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Paulus Handbuch
herausgegeben von
Friedrich W. Horn
Mohr Siebeck
Die Theologen-Handbücher im Verlag Mohr Siebeck werden herausgegeben von
Albrecht Beutel
Paulus ist, um ein berühmtes Votum Rudolf Bultmanns aus seiner Theologie des
Neuen Testaments aufzunehmen, zum Begründer einer christlichen Theologie
geworden. Dass Paulus als solcher in die Reihe der Theologen-Handbücher ge-
hört, ist daher geradezu selbstverständlich.
Wir blicken heute auf eine bewegende, mit Ferdinand Christian Baur in der
Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Forschungsgeschichte zurück und befin-
den uns gegenwärtig in einer verhältnismäßig offenen, international betriebenen
und mit höchst divergenten Ansätzen bestimmten Forschungssituation. Das In-
teresse an Paulus bezieht sich nicht ausschließlich und vornehmlich auf seine
Theologie, sondern auch auf die Person, den das Imperium Romanum bereisen-
den Missionar, den pharisäischen Juden und den Diasporajuden, den römischen
Bürger, den Ethiker, den Briefschreiber und Rhetoriker sowie auf die Stellung des
Apostels im entstehenden Christentum und auf sein Verhältnis zu anderen Apo-
steln. Die großen Epochen des vergangenen Jahrhunderts – die Religionsge-
schichtliche Schule, die Kerygmatheologie Rudolf Bultmanns und seiner Schüler
und die ›New Perspective on Paul‹ – sind keineswegs überholt. Ihren Fragen und
Ergebnissen gegenüber ist die Forschung bleibend verpflichtet, auch wenn sich
manche These mittlerweile als nicht haltbar erwiesen hat. Jedoch wäre eine Re-
duktion des Rückblicks ausschließlich auf diese drei Epochen irreführend, sei es
in Zustimmung oder in kritischer Weiterführung. Es hat daneben immer einzel-
ne Forscher, Ansätze und Fragestellungen gegeben, die diesen Epochen nicht zu-
zurechnen sind oder ihnen gar kritisch gegenüberstanden, die aber Wesentliches
und zum Teil Grundlegendes zur Paulusforschung beigetragen haben. Ich denke
hier etwa an Adolf Schlatter und Martin Hengel, aber auch an etliche Theologen
im angloamerikanischen Sprachraum, deren Werke nicht immer genügend be-
kannt sind und gewürdigt werden. Grundlegende begriffsgeschichtliche Beiträge
entnehmen wir bis heute dem zehnbändigen Theologischen Wörterbuch zum
Neuen Testament (ThWNT), das zwischen 1933 und 1978 erschien. Hinzuweisen
ist natürlich auch auf das Erstarken der römisch-katholischen Paulusforschung
seit Vaticanum II, deren Frucht vorwiegend in exegetischen Kommentaren zu
greifen ist.
Zum Ansatz gegenwärtiger Paulus-Exegese gehört, dass in einem Dreischritt
das Leben des Apostels, seine Briefe und seine Theologie, also die Person und sein
Werk, gleichwertig bedacht werden und dass sich aus der Zusammenschau dieser
Aspekte erst ein Gesamtbild ergibt. Um diesen Ansatz, seine Erkenntnis leitenden
Interessen und wenige Ergebnisse bereits vorweg zu verdeutlichen, sei exempla-
risch auf folgende Aspekte verwiesen: Die jüngere Forschung hat hinsichtlich des
Lebens des Apostels auf den bleibenden jüdischen Untergrund aufmerksam ge-
macht, der vor allem im Schriftgebrauch Ausdruck findet. Innerhalb der ›New
Perspective on Paul‹ kam es zu einem entscheidenden Umbruch: Paulus steht
VI Vorwort
nicht mehr dem Judentum gegenüber, sondern betreibt Theologie als christus-
gläubiger Jude. Wer ist diese Person und wie ist seine Persönlichkeit zu bestim-
men? Was prägt den ehemaligen Pharisäer, den Diasporajuden aus Tarsus, den
römischen Bürger Paulus? Die Realien seiner Mission finden gegenwärtig erhöhte
Aufmerksamkeit: Reiserouten, Mitarbeiter, Briefformulare, Unterhalt, aber auch
die kulturellen Bedingtheiten in den einzelnen Städten, die er als Missionar be-
reiste. Paulus entfaltet sein theologisches Denken im Gespräch und in der Aus-
einandersetzung mit seiner Tradition, mit seinen etwa in den Präskripten der
Briefe genannten Mitarbeitern, im Gespräch mit seinen Gemeinden und in bei-
ßender Polemik gegenüber ihn bedrängenden Gegnern, aber auch in möglichst
präziser Wahrnehmung der Religiosität und Kultur der Städte und Landschaften
seiner Gemeinden. Weder die Berufung vor Damaskus noch der an Klarheit und
theologischer Tiefe beeindruckende Brief an die Römer bieten einen umfassenden
Zugang zu Paulus, zu seinem Selbstverständnis und zu seinem Denken. Oftmals
muss man einen sich über mehrere Briefe erstreckenden Denkweg des Paulus
mitgehen, um seine Suche nach einer Antwort auf eine Frage oder seine Position
zu einem Thema zu verstehen. Die Briefe des Paulus greifen selten auf klare theo-
logische Grundüberzeugungen zurück. Sie sind vielmehr das Dokument der
theologischen Arbeit auf dem Weg zu einer christlichen Theologie. Gerade die
Rechtfertigungslehre, die lange Zeit die Forschung als sogenanntes Zentrum der
Theologie des Paulus dominiert hat, kann nur angemessen verstanden werden,
wenn man ihren missionsgeschichtlichen Ausgangspunkt aufnimmt, sie als Aus-
legung des Evangeliums versteht, ihre Antithese gegen Werke des Gesetzes einer-
seits und das Zeugnis des Alten Testaments andererseits im Blick behält und die
abschließende anthropologische Vertiefung unter Sünde und Gesetz und gleich-
zeitige Bezugnahme auf die Erwählung Israels bedenkt. Die authentischen und
die pseudepigraphischen Briefe des Paulus sind allerdings nicht nur im Kontext
der Abfassungssituation, sondern ebenso auf dem Hintergrund antiker Epistolo-
graphie und Rhetorik zu lesen. Es ist wohl Rekonstruktionsarbeit gefragt, aber es
ist vornehmlich eine konstruktive Aufgabe für die Exegese, auf der Grundlage
aller vermutlich authentischen Briefe und unter Berücksichtigung des Lebens des
Apostels eine Theologie des Paulus zu entwerfen. Gegenwärtig scheint hierfür der
Gedanke einer partizipatorischen Christologie leitend zu sein.
In diesem Handbuch stellen diese Aspekte, nämlich Leben, Briefe und Theolo-
gie, verteilt auf große Abschnitte zu Person und Werk, das Hauptgewicht des
Handbuchs dar. Gerahmt werden sie einerseits durch eine einleitende Orientie-
rung über den Textbestand und die Sammlung des Corpus Paulinum sowie durch
eine Darstellung der mit Ferdinand Christian Baur einsetzenden und bis in die
Gegenwart reichenden Forschungsgeschichte. Andererseits werden abschließend
Wirkung und Rezeption des Paulus in den pseudepigraphen Schriften sowie
durch einen Ausblick auf die apokryphe Paulus-Überlieferung und in die unmit-
telbare Wirkungsgeschichte bis zu Markion geboten.
Vorwort VII
A. Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
I. Hilfsmittel (Friedrich W. Horn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1. Paulus-Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
2. Kommentare zu den Briefen des Paulus . . . . . . . . . . . . . . 3
3. Monographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
II. Das Corpus Paulinum (Peter Arzt-Grabner) . . . . . . . . . . . . . . 6
1. Der textgeschichtliche Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
2. Die Sammlung des Corpus Paulinum . . . . . . . . . . . . . . . 11
III. Die Paulusforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
1. Ferdinand Christian Baur (Christof Landmesser) . . . . . . . . . 16
2. Die Religionsgeschichtliche Schule (Reinhard von Bendemann) . 19
3. Rudolf Bultmann und seine Schüler (Reinhard von Bendemann) 24
4. »The New Perspective on Paul« und »The New View of Paul«
(Michael Bachmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
5. Impulse aus der Sozialgeschichte und Religionsgeschichte
(Manfred Lang) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
B. Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
I. Probleme einer Paulus-Biographie (Udo Schnelle) . . . . . . . . . . . 44
II. Der vorchristliche Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
1. Paulus, ein Diasporajude aus Tarsus . . . . . . . . . . . . . . . . 49
1.1. Name, Herkunft, Familie (Karl-Wilhelm Niebuhr) . . . . . 49
1.2. Tarsisches und römisches Bürgerrecht (Heike Omerzu) . . . 55
1.3. Die religiöse Prägung: Weisheit, Apokalyptik,
Schriftauslegung (Jörg Frey) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
1.4. Die kulturelle Prägung: Sprache, Erziehung, Bildung
(Tor Vegge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
2. Pharisäer in Jerusalem (Karl-Wilhelm Niebuhr) . . . . . . . . . . 72
3. Verfolger der christlichen Gemeinde (Karl-Wilhelm Niebuhr) . . 75
III. Die Berufung und Bekehrung zum Heidenmissionar
(Bernd Kollmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
1. Historische Umstände der Wende bei Damaskus . . . . . . . . . 80
2. Die theologische Bedeutung der Lebenswende des Paulus
vor Damaskus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
X Inhaltsverzeichnis
C. Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
I. Die Briefe des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
1. Epistolographische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
1.1. Paulus als Briefschreiber. Vom Absender zum Adressaten
(Stefan Schreiber) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
1.2. Form und Gattung der paulinischen Briefe
(Eve-Marie Becker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
1.3. Rhetorik und Argumentation (Peter Lampe) . . . . . . . . . 149
1.4. Die Chronologie der paulinischen Briefe (Stefan Schreiber) . 158
2. Die authentischen Briefe des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . 165
2.1. Erster Thessalonicherbrief (Christof Landmesser) . . . . . . 165
2.2. Erster Korintherbrief (Peter Lampe) . . . . . . . . . . . . . . 172
2.3. Zweiter Korintherbrief (Thomas Schmeller) . . . . . . . . . 185
2.4. Galaterbrief (Dieter Sänger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
2.5. Philipperbrief (Hermut Löhr) . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
2.6. Philemonbrief (Michael Wolter) . . . . . . . . . . . . . . . . 210
2.7. Römerbrief (Michael Theobald) . . . . . . . . . . . . . . . . 213
II. Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
1. Die Anfänge der Mission und das Selbstverständnis
des Paulus als Apostel der Heiden (Wolfgang Kraus) . . . . . . . 227
2. Hausgemeinden und urbanes Christentum (Christian Strecker) . 238
3. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Paulus (Markus Öhler) . . 243
4. Gegner der paulinischen Mission (Wilhelm Pratscher) . . . . . . 257
Inhaltsverzeichnis XI
Die Abkürzungen richten sich in der Regel nach dem Verzeichnis der Abkürzungen der RGG4 I,
Tübingen 1998, XX–LIV bzw. dem UTB-Band Abkürzungen Theologie und Religionswissen-
schaften nach RGG4, Tübingen 2007.
Darüber hinaus werden folgende Abkürzungen verwendet:
I. Hilfsmittel
Der Zugang zu Paulus eröffnet sich in dem intensiven Studium des griechischen
Textes der erhaltenen authentischen Briefe. Im Römerbrief als dem wohl letzten
Brief des Paulus findet das Denken des Apostels zwar seinen klarsten und tiefsten
Ausdruck. Doch steht die hier dargelegte Theologie nicht in allen Teilen am An-
fang der neuen Überzeugungen des Paulus, sondern ist vielmehr Ergebnis lang-
jähriger gedanklicher und missionarischer Arbeit. Daher wird das Studium des
Paulus nach mehrheitlicher Sicht vom 1. Thessalonicherbrief ausgehen, über den
1. und 2. Korintherbrief, den Galater-, Philipper- und Philemonbrief zum Römer-
brief schreiten, wenngleich die präzise Einordnung und das Verhältnis der letzten
fünf Briefe zueinander durchaus strittig sind. Diese Briefe sind Teil einer rei-
cheren, aber nicht mehr in vollem Umfang erhaltenen Korrespondenz des Apo-
stels mit seinen Gemeinden, die in das letzte Jahrzehnt seiner Wirksamkeit zu-
rückreicht. Sie eröffnen nur ein bestimmtes Segment des Lebens und der Theolo-
gie des Paulus. In der Apostelgeschichte des Lukas nimmt die Darstellung des
Paulus, angefangen von seiner Tätigkeit als Christenverfolger über die Berufung
und die Mission bis hin zu dem Prozess in Rom, weit mehr als die Hälfte des
Werks ein, und sie spannt im Blick auf Paulus einen zeitlich weiteren Rahmen als
die Briefe dies tun. Die flankierende Lektüre der Apostelgeschichte ist ganz unab-
hängig von der Frage, ob man im Verfasser dieses Werks zumindest zeitweise ei-
nen Paulusbegleiter sieht oder ob man ihn ganz auf Traditionen und Berichten
über Paulus fußen lässt, eine unerlässliche Aufgabe. Die deuteropaulinischen
Briefe stehen in einem höchst diffizilen Verhältnis zu Paulus. Als pseudepigraphe
Schriften eröffnen sie bereits das weite Feld der Paulusrezeption, die sich in wei-
teren apokryphen Texten fortsetzt. Gleichwohl bieten alle zuletzt genannten Text-
gruppen (Apostelgeschichte, deuteropaulinische Briefe, Apokryphen) auch we-
sentliche Bausteine für das historische Paulusbild und für die Theologie des Apo-
stels.
Die Hilfsmittel zum Studium des Paulus können im Blick auf die wissenschaft-
liche Literatur in unterschiedliche Gruppen gefasst werden.
1. Paulus-Darstellungen
1.1. Paulusbücher
Clemen, Carl: Paulus. Sein Leben und sein Wirken (2 Bde.), Gießen 1904.
Weinel, Heinrich: Paulus. Der Mensch und sein Werk. Die Anfänge des Christentums, der Kir-
che und des Dogmas, Tübingen 1904.
Wrede, William: Paulus (RV I,5/6), Tübingen 1904. 21907.
Deissmann, Adolf: Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Studie, Tübingen 1911.
2
1925.
Dobschütz, Ernst von: Der Apostel Paulus, Halle 1926.
Feine, Paul: Der Apostel Paulus (BFChTh II/12), Gütersloh 1927.
Dibelius, Martin/Kümmel, Werner Georg: Paulus, Berlin 1951. 41970.
Bornkamm, Günther: Paulus, Stuttgart 1969. 72008.
Ben-Chorin, Schalom: Paulus. Der Völkerapostel in jüdischer Sicht, München 1970.
Kuss, Otto: Paulus, Regensburg 1971. 21976.
Becker, Jürgen: Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989. 31998.
Sanders, Ed P.: Paulus. Eine Einführung. Aus dem Englischen übersetzt von E. Schöller, Stutt-
gart 1995.
Gnilka, Joachim: Paulus von Tarsus (HThK.S VI), Freiburg/Basel/Wien 1996/1999.
Lohse, Eduard: Paulus. Eine Biographie, München 1996. 22009.
Dunn, James D. G.: The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids/Cambridge 1998.
Lüdemann, Gerd: Paulus, der Gründer des Christentums, Lüneburg 2001.
Berger, Klaus: Paulus, München 2002. 22005.
Schnelle, Udo: Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003.
Reinmuth, Eckart: Paulus. Gott neu denken (Biblische Gestalten 9), Leipzig 2004.
Wolter, Michael: Paulus: Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011.
Zahn, Theodor: Art. Paulus, der Apostel, RE3 15, 1904, 61–88.
Bousset, Wilhelm: Art. Paulus, Apostel, RGG1 IV, 1913, 1276–1309.
Bultmann, Rudolf: Art. Paulus, RGG2 IV, 1930, 1019–1045.
Bornkamm, Günther: Art. Paulus, RGG3 V, 1961, 166–190.
Schnackenburg, Rudolf: Art. Paulus, LThK2 8, 1963, 216–228.
Roloff, Jürgen: Art. Paulus, EKL3 3, 1992, 1008–1097.
Betz, Hans Dieter: Art. Paul, ABD 5, 1992, 1088–1097.
Hübner, Hans: Art. Paulus I, TRE 26, 1996, 133–153.
Merklein, Helmut: Art. Paulus, LThK3 7, 1998, 1494–1505.
Räisänen, Heikki: Art. Paul, DBI II, 1999, 247–253.
Stegemann, Ekkehard: Art. Paulus, DNP 9, 2000, 432–439.
Limbeck, Meinrad: Art. Paulus, NBL III, 2001, 87–104.
Betz, Otto/Merk, Otto: Art. Paulus, CB 2, 2003, 1016–1029.
Vollenweider, Samuel: Art. Paulus I, RGG4 VI, 2003, 1035–1054.
Horn, Friedrich W.: Art. Paulus, TRT5 3, 2008, 911–916.
3. Monographien
Als neuere Einführungen in Theologie, Leben und Werk des Paulus sind neben
den bereits angeführten Paulusbüchern zu nennen:
Schelkle, Karl Hermann: Paulus. Leben – Briefe – Theologie (EdF 152), Darmstadt 1981.
Dunn, James D. G. (Hg.): The Cambridge Companion to St. Paul, Cambridge 2003.
Dettwiler, Andreas/Kaestli, Jean-Daniel/Marguerat, Daniel (direction): Paul, une théolo-
gie en construction, Genève 2004.
Wischmeyer, Oda (Hg.): Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen, 2006. 22012.
In den Theologien des Neuen Testament finden sich Abschnitte, die Theologie
und Werk des Paulus umfassend behandeln. Insbesondere sei hingewiesen auf:
Stuhlmacher, Peter: Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band I, Göttingen 1992, 221–
392.
Conzelmann, Hans: Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, München 1967; seit der
4. Aufl. bearbeitet von Andreas Lindemann, Tübingen 51992, 163–320.
Hübner, Hans: Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band 2, Göttingen 1993.
Berger, Klaus: Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tü-
bingen und Basel 1994, 434–510. 21995, 472–556.
Gnilka, Joachim: Theologie des Neuen Testaments (HThK.S V), Freiburg 1994, 16–132.
Strecker, Georg: Theologie des Neuen Testaments. Bearb., erg. und hg. von Friedrich W.
Horn, Berlin/New York 1996, 11–229.
Hahn, Ferdinand: Theologie des Neuen Testaments I, Tübingen 2002, 179–329.
Wilckens, Ulrich: Theologie des Neuen Testaments I: Geschichte der urchristlichen Theologie;
3: Die Briefe des Urchristentums: Paulus und seine Schüler, Theologen aus dem Bereich ju-
denchristlicher Heidenmission, Neukirchen-Vluyn 2005.
Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 181–334.
Riesner, Rainer: Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie
und Theologie (WUNT 71), Tübingen 1994.
Haacker, Klaus: Paulus. Der Werdegang eines Apostels (SBS 171), Stuttgart 1997.
Hengel, Martin/Schwemer, Anna Maria: Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die un-
bekannten Jahres des Apostels. Mit einem Beitrag von Ernst Axel Knauf (WUNT 108), Tü-
bingen 1998.
Horn, Friedrich Wilhelm (Hg.): Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literatur-
geschichtliche Aspekte (BZNW 106), Berlin/New York 2001.
Omerzu, Heike: Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung
der Apostelgeschichte (BZNW 115), Berlin/New York 2002.
Murphy-O’Connor, Jerome: Paul. His Story, Oxford 2004.
Forschungsberichte
Schweitzer, Albert: Geschichte der Paulinischen Forschung, Tübingen 1911. 21933.
Feine, Paul: Der Apostel Paulus (BFChTh II/12), Gütersloh 1927.
Hübner, Hans: Paulusforschung seit 1945. Ein kritischer Literaturbericht, in: ANRW 25,4, Ber-
lin u. a. 1987, 2649–2840.
Merk, Otto: Paulus-Forschung 1936–1985, ThR 53, 1988, 1–81.
Friedrich W. Horn
Paulus verfasste seine Briefe in der griechischen Sprache seiner Zeit, dem helle-
nistischen Griechisch, der sog. Koine. Dies entspricht nicht nur seiner Herkunft
(Apg 22,3 gibt dafür die durch und durch hellenistisch geprägte Metropole Tarsus
in Kilikien an), sondern auch der Sprachsituation im Imperium Romanum des
1. Jh. n.Chr., wo Griechisch – v. a. in den östlichen Provinzen – weiterhin als Ver-
kehrs-, Handels- und Verwaltungssprache verwendet wurde. Im Falle jener Briefe,
die an Gemeinden geschrieben wurden, die in den östlichen Provinzen und somit
auf zuvor griechischem oder hellenistischem Gebiet anzusiedeln sind (Korinth,
Thessalonich, Philippi, Galatien – nimmt man die deuteropaulinischen Schriften
hinzu, auch Ephesus und Kolossä), ist die griechische Abfassung der Paulusbriefe
II. Das Corpus Paulinum 7
somit unmittelbar einsichtig. Aber auch für Rom und den an die dortigen Ge-
meinden adressierten Römerbrief ergibt die griechische Abfassung Sinn, da auch
in der Hauptstadt Griechisch als Sprache der Gebildeten galt (Kaiser Claudius,
ein Zeitgenosse des Paulus, soll griechische und lateinische Geschichtswerke ver-
fasst haben).
Die Textgeschichte der Paulusbriefe beginnt also mit Griechisch, und die grie-
chischen Handschriften (Papyri und Pergamente) sind deshalb dafür maßgeb-
licher als syrische, koptische, lateinische und andere Übersetzungen.
1.2. Papyri
Wie bei allen Texten des Neuen Testaments gehören auch im Falle der Paulus-
briefe Papyri zu den ältesten Textzeugnissen. Papyrus, der verbreitetste Beschreib-
stoff der griechisch-römischen Antike, wurde aus der gleichnamigen Pflanze in
Ägypten hergestellt und von dort in nahezu alle Provinzen des Reiches exportiert.
Sämtliche Papyri, die Teile des Neuen Testaments enthalten, sind in der damals
üblichen Weise, nämlich in Großbuchstaben und in sog. scriptio continua, also
fortlaufender Schrift ohne Wortabstände, beschrieben.
An erster Stelle ist der »Chester Beatty Biblical Papyrus II« zu nennen, der in
der Kurzgefaßten Liste der griechischen Handschriften des Neuen Testaments von
Kurt Aland (1994) als P46 geführt wird. Zusammen mit P.Mich. inv. 6238 ist damit
der Großteil eines Codex erhalten, der ursprünglich 208 Seiten umfasste, von de-
nen 172 erhalten sind (56 Blätter werden heute in der Chester Beatty Library in
Dublin aufbewahrt, 30 Blätter an der University of Michigan in Ann Arbor). Der
Codex wurde um 200 n.Chr. geschrieben und gilt somit als bisher ältester Text-
zeuge des Corpus Paulinum. Welche Briefe er ursprünglich enthielt, ist umstrit-
ten; erhalten sind Teile von Röm, Hebr, 1.2Kor, Eph, Gal, Phil, Kol, 1Thess (siehe
dazu auch A.II.2.).
Zu den ältesten Papyri mit Teilen des Corpus Paulinum gehören ferner P32
(mit Ausschnitten aus Tit 1–2), der ebenfalls um 200 n.Chr. geschrieben wurde,
sowie Papyri aus dem 3. Jh.: P15 (1Kor 7,18–8,4), P27(Ausschnitte aus Röm 8–9),
P30 (Ausschnitte aus 1Thess 4–5; 2Thess 1,1–2), P40 (Ausschnitte aus Röm 1–4; 6;
9), P65 (1Thess 1,3–2,1.6–13), P87 (Phlm 13–15.24–25), P113 (Röm 2,12–13.29), P114
(Hebr 1,7–12). Vermutlich vom Ende des 3. Jh. stammen P12 (Hebr 1,1) und P49
(Ausschnitte aus Eph 4–5).
Insgesamt konnten bisher 35 Papyri zum Corpus Paulinum identifiziert wer-
den. Der jüngst edierte davon ist P127, der ins 5. Jh. datiert wird und mehrere
Fragmente aus der Apostelgeschichte enthält (nämlich Apg 10,32–35.40–45; 11,2–5;
11,30–12,3.5.7–9; 15,29–30.34–41; 16,1–4.13–40; 17,1–10). Das Codexblatt ist aber v. a.
deshalb interessant, weil es vielleicht einen indirekten Hinweis darauf bietet, dass
und in welcher Weise in dieser frühen Zeit bereits eine Art Textkritik betrieben
wurde. Der Text von Hebr 13,12 enthält nämlich die nur hier bezeugte Variante,
dass Jesus »außerhalb des Tores des Lagers« gelitten habe, während in den ande-
8 A. Orientierung
ren Handschriften entweder »außerhalb des Tores« oder »außerhalb des Lagers«
steht. Der Herausgeber des Papyrus, G. Bastianini (2008), vermutet (zu PSI XV
1497), dass »des Lagers« in der Vorlage zwischen den Zeilen als Variante zu »des
Tores« verzeichnet war und bei der erhaltenen Abschrift irrtümlich in den Text
eingefügt wurde (vgl. Clivaz 2010).
1.3. Pergamenthandschriften
Die älteste Bibelhandschrift, die das komplette Corpus Paulinum enthält, ist der
sog. Codex Sinaiticus (bezeichnet mit einem hebräischem Aleph אoder 01), eine
Pergamenthandschrift, die Mitte des 4. Jh. geschrieben wurde und bis zur Mitte
des 19. Jh. im Katharinenkloster auf dem Sinai aufbewahrt war (deshalb der
Name), heute aber auf vier Bibliotheken verteilt ist: British Library, wo der
Hauptbestand mit dem gesamten Neuen Testament aufbewahrt wird, Universi-
tätsbibliothek Leipzig, Russische Nationalbibliothek St. Petersburg und Katha-
rinenkloster. Durch ein groß angelegtes Projekt, an dem sich alle vier Instituti-
onen beteiligen, ist der gesamte Codex über http://codexsinaiticus.org/ nunmehr
online einzusehen. Die Reihenfolge der Schriften des Corpus Paulinum weicht
nur im Fall des Hebräerbriefs von der kanonisierten und heute gewohnten ab – er
steht zwischen dem 2. Thessalonicher- und dem 1. Timotheusbrief.
Der Sinaiticus gehört zu den sog. Majuskeln, d. h. Pergamenthandschriften, die
– wie die Papyri – in Großbuchstaben und scriptio continua geschrieben wurden,
aber eben auf Pergament, das erst im Laufe von Jahrhunderten den Papyrus als
Beschreibstoff ablöste. Vom Textwert her folgen auf den Sinaiticus die Majuskel-
handschriften Codex Vaticanus (B oder 03) aus dem 4. Jh., der bis einschließlich
Hebr 9,14 erhalten ist, und Codex Alexandrinus (A oder 02) aus dem 5. Jh., bei
dem vom Corpus Paulinum nur drei Blätter fehlen (der Abschnitt 2Kor 4,13–12,7).
Vom Alter her bedeutend wäre die Majuskelhandschrift 0220, falls sie tatsächlich
in die 2. Hälfte des 3. Jh. zu datieren ist (so Limongi 2005, 66; beachte aber Parker
2008, 259); das Blatt enthält Röm 4,23–5,3.8–13.
Von den Majuskelhandschriften sind die sog. Minuskelhandschriften zu unter-
scheiden, die ebenfalls auf Pergament, aber in Minuskeln, also Kleinbuchstaben,
geschrieben wurden. Sie sind jünger als die Majuskelhandschriften. Zu den be-
deutendsten Minuskeln zählen die Handschriften 33 (9. Jh., heute Bibliothèque
Nationale, Paris) und 1739 (11. Jh., Kloster Megisti Lavra, Berg Athos). Letztere ist
auch aufgrund einer Schlussbemerkung interessant, in der betont wird, dass »die
14 Briefe des Apostels von einer sehr alten Kopie abgeschrieben wurden«. Tatsäch-
lich hat sich der hohe Wert dieser Handschrift bei der Untersuchung des Textes
und der ebenfalls im Codex enthaltenen Randbemerkungen erwiesen; 1739 kann
mithin als deutlicher Beleg dafür gelten, dass jüngere Handschriften bisweilen
den Text von sehr alten Vorlagen bewahrt haben können.
II. Das Corpus Paulinum 9
1.4. Übersetzungen
Angefangen von Origenes, haben sich mehrere Kirchenväter mit den Paulusbrie-
fen beschäftigt und diese kommentiert. Die Zitate aus dem Paulustext selbst ge-
ben manchmal Aufschluss darüber, welcher Text dem Kommentator vorgelegen
hat, sind aber textkritisch von untergeordneter Bedeutung. Unter den griechisch
verfassten Kommentaren ist jener des Origenes der älsteste (geschrieben vor 244),
erhalten ist aber großteils nur die von Rufinus besorgte lateinische Übersetzung.
Die Homilien des Johannes Chrysostomus bieten Auslegungen zu allen 14 Briefen
und wurden zwischen 381 und 398 niedergeschrieben. Von Theodoret von Cyrus
(ca. 393 – ca. 460) stammen Kommentare zu zwölf Briefen.
Der älteste lateinische Kommentar zu den Paulusbriefen wurde von einem un-
bekannten Autor, der aufgrund seiner Nähe zu Ambrosius von Mailand als Am-
brosiaster bezeichnet wird, zwischen 366 und 378 in Rom verfasst.
10 A. Orientierung
Dass die Paulusbriefe im Zuge des Sammelns und Publizierens einer redaktio-
nellen Überarbeitung unterzogen wurden ( A.II.2.), bedarf keiner näheren Be-
gründung. In welchem Ausmaß diese aber stattgefunden hat, ist umstritten. Ich
beschränke mich hier auf folgende Fragen und Beispiele: das ursprüngliche Ende
des Römerbriefs, die Adressierung des Epheserbriefs, die Ursprünglichkeit von
1Kor 14,34–35 und die Deutung des Akkusativs ΙΟΥΝΙΑΝ in Röm 16,7.
Obwohl alle Handschriften den Text des 16. Kapitels als Bestandteil des Römer-
briefs enthalten, spricht vieles dafür, dass in frühester Zeit drei verschiedene Ver-
sionen dieses Paulusbriefes im Umlauf waren. Ausgangspunkt ist der unter-
schiedliche Ort von Röm 16,25–27, der sog. Doxologie, deren Ursprünglichkeit
generell umstritten ist. Ohne Zweifel ist sie ein passender Textschluss, weshalb
Handschriften, die diesen Passus nach 14,23 enthalten, auf eine ursprüngliche
Länge des Römerbriefs von 14 Kapiteln hindeuten. Gestützt wird dieser Befund
durch Kapitelangaben in einigen Vulgata-Handschriften, die mit Hinweisen auf
Röm 14 oder Röm 14 + Doxologie enden. Für eine 15-Kapitel-Version könnte die
Tatsache sprechen, dass Röm 15,33 als Briefschluss sinnvoll erscheint und in P46
die Doxologie nach diesem Vers enthalten ist. Die 16-Kapitel-Fassung ist die von
den Handschriften textlich bezeugte.
Dieser Befund wird folgendermaßen gedeutet: Paulus habe zunächst einen all-
gemein gehaltenen Brief geschrieben, der den 14 Kapiteln entspricht. Dass Rom
als Adresse erst nachträglich eingefügt wurde, ist von einigen wenigen Hand-
schriften her zu überlegen, bei denen »in Rom« in Röm 1,7 tatsächlich fehlt. Erst
in einem zweiten Stadium habe Paulus diesen Brief konkret an die Gemeinden in
Rom adressiert und den Text von Kap. 15 hinzugefügt. Eine Kopie dieses 15-Kapi-
tel-Briefes sei um den Text von Röm 16 erweitert und nach Ephesus geschickt
worden, was damit begründet wird, dass viele der erwähnten Namen besser zu
Ephesus als zu Rom passen. Umgekehrt kann freilich argumentiert werden, dass
die kürzeren Fassungen später entstanden sind.
Was die Adresse des Epheserbriefs betrifft, fehlt »in Ephesus« in Eph 1,1 in so
wichtigen Textzeugen wie P46, dem Codex Sinaiticus, dem Vaticanus oder der
Minuskelhandschrift 1739. In P46 fehlt auch die subscriptio »an die Epheser« am
Ende des gesamten Textes, in den anderen Handschriften ist sie hingegen enthal-
ten, was dafür spricht, dass den Schreibern diese Zuordnung geläufig war. Dass
die frühe Tradition damit aber offensichtlich Probleme hatte, zeigt auch die Tat-
sache, dass Markion den Epheserbrief als Brief an die Gemeinde in Laodikeia
ansah.
1Kor 14,34–35, die berühmt-berüchtigte Aussage, dass »die Frauen in den Ge-
meinden schweigen sollen«, ist zwar in allen Handschriften enthalten, die Einord-
nung in den Text ist aber unterschiedlich. Einige griechische und lateinische
Handschriften sowie die syrische Peschitta bieten den Passus erst nach V. 40. Un-
terschiedliche Orte im Text können (wie auch im Fall von Röm 16,25–27) grund-
II. Das Corpus Paulinum 11
sätzlich ein Hinweis auf eine spätere Einfügung, eine sog. Interpolation sein. Im
Codex Vaticanus finden sich am Rand der entsprechenden Stelle zwei waagerechte
Punkte, die hier – wie an zahlreichen anderen Stellen des Codex – auf eine Varian-
te in den verwendeten Vorlagen hinweisen könnten. Dass dies ein Hinweis auf
eine (nicht mehr erhaltene) Handschrift sein könnte, in der die V. 34–35 fehlten
(so Payne 1995 und Payne/Canart 2000), ist überlegenswert, aber nicht belegbar.
Dass in Röm 16,7 der griechische Akkusativ ΙΟΥΝΙΑΝ auf eine Frau namens
Junia (und nicht auf den seit Martin Luther postulierten Mann Junias) zu deuten
ist, ist mittlerweile weitestgehend anerkannt. Griechische Handschriften, die be-
reits Akzentsetzung aufweisen, widersprechen der Vermutung, der in der gesam-
ten Antike nicht bezeugte männliche Name Junias könnte eine Abkürzung für
den gut bezeugten Junianus sein. Die Junia-Deutung wird durch lateinische, sahi-
dische und syrische Handschriften bestätigt, die eindeutig eine weibliche Form
enthalten, also eine Frau namens Junia meinen (Arzt 1993; Epp 2005). Die bohai-
rische Übersetzung spricht von einer Frau namens Julia, eine Variante, die z. B.
auch in P46 begegnet.
Aland, Kurt/Aland, Barbara: Der Text des Neuen Testaments. Einführung in die wissenschaft-
lichen Ausgaben sowie in Theorie und Praxis der modernen Textkritik, Stuttgart 21989.
Dies. u. a. (Hg.): Nestle-Aland: Novum Testamentum Graece, Stuttgart 272001 [NA27].
Aland, Kurt u. a. (Hg.): The Greek New Testament. Fourth Revised Edition, Stuttgart 42002
[GNT4].
Parker, David C.: An Introduction to the New Testament Manuscripts and Their Texts, Cam-
bridge 2008 (bes. 256–282).
Peter Arzt-Grabner
Von den Cicerobriefen ist vergleichsweise belegt, dass Cicero eine erste Samm-
lung und Veröffentlichung seiner Briefe selbst initiiert hatte, die maßgeblich von
seinem Sekretär Tiro durchgeführt wurde. Über die Paulusbriefe ist Derartiges
nicht bezeugt, doch ist durchaus denkbar, dass Paulus Kopien von einigen seiner
Briefe bei sich behalten hat und dass diese den Ausgangspunkt der späteren Pau-
lusbriefsammlung bildeten (so bes. Trobisch 1989; 1994). Dass Paulus in mehre-
ren Fällen einen Sekretär verwendete, ist durch Röm 16,22 belegt. Auch die Er-
wähnung des Paulus in 1Kor 16,21, mit eigener Hand den Schlussgruß zu schrei-
ben, kann als entsprechender Hinweis gewertet werden (vgl. deuteropaulinisch
12 A. Orientierung
Kol 4,18 und 2Thess 3,17; Phlm 19 hingegen ist eine juridische Formel und kein
Hinweis auf einen Schreiberwechsel).
Eine andere Möglichkeit wäre, dass die Gemeinden die Originalbriefe für eine
spätere Sammlung und Publikation zur Verfügung gestellt haben. Im Falle von
Korinth wird angenommen, dass das Eintreffen des 1. Clemensbriefs in der Ge-
meinde einen derartigen Prozess ausgelöst habe (Thrall 1994, 43–46). Die Auf-
forderung in Kol 4,16, den Brief auch in der Gemeinde von Laodikeia verlesen zu
lassen und den an die dortige Gemeinde gerichteten in Kolossä, bezeugt diesen
Vorgang an sich, kann aber auch als Hinweis auf die Anfertigung von Kopien zu
einem sehr frühen Zeitpunkt verstanden werden (ausführlicher zu beiden Mög-
lichkeiten s. u.).
Im Zuge des Sammelns und Publizierens kam es sicher zu einer redaktionellen
Überarbeitung, deren Details und Ausmaß aber ebenfalls unklar bleiben. Es wäre
möglich, dass z. B. Paulus seine Briefe datiert hatte und die Datierungen erst bei
der Aufnahme in eine Sammlung weggelassen wurden, schließlich sollten die
Briefe ja durch die Publikation über die ursprüngliche zeitliche und örtliche Be-
zogenheit hinausgehoben werden. Tatsächlich weisen zahlreiche Papyrusbriefe
Datierungen auf, aber bei Weitem nicht alle, und andererseits ist bei vielen Bei-
spielen der Briefsammlung Ciceros das Datum erhalten geblieben.
Auch einige der in A.II.1. dargestellten Beispiele sind über den Redaktions-
prozess zu erklären (siehe dort die Erläuterungen zu Röm 1,7 und Kap. 16; 1Kor
14,34–35; Eph 1,1).
Eine besonders ausführliche Diskussion hat aber die Frage einer möglichen
Zusammenfügung von ursprünglich mehreren Briefen zu größeren Einheiten er-
fahren oder – anders gesagt – die Frage, ob die kanonische Form einzelner Pau-
lusbriefe auf mehrere ursprüngliche Briefe aufzuteilen ist (Teilungshypothesen).
Dies wurde insbesondere im Falle des 1. und 2. Korintherbriefs sowie des Philip-
perbriefs erwogen. Die Problematik lässt sich beispielhaft am 2. Korintherbrief
darstellen. Dass sich in der handschriftlichen Textüberlieferung kein Hinweis auf
eine Zusammenfügung (Kompilation) findet, bedeutet, dass ein solcher Prozess
in einem sehr frühen Stadium des Sammelns und Publizierens der Paulusbriefe
stattgefunden haben müsste, womöglich an dessen Beginn. Im Verlauf literarkri-
tischer Forschungen wurde versucht, in der kanonischen Fassung des 2. Korin-
therbriefs bis zu sieben separate Paulusbriefe identifizieren zu können (Schmit-
hals 1984a). Folgende Beobachtungen wurden dabei angeführt: ein abrupter
Wechsel im Ton zwischen Kap. 1–9 und 10–13, die Unterbrechung des Reisebe-
richts von 2,12–13 (dieser wird erst mit 7,5–16 fortgesetzt), eine plötzliche Unter-
brechung des Gedankengangs durch 6,14–7,1 (außerdem finden sich in diesem
Abschnitt gehäuft Begriffe und Gedanken, die innerhalb der Paulusbriefe nur
hier vorkommen, weshalb dieser Abschnitt von vielen für eine unpaulinische In-
terpolation gehalten wird), die Verdoppelung der Aussagen zur Kollekte in Kap. 8
und 9 sowie widersprüchliche Aussagen des Paulus über sein Vertrauen in die
Gemeinde (7,16 gegenüber 11,19–21 und 12,20–21).
II. Das Corpus Paulinum 13
Ein Vergleich mit Papyrusbriefen zeigt, dass sämtliche Phänomene, die im Rah-
men von Teilungshypothesen geltend gemacht werden, auch in einheitlichen
Briefen vorkommen können. Dies bedeutet freilich nicht, dass die Einheitlichkeit
des 1. und 2. Korintherbriefs sowie des Philipperbriefs wahrscheinlicher ist als
eine Kompilation. Beide Möglichkeiten sind zu diskutieren.
Da eine Zusammenstellung aus mehreren ursprünglich separaten Briefen nicht
per se als notwendig angesehen werden kann, ist zu fragen, welche Umstände ei-
nen derartigen Aufwand als notwendig oder zumindest vorteilhaft erscheinen
lassen konnten. Besonders im Falle der korinthischen Korrespondenz ist denkbar,
dass mindestens einer der originalen Briefe nicht mehr vollständig erhalten war
und deshalb mit einem anderen kompiliert wurde, um so in eine Briefsammlung
aufgenommen werden zu können. Immerhin fällt auf, dass nicht alle von den
ursprünglich mindestens vier separat vorhandenen Briefen des Paulus auch in
separater Form Eingang in die Paulusbriefsammlung gefunden haben. Dies
könnte auf eine gezielte Auswahl zurückzuführen sein oder daran liegen, dass die
in 1Kor 5,9 bzw. 2Kor 7,8.12 erwähnten Briefe zum Zeitpunkt des Sammelns der
Paulusbriefe nicht mehr oder zumindest nicht mehr vollständig erhalten waren.
2Kor 10–13 könnte demnach auf den in 2Kor 7,8.12 erwähnten Brief zurückgehen,
der dann zur Zeit der ersten Redaktion der Paulusbriefe nicht mehr vollständig
erhalten gewesen wäre. Im Zuge dieser Kompilation wäre dann vom noch voll-
ständig erhaltenen Brief, der entgegen der zeitlichen Abfolge an die erste Stelle
rückte, einfach der Schlussteil weggelassen (= 2Kor 1–9) und daran der unvoll-
ständige Brief angeschlossen worden (= 2Kor 10–13).
Eine von Paulus selbst begonnene Briefsammlung könnte aus Römerbrief, 1. und
2. Korintherbrief und Galaterbrief bestanden haben und noch zu Lebzeiten des
Paulus entstanden sein (Trobisch 1989; 1994). Die Initiative könnte aber auch
auf Paulusmitarbeiter zurückgehen (z. B. Lukas, Timotheus, Onesimus).
Theorien, die die Initiative für eine Paulusbriefsammlung bei den Gemeinden
sehen, gehen heute davon aus, dass dieser Prozess ein kontinuierlicher war, unter-
scheiden sich aber in den angenommenen Etappen und Zeiträumen. Ein erster
Kern könnte aus Römerbrief, 1. Korintherbrief, Epheserbrief und (vielleicht) Phi-
lipperbrief bestanden haben und vor Abfassung des 1. Clemensbriefs um 96
n.Chr. verbreitet gewesen sein (Streeter 1924, 526–527).
Die Annahme, dass der Abschluss der Sammlung relativ früh an einem be-
stimmten Ort und unter Anleitung einer bestimmten Person (wer auch immer
diese gewesen sein mag) erfolgte, ist plausibel. Jedenfalls können nicht unter-
schiedliche Sammlungen an unterschiedlichen Orten für längere Zeit bestanden
haben (Porter 2004, 122 f.). Dies legen die ältesten erhaltenen Zeugnisse und
Handschriften ( A.II.1.) nahe. Einhelligkeit besteht darüber, dass der Hebräer-
brief als letztes Schreiben in die Sammlung aufgenommen wurde und vorüberge-
II. Das Corpus Paulinum 15
hend – und mehr als andere Briefe – unterschiedliche Plätze innerhalb der
Sammlung einnahm, was durch die Handschriften belegt ist (an zweiter Stelle
nach dem Römerbrief in P46, zwischen dem 2. Thessalonicher- und dem 1. Timo-
theusbrief im Codex Sinaiticus, zwischen dem 2. Korinther- und dem Galater-
brief in der sahidischen Tradition). Dies könnte darauf hindeuten, dass die Ver-
fasserschaft des Hebräerbriefs schon frühzeitig umstritten war.
Die älteste nachweisbare Sammlung geht auf Markion (um 140 n.Chr.) zurück,
dessen Zusammenstellung aus zehn Briefen bestand, und zwar in der folgenden
Reihenfolge: Gal, 1.2Kor, Röm, 1.2Thess, Laodicenerbrief (= Eph), Kol und Phlm
(zu einem Brief zusammengestellt) und Phil.
Im sog. Canon Muratori, dessen Datierung umstritten ist (spätes 2. Jh. oder 2.
Hälfte 3. Jh. oder erst 4. Jh.; das erhaltene Fragment stammt aus dem 8. Jh.), wer-
den alle Briefe außer dem Hebräerbrief erwähnt. Außerdem wird die Existenz
eines Laodicenerbriefes und eines Briefes an die Alexandriner erwähnt, die aber
als Fälschungen »für die Sekte des Marcion« bezeichnet werden.
Im ältesten Papyruscodex P46 (geschrieben um 200 n.Chr.; siehe auch A.II.1.),
sind Teile von neun Briefen in folgender Reihenfolge enthalten: Röm, Hebr, 1
und 2Kor, Eph, Gal, Phil, Kol, 1Thess. Im Originalzustand waren möglicherweise
auch noch 2. Thessalonicher- und vielleicht der Philemonbrief enthalten, somit
also zehn oder elf Briefe in absteigender Reihenfolge, was ihre Länge betrifft. Ob
P46 auch die Pastoralbriefe enthielt, wird diskutiert (vgl. Duff 1998; Parker
2008, 253 f.). Die Reihenfolge entspringt vermutlich der Absicht, die Gruppe der
Gemeindebriefe den Briefen, die an Einzelpersonen adressiert wurden, voranzu-
stellen.
Der älteste Pergamentcodex, der Codex Sinaiticus (Mitte 4. Jh.), enthält alle 14
Schriften in der heute gewohnten Reihenfolge – mit Ausnahme des Hebräerbriefs,
der noch zwischen dem 2. Thessalonicher- und dem 1. Timotheusbrief steht; das
Corpus Paulinum des Sinaiticus endet demnach mit dem Philemonbrief. Diesel-
be Anzahl und Reihenfolge ist im 39. Osterfestbrief des Athanasius (367 n.Chr.)
bezeugt.
Abweichungen finden sich in nicht griechischen Traditionen. So enthält der
Kanon der altsyrischen Tradition 14 Briefe, unter ihnen befindet sich aber ein 3.
Korintherbrief, während der Philemonbrief nicht enthalten ist. Die lateinische
Tradition enthielt als 15. Brief zeitweise den Laodicenerbrief (erstmals enthalten
im Codex Fuldensis).
An sich kann aber ab der Mitte des 4. Jh. der 14-Briefe-Kanon des Corpus Pau-
linum als abgeschlossen gelten.
Breytenbach, Cilliers (Hg.): Paulus, die Evangelien und das Urchristentum, Leiden u. a. 2004.
Lindemann, Andreas: Die Sammlung der Paulusbriefe im 1. und 2. Jahrhundert, in: Auwers,
Jean-Marie/ Jonge, Henk J.de (Hg.): The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 321–351.
16 A. Orientierung
Parker, David C.: An Introduction to the New Testament Manuscripts and Their Texts, Cam-
bridge 2008 (bes. 246–256).
Porter, Stanley E. (Hg.): The Pauline Canon (Pauline Studies 1), Leiden/Boston 2004 (bes.
Ders.: When and How Was the Pauline Canon Compiled? An Assessment of Theories, 95–
127).
Trobisch, David: Die Entstehung der Paulusbriefsammlung. Studien zu den Anfängen christ-
licher Publizistik (NTOA 10), Freiburg (CH)/Göttingen 1989.
Peter Arzt-Grabner
Ferdinand Christian Baur (1792–1860) begann seine Laufbahn nach einer kurzen
Vikariatszeit 1816 als Repetent im Evangelischen Stift in Tübingen, er wechselte
1817 als Professor an die Klosterschule in Blaubeuren und wurde 1826 zum Profes-
sor der Kirchen- und Dogmengeschichte an die Universität Tübingen berufen. In
seinen historischen Untersuchungen zeigt sich Baur geprägt durch die idealis-
tische Geschichtsbetrachtung Fichtes, Schellings und seit Mitte der 1830er Jahre
auch Hegels. Schon in seinem Werk Symbolik und Mythologie bestimmt Baur die
Weltgeschichte als »Offenbarung der Gottheit« (Baur 1979, Bd. 1, V). Die Ge-
schichte müsse vor dem Hintergrund der Idee, deren Konkretion die Geschichte
sei, analysiert werden. In der Geschichte offenbare sich das Absolute. – Eine Ge-
schichtsbetrachtung ist nach Baur mit einer philosophischen Perspektive not-
wendig verbunden: »ohne Philosophie bleibt mir die Geschichte ewig todt und
stumm« (aaO. XI).
Die Geschichte der christlichen Religion gehört demnach auch in den Prozess
der Offenbarung der Idee oder des Absoluten. Baur wendet sich in seiner For-
schungs- und Lehrtätigkeit auch den Anfängen der christlichen Religion – und
damit auch den Briefen des Paulus – zu. In der Theologie des Paulus sieht er das
Wesentliche der christlichen Religion sich zeigen.
In seinem Paulusbuch charakterisiert Baur die echten Paulusbriefe. Der aus seiner
Sicht älteste, der Brief an die Galater, setze judaisierende Gegner voraus (Baur
1866/67 Teil I, 281). Dieser Brief führe in den anhebenden Kampf zwischen Juden-
tum und Christentum (283). Das Christentum habe in jener Zeit vor der Frage
gestanden, ob es sich vom Judentum befreien könne oder ob es in einer Form des
Judentums existieren würde. Der Unterschied zum Judentum sei durch Paulus
zur geschichtlichen Realität geworden. Diese Differenz werde konkret in der Vor-
18 A. Orientierung
stellung von der Rechtfertigung. Die Entwicklung des Paulus, der in einem »un-
mittelbaren Akt seines Selbstbewusstseins« (284) zu seinem Beruf gekommen sei
(vgl. Gal 1,6–16), erweise das Christentum als »absolute Religion«, als »die Religi-
on des Geistes und der Freiheit« (285). – Die Korintherbriefe bildeten den eigent-
lichen Mittelpunkt des Lebenskreises des Paulus (287 f.). Der im frühen Christen-
tum von Baur wahrgenommene Antagonismus wird in Korinth in den in 1Kor 1,12
erwähnten Parteiungen konkret, die Baur auf die Auseinandersetzung zwischen
Petrus und dem Paulus nahestehenden Apollos reduziert. Mit solchen Streitig-
keiten sei ein grundsätzlicher Gegensatz aufgerufen, also eine »Principienfrage«
(313). In gewisser Weise wiederholt sich nach Baur in dieser Gegnerschaft inner-
halb des frühen Christentums die fundamentale Entgegensetzung zwischen Ju-
dentum und Christentum. In 2Kor 3 zeige sich, dass das Judentum die Vergäng-
lichkeit repräsentiere, wogegen sich in der Einheit mit Christus der Geist als das
»christliche Princip« und als die zur Erkenntnis der Wahrheit aufgeschlossene
und »mit sich selbst identische absolute Selbstgewissheit des christlichen Be-
wusstseins« erweise (316). Auch wenn andere Fragen der Ordnung der Gemeinde
in den Korintherbriefen eine Rolle spielten, sei das »Parteiwesen« der Hauptge-
genstand dieser Texte. – Im Römerbrief lege Paulus einen kühnen Entwurf seiner
Grundanschauungen vor, geradezu ein System (343). Der wesentliche Inhalt blei-
be gleich, werde doch hier das »Hauptmoment des Gegensatzes zwischen Judais-
mus und Paulinismus« entfaltet, das Baur im »Primatsanspruch« der Judenchris-
ten gegenüber den Heidenchristen sieht (356). Der Glaube, durch den die Gerech-
tigkeit Gottes komme, überwinde das diese nicht schaffende Gesetz. Nur dieser
Glaube entspreche »dem universellen Begriff Gottes« (375). Die Weltgeschichte in
ihrer Entwicklung fordere diese heilvolle Gerechtigkeit und offenbare sie in ihrem
Fortgang auch (376). Das Gesetz erweise sich als eine untergeordnete Stufe in der
religiösen Entwicklung, erst die Einheit mit Christus mache es dem Glaubenden
unmöglich, der Sünde noch zu dienen (377). Mit dem Ende des Gesetzes sieht
Baur auch den von ihm behaupteten jüdischen Partikularismus widerlegt (380).
Im zweiten Teil seines Paulusbuches erläutert Baur die Vorstellungen des Pau-
lus unter dem Titel Der Lehrbegriff des Apostels (Baur 1866/67 Teil II, 123–315).
Ausgangspunkt und Grundlage ist das christliche Selbstbewusstsein (133). Das
christliche Prinzip sei wesentlich identisch mit der Person Christi. Das christliche
Bewusstsein sei Geist und nur dieser ermögliche im Glauben Freiheit, die vom
Äußerlichen und Endlichen löse und das Wesentliche, das Absolute, das Unend-
liche eröffne (143–145). Diesen Grundgedanken der Freiheit durch den Glauben
spielt Baur an verschiedenen paulinischen Theologumena durch. Die Rechtferti-
gung als die individuelle und die Gemeinschaft der Glaubenden mit Christus als
die gemeinschaftliche Seite verschaffen das Bewusstsein von der Versöhnung.
Judentum und Christentum stehen sich nach Baur als zwei Perioden der Welt-
geschichte gegenüber. Diese habe sich von der Knechtschaft zur Freiheit, von der
Sinnlichkeit zu einem höheren geistigen Bewusstsein entwickelt. Insofern im Ge-
setz und damit im Judentum bereits die Momente des Christentums enthalten,
III. Die Paulusforschung 19
wenn auch gebunden waren, erweist sich dieser Antagonismus als ein Prozess.
Durch die Auferstehung des Christus werde das Prinzip des Todes negiert, die
zweite Negation des Todes geschehe durch die Auferweckung der zu Christus Ge-
hörenden. Unsterblichkeit, Unendlichkeit, Überwindung des Todes – all dies
seien Ausdrucksweisen dafür, dass das Absolute und die Freiheit im Prozess der
Weltgeschichte sich dem absoluten Selbstbewusstsein offenbarten.
Auch wenn Baur in weiten Passagen die Paulusbriefe exegesiert und paraphra-
siert, ist seine Paulusdarstellung wesentlich eine Entfaltung seiner geschichtstheo
logischen Interpretation des Christentums.
Baur, Ferdinand Christian: Symbolik und Mythologie oder die Naturreligion des Altertums, in
zwei Teilen, Stuttgart 1824 und 1825, 3 Bde., Nachdr. Aalen 1979.
Ders.: Historisch-kritische Untersuchungen zum Neuen Testament, mit einer Einführung von
Ernst Käsemann. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben (hg. von Scholder, Klaus), Stutt-
gart-Bad Cannstatt 1963.
Ders.: Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und seine Lehre.
Ein Beitrag zu einer kritischen Geschichte des Urchristentums, Stuttgart 1845, Leipzig
2
1866/67.
Christof Landmesser
2.1. Definition
»Das junge Christentum lebte in einer Luft, die [. . .] mit Mysterien-Bazillen ge-
schwängert war, und wuchs auf einem Boden, der durch den Verfall und Synkre-
tismus verschiedenster Religionen gedüngt und gelockert und speziell auch ge-
eignet war, alte Keime und Triebe neu aufsprießen zu lassen.« Mit diesem Diktum
aus der berühmten Abhandlung des Göttinger Privatdozenten Wilhelm Heitmül-
ler über Taufe und Abendmahl bei Paulus. Darstellung und religionsgeschichtliche
Beleuchtung (Heitmüller 1903a, 52) sind zentrale Punkte angesprochen, die der
Arbeit einer Gruppe deutschsprachiger protestantischer Theologen, überwiegend
Exegeten, Richtung und Ziel gaben. War in der liberalen Theologie das Urchris
tentum vielfach losgelöst von seiner Umwelt und überwiegend unter den Vorga-
ben des später entstandenen biblischen Kanons interpretiert worden, so weiteten
die Vertreter der sog. Religionsgeschichtlichen Schule den Blick über den Kanon
der »katholischen Kirche« (Troeltsch 1920) hinaus. Man grenzte sich ab von
einer »modernen« Theologie, die meinte, die neutestamentlichen Aussagen un-
mittelbar auf die Gegenwart beziehen und sie rationalistisch bzw. idealistisch und
kulturwissenschaftlich aktualisieren zu können. Die Religionsgeschichtler streb-
ten eine konsequent historische Interpretation unter Einbeziehung der Metho-
den der zeitgenössischen Altertumswissenschaften und damit eine Lösung der
Exegese aus dogmatischen Umklammerungen an. Dies geschah zunächst v. a. in
Auseinandersetzung mit der liberalen kulturprotestantischen Theologie Albrecht
20 A. Orientierung
2.2. Entwicklung
zepts der Theophagie; von den Kultusteilnehmern werde die (sterbende und auf-
erstehende) Gottheit durch Verzehr einverleibt. Die »Sakramente« setzen bei Pau-
lus zwar den Glauben voraus, ihre Wirkung erscheint aber von diesem unabhän-
gig (Heitmüller 1903a).
Eschatologie: Nicht zufällig ging die neue Richtung von vermeintlich fremderen
und randständigen Texten, im Neuen Testament aber v. a. von der Johannesoffen-
barung aus. Hier waren die Arbeiten Boussets wegweisend. Er erkennt in der Jo-
hannesapokalypse nicht lediglich eine bestimmte Weissagung, sondern ein »cor-
pus apocalypticum«, eine traditionsgeschichtliche Enzyklopädie zeitgenös-
sisch-apokalyptischer Vorstellungen. Bousset rechnete damit, dass schon die Ver-
kündigung Jesu von einer Apokalyptik beeinflusst bzw. vorbereitet wurde, die
ihrerseits Wurzeln im Iran hatte. Für Paulus sei dann die neue Zeit tatsächlich ein
echtes »Jenseits«, insofern er die Religion des Christentums von gesetzlichen und
nationalen Bindungen als irdischen Resten befreit habe (Bousset 1903).
Von eminenter Bedeutung für eine Entmodernisierung der paulinischen Theo
logie war die Neuentdeckung der Eschatologie. Johannes Weiß nimmt in der 2.
Auflage seiner Schrift Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (Weiss 21900) seinen
Ausgangspunkt von der Einsicht, dass sich die Stellung der Reich-Gottes-Idee im
Werk seines berühmten Schwiegervaters Albrecht Ritschl deutlich von der Ver-
kündigung Jesu unterscheidet. In ihr sei das Reich zwar nahe, aber noch nicht
realisiert (und nicht ethisch realisierbar). Nach Weiß ist auch die Religion des
Paulus unverwechselbar eschatologisch von der organisierenden Vorstellung ge-
prägt, in der Endzeit zu leben. Diese Vorstellung unterscheidet das Christentum
von zeitgenössischen Kulten wie denen des Serapis oder Asklepios. Christus ist
Kyrios insofern, als er aus dem kommenden Zorn errettet. In Widerspruch zu mo-
dernisierenden und kulturoptimistischen Pauluslektüren kann Weiß so zugleich
Paulus in einer stärkeren Kontinuität zu Jesus darstellen (Weiss 1913; 1917), wo-
hingegen Wrede und andere mit einem »objektiven Abstand« der paulinischen
Lehre von der Predigt Jesu rechneten (Wrede 1904).
Christologie: Nach Wrede setzt Paulus nicht bei Jesu sittlicher Forderung oder
seiner prophetischen Verkündigung an, sondern wird zum Stifter des Christen-
tums als einer Erlöserreligion, indem er die Vorstellung eines göttlichen Him-
melswesens, die er bereits teilte, auf Jesus als neuen Träger übertrug und indem er
die Heilstatsachen der Menschwerdung, des Todes und der Auferstehung Christi
zur Grundlage der Religion machte (Wrede 1904). In seinem großen Opus Kyrios
Christos setzte sich Bousset das Ziel, nicht nur die Grenze zwischen neutesta-
mentlicher Theologie und altkirchlicher Dogmengeschichte, sondern auch die
zwischen der Religionsgeschichte des Urchristentums sowie den allgemeinen
Entwicklungen des religiösen Lebens zu überwinden (Bousset 1913). Damit war
zugleich klar, dass der Kanon nicht mehr den Ausgangspunkt bieten konnte. Der
Titel »Kyrios« habe seine Heimat in einem weiten orientalisch-religiösen Umfeld,
besonders in Syrien und Ägypten. Mit dem Kyrioskult, der sich der hellenis-
tischen Gemeinde förmlich aufgedrängt habe, sei die Eschatologie zurückge-
III. Die Paulusforschung 23
drängt und der Gegenwartsaspekt in den Vordergrund gerückt worden. Auf die-
sem Kultkonzept der hellenistischen Urgemeinde ruht nach Bousset die Erlö-
sungsfrömmigkeit des Paulus, in die der Mythos vom leidenden, sterbenden und
auferstehenden Gott eingeht, und vor seinem Hintergrund verstehe man das
supranaturale Geistverständnis des Apostels.
2.3. Kritik
Die Kritik an der neuen Richtung kam von verschiedenen Seiten und setzte sehr
bald ein. Insbesondere Adolf von Harnack widerstrebte die Nivellierung des
Christentums in seiner überragenden Position. Unter anderem in der 4. Auflage
seiner Dogmengeschichte (von Harnack 41909) trug er eine äußerst scharfe Kri-
tik vor. Die Resultate der Religionsgeschichtler bezögen sich nur auf Inferiores,
seien romantisierend, und das vermeintlich Neue habe sich in den meisten Fällen
als nicht wahr erwiesen, das Wahre aber umgekehrt als nicht neu (aaO. Bd. I,
45 f.).
Im Rückblick erscheinen viele der frühen religionsgeschichtlichen Versuche
simplifizierend – so z. B. die Unterscheidung von »palästinisch« und »hellenis
tisch«, in die dann die Entstehung der Kyriosprädikation eingezeichnet wird (z. B.
Hurtado 2003, 19–26, der ansonsten Boussets Arbeiten für epochal erachtet) –
bzw. durch starke Einseitigkeiten der Perspektiven belastet. Die Fragen, warum
Menschen Religion praktizieren, wie Religion mit anderen gesellschaftlichen Be-
reichen interagiert, wann sich Religionen ändern, wie dies zu beschreiben ist und
wie Religion die Lebenswelt von Menschen formt, werden stark von einem christ-
lichen Standpunkt der Überlegenheit bestimmt. Insbesondere suchte man die
Verkündigung Jesu in apologetischer Weise von religionsgeschichtlicher Rückfra-
ge und Einordnung abzuschirmen. Zudem hat sich eine Sicht des Frühjudentums
als fragwürdig erwiesen, welches als »Spätjudentum« durch Jesus bzw. das Chris
tentum als lebendige Religion abgelöst worden sei (z. B. Bousset 1892). Religi-
onsgeschichte, -komparatistik, -soziologie, -ethnologie, -phänomenologie, -psy-
chologie, -geographie und -ästhetik werden nicht klar geschieden, die Frage nach
Funktionen der Thematisierung religiöser Äußerungen in Texten und das Pro-
blem, von Texten her auf Praktiken zugreifen zu wollen, werden unmethodisch
behandelt. Hiervon ist insbesondere die Synkretismus-These im Kern betroffen.
Doch viele mit der Religionsgeschichtlichen Schule erstmals klar aufbrechenden
Fragen beschäftigen die internationale Paulusforschung bis heute.
Lehmkühler, Karsten: Kultus und Theologie. Dogmatik und Exegese in der religionsgeschicht-
lichen Schule (FSÖTh 76), Göttingen 1996.
Lüdemann, Gerd (Hg.): Die »Religionsgeschichtliche Schule«. Facetten eines theologischen
Umbruchs (STRS 1), Frankfurt u. a. 1996.
Reitzenstein, Richard: Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken
und Wirkungen, Leipzig/Berlin 1910.
Wrede, William: Paulus (RV I, 5/6), Tübingen 1904. 21907.
Reinhard von Bendemann
24 A. Orientierung
3.1. Person
Rudolf Bultmann (1884–1976) wurde in seiner frühen Zeit durch die liberale
Theologie geprägt, deren Ansätze er zunehmend als unbefriedigend empfand
und von der er sich in theologischer Hinsicht zusammen mit Karl Barth, Fried-
rich Gogarten und Emil Brunner nach dem Ersten Weltkrieg im Aufbruch der
sog. Dialektischen Theologie trennte. Theologisch verdankte Bultmann dem Ein-
fluss des Marburger systematischen Theologen Wilhelm Herrmann die Einsicht,
dass die Frage nach Gott vom Menschen auszugehen hat, sofern er sich als vor
Gott gestellt und von diesem verändert sieht (vgl. Bultmann 81980, 26–37). Als
Exeget wurde Bultmann bleibend geprägt von den Anstößen der Religionsge-
schichtlichen Schule, deren Ergebnisse er schon in seiner Dissertation (1910), in
der er die Nähe des paulinischen Stils zur popularphilosophischen Diatribe nach-
wies, keineswegs unkritisch übernahm. Exegese ist bei Bultmann nicht von der
systematischen Aufgabe des theologischen Verstehens und Interpretierens zu
trennen. Bultmanns existentiale Interpretation knüpfte an die Anstöße Friedrich
Schleiermachers, Søren Kierkegaards und Wilhelm Diltheys an und wurde seit
1923 durch die Auseinandersetzung mit der Fundamentalontologie Martin Hei-
deggers stimuliert und bereichert. Die durch Heidegger aufgedeckten Grund-
strukturen menschlicher Existenz wie Angst, Sorge, Zeitlichkeit und Geschicht-
lichkeit, sein Begreifen des Daseins als In-der-Welt-Sein, welches sich in »Eigent-
lichkeit« gewinnen oder in »Uneigentlichkeit« verspielen kann, werden von
Bultmann in formaler Hinsicht als anschlussfähig für eine Darstellung der
vorchristlichen Existenz in der Sicht des Paulus beurteilt – jedoch auch nicht un-
gebrochen und unkritisch übernommen, insofern im paulinischen Verständnis
der Mensch kein autonomes Wesen darstellt, sondern ein solches, das sein Selbst
verloren hat. Allerdings bleibt auch das neue Selbstverständnis der Glaubenden,
das die Strukturen als vergangene transparent macht und durchschaut, auf ein
echtes Verstehen verwiesen (vgl. Bultmann 81980, 295 f.; 51968, 211–235). Als nicht
zu isolierender Teil der hermeneutischen Bemühungen ist auch Bultmanns be-
rühmt gewordener Beitrag Neues Testament und Mythologie von 1941 zu verste-
hen, in dem er Vorstellungen wie die des Wunders, der Gottessohnschaft oder der
Präexistenz Jesu nicht beseitigen, sondern dem neuzeitlichen wissenschaftlichen
Denken und dem an ihm orientierten Menschen, wie Bultmann ihn in seiner Zeit
verstand, adäquat interpretieren wollte (Bultmann 1985).
3.2. Werk
Bultmann hat seine Sicht im Wesentlichen bereits in den 1920er Jahren aus
gearbeitet und dann im zentralen Teil seiner Theologie des Neuen Testaments ent-
faltet.
Sein Interesse gilt grundsätzlich nicht der Vita und der missionarischen Akti-
vität des Paulus. Die Bekehrung/Berufung des Apostels interessiert nur insofern,
als Bultmann sie existential im Sinn der gelungenen Gewinnung eines neuen
Selbstverständnisses interpretieren kann (so schon Bultmann 1930, 1021–1023).
Die Theologie des Apostels integriert in sich Überzeugungen der frühen hellenis-
tischen Gemeinde (Bultmann 91984, 66–186). Hier schließt Bultmann u. a. an
Wilhelm Heitmüller und Wilhelm Bousset an, geht jedoch in der traditions- und
formkritischen Analyse zugleich deutlich über diese hinaus. In einem synkretisti-
schen Milieu steht Paulus vor der Herausforderung von Grenzziehungen gegen-
über der werdenden Gnosis. Nach Bultmann rezipiert Paulus jedoch auch
gnostische Begriffe und Motive und stellt sie in den Dienst seiner Aussageab-
sicht.
Paulus gilt als der eigentliche Begründer einer christlichen Theologie, insofern
er dem christlichen Glauben das sachgemäße Verständnis seiner selbst gegeben
habe (Bultmann 1930, 1025 f.; 91984, 188). Für Paulus stehen Gott resp. Christus
und Mensch nach Bultmann in einer derart engen (soteriologischen) Korrelati-
on, dass die Theologie des Paulus von der Anthropologie her zu entwickeln sei
(Bultmann 91984, 192). Bultmann wählt von hier aus eine zweiteilige Gliederung:
Zunächst geht es um den Menschen vor der Offenbarung des Glaubens (191–270),
sodann um die Darstellung des Menschen unter dem Glauben (271–353).
Obwohl der zweite Aspekt den ersten sachlich mitbestimmt, arbeitet Bultmann
zunächst das vorgläubige Dasein des Menschen in seinen Seins-Strukturen he-
raus. »Leib« sei der Mensch bei Paulus, sofern er ein Selbstverhältnis habe und
sich gewinnen oder verlieren könne. Auch die anthropologischen Begriffe »See-
le«, »Geist«, »Leben«, »Verstand«, »Gewissen« und »Herz« erfassen den Menschen
zunächst als lebendiges und intentional ganzheitliches Wesen und begründen für
Paulus keine dichotomische oder trichotomische Sichtweise. Doch hat der
Mensch qua Fleisch, Sünde und Welt seine Möglichkeiten immer schon verspielt
(Bultmann 91984, 226–270). Dabei deutet Bultmann die Ambivalenz der pauli-
nischen Gesetzesaussagen so, dass gerade »das Bemühen des Menschen, durch
Erfüllung des Gesetzes sein Heil zu gewinnen, ihn nur in die Sünde hineinführt,
ja im Grunde selber schon die Sünde ist« (264 f.; im Original gesperrt). Stellen wie
Röm 3,20 verweisen nicht allein auf die Sünden aufdeckende (und somit verhin-
dernde) Funktion der Tora, sondern besagen nach Bultmann, dass der Mensch
»ins Sündigen geführt« werde (ebd.). Röm 5,20 wird entsprechend von Gal 3,19 f.
her im Sinne einer zeitlich begrenzten sündenproduktiven Funktion der Tora er-
klärt; die Tora finde ihren heilsgeschichtlichen Sinn darin, den Menschen in die
Sünde und damit in den Tod hineinzuführen (268). Andererseits hält Bultmann
dann sehr deutlich fest, dass das Gesetz als Forderung Gottes seine Gültigkeit
behalte (342).
26 A. Orientierung
Auch die Darstellung des Menschen unter dem Glauben wird von Bultmann als
Ausarbeitung von zentralen Termini entwickelt. Sie setzt vor der Thematisierung
der »Gnade als Geschehen« – in Anknüpfung an Luther und in klarer Abgrenzung
zur These vom »Nebenkrater« (Schweitzer 21954) oder der »Kampfeslehre«
(Wrede 21907) – mit dem Thema des Römerbriefs, der Gottesgerechtigkeit, ein
(Bultmann 91984, 271–287). Die Gottesgerechtigkeit erscheint als der zentrale
Ausdruck der Lebensgabe bzw. ihrer Möglichkeitsbedingung. Gerechtigkeit, auch
hierin schließt Bultmann an Luther an, ist ein forensischer Begriff, der nicht auf
die Qualität einer Person zielt, sondern auf ihre Relationalität. Er gewinnt zwar
bei Paulus sein Profil vor dem Hintergrund jüdisch-eschatologischer Aussagen,
ist nach Bultmann in seiner präsentischen Orientierung jedoch zugleich von die-
sen kategorisch unterschieden (274–280). Im Verständnis der Gottesgerechtigkeit
als Glaubensgerechtigkeit konstatiert Bultmann eine »Antithese zur jüdischen
Anschauung« (281). Die Gottesgerechtigkeit erschließt sich Bultmann näherhin
nicht von Stellen wie Röm 3,5.25 her als Gottes eigene Gerechtigkeit (im Sinne
seiner Strafgerechtigkeit), vielmehr findet er – im Anschluss an Luther – den
Schlüssel zur Vorstellung in Röm 1,17; 3,21 f.26; 10,3; Phil 3,9 und 2Kor 5,21, wo es
um die von Gott geschenkte, zugesprochene Gerechtigkeit geht (285). Im Zen-
trum des Verständnisses von Gnade stehen dann Tod und Auferstehung Christi
als »Heilsgeschehen« (292–306). Nach Paulus ist »das Heilsgeschehen nirgends
anders als im verkündigenden, im anredenden, fordernden und verheißenden
Wort präsent« (301; im Original gesperrt). An diesem auf die individuelle Situati-
on gerichteten »Anredecharakter« vermisst Bultmann einzelne Konzepte und
Vorstellungen der Versprachlichung des Heilsgeschehens. Den Vorstellungen der
Präexistenz Christi und seiner Inkarnation fehle z. B. die Anredevalenz, insofern
es sich bei ihnen um »Mythologeme« handele (303). Die Auferstehung Christi
könne nur so geglaubt werden, dass der Auferstandene in der Verkündigung, im
»Kerygma«, präsent sei (305 f.). Im Blick auf solche später viel diskutierten und
auch missverstandenen Sätze Bultmanns ist festzuhalten, dass sie Aussagen über
die Verkündigung, ihre eschatologische Macht und Kraft darstellen und nicht De-
finitionen der Auferweckung und ihrer Geschichtshaltigkeit. Der Geschichtsbe-
zug erscheint allerdings sehr stark abschattiert. Texte wie 1Thess 4,13–18 und 1Kor
15 stehen bei Bultmann im Schatten des eschatologischen Jetzt des Christusge-
schehens. Über den Begriff der »Geschichtlichkeit« entkoppelt Bultmann die
»Eschatologie« bzw. die christliche Rede von der Hoffnung von chronometri-
schen Fragen und Bestimmtheiten – eine der wesentlichen Voraussetzungen, un-
ter denen er Paulus und Johannes auf einer Ebene behandeln kann.
Zum Heilsgeschehen unmittelbar dazu gehört hingegen die Kirche als eschato-
logische Gemeinde mit ihren kultischen Versammlungen und ihren – im An-
schluss an die Religionsgeschichtliche Schule – von magischen Vorstellungen
nicht weit entfernten Sakramenten (Bultmann 91984, 309–315). »Glaube« aber sei
im Kern die existentielle Bewegung zwischen dem »nicht mehr« und dem »noch
nicht«, insofern sei er Preisgabe des bisherigen »Selbstverständnisses«. Das neue
III. Die Paulusforschung 27
Leben der Christen sieht Bultmann bei Paulus dezidiert unter dem Vorzeichen
der »Freiheit«. Diese wird als Freiheit von Sünde, Gesetz und Tod ausgelegt und
vollzieht sich im Geist (331–353). Die paulinische Paränese interpretiert Bultmann
als Imperativ, der zwar in gewissem Sinn für die Christen einem »Werde, der du
bist!« entspreche, jedoch nicht idealistisch im Sinn einer Fortschrittsidee zu be-
greifen sei (334).
3.3. Wirkung
gen bleibe (Käsemann 31970, 31–68). Diese Diskussion wurde seitdem von den
jüngsten Fragerunden nach dem historischen Jesus weit überholt.
Glaube artikuliert sich bei Paulus nicht nur als je und je angesichts der Verkün-
digung erfolgender Umbruch des eigenen Selbstverständnisses, sondern auch in
kompakteren Traditionen und Sätzen. Dies machten Schüler wie Conzelmann
und Heinrich Schlier geltend und untersuchten, wie sich die paulinische Theolo-
gie erst auf der Grundlage des tradierten Bekenntnisses entwickelt habe.
Käsemann und seine Schüler zogen die an Luther orientierte Interpretation der
Gottesgerechtigkeit im Sinne eines genetivus obiectivus infrage und betonten die-
jenigen Stellen, an denen Paulus auch den subjektiven Genetiv voraussetzte, im
Sinne von Gottes eigener Bundesgerechtigkeit, die sich nicht nur auf das Indivi-
duum, sondern auf die Welt insgesamt richte (Stuhlmacher 21966). Unter den
Schülern war Käsemann auch derjenige, der sich Karl Barths Kritik, Bultmann
liefere die Christologie resp. Theologie an die philosophische Anthropologie aus
und kehre zum Liberalismus bzw. zu Schleiermacher zurück, weitgehend zu eigen
machte (Käsemann 31970, 23).
Betroffen war dabei im Kern auch das Geschichtsverständnis des Paulus. Im
Hintergrund der Paulusarbeiten Käsemanns und anderer wird das Bemühen er-
kennbar, die Theologie des Apostels im Zusammenhang der frühjüdischen Apo-
kalyptik zu begreifen – welche Bultmann als kosmisch-naturhaft gegenüber sei-
ner lectio gnostica zurückgestellt hatte, Käsemann dagegen zur »Mutter aller
christlichen Theologie« deklarierte (Käsemann 31970, 82–104.105–131; dazu Bult-
mann 1967, 476–482). Rechtfertigung und theologia crucis sind nach Käsemann
unter den Vorzeichen eines futurisch-apokalyptischen Weltverständnisses unauf-
löslich aufeinander bezogen, die Kirche ist Christus als dem gekreuzigten Kosmo-
krator (ein bei Paulus selbst nicht zentraler Begriff) zugehörig und bis in die
Leiblichkeit der eigenen Lebenspraxis hinein unbedingt verpflichtet.
Gehört nach Bultmann die »Kirche« für Paulus zum Heilsgeschehen unmittel-
bar hinzu (s. o.), so wundert es nicht, dass einige Schüler sich besonders der pau-
linischen Ekklesiologie und ihrer frühchristlichen Rezeptionsgeschichte zuwand-
ten. Käsemann und Schlier sahen – wenngleich sehr verschieden – bei Bultmann
zu sehr die (»nur«) im Glauben verborgene Christusgemeinschaft betont und
akzentuieren Aspekte der »ecclesia visibilis«, insofern sie v. a. von der – nicht allein
bildlich begriffenen – Leib-Christi-Vorstellung ihren Ausgang nahmen (Käse-
mann 1933). In der Mitte des 20. Jh. brach in entsprechenden Diskussionen die
Frage auf, ob der sog. »Frühkatholizismus« bereits bei Paulus selbst (und nicht
erst in Zeugnissen wie dem lukanischen Doppelwerk oder den Pastoralbriefen)
beginne – im Rückblick betrachtet eine Diskussion, die in Sackgassen führen
musste.
Zugleich schien Bultmanns Verständnis der paulinischen Ethik zu sehr von den
konkreten paränetischen Forderungen zu abstrahieren, die bei Paulus nicht ein-
fach mit nicht-christlichem Ethos deckungsgleich seien, welches lediglich je und
je unter neuer verantwortlicher Entscheidung und Gesinnung zu praktizieren sei.
III. Die Paulusforschung 29
langte seine Gerechtigkeit nicht durch seine Werke« (ebd.). Bultmanns vielfach
aufgegriffene Auslegung ist damit so etwas wie ein klassisches Modell für das, was
man eine »›lutherische‹ Perspektive auf Paulus« nennen könnte: Mit der Position
der Rechtfertigung durch den Glauben an Jesus Christus (Gal 2,16) wird als zu
Negierendes verbunden, dass Juden sich durch »Gesetzesfrömmigkeit« und Men-
schen generell sich durch ihre Leistungen, durch ihre »Werke« vor Gott gut posi-
tionieren wollen.
Nachdem schon früher gelegentlich anders verstanden worden war (Bach-
mann 2005a, 75–78; ähnlich für die Antike auch Meiser 2007) und nachdem z. B.
Ernst Lohmeyer (Lohmeyer 1929) im Ausdruck »Werke des Gesetzes« (Gal 2,16
[dreimal]; 3,2.5.10; Röm 3,20.28) »die berühmte Luthersche Deutung [. . .] nicht
unmittelbar begründet« fand (Lohmeyer 1954, 68) – denn: »sonst könnte dem
Begriff ἔργον nicht der persönliche Genitiv fehlen« (ebd.) –, vielmehr die Wen-
dung auf etwas »zu Leistendes, vom Gesetz Gefordertes« bezog (64), haben dann
zumal Adolf Schlatter und Ulrich Wilckens Kritik an dem oder einem »lutheri-
schen« Verständnis geübt, nach dem gerade das menschliche Leisten-Wollen als
heikel einzuschätzen wäre, während es Paulus (bei der Negation »nicht aus Wer-
ken des Gesetzes«) doch um konkretes Sündigen gehe (Gal 2,16–17a; Röm 3,20).
Mehr Wirkung im Blick auf die Entstehung von »The New Perspective on Paul«
hatten englischsprachige Arbeiten, und der dieser Bewegung allererst den Namen
gebende Ausdruck wurde dann im November 1982 durch James D. G. Dunn ein-
geführt. Besonders einflussreich waren beim Zustandekommen dieses Ansatzes
zuvor der in Harvard lehrende Schwede Krister Stendahl (1921–2008) und der
Amerikaner Ed P. Sanders (* 1937).
Stendahl äußert sich entsprechend schon Anfang der 1960er Jahre in einem
inzwischen berühmt gewordenen Papier: The Apostle Paul and the Introspective
Conscience of the West. Danach ist der Unterschied zwischen der etwa bei Luther
begegnenden Konstellation, die durch die individuelle und sich angesichts von
bedrängendem Schuldbewusstsein aufdrängende Frage »Wie bekomme ich einen
gnädigen Gott?« bestimmt sei, und der paulinischen Situation deutlich zu benen-
nen. In dieser seien Aussagen zur Rolle der mosaischen Tora und zur Unerfüllbar-
keit des Gesetzes nämlich an der Relation zwischen Juden, denen es ja gegeben
worden ist (z. B. Gal 3,23 f.), und Nichtjuden orientiert. Aus den an einem sozio-
logischen Sachverhalt – dem Verhältnis von Juden und Nichtjuden – interessier-
ten paulinischen Ausführungen wäre demzufolge später, gerade auch bei Luther,
ein auf jeden einzelnen Menschen zutreffender, ein allgemeiner anthropolo-
gischer Satz geworden. Hier kommen Gesichtspunkte der Hermeneutik zum Tra-
gen. In der im Jahr 1977 von Sanders vorgelegten Monographie Paul and Palestin
ian Judaism geht es eher um eine Frage von Synchronie und Diachronie: Wie
verhalten sich eben der Apostel und das ihm vorausgehende bzw. das ihn umge-
bende (palästinische) Judentum zueinander? Während nach Bultmann bei Pau-
lus der »jüdische Standpunkt der Gesetzesfrömmigkeit« widergespiegelt und zu-
rückgewiesen wird, findet der Amerikaner hier zwar ebenfalls eine Opposition
32 A. Orientierung
vor, sofern Paulus von der Lösung in Christus auf eine Misere zurückschließe
(Gal 2,21b). De facto indes sei das betreffende Judentum in weiten Teilen durch so
etwas wie »covenantal nomism«, »Bundesnomismus«, gekennzeichnet, also durch
die Vorordnung der Zuwendung Gottes zu seinem Volk vor die in diesen Gnaden-
bund gehörende Gesetzesforderung. Allerdings lasse immerhin das Buch 4. Esra
doch Züge von Werkgerechtigkeit erkennen.
Einen kleinen, aber nicht unwichtigen Schritt darüber hinaus geht bald danach
der Presbyterianer Dunn (* 1939), Neutestamentler in Durham, England. Er
meint, Sanders habe die mit den Beobachtungen zu einem jüdischen »Bundesno-
mismus« gegebenen Möglichkeiten für die Paulus-Exegese nicht wirklich genutzt,
sofern doch gerade die Betonung von Bund und Gnade eher auf Kontinuität hin-
weise, weniger auf eine Differenz zwischen dem nicht-christlichen Judentum und
Paulus. Lediglich insofern werde bei solcher Kontinuität seitens des Apostels
Neues inauguriert, als das Christusereignis ihn dazu führe, »Werke des Gesetzes«
negativ zu konnotieren. Bei dieser Ausdrucksweise sei nämlich etwa im Kontext
von Gal 2,16 fraglos an so etwas wie »identity« und »boundary markers« gedacht,
nicht zuletzt an die Juden von Nichtjuden trennende Beschneidung (Gal
2,3.7.8.9.12). Es gehe damit nicht um die Kritik an (scheinbar) »guten Werken«,
sondern um Kritik an einem jüdischen Nationalismus, der das – aufgrund der
Christusbotschaft mögliche – Hinzukommen von wirklichen Nichtjuden zum
Gottesvolk verhindere. Die Fokussierung auf die Wendung ἔργα νόμου (Werke
des Gesetzes), die übrigens zumindest nach späteren Aussagen Dunns nicht so zu
verstehen ist, als sei nur an die Beschneidung und an jüdische Speisekonventi-
onen gedacht, »hat der sog. new perspective ein Thema gegeben, an dem alle Fra-
gestellungen, die sie hervorgebracht hat [. . .], konvergieren« (Horn 2005, 29).
Dabei spielt dann auch spätestens seit Ende der 1980er Jahre eine Rolle, dass für
dieses vor Paulus so bislang nicht belegte Syntagma (bzw. genauer für: ἐξ ἔργων
νόμου [aus Werken des Gesetzes]) nun wenigstens eine (aramäisch-)hebräische
Parallele ins Bewusstsein tritt, die mit 4QMMT C27 gegeben ist (nachzulesen in
der Edition aus dem Jahr 1994 [Qimron/Strugnell] als מקצת מעשי התורה, dabei
übersetzt durch »some of the precepts of the Torah«). Freilich, seitdem belastet
auch eine weitere Unsicherheit das Gespräch: Ist der Ausdruck »Werke des Ge-
setzes«, wie Michael Bachmann zuerst 1992 vorgeschlagen hat und wie inzwischen
ein ganz erheblicher Kreis zumal von Kontinentaleuropäern meint (u. a. P. Grelot,
M. Pérez Fernandez, R. Penna, H. Sonntag, R. Bergmeier, V. Stolle, M. Müller, U.
Wilckens, K. Wengst und M. Ebner, ferner E. Lohse und J. Frey), durch »Tora-Re-
gelungen« oder »Halakhot« zu übersetzen, oder ist bei der Genitivverbindung
sowohl an Präskriptives als auch an dessen Erfüllung zu denken, wie Dunn seit
1982/83 annimmt, oder gar – im Einklang mit mittelalterlichem und auch refor-
matorischem Verständnis – allein an das solchen Regeln entsprechende (bzw. wi-
dersprechende) Handeln (so z. B. Gathercole 2005 und de Roo 2007)? Mit dem
von Bachmann favorisierten Halakhot-Verständnis, das natürlich nicht auf eine
Vernachlässigung des Aspekts des Tuns hinauswill, vielmehr den Akzent auf die
III. Die Paulusforschung 33
Tora-Diskussion der neutestamentlichen Zeit legt, wäre der Abstand der neueren
Paulusexegese vom »lutherischen« Verständnis besonders deutlich.
Fasst man das bislang zur New Perspective Gesagte zusammen, so ergibt sich: Es
handelt sich um eine sich seit den 1960er Jahren entwickelnde, dabei in sich
durchaus differenzierte Forschungsrichtung, die v. a. darin einen Einheitspunkt
findet, dass sie in den protopaulinischen Briefen, gerade auch in Formulierungen
zur Rechtfertigung, so etwas wie eine soziologische Dimension auszumachen
meint, die es genauer mit dem Verhältnis der frühen Christenheit zum Judentum
zu tun hat. Dabei kommt zumeist dem Ausdruck »Werke des Gesetzes« eine
wichtige Rolle zu, sofern bei ihm oft ein Bezug zu jüdischen Identitätsmerkmalen
behauptet wird. Dann ginge es zumal bei der Formulierung von einer Rechtferti-
gung »nicht aus Werken des Gesetzes« um die Möglichkeit einer Inklusion von
Nichtjuden eben als Nichtjuden in die Heilsgemeinde. Die Forschungsrichtung
rechnet zudem damit, dass Paulus’ Aussagen sich weithin nicht unmittelbar mit
der Beschreibung des Judentums oder einer bestimmten jüdischen Richtung be-
fassen, sondern sich vielmehr, an Christusanhänger gerichtet, im Wesentlichen
mit innerchristlichen Fragen beschäftigen. Schon damit, dass so die paulinische
Polemik in aller Regel nicht mehr auf (nicht-christliche) jüdische Kreise bezogen
wird, ergibt sich gegenüber der älteren Forschung tendenziell ein positiveres Ju-
dentumsbild. Die New Perspective steht damit im Übrigen, unter hermeneu-
tischen Gesichtspunkten betrachtet, der sog. Theologie nach dem Holocaust zu-
mindest nahe.
Bei den Reaktionen auf die New Perspective fallen einige Züge besonders auf,
und sie haben jedenfalls teils damit zu tun, dass hier so etwas wie ein Paradig-
menwechsel möglich scheint – und in solchen Fällen wartet die Forschungsge-
schichte nun einmal nicht selten mit Turbulenzen auf (T. S. Kuhn) –. Erstens
kommt es erstaunlich häufig zu einer bemerkenswert selektiven Wahrnehmung
des Publizierten. So wird oft nicht realisiert, dass hier bei den Rechtfertigungs-
aussagen zwar die Negation (»nicht aus Werken des Gesetzes« [z. B. Gal 2,16];
vgl.: »ohne Gesetzeswerke« [Röm 3,28]) gerade auch mit soziologischen Katego-
rien beschrieben wird, aber doch ohne dabei eine Berücksichtigung des Individu-
ums prinzipiell ausblenden zu können oder zu sollen, v. a. indes: ohne damit die
Position (etwa: »durch den Glauben an Jesus Christus« [bes. Gal 2,16]) anzutas
ten. (Auch deshalb ist die New Perspective nicht so »neu«, wie oft unterstellt
wird.) Sehr selektiv wird überdies etwa insofern verfahren, als ein Großteil der
übrigens eher zögerlich geführten, aber doch wichtige Momente bietenden kon-
tinentaleuropäischen Diskussion (im englischsprachigen Raum) kaum registriert
wird. Das gilt nicht nur für die nun gerade recht frühen Impulse Lohmeyers und
Schlatters, sondern ebenso etwa für Roland Bergmeiers Zurückweisung der The-
sen Jacqueline C.R. de Roos zur Verwendung der »Werk(e)«-Terminologie in den
Qumran-Schriften (Bergmeier 2005, 166–170). In Deutschland wird zum Zweck
einer Kritik an gewissen kontinentaleuropäischen Thesen zudem gerne auf
Dunns andere Sicht verwiesen, oft ohne z. B. bei den »Werken des Gesetzes« die
34 A. Orientierung
spätestens mit dem Jahr 1994, nämlich zumal mit 4QMMT C27 veränderte Quel-
lenlage ernsthaft zu bedenken und ohne etwa die bemerkenswert breite Aufnah-
me der Halakhot-Interpretation zu vermerken, auch ohne die dafür ins Feld ge-
führten Argumente zu gewichten. Zweitens spielt bei der teils heftigen Kritik an
der New Perspective sehr häufig eine nicht unwichtige Rolle, dass man die eigenen
Verstehensgewohnheiten als gefährdet empfindet. Häufig ist deutlich spürbar,
dass die New Perspective deshalb mit Skepsis betrachtet wird, weil sonst eigene
konfessionelle Überzeugungen betroffen wären, also so etwas wie die Kennzei-
chen des »Bekenntnisstandes« (so Horn 2005, 20, zur Debatte zwischen Käse-
mann und Stendahl), oder weil beispielsweise geargwöhnt wird, hier würden die
Unterschiede zum nicht-christlichen Judentum aufgrund einer Haltung von po-
litischer Korrektheit in unzulässiger Art und Weise relativiert. So richtig es sein
wird, die Rezeptionsgewohnheiten der eigenen Gruppe nicht leichtfertig zu ver-
nachlässigen, so wenig ist es hilfreich, sich gegen die mit einer neuen Situation
(z. B. der nach Veröffentlichung von 4QMMT) sich eröffnenden hermeneu-
tischen Möglichkeiten zu immunisieren und bestimmte textliche Daten zu igno-
rieren. Drittens gehört zu den Merkmalen der Debatte, dass sogleich weit größere
Schritte in der Paulusauslegung für möglich gehalten werden, etwa wo »a Post-
›New Perspective‹ Perspective« ausgerufen wird (Byrne 2001).
Diese Positionen, die man als »The New View of Paul« oder als »Die neuere
Paulusperspektive« zusammenfassen kann, gehen, anders als die üblichen Ein-
wendungen gegen die New Perspective, welche Paulus eher bei der menschlichen
Misere ansetzen und von dorther die [mit Christus gegebene] Lösung beschrie-
ben sehen, zumeist davon aus, es müsse noch radikaler gefragt und geurteilt wer-
den. Von Lloyd Gaston beispielsweise wird für Paulus die Vorstellung von zwei
nebeneinander existierenden Bünden, von zwei Heilswegen vertreten, einem für
Juden, einem für Nichtjuden (vgl. 1Kor 9,19–23; Gal 2,7 f.). Ähnlich, aber doch
etwas anders ist das auch bei John Gager (Gager 2000) und Stanley K. Stowers
(Stowers 1994) der Fall, nämlich unter Akzentuierung des Aspekts von heiden-
christlichen Adressatengemeinden. Mark D. Nanos (Nanos 2002), der ebenfalls
bei Galater- und Römerbrief an derartige Empfänger denkt, nimmt bei diesen
Personen indes eine sehr enge Verknüpfung mit Synagogengemeinden an; die Pa-
ränese richte sich deshalb weithin auf das Verhalten gegenüber bestimmten
nicht-christlichen jüdischen Gruppen. Sofern Paulus sich danach also durchaus
nicht von »dem« Judentum trennt, sind hier auch solche Studien zu nennen (etwa
Tiwald 2008 und Holtz 2007), welche die paulinische Öffnung der Botschaft
vom Gott Abrahams für Nichtjuden auf dem Hintergrund des betreffenden jü-
dischen Schrifttums für sozusagen jüdisch vorbereitet halten (z. B. bei Philo) und
insofern für nicht anstößig-singulär erachten. Eine Neubesinnung hinsichtlich
des antiken Judentums erfolgt also auch hier.
III. Die Paulusforschung 35
Die New Perspective und entsprechende neuere Versuche haben, wie der Begriff ja
auch suggeriert, in gewisser Hinsicht ein ziemlich neues Paulusbild, ja, ziemlich
neue Paulusbilder entworfen. Im Blick darauf werden v. a. zwei Hauptfragen dis-
kutiert: Die eine betrifft das Sanders’sche Schlagwort »Bundesnomismus«, die
andere den paulinischen Umgang mit jüdischen Identitätsmerkmalen.
Ob man für »das« Judentum der neutestamentlichen Zeit wirklich einfach von
»Bundesnomismus« sprechen darf, wird recht lebhaft erörtert, ist aber für Paulus’
Theologie doch von eher geringerem Interesse, und es kommt – »diachron« – hin-
zu, dass ja Sanders selbst so etwas wie »Werkgerechtigkeit« immerhin für 4. Esra
zugesteht. Immerhin: Nicht zuletzt in Gal 3,15–29 dürfte der Apostel so etwas wie
Bundesnomismus bedenken (Bachmann 1999, 57–77.80), wird doch hier die Vor
ordnung des mit Abraham verknüpften Verheißungsbundes bedacht und eben-
falls die nachfolgende Sinaigesetzgebung; aber es kommt doch vom Christuser-
eignis her zu einer Umdeutung und schließlich mit der Taufe εἰς Χριστόν (auf/in
Christus) zu den Aussagen, dass »Jude« und »Grieche« in ihm εἷς (einer) sind (V.
26–29). Dass freilich das Judentum im 1. Jh. unserer Zeitrechnung sich sehr unter-
schiedlich ausnehmen kann, ist nicht zu bezweifeln, etwa wenn man die Situati-
on(en) in der Diaspora mit der (und denen) im Stammland vergleicht oder die
sog. jüdischen Parteien betrachtet, die sich selbst im Blick auf den Komplex Tora
nicht völlig einig sind, auch nicht hinsichtlich der Notwendigkeit der Beschnei-
dung von männlichen Nichtjuden, die sich dem Heilsvolk anschließen wollen
(Flav.Jos.Ant. XX 34–48: Ananias vs. Eleazar). Dabei konnte auch über die hinter
4. Esra stehende Gruppe hinaus mit der Einhaltung von Geboten Hoffnung ver-
bunden sein (z. B. SapSal 6,18b-19). Das hat Friedrich Avemarie zu Recht betont.
Was die jüdischen Identitätsmerkmale angeht, so ist zunächst umstritten, wie
die paulinische Verwendung der 1. Person, v. a. der 1. Person Pl. zu verstehen ist.
Von besonderem Gewicht ist dabei die Einschätzung von Gal 3,13: »Christus hat
uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden
ist [. . .]« (mit Bezug auf Dtn 21,23). Drei Optionen werden hier diskutiert: der
inklusive Gebrauch dieser Personalpronomina (so z. B. D. Sänger), die allein
Nichtjuden betreffende Verwendung (so z. B. Stowers) und der Bezug allein auf
Juden (so z. B. inzwischen [anders als früher] J. Lambrecht). Die erste (eher
»lutherische«) Möglichkeit könnte sich etwa auf eine entsprechende Verwendung
von ἡμεῖς (wir) in Gal 4,26 und 5,1a beziehen (doch vgl. 4,28; 5,1b: Ihr). Anderer-
seits dürfte gegen eine solche Auslegung und auch gegen die zweite Option spre-
chen, dass zuvor in Gal 2,15–17 beim Wir fraglos nicht auch an Nichtjuden ge-
dacht wird; damit wäre dann ein Verständnis im Sinne einer Zwei-Wege-Lösung
kaum noch möglich (wie Wedderburn 2005, 56–62, wohl zu Recht sagt). Für die
Deutung allein auf Juden ist jedenfalls der rückwärtige Kontext zu veranschlagen,
überdies indes wohl auch der unmittelbare Zusammenhang (Bachmann 1999,
146 f. samt Anm. 52 [mit Bezug auf T. L. Donaldson]).
36 A. Orientierung
Daneben ist natürlich von Interesse, wie Paulus mit solchen ethnischen Kate-
gorien umgeht, die traditionell zumindest auch auf Jüdisches bezogen werden
können. Denn wenn er dabei radikal eine »Umadressierung« hin auf Heiden-
christen oder hin auf die Gruppe der Christen allgemein praktizierte, spräche das
sowohl gegen die New Perspective als auch gegen die Zwei-Wege-Lösung. Der Pro-
blemkomplex verlangt freilich die Berücksichtigung des neben und vor dem Apo-
stel befolgten Sprachgebrauchs. Und da ist zu konstatieren, dass »Jude«, »Be-
schneidung«, »Abrahamsnachkommenschaft«, »Söhne Gottes« und »Volk Gottes«
schon dort auch in übertragener Weise gebraucht werden (z. B. Sach 2,15; Philo
QE II 2), während es sich bei »Israel« (und »Israelit«) da noch anders verhält
(Bachmann 1999, 172–178). Insofern wird unsere Frage durch Röm 2,26.28 f.;
4,17 f.; 8,14–21; 9,25 f.; 10,19; 15,10 und 2Kor 6,16 nicht entschieden, wo der Apostel
jene Ausdrucksweisen ebenfalls auf Nicht-Jüdisches beziehen kann. Relevanter ist
auf dem angedeuteten Hintergrund, wie sich seine Israel-Terminologie aus-
nimmt, und in Bezug darauf ist das Bild weithin recht klar: Die drei Belege für
Ἰσραηλίτης (Israelit) (Röm 9,4; 11,1; 2Kor 11,22) beziehen sich – wieder nicht an-
ders als in der auf Paulus zuführenden Traditionsgeschichte – auf wirkliche Ju-
den(christen), und entsprechend steht es jedenfalls bei 15 der 16 Vorkommen von
Ἰσραήλ (Israel) (sehr wahrscheinlich auch bei 1Kor 10,18 [so u. a. Schrage 1983]).
Für die Formulierung aus Gal 6,16 (»Und wie viele nach diesem Maßstab wandeln
werden, Friede über sie und über das Israel Gottes«) wird in der Exegese üblicher-
weise so etwas wie eine Ausnahme von der Regel angenommen (so von W. Kraus,
D. Sänger und M. Wolter). Das mag angesichts des christlichen Sprachgebrauchs
seit dem 2. Jh. naheliegen (bes. Iust.dial. 11,5). Aber es passt nicht sonderlich gut:
nicht zum eben betrachteten sonstigen Paulus-Befund – zumindest was Ἰσραήλ
und Ἰσραηλίτης angeht –, nicht zum ernstgenommenen Kontext des Galater-
briefs (Gal 2,15–17; 4,4; 5,13 f.), nicht zum Römerbrief (Röm 11,25–32), nicht zu
Vergleichsstellen wie Ps 124(125),5 (vgl. V. 2, ferner die 18. Benediktion des Schmo-
ne Esre), nicht zu den der strittigen Formulierung sehr ähnlichen Briefschluss-
wendungen in 4QMMT C31 f. (»for your own welfare and for the welfare of Israel«
[DJD X 63]) und in PapMur. 42,7 (»Best wishes to you and to all Beth-Israel«
[Pardee 1982, 124]). Paulus dürfte sich so gerade auch bei der Israel-Terminologie
an die jüdischen Konventionen seiner Zeit halten (so etwa P. Richardson, K. Sten-
dahl, M. Bachmann, B. Schaller, S. G. Eastman und Chr. Zimmermann).
Vor allem spielt natürlich der bei Paulus achtmal (Gal 2,16 [dreimal]; 3,2.5.10;
Röm 3,20.28) begegnende Ausdruck ἔργα νόμου (Werke des Gesetzes) eine Rolle,
mit dem die soziologische Komponente der New Perspective ja eng verknüpft ist.
Dazu wird, wie schon angedeutet, gerne (z. B. durch S. Westerholm und G. H.
Visscher) auf Röm 4,2.6 verwiesen, wo es ja statt ἐξ ἔργων νόμου (aus Werken des
Gesetzes) (so zumeist) bzw. statt χωρὶς ἔργων νόμου (ohne Werke des Gesetzes)
(Röm 3,28) kürzer ἐξ ἔργων (aus Werken) (Röm 4,2 [vgl. 9,12.32; 11,6]) bzw. χωρὶς
ἔργων (ohne Werke) (Röm 4,6) heißt (vgl. noch 2,15). Aber die Vermutung, hier
werde es dann um einer Person zugeordnete (gute oder schlechte) Werke, Taten
III. Die Paulusforschung 37
gehen, ist schwierig. Erstens ist an den erwähnten Lohmeyer-Hinweis (dem be-
reits bei ihm der weitere auf das Fehlen eines qualifizierenden Adjektivs zur Seite
gestellt ist [z. B. Lohmeyer 1954, 59]) zu erinnern, der eben gerade auch für Röm
4 gilt; zweitens liest man einen Brief nun einmal von vorne (Röm 3,20.28) nach
hinten (Röm 4,2.6); drittens wird bei der Abraham-Thematik von Röm 4 zu-
nächst nicht schon die mosaische Gesetzgebung thematisiert, wie denn ja der
Terminus νόμος (Gesetz) hier auch erst ab V. 13 vorkommt – so wenig zuvor
andererseits auf das Identitäts- und Abgrenzungsmerkmal »Beschneidung«
(V. 9.10.11.12: sechsmal; entsprechend: ἀκροβυστία [Vorhaut]) verzichtet wurde.
Überdies ist natürlich von erheblichem Belang, dass auch in 4QMMT dem Aus-
druck ( מעשי התורהC27) die kürzere Formulierung ( ]ה[מעשיםB2) entspricht, und
dabei korrespondiert überdies dem ( מקצת מעשי התורהC27) die Wendung מקעח דכדינו
(B1; C30), die nämlich ihrerseits in B1 f. dem Plural ]ה[מעשיםvorausgeht. Nimmt
man noch hinzu, dass die soeben aus C27 zitierte Formulierung der bevorzugten
paulinischen Wendung ἐξ ἔργων νόμου insofern völlig entspricht, als ἐκ nach
Ausweis von Dan 1,5LXX מקצתwiedergeben kann (Dan 1,5MT: )ומקצתם, dürfte im
Übrigen der Versuch Michael Wolters »eine traditionsgeschichtliche Grundlage
für das Syntagma ἔργα νόμου trotz syrBar 57,2; 4QMMT C27 [. . .] auch in grie-
chischen Texten« auszumachen (Wolter 2009a, 131 Anm. 37), nicht weiterhelfen.
Wenn also 4QMMT C27 die »einzige exakte Parallele für das Syntagma, das im
Griechischen sonst nicht belegt ist« (Frey 22012, 61), sein wird, ist damit auch die
Deutung hin auf Präskriptives äußerst wahrscheinlich (ebd.: »am ehesten [. . .]
›Vorschriften‹«); denn ( דבריםs. nochmals 4QMMT B1) wird z. B. in Ex 34,28 und
Dtn 1,1 eben gerade für so etwas wie Gebote gebraucht (vgl. zur biblischen
»Werk[e]«-Terminologie überdies z. B. Ex 18,20; Lev 18,3[-5] [vgl. Gal 3,12!]; Apk
2,26, ferner darüber hinaus TestLev 19,1). Paulus denkt dann bei ἔργα νόμου, wie
etwa die begleitenden Belege für »beschneiden« (Gal 2,3) und für »Beschnei-
dung« (Röm 3,1.30; 4,9–12; Gal 2,7–9.12) wahrscheinlich machen, wohl primär an
Regelungen, welche die Grenze zwischen Juden und Nichtjuden hervorheben –
und nach ihm als solche für Heiden eben gerade nicht gedacht sind.
Die im Blick auf die New Perspective und auf sich an sie anschließende Ansätze
betrachteten strittigen Fragen lassen erkennen, dass eben bei der New Perspective
ein Sachverhalt Interesse gewonnen hat, den man wohl nicht einfach wird zu den
Akten legen können. Soviel im Einzelnen noch zu klären sein mag: Dass Paulus
bei den negativ konnotierenden Bemerkungen zur Rechtfertigung gerade auch
einen soziologisch beschreibbaren Tatbestand meint, dürfte nunmehr nach Jahr-
hunderten – und dabei auch aufgrund eines wichtigen Fundes (4QMMT [C27])
– recht deutlich sein.
Bachmann, Michael: Antijudaismus im Galaterbrief? Exegetische Studien zu einem pole-
mischen Schreiben und zur Theologie des Apostels Paulus (NTOA 40), Freiburg (CH)/Göt-
tingen 1999 (vgl. Ders.: Anti-Judaism in Galatians? Exegetical Studies on a Polemical Letter
and on Paul’s Theology [translated by R. L. Brawley], Grand Rapids/Cambridge 2009).
Ders. (Hg. unter Mitarbeit von Johannes Woyke): Lutherische und Neue Paulusperspektive.
38 A. Orientierung
Will man eine Definition für ›Sozialgeschichte‹ nicht via negationis vornehmen
(Schulz 2005, 283), dann geht es ihr um »Determinanten gesellschaftlichen Wan-
dels nicht in erster Linie im politisch-staatlichen Bereich« (Mommsen 1987, 127),
sondern um einen vielschichtig und breit gefassten Begriff.
Die Wurzeln der sozialgeschichtlichen Forschung liegen im 19. Jh., als marxis
tisch-kommunistische Ideologie und Fragen politischer Willensbildung im Rah-
men der entstehenden Vereinskultur auf das Urchristentum angewendet werden:
Heinrich Julius Holtzmann greift die Gütergemeinschaft in Apg 2,42–47; 4,32–37
auf und vergleicht sie sozialgeschichtlich mit den Essenern. Die Wurzeln urchrist-
licher Gemeinden sieht er aber weniger in der essenischen Separation, dem zöli-
batären Leben und der strengen Disziplinierung ihrer Mitglieder als vielmehr in
der philosophisch begründeten Utopie der Pythagoreer (Holtzmann 1882.1884).
Zuvor hat Friedrich Lücke die korinthische Gemeinde als Kultverein nach dem
Maßstab griech. θίασοι (Vereine) verstanden (Lücke 1845). Strukturelle Paral-
lelen zeigen etwa die Bedeutung der Gemeindeversammlung auf, die ihre inter-
nen Konflikte hinsichtlich der Mahlpraxis zu lösen sucht. Dabei spielt Paulus als
›kleiner Mann‹ die Rolle eines Patrons gegenüber einem Client.
An der Schwelle zum 20. Jh. tritt der Gedanke der Volkskunde in den Vorder-
grund, der für die folgenden Jahre leitend werden sollte. Ernst von Dobschütz hat
1902 Die urchristlichen Gemeinden. Sittengeschichtliche Bilder verfasst, wo er den
besonderen Charakter der kirchlichen Landschaft erfassen will, ohne dabei je-
doch einfach die sittlichen Ideale darzustellen. Ihm geht es um die faktische, ge-
lebte Sittlichkeit, wodurch sich ein empirisches Interesse zeigt. Für Korinth sieht
er den Gottesdienst als »sittigende Kraft«, weil Wohlhabende und das städtische
Proletariat Anteil haben (von Dobschütz 1902, 20 f.).
Nur wenig später folgt Adolf Deißmanns Buch Das Urchristentum und die un-
teren Schichten (1908), wo er das Urchristentum in jene antike Volkskunde ein-
III. Die Paulusforschung 39
zeichnet. Unter besonderem Rückgriff auf Ostraka und Papyri will er das alltäg-
liche Leben rekonstruieren und versteht deshalb das Neue Testament als Aus-
druck einer Lebensphilosophie, die sich gegen Kultur, Geschichte und Konvention
richtet und Unmittelbarkeit und Erfahrung vor Augen stellt.
Auf Adolf von Harnacks bahnbrechende Arbeit muss eigens verwiesen werden,
in der er Sozialgeschichte und Missionsgeschichte aufeinander bezieht (Die Mis-
sion und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 11902;
4
1924). Die Ursachen für eine beispiellose Missionsgeschichte sieht er einerseits in
der Schichtung der urchristlichen Gemeinde als diakonische Aufgabe (»das Evan-
gelium der Liebe und Hilfeleistung« [von Harnack 41924; 170]) und andererseits
als Ausdruck gebildeter Stände und der Frauen (559–562.570–573.589–600).
Besonders der Soziologe Max Weber und der Systematiker Ernst Troeltsch
führten wichtige begriffliche und sachliche Klärungen ein, indem beispielsweise
»Gesellschaft« als Sektor verstanden wird, der genauso als ›sozial‹ beschrieben
werden kann wie etwa die Familie. Dabei ist die Familie Basis für die Kirche wie
für den Staat. Alle diese Sektoren lassen sich ›sozial‹ analysieren. Aus diesem
Grund ist die urchristliche Gemeinde in ihrer sozialen Gestalt nicht fassbar.
In den 1960er Jahren gewinnt die sozialgeschichtliche Auslegung durch wenigs
tens zwei sehr verschiedene Zugänge neuen Schwung: Martin Hengels streng
historische Darstellung Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung
unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts vor
Christus (1969; 31988) ist dahingehend sozialgeschichtlich lesbar, weil Hengel be-
sagtes Verhältnis aus der Sicht der ›Oberschicht‹ beschreibt. Dieser geographiege-
schichtliche Ansatz hat die zwischentestamentliche Zeit im Blick und wertet lite-
rarische und archäologische Quellen für eine sozialhistorische Geographie aus.
Für die sozialgeschichtliche Exegese paulinischer Texte trägt diese Studie nur in-
direkt etwas aus – genau wie für einen Gegenwartsbezug. Als Gegenentwurf dazu
kann das Jesus-Buch von Luise Schottroff und Wolfgang Stegemann Jesus von
Nazareth. Hoffnung der Armen (1978; 31990) gelten: Mittels form- und redaktions-
geschichtlicher Methode wird der Sitz der Jesus-Botschaft in der Unterschicht
verortet. Der zeitgeschichtliche Umbruch in der Gesellschaft der 1960er wird in
den neutestamentlichen Texten der Evangelien gesucht, um so eine zeitgemäße
Jesus-Nachfolge zu formulieren.
Texttheoretische Einsichten, die aus dem Strukturalismus gespeist sind, richten
in den 1980er Jahren den Blick auf Oppositionen jedweder Art: solche des Status,
der Aktion, der Anschauung etc., die allesamt Relationen in ihrer Funktionalität
beschreiben und Teil von Kontexten sind. Gesellschaftliche Konflikte gelten als
Ergebnis der Lebensäußerung von Gruppen, die jeweils verschiedenen Klassen
angehören. Sozialwissenschaftliche Perspektiven ergänzen diese texttheoretischen
Einsichten. Die Ergebnisse werden im Rahmen der Paulusexegese (Meeks 1993)
und des 1. Petrusbriefs diskutiert (Elliott 1990). Dabei können jedoch soziokul-
turelle Fragen in Spannung treten mit folgenden Arbeitsbereichen: Ethnologie
und kulturwissenschaftliche Fragen (bes. Kulturanthropologie, Kultursoziolo-
40 A. Orientierung
gie), weil sie auf ihrem Etikett eine größere Nähe zum historischen Gegenstand
tragen (vgl. Malina 1993).
Im Rückblick wirken folgende Perspektiven innovativ: die deskriptive Perspek-
tive mahnt zur Quellennähe und holt die historische Dimension ein; in der men-
talitäts- und alltagsgeschichtlichen Perspektive werden die Kontexte der neutesta-
mentlichen Texte durch kulturwissenschaftliche Methoden erneut analysiert; die
soziologische Perspektive wird Sozialgeschichte als Strukturgeschichte verstehen,
die die Wirkung sozialer Fragen thematisiert und das Gewicht auf die Applikati-
on legt. Die in sich wiederum spezialisierten und aufgefächerten Perspektiven
lassen sich nicht harmonisieren und haben jeweils auch in Kombination ihr gül-
tiges Recht, ohne dabei ein Alleinstellungsmerkmal für sich in Anspruch nehmen
zu können.
wird dadurch auch möglich, das Verstehen der Adressaten in den Blick zu neh-
men (vgl. van Kooten 2008).
Behr, John: Social and Historical Setting, in: Young, Frances/Ayres, Lewis/Louth, Andrew
(Hg.): The Cambridge History of Early Christian Literature, Cambridge 2004, 55–70.
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Koch, Dietrich-Alex: Bilder aus der Welt des Urchristentums. Das Römische Reich und die
hellenistische Kultur als Lebensraum des frühen Christentums in den ersten zwei Jahrhun-
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Schnelle, Udo (Hg.) unter Mitarbeit von Manfred Lang und Michael Labahn: Neuer Wett-
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Manfred Lang
B. Person
44 B. Person
Die erhaltenen Paulusbriefe nennen uns weder Zeit noch Ort ihrer Abfassung.
Die Apostelgeschichte beschreibt zwar ausführlich das missionarische Wirken des
Paulus, aber auch sie berichtet nicht, wann und wo Paulus seine Briefe verfasste.
Für die Geschichte des frühen Christentums wichtige Ereignisse wie der Apostel-
konvent oder die Berufung des Paulus werden von Lukas nicht exakt chronolo-
gisch eingeordnet. Weder Paulus noch die Apostelgeschichte bieten einen Abriss
seines Lebens im heutigen Sinn, sondern sie streuen biographisch-chronolo-
gische Notizen jeweils nur dort ein, wo es von ihrer Argumentation her ange-
bracht erschien (vgl. z. B. 2Kor 11,22–28; Gal 1,11–2,15; Phil 3,4–11; Apg 22,3). Zu-
dem stehen die Aussagen der Hauptquellen (authentische Paulusbriefe und Apo-
stelgeschichte) teilweise in Spannung zueinander. Dies verdeutlicht die großen
Schwierigkeiten bei der Erstellung einer Chronologie bzw. Biographie des pauli-
nischen Wirkens und erklärt, warum gerade auf diesem Gebiet die Forschungs-
meinungen stark divergieren. Zugleich basiert aber jede Darstellung des Lebens
und Wirkens des Apostels Paulus auch auf inhaltlicher Ebene auf einer impliziten
oder expliziten Chronologie und einer Einschätzung biographisch verwertbarer
Nachrichten, sodass die Klärung dieser Fragen die Basis eines jeden Paulusbildes
ist. Dabei steht die Bewertung des historischen Wertes der Quellen an erster Stel-
le.
2. Die Quellen
Den Ausgangspunkt bildet der für die Historikerin und den Historiker selbstver-
ständliche Grundsatz, dass den Primärquellen immer der Vorzug zu geben ist.
Die biographisch und chronologisch verwertbaren Angaben der Protopaulinen
(1Thess/1Kor/2Kor/Gal/Röm/Phil/Phlm) sind deshalb die Basis aller Rekonstruk
tionen. Ihnen gebührt stets dann der Vorzug, wenn sie in Spannung oder im
Widerspruch zu anderen Nachrichten im Neuen Testament stehen. Dabei ist al-
lerdings zu beachten, dass auch Paulus nicht frei davon ist, historische Abläufe
tendenziös darzustellen (vgl. Gal 2,1–10). Zudem verändert sich der Interpreta
tionsrahmen entscheidend, wenn Briefe wie der Kolosserbrief oder der 2. Thessa-
lonicherbrief als authentisch angesehen werden (so v. a. in der angelsächsischen
Welt).
Die Apostelgeschichte ist neben den Protopaulinen die zweite Hauptquelle für
das Leben und Wirken des Paulus. Sie ist keine Paulusbiographie, aber sie enthält
faktisch eine. Sie teilt biographische und chronologische Informationen mit, die
sich teilweise weder in den Proto- noch den Deuteropaulinen finden und für je-
des Paulusbild grundlegend sind: 1) Herkunft: Dreimal wird erwähnt, dass Paulus
I. Probleme einer Paulus-Biographie 45
aus dem kilikischen Tarsus stammt (Apg 9,11; 21,39; 22,3; vgl. 11,25). 2) Rechtlicher
Status: nach Apg 16,37 f.; 22,25.28; 23,27 besaß Paulus das römische Bürgerrecht,
Apg 21,39 setzt zudem das Bürgerrecht seiner Heimatstadt Tarsus voraus. 3) Beruf
und sozialer Status: Apg 18,3 überliefert die historisch glaubwürdige Tradition,
Paulus und Aquila seien Zeltmacher gewesen. 4) Religiöse Ausbildung: Paulus
erhielt seine Ausbildung bei dem berühmtesten Gesetzeslehrer der Zeit Gamaliel
(Apg 22,3; vgl. 5,34). 5) Erste theologische Ausrichtung: Paulus wirkte als Pharisä-
er (Apg 22,3; 23,6: »Sohn von Pharisäern«), wobei die auffällige Betonung der
theologischen Kategorie des ›Eifers‹ (vgl. Gal 1,14; Phil 3,6; Apg 22,3 f.) darauf hin-
weisen könnte, dass Paulus dem radikalen Flügel des Pharisäismus zuneigte.
6) Verfolger der ersten Christusgläubigen: Die Verfolgertätigkeit zählt zu den äl-
testen Nachrichten über Paulus (vgl. Apg 8,3; 9,2; 22,4.19; 26,10.11; ferner 1Kor 15,9;
Gal 1,13.23; Phil 3,6). 7) Neuausrichtung des Lebens und der Lehre: Dreimal be-
richtet Lukas von der Berufung und Beauftragung des Paulus (Apg 9,3–19a; 22,6–
16; 26,12–18; vgl. 1Kor 9,1; 15,8; 2Kor 4,6; Gal 1,12–16; Phil 3,4b–11). 8) Schulzugehö-
rigkeit: Paulus erscheint zunächst als Verfolger (Apg 9,2) des ›neuen Weges‹ (Apg
19,23), dessen beschneidungsfreiem Flügel (Apg 15,1–5) er dann aber selbst ange-
hört und ihn verkündet (Apg 19,9 f.). 9) Das Lebenswerk: Insbesondere die drei
Missionsreisen (Apg 13,1–14,28; 15,36–18,22; 18,23–21,14) dokumentieren die impo-
nierende Lebensleistung des Apostels. 10) Schicksal: Sehr breit schildert die Apo-
stelgeschichte das Schicksal ihres Helden; von den Ereignissen in Jerusalem (Apg
21,15–23,22) und Cäsarea (Apg 23,23–26,32) über die abenteuerliche Schiffsreise
(Apg 27,1–28,13) bis hin zu seinem Wirken in Rom (Apg 28,14–31). Die Historizität
dieser Angaben und ihre chronologische Einordnung lassen sich immer nur im
Einzelfall bestimmen. Zwar wird der Geschichtswert der Apostelgeschichte in der
neueren Forschung wieder positiver gesehen als in der Vergangenheit, aber auch
Lukas hat ein eigenes Paulusbild, dem er chronologische und biographische An-
gaben zuordnet. Problematisch wird es v. a. dann, wenn sich Aussagen der Apo-
stelgeschichte und der Protopaulinen widersprechen. Hier ist tendenziell den Ei-
genaussagen des Paulus zu folgen. Ein Beispiel: Während Lukas von fünf Reisen
des Völkermissionars Paulus nach Jerusalem spricht (Apg 9,26; 11,27–30; 15,2.4;
18,22; 21,15), erwähnt Paulus selbst nur drei (Gal 1,18; 2,1; Röm 15,25). Die fünf
Reisen entsprechen deutlich lukanischer Redaktion, um so die Verbundenheit
zwischen Paulus und der Urgemeinde zu betonen. Lassen sich hingegen die Mit-
teilungen der Apostelgeschichte und der Paulusbriefe kombinieren, so ergibt sich
eine sichere Grundlage für die paulinische Chronologie. Berichtet nur die Apo-
stelgeschichte über Ereignisse aus dem Leben des Paulus, gilt es zu prüfen, inwie-
weit Lukas zuverlässige alte Traditionen wiedergibt oder ob seine Darstellung re-
daktioneller Gestaltung entspringt.
Die Deuteropaulinen (Kol/Eph/2Thess/1/2Tim/Tit) sind ebenso wie außerka-
nonische Schriften nur dann heranzuziehen, wenn sie erkennbar alte Paulustra-
ditionen oder chronologisch wichtige Daten wiedergeben. Insbesondere die Pas
toralbriefe erheben den Anspruch, mit Adressenangaben, Grüßen, Namensnen-
46 B. Person
nate blieb (vgl. Apg 20,3). Ursprünglich beabsichtigte Paulus, direkt von Korinth
mit dem Schiff nach Syrien weiterzureisen. Juden hinderten ihn aber daran, so-
dass er über Makedonien zurückkehren musste. Diese Angaben in Apg 20,3 ste-
hen in Spannung zu Röm 15,25, wo Paulus seine Rückkehr nach Jerusalem ankün-
digt, um die Kollekte zu überbringen. In Röm 15,25 wird jedoch nicht von einer
direkten Reise Korinth – Jerusalem gesprochen, sodass kein Gegensatz zwischen
den Angaben der Apostelgeschichte und dem Zeugnis des Paulus konstruiert
werden muss. Nach Apg 20,6 fuhr Paulus von Korinth nach Philippi, dann nach
Troas, um von dort über Assos nach Milet zu gelangen. Mit dem Schiff setzte der
Apostel seine Reise nach Cäsarea am Meer fort, um dann zu Pfingsten 56 (vgl. Apg
20,16) Jerusalem zu erreichen.
Die in Apg 24,27 berichtete Ablösung des Prokurators Felix durch Festus voll-
zog sich wahrscheinlich im Jahr 58, was sich auch mit Apg 24,1 gut vereinbaren
lässt, denn der dort erwähnte Hohepriester Ananias amtierte etwa 47–59. Weil
Paulus vor dem Prokurator Festus an den Kaiser appellierte (vgl. Apg 25,11), wur-
de er wahrscheinlich noch im Jahr 58 mit einem Gefangenentransport unter der
Leitung eines Centurio nach Rom überführt (vgl. Apg 27,1–28,16). Fiel die Rom-
reise in den Winter 58/59, dann traf Paulus im Frühjahr 59 in der Welthauptstadt
ein. Nach dem Zeugnis von Apg 28,30 konnte sich Paulus relativ frei bewegen, und
er predigte zwei Jahre ungehindert in seiner Wohnung. Das Todesjahr und der
Todesort des Apostels sind unbekannt, man darf aber vermuten, dass er während
der Christenverfolgung unter Nero im Jahr 64 in Rom als Märtyrer starb. Dies
ergibt sich aus 1Clem 5,5–7 in Verbindung mit den Nachrichten über den Brand
Roms bei Tacitus (ann. XV 44,2–5) und Sueton (Nero 16,2). Die in Röm 15,24 an-
gekündigte Spanienmission hat somit aller Wahrscheinlichkeit nach nicht stattge-
funden. Auch das Geburtsjahr des Völkerapostels kann nur indirekt erschlossen
werden. In Phlm 9 (geschrieben um 62 n.Chr.) bezeichnet sich Paulus als »alter
Mann«. Zu diesem Zeitpunkt wäre er nach den antiken Lebensaltern ca. 55 Jahre
alt gewesen sein, d. h. er dürfte Mitte des ersten Jahrzehnts n.Chr. geboren sein.
