern 3 einmal einen der fähigsten Köpfe der katholischen Kirche im
deutschen Sprachraum, den Vorsitzenden der österreichischen Bischofs-
konferenz, Bischof Weber aus Graz, was er vom Kirchenvolksbegehren
halte, das ja für mutig schon zu erachten ist, weil es immerhin ein halbes
Jahrtausend nach Martin Luther denn auch dafür eintritt, daß manche
Errungenschaften der Reformationszeit, etwa daß Pastöre heiraten dürfen
oder daß heutigentags Frauen das Priesteramt ausüben können, auch in
der katholischen Kirche möglich würden. Bischof Weber nun sprach, daß
all dies ihm gewiß ein wichtiges Anliegen sei, doch gelte es, die Einheit
zu wahren, wenn auch die Vielfalt zu lieben. Katholisch sein heiße, das
Petrusamt als Klammer der Einheit zu behalten und zu schätzen, nur
müsse es nicht sein, daß der Vatikan sich wie eine Burg präsentiere; die
Kirche könne viele Türen nach außen haben, zugänglich für alle. Und so
das Alte und das Neue miteinander zu verbinden müsse die Hoffnung aller
sein und bleiben.
Ein solches Ja-Aber entspricht in etwa dem, was der Ratsherr Nikode-
mus hier möchte. Es geht ihm darum, Jesus zu retten, aber der Mann aus
Nazaret wird nicht zu retten sein, nicht mit derartigen legalistischen
Tricks, nicht indem man daran herumbastelt, wie man das Alte eventuell
doch noch so verfeinern kann, daß am Ende den Menschen die Freiheit of-
fiziell erlaubt werden dürfte, – ein drittes Vatikanisches Konzil wird viel-
leicht kommen oder es wird sogar ein neues Reformkonzil abgehalten wer-
den mit neuen Verheißungen und neuen Turbulenzen … Nein, entweder die
Menschen lernen jetzt, aus Geist zu leben, oder sie lernen’s nimmermehr.
In letzterem Fall freilich muß ein externes Ordnungssystem her, geistlos
genug, um die prinzipiell Unbelehrbaren besser zu lenken; denn nur eine

334
solche «Lenkung» von außen nimmt ihnen die Angst, indem alle Entschei-
dungen fortan hochoffiziell, aber natürlich stets im «Heiligen Geist» ge-
troffen werden; der «Besitz» dieses Heiligen Geistes indessen liegt dann
nicht länger mehr bei den Menschen, er wird vielmehr mit der Großgruppe
selbst und mit ihren Verwaltern identifiziert. Das alles allerdings ist so
archaisch, wie es Ethnologen in Papua-Neuguinea oder in Westafrika an-
treffen mögen: der Clan-Geist, der Voodoo-Geist der Gruppe, der ist das
Heilige, der einzelne Mensch aber ist nichts außer sein Spielball.
Die ganze Botschaft Jesu hingegen gründet darin, daß Geist etwas per-
sönlich zu Lebendes sei, mit allem Wagemut, mit allem Risiko, möglicher-
weise in der sicheren Aussicht des Scheiterns, aber gerade darin unendlich
groß und unerreichbar für alle «Anführer» und «Verwalter» der Äußerlich-
keit.
In Robert Redfords Film Aus der Mitte entspringt ein Fluß denkt am
Ende der Pfarrer in seiner Predigt darüber nach, was es mit uns Menschen
sei, mit seinem Sohn zum Beispiel, den er nicht hat halten können. Er sagt:
«Manchmal geschieht es, daß Menschen, die wir lieben, in Not sind, und
wir bitten zu Gott, er möge uns sagen, was wir für sie tun können. Manch-
mal können wir für sie nichts Richtiges tun, und das, was wir für sie tun
könnten, nehmen sie nicht an. Wir verstehen nicht alles von ihnen, und
doch können wir sie vollkommen lieben.»
Ein schöneres Wort im Sinne dieses Textes von einem Wasser, das fließt
und allen Durst stillt, läßt sich zur Auslegung dieses Abschnittes kaum
finden. Nicht, alles zu erklären und aus der Welt zu schaffen ist die Art,
wie Jesus die Welt überwinden wollte, sondern nicht voneinander zu lassen
in der Liebe, – das ist der Strom, der über die Steine der Zeit fließt, Tau-
tropfen der Schönheit bildend und Worte, die wir zumindest manchmal
verstehen.

335
Joh 7,53b; 8,11: Wer unter euch ohne Sünde ist …
53bJesus aber ging zum Ölberg. 2Im Morgendämmer aber fand

er sich wiederum im Heiligtum ein, und alles Volk kam zu ihm,


und er setzte sich und lehrte sie. 3Führen da die Schriftgelehrten
und die Pharisäer eine Frau herbei, beim Ehebruch festgenom-
men; sie stellen sie in die Mitte 4und sagen ihm: Lehrer, diese
Frau hier wurde verhaftet auf frischer Tat als Ehebrecherin.
5Im Gesetz nun hat uns Mose angewiesen, derartige zu steini-

gen (Lev 20,10; Dtn 22,22-24). Du nun – was sagst du? 6Das
aber sagten sie, um ihn zu überführen, auf daß sie gegen ihn zu
klagen hätten. Jesus aber beugte sich nieder und schrieb mit
dem Finger auf die Erde. 7Wie sie aber dabei blieben, ihn zu
fragen, beugte er sich auf und sprach zu ihnen: Wer ohne Sünde
ist von euch, als erster auf sie werfe der den Stein (Röm 2,1).
8Und wieder beugte er sich nieder und schrieb auf die Erde.
9Die aber, als sie das hörten, gingen weg, einer nach dem an-

dern, angefangen von den Ältesten, und zurückblieb er allein


sowie die Frau, die in der Mitte stand. 10Da beugte sich Jesus
auf und sprach zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat keiner dich verur-
teilt? 11Sie aber sprach: Keiner, Herr. Da sprach Jesus: Auch
ich, ich verurteile dich nicht. Geh. Und von jetzt an sündige
nicht mehr (5,14).

Die Erzählung von den Pharisäern, den Schriftgelehrten und der Sünderin
auf dem Tempelplatz von Jerusalem ist ein Text, der da nicht hingehört,
wo er heute steht; er wurde offenbar aus alter historischer Überlieferung in
das schon fertige Johannes-Evangelium als das am spätesten entstandene
erst nachträglich eingefügt, und man kann dieses Zögern wohl verstehen,
denn zu gewagt erscheint diese Jesus-Überlieferung. Wo auch sonst sollte
sie ihren Platz finden, wenn nicht in dem geistig am meisten verinnerlich-
ten Evangelium: dem des Johannes?
Vielleicht hat ein Kerngedanke der existentialistischen Philosophie bei
der Auslegung dieses Textes Berechtigung: Es gibt ganze Phasen im Leben,
die wie in dämmrigem Nebel sich verbringen, dann aber verdichten sich
Entscheidungsaugenblicke, – unvorhersehbar, überfallartig springt uns eine
bestimmte Situation an, und wie wir dann sein werden, so sind wir in
Wahrheit; diese Momente zeigen uns ganz. Unser Lebensentwurf, unser
Selbstverständnis, alles, was wir wollen und weswegen wir leben, wird
sichtbar in einem solchen Augenblick. Es ist am Ende einer solchen Szene
nicht mehr möglich, sich selber zu belügen. Entweder man hat sich als zu
schwach erwiesen – dann hat auch vorher nichts gestimmt und alles müßte

336
sich ändern, oder diese Situation zeigte uns so, wie wir wirklich sein woll-
ten – dann haben wir Grund, noch entschiedener mit uns selbst zusam-
menzuwachsen. Dieser Gedanke des Existentialismus hat dadurch etwas
für sich, daß er Abschied nimmt von der üblichen Vorstellung, wir seien
gewissermaßen, wie gut trainierte Athleten, zu jeder Höchstleistung, so-
bald der Trainer uns nur von der Bank aufs Feld schicke, augenblicklich
und abrufbar imstande, so als sei das Leben eine spielerische Sportveran-
staltung, eine Schaubühne von Aktionisten. Die Wahrheit ist: alles, was
wir sind, bildet einen inneren Zusammenhang. Man könnte von unserem
«Charakter» sprechen, doch darunter versteht man meist eine Prägung von
außen, etwas schicksalhaft Verfügtes; hier aber geht es darum, in voller
Verantwortung mit der eigenen Person geradezustehen für alles, was wir
sind. Wie wir in solchen Entscheidungsaugenblicken handeln, können wir
in dem Moment selbst nicht mehr bestimmen; es gibt keinen Spielraum
mehr zu neuem Überlegen, zu «so möchte ich sein» oder «so hätte ich wol-
len»; wir sind in dem Moment, auf den es ankommt, ohne jeden Rückzug
gefragt. – So ein Augenblick der unbedingten Klärung des eigenen Wesens
jedenfalls malt sich hier im 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums.
Im Museum für Alte Kunst in Brüssel findet sich ein großes und groß-
artiges Bild von Peter Paul Rubens: die Szene von der Ehebrecherin1. Eine
Frau von kräftiger Statur, den Kopf mit einem schwarzen Schleier umhüllt,
steht da in der Mitte dieses Gemäldes; ihr Kleid ist verrutscht, die Schulter,
die Brust den Blicken der Männer noch freigebend; sie selber wagt nieman-
den anzuschauen, ihr Gesicht ist gerötet wie von Scham; ganz rechts außen
steht der Schriftgelehrte, mit stechenden Augen, vorgebeugt, die Hände
ausgestreckt wie zum Zugreifen – eine gespannte Feder zu Ansprung und
Anklage; in seinem gelb-gold schimmernden Gewand erscheint er wie das
strahlende Reinheitslicht des Himmels selber; vor seinem Kopf, wie ein
Brett angebracht, ist die Inschrift des sechsten Gebotes in hebräischen Let-
tern geschrieben: «lo tinaph – Du hast die Ehe nicht zu brechen.» Das ist
sein einziger Gedanke; und dieser Gedanke ist höchst autorisiert: Exodus
20,14; er duldet keinen Widerspruch, er markiert einen ganz klaren Sach-
verhalt mit einem absolut eindeutigen Urteil. – Ihm zur Seite, mit flei-
schigen, mopsartigen Wangen, ein rotes Käppi auf seinem Haupt, die wur-
stigen Hände ineinandergelegt, präsentiert sich die gestaltgewordene
Selbstsicherheit eines Pharisäers, eine unfreiwillige Karikatur, die sich
selbst nicht begreift. Auch diesem Mann ist alles klar, in Behäbigkeit und
Zuversicht, auch ohne lange theologische Erörterungen. Wo der eine fana-
tisch das Gesetz durchsetzen möchte, ruht dieser andere wie instinktiv in

337
den Geboten, ein gemütlicher Charakter, möchte man meinen, der indessen
nichts dabei finden wird, wenn das Gesetz, so klar, wie es ist, – man darf
nicht sagen: sein Opfer findet, sondern umgekehrt: wenn es sich bestätigt,
indem es diese Frau als Ehebrecherin tötet und den männlichen Part des
Ehebruchs schützt. Das Gesetz des Mose ist ein Gesetz von Männern für
Männer, und nur solche umgeben auf dem Bild von Peter Paul Rubens
denn auch diese eine Frau, ganz so, wie das Johannes-Evangelium die
Szene schildert. Neben der Frau, auf der anderen Seite, steht ein Mann, der
die Frau leicht berührt, und man weiß nicht: will er sie in die Fänge des
Gesetzes zurückschieben oder will er sie schützen und zurückhalten? Sein
Blick ist fragend, zaudernd, er schaut Jesus an. Dahinter drängen sich noch
eine Reihe unwichtiger Personen, die nichts weiter sind als die Statisten für
diese Kulisse. Jesus aber steht da, in sich ruhend; er schaut niemanden an.
Alles, was er zu sagen hat, verkörpert sich in seinen zwei Armen und Hän-
den: der linke Arm ausgestreckt in Richtung der Frau, der rechte, einmün-
dend in feingliedrige Finger, richtet sich zu seinem Gegner, dem Schrift-
gelehrten. Dieser Arm ist überlang, er ist gemalt, als wollte er eine Brücke
bauen über den bestehenden Gegensatz hinweg, aber auch als wollte er
etwas darlegen, für das es Worte im Grunde nicht gibt, das aber, wenn
man es hören könnte, die dunkelgewandete, fast in ihr Totenkleid gehüllte
Frau vor dem sonst sicheren Verderben zu retten vermöchte.
So also hat vor über dreihundert Jahren ein flämischer Maler den Johan-
nes-Text wahrgenommen. Fast hat er, von der Historie abweichend, die Si-
tuation noch zu harmlos dargestellt. Statt dieser bäuerlich-derben, vitalen
Frau, die er sich vorstellt, müßte – nach Leviticus 20,10 und Deuterono-
mium 22,22-24 –, damit sie als Opfer einer Hinrichtung durch Steinigen in
Frage kommt, die Ehebrecherin ein eher zwölfjähriges Mädchen gewesen
sein. In diesem Alter heiratete man damals. Man kam nicht eigentlich in
die Jahre des Blühens und der Reife, man wurde sehr unsanft aus den
Mädchenjahren in das Erwachsenendasein mehr geworfen als geleitet. Es
gab nicht viele Gelegenheiten, des Lebens sich zu erfreuen; die Kindheit en-
dete abrupt, und vielleicht haben die alten Mythen recht, wenn sie, wie in
der Geschichte von dem Raub der Persephone durch den Totengott Hades,
davon erzählen, es sei das Erwachen zur Frau wie ein Brautraub, wie eine
zugefügte Gewalttat, die die Betreffende kaum je verstehen wird, – weit
mehr das nicht zu Vermeidende leidend als sich hineingebend in ein neu
sich bereitendes Glück.
Wie auch immer, wir haben eine Frau, ein Mädchen fast, vor uns, das
gewiß nicht weiß, wie ihm wird; sein Leben scheint verwirkt, noch ehe es

338
überhaupt begonnen hat. Das Gesetz erlaubt keinen Spielraum der Inter-
pretation, es ist so eindeutig, wie es nur sein kann. Und wie denn auch an-
ders, wenn wir uns Gedanken darüber machen, was ein Ehebruch im Sinne
von schriftgelehrten Theologen alles bedeutet!
Es ist die Familie, die im Herzen jeder etablierten Religion steht, denn
im Herzen der Familie ruht ihre Selbstreproduktion. Jede Religion, die sich
im Volke etablieren will, muß ihre Stütze finden eben in der Familie, also
ist die Stabilität der Familie geradewegs identisch mit der Beharrlichkeit,
mit der die Religion selber in einem bestimmten gläubigen Volk durch die
Jahrhunderte zu schreiten gedenkt. Jeder Religionsführer wird deshalb
nimmermüde der Familie ins Gewissen reden, ihre Pflicht zu tun, wie es
das Gesetz, wie es Gott selber von ihr verlange. Die Frauen und die Män-
ner, die Mütter und die Väter müssen ihre Kinder so erziehen, wie der
Vater im Himmel es ihnen vorgeschrieben hat. Jeder 1. Januar beispiels-
weise wird in der römischen Kirche dahingehen nicht nur mit dem Segen
für die Menschheit (urbi et orbi) auf dem Petersplatz, sondern vor allem
mit der Erinnerung an die Wichtigkeit, die den Kindern zukomme in den
Händen ihrer Erzieher. Man begreift diese Einheit zwischen Soziologie und
Theologie in der Familienmoral nur allzu gut. Der Ehebruch aber zerreißt
diesen scheinbar unverbrüchlichen Zusammenhalt. Wenn man es zuließe,
daß Gefühle stärker würden als Gesetze, daß eine private Sehnsucht eine
Ausnahme bilden könnte vom Allgemeinen, ohne daß augenblicklich eine
Strafe einträte, um das Offizielle, das Allgemeine wiederherzustellen, dann
drohte Anarchie, dann würde das festeste Haus gegründet sein wie auf
einer Wanderdüne, dann wäre nichts im Untergrund mehr als solid zu
betrachten. Deshalb erscheint Ehebruch fast schlimmer als Mord in
den Augen der Gesetzgeber, und also muß er streng geahndet werden – am
besten durch Eliminierung der Täter.
Doch was sagen wir «Täter» – im Plural? Gesetze dieser Art, die von
Menschen verlangen, daß sie als individuelle Personen im Allgemeinen auf-
gehen und daß es keine Ausnahme vom allgemeinen Prinzip gibt, werden
nicht nur von Männern gemacht, sie müssen von Männern gemacht wor-
den sein. Nur «richtige Männer» sind so gedankenklar, präzise, unbedingt
und prinzipiell in ihrem Urteil, wie es hier in Kraft zu treten hat. Würden
Frauen Gesetze machen – haben sie sie je gemacht in der Geschichte? –, so
fielen sie milder aus, schon deswegen, weil Frauen nicht so sehr auf das
Formale achten, sondern viel stärker auf das Persönliche. Was ging in
einem Menschen vor sich? Wäre es möglich, eine Frau würde ihre eigene
Tochter zur Steinigung freigeben wegen Ehebruchs?

339
Bei einem anderen Delikt, der Abtreibung, sagte eine Frau vor einer
Weile einmal: «Ich begreife gar nicht, was die Kirchenleute über den Para-
graphen 218 debattieren; wenn meine Tochter käme und würde sagen, sie
hätte so etwas getan, ich würde sie in den Arm nehmen; ich würde sagen:
‹Mädchen, wie war denn das möglich? Was mußt du gelitten haben, und
warum hast du es mir nicht gesagt?› Ich selber käme mir doch schuldig
vor. Ich würde mich fragen, was ich falsch gemacht habe, daß meine eigene
Tochter, als sie am meisten Hilfe brauchte, bei mir keine Unterstützung zu
erhoffen meinte. Aber ich würde doch nicht zur Polizei oder zum Bischof
gehen, um sie anzuzeigen, ich würde doch nicht die Exkommunikation aus
der Kirche oder die Inhaftierung im Gefängnis beantragen! Wovon reden
denn die Leute?» – Diese Frau setzte voraus, daß ihre Tochter nie etwas
tun würde, das einfach leichtfertig, das einfach verantwortungslos wäre.
«Sie ist doch meine Tochter!» Das war ihr klar. – Aber auch dieses zwölf-
jährige Mädchen auf dem Tempelplatz von Jerusalem hat eine Mutter,
und wie immer sie war, ohne daß wir sie kennen, – es ist schwer denkbar,
daß sie dem Urteil auf Steinigung zugestimmt hätte. Gesetzt selbst, sie
hätte erkennen müssen, daß sie ihre Tochter schlecht erzogen hätte, müßte
sie sich dann nicht wie von selbst zwischen die Ankläger und die Ange-
klagte stellen als die eigentlich Schuldige? Auch wenn sie sich alle Mühe
gegeben hätte, ihre Tochter gut ins Leben zu führen, würde sie nicht gerade
dann um Aufschub bitten, um überhaupt erst zu klären, wie ihrer Tochter
«so etwas» passieren konnte?
Eine Erklärung des Tathergangs gibt uns der Text, indem er sie ver-
schweigt. Man sollte glauben, zu einem Ehebruch, der in flagranti ertappt
wird, gehörten zumindest zwei. Eigentlich müßten sie beide bestraft wer-
den: der Mann, weil er das Weib seines Nächsten «geschändet» hat, die
Frau, weil sie im Fall, daß sie gegen ihren Willen vergewaltigt worden
wäre, laut um Hilfe hätte rufen müssen (Lev 20,10; Dtn 22,21.23.24). Aber
der Herr, der in das Kriminaldelikt involviert ist, befindet sich (natürlich)
über alle Berge. Er wird in keinem Falle angeklagt. Was aber die Frau
angeht, so bestand ein großes Problem der Rabbinen seinerzeit darin, wie
weit wohl eine Frau in solcher Lage rufen kann. Was passiert, wenn sie auf
dem Felde überfallen wird und keiner vorbeikommt (Dtn 22,25.27)? Es
gibt in diesem Falle zumindest keinen Zeugen dafür, daß diese Frau laut
gerufen hat; einen Hahn würde man hören, aber eine Frau in diesem
Augenblick? Daß manchen Menschen der Hals verstummt vor lauter
Schrecken, wer wüßte das von diesen Thora-Kasuisten?
Wir kommen der Geschichte noch ein Stück näher, wenn wir sie in der

340
Perspektive ihrer patriarchalen Einseitigkeit weiter verlängern. Da ist eine
Gruppe von Männern, die nicht nur Recht spricht und Recht verwaltet, die
mithin die Legislative wie die Exekutive in ihren Händen hält; diese
Gruppe hat vor allem ein besonderes Motiv, das, was da als Gesetz verfügt
wurde und durchgeführt werden will, richtig zu finden. Es gehört zu der
Wahnidee aller patriarchalen Systeme, daß im Grunde die Männer zwar
die Macht haben, aber dann doch, wie das Schicksal es nun will, ohn-
mächtig sind gegenüber den Listen – man kann schon nicht mehr sagen:
der Frau, sondern man muß sprechen, im Gebrauch des 19. Jhs.: – des Wei-
bes. Das ist das eigentliche Wort, das hierhin gehört. Einer Frau, einem
Weib gegenüber sind die Männer schwach. Sie sind es wirklich, denn so-
lange sie sich einbilden, über sich selber zu verfügen, müssen sie so viele
Gefühle unterdrücken, müssen sie ihre Seele so sehr im Schatten des Unbe-
wußten lassen, daß ihnen die stärkere Regung einer Herzensempfindung
vorkommen wird wie ein dumpfer Andrang ihres Trieblebens, den sie nicht
begreifen, wie eine Unheimlichkeit, die ihnen von außen zugefügt scheint.
Es ist das alte Bild der «Sündenfallerzählung»: Da liegt eine Schlange im
Sande, und plötzlich, hinterhältig, ohne daß man es ahnen konnte, stößt
sie zu. Am Ende waren die Männer es gar nicht selber, die von dem verbo-
tenen Baum aßen, sondern wie durch hypnotischen Einfluß erlag der
Mann, Adam, dem schwachen Geschlecht. Das Verhältnis der Geschlech-
ter führt sich schon im 3. Kapitel der Genesis, gleich auf der zweiten Seite
der Bibel, so auf. Da ist’s am Ende, erklärt Adam dem lieben Gott, die
Frau gewesen, die er, der Allwissende, der Allmächtige, ihm beigesellt hat
(Gen 3,12). Was kann ein Mann, ein Adam, dafür, daß er von einer Frau,
die er liebte, den Apfel nahm und alles weitere kam, wie es wohl kommen
mußte? Die Frau, dieses reine Gottesgeschenk, machte sich selbst zum Ge-
schenk – wie hätte er nein sagen sollen, – lieber Gott aber auch! Folgerich-
tig erscheint es, daß dem Manne – Genesis 3,16-18 – in einer Kette von
Strafen als erstes auferlegt wird, der Frau zu «obwalten». Wo immer Män-
ner Gesetze erlassen haben mögen, – dieses einzuhalten haben sie sich
allerorten redlich bemüht: Walte ihr ob – timschol bah – dem Leben selber,
der Eva, walte du ob! Das seither tut der Mann. Die Rechtfertigung des
Patriarchalismus wird immer basieren auf dieser Selbsttäuschung: man ist
– von der Frau – hereingelegt worden, man ist im Grunde, bei soviel über-
nommener Verantwortung, im Entscheidenden doch für sich selber unver-
antwortlich gewesen; doch um sich selber zu regulieren, braucht man zur
Verwaltung und zur «Obwaltung» die entsprechenden Gesetze. Der Mann,
der Genesis 3 formulierte, muß geahnt haben, daß er damit beschrieb, wie

341
die Liebe zwischen Mann und Frau verdirbt, wie das Paradies des Men-
schenglücks endgültig zerstört wird. Seitdem gibt es den Geschlechter-
kampf, das permanente Ringen umeinander und gegeneinander. Goyasche
Karikaturen entstehen da von der Verflochtenheit zwischen Mann und
Frau, die voneinander nicht loskommen können noch wollen und dennoch
immer wieder sich wechselseitig zerfleischen an den Stellen, da es am mei-
sten weh tut. (Vgl. Abb. 3.)
Gesetze, so verstanden, sind im Patriarchalismus nichts weiter als ein
Panzer der Männer gegenüber den Frauen, eine Form des Rechtbehaltens
über all das, worin sie selbst verwickelt sind, – jeder «normale» Eheschei-
dungsprozeß noch heute kann das in der Frage der Unterhaltsregelung de-
monstrieren. Das ist die Hintergrundsituation, das ist das gute Recht, das
göttliche Recht, das religiös legitimierte Recht. Was ist zu tun gegen eine
ganze Gesellschaft, gegen eine ganze Theologie, gegen eine ganze Jurispru-
denz, gegen ein geballtes Vorurteil, gegen eine jahrtausendealte Gewohn-
heit? Es ist, wie wenn die Nordsee bei einer Sturmflut die Deiche durch-
bricht und die Küstenwacht versuchen muß, auch nur einen einzigen vor
ihrer Gewalt zu retten.
In einer durchaus vergleichbaren Situation befindet sich Jesus an diesem
Morgen auf dem Tempelplatz. Was kann er tun? Das, was er tut, ist unge-
heuerlich; es ist so ungeheuerlich, daß die Kirche, daß die frühe Gemeinde
sich offenbar lange gesträubt hat, diesen Skandal überhaupt in das, was
wir heute das Neue Testament nennen, aufzunehmen. Die Erzählung ist,
wie gesagt, ganz sicher nicht aus der Feder des Johannes-Evangeliums ge-
flossen. Sie ist hereingekommen aus der Tradition, die den ersten drei
Evangelien zugrunde liegt, doch eben: keines der synoptischen Evangelien
hat diese Geschichte gekannt oder wollte sie kennen oder hat es gewagt,
wenn es sie denn kannte, sie weiterzuerzählen. Es muß dann doch, relativ
spät, vielleicht sogar im Umfeld des Johannes-Evangeliums, Kreise gegeben
haben, in denen man dachte, diese Begebenheit sei zu kostbar, um sie der
Vergessenheit anheimfallen zu lassen; sie zeige uns etwas Wesentliches an
der Person Jesu.
Insofern enthält dieser Text vielleicht den spätesten Kommentar und den
wichtigsten Nachhall auf die Botschaft Jesu, ein Echo noch gerade, das uns
helfen kann, in alle Zukunft den Weg, das Ziel, das ursprünglich Gemeinte
des Anliegens Jesu nicht aus den Augen zu verlieren. Es war das letzte Mal,
daß es noch möglich schien, eine Geschichte wie diese in ein Evangelium
einzuschieben, und es war zugleich die letzte Gelegenheit. Liest man näm-
lich zeitgleich dazu die Literatur des Neuen Testaments, so sieht man, wie

342
die frühe Gemeinde damals schon sich verfestigt, wie sie dabei ist, Men-
schen auszuschließen, die nicht fromm genug sind, die nicht orthodox
genug sind, die entsprechend den dogmatischen Regeln schon zu den
«Häretikern» übergelaufen sind oder die moralisch nicht integer scheinen.
Allein in jener späten Zeit dieses relativ frühe Überlieferungsstück zu ak-
tualisieren und ihm den Wert eines Evangeliums zu verleihen verrät Mut.
Immerhin: im sogenannten Codex von Canterbury ist diese Geschichte im
Rahmen des Johannes-Evangeliums erhalten geblieben, versehen mit einer
Überleitung, die, recht mühsam, die Erzählung nach Jerusalem und auf den
Tempelplatz verlegt; – das alles muß historisch nicht zutreffend sein, das
Ereignis selbst kann irgendwo in Galiläa stattgefunden haben. Aber diese
Geschichte ist, ganz im Sinn der existentialistischen Interpretation des
menschlichen Lebens, die Visitenkarte, der Steckbrief, der Fingerabdruck,
das Totalbild, das Hologramm der Person des Jesus von Nazaret. Denn so
viel ist sicher: Hätten wir nur diese eine Überlieferung, wir wüßten alles
von dem Mann aus Nazaret, wir wüßten zumindest alles, was wichtig ist;
mehr brauchten wir im Grunde von ihm nicht zu kennen. Alles, was wir zu
dieser Begebenheit jetzt sagen können, ist deswegen wie ein stammelnder
Versuch, uns die Bedeutung dieser Szene klarzumachen; doch das vielleicht
Erschütterndste und Größte daran ist es, den unendlichen Abstand zwi-
schen dem Vorbild und uns selbst zu verspüren. Er liegt überhaupt nicht in
dem, was wir sonst mit der Person Jesu im Erbe des christlichen Dogmas
verbinden: daß Jesus von Gott gekommen sei als der metaphysische Sohn
Gottes und deshalb uns in allem weit überlegen gewesen sei; diese Ge-
schichte erzählt, worin Jesus uns in Wahrheit überlegen ist und wieso er
von Gott kam.
Alles, was dieser Mann lebte, war eine unglaublich erfüllte Menschlich-
keit. Doch was in dieser Szene mit der Ehebrecherin geschieht, läßt sich
nicht ausrechnen, es läßt sich nicht als Vorsatz fassen, um für alle Fälle ge-
wappnet zu sein. Es ist, wie gesagt, ein Entscheidungsaugenblick der
ganzen Existenz. Allerdings: Wie es zu dieser Situation kam, kann man re-
lativ leicht beschreiben.
Es gibt ein Wort in den ersten drei Evangelien, das Jesus bezeichnet, wie
Ertrinkende ihn brauchen, um sich vor dem Versinken in den Fluten zu ret-
ten, aber auch so, wie die Gegner es brauchen, um ihn mit Klage und An-
klage, mit Schuldspruch und schließlich mit Hinrichtung zu überziehen.
Dieses unvergleichliche, historisch gut bezeugte Urteil der Freunde wie der
Feinde des Mannes aus Nazaret lautet: Er ist ein Freund der Zöllner und
der Sünder (Mt 9,11), er lädt Huren ein in seine Mahl-Gemeinschaft, er

343
überschreitet jede Grenze, er ist maßlos in seinem Willen und in seinem
Mut, Menschen zuzulassen und zu akzeptieren. So etwas ist für jede
Behörde, die auf Ordnung hält, so viel wie die erklärte Anarchie, wie das
Gegenprogramm zu der verwalteten Herrschaft von Menschen über Men-
schen im Namen Gottes. Das muß zu Widerspruch reizen, das verlangt da-
nach, zu Gesetz und Ordnung zu rufen. Das Markus-Evangelium zum
Beispiel, kaum drei Kapitel alt, schildert, wie sie von Jerusalem herunter-
kommen nach Galiläa und Jesus befragen, woher die Kraft zu seinen Wun-
dern kommt. Von Baalzebul, dem Obersten der Teufel, wird er sie haben,
vermuten sie, jedenfalls nicht von Gott (Mk 3,22)! Wenn da Menschen ge-
sund werden und achten keinen Sabbat mehr und richten sich auf in der
Synagoge von Kafarnaum trotz der verordneten Ruhe, ganz wie der
Gelähmte am Teiche Betesda in Joh 5,1-18, so soll ihn doch der Satan
holen! Wer da die Gesetze des Mose mit Füßen tritt, lieber als daß er das
Herz eines Menschen zerträte, polarisiert der nicht mutwillig, reißt der
nicht auseinander, was zusammengehört: – den Menschen und die Gemein-
schaft, die Gemeinschaft und die Religion, die Religion und die Tradition –
das ganze eherne, stabile Gebäude? Erklärt der nicht für Lüge und für
Mummenschanz, worauf die Ordentlichen zu allen Zeiten stolz sein wer-
den in ihrer Unbescholtenheit, in ihrer Unerbittlichkeit, in ihrer Sicherheit,
in ihrer Gründlichkeit? Was ist das überhaupt für ein Menschenbild im
Kopfe dieses Mannes aus Nazaret, dieses Dämonisch-Besessenen oder, wie
sogar seine eigenen Familienangehörigen sagen, dieses Verrückten, den
man nach Hause zurückholen sollte, dieses Rasenden (Mk 3,21)? Offen-
sichtlich hat er für alles eine Erklärung, eine Entschuldigung, eine Recht-
fertigung! Nie ist er auf der Seite derer, die eindeutig wissen, wo es lang-
geht! Immer braucht er Sonderwege, Nebenwege, Umwege! – Genau
darüber will man sich Klarheit verschaffen, und zwar eindeutig, ohne
Wenn und Aber, und so führt man diese Frau vor als einen klaren Fall, den
es ohne Umschweife zu entscheiden gilt. So diese Szene hier.
Erschrecken kann in dieser Erzählung die prinzipielle Klarheit des juri-
stisch-moralischen Urteils, die als das ganz Gewöhnliche und eben deswe-
gen um so Entsetzlichere auftritt. Den Pharisäern und den Schriftgelehrten
geht es um diese Frau als um einen einzelnen Menschen, als Person, über-
haupt gar nicht; sie ist gewissermaßen nur der Lockvogel, mit dessen Hilfe
sie Jesus zwischen die Fangeisen der Falle, die ihn erschlagen soll, zu
locken gedenken. Mit ihrem persönlichen Schicksal ist sie gänzlich un-
wichtig für die sie anklagenden Behörden, sie ist lediglich der personifi-
zierte Problemfall, an dem Jesus sich exemplarisch verraten soll. Es geht,

344
mit einem Wort, diesen vermeintlichen Autoritäten durchaus nicht um
Menschen, es geht ihnen im Grunde um Politik. Es geht ihnen darum, wie
man eine bestimmte Person so in die Enge treibt, daß es am Ende für sie
kein Zurück mehr gibt. Jesus muß sich entscheiden, was jetzt passieren
soll. Leviticus 20,10; Deuteronomium 22,21-24: – jedes Kind zur Zeit Jesu
lernt diese Verordnungen in der Schule, wenn es die Thora zu lesen be-
ginnt; es lernt das Buch Leviticus von A bis Z auswendig. Wenn Jesus sich
überhaupt für kompetent erklärt, in Sachen Gesetz und Moral mitzureden,
dann hat er das Buch Leviticus von hinten nach vorne hersagen zu können.
Was Mose da spricht, sollte ihm mithin seit Kindertagen eingebleut wor-
den sein. Also was nun? Will er mehr sein als Mose? Weiß er besser als die-
ser, was Gott am Sinai gesagt hat? Hat er die Stirn, sich über 1500 Jahre
Offenbarungsgeschichte des Gottes Israels hinwegzuheben? Will er im
Ernst mit einer verhurten Zwölfjährigen Karriere machen gegen Gott,
gegen alles, was dem Menschen heilig sein sollte? Ist das sein Standpunkt?
Dann bitte schön, dann soll er sich selber an dieser Stelle das Todesurteil
sprechen. Dann kann man ihn gleich mit steinigen. Wenn er unbedingt ein
todesschuldiger Häretiker sein will, dann soll er sich nur so erklären; er
soll sagen: «Das Gesetz des Mose ist nicht mein Fall, denn es ist unbarm-
herzig; – es ist grausam, es ist barbarisch, es ist der reine Anachronismus,
euer Gesetz des Mose! Nach solchen überholten Anweisungen könnt ihr
jetzt nicht mehr entscheiden.»
Jesus würde mit einer solchen Erklärung im übrigen manches ausge-
sprochen haben, was unter jüdischen Rabbinen seiner Tage ernsthaft ge-
dacht wurde. Rabbi Hillel zum Beispiel hätte versucht, das Gesetz des
Mose an dieser Stelle aufzuweichen. Und vierzig Jahre nach Jesus, nach
dem Zusammenbruch Jerusalems, wird der große pharisäische Neubegrün-
der des Judentums, Rabbi Johanan ben Zakkai, dieses ganze Gesetz über
die Todesstrafe bei Ehebruch außer Kraft bringen, denn er denkt: Die
Männer haben kein Recht, auf Frauen Steine zu werfen, weil zum Ehe-
bruch halt immer zwei gehören; es gibt in diesem Falle keine geschlechts-
spezifisch Unschuldigen, es gibt den Geschlechterkampf im Namen Gottes
nicht mehr.
Eine derartige Ansicht verrät Weisheit. Doch würde Jesus so sagen, so
müßte er sich an der Stelle befinden, an der Rabbi Johanan ben Zakkai
später stehen wird: Er müßte die erste, die einzig anerkannte Autorität im
Kreise der Theologen sein, er müßte sich auf der Leiter der öffentlichen
Reputation erfolgreich hochgearbeitet haben, er müßte ein Fachgelehrter
der Thora-Auslegung sein, er müßte ein honoriges Urteil haben im Kreise

345
all der Wissenden. Von all dem aber kann keine Rede sein. In Fragen der
Gesetzesauslegung ist Jesus ein Autodidakt, bestenfalls. Im Grunde hat er
keine Ahnung, wie man nach all den Regeln der Kunst das Gesetz winden
kann und wenden muß, um es auf den Einzelfall zu applizieren. Er hat
nichts weiter als ein gutes Herz und klare Augen; die freilich sehen in der
Gestalt dieser zwölfjährigen Ehebrecherin vor allem einen hilflosen Men-
schen vor sich, und daneben sehen sie Menschen, die ihrer Sache ganz si-
cher sind, so wie Peter Paul Rubens sie gemalt hat. Hätte Jesus im Kreise
dieser Leute begonnen, an den Seilen des Gesetzes zu zerren, – sie wären
sehr engmaschig um den Hals dieser Frau geraten und um seinen eigenen
gleich mit. Was man statt dessen hier sieht, ist die unleugbare Tatsache,
daß Jesus bei aller Phantasterei, die vielen seiner Worte vermeintlich anhaf-
tet, in Wahrheit ein unglaublicher Realist war. Selten hat er versucht, Leute
zu überzeugen, die nicht zu überzeugen waren. Er hat sehr klar gesehen,
mit wem er es im Einzelfall zu tun hatte, und gerettet hat er sich fast
immer wie eine Katze, wenn die Hunde ihr zu nahe kommen: in die dritte
Dimension; er flüchtete in die Senkrechte, den nächsten Baum hinauf,
sprich: in Richtung Gottes, in den Himmel – es war der einzige Flucht-
raum, der ihm blieb.
Geschildert wird das Verhalten Jesu in dieser Geschichte durch eine ein-
zige Geste. Die Schriftausleger rätseln, was er damit gemeint haben
könnte, doch diese Gebärde bildet den Kern der ganzen Erzählung: Jesus
beugt sich nieder und schreibt mit dem Finger auf die Erde. Immer wieder
hat man überlegt, was Jesus da wohl geschrieben hat. Einen Satz aus Jere-
mia (Jer 13,24), daß all die Worte verweht werden, wie wenn Wind über
die Spreu weht? Oder einen Satz von der Haltlosigkeit des Menschen? Von
all dem ist indessen keine Rede; zudem: würde die Geschichte wirklich auf
dem Tempelplatz gespielt haben, so fände Jesus keinen Sand als Schreib-
material vor, sondern er müßte auf das harte Pflaster des Heiligtums ge-
schrieben haben. Erkennbar geht es der Erzählung durchaus nicht darum,
daß Jesus etwas Bestimmtes geschrieben hätte, – was immer er geschrieben
hat, es ist für den Fortgang der Handlung völlig unwichtig. Vielmehr sollte
man denken, das Schreiben selber bilde einen Moment der inneren Samm-
lung. Da beugt Jesus sich vor, und es ist, wie wenn die Seele eines Men-
schen sich in sich selbst einschließt; da geht etwas vor sich, das einer Kon-
zentration aller Gefühle und Gedanken, einer Verdichtung der ganzen
Existenz gleichkommt. Da ist nichts zu sagen, weil es niemanden gibt, der
es hören würde. Es gilt nicht länger zu überlegen, was Mose gemeint hat
oder was Gott sagen könnte; es ist vielmehr, wie wenn alle Anklagen, alle

346
Vorwürfe, aber auch alle Gründe des Verstehens in der Seele Jesu zusam-
menliefen.
Was wir immer wieder von der Stellung Jesu zum Gesetz gesagt haben,
erleben wir jetzt in seiner vielleicht klarsten Ausprägung: Es ist, wie wenn
Jesus in den Abgrund der menschlichen Seele schauen würde und gäbe all
denen, die das Todesurteil sprechen, im Grunde vollkommen recht: So hat
Mose gedacht, und so verdienen wir es wirklich! Es gibt nichts Schlimme-
res, als die Treue oder die Liebe von Menschen zu brechen oder schon sel-
ber gar nicht mehr zu wissen, wo man steht: – was man fühlt und wer man
ist. Gemessen an dem eindeutigen, klaren Urteil des mosaischen Gesetzes
ist diese Frau bereits tot, selbst wenn sie noch lebt. Und Jesus sagt nicht:
das Gesetz des Mose hat unrecht; er sagt nicht: Gott hat sich am Sinai ge-
irrt; er sagt nicht: die Schriftgelehrten lügen, – sie verteidigen nur ihre
Macht, sie sind gottverdammte Heuchler. Das alles wäre zwar gewiß nicht
völlig falsch, aber es ist nicht die Ebene, auf der Jesus denkt. Er selber
kommt aus den Kreisen der Pharisäer, und er gibt dem Gesetz in jedem
Punkt vollkommen recht, bis in die Worte der Bergpredigt hinein, die Mat-
thäus (5,17-20) ihm in den Mund gelegt hat: «Ich bin nicht gekommen,
irgendein Gesetz abzuschaffen, nicht ein Jota, nicht ein Häkchen. Wer das
dächte, würde alles mißverstehen.»
Das ist ganz im Sinne Jesu gesprochen. Seine Haltung ähnelt in gewis-
sem Sinne den Gedanken in dem Kleistschen Drama des Prinz Friedrich
von Homburg2: Das Gesetz muß bis aufs tödliche angewandt werden!
Man muß seine Konsequenz bis zu Ende denken! Das ist die eine Seite in
der Einstellung Jesu zum Gesetz; er fühlt ganz deutlich: Das Gesetz (des
Mose) ist wahr. Paulus wird später genau so sagen: Das Gesetz ist rein und
es ist gut. Und doch wird gerade derselbe Paulus, im 7. Kapitel des Römer-
briefs, hinzufügen: aber es ist der Tod (Röm 7,10). Welch ein Mensch kann
in einer Welt leben, die nur von Gesetzen geregelt wird? Das ist die andere
Erfahrung. Sie muß sich bereits dem Leben Jesu in aller Deutlichkeit ver-
mittelt haben, der Legende nach bereits in dem Moment seiner Taufe, als
er erlebte: Wer sich mit dem Gefühl seiner unwiderruflichen Schuld in die
Hände Gottes begibt, wie sein Lehrer Johannes der Täufer es wollte, der
findet einen anderen Gott vor, als der Täufer ihn in seinen Gerichtsdrohun-
gen predigte; und nur diesen anderen Gott zu bringen kam Jesus auf die
Erde, trat er in die Öffentlichkeit: einen Gott, der nicht richtet, sondern
der rettet, der nicht recht haben will, sondern der die «Rechtfertigung» des
Menschen möchte, einen Gott, der nicht straft, sondern der versteht. Der
Prophet dieses Gottes wollte Jesus sein.

347
An dieser Stelle schreibt er auf die Erde mit dem Finger. Was er da
schreibt, ist gewiß kein neues Gesetz, es ist wahrscheinlich, wie gesagt,
nichts weiter als eine Form, über sich selbst klarzuwerden, mehr noch als
über diese Frau. Über sie denkt Jesus nicht nach; er verteidigt sie nicht, wie
es ein guter Rechtsanwalt heute tun würde, mit psychologischen Argumen-
ten: wie ist sie großgeworden? in welchem sozialen Milieu ist sie aufge-
wachsen? und wie jung sie noch ist! und welch ein Strafmaß ist für sie
überhaupt angemessen? Wieder: das alles wäre nicht falsch, aber es wäre
nicht das, was Jesus hier vorschwebt. Das einzige, worauf es ihm an-
kommt, ist die Klärung seiner eigenen Seele. Seine Gegner aber hören in all
dieser unheimlichen Spannzeit nicht auf zu fragen: «Wir brauchen eine
Antwort, und zwar jetzt, unverzüglich, eine klare Antwort.» Doch wie soll
diese Antwort ausfallen?
Sagt Jesus zur Steinigung nein, steht er im Widerspruch zum Wortlaut
des Gesetzes; stimmt er der Steinigung zu, ist alles widerlegt, was er immer
wieder erklärt hat; dann sollte er öffentlich bekennen, daß er sich geirrt
hat; dann hat er eine Menschlichkeit verkündet, die schon rein logisch
nicht gelebt werden kann, weil sie allen Regeln des bürgerlichen Zusam-
menlebens entgegensteht. Ihm geht es um Gott, aber Gott redet nun mal in
den Verordnungen von Leviticus 20 und Deuteronomium 22. Wenn er
aber sich diesen göttlichen Forderungen des Gesetzes fügt, dann soll er auf-
hören, als der Erlöser der Zerbrochenen aufzutreten, dann soll er die Farce
beenden, eine Art Victor Hugo zu spielen und Les Misérables aufzu-
führen3. Dann soll er eindeutig, wie alle Gesetzeslehrer, auf die Trennung
zwischen den Richtigen und den Falschen, zwischen den zu Recht Leben-
den und den zu Recht Hinzurichtenden bestehen; dann ist das Wort Gottes
ein scharfes Schwert zwischen Gut und Böse. Zwischen Ja und Nein muß
er jetzt ohne Ausweichen eine Entscheidung treffen.
In diesem Moment wohl macht Jesus die Bewegung nach vorn, das
Sich-Bücken zur Erde, das Sich-Einschließen nach innen, durch eine gegen-
läufige Bewegung rückgängig: Wie sie aber dabei blieben, ihn zu fragen,
beugte er sich auf – fast möchte man übersetzen: er bäumt sich auf. Er
schaut sie an. Der Satz, den er dann spricht, der einzige, den er den verur-
teilensbereiten Gesetzeslehrern entgegenschleudert, ist wie in zwei Hälften
gesprochen: der erste Satzteil sehr ruhig: «Wer ohne Sünde ist von euch», –
das klingt so besänftigend, wie jeder vom Gesetz reden wird, der auf der
Seite des Gesetzes sich sicher weiß, dem das Gesetz eine klare, erdbeben-
feste Grundlage für jeden Moment seines Daseins bietet; wer so reden kann,
das ist die Bedingung, die Jesus hier stellt – «als erster» – diese Worte sind

348
wie ein Angriff herausgeschleudert: – «auf sie werfe der den Stein.» Es ist
außerordentlich wichtig, daß es Jesus mit diesem Satz gelingt, die Meute
dieser Mobbing-Justiz aufzulösen. Es geht darum, sie zu fraktionieren,
denn sonst entstünde eine Situation wie 1996 bei einer Hinrichtung in den
Vereinigten Staaten von Amerika, diesem Vorbildland der westlichen Zivi-
lisation: daß man fünf Leute mit Gewehren bestellt, echte Jäger von Schrot
und Korn im Südwesten der Vereinigten Staaten, und läßt auf einen Mann
anlegen, der nach dem Gesetz hingerichtet werden soll; fünf Kugeln sind
auf die markierte Herzstelle zu schießen, aber eine der Flinten bleibt leer,
damit am Ende keiner genau weiß, ob er persönlich den Mord begangen
hat im Namen des Gesetzes, im Namen des Volkes, im Namen des Gottes,
der God’s own Country schützt und stärkt und ihm Mut macht zur New
World Order. – Am Ende hat jeder den Stein geworfen, aber keiner weiß
unter der Masse der Steine, welcher der Frau den Tod gebracht hat.
Man begreift anhand eines solchen archaischen Rituals, wie es im Iran
oder in Nigeria noch heute vollzogen werden kann, was Strafe sozialpsy-
chologisch überhaupt bedeutet. Jesus wird über derlei Zusammenhänge in
philosophischem Sinne nicht viel nachgedacht haben; aber gespürt hat er
sie offenbar ganz genau. Am klarsten hat G. W. F. Hegel die Rechtferti-
gung der Todesstrafe formuliert, indem er verkündete, die Strafe sei gene-
rell nichts weiter als die Negation der Negation des Gesetzes, eine Auto-
matik, mit der das Gesetz sich über seinen Widerspruch wieder herstelle; je
gewichtiger das übertretene Gesetz, desto gewichtiger daher die Strafe. In
Wahrheit freilich geht es um ganz andere Gefühle und Motive. Es geht um
den Schutz der Gesellschaft vor ihren immanenten Gefahren; indem sie den
Gesetzesbrecher tötet, tötet sie in sich selbst die Neigung zum Gesetzes-
bruch. Am Ende geht es darum, daß man es geschafft hat: man ist wieder
unter sich, die Guten rotten sich zusammen, – sie haben die faulen Äpfel
endlich aus dem Regal gebracht.
Der Mechanismus hat wohlgemerkt nichts zu tun mit Schuld und Strafe
in irgendeinem moralisch-subjektiven Sinn; es geht um äußere Normen-
kontrolle, ganz dem Augenschein nach. So sieht man, wie in einem
Möwenschwarm ein einzelnes Tier, das krank ist, mit spitzen Schnabelhie-
ben in den sicheren Tod gejagt wird. Der «gesunde» Möwenverband ist am
Ende wieder unter sich, die Nicht-Kranken wissen, woran sie sind, die Irri-
tation hat aufgehört. Wenn man es systemtheoretisch ausdrücken will: eine
Fluktuation ist beseitigt durch gruppendynamische Selbststabilisierung.
Das ist Strafe. Es geht nicht um «Gerechtigkeit», es geht um die Selbst-
bestätigung der Richtigen, damit sie in Schritt und Tritt weitermarschieren

349
können, notfalls über Leichen. Das ist «Strafe»; so ist sie: kalt, mitleidlos,
ohne Ansehen der Person.
Der Unterschied ist deutlich. Einem Vater rutscht mal die Hand aus,
einer Mutter gehen mal die Nerven durch, und sie bestrafen ihren Sohn,
ihre Tochter. Auch das ist eine «Strafe», aber in Form einer persönlichen
Reaktion; ein gefühlsmäßiger Ausgleich zwischen zwei Subjekten findet da
statt; es wäre aber fatal, wenn die unerledigten psychischen Konflikte etwa
zwischen Täter und Opfer an das «objektive» Rechtssystem delegiert wür-
den – wenn Rachegefühle sich in das Gewand der Gerechtigkeit hüllen
dürften, wenn sich die Gesellschaft als die richtige Familie gegenüber den
Abweichenden zu präsentieren suchte und sich selber stabilisierte, indem
sie diese exekutierte.
Was Jesus mit seiner Erwiderung erreicht, ist ein Ende dieses Spuks einer
abstrakten, unpersönlichen Strafegerechtigkeit. Er ruft die Leute, die sich
auf das Gesetz berufen, einzeln in die Verantwortung. Das ist der ganze
«Trick» seiner Antwort. Jeder soll für das Tun im Namen des Gesetzes eine
eigene Zuständigkeit übernehmen, er als erster; er soll nicht länger im Kol-
lektiv denken und reden: «Wir sind in Ordnung», jeder Einzelne für sich
selber soll sagen: «Ich bin in Ordnung». Der übliche Rückzug in die
Masse, in diese sich im Schlamm und Blut anderer reinigende Schweine-
herde, wird nicht länger geduldet. Darum geht es. Es soll nicht wieder und
wieder Blut fließen, damit am Ende die Säue ihre Schwemme finden. Klar
und eindeutig soll jeder Einzelne erklären: «An mir gibt es nichts auszuset-
zen; ich bin so makellos, daß die Trennung zwischen dieser da und mir ab-
solut ist, wie zwischen Leben und Tod.» – Wenn er das kann, dann nur zu!
dann nur zu!
Diese kleine Szene zeigt den ganzen Jesus. Das Gesetz Gottes gilt, es gilt
uneingeschränkt, es gilt bis zu dem Punkt, an dem deutlich wird, daß kein
Mensch damit leben kann, daß jeder von uns einen anderen Gott braucht,
der ihm entgegen allen Widersprüchen zum Leben hilft! Wenn es so steht,
müssen alle Menschen einander alles vergeben, weil ihnen selbst alles ver-
geben wurde! Alle Gebete Jesu, alle Gleichnisse Jesu, alle Verhaltensweisen
Jesu sind wie ein Kommentar zu diesem einen Wort: Das Gesetz gilt, aber
es kann nicht angewandt werden, weil, wenn es Geltung hätte, jeder
Mensch daran zerbräche. Wenn aber jeder am Gesetz scheitert, so brau-
chen wir eine Umgangsform für Zerbrochene, nichts weiter, und alles an-
dere ist eine Selbsttäuschung, – die ganze Trennung zwischen Gut und
Böse, zwischen Richtig und Falsch, zwischen Orthodox und Häretisch,
zwischen Oben und Unten, zwischen Göttlich und Profan ist nichts als eine

350
eitle Illusion! In Wirklichkeit gibt es nur zerbrochene Menschen, jeder
gehört dazu! «Siehst du,» sagt bei Dostojewski in den Brüdern Kara-
masow der Starez Sosima, der ein Mönch wurde, um der Gefahr, ein Mör-
der zu werden, zu entkommen, einmal zu dem jungen Aljoscha, «siehst du,
Aljoscha, so mußt du denken: Wenn immer du siehst, daß jemand ein
schweres Verbrechen begangen hat, wäre es dann möglich, daß er das
getan hätte, wenn du selber, wenn ich selber ein anderer Mensch wäre?»4
Es ist das ohne Zweifel größte Wunder, das Jesus je im Neuen Testament
gewirkt hat, daß er an diesem Morgen einer so sicher sich gebenden Klien-
tel des jüdischen Gesetzes Augen schenkte für ihr eigenes Herz und sie,
einen nach dem anderen, in Menschen verwandelte. Aus Anklägern wur-
den Einsichtige, aus Persekutoren und Exekutoren Leute, die nichts weiter
mehr waren als Reumütige. Alle Grenzen öffnen sich in diesem Moment;
denn was es fortan gibt, ist eine Menschheit, die in gemeinsamer Schuld
und gegenseitiger Schuldigkeit zusammengehört.
Ich entsinne mich eines Gesprächs, das ich vor vielen Jahren mit einem
Juden am Ufer des Sees Gennesaret führte. Er sagte: «Ich bin kein Christ,
ich glaube nicht in Ihrem Sinn an den Juden aus Nazaret. Aber mir will
scheinen, er war eine der größten Gestalten der Menschheit. Er war ohne
Zweifel eine ethisch höchststehende Persönlichkeit, ein großer Führer der
Menschheit; aber für am größten an ihm halte ich, daß selbst er, gerade er,
bitten konnte im Vaterunser: und führe uns nicht in Versuchung. Da muß
er doch gewußt haben, was im Herzen eines Menschen vor sich geht. Das
ist für mich das Große an Eurem Christus.» Worte wie diese aus dem
Munde eines Juden sind wichtig, um dem Eindruck zu wehren, die «christ-
liche» Interpretation des «Gesetzes» sei unjüdisch oder antijudaistisch; sie
ist im Gegenteil eine prophetische Forderung innerhalb der biblischen
Frömmigkeit selbst. Schaut man genau hin, so ist sie die einzige Antwort
auf das Portrait unserer Existenz, das gerade der Jude Franz Kafka in sei-
nen Romanen Das Schloß5 und Der Prozeß6 als die wohl sprechendsten
Schlüsselerzählungen über die Verlorenheit des Menschen «vor dem Ge-
setz» im 20. Jh. gezeichnet hat. Die Welt einer kalten Ordnung ist absurd,
unmenschlich, sadistisch und grausam – ein Leben In der Strafkolonie7,
wie Kafka eine andere seiner Erzählungen nannte, eine Hinrichtungsma-
schinerie, die es schon als «Gnade» erscheinen läßt, wenn der Delinquent
im Moment seines Todes die Schuld wenigstens begreift, die ihm in den
Leib gefräst wird.
Was Jesus des weiteren tut, paßt ganz und gar in die Spannung dieses
Augenblicks. Er beugt sich wieder vor, ganz im Einklang mit dem, was er

351
sprach; alles, was nun geschehen wird, kann er nicht vorschreiben, nicht
kommandieren, nicht zum Befehl machen; entweder es ereignet sich oder
es ereignet sich nicht. Entweder die Leute gelangen in diesem Moment zu
sich selbst oder sie gehen an sich selber vorbei und dann allerdings über
Leichen; dann wird nichts mehr sie aufhalten. Nur wenn es gelingt, die ge-
samte geistige Energie nach innen zu wenden und auf die Mitmenschen hin
zu öffnen, wird diese Frau zu retten sein. – Und es gelingt! Als sie alle ver-
schwunden sind, richtet Jesus sich auf zu der Frau, und es ist wie eine
Bilanz, wenn er zu ihr sagt: – «Frau, wo sind sie? Hat keiner dich ver-
urteilt?» – «Nein, Herr», sagt sie, «keiner» – so als spräche sie mit der
Anrede «Herr» ihm jetzt das letzte, alles entscheidende Urteil zu. Nach der
kirchlichen Dogmatik sollten wir denken, Jesus selbst sei der ganz Sünden-
lose, eben der Gottmensch gewesen, der in seiner Menschlichkeit vielleicht
hätte verleitet werden können, nicht aber in seiner göttlichen Person, – alle
«Versuchungen» dienten deshalb bei ihm allenfalls als mildtätige Vorbilder
für unsere eigene schwache Menschennatur. Der Jesus indessen, der an die-
ser Stelle wirklich geschildert wird, ist uns viel näher, eben dadurch freilich
auch um so viel entfernter von uns. «Auch ich verurteile dich nicht», sagt
er, – «und ich will es auch nicht», müßte man ergänzen; «ich bin kein bes-
serer Mensch als sie. Du bist frei!»
An dieser Stelle weisen die Exegeten für gewöhnlich darauf hin, daß
Jesus die Frau entließ mit den Worten: «und von jetzt an sündige nicht
mehr – weal thächäte’í od» – das ist ein Imperativ auf Dauer, nicht nur im
Moment, sondern für immer. Sündige nicht mehr! Man hat vielleicht nicht
das Recht, so zynisch zu sein wie in dem Film von David Lean aus dem
Jahre 1965 über den großen Roman von Boris Pasternak Doktor Schi-
wago; da fragt ein Mönch eine Frau: «Und hat sie das Gebot gehalten?» –
«Natürlich nicht!» ist die Antwort. – Wir wissen nicht, was aus der Frau
in dieser Geschichte wurde; nur soviel scheint klar, daß eine Rücküberset-
zung dieses Jesus-Wortes aus dem Griechischen ins Hebräische noch einen
anderen Akzent nahelegt; nicht: «Sündige nicht mehr!» – sondern eher:
«Du wirst jetzt nicht mehr das tun, was du tatest; du bist aus dem ganzen
Raum der Schuld herausgenommen, du unterliegst nicht mehr dem Urteil
der anderen; der einzige, der in alle Zukunft beurteilen darf, was du bist
und wer du bist, ist Gott.» – Das ist kein «Freispruch», aber auch keine
Anklage, es bedeutet in einem absoluten Vertrauen die Aushändigung eines
Menschen in die Hände seines Gottes. Da herrscht nicht die mindeste
Angst, daß dieses Vertrauen durch Willkür mißbraucht würde. Es gilt viel-
mehr die Erfahrung, einer Person begegnet zu sein, die genau die Polaritä-

352
ten nicht in ihr Leben aufnimmt, die das Menschenleben sonst verwirren:
dafür oder dagegen, Gesetz oder Anarchie; diese Frau beschreitet fortan
eben den Weg, den Jesus vorangeht: nicht zu urteilen, nicht zu verurteilen,
nicht zu richten, nicht hinzurichten, aber aufzurichten, zu klären und Mut
zu einem neuen Leben zu schenken.
Setzen wir nur einmal, daß diese Frau in den Ehebruch kam, weil sie
kaum wußte, wer sie war, weil sie mit ihren Gefühlen, mit ihrer ganzen
Person eine Abhängige war. In diesem Moment hört sie auf, von irgend je-
mandem abzuhängen, im Negativen nicht, im Positiven nicht. Hier wird
sie sie selbst, und was immer sie jetzt tun wird, liegt ganz und gar bei ihr.
Jesus hätte auch sagen können: «Geh in dein Leben», oder: «Mach etwas
aus dir», oder: «Lerne, glücklich zu sein mit allen Kräften deiner Seele, dei-
nes Herzens, deines Geistes; sei du die Frau, die du immer sein moch-
test …»
Wie dieses weitere Leben dann «ohne Sünde», geklärt, sich vollzieht, ist
durchaus offen. Theodor Fontane zum Beispiel erträumte in seiner Erst-
lingserzählung L’ Adultera (Die Ehebrecherin) sich einen Fortgang der Ge-
schichte, bei dem die Frau ihrem neuen Geliebten treu bleibt und ihr alter
Ehemann, bei allem Schmerz, sie begreift und sich mit ihr aussöhnt8. Die
Geschichte muß nicht von vornherein und unbedingt mit der gesetzesver-
pflichteten Rückkehr in eine unhaltbar gewordene Ehe enden. Die Freiheit
Jesu jedenfalls ist offen für Entwicklungen, die spätere Generationen in
einer Geschichte entdecken mögen, die zu einer Zeit entstand, als die ganze
Vielfalt, die sich da öffnet, nicht einmal von den Betreffenden selber auch
nur entfernt absehbar war.
Es gibt bei Khalil Gibran in seinem Buch Jesus Menschensohn eine
Stelle, die wie zur Zusammenfassung von allem Gesagten dienen kann.
Eine Frau, Barbara von Yammuni, spricht dort über die Geduld und die
Ungeduld Jesu9. Vielleicht ist an seiner Gestalt diese Spannung in der Tat
am allermeisten rätselhaft: Aus dem Munde gerade dieses Mannes, der so
sanft reden kann wie hier, brechen an anderen Stellen Worte hervor wie
Flüche über ganze Städte (Mt 11,20-24). Er kann so segnend sein und so
verdammend, so ungeheuer groß in den Spannungspolen seiner Existenz,
daß es schwerfällt, diese Ursprungseinheit, wie sie uns in dieser Geschichte
begegnet, wirklich zu begreifen.
Barbara von Yammuni indessen bringt es als Gegensatz und Spannung
auf ihre Weise zum Ausdruck:

353
Jesus war geduldig mit den Schwerfälligen und Stumpfsinnigen wie
der Winter, der gelassen den Frühling erwartet.
Er war geduldig wie ein Gebirge im Wind.
Er antwortete freundlich auf die listigsten und angrifflustigsten
Fragen
Seiner Gegner. Und Er schwieg angesichts von Spitzfindigkeit und
Streitlust, denn Er war stark, und der Starke vermag nachsichtig zu
sein.
Doch Jesus konnte auch ungeduldig werden.
Den Heuchler verschonte Er nicht. Und den Verschlagenen und
Wortverdrehern machte Er keine Zugeständnisse. Auch ließ Er nie-
manden über sich bestimmen.
Mit denjenigen, die nicht an das Licht glauben, weil sie selber im
Schatten leben, und mit denen, die nach Zeichen am Himmel
Ausschau halten, statt ihr eigenes Herz zu befragen, konnte Er sehr
ungehalten sein. Ebenso wie mit denjenigen, die Tage und Nächte
wiegen und messen, bevor sie ihre Träume dem Morgenrot oder
der Abenddämmerung anvertrauen.
Jesus war der Geduldigste aller Menschen und gleichzeitig der
Ungeduldigste.
Er ließ euch das Tuch weben, auch wenn es bedeutete, daß ihr
damit Jahre am Webstuhl zubringen mußtet.
Doch er ließ es nicht zu, daß jemand auch nur einen Zoll dieses
gewebten Tuches zerriß.

