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BIBUISClil-ffifflED l!DGISCf.

l& SffilrJIDIE N 1 74
1

Friedhelm Hartenstein

Das Archiv des


verborgenen Gottes

Studien zur Unheilsprophetie Jesajas


und zur Zionstheologie der Psalmen
in assyrischer Zeit
Friedhelm Hartenstein

Das Archiv des


verborgenen Gottes

Studien zur Unheilsprophetie


Jesajas und zur Zionstheologie der
Psalmen in assyrischer Zeit

N eukirchener Theologie
Biblisch-Theologische Studien 74

Herausgegeben von
Jörg Frey, Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski,
Matthias Konradt und Werner H. Schmidt

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Mix
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Wäldern und anderen kontrollierten Herkünften

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est Stewardship Council) ist eine nichtstaatliche, gemeinnützige Or-
ganisation, die sich für eine ökologische und sozialverantwortliche
Nutzung der Wälder unserer Erde einsetzt.

©2011
N eukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen -Vluyn
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Düsseldorf
Lektorat: Volker Hampel
DTP: Jonas von Reinersdorff / Nico Lühmann / Volker Hampel
Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN 978-3-7887-2139-8
ISSN 0930-4800
www.neukirchener-verlage.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in


der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http:/ /dnb.d-nb.de abrufbar.
Klaus Koch
in dankbarer
Verbundenheit
gewidmet
Vorwort

Der Titel des vorliegenden Bandes »Das Archiv des ver-


borgenen Gottes« soll als Lesehinweis für die einzelnen
Beiträge dienen. Es geht in ihnen 111}1 die Anfän~..J!.~L
Jesajabuches und um die Entsteh':!.12& des. sogenannten
>';Völkerkampfmotiv~r-Zic)nstrac1T1:ron::-ge1ctes'1sTT~-·
aer äss rnctren~7eit'·ctes~·gc_7;:7E:s„v.Chr.-· in Juda zu
verorten_Jn dieser Perio e önnen wu, etwas spater als-
im 7221720 v.Chr. untergegangenen Nordreich Israel,
auch für den Süden mit ·. twickelten Schriftkul-
tur und entsprechender ·· . ,chnen - jedenfalls
in der Hauptstadt Jerusal 1 spielten sehr wahr-
scheinlich die beiden zentra nstitutionen des Kö-
nigshofs und des Tempels eine entscheidende Rolle. Mit
ihnen waren allem Anschein nach ausgebildete textkun-
dige Personen verbunden, die offiziell und privat Zu-
gang zur Produktion und Rezeption schriftlicher Zeug-
nisse verschiedenster Art hatten. Aus ihrem Umkreis
sind sehr wahrscheinlich sowohl die Schriftprophetie
Jesajas als auch die Zionstheologie überliefert.
Mit einer ausgebildeten Schriftkultur geht notwendig
die Existenz von »Archiven« einher. Damit ist zunächst
noch keine spezifisch materielle Form eines Archivs
gemeint, die dann kaum von »Bibliotheken« getrennt
werden kann 1 . Vielmehr soll hier »Archiv« als ein er-

1 Vgl. zur Erforschung der Schriftkultur, der Literaturproduktion

und -rezeption in Palästina zusammenfassend K. Schmid, Litera-


turgeschichte des Alten Testaments. Eine Einführung, Darmstadt
2008, 41-51, sowie zu möglichen Privatarchiven im vorexilischen
Juda U. Rüterswörden, Amt und Öffentlichkeit im Alten Testa-
VIII Vorwort

schließungskräftiger Begriff für das Phänomen der alt-


testamentlichen Schriftprophetie in einem allgemeinen
kulturwissenschaftlichen Sinn verstanden werden. Die
zahlreichen Abhandlungen zur Schrift- und Erinne-
rungskultur aus den letzten Jahrzehnten beziehen sich
für die spezifische mediale Funktion der Schrift oft auf
die Kritik derselben in Platons Phaidros (274c-278b 2),
die gerade auch den Vorgang der Archivierung ein-
schließt:

»Ex negativo erschließt Platons Kritik wesentliche Leistungen der


Schrift: 1. Sie entlastet das Gedächtnis des einzelnen, indem sie des-
sen Inhalte einem wachsenden Archiv objektivierten Wissens ein-
verleibt und hier abrufbar hält; 2. sie kann sich, dank ihres dauer-
haften und dennoch beweglichen materiellen Substrats - haltbare
Zeichen auf einer transportablen Unterlage - aus der Situation ih-
rer Entstehung lösen und an fernen Orten und in späteren Jahren
gegenwärtig sein, bedarf aber, um den Abstand der Räume und
Zeiten zu überbrücken, der Übersetzung, des Kommentars, der
Interpretation; 3. sie ist, zumal in der alphabetisch-phonetischen
Form, von jedermann leicht zu lernen [... ].« 3

Hier sind wichtige Gesichtspunkte genannt, die auch


für das antike Juda der späteren Königszeit gelten wer-
den. Sie haben erhebliche heuristische Konsequenzen
für das Verständnis von Traditionsliteratur. Der Begriff
»Archiv« als eine Metapher für das in den externen

ment, (JBTh 11), Neukirchen-Vluyn 1996, 66f.: »Wenn sich die


Existenz von Privatarchiven nahelegte, wäre damit auch der Privat-
besitz literarischer und religiöser Texte zu vermuten. Die Unter-
scheidung zwischen >Archiv< und ,Bibliothek< ist für Mesopotamien
und Ugarit eher künstlich; es gibt eine Anzahl von Funden von
Rechts- und Verwaltungstexten, zusätzlich auch literarisch-religiö-
sen sowie Schultexten aus Privatquartieren. Vielfach ist der Besitz
solcher Texte beruflich bedingt, so, wenn ein Priester über Beschwö-
rungstexte verfügt; doch dies ist nicht ausschließlich der Fall. Es
kann auch ein Interesse an den Inhalten vermutet werden.«
2 Vgl. Platon, Sämtliche Werke 4. Phaidros, Parmenides, Theaite-

tos, Sophistes (Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft.


Griechische Philosophie 5), Hamburg 1988 (1958), 54-58.
3 ]. Goody / I. Watt/ K. Gough (Hg.), Entstehung und Folgen der

Schriftkultur (stw 600), Frankfurt a.M. 1986 (engl. 1968), lOf.


Vorwort IX

Gedächtnisspeicher der Schrift gelegte Wissen leistet


hier zweierlei:
Erstens bedeutet Archivierung Entgrenzung der mögli-
chen Rezeption in räumlicher (Abschriften an verschie-
denen Orten) und - noch wichtiger - in zeitlicher Hin-
sicht (spätere potentielle Leserinnen und Leser werden
den Text neu verstehen und mit wachsendem Abstand
neu interpretieren müssen). Der Text wird also auto-
nom von seiner Entstehungssituation (diese »archivali-
sche« Funktion jedes Textes ist fester Bestandteil neue-
rer Textbegriffe aus Philosophie und Literaturwissen-
schaft4);
Zweitens bedeutet Archivierung (vor allem in alpha-
betschriftlichen Kulturen) aus den genannten Gründen
zugleich auch die Möglichkeit der »Demokratisierung«
von Textinhalten, die - jedenfalls im Prinzip - allen zur
Überprüfung offen stehen und zunächst durch Min-
derheiten weitertradiert werden können:

»sie (sc. die Schriftlichkeit und die Archivierung von Texten [FH])
gestattet es, losgelöst von den konkreten Lebenszusammenhängen,
neue Konzepte zu fassen [... ] und - falls die Mitwelt sie nicht ver-
stehen und akzeptieren wollte - dem Urteil der Nachwelt zu über-
antworten.«5

Gerade letzterer Gesichtspunkt ist für die sogenannte


»Denkschrift« Jesajas in Jes 6-8* und den »Assurzyk-

4 Vgl. grundsätzlich P. Ricreur, Was ist ein Text? (1970), in: ders.,
Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970-1999) (Mei-
ner Philosophische Bibliothek 570), Hamburg 2005, 79-108.
5 Goody/Watt!Gough, Entstehung, 20. Vgl. zum epistemologi-
schen Status historischer Archive P. Ricreur, Gedächtnis, Geschich-
te, Vergessen (Übergänge 50), München 2004, 260: »Wie jede
Schrift steht ein Archivdokument jedem offen, der lesen kann; es
hat also, anders als das an einen bestimmten Gesprächspartner ge-
richtete orale Zeugnis, keinen designierten Empfänger; außerdem
ist das im Archiv schlafende Dokument nicht nur stumm, sondern
auch verwaist; die Zeugnisse, die das Archiv enthält, sind von den
Urhebern, die sie >gezeugt< haben, abgelöst und statt dessen der
Sorge derer anheimgegeben, die kompetent sind, sie zu befragen
und sie so zu verteidigen und ihnen zu Hilfe zu kommen.«
X Vorwort

lus« Jes 28-31 * als charakteristisch für das Phänomen


der Schriftprophetie verstanden worden 6 . Weil diese
Texte retrospektiv zu literarischen Kompositionen zu-
sammengefasst wurden, legen sie Zeugnis ab von ei-
nem Vorgang der Konsultierung älterer »archivierter«
Texte im Blick auf ihre »Beweiskraft« für die Gegen-
wart7. Dabei geht es um eine Selektion von als autori-
tativ erkannten Zeugnissen, hier: Jesajas, und um deren
erneute, nun aber sehr bewusste »Aufdauerstellung«
für spätere Rezeptionsvorgänge. Letztere erfolgt pri-
mär innerhalb eines anwachsenden prophetischen Bu-
ches (und später buchübergreifend in der prophetischen
Literatur im Ganzen). Insofern bildet nun die literari-
sche Form des Prophetenbuchs den »archivalischen«
Referenzrahmen der Konsultierung. Dies bringt nicht
nur die nach dem Muster altorientalischer Kolophone
gebildete Besiegelung der »Denkschrift« in Jes 8,16-18
(festhalten an JHWH, »der sein Angesicht verbirgt«)
zum Ausdruck, sondern auch Jes 30,8:

»Jetzt, geh, schreibe es auf eine Tafel bei ihnen und ritze es ein auf
eine Inschrift, auf dass es sei für einen fernen Tag, fortwährend, für
fernste Zeit!«

Der Zeugnischarakter bezieht sich auf die zutreffend


vorhergesagten Geschichtsverläufe als Manifestation
des ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch als stra-
fend erkannten Willens JHWHs (vgl. dazu auch den
Aufbau der Arnos-Visionen Am 7-9*). In den älteren
Textkompositionen des Jesajabuches zeigt sich die Be-
wahrheitung des Gerichtswillens JHWHs im Unter-
gang Samarias, der für Jes 6-8 und für Jes 28-31 der

6 Vgl. J. Jeremias, Das Proprium der alttestamentlichen Prophetie,

in: ders., Hosea und Arnos. Studien zu den Anfängen des Dodeka-
propheton (FAT 13), Tübingen 1996, 20-33.
7 Rica?ur, Gedächtnis, 260: »Für eine weniger passive Auffassung

von der Konsultation des Archivs ist der Wechsel des Vorzeichens,
der aus einem verwaisten Text einen mit Autorität macht, an die
Koppelung des Zeugnisses mit einer Heuristik des Beweises gebun-
den. [... ] Man verlangt vom Zeugnis, daß es beweist.«
Vorwort XI

prägende Bezugspunkt ist, in dessen Licht dann auch


Juda die Vernichtung angesagt wird, weil die Herr-
schenden und das Volk die Zeichen der Zeit nicht zu le-
sen wussten (vgl. die literarische Stilisierung besonders
von Jes 7, aber auch von 8,1-4 mit 8,5-8 sowie von Jes
28, das in V.1-4 mit dem Wort gegen Samaria einsetzt
und ab V. 7 auf Juda hinführt).
Odil Hannes Steck hatte in seinem letzten Buch »Gott
in der Zeit entdecken« noch einmal auf die fundamen-
tale Bedeutung der Ablehnung der Botschaft für die
adäquate Wahrnehmung der Anfänge des Jesajabuches
hingewiesen. Er tat dies angesichts neuerer Thesen,
wonach der historische Jesaja ursprünglich ein reiner
Heilsprophet für Juda gewesen sein soll 8 . Dagegen ver-
weist Steck zu Recht darauf, dass »in allen einschlägi-
gen Texten (sc. des Protojesaja [FH]) überdeutlich ist,
daß die Formulierungen(!) immer schon die Erfahrung
der Ablehnung in sich schließen« 9 . Hinter diesen Sach-
verhalt kommen wir mit unseren methodischen Mitteln
nicht zurück. Er stellt eine hermeneutische Scheide-
wand für die ältesten erreichbaren Textkompositionen
hinsichtlich der darin verarbeiteten früheren Einzel-
worte dar. Insofern sollte - so Steck - der Versuch der
Rekonstruktion der Entstehungsvorgänge immer schon
beim Unheilscharakter der vorliegenden Texte anset-
zen und zugleich eine Öffnung der Exegese hin auf de-
ren historische und kulturelle Kontexte versuchen 10• In

8 Vgl. U. Becker, Jesaja - von der Botschaft zum Buch (FRLANT


178), Göttingen 1997.
9 O.H. Steck, Gott in der Zeit entdecken. Die Prophetenbücher des

Alten Testaments als Vorbild für Theologie und Kirche (BThSt 42),
Neukirchen-Vluyn 2001, 155, Anm. 75.
10 Vgl. dazu Steck, ebd., 155, Anm. 75: »Vorschnellen Kompila-
tionsergebnissen ist deshalb ebenso entgegenzutreten wie einer mo-
nomanen Literarkritik nach Art des 19. Jhdt.s, in der sich der Ex-
eget, als ob es Gunkel nie gegeben hätte, heute noch erlaubt, ohne
Kontrolle aus der Methodeninterdependenz (Redaktionsgeschichte
[... ], Formgeschichte, Religions- und Traditionsgeschichte als Nach-
frage nach bestimmenden Wahrnehmungs- und Darstellungsmus-
tern) nach eigenem Gusto bezüglich eines stimmigen Textes aus
XII Vorwort

die neuere Jesajaforschung ist in dieser Hinsicht wieder


Bewegung gekommen. Insbesondere die Einbeziehung
assyrischen Vergleichsmaterials, wie sie Peter Höffken
in seinem Forschungsbericht von 2004 gefordert hatte,
findet nun erneut verstärktes lnteresse 11 :

» Wer sich mit der Buchwerdung von PJ (= Protojesaja [FH]) be-


schäftigt, sollte Wert auf die Auswertung der assyrischen Nachrich-
ten aus der Zeit Tiglat-Pileser III. [... ], des Sargon II., des Sanherib
legen. Das schließt ein, dass man sich auch mit den Hinterlassen-
schaften von deren Nachfolgern usw. befassen muss, wenn man
denn ,Manassezeit< oder ,Joschijazeit< substanziieren will [... ]. Rein
buchintern verfahrende Analysen sind auf die Dauer sehr unbefrie-
digend. Nach meinem Eindruck sprechen gerade ältere Schichten in
PJ die Politsprache der damaligen Zeit, wie sie assyrische Königs-
inschriften (usw.) dokumentieren.« 12

Auch die vorliegende Sammlung von Einzelstudien


weiß sich dieser Rückfrage nach möglichen histori-
schen und kulturellen Kontextualisierungen der älteren
Jesajatexte und der Jerusalemer Traditionen des 8./7.
Jh.s v.Chr. verpflichtet. Die Jesajatexte wurden nach
meiner Auffassung als ein »Archiv des verborgenen
Gottes« (vgl. Jes 8,16-18) aufgezeichnet, damit das
autoritativ auf JHWH zurückgeführte gegenwartser-
schließende und zukunftseröffnende Wort weiter zur
Verfügung stand, auch wenn es zunächst nicht gehört
wurde.
Wiederum Odil Hannes Steck hatte vorgeschlagen, die
Prophetenbücher des Alten Testaments in ihrem Eigen-
anspruch als offizielle Dokumente des Königs JHWH zu

dem Textmaterial herauszuschneiden und zusammenzustellen, was


er sucht.«
11 Vgl. mit sehr unterschiedlichen Gewichtungen und Ergebnissen

M.]. de ]ong, Isaiah among the Ancient Near Eastern Prophets. A


Comparative Study of the Earliest Stages of the Isaiah Tradition and
the Neo-Assyrian Prophecies (VT.S 117), Leiden 2007; ]. Kreuch,
Unheil und Heil bei Jesaja. Studien zur Entstehung des Assur-
Zyklus Jesaja 28-31 (WMANT 130), Neukirchen-Vluyn 2011.
12 P. Höffken, Jesaja. Der Stand der theologischen Diskussion,
Darmstadt, 2004, 144.
Vorwort XIII

verstehen, wie sie durch seine Boten, die Propheten,


übermittelt wurden:

»Die Vorstellung protokollierend aufgezeichneter Verlautbarungen


aus der himmlischen Beschlußwelt Jahwes und der wort- und tat-
haften Ausführungen des prophetischen Übermittlers dessen [... ]
scheint uns als - durch altorientalische Vorstellungsbefunde abzu-
stützende - Arbeitshypothese dafür, was ein Prophetenbuch dar-
stellt und in der Gestaltung ausdrückt [... ].« 13

Bereits im Blick auf die »Denkschrift« und den »Assur-


zyklus« im Jesajabuch erscheint mir diese Beschrei-
bung sehr bedenkenswert. In manchen Prophetentex-
ten wird denn auch der politische Anspruch der Könige
und Herrscher Israels und Judas direkt oder indirekt mit
der Autorität des »Archivs des Königs JHWH« kontras-
tiert (vgl. etwa Jes 7; 28; Am 7,10-17). Am deutlichsten
ist dieser Konflikt um das »Deutemonopol« für die Ge-
schichtsverläufe in der erzählten Welt des Jeremiabuchs
realisiert worden (vgl. Jer 36, für die Periode vor dem
Untergang Judas).
Es geht bei der Schriftprophetie des Alten Testaments
als einem über Jahrhunderte nicht zum Stillstand kom-
menden Überlieferungs- und Fortschreibungsprozess
um nichts anderes als die Beibehaltung und zunehmen-
de Verfeinerung und Vertiefung eines langzeitigen Ge-
schichtsdenkens, das nach dem Eigenanspruch der Texte
JHWH selbst erschlossen hat.
Dieses Erschließungsgeschehen gibt zuletzt auch den
Wandel Gottes vom in der Geschichte strafenden zum
sich wieder zuwendenden barmherzigen Gott zu erken-
nen. Das bedeutet jedoch nicht, dass das »Archiv des
verborgenen Gottes« in den anwachsenden Propheten-
büchern völlig transparent geworden wäre. Vielmehr
erweist sich die immer neue Gegenwartsdeutung mit
Hilfe der prophetischen Überlieferung als eine präzi-

13 O.H. Steck, Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeug-


nis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen 1996,
31, Anm.46.
XIV Vorwort

se, aber bewusst als vorläufig erkannte deutende Be-


wegung in der Zeit, die man sowohl als Vergangen-
heitserschließung als auch - mit einem Begriff von Ste-
fan M. Maul - als »Zukunftsbewältigung« bezeichnen
kann 14 . Der Gesamtwille JHWHs, wie ihn die Prophe-
tenbücher bezeugen, bleibt undurchschaubar, kann je-
doch wie JHWH selbst als verlässlich und zuletzt »ret-
tend« und »gerecht« erfasst werden. Im Jesajabuch
wird dies in den großen buchübergreifenden Bögen von
Deuterojesaja zu den späten buchabschließenden Fort-
schreibungen deutlich. Im vorliegenden Band befasst
sich der vierte Beitrag, der es mit der Rezeption von Jes
6 in Jes 40,1-11 zu tun hat, mit der buchinternen Be-
zugnahme auf frühere Texte des »Archivs JHWHs«.

In der langen Entstehungsgeschichte des Bandes ge-


bührt der erste Dank Herrn Dr. Volker Hampel, der
das Buch einst anregte und dann lange auf seine Reali-
sierung warten musste. Die Zeit bis zum Erscheinen war
aber insofern nicht umsonst, als es nun möglich war,
den abschließenden fünften Beitrag zur Entstehung des
»Völkerkampfmotivs« mit aufzunehmen und so die
Fragestellung auch auf den Bereich der Zionspsalmen
46 und 48 auszudehnen. Die beiden Hamburger Hilfs-
kräfte Jonas von Reinersdorff und Nico Lühmann haben
in bewährter Weise die Texte und Bilder der Beiträge
1-4 für den Druck eingerichtet. Ihnen sei dafür herz-
lich gedankt ebenso wie nochmals Herrn Dr. Hampel,
der nicht nur den neu hinzugekommenen Beitrag 5 for-
matiert hat, sondern auch die Endformatierung des Ge-
samttextes übernahm.

München, im Januar 2011 Friedhelm Hartenstein

14 S.M. Maul, Zukunftsbewältigung. Eine Untersuchung altorien-

talischen Denkens anhand der babylonisch-assyrischen Löserituale


(Namburbi) (Baghdader Forschungen 18), Mainz 1994.
Inhalt

Vorwort ............................................................... V

JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs


(Jesaja 8,6-8)
Traditions- und religionsgeschichtliche Beobach-
tungen zur »Denkschrift« Jesaja 6-8* ................ 1

Tempelgründung als »fremdes Werk«


Beobachtungen zum »Ecksteinwort« Jesaja 28,
16-17 .................................................................... 31

Unheilsprophetie und Herrschaftsrepräsentation


Zur Rezeption assyrischer Propaganda im anti-
ken Juda (8./7. Jh. v.Chr.) ................................... 63

» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst«


(Jesaja 40,2)
Die Geschichtshermeneutik· Deuterojesajas im
Licht der Rezeption von Jesaja 6 in Jesaja 40,
1-11 ······································································ 97

»Wehe, ein Tosen vieler Völker ... «


(Jesaja 17, 12)
Beobachtungen zur Entstehung der Zionstradi-
tion vor dem Hintergrund des judäisch-assyri-
schen Kulturkontakts .......................................... 127

Nachweis der Erstveröffentlichungen ................ 177


JHWH und der »Schreckensglanz«
Assurs (Jesaja 8,6-8)
Traditions- und religionsgeschichtliche Beobachtungen
zur »Denkschrift« Jesaja 6-8 *

I. Die »Denkschrift« Jes 6-8 * als Schriftprophetie

Im Gefolge von Karl Budde hat sich für Jes 6-8 (bzw.
Jes 6-9,6) in der Forschung die Bezeichnung »Denk-
schrift« durchgesetzt1. Damit war gemeint, dass es
sich bei diesen Kapiteln um ein Selbstzeugnis des Jeru-
salemer Propheten Jesaja aus dem letzten Drittel des
8. Jh.s v.Chr. handelt, der seine Verkündigung aus der
Zeit des sogenannten »syrisch-ephraimitischen Krie-
ges« zusammengefasst und gedeutet hätte. Die kunst-
voll steigernde Struktur der drei Kapitel wurde vor al-
lem von Odil Hannes Steck herausgearbeitet 2 . Durch
den Verlauf der Ereignisse gezwungen, hätte Jesaja
zum Mittel schriftlicher Aufzeichnung gegriffen, um
der durch seine Zeitgenossen, allen voran den judäi-
schen König Ahas, abgelehnten Botschaft JHWHs ei-
nen Raum für weitere Wirkung in der Zukunft zu er-
öffnen.

1 Vgl. K. Budde, Jesaja's Erleben. Eine gemeinverständliche Aus-


legung der Denkschrift des Propheten (Kap. 6,1-9,6) (Bücherei
der christlichen Welt), Gotha 1928.
2 O.H. Steck, Bemerkungen zu Jesaja 6, in: ders., Wahrneh-
mungen Gottes im Alten Testament. Gesammelte Studien (TB 70),
München 1982, 149-170; ders., Rettung und Verstockung. Ex-
egetische Bemerkungen zu Jesaja 7,3-9, in: ebd., 171-186; ders.,
Beiträge zum Verständnis von Jesaja 7,10-17 und 8,1-4, in: ebd.,
187-203. Als Problemübersicht zur »Denkschrift« vgl. z.B. 0.
Kaiser, Grundriss der Einleitung in die kanonischen und deute-
rokanonischen Schriften des Alten Testaments 2: Die propheti-
schen Werke, Gütersloh 1994, 37-39.
2 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

Die in der Textkomposition vorausgesetzte historische


Situation lässt sich aus den Kapiteln Jes 7-8,4 er-
schließen3: Infolge des unter Tiglatpileser III. erhöh-
ten politischen und militärischen Drucks versuchten der
Aramäer Rezin (Ra~yän) von Damaskus und Pekach
von Israel um 733 v.Chr. das Südreich Juda in eine
antiassyrische Koalition zu zwingen - ein Ansinnen,
dem sich Ahas widersetzte. Jedoch konnte er sich, so
Jes 7, nicht auf die politische Weitsicht Jesajas ein-
lassen, der im Namen JHWHs von Verteidigungs-
maßnahmen abriet und der Koalition nur eine kurze
Lebensdauer ankündigte. Die beiden schon von der
Flamme Assurs entzündeten »rauchenden Scheite« Re-
zin und Pekach (Jes 7,4) waren zum sicheren Untergang
verurteilt und stellten keine wirkliche Gefahr für Ju-
da dar. Inwiefern diese Einschätzung, die sich ange-
sichts der Eroberung von Damaskus und der Einset-
zung Hoseas als Vasallenkönig für Ephraim und vor
allem angesichts der 722-720 v.Chr. erfolgten Um-
wandlung des Nordreichs in die assyrische Provinz
Samer"ina eindrucksvoll bestätigte, auf Jesaja zurück-
geführt werden kann oder aber späteren Gestaltern
zugeschrieben werden muss, bleibt eine offene Frage 4•
Die einschneidende Bedeutung des Datums 722/720
v.Chr. 5 für die Geschichte Israels und seiner theo-
logischen Traditionen, vor allem der Prophetie, wird
heute jedenfalls nicht selten zugunsten der zweiten
großen katastrophalen Erfahrung, der Zerstörung Je-
rusalems durch die Neubabylonier 587 v.Chr., unter-
schätzt. Nur wenige Kilometer nördlich von Jerusalem
gelangte man ja im letzten Viertel des 8. Jh.s v.Chr. in

3 Zur historischen Situation vgl. H. Donner, Geschichte des


Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen 2 (GAT 4/2),
Göttingen 2 1995, 334-347.
4 Vgl. dazu die unten in Anm. 10 und 11 genannte Literatur.
5 Zu 720 v.Chr. als dem Datum der Eroberung Samarias durch
Sargon II. und seiner Bedeutung für den Untergang des Nord-
reichs siehe z.B. St. Timm, Die Eroberung Samarias aus assy-
risch-babylonischer Sicht, WO 20/21 (1989/1990) 62-82.
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 3

den unmittelbaren Einflussbereich der assyrischen


Großmacht, der man seit der Zeit des Ahas tribut-
pflichtig geworden war. Auch das archäologisch nach-
weisbare starke Anwachsen des Jerusalemer Stadtge-
biets gegen Ende des 8. Jh.s v.Chr. spricht eine deut-
liche Sprache 6 . Sehr wahrscheinlich kamen im Gefol-
ge einer Fluchtbewegung aus dem Norden nach 722
v.Chr. auch die prophetische Überlieferung des Hosea
und des Arnos in die Hauptstadt Judas. Diese Überlie-
ferung hatte in ihrer damaligen, sich von den Prophe-
tenbüchern gleichen Namens unterscheidenden Gestalt
bereits die besondere Form von »Schriftprophetie«
angenommen, als deren herausragendes Beispiel die
»Denkschrift« Jes 6-8 gilt.
Was ist das Spezifikum solcher Schriftprophetie? Mit
Jörg Jeremias, dem dieser Beitrag dankbar gewidmet
ist, lässt es sich folgendermaßen umschreiben 7: Die
prophetische Verkündigung ist zunächst ein münd-
liches Geschehen. Sie ergeht in eine offene Situation
und versucht, das Denken und Handeln von Herr-
schenden und Volk zu beeinflussen, indem sie im Na-
men JHWHs Partei ergreift. Aber diese Ausgangs-
situation - das hat die neuere Prophetenforschung
immer deutlicher gezeigt - bekommen wir nur noch
sehr indirekt zu fassen. Unser Blick wird vor allem auf
die prophetische Botschaft als Text gelenkt. Für diesen

6 Siehe z.B. E. Otto, Jerusalem -· die Geschichte der Heiligen


Stadt. Von den Anfängen bis zur Kreuzfahrerzeit (UT 308) Stutt-
gart/Berlin/Köln/Mainz 1980, 68f.
7 Vgl. J. ]eremias, Das Proprium der alttestamentlichen Prophe-

tie, in: ders, Hosea und Arnos. Studien zu den Anfängen des Do-
dekapropheton (FAT 13) Tübingen 1996, 20-33, bes. 27-32;
ders., Die Anfänge der Schriftprophetie, ZThK 93 (1996) 481-
499, bes. 496; ders., Prophetenwort und Prophetenbuch. Zur Re-
konstruktion mündlicher Verkündigung der Propheten, in: I.
Baldermann u.a. (Hg.), Prophetie und Charisma (JBTh 14), Neu-
kirchen-Vluyn 1999, 19-35; ders., Art. Prophet/Prophetin/Pro-
phetie II. Altes Testament, in: RGG 4 6, Tübingen 2003, 1694-
1699, bes. 1697ff (»Schriftpropheten«); ders., Art. Prophetenbü-
cher, in: ebd., 1708-1715, bes. 1708-1710 (»Schriftlichkeit«).
4 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

liegt die Verkündigungssituation als vergangen zurück


und kann so in ihrem tatsächlichen Ausgang bewertet
werden. Menschen haben sich faktisch entschieden
und zwar gegen das Wort JHWHs und seine Heilsan-
gebote8. Aus den zunächst offenen Prophetenworten
wird im Rückblick eine Dokumentation ihrer Ableh-
nung und der daraus resultierenden Unheilsgeschichte,
die dem Wort JHWHs die Dynamik einer sich zu-
nehmend verschärfenden Gerichtsansage verleiht. So
formuliert das die Denkschrift Jesajas abschließende
Kolophon in Jes 8,16-18 als Resümee die bleibende
Erfahrung der Abwendung JHWHs 9 :

»Einschnüren von Bezeugung, Versiegeln von Weisung[ ... ]. Und


ich werde harren auf JHWH, der sein Angesicht (fortdauernd)
verbirgt vor dem Haus Jakob.«

Angesichts dieses besonderen Charakters von Schrift-


prophetie erscheint der implizit auch noch die jüngsten
Deutungen der Jesaja-Denkschrift prägende Bewer-
tungsmaßstab, der die ursprünglichen Prophetenworte
als originäre Zeugnisse von späteren Hinzufügungen
abgrenzt, als nicht wirklich angemessen. Wenn am Be-
ginn des Prozesses der Verschriftung - zumindest im
Blick auf die Anfänge der Schriftprophetie - eine Ge-
richtsansage steht, die sich historisch bewahrheitet und
daher über den Propheten hinaus zu weiteren Deutun-
gen nötigt (vgl. den »Verstockungsgedanken « in Jes
6,9f), so bleibt die Frage nach dem »Proprium« dieser

8 Vgl. die jetzige Komposition von Jes 7 (Zeichenangebot an


Ahas und die auf dessen Ablehnung folgende Zeichenankündi-
gung JHWHs zum Gericht auch an Juda), in der wohl zwei ur-
sprünglich offene Heilsworte Jesajas an den König überarbeitet
worden sind (Beistandszusage angesichts der Bedrohung durch
die Koalition Israel/Damaskus, Immanuel-Weissagung im Blick
auf die baldige Rettung vor dieser).
9 Siehe dazu C. Hardmeier, Verkündigung und Schrift bei Jesaja.

Zur Entstehung der Schriftprophetie als Oppositionsliteratur im


alten Israel, ThGl 73 (1983) 119-134, bes. 125 zu Jes 8,16-18 als
»Kolophon« im Sinne altorientalischer Schreiberpraxis.
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 5

Literaturform auf die darin abgebildete hermeneutische


Gesamtbewegung gewiesen. Insofern ist die Rückfrage
nach dem Anfang und Anstoß der Buchwerdung unab-
dingbar. Blickt man hierzu auf die beiden 1997 erschie-
nenen Arbeiten zu Jesaja von Jörg Barthel und Uwe
Becker, so verbinden sich mit ihnen sehr unterschied-
liche Optionen 10 : Jörg Barthel rekonstruiert umsichtig
(wenn auch in manchem optimistisch) eine weitgehend
auf den Propheten Jesaja zurückführbare »Denkschrift«
und macht deren Wachstum hermeneutisch plausibel.
Die Reduktion auf ein - historisch und hermeneutisch
problematisches - literarisches Minimum bei Uwe Be-
cker bleibt jedoch gerade in ihrem Anspruch, sich von
ihm zu lösen, dem traditionellen Gegensatz zwischen
»Botschaft« und »Buch« verhaftet 11 . In diesem Zu-
sammenhang ist es wichtig, sich klar zu machen, wie
viel daran hängt, die historische Erfahrung und ihre
Reflexion, die das Wesen der Schriftprophetie aus-
macht, zunächst als eine in vielem fremdartige wahr-
zunehmen. Der Versuch einer Annäherung an die
»Denkschrift« Jes 6-8 ist dann ein langwieriges Pro-
jekt. Er verspricht m.E. weiterführende Ergebnisse,
wenn man ihn im ständigen Blick auf den Vergleichs-
horizont altorientalischer Zeugnisse, v.a. der Assyrer-
zeit des 8./7. Jh.s v.Chr., unternimmt. Gerade die
theologische Eigenart der »Denkschrift« als Schrift-
prophetie vermag deutlicher hervorzutreten, wenn
man diese auch als Auseinandersetzungsliteratur mit

10 Vgl. J. Barthel, Prophetenwort und Geschichte. Die Jesaja-


überlieferung in Jes 6-8 und 28-31 (FAT 19), Tübingen 1997; U.
Becker, Jesaja - von der Botschaft zum Buch (FRLANT 178), Göt-
tingen 1997.
11 Die für die Jesaja-Diskussion und die Prophetenforschung

fruchtbare Gegensätzlichkeit der Arbeiten von Barthel und Be-


cker sowie die bestehenden Übereinstimmungen dokumentiert
jetzt ein wichtiger Beitrag des Symposiums »Das Alte Testament
und die Kultur der Modeme«: M. Köckert / U. Becker /]. Bar-
thel, Das Problem des historischen Jesaja, in: I. Fischer / K.
Schmid / H.C.M. Williamson (Hg.), Prophetie in Israel (Altes
Testament und Modeme 11), Münster 2003, 105-135.
6 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

den Inhalten assyrischer Kultur (und Propaganda) ver-


steht12.
Einern Teilaspekt dieses größeren Projekts sind die fol-
genden, notwendig skizzenhaften Überlegungen ge-
widmet, die in Fortsetzung meines Deutungsversuchs
der Thronvision in Jes 6 nach der Bildsprache des termi-
nologisch eng darauf bezogenen Abschnittes ]es 8,6-8
fragen 13. Es handelt sich nur um einen Schritt auf dem
Weg zur Beantwortung der Frage nach der Entste-
hung der »Denkschrift«, ohne dass man sich dabei auf
den Propheten als ihren Gestalter festlegen müsste.

II. Die zurückgezogene Heilspräsenz JHWHs und


der »Schreckensglanz« Assurs (Jes 6,3b und Jes 8,7aß)

Meine 1997 erschienene Untersuchung zur Thronvisi-


on Jes 6 hatte nicht so sehr die Erhellung der kompo-
sitorischen und literarischen Funktion des Textes im
Jesajabuch zum Ziel, sondern versuchte eine Rekon-
struktion der hinter diesem Text stehenden traditio-
nellen Vorstellung vom »Wohnort« JHWHs in der
Jerusalemer Tempelsymbolik14. Um dieses, vor allem
auf die heilvolle Präsenz Gottes im Heiligtum und -
in einer mythischen Entsprechungslogik - zugleich im
Land / in der Welt gerichtete Konzept herausarbeiten

12 Vgl. zum starken Einfluss assy'rischer Texte und Vorstellun-

gen speziell auf Jesaja P. Machinist, Assyria and Its Image in the
First Isaiah, JAOS 103 (1983) 719-737, bes. 726 (zu Jes 8,7-8).
Zur Einwirkung speziell der Bildsprache assyrischer Groß-
reichsideologie auf die Prophetie siehe C. Uehlinger, Figurative
Policy, Propaganda und Prophetie, in: f.A. Emerton (Hg.), Con-
gress Volume Cambridge 1995 (VT.S 66), Leiden / New York /
Köln 1997, 297-349.
13 Der vorliegende Beitrag wurde im Jahr 2001 an der Theolo-

gischen Fakultät der Universität Leipzig als Vortrag gehalten.


Anregungen aus der Diskussion habe ich dankend aufgenommen.
14 F. Hartenstein, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum.
Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradi-
tion (WMANT 75), Neukirchen-Vluyn 1997.
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 7

zu können, war es nötig, die prophetische Intention


der Jesajavision zu erheben. Das an sich heilvolle Jeru-
salemer Konzept von der Tempelpräsenz Gottes er-
scheint in einer negativen Umformung: In V. 1-4 sieht
der Prophet JHWH auf seinem »hohen und erhabenen
Thron« unter Begleitumständen, die vor allem in V. 4
Gerichtsassoziationen aufweisen. Neben dem angst-
vollen »Beben« der personifiziert auf gefassten Schwel-
len des Tempeltores vor der Stimme der furchtbaren
Seraphim ist, noch wichtiger, von der Erfüllung des
Tempels mit »Rauch« die Rede - ein Zeichen der un-
durchdringlichen Verbergung JHWHs vor den Gebe-
ten Israels (vgl. Ps 74,1; Thr 3,44). Der Schlüssel zum
Verständnis dieser Konnotationen liegt dabei in der in
Jes 6 dreifach vorkommenden Wurzel ml':

- verbal in V. lb »Die Gewandsäume JHWHs erfüllten den


Tempel«.
- entsprechend dazu V. 4b: »Rauch erfüllte das Haus«.
- nominal in V. 3b »Die Fülle der ganzen Erde ist seine Herr-
lichkeit«.

Religions geschichtlich haben diese Aussagen ihre nächs-


ten Parallelen in dem die Gottheiten in Mesopotamien
umgebenden »Schreckensglanz« (melammu u.a.), der
in sumerischen und akkadischen Texten seit ältester
Zeit breit belegt ist 15 . Von den Gottheiten abgelei-
tet können mit diesem Glanzphänomen Götterwaffen,
Tempel und Städte, aber auch die ganze Erde »erfüllt«
(akk. malu) oder »bedeckt« werden, wobei nicht sel-
ten Gewandmetaphorik verwendet wird (»wie mit ei-
nem Kleid«; »mit Glanz bekleidet« [akk. labasu] etc.).
In eben diesem Sinn scheint in Jes 6 die königliche
»Herrlichkeit« (11::l:J) JHWHs in Form seines Lichtge-
wandes den Tempel »innen« in derselben Weise zu »er-

15 Vgl. Hartenstein, Unzugänglichkeit, 69-76 (Exkurs 3:


»Schreckensglanz« und Gewandmetapher in Mesopotamien); E.
Cassin, La splendeur divine. Introduction a l'etude de la mental-
ite mesopotamienne (CeS 8), Paris/ La Haye 1968.
8 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

füllen« (Jes 6,lb), wie sie »außen« - nach dem hym-


nischen Gesang der Seraphim - »die ganze Erde er-
füllt« (Jes 6,3b). Der heilvollen Tempelpräsenz Gottes
entspricht also seine ebenso heilvolle kosmische Prä-
senz in der Menschenwelt. Tritt nun anstelle des
Lichtgewandes »innen« der undurchdringliche »Rauch«
(1ibt' V. 4), so unterbricht JHWH die kultische Kom-
munikation mit den Menschen 16 . Das Wechselspiel
von Licht, Leben und Loben, zwischen Tempel und
Land, wird außer Kraft gesetzt. Anstelle der positiv
konnotierten Herrlichkeitsfülle der Welt (Lebewesen,
Bewohner, Bewegung, Fruchtbarkeit des Landes) tritt
deren semantisches Gegenstück, die allen Lebens be-
raubte Verödung, Erstarrung und Totenstille (Oppo-
sita ~~l'J 11 i11'Jl'JiD [Jes 6, 11 ], mit den Konnotationen
einer gewaltsamen und kriegerischen Herbeiführung
dieses Zustands) 17.
Blickt man von dieser Analyse herkommend auf den
weiteren Textzusammenhang der »Denkschrift« Jes
6-8*, so fällt auf, dass es nur der Abschnitt ]es 8,6-8
ist, in dem die Leitworte »Fülle« und »Herrlichkeit«
aus der Jesajavision wieder aufgenommen werden
und dabei - wie gleich zu zeigen sein wird - auch
konzeptionell derselben Logik gehorchen. Betrachten
wir, um uns einen Überblick zu verschaffen, kurz den
Abschnitt im Ganzen. Nach vorne wird er durch die
Überleitung V. 5 (»Und JHWH fuhr fort, zu mir zu
reden«) von Jes 7-8,4 abgehoben und nach hinten
durch V. 9ff abgegrenzt, wo terminologisch und the-

16 Dies ist wahrscheinlich vor dem Hintergrund des kleinasia-


tischen Mythos vom »verschwundenen Gott« zu verstehen (v.a.
vom Wettergott Telipinu überliefert). Darin zeigt der das »(Tem-
pel-)Haus« erfüllende »Rauch« die unheilvolle Abwesenheit des
zornigen Gottes an (vgl. Hartenstein, Unzugänglichkeit, 136-
166).
17 Hartenstein, Unzugänglichkeit, 166-182, bes. 175-179 (zur
Opposition von ~?1'.:I 11 i11'.:11'.:li6 in Ez 12,19; 19,7; 30,12; 32, 15 sowie
~,r.:i
11 '.:lin in Ez 26,2; 36,37).
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 9

matisch etwas anderes beginnt (Völkerthematik, An-


rede in der 2. Pers. Pl.) 18 :

5 Und JHWH fuhr fort, zu mir zu reden:


6 » Weil verworfen/verachtet hat dieses Volk da
die sanft einherfließenden Wasser von Schiloach,
und Freude (hat) an Rezin und am Remalja-Sohn,
7 darum: Siehe, der Herr lässt heraufsteigen über sie
die Wasser des (Euphrat-)Stroms, die starken und mächti-
gen,
- den König von Assur und seine ganze Herrlichkeit/
Macht-
und er wird heraufsteigen über alle seine Betten/Rinnen
und wird gehen über alle seine Ufer
8 und wird dahinfahren in Juda,
einherfluten/-strömen
und hindurch schreiten,
bis an (den) Hals wird er reichen!
Und es wird sein: die Ausspannungen seiner Flügel
(werden) die Fülle der Weite deines Landes (sein),
Immanuel!«

Das Verständnis des typisch zweiteiligen Gerichtsworts


(Begründung, eingeleitet mit '~ 1.t,' V. 6, Gerichtsan-
sage mit p', V. 7) ist bis in die neuesten Untersuchun-
gen hinein mit einer Vielzahl von inhaltlichen und li-
terarischen Problemen belastet, wobei es textlich gut
erhalten ist. Insbesondere hat man häufig die histo-
rischen Hinweise auf »die Freude an/mit Rezin und
dem Remalja-Sohn« in V. 6b und die Verdeutlichung
des geschilderten Flutgeschehens (s.u. IV.) in V. 7aß auf
»den König von Assur und seine ganze Herrlichkeit/
Macht« als spätere Hinzufügungen gewertet, ebenso
V. Sb mit der Rede von den »ausgebreiteten Flügeln als
Fülle des Landes« (s.u. III) 19. In der Tat spricht man-

18 V. Sb stellt dazu in gewisser Weise einen Gelenkvers dar bzw.


wurde im Verlauf der Geschichte des Textes dazu.
19 Siehe z.B. H. Barth, Die Jesaja-Worte in der Josiazeit. Israel
und Assur als Thema einer produktiven Neuinterpretation der
Jesajaüberlieferung (WMANT 48), Neukirchen-Vluyn 1977,
200-202, der V. Sb als späten Einschub behandelt; vgl. Barthel,
Prophetenwort, 206-208, der die Argumente umsichtig erwägt
10 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

ches dafür, dass wir es hier mit Präzisierungen eines


vorgegebenen Textes zu tun haben. Jedoch sind sie
nicht willkürlich und liegen auch sehr wahrscheinlich
auf einer literarischen Ebene:
Ein Jesaja-Wort von der hereinströmenden Flut (am
ehesten aus der Spätzeit vor 701 v.Chr., vgl. die Flut-
metaphorik in Jes 28 [s.u. IV]) wurde offenbar be-
wusst an die besondere Perspektive der »Denkschrift«
angepasst, die sich folgendermaßen umschreiben lässt:
a) Verortung der abschließenden Gerichtsankündi-
gung Jesajas gegen Juda in der im Rückblick paradig-
matischen Situation des syrisch-ephraimitischen Krie-
ges (wie Kap. 7-8,4).
b) Verdeutlichung des Zusammenhangs mit der Vi-
sion Jes 6 im Sinne einer Konkretion der kriegerischen
Folgen von JHWHs zorniger Verbergung für »die-
ses Volk da«, das die Wasser Schiloachs und damit
JHWH selbst »verworfen« hat (vgl. i1Ti1 mm in Jes 8,
6 und Jes 6, 9 [dort ohne Schuldaufweis]).
Blicken wir auf die erste signifikante terminologische
Entsprechung: Der »Herrlichkeit« JHWHs in der gan-
zen Welt/ im ganzen Land (Jes 6,3b) entspricht die in
das Land hereinströmende Flut, die als »der König
von Assur und seine ganze Herrlichkeit« (Jes 8,7) ge-
deutet wird. Man muss sich dazu wieder in religions-
geschichtlicher Perspektive vor Augen halten, dass es
in Mesopotamien unter den Menschen vor allem der
König (in Entsprechung zur Gottheit) ist, dem man
den »Schreckensglanz«, bevorzugt in seinem macht-
vollen Erscheinen zum Kampf gegen die Feinde, zu-
schreibt - so häufig in akkadischen Königsinschrif-
ten20. Zwei Beispiele aus neuassyrischer Zeit mögen
genügen. Asarhaddon sagt von sich:

und sich ebenfalls für eine spätere Bearbeitung entscheidet; vgl.


auch Becker, Jesaja, 109-110, der V. 8b zu V. 9fhinzunimmt.
20 Vgl. Cassin, Splendeur (s.o. Anm. 15), 65-82 (»Le melammu et
Ja fonction royale«); B. Oded, War, Peace and Empire. Justifica-
tions for War in Assyrian Royal Inscriptions, Wiesbaden 1992,
145-162.
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 11

»der mit Schreckensglanz bekleidete Held, dessen Waffen zur


Vernichtung der Feinde Assyriens Assur, der König der Götter,
sich erheben liess [... ].« 21

Und im Blick auf die mythische Tiefendimension der


assyrischen Kriegsführung, das in ihr wirksame Han-
deln des Gottes Assur, heißt es bei Sargon II.:
»Der Schreckensglanz Assurs, meines Herrn, warf ihn (sc. Jamani
von Asdod) nieder.« 22

Vor dem Hintergrund der aus Jes 6 erhebbaren Ent-


sprechungslogik lässt sich nach diesen assyrischen Par-
allelen aus dem zeitgeschichtlichen Kontext des 8./7.
Jh.s v.Chr. für den Bezug von Jes 8,7aß auf Jes 6,3b
folgender Schluss ziehen: Weil JHWH seinen 71:::l:l zu-
rückgezogen hat, indem er sich im Tempel unzugäng-
lich macht, wird das Land zur Verwüstung freigege-
ben. An die Stelle der JHWH-»Herrlichkeit« tritt der
»Schreckensglanz« Assurs, dem Gott selbst Raum gibt.