Tod Jesu 30
Bekehrung des Paulus 33
Erster Aufenthalt in Jerusalem 35
Paulus in Kilikien ~ 36–42
Paulus in Antiochia ~ 42
Erste Missionsreise ~ 45–47
Apostelkonvent 48 (Frühjahr)
Antiochenischer Zwischenfall 48 (Sommer)
Zweite Missionsreise 48 (Spätsommer) –51/52
Paulus in Korinth 50/51
II. Der vorchristliche Paulus 49
Der Name Παῦλος (Paulus) wird im Neuen Testament mit einer Ausnahme (s. u.)
nur für den Apostel verwendet und durch ihn selbst in den Präskripten seiner
Briefe (sowie, sofern man Kol, 2Thess und die Pastoralbriefe für pseudepigraph
hält, durch die deuteropaulinische Literatur) ebenso wie durch die Apostelge-
schichte (passim) und durch 2Petr 3,15 bezeugt. Allein die Apostelgeschichte
kennt für ihn auch den Namen Σαῦλος (Saulus) und verwendet ihn von 7,58 bis
13,7 ausschließlich, danach nie. Ein Namenswechsel ist in der Apostelgeschichte
aber weder erwähnt noch vorausgesetzt oder auch nur nahegelegt. Vielmehr trug
der Apostel einen Doppelnamen, den der Verfasser der Apostelgeschichte ge-
schickt anlässlich seiner Begegnung mit dem römischen Prokonsul Σέργιος
Παῦλος (Sergius Paulus) in Paphos auf Zypern (Apg 13,4–12) einführt: Σαῦλος
δέ, ὁ καὶ Παῦλος (Saulus aber, der auch Paulus [heißt], Apg 13,9). Ähnlich lauten
beide Namen nur im Griechischen. Während ָשאוּלim Hebräischen an den gro
ßen, gleichwohl ambivalenten ersten König Israels erinnert (vgl. 1Sam 9–2Sam 1;
in LXX allerdings immer in der Form Σαῦλ [Saul], in der lukianischen Rezension
Σαῦλος [Saulus], so auch bei Josephus), der wie der Apostel zum Stamm Benja-
50 B. Person
min gehörte, trägt der Name Παῦλος (Paulus) keinerlei religiösen Beiklang. Ein
spezifisch römischer Ton könnte dagegen mitklingen (Riesner 1994, 127–129).
Inschriftlich ist Παῦλος jedenfalls für Juden in Kleinasien kaum belegt (Ameling
2004, Index), Σαῦλος (Saulus) allerdings auch nicht. Bei den Apostolischen Vä-
tern findet sich als Name für den Apostel nur noch Παῦλος (Paulus, Barn.subscr.;
1Clem 5,5; 47,1; IgnEph 12,2; IgnRöm 4,3; Polyk 3,2; 9,1).
Nach der Apostelgeschichte – in seinen Briefen erwähnt er seine Heimat nie –
stammte Paulus aus Tarsus in Kilikien (Apg 9,11; 21,39; 22,3), wo er sich auch nach
seiner Berufung zum Apostel zeitweilig wieder aufhielt (Apg 9,30; 11,25; vgl. Gal
1,21). Familiäre Beziehungen bestanden nach Jerusalem, wo ein Neffe von ihm,
Sohn seiner Schwester, lebte (Apg 23,16–22). Dass die Eltern ursprünglich aus
Gischala in Galiläa stammten und zusammen mit dem adoleszenten Paulus als
römische Kriegsgefangene versklavt und deportiert wurden, legt eine Nachricht
bei Hieronymus nahe (Ad Philemona 23; vir.ill. 5; vgl. Niebuhr 1992, 107 f.). In der
Fassung, wie Hieronymus sie überliefert, widerspricht sie allerdings Apg 22,28,
wonach Paulus bereits als römischer Bürger geboren worden sei. Es könnte sich
aber eine Erinnerung erhalten haben, nach der die Vorfahren des Paulus im Zuge
römischer militärischer Unternehmungen in Galiläa unter Varus im Jahr 4 v.Chr.,
von denen Josephus berichtet (Flav.Jos.Bell. II 66–71; Ant. XVII 286–294), das ge-
nannte Schicksal erlitten. Dass sie später Freigelassene (liberti) ihres inzwischen
zum Veteranen gewordenen Herrn wurden und ihr Sohn folglich als Freier und
zugleich römischer Bürger geboren wurde, entspricht den Rechtsverhältnissen
der frühen Kaiserzeit und könnte insofern auch das römische Bürgerrecht des
Paulus plausibel erklären (Hengel 1991, 206–208). Ein sicherer Beleg für eine ga-
liläisch-jüdische Herkunft der Familie des Paulus ist es freilich nicht.
Während Paulus selbst in seinen Briefen auch über den Ort seiner Kindheit
und Jugend bis hin zu der Zeit, in der er die Gemeinde der Jesusanhänger verfolgt
hat, kein Wort verliert, zeichnet die Apostelgeschichte dazu folgendes Bild: Als
Jude in Tarsus in Kilikien geboren, sei Paulus schon als kleines Kind nach Jerusa-
lem gekommen und dort zunächst in der Familie erzogen, dann von Rabbi Ga-
maliel I. in der Treue zur Tora unterwiesen bzw. zu ihrer genauen Interpretation
ausgebildet worden (zur Interpretation Haacker 1995, 855–860), woraufhin er
schließlich zu einem eifrigen Verfechter jüdischen Glaubens geworden sei (Apg
22,3–5). Von Jugend an habe er in Jerusalem einen vorbildlich jüdischen Lebens-
wandel geführt und als Pharisäer, somit Anhänger der gesetzestreuesten Schule
der jüdischen Religion, gelebt (Apg 26,4 f.).
Die Rückwanderung der Familie des Paulus aus der Diaspora nach Jerusalem
erscheint angesichts sonstiger Belege für eine entsprechende Praxis im 1. Jh.
n.Chr. plausibel und wird in Apg 6,9 durch die Erwähnung von Synagogen der
Libertiner, Kyrenäer und Alexandriner sowie weiterer Juden aus Kilikien und der
Provinz Asien in Jerusalem bestätigt. Die chronologische Einordnung der Über-
siedelung in seine frühe Kindheit ergibt sich daraus, dass Apg 22,3 ein dreiglied-
riges biographisches Schema aufgreift, signalisiert durch die drei Partizipien
II. Der vorchristliche Paulus 51
erster Linie das Festhalten des Paulus und seiner Familie an jüdischer Herkunft
und Identität in der Diaspora, das sich auch im Festhalten an Bindungen zum
biblischen Mutterland erweisen kann. Ob damit die Beherrschung des Hebrä-
ischen oder Aramäischen verbunden sein musste, wird – auch mit Blick speziell
auf Paulus – unterschiedlich beurteilt. Wendungen, welche die aus seiner jü-
dischen Herkunft herrührende und diese bestätigende Lebensausrichtung des
Paulus vor seiner Berufung betonen, beschließen die Reihe der autobiographi-
schen Aussagen: Aufgrund seiner Toraorientierung sei er Pharisäer geworden.
Auch als eifriger Verfolger der Gemeinde der Jesusanhänger habe er sich an der
Tora orientiert und sich auf diese Weise als tadellos Gerechter erwiesen.
In 2Kor 11,22 f. läuft der Verweis auf die israelitische Herkunft des Paulus auf
die Herausstellung seiner Autorität als Christusapostel zu, im polemischen Ge-
genüber zu Agitatoren, die in der korinthischen Gemeinde seine Position unter-
graben wollen. Zwar stehen am Beginn der Reihe drei Aussagen zur jüdischen
Identität des Apostels, in der er sich seinen Gegnern gegenüber als ebenbürtig
erweisen will, aber den Ton trägt die vierte, wenn er sich ihnen als Diener Christi
überlegen weiß, nicht ohne dieses Selbstlob zuvor rhetorisch als Narretei zu be-
zeichnen. Die Aussagen zur jüdischen Herkunft bilden hier also nicht den Höhe-
punkt der Argumentation, behalten gleichwohl nach dem Modell des Schlusses
vom Geringeren auf das Größere Gewicht. Zwischen den drei Einzelaussagen, die
jeweils die Abstammung betonen (Ἑβραῖοι, Ἰσραηλῖται, σπέρμα Ἀβραάμ [Hebrä-
er, Israeliten, Same Abrahams), wird an dieser Stelle kein wesentlicher seman-
tischer Unterschied bestehen. Wichtig ist Paulus aber, dass alle drei genannten
Prädikate auch in seiner gegenwärtigen Auseinandersetzung mit den feindlichen
Agitatoren in Korinth für ihn als Apostel sprechen können.
Schließlich verweist Paulus auch im Rahmen der Argumentation in Röm 9–11
mit Betonung auf seine Identität als Israelit, auch und gerade wo es ihm um seine
Rolle als Heidenapostel geht. In Röm 9,1–5 bildet die gegenwärtige Ablehnung des
Christusevangeliums bei einem Teil aus Israel, den Paulus als »meine leiblichen
Stammverwandten« (Röm 9,3) bezeichnet, Anlass für seinen abgrundtiefen
Schmerz. In ähnlicher Weise charakterisiert er in Röm 11,14 die noch nicht glau-
benden Israeliten, die er durch seine Heidenmission eifersüchtig machen will, um
wenigstens einige von ihn zu retten, als »mein Fleisch«. Und in Röm 11,1 nennt er
sich mit Betonung einen Israeliten (Präsens!), um damit die Behauptung aus der
Welt zu schaffen, Gott könne sein Volk haben fallen lassen. An all diesen Stellen
ist weniger die jüdische Herkunft des Apostels im Blick (die freilich notwendige
Voraussetzung der Aussagen ist) als vielmehr seine gegenwärtige Identität als Is-
raelit, die auch seine Funktion und Aufgabe als Heidenapostel bleibend prägt.
Frey, Jörg: Das Judentum des Paulus, in: Wischmeyer, Oda (Hg.): Paulus. Leben – Umwelt –
Werk – Briefe, Tübingen 22012, 25–65.
Hengel, Martin: Der vorchristliche Paulus, in: Ders./Heckel, Ulrich (Hg.): Paulus und das
antike Judentum (WUNT 58), Tübingen 1991, 177–291 (wieder abgedruckt in: Ders.: Paulus
und Jakobus. Kleine Schriften III [WUNT 141], Tübingen 2002, 68–192).
II. Der vorchristliche Paulus 55
Tiwald, Markus: Hebräer von Hebräern. Paulus auf dem Hintergrund frühjüdischer Argumen-
tation und biblischer Interpretation (HBS 52), Freiburg u. a. 2008.
Unnik, Willem Cornelis van: Tarsus or Jerusalem. The City of Paul’s Youth, London 1962.
Vegge, Tor: Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134),
Berlin/New York 2006.
Karl-Wilhelm Niebuhr
Nach Auskunft der Apostelgeschichte war Paulus sowohl tarsischer (Apg 21,39)
als auch römischer Bürger (Apg 16,37 f.; 22,25–29; 23,27). Da der Apostel selbst
jedoch in seinen Briefen keine Angaben zu seinem Personenstatus macht, wir
auch sonst keine von Lukas unabhängigen Zeugnisse dafür besitzen und die his
torische Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte an sich umstritten ist, wurde die
Historizität der lukanischen Bürgerrechtsnotizen wiederholt infrage gestellt
(Noethlichs 2000, 55, mit Hinweis auf Porphyrios als antiken Kritiker; moder-
ne Vertreter aaO. 53 Anm. 1). Als Einwände gelten insbesondere das mangelnde
Selbstzeugnis, die wiederholten Haft- und Prügelstrafen, die Paulus trotz seines
vermeintlichen Bürgerstatus’ erlitten hat (vgl. 2Kor 6,4 f.; 11,24 f.; 12,10; Phil
1,7.13 f.30; 1Thess 2,2; Apg 16,22–24.37 f.), sowie die angebliche Unvereinbarkeit
von Bürgerrecht und jüdischem Glauben (z. B. Stegemann 1987, 223 f.228).
Für die Entscheidung dieser Frage sind verschiedene Aspekte zu bedenken,
etwa die Gattungsunterschiede der uns vorliegenden Quellen sowie eine kritische
Sichtung der außerneutestamentlichen Informationen über Verbreitung und Im-
plikationen von städtischem und römischem Bürgerrecht in der frühen Kaiser-
zeit unter besonderer Berücksichtigung der Situation der Juden.
Es ist in der Forschung unstrittig, dass die Apostelgeschichte nicht an den Maß-
stäben moderner Geschichtsschreibung gemessen werden darf, sondern dass Lu-
kas den Gepflogenheiten antiker Historiographie (der genaue Typus ist jedoch
strittig; Aune 1987, 77–115; Plümacher 2004) folgt. Dies bedingt neben gestalte-
rischen Elementen (z. B. Reden, Reiseberichte) auch, dass er mit seiner »Kirchen-
geschichte« selbstverständlich eine tendenziöse Deutung der Vergangenheit vor-
legt. Dies führt zwar u. a. zu manchen Widersprüchen zu den Paulusbriefen, doch
sind auch Letztere keine objektiven Quellen (Omerzu 2009, 161–166), sondern
bieten – rhetorisierte und selektive – Einblicke in die situationsbezogene Kom-
munikation zwischen dem Apostel und einzelnen Gemeinden. Daher kann auch
die Tatsache, dass Paulus nie auf seinen Personenstatus zu sprechen kommt, nicht
prinzipiell als Argument gegen die Historizität der Bürgerrechtsnotizen gewertet
werden.
56 B. Person
Das römische Bürgerrecht konnte außer durch Geburt, Verleihung und Kauf
auch im Zuge einer Freilassung oder eines Freikaufs aus der Sklaverei oder Kriegs-
gefangenschaft (manumissio) erworben werden (Omerzu 2002, 21–23). Während
es unter Caesar und zu Beginn der Herrschaft des Augustus zu regelrechten Mas-
senverleihungen v. a. des – rechtlich beschränkten – ius Latii kam, waren diese in
der Folgezeit eher die Ausnahme (z. B. unter Claudius, Nero und Hadrian). Ein-
zelverleihungen erfolgten in der Regel an Angehörige der Oberschicht. Im hohen
Prinzipat wurden die immanenten Rechte immer weniger und immer enger ge-
fasst, bis schließlich durch die constitutio Antoniniana des Jahres 212 n.Chr. alle
II. Der vorchristliche Paulus 57
Auch die Körper- und Haftstrafen des Paulus stellen kein so großes Problem
dar, wie von Kritikern oft behauptet, wenn man beispielsweise annimmt, dass
Paulus die Züchtigungen von jüdischer Seite (z. B. 2Kor 11,24) geduldet ha-
ben könnte, um im synagogalen Kontext nicht als Römer aufzutreten und keine
neuen Konflikte zu schüren. Die Strafen durch nicht-jüdische Behörden (z. B.
2Kor 11,25) scheinen hingegen im Widerspruch zum Schutz der körperlichen Un-
versehrtheit römischer Bürger durch die Provokationsgesetze zu stehen. Doch
abgesehen davon, dass wiederholte Verstöße gegen diese Vorschriften bekannt
sind (z. B. Flav.Jos.Bell. II 306–308; Cass.Dio 60,24; Plut.Caes. 29,2; Suet.Gal. 9,1),
entfalteten sie ihre Wirksamkeit erst nach der Proklamierung des Bürgerrechts
und enthielten zudem Ausnahmeregelungen, etwa im Fall von Unruhestiftung
(Noethlichs 2000, 71–74; Omerzu 2002, 73–77). Das heißt aber, die Gesetze
konnten nicht greifen, wenn Paulus (wie z. B. Apg 16,35–39) sein Bürgerrecht
nicht oder nicht rechtzeitig geltend machte – aus welchen Gründen auch immer
(z. B. Reisepläne; Solidarität gegenüber Mitarbeitern; Leidensnachfolge Jesu).
Auch wenn Paulus seine Berufung an den Kaiser in Apg 25,10 f. nicht ausdrück-
lich mit seinem römischen Bürgerrecht begründet (so z. B. die Kritik von Stege-
mann 1987, 209 f.; Noethlichs 2000, 78) – das im Übrigen den lukanischen Le-
sern und Leserinnen seit 16,35–39; 22,25–29 bekannt ist –, ist dieses Rechtsmittel
doch der wahrscheinlichste Grund für seine Überführung nach Rom (anders z. B.
Schmithals 1982, 219; Stegemann 1987, 212; Garnsey 1966, 182–185; Noeth-
lichs 2000, 79). Die – mündliche, evtl. noch vor einem Urteilsspruch und direkt
an den Kaiser ergehende – Appellation des Paulus ist nicht singulär (so z. B.
Mommsen 1901), sondern entspricht der Rechtspraxis der frühen Kaiserzeit (dazu
Omerzu 2002, 83–109, sowie B.V.1.).
Die Notizen über das Bürgerrecht sind ein integraler Bestandteil der Paulus-
darstellung der Apostelgeschichte und stehen nicht im Widerspruch zu
nicht-christlichen Quellen. Auch das Selbstzeugnis des Paulus steht der Annah-
me, er sei römischer Bürger gewesen, nicht entgegen. Sein Schweigen darüber
lässt sich vielmehr aufgrund der Gattung und Pragmatik der Briefe erklären, die
immerhin seinen römischen Namen sowie seine Loyalität gegenüber dem Staat
bezeugen (vgl. Röm 13,1–7).
Hengel, Martin, unter Mitarbeit von Deines, Roland: Der vorchristliche Paulus, in: Ders./
Heckel, Ulrich (Hg.): Paulus und das antike Judentum (WUNT 58), Tübingen 1991, 177–291.
Noethlichs, Karl Leo: Der Jude Paulus – ein Tarser und Römer?, in: Haehling, Raban von
(Hg.): Rom und das himmlische Jerusalem. Die frühen Christen zwischen Anpassung und
Ablehnung, Darmstadt 2000, 53–84.
Omerzu, Heike: Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung
der Apostelgeschichte (BZNW 115), Berlin/New York 2002.
Stegemann, Wolfgang: War der Apostel Paulus ein römischer Bürger?, ZNW 78, 1987, 200–229.
Heike Omerzu
II. Der vorchristliche Paulus 59
Paulus war Jude und blieb dies auch nach seiner Christusbegegnung in seinem
ganzen Wirken als Apostel Jesu Christi. Die durch Geburt begründete Zugehörig-
keit zum Gottesvolk »Israel« (Röm 11,1) bzw. den Ἰουδαίοι (Juden) (Gal 2,15) wur-
de durch seine als Offenbarung Christi (Gal 1,15 f.) verstandene Berufung nie ob-
solet. Röm 9,3 und 11,1 zeigen die bleibende Zuordnung und Solidarität, ebenso
die trotz aller Gefahren unternommene letzte Reise nach Jerusalem (Röm 15,25 f.).
Andere mochten in ihm einen Zerstörer von Tora und jüdischer Identität sehen
(Röm 3,31; vgl. Apg 21,21.28), und auch Paulus selbst hat eine radikale Umwertung
jener Vorzüge vorgenommen, derer er sich vor seiner Berufung rühmen konnte
(Phil 3,3–6; Gal 1,13 f.). Doch stellte dies seine Zugehörigkeit zum ›Israel nach dem
Fleisch‹ nie infrage. Paulus zählt sich vielmehr zum ›Rest‹ Israels (Röm 11,5 f.).
Die jüdische Prägung ist Grundlage auch des Heidenapostels, sie bestimmt sei-
ne Schriftauslegung und die Gestalt seines theologischen Denkens. Nur weil die
Tora und der Einsatz für die jüdische Tradition (Ἰουδαϊσμός [Judaismos], Gal
1,13; vgl. 2Makk 14,38) die Praxis des Paulus schon vor seiner Lebenswende be-
stimmten, konnte die Frage nach dem Stellenwert und der Bedeutung der Tora,
der Beschneidung und anderer jüdischer Identitätsmerkmale angesichts des
Christusgeschehens einen so zentralen Rang in seinem Denken einnehmen. Man
muss den Juden Paulus kennen, wenn man den Apostel und seine Theologie ver-
stehen will. Schwieriger ist es, die Stellung des Paulus im pluralen Judentum sei-
ner Zeit und die Elemente seiner religiösen Prägung zu bestimmen. Auszugehen
ist von den Notizen über den ›vorchristlichen‹ Paulus sowie von den textlich er-
kennbaren Bezügen auf jüdische Traditionen und Auslegungstechniken.
Aufgrund seiner Herkunft aus Tarsus (Apg 22,3) ist Paulus Diasporajude. Seine
Zuordnung zu den Pharisäern (Phil 3,5; vgl. Apg 23,6) verbindet ihn sodann mit
einer Religionspartei, die besonders auf das Land Israel bezogen war. Beide As-
pekte schließen sich nicht aus, auch wenn die oft postulierte Existenz von ›Dia
sporapharisäern‹ nicht zu belegen ist. Wenn man nicht aufgrund von Gal 1,22 den
Aufenthalt des Paulus in Jerusalem vor seiner Lebenswende gänzlich bestreiten
will, sondern die lukanische Notiz (Apg 22,3) über ein Studium pharisäischer Ge-
lehrsamkeit dort für tragfähig hält, dann ist von einem Nebeneinander von paläs
tinisch-jüdischen und diasporajüdischen Prägungen zu rechnen. Inwiefern und
in welchem Verhältnis beide zur Geltung kommen, ist jedoch umstritten.
1.3.1. Diaspora
Seit dem Aufkommen der religionsgeschichtlichen Schule wird die tarsische Her-
kunft oft für die These einer ›unjüdischen‹ Prägung des Paulus bzw. einer starken
Beeinflussung durch pagane Religiosität oder hellenistische Philosophie herange-
zogen (Böhlig 1913). Paulus wäre dann ein von der judäischen ›Norm‹ entfrem-
deter, der hellenistischen Kultur assimilierter Diasporajude (Schoeps 1959).
60 B. Person
Doch unterschätzt diese Sicht die Pluralität des Judentums in frührömischer Zeit:
Zahlenmäßig überwog die Diaspora das Mutterland ohnehin, und auch das in
sich plurale palästinische Judentum konnte keine ›Normativität‹ beanspruchen.
Unterschätzt wird hier auch die Bestimmtheit der diasporajüdischen Identität:
Gerade in Kleinasien, auch in Kilikien und Tarsus, lebten Juden als selbstbewusste
ethnische Gruppe mit eigenen Rechten und spezifischen, von Rom gewährten
Privilegien. Trotz der Teilnahme am städtischen Leben wahrten Synagogenge-
meinden ihre Identität in Abgrenzung durch Speise- und Reinheitsgebote, die die
Mahlgemeinschaft und Mischehen mit Paganen unmöglich machten, sowie
durch Distanznahme von allen paganen Kulten wie auch der Herrschervereh-
rung. Die jüdische Identität in der Diaspora war geprägt von der Tora und ande-
ren Schriften, die auf Griechisch gelesen wurden, von der Feier des Sabbat und
der übrigen Feste und vom opferlosen Gottesdienst, der durch seinen ›philoso-
phischen‹ Charakter auch Sympathisanten (›Gottesfürchtige‹) anzog. Die Tem-
pelsteuer, gelegentliche Festreisen und familiäre Beziehungen wahrten für viele
einen engen Bezug nach Palästina.
Für Paulus ist die diasporajüdische Prägung von größter Bedeutung. Ihr ver-
dankt er seine sprachlichen und kulturellen Fertigkeiten, den korrekten und effi-
zienten Gebrauch des Koine-Griechischen, den an die Diatribe angelehnten Stil
seiner Argumentation und das kulturelle Wissen über die Welt seiner Adressaten,
v. a. aber die Vertrautheit mit den Heiligen Schriften, die er auf Griechisch nach
der LXX und anderen Fassungen souverän zitiert und kombiniert. Auch die in
seiner Mission aufgebrochene Frage nach dem Status der Heiden und der Mög-
lichkeit ihrer vollen Teilhabe am Heil war eine diasporajüdische Frage, die Paulus
nun für seine Gemeinden in neuer Weise beantwortet. Nur aufgrund seiner dias-
porajüdischen Prägung konnte Paulus Grenzen und Kulturkreise in einer Weise
überschreiten, die anderen unmöglich war.
1.3.2. Pharisäer
Zugleich war Paulus Pharisäer: Das Profil dieser Gruppe ist schwer zu bestim-
men, weil keine sicher pharisäischen Texte erhalten sind. Oft werden den Pharisä-
ern die Psalmen Salomos und die aramäische Fastenrolle (Megillat Taʽanit) zuge-
ordnet, doch ist dies unsicher. Als Hauptquellen bleiben Josephus mit seinen
Drei-Schulen-Berichten (über Pharisäer, Sadduzäer und Essener) und weiteren
Notizen sowie die Evangelien, wobei jeweils spezifische, z. T. verzerrende Darstel-
lungstendenzen zu beachten sind. Hinzu kommt die Erwähnung unter pole-
mischen Decknamen (›Leute, die glatte Dinge reden‹) in einigen Qumrantexten,
eher unsicher auszuwertende Daten aus der rabbinischen Literatur sowie evtl.
archäologische Indizien (Deines 1993). Da die Pharisäer bei Josephus und im
Neuen Testament die meistgenannte jüdische Religionspartei sind und Josephus
ihren Einfluss auf das Volk betont (Flav.Jos.Ant. XVIII 15), wird man ihre Bedeu-
tung nicht unterschätzen dürfen: Zwar kann man heute nicht mehr wie früher die
II. Der vorchristliche Paulus 61
war für Paulus unproblematisch, solange nicht das volle Heimatrecht der Heiden-
christen bestritten wurde.
– Als erster christlicher Autor hat Paulus das Medium Brief zur Gemeindelei-
tung eingesetzt. Er kannte wohl frühjüdische Modelle gemeindeleitender Briefe
(2Makk 1–2; EpJer; 2Bar 78–86; vgl. die Bar-Kochba-Briefe). Im Präskript verwen-
det er die zweigliedrige ›orientalische‹ Form (s. Dan 4,1 Theod.; 2Bar 78,2), deren
Segensformel χάρις καὶ εἰρήνη (Gnade und Frieden) an palästinische Modelle
(2Bar 78,2) angelehnt oder aus liturgischem Gebrauch inspiriert sein dürfte.
Paulus benutzt in der Regel die LXX; ein Gebrauch des hebräischen Textes lässt
sich nicht nachweisen. Doch ist bei einigen Zitaten, v. a. aus Hiob und Jesaja, mit
einer dem hebräischen Text angenäherten Rezension (wie später Aquila, Sym-
machos, Theodotion) zu rechnen (Koch 1986, 57–81).
Paulus benutzt Methoden der zeitgenössischen jüdischen Schriftauslegung.
Was mangels pharisäischer Originaltexte nur späteren rabbinischen Texten und
nicht pharisäischen Schriften (Pseudepigraphen, Qumran) zu entnehmen ist,
dürfte auch für Pharisäer repräsentativ sein.
– Von den später als »Sieben Middot Hillels« überlieferten Regeln finden sich
der Qal wa-chomer-Schluss (a minori ad maius) in Röm 5,9.10.15.17; 11,2.24, seine
Umkehrung (a maiore ad minus) in Röm 5,6, die Gezera schawa (Schluss von ei-
ner Stelle auf eine andere aufgrund der Verwendung des gleichen Wortes) z. B. in
Röm 4,1–12 (λογίζειν [anrechnen] in Gen 15,6 und Ps 31,1 f. LXX) sowie der
Schluss vom Allgemeinen aufs Besondere bzw. vom Besonderen aufs Allgemeine
in der Zusammenfassung der Gebote im Liebesgebot Röm 13,9 und Gal 5,14. Die
Folgerung aus der Stellung im Kontext zieht Paulus, wenn er die Abfolge von
Gesetz und Verheißung in Gal 3,17 und Röm 4,10 f. nach der biblischen Chrono-
logie bestimmt.
– Die midraschartige Argumentation Röm 4 (vgl. Gal 3,6–14) weist Züge rab-
binischer Exegese auf: Von einem Zitat (Gen 15,6) ausgehend, wird eine ganze
Passage unter Heranziehung anderer Stellen argumentativ ausgestaltet.
– 1Kor 10,1–13 bietet eine eschatologisch-typologische Auslegung der Wüsten
episode: Das biblische Geschehen ist τυπικῶς (vorbildlich) (10,11; vgl. 10,6), zu
unserem Vorbild geschehen bzw. zu unserer Warnung geschrieben. Die Schrift
zielt auf die als eschatologische Zeit verstandene Gegenwart. Diese im frühen
Christentum verbreitete, aber von Paulus explizit reflektierte Auslegung hat Par-
allelen in den Qumran-Pescharim, die Propheten ebenfalls auf die eigene Ge-
meindegeschichte und Gegenwart hin deuten. Eine andere typologische Ausle-
gung liegt in Röm 5,12–14 (Adam/Christus) vor.
– Die Allegorie, die in Alexandrien in der Homerauslegung entwickelt und
vom Judentum (Aristob, Arist, dann v. a. Philo) zur Gesetzesauslegung verwendet
64 B. Person
wurde und die sich auch bei den Rabbinen (z. B. für Hhld) findet, gebraucht Pau-
lus nur selten, programmatisch aber in Gal 4,21–31.
Die Paulusbriefe zeigen eine Prägung durch apokalyptisches Denken und Kennt-
nis apokalyptischer Motive, auch wenn diese z. T. eigenständig ausgewertet und
in neue Kontexte gestellt werden. Auch diese dürften Paulus durch seine pharisä-
ische Prägung und Bildung vermittelt sein:
– Parusie und Tag des Herrn: In 1Thess 4,16 f. (vgl. 1Kor 15,51 f.) übernimmt
Paulus ein Szenario, das Christi Parusie, die Auferweckung der Toten und die
Verwandlung der Lebenden umfasst. Nach 1Thess 3,13 kommt Christus »mit sei-
nen Heiligen« (= Engeln; vgl. 1Hen 1). Mit der Parusie begegnet die Rede vom
Tag des Herrn bzw. Christi (1Kor 1,8 f.; 5,5; 2Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,16; 1Thess 5,2),
der kommt wie ein Dieb (1Thess 5,2); Röm 2,5 redet vom »Tag des Zorns« und
der »Offenbarung des Gerichts«; 1Kor 3,13 verbindet den »Tag« mit dem Ge-
richtsfeuer.
– Naherwartung und Zeitverständnis: Dass Paulus nach 1Thess 4,17 und 1Kor
15,52 f. (anders dann Phil 1,23) die Parusie noch zu Lebzeiten erwartete, zeigt ein
Zeitverständnis, das nur aus der (palästinisch-)jüdischen Apokalyptik erklärbar
ist. Die Zeit läuft teleologisch auf das Ende zu: Die Gestalt dieser Welt vergeht
(1Kor 7,31), die Gemeinde geht auf ihre ›Rettung‹ zu (Röm 13,11 f.). Die Jetztzeit ist
Endzeit (1Kor 10,11), sie ist ›zusammengedrängt‹ (1Kor 7,29), voller Bedrängnisse.
Diese haben als ›Wehen der Endzeit‹ nach Röm 8,18–30 kosmische Dimension.
All das sind apokalyptische Motive (vgl. 4Esr).
– Zwei-Äonen-Schema: Paulus verwendet das für die Apokalyptik und die
Rabbinen charakteristische Wissen um die Abfolge von Zwei Äonen, einem ge-
genwärtigen und einem kommenden (vgl. 4Esr). »Dieser (böse) Äon« (Gal 1,4;
vgl. Röm 12,2; 1Kor 5,10: »diese Welt«), in dem ›Machthaber‹ (1Kor 2,6), ja der
Satan (2Kor 4,4: »der Gott dieses Äons«) herrschen, vergeht (1Kor 7,31); ihm steht
die kommende Welt, das Unvergängliche, das »Reich Gottes« (1Kor 15,50) gegen-
über.
– Christusreich und Gottesreich: In 1Kor 15,23–28 nimmt Paulus eine Ereignis-
ordnung auf, in der er nach einem göttlichen Plan die Auferweckung Christi und
der Glaubenden vorgezeichnet sieht. Wie in 4Esr 7 und Apk 20 f. erscheinen die
Herrschaft des Messias, die Vernichtung der Feinde und der ewige Heilszustand
(»Gott alles in allem«) in einer Abfolge.
– Auferweckung: Paulus zitiert das Bekenntnis zu Gott, »der die Toten aufer-
weckt« (2Kor 1,9; Röm 4,17; vgl. 18-Bitten-Gebet); das Bekenntnis zu Gott, der
Jesus von den Toten auferweckt hat (Röm 4,24; 10,9), ist dessen Modifikation in
Anbetracht der Auferweckung Jesu. Diese ist dabei kein Geschehen an ihm allein
(als Individuum), sondern Teil und Beginn der kollektiven, allgemeinen Auferwe-
ckung, sodass in seiner Auferweckung die Auferweckung aller verbürgt ist (1Kor
II. Der vorchristliche Paulus 65
15,20.23). Paulus kann auch Jesu Auferweckung (1Kor 15,3) wie die der Glau-
benden nur leiblich verstehen. Kaum zufällig stellten sich hier für griechisch ge-
prägte Hörer Verständnisprobleme ein (1Thess 4,13–18; 1Kor 15,12).
– Gericht: Die vielfältigen paulinischen Gerichtsvorstellungen weisen insge-
samt auf apokalyptische Traditionen zurück, die freilich um die Zeitenwende im
palästinischen Judentum verbreitet waren und z. B. auch von Johannes dem Täu-
fer und dem irdischen Jesus geteilt wurden.
– Eschatologische Gegenspieler: Mit Parusie und Gericht verbindet sich die
Hoffnung auf die Beseitigung des Bösen (Röm 16,20), das Paulus personal als
»Satan« (vgl. 1Kor 5,5; 7,5; 2Kor 2,11; 11,14; 12,7), »Gott dieses Äons« (2Kor 4,4)
versteht. Er kennt auch die Vorstellung von Satan als Lichtengel (2Kor 11,14) und
damit die Tradition vom Engelfall.
– Neue Schöpfung: Auch der von Paulus rezipierte Terminus der »Neuen
Schöpfung« (2Kor 5,17; Gal 6,15) entstammt der apokalyptischen Tradition (Jes
65,17) und begegnet in palästinisch-jüdischen Texten (Jub 4,26 etc.). Auch wenn
dies bei Paulus nicht auf eine ausstehende Zukunft, sondern auf die Gegenwart
bezogen ist, zeigt dies die Prägung durch apokalyptische Denkformen.
– Dritter Himmel: In der Erwähnung einer Himmelsreise bzw. Entrückung »in
den dritten Himmel« (2Kor 12,2) zeigt Paulus nicht nur apokalyptisches Wissen
um eine differenzierte ›himmlische Welt‹, sondern auch, dass er mit ekstatischer
Frömmigkeit und visionären Erfahrungen vertraut war.
– Verborgener Ratschluss Gottes: Die Rezeption des Begriffes μυστήριον (Ge-
heimnis) erfolgt nicht im Sinne des religiösen Terminus technicus der griechi-
schen Welt, sondern in spezifisch jüdischen Kategorien: zur Bezeichnung des ver-
borgenen Heilsratschlusses bzw. Geschichtsplans Gottes (1Kor 15,51; Röm 11,25),
der jetzt in Christus offenbart ist und von Paulus verkündigt wird (1Kor 2,1.7; 4,1).
Parallelen begegnen in Dan (aram: raz) und in Texten der apokalyptisierten Weis-
heit aus Qumran (1Q/4Q Instruction, 1Q/4Q Mysteries), die vom raz nihyeh (=
Geheimnis des Werdenden) als der verborgenen, Anfang und Ende umfassenden
Seins- und Geschichtsordnung reden.
– Vorpaulinisch ist schon die Übertragung der Rede von der Präexistenz und
Schöpfungsmittlerschaft der Weisheit (Spr 8; SapSal 7–9) auf Christus (1Kor 8,6;
Phil 2,6 f.) und die Rezeption der Rede von der Sendung der Weisheit in den vor-
paulinischen Sendungsformeln (Gal 4,4 f.; Röm 8,3 f.) erfolgt. Eine dichte Über-
nahme solcher Motive erfolgt in 1Kor 10,1–13, wo Paulus mit dem Wirken des
präexistenten Christus in der Geschichte Israels rechnet, wobei Paulus Christus
mit dem Felsen identifiziert, aus dem die Wüstengeneration Wasser empfing. Bei
Philo ist der Fels die Weisheit (Philo LA II 86) oder der Logos (det. 115–118).
– In 1Kor 1–2 bietet Paulus, veranlasst durch Diskussionen in der korinthi-
schen Gemeinde, eine eigene (nämlich kreuzestheologische) Verarbeitung der
Rede von Christus als Gottes Weisheit (1Kor 1,24.30), die der ›Weisheit dieser
Welt‹ (1Kor 2,6; vgl. 1,20) entgegengesetzt und durch Offenbarung bzw. durch den
Geist zu empfangen ist (1Kor 2,10–16).
– Weisheitlich geprägt ist auch die Rede von Christus als ›Bild‹ Gottes (2Kor
3,17 f.).
– Weisheitliche Parallelen besitzen auch zahlreiche paränetische Sprüche und
Spruchreihen (wie 1Thess 5,14–22; Röm 12,9–21) sowie Tugend- und Lasterkata-
loge (vgl. Ps-Phok; aber auch die ›voressenische‹ Zweigeisterlehre 1QS III 13–IV
26).
– Eine spezifische Rezeption einer Entwicklung der palästinisch-jüdischen
Weisheitstradition scheint in der negativ konnotierten Rede von σάρξ (Fleisch)
als einer Gott entgegengesetzten, zur Sünde verleitenden Macht und – zumindest
partiell – in der spezifisch paulinischen Antithese von »Fleisch« und »Geist« vor-
zuliegen (vgl. Gal 5,17; Röm 8,4–8). Parallelen dazu begegnen weniger spezifisch
in der hellenistisch-jüdischen Weisheitstheologie als vielmehr in den Texten von
Qumran und den dort gefundenen ›voressenischen‹ Weisheitstexten (Frey 1999).
Frey, Jörg: Das Judentum des Paulus, in: Wischmeyer, Oda (Hg.): Paulus. Leben – Umwelt –
Werk – Briefe, Tübingen/Basel 22012, 25–65.
Hengel, Martin: Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: Ders: Paulus und Jakobus.
Kleine Schriften III (WUNT 141), Tübingen 2002, 302–417.
Ders./Deines, Roland: Der vorchristliche Paulus, in: Ders./Heckel, Ulrich (Hg.): Paulus und
das antike Judentum (WUNT 58), Tübingen 1991, 177–291.
Wilk, Florian: Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998.
Wischmeyer, Oda: Die Religion des Paulus, in: Dies.: Von Ben Sira bis Paulus (WUNT 173),
Tübingen 2004, 311–328.
Jörg Frey
1.4.1. Sprache
Als recht starkes Merkmal kultureller Prägung wurde Sprache auf Ethnizität be-
zogen, womit besondere Sitten und Traditionen, Überzeugungen und Kulte ver-
bunden werden konnten. Die Sprache einer Person signalisierte weiter soziale
Zugehörigkeit und Bildungsniveau, wobei allerdings grundsätzlich zwischen
Umgangssprache und gelernter literarischer Sprache zu unterscheiden ist.
Paulus hat ein gutes Griechisch geschrieben. Einige sind der Ansicht, Paulus
habe auch Hebräisch und/oder Aramäisch beherrscht, woraus sich die Frage ab-
leitet, welches seine Muttersprache war. Die Sprachvirtuosität seiner Briefe wird
als Zeichen darauf gedeutet, dass Paulus von Hause aus griechischsprachig gewe-
sen sei. Die Vermutung eines relativ gehobenen sozialen Standards korrespon-
diert ferner mit der Annahme, dass in seiner Familie Griechisch gesprochen
wurde. Wenn alternativ davon ausgegangen wird, dass Paulus als kleines Kind
nach Jerusalem gekommen ist, ist auch vermutet worden, dass seine Mutterspra-
che Aramäisch gewesen sei und dass er Griechisch als Fremdsprache verwendet
habe.
68 B. Person
Die Formulierung »Hebräer aus Hebräern« aus dem Selbstzeugnis in Phil 3,5
kann auf die Beherrschung des Hebräischen bzw. Aramäischen bezogen werden,
und an mehreren Stellen in der Apostelgeschichte lässt Lukas Paulus Hebräisch
reden. In Apg 21,40 und 22,2 wird betont, dass Paulus sich »in hebräischer Spra-
che« an die Juden in Jerusalem wendet. Und den römischen Kommandanten
habe Paulus unmittelbar davor auf Griechisch angeredet (21,37). Das Reden »in
hebräischer Sprache« deuten mehrere Forscher allerdings als ein Reden auf
Aramäisch, und es wird zudem betont, dass Paulus damit seine Zuhörerschaft in
ihrer eigenen Umgangssprache angesprochen habe.
Die Quellen erlauben keine eindeutigen Rückschlüsse auf die vollständige
Sprachkompetenz des Paulus. Sie zeigen vielmehr mehrsprachige Kompetenz an,
wobei die Auskünfte in der Apostelgeschichte in Bezug auf die rhetorische/litera-
rische Intention der jeweiligen Perikopen kritisch nachgefragt werden müssen. In
Bezug auf die Muttersprache spielt der Ort seines Heranwachsens keine entschei-
dende Rolle. Vermutlich gab es Synagogen – auch in Jerusalem –, in denen Grie-
chisch die Sprache für die rituelle Lesung, die Predigt und den Unterricht war
(Apg 6,9). Ein Junge wie Paulus konnte sich also durchaus im Alltag, im Schulun-
terricht und selbst beim Studium der heiligen Schriften auf die Verwendung des
Griechischen beschränkt haben. Und ferner sei aus allgemeiner Erfahrung daran
erinnert, dass Kinder in vielsprachigen Umgebungen mehrere Sprachen lernen
und beherrschen können.
Außerdem bietet die Textproduktion eines Autors keine hinreichende Grund-
lage zur Bestimmung seiner Muttersprache oder Umgangssprache – »keiner
schrieb, wie er im Leben sprach« (Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff) –, mög-
licherweise jedoch zur Bestimmung seines Bildungsgangs und des dort erreichten
Niveaus. Weiterhin gilt, dass sich die Unterscheidung zwischen Umgangs- und
literarischer Sprache nicht mit der Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und
Schriftlichkeit deckt. Die Bestimmungen »umgangssprachlich« und »literarisch«
gehören in den Bereich der Stilebenen. In Bezug auf den griechischen Sprach-
raum der hellenistischen Zeit ist diese Unterscheidung insofern von erheblicher
Bedeutung, als Griechisch von vielen als Zweitsprache gelernt wurde, und dann
nicht nur als die für Geschäfte und sozialen Umgang nötige Umgangssprache,
sondern auch als die Sprache ihrer Ausbildung. Als Sprache in den Schulen in den
hellenistischen Poleis wurde Griechisch als literarische Sprache gelernt; und diese
literarische Sprache war organisch mit der griechischen Kultur und Bildung ver-
bunden. Das literarische Koine-Griechisch hat sich nicht nur von etwa der latei-
nischen oder aramäischen Umgangssprache, sondern auch von der griechischen
Umgangssprache unterschieden.
Die literarische, griechische Sprache der Briefe des Paulus belegt dessen Ausbil-
dung, innerhalb der er die Literaturkoine gelernt hat. Jeder, der sich die grie-
chische Paideia aneignete, lernte Literaturkoine. Ob Paulus in seinem Elternhaus
Hebräisch, Aramäisch oder Griechisch als Muttersprache lernte, kann aus seinen
Schriften nicht erschlossen werden.
II. Der vorchristliche Paulus 69
Als die Menschen sich von den Tieren durch ihr Sprachvermögen unterschie-
den, wurde die Sprachkompetenz auch als Schlüssel zur Bildung angesehen (Iso-
krates, Cicero). Zur Bildung gehörten folglich formale sprachliche und litera-
rische Fertigkeiten, und man stellte sich vor, dass auch die moralische Bildung
damit am engsten verbunden war.
In den direkten Hinweisen zur Herkunft des Paulus in seinen eigenen Briefen und
in der Apostelgeschichte wird auf seine jüdische Herkunft und Bildung Bezug
genommen. Wie im Hinblick auf die Muttersprache, lassen sich über den Stellen-
wert der Religion in der Familie des Paulus kaum Angaben machen, aus denen
sich Rückschlüsse zu dessen Bildung und Ausbildung herleiten lassen. Wenn Pau-
lus so nachdrücklich auf seine Herkunft verweist und dabei hervorhebt, welchem
israelitischen Stamm er angehört (Phil 3,5), wird darin von einigen Forschern das
Zeugnis eines besonderen Stolzes auf seine jüdische Identität – und weiterhin ein
Beleg für ein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein seines Elternhauses – gesehen.
Mehrere Forscher nehmen somit an, dass Paulus in einer orthodoxen und from-
men jüdischen Familie geboren war und eine strenge jüdische Erziehung genos-
sen hatte. Man kann ferner eine lebensgeschichtliche Kontinuität von der Erzie-
hung bis zu den eigenständig getroffenen Entscheidungen des Paulus vorausset-
zen, wobei zu den Letzteren die Zugehörigkeit zur Pharisäergemeinschaft, seine
Verfolgertätigkeit und sein Gesetzesgehorsam gehören (Phil 3,5 f.). Diese Aufzäh-
lung muss allerdings nicht als Hinweis auf die kulturelle Prägung seines Eltern-
hauses gelesen werden. Das Wissen von seiner Stammeszugehörigkeit und das
Traditionsbewusstsein, das wir bei dem erwachsenen Paulus finden, können sich
der elterlichen Erziehung verdanken oder aber auf einem sich erst später entwi-
ckelten Interesse an seinen jüdischen Wurzeln beruhen. Seine Eltern gehörten
wohl der Synagoge in Tarsus an und erzogen ihren Sohn nach jüdischen, dem
Leben in der Diaspora angepassten Leitlinien. Doch aus dem Eifer des erwachse-
nen Pharisäers abzuleiten, er habe im Elternhaus eine strenge Erziehung erhalten,
muss letztlich Hypothese bleiben.
Die Annahme, die Familie sei eher hellenistisch-römisch orientiert gewesen,
lässt den Umstand, dass Vater und Sohn römische Bürger waren, plausibler er-
scheinen, ebenso die in den Briefen des Paulus erkennbare literarische und rheto-
rische Ausbildung, denn für den Sohn einer solchen Familie wäre eine entspre-
chende Ausbildung naheliegend. Gemäß einer solchen Hypothese wäre Paulus
erst später und aus eigenem Antrieb seinen jüdischen Wurzeln nachgegangen
und hätte sich im Zuge dessen der Schulrichtung der Pharisäer angeschlossen.
70 B. Person
Lukas lässt in Apg 22,3 Paulus in Jerusalem über seine Herkunft berichten: Paulus
sei Jude, »in Tarsus in Kilikien geboren, in dieser Stadt [Jerusalem] erzogen (und)
zu Füßen Gamaliels mit aller Sorgfalt im väterlichen Gesetz unterwiesen«. Durch
die Präsentation möchte der Verfasser Paulus mit jüdischer Tradition und jü-
dischem Lernen verbinden. In Bezug auf die Syntax der Sätze kann diskutiert
werden, ob ἀνατεθραμμένος (erzogen) oder eher πεπαιδευμένος (unterwiesen/
gebildet) mit Gamaliel syntaktisch verbunden werden sollte. Der Verfasser will
ohnehin offenbar vermitteln, dass Paulus in Jerusalem aufgewachsen ist und dass
er sich eine pharisäische Bildung angeeignet hat. Auch wenn einige biographische
Angaben bei Lukas zur Ausbildung und Bildung des Paulus kritisch hinterfragt
werden müssen, kann doch angenommen werden, dass der Verfasser durch seine
Darstellung Züge in der kulturellen Prägung des Paulus sachgemäß gekennzeich-
net hat.
Ferner bleibt festzuhalten, dass Lukas eine allgemeine, »klassische« Ausbildung
für Paulus nicht ausschließt. In seinem Bericht lässt er das Bild eines grie-
chisch-hellenistisch gebildeten Juden entstehen. Tarsus’ Ruf als Bildungsstätte
dürfte dem Verfasser der Apostelgeschichte und auch seinen Lesern bekannt ge-
wesen sein. Wenn also berichtet wird, Paulus stamme aus Tarsus, ist dies für in-
formierte Leser zugleich ein Hinweis auf seine – rhetorische und philosophische
– Bildung.
Lukas stellt ebenfalls Paulus als fähigen und überzeugenden Redner dar (z. B.
Apg 21,40–22,21; 26), als kompetenten Lehrer (z. B. Apg 13; 19,8–10) und schließ-
lich als einen der athenischen Agora an Erkenntnis und in der Diskussionskunst
ebenbürtigen Philosophen (Apg 17,16–34). Bei seiner Gestaltung der Figur des
Paulus hat sich Lukas als gebildeter Schriftsteller bemüht, besonders durch die als
Prosopopoiien gestalteten Reden einen glaubwürdigen und getreuen Eindruck
von Paulus zu vermitteln. Diese Vorstellung mit mehreren Hinweisen auf Bil-
dung, die sowohl Rhetorik und Philosophie als auch eine tiefe Vertrautheit mit
der jüdischen Theologie und Praxis seiner Zeit umfasste, dürfte weitgehend
einem in den Gemeinden bereits etablierten Paulusbild entsprochen haben. In
Bezug auf kulturelle Prägung spielt der Ort, wo Paulus seine Jugendzeit ver-
brachte und ausgebildet wurde, eine kleinere Rolle als man ihm früher beigemes-
sen hat, und diese in der Apostelgeschichte gemachten Angaben zu Herkunft und
Bildung fügen sich in der Tat nahtlos an das, was den paulinischen Schriften
selbst bezüglich Ausbildung und Bildung zu entnehmen ist.
In der neueren Diskussion zur rhetorischen Kompetenz des Paulus ist sein lite-
rarisches Schaffen an etwas unterschiedlichen Stilidealen gemessen worden. Ver-
glichen mit der erst in Paulus’ Gegenwart sich durchsetzenden attizistischen
Schulrhetorik, kann die Sprache seiner Schriften als eher nicht literarisch bewer-
tet werden. Epistolographie kann allerdings von Rhetorik unterschieden werden,
und Paulus können gute Fertigkeiten als Briefschreiber bescheinigt werden, wo-
II. Der vorchristliche Paulus 71
Äußerlichkeiten sei, die das Interesse vom Essentiellen ablenke, nämlich dem Stu-
dium der Ethik, das dem moralischen Fortschritt diene (Epict.diss. 1,8,1–6). Dies
entspricht der Diskussion bei Paulus über Weisheit und Rede, die besonders deut-
lich in den Korintherbriefen hervortritt.
In Paulus’ Briefen kann somit eine fortgeschrittene literarische Kompetenz er-
kannt werden. Literarisch bedeutet in diesem Zusammenhang nicht zunächst
»schriftlich«, sondern »gebildet«, d. h. Vertrautheit mit und Verwendung von ei-
ner gelehrten Tradition (Bildungstradition), in die man durch Unterricht und
Übung/Lernen eingeführt worden ist.
Zusammenfassend kann angenommen werden, dass Paulus eine literarische
Ausbildung in ihrer allgemeinen griechisch-hellenistischen Form erhielt und dass
er danach bei einem Redelehrer die Progymnasmata durchlief, wodurch er sich
die Grundlage seiner literarischen Virtuosität verschaffte. Durch diese Ausbil-
dung gehörte Paulus in gewisser Hinsicht einer kulturellen Elite an. Zu hellenis-
tischer Zeit dürften kaum mehr als 10% der Gesamtbevölkerung über eine Lese-
und Schreibfähigkeit verfügt haben. Die selbstständige und freie Beherrschung
literarischer Sprache war einem weit kleineren Teil der Bevölkerung vorbehalten.
Seine Schriften legen außerdem nahe, dass Paulus auch mit philosophischer Leh-
re und philosophischem Ethos vertraut war, und belegen in ihrer nach dem
Muster philosophischer Texte zugeschnittenen Form seine literarische und rhe
torische Kompetenz. Diese Bildung hat er dann – vielleicht erst später – mit
jüdischem Lernen vereint, indem er sich der Schulrichtung der Pharisäer ange-
schlossen hat, bevor er in seinem vierten Lebensjahrzehnt den dritten Bildungs-
weg als Christusglaubender beschritt.
Engberg-Pedersen, Troels (Hg.): Paul Beyond the Judaism/Hellenism Divide, Louisville 2001.
Fitzgerald, John T./Olbricht, Thomas H./White, L. Michael: Early Christianity and Classi-
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Vegge, Tor: Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134),
Berlin/New York 2006.
Tor Vegge
2. Pharisäer in Jerusalem
denen ein positiveres Verhältnis zwischen Jesus und Pharisäern zum Vorschein
kommt (Lk 7,36; 11,37 f.; 13,31; 14,1), und in der Apostelgeschichte gibt es über-
haupt nur »gute« Pharisäer (wie z. B. Gamaliel, Apg 5,34), insbesondere, weil sie
an die Auferstehung der Toten glauben (Apg 23,8), darunter auch solche, die sich
der Jesusgemeinde zugewandt haben (Apg 15,5), mit Paulus an der Spitze (Apg
23,6; 26,5).
Der dritte Quellenbereich, die rabbinische Literatur, ist nach gegenwärtigem
Stand der Forschung am schwierigsten zu beurteilen (Stemberger 1991, 40–64;
Schwartz 2008). Angesichts der literarischen Entstehungsgeschichte der Mischna
und der Eigenart der rabbinischen Traditionsstoffe kann kein einziger ihrer Be-
lege zu den Pharisäern sicher in die Zeit vor 70 n.Chr. datiert werden. Dazu
kommt die Schwierigkeit, dass sich der Ausdruck peruschim in den rabbinischen
Quellen keineswegs eindeutig oder gar ausschließlich auf die »historischen« Pha-
risäer vor 70 n.Chr. bezieht, sondern vielmehr alle möglichen »Abweichler« von
der rabbinischen Mehrheitsmeinung bezeichnet. Selbst Personen, die wir aus an-
deren Quellen eindeutig als Pharisäer identifizieren können (so Gamaliel I. nach
Apg 5,34), werden in der Mischna nie als solche bezeichnet.
Angesichts dieser Quellenlage ist es äußerst schwierig, spezifische Positionen
der Pharisäer zu benennen, in denen sie sich von anderen oder gar allen jüdischen
Gruppen vor 70 n.Chr. unterschieden. Ganz sicher gehörte es nicht zu den Allein-
stellungsmerkmalen der Pharisäer, sich um konsequente Einhaltung der Tora als
Ganzer und ihrer einzelnen Gebote im alltäglichen Leben zu bemühen, auch
wenn Josephus und einige der neutestamentlichen Zeugnisse darin übereinstim-
men, dass die Pharisäer dies mit besonderer Genauigkeit (ἀκρίβεια) versuchten
(Flav.Jos.Bell. I 110; II 162; Ant. XVII 41; vit. 191; Apg 26,5, vgl. in Bezug auf Paulus
22,3). Ebenso wenig kann die Pflege von Auslegungstraditionen zur Tora (für die
Pharisäer Flav.Jos.Ant. XIII 297.408; vit. 191; polemisch Mk 7,8) in frühjüdischer
Zeit allein auf die Pharisäer begrenzt werden, zumal es eindeutig als pharisäisch
identifizierbare Sammlungen solcher Überlieferungen nicht gibt. Toratreue und
die dazu je nach Ort und Lebenssituation notwendige Toravergegenwärtigung
und -interpretation waren vielmehr gemeinsames Merkmal der meisten unterei-
nander durchaus verschiedenen und keineswegs immer einander freundlich ge-
sonnenen jüdischen Gruppen.
Wollte man die in der Jesusüberlieferung besonders betonte Bemühung der
Pharisäer um Fragen ritueller Reinheit bei Tisch und die Verzehntung von Le-
bensmitteln (Mk 7,3 f.; Lk 11,37 f.42), den von Josephus besonders herausgestellten
Gruppenzusammenhalt der Pharisäer (Flav.Jos.Bell. II 166) und die (freilich sin-
guläre) Mischna zu spezifisch pharisäischen Reinheitsregelungen bei Tischge-
meinschaften (mJad IV 6–8) miteinander kombinieren und damit vielleicht noch
Hinweise auf »Tischgenossenschaften« (haburoth) in der rabbinischen Literatur
(Waubke 2008) in Verbindung bringen, dann könnte man ein Spezifikum der
Pharisäer und der bei ihnen gepflegten Toraauslegung in diesem Lebensbereich
vermuten. Die zahlreichen Konditionen, unter die eine solche Vermutung gestellt
II. Der vorchristliche Paulus 75
werden muss, beweisen freilich ihre Unsicherheit. Negativ festzuhalten bleibt im-
merhin, dass es keinerlei Belege aus der Zeit vor 70 n.Chr. für dauerhaft in der
Diaspora lebende Pharisäer gibt (Niebuhr 1992, 55; Schwartz 2007). Dies deutet
(wenigstens bis zum Erweis des Gegenteils) darauf hin, dass pharisäische Grup-
penmerkmale und Überzeugungen sich besonders im Land Israel ausprägen
konnten.
Damit wäre dann auch ein (vielleicht der einzige) Fixpunkt gewonnen, von
dem aus der Pharisäer Paulus etwas genauer im Frühjudentum seiner Zeit veror-
tet werden kann. Dass er sich mit besonderem Einsatz um Treue zur Tora be-
mühte, ergibt sich schon aus seinen autobiographischen Zeugnissen ( B.II.1.1.),
macht ihn aber noch nicht zum Pharisäer. Auch der besondere Eifer (ζῆλος), den
er nach eigenem Bekunden dabei an den Tag legte (Gal 1,14; Phil 3,6), ist nicht
unbedingt typisch für die Pharisäer seiner Zeit (eher ihre ἀκρίβεια) und könnte
ihn in der Nähe der zelotischen Bewegung vermuten lassen, ist aber im Kontext
der paulinischen Aussagen v. a. rhetorisch veranlasst und lässt bereits seine ge-
zielten Aktivitäten gegen die Jesusanhänger anklingen ( B.II.3.). Eigenarten der
Toraauslegung in seinen Briefen lassen sich ebenfalls nicht aus seiner pharisä-
ischen Vergangenheit in Jerusalem herleiten, sondern verdanken sich primär den
theologischen und praktischen Herausforderungen im Rahmen seiner Mission
auf dem Gebiet der hellenistisch-jüdischen Diaspora (Niebuhr 2008).
Deines, Roland: Pharisäer, TBLNT2 II, 2000, 1455–1468.
Niebuhr, Karl-Wilhelm: Jesus, Paulus und die Pharisäer. Beobachtungen zu ihren historischen
Zusammenhängen, zum Toraverständnis und zur Anthropologie, RCatT 34, 2009, 317–346.
Stemberger, Günter: Pharisäer, Sadduzäer, Essener (SBS 144), Stuttgart 1991.
Karl-Wilhelm Niebuhr
In seiner Identifizierung als Pharisäer ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein län-
gerer Aufenthalt des Paulus vor seiner Berufung im Land Israel impliziert. Wenn
man das Zeugnis der Apostelgeschichte berücksichtigt, gegen das, wie gesehen,
dasjenige der Paulusbriefe nicht zwingend in Anschlag gebracht werden kann
( B.II.1.1.), deutet alles auf Jerusalem. Zieht man zudem die chronologischen
Verhältnisse in Betracht, so kommt auch für sein Wirken als Gegner der Jesusbe-
wegung kaum ein anderer Ort ernsthaft infrage. Denn im Rahmen der Gesamt-
chronologie der paulinischen Vita, wie sie sich v. a. aus dem autobiographischen
Rechenschaftsbericht in Gal 1 f. rekonstruieren lässt ( B.I.), kann seine Berufung
zum Apostel kaum später als drei Jahre, sondern wird eher wohl schon im zweiten
Jahr nach der Kreuzigung Jesu erfolgt sein (Riesner 1994, 31–65). Dann aber muss
ernsthaft gefragt werden, wo sonst als in Jerusalem Paulus sich gegen Jesusanhän-
ger gewandt haben könnte, gibt es doch für diese ganz frühe Zeit keine Belege zu
76 B. Person
grund seines Einsatzes für die Tora und gegen ihre Feinde hin, der in den Aus-
einandersetzungen um die religiösen Grundlagen jüdischen Lebens in der Mak-
kabäer- und Hasmonäerzeit wurzelt (Dunn 2009, 341–346; Hengel 32011). Be-
sonders in dem vor Paulus nur selten belegten und erst vom 3. Jh. n.Chr. an in der
Kirchenväterliteratur als umfassende Bezeichnung für die jüdische Religion ver-
wendeten Begriff Ἰουδαϊσμός spiegelt sich wie in einem Brennglas die Tradition
solchen Eifers für Gott und seine Tora (Niebuhr 1994; Konradt 2010, 39–41). Sie
war in frühjüdischer Zeit besonders bei Gruppen lebendig, die nach dem Vorbild
der biblischen Eiferer Pinhas (vgl. Num 25,11; 1Makk 2,54) und Elija (vgl. 1Kön
19,10.14; Sir 48,2) für das jüdische Gesetz und gegen dessen innere wie äußere
Feinde kämpfen wollten. Diese Intention kann allerdings nicht allein den sog.
»Zeloten« zugewiesen werden, die als eine der Aufstandsgruppen im Jüdischen
Krieg unter diesem Namen bei Josephus erwähnt werden, und auch nicht auf die
schon seit der Endphase der Herrschaft Herodes des Großen bei Josephus und im
Neuen Testament begegnenden dezidiert antirömisch eingestellten und agie-
renden Gruppen eingegrenzt werden. Der bei Paulus begegnende Ausdruck »Ei-
fer« ebenso wie seine Berufung auf den »Judaismos« sind vielmehr Indizien für
eine weiter verbreitete Haltung, besonders im biblischen Land Israel in der ersten
Hälfte des 1. Jh. n.Chr., die angesichts der politischen Herrschaftsverhältnisse und
der starken Durchdringung des alltäglichen Lebens mit hellenistischer Kultur
und Zivilisation immer wieder Nahrung fand. Ein spezifisch antirömisches Ele-
ment solcher Orientierung muss damit nicht verbunden gewesen sein.
Von einer solchen Haltung wird wohl auch der Pharisäer Paulus erfüllt gewe-
sen sein. Damit rücken die maßgeblichen Gründe in den Blick, aus denen er sich
gegen die gerade im Entstehen begriffene Jesusbewegung wandte (Haacker 1997,
78–97). Da Paulus in den argumentativen Zusammenhängen seiner Briefe, in de-
nen er seine Verfolgertätigkeit erwähnt, primär die jeweils aktuellen Auseinander-
setzungen in seinen Gemeinden im Blick hat, können die dort genannten Argu-
mente nicht einfach auf seine Motive zur Verfolgung der Jesusanhänger übertra-
gen werden. Es bleibt somit nur die Möglichkeit, durch Kombination der
verschiedenen mehr oder weniger deutlich belegbaren Rahmenbedingungen der
früh nachösterlichen christlichen Bewegung mit den biographischen Informati-
onen zu Paulus vor seiner Berufung eine Hypothese zu den Gründen seiner Ver-
folgertätigkeit zu entwickeln.
Offenbar sah Paulus die Jesusbewegung als Gefahr für Israel und die Tora an.
Im Sinne des Eifers für Gott und die Tora musste er sich folglich mit allen ihm zur
Verfügung stehenden Mitteln gegen diese Bewegung engagieren. Angesichts der
Quellenlage besteht die einzige Möglichkeit, in historischer Perspektive Ansatz-
punkte für eine solche Konstellation in den ersten Jahren nach der Kreuzigung
Jesu zu benennen, darin, in den Berichten der Apostelgeschichte zum Martyrium
des Stephanus vorlukanische Traditionen zu identifizieren, die der Sache nach in
die Frühzeit der Jerusalemer Urgemeinde zurückreichen (Kraus 1999, 38–55).
Wenn man diesem Weg folgen will, kann man als Kern der Vorwürfe gegen Ste-
II. Der vorchristliche Paulus 79
phanus (und damit gegen die Gruppe, zu der er gehörte, also vermutlich die
»Hellenisten«) die Unterstellung betrachten, er wende sich gegen die Tora des
Mose und gegen den Tempelkult (Apg 6,11.13 f.). Darüber hinaus läuft die luka-
nische Erzählung darauf zu, dass der eigentliche Anlass zur Steinigung des Ste-
phanus sein Bekenntnis zu dem gerade eben gekreuzigten Jesus als dem zum Ge-
richt wiederkommenden Menschensohn war (Apg 7,56 f.). Wieweit auch hierin
noch eine vorlukanische Überlieferung zur Sprache kommt, kann offen bleiben.
Auch ohne diese Annahme bleibt deutlich, dass Stephanus als Jesusanhänger we-
gen seiner kritischen Positionen gegen Tempel und Tora angegriffen wurde (vgl.
Apg 6,14!).
Sieht man in diesem Bericht Traditionen verarbeitet, die für die Auffassungen
von Jesusanhängern in den ersten Jahren nach der Kreuzigung repräsentativ sind,
dann kann man in solchen kritischen Haltungen gegenüber der Tora und dem
Tempel auch ein Motiv für ihre Verfolgung durch Paulus erkennen. Eine weiter-
gehende Vermutung könnte dahin gehen, die tora- und tempelkritischen Positi-
onen der »Hellenisten« mit thematisch entsprechenden Stücken der Jesusüberlie-
ferung in Verbindung zu bringen. Dass Jesus in Jerusalem nach Konflikten, die
sowohl räumlich als auch sachlich mit dem Tempel zusammenhingen (vgl. Mk
11,15–17; 13,1 f.; 14,58), zu Tode gekommen war, kann bei seinen Anhängern und
wenigstens partiell wohl auch bei seinen Gegnern in Jerusalem als bekannt vo-
rausgesetzt werden. Auch Überlieferungen zu Konflikten mit Jesus um Gegen-
stände der Tora im Zusammenhang seines Wirkens und seiner Verkündigung in
Galiläa wie etwa seine Haltung zum Sabbatgebot oder seine distanzierte Einstel-
lung zu Fragen ritueller Reinheit (vgl. z. B. Mk 2,23–3,6; 7,15) könnten zu dieser
Zeit schon zumindest im Kreise seiner Anhänger in Jerusalem bekannt gewesen
sein. Dass sie daraus schon grundsätzliche und reflektierte Konsequenzen hin-
sichtlich der Frage der Geltung der Tora als Ganzer gezogen haben, muss dabei
keineswegs vorausgesetzt werden. Es reicht anzunehmen, dass es aufgrund von
Einzeläußerungen oder Verhaltensweisen von Jesusanhängern zu Auseinander-
setzungen kam, bei denen ihnen eine solche grundsätzlich kritische oder gar ab-
lehnende Haltung zu Gesetz und Tempel unter Berufung auf entsprechende Po-
sitionen Jesu unterstellt wurde.
Schließlich kann in aller Vorsicht erwogen werden, ob nicht auch die bis in die
ersten Entwicklungsstufen der urchristlichen Bekenntnisbildung zurückzuverfol-
gende Deutung des Sterbens Jesu auf der Grundlage des biblischen und im Tem-
pel täglich sichtbar vor Augen liegenden Sühnopferkults in solchen Auseinander-
setzungen eine Rolle gespielt haben könnte. Paulus jedenfalls konnte solche
Schlussfolgerungen aufgrund seiner Prägung und Bildung durch eine vertiefte
Beschäftigung mit der Tora und ihrer gegenwartsorientierten Interpretation si-
cherlich ziehen, wie seine späteren Argumentationen dazu in seinen Briefen be-
weisen (vgl. Röm 3,25 f.; 1Kor 11,23 f.; Gal 3,10–13). Ob er sie auch schon vor seiner
Berufung gezogen hatte und dadurch zu seinen Aktionen gegen die Jesusanhän-
ger bewogen wurde, ist so wenig sicher zu beweisen wie alle übrigen eben ange-
80 B. Person
Das »Damaskuserlebnis« gab dem Leben des Paulus eine völlige Kehrtwende. Es
trug sich auf dem Weg von Jerusalem nach Damaskus in unmittelbarer Nähe des
Zielortes zu. Paulus erfuhr seine dortige Berufung zum Apostel, die aller Wahr-
scheinlichkeit nach in das Jahr 32 n.Chr. zu datieren ist (Riesner 1994, 56–65),
als radikalen Bruch mit seinem bisherigen Werdegang. Vor Damaskus vollzog
sich die Wandlung vom erbitterten Verfolger der christlichen Gemeinde zum lei-
denschaftlichen Verkündiger des neuen Glaubens. Das Sprichwort vom Saulus,
der zum Paulus wurde, bringt dies anschaulich zum Ausdruck, auch wenn es der
Sache nach falsch ist. Der Apostel trug zeitlebens beide Namen und in der Apo-
stelgeschichte wird nicht etwa nach dem Damaskuserlebnis, sondern während
der Zypernmission aus darstellerischen Gründen ein Namenswechsel vollzogen
(Apg 13,9).
Paulus kommt an mehreren Stellen seiner Briefe in knapper Form auf die radi-
kale Wende in seinem Leben zu sprechen, verzichtet dabei aber auf Angaben zu
Zeit und Ort. Anders als die Paulusbriefe geht die Apostelgeschichte des Lukas in
drei unterschiedlichen Kontexten recht detailliert auf das Geschehen ein und gibt
wertvolle Informationen über die näheren Begleitumstände preis. Am ausführ-
lichsten äußert sich Lukas in Apg 9, wo zunächst das eigentliche Damaskuserleb-
nis erzählt wird (9,1–9) und dann der sich unmittelbar anschließende Aufenthalt
des erblindeten Paulus in Damaskus in das Blickfeld rückt (9,10–19). Lukas greift
III. Die Berufung und Bekehrung zum Heidenmissionar 81
dabei vermutlich auf eine Lokaltradition aus Damaskus von hohem geschicht-
lichen Wert zurück, die das Ereignis nach dem Vorbild alttestamentlicher und
frühjüdischer Epiphanie- oder Bekehrungserzählungen (vgl. Ex 3; JosAs 14) be-
schrieb (Schwemer 2007, 292). Nach Darstellung der Erzählung hatte sich Paulus
vom Hohepriester in Jerusalem Empfehlungsschreiben an die Synagogengemein-
den in Damaskus erbeten, um dort vermutete Anhänger des neuen Glaubens ge-
fangen zu nehmen und nach Jerusalem zu führen. Damaskus zählte in neutesta-
mentlicher Zeit zum Städtebund der Dekapolis und wies einen beträchtlichen
jüdischen Bevölkerungsanteil auf (Hengel/Schwemer 1998, 80–101). Offenkun-
dig hatte sich ein Teil der aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten nach Damaskus
begeben und dort eine neue Bleibe gefunden. Die Stadt war für die Stephanusan-
hänger die nächstgelegene hellenistische Metropole außerhalb des jüdischen
Kernlands. Paulus heftete sich an ihre Fersen, um die Werbung für den neuen
Glauben in den Synagogen von Damaskus zu unterbinden. Die Information des
Lukas, dass Paulus die Verhaftung der Christusgläubigen und ihre Überführung
nach Jerusalem anstrebte, malt allerdings die Verfolgertätigkeit des Paulus in zu
grellen Farben aus und übersteigt das Maß des historisch Wahrscheinlichen. Die
strafrechtliche Gewalt des Jerusalemer Hohepriesters erstreckte sich kaum bis in
die Dekapolis. In unmittelbarer Nähe von Damaskus kam es zur überraschenden
Kehrtwende im Leben des Paulus. Nach Apg 9,1–9 umfasste das Damaskuserleb-
nis neben einer hell strahlenden Lichtvision, die Paulus zu Boden stürzen ließ,
auch eine Audition in Form einer Himmelsstimme. Paulus wird vom erhöhten
Christus auf seine Verfolgertätigkeit angesprochen und aufgefordert, sich nach
Damaskus zu begeben, um dort weitere Anweisungen abzuwarten. Zudem ist da-
von die Rede, dass die Macht der lichtvollen Christuserscheinung zur vorüberge-
henden Erblindung des Erscheinungsempfängers führte. Der unerbittliche Ver-
folger des neuen Glaubens wird von seinen Begleitern hilflos wie ein kleines Kind
in die Stadt geführt und findet im Haus eines nicht näher bekannten Judas Auf-
nahme. Dort wird Paulus von Hananias, einem Mitglied der Gemeinde, geheilt
und bald darauf getauft. Paulus rechnet sich in Röm 6,3 zu den Getauften, ohne
nähere Angaben dazu zu machen. Dass er die Taufe tatsächlich in Damaskus
empfing, steht aufgrund ihrer allgemeinen kirchlichen Bedeutung als Aufnahme-
ritus außer Zweifel.
Im Erzählduktus der Apostelgeschichte kommt Paulus noch zweimal in Reden,
die Lukas unter Rückgriff auf Traditionsmaterial entworfen hat, auf sein Damas-
kuserlebnis zu sprechen. Dies unterstreicht die Bedeutung, die Lukas dem Ge-
schehen für die christliche Missionsgeschichte beimisst. Gleichzeitig nutzt Lukas
die Gelegenheit, neben der Bekehrung nun auch die Berufung und den an Paulus
ergangenen Verkündigungsauftrag angemessen zur Sprache zu bringen. In der
Verteidigungsrede des Paulus vor dem Jerusalemer Volk entspricht die Darstel-
lung des Damaskuserlebnisses (22,6–16) weitgehend der Schilderung von Apg
9,1–19. An neuen Informationen kommt hinzu, dass das Geschehen am Mittag
stattfand, die Heilung von Blindheit durch ein charismatisches Wort erfolgte und
82 B. Person
die Taufe des Paulus unter Anrufung des Namens Jesu geschah. Zwar liegt der
Akzent nach wie vor auf der Bekehrung, doch ist im Munde des Hananias auch
von einer göttlichen Erwählung und Beauftragung des Paulus zur Zeugenschaft
die Rede. Der Rückblick auf das Damaskusereignis in der Rede vor Agrippa II.
und Berenike (Apg 26,12–18) hebt im Licht der Gottesknechttradition (Jes
42,6 f.16) die damit verbundene Sendung zu den Völkern hervor. Die Bedeutung
des Geschehens für das Selbstverständnis des Paulus als Apostel wird dabei zwar
nicht sichtbar, da Lukas den Aposteltitel mit zwei traditionsbedingten Ausnah-
men (Apg 14,4.14) dem Zwölferkreis vorbehält. Mit der Interpretation des Da-
maskuserlebnisses als einer Berufung zur Völkermission steht Apg 26,12–18 aber
in unmittelbarer Nähe zu den paulinischen Primärzeugnissen.
Paulus selbst bringt das Damaskuserlebnis in seinen Briefen an mehreren Stel-
len in geradezu stenographischer Kürze zur Sprache. Bei der Bewertung dieser
Aussagen ist der zeitliche Abstand zwischen dem Geschehen und der Bezugnah-
me darauf zu bedenken. Abhängig von der jeweiligen Briefsituation werden un-
terschiedliche Facetten des dramatischen Ereignisses ausgeleuchtet. Dabei ist eine
zunehmende Betonung des apostolischen Anspruchs zu beobachten, die durch
wachsende Vorbehalte gegenüber Paulus in den Gemeinden mitbedingt sein
wird. Wenn Paulus sich im Eingangsteil seiner Briefe als berufener Apostel oder
Apostel gemäß dem Willen Gottes (1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Röm 1,1) vorstellt, spielt er
auf die im frühen Christentum bekannte Personallegende von seiner Berufung
an. Im Briefwechsel mit den Korinthern wird im Rahmen einer Apologie ein Kau-
salzusammenhang zwischen der Vision vor Damaskus und dem Apostolat des
Paulus hergestellt (1Kor 9,1). Paulus muss sich in Korinth wegen des Verzichts auf
das Unterhaltsrecht erster Angriffe erwehren, dass er kein rechtmäßiger Apostel
sei. Während die Gegner des Paulus sich auf ein traditionelles Apostelverständnis
stützen, das in Anlehnung an die Aussendungsanordnungen Jesu das Recht auf
Gemeindeunterhalt als Eckpfeiler des Apostolats ansieht, leitet Paulus seine apo-
stolische Autorität aus dem Berufungserlebnis ab. Mit der rhetorischen Frage, ob
er nicht den Herrn Jesus gesehen habe, greift er die traditionelle Sprache der Os-
tererzählungen auf (Joh 20,18.25). Paulus präsentiert sich gewissermaßen als Os-
terzeuge, der den gekreuzigten Jesus als lebendigen Herrn erblickte. Seine Chris
tusvision steht qualitativ auf einer Stufe mit den Erscheinungen, die den engsten
Vertrauten Jesu im Kontext des Ostergeschehens zuteilwurden. Dass sich das Da-
maskuserlebnis für Paulus nahtlos in die Epiphanien des Auferstandenen vor
dem Zwölferkreis und den anderen Gründergestalten der christlichen Kirche ein-
fügt, wird durch 1Kor 15,5–11 untermauert. Auch dieser Text lässt einen festen Zu-
sammenhang zwischen der empfangenen Epiphanie und der Erwählung zum
Apostel erkennen. Zugleich bringt er die Überzeugung zum Ausdruck, dass damit
die Erscheinungen des Auferstandenen zum Abschluss gekommen sind. Die
Selbstbezeichnung des Paulus als Totgeburt oder Missgeburt unterstreicht die
Größe der Gnade Gottes, die aus dem eigentlich des Apostelamtes unwürdigen
Verfolger einen Verkündiger des Evangeliums werden ließ.
III. Die Berufung und Bekehrung zum Heidenmissionar 83
Im Blick auf die Tragweite des Damaskuserlebnisses für die Theologie des Apo-
stels Paulus richtet sich der Fokus insbesondere auf drei Themenbereiche, die
Gegenstand ebenso intensiver wie kontroverser Diskussion sind. Erstens wird da-
rüber gestritten, inwieweit im Damaskuserlebnis über eine Neubewertung der
Person Jesu Christi hinaus auch bereits die Erkenntnis der Glaubensgerechtigkeit
angelegt ist, wie sie später den Galater- und den Römerbrief prägt. Zweitens steht
die Frage zur Debatte, ob zu einer angemessenen Beschreibung der vor Damaskus
eingetretenen Wende im Leben des Paulus nur von Berufung oder ergänzend
auch von Bekehrung die Rede sein sollte. Drittens geht es um die Bedeutung von
Damaskus als dem Ort, wo Paulus den neuen Glauben aus der Binnenperspektive
kennenlernte und sich der Taufe unterzog.
Paulus lässt in seinen Briefen keinen Zweifel daran, dass sich für ihn mit dem
Damaskuserlebnis eine grundlegende Neubewertung der Person Jesu Christi ver-
band. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Messiaserwartung, wie sie sich
in den wohl aus Pharisäerkreisen stammenden Psalmen Salomos widerspiegelt
(PsSal 17), war der Glaube an einen gekreuzigten und auferstandenen Messias im
Judentum kaum vermittelbar. Nach der Tora steht ein am Holz aufgehängter
Mensch unter dem Fluch Gottes (Dtn 21,23). Diese Aussage ist eigentlich auf ge-
steinigte und dann am Holz zur Schau gestellte Delinquenten bezogen; die Tem-
pelrolle aus Qumran scheint sie auch auf gekreuzigte Personen zu übertragen
(11QT 64,15–20). Der Pharisäer Paulus hat den am Kreuzesholz hängenden Jesus
sicher als einen von Gott verfluchten Menschen betrachtet (Gal 3,13). Die christ-
liche Verkündigung, dass der Gekreuzigte lebt und der von der Schrift verheißene
Messias Israels ist, muss er als ungeheuerlichen Anstoß empfunden haben (vgl.
1Kor 1,23). Vor Damaskus erschloss sich Paulus ein völlig neues Jesusbild, zu des-
sen Beschreibung er sich einer beachtlichen Bandbreite christologischer Titula-
turen bedient. Der am Kreuz gescheiterte und vom Gesetz verworfene Jesus er-
wies sich nun als der lebendige Kyrios, Messias, der Sohn Gottes, Träger des gött-
lichen Lichtglanzes und damit als das wahre Bild Gottes. Den einstigen Anstoß
des Kreuzes rückte der Apostel in das Zentrum seiner Verkündigung.
Äußerst umstritten ist allerdings die Bedeutung des Damaskuserlebnisses für
die Entwicklung der paulinischen Rechtfertigungslehre. Es geht um die Frage,
inwieweit es vor Damaskus neben dem neuen Urteil über Jesus auch zu einer
Neubewertung der Tora kam. Wurde für Paulus in der Begegnung mit dem Auf-
erstandenen seine bisherige Existenzform als Knechtschaft unter dem Gesetz und
Christus als dessen Überwinder offenbar (Dietzfelbinger 1989, 90–125) oder
erschöpfte sich das Damaskuserlebnis ohne unmittelbaren Bezug zur Tora in der
neuen christologischen Erkenntnis (Schnelle 2002, 299–318)? Damit verbindet
sich die Kontroverse, ob die Rechtfertigungslehre bereits im Damaskusgeschehen
angelegt ist und von Anfang an im Zentrum der paulinischen Theologie stand
III. Die Berufung und Bekehrung zum Heidenmissionar 85
oder ob sie sich erst relativ spät in der Auseinandersetzung mit den Entwick-
lungen in Galatien herausgebildet hat und damit eher eine Nebenlinie im Denken
des Apostels markiert. Die mutmaßlichen Motive des Paulus für die Verfolgung
der Hellenisten, seine autobiographischen Aussagen zum Gesetz und sein wei-
terer Werdegang als Apostel sprechen dafür, dass er die Wende vom Verfolger zum
Verkündiger des neuen Glaubens auch als Befreiung von Gesetz und Sünde ver-
standen hat. Paulus erwähnt seine einstige Verfolgertätigkeit gegenüber der
christlichen Gemeinde in einem Atemzug mit dem Eifer für die väterlichen Über-
lieferungen oder das Gesetz (Gal 1,13 f.; Phil 3,6). Wenn man die Vorwürfe aus Apg
6,11–14 für bare Münze nimmt, war die Haltung der Hellenisten um Stephanus
durch eine Infragestellung einzelner Lehrsätze der Mosetora und eine Kritik am
Tempelkult gekennzeichnet. Offenkundig haben die Hellenisten Teilen des jü-
dischen Ritualgesetzes eine untergeordnete Bedeutung beigemessen und im Ho-
rizont einer Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer (vgl. Röm 3,25) die Funktion
des Tempels als Ort der Sühne relativiert. Damit gerieten sie ins Visier der Phari-
säer, die in besonderer Weise um die Erfüllung des im Gesetz dokumentierten
Anspruchs Gottes bemüht waren. Wenn die Hellenisten allein wegen der Vereh-
rung des Gekreuzigten als Messias verfolgt worden wären, bliebe unerklärlich,
warum die Hebräer in der Urgemeinde von den Zwangsmaßnahmen nicht be-
troffen waren. In Phil 3,3–9 blickt Paulus auf seine vorchristliche Vergangenheit
zurück und stellt dieser die christliche Gegenwart als Apostel gegenüber, wobei
die Gesetzesthematik und die Glaubensgerechtigkeit eine wichtige Rolle spielen.
Seine Toratreue als Pharisäer rechnet er zu den Gütern, die er früher auf der Ge-
winnseite verbuchte und die ihm angesichts der überwältigenden Erkenntnis
Christi nun als Verlust erscheinen. Die an dieser Stelle beschriebene Neudefini
tion aller Werte hat sicher im Damaskuserlebnis ihren grundlegenden Anfang
genommen. In Röm 7,7–25 hebt Paulus zwar unter Verwendung des fiktiven Ich
allgemein auf die Erfahrung eines jeden unerlösten Menschen vor der Zuwen-
dung zu Christus ab. Doch wird man davon ausgehen können, dass autobiogra-
phische Züge in die Darstellung eingeflossen sind und er ein Stück weit auch sein
eigenes früheres Erleben im Umgang mit dem Gesetz beschreibt. Während Paulus
in Phil 3,4–6 und Gal 1,14 in der Retrospektive auf seine vorchristliche Vergangen-
heit das Bild eines von Stolz und Selbstsicherheit geprägten Pharisäers vermittelt,
scheint Röm 7,7–25 einen inneren Konflikt widerzuspiegeln, der ihm erst später
bewusst wurde (Theissen 21993,181–268). Dann hätte Paulus zutiefst mit den For-
derungen des Gesetzes gerungen und auch die verzweifelte Erfahrung des Schei-
terns am Gesetz gemacht.
Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass mit dem Damaskuserlebnis
eine Neubewertung der Tora verbunden war. Theoretisch hätte Paulus ohne Wei-
teres die Option gehabt, auch als Christusgläubiger ein Eiferer für das Gesetz zu
bleiben (vgl. Apg 15,5; 21,20). Nichts deutet darauf hin, dass er nach der Berufung
zunächst diesen Weg beschritt und erst deutlich später ein neues Urteil über die
Tora gewann. In Damaskus erfuhr Paulus durch die Hellenisten in einer Form des
86 B. Person
trachtet, wird dies der radikalen Veränderung im Denken und im Leben des Pau-
lus kaum gerecht (O’Brien 2004, 390).
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für den weiteren Werdegang des
Apostels ist schließlich die christliche Sozialisation, die er in der Gemeinde von
Damaskus erfuhr. Paulus war die Christusverkündigung bis zur Kehrtwende in
seinem Leben nur aus der Außenperspektive bekannt. Seine Kenntnisse stützten
sich im Wesentlichen auf die pharisäische Polemik gegen den neuen Glauben.
Daneben könnte er in den griechischsprachigen Synagogen Jerusalems mit der
Verkündigung des Stephanuskreises in Berührung gekommen sein. In Damaskus
erfuhr Paulus seine elementare Prägung in der christlichen Tradition und
sammelte erste Erfahrungen als christlicher Lehrer. Nach der Apostelgeschichte
war Damaskus die erste Stadt außerhalb Palästinas, in der das Christentum auf-
grund der nun beginnenden missionarischen Aktivitäten der Hellenisten Fuß
fasste. Obwohl vergleichsweise wenig über die christliche Gemeinde in Damaskus
bekannt ist, wird die Stadt als Zufluchtsort der aus Jerusalem vertriebenen An-
hänger des Stephanus eine ähnlich zentrale Rolle für das frühe hellenistische
Christentum gespielt haben, wie dies für Antiochia zutrifft. Die kaum zu bestrei-
tende Tatsache, dass Paulus in Damaskus die Taufe empfing, ist von nicht zu un-
terschätzender Bedeutung. Auch wenn für die Frühzeit der Kirche noch kein fest
institutionalisierter Taufunterricht vorausgesetzt werden kann, wird der Taufe
des Paulus eine eingehende Belehrung über die Grundinhalte des Christusglau-
bens vorangegangen sein. Für einzelne Bekenntnistraditionen, wie sie später in
den Paulusbriefen zitiert werden, kommt eine Herkunft aus Damaskus in Be-
tracht. So rechnet man etwa mit der Möglichkeit, Paulus könne die Tauftradition
Gal 3,26–28 oder den Christushymnus Phil 2,6–11 in Damaskus kennengelernt
haben. In diesem Zusammenhang wird sogar der Versuch der Rekonstruktion
einer eigenständigen Theologie der Gemeinde von Damaskus unternommen.
Diese habe im Rahmen der christologischen Konzeption von der Präexistenz und
heilvollen Inkarnation des Gottessohnes einen gesetzeskritischen Universalismus
vertreten, in dessen Rahmen die umfassende Macht der Sünde aufgedeckt und
dem Menschen die von Gott herkommende Befreiung aus dieser Sündenmacht
angeboten worden sei (Schmithals 1994, 90–94). Auch wenn solche Konkreti-
onen angesichts der spärlichen Quellenlage gewagt sind, hat Paulus in Damaskus
mit der Theologie der Hellenisten intensive Bekanntschaft gemacht und durch
deren ansatzweise gesetzeskritisches Evangelium eine Prägung erfahren, die sein
weiteres Leben als Apostel der Völker vorzeichnete. Durch sein Damaskuserlebnis
wurde der Verfolger unverzüglich zum Verkünder der neuen Lehre, die er zuvor
zu vernichten suchte. Er verbreitete in den Synagogengemeinden der Stadt die
Botschaft von der Messianität und Gottessohnschaft Jesu (Apg 9,20). Auch die
Tatsache, dass Paulus im Anschluss an seinen Aufenthalt in Arabien nach Damas-
kus zurückkehrte, spricht für eine enge Verbundenheit mit der dortigen Gemein-
de.
88 B. Person
on eine Welt gegen eine andere austauscht. Als historisches Urbild der Verwand-
lung betrachten sie die religiöse Konversion und führen in diesem Kontext das
Damaskuserlebnis des Paulus als Paradebeispiel an. Damit die Verwandlung ge-
lingt, muss es analog zur primären Sozialisation zu einem neuerlichen Prozess
der Internalisierung kommen, in dessen Verlauf der Mensch in seine Teilhaber-
schaft an der gesellschaftlichen Dialektik eingeführt wird. Als wichtigste gesell-
schaftliche Bedingung für eine erfolgreiche Verwandlung gilt das Vorhandensein
einer überzeugenden Plausibilitätsstruktur. Diese wird dem Individuum durch
signifikante andere vermittelt, mit denen es zu einer tiefen Identifikation kom-
men muss. Eine Konversion als Erlebnis bedeute nicht allzu viel. Entscheidend
sei, dass man das Erlebnis Ernst nehme und sich den Sinn für dessen Plausibilität
erhalte. An dieser Stelle komme die Gemeinde ins Spiel. Saulus möge zwar in der
Einsamkeit seiner religiösen Ekstase Paulus geworden sein, habe dies aber nur im
Kreis der christlichen Gemeinde bleiben können, die ihn als Paulus anerkannte
und sein identitätsstiftendes neues Wirklichkeitsverständnis bestätigte (Berger/
Luckmann 2007, 168–170).
Der soziologische Zugang verhilft dazu, die verengte Sehweise des Damaskus-
geschehens als eines isolierten individuellen Erlebnisses aufzubrechen, indem der
maßgebliche Einfluss der religiösen Gemeinschaft wahrgenommen wird, in die
Paulus eintrat. Demnach lieferte die Gemeinde von Damaskus dem Apostel erst
die Plausibilitätsstruktur für die persönliche Integration des vor den Toren der
Stadt erlebten Geschehens und trug entscheidend zur Stabilisierung des neu ge-
wonnenen Wirklichkeitsverständnisses bei. Insbesondere die Rolle des Hananias
als eines »signifikanten anderen«, der Paulus in den neuen Glauben einwies und
ihm die Taufe spendete, dürfte dabei von nicht zu unterschätzender Bedeutung
sein. Wenn Paulus in Gal 1,15–17 seine christliche Sozialisation in Damaskus nicht
erwähnt und nirgendwo in seinen Briefen auf die Taufe durch Hananias zu spre-
chen kommt, spricht dies nicht gegen den hohen Stellenwert, den die Integration
in die Gemeinde für die Verinnerlichung des Damaskusgeschehens hatte. Paulus
geht es darum, die Unabgängigkeit seines Apostolats von allen menschlichen Ins
tanzen herauszustellen.
Aus kulturanthropologischer Perspektive wird von Christian Strecker der Ver-
such unternommen, das Damaskuserlebnis vor dem Hintergrund der rituellen
Initiation von Schamanen, Mystikern oder Propheten in seiner tieferen Bedeu-
tung zu erfassen. Dies zieht die Beobachtung nach sich, dass die Anspielungen des
Paulus auf seine Damaskuserfahrung in unterschiedlicher Weise die Struktur und
Symbolik eines mystischen Initiationsprozesses widerspiegeln. Als maßgebliche
Kennzeichen der mystischen Initiation werden Ekstase und Instruktion benannt,
mit denen Separation und Liminalität einhergehen. Der ethnologische Fachbe-
griff Liminalität beschreibt dabei den Schwellenzustand, in dem sich Individuen
befinden, nachdem sie sich rituell von der herrschenden Sozialordnung gelöst
haben. Indem die Initiation religiöser Spezialisten und Leitfiguren den Aspekt
einer umfassenden Transformation der individuellen Person beinhaltet, trägt sie
IV. Paulus als Heidenmissionar 91
Züge einer Bekehrung. Gleichzeitig schließt sie das Moment der Instruktion
durch göttliche Wesen ein und ähnelt darin einer Berufung. In Gal 1,16 seien die
zentralen Merkmale der mystischen Berufung, nämlich Ekstase und Instruktion,
greifbar. Auch den anderen Anspielungen auf das Damaskuserlebnis in den Pau-
lusbriefen liege ein Initiationsszenario zugrunde. In Phil 3 beschreibe Paulus sei-
ne Damaskuserfahrung aus der Perspektive der Destruktion des für ihn bis dahin
gültigen Wertesystems, mit der eine Separation aus dem Bereich der alten Sozial-
struktur und der Eintritt in eine Gegenwelt einhergingen. In 2Kor 4,6–12 bette der
Apostel die Wende vor Damaskus in ein das ganze Leben umfassendes Transfor-
mationsgeschehen ein, das in wesentlichen Punkten einem Initiationsprozess
entspreche. Bei der Selbststigmatisierung des Paulus als Totgeburt in 1Kor 15,9
handele es sich um ein Symbol der Liminalität im Kontext eines umfassenden
göttlichen Transformationsprozesses (Strecker 1999, 93–157). Die Betrachtung
der Lebenswende des Paulus als rituelle Initiation wirft neues Licht auf den Sach-
verhalt, dass diese gleichermaßen Züge der Bekehrung wie auch der Berufung in
sich vereinigt. Zudem schärft die kulturanthropologische Perspektive den Blick
dafür, dass sich das Damaskusgeschehen nicht in einer neuen intellektuellen Er-
kenntnis des Paulus erschöpfte, sondern einen umfassenden Seinswandel mit sich
brachte.
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Reichardt, Michael: Psychologische Erklärung der Damaskusvision? Ein Beitrag zum interdis-
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Bernd Kollmann
Die Zeitspanne zwischen der Berufung des Paulus bei Damaskus und seiner An-
kunft in Antiochien wird mitunter als die »unbekannten Jahre« des Apostels be-
zeichnet. Keiner seiner Briefe stammt aus dieser Zeit. Unsere Kenntnisse über
diesen etwa zehn bis elf Jahre umfassenden Zeitraum beruhen auf rückblickenden
Aussagen; im Wesentlichen auf den paulinischen Texten Gal 1,15–24; 2Kor 11,32 f.;
12,1–4 und auf den Angaben aus Apg 9,23–30; 11,25 f. Über die Umstände seiner
92 B. Person
Die Angaben in Gal 1 und Apg 9 sind nicht spannungsfrei. Differenzen zwischen
der Darstellung der Apostelgeschichte und den Angaben des Paulus bestehen (ne-
ben inhaltlichen Aspekten) hinsichtlich der Abfolge der Stationen.
Im Galaterbrief schreibt Paulus, er sei nach seiner Berufung zunächst nach
Arabien fortgegangen und dann wieder nach Damaskus zurückgekehrt. Erst drei
Jahre später habe er Jerusalem aufgesucht (hier ist strittig, ob sich das »danach«
[ἔπειτα] auf den Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Damaskus oder auf den Zeit-
punkt seiner Bekehrung bezieht – je nach Entscheidung nimmt man einen kürze-
ren oder längeren Aufenthalt in der Arabia an). In Jerusalem habe er (nur) Petrus
und Jakobus getroffen. Daraufhin sei er in die Gegenden von Syrien und Kilikien
gekommen.
Nach Darstellung der Apostelgeschichte ist Paulus sogleich nach seiner Beru-
fung in Jerusalem gewesen (Apg 9,26–30). Dort wurde er nach Apg 9,27 bereits
von Barnabas in den Kreis der »Apostel« eingeführt. Später wird Paulus aufgrund
eines Anschlags, den »Hellenisten« (das sind in diesem Fall griechisch sprechende
Juden) gegen ihn planen (Apg 9,29), von den »Brüdern« nach Cäsarea geleitet,
um von dort nach Tarsus zu gelangen (Apg 9,30). Es ist wohl die Hafenstadt Cä-
sarea Maritima gemeint, von wo aus man per Schiff (oder – weniger wahrschein-
lich – auf dem Landweg) nach Tarsus, das an der sog. »kilikischen Pforte« liegt,
gelangen konnte.
Die Angaben in Gal 1,21, wonach Paulus nach seinem Jerusalembesuch nach
Syrien und Kilikien gegangen sei, und Apg 9,30, wonach Paulus von Cäsarea aus
nach Tarsus gereist sei, müssen nicht als Gegensatz verstanden werden. Tarsus
gehörte – bis zur Schaffung einer eigenen römischen Provinz Kilikien durch Ves
pasian bis 72 n.Chr. – zur Doppelprovinz Syria-Cilicia mit Antiochien als Haupt-
stadt. Daher muss Gal 1,21 nicht Ausdruck dafür sein, dass Paulus von Jerusalem
IV. Paulus als Heidenmissionar 93
aus auf dem Landweg über Cäsarea Philippi und Syrien nach Kilikien gekommen
wäre, insbesondere dann nicht, wenn mit einigen griechischen Handschriften bei
τὰ κλίματα τῆς Συρίας καὶ τῆς Κιλικίας (die Länder Syrien und Kilikien) der Ar-
tikel vor Κιλικίας zu streichen ist: Codex Sinaiticus, Min. 33 und weitere Minus
keln.
Die Angabe des Zieles Tarsus in Apg 9,30 lässt sich also mit der paulinischen
Darstellung in Gal 1,21 harmonisieren. Für die übrigen Stationen des Paulus nach
seiner Berufung und insbesondere für den in Apg 9,26–29 dargestellten Jerusalem
aufenthalt gelingt dies hingegen nicht.
Zum einen betont Paulus in Gal 1,17, nicht geradewegs nach Jerusalem hinauf,
sondern zunächst nach Arabien und dann zurück nach Damaskus gegangen zu
sein (gegen Apg 9,26). Mit diesem zweiten Aufenthalt in Damaskus ist dann auch
die in 2Kor 11,32 f. und Apg 9,25 erwähnte Flucht in einem Korb über die Stadt-
mauer in Damaskus verbunden (die Datierung der Flucht auf den ersten Damas-
kusaufenthalt ist unwahrscheinlich, da Paulus sonst wohl nicht dorthin zurück-
gekehrt wäre). Die Arabien-Episode hat die Apostelgeschichte gänzlich ausgelas-
sen. Zum andern unterstreicht Paulus (Gal 1,18 f.), dass er bei seinem drei Jahre
nach der Berufung stattgefundenen Jerusalembesuch nur Petrus und Jakobus
getroffen habe, also nicht durch Barnabas in den Kreis der »Apostel« eingeführt
worden sei. Den Gemeinden in Judäa (dazu gehört Jerusalem) sei er vielmehr
persönlich unbekannt geblieben (Gal 1,22). Diese Angabe hat manche Forscher
dazu geführt, sogar die Verfolgertätigkeit des Paulus in Jerusalem zu bestreiten
(wohl zu Unrecht; zur Sache: Kraus 1999, 31–33).
Nach 1Kor 15,1–8 versteht Paulus die Erscheinung des Auferstandenen, die er
selbst hatte, in großer inhaltlicher und zeitlicher Nähe zu den Erscheinungen der
anderen Osterzeugen. Daher darf keine zu große Zeitspanne zwischen den Erster-
scheinungen vor Kephas und den Zwölfen (ὤφθη Κηφᾷ εἶτα τοῖς δώδεκα [er-
schien dem Kephas, dann den Zwölfen] und der Letzterscheinung (ἔσχατον δὲ
πάντων [. . .] ὤφθη κἀμοί [zuletzt aber vor allem [. . .] erschien er auch mir]) vor
Paulus postuliert werden, maximal zwei Jahre. Geht man davon aus, dass die
Kreuzigung Jesu im Jahr 30 stattgefunden hat, so ergibt sich nach kritischer
Sichtung der Angaben des Paulus in Kombination mit jenen aus der Apostelge-
schichte folgendes Zeitschema (s. Tabelle auf der nächsten Seite).
94 B. Person
Arabien – Damaskus – Flucht: Die Ausführungen des Paulus in Gal 1 sind geprägt
von der Absicht, die Eigenständigkeit seines Apostolats, die Unabhängigkeit von
den Jerusalemer Autoritäten und die direkte Beauftragung durch Gott gegenüber
galatischen Kritikern zu betonen. Der Ton, den Paulus dabei anschlägt, ist scharf.
Briefkonventionen werden von ihm ignoriert (in Gal 1 fehlt die übliche Danksa-
gung). In Gal 1,20 stellt er heraus, nicht zu lügen und ruft Gott zum Zeugen seiner
Ausführungen an. Es ist daher trotz aller enthaltenen Polemik undenkbar, dass
die Darstellung des Paulus in Gal 1,17–24 historisch unzutreffend sein sollte: Pau-
lus ging nach seiner Berufung nach Arabien, kam dann zurück nach Damaskus,
ging erst drei Jahre später nach Jerusalem und anschließend nach Syrien-Kilikien.
Was Paulus in Arabien gemacht hat, lässt sich nur erahnen, es gibt keinen expli-
ziten Hinweis. Allerdings lässt sich in Verbindung mit 2Kor 11,32 f. und Gal 4,25
doch hinsichtlich bestimmter Sachfragen ein gewisser Grad von Wahrscheinlich-
keit erzielen. Mit der Bezeichnung Arabia ist jedenfalls das Nabatäerreich gemeint
(Hengel/Schwemer 1998, 179 f.; Knauf 1998, 469) und nicht die Provincia Arabia
(Haenchen 1977, 322; Betz 1988, 147) bzw. Teile der Auranitis oder Dekapolis
(Klausner 1980, 313 f.; Bietenhard 1978, 255 f.; Riesner 1994, 227–231). Aus 2Kor
11,32 f. geht hervor, dass Paulus sich bei dem Nabatäerkönig Aretas IV. (9
v.Chr.–39/40 n.Chr.) unbeliebt gemacht hat. Mit dem in 2Kor 11 genannten »Eth-
narchen« ist kein »Statthalter« des Aretas in Damaskus bezeichnet, sondern der
Vorsteher oder Repräsentant der nabatäischen Handelskolonie ebenda, der aus
Loyalität zu seinem König gegen Paulus tätig wird. Nimmt man noch hinzu, dass
IV. Paulus als Heidenmissionar 95
Paulus in Gal 4,25 mit der allegorischen Reihe von Hagar – Sinai – Berg in Ara-
bien wahrscheinlich eine Lokaltradition der Juden in Hegra aufnimmt (Knauf
1998 im Anschluss an Gese 1997), dann ist der Schluss naheliegend, dass Paulus
mit seinem Arabienaufenthalt auf eine Reise in das Nabatäerreich anspielt, bei
der er für Unruhe in dortigen jüdischen Gemeinden sorgte, wodurch er sich den
Zorn des Königs Aretas zuzog.
Ob Paulus dabei Völkermission betrieben hat, ist aufgrund fehlender expliziter
Nachrichten wiederum Sache von Vermutungen. Aus der Tatsache, dass keine
paulinischen Gemeindegründungen aus der Gegend in späterer Zeit bekannt
sind, könnte man einerseits schließen, dass Paulus dort nicht missioniert hat. An-
dererseits gehört zur »Offenbarung des Sohnes« nach Gal 1,15 f. die unmittelbare
Zielbestimmung der »Verkündigung unter den Völkern«, sodass es wahrschein-
lich erscheint, dass Paulus auch in Arabien Mission betrieben hat. Hengel/Schwe-
mer (Hengel/Schwemer 1998, 180 f.) erwägen, ob die Tatsache, dass die Nabatä-
er als Nachkommen Ismaels und damit als Abrahamssöhne galten, Paulus dort zu
seiner Mission bewegt haben könnte. Knauf (Knauf 1998, 471) gibt zu bedenken,
dass in 1QGenAp XXI 17 f. Nordwest-Arabien als Teil des Heiligen Landes angese-
hen werde und dass Hegra nach der Urform des tannaitischen Grenzverzeich-
nisses als Grenzpunkt des idealen Israel gelte. Doch könnten solche Überlegungen
gerade gegen Völkermission sprechen.
Die Schwierigkeiten, die Paulus in Damaskus nach seiner Rückkehr dorthin
bekommt, lassen sich einerseits als Konsequenz seines Tuns in Arabien, anderer-
seits als Reaktion auf sein Verhalten in Damaskus selbst verstehen. Nach 2Kor 11
ist es eindeutig der Ethnarch des Königs Aretas, der Paulus nachstellt und ihn
»verhaften« will (πιάζειν). Nach Apg 9,23 sind es die griechisch sprechenden Ju-
den in Damaskus, die die Flucht aus Damaskus provozieren, weil sie Paulus nach
dem Leben trachten (ἀναιρέω). Da die Zuschreibung von Verfolgung durch Ju-
den eher sonstigen lukanischen Tendenzen entspricht, kommen sie historisch ge-
sehen dafür weniger in Betracht. Beide Berichte, sowohl der in 2Kor 11 als auch
der in Apg 9, stimmen in der ungewöhnlichen Art und Weise der Flucht, nämlich
mittels eines Korbes über die Mauer, und in der Erwähnung von Helfern, die
Paulus hatte, überein.
Paulus erwähnt diesen Vorfall in Gal 1 nicht, weil hinter seiner Beschreibung
eine bestimmte Absicht steht. Es geht ihm nicht darum, seine aufsehenerregende
Rettung zu schildern, sondern seine Unabhängigkeit als Apostel herauszustellen.
Deshalb unterlässt er auch eine genauere Darstellung der nächsten 14 Jahre (Gal
2,1), da er in diesem Zeitraum wohl nur ›Juniorpartner‹ der gemeinsamen Missi-
on mit Barnabas war (ein Beleg dafür findet sich in Apg 14,12: hier wird Barnabas
als Zeus, Paulus als der weniger wichtige Hermes angesehen). Geht man davon
aus, dass die Flucht in zeitlich nicht allzu großer Distanz vor der Ankunft in Jeru-
salem stattfand, so fällt sie – je nachdem, wann die Berufung angesetzt wird – in
die Zeit 34/35 n.Chr.
96 B. Person
Jerusalem: Laut eigener Aussage kommt Paulus drei Jahre nach seiner Berufung
nach Jerusalem, um Kephas zu treffen (ἱστορῆσαι Κηφᾶν). Man kann diesen Be-
griff am besten wiedergeben durch »um Kephas kennenzulernen« (Gal 1,18). 15
Tage bleibt er dort. Paulus schiebt in Gal 1,19 nach, dass er außer dem Herrenbru-
der Jakobus, dem späteren Gemeindeleiter in Jerusalem, keinem der anderen
Apostel begegnet sei. Auch diese Angabe in Gal 1 steht im Dienst der Betonung
der Unabhängigkeit und der göttlichen Legitimation des paulinischen Apostolats.
Die Möglichkeit, dass Paulus von Barnabas in Jerusalem eingeführt werden muss-
te (Apg 9,26 f.), weil man ihm als ehemaligem Verfolger nicht traute, klingt plau-
sibel, wird von Paulus selbst aber nicht erwähnt (von Roloff 21988, 155; Pesch
1986, 315; Jervell 1998, 293, für historisch zutreffend gehalten). Die Tatsache, dass
Lukas bei der Einführung des Paulus Barnabas sagen lässt, dieser habe »den Herrn
gesehen«, könnte auf Übernahme von Tradition schließen lassen (vgl. die gleiche
Ausdrucksweise bei Paulus selbst in 1Kor 9,1). Die Absicht, Kephas kennenzuler-
nen, zeigt, dass dieser zur fraglichen Zeit noch die führende Rolle in Jerusalem
innehatte. Was die beiden in 15 Tagen miteinander besprochen haben, entzieht
sich unserer Kenntnis und lädt dazu ein, die Phantasie spielen zu lassen (Hengel/
Schwemer 1998, 229–236). Die Nachricht, dass Paulus bei den Aposteln »aus-
und einging«, »freimütig im Namen des Kyrios gesprochen« und »mit Hellenisten
Streitgespräche geführt« habe (Apg 9,28 f.), scheint hingegen lukanischer Darstel-
lungskunst und nicht historischen Umständen zu entsprechen.
Aufenthalt in Syrien-Kilikien: Über den Aufenthalt in Syrien-Kilikien und in
der Heimatstadt des Paulus, Tarsus, wissen wir nichts. Apg 11,25 f. schließt im
Blick auf die Geschichte des Paulus direkt an 9,30 an. Dazwischen ist Paulus von
der Bildfläche verschwunden. Die Vermutungen der Forscher liegen weit ausei-
nander: Hat es sich um einen Rückzug gehandelt (Haacker 1997, 47)? Oder hat
Paulus auch dort missioniert (Hengel/Schwemer 1998, 244 f.248.270; Riesner
1994, 234 f.)? Nach der Meinung des Lukas wird Letzteres der Fall sein, denn er
lässt Paulus kurz nach dem Apostelkonvent nach Syrien und Kilikien aufbrechen,
»um die Gemeinden zu stärken« (Apg 15,41). Wie lange der Aufenthalt in Sy-
rien-Kilikien gedauert hat, lässt sich ungefähr angeben. Geht man davon aus, dass
Paulus von Barnabas nach Damaskus geholt wurde und dies etwa 41/42 geschah,
dann beträgt die Zeit des Aufenthalts etwa fünf bis sechs Jahre.
Himmelsreise: Im Kontext der Narrenrede 2Kor 11,16–12,13 kommt Paulus in
12,1–10 auf »Gesichte und Enthüllungen des Herrn« (ὀπτασίας καὶ ἀποκαλύψεις
κυρίου) zu sprechen, wobei er in V. 2–4 (widerwillig) von einer Entrückung in
den dritten Himmel bzw. ins Paradies berichtet. Er spricht distanzierend in der 3.
Person von »einem Menschen«, dem dies widerfuhr, es ist jedoch klar, dass er sich
selbst damit meint (Heininger 1996, 247). Anders als früher teilweise vertreten
(Knox 1950), bezieht sich die Entrückung keinesfalls auf das Damaskuserlebnis.
Aber auch eine Beziehung zu Gal 2,2 (Borse 1984, 72) und auf die in Jerusalem
lokalisierte Vision in Apg 22,17–21 (Giet 1951, 340–342; Hyldahl 1986, 119 f.) las-
sen sich nicht erweisen (zur Sache: Heininger 1996, 240 f.242–254).
IV. Paulus als Heidenmissionar 97
Die Datierung des Ereignisses hängt mit der Frage der literarischen Einheit-
lichkeit des 2. Korintherbriefs und der zeitlichen Ansetzung dieses Schreibens
oder eines Teiles desselben zusammen. Forscher, die Einheitlichkeit annehmen,
datieren den 2. Korintherbrief in der Regel in die Zeit ca. 55/56 n.Chr. Spaltet man
2Kor 10–13 als Fragment eines eigenständigen (früheren) Briefes ab (und identifi-
ziert ihn mit dem sog. Tränenbrief), ist die Datierung etwas früher anzusetzen:
54/55 n.Chr.
Die Ankunft des Paulus in Antiochien dürfte in die Zeit 41/42 n.Chr. fallen. Das
bedeutet, dass die Entrückung, von der Paulus in 2Kor 12 berichtet, sie habe sich
»vor 14 Jahren« ereignet, noch in die Zeit von Syrien-Kilikien gehört (Heininger
1996, 250; Riesner 1994, 242.285).
Die Verse 3 und 4 sind parallel aufgebaut. Grundsätzlich wäre es möglich, dass
Paulus von unterschiedlichen Erfahrungen spricht (vgl. die Pluralformen in V. 1),
aber es ist wohl eher eine Erfahrung, die in verschiedene Etappen unterteilt wird.
Auffällig im Vergleich mit anderen Entrückungsschilderungen ist die »lakonische
Kürze« bei Paulus (Heininger 1996, 248). Die Mehrzahl der Forscher geht zwar
von einem wirklichen ekstatischen Erlebnis des Apostels aus, betont aber zu-
gleich, dass Paulus durch die Rede in der 3. Person, die Knappheit der Details und
die Aussage, es »nicht zu wissen«, ganz von sich weg verweist und alles auf Gott
zentriert.
Nach AssMos 37,5; 40,1 wird deutlich, dass sich das Paradies als Aufenthaltsort
der Gerechten im dritten Himmel befindet. Mit der Begrifflichkeit »unsagbare
Worte« (ἄρρητα ῥήματα) greift Paulus einen Terminus aus der Mysteriensprache
auf. »Unsagbare Worte« unterliegen dem Schweigegebot. Das Ziel der Schilde-
rung liegt nicht im Sich-Rühmen angesichts solcher Erfahrungen, sondern in der
Erkenntnis: »Meine Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung« (2Kor
12,9). Damit führt er die Erwartungshaltung der Korinther ad absurdum.
Antiochien: Wie Paulus nach Antiochien kam und dort für das folgende Jahr-
zehnt nicht nur seinen Standort, sondern seine Ausgangsbasis für missionarische
Tätigkeit fand, wissen wir nur aus Apg 11,25 f.: Barnabas hat ihn dorthin geholt.
Doch es spricht nichts dagegen, dies als historisch anzusehen (so Kollmann
1998, 34; anders Öhler 2003, 226), v. a. da es der lukanischen Tendenz wider-
spricht, Paulus als den eigentlichen Akteur zu stilisieren. Paulus wird damit Mit-
glied der antiochenischen Gemeinde und ›Juniorpartner‹ des Barnabas.
Heininger, Bernhard: Paulus als Visionär. Eine religionsgeschichtliche Studie (HBS 9), Frei-
burg 1996.
Hengel, Martin/Schwemer, Anna Maria: Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die un-
bekannten Jahre des Apostels. Mit einem Beitrag von Ernst Axel Knauf (WUNT 108), Tübin-
gen 1998.
Kraus, Wolfgang: Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die »Hellenisten«, Paulus und die Auf-
nahme der Heiden in das endzeitliche Gottesvolk (SBS 179), Stuttgart 1999.
Riesner, Rainer: Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie
und Theologie (WUNT 71), Tübingen 1994.
98 B. Person
Schäfer, Ruth: Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief,
zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie (WUNT II 179), Tübingen
2004.
Wolfgang Kraus
Der Begriff »Missionsreise« ist etwas problematisch, denn er suggeriert, dass Pau-
lus stets gereist ist. Dies ist nicht der Fall. Paulus arbeitete von Missionszentren wie
Antiochien am Orontes, Korinth und Ephesus aus und verbreitete mithilfe der
Gemeinden das Evangelium in dem jeweiligen Stadtstaat (polis) bzw. der Kolonie
und deren Territorien. Nach seiner Berufung in der Nähe von Damaskus missio-
nierte er dort, in Arabien und in seiner Heimat Kilikien, bis Barnabas ihn nach
Antiochia am Orontes holte ( B.IV.1.), um an der Verkündigung der Botschaft
über Jesus auch an die Nichtjuden mitzuwirken. Die Gemeinde in Antiochia sand-
te Barnabas und Paulus mit Johannes Markus von Antiochia aus nach Zypern.
Woher wissen wir überhaupt von dieser Reise? Es gibt Angaben in den Paulus-
briefen, die mit ihr in Beziehung gebracht werden können, aber v. a. Apg 13 f. be-
richtet von einer Reise, die Paulus und Barnabas (Öhler 2003) im Auftrag der
antiochenischen Gemeinde unternommen haben. Es geht dabei um die folgenden
Reisestationen: Zypern, Pamphylien, Pisidien, dort v. a. die Stadt Antiochia, und
dann Ikonion, Lystra. Die Reiseroute Antiochia – Ikonion – Lystra wird von 2Tim
3,11 her plausibel. Woher aber hatte nun Lukas, der Verfasser der Apostelgeschich-
te, seine Informationen? Hier gibt es mehrere Möglichkeiten. Früher hat man im
Gefolge von Martin Dibelius (Dibelius 1968) gemeint, dass Lukas ein Itinerar
verwende, das schon in Kap. 13 beginne. Ausleger der Apostelgeschichte wie Hans
Conzelmann (Conzelmann 21972) und Ernst Haenchen (Haenchen 1977)
wollten diese Reise für ein Produkt lukanischer Dichtung halten. Neuere Kom-
mentatoren (Weiser 1985; Roloff 32010) überlegten in Aufnahme einer alten
These von Harnacks (von Harnack 1908), ob Kap. 13 f. nicht Teil einer antioche-
nischen Quelle sei. Eine solche Quelle lässt sich aber nicht nachweisen. Auch
wenn Lukas die Reise erfunden hätte, hätte er ausgezeichnete Kenntnisse der da-
maligen Verhältnisse gehabt. Wie viele althistorische Studien zu Anatolien zeigen,
verrät die lukanische Erzählung an einigen Punkten gute Lokalkenntnisse (Brey-
tenbach 1996). Es ist also eher wahrscheinlich, dass die Reise stattgefunden hat
und der Verfasser der Apostelgeschichte vor der Abfassung seines Werkes Antio-
chia am Orontes besuchte, dorthin oder von dort über den Landweg nach Ephe-
sus reiste und so auch die Gemeinden Derbe, Lystra, Ikonion und Antiochia an
der pisidischen Grenze kennenlernte. So konnte er die Traditionen über die
Gründung dieser Gemeinden sammeln und sie literarisch in seinem Werk verar-
beiten. Die Anordnung der Erzählung in Apg 13 f. folgt der Via Sebaste von West
nach Ost (Antiochia – Ikonion – Lystra).
IV. Paulus als Heidenmissionar 99
Die Gemeinde in Antiochia am Orontes sandte die Apostel aus (Apg 13,1–3),
und sie erstatteten der Gemeinde nach der Rückkehr Bericht (Apg 14,26–28). Da
Barnabas Jude aus Zypern war und einige der Gemeindeglieder aus Antiochia am
Orontes aus Zypern stammten (Apg 11,19 f.), ist es plausibel, dass Paulus und
Barnabas nach Zypern gesandt wurden. Paulus und Barnabas reisten über Land
von Antiochia bis Seleukia und dann mit dem Schiff nach Salamis (Apg 13,4).
Zypern war seit 22 v.Chr. eine senatorische Provinz.
Über Salamis im Osten hat der Autor der Apostelgeschichte wenig Information
(Apg 13,5 f.). In Antiochia ad Pisidiam überlieferte man ihm die um einen wich-
tigen Römer kreisende Personallegende aus Paphos, der Metropolis an der West-
küste der Insel. Die Legende der Bekehrung des Prokonsuls Sergius Paulus dort
(vgl. Apg 13,6–12) könnte es ermöglichen, den Wechsel der Apostel von Zypern
nach Kleinasien zu erklären. Es sind mehrere Sergii Paulli bekannt, die als Pro-
konsul infrage kommen (für Einzelheiten Breytenbach 1996, 38–45). Der Sach-
verhalt wird dadurch überaus interessant, dass verschiedene Inschriften aus dem
1. Jh. n.Chr. eine Verbindung der Sergii Paulli mit der römischen Kolonie Antio-
chia an der pisidischen Grenze (s. u.) zu erkennen geben. Es kann als wahrschein-
lich gelten, dass der Sergius Paul<l>us, von dem wir in Apg 13,7 lesen, Mitglied
der angesehenen Familie der Sergii Paulli aus dem Süden der Provinz Galatien
war. Bei allen Unsicherheiten, die nun einmal zur historischen Konstruktion ge-
hören, ist es wahrscheinlich, dass die Sergii Paulli etwas damit zu tun hatten, dass
Paulus und Barnabas von Paphos auf Zypern nach Antiochia an der pisidischen
Grenze gingen.
Nach Apg 13,13 segelten Paulus und seine Begleiter nach Perge, der zweitgröß-
ten Stadt und »Krone Pamphyliens.« Der Text impliziert (wie wir von Strabon
XIV 4,2 [667] wissen), dass man von Paphos aus mit dem Schiff das innere Meer
zwischen Zypern und Pamphylien überqueren konnte, direkt anschließend die
sieben Kilometer den Kestros hinauffahren und dann auf der Straße nach Perge
gehen konnte. Johannes Markus verließ hier Paulus und Barnabas. Ohne dass
gesagt wird, dass sie das Wort verkündigten, wanderten Barnabas und Paulus di-
rekt in das pisidische Antiochia. Der Wechsel von Zypern in die römische Provinz
Galatien markiert mehr als eine geographische Wende. Den Orientierungspunkt
der Missionare bilden nun nicht mehr die jüdischen Verwandten und Bekannten,
sondern die römischen Militärkolonien.
Antiochia lag in der Landschaft Phrygien in der Nähe der pisidischen Grenze,
aber immer noch in der Provinz Galatien. Es handelt sich weder um eine alte pi-
sidische bzw. phrygische Gründung noch um eine römische Neugründung. Wie
der Name verrät, ist die Stadt eine griechische Gründung, die von dem Seleuki-
denherrscher Seleukus Nikator I. (358/4–281 v.Chr.) angelegt wurde. Ziel der
Gründung war es, die Interessen des Seleukidenreiches gegen die pisidischen Ein-
heimischen im Taurusgebirge zu schützen, da diese immer wieder die Karawanen
auf den großen Landstraßen zu überfallen pflegten. Bis in römische Zeit hatte
sich daran nichts geändert. So sahen die Römer sich nach dem Tode des Galater-
100 B. Person
königs Amyntas genötigt, im Süden der neu gegründeten Provinz Galatien eine
Reihe militärischer Kolonien anzulegen. Auf dem Gebiet Antiochias legten sie
25/24 v.Chr. die Antiochia colonia Caesarea an. Die Römer verfolgten die Absicht,
das Gebiet zu beruhigen und die Stämme in der Umgebung durch Mischehen
zwischen Einheimischen und Kolonisten zu überfremden. Als die Veteranen aus
den Heeren des Octavianus und Antonius 25/24 v. Chr. in Antiochia angesiedelt
wurden, gab es dort bereits eine jüdische Gemeinde, deren Ahnen von Antiochus
dem Großen (223–187 v.Chr.) dort angesiedelt worden waren (Flav.Jos.Ant. XII
12,3 [85 f.]). Vermutlich nahmen die Veteranen ihre Frauen aus der lokalen Bevöl-
kerung (Griechen, Pisidier, Phrygier, Galater und Juden). Die ummauerte colonia,
die eine Fläche von 46,5 Hektar einnahm, war zusätzlich von einem fruchtbaren
Territorium von ca. 1400 km2 umgeben. Dieses Gebiet wurde von den Kolonisten
bewirtschaftet. Die christliche Botschaft wurde nach Apg 13,49 in diesem ganzen
Gebiet verbreitet. »Die Ersten der Stadt« stifteten nach Apg 13,50 eine Verfolgung
gegen Paulus und Barnabas an und trieben sie aus dem von ihnen kontrollierten
Territorium hinaus. Wer waren diese »Ersten der Stadt«? Die Kolonie wurde in
Anlehnung an Rom in sieben Bereiche unterteilt. Ein ordo decurionum ersetzte
die griechische Ratsversammlung und regierte zusammen mit den Magistraten.
Die Mitglieder des ordo und die Magistraten kamen aus den Reihen der lokalen
Aristokratie und hatten als »Erste der Stadt« die Zügel fest in der Hand. Im Anti-
ochia des 1. Jh. ist der Einfluss zweier Familien, der Sergii Paulli sowie der Carista-
nii, Nachkommen der 25 v.Chr. angesiedelten italischen Kolonisten, nachgewie-
sen. Sollte es zutreffen, dass die Begegnung mit Sergius Paul<l>us nach Apg 13,7
in Paphos dazu geführt hatte, dass der Apostel Paulus nach Antiochia ging, weil
Beziehungen zu den Sergii Paulli ihm den Zugang zu »den Ersten der Stadt« ver-
mitteln konnten, hätten die Juden in Antiochia das Fruchten dieser Möglichkeit
vereitelt. Es ist mehrfach belegt, dass angesehene Frauen dem monotheistischen
Judentum als Gottesfürchtige nahestanden. Dies darf man auch für Antiochia
voraussetzen. Mithilfe der Frauen aus dem Adelsstand und der »Ersten der Stadt«,
denen die zivile Gerichtsbarkeit oblag, gelang es den Juden, Paulus und Barnabas
aus dem Territorium der colonia zu vertreiben. Sie gingen nach Ikonion.
Marcus Antonius übergab die 400 Jahre alte Stadt Ikonion 36 v.Chr. dem Gala-
terkönig Amyntas. Nach dessen Tod 25 v.Chr. wurde die Stadt unter Augustus Teil
der Provinz Galatien. Die Mehrheit der Bevölkerung in der Stadt Ikonion bestand
aus hellenisierten Phrygiern und Lykaoniern. Von denen sind zwei Stämme be-
kannt. Ein dritter Stamm, der der Athena, belegt griechischen Einfluss in Ikonion.
Der tribus Augusta entstand wahrscheinlich als vierter und letzter mit der Kolo-
niegründung. Auch Juden, wie die Familie der Mutter des Timotheus (Apg 16,1),
haben sich in der Gegend von Lystra und Ikonion angesiedelt (Apg 16,3). Ande-
rerseits lebten hier neben den hellenisierten Bürgern seit Augustus auch Kavalle-
risten, und zwar in einer eigenen colonia. Wie Münzen der Kolonie aus der Zeit
Vespasians und Titus’ belegen, hieß sie Colonia Iulia Augusta Iconium. Zumindest
seit der Regierungszeit des Claudius bestand somit nachweislich eine Doppelge-
IV. Paulus als Heidenmissionar 101
meinde mit der Verfassung einer polis und einer colonia nebeneinander, bis die
Kolonie dann unter Hadrian neu gegründet wurde. Paulus und Barnabas wenden
sich nach der Erzählung der Apostelgeschichte den Juden und den griechisch
sprechenden Teilen der Bevölkerung zu, d. h. den Einwohnern des Stadtstaates.
Unter dieser Mischbevölkerung gründen Barnabas und Paulus eine Gemeinde. In
Ikonion lebten wie in Antiochia wahrscheinlich schon länger Juden (Apg 14,1–7;
16,1–6). Die Juden in Ikonion gehen aber anders vor als in Antiochia oder als spä-
ter in Korinth. In den römischen Kolonien Antiochia und Korinth wenden sie
sich an die römische Aristokratie oder den Prokonsul, um Paulus an seiner Mis-
sion zu hindern. Anders in Ikonion: Nur ein Teil der alten berühmten Stadt war
unter der Kontrolle eines römischen Zweimännerkollegiums (duovir). Es kon-
trollierte nur den Bereich, wo die Veteranen lebten, im Bereich der alten polis re-
gierte das Volk. Es ist nach Apg 14,4 f. das aufgewiegelte Volk (δῆμος), das in Iko-
nion gegen Paulus und Barnabas auftrat. In Antiochia war es die römische Aristo-
kratie, in Ikonion waren es die Griechen und Juden, die durch ihre Führung
(ἄρχοντες) eine für die Apostel bedrohliche Lage verursachten. Sie wichen nach
Lystra aus.