354
Joh 8,12-20: Ich bin das Licht der Welt
12Wiederum dann zu ihnen erhob Jesus die Stimme, er sagte:
Ich bin das Licht der Welt (1,5; Jes 42,6; 60,20; Mt 5,14-16).
Wer mir folgt, nein, nicht muß der seinen Weg in der Finsternis
machen, sondern er wird das Licht des Lebens haben. 13Spra-
chen da zu ihm die Pharisäer: Du – über dich selbst legst du ein
solches Zeugnis ab! Dein Zeugnis ist nicht wahr (5,31). 14Ge-
antwortet hat Jesus, er sprach zu ihnen: Auch wenn ich ein
Zeugnis über mich selber ablege, wahr ist mein Zeugnis doch;
denn ich weiß, woher ich komme und wohin ich gehe (7,28).
15Ihr – rein irdisch urteilt ihr; ich – nein, ich beurteile nieman-

den (3,17). 16Und wenn ich doch urteile, so ist mein Urteil
wahrhaftig, denn allein bin ich nicht, sondern ich und er, der
mich gesandt hat, der Vater. 17Auch im Gesetz, in eurem, steht
geschrieben, daß zweier Personen Zeugnis wahr ist (Dtn 17,6;
19,15). 18Ich bin es, der über mich Zeugnis ablegt, und es legt
Zeugnis ab über mich der mich gesandt hat, der Vater. 19Sagten
drauf sie zu ihm: Wo ist (denn) dein Vater? Geantwortet hat
Jesus: Weder mich kennt ihr noch meinen Vater. Würdet ihr
mich kennen, würdet ihr auch meinen Vater kennen (14,7).
20Diese Worte sagte er beim Opferstock, als er im Heiligtum

lehrte. Doch keiner ergriff ihn, denn noch war seine Stunde
nicht gekommen (2,4; 7,30).

Die Geschichte, die dieser Offenbarungsrede vorausging, spielte auf dem


Tempelplatz von Jerusalem, und sie erzählte, wie Jesus das Leben eines
jungen Mädchens gerettet hat, das wegen Ehebruchs gesteinigt werden
sollte. Vordem hatte Jesus sich gegenüber den Vorwürfen der Pharisäer
und der Schriftgelehrten zu rechtfertigen, die ihm entgegenhielten, daß in
seiner Botschaft, in seiner Person, in seiner Haltung und in der ganzen Art
seines Verhaltens etwas Widergöttliches, etwas Aufrührerisches liege; denn
er hatte einen Menschen von Gelähmtheit geheilt – am Sabbat! Dieser
Konflikt ist noch lange nicht beendet. Im Gegenteil. Er hat bisher stetig zu-
genommen, indem Jesus Brot vermehrt hatte auf dem Berg, und dann war
er über das Wasser gegangen auf die andere Seite des Sees von Gennesaret.
Auch da entspann sich eine lange Diskussion, darin endend, daß Jesus er-
klärte, er sei das Brot des Lebens (Joh 6,35). Dieses Bildwort ist im
Grunde die Überleitung zu der Offenbarungsrede jetzt, die mit der Aussage
beginnt: Ich bin das Licht der Welt.
Wo immer man beginnt, das Johannes-Evangelium zu lesen, stößt man
auf eine Seltsamkeit: seine Aussagen scheinen rätselhaft, man weiß nicht

355
recht, was damit gemeint ist. Der Anspruch, das verrät jedes Wort, geht ins
Enorme, ins Absolute, aber warum? Was verbirgt sich dahinter? Das Pro-
blem ist vergleichbar mit einer Situation, die wir alle kennen: Eines der
Kinder, der eigene Mann oder die eigene Frau ist krank; wir eilen zum
Apothekenschrank und suchen dringlich nach einer geeigneten Medizin,
wir finden auch eine, aber wie es der Zufall will, – der Beipackzettel
scheint vor langer Zeit verlorengegangen zu sein. Da ist ein Arzneimittel in
unserer Hand, seine Aufschrift verrät, daß ihm eine entscheidende Bedeu-
tung zukommen könnte, aber in welchem Zusammenhang, gegen welche
Krankheit eigentlich und in welcher Dosierung? Alle Angaben für die
rechte Verwendung fehlen.
Ich bin das Licht der Welt – das ist die Überschrift und die Aufschrift
dieses Abschnitts im Johannes-Evangelium, und jeder scheint zunächst be-
greifen zu können, was da gemeint ist. Man hört den Satz gewissermaßen
mit altägyptischen Ohren: So und nicht anders hätten die Pharaonen am
Nil sprechen können über den gewaltigen Zeitraum von fast viertausend
Jahren hinweg. Genauso nannte im 14. Jh. v. Chr. der Ketzerkönig von
Amarna, Amenophis IV., seinen Sohn: «Du bist die lebende Gestalt des
Sonnenlichts – Tut anch aton.» Da gilt jemand als machtvolles Zentrum
eines ganzen Reiches, ja, dem Selbstverständnis der Religion nach, sogar
als Mitte der ganzen Welt. Dieser Pharaonentitel Licht der Welt klingt reli-
gionsgeschichtlich noch in diesem Selbstanspruch nach, mit dem der Jesus
des Johannes-Evangeliums hier auftritt; es ist eine fast maßlose, geradezu
«heidnische» Rede, die ihm da in den Mund gelegt wird. Aber blieben wir
bei solchen Erklärungen stehen, so würden wir mit dem «Medikament»,
das doch in all den Worten des johanneischen Jesus enthalten ist, so ver-
fahren, wie wenn wir im Vergessen der Gebrauchsanweisung das Tabletten-
döschen nähmen und aus ihm eine Ikone schüfen, indem wir es an ex-
ponierter Stelle an der Wand anbrächten. Jeden Tag könnten wir danach
damit zubringen, dieses Heilmittel hoch zu achten, uns vor ihm zu vernei-
gen, es mit feierlichen Gebeten zu beschwören, nur – das Medikament zu
gebrauchen lernten wir auf diese Art nimmermehr. Wir verstünden vor
allem immer noch nicht, gegen welch eine Art von Krankheit es eigentlich
hilfreich sein soll. Ganz anders also müssen wir das Johannes-Evangelium
lesen, gewissermaßen indem wir es Satz für Satz, Tablette für Tablette, im
Selbstexperiment auf der Zunge zergehen lassen und an den Wirkungen,
die wir bei uns feststellen, herauszufinden suchen, welch eine Not einmal
mit dieser Arznei besänftigt, beruhigt, ja, geheilt werden sollte.
Man sagt, abgekürzt, das Johannes-Evangelium habe seinen religions-

356
historischen Bezug in jener geistigen Bewegung, die wir schon als die Gno-
sis kennengelernt haben, eine geistesgeschichtlich große, in vielem sogar
entscheidende Neuorientierung des menschlichen Selbstverständnisses, die
damals vor allem in den Mysterienkulten im ganzen hellenistischen Kultur-
raum prägend und maßgebend wurde. Aber was ist mit diesem Wort von
der «Gnosis», von der Erkenntnis, gemeint, und was hat es uns Heutigen
zu sagen?
Beginnen wir einfach einmal damit, daß wir dem Bild vom Licht des Le-
bens selber nachträumen. Nehmen wir es so wörtlich, wie es klingt, dann
verstehen wir alsbald, daß es nichts Wichtigeres und Kostbareres für alles
Leben auf unserem kleinen Planeten im Umlauf um die Sonne gibt als das
Licht, das in überwältigender Fülle vom Zentralgestirn ausgesandt wird.
Licht ist eine so grundlegende Voraussetzung für alle biologische Entfal-
tung auf der Erde, daß noch vor der Differenzierung in Pflanzenzellen und
Tierzellen bereits einige Grundprozesse wie der Tag-Nacht-Rhythmus im
Inneren der Organismen etabliert wurden. Ohne die außerordentliche
Energieabstrahlung der Sonne hätte sich so etwas Komplexes und Kompli-
ziertes wie auch nur die einfachsten Strukturen des Lebens auf dieser Erde
nie entwickeln können. Dabei gelangt nur ein verschwindender Bruchteil
der Energiemenge, die die Sonne im ganzen abgibt, auf die Erde. Dieses
Wenige und Winzige, das dann doch noch die Erde erreicht, ist zwar
immer noch unvorstellbar groß, in seinem Schatten aber bildet sich gleich-
wohl das Problem des Energiemangels. Es waren vor allem die Pflanzen,
die es verstanden haben, das flutende Licht der Sonne so zu nutzen, daß
sich seine Energie in speicherbare chemische Energie umwandeln ließ. Das
Chlorophyll wurde zu einer der rätselhaftesten und wunderbarsten Her-
vorbringungen der Evolution. Mit seiner Hilfe wurde es in der Photosyn-
these möglich, Zucker, Cellulose und Stärke herzustellen und Fette sowie
Proteine aufzubauen. Auf der Grundlage der Pflanzen mit ihrer Erfindung
des Chlorophylls entstand das Leben pflanzenfressender Tiere, entstand
das Leben fleischfressender Tiere, entstand der Kampf ums Leben unter
den Tieren. Begonnen aber hat dieser Kampf nicht erst mit den Tieren, er
war bei den Pflanzen längst voll im Gange. Man betritt eine Waldlichtung
und findet hier einen Grashalm, dort eine Blume, daneben den Trieb eines
Baumes, der sich entfalten will, und man ahnt, daß alles, was da auf-
wächst, seinen Platz im Licht zu behaupten sucht. Geringfügige Unter-
schiede des Standorts, ein paar Zentimeter unterschiedlicher Größe, we-
nige Zentimeter seitab im Schatten eines schon gewachsenen Baumes
entscheiden buchstäblich über Leben und Tod. Was so friedfertig und so

357
schön aussieht, wie auch nur eine blumenbestandene Wiese, ist in Wirk-
lichkeit ein ständiges Ringen um die Mangelware Energie, um die Kostbar-
keit, die sich verschwendend von der Sonne ausschüttet und doch nie alle
hinlänglich erreicht.
Und bei den Tieren noch sehr viel krasser. Man schaltet das Fernsehen
ein und schaut einem Tierfilm aus der Serengeti oder aus dem Okawango-
becken zu; man ist begeistert von der Schönheit der Arten: Da grast ein
Zebra, – allein schon die Grazilität seiner Gestalt und seiner Bewegungen
kann verzücken. Kaum jemand aber ahnt, daß allein schon die Streifen-
form des Zebras vermutlich «erfunden» wurde im Überlebenskampf gegen
die Tsetsefliege: sie kann die Streifenmuster optisch nicht sinnvoll auflösen
und somit ihre «Nahrungsquelle» nicht sehen. Man muß sozusagen die
Optik eines Insektenauges kennen, um den Überlebensvorteil auch nur der
Fellfärbung, der Streifenanordnung eines großen Säugetiers zu verstehen.
Das Kleinste hängt da zusammen mit dem Gewaltigsten und das Größte
wieder mit dem Kleinsten; alles aber ist darauf berechnet, minimale Unter-
schiede im Kampf ums Überleben des einen gegen den anderen zu nutzen.
Man sieht dieselbe Zebraherde sich an die Tränke drängen, man gönnt in
der Gluthitze Afrikas den Tieren die Erholung; dann aber erblickt man
eine Löwin, wie sie durch das Gebüsch heranschleicht, ihr ganzer Körper
gespannt wie ein Katapult, wie eine sprungbereite Feder, und das Dilemma
läßt sich nicht lösen: Soll man dem Zebra das Entkommen wünschen und
damit der Löwin und ihren Jungen das Hungern und das Verhungern, oder
soll man wünschen, daß ihre grausamen Pranken sich in das fühlende
Fleisch eines empfindsamen Säugetieres schlagen? Ein Kampf ums Überle-
ben, grausig und grausam, – und schon kreisen darüber die Geier. Das ist
Licht auch: eine Lebensgrundlage, um die es zu kämpfen gilt, die funda-
mentale Bedingung für ein großartiges, abenteuerliches, spannendes, my-
riadenhaft vielfältiges Leben, unerreichbar im Phantasiereichtum seiner
Formenhervorbringung, unvorstellbar großartig und majestätisch in seinen
Gesetzen, die, wie die Hände eines Organisten die Vielzahl der Register
einer Orgel bespielen, die Mannigfaltigkeit des Lebens zur Erscheinung
bringen, aber dann doch auch wieder so, daß wir Menschen beim Anblick
dieser Natur schwermütig und traurig werden; – zu viele Fragen, Rätsel
und Widersprüche bleiben. Vor 540 Millionen Jahren wird das Licht in
den Photorezeptoren von Tieren zum Sehen genutzt – und schon explodiert
das Leben zu einer weiteren Fülle bis dahin ungeahnter Variationen; aber
es geht als erstes nicht um Reichtum, Schönheit und Glück, es geht um die
Verbesserung der Jagdtechniken oder Fluchtstrategien, es geht um Tarnung

358
und Mimikry, und es geht um das erfolgreichere Anlocken von Ge-
schlechtspartnern; – ist das das Leben?
Genau dieses Weltempfinden von Entsetzen und Ohnmacht war es, das
vor 1800 oder 1900 Jahren in der Spätantike die Einstellung des Menschen
zur Natur, zur Welt, die ihn umgibt und in der er lebt, noch einmal ganz
neu überdenken ließ. Was wir Gnosis nennen, ist in der Tat soviel wie die
Beschreibung einer Krankheit, einer tödlichen Bedrohung der menschli-
chen Existenz aus dem Geist. Es ist vielleicht das erste Mal (unabhängig
vom Buddhismus womöglich, um 500 v. Chr. in Indien), daß so etwas
droht wie ein Streik der Vernunft. Da leben Menschen, sie schlagen ihre
Augen auf im Sonnenlicht, und sie vertragen das Schauspiel nicht mehr,
das sich ihnen bietet. Sie wollen diese Welt nicht mehr, und zwar nicht
mehr nur irgendein Detail an der Welt, sondern sie protestieren gegen ihre
Voraussetzungen im ganzen: gegen die Gesetze, nach denen sie antritt, spe-
ziell gegen die Unbarmherzigkeit, die in sie eingeschrieben ist. Es gibt
christliche Gnostiker wie den Kirchengründer Marcion, die den Zustand
der Welt beklagen, indem sie ihn auf einen üblen Weltenbaumeister
zurückführen, auf einen bösen Gott oder gar auf den Teufel selbst, – eine
Vorstellung, die sich im christlichen Dogma immer noch erhalten hat in
der Idee, irgendein böser Geist habe dem guten Gott bei der Schöpfung der
Welt ins Handwerk gepfuscht. Wie ungereimt es sich mythisch auch an-
hört, – dahinter steckt ein sehr ernstzunehmendes Grundempfinden: Wie
kann ein Mensch leben mit menschlichen Gefühlen, mit menschlichen Vor-
stellungen von Sinn und Ordnung in einer Welt, die, je mehr er darüber
nachdenkt, ihm desto fremdartiger wird, ja, unerträglich am Ende? Irgend
etwas regt sich in ihm, sich zu weigern, irgend etwas rebelliert in ihm
gegen den Zynismus dieser «Ordnung», die Schmerz nie als ein Argument
begreift, etwas sein zu lassen, sondern die rücksichtslos immer weiter vor-
anschreitet. Kein Mensch dürfte so handeln, wie die Natur allerorten mit
ihm und mit allen Wesen an seiner Seite verfährt. Der Kontrast, der Ab-
stand zwischen Mensch und Welt tut sich auf wie ein Abgrund.
Man muß diese religions- und geistesgeschichtliche Krise sich nur in
allen Konsequenzen vor Augen führen, dann erkennt man, daß hier nicht
mehr nur der Mensch und seine Position in der Welt zur Diskussion steht,
sondern alles, auch der Hintergrund von beiden, von Mensch und Welt:
auch Gott! Es scheint keine einzige Frage mehr zu geben, die sich im
Gegenüber der sichtbaren Wirklichkeit noch beantworten ließe, und aus
den Zweifeln an allem wird die Verzweiflung über alles, sie übersteigt ins
Maßlose jede mögliche Antwort.

359
Wir können, was als Problemstellung aus der Geschichte der Religionen
überkommen ist, uns auch vorstellen als eine Infragestellung im kleinen.
Weniger universell, individuierter, kann die gleiche Verunsicherung einen
jeden von uns betreffen. An unserer Seite wird ein Mensch plötzlich und
sinnlos in den Tod gerissen. Wir haben ihn geliebt, er war all die Zeit über
das Zentrum unserer Existenz, er war unser Halt, unsere Freude, unsere
Begleitung, und irgendein nichtiger Zufall konnte genügen, um ihn in den
Tod zu stürzen. Da bricht es wieder auf unter unseren Füßen, dieses Rätsel
des Lebens! Soll so etwas unausdenkbar Kostbares wie ein einzelner
Mensch auch nur zu nichts anderem hervorgebracht worden sein als zum
Spiel der Natur? – Oder: es kann sein, daß wir uns mit ganzem Bemühen
wer weiß wie angestrengt haben, etwas Bestimmtes zu erreichen, das uns
wichtig schien und bedeutsam, und es wird uns aus der Hand genommen
wie einem Kind, das sich an seinem Räppelchen freuen wollte – ein Nichts,
als wenn es darauf gar nimmer ankäme! Alles, was wir da waren, was wir
sein wollten, ist wie entschwunden. Wie tröstet man Menschen, die sich so
fühlen, – derart alleingelassen vom Schicksal, derart sinnentleert durch das
launenhafte Spiel des Lebens? Und vom anderen Ende her: Wer sind denn
wir selber? Das sind die Fragen.
Es gibt Ärzte, die im Raum der Psychotherapie auf die gesunden Kräfte
des menschlichen Instinkts setzen. Biologisch erzogen, wie sie sind, ver-
trauen sie auf den Appell an den Überlebenswillen. In ihren Augen sind die
Menschen so etwas wie kranke Tiere, und wenn sie am Geist zu sehr er-
kranken, so müßte es doch möglich sein, im Ausgleich dagegen die vitalen
Kräfte wieder zu stärken. Also verschreiben sie dem Patienten eine Kur im
Sonnenschein: – Spaziergänge, Tanzen, Würstelbraten – irgend derlei,
Freude am Leben! auch mal unter Menschen gehen! und Bier trinken! mal
richtig Skat spielen! irgendwas Vernünftiges tun! Das ist die Antwort, so
vertrauen sie zuversichtlich, auf derartige Gemütsverstimmungen.
Es war im 19. Jh. Friedrich Nietzsche, der in aller Deutlichkeit diese
Spannung zwischen Natur und Christentum formulierte: Er sprach das
Christentum schuldig, er setzte es in den Vorwurf, die natürlichen Instinkte
des Menschen mit einer Art von Schimmel und Ekel gegenüber dem Natür-
lichen zu korrodieren; Nietzsche wollte gerade die unverfälschte Raub-
tiernatur des Menschen wiederbeleben1. Er wollte in gewisser Weise die
Nichtzernagtheit des Einzelnen von ständigen Reflexionen und morali-
schen Skrupeln zurückholen und den Menschen unmittelbar sich wieder
vermählen lassen mit der Welt, die ihn umgibt, gräßlich und groß, groß-
artig und grausig. In all ihren Gegensätzen sollte er sie aushalten und aus-

360
tragen. Die Nietzschesche Kur scheint uns im Rückblick von hundert-
dreißig Jahren schrecklich mißlungen. Mit Büchern wie Also sprach Zara-
thustra im Tornister ging eine ganze Generation 1914 in das, was man spä-
ter den Ersten Weltkrieg nannte. An Mut, an Willen zum Bestialischen hat
es nicht gefehlt, aber der Schrecken selbst über diese Art der Heilung ver-
schlägt einem postum die Sprache.
Wir sagten schon zum Johannes-Prolog, daß das Vierte Evangelium auf
genau diese Art von Verzweiflung, die wir zeitgeschichtlich die Gnosis nen-
nen, antworten wollte und daß es sehr leise hineinredet auch in die ganz
private Lebensnot eines jeden Einzelnen von uns über die Jahrtausende
hinweg – wirklich wie ein wohl zu destillierendes Medikament. Es ist
wahr: jede Medizin kann in falschem Gebrauch wirken wie Gift; sie kann
das Leben zerstören, indem man sie falsch einsetzt, aber geben wir nur erst
zu, daß nicht einmal das fließende Licht der Sonne auf dieser Erde eine un-
verfälschte Grundlage für Hoffnung und Vertrauen zu bieten vermag, dann
braucht man lebensnotwendig diesen Neueinsatz, den das Johannes-Evan-
gelium versucht. Es nimmt fast alles, was in der Natur einmal schön war,
beiseite und rettet es zugleich, indem es daraus ein Symbol macht. Essen,
Trinken gehören zur leiblichen Existenz, aber wem nichts mehr schmeckt,
weil es ihn förmlich anwidert, der bedarf eines neuen Grundes, der wird
sich weigern, überhaupt noch zu leben, wenn er ihn nicht findet. Wie
schenkt man Menschen den Geschmack am Leben zurück? Das war die
Frage schon im 6. Kapitel des Johannes. Ich bin das Brot des Lebens, sagte
Jesus dort (Joh 6,35). Aber nun kommt es eigentlich noch grundlegender.
Es geht an die Quelle aller Energie, es geht an das Licht selbst. Man muß
sich dabei noch vorstellen, wie auch in der Kulturgeschichte über die Jahr-
hunderttausende hinweg sich Menschen bemühen, in der Kälte des Winters
und im Dunkel der Nacht Licht und Wärme zu schaffen. Es ist eine der
frühesten Erfindungen der Menschheit, gegen die Bedrohung der Finsternis
und gegen den Tod in der Kälte sogar die Angst vor dem Feuer aus Vulka-
nen und Steppenbränden besiegt zu haben, bis daß sie es schließlich lern-
ten, mit eigenen Händen Feuer zu schlagen beziehungsweise zu quirlen.
Über mehr als fünfhunderttausend Jahre auf diesem Planeten muß die
Werdegeschichte der Entstehung des Menschen als eines intelligenten We-
sens verbunden geblieben sein mit der Kultur, Feuer zu beherrschen und
sogar künstlich zu gewinnen. Welch ein Symbol könnte tiefer besänftigen
als Licht und Feuer?
Wenn Jesus an dieser Stelle im Johannes-Evangelium das Bild vom Licht
auf sich, auf seine eigene Person, zieht, so steht dahinter das Wissen, daß

361
einen Menschen in seiner Daseinsangst, in seiner Verzweiflung buchstäb-
lich nichts beruhigen wird außer ein menschliches Gegenüber. Das ist das
ganze Geheimnis, auf das kein ärztliches Attest, auch keine Gesundver-
schreibung verfallen wird. Es gibt nichts Äußeres zu tun, – keine Verord-
nung, kein Rezept, das man dem anderen aufschreiben könnte, das einzige,
was dem anderen in der Not seiner eigenen, persönlichen Erfahrung hilft,
kann in sich selbst nur eine andere Person sein. Das ist ja die Frage aller
Verzweifelten: Wofür denn bin ich? Weshalb denn bin ich in dieser oft so
fremden, widersprüchlichen, ja, widerwärtigen Welt? Was ist gemeint mit
mir?
Gerade im Kontext dieser Frage tritt Jesus hier auf. Er möchte mit seiner
eigenen Person erreichen, daß die Menschen an seiner Seite, jeder Einzelne,
nicht länger mehr dahingehen in Finsternis, in Seelenumdüsterung, in
«Aussichtslosigkeit» ganz buchstäblich. Wenn das Licht ein tiefes Symbol
dafür ist, daß uns die Augen aufgehen und wir eine Perspektive in unserem
Leben gewinnen, daß es ein inneres Durchfluten von Licht und von Ein-
sicht gibt, dann ist umgekehrt die Finsternis, dann ist die Dunkelheit das
genaue Gegenstück davon. Man sieht und begreift nicht, man schaut und
weiß doch nicht mehr, in welche Richtung. Alles flirrt und flimmert vor
den Augen oder es entzieht sich wie in Nebel und Dämmerung. Es gibt
keine Hoffnung mehr, es gibt kein Sinngefüge mehr, man klebt gewisser-
maßen zweidimensional an einer steilen Wand und findet keinen Weg, der
über sie hinausführt; unter ihr aber gähnt der Abgrund.
Jesus wollte auf dieses Gefühl antworten, indem er sagte: Ich bin das
Licht. Das sollte heißen: es lohnt sich, die Augen aufzuschlagen und diese
zerbrochene Welt noch einmal neu anzuschauen, mit meinen Augen. Was
damit inhaltlich gemeint ist, sagt uns das Johannes-Evangelium nicht, – der
ganze Beipackzettel ist verschwunden. Wir müssen es ergänzen, indem wir
sagen: «Wenn der Anblick der Welt dich quält – du hast die Augen aufge-
macht und du bist entsetzt, tödlich entsetzt, mitansehen zu müssen, daß
alles Leben nichts weiter sein soll als ein Kampf auf Leben und Tod, und
du erträgst diese Wirklichkeit keinen Tag mehr –, dann bin ich der Ort, an
dem du findest, daß es mitten in dieser grausig großen Welt trotz allem
möglich ist, eine ganz kleine und doch unendlich starke Form der Liebe zu
leben und zu pflegen. Es ist immerhin möglich, menschlich zu sein und
menschlich zu werden inmitten dieser so unmenschlich scheinenden Welt.
All ihre Gesetze begründen nicht dich, aber ich mit meiner Person erkläre:
es ist möglich, gegen all das, was du sonst siehst, gegen den primitiven
Hunger und gegen den brutalen Egoismus, der aus dem Hunger erwächst,

362
gegen den Krieg, der aus dem Egoismus entsteigt, eine innere Groß-
zügigkeit zu setzen, das Verstehen zu setzen, das gemeinsame Teilen zu set-
zen. Nur so leben Menschen als Menschen miteinander, und erst wenn du
das spürst, wirst du den Mut finden, neu in dieses Leben zu treten. Die alte
Welt wird dir nie mehr eine Antwort bieten, aber eben deshalb bin ich ge-
kommen, um dir das zu sagen: ‹Siehst du, das ist ein wirkliches Licht, daß
deine Augen zu leuchten beginnen. Es schafft einen Sinn, den du sonst nir-
gendwo sehen könntest, und dieser Sinn ist ganz und gar menschlich.›
Doch selbst um zu den Menschen zu finden, bedarfst du meiner, als des
Menschensohns. Denn auch das Sprechen vom Menschen ist fragwürdig.
Du schaust in die menschliche Geschichte, und du stößt auf dasselbe Ent-
setzen wie in der Natur: Wann je wären Menschen in ihrer Vergangenheit
denn menschlich gewesen? Was alles haben sie getan in ihrer Geschichte,
und waren sie am Ende nicht noch glücklich über ihre Untaten und sangen
ihre Siegeslieder?»
Ein winziges Beispiel: Am 12. Dezember 1937 erobert die japanische
Armee, nachdem sie Peking und Shanghai besetzt hat, als drittes Nanking.
Befehlsgemäß, nach höchster Order, werden in einem Monat in der von
allen Reichen und Mittelständlern längst verlassenen Stadt, wo im wesent-
lichen nur noch Frauen und Kinder, alte und arme Leute ausharren,
250 000 Menschen völlig sinnlos niedergemetzelt mit allem, was zum
Töten hilft: Bajonetten, Schwertern, MGs; keine Frau bleibt von männli-
cher Willkür verschont. Doch während das passiert, wird der japanische
Nachrichtendienst ASARI über den Rundfunk vermelden, daß die kaiserli-
che Armee im Sieg für den göttlichen Tenno in einem dreifachen Hoch für
seine Majestät so laut gerufen habe, als sollten Himmel und Erde erbeben.
Und der faschistische Nachrichtendienst in Deutschland und Italien feiert
den ostasiatischen Verbündeten. Der Opfer gedenkt niemand; bis heute
muß es ein seltener Mensch sein, der sich in Japan wollte entsinnen der
Greueltaten in Nanking. Eigentlich hat es sie nie gegeben – Nanking, wo
liegt das? Und wer war General Matsui, der das Massaker befohlen hat
und später durch die Alliierten hingerichtet wurde? Er hat seine Pflicht
getan. – Überall kann man derartige Betrachtungen anstellen, und es ist
ihrer kein Ende. Das Grausen vor den Menschen kann noch schlimmer
sein als das Schaudern vor den Kreaturen. Die fühlen und tun lediglich,
was und wie sie müssen; aber wir Menschen, sollte man glauben, könnten
nachdenken. Doch wie weit entfernt liegt der Trost, den wir bräuchten, um
wenigstens der menschlichen Geschichte standzuhalten! Es gäbe eine Er-
laubnis zur Güte! Diese Erlaubnis, noch einmal betont, stellte alles in

363
Frage, was sonst «normal» ist, sie drehte die ganze Weltordnung auf den
Kopf, und doch wäre sie das einzige Licht, das in dieser Düsternis uns wie-
der sehend machte. Nichts anderes ist möglich, es gibt nur diese eine Per-
spektive nach vorn. An sie gebunden ist die ganze Botschaft Jesu. In die-
sem Licht besteht sie, – das will das Johannes-Evangelium sagen. Die
Krankheit, auf die sie antworten möchte, ist der Schrecken und die Angst
vor der Grausamkeit einer Welt, die Menschen auf der Suche nach dem,
was sie sind, nicht verstehen können, ja, gar nicht akzeptieren dürfen,
wenn sie wirklich Menschen sein wollen.
Orientiert man die Fragestellung in dieser Weise, begreift man, warum
das Gespräch an genau dieser Stelle nur so weitergehen kann, wie es
tatsächlich weitergeht. Die Pharisäer erklären Jesus: Du – über dich selbst
legst du ein solches Zeugnis ab! Dein Zeugnis ist nicht wahr. Schon im
Munde Johannes’ des Täufers tauchte dieses Problem auf (Joh 5,31-35). Es
ist die Frage, die jeder Mensch sich stellen muß: Wer ist er selbst? Es ist
wahr, daß der Einwand der Pharisäer gilt. Würde ein Mensch erklären:
«Ich bin das, wozu ich mich selber bestimme, ich erkläre, wer ich selber
sein will», so würde er sich nur um die eigene Achse im Kreise drehen. In
der Philosophie Europas diskutierte man noch vor fünf Jahrzehnten inner-
halb des Existentialismus genau dieses Problem: Was eigentlich ist ein
Mensch? Vor allem der französische Existentialist Jean-Paul Sartre er-
klärte: «Wir Menschen sind keine Gegenstände. Ein Messer wird gemacht,
um zu schneiden; sein ganzer Zweck liegt in seiner Struktur. Seine Essenz
geht seiner Existenz voraus. Ein Mensch wird überhaupt nicht für etwas
gemacht, er hat durchaus keine vorauslaufende Bestimmung, er ist einfach.
Was er ist, bestimmt er selbst; eben deswegen ist er frei. Er entwirft sich, er
entscheidet sich, und aus seinen Beschlüssen formt sich sein Leben, sein
Charakter, das, was er ist, seine ganze Bedeutung. Er verleiht sie einzig sich
selbst. Selbst was die Gegenstände und Lebewesen an seiner Seite bedeu-
ten, hängt ab von den Bedeutungen, die er selber sich verleiht, hängt ab
von dem Sinngefüge, das er sich erbaut.»2
Verhielte es sich so, stünden wir bei dem äußersten Gegensatz zu dem,
was das Johannes-Evangelium im Munde Jesu hier sagt. Es fleht uns förm-
lich an, so nicht leben zu wollen. Denn bliebe das die letzte Auskunft, so
wären wir nichts weiter als ein unendlicher Versuch, eine Wanderdüne zu
erklettern, deren Sand unter unseren Füßen noch viel schneller fortrinnt,
als unsere Beine sich bewegen können; das eigene Gewicht würde immer
mehr Material unter die Füße treten, je höher wir zu klimmen versuchten.
Es wäre ein Leben, das immer wieder gegen seine Nichtigkeit ankämpfen

364
müßte, um gegen seinen Selbsthaß etwas Ordentliches, etwas jeder Kritik
Standhaltendes aus sich hervorzubringen. Es ist eine unglaublich gütige
Antwort, wenn Jesus an dieser Stelle sagt: Auch wenn ich ein Zeugnis über
mich selber ablege, wahr ist mein Zeugnis doch; denn, so begründet er es:
Ich weiß, woher ich komme und wohin ich gehe. Das ist die Perspektive,
die im Johannes-Evangelium die Person Jesu insgesamt einnimmt. Sie ver-
körpert die Antwort auf die wichtigste Frage unseres Lebens: woher wir
kommen und wohin wir gehen – Herkunft und Zukunft unseres Daseins.
Wer das nicht weiß, hat keine Orientierung, weder im Raum noch in der
Zeit, er irrt und verirrt sich in allem.
An dieser Stelle ist der johanneische Gegensatz nicht aufzuheben, nur zu
bestätigen. Gleich im nächsten Satz erklärt Jesus: Ihr – rein irdisch urteilt
ihr, und das ist genau dasselbe für das Johannes-Evangelium wie das ge-
rade Ausgesprochene Sich-im-Kreise-Drehen oder In-Finsternis-Existieren.
Irdisch, das bedeutet: es gibt auf die Frage, woher du kommst und wohin
du gehst, nichts weiter als die üblichen biologischen, psychologischen und
soziologischen Antworten. Du bist das Kind deiner Eltern, du bist aufge-
wachsen in einem bestimmten Milieu, du gehörst einer bestimmten staatli-
chen, politischen und kulturellen Umwelt zu; und die mußt du nun weiter-
tragen – das ist dein Woher und Wohin. All die Zwangsbestimmungen von
Kindertagen schiebst du folglich durch dein Erwachsenenalter, und was du
warst, wird zugleich das Schicksal deiner Zukunft sein.
Wenn das so ist, ist unser irdisches Leben nie etwas anderes als eine
Falle, der wir nicht entlaufen können. Wir müßten sogar noch viel krasser
sagen: Woher du bist, das ist nun wirklich der reine Zufall; aus einem Mil-
lionenangebot von Möglichkeiten ist durch zufällige Zusammenfügung
von Erbinformation etwas geworden, aus dem du hervorgegangen bist,
und dieselben Kräfte, die dich aufgebaut und geformt haben, werden dich
nach ganz kurzer Zeit schon wieder zerlegen. So muß das sein, weil die
Natur etwas Dauerhaftes gar nicht verträgt; sie legt Wert auf Wiederver-
wertung. Und merke nur ja: Du bist nichts weiter als eine der Übergangs-
größen für das Recyclingverfahren der Natur; das ist, woher du kommst
und wohin du gehst: aus der Müllhalde auf die Müllhalde! Viel mehr bilde
dir nicht ein.
Es ist das Johannes-Evangelium, das dieses Urteilen im «Irdischen»
überwinden will; ohne es länger auszuführen, fast wie selbstverständlich,
setzt es voraus, daß eine glaubhafte Antwort alles Irdische, buchstäblich
alles Endliche übersteigen muß. Es ist ein Schlüsselwort des ganzen Johan-
nes-Evangeliums, wenn Jesus an vielen Stellen immer wieder sagt: Wer an

365
mich glaubt oder wer mir nachfolgt oder wer mich sieht oder hört, der hat:
unendliches Leben. Das ganze Geheimnis der menschlichen Existenz liegt
in dieser Antwort: «Du kommst aus der Hand Gottes und bist auf dieser
Erde ein ewig Heimatloser; aber selbst dein Leiden an diesem Zustand und
deine Sehnsucht, dein oft maßloses Verlangen nach etwas ganz anderem
zeigt, daß du unterwegs bist. Du gehst zurück zum Ort, woher du kamst;
aber dieser Ort ist das Unendliche selbst; er ist die Liebe selbst; und erst
das ermöglicht dir, ein Mensch zu werden.» Das Johannes-Evangelium sel-
ber drückt diese Überzeugung sehr schön, wenn auch sehr zugespitzt aus.
Würdet ihr mich kennen, sagt Jesus zu den Pharisäern, würdet ihr auch
meinen Vater kennen, oder, negativ gesprochen: Wer mich nicht kennt,
kennt auch meinen Vater nicht, der mich gesandt hat. Es ist ein Gefühl, nie
allein zu sein, sondern inmitten der Einsamkeit der Welt verbündet zu sein,
gemeint und geeint zu sein, gemocht zu werden und begleitet zu werden.
Immer wieder wird der Jesus im Johannes-Evangelium sprechen von sich
und seinem Vater. Man hat in der Exegese aus dem Vierten Evangelium ge-
rade deswegen eine Art dogmatischer Ikonenmalerei gemacht, man hat das
Medikament zum Kultgegenstand erhoben. Jesus und der Vater – daraus
wurden eine Fülle christologischer Definitionen und Glaubenssätze. Die
Wahrheit aber ist weit ursprünglicher, klarer, im Gebrauch viel einfacher.
Was der johanneische Jesus andeutet, ist dieses: Ein Mensch kann nur
leben, wenn er für sein Dasein eine innere Sendung, eine Mission, verspürt.
Das ist es, weswegen es sich lohnt zu leben und die Augen wieder aufzu-
machen und ins Helle zu treten, und es ist dasselbe wie den Tod zu über-
winden.
Auch diese Sprache findet sich schon in den altägyptischen Pharaonen-
gräbern: Der Verstorbene tritt im Sonnenaufgang ins Licht. Herauszutre-
ten ins Licht3, das ist ägyptisch das Ende des Sterbedaseins, das ist christ-
lich der Anfang von dem, was Johannes immer wieder Auferstehung nennt;
es ist der Beginn eines wirklichen Lebens, und es gründet in dem Gefühl,
nie allein zu sein. «Ich und er, der mich gesandt hat, der Vater», sagt Jesus
hier, «das sind zwei, das ist das Gegenteil aller Einsamkeit». Wer so urteilt
über sein Leben, über sich selbst, der dreht sich nicht mehr im Kreise, der
redet nicht mehr aus einer völligen Isolation heraus, die sich aufwirft zum
Gestaltungszentrum einer ganz eigenen Welt, sondern umgekehrt: Eine sol-
che Existenzform läßt sich führen im Dialog, im Wechselgespräch, und
diese selbe, ursprünglich wie verloren scheinende Welt wird nun zur Bühne
für eine Aussprache ins Unendliche zwischen Mensch und Gott, wird zu
einem Weg über alles Irdische hinaus in die Sphäre des Göttlichen. Ein

366
Mensch kann nur leben, wenn er weiß, mit welchem Auftrag, mit welchem
Wort er in diese Welt geschickt wurde. Das zu gestalten, das zu sagen und
mitzuteilen, ist der ganze Inhalt seines Lebens. Bezogen auf die Person
Jesu, ist die Zusicherung von seinem Vater die Entscheidung über alles. Sie
macht ihn selbst zu dem «Wort», wie wir im Johannes-Prolog sahen.
Die Theologen begehen im Aufbau ihres Lehrgebäudes offenbar bis
heute einen schweren Fehler, der sich fortsetzt bis in jeden Religionsunter-
richt hinein und der zum Übel gerät für ganze Generationen, die religiös
sich auf der Suche befinden. Dieser Fehler lautet: Alles muß beginnen wie
auf der ersten Bibelseite mit den Worten von Gen 1,1, daß Gott «die Welt»
«im Anfang» «geschaffen» habe. Weil dieser Satz gelten muß, wird man
den Kindern schon zeigen, wie schön die Welt ist. Leider nur haben die
Menschen, Adam und Eva, dann freilich, kaum daß es losging, gesündigt,
aber dafür kam die Erlösung; sie kam nach biblischen Maßstäben sogar
immerhin bald, wenn auch nach paläontologischen Maßstäben unglaub-
lich spät; doch wie auch immer, – sie kam, sie hieß Jesus Christus; und
dann kam die Kirche; und nun leben wir heute und haben eine doppelt
schöne, eine von Gott geschaffene und eine von Gott erlöste Welt vor uns
– so die Zusammenfassung der christlichen Lehre. Sie wird allerorten
gebetsmühlenartig repetiert, aber sie hat keine Begründung. Daß sie eine
solche nicht hat, sah bereits die Gnosis vor 1800 oder 1900 Jahren; sie
formulierte dasselbe Problem, das unsere Kinder heute haben, das jeder
von uns hat, wenn er nachdenkt: Wie denn soll sich ein Gott der Güte, der
Liebe, der Menschenfreundlichkeit mit all den Adjektiven, die wir ihm zu-
schreiben, im Gesicht dieser Welt beglaubigen, in dieser blutrünstigen
Fratze, mit der die Natur uns anstarrt?
Die Wirklichkeit der Welt ist so unsäglich groß, so unendlich fern, so
unglaublich gleichgültig. Es ist ein Problem, das jeder hat, wenn er auch
nur durch ein Fernrohr schaut. Die Welt ist im 20. Jahrhundert aufgerissen
worden bis zu Dimensionen, die nicht einmal Immanuel Kant geahnt hat,
als er die Nebel im Kosmos als ferne Welteninseln meinte deuten zu kön-
nen. Das Teleskop, das seit Jahren im Weltall kreist und nach dem ameri-
kanischen Astronomen Edwin Hubble benannt ist, zeigt uns mittlerweile
Galaxien in Abständen, die bis zu ein paar Hundertmillionen Jahre nach
dem Urknall zurückgehen. Es war Hubble, der 1923 zum ersten Mal gese-
hen hat, daß der Andromedanebel, der rund zwei Millionen Lichtjahre von
uns entfernt ist, eine eigene Milchstraße bildet. Da schauen wir Licht, das
ausgesandt wurde, als die Menschen, die Vormenschen, sich noch auf der
Stufe des Homo habilis befanden, eines Seitenzweigs auf dem Weg zur Ent-

367
wicklung der Schimpansen wie des modernen Menschen. Und dieses Licht
entstammt der uns nächsten Galaxie im Weltall! Nichts an den Proportio-
nen und an den Dimensionen der Welt ist auf den Menschen zugeschnit-
ten, und diese ungeheuere kosmische Einsamkeit im Kreisen der Welten
müßte religiös eine Antwort finden. Daß die Theologen Fragen dieser Art
ignorieren, macht das Problem an sich nicht einfacher. Unsere Kinder
haben die Schwierigkeiten; ob sie es denken oder nicht, sie fühlen es: Die
Maßstäbe stimmen nicht!
Eben deswegen darf man nicht mehr einfach damit beginnen: Im An-
fang schuf Gott Himmel und Erde – um dann gleich fortzufahren: und
dann erschuf er den Mann, und dann die Tiere, und dann die Frau, und
dann ging es weiter mit der Sünde, und dann kam schließlich die zweite
Eva, dann kam die Gottesmutter, die gebar den Erlöser. All die dogmati-
schen Formeln nützen uns nicht mehr. Aber wenn wir denken, die Welt
lasse sich zurückgewinnen, in gewissem Sinne sogar heiligen, beruhigen,
befrieden, ja, segnen mit einer neuen Liebe, mit einer neuen Güte, dann in
der Tat gibt es nur ein einziges Zentrum: die Person des Jesus von Nazaret.
Das ist die feste Überzeugung des Johannes-Evangeliums. Von seiner Art
her, zu leben und zu denken, würde alles noch einmal ganz anders; ihm
könnte man glauben, da wäre ein Gott, der wäre wie ein Vater. Wir sehen
ihn nie, diesen Gott als Vater. Doch was wir von ihm zu sehen bekommen
könnten, ist ein versöhnter Mensch, wie Jesus es sein wollte, imstande,
einen jeden von uns mit seinen Ängsten und Zweifeln, mit seinem Entset-
zen und Schaudern zu versöhnen und zu beruhigen. Das unerschütterliche
Vertrauen dieses Mannes war es, im Hintergrund aller Welten stehe eine
Macht, die es genauso wolle, wie er es ersehnte. Ihr traute er alle Mensch-
lichkeit zu; und so erklärt er hier: «Würdet ihr mich verstehen, so würdet
ihr den ganzen Hintergrund der Welt: meinen Vater, verstehen.» Wer aber
den Mann aus Nazaret nicht versteht, versteht überhaupt nichts, nichts
von alledem, was je über Gott gesagt wurde und je gesagt werden wird. Er
wird zu sich selbst nicht finden; er wird nie wissen, woraus er wirklich lebt
und wozu es sich wirklich lohnt zu sein. Was er «haben» und «erhalten»
wird, ist lediglich eine lebensferne Ideologie in tradierten Sprachspielen.
Es ist ein kleiner Abschnitt nur aus dem Johannes-Evangelium, den wir
hier lesen, aber in welche Themen redet er hinein, und mit welchem Mut
wird da gesprochen! Kein einziger Satz stammt aus dem Munde des histo-
rischen Jesus, aber was für eine Kraft findet sich da, seine Botschaft weiter-
zuentfalten und mit ihr auf Probleme zu antworten, die der Mann aus Na-
zaret selber weder gehabt noch geahnt hat! Am Ende wird noch einmal –

368
typisch für Johannes – ein Entweder-Oder symbolisch angedeutet. Diese
Worte, überliefert Johannes, sagte er beim Opferstock, als er im Heiligtum
lehrte. Darin liegt schon soviel wie: es gibt fürderhin kein anderes Heilig-
tum mehr, nirgendwo auf der Welt, als die Person Jesu, und daß er sich
aufhält im Heiligtum der «Juden», rechtfertigt nach rückwärts gar nichts
mehr; denn er hält diese Rede in der Nähe des Opferstocks. Auch diese Be-
merkung muß man wieder hören mit johanneischen Ohren. Da glaubten
Menschen immerzu, sie könnten Gott versöhnen, indem sie Tiere töten,
Opfer darbringen, Almosen spenden – den Klingelbeutel herumreichen,
mit anderen Worten, und ihr persönliches Glück auf dem Altar grimmiger
Götter verbrennen. Doch all das wird nie zu etwas führen und hat nie zu
etwas geführt, das der Tragödie des menschlichen Lebens zum Medika-
ment werden könnte; es verbleibt in der Logik der Grausamkeit. Aber
Jesus mit seinem Leben wird eintreten für die Liebe. Seine Botschaft wird
eine ganze Welt empören; denn man wird völlig richtig begreifen, daß das,
wofür er Zeugnis gibt, alles zum Einsturz bringen muß, worauf bisher die
Welt gegründet war. Das gesamte Selbstverständnis von Menschen über
sich selbst, über die tragenden Pfeiler der menschlichen Gesellschaft, über
die Grundprinzipien der Geschichte, die wir Menschen gefälligst uns an-
eignen und befolgen sollten, gerät hier ins Wanken. Sehr bald deshalb wird
man ihn totschlagen. Und das wird ein wahres Opfer sein, nicht zwar für
Gott – der hat solches nicht nötig –, aber für uns Menschen, damit wir ler-
nen, nicht einmal den Tod mehr zu fürchten, daß er uns nicht auch nur
irgendeine Wahrheit der Menschlichkeit stehle. Wie wir jetzt leben, jenseits
des Todes, das ist schon die ganze Ewigkeit, das ist das unendliche Leben,
das Jesus verkörpert. So setzt es sich fort, so ist es in sich selbst, hell,
leuchtend und Licht. Noch war seine Stunde nicht gekommen, fügt Johan-
nes hinzu, und deutlicher kann er nicht sagen, was er meint: Da ist der Op-
ferstock, und da ist die Zeit, und bald schon in der Nähe des Heiligtums
von Jerusalem wird sich Jesu Schicksal erfüllen. Aber gerade sein Ende
wird ein neuer Anfang werden. Menschen, die aufhören, die Schrecken des
irdischen Daseins zu fürchten, berühren jetzt schon die Ewigkeit. Johannes
denkt nicht räumlich zwischen Himmel und Erde, seine Alternative stellt
sich zwischen Licht und Finsternis, zwischen Aufstieg und Abgrund, zwi-
schen Sinn und Verzweiflung, modern gesprochen: zwischen innerem Halt
durch Sendung und Auftrag oder Nichtigkeit, Zerstörung und völliger Fru-
stration im Verlieren der Menschlichkeit.
Es wird die Frage sein, was nun die Pharisäer, die «Gottesbesitzer»,
«Juden» geheißen im Evangelium, darauf antworten werden. Es sind ein

369
paar Sätze nur bis dahin, die uns zeigen, welch ein Programm im «Chri-
stentum» liegen könnte und bis in welche Tiefen es lotet.
Manche Biologen sind sehr erstaunt, daß selbst im Marianengraben in
der Südsee, zehntausend Meter unter dem Meeresspiegel, Leben noch mög-
lich ist. Kein Sonnenstrahl dringt dort hinab, aber Leben, das sich erhält
von anderem Leben und weiterzeugt in neuem Leben, überwindet sogar
die Tiefe bis zum äußersten Abgrund. Diese paar Sätze im 8. Kapitel des
Johannes-Evangeliums sind so etwas wie in einer Taucherglocke hinabzu-
steigen in den Marianengraben und Leben dort zu entdecken, wo es eigent-
lich gar nicht möglich scheint.

370
Joh 8,21-47: … und die Unverborgenheit Gottes
wird euch freimachen
21Gesprochen hat er darauf noch einmal zu ihnen: Ich gehe, und
ihr werdet mich suchen, und doch: in eurer Sünde werdet ihr
sterben. Wo ich hingehe, dahin könnt ihr nicht kommen
(7,34.35; 13,33). 22Sagten da die Juden: Er wird doch nicht
etwa sich selber töten, daß er sagt: Wo ich hingehe, dahin könnt
ihr nicht kommen? 23Da sagte er ihnen: Ihr – von unten seid ihr,
ich – von oben bin ich (3,31). Ihr – von dieser Welt seid ihr, ich
– nein, ich bin nicht von dieser Welt. 24Darum habe ich euch ge-
sagt: Ihr werdet in euren Sünden sterben; denn wenn ihr nicht
vertraut, daß ich bin, werdet ihr sterben in euren Sünden (Jes
43,10). 25Sprachen sie also zu ihm: Du, wer bist du? Sprach zu
ihnen Jesus: Überhaupt, was ist das, daß ich noch rede mit
euch? 26Vieles habe ich über euch zu sagen und zu urteilen, ist
doch er, der mich gesandt hat, wahr; und ich, was ich gehört
habe über ihn, das rede ich in die Welt hinein. 27Sie merkten
nicht, daß er den Vater ihnen auslegte. 28Gesagt hat ihnen da
Jesus: Wenn ihr erhöht habt den Menschensohn, dann werdet
ihr merken, daß ich bin (3,14). Ja, von mir aus tue ich nichts,
sondern wie mich der Vater lehrte, das sage ich (12,49). 29Und
der mich gesandt hat, mit mir ist er. Er hat mich nicht allein ge-
lassen, denn ich: was ihm recht ist, tue ich allezeit.
30Während er das sprach, gelangten viele zum Vertrauen auf

ihn. 31Sprach also Jesus zu den an ihn vertrauend gewordenen


Juden: Wenn ihr bleibt bei dem Wort, bei meinem, wahrhaftig,
meine Jünger seid ihr (15,7). 32Und ihr werdet die Unverborgen-
heit Gottes erkennen, und die Unverborgenheit Gottes wird
euch freimachen. 33Geantwortet haben sie auf ihn: Abrahams
Sperma sind wir (Mt 3,9) und niemandes Knechte jemals gewe-
sen. Wieso sagst du: Frei könnt ihr werden? 34Geantwortet hat
ihnen Jesus: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Jeder, der die
Sünde tut, ist ein Knecht der Sünde. 35Der Knecht aber bleibt
nicht im Haus auf ewig. Der Sohn bleibt auf ewig. 36Wenn
also der Sohn euch befreit, wirklich frei seid ihr dann (Röm
6,16.18.22).
37Ich weiß, Abrahams Sperma seid ihr. Aber ihr sucht mich zu

töten, weil das Wort, meines, nicht Platz hat bei euch. 38Was ich
gesehen habe beim Vater, sage ich. Auch ihr – ja, was ihr gehört
habt vom Vater, tut ihr. 39Geantwortet haben sie, sie sagten ihm:
Unser Vater ist Abraham. Sagt ihnen Jesus: Wenn Kinder Abra-
hams ihr wäret, die Werke Abrahams würdet ihr tun (Mt 3,9!).
40Nun aber sucht ihr mich zu töten, einen Menschen, der ich die

Unverborgenheit Gottes euch kundgetan habe, wie ich sie gehört


habe von Gott (18,37). So hat Abraham nicht gehandelt. 41Ihr –
ihr tut die Werke eures Vaters. Sagten sie ihm: Wir – aus Ehe-

371
bruch stammen wir nicht. Einen Vater haben wir: Gott! 42Sagte
ihnen Jesus: Wenn Gott euer Vater wäre, liebtet ihr mich, bin ich
doch von Gott ausgegangen; (von ihm) komme ich; nicht doch
von mir aus bin ich gekommen, sondern er hat mich (dazu) be-
stellt. 43Warum versteht ihr meine Rede nicht? Weil ihr gar nicht
imstande seid, das Wort, meines, zu hören (1 Kor 2,14). 44Ihr?
Vom Vater Teufel seid ihr (1 Joh 3,8-10), und die Interessen
eures Vaters wollt ihr tun. Der war ein Menschenmörder vom
Grundprinzip her (Gen 3,4.19); in der Unverstelltheit steht er
nicht, denn es gibt keine Unverstelltheit bei ihm. Spricht er
Lüge, so spricht er sich selbst aus, denn ein Lügner ist er, ja, der
Vater davon. 45Ich aber, weil ich die Unverborgenheit Gottes
sage, glaubt ihr mir nicht. 46Wer von euch überführt mich einer
Sünde (2 Kor 5,21; 1 Petr 2,22; 1 Joh 3,5; Hebr 4,15)? Wenn ich
die Unverborgenheit Gottes künde, warum glaubt ihr mir nicht?
47Wer da ist aus Gott, die Worte Gottes hört der (18,37). Darum

hört ihr nicht, weil aus Gott ihr nicht seid.


Das 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums enthält eine für diesen Evangeli-
sten typische Rede. Ein absoluter Kontrast bricht da auf wie zwischen
Himmel und Erde, wie zwischen Gott und Teufel, wie zwischen Leben und
Tod, wie zwischen Wahrheit und Lüge; beide Pole personifizieren sich in
Jesus und den «Juden». Es ist eine fast hermetische, schwer verstehbare
Sprache, wie für einen inneren Zirkel geschrieben, der sich gegen eine
ganze Welt von Gegnern zur Wehr setzen muß. Gerade so aber erscheint
Jesus hier selbst: als ein Einzelner inmitten einer Menschheit, die ihn erst
verstehen wird, wenn sie den Menschensohn bei Gott «erhöht», das heißt
vor den Augen der Menschen am Kreuz vernichtet haben wird.
Jeder, der die Worte aus dem Johannes-Evangelium zum ersten Mal
hört, wird erschrocken, vielleicht auch empört sein: Wie kann man mit
Menschen sinngemäß so reden: «Ich bin die Wahrheit, aber ihr seid die
Lüge; ihr wollt mich ermorden, denn ihr könnt nicht anders, als der Wahr-
heit zu widersprechen; ich bin von Gott, aber ihr seid die Kinder des Sa-
tans?» Ist es möglich, nach einem solchen Affront, nach dem Gebrauch
eines solchen Pflugs, der die Gräben derart tief aufreißt, Verständigung
und Gemeinschaft überhaupt noch zu wollen? Ohne Frage: das ist keine
Sprache mehr zum Einladen, sondern zum Abgrenzen und Ausgrenzen. –
Doch eben deswegen gerade, weil sie so steil, so psychologisch unvermit-
telbar ist, hat sie auf leichte Weise Eingang gefunden in die dogmatische
Glaubenslehre der Kirche. Jeder Begriff, der hier Verwendung findet, hat
eine zweitausend Jahre lange Auslegungsgeschichte hinter sich, die uns
diese außerordentlichen Worte zum Gewöhnlichen macht, jedes Skanda-
lons enthoben, jeder existentiellen Aufregung wie um Lichtjahre entfernt.