III. Die »ausgebreiteten Flügel« als »Fülle des Lan-


des« und die mesopotamische Anzu-Symbolik (Jes 8,8b
und Jes 6,3b)

Auch die Wendung von den »ausgebreiteten Flügeln«


in Jes 8,8b, die die »Fülle« des Landes bilden werden,
bezieht sich durch das Stichwort ~?l'J »Fülle« auf Jes
6,3b zurück. Liegen hier ähniiche Konnotationen wie
beim 71:::l:l vor, und tragen analoge religionsgeschicht-
liche Argumente zur Erhellung bei? Man hat bei dem

21 R. Borger, Die Inschriften Asarhaddons, König von Assyrien


(AfO 9), Graz 1956, 81 (AsBbA § 53,44).
22 Sargon II. (K 1668b + DT III' 41 '); zitiert nach M. Weippert,
»Heiliger Krieg« in Israel und Assyrien: Kritische Anmerkungen
zu Gerhard von Rads Konzept des »Heiligen Krieges« im alten
Israel, in: ders., Jahwe und die anderen Götter. Studien zur Religi-
onsgeschichte des antiken Israel in ihrem syrisch-palästinischen
Kontext (FAT 18), Tübingen 1997, 71-97, hier 86 (mit Anm. 82
[Lit.]).
12 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

Halbvers neben dem syntaktischen Neueinsatz mit


dem Tempusmarker i1"i11 (und Nominalsatz, vgl. Jes
6,3b!) und dem durch das Suffix der 2. Pers. »dein
Land« angezeigten Perspektivenwechsel (von der Schil-
derung in der 3. Pers. in V. 6-8a zur Anrede an Imma-
nuel in V. 8b) 23 stets die vermeintliche Unstimmigkeit
des Bildes betont 24 . Auf die breit ausgemalte Flutme-
taphorik folgt plötzlich ein Vergleich aus der Tier-
welt: die ausgebreiteten Schwingen eines riesenhaften
Vogels werden die »Fülle« des Landes Juda bilden.
Auch ist nicht völlig deutlich, worauf sich das Suffix
»seine Flügel« zurückbezieht. Nach allem bisher Ge-
sagten (vgl. die Entsprechungen von Jes 8,7aß und
8,8b jeweils mit Jes 6,3b) kann sinnvoll nur ebenfalls
der König von Assur und sein Heer gemeint sein, des-
sen unaufhaltsames Eindringen in Juda die Flutmeta-
phorik nach V. 7aß umschreibt.
In assyrischen Königsinschriften stehen die entspre-
chenden Bilder ebenfalls nicht selten zusammen in ei-
nem Text: der »Schreckensglanz« des Königs und die
Metaphorik der »Flut« für seine Zerstörungswut fin-
den sich darin neben verschiedenen Tier-Vergleichen,
darunter auch dem Bild des Adlers. Wie im Alten Tes-

23 Zum Immanuel-Namen an dieser Stelle scheint mir plausibel,

dass er sich auf Jes 7,14.16 - noch ohne die heilvollen Konnota-
tionen der relecture von 7,15 - zurückbezieht (später kommt mit
7,22 und 8, 10 eine weitere heil volle Perspektive hinzu). Das
ursprünglich hinter Jes 7, 14.16 stehende Immanuel-Wort Jesajas
ist am ehesten als königliches Geburtsorakel verständlich. An-
fänglich ein Heilsangebot, ist es im Zusammenhang von Jes 7,1-
17* - ohne V. 15 - als Unheilswort zu verstehen, das die Schnel-
ligkeit hervorhebt, mit der die aufgrund der Zeichenabweisung
des Ahas auch zum Gericht an Juda führenden politischen Ereig-
nisse eintreffen werden. Unter dieser Voraussetzung könnte auch
die Anrede in Jes 8,8b königliche Konnotationen enthalten (und
zwar negative: »dein Land« wird erfüllt mit der Macht Assurs).
So würde 8,8b im Rückbezug auf Jes 6-7* einen Schlusspunkt
unter eine »Denkschrift« setzen, die Jes 6-8,8* mit dem Kolo-
phon 8,16-18* umfasst hätte (s.u. V).
24 Vgl. dazu z.B. Barth, Jesaja-Worte (s.o. Anm. 19), 200f.
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 13

tament können dessen ausgebreitete Flügel neben der


bedrohlichen auch eine schützende Bedeutung haben 25 .
Im letzteren Sinn ist wohl folgendes Epitheton des
Ninurta-apil-ekur, des Ururgroßvaters Tiglatpilesers I.
zu verstehen:

»dessen Flügel wie die eines Adlers über sein Land gebreitet wa-
ren und ... «26

Sehr viel wahrscheinlicher handelt es sich aber in Jes 8,


8b um die bedrohliche Seite des Bildes, wie sie die fol-
gende Stelle, wieder aus dem Corpus der Asarhaddon-
lnschriften, vor Augen stellt:
»Wie ein fliegender Aar (?) breitete ich meine ,Schwingen< aus
zur Niederwerfung meiner Feinde.« 27

Für eine ähnliche Verwendung des Adlerbildes lassen


sich weitere Beispiele anführen 28, nicht jedoch für ei-
ne zweite Asarhaddon-Stelle mit dem Bild der ausge-
breiteten Schwingen. Denn darin ist dieses - ganz wie

25 Vgl. dazu vor allem Jes 31,4 in seinem Kontext; in Verbindung


mit Jes 8, 9f ist dann auch Jes 8,8b in dieser Hinsicht mehrdeutig.
Zu (Raub-)Vogel-Metaphern für JHWH vgl. K. Koenen, »Süßes
geht vom Starken aus« (Ri 14,14). Vergleiche zwischen Gott und
Tier im Alten Testament, EvTh 55 (1995) 174-197, bes. 175-
187.
26 A.K. Grayson, Assyrian Royal Inscriptions II (1976) 17,

§ 53: Prismen A-D; zitiert nach P. ·calmeyer, »Das Zeichen der


Herrschaft ... Ohne Samas wird es nicht gegeben«, AMI.NF 17
(1984), 135-153, hier: 147 mit Anm. 72; vgl. weiter D. Marcus,
Animal Similes in Assyrian Royal Inscriptions, Or.NS 46 (1977)
86-106, hier: 95. Die Textstelle Tiglatpilesers I. hat auch 0. Lo-
retz für die Erklärung von Jes 8,8b herangezogen (wofür er den
schützenden Sinn annimmt), in: ders., Eine assyrische Parallele
zum Topos »Adlerflügel« in Jes 8,8b. Philologische und kolome-
trische Anmerkungen zu Jes 8,5-10, UF 29 (1997) 467-487.
27 Borger, Inschriften (s.o. Anm. 21), 44 (Nin. A-F, Episode 2,
67-68).
28 Vgl. A. Schott, Die Vergleiche in den akkadischen Königs-

inschriften (MVAG 30) Leipzig 1926, 75; 86; siehe auch Marcus,
Animal Similes, 95f.
14 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

in Jes 8,6-8 - explizit mit der Flutmetaphorik ver-


knüpft:
»[ ... ]Ich wurde wütend wie ein Löwe, zog den Panzer an, setzte den
Helm, eine notwendige Kampfausrüstung, auf mein Haupt, und
fasste mit meiner Hand den mächtigen Bogen und den starken
Pfeil, die Assur, der König der Götter, mir verliehen hatte. Wie
ein wütender Adler, mit ausgebreiteten Schwingen, ging ich sint-
flutgleich (abubänis) an der Spitze meines Heeres.« 29

Die ausdrückliche Parallelisierung der beiden Tierbil-


der »wütend wie ein Löwe« und »wie ein wütender
Adler« Ueweils akk. nadru »wild, aggressiv«) erinnert
an die uralte Symbolik des löwenköpfigen Adlers An-
zu (Abb. 1.1-1.5). Dieser hat in der Mythologie des
Zweistromlands eine lange und wechselvolle Geschich-
te30. Wie der Löwe gehört er zu den unheimlichen
Bewohnern der peripheren Regionen der Welt (der
»Bergländer« - vgl. Abb. 1.4-1.5) 31 . Zugleich war er
in frühdynastischer Zeit Symboltier, vielleicht auch
Erscheinungsform des Gottes Ningirsu mit der Kon-
notation des Unwetters und Sturms (vgl. Abb. 1.1-
1.2; siehe auch die Götterseite der Geierstele [Abb.
1.3]).

29 Borger, Inschriften (s.o. Anm. 21), 65 (Nin. E, Kol. II, 6-10


[Hervorhebung von mir]; vgl. ebd., 65 zur literarischen Abhän-
gigkeit der Stelle von Sanheribs Beschreibung der Schlacht bei
Ijalule - dort ohne das Vogelbild!)'.
30 Vgl. zu ihm zuletzt F.A.M. Wiggermann, Mesopotamian Pro-
tective Spirits. The Ritual Texts (CM 1), Groningen 1992, 159-
163;]. Black / A. Green, Gods, Demons and Symbols of Ancient
Mesopotamia. An Illustrated Dictionary, London 1992, 107-108.
31 Vgl. dazu F.A.M. Wiggermann, Scenes from the Shadow Side,
in: M.E. Vogelzang / H.L.]. Vanstiphout (Hg.), Mesopotamian
Poetic Language: Sumerian and Akkadian (CM 6), Groningen
1996, 207-230, hier: 215-217, wonach der Anzu seit frühester
Zeit als mythischer Bewohner der peripheren Regionen, der un-
heimlichen Weltränder, gilt und z.B. wie auf Abb. 1.4-1.5 in den
Bergen Wildstiere jagt oder mit den menschengesichtigen Stie-
ren kämpft, die zur Sphäre des Sonnengottes gehören (vgl. auch
C. Wilcke, Das Lugalbandaepos, Wiesbaden 1969, 61-64).
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 15

In einer altbabylonischen Naramsin-Legende werden


dem König nebeneinander Schreckensglanz/Feuer, ei-
ne Donnerstimme, die Wut des Löwen, die Angriffs-
lust der Viper und die Nägel/Krallen des Anzu zuge-
schrieben:

»Your radiance is fire, your voice is the thunderstorm. You are


as a raging lion. Your mouth is (that) of the Venomous Viper,
your nails are (those of) the Anzu.« 32

Denkt man an die Kombination der Vogelschwingen


mit dem »sintflutgleichen« Heranstürmen des Königs
bei Asarhaddon, so ist vielleicht auch daran zu erin-
nern, dass Anzu bei der mythischen Sintflut der Vor-
zeit, wie sie im AtramJJasis-Epos geschildert wird, mit
seinen Krallen den Himmel aufreißt, um die oberen
Wasser herabströmen zu lassen33 .
In der Bildkunst setzte sich die uralte Ikonographie
dieses Mischwesens aus dem 3. Jt. v.Chr. (Abb. 1.1-
1.5) im 2. und 1. Jt. nicht fort. So ist es unklar, wel-
ches Erscheinungsbild man sich vorzustellen hat, wenn
Asarhaddon davon spricht, er habe »Löwen, Zu-Vö-
gel, >brüllende Stürme<« aus Silber und Bronze an den
Eingängen des Tempels der Ischtar von Arbela auf-

32 Aus dem altbabylonischen Text »Naramsin und der Herr von


Apisal«; zitiert nach J.G. Westenholz, Symbolic Language in
Akkadian Narrative Poetry: The Metaphorical Relationship bet-
ween Poetical Imagesand the Real°World, in: Vogelzang/Van-
stiphout (Hg.), Poetic Language, 183-206, hier 187; vgl. dies.,
Legends of the Kings of Akkade. The Texts (Mesopotamian Civi-
lizations 7), Winona Lake, Indiana 1997, 183 (Text 12 V,1-3).
33 Tf. III iii, 7. So z.B. B.R. Foster, Before the Muses. An Anthol-
ogy of Akkadian Literatur I: Archaic, Classical, Mature, Bethesda,
Maryland 1993, 179: »[Anzu rent] the sky with his talons«. Eben-
so Westenholz, Language, 187 (anders W. von Soden, Der altba-
bylonische Atramchasis-Mythos, in: TUAT III, Gütersloh 1994,
639). Vielleicht schwingen solche Konnotationen in der Verwen-
dung des Anzu-Bildes durch die Schreiber Asarhaddons und
früherer Herrscher mit; siehe Salmanassar III., Assuma~irpal II.
Ueweils vom König), Salmanassar IV. (vom Heer); vgl. Marcus,
Anima! Similes, 96.
16 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

stellen lassen34 . Vielleicht ist dabei an eine Form des


gefiederten Löwendrachens zu denken, der ebenfalls
Unwetterkonnotationen hat und auf dem berühmten
Relief Assurna~irpals II. aus KallJu/Nimrud ebenso wie
auf Siegelbildern von geflügelten Gottheiten gejagt
wird (Abb. 1.6-1.7)3s_
In jedem Fall ist es aufschlussreich, dass sich für die
Kombination des Adlerbildes mit ausgebreiteten
Schwingen mit der Flut-Metaphorik, wie wir sie in Jes
8,6-8 vorfinden, die - soweit ich sehe - einzige direkte
Sachparallele (für den angreifenden assyrischen Kö-
nig) in einer Inschrift Asarhaddons findet - jenes Kö-
nigs des ersten Drittels des 7. Jh.s v.Chr., der, wie nun
abschließend zu zeigen ist, in seinen Babylon-Inschrif-
ten das Flutbild ebenfalls singulär und darin wieder
analog zu Jes 8,6-8 mit dem Euphrat verbindet.

IV. Der »über die Ufer tretende Fluss« in Jes 8,6-8


und die Babylon-Inschriften Asarhaddons

Die symbolische Gleichsetzung eines von den Welt-


rändern auf das Zentrum heranziehenden Feindes mit
andrängenden Wasserfluten (und Gewitterregen) ist
keine Eigenart der alttestamentlichen Texte, auch wenn
man dabei zunächst an die bekannten Bilder des Zions-
psalms 46 und an Stellen wie Jes 17,12-14 denkt 36 .
Es handelt sich bei diesem »Flut«-Bild (und die ganz
analog funktionierende »Unwetter«-Symbolik) um ein
auf mehreren Sinnebenen zugleich spielendes Meta-

34 Borger, Inschriften (s.o. Anm. 21), 33 (Kalach A, 10-11).


35 Zu dieser Deutung siehe F.M.A. Wiggermann, Art. Mischwe-
sen. B. Archäologie. Mesopotamien, in: RLA 8, Berlin / New York
1997, 258 (Löwendrache als eine mögliche »late form of Anzu«);
vgl. ebenso Black/Green, Gods (s.o. Anm. 30), 121.
36 Vgl. zur mythischen Raumsymbolik in Mesopotamien (Ge-

gensatz von Zentrum - Peripherie als Ausprägung der Relation


von Kosmos - Chaos) Wiggermann, Scenes (s.o. Anm. 31), 207-
230, bes. 210f; vgl. dazu den Beitrag unten S. 131-166.
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 17

phernfeld, das seit alters her in den textlichen Quellen


des Zweistromlands überaus häufig zu belegen ist 37 .
Dort - im Bereich der Wasserbau- und Schwemmland-
kulturen - hat es auch seinen natürlichen »Sitz im Le-
ben«. Die sumerische und akkadische Flut-Metaphorik
folgt einer fest im Weltbild des alten Mesopotamien
verankerten Entsprechungslogik zwischen kosmischen
Erscheinungen und der Menschenwelt, die Joan Good-
nick Westenholz kürzlich folgendermaßen analysiert
hat 38 :
Flut: Zerstörung:: Waffen: Schlacht

Die elementarste Relation dieses Metaphernfelds stellt


demnach die symbolische Gleichsetzung von »Flut«
und »Krieg« dar, die auf verschiedenen Ebenen my-
thisch ausgemalt werden kann. Die für unsere Frage
wichtigsten sind diese beiden:
1. Die einmalige Sintflut in ferner Vorzeit, ein kos-
misches Ereignis von unerhörten Ausmaßen, ein An-
fangshorizont für das kulturelle Gedächtnis, dient als
Vergleichsgröße für gegenwärtige Zerstörung.
2. Die Flut steht für den Zorn und die Zerstörungs-
wut der Götter (und ihrer Waffen), der Könige (denen
diese Waffen verliehen werden) und für den Ansturm
der Feinde.
Zumeist ist mit einer Gleichzeitigkeit dieser Bedeu-
tungsebenen zu rechnen, wobei bestimmte Konnota-
tionen in den Vordergrund treten, andere aber wie bei
einer Überblendung für die Assoziation präsent blei-
ben.

37 Siehe dazu z.B. U. Seid[, Das Flut-Ungeheuer abiibu, ZA 88


(1998) 100-113, die für Darstellungen geflügelter Löwendrachen
im 2. und 1. Jt. v.Chr. (vgl. Abb. 1.6-1.7) auch eine Identifikation
mit der personifizierten (Sint-)Flut annimmt, was die oben (unter
III) dargelegte organische Zusammengehörigkeit der beiden Ele-
mente Wasserflut und ausgebreitete Flügel im Blick auf Jes 8,8b
ebenfalls stützt.
38 Westenholz, Language (s.o. Anm. 32), 193-200 (Die Flut-Me-
taphorik als Beispiel für »complex multi-layered images«).
18 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

Wie wir an dem Asarhaddon-Beispiel in Kombination


mit dem Vogelbild gesehen haben, verwenden die
neuassyrischen Könige des 1. Jt.s v.Chr. häufig die
Bildwelt der »Flut«, um ihren unaufhaltsamen An-
griff und die Unwiderstehlichkeit ihrer Kampfkraft zu
umschreiben (kima abübi bzw. abübanis). Auch das
Einströmen der Feinde von außen in Richtung auf das
Zentrum konnte in Mesopotamien so umschrieben
werden. Dabei fand manchmal - wie in Jes 8,6-8 und
Jes 6 - auch das Motiv des »erfüllt Werdens« (malu),
hier mit dem Gegenteil des »Glanzes«, der »Totenstil-
le« (saqummatu), Verwendung 39 :
Rechts und links, im-na usu-me-la□
vorne und hinten, pa-ni uar-ku□
strömte/stürmte (der Feind) heran us-bi-i'D
wie die Sintflut; a-bu-ba-nis-ma □
die Mitte der Stadt, libbi (SA) iili (URUJ □
den Rand der Stadt, a-lJat iili (URUJ □
das offene Land und die Felder si-i-ru ba-ma-a-tiO
mit Totenstille ia-qu-um-ma-tu □
füllte er, u-sam-li-ma□
verwandelte er in Steppe/Ödnis. u-sa-li-ka na-mu-is

Die nächste alttestamentliche Parallele für das hier im-


plizierte Konzept der auf das Zentrum zuströmenden
Flut findet sich neben Jes 6-8* in der zeitlich und sach-
lich nahestehenden Textkomposition Jes 28 (mit dem
Bild der »strömenden Geißel<; für das Assyrerheer).
Hinter der in Jes 28,18f ausgesprochenen Drohung
für die Herrscher Jerusalems angesichts ihres falschen
Schutzverlangens lässt sich historisch die Situation vor
701 v.Chr. mit der Bündnispolitik des Hiskia gegen As-
sur vermuten, wie lange gesehen worden ist. Vermut-
lich gehört auch die ursprüngliche Fassung von Jes 8,
6-8 in diese Spätzeitverkündigung Jesajas, die mit der
Eroberung Judas und der Belagerung durch Sanherib
ihre geschichtliche Bestätigung fand.
39 H. Rawlinson u.a., The Cuneiform Inscriptions of Western
Asia IV, 20, Nr. 1, 3f (Ende 2. Jt. v.Chr.); zitiert nach Hartenstein,
Unzugänglichkeit (s.o. Anm. 14), 76, Anm. 187.
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 19

Auffallend an der Flutmetaphorik von Jes 8,6-8 ist


aber die im Alten Testament in dieser Weise singuläre
Formulierung mit dem über seine Ufer und Rinnen
tretenden Fluss bzw. Strom (7i1Ji1 mit Artikel, nach alt-
testamentlichem Sprachgebrauch ist sehr wahrschein-
lich der Euphrat gemeint 40). Zwar hat das Bild in der
Frühjahrsüberschwemmung des Jordan in Palästina ei-
nen Anhalt in der Erfahrung, und auch auf die kurz-
zeitigen Sturzbäche nach Gewittern könnte man ver-
weisen41. Jedoch scheint es in seiner Anwendung auf
den durch JHWH »heraufgeführten« König von As-
sur eventuell noch deutlicher präzisierbar, wenn man
auch hier wieder auf neuassyrische Königsinschriften
blickt, mit deren Bildwelt sich die fraglichen Texte of-
fensichtlich auseinandersetzen.
In diesen findet sich - so weit ich sehe - das Bild vom
über seine Ufer tretenden Strom als Form der Flut-
Metaphorik wiederum nur bei Asarhaddon, und zwar
fo der schon der Zahl nach gewichtigen Gruppe der
Babylon-Inschriften (Exemplare verschiedener Versio-
nen aus Babylon und Assyrien), die gleich zu Beginn
seiner Herrschaft abgefasst wurden 42 . Diese Inschrif-
ten bieten eine tiefgründige theologische Deutung ei-
nes erst acht Jahre zurückliegenden historischen Ereig-
nisses, das aufgrund seiner Singularität eine lange Wir-

40 Vgl. z.B. Gen 15,18; Dtn 1,7; 11,24; Jos 1,4.


41 Vgl. dazu G. Da/man, Arbeit uii.d Sitte in Palästina 1: Jah-
reslauf und Tageslauf. 1. Hälfte: Herbst und Winter / 2. Hälfte:
Frühling und Sommer (SDPI 3/1-2), Gütersloh 1928, 199-218
(zu Winterregen und -gewitter), 304-308 (Frühlingshochwas-
ser).
42 Siehe zu den Babylon-Inschriften, ihrer Perspektive und

Asarhaddons Babylon-Politik ].A. Brinkman, Through a Glass


Darkly. Esarhaddon' s Retrospects on the Downfall of Babylon,
JAOS 103 (1983) 35-42; ders., Prelude to Empire. Babylonian
Society and Politics, 747-626 B.C. (OPBF 7), Philadelphia 1984,
67-84; G. Frame, Babylonia 689-627 B.C. A Political History,
Istanbul 1992, 64-101; B.N. Porter, Images, Power, and Politics.
Figurative Aspects of Esarhaddon' s Babylonian Policy, Philadel-
phia 1993.
20 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

kung im kulturellen Gedächtnis des Vorderen Orients


hinterlassen hat 43 : die (zumindest teilweise) Zerstö-
rung und Entvölkerung Babyions durch Sanherib im
Jahre 689 v.Chr. Es handelte sich dabei um eine ulti-
mative Strafaktion, die Sanheribs Probleme mit dem
rebellischen Süden ein für alle Mal lösen sollte, und
die er mit unerhörtem Furor schildert:

»Die Stadt und ihre Häuser von ihren Fundamenten bis zu ihren
Wänden zerstörte ich, verwüstete ich, verbrannte ich mit Feuer.
Die Stadtmauer und die äußere Mauer, Tempel und Götter, den
Tempelturm aus Ziegeln und Erde, soviel als da waren, tilgte ich
aus und warf sie in den Arachtukanal. Mitten durch diese Stadt
grub ich Kanäle und flutete ihren Grund mit Wasser, und das Ge-
füge ihrer Fundamente zerstörte ich. Ich machte die Zerstörung
vollkommener als durch eine Flut [o: durch die Sintflut: eli sa
abubu].« 44

Wie wichtig es Asarhaddon sofort nach seinem schwie-


rigen Regierungsantritt 681 v.Chr. gewesen ist, die
Babylon-Politik seines Vaters zu korrigieren bzw. sich
selbst als guten Herrscher Babyloniens zu präsentie-
ren, zeigen die darauf reagierenden Babylon-Inschrif-
ten sehr deutlich. Die Schreiber des Königs lieferten
ein Stück Geschichtstheologie, bei dem an vielen Stel-
len die Ohren des Alttestamentlers klingen, weil sich
hier ungewöhnlich viele Parallelen zu prophetischen
Texten der Bibel finden (dies soll hier nicht weiter
ausgeführt werden) 45 . Die T~xte deuten die Ereignisse

43 Vgl. dazu E. Frahm, Einleitung in die Sanherib-Inschriften


(AfO 26), Wien 1997, 21-28 (»Zum ,Nachleben< Sanheribs in
keilschriftlichen Quellen und in Literatur und Kunst späterer
Epochen«).
44 Bawian-Inschrift; zitiert nach E. Klengel-Brandt, Reise in das

alte Babylon, Leipzig 3 1977, 44 (Ergänzung in eckigen Klammern


nach D.D. Luckenbill, The Annals of Sennacherib [UCOIP 2],
Chicago, Illinois 1924, 84 [Z. 53]).
45 Vgl. dazu z.B. M. Albani, Die 70-Jahr-Dauer des babyloni-

schen Exils (Jer 25,llf; 29,10) und die Babylon-Inschrift Asar-


haddons, MuB der Forschungsstelle Judentum an der Theologi-
schen Fakultät Leipzig 17 (1999) 4-20.
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 21

ganz auf einer hintergründig götterweltlichen Ebene:


Weil die Bewohner Babylons »sündigten« und die
göttlichen Ordnungen missachteten (konkret: Ver-
schwörung mit den Elamern), »plant« Marduk in sei-
nem Zorn die Vernichtung Babylons, die unter deut-
lichem Bezug auf die Sanherib-Schilderung nach der
gewichtigsten Version (Text A, B, C, D) folgenderma-
ßen beschrieben wird:

»Da ergrimmte der Enlil (Herr) der Götter, Marduk; um das Land
niederzuwerfen und seine Bewohnerschaft zu verderben, sann er
Böses.« [... ] »Der Ara\}tu, ein Fluss des Überflusses (niir !Jegalli),
eine wütende Flut, ein wildes Gewoge, ein geschwelltes Hochwas-
ser, ein Ebenbild der Sintflut (tam:S-il abiibi), trat über; die Stadt,
ihre Wohnstätte und ihre Kulträume überschwemmte er und
machte sie zur Wüstenei.« 46

Nachdem sich Marduks Gemüt besänftigt und er die


Frist der Strafe auf den Schicksalstafeln verkürzt hat,
erwählt er Asarhaddon als den König, der den Wie-
deraufbau der Stadt und die Neugründung ihrer Tem-
pel durchführen soll (intentional handelt es sich bei
den Babylon-Inschriften um Bauinschriften für die
Fundament-Depots).
Ob man für Jes 8,6-8 eine Kenntnis dieser geschichts-
theologischen Deutung der Zerstörung Babylons durch
die von Sanherib konkret verursachte »Flut« mit Hil-
fe des Euphratwassers annehmen darf? Die präzise Be-
schreibung könnte dafür sprechen: die »starken und
mächtigen Wasser« des durch den Artikel als bekannt
vorausgesetzten »Stroms« (ii1Ji1) werden »heraufstei-
gen über alle seine Betten/Rinnen und über alle seine
Ufer«.
Auch eine umstrittene Stelle aus der chronistischen
Schilderung der Belagerung Jerusalems durch Sanhe-

46 Borger, Inschriften (s.o. Anm. 21), 13f (Bab. A, C, D: Episode


Sa + Bab. A, B, C, D: Episode 7a); vgl. die Aufstellung der Rezen-
sionen der Inschriften in: ders., Zu den Asarhaddon-Texten aus
Babel, BiOr 21 (1964); Brinkman, Retrospects (s.o. Anm. 42), 39.
22 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

rib könnte eine solche Kenntnis sozusagen im nach-


hinein bestätigen. Offenbar wusste man (noch) in der
Spätzeit des Alten Testaments um die Tat Sanheribs
gegen Babel, die hier typisierend auf die »Assyrerkö-
nige« überhaupt ausgedehnt wird 47 . Bevor nämlich
der Assyrer Jerusalem erreicht, lässt Hiskia nach dem
Bericht in 2Chr 32,4 folgende Maßnahmen ergreifen:

Und es versammelten sich viele Leute, ::ii- □ll 1l!::ip'1


und sie verschlossen alle Quellen ii1j' llDi1-,::i-n~ 1ont:1'1
und den Bach, ,nm-n~1
der inmitten des Landes strömt, fi~-71n::i "1~1tlii1
mit folgender Begründung: il'J~,
»Warum sollen die Könige Assurs kommen i1~ ,:::i,o 1~1:::i' i1o,
und große/mächtige Wasser finden?« □ '::ii □ 'D 1~:!:!01

Auch wenn natürlich eine wörtliche Lesart der Stelle


möglich und auf einer vordergründigen Ebene richtig
ist - das anrückende Heer soll keine Wasserversorgung
vorfinden -, so erscheint doch die gewählte Begriff-
lichkeit schillernd: Der »inmitten des Landes« (LXX:
der Stadt) einherströmende (a:itltli wie Jes 8,8 48 ) Bach/
Fluss passt nicht zur bekannten Topographie Jerusa-
lems. Und die »mächtigen Wasser« (□ ':J1 □'~) sind im
Alten Testament, besonders in den Jerusalemer Tex-
ten, nicht selten widergöttliche Mächte, die JHWH in

47 Vgl. zu dieser Typisierung in 2Chr 32,4 F.]. Gonqalves,


L 'expedition de Sennacherib en Palestine dans la litterature heb-
rai"que ancienne (PIOL 34), Louvain-La-Neuve 1986, 497-498.
48 Eine weitere Analogie, die sich vielleicht ebenfalls auf Jes 8,6-
8 zurückbezieht, findet sich im Philisterwort Jer 47,2, wo der
Feind aus dem Norden wieder als strömender Bach ("1~1tli ,m)
umschrieben wird:
So hat JHWH gesprochen: i11i1' il'J~ i1:::l
Siehe Wasser steigen auf von Norden her, ]1!:l:!:!D □''ll □ 'D-mi1
und sie werden zum strömenden Bach "1~1tli ,m, 1'i11
und überfluten das Land und seine Fülle, i1~1,01 fi~ 1!l~iD'1
die Stadt und ihre Bewohner. i1::i •::iili'1 i ' ll
Vgl. als Umkehrung von Jes 8,6-8 auch noch Jes 66,12, wo der
11::i:::i der Völker wie ein strömender Bach ("1~1tli ,m) herbeikom-
men wird.
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 23

Schach hält 49 . Offenbar wird hier Jerusalem mit einer


mythischen Raumvorstellung überformt, die sich -
wie auch der »Strom« (1i1:l) aus Ps 46,5, »dessen Ka-
näle die Gottesstadt erfreuen« - am ehesten mesopota-
mischen Stadt- und Tempelvorstellungen verdankt 50 .
Jerusalem erscheint für die Chronik offenbar gefähr-
det wie Babylon, das Sanherib zerstörte, indem er den
Euphrat als »starke Chaosfluten«, als □':J1 □ 'D, über
die Stadt leitete.

V. Folgerungen für das Verständnis der »Denk-


schrift« Jes 6-8 *

Ziehen wir nach diesem Durchgang durch die Bild-


sprache von Jes 8,6-8 ein vorläufiges Resümee für die
»Denkschrift« Jes 6-8*, so kann dies nur thesenartig
erfolgen und erfordert eine ausführlichere Behand-
lung an anderer Stelle. Vieles spricht dafür, dass die
oben herausgestellte spezifische Flutmetaphorik in Jes
8,6-8 eine Überarbeitung eines ursprünglich aus der
Zeit kurz vor 701 v.Chr. stammendenjesajanischen Ge-
richtswortes gegen Juda bildet. Eine Überarbeitung, die
vor dem Hintergrund der Kenntnis von Inhalten der

49 Ältere Belege der Jerusalemer Kulttradition, die sich kanaa-


näischer Wettergottmotivik verdanken: Ps 29,3; Ps 93,4 (vgl.
Ps 77,20); Belege, die das Flutbild als Zerstörungsmotiv verwen-
den und m.E. die Rezeption der mesopotamischen Flutmetaphorik
wohl im 8./7. Jh. v.Chr. voraussetzen: Jes 17,13; Jer 51,55 (vgl.
dazu in Jer 51, 13 den Kontrast mit der Anrede an Babel, die an
»mächtigen Wassern wohnt«!).
50 Vgl. dazu B. Ego, Die Wasser der Gottesstadt. Zu einem Motiv
der Zionstradition und seinen kosmologischen Implikationen,
in: B. Janowski / B. Ego (Hg.), Das biblische Weltbild und seine
altorientalischen Kontexte (FAT 32), Tübingen 2001, 361-389;
B. ]anowski, Die heilige Wohnung des Höchsten. Kosmologische
Implikationen der Jerusalemer Tempeltheologie, in: 0. Keel / E.
Zenger (Hg.): Gottesstadt und Gottesgarten. Zu Geschichte und
Theologie des Jerusalemer Tempels (QD 191), Freiburg/Basel/
Wien 2002, 24-68, bes. 50-57.
24 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

Babylon-Inschriften Asarhaddons erfolgt sein könnte


(das spezifische Fluss/Euphrat-Motiv als Ausprägung
der Flut-Metaphorik). Dieses Wort wäre so zum
Schlusspunkt einer »Denkschrift« der Manassezeit (der
ersten Hälfte des 7. Jh.s v.Chr.) geworden, die Jes 6-
8,8* (+ 8,16-18* ?) umfasste. Das Jes 8,6-8 zugrunde
liegende Jesajawort wäre dabei von den Gestaltern ge-
zielt auf Jes 6 bezogen worden (anstelle der JHWH-
»Herrlichkeit« tritt der »Schreckensglanz« Assurs als
»Fülle« des Landes). Die Überlieferer hätten so die
Botschaft Jesajas und deren Ablehnung zusammenfas-
send dokumentiert. Die Ereignisse von 701 v.Chr.
und die nachfolgende Abhängigkeit Judas von Assur
erscheinen im Licht dieser »Denkschrift« offenbar als
Ausdruck einer bleibenden zornigen Verborgenheit
JHWHs vor seinem Volk (vgl. Jes 6,4.11 mit Jes 8,17).
Insofern trifft auch der Begriff Oppositionsliteratur
auf Jes 6-8* zu. Denn im Gegensatz zu den wohl
ebenfalls im 7. Jh. v.Chr. bearbeiteten Zionspsalmen
46 und 48, die die Uneinnehmbarkeit des Zion prei-
sen, kann 701 v.Chr. in der Sicht der »Denkschrift«
nur als Katastrophe gewertet werden. Ein zweites Mal
nach 722/720 v.Chr. hätte sich damit für die Jesaja-
Tradenten die Wahrheit der jesajanischen Gerichtsan-
kündigung bestätigt. Die hinter Jes 6-8 * stehenden
älteren Jesajaworte sind dann in dieser Textkomposi-
tion zum Resümee jesajanischer Verkündigung gewor-
den (vor allem durch Kapitel 7 als Bericht über die
Ablehnung der Botschaft durch Ahas wurde der Zu-
sammenhang Jes 6-8* in der paradigmatischen An-
fangssituation des Unheils, um 733 v.Chr., situiert) 51 .
Die oben herausgestellten religionsgeschichtlichen Be-

51 Zum Begriff der »Oppositionsliteratur« vgl. H ardmeier, Ver-


kündigung (s.o. Anm. 9) und unter Bezug darauf einleuchtend
Barthel, Prophetenwort (s.o. Anm. 10), 64 (vgl. 158), der Jes 7,1-
17 ebenfalls als eine möglicherweise manassezeitliche Textkom-
position versteht (»antidynastische Tendenz«), die »die Verwer-
fung der prophetischen Verkündigung im Spiegel der Ereignisse
des Jahres 701 reflektiert.«
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 25

züge im Blick auf Inhalte assyrischer Propaganda in


Jes 8,6-8 verweisen am ehesten auf die Manassezeit.
In ihr war das »Fenster« nach Assyrien in Juda weit
geöffnet - zumindest scheint dies für gebildete Mit-
glieder der Jerusalemer Oberschicht wahrscheinlich, un-
ter denen man sich die Jesaja-Tradenten und damit die
Verfasser bzw. Überarbeiter der »Denkschrift« am
ehesten vorstellen kann.
26 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

Abbildungen:

Abb. 1.1: Weiheplatte des Dudu (Ausschnitt), Girsu (Tello), früh-


dynastisch (um 2400 v.Chr.). Der löwenköpfige Anzu-Vogel über
einem Löwenpaar. - Quelle: ]. Black / A. Green, Gods, Demons
and Symbols of Ancient Mesopotamia. An Illustrated Dictionary,
London 1992, 107, Abb. 86 (Zeichnung: Tessa Rickards).

Abb. 1.2: Relief, Streitkeule des Barakiba, Girsu (Tello), frühdy-


nastisch (um 2400 v.Chr.). Der löwenköpfige Anzu-Vogel über
einem Löwenpaar und hinzutretende Verehrer (Stadfürst [Ensi]
und Diener). - Quelle: I. Fuhr-]aeppelt, Materialien zur Ikono-
graphie des Löwenadlers Anzu-Imdugud, München 1972, 46,
Abb. 30.
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 27

}
-- - ... -
Abb. 1.3: Sogenannte »Geierstele«· des Eannatum, Girsu (Tel10),
frühdynastisch (Mitte 3. Jt. v.Chr.). Die Stele zeigt auf ihren zwei
reliefierten Seiten das Zusammenwirken von Stadtgott und
Stadtfürst im Kampf. Auf der abgebildeten Götterseite hält wohl
der mit einer Streitkeule bewaffnete Gott Ningirsu die Feinde im
Netz gefangen, wobei sein Attributtier, der Anzu-Vogel, wie ein
Zepter den Netzverschluss in seiner Hand bekrönt. - Quelle:
Fuhr-Jaeppelt, Materialien (wie Abb. 1.2), 63, Abb. 38a (Aus-
schnitt).
28 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

Abb. 1.4: Ritzzeichnung, Muschelplättchen, Girsu (Tel10), früh-


dynastisch (Mitte 3. Jt. v.Chr.). Anzu greift einen Wildstier im
Bergland an. - Quelle: F.A.M. Wiggermann, Scenes from the
Shadow Side, in: M.E. Vogelzang / H.L.]. Vanstiphout, Mesopo-
tamian Poetic Language: Sumerian and Akkadian (CM 6), Gronin-
gen 1996, 229, Fig. 6 (vgl. ebd., 215, Anm. 103: nach Fuhr-
Jaeppelt, Materialien [wie Abb. 1.2], 80, Abb. 46a, oben).
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8) 29

Abb. 1.5: Sogenanntes »Melker-Fries«, Fragment, al-Ubaid, Auf-


gang der Hochterrasse des Nin\}ursanga-Tempels, frühdynastisch
(Mitte 3. Jt. v.Chr.). Anzu im Kampf mit einem menschengesich-
tigen Stier (alim) über einem stilisierten Berg mit Vegetation. -
Quelle: Wiggermann, Scenes (wie Abb. 4), 229, Fig. 7 (vgl. ebd.,
215, Anm. 104; nach Fuhr-]aeppelt, Materialien [wie Abb. 2],
Bildteil, Abb. 20; dazu: ebd., 29).
30 JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)

Abb. 1.6: Relief aus dem Ninurta-Tempel, Kalgu/Nimrud, As-


suma~irpal II. (883-859 v.Chr.). Ninurta oder Adad kämpft mit
einem Löwendrachen, vielleicht Anzu oder Asakku. - Quelle:
B Zack I Green, Gods (wie Abb. 1.1), 142, Abb. 117.

Abb. 1.7: Rollsiegel, Steatit, neuassyrisch (1. Hälfte 1. Jt. v.Chr.).


Eine geflügelte Gottheit mit sternenbesetztem Bogen kämpft mit
einem Löwendrachen, der zugleich auch als ihr Attributtier abge-
bildet ist. - Quelle: 0. Keel, Die Welt der altorientalischen Bild-
symbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Zü-
rich/ Neukirchen-Vluyn 3 1980, 42, Abb. 45 (vgl. ebd., 360 [Lit.]).
Tempelgründung als »fremdes Werk«
Beobachtungen zum »Ecksteinwort« Jesaja 28,16-17

Zu wenigen alttestamentlichen Texten finden sich so


unterschiedliche Interpretationen in der Forschung wie
zu Jesaja 28, 16f, dem Wort vom kostbaren Eckstein auf
dem Zion 1 . Schon die breite Wirkungsgeschichte der
Stelle in der jüdischen und christlichen Antike lässt ih-
re besondere Bedeutung als Bezugspunkt für weitrei-
chende theologische Aussagen erkennen, so in Qumran
und im Neuen Testament 2 . Die Divergenz dermoder-
nen Deutungen von Jes 28,16f beruht auf der Wahr-
nehmung einer inhaltlichen Spannung in den älteren
Kerntexten des Protojesajabuchs (Jes 6-8 * und Jes 28-
31 *). In beiden Textbereichen überwiegt zwar die Pers-
pektive der Gerichtsankündigung, nicht selten wird
diese jedoch durch Heilsausblicke kontrastiert. Diese
Spannung wurde lange als eine biographisch bedingte
Eigenart der Botschaft des Propheten Jesaja aus dem

1 Vgl. als Überblick z.B. R. Kilian, Jesaja 1-39 (EdF 200), Darm-
stadt 1983, 58-63; 0. Kaiser, Der Prophet Jesaja. Kapitel 13-
39 (ATD 18), Göttingen 1973, 201-203; H. Wildberger, Jesaja,
3. Teilband: Jesaja 28-39 (BK X/3), Neukirchen-Vluyn 1982,
1063-1082. Für die ältere Forschung vgl. K. Fullerton, The
Stone of the Foundation, AJSL 37 (1920) 1-50; J. Lindblom, Der
Eckstein in Jes 28,16, in: Interpretationes ad Vetus Testamentum
[... ] (FS S. Mowinckel), Oslo 1955, 123-132.
2 Vgl. dazu E. Jacob, La pierre angulaire d'Esai:e 28.16 et ses

echos neotestamentaires, RHPhR 75 (1995) 3-8; zur Baumeta-


phorik im NT siehe immer noch P. Vielhauer, Oikodome. Das
Bild vom Bau in der christlichen Literatur vom Neuen Testament
bis zu Clemens Alexandrinus, Heidelberg 1939 (= ders., Oiko-
dome. Aufsätze zum Neuen Testament 2 [TB 65], München 1979,
1-168). Zu Qumran s.u. (II.2).
32 Tempelgründung als »fremdes Werk«

historisch bewegten letzten Drittel des 8. Jh.s v.Chr.


gesehen. Heute wird sie zumeist als Folge literarischen
Wachstums im Rahmen der schriftprophetischen For-
mung der Jesajaüberlieferung verstanden 3 . Inhaltlich
hängt die Frage nach dem Verhältnis von Gericht und
Heil im Protojesajabuch eng mit der Bewertung der
Zion-Aussagen zusammen, v.a. mit der Frage nach der
Rekonstruierbarkeit einer Zion-Tradition, auf die sich
Jesaja bzw. seine Tradenten als selbstverständliches Ad-
ressatenwissen bezogen hätten. Formal handelt es sich
bei Jes 28,16f im Kontext von Jes 28,14H in jedem
Fall um ein Gerichtswort 4 . Aber wie ist es präzise zu
verstehen? Oft wurde das »Ecksteinwort« als sekundär
in den Gerichtszusammenhang eingebautes Heilswort
verstanden 5.
Bevor man jedoch eine solche These in Erwägung zieht,
muss die sprachliche und thematische Struktur der
Verse in ihrem Kontext genau beachtet werden. Und
dafür ist eine traditions- und religionsgeschichtliche
Untersuchung der Bildsprache von Jes 28,16f im Zu-
sammenhang des Abschnitts Jes 28,14-22 unabding-
bar. Die folgenden Überlegungen hierzu sind notwen-
dig skizzenhaft. Sie bilden einen weiteren Baustein im
Rahmen eines größeren Projektes zur Entstehung der
sogenannten »Denkschrift« Jes 6-8* und des »Assur-

3 Vgl. dazu neben Kaiser, Jesaja (s.o. Anm. 1) z.B. J. Vermeylen,


Du prophete Isai:e a l'apocalyptique I (ETB), Paris 1977, 392-395
sowie jüngst U. Becker, Jesaja - von der Botschaft zum Buch
(FRLANT 178), Göttingen 1997, 231-233; U. Berges, Das Buch
Jesaja. Komposition und Endgestalt (HBS 16), Freiburg/Basel/
Wien 1998, 224-225.
4 Vgl. zutreffend Wildberger, Jesaja (s.o. Anm. 1), 1076: »Aber

beinahe alle Exegeten sehen nicht, dass V. 16 nach dem Zusam-


menhang letztlich nicht Verheißung sein kann, sondern bereits
Anfang des Drohwortes ist.« Eine integrale Sicht von Jes 28,16f
in seinem Kontext vertritt jüngst auch J. Barthel, Prophetenwort
und Geschichte. Die Jesajaüberlieferung in Jes 6-8 und 28-31
(FAT 19), Tübingen 1997, 315f.
5 So z.B. B.S. Childs, Isaiah and the Assyrian Crisis, SBT 3
(1967) 64-67.
Tempelgründung als »fremdes Werk« 33

zyklus« Jes 28-31 6 . Die Überlegungen gliedern sich in


drei Schritte:
I. Das Ecksteinwort in seinem Kontext
II. Zur Metaphorik von Jes 28, 14-19aa (1. Flutmeta-
phorik; 2. Baumetaphorik; 3. Schutzmetaphorik)
III. Zusammenfassung und Datierung: Tempelgrün-
dung als »fremdes Werk«

1. Das Ecksteinwort in seinem Kontext

Um sich der Bedeutung von Jes 28,16f begründet an-


nähern zu können, muss man sich die sorgfältig konzi-
pierte literarische Struktur des Abschnittes ]es 28,14-
22 vor Augen führen. Doch ist es zuvor notwendig, den
Aufbau des den Assurzyklus eröffnenden Kapitels Jes
28 im Ganzen zu skizzieren. Das Kapitel ist dreiglied-
rig: 1. Jes 28, 1-4 (Exposition: Unheil über Ephraim,
mit sekundärem Anhang V. 5-6), 2. Gerichtsankün-
digung über Jerusalem in zwei Teilen: Jes 28,7-13
und Jes 28,14-22, 3. Jes 28,23-29: Reflexion des Ge-
schichtshandelns JHWHs in Form des Gleichnisses
vom Bestellen des Ackers.

1. Jes28,1-4

Die große Textkomposition der Kapitel Jes 28-31"" be-


ginnt mit einem Paukenschlag, dem Wehewort über
Ephraim (vgl. das typische '1i1 der Totenklage in Jes 28,
1). Die »Krone der Betrunkenen Ephraims« über dem

6 Da ich mehrfach die Gelegenheit hatte, die vorliegenden Über-

legungen, die ich zuvor in Jena (2000) und in Hamburg (2001)


vorgetragen habe, mit dem verehrten Jubilar bei Einladungen
zum »Tee-Gespräch« - teils durchaus kontrovers - zu diskutie-
ren, freue ich mich, ihn damit nun in schriftlicher Form zu sei-
nem 80. Geburtstag grüßen zu können. Auf diese Weise hoffe ich,
das Gespräch mit dem profunden Kenner der Jesajatexte, das be-
reits in den dritten Band seiner Theologie des Alten Testaments
Eingang gefunden hat, meinerseits fortführen zu können.
34 Tempelgründung als »fremdes Werk«

»fetten Tal« (sehr wahrscheinlich ist die Hauptstadt des


Nordreichs, Samaria, gemeint) ist dem sicheren Unter-
gang geweiht. Dies wird im Bild einer verwelkenden
Blüte (V. 1) drastisch vor Augen gemalt. Durch JHWHs
»Starken und Gewaltigen« wird der Untergang sich
vollziehen (V. 2). Die dazu im Text breit entfaltete Me-
taphorik einer unaufhaltsamen Flut bzw. eines Unwet-
ters deutet auf den assyrischen König, hinter dem von
vornherein JHWH als die eigentlich geschichtslenkende
Macht sichtbar wird. Die Vollständigkeit und Schnel-
ligkeit des assyrischen Vorgehens wird mit der Gier ei-
nes Hungrigen verglichen (V. 4), der sich eine Frühfei-
ge ganz in den Mund steckt und sie sofort hinunter-
schlingt. Die gedrängten Verse verorten den Assur-Zy-
klus Jes 28-31 * damit anfänglich in der Zeit vor 722/
720 v.Chr. Im Prozess der schriftprophetischen Gestalt-
werdung der Jesajabotschaft waren es ja die das Nord-
reich betreffenden Unheilsankündigungen, die sich zu-
erst als der wahre i11i1" i:J1, als das tatsächliche Wort
JHWHs, erwiesen haben. Daher spannt die Eröffnung
der Textkomposition Jes 28-31 * den Bogen von der
paradigmatischen Anfangssituation der Jesaja-Ver-
kündigung bis hin zu deren gegen das Südreich Juda
gerichteten Fortsetzung (ab Jes 28,7). Der Zusammen-
hang wird durch die bewusste Wiederaufnahme des
Leitwortes =)tlib »( einher)strömen« aus V. 2 in Jes 28, 15
und 18 markiert. Jes 28,1-4 verweist insofern auf die-
selbe geschichtstheologische Reflexion, wie sie auch die
sogenannte »Denkschrift« Jes 6-8* prägt. In ihr wurde
eine Summe jesajanischer Verkündigung gezogen, die
vor allem durch Jes 7-8,4 narrativ um 733 v.Chr., wäh-
rend des sog. »syrisch-ephraimitischen Krieges«, ver-
ankert wurde, wobei kompositionell auch jesajanische
Worte aus der Zeit vor 701 v.Chr. in diese Anfangssi-
tuation zurückprojiziert wurden (vgl. Jes 8,6-8)7. Die

7 Vgl. dazu F. Hartenstein, JHWH und der »Schreckensglanz«

Assurs (Jesaja 8,6-8). Traditions- und religionsgeschichtliche


Beobachtungen zur »Denkschrift« Jes 6-8~, in: ders. /]. Krispenz
Tempelgründung als »fremdes Werk« 35

schriftprophetische Arbeit (der Tradenten) an der Je-


sajaüberlieferung zielte auf eine Gesamtschau der Bot-
schaft des Propheten, bei der die historische Bewahr-
heitung seiner Worte und die sich aus deren Ablehnung
entwickelnde Unheilsdynamik die Auswahl bestimm-
ten. Jes 28,1-4 rückt den sog. Assurzyklus demnach
nahe an die »Denkschrift« Jes 6-8* heran bzw. scheint
deren Geschichtshermeneutik bereits vorauszusetzen
(s.u. 3).

2. Jes 28,7-22

Die Gerichtsankündigung an die Jerusalemer ist ihrer-


seits zweiteilig:
]es 28,7-13 enthält einen Aufweis des Fehlverhal-
tens von Priestern und Propheten, auf den die Ankün-
dung eines Wortes JHWHs mit »andersartiger Zunge«
folgt (V. 11-13 ), das seinerseits auf 28, 14ff voraus-
weist (vgl. 28,21: das »fremdartige Tun« Gottes).
übergreifendes Thema des Abschnitts Jes 28,7-13,
der indirekt (in V. 12) eine Lokalisierung in Jerusalem
nahelegt, ist die pervertierte und somit unmöglich ge-
wordene Kommunikation mit Gott. Die genauen Ein-
zelheiten sind dem Text nicht zu entlocken und in der
Forschung entsprechend umstritten. Offenbar können
die professionell mit dem Gotteskontakt betrauten
Personen aufgrund ihrer Trunkenheit ihre Funktionen
(V. 7: priesterliche Weisung, [kult]prophetische Schau-
ung) nicht mehr ausüben. Diese» Trunkenheit«, die mit
derjenigen der samarischen Oberschicht aus Jes 28,1 zu-
sanu;nengesehen wird (vgl. den »Wein« in V. 1 und 7),
beantwortet JHWH entsprechend mit »fremdartiger
Zunge«, was wohl als Anspielung auf die Sprache der
heranrückenden assyrischen Eroberer zu verstehen ist
(V. 11 mit V. 13). Wer nur noch »lallt« (V. 10), dem
wird das erhoffte »Wort JHWHs « (das sich als Ge-

/ A. Schart (Hg.), Schriftprophetie (FS J. Jeremias), Neukirchen-


Vluyn 2004, 83-102 (= oben S. 1-30).
36 Tempelgründung als »fremdes Werk«

richtswort in der Geschichte manifestiert) ebenfalls als


unverständliches »Gestammel« erscheinen, an dessen
Dunkelheit man zugrunde gehen wird (V. 13) 8•
]es 28,14-22: Das Ecksteinwort konkretisiert das
in V. 7-13 vorbereitete »fremdartige« Geschehen, in-
dem nun das Problem der verfehlten Kommunikation
mit JHWH auf der entscheidenden Ebene des politi-
schen Handelns zur Sprache kommt: Wegen des man-
gelnden Vertrauens der ]erusalemer Führungsschicht
auf den bei JHWH gebotenen Schutz kann dieser nur
noch die Aufhebung des mit dem Zion verbundenen
Schutzes ankündigen. Jerusalem wird der »heranströ-
menden Geißel« (s.u. II.1. Zur Metaphorik der »Flut«
für Assur) ausgeliefert sein. Diese wird die Bewohner-
schaft Jerusalems überschwemmen und zum »Zertre-
tenen« machen (V. 18). Das »fremde Wort« JHWHs
aus Jes 28,13 wird also konkret als »fremdes Werk«
erfahren werden (V. 21), als bittere Lektion, die je-
den weiteren Deutungsversuch von Gottesoffenbarung
zum »Schrecken« werden lässt (V. 19) 9 . Statt sich auf
die Sicherheit zu beziehen, wie sie mit JHWH und sei-
ner Präsenz auf dem Zion verbunden ist, haben die
»Herrscher dieses Volkes« (V. 14) einen Bund bzw.
Vertrag mit »Mot« (Tod) und »Scheol« (Unterwelt)
geschlossen. Die Schutzerwartungen richten sich statt
nach »oben« (zu JHWH hin) nach »unten«. Was da-
mit genau gemeint ist, entzieht sich wieder präziser Er-
fassung. Am naheliegendsten sind aufgrund der poli-
tischen Dimension des Textes nach wie vor die Bünd-
nisgesuche Hiskias in Richtung Ägyptens vor 701
v.Chr. (vgl. Jes 30,1-4). Vielleicht spielt als zweite
Möglichkeit aber auch der Versuch von Totenbefra-

8 Siehe zu dieser Deutung Barthel, Prophetenwort (s.o. Anm. 4),


295-305.
9 Vgl. Jes 28,9: Keine »Deutung« der Offenbarung mehr; dort
aufgrund der Trunkenheit von Priester/Prophet, hier aufgrund
des Schreckens, den JHWH durch Assur wirkt (28,9: i1!l11Jib ]'::l'
/ / 28, 19: iU11DiD ]'Ji1).
Tempelgründung als »fremdes Werk« 37

gung eine Rolle 10. Das durch Assur erfolgende Gericht


fasst Jes 28,14-22 schließlich unter dem dialektischen
Begriff »fremdes Werk« zusammen, d.h. als ein ab-
gründiges Gerichtshandeln Gottes gegen sein Volk 11 .