Die col(onia) Iul(ia) Fe(lix) Gemina Lustra wurde wahrscheinlich 25 v.Chr.
nach dem Tode des Amyntas von Augustus gegründet. Die neue Kolonie war um-
geben von einem fruchtbaren Territorium. Sprachverwilderung in den Münzle-
genden und die Lateinfehler in einigen Inschriften lassen darauf schließen, dass
die Mehrheit der Einwohner griechisch und lykaonisch sprach. Bemerkenswert in
Lystra ist eine Münze aus der Regierungszeit des Augustus mit einer Abbildung
der Göttin des Wachstums, Ceres, auf der Rückseite. Der Ort lag ein wenig abseits
und wurde nie eine wichtige Stadt, er diente den Römern wohl v. a. dazu, die
landwirtschaftlich fruchtbareren Gebiete zu sichern. Die ausgedehnte Akklamati-
on in der Wundergeschichte (Apg 14,11–13) zeigt Kenntnis der lykaonischen Lo-
kaltradition (Breytenbach 1996, 53–75) und weist auf, wie sehr sich der Verfasser
der Apostelgeschichte bewusst ist, dass er es hier mit einer ländlichen Bevölke-
rung zu tun hat. Er kennt obendrein die in Lykaonien geläufige Verbindung zwi-
schen Zeus und Hermes und die dort lokalisierte Sage, dass die beiden Götter in
Menschengestalt erscheinen. Darüber hinaus weiß er, dass ein Teil der Stadtbe-
völkerung lykaonisch sprach und dass es einen Tempel des Zeus außerhalb der
Stadt gab. Er weiß aber v. a., dass Zeus als Wetter- und Vegetationsgott verehrt
wurde und ihm Stiere geopfert und Kränze dargebracht wurden – alles Motive,
die aus der Zeusverehrung im Zentrum Kleinasiens stammen. Das bedeutet, dass,
wie im Fall von Antiochia und Ikonion, der Gründungsbesuch so erzählt wird,
dass die örtlichen Gegebenheiten verarbeitet werden. Zieht man hinzu, dass in
unmittelbarer Umgebung von Lystra die frühesten christlichen Grabstätten ge-
funden wurden (ab dem 3. Jh., vgl. Breytenbach/Zimmermann 2014), kann
man sichergehen, dass die Erzählungen in Apg 14 – bei aller Legendenbildung –
eine Missionsreise berühren, die auf die Frühzeit der christlichen Mission zu-
rückgeht. In Apg 14,19 heißt es, Paulus sei von den Juden aus Antiochia und Iko-
102 B. Person
nion in Lystra gesteinigt worden. Dass Paulus irgendwann gesteinigt wurde, be-
sagt auch 2Kor 11,25.
Der Ort Derbe kam schließlich auch unter die Kontrolle des Galaters Amyntas
und dann in Besitz des römischen Vasallen Antipater. Die Stadt lag auf einem
Hügel, und das spärliche Material erlaubt es kaum, sich ein Bild von den Verhält-
nissen im 1. Jh. n.Chr. in dieser Stadt zu machen. Der Autor der Apostelgeschich-
te gibt auch keine andere Information, als dass Barnabas und Paulus auch dort
das Evangelium verkündeten (Apg 15,20 f.), dann über Lystra, Ikonion und Anti-
ochia zurückkehrten und wieder nach Perge in Pamphylien reisten.
Nun vermerkt die Apostelgeschichte (14,25), dass sie das Wort in Perge verkün-
digt hatten, einer blühenden hellenistischen Stadt mit weitverzweigten Verbin-
dungen. Die paulinische Mission scheint erfolgreich gewesen zu sein: Die Paulus
akten (5) erwähnen Nachfolger des Paulus; während der Verfolgungen des 2. und
3. Jh. hören wir von Märtyrern aus Perge. Auf dem Rückweg wird die gepflasterte
Straße zwischen Perge und dem Hafen Attalia vorausgesetzt (Apg 14,25). Der
Rückweg nach Antiochia am Orontes erfolgte nach Apg 14,26 mit dem Schiff von
Attalia direkt bis nach Antiochia. In der Antike konnte man in der Tat den Oron
tes bis nach Antiochia hinaufsegeln (vgl. Pausanias, VIII 29,3–4).
Von der Sozialgeschichte der südlichen Teile der Provinz Galatien her und an-
gesichts der Verkehrsverbindungen mit dem anatolischen Hochland ist es gut
vorstellbar, dass die Gebiete an der Via Sebaste und eventuell noch Derbe und
Perge zu den frühesten Städten gehörten, die durch das Urchristentum missio-
niert wurden. Alle diese Gebiete waren vom Einfluss des Galaterkönigs Amyntas
geprägt und wurden nach seinem Tod römisches Einflussgebiet. Die Städte
könnten Einwohner keltischer bzw. galatischer Abstammung gehabt haben, wel-
che als Hausgemeinden von Paulus in Gal 3,1 angesprochen werden. Mit Ausnah-
me von Perge liegen zur Zeit des Claudius alle Orte in der Provinz Galatien, so-
dass die Gemeinden in ihnen mit »Galater« angesprochen werden konnten. Die
Frage, ob der Galaterbrief an diese Gemeinden gerichtet wurde, ist unter C. I.2.4
zu behandeln.
Wenn wir die »Missionsreise« charakterisieren wollen, ist klar, dass es sich um
eine Mission handelt, die ihre Wurzeln in der Gemeinde in Antiochia am Orontes
hat. Man sieht aber hier eine Tendenz der Arbeit des Paulus. Er orientiert sich an
römischen Militärkolonien wie Antiochia ad Pisidiam, Lystra, Ikonion, Troas,
Philippi, Korinth. Damit bleibt er auch auf den Haupthandelsstraßen, denn die
Kolonien schützen gerade die Verkehrswege. Paulus und seine Mitarbeiter suchten
mit Absicht die römischen Kolonien auf und fingen dort an, das Evangelium zu
verkündigen. Es ist zudem eindeutig, dass sich Paulus und Barnabas an die helle-
nisierte städtische Bevölkerung wandten. Überall wo die Apostel hinzogen, gab es
auch Juden. Auch wenn das Schema »Zuerst in die Synagoge und dann zu den
Heiden« vom Erzähler der Apostelgeschichte stammen könnte, ist es immerhin
historisch vorstellbar, dass Barnabas und Paulus über die jüdischen Einwohner
Kontakt zur Stadtbevölkerung fanden. Man sollte aber festhalten, dass es sich
IV. Paulus als Heidenmissionar 103
nicht um eine »Missionsreise« des Paulus handelt. Er arbeitet hier noch nicht
selbstständig, sondern wird zusammen mit Barnabas von der antiochenischen
Gemeinde entsandt.
Paulus und Barnabas kehren nach Antiochia zurück, eventuell mit dem Hei-
denchristen Titus als Begleiter. Nun, nachdem etliche Nichtjuden das Evangelium
angenommen haben, stellt sich die Frage, ob sie zu den judenchristlichen Ge-
meinden gehören können, ohne beschnitten zu werden und das Gesetz zu halten.
Diese Fragen werden auf dem Apostelkonvent geklärt ( B.IV.3.). Die Reise fand
also, so wie Lukas sie einordnete, wahrscheinlich vor dem Apostelkonvent statt,
denn auch Paulus sagt in Gal 2,2, er habe vor dem Konvent bereits das Evangeli-
um den Heiden verkündigt.
Breytenbach, Cilliers: Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien. Studien zu Apostelge-
schichte 13 f.; 16,6; 18,23 und den Adressaten des Galaterbriefes (AGJU 38), Leiden 1996.
Ders./Zimmermann, Christiane: Early Christianity in Lycaonia (AJEC), Leiden 2014.
Öhler, Markus: Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte
(WUNT 156), Tübingen 2003.
Cilliers Breytenbach
An zwei Ereignissen, deren Bedeutung für die Geschichte der frühen Christenheit
kaum überschätzt werden kann, ist Paulus maßgeblich beteiligt. Sowohl für seine
eigene Biographie als auch für den weiteren Weg der christlichen Gemeinden stel-
len sie eine wichtige Markierung dar. Für das erste Ereignis hat sich der Name
»Apostelkonvent« eingebürgert; die frühere Bezeichnung als »Apostelkonzil«
weckt falsche Assoziationen hinsichtlich der erst im 4. Jh. beginnenden Konzili-
engeschichte und sollte deshalb vermieden werden. Das zweite Ereignis wird ge-
legentlich als »Antiochenischer Zwischenfall« (oder engl. »incident«) bezeichnet,
was seiner Tragweite jedoch kaum gerecht wird; hier sollte man deshalb schlicht
vom »Antiochenischen Konflikt« oder vom »Streit um die Tischgemeinschaft in
Antiochien« sprechen.
Beide Ereignisse sind miteinander verbunden. Während auf dem Apostelkon-
vent in Jerusalem die Frage auf der Tagesordnung steht, ob sich Nichtjuden zuvor
der Beschneidung unterziehen müssen, wenn sie durch die Taufe Glieder der
christlichen Gemeinde werden wollen, geht es bei dem Konflikt in Antiochien um
Fragen der jüdischen Speisegesetzgebung. Was in Antiochien verhandelt wird, er-
scheint damit als eine Art Folgekonflikt. Die Jerusalemer Entscheidung, auf die
Beschneidungsforderung gegenüber Heidenchristen zu verzichten, wird unter-
schiedlich ausgelegt: Für die Jerusalemer markiert diese Entscheidung bereits das
äußerste Zugeständnis; die Antiochener hingegen verstehen sie als grundsätzliche
Legitimation einer neuen, uneingeschränkten Gemeinschaft zwischen Juden und
Nichtjuden in der christlichen Gemeinde. Erst der Antiochenische Konflikt bringt
104 B. Person
somit die Frage, die man auf dem Apostelkonvent in Jerusalem zu regeln versucht
hatte, auf den Punkt und macht die Jerusalemer Entscheidung unumkehrbar.
Hinsichtlich der Datierung gibt es verschiedene Anhaltspunkte. Je nachdem,
wie man sie miteinander kombiniert, gelangt man zu einer Früh- oder Spätdatie-
rung beider Ereignisse – d. h. 43/44 oder 47/48 n.Chr. Dass der Antiochenische
Streit in einem relativ kurzen zeitlichen Abstand auf den Apostelkonvent folgt, ist
weitgehend unbestritten – es sei denn, man verbindet Gal 2,11–14 mit Apg 18,22
und gelangt damit in das Jahr 52 n.Chr. (Konradt 2011). Die Datierung des Apo-
stelkonvents wiederum bemisst sich entscheidend daran, ob man ihn vor oder
nach der ersten Missionsreise einordnet bzw. ob man diese Reise während des
Aufenthaltes in Syrien und Kilikien (Gal 1,21) stattfinden lässt. Letzteres hat die
größere Wahrscheinlichkeit: Der Apostelkonvent fand dann ca. 47/48 statt; wenig
später kam es in Antiochien zu jenem Streit, der die Implikationen der Jerusale-
mer Entscheidung noch einmal deutlich machte; mit neuer Rückenfreiheit für die
nun auch gezielt in Angriff genommene Mission unter Nichtjuden bricht Paulus
dann zur zweiten Reise auf, die ihn nach Europa führt; in den Jahren 50–52 hält er
sich dabei (nun sicher datierbar) in Korinth auf; während der dritten Reise be-
richtet er aus Ephesus (53–55) dann im Rückblick über beide Ereignisse an die
Adresse der galatischen Gemeinden.
Diese Darstellung im »autobiographischen Rechenschaftsbericht« des Paulus
(Gal 1,11–2,21) stellt die wichtigste Quelle dar. Paulus schreibt gleichsam unter
Beschuss und muss, bei aller erkennbaren apologetischen Tendenz, hinsichtlich
der Fakten korrekt sein. In Gal 2,1–10 berichtet er vom Apostelkonvent, um die
von den galatischen Gegnern erneut erhobene Beschneidungsforderung als längst
entschieden abzuweisen. Daran schließt Gal 2,11–21 mit dem Antiochenischen
Streit an, dessen offenen Ausgang Paulus nun ganz direkt auf den galatischen
Konflikt zuspitzt. Zum Apostelkonvent liefert Lukas in Apg 15,1–34 eine wichtige
Parallele; allein den Antiochenischen Streit scheint er zu übergehen. Doch dieser
Eindruck täuscht. Lukas verschweigt nur, was seinem Konzept eines grundlegen-
den Konsenses bzw. exemplarischer Konfliktlösungen widersprechen würde. So
wie er die nach Gal 1,10 vereinbarte Kollektensammlung für Jerusalem zwar ver-
schweigt, Paulus dann in Apg 20 f. aber dennoch mit einer Delegation seiner Ge-
meinden nach Jerusalem reisen lässt (wofür es keinen anderen Grund als die Ab-
lieferung der Kollekte gibt) – so weiß er auch um den Konflikt in Antiochien vor
Beginn der zweiten Reise. Er verschiebt ihn indessen auf den Nebenschauplatz
jener Auseinandersetzung um Johannes Markus (Apg 15,36–40), der als strenger
Judenchrist offensichtlich schon während der ersten Reise die paulinische Missi-
onsstrategie nicht mitgetragen hatte (Apg 13,5.13). Schließlich fügt Lukas seinem
Bericht über den Apostelkonvent noch die Abfassung eines Schriftstückes, des in
der exegetischen Literatur sog. »Aposteldekretes«, an (Apg 15,29; vorbereitet in
15,20; referiert noch einmal in 21,25), in dem für Nichtjuden in der Gemeinde
Minimalforderungen hinsichtlich der jüdischen Speisegebote formuliert werden:
Dieses Verfahren lässt sich am besten als der Versuch verstehen, einen nachgehol-
IV. Paulus als Heidenmissionar 105
aufgetreten sind und die »Brüder« dafür kritisieren, dass sie auf die Beschnei-
dungsforderung verzichten, kommt es zu einem heftigen Streit; daraufhin be-
schließt die antiochenische Gemeinde, eine Delegation mit Paulus und Barnabas
an der Spitze nach Jerusalem zu entsenden. Paulus hingegen bemerkt, aufgrund
einer »Offenbarung« gemeinsam mit Barnabas nach Jerusalem gezogen zu sein
(Gal 2,2–3), wobei er auch Titus »mitgenommen« habe. Insgesamt insistiert er in
Gal 1–2 nachdrücklich darauf, in seinen Unternehmungen völlig unabhängig von
Jerusalem und allein vom Auferstandenen selbst beauftragt zu sein. Die Klärung
des Konfliktes liegt für ihn auf der Ebene einer Abstimmung, »nicht dass ich etwa
ins Leere liefe oder gelaufen wäre« (Gal 2,2). Für Paulus geht es darum, die bishe-
rigen missionarischen Erfolge zu sichern und mit denen der Jerusalemer zu koor-
dinieren. Darin dürfte er zutreffend als Exponent der antiochenischen Interessen
erscheinen.
Nach Darstellung des Lukas liegt die entscheidende Verantwortung bei den bei-
den Gesamtgemeinden; auf Jerusalemer Seite stellt er neben den »Aposteln und
Ältesten« besonders Petrus und den Herrenbruder Jakobus als Wortführer he-
raus; die Antiochener sind bei Lukas durch Paulus und Barnabas sowie »einige
andere« vertreten. Paulus nennt auf seiner Seite außer Barnabas nur noch den
Heidenchristen Titus, der protokollarisch delikat als Präzedenzfall fungiert. Die
Kontrahenten in Jerusalem bezeichnet Paulus als »heimlich eingeschlichene
Falschbrüder, die nebenbei eingedrungen waren, um die Freiheit auszuspionie-
ren, die wir in Christus Jesus haben« (Gal 2,4). Lukas präzisiert jene Judäer, die
den Konflikt in Antiochien ausgelöst hatten und die auch auf der Jerusalemer
Versammlung zuerst das Wort ergreifen, als »einige von der Partei der Pharisäer,
die zum Glauben gekommen waren« (Apg 15,5).
Übereinstimmend lässt sich der Verlauf der Versammlung so rekonstruieren,
dass auf eine gemeindeöffentliche Debatte eine Art Sondersitzung folgt, zu der
die Verantwortungsträger beider Gemeinden ihre Argumentation vortragen und
prüfen. Für die Jerusalemer sind das nach Paulus die »Geltenden« bzw. die »als
Säulen Geltenden« – der Herrenbruder Jakobus, Kephas/Petrus und der Zebe-
daide Johannes (Gal 2,2.6.9); für die Antiochener spricht v. a. Paulus selbst. Die
Übereinkunft erfolgt dann per Handschlag: »da gaben Jakobus und Kephas und
Johannes, die als Säulen Geltenden, mir und Barnabas die Rechte zur Gemein-
schaft« (Gal 2,9). Das entscheidende Ergebnis lautet: keine Auflagen (Gal 2,6)!
Was verbal vereinbart und bekräftigt wird, gewinnt an Titus sichtbare Gestalt, der
ohne Beschneidung wieder nach Hause reisen kann.
Zwei Zusatzvereinbarungen weiß Paulus noch mitzuteilen. Zum einen erken-
nen im Verlauf der Verhandlungen die Jerusalemer die Beauftragung des Paulus
zur Verkündigung unter Nichtjuden als gleichrangig zur Beauftragung des Petrus
unter Juden an und vereinbaren eine Art Aufteilung der missionarischen Zustän-
digkeiten: »wir zu den Völkern, sie aber zu den Juden« (Gal 2,9). Die Umsetzung
ist nicht ganz klar: Geht es um eine Aufteilung der Missionsgebiete im geographi-
schen Sinne oder geht es um eine gruppenspezifische Verantwortung für Juden
IV. Paulus als Heidenmissionar 107
trus vor der antiochenischen Gemeinde, die daraufhin wieder in die zwei Grup-
pen der Juden- und Heidenchristen auseinanderfällt. Petrus, der nach Lukas
selbst für die Mission unter Nichtjuden eintritt (Apg 10–11), hat inzwischen Jeru-
salem verlassen und sich der Gemeinde in Antiochien angeschlossen. Hier fügt
er sich jener Praxis ein, nach der Juden und Nichtjuden miteinander essen – was
in erster Linie das Herrenmahl, das noch als Sättigungsmahl begangen wird, be-
treffen dürfte. Sicher kann man voraussetzen, dass dabei nur koschere Speisen
verzehrt werden. Das Problem liegt in der Tischgemeinschaft als solcher, die
nach einer engen Auslegung der Tora untersagt ist; immerhin ist das Verhalten
der Antiochener nicht ohne Präzedenzen, die es in der liberaleren Diaspora be-
reits gibt. Während die Antiochener ihre bestehende Praxis nun zusätzlich durch
den Verzicht auf die Beschneidungsforderung legitimiert sehen, betrachten die
Jerusalemer dieses Verhalten als Übertretung der Tora, die von dem Kompromiss
in Sachen Beschneidung nicht gedeckt ist. Als die Jakobusleute eintreffen und
die antiochenische Praxis kritisieren, kündigt Petrus die Tischgemeinschaft wie-
der auf. Sein Verhalten hat Signalwirkung. Barnabas und die übrigen Judenchris-
ten schließen sich ihm an. Allein Paulus protestiert und tritt Petrus öffentlich
entgegen.
Zunächst greift Paulus den Petrus auf der Beziehungsebene an: Er unterstellt
ihm Inkonsequenz im Verhalten, kurz »Heuchelei«, die dazu führt, nicht mehr
»gerade zu gehen gemäß der Wahrheit des Evangeliums« (Gal 2,13 f.). Dem ent-
spricht indessen auch eine Inkonsequenz im Denken, weswegen Paulus nun in
der Folge auf die theologische Sachebene überwechselt: Zwar gilt, dass es einen
grundlegenden Unterschied zwischen »Juden« und »Sündern aus den Heiden«
gibt (Gal 2,15). Durch den Glauben an Christus aber haben beide einen neuen
Status vor Gott gewonnen, der nun auch die Gottferne der Heiden aufhebt. Die
Heidenchristen in der Gemeinde sind demnach keine »Sünder« mehr; deshalb
unterstellt Petrus, wenn er ihnen die Tischgemeinschaft aufkündigt, letztlich
Christus, ein »Diener der Sünde« zu sein (Gal 2,17). Die enge Auslegung der Spei-
sevorschriften, die jede Tischgemeinschaft verbietet, würde die christliche Ge-
meinde zu einer Zweiklassengesellschaft machen und dem »Glauben an Chris
tus« Zusatzbedingungen auferlegen. Deshalb gibt es für Paulus in dieser Frage
auch keinen Kompromiss mehr. Hier geht es nicht nur um eine pragmatische
Regelung, sondern um die »Wahrheit des Evangeliums« selbst. Denn die einzige
Möglichkeit der Heidenchristen, ihren minderen Status »nachzubessern«, be-
stünde erneut in der Beschneidung, die sie als Proselyten zu rechtsgültigen Tisch-
genossen ihrer jüdischen Schwestern und Brüder machte. Dann aber wäre tat-
sächlich »Christus vergeblich gestorben« (Gal 2,21).
Paulus kann den Galatern keine Entscheidung mitteilen. Der Streit bleibt zu-
nächst offen, und Paulus bricht im Unfrieden zu seiner zweiten Missionsreise auf.
Umso eindringlicher wiederholt er den Galatern gegenüber seine Argumentati-
on. Mit der an die Adresse des Petrus stilisierten Rede in Gal 2,14b–21 leitet er
zum Hauptteil des Briefes über, in dem die Frage nach der Gültigkeit der Tora
IV. Paulus als Heidenmissionar 109
dann auf grundsätzliche Weise erörtert wird. Vermutlich ist die Tischgemein-
schaft erst nach seiner Abreise durch eine Kompromissformel wie die im »Apo-
steldekret« (Apg 15,29) aufbewahrte wiederhergestellt worden. Auch hier hat sich
das Problem geschichtlich dann schon bald überholt. Für Paulus aber stellen sich
die Grundfragen seiner Theologie in diesem Konflikt noch einmal mit neuer
Schärfe dar.
Böttrich, Christfried: Petrus und Paulus in Antiochien (Gal 2,11–21), BThZ 19, 2002, 224–239.
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Christfried Böttrich
Gemeinhin verwendet man den Begriff »zweite und dritte Missionsreise« in der
neutestamentlichen Forschung als Bezeichnung für die Missionsaktivität des
Paulus in den Jahren nach dem sog. »Apostelkonvent«, auf dem die Grundregeln
im Hinblick auf die Mission unter den Nichtjuden festgelegt wurden, und vor
seiner Verhaftung in Jerusalem in der zweiten Hälfte der 50er Jahre – ein Zeit-
raum, der sich, je nach Datierung der Ereignisse, über fünf bis zehn Jahre er-
streckt. Bereits vor geraumer Zeit ist jedoch darauf hingewiesen worden, dass
dieser Begriff in gewisser Weise irreführend bzw. als regelrechte »Fehlbezeich-
nung« (Dunn 2009) anzusehen ist und nur mit Vorsicht gebraucht werden sollte.
Als Alternative ist die Bezeichnung »Ägäische Mission« vorgeschlagen worden,
doch ist damit lediglich die geographische Region bezeichnet, auf die sich Paulus
im genannten Zeitraum hauptsächlich konzentriert hat, ohne dass dabei die gan-
ze Breite seines Wirkens zum Ausdruck kommt. Informationen über diesen Ab-
schnitt im Leben des Paulus erhalten wir aus zwei Quellen: seinen Briefen (v. a.
1Thess, 1.2Kor, Gal) und der Apostelgeschichte (speziell Apg 15,36–21,16). Der Be-
richt in der Apostelgeschichte erweckt dabei durchaus den Eindruck, Lukas habe
zwischen einer zweiten und dritten Missionsreise unterschieden, doch sind die
Reisen nicht explizit nummeriert, und auch sonst unterscheidet Lukas kaum zwi-
schen ihnen. Gleiches gilt für Paulus selbst, der an keiner Stelle erkennen lässt,
110 B. Person
dass er seine Reisen nummeriert oder seine Missionstätigkeit sonst in einer ver-
gleichbaren Weise eingeteilt hätte.
Vergleicht man die beiden eben genannten Quellen, fällt auf, dass sich die hier
gebotenen Informationen nur teilweise decken, sodass es zu Spannungen kommt,
die bisweilen gar als komplette Widersprüche wahrgenommen werden, oder dass
es durch das Fehlen von doppelten Überlieferungen zu Problemen in der Bewer-
tung bestimmter singulär überlieferter Ereignisse kommt. Beide Aspekte bezie-
hen sich sowohl auf Fragen der Rekonstruktion der Reiseroute und des zeitlichen
Ablaufs als auch darauf, was diese Quellen über die von Paulus angewendeten
Missionsstrategien, die Absicht seiner Mission und über das Bild des Paulus als
Missionar des Christentums insgesamt aussagen. Über lange Zeit lag das Haupt-
augenmerk auf dem lukanischen Bericht als dem systematischeren und detailrei-
cheren. In den letzten Jahren ist in diesem Punkt jedoch ein Wandel eingetreten,
und die Mehrheit der kritischen Forschung gibt im Hinblick auf chronologische
und geographische Fragen sowie hinsichtlich des Inhalts und der Absicht der
Mission des Paulus nun den Briefen den Vorrang, obgleich die Informationen, die
aus den Paulusbriefen gewonnen werden können, zugegebenermaßen die frag-
mentarischeren sind. Während die Briefe in der kritischen Diskussion mit Recht
vorzuziehen sind, wäre es jedoch falsch, die aus der Apostelgeschichte gewon-
nenen Informationen prinzipiell zu verwerfen, auch dann, wenn diese nicht mit
den Briefen übereinstimmen bzw. diesen zu widersprechen scheinen. Mit der
notwendigen Umsicht können auch hier von Fall zu Fall wertvolle, die Briefe er-
gänzende Beobachtungen gemacht werden.
In Bezug auf die relative Chronologie der Missionsreisen in diesem späteren Le-
bensabschnitt des Paulus ist derzeit ein großer Forschungskonsens festzustellen.
Die Rekonstruktion einer absoluten Chronologie wird, zumindest in Teilen, mit-
hilfe zweier außerbiblischer Belege möglich: der Amtszeit Gallios als Prokonsul
von Achaia und der Vertreibung der Juden aus Rom infolge eines Ediktes des
Kaisers Claudius. Nach Apg 18,12 begegnet Paulus Gallio in Korinth. Die Amtszeit
Gallios als Prokonsul von Achaia lässt sich über eine in Delphi gefundene In-
schrift mit einiger Sicherheit auf die Zeit von Juli 51 bis Ende Juni 52 n.Chr. datie-
ren. Die Vertreibung der Juden aus Rom aufgrund des Claudius-Ediktes, auf die
Apg 18,2 Bezug nimmt, datiert der Geschichtsschreiber Orosius (5. Jh.) in das
neunte Regierungsjahr des Claudius (= 49 n.Chr.). Lukas berichtet hier von dem
Juden Aquila, der wegen dieses Ediktes »kürzlich«, also kurz vor Paulus, mit sei-
ner Frau Priszilla nach Korinth gekommen sein soll. Allerdings bleibt diese Infor-
mation von geringem Wert, weil die Quelle des Orosius nicht bekannt ist (die
Frühdatierung des Claudius-Ediktes in das Jahr 41 n.Chr. beruht auf einer Fehlin-
terpretation einer Passage bei Cassius Dio). So wichtig diese Belege sein mögen,
sie erlauben keine zweifelsfreie Chronologie für den gesamten Zeitraum, denn
IV. Paulus als Heidenmissionar 111
die Informationen in der Apostelgeschichte und den Briefen sind allzu oft nur
vage bzw. lückenhaft. Aus diesem Grund lässt sich keine wie auch immer geartete
Chronologie der Ereignisse für die Reise bis Korinth feststellen. Bestenfalls ist aus
dem lukanischen Bericht zu schließen, dass der betreffende Zeitraum ein Ab-
schnitt intensiver missionarischer Aktivität gewesen sein muss, in dem Paulus so
gut wie keine Zeit auf andere Dinge verwendet hat, doch ist der Bericht in der
Apostelgeschichte nur wenig hilfreich, wenn es darum geht zu ermitteln, wie lan-
ge Paulus von einer kleinasiatischen Stadt in die nächste gebraucht hat (obwohl
über die Annahme von Durchschnittsdistanzen, die zu Fuß bewältigt werden
konnten, vergleichsweise zuverlässige Schätzungen möglich sind) oder wie lange
er in Athen auf Timotheus und Silas gewartet hat (in diesem Fall sind keine zu-
verlässigen Schätzungen möglich). Und auch wenn Lukas berichtet, dass Paulus
»ein Jahr und sechs Monate« in Korinth geblieben ist (Apg 18,11), bleibt es den-
noch unmöglich zu sagen, wann genau er Gallio getroffen hat. Aus den Aussagen,
Paulus sei kurz vor Aquila und Priszilla nach Korinth gekommen und nach sei-
nem Treffen mit Gallio »noch eine Zeitlang« dort geblieben, ergibt sich ein im-
mer noch ziemlich großer zeitlicher Spielraum. Weiter kommt erschwerend hin-
zu, wie mit augenscheinlich genauen Zeitangaben umzugehen ist. Sind die »zwei
Jahre« in Ephesus (Apg 19,10; vgl. die »Nachlässigkeit« in Apg 20,13, wo von insge-
samt drei Jahren die Rede ist) wörtlich zu verstehen? Oder meinen die »zwei Jah-
re«, dass Paulus in das folgende Jahr hinein in Ephesus gewirkt hat – eine Aus-
drucksweise, die für die Antike durchaus bekannt ist? Trotz dieser Schwierigkeiten
hat die neutestamentliche Forschung immer wieder Chronologien entworfen, die
nicht zuletzt aufgrund derselben im Detail divergieren. Grundsätzlich können
zwei Typen von Chronologien unterschieden werden, ein kürzerer (3–5 Jahre)
und ein längerer (8 bzw. 9 Jahre), um den Lebensabschnitt des Paulus zwischen 48
und 57 n.Chr. in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen (vgl. Tabelle bei Dunn
2009, 499).
Die Briefe des Paulus bieten keine umfangreiche Beschreibung seiner Reiserou-
te wie in der Apostelgeschichte, doch enthalten sie wertvolle Informationen, die
sich teilweise mit der Apostelgeschichte decken. So erinnert Paulus in 1Thess 2,1;
3,1 daran, dass er vor Thessalonich in Philippi war und von Thessalonich weiter
nach Athen gereist war. Dies entspricht im Wesentlichen dem Bericht in Apg
16,11–17,34, mit der Ausnahme, dass Paulus den kurzen Aufenthalt in Beröa (Apg
17,10–15) nicht erwähnt und dass er Timotheus von Athen aus wieder nach Thes-
salonich schickt (1Thess 3,1 f.). Lukas berichtet hingegen, dass Timotheus, wäh-
rend Paulus nach Athen reist, gemeinsam mit Silas in Beröa zurückbleibt (Apg
17,14). Natürlich darf über derartige Differenzen nicht hinweggesehen werden,
doch sollten sie andererseits auch nicht zu der Einschätzung führen, Lukas liege
überall falsch. In 1Kor 16,8 deutet Paulus an, dass er von Ephesus aus schreibt, wo
er sich nach Apg 19,8.10 über zwei Jahre aufgehalten hat. Der Römerbrief ist ver-
mutlich in Korinth geschrieben (Röm 16,1), dem zweiten bevorzugten Aufent-
haltsort des Paulus, an dem er sich bei seinem ersten Besuch ebenfalls lange Zeit
112 B. Person
aufgehalten hat (Apg 18,11) und wenigstens zweimal dorthin zurückgekehrt ist
(2Kor 13,1; vgl. 2Kor 2,1 auf dem zweiten Besuch; vgl. auch Apg 20,2).
Allerdings sind diese eben genannten Belege nur Bruchteile des Ganzen. Große
Reiseabschnitte werden in den Briefen gar nicht erwähnt, doch dürfen sie aus
diesem Grund nicht einfach als fiktiv verworfen werden. So etwa findet sich kein
Wort über die ausgedehnte Reise nach Lykaonien und durch Phrygien und Gala-
tien (Letzteres bezieht sich wahrscheinlich auf die römische Provinz, die Teile von
Lykaonien und Pisidien mitumfasste und somit eher südlicher gelegen war als die
Region mit gleichem Namen) nach Troas, mit der Lukas den Bericht über die sog.
»zweite Missionsreise« eröffnet (Apg 15,36–16,10). Später hat sich Paulus jedoch
für lange Zeit in Ephesus aufgehalten und stand hier vermutlich mit Gemeinden
im »Hinterland« (vgl. 1Kor 16,1) in Kontakt, in jedem Fall schrieb er jedoch einen
Brief an die »Galater« (an keine bestimmte Stadt). Ebenso beschreibt Paulus
nicht, ob er jemals nach Antiochien oder weiter Richtung Osten zurückgekehrt
sei, wie es in der Apostelgeschichte der Fall ist, doch bietet er sich an einer Stelle
an, die Spenden, die für die Jerusalemer Christen gesammelt worden sind, selbst
nach Jerusalem zu bringen (1Kor 16,3 f.).
Mehr als einmal bietet der Reisebericht in der Apostelgeschichte eine bloße
Auflistung von Städten ohne Auskunft darüber, ob Paulus dort tatsächlich auch
gepredigt hat. Dies ist insbesondere in einigen »Wir-Passagen« der Fall (Apg 16,11;
20,13–15; vgl. aber auch 17,1). Paulus hatte keinen Grund, derartige Auskünfte in
den Briefen zu geben, wohingegen sie von einigem Wert für eine erzählerische
Darstellung seiner Reisen sind. Ebenfalls lässt sich mehr als einmal der Eindruck
gewinnen, Lukas beschreibe Paulus als planlos durch unterschiedliche Regionen
und Provinzen in Asien Umherstreifenden (Apg 16,6–8), der in Ephesus nur halt-
macht, um den längeren Aufenthalt, um den er gebeten wird, abzulehnen (Apg
18,19–21), der an derselben Stadt vorbeisegelt, um ihre Gemeinde dann zu ihm
nach Milet einzuladen (Apg 20,16 f.), der lieber den Landweg nimmt, während
seine Begleiter per Schiff reisen (Apg 20,13) oder offensichtlich grundlos nach
Antiochien und Palästina zurückkehrt und sofort wieder abreist (Apg 18,22). Es
gibt also Anlass, sich über einige Informationen im Speziellen (v. a. Apg 18,22)
und über das Gesamtbild der rastlos anmutenden Missionsreisen zu Lande und
zu Wasser im Allgemeinen zu wundern. Jedoch scheint es auch hier angemes-
sener, die Reiseroute als Ganze nicht von vornherein als fiktiv anzusehen. Den
Briefen ist das Bild des ohne klaren Plan Getriebenen und Wankenden (Paulus
entschuldigt sich dafür in 2Kor 1,15–16!) und der rastlosen Missionsreisen nicht
völlig unbekannt.
Lukas und Paulus zeichnen auch hier ein unterschiedliches Bild. Teilweise lassen
sich die Unterschiede ebenfalls wieder durch das unterschiedliche Genre, aber
auch durch das theologische Programm des jeweiligen Autors erklären. Doch las-
IV. Paulus als Heidenmissionar 113
sen sich einmal mehr auch interessante Parallelen aufzeigen. Die Mission des
Paulus kann unterschiedlichen Zwecken dienen. So kann eine Absicht darin lie-
gen, bereits existierenden Gemeinden einen erneuten Besuch abzustatten und sie
zu stärken, wie es bei der Reise nach Lykaonien (Apg 15,36) und der zweiten Reise
nach Galatien und Phrygien (Apg 18,23) der Fall ist. Diese Absicht erwähnt Paulus
auch in 1Thess 3,2.13. Hinzu kommt das Anliegen, Spannungen innerhalb der Ge-
meinde abzubauen (2Kor 2,1) und sie mit seinen eigenen Vorstellungen in Ein-
klang zu bringen (2Kor 12,19–21). Um mit den Gemeinden in Kontakt zu bleiben,
hat Paulus unterschiedliche Möglichkeiten genutzt. Persönliche Besuche des
Gründungsmissionars in der Gemeinde konnten sich entweder mit Besuchen von
Gesandten beider Seiten oder aber mit Korrespondenz abwechseln bzw. diese er-
gänzen. Ersteres ist in der Apostelgeschichte und den Briefen dokumentiert, wo-
bei das Hauptaugenmerk hier natürlich auf der Person des Paulus liegt. Daneben
wird der Leser jedoch auch darüber informiert, dass Paulus eine große Anzahl
von Begleitern hatte, die er zurücklassen (Apg 18,19 Aquila und Priszilla, die in
Ephesus zurückgelassen werden, wo sie mit Apollos einen neuen Missionar un-
terrichten, der dann nach Achaia [Korinth] geschickt wird [Apg 18,26 f.]), hinter
sich herbeordern (Apg 17,14 f.; 18,5 Timotheus und Silas), vorausschicken (Apg
19,22 Timotheus und Erastos, 1Kor 4,17; 16,10 Timotheus, 2Kor 12,18 Titus, 1Kor
16,12 Apollos, jedoch ohne Erfolg!) oder an einem bestimmten Ort treffen konnte
(2Kor 2,13; 7,6.13 Titus).
Ein großer Unterschied, der der Forschung weiterhin Probleme bereitet, ist die
Tatsache, dass Lukas die Briefe des Paulus mit keinem Wort erwähnt. Zwar mag
das Genre der Apostelgeschichte dafür verantwortlich sein, dass Lukas nicht aus
ihnen zitiert hat, aber er hätte doch zumindest erwähnen können, dass Paulus an
zahlreiche Gemeinden geschrieben hat. Stattdessen bietet Lukas verschiedene
Beispiele dafür, wie sich Paulus an ein Publikum bzw. eine Zuhörerschaft wendet.
Dieser Aspekt ist als solcher wiederum nicht in den Briefen erwähnt, doch ist
implizit davon auszugehen, wenn Paulus auf seine Belehrungen in den Gemein-
den während seines Aufenthalts bei ihnen Bezug nimmt. Beispielsweise lehrt Pau-
lus in der gesamten Zeit, die er sich in Ephesus aufhält (Apg 19,10). In jedem Fall
darf aus Lukas’ Schweigen bezüglich der Korrespondenz jedoch nicht geschlossen
werden, dass Paulus in diesen Jahren nicht auch Briefe geschrieben hätte. Das
Gegenteil ist der Fall, denn der bei Weitem größere und wichtigere Teil seiner
Briefe wurde in diesem Zeitabschnitt geschrieben, während seines ersten (1Thess)
und zweiten Aufenthaltes in Korinth (Röm), während des Ephesus-Aufenthalts
(1Kor) oder von Mazedonien aus auf dem Weg nach Korinth (vermutlich 2Kor
und Gal). Letztlich stimmen die Apostelgeschichte und Paulus jedoch in wenigs
tens einem Punkt überein: Paulus ist ein erfahrener Missionar, der in der Lage ist,
eine Zuhörerschaft anzusprechen, sei es mündlich oder schriftlich.
Doch gibt es weitere Unterschiede. Immer wieder wird in der Apostelgeschich-
te beschrieben, wie Paulus das Evangelium verkündet und sich mit den Juden in
der Synagoge auseinandersetzt, einschließlich der daraus resultierenden Ableh-
114 B. Person
nung (Apg 16,13–24; 17,1–9; 17,10–13; 18,4–10; 19,9, ausnahmsweise ohne Pro-
bleme), wohingegen sich eine derart detailreiche Schilderung dieser Vorgänge in
den Briefen nicht findet. Diese Beobachtungen müssen sich jedoch nicht notwen-
digerweise widersprechen, und gelegentlich wird sogar darauf angespielt (sowohl
1Thess 2,1 f. als auch 2Kor 11,24 beziehen sich auf solche Probleme, die nur so er-
klärt werden können, dass Paulus direkten Kontakt mit Juden hatte). Ebenso bil-
det sich auch die in der Apostelgeschichte beschriebene Offenheit des Paulus ge-
genüber Nichtjuden, Sympathisanten der Synagoge u.Ä., die ihrerseits offen für
seine Botschaft sind (Lydia in Philippi, Dionysius in Athen), nicht auf gleiche
Weise in den Briefen ab, doch steht sie dort als grundsätzliche Gegebenheit im
Hintergrund, wie es auch in Apg 20,21 der Fall ist (vgl. auch 1Kor 1,24; 10,32 f.; Gal
3,28). Dass Lukas Paulus nicht vollends an ein einziges Szenario gebunden sehen
will, wie es anhand seines Aufenthaltes in Athen deutlich wird (Apg 17,16–34),
wird von den Briefen nicht gestützt. Die Tatsache, dass das Szenario von der Be-
gegnung mit den Juden auf seinen ersten Besuch beschränkt bleibt und später
nicht mehr vorkommt, kann nicht positiv begründet werden, doch erscheint es
nicht ganz unwahrscheinlich, denn bei einem erneuten Besuch in einer Stadt
kann sich Paulus nun auf die lokale Gemeinde konzentrieren. Auf diese Weise
stellt es Paulus dar (die Briefe sind an die lokalen Gemeinden und nicht an die
Synagoge adressiert), und Lukas folgt ihm darin (Apg 16,1–5, obwohl Vorkeh-
rungen getroffen werden, um die Juden nicht zu verärgern; 20,7–12; 20,17–35 Pau-
lus schickt nach Gemeindevertretern aus Ephesus).
In der Apostelgeschichte kann die persönliche Note der Briefe selbstverständ-
lich nicht auf die gleiche Weise wiedergegeben werden, doch ist sie insgesamt
auch nicht völlig verloren. Dabei lässt sie sich nicht in den gewisser Weise lang-
weiligen »Wir-Passagen« finden, wie man es vielleicht vermuten könnte, sondern
kommt in denjenigen Passagen zum Ausdruck, in denen Paulus in der 1. Person
Sg. spricht, in Apg 17,22 f. (vgl. auch Apg 17,6), durch die gesamte Abschiedsrede
in Milet hindurch (v. a. Apg 20,33 f.; vgl. dazu 1Kor 9,9–12) und am eindrücklichs-
ten in Apg 21,13, der Antwort des Paulus an seine Begleiter am Ende der »dritten
Missionsreise«, in der Röm 15,30 f. anzuklingen scheint.
In den Briefen wird deutlich, dass Paulus v. a. ein Mann des Wortes ist. Dies
entspricht jedoch auch der Darstellung in der Apostelgeschichte. Beide Quellen
dokumentieren darüber hinaus jedoch noch weitere Aspekte seiner Missionsar-
beit. So heißt es von Paulus mitunter, er habe mit der Gemeinde das Brot gebro-
chen (Apg 20,7.11), eine Praxis, die auch hinter 1Kor 10,16 f. steht. Durch die Ver-
wendung der 1. Person Pl. wird hier jedoch der Eindruck erweckt, Paulus sei
selbst unter den Adressaten anwesend. Weiter heißt es auch, Paulus sei an der
Taufe von Mitgliedern der Gemeinde beteiligt gewesen (Apg 16,15.33; 18,8), und
er selbst habe ihnen die Hand aufgelegt (Apg 19,5 f.) Die Briefe berichten nichts
von Handauflegungen, doch scheint die Taufpraxis in Korinth zu einigen Schwie-
rigkeiten geführt zu haben (1Kor 1,13–17) – eine Bemerkung, die gleichzeitig die
Aussage in der Apostelgeschichte stützt, Paulus sei an Taufen beteiligt gewesen,
IV. Paulus als Heidenmissionar 115
ren, dass sein großes Projekt zerredet oder ganz und gar abgelehnt würde? Oder
hat Lukas hier etwa leise Kritik an Paulus einfließen lassen? Schließlich war die
Begrüßung Lukas zufolge nicht unbedingt die allerherzlichste, und auch die Be-
geisterung über das Ergebnis der Mission hielt sich in Grenzen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Paulusbriefe und die Apostelge-
schichte zusammen höchst wertvolle Informationen über die Aktivitäten des
Paulus auf dem Höhepunkt seines Lebens als Missionar bieten und beide zusam-
men im Ansatz die Vielfalt seiner missionarischen Aktivitäten herausstellen. In
diesen frühen Jahren als Missionar tätig zu sein, war beschwerlich, als Missionar
ein derart großes Gebiet abzudecken, wie Paulus es getan hat, entmutigend. Da-
von geben Lukas und Paulus selbst Zeugnis (vgl. v. a. 2Kor 11,28). Doch soweit es
Paulus betrifft, kam die missionarische Tätigkeit nicht mit »einer Reise und
einem Besuch« zum Stehen, wie es allein durch das Vorhandensein seiner Briefe
deutlich wird; und wie im Römerbrief angedeutet, scheint Paulus auch nicht die
Absicht gehabt zu haben, seine Aktivitäten nach der »dritten Missionsreise« ein-
zustellen und es dabei zu belassen – beides Aspekte, die sich auch bei Lukas fin-
den (vgl. die langfristige Planung in Röm 15,26–28 und Apg 19,21).
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Joseph Verheyden
(übersetzt von Bastian Lemitz)
In seinem wohl letzten Brief, geschrieben im Jahr 56 n.Chr. an die christliche Ge-
meinde in Rom, legt Paulus in Röm 15,22–33 seine unmittelbar anstehenden Rei-
sepläne dar. Vor einem Besuch in Rom und der sich daran anschließenden Missi-
on in Spanien will er von Korinth aus nach Jerusalem reisen, um der christlichen
Gemeinde in dieser Stadt, genauer den Armen unter den Heiligen, eine Kollekte
zu überreichen, die von den Gemeinden in Makedonien und der Achaia gesam-
melt worden ist. Die Apostelgeschichte spricht die Kollekte an keiner Stelle direkt
IV. Paulus als Heidenmissionar 117
an, scheint aber von ihrer Existenz zu wissen (Horn 2004). Vor allem die in Apg
20,4 erwähnte Reisebegleitung des Paulus nach Jerusalem durch prominente Ge-
meindeglieder aus Beröa, Thessalonich, Derbe, Lystra und der Asia legt nahe, dass
auch diese Gemeinden in einer Beziehung zur Kollekte stehen (Koch 1999a). Vor-
geschichte und Nachgeschichte dieser geplanten Übergabe sind nur ansatzweise
zu rekonstruieren. Einen Überblick über die verschiedenen Interpretationsmo-
delle der vermutlichen Absicht dieser Kollekte gibt David J. Downs (Downs 2008,
3–29).
In den Briefen an die makedonischen Gemeinden in Thessalonich und Philippi
wird die Kollekte nicht erwähnt, wohl aber in 1Kor 16,1–4; 2Kor 8–9; Gal 2,10 und
eben Röm 15,22–33. Allerdings zeigt die Erwähnung des Einsatzes der makedo-
nischen Gemeinden in 2Kor 8,1; 9,2.4, dass auch sie an der Kollekte beteiligt wa-
ren. Die Nichterwähnung im Philipperbrief wird von manchen auch als Hinweis
für eine Spätdatierung dieses Briefes nach Abschluss der Kollekte gewertet (Wed-
derburn 2002, 102). In dem in Gal 2,1–10 gebotenen Rückblick auf die Ereignisse
des Apostelkonvents spricht Paulus abschließend die Vereinbarung der antioche-
nischen Delegation (Barnabas, Paulus, Titus) mit den Jerusalemer Säulen (Jako-
bus, Kephas, Johannes) an, die im Kern eine Anerkennung der Heidenmission
und eine Aufteilung der Missionsgebiete beinhaltet (Gal 2,9). Nachgeschoben
wird der Hinweis auf eine Selbstverpflichtung der antiochenischen Gemeinde, an
die Armen (in Jerusalem) zu denken. Paulus ergänzt im Blick auf seine Person,
dass er sich stets um die Einhaltung dieser Verpflichtung bemüht habe.
In diesem Bericht über den Konvent fordert Paulus die galatischen Gemeinden
nicht erneut zur Sammlung oder Übergabe einer Kollekte auf. In 1Kor 16,1–4 al-
lerdings erwähnt er gegenüber der korinthischen Gemeinde, dass er auch in den
galatischen Gemeinden die Kollekte angeordnet habe. Ob die galatischen Ge-
meinden eine Sammlung bereits abgegeben haben, noch abgeben wollen, ob sie
ihre Erhebung eingestellt haben oder ob sie in der Folge des Zerwürfnisses mit
Paulus gänzlich Abstand von dem Projekt genommen haben, ist ungewiss. Röm
15,26 erwähnt eine galatische Beteiligung an der Kollekte nicht. Die Beantwortung
dieser Fragen hängt auch davon ab, wo man die galatischen Gemeinden ansiedelt.
Immerhin nennt Apg 20,4 zwei Vertreter südgalatischer Gemeinden als Mit-
glieder der Kollektendelegation. Wichtig sind die in 1Kor 16,1–4 und 2Kor 9,1–5
übermittelten Informationen über den Modus der Kollektensammlung. Über ei-
nen längeren Zeitraum hinweg sollen die Gemeindeglieder wöchentlich Geld zu-
rücklegen, sodass Paulus zu einem bestimmten Zeitpunkt eine größere Summe in
Empfang nehmen und überbringen kann.
Blicken wir aber zunächst zurück auf den Apostelkonvent und fragen, was hier
noch Genaueres zur Kollektenvereinbarung erhoben werden kann. Das Schwei-
gen der Apostelgeschichte in ihrem Bericht zum Konvent (Apg 15,1–35) lässt fra-
gen, ob Lukas absichtlich etwas übergehen möchte oder ob die Kollektenthematik
ursprünglich gar nicht oder zumindest nicht zentral mit dem Konvent in Verbin-
dung zu bringen ist. Bereits Apg 11,27–30 berichtet über eine vorgängige Hilfsak-
118 B. Person
tion der antiochenischen Gemeinde für die Jerusalemer Urgemeinde und verbin-
det ihre Übergabe an die Ältesten dort mit den Namen des Barnabas und des
Paulus. Gegenüber der älteren Annahme, diese Notiz als völlig unhistorisch zu
betrachten, reflektiert dieser Text und wohl auch Apg 4,36 f. frühe karitative Hilfs-
maßnahmen seitens der antiochenischen Christen für Jerusalem. Die Sammlung
wird in Apg 11,28 konkret motiviert durch eine Hungersnot in Judäa, von der
auch Josephus weiß und die er im Vorfeld des Konvents im Sabbatjahr 47/48
n.Chr. ansiedelt (Flav.Jos.Ant. XX 101; aber auch Tac.ann. XII 43). Hingegen er-
scheint die Annahme überzogen, in der Kollekte einen Bestandteil eines formellen
verfassungsartigen Vertrages zwischen Jerusalem und Antiochia zu sehen (so aber
Georgi 1994, 13–30).
Der Einsatz des Paulus für diese Kollekte nimmt in erheblichem zeitlichem Ab-
stand zum Apostelkonvent in der Mitte der 50er Jahre eine dringliche Gestalt an.
Der Apostel zeichnet jetzt nicht mehr verantwortlich als antiochenischer Delegat
wie noch auf dem Konvent, sondern als selbstständiger Heidenapostel, und er
gibt der Kollekte neben ihrem karitativen Aspekt eine klare theologische Bedeu-
tung im Blick auf die Verhältnisbestimmung von Juden(christen) und Heiden-
christen. Möglicherweise stellen 2Kor 8 und 2Kor 9 im Kern zwei ›Verwaltungs-
briefe‹ des Paulus dar, geschrieben an die Gemeinde in Korinth und an die Chris-
ten in der Achaia. Beide Brieffragmente sind ausführliche Stellungnahmen zur
Durchführung und Absicht der Kollekte und dienen auch dem Ziel, die Kollekte
bald abzuschließen (dazu Betz 1993; Lindemann 2005, 107–111).
Die anstehende Übergabe der Kollekte in Jerusalem verbindet Paulus in der
Sprache agonistischer Metaphorik mit einer existentiellen Sorge um sein von der
jüdischen Gemeinde bedrohtes eigenes Leben, und er stellt die Frage, ob die Kol-
lekte wohl überhaupt von der judenchristlichen Gemeinde angenommen werden
wird (Röm 15,30–32). Beide Ängste sind zu verstehen vor dem Hintergrund einer
zunehmenden Distanzierung der Jerusalemer Juden und Judenchristen von dem
Heidenchristentum, und sie geben einem kursierenden Antipaulinismus Aus-
druck (vgl. etwa Apg 21,28). Ob die Kollekte nach der Ankunft in Jerusalem über-
haupt angenommen wurde, ist ungewiss. Unter einem undurchsichtigen Vor-
wand (Apg 21,29), der von antipaulinisch eingestellten Judenchristen aus der Asia
vorgetragen wurde und sich auf Trophimus, ein heidenchristliches Mitglied der
Kollektendelegation (Apg 20,4) bezog, wird Paulus verhaftet und gefangen ge-
nommen. Da der Umfang der Kollekte als Ergebnis der jahrelangen Sammlung
etlicher Gemeinden, überbracht von einer förmlichen Delegation, erhebliche
Geldmittel beinhaltet haben muss, wird vermutet, dass Paulus die Geldmittel,
vielleicht ersatzweise, zumindest teilweise für die kostspielige Auslösung etlicher
Nasiräer eingesetzt hat (Koch 1999a, 330 f.).
Die Kollekte mag ursprünglich wesentlich durch die wirtschaftliche Not der
Jerusalemer Gemeinde (Röm 15,26) bzw. judäischer Gemeinden (Apg 11,28) mo-
tiviert worden sein, und sie stellte eine soziale Verpflichtung der antiochenischen
Gemeinde gegenüber der Jerusalemer Muttergemeinde dar (Berger 1977, 197 f.).
V. Das Ende des Paulus 119
1.1. Problemaufriss
Der Prozess des Paulus, also die Ereignisse von der Verhaftung des Apostels im
Jerusalemer Tempel (Apg 21,27) über die Verhandlungen in Jerusalem und Cä-
sarea Maritima (Apg 22–26) bis hin zu seiner Überstellung nach Rom (Apg 27 f.),
wirft in der Forschung bis heute viele Fragen auf. Das hängt insbesondere damit
zusammen, dass er ausschließlich durch die Apostelgeschichte bezeugt ist (Apg
21–28), deren Quellenwert bekanntlich umstritten ist (Roloff 1981, 6–10; Fitz
myer 1998, 124–128). Darüber hinaus scheinen Einzelzüge des Verfahrens, v. a. der
Akt der Berufung auf den Kaiser (Apg 25,10 f.), nicht durch andere Rechtsquellen
bestätigt und werden daher – abhängig von der Entscheidung der Frage des Ge-
schichtswertes – entweder als singulär (z. B. Mommsen 1901; Litewski 1982, 68)
oder unhistorisch (z. B. Stegemann 1987, 212 f.; Schmithals 1982, 219; Noeth-
lichs 2000, 78 f.) erachtet. Eng damit verbunden ist die Frage, ob und inwiefern
120 B. Person
Paulus’ Status als römischer Bürger die rechtliche Grundlage seiner Überstellung
nach Rom war.
Methodisch ist daher im Folgenden zwischen der lukanischen Darstellung des
Prozesses (dazu u. a. Radl 1975; Rapske 1994; Rosenblatt 1995; Skinner 2003;
Heusler 2000) und der Rückfrage nach juristischen Details der Paulusbiogra-
phie (z. B. Tajra 1989; Omerzu 2002) zu trennen. Dazu ist eine präzise Erfassung
der zeitgenössischen Rechtsgrundlagen wie -praxis erforderlich, da zu beachten
ist, dass in der frühen Kaiserzeit das republikanische Recht – zumindest faktisch
– nicht mehr, hingegen das unter Justinian im 6. Jh. kodifizierte Recht der hohen
Kaiserzeit u. U. noch nicht in Kraft war (Omerzu 2002, 83.107–109 u. ö.).
Sowohl Paulus als auch Lukas bezeugen, dass der Apostel bereits vor der letzten
Jerusalemreise wiederholt inhaftiert (vgl. 2Kor 6,5; 11,23; Apg 16,23–40) und ange-
klagt wurde (vgl. Apg 16,19–22; 17,5–9; 18,12–17). Während Paulus selbst keine ge-
nauen Angaben über die Hintergründe macht, basieren die früheren Konflikte in
der Apostelgeschichte (dazu Omerzu 2002, 111–274) auf Tumulten, die als Reakti-
on auf die paulinische Missionspredigt entstanden sind, was im Kern historisch
sein mag. Die Verhaftung in Jerusalem führt Lukas hingegen auf ein konkretes
Ereignis im Jerusalemer Tempel zurück: Einige Juden aus Kleinasien beschuldi-
gen Paulus, er habe nicht nur weltweit gegen das jüdische Volk, das Gesetz und
den Tempel gehetzt, sondern außerdem Nichtjuden in den inneren Tempelbe-
reich geführt und diesen somit entweiht (Apg 21,28). Auf dieses Vergehen stand
nach jüdischem Recht die Todesstrafe, was auch durch Steintafeln an den Über-
gängen vom äußeren zum inneren Vorhof angezeigt wurde (OGIS II 598; CIJ II
1400; vgl. Barrett 21991, 60; Flav.Jos.Bell. V 194; VI 124–126; Ant. XV 417; Philo
legat. 212; mKel I 8c). Es ist anzunehmen, dass selbst römische Bürger dieser Re-
gelung unterlagen (anders Noethlichs 2000, 78) und das Verfahren auch wäh-
rend der römischen Oberherrschaft über Judäa – als Sonderregelung für den
Tempelbereich – zumindest noch soweit in jüdischen Händen lag, dass der jü-
dische Hohe Rat ein entsprechendes Todesurteil fällen, wenngleich auch nicht
vollstrecken durfte (K. Müller 1988, 66–74; Omerzu 2002, 345–352).
Da der Vorwurf der Tempelentweihung der redaktionellen Tendenz des Lukas
widerspricht, Paulus als gesetzestreuen Juden zu zeichnen, könnte sich darin
durchaus der historische Anlass der Ergreifung spiegeln. Allerdings dürfte diese
kaum auf einem tatsächlichen Vergehen dieser Art, sondern vielmehr auf einem
Missverständnis oder einer Verleumdung basieren. Laut Röm 15,31 fürchtete Pau-
lus um das Gelingen der Kollektenübergabe in Jerusalem, und laut Apg 21,18–26
befand er sich bei seiner Ergreifung anlässlich eines Frömmigkeitsbeweises im
Tempel, um Gerüchte über den antijüdischen Charakter seiner Predigt zu ent-
kräften. Der Tempelbesuch des Paulus könnte daher evtl. auf einen Kompromiss
mit der Urgemeinde zurückgehen, um so das Kollektenwerk (vgl. 1Kor 16,1–4;
V. Das Ende des Paulus 121
2Kor 8–9; Röm 15,25 f.) – das von Lukas vielleicht wegen dessen Scheiterns nir-
gends explizit erwähnt wird (vgl. aber Apg 24,17) – zu sichern (Horn 1997; Omer-
zu 2002, 289–308). Allerdings waren die Ressentiments einiger Juden gegenüber
Paulus offensichtlich so stark, dass sie sein bloßes Erscheinen im Tempel mit der
sicheren Erwartung eines Gesetzesbruchs verbanden. Ihr Verdacht, Paulus habe
ein Sakrileg begangen, wurde evtl. dadurch genährt, dass sie ihn kurz zuvor in
Begleitung eines Nichtjuden gesehen haben – so jedenfalls der Erzählerkommen-
tar in Apg 21,29 (Omerzu 2002, 352 f.). Da die kleinasiatischen Kläger, deren Kon-
flikt mit Paulus u. U. bereits auf dessen Wirksamkeit in Ephesus zurückging
(Omerzu 2002, 316–331; 2009, 314–325), weder den vermeintlichen Begleiter des
Paulus, Trophimus, noch Augenzeugen für die Tat beibringen konnten, wurde die
Anklage im Laufe des Prozesses auf den Versuch der Tempelschändung (Apg
24,6) bzw. auf das allein in römischer Kompetenz liegende Delikt der Unruhestif-
tung (seditio) verlagert (Omerzu 2002, 355.436–439).
Der durch die Anschuldigung entstandene Tumult im Tempelhof veranlasste
laut Apg 21,31–36 das Einschreiten der Römer, denen die Aufrechterhaltung der
öffentlichen Ordnung in der gesamten Stadt oblag. Im Verlauf eines Vorverhörs
durch den Oberst der Jerusalemer Garnison, Claudius Lysias, berief sich Paulus
auf sein römisches Bürgerrecht, um eine drohende Folter zu verhindern (Apg
22,22–29). Hier findet sich ein Nachhall des republikanischen Berufungsmittels
provocatio ad populum, das in Form der Lex Iulia de vi publica (vgl. Dig. 48,6,7.8;
Paul. sent. 5,26,1 f.) bis in die Kaiserzeit Gültigkeit hatte und u. a. Folter als reine
Polizeimaßnahme gegen römische Bürger verbot. Dementsprechend hebt Paulus
in Apg 22,25 auch insbesondere auf das fehlende Urteil ab (Apg 16,37 f. ist wohl
eine sekundäre Nachbildung von Apg 22,25–29; zum Provokationsrecht Bleicken
1959, 2445–2456; 1962; Lintott 1972, 235–262; Omerzu 2002, 64–82). Auch wenn
sich nicht mit Gewissheit sagen lässt, inwieweit Lukas Einzelzüge dieser Szene
gestaltet hat, wird doch historisch zutreffend sein, dass Paulus sich bald nach sei-
ner Verhaftung auf sein römisches Bürgerrecht berufen hat (anders z. B. Stege-
mann 1987, 204–206; Noethlichs 2000, 82).
Auch der weitere Prozessverlauf in Apg 22–26 wird in Kernzügen, z. B. hinsicht-
lich der Inhaftierung in Cäsarea (Apg 23,35) und der Begegnungen mit den Statt-
haltern Felix (Apg 24) und Festus (Apg 25 f.) historisch sein, während v. a. die
Anklage- und Verteidigungsreden auf die schriftstellerische Leistung des Lukas,
nicht etwa auf authentische Prozessaufzeichnungen (so aber z. B. Winter 1993;
Witherington III 1998a, 702) zurückgehen.
Von Apg 22,30 an tritt das Synhedrium an die Stelle der kleinasiatischen Juden, in
23,1–10 zunächst als richterliches Gremium, ab 24,1 dann als Vertreter der Ankla-
ge. Auch wenn der Hohepriester die Oberaufsicht über den Tempel hatte, kam
122 B. Person
ihm bzw. dem Synhedrium im Prozess des Paulus kaum eine richterliche Funkti-
on zu, und die Verhörszene in 23,1–10 verdankt sich lukanischer Redaktion, u. a.
im Dienst einer Angleichung an den Prozess Jesu (vgl. Lk 22,63–71). Die Funktion
als private Ankläger in einem römischen Strafverfahren (Apg 24,1–9; 25,5; vgl.
24,19 zum Ausbleiben der ursprünglichen Kläger) wird hingegen die historische
Rolle der jüdischen Vertreter im Prozess des Paulus widerspiegeln (Omerzu 2002,
390–394.449–451).
1.4. Verhandlungen vor den Statthaltern Felix und Festus (Apg 24,1–25,12)
Nach der Überführung des Paulus von Jerusalem in die Provinzhauptstadt Cä-
sarea Maritima wurde er im Amtssitz des Statthalters in Verwahrung genommen
(Apg 23,35; vgl. Rapske 1994, 170, zur Nutzung von Prätorien als Gefängnis). Zwar
fand dort wohl bald eine formelle Anklage gegen Paulus durch eine Delegation
führender Vertreter des Judentums statt (Apg 24,1–9), doch der Statthalter und
somit zuständige Richter Antonius Felix fällte kein Urteil, sondern verschleppte
den Fall zwei Jahre lang bis zu seiner Abberufung (24,22–27). Sowohl die bereits
erwähnte Verlagerung der Anklage von religiösen auf politische Delikte (Apg 25,5:
seditio/Aufruhr) als auch die negative Zeichnung des Felix (vgl. Tac.ann. XII 54;
hist. V 9; Flav.Jos.Ant. XX 160–181; Bell. II 252–270) dürfte authentische Erinne-
rung widerspiegeln. Unter seinem Nachfolger Porcius Festus wurde das Verfahren
des Paulus auf Initiative der Juden wieder aufgenommen (Apg 25,1–12). Als der
Statthalter jedoch eine Beteiligung der Juden am Verfahren erwog (25,9), sprach
Paulus die folgenschweren Worte: ». . . Ich stehe vor dem Richterstuhl des Kaisers,
wo ich auch gerichtet werden muss . . . Habe ich aber unrecht gehandelt und etwas
Todeswürdiges getan, weigere ich mich nicht zu sterben. Wenn aber nichts an
dem ist, wessen diese mich verklagen, kann mich ihnen niemand als Gunsterweis
preisgeben. Ich berufe mich auf den Kaiser!« (Apg 25,10 f.).
Die Appellation des Paulus wird – wie bereits erwähnt – in der Forschung oft
als analogielos angesehen, weil sie noch vor einem Urteilspruch sowie mündlich
und direkt an den Kaiser erging, während man an sich annimmt, dass Berufungen
in der Kaiserzeit in schwebenden Verfahren unzulässig und grundsätzlich nur un-
ter Einhaltung des Instanzenweges möglich waren (vgl. Dig. 49; Litewski 1982;
Omerzu 2002, 84–92). Wenn die Nachricht der Apostelgeschichte daher entweder
als Sonderfall einer sonst nicht bezeugten Praxis (z. B. Kipp 1895, 197; Mommsen
1901, 95 f.; Jones 1960, 69; Litewski 1982, 68.81) oder aber als unhistorisch ange-
sehen wird (z. B. Schmithals 1982, 219; Stegemann 1987, 212 f.; Noethlichs
2000, 79. Garnsey 1966, 182–185 und Haacker 1995, 837, gehen von reiectio iudi-
cii, einer Zurückweisung des Richters aus), werden die spezifischen Rechtsver-
hältnisse des frühen Prinzipats nicht hinreichend berücksichtigt. Eine zusätzliche
Schwierigkeit stellt dar, dass sowohl in der Republik als auch im Prinzipat mehre-
re Begriffe für die Berufung erscheinen, die jeweils unterschiedliche Schutzbe-
V. Das Ende des Paulus 123
teilsspruch Berufung eingelegt, sondern gegen ein von Festus verhängtes Todes-
urteil wegen Unruhestiftung (seditio) appellierte (Omerzu 2002, 493 f.; das in Apg
25,8 implizierte crimen maiestatis dürfte eine Angleichung an den Prozess Jesu
sein, vgl. Lk 23,2 f.37 f. und aaO. 477–480). Dies hat Lukas wohl aus apologetischen
Gründen verschwiegen, um weder den römischen Beamten noch Paulus in ein
negatives Licht zu stellen.
Die Begegnung des Paulus mit dem jüdischen König Agrippa II. in Apg 25,13–
26,32 beruht vermutlich nicht auf historischer Erinnerung, sondern stellt eine
weitere redaktionelle Angleichung an den Prozess Jesu dar (vgl. Lk 23,6–12; vgl.
aber für die Möglichkeit einer umgekehrten Traditionsabhängigkeit Omerzu
2003).
Festus gab der Appellation vermutlich statt (Apg 25,12) und sandte Paulus nach
Rom, wo dieser ca. 60 n.Chr. ankam und laut Apg 28,16–31 zwei Jahre in leichter
Haft verbrachte. Über den weiteren Verlauf des Prozesses schweigt die Apostelge-
schichte jedoch, und es fehlen andere Quellen. Hält man die Appellation für his
torisch, ist anzunehmen, dass Kaiser Nero das Todesurteil des Festus bestätigte
und Paulus daraufhin hingerichtet wurde (Omerzu 2002, 508), wohingegen eine
Freilassung oder ein natürlicher Tod während der Haft unwahrscheinlich sind
(Omerzu 2001; zur Möglichkeit, dass Paulus Opfer der Verfolgungen unter Nero
wurde: Ebel 2012, 116 f.).
Hengel, Martin, unter Mitarbeit von Deines, Roland: Der vorchristliche Paulus, in: Ders./
Heckel, Ulrich (Hg.): Paulus und das antike Judentum (WUNT 58), Tübingen 1991, 177–291.
Noethlichs, Karl-Leo: Der Jude Paulus – ein Tarser und Römer?, in: Haehling, Raban von
(Hg.): Rom und das himmlische Jerusalem. Die frühen Christen zwischen Anpassung und
Ablehnung, Darmstadt 2000, 53–84.
Omerzu, Heike: Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung
der Apostelgeschichte (BZNW 115), Berlin/New York 2002.
Stegemann, Wolfgang: War der Apostel Paulus ein römischer Bürger?, ZNW 78, 1987, 200–229.
Tajra, Harry W.: The Trial of St. Paul. A Juridical Exegesis of the Second Half of the Acts of the
Apostles (WUNT II 35), Tübingen 1989.
Heike Omerzu
Über die Umstände der letzten Lebensjahre des Paulus ist wenig bekannt (Omer-
zu 2002). Die Hauptquelle im Neuen Testament ist die Apostelgeschichte, deren
letzte Notiz über eine zweijährige ungehinderte Evangeliumsverkündigung des
Paulus in römischer Gefangenschaft im Blick auf das Ende des Apostels die Frage
aufwirft: Ist er nach diesen zwei Jahren freigekommen oder hingerichtet worden?
V. Das Ende des Paulus 125
Lukas erwähnt weder das eine noch das andere. Der offene Schluss der Apostelge-
schichte hat in Verbindung mit Hinweisen aus der paulinischen Briefliteratur be-
reits in der Alten Kirche zu der Annahme geführt, Paulus sei aus der in Apg 28
erwähnten römischen Gefangenschaft wieder freigekommen und habe – wie in
Röm 15,22–24 in Aussicht genommen – in Spanien missioniert (Tajra 1994;
Wander 2001). Auch die ausdrückliche Begrenzung des Romaufenthalts auf zwei
Jahre (Apg 28,30) wurde als Indiz für einen günstigen Ausgang der kaiserlichen
Anhörung gewertet. Der Schluss des 2. Timotheusbriefs scheint die Annahme ei-
ner Freilassung in Rom zu unterstützen. Dieser Brief setzt eine Gefangenschaft
des Paulus in Rom voraus (1,15–18), erwähnt in 4,16 f. eine »erste Verteidigung«
und spricht vom Beistand des Herrn, der ihn »aus dem Rachen des Löwen erret-
tet« habe. Liest man dies vor dem Hintergrund Apg 28,21, wonach die Leiter der
jüdischen Gemeinde in Rom keine Anklage gegen Paulus aus Jerusalem erhalten
haben, dann liegt die Annahme nahe, die Anklage gegen Paulus sei fallen gelassen
worden.
Die wichtigsten Hinweise auf eine Freilassung und erneute Mission werden zu-
meist der altkirchlichen Überlieferung entnommen.
1) Bereits um 100 n.Chr. schreibt der römische Bischof Clemens an die korin-
thische Gemeinde, Paulus sei »[. . .] ein Botschafter geworden im Osten und im
Westen« und habe »[. . .] den edlen Ruhm seines Glaubens empfangen. Gerechtig-
keit hat er die ganze Welt gelehrt und ist bis zur Grenze des Westens gekommen
und hat Zeugnis abgelegt vor den Machthabern; so hat er die Welt verlassen und
ist an den heiligen Ort aufgenommen worden, indem er zum größten Vorbild der
Geduld wurde« (1Clem 5,7). Versteht man die Wendung »bis zur Grenze des Wes
tens« als Hinweis auf Spanien, so scheint auch hier eine Freilassung nach einer
ersten römischen Gefangenschaft und eine Spanienmission vorausgesetzt (Löhr
2001).
2) Während die apokryphen Paulusakten (Ende des 2. Jh. n.Chr.) nur von einer
Romreise und dem Martyrium des Apostels berichten, erzählen die Acta Petri
(Actus Vercellenses 1–3) legendenhaft unter Voraussetzung der biblischen Über-
lieferung und wohl auch des 1. Clemensbriefs von der Abreise des Paulus aus Rom
zur Spanienmission aufgrund einer Vision.
3) Im Kanonverzeichnis Muratori (um 200 n.Chr.) findet sich die Bemerkung,
Lukas habe zwar die Taten der Apostel zusammengefasst, dabei jedoch das Leiden
des Petrus und die Spanienreise des Paulus bewusst ausgelassen (Z. 34–39).
4) Ein sekundärer Schluss der Apostelgeschichte in der äthiopischen Textüber-
lieferung ergänzt, Paulus habe seinen Prozess gewonnen und sei nach einer grö-
ßeren Reise nach Rom zurückgekehrt und erst aufgrund der Taufe von Mitglie-
dern der kaiserlichen Familie (vgl. Phil 4,22) erneut angeklagt und enthauptet
worden (Uhlig 1989).
5) Der Kirchenhistoriker Eusebius von Cäsarea (4. Jh.) schließlich hat aus der
Kombination von Apg 28 und 2Tim 4,16 f. abgeleitet, Paulus sei aus der (ersten)
römischen Gefangenschaft freigekommen und »wiederum auf Missionsreisen ge-
126 B. Person
gangen [. . .], um dann noch ein zweites Mal die gleiche Stadt zu betreten und in
seinem Martyrium zur Vollendung zu kommen« (h.e. II 22,2). Eusebius erwähnt
jedoch Spanien als Reiseziel des Apostels nach seiner Freilassung nicht. In seinem
Resümee über die Ausbreitung der Mission verweist er in h.e. III 4,1 auf Röm
15,19, wo Paulus selbst lediglich über seine Mission von Jerusalem bis Illyrien
(nordwestlich von Makedonien) spricht.
Problematisch ist bei diesen Überlieferungen die historische Auswertung der
biblischen Belege. Im Blick auf 2Tim 4 ist dies nicht nur aufgrund der sprach-
lichen Unschärfe des Textes, sondern auch wegen der Beurteilung des 2. Timo-
theusbriefs als eines pseudepigraphischen Briefes schwierig. Darüber hinaus ist
bei der Paulusdarstellung der Apostelgeschichte zu berücksichtigen, dass Lukas
nicht historisch umfassend berichtet, sondern ein missionsgeschichtliches Kon-
zept entwickelt, das die Verbreitung des Evangeliums von Jerusalem »bis an das
Ende der Erde« schildert (Apg 1,8). Anlass der Überführung des Apostels nach
Rom war nach Lukas ein Konflikt mit der jüdischen Führung in Jerusalem, der
Paulus veranlasste, unter Berufung auf sein römisches Bürgerrecht an das kaiser-
liche Gericht zu appellieren, um sich gegenüber den Anschuldigungen der Jerusa-
lemer Ankläger zu rechtfertigen (Apg 28,17–20). Die Haftumstände in Rom wer-
den von Lukas als ein bewachter Hausarrest mit relativ großen Freiheiten be-
schrieben (28,16.30 f.). Der Ausgang des römischen Aufenthaltes des Paulus ist
dem lukanischen Missionskonzept gemäß gestaltet, indem die Erzählung mit
dem Hinweis auf die ungehinderte Verkündigung des Evangeliums schließt (Apg
28,31) und sich damit die Verheißung von Apg 1,8 (vgl. 13,47) erfüllt. Während in
der Regel Spanien aufgrund antiker geographischer Konventionen (z. B. Lucanus,
Pharsalia III 454) als das westliche »Ende der Erde« angesehen wird, korreliert
Lukas innerhalb seiner Darstellung zunächst Rom mit dieser Wendung, auch
wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass 1,8 und 13,47 über den literarischen
Schluss der Apostelgeschichte hinausweisen. Doch ließe sich daraus kein Hinweis
auf eine tatsächliche Fortsetzung der Missionsarbeit durch Paulus entnehmen, da
damit lediglich eine literarisch-konzeptionelle Vision und keine personenbezo-
gene historische Beschreibung vorläge. Selbst die Formulierung τέρμα τῆς δύσεως
in 1Clem 5,7 könnte im Sinne von »bis an die Grenze zum Westen« verstanden
werden und auch aus der Perspektive des 1. Clemensbriefs die Stadt Rom meinen;
sie muss daher nicht zwingend als Hinweis auf eine Spanienmission gedeutet
werden (Lindemann 1992a, 39). Auch die Petrusapokalypse benennt Rom als
»Stadt des Westens« (ApkPetr 14). Die Notiz des Clemens bestätigt also die luka-
nische Aussage in Apg 1,8 von der Mission »bis an das Ende der Erde« nicht im
Sinne einer Spanienmission (so Ellis 1991), sondern nimmt allenfalls die Inten-
tion von Apg 1,8 auf (Delling 1973, 202). Somit ist keine dieser Aussagen histo-
risch belastbar. Auch Eusebius konstruiert an der oben zitierten Stelle aus den
biblischen Texten, ohne dabei jedoch auf den 1. Clemensbrief zu rekurrieren, ob-
wohl dieser ihm nachweislich bekannt war.
V. Das Ende des Paulus 127
Die Annahme einer weiteren Phase der paulinischen Mission nach einer ersten
römischen Gefangenschaft ist v. a. für diejenigen von Bedeutung, die die Pastoral-
briefe als authentische Briefe des Paulus ansehen, da sie sich sonst nicht in die
bekannte Chronologie einordnen lassen (bes. Metzger 1976). Zwar ließe es die
Darstellung der Haftsituation des 2. Timotheusbriefs durchaus zu, diesen Brief
unter Voraussetzung seiner Echtheit in die (erste) römische Gefangenschaft zu
datieren, aber auch aus diesem Brief lässt sich kein eindeutiges Bild über die Situ-
ation des Paulus gewinnen. 2Tim 4,6–8 spricht bereits recht deutlich von der un-
mittelbaren Erwartung des Todes, doch der persönliche Schluss in V. 9–22 ließe
sich zumindest ansatzweise im Sinne einer gewissen Zuversicht auf weitere Mis-
sionsmöglichkeiten deuten (vgl. Phlm 22), die allerdings unkonkret bleiben. Ge-
rade unter pseudepigraphischen Vorzeichen ist diese Unklarheit auffällig, denn
wenn es ein Wissen um die Freilassung des Apostels und eine erneute Mission
gegeben hätte, dann wäre hier ein deutlicherer Hinweis – etwa in Anlehnung an
Röm 15,22–24 – zu erwarten gewesen, als dies dem traditionellen Rettungsmotiv
von 2Tim 4,17 f. entnommen werden kann. Darüber hinaus ist eine Spanienmis-
sion auch für den nach dem 1. Timotheus- und dem Titusbrief vorauszusetzenden
Teil der Missionsgeschichte nicht relevant. Demgegenüber würden der 1. Timo-
theusbrief und der Titusbrief unter Voraussetzung ihrer Authentizität eine erneu-
te Tätigkeit des Paulus im östlichen Mittelmeerraum voraussetzen (genannt wer-
den in 1Tim 1,3 Ephesus und Makedonien sowie in Tit 1,5 Kreta), die nicht in der
bekannten vorrömischen Missionsgeschichte verortet werden kann (von Har-
nack 1911, 72). Auch ist von Missionsarbeit im Sinne der Evangeliumsverkündi-
gung nicht die Rede.
Trotz der (missionstheologisch motivierten) Pläne des Apostels in Röm 15, der
Offenheit des Schlusses der Apostelgeschichte sowie der in Verbindung mit 2Tim
4 potentiellen Konstruktionsmöglichkeiten muss daher festgehalten werden, dass
eine Spanienmission des Paulus ebenso wenig wahrscheinlich gemacht werden
kann wie eine Freilassung aus der römischen Haft. Weder Lukas noch der 2. Ti-
motheusbrief noch Clemens von Rom noch der Historiograph Eusebius nennen
explizit Spanien als Missionsziel, obwohl ihnen dies aus dem Römerbrief bekannt
gewesen sein dürfte. Es ist also davon auszugehen, dass Paulus seine Missionsplä-
ne von Röm 15 nicht in die Tat umsetzen konnte.
Für eine historische Rekonstruktion der letzten Lebensjahre des Paulus bieten
somit weder die neutestamentlichen noch die altkirchlichen Texte eine hinrei-
chende Grundlage. Letztere füllen Leerstellen in der Überlieferung auf und ver-
binden dies mit legendarischen und martyrologischen Aspekten. Alle altkirch-
lichen Autoren konstruieren die nach dem Schluss der Apostelgeschichte liegende
Geschichte des Paulus ohne Ausnahme aufgrund einer Kombination neutesta-
mentlicher Texte. Auch wenn Lukas davon nichts berichtet, so ist es historisch
wahrscheinlich, dass der Prozess gegen Paulus im Verlauf seines zweijährigen
Romaufenthaltes eine negative Wendung genommen hat und dass »nach diesen
zwei Jahren [. . .] eine Veränderung ein[trat], deren Anlaß wir nicht kennen«
128 B. Person
(Omerzu 2001, 148). Vorauszusetzen ist, dass er mit seinem Appell an den Kaiser
nicht erfolgreich war und der Prozess mit der Hinrichtung in den Jahren zwi-
schen 62 und 64 n.Chr. während der Herrschaft des Nero (54–68 n.Chr.) endete.
Warum Lukas weder das Ende des Paulus noch das des Petrus erwähnt, bleibt –
abgesehen von seiner missionsgeschichtlichen Intention – offen.
Horn, Friedrich Wilhelm (Hg.): Das Ende des Paulus. Historische, theologische und literatur-
geschichtliche Aspekte (BZNW 106), Berlin/New York 2001.
Metzger, Wolfgang: Die letzte Reise des Apostels Paulus. Beobachtungen und Erwägungen zu
seinem Itinerar nach den Pastoralbriefen (AzTh 59), Stuttgart 1976.
Jens Herzer
Die heuristische Aufgabe der Erschließung von Person und Identität des Paulus
setzt mit terminologischen und methodischen Vorklärungen und Abgrenzungen
ein.
(a) Die Konzepte von ›Person‹ und ›Persönlichkeit‹ sind zu unterscheiden.
Während der Begriff und das Konzept der ›Person‹ (persona) schon in der anti-
ken Philosophie verwendet und diskutiert werden (z. B. Cicero, s. u.) und sich
daher insbesondere aus geschichtlichen Gründen für die Paulusforschung eignen,
wurde der Begriff der ›Persönlichkeit‹ erst in der Neuzeit geprägt (Sparn 2005,
10–13). Im Zusammenhang der philosophischen Diskussion über die ›Bestim-
mung des Menschen‹ im 18. Jh. (Brandt 2007), unterscheidet Immanuel Kant die
»Person [. . .] als zur Sinnenwelt gehörig« von der ›Persönlichkeit‹, mit der der
VI. Die Person des Paulus 129
Mensch Anteil an der »intelligiblen Welt« habe (Kritik der Praktischen Vernunft, I,
154–159). In der Folge steht der Begriff der ›Persönlichkeit‹ zunehmend für ein
Ideal, »dem der Mensch in seiner Lebensgeschichte durch Bildung und Selbstbil-
dung nahe kommen soll« (Sparn 2005, 11). Vor diesem Hintergrund ist dann die
breite Verwendung des Begriffs der ›Persönlichkeit des Paulus‹ in der sog. religi-
onsgeschichtlichen Schule zu verstehen: Auch wenn hier die Begriffe ›Person‹ und
›Persönlichkeit‹ in der Sache teils äquivok verwendet werden, zeigt sich doch eine
gewisse Tendenz (Merk 2005, 30), mit der ›Persönlichkeit‹ gleichsam idealtypisch
nach der geistes-, religions- und kulturgeschichtlichen Wirkung und Leistung des
Paulus (zu William Wrede und Wilhelm Bousset: Merk 2005, 34–45) zu fragen
und ihn z. B. als Stifter des Christentums zu deklarieren, weniger aber die ›Person
des Paulus‹ als Frage nach der literarischen Konstruktion seiner biographischen
Identität und Individualität in den Blick zu nehmen. Da der Begriff der ›Persön-
lichkeit des Paulus‹ durch seine spezifische Verwendung und Prägung innerhalb
der geisteswissenschaftlichen Diskussion vom 18. bis zum frühen 20. Jh. belegt ist,
erweist er sich für die Biographie-Forschung als eher ungeeignet. Besser sollte
von der ›Person des Paulus‹ die Rede sein, um einerseits die anthropologische
Verfasstheit und soziale Rolle des Paulus, andererseits seine (narrative) Konfigu-
rierung oder Selbst-Konfigurierung im Rahmen von (antiker) Autobiographie
(Kurczyk 2006 am Beispiel von Cicero) oder Prosopographie (s. Apg) als eine
literarische Figur (Jannidis 2004) beschreiben zu können.
(b) Die Frage nach der Person des Paulus markiert ein Teilgebiet der Biogra-
phie-Forschung (Becker/Pilhofer 2005), ist als solches aber zu spezifizieren.
Während die Biographie des Paulus weitestgehend der historischen Rekonstruk-
tion von Lebensdaten und zeitgeschichtlichen Ereignissen unterliegt und ihrer
Kontextualisierung in der frühkaiserzeitlichen mediterranen Welt dient, sollen
mit der ›Person‹ die Identität und Individualität eines menschlichen Lebens, ggf.
auch in psychologischer oder psychiatrischer Hinsicht der ›Wesenskern‹ bzw. die
personale Struktur eines Menschen (Göttel-Leypold/Demling 2005; zur psy-
cho-pathologischen Sicht auf Identität Brewin 2003) erfasst werden. Die Frage
nach der Person des Paulus geht also insofern über eine bloße biographische, his
torische und literarische Kontextualisierung des Paulus im 1. Jh. n.Chr. hinaus, als
sie nach übergreifenden anthropologischen, psychologischen und soziologischen
Merkmalen zur Konstitution von Personalität fragt. Denn mit der Person wird
gleichsam nach dem ›Bestehenden in der Veränderung‹ (vgl. Friedrich Schiller,
Ästhetische Erziehung, 13. Brief) oder auch nach der Individualität eines Men-
schen durch Veränderung gefragt. Die ›Person‹ erschließt sich zwar durch die Bio
graphie, geht aber nicht in ihr auf. Um nach der ›Person‹ des Paulus sachgemäß
fragen zu können, müssen daher die Konstitutionskriterien von Personalität, wie
sie einerseits in der modernen Anthropologie und Psychologie/Psychiatrie, ande-
rerseits aber schon im antiken Diskurs über persona grundgelegt sind, herangezo-
gen werden.
130 B. Person
(c) In der antiken und der modernen Heuristik des Personen-Begriffs werden
die Konstitutionsmerkmale von Personalität in jeweils verschiedener Weise be-
schrieben und definiert. Die gegenwärtige (philosophische) Anthropologie stellt
in erster Linie ein hilfreiches semantisches Inventar bereit, mithilfe dessen sich
übergreifende physische und kognitive Konstitutionsmerkmale von ›Personalität‹
bestimmen lassen (z. B. Bewusstsein, Sprachfähigkeit, Leidensfähigkeit, Perspek-
tivenannahme, Gedächtnis, Verantwortung, Ich-Bewusstsein, aber auch Selbst-
Distanzierung und die Artikulation von Emotionalität: vgl. insgesamt Becker
2
2012, 132 f.; Reiss 2003). In ihrem gegenwärtigen Diskurs über die Differenzie-
rung von Person, Selbst und Mensch (McCall 1990) sowie über die Konstituti-
onsmerkmale von Personalität zeigt sich die philosophische Anthropologie be-
sonders dann von der neurowissenschaftlichen Forschung bzw. der Hirnforschung
beeinflusst (z. B. Janich 2009; zur Anwendung neurowissenschaftlicher For-
schung auf Paulus zuletzt auch Shantz 2009), wenn sie grundlegend die ethische
Bedeutung und Verantwortung von ›Personalität‹ diskutiert (Kather 2007, bes.
204–209; vgl. auch Rudman 1997) oder wenn sie, indem sie das Bewusstsein als
»soziales Organ« bestimmt, diesem zentralen Grundmerkmal von Personalität
eine neue semantische und gesellschaftspragmatische Deutung zu geben sucht
(Gerhardt 2009, 208). Eine solche gleichsam soziologische Dimensionierung
des Personenbegriffs ist aber nicht neu, sondern knüpft in gewisser Weise an den
antiken persona-Diskurs an. Dieser führt uns zugleich auch geschichtlich näher an
die Frage heran, wie personale Identität und Individualität in paulinischer Zeit
wahrgenommen und definiert wurde.
Manfred Fuhrmann hat besonders unter Verweis auf Cicero gezeigt, wie die ›Per-
son‹ in der Antike (wie auch in der modernen Philosophie: s. o.) wesentlich von
ihrer öffentlichen Wahrnehmung her beschrieben und konstituiert wurde. Nach
antikem Verständnis also erschließt sich Personalität weniger anthropologisch als
vielmehr politisch und soziologisch: Entweder nämlich bezeichnet persona die
Rolle oder Relation eines Menschen »innerhalb eines Systems«, oder es bezeich-
net die Rolle, »die jemand im Laufe seines Lebens konstituiert hat« und das
»›Image‹, das er sich vor der Öffentlichkeit zu geben wußte« (Fuhrmann 1979,
92.94). In de officiis und de inventione entwickelt Cicero auf der Basis des perso-
na-Begriffs eine ›Rollentheorie‹, in welcher er erläutert, wie es zur Individuierung
von Menschen durch die Wahrnehmung und Gestaltung ihrer verschiedenen
Rollen kommt. Diese Rollen sind zum überwiegenden Teil durch Natur, Kontext
oder Kontingenz bestimmt und können nur zum geringeren Teil durch subjektive
Wahl z. B. der Profession beeinflusst werden (Cic.off. I 107–115). Aus dieser Rol-
lentheorie leitet Cicero den ethischen Appell ab ([. . .] quid deceat: I 117), dass ein
VI. Die Person des Paulus 131
jeder um Rollen-Identität bemüht sein solle, d. h. das zu tun hat, was die ihm
vorgegebenen Rollen am besten in Einklang miteinander bringt. So steht für
Cicero die Individuierung letztlich im Dienste der ›Perpetuierung sozialer Rollen‹
(Fuhrmann 1979, 101). Rollenwechsel hingegen sind mit Vorsicht und nur mit
guter Begründung vorzunehmen (101). Vor dem Hintergrund ciceronischer Rol-
lentheorie wird die Radikalität, mit der Paulus seinen Wechsel vom Pharisäer
(Phil 3,5) und Verfolger der Gemeinde zum Verkünder des Evangeliums be-
schreibt (Gal 1,13–16), besonders augenfällig: Paulus stellt hier das zeitgenössische
Postulat von Rollen-Perpetuierung nachhaltig infrage und repräsentiert eine
Form von Individuierung, die jedenfalls nicht zuerst an der Schaffung und Be-
wahrung von Rollen-Identität orientiert ist – es sei denn, beide Gruppen, nämlich
die Pharisäer und die Christusgläubigen, ähneln sich, insofern sie sich gleicher-
maßen als hairesis des Judentums verstehen (Cohen 22006, 119–123: »sect«). In de
inventione bietet Cicero eine eher deskriptive Sicht auf das Personen-Konzept,
indem er diejenigen Attribute nennt, die den Redner während der confirmatio als
eine ›Person‹ generieren, so z. B. sein Name oder seine Natur, d. h. Geschlecht,
Nation (Grieche oder Barbar), Geburtsort, Familie, Alter etc. (Cic.inv. I 23/34–
24/35). Auch Paulus weist sich über explizite Namensnennung hinaus (vgl. Kip-
penberg 1990, 103–124), die der Repräsentation der Person dient, in seinen auto-
biographischen Passagen entsprechende Attribute zu und gestaltet sich somit
rhetorisch und literarisch bewusst als ›Person‹ (vgl. z. B. 2Kor 10,1; Phil 3,13). Die
ciceronische Liste von Personen-Attributen dokumentiert zudem, welche Eigen-
schaftsmerkmale man im antiken persona-Diskurs als konstitutiv bei der Wahr-
nehmung einer Person angesehen hat. Zwar lässt sich die ciceronische Konzep
tion von Personalität nicht direkt auf die Selbst- oder Fremdwahrnehmung des
Paulus übertragen. Sie führt uns aber geschichtlich nahe an die Biographie des
Paulus heran und erlaubt die wichtige Einsicht, dass sich die ›Person des Paulus‹
nach zeitgenössischem Verständnis zunächst nicht anthropologisch, sondern so-
zial und politisch erschließt. Auch Paulus agiert – kaum zufällig – als öffentliche
Person. Andererseits gewährt uns Cicero einen instruktiven Einblick in die litera-
rische Konstruktion der Person, die ein politisch Handelnder als homo novus ver-
sucht (van der Blom 2010).
Wie aber lässt sich die Frage nach der ›Person‹ des Paulus und deren Individuali-
tät und Identität neben ihrer sozial-politischen auch in ihrer anthropologischen
und psychologisch-psychiatrischen Dimension bearbeiten? Eine umfassende
Ausarbeitung dieser Heuristik steht noch aus – hier kann nur eine Skizzierung
erfolgen, die mit der Bewertung der Quellen einsetzt. Aufgrund der zeitgenös-
sischen Quellenlage ist die ›Person‹ des Paulus im Vergleich mit vielen anderen
132 B. Person
antiken Personen relativ gut zu erschließen. Doch gerade wenn etwa die Ansätze
der »social identity theory« auf die Beschreibung einer antiken Person übertragen
werden, sind immer die Rahmenbedingungen und Grenzen bei der Rekonstruk-
tion von Identität zu berücksichtigen: Die zur Verfügung stehenden Quellen sind
quantitativ begrenzt, und die hierin zutage tretenden ›Personen‹ wurden litera-
risch, so auch narrativ konfiguriert und stilisiert (Schmitz/Wiater 2011, 22). Für
das 1. Jh. n.Chr. liegen uns insgesamt drei Typen von Quellen für Paulus vor: au-
thentische Paulusbriefe, in denen Paulus sich selbst mitteilt und in erster Linie ein
›Bewusstsein‹ von sich und seinen Adressaten artikuliert, die Apostelgeschichte,
die als personenzentrierte historiographische Quelle Pauli missionarische Aktivi-
tät und Wirksamkeit (bes. Apg 13–28) in den Vordergrund stellt und damit Paulus
zum Protagonisten des frühchristlichen Zeugnisauftrags (Apg 1,8) macht, sowie
die sog. pseudepigraphen deutero- und tritopaulinischen Briefe (2Thess, Kol,
Eph, 1.2Tim und Tit), die das Motiv des briefeschreibenden Apostels posthum so
fortschreiben und aktualisieren, dass biographische Authentizität entsteht (z. B.
2Tim 4,13–18). So spiegelt schon die früheste Paulusrezeption mit ihrem Interesse
an der Biographie des Paulus wider, dass Person und Lehre nicht zu trennen sind.
Während in der Apostelgeschichte sowie in den Deutero- und Tritopaulinen die-
se Verknüpfung vielfach durch die notizhafte Erwähnung biographischer Details
zum Ausdruck gebracht wird (vgl. auch Apg 23,16: Familie des Paulus), spielt erst-
mals in den Paulusakten am Ende des 2. Jh. in eher legendarischem Zusammen-
hang auch die Physiognomie des Paulus eine Rolle (Malherbe 1989, 165–170;
Evans 1969, 51–58). Diese findet in der christlichen Ikonographie dann rasch eine
konsistente Ausprägung (bereits um 400 n.Chr.: Lechner 1976).
Der enge Zusammenhang von Person und Wirken, der in der frühen Rezepti-
onsgeschichte zu beobachten ist, geht letztlich aber bereits auf Paulus selbst zu-
rück: In den mehrheitlich für authentisch gehaltenen sieben Paulusbriefen
(1Thess, 1/2Kor, Gal, Röm, Phil und Phlm), die der Apostel wohl in der zweiten
Hälfte seiner missionarischen Wirksamkeit in einer Zeitspanne von maximal
zehn bis zwölf Jahren verfasst hat (zwischen ca. 49 und 60/62 n.Chr.), tritt Paulus
uns in erster Linie programmatisch als ein brieflich kommunizierender Gemein-
deleiter entgegen (= ›Sprachfähigkeit‹), der durch die Form des Briefes maßgeb-
lich seine Person gestaltet, wissend, dass die Rezeption seiner Briefe besonders
erfolgreich ist (2Kor 10,10 f.). Zunächst geht es ihm darum, in persönlicher Abwe-
senheit die Gemeinden in Galatien und Griechenland zu belehren, zu ermahnen
oder zu trösten oder auf seinen bevorstehenden Besuch vorzubereiten (beson-
ders: Röm). Daneben entdeckt und nutzt Paulus in diesen Kommunikationszu-
sammenhängen zunehmend bewusster den Brief als spezifisches Medium per-
sönlicher Interaktion (z. B. 1Kor 7,1 = ›Perspektivenannahme‹) und bringt gerade
durch die ›Artikulation von Emotionalität‹ (2Kor 2,4; Phil 3,18) personale parou-
sia gleichsam visuell zum Ausdruck (Becker 2012). Zudem reflektiert er das
briefliche Medium hermeneutisch (z. B. 2Kor 1,12–14; 3,1–3). Schon in seinem frü-
hesten Schreiben an die Gemeinde in Thessalonich blickt Paulus dabei auch auf
VI. Die Person des Paulus 133
die Anfänge und die Geschichte seines missionarischen Wirkens in den Gemein-
den zurück (›Gedächtnis‹, vgl. 1Thess 1,5–8) – eine Thematik, die sich bis zum
Philipperbrief durchziehen wird (vgl. z. B. Phil 4,15). In diesem Zusammenhang
werden Leidenserfahrungen thematisiert, und zwar einerseits die individuellen
Leiden des Apostels (Krankheit, Schwachheit und Peristasen = ›Leidensfähigkeit
und Krankheit‹). Im Umgang und in der Bewältigung dieser Stressoren gibt Pau-
lus ein starkes Identitätsgefühl zu erkennen. Der apostolische Dienst ist also of-
fenbar gerade die Lebensform, in der Paulus äußeren Stressoren psychisch und
somatisch gewachsen ist. Andererseits thematisiert Paulus auch Verfolgung und
Leiden der Gemeinden (z. B. 1Thess 2,13–16). Er schafft hierbei teils gezielt kollek-
tive Erinnerung, teils inszeniert er sich selbst als Vorbild für die Gemeinden (=
›Verantwortung‹). Besonders die umfangreichste uns bekannte Korrespondenz,
die die Briefe an die korinthische Gemeinde enthält, spiegelt dann aber wider, wie
Paulus sich in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Missionaren oder geg-
nerischen Lehren in zunehmend stärkerem Maße als Person artikuliert. Er sieht
sich gezwungen, apostolische Autorität in brieflicher Form auszuüben und in die-
sem Zusammenhang auch seine eigene Vita (vgl. 2Kor 10–12; vgl. aber auch Gal
1–2 = ›Individuierung‹), teilweise sogar in Distanz zu sich selbst (›Selbst-Distan-
zierung‹: 2Kor 12), zu thematisieren. Zahlreiche autobiographische Einzelaussa-
gen und Passagen spielen dabei eine besondere Rolle (Wagner-Egelhaaf 2005,
105–118). Sie dokumentieren nicht nur, wie Paulus sich durch die in seiner Biogra-
phie erfahrene Individuierung, die er teils auf einen biographischen Bruch (Gal
1,12–16; Phil 3,5–8), verursacht durch eine individuelle Christophanie (1Kor 15,8),
bzw. auf seinen Status als κλητὸς ἀπόστολος (berufener Apostel) (z. B. Röm 1,1),
teils aber auf sein Erleben von Konfliktsituationen (z. B. Gal 2,11–14) zurückführt,
zum Schreiben ›über sich selbst‹, und das heißt auch zur Artikulation von
›Ich-Identität‹ veranlasst sieht (= ›Ich-Bewusstsein‹). Umgekehrt treibt das auto-
biographische Schreiben, von dem uns im Bereich der zeitgenössischen römi
schen Literaturgeschichte nur wenig überliefert ist (Eck 2010; zuletzt aber Ma-
rasco 2011), die Individuierung des Paulus weiter voran: Paulus deutet sich selbst
in Relation zu und Abgrenzung von seinem Herkunftsmilieu (Phil 3,4 f.) bzw.
seinem früheren Leben im Judentum (Gal 1,13) oder den durch das Imperium
Romanum vorgegebenen Rahmenbedingungen seiner Existenz (Phil 1,12–17). Zu-
dem reflektiert er seine Rolle im Verhältnis zu den verschiedenen Gruppen, mit
denen er interagiert, wie seinen Gemeinden (Gal 3,1), verschiedenen Apostelkol-
legen (Gal 2,1–10) oder Mitarbeitern (2Kor 7,5–7), konkurrierenden Aposteln
oder Missionaren (1Kor 1–3) und schließlich auch expliziten Gegnern (2Kor 11).
Fraglich aber bleibt, ob es Paulus letztlich immer gelingt, ein »autobiografisches
Ganzes« zu entwickeln, oder ob speziell die ausgeprägte, wenn auch auto-fiktio-
nal inszenierte dichotomische Selbstwahrnehmung in Röm 7,20–24 als ein Hin-
weis auf Dissoziation (Resick 2001, 33), also auf die Schwierigkeit, die ›vorchrist-
liche‹ und die ›christliche‹ Identität sinnvoll zu verknüpfen, zu lesen ist. Insge-
samt aber gilt, dass die autobiographische Individuierung entscheidend zur
134 B. Person
Konstituierung der paulinischen Person und deren Identität beiträgt und dass
Paulus selbst mit dem autobiographischen Schreiben den Schlüssel zu seiner
›Person‹ liefert. Im Bereich des frühen Christentums ist Paulus damit die einzige
›Person‹, die uns eine vielseitige Einsicht in ihre Individuierung und Identität
gewährt.
Becker, Eve-Marie: Die Person des Paulus, in: Wischmeyer, Oda (Hg.): Paulus. Leben – Um-
welt – Werk – Briefe, Tübingen/Basel 22012, 129–141.
Dies./Pilhofer, Peter (Hg.): Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen
2005/2009.
Fuhrmann, Manfred: Persona, ein römischer Rollenbegriff, in: Marquard, Odo/Stierle,
Karlheinz: Identität (Poetik und Hermeneutik VIII), München 1979, 83–106.
Kippenberg, Hans G./Kuiper, Yme B./Sanders, Andy F. (Hg.): Concepts of Person in Religion
and Thought (Religion and Reason 37), Berlin/New York 1990.
Kippenberg, Hans G.: Name und Person in Ancient Judaism and Christiantity, aaO. 103–124.
Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie, Stuttgart/Weimar 22005.
Eve-Marie Becker
C. Werk
136 C. Werk
Paulus ist als Briefautor berühmt geworden. Sieben seiner Briefe sind erhalten,
weitere Briefe, die Paulus erwähnt – den sog. Vorbrief in 1Kor 5,9, den Tränenbrief
in 2Kor 2,1–4; 7,8 – oder ankündigt – Empfehlungsbriefe für die Überbringer der
Kollekte nach Jerusalem in 1Kor 16,3 –, sind wohl verloren. Paulus schrieb seine
Briefe grundsätzlich unter den üblichen Voraussetzungen und Bedingungen, die
für briefliche Korrespondenz in der Antike galten.
Der Brief stellte ein wesentliches Kulturgut der antiken Welt dar und war als
Kommunikationsmittel ausgesprochen beliebt. Tausende kurzer antiker Privat-
briefe auf Papyrus hat man bei archäologischen Grabungen zutage gefördert.
Auch wenn es sich dabei meist um Zufallsfunde handelt – wie z. B. bei den Brie-
fen, die man auf Müllplätzen vor der Stadtgrenze des mittelägyptischen Oxy-
rhynchos entdeckt hat –, ergibt sich ein zutreffendes Bild von der Bedeutung
brieflicher Kontakte in der Antike. Man schreibt Briefe, um zu erfahren, wie es
um einen Familienangehörigen daheim bzw. in der Ferne steht. »Ich bitte dich
dringend, Bruder, mir über euer Wohlbefinden zu schreiben, denn ich habe in
Antinoopolis gehört, dass in deiner Nachbarschaft eine Seuche ausbrach. Also
versäume es nicht, damit ich beruhigt über euch leben kann« (POxy. 1666),
schreibt ein besorgter Bruder im 3. Jh. In allen Bevölkerungsschichten teilt man
mittels Briefen die Sorgen und Freuden des Alltags, nimmt Anteil aneinander,
tauscht wichtige Informationen aus. Im Brief lässt sich etwas von der Anwesen-
heit einer entfernt lebenden Person spüren, der Brief dient als Ersatz für den Ab-
wesenden. Cicero hat diese Brieffunktion reflektiert, wenn er den Brief als »Ge-
spräch voneinander getrennter Freunde« beschreibt (Cic.Phil. II 7) und die Di-
stanz zum Adressaten beim Schreiben kurzzeitig überwunden sieht: »mit dem
Blick auf dich in der Ferne und gleichsam vor dir sitzend« (Cic.fam. II 9,2).
1.1.1. Schreibmaterialien
Kurze Briefe wurden nahezu auf alles geschrieben, was irgendwie beschreibbar
war (Klauck 1998, 55–60): Holz-, Blei- und Wachstäfelchen, Leinen, Leder und
Tonscherben (sog. Ostraka). Holztäfelchen, die mit einer dünnen Wachsschicht
überzogen waren, auf der man Buchstaben leicht einritzen und wieder glätten
konnte, waren als Notizbücher beliebt. Den allergrößten Teil der Briefe schrieb
man freilich auf Papyrusblätter. Diese wurden aus den Stängeln der ägyptischen
Papyruspflanze hergestellt, die in feine Schichten geschnitten, quer übereinander
gelegt und gepresst wurden; durch das klebrige Pflanzenmark verleimt, entstan-
den nach dem Trocknen und Glätten einzelne Blätter. Papyrusrollen für längere
I. Die Briefe des Paulus 137
Texte konnten angefertigt werden, indem man bis zu zwanzig Papyrusblätter an-
einander klebte. Beschreiben ließ sich der Papyrus mit Schreibrohr und Tinte.
Meist verwendete man eine schwarze Tinte, die aus Ruß und Gummi arabicum
gemischt wurde. Aber auch rote Tinte fand Verwendung. Das Schreibrohr be-
stand üblicherweise aus Schilf, das schräg angespitzt war. Wie bei einer modernen
Metallfeder wurde die Schilfspitze durch einen feinen Trennschnitt geteilt, sodass
feine Linienführung und sicheres Schreiben möglich waren.
Durch Briefe pflegt Paulus die Beziehung zu »seinen« Hausgemeinden oder tritt
erst in einen Dialog mit fremden Gemeinden ein (Röm). Im Brief geschieht Ver-
kündigung des Evangeliums über eine räumliche Distanz hinweg. Paulus bezieht
sein Evangelium auf konkrete Fragen der Gemeinden. Manchmal antwortet er
direkt auf briefliche Anfragen, was er z. B. in 1Kor 7,1 ausdrücklich angibt. Leider
ist die Korrespondenz nur einseitig erhalten, sodass die Rekonstruktion des Ge-
sprächsverlaufs hypothetisch bleibt. Von Anfang an konzipierte Paulus seine
Briefe für die Verlesung in der Gemeindeversammlung (1Thess 5,27), was sich in
der sprachlichen und stilistischen Gestaltung niederschlägt. Neben dem Informa-
tionswert sollen sie den Zusammenhalt und die Identität der Gemeinde fördern.
Manchmal kann ein Brief auch die erfolgversprechendere Option der Einmi-
schung darstellen, wo ein persönlicher Besuch in eine offene Konfrontation aus-
zuarten droht (vgl. 2Kor 12,20 f. und 2,4; 7,8–12). Der Brief dehnt die Gesprächszeit
und ermöglicht Klarheit und argumentative Stringenz und lässt den Adressaten
Zeit zur Reaktion.
Wie der Prozess von der ersten Idee bis zum fertigen Brief bei den Briefen des
Paulus verlief, können wir nicht wissen, da Paulus nichts über den Entstehungs-
prozess sagt. Andere antike Briefschreiber sind da mitteilsamer. Plinius der Jün-
gere (gest. 114) gibt einen kleinen Einblick in seine Schreibwerkstatt: »Wenn ich
etwas zu schreiben habe, lege ich mir das im Kopf genau zurecht. Ich fasse es so
ab, als würde ich schreiben, wähle die Wörter und verbessere Ausdrücke wieder.
So entwerfe ich ein mehr oder weniger langes Textstück, je nachdem, wie leicht
oder schwer es zu verfassen und zu merken ist. Dann rufe ich einen Sekretär, und
nachdem ich mein Fenster habe aufmachen lassen, diktiere ich, was ich vorberei-
tet habe [. . .]« (Plin.ep. 9,36,2; zitiert bei Marguerat 2003, 36). Um den Kopf zu
entlasten, konnte man auch Notiztäfelchen zu Hilfe nehmen. Vermutlich hat sich
auch Paulus zunächst die Gesamtkonzeption eines Briefes zurechtgelegt, bevor er
den Brief abschnittsweise im Kopf entwickelte, formulierte und diktierte. Die da-
bei unweigerlich eintretenden Unterbrechungen könnten für manchen abrupten
Wechsel in Ton oder Inhalt verantwortlich sein. Das bekannteste Beispiel dürfte
der Übergang von 2Kor 1–9 zu 10–13 bilden.
Den so entstandenen Entwurf des Briefes konnte man noch überarbeiten, be-
vor der Schreiber eine endgültige Kopie zur Versendung anfertigte. Eine solche
Reinfassung ist auch für die Paulusbriefe anzunehmen, schließlich kann ein Brief
nur in guter äußerer Form »gewichtig und voller Kraft« (2Kor 10,10) wirken.
Das Abfassen so umfangreicher Briefe, wie sie die Paulusbriefe darstellen, er-
forderte zeitlich und finanziell einen erheblichen Aufwand. So schwer die Kosten
für die Papyrusblätter, den Schreiber und die Beförderung im einzelnen einzu-
I. Die Briefe des Paulus 139
schätzen sind (Schätzungen versucht Richards 2004, 165–169), so waren sie für
einen antiken Menschen, der nicht der Elite angehörte, sicher deutlich höher als
für einen heutigen Brief. Hinzu kommt, dass die Entwicklung des Briefkonzepts,
das Abfassen des Erstentwurfs und verschiedene Diskussionen und Überarbei-
tungen etliche Tage, wenn nicht mehrere Wochen in Anspruch genommen haben
müssen. All dies war Paulus nur mit Unterstützung der gastgebenden Gemeinden
möglich, die ihm Material, Räumlichkeiten, schreibkundige Personen und Boten
zur Verfügung stellten und so in den Briefprozess eingebunden waren.
Einer verbreiteten Praxis entsprechend, könnte auch Paulus Kopien seiner
Briefe behalten haben (Richards 2004, 156–161). Dass freilich ein solches »Privat
archiv« die Basis für die spätere Sammlung des Corpus Paulinum bildete (aaO.
210–223), bleibt eine unbeweisbare Vermutung.
Außer im Röm nennt Paulus im Präskript seiner Briefe weitere Absender: häufig
Timotheus (1Thess, 2Kor, Phil, Phlm), auch Silvanus (1Thess) und Sosthenes
(1Kor) sowie »alle Brüder« (Gal). Dies war in antiken Briefen eher unüblich und
kann so kaum als Höflichkeitsfloskel erklärt werden. Ausnahmen bestätigen frei-
lich die Regel: So belegt eine Notiz bei Cicero (Cic.Att. XI 5,1), dass sein Briefpart-
ner Atticus einen Brief mit anderen zusammen verfasst hat. Paulus wird die Mit-
absender tatsächlich wesentlich in die Abfassung des Briefes einbezogen haben:
Mit ihnen dürfte er seine Gedanken in den verschiedenen Entstehungsphasen des
Briefes besprochen haben (Byrskog 1996, 238; Richards 2004, 34 f.; Mur-
phy-O’Connor 1995, 16–19). In dieser Praxis spiegelt sich der Team-Charakter
der paulinischen Mission, der auf einer grundsätzlichen Gleichrangigkeit der
Missionare beruht.
1.1.5. Beförderung
War der Brief schließlich fertig, faltete man das Papyrusblatt oder band – bei län-
geren Schreiben – die Rolle zusammen und schrieb auf die Außenseite die Adres-
se. Damit begannen die Schwierigkeiten der Beförderung. Nachdem ein offizielles
Beförderungssystem im 1. Jh. nur für die staatliche Post (römischer cursus publi-
cus) existierte, mussten alle privaten Briefe durch private Boten wie Familienan-
gehörige, Freunde, eigene Sklaven oder andere Reisende, die man kannte und
denen man seinen Brief anvertrauen wollte, überbracht werden. Immer wieder
griff man zur Beförderung auch auf Fremde, z. B. Händler oder Soldaten, die oh-
nehin auf Reisen waren, zurück (Klauck 1998, 66–69). Dass dieses System stör-
anfällig war und teilweise zu Verzögerungen oder gar Ausfällen führte, liegt auf
der Hand. Andererseits handelte es sich um ein akzeptiertes und weithin funkti-
onierendes System, zu dem es keine Alternative gab.
140 C. Werk
Paulus und die paulinischen Gemeinden vertrauten dabei wohl auf Briefboten,
die ebenfalls zur Jesusbewegung gehörten. Das ist allein schon aus Sicherheits-
gründen wahrscheinlich, damit die Briefe, deren Inhalte nicht ohne gesellschaft-
liche oder politische Brisanz waren, nicht in falsche Hände fielen. Auch unter den
Jesusanhängern gab es Durchreisende, und ein intensives Beziehungsgeflecht un-
ter den Gemeinden ermöglichte diverse Briefsendungen. Antike Briefboten, die
aus dem unmittelbaren Umfeld des Absenders kamen, erfüllten häufig noch eine
weitere wichtige Funktion: Sie konnten zusätzliche Informationen bringen oder
mündliche Erläuterungen zum Briefinhalt geben (Richards 2004, 183). In Röm
16,1 f. empfiehlt Paulus eine Frau namens Phoebe, die offenbar genau diese Funk-
tion der Briefbotin übernommen hatte. Und Titus brachte nach 2Kor 7,6–8.13–15
nicht nur einen Brief des Paulus nach Korinth, sondern trug auch wesentlich zur
Kommunikation zwischen Paulus und der dortigen Gemeinde bei. Der Sklave
Onesimus, den Paulus mit einem Empfehlungsbrief zu seinem Herrn Philemon
zurücksendet (Phlm 12), kann natürlich auch in eigener Sache Rede und Antwort
stehen.
Auch Briefe der Gemeinden an Paulus wurden von Boten überbracht, die zur
Gemeinde gehörten und den Kontakt zu Paulus pflegten. Stephanas, Fortunatus
und Achaikus aus Korinth (1Kor 16,17) können Briefe an Paulus mitgebracht ha-
ben – vielleicht auch den, in dem die »Leute der Chloe« Paulus etwas »mitteilen«
(Arzt-Grabner 2004, 23 f.).
Den Adressaten dürfte ein Paulusbrief sofort durch seine außergewöhnliche Län-
ge aufgefallen sein. Alle Paulusbriefe, auch der vergleichsweise kurze Phlm, heben
sich signifikant von der Menge der erhaltenen antiken Privat- und Geschäfts-
briefe (sog. nicht literarische Briefe) ab, die in der Regel auf ein Papyrusblatt
passten.
Näher stehen die Paulusbriefe in ihrem Umfang und ihren Überzeugungsstra-
tegien den literarischen Briefen. Die philosophischen Lehrbriefe Epikurs, Ciceros
oder Senecas waren von vornherein literarisch konzipiert und richteten sich an
eine gewisse Öffentlichkeit, d. h. an weitere Kreise als den genannten Briefadres-
saten (Klauck 1998, 95–146; ferner Wischmeyer 22012, 338). Cicero z. B. schrieb
einen langen Brief an Lentulus als Apologie seines bisherigen politischen Wirkens
(Cic.fam. I 9,1–26) oder an seinen Bruder Quintus als symbuleutisches Send-
schreiben über eine vorbildliche Amtsführung (Cic.ad Q.fr. I 1,1–46). Aber auch
hier ragen Röm und 1Kor durch ihre Länge noch heraus (Übersicht bei Richards
2004, 163).
Mit diplomatischen Schreiben, wie sie von Kaisern oder Statthaltern verfasst
wurden (Material bei Klauck 1998, 80–93), lassen sich die Paulusbriefe nur sehr
bedingt vergleichen (anders Stirewalt Jr. 2003). Entfernte formale Ähnlichkei
ten finden sich in den Titelhäufungen römischer Kaiserbriefe, die an die verschie-
I. Die Briefe des Paulus 141
Paulus hat in seiner Funktion als Missionar und Gemeindeleiter mindestens sie-
ben Briefe hinterlassen, die wahrscheinlich allesamt in der zweiten Hälfte seiner
missionarischen Wirksamkeit in einer Zeitspanne von maximal zehn bis zwölf
Jahren entstanden sind (zwischen ca. 49 und 60/62 n.Chr.): 1Thess, 1.2Kor, Gal,
Röm, Phil und Phlm. Briefe aus der frühesten Phase der missionarischen Tätig-
keit des Paulus in der Arabia, Syrien, Kilikien oder speziell Antiochia (vgl. Gal
1,17–21) sind uns hingegen nicht bekannt. So stellt sich die Frage, ob die epistolo-
graphische Tätigkeit des Paulus faktisch die Ergebnisse und Entscheidungen des
Apostelkonvents in Jerusalem (48/49 n.Chr.: vgl. Gal 2,1; Apg 15,1–29) voraussetzt
(Theissen 2007, 94–96 zur Krisensituation nach 49 und den dadurch bedingten
Konflikten »mit der nichtchristlichen Umwelt« sowie den verschiedenen Fronten
der Gegenmission), d. h. ob sie untrennbar mit der Legitimierung der pauli-
nischen Mission unter den ›Heiden‹ (Gal 2,2: ἐν τοῖς ἔθνεσιν) im mittleren und
westlichen Kleinasien sowie in Griechenland verbunden ist. Ein solcher Zusam-
menhang lässt sich auch deswegen vermuten, weil erhebliche Teile der korinthi-
schen Korrespondenz speziell mit der Thematik der Kollektenmission befasst
sind (1Kor 16,1–4; 2Kor 8 f.) – ein Auftrag, der nach paulinischer Darstellung di-
rekt aus den Beschlüssen des Konvents in Jerusalem resultiert (Gal 2,10).
Die paulinischen Briefe sind überwiegend an die von Paulus besuchten und
teils selbst von ihm gegründeten Gemeinden gerichtet. Paulus ermahnt und
tröstet seine Adressaten in persönlicher Abwesenheit (parousia-Motiv). Dabei
kommt der Artikulation von Emotionalität (z. B. 2Kor 2,4) eine besondere epi-
stolographische Bedeutung zu, die ähnlich in den Cicero-Briefen begegnet (Be-
cker 2012) und über Paulus hinaus im Tritopaulinismus fortlebt (2Tim 1,4). Der
Römer- und der Philemonbrief bilden in verschiedener Hinsicht eine gewisse
Ausnahme: Im Römerbrief bereitet Paulus seinen bevorstehenden Besuch in
Rom vor und hofft auf eine Unterstützung seiner Spanienmission (›ambassado-
rial letter‹, zuletzt Jewett 2007, bes. 42 und 80). Beim Philemonbrief handelt es
sich speziell um einen Bittbrief bzw. einen ›Empfehlungsbrief‹ (so z. B. Klauck
1998, 247 f.; vgl. Bauer 2011, 110–166) mit konkreter textlicher Pragmatik (ähnlich
2Kor 8 f.) – es ließe sich in diesem Fall auch von ›Gebrauchsliteratur‹ sprechen,
144 C. Werk
die eine Nähe zu den Papyrusbriefen der hellenistischen Alltagskultur (zu den
Papyrusbriefen: Arzt-Grabner 2003) oder dem zeitnah verfassten, evtl. christ-
lichen Papyrusbrief POxy. XLII 3057 (jedoch zuletzt zur berechtigten Infragestel-
lung der christlichen Provenienz: Blumell 2010) aufweist. Mit vier anderen Pau-
lusbriefen (1Thess, 1.2Kor, Phil) teilt der Philemonbrief wiederum das literari
sche Merkmal, in Koautorschaft verfasst zu sein. Nur im Galater- und Römerbrief
nennt sich Paulus als alleiniger Absender. Allerdings weisen der selbst zu Wort
kommende Sekretär im Römerbrief (16,22) und die autographische Zufügung
des Paulus am Schluss des Galaterbriefs (6,11) darauf hin, dass Paulus die Briefe
nicht selbst geschrieben, sondern diktiert hat. Die paulinischen Briefe gehen also
aus dem mündlichen Diktat hervor und zielen wiederum auf Mündlichkeit,
denn sie werden von den gemeindlichen Erstempfängern auditiv rezipiert
(1Thess 5,27; Röm 16,16). Das Element der Mündlichkeit, dessen Paulus sich
selbst auch bewusst ist, wenn er etwa auf die ursprünglich mündliche Überliefe-
rung des ›Evangeliums‹ (παράδοσις, 1Kor 15,1–7) oder auf seine vorhergehende
mündliche Predigttätigkeit in den Gemeinden (z. B. 1Thess 1,9) rekurriert, spielt
für die Formbestimmung der paulinischen Briefe eine nicht unerhebliche Rolle
und begründet die kommunikationswissenschaftliche, rhetorische und briefher-
meneutische Analyse der Paulusbriefe (Becker 2002; zuletzt: Mitchell 2010).
Trotz der großen Nähe des paulinischen Briefeschreibens zur Mündlichkeitskul-
tur ist indes festzuhalten, dass Paulus mit seinem Briefeschreiben den Rahmen
mündlicher Kommunikation bewusst verlässt (vgl. z. B. 2Kor 1,12–14) und damit
die Literarisierung im frühesten Christentum nicht nur begründet, sondern
auch entscheidend prägt.
Für die Paulusbriefe typisch ist es, dass immer auch die Person des Paulus invol-
viert ist, ja durch das Briefeschreiben konstruiert wird. Paulus ist – ähnlich wie
Cicero – zunächst als historischer Briefautor tätig, der in geschichtlichen und bio
graphischen Zusammenhängen situative Schreiben verfasst und dabei teils auto-
biographisch schreibt (z. B. Gal 1 f.; 1Kor 15; Peristasen). Aus der brieflichen Kom-
munikation entsteht einerseits Meta-Kommunikation, mit der Paulus sein Ver-
hältnis zu den Adressaten reflektiert, andererseits meta-kommunikativer
Überschuss bzw. theologische Argumentation und Proposition. Ein solch enges
Verhältnis von brieflicher Situation und Theologie hatte bereits Ernst Lohmeyer
im Philipperbrief erkannt, wenn er ihn von seinem Inhalt und seiner Haftung an
die konkrete persönliche Situation des Paulus her als einen Brief gedeutet hatte,
in dem »ein Märtyrer zu Märtyrern spricht« (Lohmeyer 1929/141974, 5). Die Ver-
wendung rhetorischer Mittel unterstützt diese enge Verbindung von Situation,
Person und Theologie (z. B. 2Kor 10–13). So inszeniert Paulus als historischer
Briefeschreiber sich letztlich selbst in seinen Briefen auch als eine literarische Per-
son, bei der die Dimensionen des biographischen, des briefeschreibenden und des
theologisch argumentierenden Autors zusammenfallen – ein Autorkonzept, das
die pseudepigraphen Paulusbriefe fortführen und die pseudepigraphen Petrus-
briefe aufgreifen (anders: Jak). Paulus nutzt die in der Epistolographie liegenden
I. Die Briefe des Paulus 145
Möglichkeiten der Selbstrepräsentation der Person und weitet sie zugleich litera-
risch wie theologisch kreativ aus.
Seit der Spätantike interessierten sich Exegeten wie Origenes, Augustinus, Jo-
hannes Chrysostomos, Luther, Melanchthon und Calvin für einzelne rhetorische
Phänomene im Neuen Testament (Watson/Hauser 1994, Lit.). Auch die Exegese
des 19. Jh. untersuchte Redeschmuck in den Einzelversen, also Tropen und Fi-
guren (z. B. Wilke 1843), paulinische Periodenfügungen (z. B. Weiss 1897), Stil
und Sprachniveau (z. B. Norden 1898; Heinrici 81900). Das 20. Jh. setzte diese
mikroanalytische Herangehensweise fort (Lampe 2006, Lit.).
Im letzten Viertel des 20. Jh. jedoch trat eine makroskopische Sichtweise hinzu,
die die Paulusbriefe als Ganze in den Blick nahm, d. h. die Argumentationslinien
durch den jeweiligen Gesamtbrief hindurch nachzuzeichnen suchte. Rhetorisches
Analysieren wurde als Hilfe zum Verstehen paulinischer Argumentationsstruk-
turen begriffen, also als direkt das theologische Verständnis befördernd und nicht
nur als selbstgenügsames Ästhetisieren antiker Texte. Als Wegbereiter dieser For-
schungsrichtung traten Hans Dieter Betz und George A. Kennedy hervor. Betz
wies auf Parallelen zwischen der Disposition einer antiken Rede und dem Aufbau
des Galaterbrief-Korpus hin (Betz 1975, 1979). Kennedy verfasste einen hand-
lichen Leitfaden für entsprechendes rhetorisches Durchleuchten urchristlicher
Texte (Kennedy 1984). In der Folge (z. B. Bünker 1983; Probst 1991; Mitchell
1991) wurde daran gegangen, einerseits auch in anderen neutestamentlichen Brie-
fen als dem Galaterbrief den Aufbau einer antiken Rede – von exordium bis
peroratio – wiederzufinden, andererseits diese Briefe einer der klassischen Rede-
gattungen zuzuordnen: entweder der Gerichts- (genus iudiciale), Beratungs- (ge-
nus deliberativum) oder Lobrede (genus demonstrativum). Dezidiert wurden nur
antik-rhetorische Kategorien zur Analyse herangezogen, wie sie von den antiken
Rhetoriklehrern entwickelt worden waren, nicht zuletzt von Aristoteles (Ars rhe-
torica), Cicero (de inventione; de oratore), Quintilian (institutio oratoria) oder
auch in der Rhetorik an Herennius.