372
Wenn ihr erhöht habt den Menschensohn – das ist die Sprache, in wel-
cher bei Johannes die Kreuzigung Jesu umschrieben wird. Der theologische
Kommentar dazu ist wohlfeil: Die tiefste Erniedrigung ist der größte Tri-
umph bei Gott, und so muß es sein, denn der da getötet wird, ist von Gott;
sein «Ich bin», das er den Juden entgegenhält, ist die Sprache, mit der Gott
sich selbst im Alten Testament offenbart. Er ist von Gott gekommen, um
Menschengestalt anzunehmen, doch gerade dadurch, daß er Licht in die
Finsternis brachte, warf er den Schatten der Dunkelmänner um so ausge-
dehnter an die Wände der Welt. Die Polarisierung zwischen Himmel und
Hölle, zwischen Gott und Satan hat in ihm konkrete Gestalt angenommen,
und seitdem muß man sich im Absoluten entscheiden zwischen Sünde und
Glauben. – Auch das Wort Sünde ist ein im Christentum inzwischen ver-
waltungspraktischer Begriff geworden; so wird im Weltkatechismus der
deutschen katholischen Bischöfe, Ausgabe 1995, Band 2, für «Erwach-
sene», nach wie vor unterschieden zwischen den läßlichen und den «schwe-
ren», den tödlichen Sünden, um klarzustellen, daß letztere auf ordentliche
Weise nur im Bußsakrament der Kirche durch die Lossprechung des Prie-
sters vergeben werden können1. Alles hat da seine Regel und Vorschrift,
und wohl dem, der auf solch ordentliche Weise der richtigen Kirche zu-
gehört! Alles ist da deklariert, alles firmiert, alles definiert – und nichts ist
verstanden!
Man tut dem Johannes-Evangelium bitter unrecht, wenn man den dog-
matisch abgezweigten Nebenarm – längst ein ausgetrockneter Tümpel – in
Verbindung bringen will mit dem Quellwasser, mit dem er im Grunde in
Beziehung steht. Absichtlich bedient das Johannes-Evangelium sich einer
Sprache, die an jeder Stelle, wo man sie hört, geheimnisvoll wirkt. Dieses
späteste aller uns erhaltenen Evangelien macht im Verlauf der Entwicklung
der Evangelienliteratur im 1. Jahrhundert n. Chr. eine Erfahrung, die, je
länger sie währt, mit der sprachlichen Reifung im Werk eines Lyrikers ver-
gleichbar ist. Man liest Gedichte von Nelly Sachs oder Paul Celan, und
man merkt, daß die Sprache ihrer späten Werke immer knapper, immer
hermetischer, immer geronnener wird. Wo früher noch mehrere Zeilen
über einen Gedanken, über ein Gefühl, über einen bestimmten Ausdruck
sich rankten, verdichtet es sich jetzt zu einer einzigen Chiffre von eigener
Prägnanz: Salz, zum Beispiel2 – das Wort steht für einen Schmerz, der nicht
heilen will, für Tränen, die niemand mehr weint oder die zu Kristallen ge-
worden sind in erblindenden Augen. All das aber wird nicht mehr gesagt,
sondern man muß es aus der Wortentwicklung dieses Lyrikers kennen. Es
ist, wie wenn eine Rose reifen würde und hüllte sich in ihr schönstes Kleid,

373
nur um es eines Tages abzustreifen und zur Frucht zu werden und sich wei-
terzugeben in scheinbar unansehnlichen Samenkörnern. Die aber wollen
ausgestreut sein und suchen nährende Erde; – ganz so diese Worte im Jo-
hannes-Evangelium. Sie sind so verknappt, daß man sie nur im Rahmen
der Entwicklung verstehen kann, die in sie Eingang gefunden hat. Was sie
wirklich bedeuten, läßt sich nur ermitteln und ermessen, wenn man ver-
sucht, mit ihnen zu leben, wenn man sie im eigenen Ich aufnimmt, auf daß
sie in einem selbst sich neu verwurzeln.
Nur in diesem Sinne einer existentiellen Aneignung stellt sich die Frage,
worum es in diesem Text eigentlich geht. Man ahnt erneut die absolute
Spannung auf Entweder-Oder. Aber woran soll es sich entscheiden? Was
ist gemeint in all den Rätselreden, die doch Offenbarungsreden sind?
Beginnen wir mit dem Satz, der scheinbar am klarsten spricht: Wenn ihr
bleibt bei dem Wort, bei meinem, wahrhaftig, meine Jünger seid ihr. Und
ihr werdet die Unverborgenheit Gottes (die Wahrheit) erkennen, und die
Unverborgenheit Gottes wird euch frei machen. – Nach theologischer Auf-
fassung ist die Wahrheit im Johannes-Evangelium die Seinsweise Gottes.
Philologisch, begriffsgeschichtlich, trifft diese Erklärung gewiß zu, aber
wenn wir das scheinbar psychologisch Unvermittelbare uns gleichwohl
vermitteln möchten, so sollten wir zunächst nicht von Gott sprechen; denn
anders als der «Offenbarer», als Jesus, der ausgeht von Gott und von sich
sagt, daß er Gott kennt, kennen wir ihn nicht, sondern sind angewiesen
auf seine Vermittlung. Wir müssen reden von dem Stückchen Wahrheit,
das wir erkannt haben, das in uns neu wächst wie ein zaghaft im Frühling
sich wagender Kirschenzweig, hoffend auf neues Erblühen. Wir müssen
sprechen von dem, was in uns selber vor sich geht, wenn wir die Gestalt
gewinnen, die in uns angelegt und gemeint ist. Alle Gegenworte, wie Lüge
und Sünde, sind im Kontrast aus dem Begriff der «Unverborgenheit» des
Seins abgeleitet; sie liegen offensichtlich auf derselben Ebene und werden
in sich selbst verstehbar, wenn wir nur diese eine wesentliche Frage erst
einmal beantwortet haben: Wie finden wir zur Wahrheit unseres Lebens?
Es gibt in dieser Rede einen sehr präzisen Begriff von Wahrheit; er wird
aus historischen Gründen mit dem Judentum verbunden; es ist aber deut-
lich, daß das, was hier als «Judentum» auftaucht, selber wieder nur eine
aus der Geschichte gewonnene Chiffre für eine bestimmte Art ist, das
menschliche Leben zu deuten. Sie lautet: Abrahams Sperma sind wir; – das
Wort kann man ins Deutsche gar nicht übersetzen, weil es so kraß biolo-
gisch stehenbleiben muß, wie es schon auf Griechisch gemeint ist. In der
Tat, es gibt ein erstes ausgezeichnetes Selbstverständnis, das darin gründet,

374
daß man von jemandem abstammt. Da gibt es eine genealogische Linie, ein
Adelsgeschlecht zum Beispiel, und nun gehört man durch den Zufall der
Geburt bereits dieser Abfolge der Geschlechter zu. Alles begann scheinbar
mit einem zufälligen Ereignis, doch ruht auf dieser reinen Beliebigkeit in
theologischer Sicht eine unbedingte Bedeutung: Gerade die restlose Kon-
tingenz unserer Existenz, die Tatsache, daß wir rein zufällig einem be-
stimmten Volk, einem bestimmten Genpool entstammen, wird von der he-
bräischen Religion auf göttliche Bestimmung, auf Auserwählung, auf eine
besondere, im Absoluten anzusiedelnde Bevorzugung zurückgeführt. Wir
sind jemand, eben weil wir nicht durch bloßen Zufall der Geburt, sondern
durch göttliche Fügung in eine bestimmte Gruppe hineingeboren wurden.
Da bietet die Biologie und hilfsweise die Soziologie den Inbegriff, den Ho-
rizont jeder nur denkbaren «Wahrheit».
Was das Johannes-Evangelium hier anspricht, besteht im Rahmen der
jüdischen Religion in gewisser Weise noch heute: Man wird zum Juden
durch die Geburt, die man einer jüdischen Mutter verdankt; Biologie und
Soziologie bilden da gemeinsam die Basis der Religion. Das bedeutet es
«jüdisch», Kind Abrahams zu sein. Doch es ist keineswegs so, als handelte
es sich hier um eine rein jüdische Denkweise, so daß wir, die Christen,
darüber die Nase rümpfen könnten. Wir selbst, die Christen – Johannes-
Evangelium hin, Johannes-Evangelium her – haben es im Rahmen von
Dogmatismus und Sakramentalismus genauso weit gebracht. Der dänische
Religionsphilosoph Sören Kierkegaard vor rund hundertfünfzig Jahren
schon war sich darüber im klaren: In seinen Kampfschriften, die er, ster-
benskrank, am Rande des physischen und wirtschaftlichen Ruins auf den
Straßen von Kopenhagen verteilte, in den Texten vom Augenblick, nimmt
er sich gerade diese Grundüberzeugung des etablierten Christentums vor:
Wir sind Christen, einfach weil wir in ein bestimmtes kirchliches Milieu
hineingeboren wurden. Man ist Christ von Geburt. Es kostet überhaupt
nichts, ein Christ zu sein. Man müßte ein sehr entschiedener Mensch sein,
wenn man in der dänischen Staatskirche kein Christ sein wollte; man
müßte dann ja durch eigene Überlegung zum Widerspruch angespornt
werden. Wohlgemerkt: in den Tagen, als das Christentum begann, war es
ein einziger Widerspruch, da gründete es sich reinweg auf persönliche Ent-
scheidung, da artikulierte es sich notfalls im Konterfei und im Kontrast zu
dem gesamten Rest der Welt. Heute fügt es sich gerade umgekehrt. Jeder
ist ein Christ auf Grund der Umstände, wie Kierkegaard ironisierte: «Erst
kommt die Mutter in Umstände, und dann macht das Umstände, und dann
umstehen am Taufbrunnen die Paten das Neugeborene, und eben auf

375
Grund der Umstände hast du, was man da nennt einen Christenmen-
schen3; und just siehst du der Christen denn auch so viele wie Heringe im
Öresund zur Laichzeit. Es multipliziert sich durch die Kraft der Genealogie
selber! Drum daß du die in langen Gewändern (Mk 12,28; vgl. Mt 23,5) –
ich rede nicht von den Hebammen, sondern von den Pfaffen – grad in den
Kinderstuben so häufig findest, und grad an der Seite der Frauen, um sie
zu bestimmen, so viele Christen zu machen wie möglich – eben auf die
Weise der Zeugung4. Keiner zeugt mit seiner Existenz für irgend etwas,
doch er zeugt sich fort; und diese biologische Zeugung von Christen be-
stimmt das ganze Interesse der Christenheit.»
Kierkegaard war empört darüber; ein solcher Christwerdungsprozeß,
meinte er, gleiche in etwa dem Trick, mit dem Vater Jakob – immerhin ein
Enkel Vater Abrahams – seinen zwielichtigen Oheim Laban übermochte:
Nachdem er sich ausbedungen hatte, er dürfe aus der Herde seines Oheims
die gesprenkelten Schafe eines Tages sein eigen nennen, ließ er die Böcke
die Weibchen bespringen vor gesprenkelten Stäben an der Traufrinne, und
diese, hypnotisiert durch die gesprenkelten Stäbe, gebaren daraufhin nur
gesprenkelte Schafe (Gen 30,25-43) – ein Magiezauber, wie er um 1600 v.
Chr. im Orient offenbar gehandhabt wurde. Ganz ähnlich die Viehzüchter
des Religiösen: Man muß nur fixiert sein auf die Umstände, und es wird
am Ende schon, gestreift und richtig gepaart, an Christen und Gläubigen
genug zur Welt kommen: – das wahre Christentum eine Angelegenheit für
Schäfer, als welche die Pastöre denn ja auch gelten. Fehle nur noch, meinte
Kierkegaard, daß man die Pastöre und die Biologen zusammentue zu
einem gemeinsamen Team zur rechten Ausbreitung des Christlichen!5
Abrahams Sperma sind wir. Unser Vater ist Abraham – das kann ein
Stolz sein, so borniert wie es ein Stolz sein kann, ein Deutscher zu sein,
oder, wie es mit einem bißchen Humor besungen wird in manchen Wiener
Liedern: «Mei Stolz is, i bin halt an echts Weana Kind, a Fiaker, wia man’n
net alle Tag’ find’t … A Kutscher kann a jeder wern, aber fahr’n, das kön-
nen s’ nur in Wean! …» Das ist mal Stolz! Da ist das Milieu mit einem sel-
ber so verwachsen, daß eine andere Lebensform überhaupt nicht vorstell-
bar ist. Da ist die ganze Identität gegründet in der einfachen Tatsache, an
einer bestimmten Stelle, zu einer bestimmten Zeit das Licht der Welt er-
blickt zu haben. – Bereits in der Tradition der sogenannten Rede-Quelle,
die bei Lukas und bei Matthäus verarbeitet ist, sagt der jüdische Prophet
Johannes der Täufer sehr im Protest: «Und meint nicht, euch sagen zu
können: Zum Vater haben wir Abraham. Denn ich sage euch: Es kann
Gott aus diesen Steinen (hier) Kinder Abrahams erwecken» (Mt 3,9). –

376
Wer jemand selber ist, das richtet sich religiös nach der Art seines Lebens;
nur darauf kommt es an. Keinerlei Soziologie, keinerlei Biologie, keinerlei
von fremd her verinnerlichte Psychologie ist da ausschlaggebend, sondern
allein die persönliche Existenz. Erst wenn wir es bis zu dieser Bedeutung
bringen, verstehen wir, wieso in all den Auseinandersetzungen des Johan-
nes-Evangeliums ein unerhörtes Ringen um Freiheit anhebt; klar wird zu-
gleich auch, was es heißen soll: Ihr – von unten seid ihr; oder an derselben
Stelle, parallel: Ihr – von dieser Welt seid ihr. Es soll, verstehen wir jetzt
schon, soviel heißen wie: «Ihr seid vollkommen angeglichen an die Paßfor-
men des Äußeren, in die man euch hineingezwängt hat. So sehr ist das der
Fall, daß ihr eine andere Projektion von euerem Leben gar nicht für mög-
lich haltet. Ihr seid, was ihr seid. Ihr seid aber gar nicht wirklich, denn das,
wozu man euch geformt hat, läßt sich in euerem Falle einzig ablesen in der
Druckvorschrift eurer dienstgebenden Behörde, in der Stanze, die euch ge-
prägt hat. Ihr habt kein Ich, ihr seid nicht ihr selber, ihr lebt nicht eigent-
lich. Ihr seid Getötete und deshalb selber der Tod. Alles, was ihr tut, ist
nur zum Schein.»
Erst wer die Radikalität dieser Sprache ein Stück weit begreift, gewinnt
einen Anknüpfungspunkt, psychologisch einmal das Gegenteil zu probie-
ren: Was heißt es, aus einer solchen Welt des Un-Lebens, der Nicht-Exi-
stenz, des gestohlenen Daseins, des Totseins in allem, der Verlorenheit und
Verlogenheit von allem zurückzufinden zum Leben, zur Wahrheit, zu Gott,
wie der johanneische Jesus meint? – Vielleicht helfen ein paar Beispiele.
«Ich hatte in der letzten Nacht einen Traum», erzählte vor Jahren eine
Frau; «da steht eine andere Frau an meiner Seite, sie hat einen Stock in der
Hand, so ähnlich wie einer der Stöcke, an denen ein kleiner Bindfaden war,
eine Peitsche, – wir spielten damit in Kindertagen, wenn wir einen Kreisel
zum Drehen bringen wollten. Und so war es: diese Frau stand da mit dem
Stock, und ich mußte mich drehen, immer schneller mußte ich mich dre-
hen, bis daß ich umfiel. Mir war ganz schwindelig.» – Was diese Frau in
den wenigen Sätzen ihres Traums ausdrücken wollte, enthielt ihr ganzes
Leben: wie es begonnen hatte und wie es immer noch, nach fast fünf Jahr-
zehnten, andauert bis heute. Ihre Mutter wohnt inzwischen längst in einem
Seniorenheim, aber genau das bildet für sie den Ausgang aller Probleme:
Sie empfindet entsetzliche Schuldgefühle gerade dafür! «Es war immer
mein Stolz, meine Mutter würde da nicht hinkommen!» Aber jetzt hat
diese Frau genau das getan: ihre Mutter in ein Seniorenheim abgeschoben.
Das wollte sie nie! Also: Sie ist eine schlechte Tochter! Und sie schämt sich
dafür. Dabei hat sie es über ein Dreivierteljahr versucht, mit ihrer Mutter

377
zusammenzuleben, nur: es ging nicht; ihre eigenen Kinder wurden daran
halb verrückt, ihr Mann ertrug es nicht, und das Schlimmste war: sie sel-
ber vertrug es nicht. Wenn sie nur ein bißchen ehrlich war, erlebte sie ihre
Mutter seit Kindertagen als eine einzige Zumutung. – «Nein, das stimmt
nicht, meine Mutter hat es immer gut gemeint!» – Die Frau fing an zu wei-
nen, als sie das sagte, denn so wollte sie die Welt sehen, und natürlich
stimmte davon auch etwas: Die Mutter hatte es immer gut gemeint! Daran
war überhaupt kein Zweifel. Aber die Art, wie ihre Mutter es gut gemeint
hatte, bestand in einer bestimmten Erziehungsdressur. Nicht eine reale
Peitsche war dazu nötig; es genügt, sich eine Mutter zu denken, die selber
nie hat leben dürfen. Deren Stolz ist die Tochter. Die Tochter ist schön, die
Tochter ist klug, die Tochter ist zu Großem berufen, die Tochter muß sich
drehen und wenden und winden wie ein Figürchen, wie ein Püppchen. Sie
ist schon mit sechs Jahren beinahe eine Ballerina, fast im wörtlichen Sinne.
Sie ist das Schaustück, das Vorführungsobjekt der Mutter. Und da, wo die
Mutter selber nicht lebt, drehen die leergelassenen Wünsche, delegiert an
die Tochter, dieses Mädchen im Kreise.
Es war und ist für diese Frau natürlich niemals möglich, mit ihrer Mut-
ter über diese Zusammenhänge zu sprechen: wer man selber ist, was man
selber möchte; auch nur zu denken, man möchte etwas selber, war voll-
kommen unmöglich. Die Tochter hatte ihren Stolz darein zu setzen, zu tun,
was die Mutter wollte, und die Mutter setzte ihren Stolz darein, wenn die
Tochter tat, was sie wollte; beide ergänzten einander. Stellvertretend lebte
der eine im anderen, und das war der Grund, weswegen keiner von beiden
wirklich lebte und warum sie noch heute beide nicht zusammen leben kön-
nen. Nie ist die Tochter der Mutter gut genug, und nie kann die Mutter
irgend etwas sagen, ohne daß die Tochter es mit schlimmsten Schuldge-
fühlen quittiert. Statt mit der Mutter zu reden, statt mit ihr zu diskutieren,
statt mit ihr Kompromisse zu finden, gibt es deshalb für diese Frau nur
eine einzige Art, auf sie zu antworten: Wenn man nein sagen will, muß
man zusammenbrechen. Krankheit kann so eine Form sein, nein zu sagen;
oder man pflegt die Vorstellung, man ginge einfach weg und stürbe, man
hörte auf zu leben. Diese Idee liegt gar nicht so fern. Man hat ja eigentlich
nie gelebt; ein wirklicher Verlust, recht besehen, wäre der Tod also gar
nicht. Aber doch, man muß auch dankbar sein im Leben! Die Mutter hat
alles getan; auch der eigene Mann hat alles getan, und die ganze Umge-
bung hat stets gesagt, daß diese Frau eine so wunderbare und glückliche
Ehe führt. Ja, diese Frau glaubte das inzwischen selber – ähnlich wie in
Ingmar Bergmans Film Szenen einer Ehe6. Fast wäre diese Frau schon vor

378
Jahren bereit gewesen, in einer katholischen Eheberatung mitzuarbeiten,
um anderen zu helfen, wie sie ihre Ehen in Ordnung zu bringen hätten.
Man kann im Grunde gar nicht denken, daß aus diesem in jedem Betracht
so wohlgestellten Leben ein Ausbruch möglich oder gar erlaubt wäre. Man
ist ein Gefangener in allem, aber man trägt es mit Fassung und Würde; –
wie gesagt: ein ganz normales Leben. Und alle ringsum erklären: so muß es
sein, und so soll es auch bleiben, so gebietet es der Anstand, so gebietet es
der Verstand, so gebietet es die Tugend, so ist es das Gegenteil von Sünde
und Laster und Ehebruch und Zerstörung. «Man hat auch Verantwortung,
man muß auch Opfer bringen!»
Zwischen all dem, was «man» da muß, mit Berufung irgendwann sogar
auf diesen Text aus dem Johannes-Evangelium, findet diese Frau sich an
keiner Stelle zurecht. Was heißt da: (Und) die Unverborgenheit Gottes (die
Wahrheit) wird euch frei machen? – Ein Wichtiges vorweg: Das «euch» ist
nicht in der Mehrzahl zu gebrauchen, es ist keine Anredeform im Kollek-
tiv, es läßt sich nur sprechen zu jedem Einzelnen: Wie wirst du Grund
unter den Füßen finden? Antwort: Indem du dir zugibst, was stimmt.
Schon das zu klären ist eine lange Geduldsprobe. – Also: Wie ist das nun
mit deiner Mutter? Hat sie es gut gemeint? – Ja, ohne Zweifel. – Aber war
sie wirklich gut? Da darf man Zweifel hegen. Es ist doch möglich, daß ein
Mensch sich vornimmt, alles richtig zu machen, er tut es aber mit so viel
Angst und übertriebener Sorge, daß es den anderen erstickt und ihm nicht
zur Freiheit gerät, sondern zu fortschreitender Verknechtung. Am Ende
fühlt sich ein Mensch gar nie zu Hause, so wie Jesus hier sagt: Nur der
Sohn hat ein solches Empfinden, ewig zu Hause zu sein, andere nie.
Wie aber wird ein Mensch bei sich selber zu Hause, wie findet er eine
Übereinstimmung seiner Person mit dem, was er jetzt sagt? Alles kommt
darauf an, zunächst die Zwischentöne zu akzeptieren. Nie ist etwas nur
gut oder böse, nie einfach einzuteilen in die klaren Kategorien von
Schwarz und Weiß, in denen gerade das Johannes-Evangelium hier spricht.
Alles kommt darauf an, daß ein Mensch mit sich selber zusammenwächst,
indem er als erstes so sein darf, wie er ist: widersprüchlich, schillernd, ge-
brochen, dialektisch, so – aber gerade deswegen auch schon wieder sein
Gegenteil: ein ständiges Hin und Her, eine mühselige Form, aus Ja und
Nein irgend etwas dazwischen zu bilden, mit dem man wirklich leben
könnte.
Es hat der Bhagwan einmal in der Weißen Wolke sehr schön gesagt:
«Es gibt nicht Gut und Böse, aber was beim Verstehen sich auflöst, das ist
vom Übel, und was beim Verstehen beginnt zu wachsen, das ist das Rich-

379
tige. Das ist, was ich Gut und Böse nenne.»7 – Man hat die Worte des
Bhagwan in großem Stile mißverstanden und in noch größerem Stile
mißverstehen wollen, aber was er da sagt, ist ein wunderbares indisches
Wort, eine ausgestreckte Hand vom Buddhismus und vom Hinduismus
hinüber zum Christentum. Nicht um Moral geht es da, sondern um ein
Wirklich-Werden in der Tiefe. Es geht, genauer gesprochen, wenn man es
nicht moralisch nimmt, jetzt tatsächlich um Wahrheit und Lüge, um Iden-
tität und Nicht-Identität; wir könnten auch sagen, es gehe darum, ob man
zu dem stehe, was in der eigenen Existenz stimmt, oder ob man dabei
bleibe, sich etwas vorzumachen.
Dann erhebt sich natürlich die Frage, was uns dazu treibt, uns selbst zu
betrügen und ein Ersatzleben an die Stelle des wirklichen Lebens zu setzen.
Mögliche Gründe dafür werden in diesem Text nicht einmal angedeutet,
wir müssen sie rein psychologisch ergänzen. In dem Beispiel jener Frau
etwa liegt die Erklärung auf der Hand: Sie hatte eine unendliche Angst,
ihrer Mutter zu widersprechen. Lieber widerspricht sie sich selbst in jedem
ihrer Sätze, als daß sie ein einziges Mal sich ihrer Mutter widersetzte. Und
das nicht nur der Mutter gegenüber, die heute im Seniorenheim lebt, viel
stärker gilt das für die Mutter, die sie selber in sich aufgenommen hat. Der
ständige Widerspruch ihrer Mutter zu dem, was sie als Mädchen hätte
leben wollen, ist ihr so geläufig, so vertraut geworden, daß er als Wider-
spruch zu sich selber längst verinnerlicht wurde, – eine Welt voller Nega-
tionen! Die Mutter ließ die Tochter nicht leben, und heute, wie automa-
tisch, läßt diese Frau sich selber nicht leben. In dieser inneren Zensur
äußert sich die ständige unsichtbare Gegenwart all dessen, was sie im
Schatten ihrer Mutter einmal hat lernen müssen und was sie heute daran
hindert zu leben. In jedem Falle, wo sie sich dem alten Programm verwei-
gern würde, träte die Angst ein, nicht geliebt zu werden.
Setzen wir für diesen Zwang, aus Angst selber nicht zu leben, das Wort
«Sünde» ein, so wird uns plötzlich der ganze Text offen und zugänglich.
Mitmal berühren wir den inneren Nerv, die Reizleitung gewissermaßen,
die jedes Wort mit dem anderen verbindet, erkennen wir das lebendige
System, aus dem heraus es sich gestaltet. Solange wir den Begriff «Sünde»
hier noch verstehen als eine Übertretung von Gesetzen, macht schon der
Singular, in dem hier geredet wird, gar keinen Sinn; denn dann gäbe es be-
liebig viele Formen von Sünden, so viele wie Gesetze. Es geht aber hier um
eine einzige Art von Sünde. Sie ist, soviel wie das deutsche Wort etymolo-
gisch meint, eine Sonderung, eine Spaltung, sagen wir psychologisch: eine
ständige Dissoziation. Ein Mensch lebt nicht in seinem Ich, sondern in

380
einem Konglomerat von Komplexen, in einer Vielzahl von Stimmen,
immer wieder aufgespalten, anders in jedem Moment jetzt als im nächsten
Augenblick, immer wieder gezwungen, verschiedene Rollen auszufüllen. –
In den Tagen des Karnevals ist das ein großes, beliebtes Spiel: Man kann
noch einmal ganz anders sein. Diese Möglichkeit, sich selbst zu entkom-
men, ist ästhetisch schön und macht Spaß, aber existentiell bedeutet es die
Hölle auf Erden, wenn man ständig mit Masken tanzen muß, und zwar
mit immer neuen Masken, mit niemals selbstgewählten, bis daß das ganze
Leben nichts weiter wird als eine bloße Maskerade. Hat dann das Ritual
nicht fast recht: Der Aschermittwoch kommt nicht, er liegt als Moment
der Selbstzerstörung in der ganzen Lebensanlage. Der Tod ist die Impräg-
natur dieser Art von Un-Leben.
Dann lautet die Frage nicht so sehr, wie wir mit Anspannung des Wil-
lens, durch bewußte Entscheidung, aus der Sünde herausfinden, es ist viel-
mehr die Frage, wie wir das Wort ergreifen und in uns aufnehmen, das
gegen die Angst tröstet. Nichts weiter will der johanneische Jesus hier sein,
und nichts weiter wollte der historische Jesus verkörpern als ein solches
Wort aus einer anderen Welt. Er wollte nicht länger sagen: «Ich leg’ dich
fest auf das, was du seit Kindertagen sein mußtest, ich bestätige dich in
deinem Stolz: du bist ein guter Jude durch Geburt, du bist ein guter Christ
durch deine katholische Herkunft, du bist ein guter Deutscher durch deine
nationale Identität, du bist ein guter Parteigänger durch dein Parteibuch;
ich bestärke dich gerade in dem, was sie alle von dir wollen.» Diese Rede
gehört zur Welt; so funktioniert sie, und so ist sie eine dauernde Lüge.
Jesus wollte im Gegenteil in dieses Wirrwarr die Botschaft hineintragen,
die er von Gott gehört hatte: Menschen sind schön wie Rosen; sie blühen
auf in einer Pracht, die nur sie selbst dieser Welt zu zeigen vermögen, und
anders als jede Blüte am Rosenstrauch vergehen sie nie, denn berufen sind
sie zu ewigem Leben. Fänden sie nur diesen Grund für sich selbst in dem
Untergrund, der da Gott heißt, und lernten sie gegen all die Angst Ver-
trauen zu haben, so hielten sie, sagt Jesus hier, mein Wort und würden die
Wahrheit erkennen und frei werden.
Es ist aber nicht einfach, die Wahrheit wirklich zu erkennen und darin
die eigene Chance, die eigene Freiheit, wirklich zu entdecken. Nehmen wir,
um diesen Zusammenhang noch einmal zu erläutern, ein anderes Beispiel.
– «Mein ganzes Leben stand ich», sagt ein Mann, «im Schatten meines
Bruders. Er wird jetzt, müssen Sie wissen, drei Jahre nach Moskau reisen.
Er war immer der große Bruder; alles, was er macht, ist um Meilen größer
als das, was ich tue; ich bin ein Zwerg, gemessen an ihm.» – Das sagt er so

381
ironisch über sich selbst, daß es schwerfällt zu glauben, er denke nur so
von sich. Also frage ich ihn:
– «Und Sie denken, das ist die ganze Wahrheit: Sie der Zwerg und er der
Riese?»
– «Meine Frau sagt: du bist doch eigentlich viel besser als er», und dabei
beginnt er zu lachen.
– «Ja, aber warum glauben Sie es Ihrer Frau nicht? Sie meint es wirklich
so, wie sie sagt, denke ich mal.»
– «Ja, sie meint das so, aber sie kennt mich nicht wirklich.»
Da leben also zwei Menschen über dreißig Jahre zusammen, und es sitzt
ein Mann da, der sich sicher gibt: Er hat es geschafft! Dreißig Jahre lang
schon führt er nun den Menschen an seiner Seite, der ihn vermutlich ganz
und gar kennt, an der Nase herum und hat ihn vermeintlich dressiert in
einer Liebe, die im Grunde nur dem Theater gilt. Er meint sein negatives
Besserwissen um sich selber nicht einmal hochmütig, und trotzdem möchte
man ihm sagen: «Was bilden Männer sich manchmal nur ein, wenn sie
davon ausgehen, Frauen seien so dumm, drei Jahrzehnte lang sich mit Ent-
täuschungen zufriedenzugeben?» Tatsächlich redet der Mann aber durch-
aus nicht verächtlich über seine Frau, er redet und denkt verächtlich allein
über sich selbst. Er will sagen: «Wer mich so kennt, wie ich mich kenne,
wer so denkt über mich, wie ich, der hat etwas vor sich, das er niemals lie-
ben kann; das, was ich bin, ist doch längst gestorben unter den Schlägen
meines Vaters, unter seiner dauernden Verachtung, unter seinen zornigen
Augen. Mein Vater liebte die Leistung, und da war mein Bruder immer
stärker als ich; ich war ihm zu schwächlich, ich war ihm gegenüber nicht
kräftig genug, ich war sein Sorgenkind.» – Aus all dem geworden ist in
Wirklichkeit heute ein sehr feinfühliger Mensch, er ist sehr sensibel sogar,
er ist durchaus imstande, seine Frau zu verstehen. – Die wiederum leidet
darunter, als Mädchen von ihrer Mutter und ihrem Vater verlassen worden
zu sein. Ganz früh schon war sie verstoßen und in ein Internat, in die Er-
ziehung von Ordensschwestern, gegeben worden; und sie hat diesen Aus-
schluß aus ihrer Familie nie verwunden. Eben deshalb hängt sie sich heute
wie eine Ertrinkende an ihren Mann. Der wieder muß die Rolle eines Va-
ters und eines kleinen Jungen zugleich spielen, und dazwischen reißt es ihn
hin und her; immer wieder muß er auf Ängste antworten, die er nicht be-
ruhigen kann, und er möchte nur einmal Worte hören, die ihn gelten
ließen, doch gerade diese Worte, wenn sie gesagt werden, kommen ihm
ganz unglaublich vor.
Wir denken immer, daß Menschen, wenn sie sich selber etwas vorma-

382
chen – sagen wir es kraß, aber ohne jeden moralischen Beigeschmack:
wenn sie sich selber belügen –, es ausschließlich zu ihrem Vorteil täten.
Zur Hälfte ist das vielleicht richtig, aber zur anderen Hälfte sind sie stets
auch selber die Opfer all ihrer Lügen: Sie kommen nie dazu, ein Stück weit
wenigstens das als wertvoll zu betrachten, was sie wirklich sind; sie gelan-
gen niemals dahin, anzuerkennen, worin ihre wirklichen Stärken liegen.
Immer geht bei allem, was sie nach außen tragen, ein geheimes Empfinden
mit: so wie ich sein könnte, darf ich nicht sein; und so wie ich eigentlich
bin, darf ich es den anderen nicht zeigen. Immer wieder verpreßt da die
Angst jede gerade Entfaltung zum Leben.
Umgekehrt nun: Die Wahrheit wird euch frei machen! Das hieße in die-
sem Falle, sich einverstanden zu erklären mit dem Kind, das man einmal
war: eines, das die Straßenjungen verhauen haben, eines, das sich damals
nicht wehren konnte; aber ist es schlecht, so großgeworden zu sein und
etwas daraus gelernt zu haben, das menschlich kostbar ist? Muß man dau-
ernd eine alte, ungerechte Scham weitertragen, nur um immer noch ein
Sein von sich zu entwerfen, das es nur scheinbar gibt, mit dem Effekt
natürlich, nie zu dem zu werden, was man in Wirklichkeit ist? Was wäre,
man würde die ganze Vergangenheit, den ganzen Werdegang einmal so an-
nehmen, wie er war? Man dürfte dazu stehen, man hätte keine Angst
mehr, dafür verlacht, verurteilt oder verspottet zu werden, – so wie Jesus
hier sagt: Ich – nein, ich beurteile niemanden. Es käme ein Wort in diese
Welt jenseits der wechselseitigen Negiertheiten und Negationen; ein Wort,
das eine reine Bestätigung wäre: Du darfst erst einmal so sein! Dann wäre
es möglich, sich aufzurichten und zu denken: Auch ich bin jemand und gar
nicht so schlecht und doch auch ein Stück liebenswert. Das ist das Wort,
das an dieser Stelle gar nicht erwähnt wird und das doch im Hintergrund
von allem steht.
Was sich hier zwischen Gott und dem Teufel unterscheidet und entschei-
det, ist, wie wir sehen, entweder ein Leben in einem solchen Vertrauen, ge-
liebt zu sein über alle Widersprüche und Verneinungen hinweg, oder sich
hassen zu müssen für das, was man ist. Wir sollten dabei endgültig auf-
hören, vom Teufel in der Weise zu sprechen, wie es der römische Katechis-
mus von 1993 für 900 Millionen Katholiken allen Ernstes immer noch zur
Pflicht machen will8: Es gibt den Teufel als die persönliche Verkörperung
des Bösen; und das kam so: Er war ursprünglich der höchste aller Engel,
doch dann hat er sich gegen Gott aufgelehnt und ist zum Satan geworden;
seither verdirbt er die Schöpfung, verführt er die Menschen, lauert er im
Untergrund der Welt wie ein Skorpion im Sand: kaum daß man sich hin-

383
legt zum Schlafen – da stößt er zu, immer gefährlich. Die Merkmale seines
Steckbriefes im Volksglauben sind leicht zu identifizieren: Hörner, Bocks-
füße, Schwefelgestank … – Wir müssen uns, um zum Ernst der Sache zu
finden, die Erlaubnis nehmen, gerade das Johannes-Evangelium in seinen
Spannungen so weit zu existentialisieren, daß wir die Symbole begreifen
können, von denen und in denen da gesprochen wird. Wir müssten die
christliche Mythologie zurückübersetzen in die Psychologie, aus der sie
stammt. Sünde haben wir bislang wiedergegeben mit einem Leben, das sich
aus lauter Angst verfehlt, und der Geist, der dahintersteht, die Haltung
ständiger Verneinung, die mag man nun bezeichnen als teuflisch. Dann be-
greift man, warum Jesus sagt: Jeder, der die Sünde tut, ist ein Sklave der
Sünde; er folgt mit anderen Worten einer Spur, aus der er nicht mehr her-
auskommt, er stapelt die Ansprüche an sich selbst immer höher oder, je
nachdem, immer tiefer. Und der immer gleiche Grund: man fängt an zu
glauben, man werde akzeptiert und gemocht, wenn man sich an der eige-
nen Wahrheit ein Stück weit vorbeiflunkert, wenn man ein wenig besser
tut, als man ist, wenn man ein bißchen angibt zum Beispiel mit einem Wis-
sen, das man so gründlich nicht hat, mit einem Können, über das man
nicht wirklich verfügt, – man zwingt sich ständig etwas zu sein, das man
nicht ist. Begibt man sich einmal auf diese Bahn, wird es immer rascher,
immer geschwinder bergab gehen; es ist, wie wenn das Gravitationsfeld
einer großen Masse einen Körper immer rascher im freien Fall nach unten
zöge. Man kommt aus dieser Selbsthypnose der Angst vor der Verächtlich-
keit des eigenen Ichs nicht mehr heraus. Es ist gewiß manchmal möglich,
eine einzelne Lüge zuzugeben, vielleicht mitunter sogar mehrere, ein Bün-
del von Unwahrheiten; aber ein ganzes verlogenes Dasein – das kann nur
explodieren, indem es sich selbst mit einer Riesenenergie ausspeit, oder im-
plodieren, indem es sich im Schwinden der Kräfte verschleißt. Von allein
jedenfalls ist ein solcher Zustand nicht zu verlassen. Der Ausbruch oder
der Zusammenbruch mag, wie das Johannes-Evangelium es beschreibt, als
eine Art Tod erlebt werden, doch diese Art Tod ist die einzige Form eines
wirklichen Neuanfangs, der Beginn wahrhaften Lebens.
Man kann nicht einfach sagen, es herrsche Sadismus und Mordlust,
wenn Jesus den «Juden» unterstellt: Nun aber sucht ihr mich zu töten,
einen Menschen, der ich die Unverborgenheit Gottes euch kundgetan
habe, wie ich sie gehört habe von Gott. So hat Abraham nicht getan. Was
sollen Menschen tun, die immer wieder hören müssen: «So wie du bist, ist
es nicht gültig», die gelernt haben, sich ständig selbst zu durchkreuzen, so
daß sie am Ende gerade das, was sie als «wahr» hören, ums Überleben wil-

384
len oder ums Verrecken willen verleugnen werden? Die Sich-Durchkreu-
zenden müssen ans Kreuz gerade das schlagen, was sie eigentlich leben
ließe, und immer zu spät erst merken sie, wo wirkliche Größe, wo wahre
Menschlichkeit gelegen wäre.
Wenn ihr erhöht habt den Menschensohn, dann werdet ihr merken, daß
ich bin, – was wirkliches menschliches Sein ist von Gott her. Da gilt es zu
wählen, ob man von unten leben will oder von oben. Damit ist nicht ge-
meint, ob wir anthropologisch die Existenz des Menschen kausal aus dem
evolutiven Kontext des Lebens her ableiten, oder ob wir sie metaphysisch
gewissermaßen unmittelbar aus den Händen des allmächtigen Gottes her-
vorgehen sehen. Es ist die Frage nach dem Grund unseres Seins: ob wir uns
begreifen aus dieser Welt, nur aus dieser Welt – dann ist unser Dasein,
dann ist diese «Welt» ein Kessel der Angst –, oder ob wir sie anschauen mit
den Augen Gottes. «Es ist», meinte Kierkegaard, «wie wenn du auf einem
hohen Turm stehst; du starrst nach unten, und du wirst schwindlig, vor
deinen Augen dreht es sich, du suchst nach Sicherheit, aber du wirst den
Blick in die Tiefe nicht mehr los, es reißt dich genau dorthin, wohin du
nicht willst, du stürzt ab vom Plafond. All das ist im Automatismus der
Angst notwendig und unvermeidbar. Aber was wäre, wenn du gar nicht
nach unten geschaut, sondern die Hand gesehen hättest, die sich nach dir
ausstreckt?»9 – Jesus wollte diese unsichtbare Hand sein, die uns gereicht
wird, und er wollte, wir könnten sie ergreifen jenseits des Abgrunds.
Dann bleibt ein unendlich Kostbares, ein für alle Zeiten Gültiges. Immer
wieder wird Jesus zugetraut, gerade bei diesen Worten aus dem Johannes-
Evangelium, er habe eine neue Religion gründen wollen abseits vom Ju-
dentum; doch genau diese Worte hier sagen es anders. Das, was Jesus will
und anbietet, ist etwas, das er völlig kontinuierlich mit Abraham in Ver-
bindung setzt: Wenn Kinder Abrahams ihr wäret, die Werke Abrahams
würdet ihr tun. Mit anderen Worten: «Würdet ihr leben wie Abraham, so
wäre es kein Problem, richtig zu sein.» Ein wunderbares Wort aus dem
Munde Gottes lautet in Genesis 17 bei der Berufung Abrahams so: Geh du
vor mir her, und sei ganz! (Gen 17,1) – «Ganz» ist ein Wort, das man im
gesamten Orient noch heute gebraucht, indem man die Hände ineinander
schlägt und sagt: tamam oder tamim, was soviel heißt wie: okay, – «sei
richtig, sei ganz, so daß du dir selber zustimmen kannst und schon deswe-
gen auch die Zustimmung anderer verdienst. Dann bist du nicht mehr die
chronische Negation deiner selbst, sondern es wird eine Freude sein, mit
dir zu leben. Sei nicht mehr Abram, sondern Abraham; nicht mehr: der
‹hohe Vater› (Abram), sondern: ‹der Vater vieler› sei dein Name.»

385
Die Frage bleibt: Bedeutet Religion, sich auf etwas zu berufen, das hi-
storisch einmal war und dann durch die Generationen biologisch oder so-
ziologisch so weiterging als ein Faktor der Tradition? Dann sind wir stolz
auf ein Christentum, das nun schon zweitausend Jahre alt ist. Zwar, die
Buddhisten sind noch fünfhundert Jahre älter und die Hindus gar tausend
Jahre, aber was verschlägt das schon? Zweitausend Jahre immerhin! Das
erdrückt jeden Menschen, der bestenfalls siebzig, oder, wenn es hoch
kommt, achtzig Jahre lebt, wie der Psalm 90,10 sagt. Es war, noch einmal,
ein entscheidender Gedanke Kierkegaards, den wir mit Bezug auf die Ge-
stalt des Täufers bereits erwähnt haben: die Geschichte beweise über die
Wahrheit des Religiösen überhaupt nichts; sie biete absolut kein gültiges
Präjudiz, ganz im Gegenteil, sie sei eine falsche Beruhigung, indem sie vor-
gebe, etwas besser zu kennen, weil man es nun schon weit hinter sich habe.
Eine Religion, die zweitausend Jahre alt ist, beweist scheinbar tatsächlich
ihre Wahrheit durch sich selbst: sie existiert schon so lange, sie funktio-
niert also; da gibt es in ihrer Vergangenheit keine Schwierigkeit mehr, die
nicht beantwortet wäre, es gibt nicht einmal mehr die Frage, ob eine solche
Religion wahr ist oder nicht. Alles ist vermeintlich klar, eben weil sie
zweitausend Jahre schon existiert. Wer sich ihr anschließt, ist auf Grund
ihrer heiligen Tradition wie von selbst auch schon in der Wahrheit. Das
heißt – im Bilde –: Unser Vater ist Abraham; diese Aussage ist so unsinnig
wie zu sagen: wir haben Christus oder durch Christus Gott zum Vater. Ihr,
sagt Jesus hier, vom Vater Teufel seid ihr! So wäre es wirklich, sobald wir
uns eine Wahrheitsgarantie in Generation und Tradition einreden ließen; es
wäre eine Lüge im Kern, es wäre ein Mord in allem, weil es die Menschen
im Prinzip daran hinderte, selber zu sein und sie selbst zu werden. Ein
Mensch ist mehr als eine bloße Verfügungsmasse für eine bestimmte Insti-
tution. Die Chance und die Erlaubnis hat ein jeder zu fragen: Und wer bin
ich denn selber, – bin ich gleich ursprünglich mit der Person Jesu? Die
Frage ist nicht: wie berufe ich mich auf ihn?, sondern: wie lebe ich mit
ihm, gleichzeitig mit ihm, an seiner Seite? Keine Auseinandersetzung bleibt
uns da erspart, und man kann froh sein darüber! Denn gerade das ist der
Preis der Freiheit: ein offenes, wagemutiges, riskiertes Leben. Da ist der
(physische) «Tod» nicht mehr Tod, sondern (existentiell) ein wirklicher An-
fang. Wer den Tod im Sinne Jesu nicht mehr fürchtet, der hat keine Angst
mehr, der kann wahr sein. Der schlimmste Tod aber besteht, wenn wir es
uns genauer vor Augen führen, in der Angst, nicht geliebt zu werden; sie
ist es, die uns um Anerkennung buhlen läßt bis zum Verlogenen.
Das meinte der johanneische Jesus: wir müßten lernen, zu hören auf die

386
Stimme, die möchte, daß wir sind; nichts weiter wollte er sein als diese
leise, gütige und gültige Stimme! Den ganzen restlichen Flitterglanz der
Verlogenheit muß man wirklich mit dem Besen durch die Vordertür hin-
auskehren. Deshalb sind die Worte Jesu an dieser Stelle notwendigerweise
hart, fast unbarmherzig, eindeutig und klar, ein Entweder-Oder ohne
Rückzugsmöglichkeit. Das muß sein, denn wo der Besen nicht hinkommt,
bleibt der Staub liegen. Das ist die ganze Botschaft des Johannes-Evange-
liums an dieser Stelle.

387
Joh 8,48-59: Wenn jemand mein Wort hält,
wird er den Tod nicht schauen
48Geantwortet haben die Juden (die Gottesbesitzer), sie sagten
ihm: Nicht mit Recht sagen wir: Ein Samariter bist du, und
einen Dämon hast du (7,20)? 49Geantwortet hat Jesus: Ich,
einen Dämon habe ich nicht, sondern ich ehre meinen Vater;
doch ihr entehrt mich. 50Ich aber suche nicht meine Verherrli-
chung. Es ist einer, der sucht, der urteilt. 51Bei Gott, ja, bei
Gott, ich sage euch: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den
Tod nicht schauen auf ewig hin (5,24; 14,23; 6,40.47). 52Sagten
ihm (da) die Juden (die Gottesbesitzer): Jetzt sind wir im klaren,
daß du einen Dämon hast. Abraham ist gestorben, auch die Pro-
pheten, und du sagst: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den
Tod nicht kosten auf ewig hin? 53Nein, du? Größer bist du als
unser Vater Abraham, der gestorben ist? Auch die Propheten
sind gestorben. Wen machst du aus dir? 54Geantwortet hat
Jesus: Wenn ich mich selbst verherrliche, so ist meine Herrlich-
keit nichts. Es ist mein Vater, der mich verherrlicht, von dem ihr
sagt: Er ist unser Gott (Jes 63,16). 55Und doch kennt ihr ihn
nicht; ich aber weiß ihn (7,28.29). Und wenn ich spräche: Ich
weiß ihn nicht, so wäre ich euresgleichen, ein Lügner. Aber ich
weiß ihn, und sein Wort halte ich. 56Abraham, euer Vater, ju-
belte, daß er sähe meinen Tag. Er sah ihn. Er war glücklich.
57Gesagt haben da die Juden auf ihn: 50 Jahre nicht einmal bist

du, doch Abraham hast du gesehen! 58Gesagt hat ihnen Jesus:


Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Ehe Abraham ward, bin
ich! 59Da hoben sie Steine auf, um auf ihn zu werfen (10,31).
Jesus aber verbarg sich und ging fort, fort aus dem Heiligtum.

In diesem letzten Abschnitt aus dem 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums


geht es, wie an so vielen anderen Stellen dieses Vierten Evangeliums, er-
neut um die Frage: Wer ist Jesus Christus? Was kann er von sich selber
sagen? Was überhaupt geschieht, wenn er von sich redet? – Das Johannes-
Evangelium scheint selbst kaum zu ahnen, daß es damit eine Frage formu-
liert und in gewissem Sinne sogar beantwortet, die sich, beispielhaft und
wesentlich konzentriert in der Gestalt des Mannes aus Nazaret, im Leben
eines jeden Menschen stellt. Wie über einen Abgrund hinweg schildert das
Johannes-Evangelium unter dem Wort «Glauben» eine Form von Gleich-
artigkeit, ja, Gleichzeitigkeit des Seins zwischen denen, die diese Texte
lesen, und demjenigen, von dem sie sprechen.
Das Johannes-Evangelium ist so etwas wie ein Medikament, sagten wir
schon einmal, dessen Beipackzettel wir nicht in der Hand haben, so daß
wir im eigenen Leben nach der Gebrauchsanweisung dafür suchen müssen.

388
Die Art, wie man Medikamente heute herstellt, läßt sich, nicht ganz abwe-
gig, mit der Art und Weise vergleichen, wie das Johannes-Evangelium sich
inhaltlich darstellt: Abgesehen von ihrem möglichen Mißbrauch ist die Gen-
Technologie tatsächlich ein gutes Bild für den Vorstoß, den auf der geistigen
Ebene das Vierte Evangelium unternimmt. Jahrmillionen und Jahrmilliar-
den haben Viren komplexere Organismen benutzt, um sie sich für ihre ei-
gene Fortpflanzung dienstbar zu machen. Sie drangen in den Zellkern ein
und gaben ihr eigenes genetisches Programm in den Vermehrungsapparat
ihrer Wirtszelle. In den letzten zwanzig Jahren nun hat man versucht, den
Spieß umzudrehen: Statt gegen tödliche Virenstämme Schutzimpfungen ein-
zusetzen oder das Immunsystem sonstwie zu stärken, scheint es gelungen,
selber in das Erbgut der Viren fremde Gene einzuschleusen und sie zur Her-
stellung gewünschter nützlicher Produkte einzusetzen.
Das Johannes-Evangelium findet eine ganze Welt vor, die tödlich ist in
jedem Betracht. Der gesamte Apparat, die bedenkenlose Strategie, sich sel-
ber wirtschaftlich, politisch, religiös, kulturell durch die Jahrhunderte und
die Jahrtausende zu reproduzieren, ist in den Augen des Vierten Evangeli-
sten nichts anderes als Tod. Man hat es in den Weisungen der Propheten,
der Philosophen, der Religionsgründer oft genug unternommen, frontal
gegen diesen Tod anzugehen, den Krankheitsherd gewissermaßen zu isolie-
ren und dann auszurotten. Eingesetzt wurden dabei stets der Wille und der
Verstand – die moralisch gelenkte Freiheit sollte den Ausschlag geben.
Doch nie war dieser Kampf wirklich erfolgreich, so wie in unseren Tagen
sich zeigt, daß der Gebrauch etwa von Antibiotika längerfristig zu einem
Desaster führen könnte, indem bestimmte Bakterienstämme, zum Beispiel
solche, die Lungentuberkulose hervorrufen, anpassungsfähiger sind als bis-
her gedacht; sie zeitigen Mutationen, auf welche die herkömmlichen Medi-
kamente nicht mehr ansprechen.
Das Johannes-Evangelium stellt in der Geschichte der Religionen so
etwas wie das Wagnis einer vollkommenen Neubegründung der «Welt»
dar. Es übernimmt dabei die Ausdrucksweise der Gegenwelt, es redet die
«normalen Worte» des Alltags, es verwendet die Linguistik der Wirklich-
keit, die es bekämpft, indem es ihre Vorstellungen von innen heraus zer-
setzt. Wer versteht, was das Johannes-Evangelium in der Sprache dessen
sagt und sagen will, was es eigentlich bekämpft, der begreift zugleich, daß
die ganze gewohnte und vertraute Welt nicht mehr trägt noch tragen kann;
der teilt nach und nach die Diagnose des Johannes-Evangeliums: Was bis-
her Leben schien, ist Tod! Und daraus formt sich nach und nach das neue
Programm: Es gilt, mit den Mitteln des Alten aus den Baumaterialien sei-

389
ner Ruinen etwas Neues herzustellen, das den Namen Leben erst wirklich
verdient.
Sagen wir es einfacher in einem Vergleich aus der Optik. Stellen wir uns
einen Klappspiegel vor, von dem uns nur die linke Hälfte zugewandt ist; in
diese also müssen wir schauen, um festzustellen, was auf der rechten Seite
geschieht. Wir müssen mit anderen Worten alles gegenläufig lesen. Was wir
links zu sehen meinen, befindet sich in der Realität rechts. Wir müssen mit
Hilfe der Gesetze der Optik das Gesehene umdenken, um die Wirklichkeit
zu begreifen. – Oder sagen wir es träumerischer, poetischer, mit Beetho-
vens Mondscheinsonate: Wir stehen an einem Wasser, das dunkel in der
Nacht daliegt, wir hören den Wind in den Zweigen der Bäume rauschen,
wir lauschen dem Murmeln der Wellen, und dann durch die Wolken dringt
der schwache Schimmer des Mondes, er bricht durch die aufreißende Wol-
kendecke hindurch, und mit silbernen Händen berührt er die Oberfläche
des Sees. An den wenigen Stellen, wo das geschieht, glänzt das dunkle
Wasser hell auf, es überzieht sich mit Silber und Gold und hüllt sich in eine
ihm nie zugetraute Schönheit. Wir aber können und müssen beim Blick in
das Wasser den Mond erschauen, von dem all die Schönheit ursprünglich
stammt. Die Wissenden indessen fügen noch hinzu, daß der Mond sein
Licht nicht aus sich selber gewinnt, sondern nur den Widerschein der un-
sichtbaren Sonne auf die Erde sendet. – So ähnlich die Gestalt des Jesus im
Johannes-Evangelium. Immer wieder sagt er: Wenn ich Zeugnis ablege
über mich selbst, ist mein Zeugnis nicht wahr. Ein anderer ist es, der Zeug-
nis über mich ablegt, und ich weiß: wahr ist das Zeugnis, das er für mich
ablegt (Joh 5,31.32). Nicht kann ich wirken von mir aus – nichts (Joh
5,30)! Mit anderen Worten: «Alles, was ich bin, habe ich nicht aus mir
selbst, bezeuge ich nicht von mir selbst, ist nicht meine eigene Sendung und
Beauftragung, alles in mir ist von fremd. Aber wenn ihr mich seht, seht ihr,
was ihr sonst nie sehen könntet, – etwas Unsichtbares, Wunderschönes,
etwas, das allem seinen eigentlichen Wert verleiht.»
Damit im Grunde hebt diese letzte Passage im 8. Kapitel des Johannes-
Evangeliums an: Was eigentlich ist ein Mensch? Was ist er wert? Worin
gründet er sein Selbstbewußtsein, sein Selbstvertrauen? Die «Welt», die das
Johannes-Evangelium vor sich hat und die es bekämpfen will, indem es in
ihr Sprachgewand schlüpft, hält zur Erwiderung auf diese Fragen eine ur-
alte, fast selbstverständliche Antwort bereit: Ein Mensch, ganz klar, wird
gemessen an den Maßstäben, die gelten. Und wo finden sich die Maßstäbe,
die gelten? Auch das ist ganz klar: in der Umgebung, in der ein Mensch
lebt. Die Kultur, die ihn als ein sprachfähiges Wesen ermöglicht, die legt

390
fest, wonach ein Mensch zu bewerten ist und also auch was er selbst nach
diesen Maßstäben wert ist. Die Kultur, das ist wohlgemerkt ein Ensemble
aus Religion, Tradition, Moral, Rechtsprechung und den gesellschaftlichen
Spielregeln des Zusammenlebens. Dieses komplexe Bündel dient als Para-
meter, und diese als fest gegebene Größe wird wie selbstverständlich jedem
Einzelnen angelegt. Wer aber legt diesen Maßstab an den Einzelnen an?
Das tun die von der Gesellschaft dazu Befugten. Das sind im Raum der
Theologie die Theologen; sie schreiben die Gesetzbücher der etablierten
Religion, den Codex Juris Canonici zum Beispiel in der Kirche Roms; das
sind im Raum der Justiz die obersten Verfassungsrichter und eine Ebene
darunter die Richter, die am Ort in den verschiedenen Fällen zu begutach-
ten haben, was zwischen den Menschen Recht und was Wert ist und welch
eine Ordnung über den Menschen und für die Menschen verfügt ist. In
jedem Falle liegt es bei Menschen, über Menschen zu urteilen.
Freilich, es schwindelt uns, wenn wir das hören; es wird uns unheimlich
zumute, und wir fragen uns, ob es so gehe.
Darum versucht jede Gesellschaft, jede Religion, jede Rechtsordnung,
jede Moral denn auch alle Fragen, die ihr Rechtswesen in Frage stellen
könnten, niederzuhalten, indem sie sich über die Brücken einer eigenen
Ideologie oder Mythologie auf etwas Unbezweifelbares und Letztes
zurückführt. Die Gesetze der Vernunft sollen es sein, die dieses und kein
anderes Urteil nahelegen, oder es ist die Gottheit selber, die von Ursprung
her die Gesetze erlassen hat, aus denen nach den Regeln der Logik dies
und das sich ableiten läßt. In jedem Falle bleibt es dabei, daß ein Mensch
das Recht hat, gegen den anderen und über den anderen Richter zu sein.
Die Gottheit wird auf diese Weise vereinnahmt als Garant der moralischen
und juristischen Regeln der jeweiligen Gesellschaft oder Bezugsgruppe.
Auch Gott, genau betrachtet, hat unter diesen Umständen nichts mehr und
nichts anderes zu sagen, als was in dem Ensemble einer solch verfaßten
Kultur zu sagen ist. Gott ist im Grunde lediglich die absolute Instanz, der
letzte Geltung verleihende Überbau des sonst Relativen.
Machen wir die Probe aufs Exempel. Wir erleben, daß man über Men-
schen in absoluter Anklage zu Gericht sitzt. Jemand hat etwas getan, das
mit den Gesetzen, die in Geltung sind, zusammenstößt; also ist es notwen-
dig, das Recht durch Strafe wiederherzustellen, und das Strafmaß wird
ausgesprochen nach der Verordnung der Paragraphen und dem Urteil der
zuständigen Richter. Daraufhin wird der Einzelne zur Strafe vom Kordon
der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und isoliert. Genau ge-
nommen hat er sich selber isoliert, und die Strafe setzt nur noch äußerlich

391
fest, was im Wesen seiner Tat bereits enthalten lag. Dieses ganze System
basiert auf der absurden Vorstellung, von außen her beurteilen zu können,
was Menschen sind. In letzter Konsequenz endet es so wie die Geschichte
hier im 8. Kapitel des Johannes-Evangeliums: Man wird Menschen hin-
richten, man wird sie töten, aus Gewissen, aus Anstand, aus Moral und
aus Frömmigkeit, und alle «richtigen» Begriffe werden den Richtern recht
geben, wenn sie den Tod über den Straffälligen, den Delinquenten verfü-
gen. Ein Leben ist dann prinzipiell nicht länger zu dulden, das von den
göttlichen, den heiligen, den gesellschaftlichen Werten abirrt. Die Todes-
strafe ist zum Beispiel in den USA, in God’s Own Country, derzeit mehr
denn je im Schwange, ob in der Gaskammer, vor den Flintenläufen, am
Strick, auf dem elektrischen Stuhl – irgendwie muß ein Menschenleben
doch physisch zu vernichten sein, und man erspart auf diese Weise dem
Steuerzahler die langjährige Finanzierung eines gesellschaftlich verderbli-
chen, überflüssigen, nichtsnutzigen, gefährlichen Subjekts. Alle rechten
Bürger haben einen Anspruch darauf, von schädlichen Parasiten nicht be-
lastet zu werden. Der Ausstoß aus der Gesellschaft ist die Form jeder
Strafe, und jedes Recht, das von außen her an den Menschen herantritt,
wird am Ende in dieser Äußerlichkeit sein Finale finden: ausstoßen, aus-
schließen, trennen – die scheinbar Falschen von den Richtigen. So scheint
es normal, so ist es mehr oder weniger überall, so war es in der Menschen-
geschichte schon immer, wohin wir auch schauen. Ein Narr scheint zu sein,
wer dagegen etwas sagen wollte.
Aber der Jesus des Johannes-Evangeliums sagt genau dagegen etwas. Es
ist sein ganzes Wesen, in der Deutung des Vierten Evangelisten, die Äußer-
lichkeit, mit der Menschen über Menschen zu Gericht sitzen, beiseite zu
räumen als einen absolut menschenverachtenden Irrtum. Alles, was da
geschieht, ist dialektisch. Die Gegner Jesu – in Anführungsstriche stets zu
setzen: «die Juden», weil es nicht um ein bestimmtes Volk, nicht um eine
bestimmte Religionsform, sondern um einen bestimmten Typ, Religion zu
leben und Mensch zu sein, geht –, «die Juden» also werden Jesus entgegen-
halten: «Wenn du von dir selber sprichst, dann bist du willkürlich, aufge-
blasen, anmaßend, stolz. Was machst du aus dir selbst, zu wem erklärst
und verklärst du dich? Ein Mensch, der von sich selber redet gegen das
Allgemeine, ist in sich selber nicht nur ein Außenseiter, er ist ein Aufsässi-
ger.» – Jesus aber erklärt genau umgekehrt: Wenn er von sich selber redet,
ist es, daß er die Stimme eines anderen durch sich selbst zu Gehör bringt;
er ist gewissermaßen die Geige oder die Flöte, durch die ein bestimmter
Ton erweckt wird und eine bestimmte Harmonie zustande kommt. Alles,

392
was er zu sagen hat, sagt er durch die Resonanz seiner eigenen Existenz;
aber es ist nicht, wie wenn er die Melodie, die dann gespielt wird, selber
erfände; sie führt sich durch ihn, in ihm nur auf. Er ist in seinem ganzen
Dasein nur dieser widerhallende Körper, durch den der Wohlklang hörbar
wird, aber er würde sich nie vermessen zu sagen, er sei der Ursprung dieser
Symphonie.
Da ist es also möglich, daß ein Mensch unendlich mehr ist an Wert und
Schönheit und Größe und Harmonie als alles, was von außen verfügt wird,
eben deshalb, weil er ganz nach innen gewandt ist und aus seinem Inneren
etwas hörbar wird als Wort oder sichtbar wird als Licht, das dem Leben
Sinn gibt und Schönheit, und es haben all diejenigen unrecht, die sagen:
wer aus sich selber spreche, der sei nichts weiter als egoistisch, der sei ein
Egomane, der sei aus auf eine Art von Selbstverwirklichung, die mit sozia-
lem Chaos enden müsse. Ganz umgekehrt verhält es sich! Das ganz Nor-
male im gesellschaftlichen, das ganz und gar üblich Erscheinende im politi-
schen, wirtschaftlichen oder kirchlichen «Leben» tritt uns hier vor Augen
als das Unmenschliche, als das Barbarische, als das Rohe, in jedem Fall als
das, was man auflösen muß um des Menschen willen. Die Rettung des
Menschen aber beginnt weder mit einer verbesserten Gesetzesmaschinerie
noch präziser formulierter Vorschriften und Gebote.
Da gilt es zu wählen, was man will. Es war der Jude Franz Kafka, der,
wie im vorherigen Abschnitt bereits erwähnt, in seiner Erzählung In der
Strafkolonie1 seine Vision von dem absoluten Sieg des Äußeren über das
menschliche Leben zu einem Alptraum gestaltet hat. In Kafkas Strafkolo-
nie wird ein Mensch exekutiert, indem die Hinrichtungsmaschine ihm den
Schuldspruch in den Körper schneidet, immer feiner ziseliert, bis daß er
daran stirbt, und es wird ihm zur letzten Gnade gereichen, daß er im Mo-
ment seines Todes die eingravierte Inschrift, die ihn vernichtet, zum wenig-
sten begreift: Er versteht immerhin sterbend wohl noch, warum er getötet
werden muß. Das Strafsystem Kafkas ist, bei Lichte betrachtet, in seinem
Sadismus sogar noch «menschlicher» als das in den modernen Gesell-
schaftsformen. Da muß der Hinzurichtende nicht einmal verstehen, was in
ihm vor sich ging, als er dies und das tat, und was in denen vor sich geht,
die ihm dies und das antun; da ist der Bruch zwischen dem Einzelnen und
dem Allgemeinen wie etwas Endgültiges hinzunehmen.
Der Ansatz, den Jesus in der Auslegung des Johannes-Evangeliums hier
vorschlägt, ist gerade umgekehrt: Nicht von außen kommt die Menschlich-
keit, sie etabliert sich nicht, indem sie sich mit immer noch härteren Stra-
fen ins Herz der Menschen bohrt, sondern im Gegenteil: indem sie sich

393
von jeglichem Zwang und jeglicher Strafangst frei macht. Eine solche Hal-
tung allein schon verändert die «Welt». Um es fast appellativ jedem Einzel-
nen zu sagen: «Das, was du mit deinem Leben wert bist, wirst du nie
erfahren, wenn du dich umschaust und dich im Spiegel der anderen mißt.
Immer wirst du Menschen finden, die scheinbar besser sind als du oder
größer sind als du oder die umgekehrt kleiner oder vermeintlich schlechter
sind als du; immer wirst du um dein Ansehen kämpfen, immer wirst du in
Sorge und Angst sein, du könntest im Konkurrenzkampf schwächer wer-
den, deine Reserven könnten im Kräftemessen mit den anderen sich auf-
brauchen, und niemals wirst du wirklich leben. Anders: Wie wäre es, du
fragtest dich, was mit deinem Leben wirklich gemeint ist, was darin sich
ausdrücken will? Nach und nach räumtest du all die Schichten der Verfor-
mung, die von fremd dir auferlegt wurden, aus deiner Seele fort, und es
wüchse nach und nach, immer deutlicher sichtbar, eine Gestalt in dir auf,
die dir Orientierung böte; du fändest mitmal heraus, wozu du in diese Welt
gesandt bist, was dein Auftrag ist. Nur auf den kommt es an, nur um des-
sentwillen gibt es dich, den mußt du verrichten. Laß dir nicht einreden, so
etwas sei hybrid, es ist ganz im Gegenteil eine besondere Form von innerer
Gefügtheit und Fügsamkeit.»
Wollten wir sagen, es sei Demut, so müßten wir dieses Wort so verwen-
den, wie es einmal etymologisch gemeint war: nicht als Erniedrigung, son-
dern im Gegenteil als innerer Einklang; – man braucht nichts mehr zu tun,
als mit einem selbst gemeint ist, das aber unbedingt; es kommt nicht länger
darauf an, ob dieses Eigene und Eigentliche, nach fremdem Maßstab
gemessen, zu kurz oder zu lang erscheint; es ist ganz einfach so richtig, wie
es ist, und alles hängt nur davon ab, herauszufinden, was dieses Eigene
und Eigentliche sei.
Der johanneische Jesus umschreibt diese Verpflichtung immer wieder
mit einem Wort, mit dem er alles zu erläutern versucht; das Wort lautet:
Gott. Aber gerade dieses Wort ist das am meisten zerrissene, das scheinbar
am meisten Zerrissenheit fordernde in der menschlichen Geschichte gewe-
sen. Jeder Krieg wurde letztlich geführt um Gottes willen, mit absolutem,
heiligem Anspruch, mit höchstem moralischem Pflichtgefühl. Um nichts
haben die Menschen sich furchtbarer gestritten als um ihre Götter, die,
schon indem sie Menschen einander zu Schlachtopfern bestimmten, sich
als Götzen der Grausamkeit und der menschlichen Erniedrigung erwiesen.
Deswegen ist es entscheidend, wenn Jesus einander gegenübersetzt: «Es ist
mein Vater, der mich verherrlicht, von dem ihr sagt: Er ist unser Gott. Und
doch kennt ihr ihn nicht; ich aber weiß ihn. Wir glauben beide dem

394
Namen nach an denselben Gott, ihr, die Juden, und ich, Jesus aus Nazaret;
wir beide reden von ein und demselben Gott, ohne Zweifel, nur daß ihr
dauernd sagt, ihr kennt ihn und wißt ihn im Grunde gar nicht: Gott als
Vater.»
Genau dieser Ausdruck von Gott als dem Vater Jesu ist in der Dogmen-
geschichte der Kirche, die sich vornehmlich auf das Johannes-Evangelium
berufen hat, immer wieder zum Inbegriff einer bestimmten Metaphysik des
Christus gemacht worden. Man wollte herausfinden, wie denn der «Vater»
den «Sohn» zeugt, und dies nach dem Vorbild der Biologie gewissermaßen,
die uns Menschen bekannt ist, doch dann auch wieder unendlich anders
natürlich. Man hat versucht, das metaphysische «Wesen» Gottes mit dem
«Wesen» Jesu in Verbindung zu bringen. Alles indessen ist in Wirklichkeit
viel einfacher, wenn wir nur begreifen, was gerade schon anklang: Das
Wesen eines Menschen ist die Art, wie er selbst sein Leben, seine Existenz,
seine Beauftragung versteht; diese Beauftragung ist er, sie ist das «Wesent-
liche» in seinem Leben. Und hier nun sagt Jesus, es sei sein ganzes Wesen,
sich auf Gott zu beziehen, und zwar so, daß Gott (in) ihm als Vater er-
scheine.
Wir müssen all die patriarchalen Assoziationen, die sich um dieses Wort
lagern, an dieser Stelle einmal beiseite stellen. Menschen kenne ich, Frauen
insbesondere, die oft mit Tränen in den Augen sagen, sie vermöchten nicht
einmal das Gebet Jesu, das Vaterunser, zu sprechen, so schwer lägen die
Erinnerungen an den Mann, der ihr Vater war oder ihr Vater hätte sein
müssen, auf ihrer Seele. Mit dem Wort «Mutter» mag es vielen nicht ganz
verschieden ergehen, aber wir verbinden mit dem Mütterlichen zumindest
das Bild, in manchem sogar die Erwartung einer Zugewandtheit, die leben
läßt, ohne Vorleistungen einzuklagen. Ein von einer Mutter zur Welt ge-
brachtes Kind vermag gar nichts an Vorbedingungen zu erfüllen. Jede For-
derung an ein solches Wesen, das das Licht der Welt erblickt, wäre unge-
recht und erkennbar sinnlos. Es kann dieses Kind nur leben, wenn es sich
angenommen, gemocht, bejaht, geliebt fühlt, und normalerweise wird eine
Mutter für ihr Kind auch entsprechend empfinden können. Sie wird zum
Beispiel wie selbstverständlich in die so merkwürdige Dialogform des
wechselseitigen Lächelns eintreten: Ein Kind verführt seine Mutter, sich zu
freuen, einfach durch die Art, wie es die Mutter anschaut und die wie-
derum ihrerseits ihr Kind. Beide werden sich in diesem Wechselspiel der
Mimik schon wiederfinden und genauso im Tonfall. Die Mutter wird ver-
suchen, die ersten Lall- und Lautbekundungen ihres Kindes nachzuahmen,
und indem sie dies tut, indem sie sich selber imitatorisch gibt wie ein klei-