3. Jes 28,23-29

Eine mit der Lehreröffnungsformel eingeleitete (V. 23)


Reflexion des Geschichtshandelns ]HWHs beschließt
das Kapitel. Sie trägt darin weisheitliche Züge, dass sie
JHWHs Tun in der Menschenwelt mit der jahreszeit-
lich gesteuerten Arbeit des Bauern bei der Feldbestel-
lung vergleicht und so einen Ausblick auf eine Wende
in der Zukunft ermöglicht (»nicht für immer drischt
er« V. 28). Hier wird das Geschichtshandeln Gottes in
den noch weiteren Horizont seines Schöpferhandelns
gestellt und so auf die momentan verborgene, im letz-
ten aber sinnhafte Dimension der Erfahrungswirklich-
keit im Ganzen verwiesen.
Kommt man von diesem Überblick zur literarischen
Struktur des Abschnitts ]es 28,14-22, so fällt zunächst
die Inclusio zwischen V. 14 und 22 auf: Zwei Impera-
tive im Plural (»Hört!«//»Spielt euch nicht auf!«) gel-
ten den Adressaten der Oberschicht des Südreichs Juda
(V. 14 »Männer des Geschwätzes, Herrscher dieses Vol-
kes, das in Jerusalem ist«). Durch das begründende p~
in V. 14 wird der Text zuerst als Folge des zuvor in
V. 7-13 Geschilderten gekennzeichnet und somit der
10 Vgl. dazu K. van der Toorn, Echoes of Judaean Necromancy in
Isaiah 28,7-22*, ZAW 100 (1988) 199-217; F. Stolz, Einführung
in den biblischen Monotheismus (Die Theologie), Darmstadt
1996, 129. Dies wird aber kaum auf eine alltägliche Praxis der
Nekromantie im Juda des ausgehenden 8./7. Jh.s v.Chr. verwei-
sen, sondern eine besondere Maßnahme angesichts eines notvol-
len Gottesschweigens darstellen (vgl. dazu evtl. auch V. 7-13).
Ähnlich auch J. Blenkinsopp, Isaiah 1-39 (AncB 19), New York
2000, 393.
11 Als Vergleichsgröße verweist V. 21 auf das kriegerische »Ra-

sen« Gottes gegen die Feinde Israels in der Frühzeit: »wie am


Berg Perazim, wie im Tal bei Gibeon« (vgl. 2Sam 5,17ff; Jos 10).
38 Tempelgründung als »fremdes Werk«

schon benannte kompositionelle Zusammenhang der


beiden Abschnitte hervorgehoben. V. 15 bringt nach
der Höraufforderung ein typisches zweiteiliges Ge-
richtswort, das mit dem durch "::J »weil« eingeleiteten
Schuldaufweis (hier in Form eines den Adressaten
vorgehaltenen Zitats) einsetzt, woran sich ab V. 16
mit erneutem p~ »darum« die Gerichtsankündigung
anschließt: Dem verfehlten »Sprechen« der Herrscher
entspricht das »Sprechen« des »Herrn« JHWH:
V. 15 Weil ('::l) »ihr gesag.t habt«: das polemisch verdrehte Zitat
V. 16 Darum (]::J~) »So hat der Herr JHWH gesagt: Gerichtswort

Neben dieser linearen Struktur lässt sich weiterhin in


Jes 28, 14ff eine konzentrische Figur feststellen, nach
der V. 15-19aa gestaltet sind. Sie weist folgende ter-
minologische und sachliche Entsprechungen auf12 :
la Vertrag mit dem Tod/ derUnterwelt V.15a
lb Einherflutende Peitsche V.15ba
2 Lügenzuflucht V.15bß
3 Ecksteinwort V.16
2' Lügenzuflucht V.17
la' Vertrag mit dem Tod/Unterwelt V.18a
lb' Einherflutende Peitsche V.18b

Dabei fallen in V. 15 und in V. 18-19aa die parallele


Anrede in der zweiten Person Plural (mit den entspre-
chenden Suffixen »unser«//»euer«) auf. V. 15a.ba und
V. 18 bilden eine genau parallele geschlossene Figur
(la.b/ /la'/b') mit dem Thema »Vertrag mit dem Tod,
der Unterwelt« und dem Bild der »einherflutenden
Peitsche«. Ebenso entspricht V. 15bß dem V. 17 (2//2 '),
mit dem gemeinsamen Thema der »Lügenzuflucht«. In
der Mitte der konzentrischen Figur steht als singuläre
Aussage das eigentliche »Ecksteinwort« V. 16. Zur Er-
mittlung seiner Bedeutung in diesem Zusammenhang
sind nun genauere Erörterungen zur Bildsprache von

12 Diese Entsprechungen notiert etwa auch J. Barthel, Propheten-


wart (s.o. Anm. 4), 312f.
Tempelgründung als »fremdes Werk« 39

Jes 28,14-22 und ihrem religions- und traditionsge-


schichtlichen Hintergrund notwendig.

II. Zur Metaphorik von Jesaja 28,14-19aa

In gewisser Weise stellt der traditions- und religions-


geschichtliche Hintergrund der Metaphorik von Jes 28,
14-22 den Schlüssel zur Deutung des »Ecksteinworts«
dar. Hierfür ist es besonders fruchtbar, sich im Blick auf
die Bildsprache mit neuassyrischen Quellen des 8./7.
Jh.s v.Chr. zu beschäftigen, da sich in ihnen die sach-
lich nächsten Parallelen sowohl für die Flut- (2.1) als
auch für die Baumetaphorik (2.2) finden. Der dritte
Bildbereich der Schutzvorstellungen speist sich dage-
gen stärker aus genuin Jerusalemer Vorstellungen, na-
mentlich der Psalmen (2.3).

1. Zur Metaphorik der »Flut« für Assur

Neben Jes 28,15-19 gibt es noch zwei weitere, oben


bereits genannte Textstellen des protojesajanischen
Kernbestands, die analoge Flutmetaphern für das be-
drohlich gegen Juda heranrückende Assur verwenden.
Beide liegen zeitlich und sachlich nahe beieinander:
a) Der Anfang des Assurzyklus, in ]es 28,1-4, wo der
Untergang des Nordreichs (Ephraim) durch die Assyrer
mit der Flut/Wetter-Metaphorik gezeichnet ist (s.o. 1).
b) Noch wichtiger und sachlich ganz analog: ]es 8,6-8,
ein Teil der sogenannten »Denkschrift« in Jes 6-8*.
Signifikant ist hier jeweils das Verb =)t:ltO »( einher )strö-
men« (Jes 28,2.15.18f und Jes 8,7.8). Es handelt sich
bei dem »Flut«-Bild (und der analog funktionierenden
»Unwetter«-Symbolik) um ein auf mehreren Sinnebe-
nen spielendes Metaphernfeld, das seit alters her in den
textlichen Quellen des Zweistromlandes häufig zu be-
legen ist. Die elementarste Relation dieses Metaphern-
felds stellt die Gleichsetzung von »Flut« und »Krieg«
dar, die auf verschiedenen Ebenen mythisch ausgemalt
40 Tempelgründung als »fremdes Werk«

werden kann 13 . Die neuassyrischen Könige des 1. Jt.s


verwenden sehr häufig die Bildwelt der »Flut«, um ih-
ren unaufhaltsamen Angriff und die Unwiderstehlich-
keit ihrer Kampfkraft zu umschreiben (kima abübi bzw.
der häufige casus adverbialis abübanis). Bei diesem Vor-
stellungszusammenhang ist gelegentlich auch an eine
direkte Personifizierung der Sintflut (abübu) in Gestalt
eines geflügelten Löwendrachens zu denken (seit dem
2. Jt. v.Chr. mit eigener Ikonographie belegt 14). Über
sie führt ein direkter Weg zu der lange umstrittenen
Besonderheit des Flutbildes in ]es 28,15.lSf im Ver-
gleich mit Jes 28,1-3 und Jes 8,7f, nämlich der Re-
de von einer »strömenden/ einherflutenden Geißel/
Peitsche«. Hartmut Gese hatte bereits zutreffend ge-
sehen, dass hier die Ikonographie des Wettergottes
Adad im Hintergrund steht, der auf seinem Wagen
einherfährt 15 . Dieser Wagen wird auf Siegelbildern
der Akkadzeit häufig von einem Löwendrachen gezo-
gen (Abb. 2.1). Nimmt man das Epitheton Adads als
»Herrn der Flut / des Flutdrachens« (bel abübi) 16 hin-
zu, so evoziert die metonymisch verkürzte Redeweise
von Jes 28,15.17f das Bild des kriegerisch daherspren-
genden Flutwagens des Wettergottes (auf dem Bron-
zetor des Akitu-Hauses des Sanherib wird dieses Bild
auf Assur übertragen 17). Gemeint ist also sehr wahr-

13 Siehe dazu ].G. Westenholz, Symbolic Language in Akkadian


Narrative Poetry: The Metaphoric"al Relationship between Poeti-
cal Images and the Real World, in: M.E. Vogelzang / H.L.]. Van-
stiphout (Hg.), Mesopotamian Poetic Language: Sumerian and
Akkadian, CM 6 (1996) 183-206; vgl. als Überblick über meso-
potamische Metaphorik und ihre Interpretationen M.P. Streck,
Die Bildersprache der akkadischen Epik (AOAT 264), Münster
1999; ebd., 26f (zu Westenholz).
14 Vgl. U. Seid!, Das Flut-Ungeheuer abubu, ZA 88 (1998) 100-

113.
15 H. Gese, Die strömende Geißel des Hadad und Jesaja 28, 15 und
18, in: A. Kuschke / E. Kutsch (Hg.), Archäologie und Altes Testa-
ment (FS K. Galling), Tübingen 1970, 127-134.
16 Vgl. Seid!, Flut-Ungeheuer (s.o. Anm. 14), 100.
17 Ebd., 101.
Tempelgründung als »fremdes Werk« 41

scheinlich die unwiderstehlich einherflutende Heeres-


macht des assyrischen Königs 18 .
Hinter der in Jes 28,18f ausgesprochenen Drohung für
die Herrscher Jerusalems könnte sich insofern histo-
risch gut die Situation vor 701 v.Chr. mit der Bündnis-
politik des Hiskia gegen Assur verbergen, wie man dies
ja häufig angenommen hat. Mit der Flutmetaphorik
würde eine direkte Anspielung auf die textliche und
bildliche Propaganda der assyrischen Herrscher der Zeit
vorliegen. Vermutlich gehört auch der überlieferungs-
geschichtliche Kern von Jes 8,6-8 (das im Rahmenei-
ner redaktionellen »Denkschrift« Jes 6-8,18* verar-
beitete Jesajawort) in die Spätzeitverkündigung Jesa-
jas, die mit der Eroberung Judas und der Belagerung
durch Sanherib ihre geschichtliche Bestätigung fand
(s.u. 3). Hat man für die Bildwelt der »Flut« in Jes 28
einen neuassyrischen Hintergrund wahrscheinlich ma-
chen können, so legt sich eine vergleichbare Fragerich-
tung auch für das »Ecksteinwort« Jes 28,16f nahe.

2. Die Baumetaphorik in Jesaja 28,16

Bevor man nach möglichen religionsgeschichtlichen


Hintergründen des Textes fragt, soll zuerst dessen
vermutliche Gestalt auf der Basis des Konsonanten-
textes festgestellt werden. Nach der Punktation der
Masoreten lautet der Text folgendermaßen:

16 Darum: So hat der Herr JHWH gesprochen: »Siehe, ich bin's,


der gegründet hat in/auf Zion einen Stein, einen Festungsstein
(Stein der Prüfung?), einen kostbaren Eckstein wohlgegründeter
Gründung- wer glaubt, weicht (oder: eilt) nicht! 17 Und ich ma-
che Recht zur Mess-Schnur, und Gerechtigkeit zum Senkblei [...].

18 Zur »realistischen« Schilderung der herannahenden Streitwa-


genmacht mit ihrem »Peitschenlärm« ist weiterhin Nah 3,2 zu
vergleichen (t::mliwie Jes 28,15.18): »1 Wehe der Blutstadt [sc. Ni-
nive], in ihrer Gänze gefüllt mit Trug (und) Mord! Nicht weicht
das Rauben! 2. Lärm von Peitschen, und Lärm des Bebens von
Rädern, und einherjagende Pferde und daherhü pfende Wagen!«
42 Tempelgründung als »fremdes Werk«

Lässt man die von den Masoreten durch ihre Vokalisa-


tion und Akzentsetzung gewählten Festlegungen bei-
seite und fragt nach den prinzipiellen Möglichkeiten
eines grammatischen Verständnisses, so finden sich al-
ternative Möglichkeiten der Vokalisierung mit erheb-
lichen Konsequenzen für die inhaltliche Deutung des
»Ecksteinwortes«:
a) 7CI, ,:im: Die Masoreten haben 70, als qatal im
Pi'el punktiert und damit das Verb auf die Zeitdimen-
sion der Vergangenheit festgelegt: »Ich bin es, der ge-
gründet hat ... « Vermutlich steht dabei die Überlegung
im Hintergrund, dass der Tempel aus Sicht des Textes
noch nicht zerstört war und insofern keine andere Zeit-
lage für das Verb in Frage kommt. Anders verhält es
aber sich mit den beiden großen Jesaja-Handschriften
aus Qumran, die hier übereinstimmend ein Partizip des
Verbs iCJ, überliefern: lQJesa hat das Partizip Pi 'el
70,l'J und lQJesb das Partizip Qal 7 □ ,, 19 . Das »Eck-
steinwort« wird, wenn man dieser gewichtigen Bezeu-
gung folgt, dann mit einer futurischen Aussage einge-
leitet (futurum instans: Deixis iDi1 + Partizip ) 20 : »Siehe,
ich bin gerade dabei, zu gründen / ich gründe in un-
mittelbarer Zukunft ... « Als weiteres syntaktisches In-
diz für eine solche Deutung ist auch auf die Fortsetzung
von V. 16 in V. 17 durch das Folgetempus weqatal zu
verweisen (»ich mache Recht zur Mess-Schnur«), das
im Hebräischen den Progr~ss in der Nachzeitigkeit/
Zukunft bezeichnet und nicht selten das Partizip qotel
in der Funktion des futurum instans fortführt 21 .

19 Das Qal bezeichnet zumeist eine kosmische Fundamentlegung


(Schöpfungsterminus ), das Pi 'el dagegen meint fast immer die
konkrete Gebäudefundamentierung (wobei bei altorientalischen
Tempeln beides aufgrund der Gebäudesymbolik sachlich zusam-
mengehört). Vgl. zur Differenzierung der Bedeutung der Stamm-
formen R. Mosis, Art. 11:1' jasad, ThWAT III (1982) 668-682.
20 So zahlreiche Ausleger; vgl. dazu u.a. Kilian, Jesaja (s.o. Anm.
1), 59-62.
21 Vgl. R. Bartelmus, Einführung in das biblische Hebräisch,
Zürich 1994, 105.
Tempelgründung als »fremdes Werk« 43

b) tb'n' ~, r1'J~1'Ji1 7Cl71'J 7Cl71'J: Das doppelte 7Cl71'J ha-


ben die Masoreten als indeterminiertes Nomen (»eine
Gründung«) mit darauf bezogenem attributivem Parti-
zip Hof'al (»eine gegründete«) verstanden. Doch diese
Deutung bietet nicht nur aufgrund der pleonastischen
Aussage Schwierigkeiten für das Verständnis. Auch
die folgende Fügung tb'n' ~', r1'J~1'Ji1 stellt, wenn man
sie mit den Masoreten als eigenständigen Satz auf-
fasst, kein geringes Problem der Auslegung dar. Auf-
grund des Konsonantentextes legt sich hier eine ande-
re Strukturierung des Textes nahe, die ihrerseits den
Vorteil hat, kohärent im Bereich der Gründungsmeta-
phorik zu bleiben:

»Siehe, ich gründe auf Zion ]1'~:J iO' 'lli1


einen Stein, p~
einen Festungsstein, Jn:J p~
einen kostbaren Fundamenteckstein, ;010 mp' m::i
ein Fundament, das fest/treu ist: ro~/'Ji1 i01/'J
nicht weicht es!« tlrn' ~,

Dabei wird neben der unterschiedlichen Versuntertei-


lung auch eine andere Vokalisation des zweifachen
7Cl11'J angenommen: Ich rechne mit dem zweimaligem
Nomen 7Cli1'J »Fundament«, das zwar im Alten Testa-
ment ans~nsten nur im Plural belegt ist, sich hier sach-
lich aber sehr nahelegt, wie gleich zu zeigen sein wird.
Das zweite 7Cl71'J würde sich dann explizierend auf das
erste beziehen, das seinerseits·als Nomen rectum einer
Constructus-Verbindung 7Cl11'J nip' nJ:l »Fundament-
eckstein« zu verstehen wäre. Bei dieser Annahme er-
gibt sich für V. 16 im Ganzen eine Art »Fundament-
struktur«, wie sie analog auch schon W.H. Irwin be-
schrieben hat 22 . Dafür, dass man hier mit einem kohä-

22 W.H. Irwin, Isaiah 28-33. Translation with Philological


Notes, BibOr 30 (1977) 30. Strukturell und metrisch erscheint
diese Einteilung gut begründet, Schwierigkeiten macht jedoch
die ebd., 32 angenommene Deutung des ro~oi1 als »master build-
er«, also als sachkundiger Baumeister in Analogie zu Prov 8,
29b-30a (vgl. lKor 3,10).
44 Tempelgründung als »fremdes Werk«

rent auf der Bildebene der Fundamentlegung bzw.


Gebäudegründung bleibenden Verständnis dem Text
am nächsten kommt, spricht sehr wahrscheinlich auch
die Rezeption des »Ecksteinwortes« Jes 28,16 in Qum-
ran (lQS 8,7-8). Dort wurde die Stelle auf die Ge-
meinde als »wahrer Tempel« hin gelesen und dabei im
Ganzen Baumetaphorik vorausgesetzt 23 :

Dies ist die erprobte [Festungs-] Mauer, 1n:ii1 nmn i1~'i1


der köstliche Eckstein, ip' m:i
nicht werden seine Fundamente wanken 1i1'ti1i11J' 1.tJT.tliT' ?:i
noch von ihrem Platz weichen-, □mprJrJ 1ib'n' ,:i,
eine Stätte des Allerheiligsten [... ] □'ibi1p ibi1p ]1.tlrJ

Sehr wahrscheinlich kommt die hier gegebene Para-


phrase »nicht werden seine Fundamente wanken, noch
von ihrem Platz weichen« dem ursprünglichen Text-
sinn von Jes 28,16 am nächsten. Die Qumranstelle setzt
offensichtlich die oben von mir gewählte Wiedergabe
für 1"tl~tli1 mit Bezug auf das »Fundament« voraus,
nämlich ein indeterminiertes Namen mit nachfolgen-
dem determinierten Partizip in attributiver Verwen-
dung: »ein Fundament, das fest ist, nicht weicht es«
(vgl. etwa Jer 46,16: i1J1'i1 :nn »ein Schwert, das ge-
walttätig ist«) 24 . Das absolut gebrauchte ltl~ Hif'il
wäre dann als innerlich transitiv zu verstehen, etwa im
Sinn von »in sich fest sein« 25 . Nun ist mit dieser kohä-

23 Text und Übersetzung nach E. 'Lohse, Die Texte aus Qumran.


Hebräisch und Deutsch, Darmstadt 1964, 29f. Vgl. die Überset-
zung von J. Maier, Die Qumran-Essener. Die Texte vom Toten
Meer 1 (UTB 1862), München 1995, 187. Zur Interpretation der
Stelle vgl. H. Muszynski, Fundament. Bild und Metapher in den
Handschriften aus Qumran (AnBib 61), Rom 1975, 130-136; vgl.
174-188; B. Gärtner, The Temple and the Community in Qumran
and the New Testament. A comparative Study in the Temple Sym-
bolism of the Qumran Texts and the New Testament, Cambridge
1965, 22-30, bes. 27.
24 Siehe E. Kautzsch, Gesenius' Hebrew Grammar, hg. von E.
Cow-ley, 2 1910 (= Ges-K28 ), § 126w (häufig).
25 Vgl. dazu H. Wildberger, Art. ]1J~ 'mn, THAT I (1978) 177-

209, hier 188 unter Hinweis auf Hi 39,24 (vom Schlachtross).


Tempelgründung als »fremdes Werk« 45

renten Lesart von Jes 28, 16 als Baumetaphorik die per-


sonale Konnotation der Begriffe 11'J~ Hif'il und tbm I
»eilen/weichen« aber nicht aus dem Spiel. Die Ausle-
gung von Jes 28,16 in 1 QS 8,7-8 versteht das Fun-
dament ja als symbolisch auf den 1n', die Qumrange-
meinde, hin transparent. Und dies hat wohl eine sach-
liche Voraussetzung in der Jesaja-Stelle selbst, die vor
dem Hintergrund altorientalischer Tempelsymbolik in
sich sowohl eine »materielle« als auch eine »persona-
le« Bedeutungsseite haben könnte.
In Mesopotamien und bei den Hethitern wurden Tem-
pelteile nicht selten als quasi »belebt« aufgefasst (in-
sofern diese Anteil an der göttlichen Tempelpräsenz
gewinnen). Tempel und ihr Inventar kommunizierten
dann mit Göttern und Menschen (vgl. im Alten Testa-
ment das analog personal konnotierte !71:J »angstvoll/
besinnungslos schwanken/beben« der Türzapfen in
den Schwellen in Jes 6,4 und die Anrede an die »uralt-
en Tore« in Ps 24,7-11) 26 . Zur näheren Eingrenzung
der damit möglicherweise verbundenen Bedeutungen
in Jes 28,16 ist an dieser Stelle ein Seitenblick auf die
Symbolik der (Tempel-)Gründung im Alten Orient
nötig. Diese Symbolik gehört zu den ältesten Kons-
tanten der vorderasiatischen Kulturen, die sich bei al-
len zeitlichen und regionalen Unterschieden bis in das
späte 1. Jt. v.Chr. als erstaunlich stabil erweist. Der
umfangreiche Quellenbestand soll knapp ikonogra-
phisch (a) und an zwei für Jes 28,16 aussagekräftigen
Textbeispielen (b) beleuchtet werden.

a) Die symbolische Signifikanz der Fundamentlegung


von Gebäuden, besonders der Tempel, illustriert vor
allem die uralte Tradition der Gründungsfiguren 27 . Ty-
26 Vgl. dazu F. Hartenstein, Die Unzugänglichkeit Gottes im Hei-
ligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer
Kulttradition (WMANT 75), Neukirchen-Vluyn 1997, 110-134.
27 Vgl. zu ihnen S.A. Rashid, Gründungsfiguren im Iraq (Prähis-

torische Bronzefunde I/2), München 1983 sowie zuvor E.D. van


Buren, Foundation Figurines and Offerings, Berlin 1931.
46 Tempelgründung als »fremdes Werk«

pisch für diese ist die auch für das Fundament in Jes
28,16 zu vermutende doppelte Bedeutung als »mate-
rielles« und »personales« Objekt. Erste Beispiele fin-
den sich schon in der frühdynastischen Zeit (ca. 2500
v.Chr.) bis hinein in die neusumerische Periode (2100/
2000 v.Chr.). Aus der Zeit des Urnansche von Lagasch
(um 2520 v.Chr.) stammen zwei sogenannte »Nagel-
menschen« aus Bronze (Abb. 2.2). Der rechte war zur
(symbolischen) Befestigung des Fundaments in eine
auf dem Boden liegende Lasche eingesetzt (Herrscher/
Gottheit?). Aufgrund der günstigen Quellenlage bil-
det für die Erhellung der Bedeutung der Figuren der
Stadtfürst Gudea von Lagasch (Girsu/Tello) einen
wesentlichen Bezugspunkt: Seine beiden berühmten
Tonzylinder, die vom Neubau des Tempels Eninnu
für den Stadtgott Ningirsu handeln, lassen den Bezug
auf zeitgleiche archäologische Funde zu. So schildert
Zyl. A, XXII, 9-13 die Eintiefung der Tempelfunda-
mente als kosmische Verankerung des Gebäudes im
Untergrund 28 :

»The ruler (thus) built the House, let it grow, let it grow like a
huge mountain. He let the foundation boxes [temen] of the Abzu
sink in deep (as if it were for) enormous masts [dim-gal-gal], so
that they could take counsel with Enki in his Engur House.«

Sehr wahrscheinlich verkörpern die einen Pflock/Grün-


dungsnagel haltenden Gottheiten aus der Zeit des Gu-
dea (Abb. 2.3) die vertikale Achsensymbolik des Tem-
pels, wie sie hier in der Metapher eines »großen Pflocks/

28 Zitiert nach D.O. Edzard, Gudea and his Dynasty (RIME 3/1),
Toronto 1997, 83 (Hervorhebung von mir). Vgl. E.]. Wilson, The
Cylinders of Gudea. Transliteration, Translation and Index
(AOAT 244), Münster 1996, 100: »The governor built the temple
(and) it grew. Like a great mountain it grew. He filled in the foun-
dation of the abzu with great posts in the ground. With Enki in
the Eangurra he takes counsel.« Beide Übersetzungen gehen zu-
rück auf den Vorschlag von T. Jacobsen, The Harps that once.
Sumerian Poetry in Translation, New Haven 1987, 416.
Tempelgründung als »fremdes Werk« 47

Pfahls« (dim-gal) zum Ausdruck kommt 29 . Indem das


Fundament des Gebäudes (temen) seinerseits mit dem
Herrn des unterirdischen Süßwasserozeans Apsu, dem
Gott Enki, »kommuniziert«, wird auch die mythisch
»personale« Seite der Tempelsubstrukturen sichtbar,
wie sie die Kombination von anthropomorpher Gott-
heit mit dem Symbol eines »Pflocks/Nagels« bei den
Gründungsfiguren veranschaulicht.
Die wesentliche Rolle des Herrschers und dessen Inter-
aktion mit den Göttern während der damit verbunde-
nen Riten geht ikonographisch sehr schön aus dem Re-
lief einer Ur III-zeitlichen Stele des Urnammu von Ur
hervor (Abb. 2.4, ca. 2111-2094 v.Chr.) 30 . Auf der
Vorderseite dieser im Heiligtum des großen Mond-
gottes von Ur (Nanna) gefundenen Stele findet sich
im 2. Fries Urnammu, der selbst den Tragkorb für die
Ziegel (vom hinter ihm gehenden Diener gehalten)
und die Hacke trägt (gemeint ist wohl der Bau der
Zikkurat von Ur). Beide Gerätschaften sind ebenso
wie die Partizipation des Herrschers Hinweise auf die
Bedeutung der Gründungsriten, die als paradigmati-
sches »erstes Mal« für das Gelingen des Ganzen ste-
hen. Im 3. Fries ist die Arbeit am Tempelbau bereits
in vollem Gang: Viele Korbträger bringen Ziegel an
die bereits errichteten Mauern heran, an die Leitern
angelehnt sind. Ganz speziell die Partizipation des
Königs beim Tempelbau repräsentiert ein weiterer
Typ von Gründungsfiguren desselben Urnammu von
Ur. Es handelt sich um die sogenannten »Kanephoren«/

29 Vgl. dazu D.O. Edzard, Deep-Rooted Skyscrapers and Bricks:


Ancient Mesopotamian Architecture and its Imagery, in: M.
Mindlin / M.]. Geiler / ]. E. Wansbrough (Hg.), Figurative Lan-
guage in the Ancient Near East, 1987, 13-24; S.M. Maul, Die alt-
orientalische Hauptstadt - Abbild und Nabel der Welt, in: G.
Wilhelm (Hg.), Die Orientalische Stadt. Kontinuität, Wandel,
Bruch (CDOG 1), Saarbrücken 1997, 109-124.
30 Vgl. zur Rekonstruktion J. Börker-Klähn, Altvorderasiatische
Bildstelen und vergleichbare Felsreliefs (BagF 4), Mainz a.R.
1982, 39-44.
48 Tempelgründung als »fremdes Werk«

»Korbträger« (Abb. 2.5). Dieser Figurentyp zeigt wohl


den König als Träger des »ersten Ziegels« 31, wie man
aus Gudea Zyl. A XX, 24-27 erschließen kann 32 :
»Gudea the House-builder had the carrying-basket for the
Hause on his head like a pure crown, he laid the foundations, set
the walls into the ground. He greeted (the House) (with the song
starting) >The string hit the bricks<. «

Es ist höchst aufschlussreich, dass die rituelle königli-


che Beteiligung am Tempelbau in Form des »Korbtra-
gens«, wie wir sie aus den Gudeazylindern kennen und
von den Gründungsfiguren her erschließen können,
nach tausendjähriger Unterbrechung im 7. Jh. v.Chr.
erstmals in den Babylon-Inschriften Asarhaddons be-
wusst als öffentlicher Akt königlicher Propaganda wie-
der auf genommen wird 3 3:
»Um seine [sc. Marduks] grosse Gottheit den Leuten zu zeigen
und sie zu lehren, seine Herrschaft zu fürchten, trug ich einen
Tragkorb (?) auf meinem Haupte und setzte ihn mir selbst auf.«

Auch der ikonographische Typ erscheint erneut (und


sicherlich unter restaurativem Rückgriff auf entspre-
chende Funde aus der genannten sumerischen Bildtra-
dition) unter Asarhaddons Sohn und Nachfolger As-
surbanipal (668-631/627 v.Chr). Auf zwei Stelen las-
sen sich Assurbanipal bzw. dessen als Nebenkönig über
Babylon eingesetzter Bruder Samas-sumu-ukin in der
31 Die Herstellung des ersten Ziegels ist detailliert in Gudea A
XVIII, 17 -XIX, 19 beschrieben (oben die zweite kürzere Stelle).
32 Nach Edzard, Gudea (s.o. Anm. 28), 82 (Hervorhebung von
mir). Siehe auch A. Falkenstein / W. von Soden, Sumerische und
akkadische Hymnen und Gebete, Zürich 1953, 158: »Gudea, der
das Haus erbaute, nahm den Tragkorb für das Haus, als wäre er
die heilige Krone, aufs Haupt, legte das Fundament, ließ die
Mauern in die Erde eingreifen, vollzog die Segnung, schlug auf
den Ziegel.«
33 R. Borger, Die Inschriften Asarhaddons, Königs von Assyrien
(AfO.B 9), Graz 1956, 20: Episode 21: A (Haupttext A 3), C, D, E.
Vgl. dazu B.N. Porter, Images, Power, and Politics. Figurative As-
pects ofEsarhaddon 's Babylonian Policy, Philadelphia 1993, 82.
Tempelgründung als »fremdes Werk« 49

uralten Pose des Korbträgers abbilden 34 . Wie es die


Inschrift der Assurbanipal-Stele (Abb. 2.6) zeigt, han-
delt es sich um eine geschickte Aussage offizieller Pro-
paganda hinsichtlich der Babylonpolitik der letzten
neuassyrischen Könige: Der König zeigt sich als will-
fähriger Gehilfe des durch Marduk inaugurierten Wie-
deraufbaus des Tempelbezirks (hier: Wiederherstellung
des Marduktempels Esagil). Dieses Anliegen teilen die
Stelen und die zitierte Stelle aus der Asarhaddon-In-
schrift (vgl. dazu unter 3). Fassen wir die symbolische
Signifikanz der Tempelgründung zusammen, so liegt
nach Ausweis der angeführten Quellen aus Mesopota-
mien deren Hauptaussage auf der Betonung der Fes-
tigkeit/Stabilität. Dabei ist die kosmische Dimension
der Vertikalen entscheidend. Auch die Heiligtümer von
Babylon und Nippur folgten ja im 1. Jt. v.Chr. einem
axis mundi-Konzept, wie es im Enuma elisch paradig-
matisch vorgeführt wird 35 .

b) Auch weitere textliche Quellen des Alten Orients,


nicht nur des Zweistromlands, zeigen, dass derartige
Stabilitätsvorstellungen mit Tempelgründungen eng
verbunden gewesen sind. Dazu zwei Textbeispiele, die
die Konturen von Jes 28,16 noch schärfer hervortre-
ten lassen:
Ein hethitisches Bauritual für einen Tempel (CTH
413) ist für unseren Zusammenhang sehr aussagekräf-
tig. In ihm geht es, analog zu Jes 28, 16, um eine Grund-
steinlegung der Ecksteine. Drei Züge des hethitischen
Ritualtexts, der eine ausführlichere Behandlung ver-
diente, sind dabei besonders hervorzuheben 36 :

34 Siehe Porter, Images, 82-94.


35 Die Zikkurat von Babylon trägt den sumerischen Zeremonial-
namen e-temen-an-ki »Haus - Fundament von Himmel und Er-
de« und diejenige von Nippur dur-an-ki »Band von Himmel und
Erde« (vgl. dazu die unter Anm. 29 genannte Lit.).
36 Vgl. N. Boysan-Dietrich, Das hethitische Lehmhaus aus der

Sicht der Keilschriftquellen (THeth. 12), Heidelberg 1987, 43-


60.
50 Tempelgründung als »fremdes Werk«

- In Z. 4-10 werden vier Bronzenägel zur symbolischen Befes-


tigung des Fundaments eingeschlagen und dieser Vorgang aus-
drücklich als Garant der »Dauerhaftigkeit« des Gebäudes gedeu-
tet.
- In Z. 18-22 werden die Grundsteine der vier Ecken aufge-
zählt. Sie sind aus verschiedenen wertvollen Materialien (Silber,
Gold, Lapislazuli, Alabaster, Bergkristall, Eisen, Bronze, Kupfer,
Basalt). Man vergleiche hierzu die Kennzeichnung des Grund-
steins in Jes 28, 16 als 10m r11P' m::i »kostbarer Fundament-
eckstein (vgl. dazu auch lKön 5,31f, beim Tempelbau Salomos:
m1p' tn::i~ »kostbare Steine« [siehe weiter 7,9ff: Palastbau Sa-
lomos]).
- In Z. 28 schließlich ruft der Tempel selbst den Namen der
Gottheit an, zeigt also die oben benannte Personifizierung des
Gebäudes, die in sich bereits den Anstoß zu metaphorischen
Übertragungen bietet (vgl. dazu noch einmal lQS 8,7-8).

Die im Blick auf Jes 28, 16 wichtigste Stelle des Ritual-


textes findet sich aber in Z. 14 37 :
»[14] Wie die vier Ecksteine der Häuser auf der Erde dauernd
(stehen) und sich nicht (hin und her) bewegen, ebenso soll auch
des Opferherren [16] Wohl vor den Göttern hinfort sich nicht
bewegen!«

Das Entscheidende an den vier Ecksteinen, die den


Grundriss des Tempels markieren, ist auch in dieser
Zeile ihre Festigkeit, die - ganz wie in Jes 28,16 - mit
der Metapher des »sich nicht (hin und her) Bewegens«
ausgedrückt wird. Dass es sich (und auch dies wie in
Jes 28,16) um eine zugleich konkrete und metapho-
rische Rede handelt, zeigt die Übertragung auf das
»Wohl des Opferherrn« in Z. 16, das sich analog zu
den Grundsteinen »nicht bewegen« soll.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem zweiten
Textbeispiel, einer Bauinschrift des neuassyrischen
Königs Sanherib, bei dem speziell die Fundamente zur
Fürbitte für den König aufgefordert werden 38 :

37 Ebd., 47 (Hervorhebung von mir).


38 Vgl. R.S. Ellis, Foundation Deposits in Ancient Mesopotamia
(YNER 2), New Haven 1968, 176f, hier 177 (Hervorhebung von
mir).
Tempelgründung als »fremdes Werk« 51

»O foundation-platform, speak to Assur for Sennacherib, the


king of Assyria! May his offspring prosper, may his sons and his
grandsons abide with the black-headed people for ever! «

Beide Beispiele sprechen m.L noch einmal für die


oben aufgrund von lQS 8,7-8 vorgeschlagene Deu-
tung des tv'n' ~', 1'1'J~1'Ji1 70,l'J in Jes 28,16 im Sinne
eines »Fundaments, das in sich fest ist« und »nicht
weicht«, was dann weiterhin für die personale Deutung
der traditionellen Übersetzung »wer glaubt, weicht
nicht« offen bleibt.
Schließlich zeigt der hethitische Ritualtext CTH 413
ebenso wie die anderen genannten Zeugnisse das Zu-
sammenwirken von Göttern und Menschen beim Tem-
pelbau39. Herrscher und Gottheiten handeln dabei für-
einander und miteinander. Dass eine entsprechende
Symbolik auch im Alten Israel vorauszusetzen ist, be-
legen Hi 38,4-7 und Esr 3,10-11, wo mit paralleler
Terminologie (Jubel der Menschen Esr 3,11 // Jubel der
Morgensterne Hi 38,7, jeweils 1'17 Hif'il) die Grund-
steinlegung des Weltgebäudes bei der Schöpfung und
diejenige des zweiten Tempels geschildert werden. Wie
es sich hier mit dem »Ecksteinwort« Jes 28,16 verhält,
wo die Akzente vom Kontext her gegenteilige sind,
wird vollends deutlich, wenn man noch einen dritten
Aspekt der Metaphorik von Jes 28, 14-22 in den
Blick nimmt, nämlich die genuin mit der Jerusalemer
Tempeltheologie verknüpften, Schutzvorstellungen.

3. Die Metaphorik des königlichen »Schutzes« auf


dem Zion

Die Zielrichtung der Kritik an den Herrschenden Jeru-


salems (V. 14) wird an zwei Stellen der konzentrischen

39 Vgl. dazu A.5. Kapelrud, Temple Building: A Task for Gods


and Kings, in: ders., God and his Friends in the Old Testament,
Oslo 1979, 184-190 (= Or.NS 32 [1963] 56-62); V. Hurovitz, I
Have Built You An Exalted House. Temple Building in the Bible
in Light of Mesopotamian and Northwest Semitic Writings
(JSOT.S 115), Sheffield 1992.
52 Tempelgründung als »fremdes Werk«

Figur Jes 28,14-19ao: (s.o. 2) gleichlautend formu-


liert: In V. 15 und V. 18 ist die Rede von einem »Ver-
trag/ Bund« (n'7:J.) mit »Tod« und »Unterwelt«, der
in einem polemisch verdrehten Zitat als trügerische
»Zuflucht« bezeichnet wird. Die Entscheidungsträger
der judäischen Hauptstadt suchen angesichts der dro-
henden militärischen Gefahr durch die Assyrer (»die
strömende Peitsche« [s.o. 2.1]) ihren »Schutz« an der
falschen Stelle. Wie oben gesagt, lässt sich nicht ent-
scheiden, was sich unter der doppelten Bezeichnung
für den Bereich des Todes verbirgt. Am wahrschein-
lichsten ist die Annahme einer Chiffrierung für eine
militärisch-politische Größe analog zur »strömenden
Geißel« für die Assyrer. Zu denken wäre dann am
ehesten an Schutzgesuche in Richtung Ägyptens (vgl.
Jes 30,1-4; 31,1).
Die vom Text gemeinte Frontstellung ist jedoch hin-
tersinnig eine theologische, die erst dann deutlich sicht-
bar wird, wenn man sich die in Jes 28,14ff vorausge-
setzte Raumsymbolik vor Augen hält. Diese ist zu-
nächst ganz analog zu dem, was man über die kosmo-
logischen Vorstellungen im Jerusalem der staatlichen
Zeit ausmachen kann (erschließbar aus wenigen Tex-
ten mit erstaunlich homogenen Basisaussagen über die
heilvolle Präsenz Gottes inmitten der Welt/auf dem
Zion, symbolisiert durch die Höhe und Uneinnehm-
barkeit von Stadt/Thron in der Vertikalen und davon
abhängig der Stabilität und Ordnung der Menschen-
welt in der Horizontalen; vgl. Jes 6, 1-11; Ps 93 *; 24, 7-
11; Jer 17,12; Ps 46*; 48*) 40 . Das als Abb. 5.12 (siehe
unten S. 169) gebotene Schema zu Jes 28,14-19 zeigt
diese Ordnungsvorstellung von Zentrum und Peri-
pherie. Auch unabhängig vom »Ecksteinwort« in V.
40 Vgl. dazu Hartenstein, Unzugänglichkeit (s.o. Anm. 26), bes.
22ff und 44ff (zu Ps 93 und 46; 48); B. Janowski, Die heilige
Wohnung des Höchsten. Kosmologische Implikationen der Jeru-
salemer Tempeltheologie, in: 0. Keel / E. Zenger (Hg.), Gottes-
stadt und Gottesgarten. Zu Geschichte und Theologie des Jerusa-
lemer Tempels (QD 191), Freiburg/Basel/Wien 2002, 24-68.
Tempelgründung als »fremdes Werk« 53

16f erweist sich demnach der Gegensatz zwischen dem


Schutzverlangen der Jerusalemer und JHWHs Position
als ein primär kosmologischer: Wer nach »unten«, in
der vertikalen Dimension, entgegengesetzt zu JHWH,
seine Bündnisse sucht, der orientiert sich »trügerisch«
(7pili V. 15.18). Tempeltheologisch spricht der hier
gebrauchte Begriff für »Zuflucht/Schutz«, i1 □ nl'J, eine
deutliche Sprache (vgl. Ps 31,20; Jes 14,32; 30,2f; teils
mit dem entsprechenden Verb i1 □ n // 7t70 + :J »sich
bergen in«). Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe,
ist diese Begrifflichkeit in der Sprache der Psalmen
primär räumlich konnotiert und mit der königlichen
Thronsphäre JHWHs auf dem Zion verbunden 41 . Es be-
steht hier ein Zusammenhang mit der Vorstellung vom
Schutz gewährenden königlichen »Schatten« (Psalmen
oft: »deiner Flügel«, akkadisch: ~illu sa sarri). Wenn
Einzelne oder das Volk nach dem Rettungshandeln
JHWHs vor Feinden Ausschau halten, verbindet sich
damit ein Orts- und Statuswechsel: Aus Bedrohten,
räumlich in der Peripherie, werden Gerettete im Zent-
rum der Welt, im Schutzraum JHWHs, wie er auf dem
Zion / im Tempel symbolisch repräsentiert wird (vgl.
z.B. Ps 31,20-21). Auch im Protojesajabuch findet
sich diese terminologisch festliegende Vorstellung von
der mit der Audienz vor Gott verbundenen Schutzge-
währung an zwei weiteren Stellen:
]es 14,32: Die »Armen« finden Zuflucht auf dem
von JHWH gegründeten Zion ( das Philisterwort ist li-
terarisch deutlich später als Jes 28). Die »Gründung«
des Zion durch JHWH verbürgt dessen konkrete
Schutzqualitäten.
]es 30,2-3: Das den Jerusalemern vorgeworfene
»sich Bergen« im »Schatten« Ägyptens (i1 □ n) bildet

41 Vgl. F. Hartenstein, Das »Angesicht JHWHs«. Studien zu sei-


nem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den
Psalmen und in Exodus 32-34 (FAT 55), Tübingen 2008 (Habil.
Marburg 2000), bes. 142-177 (Der Schutzraum von »Zelt«,
»Flügeln« und »Angesicht« JHWHs in den Psalmen).
54 Tempelgründung als »fremdes Werk«

die sachlich und zeitlich nächste Parallele zu Jes 28, 14ff.


Indem man JHWH nicht befragt und eigenmächtig
Bündnisse mit dem Pharao einzugehen sucht, ver-
tauscht man Heil mit Unheil: Echter »Schutz« ist al-
lein bei JHWH und auf dem Zion zu finden.
Der weitere kompositorische Zusammenhang des mit
Jes 28 eröffneten Assur-Zyklus kann hier nicht ver-
folgt werden, entscheidend ist aber die Erkenntnis,
dass das »Ecksteinwort« mit seinem Kontext konzep-
tionell eng zusammenhängt. Was bedeutet es dann,
wenn JHWH im Begriff ist, einen neuen Grundstein
für Zion zu legen, und wie ist der Abschnitt vermut-
lich literarhistorisch zu beurteilen?

III. Zusammenfassung und Datierung: Tempelgrün-


dung als »fremdes Werk«

Wenn man die Eigenart der Bildsprache von Jes 28 in


Rechnung stellt, so lässt sich die Gerichtsansage dieses
Kapitels im Ganzen unter den paradoxen Begriff des
»fremdartigen Wortes/Werkes« JHWHs stellen. Die
Baumetaphorik des »Ecksteinworts« Jes 28,16f ist dann
in seinem Kontext, mit dem es eng verbunden ist,
sehr wahrscheinlich folgendermaßen zu lesen: JHWH
kündigt eine Neugründung/Erneuerung eines »Funda-
mentes« auf dem Zion an, die er allein durchführen
wird. Dabei ist der Kontrast·zwischen dem königlichen
Herrn JHWH (V. 14.16) und den Herrschern dieses
Volkes (V. 14) entscheidend. Wenn im Alten Orient
und in Israel der Tempelbau eine genuine Gemein-
schaftsaufgabe von Göttern und Menschen darstellte,
so erscheint die einseitige Bauankündigung JHWHs
als abgründig: Was JHWH ins Werk setzt, geschieht
ohne jede Beteiligung der Herrschenden Jerusalems.
Der Neuanfang impliziert vielmehr die Preisgabe des
Schutzraums für die Menschen, wie er bisher durch
die Tempelpräsenz Gottes gewährt wurde. Jerusalem
wird durch die »strömende Geißel« der Assyrer über-
Tempelgründung als »fremdes Werk« 55

schwemmt werden. Eine Tempelzerstörung ist dabei


nicht explizit im Blick, wohl aber der Rückzug Gottes
aus seiner Schutz gewährenden Position inmitten sei-
nes Volkes. JHWH gibt dabei seine Bindung an den
Zion nicht auf, aber er gibt die gegenwärtige Genera-
tion der Jerusalemer dem Gericht preis. Ganz ähnlich
deutet auch das Kolophon der »Denkschrift« in Jes 8,
17f die Situation: JHWH wohnt noch auf dem Zion,
aber ist zugleich der, »der sein Angesicht verbirgt«
( dauerhaft: Ptz. 1'J:l 7't7Cltli1). Auch die in Jes 6 ange-
zeigte kultische Unzugänglichkeit JHWHs hat in kos-
mischer Hinsicht sehr wahrscheinlich die Preisgabe des
Landes Juda an die hereinströmende »Flut« Assurs zur
Folge (Jes 8,6-8) 42 . Blickt die partizipiale Formulie-
rung in Jes 8,17 aber auf einen Zeitraum unbestimm-
ter Dauer der Verborgenheit JHWHs, so geht Jes 28,
16f darüber hinaus: Das »Ecksteinwort« enthält eine
Zukunftsdimension, die strikt theozentrisch aufzufas-
sen ist.

An anderer Stelle habe ich zu zeigen versucht, dass die


»Denkschrift« Jes 6-8* ihre Gestaltung möglicher-
weise Jesajatradenten der Manassezeit verdankt 43 . Die
Besonderheit der Flutmetaphorik von Jes 8,6-8* leg-
te eine Verbindung mit Inhalten der großen Babylon-
inschrift(en) Asarhaddons nahe, in denen er kurz nach
seinem Regierungsantritt 680 v.Chr. die (zumindest
teilweise) Zerstörung Ba byl.ons durch seinen Vater
Sanherib 689 v.Chr. theologisch deutete. Auch zu
dem oben herausgearbeiteten Konzept von Jes 28,14-
22 bestehen auffallende Parallelen in diesen Inschrif-
ten: Nachdem sich Marduks Gemüt besänftigt und er
die Frist der Strafe auf den Schicksalstafeln verkürzt
hat, erwählt er Asarhaddon als den König, der den
Wiederaufbau der Stadt und v.a. die Neugründung
ihrer Tempel durchführen soll (intentional handelt es

42 Vgl. Hartenstein, JHWH (s.o. Anm. 7).


43 Hartenstein, JHWH (s.o. Anm. 7).
56 Tempelgründung als »fremdes Werk«

sich bei den Babyloninschriften um Bauinschriften für


die Fundament-Depots) 44 . Den breitesten Raum der
Inschriften nehmen die Instandsetzungsmaßnahmen
an dem Haupttempel Esagil ein, die zum Zeitpunkt
der Abfassung allerdings noch weitgehend Zukunfts-
programm sind. Und es ist besonders die Erneuerung
der Fundamente, von der sich Asarhaddon eine neue
»auf Recht und Gerechtigkeit« (vgl. Jes 28,17) ge-
gründete Herrschaft erhofft:

»Meine priesterliche Nachkommenschaft möge wie die Funda-


mente von Esagila und Babel für ewige Zeit standhalten. Mein
Königtum möge wie das ,Lebenskraut< den Leuten wohlgefällig
sein. In Recht und Gerechtigkeit möge ich ihre (sc. der Götter)
Untertanen hüten.« 45

Handelt es sich bei Jes 28,14-22 (bzw. der Komposi-


tion Jes 28*) um eine unter Verwendung eines Spät-
zeitwortes Jesajas (von der »heranströmenden Gei-
ßel«) gestaltete schriftprophetische Zusammenfassung
der Botschaft Jesajas? Diese wäre dann intentional
und literarisch eng mit der »Denkschrift« verbunden
und wie diese eventuell durch die Auseinandersetzung
mit Inhalten der Asarhaddoninschriften geprägt. Das
»Ecksteinwort« der Tradenten in Jes 28,16f ist dann
wohl als »Bauinschrift« des Königs JHWH stilisiert,
die die Wende zu »Recht und Gerechtigkeit« voll-
kommen in das zukünftige Handeln des verborgenen
Gottes zurückverlegt.