Kritisiert wurde diese bis heute vorangetriebene Forschungsrichtung v. a. aus
vier verschiedenen Richtungen:
Die sog. Neue Rhetorik: Die »Neue Rhetorik« basiert zwar auf der klassischen
Rhetorik, ergänzt diese aber durch moderne und postmoderne sprachphiloso-
phische, psychologisch-kommunikationstheoretische und argumentationstheo-
retische Fragerichtungen, ohne dabei ein einheitliches Bild abzugeben (Über-
blicke z. B. bei Göttert 42009; Holocher 1996). Unter ihrem Label kursierende
Ansätze beeinflussten auch die Exegese der Paulusbriefe und brachen so den en-
gen Rahmen rein historisch-rhetorischer Analyse auf (u. a. Amador 1999; Por-
ter/Olbricht 1993, z. B. 21–28; Lampe 2012, z. B. 18–27). Dennoch bleibt es aus
historisch-kritischer Sicht weiterhin sinnvoll, die damals Formulierenden mit
den damals gängigen Theorien über Sprache und Texte zu konfrontieren, egal wie
unangemessen im Lichte heutiger Theorieansätze diese antiken Theorien gewe-
I. Die Briefe des Paulus 151
sen sein mögen. Ein sich der Neuen Rhetorik verdankender Zugang zu antiken
Texten konkurriert bei Licht betrachtet nicht mit einem der antiken Rhetorik ver-
pflichteten Zugang, vielmehr ergänzen beide Seiten einander.
Dissimulatio Artis: Mit der nur vermeintlichen Konkurrenz der »Neue Rheto-
rik« endet nicht der Gegenwind, der der von Betz und Kennedy begründeten For-
schungsrichtung entgegenbläst. Kritischer Wind weht auch aus der historisch-kri-
tischen Ecke selbst. Zunächst wird der fast ausschließliche Rekurs auf die Rheto-
rikhandbücher moniert. Handbuchtheorie und praktische Anwendung waren
auch nach antikem Verständnis zweierlei. Redner mühten sich dissimulatione ar-
tis in der Praxis sogar, das sie inspirierende theoretische Modell nicht erkennbar
werden zu lassen, sodass sich das Reden in der Praxis flexibler und vielfältiger
darbot, als die theoretischen Regeln vermuten lassen (Lampe 2010, mit Lit.). Zu-
künftige Forschung wird diese Kluft zwischen antiker Theorie und Praxis auch
theoretisch-methodologisch reflektieren müssen, d. h. nicht nur im praktischen
Vollzug des Analysierens auf diese Kluft in bequemer Weise immer dann ver-
weisen, wenn die Applikation eines theoretischen Regelwerks auf einen Paulus-
text nicht 1:1 aufgeht.
Auch die Analyse der erzählenden Teile des Neuen Testaments hat mit einer
solchen Kluft zwischen Theorie und Praxis zu rechnen. Obwohl Aristoteles (Poe-
tik 1451a) und Horaz (art.poet. 23) auf dem Boden antiker Dichtungstheorie z. B.
Einheitlichkeit und Kohärenz narrativer Texte forderten, wich die antike Praxis
von solchen Theorieentwürfen immer wieder munter ab (z. B. Heath 1989). Heu-
tige Narratologinnen und Narratologen tun deshalb gut daran, die Evangelien
nicht mehr in die Zwangsjacke eines Kohärenzpostulats zu stecken. Im Blick auf
die Paulusbriefe gilt dasselbe (z. B. Amador 1999a).
Insgesamt wird die rhetorische Analyse paulinischer Texte in der Zukunft noch
stärker darauf zu achten haben, dass sie nicht ein deduktiv von bestimmten Prin-
zipien der Rhetorik geleitetes Lesen pflegt, sondern induktive Umsicht walten
lässt, die gerade auch die Besonderheiten der Texte wahrzunehmen weiß, gerade
auch das nicht in die Schablone des theoretisch Vorgegebenen Passende.
Verhältnis zur antiken Epistolographie: Noch steiferer Gegenwind bläst aus der
folgenden Konkurrenten-Ecke. Die ebenso nur strikt historisch, d. h. mit antiken
Texttheorien und antikem Vergleichsmaterial arbeitende epistolographische Ana-
lyse des Corpus Paulinum (Lit. bei Lampe 2010) bietet sich als alternative Analy-
semethode an. Kritiker wie Stanley E. Porter (Porter 1993) und Carl Joachim
Classen (Classen 1991, 1995) zitierten antike Theoretiker, die deutlich das Ge-
schriebene vom Geredeten absetzten, es also als unangemessen erscheinen lassen,
brieflich Verschriftetes mit den Kategorien antiker Rhetorik, der Theorie münd-
lich vorgetragener Rede, erfassen zu wollen. Demetrius (De elocutione 224–226;
229–231; 235) konzedierte zwar, dass der Schreiber bei der Ausarbeitung eines
Briefes – wie bei einem Geschenk – sich durchaus Mühe machen solle, dass es
aber zum Lachen wäre, wenn er versuchte, in einem Brief Perioden wie in einer
Prozessrede zu formulieren. Der Briefstil sei von Festvortrag, Gerichtsrede oder
152 C. Werk
entstand, von der Paulus als Briefautor wusste. Dass es prinzipiell möglich sein
sollte, paulinische Briefe als verschriftete Reden mit typisch epistolographischem
Rahmen zu begreifen, ist deshalb nicht von der Hand zu weisen. Beim Verfassen
dieser Briefe trug Paulus sie mündlich vor, denn er diktierte (Röm 16,22; Gal 6,11);
die Briefüberbringer ihrerseits brachten sie nochmals mündlich einem Gemein-
depublikum zu Gehör.
(d) Die Antike selbst versuchte – wenn auch nur zögerlich und spät – Epistolo-
graphie und Rhetorik zu verbinden. Die Rhetoriklehrer selbst begannen, langsam
auch das Feld der Brieftheorie zu beackern, obwohl dieses ursprünglich nicht zu
ihrem theoretischen Territorium gehörte und auch nicht in den frühesten erhal-
tenen Rhetorikhandbüchern erwähnt wird (Malherbe 1988). Offensichtlich
nahmen sie wahr, wie sehr die Praxis des Briefeschreibens mittlerweile von rheto-
rischer Theorie beeinflusst worden war, sodass sie sich nicht mehr leisten konn-
ten, die Epistolographie aus ihren Theorien auszuschließen. Quintilian dagegen
kümmerte sich am Ende des 1. Jh. n.Chr. noch wenig um den Brief und schrieb
ihm eine gegenüber der Rede eigene Natur zu (Quint.inst. IX 4,19–20).
Bereits das Lehrerhandbuch Progymnasmata des Theon von Alexandrien dage-
gen versuchte im 1./2. Jh. n.Chr., eine Brücke zwischen Rhetorik und Epistologra-
phie zu schlagen. Theon empfahl für den Schulunterricht das Abfassen fiktiver
Briefe und verbuchte diese Übung unter dem rhetorischen Stichwort Prosopopoi-
ia – ein interessanter Versuch, Briefschreiben und rhetorische Übung miteinan-
der zu verbinden (10, p. 115, ed. Spengel). Prosopopoiia oder auch Ethopoiia, die
»Charakterausformung«, steht für die rhetorische Kunst, Personenrollen authen-
tisch auszugestalten, diesen Personen die zu den jeweiligen Umständen passenden
Worte in den Mund zu legen. Dieses Sich-Hineinfühlen in andere hat der Rheto-
rikschüler zu üben, will er sich später wirkungsvoll auf seine Zuhörerinnen und
Zuhörer einstellen. Für Theon gehört auch das Üben fiktiver Briefe zur Prosopo-
poiia, denn auch bei diesem Exerzitium muss der Schüler sich in die Lage und
Redeweise einer anderen Person, nämlich eines fiktiven Briefschreibers, hinein-
versetzen.
Ist diese Verbindung zwischen Rhetorik und Epistolographie auch nur eine
punktuelle, so zeigt sie doch Integrationsstreben bereits im 1./2. Jh. n.Chr. Sie
markiert darüber hinaus den Punkt, an dem antike Rhetorik und Epistolographie
sich mit antiker Theorie über Erzählkunst und Historiographie berührten: Wenn
zum Beispiel Lukas im Verlauf seiner narratio nicht nur treffliches Lokalkolorit
– zum Beispiel in Athen und Ephesus – aufträgt, nicht nur fiktive Briefe einstreut,
sondern sich in den Redeabschnitten der Apostelgeschichte auch der Mimesis be-
fleißigt – auf dem Areopag wird in Optativen parliert, während dem Petrus eine
patinierte, semitisierende Septuaginta-Sprache in den Mund gelegt wird –, dann
betreibt Lukas nichts anderes als Prosopopoiia. Jeder Narrator betreibt sie, wenn
er den Figuren der Erzählung Leben einhaucht und sie so zu »round characters«
ausgestaltet.
154 C. Werk
exordium bis peroratio durchläuft. Auf diese Weise ergänzen sich die Resultate der
epistolographischen und der rhetorischen Analyse nahtlos. Allen auf der Gala-
ter-Paränese basierenden Einwänden gegen die Betz’sche Gattungsbestimmung
»Apologie« ist in dieser Epistolographie und Rhetorik integrierenden Sicht, die
die Apologie schon in 5,6 enden lässt, der Boden entzogen. Darüber hinaus ver-
mag Kremendahl bei seiner integrativen Sicht die forensische Engführung der
Gattung »Apologie« zu überwinden, indem er überzeugende Belege für die Gat-
tung »apologetischer Brief« beibringt: v. a. den 2. Demosthenesbrief und den ent-
sprechenden Eintrag in der Musterbriefsammlung des Demetrius. Der Verteidi-
gungsbrief diente der apologetischen Selbstdarstellung seines Autors und konnte
– anders als die gerichtliche Verteidigungsrede – darauf verzichten, Namen der
Gegner und Anklagepunkte konkret zu benennen, was des Paulus Zurückhaltung
an diesem Punkt erklärt.
Auf dem eingeschlagenen integrativen Weg lohnt es sich weiterzugehen. Auf
ihm lösen sich Aporien ausschließlich rhetorischer Analysen.
Antike Erzähltheorien: Wie verhält sich schlussendlich die elaborierte antike
Redetheorie zu den – weniger ausgefeilten – antiken Ansätzen zu einer Theorie
des Erzählens, also zu antiker Poetik und Historiographie? Die von Betz und Ken-
nedy eingeschlagene Forschungsrichtung klärte diese Frage nicht hinreichend.
Dennoch stellt sie sich, denn die Paulusbriefe weisen narrative und biographische
Teile auf (z. B. Gal 1,13–2,21) und Erzählopera wie die Apostelgeschichte eine Fül-
le rhetorischer Strukturen. Was tragen antike Poetik und Historiographie im
Rahmen rhetorischer Analyse zum Verständnis neutestamentlicher Texte bei?
Am Versuch, antike Redetheorie zu antiken erzähltheoretischen Ansätzen ins
Verhältnis zu setzen, wirkten besonders Vernon Kay Robbins (Robbins 1984/1992;
1996) und andere Vertreter des sog. Socio-Rhetorical Criticism mit. Nach Robbins
sind zunächst die »rhetorisch-literarischen« Merkmale innerhalb eines neutesta-
mentlichen Textes zu identifizieren, damit sie nachfolgend mit literarischen For-
men und Inhalten der griechisch-römischen sowie jüdischen Umwelt verglichen
werden können. In einem nächsten Schritt ist schließlich nicht mehr der Text der
primäre Erkenntnisgegenstand, sondern die soziale Umwelt des Textes und der
ersten Rezipientinnen und Rezipienten. Welche sozialen Strukturen, ideolo-
gischen Systeme, impliziten und expliziten sozialen Werte und Verhaltenskonven-
tionen, welche kulturellen, insbesondere literarischen Formen kennzeichneten
diese Umwelt? Welche Erwartungshaltungen und unausgesprochenen Annahmen
dürfen aufgrund der Umwelt-Rekonstruktion beim Autor und der ersten Leser-
schaft vorausgesetzt werden, und wo wich der Text von Umweltkonventionen ab?
Für Robbins stellte sich Sinn in der ursprünglichen Kommunikationssituation
nur in Abhängigkeit vom Wissen der antiken Leser ein, d. h. vom damaligen so-
zio-kulturellen Kontext des Textes, und kann sich für heutige Leser deshalb nur
über die Kenntnis dieses (fremden) sozio-kulturellen Kontextes erschließen. Ver-
treter der »Neuen Rhetorik« würden einwenden wollen, dass sich nicht nur auf
diese Weise heute Sinn finden lässt. Darüber hinaus wird Robbins’ Bedenken so-
156 C. Werk
Bereits in der Antike bot die Rhetorik eine schillernde Fassade. Neutestament-
liche Wissenschaft wird noch mehr, als sie es bisher vermochte, der bereits anti-
ken Richtungsvielfalt Rechnung zu tragen haben.
Einzusetzen ist nochmals bei der Diskrepanz zwischen paulinischen Selbstaus-
sagen (kritische Distanz zu rhetorischen Mitteln) einerseits und den bei Paulus
dann doch diagnostizierbaren rhetorischen Vorgehensweisen andererseits. Volker
Siegert charakterisierte diese kritische Distanz treffend so: Paulus wies Logos »im
Sinne der zünftigen Rhetorik« zurück, »die die Anpassung an die Stilkriterien
einer Bildungsschicht verlangte und sich zum obersten Ziel setzte, das Auditori-
um über die Gefühle zu manipulieren, ohne Rücksicht auf Wahrheit« (Siegert
1985). Paulus lehnte also nicht jegliche rhetorische Kunst ab, sondern eine, die die
zu weckende πίστις (Glaube) des Auditoriums auf sprachlich verführerisches
Menschenwerk zu gründen suchte. Eine dermaßen gegründete πίστις suchte er zu
vermeiden. Kam dagegen das Evangelium in schwacher Gestalt daher und weckte
trotzdem πίστις, konnte eher behauptet werden, hier sei Dynamis Gottes (1Kor
2,5) am Werke gewesen.
Abgewehrt wurde mithin – so mussten es antike Rezipienten verstehen, die
zwischen sophistischer Rhetorik einerseits und platonischer und aristotelischer
Redekunst andererseits zu unterscheiden wussten – eine sophistische Wohlgefäl-
ligkeit, die manipulativ auf schnellen Erfolg beim Hörer zielte und an der Wahr-
heitsfrage letztlich nicht interessiert war, ja radikal skeptizistisch den Anspruch
auf Wahrheit für prinzipiell uneinlösbar hielt. Es zählten für die Sophisten ledig-
lich Meinungen, die nebeneinander standen, und wer die schwächere zur stär-
keren hochzujubeln vermochte, zeigte sich als besserer Redner (vgl. Arist.rhet.
1402a,24). Platonisch und aristotelisch ausgerichteten Rhetoren war diese Hal-
tung, die sich in der heutigen Werbeindustrie prolongiert, zuwider. Die antike
Rhetorik in ihren verschiedenen Gesichtern war gespalten, was den entschei-
denden Erklärungshintergrund für die genannte Diskrepanz bei Paulus abgibt.
1Thess 2,5 wendet sich überdeutlich gegen die sophistische Kolakeia, wie sie auch
Plato – mit derselben Vokabel (Plato Gorg. 463 B) – aufs Korn nimmt. Auch Se
neca kritisierte das leere sophistische Herumalbern (cavillatio), das wortklaube-
rische Haarspalten und rhetorische Trugschließen, das keinen ethischen Fort-
schritt beförderte (Sen.ep. 45,5; 48,6–12; 49,5 f.; 108; 111). Solche Kritik an einer
bestimmten Ausrichtung der Rhetorik hielt Seneca nicht davon ab, sich gleich-
wohl rhetorischer Mittel – reichlichen Redeschmucks und überlegter Dispositi-
onen – zu bedienen. Ebenso Paulus. Wie die bisherige rhetorische Paulusexegese
zu zeigen versuchte, lassen sich in den paulinischen Briefen – v. a. bei deren
I. Die Briefe des Paulus 157
Ein letzter Aspekt der dissimulatio artis ist zu bedenken. Künftiges Forschen wird
auch getreulich festzuhalten haben, was sich an der paulinischen Rhetorik nicht
vergleichen lässt, was also typisch paulinische, was christliche Rhetorik geworden
ist. Wolfgang Harnisch (Harnisch 1996) nannte die paulinische Rhetorik eine
»Sprache der Liebe«. Klaus Berger (Berger 1974a) hielt die Gattung der Paulus-
briefe für eine genuin christliche (»Apostelbriefe«), allenfalls aus jüdischen Vor-
bildern ableitbare. Wie immer man sich zu solchen Positionen stellen mag, die
Frage ist berechtigt: Beginnt eine genuin urchristliche Rhetorik sich zu entwi-
ckeln? Für das spätantike Christentum besonders eines Augustinus ist die Frage
zu bejahen. In seiner Rhetorik entwickelte Augustinus im Blick auf die Bibel eine
revolutionär eigenständige Texttheorie, eine Bibelhermeneutik, die sich nicht
mehr um dialogische Wahrheits-Ermittlung oder gar das Abwägen von Wahr-
scheinlichkeiten drehte, sondern, beeinflusst vom platonisch-ontologischen
Wahrheitsbegriff, auf die Vermittlung einer ewig vorgegebenen Wahrheit zielte.
Aber lassen sich Ansätze für eine genuin christliche Rhetorik bereits im Urchris
tentum entdecken? Die Antwort bedarf der Arbeit, denn dissimulationes lassen
mit gutem Gewissen sich erst dann behaupten, wenn alle auch nur möglichen
Vergleichstexte studiert wurden. Gleichwohl, der geschärfte Blick für dissimilitu-
dines dürfte – auch theologisch – fruchtbare Resultate bescheren.
Theologisch brisant wird es ebenfalls, wenn wir nicht nur fragen, an welchen
Stellen die Paulinen von der damaligen Rhetorik abwichen, sondern auch, was
passiert, wenn von ihnen das mit der damaligen Rhetorik Konforme abgezogen
wird. Lauri Thurén (Thurén 1999, 2000) forderte, den biblischen Text nicht nur
zu entmythologisieren, sondern auch zu »derhetorisieren«. Denn der rhetorische,
persuasive Charakter des antiken Textes versperre heutiger Leserschaft den Zu-
gang – noch mehr, als dies die mythologische Sprache tue. Zu fragen ist jedoch,
wie weit ein Abziehen der rhetorischen Sprachform vom Denken möglich ist oder
ob hier nicht eine Emanzipation vom antik-persuasiven Charakter ausgerechnet
auf dem Boden des antik-rhetorischen und nach postmodernem Verständnis
158 C. Werk
überholten Axioms der Unterscheidbarkeit von res und verba (Lampe 2012, 18–27)
versucht wird. Müsste diese Emanzipation radikaler ausfallen, um den Text heu-
tigen Leserinnen und Lesern zu öffnen? Auch an dieser Stelle stehen noch Dis-
kurse bevor.
Betz, Hans Dieter: Galatians. A Commentary on Paul’s Letter to the Churches in Galatia (Her-
meneia), Philadelphia 1979. 21984 = Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels
Paulus an die Gemeinden in Galatien, München 1988.
Classen, Carl Joachim: Paulus und die antike Rhetorik, ZNW 82, 1991, 16–26.
Kennedy, George A.: New Testament Interpretation through Rhetorical Criticism, Chapel Hill/
London 1984.
Lampe, Peter: Rhetorische Analyse paulinischer Texte – Quo vadit?: Methodologische Überle-
gungen, in: Sänger, Dieter/Konradt, Matthias (Hg.): Das Gesetz im frühen Judentum und
im Neuen Testament (NTOA 57), Freiburg (CH)/Göttingen 2006, 170–190.
Sampley, J. Paul/Lampe, Peter (Hg.): Paul and Rhetoric, New York/London 2010.
Peter Lampe
Kein einziger Paulusbrief ist datiert. Datierungen lassen sich nur indirekt er-
schließen aus den Angaben, die die Briefe über die Adressaten und die vorausge-
setzte Gesprächssituation machen. Das methodische Vorgehen besteht dabei da-
rin, diese Angaben in das Gerüst einer Paulus-Biographie ( B.I. und B.IV.) ein-
zuordnen. Den wichtigsten historischen Fixpunkt einer Paulus-Biographie stellt
der erste Korinth-Aufenthalt des Paulus dar. Apg 18,12–17 erzählt, dass Paulus bei
diesem Aufenthalt, der 18 Monate dauerte (18,11), vor dem römischen Statthalter
Gallio angeklagt wurde. Durch die 1905 in Delphi gefundene sog. Gallio-Inschrift
lässt sich das Amtsjahr Gallios als Statthalter der Provinz Achaia, der in Korinth
residierte, mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die Zeit vom 1.7.51 bis 30.6.52 datie-
ren ( B.I. und Schreiber 2008a, 266 f.). Daher wird man den Korinth-Aufent-
halt des Paulus etwa in der Zeit von Ende 50 bis Anfang/Mitte 52 ansetzen kön-
nen.
Einen weiteren Fixpunkt bildet die Überführung des Paulus nach Rom (mit der
sich dort anschließenden Gefangenschaft). Laut Apg 24,27 befand sich Paulus,
nachdem er in Jerusalem verhaftet worden war, unter dem römischen Prokurator
Felix zwei Jahre lang in Cäsarea in Haft. Erst die Ablösung des Felix durch Porcius
Festus brachte den Prozess voran. Nach seiner Amtsübernahme sandte Festus im
Herbst (Apg 27,9.12) desselben Jahres Paulus nach Rom (27,1). Obwohl auch
Josephus die Amtsübernahme durch Festus erwähnt (Flav.Jos.Bell. II 271; Ant. XX
182), fehlt eine genaue Datierung. Viel spricht für das Jahr 58, denn dann fügen
sich die v. a. von der Apostelgeschichte überlieferten Ereignisse nach dem Ko
rinth-Aufenthalt des Paulus zeitlich gut ein ( B.I. und Schreiber 2008a, 267 f.).
Nimmt man die Dauer der Reise dazu, dürfte Paulus im Frühjahr 59 in Rom an-
gekommen sein.
I. Die Briefe des Paulus 159
Geht man von diesen Daten als Grundgerüst aus, lassen sich in Relation dazu
Datierungen für die einzelnen Paulusbriefe begründen. Dabei handelt es sich
stets um Hypothesen, die auf historischen Wahrscheinlichkeitsurteilen basieren.
Als Ergebnis der historischen Paulus-Forschung wird die Authentizität von sie-
ben Briefen, die den Absender Paulus tragen, vorausgesetzt. Weiter ist bei der
zeitlichen Ansetzung heuristisch von der Einheitlichkeit dieser sieben Briefe aus-
zugehen (dazu Schreiber 2008, 258–260). Präferiert man umgekehrt – gerade im
Blick auf den 2. Korinther- oder den Philipperbrief – Briefteilungshypothesen,
müsste die zeitliche Einordnung im Einzelnen weiter differenziert werden.
Beim 1. Thessalonicherbrief lassen sich Zeit und Ort der Abfassung relativ klar
bestimmen. Damit stellt er den ältesten Paulusbrief und das älteste erhaltene
christliche Schriftstück überhaupt dar.
Paulus und seine Missionspartner Silvanus und Timotheus gründeten die Ge-
meinde in Thessalonich im Verlauf der Griechenland-Mission des Paulus, die im
Jahr 49 begann und zunächst in die makedonische Stadt Philippi führte. Apg
16,1–18,22 erzählt die Griechenland-Mission als zweite Missionsreise des Paulus,
auf der Thessalonich eine Station bildet (17,1–9). Nach dem Gründungsaufenthalt
in Thessalonich reisten die Missionare über Beröa (Apg 17,10–15) nach Athen
(17,16–34), von wo aus Paulus Timotheus nach Thessalonich sandte (1Thess 3,1 f.).
Mit guten Nachrichten kehrt dieser zurück (3,6). Wahrscheinlich trafen sich die
Missionare in Korinth wieder, wo sich Paulus – wie wir aus der Gallio-Inschrift
erschließen können – in den Jahren 50–52 etwa 18 Monate aufhielt (s. o.). Für
Korinth als Abfassungsort spricht, dass dort alle drei Missionare wieder zusam-
men waren (Apg 18,5) und so als Absender in 1Thess 1,1 fungieren konnten; mit
»Achaia« in 1Thess 1,7.8 dürfte konkret Korinth gemeint sein (vgl. den Sprachge-
brauch in 1Kor 16,15; 2Kor 9,2; 11,10; Röm 15,26). Auf Timotheus’ Bericht aus Thes-
salonich, der Paulus über die Entwicklung und die Probleme der dortigen Ge-
meinde informierte, reagierte Paulus mit einem Brief: dem 1. Thessalonicherbrief.
Paulus verfasste ihn also zu Beginn seines Korinth-Aufenthalts Ende 50/Anfang
51. Dass die Abfassung zu Beginn des Aufenthalts erfolgte, lässt sich mit zwei Be-
obachtungen begründen: Aus 1Thess 3,6–10 geht hervor, dass Timotheus erst
kürzlich aus Thessalonich zurückgekehrt war; am Briefende stehen keine Grüße,
weil es wohl noch keine Gemeinde in Korinth gab.
Abweichend davon vertreten Gerd Lüdemann (Lüdemann 1980, 272.281) und
Karl P. Donfried (Donfried 2002, 1–20.69–117) eine Frühdatierung des 1Thess
Anfang der 40er Jahre. Sie legen dabei einen kompletten Neuentwurf der Pau-
lus-Chronologie zugrunde, der aber nicht plausibel ist (zur Diskussion Schrei-
ber 2008a, 269–273). Das Argument, die Aussage in Phil 4,15 (»am Anfang des
Evangeliums, als ich wegging von Makedonien«) sei als Beleg für eine frühe Ver-
kündigung in Makedonien (Thessalonich) ganz zu Beginn der paulinischen Mis-
160 C. Werk
sion zu verstehen, überzeugt nicht, da sich Paulus hier eher auf die Erstverkündi-
gung in Philippi bezieht.
So ist der rege Austausch mit der Gemeinde in Philippi vom nahen Ephesus aus
leichter denkbar als vom entfernten Rom; mindestens vier Reisen sind vorauszu-
setzen: (1) Die Philipper erfahren durch einen Boten vom Gefängnisaufenthalt
des Paulus. (2) Sie senden Epaphroditus mit Unterstützung (Phil 4,18). (3) Sie
erhalten Nachricht von einer schweren Erkrankung des Epaphroditus (2,26).
(Vermutlich kam auch wieder die Nachricht zurück, dass man in Philippi darü-
ber informiert war – dann läge eine fünfte Reise eines Boten vor.) (4) Paulus
schickt den gesunden Epaphroditus nach Philippi zurück (2,25–28). – Da Paulus
von Rom aus nach Spanien reisen wollte (Röm 15,23 f.28), sprechen seine unmit-
telbaren Besuchspläne bei den Philippern (Phil 1,26; 2,24: »bald«) gegen eine Ab-
fassung in Rom. Auch ein »Prätorium« (1,13) und Leute »aus dem Haus des Kai-
sers« (4,22), womit wohl Sklaven oder Freigelassene aus dem großen Kreis der
familia Caesaris (wozu auch Klienten zählten) oder der kaiserlichen Bediensteten
gemeint sind, gab es nicht nur in Rom (Bormann 1995, 199.213; Gnilka 41986,
57 f.182). Und dass die Philipper »jetzt« von einem »Kampf« des Paulus hören
(1,30), legt eine kürzlich eingetretene Inhaftierung nahe; der Gefangenschaft in
Rom ging jedoch bereits eine zweijährige Haftzeit in Cäsarea voraus.
Wurde der Philipperbrief also wahrscheinlich in Ephesus verfasst, ist eine Da-
tierung gegen Ende des Ephesus-Aufenthalts am Anfang des Jahres 55 anzuneh-
men. Nach seiner Freilassung hat Paulus die Stadt wohl bald in Richtung Grie-
chenland (»Makedonien«, Apg 20,1) verlassen.
Michael Theobald (Theobald 2008a, 367–375) nimmt eine Teilung des vorlie-
genden Philipperbriefs in Phil A (1,1–3,1a; 4,2–7; 4,10–23) und Phil B (3,1b–4,1;
4,8 f.) vor. Phil A datiert er in die Zeit des Ephesus-Aufenthalts, für Phil B nimmt
er eine etwas spätere Abfassung nach einem zweiten Besuch in Philippi (vgl. 2Kor
2,13; 7,5; Apg 20,1 f.) und während eines erneuten Korinth-Besuchs an (aaO. 376–
379).
Die Situation des Paulus bei der Abfassung des Philemonbriefs erinnert an die
Umstände, unter denen der Philipperbrief entstand: Paulus befindet sich im Ge-
fängnis (Phlm 1.9.13), Timotheus ist als Mitarbeiter bei ihm (1.23 f.) und die Haft-
bedingungen erlauben die Abfassung eines Briefes. Derzeit mehren sich die Stim-
men der Exegetinnen und Exegeten, die die römische Gefangenschaft des Paulus
als Hintergrund und damit eine Datierung Anfang der 60er Jahre bevorzugen
(Schnelle 72011, 166 f.; Gielen 2006, 82; Ebner 2008, 402–404; Dunn 2009,
509.1031). Nachdem die Angaben im Philemonbrief selbst ausgesprochen dürftig
sind, hängt viel an den Voraussetzungen: Warum hat der Sklave Onesimus seinen
Herrn Philemon verlassen? An welchem Ort ist die Hausgemeinde des Philemon
zu lokalisieren?
Die Annahme, bei Onesimus handle es sich um einen geflohenen Sklaven (fu-
gitivus), ist seit den Überlegungen von Peter Lampe (Lampe 1985) kaum noch
plausibel. Eher suchte Onesimus angesichts eines Konfliktfalles mit seinem Herrn
in Paulus einen Fürsprecher und hält sich dazu ohne Zustimmung seines Herrn
162 C. Werk
außerhalb des Haushaltes auf (ob man dabei von der Rechtsfigur eines erro spre-
chen darf, wird diskutiert; Harrill 1999; Arzt-Grabner 2004a).
Das einzige Indiz für eine Lokalisierung der Hausgemeinde des Philemon sind
die intertextuellen Bezugnahmen des Kolosserbriefs auf Personen, die zur Haus-
gemeinde des Philemon zählten (Onesimus in Kol 4,9 und Archippus in 4,17). Die
Beweiskraft dieses Indizes ist gering, da der Kolosserbrief ein pseudepigraphi-
sches Schreiben darstellt, das sich durch die Bezugnahmen auf die frühe Gemein-
de in Kolossä Glaubwürdigkeit sichert. Freilich ist die Glaubwürdigkeit höher,
wenn sie mit der Erinnerung an eine historische Hausgemeinde des Philemon in
Kolossä korrespondiert, als wenn es sich um eine reine Fiktion handelt. Daher
spricht immer noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für diese Lokalisierung
(Wengst 2005, 29).
Gegen Rom als Ort der Hausgemeinde und der paulinischen Gefangenschaft
(so Ebner 2008, 404) lässt sich einwenden, dass in der Situation lokaler Nähe die
Abfassung eines Briefes und der Verzicht des Philemon auf einen persönlichen
Besuch bei Paulus im Gefängnis schwerer erklärbar werden; Besuche bei In-
haftierten waren, da es sich in der Antike um Sicherungshaft und keine Strafe
handelte, die Regel und sogar notwendig, um die Gefangenen mit Nahrung zu
versorgen (Krause 1996). Umgekehrt ist die Wegstrecke von Kolossä nach Ephe-
sus, etwa 170 km, in einigen Tagen zu bewältigen. Dass ein Sklave z. B. als Brief-
bote seines Herrn unterwegs war, ist nicht außergewöhnlich (Hinweise auf pri-
vate Briefboten z. B. bei Cic.fam. IX 15,1; Att. II 12,2), und manche Sklaven schei-
nen eine solche Reise durchaus genutzt zu haben, um sich Freiräume zu
verschaffen – Cicero erwähnt einen Sklaven, der 40 Tage vertrödelte, bevor er ei-
nen Brief überbrachte (fam. VIII 12,4).
Insgesamt scheint eine Abfassung des Philemonbriefs während einer Inhaftie-
rung des Paulus in Ephesus in zeitlicher Nähe zum Philipperbrief die größere
Wahrscheinlichkeit zu besitzen.
Die Inhaftierung des Paulus in Ephesus endete unerwartet glücklich, Paulus wird
freigelassen (2Kor 1,8–10). Bald darauf dürfte er Ephesus verlassen haben. Es
schließt sich die sog. Kollektenreise durch Makedonien und Achaia in den Jahren
55/56 an (Apg 19,21; 20,1–3; 1Kor 16,5 f.; 2Kor 1,15 f.23; 2,12 f.). Paulus sammelte da-
bei die beim Jerusalemer Treffen vereinbarte Kollekte der paulinischen Gemein-
den für die Jerusalemer Urgemeinde. Ziel der Reise war offenbar Korinth.
Um den 2. Korintherbrief chronologisch einordnen zu können, muss man die
Beziehung zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde nach Abfassung des
1. Korintherbriefs (soweit möglich) einbeziehen. Die folgenden Ereignisse spielen
sich zum großen Teil noch in den Jahren 54/55 während des Ephesus-Aufenthalts
ab, der dadurch weitere Konturen gewinnt, geht man dabei heuristisch von der
Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs aus (zur Diskussion Schmeller 2008a, 332–
I. Die Briefe des Paulus 163
336). Nach dem 1. Korintherbrief geriet das Verhältnis des Paulus zur Gemeinde
in eine Krise. Sichtbar werden für uns folgende Geschehnisse: (1) Paulus reiste
von Ephesus aus, wo er den 1. Korintherbrief verfasst hatte, nach Korinth zum
sog. Zwischenbesuch, der indirekt in 2Kor 12,14; 13,1 f. durch die Ankündigung
eines dritten Besuchs bezeugt wird. (2) Dieser Besuch endete in einer scharfen
Konfrontation mit einem Gemeindeglied, dessen Verhalten ihm gegenüber Pau-
lus als Unrecht wahrnahm (2Kor 2,1–11; 7,12). (3) Persönlich verletzt, kehrte Pau-
lus nach Ephesus zurück, womit er seine ursprünglichen Reisepläne änderte, an
die er in 2Kor 1,15 f. erinnert. Anstelle eines erneuten Besuches (1,23) schickte Pau-
lus einen Brief durch den Boten Titus (7,6 f.13 f.) nach Korinth, den sog. Tränen-
brief (vgl. 2,3 f.; 7,8.12), in dem er seiner Betrübnis deutlichen Ausdruck verlieh.
(4) Paulus verließ (nach seiner Gefangenschaft) Ephesus und zog zu weiterer Ver-
kündigung nach Troas, von wo aus er jedoch bald wieder in Richtung Makedo-
nien aufbrach (2,12 f.). Dort traf er endlich den aus Korinth kommenden Titus
(7,5–16), der positive Nachrichten von der dortigen Gemeinde mitbrachte. Der
Tränenbrief hatte offenbar den gewünschten Erfolg erzielt.
Zusammen mit Timotheus (2Kor 1,1), der vermutlich die Kollektenaktion in
Makedonien erfolgreich betrieben hatte (1Kor 4,17; 16,10; 2Kor 8,1–5), verfasste
Paulus den 2. Korintherbrief als Reaktion auf die Nachrichten des Titus. Dem-
nach wurde dieser Brief in Makedonien (2Kor 7,5; 8,1; 9,2.4) wohl gegen Ende des
Jahres 55 geschrieben. In der exegetischen Forschung ist diese Rekonstruktion
weithin anerkannt (z. B. Schmeller 2008a, 337 f.; Schnelle 72011, 93 f.; Dunn
2009, 834–838).
Schwerer fällt die Datierung des Galaterbriefs, weil der Brief kaum Hinweise
auf Ereignisse enthält, die sich zeitlich einordnen lassen. Es sind letztlich zwei
Indizien, die zu einer Datierung führen können. (1) Der Galaterbrief zeigt auffäl-
lige Berührungen in Aufbau und Inhalt mit dem Römerbrief. Das zentrale Thema
beider Briefe bildet das richtige Tora-Verständnis aus der Sicht der neuen Bezie-
hung zu Christus. Der Römerbrief argumentiert jedoch ausgeglichener und
grundsätzlicher, während der Galaterbrief stark zuspitzt und polemisiert. (2)
Nach Gal 2,10b muss die Kollektenaktion der paulinischen Gemeinden zugunsten
der Jerusalemer Urgemeinde bereits weit fortgeschritten oder schon abgeschlos-
sen sein. Die Angabe fügt sich in eine zeitliche Abfolge der verschiedenen Kollek-
tennotizen in den Paulusbriefen ein: 1Kor 16,1 erwähnt die Anordnung der Kol-
lekte in Galatien; 2Kor 8–9 gibt Anweisungen für die Kollekte; Gal 2,10b spricht
vom Fortschritt bzw. Abschluss; Röm 15,26 bezieht sich deutlich auf den Ab-
schluss der Kollekte in Makedonien und Achaia. Diese Indizien deuten darauf
hin, dass Paulus den Galaterbrief in zeitlicher Nähe zum Römerbrief, nach dem 1.
und 2. Korintherbrief und vor dem Römerbrief und damit gegen Ende des Jahres
55 in Makedonien, also noch während der Kollektenreise, geschrieben hat
(Schnelle 72011, 111–113; Theobald 2008, 359).
Diskussionspotential um die Datierung des Galaterbriefs entsteht, wenn man
wahrnimmt, dass für den Begriff »Galatien« in der Adresse Gal 1,2 zwei unter-
164 C. Werk
schiedliche referentielle Bezüge möglich sind: (1) Es kann die Landschaft Galatien
um die Städte Ankyra (heute Ankara), Pessinus und Tavium gemeint sein (sog.
Landschaftshypothese). (2) Es kann aber auch die römische Provinz Galatia so
bezeichnet werden, womit ein größeres Gebiet umfasst wäre: die Landschaft Ga-
latien und der Südosten Kleinasiens, also Pisidien, Pamphylien und Lykaonien
(sog. Provinzhypothese).
Die Relevanz dieser Alternative für die Datierung des Gal besteht darin, dass
bei einer Entscheidung für die Provinzhypothese eine Frühdatierung möglich
wäre. Denn die Gründung der galatischen Gemeinden könnte dann in Apg 13–14
reflektiert und somit bereits auf der sog. ersten Missionsreise des Paulus in den
Städten Perge (in Pamphylien), Antiochia (in Pisidien), Ikonion, Lystra und Der-
be (in Lykaonien) erfolgt sein. Dann wäre es möglich, Gal schon während der
Griechenland-Mission des Paulus (Philippi, Thessalonich) unterzubringen und
so als ältesten Paulusbrief zu deklarieren (z. B. Riesner 1994, 250–259; während
des Korinth-Aufenthalts: Dunn 2009, 720–725).
Während in neuerer Zeit etliche Forscher für die Provinzhypothese argumen-
tieren (bes. Breytenbach 1996, 99–173; Witulski 2000, 215–224; Schäfer 2004,
290–315), sprechen doch die stärkeren Argumente nach wie vor für die Land-
schaftshypothese; wichtige Überlegungen sind (weitere bei Theobald 2008, 352–
355): (1) Bei der Schilderung seiner frühen Mission in Gal 1,21 erwähnt Paulus
nichts von einer Gründung der galatischen Gemeinden, obwohl dies sein Argu-
mentationsziel, die Unabhängigkeit seines Apostolats von der Jerusalemer Urge-
meinde, gewichtig unterstützt und direkt auf die Galater angewendet hätte. Die
Provinzhypothese setzt jedoch voraus, dass Paulus die Gemeinden in Galatien
während der ersten Missionsreise (Apg 13–14) gründete. (2) Auf der ersten Missi-
onsreise spielte Barnabas eine entscheidende Rolle. Gal 1,1.8 f.; 4,12–14 gehen hin-
gegen von der alleinigen Gründung der Gemeinden durch Paulus aus (Koch
1999, 94–97). (3) In der Apostelgeschichte bezeichnen Pisidien (Apg 13,14; 14,24),
Lykaonien (14,6.11) und eben auch das »galatische Land« (16,6; 18,23) jeweils
Landschaften (aaO. 89). (4) Auch nach der verwaltungstechnischen Zusammenle-
gung zur römischen Provinz behielten die einzelnen Völker ihre kulturelle Iden-
tität; die Anrede »dumme Galater« in Gal 3,1 kann sich kaum auf Pisidier oder
Lykaonier beziehen. (5) Die Landschaftshypothese lässt sich unkomplizierter mit
den Angaben in Apg 16,6 und 18,23 verbinden, die jeweils einen Aufenthalt des
Paulus im »galatischen Land« erwähnen; ohne dass die näheren Umstände der
Gemeindegründung durch die Notizen der Apostelgeschichte erhellt würden,
könnten sich ein Gründungsbesuch (16,6) und ein weiterer Besuch (18,23), den
auch Gal 4,13 erwähnt, darin spiegeln.
Mit der Präferenz der Landschaftshypothese bleibt auch die oben wahrschein-
lich gemachte Spätdatierung des Galaterbriefs Ende des Jahres 55 die plausiblere
Lösung.
I. Die Briefe des Paulus 165
2.1.1. Datierung
Der 1. Thessalonicherbrief ist der älteste erhaltene Brief des Paulus. Seine Echtheit
ist nicht umstritten. Dieser Brief bietet Einblicke in ein frühes Stadium der Ent-
wicklung der Verkündigung und der Theologie dieses urchristlichen Missionars,
wie sie in seinen brieflichen Äußerungen greifbar werden. Zugleich ist der 1.
166 C. Werk
2.1.2. Adressaten
2.1.3. Aufbau
2.1.4. Form
Wie bereits durch die Hinweise zu Inhalt und Aufbau des Briefes erkennbar wur-
de, ist im Proömium und im ersten Hauptteil des Briefes der Dank des Paulus für
die Gemeinde ein prägendes Thema. Dieser Dank bezieht sich darauf, dass die
Gemeinde die Missionsverkündigung des Paulus trotz der sie begleitenden Be-
drängnisse offen aufgenommen hatte, wodurch auch eine positive Wirkung über
Thessalonich hinaus entstanden war (1,2–10). Durch diese Resonanz des Evange-
liums sieht Paulus seine Evangeliumsverkündigung offensichtlich bestätigt. Dies
ermutigt ihn, der Gemeinde gegenüber stützend und ermahnend aufzutreten,
zumal er von Timotheus aus Thessalonich gute Nachrichten über die Entwick-
lung in Thessalonich erhielt (3,6–10). Auffallend ist die Nähe, die Paulus zu dieser
jungen Gemeinde empfindet. Er drückt dies an verschiedenen Stellen in seiner
Redeweise durch Metaphern aus, die dem Bereich der Familie entnommen sind
(2,7–12.17–20: Vater, Mutter, Kinder). Nähe und Autorität des Apostels gegenüber
der Gemeinde in Thessalonich werden von Paulus damit zur Sprache gebracht,
ebenso soll die Identität der Gemeinde vor Ort als eine gegenseitig verantwort-
liche Gemeinschaft gestärkt werden.
Die Grundlage schon der ursprünglichen paulinischen Missionspredigt wie
auch durchgängig der Argumentation des Briefes selbst ist das Christusgesche-
hen, in dem Gott heilvoll an den Glaubenden handelt. Im 1. Thessalonicherbrief
170 C. Werk
bildet die Erinnerung an das Heilshandeln Gottes eine große Inklusion mit den
Sätzen 1,9 f. und 5,9 f., die aufeinander bezogen interpretiert werden müssen. Der
lebendige und der gegenüber den Götzen, von denen sich die Gemeinde abge-
wendet hat, einzig wahre Gott hat die Glaubenden durch das Christusgeschehen,
genauer durch den Tod Jesu (5,10), in den Zusammenhang des Heils versetzt. Die-
ses Heil wird in beiden Texten zunächst dadurch näher bestimmt, dass es eine
Befreiung vom Endgericht Gottes für die Glaubenden bedeutet, wodurch deren
Konversion bestätigt wird und diese zugleich zu einem Leben in der Heiligung,
also in der möglichen Entsprechung des Gotteswillens, ermutigt werden (Kon-
radt 2003). Positiv bedeutet das Heil die Gemeinschaft mit dem auferstandenen
und vom Himmel her erwarteten Christus. Diese Christusgemeinschaft bedeutet
Leben schlechthin.
In der Forschung wird die Frage diskutiert, ob das Heilsgeschehen, wie es im 1.
Thessalonicherbrief von Paulus dargestellt wird, bereits ein Rechtfertigungsge-
schehen meint, wie dies im Galater- und im Römerbrief erkennbar wird. Damit
ist die Möglichkeit einer Entwicklung der paulinischen Theologie verbunden. Es
ist festzustellen, dass Paulus im 1. Thessalonicherbrief tatsächlich noch nicht aus-
drücklich rechtfertigungstheologisch argumentiert. Ebenfalls fehlen anthropolo-
gische Grundbegriffe, die in seinen späteren Briefen in diesem Kontext Verwen-
dung finden (Fleisch, Tod, Leib, Freiheit). Die Verknüpfung von Gottes Heilshan-
deln mit dem Christusgeschehen sowie die Interpretation des Todes Jesu bilden
das Kontinuum der paulinischen Soteriologie. Dabei ist wahrzunehmen, dass
Paulus sein Verständnis des Heilshandelns Gottes jeweils in solchen Interpretati-
onen vorlegt, die eng verbunden sind mit den Situationen, in welchen er die je-
weiligen Briefe geschrieben hat. Dass sich das Denken dieses urchristlichen Mis-
sionars und Theologen weiterentwickelt, sprachlich konkretisiert oder verändert,
muss nicht bedeuten, dass er den Kern seiner Verkündigung korrigiert hätte.
Im gesamten 1. Thessalonicherbrief ist erkennbar, dass Paulus davon ausgeht,
dass die Glaubenden von Gott zum Heil erwählt worden sind (1,4; 2,12; 4,7;
5,9.24). Die Erwählung durch Gott verschafft den Glaubenden die Möglichkeit,
aber auch die Verantwortung, in der Heiligung zu leben, wodurch sie sich als
Gemeinde von ihrer Umgebung konkret unterscheiden und nach innen ein der
erwarteten Christusgemeinschaft entsprechendes Leben führen können (4,1–12;
5,1–11). Die im zweiten Hauptteil des 1. Thessalonicherbriefs von Paulus entfal-
teten Paränesen haben ihren Grund also wiederum in Gottes Heilshandeln, das
freilich nicht nur ein Geschehen der Vergangenheit ist. Der Brief ist durchgängig
von der Erwartung des künftigen und unverbrüchlichen Heils bestimmt, das in
der Christusgemeinschaft mit dem vom Himmel her wiederkommenden Chris
tus besteht.
Genau an dieser Stelle der Erwartung des künftigen und unverbrüchlichen
Heils brechen für die Gemeinde in Thessalonich existentielle Fragen auf, die das
Selbstverständnis ihrer christlichen Identität bedrohen. Offensichtlich hat die
von Paulus missionierte Gemeinde in der Erwartung gelebt, dass zu ihren Lebzei-
I. Die Briefe des Paulus 171
ten Christus vom Himmel her wiederkommen und so die vollkommene Chris
tusgemeinschaft entstehen würde. Die Passage in 1Thess 4,13–18 lässt erkennen,
dass es Todesfälle in der Gemeinde gab, wodurch die Heilserwartung der Glau-
benden in Thessalonich infrage gestellt wurde. Konkret bestand die Befürchtung,
dass die Verstorbenen nicht an der erwarteten Christusgemeinschaft teilhaben
könnten. Der sich ausbreitenden Hoffnungslosigkeit, die einen Verlust des Heils
bedeuten würde (4,13), begegnet Paulus mit einer Entfaltung seiner futurisch-
eschatologischen Vorstellungen, die er in apokalyptischer Motivik und vor dem
Hintergrund von Jesustradition beschreibt. Das Fundament seiner Zukunftsvor-
stellungen ist wieder das Christusgeschehen, genauer die Auferstehung Jesu
(4,14). Paulus versichert, dass die lebenden Glaubenden gegenüber den verstor-
benen Glaubenden keinen Vorteil haben. Die als Glaubende Verstorbenen (4,16)
werden bei der sich durch apokalyptische Zeichen ankündigenden Wiederkunft
Christi zuerst auferstehen, dann werden die lebenden mit den auferstandenen
Glaubenden gemeinsam von der Erde, dem Ort des Leidens und des Todes, weg-
genommen werden und Christus ›in der Luft‹ begegnen, um so in die immerwäh-
rende Christusgemeinschaft aufgenommen zu werden (4,17). Mit diesen Aussa-
gen zur futurischen Eschatologie will Paulus die irritierte Gemeinde trösten und
stärken. Sie lassen aber auch erkennen, dass Paulus in seiner ursprünglichen Mis
sionspredigt davon ausging, dass die Glaubenden noch zu ihren Lebzeiten das
Kommen des Kyrios vom Himmel her erwarten könnten. Das hat offensichtlich
dazu geführt, dass er wohl von der Auferstehung des Christus geredet hatte, aber
nicht von der Auferstehung der Glaubenden. Die Rede von der Auferstehung der
Glaubenden ist ein Topos, der erst aufgrund der konkreten Entwicklung inner-
halb der frühen Gemeinden ein notwendiges Theologumenon wurde. Wie ein
Blick auf 1Kor 15 zeigt, wird die Auferstehung der Glaubenden mit fortschreiten-
der Zeit bei sich wandelnden konkreten Vorstellungen für Paulus und seine Ge-
meinden ein zunehmend wichtiges Thema.
Die den zweiten Hauptteil des 1. Thessalonicherbriefs abschließende Paränese
5,1–11 wird dadurch eindringlich, dass Paulus den Zeitpunkt der Wiederkunft
Christi, der mit dem traditionellen Motiv des ›Tages des Herrn‹ identifiziert wird,
als nicht vorhersehbar beschreibt. In der Erwartung des Kyrios muss die Gemein-
de wachsam und in ihrem Lebenswandel gegenüber der Außenwelt und in ihren
inneren Strukturen dem Heilsgeschehen entsprechend, also in der Heiligung le-
ben. Dies schreibt Paulus nicht als einen Appell, er erinnert vielmehr die Gemein-
de an ihren Status als ›Kinder des Lichts‹ und als ›Kinder des Tages‹ (1Thess 5,5).
Mit diesem Brief befestigt Paulus seine Verbundenheit mit der Gemeinde in
Thessalonich, um diese zugleich in der von außen bestehenden Bedrohtheit und
der Gefährdung ihrer Glaubensgewissheit durch die aufbrechenden Fragen nach
dem Schicksal der verstorbenen Glaubenden in ihrem heilvollen Status vor Gott
zu bestärken und sie auf ein der erwarteten Christusgemeinschaft entsprechendes
Leben zu verpflichten.
172 C. Werk
Bereits in diesem frühen Brief zeigt Paulus, wie die Themen von Soteriologie,
Eschatologie und Ethik eine integrale Einheit bilden und das Leben der Gemein-
den prägen können. Er geht abschließend davon aus, dass Gott selbst die Glau-
benden in ihrer Ganzheit bis zur Wiederkunft des Kyrios in diesem dem Heilsge-
schehen entsprechenden Leben halten werde. Gott erweist sich für Paulus als das
Subjekt des Heils schlechthin.
Brocke, Christoph vom: Thessaloniki – Stadt des Kassander und Gemeinde des Paulus. Eine
frühe christliche Gemeinde in ihrer heidnischen Umwelt (WUNT II 125), Tübingen 2001.
Donfried, Karl P.: The Cults of Thessalonica and the Thessalonian Correspondence, NTS 31,
1985, 336–356.
Ders./Beutler, Johannes (Hg.): The Thessalonians Debate. Methodological Discord or Meth-
odological Synthesis, Grand Rapids/Cambridge 2000.
Konradt, Matthias: Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Ge-
richtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor
(BZNW 117), Berlin/New York 2003, 23–196.
Luckensmeyer, David: The Eschatology of First Thessalonians (NTOA/StUNT 71), Göttingen
2009.
Christof Landmesser
seitig betont von z. B. Mitchell 1991; für Lindemann 2000 verklammert ferner
das Motiv des Auferbauens der Gemeinde). Im Proömium fasst Paulus entspre-
chend den Gesamtbrief ins Auge, wenn er mit »jede Rede und Erkenntnis« (1,5)
zunächst auf Kap. 1–4 und das dortige Überschätzen von Weisheitsrede durch die
Korinther (vgl. 1,17; 2,1.4.13) und dann auf die »Erkenntnis« der Starken in
Kap. 8–10 vorverweist, während die Fülle des Geistbegabt-Seins (1,7) Kap. 12–14
vorbereitet. Die älteste erhaltene Papyrusabschrift, P46 von ca. 200 n.Chr., enthält
den gesamten Brief (mit Lücken nur bei 9,3; 14,15; 15,16).
Als Glosse – am ehesten aus der Zeit der Pastoralbriefe – wird mit guten Grün-
den lediglich 14,33b–36 diskutiert. Dieser wie 1Tim 2,11 f. die Frauen in der Ge-
meindeversammlung zum Schweigen anhaltende Text (ursprünglich vermutlich
eine Randglosse, über deren Stellung im Text in der Handschriftenüberlieferung
Unsicherheit herrschte) unterbricht den Duktus des Kontextes – 14,37 schließt an
14,33a an – und steht in Widerspruch zu 11,5, wo Paulus es als selbstverständlich
voraussetzt, dass auch Frauen in der Gemeindeversammlung das Wort ergreifen.
Die Formel »wie auch das Gesetz sagt« (14,34) benutzt Paulus sonst nie. Die Stich-
worte »schweigen« und »sich unterordnen« (14,30.32) motivierten die Glosse.
2.2.2. Vorgeschichte
Paulus gründete die korinthische Gemeinde während seiner ersten von der anti-
ochenischen Gemeinde unabhängigen Missionsreise (1Kor 9,14–18; 1,26–2,5; 2Kor
11,7–10; Apg 18). Von Makedonien und Athen im Jahr 50 n.Chr. nach Korinth
kommend, wirkte er etwa anderthalb Jahre in der blühenden Hafen- und Han-
delsstadt. Seinen Lebensunterhalt bestritt er als Zeltmacher in der Werkstatt
Aquilas und Priszillas, um die Korinther nicht zu belasten (1Kor 9; 2Kor 11,7–10;
12,13; Apg 18,1–3). Auch unterstützten sein korinthisches Missionswerk zu einem
späteren Zeitpunkt makedonische Christen, namentlich in Philippi, mit einer
Geldsendung (2Kor 11,7–10; Phil 4,14–16). Personell assistierten ihm Timotheus
und Silas, die aus Thessalonich nach Korinth nachgereist waren (1Thess 3,6; 2Kor
1,19; Apg 18,5). Sie zeichneten als Koautoren des in Korinth geschriebenen 1. Thes-
salonicherbriefs (1Thess 1,1).
Zuerst in der Synagoge predigend, überzeugte Paulus sogar den Synagogenvor-
steher Krispus (1Kor 1,14; Apg 18,4.8). Als Erstbekehrten der Achaia taufte er Ste-
phanas und dessen Haus, daneben Gaius, in dessen Haus die gesamte Gemein-
deversammlung Platz fand (1Kor 1,14–16; 16,15; Röm 16,23). Der Missionserfolg
griff auch auf Korinths ägäische Hafensiedlung Kenchreä über, wo Phoebe eine
Hausgemeinde förderte (Röm 16,1 f.). Die Majorität der korinthischen Bekehrten
waren Heidenchristen (1Kor 12,2), vermutlich zumeist »Gottesfürchtige« aus der
Synagoge. Sie rekrutierten sich aus den unteren Schichten; nur eine kleine Zahl
nahm sich sozial arrivierter aus (1,26).
Im Jahr 52 ließ sich Paulus für zwei bis drei Jahre in Ephesus nieder. Von dort
schrieb er einen ersten, heute verlorenen Brief nach Korinth (1Kor 5,9), den wahr-
174 C. Werk
scheinlich Titus und ein Anonymus überbrachten; beide initiierten als Abgesand-
te Pauli in Korinth die Kollektensammlung für Jerusalem (2Kor 8,6.10; 12,17 f.).
Die Korinther schrieben einen Brief zurück mit Fragen zur Sexualität (1Kor 7). Ob
dieser auch weitere Anfragen zum Verzehr paganen Opferfleisches (8,1), zu den
Geistesgaben (12,1), zur Kollekte und zu einem erneuten Besuch des Alexandriners
Apollos (16,1.12), der in Korinth nach Paulus’ Weggang missioniert hatte, beinhal-
tete, lässt sich nicht erweisen. Paulus antwortete im Frühjahr 54 (oder 55) im 1.
Korintherbrief auf diesen Fragebrief und ging zugleich auf Probleme ein, die er
durch christliche Ephesusreisende aus Korinth vernahm, von Domestiken einer
Chloe sowie von Stephanas, Fortunatus und Achaikus (1,11; 16,17). Letztere, mit
apostolischen Empfehlungen ausgestattet (16,15–18), überbrachten wahrschein-
lich den 1. Korintherbrief, als sie nach Korinth zurückreisten.
Apollos’ Wirken in Korinth gab zu Spekulationen Anlass, die von Paulus kriti-
sierte Vorliebe der Korinther für »Weisheit« (1Kor 1–4) sei von jüdisch-alexandri-
nischer Weisheitstheologie beeinflusst gewesen, sodass zur Rekonstruktion ko-
rinthischer Theologie etwa Sapientia Salomonis, Aristobul und v. a. Philo zu kon-
sultieren seien (vgl. Sellin 1987). Doch gibt Paulus nirgends einen Hinweis
darauf, welchen Inhaltes die von den korinthischen Apostelparteien geschätzte
»Weisheit« war. Deren Weisheitsleidenschaft könnte schlicht von griechisch-rö-
mischer Philosophie (z. B. Betz 2004) oder Rhetorik (z. B. Winter 1997) angeregt
gewesen sein. In der Tat bedürfen viele der korinthischen Probleme keines inner-
theologischen Herleitens, sondern sie lassen sich vor dem kulturellen Hinter-
grund der moralisch freizügigen (z. B. Strabo 8,6,20) Hafenstadt Korinth verste-
hen: Oftmals setzten die Korinther vorbaptismales Verhalten fort, etwa Prostitu-
ierte zu besuchen, vor öffentlichen Gerichten gegeneinander zu prozessieren
(1Kor 6), sich zu Mahlzeiten mit paganem Opferfleisch einladen zu lassen (8–10)
oder als Frau ohne Kopfbedeckung in der Öffentlichkeit zu erscheinen (11). Auch
gingen sie von griechischer dichotomischer Anthropologie aus, wonach Seele und
Körper zu trennen seien (6,12–20: was mit dem Körper geschieht, tangiere nicht
die Christusbeziehung; 15: keine leibliche Auferstehung; zu Alternativinterpreta-
tionen der Auferstehungsleugnung einiger Korinther: Vos 1999), was dem holis-
tischer orientierten Paulus zuwider war. Ihre antagonistischen Apostelparteien –
sie verehrten jeweils den Apostel, der sie ins Christentum eingeführt hatte, sei es
Paulus, Apollos oder Petrus (1–4) – scheinen griechisch-römischen Schüler-Leh-
rer-Verhältnissen sowie der Polemik zwischen verschiedenen Philosophen- oder
Rhetorikschulen nachempfunden worden zu sein, wenn nicht gar hellenistischen
Mysterienkulten, in denen neu Eingeweihte ein enges Verhältnis mit ihren Mys-
tagogen verband (z. B. Apul.met. 11,25,7–11,26,1; 11,21,3–11,23,5).
Als theologisches Profil der Korinther genügt es, einen übersteigerten pneuma-
tischen Enthusiasmus anzunehmen, der Zungenrede für das Nonplusultra hielt
I. Die Briefe des Paulus 175
(a) An der Oberfläche führt 1,18–25 aus, dass das Evangelium vom Kreuz an
nichts anknüpft, was pagan-griechische und jüdische Religiosität bislang über
Gott dachten. Dass Gott am Ort höchster Schande und Schwäche Heil schaffte,
passt weder zu griechischer Weisheit über Gott noch zu jüdischen Gottesvorstel-
lungen, die Gott in Manifestationen der Stärke handeln lassen. Das Kreuzesevan-
gelium ist deshalb »Torheit« und »Anstoß« für die Welt. Doch da es von Gott
autorisierte Wahrheit repräsentiert, wird es zur von Gott akzeptierten »Weisheit«
(dgl. 2,6–9) und Menschen rettenden »Kraft«, während der Welt Weisheit über
Gott vom Kreuzesevangelium ins Abseits gesetzt wird: sie wird in Gottes Augen
zur Torheit.
(b) In 1,26–31 liefert Paulus einen ersten empirischen Beleg für die Grundsatz
these, dass das Kreuzesevangelium mit in der Welt gültiger Weisheit nichts ge-
mein hat. Gott erwählte sich in Korinth v. a. die sozial Schwachen und Ungebil-
deten, überging jedoch weitgehend die in der Welt als weise Geachteten. In der
Sozialstruktur der Gemeinde (1,26–31) bildet sich so die Niedrigkeit des Kreuzes
Christi ab; sie ist Ausdruck christlicher Kreuzesexistenz.
(c) Einen zweiten empirischen Beleg dafür, dass Evangelium und Menschen-
weisheit nichts gemein haben, liefert 2,1–5 (1,17b). Als Paulus die Gemeinde grün-
dete, kam sein Kreuzesevangelium nicht im prächtigen Gewand sophistisch
»überredender« Rhetorik und »Weisheit« daher, sondern in »Schwachheit« mit
»Zittern«, und dennoch entfaltete es gemeindebildende »Kraft«. In der Predigt-
form bildete sich ihr Inhalt, ein schwacher Gekreuzigter, ab. Die äußere Schwä-
chegestalt der Evangeliumspredigt – als weiterer Ausdruck von Kreuzesexistenz
– stellte sicher, dass der korinthische Christusglaube nicht in Weisheit gründete,
die vor Menschen galt (2,5).
(d) Wie die Verkündigungsform hat auch der Vorgang der Erkenntnis des
Kreuzesevangeliums (2,6–16) nichts mit weltlicher Weisheit zu tun; er wird allein
durch Gottes Geist möglich (2,10–12). Die vier Schritte des Grundsatztextes laufen
so auf der Textoberfläche auf denselben Kerngedanken hinaus, dass Evangeliums-
verkündigung und von Menschen geschätzte Weisheit nicht kompatibel sind. Die
korinthischen Parteigänger haben von da aus zwischen den Zeilen selbstständig
zu folgern: Entweder ist Apostelpredigt menschliche Weisheit und kann an Apo-
steln verehrt werden, doch dann wird sie von Gott ins Abseits gesetzt; oder sie hat
nichts mit menschlicher Weisheit zu tun, doch dann kann sie nicht als Weisheit
von Aposteln bewundert werden.
Wiederum stellt die Textstruktur, dem Leser selbst das Anwenden des allgemei-
nen Gedankens auf einen speziellen Kasus zu überlassen, die rhetorischen Figur
des schema (im engeren Sinne) dar (dazu Lampe 1990). Ihr psychologischer Vor-
teil lag darin, dass Hörer gerne das annehmen, was sie selbst herausfinden müs-
sen (Quint.inst. IX 2,78). Quintilian schildert die Figur als beim Publikum des 1.
Jh. beliebt (inst. IX 2, bes. IX 2,1.64–91; vgl. Philostr.vit.soph. 2,561.597; 1,519; Pseu-
do-Demetrius De Elocutione 287.292–294.298). Auch normales Volk (vulgus) ver-
stand sich auf sie (Quint.inst. IX 1,14). Nach IX 2,68 (auch IX 2,66.76.79) wird das
178 C. Werk
schema besonders dann gerne eingesetzt, wenn personae potentes – in diesem Fall
Petrus und Apollos – von der Anwendung betroffen sind; sie werden in 1,18–2,16
auf diplomatische Weise nur indirekt involviert. Ohne sie direkt zu kränken, ta-
buisiert Paulus sie – und sich selbst – als Objekte korinthischer Verehrung.
Juristischer Streit zwischen Christen 1Kor 6,1–11: Wie aus ihrer vorchristlichen
Zeit gewohnt, strengen Christen vor der öffentlichen Gerichtsbarkeit Prozesse an,
wenn sie übervorteilt werden. Problematisch wird dies, wenn auch die Gegenpar-
tei christlich ist. Paulus scheint das synagogale Modell interner Gerichtsbarkeit
vor Augen zu haben (z. B. Apg 18,15; 2Kor 11,24; Mk 13,9), wenn er empfiehlt, einen
Schlichter in den eigenen Reihen zu suchen – einen »Weisen«, was einen iro-
nischen Unterton anschlägt (»wenn ihr euch schon so weise dünkt, werdet ihr
sicher auch einen solchen Weisen finden!«). Ironisch auch der Hinweis auf das
apokalyptische Motiv, dass Christen die Welt und Engel richten werden (1Hen 1,9;
95,3; 67–69; 1QpHab 5,4; SapSal 3,8; Q Lk 22,30; Unterton: »Und dann könnt ihr
nicht einmal euren eignen Kleinkram in der Gegenwart richten?«). Paulus zweite
und von ihm bevorzugte (6,7a) Lösung lautet, auf das Durchsetzen eigenen
Rechtes zu verzichten (6,7b). Auch wenn Stoiker ähnlich denken konnten (z. B.
Epict.diss. 3,22,55 f.), lag es Paulus näher, solchen Rechtsverzicht als ein Stück
Kreuzesexistenz zugunsten anderer zu deuten, als imitatio der selbstlosen Liebe
des Gekreuzigten (z. B. Phil 2,3–11; Röm 15,1–3). Paulus lässt den Korinthern die
Freiheit, zwischen beiden Lösungsoptionen zu wählen.
1Kor 5 und 6,12–20 geißeln sexuelles Fehlverhalten: In 1Kor 5 dient die Ekklesio-
logie, in 6,12–20 die enge Christusbeziehung des Einzelnen als Begründungshori-
zont. (a) Ein mit der Frau seines Vaters Inzucht Treibender möge exkommuni-
ziert werden (5,2–6), weil er wie ein Sauerteigkrümel den Teig der Gemeinde
»durchsäuert«. Die Kirche wird als »heilig« (3,17), als »ungesäuerter« »neuer (Pas-
sah-)Teig« gedacht (5,7 f.), in dem um der anderen willen, die zu ähnlichem Fehl-
verhalten ermutigt werden könnten, »Unzüchtige« und andere Lasterhafte keinen
Platz finden sollen (5,11). (b) Freiheit auf Kosten anderer praktiziert auch, wer
Hetären aufsucht (6,12–20). Nur ist der »andere« dieses Mal – weder die Gemein-
de noch die Hetäre, sondern – Christus, der den ganzen Menschen einschließlich
seines Leibes »erkaufte« und durch die Vereinigung mit der Hetäre in seinem
Recht geschmälert werde. Die Ganzheitlichkeit der Christusbeziehung kommt
auf diese Weise zum Ausdruck, aber auch die Ganzheitlichkeit des Sexualaktes,
der die Gesamtperson ergreift. Zugleich wird durch die holistische Sicht die Pro-
stituierte als Mensch aufgewertet, denn nicht anders als eine Ehefrau wird sie eins
mit dem Mann (6,16).
Ehe und Askese: 1Kor 7 beantwortet der Korinther Frage, wieweit Sexualität
noch praktiziert werden dürfe. (a) Paulus Präferenz für Ledige und Verwitwete
lautet, angesichts baldiger apokalyptischer Bedrängnisse ledig zu bleiben und as-
ketisch wie er selbst zu leben (7,7 f.26–29.37 f.40). Ledige könnten ungeteilter
Christus dienen (7,32–35). (b) Doch da Askese ein Charisma sei, das nicht jedem
zuteil werde, konzediert Paulus Sexualität innerhalb der heterosexuellen Ehe
I. Die Briefe des Paulus 179
(7,7.9.28.36.38 f.) – für ihn ein kleineres Übel als alle außerehelichen Formen der
Sexualität, die er »Unzucht« nennt (7,2). Er geht mithin den Kompromiss ein, die
Exklusivitätsthese von 6,12–20 – entweder Christus oder Sexualpartner – für den
Spezialfall der Ehe aufzuweichen, um vermeintlich Schlimmeres zu vermeiden.
Eine andere Begründung für die Ehe wird nicht gegeben; weder Nachwuchs noch
göttliches Stiften spielen eine Rolle. (c) Wenn geheiratet wird, sollen zumindest
Verwitwete darauf achten, einen christlichen Partner zu finden (7,39). (d) Inner-
halb der Ehe ist Sexualität nicht nur erlaubt, sondern geboten, damit niemand
zur »Unzucht« versucht wird. Nur bei beidseitigem Einvernehmen mögen Ehe-
partner sich zeitlich begrenzt einander entziehen, um die Christusbeziehung zu
pflegen (7,5 f.). Dass Partner auch gemeinsam sich dem »Gebet« (7,5) widmen
könnten, wird nicht bedacht, auch nicht, dass in dem Zuwenden zum Partner
Christusdienst stattfinden könnte (vgl. Mt 25,40). Ja, selbst die extreme sich
Christus hingebende Lebensform des Wanderpredigens ist als Paar zu leben mög-
lich, was Petrus und andere beweisen (9,5; evtl. Röm 16,7), Paulus in 1Kor 7 aber
ausblendet. (e) Symmetrisch werden eheliche Rechte und Pflichten von Mann
und Frau gleichermaßen ausgesagt (7,2–4), auch das Recht der Frau, über den
Leib des Mannes zu verfügen. Anders als in 11,7–9 wird der Mann nicht überge-
ordnet. (f) Angesichts des nahen Endes sollen Ehepartner sich so »haben, als hät-
ten sie nicht« (7,29–31), was angesichts von 7,2–5 nicht sexuelle Enthaltsamkeit
bedeutet. Vielmehr empfiehlt Paulus, vor dem Ende nicht mehr zu viel Emotion
zu investieren – wie beim Freuen und Weinen (7,29 f. »freuen, als ob man sich
nicht freute [. . .]«) –, aber auch nicht mehr zu viel tätiges Umsorgen (μεριμνᾶν,
ἀρέσκειν, 7,32–34); im Extrem könnte Letzteres bedeuten, das eheliche Haus so-
gar zu verlassen, um in ungeteiltem (7,34a.35) Christusdienst als Wanderprediger
zu wirken. Da die Ehe wie der materielle Besitz zur vergänglichen Welt gehöre,
möge nicht mehr zu viel Herz und Engagement daran geknüpft werden (7,30 f.).
Freilich, eine solche mit Naherwartung argumentierende Ethik, die am Punkte
der Eheethik Paulus’ eigenem holistischen Menschenbild entgegensteht und so
zynische Züge annimmt (Sex ja, aber mit wenig persönlicher Investition in Emo-
tion und Alltagstun), wurde spätestens dann illegitim, als in der zweiten Chris
tengeneration die Parusie säumte. (g) Dem Herrenwort gemäß (Mk 10,11 f.) wird
Ehescheidung untersagt (1Kor 7,10 f.27). Wurde bereits geschieden, soll sich ver-
söhnt oder asketisch gelebt werden (7,11). (h) Eine Ausnahme gilt für die Misch
ehe: Sie darf geschieden werden, wenn der pagane Partner dies anstrebt (7,12–16).
Das dieser Entscheidung zugrunde liegende ethische Prinzip (7,17.20.24) lautet:
Angesichts des nahen Endes hat jeder in dem weltlichen Status zu bleiben, in dem
er sich befand, als er Christ wurde. Dieser Status ist ein Adiaphoron (7,19). Geän-
dert werden kann er nur, wenn die Welt an den Christen einen Statuswechsel he-
ranträgt (7,15.21b); dann soll ein solcher willig hingenommen werden. Würde der
Christ sich sträuben, dokumentierte er, dass für ihn der weltliche Status kein Adi-
aphoron wäre. (i) Dieses Prinzip wird nicht nur auf die Mischehe – als einem
weltlichen Stand – angewendet, sondern zur Illustration auch auf die Status von
180 C. Werk
könnten, sollten diese den Verzehr unterlassen. (c) Auf dem Fleischmarkt werden
große Mengen in Tempeln geschlachteten Fleisches verkauft. Ohne Probleme
dürfen Christen es essen, auch bei einem von Heiden gegebenen Gelage, solange
nicht jemand auf den Opferfleischcharakter hinweist (10,25–29); niemand soll an
dem Essen des Starken Anstoß nehmen (10,32; 8,8).
Probleme im christlichen Kult 1Kor 11–14: In 11,2–16 versucht Paulus, eine von
den Christengemeinden des Ostens gepflegte Sitte auch im kulturell anders gear-
teten Korinth durchzusetzen: Frauen sollen im Gottesdienst ihren Kopf bede-
cken. Diskussionen über die intendierte konkrete Art des Bedeckens, sei es durch
Schleier, bestimmte Haartrachten o.Ä., lassen sich am Text nicht entscheiden. In
Tarsus hatte Paulus burkaähnlich verhüllte Frauen erlebt (DioChrys.or. 33; 48),
sodass er in Korinth einen Kulturschock erlebt haben wird. Gemessen an seinen
sonstigen Äußerungen zur Rolle der Frau, nimmt sich die gewundene theolo-
gisch-exegetische Argumentation für das Kopfbedecken schwach aus, sodass von
Paulus selbst her an dem Abschnitt Sachkritik zu üben ist (weiter Lampe 2012a).
Einen Missstand beim Feiern der Eucharistie sucht 11,17–34 abzustellen. (a) Das
sakramentale Mahl wurde als abendliches Sättigungsmahl gefeiert, bei dem je-
doch nicht alle satt wurden, weil einige – wahrscheinlich wohlhabendere – Chris-
ten die meisten Speisen bereits vor der Ankunft von erst später ankommenden
sozial Schwächeren verzehrt hatten. Angesichts des Kontextes (11,33 f.: »aufeinan-
der warten«) und des lexikalischen Befundes (Lampe 1991, 191.193) ist προ in
προλαμβάνειν (11,21) temporal zu verstehen. (b) Verschiedene Erklärungsmodel-
le für den Missstand stehen bereit – u. a. dieses, dass in unreflektiertem Prolongie-
ren vorbaptismalen Verhaltens die Wohlhabenderen beim abendlichen Dinner
zunächst an den sogenannten primae mensae tafelten und dort das meiste bereits
verzehrten, während der eigentliche eucharistische Ritus mit den Einsetzungs-
worten an den – auch in der Umwelt von religiösen Riten gerahmten – secundae
mensae stattfand, zu denen – auch in der Umwelt – neue Gäste hinzukamen
(Lampe 1991), ohne dass in Korinth für diese noch genug Speisen bereitstanden.
(c) Wichtig ist für Paulus, dass die Korinther die vertikale Christusgemeinschaft
in der Eucharistie (10,16) mit Füßen treten, wenn auf der zwischenmenschlichen
Horizontalen die Glaubensgeschwister vernachlässigt werden. Auch hier gilt,
Rücksicht und Agape gegenüber den anderen zu üben als einzig authentischem
Ausdruck der Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten. Praktisch bedeutet dies, mit
dem Verzehr von den zu teilenden Speisen solange zu warten, bis alle da sind; wer
seinen Hunger nicht so lange zügeln will, soll vorher etwas zu Hause essen
(11,33 f.22a). (d) Stellen die Korinther ihre Rücksichtslosigkeit ab, entstehen beim
gemeinsamen Genießen des eucharistischen Brotes nicht Spannungen (11,18 f.),
sondern ein geeinter Gemeindeleib (10,17). Ähnlich drückt auch in der Umwelt
der Genuss eines Brotes Gemeinschaft aus, z. B. die der Pythagoreer (D. L. vit. 8,35;
Iamb.vit.Pyth. 86 u. ö.).
(e) Während die vorpaulinische Formel 11,23b–25 nur ein Erinnerungsmahl im
Auge zu haben scheint, erkennt Paulus darüber hinaus auf reale Christuspräsenz
182 C. Werk
11.18), sodass es unsinnig ist, von anderen gering zu denken (12,22–24). (e) Die
pneumatischen Phänomene werden als Gottesgaben (Charismen) bezeichnet
(12,4.28), damit der Pneumatiker sie nicht als vermeintliche Eigenqualitäten zum
Selbstruhm missbraucht. (f) Entsprechend wird der Begriff der Geistesgabe aus-
geweitet: Auch die Liebe (12,31–13,1a), der Glaube (12,9), ja selbst das schlichte
Bekenntnis »Jesus Herr« ist Gabe des Geistes (12,3; vgl. 2,6–16). Darf sich jeder
Glaubende Pneumatiker nennen, erübrigt sich Dünkel von Pneumatikern. (g) In
ihrer Bedeutung relativiert werden die von den Korinthern am meisten geschätz-
ten Geistphänomene – Zungenrede, Prophetie und Erkenntnisrede – schließlich
dadurch, dass sie zu Elementen dieses Äon degradiert werden (13,8 f.13); auch
Heiden erleben Ekstase im Kult (12,2b). Überdauern im Eschaton werden nur
Hoffnung (ἐλπίς), das Sich-Verlassen auf Gott (πίστις) und Liebe (ἀγάπη), wobei
die Agape die wichtigste ist (13,8.13). Ohne sie bleiben alle anderen Geistphäno-
mene ein Nichts (13,1b–3; 16,14).
Den vielfältigen Aktivitäten – Apostel-Sein, Prophezeien, Lehren, »Weisheits-«
und »Erkenntnisrede«, »Glauben«, Heilen und Wunder-Tun, (materielles) Hil-
feleisten, Prüfen von Geistphänomenen, Glossolalie und deren Übersetzen, Vor-
tragen von Psalmen (12,8–10.28–30; 13,1–3; 14,6.26) – entsprechen keine festen
Ämter; sie sind auch nicht voneinander abgezirkelt, sondern überschneiden sich.
Am ehesten werden apostolische Mission, Prophetie und Lehre, Ämtern gleich,
von immer wieder denselben Personen ausgeübt (12,28 f.: »Apostel, Propheten,
Lehrer«, während die anderen Aktivitäten als Funktionsbegriffe zur Sprache
kommen, z. B. »Wunderkräfte« statt »Wundertäter«). Solches Verfestigen hin zu
Spezialistentum schließt aber noch nicht aus, dass prinzipiell alle prophezeien
können (14,31). Die Leitung der Gemeindeversammlungen obliegt noch nicht ei-
ner Person, sondern mehrere (vgl. 16,15 f.) führen »leitende Akte« aus (12,28). Ei-
gentlicher Leiter ist der dynamische Geist, der jedoch Ordnung schätzt (14,33.40).
Auferstehung 1Kor 15: Entgegen der Auferstehungsleugnung einiger Korinther
erklärt Paulus die Hoffnung auf Auferweckung – nur der Christen (15,23b) – zum
unkündbaren Glaubensbestand (15,2c.14 f.17–19.32–34.58d). Sie liegt für ihn be-
gründet im Osterereignis (15,21–23; vgl. 15,12–20), welches, niedergelegt in vor-
paulinischer Tradition (15,3–7), die Korinther einst glaubend akzeptierten (15,1.11).
Christus war so der Erstling der Aufzuweckenden (15,20–23). Auch die korinthi-
sche Vikariatstaufe mache angeblich keinen Sinn, wenn die Toten nicht aufer-
stünden (15,29), was freilich kein zwingendes Argument darstellt ( C.I. 2.2.3.).
Entgegen korinthischer dichotomer Anthropologie hält Paulus die Leiblichkeit
und damit die Ganzheitlichkeit des aufzuweckenden Menschen fest (15,35–50):
Gott wird einen neuen Leib »aus dem Himmel« (15,43–48; 2Kor 5,1) bereitstellen,
der sich in gewaltigem Qualitätssprung zum alten Leib wie eine prächtige Pflanze
zum armseligen Saatkorn verhält. Die Christen werden mit dem neuen Leib dem
auferstandenen Christus gleichgestaltet werden (1Kor 15,49; 2Kor 3,18), so wie sie
jetzt dem Gekreuzigten gleichgestaltet sind (1Kor 15,31 f. u. ö.). πνευματικός
(»geistlich«) bedeutet nicht, dass Paulus an einen durch Wände gehenden Licht-
184 C. Werk
leib o.Ä. denkt, sondern lediglich, dass dieser Leib aus der Herrschaftssphäre des
»lebendig machenden Geistes«, der mit dem erhöhten Christus identisch ist
(15,45b; 2Kor 3,17), stammt. Erst die Evangelienautoren versuchen, sich Auferste-
hungsleiblichkeit konkreter vorzustellen (z. B. Lk 24,31.36.39.42 f.). (c) Wer bei der
Parusie noch lebt, wird entrückt und ebenfalls in solch einen Leib verwandelt
werden (1Kor 15,51–53; vgl. 1Thess 4,15.17).
Für die Kollekte für Jerusalem (16,1–9) soll jeder sonntags bei sich daheim et-
was beiseite legen, bis Paulus, so seine Planung, via Makedonien zu einem län-
geren Besuch wiederkommen und das angesammelte Geld mit korinthischen
Vertrauensleuten nach Jerusalem schicken wird. Die weitere Entwicklung wird
diese Pläne zum Teil durchkreuzen.
2.2.5. Rückblick
Neben der Einheitsthematik (11,17–34; 6,1–11; Kap. 1–4; 8–10; 12–14) zieht sich als
Leitfaden das Thema der Kreuzesexistenz durch den inhaltlich vielfältigen Brief.
Das Kreuz Christi spiegelt sich in der Sozialstruktur der Gemeinde (1,26–29), aber
auch in den apostolischen Leiden (15,31–32a; 4,9–13 par. 2Kor 4,10 f.; 1,5a), die im
Verzicht auf ein gesichertes Leben um der Liebe zu den Gemeinden willen (2Kor
4,12b.15; 11,28b.29; 1Kor 13,3; 9,12c) ertragen werden. Das Christuskreuz spiegelt
sich darüber hinaus in mancherlei anderen zwischenmenschlichen Verhaltens-
weisen, die Verzicht bedeuten: im Verzicht des Predigers auf sophistisch-glanz-
volle Überredungsrhetorik (2,1–4) zugunsten der Gemeinde (2,5). Im Verzicht,
»Weisheit« für sich selbst zu beanspruchen, die am Menschen vor Menschen ge-
rühmt werden könnte; nur so bekommt der Geist Gottes Raum, Erkenntnis zu
schaffen (1,18–25; 2,6–16; Christen sind entsprechend nur »Verwalter«, die alles
Erkennen und Tun, das sie vorweisen könnten, von Gott bekamen [4,7.1 f.;
3,5.7.10a; 12,6–11], womit sich eine strukturelle Parallele zur Rechtfertigungslehre
andeutet). Das Kreuz spiegelt sich im Verzicht, andere voreilig – vor Gottes Ge-
richt – zu beurteilen, d. h. im Ernstnehmen eschatologischen Vorbehalts (4,2–5).
Es spiegelt sich im anderen zugute kommenden Verzicht, auf eigene Rechte und
Freiheiten zu pochen (6,7.12–20; Kap. 8–10) oder mit charismatischen Stärken
aufzutrumpfen (Kap. 12–14). Im Verzicht der Gemeinde auf aufgeblasene (5,2.6)
Freiheit im Umgang mit Lasterhaften – zugunsten anderer, die von Letzteren an-
gesteckt werden könnten (Kap. 5). Im Verzicht des Paulus darauf, die eigene ethi-
sche Position auf Biegen und Brechen durchzusetzen; er lässt den Korinthern
Freiheit, zwischen Handlungsoptionen zu wählen (6,1–11; 7,9.28). Im Verzicht
also, nur das Seine zu suchen und sich vor anderen aufzuplustern (13,4 f.; Kap. 14).
Das heißt, Christi Dahingabe am Kreuz spiegelt sich in zwischenmenschlicher
Agape und im Auferbauen anderer wider (Kap. 12–14; 8–10; 11,17–34; 7,3; vgl. Phil
2,3–11; ferner Gal 6,17; Röm 6,3–6; 15,1–3 u. ö.). Dem Gleichgestaltet-Werden mit
dem Gekreuzigten im Jetzt wird dann im Eschaton ein Gleichgestaltet-Werden
mit dem Erhöhten entsprechen (1Kor 15,49).
I. Die Briefe des Paulus 185
2.3.1. Aufbau
Der 2. Korintherbrief beginnt in 1,1 f. mit einem Präskript (Anschrift und Gruß),
dem in 1,3–11 ein Proömium folgt. Das Dankgebet in V. 11 nimmt die Eulogie (den
Lobpreis) von V. 3 auf und lässt sich als eine nachgeholte Eucharistie verstehen
(eine Danksagung an Gott, wie sie in Paulusbriefen sonst das Proömium eröff-
net).
Der Hauptteil (1,12–13,10) ist relativ klar gegliedert, auch wenn manche Über-
gänge und Abgrenzungen strittig sind. In 1,12–14 nennt Paulus thesenartig Thema
und Anliegen des ganzen Briefs: die richtige Beurteilung seiner Tätigkeit und sei-
nes Verhältnisses zur Gemeinde. Vorbehalte bezüglich seiner Verlässlichkeit und
Transparenz sollen ausgeräumt werden. Der Ruhm, der bisher einseitig ist, soll zu
einem gegenseitigen Ruhm werden (V. 14).
Mit 1,15 beginnt ein erzählender Abschnitt, in den allerdings viele argumentie-
rende und ermahnende Texte eingeschoben sind. Paulus rechtfertigt hier seinen
Verzicht auf einen angekündigten Besuch. Dieser Verzicht ging nicht auf einen
Mangel an Zuverlässigkeit zurück (1,15–22), sondern sollte der Gemeinde und
dem Apostel Schmerzen ersparen (1,23–2,2). Statt selbst zu kommen, schrieb Pau-
lus den sog. »Tränenbrief« (2,3 f.). Dieser führte dazu, dass die Gemeinde einen
Paulusgegner bestraft hat; ihm soll sie nun verzeihen (2,5–11). In 2,12 f. versetzt
Paulus sich und seine Leserinnen und Leser in ein früheres Stadium seiner Ge-
schichte mit der Gemeinde zurück, nämlich in die Situation nach der Absendung
des Tränenbriefs. Die Reaktion der Gemeinde war noch offen. Paulus befand sich
in großer Unruhe. Dieser Schwebezustand wird zum erzählerischen Rahmen für
die sog. »Apologie« 2,14–7,4. Fiktiv ist diese grundsätzliche Legitimation seines
Dienstes ein Argument in einer Situation, die nach Absendung des Tränenbriefs
auf der Kippe stand. Faktisch ist sie natürlich etwas anderes, nämlich ein Versuch,
186 C. Werk
die auch nach dem relativen Erfolg des Tränenbriefs noch offenen (oder durch
ihn sogar erst entstandenen) Schwierigkeiten mit der Gemeinde zu lösen. Die
Einbindung in einen erzählerischen Rahmen, der zunächst die unruhige Sorge
(2,12 f.), dann die Erleichterung des Paulus beschreibt (7,5–7), verfolgt das Ziel,
die Apologie mit einer teilweise gelungenen Versöhnung in Verbindung zu brin-
gen und ihr so das Potential zu verleihen, die Gemeinde zu einer vollständigen
Versöhnung zu bewegen.
In der Apologie werden verschiedene Aspekte des paulinischen Apostolats re-
flektiert. An welchen Stellen sich Paulus gegen Vorwürfe der Gemeinde oder von
Gegnern, die von außen in die Gemeinde gekommen waren, verteidigt und wo er
ohne konkreten Anlass von sich aus theologisch argumentiert, ist schwer zu sa-
gen.
2,14–17 enthält eine Einleitung und formuliert das Thema. Die Verse zeigen die
große Bedeutung des paulinischen Dienstes. Paulus ist für diesen Dienst geeignet,
weil seine Verkündigung selbstlos ist und von Gott ausgeht.
Der Abschnitt 3,1–4,6 stellt den neuen Bund, dessen Diener Paulus ist, dem al-
ten Bund an die Seite. Die vergängliche Herrlichkeit des Mosedienstes wird nicht
abgewertet. Sie wird aber von der unvergänglichen Herrlichkeit des »Dienstes der
Gerechtigkeit« (konkret: des Paulusdienstes) weit übertroffen.
Allerdings gab es offenbar Vorbehalte in der Gemeinde, weil diese Herrlichkeit
nicht so ohne Weiteres wahrnehmbar war. In 4,7–5,10 setzt sich Paulus mit sol-
chen Einwänden auseinander. Seine Leidensexistenz muss nicht gegen, sondern
kann gerade für eine hohe Berufung sprechen. Das göttliche Leben ist nur im
Glauben wahrnehmbar, denn es verbirgt sich in Schwachheit. Paulus besitzt eine
Zuversicht, die er mehrfach wiederholt (3,4.12; 4,1.16; 5,6.8): »Das Aufgerieben-
werden des äußeren Menschen gelangt im leiblichen Tod an sein Ziel, das Erneu-
ertwerden des inneren Menschen in der Verleihung des himmlischen Leibes«
(Klauck 31994, 52).
In 5,11–6,10 liegt das inhaltliche Zentrum der Apologie. Der Dienst des Apostels
ist ein »Dienst der Versöhnung« (5,18). Paulus ist Gesandter Gottes und bietet den
Menschen die Versöhnung an, die durch den Tod Christi bewirkt wurde. Wieder
weist er seine Eignung für diesen Auftrag mit einem Peristasenkatalog nach (6,3–
10).
In 6,11–7,4 treten Appelle und Mahnungen in den Mittelpunkt, die aus dem
Gesagten die Konsequenz ziehen: Wenn die Gemeinde sich durch die Apologie
von der Würde des paulinischen Dienstes überzeugen lässt, dann muss sie sich
nun öffnen und die Gemeinschaft mit Paulus vertiefen. In diesem Zusammen-
hang überrascht die in 6,14–7,1 enthaltene Warnung vor einer Gemeinschaft mit
Nichtchristen.
7,5 knüpft unverkennbar an 2,13 an. Jetzt erst wird deutlich, wie Paulus vom
Erfolg des Tränenbriefs erfahren hat (7,5–16): Titus hat ihm nach seiner Rückkehr
vom Schmerz und von der Umkehr der Gemeinde erzählt.
I. Die Briefe des Paulus 187
Als konkreten Testfall, bei dem die Gemeinde ihre Öffnung für Paulus demons-
trieren kann, wird in den Kap. 8–9 die Kollekte behandelt, die Paulus unter seinen
heidenchristlichen Gemeinden durchgeführt hat (vgl. Gal 2,10). Diese war offen-
bar durch den Konflikt mit der korinthischen Gemeinde ins Stocken geraten und
soll nun wieder aufgenommen werden. Die überlieferte Textfolge in diesen Kapi-
teln ist unübersichtlich. Sie lässt sich am ehesten in eine Aufforderung zur Kol-
lekte (8,1–15), die Regelung ihrer konkreten Durchführung (8,16–9,5) und einen
motivierenden Abschluss (9,6–15) gliedern.
Spannungsvoll ist der Übergang von Kap. 9 zu Kap. 10. Auch wenn in den
Kap. 1–9 Hinweise auf Vorwürfe und Konflikte nicht fehlen (z. B. 1,17; 3,1; 5,12;
6,12 f.; 7,2), sind diese Kapitel doch v. a. durch Äußerungen der Zuversicht und des
Vertrauens geprägt (z. B. 1,15.24; 2,3; 7,6–12; 9,2). Ab Kap. 10 nimmt die Auseinan-
dersetzung plötzlich an Schärfe zu. Paulus kämpft hier gegen Missionare, die von
außen in die Gemeinde gekommen sind. In den ersten neun Kapiteln sind diese
Gegner zwar erwähnt (3,1; 5,12), sie bleiben aber im Hintergrund. Erst ab Kap. 10
werden sie mit großer Härte bekämpft. So betont schon die Eröffnung 10,1–11 in
Auseinandersetzung mit entsprechenden Vorwürfen (V. 1.10) die Durchsetzungs-
fähigkeit des Paulus im persönlichen Auftreten. Der vorliegende Brief hat seinen
Zweck gerade darin, ein derartiges Auftreten bei einem bevorstehenden dritten
Besuch nicht nötig werden zu lassen.
10,12–18 ist schwer verständlich. Anscheinend wird hier den Gegnern vorge-
worfen, sich nicht an das Jerusalemer Abkommen (Gal 2,8 f.) gehalten zu haben.
11,1–15 gehört noch nicht zur Narrenrede, sondern formuliert direkte Kritik an
der Gemeinde (V. 2–11: die Aufnahme der Gegner, die Missdeutung des Unter-
haltsverzichts) und Polemik in Richtung der Gegner (V. 12–15: Satansdiener).
Mit 11,16–21 wird die sog. »Narrenrede« (11,16–12,13) eröffnet. Paulus will nicht
nur nachweisen, dass er Apostel ist, sondern auch, dass ein Apostel anders ausse-
hen sollte, als seine Gegner meinen. Deshalb kann er sich nicht auf einen direkten
Wettbewerb einlassen. Nur als Narr ist es ihm möglich zu zeigen, dass er einerseits
den Gegnern nach deren eigenen Maßstäben überlegen ist, andererseits aber
auch, dass nur Narren solche Maßstäbe anlegen.
In 11,22–12,10 folgt ein ironisch gebrochener Selbstruhm, in dem es um Her-
kunft (11,22), Leistungen (11,23–33) und Visionen/Offenbarungen (12,1–10) geht.
12,11–13 ist der Abschluss der Narrenrede.
12,14–13,10 bereitet den angekündigten Besuch weiter vor. Paulus will, wenn er
wieder nach Korinth kommt, den von der Gemeinde missdeuteten Unterhaltsver-
zicht bekräftigen (12,14–18). Es werden Befürchtungen zu Missständen in der Ge-
meinde und zu einem Scheitern des Besuchs laut (12,19–21), aber Paulus will
durchgreifen (13,1–4). Der Teil schließt mit Mahnungen, Warnungen und Gebets-
wünschen (13,5–10).
13,11–13 ist der Briefschluss und enthält die üblichen Elemente: allgemeine
Mahnungen (V. 11), Grüße (V. 12) und einen Segenswunsch (V. 13).
188 C. Werk
2.3.2. Entstehung
Obwohl die exegetische Forschung heute bei der literarkritischen Aufteilung von
neutestamentlichen Briefen weit vorsichtiger ist als früher, hält nur eine Minder-
heit den 2. Korintherbrief für einen einheitlichen Brief. Die meisten Exegetinnen
und Exegeten sehen in ihm eine Kompilation aus mindestens zwei ursprünglich
selbstständigen Schreiben. Dabei geht es meist um die schwierige Einbindung der
Abschnitte 2,14–7,4; 6,14–7,1; 8; 9; 10–13.
Spannungen im Text: Mit 2,14 beginnt, wie gesagt, die große Apologie des pau-
linischen Dienstes. Während der vorangehende Text eine versöhnlich gestimmte
Erzählung war, die mit 2,13 abrupt endet, folgt nun eine allgemein gehaltene Ar-
gumentation, in der Paulus um Versöhnung wirbt (6,11–13; 7,2–4). In 7,5 wird der
nach 2,13 verlassene Erzählfaden wieder aufgenommen. Nach Johannes Weiß pas-
sen diese Ränder zusammen »wie die Bruchstellen eines Ringes« (Weiss 1917, 265).
Der Abschnitt 6,14–7,1 fällt durch seine unmotivierte Stellung im Kontext und
durch verschiedene unpaulinische Merkmale in Sprache und Gedankengang auf.
7,2 knüpft so gut an 6,13 an, dass der dazwischen stehende Text ein sekundärer
Einschub sein könnte.
Die beiden Kollektenkapitel 8 f. sind ein Problem, weil sie dasselbe Thema be-
handeln, ohne sich klar aufeinander zu beziehen. In 9,1 könnte mit περὶ γάρ
(denn über . . .) das Kollektenthema sogar neu eingeführt werden. Auch die Aus-
sagen zum Stand der Kollekte werden von manchen als spannungsvoll gesehen.
Während nach 8,1–5 die offenbar abgeschlossene Sammlung der Makedonier den
Korinthern als Vorbild vor Augen gestellt wird, scheint nach 9,2 diese Kollekte
noch im Gange zu sein; hier werden die Makedonier von Paulus mit dem Vorbild
der Achaier angestachelt.
Das größte Hindernis, den 2. Korintherbrief als einheitlichen Text zu verstehen,
sind aber die Kap. 10–13. Der hier fast durchgängig scharfe, polemische Ton
scheint kaum zu Kap. 1–9 zu passen, wo ein sachlicher Ton vorherrscht, und dürf-
te den Spendeneifer der Gemeinde eher dämpfen als fördern. Das Verhältnis zwi-
schen Paulus und der Gemeinde ist in 10–13 wesentlich schlechter als in 1–9. Ins-
besondere wird jetzt der Einfluss von gegnerischen Fremdmissionaren bekämpft,
die erst ab Kap. 10 als ernste Gefahr wahrnehmbar sind. Häufig werden die
Kap. 10–13 mit dem Tränenbrief identifiziert, von dem in 2,4 die Rede war. Dann
wäre dieser Teil älter als der Rest des Briefs.
Lösungsvorschläge: Trotz der Schwierigkeiten mit dem überlieferten Text wird
der 2. Korintherbrief nach wie vor von manchen Exegetinnen und Exegeten für
einheitlich gehalten (z. B. Bieringer 1994). Ihr Hauptargument liegt darin, dass
die handschriftliche Tradition den 2. Korintherbrief durchweg in der uns be-
kannten Form überliefert. Außerdem sind sie der Auffassung, dass die eben be-
schriebenen Spannungen entweder überschätzt werden oder durch verschiedene
Zusatzannahmen (wie z. B. eine Diktierpause zwischen Kap. 9 und 10 und das
Eintreffen neuer Nachrichten) erklärt werden können.
I. Die Briefe des Paulus 189
Meistens führen die Spannungen jedoch dazu, dass der 2. Korintherbrief für
uneinheitlich gehalten wird. Er wird entweder auf zwei oder auf drei ursprüng-
lich selbstständige Briefe zurückgeführt (zusätzlich wird oft 6,14–7,1 als ein nicht
paulinischer Einschub beurteilt). Die Zweiteilung trennt zwischen den Kapiteln
1–7 (oder 1–8 oder 1–9) und den Kapiteln 10–13. Letztere werden, wie gesagt, von
manchen mit dem Tränenbrief gleichgesetzt (z. B. Klauck 31994), von anderen
aber als der späteste Brief der Korintherkorrespondenz angesehen (z. B. von Fur-
nish 1984). Befürworter der Dreiteilung lösen zusätzlich 2,14–7,4 aus dem Kon-
text und bestimmen diesen Text entweder als einen eigenständigen, gegenüber
10–13 früheren Brief (z. B. Bornkamm 1985) oder als einen ursprünglich zu 10–13
gehörenden Briefteil (z. B. Bultmann 1976).
Wenn wir auch die Kapitel 8–9 einbeziehen, wird das Bild noch wesentlich
komplizierter. Alle denkbaren Möglichkeiten werden vertreten: Kap. 8 und 9 sind
Teil eines der genannten Briefe; Kap. 8 oder 9 sind Teil eines der genannten Briefe;
Kap. 8 und 9 sind Fragmente zweier weiterer selbstständiger Briefe; Kap. 8 und 9
sind zusammen ein weiterer selbstständiger Brief.
Die meisten dieser Rekonstruktionsversuche rechnen ohne Weiteres mit einem
Redaktor, der keine Probleme damit hatte, am überlieferten Text tiefgreifende
Eingriffe vorzunehmen. Erstaunlich ist, dass so gut wie nie nach vergleichbaren
Briefkompilationen außerhalb des Neuen Testaments gefragt wird. Wenn es wirk-
lich üblich oder wenigstens möglich war, Briefzusammenhänge aufzulösen und
die Teile neu zusammenzufügen, sollte das auch an anderen Briefkorpora erkenn-
bar sein. Erst in jüngster Zeit ist diese Frage an das am ehesten vergleichbare
Korpus, die Cicerobriefe, gestellt worden (Klauck 2003c; Schmeller 2004).
Dort sind in der Tat viele Kompilationen nachweisbar, die z. T. zufällig, z. T. aber
offensichtlich beabsichtigt sind. Die Redaktion verfuhr dabei konservativ: Die
üblichste Form ist die serielle Verbindung zweier aufeinander folgender Briefe zu
einer neuen Einheit. Dadurch, dass die Briefanfänge und -schlüsse in der Regel
bewahrt werden, sind Kompilationen gut als solche erkennbar. Von daher ergibt
sich für den 2. Korintherbrief: Eine Dreiteilung ist unwahrscheinlich, denn in den
Cicerobriefen scheint es keine Interpolation eines eigenständigen Briefs oder
Brieffragments zu geben. Allenfalls eine Zweiteilung ist von den Cicerobriefen her
plausibel, und zwar in der richtigen Reihenfolge (also ohne Umstellung). Proble-
matisch ist allerdings, dass im Korpus der Cicerobriefe gerade kein Anschein von
Einheitlichkeit erweckt wird, sondern dass für die Leserschaft die Kompilationen
dort viel leichter erkennbar sind als im 2. Korintherbrief.
Nach wie vor ist es schwierig, die Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefs zu ver-
treten. Manche Probleme sind heute zwar weitgehend ausgeräumt. Nur noch sel-
ten werden 2,14–7,4 und die Kollektenkapitel 8 f. aus ihrem Kontext gelöst. An
anderen Stellen bestehen aber bleibende Schwierigkeiten, so bei der Kontextstel-
lung und der Authentizität von 6,14–7,1 und beim Verhältnis der Kap. 1–9 und
10–13.
190 C. Werk
In der korinthischen Gemeinde traten mehrere Personen gegen Paulus auf. Man
kann zwischen Gegnern, die zur Gemeinde gehörten, und solchen, die von außen
in die Gemeinde kamen (11,4), unterscheiden.
Das einzelne Gemeindemitglied, das nach 2,5; 7,12 Paulus Schmerz verursacht
und Unrecht getan hat, wurde bis ins 20. Jh. hinein üblicherweise mit dem Mann
identifiziert, der nach 1Kor 5,1–5 eine sexuelle Beziehung zu seiner Stiefmutter
hatte. Heute wird das nur noch selten vertreten (z. B. Bosenius 1994, 31–39; Hall
2003, 227–235; Hyldahl 1973, 305 f.). Der Befund legt eher nahe, dass ein sonst
unbekanntes Gemeindemitglied beim Zwischenbesuch des Paulus diesen belei
digte und demütigte (12,21), während die Restgemeinde jedenfalls nicht klar für
Paulus Partei ergriff. Erst auf den Tränenbrief hin wurde über den Betreffenden
eine Strafe verhängt (2,6). Wahrscheinlich hatte dieser Vorfall auch mit den von
außen kommenden Gegnern zu tun.
Bei der Bestimmung dieser Gegner, die überwiegend, aber nicht nur (vgl. 2,17;
3,1; 5,12) in den Kap. 10–13 begegnen, gibt es nach wie vor keinerlei Konsens. Zu
ihrer Identität werden v. a. die folgenden vier Hypothesen vertreten:
1. Die Gegner waren judaisierende Missionare, die von der weitgehend heiden-
christlichen Gemeinde eine Beachtung des ganzen jüdischen Gesetzes, also auch
der Beschneidung und der Reinheitsgebote, forderten. Sie gehörten zu derselben
Front wie die Gegenmissionare in Phil 3 (so z. B. Gnilka 21976, 213).
2. Die Gegner waren Gnostiker wie schon die im 1. Korintherbrief bekämpften
Personen. Sie vertraten einen pneumatischen Enthusiasmus (so z. B. Schmithals
1984, 28–33).
3. Sie waren θεῖοι ἄνδρες (»göttliche Männer«), d. h. jüdisch-hellenistische
Wandermissionare, die sich durch ekstatische Phänomene, Wunder und eine be-
sondere Schriftdeutung legitimierten (so z. B. Georgi 1964).
4. Sie waren »Apostel«, die im Auftrag der Urgemeinde in Jerusalem die Ge-
meinde in Korinth visitierten und dabei die apostolische Autorität des Paulus
infrage stellten (so z. B. Käsemann 1942).
Keine dieser Antworten konnte sich bisher durchsetzen. Gegenwärtig ist es eher
üblich, sich auf solche Nachrichten zu beschränken, die man dem 2. Korinther-
brief eindeutig entnehmen kann, ohne die Gegner einer aus anderen Quellen be-
kannten Gruppierung zuzuordnen. Dann ergibt sich: Sie waren Judenchristen
und stolz auf ihre jüdische Herkunft (11,22). Sie beanspruchten für sich den Titel
»Apostel«, auch wenn sie für Paulus »falsche Apostel« waren (11,13). Diese Diffe-
renz zeigt, dass ihr Apostelbegriff sich von dem des Paulus unterschied. Ein Apo-
stel sollte in ihrer Sicht den Geistbesitz durch rhetorische Qualitäten (11,5 f.), Vi-
sionen (12,1) und Wunder (12,11 f.) belegen. Er sollte auch mit der Gemeinde in
ein Austauschverhältnis eintreten, d. h. für seine Verkündigung des Evangeliums
ein Unterhaltsrecht in Anspruch nehmen. Beide Kriterien erfüllte Paulus nicht
oder unzureichend.
192 C. Werk
Vielleicht ist gerade der zweite Punkt der entscheidende, denn von den drei
expliziten Erwähnungen der Gegner in Kap. 1–9 haben immerhin zwei (2,17; 3,1)
mit der Unterhaltsfrage zu tun, und mehrere Bezugnahmen in Kap. 10–13 lassen
sich ebenfalls mit dieser Frage in Verbindung bringen. Heute ordnen viele sozial-
geschichtlich orientierte Arbeiten den Konflikt in die jahrhundertelangen Aus-
einandersetzungen zwischen Philosophen und Sophisten, aber auch zwischen
Philosophen verschiedener Couleur ein. Diesen Hintergrund hat als einer der
ersten Hans Dieter Betz (Betz 1972) geltend gemacht. Damit sollen natürlich we-
der Paulus noch seine Gegner als professionelle Redner oder Philosophen ver-
standen werden. Aber der Umgang mit der Frage des Unterhalts greift auf Rollen-
muster zurück, die aus Rhetorik und Philosophie stammen. Das soll im Fol-
genden an einigen Beispielen erläutert werden.
Der Sophist und der Philosoph waren zwei deutlich verschiedene soziale Rol-
len. Während der Sophist durch rhetorische Brillanz materiellen Gewinn erzielen
und seinen Ruhm steigern wollte, gehörten diese Ziele für den Philosophen nicht
zu den echten Gütern. Deshalb war das jeweilige äußere Erscheinungsbild gegen-
sätzlich. Die sorgfältige Selbstinszenierung der Sophisten (etwa durch aufwen-
dige Kleidung) kontrastierte mit dem möglichst schlichten Auftreten der Philo-
sophen. Wer die Kleidung wechselte, wechselte auch die Rolle. Dio Chrysostomos
z. B. begann nach seiner Verbannung wie ein Bettler herumzuwandern. Ohne es
zu beanspruchen, wurde er daraufhin von vielen wie ein Philosoph behandelt,
sodass ihm – in seiner Darstellung – kaum etwas anderes übrig blieb, als wirklich
zum Philosophen zu werden (or. 13,10–12).
Wenn wir in 2Kor 2,17 lesen: »Wir verhökern nicht wie die vielen das Wort
Gottes, sondern aus Aufrichtigkeit, sondern aus Gott reden wir vor Gott in Chris
tus«, dann ist das hier mit »verhökern« übersetzte Verbum καπηλεύω in philo
sophischen Kontexten ein geläufiger Vorwurf gegenüber Sophisten, die mit der
Wahrheit Geschäfte machen und sie so verfälschen. Paulus wirft seinen Gegnern
hier einen unglaubwürdigen und gewinnorientierten Umgang mit dem Wort
Gottes vor. In 10,10 wird umgekehrt deutlich, dass die Gegner die wenig ein-
drucksvolle Präsenz und schwache Rhetorik des Paulus kritisierten, also genau
die Punkte, in denen sich Sophisten den Philosophen überlegen fühlten. Wenn
Paulus diese Einschätzung in 11,6 teilweise akzeptiert, indem er seinen rheto-
rischen Amateurstatus zugibt, könnte er gerade damit aus philosophischer Per-
spektive die Gegner als Leute denunzieren, deren Rhetorik auf Kosten der Er-
kenntnis geht, die also nur Blendwerk zu bieten haben.
Nicht nur Philosophen und Sophisten stritten sich in der Unterhaltsfrage, son-
dern auch im philosophischen Lager selbst gab es unterschiedliche Haltungen
(Hahn 1989, 82 f.). Philosophische Lehrer standen meist nicht unter Erwerbs-
druck, weil die Philosophie fast ausschließlich eine Sache der obersten Schichten
war. Dennoch gab es auch Philosophen, die nicht vom geerbten Vermögen leben
konnten, sondern die sich selbst um ihren Unterhalt kümmern mussten. Es be-
standen dabei verschiedene Möglichkeiten: Man konnte als philosophischer Be-
I. Die Briefe des Paulus 193
Wenn die beiden Parteien also vielleicht weit weniger gegensätzlich waren, als
der 2. Korintherbrief zunächst nahezulegen scheint, dann könnte gerade darin
der Grund liegen, warum es bisher nicht gelungen ist, sie zu identifizieren. Wenn
viele Gegensätze sich der Überzeichnung und Polemik verdanken, dann ist es
kein Wunder, dass wir die Gegner nicht genauer bestimmen können. Sie sind bis
zu einem gewissen Grad fiktiv.
Klauck, Hans-Josef: 2. Korintherbrief (NEB.NT 8), Würzburg 31994.
Schmeller, Thomas: Der zweite Korintherbrief, in: Ebner, Martin/Schreiber, Stefan (Hg.):
Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2008, 326–346.
Ders.: Der zweite Brief an die Korinther. Teilband 1: 2Kor 1,1–7,4 (EKK VIII/1), Neukir-
chen-Vluyn 2010.
Vegge, Ivar: 2 Corinthians – A Letter about Reconciliation. A Psychagogical, Epistolographical
and Rhetorical Analysis (WUNT II 239), Tübingen 2008.
Windisch, Hans: Der zweite Korintherbrief (KEK VI9), Göttingen 1924. Neudr. 1970.
Thomas Schmeller
2.4. Galaterbrief
Unter den sog. Hauptbriefen (Röm, 1.2Kor, Gal) ist der Galaterbrief bei Weitem
der kürzeste. Dennoch gehört er zu den inhaltlich gewichtigsten und folgen-
reichsten Schreiben der paulinischen Korrespondenz. In einer Tischrede bekennt
Martin Luther: »Epistula ad Galatos ist mein epistelcha, der ich mich vertraut
habe. Ist mein Keth von Bor« (WA.TR 1,69). Diese besondere Hochschätzung re-
sultiert aus der im Galaterbrief erstmals entfalteten Rechtfertigungslehre. Ihren
prägnanten Ausdruck findet sie in dem thetisch verdichteten Basis-Satz: »Der
Mensch wird nicht aufgrund von Werken des Gesetzes gerechtfertigt, sondern
(nur) durch den Glauben an Jesus Christus« (2,16b.c, vgl. Röm 3,28). Doch was
Paulus als Konsensaussage formuliert (»Wir wissen aber: [. . .]« [2,16a]), trug den
Keim der Kirchenspaltung in sich. Im Streit um das rechte Verständnis der Recht-
fertigungslehre, die, so Luther in seinem Galaterbrief-Kommentar von 1535, das
Ganze der christlichen Lehre enthält (WA 40/1, 48,28 f.), ist die Einheit der abend-
ländischen Christenheit zerbrochen.
Der seit dem 2. Vaticanum in eine neue Phase getretene bilaterale ökumenische
Dialog hat zu einer Rückbesinnung auf die gemeinsamen biblischen Wurzeln ge-
führt. Aufgrund seiner wirkungsgeschichtlichen Dynamik und der Tatsache, dass
er selbst einen tiefgreifenden innerchristlichen Konflikt spiegelt, kommt dem Ga-
laterbrief in diesem Zusammenhang exemplarische Bedeutung zu. Nicht zuletzt
an ihm muss sich erweisen, ob es gelingt, jenseits konfessionell geprägter Inter-
pretationsmuster und historisch gewachsener Vorurteilsstrukturen den Texten
ihr eigenes Recht zu belassen.
I. Die Briefe des Paulus 195
Von der Alten Kirche bis in die frühe Neuzeit war die paulinische Verfasserschaft
des Galaterbriefs unumstritten. Erst im 19. Jh. wurde seine Authentizität verschie-
dentlich angezweifelt, jedoch ohne nachhaltige Wirkung. Gleiches gilt für die ra-
dikalere Variante, kein einziger der unter seinem Namen veröffentlichten Briefe
stamme von Paulus. Spätere Versuche, ihm zumindest den Galaterbrief – entwe-
der ganz oder zu weiten Teilen – abzusprechen, blieben die große Ausnahme. In
der heutigen Forschung ist die Verfasserfrage zugunsten von Paulus entschieden.
Allerdings gibt 6,11 (»Seht, mit welch großen Buchstaben ich euch eigenhändig
schreibe«) zu erkennen, dass Paulus sich eines Sekretärs, vermutlich eines Schnell-
schreibers (Tachygraph), bedient hat und ihm den Brief in die Feder diktierte (vgl.
Röm 16,22; 1Kor 16,21; Phlm 19). Ob dieser strikt nach Diktat den Text nieder-
schrieb oder die Freiheit hatte, gelegentlich selbst zu formulieren, vielleicht sogar
mit Zustimmung des Autors einen ausführlichen Rohentwurf redigiert und stilis
tisch überarbeitet hat, ist schwer zu sagen. Aber selbst dann bliebe Paulus für den
Brief verantwortlich. Hinsichtlich seiner gedanklichen Disposition, konzeptio-
nellen Gestaltung und theologischen Argumentation ist er das originäre Werk des
Apostels.
Die literarische Integrität wird zumeist als gegeben vorausgesetzt. Dafür spre-
chen a) die thematische Kohärenz des brieflichen Gesamtgefüges, b) der einheit-
liche Situations- und Adressatenbezug, c) die wiederholte Aufnahme leitmoti-
visch verwendeter Zentralbegriffe, d) das Geflecht intratextueller Verweisbezüge
und schließlich e) die Textüberlieferung. Ältester Textzeuge ist der um 200 n.Chr.
zu datierende P46. Er bietet eine Textform, die bis auf kleinere Abweichungen
identisch ist mit der, wie sie sich in den modernen kritischen Ausgaben findet. Es
fehlen lediglich neun Verse (1,9; 2,10 f.; 3,1; 4,1.19; 5,18 f.; 6,9). Neuerliche Versuche,
den Galaterbrief zu dekomponieren (Witulski 2000: 4,8–20 stammt aus einem
anderen Brief an die galatischen Gemeinden und ist sekundärer Einschub eines
nachpaulinischen Redaktors) oder ihn in seiner vorliegenden Form als das Pro-
dukt christlicher Kopisten zu erweisen, auf deren Konto zahlreiche Glossen und
Interpolationen gingen (O’Neill 1972), haben den literarischen und textge-
schichtlichen Befund gegen sich.
(4,11.20). Mit einiger Sicherheit lässt sich über die Vorgeschichte des Galaterbriefs
und den Anlass, der zu seiner Abfassung geführt hat, so viel sagen:
Paulus hat die Gemeinden während eines Aufenthalts in der römischen Pro-
vinz Galatia gegründet. Wann und wo genau, sagt er nicht (s. u. unter Lokalisie-
rung der Adressaten, Abfassungszeit und -ort). Offenbar musste er krankheitshal-
ber bei ihnen Station machen (4,13 f.). Dass seine missionarische Tätigkeit erfolg-
reich war, zeigt 1,2. Der Brief richtet sich an eine Mehrzahl von (Haus-)Gemeinden
in verschiedenen, aber nicht allzu weit voneinander entfernt gelegenen Ortschaf-
ten. Bald nach Paulus’ Weggang oder, bezieht man die Angabe »so schnell« (1,6a)
auf den Beginn ihrer Aktivitäten, im Laufe der Zeit erschienen Fremdmissionare,
die gegen seine Verkündigung agitierten, ihn aber auch persönlich angriffen, in-
dem sie seine apostolische Legitimität bestritten und Zweifel an seiner Unabhän-
gigkeit schürten. Nur unter dieser Voraussetzung wird verständlich, warum er
gleich eingangs betont herausstellt, er sei »Apostel nicht von Menschen, [. . .], son-
dern durch Jesus Christus und Gott, den Vater« (1,1).
Dieser Tenor bestimmt auch den autobiographischen Rechenschaftsbericht
(1,11–2,21). In ihm präsentiert Paulus sich als von Gott autorisierter Apostel, der
keiner menschlichen Instanz verpflichtet ist. Alles spricht dafür, dass es sich bei
den Gegnern um Christen (1,6 f.; 3,26–4,7; 6,12) jüdischer Herkunft handelt. Ver-
mutlich kamen sie aus Judäa bzw. Jerusalem. Darauf deutet die mehrfach ange-
schnittene Jerusalem-Thematik hin (1,17–19; 2,1–10; 4,25 f., vgl. 2,12 f.). Sie und der
gegen Paulus erhobene, von ihm allerdings vehement bestrittene Vorwurf, kein
Apostel eigenen Rechts zu sein, machen es wahrscheinlich, dass ihm ein Abhän-
gigkeitsverhältnis zu den Jerusalemer »Säulen« (2,9) unterstellt wurde. Vielfach
wird angenommen, die Fremdmissionare hätten mit Rückendeckung oder gar im
Auftrag Dritter die Konfrontation mit Paulus gesucht. Sollte dies der Fall sein,
wäre am ehesten eine Verbindung zur Jerusalemer Gemeinde denkbar, die in der
paulinischen Missionspraxis eine Gefährdung der eigenen Existenz als christus-
gläubige Gruppe im kultisch-religiösen und politischen Zentrum des Judentums
erblicken konnte (vgl. 6,12c). Denn es ist gerade die von Paulus praktizierte und
den Druck auf die Jerusalemer Christen möglicherweise noch verstärkende be-
schneidungsfreie Heidenmission, an der sich die Kritik der Fremdmissionare ent-
zündete. Im Unterschied zu ihm und entgegen der auf dem Apostelkonvent ge-
troffenen Vereinbarung (2,8 f.) waren sie nicht bereit, Christen aus den Völkern
vorbehaltlos als Mitglieder der »Gemeinde Gottes« (1,13) – d. h. für sie: des auser-
wählten Gottesvolkes Israel – zu akzeptieren. Mit der unterbliebenen Beschnei-
dung fehlte den Galatern das »Zeichen des Bundes« (Gen 17,11), das die Zugehö-
rigkeit zum Gottesvolk konstituiert. Sie wurden daher angehalten, das Versäumte
nachzuholen. Konkret bedeutete dies: Sie sollten sich gemäß der Tora beschnei-
den lassen (5,2; 6,12 f., vgl. 2,3 f.), die Speisegebote einhalten (vgl. 2,11–14) und
wohl auch den jüdischen Festkalender beachten (4,10). An dieser Forderung zeigt
sich, dass die paulinische Verkündigung durch ihren Verzicht auf die Übernahme
der jüdischen Identitätsmerkmale, v. a. die Beschneidung, als defizitär galt. Weil
I. Die Briefe des Paulus 197
sie hinter den Bestimmungen der Tora zurückblieb, musste sie »nachgebessert«
werden.
Nicht von ungefähr spielt die Abraham-Thematik im Galaterbrief eine domi-
nierende Rolle. Sie dürfte von den Gegnern eingebracht worden sein, war sie
doch geeignet, ihre Position zu stärken: Ohne wie der Erzvater beschnitten zu
sein, gibt es keinen legitimen Anspruch auf die Abrahamskindschaft. Der Glaube
ist zwar unerlässlich, um an den Segensverheißungen teilzuhaben, die Abraham
von Gott empfangen hat. Aber er ist lediglich eine notwendige, keine zureichende
Bedingung. Der durch Christus eröffnete Weg zum Heil läuft über die Zugehörig-
keit zum Judentum und bleibt daran gebunden. Erst wenn die Galater diesen
Schritt vollzogen haben, sind sie Nachkommen Abrahams und gewinnen Anteil
an seinem Erbe. In diesem an der Tora orientierten Heilskonzept hebt der Glaube
die erwählungsgeschichtlich begründete Differenz zwischen Juden und Nichtju-
den weder auf noch wird sie durch ihn gegenstandslos. Während seine Kontra-
henten aus der Schrift ableiten, zwischen Christusglaube und Toragehorsam be-
stehe ein unauflösbares soteriologisches Junktim, hält Paulus – ebenfalls im
Rückgriff auf die Schrift – an der kriteriologischen Funktion des Glaubens fest.
Der für ihn grundlegende Text ist Gen 15,6: »Er (sc. Abraham) glaubte Gott, und
es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet« (3,6). Paulus interpretiert ihn im
Sinne seines Beweisziels, dass allein der Glaube über die Zugehörigkeit zur escha-
tologischen Heilsgemeinde entscheidet: »Erkennt also: Die aus Glauben (leben),
(nur) diese sind Abrahams Kinder« (3,7). Anschließend wendet er, wiederum
mithilfe zweier Schriftzitate (Gen 12,3; 18,18), die aus Gen 15,6 gezogene Schluss-
folgerung auf die aktuelle Problemlage in Galatien an: »Die Schrift aber hat vo-
rausgesehen, dass Gott die Heiden aus Glauben rechtfertigt, und dem Abraham
das Evangelium im Voraus verkündigt: ›In dir werden alle Völker gesegnet wer-
den‹. Also werden die aus Glauben (leben) mit dem glaubenden Abraham geseg-
net« (3,8 f., vgl. 3,14a.26–29). Wenn nun die heidenchristlichen Galater, so das
Fazit des Apostels, wie Abraham »glauben« und durch den Glauben zu Christus
gehören, auf den die Verheißungen sich beziehen (3,16), müssen sie nicht erst
Juden werden, um vollgültige Mitglieder des erwählten Gottesvolkes und Verhei-
ßungserben (3,22b.29) zu sein. Auch die Tora in das christologisch-soteriolo-
gische Koordinatengefüge von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi zu integrie-
ren, wodurch sie den Rang einer heilsrelevanten Größe erhielte, käme einer An-
nullierung der Gnade Gottes gleich (1,6; 2,21a). In der Konsequenz führte die
beabsichtigte Aufwertung der Tora nicht nur zur Relativierung des Christusge-
schehens, sondern hätte zwangsläufig dessen Suspendierung zur Folge (2,21b). An
die Stelle des exklusiv formulierten Basissatzes der Rechtfertigung träte die inklu-
siv formulierte Aussage: »Der Mensch wird durch den Glauben an Jesus Christus
und aufgrund von Werken des Gesetzes gerechtfertigt«. In dieser durch ein So-
wohl-als-auch gekennzeichneten Heilskonzeption sieht Paulus »die Wahrheit des
Evangeliums« (2,5.14, vgl. 5,7) im Kern preisgegeben.
198 C. Werk
Der Galaterbrief lässt sich grob in drei Teile gliedern: Briefeingang (1,1–9[10]),
Briefkorpus (1,11–5,12 [5,13–6,10]), Briefschluss (6,11–18). Formal und inhaltlich
weisen beide Rahmenstücke markante Besonderheiten auf. Sie spiegeln das ange-
spannte Verhältnis zwischen Briefautor und -empfänger. Dies gilt zunächst für
das Präskript (1,1–5). Anders als sonst bleiben die in V. 2a erwähnten Mitarbeiter
anonym. Auch die Adresse (V. 2b) beschränkt sich auf das Nötigste (»an die Ge-
meinden Galatiens«. Ohne Parallele in den übrigen Briefen ist die Erweiterung
des Friedensgrußes durch eine doxologisch ausklingende Dahingabeformel (V.
4 f.), mit der Paulus den tragenden Grund seines Evangeliums benennt. Auffällig
ist ferner der Ersatz des üblichen Proömiums durch einen scharfen Tadel (1,6–9).
Statt für den Glaubensstand der Galater zu danken, zeigt Paulus sich im Stil der
Entrüstung »verwundert« über ihre Absatzbewegung hin zu einem »anderen
Evangelium« (V. 6). Er stellt jeden unter den Fluch, der ein solches in Wahrheit
gar nicht existierendes (V. 7) »Evangelium« verkündigt oder sich darauf einlässt
(V. 8 f., vgl. 5,4). Das Briefkorpus ist dreigeteilt. Nach einem autobiographischen
Rückblick, in dem Paulus die Gottunmittelbarkeit seines Evangeliums darlegt
(1,11–2,21), entfaltet er die bereits zuvor (2,15–21) eingebrachte These, Rechtferti-
gung geschehe allein aus Glauben (3,1–5,12). Sie wird in mehreren Schritten be-
I. Die Briefe des Paulus 199
tät besteht weder zum Typus der Fest- bzw. Lobrede (genus demonstrativum)
noch zu dem der beratenden Rede (genus deliberativum). Die wechselnde Tonla-
ge, der ambivalente Sprachgestus und das auf keinen rhetorischen Nenner zu
bringende Argumentationsgefälle machen die verbreitete Annahme plausibel, der
Galaterbrief vereinige Elemente aller drei Genera.