395
nes Kind, lernt auch das Kind, die Mutter zu imitieren; da wird ihm die
Sprache der Mutter selber zur Muttersprache – ein Meisterwerk der Kom-
munikation und der Pädagogik.
Ähnlich läßt sich das Verhältnis Gottes zu uns Menschen denken. Wohl-
gemerkt bleiben wir damit ganz und gar in der Vorstellung denkender Säu-
getiere, wir reden sehr menschlich, sehr anthropomorph, aber wir haben
doch ein ganz gutes Modell, um uns in das hineinzufühlen, was Jesus hier
eigentlich vermitteln möchte, wenn er von Gott als dem Vater spricht. Er
möchte sagen: Ein Mensch, der zu sich selbst finden will, kann das doch
nur, wenn er sich von Liebe umfangen weiß, wenn er sich absolut in seiner
Einzelheit, in seiner Person, in seiner Individualität angenommen fühlt,
und dieses Empfinden ist unendlich viel wichtiger, als darum zu buhlen,
wie man von der Öffentlichkeit akzeptiert wird, wie man die public relati-
ons noch besser, die promotion noch effektiver, den Wahlrummel, den Pro-
pagandafeldzug für das eigene Ego noch effizienter auf Touren bringt oder
in Gang hält. Das alles ist im Grunde Zerstörung, Selbstzerstörung von
Anfang bis Ende. Aber zu leben aus jener heiligen Ruhe, die darin gründet,
absolut und ganz geliebt zu sein von einem Gott, den man zwar nicht
sieht, der aber doch in allem sichtbar wird, sobald man sich auf ihn ein-
läßt, – das ist das ganze Leben, darin gründet das eigene Wesen, bis dahin,
daß die eigene Persönlichkeit die Liebe, der sie sich verdankt, durch sich
hindurchscheinen läßt wie Glas das Mond- und das Sonnenlicht, oder wie
der Mond den Glanz der Sonne, die ihn anstrahlt, reflektiert und an die
Nachtseite der Welt weitergibt. Auf diese Weise den Menschen auf Gott
hin zu beziehen und ihn festzumachen und zu verankern in einem uner-
schütterlichen Vertrauen diesem «Vater» gegenüber, – das allein schon be-
stimmt die Sprache und den Tonfall dieser letzten Passage im 8. Kapitel des
Johannes-Evangeliums.
Bis hierher mußten wir die Worte Jesu fast peitschend lesen, laut und
scharf, aufs äußerste provozierend: Ihr? Vom Vater Teufel seid ihr – so
etwas hat der johanneische Jesus wirklich gesagt. Jetzt ist erreicht, was die
Prozedur offenbar beabsichtigte: Die Gegner Jesu sind aufgebracht wie ein
Schwarm Bienen, deren Korb man umgestürzt hat. Sie regen sich auf, sie
gehen zur Attacke über, auch ihre Sprache jetzt ist schreiend und schnei-
dend. Doch um so ruhiger, um so unerschütterlicher, um so leiser und sou-
veräner klingt fortan die Rede Jesu, sie ist kaum noch vorwurfsvoll, sie
fließt, ohne Wirbel zu bilden, aus sich selbst heraus.
Man muß dieses Gegenläufige der emotionalen Bewegung in jedem Be-
tracht sich vor Augen stellen, erst dann versteht man den überfallartigen

396
Ansprung, den Anwurf, mit dem hier die Gegner Jesu den Mann aus Naza-
ret als erstes belegen: Nicht mit Recht sagen wir: Ein Samariter bist du und
einen Dämon hast du? – Die beiden Vorwürfe wirken wie herauskristalli-
siert aus dem, was die ersten drei, die synoptischen Evangelien erzählen.
Da gibt es vor allem im Lukas-Evangelium eine Geschichte, die Jesus und
die Samariter zusammenbringt, wenngleich Johannes auf diese Erzählung
nicht hinweist. Im Lukas-Evangelium, im 10. Kapitel (10,25-37), richtet
einmal ein Rabbi an Jesus die Frage: «Was ist wesentlich im menschlichen
Leben? (Was ist das Hauptgebot?)» Die Antwort Jesu dort fiel sehr ein-
fach, praktisch und handfest aus; sie lautete: Alles kommt darauf an, Gott
zu lieben, mit allen Kräften deiner Seele, und deinen Nächsten wie dich
selbst. – Alles was wir in der Sprache des Johannes-Evangeliums bisher
gehört haben, ist im Grunde vollkommen dasselbe, nur klingt es ganz an-
ders, und es berührt eine Problemtiefe, die der historische Jesus selber so
kaum erkannt haben wird: wie verloren die Menschen sind inmitten der
Mitmenschen, wie ausgeliefert der Einzelne im Allgemeinen, im Religiösen,
im Traditionellen, im Konventionellen, wie schwer es ist, daß ein Mensch
überhaupt eine ganze Seele gewinnt, mit der er lieben könnte auf eine
Weise, die alle Kräfte des Geistes, des Herzens und des Willens versam-
meln würde. Von dem Kunststück, wie denn so etwas möglich sei, handelt
das Johannes-Evangelium. Wenn aber ein Mensch sich erst einmal in Gott
festgemacht hat, wenn er gewissermaßen an einer festen Sicherungsleine
verankert ist, dann kann er in die Unruhe eines ganzen Meeres springen,
um andere vor dem Ertrinken zu retten. Das ist soviel wie: … und deinen
Nächsten wie dich selbst. Im 10. Kapitel des Lukas-Evangeliums schließt
sich freilich sofort die Frage an: Aber wer ist denn, Rabbi, mein Nächster
(Lk 10,29)? Und da erzählt Jesus die Geschichte vom sogenannten barm-
herzigen Samariter.
Sie läuft wirklich darauf hinaus, daß man denken muß, jemand, der so
ein Gleichnis erzählt, sympathisiere zumindest mit den Samaritern. Wir
haben dieses Gleichnis bereits kennengelernt, als wir von Jesu Einstellung
zu Tempel- und Priesterdienst sprachen; doch es lohnt sich, des Samariter-
Vorwurfs wegen, die Geschichte noch einmal zu lesen. Jesus erzählt: «Ein
Mann geht von Jerusalem nach Jericho und gerät unter die Räuber. Da
liegt er am Straßenrand, leergeplündert, schwerverletzt, als ein Priester des
Weges kommt.» – Jeder der Zuhörer Jesu wird an dieser Stelle die Ohren
gespitzt haben: Ein Priester, das ist die Musterausgabe, das Vorbildexem-
plar, der Tugendbock des Allgemeinen. Wie er sich verhalten wird, so ist es
die Pflicht, das Normative, genau so muß man sich verhalten. – Da fährt

397
Jesus fort zu erzählen: «Der Priester sah ihn, den Schwerverletzten am
Wege, und ging vorüber.» – Was die heutigen Leser zumeist nicht wissen,
konnte jeder der Hörer Jesu in Galiläa damals sich denken: «Na klar, so
kennen wir die; sie sind immer feierlich, sie schweben stets wie auf Wol-
ken, sie haben unentwegt den lieben Gott zwischen den Backen und unter
den Füßen, aber eben deshalb finden sie nie zu den Menschen. Genauso
kommen sie uns vor.» – Man könnte denken, Jesus verleumde da den hei-
ligen Stand der geistlichen Würdenträger in seiner eigenen Religion; doch
worauf er abzielt, ist das Ritualgesetz: Ein Priester unterliegt dem Gebot,
sein Leben lang sich nicht zu besudeln mit Menschenblut; er hat überhaupt
nicht die Erlaubnis, dem Schwerkranken am Wege zu helfen. Außerdem
dürfen wir unterstellen, daß er zur rechten Zeit im Tempel von Jerusalem
anzulangen hat, ordentlich, korrekt, koscher; mit anderen Worten: er lebt
in einem religiösen Zwangssystem, das ihm erklärt, was sein Gott ist, das
ihm seine priesterliche Aufgabe zuweist, das seine beruflichen Pflichten de-
finiert, und dieser Mann wird treu und pünktlich alles tun, was er gelernt
hat und wie er’s gelernt hat. Und damit man nur ja nicht sich vertut, damit
man nur ja nicht denkt, es handele sich hier um eine Ausnahme, fügt Jesus
zum zweiten noch einen Leviten hinzu, der in den Fußspuren des Priesters,
seines Vorgängers und Vorbildes, genau so sich verhält. Ein Levit an und
für sich könnte sich mit Menschenblut «beschmutzen», wenn er nicht ge-
rade in das Opferritual eingebunden ist, aber ein wirklich frommer Mann
wird das auch außerhalb der Dienstzeit zu vermeiden trachten, jedenfalls
kommt es nicht in Frage, wenn der Tempeldienst wartet, wenn der Gottes-
dienst wartet.
Was Jesus, mit anderen Worten, an dieser Stelle schon in zwei kleinen
Sätzen zur Ouvertüre seines Gleichnisses sagt, ist wie unter Paukenge-
dröhn und Posaunengeschmetter geredet: «Leute von Galiläa, jeder ein-
zelne von euch hat seine eigene Erfahrung mit den Priestern in Jerusalem
und mit ihrer ganzen offiziellen Theologie gemacht. Kein Mensch von die-
sen Hierarchen hat sich je um euch gekümmert. Das einzige, was sie zu
sagen hatten, war: ‹Hier gibt es die sechshundert Gebote des Mose›; die
legen sie aus, und es gibt lauter weise Leute, die nach den Gesetzen des All-
gemeinen, des Objektiven und des Gültigen euch in rund zweitausend Zu-
satzkommentarregeln darlegen, was ihr zu tun habt, und wenn ihr das
nicht tut, entweder weil ihr es gar nicht erst versteht oder weil ihr es gar
nicht tun könnt oder weil es euch gleichgültig ist, dann wird auch Gott
euch angeblich nicht verstehen, dann soll er euch gegenüber gleichgültig
sein, dann seid ihr Gottverstoßene. So war das immer. Ihr hattet schon des-

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halb immer unrecht, weil ihr durch all die pedantischen Gesetzesparagra-
phen nicht hindurchfandet. Ihr wart immer im Unrecht, nur weil ihr ein-
fache Menschen seid. Ihr seid das Volk, von dem sie sagen: Aber diese
Leute, die das Gesetz nicht kennen – verflucht sind sie (vgl. Joh 7,49). So
reden die. Aber ich sage euch: Ihr dürft auf sie nicht hören; überhaupt
nicht dürft ihr nach außen hören, und schon gar nicht müßt ihr nach oben
schauen. Was Gott euch zu sagen hat, ist einfach! Das könnt ihr in euch
selber wissen, wenn ihr es euch nur nicht ausreden und verbieten laßt. Ein
bißchen Gefühl von Mitleid langt absolut aus, um zu wissen, was Gott
will. – Ihr dürft, wenn ihr Gott finden wollt, euch nicht ausrichten auf die-
jenigen, die beanspruchen, Gott zu besitzen. Diese Leute sind der personi-
fizierte Irrtum. Was sie im Kopf haben, ist eine Ideologie, ein Popanz von
Gott, und ihr könnt es rasch nachprüfen. Der Gott, an den sie glauben,
trennt immer wieder Menschen von Menschen und hindert sie, auf andere
zuzugehen. Ihr Gott ist nichts weiter als ein Prinzip, mit dem sie selber
groß dastehen und sich selbst verfeierlichen, aber in Wirklichkeit sind sie
ganz und gar mickrig, sie haben nicht einmal den Mut und die Macht, eine
menschliche Ausnahme von ihren unmenschlichen Gesetzen zu dulden. Sie
sind nur das Offizielle, das heißt, sie selber existieren überhaupt nicht, sie
sind nichts als die Musterexemplare des Allgemeinen, – schon deshalb sind
sie als Personen gar nichts. Ihr aber, die ihr hier sitzt, hättet eine wunder-
bare Möglichkeit, das Richtige zu tun. Ihr müßtet nur die paar Dinge rea-
lisieren, die euch euer eigenes Herz sagt. Darin redet Gott so laut!»
Wer da denkt, solche Worte seien antiklerikale Propaganda, solche
Worte bedeuteten einen religiösen Volksaufstand, der hat ganz recht, nur
diesen «Volksaufstand» erzeugt Jesus gar nicht mehr, er ist längst passiert.
Jesus sieht die Menschen vor sich wie Schafe ohne Hirten, zerstreut über
die Hügel Israels, und er weiß genau, daß die religiösen Führer sie nie
mehr zusammenbekommen werden. Nur Gott traut er es zu, ganz wie der
Prophet Ezechiel es vor sich sah. (Ez 34,1-31; Mk 6,34.) Es ist dasselbe
Problem, vor dem die Religion in unseren Tagen steht: Gott kümmert sich
nicht um das Behördliche und Beamtete, ihm geht es um das Persönliche,
und so fängt er bei jedem Einzelnen an, um einen Neubeginn zu ermögli-
chen. Schon das alles ist äußerst provokativ.
Aber dann legt Jesus noch ein Stück zu; er erzählt: Da kam des Weges
ein Samariter. Ein solcher Samariter gilt uns Heutigen für das Musterbild
von Mitleid und Menschlichkeit, doch das ist der Samariter erst aus die-
sem Gleichnis Jesu geworden. Ursprünglich waren Samariter Leute, die ein
ordentlicher Jude als Volksfeinde zu meiden hatte. Denn die Samariter ach-

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teten den Tempel von Jerusalem nicht; sie waren ausgeschlossen worden
vom Wiederaufbauprogramm des zweiten Tempels um 520 v. Chr. nach
der babylonischen Gefangenschaft, und so haßten sie den Tempel im
Süden. Wenn Jesus von gerade einem solchen Samariter sagt: «Er sah den
Verletzten, er ging zu ihm, er half ihm», soll das doch heißen: Es gibt Men-
schen, die haben im Sinne der offiziellen Theologie und Religion mit all
dem, was da im Raum von Kirche und Gesellschaft verordnet wird, nicht
die mindeste Chance, dazuzugehören; sie sind und bleiben die Ausge-
schlossenen schlechthin. Aber gerade deshalb womöglich tragen sie diese
schriftgelehrte Ideologie, diesen Zwangsgötzen nicht in ihrem Kopf und
haben das Herz frei für Menschlichkeit. – «Ja, nun sehen wir klar: ein Sa-
mariter bist du», erwidern die «Juden» im Johannes-Evangelium: «jetzt
sehen wir», müßten wir in unseren Tagen antworten, «daß du ein Atheist
und Kommunist bist, daß du ein Gottesleugner im Prinzip bist.» Doch
Jesus würde dem entgegenhalten: «So ist es wohl! Ich nehme Partei für
Menschen, die in Not sind; wenn euch das nicht gefällt, dann fragt euch,
wo ihr steht und zu wem ihr Gott macht!»
Wir können den Vorwurf noch genauer prüfen: «Jetzt sind wir im
klaren, daß du einen Dämon hast», sagen «die Juden», das heißt: du bist
selber vom Satan. Auch diese Äußerung hat ihr Vorbild, im 3. Kapitel des
Markus-Evangeliums. Da schon kommen sie von Jerusalem herab und
sagen: «Den Baalzebul hat er, und: Mit dem Obersten der Abergeister
treibt er die Abergeister aus» (Mk 3,22), und es steht da bereits auf Entwe-
der-Oder: Entweder es ist zulässig, daß Menschen leiden und leiden, und
das muß dann auch so sein, weil Gott es angeblich will, daß Menschen
in Gottesgehorsam sich abquälen und darunter ihre eigene Reifung, ihre
eigene Persönlichkeit, ihr Glück ersticken – oder es ist anders: Gott steht
immer auf seiten des Menschen, seiner Persönlichkeitsreifung, seiner Frei-
heit, seines Ichs, seines Glücks – eins von beidem kann nur gelten. Die
Überzeugung Jesu war da ganz klar: Alles, was Menschen guttue, meinte
er, bezeuge durch sich selber schon, daß es von Gott sei. Wie denn auch
sonst wäre Gott die Liebe? Doch dieser Standpunkt richtet sich, ob man es
will oder nicht, gegen jede Form von Religion, die bis ins Innerste der Seele
hinein nichts weiter ist als Außenlenkung, als Entfremdung, als Über-Ich-
Gelenktheit. Da ist Gott nichts weiter als ein psychischer Komplex, etwas,
das als Implantat von außen in die Seele der Menschen mit viel Angst und
Schuldgefühlen hineingedrückt wurde. Dem zu gehorchen ist immer iden-
tisch damit, sich selbst zu verleugnen; nie kommen unter solchen Voraus-
setzungen Religion und Menschlichkeit zueinander. Wenn das «Gott»

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heißt, ist das Gegenstück davon «dämonisch», dann ist der Wille, Men-
schen zu befreien, an und für sich schon eine satanische Verführung. So
sah man es wohl bereits in den Tagen des historischen Jesus aus Nazaret;
das Johannes-Evangelium knüpft nur daran an. «Ein Samariter bist du,
und einen Dämon hast du». Der Grund ist ganz klar: weil Jesus auf eine
Art, wie sie noch nie war, Gott und Mensch zusammendenkt, weil er Gott
als die Liebe glaubt, indem er ihn den Vater (die Mutter) nennt, verkörpert
er einen Umsturz aller auf Macht und Entfremdung basierenden Religion.
Und plötzlich begreifen wir alles weitere. Wir müssen nur wieder von
der linken Spiegelseite auf die rechte Seite schauen und die Wörter gegen-
sinnig lesen, um sie richtig zu verstehen. «Wenn jemand mein Wort hält»,
sagt Jesus, «wird er den Tod nicht schauen auf ewig hin» (Joh 8,51). Und
schon heißt es auf der Gegenseite: «Abraham ist gestorben, auch die Pro-
pheten, und du sagst: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den Tod nicht
kosten auf ewig hin?» (Joh 8,52) Diese Formel: Wenn jemand mein Wort
hält, wenn jemand (auf) mich hört, ist eine Schlüsselwendung im Johannes-
Evangelium. Immer wieder taucht sie auf, und immer wieder ist sie ver-
bunden mit der Verheißung: wer so tut, den wird mein Vater lieben, den
wird er nicht im Tode lassen. Die Auslegung dieser Worte hat zumeist ge-
lautet: Wenn jemand mein Wort hält, das bedeute, man müsse sich an-
strengen, um genau das zu befolgen, was Jesus gesagt habe; in der Fröm-
migkeitsgeschichte bis in unsere Tage hinein ist diese Forderung absolut
identisch damit gewesen, daß man darauf hörte, was die Kirche sagte; auf
Jesus hören hieß da soviel wie: alles für wahr zu halten, was von Jesus vor-
nehmlich mit Berufung auf das Johannes-Evangelium in der Dogmenge-
schichte der Kirche überliefert wurde. Daß Jesus der Sohn Gottes ist, eben
weil er Gott seinen Vater nennt, das zum Beispiel zu hören, zu glauben und
nachzusprechen erscheint dann als das Wesentliche am Christentum. Doch
wenn wir, wo wir links zu sehen meinen, einmal nach den Gesetzen der
Optik vermuten, daß dort in Wirklichkeit eigentlich rechts sein müsse, und
wenn wir daraufhin das Ganze einfach umdrehen, dann kommen wir
dazu, daß Johannes gar nicht sagen will: Wenn jemand mein Wort hält. Es
wäre ein Irrtum, zu denken, wir könnten Gott festhalten. Womit wir es in
Wirklichkeit zu tun haben, ähnelt der Situation eines Ertrinkenden, der
sich an einen Rettungsring klammert, um in Sicherheit gebracht zu wer-
den; doch so wird seine Rettung nicht gelingen, weil er im Sturm irgend-
wann zu schwach sein wird, um noch die Kraft aufzubringen, sich länger
«festzuhalten».
Wir müssen das Wort daher freier übersetzen und sagen, nicht: Wenn

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jemand mein Wort hält, sondern: «Wenn jemand sich an mein Wort hält»,
und ergänzen: der wird erfahren, daß er von Gott gehalten ist. Es geht
darum, ein bestimmtes Vertrauen ganz, ganz fest zu machen, wie es im
Grunde nur die Liebe uns schenken kann: Man hört ein neues, ein anderes
Wort, man muß es in gewissem Sinne gar nicht «glauben», es ist einfach,
daß dieses Wort in einem alles weckt, was zum Leben beiträgt, was zur
Entfaltung befördert, was glücklich macht, was die Augen leuchten läßt.
Ein solches Wort «hält» man nicht, man fühlt nur, wie es von innen her
alles ausfüllt, was man selber ist. Das ist die Art, wie man es bei sich
behält. Man strengt sich nicht an, jetzt wieder etwas Äußeres zu ergreifen
und sich mit Willen und Verstand aufzuzwingen – man lebt eben nicht so,
wie das übliche Gerede davon geht, man müsse «die Gebote» halten. Es
verhält sich gerade umgekehrt: Das, was Jesus uns sagt, ist identisch mit
dem inneren Gesetz in unserem eigenen Herzen, und sich daran zu halten
ist der einzige Schutz, den wir gegen den Tod und gegen die Angst vor dem
Tode besitzen.
Natürlich kann man auch und gerade diese Aussagen noch einmal in
dogmatischer Absicht aufs groteske mißverstehen. «Er wird den Tod nicht
schauen auf ewig hin», heißt dann: er wird physisch nicht sterben, und so
vorgestellt erscheint es als abergläubig, denn jeder weiß: alle Menschen
werden sterben. Die ganze Auslegung kann bei solcher Betrachtung ins
völlig Phantastische geraten, so wie im Weltkatechismus der römischen
Kirche von 1992: Adam, der Mensch, so wird da gelehrt, besaß präterna-
turale Gaben, weil er im Paradies vom Tode befreit war, ist doch der Tod
die Folge der Sünde; also mußte Adam zunächst gesündigt haben, damit
Gott ihn mit dem Tod bestrafen konnte, und erst seither sterben die Men-
schen2.
Derlei dogmatische Irreführungen können wir getrost beiseite stellen.
Der Tod ist eine Mitgift unserer physischen Existenz; niemand wird daran
etwas ändern. Aber vielleicht ist der «Tod» gar kein Tod; ganz sicher ist er
keine Strafe. Wir müssen hier unterscheiden. Wenn Tod bedeutete, in die
Grube zu fallen, wertlos, entbehrlich und unnütz, dann allerdings behielte
der Tod das letzte Wort über uns; er würde uns zeigen, daß wir nie etwas
anderes waren als überflüssig und daß es nun endgültig so ist und bleibt.
Alle Angst vor dem Tod ist im Grunde Angst, nicht geliebt zu sein, ausge-
schlossen zu sein, nicht nur allein, sondern isoliert und darin vollkommen
nichtig – immer wieder bereits haben wir diese Erfahrung geschildert; wir
haben auch schon überlegt, was ein Mensch angesichts einer Natur ist, die
auf ihn keinerlei Rücksicht nimmt, und hinzugefügt, schlimmer noch stelle

402
sich die Frage, was der Mensch angesichts einer menschlichen Geschichte
sei, die über Einzelne hinweggehe mit gewollter Gleichgültigkeit oder mit
propagandistisch inszenierter Vernichtung. Und wir sahen: Es gibt keinen
anderen Weg, den Tod zu überwinden, als die Liebe.
Manchmal kommen Menschen, die sagen: «Ich habe schreckliche Angst
vor dem Tod.» Doch geht man dem nach, so ist es fast immer Angst vor
dem Leben; und schaut man noch genauer hin, was die Angst vor dem
Leben ausmacht, so ist es die Angst vor der Liebe. Man hat sie verboten,
man hat sie stranguliert, man hat sie unter moralische Zensur gesetzt, man
hat sie niedergehalten, daß sie nie erwachsen werden durfte. Sie wurde am
Ende aus einer Sehnsucht sogar zu einer Verführung und anschließend zu
einer Gefahr. Man fängt an zu fürchten, was leben ließe. Umgekehrt also:
Erst wenn man all die Verbiegungen revidiert, beginnt der Tod seine Macht
einzubüßen. Er existiert nicht mehr; man lebt vielmehr jetzt und heute, er-
füllt im Augenblick, und hat die Zuversicht, man werde auch durch die
Pforte des Todes gemeinsam gehen. Da gibt es keine Trennung mehr zwi-
schen einem Reich der Lebenden und einem Reich der Toten, da gibt es
nur noch ein Reich der Liebe, in dem wir auf immer zusammen sind. Wohl
mag es in der Zeit einen gewissen Abstand geben, doch nicht im Wesentli-
chen. Im Wesentlichen gehören alle Menschen zueinander.
Gerade daß die Zeit sich aufhebt und zum Unwesentlichen wird, ist die
merkwürdige Bestimmung des Menschen im Johannes-Evangelium. Die
Philosophie des Existentialismus hat das sehr anders, den Worten nach
völlig konträr, formuliert. Für Martin Heidegger in Sein und Zeit war
Zeitlichkeit ein Existential des Daseins3, sie war gleichbedeutend mit der
Selbstauslegung im Entwurf des Daseins. Für den Jesus des Johannes-Evan-
geliums verhält es sich gerade umgekehrt. Nicht: sich zu entwerfen, son-
dern: sich zu finden in einem Absoluten, das uns trägt und hält, und die
Zeit förmlich zu vergessen, macht dort die Existenz des Menschen aus. Die
Vergänglichkeit, die Vorläufigkeit des Daseins ist da nicht länger das
Wichtige. Nur der Augenblick jetzt zählt. Worauf es ankommt, ist gewis-
sermaßen nicht das Fließen des Stroms, sondern der Punkt, an dem das
Mondlicht das Wasser zum Schimmern bringt.
Da ruft man Jesus voller Sarkasmus entgegen: Fünfzig Jahre nicht ein-
mal bist du, doch Abraham hast du gesehen! Doch Jesus antwortet: Ehe
Abraham ward, bin ich! Und: Abraham, euer Vater, jubelte, daß er sähe
meinen Tag. Er sah ihn. Er war glücklich – 1800 Jahre menschlicher Ge-
schichte zwischen dem Patriarchen und dem Christus erscheinen da als ein
Nichts im Wesentlichen.

403
Zwei Irrtümer sind an dieser Stelle noch möglich. Der eine ergibt sich
wieder aus dem Prinzip des Äußeren. Denken kann man, die Geschichte
selber entscheide über die Wahrheit eines Menschen, die Religionsge-
schichte zumal verbinde überhaupt erst einen Menschen mit seinem geisti-
gen Ursprung, wir brauchten, konkret gesagt, folglich mindestens zweitau-
send Jahre Kirchengeschichte, damit wir von Jesus überhaupt etwas
Korrektes zu wissen bekämen, denn die Kirchengeschichte selbst sei die
wesentliche Form der Überlieferung und Auslegung der Botschaft des
Mannes aus Nazaret. Wenn es so steht, ist das Prinzip des Äußeren immer
stärker als wir selber. Die Entdeckung des Johannes-Evangeliums hingegen
lautet genau umgekehrt: Die 1800 Jahre zwischen Abraham und Jesus sind
null und nichtig, sie zählen im Grunde gar nicht, sondern es ist möglich,
daß Abraham «sehen» wollte, was in Jesus Wirklichkeit ist, ja, daß, we-
sentlich betrachtet, Jesus früher ist als Abraham war.
Man kann sich das Gemeinte in einem simplen Vergleich verdeutlichen.
Man kann in gewissem Sinne sagen: Kopernikus war früher als Arist-
arch von Samos, oder: Einstein war früher als Demokrit, und man
meint damit: Alles, was Demokrit über die Atomphysik gedacht hat,
wollte erkennen und sollte auf das hinauslaufen, was am Anfang des 20.
Jhs. in Theorie und Experiment sichtbar wurde, und das, was da sichtbar
wurde, bildet die Grundlage, ist wirklich früher im Sinne von «ursprüngli-
cher», als all das, was Demokrit ahnen konnte. Und genauso ist es mit der
Planetenbewegung und der Stellung der Sonne. Alles, was Aristarch in-
tuitiv sah, wartete auf die Entdeckung des Kopernikus; wer Aristarch
war und ist, zeigt sich überhaupt erst in Kopernikus; in diesem Sinne liegt
Kopernikus dem Aristarch zugrunde.
Daraus folgt zum zweiten etwas sehr Wichtiges. Das Christentum ist
auch und gerade im Johannes-Evangelium nicht die Widerlegung des Ju-
dentums. Es ist, an dieser Stelle gesprochen, überhaupt keine andere Reli-
gion, es ist nichts weiter als zeitgleich und wesensursprünglich die Religion
Abrahams! Alles, was je sich von Abraham als dem Vater des Glaubens in
Israel ableitet, soll in der Haltung Jesu sich konzentrieren. Und noch ein-
mal jetzt: Man müßte sagen: Worauf Abraham und alle Propheten gewar-
tet haben, bestand darin, daß endlich Gott so glaubhaft, so fühlbar als
Liebe Gestalt gewönne, wie es in Jesus geschehen ist. Alle menschlich we-
sentlichen Erfahrungen von Einsamkeit, Vertreibung, Fremdheit durch-
lebte Abraham in der Hoffnung, etwas Bestimmtes zu sehen, und der jo-
hanneische Jesus meint, was er habe sehen wollen, sei genau das, was er
verkörpere: daß Gott und die Menschen eins sind und daß die Liebe, die

404
von Gott her das menschliche Herz durchdringt, von einem zum anderen
fließt und daß es keine Einsamkeit, keine Vertreibung, keine Fremdheit
mehr gibt.
Es ist das Paradox, daß es auf dieser Welt kaum etwas Gefährlicheres
und Provokanteres gibt, als einfach frei zu sein. Ob man ein «Kind Abra-
hams» ist oder wird, hängt in diesem Sinne von gar nichts Äußerem, Ge-
schichtlichem, Institutionellem, Organisierbarem ab; es ist eine reine Frage
der Existenz, wie wir Abraham verstehen: ob wir von ihm reden, um Tra-
ditionen und Lehrphrasen mit ihm zu begründen, oder ob wir in ihm eine
Existenzweise erkennen, der wir gleich werden sollten, ja, die wir in ihrem
symbolischen Inhalt sogar noch viel stärker ausbilden und aufgreifen kön-
nen sollten, als sie in den «Wanderungen» Abrahams in ein «Land der Ver-
heißung», rein historisch gelesen, zum Ausdruck kam.
Die Entscheidung bleibt: Ist es Gotteslästerung, was wir da sagen, oder
ist es die wahre Art, über Gott und Mensch zu denken, zu sprechen, zu
hoffen, zu glauben? Es gibt nur eins von beidem, das Äußere oder das In-
nere; es gilt nicht die in der Systemtheorie gegebene Möglichkeit der Ver-
netzung von oben und unten, von außen und innen; hier geht es um ein
Entweder-Oder, das nicht weiter zu vermitteln ist. Man kann nicht sagen:
«Ein bißchen Innerlichkeit, natürlich; die ganze Religion will die Innerlich-
keit; aber damit die Innerlichkeit nicht leer bleibt und falsch wird, brau-
chen wir das Äußere auch; die Institution ist notwendig; denn der Einzelne
ist ein Verlorener, wenn er nicht die Gemeinschaft hat.» In Wirklichkeit
sind wir Verlorene, solange all das, was wir als Innerlichkeit begreifen,
nichts weiter sein soll als das, was man uns von außen gegen erheblichen
Widerwillen eingeflößt hat. In Wirklichkeit sollten die Menschen von
innen heraus leben und das Äußere sich selber gemäß formen. Erst so wan-
delt «Tod» sich zu Leben und «Lüge» zur Wahrheit; erst so öffnet Religion
sich zu Menschlichkeit.
Es ist ein Rätsel an dieser Stelle, wie Jesus sich hat verbergen können,
während sie Steine nach ihm warfen; sagen wir besser: er wurde für sie un-
erreichbar. Es gibt Momente, in denen andere sagen können, was sie wol-
len; jedes ihrer Worte mag gezielt sein wie ein Stein zum Verletzen und
zum Töten: es trifft aber sein Ziel nicht mehr. All die Attacken bleiben im
Äußeren stecken, sie erreichen nie dieses innere Zentrum, das unangreifbar
sich hier formuliert. Das einzige, was Jesus noch tun kann, ist, zu ver-
schwinden – fort, zweimal sogar steht das dort, fort aus dem Heiligtum.
Wo wir es nun suchen sollen, das neue Heiligtum, wird Jesus im Prozeß zu
seinem Todesspruch und zu seiner Hinrichtung erläutern (Mk 14,58). Da

405
wird aufgegriffen, was der johanneische Jesus schon bei der Tempelreini-
gung gesagt hat: Löst diesen Tempel auf, und in drei Tagen errichte ich
ihn! Und Johannes wird hinzufügen: Er aber sprach vom Tempel seines
Leibes (Joh 2,19.21). Auch die Exegeten merken bis heute in aller Regel
kaum, daß der Evangelist Johannes von Jesus und mit Jesus sagen möchte:
Es gibt kein anderes Heiligtum als das eigene Leben! Wie sich das auf-
erbaut im Vertrauen auf Gott und in Überwindung der Todesangst, das ist
das ganze Rätsel des menschlichen Daseins.

406
Joh 9,1-17: Die Heilung eines Blindgeborenen
1Und im Vorübergehen sah er einen Mann, blind von Geburt.
2Da fragten ihn seine Jünger, sie sagten: Rabbi, wer hat gesün-
digt (Lk 13,2): Der oder seine Eltern, daß er blind geboren
wurde? 3Geantwortet hat Jesus: Weder dieser noch seine Eltern,
sondern sichtbar werden sollten die Werke Gottes an ihm
(11,4). 4Wir müssen wirken die Werke dessen, der mich gesandt
hat – solange es Tag ist (5,17). Es kommt eine Nacht, da nie-
mand wirken kann (11,9; Jer 13,16). 5Solange ich in der Welt
bin, bin ich der Welt Licht (8,12; 12,35).
6Das sprach er. Dann spuckte er auf die Erde und machte einen

Brei aus dem Speichel und strich ihm den Brei auf die Augen
(Mk 8,23). 7Und er sagte: Los, zum Waschen (2 Kön 5,10), an
den Teich Siloam (Schiloach, das heißt übersetzt: Gesandter)!
Er ging also fort, er wusch sich, er kam – sehend!
8Die Nachbarn da und die ihn gesehen hatten vordem, daß er

ein Bettler war, sagten: Ist das nicht, der dasaß und bettelte?
9Die einen sagten: Der ist es. Andere sagten: Nein, aber ähnlich

ihm ist er. Er sagte: Ich bin es. 10Sagten da sie ihm: Wie denn
sind geöffnet worden deine Augen? 11Antwortete er: Der
Mensch, der Jesus genannt wird, hat einen Brei gemacht und
meine Augen bestrichen und hat mir gesagt: Los, zum Siloam
(Schiloach), und wasch dich! Wie also ich fortging und wusch
mich, wurde ich sehend. 12Da sagten sie ihm: Wo ist er? Sagt er:
Ich weiß nicht. 13Führen sie ihn zu den Pharisäern, ihn, den
ehemals Blinden. 14Es war aber Sabbat an dem Tag, da Jesus
den Brei gemacht und seine Augen geöffnet hatte. 15Abermals
da fragten sie ihn, Pharisäer halt, wie er sehend geworden. Er
aber hat ihnen gesagt: Einen Brei hat er gelegt auf meine
Augen; ich wusch mich – ich sehe. 16Sagen da von den Phari-
säern einige: Nicht ist dieser auf Gottes Seite, der Mensch, –
den Sabbat nicht hält er. Andere (aber) sagten: Wie kann ein
sündhafter Mensch solche Zeichen tun? Und so war eine Spal-
tung bei ihnen. 17Sagen sie also dem Blinden noch einmal: Was
du? Sagst du über ihn, daß er geöffnet hat deine Augen? Der
aber sagte: Ein Prophet ist er.

Das 9. Kapitel des Johannes-Evangeliums verarbeitet erneut eine Erzählung


der ihm überkommenen Wundersammlung, die unter anderem auch von
der Heilung eines Blinden berichtet. Manches in dieser Erzählung ist sehr
vergleichbar einer ähnlichen Geschichte im Markus-Evangelium (Mk 8,22-
26). Aber für Johannes ist die Heilung eines Menschen nicht einfach ein
Geschehen, das sich irgendwann einmal aufgeführt hätte, es bedeutet für

407
ihn die Infragestellung unserer ganzen Art, die Welt zu sehen. Was ist da
Licht, was Dunkel, was Wissen, was Nicht-sehen-Wollen, was Glauben an
Gott oder womöglich Gottesleugnung in wahnhaftem Gottesbesitz? Zwi-
schen der notwendigen Unsicherheit, die sein muß, um eine falsche Ge-
wißheit zu erschüttern, und dem Beginn einer neuen Zuversicht an der
Seite des Mannes aus Nazaret bewegt sich die Geschichte dieses «Wun-
ders» sowie des Verhörs und des schließlichen Bekenntnisses des Sehend-
gewordenen.
Jeder, der die Erzählung von der Heilung des Blinden im Johannes-Evan-
gelium liest und sich in der Literatur der Antike etwas auskennt, wird sich
erinnert fühlen an die Geschichte, die der griechische Philosoph Platon
als Gleichnis erzählt hat und die wir schon einmal zum besseren Verständ-
nis der Begriffe Licht und Dunkel im Johannes-Prolog wiedergegeben
haben. Bestrebt, den mühsamen Weg der Erkenntnis zu malen, gebrauchte
Platon ein Bild, um den normalen Zustand des menschlichen Bewußtseins
zu verdeutlichen. Wir glichen, so schreibt er in dem Dialog über den
Staat1, Menschen, die ihr Leben lang in einer Höhle zugebracht hätten,
stets mit dem Rücken in Richtung Ausgang gewandt. Draußen, vom
Höhleneingang, wirft das Licht mitunter Schatten von Vorübergehenden
auf die Höhlenwände; die Bewohner dieser Stätte ewiger Dunkelheit aber
glauben, in den vorübergehenden Schatten die Wirklichkeit selbst zu er-
kennen. Wollte nun jemand die Unglücklichen darüber belehren, daß
draußen eine Welt voller Licht und Schönheit existiere, so würden sie ihn,
völlig sicher in ihrem vertrauten Urteil, als jemanden verlachen, den man
nicht ernst nehmen dürfe. Würde dieser gar, bemüht, die Unglücklichen
von ihrem Schicksal zu befreien, gewissermaßen gewaltsam sie packen
und ins Licht hinausschleifen, so würde ihnen die plötzliche Helligkeit der-
art weh in die Augen leuchten, daß sie sich förmlich mißhandelt und
malträtiert fühlen müßten. Die größte Wohltat für einen Menschen, end-
lich sehen zu dürfen, würde von diesen des Lichtes Entwöhnten gewiß wie
eine Krankheit empfunden werden. Platon erklärte sich mit diesem Ver-
gleich den Widerstand der Menge nicht zuletzt auch gegen das, was er ihr
als Weisheit darreichen wollte.
Es läßt sich nicht leugnen, daß das ganze Johannes-Evangelium eine sol-
che Umwertung aller «normalen» Erfahrungen vornimmt. Alles, was aus
der Tradition für sicher bezeugt und klar zu Ende erklärt scheint, wird neu
beurteilt und umqualifiziert von Segen in Fluch, von Wahrheit in Lüge,
von Licht in Dunkelheit. Umgekehrt versucht das Johannes-Evangelium
eine Gegenwelt des wahren Lebens, des wahren «Lichts» an der Stelle des

408
Zerstörenden, des Verlogenen zu errichten. Es ist aber klar, daß das Johan-
nes-Evangelium im Unterschied zu Platon kein erkenntnistheoretisches
Problem beschreiben will, das man über die Ausarbeitung einer philoso-
phischen Theorienbildung lösen könnte; niemand wird das Johannes-Evan-
gelium verstehen, der meint, im Status des Dozenten, gewissermaßen vom
Katheder herab, eine Auslegung dieser Texte versuchen zu können, um der
Menschheit und dem einzelnen Menschen endlich ein Licht der Klarheit
und der Wahrheit im Rahmen der richtigen Doktrin aufzustecken. Genau
das nicht. Nicht um Erkenntnis im Sinne eines intellektuellen Prozesses ist
es dem Johannes-Evangelium zu tun, vielmehr möchte es aus der absoluten
Verlorenheit, aus der völligen Entfremdung, aus den Gefrierzuständen der
Seele durch eine innere Einsicht hinüberführen in eine mildere, wärmere
Welt.
Manche Theologen beginnen ihre fertigen Urteile erst in Frage zu stel-
len, wenn sie nicht sowohl mit dem Leiden Einzelner als mit der Tragödie
großer Menschengruppen konfrontiert werden. Sprechen wir also als er-
stes von der Blindheit in kollektiven Zusammenhängen.
Da zeigten sich zum Beispiel die christlichen Kirchen, fast zweitausend
Jahre nach der Botschaft Jesu, in dem entscheidenden Augenblick des Ho-
locaust-Desasters blind: Was unmittelbar vor ihren Augen geschieht, – sie
können es sehen, aber sie wollen es nicht sehen, meinend, es nicht sehen zu
dürfen mit Rücksicht auf die frommen Mitglieder ihrer Institution. Kein
Mund öffnet sich, kein Schrei erschallt. Später, fünfzig Jahre danach, wer-
den in München und Berlin einzelne Personen seliggesprochen werden, die
individuellen Widerspruch einlegten, doch dieses Zeichen wird nichts wei-
ter sein als ein nachgeholtes Alibi; als es darauf ankam, wurde jede Geste
des Widerstands bewußt gemieden als zu gefährlich für das Gesamtsystem
«Kirche».
Die Frage stellt sich, was eigentlich uns hindert, zu sehen, was wir sehen
könnten. Die johanneische Antwort auf dieses zentrale Problem unter-
scheidet sich prinzipiell von den Erörterungen, die die platonische Er-
kenntnistheorie bereithält. Der einfachste Grund für die menschliche
Blindheit im Johannes-Evangelium ist das Verschließen der Augen aus
Angst, wenn und weil etwas genau zu beobachten zu viel Risiko mit sich
brächte. Besser ist es, wegzuschauen, besser ist es, buchstäblich den Kopf
in den Sand zu stecken, besser ist es, sich den Sand vom Sandmännchen in
die Augen streuen zu lassen, besser ist es, am Ende sagen zu «können»: wir
wußten von nichts. Von daher kommt es darauf an, die Angst im Erle-
ben jedes Einzelnen zu lösen und ihm Mut zu machen, das für wahr zu

409
nehmen, was er wirklich wahrnimmt. Doch eine angstfreie, unverzerrte
Wahrnehmung wird immer wieder auf eine Erschütterung von allem hin-
auslaufen: es ist nicht mitanzusehen, was da als Normalität zu sehen ist.
Nehmen wir ein zweites kaum noch erinnertes, doch wichtiges Beispiel.
Im März 1996 wurde im deutschen Bundestag ein neues Gesetz auf den
Weg gebracht, in dem es heißt, daß man die Bundeswehr, daß man den Sol-
datenstand nicht pauschal herabwürdigen und beschämen dürfe; es sei
nicht erlaubt, Kurt Tucholsky zu zitieren und zu sagen: «Soldaten sind
Mörder»; allenfalls dürfe man sagen: «Die Leute, die während des Viet-
nam-Kriegs der USA in My Lai ein ganzes Dorf mit vierhundert Menschen
massakrierten, das waren Mörder.» Man darf demnach nicht sagen: «Da
gab es junge GIs, denen die Nerven durchgingen, die den ganzen Krieg
nicht ertrugen, die nur noch aus Angst bestanden und innerlich explodier-
ten, als es darauf ankam: Endlich sahen sie die Vietnamesen; statt von
ihnen aus dem Hinterhalt zerfetzt zu werden, hatten sie sie endlich vor
sich, und sie taten genau das, was man den 18jährigen beigebracht hatte,
um Soldaten aus ihnen zu machen: – wie im Reflex auf jeden Vietnamesen
zu schießen, den man sieht.» Als die Vorgänge in My Lai vom Pentagon
nicht mehr vertuscht werden konnten, wurden sie als Kriegsverbrechen
eingestuft und damit als Ausnahmen in einem an sich «guten» Krieg hinge-
stellt. Doch wo ist eigentlich der Unterschied, ob man aus den B 52-Bom-
bern in fünfzehn Kilometern Höhe Napalm über ganze Dörfer regnen läßt
oder ob man das MG gegen alles, was sich bewegt, durchzieht? Darf die
Luftwaffe, was die Infanterie nicht darf? Es ist offenbar: Das Gesamt-
system des Militärs, das militärische Denken selbst ist schuldig, nicht die
Einzelnen; aber wer das sagen wollte, müßte die Auftraggeber im Hinter-
grund: die Politiker, die Generäle, die Zeitungsmacher für verbrecherisch
betrachten, die Staaten verlören ihre Legitimation, sie erschienen als quasi
mafiose Vereinigungen.
Doch die Frage bleibt: Wer denn hat all die Massenmorde im 20. Jh. in
Auftrag gegeben, wenn nicht die Führer international anerkannter Staa-
ten? 83 Millionen Menschen sind getötet worden in den Kriegen allein im
letzten Jahrhundert, so schätzt man, und in dieser Rechnung sind nur die
großen, die «richtigen» Kriege mitgezählt. All diese Tötungen gehen zu La-
sten von Soldaten; aber weit mehr als Soldaten wurden in den Kriegen am
Ende des 20. Jhs. Zivilisten getötet. Da entstehen Fragen über Fragen. Darf
man eine Bombe ausklinken über Hiroshima und über hunderttausend
Menschen in wenigen Sekunden vernichten? Darf ein amerikanischer Prä-
sident auf einem Kreuzer, kaum daß er die Meldung von dem Bomben-

410
abwurf hört, enthusiastisch jubeln: «Jungs, wir haben ihnen einen Ziegel-
stein auf den Kopf geworfen!»?2 Die ganze Soldateska wird kreischen vor
Begeisterung. Es wird keine Sekunde des Bedauerns geben; man wird viel-
mehr so schnell wie möglich ein Kamerateam in die zerbombte Stadt
schicken, um festzustellen, wie ein neuer Atomschlag womöglich noch bes-
ser zu organisieren sei. Man wird weitere Testreihen planen, um zukünf-
tige Explosionen noch effizienter, noch zerstörerischer zu gestalten. – Sollte
man unter solchen Umständen wirklich nicht sagen dürfen: «Leute, die so
etwas tun, sind schlimmer als Mörder?» Man kommt seit 1996 ins Ge-
fängnis, wenn man das tatsächlich sagt, aber wie will man die Selbstver-
ständlichkeit der Massenschlächterei im Krieg anders problematisieren, als
indem man sie beim Namen nennt? Tucholsky sprach von Verdun im
Ersten Weltkrieg als von dem großen Schlachthof3. Aber soll es denn dabei
bleiben, daß jemand alles tun darf, tun muß, nur weil und wenn er sich
den Metzgerkittel umgebunden hat?
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel der sogenannten Normalität. Wer,
wenn er das Fernsehen sich anschaut, verträgt einen Dokumentarfilm über
die Massentierhaltung? Was er dort zu sehen bekommt, ist wohlgemerkt
die standardisierte Form einer quälerischen Tierhaltung, die wir längst
schon als ökonomisch erfolgreich in andere Länder exportieren. Wir brin-
gen inzwischen anderen bei, wie man Milliarden Tiere jeden Tag quält,
routiniert, systematisch, mitleidlos. Bilder von solchen Zuständen und
Praktiken kann man kaum sehen und will sie auch nicht sehen. Man ist es
leid, man findet es unerträglich, doch statt wegzusehen müßte man hinse-
hen und den Mund aufmachen gegen das, was man gesehen hat. Man
kann «so etwas» gewiß nicht immer wieder anschauen, aber wenn man be-
griffen hat, was da geschieht, so könnte man laut sagen: «Derlei Dinge
wollen wir nicht länger geboten bekommen.»
Es gibt vieles, das so nicht bleiben darf, solange wir Augen haben und
solange wir fähig sind, mit der Seele zu sehen. Keine staatlich verordnete
Sichtblende dürfte und sollte daran etwas ändern können. Die Absolution,
die man im Kollektiv sich per Gesetz ausstellt, darf nicht länger so funktio-
nieren, daß immer erst hinterher das Bedauern und das Kränzeniederlegen
beginnt und man Gedenkstunden für Helden einrichtet, die man nie ge-
wünscht hat, als man zeitgleich mit ihnen lebte. So kann man nicht die
Zukunft gestalten, wenn man vorgibt, aus der Vergangenheit gelernt zu
haben.
Neben der kollektiven Seite können die Chiffren Nacht und Blindheit
auch eine sehr persönliche, individuelle Dimension annehmen und Situa-

411
tionen und Zustände beschreiben, die im ganz Alltäglichen und Gewöhnli-
chen spielen; und diese Bedeutung liegt der Erzählung im Johannes-Evange-
lium zweifellos näher. Sie schildert zunächst nicht die kollektive Verdüste-
rung und Umnachtung menschlicher Gesellschaften in den geschichtlichen
Schicksalsaugenblicken ganzer Völker. Was sie beschreibt, ist gewisser-
maßen privater Natur, dafür aber keinesfalls weniger problematisch und
des Nachdenkens wert. Berichtet wird von einem Mann, der blind geboren
wurde. Stellen wir uns diese Krankheit nicht einfach als ein sozusagen kör-
perliches Verhängnis vor, als einen Erbfehler etwa, der genetisch mitgege-
ben wurde, oder als einen Geburtsschaden, als eine Behinderung, als eine
Infektionskrankheit, – also jedenfalls nicht als eine biologische Tatsache,
sondern denken wir uns, daß Menschen auf eine Weise zur Welt kommen
können, die sie seelisch hindert, das Licht der Welt überhaupt zu erblicken.
Nehmen wir das Blindgeborensein als Bild für ein Menschsein, das seelisch
nie dazu kam, im Leben so etwas wie ein Licht oder ein Leuchten zu ent-
decken – alles war und blieb nur dunkel, verschattet und müde vor Trau-
rigkeit. Auch auf ein solches Empfinden kann natürlich wieder vieles an
kollektiven Ursachen Einfluß nehmen, und doch findet sich ein solcher
Schmerz immer wieder nur in jedem Einzelnen. Rainer Maria Rilke im
Stundenbuch4 konnte die Seelenumdüsterung und die Aussichtslosigkeit
des Lebens so vieler einmal aus der Sicht von Großstadtbewohnern be-
schreiben.
Denn, Herr, die großen Städte sind
verlorene und aufgelöste;
wie Flucht vor Flammen ist die größte, –
und ist kein Trost, daß er sie tröste,
und ihre kleine Zeit verrinnt.

Da leben Menschen, leben schlecht und schwer,


in tiefen Zimmern, bange von Gebärde,
geängsteter denn eine Erstlingsherde;
und draußen wacht und atmet deine Erde,
sie aber sind und wissen es nicht mehr.

Da wachsen Kinder auf an Fensterstufen,


die immer in demselben Schatten sind,
und wissen nicht, daß draußen Blumen rufen
zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind, –
und müssen Kind sein und sind traurig Kind.

412
Da blühen Jungfraun auf zum Unbekannten
und sehnen sich nach ihrer Kindheit Ruh;
das aber ist nicht da, wofür sie brannten,
und zitternd schließen sie sich wieder zu.
Und haben in verhüllten Hinterzimmern
die Tage der enttäuschten Mutterschaft,
der langen Nächte willenloses Wimmern
und kalte Jahre ohne Kampf und Kraft.
Und ganz im Dunkel stehn die Sterbebetten,
und langsam sehnen sie sich dazu hin;
und sterben lange, sterben wie in Ketten
und gehen aus wie eine Bettlerin.

Es gibt kaum ein Gedicht in der Weltliteratur, das imstande wäre, lebens-
längliche Dunkelheit so intensiv zu verdichten wie dieser Gesang auf ein
Leben, das nie zum Leben kam, auf ein Blühen, das mitten in seiner Schön-
heit erstarb, auf ein verlorenes Suchen, das sich vergeudete und sich ab-
mühte, ohne zu wissen, wofür. Und so, deutet Rilke an in dem Bild der
«Stadt», geht es fast allen, den Erwachsenen, den Kindern, den Frauen –
wem eigentlich nicht? Doch mit dieser «dichterischen» Sehweise beginnt
eine neue, alles ändernde Form der Wahrnehmung, die sich ganz und gar
mit der Perspektive deckt, die auch das Johannes-Evangelium vorschlägt.
Denn es ist, als begönne in der johanneischen Erzählung ein neues Sehen
in die verborgene Not der Menschen hinein. Erstaunlich ist schon die Ein-
leitung: Im Vorübergehen sieht Jesus diesen blindgeborenen Mann. Aber er
geht eben nicht vorüber, er geht auf ihn zu. Das allerdings ist der ganze
Unterschied: Augen haben so viele, mit der Seele sehen könnten so viele,
wer aber bleibt stehen, wer setzt sich dem aus – all den langen Geschich-
ten, die sich in jedem Schicksal neu erzählen? Wie ist es möglich, Men-
schen zu helfen, die sich so fühlen: lebenslang blind?
Das allererste ist: wir müßten die falschen Erklärungen beiseite räumen.
Sie sind archaisch und obsolet, aber immer noch im Schwang. Sie lauten,
daß, wenn ein Mensch eine Krankheit ertragen muß, damit der Gerechtig-
keit Gottes Genüge getan werde; ihm zur Strafe geschehe es, daß er leide
einer womöglich unbekannten Schuld wegen, zur Sühne für etwas, das
vielleicht gar nicht er, sondern andere begangen hätten. Dieser Lehrsatz,
der die Leidenden noch mehr leiden macht, indem er sie schuldig spricht
und damit für strafenswert erklärt, deutet ihren Schmerz als eine Art Bes-
serungsmittel, das sie, weil verdient, demütig annehmen und tragen müß-

413
ten. Eine solche «Theologie» schließt die schon bestehende Nacht in sich
selbst ein und erlaubt kein Entrinnen mehr, – so darf man, sagt der Jesus
des Johannes-Evangeliums hier, nicht denken, den Menschen zuliebe, und
so darf man nicht denken, Gott zuliebe. Man tut beiden Unrecht. Kein
Leid auf dieser Erde taugt als Strafe. Allein schon unsere ganze Pädagogik
würde sich ändern, folgten wir diesem Satz.
Wie viele Kinder sind mit endlosen Strafen zu ihrer «Besserung» großge-
worden! Wenn man sie schlug, wußten sie kaum, warum, doch ihre Intelli-
genz hatte sich darin zu bewähren, es herauszufinden und dessen geständig
zu sein. Sie hatten ihre Vermutungen immer weiter zu präzisieren: irgend
etwas würden sie schon angestellt haben. Die gefundene oder notfalls auch
erfundene Schuld zu bekennen erwies sich oft genug als die einzige Form,
um für ein «gutes Kind» gehalten zu werden.
Vor einer Weile, als wir darüber redeten, warum bestimmte Gespräche
niemals ein Ende fänden und warum wir eigentlich keinen wirklichen Fort-
schritt sähen, erklärte eine Frau, daß sie sich in dem Gespräch eigentlich
genauso verhalte, wie sie früher als Kind habe beichten müssen: «Ich er-
fand alle möglichen Sünden, selbst solche, die ich gar nicht begangen hatte,
denn nur, wenn ich sehr viele Sünden beichtete, lobte mich der Pfarrer.
Dann sagte er: ‹Du bist ein gutes Kind, daß du all das so genau beobach-
test und berichtest; dir vergibt Gott.›»
Da wird die «Finsternis» der Seele für den einzigen Ort der Wahrheit er-
klärt. Da wird das Sich-Vergraben im Negativen für das Beste gehalten,
was Menschen tun können. Da findet die Umwertung von Leben in Tod in
äußerster Konsequenz statt: im Namen Gottes, im Namen eines Priesters,
im Namen einer kirchlichen Behörde, die vorgibt, den Menschen nur ret-
ten zu können, indem sie ihn verbrennt, zerstört, dem Dunkel und der Fin-
sternis überläßt.
Die Verknüpfung von Blindheit und Schuld kann aber auch ohne eine
solche religiöse Fehlinterpretation noch viel unmittelbarer und noch weit
unentrinnbarer gewebt werden. Vor einer Weile erzählte eine Frau – das
heißt, sie erzählte nicht, sie erstotterte es, sie brach es heraus –, wie sie vor
Jahren einen schweren seelischen Krankheitsprozeß durchgemacht hatte.
Sie glaubte sich an jene Zeit zu erinnern, da sie drei, vier Jahre alt gewesen
war. Ihre Mutter hatte von zu Hause weggehen müssen, sie selbst, die
Tochter, war damals zu anderen Leuten gegeben worden. Niemand weiß,
was sich bei diesen abgespielt hat. Die einzige verbliebene Erinnerung be-
stand darin, daß sie, endlich zu ihrer Mutter zurückgekehrt, wie zwanghaft
Taschentücher gewaschen hatte, so viele und immer wieder, daß sie dafür

414
von ihrer Mutter geschlagen wurde, sie solle «die Unart» lassen! Sie aber
verstand selbst nicht, warum sie das tat. Nach und nach begann sie zu
glauben, daß all ihr Unglück überhaupt in dieser Zeit begonnen hatte, als
sie weggegeben worden war. Und in der Tat, die Indizien häuften sich:
sexueller Mißbrauch an einer Minderjährigen, – dafür schien so ziemlich
alles zu sprechen. Es gab, wie fast immer in solchen Fällen, keine klare Er-
innerung, nur eine grenzenlose Angst, ein ständiges Gefühl, in allem schul-
dig zu sein; doch das Schlimmste für ein Kind mit drei, vier Jahren war es,
niemandem etwas sagen zu dürfen. Dieses Mädchen hatte, so jung es auch
war, mitbekommen, daß es das Geschehene verschweigen müsse, daß, so-
bald es davon spräche, etwas ganz Furchtbares geschähe, der eigenen Mut-
ter würde dann etwas Schreckliches angetan werden; schon deshalb durfte
dieses Mädchen sich niemandem anvertrauen. – «Blindheit» kann auch
darin bestehen, daß man am Ende die Quelle des eigenen Unglücks auf
Jahrzehnte hin gar nicht mehr sehen darf. Man muß das Ungeheuerliche
verdrängen. Man darf es niemandem entdecken, man muß die Augen eines
jeden davon abwenden, daß er das Geheimnis nicht findet. Es kapselt sich
ein, doch damit versperrt es zugleich alles Licht, das von draußen hinein-
fallen möchte. Was bleibt, ist eine Rilkesche Sehnsucht, aufzublühen. Aber
wo findet sich etwas, das gegen so viel Angst, Selbstablehnung und Selbst-
haß leben ließe? Da fühlt ein Menschenkind sich schlecht einfach für das,
was man ihm angetan hat! – Diese Erkenntnis indessen markierte in unse-
rem Gespräch den Beginn eines richtigen Sehens. Diese Frau stammelte
immer wieder: «Aber ich konnte ja nicht dazu! Aber ich konnte ja nicht
dazu!» Das stimmte, das stimmte vollkommen und aufs Wort, aber es war
das erste Mal, daß sie so von sich denken konnte: Sie war keine Täterin in
dem, was sie getan hatte, was sie hatte tun müssen, was man ihr angetan
hatte, – sie war das Opfer! Und so in allem folgenden. Der Zorn, daß ihre
Mutter sie im Stich und alleingelassen hatte – war das ihre Schuld? Sie
aber hatte ihre Aggressionen in endlosen Depressionen gegen sich selber
gerichtet, sie litt an schlimmen Ängsten, alle anderen würden sie verlassen,
wenn sie «das Geheimnis» kennen würden, kennenlernen könnten. –
«Aber ich konnte ja nicht dazu!» Das stimmte.
Doch dann stimmt auch noch etwas ganz anderes, das der johanneische
Jesus hier ausdrücklich feststellt: Es geht überhaupt nicht um Schuld. Diese
Idee der überkommenen Theologie, diese falsche Rechtfertigung Gottes,
diese Scheinerklärung der menschlichen Wirklichkeit, müssen wir aus der
ganzen Betrachtung entfernen. Erst dann fangen wir überhaupt an, richtig
zu sehen, wenn wir nichts weiter erkennen als einen leidenden Menschen,

415
dem wir zu helfen aufgefordert sind. Weder dieser noch seine Eltern
(haben gesündigt), sondern sichtbar werden sollten die Werke Gottes an
ihm, sagt das Johannes-Evangelium; keine anderen «Taten» wird Gott je
wirken, als daß wir seelisches Leid überlieben durch das Wagnis mensch-
licher Nähe.
Da ist immer wieder ein Abenteuer zu bestehen, ein Risiko einzugehen.
Niemand weiß, ob das je gelingen wird, niemand weiß, wie das ausgeht.
Dieser Tage fragte eine Journalistin: «Aber es gibt doch eine Menge
Leute, vor allem in den neuen Bundesländern, die an nichts glauben, über
80 Prozent, und sie kehren auch zu den verfaßten Kirchen nicht zurück.
Muß man denn wirklich an Gott glauben? Und wenn man die Psychologie
benützt, wie Sie das versuchen, gewissermaßen um Gott zu erweisen, wird
das dann je ein Beweis? Gibt es nicht viele Psychoanalytiker, Psychologen,
die den Begriff Gott gar nicht verwenden, schon um keinen Schaden anzu-
richten?»
«Sehr richtig», konnte ich nur zugeben. Im Leben sehr vieler ist schon
das Wort «Gott» eine Chiffre endloser Belastungen, ein Garant für die
Festschreibung des Lebens in Schuldgefühlen, die einmal gegenüber der
Mutter, dem Vater oder fremden «Autoritätspersonen» gelten mochten, die
dann aber überwölbt wurden durch absolute Forderungen. Immer lastete
da über der Seele eines Kindes das dräuende Wolkengewitter eines zürnen-
den Gottes, der nimmer zu versöhnen war außer durch unendliche Opfer.
Wenn es so steht, ist es wirklich besser, von Gott gar nicht zu sprechen, um
so mehr aber von Menschen. – Allerdings wird es kaum jemanden geben,
der sich auf das Leid eines anderen Menschen wirklich einließe, ohne daß
er es wagte, viel mehr im Leben des anderen zu sehen, als diesem im Um-
gang mit sich selbst wahrzunehmen jemals möglich war. Und noch viel
mehr: Niemand wird sich auf die Seelensuche eines leidenden Menschen
einlassen, außer er traute dessen Seele zu, sie sei so etwas wie ein sich
selbst organisierendes Organ, wohl imstande zu wissen, was ihr guttue und
helfen könne, und fähig, abzuwehren, was an Krankheit und Zerstörung
neuerdings eindringen möchte. All das verrät in sich ein Vertrauen, weit
mehr, als sich rein empirisch rechtfertigen läßt. Woher aber gewinnt man
eine solche Zuversicht in einen Menschen, der von sich selber kaum anders
sagen kann, als er sei ein Verlorener, ein Blinder, ein Umhertastender, ein
Bettelnder, ein Armseliger? Wieso wagt man selbst zu sehen, dieser andere
sei in Wirklichkeit so reich, so bestimmt zum Glück, so fähig zum Guten,
so berechtigt zum Stolz! Nur freilich: für eine solche Wahrheilung hat er
derzeit noch keine Augen. Doch die ganze Hilfe wird eben darin bestehen,

416
ihm die Augen dafür zu öffnen. Die Frage indessen bleibt: Woran glaubt
man, wenn man immer wieder, grundsätzlich, an einen Menschen weit
mehr glaubt, als dieser je an sich hat glauben können?
Jesus erklärt an dieser Stelle des Johannes-Evangeliums, daß er die Taten
dessen wirken müsse, der ihn gesandt habe. Das ist das Stichwort. Es gibt
einen inneren Rückhalt bei diesem Wagnis, einem anderen Menschen bei-
zustehen, es gibt so etwas wie eine innere Berufung, wie eine Evidenz und
Unabweisbarkeit, – so muß man tun. Man sieht in solch einem Moment
gewissermaßen Gott nicht «vor sich», allenfalls spürt man ihn wie eine
Kraft im Rücken, zwischen den Schultern, im eigenen Herzen; und diese
Kraft befiehlt, nicht nachzugeben, nicht aus Angst kopflos zu werden oder
alles für unmöglich zu erklären, sondern weiterzugehen, gemeinsam wei-
terzugehen. Da spricht der johanneische Jesus sehr entschlossen und an
dieser Stelle programmatisch: Solange ich in der Welt bin, bin ich der Welt
Licht, – ein ungeheurer Satz, der gegen die «Normalität» der kollektiv or-
ganisierten Seelenverfinsterung, der gegen das System der alltäglichen De-
struktion in Staat, Politik, Wirtschaft und Kirche dieses kleine Licht einer
sehr persönlichen Liebe setzt, darauf hoffend, wir könnten ihm mehr ver-
trauen als all den wohlfeilen Worten derer, die sagen, sie wüßten, was Ver-
antwortung bedeute, was Größe und Stärke und Tüchtigkeit heiße, was
Pflicht und Ehre und Recht besage. Vielleicht wissen sie es ja gar nicht,
vielleicht verführen sie nur sich selbst und die anderen zu einem wahn-
haften Gefühl der Sicherheit. Auch so bezeugt das Johannes-Evangelium:
«Wenn ihr blind wäret, hättet ihr keine Sünde. Nun ihr aber sagt: Wir sind
sehend, bleibt eure Sünde.» (Joh 9,41) – Jesus glaubt hier ganz klar zu
sehen: da bin ich der Welt Licht. – Sprächen wir dieses Wort für unser
Leben, müßten wir sagen: Solange wir leben dürfen, wäre es das Schönste,
ein Stück Licht zu verbreiten; das wäre unsere Berufung, und wir sollten
davon nicht lassen.
Nun könnte man denken, unter solchen Umständen hinge alles von uns
ab. Ihr seid das Licht der Welt, so hat Jesus in Mt 5,14 wirklich seine Jün-
ger glauben gemacht. Heißt das nicht, wir müßten die eigene Flamme mög-
lichst leuchtend, möglichst hell und lodernd entzünden, auf daß der per-
sönliche Einsatz, der Fackelglanz unserer eigenen Existenz, zu dem Schein
werde, der die Augen anderer aus ihrer Blindheit zu retten vermöchte?
Doch geht es gerade nicht um einen neuen Aktionismus und Perfektionis-
mus, eher um eine neue Art von Sensibilität und Vorsicht. Genau an dieser
Stelle nämlich, haltend bei der Frage, was denn nun zu tun sei, greift das
Johannes-Evangelium die Geschichte seiner Wunderquelle auf und erzählt,