44 Siehe Porter, Images (s.o. Anm. 33), llüf, zur Evidenz für Ko-
pien der Fundamentinschriften, die an anderen Orten aufbewahrt
und weiterhin zugänglich geblieben waren.
45 Zitiert nach Borger, Inschriften (s.o. Anm. 33), 26 (Episode
39, Z. 6-14).
Tempelgründung als »fremdes Werk« 57

Abbildungen:

Abb. 2.1: Rollsiegel, akkadisch. Der Wettergott Adad im Wagen,


der von einem Löwendrachen gezogen wird. - Quelle: 0. Keel, Die
Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament.
Am Beispiel der Psalmen, Zürich u.a. / Neukirchen-Vluyn 3 1980,
41, Nr. 44 (vgl. ebd., 360).

a)

Abb. 2.2: Gründungsfiguren des Urnansche, Ur I-Zeit, beide aus


dem Kunsthandel. a) Nagelmensch, b) Nagelmensch mit Lasche. -
Quelle: S.A. Rashid, Gründungsfiguren im Iraq (Prähistorische
Bronzefunde I/2), München 1983, Tafel 4, Nr. 46 (= b) und 47
(= a).
58 Tempelgründung als »fremdes Werk«

Abb. 2.3: Gründungsfigur aus der Zeit des Gudea von Lagasch.
Kniender Gott mit Pfahl. Kunsthandel. - Quelle: S.A. Rashid,
Gründungsfiguren, Tafel 18, Nr. 110.
Tempelgründung als »fremdes Werk« 59

Abb. 2.4: Stelenfragmente des Urnammu von Ur, Ur III-zeitlich,


Nanna-Heiligtum, 2. und 3. Fries nach der Rekonstruktion von
]. Börker-Klähn. - Quelle: J. Börker-Klähn, Altvorderasiatische
Bildstelen und vergleichbare Felsreliefs (BagF 4), Mainz 1982,
Tafel II (Ausschnitt).
60 Tempelgründung als »fremdes Werk«

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Abb. 2.5: Gründungsfigur, Korbträger als Nagelmensch, Ur-


nammu, Ur III-zeitlich, Uruk, äußere Zingelanlage. - Quelle: S.A.
Rashid, Gründungsfiguren, Tafel 24, Nr. 125.
Tempelgründung als »fremdes Werk« 61

Abb. 2.6: Stele, Assurbanipal als Korbträger, neuassyrisch,


668-631/27 (?) v.Chr., Babylon. - Quelle: R.S. Ellis, Foundation
Deposits in Ancient Mesopotamia (YNER 29), New Haven, 1968,
Nr. 26.
Unheilsprophetie und Herrschafts-
repräsentation
Zur Rezeption assyrischer Propaganda im antiken Juda
(8.17. Jh. v.Chr.) 1

I. Religionsinterne Konflikte 1m antiken Israel und


Juda

Über die Geschichte des alten Israel sind wir vorrangig


durch zwei große Quellenbereiche informiert. Durch
die biblischen Texte des Alten Testaments und durch
die archäologischen und inschriftlichen Zeugnisse aus
Palästina und den Großreichen des alten Vorderen
Orients. Das Problem ist, wie sich diese Befunde zu-
einander in Beziehung setzen lassen. Es gehört ja zu
den wichtigsten Einsichten der historisch-kritischen
Forschung am Alten Testament, dass die biblische Ge-
schichtsdarstellung oft zeitlich weit von den berichte-
ten Ereignissen entfernt anzusetzen ist. Auch sind die
Aussageabsichten der biblischen Texte nur in ganz
wenigen Fällen mit den Interessen des modernen His-
torikers kompatibel. Vielmehr teilt die biblische Ge-
schichtsschreibung mit derjenigen ihrer altorientali-

1 Der Beitrag wurde erstmals 2004 bei einer Tagung des SFB
»Kulturelle und sprachliche Kontakte« an der Universität Mainz
vorgetragen und dann erneut an der Universität Hamburg 2008
im Rahmen der Ringvorlesung »Zwischen Macht und Aufbegeh-
ren. Wechselverhältnisse zwischen Religion und Gesellschaft«.
Mit ihm möchte ich nun sehr herzlich den Hamburger Kollegen
Stefan Timm zu seinem 65. Geburtstag grüßen. Seit meiner Be-
rufung an den Fachbereich Evangelische Theologie der Univer-
sität Hamburg im Jahr 2002 verbindet mich mit ihm ein intensi-
ver Austausch zu Fragen der Geschichte Israels und des Alten
Orients. Seine profunde Kenntnis altorientalischer und ägypti-
scher Quellen sowie seine umsichtige Behandlung derselben ist
mir immer wieder Ansporn und Inspiration gewesen.
64 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

sehen Umwelt ein primär identitätsstiftendes Interes-


se, dem es nicht darum geht, »wie es wirklich gewesen
ist«, sondern darum, wie bestimmte Ereignisse einen
fundierenden und orientierenden Charakter für das
Verständnis der eigenen Gegenwart entfalten: Der Re-
kurs auf Geschichte - für die es übrigens kein direktes
hebräisches Wort gibt - diente im Alten Israel der Fes-
tigung gesellschaftlicher und religiöser Identität und
war insofern kein neutrales Unterfangen 2. Wenn ich
in diesem Beitrag hierfür besonders die assyrische Zeit
Judas und die damit verbundenen religionsinternen
Konflikte in den Blick nehme, so geschieht dies aus
zwei Gründen:
1. Gerade das 8.-7. Jh. v.Chr., in denen die beiden
Staaten Israel im Norden (bis 722/720 v.Chr.) und
Juda im Süden (bis 587/586 v.Chr.) unter der Vor-
herrschaft des neuassyrischen Großreiches standen, war
eine formative Phase biblischer Geschichtsschreibung3 •
2. Es entsteht in dieser Zeit dasjenige literarische
Phänomen, in dem die alttestamentliche Forschung zu
Recht eine Besonderheit Israels gesehen hat: Die
»Schriftprophetie«. Sie bezeugt tiefgreifende religi-
onsinterne Konflikte 4 •

2 Dies hat der Jubilar einst am Ende seiner Dissertationsschrift


sehr schön herausgestellt: »Die israelitischen und judäischen Er-
zähler sahen aber hinter allen vordergründigen Bewegungen und
Ereignissen Jahwes Wirken. Von ihnen sind die heute vorliegen-
den Texte gestaltet und überliefert: Sie sind Israels Zeugnis über
Jahwes Handeln an und in seinem Volk.« (5. Timm, Die Dynastie
Omri. Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Israels im 9.
Jahrhundert vor Christus [FRLANT 124], Göttingen 1982).
3 Vgl. etwa K. Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments.
Eine Einführung, Darmstadt 2008, 75.
4 Siehe z.B. J. Jeremias, Das Proprium der alttestamentlichen

Prophetie, in: ders., Hosea und Arnos. Studien zu den Anfän-


gen des Dodekapropheton (FAT 13), Tübingen 1996, 20-33; C.
Hardmeier, Die judäische Unheilsprophetie. Antwort auf einen
Gesellschafts- und N ormenwandel im Israel des 8. Jahrhunderts
vor Christus, in: ders., Erzähldiskurs und Redepragmatik im A-
lten Testament. Unterwegs zu einer performativen Theologie der
Bibel (FAT 46), Tübingen 2005, 243-271.
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 65

So zeichnet sich die zunächst im 8. Jh. v.Chr. im


Nordreich Israel auftretende Unheilsprophetie eines
Hosea und Arnos durch eine scharfe Gesellschaftskri-
tik aus, die nicht von der Kritik an religiösen Miss-
ständen und Missverständnissen getrennt werden kann.
Das große Thema ist dabei das einer »Gerechtigkeit«
(i7p7::t), die die horizontale (soziale) und vertikale (reli-
giöse) Ebene gleichermaßen umfasst. Die Vorstellung,
die v.a. für das Arnos-, aber auch das Jesajabuch wich-
tig ist, geht davon aus, dass der Gott JHWH dem Land
einst seine »Gerechtigkeitsordnung« eingestiftet hat.
Deren Fortbestand versteht sich aber nicht von selbst,
sondern erscheint gefährdet 5 . Nur durch das »Fürein-
anderhandeln« der Menschen untereinander und ge-
genüber Gott ist die Stabilität der Gesellschaft gege-
ben6. Die ab dem 8. Jh. v.Chr. zuerst im Norden, dann
auch im Süden auseinander klaffende Schere zwischen
einer reichen Oberschicht und zunehmend von Armut
und Landverlust bedrohten einfachen Israeliten führte
die Unheilsprophetie daher zur Kritik am Handeln der
Herrschenden 7 . Damit ging zugleich auch eine Kritik
an religiöser Praxis einher: So wurde unter dem Druck
der Assyrer, den man als Strafe für die eigenen Ver-
fehlungen interpretierte, die religiöse Repräsentation
des Staates als hohl und in den Untergang führend an-
geprangert (vgl. Hoseas Kritik am »Staatskalb« von
Samaria und Arnos Auftreten am Reichsheiligtum von
Bethel). Aber auch breite Kreise der Bevölkerung und
nicht allein die Oberschicht wurden in den genannten

5 Vgl. dazu immer noch K. Koch, Die Entstehung der sozialen


Kritik bei den Propheten, in: ders., Spuren des hebräischen Den-
kens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Gesammelte
Aufsätze 1, Neukirchen-Vluyn 1991, 146-166.
6 Siehe zum analogen ägyptischen Konzept einer »Gerechtigkeit

als Weltordnung« J. Assmann, Ma'at. Gerechtigkeit und Unsterb-


lichkeit im Alten Ägypten, München 1990.
7 Vgl. zu dieser sozialgeschichtlichen Entwicklung R. Kessler,

Staat und Gesellschaft im vorexilischen Juda. Vom 8. Jahrhundert


bis zum Exil (VT.S 47), Leiden/ New York/ Köln 1992.
66 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

Prophetenbüchern einer fehlgeleiteten Religionsaus-


übung bezichtigt. Die Verwechslung von JHWH mit
Baal (im Nordreich) und dessen Instrumentalisierung
für Alltagsbedürfnisse (Hoseas Vorwurf der Gottver-
gessenheit) und die Vermehrung der Wallfahrten,
Opfer und Feste als Reaktionen auf die Krise hätten
die Lage nur noch verschlimmert, weil sie JHWH bin-
den wollten, der sich aber - so die Einsicht der Un-
heilspropheten - längst zurückgezogen hat 8 . Die meis-
ten Zeitgenossen lehnten diese Botschaft offenbar als
Zumutung ab. Weil sie sich aber durch den Ge-
schichtsverlauf bewahrheitete (722/720 v.Chr. Unter-
gang des Nordreiches durch die Assyrer, 587/586
v.Chr. des Südreiches durch die Babylonier), schrieben
die Propheten und ihre wenigen, aber gebildeten Un-
terstützer die Botschaft auf ( = Schriftprophetie). Für
kommende Generationen sollte sichtbar bleiben: Die
gegenwärtigen Konflikte lassen sich nicht lösen. Statt-
dessen wird man erst viel später einschätzen können,
wie der Geschichtsverlauf im Licht des langzeitig wahr-
genommenen Handelns Gottes zu deuten ist 9 .
Die prophetische Traditionsbildung trägt so einen ge-
wichtigen Teil zur Entstehung des biblischen Monothe-
ismus bei. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass sich
angesichts des militärischen Drucks einer Großmacht
eine Sinnstiftung vollzieht, die eben diese Macht als
Strafwerkzeug in den Händen des eigenen unbedeu-
tenden Landesgottes wahrnimmt. Dass sich diese Min-
derheitensicht durchgesetzt hat, ist erstaunlich. Woher
nahm sie ihre Kriterien? Wie konnte sie die assyrische
Herrschaftssymbolik umdrehen und der eigenen Bot-
schaft dienstbar machen? Dazu muss man die Art der

8 Vgl. dazu Hos 5, 15: »Ich will mich wieder an meine Stätte zu-
rückziehen, bis sie unter der Strafe leiden und mein Angesicht
suchen; wenn sie in Bedrängnis sind, werden sie nach mir verlan-
gen.«
9 Vgl. dazu v.a. O.H. Steck, Die Prophetenbücher und ihr theolo-
gisches Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort,
Tübingen 1996.
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 67

Auseinandersetzung mit den Ansprüchen der fremden


Großmacht und das damit gegebene innerreligiöse
Konfliktpotential genauer nachzuzeichnen versuchen.

II. Der assyrisch-judäische Kulturkontakt in der Per-


spektive der judäischen Schriftprophetie

Im 36. Kapitel des Jesajabuches findet sich die drama-


tische Schilderung einer Konfrontation zwischen der
vorderasiatischen Großmacht Assur und den Einwoh-
nern des mit Belagerung bedrohten Jerusalem. Die Er-
zählung ist Teil der sogenannten Jesajalegenden Jes
36-39 (Parr. 2Kön 18-19), die wahrscheinlich deut-
lich später entstanden sind als die in ihnen berichteten
Ereignisse 10. Dennoch möchte ich mit diesem Text be-
ginnen, weil er paradigmatisch die Besonderheit des
Kulturkontakts zwischen Assur und Juda veranschau-
licht, um den es im Folgenden gehen soll.
Die Erzählung spielt im Jahre 701 v.Chr., in dem der
assyrische König Sanherib einen Westfeldzug unter-
nahm, um die unbotmäßigen Vasallen auf der syro-
palästinischen Landbrücke, darunter Hiskia von Juda,
erneut unter sein Joch zu zwingen 11 . Sie beginnt da-
mit, dass der Assyrerkönig aus der Küstenebene einen
Heeresteil nach Jerusalem entsendet, zunächst wohl,
um allein durch Drohung die Aufgabe der Stadt zu
erreichen. Der Anführer de:r Truppe ist der »Rab-
Schaqe« (Jes 36,2); das assyrische Fremdwort bezeich-
net den »Groß-Mundschenk« des Königs, einen der

10 Vgl. U. Becker, Jesaja - von der Botschaft zum Buch (FRLANT

178), Göttingen 1997, 221 (Wachstum von der spätvorexilischen


bis weit in die nachexilische Zeit) sowie C. Hardmeier, Prophetie
im Streit vor dem Untergang Judas. Erzählkommunikative Stu-
dien zur Entstehungssituation der Jesaja- und Jeremiaerzählun-
gen in II Reg 18-20 und Jer 37-40 (BZAW 187), Berlin / New
York 1990 (spätvorexilisch, nach 597 v.Chr.).
11 Siehe dazu H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner

Nachbarn in Grundzügen 2 (GAT 4/2), Göttingen 2 1995, 352-


360.
68 Unheilsprophetie und H erschaftsrepräsentation

vier obersten Machthaber des assyrischen Großreichs,


der nicht selten die Funktion eines militärischen Be-
fehlshabers versah 12 . Dieser Mann stellt sich - so die
Erzählung - an dem neuralgischen Punkt der Wasser-
versorgung Jerusalems auf und erwartet die Unter-
werfung der Stadt. Drei Hofbeamte gehen zu ihm
hinaus, und es kommt zu einem Wortwechsel. Der As-
syrer schreibt darin die militärischen Erfolge des Feld-
zugs in demoralisierender Absicht dem Gott JHWH
von Juda zu (V. 10):

»Und jetzt: Bin ich etwa ohne JHWH gegen dieses Land hinaufge-
zogen, um es zu vernichten? JHWH hat zu mir gesagt: Zieh hinauf
zu diesem Land und vernichte es!«

Die Reaktion der judäischen Beamten ist aufschluss-


reich. Sie möchten vermeiden, dass die Zeugen des Ge-
sprächs in der belagerten Stadt verstehen, was hier ge-
sprochen wird:

11 Da sagten Eljakim und Schebna und Joach zu Rab-Schaqe:


»Sprich doch aramäisch (rl'r.li~) mit deinen Knechten, denn wir
verstehen (w: hören) (es). Aber sprich nicht judäisch (r1'11i1') zu
uns vor den Ohren des Volkes, das auf der Stadtmauer (ist)!« 12 Da
antwortete Rab-Schaqe: »Hat mich mein Herr denn zu deinem
Herrn und zu dir gesandt, um diese Worte zu sprechen, oder zu den
Männern, die auf der Mauer sitzen, um zusammen mit euch ihren
Kot zu fressen und <ihren Urim [Qere] zu trinken? 13 Und es stellte
sich Rab-Schaqe hin und rief mit lauter Stimme auf judäisch und
sprach: »Hört die Worte des Großkönigs, des Königs von Assur! 14
So spricht der König: Lasst euch nicht durch Hiskia betrügen, denn
er kann euch nicht retten!« 13

Auch wenn die Abfassung der Szene in einem erhebli-


chen Zeitabstand zum Geschehen steht, ist sie doch
aussagekräftig für die Situation zwischen den assyri-

12 Vgl. G. Pettinato, Semiramis. Herrin über Assur und Babylon,


Zürich/München 1988, 147; E. Klauber, Assyrisches Beamten-
turn nach Briefen aus der Sargonidenzeit, Leipzig 1910, 73-77.
13 Vgl. zur Übersetzung 0. Kaiser, Der Prophet Jesaja. Kapitel
13-39 (ATD 18), Göttingen 1973, 293.
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 69

sehen Oberherren und deren Vasallenstaaten 14. Die


Rede des Großmundschenks fügt sich genau in das
Bild der geschickten politisch-militärischen Propagan-
da, mit der sich die Assyrer ab der Mitte des 8. Jh.s
v.Chr. im Zuge ihrer unter Tiglatpilesar III. verstärk-
ten Westexpansion Respekt zu verschaffen wussten.
Besonders zwei Gesichtspunkte aus Jes 36, 10-12 sind
hierfür hervorzuheben:
1. Die Rolle der Mehrsprachigkeit im assyrischen
Großreich und die Voraussetzung entsprechend ge-
schulter Spezialisten auf Seiten der Eroberer und der
Vasallen.
2. Die Propaganda der Assyrer, die unter Umständen
auch die lokalen Gottheiten zur Legitimation ihres
militärischen Vorgehens heranzogen.
Zu 1. Mehrsprachigkeit: Jes 36,llf beleuchtet die
Ebene des offiziellen Kontakts zwischen assyrischer
Obrigkeit und Vasallen. Die speziell ausgebildeten
Hofbeamten können sich mit den Assyrern in deren
Diplomatensprache, auf aramäisch, verständigen. Das
Volk auf den Stadtmauern dagegen versteht nur den
einheimischen Dialekt, das judäische Hebräisch. Doch
um seiner Rede Nachdruck zu verleihen, gebraucht
der Rab-Schaqe gerade das Hebräische, um öffentlich
vernehmbar kundzutun, wie aussichtslos die Lage der
Bedrängten sei. Die Absicht, die eigene Herrschafts-

14 Vgl. ebenso P. Machinist, Assyria and its Image in the First


Isaiah, JAOS 103 (1983) 719-737, 729: »Here are reported two
speeches of the Assyrian official rabsiiqeh to the inhabitants of Je-
rusalem during the siege of Sennacherib, seeking to persuade
them to surrender by a cunning manipulation of Judaean ideol-
ogy. However one may evaluate the present form of these speech-
es, the historical reality behind the tactic they represent is con-
firmed by the report of similar embassies in Assyrian sources,
such as that during Tiglath-pileser III's siege of Babylon in 729
B.C.« - Umgekehrt wie in Jes 36 verhält es sich mit der Zwei-
sprachigkeit in Neh 13,24, wo das Aramäische Volkssprache ge-
worden ist und das Hebräische (i7'11i1') kaum mehr gekannt wird.
Ein indirekter Hinweis für die relative Chronologie der beiden
Texte.
70 Unheilsprophetie und H erschaftsrepräsentation

symbolik möglichst direkt zu kommunizieren, zeich-


net das assyrische Vorgehen aus, wie es sich aus viel-
fältigen Quellen belegen lässt. Dies gilt für die schrift-
liche und für die visuelle Dimension der Vermittlung,
und, wie es Jes 36 zeigt, auch für die mündliche Ebene
des diplomatischen Verkehrs.
Seit dem 9. Jh. v.Chr., als unter Assuma~irpal II. die
Assyrer erstmals weit in die Gebiete der aramäischen
Staaten vordrangen, wurde das Problem der sprachli-
chen Vielfalt des Einflussgebiets drängender. Es ver-
schärfte sich im folgenden Jahrhundert durch die im-
mer systematischer angelegte Deportationspraxis von
besiegten Bevölkerungsanteilen in die Kernländer Me-
sopotamiens und mündete schließlich in ein Völker-
und Sprachengemisch. In der Folge führte dies vor al-
lem in den nordwestlichen Reichsteilen zu einer Praxis
der Zweisprachigkeit 15 . So zeigt etwa eine Wandmale-
rei in der vorgeschobenen assyrischen Festungsstadt Til
Barsip am Euphrat aus dem 8. Jh. v.Chr. zwei Schreiber,
die wohl die Worte des Königs bei einer Audienz auf-
zeichnen (Abb. 3.1). Der erste (rechts) schreibt mit dem
Griffel auf eine Wachstafel, den Gerätschaften für die
Aufzeichnung der Keilschrift, in der man das Akka-
dische, die traditionelle Sprache der mesopotamischen
Reiche seit dem ausgehenden 3. Jt. v.Chr. schrieb. Der
zweite, bartlose Schreiber (links) hält die Befehle mit
Schreibrohr und Leder (oder Papyrus) fest, den Schreib-
utensilien für das westliche Aramäisch 16 .

15 Vgl. dazu D.O. Edzard, Geschichte Mesopotamiens. Von den


Sumerern bis zu Alexander dem Großen (Beck's Historische Bib-
liothek), München 2004, 204; E. Cancik-Kirschbaum, Die Assy-
rer. Geschichte, Gesellschaft, Kultur (C.H. Beck Wissen, Beck' -
sehe Reihe 2328), München 2003, 17-18.
16 Vgl. dazu Edzard, Geschichte, 204 (s.o. Anm. 15); E.A. Knauf,
Die Umwelt des Alten Testaments (NSK.AT 29), Stuttgart 1994,
135, wonach Sargon II. Anweisung gegeben habe, »Berichte an
den Hof nicht aramäisch (in Alphabetschrift), sondern auf Assy-
risch (in Keilschrift) einzureichen, damit Unberufene sie nicht so
leicht lesen konnten.«
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 71

Dass mit solcher Zweisprachigkeit des Akkadischen


und des Aramäischen auch auf offiziellen Denkmälern
zu rechnen ist, zeigt die Bilingue des Hadda-yis'1 aus
Tell Fekherije, eine Weihinschrift für den Wettergott
von Guzana / Tell Halaf. Dabei wurde der aramäische
Text sekundär zum assyrischen hinzugefügt und lehnt
sich eng an diesen an, zeigt aber auch charakteristische
Abweichungen 17. Ein lokaler Aramäerfürst bedient
sich hier im ausgehenden 9. Jh. für eine dem eigenen
Dynastiegott gewidmete Inschrift an erster Stelle der
Sprache der Eroberer; eine kulturelle Angleichung, die
sich auch in der Bildkunst der Aramäerstaaten immer
wieder feststellen lässt, so auf dem bekannten Ortho-
statenrelief des Barrakib (Abb. 3.2) aus Zincirli/Sam'al
(733-720 v.Chr.), einem Ort an der Grenze zwischen
Syrien und Anatolien mit stark ausgebauter assyrischer
Präsenz. Barrakib, über den aus den aramäischen Tex-
ten aus Sam'al hervorgeht, dass er 733/732 v.Chr.
durch Tiglatpilesar III. inthronisiert worden war18,
lässt sich auf einem weitgehend assyrischen Thron-
stuhl abbilden (vgl. als Gegenstück z.B. eine Darstel-
lung Sanheribs, Abb. 3.3). Und er empfängt ganz wie
der Assyrerkönig einen Schreiber. Dabei bleibt leider
unklar, ob dieser die Keilschrift beherrscht. Entweder
hält er eine zusammengeklappte Wachstafel unter
dem Arm und ein Futteral für Schreibgriffel in der
Hand, dann wäre er vielleicht des Akkadischen mäch-
tig. Oder wahrscheinlicher, es· handelt sich um Behält-

17 Vgl. D. Schwemer, Die Wettergottgestalten Mesopotamiens


und Nordsyriens im Zeitalter der Keilschriftkulturen. Materia-
lien und Studien nach den schriftlichen Quellen, Wiesbaden
2001, 613-614; G. Sauer, Die assyrische Zeit und die Bilingue
von Tell Fekherije, in: P. W. Hai der / M. Hutter / S. Kreuzer
(Hg.), Religionsgeschichte Syriens. Von der Frühzeit bis zur Ge-
genwart, Stuttgart/Berlin/Köln 1996, 122-127.
18 Vgl. dazu J. Trapper, Sam'al. Schnittstelle der Kulturen, in: W.
Seipel / A. Wieczorek (Hg.), Von Babylon bis Jerusalem. Die Welt
der altorientalischen Königsstädte 2, Mannheim u.a. 1999, 225-
247, hier 238-242.
72 Unheilsprophetie und H erschaftsrepräsentation

nisse für Papyrus und Schreibrohre, wie sie für das


Aramäische gebräuchlich waren 1 9 . In jedem Fall ist der
Schreiber für den diplomatischen Verkehr mit der as-
syrischen Obrigkeit ausgebildet und ähnelt so den in
Jes 36 geschilderten judäischen Hofbeamten, die ver-
meiden möchten, dass der Rab-Schaqe seine Propa-
ganda öffentlich zu Gehör bringt. Denn der Inhalt von
dessen Rede enthält - modern gesprochen - Elemente
psychologischer Kriegführung. Damit komme ich zum
zweiten Gesichtspunkt, der sich aus Jes 36,lüff für
unsere Fragestellung entnehmen lässt.
Zu 2. Propaganda der Assyrer: Nach der provozie-
renden Aussage des Rab-Schaqe in Jes 36,10 hat
JHWH, der Nationalgott der Judäer, längst die Seiten
gewechselt und insofern den Erfolg der Assyrer mit
ermöglicht. Eine solche hintergründig theologische
Legitimierung des eigenen militärischen Vorgehens im
Blick auf die Götter der unterworfenen Völker lässt
sich auch direkt aus assyrischen Quellen nachweisen.
Sie ist vor dem Vorstellungshintergrund des Vertrags-
bruchs zu verstehen. So wurden etwa die Vasallen-
verträge Asarhaddons mit eidlichen Verpflichtungen
zugunsten des Großkönigs verbunden, die nicht nur
angesichts des Gottes Assur selbst, sondern ebenso
vor den Göttern der Vertragspartner abgelegt wur-

19 Zu den Deutungsversuchen für die Gerätschaften vgl. H.


Frankfort, The Art and Architecttire of the Ancient Orient (The
Pelican History of Art), Harmondsworth 4 1969, 184 (»not a clay
tablet and stylus, but a pencase and writing material - probably
papyrus - suitable for the Aramaean script«); E. Akurgal, Orient
und Okzident. Die Geburt der griechischen Kunst (Kunst der
Welt), Wiesbaden 1966, 50 (»ein wohl aus Papyrusblättern be-
stehendes Buch mit richtigem Scharnier und [... ] eine Schreib-
zeugdose mit Platz für Tusche und Pinsel«); H.P. Rüger, Art.
Schreibmaterial, Buch und Schrift, BRL 2 (1977) 289-292, 290
(»Palette in der Hand und [... ] Klapptafel unter dem Arm«). Rüger,
ebd., 290 unterscheidet auch für die assyrischen Darstellungen
zweier Schreibertypen (ebd., 291, Abb. 76 links) nicht zwischen
Sprachen, sondern nur zwischen Materialien (Wachsklapptafeln
und Lederrollen).
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 73

den 20 . Für den Fall des vor diesem Hintergrund theo-


logisch als »Sünde« gedeuteten Eidbruchs waren dann
die Strafaktionen Assurs für die Betroffenen zugleich
als Strafsanktionen der eigenen Gottheiten versteh-
bar21. Es ist genau diese doppelte Deuteperspektive des
Vertragsbruchs und des Zorns JHWHs über sein Volk
bzw. dessen Herrscher, die sich auch die Gerichtspro-
pheten Israels zu eigen gemacht haben, um die eigene
Geschichte zu interpretieren. Nicht zufällig steht die
Jesajaerzählung in Jes 36, mit der ich eingesetzt habe,
im Buch des gleichnamigen Propheten, der ausweislich
des ältesten Textbestands (Jes 6-8* und Jes 28-31 *)
im letzten Viertel des 8. Jh.s v.Chr. gewirkt hat.
Das Hauptproblem der historischen Forschung zu den
Propheten Israels besteht darin, dass sich deren Wirk-
samkeit nur noch sehr indirekt rekonstruieren lässt.
Ihre zweifellos einmal in eine bestimmte historische

20 Vgl. den Vertrag Asarhaddons mit Baal von Tyrus, wo in den


Verfluchungen RS IV die einheimischen Götter Phöniziens als
Strafgaranten aufgezählt werden (R. Borger, Die Inschriften
Asarhaddons, König von Assyrien [AfO 9], Graz 1956, 109 [§
69]). Siehe auch die Vasallenverträge Asarhaddons (J.B. Prit-
chard, Ancient Near Eastern Texts. Relating to the Old Testa-
ment, Princeton, New Jersey 3 1969, 534-541), die vor den großen
Göttern Assurs, aber auch »before [... ] the gods of every [foreign]
country« (ebd., 534) geschlossen wurden. Zu den Verträgen siehe
genauer S. Parpola / K. Watanabe, Neo-Assyrian Treaties and
Loyalty Oaths (SAA II), Helsinki 1988.
21 Vgl. E. Otto, Zwischen Strafvernichtung und Toleranz. Ku-
lturgeschichtliche Aspekte im Umgang des neuassyrischen Rei-
ches mit dem besiegten Feind, in: 0. Kraus (Hg.), »Vae Victis«.
Über den Umgang mit Besiegten (Veröff. d. Joachim Jungius Ge-
sellsch. d. Wiss. Hamburg 86), Göttingen 1998, 9-44, hier 38:
»Im Falle der Aufkündigung des Vertragsverhältnisses gibt der
Vertrag zum zweiten eine einwandfreie rechtliche, und da er vor
den Göttern beider Vertragspartner durch einen Eid gesichert
wurde und der Vertrag entsprechend als Göttereid (nts-iliini) be-
zeichnet werden kann, auch eine einwandfreie religiöse Begrün-
dung für eine militärische Reaktion« (zweite Hervorhebung FH).
Vgl. weiter zur Diskussion im Blick aufJes 36,10 H. Wildberger,
Jesaja. 3. Teilband. Jes 28-39. Das Buch, der Prophet und seine
Botschaft (BK X/3), Neukirchen-Vluyn 1982, 1402-1403.
74 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

Situation hinein ergangene Botschaft hat sich nämlich


nicht in Form direkter Aufzeichnung erhalten, sondern
ist uns im Rahmen der literarisch gestalteten Prophe-
tenbücher überliefert, die einen wesentlichen Bestand-
teil der Hebräischen Bibel bilden. Was diese Schriften
über die einst ihre Buchwerdung anstoßenden prophe-
tischen Bescheide und Ankündigungen enthalten, be-
ruht auf einem Selektionsprozess, der genau solche
Aussagen aufgenommen und tradiert hat, die sich
angesichts der geschichtlichen Ereignisse als wahres
JHWH-Wort erwiesen haben. Zugleich enthalten diese
die Überlieferung anregenden und kontinuierlich wei-
ter gedeuteten Worte (die alttestamentliche Forschung
spricht dann von sogenannter »Fortschreibung«) einen
Sinnüberschuss, der sich nie in einer Situation allein
erschöpft. Sie sind auf eine spezifische Art zugleich
zeitgenössische und zeitenthobene Texte 22 .
Insofern geht in der derzeitigen Forschungslage zu
den Prophetenbüchern der Streit vor allem um die
Frage, ob sich überhaupt noch Spuren ihrer Entste-
hungssituation aufweisen lassen. Und auch wenn das
bejaht wird, rechnet man teilweise mit ganz anderen
Intentionen der mutmaßlichen historischen Propheten,
als sie die nach ihnen benannten Bücher zum Aus-
druck bringen 23 . Doch erscheint dies wenig wahr-
scheinlich. Es werden von Anfang an Unheilsworte ein-
schließlich des Schuldaufweises gewesen sein, die den
Anstoß für die Verschriftung gegeben haben, eben
weil sie sich durch das Vorrücken der Assyrer (zumin-
dest zum Teil) bestätigt haben. Die Verschriftung pro-
phetischer Botschaft in Israel und Juda und damit die
Entstehung der singulären Literaturgattung Prophe-
tenbuch erfolgte ja kaum zufällig im 8.-7. Jh. v.Chr.,
in den beiden Jahrhunderten der Assyrerherrschaft

22 Siehe dazu besonders Jeremias, Proprium (s.o. Anm. 4).


23 Vgl. zu Jesaja Becker, Jesaja (s.o. Anm. 10), und R.G. Kratz, Die
Propheten Israels (C.H. Beck Wissen, Beck' sehe Reihe 2326),
München 2003, 57-63.
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 75

über Palästina. Einer Herrschaft, die der schriftlichen


Vermittlung ihrer Herrschaftssymbolik höchste Prio-
rität einräumte. Insofern verwundert es nicht, wenn
biblische Prophetentexte, allen voran das Buch Jesaja,
in vielen Einzelheiten speziell auf assyrische, später
auch auf babylonische Inhalte verweisen. Zumindest
legt sich das dem Leser nahe, der, von der Lektüre as-
syrischer Quellen herkommend, biblische Propheten-
bücher zur Hand nimmt. Die Fachdiskussion, etwa zum
Jesajabuch, verläuft an dieser Stelle häufig einseitig,
indem man rein innertextlich argumentiert und dabei
in der Gefahr steht, die historischen Bedingungen au-
ßer Acht zu lassen, die das Phänomen alttestamentli-
cher Schriftprophetie allererst ermöglicht haben 24 .
Speziell das Jesajabuch, das seine erste Gestalt ab dem
ausgehenden 8. Jh. v.Chr. gefunden hat, erscheint ge-
eignet, um eine solche Kontextualisierung vorzuneh-
men. Sie bringt, wie etwa schon Peter Machinist in ei-
ner älteren exzellenten Studie gezeigt hat 25, an den
Tag, dass der über Palästina aufleuchtende »Schre-
ckensglanz Assurs« einen Kulturkontakt bedeutete,
der vor allem durch Vermittlung sprachlicher Propa-
ganda auf die judäischen Propheten-Tradenten ein-
wirkte26. Am deutlichsten lässt sich das an der Bild-

24 Zur Notwendigkeit einer historischen Kontextualisierung der


Jesajatexte im Blick auf mögliche neuassyrische Bezüge vgl. auch
P. Höffken, Jesaja. Der Stand der· theologischen Diskussion,
Darmstadt 2004, 144.
25 Machinist, Assyria (s.o. Anm. 14).
26 Vgl. dazu auch C. Uehlinger, Figurative Policy. Propaganda
und Prophetie, in: ].A. Emerton (Hg.), Congress Volume Cam-
bridge 1995 (VT.S 61), Leiden/ New York/ Köln 1997, 297-
349, der zeigt, dass die sprachlichen Bezüge auf assyrische Pro-
paganda in den Prophetenbüchern die Bezüge auf visuelle Kom-
munikation weit überschreiten. Siehe zum genaueren Vergleich
von älteren Jesaja-Texten und neuassyrischer Prophetie nun
auch M. de Jong, Isaiah among the Ancient Near Eastern Prophets.
A Comparative Study of the Earliest Stages of the Isaiah Tradi-
tion and the Neo-Assyrian Prophecies (VT.S. 117), Leiden/Bos-
ton 2007, wenn auch mit m.E. wenig überzeugendem Ergebnis.
76 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

sprache assyrischer Königsinschriften demonstrieren,


die in alttestamentlichen Prophetenbüchern aufge-
nommen und den eigenen Intentionen anverwandelt
wurde. Es zeigt sich darin ein Ringen politisch gebil-
deter Intellektueller um die Deutung der als Unheil
erfahrenen eigenen Geschichte angesichts des An-
spruchs Assurs. Ich möchte das nun an einem wichti-
gen Beispiel etwas genauer vorführen: An der Bild-
sprache, die in der sog. »Denkschrift« in Jes 6-8* für
den assyrischen König gebraucht wird.

III. Die Bildsprache neuassyrischer Königsinschriften


in der sogenannten »Denkschrift« Jes 6-8*

Die Kapitel 6-8* (bzw. 6,1-9,6) des Jesajabuches gel-


ten seit Karl Budde (1928) als sogenannte »Denk-
schrift«, die der Prophet Jesaja am Ende seiner Wirk-
samkeit um 701 v.Chr. niedergeschrieben hätte 27 . Der
Textzusammenhang beginnt in Kapitel 6 mit dem Ich-
Bericht von einer Vision, deren Schauplatz der Jeru-
salemer Tempel ist 28 . Das Tempelgebäude erscheint
darin transparent für die kosmische Dimension des
Heiligtums. Der Prophet sieht den Gott Judas auf ei-
nem wie ein Berg aufragenden Thron. Die riesenhafte
Königsgestalt Gottes ist mit einer Glanzaura (7i::l::J)
umgeben, die wie ein Gewand den ganzen Tempel
ausfüllt und zugleich die kosmische Präsenz Gottes in

27 K. Budde, Jesaja's Erleben. Eine gemeinverständliche Ausle-

gung der Denkschrift des Propheten (Bücherei der christlichen


Welt), Gotha 1928.
28 Zum Folgenden vgl. F. Hartenstein, Die Unzugänglichkeit

Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Je-


rusalemer Kulttradition (WMANT 75), Neukirchen-Vluyn 199 7
sowie - mit etwas anderen Akzentuierungen - die neueren Ar-
beiten von H. Liss, Die unerhörte Prophetie. Kommunikative
Strukturen prophetischer Rede im Buch Yesha'yahu (AzBG 14),
Leipzig 2003, 34-71; T. Wagner, Gottes Herrschaft. Eine Analyse
der Denkschrift (Jes 6,1-9,6) (VT.S 108), Leiden/Boston 2006,
87-124.
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 77

der Welt bezeichnet (Jes 6,3). Diese Vorstellung hat


ihre nächsten Parallelen im »Schreckensglanz« derme-
sopotamischen Götter (melammu etc.). Um den Thro-
nenden schweben Mitglieder seines Hofstaats, die
furchtbaren Seraphim, geflügelte Schlangenwesen (V.
1-3). Die Gotteserscheinung läuft insgesamt auf ei-
ne Gerichtstheophanie hinaus. Denn die Eröffnungs-
szene der Vision (V. 1-4) endet mit der Verbergung
JHWHs unter Beben und undurchdringlichem Brand-
rauch (V. 4), so dass der Glanz im Tempel und in der
Welt abreißt. An seine Stelle tritt in Jes 6,11 die Ver-
ödung des ganzen Landes. In der Vision erfährt der
Prophet im weiteren seine Berufung, die unter dem
negativen Vorzeichen steht, dass seine Botschaft kein
Gehör finden wird. So kann er am Ende nur noch in
die Klage ausbrechen: »Wie lange, Herr?« (V. 11).
Bleibt die Vision ohne Erklärung für das über Juda
hereinbrechende Unheil, so liefert das folgende Kapi-
tel Jes 7 diese nach 29 . Es ist als Erzählung gestaltet, die
- ähnlich wie Jes 36 - in einer bestimmten histori-
schen Situation angesiedelt ist. Schon 734/33 v.Chr.
kam es in der Levante zum Versuch einer antiassyri-
schen Koalition. Nur wollte sich Juda damals nicht da-
ran beteiligen, so dass die beiden Verbündeten Aram
und Israel ( der nördliche Bruderstaat Judas) es gewalt-
sam zu zwingen suchten. Im Vorfeld dieser militäri-
schen Bedrohung trat Jesaja auf und versicherte dem
Jerusalemer König Ahas den' Beistand JHWHs. Aus
dessen Perspektive seien die beiden Koalitionäre schon
jetzt von der Flamme Assurs verbrannte »rauchende
Scheite«, die keine Bedrohung darstellten. Dennoch
konnte sich Ahas, so die Erzählung, nicht auf die Auf-
forderung zum Stillhalten einlassen, so dass JHWH
ankündigte, das Gerichtsgeschehen auch auf Juda aus-

29 Siehe zur Struktur und Thematik des Kapitels v.a. die einge-
hende Analyse von]. Barthel, Prophetenwort und Geschichte. Die
Jesajaüberlieferung in Jes 6-8 und 28-31 (FAT 19), Tübingen
1997, 118-183.
78 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

zudehnen. Das Kriterium für diese Strafsanktion ist


die Ablehnung der Prophetenworte durch die Herr-
schenden.
In Jes 8,1-4 wechselt der Text wieder in die Ich-Per-
spektive des Propheten 30 . Ähnlich wie die Assyrerkö-
nige in den Provinzen öffentlich ihre Stelen errichtet
haben (s.u. IV) soll Jesaja im Auftrag JHWHs unter
Zeugen eine Inschrift auf einer Tafel anbringen. De-
ren Sinn bleibt zunächst verborgen. Erst bei der Ge-
burt seines Sohnes erhält der Prophet den Schlüssel
zur Deutung des Aufgezeichneten. Der Knabe soll den
Namen »Eilebeute-Raubebald« erhalten, der zuvor
auf die Tafel geschrieben worden war und die Schnel-
ligkeit anzeigt, mit der Aram und Israel durch den
König von Assur vernichtet werden.
Jes 8,6-8 weitet schließlich wie die Erzählung Jes 7 die
Gerichtsdrohung auf Juda aus. Auch hier wird die Ab-
lehnung JHWHs, nun aber durch die Bevölkerung Je-
rusalems, als Grund für die Auslieferung des Landes an
die assyrische Streitmacht benannt 31 . Dies verdeutlicht
der Kontrast zweier sprachlicher Bilder: Den sanftrin-
nenden Wassern Schiloachs steht eine alles überwälti-
gende Flut gegenüber, die Juda überschwemmen wird.
Mit dem unter der Davidsstadt verlaufenden Schilo-

30 Vgl. dazu wiederum Barthel, Prophetenwort, 184-193 (s.o.


Anm. 29). Für Becker, Jesaja, 94-102 (s.o. Anm. 10), gehört Jes
8,1-4 zum ältesten (als heilsprophetisch für Juda identifizierten)
Bestand der anschließend redaktionell lange angewachsenen und
zur Gerichtsprophetie umgeformten »Denkschrift« und bildete
einst die ursprüngliche Fortsetzung von Jes 6,1-8.
31 Vgl. dazu F. Hartenstein, JHWH und der »Schreckensglanz«
Assurs (Jesaja 8,6-8). Traditions- und religionsgeschichtliche
Beobachtungen zur »Denkschrift« Jesaja 6-8*, in: ders. /]. Kris-
penz I A. Schart (Hg.), Schriftprophetie (FS J. Jeremias), Neukir-
chen-Vluyn 2004, 83-102 (= oben S. 1-30) sowie jetzt -mit an-
deren Schlussfolgerungen - M. Krebernik / U. Becker, Beobach-
tungen zu Jes 8,1-8, in: C. Karrer-Grube u.a. (Hg.), Sprachen -
Bilder - Klänge. Dimensionen der Theologie im Alten Testament
und in seinem Umfeld (FS R. Bartelmus) (AOAT 359), Münster
2009, 123-137.
Unheilsprophetie und H erschaftsrepräsentation 79

achkanal, der Lebensader der Stadt, verbindet der Ab-


schnitt offenbar die schützende Präsenz JHWHs. In-
dem das Volk aber nicht auf diesen Schutz vertraut,
sondern ihn »verwirft« und in Richtung der Koalition
Aram und Israel blickt, verspielt es JHWHs Zuwen-
dung (V. 6).
Die Textkomposition der sog. »Denkschrift« deutet
also die eigene Gegenwart konsequent vor dem Hin-
tergrund des Auftretens Jesajas in der Krise um 733
v.Chr. und projiziert auch spätere Worte in diese pa-
radigmatische Anfangssituation. Der Antrieb für eine
solche Geschichtsbetrachtung liegt - wie oben erwähnt
(vgl. 1) - in der teilweisen Bewahrheitung der Ge-
richtsankündigungen durch den Untergang des Nord-
reichs Israel, das 722/720 assyrische Provinz wurde,
und durch die dauerhafte Vasallität Judas nach den
Deportationen und der Belagerung von 701 v.Chr.,
mit der ich meine Überlegungen oben begonnen habe.
Die Worte JHWHs, deren Schicksal die Textkomposi-
tion für spätere Generationen festhält, werden so zum
Deuterahmen für eine Gegenwart, die JHWH immer
noch als für Juda »verborgen« erfährt (Jes 8,16-18).
Dass die vorliegende literarische Gestalt der »Denk-
schrift« kaum mehr auf den Propheten, sondern auf
die Tradenten seiner Botschaft zurückgeht, ist inzwi-
schen in der (deutschsprachigen) Forschung beinahe
Konsens. Wann die Redaktionsprozesse aber anzuset-
zen sind, bleibt umstritten 32 . •
Wie ich nun zeigen möchte, weist die Bildsprache, spe-
ziell des Abschnittes Jes 8,6-8 Bezüge zu Inschriften
des Assyrerkönigs Asarhaddon auf33 . Der Abschnitt
sei daher zuerst noch einmal im Wortlaut zitiert:

32 Vgl. zur Forschung zusammenfassend Schmid, Literaturge-


schichte, 97-101 (s.o. Anm. 3), ausführlicher Höffken, Jesaja,
115-123 (s.o. Anm. 24); Wagner, Herrschaft, 18-39 (s.o. Anm.
28).
33 Das Folgende ( die zweite Hälfte von III) schließt eng an H ar-
tenstein, »Schreckensglanz«, 88-97 (s.o. Anm. 31), an und prä-
sentiert in verkürzter Form (und für den interdisziplinären Ge-
80 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

5 Und JHWH fuhr fort, zu mir zu reden: 6 »Weil verworfen/ver-


achtet hat dieses Volk da die sanft einherfließenden Wasser von
Schiloach, und Freude (hat) an Rezin und am Remalja-Sohn, 7 da-
rum: Siehe, der Herr lässt heraufsteigen über sie die Wasser des
(Euphrat- )Stroms, die starken und mächtigen, - den König von As-
sur und seine ganze Herrlichkeit/Macht - und er wird heraufstei-
gen über alle seine Betten/Rinnen und wird gehen über alle seine
Ufer 8 und wird dahinfahren in Juda, einherfluten/strömen und
hindurchschreiten, bis an (den) Hals wird er reichen! Und es wird
sein: die Ausspannungen seiner Flügel (werden) die Fülle der Weite
deines Landes (sein), Immanuel!