Ein Problem wirft allerdings die unterstellte Austauschbarkeit von Rede und
Brief auf. Alle uns bekannten rhetorischen Lehrbücher beschränken sich auf den
mündlichen Vortrag und seine Wirkaspekte. Von daher versteht sich, dass die im
zeitlichen Umkreis des Neuen Testaments anzusiedelnden antiken Rhetoriker
Brief (epistula) und Rede (oratio) trotz ihrer Verwandtschaft als zwei zu unter-
scheidende Phänomene menschlicher Kommunikation betrachtet haben und sie
auch getrennt behandelt wissen wollten (vgl. Cic.orat. 64; fam. IX 24,1). Erst in
späterer Zeit mehren sich die Stimmen, die den Unterschied weniger stark beto-
nen, ihn sogar zu nivellieren suchen. Doch können Briefschreiber auch ohne ein
der Redekunst vergleichbares theoretisches Fundament die entsprechenden Ma-
ximen beherzigt und angewandt haben. Gerade der Galaterbrief zeigt, dass Pau-
lus mit den gängigen rhetorischen Termini technici und den Grundregeln ihrer
Applikation vertraut war. Insofern spricht grundsätzlich nichts dagegen, die an
und für Reden entwickelten rhetorischen Kategorien auch auf andere Textsorten
wie z. B. Briefe zu übertragen.
Ausgangspunkt und gedankliche Mitte der im Hauptteil ausgezogenen Sinnli-
nie ist der Basissatz von der Rechtfertigung (2,16). Die ihn kennzeichnende Anti-
thetik hält sich durch und bestimmt die von Oppositionen geprägte Argumenta-
tionsstruktur: Christusevangelium – anderes Evangelium (1,6 f.), Gerechtigkeit
aufgrund von »Werken des Gesetzes« – Gerechtigkeit aus Glauben an Jesus Chris
tus (2,16–21; 3,1–14), Versklavung unter das Gesetz – Freiheit in Christus (3,23–4,7;
4,21–31), Vertrauen auf das Fleisch – Leben im Geist (5,13–6,10). Mit der These
von 2,16 nimmt Paulus die Antwort vorweg, auf die 3,2 hinsteuert: »Habt ihr den
Geist aufgrund von Werken des Gesetzes empfangen oder aus der Predigt des
Glaubens?« (vgl. 3,5b). An Abraham verdeutlicht er zunächst, dass nicht das Tun
des Gesetzes, sondern nur der Glaube rechtfertigt (3,6–9). Überführender Beweis
sind die pneumatischen Erfahrungen der Galater. Ihre Begabung mit dem Geist
ist der Segen, der Abraham und seinen Nachkommen verheißen ist. Er wird allen
Glaubenden durch Christus, den Nachkommen Abrahams, vermittelt (3,14). Mit
einem aus der Rechtspraxis entlehnten Beispiel stellt Paulus sodann klar (3,15–18),
dass das zwischenzeitlich ergangene Gesetz die früher gegebene Verheißung nicht
aufhebt. Auf die nun unvermeidliche Frage nach seiner Funktion geht 3,19–25 ein.
Das Gesetz hatte eine zeitlich befristete und zudem begrenzte Aufgabe in der
göttlichen Heilsökonomie. Es wurde der Verheißung beigegeben als Aufseher bis
zum Kommen Christi (3,24), sollte aber nie rechtfertigen und Leben bringen
(3,21 f.). 3,26–29 zieht die Quintessenz und formuliert, was zu beweisen war.
Durch ihre Taufe sind die Galater im Heilsbereich des Christus (3,28), sie gehören
nun zu ihm. Folglich sind sie auch »Abrahams Nachkommen, Erben gemäß der
I. Die Briefe des Paulus 201
Verheißung« (3,29). 4,1–7 illustriert und präzisiert das zuvor Gesagte. Kommt in
der Taufe sinnfällig zum Ausdruck, dass die an Christus Glaubenden Kinder
Gottes sind (3,26) und nicht mehr wie vormals unter Fremdherrschaft stehen
(4,2 f.5), ist der in ihren Herzen wohnende Geist kein anderer als der des Gottes-
sohnes (4,6), d. h. Christus selbst (2,20). Nach einer eindringlichen Warnung,
nicht hinter das Erreichte zurückzufallen (4,8–11), und einem Appell, sich an ihre
von gegenseitiger Freundschaft geprägte gemeinsame Geschichte zu erinnern
(4,12–20), wird die eingangs aufgerissene Alternative von Glaube und Gesetz
(3,6–9.10–14) noch einmal aus der Schrift begründet (4,21–31). In allegorischer
Ausdeutung der Sara-Hagar-Erzählungen in der Genesis schließt Paulus die
Adressaten mit Isaak, dem »kraft der Verheißung« (4,23) und »auf geistliche Wei-
se« (4,29) erzeugten Sohn Abrahams und Saras kurz. Weil Sara, die »Freie« (4,23),
auch »unsere Mutter« ist (4,26), sind »wir« (= die aus Glauben Gerechtfertigten)
»Kinder der Freien« (4,31) und nicht der Magd Hagar, die – der Sinai-Tora ent-
sprechend – »zur Knechtschaft gebiert« (4,24 f.). Deshalb gilt: »Zur Freiheit hat
uns Christus befreit« (5,1). Mit diesem Satz, er bildet die Klimax des Briefs, ist
(fast) alles gesagt. Was jetzt noch folgt (5,13–6,10), ist Anwendung.
56 n.Chr. noch in Ephesus oder schon in Makedonien (vgl. Apg 20,1 f.) gut vor-
stellbar.
Bachmann, Michael/Kollmann: Bernd (Hg.): Umstrittener Galaterbrief. Studien zur Situie-
rung und Theologie des Paulus-Schreibens (BThSt 106), Neukirchen-Vluyn 2010.
Barclay, John M. G.: Obeying the Truth. A Study of Paul’s Ethics in Galatians, Edinburgh 1988.
Breytenbach, Cilliers: Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien. Studien zu Apostelge-
schichte 13 f.; 16,6; 18,23 und den Adressaten des Galaterbriefes (AGJU 38), Leiden u. a. 1996.
Kremendahl, Dieter: Die Botschaft der Form. Zum Verhältnis von antiker Epistolographie und
Rhetorik im Galaterbrief (NTOA 46), Freiburg (CH)/Göttingen 2000.
Schäfer, Ruth: Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief,
zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie (WUNT II 179), Tübingen
2004.
Dieter Sänger
2.5. Philipperbrief
2.5.1. Abfassungsverhältnisse
Das Präskript nennt Paulus und Timotheus als Absender, doch formuliert das
Schreiben durchweg im Ich-Stil, und Passagen wie 1,19–26; 2,19–24 oder 3,4–11
lassen keinen Zweifel daran, dass jeweils Paulus spricht. Auffällig ist aber, dass die
Selbstbezeichnung des Paulus als »Apostel« fehlt. Dies ist vielleicht mit der Ab-
sicht des Verfassers zu erklären, kein Ungleichgewicht in der superscriptio zu er-
zeugen (zu Epaphroditus als ἀπόστολος [Apostel] der Adressaten vgl. 2,25).
Der Philipperbrief ist ein Gefangenschaftsbrief; Paulus spricht von seinen
»Fesseln« (1,13 f.); Kontext seiner Gefangenschaft ist ein »Prätorium« (1,13). Mit-
christen und persönliche Mitarbeiter haben Zugang zu dem Gefangenen, doch
muss der Apostel mit dem Schlimmsten, seiner Verurteilung und Hinrichtung,
rechnen (1,19–26). Als mit Paulus Grüßende werden in 4,22 u. a. »die aus des Kai-
sers Haus« genannt.
Adressaten sind »alle Heiligen in Jesus Christus, die in Philippi sind, zusammen
mit den Aufsehern und Diakonen« (V. 1). Wie der Römerbrief ist der Philipper-
brief nicht an eine ἐκκλησία (Kirche), sondern an die »Heiligen« (d. h. die Chris
204 C. Werk
Philippi gab, ist nicht sicher; archäologische Bestätigungen für eine solche An-
nahme gibt es bisher nicht. Auffallend ist, dass auch die Apostelgeschichte für Phi-
lippi keine Synagoge, sondern nur eine Gebetsstätte (προσευχή) außerhalb des
Stadttores erwähnt – möglicherweise nicht mehr als ein offener Platz. Die Frauen,
die sich an dieser Gebetsstätte versammeln, werden in Apg 16,13 f. als »Gottes-
fürchtige« bezeichnet, sind also keine Jüdinnen von Geburt, sondern Sympathi-
santinnen mit dem Judentum. Auch die Bemerkung in Apg 16,20 f. klingt nicht
danach, dass Juden einen lange angestammten Platz in der Stadt hatten.
Nach dem Bericht der Apostelgeschichte ist Philippi die erste Gemeindegrün-
dung des Paulus auf europäischem Boden. Der Übergang in ein neues Missions-
gebiet ist nach Apg 16,6–10 durch Eingreifen des Heiligen Geistes und die Ertei-
lung eines Auftrags im Traum hervorgehoben. Der Bericht nennt einzelne Per-
sonen: die gottesfürchtige Lydia, ursprünglich aus Thyatira in Lydien/Kleinasien;
16,14 einen städtischen Kerkermeister, der vielleicht römischer Bürger war (16,23–
34). Ob sich die Sklavin, die Paulus vom Wahrsagegeist befreit (Apg 16,16–18), der
Christengemeinde anschloss, ist unklar. Phil selbst nennt drei griechische Namen
(Epaphroditus, Euodia, Syntyche) und einen römischen (Klemens).
Nach dem Bericht der Apostelgeschichte hielt sich Paulus »viele Tage« (16,18) in
Philippi auf. Die Austreibung des Wahrsagegeistes führt nach 16,16–40 zu einem
Tumult. Paulus und sein Begleiter Silas (= Silvanus) werden ins Gefängnis gewor-
fen. Sie kommen bald wieder frei, müssen jedoch weiterziehen. Von Schwierig-
keiten in Philippi zeugen auch die Notizen in 1Thess 2,2 und Phil 1,30. Nach Thes-
salonich senden die Philipper nach Auskunft des Paulus (Phil 4,16) zweimal Un-
terstützungen, vielleicht auch nach Korinth (2Kor 11,9; 2Kor 8,1–5 bezieht sich auf
die Kollekte für Jerusalem). Die Notizen in Apg 19,22 (Sendung von Timotheus
und Erastos von Ephesus aus), in 20,1–5 (Reisen durch Makedonien) sowie in
2Kor 2,13; 7,5 (Reise nach Makedonien) nennen Philippi zwar nicht ausdrücklich,
könnten es aber meinen. Nach Apg 20,6 hat Paulus das letzte Mazzot-Fest vor
seiner Gefangennahme in Philippi verbracht.
2.5.2. Datierung
Terminus post quem der Abfassung des Schreibens ist also der Missionsaufenthalt
des Paulus in Philippi, der in die Zeit vor dem (mithilfe der Apostelgeschichte)
absolut zu datierenden ersten Aufenthalt in Korinth (50–52 n.Chr.) fällt. Terminus
ante quem ist der Tod des Paulus (wohl in Rom zu Beginn der 60er Jahre des 1.
Jh.). Die handschriftliche Bezeugung setzt um 200 mit P46 ein. Die frühesten alt-
kirchlichen Zitate oder Anspielungen auf den Philipperbrief sind wahrscheinlich
älter; sie finden sich sicher bei Polykarp von Smyrna (Polyk 3,2), vielleicht aber
schon in 1Clem 47,2 (Phil 4,15), IgnRöm 2,2 (Phil 2,17); 6,1 (Phil 1,23); IgnSm 4,2
(Phil 4,13) und 11,3 (Phil 3,15).
Die genauere Einordnung in die Chronologie des paulinischen Wirkens ist da-
von abhängig, ob man den Gefängnisaufenthalt genauer lokalisieren und datie-
206 C. Werk
ren kann. In dieser Hinsicht ist die Angabe »im Prätorium« (1,13) so wichtig wie
umstritten. πραιτώριον (entlehnt von lat. praetorium) meint ursprünglich das
Hauptquartier eines Prätors, auch das Hauptquartier eines Befehlshabers in
einem Militärlager. Im Neuen Testament begegnet der Begriff außerhalb des Phi-
lipperbriefs noch für den Amtssitz des Pilatus während der Gerichtsverhandlung
gegen Jesus (Mt 27,27; Mk 15,16; Joh 18,28–33; 19,9) und für die von Herodes dem
Großen in Cäsarea erbaute Zitadelle, die als Amtssitz des römischen Prokurators
diente und in der Paulus nach Apg 23,35 gefangen gehalten wurde. Terminolo-
gisch liegt die Deutung auf den Amtssitz eines kaiserlichen Provinzstatthalters
am nächsten. Das lässt an die in Apg 23–27 bezeugte Haft des Paulus in Cäsarea
denken. In diesem Falle wäre der Philipperbrief wohl der letzte erhaltene Paulus-
brief. Aber stand Paulus in Cäsarea unter unmittelbarer Todesgefahr? In zahl-
reichen Handschriften ist in der subscriptio zum Philipperbrief Rom als Abfas-
sungsort ausdrücklich angegeben; das ist aber gelehrte Interpretation, nicht his
torisch verwertbares Zeugnis. Auch als Schreiben aus Rom wäre der Philipperbrief
vielleicht der letzte uns erhaltene Paulusbrief, in mehr oder weniger großem Ab-
stand zu seiner wohl schon in Apg 20,25.38 angedeuteten, in 1Clem 5,5–7 (Löhr
2001) deutlicher bezeugten Hinrichtung in der Hauptstadt. Der Begriff πραιτώριον
stände dann wohl im Zusammenhang mit der Prätorianergarde, der Leibwache
des römischen Imperators in der Hauptstadt des Reiches. Konkret wäre an kaiser-
liche oder militärische Gebäude auf dem Palatin oder an die Kaserne der Prätori-
anergarde zu denken, die Sejanus unter Kaiser Tiberius außerhalb der Stadtmau-
er im Nordosten der Stadt erbauen ließ (Tac.ann. IV 2). Beiden Deutungen, die
auf eine Abfassungszeit Ende der 50er oder Anfang der 60er Jahre weisen, ge-
meinsam ist das Problem, dass die angenommene geographische Distanz zwi-
schen Verfasser und Adressaten sich nicht leicht mit dem im Text erkennbaren
Austausch vereinbaren lässt (optimistisch für Rom z. B. Schnelle 72011, 155; Gie-
len 2006, 87 f.).
Auch die Wendung »die aus des Kaisers Haus« in 4,22 schafft nicht mehr Klar-
heit, denn Angehörige des kaiserlichen Haushalts (Freie oder Sklaven), und diese
dürften mit der Wendung bezeichnet sein, sind natürlich in Rom, aber auch in
bedeutenden Städten in den Provinzen des Imperiums vorstellbar. Für eine späte
Ansetzung des Philipperbriefs wurden auch sprachliche Argumente vorgebracht,
deren Beweiskraft aber begrenzt ist (Schade 1984, 181–189).
Gegenwärtig geht die Mehrheit der Forschung von Ephesus als dem Haft- und
Abfassungsort für den Philipperbrief aus. Zwar besitzen wir bisher keinen litera-
rischen oder inschriftlichen Beleg dafür, dass in der senatorischen Provinz die
Residenz des Statthalters als »Prätorium« bezeichnet werden konnte. Doch waren
Prätorianer auch in Ephesus stationiert (Belege bei Reumann 2008, 172), sodass
man sich analog zu Rom eine Kaserne dieser Elitetruppe oder ein anderes (mili-
tärisches) Amtsgebäude dieser Bezeichnung vorstellen könnte. Die bedeutendere
Schwierigkeit besteht darin, dass die Apostelgeschichte eine ephesinische Gefan-
genschaft des Paulus (zuerst von Lisco 1900 und Deissmann 1923 vorgeschlagen)
I. Die Briefe des Paulus 207
nicht erwähnt; Gründe für ein Verschweigen aber sind schwerlich auszumachen.
Es geht allerdings aus Briefen des Paulus selbst hervor, dass er sich in Ephesus
bzw. der Asia mehrfach in Todesgefahr befunden haben muss (1Kor 15,32; 2Kor
1,8–10). Aber reicht dies aus, einen Gefängnisaufenthalt gegen das Schweigen der
Quellen zu postulieren?
Die Diskussion um die Struktur und rhetorische Gliederung des Schreibens ver-
knüpft sich mit derjenigen um seine literarische Einheitlichkeit (ausführlich
Reed 1997; Reumann 2008, 8–13). Ein Konsens ist bisher nicht erreicht. Auch ob
der Text insgesamt eher dem genos epideiktikon oder dem genos symbuleutikon der
antiken Rede nahesteht, ist umstritten; hier zeigen sich die Grenzen der rheto-
rischen Analyse. In den Kategorien antiker Epistolographie ist der Philipperbrief
am ehesten als Familien- oder Freundschaftsbrief zu bezeichnen.
2.5.4. Literarkritik
Überlegungen im Zeugnis des Bischofs Polykarp von Smyrna, der in seinem Brief
an die Philipper (ca. 120 n. Chr.?; 3,2) von mehreren Briefen des Paulus spricht
(anders jedoch Polyk 11,3: Gen. Sg. epistulae). Auch Phil 3,1 soll nach Ansicht man-
cher Beleg für die Existenz mehrerer Briefe sein; ebenso gut ist jedoch ein Bezug
auf 2,18 möglich.
Während 1,15–18 von Kontrahenten des Paulus am Ort seiner Gefangenschaft
zeugt und 1,27–30 die Adressaten in sehr allgemeinen Wendungen vor »Widersa-
chern« warnt, wird aus der Polemik von 3,2–4 deutlicher, dass Paulus sich gegen
andere christliche Missionare wendet, die offenbar die Beschneidung fordern.
Die in 3,17–21 geäußerten Vorwürfe stehen nicht im Widerspruch dazu, bleiben
aber in ihrer Polemik allgemeiner. Man kann aus den genannten Passagen kaum
das genauere Profil der Gegenmissionare und ihrer Botschaft erkennen; zumal
reichen die Informationen nicht hin, um verschiedene Gegnergruppen zu rekon-
struieren. Es ist nicht einmal sicher, dass sich der Apostel auf Erfahrungen der
Adressatengruppe bezieht; vielmehr könnte er im Hinblick auf eigene Erfah-
rungen mit anderen Gemeinden auf eine drohende, aber noch nicht realisierte
Gefahr hinweisen.
eine neue Sicht auf diese Biographie. In ihr fasst der Apostel sein »Evangelium«
zusammen (von dem er zuvor nur stichwortartig gesprochen hat: 1,12.16; 2,22;
ferner 4,3.15) (V. 8b.9): »[. . .] damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden
werde, nicht als einer, der ich meine eigene Gerechtigkeit habe, die aus dem Ge-
setz, sondern die durch den Glauben an Christus, die Gerechtigkeit aus Gott auf-
grund des Glaubens.«
Mit der Vorstellung von der von Gott geschenkten Gerechtigkeit aufgrund von
Glauben werden diejenigen von Tod und Auferstehung Jesu Christi und die An-
teilhabe an ihnen verknüpft. Sollte der Satz von der Rechtfertigung des Gottlosen
im Kern vorpaulinisch sein (dazu Theobald 2001a), lässt sich aus seiner Präsenz
kein Argument für oder gegen eine bestimmte Einordnung und Datierung inner-
halb des paulinischen Werkes ableiten.
Die Formulierung in V. 6 stellt an die Interpretation der paulinischen Vorstel-
lung von Rechtfertigung insgesamt die Frage, ob die Erfüllung des Gesetzes nach
Paulus zwar möglich und wirklich ist, aber als Heilsweg ausgedient hat, oder ob
die faktisch zu konstatierende Nichterfüllung des Gesetzes eine neue Rettungstat
Gottes erforderlich macht. Auch wenn man bedenkt, dass Phil 3 autobiographisch
formuliert, wird man die Grundsätzlichkeit der Aussagen kaum bestreiten kön-
nen. Als weiteres Motiv begegnet in 3,2–6 dasjenige des Rühmens, das in der Ver-
bindung mit der Rechtfertigungsterminologie und -thematik auch in Röm
2,17.23; 3,27 vorkommt und darüber hinaus zum Vorzugsvokabular des Apostels
besonders in der Korrespondenz mit Korinth gehört (καυχᾶσθαι [rühmen] z. B.
in 1Kor 1,29.31; 2Kor 11,30; καύχημα [Ruhm] in 1Kor 5,6; 9,15; 2Kor 1,14; 9,3;
καύχησις [Ruhm] in 1Kor 15,31; 2Kor 1,12; 7,4).
Christologie und Ethik: Eine Besonderheit innerhalb der echten Paulusbriefe
stellt der Abschnitt 2,6–11 dar, der den Weg Jesu Christi aus gottgleicher Stellung
(welche die Existenz Christi vor der Zeit der Welt implizieren dürfte) durch ge-
horsame Erniedrigung bis zum Kreuzestod hin zur Erhöhung zu Gott und zur
Verehrung durch den ganzen Kosmos als »Herr Jesus Christus« (V. 11) preist. Die
stilistische Durchformung des Textstücks mithilfe von Parallelismen, Chiasmen
u. a. (unklar ist, ob ein Metrum zu erkennen ist) sowie der Gebrauch von Voka-
bular und Motiven, die sonst bei Paulus fehlen, hat die Forschung, einem Vor-
schlag Ernst Lohmeyers (Lohmeyer 1961) folgend, dazu geführt, den Text als
schon vor-paulinischen Christushymnus aufzufassen, der vom Apostel hier zi-
tiert und seiner Argumentation eingepasst werde (vgl. insgesamt Martin/Dodd
1998; Rissi 1987). Doch wurden auch Zweifel an der Bezeichnung »Hymnus« ge-
äußert (Kennel 1995), die das antike Gattungsempfinden nicht treffe (Berger
2005, 402); und es wird vorgeschlagen, die besondere Gestalt des Textes als Stil-
wechsel innerhalb paulinischer Prosa zu interpretieren (Brucker 1997; Fee 1992
u. a.).
In jüngster Zeit interessiert sich die Exegese verstärkt auch für die sozial- und
ideologiegeschichtlichen Bezüge des Textstücks, v. a. im römisch-imperialen Kon-
text (Rosell Nebreda 2011; Wojtkowiak 2012).
210 C. Werk
2.6. Philemonbrief
Der Philemonbrief ist der einzige Paulusbrief, der nicht an die Christen in einer
Stadt, sondern an Einzelpersonen und an eine Hausgemeinde gerichtet ist. Emp-
fänger sind neben dem Hauptadressaten Philemon und der sich in seinem Haus
versammelnden Gemeinde auch noch »die Schwester« Apphia, die vielleicht Phi-
lemons Frau war, und »unser Mitstreiter Archippus« (Phlm 1–2). Absender ist
neben Paulus auch noch Timotheus.
Dass der Philemonbrief von Paulus stammt, gilt seit altkirchlicher Zeit mit
ganz geringen Ausnahmen als gewiss. Alle Versuche, die Authentizität dieses
Briefes in Frage zu stellen, sind gescheitert.
Paulus hat den Philemonbrief aus einer Haft heraus geschrieben (V. 1.9.10.13; s.
auch V. 23). Wo sich der Haftort befindet und an welcher Stelle der Philemonbrief
dementsprechend in die Chronologie der paulinischen Briefe einzuordnen ist,
lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Ausschließen können wir lediglich,
dass Paulus den Brief in Rom geschrieben hat, wo er nach Apg 28,16.30 zwei Jahre
in einer Art Hausarrest verbrachte. Der Philemonbrief setzt nämlich voraus, dass
I. Die Briefe des Paulus 211
seine Hauptperson, der Sklave Onesimus, den inhaftierten Paulus nicht zufällig
gefunden, sondern gezielt aufgesucht hat. Er musste also nicht nur gewusst ha-
ben, wo er Paulus finden konnte, sondern es musste für ihn auch realisierbar ge-
wesen sein, zu ihm zu gelangen. Da als Wohnort Philemons, in dessen Haus One-
simus lebte, eine Stadt in der römischen Provinz Asia anzunehmen ist, fällt Rom
als Haftort und damit auch als Abfassungsort für den Philemonbrief aus: Wie
hätte der nicht-christliche Sklave eines christlichen Herrn in einer kleinasia-
tischen Stadt wissen können, dass und vor allen Dingen wo Paulus in Rom gefan-
gen ist, und v. a.: wie sollte er es bewerkstelligen, auf eigene Faust dorthin zu ge-
langen? Es spricht darum sehr viel dafür, dass der Philemonbrief geschrieben
wurde, als Paulus in Ephesus (vgl. 1Kor 15,32; 2Kor 1,8–9; 11,23) inhaftiert war.
Möglicherweise hat auch Philemon in Ephesus gelebt.
Philemon, der Adressat des Briefes, wird ansonsten im Neuen Testament nir-
gends erwähnt. Erst eine späte Legende hat ihn zum Bischof von Kolossä gemacht
(ConstAp 6,46). Aus Phlm 19 geht hervor, dass Paulus ihn zum christlichen Glau-
ben bekehrt hatte. In seinem Haus traf sich eine christliche Hausgemeinde (V. 2).
Zu seinem Haushalt gehörten auch Sklaven (mindestens einer, wahrscheinlich
mehrere).
Der Brief besteht aus Präskript (V. 1–3), Proömium (V. 4–7), Briefkorpus
(V. 8–21), Besuchsankündigung (der sog. »Parusietopos«; V. 22) und Postskript
(V. 23–25). Weil Paulus zu Beginn des Briefkorpus zweimal »ich bitte« schreibt
(V. 9.10), gehört der Brief formgeschichtlich zur Gattung der Bittbriefe (Petiti-
onen). Auffällig ist, dass Paulus in dem gesamten Brief auf die Benutzung des
Aposteltitels verzichtet. Bei seiner Selbstvorstellung im Präskript, wo er sich die-
sen Titel sonst meistens zuschreibt, nennt er sich stattdessen »Gefangener Christi
Jesu« (V. 1; s. auch V. 9). Ebenso erklärt Paulus auch in V. 8 f., dass er auf die Aus-
übung seiner apostolischen Autorität verzichtet. Dieser Statusverzicht hängt un-
mittelbar mit dem Anliegen des Briefes zusammen, denn Paulus verlangt etwas
ganz Ähnliches auch von Philemon.
Im Mittelpunkt des Briefes steht Onesimus, der als Sklave zu Philemons Haus-
halt gehörte. Er wird im Phlm nicht nur namentlich genannt (V. 10), sondern er
bzw. das Verhältnis seines Herrn zu ihm ist sogar das Thema des Philemonbriefs.
Dieser Onesimus hielt sich zur Zeit der Abfassung des Briefs bei Paulus auf, der
ihn zum Christusglauben bekehrt hatte (V. 10) und nun zusammen mit dem Phi-
lemonbrief wieder zu seinem Herrn zurückschickt.
Im Briefkorpus werden die Relationen zwischen diesen drei Personen bespro-
chen: In V. 8 f. geht es um das Verhältnis zwischen Paulus und Philemon, in V. 10–
12 steht die Beziehung zwischen Paulus und Onesimus im Vordergrund sowie
dann in V. 15 f. das Verhältnis Philemons zu Onesimus. Alles läuft auf V. 17 zu, wo
Paulus nicht nur die in V. 9.10 angekündigte Bitte ausspricht, sondern wo auch
alle drei Personen zusammen vorkommen. In V. 13 f. wird ein Nebenwunsch for-
muliert, der jenseits des eigentlichen Briefziels anzusiedeln ist und auf den Paulus
212 C. Werk
(V. 9.10), geht aus V. 16 f. hervor: Mit der genannten Konkurrenz soll Philemon so
umgehen, dass er die »im Herrn« bestehende Relation (V. 16), die durch die Ge-
meinsamkeit des Christusglaubens bestimmt ist, über das Herr-Sklave-Verhältnis
dominieren lässt – und zwar auch »im Fleisch« (V. 16), d. h. in der sozialen Sinn-
welt seines Haushalts. Paulus fordert Philemon aus diesem Grunde dazu auf, sei-
nen Sklaven als einen »geliebten Bruder« anzusehen (V. 16) und ihn als »Partner«
(κοινωνός), wie es Paulus bereits für ihn ist, zu akzeptieren (V. 17).
Paulus fordert den Adressaten des Philemonbriefs nicht dazu auf, seinen Skla-
ven freizulassen. Die soziale Zumutung, die Philemon abverlangt wird, und die
gesellschaftlichen Konsequenzen sind demgegenüber sehr viel gravierender: Der
Herr soll seinen Sklaven als Bruder behandeln – und das auch innerhalb des sozi-
alen Gefüge seines Haushalts. Darüber hinaus ist deutlich zu erkennen, dass die
theologische Substruktur der paulinischen Argumentation im Philemonbrief von
derjenigen der Rechtfertigungslehre nicht weit entfernt ist, denn Paulus schreibt
dem Christusglauben hier wie dort ein und dieselbe Bedeutung zu: Wie er z. B.
nach Röm 1,16; 3,28–30; 1Kor 1,21–24; Gal 2,15–16; 5,6 den Unterschied zwischen
Juden und Heiden vor Gott zum Verschwinden bringt ( C.III.3.7.1.), so ist es im
Philemonbrief ebenfalls die gemeinsame Teilhabe (κοινωνία; V. 6; s. auch V. 17)
am christlichen Glauben, die den Herrn und seinen Sklaven zu »geliebten Brü-
dern« macht.
Arzt-Grabner, Peter: Philemon (PKNT 1), Göttingen 2003.
Müller, Peter: Der Brief an Philemon (KEK IX/3), Göttingen 2012.
Petersen, Norman R.: Rediscovering Paul. Philemon and the Sociology of Paul’s Narrative
World, Philadelphia 1985.
Reinmuth, Eckart: Der Brief des Paulus an Philemon (ThHK 11/II), Berlin 2006.
Tolmie, D. Francois (Hg.): Philemon in Perspective (BZNW 169), Berlin/New York 2010.
Michael Wolter
2.7. Römerbrief
einmal anderen Faktoren geschuldet: einmal seiner Länge – mit 16 Kapiteln ist er
der längste Brief der Sammlung (mit beinahe zweitausend Buchstaben etwas län-
ger als der 1. Korintherbrief [Trobisch 1994, 80]), sodann seiner überragenden
Bedeutung, die ihm schon zeitig zuerkannt wurde. Es gab im 2. Jh. auch die Al-
ternativen, das entstehende Corpus Paulinum mit dem Galaterbrief zu eröffnen
(so Markion: vgl. Tert.Marc. V 15; Epiph.Pan. 42,9,4) oder mit dem 1. und 2. Ko-
rintherbrief (so Canon Muratori; Tert.praesc. 36; Tert.Marc. IV 5,1) (Theobald
2000, 6–10). Demgegenüber bedeutete die Entscheidung für den Römerbrief als
Eröffnungstext des Corpus Paulinum, die sich zeitig durchsetzte (der erste Zeuge
hierfür ist P46), dass man »Paulus« von seinem grundlegenden, auch auf Israel
und seine Traditionen bedachten Dokument her lesen wollte, nicht von seiner
Kampf-Epistel an die Galater her, der »Magna Charta« des markionitischen
Christentums (von Harnack 1985). Dass der Römerbrief – historisch-kritisch
betrachtet – wahrscheinlich das letzte uns erhaltene Schreiben des Apostels, also
gleichsam sein »Testament« (Bornkamm 1971) ist, spielte angesichts der in der
Tradition der Kirche mit der römischen Gefangenschaft verbundenen Briefe an
die Philipper und 2. Timotheus für seine Funktion als Leitbrief des Corpus Pau-
linum keine Rolle.
Konsens besteht weiterhin darin, dass die in den paulinischen Briefen einma-
lige Schlussdoxologie 16,25–27 nicht von Paulus stammt ( C.I. 2.7.1.). Unklar ist
nach wie vor, wann und in welchem literarischen Kontext sie dem Schreiben hin-
zugefügt wurde. Die einen meinen, es sei geschehen, um die Härte der mit Röm
14,23 endenden Kurzfassung zu mildern; andere denken eher daran, dass sie dem
bedeutenden Schreiben auch einen feierlichen Schluss verpassen sollte. Für den
Fall, dass wir beim Entstehungsprozess des Corpus Paulinum mit einer Kern-
sammlung, bestehend aus Gal, 1.2Kor und Röm am Ende, zu rechnen haben (so
z. B. Schmid 1995), könnte die Doxologie (die in jedem Fall Indiz der gottes-
dienstlichen Verlesung der Briefe ist) auch ursprünglich die Funktion erfüllt ha-
ben, dieses Corpus Paulinum als Ganzes feierlich abzuschließen.
Auch die wenigen Glossen, mit denen sonst im Text zu rechnen ist (Röm 2,1;
6,17c; 7,25b; 8,1; 10,17), könnten auf eine Durchsicht des Briefes im Zuge der He-
rausgabe der ersten Paulusbriefsammlung zurückgehen. Gleiches gilt für die völ-
lig unerwartet kommende scharfe Polemik gegen »Irrlehrer« in Röm 16,17–20a,
die an entsprechende Weisungen der Pastoralbriefe erinnert (Ollrog 1980, 230–
234; Theobald 22001, 249–255; 2000, 19 f.; Jewett 2007, 986–988).
Seit geraumer Zeit wird diskutiert, inwieweit Paulus sich bei der Strukturierung
seiner Briefe auch von rhetorischen Gesichtspunkten hat leiten lassen, d. h. von
Konventionen, wie eine Rede zu gliedern und zu gestalten sei unter Berücksichti-
gung der Situation, in der sie gehalten werden sollte (vor einem Gerichtshof; vor
einer Bürgerversammlung, die politische Entscheidungen zu treffen hat; aus An-
lass von Ehrungen). Weil der Römerbrief mit einer lebendigen Rede zumindest
gemeinsam hat, dass er sich auf ein einziges Thema beschränkt (vgl. Röm 1,16 f.)
– an sich können Briefe auch sehr Unterschiedliches behandeln – und außerdem
vor der versammelten Gemeinde laut vorgelesen werden wollte (der schriftliche
Brief als Ersatz für den abwesenden Apostel), legt sich in seinem Falle eine rheto-
rische Dispositionsanalyse unbedingt nahe. Bestätigt wird sie dadurch, dass sie
die Abschnitte des Schreibens zwanglos den konventionellen Dispositionsele-
menten einer Rede zuzuordnen vermag, was den unbestreitbaren Vorteil besitzt,
dass so die Argumentationslogik des Schreibens präziser erfasst werden kann:
Nach der briefstilgemäßen Eröffnung bieten Röm 1,8–15 das eigentliche exordi-
um; es erfüllt den Zweck, der Beziehung zwischen dem »Redner« und seinem
»Auditorium« ihrer sachlichen Kommunikation vorweg auch emotional den Weg
zu bereiten. Röm 1,16 f. enthalten die propositio, den Leitsatz des Schreibens, der
so formuliert sein muss, dass er die argumentatio insgesamt abdeckt; die argu-
mentatio des Römerbriefs reicht von 1,18–11,36, umfasst also auch die Israel-Kapi-
tel 9–11.
In der Regel hat eine argumentatio auf zweierlei zu achten: auf die Darlegung
der Gründe, die zugunsten der propositio sprechen (confirmatio), aber auch auf
I. Die Briefe des Paulus 217
die Widerlegung der Einwände, die gegen sie sprechen und möglicherweise schon
erhoben wurden oder doch vom Publikum zu erwarten sind (refutatio). Beide
Argumentationsrichtungen lassen sich auch im Römerbrief identifizieren: Die
confirmatio umfasst Röm 1,18–5,21 (mit der »negativen« Seite 1,18–3,20, wo Paulus
die Heilsbedürftigkeit aller Menschen, also die Notwendigkeit des Evangeliums
aufzeigt, und der »positiven« Seite 3,21–5,11, wo er das Evangelium als Rechtferti-
gung der Sünder expliziert, wobei die Adam-Christus-Parallele 5,12–21 beides zu-
sammenfasst). Die refutatio oder Widerlegung von Einwänden gegen sein Ver-
ständnis des Evangeliums bietet er in zwei Teilen, einmal in Röm 6,1–8,17, also
eingebettet in die confirmatio, dann in Röm 9,1–11,36 im Anschluss an sie. Beide
Argumentationsgänge kündigt er in Röm 3,1–8 an, wo er die aufgeworfenen Fra-
gen aber noch nicht beantworten kann, weil er hierfür erst in Röm 3,21–5,21 das
Fundament legen muss (aufgenommen werden diese Fragen v. a. in 6,1–3; 7,7; 9,6;
11,1 etc.).
Die Paränese (Röm 14,1–15,6) mit ihren grundsätzlichen und situationsbezo-
genen Weisungen spielt im Schreiben eine besondere Rolle, da sie über die argu-
mentative Entfaltung des Evangeliums (Röm 1,16 f.) hinausreicht, aber mit ihr
insofern verbunden ist, als sie aus ihr nun auch Konsequenzen für das gemeind-
liche Leben zieht. Das bestätigt die abschließende Weisung Röm 15,7–13, die für
das Schreiben insgesamt die Funktion einer peroratio besitzt, d. h. der knappen
Zusammenfassung des Anliegens des Schreibens, jetzt aber umgemünzt in eine
Weisung an die Adressatenschaft: »Deshalb nehmt einander an, wie auch Christus
euch angenommen hat zur Ehre Gottes« – Christus, der »als Diener der Beschnei-
dung« Gottes Verheißungen an die Väter Israels bekräftigt, aber zugleich auch die
Völker in Gottes »Erbarmen« miteinbezogen hat, sodass nun alle gemeinsam, Ju-
den und Heiden, Gott in der einen Ekklesia preisen können (Röm 15,7–12).
Wenn man sich auf eine rhetorische Dispositionsanalyse des Schreibens ein-
lässt (zu der dann auch eine Analyse der einzelnen rhetorischen Argumentations-
mittel gehört), stellt sich analog zur Typologie von Reden auch die Frage nach der
spezifischen Gattung des Briefes in neuer Weise. Die Beobachtung, welch große
Rolle in Röm 1–11 die refutatio – die Widerlegung von Einwänden gegen sein Ver-
ständnis des Evangeliums – spielt, könnte zur Annahme führen, dass Paulus sich
hier am genus iudiciale orientiert und mit der Verteidigung seines Evangeliums-
verständnisses so etwas wie dessen »Apologie« anstrebt. So wichtig dieser Aspekt
zweifellos ist, er sollte – das legen die nachfolgenden Beobachtungen nahe – doch
nicht verabsolutiert werden.
Paulus hat den Brief wohl in Korinth verfasst (vgl. Röm 16,23 [Gaius] mit 1Kor
1,14), wahrscheinlich im Frühjahr des Jahres 56 n.Chr. während eines mehrmona-
tigen Aufenthalts in der Hafenstadt (vgl. Apg 20,3); der Sklave Tertius, dem er das
lange Schreiben diktiert hat, fügt am Ende noch einen eigenhändigen Gruß an –
218 C. Werk
ein sympathisches Signal, das zeigt, wie sehr Paulus alle seine Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen schätzte (Röm 16,22). Er selbst hielt in diesen Monaten die Zeit
für gekommen, den Osten des Imperiums zu verlassen und über Jerusalem, wo-
hin er die beim Apostelkonvent verabredete und jetzt abgeschlossene »Kollekte«
seiner Gemeinden überbringen wollte, nach Rom zu reisen, um im Westen seine
Mission fortzusetzen.
Das Besondere an dem Brief liegt darin, dass Paulus es an Christen richtete,
deren Gemeinde er selbst nicht gegründet hat und die ihm deshalb insgesamt
auch unbekannt waren – abgesehen von einzelnen, die er wohl von früheren Be-
gegnungen im Osten des Reiches her kannte und die inzwischen nach Rom
übergesiedelt waren (Kap. 16). Zweck des Schreibens im Vorfeld seines geplanten
Besuches in Rom (Röm 1,10–13; 15,22–24) war seine Absicht, eine tragfähige Be-
ziehung zu den Christen dort zu stiften, was seine Akzeptanz bei ihnen als »Völ-
kerapostel« einschloss, aber auch ihre Bereitschaft, für die von ihm ins Auge ge-
fasste Spanienmission sozusagen als »Basisstation« zu dienen (Röm 15,24). Im
Klartext hieß dies: Sie sollten ihn bei dieser Mission in jeder Hinsicht unterstüt-
zen, ihm Mitarbeiter und wegkundiges Geleit stellen, ihm aber auch die notwen-
dige geistliche Unterstützung zuteil werden lassen. Dass die angestrebte aposto-
lische Partnerschaft Einverständnis im Glauben erforderte, erklärt auch den lan-
gen »Evangeliumsbrief« (Schlier 1977), an dessen Ende Paulus – hier viel
deutlicher als zu Beginn (vgl. Röm 1,8–15) – auf seine Missionspläne zu sprechen
kommt (Röm 15,22–33); er wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen.
Im Briefkorpus selbst bemüht er sich um eine kohärente und beinahe systema-
tisch zu nennende Entfaltung seines Evangeliumsverständnisses, bietet aber keine
dogmatisch abgeklärte Darstellung (einen »Traktat«), sondern orientiert sich an
den Vorbehalten und Missverständnissen seiner Position, denen er seit einiger
Zeit v. a. bei strengen Judenchristen begegnete. Seine Ankündigung der refutatio
schon im ersten Abschnitt des Briefs – in Röm 3,1–8 – deutet auf die untergrün-
dige Präsenz dieser Herausforderung in seiner Entfaltung des Evangeliums insge-
samt hin. Deshalb ist diese auch nicht einfach »situationsenthoben«, sondern
besitzt weithin dialogischen Charakter, das heißt: einen spezifischen »Situations-
index«. Saßen wahrscheinlich seine ärgsten Kritiker in Jerusalem (vgl. Röm 15,31;
außerdem Apg 21,20 f.), wohin er von Korinth aus zunächst reisen wollte, dann ist
zu vermuten, dass die Rechenschaft über sein Evangeliumsverständnis – obwohl
er sie vor der römischen Adressatenschaft ablegt – ihm doch zugleich auch zur
persönlichen Vorbereitung auf die Gespräche in der heiligen Stadt dienen sollte
(Bornkamm 1971). Das darf indes nicht zu der Annahme führen, dass die heim-
liche Adresse des Briefes Jerusalem sei, denn das hieße, den eigentlichen Zweck
des Schreibens – die Stiftung einer apostolischen Partnerschaft mit den Römern
– zu unterlaufen. Die römische Adresse will ernst genommen werden (vgl. die
Diskussionen hierzu im Sammelband von Donfried 1991).
Der Brief lässt sich von zwei Seiten aus betrachten, von der des Autors wie der
seiner Adressaten. Vonseiten des Autors wird man den Brief als Darstellung seines
I. Die Briefe des Paulus 219
Verständnisses des Evangeliums lesen. Dabei reagiert Paulus mit dieser Darstel-
lung, so wurde deutlich, weithin auf judenchristliche Vorbehalte gegen ihn als
Apostaten, Vorbehalte, die wohl auch nach Rom gedrungen waren und um die
seine Adressaten wussten. Sein Ziel, durch den Brief mit ihnen eine missiona-
rische Partnerschaft zu eröffnen, berechtigt indes nicht dazu, dessen lehrhaften
Charakter in falscher Entgegensetzung von Theologie und missionarischer Prag-
matik überhaupt in Abrede zu stellen (so aber Jewett 2007). Das hieße nämlich,
die angestrebte apostolische Partnerschaft ihrer sachlichen Grundlage zu berau-
ben: eben des angestrebten Konsenses im Verständnis dessen, was Evangeliums-
verkündigung für beide Seiten heißen müsste.
Blickt man auf die Seite der Adressaten, dann zeigen insbesondere die Kap. 14
und 15, dass Paulus über ihre gegenwärtige Situation im Bild gewesen sein wird.
Spätestens seit seinem ersten Zusammentreffen mit Priszilla und Aquila in Ko
rinth im Jahre 50 n.Chr. (vgl. Apg 18,2) wusste er auch um ihre Vergangenheit,
denn das Paar war damals gerade unter Kaiser Claudius aus Rom ausgewiesen
worden und nach Korinth gekommen und hatte ihn dort bestimmt über die Hin-
tergründe der Vorgänge, aber auch über die Anfänge des christlichen Glaubens in
Rom informiert. Vielleicht hatte Paulus auch selbst schon vor seinem Kommen
nach Korinth ursprünglich von Philippi und Thessalonich aus auf der Via Egna-
tia weiter nach Rom reisen wollen, wurde von den Nachrichten aus der Haupt-
stadt, die ihm dann Priszilla und Aquila in Korinth aus erster Hand bestätigen
konnten, aber davon abgehalten (vgl. Röm 1,13; hierzu Schlier 1977, 39, der auch
noch auf 2Kor 10,16 verweist, sowie Suhl 2007).
Über Hintergründe und Tragweite der staatlichen Ausweisungsmaßnahme un-
ter Claudius besitzen wir nur vage Informationen (Suet.Cl. 25,4; Cass.Dio 60,6,6;
Apg 18,2), aber es scheint festzustehen, dass es in den römischen Synagogen mes-
sianische Unruhen gab, denen der Kaiser durch Ausweisung der Unruhestifter
Einhalt gebieten wollte. Trotz der Ausweisung von an den Messias Jesus glau-
benden Juden (unter ihnen Priszilla und Aquila) wird der »christliche« Faden in
der Hauptstadt nicht abgerissen sein, denn wenige Jahre später zur Zeit des Rö-
merbriefs gibt es laut Röm 16 dort mehrere christliche »Hausgemeinden«, deren
Charakter aber im Vergleich zu den Anfängen, als der Glaube an den Messias Je-
sus noch in den städtischen Synagogen gelebt wurde, ein anderer geworden war.
Spricht Paulus seine Adressaten in Röm 1,5 f.13; 11,13 f. im ethnischen Sinne als
»Heiden(christen)« an, so zeigen Kap. 14 und 15, dass jüdischer Lebensstil deswe-
gen unter ihnen nicht obsolet geworden war. Das gilt freilich nicht durchweg,
sondern nur von den sog. »Schwachen im Glauben« (Röm 14,1; vgl. 15,1), die als
ehemalige »heidnische« Sympathisanten der Synagoge an der jüdischen Rein-
heitsgesetzgebung wie an jüdischer Sabbatobservanz festhielten (zu judaisie-
renden Römern vgl. Juvenal Sat. 14,96–106; Hor.sat. 1,9,68–72). Im Vergleich zu
den sog. »Starken« (Röm 15,1), die sich von alldem inzwischen losgesagt hatten,
werden sie nur eine Minorität gebildet haben. Dass sie dennoch ihrem überkom-
menen Lebensstil treu bleiben konnten, hängt gewiss auch mit der kirchlichen
220 C. Werk
(1) Paulus rekurriert des Öfteren an strukturell wichtigen Schaltstellen des Briefes
auf traditionelle Glaubenssätze u.Ä. (Röm 1,3 f.; 3,25 f.; 4,24 f.; 5,6.8; 6,2–4;
I. Die Briefe des Paulus 221
8,3.32.34; 10,9), die den Adressaten bekannt gewesen sein dürften (vgl. zuletzt
Jewett 2007, 24 f.). Bei der Darstellung seines Evangeliumsverständnisses dienten
sie ihm der Vergewisserung der gemeinsamen christologischen Bekenntnisbasis,
auf der er dann das Gebäude seiner »Rechtfertigungslehre« errichtet. Oder anders
gesagt: Die eigene Theologie präsentiert er als argumentative Explikation eines
vorausgesetzten Konsenses zwischen ihm und seinen Adressaten.
(2) Der Kernsatz seines Gebäudes in der »architektonischen Mitte des Briefes«
(Kuss 1978) ist Röm 3,28 (vgl. auch 3,20), der »Kanon der Rechtfertigung« (Theo
bald 2001a, 164–225), den er bereits in Gal 2,16 zitiert hatte. Dieser Satz darf als
der prägnante Niederschlag einer Überzeugung gelten, die in der Gemeinde von
Antiochien, in der er viele Jahre lebte (von 36/37?–49 n.Chr.), im Umgang mit
heidnischen Konvertiten gewachsen war (Becker 1989, 101). Der Satz besagt, dass
die Aufnahme von Heiden in die Gemeinde nicht an die »Werke des Gesetzes«
gebunden ist – insbesondere nicht an die Übernahme der von der Tora gefor-
derten »Beschneidung« –, sondern einzig und allein vom Glauben an Jesus Chris
tus abhängt. Der christologisch begründete »Kanon« besaß also ursprünglich
eine missionstheologische, ekklesiologische Matrix. Paulus hat ihn dann im Ga-
later- und v. a. im Römerbrief auf seine grundsätzlichen Implikationen hin syste-
matisch entfaltet ( C.III.3.7.3.).
(3) Zum vorgeprägten Gut, das Paulus in seinem Brief aufgreift, gehören über
den gerade erwähnten »Kanon der Rechtfertigung« hinaus auch sonst Lehrsätze
oder Sentenzen, die er für die mündliche Unterweisung seiner Gemeinden oder
die Missionsverkündigung früher schon geprägt oder von anderen übernommen
hatte (Theobald 2000, 105–109). Darunter sind so prägnante Parolen wie Röm
6,14–15: »wir stehen nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade« oder Röm
10,12: »es gibt keinen Unterschied zwischen Jude und Grieche« (vgl. Gal 3,28; 1Kor
12,13; Kol 3,11), bei denen man sich den Widerstand vonseiten strenger Juden-
christen – sollten ihnen diese Parolen zu Ohren gekommen sein (vgl. Röm 3,8) –
lebhaft vorstellen kann. Wenn Paulus sie im Römerbrief aufgreift und ihren Sinn
präzisiert, steuert er sozusagen einem falschen, weil einseitigen Bild seiner Theo-
logie entgegen.
(4) Aber auch manches in seinen früheren Briefen Vorgedachte greift Paulus im
Römerbrief wieder auf. »3,21–8,17 folgen relativ genau dem Mittelteil des Galater-
briefs, und zwar im Stoffbereich wie in der Abfolge der Themen« (Becker 1989,
364); Röm 13,8–10 entspricht Gal 5,13–15; Röm 14,1–15,6 (»die Starken« und »die
Schwachen«) schreibt die entsprechenden Denk- und Sprachmuster aus 1Kor 8
weiter etc. Was das dominante Verhältnis des Römerbriefs zum Galaterbrief be-
trifft, so erfährt diese kämpferische Epistel im Römerbrief eine relecture, deren
Ausgewogenheit für den theologischen Stil dieses Schreibens kennzeichnend ist.
Selbst für gegnerische Anfragen bringt Paulus jetzt unter weitestgehendem Ver-
zicht auf Polemik (vgl. nur Röm 3,8; 16,17 f., die ein sekundärer Nachtrag sein
dürften) hohe Sensibilität auf. Wie der alte Augustinus sich in seinen retractati-
ones noch einmal schon früher von ihm behandelten Themen zuwandte, um sie
222 C. Werk
wirst (mir) nun sagen: [. . .]« (Röm 9,19; 11,19); er kann aber auch – und das
kommt viel häufiger vor (Röm 3,3 f.5 f.7.8a.31; 6,1.15; 7,7.13; 9,14) – Gegenfragen,
Einwände etc. formulieren, ohne sie jemand anderem ausdrücklich in den Mund
zu legen, wobei nicht selten eine formelhafte Redewendung (»was nun?«, »was
sollen wir nun [dazu] sagen?«) den Gesprächscharakter der nachstehenden Äu-
ßerungen kenntlich macht. Oft antwortet Paulus dann auf den Einwand oder die
Gegenfrage mit einem brüsken »das sei ferne!«, aber nicht ohne eine anschlie-
ßende Begründung zu liefern (vgl. etwa Röm 6,1 f.). Schließlich gibt es dialogisch
gestaltete Passagen wie Röm 2,1–5 oder 2,17–29, in denen ein bestimmter Ge-
sprächspartner gar nicht vor Augen tritt, weil Paulus hier ganz allgemein dispu-
tiert (»O Mensch, jeder, der richtet«).
Im Hintergrund solcher breiten Fächerung dialogischer Stilmittel, die nicht
über einen Kamm geschert werden dürfen, steht der sog. »diatribische« Stil, den
popularphilosophische »Wanderprediger« der Zeit in ihrer mündlichen Rede vor
stark gemischtem Hörerkreis praktizierten, um die Zuhörer mit ihren möglichen
Einwänden, Fragen oder Bedenken ernstzunehmen und in ihren Vortrag mitein-
zubeziehen (Schmeller 1987). Das prägte auch die literarische Produktion dieser
Popularphilosophen. Beim Römerbrief stellt sich von hierher die Frage, ob seine
»dialogischen« Inszenierungen nur rhetorisches Stilmittel sind, das seine Argu-
mentationen verlebendigen soll, oder ob sie nicht doch auch – wenigstens teilwei-
se – auf eine bestimmte Kommunikationssituation verweisen, in der sich Paulus
bei Abfassung seines Schreibens befand.
(9) Ein Großteil der von Paulus inszenierten Einwände und Fragen in seinen
»dialogischen« Partien zeigt, dass sie inhaltlich alle aus einer Richtung kommen,
also Positionen beinhalten, mit denen Paulus in Jerusalem und andernorts tat-
sächlich rechnen musste. Die Folge davon ist, dass die Kommunikationssituation
des Briefes doppelbödig ist: Seine »heidenchristlichen« Adressaten in Rom mit
ihren unterschiedlichen Lebensstilen (jüdisch und nicht-jüdisch) werden Zeugen
eines im Brief geführten fiktiven »dialogus cum Iudaeis« (Wilckens 21987,
19 f.41 f.), wobei die hier zum Zuge kommenden »judenchristlichen« Positionen
als Anfragen an Paulus den Adressaten bekannt gewesen sein dürften. Die Insze-
nierung dieses »Dialogs« vor ihrem Auditorium wird dann den Zweck gehabt
haben, sie im Zuge der Lektüre des Briefs zu Parteigängern des Apostels zu ma-
chen.
(1) Thema des Schreibens ist die Verteidigung und Explikation des Evangeliums
als »Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, für den Juden zuerst und auch
den Griechen« (Röm 1,16). Kontext dieser These ist die missionarische Praxis,
Heiden vorbehaltlos, d. h. ohne von ihnen Toragehorsam (Beschneidung) zu ver-
langen, in die endzeitliche Heilsgemeinde aufzunehmen: Allein der Glaube an
Jesus Christus rettet. Das entfaltet Paulus in Röm 3,21–31 christologisch so, dass
224 C. Werk
der stellvertretende Heilstod Jesu als der Grund der Rechtfertigung der Gottlosen
(Röm 4,5; 5; 6; vgl. auch 1,18) erscheint. Röm 5,1–11 sowie die eschatologische Kli-
max 8,18–39 bringen das dahingehend auf den Punkt, dass die Rechtfertigung der
Gottlosen für die Glaubenden die Gewissheit einschließt, auch der zukünftigen
Errettung (Röm 1,16; vgl. 5,9 f.; 8,24) bzw. der »Erlösung des Leibes« (Röm 8,23),
also des vollen Heiles teilhaftig zu werden.
(2) Dass Paulus es bei dieser immanenten Entfaltung der dem Evangelium ei-
genen Logik nicht belässt, er vielmehr in drei Anläufen (Röm 1,18–3,20; 5,12–21;
7,7–25) auch den Nachweis erbringt, dass die Menschen – Juden wie Heiden –
ohne das Evangelium verloren wären, dieses also heilsnotwendig für alle ist,
macht die besondere theologisch-argumentative Leistung des Schreibens aus. Das
Ergebnis dieser anthropologischen, v. a. in Röm 1,18–3,20 auch an Erfahrungen
aus jüdischer Perspektive zurückgebundenen Beweisführung lautet: Es gibt nicht
nur die Solidarität von Juden und Heiden unter der Gnade, sondern gleichzeitig
damit auch ihre tiefe Verbundenheit in der Erkenntnis ihrer radikalen Verloren-
heit in »Sünde« und »Tod«, die von Adam her das Geschick der Menschen unent-
rinnbar bestimmen (Röm 5,12–21). In diesem Kontext arbeitet Paulus auch die
»Ohnmacht des Gesetzes« (Röm 8,3) heraus: Es vermag die »fleischliche« Ver-
fasstheit des Menschen (Röm 7,14) nicht aufzuheben, sondern stellt dem Men-
schen im Gegenteil sein Sünder-Sein illusionslos mit allen Konsequenzen vor
Augen (Röm 3,19.20b).
(3) In Röm 6,1–8,17 (= refutatio I) verarbeitet Paulus den Vorwurf, die Aus-
schaltung des Gesetzes aus dem Vorgang der Rechtfertigung zöge logischerweise
die Entwertung des von der Tora gewiesenen Ethos nach sich (Röm 6,1.15; vgl.
3,8). Das ist schon deshalb für den Apostel undenkbar, weil für ihn Rechtfertigung
nicht nur Vergebung der Sünden, sondern v. a. Neuschöpfung des Glaubenden in
der Taufe bedeutet, was zur Folge hat, dass der Mensch in Christus der Macht der
»Sünde« wirklich gestorben ist, um ganz für Gott leben zu können (6,1–23). Das
ist dann auch der Grund, warum Paulus in Röm 6 die definitive Wende des Heils
(»jetzt aber«) mehrfach nachdrücklich in Erinnerung ruft (Röm 6,10 f.17 f.19.22;
7,6; 8,1). Gleichzeitig verwahrt er sich gegen den Verdacht, bei ihm würde das
Gesetz, das er in der Tat der »Gnade« kompromisslos entgegensetzt (Röm 6,14 f.),
zu einem Unheilsfaktor; er nennt es im Gegenteil »heilig« (Röm 7,12), ja »geist-
lich« (Röm 7,14). Dennoch ist es »machtlos« (Röm 8,3), das zu erwirken, was al-
lein »die Macht« des Evangeliums (Röm 1,16) bzw. Gottes Geist in Christus (Röm
8,2–4) zu erwirken imstande ist: Heiligung und Rettung des Menschen.
(4) Weitergehend ist der Vorwurf, die paulinische Fokussierung des Christus-
glaubens als dem einzig Heilsnotwendigen zöge die Entleerung von Bund und
Erwählung Israels nach sich, die Hinwendung zu den Völkern führe zur Isra-
el-Vergessenheit. Demgegenüber argumentiert Paulus verheißungstheologisch
(Röm 9,6: Das Wort Gottes kann nicht hinfallen! Vgl. auch Röm 1,2; 4,13–17;
11,28 f.), christologisch (der Erhöhte bleibt Israels Messias! Vgl. Röm 1,3 f.; 9,5;
11,26b; 15,8.12) und ekklesiologisch (Röm 11,1–10: der judenchristliche »Rest« in
I. Die Briefe des Paulus 225
der Kirche belegt, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat). Die Kap. 9–11 (= refu-
tatio II) liefern mit ihrer Ansage der endzeitlichen Errettung ganz Israels sola gra-
tia und solo Christo (Röm 11,25–27) den Erweis für die These, dass Gottes Heils-
kraft (Röm 1,16) sich an allen, also auch an Israel, durchsetzen wird (Röm 11,28–
32). Die Themenangabe Röm 1,16 f. deckt somit tatsächlich das Schreiben
einschließlich seiner Israel-Kapitel ab, ja Röm 11,25–36 sind über Röm 8,18–39 hi-
naus dessen letztgültige eschatologische Klimax.
(5) Die Paränese des Briefs (Röm 12 f.) wächst organisch aus seiner Tauftheolo-
gie (Kap. 6) hervor ( C.I. 2.7.3.). Wird ihr Motivationsrahmen von daher wie
auch von der Erwartung des kommenden »Tages« Christi her bestimmt (Röm
13,12), so sind ihre materialen Inhalte jüdisch-hellenistischer Prägung. Ihren Kris
tallisationspunkt besitzt sie in der Mahnung zur Agape, die Paulus als »Erfüllung
des Gesetzes« versteht (Röm 13,8–10; vgl. 8,4). Röm 13,1–7 bietet keine »Staatsleh-
re«, sondern eine konkrete Weisung an die Adressaten zu einer bestimmten ge-
schichtlichen Stunde (Theobald 2000, 306–310).
(1) Die Bedeutung des Schreibens liegt zunächst in der es prägenden theologischen
Denkform, die folgende Strukturelemente auszeichnet:
(a) Paulus setzt beim Evangelium als der entscheidenden axiomatischen Größe
ein (Röm 1,16 f.); das bedeutet: alles theologische Denken ist bei ihm immer nur
Nachdenken, Denken auf dem Grund der Glaubensüberzeugung von der escha-
tologischen Heilstat Gottes in Jesus Christus.
(b) Dieser Einsatz beim Evangelium schließt den Respekt vor dem Selbststand
theologischer Instanzen außerhalb des Evangeliums ein; dies gilt insbesondere für
die Schrift Israels, gelesen unter den Vorzeichen »Verheißung« und »Gesetz«.
Christomonismus ist ihm fremd.
(c) Die Heilsnotwendigkeit des Evangeliums für die Menschen, Juden und Hei-
den, weist Paulus gleichsam e contrario auf ( C.I. 2.6.1.[2]), wobei er an Erfah-
rungen und Deutungsmuster anknüpft, die auch außerhalb des Sachzusammen-
hangs der Evangeliumsexplikation nachvollziehbar bleiben (vgl. Röm 1,18–2,28
sowie 7,7b.15b/19: dazu Hommel 1984). Theologisches Denken bedeutet für ihn
deshalb zwar vorrangig Entfaltung der inneren Logik des Evangeliums, diese Ent-
faltung verbindet er aber zugleich mit dem Ziel ihrer kommunikablen Bewahr-
heitung auch nach außen. 1Kor 14,20–25 ist dazu das praktisch-pastorale Pendant
(vgl. auch 1Kor 14,19: »Aber ich will in der Gemeinde lieber fünf Worte reden mit
meinem Verstand, damit ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in
Zungen«).
(2) »Rechtfertigungslehre« auf dem Stand des Römerbriefs meint zuerst Rede
von Gott und seiner »Gerechtigkeit« (vgl. Röm 1,17; 3,21 f.; 10,3), weshalb die Theo
zentrik auch das entscheidende Strukturmoment der Christologie bleibt. Das
Christusgeschehen ist umgekehrt der Ort, an dem definitiv offenbar wird, wer
226 C. Werk
Gott ist. Das hat Konsequenzen, von denen vielleicht die wichtigste das Verhältnis
der Gemeinden Jesu Christi (der Ekklesia) zu Israel betrifft (Röm 9–11): Die Wege
beider sind durch den einen Gott Abrahams (Röm 3,30; 4; 9,5) unlösbar miteinan-
der verzahnt. Dabei relativiert diese Feststellung die christologische Selbst-Defi-
nition Gottes nicht: Auch Israels Weg folgt geheimnisvoll den Spuren Christi, des
Messias, bis dahin, dass dieser am Ende der Tage als der Retter ganz Israels kom-
men wird (Röm 11,26). Gleichzeitig bedeutet die Vorordnung der Frage nach
Gott, dass dieser – als der Gott der »Väter« und der Gott Jesu – den Einzelnen als
Individuum von vornherein übersteigt, weil er auf ein Volk bezogen ist, das seine
Identitätsfigur in Abraham – dem »Vater aller Glaubenden« (Röm 4,16) – besitzt.
Eine individualistische Engführung der paulinischen Theologie, insbesondere
seiner »Rechtfertigungslehre«, erscheint von daher ausgeschlossen.
(3) Der größte Fortschritt der Römerbrief-Exegese der letzten Jahrzehnte dürf-
te der sein, dass man jetzt die Gesetzes-Theologie des Paulus nicht mehr als Kritik
am angeblich der Selbsterlösung des Menschen dienenden religiösen Leistungssys
tem des »Judentums« karikiert, sondern sie als Funktion seiner Christologie be-
greift: Paulus hat das Gesetz im Dienst seines solus Christus soteriologisch entlas
tet. Es selbst ist »heilig, gerecht und gut« (Röm 7,12).
(4) Konnte Heinrich Schlier aufgrund seiner Interpretation der »Rechtferti-
gungslehre« noch vor wenigen Jahrzehnten »den völligen Bruch (des Paulus) mit
dem Judentum« behaupten (Schlier 151989, 92), so legt die jüngere Auslegungs-
geschichte des Römerbriefs in ganz neuer Weise die Israel-Frage als Horizont sei-
nes Denkens frei. Als Frage nach Gottes »unausdenkbaren Wegen« selbst (Röm
11,33) prägt sie seine Rede von Gott, von Christus wie von der Kirche als einer von
Gott gewollten communio aus Juden und Heiden. Wir dürfen nie vergessen, dass
Paulus lange vor 70 n.Chr. gelebt, gewirkt und gedacht hat, also zu einer Zeit, in
der die »Trennung der Wege« noch keineswegs klar war. Für diese frühe Zeit ver-
bietet sich strikt eine schlichte Gegenüberstellung von »Christentum« und »Ju-
dentum« (welches »Christentum«, welches »Judentum«?), wie sie bis heute in
Paulus-Darstellungen anzutreffen ist. Für ihn war die werdende Völkerkirche
durch die »Judenchristen« in ihrer Mitte (besser: durch die Juden, die an den
Messias Jesus glaubten), also durch den »Rest« Israels (Röm 11,1–10) – konkret:
die Jerusalemer Gemeinde – bleibend mit Israel verzahnt.
(5) Mit die bedeutendste Leistung des Römerbriefs dürfte sein, dass Paulus in
ihm Perspektiven für eine theologische Anthropologie entwickelt hat, die ihresglei-
chen sucht. Die beiden entscheidenden Fragen, an denen sich der Mensch »abar-
beitet«, sind danach die Frage nach dem Bösen bzw. der »Sünde« und die Frage
nach dem »Tod«, oder positiv gewendet: die nach einem gelingenden Leben vor
Gott im Angesicht des Todes. Der spezifische Beitrag des Römerbriefs zu diesen
beiden Menschheitsfragen besteht darin, dass er sie in ihrem Zusammenhang zu
sehen lehrt: Wie der Tod im Kontext verfehlten Lebens vor Gott immer wieder
zum Realsymbol absoluter Gottesferne wird (Röm 5,12–21), so führt umgekehrt
das Nein zu Gott im Tun des Bösen zu einem Identitätsverlust des geschöpflichen
II. Mission 227
Seins, der in seiner Radikalität nur als vorweggenommener »Tod« des »Ich« be-
schrieben werden kann (Röm 7). Dass solches Unheil allein im Glauben an die
Befreiungstat Gottes in Jesus Christus aufgehoben und gewandelt wird und so
der tödlich vereinzelte Mensch (vgl. Röm 7,24) in die Gemeinschaft derer gelangt,
die sich in Christus »gegenseitig anzunehmen« imstande sind (Röm 15,7; vgl. 12,3)
– das in seiner anthropologischen Tiefe und ekklesiologischen Bedeutsamkeit
konsequent entfaltet zu haben, ist nicht das geringste Verdienst, das wir Paulus
und seinem Brief an die Römer gutschreiben dürfen.
Jewett, Robert: Romans. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007.
Schnelle, Udo (Hg.): The Letter to the Romans (BEThL 226), Leuven 2009.
Theobald, Michael: Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000.
Ders.: Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001.
Michael Theobald
II. Mission
1. Die Anfänge der Mission und das Selbstverständnis
des Paulus als Apostel der Heiden
Über die Anfänge der Mission und das Selbstverständnis des Paulus als Hei-
denapostel stehen neben gelegentlichen Äußerungen, die eher implizit darüber
Auskunft geben, auch einige programmatische explizite Aussagen zur Verfügung
(vgl. bes. 1Kor 3,10–15; 9,19–23; 15,1–11; 2Kor 2,14–16; 4,7–15; Röm 1,1.5.14; 15,15–21).
Wesentliche Äußerungen, die Einblick in das paulinische Apostelverständnis ge-
ben, stammen aus Kontexten, in denen Paulus seine Botschaft und seinen Auftrag
gegenüber Kritikern verteidigen muss (Gal 1–2; Phil 3; 2Kor 12) bzw. sich gegen-
über einer ihm bislang persönlich unbekannten Gemeinde einführen will (Röm
1; 15). Sämtliche Texte gehören in eine Zeit, in der Paulus nicht mehr von Antio-
chien aus und nicht mehr als ›Juniorpartner‹ des Barnabas, sondern eigenständig
beschneidungsfreie Heidenmission betreibt (je nach Datierung der einzelnen
Briefe/Briefteile ca. 53–56 n.Chr.). Sie geben damit auch den Reflexionsstand
mehr als zwei Jahrzehnte nach der Berufung des Paulus wieder. Es ist deshalb
Vorsicht geboten, wenn versucht werden soll, Aspekte paulinischer Aposto-
lats-Theologie bereits ins Damaskusgeschehen zu verlegen oder bis dorthin zu-
rückzuverfolgen (Müller 2012).
Ob sich hinsichtlich des paulinischen Selbstverständnisses Brüche oder Wand-
lungen zeigen, ob es zu einer Vertiefung desselben kam oder ob Paulus von An-
fang an »alles klar« gewesen ist, kann nur die Beschäftigung mit den Einzeltexten
erweisen. Ob bereits in der Damaskuserfahrung seine ganze Theologie »in nuce«
enthalten war, hängt darüber hinaus davon ab, ob man grundsätzlich bereit ist,
mit »Wandlungen« in der paulinischen Theologie zu rechnen. Im Blick auf die
228 C. Werk
Haltung des Paulus gegenüber Israel als Gottesvolk scheint dies unausweichlich
(vgl. etwa 1Thess 2,14–16 mit Röm 11,28–32); warum sollte es dann für andere
Bereiche seiner Theologie ausgeschlossen sein?
eignisses durch die Hellenisten stellt eine Voraussetzung der paulinischen Missi-
onstätigkeit dar und steht damit am Beginn derselben. Jedoch zeigen Texte wie
1Thess 1,9 f.; 4,13–18; 5,1–11; 1Kor 15,1–58; Röm 8,18–25, dass der apokalyptische
Horizont für Paulus nicht nur grundlegend war, sondern sich durchgehalten hat.
Heidenmission – Judenmission – die Anfänge: Wenn die Hellenisten die Aufer-
weckung Jesu apokalyptisch interpretierten, dann war damit – das ist traditions-
geschichtlich fest vorgegeben – von Anfang an die Frage nach dem Schicksal der
Völker gestellt. Wie deren Schicksal aussehen wird, ist im Alten Testament und im
Frühjudentum durchaus unterschiedlich dargestellt (vgl. z. B. Kraus 1996, 12–110;
Schnabel 2002, 59–175). Die grundsätzliche Frage nach dem Einbezug der Hei-
den im eschatologischen Prozess war jedoch unausweichlich vorgegeben und
steht damit auch bei der Berufung des Paulus zur Debatte. Dies würde sogar un-
abhängig davon gelten, wie Paulus seine Berufung nachträglich gedeutet hätte.
Allerdings bestätigt Gal 1,16 gerade diesen Zusammenhang vollkommen. Der ei-
gentliche Zielpunkt der Argumentation in Gal 1 besteht im Aufweis der Unabhän-
gigkeit und Selbstständigkeit des paulinischen Apostolats. Paulus hat weder eine
Bestätigung durch die Jerusalemer Autoritäten nötig, noch ist sein Apostolat dem
jener untergeordnet. Seine Legitimation hat Paulus durch eine unmittelbare gött-
liche Offenbarung erhalten (Gal 1,12). Das Ziel dieser Offenbarung des Sohnes
Gottes wird angegeben durch »damit ich ihn verkündige (ἵνα εὐαγγελίζομαι) un-
ter den Völkern« (Gal 1,16b). Die Verkündigung des Evangeliums durch Paulus
hat somit von vornherein die Zweckbestimmung der Völkermission. Dies gilt
grundsätzlich, ohne dass damit gesagt sein will, dass nicht weitere Einflüsse, etwa
aus der antiochenischen Gemeinde, verstärkend gewirkt haben (Dauer 1996, 115).
Bei der Klientel, die Paulus durch seine Mission erreicht, handelt es sich zu-
nächst v. a. um sog. Gottesfürchtige, die im Umfeld der Synagogengemeinden in
der jüdischen Diaspora anzutreffen waren. Nach Gal 2,9 gab es beim Apostelkon-
vent (ca. 48 n.Chr.) eine Vereinbarung, wonach die Adressaten der Missionsarbeit
unterschieden werden: Paulus und Barnabas zu den Völkern, die Jerusalemer zu
den Juden. Nach dem »missionarischen Kanon« des Paulus in 1Kor 9 und auch
nach der Aussage in Röm 11,14 liegt es nahe, dass Paulus dann, wenn sich die Ge-
legenheit ergab, auch Juden gegenüber das Evangelium nicht verschwiegen hat
(anders Reinbold 2000, 164–182, der jegliche Verkündigung gegenüber Juden
ausschließt; dazu Schnabel 2002, 899–902). Als seine eigentliche Aufgabe sah er
es aber nicht an, Judenmission zu betreiben. Die These, wonach Paulus zuallererst
Judenmissionar war (Jervell 1995), wie auch die Auffassung, dass Paulus gar kei-
ne Heiden, sondern ausschließlich Gottesfürchtige angesprochen habe (Reiser
1995), lässt sich nur schwer halten. Ersteres hat explizite Textaussagen des Paulus
gegen sich, Letzteres würde voraussetzen, dass Paulus nur im Umfeld von Synago-
gengemeinden gewirkt hat.
II. Mission 231
Apostel der Heiden aus Israel: Paulus ist der einzige der frühchristlichen Zeugen,
der ohne Näherbestimmung in späterer Zeit »der Apostel« genannt werden kann
(Frey 2005, 194). Nach den Briefüberschriften (Röm, 1.2Kor, Gal; vgl. auch Kol,
Eph, 1.2Tim) scheint es sich bei der Bezeichnung »Paulus, (berufener) Apostel«
um eine fest geprägte Wendung zu handeln. Nach Gal 1,17.19 gab es allerdings
auch schon vor ihm solche, die »Apostel« genannt wurden. Lukas nennt Paulus
nur an zwei Stellen (Apg 14,4.14) zusammen mit Barnabas (und diesem beigeord-
net) »Apostel«. Dahinter steht wohl die Tatsache, dass Paulus zunächst als antio-
chenischer Gemeindegesandter neben Barnabas tätig war. Aus verschiedenen
paulinischen Texten (Röm 16,7; 1Kor 4,9; 9,5; 12,28; 2Kor 8,23; 1Thess 2,7; Phil 2,25
u. a.) geht hervor, dass es auch andere Gemeindegesandte gab, ja, dass es einen
inhaltlich klar umrissenen oder einheitlichen Apostelbegriff in der Frühzeit nicht
gegeben hat (Reinbold 2000, 114; Frey 2005, 201; 2004, 111–138; die frühere Dis-
kussion bei Roloff 1965, 9–37, und 1978a, 430–445). Robert Jewett verortet den
Begriff Apostel in der Diplomatensprache. Paulus verstehe sich als »ambassador«,
was allerdings philologische Schwierigkeiten mit sich bringt (Jewett 2007, 44;
philologische Kritik bei Horn 2009a, 232 f.; zur Aufnahme von Diplomatenspra-
che bei Paulus in 2Kor 5 s. u.).
Die spezifisch paulinische Prägung des Apostelbegriffes als eines durch eine
Christophanie mit der Evangeliumsverkündigung Beauftragten, was dann zuneh-
mend zur Beschreibung seines eigenen Selbstverständnisses wird, steht nicht am
Anfang, sondern stellt das Ende eines Weges dar (vgl. die schematische Darstel-
lung bei Frey 2005, 211). Sie bildet sich heraus im Zuge der Auseinandersetzung
mit Gegnern, die die Legitimität seines apostolischen Auftrags und sein Verständ-
nis des Evangeliums bestreiten (vgl. insbes. Gal 1 f.; 2Kor 11 f.).
Bereits 1Kor 9,1 zeigt an, dass bestimmte Verhaltensweisen des Paulus kritisiert
wurden. Er verweist auf seinen Apostolat, der durch das »Sehen des Herrn« seine
Legitimation empfängt. In 1Kor 15,8 stellt Paulus seine Christuserscheinung auf
die gleiche Ebene wie die der übrigen Osterzeugen. Die Zeugenliste in 1Kor 15,5–8
sowie die Formulierung in Gal 1,19 legen nahe, dass der Kreis der für Paulus als
Apostel geltenden Personen zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen und auch nicht
mehr erweiterbar war (Frey 2004, 128, im Anschluss an Heininger 1996, 192).
Aus 2Kor 12,1–10 wird deutlich, dass Paulus alle anderen visionären oder eksta-
tischen Erfahrungen von dem in 1Kor 15,8 genannten grundlegenden Widerfahr-
nis konsequent unterscheidet. Die Erfahrungen, auf die sich die in 2Kor 11 f. apo-
strophierten »Überapostel« berufen, bleiben demgegenüber defizitär (U. Heckel
1993; Heininger 1996).
Wie aus Gal 2,7 f. hervorgeht, sind der petrinische Apostolat zu den Juden und
der paulinische zu den Völkern qualitativ gleichwertig, unterscheiden sich nur
hinsichtlich der Adressaten. Auch inhaltlich sieht sich Paulus mit den übrigen
Verkündigern des Evangeliums in grundsätzlicher Übereinstimmung (1Kor 15,11).
232 C. Werk
Die Sendung zu den Heiden ist paulinisches Spezifikum (Röm 1,5; 11,13; 15,16.18
u. ö.).
Seine jüdische Identität und Herkunft aus den Stämmen Israels hat der Hei-
denapostel nie für belanglos gehalten, sondern offensiv vertreten und argumen-
tativ eingesetzt.
Gal 1,13 f. macht deutlich, dass Paulus »nicht an den Rand des Judentums seiner
Zeit, sondern in dessen Zentrum« gehört (Niebuhr 1992, 66). Er bringt seinen
früheren Lebenswandel im Judentum ein, um einerseits die frühere Treue zu den
väterlichen Überlieferungen und gleichzeitig die aufgrund der Christusoffenba-
rung erfolgte Lebenswende herauszustellen, um dies als Argument gegen die Be-
schneidungsforderung von Gegenmissionaren ins Spiel zu bringen.
Die Vorstellung, dass Paulus als Diasporajude »losgerissen vom Mutterboden«
(Klausner 1950 Nachdr. 1980, 538) ohnehin eine offenere Haltung gegenüber
Nichtjuden eingenommen habe, sein »Christentum auf den Trümmern des ent-
wurzelten Diaspora-Judentums aufgebaut« (62) und durch Übernahme »halb-
heidnische[r] Elemente [. . .] die Annahme des neuen Messianismus den Völkern
leicht gemacht« habe (545), entstammt einer früheren Forschungsepoche. Gewiss
hat Paulus kein ›Judentum-light‹ vertreten. Nach Gal 1 und Phil 3 gehörte Paulus
doch eher zu den ›Hardlinern‹.
Nach Phil 3,5–8 hat Paulus das, was ihm vorher wichtig war und wessen er sich
rühmen könnte, um Christi willen für Schaden erachtet. Der extrem polemische
Abschnitt Phil 3,2–11, der in V. 2 mit der Bezeichnung der Gegner als »Zerschnei-
dung« (κατατομή/Kastraten) die Grenze zum Sarkasmus erreicht, lässt sich nur
aus brennender Sorge um die Gemeinde erklären. Die Polemik ist nicht abzu
schwächen und muss in ihrer Funktion bedacht werden (Niebuhr 1992, 98). Sie
ist aber zugleich mit anderen Äußerungen des Paulus, etwa aus dem Röm (9,4 f.;
11,29; 15,8) zu korrelieren. Insofern muss konstatiert werden, dass Paulus spätes
tens mit der Formulierung in V. 8b (σκύβαλα/›Scheiß‹) eine Grenze überschritten
hat. Auch wenn es ihm nicht darum geht, einen »grundsätzlichen Bruch [. . .] mit
seiner jüdischen Vergangenheit« auszusagen (Niebuhr 1992, 99), sondern die
alles überwältigende Größe der Erkenntnis Christi herauszustellen, steht Phil 3 in
eklatantem Gegensatz zu den genannten Aussagen aus dem Römerbrief, die eine
Selbstkorrektur bedeuten, denn der Philipperbrief ist wohl doch vor dem Römer-
brief zu datieren und in eine ephesinische Gefangenschaft anzusetzen.
Im Kontext der sog. »Narrenrede« (2Kor 11,1–12,13) kommt Paulus in 11,22 f.
wiederum auf seine Herkunft aus Israel zu sprechen. Die vier Prädikate sind
klimaktisch gereiht: Hebräer, Israelit, Nachkomme Abrahams, Diener Christi
(Niebuhr 1992, 129). Die Gegner sind die in 11,5; 12,11 genannten »Überapostel«
(in 11,13 sogar als »Falschapostel« bezeichnet), die die Korinther verwirrt haben.
Den Anspruch, einzig legitimer Apostel seiner Gemeinde zu sein, begründet Pau-
lus nicht formal, sondern dadurch, dass er seine Tätigkeit als »Dienst« (διακονία)
Christi exemplifiziert (Niebuhr 1992, 133).
II. Mission 233
Nach Röm 11,1 gehört Paulus zu jenen, die als Mitglied des bereits geretteten
»Restes« die Rettung der Vollzahl Israels verbürgen. Nach Röm 11,13 f. ist Paulus
Heidenapostel auch um Israels willen. Denn weil Israel aufgrund göttlicher Ver-
härtung das Evangelium abgelehnt hat, kam es zu den Völkern (V. 11). Paulus ist
insofern Heidenapostel, um durch seine Missionstätigkeit Angehörige seines
Volkes zur Eifersucht zu reizen (V. 14). »Ganz Israel« wird so (καὶ οὕτως) gerettet
werden, dass die Verhärtung, die bis zum Eingang der Vollzahl der Völker beste-
hen wird, durch den aus (dem vermutlich himmlischen) Zion kommenden Retter
aufgehoben wird (V. 25 f.). Das eschatologische Schicksal der Völker und das Isra-
els sind so nach Paulus miteinander verschränkt.
Knecht Jesu Christi/Gottesknecht: Im Röm 1,1 nennt sich Paulus, noch bevor er
von sich als »berufenem Apostel« spricht, »Knecht/Sklave Christi Jesu« (δοῦλος
Χριστοῦ Ἰησοῦ). Die gleiche Formulierung (teilweise im Plural) begegnet in Phil
1,1; Gal 1,10 und 2Kor 4,5 (vgl. auch 1Kor 9,19). Im Hintergrund dieser Bezeich-
nung steht nach Josef Blank (Blank 1968, 203–206; aufgenommen bei Zeller
2010, 301) die Erkenntnis des Auferstandenen als des Kyrios. Jewett (Jewett 2007,
99 f.) hat die Bezeichnung »Sklave Christi Jesu« als passend zum Stil eines »cau
tiously diplomatic letter« (100) verstanden, die Bezeichnung in enge Beziehung
zu »slave of Caesar« gesetzt (100) und in Verbindung mit Röm 15,14–16,23 als
Beleg für das Verständnis des Römerbriefs als Subtypus eines »ambassadorial
letter« genommen (2007, 44; zur Kritik an Jewett: Horn 2009a, 230–234).
Florian Wilk hat in seiner Untersuchung der Relevanz des Jesajabuches für
Paulus die in Zitaten und Anspielungen deutlich werdende Bedeutung des Jesaja-
buches für das apostolische Selbstverständnis des Paulus herausgearbeitet (Wilk
1998, bes. 171–176.287–303.366–369. Zitate: 2Kor 6,2; Röm 10,15; Röm 15,21; Anspie-
lungen: sicher in 1Kor 2,16; Gal 1,15; 2Kor 7,6, wahrscheinlich in 1Kor 1,17; Gal 1,16;
Phil 2,16; 2Kor 4,11). Auch andere Themen paulinischer Theologie (Christusbot-
schaft, Israelfrage, Parusieerwartung) in den Briefen, die dem 1Thess folgen, sind
nach Wilk von der Jesajarezeption geprägt. Er findet die »Wurzel« für die zuneh-
mende Bedeutung des Jesajabuches für Paulus in dem Umstand, dass »einige Je-
sajatexte ihm bei der Klärung seines Selbstverständnisses als Heidenapostel Jesu
Christi halfen« (Wilk 1998, 405). Bemerkenswert sind dabei jene Stellen, die Pau-
lus mehrfach und ohne nennenswerte Modifikationen des Zitattextes aufgreift
(Jes 42,6; 49,3–13; 52,7–15; 53,11 f.). Sie enthalten »fast vollständig die von ihm auf
sein Selbstverständnis gedeuteten Texte« (aaO. 363). Paulus wendet die Jesaja-
worte auf sich an und versteht sich (und zwar exklusiv, vgl. das Zitat aus Jes 52,15
in Röm 15,21) als den verheißenen Gottesknecht, der den Völkern gegenüber die
Aufgabe der Verkündigung wahrnimmt, die eigentlich Israel obliegen würde.
Diese Erkenntnis hat sich ihm erst im Laufe der Zeit erschlossen, gehört somit
noch nicht zu den Inhalten der Damaskusoffenbarung. Aber im Nachhinein wird
auch die Damaskusoffenbarung in diesen Kategorien verstanden: Seit seiner Ge-
burt hat Gott Paulus dazu bestimmt, Gottes »Knecht« zu sein und ihn jetzt zur
Völkermission berufen (Gal 1,10.15 – Jes 42,1.6; 49,1.3.5). Auch weitere Aspekte
234 C. Werk
97). Wie Martin Ebner gezeigt hat, wurde die Bezeichnung »Diener Christi« ver-
mutlich von den Gegnern gebraucht (aaO. 158), um ihre Überlegenheit herauszu-
stellen. Paulus nimmt die Herausforderung zum Rangstreit (zunächst unwillig
und zögernd) auf und weist (dann aber mit umso größerer Emphase) anhand
eines Vergleichs der »Taten« die eigene Überlegenheit nach (aaO. 106–108.155.158–
160). Der ganze Nachweis wird dann allerdings innerhalb der Narrenrede in 2Kor
12,10 auf den Satz zugeführt, dass die Kraft Gottes in der Schwachheit zur Vollen-
dung komme – und damit wird das gesamte Rühmen ad absurdum geführt. Der
im Zusammenhang seiner Argumentation verwendete Begriff »Mühe« (κόπος)
verweist traditionsgeschichtlich einerseits auf die Mühen des Gottesknechtes (Jes
49,4), andererseits erinnert er an die Heraklestradition (Ebner 1991, 160–172).
In 2Kor 6,4–10, wo ebenfalls das Stichwort Diakonos begegnet, stellt sich Paulus
als von Gott beauftragter »Tatzeuge« der Versöhnungsbotschaft vor, bei dem Leh-
re und Leben übereinstimmen (aaO. 245–252.395). Im Hintergrund steht hier
wohl das Modell des Philosophen, bei dem Botschaft und Lebensführung konver-
gieren und damit seine Glaubwürdigkeit bestätigen (aaO. 246 f.).
Zu Beginn des Abschnitts 2Kor 2,(12)14–7,1, wo Paulus in immer neuen An
läufen sein Verständnis des Apostolats darstellt, benutzt er die Metapher des
römischen Triumphzuges, v. a. in V. 14–16 (Details bei Schröter 1993, 13–33; Vor-
holt 2008, 278–291). Paulus versteht seine eigene apostolische Existenz als Über-
wundensein durch Christus. Als Gefangener Christi verkündigt er die Sieges
meldung über die gottwidrigen Mächte (Schnelle 2003, 161).
Aber nicht nur als Weihrauchträger innerhalb eines Triumphzuges, sondern
selbst als »Wohlgeruch Christi für Gott« verbreitet er die Botschaft. »Die Duftme-
tapher bezeichnet hier also einerseits die völlige Identität von Boten und Bot-
schaft, dient andererseits dazu, den Effekt der Verbreitung der Botschaft zu ande-
ren Menschen hin zu veranschaulichen.« (Schröter 1993, 32).
Kultische Begrifflichkeit: In einen bislang unberührten Kontext führen einige
von Paulus benutzte Wendungen, mit denen er sein Selbstverständnis im Sinn
eines kultischen bzw. priesterlichen Handelns umschreibt.
Bereits in 1Thess 2,3.10, wo Paulus sein Verhalten als »Ansporn für die Gemein-
de« (Vahrenhorst 2008, 116) einbringt, finden sich die im Kult gebräuchlichen
Termini »nicht aus Unlauterkeit« (οὐδὲ ἐξ ἀκαθαρσίας) und »heilig« (ὅσιος), um
das Auftreten des Apostels zu kennzeichnen, das »dem Kontakt mit der Sphäre
Gottes völlig entspricht« (aaO. 118). Sein Verhalten ist also nicht nur ethisch tadel-
los, sondern dem göttlichen Auftrag sachentsprechend und zugleich Vorbild für
die Gemeinde.
In 1Kor 9,13 spricht Paulus davon, dass diejenigen, die Dienst am Altar tun,
auch davon essen dürfen. Zieht Paulus nur einen Vergleich oder versteht er sein
eigenes Handeln als priesterlichen Dienst? Als Benjaminit kann Paulus nicht
Priester sein. Aber er vollzieht, was Priester tun, »nämlich Opfergaben in die
Sphäre des Heiligen zu überführen« (aaO. 189, vgl. 337).
236 C. Werk
In Phil 2,17 benutzt Paulus das Bild von der »ausgegossenen Trankspende«
(σπένδομαι), zu der er bereit ist. Trankopfer gibt es sowohl im jüdischen Kult als
auch in paganen Kulten. Sie werden begleitend zum Hauptopfer dargebracht. Auf
der Sachebene schließt V. 17 die in Phil 1,27 begonnene Paränese ab. Es geht um
»eine Aussage über das Leben und Tun des Apostels und der Gemeinde. [. . .] Bei-
de leben ihr Leben als ein Opfer, das Gott geweiht ist« (Vahrenhorst 2008, 238).
Vergleichbar mit dieser Aussage ist die Metaphorik in Röm 12,1.
In Röm 9,3 spricht Paulus im Rahmen eines feierlichen Wunsches von seiner
Bereitschaft, sein Leben als »Fluch« (ἀνάθεμα) zur Rettung seiner Stammver-
wandten hinzugeben. Nun ist dieses Verständnis von Anathema durch die LXX
bestimmt, wo eine Spezialbedeutung vorliegt, die sich von der in der übrigen
Gräzität unterscheidet. Dort wird Anathema als »Weihegabe« verstanden. Mit der
Präposition »weg von« (ἀπό) wird dort in der Regel der Bereich angegeben, aus
dem die Weihegabe genommen wird. Die Präpositionalbestimmung »weg von
Christus« in Röm 9,3 bereitet der Auslegung, die von der Bedeutung »Fluch« aus-
geht, Schwierigkeiten. Diese könnten gelöst werden, wenn im Hintergrund das
Motiv vom In-Christus-Sein angenommen wird. Dann allerdings legte sich ein
Verständnis im Sinn von »Weihegabe« nahe. Die Wendung ließe sich dann so
verstehen, dass Paulus bereit ist, aus dem durch Christus bestimmten Bereich he-
rausgenommen und Gott als Weihegabe übereignet zu werden, wenn sich damit
positive Konsequenzen für Israel ergäben (Vahrenhorst 2008, 290).
Vier Wendungen in Röm 15,16 lassen »ein kultisches oder priesterliches Selbst-
verständnis« des Paulus zum Ausdruck kommen (Horn 2009a, 240; Vahren-
horst 2008, 314–320): 1) Paulus ist »Bediensteter (λειτουργός) Christi Jesu für
die Völker«. Der Begriff kann in profanen und kultischen Zusammenhängen ge-
braucht werden. Entscheidend für das Verständnis ist der Kontext. 2) Paulus
»dient priesterlich (ἱερουργοῦντα) am Evangelium«. Das Verbum ist Hapaxle-
gomenon in der LXX und im Neuen Testament. Wo es sich sonst findet, ist ein
Bezug auf »heilige Handlungen« gegeben, Philo und Josephus denken in der Re-
gel an Opfervorgänge (Vahrenhorst 2008, 317). 3) Die »Opfergabe der Völker
soll angenehm sein« (ἢ προσφορὰ τῶν ἐθνῶν εὐπρόσδεκτος). Das Stichwort
»Opfergabe« ist von der LXX her eindeutig als kultischer Terminus zu verstehen
(aaO. 317). Bei dem Genitiv »der Völker« handelt es sich »zwingend« um einen
genitivus obiectivus bzw. appositionis (Horn 2009a, 242; Vahrenhorst 2008, 318),
denn sonst müsste angegeben werden, worin deren Opfer besteht. 4) Die Völker
als Opfergabe sollen »geheiligt sein (ἡγιασμένη) durch den Heiligen Geist«. Die
Völker sollen von Gott als durch den Heiligen Geist geheiligtes Opfer angenom-
men werden.
Wenn so die kultische Sprache in Röm 15,16 erwiesen ist, stellt sich die Frage,
welche Absicht Paulus damit verfolgt. Nach Michael Theobald ist Paulus in Röm
15,16 von der Vision aus Jes 66,20 geleitet (Theobald 1993, 206). Doch Jes 66,20
blickt auf die Sammlung der Diasporajuden und nicht der Heiden. Friedrich Wil-
helm Horn hat deshalb dafür votiert, Röm 15,16 im Kontext des paulinischen
II. Mission 237
Gemeinde im Haus der Nympha in Laodikeia oder Hierapolis (Kol 4,13) namhaft
gemacht, und in Apg 20,7–12 schildert Lukas eine Hausversammlung in Troas. Das
voranstehende Bild ist mit vielen, z. T. komplexen Problemstellungen in ekklesio-
logischer und sozialgeschichtlicher Hinsicht verbunden.
Auch wenn Paulus die christusgläubige Gemeinschaft nicht explizit als Haus
Gottes (s. aber Gal 6,10) tituliert, bezieht er familiäre Termini auf sie (Banks 1980,
54–61): Kraft der Teilhabe an Christus, dem Sohn Gottes, haben die Christusgläu-
bigen ihrerseits Gott zum Vater (1Thess 3,11.13), sind Kinder/Söhne Gottes (Röm
8,16 f.; Gal 4,6 f.) und untereinander Geschwister (1Kor 8,11–13). Ebenfalls mit fa-
miliärer Metaphorik beschreibt Paulus sein Verhältnis zu Gemeinden, Bekehrten
und Mitarbeitenden (1Kor 3,1–3; 4,14 f.17; Gal 4,19; Phlm 10; Gerber 2005). Zu-
dem begegnen Hausbau und Hausverwaltung als Metaphern in diversen missi-
ons- und gemeindetheologischen Texten (1Kor 3,9–11; 4,1 f.; 14,3–5.12.17.26). Be-
merkenswert ist die Übertragung des die Volksversammlung einer Polis markie-
renden Begriffs ἐκκλησία auf Hausgemeinden (1Kor 1,2 u. ö.) und evtl. die
Gesamtkirche (1Kor 10,32 u. ö.).
Das Haus bildete die elementare Keimzelle des antiken sozialen, ökonomischen,
politischen und religiösen Lebens (Kunst 22008; Wallace-Hadrill 1996). Mit
»Haus« (οἶκος; οἰκία) bezeichnete man sowohl das Gebäude bzw. die Wohnung
als auch die menschliche Hausgemeinschaft samt des dazugehörenden Besitz-
standes und Vermögens (Klauck 1981, 15–20). Die Hausgemeinschaft bestand aus
dem mit umfassender häuslicher Verfügungsgewalt ausgestatteten pater familias,
II. Mission 241
seiner Gattin, den Kindern, Enkeln, evtl. weiteren Verwandten, den (zum Inventar
gerechneten) Sklaven und anderen Abhängigen (Freigelassene, Klienten). Zur an-
gemessenen Führung dieses sozialen Gebildes entwickelten die philosophischen
Schulen diverse Theorien, die in der sog. Ökonomikliteratur vorliegen (Lehmei-
er 2006, 53–218). In der griechisch-römischen Antike existierten mehrere urbane
Haustypen: das Peristylhaus, das Atriumhaus, Mischformen aus beiden und
mehrstöckige Mietshäuser (insulae). Letztere umfassten neben vornehmeren
mehrräumigen Erdgeschosswohnungen (domus), an die oft Gewerberäume ange-
schlossen waren, v. a. kleinere Läden und Werkstätten (tabernae) mit eingezoge-
nem Zwischengeschoss (pergula) als bescheidenem Wohnraum, ferner Oberge-
schosswohnungen (cenacula) sowie äußerst ärmliche Mieträume (cellae) in hö-
heren Etagen. Die Wohnqualität nahm nach oben drastisch ab. Häuser und
Räume unterschieden sich in Größe und Ausstattung je nach dem gesellschaft-
lichen Stand der Hauseigentümer bzw. Mieter erheblich. Der Wohnraum diente
maßgeblich der öffentlichen Statusrepräsentation. Die Grenzen zwischen öffent-
lich und privat waren daher stark durchlässig. Die Eingänge standen prinzipiell
offen (vgl. 1Kor 14,23). In vornehmeren Häusern fungierte zumal das Atrium dem
pater familias als quasi öffentlicher Raum für den Vollzug bürgerlicher Aufgaben
und Geschäfte. Zur öffentlichen Transparenz kam die soziale Durchlässigkeit des
Raums. Reiche und Angesehene lebten Seite an Seite mit Sklaven. Auch wenn
man deren schäbige Wirtschaftsräume architektonisch marginalisierte, waren
Sklaven im Haus allgegenwärtig. Dazu fügt sich, dass in Mietshäusern Menschen
verschiedenster sozialer Provenienz nebeneinander lebten. Ungeachtet der
Existenz vornehmer und weniger vornehmer Stadtteile gab es keine rigide Tren-
nung von reichen und armen Wohnvierteln. Trotz der für viele prekären Wohn-
verhältnisse galt das Leben in der Stadt als Ausdruck von Zivilisation. Es war
durch öffentliche Inszenierungen (Spiele, Sportkämpfe, Theater) und religi-
ös-kultische Akte geprägt, in denen neben der lokalen Identität die zentralen
Werte und Normen der griechisch-römischen Kultur reproduziert wurden. Reli-
giosität ankerte aber auch im Hauskult. Dieser umfasste neben der Verehrung
toter Familienmitglieder den Kult persönlicher Hausgötter, der Laren, Penaten,
des genius des Hausherrn und auch des Kaisers. Wie sich die paulinischen Ge-
meinden in dieses Bild einfügten, wird z. T. kontrovers diskutiert.
Uneins ist man zumal in der Frage der sozialen Zusammensetzung der urbanen
Gemeinden. Nach gängiger Sicht (Holmberg 1990, 28–76) etablierte sich um die
Wende zum 20. Jh. zunächst die Auffassung, die besagten Gemeinden gehörten
vorwiegend der ausgebeuteten Unterschicht an (»alter Konsens«). Seit den 1970er
Jahren setzte sich die These durch, die paulinischen Gemeindeglieder bildeten in
sozialer Hinsicht den Querschnitt der damaligen urbanen Gesellschaft ab, jedoch
unter Abzug der allerhöchsten und allerniedrigsten Schichten, aber unter Ein-
242 C. Werk
schluss relativ Wohlhabender (»neuer Konsens«). Seit Beginn des 21. Jh. werden
wieder vermehrt Stimmen laut, die die paulinischen Stadtgemeinden vornehm-
lich der Armenschicht zurechnen (Meggitt 1998; Friesen 2004). Auch wenn
diese Darstellung der Forschungsgeschichte etwas undifferenziert ist (vgl. Theis-
sen 2001, 66–68; Friesen 2004, 324–337), spiegelt sie doch zentrale Grundpositi-
onen der Debatte wider. Dahinter stehen äußerst komplexe Probleme, etwa die
Frage, wie die damalige römische Gesellschaft insgesamt sozial stratifiziert war.
Dazu liegen mehrere Modelle vor, u. a. von Géza Alföldy, Gerhard Lenski, Ekke-
hard und Wolfgang Stegemann sowie von Steven Friesen (Überblick bei Oakes
2009, 65–69; Longenecker 2010, 36–59). Zudem besteht bei den sozialen Indika-
toren Interpretationsspielraum. Dies gilt zumal für die Häuser von Gemeinde-
gliedern. In der Forschung werden sie mit sehr unterschiedlichen archäologischen
Funden korreliert, sei es die Villa von Anaploga, die eine Aufnahme von 30–40
Gästen ermöglichte (Murphy O’Connor 1983, 161–178), seien es große Häuser in
Pompeji und Herculaneum, die z. T. weit über 300 Gästen Platz boten (Osiek/
Balch 1997, 201–203), seien es cellae oder tabernae in den insulae, die nur einer
Handvoll Menschen Raum gaben (Meggitt 1998, 62–67.120 f.126 f.), seien es dif-
ferente Wohnstätten der Nichtelite in Pompeji (Oakes 2009). Je nach Vergleichs-
objekt gelangt man zu differenten Beurteilungen des sozialen Status der Hausbe-
sitzer. Gegen solche Verwertungen archäologischer Funde lassen sich indes me-
thodische Bedenken erheben (Schowalter 2010). Ungeachtet dessen ist relativ
deutlich, dass das Gros der Christusgläubigen den unteren Schichten zugehörte.
Dies indizieren u. a. die Aussagen des Apostels in 1Kor 1,26–29 und die typischen
Sklavennamen vieler in den Briefen erwähnter Personen. Umstritten bleibt der
genaue Status einiger eher wohlhabender Gemeindeglieder. Allzu hoch wird man
diesen nicht ansetzen dürfen, zumal Paulus niemanden explizit als reich identifi-
ziert und typische Ermahnungen an Reiche fehlen (Stegemann/Stegemann
2
1997, 255).
der herrschaftlichen Haushaltsstruktur von innen aushöhlt, ohne sie jedoch prin-
zipiell zu negieren, zumal Paulus selbst in die Rolle eines Patrons schlüpft, der
Onesimus schützt und Philemon Gehorsam abverlangt (Phlm 18–22; Strecker
1999, 369–378.413–418). Das Phänomen gleichzeitiger Respektierung und Aushöh
lung der Macht von Patronen begegnet auch in anderen Fällen (Lampe 2003,
498–500), z. B. bei Phoebe, die in Röm 16,1 f. als Paulus unterstützende Patronin
und zugleich als seiner Empfehlung bedürfend erscheint. Strittig ist, ob und in-
wieweit christusgläubige Hausvorstehende in den Gemeinden hierarchische Lei-
tungsfunktionen ausfüllten (befürwortend Gehring 2000, 329–380; negierend
Lampe 2003, 497 f.). So oder so stellt das komplexe Neben- bzw. Ineinander struk-
turkonservativer und subversiv-egalitärer Züge, das in den Briefen in vielen Aus-
prägungen begegnet, zumal auch mit Blick auf die Geschlechterrollen, eine exe-
getische Herausforderung dar. Es liegen diverse Erklärungsmodelle vor, u. a. die
Konzepte des Liebespatriarchalismus (Theissen 31989a, 268–271) und der norma-
tiven Communitas (Strecker 1999, 407–449). Für Rom wurde auch die parallele
Existenz zweier Gemeindetypen erwogen (Jewett 1993): a) Hausgemeinden mit
Patronen und sozialer Hierarchie; b) Gemeinden in insulae ohne Patrone und mit
egalitärem Ethos (skeptisch Oakes 2009, 70.91 f.). Ungeachtet all dessen spiegelt
sich in der Konzentration der paulinischen Mission auf Städte die große Bedeu-
tung der Urbanität in der römisch-hellenistischen Kultur. Der Christusglaube
sollte diesbezüglich jedoch eine gewisse Reserve wahren (1Kor 6,1–8; 7,29–31),
ohne sich abzuschotten (1Kor 7,12–16; 10,27). Auch wenn Spannungen zur Polis-
religion und zum Hauskult nicht eigens expliziert werden, ist klar, dass der Chris
tusglaube die Lokalbindung antiker religiöser Praktiken transzendierte: Ort reli-
giöser Identität ist bei Paulus weder das »jetzige Jerusalem« noch ein irdisches
Gemeinwesen, sondern das »obere Jerusalem« bzw. das »Politeuma in den Him-
meln« (Gal 4,25; Phil 3,20).
Gehring, Roger W.: Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausge-
meinschaften – von Jesus bis Paulus, Gießen 2000.
Klauck, Hans-Josef: Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103), Stutt-
gart 1981.
Meeks, Wayne A.: Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemein-
den, Gütersloh 1993.
Christian Strecker
von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die sich in den Paulusbriefen finden, so-
dann um die Personen selbst, des Weiteren um die Aufgaben, die sie wahrnah-
men, und schließlich um die Gestalt der Zusammenarbeit.
Paulus benennt jene Personen, die zu der von ihm ausgehenden Verkündigung
des Evangeliums in irgendeiner Weise beitrugen, recht unterschiedlich, wobei die
einzelnen Ausdrücke allerdings nicht genau abgegrenzten Funktionen zuzuord-
nen sind (so allerdings Ellis 1971, 437–452).
»Mitarbeiter« und »Mitarbeiterin«: Der Begriff »Mitarbeiter« entspricht dem
griechischen συνεργός (zwölfmal in den sicher echten Paulusbriefen, darüber hi-
naus in Kol 4,11; 3Joh 1,8). Der Ausdruck wird von Paulus unterschiedlich ge-
braucht: Zum einen versteht er sich selbst – gemeinsam mit anderen (etwa mit
Apollos) – als Mitarbeiter Gottes (1Kor 3,9). Das ist nicht im Sinne einer Koope-
ration von Gott und Apostel zu lesen, sondern – wie das in 1Kor 3,6–8 verwende-
te Bild vom Ackerbau zeigt – in Bezug auf die Evangeliumsverkündigung, deren
Gelingen ausschließlich von Gott bewirkt wird (vgl. Phil 2,13). »Mitarbeiter«
meint hier also denjenigen, der an Gottes Stelle arbeitet (vgl. 2Kor 5,20), von die-
sem aber in allem abhängig ist. Auch Timotheus wird in diesem Sinn als Mitar-
beiter Gottes bezeichnet (1Thess 3,2). Damit ist auch ein gewisser Autoritätsan-
spruch verbunden (2Kor 6,1): Mitarbeitenden und sich Mühenden soll man sich
unterordnen (1Kor 16,16).
In 2Kor 1,19.24 schließt sich Paulus mit Timotheus und Silvanus als Mitarbeiter
zusammen, die nicht nach Herrschaft über die Gemeinde trachten, sondern an
ihrer Freude arbeiten. Entsprechend heißt es von Timotheus, dass er in derselben
Weise am Werk des Herrn mitwirke wie Paulus selbst (1Kor 16,10).
Zumeist schreibt Paulus aber von seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen:
Epaphroditus (Phil 2,25), Klemens und andere (Phil 4,3), Markus, Aristarch, De-
mas und Lukas (Phlm 24; vgl. Kol 4,11), Priszilla und Aquila (Röm 16,3), Timo-
theus (Röm 16,21) und wohl auch Titus (2Kor 8,23) ordnet er ausdrücklich seiner
Person zu. Philemon (Phlm 1) und Urbanus (Röm 16,9) werden als »unsere Mit-
arbeiter« bezeichnet. Diese Zuordnung macht doch sehr wahrscheinlich, dass
Paulus das Verhältnis als hierarchisches verstand (anders Ollrog 1979, 67–72:
Der Begriff sei stets auf das gemeinsame Werk ausgerichtet.).
Apostel: Einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden als Apostel bezeich-
net, wobei Silvanus und Timotheus konkret mit Paulus unterwegs waren (1Thess
2,7). Epaphroditus war ein Gemeindeapostel (Phil 2,25), wie sie in 2Kor 8,23 für
die Kollektendelegation genannt werden (vgl. auch 1Kor 12,28). Andronikus und
Junia (Röm 16,7), Barnabas (1Kor 9,1–6) und Apollos (1Kor 4,9) waren unabhän-
gig von Paulus als Apostel tätig.
Bezeichnungen, die eine enge Beziehung beschreiben: Gerne greift Paulus Aus-
drücke aus dem Wortfeld der Familie auf. Vielfach findet sich die Bezeichnung als
II. Mission 235
97). Wie Martin Ebner gezeigt hat, wurde die Bezeichnung »Diener Christi« ver-
mutlich von den Gegnern gebraucht (aaO. 158), um ihre Überlegenheit herauszu-
stellen. Paulus nimmt die Herausforderung zum Rangstreit (zunächst unwillig
und zögernd) auf und weist (dann aber mit umso größerer Emphase) anhand
eines Vergleichs der »Taten« die eigene Überlegenheit nach (aaO. 106–108.155.158–
160). Der ganze Nachweis wird dann allerdings innerhalb der Narrenrede in 2Kor
12,10 auf den Satz zugeführt, dass die Kraft Gottes in der Schwachheit zur Vollen-
dung komme – und damit wird das gesamte Rühmen ad absurdum geführt. Der
im Zusammenhang seiner Argumentation verwendete Begriff »Mühe« (κόπος)
verweist traditionsgeschichtlich einerseits auf die Mühen des Gottesknechtes (Jes
49,4), andererseits erinnert er an die Heraklestradition (Ebner 1991, 160–172).
In 2Kor 6,4–10, wo ebenfalls das Stichwort Diakonos begegnet, stellt sich Paulus
als von Gott beauftragter »Tatzeuge« der Versöhnungsbotschaft vor, bei dem Leh-
re und Leben übereinstimmen (aaO. 245–252.395). Im Hintergrund steht hier
wohl das Modell des Philosophen, bei dem Botschaft und Lebensführung konver-
gieren und damit seine Glaubwürdigkeit bestätigen (aaO. 246 f.).
Zu Beginn des Abschnitts 2Kor 2,(12)14–7,1, wo Paulus in immer neuen An
läufen sein Verständnis des Apostolats darstellt, benutzt er die Metapher des
römischen Triumphzuges, v. a. in V. 14–16 (Details bei Schröter 1993, 13–33; Vor-
holt 2008, 278–291). Paulus versteht seine eigene apostolische Existenz als Über-
wundensein durch Christus. Als Gefangener Christi verkündigt er die Sieges
meldung über die gottwidrigen Mächte (Schnelle 2003, 161).
Aber nicht nur als Weihrauchträger innerhalb eines Triumphzuges, sondern
selbst als »Wohlgeruch Christi für Gott« verbreitet er die Botschaft. »Die Duftme-
tapher bezeichnet hier also einerseits die völlige Identität von Boten und Bot-
schaft, dient andererseits dazu, den Effekt der Verbreitung der Botschaft zu ande-
ren Menschen hin zu veranschaulichen.« (Schröter 1993, 32).
Kultische Begrifflichkeit: In einen bislang unberührten Kontext führen einige
von Paulus benutzte Wendungen, mit denen er sein Selbstverständnis im Sinn
eines kultischen bzw. priesterlichen Handelns umschreibt.
Bereits in 1Thess 2,3.10, wo Paulus sein Verhalten als »Ansporn für die Gemein-
de« (Vahrenhorst 2008, 116) einbringt, finden sich die im Kult gebräuchlichen
Termini »nicht aus Unlauterkeit« (οὐδὲ ἐξ ἀκαθαρσίας) und »heilig« (ὅσιος), um
das Auftreten des Apostels zu kennzeichnen, das »dem Kontakt mit der Sphäre
Gottes völlig entspricht« (aaO. 118). Sein Verhalten ist also nicht nur ethisch tadel-
los, sondern dem göttlichen Auftrag sachentsprechend und zugleich Vorbild für
die Gemeinde.
In 1Kor 9,13 spricht Paulus davon, dass diejenigen, die Dienst am Altar tun,
auch davon essen dürfen. Zieht Paulus nur einen Vergleich oder versteht er sein
eigenes Handeln als priesterlichen Dienst? Als Benjaminit kann Paulus nicht
Priester sein. Aber er vollzieht, was Priester tun, »nämlich Opfergaben in die
Sphäre des Heiligen zu überführen« (aaO. 189, vgl. 337).
236 C. Werk
In Phil 2,17 benutzt Paulus das Bild von der »ausgegossenen Trankspende«
(σπένδομαι), zu der er bereit ist. Trankopfer gibt es sowohl im jüdischen Kult als
auch in paganen Kulten. Sie werden begleitend zum Hauptopfer dargebracht. Auf
der Sachebene schließt V. 17 die in Phil 1,27 begonnene Paränese ab. Es geht um
»eine Aussage über das Leben und Tun des Apostels und der Gemeinde. [. . .] Bei-
de leben ihr Leben als ein Opfer, das Gott geweiht ist« (Vahrenhorst 2008, 238).
Vergleichbar mit dieser Aussage ist die Metaphorik in Röm 12,1.
In Röm 9,3 spricht Paulus im Rahmen eines feierlichen Wunsches von seiner
Bereitschaft, sein Leben als »Fluch« (ἀνάθεμα) zur Rettung seiner Stammver-
wandten hinzugeben. Nun ist dieses Verständnis von Anathema durch die LXX
bestimmt, wo eine Spezialbedeutung vorliegt, die sich von der in der übrigen
Gräzität unterscheidet. Dort wird Anathema als »Weihegabe« verstanden. Mit der
Präposition »weg von« (ἀπό) wird dort in der Regel der Bereich angegeben, aus
dem die Weihegabe genommen wird. Die Präpositionalbestimmung »weg von
Christus« in Röm 9,3 bereitet der Auslegung, die von der Bedeutung »Fluch« aus-
geht, Schwierigkeiten. Diese könnten gelöst werden, wenn im Hintergrund das
Motiv vom In-Christus-Sein angenommen wird. Dann allerdings legte sich ein
Verständnis im Sinn von »Weihegabe« nahe. Die Wendung ließe sich dann so
verstehen, dass Paulus bereit ist, aus dem durch Christus bestimmten Bereich he-
rausgenommen und Gott als Weihegabe übereignet zu werden, wenn sich damit
positive Konsequenzen für Israel ergäben (Vahrenhorst 2008, 290).
Vier Wendungen in Röm 15,16 lassen »ein kultisches oder priesterliches Selbst-
verständnis« des Paulus zum Ausdruck kommen (Horn 2009a, 240; Vahren-
horst 2008, 314–320): 1) Paulus ist »Bediensteter (λειτουργός) Christi Jesu für
die Völker«. Der Begriff kann in profanen und kultischen Zusammenhängen ge-
braucht werden. Entscheidend für das Verständnis ist der Kontext. 2) Paulus
»dient priesterlich (ἱερουργοῦντα) am Evangelium«. Das Verbum ist Hapaxle-
gomenon in der LXX und im Neuen Testament. Wo es sich sonst findet, ist ein
Bezug auf »heilige Handlungen« gegeben, Philo und Josephus denken in der Re-
gel an Opfervorgänge (Vahrenhorst 2008, 317). 3) Die »Opfergabe der Völker
soll angenehm sein« (ἢ προσφορὰ τῶν ἐθνῶν εὐπρόσδεκτος). Das Stichwort
»Opfergabe« ist von der LXX her eindeutig als kultischer Terminus zu verstehen
(aaO. 317). Bei dem Genitiv »der Völker« handelt es sich »zwingend« um einen
genitivus obiectivus bzw. appositionis (Horn 2009a, 242; Vahrenhorst 2008, 318),
denn sonst müsste angegeben werden, worin deren Opfer besteht. 4) Die Völker
als Opfergabe sollen »geheiligt sein (ἡγιασμένη) durch den Heiligen Geist«. Die
Völker sollen von Gott als durch den Heiligen Geist geheiligtes Opfer angenom-
men werden.
Wenn so die kultische Sprache in Röm 15,16 erwiesen ist, stellt sich die Frage,
welche Absicht Paulus damit verfolgt. Nach Michael Theobald ist Paulus in Röm
15,16 von der Vision aus Jes 66,20 geleitet (Theobald 1993, 206). Doch Jes 66,20
blickt auf die Sammlung der Diasporajuden und nicht der Heiden. Friedrich Wil-
helm Horn hat deshalb dafür votiert, Röm 15,16 im Kontext des paulinischen
II. Mission 237
Gemeinde im Haus der Nympha in Laodikeia oder Hierapolis (Kol 4,13) namhaft
gemacht, und in Apg 20,7–12 schildert Lukas eine Hausversammlung in Troas. Das
voranstehende Bild ist mit vielen, z. T. komplexen Problemstellungen in ekklesio-
logischer und sozialgeschichtlicher Hinsicht verbunden.
Auch wenn Paulus die christusgläubige Gemeinschaft nicht explizit als Haus
Gottes (s. aber Gal 6,10) tituliert, bezieht er familiäre Termini auf sie (Banks 1980,
54–61): Kraft der Teilhabe an Christus, dem Sohn Gottes, haben die Christusgläu-
bigen ihrerseits Gott zum Vater (1Thess 3,11.13), sind Kinder/Söhne Gottes (Röm
8,16 f.; Gal 4,6 f.) und untereinander Geschwister (1Kor 8,11–13). Ebenfalls mit fa-
miliärer Metaphorik beschreibt Paulus sein Verhältnis zu Gemeinden, Bekehrten
und Mitarbeitenden (1Kor 3,1–3; 4,14 f.17; Gal 4,19; Phlm 10; Gerber 2005). Zu-
dem begegnen Hausbau und Hausverwaltung als Metaphern in diversen missi-
ons- und gemeindetheologischen Texten (1Kor 3,9–11; 4,1 f.; 14,3–5.12.17.26). Be-
merkenswert ist die Übertragung des die Volksversammlung einer Polis markie-
renden Begriffs ἐκκλησία auf Hausgemeinden (1Kor 1,2 u. ö.) und evtl. die
Gesamtkirche (1Kor 10,32 u. ö.).
Das Haus bildete die elementare Keimzelle des antiken sozialen, ökonomischen,
politischen und religiösen Lebens (Kunst 22008; Wallace-Hadrill 1996). Mit
»Haus« (οἶκος; οἰκία) bezeichnete man sowohl das Gebäude bzw. die Wohnung
als auch die menschliche Hausgemeinschaft samt des dazugehörenden Besitz-
standes und Vermögens (Klauck 1981, 15–20). Die Hausgemeinschaft bestand aus
dem mit umfassender häuslicher Verfügungsgewalt ausgestatteten pater familias,
II. Mission 241
seiner Gattin, den Kindern, Enkeln, evtl. weiteren Verwandten, den (zum Inventar
gerechneten) Sklaven und anderen Abhängigen (Freigelassene, Klienten). Zur an-
gemessenen Führung dieses sozialen Gebildes entwickelten die philosophischen
Schulen diverse Theorien, die in der sog. Ökonomikliteratur vorliegen (Lehmei-
er 2006, 53–218). In der griechisch-römischen Antike existierten mehrere urbane
Haustypen: das Peristylhaus, das Atriumhaus, Mischformen aus beiden und
mehrstöckige Mietshäuser (insulae). Letztere umfassten neben vornehmeren
mehrräumigen Erdgeschosswohnungen (domus), an die oft Gewerberäume ange-
schlossen waren, v. a. kleinere Läden und Werkstätten (tabernae) mit eingezoge-
nem Zwischengeschoss (pergula) als bescheidenem Wohnraum, ferner Oberge-
schosswohnungen (cenacula) sowie äußerst ärmliche Mieträume (cellae) in hö-
heren Etagen. Die Wohnqualität nahm nach oben drastisch ab. Häuser und
Räume unterschieden sich in Größe und Ausstattung je nach dem gesellschaft-
lichen Stand der Hauseigentümer bzw. Mieter erheblich. Der Wohnraum diente
maßgeblich der öffentlichen Statusrepräsentation. Die Grenzen zwischen öffent-
lich und privat waren daher stark durchlässig. Die Eingänge standen prinzipiell
offen (vgl. 1Kor 14,23). In vornehmeren Häusern fungierte zumal das Atrium dem
pater familias als quasi öffentlicher Raum für den Vollzug bürgerlicher Aufgaben
und Geschäfte. Zur öffentlichen Transparenz kam die soziale Durchlässigkeit des
Raums. Reiche und Angesehene lebten Seite an Seite mit Sklaven. Auch wenn
man deren schäbige Wirtschaftsräume architektonisch marginalisierte, waren
Sklaven im Haus allgegenwärtig. Dazu fügt sich, dass in Mietshäusern Menschen
verschiedenster sozialer Provenienz nebeneinander lebten. Ungeachtet der
Existenz vornehmer und weniger vornehmer Stadtteile gab es keine rigide Tren-
nung von reichen und armen Wohnvierteln. Trotz der für viele prekären Wohn-
verhältnisse galt das Leben in der Stadt als Ausdruck von Zivilisation. Es war
durch öffentliche Inszenierungen (Spiele, Sportkämpfe, Theater) und religi-
ös-kultische Akte geprägt, in denen neben der lokalen Identität die zentralen
Werte und Normen der griechisch-römischen Kultur reproduziert wurden. Reli-
giosität ankerte aber auch im Hauskult. Dieser umfasste neben der Verehrung
toter Familienmitglieder den Kult persönlicher Hausgötter, der Laren, Penaten,
des genius des Hausherrn und auch des Kaisers. Wie sich die paulinischen Ge-
meinden in dieses Bild einfügten, wird z. T. kontrovers diskutiert.
Uneins ist man zumal in der Frage der sozialen Zusammensetzung der urbanen
Gemeinden. Nach gängiger Sicht (Holmberg 1990, 28–76) etablierte sich um die
Wende zum 20. Jh. zunächst die Auffassung, die besagten Gemeinden gehörten
vorwiegend der ausgebeuteten Unterschicht an (»alter Konsens«). Seit den 1970er
Jahren setzte sich die These durch, die paulinischen Gemeindeglieder bildeten in
sozialer Hinsicht den Querschnitt der damaligen urbanen Gesellschaft ab, jedoch
unter Abzug der allerhöchsten und allerniedrigsten Schichten, aber unter Ein-
242 C. Werk
schluss relativ Wohlhabender (»neuer Konsens«). Seit Beginn des 21. Jh. werden
wieder vermehrt Stimmen laut, die die paulinischen Stadtgemeinden vornehm-
lich der Armenschicht zurechnen (Meggitt 1998; Friesen 2004). Auch wenn
diese Darstellung der Forschungsgeschichte etwas undifferenziert ist (vgl. Theis-
sen 2001, 66–68; Friesen 2004, 324–337), spiegelt sie doch zentrale Grundpositi-
onen der Debatte wider. Dahinter stehen äußerst komplexe Probleme, etwa die
Frage, wie die damalige römische Gesellschaft insgesamt sozial stratifiziert war.
Dazu liegen mehrere Modelle vor, u. a. von Géza Alföldy, Gerhard Lenski, Ekke-
hard und Wolfgang Stegemann sowie von Steven Friesen (Überblick bei Oakes
2009, 65–69; Longenecker 2010, 36–59). Zudem besteht bei den sozialen Indika-
toren Interpretationsspielraum. Dies gilt zumal für die Häuser von Gemeinde-
gliedern. In der Forschung werden sie mit sehr unterschiedlichen archäologischen
Funden korreliert, sei es die Villa von Anaploga, die eine Aufnahme von 30–40
Gästen ermöglichte (Murphy O’Connor 1983, 161–178), seien es große Häuser in
Pompeji und Herculaneum, die z. T. weit über 300 Gästen Platz boten (Osiek/
Balch 1997, 201–203), seien es cellae oder tabernae in den insulae, die nur einer
Handvoll Menschen Raum gaben (Meggitt 1998, 62–67.120 f.126 f.), seien es dif-
ferente Wohnstätten der Nichtelite in Pompeji (Oakes 2009). Je nach Vergleichs-
objekt gelangt man zu differenten Beurteilungen des sozialen Status der Hausbe-
sitzer. Gegen solche Verwertungen archäologischer Funde lassen sich indes me-
thodische Bedenken erheben (Schowalter 2010). Ungeachtet dessen ist relativ
deutlich, dass das Gros der Christusgläubigen den unteren Schichten zugehörte.