417
ähnlich wie wir es bei Markus finden (Mk 8,22-26), daß Jesus zu seiner
Heilung Speichel benützt habe, nur daß sein Vorgehen an dieser Stelle
noch ein Stück komplizierter ist als in der Darstellung des Markus: er
spuckt auf die Erde, er mengt aus Speichel und Sand einen Teig und
streicht diesen auf die Augen des Blinden – eine ästhetisch nicht sehr appe-
titliche Handlung –; sodann schickt er den Mann zu dem Teich in Jerusa-
lem, der im Johannes-Evangelium nicht ganz korrekt «Siloam» heißt, –
«Schiloach» sollte er richtiger heißen; gleichviel: die griechische Überset-
zung ist korrekt, sie lautet: «der Gesandte», und diese Namengebung wird
als schwergewichtig, als höchstbedeutsam deutlich unterstrichen. Was also
geschieht da?
Immer wieder wird der Mann später den Leuten, die es genau wissen
wollen, erzählen müssen, wie er seine Heilung erlebt hat, doch er kann
immer wieder nur sagen: Einen Brei hat er gelegt auf meine Augen; ich
wusch mich, – ich sehe. Wie es dazu kam, weiß er selber nicht, nur was
äußerlich gemacht wurde, kann er berichten. Doch keiner der anderen ver-
steht ihn. Würde man indessen diese Bilder, die auf seelische Not antwor-
ten wollen, einmal als symbolische Erwiderungen auf die Symptomatik der
Seelenumdüsterung dieses Kranken deuten, so müßten wir sie Zug um Zug
lesen wie eine Wiedergeburtsszene. Oft genug wird die Bibel, vor allem das
Neue Testament, auf Stellen hin durchsucht, die einer weiblicheren, müt-
terlicheren Theologie das Wort reden könnten; in aller Regel kommt dabei
nicht sehr viel heraus, weil das Neue Testament (wie die ganze Bibel) ver-
ständlicherweise im Umkreis der Kultur, in der es entstanden ist, über
Frauen prinzipiell nicht gerade viel zu sagen hat. Um so mehr sollten die
Stellen beachtet werden, an denen Männer etwas zu tun lernen, das eigent-
lich nur Frauen verrichten können: Menschen (neu) zur Welt zu bringen!
Das Thema begleitet das Wirken Jesu bereits vom 3. Kapitel des Johannes-
Evangeliums, vom Gespräch mit Nikodemus, an: Alles komme darauf an,
von vorn geboren zu werden aus Geist, hat er damals gesagt (Joh 3,3.5).
Jetzt aber zeigt er, wie das geschehen kann. Es ist, wie wenn ein kleines,
neugeborenes Kind, schmutzig und verschmiert noch, gewaschen wird und
die Augen aufschlägt zu einer ganz und gar neuen Welt, wie sie ihm nie
zuvor sichtbar war.
Denken wir uns noch einmal in das Leben jener Frau zurück. Was sie
lernen muß, was sie lernen darf, wird aller Wahrscheinlichkeit nach in
genau dieser Erfahrung bestehen: sie wird den ganzen Schmutz, den man
ihr zugefügt hat, noch einmal fühlen müssen, sie wird den ganzen Schmerz
von damals noch einmal erleiden, sie wird all das Widerwärtige, Ekelhafte,

418
Unanständige, Entwürdigende, Gemeine noch einmal an sich heranlassen
müssen; unabhängig davon wird kein Sehen möglich sein. Verdrängen,
Weggucken, Weglaufen – alles das hilft jetzt nicht mehr; nur ist eingemengt
diesmal in den Schmutz von damals auch etwas anderes: die Wärme und
die Feuchtigkeit aus dem Mund eines Menschen, der möchte, daß dieser
Leidende sehend werde wie bei der Berührung durch einen Kuß. Es ist eine
merkwürdig paradoxe Form der Annäherung: Das Zärtlichste und das
Häßlichste verbinden sich hier, – aus der Vergangenheit alles, was die
Augen belegte und verklebte, und in der Gegenwart nun, was so gütig sein
möchte, daß es die Kraft verleiht und die Zuversicht schenkt, eine eigene
Perspektive, ein eigenes Sehen zu wagen, verbunden mit einem Wort, das
wie ein Freispruch im ganzen ist: Los, zum Waschen, an den Teich Siloam.
– Es ist ganz entscheidend, daß dieser Blinde genau diese Handlung selber
vornimmt. Noch ist er blind, Schritt für Schritt tastet er vor, bis er zum
Teich kommt – es gibt nicht einmal einen Führer –, es ist eine unsichere
Suche nach seiner Reinheit, nach seiner Unschuld; kein anderer kann sie
ihm schenken, nur durch das eigene Tun, durch den eigenen Entschluß ver-
mag er sie zu erlangen; doch so lautet sein Auftrag, so ist es sein Recht. Es
ist nicht einmal, daß dieser Sehendgewordene später sich bei Jesus bedan-
ken wird, und es ist auch nicht nötig; denn dieses Sehendwerden besteht
förmlich darin, ein Gefühl für die Berechtigung der eigenen Existenz zu
entwickeln, für das, was man selber ist. Zurückzuwandern in die eigene
Unschuld, das ist diese Art, sehend zu werden.
Doch nun geht es los! Man möchte denken, das Glück eines Menschen
sei etwas von allen Erwünschtes, alle anderen würden sich daran mit-
freuen; aber genau so verhält es sich nicht. Alle anderen haben vielmehr in-
zwischen ein bestimmtes Bild von uns gewonnen, und darinnen möchten
sie uns gern weiter einordnen und festhalten können. Jede Veränderung,
die nicht vorwegerklärt ist, wird sie beunruhigen; etwas, das da passiert,
ohne daß sie es von vornherein schon unter ihre Kontrolle hätten bringen
können, stellt für sie eine Ruhestörung dar. «Wer ist der Mann, der da
zurückkehrt?» fragen sie; man hat ihn doch das Leben lang nur wie blind
gesehen, als einen Bettler, als einen Nichtsbesitzenden und vielleicht auch
als einen Nichtsnutzigen, als jemanden jedenfalls, dem man aus Mitleid
vielleicht etwas zuwirft, wie einem Hund einen Knochen: – dann soll er zu-
frieden sein, kuschen und sich im ganzen nicht weiter rühren. Eingeordnet
und festgeschrieben war er bislang, und so sollte er auch bleiben. Das ist
Anstand, das ist Ordnung, das ist Sitte. Aber jetzt ist etwas passiert: Dieser
Mann ist anders! Muß man da nicht fragen: Wer ist er überhaupt? Ist er

419
noch derselbe? Ist er noch identisch mit dem, der er einmal war? Oder ist
er ein anderer? – Ist das nicht, der dasaß und bettelte? Die einen sagten:
Der ist es. Andere sagten: Nein, aber ähnlich ihm ist er. – Was ist ein
Mensch? Wer ist dieser Mensch? Beide Urteile natürlich haben recht. Denn
das Wunder dieser Geschichte besteht darin, einem Menschen zuzutrauen,
er könnte als derselbe, der er ist, noch einmal anders, als er war, sich ent-
werfen; in ihm steckte noch viel mehr, als man bisher von ihm hat sehen
können, in ihm wachte und erwachte ein ganzes ungeahntes Leben, und es
ginge nicht auf Rilkesche Weise zu Ende: wie das Leben einer Frau, die zur
Mutter wird und nicht weiß, wozu, und sie müht sich zu Tode und ist am
Ende froh, im Dunkel als Bettlerin «ausgehen» zu dürfen … Vielleicht geht
es doch anders. Zur Verwunderung aller wäre es möglich, die eigene Iden-
tität überhaupt erst zu finden, indem die äußere Festschreibung nichts
mehr besagte; die Hülle spränge auf und zerrisse, und ein freier Mensch
träte heraus.
All das schon ist für die Umgebung verwirrend genug, aber man will es
verstehen, man will den Gründen nachgehen, man möchte die Ursachen
erforschen. Wer hat das getan? Wo hält er sich auf? – Und schon berührt
man das nächste Paradox: Wo der Mann sich aufhält, der den Blinden se-
hend gemacht hat, das weiß der Sehendgewordene selber nicht! Und offen-
bar muß es so sein. Daß ein Mensch sehend wird, besteht gerade darin,
daß er nicht mehr weiß, wo ein Mensch sich klar umschreibbar befindet.
Er ist irgendwo und nirgendwo, und es gibt keine klare Definition in
Raum und Zeit mehr von ihm, und gerade aus dieser Freiheit des Unfest-
legbaren kommt die Macht, Menschen die Augen zu öffnen. Wenn es so
stünde, hätten wir Menschen mit offenen Augen, jenseits von Ideologie
und Verwaltung, vor uns, die wüßten, daß sich das Wichtigste im Leben
dem Begreifen und Zugreifen entzieht. In diesem Falle wäre die verfaßte
Religion endgültig am Ende. In diesem Falle entzögen Menschen sich jeder
Art der Beaufsichtigung, jeder Art von Reglement. Und genau ein solches
Wunder scheint hier gewirkt worden zu sein.
Da schleppt man den Sehendgewordenen zu den «Pharisäern». Wir soll-
ten bei der Lektüre des Johannes-Evangeliums nicht länger an jene histori-
sche Gruppe im Judentum denken, die nach dem Jahre 70 das, was heute
Judentum heißt, überhaupt erst begründet hat, – sonst bleibt der mögliche
antijudaistische Einschlag des Vierten Evangeliums unkorrigierbar. Aber
nehmen wir Pharisäer für eine Typusbeschreibung, für eine Verkörperung
des Gotteswissens, des Menschenfestschreibens, der religiös verpanzerten
Gewißheit, dann allerdings begibt sich an dieser Stelle eine äußerste Her-

420
ausforderung an jede Religion zu allen Zeiten und Orten. Dann gilt es,
das, was rein menschlich in einer Begegnung der Liebe gereift und gewach-
sen ist, neu festzumachen und als einen eigenen Entschluß mit der eigenen
Person zu bestätigen. Diese Entscheidung ergibt sich entlang der Frage, wie
das Verhältnis Gottes zum Menschen zu denken ist.
Die «Pharisäer» aller Zeiten wissen auf ihre Weise den Maßstab in die-
ser Problemstellung eindeutig zu setzen: Dieser Mann im Hintergrund, von
dem da die Rede geht, kann nicht von Gott sein, weil er seine Tat gewirkt
hat am Sabbat. Das Ganze kennen wir schon aus dem 5. Kapitel von der
Heilung des Gelähmten. Wenn es so steht, ist der Ritus die wichtigste Ver-
mittlung zwischen Gott und Mensch, bietet die Institution die Wahrheits-
garantie auf dem Wege zu Gott; dann ist das erste, worin eine religiöse
Organisation gründet, die Festlegung der Menschen auf ein bestimmtes,
priesterlich kontrolliertes, abzuleistendes, pünktlich zu garantierendes
Opferwerk; dann ist die Religion insgesamt soviel wie eine Sammlung ver-
feierlichter Gebärden, nicht mehr und nicht weniger, ein Kompendium ein-
deutiger Gebote: – wer sie übertritt, verstößt gegen den Kern der Gottes-
verehrung, und ein solcher kann nicht von Gott sein. – Oder es ist alles
ganz anders. Da fragen auch unter den Pharisäern etliche: Wie kann ein
sündhafter Mensch solche Zeichen tun? Und diese neue Überlegung ist
Gold wert. Ein Mensch – wir sollten nicht sagen, der «sündigt», sondern
ein Mensch, der selber in seinem Dasein eine zerquälte, zerdrückte, zerris-
sene Persönlichkeit ist, wie der Begriff «Sünde» es im eigentlichen be-
schreibt –, kann einem anderen Menschen nicht Freiheit bringen. Immer
nur wird man einen anderen Menschen so weit begleiten können, bis
wohin man selbst gelangt ist. Wer Freiheit schenkt, muß selber frei sein;
wer sehend macht, muß selbst aus dem Licht kommen. Wer Menschen
menschlich leben läßt, der ist von Gott – so denken diese anderen «Pha-
risäer». Doch gerade darüber erhebt sich ein Streit, und er hört nicht auf
bis heute. Was ist Religion? Ist sie ein Heilmittel für den Menschen oder
ein Verwaltungsinstrument über Menschen? Erich Fromm schrieb diesen
Satz vor fünfzig Jahren schon und brachte damit die ganze Strukturkrise
der Religion in der Gegenwart auf den Punkt: «Alle Religion», meinte er,
«wird sich entscheiden müssen, ob sie fortfährt, autoritär zu sein, oder ob
sie es lernt, humanitär zu werden.»5 Wir können auch sagen, die Frage lau-
tet: Ist Religion wesentlich eine Angelegenheit aus Tradition und Institu-
tion, die per Gewalt durch Erziehung im Über-Ich verinnerlicht wird, oder
ist eine religiöse Erfahrung eine solche, die uns lehrt, als Menschen in der
Gegenwart zu leben und von da her in die Zukunft zu schauen?

421
Was das Johannes-Evangelium zu dieser Alternative meint, ist ganz ein-
deutig, und es bringt dafür ein ausgezeichnetes Zeugnis bei: Ein Mensch,
der seine Augen wiedergefunden hat für seine Schönheit und für das Glück
einer ganzen Welt, wie soll der anders sagen als: dies ist wahrer Gottes-
dienst? Dieser Mann, erklärt der vormals Blinde, ist ein Prophet. Ein bes-
seres Wort zur Deutung dessen, was ein Prophet ist, wurde und wird es in
der ganzen Bibel nicht geben. Der Volksmeinung nach sind Propheten
Leute, die in die Zukunft schauen können; doch das tun sie selten, und
wenn sie es versuchen, so irren sie zumeist wie gewöhnliche Sterbliche
auch. Aber sie sind Menschen, die anderen Menschen ins Herz schauen
können und darin ihre Schicksalsberufung ahnen; und aus einer solchen
Berufung heraus gestaltet sich womöglich auch das Zukünftige. Da findet
sich die Richtung, der Anspruch, die Sendung. Doch sagen wir es im Sinne
dieser Erzählung genauer: Menschen, die imstande sind, anderen ein Ge-
fühl für das zu geben, weswegen sie auf der Welt sind, und die darin hei-
lend sind, daß sie Verlorene in ihrer Blindheit finden und zum Aufscheinen
ihres «Lichts» führen, das sind «Propheten», ganz wörtlich: Sprachrohre
Gottes, solche, die wagen, ihr eigenes Ich auszusprechen, indem sie sich
zum Künderinstrument des Göttlichen machen. Spruch Gottes – mit die-
sem Wort auf den Lippen treten in der Bibel die Propheten dem Volk
gegenüber. Ihr Ich ist das Medium, durch welches das absolute Ich Gottes
tönt und einen anderen Menschen als ein unvertauschbares, unverwechsel-
bares, einmaliges Du meint und anredet, bis daß dieses Du anfängt, an sich
selber zu glauben. Das heißt dann: sich waschen im Teich von Schiloach.

422
Joh 9,18-41: … laßt ihn für sich selber reden
18Nicht haben indessen die Juden (die Gottesbesitzer) von ihm
geglaubt, daß er blind gewesen und sehend geworden sei, wor-
aufhin sie die Eltern dessen riefen, der sehend geworden. 19Und
sie fragten sie, sie sagten: Dieser – ist er euer Sohn, von dem ihr
sagt, daß er blind geboren wurde? Wie denn sieht er jetzt?
20Geantwortet haben da seine Eltern, sie sagten: Wir wissen,

daß er unser Sohn ist und daß er blind geboren wurde; 21wie er
aber jetzt sehen kann, wissen wir nicht; oder wer seine Augen
geöffnet hat, – wir wissen es nicht. Ihn selbst fragt; alt genug ist
er; er selbst wird von sich reden. 22Das sagten seine Eltern, weil
sie Furcht hatten vor den Juden (den Gottesbesitzern) (7,13).
Denn schon festgesetzt hatten die Juden (die Gottesbesitzer)
daß, wenn jemand ihn bekenne als Messias (Christus), er ex-
kommuniziert sei (12,42). 23Deswegen sagten seine Eltern: Alt
genug ist er; ihn selber fragt.
24Gerufen haben sie da den Menschen zum zweiten Mal, der

blind gewesen war, und haben ihm gesagt: Gib Ehre (nur) Gott.
Wir wissen, daß dieser Mensch sündhaft ist. 25Geantwortet hat
er da: Ob er sündhaft ist, ich weiß es nicht. Eins weiß ich: daß,
obwohl blind, ich jetzt sehe. 26Gesagt haben sie da ihm: Was
hat er mit dir gemacht? Wie hat er geöffnet deine Augen? 27Ge-
antwortet hat er ihnen: Ich habe es euch schon gesagt, doch ihr
habt nicht gehört. Was wollt ihr es nochmal hören? Nein?
Auch ihr wollt seine Jünger werden? 28Da beschimpften sie ihn,
sie sagten: Du, sein Jünger bist du, wir aber, des Mose Jünger
sind wir. 29Wir, wir wissen, daß zu Mose gesprochen hat Gott.
Von diesem aber wissen wir nicht, woher er ist. 30Geantwortet
hat er, als Mensch, er hat ihnen gesagt: Darin liegt ja das Wun-
derbare, daß ihr nicht wißt, woher er ist, doch hat er geöffnet
meine Augen. 31Man weiß doch: sündhaft erhört Gott nicht
(Ps 66,18; Jes 1,15); sondern wenn jemand gottesfürchtig ist
und seinen Willen tut, den erhört er (Spr 15,29). 32Seit Ewigkeit
wurde nicht gehört, daß geöffnet hätte jemand die Augen eines
Blindgeborenen. 33Wenn nicht wäre dieser von Gott, nein, er
könnte tun nichts. 34Geantwortet haben sie, sie sagten ihm: In
Sünden, du, bist du geboren ganz, und du willst belehren uns?
Und sie verwarfen ihn. 35Gehört hat Jesus, daß sie verworfen
hatten ihn, und wie er ihn fand, hat er gesagt: Du, vertraust du
auf den Menschensohn? 36Geantwortet hat er, er hat gesagt: Ja,
wer ist er, Herr, daß ich auf ihn vertrauen soll? 37Gesagt hat
ihm Jesus: Du hast ihn doch gesehen; der mit dir redet, der ist
es (4,26). 38Da sagte er: Ich vertraue, Herr! Und er warf sich
vor ihm auf die Knie.
39Und gesagt hat Jesus: Zum Richtspruch, ich, in diese Welt bin

ich gekommen, auf daß die nicht Sehenden sehen und die Se-

423
henden blind werden (Mt 13,11-15). 40Gehört haben von den
Pharisäern das, die mit ihm waren, und sie sagten ihm: Nein!
Wir sind etwa auch blind? 41Gesagt hat ihnen Jesus: Wenn ihr
blind wäret, hättet ihr keine Sünde. Nun ihr aber sagt: Wir sind
sehend, bleibt eure Sünde (15,22).

Das 9. Kapitel aus dem Johannes-Evangelium erzählt von der Heilung eines
Mannes, der blind geboren worden ist; das Gespräch über dieses Ereignis
bewegte sich im Kreise der Jünger schon um die Frage, ob denn ein
Mensch mit solchem Schicksal zur Strafe geschlagen sein könnte. Jesu Ant-
wort aber lautete gerade entgegengesetzt: Es geht bei Gott nie um Schuld
und Strafe, es geht darum, sehend zu werden für den Glanz, der von Gott
ausgeht. Was das heißt, wirklich sehend zu werden, ist die ganze Frage, die
sich in dem Streitgespräch, in dem Zerwürfnis, muß man genauer sagen,
stellt, das nun einsetzt. Der Zwiespalt trennt dabei nicht nur Jesus und
seine Gegner, die konstant im Johannes-Evangelium «Juden» heißen und in
denen wir doch viel ehrlicher uns als Christen erkennen sollten, sondern
mehr noch die «Juden» und den Geheilten selbst; ihm macht man es zum
Vorwurf, sehend geworden zu sein. Was hat er erlebt? Das zu verstehen ist
der Sinn des jetzt einsetzenden «Gesprächs».
Nicht nur des Motivs des Sehens wegen verhält es sich mit dem Johan-
nes-Evangelium in gewisser Weise ähnlich wie mit jenem schon einmal er-
wähnten Teleskop, das Astronomen Anfang der neunziger Jahre im Weltall
ausgesetzt haben: Das Hubble-Teleskop ist an sich das beste optische
Gerät, das Menschen je konstruiert haben, um den Himmel kennenzuler-
nen bis in Tiefen von Hunderten Millionen Lichtjahren, nahe heran an das
Geschehen des Anfangs von dem, was wir das Universum nennen; doch
leider unterlief den Konstrukteuren damals ein Fehler; sie setzten eine feh-
lerhaft geschliffene Linse ein; statt nahezurücken entfernte deshalb die
Optik ihre Objekte. Es blieb nichts anderes übrig, als in einer mühevollen
Nachreparatur ein weiteres Linsensystem in das Weltraumteleskop einzu-
setzen. Nun sieht man klar und ordentlich, und die Begeisterung der Wis-
senschaftler ist groß.
Das Johannes-Evangelium stellt im Neuen Testament zweifellos das
Beste, das Nachdenklichste, das Dichteste dar, was Menschen erdacht und
geschrieben haben, um die Person Jesu so genau zu sehen, als es irgend
geht. Trotzdem hat sich die Kirchengeschichte von fast zweitausend Jahren
darübergelegt wie ein fehlerhaft geschliffener Linsensatz. – «Glaubst du,
daß Jesus der Menschensohn ist? Glaubst du, daß er der Herr ist?» Das
sind die permanenten Fragen der kirchlichen Dogmatik. Glaubst du, daß

424
jemand, weil er auf die Knie fällt, ein Glaubender ist? Alles, was das dog-
matische Christentum zu sagen hat, steht anscheinend in dieser einen
Szene, und auch was Sehendwerden bedeutet, scheint hier vollkommen
eindeutig erklärt: an Jesus als an den Menschensohn, als an den Messias,
als an den Gottessohn, als an den Herrn zu glauben, das bedeutet sehend
zu werden, im Unterschied zu den Juden, zu den Heiden, zu allen anderen.
Das Johannes-Evangelium wurde zu einem Grundstock, über dem die Burg
des gesamten kirchlichen Dogmatismus errichtet wurde. Um so notwendi-
ger ist es, daß wir alle «Brechungswinkel» der theologischen Betrachtung
noch einmal neu und anders berechnen, daß wir versuchen, das ursprüng-
liche Bild, das sich in diesen Prismen- und Linsensystemen eigentlich malen
möchte, genauer darzustellen, indem wir begreifen, wie gerade diese Um-
formungen in fertige Lehrsätze vom Johannes-Evangelium selber eher auf-
gelöst als verteidigt werden. Das Johannes-Evangelium erfindet kein einzi-
ges Wort, mit dem man Jesus bezeichnet, aber es interpretiert die Worte,
die es vorfindet, und dieser Vorgang ist viel wichtiger, als die Worte nach-
zustammeln, so wie sie dastehen. Gerade das Johannes-Evangelium
möchte, daß wir selber zum richtigen Sehen kommen; es möchte gewisser-
maßen, daß man Wasser, das bei zu niedrigen Temperaturen vereist ist,
über einen doppelten Phasenwechsel wieder so erwärmt, daß es zu ver-
dampfen beginnt und nur noch dem Wind wie widerstandsfrei gehört;
denn nur so gelingt es, die Erde fruchtbar zu machen und über Wüsten-
gebiete Regen zu schicken.
Alles beginnt mit einer äußersten Zumutung. Übernommen hat das
Johannes-Evangelium, wie schon mehrfach erwähnt, aus einer eigenen
Quelle eine Sammlung von Wundergeschichten, die offenbar so erzählt
wurden, wie sie uns bereits in den ersten drei Evangelien überliefert wor-
den sind: Jesus hat historisch bestimmte staunenswerte Taten verrichtet;
insbesondere Kranke zu heilen war ihm vergönnt, anders als zum Beispiel
seinem Lehrer Johannes dem Täufer. Schon allein aus dieser Tatsache wur-
den sehr bald, zum Teil schon im Neuen Testament, systematisch dann
aber im 2. Jahrhundert n. Chr. von den frühen kirchlichen Theologen,
Gründe zum Beweis der Unanfechtbarkeit des Glaubens an Jesus als an
den Sohn Gottes, als an den Menschensohn abgeleitet. Jesus hat Wunder
gewirkt; daraus wird schon bei Justin, der in dem Dialog mit dem Juden
Tryphon die Formation des Christentums in seiner heutigen Prägung be-
reits wie eine frühe Weichenstellung vorwegnimmt1, die folgende Argu-
mentationsreihe entwickelt: Man berichtet Wunder auch anderenorts von
heidnischen Gottesmännern und Wundertätern, in den Heiligtümern des

425
Asklepios zum Beispiel2; doch das verschlägt nicht bei Justin. Was irgend
man in den fremden Religionen erzählt, ist für ihn Lüge, ist für ihn Betrug;
genauer: es ist Satanswerk. Allerdings konnte auch Justin nicht leugnen,
daß vieles in den Mythen über den Gott Dionysos, über den Gott Askle-
pios, über den Gott Osiris dem ähnelt, was auch die Christen über Jesus
erzählen.
Man kann angesichts dieser Tatsache ehrlicherweise kaum anders sagen,
als daß auf dem Boden des Neuen Testamentes uralte Bilder der Sehnsucht
ihre Erfüllung suchen. Immer wenn Menschen etwas Wesentliches über
ihre Hoffnung, über ihre Liebe, über ihre Trauer und über ihr Glück mit-
teilen wollen, werden sie auf ähnliche Vorstellungsschemata zurückgreifen,
wie hier zum Beispiel: Jesus ist das Licht – jeder versteht das. Und da, wo
Licht ist, ist Göttliches anwesend. Überall auf der Erde wird die Sonne als
Gott verehrt und werden gleiche Geschichten von ihr überliefert: sie stirbt
in der Nacht, und schöner denn je verjüngt sie sich am Morgen, wiederge-
boren von der Göttin des Himmels, jungfräulich!
Doch das alles gilt nicht für die frühchristliche Verteidigungstheologie,
für die Apologetik. Der Teufel, erklärt Justin, habe gewußt, daß irgend-
wann der wahre Sohn Gottes auf die Erde kommen und welche Taten er
wirken werde. Der Teufel sei von solcher Intelligenz und Weisheit und
überzeitlichen Macht, daß er den Geschichtsverlauf vorweggeahnt habe, er
sei eingeweiht gewesen in die Pläne des Allmächtigen; und eben, damit die
Wahrheit, wenn sie denn käme, unglaubwürdig würde, habe er alle Ge-
schichten, die die Christen in Wahrheit über Jesus erzählten, vorwegerzählt
zu reinem Betrug. Da scheint alles ganz klar, und so blieb es bis heute: Wo
immer man Geschichten findet, bei den Griechen, bei den Indios, bei den
Eingeborenen irgendwo in Afrika oder Australien, die bestimmten christ-
lichen Überlieferungen ähneln, handelt es sich nur um Mythos; es gilt für
null und nichtig, weil es nur wahr sein kann in Jesus Christus. Und die Be-
gründung: nur in Christus war es historisch wirklich; alles andere war
nichts als Einbildung. – An dieser Stelle halten wir noch heute. Es ist der
Grund, warum es den meisten schwerfällt, an das Christentum überhaupt
noch zu glauben.
In einem Gespräch mit einer Schülerklasse über das Verhältnis von Na-
turwissenschaft und Religion ging es gerade um diese Frage: Wie glaub-
würdig sind die Wunder im Neuen Testament? Hat Jesus sie wirklich
getan? Konnte er sie überhaupt tun? – Setzen wir es in diese Heilungsge-
schichte: Wenn jemand blind geboren wurde, welch ein «Wunder» soll das
sein, das ihn wieder sehend machen könnte? Sollten wir das wirklich glau-

426
ben müssen, um gläubig zu sein? Dann müßten wir Gott zutrauen, daß er
nach Belieben die Naturgesetze aufhebt. Genau das ist nun die Meinung
der römischen Kirche vom Papst herunter über die Bischöfe bis zu den
Theologen. Die letzteren haben zwar die Zusammenhänge differenzierter
zu durchdenken gelernt, aber das, was sich aus ihrem Denken ergeben
würde, sprechen sie selten so aus, daß es die Menschen in der Öffentlich-
keit begreifen könnten, denn so zu tun wäre gefährlich in der Kirche. Sie
müßten sagen: Geschichten wie diese kann man nur symbolisch verstehen.
Das sagen sie in gewisser Weise auch, aber dann fügen sie hinzu, in Jesus
Christus sei das alles ein Realsymbol, das heißt, es ist symbolisch, es hat
innerlich etwas zu bedeuten, aber es kann ja nur etwas bedeuten, wenn es
sich auch wirklich ereignet hat. – Aber was hat sich wirklich ereignet?
«Das wissen wir nicht», erklären sie, «das können wir auch nicht wissen;
aber man muß glauben, daß es sich ereignet hat.» In einer solchen Theolo-
gie ist alles möglich; wenn es darauf ankommt, kann Gott machen, was ge-
rade sein muß, angepaßt an die Notwendigkeiten der jeweiligen Lage.
Es ist außerordentlich wichtig, daß wir jene geistige Wirklichkeit zu
berühren lernen, die sich nur in der Sprache der Symbole darstellen läßt.
Das, was wir träumen, was wir innerlich sehen, die Art, wie wir in Bildern
uns mitteilen, ist weder unwirklich noch unwirksam. Sie ist indessen ge-
bunden an die einzige Sprache, die unser Herz wirklich versteht, an die
Sprache der Poesie, der Kunst, der Malerei. Nur in ihr wird zwischen Men-
schen etwas «bewirkt». Nicht das bloße Faktum zählt; sondern wie es von
Menschen erlebt wird, das zu schildern ist das Wesentliche. Ein Bildhauer
wie Ernst Barlach konnte deshalb einmal sagen: «Ich darf nicht gestal-
ten, was ich sehe; ich muß gestalten, was ich fühle, erfahre, denke – das ist
die Wirklichkeit.»
Wie man loskommt von der Reduktion der menschlichen Existenz auf
ihre Außenseite, schon darin liegt ein Geheimnis des Religiösen. Nur wenn
wir das Problem so beschreiben, werden Geschichten wie diese von der
Heilung des Blindgeborenen im Johannes-Evangelium verbindlich über
Jahrtausende hinweg. – Stellen wir es noch einmal gegenüber, und wir erle-
ben bald, daß die ganze Diskussion sich nicht sowohl um Glauben und
Unglauben dreht als vielmehr um Aberglauben und Freiheit. Jesus hat ein
«Wunder» gewirkt, – das muß man glauben; und wer das nicht tut, ver-
schließt seine Augen und verweigert die Loyalität seines Willens. So wird
man bis in die Gegenwart als Kirchenchrist vor allem im römischen Katho-
lizismus erzogen werden. Wunder sollen da Schritt für Schritt den Glauben
beglaubigen. Die Jungfrau Maria zum Beispiel kann, wenn sie will, Blinde

427
heilen in Lourdes und in Fatima. In Neapel ist der hl. Januarius – San Gen-
naro – imstande, sein eigenes Blut zu verflüssigen; Hunderttausende wer-
den durch dieses Faszinosum auf den Beinen gehalten; der Kardinal von
Neapel wird in einer Monstranz – man weiß nicht, wie lange jeweils man
warten muß, aber spätestens nach drei, vier Stunden – das Wunder der
gläubigen Menge zeigen. Die Kinder im Schulunterricht haben indessen in
aller Regel heute wohl so viel von Chemie und Physik gelernt, daß sie wis-
sen, was ein Gel ist, und so wissen sie auch, daß, wenn man ein Gel ein
wenig erhitzt und es ein wenig schüttelt, es die Eigenschaft besitzt, flüssig
zu werden, während es bei mäßigeren Temperaturen wieder einen kolloi-
dalen Zustand annimmt, einen Gel-Zustand. Das ist das «Wunder». – Soll
es wirklich dabei bleiben, daß man «gläubig» nur sein kann, wenn man die
Naturgesetze für aufhebbar erklärt? Die Gegenseite wird antworten: Wir
kennen die Natur nicht wirklich; die Naturgesetze, über die wir Bescheid
wissen, beschreiben nur einen winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit. Das
ist sicher wahr, aber wir sollten aus dem Nichtwissen keine Wissenschaft
machen; daß Gott dümmer wäre als das, was wir immerhin heute im Rah-
men seiner eigenen Schöpfung gelernt haben, das steht nun doch nicht zu
vermuten. Dann aber ist nicht alles möglich, nur weil es, äußerlich genom-
men, in der Bibel erzählt wird. Wir müssen aus dem Dilemma heraus,
indem wir erwarten, daß klar zu denken und zu glauben, daß Naturwis-
senschaften zu treiben und fromm zu sein sich nicht länger widerspricht,
sondern daß Rationalität und Mystik eine Einheit bilden können. Genau
das aber, die Rückbesinnung vom Faktenglauben zu einer Art von verfei-
nerter Innenbetrachtung im Raum des Symbolischen, ist das, was auf dem
Boden des Neuen Testaments als erstem dem Johannes-Evangelium selber
vorschwebt.
Was also ist passiert, als der Blindgeborene sehend wurde? Er selber
wird es nicht beschreiben können. Seine Eltern werden es nicht wissen. Die
Frage geht: was bedeutet es überhaupt, sehend zu werden?
Vielleicht gibt es kein besseres Beispiel als das des gerade erwähnten
Bildhauers Ernst Barlach, um zu sagen, was es bedeuten kann, wenn sich
die Augen eines Menschen öffnen. Man betrachte nur einmal sein Portrait,
sein Altersgesicht, seine riesigen, suchenden, offenen Augen und daneben
die lauschenden, großen, offenen Ohren. Bilder und Worte, das waren für
diesen Mann die Zugangswege zur menschlichen Wirklichkeit. Als 1914
die Jahrhundertkatastrophe des 20. Jhs. ausbrach, war er wie die meisten
Deutschen begeistert über den Ersten Weltkrieg, – er sollte so etwas sein
wie ein Blutritual zur Großen Reinigung; endlich würde sich zeigen, was

428
Männlichkeit, was Mut, was Größe, was Heldentum ist. Wie viele waren
damals verführbar durch solche Phrasen! Zwei Monate an der Front indes-
sen genügten, um Ernst Barlach buchstäblich sehend zu machen. Fortan
malte er, was er gesehen hatte: leidende Menschen, verzweifelte Menschen,
unbeugsame Menschen, mit sich selbst ringende Menschen, suchende, bet-
telnde, hörende, glückliche Menschen. Es war das Ende der Art, die Welt
so zu sehen, wie die Propagandisten sie sehen machen wollten. – Nehmen
wir seine berühmte Darstellung im Dom zu Magdeburg zur Erinnerung an
die Gefallenen von 1914 bis 1918. (Abb. 4) Was Barlach zeichnete, was er
schnitzte, war das, was er gesehen hatte, – ein Leid, das durch den ganzen
menschlichen Körper geht wie ein Kreuz. So sind, befanden die Deutschna-
tionalen, nicht die Männer gewesen, die bei Langemarck mit dem Deutsch-
landlied auf den Lippen in den Kampf gezogen sein sollen; die waren nicht
feige, nicht niedergedrückt, nicht vergrämt, nicht grüblerisch; die waren
gradeaus, die waren deutsch. Und überhaupt, wie kann man einen Bauern
so malen, wie Ernst Barlach ihn gemalt hat? Er mag ein Künstler sein,
aber er hat den Boden verloren, er hat die Wurzeln im Deutschtum aus sei-
nem Herzen herausgerissen, mutwillig. Ein deutscher Bauer hält nicht der-
art einen Spaten in der Hand, den Rücken gebeugt, das Gesicht zur Erde
gewandt, und das alles trist in Schwarz, in Kohle – ein deutscher Bauer
steht da: aufrecht, brutal, stark, trotzig, zornig, deutsch. So wird er ge-
malt. Joseph Goebbels wußte es: 1938 hatte die Reichskulturkammer
Ernst Barlach auszuschließen, seine Werke wurden für undeutsch, für
entartet erklärt. Selbst ein kleiner Bildband aus dem Piper-Verlag wurde als
unruhestiftend eingestampft. Ein knappes Jahr später war Ernst Barlach
tot.3 – Das ist nur eine kleine Geschichte im 20. Jh., die zeigt, was es be-
deutet, bedeuten kann, sehend zu werden. Die Welt stellt sich auf den
Kopf, kein einziges Vorurteil gilt mehr. «Wenn ich», konnte Barlach
sagen, «scheinen würde, was ich nicht bin, wäre ich gar nicht mehr.
Warum fällt es den Menschen so schwer, zu verstehen, daß Gott ihr Vater
ist?»4 – Es gibt kaum einen Satz, der die Mitte des Johannes-Evangeliums
so tief erspürt wie dieses Wort eines «religiösen» Künstlers im 20. Jh.
Immer wenn das Johannes-Evangelium über Jesus redet, spricht es mehr
als die drei Evangelien vor ihm als von dem Sohn. Doch damit solche «Ver-
söhnung» möglich wird, muß den Menschen ein Himmel gezeigt werden
über den Sümpfen, müssen ihnen Sterne aufgehen über dem Abgrund, muß
man sie mehr zu sehen lehren als das, was die Welt der Fakten festschreibt.
Das gerade ist dieser geheimnisvolle Vorgang, in dem ein Mensch, der
blind geboren wurde, anfängt zu sehen. Doch lohnt es sich, dabei genauer

429
hinzusehen. Da halten sich die Gegner, die Gottesbesitzer, wie wir den
Namen «Juden» im Johannes-Evangelium immer wieder vielleicht am
besten umschreiben können, an die Eltern. Schon daß sie das tun, zeigt, in
welcher Art sie von Menschen denken: Man befrage Vater und Mutter von
jemandem, und man weiß im Grunde vorweg, mit wem man es zu tun hat.
Nun sage man doch, – die Eltern haben die Verantwortung für ihre Kinder,
sie haben die Erziehung für ihre Kinder in Händen! Keine fest etablierte
Religionsform daher, die nicht von früh bis spät die Eltern anweisen
würde, ihre Kinder im jeweiligen Glauben genau genug, richtig genug, or-
dentlich genug zu erziehen. Wenn die Eltern die Kinder regelgerecht erzie-
hen würden, so die Meinung der Religionshüter, dann hätte die Kirche,
dann hätte das Christentum eine große Zukunft, aber leider tun das nicht
immer die Eltern. In dieser Vorstellung herrscht die Macht der Generation
über die Person, der Vergangenheit über die Gegenwart, der Geschichte
über die Entscheidung, der Tradition über das Menschsein.
Genau darum aber dreht sich hier die erste Auseinandersetzung. Man
möchte, daß der Sehendgewordene festgelegt wird auf das Urteil derer, die
ihn zur Welt gebracht haben, und kaum ist dieser Konflikt auch nur ein
paar Sätze in Gang, da spitzt er sich zu. Denn «die Eltern» schränken ihre
Antwort ein: «Wie er jetzt sehen kann», sagen sie vollkommen korrekt,
«wissen wir nicht, – wir waren nicht dabei. Wir können nur sagen: Wir
wissen, daß er unser Sohn ist und daß er blind geboren wurde.» Solche
Antworten verbleiben völlig in dem Bannkreis, der sich im Getto der Angst
um alle Beteiligten gelegt hat. Eingesperrt bleiben soll vor allem der gerade
Geheilte. Man frage die Eltern, um zu wissen, wer ein Mensch ist, – das
bedeutet: Kein Mensch wird je ein selbständig Sehender werden dürfen! Er
wird stets auf sich selbst, auf die Welt, mit ererbten Augen schauen! Er
wird die Welt nur so betrachten, wie man es ihm vorgemacht und beige-
bracht hat! Aber auch die Eltern selbst unterliegen dem Diktat der Angst.
Denn augenblicklich behaupten die «Juden», daß ihr Sohn im Grunde ille-
gitim sehend geworden ist, und eben deshalb delegieren die Eltern ihre Zu-
ständigkeit für ein eigenes Urteil weiter an ihren Sohn; aus lauter Angst
mogeln sie sich an einer klaren Stellungnahme vorbei. «Alt genug ist er»,
sagen sie, «ihn selber fragt.» Das ist zweifellos richtig, aber es klingt so,
wie wenn sie dem Vorwurf schon zuvorkommen wollten, Jesus sei ein
«Sünder», – als wenn es eigentlich ihre Pflicht gewesen wäre, die «Sünde»
des Sehendwerdens ihres Jungen zu verhindern, ergo, daß sie doch nicht
genügend auf ihren Sohn aufgepaßt hätten, als er mit Jesus in Berührung
kam. Doch in der Antwort der «Eltern» liegt auch, wenngleich trotzig, ein

430
Hinweis darauf, daß ihr Sohn mündig geworden ist. Nur: was bedeutet es
für eine so verfaßte religiöse Institution, mitansehen zu müssen, wie ein
Mensch frei wird? Was bedeutet es für den Sehendgewordenen selbst, eine
eigene Persönlichkeit zu entwickeln? Was heißt es, alt genug zu sein und
für sich selber Rede und Antwort zu stehen?
Es bedeutet als allererstes, diese Dunstglocke der gegenseitigen Veräng-
stigungen aufzuheben. Der Geheilte hier, sehend geworden, wird zum er-
sten Mal, anders als seine Eltern, von sich Worte der Wahrheit sprechen,
indem er aufhört, Angst vor denen zu haben, die vermeintlich Bescheid
wissen, – endgültig, absolut, a priori. Er öffnet seinen Mund, vorsichtig
zunächst, dann immer klarer, indem er dieses unantastbar sich gebende
«Wissen» auflöst.
Man muß, um diese Bewegung beginnenden Sehens und beginnender
Einsicht in die Blindheit der angeblich Wissenden zu verstehen, sich nur vor-
stellen, was es kostet, sich aus der Elternbindung nach und nach zu lösen.
Friedrich Nietzsche hat diesen schmerzhaften Prozeß am eigenen Leibe
erlebt und immer wieder geschildert5: Gerade den Menschen, die be-
stimmte Werte als besonders kostbar kennengelernt haben, die tief emp-
funden haben, was die Eltern ihnen vermittelten, sei an sich liebenswert
und schön, es verrate durchaus menschliche Größe, gerade denen wird es
überaus schwerfallen, sich eine eigene Entscheidung im Widerspruch zu
erlauben. Sie spüren deutlich, daß es ihre Eltern schmerzen würde, wollten
sie in Fragen des Glaubens, der Weltanschauung, der Art, die Dinge zu
sehen, ein Neues beginnen. Gerade das Wertvolle hat die Neigung, sich als
bewährt zu verfestigen, sich festzuschreiben in dem ein für allemal Gülti-
gen, und jeder Zweifel daran kann eines Tages erscheinen wie etwas Illegi-
times, wie etwas, das mit den wachsenden Zweifeln Verzweiflung auslöst,
weil der Verlust all der überkommenen Erhabenheit so arm und armselig
macht. Die fest etablierte Ordnung zu brechen, das wird empfunden wie
ein Verbrechen und von der Umgebung dementsprechend geahndet und
mit dem schlimmsten Strafmittel bestraft, das es überhaupt gibt: mit dem
geistigen und sozialen Exil. Man gehört nicht mehr zu der Gemeinschaft
der «richtigen» Menschen, wenn man sich «so etwas» erdreistet. Nietz-
sche meinte, ein Mensch, der zu sich selber erwache, habe keine Wahl, er
müsse das riskieren. Selbständig zu werden bedeute, in Frage zu stellen,
was man gelernt habe; denn es gelte erst das, was überprüft, was durch-
gefragt sei, was sich vor dem eigenen Urteilsvermögen stabilisiert habe.
Nicht weil es andere sagen, ist etwas glaubwürdig, sondern weil es von
innen her sich bejaht und klärt und bestätigt.

431
Das muß es heißen, selber das «Sehen» zu lernen. Verstehen wir das
Johannes-Evangelium an dieser Stelle richtig? Da soll Sehendwerden einen
Vorgang beschreiben, durch den alles umgestürzt wird, durch den alles
Vorgegebene für ungültig erklärt wird, auf daß es sich von innen her er-
neuere! Nichts, was äußerlich ist, hat da Bestand, – nur, was sich durch die
eigene Vermenschlichung wieder aufbaut. Einzig die Personwerdung bildet
da noch die Basis des Religiösen.
Dann muß man dieses ganze Gespräch in seiner ungeheuren Kontrast-
stärke sich zuspitzen sehen: Ein neues Verhör bricht über den ehedem
Kranken herein, der blind gewesen und sehend geworden ist. Es beginnt
mit einer Beschwörung: Gib Ehre (nur) Gott! – Wenn man irgend wissen
will, was den Weg der Freiheit immer wieder unsäglich eng machen kann,
dann liegt es darin, daß es Menschen gibt, die, bestätigt über beliebig viele
Jahrhunderte der Tradition, sich verpflichtet geben zu wissen, wer Gott ist,
und ihn im Munde führen wie ein Ritual zur Festlegung und Einschüchte-
rung. Das Heilige als Beschwörung: Gib Ehre (nur) Gott!, das bedeutet so
viel wie: «Stimme uns zu, unterwerfe dich unserem Urteil!» Ehre Gott, das
heißt: «Gib Ehre der religiösen Behörde, die jetzt in Gestalt derer, die dich
verhören wollen, vor dir steht, und versuche nicht länger, irgend etwas zu
sehen, das sich außerhalb unseres Gesichtskreises befindet und nicht unse-
rer Aufsicht unterliegt. Das, was du Sehen nennst, ist gar kein Sehen, son-
dern eine wirkliche Verblendung, es ist ein Produkt der Täuschung. Schon
der Umstand, daß du glaubst, selber sehen zu können, ist die Verderbnis!»
Gleich im nächsten Satz wird es entsprechend dieser Gesinnung heißen:
wir wissen. Da ist der Gegensatz klar. Jemand, der auch nur sich erlaubt,
sehen zu wollen mit eigenem Herzen, mit eigener Erfahrung, mit eigener
Persönlichkeit, der muß ein Gotteswidriger, ein Unehrerbietiger sein.
In Österreich beim Ausbruch des sogenannten Zweiten Weltkrieges gab
es einen jungen Mann, Franz Jägerstätter, der als Ausnahme unter vie-
len Hunderttausenden erklärte, daß er die Kirche nicht verstehe: wie könne
sie einen Krieg gutheißen, der jetzt unsägliches Leid über Menschen
bringe. Jeden Tag werde von Siegen geredet, aber in Wahrheit handle es
sich um Opfer. Jägerstätter bekam es mit dem Wiener Kardinal Innit-
zer zu tun, einem vornehmen, diplomatisch klugen Mann. Im März 1938,
als Deutschland, Nazideutschland, den Anschluß Österreichs durchsetzen
wollte, hatte Innitzer mit allen Kardinälen und Bischöfen in Österreich
geschrieben, daß dies die Stunde sei, die Gott geschenkt habe, indem er das
alte tausendjährige Reich wieder auferstehen lasse, und so sei es die kirch-
liche, die religiöse Pflicht jedes ordentlichen Österreichers, für den An-

432
schluß Österreichs an das Deutsche Reich zu stimmen. 79,7 Prozent aller
Österreicher stimmten damals in der Tat für den Zusammenschluß mit
Hitlerdeutschland. Derselbe Innitzer nun wies diesen armen, unbedach-
ten Mann zurecht, daß er kein studierter Mensch sei. «Haben Sie irgend-
eine Hochschule besucht?» – Nein, hat er nicht. – «Haben Sie Theologie
studiert? Nein? Dann vermessen Sie sich nicht, über Jesus urteilen zu wol-
len. Wir, die Bischöfe, sollten nicht wissen, was er gewollt hat? Die Kirche
sollte sich irren, wenn sie das Recht verteidigt und in dieser Schicksals-
stunde aufruft zur Verteidigung des Rechts der Deutschen?» – «Ja, aber es
kann doch nicht Recht geschehen aus soviel Unheil und Unmenschlichkeit,
man kann doch nicht töten und töten und töten und Recht am Ende wie
zur Belohnung erwarten!» – Wir kennen die Tagebücher dieses Mannes,
den man eingesperrt und später ermordet hat. Er war nicht einmal dazu zu
bekommen, daß er in einer Strafabteilung ohne Waffen Dienst tat. Er
wollte einfach nicht dazu gehören, – ein Verrückter halt, ein Nichtzustän-
diger. So stark kann der Konflikt werden, wenn Menschen einmal die
Augen aufgehen. Nichts stimmt dann mehr von dem, was gewisse Auto-
ritäten zu wissen vorgeben. Das heißt es wohl, wirklich sehend zu werden.
Da sagen «die Juden»: Wir wissen, daß dieser Mensch sündhaft ist, und
damit erklären sie zugleich, was der Grund ihrer «Wissenschaft» ist. Es
gibt bestimmte Schablonen – das Wort «sündhaft» ist eine der wichtigsten;
es besagt in diesem Sprachgebrauch nichts weiter, als daß jemand die
Richtlinien, die Paragraphen, die Gebote des religiösen Sozialsystems über-
schritten hat. Das ist das «Sündhafte». So etwas hat Jesus getan, als er am
Sabbat heilte: also ist er ein Sünder; also steht Gott nicht auf seiner Seite;
also bekämpft er das Recht, das sich im Namen Gottes etabliert hat. So ist
die einfache Ableitung. Wäre es aber nicht möglich, man müßte mitunter
die «Sünde» wagen, um die Wahrheit erst zu finden und Gott wahrhaftig
zu dienen, und es wäre in Wirklichkeit überhaupt keine Sünde? – 1944 be-
fand sich unter den Männern des 20. Juli, die wir in Deutschland alljähr-
lich feiern, ein Mann aus dem hiesigen Warburg. Er sollte später, wenn der
Putsch gelungen wäre, als Justizminister eingeführt werden. Der Putsch,
bekanntlich, mißlang, und dieser Mann stand vor dem Gerichtshof von
Roland Freisler. Der schrie ihn an, wie er dazu komme, den deutschen
Führer ermorden zu wollen. Und um klar zu reden, fügte er hinzu, daß er
bald in der Hölle sein werde. – Was Freisler nicht dabei sagte, war aber
allseits bekannt: Wer 1944 den Eid eines deutschen Soldaten brach, hatte
nicht nur den Führer von 60 Millionen Deutschen gegen sich, sondern
ebenso die Kirchen, die versicherten, daß ein Eid, geschworen auf den

433
Führer, Gültigkeit besitze, da er geschworen sei auch auf Gott; – in glei-
cher Weise hatten schließlich nach dem Reichskonkordat von 1933 alle
Bischöfe ihre heiligen Eide auf ihre Loyalität gegenüber dem Hitler-Staat
beteuert. Eidbruch ist eine Todsünde, darauf steht nach der Lehre der
römischen Kirche wirklich die ewige Höllenstrafe. Tyrannenmord – auch
darauf stand nach den Lehren derselben Kirche die Todesstrafe auf Erden
und im Jenseits die ewige Verdammnis.
Vielleicht bestand die Bestimmung Jesu darin, für uns durch eine solche
«Hölle» gehen zu müssen, um uns zu lehren, was der Himmel ist. Paulus
sagt einmal: Er hat unsere Sünden auf sich genommen (Röm 4,25), doch
das sind Worte aus den Gottesknechtsliedern des Jesaja (53,5), und sie er-
innern an ein archaisches Ritual: Jesus, der Unschuldige, hat da unsere
Sünden getragen als Opferlamm und ist stellvertretend für uns, die Schul-
digen, getötet worden, damit ein Ausgleich sei auf den Waagschalen der
himmlischen Gerechtigkeit. In Wahrheit aber läßt sich Jesu Schicksal weit
einfacher und genauer verstehen: Jesus hat so gehandelt, daß er als «Sün-
der» betrachtet wurde und betrachtet werden mußte, damit wir endlich
unter den Augen Gottes unsere Menschlichkeit zurückgewinnen könnten.
Der Mann aus Nazaret ist einfach durch die Wände gegangen, wie es nach
seinem Tode denn auch erzählt wird (Joh 20,19), er hat ohne zu zögern die
Fesseln zerrissen, die wir Gesetze nennen, er hat das als Ordnung nicht
geglaubt, was die meisten von uns als ganz selbstverständlich akzeptieren
und dozieren. Wie fängt man an, die Welt zu betrachten, wenn man sie mit
den Augen Jesu zu sehen beginnt? «Das ist ein Sünder», sagen «die Juden».
Aber die Antwort dieses sehend gewordenen Mannes lautet: Ich weiß es
nicht.
Was jetzt anhebt, ist eine Achsendrehung in allem. An genau dieser
Stelle fängt die Erde, auf der all die «Juden» so sicher zu stehen meinen,
wie an einem Hang an zu rutschen. Der Sehendgewordene nämlich fährt
fort: Ob er sündhaft ist, ich weiß es nicht. Eins weiß ich: daß, obwohl
blind, ich jetzt sehe. – Da wird die eigene, persönliche Erfahrung, das, was
man buchstäblich am eigenen Leib erlebt hat, zur Grundlage des ganzen
«Glaubens». Und so müßte man jetzt sagen: Sehend wird ein Mensch,
der aufhört, das zu glauben, was man ihm von außen her «auf die Augen
gedrückt» hat. Gläubig, im Sinne des Johannes-Evangeliums, wirklich
sehend, wird derjenige, der es wagt, von seiner eigenen Erkenntnis her zu
denken. Alles andere braucht er erst einmal nicht zu wissen, und es ist
sogar unerheblich. Selbst wer Jesus ist, scheint an dieser Stelle zunächst
zweitrangig. Diese Einstellung ist so ungeheuer nach den fast zweitausend

434
Jahren Dogmentradition der Kirche, daß man staunen muß darüber, wie so
etwas wirklich im Johannes-Evangelium überliefert sein kann. Wer Jesus
ist, ob er von Gott ist oder vom Teufel, braucht dieser Mann zunächst ein-
mal nicht zu beurteilen! Das einzige, wofür er zuständig ist, besteht darin,
daß er ohne Angst ausspricht, was er erlebt hat. Das bildet die Grundlage
von allem weiteren.
Übertragen wir diese Haltung nur einmal auf die Erziehung unserer Kin-
der oder auf unsere eigene Biographie. Wie oft sind Eltern erschrocken,
entsetzt, wenn sie ihre Kinder Gedanken äußern hören, die so ihnen nicht
vorgedacht worden sind, ungläubige Gedanken, ketzerische Gedanken,
wirre Gedanken. Aber ist dieses Suchen und Ringen um neue Antworten
nicht weit kostbarer als all das Herunterspulen des Fertigen – des prü-
fungsfertig Abrufbaren? Kann es nicht sein, daß gerade in dem Neuen
etwas aufscheint, in dem Gott wirklich zu uns spricht – als sehend ma-
chend, als Leben erweckend, als wiedergebärend? Wir dürfen uns hier
noch nicht einmal zurückziehen auf das, was Johannes gesagt hat, sondern
wir müssen so leben, daß wir mit unserer eigenen Existenz die Augen auf-
machen und uns fragen: was passiert in unserem Herzen? was gilt da? was
können wir wirklich sehen? – das ist die ganze Kunst einer wahrhaft reli-
giösen Existenz.
Dann freilich verdichten und überschlagen sich die Worte. Fast frech
fragt dieser Sehendgewordene seine nunmehrigen Gegner, ob nicht auch
sie, schon weil sie derart in ihn dringen, seine, Jesu, Jünger werden woll-
ten. Diese dreiste und provozierende Unterstellung entbehrt nicht einer
gewissen Psycho-Logik. Immer wenn wir etwas zu sagen versuchen, das
wirklich neu ist und so das Terrain ein Stück erweitern könnte, wird es
dahin kommen, daß die alten Seile des verknoteten Lebens im Schatten der
Gesetze sich neu anspannen und uns wie elastische Bänder nach rückwärts
zu ziehen versuchen. Es kann nicht anders sein, als daß das bestehende Sy-
stem gegen jede Veränderung sich wehren wird. Man wird heftig zurück-
weisen, was man da an Neuem hört. Schon weil das Alte so alt ist, hat es
eine eigene, vermeintlich unwiderlegbare Beglaubigung für sich: – es hat
sich bereits bewährt!
Es war wiederum Friedrich Nietzsche, der einmal meinte: «Man
wehrt sich am heftigsten gegen die Wahrheit, an die man in zehn Jahren
selber glauben wird.» Das ist die beste Zusammenfassung, um zu verste-
hen, was in sogenannten Glaubensgemeinschaften sich im Kampf ge-
gen Neuerungen und Richtungsänderungen zuträgt: Man wird mit wüsten
Tiraden, mit Haß und Abscheu, denjenigen zum Widersacher Gottes

435
erklären, der nur ausspricht, was die Menschen inwendig längst ahnen,
aber noch nicht bewußt denken dürfen. Aus lauter Angst dürfen sie nicht
sehen, was sie sehen, nicht fühlen, was sie fühlen, nicht sein, was sie sind.
Aber je länger die Abwehr dauert, desto mehr nimmt sie von dem, was sie
bekämpft, in sich selber auf. Man bräuchte Sigmund Freud kaum zu ken-
nen, um diesen Mechanismus zu entdecken: Die Verdrängung, hat er uns
gelehrt, ist um so heftiger, als sich ein Wunsch regt, der zum Leben zuge-
lassen werden möchte, und aller Fanatismus ist im Grunde nur die Abwehr
gegen eine Wahrheit, die man als Versuchung schon in sich spürt. Genauso
hier. Der Geheilte hat ganz recht zu sagen: «Daß ihr mich so bekämpft und
euch immer wieder erkundigt, das zeigt euch eigentlich als Menschen, die
schon halbwegs dabei sind, dasselbe zu glauben wie ich auch. Euere Ver-
neinung ist immerhin etwas wert: Sie richtet eure Augen auf das, was ihr
haßt, – aber ihr kommt davon nicht los; ihr müßt nur noch ein bißchen
länger und genauer hinschauen, dann werdet auch ihr sehen, wie er mich
zu sehen gelehrt hat.»
Jedoch hat dieser Sehendgewordene im Augenblick jetzt mit seiner
Eröffnung natürlich keinen Erfolg, ganz im Gegenteil. Eine unerwünschte
und ungebetene Aufklärung über unbewußte Triebregungen, verdrängte
Gefühle und niedergehaltene Gedanken macht unbeliebt; die «Juden» fal-
len über ihn her; sie beschimpfen ihn, sie erklären: «Du, sein Jünger bist
du; wir aber» – und nun kommt es mit aller Selbstverständlichkeit: – «des
Mose Jünger sind wir». Das soll der Grund sein, warum sie über Menschen
und über Gott schon immer Bescheid wissen. Auch das muß man noch ein-
mal klar bekommen, warum das Johannes-Evangelium damit sich nicht zu-
friedengibt, das Bekenntnis zu hören: «Wir glauben an Gott», ja, warum es
sogar fertigbekommt, seinen Jesus sagen zu lassen: «Ihr habt Mose über-
haupt nicht verstanden; ihr versteht das ganze Gesetz nicht!» Tatsächlich
hat Jesus an vielen Stellen, auch in den ersten drei Evangelien, Worte ge-
sprochen, die in diese Richtung tendieren. (Vgl. Mt 23,1-36!)
Was damit gemeint ist, ließ sich vor ein paar Jahren auf französisch
lesen: Der Dominikaner Père Jean Cardonnel in Montpellier hatte ein
kleines, doch viel beachtetes Büchlein geschrieben. Seit nun schon über 35
Jahren versucht dieser Mann, die römische Kirche auf Trab zu bringen,
aber das scheint unmöglich. Nun schrieb er ein Buch mit dem Titel «J’ac-
cuse l’Eglise»6. – Ich klage an – die Kirche! Der Titel erinnert an Emile
Zolas Plädoyer am Ende des 19. Jhs. in der Dreyfus-Affaire; die Dreyfus-
Affaire bildete einen Höhepunkt des Militarismus in Frankreich schon vor
über 100 Jahren, sie markierte einen Höhepunkt auch der Korruption in

436
allen Ständen; Emile Zola sagte damals: «Ich mag den Juden Dreyfus
nicht, er ist wirklich ein Militarist, er glaubt immer noch an das französi-
sche Militär, aber ihm ist Unrecht geschehen, und es kommt nicht darauf
an, ob er richtig denkt in meinem Sinne, es kommt darauf an, daß er ein
Mensch ist, der zu Unrecht auf der Pfefferinsel sitzt. Ich klage an!»7 – So
etwas ähnliches nun schwebte Jean Cardonnel vor. Sein Buch begann mit
der Einstellung des Papstes zur Hölle, und zitiert wurde dabei die Schwelle
der Hoffnung überschreiten, ein Buch, in dem Papst Johannes Paul II. in
den neunziger Jahren die Priester und Verkündiger seiner Kirche ermahnte,
sie sollten nicht vergessen, von der Hölle zu predigen – sie täten das zu
wenig –; denn ohne die Angst vor der Hölle verlören die Menschen die Ab-
neigung gegen die Sünde8. Jean Cardonnel erinnerte gleich zu Beginn sei-
ner Gegenschrift an Ludwig XIV. und an sein Edikt über den Umgang mit
den Negersklaven, die man aus Afrika in die Grande Nation importiert
hatte: Sie alle sollten bei ihrer Ankunft getauft werden. Es war Cardon-
nel, der fragte, was das wohl sei, im Namen Jesu Menschen zu taufen.
Wäre es nicht nach dem Vorbild des Mose, sie aus der Sklaverei in die Frei-
heit zu führen? Wäre so zu handeln nicht die Grundvoraussetzung, um
Jesus zu leben, indem man tut, was Mose wollte? Aber die Kirche, die Kar-
dinäle in der Zeit des «Sonnenkönigs» scheuten sich nicht, den Menschen,
denen sie in Zwangsgehorsam zugunsten der französischen Wirtschaft das
Leben stahlen, nun auch noch die Seele zu nehmen unter der Farce einer
christlichen Taufe. Diese schwarzen Sklaven sollten an nichts mehr glau-
ben, als daß der König mitsamt dem Ersten Stand (den Klerikern) die
Macht und das Recht und von Gott ist9. Da ist alles eins: man gehört zum
Papst und zum römischen Katholizismus genauso wie man zum Gottesgna-
dentum des absoluten Königs und Monarchen gehört. Aber auf Mose zu
hören, zu Mose zu gehören, das ist etwas anderes; da ist die Frage nicht,
was Mose gesagt hat, sondern wie das, was er sagen wollte, uns heute
erreicht: Wie realisiert sich die Freiheit, die sich mit dem Aufbruch aus
Ägypten unter seinem Namen verbindet? Gefordert ist da ein Exodus
immer neu, ein Wagemut zur Freiheit immer von vorn. Da gibt es nichts,
worauf man sich im Sinne der rituellen Vergegenwärtigung einer idealisier-
ten Vergangenheit berufen könnte.
Um einer solchen persönlichen Freiheit willen legt dieser blindgeborene
Sehendgewordene sich selbst die entscheidende Frage vor: Wäre es denn
möglich, daß etwas Sünde sei, das Menschen leben ließe? Wie kann denn
etwas gegen Gott sein, das der Menschen Herzen weit macht? Wäre es
denn denkbar, daß sich etwas gegen das Wort Gottes selber richtete, das