Offenbar analog zur Tempelvision Jes 6, in der der


Glanz Gottes vom Brandrauch verdunkelt wird und in
der Folge das Land verödet, tritt in diesem Abschnitt
anstelle des JHWH-Glanzes im Land die verwüstende
Flut. Diese wird ihrerseits zugleich als »(Schreckens-)
Glanz des Königs von Assur« bezeichnet (V. 7). Man
muss sich dazu vor Augen halten, dass es in Mesopota-
mien - in Entsprechung zu den Gottheiten - vor allem
der König ist, dem man den »Schreckensglanz«, be-
vorzugt in seinem machtvollen Erscheinen zum Kampf
gegen die Feinde, zuschreibt34 . Asarhaddon sagt von
sich:

»der mit Schreckensglanz bekleidete Held, dessen Waffen zur Ver-


nichtung der Feinde Assyriens Assur, der König der Götter, sich
erheben liess [... ] .« 35

Ist die Rede vom »Schreckensglanz« allein jedoch we-


nig spezifisch im Blick auf einen bestimmten assyri-
schen Herrscher, so verhält es sich mit der Kombina-
tion der verschiedenen Sprachbilder für den angrei-

sprächszusammenhang, für den der vorliegende Beitrag ur-


sprünglich verfasst wurde [s.o. Anm. 1]) die dort vorgetragenen
Argumente.
34 Vgl. E. Cassin, La splendeur divine. Introduction a l'etude de

la mentalite mesopotamienne (CeS 8), Paris / La Haye 1968, 65-


82 (»Le melammu et la fonction royale«); B. Oded, War, Peace
and Empire. Justifications for War in Assyrian Royal Inscrip-
tions, Wiesbaden 1992, 145-162.
35 Borger, Asarhaddon, 81 (s.o. Anm. 20) (AsBbA § 53, 44).
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 81

fenden Assyrerkönig in Jes 8,6-8* anders: Neben dem


Glanz steht hier die Metapher der Flut, und in V. Sb
wechselt das Bild nochmals zu dem eines Vogels mit
ausgebreiteten Schwingen. Die Forschung hat aufgrund
dieser Metaphernhäufung zumeist ein literarisches
Wachstum angenommen und Glanz, Flut und Vogel
drei verschiedenen Straten der Textentstehung zuge-
wiesen36. Das dies jedoch den Sachzusammenhang ver-
kennt, zeigt sich, wenn man mesopotamische Traditio-
nen in Rechnung stellt. Lediglich in einer Asarhaddon-
Inschrift ist das Bild vom angreifenden Raubvogel - ge-
nau wie in Jes 8,6-8 - explizit mit der Flutmetaphorik
verknüpft:
»[ ... ] Ich wurde wütend wie ein Löwe, zog den Panzer an, setzte den
Helm, eine notwendige Kampfausrüstung, auf mein Haupt, und
fasste mit meiner Hand den mächtigen Bogen und den starken
Pfeil, die Assur, der König der Götter, mir verliehen hatte. Wie ein
wütender Adler, mit ausgebreiteten Schwingen, ging ich sintflut-
gleich (abübanis) an der Spitze meines Heeres.« 37

Die ausdrückliche Parallelisierung der beiden Tierver-


gleiche »wütend wie ein Löwe« und »wie ein wütender
Adler« Geweils akk. nadru »wild, aggressiv«) verweist
auf die uralte Symbolik des löwenköpfigen Adlers
Anzu (Abb. 3 .4a-b). Dieser hat in der Mythologie des
Zweistromlands eine lange Geschichte und steht u.a.
in Verbindung mit der Sintflut der Vorzeit 38 . Das Bild
der heranströmenden Wasser -aus Jes 8,6-8 ist in Me-

36 Vgl. dazu etwa H. Barth, Die Jesaja-Worte in der Josiazeit. Is-


rael und Assur als Thema einer produktiven Neuinterpretation
der Jesajaüberlieferung (WMANT 48), Neukirchen-Vluyn 1977,
200-202; Becker, Jesaja, 110 (s.o. Anm. 10).
37 Borger, Asarhaddon, 65 (s.o. Anm. 20) (Nin. E, Kol. II, 6-10
[Hervorhebung von mir]; vgl. ebd., 65, zur literarischen Abhän-
gigkeit der Stelle von Sanheribs Beschreibung der Schlacht bei
Jjalule - dort ohne das Vogelbild!).
38 Vgl. zu ihm F.A.M. Wiggermann, Mesopotamian Protective
Spirits. The Ritual Texts (CM 1), Groningen 1992, 159-163; ].
Black / A. Green, Gods, Demons and Symbols of Ancient Meso-
potamia. An Illustrated Dictionary, London 1992, 107-108.
82 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

sopotamien vielfältig belegt und sieht die Zerstörung


durch eine Flut mit der Zerstörung durch Waffen in ei-
ner Schlacht ineins39 . Die neuassyrischen Könige des 1.
Jt.s v.Chr. verwenden das Bild, um ihren unaufhaltsa-
men Angriff und die Unwiderstehlichkeit ihrer Kampf-
kraft zu umschreiben (kima abübi bzw. abübänis). Auf-
fallend an der Flutmetaphorik von Jes 8,6-8 ist aber die
im Alten Testament singuläre Formulierung mit dem
über seine Ufer und Rinnen tretenden Fluss bzw. Strom
(ii1Ji1 mit Artikel, nach alttestamentlichem Sprachge-
brauch ist sehr wahrscheinlich der Euphrat gemeint 40 ).
Eine genaue Parallele findet sich - soweit ich sehe -
wieder nur bei Asarhaddon, und zwar in der gewichti-
gen Gruppe der Babylon-Inschriften (Exemplare ver-
schiedener Versionen aus Babylon und Assyrien) 41 .
Diese Texte bieten eine theologische Deutung eines erst
acht Jahre zurückliegenden historischen Ereignisses, das
aufgrund seiner Singularität eine lange Wirkung im
kulturellen Gedächtnis des Vorderen Orients hinter-
lassen hat 42 : Die (zumindest teilweise) Zerstörung und

39 Siehe J.G. Westenholz, Symbolic Language in Akkadian Nar-


rative Poetry: The Metaphorical Relationship between Poetical
Images and the Real World, in: M.E. Vogelzang / H.L.J. Van-
stiphout (Hg.), Mesopotamian Poetic Language: Sumerian and
Akkadian (CM 6), Groningen 1996, 183-206, hier 193-200 (Die
Flut-Metaphorik als Beispiel für »complex multi-layered im-
ages«).
40 Vgl. z.B. Gen 15,18; Dtn 1,7; 11',24; Jos 1,4.
41 Siehe zu den Babylon-Inschriften, ihrer Perspektive und
Asarhaddons Babylon-Politik ].A. Brinkman, Through a Glass
Darkly. Esarhaddon's Retrospects on the Downfall of Babylon,
JAOS 103 (1983) 35-42; ders., Prelude to Empire. Babylonian
Society and Politics, 747-626 B.C. (OPBF 7), Philadelphia 1984,
67-84; G. Frame, Babylonia 689-627 B.C. A Political History,
Istanbul 1992, 64-101; B.N. Porter, Images, Power, and Politics.
Figurative Aspects of Esarhaddon' s Baby lonian Policy, Philadel-
phia 1993.
42 Vgl. dazu E. Frahm, Einleitung in die Sanherib-Inschriften
(AfO 26), Wien 1997, 21-28 (»Zum >Nachleben< Sanheribs in
keilschriftlichen Quellen und in Literatur und Kunst späterer
Epochen«); Cancik-Kirschbaum, Assyrer, 78-79 (s.o. Anm. 15).
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 83

Entvölkerung Babylons durch Sanherib im Jahre 689


v.Chr.:

»Die Stadt und ihre Häuser von ihren Fundamenten bis zu ihren
Wänden zerstörte ich, verwüstete ich, verbrannte ich mit Feuer. Die
Stadtmauer und die äußere Mauer, Tempel und Götter, den Tem-
pelturm aus Ziegeln und Erde, soviel als da waren, tilgte ich aus
und warf sie in den Arachtukanal. Mitten durch diese Stadt grub
ich Kanäle und flutete ihren Grund mit Wasser, und das Gefüge ih-
rer Fundamente zerstörte ich. Ich machte die Zerstörung vollkom-
mener als durch eine Flut [o: durch die Sintflut: eli sa abübu].« 43

Wie wichtig es Asarhaddon sofort nach seinem Regie-


rungsantritt 681 v.Chr. gewesen ist, die Babylon-Poli-
tik seines Vaters zu korrigieren, zeigen die Babylon-
Inschriften sehr deutlich. Die Schreiber des Königs
lieferten ein Stück Geschichtstheologie, bei dem an
vielen Stellen die Ohren des Alttestamentlers klingen,
weil sich hier noch weitere wichtige Parallelen zu pro-
phetischen Texten der Bibel finden 44 . Die Texte deu-
ten die Ereignisse ganz auf der götterweltlichen Ebene
(vgl. II): Weil die Bewohner Babylons »sündigten«
(Verschwörung mit den Elamern), »plant« Marduk in
seinem Zorn die Vernichtung der Stadt, die unter
deutlichem Bezug auf die Sanherib-Schilderung nach
der gewichtigsten Version (Text A, B, C, D) folgen-
dermaßen beschrieben wird:

»Da ergrimmte der Enlil (Herr) der Götter, Marduk; um das Land
niederzuwerfen und seine Bewohnerschaft zu verderben, sann er
Böses. [... ] Der Ara!Jtu, ein Fluss des Überflusses (nar !Jegalli), eine
wütende Flut, ein wildes Gewoge, ein geschwelltes Hochwasser,
ein Ebenbild der Sintflut (tamfü abübi), trat über; die Stadt, ihre

43 Bawian-Inschrift, zitiert nach E. Klengel-Brandt, Reise in das


alte Babylon, Leipzig 3 1977, 44 (Ergänzung in eckigen Klammern
nach D.D. Luckenbill, The Annals of Sennacherib (UCOIP 2), Chi-
cago, Illinois 1924, 84 [Z. 53]).
44 Vgl. dazu z.B. M. Albani, Die 70-Jahr-Dauer des babyloni-
schen Exils (Jer 25,llf; 29,10) und die Babylon-Inschrift Asar-
haddons (MuB der Forschungsstelle Judentum an der Theologi-
schen Fakultät Leipzig 17), Leipzig 1999, 4-20.
84 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

Wohnstätte und ihre Kuhräume überschwemmte er und machte sie


zur Wüstenei.« 45

Nachdem sich Marduks Gemüt besänftigt und er die


Frist der Strafe durch Umstellung der Zahlzeichen von
70 auf 11 Jahre verkürzt hat, erwählt er Asarhaddon
als den König, der den Wiederaufbau der Stadt und
die Neugründung ihrer Tempel durchführen soll.
0 b man für Jes 8, 6-8 * eine Kenntnis dieser geschichts-
theologischen Deutung der Zerstörung Babylons durch
die von Sanherib konkret verursachte Flut mit Hilfe
des Euphratwassers annehmen darf? Die präzise Be-
schreibung könnte dafür sprechen: Die »starken und
mächtigen Wasser« des durch den Artikel als bekannt
vorausgesetzte »Stroms« werden »heraufsteigen über
alle seine Betten/Rinnen und über alle seine Ufer«.
Wie könnten solche spezifischen Inhalte gerade der
Asarhaddontexte in Juda bekannt geworden sein, und
was lässt sich über die Tradenten bzw. Verfasser der
Jesaja-» Denkschrift« vermuten?

IV. Rezeptionsmöglichkeiten assyrischer Propagan-


da in der judäischen Schriftprophetie

Fragt man nach möglichen historischen Rahmenbedin-


gungen für eine Rezeption der Bildsprache assyrischer
Propaganda, wie ich sie am Beispiel von Jes 8,6-8 vor-
geführt habe, so legt sich dafür folgende Unterschei-
dung nahe 46 :
1. Unspezifische Aufnahmen, weil entsprechende Bil-
der bzw. Aussagen in den assyrischen Zeugnissen lange
gleichartig vorkommen, und es sich um so etwas wie
Grundfiguren assyrischer Propaganda handelt.
45 Borger, Asarhaddon, 13-14 (s.o. Anm. 20) (Bab. A, C, D: Epi-
sode Sa+ Bab. A, B, C, D: Episode 7a; zur Aufstellung der Rezen-
sionen siehe Brinkman, Through a Glass Darkly, 39 [s.o. Anm.
41]).
46 Zu dieser Unterscheidung und den folgenden Überlegungen

vgl. bereits Mach in ist, Assyria, 729-734 (s.o. Anm. 14).


Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 85

2. Spezifische Aufnahmen, die sich offenbar auf die


Kenntnis bestimmter Inschriften und ihrer Aussagen
beziehen.
Für beides lassen sich angesichts des behandelten Bei-
spiels aus der »Jesaja-Denkschrift« Argumente finden.
Zu 1. Unspezifische Aufnahmen: »Schreckensglanz«
und »Flut« als Bilder für den angreifenden assyrischen
König stellen je für sich keine Besonderheit dar. Das
numinose Phänomen des furchterregenden Strahlglan-
zes gehört - wie oben erwähnt - zu den Grundsym-
bolen der mesopotamischen Kultur47 (s.o. III). Es hat-
te im westsemitischen Bereich ein eigenständiges Ge-
genstück, den 71JJ, der in Ugarit besonders mit dem
Gott El, in Juda aber auch schon vor dem Kulturkon-
takt mit Assur mit JHWH verbunden war. So zeigen
alte Psalmen (Ps 29 und 24,7-10), aber auch Jes 6,3,
dass die Vorstellung von der königlichen »Herrlich-
keit« JHWHs (auch schon des irdischen Königs, vgl.
Ps 20) in Juda wahrscheinlich lange vorgegeben war 48 .
Daher legte sich eine gerichtsprophetische Aufnah-
me der entsprechenden assyrischen Vorstellung nahe.
Ähnliches gilt für das Bild der »Flut« als zerstöreri-
scher Chaosmacht. Wie es z.B. der alte Psalm 93 zeigt,
kannte die Tempelsymbolik der staatlichen Zeit in Ju-
da den kosmischen Gegensatz zwischen den □ 'J7 □ 'tl,
den »gewaltigen Wassern« (vgl. Jes 8,7 mit Ps 93,4),
und dem sie in Schach haltenden Königsgott JHWH 49 .
Dieser Gegensatz gehört - wi:e es wiederum v.a. uga-

47 Vgl. Cassin, Splendeur (s.o. Anm. 34).


48 Vgl. dazu immer noch W.H. Schmidt, Jerusalemer EI-Traditio-
nen bei Jesaja. Ein religionsgeschichtlicher Vergleich zum Vor-
stellungskreis des göttlichen Königtums, ZRGG 16 (1964) 302-
313; Hartenstein, Unzugänglichkeit, 78-99 (s.o. Anm. 28).
49 Vgl. zu Ps 93]. ]eremias, Das Königtum Gottes in den Psalmen
(FRLANT 141), Göttingen 1987, 15-50; B. ]anowski, Das Kö-
nigtum Gottes in den Psalmen, in: ders., Gottes Gegenwart in Is-
rael, Neukirchen-Vluyn 2 2004, 157-177; Hartenstein, Unzu-
gänglichkeit, 46-48 (s.o. Anm. 28), sowie (mit fraglichen literar-
kritischen Prämissen) R.G. Kratz, Der Mythos vom Königtum
Gottes in Kanaan und Israel, ZThK 100 (2003) 147-162.
86 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

ritische Texte zeigen - ebenfalls zu den einheimischen


Vorgaben, auf die sich die schriftprophetischen Ver-
fasser bezogen haben, wenn sie die Selbstbezeichnung
der assyrischen Könige als »anströmende (Sint-)Flut«
übernahmen. Die Neuerung besteht dann in der expli-
ziten Gleichsetzung eines Kriegsheeres mit Wasserflu-
ten, wie sie vermutlich erstmals in den einschlägigen
Kerntexten des Protojesajabuches vorgenommen wur-
de (vgl. neben Jes 8,6-8 noch Jes 28,14-22; Jes 17,
12-14) 50 .
Wie können solche allgemeinen Vorstellungen bekannt
geworden sein? Sowohl über sprachliche als auch visu-
elle Medien. Der Strahlglanz/Sternennimbus der Göt-
tin Ischtar ist z.B. auf in Palästina gefundenen Rollsie-
geln der Eisen II C-Zeit (ausgehendes 8./7. Jh. v.Chr.)
ikonographisch belegt (Abb. 3.5a-d) 51 . Für die »Flut«-
Vorstellung gibt es jedoch kein ikonographisches Äqui-
valent. Sie könnte zusammen mit dem »Schreckens-
glanz« über mündliche Berichte nach Juda gelangt
sein (auch in den Fluchformulierungen der ade Asar-
haddons ist das Bild belegt 52 ). Es ist ja mit judäischen
Delegationen zu rechnen, die in die assyrischen Haupt-

50 Über die Herkunft dieses sog. »Völkerkampfmotivs«, das sich


etwa auch in dem Zionspsalm 46 findet, ist lange gerätselt wor-
den. Am ehesten wird es sich prophetischer Rezeption in neuas-
syrischer Zeit verdanken und zeitgleich, wenn auch als positive
Deutung der Ereignisse von 701 v.Chr. in die Psalmen übernom-
men worden sein (s. unten S. 127-174).
51 Vgl. dazu 0. Keel / C. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Got-
tessymbole. Neue Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans
und Israels aufgrund bislang unerschlossener ikonographischer
Quellen (QD 134), Freiburg/Basel/Wien 5 2001, 332-335.
52 Vgl. K. Watanabe, Die ade-Vereidigung anlässlich der
Thronfolgeregelung Asarhaddons (BagM Beih. 3), Berlin 1987,
167: »( 488) Eine Hochflut, eine unwiderstehliche Sintflut möge
aus der Erde (489) emporsteigen und eure Niederwerfung bewir-
ken!« Im Vertrag mit Baal von Tyrus finden sich unter den
Fluchandrohungen auch ein »böser Wind«, der eine »gewaltige
Flut« gegen die Schiffe der Tyrer verursachen soll, hervorgeru-
fen durch Baal Schamem, Baal Malage und Baal Zaphon (vgl.
Borger, Asarhaddon, 109 [s.o. Anm. 20] [RS IV, Z. 10-13]).
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 87

städte bzw. entsprechende Paläste in den Provinzen


gelangt sind. Hinweise auf Tributbringer aus Juda fin-
den sich in assyrischen Briefen aus der Zeit Sargons
oder Sanheribs:

»A. Die Häuptlinge der Ägypter, der Einwohner von Gaza, Judäer,
Moabiter und Ammoniter sind am 12. Tage in Kalah eingetrof-
fen.«53

Auch der umgekehrte Weg assyrischer Botschafter


nach Juda ist als reale Möglichkeit der Vermittlung
von mündlicher Propaganda denkbar 54. Die in der Ei-
sen II C-Zeit steigende Zahl von Zylindersiegeln aus
»den städtischen Zentren unter direkter assyrischer
Kontrolle (etwa Megiddo, Dor, Samaria oder Geser)« 55
zeigt weiterhin die Präsenz offizieller Verwaltung des
assyrischen Reiches in der unmittelbaren Nachbar-
schaft Judas. Letzteres macht für die erste Hälfte des
7. Jh.s v.Chr., während der Regierung Manasses von
Juda (696-642 v.Chr.), Kontakte bis in die Zentren
des assyrischen Großreichs wahrscheinlich. Damit kom-
me ich zur zweiten Weise möglicher Rezeption.
Zu 2. Spezifische Aufnahmen: In der Manasse-Zeit
waren die Bedingungen für eine direkte Kenntnis von
Inhalten assyrischer Königsinschriften so günstig wie
sonst kaum in der Geschichte Israels. Allerdings halten
sich archäologische Belege für syllabische Keilschrift-
texte (einschließlich Siegeln) aus Palästina im 1. Jt.
v.Chr. sehr in Grenzen. Nach der Zusammenstellung
von Karel van der Toorn liegt ihre Zahl unter zehn,

53 K. Galling (Hg.), Textbuch zur Geschichte Israels, Tübingen


3 1979, 64-65. Vgl. ebd.: »B. Zwei Minen Gold haben die Ammo-
niter, eine Mine Gold die Moabiter, zehn Minen Silber die Judäer,
[... ] Minen Silber die [... ]er, [... ] die Bybläer als Geschenk für den
König meinen Herrn, hergeschickt.« (Text A: Saggs, The Nimrud
Letters, Iraq 17 [1955] 134-135; Text B: Harper, Letters VI
[1902] Nr. 632).
54 Vgl. dazu auch den Hinweis bei Machinist, Assyria, 729 (s.o.
Anm.14), mit Anm. 58.
55 Keel!Uehlinger, Göttinnen, 328 (s.o. Anm. 51).
88 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

was aufgrund der Disparatheit des Materials keinerlei


Rückschlüsse auf etwaige Keilschriftkundige in Juda
zulässt56 . Hier ist noch einmal die Frage nach der
Sprache der Überlieferung aufzuwerfen (vgl. II). Ha-
ben die Assyrer jenseits des Euphrats wichtige Inhalte
aramäisch weitervermittelt? Auch dafür fehlen direk-
te Belege. Wenn man aber nochmals an die oben ge-
nannten Hinweise auf die Zweisprachigkeit offizieller
Kommunikation denkt, legt sich eine solche Annahme
nahe. Interessant ist in dieser Hinsicht die akkadische
Inschrift auf der großen Siegesstele Asarhaddons, die
dieser in Zincirli/Sam'al nach seinem Ägyptenfeldzug
aufstellen ließ (Abb. 3.6). Darin heißt es:

»und meine siegreichen Eroberungen liess ich darauf schreiben;


zum bewundernden Anschauen durch alle Feinde richtete ich es für
ewig auf.« 57

Auch in Til Barsip (s.o. II) wurden Fragmente analo-


ger Stelen Asarhaddons gefunden, von denen eine,
akkadisch beschriftete, im Palastbereich stand, wäh-
rend sich die andere, unbeschriftete, öffentlich zugäng-
lich in einem der Stadttore befand (Abb. 3.7a-b) 58 . In
jedem Fall werden die Texte solcher der Selbstdarstel-
lung des Königs dienenden Denkmäler der Bevölke-
rung vermittelt worden sein. Vielleicht durch die mehr-
sprachigen Beamten am Hof der jeweiligen Kleinstaa-
ten. An solche Stelen ist vermutlich auch für Juda zu
denken 5 9. Denn die Inschrift· der Zincirli-Stele enthält

56 Vgl. K. van der Toorn, Cuneiform Documents from Syria-Pal-


estine. Texts, Scribes, and Schools, ZDPV 116 (2000) 97-113,
hier 97 (»total only half a dozen«), vgl. die Aufstellung 99-100.
57 Vgl. Borger, Asarhaddon, 99 (s.o. Anm. 20) (§ 65, RS Z. 52f).
58 ]. Börker-Klähn, Altvorderasiatische Bildstelen und ver-
gleichbare Felsreliefs (BagF 4/1-2), Mainz 1982, 212, verweist
für die zweite Stele (Bild 3.7b) auf die Annahme, dass sie ei-
ne aramäische Inschrift getragen haben könnte, u.a. weil sie am
Stadttor öffentlich zugänglich war.
59 Obwohl das nächstliegende Denkmal Asarhaddons das Fels-

bild am Nahr el-Kelb (12 km nördlich von Beirut) ist. Zu neuas-


Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 89

alle sprachlichen Bilder aus Jes 8,6-8: Den »Schre-


ckensglanz« des Königs (VS Z. 21: namurratum), seine
Angriffsmacht »wie eine Flut« (VS Z. 12: abubuma)
und offenbar auch das Vogelbild, wenn die Taten des
Königs mit einem »wütenden Löwen, vor dem ein Zu.-
Vogel einhergeht«, verglichen werden 60 .
Bleibt abschließend die Frage nach den Babylon-In-
schriften, auf die Jes 8,6-8 (und Jer 25,llf; 29,10) di-
rekt anzuspielen scheint. Auch hier ist mit einer be-
wusst weiten Verbreitung ihrer Inhalte durch den Kö-
nig zu rechnen. Das macht schon die Streuung der
Texte deutlich, die nicht nur in verschiedenen Versio-
nen für Assyrien und Babylonien bezeugt sind, son-
dern neben dem Primärzweck als Fundament-Inschrif-
ten auch als Abschriften für die Städte Assyriens. Bar-
bara Nevling Porter hat der Frage nach der öffentlichen
Vermittlung dieses theologisch begründeten Grund-
satzprogramms zur Restaurierung Babylons eingehen-
de Überlegungen gewidmet 61 . Sie rechnet mit der hö-
fischen und kultischen Schreiberelite Assurs als Auto-
ren und primärem Auditorium der Texte. Über diese
auch für die Reichsverwaltung der Provinzen entschei-
denden Kontaktpersonen könnten die Inhalte der Ba-
bylon-Inschriften weitergegeben worden sein62 .
Unter den gebildeten Schreibern des ]erusalemer Ho-
fes, die vielleicht im Austausch mit assyrischen Kolle-
gen standen, sind dann auch die Tradenten der Jesaja-
botschaft zu suchen. Diese hätten unter Aufnahme
und Umformung der Selbstaussagen Asarhaddons die
»Denkschrift« Jes 6-8 als eine Inschrift des wahren
Weltenkönigs JHWH gestaltet. Der »Schreckensglanz
Assurs« - so ihr Fazit - konnte nur deshalb über Juda

syrischen Stelen(-fragmenten) aus Syrien-Palästina vgl. weiter


van der Toorn, Documents, 100 (s.o. Anm. 56).
60 RS Z. 13: zu-um-ma, eventuell aber auch ir 4 / er,-um-ma,
dann wäre eru »Adler« zu lesen (vgl. Borger, Asarhaddon, 97,
[s.o. Anm. 20] mit Anm. 13).
61 Vgl. Porter, Images, 110-117 (s.o. Anm. 41).
62 Ebd., 116.
90 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

kommen, weil JHWH es ermöglicht hat. Eine Deutung


der eigenen Geschichte als Folge schuldhafter Gottver-
gessenheit, der eine weit größere Zukunft beschieden
war als den Denkmälern der assyrischen Könige.
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 91

Abbildungen:

;/_::'~,

. /·.-\

Abb. 3.1: Keilschrift (und aramäisch?) schreibende Schreiber,


Wandmalerei, Ti! Barsip, 8. Jh. v.Chr. - Quelle: D.O. Edzard, Ge-
schichte Mesopotamiens. Von den Sumerern bis zu Alexander dem
Großen (Beck's Historische Bibliothek), München 2004, 205.
92 Unheilsprophetie und H erschaftsrepräsentation

Abb. 3.2: Barrakib auf dem Thronstuhl, Stele, Zincirli/Sam'al, um


730 v.Chr. - Quelle: H.P. Rüger, Art. Schreibmaterial, Buch und
Schrift, BRL 2 (1977) 291, Abb. 76,2.

Abb. 3.3: Der assyrische König auf dem Thronstuhl, Relief, Aus-
schnitt, Ninive, Südwestpalast, Sanherib, 705-681 v.Chr. - Quel-
le: U. Magen, Assyrische Königsdarstellungen - Aspekte der
Herrschaft. Eine Typologie (BagF 9), Mainz 1986, Taf. 17,8.
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 93

Abb. 3.4a: Ein geflügelter Gott jagt einen Löwendrachen (Anzu ?),
Relief, Kalchu/Nimrud, Ninurta-Tempel, Assuma~irpal II., 883-
859 v.Chr. - Quelle:]. Black/ A. Green, Gods, Demons and Sym-
bols of Ancient Mesopotamia. An Illustrated Dictionary, London
199~14~Ab~ll7.

Abb. 3.4b: Ein Gott mit sternenbesetztem Bogen jagt einen Lö-
wendrachen (Anzu ?), Rollsiegel, Steatit, neuassyrisch, 1. Hälfte 1.
Jt. v.Chr. - Quelle: 0. Keel, Die Welt der altorientalischen Bild-
symbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Zü-
rich/Neukirchen-Vluyn 3 1980, 42, Abb. 45 (vgl. ebd., 360 [Lit.]).
94 Unheilsprophetie und H erschaftsrepräsentation

a)
0

b) c) d)

Abb. 3.5: Ischtar im Sternennimb_us/Strahlglanz, alle EZ II C,


8./7. Jh. v.Chr., a) Rollsiegel, Sichern, b) Stempelsiegel, Aschdod,
c) Stempelsiegel, Bet Schean, d) Stempelsiegel, Dor. - Quelle: 0.
Keel / C. Uehlinger, Göttinnen, Götter und Gottessymbole. Neue
Erkenntnisse zur Religionsgeschichte Kanaans und Israels auf-
grund bislang unerschlossener ikonographischer Quellen (QD
134), Freiburg/Basel/Wien 5 2001, 333f, Nr. 287 (= a), 288a (= b),
288b (= c) und 288c (= d).
Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation 95

Abb. 3.6: Der König Asarhaddon hält zwei unterworfene Könige


am Leitseil. Auf den Schmalseiten Samassumukin und Assurbani-
pal, Stele, Zincirli/Sam'al, Torkammer des äußeren Burgtores,
Asarhaddon, nach 671 v.Chr. - Quelle: J. Börker-Klähn, Altvor-
derasiatische Bildstelen und vergleichbare Felsreliefs (BagF
4/2), Mainz 1982, Nr. 219 (vgl. dazu ebd. I, 213).
96 Unheilsprophetie und Herschaftsrepräsentation

r
\

1
a)

b)

Abb. 3.7: Der König Asarhaddon hält zwei unterworfene Könige


am Leitseil. Auf den Schmalseiten Samassumukin und Assurbani-
pal, Stele, beide nach 671 v.Chr. a) Til Barsip, Abhang der Akropo-
lis, Nähe des assyrischen Statthalterpalasts, b) in der Nähe der
durch das Löwentor führenden Straße innerhalb der Stadtmauern.
- Quelle: Börker-Klähn, Bildstelen (wie Abb. 3.6), Nr. 217 (= a)
und 218 (= b) (vgl. dazu ebd. I, 212f).
dass erfüllt ist ihr Frondienst«
» ...
(Jesaja 40,2)
Die Geschichtshermeneutik Deuterojesajas im Licht
der Rezeption von Jesaja 6 in Jesaja 40,1-11 1

I. Vorüberlegungen

»Tröstet, tröstet mein Volk!« - so beginnt das 40. Kapi-


tel des Jesajabuches. Mit diesem zweifachen Imperativ
meldet sich nicht nur eine neue Stimme im Buch Jesaja
zu Wort, sondern mit ihm beginnt inhaltlich etwas nie
zuvor Gehörtes: Die Botschaft von einer umfassenden
Heilswende für Israel, deren Ausmalung in den folgen-
den Versen und Kapiteln von Jes 40-55 zu den wir-
kungskräftigsten Texten des Alten Testaments und der
Weltliteratur gehört. Nirgendwo sonst finden sich so
eingehende Argumente und Gründe für das Festhalten
an der Handlungsfähigkeit Gottes. Nirgends wird die
monotheistische Überzeugung, dass allein JHWH zu
»retten« vermag, so ausführlich mit seinem Schöpfer-
handeln und seiner Liebe zu Israel begründet wie in
diesen Kapiteln. Ein werbender und gleichzeitig drän-
gender Grundton durchzieht sie. Denn die Adressaten
des Trostaufrufs von Jes 40,1 sollen auf keinen Fall pas-
siv bleiben, sondern neu wahrnehmen und das eigene
Ergehen gewissermaßen mit den Augen Gottes betrach-

1 Mit diesem Beitrag, den ich am 24. November 2006 auf Einla-
dung der Theologischen Fakultät der Universität Halle im Rahmen
der akademischen Feier zum 65. Geburtstag von Herrn Kollegen
Arndt Meinhold als Vortrag gehalten habe, möchte ich nun in
schriftlicher Form meine Hamburger Kollegin Ina Willi-Plein herz-
lich zu ihrem 65. Geburtstag grüßen. Ihrem offenen und freund-
schaftlichen Diskussionsstil im Hamburger Forschungskolloquium
und ihrer unbestechlichen Genauigkeit in der Sache verdanke ich
wichtige Anregungen für die folgenden Überlegungen.
98 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

ten. Dazu holt Jes 40ff denkbar weit aus: Allein JHWH
hatte es vermocht, sich als die eine, die ganze Welt von
Anfang an bestimmende und ordnende Macht zu er-
weisen. Und er hat dies paradoxerweise durch seine
Nähe zu einem Volk getan, dessen Geschicke inmitten
der Völkerwelt er zum Paradigma für die Anerkennung
seines Gottseins erhoben hat. Am Ergehen Israels soll
nicht nur dieses selbst, sondern schließlich auch die
Völkerwelt erkennen, dass JHWH einzig ist. Ein Gott,
dessen Wege die Grenzen menschlichen Verstehens
weit übersteigen, der aber seine Spuren in der Ge-
schichte setzt, damit sie gelesen und nachvollzogen
werden können. Und der vor allem durch seine über
Generationen immer wieder neu an Israel übermittel-
ten Worte ein langzeitiges Instrument für die Erkun-
dung seines Willens bereitstellt. Die Einzigkeit Gottes
und eine auf Einheit zielende Hermeneutik der Ge-
schichte Israels gehen dabei Hand in Hand.
In Deuterojesaja wechseln deshalb geradezu intime An-
reden an Israel, die an der Sprache der Psalmen geschult
sind, mit hymnischen und reflektierenden Passagen,
die das Große und das Kleine, Schöpfung, Geschichte
und individuelles Ergehen in einen unauflösbaren Zu-
sammenhang bringen. Programmatisch geschieht dies
etwa in Jes 40,27f, den einzigen Versen in Jes 40-55, in
denen die Zweifel der Adressaten an der Handlungsfä-
higkeit JHWHs in Form eines Zitates direkt benannt
werden:

(27) Warum sagst du, Jakob, und sprichst du, Israel: »Verborgen ist
mein Weg vor JHWH, und meinem Gott entgeht mein Recht!« (28)
Hast du (es) nicht erkannt, oder hast du (es) nicht gehört? Ein Gott
fernster Zeit (ist) JHWH, Schöpfer der Enden der Erde! Nicht wird
er matt, und nicht ermüdet er, unerforschlich (ist) seine Einsicht!
(29) Er gibt dem Müden Kraft, und dem Kraftlosen mehrt er
Stärke!

Die zitierte Klage Israels über die Verborgenheit des ei-


genen Geschicks vor Gott und die Zweifel an dessen
Handlungsbereitschaft, vielleicht auch Handlungsfähig-
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 99

keit (»meinem Gott entgeht mein Recht!«), stellt so


etwas wie einen Schlüssel für die Botschaft des Deu-
terojesajabuches dar. Es geht darin - unbeschadet der
Fragen seiner literarischen Entstehung, auf die ich
gleich zu sprechen komme - um die Ansage des Endes
der Verborgenheit und Unzugänglichkeit Gottes. Eine
Verborgenheit, die offensichtlich nicht nur vorüberge-
hend und punktuell zu denken ist, sondern die Israel
über einen langen Zeitraum hinweg betroffen und ge-
prägt hat. Schon dem mittelalterlichen Exegeten Abra-
ham Ibn Esra war der ab Jes 40 vorausgesetzte gewan-
delte historische Kontext aufgefallen, und seit dem aus-
gehenden 18. Jahrhundert gehört es zu den Einsichten
der historisch-kritischen Forschung am Alten Testa-
ment, dass in Deuterojesaja, v.a. mit der verdeckten
und expliziten Nennung des Kyros (Jes 41,1-5; 44,24-
45,8), ein Dokument vorliegt, das frühestens aus dem
letzten Drittel des 6. Jahrhunderts v.Chr. stammt und
den kometenhaften Aufstieg des Perserkönigs in isra-
elitischer Sicht deutet. Auch die häufig deutlich her-
vortretende Auseinandersetzung mit den Traditionen
und Ansprüchen der babylonischen Kultur (vgl. nur Jes
40,12-31; 46,1-7) verweist zumindest für die Anfänge
der deuterojesajanischen Texte auf eine Datierung und
Lokalisierung bei den 597 und 587 v.Chr. ins südliche
Zweistromland deportierten Judäern und deren Nach-
kommen. An diesen Eckpunkten hat sich auch in der
neueren Diskussion um die Entstehung der Deuteroje-
sajatexte wenig geändert2 .
Jedoch gehen die Meinungen über die Identifikation
und den Umfang des Grundbestandes von ]es 40-55

2 Vgl. als überblicke über die neuere Deuterojesaja-Forschung et-

wa H.-]. Hermisson, Deuterojesaja-Probleme. Ein kritischer Litera-


turbericht, VF 31 (1986) 53-84; ders., Neue Literatur zu Deutero-
jesaja I-II, ThR 65 (2000) 237-284.379-430; siehe im weiteren u.a.
]. Werlitz, Redaktion und Komposition. Zur Rückfrage hinter die
Endgestalt von Jesaja 40-55 (BBB 122), Berlin/Bodenheim 1999,
15-110; P. Höffken, Jesaja. Der Stand der theologischen Diskussion,
Darmstadt 2004, 101-114.
100 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

weit auseinander. Hatte die formgeschichtlich orien-


tierte Prophetenforschung, für die etwa die Arbeiten
Claus Westermanns exemplarisch stehen 3, die Kapitel-
folge als eine sprachlich und stilistisch weitgehend ein-
heitliche Prophetenschrift verstanden, so hat sich mit
der redaktionskritisch ausgerichteten Exegese hier ein
weitgehender Wandel vollzogen. Schon ein Forscher
wie Roy F. Melugin hatte die Vermutung einer kom-
plexen Buchgenese geäußert, hielt aber deren Rekon-
struktion für nicht möglich, weshalb er die literarische
Komposition und deren Aussagengefüge nachzeichne-
te4. In der deutschsprachigen Exegese hat sich in den
letzten anderthalb Jahrzehnten eine Sichtweise weitge-
hend durchgesetzt, die damit rechnet, auch für die in
einem überschaubaren Zeitraum entstandenen Deute-
rojesajatexte mit einer Schichtenanalyse die Stufen der
Entstehung und die damit verbundenen unterschiedli-
chen theologischen Perspektiven nachzeichnen zu kön-
nen. Für fast alle neueren redaktionskritischen Arbei-
ten gilt dabei, dass die Analyse des sogenannten Pro-
logs des Buches in Jes 40,1-11 eine wichtige Funktion
für die Modellbildung zur Buchentstehung hat. Den
Ausgangspunkt stellen Beobachtungen zur Inkohärenz
dieses Abschnitts dar, wie sie Klaus Kiesow erstmals

3 Siehe C. Westermann, Sprache und Struktur der Prophetie Deu-

terojesajas (CThM 11), Stuttgart 21981; ders., Das Buch Jesaja. Ka-
pitel 40-66 (ATD 19), Göttingen 419'81.
4 R.F. Melugin, The Formation of Isaiah 40-55 (BZAW 141), Ber-
lin / New York 1976. Zur methodischen Frage der Rekonstruier-
barkeit einer literarischen Vorgeschichte der Komposition Jes 40-55
vgl. ebd., 77-82, bes. 82: »My purpose is not to doubt that Isaiah
40-55 underwent several stages of growth. Indeed, I would argue
that we can occasionally see later stages of development. But in
most instances the collectors did not leave distinctive footprints by
which we may retrace their respective paths. We are therefore by
and !arge unable to reconstruct the history of the redaction.« (vgl.
auch ebd., 176-177 den Hinweis auf die Notwendigkeit, die buch-
kompositorischen Zusammenhänge des Jesajabuches in die Analyse
mit einzubeziehen - ein Gesichtspunkt, den die neuere Forschung
stark in den Blick genommen hat).
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 101

formuliert hat 5• Seitdem ist es in der Deuterojesajafor-


schung üblich geworden, ]es 40,1-11 als einen über
zwei bis vier Stadien gewachsenen Text zu verstehen,
der als bewusste Hinleitung zum Corpus von Jes 40-55
gedacht ist und die für die Buchkomposition prägenden
theologischen Konzepte in nuce anklingen lässt. Die
einschlägigen Arbeiten lassen sich auf zwei alternative
Entstehungsmodelle verteilen:
a} Alternative 1, vertreten durch Reinhard G. Kratz
und Jürgen Werlitz, rechnet mit einer dreistufigen Ent-
stehung des Prologs, wobei der Anfang Jes 40,1-5 zur
Grundschicht gehört und einem ersten Buchschluss,
dem Epilog Jes 52,7-10, korrespondiert 6 . Das in Jes 40,
1-5 (und 52,7ff} programmatisch entworfene Thema
ist die vor der ganzen Welt erfolgende sichtbare Rück-
kehr JHWHs als Gegenstand des Trostes Israels und Je-
rusalems. Der Prolog ist nach diesem Modell noch über
zwei weitere Stufen gewachsen (Jes 40,9-11 + Jes 40,
6-8, ein Abschnitt, der einem zweiten Buchschluss, Jes
55,10-11 [viell. 55,6-13], korrespondiert}7.
b} Alternative 2, vertreten von Jürgen van Oorschot
und Ulrich Berges, rechnet mit einem zweistufigen
Wachstum des Buchprologs 8 . Dabei wird dessen Gene-
se aber nicht auf der Ebene der Grundschicht, sondern
bereits auf einer redaktionellen Stufe angesetzt. Jes 40,

5 K. Kiesow, Exodustexte im Jesajabuch. Literarkritische und mo-


tivgeschichtliche Analysen (OBO 24), Fribourg/Göttingen 1979,
23-66.
6 R.G. Kratz, Kyros im Deuterojesaja-Buch. Redaktionsgeschicht-

liche Untersuchungen zu Entstehung und Theologie von Jes 40-55


(FAT 1), Tübingen 1991; ders., Der Anfang des Zweiten Jesaja in Jes
40,lf. und seine literarischen Horizonte, ZAW 105 (1993) 400-419;
Werlitz, Redaktion (s.o. Anm. 2), 70-81.260-266.
7 Vgl. dazu Kratz, Kyros, 148-149; ders., Anfang, 402-412; Wer-

litz, Redaktion, 265-266.


8 ]. van Oorschot, Von Babel zum Zion. Eine literarkritische und

redaktionsgeschichtliche Untersuchung (BZAW 206), Berlin/ New


York 1993, 106-123.273-275; im Anschluss daran U. Berges, Das
Buch Jesaja. Komposition und Endgestalt (HBS 16), Freiburg/Basel/
Wien 1998, 368-403, bes. 380-384 und 385 (Zusammenfassung).
102 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

1-5"' und Jes 40,9-11 werden hier - anders als in Alter-


native 1 - zusammengenommen, korrespondieren aber
wiederum Jes 52,7-10 als einem ersten Epilog. Diese
Ausgabe des Deuterojesaja sei aufgrund ihrer Perspek-
tive einer Rückkehr zum Zion in ]erusalemer Kreisen
zu verorten. Und auf sie sei anschließend eine zweite
Jerusalemer Redaktion gefolgt, der - wie in Alternative
1 - Jes 40,6-8 (in Korrespondenz mit Jes 55,10-11) zu-
gehört.
Ein Dissens der beiden Modelle besteht also hinsicht-
lich der Ansetzung des Anfangs ]es 40,1-5 bereits im
Rahmen der Grundschicht sowie seiner Zuordnung zu
den Versen ]es 40,9-11.
Einen Konsens bildet die Herausnahme der Verse ]es
40,6-8 und deren Zuweisung zu einem relativ späten
Stadium der Entstehung Deuterojesajas. Dafür spre-
chen in der Tat gute Gründe, und dieser Einsicht soll
auch hier gefolgt werden. Die in den Versen Jes 40,6-8
artikulierte Vergänglichkeitsklage (7: »All das Fleisch
[ist] Gras, und all seine Anmut [ist] wie die Blüte des
Feldes! Vertrocknet [ist] Gras, verwelkt eine Blüte,
wenn der Wind/Geist JHWHs darüber geweht hat«) hat
ihre nächsten Parallelen in späten Psalmen (vgl. etwa
Ps 90; Ps 102-103). Vor allem aber steht im Zentrum
des Abschnitts Jes 40,6-8 eine Theologie des die Zeiten
umgreifenden schöpferischen Gesamtworts JHWHs (8:
»Vertrocknet [ist] Gras, verwelkt eine Blüte, aber das
Wort unseres Gottes wird bestehen für fernste Zeit!«).
Diese reflektierte Theologie des in Schöpfung und Ge-
schichte wirkenden Gotteswortes hat in Jes 40,1-5.9-11
keine Entsprechung, wohl aber in den berühmten Ver-
sen Jes 55,lüf am Schluss des Deuterojesaja 9 .

9 Zur konzeptionellen und literarischen Abhebung von Jes 40,6-8

aus dem Zusammenhang des Prologs Jes 40,1-11 und zu dessen Ver-
bindung mit Jes 55,lOf sowie der Einordnung dieses redaktionellen
Rahmens in eine Jesajabuch-Perspektive siehe schon Kiesow, Ex-
odustexte (s.o. Anm. 5), 66.160.165; van Oorschot, Babel, 273-275.
346; Berges, Jesaja, 385-388 (s.o. Anm. 8); Werlitz, Redaktion (s.o.
Anm. 2), 266.325-332 (siehe auch Kratz, Kyros [s.o. Anm. 6], 217).
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 103

Ich setze bei meinen folgenden Überlegungen ein zwei-


stufiges Wachstumsmodell für den Prolog voraus, bei
dem die Verse 6-8 als spätere Bearbeitung angesehen
werden. Ich rechne dabei wie van Oorschot mit einer
Ansetzung von Jes 40,1-5 und 9-11 auf einer litera-
rischen Ebene 10 . Dabei haben mich seine Gründe je-
doch nicht überzeugt, diesen Buchprolog (ohne V. 6-8)
erst einer Jerusalemer Redaktion zuzuweisen. Statt-
dessen rechne ich ihn zur im 3. Drittel des 6. Jahrhun-
derts v.Chr. in Babylonien zu verortenden Grund-
schicht11.
An dieser Stelle ist, bevor ich mich den Texten zuwen-
de, noch eine methodische Zwischenbemerkung nötig.
Von verschiedener Seite hat man in der Deuterojesaja-
forschung auch Zweifel an der Möglichkeit der Analyse
isolierter Redaktionsschichten angemeldet 12 . Diese näh-
ren sich vor allem an der nicht selten reduktionistisch
vorgenommenen konzeptionellen Unterscheidung der
Schichten (denen meist nur ein theologischer Leitge-
danke zugestanden wird). So hatte etwa Klaus Kiesow
in Jes 40,1-11 zwischen einer Betonung des Auszugs
JHWHs (V. 3-5) und Aussagen über seine Ankunft
(V. 1-2 + 9-11) literarisch unterschieden; auch hatte
er die beiden Bilder für JHWH in V. 9-11 (Kriegsheld
in V. 9f und Hirte in V. 11) für unvereinbar gehalten
und deshalb als Anzeiger für ein Textwachstum gewer-

10 Siehe van Oorschot, Babel, 106-127.


11 Einen Teil der genaueren Begründung für diese Hypothese ent-
halten die folgenden Überlegungen dieses Beitrags. Zur Ansetzung
von Jes 40,1-5 auf der Ebene (des redaktionellen Rahmens) der
Grundschicht vgl. Kratz, Kyros, 148, der dafür auf die Rahmung
mit Jes 52,7-10 aufmerksam macht, jedoch Jes 40,9-11 als konzep-
tionell jünger ansieht.
12 Mit der methodischen Problematik der Deuterojesajaexegese in
der fruchtbaren Spannung zwischen Synchronie und Diachronie
hat sich, angeregt durch Hermisson (s.u. Anm. 14), besonders Wer-
litz, Redaktion (s.o. Anm. 2) auseinandergesetzt (vgl. dazu die Vor-
klärungen ebd., 8-14, sowie seinen an der Leitlinie einer literarhis-
torisch fundierten Kompositionsanalyse von Jes 40-55 orientierten
Forschungsüberblick ebd., 15-25).
104 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

tet 13 . Derartigen, rein binnentextlich argumentieren-


den Versuchen ist Hans-Jürgen Hermisson in einem
wichtigen Aufsatz entgegengetreten, in dem er die Not-
wendigkeit redaktionsgeschichtlicher Rekonstruktion
ausdrücklich bejaht hat (vgl. auch seine Auslegung ab
Jes 45,8 im Biblischen Kommentar) 14 . Er hat dabei da-
rauf hingewiesen, dass es immer einer Bündelung von
mehrfach geprüften konzeptionellen Argumenten be-
darf, um eine Schichtenanalyse historisch begründet
durchführen zu können 15 . Seine Einsichten aufneh-

13 Kiesow, Exodustexte (s.o. Anm. 5), 32-34, bes. 34, zur »inhaltli-
chen Spannung« zwischen V. 10 und 11, wonach JHWH in V. 10
als »machtvoll und herrscherlich«, in V. 11 dagegen »in fast lyri-
scher Schilderung als behutsamer, liebevoller Hirte« dargestellt sei:
»Sichtbar wird die Spannung vor allem in der beidmaligen Verwen-
dung von ,seinem Arm<, der einmal machtvoll herrscht, zum ande-
ren behutsam ,Lämmer sammelt<.« (ebd., 34).
14 H.-J. Hermisson, Einheit und Komplexität Deuterojesajas. Prob-

leme der Redaktionsgeschichte von Jes 40-55, in: ders., Studien zu


Prophetie und Weisheit. Gesammelte Aufsätze, hg. v. J. Barthel /
H. ]auss / K. Koenen (FAT 23), Tübingen 1998, 132-157 (= J. Ver-
meylen [Hg.], The Book of Isaiah - Le livre d'Isai:e [BEThL 81 ], Leu-
ven 1989, 287-312). Vgl. zur Hinterfragung rein inhaltlicher Argu-
mente in der Literarkritik mit weiteren Beispielen ebd., 137: Ȇber
Spannungen in den Texten kann ebenso nur von Fall zu Fall ent-
schieden werden. Dabei ist jedoch Kritik der literarkritischen Ur-
teilskraft angebracht, weil sie in der Gefahr ist, komplexe theologi-
sche Konzeptionen der theologischen Einfalt zu opfern und Poesie
in ein Prosamaß zu zwängen.« Zur Durchführung der Deuterojesa-
ja-Auslegung Hermissons vgl. ders., Deuterojesaja. 2. Teilband: Je-
saja 45,8-49,13 (BK XI/2), Neukirchen-Vluyn 2003.
15 Vgl. dazu das Resümee Hermissons, Einheit, 156, der zwischen
einer fein gefächerten, aber theologisch reduktionistischen Schich-
tenanalyse und einer Kompositionsanalyse der heterogenen Endge-
stalt den schwierigen Mittelweg befürwortet: »Zwischen den beiden
Extremen, die ja beide ein berechtigtes Anliegen vertreten, wurde
hier die Basis der Auslegung in Texten einer einheitlichen Konzep-
tion gesucht.« (Hervorhebung FH). Solche Texte einer einheitlichen
Konzeption können theologisch sehr komplex sein und erschließen
ihre thematische Kohärenz keineswegs immer auf den ersten Blick.
Vielmehr bedarf es zur Aufdeckung ihrer Kohärenz unter Umstän-
den aufwendiger traditions- und religionsgeschichtlicher Untersu-
chungen (s.u.).
»... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 105

mend fasse ich knapp zusammen, worauf es mir an-


kommt: Der Literarkritiker sollte nicht unreflektiert
fremde ästhetische Kriterien an antike Texte anlegen,
sondern sich zuvor ein kontrolliertes Vorverständnis
aneignen. Zum einen gilt es hier, vor der Feststellung
möglicher Inkohärenzen den Versuch zu unternehmen,
die Texte unter ihren eigenen Voraussetzungen zu le-
sen16. Dazu gehört nicht nur die Wahrnehmung he-
bräischer Stil- und Literaturphänomene, sondern vor
allem ein traditions- und religionsgeschichtlich ge-
schultes Wissen um altisraelitische und altorientali-
sche Vorstellungszusammenhänge 17 .
Ein in der Forschung bisher in seiner Bedeutung nicht
vollständig erkanntes Motiv im Jesajaprolog (und im
Epilog von Jes 52,7-10), das auf einen solchen umfas-
senden Vorstellungszusammenhang mit altorientali-
schem Hintergrund verweist und für die Frage der
möglichen konzeptionellen Einheit und literarischen
Schichtung in Deuterojesaja eine wichtige Rolle spielt,
ist die oben erwähnte Aussage von der · »Rückkehr
JHWHs« (nicht der Exulanten!) in Jes 40,1-5 (und in
Jes 52,7-10). Ihr gelten die folgenden Überlegungen.
Nur wenige Exegeten haben bisher die Eigenständig-
keit und Bedeutung dieser Vorstellung in der deuteroje-

16 Für die Problematik sei stellvertretend auf die transparent, aber


höchst einseitig argumentierende Jesaja-Monographie U. Beckers
hingewiesen, deren Ergebnisse kontrovers diskutiert werden: ders.,
Jesaja - von der Botschaft zum Buch (FRLANT 178), Göttingen
1997.
17 Dies hätte z.B. Kiesow davor bewahrt, die Metaphorik des Krie-
gers und des Hirten als inkongruent zu sehen (s.o. Anm. 13), denn
beides gehört in den Zusammenhang altorientalischer Herrschafts-
symbolik und kommt auch gemeinsam in den Quellen vor. Als Bei-
spiel sei nur auf die Selbstpreisungen des Herrschers im Prolog des
Codex Hammurapi verwiesen (nebeneinander finden sich hier etwa
»der von Enlil berufene Hirte« und »der Erstürmer der vier Welt-
sektoren« bzw. »der Krieger« und »der Schirm des Landes« [vgl.
TUAT I, 40-41]; im Alten Testament ist z.B. auf Ps 74 und 80 sowie
auf Ps 23 zu verweisen, in denen beide Metaphern in der Anwen-
dung auf JHWH implizit oder explizit vorkommen).
106 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

sajanischen Grundschicht erkannt18 . Dass es sich nicht


um ein isoliertes Einzelelement oder eine rhetorische
Ausschmückung der Trostbotschaft des Buches handelt,
ist in einer Hamburger Dissertation von Christina Eh-
ring eingehend begründet worden 19 . Hinter dem Pro-
log von Jes 40,1-5.9-11 mit seiner Ankündigung der
Rückkehr JHWHs (und dem Paralleltext Jes 52,7-10)
steht vielmehr eine komplexe Geschichtstheologie 20 .
Der Vorstellungszusammenhang lässt sich zum ei-
nen religionsgeschichtlich aufzeigen: Anhand einer
Reihe von babylonischen Texten, auf deren Bedeutung
für Deuterojesaja in letzter Zeit u.a. Jürgen van Oor-
schot sowie Peter Höffken aufmerksam gemacht ha-
ben21. Daneben muss man auch innerisraelitische tra-
ditionsgeschichtliche Voraussetzungen in den Blick
nehmen: Vor allem die Jerusalemer Tempeltheologie
und besonders einen ihrer bedeutendsten Texte, Jesaja
6. Denn, wie man immer wieder gesehen hat, stellt die
Tempelvision des Protojesaja einen wesentlichen Be-
zugstext gerade für den Anfang des Deuterojesaja

18 Vgl. R. Kilian, »Baut eine Straße für unseren Gott!«. Überle-


gungen zu Jes 40,3-5, in: L. Ruppert / P. Weimar/ E. Zenger (Hg.),
Künder des Wortes. Beiträge zur Theologie der Propheten (FS J.
Schreiner), Würzburg 1982, 53-60; Kratz, Kyros (s.o. Anm. 6),
148f Anm. 564; O.H. Steck, Israel und Zion. Zum Problem konzep-
tioneller Einheit und literarischer Schichtung in Deuterojesaja, in:
ders., Gottesknecht und Zion. Gesammelte Aufsätze zu Deuteroje-
saja (FAT 4), Tübingen 1992, 173-207, hier 177; Werlitz, Redaktion
(s.o. Anm. 2), 76-78.264.
19 C. Ehring, Die Rückkehr JHWHs. Traditions- und religionsge-
schichtliche Untersuchungen zu Jes 40,1-11, Jes 52,7-10 und ver-
wandten Texten (WMANT 116), Neukirchen-Vluyn 2007.
20 Dies ist eines der Hauptergebnisse der in der vorigen Anm. ge-
nannten Arbeit von Ehring.
21 J. van Oorschot, Vom altorientalischen Geschichtsherrn zum
deus creator et justificans. Zur Entwicklung der Geschichtstheolo-
gie im Raum der deuterojesajanischen Prophetien, in: ].F. Diehl / R.
Heitzenröder / M. Witte (Hg.), Einen Altar von Erde mache mir ... «
(FS D. Conrad), Waltrop 2003, 199-219; P. Höffken, Zur Marduk-
interpretation in Babylonien mit besonderer Hinsicht auf Deutero-
jesaja, BN 125 (2005) 11-23.
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 107

dar 22 . Mit Hilfe der doppelten Rückfrage nach den im-


pliziten Voraussetzungen kann so das theologische
Profil des Prologs und damit der Kernbotschaft Deute-
rojesajas präzisiert werden.
Ich möchte dies in drei Schritten skizzieren: Zunächst
sollen einige Textbeobachtungen zu ]es 40,1-5.9-11
notiert werden (II.). Anschließend folgt ein Blick auf
die religionsgeschichtlichen Bezüge aus Babylonien (III)
und zum Schluss soll anhand der Rezeption von ]es 6
in ]es 40,1-11 eine Reformulierung der Intention des
]esajaprologs versucht werden (IV).