Dies indizieren u. a. die Aussagen des Apostels in 1Kor 1,26–29 und die typischen
Sklavennamen vieler in den Briefen erwähnter Personen. Umstritten bleibt der
genaue Status einiger eher wohlhabender Gemeindeglieder. Allzu hoch wird man
diesen nicht ansetzen dürfen, zumal Paulus niemanden explizit als reich identifi-
ziert und typische Ermahnungen an Reiche fehlen (Stegemann/Stegemann
2
1997, 255).
der herrschaftlichen Haushaltsstruktur von innen aushöhlt, ohne sie jedoch prin-
zipiell zu negieren, zumal Paulus selbst in die Rolle eines Patrons schlüpft, der
Onesimus schützt und Philemon Gehorsam abverlangt (Phlm 18–22; Strecker
1999, 369–378.413–418). Das Phänomen gleichzeitiger Respektierung und Aushöh
lung der Macht von Patronen begegnet auch in anderen Fällen (Lampe 2003,
498–500), z. B. bei Phoebe, die in Röm 16,1 f. als Paulus unterstützende Patronin
und zugleich als seiner Empfehlung bedürfend erscheint. Strittig ist, ob und in-
wieweit christusgläubige Hausvorstehende in den Gemeinden hierarchische Lei-
tungsfunktionen ausfüllten (befürwortend Gehring 2000, 329–380; negierend
Lampe 2003, 497 f.). So oder so stellt das komplexe Neben- bzw. Ineinander struk-
turkonservativer und subversiv-egalitärer Züge, das in den Briefen in vielen Aus-
prägungen begegnet, zumal auch mit Blick auf die Geschlechterrollen, eine exe-
getische Herausforderung dar. Es liegen diverse Erklärungsmodelle vor, u. a. die
Konzepte des Liebespatriarchalismus (Theissen 31989a, 268–271) und der norma-
tiven Communitas (Strecker 1999, 407–449). Für Rom wurde auch die parallele
Existenz zweier Gemeindetypen erwogen (Jewett 1993): a) Hausgemeinden mit
Patronen und sozialer Hierarchie; b) Gemeinden in insulae ohne Patrone und mit
egalitärem Ethos (skeptisch Oakes 2009, 70.91 f.). Ungeachtet all dessen spiegelt
sich in der Konzentration der paulinischen Mission auf Städte die große Bedeu-
tung der Urbanität in der römisch-hellenistischen Kultur. Der Christusglaube
sollte diesbezüglich jedoch eine gewisse Reserve wahren (1Kor 6,1–8; 7,29–31),
ohne sich abzuschotten (1Kor 7,12–16; 10,27). Auch wenn Spannungen zur Polis-
religion und zum Hauskult nicht eigens expliziert werden, ist klar, dass der Chris
tusglaube die Lokalbindung antiker religiöser Praktiken transzendierte: Ort reli-
giöser Identität ist bei Paulus weder das »jetzige Jerusalem« noch ein irdisches
Gemeinwesen, sondern das »obere Jerusalem« bzw. das »Politeuma in den Him-
meln« (Gal 4,25; Phil 3,20).
Gehring, Roger W.: Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausge-
meinschaften – von Jesus bis Paulus, Gießen 2000.
Klauck, Hans-Josef: Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum (SBS 103), Stutt-
gart 1981.
Meeks, Wayne A.: Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemein-
den, Gütersloh 1993.
Christian Strecker
von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die sich in den Paulusbriefen finden, so-
dann um die Personen selbst, des Weiteren um die Aufgaben, die sie wahrnah-
men, und schließlich um die Gestalt der Zusammenarbeit.
Paulus benennt jene Personen, die zu der von ihm ausgehenden Verkündigung
des Evangeliums in irgendeiner Weise beitrugen, recht unterschiedlich, wobei die
einzelnen Ausdrücke allerdings nicht genau abgegrenzten Funktionen zuzuord-
nen sind (so allerdings Ellis 1971, 437–452).
»Mitarbeiter« und »Mitarbeiterin«: Der Begriff »Mitarbeiter« entspricht dem
griechischen συνεργός (zwölfmal in den sicher echten Paulusbriefen, darüber hi-
naus in Kol 4,11; 3Joh 1,8). Der Ausdruck wird von Paulus unterschiedlich ge-
braucht: Zum einen versteht er sich selbst – gemeinsam mit anderen (etwa mit
Apollos) – als Mitarbeiter Gottes (1Kor 3,9). Das ist nicht im Sinne einer Koope-
ration von Gott und Apostel zu lesen, sondern – wie das in 1Kor 3,6–8 verwende-
te Bild vom Ackerbau zeigt – in Bezug auf die Evangeliumsverkündigung, deren
Gelingen ausschließlich von Gott bewirkt wird (vgl. Phil 2,13). »Mitarbeiter«
meint hier also denjenigen, der an Gottes Stelle arbeitet (vgl. 2Kor 5,20), von die-
sem aber in allem abhängig ist. Auch Timotheus wird in diesem Sinn als Mitar-
beiter Gottes bezeichnet (1Thess 3,2). Damit ist auch ein gewisser Autoritätsan-
spruch verbunden (2Kor 6,1): Mitarbeitenden und sich Mühenden soll man sich
unterordnen (1Kor 16,16).
In 2Kor 1,19.24 schließt sich Paulus mit Timotheus und Silvanus als Mitarbeiter
zusammen, die nicht nach Herrschaft über die Gemeinde trachten, sondern an
ihrer Freude arbeiten. Entsprechend heißt es von Timotheus, dass er in derselben
Weise am Werk des Herrn mitwirke wie Paulus selbst (1Kor 16,10).
Zumeist schreibt Paulus aber von seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen:
Epaphroditus (Phil 2,25), Klemens und andere (Phil 4,3), Markus, Aristarch, De-
mas und Lukas (Phlm 24; vgl. Kol 4,11), Priszilla und Aquila (Röm 16,3), Timo-
theus (Röm 16,21) und wohl auch Titus (2Kor 8,23) ordnet er ausdrücklich seiner
Person zu. Philemon (Phlm 1) und Urbanus (Röm 16,9) werden als »unsere Mit-
arbeiter« bezeichnet. Diese Zuordnung macht doch sehr wahrscheinlich, dass
Paulus das Verhältnis als hierarchisches verstand (anders Ollrog 1979, 67–72:
Der Begriff sei stets auf das gemeinsame Werk ausgerichtet.).
Apostel: Einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen werden als Apostel bezeich-
net, wobei Silvanus und Timotheus konkret mit Paulus unterwegs waren (1Thess
2,7). Epaphroditus war ein Gemeindeapostel (Phil 2,25), wie sie in 2Kor 8,23 für
die Kollektendelegation genannt werden (vgl. auch 1Kor 12,28). Andronikus und
Junia (Röm 16,7), Barnabas (1Kor 9,1–6) und Apollos (1Kor 4,9) waren unabhän-
gig von Paulus als Apostel tätig.
Bezeichnungen, die eine enge Beziehung beschreiben: Gerne greift Paulus Aus-
drücke aus dem Wortfeld der Familie auf. Vielfach findet sich die Bezeichnung als
II. Mission 245
ber (ξένος [Röm 16,23]), die Mutter des Rufus sogar seine Mutter (Röm 16,13),
Phoebe seine Patronin (προστάτις [Röm 16,2]).
8. Archippus (Phlm 2; vgl. Kol 4,17): Nach Phlm 2 Mitkämpfer des Paulus (in
Kolossä), nach Kol 4,17 von Christus mit einem Dienst (in der Gemeinde) beauf-
tragt.
9. Aristarch (Phlm 24; vgl. Kol 4,10; Apg 19,29; 20,4; 27,2): Paulus nennt ihn
»meinen Mitarbeiter«. Nach Kol 4,10 f. war er mit Paulus gefangen und Juden-
christ. Die Apostelgeschichte nennt einen Aristarch aus Thessalonich, der in die
Unruhen in Ephesus geriet (19,29) und Paulus bei der Kollektenreise (Apg 20,4)
und nach Rom (Apg 27,2) begleitete.
10. Barnabas (Gal 2,1.9.13; 1Kor 9,6; vgl. Kol 4,10; Apg 4,36; 9,27; 11,22.30; 12,25;
13–15): Barnabas war kein Mitarbeiter des Paulus, sondern wirkte gemeinsam mit
Paulus, aber auch ohne ihn. Öfters wird er als (ein) Lehrer des Paulus verstanden.
Beim Apostelkonvent vertrat Barnabas als Gesandter Antiochiens gemeinsam mit
Paulus die gesetzesfreie Verkündigung unter Nichtjuden (Gal 2,1–10; vgl. Apg
15,1–30). Im Streit über die Speisegebote schloss er sich aber später der Jerusale-
mer Position an (Gal 2,13). Paulus versteht ihn auch danach weiterhin als Apostel
(1Kor 9,6; vgl. auch Apg 14,4.14). Nach der Apostelgeschichte war er zypriotischer
Judenchrist in Jerusalem (Apg 4,36: Joseph Barnabas) und wohl eine Vermitt-
lungsfigur zwischen Hellenisten und Judäern. Barnabas wird als vorbildlicher
Stifter für die Gemeinschaft dargestellt (Apg 4,36 f.). Die Notiz über seine Einfüh-
rung des Paulus bei den Aposteln in Jerusalem (Apg 9,27) ist wohl unhistorisch.
Später wirkte er in der Gemeinde von Antiochien (Apg 11,22.30; 12,25; 13,1–3), of-
fenbar als ihr Leiter (Apg 13,1 an erster Stelle genannt). Darauf verweist auch der
Ausgang des Konflikts in Antiochien (Gal 2,11–14), da sich die Gemeinde offenbar
seiner und der Position des Petrus anschloss. Von Antiochien brachte er – wahr-
scheinlich ohne Paulus – eine Geldspende nach Jerusalem (vgl. Apg 11,27–30;
12,25). Als Apostel der antiochenischen Gemeinde betrieb er gemeinsam mit Pau-
lus und teilweise mit Johannes Markus die Verkündigung in Zypern und im süd-
lichen Teil Kleinasiens unter Nichtjuden (sog. erste Missionsreise Apg 13 f.).
Wahrscheinlich war Barnabas bei dieser Reise die führende Gestalt (vgl. Apg
14,12). Wegen eines Streits über Johannes Markus, mit dem Barnabas nach Kol
4,10 verwandt war, zerbrach die kollegiale Verkündigungstätigkeit (Apg 15,36–39)
und nach dem antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11–14) trennten sich die Wege
von Barnabas und Paulus endgültig.
11. Chloe (1Kor 1,11): Glaubende aus ihrem Haus berichteten Paulus in Ephesus
von den Spaltungen in der korinthischen Gemeinde. Möglicherweise war sie Lei-
terin einer Hausgemeinde in Korinth.
12. Demas (Phlm 24; vgl. Kol 4,14; 2Tim 4,10): Paulus bezeichnet ihn als Mitar-
beiter, der sich mit ihm in Ephesus (bzw. Rom) befindet (vgl. auch Kol 4,14). Nach
2Tim 4,10 kam er vom Glauben ab und ging nach Thessalonich.
13. Epänetus (Röm 16,5): Der »geliebte Epänetus« gehörte offenbar zu den ers
ten Glaubenden in der Provinz Asia (»Erstling Asiens«).
248 C. Werk
14. Epaphras (Phlm 23; vgl. Kol 1,7; 4,12): Epaphras saß mit Paulus in Ephesus
(bzw. Rom) im Gefängnis. Nach dem Kolosserbrief leitete Epaphras die Gemein-
de in Kolossä.
15. Epaphroditus (Phil 2,25; 4,18): Zur Zeit des Philipperbriefs war Epaphrodi-
tus bei Paulus in Ephesus (bzw. Rom) und sollte den Brief überbringen. Seine
Nachrichten aus der Gemeinde von Philippi, deren Gesandter er war, und sein
Dienst zur Behebung der finanziellen Not des Paulus werden besonders hervor-
gehoben.
16. Erastos (Röm 16,23; vgl. 2Tim 4,20; Apg 19,22): Städtischer Beamter in Ko-
rinth (Röm 16,23). Nach Apg 19,22 wurde er mit Timotheus von Ephesus nach
Makedonien gesandt, nach 2Tim 4,20 blieb er in Korinth.
17. Euodia (Phil 4,2): Wahrscheinlich führendes Mitglied der Gemeinde von
Philippi, das Paulus gesondert (mit Syntyche) zur rechten Gesinnung ermahnt.
Sie »kämpften« mit Paulus in der Verkündigung (Phil 4,3).
18. Fortunatus (1Kor 16,17): Mit Stephanas und Achaikus brachte er Nachrich-
ten aus Korinth zu Paulus nach Ephesus.
19. Gaius (1Kor 1,14; Röm 16,23): Wie Stephanas und Krispus von Paulus in
Korinth getauft und Gastgeber der Gemeinde und des Paulus.
20. Jason (Röm 16,21; vgl. Apg 17,5–9): Judenchrist in Makedonien oder Ko
rinth; nach Apg 17 Gastgeber des Paulus in Thessalonich, der für ihn bürgte.
21. Klemens (Phil 4,3): Mitarbeiter in Philippi.
22. Krispus (1Kor 1,14; vgl. Apg 18,8): Von Paulus in Korinth getauft, nach Apg
18,8 Vorsteher der Synagoge, also Judenchrist. Die Nennung durch Paulus und die
Notiz in der Apostelgeschichte lassen erkennen, dass Krispus eine bedeutende
Stellung in der Gemeinde von Korinth hatte.
23. Luzius (Röm 16,21): Judenchrist in Makedonien oder Korinth. Möglicher-
weise identisch mit Lukas, da dies die griechische Form des Namens ist.
24. Lukas (Phlm 24; vgl. Kol 4,14; 2Tim 4,11): Einer der Mitarbeiter in Ephesus
(bzw. Rom); nach Kol 4,14 Arzt und nach 2Tim 4,11 der letzte treue Begleiter des
Paulus. Möglicherweise identisch mit Luzius, da dies die lateinische Form des
Namens ist.
25. Markus/Johannes Markus (Phlm 24; vgl. Kol 4,10; 2Tim 4,11; Apg 12,12.25;
13,5.13; 15,37.39; 1Petr 5,13): Entsprechend Phlm 24 einer der Mitarbeiter in Ephe-
sus (bzw. Rom). Laut Kol 4,10 Verwandter des Barnabas, also Judenchrist, und
Gesandter des Paulus nach Kolossä. Nach 2Tim 4,11 bat Paulus um Mitnahme des
Markus. Die Apostelgeschichte lokalisiert Johannes Markus in Jerusalem (Apg
12,12), und stellt ihn als unzuverlässigen Begleiter des Barnabas und Paulus auf
der sog. ersten Missionsreise dar (Apg 13,5.13), der Anlass zum Zerwürfnis zwi-
schen Paulus und Barnabas war (Apg 15,37–39). In 1Petr 5,13 Begleiter des Petrus
in Rom (»Markus, mein Sohn«). Vielleicht handelt es sich dabei aber auch um
verschiedene Personen.
26. Maria (Röm 16,6): Mitglied der römischen Gemeinde, in der sie sich nach
Paulus mit besonderer Anstrengung engagierte.
II. Mission 249
27. Onesimus (Phlm 10; vgl. Kol 4,9): Sklave des Philemon (aus Kolossä), um
dessen Dienst Paulus seinen Herrn bat (Phlm 13). Kol 4,9 setzt die Gewährung
dieser Bitte voraus, sodass Onesimus mit Tychikus als Gesandter nach Kolossä
geschickt wird.
28. Persis (Röm 16,12): Mitglied der römischen Gemeinde, in der sie sich nach
Paulus mit besonderer Anstrengung engagierte.
29. Philemon (Phlm): Leiter einer Hausgemeinde, wahrscheinlich in Kolossä.
Paulus erhob einen Autoritätsanspruch ihm gegenüber (Phlm 8.19.21), lobte aber
auch seinen Einsatz (Phlm 5.7.13). Paulus möchte als sein Partner verstanden wer-
den (Phlm 17).
30. Phoebe (Röm 16,1 f.): Dienerin der Gemeinde in Kenchreä. Ihre Funktion
für Paulus wird als die einer Patronin bezeichnet, die ihn und andere materiell
und vielleicht auch anderweitig unterstützte. Sie war wahrscheinlich Überbringe-
rin des Römerbriefs.
31. Rufus und seine Mutter (Röm 16,13): Rufus wird als Auserwählter bezeich-
net. Anscheinend beherbergte seine Mutter Paulus.
32. Silvanus (1Thess 1,1; 2Kor 1,19; vgl. 2Thess 1,1; 1Petr 5,12; Silas: Apg
15,22.27.32.40; 16,19.25.29; 17,4.10.14 f.; 18,5): Gemeinsam mit Timotheus Mitver-
fasser des 1. Thessalonicherbriefs (so auch im 2. Thessalonicherbrief) und Ver-
kündiger in Korinth (2Kor 1,19). 1Thess 2,7 kann als Hinweis darauf gelesen wer-
den, dass Silvanus für Paulus (wie auch Timotheus) als Apostel galt. Nach 1Petr
5,12 Überbringer des 1. Petrusbriefs. Mit dem semitischen Namen Silas in der
Apostelgeschichte bezeichnet: Judenchrist aus Jerusalem, der gemeinsam mit Ju-
das Barsabbas den Brief mit dem Aposteldekret überbringt. Anschließend Beglei-
ter des Paulus auf der folgenden Reise (Apg 15,40–18,17), ausdrücklich genannt in
Philippi (Gefangenschaft), Thessalonich, Beröa und Korinth, wo er zum letzten
Mal erwähnt wird (Apg 18,5).
33. Sosipater (Röm 16,21): Judenchrist in Makedonien oder Korinth; vielleicht
identisch mit Sopater (Apg 20,4).
34. Sosthenes (1Kor 1,1; vgl. Apg 18,17): Mitverfasser des 1. Korintherbriefs.
Nach der Apostelgeschichte Vorsteher der Synagoge von Korinth, möglicherweise
ist dies aber eine andere Person.
35. Stachys (Röm 16,9): Wird von Paulus besonders geschätzt (»mein geliebter
Stachys«), zur Zeit des Römerbriefs in Rom.
36. Stephanas (1Kor 1,16; 16,15.17): Wurde von Paulus zu Beginn von dessen
Wirken in der Provinz Achaia mit seiner Hausgemeinschaft getauft (»Erstling
Achaias«) und diente der Gemeinde, woraus sich für Paulus eine Gehorsams-
pflicht der Gemeinde ergibt (1Kor 16,16.18). Nach 1Kor 16,17 kam er mit Fortuna-
tus und Achaikus zu Paulus nach Ephesus.
37. Syntyche (Phil 4,2): Wahrscheinlich führendes Mitglied der Gemeinde von
Philippi, das Paulus gesondert (mit Euodia) zur rechten Gesinnung ermahnt. Sie
»kämpften« mit Paulus in der Verkündigung (Phil 4,3).
38. Tertius (Röm 16,22): Schreiber des Römerbriefs.
250 C. Werk
39. Timotheus (1Thess 1,1; 3,2.6; 1Kor 4,17; 16,10; 2Kor 1,1.19; Phil 1,1; 2,19; Phlm
1; Röm 16,21; vgl. Kol 1,1; 2Thess 1,1; 1.2Tim; Hebr 13,23; Apg 16,1; 17,14 f.; 18,5; 19,22;
20,4): Timotheus war wahrscheinlich der engste Mitarbeiter des Paulus. Er war
Mitverfasser des 1. Thessalonicherbriefs (gemeinsam mit Silvanus; so auch im 2.
Thessalonicherbrief), des 2. Korinther-, des Philipper- und des Philemonbriefs
(so auch im Kolosserbrief). Paulus bezeichnet ihn als Mitarbeiter Gottes (1Thess
3,2) bzw. als seinen Mitarbeiter (Röm 16,21), als Knecht Jesu Christi (Phil 1,1) oder
einfach als Bruder (1Thess 3,2; 2Kor 1,1; Phlm 1; vgl. Hebr 13,23). 1Thess 2,7 kann
als Hinweis darauf gelesen werden, dass Timotheus für Paulus (wie auch Silva-
nus) als Apostel galt, da hier an die Erstverkündigung in Thessalonich erinnert
wird, bei der beide dabei waren (vgl. auch 2Kor 1,19). Das besondere Verhältnis zu
Paulus wird in 1Kor 4,17 deutlich (»mein geliebtes und treues Kind im Herrn«;
vgl. 1Tim 1,2; 2Tim 1,2). Paulus lobt seinen Einsatz in der Verkündigung (1Kor
16,10; 2Kor 1,19; Phil 2,22) und seine Sorgen für die Gemeinden (Phil 2,20). Als
Gesandter des Paulus wird er in 1Thess 3,2–6; 1Kor 4,17; 16,10 f.; Phil 2,19 genannt.
In Hebr 13,23 erscheint er als Gefangener, im 1. und 2. Timotheusbrief ist er v. a.
Gemeindeleiter und Bewahrer der paulinischen Tradition. Die Apostelgeschichte
berichtet über den aus Lystra stammenden Timotheus von einem griechischen
Vater und einer jüdischen Mutter (vgl. 2Tim 1,5) und der Beschneidung durch
Paulus (Apg 16,1–3), wobei Letzteres wahrscheinlich nicht historisch ist (vgl. da-
gegen etwa 1Kor 7,18). Als Begleiter auf der Reise bis Korinth wird er nur in Beröa
erwähnt (Apg 17,14 f.; anders 1Thess 3,1–6), dann in Korinth (Apg 18,5). Mit Eras
tos wird er nach Makedonien geschickt (Apg 19,22) und ist dann Teil der Kol-
lektendelegation (Apg 20,4).
40. Titus (Gal 2,1.3; 2Kor 2,13; 7,6.13 f.; 8,6.16.23; 12,18; vgl. 2Tim 4,10; Tit 1,4):
Paulus nahm den Antiochener Titus nach Jerusalem zum Apostelkonvent mit,
um an und mit dem nicht-jüdischen Christen die Beschneidungsfreiheit exem-
plarisch zu verteidigen. Erst später, wahrscheinlich nach dem antiochenischen
Konflikt (Gal 2,11–14), gehörte er auch außerhalb Antiochiens zu den Mitarbei-
tern. Titus wird bezeichnet als Bruder (2Kor 2,13) sowie als Partner und Mitarbei-
ter (2Kor 8,23). Paulus sorgte sich um ihn (2Kor 2,13; 7,6 f.). Titus berichtete von
der Versöhnung mit der korinthischen Gemeinde (2Kor 7,7.13 f.) und hatte selbst
eine besondere Beziehung zu ihr (2Kor 7,15; 8,16 f.; 12,18). Dies betraf v. a. die Kol-
lektensammlung (2Kor 8,6). Laut 2Tim 4,10 ging er nach Dalmatien, der Titus-
brief präsentiert ihn als Gemeindeleiter und Bewahrer der Paulustradition auf
Kreta.
41. Tryphäna (Röm 16,12): Tryphäna bemühte sich in Rom »im Herrn«.
42. Tryphosa (Röm 16,12): Tryphosa bemühte sich in Rom »im Herrn«.
43. Urbanus (Röm 16,9): Paulus lässt seinem Mitarbeiter in Rom Grüße bestel-
len.
Wahrscheinlich kein Personenname ist σύζυγος (Gefährte; Phil 4,3), sondern
eine lobende Beschreibung eines unbekannten Mitarbeiters, der u. a. Syntyche
und Euodia beistehen soll. Unbekannt sind auch der in 2Kor 8,18–20 erwähnte
II. Mission 251
Bruder, dessen Verdienste um die Verkündigung Paulus ausführlich lobt und der
offenbar von den Gemeinden Makedoniens zum Reisegefährten des Paulus aus-
gewählt wurde, sowie der Begleiter des Titus (2Kor 8,22 f.; 12,18), den Paulus als
vielfältig erprobt beschreibt und der anscheinend ebenfalls von einer Gemeinde
für die Kollektenreise bestimmt wurde.
Einige Personen, die Paulus in den Grüßen des Römerbriefs nennt, lassen sich
nicht als Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen bestimmen: Aristobul (Röm 16,10),
Asynkritus (Röm 16,14), Hermas (Röm 16,14), Hermes (Röm 16,14), der Juden-
christ Herodion (Röm 16,11), Julia (Röm 16,15), Narzissus (Röm 16,11), Nereus
und seine Schwester (Röm 16,15), Olympas (Röm 16,15), Patrobas (Röm 16,14),
Philologos (Röm 16,15), Phlegon (Röm 16,14) und Quartus (Röm 16,23).
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Apostelgeschichte: Über die bereits in
den authentischen Paulusbriefen Genannten hinaus finden sich in der Apostelge-
schichte folgende Personen:
1. Gaius (Apg 19,29): Reisegefährte des Paulus aus Makedonien, verwickelt in
die Unruhen in Ephesus.
2. Gaius (Apg 20,4): aus Derbe (Galatien/Kommagene); Teil der Kollektende-
legation.
3. Lukius (Apg 13,1): aus Kyrene; einer der Propheten und Lehrer in der antio-
chenischen Gemeinde.
4. Lydia (Apg 16,14.40): Purpurhändlerin aus Thyatira, nicht-jüdische Christin
und Gastgeberin für Paulus, Silas, Timotheus und den »Wir-Autor« der Apostel-
geschichte.
5. Manaën (Apg 13,1): Vertrauter des Herodes Antipas, einer der Propheten
und Lehrer in der antiochenischen Gemeinde.
6. Mnason (Apg 21,16): Zypriote in Cäsarea, der Paulus und die Kollektendele-
gation beherbergt.
7. Philippus (Apg 21,8): Gastgeber des Paulus in Cäsarea; zuvor einer der Hel-
lenisten in Jerusalem (Apg 6,5), Verkündiger des Evangeliums in Samaria (Apg
8,5–13) und der erste, der einen Nichtjuden tauft (Apg 8,26–40).
8. Sekundus (Apg 20,4): aus Makedonien; Teil der Kollektendelegation.
9. Simeon Niger (Apg 13,1): einer der Propheten und Lehrer in der antioche-
nischen Gemeinde.
10. Sopater, Sohn des Pyrrhus (Apg 20,4): aus Beröa; Teil der Kollektendelega-
tion; vielleicht identisch mit Sosipater (Röm 16,21).
11. Titius Justus (Apg 18,7): nicht-jüdischer Christ, der sein Haus in Korinth
zur Verfügung stellte.
12. Trophimus (Apg 20,4; 21,29; vgl. 2Tim 4,20): aus Ephesus; Teil der Kol-
lektendelegation (Apg 20,4) und (vorgeschobener) Anlass für das Vorgehen der
Jerusalemer Führung gegen Paulus (Apg 21,27–29). Nach 2Tim 4,20 blieb er krank
in Milet zurück.
13. Tychikus (Apg 20,4; vgl. Kol 4,7; Eph 6,21; 2Tim 4,12; Tit 3,12): aus der Pro-
vinz Asia; Teil der Kollektendelegation. Kol 4,7–9 (vgl. Eph 6,21; Tit 3,12) nennt die
252 C. Werk
Sendung des Tychikus (gemeinsam mit Onesimus), der als »geliebter Bruder und
treuer Diener und Mitknecht im Herrn« (Kol 4,7) bezeichnet wird.
14. »Wir-Autor« (Apg 16,10–17; 20,5–8.13–15; 21,1–18; 27,1–28,16): In den ange-
führten Passagen der Apostelgeschichte wird der Eindruck erweckt, dass der Ver-
fasser ein Begleiter des Paulus war: zunächst von Troas bis Philippi, dann bei der
Kollektenreise von Philippi bis Jerusalem und schließlich mit dem gefangenen
Paulus von Cäsarea nach Rom. Ob es sich dabei um den Verfasser der Apostelge-
schichte und des Lukasevangeliums (oft auch identifiziert mit Lukas aus Phlm 24;
Kol 4,14; 2Tim 4,11), um ein eingebautes Quellenstück, das auf einen Paulusbe-
gleiter zurückgeht, oder eine literarische Fiktion handelt, ist umstritten.
Personen ohne Funktion in der Verkündigung des Paulus, die in der Apostelge-
schichte erwähnt werden, sind Damaris (Apg 17,34), Dionysios, der Areopagit
(Apg 17,34), Eutychus (Apg 20,9) und Tyrannus (Apg 19,9). Zu nennen sind auch
Agabus (Apg 21,10), der Paulus die Gefangenschaft voraussagt (Apg 21,10–14; vgl.
auch 11,26–30), und Ananias, der Täufer des Paulus (Apg 9,10–17; 22,12). Beide
sind aber deutlich unabhängig von Paulus. Die Abschiedsrede in Milet führt Äl-
teste aus der Gemeinde von Ephesus an (vgl. auch 14,23), die durch den Heiligen
Geist als Aufseher eingesetzt sind. In Apg 20,34 wird die materielle Fürsorge des
Paulus für jene, die bei ihm waren, ausdrücklich erwähnt.
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Deuteropaulinen: Ausschließlich in
den unechten Paulusbriefen finden sich:
1. Alexander (1Tim 1,20; 2Tim 4,14): Nach 1Tim 1,20 ist Alexander wie Hyme-
näus vom Glauben abgekommen. 2Tim 4,14 ergänzt, dass er von Beruf Schmied
und ein Widersacher des Paulus war.
2. Artemas (Tit 3,12): Seine Sendung nach Kreta wird angekündigt.
3. Hermogenes (2Tim 1,15): Soll sich wie auch Phygelus und alle anderen in der
Provinz Asia von Paulus abgewandt haben.
4. Hymenäus (1Tim 1,20; 2Tim 2,17 f.): Ist nach 1Tim 1,20 wie Alexander vom
Glauben abgekommen und lehrte die schon geschehene Auferstehung (2Tim
2,18).
5. Jesus Justus (Kol 4,11): Einer von drei Mitarbeitern »am Reich Gottes« jü-
discher Herkunft, die Paulus nach Kol 4,10 f. noch die Treue hielten. Die beiden
anderen sind Aristarch und (Johannes) Markus.
6. Nympha (Kol 4,15): Leiterin einer Hausgemeinde in Kolossä, Laodikeia oder
Hierapolis.
7. Onesiphoros (2Tim 1,16–18; 4,19): In Rom soll er den gefangenen Paulus un-
terstützt (2Tim 1,16) und in Ephesus der Gemeinde gedient haben (2Tim 1,18), die
sich in seinem Haus versammelte (2Tim 4,19).
8. Philetus (2Tim 2,17 f.): Abgeirrt von der Wahrheit soll er gelehrt haben, dass
die Auferstehung schon geschehen sei (2Tim 2,18).
9. Phygelus (2Tim 1,15): Soll sich wie auch Hermogenes und alle anderen in der
Provinz Asia von Paulus abgewandt haben.
10. Zenas (Tit 3,13): Von Beruf ein Jurist, den Titus unterstützen soll.
II. Mission 253
Reisebegleitung: Reisen bedeutete in der Antike zumeist auch Gefahr, vor allem
über Land (vgl. etwa 2Kor 11,25–27). Befreundete Begleiter und Begleiterinnen
hatten daher eine schützende und wohl auch stützende Funktion. Dabei scheint
es v. a. Timotheus gewesen zu sein, der Paulus beständig begleitete. Vom 1. Thes-
salonicher- bis zum Römerbrief wird er mit Ausnahme des Galaterbriefs in jedem
Brief als bei Paulus anwesend erwähnt. Ihn schätze er daher besonders (vgl. Phil
2,20.22). Silvanus war anscheinend nur bis Korinth dabei (Apg 18,5), bei allen
anderen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen sind nur punktuelle Informationen
verfügbar. Sicherlich war es aber so, dass einige Paulus auf einzelnen Strecken
begleiteten, wie etwa Titus nach Jerusalem (Gal 2,1), Aquila und Priszilla nach
Ephesus (Apg 18,18), Aristarch nach Jerusalem und Rom (Apg 20,4; 27,2) oder die
Kollektendelegation aus Gemeindegesandten (1Kor 16,3; Apg 20,4). Für die Reise
nach Spanien bittet er die römische Gemeinde sogar um eine entsprechende Be-
gleitung (Röm 15,24). Das bedeutet zwar nicht, dass Paulus nie allein reiste (vgl.
1Thess 3,1; Apg 18,1; 20,13b), macht es aber doch unmöglich, von Paulus als einem
Einzelgänger zu sprechen.
Verkündigung: Während der ersten größeren Verkündigungsreise (Apg 13 f.)
scheint Paulus als Mitarbeiter des Barnabas gewirkt zu haben. Man kann dies wie
die späteren Missionsreisen, die Paulus gemeinsam mit anderen unternahm, als
»Partnermission« (Ollrog 1979, 159) oder »Kollegialmission« (Schille 1967) be-
zeichnen. Ein Bezug zur Aussendungsrede Jesu in der Version von Lk 10,1 (Jesus
254 C. Werk
»sandte sie zu je zweit«) lässt sich nicht nachweisen, zumal es ja zumeist mehr als
eine Person war, die mit Paulus unterwegs war.
Bei Paulus kommt die Bedeutung der gemeinsamen Verkündigung dort zum
Ausdruck, wo er vom gleichrangigen Arbeiten am Werk des Herrn (1Kor 16,10)
oder dem Dienst in der Verkündigung »mit mir« (Phil 2,22) schreibt (beide Male
über Timotheus). Ähnliches lässt sich dem 1. Thessalonicherbrief entnehmen, der
in seinem Präskript Paulus, Silvanus und Timotheus gleichwertig nennt (1Thess
1,1). In 1Thess 2,7 verweist Paulus im Plural auf das Wirken der Apostel in Thes-
salonich und meint damit offenbar auch Silvanus und Timotheus. Die Erinne-
rung an die Verkündigung in Korinth (2Kor 1,19) nimmt ebenso die beiden mit
hinein. Auch der unbekannte Bruder aus Makedonien ist hier anzuführen (2Kor
8,18 f.), dessen Verdienste um das Evangelium durch alle Gemeinden gelobt wer-
den. Ein Verweis auf die Verkündigung durch Syntyche, Euodia, Klemens und
andere in Phil 4,2 f. ist eher lokal zu verstehen, da sie nur hier genannt werden.
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Paulus waren nämlich nicht nur jene, die
unterwegs waren, sondern auch in Gemeinden tätige Personen (vgl. auch 1Kor
16,16). Schließlich ist auch für Phoebe, die Diakonin der Gemeinde von Kenchreä
(Röm 16,1), eine Verkündigungstätigkeit durchaus wahrscheinlich. Allerdings
kann man aus der Verwendung von συνεργός (Mitarbeiter) nicht schließen, dass
damit stets die Verkündigung des Evangeliums verbunden gewesen sei (so aller-
dings Ollrog 1979, 63–72).
Erwogen wurde, dass Paulus einzelne Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen als
Missionare für das Umland eingesetzt habe (aaO. 128 f.). Epaphras sei der Grün-
der der kolossischen Gemeinde gewesen, der von Ephesus aus im Auftrag des
Paulus gewirkt habe (Kol 1,7 f.; 4,12 f.). Tatsächlich findet man auch sonst Hinwei-
se darauf, dass von Gemeinden aus das Evangelium weiter verbreitet wurde
(1Thess 1,8; vgl. auch 1Kor 14,20–25; Phil 4,5), doch scheint das in der Verantwor-
tung der Gemeinde geschehen zu sein, nicht auf Anordnung des Paulus. Eine ge-
zielte Sendung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zur Gründung von Ge-
meinden lässt sich nicht belegen (Reinbold 2000, 224 f.).
Gesandte und Boten: Überaus häufig ist in den Paulusbriefen die Rede von der
Sendung von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen bzw. von deren Rückkehr und
Berichten. Da Briefe durch persönliche Boten überbracht wurden, ist dies nur
selbstverständlich, zumal diese die Aufgabe hatten, die Aussagen zu erläutern und
weitere Auskünfte zu geben. Zwei Formen von Sendungen sind grundsätzlich zu
unterscheiden, nämlich jene, die von Paulus ausgingen, und jene, für die die Ge-
meinden selbst verantwortlich waren.
Vor allem zwei Mitarbeiter hat Paulus öfters als Gesandte eingesetzt: Timo-
theus und Titus. Aus 1Thess 3,2–6 wird erkennbar, dass es dabei in erster Linie
darum ging, die Gemeinden in der Abwesenheit des Paulus zu betreuen und
Nachrichten über deren Ergehen zu erhalten. Ähnlich ist der Fall für Korinth,
wobei Timotheus von Paulus als sein bevollmächtigter Stellvertreter vorgestellt
wird, der die Gemeinde an die Weisungen des Paulus erinnern soll (1Kor 4,17).
II. Mission 255
Für Philippi steht besonders der Wunsch nach Nachrichten hinter der geplanten
Sendung des Timotheus (Phil 2,19–23), wobei hier auch deutlich wird, dass Pau-
lus eigentlich lieber selbst kommen würde (Phil 2,24; ähnlich auch 1Thess 2,18).
Timotheus, sein engster Mitarbeiter, sollte v. a. Paulus vertreten.
Die Reisetätigkeit des Titus als Gesandter des Paulus orientierte sich an Korinth:
Paulus verweist auf die guten Nachrichten aus Korinth (2Kor 7,6 f.13 f.), die Titus
ihm nach Makedonien brachte, vielleicht auch implizierend, dass Titus für die
Versöhnung zwischen Paulus und der Gemeinde einiges beitrug. Aus Makedonien
sandte Paulus ihn erneut, um die Kollekte für Jerusalem, bei deren Vereinbarung
Titus anwesend war (Gal 2,1–10), in Korinth zusammen mit zwei namenlosen
Brüdern zu gewährleisten (2Kor 8,6.16 f.18–23; 12,18). Titus ist dabei sein Mitarbei-
ter, der im selben Geist handelt wie Paulus (2Kor 12,18). Auch hier ist Paulus die
Übereinstimmung wichtig, denn Titus soll ja die paulinischen Anliegen in Ko
rinth vertreten. In der Apostelgeschichte und den Deuteropaulinen werden darü-
ber hinaus Sendungen weiterer Personen genannt (Apg 19,22; Kol 4,7–10 u. ö.).
Die Grüße, die Paulus am Ende der Briefe ausrichten lässt, lassen über konkrete
Aufträge hinaus Beziehungen erkennen, deren Entstehung und genaue Gestalt
uns oft verborgen bleiben. Auch die Briefüberbringer wie Epaphroditus (Phil
2,25) und Phoebe (Röm 16,1 f.) waren de facto Gesandte des Paulus, die seine An-
liegen vor die Gemeinden brachten. Paulus suchte beständig von sich aus oder als
Reaktion auf (beunruhigende) Nachrichten den Kontakt zu den Gemeinden.
Auch umgekehrt wird aus den Briefen deutlich, dass die Gemeinden durch Ge-
sandte die Verbindung zu Paulus herstellten, in Streitfällen (1Kor 1,11; vgl. 16,17 f.),
zur Übermittlung von materieller Unterstützung (2Kor 11,9; Phil 2,25; 4,18) oder
als Begleitung für die Kollekte (1Kor 16,3; 2Kor 8,23; 9,3.5; 12,17; vgl. Apg 20,4). Sie
sind Gemeindeapostel (2Kor 8,23; vgl. Phil 2,25), Abgesandte einer bestimmten
Gemeinde zu einem bestimmten Zweck. Das schließt eine Verkündigungstätig-
keit nicht aus (vgl. 2Kor 8,18), aber auch nicht unbedingt ein.
Dieses Netzwerk, dessen wahrscheinlich nur schwaches Abbild wir in den Pau-
lusbriefen erkennen können, war für das Funktionieren des Verkündigungs-
werkes von existentieller Bedeutung. Wahrscheinlich führte Paulus damit weiter,
was ihm schon aus der Zeit in Antiochien vertraut war, nun aber in einem größe-
ren geographischen Umfeld. Anscheinend war er auch nicht der Einzige, der in
dieser Weise arbeitete (vgl. Gal 2,12; 1Kor 16,12; 2Kor 3,1; 11,4.13).
Briefe: Die meisten Paulusbriefe sind nach Ausweis des Präskripts nicht von
Paulus allein, sondern auch von Mitarbeitern verfasst (1Kor: Sosthenes; 2Kor:
Timotheus; Gal: alle Brüder; Phil: Timotheus; 1Thess: Silvanus und Timotheus;
Phlm: Timotheus). Überdies verwendet Paulus in seinen Briefen sehr häufig Plu-
ralformen, deren Bedeutung in der Exegese freilich umstritten ist. Hinsichtlich
der Mitarbeiter ist erwogen worden, dass Paulus einige seiner Briefe ganz bewusst
als Schreiben seines »Missionswerks« verstand. Die in den Präskripten genannten
Mitarbeiter wären daher auch als Mitverfasser zu verstehen (Ollrog 1979, 183–
189; Müller 1998, 199–201; Loubser 2000, 331–340). Mag man auch nicht so weit
256 C. Werk
gehen, so ist doch schon allein die Tatsache, dass Paulus mehrere Verfasser an-
führt, ein deutlicher Hinweis darauf, dass er die Briefe – mit Ausnahme des Rö-
merbriefs – an die Gemeinden im Kontext seines Teams verfasste und auch als
Mitteilungen der Verkündigungsgemeinschaft verstanden wissen wollte.
Der Apostel Paulus hatte fast zeitlebens mit Gegnern zu kämpfen. In den sieben
ihm zuzuschreibenden Briefen sind sie im 1. und 2. Korintherbrief sowie im Ga-
later-, Römer- und Philipperbrief zu finden. Die Entstehungszeit der Briefe ist
unsicher, die genannte Reihenfolge könnte dem historischen Ablauf entsprechen
(ca. 52–57 n.Chr.), wobei man durchaus manche Überschneidungen in Kauf neh-
men kann. Die Nebeneinanderstellung der beiden Korintherbriefe sowie des Ga-
later- und Römerbriefs ist zudem sachlich angezeigt.
Ein gravierendes hermeneutisches Problem besteht in der Rekonstruktion der
Positionen der diversen Gegner. Wir haben nur die Angaben des Paulus zur Ver-
fügung. Er hatte es jeweils nicht nötig, den Adressatinnen und Adressaten ein
genaues Bild der bei ihnen aufgetretenen Gegner zu zeichnen. Er war zudem Par-
tei und gar nicht daran interessiert, die Gegner differenziert und »objektiv« dar-
zustellen. Ihre Positionen werden deshalb nur fragmentarisch erkennbar und
sind nur sehr hypothetisch zu rekonstruieren. Zudem ist zu unterscheiden zwi-
schen Leuten, die Paulus’ Autorität infrage stellen (d. h. im eigentlichen Sinn Geg-
nern) und Leuten, die eine von Paulus (mehr oder minder) abweichende Position
vertreten, ohne sich als ausgesprochen antipaulinisch zu verstehen. Die Grenze
dürfte freilich fließend sein.
Auf die Apostelgeschichte braucht nicht näher eingegangen zu werden. Abgese-
hen von den judaistischen Gegnern in Antiochien und auf dem Konvent (Apg 15;
vgl. Gal 2) handelt es sich, wie es scheint, in der Darstellung der Missionsreisen
jeweils um Juden, die ortsansässige Bevölkerung oder städtische und staatliche
Behörden. Ein essentieller Beitrag für die Positionierung der innergemeindlichen
Gegner, wie sie in den Briefen auftauchen, ist hier nicht zu erwarten.
liche Aspekte nicht erkennbar sind, dürfte diese Gruppe (falls existent) jedenfalls
nicht zu den Paulusgegnern gehört haben.
Das gilt in ganz anderer Weise für die beiden anderen Parteien, wobei aller-
dings zwischen ihnen und ihren Häuptern zu differenzieren ist.
Wenn man an die für Paulus höchst unangenehme Konfrontation mit Kephas
Gal 2,11–14 denkt, ist es erstaunlich, dass sich im 1. Korintherbrief kein böses Wort
gegen ihn findet. Außer an den schon genannten Stellen 1,12; 3,22 taucht Kephas
noch in 9,5 (als Missionar) und in 15,5 (als Empfänger der ersten Christophanie)
auf. Ob er in Korinth war, ist ganz unsicher. Seine persönliche Anwesenheit ist für
die Gruppenbildung nicht nötig. Sein Name war bekannt genug, um sich ihm
verbunden zu wissen. Vielleicht ist auch an Gemeindeglieder zu denken, die aus
petrinischen Missionsgebieten (besonders Antiochien) zugewandert waren. Von
Gal 2,11–14 aus könnte man annehmen, dass seine Parteigänger von Judenchristen
eine etwas strengere Toraobservanz verlangten. Dass sie auch die Einhaltung des
wohl im Anschluss an den antiochenischen Zwischenfall formulierten Apostelde-
krets (Apg 15,20 u. ö.) verlangten, ist eher unwahrscheinlich, da Paulus in 1Kor
8–10 nicht darauf zu sprechen kommt.
Wesentlich umfassender scheint sich Paulus mit der Apollospartei zu beschäf-
tigen. Zu Apollos selbst hat er ebenfalls nichts Negatives zu sagen. Er erkennt ihn
als (selbstständigen) Mitarbeiter an (3,5–9; 4,6; 16,12). Die umfassenden Ausfüh-
rungen bezüglich der Weisheit in 1Kor 1–4 könnten aber mit der Apollospartei zu
tun haben. Nach Apg 18,24 f. stammte Apollos aus Alexandrien und war rheto-
risch gebildet, schriftkundig und pneumatisch begabt. Seine Anhänger könnten
ein eher elitäres, weisheitliches sowie enthusiastisch-pneumatisches Christentum
vertreten haben. Denkbar wären Bezüge zu den Enthusiasten (1Kor 6,12–20;
10,23), den Starken (8–10), den Pneumatikern (12–14) und den Vertretern einer
präsentischen Eschatologie (15,12). Paulus wäre ihnen mit seiner Betonung der
Kreuzestheologie, einer verantwortlichen Ethik sowie der apokalyptischen Escha-
tologie entgegengetreten. Alle diese Themen sind nicht notwendigerweise mit
einem grundsätzlichen Angriff auf die Arbeit des Paulus verbunden. Angriffe
sind weniger die Hinweise auf die rhetorischen Fähigkeiten des Apostels (2,1)
oder sein äußerlich zurückhaltendes Auftreten (4,9 f. u. ö.). Eher schon sind es das
lieblose Aburteilen seiner Person (4,3) und besonders der in 9,1–18 attackierte
Verzicht auf Unterhalt durch die Gemeinde, der ihm als Mangel an apostolischer
Vollmacht ausgelegt wird – hier ist mit Fug und Recht von Gegnern zu reden,
denn diese Leute greifen ihn mit diesem Vorwurf grundsätzlich an. Entsprechend
bietet er in diesem Abschnitt eine sehr emotionale Beschreibung seines aposto-
lischen Dienstes: Er redet vom Zwang zur Verkündigung und von seinem ange-
strengten Bemühen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die Predigt des
Evangeliums zum Erfolg werden zu lassen.
Die Gegner mit der werdenden Gnosis in Verbindung zu bringen, ist in der
Frage der religionsgeschichtlichen Einordnung eher kontraproduktiv, da diese
besonders im 2. Jh. auftretende Strömung dabei zu undifferenziert in die Zeit des
II. Mission 259
Aufgrund diverser Spannungen wird der 2. Korintherbrief von vielen Exegeten als
Komposition verschiedener, ursprünglich selbstständiger Briefe verstanden. Ob
die für die Gegnerfrage relevanten Abschnitte 2,14–7,4 und 10,2–13,10 allerdings
zwei verschiedenen Briefen zuzurechnen sind, bleibt dann immer noch die Frage.
Sie gehören in ihrer Gesamttendenz allerdings so eng zusammen, dass eine Ent-
wicklung gegnerischer Positionen kaum greifbar ist. Deshalb hat diese Frage in
unserem Kontext keine wirkliche Relevanz und die Abschnitte können zusam-
men genommen werden.
Die Gegnerfrage ist im 2. Korintherbrief wesentlich virulenter als im 1. Korin-
therbrief. Die dort noch relativ zurückhaltend vorgetragenen persönlichen Atta-
cken gegen Paulus nehmen hier ganz entscheidend zu und zwingen ihn zur Ge-
genwehr, die auch vor scharfer Polemik nicht zurückscheut.
Die Gegner werden durch eine Reihe von Aussagen gekennzeichnet. Sie kom-
men von außen (11,4), sind judenchristlicher Herkunft (11,22), verstehen sich als
Diener Christi und damit als die wahren Apostel (10,7; 11,4 f.13; 12,11), sie besitzen
Empfehlungsbriefe (3,1; 10,12.18), sie beanspruchen das Aposteln zustehende
Recht auf Unterhalt (2,17; 11,7–11; 12,13 f.), sie betonen ihre rhetorische Begabung
und ihre Weisheit (10,10; 11,6), v. a. aber ihre Offenbarungen (12,1–6) und ihre
Wundertaten (12,12). Sie untergraben in alldem die Autorität des Paulus, ein Pro-
zess, der schon im 1. Korintherbrief einsetzte und jetzt massiv verstärkt wird. Bei
Paulus vermissen sie die eigenen großartigen Eigenschaften: Er ist in seinem Auf-
treten schwach (10,1.10), ein schlechter Redner (11,6), sein Verzicht auf Unterhalt
ist nur Hinterhältigkeit (12,16 f.), er ist ein Betrüger (12,16 f.), ihm fehlen die Zei-
chen eines Apostels, machtvolle Taten (12,12), mit anderen Worten: er ist kein
Pneumatiker, sondern nur ein gewöhnlicher Christ (10,2).
Paulus setzt sich ebenso heftig zur Wehr: Er wirft ihnen die Predigt eines ande-
ren Jesus, die Vermittlung eines anderen Geistes, mit einem Wort: ein anderes
Evangelium vor (11,4). Es handelt sich dabei selbstverständlich nicht um eine an-
dere Akzentuierung des einen Evangeliums, sondern um etwas Fremdes und
grundsätzlich Abzulehnendes. Die Gegner sind dementsprechend in seinen Au-
gen nicht tolerabel, sie sind »Überapostel« (11,5), falsche Apostel und betrüge-
rische Arbeiter (Missionare), die sich nur als Apostel Christi verkleiden, in mythi-
scher Überhöhung: Sie sind Satansdiener (11,13–15). Eine schärfere Polemik ist
schwer denkbar. Paulus ist emotional außerordentlich engagiert, er trägt den Ver-
gleich mit den Gegnern in der sog. Narrenrede 10,12–12,18 in beißender, karikie-
render Ironie vor und straft sie auch, indem er vermeidet, ihr Namen zu nennen.
260 C. Werk
Die Schärfe der Polemik ist nicht dazu angetan, ein plausibles Bild der Gegner
zu erhalten. Auch ist die Frage, inwieweit in einem mirror reading, also indirekt
aus der Darstellung der eigenen Position die der Gegner zu eruieren ist. Einige
Grundzüge dürften aber von hier aus erkennbar sein: die starke Betonung der
Präsenz des Kyrios im Leiden (4,7–5,10 u. ö.) durch Paulus lässt auf eine Herrlich-
keitschristologie der Gegner schließen. Dass die Kraft Christi gerade in der
Schwachheit und Hinfälligkeit wirksam wird und diese Gnade genug ist für das
ganze Leben (12,9), ist eine Erfahrung, die die prahlerische Selbstdarstellung der
Gegner ad absurdum führt. Nicht Selbstgenügsamkeit predigt hier Paulus, son-
dern das Wissen, dass es immer die göttliche Kraft ist, die von außen kommt und
die er in seinem apostolischen Dienst als Dienst der Versöhnung beschreibt (5,11–
6,10). Die Peristasenkataloge (4,7–10; 6,4–10; 11,23–27) sind ein bewegendes Zeug-
nis der Verwirklichung der apostolischen Aufgabe gerade in den vielfältigsten
und härtesten Bedrängnissen.
Die religionsgeschichtliche Einordnung der Gegner ist infolge der selektiven,
polemischen und indirekten Darstellungsweise nur beschränkt möglich, sodass
verständlicherweise verschiedene Lösungen genannt werden, die jeweils manches
für sich haben, ohne deshalb schon zu überzeugen. So ist gegen die Judaistenthe-
se einzuwenden, dass die Beschneidungsforderung gerade fehlt. Das Gesetz
kommt im 2. Korintherbrief überhaupt nicht vor, obwohl Paulus den Dienst des
Apostels dem des Moses kontrastiert (3,7–4,6). Für die Gnostikerthese in ihren
verschiedenen Varianten gilt das zum 1. Korintherbrief Gesagte. Libertinismus ist
jedenfalls nicht festzustellen. Ein näherer Bezug zur Urgemeinde ist trotz der vo-
rausgesetzten judenchristlichen Herkunft ebenfalls nicht feststellbar, nicht ein-
mal zum Stephanuskreis. Auch der Bezug auf die hellenistischen Gottesmänner
darf nicht zu einseitig gesehen werden, gerade wegen des judenchristlichen Ein-
schlags. Die Gegner sind jedenfalls judenchristliche Wandermissionare mit einem
hohen Selbstbewusstsein und einem enthusiastischen Lebensgefühl, das die oft
leidvollen Bedingungen des Lebens allzu leichtfertig überspringt. Die theologia
crucis des 1. Korintherbriefs ist ihnen fremd und das daran anknüpfende Selbst-
verständnis des Paulus passt so gar nicht zu ihrer eigenen Auffassung vom Christ-
Sein, sodass sie meinen, der paulinischen Gemeinde Korinth das bringen zu müs-
sen, was Paulus ihr schuldig geblieben ist. Dass sie dabei den Nerv der pauli-
nischen Theologie und sein Selbstverständnis treffen, ist ihnen zunächst vielleicht
gar nicht deutlich bewusst gewesen. Möglicherweise sind sie erst in Korinth zu
expliziten Paulusgegnern geworden, und Paulus hat erst in der Replik darauf ihr
Bild noch schärfer gezeichnet, als sie das selbst gesehen haben.
4.3. Galaterbrief
Ein Paulus emotional besonders aufwühlender Brief ist der an die Galater (wie
schon die ungewöhnliche Einleitung des Proömiums 1,6 zeigt). Ob die galatischen
Gemeinden in Nordgalatien zu Hause sind, wie traditionell meist angenommen
II. Mission 261
wurde, oder eher im Süden, eine These, die in neuerer Zeit auch in der deutsch-
sprachigen Exegese wieder Zuspruch findet, ist in der Frage der Auseinanderset-
zung mit den Gegnern sekundär. Die Zeit der Abfassung des Briefes, das Profil der
Gegner und die Argumentation des Paulus ändern sich dadurch nicht.
Die Gegner kommen offenbar von außen und bringen Verwirrung in die Ge-
meinde. 3,1 redet von verzaubern, verhexen. Wir kennen ihre Namen nicht – ein
Aspekt polemischer Auseinandersetzung mit ihnen. Auch die genaue Herkunft ist
unbekannt. Sie bringen ein anderes Evangelium (1,6), das Paulus insgesamt strikt
zurückweist. Konkret erkennbar sind nur die Forderungen der Beschneidung und
eines Festkalenders.
Anders als bei den Gegnern in Korinth geht es bei denen in Galatien vorrangig
um die Forderung der Beschneidung der Heidenchristen (2,3; 5,2–6; 6,12–15). Das
heißt, sie vertreten die Auffassung, dass zum rechten Christ-Sein die Eingliede-
rung in das Bundesvolk Israel nötig ist. Damit ist noch nicht gesagt, wie streng die
verlangte Gesetzesobservanz ist. In 6,13 wirft ihnen Paulus vor, sie hielten selber
das Gesetz nicht. Auch das Zitat von Dtn 27,26 in 3,10 dürfte voraussetzen, dass sie
nicht strengster Art war, weder in Bezug auf die Heidenchristen noch auf sie
selbst: der Fluch richtet sich dort nur gegen die, die das Gesetz nicht total erfüllen
(vgl. Jak 2,10), bei totaler Erfüllung wäre er aber nicht gegeben. Dass Paulus diese
totale Gesetzeserfüllung nicht voraussetzt, führt er in Röm 1–5 deutlich genug aus.
Zur Beschneidung kommt als weitere konkrete Forderung nur noch die der
Einhaltung eines bestimmten Festkalenders: 4,10 nennt bestimmte Tage, Neu-
monde, Festzeiten und Neujahrstage. Die Beobachtung bestimmter Zeiten ist
auch in der Apokalyptik (1Hen 82,4–20 u. ö.) bzw. Qumran (1QS 9,26–10,8 u. ö.)
belegt. In 4,3.8–11 bezeichnet Paulus solche Verhaltensweisen als Dienst an den
Weltelementen. Ob hier ein Astralkult nach Art von Kol 2,8–23 vorliegt, ist um-
stritten. Die Differenz in der Terminologie (Kol 2,16: Feste, Neumonde, Sabbate)
spricht nicht dafür, auch ist in (Nord)Galatien kein Astralkult bezeugt. Beim Hin-
weis auf die Weltelemente könnte es sich mindestens ebenso gut um eine theolo-
gische Kritik des Paulus handeln: Der Rückfall in die Gesetzesobservanz ist
gleichbedeutend mit einer Rückkehr zu den Göttern, die in Wirklichkeit keine
sind (4,8).
Die Gegner scheinen sich nicht als Feinde des Paulus zu verstehen. Eine expli-
zite Kritik an seiner Person und seinem Auftreten (wie in Korinth) tragen sie
nicht vor. In der Verkündigung eines anderen Evangeliums kritisieren sie seine
Arbeit aber insofern, als sie diese als unzureichend betrachten und durch die Ein-
führung des Gesetzes vervollständigen wollen. Paulus’ Apostolat sei nur mensch-
licher Art (1,12), und er könne dementsprechend auch nur Menschen beeindru-
cken (1,10). Paulus sieht diese Diminuierung seiner Arbeit freilich als grundsätz-
lichen Angriff auf das ihm seit seiner Christophanie aufgetragene Evangelium
(1,16 f.) und reagiert dementsprechend scharf. Das ist v. a. auch deshalb nötig, weil
der Erfolg dieser Leute für Paulus’ Arbeit in Galatien existenzbedrohend gewor-
den ist (1,6; 3,1 u. ö.).
262 C. Werk
4.4. Römerbrief
In Röm 16,17 warnt Paulus vor Leuten, die Zwietracht säen und eine Falle aufstel-
len, um von der rechten, tradierten Lehre abzubringen. Sie dienen nicht Christus,
sondern verführen durch gekonnte Rhetorik und dienen bei alledem nur sich
selbst (ihrem eigenen Bauch). Gott wird aber den Satan in Kürze besiegen, d. h.
diese Leute sind Satansdiener.
Eine genauere inhaltliche Bestimmung erfolgt nicht. Die Aussagen haben am
Ende des Briefes gewiss auch topischen Charakter. Doch sind sicher reale Gegner
gemeint, denn der ganze Brief setzt sie als schon jetzt oder in naher Zukunft an-
wesend voraus: nach Röm 15,25–32 will Paulus noch vor der geplanten Spanien-
mission (15,23 f.) nach Jerusalem reisen, um die Kollekte abzuliefern. Er bittet
angesichts der Schwierigkeiten dieser Mission die römische Gemeinde um ihre
Fürbitte und wohl auch um ein gutes Wort, damit er vor den Ungehorsamen in
Judäa gerettet wird. Im Laufe seiner Tätigkeit sind Paulus Gegner entgegengetre-
ten, die einen mehr oder minder engen Bezug zu Jerusalem hatten. In Apg 21,20 f.
weist der Herrenbruder Jakobus Paulus auf die vielen gesetzeseifrigen Juden-
christen in Jerusalem hin, denen Informationen zugegangen seien, Paulus hätte
alle Juden zum Abfall von Mose bewegt. Auch wenn das eine Übertreibung ist,
spiegelt die Aussage doch treffend das Unbehagen weiter judenchristlicher Kreise
an der gesetzesfreien Heidenmission des Paulus. Solche Informationen sind nicht
nur nach Jerusalem gedrungen, sondern offenbar auch nach Rom (bzw. sind z.Z.
des Römerbriefs auf dem Weg dorthin). Paulus sieht sich deshalb genötigt, der
römischen Gemeinde sein Evangelium wesentlich ausführlicher und emotional
zurückhaltender darzustellen, als er es im Galaterbrief tat. Wie dort geht es ihm
auch im Röm zentral um die Frage des Recht-Seins vor Gott. Er trägt hier seine
Gesetzeslehre wesentlich differenzierter (und dadurch weniger angreifbar) vor als
im Gal, ohne deshalb sachlich Abstriche vorzunehmen (die Differenzen zwischen
Gal und Röm sind zumindest in erster Linie situationsbedingt und nicht Folge
einer Entwicklung): dem Verstrickt-Sein von Heiden und Juden in der Sünde
folgt das für beide geltende Heilsgeschehen in Christus (1,18–3,20; 3,21–5,21). Dass
Juden aufgrund des ungekündigten Bundes doch wieder eine gewisse Sonderstel-
lung haben, deutet er in 1,16 u. ö. schon an, um es in 9,1–11,32 detailliert auszufüh-
ren. An der Exklusivität von Person und Wirken Jesu rüttelt er dabei nicht.
In 16,17–20 ist Paulus in seiner Darstellung der Gefährlichkeit der in Rom auf-
tretenden Gegner keineswegs zurückhaltend. Massive Polemik (Bauch, Satan)
findet sich ebenso wie eine negative Beschreibung ihres Wirkens (nur angeblich
Dienst an Christus; Verführung sowie Säen von Zwietracht und Zu-Fall-Bringen
der Gemeinde). Die theologische Auseinandersetzung erfolgt durch den ganzen
Brief hindurch. Diese Aussagen haben Parallelen in der Auseinandersetzung mit
den Gegnern im 2. Korinther- und Galaterbrief bzw. im Philipperbrief (s. u.). In
den beiden letztgenannten Briefen spielt die Frage nach Gesetz und Beschnei-
264 C. Werk
dung die entscheidende Rolle, was auch für die im Römerbrief anvisierten Geg-
ner anzunehmen ist.
Der Abschnitt über die Starken bzw. Schwachen in 14,1–15,6 gehört ebenfalls in
den Kontext der Gegnerbekämpfung. Eine konsequente ethnische Zuordnung ist
sicher nicht möglich, aber die Ablehnung von (Götzenopfer-)Fleisch und (Liba-
tions-)Wein lässt jedenfalls eine Einordnung als im weitesten Sinn judaistische
Gegner zu.
4.5. Philipperbrief
(3,2). Er wirft ihnen vor, auf das Fleisch zu vertrauen und konterkariert in der
Replik 3,5 f. ihr Selbstverständnis durch den Verweis auf seine jüdische Herkunft,
angefangen von der Beschneidung am achten Tag bis hin zu seiner strengen pha-
risäischen Gesinnung, die zur Verfolgung der christlichen Abweichler führte. Der
Konflikt muss außerordentlich ernst gewesen sein, denn Paulus beschreibt das
gesamte vorchristliche Sein außerordentlich abschätzig. In 3,9 bringt er den Kon-
flikt auf den Punkt: in der Akzeptierung der Beschneidung sieht er die eigene
Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit aus dem Gesetz, verwirklicht und nicht die Ge-
rechtigkeit durch den Glauben an Christus bzw. die Gerechtigkeit aus Gott auf-
grund des Glaubens. Die Gegenüberstellung aus dem Gesetz – aus Gott ist höchst
polemisch und lässt keinen Kompromiss zu. Auch hier spricht Paulus nicht von
der mit der Übernahme der Beschneidung verbundenen Gesetzesobservanz, setzt
sie aber voraus.
Analog zum Galater- und Römerbrief sind die Gegner damit als Judaisten zu
verstehen. Dazu kommt nun noch ein weiterer Aspekt: In 3,15 bezeichnet er sich
und seine Adressaten als Vollkommene. In 3,12 betont er: nicht, als ob ich schon
zur Vollendung gekommen wäre. Das Wortspiel lässt darauf schließen, dass die
Gegner sich als Vollkommene bezeichneten, denen gegenüber Paulus den escha-
tologischen Vorbehalt betont. Diese Leute werden des Weiteren Feinde des Kreu-
zes genannt (3,18), d. h. sie sind innergemeindliche Gegner, die Leiden und Kreuz
theologisch nicht entsprechend zur Geltung bringen, was ebenso für ihre Charak-
terisierung als Enthusiasten spricht wie der Vorwurf der enthusiastischen Dies-
seitsbezogenheit (3,19: ihr Gott ist der Bauch und sie sind auf Irdisches bedacht).
Eine zweite Gruppe neben den in 3,2–14 attackierten Judaisten wird man nicht
annehmen müssen. 3,12 lässt keinen Übergang zur Beschreibung einer neuen
Gruppe erkennen. Die Gegner des 2. Korinther- wie des Galater- und Römer-
briefs sind nahe verwandt. Es dürften Judenchristen mit enthusiastischen Nei-
gungen sein.
4.6. Fazit
Insgesamt zeigen die theologischen Gegner des Paulus im Detail mannigfach Dif-
ferenzen. Prägend sind judaistische und enthusiastische Aspekte, verbunden mit
antipaulinischen Tendenzen. Das Zusammenspiel dieser Faktoren ist teilweise er-
kennbar. Ein genaues Bild zu zeichnen, ist aber infolge der situationsabhängigen
und natürlich parteilichen Darstellung des Apostels nur unter Kautelen möglich.
Dunderberg, Ismo/Tuckett, Christopher/Syreeni, Kari (Hg.): Fair Play: Diversity and Con-
flicts in Early Christianity (NT.S 103), Leiden/Boston/Köln 2002.
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266 C. Werk
Die Missionswege bzw. -reisen des Apostels lassen sich im Detail nicht mehr ver-
lässlich rekonstruieren. Die verstreut in den Briefen begegnenden Reisenotizen
und -pläne liefern diesbezüglich nur begrenzt Aufschlüsse. Erschwerend kommt
hinzu, dass die chronologische Verortung einiger Briefe (namentlich des Gal, Phil
und Phlm) und die geographische Verortung der Gemeinden in Galatien (entwe-
der im südlichen Teil der Provinz Galatien oder in der gleichnamigen nördlichen
Landschaft) strittig sind. Die Apostelgeschichte bietet zwar eine detaillierte Dar-
stellung der Reise- und Missionsstationen des Apostels, doch ist deren historische
Verwertbarkeit nicht durchweg gesichert. Sie lässt zudem Interpretationsspiel-
raum. So liegen in der Forschung mehrere divergente Thesen vor, den in Gal
2,1–10 von Paulus beschriebenen und für seine Missionsaktivität bedeutsamen
Apostelkonvent mit den Angaben der Apostelgeschichte in Einklang zu bringen,
sei es, dass man ihn mit dem in Apg 11,27–30 und 12,25 notierten Jerusalembesuch,
mit den Ausführungen in Apg 15,1–29 oder der knappen Notiz in Apg 18,22 korre-
liert (Zeigan 2005, 17–414). Zu beachten ist ferner, dass die Apostelgeschichte
kein vollständiges Bild der Reisen des Paulus offeriert, übergeht sie doch z. B. den
in 2Kor 12,14; 13,1 angezeigten sog. Zwischenbesuch des Apostels in Korinth.
Ein weiterer Problempunkt ist die gemeinhin aus dem Porträt der Apostelge-
schichte abgeleitete Unterteilung des missionarischen Wirkens des Apostels in
drei große Missionsreisen (Apg 13 f.; 15,36–18,22; 18,23–21,14), zu denen als vierte,
ebenfalls missionarisch bedeutsame Reise die Überführung des gefangenen Pau-
lus nach Rom hinzukommt (Apg 27,1–28,16). Dass sich die paulinische Mission
tatsächlich just in dieser Form auf Großreisen aufteilte, wird in der Forschung
aus diversen Gründen infrage gestellt: a) Zunächst ist zu beachten, dass der Be-
griff der »Missionsreisen« leicht den Blick dafür verstellt, dass sich Paulus in eini-
gen Städten, namentlich in Korinth und Ephesus, mehrere Jahre aufhielt und
überdies aus einigen Städten fliehen musste (Schnabel 2002, 1384). b) Die sog.
268 C. Werk
erste Missionsreise (Apg 13 f.) findet in den Paulusbriefen keine explizite Erwäh-
nung (es sei denn, man deutet Gal 1,21 als geographisch großzügige Anspielung).
Die Reise wird verschiedentlich als lukanisches Konstrukt (»Modellreise«) be-
trachtet oder aber, anders als in der Apostelgeschichte, nach dem Apostelkonvent
(Gal 2,1–10; Apg 15) und vor dem in der Apostelgeschichte ignorierten antioche-
nischen Konflikt (Gal 2,11–14) eingeordnet. c) Die knappe Reisenotiz in Apg
18,18–23, die das Ende der zweiten und den Beginn der dritten Missionsreise mar-
kiert, weist mehrere Probleme auf: Die geschilderte Reise ist in den Protopauli-
nen nicht bezeugt (es sei denn, man identifiziert sie mit der Reise zum Apostel-
konvent), ein Zweck derselben wird nicht genannt und die Abänderung des Rei-
seziels von Syrien (V. 18) auf Cäsarea (V. 22) bleibt unerklärt. Die Angaben
werden daher häufig entweder ganz oder teilweise als unhistorisch erachtet. Die
Knappheit der Notiz führte aber auch zu der These, Lukas selbst habe die Missi-
on des Apostels zwischen Apostelkonvent (Apg 15) und der Ankunft in Jerusalem
(Apg 21,15–26) als »eine« Großreise verstanden wissen wollen (so Menoud
1954/1955, 47–49). d) Den Briefen ist nicht zu entnehmen, dass Paulus seine Mis-
sionsanstrengungen in mehrere numerisch identifizierbare Großreisen unterglie-
derte. Er hätte mithin kaum gewusst, was er antworten sollte, wäre er z. B. in
Ephesus gefragt worden, auf welcher Missionsreise er sich gerade befände (so
Knox 21987, 26). e) Das Konzept der drei großen Missionsreisen lässt sich insge-
samt als literarisch-theologisches Darstellungsmittel des Autors der Apostelge-
schichte begreiflich machen. Es diente ihm dazu, vorliegende Einzeltraditionen
erzählerisch zu verschmelzen und die Ausbreitung der Christusbotschaft als sys
tematisch fortlaufenden heilsgeschichtlichen Prozess auszuweisen, der sich, wie
die wiederholten Rückbindungen an die Muttergemeinde in Jerusalem belegen
sollen, in Kontinuität zu den Anfängen vollzog. f) Im Übrigen kann die erstmals
1742 im Vorwort zur Kommentierung der Apostelgeschichte in Johann Albrecht
Bengels »Gnomon Novi Testamenti« begegnende Aufteilung der paulinischen
Mission auf drei Großreisen (hier freilich unter Einschluss der Romreise) als Re-
flex der neuzeitlichen, von einer Heimatbasis ausgehenden und an sie stets rück-
gekoppelten Kolonisations- und Missionspraxis betrachtet werden (Townsend
1986).
Ungeachtet aller vorgetragenen Einwände gilt es jedoch zu sehen, dass sich die
Darstellung der Missionswege und -gebiete in der Apostelgeschichte schwerlich
als völlig freie Komposition begreiflich machen lässt, da man »Lukas’ Darstellung
zu kontrollieren vermochte, überall, wo es christliche Gemeinden gab« (Jervell
1998, 342 f.). Dazu fügt sich, dass die in der Apostelgeschichte genannten Reisesta-
tionen samt ihrer Reihenfolge mit Ausnahme von Apg 13 f. vielfach durch Anga-
ben in den Briefen gedeckt sind. Nicht wenige Forschende orientieren sich bei der
Rekonstruktion der paulinischen Missionswege daher nach wie vor am Porträt
der Apostelgeschichte und kombinieren dieses mit den Angaben in den Briefen.
Für viele ergibt sich folgendes Bild, das freilich nur eine äußerst vergröberte Wie-
dergabe des historischen Verlaufs bieten kann: Paulus begann sein missiona-
II. Mission 269
risches Agieren eventuell schon bald nach dem Damaskuserlebnis in der Arabia
(Nabatäerreich) und in Damaskus (Gal 1,17; Apg 9,19–31; [vgl. 2Kor 11,32 f.]). Er
wirkte anschließend in »Syrien und Kilikien« (Gal 1,21), und zwar zunächst im
kilikischen Tarsus (Apg 9,30), dann in Antiochia am Orontes und der syrischen
Umgebung (Apg 11,25 f.), um schließlich im Auftrag der antiochenischen Ge-
meinde als Juniorpartner des Barnabas zur Mission nach Zypern und ins südöst-
liche Kleinasien aufzubrechen (Apg 13 f.). Nach dem Apostelkonvent und dem
antiochenischen Konflikt agierte Paulus in eigenständiger Mission zunächst in
Philippi, Thessalonich, Beröa, Athen und für eineinhalb Jahre (Apg 18,11 f.) in
Korinth (Apg 15,36–18,22). Anschließend wirkte er für längere Zeit, nämlich fast
drei Jahre (Apg 19,8.10; 20,31) in Ephesus (Apg 19,1–40), um alsdann über Troas
und Makedonien (und vielleicht einem Abstecher nach Illyrien [Röm 15,19]) er-
neut Korinth aufzusuchen (Apg 20,1–3a; 2Kor 2,12 f.). Von dort aus begab sich
Paulus zur Abgabe der inzwischen eingesammelten Kollekte über Troas und Milet
nach Jerusalem (Apg 20,3–21,26; Röm 15,25). Inwieweit man dem detaillierten Be-
richt in Apg 27,1–28,16 über die Überstellung des gefangenen Paulus auf dem See-
weg nach Rom historische Glaubwürdigkeit zubilligen kann, hängt davon ab, ob
man in dem Text die Verarbeitung eines profanen Seefahrt- und Schiffbruchbe-
richtes respektive eine freie Konstruktion nach dem Stilmodell antiker Seereise-
berichte oder den Erlebnisbericht eines Paulusbegleiters ausmacht (Reiser 2001;
Börstinghaus 2010). Strittig ist, ob Paulus aus seiner Haft in Rom freikam und
die in Röm 15,24.28 angekündigte Mission in Spanien ansatzweise in die Tat um-
setzte, dann in Rom ein weiteres Mal in Haft geriet und schließlich dort umkam
(so u. a. Schnabel 2002, 53.1214–1230.1417). Diese These steht auf schwachen Fü-
ßen. Die als Beleg angeführte Notiz in 1Clem 5,7, Paulus sei »bis an die Grenze des
Westens« gelangt, nennt Spanien nicht explizit. Und selbst dann, wenn eine Spa-
nienmission im Blick sein sollte, ist die Notiz ebenso wie die weiteren vermeint-
lichen Belege in Canon Muratori 38 und den Petrusakten (Act.Ver. 1–3.6) als se-
kundäre Ausgestaltung der Aussage in Röm 15,24.28 begreifbar. Hinzu kommt:
»Keine spanische Gemeinde betrachtet sich als unmittelbar paulinische Grün-
dung, und es gibt keine Überlieferung oder Spuren seiner Verkündigung« (Laboa
2000, 610). Ebenso unwahrscheinlich ist die These einer allein aus den Pastoral-
briefen erschließbaren nochmaligen Mission im östlichen Mittelmeerraum (be-
fürwortet bei Schnabel 2002, 1226–1229).
Eine wichtige Voraussetzung der geographisch weiträumigen paulinischen
Mission war die herrschaftsbedingte Raumdurchdringung der römischen impe-
rialen Macht in der Kaiserzeit, die sich in einem umfassenden Ausbau des Stra-
ßennetzes und einer die grassierende Räuberei und Piraterie abwehrenden Siche-
rung der Handelswege zu Land und zu Wasser manifestierte, wodurch zumal
auch die Kommunikation über weite Distanzen erleichtert wurde (zu den Reise-
bedingungen und -konventionen ausführlich Reynier 2009, 13–86). Völlig unge-
fährlich oder gar unbeschwerlich war das Reisen für den Apostel gleichwohl nicht,
was er in 2Kor 11,25–27 selbst bekundet. Paulus dürfte neben vereinzelten Schiffs-
270 C. Werk
reisen überwiegend zu Fuß gereist sein, bei sich bietenden Gelegenheiten aber
vermutlich auch die (Mit-)Benutzung eines Wagens oder andere Erleichterungen
in Anspruch genommen haben. Angesichts der dargelegten Schwierigkeiten, die
Missionswege des Apostels verlässlich zu rekonstruieren, ist eine seriöse Berech-
nung des gesamten Reisepensums kaum möglich (Schnabel 2002, 1229 f., kalku-
liert 25.000 km).
Die konkrete Durchführung der Mission samt der darin eingelassenen Missions-
strategien sind nur begrenzt rekonstruierbar und z. T. wiederum Gegenstand von
Forschungskontroversen.
Mit Blick auf den äußeren Vollzug der Mission weist die Apostelgeschichte die
Synagoge als primären Ankerpunkt der paulinischen Mission aus (9,20; 13,5.14;
14,1 u. ö.). Darüber hinaus predigt und missioniert Paulus hier auf dem Markt-
platz (17,16–34), in Häusern (18,7 f.; 20,7 f.; 28,30 f.), in einem Lehrsaal (19,9 f.), im
Gefängnis (16,25–34) und an weiteren nicht näher spezifizierten öffentlichen Or-
ten (14,8–18; 16,16–21; 19,11–20). Das missionarische Wirken folgt dabei jeweils
einem festgefügten Verlaufsschema, wonach sich Paulus zunächst in der Synagoge
an Juden wandte, um dann nach Misserfolgen und Konflikten Nichtjuden anzu-
sprechen (im Näheren Becker 1989, 136). In dieser rundweg schematischen Form
dürfte die Darstellung der paulinischen Mission kaum den historischen Vorgän-
gen entsprechen. Lukas überträgt hier offenbar Vorstellungen vom Verlauf der
Heilsgeschichte auf die Mikroebene des Wirkens des Apostels und sucht derge-
stalt zumal die Legitimität der Kirche aus Nichtjuden herauszustreichen (Apg
13,46; 28,25–28). Dies bedeutet aber nicht, dass dem Porträt jegliche historische
Valenz abgeht. So wird darüber debattiert, ob Paulus sein missionarisches Wirken
nicht tatsächlich jeweils mit Predigten in den städtischen Synagogengemeinschaf-
ten eröffnete und aktiv als Missionar unter Juden wirkte. Die diesbezüglich als
Indizien angeführten Aussagen des Apostels in Röm 1,16; 10,14–21; 1Kor 9,20 f.;
2Kor 11,24 sind indes nicht zwingend (Reinbold 2000, 164–182), und aus Röm
11,13.25; 15,16.18; Gal 1,15 f.; 2,2.7–9 und 1Thess 2,16 geht hervor, dass sich Paulus
primär zu Nichtjuden gerufen sah. Kritisch hinterfragt wird überdies das luka-
nische Porträt des Apostels als öffentlich agierender Missionsredner. Jüngere Stu-
dien postulieren, der Christusglaube habe sich stärker auf informellen Wegen
über soziale Netzwerke ausgebreitet, d. h. über die alltägliche Kommunikation,
das lebenspraktische Zeugnis Christusgläubiger in privaten wie auch beruflichen
Kontakten und Loyalitätsbindungen unterschiedlichster Art. Im Näheren schließt
man bei Paulus auf eine persönlich geprägte Missionierung im Umfeld des oikos
(Röm 16,23; 1Kor 16,19), durch soziale Kontakte in den Synagogen (Apg 16,11–15;
18,8), bei der Arbeit (1Thess 2,9; Apg 18,3) und in diversen Situationen wie Haft
(Phil 1,12–14; Apg 16,25–34) und Krankheit (Gal 4,13 f.). Nicht öffentliche Missi-
onsreden, sondern private und halböffentliche Begegnungen wären entscheidend
II. Mission 271
gewesen (aaO. 182–206.345 f.; Stowers 1984; Barton 2003, 44 f.; kritisch Schna-
bel 2002, 1266.1270 u. ö.).
Laut Selbstaussage in Röm 15,20 missionierte Paulus nur dort, wo Christus
noch nicht genannt wurde, um nicht auf fremdem Fundament zu bauen (s. auch
1Kor 3,10; 2Kor 10,15 f.). Er betrieb mithin Pioniermission. Diese Strategie mag der
Vermeidung missionarischer Konkurrenz (Klein 1969, 134, tituliert Röm 15,20 als
»Nichteinmischungsklausel«), aber auch der möglichst effizienten Verbreitung
des Christusglaubens gedient haben (Dunn II 1988, 869). Die geplante Reise in
die nicht von ihm gegründeten römischen Gemeinden widerspricht dem nicht,
betrachtete Paulus doch Rom als Durchgangs- bzw. Basisstation für seine Spani-
enmission (Röm 15,24). Gleichwohl indiziert die kurze Notiz in Röm 1,13, wonach
er in Rom einige Frucht (= Missionserfolg) haben wollte, dass Paulus sich nicht
rundweg an den Grundsatz der Pioniermission gebunden fühlte. Apg 18,2.24;
19,1–3 ist zu entnehmen, dass er auch in Korinth und Ephesus bereits Christusan-
hänger vorfand.
Zu beachten ist ferner, dass Paulus seine Mission auf städtische Zentren und
Provinzhauptstädte konzentrierte (folgt man der sog. Landschaftshypothese, bil-
dete die Galatienmission freilich eine Ausnahme). Die städtischen Gemeinde-
gründungen verbuchte er offenbar als Gewinnung der gesamten Provinz (vgl. den
Gebrauch der Provinznamen in Röm 15,26; 2Kor 9,2; s. auch Röm 16,5; 1Kor 16,15).
Entweder repräsentierten die Städte für ihn die gesamte Provinz oder er setzte auf
das Wachstum und die Ausstrahlungskraft des Glaubens in das Umland hinein.
Dieses Konzept der Zentrumsmission mag den in Röm 15,19.23 formulierten ho-
hen Selbstanspruch des Apostels erklären, das Evangelium von Jerusalem bis Illy-
rien voll ausgerichtet zu haben, sodass in diesen Gegenden kein Raum mehr sei.
Dass Paulus gleichwohl die Provinzen Kappadokien, Bithynien, Pontus und Thra-
kien missionarisch überging, wird von einigen Forschern unter Verweis auf Röm
15,20 mit einem dort vorausgesetzten Wirken anderer Missionare begründet. Da-
rüber hinaus wird vereinzelt erwogen, die Vokabel κύκλῳ (im Kreis) in Röm 15,19
markiere einen geographischen Kreis, dessen obere Hälfte sich mit der geplanten
Spanienmission schließe und dessen untere Hälfte die römischen Provinzen in
Nordafrika bildeten, die Paulus angeblich später selbst noch missionieren wollte
oder in denen er bereits andere Missionare am Werk sah (Knox 1964, 10 f.; Dunn,
II 1988, 864). Weitere Thesen einer expliziten geographischen Missionsstrategie
des Apostels konnten sich nicht durchsetzen. So wurde postuliert, Paulus habe
das in Jes 66,19 genannte Tarschisch mit Spanien identifiziert und eine geplante
sowie als endzeitliche Opfergabe gedeutete (Röm 15,16) Überbringung bekehrter
Spanier nach Jerusalem als Abschluss der Einbringung jener endzeitlichen »Voll-
zahl der Völker« betrachtet (Röm 11,25), die die Wiederkunft des Messias Jesus
bewirken würde (so Aus 1979). Ferner wurde behauptet, der Apostel sei in seiner
Mission generell den geographischen Angaben in Jes 66,19 gefolgt (so Riesner
1994, 213–225, der Tarschisch indes mit Tarsus gleichsetzt), oder auch, er habe sich
an der Völkertafel in Gen 10 orientiert und dabei speziell das Kleinasien und Eu-
272 C. Werk
ropa umfassende Gebiet der Nachkommen des Noahsohnes Japhet in seiner Ver-
antwortung gesehen (so Scott 1995, 135–180). Die in diesen Thesen vorausgesetz-
ten geographischen Identifikationen sind jedoch alles andere als gesichert (ge-
nauere Kritik bei Schnabel 2002, 484 f.1237–1241; Donaldson 2006, 123–125).
Heftig umstritten ist, inwieweit Paulus ein eigenverantwortliches missiona-
risches Agieren seiner Gemeinden voraussetzte (zur Debatte Keown 2008, 1–28).
Konkrete Missionsappelle fehlen in den Briefen bezeichnenderweise. Einige Exe-
getinnen und Exegeten (z. B. Marshall 2000; Ware 2005) werten gleichwohl
u. a. Stellen wie 1Thess 1,8; Phil 2,15 f. und 1Kor 10,31–11,1 als Indizien für ein an-
geblich von Paulus gefordertes aktives missionarisches Engagement der Gemein-
den aus. Kritiker (z. B. Bowers 1991) wenden ein, die genannten Stellen bekunde-
ten lediglich die Verbreitung der Nachricht über das Gläubigwerden der Thessa-
lonicher (1Thess 1,8), das Ausharren der philippischen Christusgläubigen in einer
schlechten Welt (Phil 2,15 f.) und die Forderung an die Korinther, den Apostel in
seiner selbstlosen Haltung nachzuahmen (1Kor 10,31–11,1). Aber auch wenn die
paulinischen Gemeinden vermutlich keine aktive Mission betrieben, so sollten sie
Paulus doch als wichtige Stützen seines Missionsprojekts dienen, und zwar durch
die Bereitstellung einzelner Missionsmitarbeitender, durch finanzielle Hilfen, Ge-
bete, durch ihre auf das Ansehen Gottes und die Errettung der Menschen be-
dachte soziale Integration in die nicht christusgläubige Welt, ihr ethisch vorbild-
liches Auftreten in der Öffentlichkeit sowie aufrichtige verbale Kommunikation
in öffentlichen Gottesdiensten und der alltäglichen Konversation (so Dickson
2003). Umgekehrt stand auch Paulus den Gemeinden nach der Erstmission zur
Seite (Barton 2003, 45 f.), und zwar durch erneute Besuche (1Kor 4,19; 2Kor 1,15–
17; Phil 1,24–26), seine Briefe, Gebete (1Thess 1,2 f.; 1Kor 1,4–9; Phil 1,3–11) und
Kontakte über Mitarbeitende (Phil 2,19–24.25–30). Mit Blick auf den letztgenann-
ten Punkt sei angemerkt, dass Paulus überhaupt auf einen beachtlichen Kreis von
Mitarbeitenden zurückgriff, deren Form der Mitarbeit hinsichtlich der übertra-
genen Aufgaben und der Dauer des Einsatzes freilich erheblich variierte (Ollrog
1979; C.II.3.).
9,4–14) zu verzichten (1Kor 9,12.15–18; 2Kor 11,7–9; 12,13–18). Als Gründe für den
Verzicht gibt er an, er wolle niemandem zur Last fallen (1Thess 2,9; 2Kor 11,9;
12,13.16), den Anschein von Schmeichelei und Habgier vermeiden (1Thess 2,5),
dem Evangelium Christi kein Hindernis bereiten (1Kor 9,12) und den Lohn der
unentgeltlichen Evangeliumsverkündigung empfangen (1Kor 9,18). Aus Phil 4,10–
20; 2Kor 11,8 f. geht freilich hervor, dass Paulus finanzielle Unterstützung auch
dankbar annehmen konnte. Die Ablehnung der Unterstützung in bzw. aus Ko
rinth auf der einen und die Annahme der finanziellen Hilfe aus Philippi auf der
anderen Seite lässt sich wie folgt erklären: Paulus akzeptierte keine Unterstützung
von einer Gemeinde, in der er gerade missionarisch tätig war. Dies gilt darüber
hinaus weiter, wenn und solange in einer Gemeinde Konkurrenten des Apostels
agierten, die seine Stellung und sein Evangelium untergruben (so Pratscher
1979, 290–298; weitere Mutmaßungen bei Schmeller 1997, 270). Die These, Pau-
lus habe im Fall der Annahme einer Unterstützung seine Berufstätigkeit einge-
stellt (Schnabel 2002, 1388), ist Apg 18,5 nicht zwingend zu entnehmen (Roloff
1981, 271). Mit Blick auf die Unterkunft ist anzumerken, dass Paulus sich bei län-
geren Aufenthalten an einem Ort ganz in eine Hausgemeinschaft (oikos) einfügte,
deren Patrone bzw. Patroninnen ihm z. T. Schutz (Apg 17,10) oder auch Arbeit
(Apg 18,3) gewährten. Bei Kurzaufenthalten und zu Beginn eines längeren Auf-
enthaltes mag er in Gasthöfen und Synagogen logiert haben, aber auch die nach
antiker Gepflogenheit auf eine Dauer von drei Tagen bis zu einer Woche hin an-
gelegte Gastfreundschaft in Häusern von Christusanhängern in Anspruch ge-
nommen haben (Hock 1980, 29–31.37).
Lietaert Peerbolte, Lambertus Johannes Lietaert: Paul the Missionary (CBET 34), Leuven
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Reinbold, Wolfgang: Propaganda und Mission im ältesten Christentum. Eine Untersuchung zu
den Modalitäten der Ausbreitung der frühen Kirche (FRLANT 188), Göttingen 2000.
Schnabel, Eckhard J.: Urchristliche Mission, Wuppertal 2002.
Christian Strecker
ösen Werteinstellungen prägen notwendig das, was er in der Gegenwart über die
Vergangenheit sagt. Geschichtsschreibung ist deshalb nie ein pures Abbild des
Gewesenen, sondern hat selbst eine Geschichte, nämlich die Geschichte des
Schreibenden. Das Subjekt steht nicht über der Geschichte, sondern ist ganz und
gar in sie verwickelt. Auf Paulus bezogen bedeutet dies: Es gibt immer nur den
›Paulus‹ des Interpreten/der Interpretin, und deshalb ist es mehr als natürlich,
dass es eine Vielzahl von Paulusbildern gibt. Dennoch ist dieser unausweichliche
und selbstverständliche Prozess nicht willkürlich, sondern an Quellen, Methoden
und Realitätsvorgaben gebunden. Die Sachgehalte von Quellen müssen in einen
sinn- und bedeutungsvollen Zusammenhang gebracht werden und innerhalb des
wissenschaftlichen Diskurses diskutier- und rezipierbar bleiben. Insofern befin-
det sich jede Paulusauslegung im Spannungsfeld von lebensgeschichtlich erwor-
benen Anschauungen des Interpreten und dem Befund der Paulusbriefe selbst.
Damit verbindet sich ein zweites grundlegendes Problem: In der Auslegungs
geschichte bildete sich eine eigene wissenschaftliche Beschreibungssprache aus
(z. B.: ›Rechtfertigungslehre‹/›Sühne‹/›Versöhnung‹, ›Mitte der paulinischen
Theologie‹), die keineswegs immer mit dem paulinischen Textbefund identisch
sein muss. Es gilt also jeweils zu reflektieren, wie sich die theologischen Kunstbe-
griffe der Auslegungsgeschichte und die Semantik der paulinischen Briefe zuei-
nander verhalten.
Als Quellen für die Erhebung einer paulinischen Theologie kommen jene Briefe
in Betracht, die nach überwiegender Meinung auch wirklich von Paulus abgefasst
wurden. Es gibt einen gut begründeten kritischen Konsens, dass in jedem Fall als
authentische Paulusbriefe anzusehen sind: Röm/1.2Kor/Gal/Phil/1Thess/Phlm.
Rechnet man hingegen den 2. Thessalonicher- und den Kolosserbrief auch zu den
anerkannten Briefen (so häufig im angloamerikanischen Bereich), dann verän-
dert sich nicht nur die Textgrundlage, sondern auch das, was paulinische Theolo-
gie sein soll. Beispiele: 1) Während Paulus jede Form einer präsentischen Escha-
tologie bewusst vermeidet (vgl. Röm 6,3–5), findet sie sich in Kol 2,12; 3,1–4.
2) Der eschatologische Fahrplan in 2Thess 2,1–12 mit dem Auftreten eines end-
zeitlichen Widersachers ist mit den paulinischen Aussagen zum Endgeschehen in
1Thess 4,13–18 nicht vereinbar. Basis einer kritischen Darstellung der paulinischen
Theologie bleiben deshalb die sieben unbestrittenen Protopaulinen. Daneben ist
die Apostelgeschichte immer dann heranzuziehen, wenn sie zuverlässige Traditi-
onen überliefert. So ist die Herkunft des Apostels aus Tarsus für die Gesamtbeur-
teilung der paulinischen Theologie ebenso von Bedeutung wie die zahlreichen
Berichte über sein missionarisches Wirken bis hin zum Ende in Rom.
Ein Schlüsselproblem für die Bestimmung der paulinischen Theologie ist die
Reihenfolge der Briefe. Während ein großer Konsens darüber besteht, dass der 1.
Thessalonicherbrief (und der 1. Korintherbrief) tendenziell in die Früh- und der
III. Theologische Themen 275
Unzweifelhaft ist die Herkunft und anhaltende tiefe Verwurzelung des Paulus im
Judentum. Damit fangen die Probleme aber erst an: Paulus war ein griechisch-
sprachiger Diasporajude, der in der hellenistischen Metropole Tarsus aufwuchs
und seine großen missionarischen Erfolge in Kleinasien und Griechenland hatte.
Wie stark wurde er von griechischem Denken mitbeeinflusst? Kannte er grie-
chische Autoren? In welchem Maß zwangen ihn seine Gemeinden, griechisches
Denken verstärkt aufzunehmen? Wer Paulus mehr traditionsorientiert versteht,
wird einen griechischen Einfluss nicht leugnen müssen, wohl aber eher gering
ansetzen. Wer hingegen Paulus eher rezeptionsorientiert versteht, d. h. aus dem
Dialog mit seinen Gemeinden, wird den griechischen Einfluss eher höher ein-
schätzen, ohne die bleibende Verbindung zum Judentum schmälern zu müssen.
276 C. Werk
Jede Darstellung der paulinischen Theologie muss in die Geschichte des frühen
Christentums integrierbar sein. Paulus befand sich in einer einzigartigen histo-
rischen und theologischen Situation. Er sah sich mit Problemen konfrontiert, die
in ihrem Kern bis heute nicht gelöst sind: Wie verhalten sich Gottes erste und
zweite Offenbarung zueinander? Warum bleibt der erste Bund uneingeschränkt
bestehen (vgl. Röm 9,4 f.), wenn nur der zweite Bund rettet? Welche Kriterien
müssen erfüllt sein, um zum auserwählten Volk Gottes zu gehören und gleichzei-
tig die Kontinuität zum Gottesvolk des ersten Bundes zu wahren? Welche Bedeu-
tung hat das Gesetz/die Tora für die Christusgläubigen? In welchem Verhältnis
stehen die Christusgläubigen zum empirischen Israel? Zwingt das Ausbleiben der
Parusie zur Veränderung theologischer Aussagen? Angesichts dieser Probleme ist
die Verarbeitung aufgezwungener oder selbst ausgelöster Konflikte innerhalb der
paulinischen Theologie unausweichlich. Der Erfolg der paulinischen Völkermis-
sion bestimmte wesentlich die Geschichte des frühen Christentums und löste Re-
aktionen aus, die wiederum Paulus in seinem Denken nicht unwesentlich beein-
flussten. Das durchgängig angespannte Verhältnis zur Urgemeinde, der Apostel-
konvent, der antiochenische Zwischenfall und die Beschneidungsforderung für
III. Theologische Themen 277
Jede Paulusinterpretation stellt ein Modell dar, das auf der Basis von Vorentschei-
dungen entworfen wurde. Diese Vorentscheidungen betreffen v. a. die Frage, ob
die paulinische Theologie als Einheit anzusehen oder eher situationsbedingt zu
verstehen ist und wie das Verhältnis des Paulus zum Judentum und zum Imperi-
um Romanum zu bestimmen ist. In der neueren Paulusexegese lassen sich (ideal-
typisch) fünf Modelle unterscheiden, die sich teilweise überschneiden bzw. die
miteinander kombinierbar sind: 1) Es gibt ein gleichbleibendes thematisches Zen-
trum des paulinischen Denkens, das seine gesamte Theologie organisiert und
strukturiert. Dieses Zentrum wird zumeist in der Rechtfertigungslehre gesehen
(so z. B. R. Bultmann, E. Käsemann, P. Stuhlmacher, J. D. G. Dunn), sodass dem
Römerbrief eine Schlüsselstellung zukommt. Als ›Testament‹ (Bornkamm) ent-
hält er gewissermaßen die Summe des paulinischen Denkens, das in literarischer
und inhaltlicher Hinsicht als ein geschlossenes System erscheint. 2) Transformati-
on und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie. Albert Schweit-
zer sah in der naturhaften Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christus die
Tiefenschicht der paulinischen Theologie, der gegenüber die Rechtfertigungsleh-
re nur einen Nebenkrater darstellt (Schweitzer 21954). Dieser Grundansatz spielt
in der aktuellen Forschung eine zentrale Rolle, wonach Paulus eine partizipato-
rische Christologie vertritt; der Eintritt in die Religion geschieht nicht durch Er-
wählung und Bund, sondern durch das Einswerden mit Christus (Sanders 1985).
Gott hat den gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazareth in ein neues Sein
überführt. Es ereignete sich ein Statuswechsel, Jesus von Nazareth verblieb nicht
im Status des Todes und der Gottesferne, sondern Gott verlieh ihm den Status der
Gottgleichheit. Ziel der Transformation Jesu Christi ist die Partizipation der
Glaubenden an diesem grundlegenden Geschehen (Schnelle 2003). 3) Wand-
lungen/Entwicklungen im paulinischen Denken. Bei diesem Modell wird davon
ausgegangen, dass sich in zentralen Bereichen des paulinischen Denkens Wand-
lungen (oder Entwicklungen) vollzogen haben (so mit Unterschieden J. Becker, U.
Wilckens, H. Hübner, G. Strecker, U. Schnelle). Als zentrale Bereiche gelten hier
278 C. Werk
die paulinischen Aussagen zum Gesetz, speziell die Differenzen zwischen dem
Galater- und dem Römerbrief, das Verhältnis des Apostels zu Israel (vgl. 1Thess
2,14–16 mit Röm 11,25 f.) und die paulinische Eschatologie (vgl. 1Thess 4,13–18;
1Kor 15,50–58; 2Kor 5,1–10; Phil 1,21–26). Die jeweiligen Unterschiede werden nicht
nur als durch die aktuelle Gemeindesituation bedingte Variationen einer im Prin-
zip gleichbleibenden Theologie gesehen, sondern als substantielle Wandlungen/
Entwicklungen. 4) Paulus in relativer Nähe zum Judentum. Hier wird der Versuch
unternommen, das Verhältnis des Apostels zum Judentum neu zu bestimmen. So
versucht Ed P. Sanders nachzuweisen, dass Paulus nicht gegen ein werkgerechtes
Judentum seiner Zeit kämpfte, weil es ein solches gar nicht gegeben habe. Viel-
mehr sei das antike Judentum durch einen Bundesnomismus geprägt, wonach die
Erwählung durch Gott am Anfang stehe. Nach James D. G. Dunn kritisiert Paulus
nicht die Tora als solche, sondern nur ihren speziellen Gebrauch, insofern sie
durch Sabbat, Beschneidung, Reinheits- und Speisevorschriften lediglich als Si-
cherung des exklusiven Status Israels dient und damit die Völker ausgrenzt.
5) Paulus und das Imperium Romanum. In der neueren amerikanischen Paulus
forschung ist die antiimperiale Paulusinterpretation von Bedeutung (Horsley
2000). Sie betont, dass die paulinischen Briefe nicht nur in der christlichen bzw.
binnen-ekklesialen Sicht zu lesen sind, vielmehr sei zu beachten, was mitschwingt,
was mitgehört und mitrezipiert wird. Der gesamte paulinische Welt- und Ge-
schichtsentwurf und damit der Kern seines Denkens legt eine antiimperiale In
terpretation nahe, denn er ist primär teleologisch und geschichtstheologisch kon-
zipiert. Ihn interessiert v. a. der Triumph Gottes über die feindlichen Mächte,
beim baldigen Ende der Geschichte ist der Machtkampf entschieden, denn alle
Mächte werden Gott bzw. Christus unterworfen. Durch die paulinische Weltsicht
wird das Imperium Romanum grundsätzlich und grundlegend relativiert, die
paulinische Botschaft wirkt faktisch antiimperial. Röm 13,1–7 fügt sich in einen
solchen Interpretationsansatz natürlich nur schlecht ein, innerhalb der antiimpe-
rialen Interpretation wird dieser Abschnitt als eine lediglich taktische Erwägung
des Paulus interpretiert.
1.5. Fazit
Aus den Überlegungen ergibt sich, dass eine historisch wie theologisch sachge-
mäße Paulusinterpretation multifaktoral angelegt sein muss. Paulus lässt sich
nicht monokausal erklären, sondern immer zugleich müssen seine Verwurzelung
im Alten Testament und antiken Judentum, seine Verankerung in den Debatten
des griechisch-römischen Denkens, sein Eingebunden-Sein in die konfliktreiche
Geschichte des frühen Christentums und seine schöpferische Kraft zur Gestal-
tung von Neuem bedacht werden. Die besondere Lebensleistung des Paulus er-
wuchs aus seiner einzigartigen historischen Situation, denn er wurde zwar nicht
zum Begründer, wohl aber zum maßgeblichen Former des Christentums. Paulus
war ein begabter Missionsstratege, aber auch ein bedeutender theologischer Den-
III. Theologische Themen 279
ker; seine Theologie weist eine denkerische Kraft auf. Sie zeigt sich v. a. in der
Umsetzung von religiösen Erfahrungen und Überzeugungen, die Systemqualität
gewinnen mussten, bevor sie eine solche Wirkungsgeschichte entwickeln konnten
wie die Gedanken des Paulus. Um etablierte Deutesysteme wie das Judentum und
den Hellenismus in all ihren Spielarten aufzunehmen, zu verändern und teilweise
abzulösen, musste die paulinische Theologie über Anschlussfähigkeit, Plausibili-
tät und überraschende Momente verfügen. Sie musste sich im Kontext konkur-
rierender Systeme und der maßgeblichen kulturell-religiösen Diskurse der Zeit
behaupten und bewähren. Deshalb ist es angemessen, die paulinische Theologie
auch als bedeutende Denkleistung zu würdigen. Der nachhaltige Erfolg des Chris
tentums im Allgemeinen und der paulinischen Theologie im Besonderen hing
wesentlich auch damit zusammen, dass sie emotional und intellektuell attraktiv
waren und plausible Antworten auf drängende Lebensfragen von Menschen ge-
ben konnten.
Bultmann, Rudolf: Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 71977, 187–353.
Dunn, James D.G.: The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids/Cambridge 1998.
Sanders, Ed P.: Paulus und das palästinische Judentum. EinVergleich zweier Religionsstruk-
turen (übers. von J. Wehnert) (StUNT 17), Göttingen 1985.
Schnelle, Udo: Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003.
Schweitzer, Albert: Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930. 21954. Nachdr. 1981.
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Wrede, William: Paulus (RV I, 5/6), Tübingen 1904. 21907; wieder abgedruckt in: Rengstorf,
Karl Heinrich: Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, Darmstadt 21969, 1–97.
Udo Schnelle
Paulus ist dem irdischen Jesus nicht persönlich begegnet. Seine Bekehrung er-
folgte nach den Passions- und Osterereignissen, seine Briefe setzen die frühe Be-
kenntnisbildung des Urchristentums voraus, auf die er häufig rekurriert (vgl.
etwa 1Kor 8,6; 15,3b-5; Phil 2,6–11; Röm 1,3b–4; 10,9). Das Bekenntnis zum aufer-
weckten und erhöhten Herrn bestimmt auch seine Rezeption von Worten des ir-
dischen Jesus. Paulus versteht seine Theologie demnach nicht als Weiterentwick-
lung von Inhalten der Verkündigung Jesu. Vielmehr sind die sporadischen Re-
kurse auf Worte des irdischen Jesus für ihn nur deshalb von Bedeutung, weil
dieser mit dem auferweckten und erhöhten Herrn identisch ist, der deshalb auch
als Autorität hinter den Worten des Irdischen steht.
Angesichts dessen gewinnt die Frage nach dem Verhältnis der Theologie des
Paulus zur Verkündigung Jesu besondere Brisanz. Ist Paulus »der zweite Stifter des
Christentums« (Wrede), dessen Theologie unverbunden neben der Verkündigung
Jesu steht, oder stellt sie eine sachgemäße Aufnahme und Weiterentwicklung von
280 C. Werk
Impulsen dar, die bereits bei Jesus angelegt sind und von Paulus ungeachtet des
nur marginalen Rekurses auf Worte Jesu entfaltet werden? Dem ist zunächst an-
hand der expliziten Bezüge auf Herrenworte bei Paulus nachzugehen.
Paulus kommt im 1. Korintherbrief an drei Stellen auf Worte des irdischen Jesus
zu sprechen, die er stets auf den »Herrn« zurückführt. Da damit für Paulus und
die frühchristliche Gemeinde der Erhöhte bezeichnet ist, zu dem sich die Ge-
meinde bekennt (vgl. 1Kor 12,3; Phil 2,11; Röm 10,9), wird auf diese Weise die
Identität des Erhöhten mit dem Irdischen zum Ausdruck gebracht. Auch die
Wendung »in einem Wort des Herrn«, mit der Paulus in 1Thess 4,15 eine eschato-
logische Belehrung einleitet, ist eine Autorisationsformel, die das Folgende dem
Erhöhten unterstellt, allerdings keine Bezugnahme auf ein Wort des irdischen
Jesus darstellt. In ähnlicher Weise beruft sich Paulus in 1Kor 14,37 (»Was ich euch
schreibe, ist ein Gebot des Herrn«) auf die Autorität des Jesu, ohne auf ein Wort
des Irdischen zu rekurrieren.
Signifikante Merkmale für die Rezeption von Jesusüberlieferung lassen sich der
Herrenmahlsparadosis in 1Kor 11,23–26 entnehmen ( C.III.5.4.). Wie in 1Kor 15,3
verwendet Paulus auch hier die Termini »empfangen« und »weitergeben«, die als
Termini technici der Traditionsweitergabe zum Ausdruck bringen, dass er eine
bereits ältere Tradition zitiert. Die Herrenmahlsüberlieferung unterscheidet sich
dabei von der in 1Kor 15,3b–5 angeführten dadurch, dass sie direkt auf den Herrn
zurückgeführt wird (»Ich habe vom Herrn empfangen . . .«). Das erklärt sich zum
einen dadurch, dass Paulus in 1Kor 15 ein auf den Tod Christi, seine Auferwe-
ckung und seine Erscheinungen konzentriertes urchristliches Bekenntnis zitiert,
in 1Kor 11,23b-25 dagegen eine auf den irdischen Jesus zurückgeführte Überliefe-
rung. Zum anderen zeigt die Autorisierung der Überlieferung durch den »Herrn«
in 1Kor 11, dass ihre Bedeutung für Paulus aus der Identität des Irdischen und des
Erhöhten resultiert. In der Überlieferung selbst ist deshalb auch vom »Herrn Je-
sus« die Rede, die diese Identität zum Ausdruck bringt (»Der Herr Jesus, in der
Nacht, in der er ausgeliefert wurde . . .«). Die anschließend geschilderten Mahl-
handlungen Jesu werden auf diese Weise durch den erhöhten Herrn zugleich zur
grundlegenden Gestalt der Mahlfeier der nachösterlichen Gemeinde erklärt (»Tut
dies zu meiner Vergegenwärtigung«). Aus diesem Grund nennt Paulus das Mahl
auch »Herrenmahl«, denn es vergegenwärtigt den irdischen Jesus, der zugleich
der auferstandene und erhöhte Herr ist. Die Autorisierung durch den Erhöhten
stellt für Paulus demnach keinen Widerspruch zur Weitergabe einer Überliefe-
rung durch urchristliche Lehrer oder Apostel dar, wie der Verweis, dass auch er
selbst sie empfangen habe, zeigt.
Die Wendung »in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde« (1Kor 11,23b), stellt
gemeinsam mit den Erwähnungen seiner Geburt und seines Todes bzw. Begra-
ben-Werdens (vgl. etwa Röm 1,3; Gal 4,4; 1Kor 15,3) die einzigen Reminiszenzen
III. Theologische Themen 281
an die Geschichte des irdischen Jesus bei Paulus dar. Sie steht in engem Bezug zu
den Passionsereignissen und kennzeichnet die Überlieferung vom letzten Mahl
als einen selbstständigen Teil derselben. Mit dem »Ausgeliefertwerden« spielt
Paulus dabei nicht nur auf den Verrat des Judas an, sondern verweist v. a. auf Gott
als denjenigen, der hinter dem Geschehen von Tod und Auferweckung Jesu steht.
Damit wird der Weg des irdischen Jesus insgesamt unter das Vorzeichen seiner
Sendung durch Gott (vgl. etwa Gal 4,4; Röm 8,3) sowie seiner Auferweckung und
seiner Erhöhung gestellt. Weil sich die Bedeutung Jesu Christi für Paulus darin
konzentriert, stehen auch die Bezüge auf Worte des Irdischen in diesem Horizont.
Bei den die Mahlhandlung deutenden Worten (den sog. »Einsetzungsworten«)
handelt es sich um das einzige wörtliche Zitat des irdischen Jesus bei Paulus, das
allerdings aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf Jesus selbst zurückgeht, son-
dern eine geprägte Überlieferung des Urchristentums ist. Diesen Befund legen
sowohl die sprachliche als auch die inhaltliche Gestalt dieser Worte nahe. Zu be-
achten ist weiter, dass Paulus die zitierten Worte im Anschluss mit einer eigenen
theologischen Deutung versieht, durch die er die urchristliche Mahlfeier als Ver-
kündigung des Todes des Herrn bis zu seiner Parusie interpretiert (11,26).
Die Herrenmahlsüberlieferung zeigt demnach, dass Paulus Worte und Ge-
schick Jesu von seiner Auferweckung und Erhöhung her beurteilt. Sie weist zu-
dem darauf hin, dass Paulus sowohl Bekenntnisse als auch Herrenworte durch
urchristliche Überlieferungsprozesse bekannt geworden sind, in denen sie bereits
eine sprachliche Prägung erhalten konnten. An der von Paulus selbst vorgenom-
menen Interpretation zeigt sich schließlich, dass er diese Überlieferungen auf die
je konkrete Situation der Gemeinde applizierte. Im vorliegenden Fall interpretiert
er das von Jesus eingesetzte Mahl als Verkündigungsgeschehen, in dessen Zen-
trum der Tod des Herrn – konkret: die aus Auferweckung und Erhöhung Jesu
folgende Heilswirkung seines Todes – steht.
Bei den beiden verbleibenden Stellen handelt es sich weder um wörtliche Zitate
noch um geprägte urchristliche Überlieferungen. Vielmehr zitiert Paulus in die-
sen Fällen auf den Herrn zurückgeführte Weisungen sinngemäß mit eigenen
Worten. In 1Kor 7,10 f. nennt er im Zusammenhang der Anordnungen für Verhei-
ratete die Anweisung des Herrn, die Frau solle sich nicht vom Mann trennen und
der Mann seine Frau nicht entlassen. Die thematischen Parallelen in den synop-
tischen Evangelien (Mk 10,6–9/Mt 19,5–8; Mk 10,11 f./Mt 19,9; Mt 5,32; Lk 16,18)
lassen sich evtl. auf Überlieferungen in Markus und Q zurückführen, die in Ein-
zelheiten voneinander abweichen, in Jesu kompromisslosem Verbot der Ehe-
scheidung jedoch übereinstimmen. Dies ist auch die Pointe der von Paulus ange-
führten Weisung.
In den Satz ist eine Parenthese eingeschoben, in der Paulus den Fall einer den-
noch geschehenen Trennung ins Auge fasst. Er konkretisiert die Weisung des
Herrn demnach auf eine Situation in der korinthischen Gemeinde hin. Des Wei-
teren unterscheidet er das Wort des Herrn ausdrücklich von seiner eigenen Wei-
sung, ähnlich wie in 7,25, wo er die »Anweisung des Herrn« (ἐπιταγὴ κυρίου)
282 C. Werk
Die Analogien zur synoptischen Überlieferung, die bei Paulus nicht als »Herren-
worte« gekennzeichnet sind, gehören nicht im eigentlichen Sinn zur »Jesusüber-
lieferung bei Paulus«, denn ohne die Analogien in den Evangelien wären sie gar
III. Theologische Themen 283
der Entstehung der Evangelien die Tendenz zu beobachten, dass ethische und pa-
ränetische Weisungen der Autorität des irdischen Jesus unterstellt und biographi-
schen Erzählungen von seinem Wirken eingeordnet werden. Dies setzt sich in
apokryphen Schriften des 2. Jh., etwa im Thomasevangelium, fort. Des Weiteren
lassen Schriften wie der Jakobusbrief, der 1. Petrusbrief und die Didache erken-
nen, dass urchristliche Lehre mit denselben Formen und Inhalten parallel zu den
Evangelien und auch nach deren Entstehung ohne explizite Zuweisung an Jesus
tradiert werden konnte. Dieser Befund erklärt sich am besten dadurch, dass im
Urchristentum bereits früh ethisch-paränetische Überlieferungen formuliert, zu-
sammengestellt und weitergegeben wurden, die zum Teil aus der Verkündigung
Jesu stammten, aber auch Topoi jüdisch-hellenistischer Ethik und Schriftworte
umfassten. Die generelle Zuschreibung dieser Überlieferungen an Jesus erfolgte
erst auf einer späteren Stufe und auch dann nicht in allen Schriften, sondern vor-
nehmlich in Erzählungen vom Wirken des irdischen Jesus. Bei Paulus besteht die
Notwendigkeit ihrer Autorisierung durch Jesus dagegen noch nicht, und auch in
späterer Zeit konnten sie unter der Autorität der Apostel überliefert werden.
Paulus hatte demnach offenbar nur in den im vorigen Abschnitt aufgeführten
expliziten Rekursen auf Herrenworte Kenntnis von auf den irdischen Jesus zu-
rückgeführten Traditionen. In den zuletzt genannten Fällen partizipiert er dage-
gen an der im Urchristentum ausgebildeten Ethik und Paränese, die als »Lehre
der Apostel« (vgl. Apg 2,42) tradiert wurde und erst im weiteren Verlauf der
Überlieferungsgeschichte die Gestalt sprachlich geprägter Überlieferungen –
etwa in Gestalt von Gnomen oder Chrien – erhielt und in dieser Form in den
Evangelien Bestandteil der Lehre Jesu wurde. Eine gewisse Ausnahme stellt die
Überlieferung vom letzten Mahl dar, die offenbar bereits zu einem frühen Zeit-
punkt die Gestalt einer geprägten Überlieferung erhielt. Angesichts dieses Be-
fundes ist abschließend auf die eingangs notierte Frage nach dem Verhältnis von
Verkündigung Jesu und Theologie des Paulus zurückzukommen.
Die Bedeutung des irdischen Jesus bei Paulus lässt sich weder durch den Hinweis
auf die geringe Anzahl und die gelegentliche Relativierung von Herrenworten
marginalisieren noch umgekehrt durch die Behauptung einer angeblichen Kennt-
nis größerer Teile der Jesusüberlieferung begründen. Es ist vielmehr evident, dass
Paulus die maßgeblichen Themen seiner Theologie aus der Überzeugung heraus
entwickelt hat, dass Gott in Jesus Christus in exklusiver, endzeitlich relevanter
Weise gehandelt hat. Damit nimmt er den Anspruch Jesu auf, der sein eigenes
Wirken als Durchsetzung der Herrschaft Gottes auf der Erde gedeutet hatte. Das
kommt sowohl in den Gleichnissen und Exorzismen Jesu als auch in seinen Mahl-
gemeinschaften und der Unbedingtheit der Forderung, in seine Nachfolge einzu-
treten, zum Ausdruck. In diesen Facetten seines Wirkens wird deutlich, dass sich
Jesus als exklusiver Repräsentant Gottes verstanden hat, an dem vorbei es künftig
III. Theologische Themen 285
keinen Weg zu Gott und seinem Heil gibt. Indem Paulus diesen Anspruch auf-
nimmt und als Offenbarung der rettenden Gnade Gottes in Jesus Christus deutet,
steht er in sachlicher Kontinuität zum irdischen Jesus. Dass er diesen mit dem
erhöhten Herrn identifiziert, ist nur folgerichtig, denn erst Auferweckung und
Erhöhung Jesu setzen dessen Anspruch, bereits als Irdischer in göttlicher Autori-
tät aufgetreten zu sein, endgültig in Kraft.
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Lindemann, Andreas: Die Funktion der Herrenworte in der ethischen Argumentation des Pau-
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Schröter, Jens: Jesus und der Kanon. Die frühe Jesusüberlieferung im Kontext der Entstehung
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christlichen Theologiegeschichte und zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons
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Jens Schröter
Die Christologie des Paulus beruht auf der Einsicht, dass Gott den gekreuzigten
Jesus von den Toten auferweckt und dadurch zum »Herrn über die Lebenden und
die Toten« (Röm 14,9) eingesetzt hat. Die Entfaltung dieses grundlegenden Zu-
sammenhangs durchzieht die paulinische Briefliteratur ebenso, wie sie die Ver-
kündigung des Apostels geprägt hat und bildet somit die Grundlage dessen, was
man als »paulinisches Evangelium« bezeichnet (Stuhlmacher 1968). Die Zu-
sammenschau von Tod und Auferweckung Jesu als Gottes Heilshandeln ist so
bedeutsam, dass Paulus daraus regelrecht eine Gottesbezeichnung formuliert:
»der Jesus, unseren Herrn, von den Toten auferweckt hat« (ὁ ἐγείρας Ἰησοῦν τὸν
κύριον ἡμῶν ἐκ νεκρῶν, Röm 4,24; ähnlich Röm 8,11; 2Kor 4,14; Gal 1,1; vgl. Kol
2,12; Eph 1,20; sowie 2Kor 1,9: »Gott, der die Toten auferweckt«; vergleichbar dem
alttestamentlichen Gottesprädikat »der uns/dich aus Ägypten geführt hat«; vgl.
Ex 13,14; Num 23,22; 24,8).
Paulus hat großen Wert darauf gelegt, dieses Evangelium vom gekreuzigten und
auferweckten Christus nicht von Menschen empfangen, sondern durch eine Of-
fenbarung Jesu Christi erlangt zu haben (Gal 1,10–12) und dadurch zum Apostel
bestimmt zu sein (Gal 1,15 f.; vgl. Röm 1,5). Für das Selbstverständnis des Paulus
286 C. Werk
ist dennoch wichtig, dass er sich im Blick auf die Bekenntnisgrundlagen der
Evangeliumsverkündigung mit den anderen Aposteln verbunden weiß, wenn er
etwa in 1Kor 15 festhält: »Ob ich es nun (sei) oder jene, so verkündigen wir und so
seid ihr zum Glauben gekommen« (1Kor 15,11).
Dieser Überzeugung entspricht es, wenn Paulus an verschiedenen Stellen sei-
ner Briefe auf geprägte Traditionen zurückgreift, welche die Verbindung von Tod
und Auferweckung bzw. Erhöhung Jesu zum Ausdruck bringen. Dazu gehören
v. a. 1Kor 15,3b–5; Phil 2,6–11, aber auch Röm 1,3 f. Nach 1Kor 15,3–5 war die Ver-
kündigung des Paulus genau davon bestimmt: »Denn ich habe euch unter den
ersten Dingen weitergegeben, was ich selbst empfangen habe, dass Christus ge-
storben ist für unsere Sünden gemäß den Schriften, und dass er begraben wurde
und dass er auferweckt wurde am dritten Tag gemäß den Schriften, und dass er
Kephas erschien, danach den Zwölfen.« Paulus führt dieses in der Tradition ge-
prägte Bekenntnis nicht nur als eine zusammenfassende Erinnerung an seine
Evangeliumspredigt in Korinth ein, aufgrund derer die Gemeinde zum Glauben
kam (1Kor 15,1 f.), sondern betont ausdrücklich, auch er habe es bereits empfan-
gen und weitergegeben. Entscheidende Aspekte sind dabei nicht primär histo-
rische Anspielungen an die Passionsgeschichte, sondern die am Anfang stehende
Aussage, dass Christus den Schriften gemäß »für unsere Sünden gestorben« ist.
Die Heilswirkung des Todes Jesu bekommt im Kontext von 1Kor 15 durch die
Entfaltung dieser Tradition im Licht der Auferweckung Jesu und im Horizont der
endzeitlichen Totenauferweckung besonderes Gewicht. Die Beseitigung der Sün-
de und ihrer lebenszerstörenden Folgen wird für die Glaubenden als Wirkung des
Todes Jesu dadurch zur Realität, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat.
Anlass für die ausführliche Argumentation ist die Bestreitung der endzeitlichen
Totenauferweckung durch einige Glieder der korinthischen Gemeinde (1Kor
15,12; Sellin 1986). Mit einer solchen Auffassung wird für Paulus nicht einfach
eine spekulative und damit unverbindlich bleibende Auseinandersetzung um
eine postmortale Existenz eröffnet, sondern die Teilhabe der Glaubenden am Heil
bzw. ihre Rettung im Gericht grundsätzlich infrage gestellt. Das Problem ergibt
sich aus dem Zusammenhang zwischen Tod und Auferweckung Jesu einerseits
und den Wirkungen des Todes Jesu für die Glaubenden andererseits: Wenn Tote
(grundsätzlich) nicht auferstehen, so die Argumentation des Paulus, dann kann
auch Christus nicht auferstanden sein; wenn aber Christus nicht auferstanden ist,
dann sind nicht nur die Apostel Lügner, die derartiges verkündigen, sondern
dann »ist euer Vertrauen nichtig (und) ihr seid noch in euren Sünden« (15,17).
Mit einer durch den Begriff »Sünden« (ἁμαρτίαι) konstituierten Inklusion zu 15,3
macht Paulus deutlich, dass unter solchen Voraussetzungen auch der Tod Jesu
keine soteriologische, d. h. die Folgen der Sünde tilgende Wirkung hätte. Erst die
Auferweckung Jesu macht aus dem Tod Jesu ein Heilsgeschehen. Mit der gene-
rellen Infragestellung der Totenauferstehung wird jedoch implizit auch die Reali-
tät der Auferweckung Jesu verneint und damit dem Heilsgeschehen die Grundla-
ge entzogen.
III. Theologische Themen 287
Im sog. Christushymnus Phil 2,6–11 ist der Tod Jesu in einen Prozess der Er-
niedrigung und Erhöhung eingebunden. Der von Paulus als eine vorgegebene
Tradition übernommene Text (U. Müller 1988, bes. 20 f.; Brucker 1997, 311 u. ö.,
plädiert für paulinische Verfasserschaft; zur Auslegung Schwindt 2006) inter-
pretiert den Tod Jesu als die Selbsterniedrigung eines »Gottgleichen« (ἐν μορφῇ
θεοῦ ὑπάρχων . . . τὸ εἶναι ἴσα θεῷ, 2,6). Diesen Aspekt der Erniedrigung unter-
streicht Paulus durch die Ergänzung, dass es der »Tod des Kreuzes« (θάνατος
σταυροῦ, 2,8) gewesen sei, was seiner Behandlung des Kreuzesthemas auch sonst
entspricht (aaO. 30–35; anders Hofius 21991, bes. 4–17). Interessanterweise und in
Abweichung von dem sonstigen Interpretationszusammenhang bei Paulus ist im
Philipperbrief-Hymnus der Tod Jesu nicht mit der Auferweckung, sondern mit
seiner Erhöhung durch Gott (2,9) verbunden. Dass Paulus an dieser Stelle nicht
auch den Topos der Auferweckung ergänzt, lässt den Schluss zu, dass für ihn die
Erhöhung Jesu durch Gott seine Auferweckung aus dem Tod einschließt. Deut-
licher geht dies aus Röm 8,34 hervor: Im Kontext seiner den ersten Hauptteil des
Römerbriefs abschließenden Ausführungen über die Tröstung der Glaubenden
angesichts der endzeitlichen Bedrängnisse beantwortet Paulus die Frage, wer die
Erwählten Gottes verurteilen würde, mit dem dreiteiligen Bekenntnis: »Christus
Jesus, der Gestorbene, vielmehr aber, der Auferweckte, der auch zur Rechten Gottes
(ist), der wird auch für uns eintreten« (Horn 1992, 404–428, bes. 418 f.). Sterben,
Auferweckung und Erhöhung Christi bilden für Paulus drei Aspekte eines Heils-
geschehens.
Vergleichbar dem Philipperbrief-Hymnus, jedoch mit anderen Formulie-
rungen, thematisiert Röm 1,3 f. denselben Zusammenhang: Paulus charakterisiert
das »Evangelium Gottes« (1,1) mit Rückgriff auf eine weitere Tradition, in der die
menschliche Herkunft Jesu aus dem Geschlecht Davids (1,3) seiner »Einsetzung
als Sohn Gottes in Kraft aufgrund der Totenauferstehung (ἐξ ἀναστάσεως
νεκρῶν)« gegenübergestellt wird. Es ist umstritten, in welcher Weise die Verbin-
dung der Einsetzung des Sohnes »in Kraft« (ἐν δυνάμει) mit der Auferstehungs-
vorstellung zu interpretieren ist. Oft wird es so verstanden, dass Jesus Christus
durch seine oder seit seiner Auferstehung von den Toten als Sohn Gottes einge-
setzt sei (Strecker 1996, 72: »seit [seiner] Auferstehung von den Toten«; anders
Haacker 32006, 28 f.: »kraft der Totenauferstehung«; Stuhlmacher 32005, 186:
»aufgrund der Auferstehung der Toten«). Eine sichere Entscheidung ist ange-
sichts der verschiedenen Interpretationsmuster schwer möglich. Wichtig ist, dass
die Einsetzung Jesu zum Sohn Gottes in einen wahrscheinlich kausalen Zusam-
menhang (ἐκ) mit der Vorstellung bzw. Erwartung der allgemeinen Totenauferste-
hung (ἀνάστασις νεκρῶν) gebracht wird. Dadurch wird die endzeitlich erwartete
Totenauferstehung zum – freilich noch in der Zukunft liegenden – Grund der
Erhöhung Christi. Wie Phil 2,6–11 so formuliert auch die zitierte Tradition in
Röm 1 anders, als Paulus dies vielleicht selbst getan hätte. Vielleicht in Anknüp-
fung an traditionell geprägte Vorstellungen wie Röm 1,3 f. versteht er Jesus als den
»Erstling der Entschlafenen«, durch den die endzeitliche Totenauferstehung
288 C. Werk
dischen Jesus anspielende Begriff des Kreuzes als solcher hat jedoch bei Paulus
keine eigene hermeneutische Funktion im Blick auf die Heilsbedeutung des Todes
Jesu, insofern die Heilswirksamkeit der Lebenshingabe Jesu für die Glaubenden
bei Paulus nicht an der Todesart oder am Ausmaß des Leidens des Gekreuzigten
hängt.