437
den Menschen Augen und Ohren zu öffnen vermöchte? Es war noch nie,
daß jemand so etwas tun konnte und wäre nicht von Gott gewesen. Es ist
die Reihenfolge: Aus dem, was ein Mensch selber sieht, gewinnt er ein
Urteil auch über das, was der ist, an dessen Seite er sehend wurde. Dieser
Mann, sehend geworden, riskiert alles. Man wird ihn ausstoßen, man wird
ihm sagen, daß er verstockt sei, schlimmer als ein Atheist, ärger als ein
Gottesleugner, daß er in Sünden geboren worden sei. Vorher war er nur in
Blindheit zur Welt gekommen, aber jetzt, als ein Sehender, ist er in den
Augen der «Gottesbesitzer» in Sünden geboren, das heißt, er ist so ver-
derbt, daß er ganz unmöglich sie, die Wissenden, zu belehren vermag. Da
ist die Wende vollzogen: aus dem, was positiv ist, wird negativ, aus dem,
was negativ ist, wird positiv. Aber der Kern, um den es geht, liegt in der
Aussage der «Pharisäer»: bei Jesus wissen sie nicht, woher er ist; bei Mose
glauben sie es zu wissen: zu ihm hat Gott gesprochen. Jesus hat nichts,
worauf er sich berufen kann, – außer wieder nur: auf Gott; aber wann
redet Gott mit einem Menschen und woran soll sich zeigen, daß dies der
Fall ist?
Es ist einer der schönsten Sätze im ganzen Neuen Testament, den der
Blindgewesene, der Sehendgewordene hier ausspricht, Vers 30 im 9. Kapi-
tel des Johannes: Er hat ihnen gesagt: Darin liegt ja das Wunderbare, daß
ihr nicht wißt, woher er ist, doch hat er geöffnet meine Augen. – Da ist es
möglich, daß wir Menschen in einen Raum hineingestellt sehen, an dem sie
unableitbar sind, an dem sie, mit Barlach gesprochen, «den Himmel
sehen über dem Pfuhl», an dem sie zu einer nie geahnten Form der Selb-
ständigkeit finden. Den entscheidenden Prozeß, der ihre Freiheit begrün-
det, wissen wir von außen her gar nicht zu beschreiben, aber daß sie fortan
allein ruhen in Gott, das ist das Wunderbare, das ist der ganze Inhalt ihres
neuen Sehens. Die alles verändernde Einsicht wird ihnen, indem Gott in ihr
Herz scheint und all das in den Schatten stellt, was man in seinem Namen
meinte zur Vorschrift erheben zu müssen.
In seinem kleinen Büchlein Antichrist im Jahre 1888, kurz vor dem Aus-
bruch seiner schweren Geisteskrankheit, hat der als Gottesleugner und
Christusgegner verschrieene Friedrich Nietzsche Worte geschrieben, die
zum Besten zählen, was über die ursprüngliche Botschaft Jesu je geschrie-
ben wurde. Man muß sie nur vorlesen, und die Frage ergibt sich von
selbst, über was für Kategorien wir eigentlich verfügen, um Menschen zu
bewerten? Wann stimmt etwas menschlich wirklich und wann nicht?
Nietzsche schrieb:

438
«In der ganzen Psychologie des ‹Evangeliums› fehlt der Begriff
Schuld und Strafe»,

– das muß man nur einmal hören, nach zweitausend Jahren Knechtung der
Menschen mit Schuld, Angst und Strafe! Doch so stellt es Nietzsche gegen
alle Theologenauslegung im wesentlichen richtig fest:
«In der ganzen Psychologie des ‹Evangeliums› fehlt der Begriff Schuld
und Strafe; insgleichen der Begriff Lohn. Die ‹Sünde›, jedwedes Distanz-
Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist abgeschafft – eben das ist die
‹frohe Botschaft›. Die Seligkeit wird nicht verheißen, sie wird nicht an Be-
dingungen geknüpft: sie ist die einzige Realität – der Rest ist Zeichen, um
von ihr zu reden … – Die Folge eines solchen Zustandes projiziert sich in
eine neue Praktik … Nicht ein ‹Glaube› unterscheidet den Christen: der
Christ handelt, er unterscheidet sich durch ein anderes Handeln: Daß er
Dem, der böse gegen ihn ist, weder durch Worte noch im Herzen Wider-
stand leistet. Daß er keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimi-
schen … macht … Daß er sich bei Gerichtshöfen weder sehen läßt, noch in
Anspruch nehmen läßt … – Alles im Grunde Ein Satz, alles Folge Eines In-
stinkts. – Das Leben des Erlösers war nichts anderes als diese Praktik, –
sein Tod war auch nichts andres … Er hatte keine Formeln, keinen Ritus
für den Verkehr mit Gott mehr nötig, – nicht einmal das Gebet. Er hat mit
der ganzen jüdischen Buß- und Versöhnungs-Lehre abgerechnet … Nicht
‹Buße›, nicht ‹Gebet und Vergebung› sind Wege zu Gott … Was mit dem
Evangelium abgetan war, das war das Judentum der Begriffe ‹Sünde›, ‹Ver-
gebung der Sünde›, ‹Glaube‹, ‹Erlösung durch den Glauben›, – die ganze
jüdische Kirchen-Lehre war in der ‹frohen Botschaft› verneint. – Der tiefe
Instinkt dafür, wie man leben müsse, um ‹sich im Himmel› zu fühlen, um
sich ‹ewig› zu fühlen, während man sich bei jedem andern Verhalten
durchaus nicht ‹im Himmel› fühlt: dies allein ist die psychologische Rea-
lität der ‹Erlösung›.»10
Ein besserer Kommentar zu der Darstellung des Johannes, wie ein
Mensch sehend wird, läßt sich schwerlich finden: eine Welt, in der Men-
schen akzeptiert werden ohne Vorleistungen und Vorbedingungen – das ist
in der Tat die Veränderung in allem. Wer erst einmal einsieht, daß Men-
schen anders gar nicht leben können, der ist im Sinne des johanneischen
Jesus geheilt; der wird jedoch zugleich zu einem Skandal in den Augen all
der «Einsichtsfähigen» und der «Einsichtigen» in der Welt der verwalteten
«Normalität». Doch gerade diese von Nietzsche absolut richtig beobach-
tete «Umwertung aller Werte» auf dem Boden des Neuen Testaments

439
bringt diesen «Geheilten» nun unverbrüchlich in die Nähe Jesu. Jetzt,
wo sie ihn ausschließen, den Sehendgewordenen – zweimal heißt es «Hin-
aus!» –, jetzt, wo sie ihn ins Exil hetzen und zur Unperson erklären, indem
sie rituell seine Existenz verneinen, da begegnet er Jesus erneut.
Bezeichnenderweise lautet die Frage Jesu an den Verstoßenen: Du, ver-
traust du auf den Menschensohn? – Das ist ein Begriff, von dem der hi-
storische Jesus der ersten drei Evangelien im Rahmen der Apokalyptik
Gebrauch machte, indem er glaubte, sehr bald schon werde vom Thron
Gottes her eine Gestalt den Menschen erscheinen, die bei dem Propheten
Daniel «der Hochbetagte» oder eben «der Menschensohn» (Dan 7,13)
heißt – der Inbegriff gewissermaßen einer gestaltgewordenen Menschlich-
keit; ihm, diesem Menschensohn, traute Jesus zu, er werde über die Taten
und die Wirklichkeit der Menschen auf Erden richten. Der historische
Jesus meinte offenbar, man müsse nicht warten, bis jener komme, sondern
alles entscheide sich jetzt: Wie man heute lebe, an seiner Seite, hörend oder
nicht hörend auf seine Worte, das werde den Maßstab bilden, wie auch der
Menschensohn, wenn er komme, sein Urteil über die Menschen spreche.
(Vgl. Mt 25,31-46.) Diese Überzeugung Jesu führte dahin, daß man ihn sel-
ber mit dem Menschensohn identifizierte. Vor allem das Johannes-Evange-
lium hebt die Zeitschemata auf: Da kommt nichts, es ist einfach; seine
Haltung ist nicht mehr das Warten auf die Ankunft oder auf die Wieder-
kunft des «Menschensohnes» auf den Wolken des Himmels (Mk 13,26),
sondern ein Leben in der Realität heute. Das meint die Frage: Du, ver-
traust du auf den Menschensohn? bei Johannes. Und der Geheilte bejaht
diese Frage kniefällig! Da ist die gelebte Menschlichkeit weit wichtiger als
der ganze «Glaubensinhalt». «Ja, Herr», sagt er sinngemäß, «ich sehe, und
was ich vor mir sehe, Du, mein Gegenüber, das ist alles, was Gott in meine
Seele gelegt hat und legen kann.»
Von diesem 9. Kapitel meinte Martin Luther einmal, es sei das kost-
barste und wichtigste des ganzen Johannes-Evangeliums. Dafür hat der Re-
formator selbst wie zur Begründung an einer anderen Bibelstelle ein sehr
schönes Beispiel gegeben. Als er 1521 auf der Wartburg das Lukas-Evange-
lium übersetzte, fand er in Lk 1,28 einen Satz, der der römischen Kirche
bis heute besonders teuer ist. Er lautet beim Gruß des Engels Gabriel an
Maria in Nazaret: «gratia plena – du bist voll der Gnade»; so jedenfalls
übersetzt die lateinische Vulgata des Kirchenvaters Hieronymus die Stelle.
Wenn Theologen hören, daß ein Mensch, eine Frau, von einem Engel be-
zeichnet wird als «voll der Gnade», so läuft die dogmatische Spekulation
sogleich auf Hochtouren: Wenn Maria voll der Gnade ist, so bedeutet das,

440
daß sie eben ganz voll der «Gnade» ist und also keine Sünde gehabt haben
kann. Daraus folgt wiederum, daß Maria als «voll der Gnade» die ganz
Sündenreine war; das aber bedeutet einen absoluten Unterschied: alle an-
deren Menschen sind im Schatten der Erbsünde geboren, ganz in Sünden;
Maria aber muß der Erbsünde entnommen gewesen, sie muß «unbefleckt
empfangen» gewesen sein. Dreihundert Jahre nach Martin Luther wurde
im Jahre 1871 aus diesen «bibeltheologischen» Vorgaben ein eigenes
Dogma der römischen Kirche. Auch in den Tagen des Reformators sah
man den Lukastext bereits als Begründung der gesamten «Mariologie» an.
Martin Luther aber wagte an dieser Stelle das griechische Wort, das da
heißt «kecharitomenä» – «die Begnadete», wiederzugeben mit: Du liebe.
«Es grüßt dich Gott, du liebe Maria», habe der Engel gesprochen zu der
Jungfrau. Und dann schreibt er im «Sendbrief vom Dolmetschen», die rö-
mischen Theologen würden erbost sein über dieses Wort, weil es von der
Dogmensprache abweiche. Luther aber verteidigt das Wort: «Es gibt kein
schöneres im Deutschen», sagt er; nur wir Deutschen hätten ein solches
Wort: Du liebe! 11 – Vor 480 Jahren offenbar war es möglich, die Bibel so
zu übersetzen, daß sie in der Alltagssprache, im Erfahrungsraum von Men-
schen lebendig wurde und ihre Freiheit zurückerhielt in den zärtlichsten
Gefühlen, die auszudrücken Menschen möglich ist. Diese Freiheit wieder-
zugewinnen hieße heute, das ganze Johannes-Evangelium so zu verstehen,
daß wir sehend würden.

441
Joh 10,1-21: Der gute Hirt
1Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage euch: Wer nicht durchs Tor in

die Hürde der Schafe hereinkommt, sondern darüber steigt an-


derswoher, der ist ein Dieb und ein Räuber. 2Wer aber herein-
kommt durchs Tor, der ist Hirt der Schafe. 3Dem öffnet der
Torwächter; und die Schafe – seine Stimme hören sie. Und die
eigenen Schafe – er ruft sie beim Namen und führt sie hinaus.
4Wenn er die eigenen alle hinausgetrieben hat, geht er vor ihnen

her, und die Schafe folgen ihm, denn sie kennen seine Stimme.
5Einem Fremden aber – nein, dem werden sie nicht folgen, son-

dern fliehen werden sie vor ihm, denn sie kennen nicht von
Fremden die Stimme. 6Diese Rätselrede sagte ihnen Jesus; sie
aber erkannten nicht, in bezug zu wem es war, was er ihnen
sagen wollte.
7Gesagt hat da abermals Jesus: Bei Gott, ja, bei Gott, ich sage

euch: Ich bin das Schaftor. 8Alle, die (vor mir) gekommen, –
Diebe sind sie und Räuber; aber gehört haben nicht auf sie die
Schafe. 9Ich bin die Tür. Durch mich – geht jemand so hinein,
wird er gerettet werden (sich als Heil erweisen); – er wird hin-
eingehen, er wird hinausgehen, er wird Weide finden (14,6).
10Der Dieb kommt zu nichts als zum Stehlen, zum Schlachten,

zum Ausbeuten. Ich bin gekommen, daß sie Leben haben, ja, es
überreich haben.
11Ich bin der Hirt, der gute (Ps 23; Jes 40,11; Ez 34,11-23). Der

Hirt, der gute, setzt sein ganzes Ich ein für die Schafe (15,13;
Hebr 13,20). 12Der Mietknecht, der ja kein Hirt ist, dem nicht
die Schafe das Eigene sind, sieht er den Wolf, wie er kommt –
da verläßt er die Schafe und flieht, und der Wolf raubt sie und
versprengt, 13denn nur Mietknecht ist er; ihm liegt nicht an den
Schafen.
14Ich bin der Hirt, der gute. Ich kenne die Meinen, und es ken-

nen mich die Meinen (2 Tim 2,19); 15so wie mich der Vater
kennt und ich den Vater kenne. Ja, mein Ich setze ich ein für
die Schafe. 16Auch andere Schafe habe ich, die nicht aus dieser
Hürde sind. Auch die muß ich führen; meine Stimme werden
sie hören, und es sei: eine Herde, ein Hirt (11,52; Apg
10,34.35).
17Drum: mich liebt der Vater, weil ich mein ganzes Ich einsetze,

auf daß ich es wieder empfange. 18Niemand nimmt es mir fort,


sondern ich setze es ein, von mir aus. Vollmacht habe ich, es
einzusetzen, Vollmacht habe ich, es wieder zu empfangen
(5,26). Diesen Auftrag empfing ich von meinem Vater.
19Eine Spaltung wiederum entstand unter den Juden (den Got-

tesbesitzern), wegen dieser Worte (7,43; 9,16). 20Es sagten

442
nämlich viele von ihnen: Einen Abergeist hat er. Er ist verrückt
(7,20; Mk 3,21). Was hört ihr ihn an? 21Andere sagten: Das
sind nicht die Worte eines Aberbegeisteten. Nein, ein Abergeist
– kann er Blinder Augen öffnen?

Das 10. Kapitel kann ohne Zweifel als Schlüssel zum Verständnis des
ganzen Johannes-Evangeliums angesehen werden. Alles, was der johannei-
sche Jesus sagen möchte, wird hier mit vielen Parallelverweisen auf Worte
und Aussagen, die schon einmal vorgetragen wurden, in einer einzigen
Ansprache zusammengestellt, die für unsere Ohren höchst vertraut und
gleichzeitig völlig fremd wirkt, überraschend neu, wenn man genau hin-
hört, und dann wieder wie in sich verfestigt und gänzlich konventionell;
wie wir zwischen beiden Eindrücken uns zurechtfinden und den Text so zu
lesen lernen, daß darunter Eigenes und Wesentliches sichtbar wird, das ist
die Frage bei der Auslegung dieser «Offenbarungsrede».
An der Küste des Libanon läßt sich ein sonderbares Schauspiel beobach-
ten. In die Felsen, die dicht an die Brandung des Mittelmeeres reichen,
haben Salzsieder terrassenartig Pfannen getrieben, in die sie das Meerwas-
ser schöpfen, um es unter der gleißenden Sonne verdunsten zu lassen. Das
Salz fällt kristallisiert aus, wird gesammelt und dann als eines der kostbar-
sten und wichtigsten Lebensmittel der Menschen auf den Märkten der
Dörfer und Städte weitergereicht. So ähnlich verhält es sich mit dem Jo-
hannes-Evangelium: All seine Geschichten und Reden wirken wie künstli-
che Salzpfannen; die einzelnen kristallen funkelnden Worte schmecken
herb im Munde und sind doch unersetzlich, um von ihnen zu leben; man
muß aber bei einem jeden dieser Salzkristalle sich rückerinnern an den Ort
seines Ursprungs. Geschöpft wurde das alles einmal, ehe es in die Enge der
Salzpfanne kam, aus der Weite des Meeres; es entstammt der Sehnsucht
nach anderen Ufern, dem Wagemut, unter geschwellten Segeln bei wehen-
dem Wind die hohe See zu gewinnen. Es ist ausgeglüht unter einer über-
fließend sich verschenkenden Sonne, geschaffen von der Unermeßlichkeit
der See und dem goldenen Gleißen des Lichts.
Wenn wir die Worte des Johannes-Evangeliums im 10. Kapitel verneh-
men, so erscheinen sie uns zunächst wie verkleinert, sie wirken fast wie ab-
stoßend, sind sie doch über zweitausend Jahre lang handlich für Händler
gewesen, wohlfeil auf den Marktplätzen der Theologie: Jesus ist der Hirt,
und die an ihn glauben, bilden die Herde, – das beschreibt ein Verhältnis
von Führer und Masse, inklusive aller Formen des möglichen Mißbrauchs.
Ein Volk von «Schafen» ist der Führung bedürftig. Jeder Verhaltenspsy-
chologe kann erläutern, warum: Im Unterschied zu den schlauen Ziegen,

443
die sich gewandt im Hochgebirge bewegen, ist das steppenbewohnende
Schaf, spätestens seit es vor ca. achttausend Jahren domestiziert wurde,
ohne ein eigenes Heimfindevermögen. Es ist wirklich auf den Menschen
angewiesen, der es versorgt, leitet und schützt. Mehr als Blöken und Mäh-
Sagen ist diesen Tieren selbst im Notfall nicht zuzutrauen. Wenn ein sol-
ches Betragen zum Vorbild der «Gläubigen» wird, ist es deutlich, warum
die (Schaf)Herde der Christgläubigen einer zentralen Leitung bedarf, und
diese so unerläßliche Leitung kann sich berufen eben auf dieses 10. Kapitel
des Johannes-Evangeliums, in dem es ja steht: Jesus ist der Hirte. Ihm nach
also alle, die als Hirten, als Vorgeher und Vorsteher, in der «Herde» Chri-
sti wirken wollen!
Die Szene wurde zudem bis zum Kitschigen im Erbe der Nazarener-
gemälde ausgeschmückt: wie da im Abenddämmer ein Hirte friedlich bei
seiner Herde weilt, von ihr lebt, mit ihr lebt – alles wie ohne Gefahr. Bilder
und Bildchen dieser Art finden sich in den christlichen Kirchen in Israel, in
Jordanien, in Syrien als Import aus der Kolonialzeit des Christentums noch
in den zwanziger Jahren des 20. Jhs. Ein einziger Blick in das Gebirge von
Galiläa oder von Judäa könnte und würde es anders zeigen: wie mühselig
das Werk eines Hirten in Wahrheit war und ist. Johannes spricht sogar von
drohender Todesgefahr, von einem Lebensabenteuer, von einem Engage-
ment um Alles oder Nichts, das ein Hirt als «Berufsrisiko» eingehen muß,
und man ahnt natürlich: es geht im Grunde nicht um «Hirten» und um
«Schafe», es geht darum, wie wir die Beziehung zwischen Gott und
Mensch zu verstehen haben.
Gerade der autoritäre Typ von Religion ist durch die Theologie immer
wieder mit Hinweisen auf Texte wie diesen gestützt worden. Sind denn
Menschen überhaupt fähig, die Wahrheit des Göttlichen zu finden? Men-
schen – darunter stellen sich gewisse Kirchenmänner wohl auch heute noch
rechte «Schafe» vor, Wesen, die Gottes vergessen haben, weil sie nur um
sich selbst kreisen, indem sie selbst ihre «Sünden» noch als Tugenden
gegenüber dem Himmel reklamieren. Mit solchen störrischen Existenzen
muß Gott streng und bestimmend reden, um ihre frevelhafte Starrnis auf-
zubrechen. Gott, unter solchen Umständen, wenn er kommt, kommt stets
von außen, kommt stets von fremd; er muß die Selbstgewißheit der «Sün-
der» zerstören, er muß die Menschen anreden wie ein Ankläger und das
Gesetz gerade zu dem Zweck der Überführung der Laster und der Sünden
der Menschen gebrauchen. Stets muß er deshalb bereitstehen zu strafen.
Gott erscheint da als das ganz Andere des Menschen, und wer da sagen
wollte, es müsse doch eine Verbindung, eine Brücke geben zwischen dem

444
Menschen, den Gott selber schuf, und dem Gott, der auf den Menschen
ebenso wartet wie der Mensch auf seinen Gott, dem würde man gleich ent-
gegenhalten, daß er letztendlich «Selbsterlösung» predige: er setze Gott
außer Kurs, er lehre das menschliche Leben auf eine Art, die Gott überflüs-
sig mache. In der Tat: Wenn es nicht nötig ist, den Menschen von seiner
«Schuld» zu erlösen, dann existiert ein Gott vielleicht gar nicht, dann ist er
womöglich nur ein Bild im Menschen; und führt eine solche Auffassung
nicht wie von selbst in den Pantheismus oder Atheismus? Dann gibt es gar
keinen Gott mehr, sondern nur noch den Menschen und seine Seele!
Gott sei Dank, redet dieses 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums an-
ders, als die Theologen es aus dogmatischen Gründen gern einander pola-
risierend gegenüberstellen. Das Vierte Evangelium wählt einen Mittelweg,
einen steinigen, einen steilen, doch einen buchstäblich rettenden Weg zur
Vermeidung falscher Alternativen. Es sagt keinesfalls, Gott und Mensch
seien ein und dasselbe, ganz im Gegenteil, es betont Satz für Satz, wie not-
wendig der Mensch Gott braucht, um zu sein; aber nun umgekehrt auch:
das, was Gott in der Person Jesu dem Menschen zu sagen hat – das steht
dem Johannes-Evangelium ganz fest –, ist eben nicht die Strafpredigt eines
Fremden, eines Überwältigenden, eines Anklagenden, es ist vielmehr eine
sehr leise, sanfte und gütige Rede. Gleich in der Einleitung der «Hirten-
rede» formt Johannes deshalb seinen Gegensatz: Es gibt und es hat immer
wieder in der Religionsgeschichte Leute gegeben, die von der Differenz
zwischen Gott und Mensch ausgingen: Je niedriger sie den Menschen stell-
ten, desto größer wurde ihre Macht, denn je weiter entfernt ihr Gott von
den Menschen schwebte, desto erhobener und erhabener über allem Irdi-
schen thronten sie selber als seine Verkünder. Alle, die so tun, sagt der
Jesus des Johannes-Evangeliums hier, sind wie von fremd in den Schafstall
gekommen, wie von draußen herein, und was sie im Sinne hatten und
haben, läßt sich an der Wirkung ihres Auftritts ersehen.
Es gibt ein klares Kriterium zur Prüfung, was Religion wert ist. Natür-
lich läßt sie sich zu allem Möglichen mißbrauchen. Dann kommen die
Diebe, dann kommen die Räuber: auch ihnen geht es um die Schafe, doch
nur zu dem Zweck, sie zu schlachten und auszubeuten, – sie zugrunde zu
richten, sagt das griechische Wort sogar an dieser Stelle. Man kann Reli-
gion auf eine Weise «haben», daß am Ende Fragen des Glaubens nichts
weiter sind als wohlfeile Werkzeuge, um Macht, Geld, Einfluß und Positio-
nen zu erringen. Das alles hat sich allzu oft schon ereignet, und es wird
weiter geschehen, im Namen Gottes und, wie man sieht, sogar im Namen
Jesu, aber es ist soviel wie Raub und Diebstahl; es hat nichts zu tun mit

445
dem, was Jesus einmal wollte, soviel steht fest. Wenn man begreifen will,
wer der Mann aus Nazaret war und ist, meint das Johannes-Evangelium,
so muß man ihn sich vorstellen, wie er ganz innig mit Menschen redet, – in
diesem Sinne als Hirt zu den Schafen. Natürlich läge es an dieser Stelle
nahe, aus der synoptischen Tradition das Gleichnis vom guten Hirten ein-
zufügen, mit dem wohl auch der historische Jesus begründet hat, warum
er, nach Gottes Vorbild, wie er betonte, gerade den Verlorenen, den «Sün-
dern», nachging (Lk 15,1-7); er erfüllte damit zugleich die messianische Vi-
sion des Ezechiel (34,1-31) von einem Hirten, wie Gott ihn bestellen wird.
Doch das Johannes-Evangelium vermeidet es fast, dem Paulus darin ähn-
lich, die überlieferten Sätze Jesu zu zitieren und aufzugreifen; viel lieber
legt Johannes seine eigenen Deutungen der Ereignisse um die Person des
Mannes aus Nazaret und seine Botschaft ihm selbst in den Mund; er läßt
«seinen» Jesus all das sagen, was sich Jahrzehnte später als «Theologie»
kristallisieren wird. Um so wichtiger ist es, daß Johannes die Bedeutung
Jesu gar nicht so sehr in die einzelnen Sätze hineinlegt, die am Gestade des
Sees von Gennesaret einmal gesagt worden sein mögen; entscheidend ist
für ihn vornehmlich die Art und Weise, wie Jesus redet. Wer ihn versteht,
hört in seinem Inneren einen ihm wohlvertrauten Ton; etwas seit Urzeit-
tagen Bekanntes, etwas durchaus nicht Fremdes, sondern immer schon Ver-
nommenes meldet sich da zu Wort, und eben deswegen antwortet bereit-
willig alles im eigenen Herzen darauf. Die Sprache des «Hirten» zu seinen
«Schafen», so wie sie in dem johanneischen Jesus sich verkörpert, ist er-
kennbar nichts anderes als ein Dialog der Liebe. Und so sollte die gesamte
Religion verstanden werden: die Beziehung zwischen Mensch und Gott
sollte man betrachten als das Zwiegespräch einer Liebe, in dem das Göttli-
che gerade nicht wie etwas Feindseliges, Bedrohliches oder Unheimliches
empfunden wird, sondern als etwas ganz und gar Zärtliches. So wie ein
Mensch der Liebe bedarf, so bedarf er dieser Sprache Gottes, der die Liebe
selbst ist.
Es wäre deshalb nicht zuviel gesagt, wenn wir die Aussage des Johannes-
Evangeliums von Jesus als dem «Hirten» so formulieren wollten: Gott
redet zu uns stets in unserer Muttersprache. Wir müßten das Wort «Mut-
tersprache» dann freilich so übersetzen, wie Christine Busta es einmal in
einem kleinen Vergleich ausgedrückt hat. Sie schreibt:

Nicht was die Mutter sagt,


beruhigt und tröstet die Kinder.
Sie verstehen’s zunächst noch gar nicht.

446
Wie sie es sagt,
der Tonfall, der Rhythmus, die Monotonie
der Liebe in den wechselnden Lauten
öffnet die Sinne dem Sinn der Worte,
bringt uns ein
in die Muttersprache.

Ein Gleiches geschieht auch im Gedicht.

In diesem Sinne war Jesus ein vollendeter «Dichter», ein Poet unseres
Lebens, der nichts weiter wollte, als unsere Muttersprache in unserem
Herzen zu erlauschen, zu erlernen und zur Sprache zu bringen.
Wie überhaupt erlernt man die «Muttersprache» eines Menschen? Es ist
eine eigene Kunst, sich so in den anderen hineinzuhören, daß man seine
Worte versteht, daß man den Hintergrund der Gefühlsbedeutungen, der
Schwingungen, der Erinnerungen, die ganze Abfolge der Assoziationen in
dem vielleicht nur stockend Geäußerten, nur wie bruchstückhaft Mitgeteil-
ten, vernimmt. Ein kleines Beispiel mag zeigen, was damit gemeint ist und
was davon abhängt.
Bei den Brüdern Grimm erzählt das bekannte Märchen Rapunzel 1 ein-
mal von einem Mädchen, das als Lebenselixier seiner Mutter zur Welt
kommt, aber aufwächst bei einer Frau, die als die stärkste und größte Zau-
berin der Welt eine unheimliche Macht über ihr Stiefkind besitzt. Als es
zwölf Jahre alt wird, sperrt die Mutter-Zauberin es in einen Turm ein; Tag
für Tag kommt sie, um an Rapunzels schönen Haaren, zwanzig Ellen lang
und blond wie aus Gold, sich zum Fenster des Turms hochziehen zu lassen,
der einen anderen Eingang gar nicht besitzt. In seiner Einsamkeit singt
Rapunzel mitunter wie ein Vöglein, das man in einem viel zu engen Käfig-
gefängnis vergessen hat. Seine Stimme aber, erzählt uns das Grimmsche
Märchen, hört ein Königssohn, und der wird so verzückt allein von dem
lieblichen Gesang dieses Mädchens, daß er beschließt, um seine Liebe zu
werben. Freilich findet er in dem Turm keine Tür zu der Geliebten und
weiß nicht zu ihr zu gelangen, bis daß er eines Abends bemerkt, wie Ra-
punzels Mutter (die Zauberin) ihre Tochter auffordert, sie möge ihr Haar
herunterlassen. So erfährt er, wie es möglich ist, sich der Geliebten zu
nähern, und er vermag nicht anders zu tun, als am folgenden Abend diesel-
ben Worte in demselben Tonfall nachzusprechen. Rapunzel, in dem Glau-
ben, er sei ihre Mutter, zieht den Königssohn zu sich empor.
Dieses kleine Märchenmotiv zeigt sehr schön, was es bedeutet, eine

447
Sprache zu reden, die dem anderen nicht fremd, sondern ganz und gar ver-
traut ist, eine Ausdrucksweise, die es erlaubt, ein Gefängnis aus Angst ge-
waltfrei zu öffnen. Man muß buchstäblich noch einmal aus dem Munde
eines äußerlich vielleicht längst schon erwachsen Gewordenen hören, wie
damals seine eigene Mutter mit ihm redete, wie die Menschen mit ihm
sprachen, denen er damals, als er noch ein Kind war, zu vertrauen suchte
gegen alle Not und Einsamkeit oft; nun aber gilt es, in den gleichen Tonfall
einzuschwingen und die Worte so zu gebrauchen, daß sie das damals Feh-
lende ergänzen und das ehedem Hilfreiche aufgreifen und fortführen.
Wenn es dahin kommt, daß einer so spricht mit einem anderen, wird dieser
ihm ohne zu zögern folgen; er wird ihm gern Gehör schenken; unter dieser
Voraussetzung bedeutet «Gehorsam» nicht länger mehr Unterwerfung,
sondern eine wie selbstverständliche Zuneigung und Zuversicht, eine
wachsende Verbundenheit in Zusammengehörigkeit.
Eigentlich nur davon ist die Rede, wenn Jesus den Worten des Johannes-
Evangeliums nach erklärt: «Ich kenne die Meinen, und es kennen mich die
Meinen, und ich rufe einen jeden von ihnen bei seinem Namen.» Im Alten
Testament wird das nur von Gott selbst ausgesagt: er kenne einen jeden
Menschen ganz, er wisse um sein Wesen, so daß alles, was er ihm mitzutei-
len habe, die Fülle all der Möglichkeiten seines Lebens freisetze und her-
vorlocke. Hier aber gilt es, an der Seite Jesu zu lernen, in gerade dieser
Weise miteinander zu sprechen: da rühren wir an das Wesen des anderen,
wir setzen seine Träume frei, seine Sehnsüchte, sein Verlangen, seine Hoff-
nungen, seine oft enttäuschten Erwartungen, und lassen sie wieder zum
Dasein zu; wir führen – im Bilde dieser Rede des Johannes-Evangeliums –
den anderen buchstäblich hinaus, und man müßte ergänzen: ins Weite, ins
Freie, wo er seine Nahrung selber suchen und finden kann. Der Hirt, heißt
es, geht den Schafen voraus, und auch das mag man verstehen. Für uns
Menschen gilt, daß niemals jemand einen anderen weiter zu führen vermag
als bis zu dem Punkt, bis zu dem er selbst schon gegangen ist; an der Stelle,
wo er selbst endet, wird er die Begleitung des anderen nicht länger fortset-
zen können. Dieser Text aber denkt sich Jesus als jemanden, der die ganze
Weite unseres Lebens, in ihrem Glück und in ihrer Not, in ihrer Größe und
in ihren Niederungen, in ihren Triumphen und in ihrem Elend bereits
durchschritten und durchlitten habe; er kenne sich aus mit uns, und das sei
der Grund, warum auch wir uns bei ihm und in ihm wiedererkennen
könnten.
Es heißt an dieser Stelle sogar, jemand, der durch eine solche Tür, wie
Jesus sie ist, eintrete, werde «gerettet». Zu vermuten steht, daß das Grie-

448
chisch des Johannes-Evangeliums an dieser Stelle einen ursprünglich semi-
tischen Text falsch übersetzt hat, denn «gerettet werden» macht hier kei-
nen Sinn. Man sollte sagen, daß jemand, der so lebt wie Jesus, für den die
ganze Art des Auftretens, des Sprechens, des Zugehens auf Menschen, wie
sie sich bei dem Mann aus Nazaret gezeigt hat, verbindlich geworden ist,
sich selbst erweisen wird als ein Retter: – nicht ein Passiv, sondern ein
reflexives Kausativ wird als Verbform hier einmal gestanden haben. Doch
dann geht es weiter: er wird hineingehen, er wird hinausgehen, er wird
Weide finden. Das im Grunde ist das Entscheidende: da wächst ein Gefühl,
endlich leben zu dürfen, ein reiches Leben, ein überreiches, «sattes» Leben.
Wer eigentlich hat uns ständig gelehrt, Religion sei im wesentlichen As-
kese, Verzicht und Absehen von sich selbst, – sie sei eine Einschränkung
des Lebens in jedem Betracht? Was Jesus uns wirklich bringen wollte,
meint das Johannes-Evangelium, sei eben nicht der Widerspruch zu dem
menschlichen Verlangen nach Glück, sondern dessen Erfüllung in einem
nie geahnten Reichtum. Es zu ergreifen mit allen Sinnen, mit allen Fasern,
das heiße es, Jesus selber zu schmecken, wie Brot und wie Wasser und ihn
auf der Haut zu spüren wie Sonne und Licht und eine Geborgenheit bei
ihm zu erleben wie ein Schaf bei einem Hirten, der seine Herde nie verläßt.
Der Unterschied im Umgang mit Menschen ist absolut. Es ist immer
möglich, Menschen den eigenen Bestrebungen dienstbar zu machen. Dann
sind sie ein Material und Werkzeug zur Umsetzung und Durchsetzung der
eigenen Interessen; man selber aber ist dann, in der Sprache dieses Evange-
liums, nichts weiter als ein Mietknecht, ein Miethirte. Der «Dienst» an der
Herde erfüllt dann einen Zweckvertrag, dessen Ertrag in zahlbarer Münze
zurückkommen soll, er ist ein Auftrag von außen und verbleibt als ein Ver-
hältnis von außen. Dem Mietling liegt nicht wirklich an den Schafen. Ganz
anders ein wirklicher «Hirt».
Man kann einen solchen Unterschied rasch herausspüren. Dieser Tage
sagte eine Frau: «Ich bin in der Therapie mir sehr schnell darüber klar-
geworden: er wollte nur mein Geld, nichts weiter; er hörte nicht richtig zu,
er hatte einen Wecker auf dem Tisch stehen, er schaute auf die Uhr, nach
der schon feststand, wann das Gespräch zu enden hatte: pünktlich nach
40 Minuten, und die Stunde würde 60 Euro kosten. Da wußte ich: Dies
ist kein Mensch, dem an mir liegt und der mir ein Anliegen in meiner Not
sein könnte.»
Von dieser Art des Mietlingsverhältnisses gibt es viele Schattierungen,
bis hinein in die sogenannte Seelsorge der «Geistlichen Herren» etwa in
der römischen Kirche: Man sucht die Menge, man fühlt sich wohl vor

449
großem Haufen, man betreibt und fördert die Psychologie der Massen –
wo aber bleibt die Befähigung, den Namen eines jeden Einzelnen zu ken-
nen, ihn als diesen Einzelnen zu meinen und ihn gerade in seiner Individu-
alität anzureden?
«Was machen Sie mit Autorität?» fragten nach einem Vortrag kürzlich
Leute auf den Fragezetteln. «Was ist Autorität für Sie?» – Dieser Text hier
beantwortet die Frage eigentlich sehr klar. Wer «Autorität» will in dem
Sinne, daß er nach einem Amt strebt, das ihn autorisiert, über andere zu
regieren, mag diese Praktik mit hochtrabenden Worten umschreiben: es
gibt keinen Mächtigen, der sich in seinem Amte nicht als «Minister» be-
zeichnen würde, als «Diener» eben, oder gar wie neuerdings der Papst in
Rom als «den Diener aller Diener», doch je mehr da von «Dienst» die
Rede geht, desto mehr werden dienstbar gemacht die auf solche Weise Un-
tertäniggewordenen. Eine Autorität, die sich durch hierarchische Verfeier-
lichung begründet, durch ein Gefälle der Macht von oben nach unten, ist
das Widerspiel zu der Führerschaft eines Hirten, der jeden Einzelnen bei
seinem Namen ruft und dem man folgt, weil man sich in seiner Stimme
«angesprochen» fühlt.
Die Art und Weise jedenfalls, wie Jesus «Autorität» lebte, war keine an-
dere als die der Liebe selbst. Was für ein Unterschied, auf Wiener Manier
zu sagen: «Ich küsse Ihre Hand, Madame» – man beugt sich vor und ist
charmant –, oder ob man mit den Lippen zärtlich die Hand eines Men-
schen berührt, den man liebt! Welch ein Kontrast zwischen einem höfi-
schen Galan und einem Liebenden! In dem einen Falle muß man den ande-
ren lange umschmeicheln und umgehen, bis man ihn hintergehen kann: bis
man über ihm zu stehen kommt; im anderen Falle möchte man den ande-
ren partnerschaftlich, gleichberechtigt und selbständig.
Es sei, sagt das Johannes-Evangelium, die Besonderheit Jesu gewesen,
als Hirt bis zum Äußersten zu gehen. Ich bin der Hirt, der gute, sagt er.
Das ist das Echo religionsgeschichtlicher Sprache schon um 1800 vor Chri-
stus im antiken Ägypten2. Da wird der Wind- und Geistgott Amun so an-
geredet: als der gute Hirte seines Volkes im «schwarzen Lande», in kemet –
in Ägypten. Amun ist deshalb ein guter Hirt, weil er die Witwen beschützt,
die von den Männern Verlassenen, die von den Männern Zurückgelasse-
nen oder Alleingelassenen; weil er die Waisen beschützt, Kinder, denen die
Eltern allzu früh verstarben. Um die Hilflosesten, um die kaum ein Mensch
sonst sich bekümmert, wird sich kümmern als guter Hirte der unsichtbare
Geist- und Windgott Amun – so die Alten Ägypter. Wenn jemand sich auf
den Thron der Pharaonen setzte als sein Sohn, gezeugt aus Wind (aus

450
Geist) und Licht (aus Einsicht) von Amun-Re selbst, so sollte auch er sein
der Gefährte der Witwen, der Vater der Waisenkinder, ein Trost und Bei-
stand aller menschlichen Not. – Diese Vorstellung von dem Pharao als dem
Guten Hirten wurde weitergegeben bis auf den Thron der römischen Cä-
saren in den Tagen, da Johannes sein Viertes Evangelium schreibt, in den
Tagen des Domitian (81-96 n. Chr.), der sich selbst längst als Gottessohn
verfeierlicht hat – auch er selbstredend ein guter Hirt! Schon in den Tagen
des Tiberius (14-37 n. Chr.) hört man, wie so ein «guter Hirte» in der Pra-
xis sich aufführt; er schreibt es den eigenen Gouverneuren in den Provin-
zen: Da führt die Bevölkerung Klage gegen den Raubzins und gegen die
Steuerpraxis, die man im Namen Roms zur Ausplünderung der eroberten
Länder eintreibt; Tiberius aber geht davon aus, daß die Provinzgouver-
neure wie Schmeißfliegen sind: wenn sie sich erst einmal vollgesaugt
haben, dann lassen sie von selbst ab von ihren Opfern; – kein Grund also
für den Cäsar, persönlich einzuschreiten; die freie Wirtschaft reguliert sich
von allein! Darin ist Tiberius mithin ein guter Hirte, daß er die Schafe nur
schert, nicht schlachtet, daß er, anders gesagt, nicht so dumm ist, sein eige-
nes Vieh umzubringen, von dem er doch lebt3. Bis zu dieser Travestie des
«guten Hirten» hat man es zeitgenössisch also gebracht; um so wichtiger,
daß Johannes seinen Jesus sagen läßt: Ich bin der Hirt, und hinzu fügt, in
falscher Wortstellung, um es zu betonen: (und zwar) der gute – antithetisch
nämlich zu allem Mißbräuchlichen, das man unter so famosen Begriffen,
wie sie alle Herrscher lieben, propagandistisch wunderbar verbrämen
kann. Der gute Hirt, sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums, setzt sein
ganzes Ich ein für die Schafe – er gibt sein eigenes Leben.
Natürlich ist dieses Wort aus der Erfahrung von Golgota gesprochen,
natürlich bezieht es sich auf die äußerste Zumutung der Kreuzigung. Aber
sollten wir einmal denken, es habe wirklich in der Richtung des ganzen Le-
bens des historischen Jesus gelegen, sich für andere einzusetzen, dann
könnten wir uns erinnert fühlen an ein Wort, das der Mann aus Nazaret
vermutlich historisch wirklich dem Sinne nach gesagt hat – 8. Kapitel des
Markus-Evangeliums, Vers 35: «Wer sein Leben hingibt, der wird’s gewin-
nen, wer es aber festhält, verlieren.» So muß der historische Jesus wirklich
gedacht haben. Immer wieder traf er auf Leute, die ihr Leben retten woll-
ten gegen jede mögliche drohende Gefahr und die am Ende nur noch aus
lauter Angst um ihr Leben bestanden. Sie kamen nie zum wirklichen
Leben, aus lauter Sorge, ihr Leben zu bewahren. Sie waren sozusagen
Leute, die das Schwimmen als Trockenübung perfekt beherrschten, aber
nie vermochten, sich ins Wasser zu getrauen: in der Theorie waren sie

451
großartig, aber ein einziger Tropfen Wasser ließ sie erschrecken, – ob es
auch nicht zu kalt sei, ob es sie denn wirklich tragen würde, ob es nicht
Strudel und unsichtbare Gefahren berge … Jesu Meinung war, daß man
zum Leben nur kommen könne, indem man lebe; richtig leben, das hieß
für ihn, auf andere hin leben, für andere leben; nur so, war er überzeugt,
gebe es Sinn, nur so erfülle es sich, nur so kehre es reich zurück. «Voll-
macht», sagt der johanneische Jesus, «habe ich, es (mein ganzes Ich) einzu-
setzen, Vollmacht habe ich, es wieder zu empfangen. Diesen Auftrag emp-
fing ich von meinem Vater.» Gefordert ist gewiß nicht von vornherein, für
den anderen zu sterben. Wie aber ist ein solcher Auftrag dann zu verste-
hen? Keine «Herde» hat etwas davon, wenn ihr «Hirte» sich ruiniert. Was
sollen Schafe schon machen, wenn ein einzelner «Wolf» von dem Hirten
bestanden wurde, hernach aber die ganze restliche Meute des Rudels nur
um so schonungsloser die Herde überfällt? Richtiger deshalb sollten wir
sagen: Es gilt, sich für den anderen zu engagieren, indem man ihn lehrt,
sich selbst zu versorgen.
Man muß dabei vor allem hören, daß in dem Bild von dem Wolf all das
sich verkörpert, was wir «das Böse» nennen. Fernab der jüdischen Denk-
vorstellungen, am Rande der Steppe, können wir zur Ergänzung des mythi-
schen Bildes den Kommentar der germanischen Edda heranziehen, wo der
Wolf, der Fenriswolf, wie eine Urzeit- und Endzeitmacht mit seinem riesi-
gen Rachen bedrohlich lauert; er wird am Himmel die Sonne jagen und
töten4; er ist soviel wie die Verkörperung von allem Lichtzerstörenden, von
allem Todbringenden, von allem Unheilvollen. Und nun müßte man sagen:
Um einem Menschen wirklich zu helfen, geht es nicht anders, als daß man
sich im Prinzip all seiner Dunkelheit aussetzt, all seiner Verzweiflung, all
seiner Seelenumdüsterung. Wenn einem an einem Menschen in Not nicht
wirklich liegt, wird man vor seinen Dunkelheiten davonlaufen. – Man
wird sagen: «Das will ich nicht, das kann ich nicht, das ist mir zuviel.»
Wenn einem aber der andere Mensch etwas bedeutet, wird man mitten in
die Sonnenfinsternis hineingehen, unbedingt sogar, und zwar desto siche-
rer, je dunkler es ist, weil nur so dem anderen das Licht wiedergebracht
werden kann. Man wird, mythologisch gesprochen, die Sonne für den an-
deren im Maul des Wolfs suchen gehen; man wird, psychologisch gespro-
chen, hineingehen müssen in die Angst des anderen, die zitternd ist wie das
Herz eines Schafes angesichts einer Meute von Beutegreifern; man wird
sich seinen Ängsten stellen, gegenüber einer ganzen belagernden Welt,
gegenüber einer ganzen lebenverstellenden Umwelt, und es wird womög-
lich über lange Zeit hin für diesen anderen Menschen gegen seine Unruhe,

452
gegen seine Haltlosigkeit kaum einen anderen Bezugspunkt geben als den
einen, der es mit ihm wagt.
Von eben dieser Art war Jesus. Das ist der Grund, weswegen er hier im
Johannes-Evangelium sagt: Ich bin die Tür – weil nur durch eine solche
Haltung jemand zu sich selbst kommt und zu seinem Ursprung findet. Fragt
man indessen: «Woher denn kannst du das, Jesus?», so gibt er selber an die-
ser Stelle gleich die Antwort. Sie klingt bei Johannes wie floskelhaft, ist aber
alles andere als leicht dahingesagt; man muß sie leise, mit wenngleich einem
fast pathetischen Nachdruck lesen. – Der Grund ist: Ich kenne die Meinen.
Diese Vertrautheit, auf die wir schon hingewiesen haben, wird jetzt zu der
notwendigen Bedingung von allem; aber nun kommt noch etwas hinzu, auf
das wir in diesem Moment nicht vorbereitet sind: Ich, sagt der johanneische
Jesus, kenne die Meinen, und es kennen mich die Meinen, so wie mich der
Vater kennt und ich den Vater kenne. Das ist das Unglaubliche an der
ganzen Person dieses Jesus, daß er immer wieder von einem Bezugspunkt
herkommt, der aller Angst enthoben scheint, der ihn befähigt, ruhig zu sein
sogar an Stellen, an denen sonst der Boden schwankt wie unter den Stößen
eines Erdbebens, der ihn gelassen weitersprechen läßt, selbst wenn der
Atem der Menschen peitschend wird wie ein Sturm auf hoher See, der ihn
zärtlich bleiben läßt, selbst wenn ringsum sich die Hände ballen zu Fäusten.
Immer ist es der Verweis auf diesen anderen, den er seinen Vater nennt. Alle
Menschlichkeit, die Jesus uns zu ermöglichen kam, gründete offenbar darin,
daß er nicht unmittelbar auf das sah, was die Menschen tun, sondern daß er
in ihr Herz schaute mit den Augen dessen, der wollte, daß wir sind. Jenseits
der Menschenwelt beruhigt sich alles, – das war die alles entscheidende
Überzeugung Jesu; von dorther kam er, poetisch gesprochen in den Bildern
der Evangelien, wie vom «Berge» herab in die Niederungen der Menschen-
welt beziehungsweise, metaphysisch oder mythologisch gesprochen, wie
von einem anderen Stern auf diese kleine Erde; zur Beruhigung all unserer
Ängste wollte er uns den nahebringen, den er seinen Vater nannte und den
er schließlich, auferstanden von den Toten, sogar als unseren Vater bezeich-
nete (Joh 20,17).
Worte wie diese haben nichts mehr zu tun mit der Gründung einer
bestimmten Religion, mit der Prägung einer bestimmten Konfession, mit
der Etablierung einer bestimmten Institution. Gerade wer das Johannes-
Evangelium so interpretieren wollte, verstünde es gründlich falsch. All die
Innerlichkeit der Sprache dieses Vierten Evangelisten richtet sich gegen
die Verfestigung der «christlichen Lehre» zu seiner Zeit schon am Ende des
1. nachchristlichen Jhs. Genau die so praktisch scheinende Geistlosigkeit,

453
in der man anfängt, religiöse Erfahrungen zu ritualisieren, zu sakramenta-
lisieren, zu institutionalisieren, ist diesem Vierten Evangelisten fremd, der,
wie oft schon betont, von der Gnosis herkommt und der von Einsicht aus
Geist sich lenken läßt, wenn es um Glauben geht. Man mag eine solche
Einstellung griechisch nennen oder auch «humanistisch», doch dann muß
man hinzufügen, daß es sich hier um eine «Humanität» handelt, die getra-
gen wird von dem Atem Jesu selbst beziehungsweise von dem Wissen um
diesen absoluten Rückhalt, den Jesus «Vater» nennt. Nichts versteht vom
Menschen, wer nicht begreift, daß der Mensch selbst unendlich ist, daß es
deshalb nicht angeht, zu sagen: «Dies sind meine Schafe», nur um sie wie-
der für sein Terrain, für sein Revier, für seine «Zucht», für sein Marketing
zu reservieren. Wenn es um Menschen geht, muß man sehen, daß sie so
weit sind wie ihre Seele, – wie die See, aus der man das Salz gewonnen hat,
von dem die Menschen leben.
Und es sei, sagt der Jesus des Johannes-Evangeliums, eine Herde und ein
Hirt; es wird, mit anderen Worten, keine Trennung mehr sein zwischen
«meinen» Schafen, die da sind aus dem Judentum, und jenen anderen, die
da sind aus dem Heidentum; es wird fortan überhaupt nicht mehr die
Frage sein: «Bist du ein Jude oder ein Heide, bist du ein Samariter oder ein
Römer?»; die einzig wichtige Frage wird lauten: Was bist du für ein
Mensch? Und dann muß man alles noch einmal lesen: Wie weit setzt du
dich ein gegen den «Wolf»? Wieviel riskierst du zur Beruhigung von Angst?
Wieviel an Tröstlichem liegt in deinen Worten, bis ein anderer Mensch sich
leise bei seinem Namen gerufen fühlt? Religion, so verstanden, ist so offen
und so weit, daß man ihr ähnlich folgen muß wie die Schwalben dem Som-
mer: Es gibt für sie keine Grenzen, keine politischen Landkarten, keine Fe-
stungen, die zu verteidigen sich lohnte, es gibt für sie nur einen offenen
Himmel und die ziehenden Wolken und die leuchtende Sonne, und einzig
ihr Lichteinfall und ihre Temperatur bestimmen neben den Bildern der
Sterne und dem Erdmagnetfeld Richtung und Heimat der Zugvögel. Ganz
so sind auch wir Menschen nach der Überzeugung Jesu: stets dort zu
Hause, wo die «Sonne» ist. Da blühen die Menschen unter den Augen Jesu
wie die Dolden des Flieders im Mai – voller Schönheit, sobald die Strahlen
des beginnenden Sommers sie umspielen. So mochte es Jesus. Das war
seine Vorstellung von einer nichtentfremdenden, einer nichtentfremdeten
Religion.
Was wir da skizzieren, stellt im Grunde die einzige Widerlegung all der
Vorwürfe dar, die man religionspsychologisch seit dem 19., 20. Jh., voll-
kommen mit Recht, gegen die bestehende Form von Frömmigkeit im

454
Abendland erhoben hat. «Euer Gott», sagte man vor allem mit Sigmund
Freud, «ist nichts weiter als die Verfestigung eurer Kinderängste, er ist die
instrumentalisierte Unfreiheit in eueren infantilen Schuldgefühlen; ihr wer-
det nie erwachsen werden, solange ihr an einen solchen Popanz von Gott
glaubt.» Der Vater Jesu hingegen möchte, daß wir ins Weite hinausgehen
und Heimat behalten, bis daß wir zurückkehren und uns selber gehören,
frei, geliebt, mutig und stark.
Immer wieder muß man sich wundern, warum Johannes plötzlich, mit-
ten in diese Gedanken hinein, einem Zerreißen von Geigensaiten vergleich-
bar, die «Juden» zu tödlichem Widerspruch auftreten läßt. Natürlich rech-
net er in dieser Konfrontation religionsgeschichtlich mit dem Judentum
seiner Tage ab, und leider sind Passagen wie diese zur Weichenstellung in
den beginnenden christlichen Antijudaismus geworden. Aber fragen wir,
was denn «Judentum» für Johannes bedeutet, so muß man sagen: Es gibt
immer wieder in allen Religionen und zu allen Zeiten die «Gottesverwal-
ter», die «Gottesbesitzer»; gar nicht von den «Juden» sollten wir daher
sprechen, sondern von einem Typ der Religion, der immer im voraus be-
reits weiß, wer Gott ist, indem er den Menschen verachtet, ohne sich je die
Mühe zu machen, ihm auch nur ein einziges Mal richtig zuzuhören, der die
Gedanken Gottes immer schon kennt, indem er sich konsequent weigert,
mit Menschen, die leiden, mitzuempfinden.
Da gilt es immer wieder, wie stets am Ende einer johanneischen Rede,
sich zu entscheiden. Wieder und wieder setzt Johannes selber sein Entwe-
der-Oder: Entweder ist alles das, was dieser Jesus will, ein einziger Wahn,
eine permanente Überforderung, ein Beginn von Anarchie und von Rebel-
lion, ein Dokument der Verblendung auch – ein Mensch braucht nun mal
eine harte Führung, er muß nun mal eine Ordnung gezeigt bekommen, ihm
muß nun mal gesagt werden, wie die Gebote lauten, er benötigt nun mal
gewisse Satzungen –, dann folgt nichts weiter, als daß der Mann aus Naza-
ret selbst möglichst bald umgebracht gehört; dann ist er ein Wahnsinniger,
dann ist er, schlimmer, ein Teufelsbote, dann ist er selber erfüllt vom Satan,
und alles, was er denkt, ist ein Aufruhr der Hölle, ist nichts weiter als ein
widergöttlicher Angriff, als eine Lästerung, als eine Täuschung, als eine
Lüge; – doch das waren auch bereits die letzten Sätze im vorherigen Ab-
schnitt, am Ende von Johannes 9, bevor die Rede hier über den guten Hir-
ten überhaupt begann: «Solange ihr fortfahrt zu sagen: wir sehen, wo ihr
blind seid, gibt es für euch keine Rettung.» (Joh 9,41) Oder uns gehen die
Augen gerade jetzt auf, und wir müßten sagen: «Genau das war es, was
wir immer schon brauchten und immer schon wollten, aber nie hoffen

455
durften; es ist genau das, was wir dringend benötigten, um menschlich zu
leben.» Dann müßte man fragen wie die Leute hier: «Aber nicht doch!
Kann, wer der Blinden Augen öffnet, ein Aberbegeisteter sein, ein dämo-
nisch Besessener?» Sollte am Ende wieder alles unklar bleiben, und es wäre
tatsächlich, wie wir es im Markus-Evangelium (Mk 3,22) hören, möglich,
daß Menschen geheilt und aufgerichtet werden, – und all diese Wunder
lebendiger Menschlichkeit bewiesen lediglich, daß hier der Satan am
Werke ist, das Böse schlechthin?
Zugeben muß man: was hier vor sich geht, ist ein Aufstand gegen die
verfestigte Religion im ganzen. Natürlich ist es ein einziger Widerstand
gegen all die Menschenverwalter im Namen Gottes! Aber gerade das be-
deutet es, richtig zu sehen. Nur eins von beidem kann gelten; dazwischen
muß man wählen; dazwischen gibt es keinen zeitgestreckten Kompromiß,
etwa derart: leider sei die Religion heute halt noch so, aber sie werde sich
ja ändern, und morgen vielleicht schon, wenn wir nur geduldig zuwarte-
ten, könne sie bereits eine Kehrtwendung vollziehen. Gewiß, jedes tota-
litäre System besitzt die Fähigkeit, irrationale Entscheidungen zu produzie-
ren. Es war zum Beispiel möglich, daß in der Offiziersjunta um Gamal
Abdel Nasser plötzlich ein Anwar el Sadat entstand; es war möglich,
daß selbst im KGB ein Michail Gorbatschow geboren wurde; es ist an
sich möglich, daß sogar aus der CIA vielleicht noch einmal ein nicht-zyni-
scher, ein nicht-erdölbesessener Präsident hervorgeht – alles ist möglich.
Doch soll daraus folgen, wir müßten nur warten auf eine künftige Genera-
tion? Ein solches Ausweichen in die kommende Zeit, das sich weigern
würde, im Augenblick jetzt zu leben, indem es nur wie gebannt ausstarrte
auf ein bloß ersehntes Leben, ist nicht akzeptabel für das Johannes-Evan-
gelium, und es gilt auch nicht für den historischen Jesus aus Nazaret. Es ist
eine Entscheidung wirklich auf Leben und Tod, ob wir uns weiter etwas in
die Tasche lügen, indem wir uns darauf beschränken, daß jemand uns die
Freiheit erlaubt – wir wagen lediglich zu denken, was schon in der Zeitung
steht, wir reden mutig im Chor derer, die unsere Vorsprecher sind –, oder
ob wir unser Herz, unseren Verstand, unser Leben wagen und die Angst
überschreiten. Vielleicht gibt es gar keine «Wölfe»; vielleicht ist es, wie
manch eine Mutter ihr Kind tröstet: «Wovor du Angst hast, ist nur der
Schatten an der Wand, den du selber geworfen hast; da flackert eine Kerze,
und sie könnte an sich ganz beruhigend wirken; was du fürchtest, ist nur
dein eigenes Bild. Lerne zu träumen, mein Kind, lerne zu leben, mein Kind,
lerne die Liebe zu wagen.» So jedenfalls klingt die Sprache des «Vaters», als
dessen «Sohn» Jesus unsere Not besänftigen wollte.

456
Joh 10,22-42: Das Zeugnis der Werke und
das Zeugnis des Johannes
22Es fand damals das Tempelweihfest in Jerusalem statt; Winter
war es, 23und umher ging Jesus im Heiligtum in der Halle Salo-
mos (Apg 3,11). 24Da umringten ihn die Juden (die Gottesbesit-
zer) und sagten ihm: Wie lange noch hältst du unser Leben in
Spannung? Wenn du der Messias bist, sprich zu uns in offener
Rede. 25Geantwortet hat ihnen Jesus: Ich habe zu euch gespro-
chen, doch ihr vertraut nicht. Die Werke, die ich tue in der We-
sensart meines Vaters, die zeugen für mich (5,36). 26Jedoch ihr
vertraut nicht (6,64; 8,45-47), weil ihr nicht von meinen Scha-
fen seid. 27Meine Schafe – meine Stimme hören sie, und ich, ich
kenne sie, und sie folgen mir (Ps 95,7), 28und ich gebe ihnen
unendliches Leben (5,24), so daß sie nicht zugrunde gehen in
Weltzeit. Und nicht wird jemand sie entreißen meiner Hand
(6,37). 29Mein Vater, was er mir gegeben hat, – größer als alles
ist es, und niemand kann es entreißen der Hand des Vaters.
30Ich und der Vater sind eins.
31Wieder: sie schleppten Steine an, die Juden (die Gottesbesit-

zer), um zu steinigen – ihn (8,59)! 32Geantwortet hat ihnen


Jesus: Viele gefällige Werke habe ich euch gezeigt vom Vater
aus; wegen welches dieser Werke steinigt ihr mich? 33Geant-
wortet haben ihm die Juden (die Gottesbesitzer): Für ein gefäl-
liges Werk steinigen wir dich nicht, sondern für Gottesläste-
rung, weil doch du, Mensch, der du bist, dich selbst machst zu
Gott (5,18; Mt 9,3; 26,65). 34Geantwortet hat ihnen Jesus:
Steht nicht geschrieben in euerem Gesetz: «Ich habe gespro-
chen: Götter seid ihr» (Ps 82,6; Ex 7,1; 22,28)? 35Wenn er von
jenen als Göttern sprach, an die das Wort Gottes erging, und
wenn nicht aufgelöst werden kann die Schrift: – 36den der Vater
geheiligt und in die Welt gesandt hat, von dem sagt ihr: Du
lästerst Gott, weil ich gesagt habe: Gottes Sohn bin ich (5,18)?
37Wenn ich die Werke meines Vaters nicht tue, vertraut mir

nicht. 38Wenn ich sie aber tue, – selbst wenn ihr mir nicht ver-
traut, den Werken vertraut doch, damit ihr erkennt und aner-
kennt, daß in mir der Vater und ich im Vater. 39Da suchten sie
wieder ihn zu ergreifen (7,30), doch er entkam aus ihrer Hand
(8,59; Lk 4,30).
40Und er ging fort, wieder jenseits des Jordans an den Ort, wo

Johannes zum ersten Mal zum Taufen gewesen war (1,28), und
er blieb dort. 41Und viele kamen zu ihm und sagten: Johannes
hat zwar ein Zeichen nicht gewirkt, alles aber, was Johannes
von ihm gesagt hat, ist wahr gewesen (1,7f.34). 42Und viele
wurden vertrauend auf ihn – dort (7,31)!