II. Die Rückkehr JHWHs: Textbeobachtungen zum


Prolog Jesaja 40,1-11 *

Ohne die Verse 6-8 lässt sich der Prolog Deuterojesajas


in drei Abschnitte gliedern: V. 1-2, V. 3-5, V. 9-11. An
ihnen möchte ich knapp entlanggehen und einige Ge-
sichtspunkte zur Erschließung der Rückkehrthematik
und ihres doppelten Vorstellungshintergrunds benen-
nen. Ich beginne mit V. 1-2:

(1) »Tröstet, tröstet mein Volk!«, spricht euer Gott. (2) »Redet zum
Herzen Jerusalems und ruft ihr zu, dass erfüllt ist ihr Frondienst,
dass abgetragen ihre Schuld, dass sie empfangen/genommen hat
aus der Hand JHWHs Doppeltes für all ihre Übertretungen!«

Mit dem doppelten Imperativ ,·r.Jm 1r.Jm »Tröstet, trös-


tet!« beginnt der Text und stellt somit alle folgenden
inhaltlichen Entfaltungen unter dieses eine Stichwort
des Trostes. Ein auffallendes Element ist dann sogleich
der Verbalsatz □J'i11?~ 1rJ~'- Auffallend, weil die ein-
geschobene Redeeinleitung nicht wie die bekannte Bo-
tenformel mit resultativem qatal »hat euer Gott ge-
sprochen« einsetzt, sondern durch die Wahl des yiqtol
eine Unmittelbarkeit zum Ergehen des Wortes her-

22 Siehe dazu genauer unten IV.


108 »... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

stellt, gleichgültig, ob man das yiqtol iterativ oder m.E.


wahrscheinlicher ingressiv deutet: »beginnt euer Gott
(ergänze: wieder) zu sprechen! «23 . Eine solche Deutung
wird vielleicht auch durch Jes 42,14 gestützt (»ich habe
geschwiegen seit fernster Zeit, soll ich [nun weiter]
stumm sein und an mich halten?«). Schon auf syntak-
tischer Ebene wäre dann der Neubeginn aufgrund der
Tempuswahl markiert.
Die in V. 2 wie in V. 1 nicht näher benannten Adres-
saten, die über die Fähigkeit des »zu Herzen Redens«,
also des intensiven und überzeugenden Zuspruchs ver-
fügen (ist dabei an Propheten zu denken ?24), sollen Je-
rusalem direkt anreden: Ihr »Frondienst« ist »erfüllt«
(qatal), ihre »Schuld« ist abgetragen (qatal) und sie hat
dabei aus JHWHs Hand »Doppeltes« für ihre »Übertre-
tungen« empfangen (qatal). Die dreifache perfektische
Aussage blickt auf endgültig Abgeschlossenes zurück
und gibt zugleich eine äußerst knappe geschichtstheo-
logische Deutung des nun als vergangen bekannt ge-
machten Zeitraums. Der beendete Zustand wird zuerst
negativ als politisch fremdbestimmt qualifiziert (»Fron-
dienst«), sodann als Straffolge eigener Verfehlung ge-
kennzeichnet und schließlich die damit verbundene
überaus gründliche Wiedergutmachung betont (»Dop-
peltes« ist »empfangen« worden). Subjekt des Schuld-
Strafe-Zusammenhangs ist JHWH, der damit als der
Herr der Geschichte erscheint, aus dessen Hand die
Strafe gekommen war und · dessen Rede sie nun für
beendet erklärt. In dem dreifachen ki »dass, denn« liegt
dabei sicher ein steigerndes Moment. Es war immer
JHWHs hintergründiges Wirken, das die erlittene Not-

23 Funktional vergleichbare Sätze mit dem yiqtol von 1/J~ Qal fin-
den sich außer in Ps 12,6 nur noch im Jesajabuch: Jes 1,11.18; 33,10;
40,25; 41,21; 66,9. Jedesmal handelt es sich um Einschübe in eine
zitierte JHWH-Rede (vgl. dazu den Exkurs bei Ehring, Rückkehr
JHWHs [s.o. Anm. 19], 28-32).
24 So jetzt die Vermutung von Ehring (s.o. Anm. 19), 23-28.33f,

die die Sprecher-Adressaten-Struktur des Prologs einer eingehen-


den Analyse unterzogen hat.
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 109

zeit zeitlich und inhaltlich bestimmt hat: Dies soll Jeru-


salem im »Herzen«, im Organ der emotionalen Ein-
stimmung und Einsicht, nachvollziehen und anneh-
men. Die folgenden Verse Jes 40,3-5 setzen elliptisch
mit einem Partizipialsatz ein:

(3) Eine Stimme, rufend: »In der Wüste bahnt den Weg JHWHs,
ebnet in der Steppe eine (aufgeschüttete) Straße für unseren Gott!
(4) Jedes Tal soll erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen
niedrig werden! Und es soll werden das Höckrige zur Ebene und die
Felsblöcke zum weiten Tal! (5) Und es soll aufgedeckt/offenbar
werden die Herrlichkeit JHWHs, und es soll (sie) sehen alles Fleisch
insgesamt!« Fürwahr, der Mund JHWHs hat (es) geredet.

Hier geht es nach der Ankündigung der von JHWH für


beendet erklärten Not- und Strafzeit Israels um die
Umstände seiner erneuten Präsenz in der Welt. Sie
folgen der Logik einer Symbolik des Zentrums 25 : In der
Peripherie der »Wüste, Steppe« soll ein Weg, eine
Straße, gebaut werden (V. 3), die in V. 4 in kosmische
Dimensionen ausgeweitet erscheint: der Weg des kom-
menden Gottes folgt nicht den Geländeformationen,
sondern formt diese um. Alle hohen und tiefen Hin-
dernisse sollen beseitigt werden, die Straße ungehin-
dert verlaufen können. Denn ihre Zweckbestimmung
ist die »Aufdeckung« des 11JJ, der »(Licht-) Herrlich-
keit« JHWHs, die von der ganzen Schöpfung (»allem
Fleisch« V. 5) »gesehen« werden soll. Darin ist zweier-
lei impliziert: Zum einen war .JHWHs Strahlglanz of-
fenbar bisher unsichtbar und verborgen, und vom Kon-
text in V. 1f her kann dies nur bedeuten: Er war wäh-

25 Vgl. dazu im Blick auf die Jerusalemer Tempeltheologie F. Har-


tenstein, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und
der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradition (WMANT
75), Neukirchen-Vluyn 1997, 22-23, unter Bezug auf M. Eliade,
Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr,
Frankfurt a.M. 21984, 25-33. Vgl. weiter für den Alten Orient S.M.
Maul, Die altorientalische Hauptstadt - Abbild und Nabel der Welt,
in: G. Wilhelm, (Hg.), Die Orientalische Stadt. Kontinuität, Wan-
del, Bruch (CDOG 1,) Saarbrücken 1997, 109-124.
110 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

rend der Zeit des »Frondienstes« Jerusalems nicht


wahrnehmbar. Zum anderen ist seine erneute Sicht-
barkeit an keinerlei Grenzen gebunden. Schließlich ist
mit der Wahl des alten tempeltheologischen Präsenzbe-
griffs 7i::J::l auch das nicht ausdrücklich benannte Ziel
des Weges impliziert: Jerusalem als Wohnsitz JHWHs,
das Zentrum nicht nur des Landes, sondern - aufgrund
der Entsprechung zwischen Tempel und Kosmos - auch
der ganzen Welt 26 . Dies wird vollends deutlich, wenn
man den dritten Abschnitt des Prologs (V. 6-8 habe
ich, wie gesagt, ausgeklammert) mit hinzunimmt, die
Verse Jes 40,9-11:

(9) »Auf einen hohen Berg steige hinauf für dich, Freudenbotin
Zion! Erhebe mit Kraft deine Stimme, Freudenbotin Jerusalem! Er-
hebe (sie), fürchte dich nicht! Sprich zu den Städten Judas: ,Siehe,
euer Gott, (10) siehe, der Herr JHWH ! Als ein Starker kommt er,
sein Arm herrscht für ihn! Siehe, seine Beute (ist) bei ihm, sein
Lohn (ist) vor seinem Angesicht/ vor ihm! (11) Wie ein Hirte wird
er seine Herde weiden, mit seinem Arm wird er (sie) sammeln!
Lämmer - in seinem Gewandbausch wird er (sie) tragen, Säugende
- er wird (sie) führen!«<

In der Abfolge des Geschehens der Rückkehr JHWHs


zeigen diese Verse einen Ortswechsel an. Die Vorstel-
lung des Lesers wird vom in der Peripherie begonnenen
und dort schon vor der Welt sichtbaren Wiederschei-
nen der JHWH-Herrlichkeit in das Zentrum selbst ge-
lenkt: nach Jerusalem. Darauf weisen wohl der »hohe
Berg« in V. 9 und die Anrede an das wie in V. 2 als
Frau personifizierte Zion, das nun, nachdem es die
Tröstung von V. 2 erfahren hat, in der Rolle einer
Freudenbotin seine Stimme laut erheben soll. Adressa-
ten sind die umliegenden »Städte Judas«, denen die er-
neute Anwesenheit »ihres Gottes« bekannt gemacht
werden soll (9b »Siehe, euer Gott, 10 siehe der Herr

26 Siehe zu diesem Konzept einer Entsprechungslogik zwischen


Tempel und Welt in der vorexilischen Jerusalemer Tempeltheologie
in Analogie zu altorientalischen Heiligtumskonzeptionen Harten-
stein, Unzugänglichkeit (s.o. Anm. 25), 41-109.
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 111

JHWH! «) 27 . Wieder stehen die visuelle Wahrnehmung


und die Unmittelbarkeit des Geschehens betont im
Vordergrund. JHWH hat den in der Peripherie begon-
nenen Weg bis nach Jerusalem fortgesetzt. Von dort
strahlt seine Präsenz - vermittelt durch die Freuden-
botin - wieder nach außen in das Umland. Er erscheint
dabei als König in den beiden Handlungsrollen des
Kriegers und des Hirten/Beschützers. Entscheidend für
beide Funktionen ist sein »Arm«, der für ihn herrscht
und seine Herde sammelt (V. lüf). Der Akzent liegt
ganz auf der sichtbaren Königsmacht, mit der JHWH
nun wieder aktiv für die Seinen einsteht und sorgen
wird.
Die Rückkehr JHWHs vollzieht sich also nach Jes 40,1-
5.9-11 in drei Phasen: a) Auf die Ankündigung derbe-
endeten Notzeit an Jerusalem (V. 1-2) folgt b) der Auf-
trag zur Wegbereitung in der Peripherie der Wüste,
damit die ganze Welt die »Herrlichkeit« JHWHs »se-
hen« kann (V. 3-5) und schließlich ist c) die Ankunft
JHWHs im Zentrum Jerusalem im Blick, von wo aus
die Anwesenheit des Königsgottes und deren heilvolle
Auswirkungen den Tochterstädten verkündet werden
soll (V. 9-11).
Dass es sich um einen konsequenten Gesamtzusam-
menhang handelt, könnte durch einen Vergleich mit
dem Paralleltext Jes 52,7-10 weiter vertieft werden
(denn darin werden sowohl Jes 40,1-5 als auch 40,9-11
aufgenommen) 28 . Dies kann jedoch an dieser Stelle
nicht erfolgen. Stattdessen soll eine kurze Zusammen-

27 Dass damit in Jes 40,9 ausdrücklich auf Jes 6,11 mit der dort an-
gekündigten Verwüstung der Städte des Landes zurückgeblickt
wird, um die Aufhebung dieses Zustands anzukündigen, hat K.
Halter, Zur Funktion der Städte Judas in Jesaja XL,9, VT 46 (1996)
119-121 herausgearbeitet (zu weiteren Rückbezügen von Jes 40,1-
11 auf Jes 6 s.u. IV).
28 Diesen Vergleich hat jetzt wiederum Ehring, Rückkehr JHWHs

(s.o. Anm. 19), 19-95 sehr genau durchgeführt und so ein Ver-
ständnis von Jes 40, 1-5 und 9-11 als eines literarisch einheitlichen
Textzusammenhangs weiter wahrscheinlich machen können.
112 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

fassung zu den wichtigsten religionsgeschichtlichen


Parallelen für die Vorstellung von der Rückkehr
JHWHs gegeben werden, wie sie in babylonischen Tex-
ten belegt ist.

III. Die Rückkehr Marduks und die neue Heilszeit in


babylonischer Tradition

Wie zuletzt Matthias Albani, Jürgen van Oorschot und


Peter Höffken gezeigt haben, lässt sich in den deute-
rojesajanischen Texten an vielen Stellen eine direkte
Auseinandersetzung mit babylonischen Traditionen,
insbesondere der Marduk-Theologie, aufzeigen 29 . Im
Blick auf die Grundschicht von Jes 40-55 legt dies,
wenn nicht - m.E. wahrscheinlich - eine Lokalisierung
in Babylonien, so doch zumindest eine genaue Kennt-
nis der dortigen Verhältnisse sehr nahe. Das gewinnt
noch an Wahrscheinlichkeit, wenn man in babyloni-
schen Quellen nach Parallelen für das in Jes 40,1-5.9-
11 herausgearbeitete Motiv einer Rückkehr eines Got-
tes nach einer langen Zeit der Abwesenheit bzw. Ver-
borgenheit sucht. Man stößt dann auf einen traditions-
geschichtlichen Zusammenhang einschlägiger Texte,
von den Inschriften Nabonids, des letzten babyloni-
schen Königs (Mitte 6. Jh. v.Chr.), über in ihnen ent-
haltene Bezüge auf die Babylon-Inschriften Asarhad-
dons (um 680 v.Chr.), Anspielungen auf das Erra-Epos
(wohl auch 7. Jh. v.Chr.) bis hin zu Zitaten aus Texten
Nebukadnezars I. (12. Jh. v.Chr.). Letztere sind nur in
spätassyrischen bzw. neubabylonischen Abschriften
erhalten, sodass man insgesamt einen stattlichen Quel-
lenbestand babylonischer Schreibertradition zur Zeit

29 M. Albani, Der eine Gott und die himmlischen Heerscharen.


Zur Begründung des Monotheismus bei Deuterojesaja im Horizont
der Astralisierung des Gottesverständnisses im Alten Orient (ABC
1), Leipzig 2000; van Oorschot, Geschichtsherr (s.o. Anm. 21);
Höffken, Mardukinterpretation (s.o. Anm. 21).
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 113

Nabonids überblicken kann 30 . Mit ihm verbindet sich


eine theologische Deutung katastrophaler Ereignisse
der eigenen Geschichte. Sie folgt einem Grundmuster,
das wie bei den Omina aus der Wahrnehmung
gleichartiger Vorgänge auf gemeinsame Ursachen zu-
rückschließt.
Wenn Feinde in das eigene Land eindringen, die T em -
pel zerstören und die »Götter« in Gestalt ihrer Kult-
statuen abtransportieren, so gilt dies als ein durch den
Hauptgott Marduk selbst in Gang gesetzter Vorgang 31 .
Den Grund dafür sucht man in schuldhaftem Verhal-
ten der Bevölkerung (neben Verwahrlosung und Ver-
letzung der sozialen Gerechtigkeit findet sich stereotyp
die Verschwörung mit den Elamern). Nur im vielleicht
unter dem Eindruck der Zerstörung Babylons 689
v.Chr. entstandenen Erra-Epos ist die Deutung anders,

30 Erstmals hat nun Ehring, Rückkehr JHWHs, 96-163, ausgehend


von einer Analyse der Nabonidinschriften, den traditionsgeschicht-
lichen Zusammenhang der in diesen aufgenommenen und teils
wörtlich zitierten Texte einer babylonischen Geschichtstheologie
genau nachgezeichnet und in der Perspektive eines religionsge-
schichtlichen Vergleichs mit Jes 40,1-11 und Jes 52,7-10 für die alt-
testamentliche Exegese fruchtbar gemacht.
31 Dass man im Alten Orient katastrophale Ereignisse der eigenen
Geschichte nicht selten so gedeutet hat, dass das Strafhandeln der
eigenen Gottheiten dafür verantwortlich war, ist der alttestament-
lichen Forschung spätestens seit der Untersuchung von Albrektson
geläufig: B. Albrektson, History and the Gods. An Essay on the Idea
of Historical Events as Divine Manifestations in the Ancient Near
East and in Israel (CB.OT 1), Lund 1967. Vgl. weiter zu entspre-
chenden Geschichtskonzeptionen die Beiträge in: Histoire et con-
science historique dans !es civilisations du Proche-Orient Ancien,
Actes du Colloque de Cartigny 1986 (Les Cahiers du CEPOA 5),
Leuven 1989;]. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erin-
nerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München
1990, bes. 229-258 (»Die Geburt der Geschichte aus dem Geist des
Rechts«). - Was jedoch die vorliegende Konzeption einer Ge-
schichtstheologie aus babylonischer Perspektive im 1. Jt. v.Chr. be-
sonders heraushebt, ist der hermeneutische Blick auf langzeitige
Perioden der Zu- und Abwendung des Gottes Marduk, wie er im
Rückgriff auf ältere, ihrerseits bereits geschichtstheologisch deu-
tende Texte gewonnen wird (s.u. IV.).
114 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

indem dieser Text die Notzeit auf der Erde als Folge ei-
ner relativen Machtlosigkeit Marduks gegenüber dem
brutalen Ungestüm des Gottes der Unterwelt, Erra,
darstellt 32 . Die anderen Texte folgen alle dem Schema
a) des Zorns Marduks und seiner anschließenden Ab-
wendung von Babylon, worauf b) die Katastrophe der
Eroberung des Landes mit der Zerstörung der Heilig-
tümer und Deportation der Götterstatuen folgt. Ir-
gendwann beruhigt sich c) der Zorn des Gottes und er
wendet sich Babylon wieder zu, was d) in der Erwäh-
lung eines guten Königs und dessen Maßnahmen zur
Restitution der Kulte und Sozialordnungen gipfelt. Mit
der sichtbaren Rückkehr des wiederhergestellten Kult-
bilds unter dem Jubel der Bevölkerung endet das Sche-
ma. Die kosmische Ordnung ist wieder intakt, die Welt
erblüht und man bringt Gaben. Am nächsten an Jes 40,
1-5.9-11 steht dabei einer der ältesten von den Schrei-
bern Nabonids rezipierten Texte der Tradition (RIMB
2, B 2.4.9), in dem die Rückkehr Marduks (bzw. seiner
Statue) aus Elam geschildert wird (Z.13-20) 33 :

32 Vgl. zur Datierung des Erra-Epos in das 7. Jh. v.Chr. und zu


dessen Deutung als Reaktion auf die Zerstörung Babylons durch
Sanherib 689 v.Chr. jetzt S. Franke, Der Zorn Marduks, Erras, San-
heribs und der Frieden Asarhaddons? Überlegungen zu Datierung
und Funktion von »Erra und Isum«, Manuskript eines Vortrags-
im Rahmen der 52e Rencontre Assyriologique Internationale,
Münster, 17.-21. Juli 2006. Zur Möglichkeit einer Ansetzung des
Erra-Epos in der Sargonidenzeit siehe auch C. Uehlinger, Weltreich
und »eine Rede«. Eine neue Deutung der sogenannten Turmbau-
erzählung (Gen 11,1-9) (OBO 101), Fribourg/Göttingen 1990, 525-
527.
33 RIMB 2, B 2.4.9 (Nebukadnezar I., 1125-1104 v.Chr.), Z.13-20;
zitiert nach G. Frame, The Royal Inscriptions of Mesopotamia. Ba-
bylonian Periods II. Rulers of Babylonia. From the Second Dynasty
of Isin to the End of Assyrian Domination (1157-612 B.C.), Toron-
to/Buffalo/London 1995, 29-30 (Hervorhebung FH); vgl. Ehring,
Rückkehr JHWHs (s.o. Anm. 19), 135-154 (»Die literarische Verar-
beitung des Verlustes der Mardukstatue an die Elamer und ihre
Rückeroberung durch Nebukadnezar I.«), bes. 143ff (zum Vergleich
von RIMB 2, B 2.4.9 mit Jes 40,1-11 * und Jes 52,7-10).
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 115

»(13) Having made up his mind, going by (way of) city (and)
steppe, when he went out from the wickedness in Elam, he took a
road of jubilation, a path of rejoicing, (14) a route (indicating his)
attention (to) and acceptance (of my prayers), unto Suanna (Baby-
lon). (16) The people of the land regarded his lofty, fitting, majestic,
bright (and) joyful appearance [la-an~su e-la-a su -su-mu e-tel-la
na-par-da-a su-lu-la]; all of them paid attention to him. (18) The
lord entered and took up his peaceful abode. (20) Kasulim (,Gate of
Radiance<), his lordly shrine, became bright, filled with rejoicing.«

Hier finden sich deutliche Parallelen zu ]es 40,3-5 (der


Weg in der Wüste, die visuelle Wahrnehmung der
glanzvollen Erscheinung [länum] des Gottes durch die
Bevölkerung des Landes) sowie zu ]es 40,9-11 und
52,7-10 (der Eintritt in seine Stadt und seinen Wohn-
sitz im Tempel, der von Jubel begleitet wird). Die spe-
zifische Differenz liegt in Jes 40,lff vor allem in der
Verwendung des tempeltheologischen Begriffs 17:l:J,
der nicht auf ein Kultbild bezogen war, sondern zur
mentalen Ikonographie JHWHs gehörte, welche trotz
der Kultbildlosigkeit des Jerusalemer Heiligtums eine
konkret anschauliche Vorstellung vom » Lichtglanz«
JHWHs vermittelte (vgl. auch Ez 8-11; 43,5) 34 .
Für die Parallelen zur Geschichtsdeutung von ]es 40,
1-2 ist der Blick auf einen weiteren Text, die große
Inschrift der Babylonstele (nach dem 13. Jahr Nabo-
nids) aufschlussreich. Sie beginnt mit einem Rückblick
34 Zum 11::i::i JHWHs in der Jerusalemer Tempeltheologie siehe
T.N.D. Mettinger, The Dethronement of Sabaoth. Studies in the
Shem and Kabod Theologies (CB.OT 18), Lund 1982; Hartenstein,
Unzugänglichkeit (s.o. Anm. 25), 69-109. - Zur umstrittenen Frage
der Repräsentation der »Gestalt« JHWHs im Jerusalemer Tempel-
kult in vor- und nach-exilischer Zeit vgl. T.N.D. Mettinger, No Gra-
ven Image? lsraelite Aniconism in Its Ancient Near Eastern Con-
text (CB.OT 42), Stockholm 1995; 0. Keel, Warum im Jerusalemer
Tempel kein anthropomorphes Kuhbild gestanden haben dürfte, in:
G. Boehm (Hg.), Homo Pictor (Colloquium Rauricum 7), Mün-
chen/Leipzig 2001, 244-281; F. Hartenstein, Die unvergleichliche
»Gestalt« JHWHs. Israels Geschichte mit den Bildern im Licht von
Deuteronomium 4,1-40, in: B. ]anowski / N. Zchomelidse (Hg.),
Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Zur Korrelation von Text und
Bild im Wirkungskreis der Bibel (AGBW 3), Stuttgart 2003, 49-77.
116 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

auf die Zerstörung Babyions durch Sanherib 689 v.


Chr. 35 :

»I (l') Böses [sa]nn, (2') der die Menschen [fort]führen wollte [=


Sanherib], sein Herz (3') sprach Verfehlung, (4') hinsichtlich der
Menschen des La[ndes Akkad] (5') [faßte er ke]in Erbarmen, (6')
[zu]m Bö[sen] (7') [machte er sich] an Bäbil [hera]n, (8') verwüstete
(9') seine Heiligtümer, (10') machte unkenntlich (11 ') die Grund-
risse, (12') die Kulte (13') ruinierte er, (14') die Hand des Fürsten
Marduk (15') ergriff er und (16') führte ihn (17') hinein nach
Assur, (18') gemäß dem Zorne des Gottes (19') behandelte er das
Land. (20') Nicht löste (21') seinen [G]roll (22') der Fürst Marduk
(23'ff) (und) schlug für 21 Jahre in Assu~ seine Wohnung auf. (26')
Die Tage [wu]rden voll ([i]m-lu-u U4mes), (27') es kam heran der
Termin, (28') da kam zur Ruhe (29') der Zorn (30') des Königs der
Götter, des Herrn der Herren, (31') Esangils (32') und Babils (33')
ward er eingedenk, (34') der Wohnung seiner Herrschaft - (35')
den König von Subartu (aber) [= Sanherib], (36') der durch den
Zorn Marduks (37') die Zerstörung (38') des Landes herbeigeführt
hatte, (39'ff) schlug (sein) Sohn, der Sproß seines Leibes [= Asar-
haddon], mit der Waffe nieder.«

Nabonid bezieht sich hier vor allem auf die Babylon-


Inschriften Asarhaddons zurück, die kurz nach 681
v.Chr. abgefasst wurden. Diese bieten eine Deutung
der (zumindest teilweisen) Zerstörung und Entvölke-
rung Babyions durch Sanherib im Jahre 689 v.Chr. 36 :

35 Babylon-Stele I, Z. 1'-41'; zitiert nach H. Schaudig, Die In-


schriften Nabonids von Babylon und Kyros' des Großen samt den
in ihrem Umfeld entstandenen Tendenzschriften. Textausgabe und
Grammatik (AOAT 256), Münster 2001, 523 (Hervorhebung und
Erläuterung in eckigen Klammern FH). Schaudig datiert die In-
schrift - anders als P.-A. Beaulieu, The Reign of Nabonidus, King
of Babylon, 556-539 B.C. (YNER 10), New Haven / London 1989,
20-22.42 (Nr. 1) - nicht in das 1. Jahr des Herrschers, sondern
nach dessen 13. Jahr und damit in die Zeit der Wiederherstellung
des ElJulhul (des Sin-Tempels in Harran), auf die die Inschrift ab-
zielt (ebd., 515; s.u. Anm. 40).
36 Zu den Babylon-Inschriften, ihrer unterschiedlichen Perspektive
Ge nachdem, ob es sich um für Babylonien oder Assyrien gedachte
Ausgaben handelt) und zur Babylon-Politik Asarhaddons im Gan-
zen vgl. ].A. Brinkman, Through a Glass Darkly. Esarhaddon's Re-
trospects on the Downfall of Babylon, JAOS 103 (1983) 35-42;
»... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 117

Weil die Bewohner Babylons »sündigten« und die gött-


lichen Ordnungen missachteten, »plante« Marduk in
seinem Zorn die Vernichtung Babylons und führte die-
se durch eine Flut des Euphrat herbei (wie es Sanherib
tatsächlich getan hatte) 37 . Nachdem sich Marduks Ge-
müt besänftigt und er die Frist der Strafe auf den
Schicksalstafeln verkürzt hatte, erwählte er Asarhad-
don als den König, der den Wiederaufbau der Stadt
und die Neugründung ihrer Tempel durchführen sollte.
Aufschlussreich ist die Schilderung der Besänftigung
seines Zorns und der Verkürzung der Strafzeit auf Fas-
sung B der Babylon-Inschriften Asarhaddons, auf die
die Nabonid-Inschrift anspielt38 :

»(19) Bis die Tage erfüllt sein würden (a-di umeme, im-[lu]), dass
das Herz des grossen Herrn Marduk sich beruhigen und er sich mit
dem Lande, dem er gezürnt, versöhnen würde, (20) sollten 70 Jahre
verstreichen; [doch] schrieb [Marduk alsbald: »11] Jahre«, er fasste
Erbarmen und sprach: ,Friede!<.«

Zwischen der hier durch die Schreiber Asarhaddons ge-


schilderten ca. 150 Jahre früheren Abfolge von Zorn

ders., Prelude to Empire. Babylonian Society and Politics, 747-626


B.C. (OPBF 7), Philadelphia 1984, 67-84; G. Frame, Babylonia 689-
627 B.C. A Political History, Istanbul 1992, 64-101; B.N. Porter,
Images, Power, and Politics. Figurative Aspects of Esarhaddon's
Babylonian Policy, Philadelphia 1993.
37 Zur möglichen Bezugnahme der (redaktionellen) »Denkschrift«
Jes 6-8* auf die Babyloninschriften im 7. Jh. v.Chr. (Manassezeit)
vgl. F. Hartenstein, JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jes
8,6-8). Traditions- und religionsgeschichtliche Beobachtungen zur
»Denkschrift;, Jes 6-8*, in: F. Hartenstein /]. Krispenz / A. Schart
(Hg.), Schriftprophetie (FS J. Jeremias), Neukirchen-Vluyn 2004,
83-102 (= oben S. 1-30).
38 Babylon-Inschrift, Episode 10, Fassung b, Rezension B, Z.19-20;
zitiert nach R. Borger, Die Inschriften Asarhaddons, König von As-
syrien (AfO 9), Graz 1956, 15. - Zum Motiv der 70 Jahre der Zeit
des Zorns für Babel, das in Jer 25,lüf und in Jer 29,10 aufgenom-
men wurde, vgl. M. Albani, Die 70-Jahr-Dauer des babylonischen
Exils (Jer 25,llf; 29,10) und die Babylon-Inschrift Asarhaddons
(Mitteilungen und Beiträge der Forschungsstelle Judentum an der
Theologischen Fakultät Leipzig 17), 1999, 4-20.
118 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

und Versöhnung Marduks und der eigenen Regierungs-


zeit stellt die Babylon-Stele Nabonids eine strukturelle
Entsprechung her: Die Wiederzuwendung und Rück-
kehr Marduks im 7. Jh. erscheint als Vorbild für den
Abschluss einer gleichartigen Sequenz im 6. Jh. v.Chr.
Nabonid sieht sich wie Asarhaddon zur Wiederher-
stellung der Heiligtümer erwählt39 . Die Zerstörung des
Haupttempels Babylons, Esagil, durch Sanherib 689
v.Chr. wird von ihm mit derjenigen des Egulhul (des
Sin-Tempels in Harran) durch die Babylonier 610
v.Chr. (in der Inschrift auf die Meder geschoben!) in
Analogie gesetzt40 . Die Abfolge von Unheils- und
Heilszeit gilt ihm dabei nicht nur als durch die Götter
verursacht, sondern als von diesen in ihrer Dauer vor-
herbestimmt. Die Zeiten der zornigen Abwendung wa-
ren stets begrenzt und endeten mit dem »Erfülltwerden
der Tage«, das durch Omen offenbar wurde: »Ein wei-
teres Kennzeichen der Inschriften Nabonids ist das The-
ma adannu der >(eingetroffene) Termin<, welcher oft in
einer Phrase wie iksudamma adannu imlu ümü >es kam
heran der Termin, die Tage wurden voll< erscheint. Die-
sem Ausdruck liegt die Vorstellung zugrunde, für jedes
Geschehen gebe es einen von den Göttern bestimmten
Zeitpunkt.« 41 Es legt sich nahe, hierin eine direkte Par-
allele zu Jesaja 40,2 zu sehen (»Dass erfüllt [i1~~rJ] ist
ihr Frondienst, dass abgetragen ihre Schuld, dass sie
empfangen/ genommen hat aus der Hand JHWHs Dop-
peltes für all ihre Übertretungen! «).
Neben dem babylonischen Einfluss ist aber für die be-
sondere Form dieser Geschichtsdeutung in Jes 40,1-11 *

39 Babylon-Stele, Kol. X-XI (siehe die nächste Anm.).


40 Schaudig, Inschriften (s.o. Anm. 35), 528, Kol. X, Z. 12'-21':
»(12') Betreffs ijarrans, (genauer gesagt,) El}ulhuls, (13') welches
54 Jahre darniederlag, (14'f) (dessen) Heiligtümer durch die Zerstö-
rung durch den Meder-Haufen verwüstet worden waren (16'f)
(und) dem das Zeichen der Götter nun herangekommen war, (18')
der Zeitpunkt der Versöhnung, (19') (nach) 54 Jahre(n), (20') wenn
Sfo (21') an seinen Ort zurückgekehrt sein würde - [... ].«
41 Schaudig, Inschriften, 23 (Hervorhebung FH).
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 119

auch der Rückgriff auf schriftprophetische Traditionen


der ]esajaüberlieferung verantwortlich: Jesaja 6 wird
dadurch möglicherweise für den Deuterojesajaprolog
zu einem ähnlichen Paradigma, wie es für Nabonid die
ältere babylonische Geschichtstheologie gewesen ist.

IV. Das Ende der Verborgenheit JHWHs: Jesaja 40,


1-11 *vordem Hintergrund von Jesaja 6

Dass in Jes 40,1-11 * Jes 6 als ein wichtiger Bezugstext


im Hintergrund steht, ist in der Forschung immer
wieder gesehen worden 42 . Mit der Änderung der me-
thodischen Zugänge der Prophetenforschung hat sich
auch die Bewertung der entsprechenden Textbeobach-
tungen verschoben. In erster Linie hat man auf die Re-
deeinleitungen in Jes 40,3 (~71p '?ip »eine Stimme
ruft«) und Jes 40,6 (~7p~ i1rJ 7rJ~1 ~7p 77.J~ '?ip »ei-
ne Stimme sagt: Rufe!« Und ich sagte: Was soll ich
rufen?«) verwiesen. Denn diese klingen deutlich an
~71pi1 '?iprJ (»vor der Stimme des Rufers«) in Jes 6,4
und 77.J~ 'J7~ ,,p-n~ t'rJto~, (»Und ich hörte die Stim-
me des Herrn, die sagte«) in Jes 6,8 an. Aufgrund der
in der Abfolge beider Texte identischen Partizipien und
Verben legt sich hier eine Bezugnahme tatsächlich na-
he. Im Licht eines redaktionsgeschichtlichen Modells,
das V. 6-8 einem späteren Stadium der Buchgenese

42 Vgl. dazu aus jüngerer Zeit besonders R. Rendtorff, Jesaja 6 im


Rahmen der Komposition des Jesajabuches, in: Vermeylen, Book
(s.o. Anm. 14), 73-82, bes. 79ff; R. Albertz, Das Deuterojesaja-Buch
als Fortschreibung der Jesaja-Prophetie, in: E. Blum I C. Macholz
(Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS
R. Rendtorff), Neukirchen-Vluyn 1990, 241-256, bes. 244-248;
C.R. Seitz, The Divine Council. Temporal Transition and New
Prophecy in the Book of Isaiah, JBL 109 (1990) 229-247, bes. 238-
243; H.G.M. Williamson, The Book Called Isaiah. Deutero-Isaiah's
Role in Composition and Redaction, Oxford 1994, 37-38. Einen
knappen Überblick zu den Entsprechungen zwischen Jes 40,1-11
und Jes 6 gibt auch Werlitz, Redaktion (s.o. Anm. 2), 102-103.325-
327 (zu Jes 6 und Jes 40,6-8).
120 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

zuschreibt, liegt diese aber auf einer Ebene, die über-


greifende Buchzusammenhänge der Jesajaschrift her-
stellt (vgl. dazu etwa auch die noch späteren Bezugnah-
men auf Jes 6 im sog. tritojesajanischen Bereich in Jes
57,15 und 65-66 43). Entgegen der Ansicht, explizite Be-
züge zu Jes 6 fänden sich überwiegend in Jes 40,6-8 und
den damit redaktionell verbundenen Redeeinleitungen
in V. 3a und 6a, fallen aber auch in ]es 40,1-5.9-11 ei-
ne Reihe von weiteren möglichen Anspielungen auf die
Jesajavision auf. Diese wurden bisher zwar teilweise
notiert, aber kaum konzeptionell ausgewertet44 . Ich
möchte hierzu nur auf Jes 40,1-2 genauer eingehen.
Um die Bedeutung der Bezüge erfassen zu können, ist
ein erinnernder Blick auf Jes 6 notwendig.
Die berühmte Tempelvision gehörte wohl einmal - so
immer noch die mehrheitliche Forschungsmeinung -
zum Kern eines ältesten Jesajabuches aus dem ausge-
henden 8. bzw. beginnenden 7. Jh. v.Chr. 45 . Den An-
stoß für die schriftliche Aufzeichnung der Botschaft
des Jerusalemer Propheten Jesaja hätte dabei die Über-
einstimmung von dessen Gerichtsankündigung im Na-
men JHWHs mit den geschichtlichen Ereignissen des
Untergangs des Nordreichs durch die Assyrer im Jahre
722 v.Chr. und der Belagerung Jerusalems durch San-
herib 701 v.Chr. gegeben (vielleicht wurde auch der
Tod des Königs Ussia als ein solches Unheilszeichen ge-
wertet [Jes 6,1]):

43 Zur Rezeption von Jes 6 in Jes 57,14ff vgl. O.H. Steck, Studien
zu Tritojesaja (BZAW 203), Berlin/ New York 1991, 30.172-173.
198;]. Gärtner, Jesaja 66 und Sacharja 14 als Summe der Prophetie.
Eine traditions- und redaktionsgeschichtliche Untersuchung zum
Abschluss des Jesaja- und des Zwölfprophetenbuches (WMANT
114), Neukirchen-Vluyn 2006, 244-255.
44 Vgl. dazu v.a. Albertz, Deuterojesaja-Buch (s.o. Anm. 42).
45 Als Orientierung über den gegenwärtigen Stand der Jesaja-For-
schung vgl. etwa M. Köckert / U. Becker /]. Barthel, Das Problem
des historischen Jesaja, in: I. Fischer/ K. Schmid/ H.G.M. William-
son (Hg.), Prophetie in Israel (Altes Testament und Modeme 11),
Münster 2003, 105-135; Höffken, Jesaja (s.o. Anm. 2).
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 121

(1) Im Todesjahr des Königs Ussia sah ich den Herrn, sitzend auf
einem hohen und erhabenen Thron, und seine [sc. seines Gewan-
des] Säume füllten den Tempel / die Tempelhalle. (2) Seraphim
standen über ihm [... ] (3) und einer rief dem anderen zu und sprach:
»Heilig, heilig, heilig ist JHWH Zebaoth, die Fülle der ganzen Erde
ist seine Herrlichkeit.« (4) Da erzitterten die Zapfen der (Unter-)
Schwellen vor der Stimme des Rufers, und das Haus füllte sich mit
Rauch. (5) Da rief ich: »Weh mir, denn ich bin vernichtet, denn ein
Mann unreiner Lippen bin ich, und inmitten eines Volkes unreiner
Lippen wohne ich, denn den König JHWH Zebaoth haben meine
Augen gesehen.«

In meiner Dissertation von 1997 hatte ich versucht, die-


se erste Szene der Vision in Jes 6,1-4(5) als geprägt von
einer unheilvollen Symbolik der Verbergung JHWHs
im »undurchdringlichen Brandrauch« (V. 4) zu verste-
hen, der auf die Verödung und Zerstörung des Landes
in V. 11 vorausweist 46 . In V. 11 heißt es:

(11) Da sprach ich: »Wie lange, Herr?« Und er antwortete: »Bis


dass öde liegen Städte - ohne Einwohner, und Häuser - ohne Men-
schen, und der Ackerboden verwüstet wird zur Ödnis.«

Dass in Jes 6,3 und 4 und in Jes 6,11 ein fester kulturel-
ler Vorstellungszusammenhang rezipiert wurde, der
religionsgeschichtlich aus kleinasiatisch-nordsyrischer
Tradition vermittelt sein dürfte (»Mythos vom ver-
schwundenen Gott«), zeigt das Motiv des den Tempel
erfüllenden Rauchs (Jes 6,4) ebenso wie die Topik der
damit verbundenen Notzeit . (semantische Opposition
von »Fülle« [~~l'J Jes 6,3] und »Ödnis« [i11'Jl'JiD Jes 6,
11])47 . Dass sich eine Gottheit im Zorn über die Men-
schen zurückzieht und dies kosmisches Unheil nach
sich zieht, gehörte insofern bereits zu den alten vorexi-
lischen Voraussetzungen von Jes 6 wie von Jes 40 48 .

46 Hartenstein, Unzugänglichkeit (s.o. Anm. 25).


47 Hartenstein, Unzugänglichkeit, 136-182 mit 183 (Schaubild
zu den entsprechenden Gegensätzen in Jes 6,1-11 [Licht/Leben/Lo-
ben:: Dunkelheit/Tod/Klage]).
48 Vgl. dazu auch das oben Anm. 31 Gesagte (im Fall der Rezep-
tion von Jes 6 in Jes 40,1-11 handelt es sich aber um einen speziel-
122 » ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

Hätten König und Volk darauf vermutlich normaler-


weise mit dem Trauerritual des □ 1::t »Fastens« reagiert,
das darauf zielte, JHWH wieder zum Einlenken zu be-
wegen49, so bedient sich Jes 6 des Vorstellungszusam-
menhangs, um eine auf unbestimmte Zeit andauernde
Notzeit anzukündigen (vgl. auch das Kolophon der
Textkomposition Jes 6-8 in Jes 8,17: »Und ich werde
harren auf JHWH, der sein Angesicht verbirgt [Ptz. !]
vor dem Haus Jakob« 50). Einzig der Prophet selbst, der
visionär im Thronsaal JHWHs an dessen Ratschluss
teilhat, wird durch einen rituellen Reinigungsvorgang
von der Schuldsphäre befreit, in der er sich zusammen
mit dem ganzen Volk befindet (V. 5 und V. 6-7) 51 :

(6) Da flog zu mir einer von den Seraphim, in seiner Hand eine
Glühkohle - mit einer Zange hatte er sie vom Altar genommen -
(7) und er ließ [sie] meinen Mund berühren und sagte [dazu]: »Sie-
he, dies hat deine Lippen berührt, und so ist weggewendet deine
Schuld, und deine Verfehlung wird gesühnt.«

Auffälligerweise ist es neben Jes 6,5 vor allem diese


zweite Szene der Jesajavision, auf die der Prolog in Jes
40,2 anspielt: Der Vorgang der Reinigung von Schuld
und damit verbunden die Restitution des Propheten als
eines Menschen, der mit Gott in Kontakt treten kann.
Ich notiere die wichtigsten terminologischen Gemein -
samkeiten (weitere könnten genannt werden 52):

Jen, auf der aktuellen Aufnahmen älterer schriftlicher Quellen be-


ruhenden Fall einer solchen geschichtstheologischen Vorstellung,
s.u.).
49 Vgl. dazu T. Podella, Söm-Fasten. Kollektive Trauer um den
verborgenen Gott im Alten Testament (AOAT 224), Kevelaer/Neu-
kirchen-Vluyn 1989.
50 Vgl. zu Jes 8,16-18 im Sinne eines altorientalischen »Kolo-
phons« zum Abschluss eines Textzusammenhangs C. Hardmeier,
Verkündigung und Schrift bei Jesaja. Zur Entstehung der Schrift-
prophetie als Oppositionsliteratur im alten Israel, ThGI 73 (1983)
119-34, bes. 125.
51 Vgl. Hartenstein, Unzugänglichkeit, 196-204.
52 Vgl. z.B. die Kontrastierung zwischen dem durch JHWHs Pro-
pheten verhinderten »Sehen« und »Hören« des Volkes in Jes 6,9f
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 123

Jes 6,5: dreifaches Jes 40,2: dreifaches 1


i11i1' 7,oi!-n~ 'J i!~?o 'J
'J' .iJ ,~, (vgl. Jes 40,5: i1~1 11JJ
durch »alles Fleisch«)

Jes 6,6f:
□' ?!lJ i11i1'

a) Als erstes fällt die etwa auch von Leo Krinetzki no-
tierte stilistische Parallele des dreifach steigernden kf
aus Jes 6,5 in Jes 40,2 auf53 .
b) Zweitens entspricht dem unheilvollen ,>Sehen« des
»Königs JHWH Zebaoth« durch den Propheten in
Jes 6,5 die Erfüllung des Zabah-Dienstes Jerusalems
(»Frondienst«) in Jes 40,2 und das anschließende er-
neute »Sehen« JHWHs, jetzt durch »alles Fleisch« (Jes
40,5). Hintergründig erscheint so rm~:nt i11i1~ aus Jes 6
als der Bewirker der Notzeit der politischen Fremdbe-
stimmung (i1~:JY) nach Jes 40,2.
c) Drittens und am gewichtigsten entspricht der Reini-
gung und Restitution des Propheten in ]es 6,7 die im
Rückblick in ]es 40,2 festgestellte »Abtragung« der
»Schuld« Israels 54 . Bemerkenswert ist dabei neben der
Wiederaufnahme der beiden Begriffe für die Sünde in
der gleichen Reihenfolge wie in Jes 6 die Umdeutung
des durch den Seraphen vorgenommenen Reinigungs-
ritus: Aus dem mit einer Glühkohle durchgeführten
»Berühren der Lippen« des Propheten in ]es 6 wird of-

(Verstockungsauftrag) und dem erneuten »Sehen« und »Hören« in


Jes 40,lff. Auch das »zu Herzen reden« in Jes 40,1 hat dann sein
Gegenstück im zuvor durch die Verstockung unmöglich gemachten
»Begreifen des Herzens« nach Jes 6,10.
53 L. Krinetzki, Zur Stilistik von Jes 40,1-8*, BZ NF 16 (1972) 54-

69, bes. 58-59.