Das lässt sich auch daraus ersehen, dass das Lexem σταυρός κτλ. vorwiegend in
polemischen Zusammenhängen verwendet wird: im Konflikt um die Weisheit in
Korinth (1Kor 1 f.); im Konflikt um das Gesetz (Gal 3,1; 5,11.24; 6,12; übertragen in
2,19; 6,14) und in der Auseinandersetzung mit den »Feinden des Kreuzes Christi«
(Phil 3,18; vgl. 2,8; Schrage 1997, 29 f.). Die Kreuzesbotschaft wird nicht wegen
ihres Bezuges auf ein abstraktes Symbol zur Torheit, sondern wegen der tatsäch-
lichen Schändlichkeit des Kreuzes, an dem Jesus von den Römern hingerichtet
wurde (Hengel 1976; Kuhn 1982). Die Kreuzigung gilt als die »sklavische Todes-
strafe« (servili supplicio, Tac.hist. IV 11), als »erbärmlichste (aller) Todesarten«
(θανάτων τὸν οἴκτιστον, Flav.Jos.Bell. VII 203), und Cicero formuliert in einer
Verteidigungsrede im Blick auf »die grausamste und fürchterlichste Todesstrafe«
(Verr. II 5,165) pointiert: »Schon das Wort ›Kreuz‹ soll fernbleiben nicht nur dem
Leibe der römischen Bürger, sondern auch (ihren) Gedanken, (ihren) Augen, (ih-
ren) Ohren« (nomen ipsum crucis absit non modo a corpore civium Romano-
rum sed etiam a cogitatione, oculis, auribus, Rab. V 16; vor diesem Hintergrund
könnte man die Genitivverbindung ὁ λόγος [ὁ] τοῦ σταυροῦ in 1Kor 1,18 sogar
übersetzen als »das Wort ›Kreuz‹«). Vielleicht ist dies auch der Grund dafür, dass
Paulus im 1. Thessalonicherbrief, im Römerbrief oder auch in den christologisch
wichtigen Passagen des 2. Korintherbriefs die Bedeutung des Todes Jesu ohne ei-
nen spezifischen Bezug zum Kreuz bzw. zur Kreuzigung Jesu entfalten kann (kon-
textuell bedingte Ausnahmen davon sind Röm 6,6 sowie 2Kor 13,4).
Im Galaterbrief prägt Paulus nicht nur – ähnlich wie in 1Kor 1 – den Begriff des
»Ärgernisses des Kreuzes« (σκάνδαλον τοῦ σταυροῦ, Gal 5,11), sondern geht in
der Interpretation des Kreuzestodes noch einen Schritt weiter, wenn er in Gal
3,10–14 die Kreuzigung Jesu unter Bezugnahme auf Dtn 21,23 und als Reaktion
auf einen Vorwurf von jüdischer Seite als Ausdruck eines Fluches versteht (3,13:
γενόμενος ὑπὲρ ἡμῶν κατάρα). Dieser Fluch besteht in der unumgänglichen Ver-
pflichtung auf »das ganze Gesetz«, sofern man die Beschneidung der Heiden als
notwendige Voraussetzung für deren Teilhabe an den Verheißungen versteht:
»Verflucht ist jeder, der nicht bleibt bei allem, was in dem Buch des Gesetzes ge-
schrieben ist, um es zu tun« (Gal 3,10; Zitat aus Dtn 27,26). Jesus – so interpretiert
Paulus – nimmt diesen Fluch stellvertretend für diejenigen auf sich, die unter
dem Gesetz sind bzw. meinen, sich diesem Gesetz unterstellen zu müssen (Del-
ling 1970a, 338). Die Sendung Jesu wird daher als ein Freikauf derer verstanden,
die unter dem Gesetz bzw. unter seinem »Fluch« stehen (3,13; vgl. 4,4 f.), mit dem
Ziel, die Abrahamsverheißung der Gotteskindschaft und damit die Rechtferti-
gung zu empfangen (3,14.29; 4,5–7; vgl. auch 2Kor 5,21: Christus, »der Sünde nicht
kannte, wurde für uns zur Sünde gemacht, damit wir durch ihn zur Gerechtigkeit
290 C. Werk
Gottes würden«). Die Auferweckung Jesu wird in diesen Kontexten des Galater-
briefs – das ist für diesen Brief eigentümlich – nicht ausdrücklich thematisiert, ist
aber von Gal 1,1 her als für Paulus selbstverständliche hermeneutische Perspektive
explizit vorausgesetzt.
Diese Aspekte veranschaulichen die Problematik des Kreuzes in der Verkündi-
gung des Paulus als einer hermeneutischen Herausforderung, die theologisch zu
bewältigen war. Für Paulus ist das Kreuz Jesu nicht deshalb bedeutsam, weil sein
Tod grausam und damit als Opfer für die Sünden besonders wirksam war, wie
dies gelegentlich interpretiert wurde. Das wäre schon deshalb banal, weil Tausen-
de die Grausamkeit des Kreuzestodes erlitten haben. Vielmehr geht es Paulus
darum, deutlich zu machen, dass die Größe von Gottes Handeln darin besteht,
dass er den auf so schändliche Weise Hingerichteten von den Toten auferweckt
und ihm damit eine Würde und Bedeutung verliehen hat, die er aus der Perspek-
tive menschlicher Weisheit oder religiöser Maßstäbe niemals haben könnte (vgl.
1Kor 1,18–31; 2Kor 4,3–6).
Die Bedeutung Jesu und seines Todes erschließt sich für Paulus vielmehr aus
der Begegnung mit dem Auferstandenen (vgl. bes. 2Kor 4,5 f. sowie den gesamten
Zusammenhang bis 2Kor 5,21), die zur Verkündigung des Evangeliums von Gottes
rettender Kraft führt. Programmatisch formuliert Paulus dies in 1Kor 1,18 und
Röm 1,16 f. Der Vergleich dieser beiden Stellen zeigt, dass für Paulus der Begriff
εὐαγγέλιον (Röm 1,16) synonym zum Begriff ὁ λόγος (ὁ) τοῦ σταυροῦ (1Kor 1,18)
stehen kann. Der Begriff »Evangelium« bezieht sich nicht auf die Erzählung von
Leben und Sterben Jesu, sondern auf die Verkündigung der »guten Botschaft« von
Gottes auferweckendem Handeln am gekreuzigten Jesus. In ihrem Vollzug wird
diese Botschaft zur Kraft Gottes (1Kor 1,18; vgl. Röm 1,16 f.), durch welche die
Adressaten dieser Botschaft zum Glauben kommen (1Kor 15,11; Röm 10,17). Unter
der Voraussetzung der die Sündenfolgen tilgenden Wirkung des Todes Jesu wer-
den die Glaubenden vor dem endzeitlichen Zorngericht Gottes gerettet (Röm 5,9;
1Thess 5,9 f.; zur Erwartung des Gerichtes Gottes als dem eschatologischen Hori-
zont des Rettungsgeschehens vgl. Röm 14,10; 1Kor 3,11–15; 2Kor 5,10; 1Thess 1,9 f.;
Wolter 1978, 176–195; Konradt 2003). In dieser Perspektive entfaltet Paulus
dann in Röm 10 die Wirksamkeit der Verkündigung und des daraus entstehenden
Glaubens zum Heil mit dem entscheidenden Bezug auf die Auferweckung Jesu
durch Gott (Fascher 1927, 14–17). Die Gerechtigkeit aus Glauben wird daran er-
kennbar, dass Gott Jesus von den Toten »heraufgeführt« (10,7) hat und die Men-
schen der Wirksamkeit dieser Tat Gottes zu ihrem Heil vertrauen (10,9): »Wenn
du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und in deinem Herzen darauf ver-
traust, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet werden.«
Röm 5,6.8; 14,15; 1Kor 8,11; 15,3; 2Kor 5,14 f.; 1Thess 5,10; sie fehlt im Phil) oder auch
des Dahingebens bzw. Dahingegeben-Werdens ([παρα]διδόναι, Röm 4,25; 8,32;
1Kor 11,23; Gal 1,4; 2,20). So beschreibt Paulus etwa in Röm 4,24 f. die Zueignung
der Gerechtigkeit in Analogie zu Abraham für die, »die an den glauben/auf den
vertrauen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, welcher wegen unserer Über-
tretungen dahingegeben wurde und wegen unserer Gerechtmachung auferweckt
wurde.« Indem Gott Jesus von den Toten auferweckt, verleiht er dem Sterben Jesu
eine besondere Bedeutung. Diese besteht darin, dass Jesu Tod »wegen unserer
Übertretungen« (Röm 4,25) bzw. »für die Sünder« (Röm 5,8) eine die Folgen der
Sünden tilgende Wirkung zukommt und damit eine Befreiung aus der tödlichen
Macht der Sünde ermöglicht (Röm 3,21–26; 6,10 f.23; Söding 2005). Der Auferwe-
ckung kommt somit eine hermeneutische Funktion im Blick auf die Hingabeaus-
sage zu, insofern es durch die Auferweckung möglich wird, Jesu Tod als eine Hin-
gabe »wegen unserer Übertretungen« zu verstehen.
Die hermeneutische Funktion der Auferweckung Jesu im Hinblick auf den Zu-
sammenhang zwischen dem Tod Jesu und der Sünde besteht darüber hinaus da-
rin, dass dadurch ein neues Verständnis von Gesetz und Gerechtigkeit möglich
und notwendig wird. Indem Gott mit der Auferweckung Jesu die Grundlage des
Vertrauens auf die Verheißung des Heils selbst geschaffen hat, bekommt der Tod
Jesu eine rechtfertigende, versöhnende oder auch rettende Wirkung für die da-
rauf Vertrauenden (Röm 5,11; 2Kor 5,18–21; Wolter 1978). In der Taufe wird die-
ses Geschehen für den einzelnen Glaubenden in besonderer Weise anschaulich,
insofern sie den Zusammenhang von Tod und Auferweckung Jesu im Blick auf
das Heil der Glaubenden abbildet. Paulus versteht die Taufe als Symbol des Mit-
sterbens – ja sogar »Mitgekreuzigt«-Seins des alten Menschen (Röm 6,6) – mit
Christus (6,8). In der Identifikation mit dem Tod Jesu (vgl. 6,5.11) wird die Wirk-
macht der Sünde gebrochen und neues Leben möglich aufgrund der Gewissheit
der Auferweckung Jesu durch Gott (6,4.9–11). In Röm 6,13 geht Paulus sogar so
weit, dieses Geschehen mit einer »Lebendigmachung aus den Toten« (ὡσεὶ ἐκ
νεκρῶν ζῶντας) gleichzusetzen. Während jedoch für Paulus die Auferstehung der
Glaubenden in Analogie zur Auferstehung Jesu ein konsequent zukünftiges Ge-
schehen bleibt (vgl. auch 1Kor 6,14; 15,22; Horn 1992, 176–178), wird die bereits in
Röm 6,13 inhärente gegenwärtige Dimension dieses Geschehens in Kol 2,12 und
3,1 stärker aufgenommen und in Eph 2,6 schließlich vollends im Sinne einer prä-
sentischen Auferstehung der Glaubenden in der Taufe interpretiert. Im Unter-
schied dazu polemisiert 2Tim 2,18 gegen Christen, die behaupten, die Auferste-
hung sei schon geschehen.
Ähnlich wie in Röm 6 werden auch in 2Kor 5,14 f. Tod und Auferweckung Jesu
in ihrer Wirkung auf das Leben der Glaubenden beschrieben: »Einer ist für alle
gestorben, folglich sind sie alle gestorben. Und er ist für alle gestorben, damit die
Lebenden nicht mehr für sich selbst leben, sondern für den, der für sie gestorben
ist und auferweckt wurde« (vgl. Röm 14,8 f.; 1Thess 5,10). Die Neuheit des Lebens
aus der Kraft der Auferstehung besteht nach Paulus konkret darin, dass diejeni-
292 C. Werk
gen, die auf die an Christus gebundene Verheißung Gottes vertrauen, gerechtfer-
tigt sind (Delling 1970b; bereits Fascher 1927, bes. 16 f.21). Damit sind die Glau-
benden frei vom »Fluch des Gesetzes«, dessen Funktion darin besteht, die Sünde
des Menschen aufzudecken (Röm 3,20; Gal 3,10–14). Die Kraft dieses neuen Le-
bens ist der Geist, der die Glaubenden bereits in ihrer leiblichen Existenz verwan-
delt und zu einer »neuen Schöpfung« werden lässt (2Kor 5,17). Als »Angeld« der
zukünftigen Erlösung macht der Geist die Verheißung gewiss (2Kor 1,22; 5,5;
Horn 1992, bes. 391–394), und dieser Geist wird schließlich auch die endgültig die
Leiblichkeit verwandelnde Kraft in der eschatologischen Auferstehung sein (1Kor
15,44: σῶμα πνευματικόν/geistiger bzw. vom Geist bestimmter Leib).
2.2.4. Die Leiden Christi und das Leben aus der Auferstehung
Während also die Auferweckung Jesu für die Deutung seines Todes als Heilsereig-
nis bei Paulus eine zentrale Rolle spielt, tritt die Passion Jesu im eigentlichen Sinn
der erinnernden Erzählung in den Hintergrund. Der konkrete Weg Jesu in sein
Leiden und Sterben, wie er in den Evangelien auf unterschiedliche Weise erzählt
und etwa auch im 1. Petrusbrief vorausgesetzt und theologisch interpretiert wird
(1Petr 2,21–25), ist für Paulus in seinen Briefen kein eigenständiges theologisches
Thema.
Ob und inwieweit man bei Paulus ein Wissen um die historischen Inhalte des
Lebens und hier speziell der Passion Jesu voraussetzen kann, ist nach wie vor
umstritten (zur Geschichte des Problems Häusser 2006, 1–38; in der Sache ist
diese Untersuchung aber zu unkritisch und spekulativ, dazu Lindemann 2008).
Geht man von der grundsätzlichen Wahrscheinlichkeit aus, dass Paulus Jesus
überlieferung in welcher Form auch immer gekannt hat (Dunn 1982, bes. 471 f.),
dann wird man auf Texte verwiesen, die als vor- oder nebenpaulinische Traditi-
onsstücke gelten, allen voran die Herrenmahlsüberlieferung in 1Kor 11,23b–25,
aber auch 1Kor 15,3b–5; Phil 2,6–11; Gal 4,4 sowie Röm 1,3 und Röm 4,25 (Schnel-
le 2003, 98 f.; vorsichtiger Walter 1985; Lindemann 2008).
Die Frage, was Paulus über die Passion Jesu bzw. die Umstände seines Todes
über das schiere Faktum des Kreuzestodes hinaus wusste, ist v. a. deshalb umstrit-
ten, weil es keine expliziten Äußerungen bei Paulus gibt und man nur einige An-
haltspunkte vorsichtig auswerten kann. Selbst mit scheinbar deutlichen Bemer-
kungen wie Gal 3,1 f., Paulus habe bei seiner Erstverkündigung den Galatern Jesus
»als Gekreuzigten vor Augen gemalt« (κατ’ ὀφθαλμοὺς Ἰησοῦς Χριστὸς προ-
εγράφη ἐσταυρωμένος, vgl. 1Kor 2,2), wird man zurückhaltend umgehen müssen,
nicht nur wegen des polemischen Kontextes, sondern weil es auch hier im We-
sentlichen um das historische Faktum des Kreuzes als eines hermeneutischen
Problems bei der Deutung des Todes Jesu geht (Weder 1981, 182–186). Immerhin
legen einige Texte zumindest nahe, dass Paulus Elemente der Passionsgeschichte
kannte (vgl. etwa 1Kor 2,8; 11,23–25; 15,3 f. u. ö.). Man kann daher nicht ausschlie-
III. Theologische Themen 293
des Leidens zu erfahren, ist für Paulus die im Modus der Hoffnung reale Vorweg-
nahme dessen, eschatologisch selbst der Auferstehung teilhaftig zu werden (Phil
3,10 f.).
Delling, Gerhard: Die Bedeutung der Auferstehung Jesu für den Glauben an Jesus Christus, in:
Ders.: Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum: Gesammelte Auf-
sätze 1950–1968, hg. v. Hahn, Ferdinand u. a., Göttingen 1970, 347–370.
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rinthischen Problemkonstellation und paulinischen Intention in 1 Kor 1–4, ZNW 94, 2003,
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Christi. Beobachtungen zur paulinischen Leidenstheologie, NTS 35, 1990, 535–557.
Jens Herzer
heute zu keinem Konsens geführt, sodass die Antwort auf die Frage nach dem
traditionellen Sinngehalt der Titel umstritten bleibt.
Es gibt 531 Belege für χριστός im ganzen Neuen Testament; davon findet sich fast
die Hälfte (271) in den sieben echten Paulusbriefen, sodass der Begriff bei Weitem
der am meisten verwendete paulinische Hoheitstitel ist. Χριστός ist ein Verbalad-
jektiv des Verbs χρίειν mit der Bedeutung »(mit Öl/Salbe) bestrichen« = »ge-
salbt«. Das Wort übersetzt in seiner personalen Anwendung das hebräische
māschîah. bzw. aramäische meschîh.ā’ (gräzisiert: Μεσσίας, Messias vgl. Joh 1,41;
4,25) und wird im Griechischen nur in der LXX, dem Neuen Testament und da-
von abhängigen Schriften auf Personen angewandt. Für die semantische Valenz
bedeutet dies, dass der Terminus in einem nicht-jüdischen Kontext als unge-
wöhnlich gelten musste und als Übersetzungsäquivalent von māschîah. / meschîh.ā’
(griech. Μεσσίας) als Terminus jüdischer Religiosität erkennbar war.
Zur Zeit der Entstehung des Christentums wurde – nach dem Ende der König-
salbung mit dem Exil sowie der hohepriesterlichen Salbung nach der Krise unter
Antiochos Epiphanes – die personale Prädikation χριστός im zeitgenössischen
Judentum (wohl unter dem Einfluss von 1Kön 19,16; Jes 61,1; Sach 4,14) lediglich
auf große Gestalten der Geschichte Israels (Patriarchen, Mose, Propheten, aller-
dings nicht Könige!) sowie andererseits auf herrscherliche, priesterliche und pro-
phetische Endzeitgestalten übertragen (Karrer 1990, 95–376), die dadurch je-
weils in Vergangenheit und Zukunft als ideale Träger des Wirkens Gottes ausge-
zeichnet wurden. Sie galten – als »(durch Gott) Gesalbte«! – als besonders von
Gott befugt und ihm einzigartig nahestehend. Für eine Bestimmung des Sinnge-
halts des von Paulus verwendeten Begriffs ist ferner ein allgemein religionsge-
schichtlicher Aspekt von entscheidender Bedeutung: Im antiken Mittelmeerraum
referiert das Wortfeld zur Zeit des Paulus u. a. häufig auf sakrale Salbungen von
Götterstatuen und Kultobjekten allerlei Art sowie von kultischer Gerätschaft (so
auch im Jerusalemer Tempel!), – das Gesalbt-Sein signalisierte Heiligkeit und be-
sondere Gottesnähe und implizierte somit göttliche Präsenz und die segensreiche
Wirkung der betreffenden Gottheit (Material bei Karrer 1990, 173–213).
Bei Paulus bezieht sich die Prädikation χριστός immer auf Jesus und begegnet
in erster Linie in der Form Ἰησοῦς χριστός bzw. Χριστός Ἰησοῦς, ferner absolut
(ὁ) χριστός sowie in verschiedenen Verbindungen mit kyrios (κύριος Ἰησοῦς
χριστός, ὁ κύριος ἡμῶν Ἰησοῦς χριστός ἡμῶν usw.). Schon die Tatsache, dass
Paulus nicht die gräzisierte Form Μεσσίας (Messias) verwendet, zeigt, dass der
Begriff χριστός bei ihm nicht zu einem Eigennamen oder inhaltsleeren Kog-
nomen verblasst war, sondern dass er mit dem Kommunikationspotential der
semantischen Valenz des Wortes gerechnet haben muss. Dies erklärt auch, warum
Paulus gerade dieser Prädikation den Vorzug gab und somit zum Motor ihrer
Verbreitung wurde (Karrer 1998, 140–142).
296 C. Werk
Die Syntagmen Ἰησοῦς χριστός bzw. Χριστὸς Ἰησοῦς sind aller Wahrschein-
lichkeit nach sprachliche Verstetigungen frühchristlicher Bekenntnisse der Form
»Jesus ist (der) christos« (de Jonge 1986). Die Tatsache, dass die Christusprädika-
tion bei Paulus auffällig häufig gerade in (zum Teil alten formelhaften) Aussagen
begegnet, die von Jesu Tod und/oder Auferstehung (vgl. 1Thess 5,9 f.; 1Kor 8,11;
15,1–3; Gal 1,4; 2,21; Röm 5,6.8; 6,3 f.9; 8,34; 10,6 f.; 14,15 u. ö.) und Kreuzigung
(1Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1.13) handeln (bes. Kramer 1963), zeigt an, dass das Christus-
bekenntnis angesichts des Kreuzestodes und aufgrund der Auferstehung formu-
liert worden war und dass dies Paulus noch bewusst war: Die Prädikation besagt,
dass der getötete und auferstandene Jesus als (von Gott) Gesalbter derjenige ist,
der sich in einzigartiger Nähe zu Gott befindet, sodass Gottes Gegenwart sich in
ihm konkretisiert (vgl. 2Kor 4,6; 5,19) und Gottes segensreiches, d. h. rettendes
Wirken darum von ihm ausgeht. Diese fundamentale Sinnstruktur der Chris
tusprädikation hat Paulus in vielfacher Weise entfaltet (Übersicht bei Hahn 1983,
1157–1159). Hier sei nur auf die wohl zum Teil auf ihn selbst zurückgehenden,
präpositionalen Formulierungen verwiesen: διὰ Χριστοῦ, welches Jesus als ver-
mittelnde Instanz Gottes rettenden Handelns zeigt (1Thess 5,9; Gal 1,1; Röm 5,1
u. ö.); ἐν χριστῷ als Bezeichnung für den Raum des heilsamen Wirkens Gottes, in
dem die Heiligen(!) sich befinden (1Kor 1,2; Gal 3,27; Röm 6,3–5 u. ö.), sowie σὺν
χριστῷ als Bezeichnung für die heilsame Schicksalsgemeinschaft Jesu und der
Gläubigen (1Thess 4,14.17; 5,9 f.; 2Kor 13,4; Röm 6,8 usw., s. auch Gal 2,17). Die er-
wähnte traditionsgeschichtliche Herkunft aus dem antiken Judentum wirkt sich
dahingehend aus, dass die Christusprädikation Jesus eine einzigartige, heils- und
offenbarungsgeschichtliche Stellung – vergleichbar nur mit Israels Gründerge-
stalten und Propheten – zuerkannt, ihm ferner die Rolle der zentralen Endzeitge-
stalt zuweist sowie klarstellt, dass durch Jesus als Gottes Gesalbten das Heil unwi-
derruflich an Israel und seinen Gott gebunden wird (vgl. 2Kor 4,6; Röm 9,4 f.).
Κύριος ist nach χριστός der bei Paulus am häufigsten eingesetzte Hoheitstitel für
Jesus. Von den 189 Stellen referieren nur elf mit Sicherheit auf Gott, ca. 160 refe-
rieren eindeutig auf Jesus, während die übrigen eine exegetische Entscheidung
erfordern. Das Nomen κύριος ist im Griechischen eine Bezeichnung für Autori-
tätspersonen, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Bereich Macht bzw.
Herrschaft über andere Personen ausüben (häufig in Verbindung mit Entschei-
dungsvollmacht über sie). Das Wort entstammt ursprünglich der Haushaltster-
minologie und bezeichnete von jeher den Familienvater als Hausherrn, beson-
ders in seinem Status als Besitzer und vollmächtigen Gebieter der Haussklaven.
Durch metaphorische Applikation und Verstetigung breitet es sich nach und
nach auf andere Gesellschaftsbereiche aus, zunächst im frühen Hellenismus als
Bezeichnung für politische Herrscher, danach auf Götter und andere überir-
dische Mächte bzw. Gestalten (Übersicht bei Chr. Zimmermann 2007, 187–193),
III. Theologische Themen 297
schließlich generell als respektvolle Bezeichnung für sozial höher gestellte Per-
sonen.
Bei Paulus begegnet κύριος als Bezeichnung für Jesus alleinstehend als ὁ κύριος
(ca. 100-mal), davon ca. 30-mal in der Form ἐν κυρίῳ, ferner in Syntagmen in
Verbindung mit dem Namen Jesu (ca. 60-mal: κύριος Ἰησοῦς, κύριος Ἰησοῦς
χριστός, ὁ κύριος ἡμῶν Ἰησοῦς χριστός usw.). Nach 2Kor 4,5 ist der Inhalt der
paulinischen Verkündigung »Christus Jesus als Kyrios« (vgl. die traditionelle Be-
kenntnisformel in Röm 10,8 f., 1Kor 12,3), nach Phil 2,11 ist das Bekennen aller
(»jede Zunge«), dass Jesus Christus Kyrios sei, sogar überhaupt das Ziel des Chris
tusgeschehens. Objektiver Grund des Bekenntnisses ist Jesu Auferstehung bzw.
Auferweckung/Erhöhung durch Gott (Röm 10,9; Phil 2,9–11), sodass ein erheb-
licher Teil der paulinischen Kyriosaussagen von dem Wirken des Auferstandenen
handelt, im Besonderen von seinem eschatologischen Wirken (z. B. 1Thess 4,13–
18; 1Kor 4,1–5, Phil 4,5, s. auch Bezeichnungen wie »Tag des Herrn« 1Thess 5,2;
2Kor 1,14 u. ö.). Die stereotypen Verbindungen mit dem Namen Jesu (κύριος
Ἰησοῦς, κύριος Ἰησοῦς χριστός usw.) sind offenkundig sprachliche Verfestigungen
dieses urchristlichen Bekenntnisses, die die Macht, Herrschaft und Herrlichkeit,
die Jesus von Gott übertragen wurden, prägnant zum Ausdruck bringen.
In Phil 2,9–11 erklärt Paulus das Kyrios-Bekenntnis des frühesten Christentums
in Anspielung auf Jes 45,23–25 LXX dahingehend, dass Gott seinen Namen κύριος
(so ca. 6000-mal in der LXX) Jesus verliehen hat. Er signalisiert damit, dass Gottes
Macht und Herrlichkeit uneingeschränkt auf Jesus übertragen wurde (vgl. Röm
10,12), sodass ihm dieselbe Ehre gebührt, ohne jedoch Gottes Gottheit zu gefähr-
den (vgl. Phil 2,11c, s. auch das Nebeneinander von Gott dem Vater und Jesus dem
Herrn in 1Kor 8,6; vgl. auch 12,4–6). Paulus selber trägt dem dadurch Rechnung,
dass er einerseits kyrios fast nur noch für Jesus benutzt, wohingegen die Verwen-
dung von kyrios für Gott zugunsten der Verwendung von θεός und πατήρ auf
wenige LXX-Zitate eingeschränkt ist, dass er andererseits zahlreiche Kyrios-Texte
der LXX christologisiert (z. B. 1Kor 1,31, 2,16; 3,20; 8,6; Röm 10,13; 14,11 u. ö.; dazu
Capes 1992, Chr. Zimmermann 2007, 195–204), sodass vielfach traditionell mit
Gott assoziierte Handlungen und Funktionen auf Jesus übertragen werden. Diese
Verwendung des Kyrios-Titels ist ein charakteristisches Merkmal jener früh-
christlichen Religiosität, die Larry W. Hurtado (Hurtado 1988, 93–124; 2003,
134–153) als »binitarisch« bezeichnet hat.
Die fast stereotype Verwendung des Pronomens der 1. Person in Verbindung
mit kyrios (»unser Herr«: 1Thess 1,3; 1Kor 9,1 u. ö.; vgl. auch μαραναθα (»komm
unser Herr!« bzw. »unser Herr kommt!« in 1Kor 16,22) zeigt an, dass das Bekennt-
nis zu Jesus als Kyrios einen Akt der subjektiven Aneignung des im Kyrios-Begriff
implizierten Macht- bzw. Autoritätsgefälles beinhaltet: Der Gläubige unterstellt
sich damit dem Herrschaftsbereich Jesu und erkennt seinen alleinigen (1Kor 8,6b)
Machtanspruch (vgl. z. B. 1Kor 6,13; Röm 14,7 f.) an. Darum konnotiert die in
Analogie zu ἐν χριστῷ gebildete ekklesiologische Formel ἐν κυρίῳ zu allererst den
Herrschaftsbereich von Jesus, dem Herrn, und dementsprechend begegnet sie
298 C. Werk
(wie der Titel Kyrios überhaupt, vgl. z. B. 1Kor 7,6!) häufig in (impliziten) Mah-
nungen (z. B. 1Thess 3,8; 4,1 u. ö.) und in Begrüßungen (z. B. 1Thess 5,28; Phil 4,23
u. ö.), die so die gemeinsame Zugehörigkeit zum Herrschaftsbereich Jesu hervor-
heben. Entsprechend gilt dies für das gehäufte Vorkommen von Kyrios in jenen
Texten, die vom christlichen Kultmahl (κυριακὸν δεῖπνον = »Herrenmahl«!, 1Kor
11,20) handeln (1Kor 10,12–22; 11,17–34). Wegen des mit der Verwendung von Ky-
rios als Hoheitstitel für Jesus implizierten alleinigen Machtanspruchs Jesu eignet
dieser Prädikation bei Paulus ein Moment der Konkurrenz gegenüber allen ande-
ren gesellschaftlichen, politischen und überirdischen Machthabern bzw. κύριοι
(vgl. 1Kor 7,22 f.; 8,5 f.; 10,21).
Die Prädikation υἱὸς τοῦ θεοῦ u. ä. begegnet bei Paulus nur selten für Jesus (14-
mal: 1Thess 1,10; 1Kor 1,9; 2Kor 1,19; Gal 1,16; 2,20; 4,4.6; Röm 1,3.4.9; 5,10; 8,3.29.32).
Nach 2Kor 1,19 war der Gottessohn Jesus Christus Inhalt der Verkündigung (so
auch Röm 1,1–4.9; Gal 1,16): Die Formulierung ὁ τοῦ θεοῦ υἱὸς Ἰησοῦς Χριστὸς
dort deutet auf eine dahinterliegende Bekenntnistradition der Form »Jesus
(Christus) ist (der) Sohn Gottes« (vgl. 1Joh 4,15; 5,5; Joh 11,27; 20,31; Mt 16,16, fer-
ner Hebr 4,14). Um den Sinngehalt dieser Prädikation bei Paulus näher bestim-
men zu können, ist nach den motiv- und religionsgeschichtlichen Hintergründen
zu fragen. Die Ursprünge der Applikation der Bezeichnung »Gottessohn« auf Je-
sus im frühen Christentum sind umstritten (Hahn 51995, 474–484), wobei es zur
Zeit einen relativen Konsens gibt, dass sie aus alttestamentlich-jüdischen Voraus-
setzungen zu erklären ist. Die weit verbreitete Meinung, sie sei aus der könig-
lichen Messianologie abzuleiten (so z. B. Hahn, Fitzmyer, neuerdings wieder Hur-
tado), lässt sich allerdings (trotz 4Q246) nicht aufrechterhalten (mit Karrer
1998, 191 f.). Sichtet man die Gottessohn-Belege des Alten Testaments und der
frühjüdischen Literatur, lässt sich feststellen: Ob die Begrifflichkeit nun auf Engel
(Gen 6,2.4; Hi 1,6; 2,1; 38,7; Ps 29,1; 82,6; 89,7; Dan 3,25; SapSal 5,5), auf Israel (Ex
4,22; Hos 11,1) oder die Israeliten (Dtn 14,1; 32,5.18 f.; Jes 43,6; 45,11; 63,8; Jer 4,22;
ferner als endzeitliche Verheißung: Jub 1,24 f.; PsSal 17,27; TestJud 24,3; 1Hen
62,11), auf den König (2Sam 7,14; Ps 2,7; 89,27 f.), den Gerechten (SapSal 2,13.16.18)
oder ein Individuum wie Joseph (JosAs 6,3.5; 13,13; 18,11; 21,4; 23,10) usw. ange-
wandt wird – alle haben den einen charakteristischen Zug gemeinsam, dass durch
die Begrifflichkeit eine einzigartig innige Beziehung zu Gott signalisiert wird. Der
Gottessohn ist in besonderer Weise Gott zugehörig bzw. steht ihm besonders
nahe. Die Grundlage dieser Nähe ist jedoch von Kontext zu Kontext unterschied-
lich. Dies dürfte als der semantische Sinngehalt des Ausdrucks betrachtet werden
(die auffällige semantische Nähe zur Christos-Prädikation wirkte sich auch auf
die Bekenntnistradition aus, vgl. etwa 1Joh 4,15; 5,5; Joh 11,27; 20,31; Mt 16,16 usw.).
Die Teilhabe an der durch die Gottessohn-Prädikation angezeigten, einzigar-
tigen Gottesnähe Jesu ist nach 1Kor 1,9 Heilsziel der Berufung der Gläubigen, d. h.
III. Theologische Themen 299
die Gottessohnschaft (υἱοὶ θεοῦ, vgl. Gal 3,26; 4,5 f.), ähnlich Röm 8,28 f. (»gleich-
förmig mit dem Bild des Gottessohnes«): In der mit der Gottessohn-Prädikation
angezeigten besonderen Gottesnähe bzw. Gotteszugehörigkeit Jesu ist das Heil
also präfiguriert. Nach Röm 1,3 f. ist diese einzigartige Gottesnähe in der Auferste-
hung Jesu begründet (vgl. auch 1Thess 1,10b). Entsprechend wird der Paulus
durch Gott offenbarte Auferstandene in Gal 1,16 als Gottessohn bezeichnet. Die
Erhöhung ist in 1Thess 1,10 und Gal 4,6 vorausgesetzt: Jesus befindet sich als Auf-
erstandener und somit als Sohn Gottes im himmlischen Hofstaat, also in unmit-
telbaren Nähe zu Gott. Nach 1Thess 1,10 wird er von dort als endzeitlicher Retter
kommen; nach Gal 4,6 beschenkt Gott die gläubigen Gottessöhne mit dem Geist
des ihm nahen Erhöhten bzw. Gottessohnes. In den Sendungsaussagen Gal 4,4 f.;
Röm 8,3 f. dürfte Paulus sich allerdings auf Traditionen bzw. einen Motivkomplex
beziehen, wonach die Gottessohnschaft auf eine von Jesu Präexistenz bedingte
Gottesnähe zurückzuführen ist. Die Verwendung der Prädikation in den Hinga-
beformeln Gal 2,20; Röm 8,32 lässt sich wahrscheinlich auf einen eigenständigen
Strang der »Sterben- bzw. Sich-hingeben-für«-Überlieferung zurückführen und
ist (wie auch in Röm 5,10) möglicherweise dem Druck des antiken Motivkom-
plexes des Unheil abwendenden Sterbens geschuldet (Eschner 2010).
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David du Toit
»Marána tha – Unser Herr komme« den Gerichtsaspekt aus und fleht einfach das
Kommen des Kyrios herbei. Paulus selbst schließt sich dieser Diktion mehrfach
an (1Kor 4,5; 11,26; Phil 4,5), kann aber auch von der »Offenbarung (ἀποκάλυψις)
unseres Herrn Jesus Christus« (1Kor 1,7) oder abbreviatorisch lediglich vom »Tag
(unseres Herrn Jesus Christus)« (1Kor 1,8; 3,13; 5,5; 2Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,16)
sprechen, der »wie ein Dieb in der Nacht kommt« (1Thess 5,2.4).
Die Bezeichnung dieses Tages als παρουσία τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ,
als »Ankunft unseres Herrn Jesus Christus« (1Thess 3,13; vgl. 2,19; 4,15; 5,23) stellt
innerhalb der frühchristlichen Rede vom »Tag des Herrn« jedoch eine echte In-
novation dar. Und sie bleibt, sieht man einmal von 1Kor 15,23 ab, auch auf den 1.
Thessalonicherbrief beschränkt. Παρουσία (von πάρειμι = »dasein«, »anwesend
sein«) heißt wörtlich »Anwesenheit«, »Gegenwart« (im Gegensatz zu ἀπουσία =
»Abwesenheit«), kann aber auch die »Ankunft« (als Eintritt der Anwesenheit) be-
deuten (so 2Kor 7,6 f.; Phil 1,26). In diesem Sinn sind die »eschatologischen« Be-
legstellen zu übersetzen. Die gelegentlich noch anzutreffende Übersetzung mit
»Wiederkunft«, »Rückkehr«, o. ä. ist philologisch falsch.
Am ausführlichsten informiert 1Thess 4,13–17. Provoziert durch einige Todes-
fälle in der Gemeinde und eine entsprechende Anfrage seitens der Thessalonicher
(vgl. 4,13), sieht sich Paulus veranlasst, etwaige Bedenken der Thessalonicher hin-
sichtlich des Schicksals der Verstorbenen ein für allemal auszuräumen. Er schreibt:
»Denn dies sagen wir euch mit einem Wort des Herrn: Wir, die Übriggebliebenen
(οἱ περιλειπόμενοι), werden den Entschlafenen bei der Parusie des Herrn (εἰς τὴν
παρουσίαν κυρίου) keinesfalls zuvorkommen. Denn der Herr selbst wird auf
Kommando (ἐν κελεύσματι), wenn die Stimme des Erzengels und die Trompete
Gottes ertönt, vom Himmel herabsteigen und die Toten in Christus werden zu-
erst auferstehen. Dann werden wir, die Lebenden, die Übriggebliebenen, zusam-
men mit ihnen entrückt werden auf Wolken zur Einholung des Herrn (εἰς
ἀπάντησιν τοῦ κυρίου) in die Luft. Und so werden wir allezeit mit dem Herrn
sein.«
Dieses »Parusiebild« lässt sich anhand der bereits erwähnten Belege aus dem 1.
Thessalonicher- und dem 1. Korintherbrief noch präzisieren. Zunächst: Der Herr
kommt nicht allein, sondern »mit allen seinen Heiligen« (1Thess 3,13). Dann: Von
der Gemeinde wünscht sich Paulus »untadelige Herzen mit Heiligkeit« (1Thess
3,13) bzw. dass »Geist, Seele und Leib unversehrt und untadelig seien für die Pa-
rusie des Herrn« (1Thess 5,23). Schließlich ist die Gemeinde »unsere Hoffnung
oder Freude oder unser Ruhmeskranz vor unserem Herrn Jesus Christus bei sei-
ner Parusie« (1Thess 2,19) – wobei nicht eindeutig zu klären ist, ob nun der Kyrios
nach dem Vorbild der olympischen oder isthmischen Spiele (vgl. 1Kor 9,24–27)
Paulus mit der Gemeinde für seine erfolgreiche Missionsarbeit bekränzt oder
umgekehrt Paulus dem Kyrios die Gemeinde »anhängt«. Aus 1Kor 15,23 erfahren
wir schließlich noch, dass beim »Lebendig-gemacht-Werden« der Reihe nach
vorgegangen wird: »Ein jeder in seiner eigenen Ordnung (ἐν τῷ ἰδίῳ τάγματι):
Erster (ist) Christus, später (kommen) die des Christus bei seiner Parusie.«
III. Theologische Themen 301
Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in den gegen Endes des 1. Jh. und Anfang
des 2. Jh. n.Chr. datierenden jüdischen Apokalypsen 4. Esra und 3. Baruch. Wäh-
rend dort das Kommen des Menschensohn-Messias jedoch mit dem Anbruch der
messianischen Zeit samt diverser Heilsverheißungen verknüpft ist, der Messias
anschließend stirbt (so 4Esr 7,29) bzw. »in die Herrlichkeit zurückkehrt« (so 3Bar
30,1) und erst dann die allgemeine Totenerweckung mit dem Gericht durch den
»Höchsten« (= Gott) erfolgt (vgl. 4Esr 7,26–44; 3Bar 30,2–5), denkt Paulus aus
verständlichen Gründen – Christus ist ja der »Erstling« der Entschlafenen (1Kor
15,20) – das Herabsteigen des Kyrios mit der Erweckung aller Entschlafenen »in
Christus« zusammen. Und es gibt – in dezidiertem Gegensatz zu 4Esr 12,24
(»Wisse also, dass die Übriggebliebenen weitaus seliger sind als die Gestorbenen«)
– auch keinen Vorrang der περιλειπόμενοι. Den aus den genannten frühjüdischen
Texten ebenfalls bekannten Aspekt, wonach mit der Erscheinung des Gesalbten
jegliche feindliche Macht von ihrem Thron gestoßen wird, betont Paulus erst in 1
Kor 15,24; er ist aber dort trotz des verwendeten Vokabulars ἀρχή (Herrschaft),
ἐξουσία (Macht) und δύναμις (Gewalt) signifikant weniger politisch konnotiert
als in den vergleichbaren jüdischen Schriften. Das hat einen einfachen Grund:
Zwischen der Abfassung des 1. Thessalonicher- bzw. des 1. Korintherbriefs und
der Abfassung von 4. Esra sowie 3. Baruch liegen der jüdische Krieg und die Zer-
störung Jerusalems.
Unter den Schriften, die gemeinhin der »Paulusschule« zugeordnet werden, also
den Deutero- (Kol; Eph) und Tritopaulinen (1.2Tim; Tit; 2Thess), bleibt die Ver-
wendung eines eschatologisch konnotierten Parusiebegriffs die Ausnahme. Zwar
hält man an der Vorstellung vom Kommen des Kyrios zum Gericht am Ende der
Zeiten fest, redet stattdessen aber lieber von der ἐπιφάνεια (Erscheinung) Christi,
die man ohne Fehl und Tadel und vor allem sehnsüchtig erwarten soll (1Tim 6,14;
2Tim 4,1.8; Tit 2,13). Allein der 2. Thessalonicherbrief, der in diesem Fall seine
Abhängigkeit vom 1. Thessalonicherbrief kaum verleugnen kann, greift die Be-
grifflichkeit wieder auf und vollzieht zugleich eine Kehrtwende. Konnte man im
1. Thessalonicherbrief noch auf den Gedanken kommen, die Parusie Christi stün-
de in nächster Zeit bevor, obwohl Paulus selbst sich terminlich keineswegs festlegt
(vgl. 1Thess 5,2–4), so erteilt 2Thess 2,1–12 derartigen Überlegungen eine deutliche
Absage: Vor der »Erscheinung der Parusie« (ἐπιφάνεια τῆς παρουσίας) müsse
noch der vermutlich nach Art apokalyptischer endzeitlicher Drangsale (vgl. etwa
4Esr 5,1–12) vorgestellte »Abfall« (ἀποστασία) und die Parusie des Widergesetz-
lichen (2Thess 2,8 f.; vgl. auch 2,3: »Mensch der Widergesetzlichkeit«, »Sohn der
Bosheit«, d. h. der Antichrist) erfolgen, den der Parusiechristus mit dem »Hauch
seines Mundes« töten werde. Der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefs geht also
von zwei Parusien aus: der Parusie des Antichristen und der Parusie Christi.
Für das übrige Neue Testament sei lediglich der Vollständigkeit halber erwähnt,
dass Matthäus nicht nur die paulinische Parusieerwartung teilt, sondern auch de-
ren begriffliche Schärfung kennt: Den von ihm aus Mk 13 und Q 17 übernom-
menen und zu einer einzigen Endzeitrede verschmolzenen Traditionen vom »Tag
des Menschensohns« fügt er nicht nur den παρουσία-Begriff hinzu (vgl. Mt 24,3
diff. Mk 13,4; Mt 24,27 diff. Lk 27,24; Mt 24,37.39 diff. Lk 17,26.30), sondern zeigt
über Mt 25,1 (ὐπάντησις), dass ihm das für die paulinische Bebilderung der Paru-
sievorstellung in 1Thess 4,13–18 so zentrale Begriffspaar παρουσία und ἀπάντησις
durchaus vertraut war. Darüber hinaus ist der Parusiebegriff den Katholischen
Briefen geläufig. Jak 5,7 f. mahnt angesichts der nahen Parusie zur Geduld, 2Petr
3,11 f. fordert ähnlich wie Paulus im 1. Thessalonicherbrief ein heiliges und from-
mes Leben bis zur »Parusie des Tages Gottes« (sic!), verbindet sie allerdings zu-
sätzlich mit der stoischen Theorie vom Weltenbrand (vgl. außerdem noch 2Petr
1,16; 3,4). Für das »Bleiben in Christus« votiert 1Joh 2,23, »damit wir Freimut ha-
ben und uns nicht vor ihm schämen müssen bei seiner Parusie«.
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Bernhard Heininger
hierin eine Systematik, die das paulinische Denken insgesamt bestimme und ins-
besondere das Fundament seiner Rechtfertigungslehre biete.
In der folgenden v. a. durch Rudolf Bultmann und seine Schüler dominierten
deutschsprachigen Paulusinterpretation des 20. Jh. herrschte lange Unklarheit, ob
und inwieweit man die Rede von der »Mystik« des Paulus aufgreifen sollte. Be-
sonders in der Sicht protestantischer Paulusforschung musste »Mystik« stets als
belastetes Interpretament gelten, insofern man die Gefahr einer natürlich-psy-
chologischen Erklärung des paulinischen Denkens bzw. ihrer Reduktion auf Her-
zensfrömmigkeit und subjektive Befindlichkeit erkannte. Albrecht Ritschls Ab-
wertung der Mystik als Form religiöser Praxis wirkte dabei nach. Hemmend ka-
men die Vorbehalte gegenüber dem Religionsbegriff zur Auswirkung, wie sie aus
der Dialektischen Theologie resultierten. Man wehrte sich gegen die von Wrede
und Schweitzer vertretene Auffassung, nach der die Rechtfertigungslehre nicht im
Zentrum der Theologie des Paulus stehe, sondern dieses Zentrum vielmehr in
einer hinter ihr liegenden Erlösungsvorstellung zu erkennen sei (vgl. Schweitzers
berühmten »Nebenkrater«; Schweitzer 1930). Erst mit der aus der anglophonen
Paulusforschung hervorgehenden New Perspective on Paul eröffneten sich andere
Möglichkeiten, Schweitzers Ansatz wieder aufzugreifen. Ed P. Sanders erkennt
dort, wo Schweitzer von »Mystik« sprach, ein traditionsgeschichtliches bzw. reli-
gionsgeschichtliches Muster der »Partizipation« (Sanders 1977, 434 f. Anm. 19;
502 u. a.).
Fasst man »Mystik« als Form von Religiosität, die auf eine extraordinäre, inten-
sive und grenzüberschreitende Annäherung bzw. unio (in der Regel) eines einzel-
nen Subjekts mit der Gottheit bzw. göttlichem Wissen – (in der Regel) jenseits
einer institutionalisierten Gemeinschaft mit ihren konventionalisierten symbo-
lischen und initiativen Handlungen – gerichtet ist, so kommen verschiedene Er-
fahrungen für entsprechende Phänomene in Betracht (Cancik 1998, 174–178).
Können Gebet, Meditation, Schweigen und auch asketische Praxis eine wichtige
Rolle spielen, so werden im Blick auf Paulus auch Visionen oder Auditionen im
Zusammenhang »mystischer« Erfahrungen diskutiert (Meier 1998). Beschrei-
bungsbegriffe wie »Ekstase« oder »Enthusiasmus« sind dabei ähnlich wie der Ma-
giebegriff oder auch der Religionsbegriff als solcher durch eine christliche Rezep-
tions- und Forschungsgeschichte belastet, in welcher eine Aufhebung bzw. Relati-
vierung der Unterschiedenheit von Gott und Mensch (zumal durch menschliche
Techniken oder Reproduktion) generell negativ und kritisch bewertet wird (Vor-
wurf der ›Selbsterlösung‹).
Zur Frage der Christusmystik sind insbesondere folgende Aussagenkomplexe
in den Briefen des Paulus zu diskutieren:
An den Stellen, an denen bei Paulus ein formelhafter Gebrauch der Wendung
»in Christus« wahrscheinlich zu machen ist, sollte zunächst nicht von einer über-
geordneten Systematik (wie der eines pneumatischen Korpus o.Ä.) ausgegangen,
sondern vielmehr der jeweilige Kontext strikt beachtet werden. Insbesondere sind
die Vorstellung vom »Leib Christi« (vgl. 1Kor 12,13) und die »in Christus«-Aussa-
III. Theologische Themen 307
3. Christologische Theologie
Die paulinische Rede von Gott ist am adäquatesten als christologischer Monothe-
ismus zu bezeichnen (Vollenweider 2003, 1046). Paulus hält zwar in biblischer
Tradition daran fest, dass nur einer Gott ist (vgl. Gal 3,20), aber er versteht diesen
einen Gott zugleich ganz aus seinem Bezug auf ein anderes seiner selbst, Jesus
Christus. Dieser Monotheismus, der die Dualität transzendiert, aber nicht auf-
hebt, hat eine doppelte Stoßrichtung, die in einer zweifachen Neubenennung
zum Ausdruck kommt. Dass »Gott in Christus war«, wie es eine paulinische Spit-
zenformulierung in 2Kor 5,19 sagt (dazu Hofius 2004, 225–236), bedeutet zum
einen, dass das Verständnis Christi von seiner Gemeinschaft mit Gott her be-
stimmt ist. Dafür stehen bei Paulus wie im ganzen Neuen Testament die beiden
Hoheitsitel Christus und Sohn Gottes. Daneben aber tritt v. a. in der paulinischen
Christologie als dritter Titel »Kyrios«. Dieser ist in der Septuaginta, der Heiligen
Schrift der ersten Christen, die griechische Übersetzung des Tetragramms, und
zwar von Anfang an (Hanhart 1994, 8 f.), was auch der Sprachgebrauch Philos
bestätigt. Jesus erhält somit nicht weniger als Gottes eigenen Namen.
Die Dramatik dieser Namensübertragung beschreibt der wohl vorpaulinische
Philipperbrief-Hymnus, der die Verleihung des »Namen[s] über jedem Namen«
(Phil 2,9) als Reaktion Gottes auf Jesu Leben deutet. Dieser »carmen Christi in
strengem Sinne« (Lohmeyer 21962, 7) schildert in seinem ersten Teil die Mensch-
werdung als Selbsterniedrigung dessen, der sich seiner göttlichen Gestalt entäu-
ßerte und die Gestalt eines Sklaven annahm. Ist hier Christus handelndes Subjekt,
310 C. Werk
so ist es im zweiten Teil Gott, der die Selbstentäußerung, die im Tod am Kreuz
und damit in der Preisgabe aller Eigenständigkeit kulminiert, mit der Erhöhung
zu einer einzigartigen Würde beantwortet. Das hat umstürzende Konsequenzen:
Vor dem solchermaßen ausgezeichneten Gekreuzigten Jesus Christus »beugt sich
jedes Knie, derer im Himmel und auf der Erde und unter der Erde« (Phil 2,10),
d. h. ihm wird die sowohl in prophetischer Tradition wie in den Psalmen bezeugte
eschatologische Huldigung vor Yhwh zuteil (Hofius 1976, 41–55), er partizipiert
an Gottes (All-)Macht. Entsprechend übernimmt Christus bei Paulus Funkti-
onen, die in der Tradition ausschließlich Gott zukommen – von der Erhaltung
der Schöpfung (1Kor 8,6) bzw. deren Vollendung (Röm 5,15–17; 1Kor 15,45) bis
zum Gericht (2Kor 5,10).
Möglich wird die paradoxe Karriere Jesu, weil Gott seinerseits der Selbsternied-
rigung Jesu entspricht, indem er nicht auf seiner göttlichen Einzigartigkeit als
»ein Herr« (κύριος εἷς) (Dtn 6,4 LXX) besteht, sondern Jesus an der Herrschaft
und seinem Herrsein Anteil gibt. Dadurch büßt er nicht an Würde ein – im Ge-
genteil: Die Erhöhung Jesu geschieht, so pointiert der Schlusssatz des Hymnus,
»zur Ehre Gottes des Vaters« (Phil 2,11). In der Erhöhung des Gekreuzigten er-
weist sich Gott als Gott-Vater, was fast ebenso einschneidend ist wie die Übertra-
gung des Kyriosnamens. Denn der in der religiösen Umwelt sowohl im Alten Ori-
ent wie im griechisch-römischen Bereich für den jeweils höchsten Gott geläufige
Vatername wird im Alten Testament weitgehend gemieden (17-mal gegenüber
knapp 7000 Belegen für das Tetragramm und etwa 2600 für Ĕlōhîm). Noch im
Judentum der zwischentestamentlichen Literatur ist »die Bezeichnung Gottes als
Vater relativ und die Anrede Gottes als Vater sehr selten« (Hengel 2006b, 530;
Chr. Zimmermann 2007, 42–64). Die bei Paulus gehäuft begegnende und theo-
logisch reflektierte Verwendung der Rede von Gott als Vater ist somit ein eindeu-
tiges Signal dafür, dass das paulinische Gottesbild konsequent christologisch be-
stimmt ist: Gott ist der »Vater unseres Herrn Jesus Christus« (Röm 15,6 u. ö.) und
als solcher dann auch der Vater der Glaubenden. Die christologische Bestimmt-
heit der Rede vom Vater zeigt sich auch darin, dass Gott aramäisch und mit einer
offenbar feststehenden griechischen Übersetzung als ἀββὰ ὁ πατήρ angerufen
wird. Die Vateranrede wird so bis in den Wortlaut hinein auf Jesus zurückgeführt
(Mk 14,36); es ist sein Gottesverhältnis, in das die Glaubenden eintreten. Es ist
nicht verständlich, warum Paul-Gerhard Klumbies in seiner Monographie der
Vaterschaft Gottes bei Paulus so gut wie keine Aufmerksamkeit schenkt (Klum-
bies 1992), und auch Neil Richardson zwar deren Wichtigkeit betont (Richard-
son 1994, 314), sie aber nicht auslegt.
Dabei ist und bleibt dieser Vater Jesu Christi der Gott Israels, wie Paulus in al-
len seinen Briefen deutlich macht. Aber das alttestamentliche Gotteszeugnis wird
konsequent als Hinweis auf die Selbstoffenbarung Gottes in Christus gedeutet
(vgl. Röm 1,2–4). So sagt Paulus etwa, dass Abraham »an den Gott glaubte, der die
Toten lebendig macht und das Nichtseiende ins Sein ruft« (Röm 4,17). Damit
wird nicht nur der Schöpfungsgedanke als creatio ex nihilo radikalisiert und zur
III. Theologische Themen 311
Als christologischer Monotheismus ist das Bekenntnis zu dem einen Gott für
Paulus nicht die Satzwahrheit eines göttlichen Singulars, wie besonders seine Ar-
gumentation in 1Kor 8,1–6 zeigt. Dort wird im Kontext der Problematik des sog.
Götzenopferfleisches von Gemeindegliedern die Einzigkeit Gottes unter Beru-
fung auf das Sch’ma als Argument für die Unbedenklichkeit des Verzehrs solchen
Fleisches angeführt: »Wir wissen, dass kein Götze im Kosmos ist und keiner Gott
ist außer dem einen (οὐδεὶς θεὸς εἰ μὴ εἷς)« (1Kor 8,4b). Der Apostel widerspricht
der Aussage als solcher nicht, wie das »wir wissen« zeigt, das bereits in 1Kor 8,1 auf
die gemeinsam geteilte Erkenntnis verweist. Er stellt diese Zustimmung aber von
vornherein unter einen grundsätzlichen Vorbehalt. Als bloße γνῶσις, als verfüg-
bares, ›begriffenes‹ Faktum verfehlt ein solches Wissen das Wesen des einen
Gottes: »Das Wissen bläht auf, die Liebe baut auf. Wenn aber einer meint, etwas
erkannt zu haben, der hat noch nicht erkannt, wie es nötig ist zu erkennen. Wenn
aber einer Gott liebt, der ist von ihm erkannt« (1Kor 8,1b–3). Hier werden im
Blick auf den ›einen Gott‹ zwei Formen der Erkenntnis gegenübergestellt: »Wis-
sen« und »Liebe«. Beider Auswirkungen werden kontrastiert. Das Wissen bläht
auf, denn aufgrund ihres Wissens nehmen sich Gemeindeglieder das Recht he-
raus, Götzenopferfleisch zu essen, denn – so ihr auf den ersten Blick schlagendes
Argument – wenn es keine anderen Götter gibt, ist Götzenopferfleisch Fleisch wie
jedes andere. Damit aber verlieren sie die Geschwister aus den Augen, die noch
nicht ihren Stand der Gewissheit erreicht haben, sondern durch ihre heidnische
Vergangenheit gefährdet sind. Gegenüber der Selbstsicherheit der Wissenden
stellt deshalb der Apostel klar, dass es durchaus noch Mächte gibt, mit denen auch
die Anhänger des einzigen Gottes zu rechnen haben: »Denn wenn es auch gleich
sogenannte Götter gibt, sei es im Himmel, sei es auf der Erde, wie es viele Götter
und Herren gibt« (1Kor 8,5). Die Näherbestimmung jener »Götter« durch »soge-
nannte« (λεγόμενοι) bedeutet zwar eine Einschränkung ihrer Göttlichkeit; sie
sind »von Natur aus keine Götter«, wie Paulus in Gal 4,8 präzisiert. Doch wie
immer es genau um ihren ontologischen Status bestellt ist (dazu Schrage 1995,
237–240), als Mächte und Gewalten (vgl. Röm 8,38 f.) stellen sie »zumindest eine
im Alltag erfahrene Realität dar« (Klauck 2003a, 44), mit deren gefährlicher
Wirkmacht der Glaubende noch rechnen muss. Sie sind in der Lage, den anfäl-
ligen Menschen wieder unter ihre Einflusssphäre zu zwingen. Ihnen nun spielen
die Wissenden in die Hand, weil ihr ›Wissen‹ um die Einzigkeit Gottes und der
312 C. Werk
daraus folgende Umgang mit dem Götzenopferfleisch für die Schwachen keine
Befreiung bedeutet, sondern im Gegenteil deren erneute Auslieferung an die alten
Mächte bewirkt. Deshalb hat der, der sich ohne Rücksicht auf die anderen auf die
Richtigkeit seines Wissens beruft, nach Paulus gerade noch nicht richtig erkannt
(1Kor 8,2). Dem Wissen stellt der Apostel deshalb die Liebe entgegen, welche sich
Gottes nicht durch Begreifen bemächtigt, sondern von diesem ›erkannt‹, d. h. er-
griffen ist und deshalb nicht aufbläht, sondern aufbaut. Nur als selbst von Gott
Ergriffener und daher Liebender kann man recht von dem einen und einzigen
Gott sprechen. Um dies zu verdeutlichen, reformuliert Paulus in einer Sentenz,
der vielleicht ein frühchristliches Bekenntnis zugrunde liegt, das Sch’ma unter
christologischem Vorzeichen: »Aber für uns existiert ein Gott (εἷς θεός), der Va-
ter, aus dem das All [kommt] und auf den hin wir [leben], und ein Herr (εἷς
κύριος), Jesus Christus, durch den das All [besteht] und wir durch ihn« (1Kor
8,6). Der Apostel hält hier an der Einzigkeit des biblischen Gottes so fest, dass
dieser von vornherein nur in der Einheit mit Jesus Christus als Gott »für uns« in
den Blick kommt. Die durch das gedoppelte εἷς betonte Einzigartigkeit Gottes des
Vaters und des Herrn Jesus Christus wird also darin gesehen, dass beide gemein-
sam ein Gegenüber konstituieren: das All und die Gemeinde. Der ›eine Gott und
Herr‹ wird so von denen, die durch ihn und auf ihn hin leben, als eine die Welt
schöpferisch begründende und neu schaffend befreiende Einheit von Vater und
Sohn erkannt und bekannt. Deshalb sagt man zu wenig, wenn man die Würde-
stellung Christi nur auf die »Repräsentanz und Offenbarung Gottes der Welt ge-
genüber« (so Schrage 2002, 144) beschränkt. Wenn dem Bekenntnis zu dem
»ein[en] Gott« das zu dem »ein[en] Herrn« gleichberechtigt beigeordnet wird,
dann ist der »ein[e] Herr« sehr viel mehr als nur ein Mittler, der einen an sich
seienden Gott mit der Welt und den Glaubenden sekundär in Beziehung setzt. Er
gehört vielmehr so zu Gott, dass dieser erst im Bezug zu ihm der »Vater« und
damit er selbst ist.
Vater ist man nur in Bezug auf ein Kind bzw. auf Kinder. Wenn der Beziehungs-
name zum Eigennamen wird, dann impliziert dies, dass die Bindung zu Gottes
Wesen gehört, ja dieses ausmacht. Durch ihn als den »Gott für uns« (Röm 8,31;
vgl. 1Kor 8,6) werden dann auch die Glaubenden neu konstituiert, indem aus
versklavten Geschöpfen Kinder Gottes werden (2Kor 6,18; Gal 3,26–29), deren Ge-
genwart wie Zukunft durch die Gemeinschaft mit dem zum Vater gewordenen
Gott neu bestimmt ist: die Gegenwart durch Loskauf und damit durch Freiheit,
die Zukunft durch das ›Erbe‹ (vgl. Gal 3,29; 4,7). Der Apostel präzisiert diese Aus-
sage nochmals in seinem theologischen Testament, im Römerbrief (8,14–17). Im
Kontext des Römerbriefs stellt die Rede von der Vaterschaft Gottes und der Got-
teskindschaft der Glaubenden eine markante Zuspitzung der Erörterung zur
III. Theologische Themen 313
Rechtfertigung dar. In Röm 1–7 hatte Paulus mit Ausnahme von zwei formel-
haften Wendungen nicht von Gott als Vater gesprochen. Am ersten Höhepunkt
seiner Ausführungen zur Rechtfertigung der Glaubenden in Röm 8 nun gipfelt
diese wie in Gal 4,6 in der Anrufung Gottes als »Abba, Vater« und unterstreicht
dadurch, dass Rechtfertigung υἱοθεσία bedeutet, Adoption durch Gott. Darin grün-
det das Heil: Als Kinder mit Gott verbunden sind die Gerechtfertigten zu ›Erben
Gottes‹ und ›Miterben Christi‹ geworden. Auch wenn die Vorstellung des Erbes
durch die alttestamentliche Tradition von Israels nahalâ, dem »Erbbesitz« beein-
flusst sein dürfte, stellt die Vorstellung vom Beerben Gottes doch ein kühnes
Theologumenon dar, das deutlich macht, dass die Gerechtfertigten als Gottes-
kinder Anteil an Gottes Eigenstem erhalten. Das ist das Zentrum der paulinischen
Theologie und das Revolutionäre seines Redens von Gott als Vater, dass gerade
dadurch, dass Gott in der Hingabe des Sohnes den Zugang zu sich eröffnet hat,
die Glaubenden aus Feinden zu Geliebten geworden sind (Röm 5,1–11) und Anteil
an seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit, an seiner Weisheit und Erlösung erhalten
(1Kor 1,30). Paulus dekliniert das v. a. mithilfe der Argumentationsfigur des bea-
tum commercium durch, des »seligen Wechsels«, wie es die spätere Theologie ge-
nannt hat: »Erkennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, der – obgleich er
reich war – um euretwillen arm geworden ist, damit ihr durch dessen Armut reich
würdet.« (2Kor 8,9). »Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes losgekauft, indem
er um unseretwillen zum Fluch wurde« (Gal 3,13). »[Christus] ist für uns gestor-
ben, damit wir – ob wir nun wachen oder schlafen – zugleich mit ihm leben.«
(1Thess 5,10). Oder von Gottes Handeln her formuliert: »[Gott] hat den, der Sün-
de nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm zur Gerechtigkeit
Gottes würden.« (2Kor 5,21). Dass Gott »uns mit ihm [sc. seinem Sohn] alles
schenkt« (Röm 8,32) bedeutet, dass er als Vater in der Gemeinschaft mit seinem
Sohn das Elend der Menschen auf sich nimmt, um ihnen ›in Christus‹ an seiner
Herrlichkeit Anteil zu geben. Zugespitzt formuliert: Als Vater gibt Gott den zu
seinen Kindern gewordenen Geschöpfen Anteil an seiner Göttlichkeit.
Man kann sich die geradezu ungeheuerlichen Konsequenzen dieses mit der
göttlichen Vaterschaft verbundenen ›Beerbens Gottes‹ daran deutlich machen,
dass zahlreiche Attribute, die im religionsgeschichtlichen Kontext als exklusive
Gottesprädikate fungieren und als solche die differentia specifica des Göttlichen
gegenüber dem Menschlichen auf den Begriff bringen – unsterblich, unvergäng-
lich, ewig, gerecht, heilig – im Corpus Paulinum fast durchweg zu inklusiven so-
teriologischen Prädikaten werden, welche den gegenwärtigen oder zukünftigen
Status der durch Gott in Christus Gerechtfertigten bezeichnen, wohingegen Gott
selbst nun mit Partizipien beschrieben wird, die ihn als den ausweisen, der an den
Glaubenden zu ihrem Heil handelt, indem er sie beruft, gerecht macht, heiligt, sie
mit sich versöhnt, lebendig macht etc. (dazu Feldmeier 2004, 1–22, bes. 17–20).
Wenn der Apostel beim ›Miterben‹ zugleich noch vom ›Mitleiden‹ spricht, macht
er deutlich, dass die Teilhabe an Gottes Wesen noch nicht vollendet ist. Zwar sind
die Glaubenden gerechtfertigt und geheiligt, aber zugleich warten auch sie noch
314 C. Werk
auf die endgültige Erlösung des Leibes (Röm 8,23) und die Verwandlung in das
Bild des himmlischen Adam (1Kor 15,49). Diese Hoffnung aber bestimmt jetzt
schon das Leben und relativiert die Erfahrung des Leidens (Röm 8,18 f.), sodass
Paulus am Ende seiner Ausführungen das Hohelied der sich im Sohn erweisenden
Liebe Gottes singt, die stärker ist als alle Mächte und von der deshalb die Glau-
benden bereits jetzt nichts mehr trennen kann (Röm 8,31–39).
Feldmeier, Reinhard: Paulus, in: Axt-Piscalar, Christine/Ringleben, Joachim (Hg.): Denker
des Christentums, Tübingen 2004, 1–22.
Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann: Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Got-
teslehre (TOBITH 1), Tübingen 2011.
Klumbies, Paul-Gerhard: Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext
(FRLANT 155), Göttingen 1992.
Richardson, Neil: Paul’s Language about God (JSNT.S 99), Sheffield 1994.
Zimmermann, Christiane: Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen
Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont (AJEC 69), Lei-
den u. a. 2007.
Reinhard Feldmeier
3.2. Kreuzestheologie
Für das Verständnis von 1Kor 1–2 ist als historischer Kontext zu beachten, dass die
Kreuzigung in der antiken Welt als schändlichste und zutiefst entehrende Form
der Todesstrafe galt (ausführliche Belege bei Hengel 1976; ferner Shi 2008, 20–
52). Entsprechend tritt mit der gezielten Rede vom Kreuz Christi in 1Kor 1–2,
sosehr die soteriologische Bedeutung des Todes Jesu vorausgesetzt ist (1,18.21 so-
wie auch 1,13), das Schändliche seines Todes (vgl. Hebr 12,2) in den Vordergrund.
Situativer Kontext in 1Kor 1–2 sind die Streitigkeiten und Rivalitäten (vgl. 3,3)
zwischen verschiedenen Gruppierungen in der Gemeinde, die sich jeweils auf ei-
nen auswärtigen Missionar (Paulus, Apollos, Petrus, vgl. 1,12; 3,22) beziehen und
sich seiner rühmen (3,21). Die Streitigkeiten gehen mit einer Begeisterung für die
Weisheit einher, wie die innerhalb der Paulusbriefe auffällige ausführliche The-
matisierung der Weisheit in 1Kor 1–3 zeigt. Es ist umstritten, ob es dabei um einen
durch hellenistisch-jüdische Weisheitstheologie genährten theologischen Ansatz
geht (z. B. Hyldahl 1997, 211–215; Theis 1991, kritisch dazu Konradt 2003a, 194–
210) oder allein um das soziale Phänomen der Hochschätzung von Gelehrsamkeit
und Eloquenz (z. B. Pickett 1997, 37–84), derer sich die Protagonisten der Grup-
pen rühmen, mit denen sie einander zu übertrumpfen suchen und die ihnen als
Legitimationsbasis für ihren Leitungsanspruch in der Gemeinde dienen. In 1,26
erscheint die Weisheit jedenfalls als ein Statusindikator neben (wirtschaftlicher)
Macht und nobler Herkunft. Zudem erscheint rhetorische Kompetenz als ein be-
deutsamer Aspekt der korinthischen Weisheit (1,17; 2,1.4.13; 4,19 f.; Pogoloff
1992, 108–113.129–172; Litfin 1994, 187–209).
Indem Paulus den Gedanken, dass Gott gerade das Kreuz zum Ort seines Heil
stiftenden Handelns erwählt hat, zum Zentrum und Ausgangspunkt seiner Wahr-
nehmung und Wertung der Wirklichkeit macht, werden die etablierten Denkge-
wohnheiten und Lebensorientierungen einer fundamentalen Kritik unterzogen.
In 1Kor 1,18–2,5 entfaltet Paulus dies in dreifacher Hinsicht: 1. als Kritik an
menschlicher Weisheit und religiöser Orientierung an »Zeichen« (1,20–25); 2. als
Kritik an der sozialen Hierarchisierung und am menschlichen Rühmen (1,26–31);
3. als Kriterium für das apostolische Wirken (2,1–5).
316 C. Werk
Vermag die Weisheit den Kreuzeslogos nur als Torheit zu entziffern (1,18), so
wird umgekehrt die Weisheit der Welt von dem am Kreuz zum Heil handelnden
Gott in der ihr eigenen Torheit entlarvt (1,20 f.). Hat die Welt sich bereits zuvor
chronisch als unfähig erwiesen, Gott durch ihre Weisheit zu erkennen (1,21a), so
scheitert die weltliche Weisheit, d. h. menschliches Denkvermögen, vollends am
Kreuz. Sie wird nun durch die Torheit der Verkündigung gänzlich zunichte ge-
macht (1,19.20b.27a).
Das Scheitern menschlicher Weisheit im Blick auf die Erkenntnis Gottes gilt
universal, d. h. für Paulus unterschiedslos für Juden und Griechen. Entsprechend
stellt Paulus in 1,23 das jüdische Fragen nach Zeichen, d. h. machtvollen Erweisen
des Göttlichen, neben das Streben des Griechen nach Weisheit. Die Verkündigung
des Gekreuzigten lässt sich beiden Orientierungsmustern nicht integrieren, son-
dern erscheint Juden als ein σκάνδαλον (Ärgernis) und den Heiden als Torheit.
Umgekehrt stellt das Kreuz die etablierten Denkweisen radikal infrage und wird
damit zur Krisis aller Versuche des Menschen, die Gottheit in seinen Kategorien
zu denken (Vollenweider 2002, 46–50).
In 2,6–16 führt Paulus mit der Rede von der Weisheit Gottes für die Vollkom-
menen nicht über das Wort vom Kreuz hinaus – das Wort vom Kreuz wird hier
nicht zur bloßen Elementarlehre, der eine Unterweisung für Fortgeschrittene zur
Seite gestellt wird –, sondern er usurpiert seinerseits in der durch 1,24.30 bereits
angebahnten Weise den Weisheitsbegriff (Weder 1981, 165–173), indem er der
Weisheit der Welt die Weisheit Gottes antithetisch gegenüberstellt und Letztere
christologisch, d. h. dem Kontext nach staurologisch bestimmt (Wilckens 1980a,
48–59; Voss 2002, 139–199 u. a.). Mittels des traditionellen Motivs der verbor-
genen Weisheit (vgl. Hi 28,12–22; SapSal 9,13–17; 1Hen 42,1 f.; 2Bar 14,8 f. u. ö.) und
des apokalyptisch kolorierten Gedankens der Offenbarung der Geheimnisse
Gottes für die Auserwählten (vgl. 1Hen 61,13; 4Esr 10,38; 2Bar 48,3 u. ö.) wird das
Kreuz als Erfüllung des weisen urzeitlichen Heilsratschlusses Gottes präsentiert
(1Kor 2,7 f.). Menschliches Denkvermögen vermag zur Erkenntnis dieses Heils-
ratschlusses Gottes nicht vorzudringen (2,8 f.). Zugänglich ist diese Kreuzesweis-
heit allein den Glaubenden (»uns«, 2,10), weil sie den Geist Gottes empfangen
haben (2,12), der »alles erforscht, auch die Tiefen Gottes« (2,10). Das Urteil der
Nichtchristen über die Torheit des Wortes vom Kreuz (1,18) wird damit ihrem
niederen Erkenntnisstatus zugeschrieben; als geistlose »Psychiker« können sie die
göttlichen Dinge gar nicht begreifen (2,14).
Auf eine Problematik, die sich aus der erkenntnistheoretischen Dimension der
kreuzestheologischen Argumentation gegen die Weisheit der Welt ergeben kann,
ist hier hinzuweisen: Indem Paulus auf den Geist als Offenbarungs- und Erkennt-
nismedium rekurriert und darüber einen Graben zwischen der menschlichen Er-
kenntnisfähigkeit auf der einen Seite und der pneumatischen Erkenntnis auf der
anderen aufreißt, wird die eigene Position gegenüber der Position der Außenste-
henden, potentiell aber auch gegenüber anders denkenden Christen, immuni-
siert: Wer seiner Position nicht folgt, erweist damit, dass er den Geist nicht hat:
III. Theologische Themen 317
»Der Pneumatiker beurteilt zwar alles, er selbst jedoch wird von niemandem be-
urteilt« (2,15).
Das Kreuz bedeutet nicht nur die Krisis des menschlichen Erkenntnisvermö-
gens, sondern stellt auch die etablierte soziale Orientierung radikal infrage. Wenn
nämlich Gott am Ort der Schande zum Heil der Menschen handelt, werden damit
die kulturell etablierten Werteparameter und die darauf basierenden sozialen
Hierarchien unterlaufen. Die Irrelevanz der üblichen Statusindikatoren illustriert
Paulus in 1,26–31 anhand des Erwählungshandelns Gottes und damit der Zusam-
mensetzung der Gemeinde: Gott hat alles, auf das sich menschliches Geltungsstre-
ben richten könnte und dessen Menschen sich rühmen, als nichtig erwiesen, in-
dem er v. a. Menschen erwählt hat, die nach den gängigen Kriterien nichts (Be-
sonderes) darstellen, nämlich das vor der Welt Törichte, Schwache, Unedle – das,
was nichts ist (1Kor 1,26–28).
Die theologia crucis erfährt damit bei Paulus eine ethische Ausdeutung: Sie im-
pliziert ein Ethos der Niedrigkeit bzw. des Statusverzichts, mit dem das Gel-
tungsstreben und Prestigegerangel der korinthischen »Weisen« unvereinbar ist.
Die übliche Orientierung an Statuspositionen in den sozialen Beziehungen ver-
liert im Lichte des Kreuzes ihre Plausibilität. Positiv gewendet: Die Neustruktu-
rierung des sozialen Miteinanders in der Gemeinde durch die Aufhebung des
gesellschaftlichen »Oben« und »Unten« erscheint als ein Stück angewandter theo
logia crucis. Das Kreuz setzt als Zentrum der christlichen Sinnwelt eine Neustruk-
turierung der sozialen Wertigkeit und damit eine völlig veränderte Weltwahrneh-
mung und -beurteilung aus sich heraus; alles ist aus der Perspektive des Kreuzes
zu sehen und zu werten.
Nach 1Kor 2,1–5 ist das Kreuz ferner Leitkriterium des apostolischen Wirkens
von Paulus. Inhalt und Modus der Verkündigung sind dabei nicht zu trennen:
Damit, dass Paulus inhaltlich Christus als den Gekreuzigten ins Zentrum stellt
(2,2), geht einher, dass seine Botschaft nicht im sophistischen Gewande persua-
siver Rhetorik daherkommt (2,1.4, zur antisophistischen Frontstellung Winter
1997, 114–202). Während die korinthischen Weisen mit ihren gebildeten, rheto-
risch profilierten Entfaltungen des christlichen Glaubens auf der Bühne der Ge-
meinde zu glänzen suchen, verkündet Paulus das Evangelium »nicht in Rede-
weisheit, damit das Kreuz Christi nicht entleert werde« (1,17); sein Auftreten ist
vielmehr durch Schwachheit, Furcht und Zittern gekennzeichnet (1Kor 2,3). Ge-
nau dadurch aber wird zugleich evident, dass die Konversion der Korinther nicht
auf Verführung durch menschliche Überredungskunst beruht – hier ist vielmehr
nur Schwachheit zu verzeichnen –, sondern allein auf Gottes Wirken: Das nach
etablierten Wertungsparametern als Torheit abgelehnte »Wort vom Kreuz« hat
sich darin, dass es Glauben weckte (1Kor 2,5) und Gemeinde schuf (1,26–28), als
wirkmächtiges göttliches Wort, als Kraft Gottes (1,18) erwiesen. Paradoxerweise
zeigt Gott seine Kraft gerade durch menschliche Schwachheit hindurch (vgl.
2Kor 4,7; 12,9).
318 C. Werk
Das Kreuz bestimmt aber nicht nur den von Paulus gewählten Modus seines
apostolischen Wirkens, mit dem er dem Inhalt seiner Verkündigung existentiell
entspricht, sondern charakterisiert umfassend die Situation des Apostels in der
Welt. So entfaltet Paulus die Kreuzessignatur seines apostolischen Wirkens in
1Kor 4,9–13 durch einen Peristasenkatalog, mit dem er das gloriose Selbstver-
ständnis der korinthischen Weisen kontrastiert. Während die betreffenden Ko-
rinther in ihrem Vollendungsbewusstsein schon zu herrschen meinen (4,8), setzt
Paulus einen eschatologischen Vorbehalt (vgl. 1Kor 13,8–12) und verweist auf die
Missachtung als Tor, auf Schwachheit, Verachtung, Schmähung, Hunger etc. als
kreuzförmige Signaturen apostolischer Existenz in dieser Welt: Die Kraft seines
Wirkens stammt allein von Gott (Schrage 1974, 152 f.).
Ist mit dem Wort vom Kreuz nach 1Kor 1,22 f. ein Wirklichkeitsverständnis ver-
bunden, das zu jüdischen wie griechischen Denkweisen gleichermaßen quersteht,
so bricht damit am Wort vom Kreuz die Unterscheidung zwischen Israel und den
Völkern zusammen, während zugleich aus der Haltung zum Wort vom Kreuz
eine neue Differenzierung der Menschheit erwächst: in die Verlorenen, für die das
Wort vom Kreuz eine Torheit darstellt, und die Geretteten, die den Kreuzeslogos
als Kraft Gottes erfahren haben (Wolter 2001, 55). Diese den Unterschied zwi-
schen Juden und Nichtjuden nivellierende Bedeutung des Kreuzes tritt im Gala-
terbrief in den Vordergrund, geht es hier doch um die Widerlegung der von ju-
denchristlichen Missionaren vorgetragenen Position, dass für Heidenchristen
zum Glauben an Jesus als Messias notwendig die Integration in das Gottesvolk
Israel (und damit in den Abrahambund) und die Orientierung an der Tora dazu-
gehören. Das im jüdischen Selbstverständnis konstitutive Gegenüber von Israel
und Völkerwelt bleibt bei den Gegnern des Paulus das strukturierende Element
des Wirklichkeitsverständnisses, in das das Christusgeschehen eingeordnet wird.
Für Paulus stellt hingegen genau umgekehrt das Christusgeschehen das Moment
dar, von dem aus alles andere gesichtet und bewertet wird.
Die Rekurse auf das Kreuz in 1Kor 1–3 und im Galaterbrief weisen auffallende
Entsprechungen auf: Ist Juden das Kreuz nach 1Kor 1,23 ein σκάνδαλον (Ärger-
nis), so spricht Paulus in Gal 5,11 vom σκάνδαλον τοῦ σταυροῦ (Ärgernis des
Kreuzes). Die Abgrenzung vom Kosmos in 1Kor 1–3 (s. 1Kor 1,20 f.27 f.; 2,12; 3,19)
findet in Gal 6,14 ein Pendant. Dem Kosmos zugeordnet ist jeweils die σάρξ
(Fleisch) (1Kor 1,26: σοφοὶ κατὰ σάρκα [Weise nach dem Fleisch], vgl. 3,1–4), wo-
bei Paulus im Gal in seiner Polemik gegen die galatischen Gegenmissionare, die
»im Fleisch gut angesehen sein wollen« (Gal 6,12), ein subtiles semantisches Spiel
mit dem Begriff σάρξ (Fleisch) treibt, indem er einen assoziativen Bogen von der
im »Fleisch« vollzogenen Beschneidung (vgl. 3,3; 6,13) bis hin zur Verwendung
von σάρξ (Fleisch) im Sinne der Anfälligkeit für die Sünde (5,13.16 f.19.24) spannt:
Die die Unterscheidung von Juden und Nichtjuden symbolisierende Beschnei-
III. Theologische Themen 319
dung ist dem Bereich der σάρξ (Fleisch) und damit dem Kosmos zugeordnet.
Schließlich: Wie sich nach 1Kor 1,29–31 kein Fleisch rühmen soll, sondern das
rechte Rühmen allein darin besteht, sich des Herrn zu rühmen, so wirft Paulus
den Gegenmissionaren in Gal 6,13 vor, sie wollten sich nur des »Fleisches« der
Galater rühmen, während es Paulus fernsteht sich zu rühmen, »außer des Kreuzes
unseres Herrn Jesus Christus« (6,14). Basis dieser Konvergenzen ist, dass Paulus
das korinthische Weisheitsgebaren (und das mit ihm verbundene Geltungsstre-
ben) sowie die Differenzierung der Menschheit in Juden und Nichtjuden theolo-
gisch gleichermaßen als Signaturen des Kosmos begreift. Das Kreuz aber markiert
für Paulus das Ende der Geltungsansprüche aller Signaturen des Kosmos; damit
ist zugleich alles Rühmen, das sich an diesen orientiert – sei dies die Weisheit oder
die Beschneidung oder sonst etwas, was eine Gruppe gegenüber anderen aus-
zeichnet und privilegiert –, unmöglich geworden. Umgekehrt formuliert: Um
dem Weiterwirken etablierter Denkweisen – seien diese auch so unterschiedlich
wie der Prestigegewinn durch Weisheit und der Anspruch, als Glied des erwählten
Volkes privilegiert zu sein – im Raum der Gemeinde entgegenzutreten, bot sich
der Rekurs auf das Kreuz für Paulus gerade deshalb an, weil die Rede vom Kreuz
in den Ohren der antiken Zeitgenossen töricht und skandalös klingt und so die
Differenz des christlichen Wirklichkeitsverständnisses zu den überkommenen
Denkweisen pointiert zum Ausdruck gebracht werden konnte.
In eschatologischer Hinsicht findet diese Differenz dahingehend Ausdruck,
dass Paulus gegen die von den Gegenmissionaren behauptete Fortdauer der Un-
terscheidung von Juden und Nichtjuden die temporale Zäsur, die Zeitenwende,
die sich mit dem Christusgeschehen bereits ereignet hat (vgl. 1,4; 3,23–25; 4,4 f.),
betont und die epochenwendende Bedeutung des Christusgeschehens durch den
Rekurs auf den Begriff der neuen Schöpfung (Gal 6,15, vgl. 2Kor 5,17), an der die
Glaubenden in Christus bereits teilhaben, prägnant zum Ausdruck bringt. Dass
Paulus umgekehrt in 1Kor 1–4 den eschatologischen Vorbehalt gegen das korinthi-
sche Vollendungsbewusstsein geltend machte, steht damit nicht im Widerspruch,
sondern ist präziser Ausdruck der bekannten Grundspannung zwischen dem
»schon jetzt« und dem »noch nicht« in der paulinischen Eschatologie. Mit dem
Kreuz lassen sich beide Aspekte prononciert zum Ausdruck bringen: die Differenz
zum bestehenden Äon wie auch das Moment, dass die Gegenwart noch von
Schwachheit (vgl. 1Kor 2,3) und Leiden (vgl. 1Kor 4,9–13 u. ö.) gekennzeichnet ist.
Erscheint schon in 1Kor 1,18–25 die Aufhebung der Unterscheidung von Juden
und Nichtjuden als Implikat der soteriologischen Scheidung der Menschheit, die
sich durch das Wort vom Kreuz vollzieht, so ist es für den Galaterbrief charakte-
ristisch, dass die Rede vom Gekreuzigten hier mit der rechtfertigungstheolo-
gischen Begründung der Aufhebung dieser Unterscheidung verbunden ist. Paulus
rahmt nicht nur die Argumentation in Gal 3,1–5,12, mit der er seine rechtferti-
gungstheologische These von 2,15–21 erläutert, durch die Rekurse auf den Ge-
kreuzigten bzw. das Kreuz (5,1.11; Kuhn 1975, 32 f.). Zugleich bildet auch das Zitat
von Dtn 21,23 in Gal 3,13, wo mit ὁ κρεμάμενος ἐπὶ ξύλου (der am Holz hängt)
320 C. Werk
konkret die Kreuzigung (vgl. 11Q19 64,6–13) als Todesart Jesu in den Blick tritt, ein
wichtiges Glied in Paulus’ schriftbasierter Argumentation. Es wird häufig ange-
nommen, dass Paulus hier ein Stück antichristlicher Polemik, die gegen das
Christusbekenntnis der Jesusanhänger mit Verweis auf Dtn 21,23 Jesus als von
Gott Verfluchten auszuweisen suchte (z. B. Sänger 1994), aufgreift; in jedem Fall
hat Paulus das Zitat auf der Basis des Stellvertretungsgedankens neu interpretiert:
Jesus hat den Fluch, den das Gesetz über die Übertreter verhängt (Gal 3,10), für
diese auf sich genommen (Merklein 1987) und so den Weg frei gemacht, dass der
dem Abraham verheißene Segen, nämlich die Gabe des Geistes (vgl. Gal 3,14),
empfangen werden kann (Söding 1997, 173 f.; Cosgrove 1988). Im Argumenta
tionsduktus findet damit der schon in 3,1 f. angelegte Zusammenhang von Kreu-
zestod und Geistgabe seine Explikation.
Charakteristisch für den Galaterbrief ist sodann, dass Paulus die Existenzwen-
de des Glaubenden mit Kreuzigungsvokabular umschreibt (Kuhn 1975, 37–39).
Gegenüber dem Bestreben der Gegenmissionare, die galatischen Heidenchristen
auf die Tora zu verpflichten, wird die Verbundenheit des Glaubenden mit Chris
tus, das Sein in Christus, als Basis des neuen Lebens namhaft gemacht: Der Glau-
bende ist mit Christus zusammen gekreuzigt (Gal 2,19, vgl. Röm 6,6), wodurch
sein Leben, wie das Perfekt συνεσταύρωμαι (ich bin mitgekreuzigt worden) an-
zeigt, fortan bleibend bestimmt wird (Schnelle 2003, 491). Das schließt ein, dass
der Glaubende durch das Gesetz dem Gesetz gestorben ist (Gal 2,19a), weil Chris
tus den vom Gesetz verhängten Fluch durch seinen Tod am »Holz« auf sich ge-
nommen hat (Gal 3,13), sodass die Christusgläubigen ihn los und nicht mehr un-
ter dem Gesetz sind. Das Sein in Christus impliziert für Paulus sodann Distanz
zum Kosmos: Durch das Kreuz ist ihm die Welt gekreuzigt und er der Welt (6,14).
Dem steht zur Seite, dass die, die zum (gekreuzigten) Christus gehören, ihr
»Fleisch« samt den Leidenschaften und Begierden gekreuzigt haben (5,24). Ent-
spricht dem Kosmos anthropologisch die sarkische Verfasstheit des Menschen, so
korrespondiert dem im Christusgeschehen anhebenden Ende des bestehenden
Äons »das Ende des alten Ego« (Strecker 1999, 270).
Während 2Kor 13,4 das Kreuz mit Schwachheit verbindet (vgl. oben zu 1Kor
2,3), der der Erweis der Kraft Gottes in der Auferweckung des Gekreuzigten zur
Seite steht, stellt Paulus im Philipperbrief-Hymnus durch die Ergänzung der
Rede von der Selbsterniedrigung Christi μέχρι θανάτου (bis zum Tod) um
θανάτου δὲ σταυροῦ (Tod aber am Kreuz) (Phil 2,8) die nicht mehr steigerbare
Dimension der Selbsterniedrigung Christi heraus. Die Rede vom Kreuz schließt
hier deutlich an den Aspekt der mit dem Kreuz verbundenen Schande und tiefen
Entehrung an.
Phil 3,18 lässt sich den Rekursen auf das Kreuz im Galaterbrief zur Seite stellen.
Paulus delegitimiert hier andere Christusverkündiger, die von Heidenchristen die
Beschneidung fordern (3,2) und denen Paulus vorwirft, sich auf das »Fleisch« zu
verlassen (3,3, vgl. Gal 3,3; 6,8.12 f.), in der die Auseinandersetzung abschließenden
Paränese (Phil 3,17–21) als »Feinde des Kreuzes Christi« (3,18). Wie im Galater-
III. Theologische Themen 321
Die leitende Vorstellung, mit der Paulus die Wirkung des Todes Christi aus-
drückt, ist die der χάρις Gottes. Als Geschenk, in seiner charis, erklärt er die sün-
dige Menschheit für gerecht (Röm 3,24; 5,2; 1Kor 1,4; Gal 1,6; 5,4). Charis wird
üblicherweise latinisiert mit »Gnade« übersetzt, beinhaltet aber v. a. den Gedan-
ken des Gunsterweises. Geht man dem Verwendungskontext des griechischen
Wortes nach, wird deutlich, dass zur Erfassung des Wortsinns im Neuen Testa-
ment die Herleitung von dem hebräischen Verb h. nn (Gunst erweisen) und rh. m
(pi., sich erbarmen) sowie von den Nomen h. äsäd (Güte) und rah. amīm (Barmher-
322 C. Werk
Tod Jesu als einen die Menschen rettenden Tod auffasst. Das Kreuz Christi ist eher
etwas, das im Gegensatz zur Weisheit steht (1Kor 1,18.23), Anstoß erregt (1Kor 1,18;
Gal 5,11), weswegen Verfolgung droht (Gal 6,12). Dies ist verständlich vor dem
Hintergrund der Kreuzesstrafe in der griechisch-römischen Antike. Kreuzigung
war die Strafe für Sklaven und Aufständische (Hengel 2008; Kuhn 1982; Cook
2008).
Nun ist daran zu erinnern, dass Jesus verkündigte, dass die Königsherrschaft
Gottes im Anbruch ist, dass er selbst Gott als »Vater« anredete und seine Nachfol-
gerinnen und Nachfolger lehrte, sich Gott als Vater anzuvertrauen. Gerade er fei-
erte am Abend vor seiner Hinrichtung ein Mahl gemeinsam mit seinen engsten
Vertrauten und brach in einem symbolischen Akt das Brot, reichte es den Jüngern
mit den Worten »nehmt, das ist mein Leib« (Mk 14,22). Jesu Nachfolger hatten
schon, bevor Paulus zum Apostel Christi berufen wurde, die Darreichung des ge-
brochenen Brotes als Akt zu ihren Gunsten (»für euch«/ὑπὲρ ὑμῶν) verstanden
(vgl. 1Kor 11,24). Die Frage bleibt aber nach wie vor offen, in welchem Sinne sie
meinten, von seinem Tod zu profitieren.
In der älteren Forschung hat es Tendenzen gegeben, die Auffassung des Paulus
davon, wie der Tod Christi seine Wirkung entfaltet, vor dem Hintergrund der
Opferriten des Alten Testamentes zu verstehen (z. B. Stuhlmacher 32005). Im
Lichte der neueren Forschung über die Hintergründe der von Paulus verwende-
ten Metaphorik ist diese Position kaum länger zu vertreten (vgl. die Kritik bei
Wolter 2009a; 2010b; Eschner I 2010, 29–93). Die altisrealitisch-frühjüdische
Tradition bietet außer Jes 53 kein Modell, in dem der Tod eines Menschen als
Strafübernahme zur Rettung des Lebens eines anderen gedeutet werden konnte.
Philo erinnert uns in seiner Auslegung von Dtn 24,16 (spec. III 153–168) daran,
dass es nach frühjüdischer Auslegung der Tora sogar Verwandten ersten Grades
verboten war, füreinander zu sterben oder ihr Leben hinzugeben, damit ein Kind
oder ein Elternteil aus einer Notlage gerettet wird (Eschner II 2010, 272–276;
Breytenbach 2010, 86–94). Er bedient sich hier der Vorstellung des »Sterbens
für«, einer Vorstellung, die der Erzähler des Johannesevangeliums auch dem am-
tierenden Hohepriester in den Mund legte: »Einer von ihnen, Kajaphas, der Ho-
hepriester jenes Jahres, sagte zu ihnen: Ihr versteht überhaupt nichts. Ihr bedenkt
nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als
wenn das ganze Volk zugrunde geht« (Joh 11,50 f.). Dieses Deutungsmuster, nach
dem ein Mensch für (einen) andere(n) stirbt und sie (ihn) durch den eigenen Tod
aus einer Notlage rettet, geht hauptsächlich auf die Wirkungsgeschichte der Tra-
gödien des Euripides zurück und hat sich in der Kaiserzeit nicht nur bis in die
Spruchtradition und Wandmalerei verbreitet, sondern wurde auch von Juden wie
Josephus, Philo und den Verfassern des 2. und 4. Makkabäerbuchs aufgenommen
(für Einzelheiten Eschner II 2010). Dieses Muster erlaubt es dem jungen Chris
tentum, in Aufnahme des letzten Mahles den Kreuzestod Jesu als Sterben oder
Hingabe »für« die Seinigen zu interpretieren, als Tod, durch den er sie aus einer
ausweglosen Situation des Unheils rettet. Dass eine solche Deutung bereits im
324 C. Werk
In zwei seiner Briefe nimmt Paulus die ihm überlieferte Deutung des Todes Chris
ti zum Ausgangspunkt seiner Argumentation. In Widerlegung der Leugner der
Auferweckung Jesu Christi zitiert er als Anfang einer ihm überlieferten Glaubens-
formel die traditionelle Überlieferung »Christus ist für unsere Sünde gestorben
nach den Schriften« (1Kor 15,3b). Parallel zu dieser Formulierung, die auch »Ster-
beformel« genannt wird, steht im Römerbrief im Kontext, wo es ebenfalls um die
Auferweckung Jesu unseres Herrn geht, eine weitere traditionelle Formulierung
als erster Teil eines Parallelismus: er (gemeint ist Jesus) »wurde dahingegeben für
unsere Übertretungen« (Röm 4,25a). Beide traditionellen Formulierungen, die
Sterbe- und die Hingabeformulierung, beziehen sich auf das gleiche o.g. Deu-
tungsmuster, das via der Rezeption von Euripides bis in die Kaiserzeit wirkte.
Christen vor und neben Paulus greifen auf denselben Spendebereich zurück, als
sie die Kreuzigung Jesu als Sterben Christi für ihre Sünde (1Kor 15,3b) bzw. als
Hingabe für ihre Sünden (Gal 1,4) bzw. Übertretungen (Röm 4,25a) deuten. Auch
wenn man einen Einfluss von Jes 53,6.12 LXX auf die in Röm 4,25a aufgenom-
mene Tradition annähme, könnte es sich nur um den Einfluss der griechischen
Übersetzung des Prophetenbuches handeln, und diese Übersetzung steht ihrer-
seits schon in der Tradition der hellenistisch-kaiserzeitlichen Vorstellung, die
mittels der Sterbe- und Hingabeformulierungen ausgedrückt wird (siehe aus-
führlich hierzu Breytenbach 2010, 83–126).
Dass es sich bei den Sterbe- und Hingabeformulierungen um einen Rekurs auf
denselben Vorstellungshintergrund handelt, sieht man nicht nur daran, wie sich
die Formulierung »X starb für Y« mit der Wendung »A wurde für B dahingege-
ben« in griechischen (Plut.Otho 16,4.6 und 17,3; Cass.Dio 63[64],13,1–3 bei Xiphi-
linos; Aelius Aristides 51,24 f.) und hellenistisch-jüdischen (Philo spec. III 153–57)
Texten abwechseln (Eschner II 2010, 271–285), sondern auch daran, wie Paulus
sich in der Ringkomposition um Röm 5–8 von der Hingabeformulierung (4,25a)
über die Sterbeformulierungen (5,6–8) zurück zur Hingabeformulierung bewegt
(8,32) und wie das Johannesevangelium die Hingabe des einzigen Sohnes (Joh
3,16) durch das Sterben Jesu (Joh 11,50–53) und die Selbsthingabe seines Lebens
(Joh 10,11.15.17 f.; 15,13) wieder aufnimmt. Der freiwillige Tod oder das (Selbst-)
Hingeben »für die Sünde« bedeutet, dass die Kreuzigung so verstanden wird, dass
sie die Folgen der Sünde, die als Übertretungen der Tora verstanden werden, von
»uns« abwehrt. Die Kreuzigung Jesu wird damit als ein Ereignis verstanden, das
diejenigen, denen es zugutekommt, vor den Folgen ihrer Sünden, d. h. vor dem
Untergang im Gericht schützt.
III. Theologische Themen 325
In 1Thess 5,10 ist das Leben mit Christus, in 2Kor 5,18 f. die Versöhnung und in
Röm 5,8 die Rechtfertigung direkt mit dem »Sterben Christi für« verbunden
(Breytenbach 2010, 122–126). In Gal 1,4 ist die Selbsthingabe des Herrn Jesus
Christus bzw. des Gottessohnes mit der Vorstellung der rettenden Befreiung der
Versklavten, in Gal 2,10 mit der Rechtfertigung, in Röm 8,32–34 der Gedanke sei-
ner Hingabe durch Gott mit dem Freispruch im Gericht verbunden. Dabei stellt
sich die Frage, wie sich Paulus die Beziehung zwischen dem Tod Christi »für« und
dem Leben mit ihm bzw. mit der Rechtfertigung des Sünders oder der Versöh-
nung des feindlichen Menschen mit Gott oder der Befreiung des Versklavten
denkt. Jeder Brief setzt zwar eigene Akzente, aber die Rechtfertigungsmetaphorik
in 2Kor 5,21 und Röm 5,8, die Versöhnungsmetaphorik in 2Kor 5,18 f. und Röm
5,9 f., die Loskaufmetaphorik in Gal 3,13; 4,4 und Röm 6,6b; 7,6.24 liegen nicht auf
der gleichen Ebene wie die »Dahingabe für«- und die »Sterben für«-Metaphern.
Fragen wir somit nach dem positiven Effekt des Sterbens Christi bzw. der (Selbst-)
Hingabe des Sohnes und lassen 1Kor 8,11 und Röm 14,15, wo die Sterbeformel der
Begründung der Paränese dient, beiseite.
Nach 1Thess (5,10 f.) ist das bereits abgeschlossene Sterben Jesu Christi für Pau-
lus und die Thessalonicher verbunden mit der endzeitlichen Rettung des Paulus
und der Thessalonicher. Von 5,2 f. her wird deutlich, dass das Zorngericht am Tag
des Herrn plötzlich Vernichtung und somit den Tod für alle bringen würde. Die
Glaubenden haben Hoffnung: Der Sohn, der von dem lebendigen und wahren
Gott von den Toten auferweckt wurde (1,10) und nun als Herr herrscht, wird die
Glaubenden aus dem Zorngericht Gottes retten. Diese Hoffnung, die Paulus mit
den Thessalonichern teilt, kann er auch positiv fassen, und zwar mit einem fina-
len Nebensatz. Ziel des Sterbens Jesu Christi war es, dass die Thessalonicher und
III. Theologische Themen 327
Paulus mit ihm leben werden. Paulus greift hier somit auf die Formelsprache zu-
rück und sieht den Effekt des »Sterbens für« darin, dass die Thessalonicher, ob sie
nun, wenn der Herr vom Himmel herunter kommen wird, bereits entschlafen
sind oder noch leben, zusammen mit dem auferweckten Herrn leben werden.
Wieso Paulus meint, dass der Tod Jesu Christi »für« ein Zusammenleben mit ih-
rem Herrn bewirkt, ist von V. 9 her zu beantworten: Das Sterben Jesu Christi
entzieht diejenigen, für die er gestorben ist, der Vernichtung im endzeitlichen
Zorngericht. Paulus verwendet die formelhafte »Sterbe-für«-Wendung in 1Thess
5,10 also in einem Kontext, in dem Rettung aus der Todesgefahr mitschwingt, der
Fokus aber auf dem weiteren Effekt des »Sterbens für« liegt. Dies ist wohl so, weil
die Partizipialwendung den auferweckten Herrn bestimmt, der Effekt des »Ster-
bens für« aus der Perspektive der Auferweckung des Sohnes gefasst wurde.
Zu Beginn des Galaterbriefs (1,4) wird anders als sonst formuliert, dass näm-
lich nicht der Sohn, sondern der Herr Jesus Christus sich betreffs der Sünden
(περί) oder für die Sünden (ὑπέρ), d. h. zwecks Aufhebung der Folgen der Sünden
hingab. Dies liegt an der Einbindung in den Eingangsgruß des Briefformulars.
Das Ziel der Selbsthingabe ist nach dem anschließenden Finalsatz das befreiende
Herausreißen (ἐξέληται) von Paulus und den Adressaten des Galaterbriefs, »uns«
(ἡμᾶς), aus dem jetzigen bösen Äon (1,4b). Paulus hat die mit dem Sterben Chris
ti parallele Formulierung, dass der Gottessohn sich in Liebe hingab, im Blick, was
bei der Aufnahme der Vorstellung in 2,20 deutlich wird. Dass er als Jude durch das
Mitgekreuzigt-Werden mit Christus dem Anspruch des Gesetzes entzogen wurde,
begründet er unter Aufnahme einer ebenfalls der Wirkung der Euripides-Tradi
tion zu verdankenden Hingabeformulierung, dass der Sohn Gottes sich für ihn,
Paulus, in Liebe dahingab (παραδόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ ἐμοῦ). Damit bereitet er die
Aussage in Gal 3,13 vor, dass Christus »für uns« (ὑπὲρ ἡμῶν), d. h. anstelle derer,
die wie Paulus unter dem Fluch des Gesetzes waren (3,10), zum Fluch (= ein Ver-
fluchter) wurde. Ohne Zweifel lehnt sich Gal 3,13 an die zeitgenössischen Inter-
pretation von Dtn 21,23 (vgl. pNah 3 I 7 f.; T LXIV 7–12) an. Vor welchem Hinter-
grund aber das »für uns« zu deuten ist, zeigen die im Kontext vorangegangenen
Hingabeformulierungen. Von der Sendeformel in Gal 4,4 f. her wird zudem er-
kennbar, dass Paulus die Sendung des Gottessohnes und somit auch seine Selbst-
hingabe in einen größeren zeitlichen Zusammenhang stellt. Als er das Gesetz in
3,19–25 zwischen der Verheißung an Abraham und dem Kommen des Gottes-
sohnes als Erbe der Verheißung einordnet, setzt er an: »Was soll also das Gesetz?
Es wurde wegen der Übertretungen hinzugefügt, bis zum Zeitpunkt, an dem der
Same (Nachkomme) kam, dem (Abrahams Verheißung) versprochen wurde«
(Gal 3,19). Die Rolle des Gesetzes ist dabei klar formuliert: »Aber die Schrift hat
alle (Menschen) durch das Gesetz eingesperrt« (3,22). Es hat dabei auch eine ne-
gative Wirkung, wie Paulus unter Aufnahme von Dtn 27,16 LXX formuliert: »Ver-
flucht ist jeder, der nicht in allem beharrt, was in der Schriftrolle des Gesetzes
geschrieben wurde, es zu tun« (Gal 3,11). Als nun aber der von Gott festgesetzte
Zeitpunkt (für das Kommen des Nachkommens Abrahams) kam, sandte Gott sei-
328 C. Werk
nen Sohn, damit er die unter dem Gesetz freikaufe (4,4). Mithilfe der Metaphorik
des Freikaufs der Sklaven aus der Gefangenschaft unter dem Gesetz reiht Paulus
somit die Hingabe Christi (1,4; 2,20) in den Ablauf der von Gott bestimmten Er-
eignisse ein. Der Sohn, der nach 3,16 der Nachkomme Abrahams ist und dem der
Segen gilt (3,8), tauscht die Rolle mit den Menschen. Stellvertretend für sie, die
das Gesetz übertreten, übernahm er den Fluch, damit sie in ihm den Segen Abra-
hams empfangen können (3,14; vgl. auch 3,8 f.). Wie bereits gesagt, findet dieser
Freikauf aus dem vom Gesetz ausgehenden Fluch durch den Sohn am Kreuz statt
(3,13). Damit wird die Hingabe des von Gott gesandten Sohnes in den Tod zum
entscheidenden Wendepunkt in Pauli Auffassung der Zeit, sie riss die Galater und
Paulus aus diesem bösen Äon (1,4) und befreite Paulus und die anderen Juden-
christen vom Fluch des nicht eingehaltenen Gesetzes (2,19 f.). Seitdem haben Ju-
den und Nichtjuden, die an das Evangelium glauben, als Kinder Gottes an der
Verheißung an Abraham teil.
Paulus greift in 2Kor 5,14 auf die formelhafte Wendung »Christus ist gestorben
für« zurück, damit er ab V. 18 seine Rolle als Botschafter (πρεσβεύειν) der Versöh-
nungsbotschaft (λόγος τῆς καταλλαγής) an die Korinther verdeutlichen kann.
Wie sehr Paulus hier auf den ursprünglichen Herkunftsbereich der Vorstellung
des »Sterbens für« zurückgreift, wird daran deutlich, dass das Sterben des einen
als Tat der Liebe Christi, die Paulus umschließt, eingeführt wird. Dass der oder
die, der/die für die andere stirbt, dies aus Liebe tut, ist ein festes Motiv der Vor-
stellung des unheilabwehrenden Todes (vgl. nur Alkestis oder Makaria bei Eu-
ripides). Der Effekt des Todes »für« liegt darin, dass er Paulus in den Stand setzt
zu verdeutlichen, wie er, der Christus einst nach menschlichem Maßstab beurteilt
hatte, zum Apostel der Versöhnungsbotschaft wurde. An V. 14, der im Rahmen der
Apologie seines Apostolates steht, wird ein weiteres Merkmal der paulinischen
Rezeption des Gedankens des Todes »für« deutlich: »Wenn einer für alle gestor-
ben ist, folgt daraus, dass sie alle gestorben sind.« Die Folgerung des Sterbens des
einen für alle ist nicht, dass sie leben, wie in der Rezeption der Euripides-Traditi-
on üblich, sondern dass sie tot sind. Paulus rezipiert also die Vorstellung in einer
ihm sehr eigenen Weise. Lesen wir diese Aussage in ihrem syntaktischen Zusam-
menhang, der bis V. 17 reicht, wird klar, dass der Tod Christi »für« alle »in Chris
tus« das alte Sein des Menschen beendet, sodass das Alte vergangen ist. Dies gilt
auch für Paulus, der in V. 16 auf seine fehlerhafte Beurteilung Christi als etwas
Vergangenes zurückblicken kann. Wie ist es aber möglich, dass Paulus in V. 17
auch von sich sagen kann, »das Alte ist vergangen«? Vielleicht greift Paulus in
2Kor 5,19 eine als Parallelismus formulierte Aussage zur Versöhnung (καταλλαγή
– mit Hintergrund in der Diplomatensprache der Kaiserzeit) auf, nach der Gott
in Christus die Menschen der Welt mit sich versöhnte, d. h. ihre Beziehung zu ihm
von Feindschaft zu Freundschaft veränderte, indem er ihnen ihre Sünden nicht
anrechnete. Ebenfalls vorpaulinisch könnte die Formulierung in 2Kor 5,21 sein,
nach der Gott Christus, der keine Sünde kannte, an »unserer Stelle« (ὑπὲρ ἡμῶν)
zum Sünder machte. Wie das »in Christus« sich vollzieht, wie das an unserer Stel-
III. Theologische Themen 329
le zum Sünder Gemacht-Werden zu fassen ist, hat Paulus schon vorab in 2Kor
5,14 f. mithilfe der Vorstellung des »Sterbens-für« zum Ausdruck gebracht: »Wenn
einer ›für alle‹ (ὑπὲρ πάντων) gestorben ist . . .« Sowohl der Gedanke, dass es bei
dem »Sterben für« um die Tat eines Einzelnen für die vielen geht, als auch derje-
nige, dass dieser Tod Friede und Eintracht bewirkt, ist im Zusammenhang mit der
Bewertung des freiwilligen Todes Othos im Dreikaiserjahr belegt (vgl. Plut.Otho
16,6; Cass.Dio 63[64],13,3 bei Xiphilinos). In 2Kor 5,11–6,2 ist für Paulus das Ster-
ben Christi (5,14 f.) »für alle« der Ermöglichungsgrund der Neuschöpfung (V. 17),
d. h. des Wechselns von einem Gottesfeind zu einem Versöhnten (V. 19), des Tau-
sches (ὑπὲρ ἡμῶν) vom Sünder zu einem vor Gott Gerechten (V. 21). Verstehen
wir V. 14 von der Metonymie in V. 21 her, kann man interpretieren: Christus ist als
Sünder »für alle« gestorben. Durch den Tod Christi »für alle«, d. h. weil Christus
als Repräsentant aller Menschen als Sünder auch für Paulus gestorben ist, hat er
den Tod aller Menschen, auch den des Paulus, übernommen. Der vorchristliche
Paulus ist tot. Nur so wurde es möglich, dass Gott Paulus in eine freundschaftliche
Relation mit sich brachte (καταλλάσσειν). Durch den Tod Christi – so ist das διὰ
Χριστοῦ in V. 18 zu deuten – versöhnte Gott Paulus mit sich (V. 18). In 2Kor 5,14
greift Paulus also auf die »Sterben-für«-Formulierung als Ermöglichungsgrund
für seinen Dienst der Versöhnung zurück. Paulus als Botschafter (πρεσβευτής)
der Versöhnung kann es nur geben, weil der alte Paulus nicht mehr lebt. Das Ster-
ben Christi als Sünder vernichtete die Vergangenheit des Sünders Paulus und
machte seine neue Beziehung zu Gott möglich. Ein weiteres Merkmal der pauli-
nischen Rezeption liegt in dem ὑπὲρ πάντων V. 14. Diese Universalisierung der
Wirkung des »Sterbens Christi für« korrespondiert mit der Universalität der von
Gott ausgehenden Versöhnung in V. 19. Durch Christus versöhnte Gott die Men-
schenwelt mit sich. Für Paulus ist Christus als Sünder »für alle« gestorben.
Dass die Universalisierung des Todeseffektes mit Pauli Auffassung von der alles
verderbenden Macht der Sünde zusammenhängt, zeigt er im Römerbrief. Mit ei-
ner schon in Röm 5,12 einsetzenden Argumentation hat Paulus Christus dem
Adam gegenübergestellt. Die Sünde, die durch Adam in die Welt hineinkam, er-
griff das Gesetz und versklavt die Menschen. Wie ein Sklave ist der Mensch ver-
kauft unter der Sünde (7,14b); er ist durch das von der Sünde bestimmte Gesetz
als Kriegsgefangener genommen worden (7,23). Aus dieser Lage kann nur Chris
tus Jesus ihn erretten (7,24). Einen Einschnitt in der Zeit markiert der Tod des
gesandten Sohnes nach Röm 8,3 f. Die Formulierung, dass Gott seinen einzigen
Sohn περὶ ἁμαρτίας »betreffs der Sünde« sandte, impliziert, dass er ihn »zur Fort-
schaffung der Sünde« oder – interpretierend – »zur (Wegnahme der Folgen der)
Sünde« sandte (dazu Breytenbach 2010, 27 f.69). Paulus zieht Rechtsterminolo-
gie heran. Wie schon in Röm 6,10 ausgeführt, besteht das Urteil darin, dass Chris
tus stirbt und der Macht der Sünde entzogen wurde. Der Tod des Sohnes wird in
Röm 8,3 verstanden als vorverlegtes Endgericht, in dem das Urteil über die Sünde
als die Menschheit versklavende Macht vollstreckt wird. Man setzt am besten bei
Röm 5,8 ein, denn hier ist die Intention des Paulus am besten zu fassen. Wiede-
330 C. Werk
rum wird das »Sterben Christi für« mit dem Liebesmotiv verbunden, diesmal als
Erweis der Liebe Gottes für die Sünder. Mit dem aufwendigen genitivus absolutus
in V. 8 bestimmt Paulus nämlich das »wir« als Sünder und verwendet so wieder
seinen Gedanken von 2Kor 5,14–21. Analog zum Versöhnungsbild in 2Kor 5,18–20
dient der Gedanke des »Sterbens für« in Röm 5,6–8 dazu, den Tod Christi als Er-
möglichungsgrund der Rechtfertigung der Gottlosen anzuführen. Damit wird
eine Eigentümlichkeit der paulinischen Verwendung des »Sterbens Christi für«
deutlich. Christus ist für die gestorben, die in moralischer Hinsicht schwach,
gottlose Übertreter des Gesetzes waren. Vor dem Hintergrund des »Sterben-für«-
Gedankens fällt auf, dass der positive Effekt des Todes Menschen betrifft, für die
sonst keiner sterben würde. Anders als in der Selbsthingabeformulierung in Gal
2,20 formuliert Paulus in Röm 8,32 in Wiederaufnahme des Gedankenganges von
4,25 und 5,6–8, dass Gott seinen einzigen Sohn »für uns alle« dahingab. Er tut dies
als Antwort auf seine Fragen: »Wenn Gott für uns ist, wer kann gegen uns sein?«
(8,31) und »Wer kann uns trennen von der Liebe, die Christus für uns hat?«
(8,35a). Die Antwort nach 8,35b ist »Niemand«, auch nicht »Bedrängnis oder
Not oder Verfolgung oder Hunger oder Nacktheit oder Gefahr oder Schwert.«
Paulus kann (wie schon in Röm 5,8–11) sich und den Adressaten diese Sicherheit
geben, weil Gott bereits seinen eigenen Sohn »uns allen« dahingab. Im Vergleich
zu diesem bereits gemachten, nicht zu überbietenden Geschenk, nämlich der
Hingabe des eigenen Sohnes in den Tod, ist fest mit dem Geringeren, mit dem
noch ausstehenden Freispruch im bevorstehenden Gericht zu rechnen. Wer wird
gegen die Auserwählten Gottes Anklage erheben? Niemand, denn Gott, der sie
erwählte und seinen Sohn nicht verschonte, ist derjenige, der sie schon jetzt für
gerecht erklärt (8,33 – für diese Bedeutung von δικαιόω vgl. Bauer-Aland, s.v. 3a).
Wenn Gott dann freispricht, »wer ist der Verurteilende?« Keiner bleibt übrig,
denn Christus Jesus, der bereits (für uns) gestorben ist, von Gott auferweckt wur-
de, ist als Bevollmächtigter zur Rechten Gottes und tritt schon gegenwärtig »für
uns« ein (8,34). Da Gott und Christus ihre Liebe zu Paulus und den Adressaten
bereits so durch den Tod Christi unter Beweis stellten, wird es nicht mehr zu einer
Verurteilung kommen. Gott übergab bereits seinen eigenen Sohn »anstelle von
uns allen« dem Todesgericht. Für die, die in Christus Jesus sind, gibt es keine
Verurteilung mehr (8,1–4).
3.3.3. Zusammenfassung
Die Taufe ist gleichermaßen ein zentraler Bestandteil der rituellen Welt der frü-
hen Christengemeinden und des paulinischen Denkens. Im Ritual vollzieht sich
die theologische und soziale Konstruktion des neuen Menschen ›in Christus‹. Ri-
tuale stiften und stabilisieren Identität; sie benennen den Ort, wo Gottes univer-
sales Heilshandeln in Jesus Christus in der Partikularität der eigenen Existenz
erfahren werden kann, wo sich der Übergang in das neue Sein konkret ereignet.
Weil Rituale Verdichtungen religiöser Weltansichten sind, kommt der Taufe auch
eine grundlegende Bedeutung für das paulinische Denken zu.
Die paulinische Christologie ist durch einen Grundgedanken geprägt: Gott hat
den gekreuzigten und gestorbenen Jesus von Nazareth in ein neues Sein über-
führt. Es ereignete sich ein Statuswechsel: Jesus von Nazareth verblieb nicht im
Status des Todes und der Gottesferne, sondern Gott verlieh ihm den Status der
Gottgleichheit (Phil 2,6–11). Ziel der Transformation Jesu Christi vom Gekreu
zigten zum Auferstandenen ist die Partizipation der Glaubenden an diesem
grundlegenden Geschehen: »Ihr kennt das Gnadenwerk unseres Herrn Jesus
Christus, dass er um euretwillen arm wurde, obwohl er reich war, damit ihr durch
seine Armut reich würdet« (2Kor 8,9). Gott hat den, »der keine Sünde kannte, für
uns zur Sünde gemacht, damit wir zur Gerechtigkeit Gottes würden in ihm«
(2Kor 5,21). Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ist somit für Paulus ein
einmaliger Akt, dessen Wirkungen jedoch anhalten und die Welt grundlegend
verändert haben. Der Gott der Auferstehung ist der, »der die Toten lebendig
macht und das Nicht-Seiende ins Sein holt« (Röm 4,17b). Gott identifiziert sich
so sehr mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, dass seine in der Auferstehung
sich offenbarende Lebensmacht weiterhin wirkt: »Denn dazu ist Christus gestor-
ben und wieder zum Leben gekommen, damit er Herr werde über die Toten wie
über die Lebenden« (Röm 14,9). Die Kräfte der Auferstehung Jesu Christi wirken
in der Gegenwart und rufen ihre eigene Gewissheit hervor: »Wir glauben aber,
dass wir, wenn wir mit Christus gestorben sind, auch mit ihm leben werden«
(Röm 6,8; vgl. 2Kor 1,9; 5,15). Mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten hat
eine universale Dynamik eingesetzt, die sowohl das individuelle Schicksal der
Glaubenden als auch das Geschick des gesamten Kosmos betrifft (vgl. 1Kor 15,20–
28; Phil 3,20 f.). Die Taufe ist dabei der Ort, wo sich die Eingliederung des einzel-
nen Menschen in dieses universale Geschehen vollzieht.
Die Glaubenden sind nach 1Thess 5,9 nicht zum Zorn, sondern zur Rettung be-
stimmt. Diese Rettung vollzieht sich, indem die Glaubenden durch die Geistgabe
III. Theologische Themen 333
(vgl. 1Kor 6,11; 12,13; 2Kor 1,21 f.; 5,5; Gal 3,2–5; 3,26–28; 5,24 f.; Röm 5,5; 6,1–11;
8,1–11) in der Taufe bereits in der Gegenwart umfassend am durch Jesu Christi
Tod und Auferstehung erwirkten Heil teilhaben. Sie sind von der Sünde getrennt
und leben im Bereich der Gnade (Röm 6,3 f.). Durch die Taufe gelangt der Glau-
bende in den Raum des pneumatischen Christus (vgl. 2Kor 3,17; Gal 3,26–28) und
konstituiert sich die neue Existenz (2Kor 5,17) in der Verleihung des Geistes als
Angeld (2Kor 5,5) auf die in der Gegenwart real beginnende und in der Zukunft
sich vollendende Erlösung. Nicht nur ein neues Seinsverständnis, sondern das
neue Sein selbst hat in einem umfassenden Sinn bereits begonnen! Den Eintritt in
das Heil und den Übergang in die endgültige Christusgemeinschaft beschreibt
Paulus v. a. mit der Wendung σὺν Χριστῷ (»mit Christus«) bzw. mit σύν-Kompo-
sita. Vor allem in Röm 6 zeigt sich der partizipative Grundzug der paulinischen
Theologie semantisch in der ungewöhnlichen Häufung von σύν (Röm 6,8) bzw.
Komposita mit σύν- (Röm 6,4.5.6.8). Der Rückgriff auf die Taufe dient nicht der
Illustration, sondern der Explikation grundlegender theologischer, biographi-
scher und sozialer Sachverhalte: In der Taufe partizipieren die Glaubenden um-
fassend an der soteriologischen Kraft des Kreuzesgeschehens; sie werden in das
somatische Geschick ihres Herrn miteinbezogen. Die Taufe ist für Paulus retten-
des Geschehen, weil sich hier real-geschichtlich die Befreiung von den Mächten
der Sünde und des Todes für den einzelnen Christen vollzieht. Die rettende und
todesüberwindende Kraft der Taufe zeigt sich auch in der von Paulus aufgegrif-
fenen Praxis korinthischer Gemeindeglieder, sich für verstorbene Nichtchristen
stellvertretend taufen zu lassen (1Kor 15,29). Die Vikariatstaufe ist die extremste
Form des extra nos des Heilsgeschehens; es gibt keinerlei Vorbedingungen und
weder Glaube noch Bekenntnis können von den ›Empfängern‹ des Sakramentes
gefordert werden. Paulus spekuliert nicht über die Heilsnotwendigkeit der Taufe,
sondern er geht selbstverständlich von ihrer Heilstatsächlichkeit aus.
Existenz, deren Kennzeichen Gerechtigkeit ist. In Röm 6,3 f. ist die Taufe auf den
Tod Jesu realiter ein Absterben der Sünde. Die sakramentale Parallelisierung des
Todes Jesu mit dem Tod des Täuflings in der Taufe stellt den Bezug zum einma-
ligen Tod Jesu auf Golgatha her. Hat auch nur ein Tod die Sünde endgültig über-
wunden, der Tod Jesu Christi, so ist dieser Tod dennoch in der Taufe gegenwärtig
und bewirkt, dass auch der Christ der Sünde realiter stirbt. Die Parallelisierung
des Todes Jesu mit dem Tod des Täuflings wird in Röm 6,4 weitergeführt, im
Mitbegraben-Sein des Täuflings zeigt sich die Totalität der Gemeinschaft zwi-
schen Christus und den Seinen. Paulus vermeidet jedoch den in der Logik der
Tradition liegenden Gedanken, der Getaufte sei bereits mit Christus auferstan-
den. Vielmehr bestimmt der Apostel das gegenwärtige und zukünftige Sein des
Christen mit Röm 6,4c ethisch-futurisch (vgl. 1Kor 13,12; 2Kor 4,7; 5,7; Röm 8,24).
Positiv hat die Befreiung von der Sünde ein Leben in Gerechtigkeit zur Folge
(Röm 6,7–11): Weil Jesus Christus gestorben und von den Toten auferstanden ist
und der Getaufte in der Taufe vollständigen Anteil an diesem Heilsgeschehen er-
hielt, ist auch er dem Machtbereich des Todes und der Sünde entzogen. Als ein
der Sünde Gestorbener lebt er nun als Gerechter für Gott.
Diese Grundanschauungen weitet Paulus im Galater-, Römer- und Philipper-
brief zu einer durch Universalismus und Antinomismus gekennzeichneten exklu-
siven Rechtfertigungslehre aus. Sie hebt die hamartiologische Sonderstellung der
Juden auf und behauptet, dass niemand aus Werken des Gesetzes vor Gott gerecht
werden kann (vgl. Gal 2,16; Röm 3,20). Die Stellung von Gal 2,19; 3,26–28; Röm
3,25.26a; 4,25; 6,3 f. zeigt, dass Paulus bewusst inklusive und exklusive Rechtferti-
gungslehre aufeinander bezieht. Er schützt so seine auf einer radikalisierten An-
thropologie und einem universalisierten Gottesverständnis basierende exklusive
Rechtfertigungslehre vor einer weltlosen Abstraktheit, indem er die Taufe als den
Ort angibt, wo Gottes universales Heilshandeln in Jesus Christus in der Partiku-
larität der eigenen Existenz erfahren werden kann.
Seit seiner Auferstehung gehört Jesus Christus auf die Seite des Geistes (1Kor
15,45; 2Kor 3,17; Röm 1,4). Der Geist wiederum erschließt sich den Glaubenden in
der Taufe (1Kor 12,13), sodass die partizipativen Elemente der paulinischen Theo-
logie untrennbar mit der Taufe verbunden sind. Der Getaufte ist ein mit dem
Geist Beschenkter (2Kor 5,5; Röm 5,5) und zugleich vom Geist Begabter, der sich
der Sphäre des Geistes zurechnen und nach der Maßgabe des Geistes leben darf.
Durch Gottes Heilshandeln in der Taufe lebt der Christ nicht mehr unter der
Macht der Sünde und des Todes, sondern im Herrschaftsbereich des Geistes, es
vollzieht sich ein Existenzwandel von der Sphäre des Fleisches in den Bereich des
Geistes (Röm 8,1–11). Der Mensch wird aus seiner Selbstlokalisierung herausge-
rissen und findet sein Selbst in der Christusbeziehung. Die in der Taufe verlie-
hene Gabe des Geistes ist Grund und Norm christlichen Seins und Handelns (vgl.
III. Theologische Themen 335
Gal 5,25), der Geist schafft das neue Sein des Christen und bewirkt zugleich des-
sen Erhaltung. Die Getauften sind in das vom Geist bestimmte Leben eingegan-
gen und sollen sich nun auch vom Geist leiten lassen. Es gilt: Es gibt keinen neuen
Wandel ohne ein neues Handeln. Weil der Geist die Glaubenden und Getauften
in die Sphäre Gottes und in den Bereich der Gemeinde eingliedert, befinden sie
sich nicht mehr im Vakuum eines herrschaftsfreien Raumes, sondern stehen un-
ter der Forderung des durch den Geist ermöglichten neuen Gehorsams. Die
›Neuheit des Lebens‹ (Röm 6,4) vollzieht sich in der ›Neuheit des Geistes‹ (Röm
6,7). Der Geist ist Kraft (ἐν πνεύματι/durch den Geist) und Norm (κατὰ πνεῦμα/
gemäß dem Geist) des neuen Lebens. Der Geist ermöglicht es, dass der Christ
bleiben kann, was er schon geworden ist. Hinzu kommt die eschatologische Di-
mension der Geistgabe: Der Geist Gottes erweckte Jesus Christus von den Toten
(Röm 1,4) und er wird auch die sterblichen Leiber derjenigen auferwecken, die
mit ihm durch Jesus Christus verbunden sind (vgl. Röm 8,11). Die Gewissheit der
Heilsgegenwart und zukünftigen Heilsvollendung liegt somit in der Selbigkeit des
Geistes Gottes begründet, der in seinem Geisthandeln gewissermaßen an sich
selbst anknüpft, wenn er in der Taufe die neue Existenz begründet und nach dem
Tod wiederum erneuert. Zwar kann die Geistwirkung bei Paulus nicht auf die
Taufe beschränkt werden, sie ist aber an die Taufe gebunden, denn Gott handelt
am Menschen real-geschichtlich. Er selbst hat diesen Ort gewählt, an dem er sich
den Menschen öffnet, indem er sich ihrer durch den Geist bemächtigt.