457
Im Mittelpunkt des 10. Kapitels im Johannes-Evangelium spricht Jesus zu
den «Juden» (den «Gottesbesitzern») über die Form von Religion, die dem
Verhältnis zwischen Hirt und Herde gleicht; eine solche Beziehung ist
gewiß mißbrauchbar im Gefälle von Macht und Unterordnung, aber ge-
meint ist von dem johanneischen Jesus eine Gemeinschaft wechselseitigen
Vertrauens, ein Gerufenwerden beim eigenen Namen, ein wechselseitiges
Hören und Zueinandergehören, eine Verbundenheit mit Gott, wie Jesus
selbst sie als ein tiefes Gefühl der Geborgenheit wie zwischen einem Vater
und seinem Sohn vermittelt. Auch die zweite Hälfte dieser «Offenbarungs-
rede» weist in die gleiche Richtung.
Wir alle kennen das: Wir setzen einen Topf mit Wasser auf, um uns Kaf-
fee zu kochen, und wir beobachten, wie bei immer höheren Temperaturen
das Wasser anfängt zu brodeln; von einem bestimmten Punkt an hält es
inne, wie wenn es vor Aufregung verstummte, um dann sehr rasch in
einem Phasenwechsel kochend aufzuwallen. Könnten wir genau hinsehen,
so würden wir erkennen, daß sich in dem letzten Moment bestimmte Mu-
ster im Wasser bilden, Bénardsche Zellen, die sich spontan beim Durch-
fluß der Wärmeenergie formen. – So etwas ähnliches, übertragen ins Ge-
schichtliche, müssen wir uns in bezug auf die Botschaft Jesu bei der
Entstehung der Evangelien vorstellen. Ursprünglich war sie so etwas wie
ein murmelnder Bach, der sich zu einem immer breiteren Fluß erweiterte
und schließlich in einen großen Strom einmündete. Die Botschaft Jesu
wurde in einen ganz anderen Kulturkreis, in die Welt des Hellenismus,
übertragen, und sie wurde dort unter denselben Begriffen und Worten in
einer Art und Weise ausgelegt, die dem Ursprung fremd, mitunter sogar
entgegengesetzt ist. Sie hat dazu beigetragen, dem Wasser, das einmal auf
Erden floß, die Gestalt der Wolken zu verleihen und es weithin über das
Land treiben zu lassen, quer durch die Jahrhunderte und die Jahrtausende.
Niemand aber kann von ziehenden Wolken leben. Die Aufgabe eines
jeden, der das Johannes-Evangelium liest, muß darin bestehen, die Wolken
abregnen zu lassen, daß sie die Erde durchfeuchten. Unsere Frage muß es
deshalb sein, was denn die Begriffe, die Worte, die Gedanken, die Jesus im
Johannes-Evangelium in den Mund gelegt werden, ursprünglich einmal be-
deutet haben, was sie in dieser neuen, so ganz unjüdischen, hellenistischen
Welt damals besagten und was sie uns selber heute in einem noch einmal
ganz anderen Kulturkreis zu sagen vermögen.
Alles beginnt wie eine historische Erinnerung, hingeführt auf den Zwie-
spalt, der im 1. Jh. n. Chr. zwischen der frühen Gemeinde und dem Juden-
tum im Zentrum aller Auseinandersetzung stand: Wer war Jesus aus Naza-

458
ret? War er, wie die frühe Christengemeinde behauptete, der Messias, oder
war er es nicht? Ehe wir diese Frage ein Stück wenigstens von den Voraus-
setzungen damals her verständlich machen können, sollten wir voraus-
schicken, daß der historische Jesus allein schon die Vermutung, er sei der
Messias, brüsk abgelehnt hat. Im 8. Kapitel des Markus-Evangeliums (Mk
8,29.30) wird uns berichtet, daß er selbst seine Jünger einmal gefragt habe,
für wen die Menschen ihn hielten, und als Petrus ihm das Bekenntnis ange-
tragen habe: Du bist der Messias, habe er ihn zurückgewiesen: – nieman-
dem solle er so etwas sagen. Die Erzählung bei Markus verrät noch, daß
der Titel, Jesus sei der «Christus», zu seinen Lebzeiten undenkbar war und
erst nach seinem Todesich durchsetzte.
Vielleicht hat es sich wirklich so verhalten, wie manche Exegeten mei-
nen, daß man Jesus als «König» bekannt hat im Trotz zu dem Titel, der
ihm auf Golgota am Kreuz verliehen wurde. Da setzt der römische Proku-
rator als Schuldspruch fest, der Gekreuzigte sei «der König der Juden»; –
das ist eine römische Bezeichnung, die ein Jude so nie gebrauchen würde.
König von Israel – das wäre jüdisch; «König der Juden» – das ist der ver-
ächtliche Ausdruck aus römischer Sicht für jemanden, der Macht und Kö-
nigswürde erobern will, aber es nicht vermag, sie zu erringen. Bestraft wird
er deshalb ebensowohl für Aufruhr wie für Ohnmacht. Das eine ist der
Grund, das andere die Folge seines Hochmuts. Macht hat nur Rom. Daß
Jesus unter diesem Begriff: «König der Juden» verurteilt wurde – eine der
wenigen ganz sicheren historischen Tatsachen! –, muß all denen, die sich
ihm zu Lebzeiten angeschlossen hatten, in der Seele gebrannt haben: War
dieser makabre Titel, war die beabsichtigte politische Travestie nicht im
Grunde doch richtig? Jesus der König – das wollte er nie sein; aber ande-
rerseits: wer sind denn die, die sich in der Geschichte für Könige ausgeben?
– Sie anzuerkennen ist unmöglich, und es ist nach Golgota noch viel
unmöglicher, als es vorher je hätte sein können. Wenn irgend etwas das
menschliche Leben zu bestimmen vermöchte, bestimmen sollte, so daß es
zum Trost den Lebenden gereichen würde, so daß es einen Beitrag zu ihrer
Vermenschlichung leisten könnte, dann ist es und war es die Botschaft des
Jesus aus Nazaret. Muß man dann aber nicht entgegen aller Verdrehung
noch viel stärker betonen: er ist der König, der eigentliche König?
Muß man ihn dann aber nicht mit den Augen Gottes sehen, mit demsel-
ben Vertrauen, mit dem er Gott als seinen Vater den Menschen bringen
wollte? Schon recht bald, auf dem Boden bereits der palästinensischen Ge-
meinde, wächst der Glaube, daß Jesus, indem er starb, zu Gott «erhöht»,
das heißt zum König gemacht worden sei, so wie im Alten Ägypten je-

459
mand, der starb, zur Rechten der Sonne als Herrscher am Himmel bezie-
hungsweise im Himmel Platz nahm. Man hoffte, man flehte, man glaubte
glühend, daß Jesus seine Macht, seine Königswürde erzeigen werde im Un-
tergang dieser «Welt». Man war sich sicher: Das Ende würde sehr bald
kommen, und die Spanne Zeit bis dahin würde nur noch wie ein letztes
Atemholen währen. Man fieberte diesem Zeitpunkt entgegen; dann aber
dehnte die Zeit sich und dehnte sich. Es gibt schon im Markus-Evangelium
eine Reihe von Stellen, die zeigen, daß man nicht dabei stehen blieb, Jesus
gewissermaßen als den von Gott eingesetzten Messias, als den König am
Jüngsten Tag zu erwarten. Es war für diejenigen, die wirklich an ihn glaub-
ten, unvorstellbar, daß Jesus im Himmel nur sein sollte, um zu warten und
zu warten, gewissermaßen wie Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser, auf das
Erschallen der letzten Posaune. Diejenigen, die an ihn glaubten, sahen ihn
jetzt bereits an der Macht, und war er es nicht tatsächlich auch schon,
auch hier auf Erden?
Mit dieser Frage beginnt vor allem der dem Mann aus Nazaret vollkom-
men fremde Kulturkreis des Griechischen, des Hellenistischen, sich zu be-
schäftigen. Diejenigen, die dort für seine Botschaft gewonnen werden,
sehen schon in dem irdischen Jesus den König, den Messias, den Herrn,
und nicht einfach als den verborgenen, sondern als den, der sich vor allem
in seinen Werken geoffenbart hat. Das ist das Stichwort für das Johannes-
Evangelium: Man kann über die Person des Jesus aus Nazaret zwischen
Juden und – wir müssen jetzt sagen – griechischen Christen diskutieren,
debattieren, sich entzweien, aber es gibt ein Argument im Hintergrund des
Johannes-Evangeliums, über das man aus dieser Perspektive eigentlich
nicht streiten kann: das sind die «Wundertaten», die Jesus wirkte. Schon
bei Markus, schon bei Matthäus bereitet diese Sichtweise sich vor; und
fragt man: was sind denn das für Taten, in denen Jesus sich als König hätte
erweisen sollen, so sind es allesamt die Heilungen, die er vor allem an
Kranken wirkte. Nicht müde wird deshalb das Johannes-Evangelium, zum
Beispiel die Heilung des Blinden aus dem 9. Kapitel als einen solchen
«Beweis» dafür anzuführen, daß Jesus wirklich von Gott kam. «Wenn ihr
schon meinen Worten nicht glaubt, – wenn es keine Resonanz in eurem
Herzen hinterläßt, was ich sage, wenn all die Inhalte meiner Reden euch
nicht überzeugen», so scheint der johanneische Jesus zu sagen, «so achtet
und schaut doch auf das, was ich tue.» Das, was Menschen rettet, aufrich-
tet und heilt, muß doch von Gott sein! (Vgl. Joh 5,36!)
Setzen wir diese Einstellung einmal als gegeben voraus, so resümieren
wir in etwa die Theologiegeschichte der ersten Jahrzehnte nach dem Tode

460
Jesu bis gegen Ende des 1. Jhs. Die Frage aber bleibt: Was sagt diese Denk-
weise uns Heutigen? Wir sehen die Wolken am Himmel, aber wie erreichen
sie uns, daß sie zu Wasser zum Trinken werden, zu einem Element gegen
den Durst, zu einer Macht, die eine staubtrockene Erde in einen blühenden
Garten zu verwandeln vermag? Wir müssen alles, was das Johannes-Evan-
gelium uns hier mitteilt, symbolisch als eine Auseinandersetzung lesen, die
in uns selbst spielt.
Alles beginnt mit einer Orts- und Zeitangabe, so wie Johannes es liebt;
fast schon wie beiläufig, leichthin zu überlesen, fällt der Hinweis: Es fand
damals das Tempelweihfest in Jerusalem statt; Winter war es, und umher
ging Jesus im Heiligtum in der Halle Salomos. – Diese Angabe muß man
als sehr bedeutsam verstehen. Die Frage leitet sich ein, die aus dem Kreise
der «Juden» augenblicklich gestellt werden wird: «Bist du der Messias,
und wenn ja, dann sage es klar und frei heraus.» Der Messias kann nach
ihrer Vorstellung nur dort sein, wo das Königtum Israels selbst seinen Gip-
felpunkt erreichte: in Salomo. Er baute den ersten Tempel (1 Kön 6,1-38),
nach ihm wurde eine eigene Halle im Herodianischen Tempel benannt, –
die Einweihung des Heiligtums Gottes selbst ist mithin selbstverständlicher
Teil königlicher Repräsentanz.
Bezogen auf uns und unsere Tage, ergibt sich aus diesem Ansatz eine
sattsam bekannte Ideologie: Wenn jemand Gott beglaubigen will, dann
kann er es angeblich nur im Umraum der etablierten Macht. Eine Kathe-
drale aus der Zeit der Salier, der Staufer, ein Denkmal der Kunst- und Kul-
turgeschichte, zusammengefügt aus Macht und Geld, gesetzt in Prunk und
Schönheit – das ist, wenn dieser Gedanke gilt, in sich selbst ein Beweis für
Gottes Dasein und Sosein. Wer all diese kulturellen Errungenschaften
betrachtet, der kann nicht anders, als der Tradition des Abendlandes wie
einer Wahrheitsbeglaubigung des Göttlichen zuzustimmen. Da werden die
Menschen dahin gebracht, an eine Identität von Gottesmacht und Men-
schenmacht zu glauben, ganz so, als wenn die Größe Gottes sich bestätigen
müsse in der Größe der Herrscher. Die göttliche Macht gilt da für um so
stärker, als sie sich selbst in die mächtigen Hände der Machthaber auf
Erden gibt; denn beide sind eins, – so dieser archaische Glaube! Jesus in
der Halle Salomos, Jesus im Heiligtum Gottes – wenn er der Messias sein
sollte, dann muß er als König sich in dieser Weise und in keiner anderen
beglaubigen!
Wie für Johannes typisch, fügt er indessen der Ortsangabe noch eine
«Temperaturangabe» hinzu, indem er wie beiläufig erwähnt: Winter war
es. Ohne Zweifel möchte er damit sagen: Dieses ganze Denken, obwohl es

461
in unglaublichem Prunk sich präsentiert und obwohl es über lange Zeiten
der Menschheitsgeschichte hinweg tradiert wurde, bietet doch an keinem
Ort der Erde wirkliches Leben, es ist der Gefrierzustand von allem, es ist
der Kältetod der ganzen Welt. Schon deshalb darf es so nicht bleiben. Ge-
rade der Jesus, der hier wie ein Eindringling im Tempel erscheint, während
er in der Halle Salomos umhergeht, wird das ganze Dekor, das ganze Am-
biente hinwegtun und von ihm nichts weiter übriglassen als seine Person,
die sich durchscheinend macht auf Gott hin, als seine Worte, mit denen er
Vertrauen schenkt in die Macht, die möchte, daß wir sind, als seine Taten,
durch die er Wunder wirkt, indem er Kranke heilt. Da freilich fleht der
Jesus des Johannes-Evangeliums seine Hörer (uns also!) an, zu suchen nach
der Resonanz-«Schwingung», welche er in uns erzeugen kann, und es läuft,
wie stets, auf ein Entweder-Oder hinaus: diejenigen, die seine – Jesu –
«Schafe» sind, werden wie blind alles verstehen, alle anderen aber werden
nichts begreifen, nichts sehen, nichts hören.
Wir müssen, um zu diesem maßgebenden Identifikationspunkt zurück-
zukehren, noch einmal von dem sprechen, was Jesus wenige Sätze zuvor –
gleichfalls überliefert im 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums – verkün-
det hat. Er meinte dort: «Ich bin der Hirt, der gute. Der Hirt, der gute,
setzt sein ganzes Ich ein für die Schafe; – ich bin nicht jemand, der sie als
Mietling geliehen bekommt, um selbst Profit aus ihnen zu ziehen; mir liegt
an den Schafen, und man kann es sehen daran, daß ich mich einsetze für
sie bis zum äußersten. Der gute Hirt gibt für sie sein Leben, wenn der Wolf
kommt; ein Mietling wird fliehen.»
Es gibt in der Literaturgeschichte eine berühmt gewordene Erinnerung
an eine solche Szene, in der ein Wolf kommt und ein verängstigtes Kind
von einem Bauern getröstet wird. Der Mann, der sich nach Jahrzehnten
dieser Begebenheit erinnert und darin den Schlüssel zum Verstehen der
ganzen Welt entdeckt, ist der russische Dichter Fjodor Michailowitsch
Dostojewski. Er war als «Westler», als Freigeist im zaristischen Rußland,
angeklagt und verurteilt worden und hatte vier Jahre in einem Zuchthaus
in Sibirien zuzubringen. Oft genug wird er später, etwa in den Aufzeich-
nungen aus einem Totenhaus, schreiben, daß eine Strafe, die nach dem
schematischen Zeitmaß der gesetzlichen Festlegung verhängt wird, schon
dadurch Unrecht schaffen muß, daß sie über ganz unterschiedliche Men-
schen gleichermaßen erlassen wird1. Vier Jahre Haft – das mag für einen
Menschen, roh von Gemüt, nicht schwer erträglich sein, für einen anderen
aber, der schon den normalen Alltag aufgrund seiner Sensibilität nur mit
Mühe übersteht, bedeutet eine solche Zeit die reine Hölle. Allein schon die

462
«Gleichheit» vor dem Gesetz, allein schon die blind verbundenen Augen
der Göttin der Gerechtigkeit, die niemals die Menschen anschaut, über
denen sie zu Gericht sitzt, bewirkt Unrecht über Unrecht.
Dostojewskis Not im Ostrog in Sibirien war es vor allem, daß er sich
so weit entfernt fühlte von den Menschen, die ihn umgaben, von Leuten,
die kaum lesen und schreiben konnten, die fluchten und ihm als roh er-
schienen, die ihre unglaublichen Geschichten von Mord, Eifersucht und
Gewalt fast mit Stolz erzählten; er litt darunter noch mehr als unter der ei-
gentlichen Verbannung.
Dann aber war es am zweiten Ostertag, wie er es im Tagebuch eines
Schriftstellers später beschreibt, daß ihm ein Ereignis aus der Kindheit vor
das geistige Auge trat2. Als Junge war er einmal am Rande eines von dem
Bauern Marei, einem Leibeigenen seines Vaters, bestellten Feldes in den
angrenzenden Wald hinübergegangen – blühende Wiesen, duftende Bäume,
singende Vögel –, als er plötzlich den Ruf zu vernehmen glaubte: «Ein
Wolf kommt!», und er, völlig aufgelöst vor Angst, rannte und rannte um
sein Leben, gerade auf den Bauern Marei zu. «Der Wolf kommt! Der Wolf
kommt!» Der Bauer Marei aber sprach ihn nur an: «‹Geh doch! Wo denn?
Was für’n Wolf soll denn – … Ist dir ja nur so vorgekommen! Wo soll denn
hier ein Wolf herkommen …›, sprach er halblaut in den Bart, wie um mich
zu beruhigen. – Ich aber zitterte noch immer am ganzen Leibe, klammerte
mich noch fester an seinen Bauernkittel und war wohl sehr bleich. Er be-
trachtete mich mit unruhigem Lächeln; offenbar war er um mich besorgt.
‹Sieh mal an! Hast du dich aber erschreckt! Ai-ai!› sagte er und schüttelte
den Kopf. ‹Genug schon, Jungchen, nun laß gut sein!› Er streckte die Hand
aus und streichelte plötzlich meine Wange. ‹Nun, schon gut, Jungchen!
Christus ist mit dir; mach’n Kreuz!› – Doch ich bekreuzte mich nicht.
Meine Mundwinkel zuckten. Das schien ihn besonders zu wundern: lang-
sam erhob er seinen dicken, mit Erde beschmutzten Mittelfinger und
berührte vorsichtig meine zitternden Lippen. ‹Sieh mal an! So was! Ai-ai!›,
sagte er lächelnd, ‹Herrgott! Das ist doch …!› – Endlich begriff ich, daß der
Schrei: ‹Ein Wolf kommt!› in meiner Phantasie entstanden war … ‹Jetzt
werde ich gehen›, sagte ich endlich, nachdem ich etwas Mut gefaßt hatte,
doch blickte ich Marei noch fragend und schüchtern an. ‹Nu, jetzt geh nur;
ich werde dir nachsehen. Ich werde schon aufpassen, daß der Wolf dich
nicht kriegt!› fügte er mit demselben mütterlichen Lächeln hinzu. ‹Nun,
Christus sei mit dir, jetzt kannst du ruhig gehen!› … – Ich ging, schaute
mich aber fast alle zehn Schritte nach ihm um. Marei stand mit seinem
Stutchen und sah mir nach, und jedesmal nickte er mir zu, wenn ich mich

463
nach ihm umsah … Als ich danach von Marei nach Hause gekommen war,
hatte ich niemandem von meinem ‹Abenteuer› erzählt. Und was war es
denn auch für ein Abenteuer? Und auch den Marei hatte ich bald ganz ver-
gessen … Diese Begegnung (hatte sich) ohne meinen Willen in meiner Seele
bewahrt und war dann in meinem Gedächtnis in einem Augenblick auf-
getaucht, als es nottat; ich erinnerte mich an das zärtliche, mütterliche
Lächeln des armen leibeigenen Bauern, an das Bekreuzen mit seiner
Hand … Und wie er vor Verwunderung den Kopf wiegte: … ‹Du hast dich
aber erschreckt, Jungchen!› Und besonders an seinen dicken erdbe-
schmutzten Finger erinnerte ich mich … Natürlich hätte auch jeder andere
ein erschrockenes Kind beruhigt, aber hier bei dieser einsamen Begegnung
geschah gleichsam noch etwas ganz Anderes; selbst wenn ich sein eigener
Sohn gewesen wäre, hätte er mich nicht mit innigerer Liebe und wärmerem
Blick ansehen können, wer aber hieß ihn das tun? Er war unser leibeigener
Bauer und ich doch immerhin der Sohn seines Besitzers; niemand würde es
erfahren, daß er so mütterlich zu mir gewesen war, niemand ihn dafür
belohnen. Oder liebte er vielleicht so sehr kleine Kinder? Das gibt es. Aber
die Begegnung geschah in der Einsamkeit, auf freiem Felde, und nur Gott
allein hat vielleicht von oben zugesehen, mit wie tiefem und allwissendem
Menschengefühl, mit wie spürsinniger, nahezu weiblicher Zärtlichkeit das
Herz manch eines tierisch unwissenden leibeigenen russischen Bauern
erfüllt sein kann, eines Bauern, der doch damals von seiner Befreiung noch
nicht einmal träumen konnte … – Als ich danach von meiner Pritsche auf-
stand und um mich schaute, fühlte ich plötzlich, ich weiß es noch, daß ich
diese Unglücklichen neben mir mit ganz anderem Blick betrachten konnte,
und daß auf einmal wie durch ein Wunder jeder Haß und jede Wut aus
meinem Herzen verschwunden waren. Ich ging und beobachtete aufmerk-
sam die Gesichter, denen ich begegnete. Dieser Kerl mit dem rasierten
Schädel und dem gebrandmarkten Gesicht, der betrunken mit heiserer
Stimme sein Lied grölt, kann doch vielleicht auch so ein Marei sein; ich
kann ihm ja nicht ins Herz sehen! Am gleichen Abend begegnete mir noch
einmal der (unglückliche) Pole. Er konnte schon keine Erinnerung an ir-
gend welche Mareis haben und auch keine andere Ansicht über all diese
Menschen als: ‹Je hais ces brigands!› (Ich hasse die Kerle!) Nein, die Polen
haben damals doch viel mehr auszustehen gehabt als wir!»
Was Dostojewski hier als die Stunde seiner Wesensverwandlung schil-
dert, des Beginns, ein Christ zu werden, seiner Auferstehung im «Toten-
haus», hat damit zu tun, daß es – im Bilde des Johannes-Evangeliums ge-
sprochen – einen «Hirten», einen Bauern, russisch gesprochen, gibt, der da

464
ist, wenn der «Wolf» kommt, und es spielt keine Rolle, ob in der Wirklich-
keit draußen oder in der Wirklichkeit drinnen. Religiös ist die Gestalt des
«Wolfes» allemal ein Inbegriff für den Abgrund aller Ängste, die wie ein
offener Rachen uns verfolgen und zu verschlingen drohen. Dagegen hat
Jesus seine Haltung eines Vertrauens gesetzt, die sich durch nichts weiter
beglaubigt außer durch das, was er seinen «Vater» – mit Dostojewski
müßte man sagen: Mütterlichkeit – nennt. Es ist nichts anderes, als einen
Menschen, der in Angst vor uns steht, mit einer tiefen Ruhe zu streicheln,
bis daß seine fieberheiße Stirn nicht länger die Wirklichkeit durch Alp-
träume ersetzt; es gilt, die eigene Hand, mag sie noch so schwer, verarbei-
tet und verschmutzt sein, auf ihn zu legen wie einen Schutz, wie einen
Segen, und ihn zurückkehren zu lassen in sein Leben, begleitet mit Augen,
die über ihn wachen.
Wo irgend so etwas geschieht zwischen zwei Menschen, geschieht alles
von dem, was Jesus uns Menschen sein und bedeuten, schenken und anver-
trauen wollte. Das ist es, wovon er spricht, wenn er sich den Hirten nennt
und die Menschen seine Schafe und weswegen er sich selber bezeichnet als
den Sohn seines Vaters. Das, was er uns von Gott bringen wollte, ist nichts
anderes als der Bezugspunkt für ein unendliches, unzerstörbares Ver-
trauen. Deshalb kann der johanneische Jesus sagen: Ich und der Vater sind
eins, so wie man, in die Sonne schauend, nicht zu unterscheiden vermag
zwischen der Wärme und dem Licht, das sie spendet, und dem Gestirn
selbst, das sich in dem fließenden Strom aus Energie bis auf die Erde hin
weitergibt, sich dabei verströmend an ein ganzes Universum. Ich und der
Vater sind eins soll hier heißen: «Ich lebe aus dem Vertrauen, daß Gott
unser Vater ist, und möchte nichts anderes, als daß es euch berührt bis hin
zu dem fast schon gewissen, ja, sogar sicher gewordenen Gefühl, aus sei-
nen Händen nie mehr fallen zu können.»
Das Wort des Johannes-Evangeliums, das dieses Versprechen ausdrückt,
lautet immer wieder (wie in Joh 5,24): Wer mein Wort hört und glaubt
dem, der mich ausgesandt, hat unendliches Leben, «ewiges Leben», wie
man auch sagt.
An dieser Stelle ist das griechisch geschriebene Johannes-Evangelium un-
glaublich weit von der griechischen Denkweise entfernt, die im Schatten
kirchlicher Dogmen auf uns gekommen ist. Wenn wir hören von «unendli-
chem Leben», so sind wir dahin erzogen worden, das Wort uns nach der
Weise griechischer Metaphysik vorzustellen: «Unendliches Leben» – das ist
die unsterbliche Seele! Der Körper, wie jeder Mensch weiß, stirbt, aber die
Seele in ihm verläßt ihn und bleibt unauflöslich. Wie ein Vogel seinem

465
Käfig entflieht, so das Geistige dem Gefängnis des Körpers; im Tode hebt
es sich auf und fliegt zurück in die göttliche Welt am Himmel. So dachten
die Alten Ägypter, so übersetzte es Platon, so fand es Eingang in die frühe
Literatur der Kirchenväter, und so hat es sich gehalten in der Vorstellungs-
welt der Gläubigen bis heute. Aber gerade diese Vorstellungswelt ist nicht
das, woraus Jesus lebte, was jüdisch gefühlt und geglaubt wurde, und es ist
auch nicht das, was Johannes hier sagen möchte. An dieser Stelle spricht er
immer noch ganz und gar jesuanisch-jüdisch. – Man kann den Unterschied
im Empfinden vielleicht am ehesten deutlich machen, wenn man den
Mann, der, aus dem Alten Griechenland kommend, der Person des Jesus
unzweifelhaft am nächsten stand, vergleicht mit der Person des Nazareners
selbst und den sich abzeichnenden Kontrast in zwei kleinen Szenen veran-
schaulicht.
Als Sokrates als Gotteslästerer, als Verderber der Jugend, als Aufrührer
des Geistes von den Athenern zum Tode verurteilt worden war, saß er im
Gefängnis am Tag vor seiner Hinrichtung im Kreis seiner Schüler, und Pla-
ton beschreibt im Dialog Phaidon, wie das Abschiedsgespräch zwischen
ihm und den Schülern verlief3: Sokrates blieb vollkommen gelassen ange-
sichts des sicheren Todes. Die Möglichkeit zur Flucht, welche die Schüler
ihm eröffneten, schlug er lächelnd aus: Die Gesetze Athens wird er befol-
gen, wenngleich er Zweifel setzt an die Weisheit derer, die sie auslegen;
doch was soll ein solcher Umstand einem Manne bedeuten, der sein Leben
damit hingebracht hat, darüber nachzusinnen, woraus ein Mensch geistig
lebt! Ein nachdenklicher Mensch kann wissen um den Unterschied von
Gut und Böse, er kann wissen, daß es besser ist, Unrecht zu leiden als Un-
recht zu tun; er kann vor allem wissen, daß in ihm nicht nur die Stimme
Gottes ist, sondern auch eine unsterbliche Seele, die im Tod hinübertreten
wird unter die Augen der wahren Richter des menschlichen Lebens. – So-
krates soll im Gefängnis von Athen seinen Schülern noch einmal die
Gründe dargelegt haben, die ihn so hoffnungsvoll stimmten, an eine un-
sterbliche Seele zu glauben. «Aber ist denn», fragt Simmias ihn, «die Seele
nicht gerade soviel wie der Ton, den eine Leier hervorbringt? Es ist aber
möglich, den Ton zu unterscheiden von der Leier, und ebenso dann doch
auch den Geist vom Körper; zerreißt man aber die Saiten der Leier, vergeht
dann nicht auch mit ihnen der Ton – und ist es nicht gerade so mit der Zer-
störung des Körpers: vergeht dann nicht auch die Seele?» – Sokrates wird
darauf antworten, daß es eine Leier nur gebe, um Töne hervorzubringen,
und daß die Idee einer Leier, daß die Komposition eines Musikstücks sich
der realen Leier nur bediene als eines flüchtigen Instruments, um sich

466
selbst aufzuführen, um hörbar zu sein auf Erden; aber der Ton selber exi-
stiere auch, wenn es keine Leier als Klangkörper für ihn gebe. Ganz so ver-
halte es sich mit der Seele: Die Götter hörten sie immer, auch ohne Leier,
und die ganze Kunst des menschlichen Lebens bestehe darin, auf Erden
schon die Stimme der Götter zu vernehmen.
Zuversichtlich wird Sokrates in dieser Überzeugung den Schierlingsbe-
cher trinken. Er wird sich vorher sogar noch waschen, damit die Totenwä-
scher mit ihm nicht zuviel Arbeit haben. Keine Angst wird ihn heimsuchen,
so groß ist sein Vertrauen, daß es im Menschen selber etwas gibt, das un-
zerstörbar und unsterblich ist.
Ganz anders begreifen wir den Gedanken des Johannes-Evangeliums an
dieser Stelle: Mein Vater, was er mir gegeben hat, – größer als alles ist es,
und niemand kann es entreißen der Hand des Vaters. Hier streiten sich die
Textkritiker. Die normale Übersetzung, wenn auch schwach gestützt durch
die Textzeugen, lautet: Der Vater, der es mir gegeben hat, ist größer als
alles. Nehmen wir den Text aber, wie er am besten bezeugt dasteht, dann
hätte Jesus sinngemäß hier gesagt: «Es gibt kein größeres Geschenk als
das, welches mir von Gott, der (m)ein Vater ist, gemacht wurde, und was
er da geschenkt hat, wird niemand zerstören können: Es ist das Vertrauen,
daß diejenigen, die sich meinem Weg, meinem Wort, meiner Nähe anver-
trauen, nie mehr seinen noch meinen Händen entgleiten können, was
immer auch geschehen wird.»
Man versteht, daß hier nicht ein metaphysischer «Beweis» formuliert
wird, wir seien als Menschen unsterblich; es geht ganz im Gegenteil um ein
Sich-Bergen voller Angst in einer Hand, die uns hält. Die Rede ist, dem
Bilde nach, von dem kleinen Kind Dostojewski, das in seiner Not zu dem
Bauern Marei flieht; alle Zuversicht liegt da nicht in dem, was ein Mensch
sich selber sagen kann, sie liegt einzig in diesem Fluchtpunkt eines Behütet-
seins, von dem die Hoffnung ausgeht: Er wird uns nie mehr entzogen wer-
den.
An dieser Stelle dürfte die johanneische Deutung der Person Jesu auch
historisch zutreffen. Jesus lehrte einen Gott, der so sei, daß wir uns ihm
anvertrauen könnten in allem. Und nach der Hinrichtung Jesu, nach sei-
nem Sterben unter dem Titel «König der Juden», ergibt sich daraus für die
frühe Gemeinde, daß jeder, der sich ihm anschließt, in einen Raum der
Geborgenheit eintritt, in dem er völlig anders sein und leben kann, als er es
je sonst zu sehen vermocht hätte. Wo vorher Haß und Gewalt regierten,
können jetzt Güte und Freiheit wachsen. Wo vorher die Angst vor dem Tod
alle menschlichen Beziehungen in Konkurrenz zuspitzte und verhärtete,

467
wächst nun eine Weite in Weltzeit – ins «Äonische». Diese Weite jetzt
schon zu leben vermittelt ein Gefühl für ein Unendliches an Zeit und wirkt
beruhigend in das diesseitige Leben zurück. Losgelöst davon vollzieht sich
alles Leben in der Zeitachse unentrinnbar nach vorn, und es verformt sich
zu einem ständigen Alptraum: wir haben keine Zeit, denn der Tod kommt
hinter uns her, und das Ende steht uns immer vor Augen. Dagegen setzt
sich jetzt dieses jesuanische Weltempfinden, das sich ins Unermeßliche ver-
längert. Alles beruhigt sich in diesem Schutz und in dieser Gewißheit. Die
Unsterblichkeit der Seele ist dabei weder Argument noch Motiv für ein sol-
ches Leben in dem Grundgefühl letzter Geborgenheit, sondern umgekehrt:
das Grundgefühl der Geborgenheit begründet die Hoffnung, die Daseins-
form «ewigen Lebens».
Wir können diese Überzeugung aus eigenem Erleben immer wieder be-
stätigen. Menschen haben sich mit achtzehn, mit zwanzig Jahren ineinan-
der verliebt, und sie werden immer wieder diese Frage stellen: «Was wird
aus uns werden? Was kann noch alles kommen? Was wird sein in Krank-
heit oder wenn die beruflichen Anforderungen uns auseinanderreißen? Die
Wechselfälle im Leben sind so unkalkulierbar, und unsere Liebe ist wie
eine Flamme, die man einem Sturm aussetzen muß, ohne zu wissen, wie
man sie schützen soll.» – Als Antwort auf diese Not können wir uns beteu-
ern, einander nie zu verlassen; doch gerade diese Versicherung erhebt die
Religion zur Überzeugung mit ihrer Verheißung eines ewigen Lebens. Das
soll heißen: Selbst wenn es den Tod gibt, ändert das doch nichts an unserer
Liebe. Selbst die äußerste Infragestellung des Lebens, der Tod selbst,
wird nicht ankommen gegen den Trost einer unverbrüchlichen Zu-
sammengehörigkeit. Aus dem Gefühl der Geborgenheit in einem mütterli-
chen beziehungsweise väterlichen Schutzraum bildet sich ein Vertrauen,
das den Tod nicht mehr kennt, weil es vom Tod nicht mehr berührt wird.
Das ist die johanneische Art, die Botschaft des Jesus aus Nazaret für Grie-
chen zu deuten; was Johannes vertritt, ist nicht die metaphysische Lehre
von der Unsterblichkeit der Seele, was er vermitteln möchte, ist die Unend-
lichkeit eines Vertrauens, das es nicht länger zuläßt, unser Leben als sterb-
lich hinzunehmen.
Kaum aber sagt Jesus, wie dicht verbunden er sich mit Gott fühlt, der
ihm doch alles ist: Licht und Wasser und Brot und Wein, da heben die
Juden wieder (wie in Joh 8,59) Steine auf, um ihn zu töten. Was Jesus da
sagt über seine Einheit mit Gott, ist für sie eine Gotteslästerung. Umsonst,
daß Jesus hinweist auf die «gefälligen», das heißt auf die längst überfälli-
gen Werke, die er getan hat. Für ein gefälliges Werk steinigen wir dich

468
nicht, erklären seine Gegner, sondern für Gotteslästerung, weil doch du,
Mensch, der du bist, dich selbst machst zu Gott. Natürlich, historisch ge-
sehen, besteht diese «Gotteslästerung» in der «Christologie» der frühen
Kirche, darin, daß man Jesus, einen Menschen, zum Sohn Gottes erklärt
hat; aber wir haben schon mehrfach gesagt: die Benennung «Sohn Gottes»
ist nur die Weiterführung des Titels eines Königs in der Antike. Das Johan-
nes-Evangelium versucht an dieser Stelle an eine Überzeugung anzuknüp-
fen, die auch schon im Alten Testament, im Judentum selber, sporadisch
ausgesprochen wurde – Götter seid ihr, heißt es da in einer Psalmenstelle
einmal (Ps 82,6): die Menschen, mit denen Gott selber redet, werden zu
Königssöhnen, werden zu Prinzen, um wieviel mehr da der, den Gott selber
sandte, um uns mit diesem Gefühl der Würde eines «königlichen» Ge-
sprächspartners Gottes auszustatten! Gott redet mit uns – das ist wieder
dieses Grundgefühl, aus aller Daseinseinsamkeit herausgeholt worden zu
sein, das ist die Erfahrung, inmitten des Empfindens der Leere und der
Sinnlosigkeit angesprochen zu werden, das ist die Entdeckung, als etwas
an sich Überflüssiges und Unbedeutendes mitmal Anerkennung und
Wertschätzung zu finden. Der König redet mit dir – das ist ein beliebtes
Märchenmotiv. Der König sucht gerade dich – das ist ein phantastisches
Haremslied wie in Ps 45,12; doch gerade dieser Sehnsuchtstraum soll sich
erfüllen in der Botschaft des Jesus aus Nazaret. Ein jeder soll denken: Gott
redet mit mir.
Das ist erneut das Gleichnis von dem Hirten und seinen Schafen: Wie
der Hirt ein jedes der Tiere kennt und es bei seinem Namen ruft (Joh 10,3),
so verhält es sich mit Gott in bezug auf uns. Ein jeder von uns ist gemeint,
ein jeder, mit anderen Worten, trägt in sich ein bestimmtes Portrait, ein
bestimmtes Bild seiner Schönheit und Bedeutung; Gott ruft ihn gerade in
dem, was als Kostbarstes in ihm angelegt ist, auf daß er es entfalte und
hervorbringe. Nur die Liebe vermag so etwas in dem Raum unserer Erfah-
rung, aber immer weist alle Liebe unter uns Menschen hin auf jene Liebe,
die uns im Vorlauf zu allem eint und überstrahlt. Wie anders verläuft unser
Leben, wenn wir nur erst wissen: es gibt einen anderen, es gibt Gott als
den schlechterdings anderen, und er möchte, daß wir sind, er freut sich mit
unserer Freude, er ist glücklich über unser Glück, er leidet mit unserem
Leid, und er begleitet uns mit seinen Augen wie der Bauer Marei auf dem
Feld jenen kleinen verängstigten Jungen, der, mit seinen Worten im Ohr,
fast schon getröstet nach Hause ging.
Eine solche Deutung zeigt, daß auch das Wort von der «Gottessohn-
schaft» sich so auslegen läßt, daß es für Juden und Muslime gut verständ-

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lich sein könnte. Gerade im islamischen Kulturraum ist der Name: Ab-
dullah oder Abd-el – Knecht Gottes sehr beliebt, und man müßte nur hin-
zufügen, daß auch im Neuen Testament mit dem «Namen» Sohn Gottes
an sich mehr nicht gemeint ist. Doch an dieser Stelle wird es selbst dem
johanneischen Jesus nicht gelingen, den Vorwurf der Gotteslästerung abzu-
wehren. Quer durch das Johannes-Evangelium und quer durch die Zeiten
erhebt sich immer wieder die Frage, an welch eine Art von Gott wir denn
glauben. Entweder es ist möglich, Gott so nah zu spüren, daß wir seine
Kinder, seine Söhne, seine Töchter, sind, Gottes Söhne, Gottes Töchter wir
alle und Jesus Gottes Sohn gerade darin, daß er uns eben dieses Vertrauen
bringen wollte – dann ist zwischen Gott und Mensch kein Widerspruch
mehr, nur eine vollkommene Vertrautheit und Harmonie der Liebe –, oder
aber es gilt gerade ein solches Vertrauen für lästerlich und vermessen, dann
muß man denken, Gott verliere von seiner Herrschaft, ihm werde an Ehre
abgetragen bei so viel Zutraulichkeit, bei solcher Zudringlichkeit, bei einer
derartigen Maßlosigkeit der Gotteszumutung; Gott muß dann für einen
erhabenen Herrscher gelten, und wer frech genug sein sollte, sich an den
Wächtern vorbei, an der Palastwache vorüber, in die Nähe seines Thrones
zu begeben, und wollte ihn belästigen mit seiner Anwesenheit und seinem
Geplärr, der verdiente zweifellos jegliche Strafe. Nur wer da pünktlich bei
der Fronarbeit seine Pflicht tut, lebt wirklich für Gott, der allein mit sich in
einem pharaonischen Palast wohnt, unerreichbar für jeden gewöhnlichen
Bittsteller. In einer solchen Religion bedarf es deshalb ständig der Vermitt-
ler, der Beamten, der Hofschreiber, der Fronaufseher, der Arbeitseinteiler,
braucht es des ganzen hierarchischen Kirchenapparates. In einer solchen
Religion ist das Heiligtum Gottes an einem bestimmten Ort in «Jerusalem»
gelegen, und Jesus wird in der Halle Salomos immer wieder zu steinigen
sein, eben weil er den Winter zu vertreiben gekommen ist.
Theologisch wird oft gesagt, daß Jesus selbst in den Tod habe gehen
wollen im Gehorsam zu Gott. Davon weiß das Johannes-Evangelium gar
nichts. Im Gegenteil: Ein zweites Mal flieht Jesus; er entkommt der Steini-
gung, und er begibt sich zurück an den Anfang; noch einmal beginnt alles
von vorn. Johannes der Täufer hat es richtig geahnt: Auch er war ein
Jude, auch er stammte aus demselben Denken, aus dem Jesus kam, aber
er wußte, daß Gott sich nur findet außerhalb des Tempels, abseits von
Jerusalem, jenseits des Jordans, in einem Neubeginn reinen Vertrauens.
Menschen, die sich Gott so überantworten, daß sie es wagen, von vorn an-
zufangen, jenseits aller Routine, jenseits aller aufgezwungenen Konven-
tionen, Traditionen, Gebote und Normen des Allgemeinen, und die sich

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Gott in die Hand geben ganz so, wie sie sind, auf Gedeih und Verderb,
werden erleben, daß Glück möglich ist, wo es bisher verstellt schien, daß
Freiheit wachsen kann, wo bis dahin nur der Zwang regierte, daß Leben
möglich ist, wo der Tod selbst sich verwaltete. Johannes der Täufer hat es
geahnt! Er selber vermochte es nicht zu wirken, sagt der Evangelist im
Munde der Leute, die sich Jesus anschließen, aber gesagt und geahnt hat er
es schon.
In Jesus geht deshalb weiter und tritt in die Wahrheit, was der Täufer
versuchte. Das Christentum hat für den entscheidenden Neuanfang, den
Jesus ermöglichte, das Symbol der Taufe übernommen, doch es hat dieses
an sich wunderbare Bild sakramentalisiert und ritualisiert als ein Erlö-
sungszeichen für kleine Kinder. Was aber wäre, es ereignete sich das Ge-
meinte mitten in unserem Leben, und wir, dreißigjährig geworden, fünfzig-
jährig geworden, siebzigjährig geworden, entdeckten diesen Frühling des
Lebens am Ende eines langen Winters noch einmal neu, und an die Stelle
von sehr viel Angst träte ein Aufbruch in Zuversicht und eine wachsende
Güte des Einverständnisses mit dem eigenen Leben und mit dem aller an-
deren? Es wäre eine Dostojewskische Osteroffenbarung: jeder dieser
Menschen, jeder dieser verurteilten Verbrecher, trägt in sich einen Bauern
Marei, ein Stück Güte, das nur noch nie dazu kam, einen anderen Men-
schen zu trösten, aber es steckt ja in ihm und wartet nur darauf, entdeckt
zu werden. Verstehen statt verurteilen, begleiten statt abschieben, beisam-
men sein statt ausschließen, ein ewiges Leben in der Hand dessen, von dem
wir nie mehr getrennt werden – das ist die ganze Botschaft Jesu, das ist die
Zusammenfassung aller Hoffnung, das ist eine Auseinandersetzung freilich
auf Leben und Tod. Aber wer da noch denkt, er habe eine Wahl, irrt; den
Tod kann man letztlich nicht wählen, man kann nur darunter leiden, daß
er immer wieder übermächtig in uns haust; aber um so stärker kann man,
ja, muß man daran glauben, daß Jesus kommen wird, uns bei der Hand zu
nehmen und hinüberzuführen in seinen Schafstall, uns alle, an einen Ort
des Vertrauens, da wir zu Hause sind auf immer.

471
Anmerkungen

Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» – 1. Teil

1 Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde (Le Mythe
de Sisyphe, Paris 1942), übers. v. H. G. Brenner – W. Rasch (1950), komm. v. L. Rich-
ter, Hamburg (rde 90) 1959
2 Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit (13. Jh.), eingef.
v. Margot Schmidt, mit einer Studie von Hans Urs von Balthasar, Einsie-
deln–Zürich–Köln 1955
3 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Bd., welcher
die Ergänzungen zu den vier Büchern des ersten Bandes enthält (21844), hrsg. v.
A. Hübscher: Sämtl. Werke Bd. 3, Wiesbaden 1949, Kapitel 28: Charakteristik des
Willens zum Leben, 398–411, S. 403–404
4 F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow (Bratja Karamazovy, 1880), übers. v. K.
Noetzel, München (GGTb. 478–479; 480–481) 1958, 11. Buch, 4: Eine Hymne und
das Geheimnis, 733–748, S. 739–741
5 Leo Tolstoj: Macht der Finsternis oder: Wenn du einem Vogel die Krallen fesselst,
ist er ganz verloren, Drama in 5 Aufzügen (1886), übers. v. August Scholz, in: Dra-
men, Hamburg (rk 203–204) 1966, S. 5–66

Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» – 2. Teil

1 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Ur-
faust, hg. u. komm. v. E. Trunz (Goethes Werke, Bd. 3, Hamburger Ausgabe), text-
kritisch durchgelesen und kommentiert, Hamburg 101976, 1. Teil, Studierzimmer,
Vers 1224–1227
2 Gerhard Kittel: «Wort» und Reden im NT, in: Theologisches Wörterbuch zum
Neuen Testament, Bd. IV, hg. v. G. Kittel, Stuttgart 1942, 100–147
3 Zur Kategorie des Anfangs vgl. E. Drewermann: Strukturen des Bösen, Bd. 1:
Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer Sicht, Paderborn (1978), 101995,
S. XVIII–XXXI
4 Martin Kuckenburg: … und sprachen das erste Wort. Die Entstehung von Sprache
und Schrift. Eine Kulturgeschichte der menschlichen Verständigung, Düsseldorf
1996
5 Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923), Ges. Werke, Bd. 13, London 1940,
235–289, S. 246–255
6 Zit. n. S. K. Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus
und in der Kunst (Philosophy in a New Key, Cambridge 1942), übers. v. A. Löwith,
Frankfurt 1965
7 E. Drewermann: Der sechste Tag. Die Herkunft des Menschen und die Frage nach
Gott. Glauben in Freiheit, Bd. 3: Religion und Naturwissenschaft 1. Teil,
Zürich–Düsseldorf 1998, 111–148: Vom homo erectus zum homo neanderthalensis,
S. 144–145

473
8 In Wirklichkeit ist der Spracherwerb unmittelbar an die Gehirnreifung gebunden,
vgl. Manfred Spitzer: Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln,
Heidelberg–Berlin 2000, S. 197–203
9 E. Drewermann: Im Anfang … Die moderne Kosmologie und die Frage nach Gott.
Glauben in Freiheit, Bd. 3: Religion und Naturwissenschaft, 3. Teil: Kosmologie und
Theologie, Düsseldorf–Zürich 2002, 55–84: Die Entstehung des Sonnensystems
oder: Von Planeten, Monden und Kometen, S. 69–77
10 E. Drewermann: … und es geschah so. Die moderne Biologie und die Frage nach
Gott. Glauben in Freiheit, Bd. 3: Religion und Naturwissenschaft, 2. Teil: Biologie
und Theologie, Zürich–Düsseldorf 1999, 259–262: Die Welt des Dionysos
11 F. W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800), hg. v. Ruth-Eva
Schulz, Einl. v. Walter Schulz, Hamburg (Ph. B. 254) 1957, 6. Hauptabschnitt,
§ 1–3: 281–298: «Die postulierte Anschauung (sc. die Kunstanschauung, d.V.) soll
zusammenfassen, was in der Erscheinung der Freiheit, und was in der Anschauung
des Naturprodukts getrennt existiert, nämlich Identität des Bewußten und Bewußt-
losen im Ich und Bewußtsein dieser Identität.» (S. 281)
12 Leo Tolstoj: Wovon die Menschen leben (1881), übers. v. A. Eliasberg, in: Sämtli-
che Erzählungen, hg. v. G. Drohla, 3 Bde., Frankfurt/M. 1961, Bd. II 386–412
13 Alexander Solschenizyn: Krebsstation (Rakovyj korpus, London 1968), übers. v.
C. Auras, A. Jais u. I. Tinzmann, Neuwied–Berlin 1969; Reinbek (rororo 1395;
1437) 1971, Buch 1, 8. Kapitel, S. 90–100
14 Wolfgang Wickler – Ute Seibt: Prinzip Eigennutz. Ursachen und Konsequenzen
sozialen Verhaltens, Hamburg 1977
15 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Bd. (1819), hg. v.
A. Hübscher, Sämtliche Werke, Bd. 2, Wiesbaden 1949
16 Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (On the
Origin of Species by Means and Natural Selection or The Preservation of Favoured
Races in Struggle for Life, London 1859), übers. v. C. W. Neumann, Nachw. v.
G. Heberer, Stuttgart (reclam 3071–3080) 1974
17 Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, nach der von Walther Kranz
hg. 8. Aufl., eingel. v. G. Plamböck, Hamburg (rk 10) 1957, 21–31: Herakleitos aus
Ephesos, Fr. 53: «Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er
als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu
Freien.»
18 Ludwig von Bertalanffy: Die Evolution der Organismen, in: D. Schlemmer:
Schöpfungsglauben und Evolutionstheorie, Stuttgart 1956, 53–56
19 Karl Kerényi: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, München–Wien 1976,
Einleitung: Endliches und unendliches Leben in der griechischen Sprache, S. 13–18
20 Rudolf Bultmann: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Ham-
burg (rde 157–158) 1962, 152–162: Die Gnosis
21 Marie Noel: Erfahrungen mit Gott (Notes intimes, 1920–1958), übers. v. Agnes
Heitzer, Mainz 1961, Vorw. v. K. Pfleger, 168; 172
22 Adolf von Harnack: Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Eine Mono-
graphie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche (Berlin 11920);
Darmstadt 1985, 97–106: Der Weltschöpfer, die Welt und der Mensch; 121–143:
Der Erlösergott als der gute Gott, seine Erscheinung in Jesus Christus und das Werk

474
der Erlösung. Die Berufung des Apostels Paulus; E. Drewermann: Glauben in Frei-
heit oder Tiefenpsychologie und Dogmatik, 1. Bd.: Dogma, Angst und Symbolismus,
Solothurn–Düsseldorf 1993, 227–244
23 S. o. Anm. 21, S. 168
24 Irene Nicholson: Mexikanische Mythologie (Mexican and Central American
Mythology, London 1967), übers. v. Ursula Buhle, Wiesbaden (Vollmer Verlag) o. J.,
32–38: Die Entstehung der Musik
25 E. Drewermann: Milomaki oder vom Geist der Musik. Eine Mythe der Yahuna-
Indianer, Olten– Freiburg 1991, 22

Joh 1,1-18: «Im Anfang war das Wort» – 3. Teil

1 Franz Kafka: Der Prozeß (Berlin 1925), hg. v. Max Brod, Frankfurt (Fischer EC 3)
1958, 9. Kapitel: Im Dom, 144–161
2 M. Lidzbarski: Ginza, der Schatz oder das große Buch der Mandäer, Göttingen
1925; Helmuth von Glasenapp: Die nichtchristlichen Religionen, Frankfurt/M.
(Fischer Lexikon 1) 1957, 235–236
3 Erich Fromm: Der Staat als Erzieher. Zur Psychologie der Strafjustiz (1930), in: Ge-
samtausgabe, Bd. 1: Analytische Sozialpsychologie, Stuttgart 1980, 7–10; ders.:
Zur Psychologie des Verbrechers und der strafenden Gesellschaft (1931), in: A.a.O.,
11–30; ders.: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie (1934),
in: A.a.O., 85–109

Joh 1,19-34: Das Bekenntnis des Täufers

1 Martin Buber: Ich und Du (Leipzig 1923), in: Werke, 1. Bd.: Schriften zur Philo-
sophie, München–Heidelberg 1962, 77–170
2 Martin Buber: Königtum Gottes (Heidelberg, 3verm. 1956), in: Werke, Bd. 2:
Schriften zur Bibel, München–Heidelberg 1964, 5. Kap.: JHWH der Melekh,
608–626, S. 621–624
3 Blaise Pascal: Über die Religion und einige andere Gegenstände (Pensées, postum
1669), übers. v. E. Wasmuth, Stuttgart 3(erw. u. neu bearb.) 1954, Nr. 555, S. 247:
«Du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht besäßest.»

Joh 1,35-51: Von der Nachfolge oder: Zwei Arten von Berufung

1 Peter Stripp: Rote Erde. Familiensaga aus dem Ruhrgebiet, Bottrop 2001
2 Sören Kierkegaard: Einübung im Christentum (Indövelse i Christendom. Af Anti-
Climacus, Kopenhagen 1850), in: Werkausgabe, II, Düsseldorf–Köln 1971, übers. v.
Emanuel Hirsch, S. 5–307, Nr. 1, Das Halt: IV: Das Christentum als das Unbedingte,
die Gleichzeitigkeit mit Christus, S. 69–74, S. 71: «Denn im Verhältnis zum Unbe-
dingten ist nur eine Zeit: die Gegenwart; wer nicht gleichzeitig ist mit dem Unbe-
dingten, für den ist es nicht da.» Die «dreihundert, siebenhundert, fünfzehn-, sieb-
zehn-, achtzehnhundert Jahre tun nichts ab und nichts zu.» «Das Vergangene ist

475
nicht Wirklichkeit: für mich; nur das Gleichzeitige ist Wirklichkeit für mich. Womit
du gleichzeitig lebst, ist Wirklichkeit: für dich.»
3 Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen
Ontologie (L’être et le néant. Essai d’ ontologie phénoménologique, Paris 1943),
übers. v. J. Streller, K. A. Ott u. A. Wagner, Reinbek 1962, 3. Teil: Das Für-andere,
1. Kap.: Der Blick, S. 338–397

Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 1. Teil: Die Verwandlung des Lebens

1 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral (1887), in: Sämtliche Werke: Jen-
seits von Gut und Böse, Stuttgart (Kröner Tb. 76) 1991, mit einem Nachwort von
Walter Gebhard, 237–412, 1. Abhandlung, 10, S. 263: «Der Sklavenaufstand in der
Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werke ge-
biert.» – Die Deutung von der Freude, die Jesus mit dem Weinwunder in das Leben
armer Leute gebracht habe, vertrat F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow
(Bratja Karamazovy, 1880), übers. v. K. Noetzel, München (GGTb. 478–479;
480–481) 1958, 3. Teil, 7. Buch, 4: Die Hochzeit zu Kana, 462–467
2 Karl Kerényi: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, München–Wien 1976,
78–85: Zagreus; 85–111: Ariadne: «Wie Dionysos die archetypische Wirklichkeit der
zoé (sc. des Lebens, d.V.) ist, ebenso ist Ariadne die archetypische Wirklichkeit der
Beseelung, der Gewährung dessen, was ein Lebewesen zu einem Einzelwesen macht
… Das Götterpaar Dionysos und Ariadne, in der Vereinigung von zwei archetypi-
schen Bildern, spielt uns das ewige Eingehen und Durchgehen der zoé in die Entste-
hung und durch die Entstehung der einzelnen Lebewesen vor.» (110–111)
3 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (1885), in: Sämtliche Werke: Jen-
seits von Gut und Böse, Stuttgart (Kröner Tb. 76) 1991, 3–236, Nr. 295, S. 232:
«Unter Umständen liebe ich den Menschen … der Mensch ist mir ein angenehmes,
tapferes, erfinderisches Tier … Ich bin ihm gut: ich denke oft darüber nach, wie ich
ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist … auch
schöner.»
4 Heinrich Zimmer: Indische Mythen und Symbole (Myths and Symbols in Indian
Art and Civilization, 1942), übers. v. Ernst Wilhelm Eschmann, Düsseldorf–Köln
1972, 137–209: Shivas kosmisches Entzücken
5 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen
(1885), in: Sämtliche Werke, Stuttgart (Kröner Tb. 75) 1988, mit einem Nachwort
von Walter Gebhard, 4. Teil, Das trunkene Lied 12, S. 359
6 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1871),
mit einem Nachw. v. Hermann Glockner, Stuttgart (reclam 7131/32) 1952, 1. Kap.,
S. 24: «Der edelste Ton, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen,
der Mensch, und zu den Meißelschlägen des dionysischen Weltenkünstlers tönt der
eleusinische Mysterienruf: ‹Ihr stürzt nieder Millionen? Ahnest du den Schöpfer,
Welt?›»
7 Stefan Zweig: Rausch der Verwandlung. Roman aus dem Nachlaß, hg. u. mit
Nachbemerkungen versehen von Knut Beck, Frankfurt/M. 1982

476
Joh 2,1-12: Die Hochzeit zu Kana – 2. Teil: Das Wunder der Verwandlung

1 Marie Noel: Erfahrungen mit Gott (Notes intimes, 1920–1958), übers. v. Agnes
Heitzer, Mainz 1961, Vorw. v. K. Pfleger, 161
2 A.a.O., 78 (in freier Wiedergabe)

Joh 2,13-25: Die Tempelreinigung oder: Von Götzendienst und Gottesdienst

1 E. Drewermann: Jesus von Nazareth. Befreiung zum Frieden. Glauben in Freiheit,


Bd. 2, Düsseldorf–Zürich 62001, 458–467: «Ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle
gemacht» (Mk 11,17) – Die Tempelreinigung oder: Das Ende der Geduld
2 Girolamo von Savonarola: Predigten und Schriften (Prediche, 1495), übers. v.
A. Leinz u. Dessauer, Salzburg 1957
3 Martin Luther: Die Ablaßthesen und die Resolutionen (1517–1518), in: Die Werke
Luthers in Auswahl, hg. v. Kurt Aland, Bd. 2: Der Reformator, Stuttgart 1962,
32–82, Nr. 86, S. 80: «Der Papst ist heute vermögender als der reichste Krassus;
warum baut er da nicht wenigstens diese eine Peterskirche lieber mit seinem eigenen
Geld als mit dem seiner armen Gläubigen?»
4 Meister Eckhart: Predigten und Schriften, ausgew. u. eingel. von Friedrich Heer,
Frankfurt/M. (Fischer Tb. 124) 1956, 173–178: Die Tempelreinigung: «Seht, dies
nun sind alles Kaufleute, die … Gott zu Ehren ihre verdienstreichen Werke tun … –
und sie doch nur darum tun, daß ihnen unser Herr etwas dafür gebe oder daß ihnen
Gott dafür etwas zuliebe tue: dieses sind alles Kaufleute.» (S. 174)

Joh 3,1-13: Das Nachtgespräch mit Nikodemus oder: Der Wind weht, wo er will

1 Peter Crawford: Nomaden des Windes. Paradies Polynesien (Nomads of the


Wind. A Natural History of Polynesia, BBC Books 1993), übers. von Hasso Rost,
Köln 1995, Kap. 5: Nomaden des Windes, S. 109–131
2 Platon: Der Staat (Politeia), in der Übers. v. Friedrich Schleiermacher mit der Ste-
phanus-Numerierung hg. von W. F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck, in: Sämtliche
Werke, Bd. 3, Reinbek (rk 27, 27a) 1958, 67–310, VII. Buch, Kap. 1–5 (514a–521b),
S. 224–229
3 Hector Malot: Heimatlos (Sans Famille, dessins par É. Bayard, Paris 1878),
Wien–Heidelberg 1975; eine sechsteilige französische Fernsehverfilmung des Buches
mit Petula Clark als der wahren Mutter von Rémi strahlte das ZDF Ende der acht-
ziger Jahre aus.
4 Joseph Roth: Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht (1927), München (dtv 1408) 1978,
Kap. XIX, S. 74–81 (sinngemäß wiedergegeben)
5 Katholischer Erwachsenen-Katechismus. 2. Bd.: Leben aus dem Glauben, hg.
von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1995, 135: «Mancher meint, er sei
mündig, wenn er das tut, was den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen ent-
spricht. Ein anderer glaubt, Mündigkeit bestehe darin, daß er sich von jeder ‹Bevor-
mundung› durch Autoritäten, Gesetze und Normen löse und sich frei selbstverwirk-
liche.» Demgegenüber bemüht sich der Katechismus um ein «rechtes» Verständnis

477
der Begriffe «Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung» «in Jesus Christus und
in seiner Kirche». (S. 19)
6 F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow (Bratja Karamazovy, 1880), übers. v.
K. Noetzel, München (GGTb. 478–479; 480–481) 1958, 2. Teil, 5. Buch, Kap. 5:
Der Großinquisitor, S. 307–328

Joh 3,14-21: «der habe unendliches Leben»

1 Jean-Marie Chauvet – éliette Brunel Deschamps – Christian Hillaire: Grotte


Chauvet. Altsteinzeitliche Höhlenkunst im Tal der Ardèche (La Grotte Chauvet à
Vallon-Pont-d’Arc, Paris 1995), übers. v. Kathrin Wüst, Nachw. v. Jean Clottes,
hg. mit einem Vorw. von Gerhard Bosinski, Sigmaringen 1995
2 E. Drewermann: Strukturen des Bösen, Bd. 2: Die jahwistische Urgeschichte in psy-
choanalytischer Sicht, Paderborn (1977) 61988, 69–152
3 Mircea Eliade: Schmiede und Alchemisten (Forgerons et Alchimistes, 21976),
übers. von Emma von Pelet, nach der neuesten franz. Ausgabe bearb. u. ergänzt von
Rolf Homann, Stuttgart 21980
4 Nigel Davies: Die Azteken. Meister der Staatskunst – Schöpfer hoher Kultur (The
Aztecs. A History, London 1973), übers. v. Stasi Kull, Reinbek (rororo 6950) 1976,
214–215: «Die armen Gefangenen, ordnungsgemäß angemalt und mit Federn
geschmückt, wurden in endlosen Schlangen auf den drei Hauptdämmen (sc. von
Tenochtitlan, d.V.) aufgestellt, die vom Norden, Süden und Westen in die Stadt
führten, während eine vierte Reihe östlich bis ans Ufer der Lagune reichte. Es
sollen 80 400 gewesen sein, wie von verschiedenen Quellen wiederholt berichtet
wird. Aber eine derartige Unmenge von Menschen in einer etwa 300 000 Einwohner
zählenden Stadt zu töten, erscheint uns heute als eine glatte Unmöglichkeit … Im
vorliegenden Fall scheint selbst eine Zahl von 8400 noch weit übertrieben.» Immer-
hin: «Die Opferung dauerte vier ganze Tage. Als Ahuitzotl und seine fürstlichen
Kollegen vom Aufschneiden der Brustkörbe der Opfer müde wurden, übernahmen
die Priester an deren Stelle die Opfermesser. Ströme von Blut ergossen sich überall …
Am fünften Tag (sc. erst, d.V.) hatte die Schlächterei ein Ende.»
5 Peter Milger: Die Kreuzzüge. Krieg im Namen Gottes, München 1988, 117–120:
Albert von Aachen: «Nach dem fürchterlichen und blutigen Hinmorden der Saraze-
nen, von denen dort (im Tempel) zehntausend erschlagen wurden, kehrten die Chri-
sten siegreich vom Palast der Stadt zurück und machten nun viele Scharen von Hei-
den, die in ihrer Todesangst versprengt durch die Gassen irrten, mit dem Schwert
nieder. Weiber, die in die befestigten Häuser und Paläste geflohen waren, durchbohr-
ten sie mit dem Schwert. Kinder, noch saugend, rissen sie an den Füßen von der
Brust der Mutter oder aus den Wiegen und warfen sie an die Wand und auf die
Türschwellen und brachen ihnen das Genick. Andere machten sie mit den Waffen
nieder, wieder andere töteten sie mit Steinen. Kein Alter und kein Geschlecht der
Heiden wurde verschont. Wer zuerst in ein Haus oder einen Palast eindrang, behielt
diesen in seinem Besitz, mit allem Gerät, mit Getreide, Gerste, Wein und Öl, Geld
und Kleidern und allen Besitztümern. So wurden die Pilger Herren und Besitzer der
ganzen Stadt.» (S. 119)
6 Christian Fürchtegott Gellert: Sämtliche Fabeln und Erzählungen. Geistliche

478
Oden und Lieder, Nachw. v. Herbert Klinkhardt, Stuttgart (Mohn-Verlag) o. J.,
S. 265: Die Liebe des Nächsten:
So jemand spricht: Ich liebe Gott!
Und haßt doch seine Brüder,
Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott,
Und reißt sie ganz darnieder.
Gott ist die Lieb, und will, daß ich
Den Nächsten liebe, gleich als mich.
7 Tacitus: Annalen XV 44 spricht davon, daß Kaiser Nero die Schuld am Brande
Roms den Christen gab, die er «mit den ausgesuchtesten Martern» strafte. «Es
waren jene Leute, die das Volk wegen ihrer (angeblichen) Schandtaten haßte und
mit dem Namen ‹Christen› belegte. Dieser Name stammt von Christus, der unter Ti-
berius vom Procurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war. Dieser verderbliche
Aberglaube war für den Augenblick unterdrückt worden, trat aber später wieder
hervor und verbreitete sich nicht nur in Judäa, wo er aufgekommen war, sondern
auch in Rom, wo alle Greuel und Abscheulichkeiten der ganzen Welt zusammen-
strömen und geübt werden. Man faßte also zuerst diejenigen, die sich öffentlich als
Christen bekannten, dann auf deren Anzeige hin eine gewaltige Menge Menschen.
Sie wurden wegen der Brandstiftung als des Hasses gegen das ganze Menschen-
geschlecht überführt.» – Darüber hinaus berichtet Plinius der Jüngere: Aus dem
Alten Rom. Ausgewählte Briefe, übers. u. mit Nachw. versehen von Mauritz Schu-
ster, Stuttgart (reclam 7787) 1957, 70–73: Brief an Kaiser Trajan, Nr. 96 von seinem
Vorgehen bei den gerichtlichen Verhandlungen gegen die Christen, deren «Verge-
hen» nach ihrer Aussage einzig darin liege, «an einem bestimmten Tage vor Sonnen-
aufgang» zusammenzukommen und «im Wechselvortrag ein Loblied auf Christus
als unseren Gott» zu singen und sich «durch einen feierlichen Eid … zur Unterlas-
sung von Diebstahl, Raub, Ehebruch, Treuelosigkeit und Unterschlagung anvertrau-
ten Gutes» zu verpflichten. Flavius Josephus: Jüdische Altertümer, übers., eingelei-
tet und mit Anmerkungen versehen von Heinrich Clementz, Wiesbaden (Fourier
Verlag) o.J., XVIII 3,3, S. 515–516 spricht von Jesus als einem «Vollbringer ganz un-
glaublicher Thaten und … Lehrer aller Menschen», doch ist die Stelle mit Sicherheit
von einem Späteren in christlicher Absicht interpoliert. A.a.O. XX 9,1, S. 667
spricht Josephus von Jakobus, dem «Bruder des Jesus, der Christus genannt wird».
Andere antike Hinweise auf die historische Existenz Jesu existieren außerhalb des
Neuen Testamentes nicht.
8 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen
(1885), in: Sämtliche Werke, Stuttgart (Kröner Tb. 75) 1988, 4. Teil, Das trunkene
Lied, S. 351–359, Nr. 1, S. 352: «‹War das – das Leben?› will ich zum Tode spre-
chen. ‹Wohlan! Noch einmal!›»
9 Khalil Gibran: Jesus Menschensohn. Seine Worte und Taten berichtet von Men-
schen, die Ihn kannten (Jesus – The Son of Man. His Words and His Deeds as told
and recorded by those who knew Him), übers. v. Ursula Assaf-Nowak, Olten 1988,
161–163

479
Joh 3,22-36: Aus dem Himmel oder aus der Erde?

1 Stephen J. Gould: Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur
(Wonderful Life, New York 1989), übers. v. F. Griese, München–Wien 1991
2 Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom (geschrieben zwischen 1942–1944:
I–XII, 1946: XIII–XX), Frankfurt/M. 1949, Kap. XII, S. 194–216
3 Kurt Heinrich Hansen: Go down Moses. 100 Spirituals und Gospel Songs. Origi-
naltext und deutsche Fassung, übertragen und eingeleitet, Hamburg (Furche Stun-
denbuch Bd. 26) 1963, 138–141: Swing low, sweet chariot, Comin’ for to carry me
home – Schweb herab, süßer Wagen, Komm und bring mich nach Haus.
4 Georges Bernanos: Tagebuch eines Landpfarrers (Journal d’un Curé de campagne,
1936), übers. v. Jakob Hegner, Zürich 1975, 178: «Trotzdem kann ich Ihnen versi-
chern, daß es nicht ein Reich der Lebenden und daneben ein Reich der Toten gibt.
Es gibt nur das Reich Gottes, und lebend wie tot sind wir alle in ihm.» (Vgl. Rom
14,8.). S. 304: «Was macht das schon aus? Alles ist Gnade.»
5 Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch, 1. Buch: Vom mönchischen Leben (1899),
in: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke,
besorgt durch Ernst Zinn, 1. Bd., Frankfurt/M. 1955, 249–301, S. 268

Joh 4,1-42: Die Frau am Jakobsbrunnen oder: Stufen der Wahrheit

Zur Auslegung der Erzählung vgl. E. Drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese,


2 Bde., Olten 1985, II 686–697.
1 Vgl. Helmuth von Glasenapp: Die nichtchristlichen Religionen, Frankfurt/M.
(Fischer Lexikon 1) 1957, 235–236
2 F. M. Dostojewski: Der Jüngling (Podrostok, 1875), übers. v. E. K. Rahsin (Mün-
chen 1957), Frankfurt/M. (Fischer EC 6) 1960, Nachw. v. A. Naumann, 2. Teil, 1.
Kapitel, IV, S. 213–218, S. 215: «hat der Mensch sich satt gegessen, so denkt er nicht
mehr daran; im Gegenteil, er wird sofort sagen: ‹So, nun hab ich mich sattgegessen,
und was soll ich jetzt tun?› Die Frage bleibt ewig offen.»
3 Hermann Oldenberg: Buddha. Sein Leben. Seine Lehre. Seine Gemeinde (1881),
hg. v. Helmuth von Glasenapp, München (GGTb 708–709) 1961, 220; 432
4 F. M. Dostojewski: Der Jüngling, s. o. Anm. 2, 3. Teil, 7. Kapitel, III, S. 462–466:
«ich konnte nicht umhin, ihn (sc. Christus, d.V.) mir schließlich unter den (sc. im
Atheismus, d.V.) verwaisten Menschen vorzustellen, wie er zu ihnen kommt, ihnen
die Hände entgegenstreckt und sagt: ‹Wie konntet ihr Seiner (sc. Gottes, d.V.) ver-
gessen?› Und da fällt es gleichwie eine Binde von den Augen aller, und es ertönt die
große begeisterte Hymne der neuen und der letzten Auferstehung …»

Joh 5,1-18: Die Heilung des Gelähmten oder: Der Sabbat Gottes

1 Sigmund Freud: Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen (1909), in: Gesammelte


Werke, VIII London 1943, 5. Vorlesung, 52–60, zur «Flucht in die Krankheit»;
ders.: Hemmung, Symptom und Angst (1926), Gesammelte Werke XIV, London
1948, 111–205, S. 127; 193, zur Lehre vom sekundären Krankheitsgewinn.