54 Siehe zum Bezug auf die Sündenbegriffe, nicht aber auf den
Entsündigungsvorgang am Propheten, bereits Albertz, Deuteroje-
saja-Buch (s.o. Anm. 42), 246; Williamson, Book (s.o. Anm. 42), 38.
124 »... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2)

fenbar die in der Geschichte erfolgte »Reinigung« Isra-


els. Sie, deren Vollständigkeit Jes 40,2 so betont her-
vorhebt (»Zwiefältiges«), hat das Volk »aus der Hand«
JHWHs »genommen/empfangen«, wie der Seraph die
Glühkohle »mit seiner Hand« vom Altar »genommen«
hatte (Wiederaufnahme von np'? und 1'). Man hätte es
dann mit der Vorstellung einer Unheilsgeschichte Isra-
els als Läuterung zu tun, die den rite de passage, mit
dem zunächst allein der Prophet nach Jes 6,6-7 wieder
mit JHWH in Kontakt getreten war, auf dessen Volk
ausweitet (Jes 40,2). Damit wäre das Ende der langzei-
tigen Unterbrechung des heilvollen Gotteskontakts
auch im Sinne einer erneuten (kultischen) Zugänglich-
keit JHWHs angezeigt (vgl. hierzu eventuell auch die
Verwendung des Verbs i1Y1 Nif'al in Jes 40,2).
Erst mit dem erneuten Redebeginn JHWHs in Jes 40,
1 ist demnach die mit ]es 6 eingeleitete unheilvolle
Epoche der zornigen Abwendung und Verborgenheit
JHWHs wieder aufgehoben. Und wie Jes 6 eine Deu-
tung zeitgeschichtlicher Ereignisse in der Perspektive
JHWHs bot und - so denke ich - zusammen mit Jes
7-8* in der ersten Hälfte des 7. Jh.s v.Chr. zu einem
schriftprophetischen Dokument der bleibenden Ver-
borgenheit JHWHs wurde 55, so scheint die Grund-
schicht Deuterojesajas daran anzuknüpfen, wie es auch
die Schreiber Nabonids mit den älteren Texten von
der zornigen Abwesenheit Marduks taten.
Eine solche schriftprophetische Geschichtshermeneutik
wurde aber nicht erst durch den Kulturkontakt mit Ba-
bylon angeregt. Sie hatte in der Archivierung der Text-
dokumente vom verborgenen Gott nach 722 und 701
v.Chr. einen langzeitigen Vorläufer in Israel56 . Der
hermeneutische Prozess war insofern im 6. Jh. v.Chr.
mit den Deuterojesaja zeitgleichen babylonischen Kon-
zeptionen kompatibel. Er unterschied sich aber auch
charakteristisch von ihnen. Das zeigt sich in der »meta-

55 Vgl. die weiteren Beiträge des vorliegenden Bandes.


56 Vgl. dazu auch oben S. VII-XIV (Vorwort).
» ... dass erfüllt ist ihr Frondienst (Jesaja 40,2) 125

historischen« (Klaus Koch 57) bzw. »buchprophetisch er-


schlossenen Zeitorientierung« (Odil Hannes Steck58)
der genannten innerprophetischen Bezugnahmen. Die
Schriftprophetie Israels, die als punktuell bewahrheite-
te oppositionelle Unheilsprophetie begann, wurde erst
ab dem Exil auf breiter Front erklärungskräftig. Anders
als in Assyrien und Babylonien, wo die Schreiber im
Dienste der Herrscherlegitimation den Regierungsan-
tritt der Könige als den Beginn der gottgewollten Heils-
zeit herausstellten, steht hinter dem großbogig wahr-
genommenen Geschehen von Jes 6 zu Jes 40 »Jahwe als
der wahre Autor« 59 .
Es ist dann weniger die universale Geschichtsmacht des
israelitischen Gottes als solche, sondern die unver-
wechselbare Weise, wie dieser sie seinem Volk vermit-
telt, die hier die Eigenart Israels in seinem altorientali-
schen Kontext ausmacht. Die Rückkehr JHWHs und
die »Erfüllung« des »Frondienstes« nach Jes 40,1-11 *
sind im Licht von Jes 6 nicht nur zukunftseröffnend,
sondern in hohem Maß auch vergangenheitserschlie-
ßend. Beides erweitert die Wahrnehmung JHWHs als
in der Geschichte wie in der Schöpfung handelnden
einzigen Gottes. Diesen Sachverhalt hat auch die späte-
re worttheologische Bearbeitung in Jes 40,6-8 auf ihre
- durchaus skeptische Weise - auf den Punkt gebracht:

(6) Eine Stimme spricht: »Rufe!« Und ich sagte [mit lQJesa; LXX]:
»Was soll ich rufen? All das Fleisch (ist) Gras, und all seine Anmut
(ist) wie die Blüte des Feldes! (7) Vertrocknet (ist) Gras, verwelkt
eine Blüte, wenn der Wind/Geist JHWHs darübergeweht hat!« -
Ach ja, Gras (ist) das Volk! - (8) »Vertrocknet (ist) Gras, verwelkt
eine Blüte, aber das Wort unseres Gottes wird bestehen für fernste
Zeit!«

57 Vgl. K. Koch, Die Propheten I. Assyrische Zeit (Urban Taschen-


bücher 280), Stuttgart/Berlin/Köln 31995, 21-26.
58 Vgl. O.H. Steck, Die Prophetenbücher und ihr theologisches
Zeugnis. Wege der Nachfrage und Fährten zur Antwort, Tübingen
1996, 45-54.
59 Ebd., 51.
»Wehe, ein Tosen vieler Völker ... «
(Jesaja 17,12)
Beobachtungen zur Entstehung der Zionstradition vor
dem Hintergrund des judäisch-assyrischen Kulturkon-
takts1

I. Das sogenannte Völkerkampfmotiv und die assyri-


sche Bedrohung

1. JHWH, der »Gott Jerusalems«, in der Inschrift von


Chirbet Bet Layy

1961 wurden bei Straßenbauarbeiten am Ostabhang


von Chirbet Bet Layy im Vorraum eines Kammergra-
bes mehrere hebräische Inschriften gefunden, die auf
den Wänden eingeritzt waren. Die Ortslage befindet
sich am Südwestabhang des judäischen Gebirges, 8 km
östlich von Lachisch, von dessen Eroberung 701 v.Chr.
wir durch die berühmten Reliefs Sanheribs eine ein-
drückliche Anschauung besitzen. Da sich in dem Grab
keine Beigaben gefunden haben, können nur paläogra-
phische Argumente für eine relative Datierung der Tex-
te herangezogen werden. Die Forschung neigt mehr-
heitlich zu einer Ansetzung in das 7.-6. Jh. v.Chr. Die
hier interessierende Inschrift' A (Abb. 5.1, BLay [7]:1)
wird durch Lemaire, Mittmann und Renz übereinstim-
mend um 700 v.Chr. datiert - eine Spätdatierung
(Cross, Miller: 6. oder 4. Jh. v.Chr.) ist wegen mancher
Zeichenformen unwahrscheinlich 2 . Der Text, der auf-
grund des flüchtigen Schreibstils und der Verwitterung

1 Der Beitrag geht auf einen Vortrag beim 31. Deutschen Orienta-
listentag (DOT) in Marburg am 21.09.2010 zurück.
2 Vgl. ]. Renz / W. Röllig, Handbuch der althebräischen Epigra-
phik I/1. Text und Kommentar, Darmstadt 1995, 242-251 (Lit.-An-
gaben zu den genannten Beiträgen ebd., 242).
128 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

nicht völlig sicher rekonstruiert werden kann, lautet


folgendermaßen:

JHWH ist der Gott der ganzen Erde ('elohe kal-ha'aräz) 3,


die Berge Judas gehören dem Gott Jerusalems ('elohe jeruschalem)

Nicht nur ist dies die erste althebräische Nennung des


Namens Jerusalem außerhalb des Alten Testaments,
der Text ist auch ansonsten überaus interessant. Die
doppelte Besitzangabe, als chiastischer Parallelismus
gestaltet, identifiziert den Träger des Eigennamens
JHWH als den »Gott Jerusalems« 4 . Aufschlussreich ist
dabei die Verbindung eines universalen Aspekts (»Gott
der ganzen Erde« 5 ) mit einem partikularen Aspekt
(»Berge Judas« und »Gott Jerusalems«). Es zeigt sich
hier eine Stadtgottkonzeption, die implizit eine kos-
mologische Aussage macht: Mit Jerusalem ist auf der
horizontalen Ebene ein topographisches und symboli-
sches Zentrum markiert, dem sein unmittelbares Um-
land (»Berge Judas«) bis hin zur »ganzen Erde« als
Umkreis zugeordnet sind. Die Tatsache, dass der Text
JHWH (allein) als den Eigentümer dieses Umlands
(Stadt und Erdkreis) benennt, impliziert zugleich, dass
er als Herrscher, vielleicht auch als Schöpfer der in der
Inschrift genannten Bereiche gedacht wird 6 . Im Blick

3 Möglich wäre auch eine Übersetzung mit »der Gott des ganzen
Landes«, die aber aufgrund der alttestamentlichen Vergleichsstellen
mit überwiegend universaler Korni:otation weniger naheliegend ist
(s.o. Anm. 5).
4 Im Alten Testament nur spät belegt, in Esr 7,19; 2 Chr 32,19.
5 Vgl. Jes 54,5, mit »]HWH Zebaoth«, und weitere Stellen: Mit
'adon: Jas 3,11.13; Mi 4.13; Sach 4,14; 6,5; Ps 97,5; mit 'älijon: Ps
83,19; mäläk 'al: Ps 47,3.8; Sach 14,9; 2 Kön 19,15; Jes 37,16. Vgl.
dazu Renz, Handbuch I, 246, Anm. 1; Mittmann (s.o. Anm. 8), 23-
29.
6 Für ähnliche Eigentumsaussagen in vorexilischen und exilischen

Psalmen vgl. L. Vosberg, Studien zum Reden vom Schöpfer in den


Psalmen (BevTh 69), München 1975; M. Metzger, Eigentumsdekla-
ration und Schöpfungsaussage, in: ders., Schöpfung, Thron und
Heiligtum. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments (BThSt
57), Neukirchen-Vluyn 75-94 (= FS H.-J. Kraus, 1983, 37-51);
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 129

auf die Zugehörigkeit zu einer Textgattung hat man es


mit einer hymnischen Aussage zu tun, die als Be-
kenntnis zum Stadt- und Landesgott formuliert ist und
die Durchlässigkeit zwischen »offizieller« und »priva-
ter« Religion bezeugen könnte, weil der Verfasser of-
fensichtlich über Kenntnisse der Jerusalemer Stadt-
theologie verfügte.
Zusammen mit den Inschriften sind an den Wänden
des Grabes auch Ritzzeichnungen gefunden worden:
Unsicherheit besteht bei der Identifikation zweier
menschlicher Gestalten als Bogenschütze und Krieger
mit Raupenhelm (Abb. 5.2-3), sicher erkennbar sind
eine Beterfigur sowie zwei Schiffe (Abb. 5.4-5) und die
skizzenhafte Darstellung eines (assyrischen?) Heerla-
gers (Abb. 5.6-7). Der Zusammenhang zwischen den
Bildern und den Texten ist nicht gesichert, sie könnten
gleichzeitig oder nacheinander angebracht worden sein.
Zieht man auch noch die beiden Inschriften B und C
mit hinzu (BLay [7] :2 und 3), so finden sich darin zu-
sätzlich zum Vertrauensbekenntnis der Inschrift A je-
weils Gebetsbitten:

Inschrift B: Schreite ein (pqd), JH, gnädiger Gott ('el channun),


erkläre straffrei/ sprich frei (nqh), JH, JHWH!

Inschrift C: Errette (hoscha'), JHWH!

Die Bitten enthalten keine Information über die vor-


ausgesetzte Not, könnten aber, wenn man die Zeich-
nungen zur Deutung hinzunimmt, wie es Lemaire und
Mittmann getan haben, eine Kriegssituation vorausset-
zen. Johannes Renz formuliert für das Ensemble der
Graffiti von Chirbet Bet Layy daher folgendes Resü-
mee: »Deren mittlerweise [sie!] einigermaßen gesi-
cherter historischer Hintergrund dürfte die Lage von
701 v.Chr. und das Heranrücken der assyrischen Trup-

F. Hartenstein, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum, Jesa-


ja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradition
(WMANT 75), Neukirchen-Vluyn 1997, 82-101.
130 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

pen Sanheribs gewesen sein. Vielleicht auf der Flucht


in einer Höhle schrieb ein Schreibkundiger auf den
Fels:[ ... ] >Jahwe ist der Gott der ganzen Erde// die(?)
Berge Judas gehören dem Gott Jerusalems< [ ... ] . « 7
Renz verweist hierfür im Anschluss an Mittmann 8 auf
die Verbindung mit der sogenannten »Zionstradition«
des Alten Testaments und zugleich auf die auffällige
»Vermeidung des Zionsbegriffs« in den Inschriften 9 .
In der Tat lassen sich die Inschriften, ebenso wie die
durch Renz erneut systematisch ausgewerteten außer-
biblisch belegten Schutz- und Vertrauensnamen aus Is-
rael und Juda der staatlichen Zeit, gut mit den bibli-
schen Texten verknüpfen. Im Blick auf die neuere For-
schung zur Religionsgeschichte Israels und Judas, die
v.a. aufgrund ikonographischer Quellen mit einer po-
lytheistischen Symbolwelt rechnet, ist die durch Renz
erneut vor Augen geführte relative Homogenität, mit
der ab dem 9. Jh. v.Chr. der Gott JHWH - mit den be-
kannten Ausnahmen von Kuntillet Adjrud und Chirbet
el-Qom (Aschern und Ba'al) - als einziger Gott in den
hebräischen Inschriften namentlich belegt ist, bemer-
kenswert10. Nimmt man die von Renz festgestellte
Nähe der Aussagen von Chirbet Bet Layy zur »Zions-
tradition« ernst und übernimmt man probeweise die
historische Verortung der Inschriften und Ritzzeich-

7 ]. Renz, »Jahwe ist der Gott der ganzen Erde«. Der Beitrag der

außerkanonischen althebräischen Texte zur Rekonstruktion der


vorexilischen Religions- und Theologiegeschichte Palästinas, in: M.
Pietsch / F. Hartenstein (Hg.), Israel zwischen den Mächten (FS S.
Timm) (AOAT 364), Münster 2009, 289-377, hier 310.
8 S. Mittmann, A Confessional Inscription from the Year 701 BC

Praising the Reign of Yahweh, Acta Academica 21 (1989) 15-38.


9 Renz, »Jahwe«, 311; vgl. weiter ebd.: »Hintergrund ist natürlich

die Jerusalemer Vorstellung, dass gerade der Zion als Wohnung


und Thronplatz Jahwes durch Jahwe besonders geschützt und quasi
uneinnehmbar ist. Der in der Nähe der Inschrift angebrachte Hilfe-
ruf hws' yhwy ,errette, Jahwe< (Blay [7]:3) rekurriert genau auf die-
se Vorstellung - die gleichzeitig und später in der Prophetie als trü-
fcerische Sicherheit kritisiert wird.«
0 Renz, »Jahwe«, 294.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 131

nungen im Zusammenhang der Ereignisse von 701


v.Chr., so erscheint es lohnend, einschlägige Texte des
Alten Testaments erneut daraufhin zu befragen, ob sie
vor demselben Hintergrund verstanden werden kön-
nen. Dies soll im Folgenden vor allem durch den Ver-
such geschehen, die Entstehung des sogenannten Völ-
kerkampfmotivs aus dem Kontext der assyrischen Zeit
Judas heraus verständlich werden zu lassen. Doch zu-
vor müssen noch einige Anmerkungen zu der Frage ge-
macht werden, in welchem Sinn überhaupt von einer
»Zionstradition« gesprochen werden kann.

2. Die »Zionstradition« und der judäisch-assyrische


Kulturkontakt

Unter der Zionstradition verstand die ältere alttesta-


mentliche Wissenschaft nach einer bekannten Defini-
tion von Odil Hannes Steck aus dem Jahr 1972 11 einen
wesentlichen Teilaspekt der Jerusalemer Kulttradition,
nämlich »Das Wirken des Jahwe vom Zion« 12, das man
analog zu altorientalischen Stadtgottkonzeptionen fol-
gendermaßen beschrieb: »Der Errichtung und Erhal-
tung kosmischer Ordnung, die in dieser Hinsicht das
opus proprium Jahwes darstellt und ihn zum Herrn der
ganzen Erde macht, korrespondiert ein entsprechendes
Wirken im geschichtlich-politischen Raum.« 13 Tatsäch-
lich gibt es im Alten Testament eine Reihe von Texten
im Psalter und in den Prophetenbüchern, allen voran
dem Jesajabuch, die, erneut mit den Worten Stecks,
»nicht die Relation Jahwe-Israel, sondern die Verbun-
denheit Jahwes mit einem Berg und einer Stadt - Zion«
zur Voraussetzung haben 14 . In ihnen finden sich be-
stimmte Einzelmotive, die man einer gemeinsamen
Hintergrundvorstellung, eben der sogenannten »Zions-

11 O.H. Steck, Friedensvorstellungen im alten Jerusalem. Psalmen,


Jesaja, Deuterojesaja (ThSt 111), Zürich 1972.
12 Steck, Friedensvorstellungen, 16.
13 Ebd., 17.
14 Ebd., 14.
132 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

tradition« zuweisen zu können glaubte. Man hätte es


dann mit einem festen Adressatenwissen der eisenzeit-
lichen Jerusalemer und Judäer zu tun, das »hinter« den
Texten steht15 .
Methodisch stellte der Versuch einer traditions- und
motivgeschichtlichen Rekonstruktion einer umfassen-
den Hintergrundvorstellung vieler biblischer Texte ein
Wagnis dar. Vor allem war die lange gängige Auffas-
sung, die auch Steck selbst teilte, problematisch, die
Motive der Zionstradition samt und sonders aus frühe-
ren bronzezeitlichen Vorgaben ableiten zu können (den
Traditionen der vorexilischen »Jebusiter-Stadt«). Für
bestimmte Aussagen, so etwa für die kosmische Di-
mensionierung der Gottesberg- und Gottesstadtvorstel-
lung, lassen sich in der Tat altorientalische Analogien
aus der näheren und ferneren Umgebung beibringen. So
vor allem für die Vorstellung des Chaoskampfes (= Göt-
terkampfes) JHWHs gegen das feindlich aufbegehren-
de Meer und die im Kontrast betonte überlegene Höhe
des Thrones des siegreichen Königsgottes (Ugarit).

Ein wichtiges Motiv der einschlägigen Texte aber ent-


zog sich hartnäckig jeder religionsgeschichtlichen Ab-
leitung: Das sogenannte Völkerkampf- oder Völker-
sturmmotiv. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass
»zahlreiche« und »starke«, gelegentlich auch »alle«,
Völker, Königreiche oder deren Repräsentanten (»Kö-
nige«) sich versammeln, gegen Jerusalem anstürmen,
es belagern und einzunehmen versuchen. Die Einzel-
heiten sind aber in den zeitlich weit auseinander lie-
genden, teils auch direkt aufeinander Bezug nehmen-
den Texten höchst unterschiedlich. Insbesondere muss
man sorgfältig unterscheiden zwischen

15 Steck wies aber zugleich und zu Recht darauf hin, dass diese
»Stadttheologie in Jerusalem« nur »eine theologische Konzeption
unter anderen« gewesen sei (13), die von weniger leicht greifbaren
Traditionen im Land Juda und besonders dem Nordreich Israel (bis
722/720 v.Chr.) unterschieden werden müsse.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 133

a) der gerichtsbezogenen Variante des Motivs, bei


dem die Völker explizit oder implizit durch JHWH
selbst gegen seine Stadt herbeigeholt und -geführt
werden, um die unbotmäßigen Jerusalemer zu bestra-
fen (so vor allem in prophetischen Gerichtsankündi-
gungen);
b) derjenigen Ausprägung des Motivs, bei dem die to-
sende, wie Chaoswasser lärmende Völkergefahr durch
JHWH in letzter Minute abgewehrt wird bzw. die An-
greifer schon aus der Ferne in Schrecken geraten und
fliehen.
Es ist nicht zufällig immer wieder auf den Zeitraum
des judäisch-assyrischen Kulturkontakts hingewiesen
worden, in dem beide Formen des Motivs zur Deutung
von Gegenwartserfahrung herangezogen worden sind.
Insbesondere die bereits erwähnte Einkreisung Hiskias
in Jerusalem im Rahmen des 3. Feldzuges Sanheribs 701
v.Chr. hat man als entscheidenden Bezugspunkt des
Völkerkampfmotivs gesehen. So hatte Gunther Wanke
bereits 1966 die These vertreten, weil das Völkerkampf-
motiv ohne religionsgeschichtliche Parallele sei, müsse
es aus der Stunde der Kulmination der Assyrerbedro-
hung heraus erklärt werden 16 . Demnach wäre hier nicht
eine lange vorgegebene Tradition von der Uneinnehm-
barkeit des Zion aktualisiert worden, sondern man habe
es mit einem historischen Anstoß zur »Legendenbil-
dung« zu tun, der seine Strahlkraft jedoch erst in deut-
lich späterer Zeit entfaltet hätte 17. Dieser Auffassung
folgen heute viele Exegetinnen und Exegeten, unter
anderem, weil schon die auffallend geringe Belegzahl
für die Bezeichnung »Zion« in konsensfähig frühen
Texten des Alten Testaments zur Vorsicht mahnt (in-
schriftliche Belege aus biblischer Zeit fehlen - dennoch
ist das hohe Alter des Wortes sicher anzunehmen, vgl.
nur 2Sam 5,7). Es finden sich gegenwärtig zunehmend

16 G. Wanke, Die Zionstheologie der Korachiten. In Ihrem tradi-


tionsgeschichtlichen Zusammenhang (BZAW 97), Berlin 1966.
17 Wanke, Zionstheologie, 95.
134 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

solche Stimmen, die vorrangig nur noch die individuel-


len Textaussagen über den Zion untersuchen möchten.
Auf diesem Weg kommt man zwar zu relativen Chro-
nologien im Sinne theologiegeschichtlicher Abfolgen,
aber kaum mehr zu externen historischen Zusammen-
hängen 18 . Insofern erscheinen Untersuchungen wie die-
jenigen von Othmar Keel und Bernd Janowski weiter-
führend19, die biblische und außerbiblische Aussagen
zur Geschichte Jerusalems als historisch und kultur-
wissenschaftlich auswertbare Quellen kritisch aufein-
ander beziehen 20 . Einern solchen Ansatz ist auch dieser
Beitrag verpflichtet, in dem ich vor dem Hintergrund
eigener Arbeiten 21 an wichtigen Textbeispielen vorfüh-

18 Vgl. C. Körting, Zion in den Psalmen (FAT 48), Tübingen 2006:


Zion als »Magnet theologischer Konzeptionen« (225) und »Zent-
rum fortschreitender Theologiebildung« (227).
19 B. ]anowski, Die heilige Wohnung des Höchsten. Kosmologi-
sche Implikationen der Jerusalemer Tempeltheologie, in: 0. Keel /
E. Zenger (Hg.), Gottesstadt und Gottesgarten. Zu Geschichte und
Theologie des Jerusalemer Tempels (QD 191), Freiburg u.a. 2002,
24-68; 0. Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des
Monotheismus 1 (Orte und Landschaften der Bibel IV /1), Göttin-
gen 2007.
20 »Inzwischen haben sich die Parameter (sc. dessen, was man als
»Zionstradition« beschreiben kann [FH]) deutlich verschoben. Zum
einen ist die Textbasis für die Einzelmotive, sofern man nach ihrer
vorexilischen Gestalt fragt, wesentlich schmaler als bislang ange-
nommen. Zum anderen ist - damit zusammenhängend - die Rede
von >der, Zionstradition als eines von Anfang homogenen und über
die Zeiten stabilen Gebildes obsolet geworden. Im Anschluß an die
kulturwissenschaftliche Diskussion zum religiösen Symbolsystem
sowie unter Berücksichtigung neuerer Arbeiten zur Religionsge-
schichte Israels wird demgegenüber vorgeschlagen, die Vorstellung
vom Königtum JHWHs (mit ihren Motiven ,Thron JHWHs,,
>Höhe, u.a.) als Basisaussage der (vorexilischen) Zionstradition zu
verstehen, die in den Grundtexten Jes 6,1-4, Ps 93; Ps 46,2-8; 48
u.a. nach der vertikalen (Höhe - Tiefe) und horizontalen (Zentrum
- Peripherie) Dimension entfaltet wird.« (Janowski, Wohnung,
57f).
21 Vgl. neben meiner Dissertation (s.o. Anm. 6) im Weiteren F.
Hartenstein, JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,
6-8). Traditions- und religionsgeschichtliche Beobachtungen zur
»Denkschrift« Jesaja 6-8*, in: F. Hartenstein / ]. Krispenz / A.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 135

ren möchte, wie das sogenannte »Völkerkampfmotiv«


nicht nur in direkter Auseinandersetzung mit der poli-
tisch-militärischen Propaganda der Sargoniden in Juda
entstanden sein könnte, sondern vor allem, wie die ent-
sprechenden Texte kontroverse und konfliktbehaftete
Wertungen der Ereignisse von 701 v.Chr. widerspie-
geln könnten. Zu ihnen sahen sich die Einwohner Judas
und Jerusalems angesichts der assyrischen Präsenz und
Dominanz herausgefordert, die die levantinischen
Kleinstaaten in ihre Wirklichkeitsdeutung integrieren
mussten.

II. Eine »triumphalistische« Lesart von 701 v.Chr?


Jesaja 17,12-14 und die Zionspsalmen 46 und 48

Unseren Überblick über eventuell aus dem 8./7. Jh.


v.Chr. stammende Texte möchte ich mit denjenigen
Aussagen beginnen, die man lange Zeit als die ältesten
Belege der Zionstradition angesehen hat: den Zions-
psalmen Ps 46 und 48 und einigen Jesajataxten, für die
hier stellvertretend zunächst Jes 17,12-14 betrachtet
werden soll.

Vorbemerkung für Nichtexegeten: In der alttestamentlichen Wis-


senschaft sind die Datierungen dieser Texte heute höchst umstrit-
ten. Die Tatsache, dass man es in den schriftprophetischen Büchern
und im Buch der Psalmen mit durch Jahrhunderte fortgeschriebe-
nen literarischen Werken zu tun hat, führte zu einer Vielzahl von
redaktionsgeschichtlichen Modellen. Diese hängen ebenso stark von
externen Vorannahmen ab wie von der Auswertung von als solchen

Schart (Hg.), Schriftprophetie (FS J. Jeremias), Neukirchen-Vluyn


2004, 83-102 (= S. 1-30 im vorliegenden Band); ders., Tempelgrün-
dung als »fremdes Werk«. Beobachtungen zum »Ecksteinwort« Je-
saja 28, 16-17, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS
0. Kaiser) (BZAW 345/1), Berlin/ New York 2004, 491-516 (= S.
31-61 im vorliegenden Band); ders., Unheilsprophetie und Herr-
schaftsrepräsentation. Zur Rezeption assyrischer Propaganda im
antiken Juda (8.17. Jh. v.Chr.), in: Pietsch!Hartenstein (Hg.), Israel
(s.o. Anm. 7), 121-143 (= S. 63-96 im vorliegenden Band).
136 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

unstrittigen Beobachtungen von Inkohärenzen und Perspektiven-


änderungen in den Texten. Anders als im Fall der Keilschriftlitera-
tur, wo wir etwa beim Gilgameschepos durch die Fülle der Text-
überlieferung ein empirisch gesichertes Bild der Veränderungen
(darunter auch Weglassungen!) gewinnen können, ist die alttesta-
mentliche Wissenschaft trotz der Qumranfunde grundsätzlich auf
Hypothesen angewiesen. Insofern sind die exegetischen Erkenntnis-
se sehr viel relativer, als dies angesichts archäologisch gesicherter
Textfunde der Fall wäre. Daher sind die folgenden Überlegungen
hinterfragbar - das ist aber kein Nachteil.

Ich beginne mit ]es 17,12-14, einem kurzen, in sich ge-


schlossenen Abschnitt im Kontext der Fremdvölker-
sprüche des Jesajabuches. Der Text bildet die Überlei-
tung zwischen Worten gegen den Aramäerstaat von
Damaskus und gegen Kusch, die äthiopischen Herr-
scher Ägyptens, die vor allem im letzten Jahrzehnt des
8. Jh. v.Chr. im Blickfeld Judas lagen. Jes 17,12-14
selbst gibt keinerlei Hinweise auf einen konkreten po-
litischen Hintergrund:

12 Wehe, ein Lärm vieler Völker - wie ein Lärmen von Wassern
lärmen sie, und ein Tosen von Nationen - wie ein Tosen von mäch-
tigen Wassern tosen sie! 13 Nationen - wie ein Tosen vieler Was-
ser tosen sie! Da schilt er es, und es flieht aus der Feme, und es
wird gejagt wie Spreu (der) Berge vor einem Wind, wie Kugeldis-
teln ( ?) vor einem Sturm! 14 Zur Abendzeit, siehe, Bestürzung!
(Noch) vor dem Morgen ist es nicht mehr da! Das ist der Anteil un-
serer Plünderer und das Los für unsere Berauber!

Der Text beginnt in V. 12-13b mit der Interjektion hoj


»Wehe«, die aus der Totenklage stammt und in pro-
phetischen Unheilsankündigungen für das bei JHWH
schon vollzogene Gericht steht, das in der Lebenswirk-
lichkeit jedoch erst eintreffen wird 22 . Die durch hoj an-
gezeigte tödliche Bedrohung bleibt hier ohne Angabe,

22 Dass dies auch für Jes 17,12 gilt, ist umstritten; vgl. aber die
Begründung bei C. Hardmeier, Textwelten der Bibel entdecken.
Grundlagen und Verfahren einer textpragmatischen Literaturwis-
senschaft der Bibel (Textpragmatische Studien zur Hebräischen Bi-
bel 1/2), Gütersloh 2004, 147.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 137

wem das Unheil gilt (vgl. aber die »wir« am Ende von
V. 14). Dafür wird die Bedrohung um so intensiver
durch den dreifach steigernden Vergleich mit tosenden
Wassermassen hervorgehoben. Das »Tosen vieler Völ-
ker«, einer unbestimmten Menge, entspricht dem »To-
sen von mächtigen Wassern«. Mitzuhören sind Assozi-
ationen von Schnelligkeit, Unaufhaltsamkeit und um-
fassender Zerstörungskraft - alles aus der Lebenswelt
besonders der Strömekulturen bekannte Tatsachen bei
Flutkatastrophen. Der Vergleich zwischen der kosmi-
schen Größe der Wasserfluten und der politisch-sozia-
len Größe der Völker/Nationen ist akkadisch sowohl
literarisch als auch in Königsinschriften häufig. Insbe-
sondere die neuassyrischen Herrscher des 1. Jt.s v.Chr.
haben den lange gebräuchlichen Vergleich immer wie-
der auf sich selbst angewendet, um ihre unwiderstehli-
che Kampfkraft - in Analogie zur Sintflut und in Ent-
sprechung zum Wettergott - hervorzuheben. Ich werde
darauf zurückkommen (s. III.). Das Bild der Bedrohung
in Jes 17,12-14 ist jedenfalls eines, das bei Adressaten
in assyrischer Zeit entsprechende Assoziationen auslö-
sen konnte, wenn man voraussetzt, dass sie solche In-
halte assyrischer Propaganda kannten.
Das überraschende an Jes 17,12ff. ist nun, dass - an-
ders als in anderen prophetischen Unheilsworten - das
Geschehen sich zuletzt gar nicht vollzieht: Stattdessen
»schilt« (ga<ar) »er« (es kann nur JHWH gemeint sein)
»es«, also das tosende Völkerchaos, d.h. er lässt seine
Donnerstimme ertönen und verursacht Verwirrung
und Flucht aufseiten der Gegner. Hier liegt eine Über-
tragung von Motiven eines Götterkampfes (wie im
ugaritischen Baalsmythos oder im Enuma elisch) auf
die politische Ebene vor: Die Völker werden in ihre
Schranken verwiesen, ja, ihr »Fliehen« zeigt aus der
Perspektive des Gottes Judas ihre Machtlosigkeit an.
Sie stieben auseinander wie Spreu und wie Kugeldis-
teln, die der Sturm vor sich hertreibt. Dies alles ge-
schieht noch vor dem Morgenanbruch (V. 14). Schon
am Abend nämlich herrschen Schrecken und Bestür-
138 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

zung, wie sie JHWHs Stimme hervorgerufen hat, und


am Morgen ist der Feind »nicht mehr da«. Damit wird
die ansonsten im Alten Testament mehrfach belegte
Vorstellung von der rettenden »Hilfe Gottes am Mor-
gen«23 (Sonnengott-Motivik, vgl. Ps 46,6, s.u.) überbo-
ten: JHWHs Eingreifen lässt die Todesgefahr über
Nacht verschwinden.
Ein bekenntnishaftes Resümee (V. 14b) beschließt den
Text: Dies wird das Schicksal »unserer Plünderer« und
»unserer Räuber« sein - die kollektive Perspektive ist
deutlich: Ohne dass die Namen Jerusalem, Zion, JHWH
oder Assur gefallen wären, redet der Text vom Ereignis
einer Rettung des Volkes in letzter Sekunde, bei der im
Sinne des horizontalen Weltbildes (vgl. die Inschrift
von Chirbet Bet Layy) das von außen (der Peripherie)
heranströmende Chaos abgewehrt und die im Inneren
(im Zentrum) befindlichen »wir« bewahrt bleiben. Was
dieser Text auf das Wesentliche konzentriert aussagt,
findet sich in den Zionspalmen in wünschenswerter
Deutlichkeit.

Die beiden Hauptvertreter der Zionspsalmen, Ps 46


und 48, die wie die Flügel eines Altar-Triptychons den
JHWH-König-Psalm 47 umrahmen, sind ein bevorzug-
ter Gegenstand exegetischer Untersuchungen. Dennoch
sind wir gegenwärtig von einem Konsens im Blick auf
die Datierung weit entfernt 24. Deutlich ist immerhin,
dass für beide Texte immer. noch eine Entstehung der
Grundfassung in vorexilischer Zeit für möglich gehal-
ten wird. In späterer Zeit sind die Texte erweitert wor-
den, und zwar sehr wahrscheinlich jeweils durch Anfü-
gung weiterer Verse bzw. einer zusätzlichen Strophe
am Ende (vgl. Ps 46,9-12 und Ps 48,12-15). Ein wichti-
ger Topos der Fortschreibung ist die eschatologische
23 Vgl. dazu B. ]anowski, Rettungsgewissheit und Epiphanie des

Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes »am Morgen« im Alten Orient
und im Alten Testament Band I: Alter Orient (WMANT 59), Neu-
kirchen-Vluyn 1989.
24 Vgl. zur neueren Diskussion Körting, Zion (s.o. Anm. 18).
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 139

Ausweitung der Rettungsmacht JHWHs vom Zion, der


allen Kriegen ein Ende bereiten wird (siehe dazu auch
Ps 76 und Jes 2 // Mi 4). Uns interessieren hier jedoch
nur die älteren Teile der beiden Psalmen. Zunächst Ps
46,1-8:

2 Gott ist für uns Zuflucht und Stärke, als Hilfe in Nöten sehr be-
währt.
3 Deshalb fürchten wir uns nicht, (selbst) wenn die Erde
schwankt,
wenn Berge wanken ins Herz des Meeres!
4 Mögen (auch) tosen, mögen schäumen seine Wasser,
mögen beben Berge vor seiner Hoheit/Hochmut!
5 Ein Strom - seine Kanäle erfreuen die Gottesstadt,
das Heiligtum der Wohnungen des Höchsten.
6 Gott ist in ihrer Mitte, sie kann nicht wanken,
es hilft ihr Gott bei Morgenanbruch!
7 Es hatten getost Völker, es hatten gewankt Königreiche.
Er hatte seine Stimme erhoben, und es schwankte (die) Erde!
8 JHWH Zebaoth (ist) mit uns, eine Fluchthöhe für uns (ist) der
Gott Jakobs!

Die Struktur des Abschnitts ist wie häufig in poeti-


schen hebräischen Texten sowohl linear (zwei Stro-
phen: V. 2-4 und V. 5-8) als auch konzentrisch lesbar:
Die formale Mitte bilden V. 5-6, die Aussagen über die
Präsenz Gottes inmitten der Stadt (Zentrum) machen.
In der Nähe Gottes erscheinen die chaotischen Wasser
verwandelt in eine lebenspendende Größe: den Strom
und seine Kanäle 25 . Demgege_nüber stehen in V. 2-4
und V. 7-8 Aussagen über das »Außen« der Erde, das
von der Chaosdimension der Wirklichkeit bestimmt
ist: In V. 3-4 ist vom tosenden und aufbegehrenden
Meer die Rede, dessen Hochmut/Hoheit die Berge er-
beben lässt. Nach V. 7 erscheinen wie in Jes 17,12-14
Völker und Königreiche als politisch-soziale Verkörpe-

25 Siehe dazu B. Ego, Die Wasser der Gottesstadt. Zu einem Motiv


der Zionstradition und seinen kosmologischen Implikationen, in:
B. Ego/ B. ]anowski (Hg.), Das biblische Weltbild und seine altori-
entalischen Kontexte (FAT 32), Tübingen 2001, 361-389; vgl. ]a-
nowski, Wohnung (s.o. Anm. 19), 42-57.
140 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

rung des Chaotischen (vgl. jeweils das identische Leit-


wort hmh »lärmen/tosen« in V. 4 [Wasser] und V. 7
[Völker]).
Im Ganzen handelt es sich um einen Vertrauenspsalm,
was die rahmenden Aussagen in V. 2 (»JHWH ist für
uns Zuflucht«) und in V. 8 (»JHWH Zebaoth ist mit
uns«) unterstreichen. Der Blick auf die durch den Stadt-
gott garantierte Stabilität und den Schutz nach innen ist
retrospektiv: Denn V. 3 formuliert das Bekenntnis »des-
halb fürchten wir uns nicht, wenn die Erde schwankt«
angesichts des in V. 7 im Rückblick benannten Gesche-
hens der Völkerabwehr: Hier werden perfektische qa-
tal-Formen gebraucht, die ganz analog zu Jes 17,12-14
beschreiben, wie die tosenden Völker vor der Donner-
stimme JHWHs ins Wanken gerieten. Und nach V. 6
erfolgte solche Hilfe Gottes auch hier an der »Wende
des Morgens« (vgl. Jes 17,14).
Wie in Jes 17,12-14 fallen weder die Namen Jerusalem
oder Zion noch derjenige Assurs. Das Geschehen wird-
auch wenn es deutlich auf Erfahrungen Bezug nimmt -
ins Grundsätzliche gewendet, was für die Formenspra-
che des Gotteslobs in den Psalmen (Hymnen) typisch
ist. Das implizite Weltbild des Textes ist stark an der
Horizontalen orientiert, wie im Fall von Chirbet Bet
Layy und von Jes 17,12ff. Besonders betont ist das Bild
von der Stadt Gottes über dem Strom mit seinen Ka-
nälen als Gegentopas zum tosenden Wasserchaos. Die
Überhöhung der realen Jerusalemer Verhältnisse ist
deutlich. Die Stadttopographie mit der Gichonquelle
oder dem Siloah-Kanal ist schwerlich konkret gemeint,
die Situation der Stadt wird vielmehr mittels mythi-
scher Raumkategorien poetisch ausgemalt 26 . Die bewäs-
sernde und befruchtende Wirkung der domestizierten

26 Die Wasserversorgung Jerusalems (vgl. die Inschrift im Siloah-

Tunnel, TGI3, 66, die vor 701 v.Chr. datiert wird) hat in der Zeit der
Assyrerbedrohung auch eine Rolle in der Auseinandersetzung zwi-
schen Jesaja und den Herrschern der Stadt gespielt (Jes 8,5-8, s. da-
zu unten III. und den Beitrag S. 1-30 in diesem Band; vgl. auch Jes
7; 2Chr 32,3-4).
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 141

Wasser (Strom und Kanäle) ist ein zentrales Moment


der Herrschaftssymbolik von Ps 46, der die Kontrolle
JHWHs über die ganze Erde zum Thema hat (vgl. auch
die damit verbundenen Motive des »Gottesgartens«
und der Befruchtung der Erde durch Bewässerung in Ps
36; 65; 104; Ez 47).

An dieser Stelle möchte ich ein erstes Mal auf Paralle-


len in der Herrschaftssymbolik speziell Sanheribs hin-
weisen, wie sie sich in dessen Königsinschriften ebenso
wie in den Gesamt- und Detailaussagen des berühmten
Südwestpalastes in Ninive findet (Plan: Abb. 5.8) 27 . In
seinen Inschriften und auf den Reliefs legt Sanherib
unter anderem hohen Wert darauf, dass er die Wasser-
versorgung durch Kanäle sichergestellt habe (Abb. 5.9,
Hof VI). So tragen die Stierkolosse 28 des Tores c des
Thronsaals (Raum I) folgende Inschrift:

» To calm the rush of the waters for the orchards, I created a swamp
and planted a canebrake in it. Herons, wild pigs, and deer I turned
loose therein .... The canebrakes flourished luxuriantly, the high-
flying heran built his nest there, and the wild pigs and deer multi-
plied abundantly.« 29

Die »Beruhigung« der Wasser und die Schaffung eines


paradiesischen Gartens mit Wildtieren erscheinen als
Ausdruck der guten Herrschaft nach innen. Die Tatsa-
che, dass die Arbeiten der Herstellung der Stierkolosse
und der Kanäle zugleich von den »inhabitants of hidden

27 Vgl. dazu ].M. Russell, Sennacherib's Palace without Rival at


Ninive, Chicago/London 1991.
28 Vgl. zur Vermutung, dass die Stierkolosse (lamassu) selbst ge-

bändigtes Chaos symbolisieren könnten, S.M. Maul, Der Sieg über


die Mächte des Bösen. Götterkampf, Triumphrituale und Torarchi-
tektur in Assyrien, in: E. Zenger (Hg.), Ritual und Poesie. Formen
und Orte religiöser Dichtung im Alten Orient, im Judentum und
im Christentum (HBS 36), Freiburg u.a. 2003, 47-71, hier 63.
29 Russell, Palace, 259; 325, Anm. 37: Transliteration in D.D. Lu-
ckenbill, The Annals of Sennacherib (UCOIP 2), Chicago 1924,
124f, 43-47.
142 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

mountain regions, conquest of my hands« 30, also von


Kriegsgefangenen, darunter auch Menschen aus Palästi-
na (Abb. 5.10 31 ), durchgeführt wurde, verweist auf die
entsprechende Zentrumssymbolik: »The implication of
this opposition is clear: the enemies who once threat-
ened Assyria from the periphery now build the capital
at its center.« 32 Wie John Malcolm Russell unter Bezug
auf Marco Liverani gezeigt hat, lassen sich auch aus den
Königstiteln Sanheribs Hinweise auf diese Konzeption
der Herrschaftssymbolik herauslesen 33 : Nach außen
hält er die Feinde in Schach, nach innen sorgt er für
Prosperität und Leben, wie es besonders an den Bewäs-
serungsmaßnahmen sichtbar wird. Er benennt in der
Bawian-Inschrift die durch ihn gebauten Kanäle aus-
drücklich als »Sanheribs Bewässerung« 34 . Im selben
Text findet sich die Schilderung der »sintflutgleichen«
Zerstörung Babylons 689 v.Chr. 35 Auch in einer Bau-
inschrift Sanheribs zur Erneuerung des bit akiti in As-
sur wird beides erwähnt. Die Aussagen über die Domes-
tizierung der Wasser durch den König lauten hier so:

30 Russe//, Palace, 260; 326, Anm. 39: Appendix 1, Hof VI, Slab 66
(vgl. Wäfler, Nicht-Assyrer [s. unten Anm. 63], 57-59; 179f, zur
möglichen Identifikation mancher der Gefangenen als Menschen
aus dem Westen.
31 Sie tragen vergleichbare Kopfbedeckungen wie die Bewohner

der judäischen Stadt Lachisch auf dem berühmten Relief aus Saal
XXXVI des Palastes Sanheribs. Vgl. dazu nochmals auch Abb. 5.9
mit der obersten Reihe von Gefangenen, die den Stierkoloss ziehen
pudäer?).
2 Russe//, Palace, 260.

33 Russe//, Palace, 241-251; M. Liverani, Critique of Variants and


the Titulary of Sennacherib, in: F.M. Fa/es (Hg.), Assyrian Royal
Inscriptions: New Horizons in Literary, Ideological and Historical
Analysis, Rom 1981, 225-257.
34 Bawian-Inschrift; vgl. Luckenbil/, Annals, 78-85 hier 79f (Z. 12.
15); C. Bezold, Inschriften Sanherib's, in: E. Schrader (Hg.), Keilin-
schriftliche Bibliothek II, Berlin 1890, 81-119, hier 117 (Z. 12.15);
E. Frahm, Einleitung in die Sanherib-Inschriften (Afü 26), Wien
1997.
35 Vgl. zu ihr und möglichen Bezügen zu den Jesajatexten den Bei-
trag S. 31-61 in diesem Band.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 143

»Sennacherib, ... who builds Assyria, who completes its cult cities;
. . . who digs canals, opens irrigated fields, and makes irrigation
ditches murmur (with water); who established prosperity and abun-
dance in the wide croplands of Assyria; who put irrigation water in
the fields of Assyria where, from the days of old, no one had seen,
no one had known, those who preceded me had not made, canals
and irrigation in Assyria« 36•

Natürlich ist das Motiv der lärmenden Chaoswasser in


der Jerusalemer Kulttradition lange zuvor verankert,
wie es etwa der an ugaritische Aussagen von Baals
Kampf gegen das Meer erinnernde alte Ps 93 zeigt. Und
in Assyrien gehörte die Ambivalenz der Kontrolle über
die Wasser zur Titulatur des Wettergottes Adad, der als
»Großbewässerer von Himmel und Erde« gilt und zu-
gleich ein Kriegsheld ist, »bei dessen Brüllen die Berge
schwanken, die Meere wogen« 37 . Die starke Betonung
des Gegensatzes zwischen bedrohlichen und lebenspen-
den Wassern als Aussagen über die königliche Kontrolle
des gesamten Weltgeschehens in Ps 46 könnte sich aber
speziell der Kenntnis von Herrschaftsaussagen Sanhe-
ribs verdanken, der - soweit ich sehe - sich als einziger
neuassyrischer Herrscher auf diese Weise rhetorisch
stilisiert hat. Weitere Hinweise finden sich in Ps 48,2-8:
2 Groß ist JHWH und hoch zu loben in der Stadt unseres Gottes!
Sein heiliger Berg, 3 schön aufragend, (eine) Freude der ganzen
Erde!
Der Berg Zion, die Gipfel des Zaphon, die Stadt eines Großkönigs!
4 Gott ist in ihren Palästen bekannt als Fluchthöhe!
5 Denn, siehe, die Könige hatten sich versammelt, waren zusam-
men einhergezogen.
6 Kaum hatten sie gesehen, so erschraken sie, wurden von Sinnen,
flohen davon!
7 Ein Zittern hatte sie dort gepackt, ein sich Winden wie eine Ge-
bärende!
8 Mit dem Ostwind zerbrichst du Tarschischschiffe!

36 Russe//, Palace, 249; 324, Anm. 18: Transliteration in Lucken-


bill, Annals, 135f, 9-19.
37 E. Frahm, Historische und literarische Texte. Keilschrifttexte
aus Assur literarischen Inhalts 3 (WVDOG 121), Wiesbaden 2009,
66: VAT 9648, Vs., 2.5 (Salmanassar III.?).
144 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

Das Preislied auf JHWH in seiner Weltherrschaftsresi-


denz macht einerseits ebenfalls, wie lange gesehen
wurde, Anleihen an älteren - wiederum z.B. aus Ugarit
bekannten - Vorstellungen von der kosmischen Höhe
des Bergwohnsitzes einer Wettergottheit (V. 3: »Der
Berg Zion, die Gipfel des Zaphon«). Andererseits fallen
die singulären Züge des Textes auf, zu denen vorrangig
die Betonung der Palastarchitektur ('armonot V. 4) in
der »Stadt eines Großkönigs« gehört. Der Titel mäläk
rab für JHWH ist singulär 38 . Er ist eine genaue Ent-
sprechung zu akkadischem sarru rabu, dem geläufigen
Königstitel, der sich bei Sanherib auf den Inschriften
der für die Öffentlichkeit besonders sichtbaren Stierko-
losse an den Eingängen seines Thronraums im SW-Pa-
last befand (Raum I, Tore a und c). Die Inschriften be-
ginnen mit der Aussage: »Palace of Sennacherib, great
king (sarru rabu), mighty king, king of the world, king
of Assyria, king of the four quarters (of the earth), fa-
vorite of the great gods« 39 .
Entsprechend preist Ps 48 den Stadtgott Jerusalems in
der Rolle des Großkönigs, der von seiner Residenz in
der Weltmitte aus die fernen Weltränder kontrolliert,
wie es v.a. die Machtdemonstration gegen die Schiffe
zeigt: »Mit dem Ostwind zerbrichst du Tarschischschif-
fe ! « (V. 8). Diese Aussage wurde oft als Glosse ausge-
schieden, weil man sie als unpassend empfand 40 . Ich
halte es nicht für ausgeschlossen, dass Ps 48 an dieser
Stelle, wenn er von den nach Tartessos (in Spanien) fah-
renden phönizischen Schiffen spricht, Kenntnis davon
hatte, wie Sanherib in seinem 3. Feldzug Sidon eroberte
und wie er später die phönizischen Schiffe (= » Schiffe

38 Vgl. aber mäläk gadol in Mal 1,14 vor persischem Hintergrund.


39 Russell, Palace 243f; 324, Anm. 10: Luckenbill, Annals (s.o.
Anm. 29), 66, l; 117, 1.
40 Oft hat man auch auf den Personenwechsel zur »Du«-Anrede
in V. 8 verwiesen, was aber angesichts altorientalischer Texte kein
literarkritisches Kriterium darstellen muss (vgl. dazu jetzt den
methodenkritischen Exkurs bei Kreuch, Unheil und Heil [s.u. Anm.
72], 155-160).
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 145

des Landes Chattu«) bei der Kampagne im Süden ein-


setzte (6. Feldzug 41 ). Wie wichtig dem assyrischen Kö-
nig gerade die Herrschaft über diese Schiffe gewesen ist,
illustriert die Tatsache, dass im Thronraum (I) des SW-
Palastes, dem Ort, an dem seine Weltherrschaft öffent-
lich auch fremden Delegationen gegenüber demons-
triert wurde, die phönizischen Kriegsschiffe prachtvoll
abgebildet waren (Abb. 5.11) 42 . Die Kontrolle der peri-
pheren Regionen (hier des 3. Feldzugs in die Levante)
wird so im Zentrum des Reiches, vor dem Herrscher-
thron, anschaulich repräsentiert.
Auch das erneut hervorgehobene Motiv der Völker-
abwehr erscheint in Ps 48 in einer Form, die enge Pa-
rallelen in Aussagen Sanheribs hat, wiewohl die damit
verbundene Topik auch bei anderen assyrischen Köni-
gen begegnet43 . Die zweite Strophe von Ps 48 (V. 5-7),
schildert die Könige als gemeinsam rebellierend, bevor
sie »sehen« (ohne Objekt), erschrecken und angstge-
trieben fliehen. Es genügt, hierzu auf die Schilderun-
gen der Feldzüge Sanheribs in den Annalen zu verwei-
sen, bei denen der Topos der angesichts des Großkönigs
in unzugängliche Regionen fliehenden feindlichen Kö-
nige häufig wiederkehrt 44 . Genau wie in Ps 48 kommt
es dabei zumeist gar nicht zum Kampf:

41 Oriental Institute Prisma, Kol. IV, 37: Luckenbill, Annals, 38;


Taylor-Prisma, Kol. IV, 26: Bezold, In~chriften (s.o. Anm. 33), 101.
42 Auch im Palast Sargons II. in Dur-Scharrukin befand sich ein
Schiffs-Relief, auf dem lamassu als Schutzgenien die Hölzer trans-
portierenden Schiffe begleiten; Abb. in Maul, Sieg, 59 (s.o. Anm. 28),
Abb. 2 (= P. Albenda, The Palace of Sargon, King of Assyria, 1986,
Pl. 21). Im SW-Palast selbst vgl. weiter Slabs 11-13, Raum VIII(w),
mit phönizischen Kriegsschiffen (Russe II, Palace, 56, Fig. 33).
43 Vgl. im Blick auf den »Gottesschrecken« in den JHWH-Kriegen
den Hinweis auf die Häufigkeit des Topos in den assyrischen Kö-
nigsinschriften bei M. Weippert, »Heiliger Krieg« in Israel und As-
syrien, in: ders., Jahwe und die anderen Götter. Studien zur Religi-
onsgeschichte des antiken Israel in ihrem syrisch-palästinischen
Kontext (FAT 18), Tübingen 1997, 71-97, hier 85f.
44 Siehe zu dieser feststehenden Topik bei Sanherib den Hinweis
von Russell, Palace, 248: »Liverani observed that this pattern of be-
146 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

»Auf meinem dritten Feldzug zog ich nach Chattu. Luli (Eluläus),
den König von Sidon, warf die Furcht vor dem Glanze meiner Herr-
schaft nieder, er floh in die Feme, mitten ins Meer und verschwand
von der Bildfläche.« 45

Die Flucht erfolgt gelegentlich ausdrücklich aufgrund


des »Sehens« oder »Hörens« der feindlichen Könige:
»(Da) sah Uener) Maniai den Staub der Füße meiner
Krieger, verließ Ukku, seine Residenz, und floh in wei-
te Ferne.« 46 Oder: »Da hörte von der Einnahme seiner
Städte Kudur-Nachunte, der Elamer; Schrecken über-
kam ihn.« 47 Auch die Vereinigung zu einer Gesamtheit
von Gegnern »wie der Angriff eines Heuschrecken-
schwarms« findet sich beim Feldzug gegen die Ela-
mer48. Sanherib begegnete dieser Feindkoalition, indem
er gegen sie »brüllte wie der Sturmgott! Adad« 49 - eine

haviour of the enemy kings, first stated in the titularity in general


terms, is then restated in the form of specific examples in the ac-
count of every one of Sennacherib's royal campaigns. lt would seem
that for Sennacherib this was perhaps the ultimate tribute to his
military prowess for to defeat an enemy in batt!e is a great thing,
but to defeat him with the mere threat of your battle is surely
greater still.« Sanherib nahm das Motiv auch in seine Standard-
Titulatur auf (Ninive-Gründungs-Zylinder, 697 v.Chr.; Russe//,
ebd., 247{): »Strong princes feared my battles, deserted their dwel-
lings and, like bats, alone they fled to an inaccessible place.« (vgl.
ebd. 324, Anm. 16: Transliteration in Luckenbill, Annals, 24, 16-19;
Übersetzung in Liverani, Critique [s.o. Anm. 33], 2f).
45 R. Borger, in: K. Galling (Hg.), Textbuch zur Geschichte Israels,
Tübingen 3 1979, 67: Kol. II, 37f( Bezold, Inschriften, 91: Kol. II,
34-37 (Taylor-Prisma); Luckenbill, Annals, 29: Kol. II, 38--40 (Ori-
ental Institute Prisma). Auf dem Relief aus dem Thronsaal I des
SW-Palastes mit der Abbildung phönizischer Schiffe (Abb. 5.11)
befand sich auch eine bildliche Darstellung der Flucht eines
phönizischen Herrschers, sehr wahrscheinlich des Luli/Eluläus von
Sidon (Russell, Palace, 248).
46 Bezold, 101: Kol. IV, 12-14 (Taylor-Prisma); Luckenbill, 37: Kol.

IV, 23-25 (Oriental Institute Prisma).


47 Bezold, 103: Kol. IV, 69-71 (Taylor-Prisma); Luckenbill, 40: Kol.

IV, 81 + Kol. V, 1-2 (Oriental Institute Prisma).


48 Bezold, 107: Kol. V, 42--43 (Taylor-Prisma); Luckenbill, 43: Kol.
V, 55-56 (Oriental Institute Prisma).
49 Bezold, 109: Kol. V, 62 (Taylor-Prisma); Luckenbill, 44: Kol. V,

75 (Oriental Institute Prisma).


» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 147

bemerkenswerte Parallele zum Anherrschen der Gegner


durch den kriegerischen JHWH in Jes 17,13 und Ps 46,7.

Die Hinweise sollten genügen, um die Möglichkeit zu


unterstreichen, dass die Zionspsalmen 46 und 48, aber
auch Jes 17,12-14 in Auseinandersetzung mit neuas-
syrischen Herrschaftsaussagen, besonders denjenigen
Sanheribs, entstanden sein könnten. Der Selbstan-
spruch des Großkönigs wäre dann auf den Gott JHWH
übertragen worden, wie dies analog vermutlich auch
mit der Topik der Vasallenverträge und Loyalitätseide,
vor allem Asarhaddons, geschehen ist (»Bundes«-Vor-
stellung des Dtn) 50 . Das JHWH-Lob der Psalmen 46
und 48 hätte dann eine »triumphalistische« Note, in-
dem es die Assyrer unter Aufnahme ihrer eigenen
Rhetorik in der Rolle der in die Flucht geschlagenen
Feinde zeichnet. Insofern hat die oben genannte These
Wankes, dass hinter dem Lobpreis JHWHs und des
Zion als »Fluchthöhe« (Ps 48,4) die Erfahrung des Ab-
zugs des assyrischen Heereskontingents 701 v.Chr.
gestanden habe, durchaus etwas für sich. Man darf
dies nur nicht zum alleinigen Ausgangspunkt machen.
Vielmehr werden schon vorhandene Schutzvorstellun-
gen der Stadtgottkonzeption (vgl. Chirbet Bet Layy In-
schrift A) durch 701 v.Chr. verstärkt worden sein. Man
konnte 701 v.Chr., wie es bei einschneidenden Ge-
schichtserfahrungen der Fall zu sein pflegt, aber auch
ganz anders, nämlich als Fortwirkung des strafenden
Gerichtszorns ]HWHs lesen. Dies bezeugt das Jesaja-
buch, dem ich mich nun noch etwas genauer zuwenden
möchte. Vermutlich ist in ihm das sogenannte Völker-
kampfmotiv zuerst als Gerichtsansage entstanden.

so Die schon lange von vielen Alttestamentlern als wahrscheinlich


betrachtete Bezugnahme der Anfänge des Dtn im 7. Jh. v.Chr. auf
die Topik assyrischer Vasallenverträge hat nun durch den Fund ei-
nes unversehrten Exemplars eines Vassallenvertrags Assarhadons
im syrischen Tell Tayinat eine wichtige archäologische Stütze er-
halten (vgl. einstweilen Tell Tayinat Archaeological Project: http://
www.utoronto.ca/tap/).
148 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

III. Eine »pessimistische« Lesart von 701 v.Chr.? Das


assyrische Vielvölkerheer und die Herkunft des Völ-
kerkampfmotivs im Jesajabuch

Wie die Aktion eines assyrischen Heereskontingents


701 v.Chr. vor Jerusalem historisch einzuordnen ist,
wurde in den vergangenen Jahren erneut intensiv dis-
kutiert. Gerade angesichts einer guten Quellenlage (bib-
lische und assyrische Nachrichten) zeigt sich hier, dass
jeweils interessengeleitete Einfärbungen der Schilde-
rungen vorliegen. Als Resümee des Standes der Debat-
te lässt sich festhalten: Für Sanherib war es offenbar
nicht zentral, die Angelegenheit des unbotmäßigen His-
kia persönlich zu regeln. Wie es die prominente räum-
liche Position des berühmten Lachisch-Reliefs im Raum
XXXVI des SW-Palastes in Ninive zeigt (Plan: Abb. 5.
8), waren die Stadteroberungen in der Schefela das Er-
eignis, das für den Großkönig als ikonographisch reprä-
sentativ für die Behandlung Judas galt 51 . Mit dem »wie
einen Käfigvogel« 52 in Jerusalem eingekreisten und sei-
nes Gebietes beraubten Jerusalemer König hat er sich
offenbar nur insoweit befasst, als dieser zur Heraus-
gabe des Padi von Ekron und schließlich zur erneuten
Unterwerfung und Tributleistung gebracht wurde. Da-
für scheint - so die neueren Deutungen - die Stadt
nicht regelrecht belagert, wohl aber längere Zeit abge-
schnitten und eingeschlossen worden zu sein (»das Hi-
nausgehen aus seinem Stadttor verleidete ich ihm« 53 ).
Aus der Binnenperspektive des auf die Hauptstadt re-

51 Vgl. entsprechend die summarische Belagerungsschilderung für


»46 seiner (sc. Hiskias) festen, ummauerten Städte« in den Annalen
(TGI 3, 68).
52 TGI3, 69.
53 TGI 3, 69. Vgl. W. Mayer, Politik und Kriegskunst der Assy-

rer (ALASPM 9), Münster 1995, 350-363, bes. 360ff. Siehe auch
C. Hardmeier, Geschichtsblindheit und politischer Opportunismus
in Jes 22,1-14, in: M. Geiger/ C.M. Maier/ U. Schmidt (Hg.), Es-
sen und Trinken in der Bibel (FS R. Kessler), Gütersloh 2009, 374-
395.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 149

duzierten Juda war die letztliche Verschonung der Stadt


ein einschneidendes Ereignis, wie es die vielfältige Le-
gendenbildung beweist (in den Jesaja-Hiskia-Erzählun-
gen Jes 36-39 // 2Kön 18-19 aus vermutlich spätvore-
xilischer Zeit und 2Chr 32 sowie bei Herodot II, 141 54).
Auch die im vorigen Abschnitt genannten Zionspsal-
men 46 und 48 sowie Jes 17,12-14 könnten dies, wie
gesagt, mit einigem zeitlichen Abstand widerspiegeln.

Der Jerusalemer Prophet Jesaja, ein Mitglied der gebil-


deten Oberschicht, äußerte in den letzten Jahren des 8.
Jh.s v.Chr. seine Kritik am politischen Handeln der
»Männer des Geschwätzes, Herrscher dieses Volkes, das
in Jerusalem ist« (Jes 28,14). Er hatte im Vorfeld des 3.
Feldzugs Sanheribs für Juda dasselbe Schicksal vorher-
gesagt, wie es das Nordreich Israel 722/720 v.Chr. durch
Salmanassar V. und Sargon II. getroffen hatte. Das En-
de Israels war ihm ein Menetekel, das er vorhergesehen
und theozentrisch als Ausdruck der Geschichtsmacht
JHWHs deutete (Jes 8,1-4; 28,1-4). Durch den Verlauf
der Geschichte bestätigt, begannen Jesaja oder seine
ersten Tr):ldenten, die Worte des Propheten zu schrift-
lichen Kompositionen zusammenzufassen, in denen
JHWHs strafender Gerichtswille dokumentiert wurde,
um späteren Generationen als Deutehilfe zu dienen
(Jes 8,16-18 und 30,8). Diese »Archivierung« der In-
schriften des Königs ]HWH bildete den Beginn des
rasch anwachsenden Jesajabuches. Die Rolle Assurs war
darin zunächst eine rein negative: Das Großreich dien-
te - unter Aufnahme assyrischen Vertragsdenkens -
JHWH zur Vollstreckung seiner Strafsanktionen für
sein abtrünniges Volk. Er selbst hatte dazu die assyri-
sche Armee von den Enden der Erde »herbeigepfiffen«
(Jes 5,26): »Es (sc. das starke Volk), dessen Pfeile ge-
schärft (und) all seine Bogen gespannt sind. Die Hufe

54 Vgl. D.O. Edzard, Geschichte Mesopotamiens. Von den Sume-


rern bis zu Alexander dem Großen (Beck's Historische Bibliothek),
München 2004, 214.
150 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

seiner Rosse - wie der Kiesel werden sie geachtet, und


seine Räder wie der Sturmwind.« (Jes 5,28).
Wie seit dem wichtigen Aufsatz von Peter Machinist
von 1983 55 immer wieder herausgearbeitet wurde, ha-
ben Jesaja und seine Tradenten in ihrem Denken auf die
in Bild und Wort vermittelten Selbstdarstellungen der
assyrischen Herrscher ab Tiglatpilesar III. reagiert. Be-
sonders der Vergleich des assyrischen Heeres mit einer
unaufhaltsamen Flut (kima abubi, abubänis etc.) findet
sich in den beiden Kernen des Jesajabuches, der »Denk-
schrift« Jes 6-8 und dem »Assurzyklus« Jes 28-31:
Nach ]es 8,5-8 wird Juda wegen des mangelnden Ver-
trauens der Jerusalemer auf die »sanft fließenden Was-
ser von Siloah« (Jes 8,6) vorausgesagt, bis an den Hals
vom »König von Assur und seinem Schreckensglanz«
(kabod) überflutet zu werden. In diesen Versen findet
sich derselbe Gegensatz zwischen den »ruhigen Was-
sern«, die für JHWHs Präsenz in der Stadt stehen, und
den hier direkt mit den Assyrern identifizierten Cha-
osfluten wie in Ps 46 (siehe oben 11.). Der Unterschied
ist freilich, dass JHWH sein Land nach Jes 8 eben die-
sen Chaosfluten freigibt, um sein Volk zu strafen.
Ganz vergleichbar verhält es sich mit dem Kopftext des
»Assurzyklus«, ]es 28. In V. 14-22 wird die »einher-
flutende Peitsche« (pars pro toto für die Streitwagen
Assurs) die Jerusalemer zu »Zertretenen« machen, weil
sie, statt auf JHWHs Schutz zu vertrauen, mit dem
»Tod« (vermutlich mit Ägypten) einen Vertrag ge-
schlossen haben (vgl. dazu auch Jes 30,1-7 und 31,1-3).
Beachtenswert ist, wie das horizontale Weltbild Jeru-
salems in Jes 28 abgewandelt wird 56 : JHWH kündigt
wie in einer Bauinschrift eine Neugründung seiner
Wohnstatt auf dem Zion an (Jes 28,16). Die gegenwär-
tige Generation der Jerusalemer jedoch wird gänzlich

55 P. Machinist, Assyria and lts Image in the First Isaiah, JAOS


103 (1983) 719-737.
56 Vgl. dazu das Schema zu den Raumangaben in Jes 28 (Abb. 5.12,

s. dazu ausführlich den Beitrag oben S. 31-61).


» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 151

vernichtet werden, indem die »strömende Peitsche« Tag


und Nacht, auch zur positiv besetzten Morgenzeit, ein-
herfahren wird (Jes 28,19). Denn JHWH, der auf dem
Berg Zion wohnt, hat sein Angesicht dauerhaft verbor-
gen (Ptz., Jes 8,17f).
Angesichts des tatsächlichen Verlaufs der Ereignisse
von 701 v.Chr. wird man sagen können, dass es zuletzt
so schlimm nicht gekommen ist. Und genau an diesem
Punkt entstand im Nachgang ein Konflikt der Interpre-
tationen zwischen der »triumphalistischen« Sicht der
Legendenbildung (siehe oben II) und der »pessimis-
tischen« Sicht der älteren Jesajatexte. Bereits Jesaja und
seine Unterstützer mussten sich dazu verhalten, wie
die Gerichtsansagen post festum zu verstehen waren.
In ]es 22,1-14 haben wir glücklicherweise einen Text,
der trotz späterer Überarbeitung (angesichts der Bela-
gerung durch die Babylonier 587 v.Chr.) im Kern ge-
nau von diesem Deutungszwiespalt nach 701 v.Chr. zu
berichten scheint57 . In der Stadt wird nach Abzug der
Truppen Sanheribs und trotz Verlusten offenbar ausge-
lassen gefeiert (Jes 22,l-3.12f), anstatt die von JHWH
geforderten Trauerrituale durchzuführen. Der Prophet
betont seine Untröstlichkeit angesichts der » Verhee-
rung« (V. 4) und kündigt ein weiteres Gericht JHWHs
wegen »dieser Schuld« der verfrühten Freude an (V.
14). Dass man in Jes 22,1-14 relativ nahe an die Situa-
tion von 701 v.Chr. herankommen könnte, legen vor
allem V. 5-11 nahe. Rückblickend schildern sie die Be-
drohung der Stadt und die Verteidigungsmaßnahmen.
Mir kommt es hier auf Ersteres an (V. 5-8):

5 Denn einen Tag von Lärm und Zertretung und Bestürzung hatte
JHWH Zebaoth im Tal (der) Schauung, zertrümmernd Mauern und
Geschrei zum Berg hin! 6 Und Elam hat erhoben (den) Köcher, mit
Wagen, Menschen, Gespannpferden/Reitern, und Kir hat entblößt

57 Siehe dazu die Analysen von H. Liss, Die unerhörte Prophetie.


Kommunikative Strukturen prophetischer Rede im Buch Yesha'ya-
hu (ABZG 14), Leipzig 2003, 171-189; Hardmeier, Geschichtsblind-
heit (s.o. Anm. 53).
152 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

(den) Schild! 7 Und das Erwählte deiner Talebenen füllten Wagen,


und die Gespannpferde/Reiter hatten Position zum Tor bezogen!
8 Da deckte man auf die Decke/ den Schutz Judas!

Der Text ist erstaunlich detailliert in seiner Beschrei-


bung beweglicher Heeresteile ohne schweres Belage-
rungsgerät. JHWH gilt - wie auch sonst in der theo-
zentrischen Geschichtsdeutung Jesajas - als der Herr
des Geschehens. Häufig hat man die scheinbar ana-
chronistische Nennung von Elamern und Aramäern
(Kir) in V. 6 (Bogen- und Speerkämpfer [?]) als Indiz
für eine spätere Glossierung oder Datierung gewertet.
Hier könnte aber ein durchaus konkreter Hinweis auf
die Verhältnisse in der neuassyrischen Armee erhalten
geblieben sein. Ins assyrische Heer waren sowohl an-
geworbene wie unterworfene ausländische Spezialisten
und Hilfstruppen inkorporiert 58 . So hat Sargon II. nach
der Eroberung Samarias ein samarisches Streitwagen-
kontingent unterhalten (»200 Wagen nahm ich in mei-
ne königliche Garde auf« 59 ), dessen Führungskräfte so-
gar der königlichen Familie nahestanden, wie es die
Auswertung von Briefen und Pferdelisten durch Ste-
phanie Dalley zeigt60 . Wie Sanherib für die Schiffe auf

58 Vgl. etwa E. Otto, Krieg und Frieden in der Hebräischen Bibel


und im Alten Orient. Aspekte für eine Friedensordnung in der Mo-
deme (Th Fr 18), Stuttgart u.a. 1999, 62: »Es darf als ein gesichertes
Ergebnis gelten, daß in sargonidischer Zeit die Armeen überwiegend
aus verbündeten Hilfstruppen bestanden, was sowohl für das ste-
hende Heer wie für die Armeen ausgehobener Soldaten galt.« Die
seit Sargon II. belegte Bezeichnung ki~ir sarrüti »Zusammengefüg-
tes, Zusammengeschartes« (AHw I, 488f; vgl. Wildberger, Jesaja. 2.
Teilband: Jesaja 13-29 [BK.AT X/2], Neukirchen-Vluyn 1978, 672),
bezeichnet wahrscheinlich auch diese multiethnische Struktur.
59 TGI3, 60.
60 S. Dalley, Foreign Chariotry and Cavalry in the Armies of Tig-
lath-Pileser III and Sargon II, Iraq 47 (1985) 31-48; dies., Ancient
Mesopotamian Military Organisation, in: ].M. Sasson (Hg.), Civili-
zations of the Ancient Near East I-II, Peabody, MA 2000 (= New
York 1995), 413-422; vgl. weiter F. Malbran-Labat, L'Armee et
l'organisation militaire de l'Assyrie d'apres !es lettres des Sargoni-
des trouvees a Ninive (Hautes Etudes Orientales II), Genf/Paris
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 153

die Expertise phönizischer Schiffbauer zurückgriff, so


hatten die assyrischen Herrscher im Blick auf die Pfer-
debeschaffung für die Kavallerie (aus dem Bereich der
Reitervölker im Nordosten) und die schweren und
übergroßen Streitwagenpferde (aus Ägypten/Kusch 61 )
immer auch ausländische Spezialisten in der Armee.
Sie alle galten als ffäb sarri »Truppen des Königs«. Dass
sich auch in der Leibwache Sanheribs vermutlich pa-
lästinische (Kopfbedeckung wie die Bevölkerung von
Lachisch, vgl. Abb. 5.10) Schild- und Speerträger be-
fanden, ist lange bekannt (Abb. 5.13) 62 .
Auch ikonographisch lassen sich nach den Studien von
Julian Reade und Markus Wäfler anhand von Antiqua-
ria wie Waffen und Helmformen fremde Armeeange-

1982, 88-101; A. Kuhrt, The Ancient Near East c. 3000-330 BC II


(Routledge History of the Ancient World), London / New York
1995, 533.
61 Siehe die übergroßen Pferde als Tributgabe der Herrscher Ägyp-
tens für König Piye aus dem ersten Hof (B 501) des Großen Amun-
Tempels am Gebel Barkal, 726 v.Chr. (Abb. in: D. Wildung [Hg.],
Die Pharaonen des Goldlandes. Antike Königreiche im Sudan,
Ausstellungs-Katalog, Reiss-Museum Mannheim 1998 [Original-
ausgabe Tübingen 1996], 164f).
62 Nach W. Mayer setzte sich die Armee der Sargoniden aus Assy-
rern, fremden Spezialisten, Söldnern (»Freiwillige aus Vasallenge-
bieten«, Mayer, Politik [s.o. Anm. 53], 425) und Zwangsrekrutier-
ten aus den Vasallen zusammen, die teils auch den Tross des Heeres
gebildet haben. B. Meissner beschrieb den Sachverhalt seinerzeit so:
»Die Rekrutierung dieses immer grö'ßer werdenden stehenden Hee-
res mag nicht leicht gewesen sein; denn die Bewohnerschaft der
kleinen Landschaft Assyrien, ja auch der Provinzen reichte zu die-
sem Behufe längst nicht aus. Daher mußten Sanherib und seine
Nachfolger zu dem folgenschweren [... ] Mittel [... ] greifen, gefan-
gene, feindliche Truppen in die ,königliche Schar< einzureihen. So
verfuhr Sanherib mit 10000 Bognern und 10000 Schildträgern aus
der Beute des Westlandes, und Assurbanipal ,fügte Bogenschützen,
Schildträger, Werkleute und Waffenschmiede, die er aus Elam als
Beute weggeführt hatte, seiner königlichen Schar hinzu<.« (B.
Meissner, Babylonien und Assyrien I [Kulturgeschichtliche Biblio-
thek I. Reihe: Ethnologische Bibliothek], Heidelberg 1920, 90f;
Quellenangaben ebd., 90f: Sanherib: Sanh. III, 41 Var.; vgl. KB. II,
96, Anm. 8; Assurbanipal: VAB VII, 60, VII, 2ff).
154 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

hörige identifizieren 63. Dabei muss - so etwa im Fall der


nach Karkemisch oder Karatepe verweisenden Speerträ-
ger mit Rundschild (Tiglatpilesar III. 64 ), die an ihrem
charakteristischen Raupenhelm erkennbar sind (Abb.
5.14) - die genaue ethnische Herkunft meist offenblei-
ben65. Im Fall des Westfeldzuges Sanheribs sind wir
durch die Darstellungen des Lachisch-Relief-Zyklus
über die einzelnen Phasen der Eroberung einer judäi-
schen Stadt gut informiert. Auch wenn sich nicht er-
mitteln lässt, ob die Reliefschneider über direkte An-
schauung oder entsprechendes Skizzenmaterial verfügt
haben, ist anzunehmen, dass die Wiedergabe der Anti-
quaria realistisch ist. Die Schiene des Helmbusches ei-
nes Raupenhelms, wie er den Sturmtruppen wohl nord-
syrischer Herkunft zugeordnet werden kann, wurde bei
den Ausgrabungen von Lachisch gefunden (Abb. 5.15).
Zusammen mit diesen Infanteristen finden sich auf den
Lachisch-Reliefs auch nach Kleidung und Material ver-
schiedene Bogenschützenkontingente (Abb. 5.16). Un-
ter ihnen sind Personen, die an Darstellungen der Ela-
mer auf den späteren Reliefs Assurbanipals erinnern.
Ein charakteristisches Merkmal dieser Truppen ist der
oben mit einer runden Abdeckung versehene Köcher.
Wie John Malcolm Russell gezeigt hat, sind diese Bo-
genschützen vor Lachisch, die Reade vorsichtig »pro-
bably Elamites« genannt hatte 66, auf Reliefs des SW-Pa-

63 ]. Reade, The Neo-Assyrian Court and Army: Evidence from the


Sculptures, Iraq 34 (1972) 87-112; M. Wäfler, Nicht-Assyrer neu-
assyrischer Darstellungen (AOAT 26), Kevelaer/Neukirchen-Vluyn
1975; siehe auch B. Hrouda, Die Kulturgeschichte des assyrischen
Flachbildes (Saarbrücker Beiträge zur Altertumskunde 2), Bonn
1965.
64 Siehe E. Mango / C. Uehlinger, Orthostatenreliefs aus dem
Zentral-Palast Tiglatpilesers III., in: E. Mango / ]. Marzahn / C.
Uehlinger u.a., Könige am Tigris. Medien assyrischer Herrschaft
(Ausstellungskatalog), Zürich 2008, 153-167.
65 Es ist auch denkbar, dass die Geräte und Ausrüstungen im Lauf
der Zeit integraler Teil der Armee wurden, ohne dass sie stets mit
Menschen derselben regionalen Hintergründe verbunden waren.
66 Reade, Neo-Assyrian Court, 107.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 155

lasts, die man dem 2. Feldzug Sanheribs zuweisen kann,


als aus dem Osten Deportierte dargestellt (Abb. 5.17 67).
Sie könnten insofern beim 3. Feldzug nach Westen
leicht in die Armee integriert worden sein. Hier lässt
sich zwar keine Sicherheit erreichen, es ist aber durch-
aus möglich, die in Jes 22,6 genannten Elamer vor die-
sem Hintergrund als realistische Angabe zu verstehen.
Für die in Jes 22,6 ebenfalls genannten aramäischen
Hilfstruppen aus Kir (nur alttestamentlich, nicht keil-
schriftlich belegt, vgl. Am 1,5; 9,7; 2Kön 16,9) scheint
aufgrund des biblischen Befundes eine mittel- oder süd-
babylonische Lokalisierung angemessen zu sein 68 .

Schon August Dillmann 69 und später Hans Wildber-


ger70 haben das assyrische Vielvölkerheer zur Deutung
der genannten Stellen des sogenannten Völkerkampf-
motivs herangezogen: »Es ist durchaus verständlich,
daß vom assyrischen Heer als den □':J."7 □ 'Dl) (= »vie-
len/zahlreichen Völkern«) gesprochen wird.« 71
So könnte dann auch das berühmte sogenannte Ariel-
Wort des »Assur-Zyklus« in ]es 29,1-8 vor diesem
konkreten Hintergrund verständlich werden, wie es
jüngst Jan Kreuch in einer Hamburger Dissertation
von 2010 vermutet hat 72 . Dieser Text beginnt mit einer
Gerichtsankündigung gegen Jerusalem, bei der sich
JHWH selbst als das hintergründige Subjekt der Bela-
gerung herausstellt (V. 1-4):

67 Raum XL VI, Slabs 6-7; vgl. Russe II, Palace, 159f.


68 Vgl. Wildberger, Jesaja. 2 Teilband (s.o. Anm. 58), 819.
69 Vgl. A. Dillmann, Der Prophet Jesaja (KEH V), Leipzig 1890,
165, der zu Jes 17,12-15 vermerkte, es handele sich bei den dort ge-
nannten »vielen Völkern« um »etwas auch andern, als dem Prof.,
schon Vernehmbares«, nämlich »(wie 8,9f. 14,26. 22,6. 29,7f.) das
aus Truppen vieler Völker zusammengebrachte ass. Heer«.
70 Wildberger, Jesaja. 2. Teilband, 671-672 (zu Jes 17,12-14) und
818-820 (zu Jes 22,6).
71 Wildberger, ebd., 672.
72 ]. Kreuch, Unheil und Heil bei Jesaja. Studien zur Entstehung

des Assur-Zyklus Jesaja 28-31, Dissertation Hamburg 2010 (er-


scheint 2011 als WMANT 130, Neukirchen-Vluyn).
156 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

»1 Wehe, Arie!, Arie!, Stadt, wo David lagerte! Fügt hinzu Jahr auf
Jahr, Feste sollen kreisen! 2 Aber ich werde Arie! bedrängen, und
es wird sein Traurigkeit und Trauer, und (sie) wird für mich wie
(ein) Arie! sein! 3 Und ich werde wie ein Kreis gegen dich lagern
und will vor dir einengen einen Wall und will aufrichten gegen dich
Schanzen. 4 Dann wirst du tief gebeugt von der Erde aus reden und
aus dem Staub wird versunken dein Wort (ertönen). Und es wird
sein wie ein Totengeist aus der Erde deine Stimme und aus dem
Staub wird zirpen dein Wort!

Der Begriff »Ariel« ist unsicher, scheint aber die Kon-


notation des Brandopferaltars zu haben (Ez 43,15f) und
insofern pars pro toto für die Stadt unter dem Aspekt
des kultischen Zentrums zu stehen, bei dem im Text
das Opferfeuer jedoch unheilsmetaphorisch mit dem
Zerstörungsfeuer assoziiert wird (vgl. Jes 31,9) 73 . Das
Ariel-Wort zeichnet sich im Ganzen nicht nur durch
die schwierige Bildsprache, sondern auch durch deren
im Textverlauf zunehmende Ambivalenz aus. In den
gerade zitierten Versen ist es noch ein eindeutig nega-
tives Gerichtswort, ab V. 5 aber schillern die Textaus-
sagen und eröffnen die Möglichkeit einer doppelten Le-
sung, als Gericht und als Heil (V. 5-7):
5 Und es wird sein wie Staub das Tosen deiner Fremden (4QJesa:
Vermessenen) und wie vorüberfliegende Spreu das Tosen von
Wütenden! Und es wird plötzlich sein, im Nu! 6 Von JHWH Ze-
baoth wird (sie) heimgesucht / gnädig besucht werden (pqd) mit
Donner und mit Beben und mit mächtiger Stimme, (mit) Wind und
Sturm und fressender Feuerflamme! 7 Und es wird sein wie ein
Traum, ein Nachtgesicht das Tosen· aller Nationen, die kriegerisch
gegen Arie! heranziehen, und all ihre Wälle und Schanzen und die
sie Bedrängenden.

Schon die Bilder von Staub und Spreu (letzteres auch


vor dem Hintergrund von Jes 17,13) scheinen das Ver-

73 Hinsichtlich der in V. 4 artikulierten Todesmetaphorik, die dem


hoj »wehe« zu Beginn korrespondiert, verweist Kreuch, Unheil und
Heil, 143, auf eine Inschrift Tiglatpilesars III., nach der die Feinde
durch den Großkönig nicht nur »überflutet« wurden »wie eine
Flut«, sondern »zu kraftlosen Geistern« gemacht wurden (zlqlqu
»Hauch, Wind, Geist«; H. Tadmor, The Inscriptions of Tiglatpilesar
III King of Assyria, Jerusalem 1994, Summ. 11, 195, Z. 2).
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 157

fliegen der Bedrohung anzuzeigen. Zugleich aber könn-


te der Staub auch für die bedrohliche Wolke der An-
greifenden stehen (»der Staub ihrer Füße war vor mir
wie eine schwere Sturmwolke« [Sanherib]74). Der am
stärksten diskutierte doppelsinnige Ausdruck des Ab-
schnitts ist das Verb pqd in V. 6, das sowohl ein feind-
liches »Heimsuchen« als auch ein gnädiges »Besuchen«
sein kann - in letzterer Bedeutung ist es offenbar Ge-
genstand der Bitte von Inschrift Baus Chirbet Bet Layy
(s. oben I.a: »Schreite ein [pqd], JH, gnädiger Gott!«).
Die Theophanieelemente vor dem Hintergrund von
Wettergotttraditionen in V. 6 sind als solche ambiva-
lent. Und schließlich erscheint auch der Vergleich mit
Traum und Nachtgesicht in V. 7 als doppelbödig: Steht
er für die Flüchtigkeit des Geschehens oder nicht doch
für seine besondere Realität als Mitteilung Gottes?
(Dies vor allem im Blick auf den Begriff »Nachtge-
sicht«). Erst V. 8 legt in Aufnahme der Elemente »To-
sen« und »Traum« von V. 7 den Sinn eindeutig auf die
heilvolle Errettung der Stadt fest:

8 Und es wird sein wie wenn der Hungrige träumt: Siehe, dass
er isst, aber (dann) erwacht und leer ist seine Kehle, und wie wenn
der Durstige träumt, siehe, dass er trinkt, aber (dann) erwacht
und, siehe, ermattet und trocken ist seine Kehle - so wird das Tosen
aller Nationen sein, die kriegerisch gegen den Berg Zion heranzie-
hen!

Innerhalb des Assur-Zyklus •Jes 28-31 vollzieht sich


also, wie man lange gesehen hat, die Wende zum Heil
unter der Prämisse »Assur wird fallen« (Jes 31,8).
Auch in Jes 10 ist dem ein umfangreicher Abschnitt
gewidmet: » Wehe, Assur, dem Stecken meines Zorns
und der Rute meines Grimms!« (Jes 10,1). Grund für
die Wandlung vom Gerichtswerkzeug zum Objekt des
Gerichts ist die Überheblichkeit der Assyrer: »Rühmt
sich auch die Axt gegen den, der damit haut?« (Jes

74 Bezold, Inschriften, 107: Kol. V, 45 (Taylor-Prisma); Luckenbill,

Annals, 44: Kol. V, 58 (Oriental Institute Prisma).


158 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

10,15, vgl. Jes 10,12). Immer genauer erscheinen in den


durch Fortschreibung erweiterten Jesajatexten die Um-
risse eines langzeitigen Geschichtshandelns JHWHs
(]es 14,24-27, hier 24-25a):

24 Geschworen hat JHWH Zebaoth: Fürwahr, wie ich es geplant


habe, so ist es gekommen. Und was ich beschlossen habe, das ge-
schieht! 25 Zum Zerschmettern Assurs in meinem Land, und auf
meinen Bergen werde ich es zertreten!«

Nicht von ungefähr werden wir hier an die Inschrift A


aus Chirbet Bet Layy erinnert: »in meinem Land« und
»auf meinen Bergen« wird JHWH nach Jes 14,25a ge-
gen Assur vorgehen (vgl. »die Berge Judas gehören
dem Gott Jerusalems« [Inschrift A]). Jes 14,24-27 ge-
hört wie Jes 10 und Teile des Assur-Zyklus (vgl. den
eben besprochenen Vers Jes 29,8) zur einst von Her-
mann Barth herausgearbeiteten »Assur-Redaktion« aus
der zweiten Hälfte des 7. Jh.s v. Chr.7 5 In ihr haben die
Prophetentradenten, geschult an der Wahrnehmung
der Geschichtsverläufe mit Hilfe ihrer Aufzeichnun-
gen, nun Assurs Untergang vorhergesagt. Im Unter-
schied zu den Zionspsalmen 46 und 48, die bereits nach
701 v.Chr. die Identität Judas im Sinne der »offiziellen
Religion« des Staates bestärkt gesehen hatten (in der
Zeit Manasses, 696-642 v.Chr. - ich habe dies oben als
»triumphalistische« Deutung bezeichnet), hat die »pes-
simistische« Sicht der ]esajaüberlieferung also erst
dann von der Wende zum Hei[ gesprochen, als das
Großreich seinem Ende nahe war. In der Phase der Re-
konsolidierung der Eigenständigkeit Judas unter Jo-
schija (639-609 v.Chr.) wurde die Gerichtsprophetie
Jesajas auf diese Weise erneut zukunftserschließend.

75 H. Barth, Die Jesaja-Worte in der Josiazeit. Israel und Assur als


Thema einer produktiven Neuinterpretation der Jesajaüberlieferung
(WMANT 48), Neukirchen-Vluyn 1977. Vgl. auch den Abschnitt
»Die älteste Jesajaüberlieferung und ihre josianische Rezeption« bei
K. Schmid, Literaturgeschichte des Alten Testaments, Eine Einfüh-
rung, Darmstadt 2008, 97-101.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 159

Das werdende Jesajabuch hatte einen großen Schritt


hin zu der umfassenden Prophetenschrift getan, als die
es uns heute vorliegt. Die sogenannte »Zionstradition«
spielte dabei von Anfang an eine wichtige Rolle. Man
muss aber - wie wir gesehen haben - sehr genau her-
ausarbeiten, was damit gemeint ist. Ich möchte dazu
meine Ergebnisse zum Schluss in einer Thesenreihe
zusammenfassen.

IV. Resümee: Thesen zur Entstehung der Zionstradi-


tion

1. Mit dem Begriff »Zionstradition« ist ein Teilaspekt


der Jerusalemer Kulttraditionen der staatlichen Zeit be-
zeichnet, wonach im Sinne einer Symbolik des Zent-
rums die Stadt Jerusalem und ihr Umland bis hin zur
ganzen Erde das Herrschaftsgebiet JHWHs bildet. Ein
besonderer Ton liegt in den entsprechenden Aussagen
auf dem Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie,
Innen und Außen, Kosmos und Chaos (vgl. dazu auch
die Inschrift A aus Chirbet Bet Layy).

2. In der Phase des judäisch-assyrischen Kulturkon-


takts, verstärkt ab Tiglatpilesar III., bildete die Stadt-
gottkonzeption Jerusalems im eben skizzierten Sinn
eine wichtige Bezugsgröße für die Deutung der ver-
stärkten Westexpansion Assurs und der damit verbun-
denen politischen Abhängigkeiten. Insbesondere das
sogenannte » Völkerkampf«-Motiv, für das es keine äl-
tere religionsgeschichtliche Parallele gibt, bildete sich
vor diesem Hintergrund heraus.

3. Die Anfänge des Völkerkampfmotivs lassen sich


am ]esajabuch herausarbeiten: Die »Denkschrift« Jes
6-8 und der »Assur-Zyklus« Jes 28-31 enthalten alte
Kerne, die besonders nach 701 v.Chr. durch Jesaja oder
seine Tradenten als literarische Kompositionen ausge-
arbeitet wurden. Sie nahmen Stellung zu der Frage, wie
160 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

die Verschonung Jerusalems durch Sanherib zu verste-


hen war: Jesaja hatte vor dessen 3. Feldzug der Stadt
und ihrer Bevölkerung den Untergang durch die assy-
rische »Flut« vorhergesagt (Jes 8,5-8 und 28,12-22).
Auch wenn dies so nicht eingetroffen war (vgl. Jes
22, 1-14), deutete die Schriftprophetie das Geschehene
negativ - das Gericht war für sie nur aufgeschoben.
JHWH blieb für diese »pessimistische« Position auf
unbestimmte Zeit ein im Zorn über sein abtrünniges
Volk »verborgener Gott« (Jes 8,16-18*).

4. In den alten Bestandteilen der Zionspsalmen 46


und 48 findet sich eine andere Bewertung der Ereig-
nisse von 701 v.Chr. Im Sinne des auch in der Inschrift
A von Chirbet Bet Layy zum Ausdruck kommenden
Vertrauens auf die schützende Anwesenheit ]HWHs
»inmitten« seiner Stadt vertraten diese Psalmen eine
»triumphalistische« Position. Dabei stehen sie vermut-
lich der »offiziellen« Religion Judas unter Manasse
nahe (1. Hälfte des 7. Jh.s v.Chr.). Die Oppositionslite-
ratur von Jes 28-31 * (Suche nach dem falschen Schutz)
und des judäischen Propheten Micha (Mi 3,11: »Ist
nicht JHWH in unserer Mitte?«, vgl. Ps 46,6) sowie
später Jeremias (Jer 7,4: »Der Tempel JHWHs, der
Tempel JHWHs, der Tempel JHWHs ist hier!«) kriti-
sierten ein solches, durch 701 v.Chr. bestärktes, blindes
Vertrauen auf den Stadtgott: Aus ihrer geschichts-
theologischen Sicht konnte JHWH die Einwohner Jeru-
salems dem Feind durchaus preisgeben.

5. Die Verfasser von Ps 46* und 48* und der ersten


Jesajataxte sind im 8.17. Jh. v.Chr. unter den gebildeten
]erusalemer Beamten am Hof und Tempel zu suchen.
Die schriftkundige Elite stand auch im diplomatischen
und wirtschaftlichen Austausch mit offiziellen Vertre-
tern Assurs, dessen unmittelbarer Einflussbereich seit
722/720 v.Chr. wenige Kilometer nördlich Jerusalems
begann (Provinz Samerina). Vielleicht befand sich wäh-
rend der Manassezeit in Jerusalem sogar dauerhaft ein
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 161

offizieller Vertreter Assurs (qepu), wie dies für andere


Vasallenstaaten belegt ist7 6.

6. Als sich im letzten Drittel des 7. Jh.s v.Chr. der


Niedergang des assyrischen Weltreiches abzeichnete
(Zeit Joschijas ), haben die Tradenten der Jesajaprophe-
tie die Unheilszeit als beendet und eine Wende zum
Heil für Juda verkündet: Dem Gerichtswerkzeug Assur
wird von JHWH der Untergang bereitet (vgl. Jes 10;
14,24-27). Doch auch diese Sicht war befristet, die Er-
eignisse sollten sich durch die Neubabylonier und die
Wende zu den Achämeniden noch einmal wiederholen
(vgl. entsprechend die Bedeutung des Zion in nachexili-
scher Zeit).

7. In der fortgeschrittenen Schriftprophetie und dem


wachsenden Psalter (vgl. Ps 2; 83) wurde das Völker-
kampfmotiv zu einer endzeitlichen Vorstellung. In den
hellenistischen »Summen« der Prophetie in Sach 12
und 14 und in Jes 66 begegnen beide Spielarten (der
durch JHWH geführte Angriff der Völker gegen Jeru-
salem und die rettende Abwehr derselben, vgl. oben
I.2) als gemeinsame Elemente der endgültigen Durch-
setzung des Königtums Gottes. Doch auch die Wurzeln
für diese spätesten Ausprägungen der »Zionstradition«
liegen zuletzt sehr wahrscheinlich in assyrischer Zeit.

76 Vgl. S.W. Holloway, Assur is King! Assur is King! Religion in


the Exercise of Power in the Neo-Assyrian Empire (Culture and
History of the Ancient Near East 10), Leiden/Boston/Köln 2002,
326-327: »civil administrator responsible for a territory or district,
an individual city, or a temple« (326); »Qepu-officials were appa-
rantly stationed throughout the Assyrian empire« (326).
162 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

FIGURE3C
SMl'ITMANN

FIGURE4A FIGURE4C
ARCHER (NO 4) WARRIOR wrrn CRESTED HELMEI' (NO 6)

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Abb. 5.1: Inschrift A Chirbet Bet Layy. - Quelle: S. Mittmann, A
Confessional Inscription from the Year 701 BC Praising the Reign
of Yahweh, Acta Academica 21 (1989) 35, Fig. 3c.
Abb. 5.2: Chirbet Bet Layy, Bogenschütze? - Quelle: Mittmann,
Inscription, 35, Fig. 4a.
Abb. 5.3: Chirbet Bet Layy, Krieger mit Raupenhelm? - Quelle:
Mittmann, Inscription, 36, Fig. 4c.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 163

f1GURE4E
SHIPS(N07)

Abb. 5.4: Chirbet Bet Layy, Beterfigur? - Quelle: Mittmann, In-


scription, 37, Fig. 4f
Abb. 5.5: Chirbet Bet Layy, (phönizische?) Schiffe - Quelle: Mitt-
mann, Inscription, 36, Fig. 4e.
164 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

FIGURE4B
ARMY CAMP (NO 10)

FIGURE6
ASSYRIAN CAMP OF 1HE SIEGE OF IACHISH IN 701 BC.
RELIEF FROM 1HE PAIACE OF SENNACHERIB IN NINIVEH
(AFIBR D USSISHKIN, THE CONQUEST OF
LACH/SH, 92)

Abb. 5.6: Chirbet Bet Layy, Skizze eines (assyr.) Lagers und Zeltes?-
Quelle: Mittmann, Inscription, 35, Fig. 4b.
Abb. 5.7: Assyr. Lager bei Lachisch, Sanherib - Quelle: Mittmann, In-
scription, 38, Fig. 6.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 165

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Abb. 5.8: Plan des SW-Palastes Sanheribs in Ninive - Quelle: J.M.


Russell, Ninive - die große Stadt, in: W. Seipel / A. Wieczorek (Hg.),
Von Babylon bis Jerusalem. Die Welt der altorientalischen Königs-
städte. Band 1 (Ausstellungskatalog), Mannheim u.a. 1999, 124,
Abb. 5.
166 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

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Abb. 5.9: Wasserhebewerk (Schleusenanlage zum Transport der


Stierkolosse?): Sanherib, SW-Palast, Ninive, Slab 63, Hof VI -
Quelle:]. Reade, Assyrian Sculpture, London 21998, 53, Abb. 54.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 167

Abb. 5.10: Gefangene (aus Palästina?) bei Bauarbeiten, Sanherib,


SW-Palast, Slab 50?, Hof VI (Ausschnitt) - Quelle: M. Wäfler,
Nicht-Assyrer neuassyrischer Darstellungen (AOAT 26), Kevelaer/
Neukirchen-Vluyn 1975, Tf. 3,1 (vgl. Wäfler, Textteil, 58f.).
168 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

Abb. 5.11: Phönizische Kriegsschiffe, Sanherib, SW-Palast, Thron-


raum I, Slab 14 - Quelle: P. Matthiae, Ninive. Glanzvolle Haupt-
stadt Assyriens, München 1998, 111, oben.
~ Zur Metaphorik von Jesaja 28,14-22 "'
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170 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

Abb. 5.13: Leibwächter Sanheribs, derjenige rechts aus Palästina?,


Ninive - Quelle: Reade, Assyrian Sculpture, 71, Abb. 79.
»Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 171

Abb. 5.14: Aramäische Bogenschützen (aus Südbabylonien?) und


nordsyrische (aus Karatepe, Karkemisch?), Infanteristen (Sturm-
truppen mit Rundschild und Raupenhelm), Tiglatpilesar III. - Quel-
le: E. Mango I C. Uehlinger, Orthostatenreliefs aus dem Zentral-
Palast Tiglatpilesers III., in: E. Mango /]. Marzahn / C. Uelinger
u.a., Könige am Tigris. Medien assyrischer Herrschaft (Ausstel-
lungskatalog), Zürich 2008, 165f.
172 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

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Abb. 5.15: Rekonstruierter Helmbusch eines Raupenhelms aus


Lachisch, sowie Metallplättchen eines Schuppenpanzers und eine
Pfeilspitze - Quelle: 0. Keel / M. Küchler, Orte und Landschaften
der Bibel II. Ein Handbuch und Studienreiseführer zum Heiligen
Land. Band 2: Der Süden, Zürich/Göttingen 1982, 901, Abb. 603-
605.
» Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12) 173

Abb. 5.16: Bogenschützen vor Lachisch, SW-Palast, Raum XXXVI -


Quelle: Reade, Assyrian Sculpture, 66, Abb. 72.
174 » Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12)

Abb. 5.17: Deportation von Menschen aus dem Osten, SW-Palast,


Raum XL VI, Slab 6-7 - Quelle: ].M. Russell, Sennacherib's Palace
without Rival at Ninive, Chicago/London 1991, 159, Fig. 82.
Nachweis der Erstveröffentlichungen

1
JHWH und der »Schreckensglanz« Assurs (Jesaja 8,6-8)
Traditions- und religionsgeschichtliche Beobachtungen
zur »Denkschrift« Jesaja 6-8*
F. Hartenstein/ J. Krispenz / A. Schart (Hg.), Schriftprophe-
tie (FS J. Jeremias), Neukirchen-Vluyn 2004, 83-102.

2
Tempelgründung als »fremdes Werk«
Beobachtungen zum »Ecksteinwort« Jesaja 28,16-17
M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS 0. Kaiser)
(BZAW 345/1), Berlin/ New York 2004, 491-516

3
Unheilsprophetie und Herrschaftsrepräsentation
Zur Rezeption assyrischer Propaganda im antiken Juda
(8./7. Jh. v.Chr.) .
M. Pietsch / F. Hartenstein (Hg.), Israel zwischen den Mäch-
ten (FS S. Timm) (AOAT 364), Münster 2009, 121-143

4
»... dass erfüllt ist ihr Frondienst« (Jes 40,2)
Die Geschichtshermeneutik Deuterojesajas im Licht
der Rezeption von Jesaja 6 in Jesaja 40,1-11 *:
F. Hartenstein/ M. Pietsch (Hg.), »Sieben Augen auf einem
Stein« (Sach 3,9). Studien zur Literatur des Zweiten Tempels
(FS I. Willi-Plein), Neukirchen-Vluyn 2007, 101-119.
176 Nachweis der Erstveröffentlichungen

5
»Wehe, ein Tosen vieler Völker ... « (Jesaja 17,12).
Beobachtungen zur Entstehung der Zionstradition vor
dem Hintergrund des judäisch-assyrischen Kulturkon-
takts
Unveröffentlicht
Die Anfänge des Jesajabuchs sind zutiefst geprägt von
den Erfahrungen des Kulturkontakts mit dem assyri-
schen Großreich. Die vorliegenden Studien behandeln
Aspekte der »Denkschrift« Jesaja 6-8 sowie Jesaja 28,
den Kopftext des »Assur-Zyklus«. Für beide werden
Rezeption und Umformung assyrischer Propaganda
aufgezeigt und die historischen Rahmenbedingungen
erörtert. Die Schriftlichkeit der Prophetie erweist sich als
Mittel zur »Archivierung« des Willens JHWHs für zukünf-
tige Leserinnen und Leser. Eine weitere Studie ist dem
Rückbezug auf Jesaja 6 im Prolog Deuterojesajas gewid-
met. Der Band schließt mit einem Beitrag zur Entstehung
des »Völkerkampfmotivs« in den Psalmen 46 und 48
und den Jesajatexten angesichts des Abzugs der Assyrer
vor Jerusalem im Jahre 701 v.Chr. Das Buch möchte zur
genaueren Kontextualisierung der Entstehungsprozesse
prophetischer Bücher des Alten Testaments beitragen.

Friedhelm Hartenstein, geb. 1960, war von 2002-2010


Professor für Altes Testament und altorientalische Reli-
gionsgeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie
der Universität Hamburg und ist s~it 2010 Professor für
Altes Testament an der Evangelisch-theologischen Fakul-
tät der LMU München.

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