480
2 Dante Alighieri: Die göttliche Komödie (La Comedia, entstanden 1307–1321;
Erstdruck: Mantua 1472), übers. v. Konrad Falke, Wiesbaden (Löwit-Verl.) o. J.,
Die Hölle, 3. Gesang, Vers 7–9, S. 12: «Vor mir ward nichts in dieser Welt erschaf-
fen, / Wenn Ewiges nicht; und selber daur’ ich ewig. Laßt, die ihr eingeht, alle Hoff-
nung fahren!»
3 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1819), Zürich 1975, Nr. 187: Der Hase
und der Igel, S. 761–767

Joh 5,19-30: Auferstehung zum Leben

1 George Orwell: 1984 (Nineteen eighty-four, London 1949), übers. v. K. Wagenseil,


Stuttgart 1950
2 Jan Assmann: Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, 408–418: Das
Mundöffnungsritual, S. 413–414; Albert Champdor: Das ägyptische Totenbuch in
Bild und Deutung (Le Livre des Morts, 1977), übers. v. Holger Fließbach, bearb. u.
hg. von Manfred Lurker, Bern–München–Wien 1977, 34–35
3 Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch, 1. Buch: Vom mönchischen Leben (1899),
in: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke,
besorgt durch Ernst Zinn, 1. Bd., Frankfurt/M. 1955, 249–301, S. 260–261

Joh 5,31-47: Vertrautet ihr Mose, vertrautet ihr mir

1 Henrik Ibsen: Gespenster. Ein Familiendrama in drei Akten (Gengangere, Kopen-


hagen 1881), in: Dramen, 2. Bd., München 1973, Nachw. Otto Oberholzer, nach
der Ausg. der «Sämtlichen Werke», in deutscher Sprache, 1898–1904, hg. v. Georg
Brandes, Julius Elias u. Paul Schlenther, S. 5–67
2 Rainer Maria Rilke: Die frühen Gedichte (21909), in: Sämtliche Werke, hg. vom
Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn,
1. Bd., Frankfurt/M. 1955, 143–200, S. 200
3 Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein aus fünfzehn Zettelkästen gezogen; nebst
einem Musteil und einigen Jus de tablette (1796), hg. v. Eduard Berend (Weimar
1930), Nachw. v. Ralph-Rainer Wuthenow, Stuttgart (reclam 164) 1972, Musteil für
Mädchen, Der Tod eines Engels, 45–50, S. 45

Joh 6,1-21: Brotvermehrung und Seewandel oder: Großzügiges Geben und furchtloses Gehen

1 Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, Roman in 4 Teilen: 1) Die Geschichten
Jakobs, Berlin 1933; 2) Der junge Joseph, Berlin 1934; 3) Joseph in Ägypten, Wien
1936; 4) Joseph der Ernährer, Stockholm 1943; Gesamtausgabe (Stockholm–Am-
sterdam 1948), 3 Bde., Frankfurt–Hamburg (Fischer Tb. 1183–1185) 1971, 1. Bd.,
2. Hauptstück: Jaakob und Esau, Mondgrammatik, S. 89–90 bemerkt bei den Schil-
derungen Eliezers, «daß des Alten Ich sich nicht als ganz fest umzirkt erwies, son-
dern gleichsam nach hinten offenstand, ins Frühere, außer seiner eigenen Individua-
lität Gelegene überfloß und sich Erlebnisstoff einverleibte, dessen Erinnerungs- und

481
Wiedererzeugungsform eigentlich und bei Sonnenlicht betrachtet die dritte Person
statt der ersten hätte sein müssen. Was aber heißt denn hier ‹eigentlich›, und ist etwa
des Menschen Ich überhaupt ein handfest in sich geschlossen und streng in seine
zeitlich-fleischlichen Grenzen abgedichtetes Ding? Gehören nicht viele der Elemente,
aus denen es sich aufbaut, der Welt vor und außer ihm an, und ist die Aufstellung,
daß jemand kein anderer sei und sonst niemand, nicht nur eine Ordnungs- und Be-
quemlichkeitsannahme, welche geflissentlich alle Übergänge außer acht läßt, die das
Einzelbewußtsein mit dem allgemeinen verbindet? Der Gedanke der Individualität
steht zuletzt in derselben Begriffsreihe wie derjenige der Einheit und Ganzheit, der
Gesamtheit, des Alls, und die Unterscheidung zwischen Geist überhaupt und indivi-
duellem Geist besaß bei weitem nicht immer solche Gewalt über die Gemüter wie in
dem Heute, das wir verlassen haben, um von einem anderen zu erzählen, dessen
Ausdrucksweise ein getreues Bild seiner Einsicht gab, wenn es für die Idee der ‹Per-
sönlichkeit› und ‹Individualität› nur dermaßen sachliche Bezeichnungen kannte wie
‹Religion› und ‹Bekenntnis›.»
2 E. Drewermann: Das Matthäus-Evangelium. Bilder der Erfüllung, 3 Bde., Solo-
thurn–Düsseldorf 1992–1995, 2. Bd., 324–338; ders.: Das Markus-Evangelium,
2 Bde., Solothurn–Düsseldorf 1987–1988, 1. Bd., 430–440; 502–506
3 Laotse: Tao te king. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben, aus dem Chines.
übertragen von Richard Wilhelm (1910), Düsseldorf–Köln 1957, Nr. 48, S. 91: «Wer
das Lernen übt, vermehrt täglich. Wer den Sinn übt, vermindert täglich. Er vermin-
dert und vermindert, bis er schließlich ankommt beim Nichtsmachen. Beim Nichts-
machen bleibt nichts ungemacht. Das Reich erlangen kann man nur, wenn man
immer frei bleibt von Geschäftigkeit. Die Vielbeschäftigten sind nicht geschickt, das
Reich zu erlangen.»
4 A.a.O., Nr. 11, S. 51: «Dreißig Speichen umgeben eine Nabe: In ihrem Nichts be-
steht des Wagens Werk. Man höhlet Ton und bildet ihn zu Töpfen: In ihrem Nichts
besteht der Töpfe Werk. Man gräbt Türen und Fenster, damit die Kammer werde: In
ihrem Nichts besteht der Kammer Werk. Darum: Was ist, dient zum Besitz. Was
nicht ist, dient zum Werk.»
5 Julia Esquivel: Ich habe keine Angst, aus: Paradies und Babylon, Wuppertal
(Jugenddienstverlag) o. J.

Joh 6,22-51: Ich bin das Brot des Lebens

1 Vgl. Erich Fromm: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie


(1934), in: Gesamtausgabe, Bd. 1: Analytische Sozialpsychologie, Stuttgart 1980,
85–109; ders.: Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart (The Si-
gnificance of the Theory of Mother Right for Today, 1970), übers. v. Hilde Weller,
a.a.O., 111–114: «Wenn aber patriarchales und matriarchales Prinzip eine Synthese
bilden, dann erhält das eine vom anderen seine Tönung: mütterliche Liebe durch
Gerechtigkeit und Rationalität, väterliche Autorität durch Gnade und Gleichheit.»
(114)
2 Reinhold Schneider: Winter in Wien. Aus meinen Notizbüchern 1957/58. Mit
einer Grabrede von Werner Bergengruen, Freiburg–Basel–Wien 1958, 197–198: «es
wurde mir wieder klar, daß die Stärke des Glaubens und des Lebenswillens einander

482
entsprechen.» «Nur einem heftigen Willen zum Diesseits entkeimt (nach der Lebens-
krise) der Glaube an das Jenseits; wer nicht will, der glaubt eben nicht. Je stärker
der Stamm, um so üppiger die Mispel.» «Hier liegt der Grund des Verfalls der Reli-
gion: jenes Verfalls, dem nicht beizukommen ist. Unter leidlichen Umständen leben
die Menschen ganz gerne; aber in diesem ‹gerne› ist keine Kraft. Der Film läuft ab,
der Fernsehfilm erlischt. Noch einmal? Oder weiter? Warum? Zeugung ist Lebens-
recht, das allen Generationen zufiel. Warum soll es dieser verweigert werden? Wei-
ter machen wir uns keine Gedanken; es ist auch schon überbezahlt: das nette
bißchen Glück. Das ist im Eintrittspreis eingeschlossen. Im übrigen: der Pilz der
Glutwolke (sc. wie bei einer Atombombenexplosion, d.V.) entbreitet sich in der
Luft. Das Schwert (sc. der apokalyptischen Vision aus Offb 19,15, d.V.) sticht nieder.
Wohl dem, mit dem es vorher zu Ende geht! Wollte man also missionieren, so müßte
man den Willen zum Diesseits stärken; die Angst taugt zu nichts. Aber wo sind die
Argumente?»
3 Cyprian: Briefe, aus dem Lat. übers. v. Julius Baer, Sämtliche Schriften, Bd. 2,
München (BKV 60) 1928, 74. Brief: An Pompejus (Bischof von Sabrata in Tripolis),
S. 357–368, Kap. 7, S. 363: «Damit einer Gott zum Vater haben kann, muß er zuerst
die Kirche zur Mutter haben.»
4 Vgl. F. M. Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers, übers. v. E. K. Rahsin, Mün-
chen 1963, Jahrgang 1876, Februar, 1. Kap. III: Von der Liebe zum Volk. Der not-
wendige Vertrag der Gesellschaft mit dem Volk, S. 136–140. Bes. Jahrgang 1873, III.
Das Milieu, 25–44; V. Ein Büßer, 45–60, S. 50: «Niemals, nicht einmal in den Stun-
den der größten Triumphe, die seine Geschichte kennt, hat das russische Volk ein
stolzes oder triumphierendes Aussehen, sondern nur das eines bis zum Schmerz
Ergriffenseins; es atmet wohl auf, aber den Ruhm schreibt es der Gnade Gottes
zu.» Jahrgang 1880, 3. Kapitel, I: Etwas von größter Bedeutung, S. 507–531, bes.
S. 510–511; 514
5 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise (1779), in: Werke in 2 Bden., hg. v.
Paul Stapf, Wiesbaden (Vollmer-Verlag) o. J., 1. Bd., S. 829–972, 3. Aufzug, 5. Auf-
tritt, S. 887–889: Ein Mann, wie du, bleibt da / Nicht stehen, wo der Zufall der
Geburt / Ihn hingeworfen: oder wenn er bleibt, / Bleibt er aus Einsicht, Gründen,
Wahl des Bessern. / Wohlan!»

Joh 6,52-71: Worte unendlichen Lebens hast du

1 Sören Kierkegaard: Der Augenblick, übers. v. Hayo Gerdes, in: Werkausgabe,


Bd. 2, Köln 1971, 309–581, Nr. 4 (7. Juli 1855), S. 392–395: Die Schwierigkeit
meiner Aufgabe
2 Vgl. Adolf E. Jensen: Mythos und Kult bei Naturvölkern. Religionswissenschaft-
liche Betrachtungen, Wiesbaden 1951; ders.: Die getötete Gottheit. Weltbild einer
frühen Kultur, Stuttgart–Köln–Main (Urban Tb. 90) 1966
3 Antoine de Saint-Exupéry: Brief an einen General (1943), in: Gesammelte Schrif-
ten in 3 Bänden, übers. v. Oswald von Nostiz (Düsseldorf 1959), München (dtv
5959) 1978, Bd. 3, S. 221–230: «Ich hasse meine Epoche aus ganzer Seele. Der
Mensch stirbt in ihr vor Durst. – Ach, Herr General, es gibt nur ein Problem, ein
einziges in der Welt. Wie kann man den Menschen eine geistige Bedeutung, eine gei-

483
stige Unruhe wiedergeben; etwas auf sie herniedertauen lassen, was einem Gregoria-
nischen Gesang gleicht! Hätte ich den Glauben (sc. der Christen, d.V.), stünde es
fest, daß ich, sobald diese Zeit des ‹notwendigen und undankbaren Jobs› (sc. als
Aufklärungsflieger, d.V.) vorüber ist, nur noch Solesmes (sc. die Benediktinerabtei,
d.V.) ertragen könnte. Sehn Sie, man kann nicht mehr leben von Eisschränken, von
Politik, von Bilanzen und Kreuzworträtseln. Man kann es nicht mehr. Man kann
nicht mehr leben ohne Poesie, ohne Farbe, ohne Liebe … Es bleibt nur die Stimme
des Propagandaroboters … Zwei Milliarden Menschen hören nur noch auf den
Roboter, verstehen nur noch den Roboter, werden eines Tages selber zu Robotern.»
(S. 225)
4 Vgl. Thomas von Celano: Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi,
übers., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Engelbert Grau, Werl 4(neu
bearb.) 1988, 1. Lebensbeschreibung, 1. Buch, 7. Kap., S. 90; Franz von Assisi: Die
Werke. Die Blümlein, übers. v. Wolfram von den Steinen und Max Kirschstein,
Reinbek (rk 34) 1958, Die Blümlein, S. 57–148, Nr. XXVI, S. 100–106: Die drei
Raubmörder
5 Franz von Assisi: A.a.O., Die Blümlein, Nr. XXI, S. 93–95

Joh 7,1-31: Die rechte Zeit, der rechte Ort – in Verborgenheit und Öffentlichkeit

1 Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz (Le petit prince, 1943), übers. v. G. u.
J. Leitgeb, in: Gesammelte Schriften in 3 Bänden, München (dtv 5959) 1978, 1. Bd.,
489–579, Kap XXI, S. 550–556: «Es wäre besser gewesen, du wärst zur gleichen
Stunde wiedergekommen», sagte der Fuchs. «Wenn du zum Beispiel um vier Uhr
nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein.» (S. 553)
2 Platon: Des Sokrates Verteidigung (Apologia), in der Übers. v. Friedrich Schleier-
macher mit der Stephanus-Numerierung hg. v. W. F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck,
in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Reinbek (rk 1,1a) 1957, 7–31, Kap. 12, 24d–25c,
S. 15–16
3 Arthur Schopenhauer: Über die Universitäts-Philosophie, in: Parerga und Parali-
pomena: kleine philosophische Schriften, 1. Bd. (1850), nach der ersten von Julius
Frauenstädt besorgten Gesamtausgabe neu bearb. u. hg. v. Arthur Hübscher, Wies-
baden 1946, 147–210, S. 208: «Diesem Allen zufolge halte ich … für wünschens-
werth, daß aller Unterricht in derselben (sc. der Philosophie, d.V.) auf Universitäten
streng beschränkt werde auf den Vortrag der Logik … und auf eine ganz succincte
vorzutragende und durchaus in Einem Semester von Thales bis Kant zu absolvie-
rende Geschichte der Philosophie, damit sie, in Folge ihrer Kürze und Übersicht-
lichkeit, den eigenen Ansichten des Herrn Professors möglichst wenig Spielraum
gestatte und bloß als Leitfaden zum künftigen eigenen Studium auftrete.»
4 Sören Kierkegaard: Der Augenblick, übers. v. Hayo Gerdes, in: Werkausgabe,
Bd. 2, Köln 1971, 309–581, Nr. 7 (1855), 445–482, S. 454–458: Am ersten das
Reich Gottes. Eine Art Novelle.
5 Albert Schweitzer: Geschichte der Leben Jesu Forschung (1913; 1906 unter dem
Titel: von Reimarus zu Wrede), München–Hamburg (Siebenstern Tb. 77–80) 1966,
2 Bde., eingel. v. J. M. Robinson, Kap. 18: Die Leben-Jesu-Forschung an der Jahr-
hundertwende, II 341–381, S. 376–381

484
6 Hermann Hesse: Narziß und Goldmund. Erzählung (1957), Frankfurt (sv 65) 1971,
3. Kapitel, 32–43, S. 37: «Die Liebe zu Gott … ist nicht immer eins mit der Liebe
zum Guten. Ach, wenn es so einfach wäre! Was gut ist, wissen wir, es steht in den
Geboten. Aber Gott ist nicht nur in den Geboten, du, sie sind nur der kleinste Teil
von ihm. Du kannst bei den Geboten stehen und kannst weit von Gott weg sein.»
7 Jean-Paul Sartre: Der Ekel (La nausée, Paris 1938), übers. v. H. Wallfisch (Stutt-
gart 1949), Reinbek (rororo 581) 1963, S. 142: «Jedes Existierende wird ohne
Grund geboren, lebt aus Schwäche weiter und stirbt durch äußere Einwirkung.»

Joh 7,32-53a: Der unerreichbare Standpunkt

1 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen
(1885), in: Sämtliche Werke, Stuttgart (Kröner Tb. 75) 1988, mit einem Nachwort
von Walter Gebhard, Die Reden Zarathustras, S. 76–79: Vom freien Tode
2 F. M. Dostojewski: Die Dämonen (Besy, 1872), übers. v. Gregor Jarcho, München
(GGTb. 575–577) 1959, 1. Teil, 3. Kapitel, 8, S. 118–124
3 Hermann Oldenberg: Buddha. Sein Leben. Seine Lehre. Seine Gemeinde (1881),
hg. v. Helmuth von Glasenapp, München (GGTb. 708–709) 1961, S. 220; 432
4 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
(Heidelberg 31830), hg. v. Friedhelm Nicolin u. Otto Pöggeler, Hamburg (Philos.
Bibl. 33) 61959, 3. Abteilung, C. Die Idee, § 213–244, S. 182–197; § 239, S. 195:
«Das unmittelbare Allgemeine ist als der Begriff an sich die Dialektik, an ihm selbst
seine Unmittelbarkeit und Allgemeinheit zu einem Moment herabzusetzen. Es ist
damit das Negative des Anfangs oder das Erste in seiner Bestimmtheit gesetzt; es ist
für eines, die Beziehung Unterschiedener, – Moment der Reflexion.»

Joh 7,53b; 8,1-11: Wer unter euch ohne Sünde ist

1 Vgl. E. Drewermann: Jesus von Nazareth. Bd. 2: Glauben in Freiheit, Düsseldorf–


Zürich 1998; 62001, S. 11–12; 19–20. Zu der ganzen Erzählung vgl. H. L. Strack –
P. Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch,
2. Bd., München 1924, 520: «Da der Ehebruch mit einer verheirateten Frau nach
der jüdischen Tradition durch Erdrosselung zu bestrafen war, scheint das (steinigen)
Joh 8,5 zu fordern, daß es sich Joh 8,3 ff. um eine Verlobte gehandelt habe, auf
deren Ehebruch auch Dtn 22, 23f die Todesstrafe der Steinigung gesetzt ist.»
2 Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg (1821), in: dtv Gesamtaus-
gabe, hg. v. Helmut Sembdner (1961), München 1964, Bd. 3: Dramen. Dritter Teil,
S. 214–289
3 Victor Hugo: Die Elenden (Les Misérables, Paris 1862), übers. v. P. Wiegler,
Nachw. H. Mayer, Berlin 1952
4 F. M. Dostojewski: Die Brüder Karamasow (Bratja Karamazovy, 1880), übers. v.
K. Noetzel, München (GGTb. 478–479; 480–481) 1958, 2. Teil, 6. Buch: Ein russi-
scher Mönch, 3. Aus den Gesprächen und Belehrungen des Greises Sosima, h: Kann
man Richter sein über seinesgleichen? Über den Glauben bis ans Ende, I 399–402
(sinngemäße, nicht wörtliche Wiedergabe im Text).

485
5 Franz Kafka: Das Schloß (Berlin 1935), Nachw. von Max Brod, Frankfurt/M.
(Fischer Tb. 900) 1968
6 Franz Kafka: Der Prozeß (Berlin 1925), hg. v. Max Brod, Frankfurt (Fischer E C)
1958
7 Franz Kafka: In der Strafkolonie (1919), in: Sämtliche Erzählungen (Berlin 1935),
hg. v. Paul Raabe, Frankfurt (Fischer Tb. 1078) 1970, 100–123
8 Theodor Fontane: L’ Adultera (1882), in: Werke, hg. v. Hannsludwig Geiger,
4 Bde., Wiesbaden (Vollmer Verl.) o. J., Bd. II: Romane – Erzählungen, S. 7–124
9 Khalil Gibran: Jesus Menschensohn. Seine Worte und Taten, berichtet von Men-
schen, die Ihn kannten (Jesus – The Son of Man. His Words and His Deeds as told
and recorded by those who knew Him), übers. v. Ursula Assaf-Nowak, Olten 1988,
134–135

Joh 8,12-20: Ich bin das Licht der Welt

1 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen
(1855), in: Sämtliche Werke, Stuttgart (Kröner Verlag Tb. 75) 1988, mit einem
Nachwort von Walter Gebhard, 1. Teil, Die Reden Zarathustras, S. 48–50: Vom
Krieg und Kriegsvolke; 3. Teil, S. 217–238: Von alten und neuen Tafeln, Nr. 22,
S. 233: «Bessere Raubtiere sollen sie also werden, feinere, klügere, menschen-ähn-
lichere: der Mensch nämlich ist das beste Raubtier.»
2 Jean-Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? (L’existentialisme est
un humanisme, Paris 1946), in: Drei Essays. Mit einem Nachw. v. Walter Schmiele,
(Übers. ungenannt), Frankfurt 1960, 7–51, S. 9–10; sinngemäße Wiedergabe
3 Edouard Naville: Das ägyptische Totenbuch der XVIII.–XX. Dynastie aus ver-
schiedenen Urkunden zusammengestellt und herausgegeben, 3 Bde. (Berlin 1886),
Graz 1971; E. Drewermann: Ich steige hinab in die Barke der Sonne. Meditationen
zu Tod und Auferstehung in bezug auf Joh 20/21, Olten 1989; Düsseldorf–Zürich
72001, 117–119

Joh 8,21-47: … und die Unverborgenheit Gottes wird euch freimachen

1 Katholischer Erwachsenenkatechismus. Das Glaubensbekenntnis der Kirche, hg.


von der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1985, 363–374: Das Sakrament der
Buße, S. 371: «Die priesterliche Lossprechung beim Sakrament der Buße ist … ein
richterlicher Akt, der allein dem zukommt, der im Namen Jesu Christi für die ganze
kirchliche Gemeinschaft handeln kann.»: dem Bischof und dem Priester.
2 Nelly Sachs: Ausgewählte Gedichte. Nachwort von Hans Magnus Enzensberger,
Frankfurt (sv 18) 1963, S. 21: Salzige Zungen: «Salzige Zungen aus Meer / lecken an
den Perlen unserer Krankheit –» …; S. 23: Schon mit der Mähne des Haares: «…
Der Ozeane Salzruf / an der Uferlinie des Leibes» …
3 Sören Kierkegaard: Der Augenblick, übers. v. Hayo Gerdes, in: Werkausgabe,
Bd. 2, Köln 1971, 309–581, Nr. 7 (1855), S. 458–463: Daß die «Christenheit» von
Geschlecht zu Geschlecht eine Gesellschaft von Nichtchristen sei; und die Formel,
nach der das zugeht

486
4 A.a.O., Nr. 2 (1855), S. 344–346: Lobrede auf das menschliche Geschlecht oder
Beweis, daß das neue Testament nicht mehr Wahrheit ist
5 A.a.O., S. 345: «Die List Jakobs ist ja bekannt, wie er, um gefleckte Lämmer zu be-
kommen, gefleckte Stäbe in die Tränkrinne legte, so daß die Mutterschafe nichts an-
deres als Geflecktes sahen und darauf gefleckte Lämmer warfen (sc. Gen 30,31–43,
d.V.), es wäre nicht unwahrscheinlich, – wiewohl ich mich nicht erdreiste, eine be-
stimmte Meinung zu haben, da ich nicht vom Fach bin, sondern es nur anheimstelle,
z. B. einer aus Viehärzten und Pfarrern zusammengesetzten Arbeitsgemeinschaft – es
wäre nicht unwahrscheinlich, daß es eines Tages damit endete, daß die Haustiere in
der ‹Christenheit› eine christliche Nachkommenschaft zur Welt bringen würden.»
6 Ingmar Bergman: Szenen einer Ehe (Scener ur ett äktenskap, 1972), übers. von
Hans-Joachim Maas, München (Heyne Tb. 5275) 1976, 1. Szene: Unschuld und
Panik, 9–43
7 Bhagwan Shree Rajneesh: Mein Weg: Der Weg der weißen Wolke (My Way: The
Way of the White Cloud, 1975), übers. v. Ma Hari Chetana, Berlin 1978, S. 429:
«Die Wahrheit ist, daß es für Gott weder Gut noch Böse gibt. Aus seiner Schöpfer-
kraft kommt beides, durch seine Zerstörungskraft wird beides vernichtet – bedin-
gungslos.» S. 430: «Gut und Böse sind menschliche Vorstellungen, keine göttlichen
Konzepte. Und jede Gesellschaft hat ihre eigenen Auffassungen von Gut und Böse,
die mit jedem Zeitalter wechseln … Gut und Böse sind relativ … Gott ist absolut – er
kennt keine Unterschiede. – Wenn man in tiefer Meditation ist, wenn alle Gedanken
verschwinden, kennt man auch keine Unterschiede, denn Gut und Böse sind nur
Gedanken. Wenn man innerlich vollkommen stillschweigt, was ist dann gut und was
ist schlecht? Die Stille ist im gleichen Augenblick verschwunden, wo die Idee, daß
dieses gut und etwas anderes schlecht ist, aufkommt. In tiefer Meditation gibt es
nichts – gar nichts, weder Gutes noch Böses.»
8 Catéchisme de l’Église Catholique («Weltkatechismus»), Paris 1992, Nr. 391–395,
S. 88–89
9 Sören Kierkegaard: Der Begriff Angst. Eine simple psychologisch-hinweisende
Erörterung in Richtung des dogmatischen Problems der Erbsünde, von Vigilius
Haufniensis (Kopenhagen 1844), übers. u. mit Kommentar versehen von Liselotte
Richter, Reinbek (rk 71) 1960, Kapitel II § 2: Subjektive Angst, S. 57–58

Joh 8,48-59: Wenn jemand mein Wort hält, wird er den Tod nicht schauen

1 Franz Kafka: In der Strafkolonie (1919), in: Sämtliche Erzählungen (Berlin 1935),
hg. v. Paul Raabe, Frankfurt (Fischer Tb. 1078) 1970, 100–123
2 Catéchisme de l’Église Catholique («Weltkatechismus»), Paris 1992, Nr. 402–417, bes.
Nr. 410–412
3 Martin Heidegger: Sein und Zeit (1926), Tübingen 1963, 4. Kap., § 67,
S. 334–335: Der Grundbestand der existenzialen Verfassung des Daseins und die
Vorzeichnung ihrer zeitlichen Interpretation

487
Joh 9,1-17: Die Heilung des Blindgeborenen

1 Platon: Der Staat (Politeia), in der Übers. v. Friedrich Schleiermacher mit der Ste-
phanus-Numerierung hg. v. W. F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck, in: Sämtliche
Werke, Bd. 3, Reinbek (rk 27, 27a) 1958, 67–310, VII. Buch, Kap. 1–5 (514a–521b),
S. 224–229
2 So Harry S. Truman am 6. Aug. 1945 an Bord des Kreuzers Augusta: «Jungs, wir
haben ihnen einen Ziegel mit 20 000 Tonnen TNT auf den Schädel geschmissen!»
«Die Seeleute brachen in ein Freudengeheul aus. Die Gewissensqualen, die angeblich
den Triumph begleiteten, sind historische Fälschungen.» Raymond Cartier: Der
Zweite Weltkrieg (La seconde guerre mondiale, Paris 1965), XXXII. Kapitel, übers.
v. Wilhelm Thaler, München 1967, 1016–1060, S. 1053
3 Kurt Tucholsky: Les Abattoirs (1925), in: Zwischen Gestern und Morgen. Eine
Auswahl aus seinen Schriften und Gedichten, hg. v. Mary Gerold-Tucholsky, Rein-
bek (rororo 50) 1952
4 Rainer Maria Rilke: Das Stundenbuch, 3. Buch: Das Buch von der Armut und vom
Tode (1903), in: Sämtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit
Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, 1. Bd., Frankfurt/M. 1955, 341–366,
S. 345–346
5 Erich Fromm: Psychoanalyse und Religion (Psychoanalysis and Religion, New
Haven 1950), übers. v. Elisabeth Rotten (Zürich 1966), in: Gesamtausgabe, hg. v.
Rainer Funke, Bd. VI, Stuttgart 1980, 227–292, S. 248–250; 274–276; sinngemäße
Zusammenfassung der dortigen Gedanken

Joh 9,18-41: … laßt ihn für sich selber reden

1 Justinus: Dialog mit dem Juden Tryphon (um 140), aus dem Griechischen übers.
und eingel. v. P. Haeuser, Kempten–München (BKV 33) 1917, XCI 2; 3; ders.: Apo-
logien (um 140), aus dem Griech. übers. u. eingel. v. Gerhard Rauschen, in: Früh-
christliche Apologeten und Märtyrerakten, Bd. 1, Kempten–München (BKV 12)
1913, 55–155, 1. Apologie, 54, S. 67–69: Die «Mythen» sind «zur Betörung und
Verführung des Menschengeschlechtes auf Antrieb der bösen Geister ersonnen wor-
den». «Denn als diese von der durch die Propheten verkündeten Ankunft Christi …
hörten, brachten sie die Sage auf von vielen dem Zeus geborenen Söhnen in der
Meinung, sie könnten es fertig bringen, daß die Menschen die Geschichte von Chri-
stus für eine Wundermär … hielten … die Dämonen … machten … den Dionysos
zum Zeussohn und zum Erfinder des Weinstockes … Und wieder, als sie die Weis-
sagung erfuhren, er werde jede Krankheit heilen und Tote erwecken, da tischten sie
den Asklepios auf.»
2 O. Weinreich: Antike Heilungswunder. Untersuchungen zum Wunderglauben der
Griechen und Römer, Gießen 1909
3 Tom Crepon: Leben und Leiden des Ernst Barlach, Rostock 1988, 12. Kapitel:
Kurz: es wird gewütet. Das schlimme Jahr 1937, S. 269–284; zu der Plastik vom
Liegenden Bauern a.a.O., 241–242
4 Vgl. Ernst Barlach: Der tote Tag (1912), in: Das Dichterische Werk. In drei Bän-
den. Die Dramen, hg. v. Friedrich Dross, München 1956, 9–95, S. 95: «Alle haben

488
ihr bestes Blut von einem unsichtbaren Vater … Sonderbar ist nur, daß der Mensch
nicht lernen will, daß sein Vater Gott ist.»
5 Friedrich Nietzsche: Menschliches Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister
(1886), mit einem Nachwort von Walter Gebhard, Stuttgart (Kröner 72) 1993, Vor-
rede, S. 3–13, Nr. 3, S. 5–7: «Man darf vermuten, daß ein Geist, in dem der Typus
‹freier Geist› einmal bis zur Vollkommenheit reif und süß werden soll, sein entschei-
dendes Ereignis in einer großen Loslösung gehabt hat.»
6 Jean Cardonnel: J’accuse l’Église, Paris 1994
7 émile Zola: J’accuse …! Lettre ouverte au Président de la République, in: L’Aurore,
13. 11. 1898; dt.: Offener Brief an den Präsidenten der französischen Republik,
Frankfurt 1898; F. Sieburg: Zolas großer Augenblick («J’accuse»), in: Lauter letzte
Tage, Stuttgart 1961, 157–167.
8 Johannes Paul II.: Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, Rom 1994
9 Susanne Everett: Geschichte der Sklaverei (History of Slavery, London 1978),
übers. v. Jürgen und Rainer Heinzerling, Hamminkeln, Augsburg 1998, Kapitel II:
Schwarzes Elfenbein. Der westafrikanische Sklavenhandel, 16.–19. Jahrhundert,
28–61; Kapitel III: Die Sklaverei des Zuckerkönigreichs. Sklaverei auf den Westindi-
schen Inseln, 62–93, S. 70–72: «Die Art der französischen Sklavenhaltung unter-
schied (sich) deutlich von der britischen. Frankreich führt 1685 den Côde Noir …
ein, ein Sklavengesetz, das hauptsächlich zur Wahrung des Katholizismus in den
Westindischen Kolonien geschaffen wurde.» «Zwar wurden die Besitzer ermahnt,
ihre Sklaven menschlich zu behandeln, doch sie hatten das Recht, sie anzuketten
und auszupeitschen, wenn sie dies für notwendig hielten.» (70; 71) Auch das
«Recht» der Besitzer, ihre Sklaven strafweise zu verstümmeln und hinzurichten,
blieb im Côde noir Ludwigs XIV. erhalten.
10 Friedrich Nietzsche: Der Antichrist (1888), in: Götzendämmerung, mit einem
Nachwort von Walter Gebhard, Stuttgart (Kröner 77) 1990, 185–283, Nr. 33,
S. 230–231
11 Martin Luther: Ein Sendbrief vom Dolmetschen (1530), in: Die Werke Luthers in
Auswahl, hg. von Kurt Aland, Bd. 5: Schriftauslegung, Göttingen 1991, 79–92,
S. 86–87

Joh 10,1-21: Der gute Hirt

1 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen (1819), Zürich 1975, Nr. 12, S. 104–
107; E. Drewermann: Rapunzel, in: Die kluge Else. Rapunzel, Olten–Freiburg
1986, 59–101
2 Siegfried Morenz: Gott und Mensch im alten Ägypten, Zürich–München 1984,
verweist auf die Ähnlichkeit zu Ps 23, wenn es in den ägyptischen Lobpreisungen
auf den Sonnengott Amun-Re heißt: «Amun, Hirte, der sich früh um seine Rinder
kümmert … Amun, du treibst mich, den Hungrigen, zur Speise, denn Amun ist ja ein
Hirte, ein Hirte, der nicht träge ist.» «… so hat man denn auch den König als Hir-
ten angesehen. Bezeichnenderweise hat man dabei ursprünglich weniger auf die …
Macht des Hirten als auf seine Verantwortung gegenüber der Herde Wert gelegt.»
3 Gaius Suetonius Tranquillus: Leben der Cäsaren (De vita Caesarum), übers.
u. hg. v. André Lambert (Zürich 1955), München (dtv 6005) 1972: Tiberius,

489
S. 121–163, XXXII, 2, S. 140: «Den Statthaltern, die zu einer Steuererhöhung in den
Provinzen rieten, schrieb er zurück, ein guter Hirte dürfe die Herde wohl scheren,
aber nicht abhäuten.»
4 Die Edda, 2. Bd.: Götterdichtung und Spruchdichtung, übertr. von Felix Genzmer,
eingel. u. mit Anm. vers. v. A. Heusler, Düsseldorf–Köln (Thule Bd. 2) 1963, 5.: Der
Seherin Gesicht, S. 34–44, Str. 31; 36; Str. 45: «Gellend heult Garm vor Gnipahellir:
/ es reißt die Fessel, / es rennt der Wolf.» (S. 40; 41; 42)

Joh 10,22-42: Das Zeugnis der Werke und das Zeugnis des Johannes

1 F. M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (Zapiski iz mertvogo


doma, 1861), übers. v. G. Jarcho, Reinbek (rk 122–124) 1963, Kap. 1: Das Toten-
haus, 15–29, S. 23: «Natürlich führen die Zuchthäuser und das System den Verbre-
cher keineswegs zur Besserung; sie strafen ihn nur und sichern die Gesellschaft
gegen weitere Angriffe des Bösewichts auf ihre Ruhe.»
2 F. M. Dostojewski: Tagebuch eines Schriftstellers, übers. v. E. K. Rahsin, München
1963, Jahrgang 1876, Februar, 1. Kap. III: Der Bauer Marei, 141–148
3 Platon: Phaidon, in der Übersetzung v. Friedrich Schleiermacher mit der Stepha-
nus-Numerierung hg. v. W. F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck, in: Sämtliche Werke,
Bd. 1, Reinbek (rk 27, 27a) 1958, 7–66, Kap. 18, 72e–73e, S. 24–25

490
Bildbeschreibungen und Bildnachweise

Abb. 1, zu S. 77: Geertgen tot Sint Jans (1460/65–vor 1495): Johannes der Täufer in
der Einöde; Eichenholz, 42 x 28 cm. In: Gemäldegalerie Berlin, Geschichte der Samm-
lung und ausgewählte Meisterwerke, Berlin (Staatliche Museen Preußischer Kultur-
besitz) 1985, S. 154 – 155. – Der «kleine Gerrit, der bei den Johanniter (-Rittern) wohnt»,
wie der Name besagt, hat von Harlem aus «die Entwicklung der Malerei in den nörd-
lichen Niederlanden maßgeblich geprägt». Das Bild, gemalt zu privater Andacht, zeigt
den Patronatsheiligen des Ordens in quasi «johanneischer» Sicht: Dargestellt ist nicht
der erzürnte Bußprediger des kommenden messianischen Gerichtes, als welcher er in Mt
3,1-12 und Lk 3,1-18 erscheint – ein asketischer Wüstenprophet, der vor der unaufhalt-
sam hereinbrechenden Katastrophe mit drohenden Worten die letzte Stunde möglicher
Umkehr zu beschwören versucht; dargestellt ist im Gegenteil ein nachdenklich sitzender
Mann, der sein von goldenen Strahlen umspieltes Haupt müde in seine rechte Hand ge-
legt hat und versonnen, mit wehmütigem Gesichtsausdruck, in eine unbestimmte Zu-
kunft schaut. Der Mantel aus Kamelhaaren, von dem Mk 1,6 spricht, ist auf Geertgens
Bild zu einem dunkelbraunen, habitähnlichen Gewand geworden, der «Ledergürtel um
die Lenden» hat sich erübrigt, statt dessen trägt der Heilige zusätzlich einen blaugrünen
Mantel, der wie eine übergroße Decke seine Gestalt bis zum Boden hin einhüllt. Platz
genommen hat der Täufer auf einer grasbewachsenen Felskante inmitten einer men-
schenleeren Parklandschaft; die «Wüste» der ersten drei Evangelien ist einer stimmungs-
vollen Paradieseseinsamkeit gewichen, einem Refugium, dessen dieser «Wegbereiter» des
Christus selbst, um sich klar zu werden, zu bedürfen scheint. Der Jordanfluß, dieses an
sich unentbehrliche Requisit der «Umkehrtaufe» des Johannes, ist zu einem lieblichen
Bächlein geronnen, das sich mäandrierend, einen sumpfigen Teich bildend, durch die
Wiesen schlängelt und etwas von dem Lichtglanz des blaßblauen Himmels in sein sanf-
tes Grün aufnimmt. Niemand vermöchte an diesem Ort «getauft» zu werden, wie denn
das Johannes-Evangelium (1,25.31) auch nur noch beiläufig die historisch bezeugte
Tätigkeit des «Vorläufers» Jesu aufgreift. Wesentlich auf Geertgens Bild ist demgegen-
über, ganz wie im Vierten Evangelium, der Hinweis auf das «Lamm, das die Sünde der
Welt hinwegträgt» (Joh 1,29.36). Dieses Lamm liegt, dem Täufer zugewandt, neben
dem heiligen Mann; auch sein Haupt ist von goldenen Strahlen umgeben, und so wie
der Täufer seine bloßen Füße übereinandergelegt hat, so das «Lamm» seine Vorderpfo-
ten. Alles Sinnen des Heiligen scheint in diesem seinem Alter Ego Gestalt angenommen
zu haben, und es ist offenbar die reifende Erkenntnis von Opfertod und Leid, die den
Täufer zu seiner schwermütigen Gestimmtheit veranlaßt. Der Kalender des Kirchen-
jahres hat die Worte des Täufers aus Joh 3,30: «Jener (Christus) muß wachsen, ich aber
abnehmen», auf den Tag der Sommersonnenwende bezogen, und dementsprechend malt
auch Geertgen eine wärmeatmende sommerliche Idylle: Kaninchen grasen im Grün der
Wiesen, ein Hase springt munter daher, eine Elster sucht am Boden nach Nahrung, Hir-
sche äsen im Schatten der Bäume, Fasane fliegen aus den Büschen auf, ein Reiher späht
am Teichufer nach Beute, Enten (?) ziehen am Himmel dahin; – alles breitet sich aus wie
ein Garten des Friedens, fernab vom Einbruch der Menschenwelt, die, eingebettet in
eine Landschaft bläulich bis zum Horizont hin schimmernder Berge, in den Türmen und
Kirchenmauern einer Stadt mehr angedeutet als sichtbar wird.

491
Was der Täufer in Geertgens Darstellung sucht, ist offenbar eine Welt, wie Gott sie
am Schöpfungsmorgen gemeint hat: eine Sphäre der Friedfertigkeit, der Stille und der
harmonischen Ordnung; gerade diese Sehnsucht aber treibt den Mann Gottes in eine
einsame Melancholie fernab von den Menschen. Warum nur, scheint er zu überlegen, ist
diese eigentlich so wunderbare Wirklichkeit auf seiten der Menschen gezeichnet von so
viel Widersetzlichkeit und Schmerz? Warum ist eine Rückkehr zu Versöhnung und
Glück gebunden an das rätselvolle Opfer dieses einen, des «Knechts Gottes», des «Lam-
mes», das durch sein Sterben den Weg zum Leben eröffnen soll? Zu Füßen des Heiligen
blühen Diestel und Akelei und verweisen symbolisch auf diesen schier unbegreifbaren
Zusammenhang. Ein in sich geläuterter, ein nicht mehr zürnender, sondern ein in die
Nähe des «Lammes» gerückter Johannes sitzt da vor uns, dessen richtende Strenge sich
in meditierende Milde zu wandeln scheint. Die Frage aber stellt sich um so mehr: Wie
soll seine Botschaft in der Gestalt des «Lammes» jemals hineinfinden in jene so nah und
dann doch so kontrastreich erscheinende «Stadt» der Menschen? Der Täufer selbst aber
hat in der Vision des «Lammes» auf diesem Bild seinen Frieden gefunden: mit sich
selbst, mit der Welt und mit Gott.

Abb. 2, zu S. 86: Edvard Munch: Die Stimme, um 1893, Munch Museum Oslo, Öl auf
Leinwand, 90 x 118,5 cm, © The Munch Museum/The Munch Ellingsen Group/VG
Bild-Kunst, Bonn 2003; in: Edvard Munch 1863–1944, Museum Folkwang Essen, 18.
Sept. – 8. Nov. 1987; Kunsthaus Zürich, 19. Nov. 1987–14. Febr. 1988, organisiert und
redigiert von Guido Magnagnango, übers. aus dem Norwegischen von Barbara Schütz,
aus dem Englischen von Marianne Karabelnik-Matta, Kat. 36. Das Bild war das erste
der «Studie für eine Folge: Liebe» und malt das Verlangen einer Frau nach Erfüllung.
Da erklingt, vielleicht in der Johannisnacht, wenn der Sommer und das Licht in die lan-
gen Nächte des Nordens zurückkehrt, ein (An)Ruf, den nur vernimmt, wem er bestimmt
ist; diese Frau aber, die ihn wie träumend, mit geschlossenen Augen, erfährt, fügt sich,
die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wie wehrlos der Stimme ihres schicksalhaf-
ten Verlangens. Weich umfließen ihre rotbraunen Haare bis zu den Schultern herab ihr
rundes anmutiges Gesicht, während ihre schlanke, in ein blauweißes Gewand gehüllte
Gestalt, von unten herauf betrachtet, Hals und Brust voller Sehnsucht darzubieten
scheint. Es ist wesentlich diese Perspektive und diese Pose, die der unhörbaren
«Stimme» ihren magisch-hypnotischen Ausdruck verleiht. «Der Schauplatz ist die Küste
von Aasgaardstrand am Christianiafjord. Die bewaldeten Küsten … sind traditionelle
Begegnungsorte für die Liebenden …, und Boote mit Feiernden bevölkern wie im Hin-
tergrund links das Wasser. Die erotische Stimmung wird auch durch das Zusammenspiel
der vertikalen Kieferntanne und der Säule der Mondspiegelung (als Phallussymbol) mit
der frontalen Haltung der Figur hervorgerufen.» Ab 1885 war Munch seine erste Lie-
besbeziehung zu Milly Thaulow eingegangen, «der drei Jahre älteren, freizügigen Frau
seines Vetters Dr. Carl Thaulow. Diese ‹verbotene Liebe› beherrschte ihn einige Jahre
lang und war scheinbar sehr stürmisch und peinigend.» (Matthias Arnold: Edvard
Munch, Reinbek [rm 351] 1986, 33.) Als Munch, enttäuscht und zutiefst verletzt, sich
zwischen 1890 und 1892 in romanhaften Aufzeichnungen über das Erlebte und Erlit-
tene Rechenschaft zu geben suchte, schrieb er über «Frau Heiberg», wie er die einst so
Geliebte verschlüsselt nannte: «Wie tief ist das Merkmal, das sie in mein Gehirn eingra-
viert hat, so daß kein anderes Bild ihres je wegtreiben kann … War es weil sie mir den

492
ersten Kuß abnahm, daß sie mir den süßen Duft des Lebens wegnahm?» Munch, der
durch den «Betrug» von Frau Thaulow, wie er es empfand, «das Haupt der Medusa» zu
erschauen meinte, betrachtete seither das Leben «als großes Rätsel, und alles das, was
einst rosig aussah, wurde nun leer und grau». (A.a.O., 33) Über alles Glück und über
alles Unglück entscheidet dieser «Ruf», diese Stimme, je nachdem wie man sie erwidert.

Abb. 3, zu S. 342: Francisco Goya: Caprichos (1799), Vorwort von Urs Widmer, Über-
setzung der Legenden von Tina Haffmans, Zürich (Diogenes, kunst-detebe 3) 1972,
Nr. 32: Por que fue sensible – Weil sie gefühlvoll war. – Die «Caprichos» (Einfälle) ent-
halten 80 Blätter in Aquatinta-Technik, kombiniert mit den Verfahren der traditionellen
Radierung; das vorliegende Blatt ist ein besonders gutes Beispiel reiner Aquatinta-Tech-
nik: Harz wird auf eine Kupferplatte gesiebt und angeschmolzen, so daß beim Ätzen
eine feine Körnung entsteht; die Stellen, die nicht geätzt werden sollen, werden abge-
deckt; verschiedene Tönungen werden durch Unterbrechen des Ätzvorganges und Ab-
spülen mit Wasser erreicht. Goya hatte es in der Ausführung dieser Technik zur Meister-
schaft gebracht. Anfang der 1790er Jahre aber hatte der spanische Maler sich in eine
düstere Seelenstimmung hineingelebt, und es sind seine «Einfälle», die von der Bitter-
keit, dem Zorn, dem Sarkasmus, der Ironie, ja, dem Zynismus zeugen, den er gegenüber
den gesellschaftlichen und politischen Zuständen seiner Zeit empfand: eine verlogene
Kirche, eine blutrünstige Inquisition, die gelehrsame Eselei des akademischen Standes,
die hohle Eitelkeit des höfischen Gepränges, der schnöde Verrat an der Liebe zugunsten
eines reinen Profitdenkens, die blind lüsterne Leidenschaft im Gewande des eleganten
Charmeurs – Themen dieser Art bilden den Kontext, in dem dieses Bild: die Bestrafung
der Empfindsamkeit mit (lebenslanger) Kerkerhaft von seiten der «guten Sitten», darge-
stellt wird. Mag sein, daß die Frau wegen ihrer «Gefühligkeit» zu einer Verrückten
erklärt wurde und sich seither in «Sicherungsgewahrsam» befindet, es mag auch sein,
daß sie durch ihr Verhalten erst «auffällig», dann «straffällig» wurde – wie die Frau in
Joh 8,1-11; in jedem Falle muß man offenbar in ihrem Falle durch äußere Kontrolle
ersetzen, was «man» an innerer Kontrolle der «Sensibilität» einer solchen Frau nicht
zutraut, und die fehlende «Einsicht» muß übernommen werden durch zwangsweise
Aufsicht … So bleiben behütet Anstand und Verstand, und der Zustand der Gesellschaft
erhält sich in der Zuständigkeit ihrer Behörden.

Abb. 4, zu S. 429: Ernst Barlach: Magdeburger Ehrenmal, Gips, 1928/29, Werkmo-


dell, Ernst Barlach Stiftung Güstrow, © Ernst Barlach Lizenzverwaltung, Ratzeburg; in:
Ernst Barlach: Plastische Meisterwerke, mit einer Einführung von Anita Beloubek-Ham-
mer, Ratzeburg 1996, 118 – 119: «Wollte man das Ganze symbolisch unterbauen, so
müßte man sagen: Hier ist auf Not, Tod und Verzweiflung als Gradmesser der wahren
Bedeutung unverhohlener Opferbereitschaft hingewiesen … Ich lehne es ab, darüber zu
streiten, ob solche Darstellungen Bestandteile eines Ehrenmals sein dürfen. Ich benötige
sie zur Ganzwerdung eines aller Beschönigung zugänglichen Geschehens.» Statt der po-
litisch erwünschten «Beschönigung» stellte Barlach die Lebenden und die Toten in einen
durch das Kreuz vermittelten Zusammenhang von Niedergedrücktheit und Standhaftig-
keit, von Verzweiflung und Zähigkeit, von Trauer und Treue – einer alles überragenden
Menschlichkeit, die nicht aufhört zu fragen: Warum? Warum immer wieder? Warum
immer noch?

493
Register der Bibelstellen

Altes Testament 19,18 44 104, 26 36


19,20 268 120-135 310
19,21-24 44 121 321
Genesis 20,14 337
1,1 367 34,29-35 44 Jesaja
1,31 319 1,18 88
2,3 319 Levitikus 40,3 74
2,10-14 75 19,18 120 42,1 257
3,8-24 243 20,10 338, 340, 345 42,2-4 88
3,10 44 49,15 88
3,12 341 Numeri 53,5 434
3,16-18 341 11,4 157 53,7 77, 88
3,19 179 11,5 157 54,11 289
3,21 44 14,1-3 158 54,12 289
3,24 158 20,3-6 158 54,13 289
8,20-22 71 55,1-3 328
11,31 261 Deuteronomium 56,7 125
11,32 261 6,5 120 58,11 328
12,1-3 261 18,15 72
12,10-20 261 22,21 340 Jeremia
16,1-16 261 22,22-24 338, 345 7,11 125
17,1 385 22,23 340 13,24 346
17,15 261 22,24 340 31,33 290
20,1-18 261 22,25 340 31,34 290
26,1-11 261 22,27 340
28,10-22 98,183 34,10-12 72 Ezechiel
30,25-43 376 1,4-28 183
30,31-43 487 1 Könige 1,5 204
48,22 193 6,1-38 461 10, 1-22 183
18,1-40 72 34,1-31 399, 446
Exodus 47,1-12 75
4,3 159 Psalmen
4,4 159 23 169, 489 Daniel
12,1-28 267 45,12 469 7,13 440
13,1-16 267 69 139
14,1-31 95 69,10 128 Micha
14,16-22 268 82,6 469 5,2 331
14,21 159 84 309
16,4 285 90,10 241, 386 Maleachi
16,15 268, 285 91,11 98 3,23 72
16,31 268 91,12 98

494
Neues Testament 1,10 52 2,49 93
1,15 53, 177, 242 3,1-18 52, 491
2,1-12 233 3,11 54
Matthäus-Evangelium 2,10 299 3,12-14 69
2,5 331 2,17 299 3,14 54
2,6 331 2,19 178 4,4 201
3,1-12 52, 491 2,22 178 6,36 233
3,7 69 2,24 299 7,1-10 207
3,9 376 3,2 299 7,24-35 255
4,4 30, 201, 275 3,6 120 10,25-37 120, 192,
4,6 98 3,20-21 206 397
4,8–9 275 3,21 311, 344 10,27 120
4,11 98 3,22 120, 147, 344, 10,29 397
4,13 207 400, 456 13,18-21 190
4,24 219, 269, 270 3,31-35 206 15,1-7 190, 446
5,14 417 4,26-29 190 15,7 185
5,17-20 347 5,22-24 210 15,8-10 190
5,20 58, 192 5,23 209 15,10 185
5,37 45 5,35-43 210 16,16 65
5,48 233 6,3 104 17,10 224
6,5 129 6,4 205 17,20 242
6,13 273 6,30-44 267 17,21 242
6,25-34 24 6,34 399 23,34 159
7,1 65 6,45-52 266 23,46 159
8,5-13 207 7,24-30 209 24,13-35 136
9,11 343 8,1-9 267
10,25 208 8,22-26 407, 418 Johannes-Evangelium
11,7-19 255 8,28 330 1,12-13 152
11,20-24 353 8,29 459 1,13 39, 201
11,25 290 8,30 459 1,25 491
11,26 290 8,31 332 1,29-34 208
11,28 288 8,32 94 1,31 491
14,22-27 266 8,33 94 1,32 52
17,24-27 128 8,35 451 1,35-42 238
21,14 136 10,15 273 1,36 491
21,14-15 131 11,15-17 120 1,39 282
22,1-14 242 12,28 376 1,46 206
23,1-36 436 12,35-37 331 2,1-12 207
23,5 376 13,26 440 2,4 313
25,31-46 440 14,13 274 2,9 201
26,14 294 14,14 274 2,13-25 205
27,46 117 14,58 130, 405 2,19 406
27,50 117 2,21 406
Lukas-Evangelium 3,3 9, 418
Markus-Evangelium 1,28 440 3,5 200, 418
1,9-11 257 2,4 331 3,6 200

495
3,11-13 333 7,49 399 20,19 306, 434
3,30 491 8,3 485 21,1-14 266
4,1-42 300, 327 8,5 485
4,2 173 8,11 233 Römerbrief
4,23 23, 241 8,32 113 2,1 65
4,24 8 8,37-40 8 4,25 434
4,34 275 8,42-44 8 7,10 347
4,43-54 145, 269 8,51 9, 401
5,1-9 145, 269, 314 8,52 401 Korintherbriefe
5,1-18 344 8,56 8 2 Kor 3,7 44
5,6-8 318 8,58 8
5,24 9, 465 8,59 468 Galaterbrief
5,27 254 9,1-7 145 4,6.7 208
5,30 390 9,28-29 8
5,31-35 364 9,41 417, 455 Thessalonicherbriefe
5,31 73, 390 10,3 469 1 Thess 4,16 264
5,32 73 11,1-44 145
5,36 73, 460 11,50 125 Johannesbriefe
5,37 73 13,1 106 1 Joh 4,20 166
5,46 8 13,2 294
6,26 103 15,1 201 Offenbarung des
6,27 103 17,18 238 Johannes
6,35 361 18,15-18 94 4,1 81
7,3-5 7 19,25-27 104 19,15 483
7,22-23 8 20,17 453

496
Abb. 1: Geertgen tot Sint Jans (1460/65 – vor 1495): Johannes der Täufer in der
Einöde (1485/90), Öl auf Eichenholz, 42 x 28 cm, Gemäldegalerie Berlin
Abb. 2: Edvard Munch (1863–1944): Die Stimme (um 1893), Öl auf Leinwand, 90 x 118,5 cm, Munch Museum, Oslo
Abb. 3: Francisco Goya (1746–1828): Caprichos (Por que fue sensible / Weil sie
gefühlvoll war) (1799), Aquatinta-Radierung, 21,9 x 15,3 cm
Abb. 4: Ernst Barlach (1870–1938): Magdeburger Ehrenmal (1828/29),
Gips, Werkmodell, Ernst Barlach-Stiftung, Güstrow
Über den Autor
Dr. Eugen Drewermann arbeitet seit dem Entzug seiner Lehrerlaubnis und
Suspension vom Priesteramt als Therapeut und Schriftsteller. Er gehört zu den
erfolgreichsten theologischen Autoren und ist ein gefragter Referent und hat
alle vier Evangelien des Neuen Testaments übersetzt und kommentiert.
Über das Buch
Das Johannes-Evangelium konfrontiert den Leser mit der Frage nach seiner
Identität. Zu sich selbst finden, zu seiner Wahrheit stehen kann nach der
Auffassung des Johannes nur, wer auf ein Gegenüber trifft, das ihn leben läßt
und ihn bedingungslos aus reiner Güte akzeptiert. »Niemals dürfen wir
Menschen, wollen wir diesen Namen verdienen, mit den Lebewesen an unserer
Seite in der Art verfahren, wie die Natur es jederzeit tut. Wir bedürfen eines
menschlichen Gegenübers, um unsere Menschlichkeit zu finden, und eben ein
solches absolutes Gegenüber unserer Menschlichkeit will der Jesus des
Johannes-Evangeliums uns vermitteln durch die Nähe seiner Person, die
geformt ist von dem Vertrauen zu seinem ›Vater‹.« Wer begreift, daß sein
Leben noch einmal ganz neu beginnt unter der Perspektive, die Jesus
vermittelt, lernt solch eine befreiende Menschlichkeit kennen.
Dieser Leitgedanke ist es, den Eugen Drewermann in seiner Interpretation des
Johannes-Evangeliums immer wieder ausfindig macht und für unser
gegenwärtiges Leben zu deuten versucht. Dabei macht er die schwierige
Begrifflichkeit der johanneischen Christologie verständlich und übersetzt die
im kirchlichen Dogma verfestigten Worte in ebenso befreiende wie
verbindliche Erfahrungen zurück.

Auch als Printausgabe erhältlich.


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© 2003 Patmos Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern

Umschlagabbildung: Rembrandt van Rijn, Der auferstandene Christus (1661),


Leinwand, oval, 78,5 x 63 cm, Alte Pinakothek, München
Hergestellt in Deutschland
ISBN 978-3-491-50102-7 (Print)
ISBN 978-3-8436-0512-0 (eBook)
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