3.4.5. Die Taufe als Teilhabe an der neuen Gemeinschaft der Glaubenden
Die ekklesiale Existenz ist für Paulus eine von der Taufe herkommende Existenz.
Hier vollzieht sich die vollgültige Aufnahme in den Leib Christi (1Kor 12,13). Die
Taufe integriert den Einzelnen in den vorgegebenen Leib Christi, sie ist der ge-
schichtliche Ort der Aufnahme in diesen Leib und der reale Ausdruck der in
Christus begründeten Einheit der Ekklesia. Die Glaubenden bedürfen nicht zu-
sätzlich der Beschneidung, um vollgültige Glieder des endzeitlichen Gottesvolkes
zu werden. Als Gerechtfertigte und Geheiligte entsprechen die Getauften ihrem
neuen Sein in der Liebe. Sie gehören zu Gott, denn der Geist Gottes wohnt in
ihnen (1Kor 3,16; 6,19), und ihr Leib ist heilig, weil er der Tempel Gottes ist (1Kor
3,17b). Die Heiligkeit der Gemeinde schließt eine scharfe Abgrenzung zur Welt
mit ein; Paulus kennt nicht die Vorstellung der Gemeinde als corpus mixtum, son-
dern Heiligkeit prägt auch die empirische Gestalt der Gemeinde (vgl. 1Kor 5 f.).
Gottes einmaliges Heilshandeln am Kreuz setzt sich fort in der Taufe und gewinnt
in der Gemeinde Gestalt. Die Gemeinde weiß sich dabei gleichermaßen zur Ein-
heit und zur Offenheit berufen: Zur Einheit im Geist, im Glauben und im Han-
deln; zur Offenheit gegenüber all denen, die des Evangeliums bedürfen. Weil die
Taufe Eingliederung in die durch Christus begründete Einheit der Gemeinde ist,
kann sie nicht der Gegenstand individualistischen Strebens sein, sondern nur
dessen Überwindung (1Kor 1,10–17).
336 C. Werk
In der Taufe werden die Glaubenden in den Bereich des pneumatischen Chris
tus eingegliedert und sind ἐν Χριστῷ (in Christus) eine neue Kreatur (2Kor 5,17).
Die Einbeziehung in die Herrschaftssphäre Christi wirkt sich real sowohl auf das
Leben der einzelnen Glaubenden als auch auf die Gestalt der Gemeinde aus; sie
begründet nicht nur die Gemeinschaft mit Christus, sondern ermöglicht auch
eine neue Gemeinschaft der Glaubenden untereinander (vgl. Gal 3,26–28). Die
Getauften haben ›in Christus‹ teil an der κοινωνία (Gemeinschaft) des einen
Geistes (2Kor 13,13; Phil 2,1), die nun ihr Leben in der Gemeinde bestimmt. Es ist
geprägt von der befreienden Kraft des Geistwirkens, das die einzelnen Menschen
in ihrer Leiblichkeit ebenso erfasst und prägt wie die Gesamtgemeinde. Die
räumlichen Dimensionen des paulinischen Taufverständnisses zeigen sich beson-
ders in Gal 3,26–28. Die Glaubenden sind umschlossen von Christus, sie sind ›in
Christus‹ und haben Christus ›angezogen‹, sodass die Unterscheidungen zwi-
schen Mann und Frau, Jude und Heide, Grieche und Barbar nicht mehr gelten.
Mit der ›in Christus‹-Vorstellung verbinden sich bei Paulus vertikale und hori-
zontale Bereiche: Aus der Gemeinschaft mit Christus (Gal 3,27) erwächst die neue
communitas der Glaubenden und Getauften, die nun grundlegenden geschlecht-
lichen, ethnischen und sozialen Alternativen enthoben sind (vgl. Gal 3,28; 1Kor
12,13). Somit erscheint ἐν Χριστῷ (in Christus) als der Raum, in dem sich seins-
hafte Veränderungen vollziehen und gelebt werden. Die Getauften sind in allen
Lebensäußerungen durch Christus bestimmt und in ihrer Gemeinschaft gewinnt
das neue Sein sichtbar Gestalt. Die Welt wird nicht nur für verändert erklärt, son-
dern sie hat sich wirklich verändert, weil die Auferstehungskräfte durch die Gabe
des Geistes bereits in der Gegenwart wirken.
ereignet sich in der Taufe. 4) Das neue Sein in der Kraft des Geistes ist eine anhal-
tende Folge des Taufgeschehens. 5) In der Taufe wird eine neue individuelle und
soziale Identität verliehen. Der Einzelne wird aus dem Bereich der Profanität he-
rausgenommen und erhält ein neues Selbst- und Weltverständnis. 6) Die Einglie-
derung in die neue Glaubens- und Sozialform des Leibes Christi verändert das
Denken, Handeln und Fühlen der Getauften.
Schweitzer, Albert: Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 21954.
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Strecker, Christian: Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie
aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999.
Powers, Daniel G.: Salvation through Participation, Leiden 2001.
Udo Schnelle
Was Paulus unter »Evangelium« versteht, kommt auch in den Begriffen zum
Ausdruck, die parallel zu »Evangelium« Gegenstand derselben Verkündigungsbe-
griffe sein können: »Das Evangelium verkündigen« (1Kor 9,14; 15,1; 2Kor 11,4.7;
Gal 1,11; 2,2; 1Thess 2,9) bedeutet dasselbe wie »Christus verkündigen« (1Kor
1,23.24; 2Kor 1,19; 4,5; Phil 1,15.17.18) oder »das Wort des Glaubens [. . .] verkündi-
gen« (Röm 10,8) oder »den Glauben verkündigen« (Gal 1,23) oder »das Wort
Gottes verkündigen« (1Kor 14,36; 2Kor 2,17; 4,2; 1Thess 2,13) oder »das Wort des
Herrn verkündigen« (1Thess 1,8).
– »Evangelium« steht bei Paulus aber nicht nur für den Inhalt seiner Verkündi-
gung, sondern er kann diesen Begriff auch als metonymische Bezeichnung für die
Verkündigung des Evangeliums als solche gebrauchen. Das gilt z. B. für 2Kor 2,12
(»Als ich nach Troas kam zum Evangelium Christi (d. h. ›zur Verkündigung des
Evangeliums von Christus‹)« oder für Phil 4,15 (»am Anfang des Evangeliums,
d. h. der ›Evangeliumsverkündigung‹)« oder für Röm 1,1; 15,19; 1Kor 15,1 f.; 4,15;
2Kor 8,18; Gal 2,7; Phil 1,5.12; 2,22; 4,3; 1Thess 1,5; 3,2.
Die paulinische Theologie des Evangeliums lässt sich am besten vom Zusammen-
wirken der drei o.g. Näherbestimmungen her darstellen. Wir können diesen As-
pekt an zwei Texten exemplarisch veranschaulichen:
In Gal 1,11 f.15 f. thematisiert Paulus die Herkunft des von ihm verkündigten
Evangeliums. Für Paulus ist das Evangelium »Evangelium Gottes«, weil Gott es
war, der es ihm durch eine Offenbarung als »Evangelium« mitgeteilt hat. Es ist
»mein Evangelium«, weil es ihm offenbart wurde und von ihm verkündigt wird.
Es ist »Evangelium Christi«, weil Jesus Christus der Inhalt dieser Offenbarung
war und der Inhalt des von Paulus verkündigten Evangeliums ist. Dabei ist es so,
dass Paulus die »Offenbarung Jesu Christi« (Gal 1,12) nicht erst seinerseits und im
Nachhinein zu einem »Evangelium« gemacht hat, sondern dass Gott es war, der
sie ihm bereits als »Evangelium« zuteil werden ließ: als eine Botschaft, die nach
Gottes Willen weiterzuverbreiten ist. »Offenbarung« und »Evangelium« sind hier
durch eine dreistellige Bestimmtheit (Gott – Jesus Christus – Paulus) miteinan-
der verbunden, die das Evangelium zum Gegenstand wie zum Medium der Of-
fenbarung werden lässt: Wie Paulus das Evangelium durch die Offenbarung Jesu
Christi von Gott empfangen hat, so ist Gott auch in dem durch Paulus verkündig
ten Evangelium als Offenbarer präsent: In seinem Evangelium von Jesus Christus
informiert Paulus nicht lediglich über die Offenbarung Gottes, die er vor Damas-
kus empfangen hat, sondern überall dort, wo er sein Evangelium verkündet, of-
fenbart Gott eben dadurch seinen Sohn.
In Röm 1,1–5 stellt Paulus sich den ihm unbekannten Christen in Rom vor und
erklärt ihnen sein »Evangelium«. Auch hier ist deutlich zu erkennen, wie Paulus
in diesem Text das Zusammenspiel der dreifachen Bestimmtheit des Evangeliums
gestaltet. In V. 1 nennt er sein Evangelium »Evangelium Gottes« und kommentiert
III. Theologische Themen 339
Evangelium insofern »Evangelium Gottes«, weil es eine »Kraft Gottes ist, zum
Heil für jeden, der glaubt« (V. 16). Von Christus ist hier zwar nicht expressis verbis
die Rede, doch macht Paulus in Röm 3,21 f. in Anknüpfung an 1,16 f. deutlich, dass
er auch hier selbstverständlich schon und ausschließlich vom »Christusglauben«
spricht ( C.III.3.6.). Und eben insofern ist auch hier von nichts anderem als vom
»Evangelium Christi« die Rede, weil es der Christusglaube ist, dem es das Heil
Gottes zusagt. Aus diesem Grunde kann Paulus vom »Evangeliums-Glauben«
(πίστις τοῦ εὐαγγελίου; Phil 1,27d) genauso sprechen wie vom »Christusglauben«
(πίστις Χριστοῦ; Röm 3,22.26; Gal 2,16.20; 3,22; Phil 3,9), ohne dass es zwischen
beiden Formulierungen einen Bedeutungsunterschied gäbe. Und wie Paulus in
Röm 1,16 das Evangelium eine »Kraft Gottes« nennt, so kann er in 1Kor 1,24 davon
sprechen, dass er Christus als »Kraft Gottes« verkündigt.
Die Frage, was Paulus als »Evangelium« verkündet hat, lässt sich nur sehr unge-
fähr beantworten, weil wir keine unmittelbare Kenntnis von der paulinischen
Missionspredigt haben. Die Botschaft des Missionars ist uns vielmehr immer nur
indirekt über die paulinischen Briefe zugänglich. Es sind aber wiederum zwei
Texte, die uns einen etwas genaueren Einblick ermöglichen:
In 1Thess 1,9 f. gibt Paulus eine kleine Zusammenfassung dessen, was eine
christliche Gemeinde, die sein Evangelium angenommen hat, glaubt. Obwohl
Paulus hier nicht eine Zusammenfassung seiner Missionspredigt zitiert, sondern
deren Folgen beschreibt, reflektieren diese Worte diejenigen Gesichtspunkte –
und sicher nicht die unwichtigsten –, die bei der paulinischen Verkündigung des
Evangeliums zur Sprache gekommen sind. Die paulinische Missionspredigt ent
hielt demnach die Aufforderung zur Hinwendung zum Gott Israels und zur Aus-
richtung der Heilserwartung auf die Parusie seines Sohnes. »Gott dienen« und
»seinen Sohn erwarten« sind parallel. Von Jesus das eschatische Heil zu erwarten,
wird damit zum unmittelbaren Ausdruck der Bekehrung zum Gott Israels. Hierin
wird einmal mehr erkennbar, was Paulus gemeint hat, wenn er sein Evangelium
sowohl »Evangelium Gottes« als auch »Evangelium Christi« nennt. – Außerdem
hätte nach Ausweis dieses Textes zur paulinischen Evangeliumsverkündigung
ebenfalls gehört, dass Gott Jesus als seinen Sohn von den Toten auferweckt und in
den Himmel erhöht hat, dass Jesus von dort wieder auf die Erde herabkommen
wird, dass es bei dieser Wiederkehr zu einem universalen Vernichtungsgericht
(»Zorn«) kommen wird und dass der Wiederkommende dabei alle, die zu ihm
gehören, aus diesem Gericht retten wird. Bemerkenswerterweise fehlt jeder Hin-
weis auf den Tod Jesu und seine Deutung als Heilstod. Dass man daraus jedoch
nicht den Schluss ziehen darf, dass Paulus diesen Aspekt des Christusglaubens
nicht zum Inhalt seines Evangeliums gerechnet hätte, zeigt der zweite Text:
In 1Kor 15,1–5 teilt Paulus den Christen in Korinth in kompakter Form »das
Evangelium« mit, das er den Adressaten seines Briefes »verkündigt« (V. 1 f.) und
III. Theologische Themen 341
»ganz am Anfang weitergegeben« hat (V. 3). Paulus zitiert hier eine alte christliche
Überlieferung, die er auch selbst »empfangen« hat (V. 3b). Der Briefschreiber
Paulus verdichtet damit das vom Missionar Paulus verkündete Evangelium auf
seinen substantiellen Kern: dass Jesu Tod ein Heilstod war und dass Gott Jesus
von den Toten auferweckt hat und dass diejenigen, die dieser Botschaft Glauben
schenken, gerettet werden. Dass 1Kor 15,3b–5 kein Text ist, den man in dieser Ge-
stalt in einer Missionspredigt vorträgt, muss nicht ausdrücklich gesagt werden. –
Aufs Ganze gesehen ist 1Kor 15,1–5 nicht weit von 1Thess 1,9 f. entfernt. Beide
Texte interpretieren sich z. T. sogar gegenseitig: Was Paulus hier mit »das Evange-
lium annehmen« oder »festhalten« oder »in ihm stehen« oder auch »glauben«
nennt (1Kor 15,1 f.), bezeichnet dasselbe wie das, was er in 1Thess 1,9 f. mit »zu
Gott hinwenden«, »Gott dienen und seinen Sohn erwarten« umschrieben hat.
Und analog findet die Rettungsaussage von 1Thess 1,10 ihre verallgemeinernde
Entsprechung in derjenigen von 1Kor 15,2.
Ein wesentliches Element der paulinischen Theologie des Evangeliums ist darü-
ber hinaus, dass das Evangelium nicht lediglich von der Kraft Gottes spricht, son-
dern dass es auch selbst eine rettende und heilstiftende Kraft Gottes ist. Diese
Vorstellung war bereits in 1Kor 15,1 f. angeklungen: »das Evangelium [. . .], durch
das ihr auch gerettet werdet«.
Ihren deutlichsten Ausdruck findet dieses Element aber in Röm 1,16 f. Hier ist
vor allen Dingen wichtig, dass »offenbar werden« in V. 17a nicht die Mitteilung
von bisher unbekannten Geheimnissen an bestimmte Personen bezeichnet (wie
z. B. in Mt 16,17; Lk 10,21 f.). Die Rede ist hier vielmehr wie z. B. auch in Lk 17,30;
Röm 8,18; 1Kor 3,13 von einem In-Erscheinung-Treten einer bisher noch nicht
erkennbaren Wirklichkeit und ihrer Transformation in allgemeine Erfahrbarkeit
und Wahrnehmbarkeit. Paulus versteht demnach seine Evangeliumsverkündi-
gung als eine Weise von Gottes Handeln, in dem Gott seine Gerechtigkeit erweist
und sie eben dadurch offenbar macht. Wenn er sein Evangelium als eine »Kraft
Gottes« bezeichnet, so will er damit zum Ausdruck bringen, dass es nicht ledig-
lich die heilschaffende Gerechtigkeit Gottes bekannt macht oder über sie infor-
miert, sondern dass es sie unter den Menschen Wirklichkeit werden lässt. Paulus
schreibt seiner Evangeliumsverkündigung damit eine Eigenschaft zu, die v. a. in
den prophetischen Schriften des Alten Testaments als ein Merkmal gilt, das dem
Wort Gottes zu eigen ist (vgl. z. B. Ps 107,19 f.; Jes 9,7; 55,10 f.; Jer 23,29; Hos 6,5). In
dieser Weise, d. h. als »Wort Gottes«, charakterisiert er sein Evangelium dann
auch in 1Thess 2,13. Nach diesem Text gewinnt es seine Wort-Gottes-Haftigkeit
eben dadurch, dass es davon spricht, dass Gott durch Jesus Christus zum Heil der
Menschen gehandelt hat und dieses Handeln durch das paulinische Evangelium
unter den Menschen vergegenwärtigt sowie unter denen, die ihm Glauben schen-
ken, »wirksam ist«.
342 C. Werk
Die Gegenseite skizziert Paulus in 2Kor 4,3 f. Wenn er hier davon spricht, dass
sein Evangelium für diejenigen verborgen ist, »die ins Verderben gehen« (V. 3), so
meint er damit nicht, dass es ihnen nicht verkündigt worden wäre. Er bringt viel-
mehr zum Ausdruck, dass sie es nicht als »Evangelium der Herrlichkeit Christi«
erkannt oder als »Wort Gottes angenommen« haben (1Thess 2,13) – kurz: dass sie
seinem Inhalt nicht geglaubt haben. Auch in 1Kor 1,18 spricht Paulus wie in Röm
1,16 von seinem Evangelium, das er hier als »Wort vom Kreuz« charakterisiert, als
eine »Kraft Gottes«. In diesem Text führt er aber die Heils- und die Unheilsseite
zusammen, die in Röm 1,16, in 1Thess 2,13 und in 2Kor 4,3 f. jeweils für sich the-
matisiert sind. Alle vier Texte erläutern sich gegenseitig: »Das Wort vom Kreuz«
für eine »Torheit« zu halten (1Kor 1,18), ist dasselbe wie »den Lichtglanz des Evan-
geliums der Herrlichkeit Christi« nicht zu sehen (2Kor 4,4) oder »das Wort der
Predigt von Gott« als »Menschenwort« zu hören (1Thess 2,13). Auf der anderen
Seite ist »glauben« (Röm 1,16 f.) nichts anderes als die paulinische Verkündigung
»als Wort Gottes annehmen« (1Thess 2,13) oder »das Wort vom Kreuz« für eine
»Kraft Gottes« halten (1Kor 1,18). Für die Menschen, die in dieser Weise auf das
paulinische Evangelium reagieren, wirkt es sich als eine »Kraft Gottes zum Heil«
(Röm 1,16) aus. Es ist also allererst der Glaube, der das Evangelium als »Evangeli-
um Gottes« und »Evangelium Christi« hört und damit zu einer »Kraft Gottes
zum Heil« macht und seine Heilswirkung freisetzt.
Schniewind, Julius: Euangelion. Ursprung und erste Gestalt des Begriffs Evangelium (BFChTh
2/25), Gütersloh 1927–1931.
Strecker, Georg: Das Evangelium Jesu Christi, in: Ders. (Hg.): Jesus Christus in Historie und
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Stuhlmacher, Peter: Das paulinische Evangelium I. Vorgeschichte (FRLANT 95), Göttingen
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Wolter, Michael: Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 52–71.
Michael Wolter
3.6. Glaube/Christusglaube
3.6.1. Definition
»Glaube« (πίστις) oder »glauben« (πιστεύειν) ist das, was nach paulinischem Ver-
ständnis alle Christen eint. Paulus kann sie sogar ganz allgemein als »die Glau-
benden« bezeichnen (1Kor 1,21; 14,22; 1Thess 1,7; 2,10.13; s. auch Röm 3,22; 4,11; Gal
3,22), ohne dass er dabei den Gegenstand ihres Glaubens näher bestimmte und
dadurch die »an Christus« Glaubenden von denen abgrenzte, die etwas anderes
glauben. Dieser Sprachgebrauch lässt erkennen, dass die Christen die einzige
Gruppe waren, deren Identität dadurch bestimmt ist und die sich dadurch von
anderen Gruppen unterscheiden, dass sie überhaupt »glauben«. Alle anderen sind
dementsprechend einfach nur »die Ungläubigen« (1Kor 6,6; 10,27; 14,22 f.; 2Kor
4,4; 6,14). Andere Sammelbegriffe zur Bezeichnung der Christen gibt es kaum;
III. Theologische Themen 343
eigentlich nur »die des Christus« (1Kor 15,23; Gal 5,24) und »die in Christus Jesus«
(Röm 8,1). Niemals nennt Paulus die Christen ›die Getauften‹. Hierin wird er-
kennbar, dass es einzig und allein der Glaube ist, der Paulus zufolge die exklusive
Identität der Christen konstituiert.
In dieselbe Richtung weist auch der Ausdruck »die aus Glauben« (Gal 3,7.9; s.
auch Röm 3,26; 4,16): Paulus verwendet ihn in Analogie zu Formulierungen wie
»die aus dem Gesetz« (Röm 4,14.16; s. auch Gal 3,10) und »die aus der Beschnei-
dung« (Röm 4,12; Gal 2,12). In allen Fällen geht es darum, dasjenige Merkmal zu
benennen, das die mit ihm Bezeichneten zu einer eigenständigen Gruppe macht
und von anderen Menschen unterscheidet. Dasselbe gilt für Gal 6,10, wo Paulus
die Christen »Hausgenossen des Glaubens« nennt. Er kennzeichnet sie damit als
eine familiäre Gemeinschaft, deren Zusammengehörigkeit durch den gemein-
samen Glauben gestiftet wird und die es ohne ihn nicht geben würde. Dieser Stel-
lenwert des Glaubens hat darum als das Kontinuum der paulinischen Theologie
zu gelten. Dementsprechend gibt es auch keinen Paulusbrief, in dem nicht der
Glaube mit der hier skizzierten Bedeutung eine Rolle spielte.
3.6.2. Inhalte
Die Inhalte dieses Glaubens sind dieselben wie die Inhalte des paulinischen Evan-
geliums. Darum kann Paulus in Gal 1,23 und Phil 1,27 beide Begriffe auch syntak-
tisch miteinander verknüpfen. Vom Glauben kann Paulus genauso reden wie vom
Evangelium. Eindeutig im Vordergrund steht beim Glauben die Bestimmtheit
durch Jesus Christus: Wie von »Evangelium Christi« ( C.III.3.5.) spricht Paulus
auch von »Christusglaube« (wörtlich: πίστις Χριστοῦ [Glaube Christi]: Röm
3,22.26; Gal 2,16.20; 3,22; Phil 3,9; s. auch Eph 3,12). Darüber hinaus begegnet Jesus
Christus aber auch als Objekt von »glauben«: in Röm 9,33 und 10,11 (jeweils als
Zitat von Jes 28,16 LXX: »wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden«), in
Röm 10,14; Gal 2,16 und Phil 1,29.
Dieser Inhalt findet auch darin seinen Ausdruck, dass »Glaube« und »Christus«
untereinander austauschbar sind: Paulus kann vom »Gehorsam des Glaubens«
(Röm 1,5) ebenso sprechen wie vom »Gehorsam gegenüber Christus« (2Kor 10,5;
auch hier steht der Genitiv). Theologisch gleichsinnig sind auch »den Glauben als
Evangelium verkündigen« (Gal 1,23) und »ihn (d. h. Gottes Sohn) als Evangelium
verkündigen« (Gal 1,16) sowie die Aufforderungen von 1Kor 16,13 (»steht im
Glauben«) und 1Thess 3,8 (»steht im Herrn«).
Auch aus diesem Grunde ist mit dem Ausdruck πίστις ( Ἰησοῦ) Χριστοῦ (wörtl.:
»Glaube [Jesu] Christi«), der sich in Röm 3,22.26; Gal 2,16; 2,20; 3,22; Phil 3,9 fin-
det (s. auch Eph 3,12), nicht im Sinne von Röm 5,19 (»Gehorsam des Einen«) der
›Glaubensgehorsam Jesu Christi‹ (genitivus subiectivus) gemeint, was zur Zeit
v. a. in der amerikanischen Paulusforschung angenommen wird (Hays 22002, 297
u. ö.: »the faith[fulness] of Jesus Christ«; s. auch Hooker 1989 sowie die bei Ul-
richs 2007 Genannten), sondern der ›christliche Glaube‹ oder – besser noch –
344 C. Werk
der ›Christusglaube‹. Auch überall dort, wo Paulus »euer Glaube« sagt (Röm
1,8.12; 1Kor 2,5; 15,14.17; 2Kor 1,24; 10,15; Phil 2,17; 1Thess 1,8; 3,2. 5.7.10), ist ›euer
Christusglaube‹ zu lesen. In allen Texten geht der genitivus subiectivus mit dem
bestimmten Artikel vor πίστις einher, den man auch bei den πίστις-Χριστοῦ-For-
mulierungen erwarten müsste, wenn der Genitiv subjektiv wäre. – Darüber hi-
naus wird von den Vertretern der Genitivus-subiectivus-Interpretation überse-
hen, dass es nach paulinischem Verständnis immer nur der menschliche Chris
tusglaube sein kann, der Jesu Leiden und Sterben als einen »Glaubensgehorsam
Jesu Christi« wahrzunehmen vermag. Einzig und allein der »faith in Christ« kann
überhaupt sagen, dass es so etwas wie »faith of Christ« gibt. Demgegenüber spre-
chen die Vertreter der Genitivus-subiectivus-Hypothese von Jesu »faith(fulness)«
in einer Weise, als würde es sich um eine Wirklichkeit an sich und nicht um die
Wirklichkeitsannahme des Glaubens der glaubenden Menschen handeln.
Das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass der Genitiv in der Formulierung
πίστις Χριστοῦ als ein genitivus obiectivus zu verstehen ist, denn ›Glaube an
Christus‹ im Sinne von Gal 2,16; Phil 1,29; Phlm 5 muss noch inhaltlich gefüllt
werden. »Christus« kann in dieser Formulierung darum für nichts anderes stehen
als für eine bestimmte Auslegung Jesu Christi und seines Geschicks. Aus diesem
Grunde sollte man eine Interpretation dieser Wendung suchen, die jenseits der
Alternative genitivus subiectivus oder genitivus obiectivus angesiedelt ist, und eine
Deutung als genitivus qualitatis in Betracht ziehen (›Christusglaube‹; in diesem
Sinne bereits Deissmann 21925, 127; Schmitz 1924, 134; s. auch Hultgren 1980,
257: »Christic faith«). Ein solches Verständnis bringt die exklusive Bestimmtheit
des Glaubens durch seine Ausrichtung auf Jesus Christus zum Ausdruck und
steht an der Stelle des in paulinischer Zeit noch nicht vorhandenen Adjektivs
›christlich‹. In Gal 2,20 beschreibt der Genitiv darum auch nicht den Glaubens
gehorsam Jesu, sondern den Inhalt des Christusglaubens. Er besteht in der Ge-
wissheit, dass Jesus der »Sohn Gottes« ist und dass sein Tod als ein Vorgang der
Hingabe seines Lebens »für mich« und damit als eine Tat der Liebe zu deuten ist.
»Im Glauben« und »im Fleisch« in V. 20c–d entsprechen einander komplementär:
Beide zusammen konstituieren die paulinische Existenz in der Gegenwart.
Demgegenüber findet sich die auf Gott bezogene Ausrichtung des Glaubens in
den Texten nur selten: »Glaube an Gott« begegnet nur einmal in 1Thess 1,8 und
dreimal in Verbindung mit dem Verb »glauben« in Röm 4,5.17.24. Hierbei ma-
chen v. a. Röm 4,24 sowie die Auslegung von 1Thess 1,8 durch V. 9 f. deutlich, dass
»Glaube an Gott« und »Christusglaube« nicht zwei verschiedene Ausrichtungen
des Glaubens bezeichnen, sondern dass es sich um ein und denselben Glauben
handelt: dass Gott durch Jesus Christus zum Heil der Menschen gehandelt hat
und dass durch Jesus Christus das Heil Gottes erschlossen wird. Paulus lässt den
Christusbezug des Glaubens sich nicht gegenüber dem Gottes-Bezug verselbst-
ständigen. Es ist vielmehr die Pointe gerade der Bezogenheit des Glaubens auf
Christus, dass er immer mit einer bestimmten Bezogenheit auf Gott einhergeht
– und umgekehrt: Der Glaube, »dass Jesus auferstanden ist« (1Thess 4,14), ist nur
III. Theologische Themen 345
möglich als Glaube, »dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat« (Röm 10,9),
und er ist darum nichts anderes als der Glaube »an den, der Jesus von den Toten
auferweckt hat« (Röm 4,24). Diese drei Texte interpretieren sich darum gegensei-
tig. Dasselbe gilt auch in Bezug auf den Heilstod Jesu in Röm 3,24–26: Der Glau-
be, dem die Gerechtigkeit Gottes zuteil wird, bezieht sich darauf, dass Gott durch
Jesus Christus die »Erlösung« bewirkt hat. Auch der »Glaube an Gott« (1Thess 1,8)
ist also »Christusglaube«, und darum wird auch in dieser Hinsicht noch einmal
deutlich, wie eng »Evangelium« und »Glaube« bei Paulus aufeinander bezogen
sind.
Dass »Glaube« und »Evangelium« bei Paulus so eng beieinander stehen, hat sei-
nen Grund darin, dass das paulinische Christentum eine Missions- und Bekeh-
rungsreligion war (Wolter 2010a, 16 f.19–23). Seine Gemeinden waren durch sei-
ne missionarische Verkündigung entstanden. »Glaube« und »glauben« bezeich-
nen darum zunächst ganz allgemein die Zustimmung zu dem, was sie von Paulus
»gehört« haben, dass dies wahr ist.
Dieser Zusammenhang von »verkündigen«, »hören« und »glauben« wird z. B.
in Röm 1,5 erkennbar. Hier spricht Paulus davon, dass sein Apostolat das Ziel hat,
»Gehorsam des Glaubens unter allen Völkern« hervorzurufen. Sprachlich und
inhaltlich analog ist in Gal 3,2.5 vom »Hören des Glaubens« die Rede, und in Röm
10,17 kann Paulus kurz und bündig schreiben: »der Glaube aus der Verkündigung,
die Verkündigung aber durch das Wort von Christus«. Die komplementäre Ent-
sprechung dazu ist Röm 10,8, wo Paulus seine Verkündigung als »Wort des Glau-
bens, das wir predigen« bezeichnet.
Der Glaube übernimmt seine Eigenart also vom Evangelium, und das hat die-
selben Konsequenzen, die bereits bei der Erörterung von Röm 1,16 f. deutlich ge-
worden sind ( C.III.3.5.): Weil das paulinische Evangelium nicht lediglich über
das in Jesus Christus erschlossene Heil Gottes informiert, sondern weil es dieses
Heil im Wort der Verkündigung vergegenwärtigt, bekommen diejenigen, die der
paulinischen Verkündigung glauben, Anteil an ihrem Inhalt. Als Gottes Wort ist
das Evangelium ja schließlich eine »Kraft Gottes zum Heil« (Röm 1,16b). »Glau-
ben« heißt also nach paulinischem Verständnis nichts anderes als die von Paulus
vorgetragene Christusverkündigung als »Gottes Wort« hören (1Thess 2,13): als
eine Botschaft, die in Gottes Auftrag ausgerichtet wird und die davon spricht,
dass das Heil Gottes durch Jesus Christus erschlossen ist und dass diejenigen, die
dieser Botschaft Glauben schenken, Anteil an eben diesem Heil bekommen. »Hö-
ren« bezeichnet dabei nicht lediglich einen akustischen Vorgang, sondern eine
Weise der qualifizierten inhaltlichen Deutung, ohne die es auch sonst kein Hören
gibt. Zwischen dem Hören und dem Glauben gibt es also keine Distanz: Es ist
unmöglich, das paulinische Evangelium von Jesus Christus erst als Gottes Heils-
wort zu hören und dann zu entscheiden, ob man ihm Glauben schenkt oder
346 C. Werk
tilgung durch den Tod Jesu als eine wirkliche Möglichkeit erkannt wird, die er-
griffen werden kann, so ist mit dieser Erkenntnis der Christusglaube in die
menschliche Existenz eingelassen und die »Erlösung durch Jesus Christus« (Röm
3,24) für den Glaubenden Wirklichkeit geworden.
Genau dasselbe Ineinander von Christusglauben und Christusgeschehen findet
auch in den beiden parallelen Rechtfertigungsaussagen von Gal 2,16c.17a seinen
Ausdruck: »Aus dem Christusglauben gerechtfertigt werden« (V. 16c) und »durch
Christus gerechtfertigt werden« (V. 17a) bezeichnen ein und denselben Vorgang:
die Rechtfertigung durch den Glauben, der den Tod Jesu als Heilstod wahrnimmt.
In den beiden zuletzt besprochenen Texten aus dem Röm und dem Gal stellt
Paulus den Christusglauben in den theologischen Begründungszusammenhang
seiner Rechtfertigungslehre ein und versieht ihn dadurch mit einem weiteren Be-
deutungszuwachs. Dieser Aspekt des paulinischen Glaubensverständnisses ist
darum anderenorts darzustellen ( C.III.3.7.1.).
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Michael Wolter
Außerhalb des Gal gibt es diese Verknüpfung nur noch im Röm (1,17[2x];
3,22.25.26.28.30; 4,3.5[2x].9.11.13; 5,1; 9,30; 10,4.6.1) sowie in Phil 3,9. Auf die Ge-
samtheit aller Paulusbriefe berechnet, sind »gerecht« und die mit ihm verwand-
ten Wörter (also »Gerechtigkeit«, »Rechtfertigung«, »rechtfertigen«) mit keinem
anderen Wort so häufig verbunden wie mit »Glaube« und »glauben«.
In allen Texten geht es um das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen:
Immer ist Gott das Subjekt der Rechtfertigung oder der Ursprung der Gerechtig-
keit, und immer ist der Mensch ihr Empfänger. Immer sind es ausschließlich der
menschliche Glaube bzw. das menschliche Glauben, aufgrund derer der Mensch
Gerechtigkeit und Rechtfertigung empfängt. Gott spricht den Menschen aufgrund
seines Glaubens gerecht – das kann als Zentrum jenes theologischen Konzepts gel-
ten, das wir als »paulinische Rechtfertigungslehre« bezeichnen.
Warum es gerade der Galaterbrief war, in dem Paulus den missionstheolo-
gischen Glaubensbegriff erstmals in den umfassenden Begründungszusammen-
hang der Rechtfertigungslehre überführte, können wir leicht erklären: Paulus hat
diesen Brief geschrieben, weil in den gottesdienstlichen Versammlungen der gala-
tischen Gemeinden ganz offensichtlich christliche Juden aufgetreten sind, die
sich eine christliche Gemeinde nur im Rahmen und als Teil des Judentums vor-
stellen konnten. Ihrer Überzeugung nach war die Teilhabe an dem durch Jesus
Christus vermittelten Heil unbedingt an die Zugehörigkeit zu dem in Abraham
erwählten Gottesvolk gebunden, und daraus leiteten sie die Forderung ab, dass
die heidenchristlichen Galater unbedingt Juden werden müssen. Seine Konkreti-
on fand das theologische Konzept der Gegner konsequenterweise in der Forde-
rung der Beschneidung (Gal 5,2; 6,12 f.). Die Plausibilität und das theologische
Gewicht der von den Gegnern vertretenen Position wurden noch dadurch er-
höht, dass sie ihre Beschneidungsforderung durch den Verweis auf den Abraham-
bund von Gen 17,1–14 legitimieren konnten, und es spricht alles dafür, dass die
Gegner diese Karte gegenüber den Galatern in der Tat auch ausgespielt haben.
Die zuletzt genannte Annahme liefert jedenfalls eine gute Erklärung dafür, wa-
rum Paulus nun auf einmal auch seinerseits beginnt, mit Abraham zu argumen-
tieren. Er bezieht sich dabei jedoch auf andere Teile der biblischen Abraham-Er-
zählung: Ausgangspunkt ist zunächst Gen 15,6, welchen Vers Paulus in Gal 3,6 zi-
tiert (»Wie Abraham: ›Er glaubte Gott, und es wurde ihm angerechnet zur
Gerechtigkeit‹«) und dann in V. 7–9 mithilfe von Gen 12,3 und 18,18 auf die aktu-
elle Problemlage überträgt. Dabei geht es ihm um den Nachweis, dass die Heiden
schon aufgrund ihres Glaubens an der Erwählung Abrahams partizipieren und
damit schon aufgrund ihres Glaubens zu dem in Abraham erwählten Gottesvolk
gehören – ohne dass sie Juden werden und nach der Tora leben müssen.
Dass tatsächlich Gen 15,6 der Text war, welchem die paulinische Rechtferti-
gungslehre ihre Entstehung verdankt, ist auch darum wahrscheinlich, weil der
hier beschriebene Vorgang – dass Gott einen Menschen aufgrund seines »Glau-
bens« für »gerecht« erklärt – innerhalb der gesamten antiken Literatur aus-
schließlich im Zusammenhang der Abrahamüberlieferung belegt ist. Der Annah-
III. Theologische Themen 349
gungslehre formulierten Auskunft von Röm 3,20a und Gal 2,16e, wonach »kein
Mensch aus Werken des Gesetzes gerechtfertigt wird«, spiegelt sich der Sachver-
halt, dass Paulus die Tora bei seiner Verkündigung des Evangeliums als ein »Adi-
aphoron« (Strecker 1976, 480) behandelt hatte und an ihr einfach vorbeigegan-
gen war.
Die paulinische Rechtfertigungslehre verdankt ihre Entstehung der Auseinan-
dersetzung um die paulinische Heidenmission. Sie ist auch relativ spät entstan-
den – nämlich erst durch den Konflikt in Galatien. Aus diesem Grunde ist sie
immer wieder als ein apologetisches Konzept interpretiert worden, mit dem Pau-
lus lediglich seine Heidenmission legitimieren wolle (so nach dem Vorgang von
Stendahl 1976, v. a. in der sog. New Perspective on Paul [ A.III.4.], deren Thesen
in dieser Hinsicht bereits von Wernle 1897, 83 f. vorweggenommen wurden). Ihre
Rezeption im Römerbrief und ihr Ausbau zu einem komplexen theologischen
Begründungszusammenhang, der auch theologische, anthropologische und ek-
klesiologische Aspekte einschließt, lassen jedoch erkennen, dass ihre theologische
Reichweite weit über ihren ursprünglichen Entdeckungszusammenhang hinaus-
reicht. Bei der Abfassung des Römerbriefs hat Paulus sie jedenfalls als ein theolo-
gisches Konzept angesehen, das geeignet ist, die Eigenart seines theologischen
Denkens in umfassender Weise authentisch wiederzugeben.
Kertelge, Karl: »Rechtfertigung« bei Paulus. Studien zur Struktur und zum Bedeutungsgehalt
des paulinischen Rechtfertigungsbegriffs (NTA 3), Münster 1967.
Maschmeier, Jens-Christian: Rechtfertigung bei Paulus. Eine Kritik alter und neuer Paulusper-
spektiven (BWANT 189), Stuttgart 2010.
Stendahl, Krister: Paul among Jews and Gentiles and other essays, Philadelphia 1976.
Wolter, Michael: Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011, 339–411.
Michael Wolter
Wenn Paulus auf biblische Konzeptionen von der Gerechtigkeit Gottes Bezug
nimmt, steht er in einer frühjüdischen Auslegungstradition der Schrift, wie sie
durch die Septuaginta, aber auch durch außerbiblische frühjüdische Texte belegt
ist. Die Schriften Israels waren für Paulus ebenso wie für die Verfasser frühjü-
discher Schriften nicht Texte der Vergangenheit. Der Tanach, die dreiteilige jü-
dische Schriftensammlung, bestehend aus Tora, Propheten und Schriften, wurde
als Gottes Wort für die Gegenwart gehört. Auch Übersetzungen in das Griechische
(Septuaginta) oder Aramäische (Targumim) konnten so verstanden werden.
Die Textfunde von Qumran belegen, dass im 1. Jh. n.Chr. ein »Kanon« der jü-
dischen Schrift im Sinne des christlichen Alten Testaments noch nicht nach
Wortlaut und Schriftenbestand fixiert war. Gleichwohl konnte Paulus sich expli-
zit und implizit auf »die Schriften« oder Teile aus ihnen beziehen (vgl. 1Kor 15,3–
5; Röm 3,21) und daraus zitieren (Gal 3,10–13; Röm 4,3), wenn er seine spezi-
fischen theologischen Überzeugungen zur Sprache bringen wollte. Sein Umgang
III. Theologische Themen 351
mit den Schriften Israels zeigt, dass er das Christusgeschehen nur auf der Basis
des heilvollen Handelns Gottes an Israel, wie es in frühjüdischer Zeit überliefert
und geglaubt wurde, sachgemäß zur Sprache bringen konnte.
Für Paulus war die griechische Sprache Ausdrucksmittel seiner theologischen
Argumentation. Von daher ist es folgerichtig, dass er auch die Schriften Israels in
griechischer Sprachgestalt heranzog. Das schließt nicht aus, dass er bei Bedarf
den überlieferten Bibeltext gezielt bearbeiten konnte; zudem ist zur Zeit des Pau-
lus mit einer Vielfalt von Überlieferungsformen des Bibeltextes zu rechnen, die
nicht auf den Textbestand heutiger Druckausgaben der Septuaginta begrenzt
werden kann (für Jesaja: Wilk 1998, 16–59). Mit der Übersetzung der hebräischen
oder aramäischen Schriften in das Griechische waren allerdings Modifikationen
verbunden, die auch die biblischen Aussagen zur Gerechtigkeit Gottes betreffen
konnten.
So gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem in den hebräischen Schrif-
ten des Alten Testaments wurzelnden Verständnis der Gerechtigkeit Gottes und
den philosophisch-ethischen Konzeptionen von Gerechtigkeit, wie sie in der grie-
chischen Philosophie entwickelt worden sind (Feldmeier/Spieckermann 2011,
298 f.). Die alttestamentlichen Aussagen zu Gottes Gerechtigkeit wurzeln in den
Überlieferungen zu Gott als Schöpfer und Herr der Welt (vgl. Dtn 32,4; Ps 89,15;
97,2; Jes 45,21) und benennen zugleich die Welt- und Lebensordnung, die durch
Gott garantiert wird (Schmid 1968). Demgegenüber leitet sich das griechisch-hel-
lenistische Gerechtigkeitsverständnis aus ethischen und politischen Anwen-
dungsfeldern her und hat stärker den Bereich der Tugenden und der Distribution
von Gütern im Blick. Allerdings ist in der Septuaginta wie in den meisten frühjü-
dischen Schriften der Sprachgebrauch hinsichtlich der Gerechtigkeitsterminolo-
gie weit stärker durch die biblischen Inhalte bestimmt als durch diese griechische
philosophische Tradition. Zudem kann auch für die biblische und frühjüdische
Überlieferung der normative und distributive Aspekt im Verständnis der Gerech-
tigkeit Gottes nicht ganz ausgeblendet werden (Seifrid 2004). Hinsichtlich der
Rezeption der Schriften Israels in neutestamentlicher Zeit und ihrer Rede von der
Gerechtigkeit Gottes kann daher keine grundlegende Differenz zwischen der He-
bräischen Bibel und der Septuaginta festgestellt werden (Witte/Schröter 2011).
Eine wesentliche Modifikation im Verständnis der Gerechtigkeit Gottes im
Frühjudentum ergibt sich allerdings daraus, dass Gerechtigkeit zunehmend mit
Aussagen über die Tora verbunden wird, die als heilsame Gabe und Lebensord-
nung Gottes für sein Volk Israel gilt. Der Bund Gottes mit Israel kann damit als
Ausdruck seiner Gerechtigkeit verstanden werden. Mit dem Bundesschluss ver-
bunden ist die Forderung, Gottes Gebote zu halten. Hinzu tritt in frühjüdischer
Zeit eine verstärkte Ausrichtung der Aussagen über die Gerechtigkeit Gottes auf
die endzeitliche Vollendung und das Gericht. Beim Endgericht erweist Gott seine
Gerechtigkeit gegenüber Israel, indem er die Übertreter der Tora straft, ihnen
zugleich aber seine Barmherzigkeit und Vergebung zukommen lässt, die seinen
Gerichtszorn übersteigt.
352 C. Werk
meinen Fuß auf den Weg setzt, in Seinem Erbarmen mich nahen ließ und durch
Seine Gnadenerweise eintritt mein Recht, er mich in seiner wahren Gerechtigkeit
richtete und er in der Fülle Seiner Güte alle meine Verschuldungen sühnt, und er
in Seiner Gerechtigkeit mich reinigt von menschlicher Unreinheit und Sünde von
Menschensöhnen, um Gott Seine Gerechtigkeit zu bekennen und dem Höchsten
seine Pracht.« (1QS 11,11–15).
Die Loblieder (Hodayot) aus Qumran sind geprägt von Sündenerfahrung und
Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit: »Und ich erkannte, dass beim Menschen kei-
ne Gerechtigkeit ist und nicht beim Menschenkind vollkommener Wandel. Beim
höchsten Gott sind alle Werke der Gerechtigkeit, aber der Wandel des Menschen
steht nicht fest, es sei denn durch den Geist, den Gott ihm schuf, um den Wandel
der Menschenkinder vollkommen zu machen, damit sie alle seine Werke erken-
nen in der Kraft seiner Stärke und die Fülle seines Erbarmens über alle Söhne
seines Wohlgefallens [. . .]. Ich sprach: In meiner Sünde bin ich verloren für dei-
nen Bund. Aber als ich der Kraft deiner Hand gedachte mit der Fülle deines Er-
barmens, da richtete ich mich auf und erhob mich, und mein Geist gewann wie-
der Festigkeit gegenüber der Plage; denn ich stützte mich auf deine Barmherzig-
keit und die Fülle deines Erbarmens. Denn du sühnst Sünde und reinigst den
Menschen von Verschuldung durch deine Gerechtigkeit.« (1QH 4,29–37).
Eindrücklich sind auch Aussagen zur Erfahrung des Sünders in der 4. Es-
ra-Apokalypse. Zwar heißt es dort, dass denen, die Gottes Gebote beachten, Le-
ben zugesagt ist. Aber der Seher hat auch erfahren, dass es kaum einen gibt, der
dieser Forderung gerecht wird: »Wer ist es von den Lebenden, der nicht gesündigt
hätte? Oder wer von den Geborenen ist es, der deinen Bund nicht übertreten
hätte? [. . .] Denn alle, die geboren wurden, sind von Sünden befleckt, sind voll
von Fehlern und von Schuld belastet [. . .]. In Wahrheit gibt es nämlich niemand
unter den Geborenen, der nicht böse gehandelt, und unter den Gewordenen, der
nicht gesündigt hätte. Denn dadurch wird deine Gerechtigkeit und deine Güte
offenbar, Herr, dass du dich derer erbarmst, die keinen Bestand an guten Werken
haben.« (4Esr 7,46.68; 8,35).
Solche frühjüdischen Zeugnisse vom Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit zei-
gen, dass Paulus mit seinem Gottesverständnis bei grundlegenden biblischen und
frühjüdischen Überlieferungen anknüpfen konnte. Vom Christusgeschehen her
wurde sein Verständnis der Gerechtigkeit Gottes aber grundlegend neu und end-
zeitlich bestimmt. Die entscheidende Umprägung, die Paulus dabei vornahm,
resultierte aus der Herauslösung des Glaubens an Gottes Gerechtigkeit aus dem
Zusammenhang mit der Tora, wie er besonders für die frühjüdische Konzeption
von der Gerechtigkeit Gottes bestimmend geworden war ( C.III.3.7.4.).
Zur Begründung seines neuen Verständnisses der Gerechtigkeit Gottes, das sich
aus dem Christusgeschehen ergeben hat, verweist Paulus aber wiederum auf das
Zeugnis der Schrift. Gezielt stützt er sich in seinen Argumentationen im Galater-
und im Römerbrief auf gerade diejenigen Schriftstellen, in denen Gerechtigkeit
und Glaube bzw. die Lebenszusage an den Glaubenden miteinander verbunden
354 C. Werk
sind: An Abraham kann man ablesen, dass Gott seine Gerechtigkeit dem zu-
spricht, der – auch ohne »Werke des Gesetzes«! – an Gott glaubt (Gen 15,6 in Gal
3,6; Röm 4,3.9; C.III.3.7.1.). Und die Zusage des Propheten Habakuk, ein Ge-
rechter werde aus seiner Treue Leben empfangen, wird von Paulus als endzeit-
licher Lebensgewinn im Glauben an das Evangelium für Juden und Nichtjuden
interpretiert (Hab 2,4 in Gal 3,11; Röm 1,17).
Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann: Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Got-
teslehre (TOBITH 1), Tübingen 2011, 287–309.
Schmid, Hans Heinrich: Gerechtigkeit als Weltordnung. Hintergrund und Geschichte des alt-
testamentlichen Gerechtigkeitsbegriffes (BHTh 40), Tübingen 1968.
Seifrid, Mark: Paul’s Use of Righteousness Language Against Its Hellenistic Background, in:
Carson, Donald A. u. a. (Hg.): Justification and Variegated Nomism. Vol. II: The Paradoxes
of Paul (WUNT II 181), Tübingen 2004, 39–74.
Wilk, Florian: Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998.
Witte, Markus/Schröter, Jens: Gerechtigkeit als Thema biblischer Theologie, Öffentliche
Vorlesungen Heft 164, Humboldt-Universität zu Berlin, Theologische Fakultät, Berlin 2011.
Karl-Wilhelm Niebuhr
Der Satz Gal 2,16, der Kennzeichen einer theologischen Sentenz oder eines »Ka-
nons« (= Richtschnur) (Gal 6,16) aufweist, stammt sehr wahrscheinlich aus den
Jahren, die Paulus in Antiochien verbracht hat (Burchard 1996; Becker 1998, 42;
Theobald 2001a). Die dortigen Hausgemeinden waren wohl die ersten über-
haupt, die Heiden aufnahmen und tauften, ohne von ihnen die Übernahme der
spezifisch jüdischen »identity markers« einzufordern, und sie hielten diese Praxis
wohl auch konsequent durch. Ihren programmatischen Ausdruck fand sie im
»Kanon« Gal 2,16, wobei nicht unwichtig ist, dass dieser bereits in grundsätzlicher
Weise vom »Menschen« spricht: »wir wissen aber: der Mensch (ἄνθρωπος) wird
nicht gerechtfertigt aufgrund von Werken des Gesetzes, sondern durch Glauben
III. Theologische Themen 355
an Jesus Christus«. Mit anderen Worten: Menschen aus der Völkerwelt müssen
nicht zuerst durch Übernahme des Bundeszeichens der Beschneidung »Prosely-
ten«, d. h. Voll-Juden werden, um in den Heilsbereich des Messias Jesus zu gelan-
gen, der Glaube an diesen genügt.
Die Rede vom ἄνθρωπος lässt aufmerken. Sie ist semantisch dichter als ein
schlichtes indefinites τίς (jemand) und lädt zur theologischen Explikation ein, die
Paulus im Gal und Röm, wo er den »Kanon« zur Mitte seiner »Rechtfertigungs-
lehre« gemacht hat, auch leistet.
Gal 2,14b–21, die Rede, die Paulus dem Petrus »ins Angesicht« gehalten haben
will, als dieser die Tischgemeinschaft mit den nicht-jüdischen Gruppierungen in
der antiochenischen Gemeinde aufgekündigt hatte – eine eindrucksvolle rheto-
rische Inszenierung Jahre danach an die Adresse der Galater –, trägt zwei wichtige
Aspekte zu unserer Frage bei. Der erste Aspekt betrifft die unmittelbare Reichwei-
te des »Kanons«. Ursprünglich galt er der Frage, wie mit Heiden bei ihrer Initiati-
on in die Gemeinde zu verfahren sei, jetzt wendet ihn Paulus auf die Juden an und
bringt damit seine universale Gültigkeit denen gegenüber zum Ausdruck, die zu-
nächst einmal meinen konnten, als Glieder des Gottesvolkes von ihm nicht be-
troffen zu sein. »Wir sind von Geburt Juden und nicht Sünder aus den Heiden.
Doch weil wir wissen: Der Mensch wird nicht gerechtfertigt aufgrund von Werken
des Gesetztes, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum
Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den
Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes [. . .]« (Gal 2,15 f.). V. 17
zeigt, dass dies in der Anwendung auf die Juden (»auch wir«) die Einsicht ein-
schließt, genauso der Rechtfertigung durch Gott bedürftige »Sünder« zu sein, wie
es die Heiden sind. Der zweite Aspekt ist anthropologischer Natur und mit
Schrift-, genauer: Psalterfrömmigkeit verquickt. Die schon zitierten V. 15 f. mün-
den nämlich in die Begründung ein: »denn aus Werken des Gesetzes wird kein
Fleisch gerechtfertigt« (vgl. auch Röm 3,20a). Zugrunde liegt Ps 143,2: »Und gehe
nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn vor deinem Angesicht ist kein Leben-
diger gerecht« (vgl. auch Ps 25,7; 51,6 f. und Hi 4,17; 9,2). Der Mensch ist »Fleisch«
– und in seiner Schwachheit und Verfallenheit an die Sünder immer auch auf
Gottes Barmherzigkeit angewiesen.
Im Römerbrief gewinnt die Rede vom »Menschen« (ἄνθρωπος) besonderes
Gewicht: »denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart wider alle Gottlo-
sigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen (ἀνθρώπων)« (Röm 1,18). Von Adam
her stehen sie »alle« im Machtbereich von Sünde und Tod, denn »alle haben sie
gesündigt« (sechsmal begegnet in Röm 5,12–21 das Stichwort ἄνθρωπος): Mit
Adam meint Paulus »den Menschen, das Mensch-Sein oder das Wesen des Men-
schen als Konkretum« (Schlier 1977, 181); oder anders gesagt: »Der einzelne
356 C. Werk
Mensch stellt in seiner Existenz nie nur sich selbst dar, sondern immer auch den
Menschen, der als seine Herkunft ihn bestimmt und den er als seinesgleichen
vertritt« (ebd. 180). Und wie vertritt er ihn? Indem »seine Sündentat die Sünden-
macht, das Sündenwesen realisiert«: »Sündigen ist immer die aus unserer Her-
kunft vorkommende Sünde vollziehen, d. h., ihr die tatkräftige Zustimmung ge-
ben« (ebd. 182). Wenn Paulus in diesem Sinne Adam dem Stammvater Israels,
Abraham (Gal 3; Röm 4), vorordnet, dann dokumentiert er damit über die ge-
schichtlich-konkreten Differenzierungen hinaus, die mit Israels Erwählungsge-
schichte und ihrer messianischen Entgrenzung gegeben sind, sein grundsätz-
lich-anthropologisches Interesse. Erklärt er in Röm 6,6: »unser alter Mensch (ὁ
παλαιὸς ἡμῶν ἄνθρωπος) ist mitgekreuzigt worden«, so ruft er in seiner Daseins
analyse Röm 7, in welcher er die Ausweglosigkeit eben dieser »alten« Existenz zu
bedrückender Gewissheit bringt, im Stil eines Klagepsalms aus: »Ich elender
Mensch (ταλαίπωρος ἄνθρωπος)! Wer wird mich erlösen von diesem todverfal-
lenen Leib?« (Röm 7,24). Und in Röm 9,20 appelliert er an die Einsicht in die
conditio humana im Angesicht des Schöpfers: »O Mensch, wer bist du denn, dass
du mit Gott rechten willst? Spricht etwa ein Werk zu seinem Meister: Warum
machst du mich so? Hat nicht ein Töpfer Macht über den Ton, aus demselben
Klumpen ein Gefäß zu ehrenvollem und ein anderes zu nicht ehrenvollem Ge-
brauch zu machen?« (Röm 9,20 f.; vgl. Jes 29,16 LXX; Hi 9,12; Jer 18,6; SapSal 15,7).
Die axiomatische Mitte dieser sich hier abzeichnenden theologischen Anthro-
pologie ist (in Fortschreibung von Gal 2,15–21) der Absatz Röm 3,21–31 mit dem
»Kanon« von der Rechtfertigung (V. 28) als seiner inneren Mitte: »Wir sind der
Überzeugung: Der Mensch wird durch Glauben gerechtfertigt ohne Werke des
Gesetzes«. Dieses Axiom besitzt verschiedene Implikationen, von denen folgende
genannt seien (von seiner christologischen Grundlegung sei hier abgesehen): die
theologische Überzeugung, dass Gott der Gott der Juden und Heiden ist, »da doch
gilt: Gott ist ›der Eine‹ (Dtn 6,4)«, der alle auf demselben Weg des Glaubens rettet
(Röm 29 f.), und die daraus folgende anthropologische Überzeugung, dass es zwi-
schen den Menschen »keinen Unterschied« gibt (Röm 3,22; vgl. 10,12, außerdem
Röm 4,11: Abraham: »Vater aller, die glauben«), »denn alle haben gesündigt und
ermangeln der Herrlichkeit Gottes« (Röm 3,23). Dieses »Ermangeln der Herrlich-
keit Gottes« ist Kennzeichen adamitischer Existenz, was frühjüdische Zeugnisse
bestätigen; vgl. etwa VitAd 20 f.: »Und zur selben Stunde wurden mir die Augen
aufgetan, und ich erkannte, dass ich entblößt war von der Gerechtigkeit, mit der
ich bekleidet gewesen. Da weinte ich und sprach: Warum hast du mir das angetan,
dass ich entfremdet war von meiner Herrlichkeit, mit der ich bekleidet war« (so
Eva zur Schlange); und Adam zu Eva: »Du böses Weib, was hast du angerichtet?
Entfremdet hast du mich von der Herrlichkeit Gottes!« Und in BerR 12,36 heißt es
lapidar: »Adam verlor durch Sünde Herrlichkeit«. Was Paulus in Röm 3,23 nur
knapp als Verlust der Anteilhabe des adamitischen Geschöpfes an göttlichem Le-
ben, sprich: der Herrlichkeit Gottes, feststellt, das entfaltet er in der Adam-Chris
tus-Typologie Röm 5,12–21 in umfassender, universal-geschichtlicher Perspektive
III. Theologische Themen 357
und in der confessio Röm 7,7–12 in einer »Daseinsanalyse«, welche die tödliche
Entfremdung des Geschöpfes von sich selbst am Scheitern angesichts der Wei-
sung »du sollst nicht begehren« als der Wurzelsünde festmacht. Beides dient Pau-
lus zur Befestigung der axiomatischen Grundüberzeugung, dass »der Mensch«
allein »durch Gottes Gnade«, und das heißt: »durch die Erlösung in Christus Je-
sus gerechtfertigt wird« (Röm 3,24).
Eine wichtige Rolle für die Anthropologie des Paulus spielt die Schrift (vgl. etwa
die Katene Röm 3,10–18 usw.). Dabei ist deren Rezeption bei ihm mit dem »welt
anschaulichen« Horizont einer apokalyptischen Anthropologie verquickt, die im
Zeichen der auf ihr Ende zulaufenden Weltzeit steht. Paradigmatisch hierfür sei
4Esr 8,35 f. genannt: »In Wahrheit gibt es nämlich niemanden unter den Gebore-
nen, der nicht böse gehandelt, und unter den Gewordenen, der nicht gesündigt
hätte. Denn dadurch wird deine Gerechtigkeit und deine Güte offenbar, Herr,
dass du dich derer erbarmt hast, die keinen Bestand an guten Werken haben« (vgl.
auch AssMos 12,7). Auch in den Qumranrollen, insbesondere den Hodajot, gibt es
signifikante Parallelen zu Gal 2,16 fin.; Röm 3,20a: »Ich erkannte, dass bei dem
Menschen keine Gerechtigkeit ist und nicht beim Menschenkind vollkommener
Wandel« (1QH 4,30); »und ich erkannte, dass es Hoffnung gibt durch deine
Barmherzigkeit und Erwartung durch die Fülle deiner Kraft. Denn niemand ist
gerecht in deinem Gericht, und niemand unschuldig in deinem Prozess« (9,14 f.);
»nichts ist zu erwidern auf deine Zurechtweisung; denn du bist im Recht und
niemand besteht vor dir« (1QH 12,31); »und ich weiß, dass ein Mann nicht gerecht
wird ohne dich« (1QH 16,1) (Braun 1967; Wilckens 1974, 90 f.). Bei Paulus ist
allerdings der treibende Faktor seiner »anthropologischen Universalisierung« das
christologische Bekenntnis, kein anthropologischer Pessimismus. Grundlegend
für ihn ist die Überzeugung, dass es »für alle Menschen zur Gerechtsprechung
kommt, die Leben schenkt, durch die gerechte Tat eines Einzigen« (Röm 5,18) –
»umsonst, aus lauter Gnade« (Röm 3,24).
Schlier, Heinrich: Exkurs: Adam bei Paulus, in: Ders.: Der Römerbrief (HThK VI), Freiburg
1977, 179–189.
Theobald, Michael: Der Römerbrief (EdF 294), Darmstadt 2000.
Wilckens, Ulrich: Was heißt bei Paulus: »Aus Werken des Gesetzes wird kein Mensch gerecht«?,
in: Ders.: Rechtfertigung als Freiheit. Paulusstudien, Neukirchen-Vluyn 1974, 77–109.
Michael Theobald
358 C. Werk
Kategorie der ›Gesetzlichkeit‹ ist dem theologischen Denken des Paulus gänzlich
fremd. Wenn Paulus innerhalb des semantischen Feldes seiner Rechtfertigungs-
lehre von »Gesetz« und »Werken (des Gesetzes)« spricht, so hat er dabei vielmehr
immer die Tora im Auge. Dazu gehört auch die Bedeutung, die der Tora für die
Darstellung von Israels Erwählung zugeschrieben wurde: Es war erst die Tora, die
es Israel ermöglichte, seine Erwählung und damit sein Anders-Sein als die Völker
auch im Alltag zu erfahren. Dass Gott Israel von den anderen Völkern unterschie-
den und zu seinem Eigentumsvolk gemacht hatte, konnte Israel dadurch zum
Ausdruck bringen und daran erkennen, dass es sein Leben auf die Tora gründete.
Bei Paulus kommt dieser Zusammenhang von Erwählung und Tora v. a. in Röm
2,17 f. (»Wenn du dich ›Jude‹ nennst und dich auf das Gesetz stützt und dich
Gottes rühmst«) oder auch in 1Kor 9,20 f., wo Paulus Juden und Nichtjuden so
voneinander unterscheidet, dass er die einen »die unter dem Gesetz« nennt und
die anderen »Gesetzlose« (s. auch Röm 2,12 nach V. 9–11 und Röm 9,4, wo Paulus
die »Gesetzgebung« unter den Vorzügen aufführt, die Israels Erwählung und sei-
ne Sonderstellung vor Gott kenntlich machen), zum Ausdruck.
Bei Paulus ist die Gesetzesfrage darum in die Israelfrage eingebettet, und wenn
es um das Gesetz und die Werke geht, die von ihm gefordert und in seiner Erfül-
lung getan werden, so ist immer Israel mit im Spiel. Das war auch bei dem Phari-
säer Paulus schon so: Mit seinem »Eifer« für das Gesetz (Gal 1,13 f.; s. auch Phil
3,6) und seiner Verfolgung der jüdischen Jesusverehrer ging es ihm nicht einfach
nur darum, eine Erfüllung der Tora als solcher zu erzwingen (weil Gesetze nun
einmal zu erfüllen sind), sondern um deren erwählungstheologische Funktion,
der zufolge Israel seinem Erwählungsauftrag – die Teilhabe an der Heiligkeit
Gottes zu bewahren – ohne die Tora nicht nachkommen kann.
Mit »Werken des Gesetzes« meint Paulus die Gesamtheit aller von der Tora
verlangten und in ihrer Befolgung praktizierten Handlungen. Dieser Ausdruck
bezeichnet also nicht lediglich bestimmte einzelne Vorschriften wie die Gebote
der Beschneidung und der Sabbatobservanz sowie die Speisegebote. Paulus hat
immer die eine Tora in ihrer ungeteilten Gesamtheit im Blick. Auf der anderen
Seite können wir aber mit guten Gründen davon ausgehen, dass diese Funktion
der »Werke des Gesetzes« in der lebensweltlichen Praxis immer nur von solchen
Torageboten getragen wurde, die ein Ethos begründeten, das Israel von den Völ-
kern unterschied – und dazu gehörten nun einmal z. B. das Beschneidungsgebot,
das Sabbatgebot und die Speisegebote und nicht etwa das Tötungsverbot des De-
kalogs (dazu v. a. Dunn 1998, 354–359).
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Paulus das »Gesetz« und
die »Werke (des Gesetzes)« dem Christusglauben antithetisch gegenüberstellt
und dabei theologisch depotenziert: weil die Tora an der erwählungstheolo-
gischen Exklusivität orientiert ist und damit der soteriologischen Inklusivität des
Christusglaubens entgegensteht, der das Heil Gottes allen Menschen zusagt –
ohne Rücksicht darauf, ob sie Juden oder Heiden sind, ob sie nach der Tora leben
oder nicht (vgl. Röm 1,16 f.; 3,21–23.27–30; 10,12 f.; Gal 2,16; 5,6; 6,15). Die Tora
360 C. Werk
markiert den Unterschied zwischen Israel und den Völkern und steht dem Chris
tusglauben damit insofern entgegen, als mit ihm eine potentiell universale Sote-
riologie verknüpft ist, die diese Unterscheidung geradezu programmatisch hinter
sich lässt.
Die Einbettung der Gesetzesfrage in die Israel-Frage hat ihren Ort im Entde-
ckungszusammenhang der paulinischen Rechtfertigungslehre, insofern es sich bei
ihr um einen integralen Bestandteil des christlich-jüdischen Trennungsprozesses
handelt. Sie fungiert in dieser Hinsicht als Gegenstück zur missionstheologischen
Bedeutung des Christusglaubens ( C.III.3.7.1.). Hiervon zu unterscheiden ist der
paulinische Umgang mit der Gesetzesfrage innerhalb des theologischen Begrün-
dungszusammenhangs, den Paulus mit seiner Rechtfertigungslehre konzipiert.
Hier führt Paulus zwei Gründe an, die die Unmöglichkeit begründen, durch das
Gesetz und seine Erfüllung Gottes Gerechtigkeit und Heil zu erlangen:
Die Erfüllung des Gesetzes und das Tun der von ihm geforderten Werke führen
zum einen aus dem Grunde nicht zu Gerechtigkeit und Heil, weil es der Glaube
ist, der das tut. Diese Begründung findet ihren deutlichsten Ausdruck in Gal 3,11 f.:
Hier arbeitet Paulus mithilfe von Hab 2,4 und in Gestalt einer syllogistischen Ar-
gumentation heraus, dass das Gesetz aus dem Grunde keine Gerechtigkeit vermit-
teln kann, weil seine Lebenszusage nach Lev 18,5 nicht dem Glauben, sondern dem
Tun gilt. Genauso hatte Paulus bereits in Gal 2,16 argumentiert, und auch Gal
2,21b basiert auf derselben Logik: Weil – wie der Glaube annimmt – Christus nicht
»vergeblich gestorben« sein kann, kann die »Gerechtigkeit« nicht »durch das Ge-
setz« kommen. Dementsprechend ist es dies – dass die Gerechtigkeit nicht »aus
Werken«, sondern »aus dem Glauben« kommt –, was Israel nach Röm 10,2 f. nicht
erkannt hat. Es hat am Weg des Gesetzes festgehalten, weil es die Gerechtigkeit
nur für sich haben wollte: Es wollte »die eigene Gerechtigkeit behaupten« (V. 3;
hier ist noch ein Stück des Entdeckungszusammenhangs erkennbar). Dasselbe
gilt auch für die paulinische Argumentation in Phil 3,5–9: Es ist erst »die überra-
gende Erkenntnis Christi Jesu« (V. 8), die die »Gerechtigkeit im Gesetz«, die es
durchaus gibt, wertlos macht, weil sie keine Gerechtigkeit »aus Gott« ist, die es
nur »aufgrund des Glaubens« gibt (V. 9). Am Beispiel Abrahams zeigt Paulus in
Röm 4,2 f. in ganz analoger Weise, dass Gott schon immer nur aus Glauben und
nicht aus Werken gerechtfertigt hat: Weil Gott Abraham aufgrund seines Glau-
bens für gerecht erklärt hat, können dessen Werke, die er zweifellos vorzuweisen
hatte und auf die er auch stolz sein konnte, dabei keine Rolle gespielt haben.
Zum anderen ist es die Sünde oder genauer: der »Vorsprung der Sünde vor dem
Gesetz« (Klein 1984, 67), die es unmöglich macht, dass das Gesetz Gerechtigkeit
und Heil vermitteln kann. Der Mensch begegnet dem Gesetz immer nur als Sün-
der, der er aufgrund seiner Abstammung von Adam bereits ist. Die Sünde ist im-
mer schon da, und der Mensch kann darum gar nicht anders, als durch die Über-
III. Theologische Themen 361
tretung des Gesetzes immer wieder neu zu sündigen. Diese Vorstellung wird erst-
mals in Gal 3,21 f. angedeutet und dann in Röm 5,12–20 und 7,7–25 zu einer
umfassenden fundamental-anthropologischen Theorie ausgebaut ( C.III.4.1.4.):
Gegenüber dem überkommenen jüdischen Gesetzesverständnis geht es Paulus
hier um dem Nachweis, dass es dem Menschen unmöglich ist, die Sünde aus sich
selbst heraus mithilfe des Gesetzes zu domestizieren. Rettung kann nur von au-
ßen kommen: durch Vergebung. Der in C.III.3.7.4.2. skizzierte Entdeckungszu-
sammenhang des paulinischen Gesetzesverständnisses ist aber auch in diesen
Texten erkennbar, denn auch mit seiner Anthropologie geht es ihm darum, den
Unterschied zwischen Juden und Heiden einzuebnen: Angesichts der universalen
Herrschaft der Sünde wird das, was Israel von den Völkern unterscheidet – der
Besitz des Gesetzes (vgl. Röm 2,17) – bedeutungslos. Der jüdische Umgang mit
dem Gesetz ist durch dieselbe conditio humana bestimmt, der alle Menschen un-
terliegen. Auch das jüdische Bemühen um Toragehorsam kann sich nicht der Be-
stimmtheit durch die Sünde entziehen, von der alle Menschen seit Adam be-
herrscht sind.
Die Einbettung der Gesetzesfrage in die Israelfrage macht es darum auch un-
möglich, von einem paulinischen »Antinomismus« im üblichen Sinne zu spre-
chen. Eine solche Unterstellung hat Paulus in Röm 3,8 bereits selbst zurückgewie-
sen. Die Frage nach der Verbindlichkeit ethischer und moralischer Normen bleibt
von seiner theologischen Depotenzierung der »Werke (des Gesetzes)« darum
gänzlich unberührt. Dementsprechend kann Paulus in Gal 2,4; 4,21–31; 5,1.13 so-
wohl die Freiheit der Glaubenden vom Gesetz hervorheben als auch sie auffor-
dern, »das Gesetz Christi« zu erfüllen (Gal 6,2; s. auch 1Kor 9,21). An dieser Stelle
gibt es keinen Widerspruch, weil Paulus hier in einer Tradition steht, die Freiheit
als Freiheit von fremden Gesetzen und als Möglichkeit, nach den eigenen Gesetzen
leben zu dürfen, versteht. Das – und nicht Freiheit von jeglicher gesetzlicher Bin-
dung – ist ›Autonomie‹ im eigentlichen Sinne des Wortes. Beispiele für diese Vor-
stellung finden sich in 2Makk 2,22; Demost.or. 10,4; Plut.Timoleon 23,2; Plut.De-
metrius 8,7.
Übertragen auf den Entdeckungszusammenhang der paulinischen Rechtferti-
gungslehre bedeutet dies: Wenn Heidenchristen die Erfüllung der Tora abverlangt
wird, kann Paulus dies als Gefährdung ihrer Freiheit interpretieren, weil sie sich
einem fremden Gesetz – der Tora – unterwerfen sollen. Demgegenüber ist für sie,
die Jesus Christus angehören, das »Gesetz Christi« ein eigenes Gesetz, dessen An-
spruch ihre Freiheit nicht beeinträchtigt und das darum auch unbedingte Ver-
bindlichkeit beanspruchen darf. Auch christliche Autonomie ist damit für Paulus
nicht Gesetzlosigkeit, sondern Freiheit von Heteronomie sowie das Recht und die
Pflicht gleichermaßen, nach dem »Gesetz Christi« zu leben ( C.III.4.5.).
Aufs Ganze gesehen ist damit aber auch deutlich, dass das Urteil Albert Schweit
zers, Paulus würde sich mit »der Vorstellung eines Glaubens [. . .], der die Werke
des Gesetzes und damit Werke überhaupt ablehnt«, »den Weg zur Ethik ab(schnei-
den)« (Schweitzer 1930, 220), gänzlich unbegründet ist. Das in diesem Abschnitt
362 C. Werk
skizzierte Verständnis von »Gesetz« und »Werke (des Gesetzes)« macht es demge-
genüber gerade möglich, auch der Ethik einen sinnvollen Ort in der paulinischen
Theologie zuzuweisen. Wenn »Gesetz« nicht jegliche ethische Forderung ist, son-
dern die Mosetora, die den Unterschied zwischen Juden und Heiden zur Darstel-
lung bringen will, dann kann man auch erklären, warum die paulinische Ethik –
gerade weil sie ist, wie sie ist –, so gut zu seiner Rechtfertigungslehre passt (dazu
ausführlicher C.III.5.6.).
Bachmann, Michael (Hg. unter Mitarbeit von Johannes Woyke): Lutherische und Neue Pau-
lusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskus-
sion (WUNT 182), Tübingen 2005.
Dunn, James D. G.: Jesus, Paul and the Law. Studies in Mark and Galatians, Westminster/Louis-
ville 1990, besonders 183–241.
Mijoga, Hilary B. P.: The Pauline Notion of Deeds of the Law, San Francisco u. a. 1999.
Rapa, Robert K.: The Meaning of »Works of the Law« in Galatians and Romans (StBL 31), New
York u. a. 2001.
Michael Wolter
Die in der Überschrift formulierte Aussage geht auf Martin Luthers Übersetzung
von Röm 10,4 zurück, die von der Deutschen Bibel aus dem Jahr 1545 bis zur Revi-
sion von 1984 bis auf eine minimale sprachliche Anpassung gleich geblieben ist.
Sie lautet: »Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist ge-
recht«. Paulus selbst spricht hier von Christus als dem τέλος des Gesetzes. Er
wählt damit einen Begriff, für den es mehrere Übersetzungsmöglichkeiten gibt
(s. u.). Wichtig ist, dass Paulus in allen Texten, in denen er in diesem Zusammen-
hang von »Gesetz« spricht, nicht an allgemeine ethische oder moralische Vor-
schriften oder an Gesetze im Allgemeinen denkt. Er spricht vielmehr immer nur
im eingeschränkten Sinn von der Tora, die Gott Israel gegeben hat, damit es seine
Erwählung aus den Völkern jeden Tag aufs Neue darstellen und erfahren kann.
Die Gesetzesfrage ist bei Paulus immer in die Israelfrage eingebettet.
Die meisten verstehen die Formulierung »τέλος des Gesetzes« in Röm 10,4 in
dem Sinne, wie er durch die Überschrift zum Ausdruck gebracht wird. Nach der
überaus einflussreichen Interpretation von Rudolf Bultmann (Bultmann 51968a)
wende sich Paulus an dieser Stelle gegen das angebliche Bestreben des Judentums,
»durch Erfüllung des Gesetzes das Heil gewinnen zu wollen« (37), d. h. sich »die
›Gerechtigkeit‹ durch Leistungen zu verdienen« (40). Diesem »Geltungsbedürf-
nis« gegenüber sei »Christus« »das Ende für das Gesetz als Heilsweg« (48): Er sei
»die Erschließung des Heilsweges der Gnade für den Glauben, d. h. für den Men-
schen, der auf die eigene Gerechtigkeit verzichtet und sich radikal an Gott preis-
gibt« (ebd.).
Dieser Deutung steht eine andere Interpretation gegenüber, die hier nicht den
Bruch zwischen dem Gesetz und Christus zum Ausdruck gebracht sieht, sondern
III. Theologische Themen 363
die Kontinuität. Das griechische Wort τέλος bedeute hier darum nicht »Ende«,
sondern es sei teleologisch zu verstehen und mit »Ziel« zu übersetzen. Demnach
werde in Christus und in der durch ihn vermittelten Gerechtigkeit das ursprüng-
liche und eigentliche Ziel des Gesetzes verwirklicht. In ihm sei also das, worauf
das Gesetz abzielt, in Erfüllung gegangen (so u. a. Badenas 1985; Burchard 1998,
254–262; Haacker 1998).
Von der Bedeutung des griechischen Wortes τέλος und seiner Verknüpfung mit
einem Genitiv her sind beide Interpretationen möglich. Die Bedeutung »Ende«
hat das Wort sicher in 2Kor 3,13 (»das τέλος des Vergehenden«), Bar 3,19 (»es gibt
kein τέλος ihres Besitzes«) und Philo somn. II 142 (»auf das τέλος des Lebens
hinblicken«). In Röm 6,21 (»das τέλος von jenen [Taten] ist der Tod«) bezeichnet
es so etwas wie »Resultat« oder »Ergebnis«. Demgegenüber lassen sich zugunsten
der Übersetzung »Ziel« ebenfalls eine ganze Reihe von Texten anführen, aus der
nur einige wenige Beispiele angeführt werden sollen: 1Tim 1,5 (»das τέλος der
Ermahnung ist Liebe«), 1Petr 1,9 (»das τέλος eures Glaubens ist die Rettung der
Seelen«); Philo LA III 45 (»das τέλος der Vernunft ist Wahrheit«); Plut.mor. 750e
(»τέλος der Begierde [sind] Lust und Genuss«), 780e (»Gerechtigkeit [. . .] ist
τέλος des Gesetzes«) und Corp.Herm., Frgm. 20,7 (»τέλος der Harmonie der Ge-
stirne [ist] das Erzeugen von Sympathie«).
Von Bedeutung ist darüber hinaus aber auch, dass Martin Luthers Übersetzung
den paulinischen Satz insofern unzutreffend wiedergibt, als sie den Eindruck er-
weckt, als sei bei Paulus »Christus« der Gegenstandsbegriff (das Subjekt) und
»τέλος des Gesetzes« der Bestimmungsbegriff (das Prädikatsnomen), mit dessen
Hilfe Paulus die Bedeutung des Christusgeschehens erklären wolle. Tatsächlich ist
es aber genau umgekehrt. Röm 10,4 lautet bei Paulus in einer Übersetzung, die
etwas näher am griechischen Text bleibt als die oben zitierte von Martin Luther:
»Denn das τέλος des Gesetzes ist Christus – zur Gerechtigkeit für jeden, der
glaubt«. Demnach ist es also die Frage nach dem τέλος des Gesetzes, die Paulus
hier zum Gegenstand seiner Erklärung macht, und nicht die Bedeutung des
Christusgeschehens. Dazu passt auch, dass Paulus die Gesetzesfrage bereits inner-
halb des literarischen Zusammenhangs thematisiert hatte, der dem zitierten Satz
unmittelbar vorausgeht: »Israel [. . .], das dem Gesetz der Gerechtigkeit nachläuft,
hat das Gesetz nicht erreicht«, hieß es bereits in Röm 9,31. Aus diesem Vers nimmt
Paulus in Röm 10,4 auch den Begriff der Gerechtigkeit wieder auf. In 9,32a liefert
Paulus dann die Erklärung für das Scheitern Israels: Es »hat das Gesetz nicht er-
reicht« (V. 31), weil es versucht hat, zu diesem Ziel »nicht aus Glauben, sondern
aus Werken« zu gelangen. Weil »Glaube« bei Paulus immer »Christusglaube« im
Sinne von »Glaube an Jesus Christus« ist ( C.III.3.6.), sagt Paulus hier nichts
anderes, als dass Israel das Gesetz nicht erreichen konnte, weil es sich dem Chris
tusglauben verschlossen hat: weil es – mit den Worten von 9,32b gesagt – über den
»Stein des Anstoßes« gestolpert ist. Demnach hätte Israel die Gerechtigkeit, die es
im Gesetz gesucht hat, erreichen können, wenn es zum Glauben an Jesus Christus
gefunden hätte.
364 C. Werk
Wenn man also Röm 10,4 in seinen Kontext hineinstellt, ergibt sich die Über-
setzung des griechischen Wortes τέλος fast von selbst: Die Metaphern »nachlau-
fen« (V. 30.31), »erreichen« (V. 31) und »am Stein des Anstoßes anstoßen« (V. 32)
bilden gemeinsam mit τέλος ein in sich zusammenhängendes semantisches Feld:
Paulus spielt hier auf die Vorstellung von einem Wettlauf an (s. auch Jos 8,24;
Philo conf. 153; Flav.Jos.Vit. 107). Durch diesen Zusammenhang bekommt τέλος
mit großer Eindeutigkeit die Bedeutung »Ziel«. Damit ist jedoch noch lange nicht
alles gesagt, denn es gilt selbstverständlich auch: Wenn das Ziel erreicht ist, haben
der Wettlauf wie überhaupt jeder Weg ihr Ende gefunden (vgl. in diesem Sinne
Flav.Jos.Bell. VII 153: »das τέλος der Prozession war beim Tempel [. . .]; als sie ihn
erreicht hatten, blieben sie stehen«).
Aufs Ganze gesehen sollte man sich darum bei der Interpretation von Röm 10,4
von der Alternative »Ende« oder »Ziel« frei machen und lieber fragen: Sieht Pau-
lus zwischen »Gesetz« und »Christus« einen Bruch bestehen oder eher eine Kon-
tinuität? Diese Frage ist beantwortbar, denn man kann dann sagen: In Bezug auf
Israels Heilsorientierung steht das Christusgeschehen für Paulus zweifellos in
Kontinuität zum Gesetz: Wenn Israel dem »Gesetz der Gerechtigkeit« »aus Glau-
ben« (9,32) oder »mit Erkenntnis« (10,2) »nachgelaufen« wäre, hätte es das Ziel
– nämlich Christus – erreicht. Dafür hätte Israel aber damit aufhören müssen,
diesen Weg auch weiterhin »aus Werken« zu verfolgen (9,32). Und an diesem
Punkt wird darum der Bruch greifbar, der »Christus« für Paulus auch zum »Ende
des Gesetzes« macht. Am Schluss von Röm 10,4 wird der entscheidende Gesichts-
punkt herausgestellt: Paulus greift hier die Antithese aus 9,32 (»nicht aus Glau-
ben, sondern aus Werken«) wieder auf und gibt an, warum es zwischen Christus
und dem Gesetz doch einen Bruch gibt: weil die Gerechtigkeit Gottes nicht »aus
Werken« (9,32) erreicht wird und darum nicht nur für Israel erschwinglich ist,
sondern »für jeden, der glaubt« (10,4). Mit den »Werken« meint Paulus hier die
»Werke des Gesetzes«, mit deren Hilfe Israel seine Identität als aus den Völkern
erwähltes Gottesvolk zur Anschauung bringt ( C.III.3.7.4.).
Es gibt aber auch eine Reihe von anderen Texten, in denen Paulus durch »Chris
tus« das »Ende des Gesetzes« markiert sieht. In ihnen steht »Christus« für das
vom Glauben als Heilsgeschehen gedeutete Christusgeschehen: dass Jesus Chris
tus für unsere Sünden gestorben ist und dass Gott ihn von den Toten auferweckt
hat (z. B. Röm 3,25; 4,25 f.; 10,9; 1Kor 15,3–5). Statt »Christus« könnte man darum
auch und durchaus im Sinne von Röm 10,4 sagen, dass der »Christusglaube«
( C.III.3.6.) als »Ende des Gesetzes« fungiert.
Der überwiegende Teil dieser Texte findet seine Eigenart darin, dass Paulus in
ihnen das Einst und Jetzt der judenchristlichen Existenz einander gegenüber-
stellt: Röm 7,6; Gal 2,19 f.; 3,23–25; Phil 3,4–9. Allen Texten ist nicht nur gemein-
sam, dass »Christus« und »(Christus-)Glaube« untereinander austauschbar sind,
sondern dass Paulus sich in ihnen auch der 1. Person bedient. »Ich« und »wir«
stehen dabei nicht einfach für alle Christen, sondern nehmen nur diejenigen
Christen in den Blick, die als Juden zum christlichen Glauben gefunden haben.
III. Theologische Themen 365
Für sie beendet »Christus« bzw. der »Christusglaube« die Orientierung ihrer
Existenz an der Tora. In diesem Sinne schreibt Paulus dem Gesetz in Gal 3,23–25
eine zeitlich befristete Funktion für die Zeit zwischen Mose und »Christus« (V.
24) bzw. bis zum »Glauben« (V. 23) zu. Sie war von vornherein auf diesen Zeit-
raum begrenzt, und sie ist nunmehr für alle Juden, die an Christus glauben (Gal
2,15 f.), auch tatsächlich beendet. – Was Paulus in Gal 3,25 »wir sind nicht mehr
unter einem Erzieher« nennt, findet seine Entsprechung in Gal 2,19 f., wo er die
Folgen seiner Bekehrung existenztheologisch interpretiert: Er sagt von sich selbst,
dass er »dem Gesetz gestorben« ist und die Herrschaft über sein Leben nunmehr
an Christus abgetreten hat. »In mir lebt Christus« und »ich lebe im Glauben an
den Sohn Gottes« (V. 20) beschreiben darum ein und denselben Sachverhalt. –
Zum Teil auf dieselbe Metaphorik greift Paulus auch in Röm 7,6 zurück (»losge-
kommen vom Gesetz, da wir dem gestorben sind, wodurch wir niedergehalten
wurden«; s. auch V. 4: »dem Gesetz getötet durch den Leib Christi«, d. h. durch
den vom Glauben als Heilsgeschehen gedeuteten Tod Christi). – In Phil 3,4–9
beschreibt Paulus nicht seine Bekehrung, sondern er hebt hervor, wie sich die
Bewertung seiner jüdischen Identität (die in der Feststellung kulminiert: »nach
dem Maßstab der Gerechtigkeit im Gesetz war ich untadelig«; V. 6) aufgrund sei-
ner Hinwendung zum Christusglauben in ihr Gegenteil verkehrt hat. Demnach
ist der jüdische Umgang mit der Tora noch nicht als solcher falsch, sondern seine
Wertlosigkeit hat sich für Paulus erst im Lichte des Christusglaubens herausge-
stellt.
Einen anderen Akzent setzt Paulus in 2Kor 3,14–16. Er entfaltet diese Thematik
nicht im Blick auf die judenchristliche Existenz, sondern mit Bezug auf das Ju-
dentum, das (noch) nicht zum Christusglauben gefunden hat: Paulus knüpft an
Ex 34,29–35 an und schreibt, dass »den Kindern Israels« (V. 13) der Sinn der Tora,
die er hier »alter Bund« nennt, immer noch verschlossen ist, weil er erst »in Chris
tus« beseitigt wird (V. 14) bzw. wenn Israel sich »zum Herrn hinwendet« (V. 16),
d. h. zu Jesus Christus bekehrt. Auch hier sind also Christus und Christusglaube
in dem oben dargestellten Sinn untereinander austauschbar. Hier markiert Chris
tus bzw. der Christusglaube nicht wie in Röm 7,6; Gal 2,19 f.; 3,23–35; Phil 3,5–9
das »Ende« der Tora, sondern das Ende eines unsachgemäßen Umgangs mit der
Tora. Paulus schreibt Christus und dem Christusglauben hier fast wie im Sinne
von Röm 10,4 eine hermeneutische Erschließungsfunktion zu: Erst durch Chris
tus bzw. den Christusglauben kann die Tora richtig verstanden werden.
Bultmann, Rudolf: Christus des Gesetzes Ende, in: Ders.: Glauben und Verstehen II, Tübingen
5
1968, 32–58.
Badenas, Robert: Christ the End of the Law: Romans 10:4 in Pauline Perspective (JSNT.S 10),
Sheffield 1985.
Haacker, Klaus: »Ende des Gesetzes« und kein Ende? (Röm 10,4). Zur Diskussion über τέλος
νόμου in Röm 10,4, in: Wengst, Klaus/Sass, Gerhard (Hg.): Ja und Nein. Christliche Theo-
logie im Angesicht Israels, Neukirchen-Vluyn 1998, 127–138.
Michael Wolter
366 C. Werk
4. Anthropologie
In der argumentativen Entfaltung des Themas des Römerbriefs (1,16 f.) geht Pau-
lus dreimal von unterschiedlichen Voraussetzungen aus auf den Bereich der Sün-
de zu (Theobald 2000, 149 f.). In Röm 1,18–3,20 liegt ihm an dem Nachweis, dass
nicht nur Heiden, sondern auch Juden Übertreter des Gesetzes und folglich Sün-
der sind. Heiden und Juden werden zu einer negativ bestimmten Einheit im Blick
auf Gott zusammengefasst (Flebbe 2008, 59). In Röm 5,12–21 leitet er die Sünde
aller von der Sünde des einen, Adam, ab, ist hier aber v. a. interessiert an der An-
tithese, dass auch die Rechtfertigung durch einen, Christus, erwirkt wurde. In
Röm 7 schließlich blickt Paulus aus der Perspektive eines Christen zurück in die
Vergangenheit, in der die Sünde mithilfe des Gesetzes den Menschen in eine tiefe
Verstrickung zum Tod hinführt.
Der Aufbau der ersten Einheit Röm 1,18–3,20 ist klar und von großer argumen-
tativer Kraft (Mayordomo 2005, 166–228). Als Grobeinteilung sind folgende Ab-
schnitte zu erkennen:
Die Teile sind alle durch basale semantische Felder verzahnt, in denen mensch-
liches Fehlverhalten, Verkennen der Wahrheit und Festhalten an der Lüge, Gottes
Zorn und Gericht über alle Menschen nach dem gleichen Prinzip verknüpft sind.
Die Argumentationsstruktur des ersten Abschnitts hat folgende Gestalt:
heidnischen Lebens erkennen wollen, denn beide Vorwürfe sind aus jüdischer
Perspektive stereotype Beschreibungen paganen Lebens, von ihrer Form her pro-
phetische Anklagen. Sie werden im Text aufgenommen und expliziert. Der drei-
fach vorgetragenen Begründung des Vorwurfs, die angemessene Gottesverehrung
verweigert zu haben, wird eine jeweils mit ›Gott hat sie dahingegeben‹ eingeleitete
Reaktion Gottes beschrieben, die im Sinne einer adäquaten Vergeltung die Men-
schen in ihrer Grundverfehlung behaftet und bestraft. Diese Ansagen von Gottes
richtendem Handeln beschreiben und reflektieren freilich das gegenwärtige Ver-
halten der Menschen, deren verfehlte Ausrichtung als bereits vorweggenommene
Strafe verstanden wird. Unbenommen davon endet die Gerichtsrede mit dem Ur-
teil, den Tod verdient zu haben (1,32). Die Grundverfehlung wiederum, in V. 19–23
ausführlich als Vertauschung von ewigem Gott und Abbildern vergänglicher
Menschen und Tiere beschrieben, wird im Text aufgenommen und in dem Verb
tauschen/vertauschen – ἀλλάσσω (1,23) bzw. μεταλλάσσω (1,25 f.) – verdichtet.
Im Schlussurteil werden nicht nur die faktisch Schuldigen, also die Täter, sondern
auch diejenigen, die deren Verhalten widerspruchslos akzeptieren und gutheißen,
zum Tode verurteilt (1,32). Hier deutet sich bereits der Übergang auf den fiktiven
jüdischen Gesprächspartner an. Die Aufnahme und Fortsetzung dieser Gerichts-
rede in 2,1 und 3,9 wird sodann dahin führen, dass sich die gesamte Menschheit
ausnahmslos unter dem Vorwurf der Verweigerung der Gottesverehrung befindet
und somit unter dem Urteilsspruch steht, ohne Verteidigung zu sein (2,1).
Röm 2,1–10 ist eine Folgerede zu 1,18–32, ja dieser Eingangstext scheint nicht
mehr als einen vorbereitenden Charakter auf 2,1–10 hin zu haben. Ab jetzt kon-
terkariert Paulus das hellenistisch-jüdische Argumentationsmuster, welches nach
der Beschreibung von Polytheismus und Idolatrie der Völker bzw. der Mensch-
heit die wahre Gotteserkenntnis und -verehrung des jüdischen Volkes herausstellt
(Woyke 2005, 444).
In einer rhetorisch eindringlichen Gestalt konfrontiert Paulus in Röm 2,17–20
das Selbstverständnis eines Juden mit der Infragestellung dieses Selbstverständ-
nisses in Röm 2,21–24. Die Einheit führt gegenüber dem fiktiven Gesprächspart-
ner den Nachweis, dass Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Das
Selbstverständnis des jüdischen Gesprächspartners wird zunächst mit solchen
Aussagen aufgenommen, die das heilsgeschichtliche Privileg reflektieren, sodann
aber auch durch Attribute, die eine Vorrangstellung gegenüber den Heiden impli-
zieren. Der Ruhm, den der jüdische Gesprächspartner bei Gott (2,17) und im Ge-
setz (2,23) zu haben meint, wird ihm entzogen, indem schrittweise Einzelargu-
mente aneinandergereiht werden, dass Anspruch und Wirklichkeit sich bei ihm
eben nicht decken. Mag der Gesprächspartner auch in der Vorstellung leben, den
Heiden gegenüber einen Vorrang zu haben (2,19 f.), so entwindet ihm das ab-
schließende Schriftzitat dieses Selbsturteil, indem es ihm vorwirft, durch sein
Verhalten den Namen Gottes unter den Heiden zu verlästern (2,24).
Die bisherigen Ausführungen in Röm 1,18–3,8 haben der Anklage, dass alle
Menschen aufgrund ihres Verhaltens des Todes schuldig (Röm 1,32) und ohne
368 C. Werk
Flebbe, Jochen: Solus Deus. Untersuchungen zur Rede von Gott im Brief des Paulus an die
Römer (BZNW 158), Berlin/New York 2008.
Mayordomo, Moisés: Argumentiert Paulus logisch? Eine Analyse vor dem Hintergrund antiker
Logik (WUNT 188), Tübingen 2005.
Ochsenmeier, Erwin: Mal, souffrance et justice de Dieu selon Romains 1–3 (BZNW 155), Ber-
lin/New York 2007.
Woyke, Johannes: Götter, ›Götzen‹, Götterbilder. Aspekte einer paulinischen ›Theologie der Re-
ligionen‹ (BZNW 132), Berlin/New York 2005.
Friedrich W. Horn
Der Thematik des Gesamtabschnittes entsprechend ist bei Röm 5,12–21 der Blick
im Wesentlichen auf die Darstellung des »negativen« Teils, der adamitischen
Menschheit zu richten. Das hier vorliegende Schema der antithetischen Überbie-
tung (unklar ist, ob τύπος hier schon als Terminus technicus im Sinne von »Ty-
pologie« zu verstehen ist) ist von Christi Rettungstat her entworfen (Morris
1988, 234; Lohse 2003, 179), in deren Lichte sich für Paulus auch die biblischen
Aussagen über die Sündenverfallenheit aller (Ps 14; Ps 143,2) als allgemeingültige
Aussagen darstellen.
Im Einzelnen ist zu fragen:
1. Wie wird in der neueren Forschung das Verhältnis zwischen Tat und Tatfolge
bei Adam einerseits, Tat und Tatfolge bei der Menschheit vor und außer Christus
andererseits beschrieben?
2. Welche religionsgeschichtlichen Vorbilder werden namhaft gemacht?
ad 1: In Röm 5,12.17 gilt als Folge der Tat Adams wie des Handelns der nachada-
mitischen Menschen der Tod. Gemeint ist der physische Tod (Gen 3,19 kündigt
den physischen Tod als Strafe neu an, also war Adam nicht notwendig als sterb-
lich erschaffen worden) ebenso wie die eschatologische Verdammnis (vgl. das Ge-
genbild der »Königsherrschaft« der Glaubenden in Röm 5,17, die nur als eschato-
logische Herrschaft verständlich ist). Dieser von Gott erstmals bei Adam gesetzte
Zusammenhang zwischen der Sünde und ihrer Straffolge gilt aber auch für die
nachfolgenden Generationen (Kühl 1913, 177), wie das zumeist mit »weil« über-
setzte ἐφ’ ᾧ nahelegt (die Debatte um diese Wendung hat sich, so Dunn 1988, 273,
weithin beruhigt, auch mit Hinblick auf die Parallelen 2Kor 5,4; Phil 3,12, worauf
Moo 1998, 322, verweist; aber Fitzmyer 1993, 415; Jewett 2007, 375 f.: ἐφ’ ᾧ steht
sonst nirgends für διότι [daher]). Der vermutete Zusammenhang zwischen der
Tat Adams und der Sünde der Nachgeborenen kann als Kausalzusammenhang
(Schnelle 2003, 361: »Der Tatcharakter der Sünde ist eine Folge ihres Verhäng-
nischarakters«; ferner Röhser 1987, 179) beschrieben und in Kategorien der Be-
stätigung (Käsemann 41980, 141; Hahn II 2002, 324; Carter 2002, 173), des Aus-
drucks der Schuldverstrickung (Stuhlmacher 1989, 80), der »universale(n) ›So-
lidarität‹ alles Sündigens« (Wilckens 1978, 321), des Einverständnisses (Theobald
1992, 164), der Unterstellung unter einen Machtfaktor (Zeller 1985, 120), aber
370 C. Werk
auch der Nachahmung (Achtemeier 1985, 96; Schmithals 1988, 175; Ziesler
1989, 147; Haacker 1999, 120) und Wiederholung (Keck 2005, 147) erfasst wer-
den; die Aussagen in V. 15–17, die von einer unmittelbaren Übertragung der Fol-
gen der Tat Adams auf die nachadamitische Menschheit zu sprechen scheinen,
gelten nicht wenigen als Abbreviatur (anders Morris 1988, 232; Moo 1998, 33–329;
Jewett 2007, 376, der V. 12d – bei anderer Deutung des ἐφ’ ᾧ – im Licht von
Röm 5,12a–c erklärt) bzw. als von der Alleinverantwortlichkeit Christi für die
Rettung her entworfen, sodass Adams Alleinverantwortlichkeit für den Tod sei-
ner Nachkommen nicht als anthropologische Theorie verstanden werden darf
(Cranfield 1994, 278).
Zur Frage der menschlichen Willensfreiheit äußert sich Paulus nicht explizit.
Gelegentlich wird dahingehend differenziert, dass ἁμαρτία (Sünde) wie παρά
πτωμα (Verfehlung) den Aspekt der transpersonalen Sündenmacht betonen,
ἁμαρτάνειν (sündigen) wie παράβασις (Übertretung) den Aspekt der wissent-
lichen Entscheidung (u. a. Umbach 1999, 206, der insgesamt den Macht-Charak-
ter der Sünde in der Darstellung Röm 5,12–21 betont), doch gleicht Paulus auf
theoretischer Ebene beides nicht aus (Schlier 1977, 163), ebenso wenig wie früh-
jüdische Apokalyptik (deswegen besteht auch kein Widerspruch zwischen Röm
1,18.20 und Röm 8,3). Die Freiheit des vor- und außerchristlichen Menschen ist
nicht abstrakt als Willensfreiheit, sondern im Bann von Sünde und Tod als verfal-
lene Freiheit gedacht (Theobald 1992, 164, mit Verweis auf Röm 1,24.26.28).
ad 2: Religionsgeschichtlich ist nach möglichen Vorbildern des Vergleichs zwi-
schen Adam und Christus sowie der Negativwertung Adams zu fragen.
Der Rekurs auf die Idee einer »corporate personality« ist weitgehend aus der
Diskussion verschwunden (Dunn 1988, 273; anders allerdings Moo 1998, 327),
ebenso der Rekurs auf einen angeblich gnostischen Urmensch-Mythos; die dafür
herangezogene gnostische Literatur ist nachchristlich; ein einheitlich durchge-
führter Mythos lässt sich nicht belegen. In frühjüdischer Literatur wird nirgends
der Messias als »der zweite Adam« benannt. Robert Jewett zufolge hat Paulus den
Vergleich selbst entworfen, um die Herrschaft Christi über die Glaubenden als
universale schicksalswirkende Gnadenmacht herauszustellen (Jewett 2007, 379).
Meines Erachtens hat Paulus eine ursprünglich für die Frage der Totenauferwe-
ckung bestimmte Gegenüberstellung 1Kor 15,21 f. auf das Gebiet der Soteriologie
ausweitend übertragen (1Kor 15,45–48 eignet sich weniger als Hintergrund).
Als jüdische Parallelen zur Negativwertung Adams waren bisher v. a. SapSal
2,23 f.; 4Esr 7,118 f.; ApkMos 10,2; 32,4 diskutiert worden. Doch ist die Datierung
der sog. Apokalypse des Mose (andere Bezeichnung mittlerweile: griechisches Le-
ben Adams und Evas) auf die Zeit des Paulus heute mehr denn je fraglich, und
auch für 4. Esra (wie für 3Bar 54,15.19) ist die spätere Entstehungszeit und andere
Entstehungssituation stärker zu beachten. Dafür tritt neu ins Blickfeld, dass auch
die sog. »Weisheit Salomos« das Nebeneinander einer transpersonalen Wirkung
einer außermenschlichen Macht (SapSal 2,23 f.) und der Eigenverantwortlichkeit
der Gottlosen (SapSal 1,13–16) kennt (auch nach MartJes 3,11; 5,1 gewinnt der Teu-
III. Theologische Themen 371
fel nur dann Einfluss auf einen Menschen, wenn dieser sich der Neigung zum Tun
des Bösen von sich aus hingibt). Der vermeintliche Gegensatz zu Sir 15,11–17 redu-
ziert sich, wenn beachtet wird, dass Röm 5,12–21 die Menschheit vor und außer-
halb (Fitzmyer 1993, 405), Sir 15,11–17 den Menschen in der Gottesbeziehung be-
schreibt.
Merklein, Helmut: Paulus und die Sünde, in: Frankemölle, Hubert (Hg.): Sünde und Erlö-
sung im Neuen Testament (QD 161), Freiburg 1996, 123–163.
Röhser, Günter: Metaphorik und Personifikation der Sünde. Antike Sündenvorstellungen und
paulinische Hamartia (WUNT II 25), Tübingen 1987.
Umbach, Helmut: In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier
Raum bei Paulus (FRLANT 181), Göttingen 1999.
Martin Meiser
der des Beobachters zu der des Teilnehmers und baut dadurch eine enorme
existentielle Spannung auf.
Röm 7,1–6 führt den Gedanken aus Röm 6 fort, dass die Gläubigen »nicht mehr
unter dem Gesetz, sondern der Gnade« sind (Röm 6,14), und wird deshalb von
einigen Kommentaren zum vorherigen Kapitel gezogen (Schlier 1977, 214; Zel-
ler 1985, 131) oder als eigenes Argument vom Rest des Kapitels separiert (Haa-
cker 1999, 136), von den meisten aber als Eingangspartie des neuen Kapitels über
die »Freiheit vom Gesetz« (Fitzmyer 1993, 454; Lohse, 2003, 205) oder den
»Herrschaftswechsel« vom Gesetz zu Jesus Christus (Wilckens II 1980, 63) gele-
sen. Mit dem Tod, den die Gläubigen der Sünde gestorben sind (vgl. Röm 6,3 f.),
haben sie auch den Bereich verlassen, wo das Gesetz die Übertretungen nicht nur
verurteilt, sondern auch anstachelt (vgl. Röm 5,20).
Dieser provokative Gedanke bedarf der Erläuterung. Paulus gibt sie in zwei
Schritten, die durch selbstkritische Fragen markiert werden (Röm 7,7: »Ist das
Gesetz Sünde?«; Röm 7,13: »Ist das Gute mein Tod geworden?«). Im ersten Schritt
(Röm 7,7–12) analysiert Paulus, wie das Gesetz unter dem Einfluss der Sünde
wirkt, im zweiten (Röm 7,13–23), wie die Sünde sich des Gesetzes bedient. In bei-
den Schritten ist vorausgesetzt, was der Apostel ab Röm 1,18 eingehend begründet
hat: dass die Sünde weit über den Radius menschlicher Schuld hinaus eine Un-
heilsmacht ist, die dem Tod zum Sieg verhelfen will und sich von Adam an aus
dem immer neuen Nein speist, das Menschen zu Gott und deshalb zum Recht des
Nächsten sagen (Schnelle 2003, 572–574).
Den kritischen Einwand (Röm 7,7a), ob Paulus das Gesetz Gottes, die Tora, als
sündig diffamiere, kontert der Apostel mit der Gegenthese (Röm 7,7b.8), dass sich
gerade umgekehrt die Sünde des Gesetzes bemächtige, und zwar dadurch, dass sie
mittels des Verbotes das Begehren weckt, das vom neunten und zehnten Gebot als
Inbegriff der Sünde gebrandmarkt wird. Diese These erläutert Paulus an einem
»Ich«, das »einst ohne Gesetz lebte« (Röm 7,9), aber unter die Macht der Sünde
geriet, die es durch das Gesetz in Versuchung geführt hat (Röm 7,9–13) – das als
solches außerhalb jeden Verdachts steht (Röm 7,12), weil es »heilig, gerecht und
gut« ist.
Damit aber kehrt die kritische Ausgangsfrage in verschärfter Form zurück: Dass
das Gute, das auf Gott zurückgeht, in den Tod führt, wäre ein Widerspruch in sich
(Röm 7,13). Deshalb antwortet Paulus mit einer Vertiefung der Anthropologie:
Schuld an der Sünde und am Tod hat nicht etwa Gott, sondern das »Ich«. Seine
Fleischlichkeit, heißt seine Körperlichkeit und Sinnlichkeit, werden zum Ort sei-
nes Sündigens und damit zur Quelle seiner Selbstentfremdung (Röm 7,14–20).
Dafür kann aber nicht das Gesetz Gottes verantwortlich gemacht werden; viel-
mehr findet das »Ich«, das in seinem Innersten (Th. Heckel 1993) Freude an
Gottes Gesetz hat, in seinen »Gliedern« ein »anderes Gesetz«, das sich der ver-
führte Sünder selbst gegeben hat, das er aber nicht mehr los wird, weil die Sünde
übermächtig ist (Röm 7,21–23). Deshalb bleibt nur noch der Schrei nach Erlösung
(Röm 7,24). »Gott sei Dank« kann sagen, wer an Jesus Christus glaubt (Röm 7,25a).
III. Theologische Themen 373
Röm 7,25b ist strittig. Der Satz wird als Glosse (Lichtenberger 1997) oder als
Resümee von Röm 7,7–23 (Stuhlmacher 1989, 105) gelesen, das mit Röm 8,1 di-
alektisch verbunden ist.
Wer das »Ich« ist, dem Paulus in Röm 7 Stimme leiht, ist strittig. Drei Möglich-
keiten stehen zur Debatte: Erstens: Paulus spricht von sich selbst (Theissen 1983,
194–204). Dann ist das Kapitel eine theologische Selbstanalyse an der Seite der
Texte, in denen Paulus seine Berufung reflektiert, besonders Phil 3 (Seifried
1992, 146–152). Für diese Deutung spricht, dass Paulus auch in Gal 2,19–21 sein
»Ego« reflektiert, gleichfalls in den Kategorien von Tod und Auferstehung (Sö-
ding 2009). Aber Paulus lebte nie »ohne Gesetz« (Röm 7,9).
Zweitens: Paulus spricht vom Christen (Dunn 1988, 398 f.). Dann deckt der
Text das simul iustus et peccator auf, das von Augustinus her die lutherische Lesart
von Röm 7 ist (Hübner 1967, 129). Parallelen sind dann alle Texte, die Sünden von
Christen thematisieren (1Kor 5 f.; 2Kor 1 f.). Für diese Deutung spricht, dass Pau-
lus vom Standpunkt des Glaubens aus schreibt (Röm 7,25a) und dass er in Gal
5,16–21 bei Gläubigen die Gefahr eines Rückfalls in das »Begehren des Fleisches«
analysiert. Aber Paulus hätte Grundsätze seiner Theologie dementiert (1Kor 6,20;
7,23), wenn er von einem Getauften schriebe, er sei »unter die Sünde verkauft«
(Röm 7,14).
Drittens: Paulus spricht von Adam (Kümmel 1974). Von ihm gilt, dass er »einst
das Gesetz nicht kannte« (Röm 7,9), dann aber durch das Gebot verführt wurde,
vom verbotenen Baum zu essen (Röm 7,8), dadurch sich den Tod zugezogen hat
(Röm 7,11) und jenseits von Eden lebt. So wie aber Adam nach Röm 5,14 ein »Typ«
ist, der auf den kommenden Christus verweist, den zweiten Adam, so ist das »Ich«
von Röm 7 jeder Mensch, der – im Machtbereich der Sünde und des Todes – »das
Bild des Irdischen« trägt, aber berufen ist, das Bild Christi zu tragen (Röm 8,28 f.).
Mithin erzählt Paulus in Röm 7 die idealtypische Geschichte eines jeden Men-
schen, der zum Glauben kommt. Dass seine eigene Biographie besonders viele
Assoziationen erlaubt, ist nicht zu verkennen.
Im Horizont der Christologie kann Paulus die Geschichte des Menschen erzäh-
len, so wie sie in der Bibel Israels ausgebreitet ist und sich in der Frage nach Gott
zuspitzt. Existentielle Dichte (Reinmuth 2006a, 201–212) gewinnt Röm 7, weil
Paulus an sich selbst, aus reflektierter Beobachtung und mithilfe der Schrift er-
kannt hat, dass selbst das Gesetz den Menschen nicht aus der Macht der Sünde
befreien kann. Mithilfe des Verstandes, den Gott ihm gegeben hat, kann der
Mensch erkennen, was gut ist; aber das hindert ihn nicht, das Böse und Falsche zu
tun. Der Grund ist nicht ein tragisches Verhängnis, sondern gerade die Unheil-
374 C. Werk
macht der Sünde, der er durch sein Fehlverhalten ständig neue Nahrung gibt. Sie
unterwirft sich alles, auch das Gesetz dadurch, dass es als Verbot zur Übertretung
anstachelt und den Menschen über sich selbst täuscht, sodass er zu dem Fehlurteil
kommt, durch »Werke des Gesetzes« gerechtfertigt werden zu können. Deshalb
steht der Mensch in einem Widerspruch, den er selbst nicht auflösen kann. Grund
zur Hoffnung gibt es allein durch Gott, weil er in Jesus Christus den Menschen in
die Welt gesandt hat, der durch seinen Tod und seine Auferstehung die Macht der
Sünde bricht und der Gnade Gottes Raum schafft. Dadurch wird der Mensch, der
glaubt, befreit und zu sich selbst geführt: zu Gott und zum Nächsten.
Kümmel, Werner Georg: Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament. Zwei Stu-
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kungen zum Streit um »simul iustus et peccator« im Lichte paulinischer Theologie, in:
Schneider, Theodor/Wenz Gunther (Hg.): Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische
Klärungen (Dialog der Kirchen 11), Freiburg/Göttingen 2001, 30–81.
Thomas Söding
Die Theologie des Gesetzes gehört zu den heißen Eisen der Paulusforschung. Ei-
nerseits steht sie im Zentrum der evangelisch-katholischen Kontroverstheologie.
Luther sah in den religiösen Werken der Volksfrömmigkeit und des sakramen-
talen Lebens, die von der katholischen Hierarchie propagiert wurden, einen
Rückfall der Kirche in eben jene Haltung eines Vertrauens auf eigene Verdienste,
die vom Apostel rechtfertigungstheologisch kritisiert worden sei. In der protes
tantischen Orthodoxie entwickelte sich daraus die Lehre, dass das Gesetz (1.) der
Aufrechterhaltung der politischen Ordnung diene, (2.) die Erkenntnis der Sünde
befördere, der das Wissen um die Notwendigkeit der Gnade entspreche, und (3.)
für die Gerechtfertigten moralische Wegweisung sei.
Die katholische Antwort, die das Konzil von Trient formuliert, sieht, gleichfalls
mit Berufung auf Paulus, Gottes Gnade so am Werk, dass die Menschen durchaus
Verdienste erwerben können, wenn sie in der Freiheit des Glaubens das Gesetz
erfüllen. Durch die ökumenische Debatte des 20. Jh. ist die alte Frontstellung als
überwunden resp. überwindbar hingestellt worden, und zwar v. a. dadurch, dass
die Exegese die Unterschiede der Problemstellungen zwischen der Gesetzestheo-
logie des Paulus und der Luthers und des Konzils von Trient herausgearbeitet hat.
Freilich hat die exegetische Debatte des 20. Jh. das jüdisch-christliche Verhält-
nis als zweiten theologischen Brennpunkt der Gesetzesdebatte herausgearbeitet.
Ist das, was Paulus kritisch zum Gesetz sagt, ein Missverständnis oder gar eine
III. Theologische Themen 375
Vor Damaskus war Paulus entschieden der Überzeugung, dass Gott mit dem Ge-
setz einen Damm gegen die Sturmflut der Sünde errichtet habe. Deshalb hielt er
als guter Pharisäer den Gesetzesgehorsam für den besten Weg, der Sünde zu ent-
gehen und die Rettung von Gott zu erhoffen. Diese Position hat er durch die
Christusoffenbarung grundlegend verändert. Ob psychologische Gründe eine
Rolle spielten, weil ihn gerade sein maßloser Eifer für das Gesetz zum Christen-
verfolger hat werden lassen (Gal 1,13–16), bleibt strittig. Klar ist aber zweierlei:
Durch das Kommen des Messias muss der theologische Stellenwert des Gesetzes
neu bestimmt werden; und weil die Tora mit Dtn 21,23 den Gekreuzigten als Ver-
fluchten identifiziert, muss die Hermeneutik des Gesetzes neu justiert werden,
damit auch der Segen Abrahams, der vom Gekreuzigten gespendet wird, als
schriftgemäß erhellen kann.
Paulus löst die Aufgabe, neu über das Gesetz zu denken, im Zuge einer radi-
kalen Geschichtstheologie und Anthropologie. Im Galaterbrief wird erstmals sei-
ne Argumentation literarisch greifbar, dass die »Werke des Gesetzes« nicht recht-
fertigen können (Gal 2,16). Als Gesetzeswerke gelten ihm jene Konkretionen des
Gesetzesgehorsams, speziell die Beschneidung und die Reinheitsgebote, die Zuge-
hörigkeit zu Israel markieren, aber auch, was er betont, umfassenden Gesetzesge-
horsam verlangen (Gal 5,3).
Dass die Gesetzeswerke nicht rechtfertigen können, hängt nach dem Galater-
brief daran, dass die Tora, von Gott am Sinai offenbart, die früher (Gen 12.15)
Abraham gegebene Verheißung nicht einschränken (Gal 3,15–18), sondern nur
unter deren Vorzeichen befördern kann (Gal 3,19–25). Das Gesetz kann kein di-
rektes Mittel der Heilsverwirklichung sein, weil es vor die Alternative Segen oder
Fluch stellt und jeden Übertreter der gerechten Strafe überantwortet (Gal 3,10 f.).
Es spielt aber durchaus eine positive Rolle bei der universalen Heilsverwirkli-
chung. Denn einerseits erzählt die Tora ja selbst die Abrahamsgeschichte, die
nach Gen 15,6 die Rechtfertigung an den Glauben bindet (Gal 3,6–9), und wird
darin von der Prophetie verbindlich interpretiert (Gal 3,11/Hab 2,4). Andererseits
ist das Gesetz »wegen der Übertretungen hinzugefügt« worden (Gal 3,19), um die
III. Theologische Themen 377
Nach Röm 3,31 wird durch die Rechtfertigungslehre »das Gesetz« nicht »abge-
tan«, sondern »aufgerichtet«. Wenn Paulus vom νόμος hier nicht nur metapho-
risch spricht, sondern die Tora vor Augen stellt, markiert er einen theologischen
Anspruch, den er mit der Ethik der Agape einlöst. Denn sowohl im Galaterbrief
(5,13 f.) als auch im Römerbrief (13,8–10) zitiert er das alttestamentliche Gebot
der Nächstenliebe (Lev 19,18) und interpretiert es als Erfüllung des Gesetzes. Im
Galaterbrief sichert dieses moraltheologische Argument durch einen Tugendka-
talog ab, der das Ethos des Glaubens widerspiegelt (Gal 5,22 f.), und kommentiert
lapidar: »Dagegen ist das Gesetz nicht« (Gal 5,23). So hatte er zuvor den rechtfer-
tigenden Glauben als den definiert, der »durch Liebe wirksam wird« (Gal 5,6). Im
Römerbrief hat Paulus die Ethik der Gnade durch eine Reflexion über den Kon-
nex zwischen der Gerechtigkeit Gottes und der Gerechtigkeit der Glaubenden
begründet (Röm 6). Auch wenn die Wendung »Gesetz Christi« (Gal 6,2) umstrit-
378 C. Werk
ten ist, kann für Paulus, da die Tora Gottes Wort ist, das Evangelium nicht das
Gesetz ablösen. Vielmehr kann durch Jesus Christus dort, wo das Gesetz nur zu
verurteilen vermag, das Evangelium die Versöhnung verkünden, und zwar durch
den, den »Gott für uns Sünde gemacht hat, damit wir in ihm Gottes Gerechtigkeit
werden« (2Kor 5,21).
Schnelle, Udo: Paulus und das Gesetz, in: Becker, Eve-Marie/Pilhofer, Peter (Hg.): Biogra-
phie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 245–270.
Söding, Thomas: Das Wort vom Kreuz. Studien zur paulinischen Theologie (WUNT 93), Tü-
bingen 1997, 93–103.
Thomas Söding
Der Begriff »Leib«/»Körper« und das Soma-Konzept bei Paulus: Der Mensch wird
von Paulus als leibliches und körperliches Wesen beschrieben. Die Rede vom Leib
(σῶμα) beschränkt sich allerdings nicht auf die Anthropologie, sondern bezieht
sich ebenso auf die Gemeinde, die Christologie oder Eschatologie. Dieser bild-
liche Gebrauch des Leibbegriffs zeigt ein übergeordnetes Soma-Konzept bei Pau-
lus, das Mensch, Menschheit, Gemeinde und Kosmos von der Metapher des
Leibes her versteht (Sellin 2006, 330).
Grundsätzlich gilt, dass Paulus nicht das in der griechischen Philosophie geläu-
fige zwei- oder dreigeteilte Menschenbild (Körper – Seele – Geist) vertritt ( C.
III.4.1.3.), sondern der jüdischen Tradition verhaftet bleibt, die eine leiblose
Existenz des Menschen nicht vorstellen kann. Entsprechend gilt für Paulus das
Diktum: »Der Mensch hat nicht ein σῶμα, sondern er ist σῶμα.« (Bultmann
9
1984, 195). Umstritten ist jedoch, ob Leib ein neutraler anthropologischer Begriff
ist, den es positiv oder negativ zu füllen gilt (so Bultmann 1964, Schnelle 2007,
259 f.), ob Leiblichkeit positiv verstanden werden soll und besonders die Partizi-
III. Theologische Themen 379
Kontakt mit einer Prostituierten wird ein Glied Christi zu einem Hurenglied
(1Kor 6,15, s. u.).
Auferstehung des Leibes: Jenseitsvorstellungen sind in der griechischen Philoso-
phie im Umfeld des Paulus geläufig, aber meist mit einem Körper-Seele-Dualis-
mus verbunden (bereits Plato Phaid. 80a). Seneca oder Epiktet sprechen von ei-
ner Befreiung des Menschen vom scheußlichen und stinkenden Leib im Tod (Sen.
ep. 102,27; vgl. Epict.diss. 1,9,12 f.). Anders als Philo von Alexandrien (Philo migr.
9.192) hält Paulus hingegen an der Leiblichkeit menschlicher Existenz auch über
den Tod hinaus fest (1Kor 15,35–38). Allerdings müsse man zwischen einer himm-
lischen und irdischen Leiblichkeit unterscheiden (1Kor 15,40): Fleisch und Blut
können das Reich Gottes nicht erben (1Kor 15,50); im Bild der Aussaat und Ernte
setzt Paulus dem natürlichen, vergänglichen und niederen Leib einen unvergäng-
lichen, herrlichen und geistlichen Leib der Auferstehung gegenüber. Folglich
müssen auch die bei der Parusie noch Lebenden verwandelt werden (1Kor 15,51 f.),
und sie werden in einen neuen Raum bei Gott geführt (1Thess 4,14).
Hierarchien oder reziproke Gleichwertigkeit: Bezüglich der Stellung von Mann und
Frau (in der Gemeinde) gibt es unterschiedliche Aussagen: Einerseits werden
Mann und Frau gleichwertig auf eine Ebene gestellt (Gal 3,28). Andererseits weist
der Apostel den Frauen eine unterlegene Rolle zu (1Kor 11,2) und ermahnt sie, in
der Versammlung zu schweigen (1Kor 14,33b–36). Ist Paulus widersprüchlich?
Bleibt er – eventuell aus aktuellen gemeindepolitischen Gründen – hier unter
seinem sonstigen, auf Gleichheit zielenden theologischen Niveau (so etwa
Schottroff 1994, 195 f., die sogar von einem »gespaltenen Bewusstsein« des Apo-
stels spricht)?
Paulus partizipiert grundsätzlich an einem patriarchal-hierarchischen Ver-
ständnis der Mann-Frau-Beziehung, wie es etwa durch die Metapher von Kopf
und Körper zum Ausdruck kommt: »Das Haupt der Frau aber ist der Mann«
(1Kor 11,3). Gleichwohl zeigen sich in paulinischen Texten deutliche Tendenzen,
die dieses traditionelle Schema aufbrechen: Zum einen wird die Geschlechterdif-
ferenz grundsätzlich nivelliert, indem etwa in Gal 3,28 in der Christusbeziehung
Geschlechterwertungen unbedeutend werden. Zum anderen verwendet Paulus
reziproke Formulierungen, die besonders auch in Fragen der Sexualität (1Kor 7)
eine Gleichwertigkeit der Geschlechter nahelegen: »denn wie die Frau aus dem
Mann, so auch der Mann durch die Frau; alles aber aus Gott« (1Kor 11,11 f.). Signi-
fikant kommt diese Tendenz in der deuteropaulinischen Haustafel Eph 5,21–33
zur Entfaltung, die zwar stereotyp die klassische Rollenzuweisung wiederholt (V.
22 f.), aber einleitend nicht nur von einer »wechselseitigen Unterordnung« (V. 21)
spricht, sondern durch explizite und ausführliche Imperative besonders die Ehe-
männer in die Pflicht der Liebe und ›Aufopferung‹ nimmt (dazu Zimmermann
2010a, 45–50).
III. Theologische Themen 381
Mann und Frau als Sexualpartner: Eine beträchtliche Breite nehmen Ausfüh-
rungen über die sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau innerhalb der Pau-
lusbriefe ein. Während sich Paulus z. B. im Blick auf ebenso den Körper betreffen-
de Speisegebote deutlich von seinen jüdischen Wurzeln entfernt (1Kor 6,13),
bleibt er im Bereich der Sexualethik streng dem jüdischen Ethos verhaftet und
reichert es mit philosophischem Gedankengut seiner Zeit an. Als normativ gilt
hierbei, dass nur die Ehe der legitime Ort für die Ausübung von Sexualität ist.
Sexuelle Vergehen bzw. normwidrige Ausübung von Sexualität (πορνεία – von
Luther mit ›Unzucht‹ übersetzt) werden dabei sogar als Sünde »gegen den eige-
nen Leib« wie auch »gegen die Gemeinschaft« mit besonderer Aufmerksamkeit
belegt. Ferner ist Paulus davon überzeugt, dass Geschlechtsverkehr dauerhaft
Bindungen schafft oder auch auflöst, was besonders die Ausführungen zum Sexu-
alverhalten in 1Kor 5–7 erklärt.
Porneia ist gemeinschaftszerstörend: Dem Gang des Briefes folgend, kommt
Paulus zunächst die sexuelle Beziehung eines Gemeindeglieds mit der »Frau sei-
nes Vaters« (1Kor 5,1) zu Ohren, was den Apostel zur Empfehlung des Gemeinde-
ausschlusses und der Verhängung eines Todesfluchs veranlasst (V. 4). Den moder-
nen Leser mag diese harsche Haltung von Paulus verwundern. Die Auseinander-
setzung muss jedoch in den Horizont des antiken Sexualitätsdiskurses eingeordnet
werden, nach dem Sexualität weit weniger individuell als vielmehr kommunitär
gedacht wurde. Ein Regelverstoß wirkte sich niemals nur auf die unmittelbar Be-
troffenen aus, sondern griff – wie der Sauerteig im Teig (1Kor 5,7) – auf alle Mit-
glieder der Sozialgemeinschaft über. So ist die Rede von der »Schandtat für Israel«
(Lev 22,21) verständlich (vgl. auch 4Q274 frg. 1,8 f.; 11QT). Konkret wird hier an
das universelle Inzestverbot im jüdischen Heiligkeitsgesetz zu denken sein, nach
dem es u. a. verboten ist, die Scham der »Frau des Vaters« aufzudecken (Lev 18,8;
20,11). Dass diese Frau vermutlich nicht die genetische Mutter des Übeltäters ist,
ist für das soziale Denken der Antike – anders als in heutiger biologischer Veren-
gung – unerheblich.
Prostitution: Eine Verschärfung jüdischer Sexualmoral zeigt sich im Umgang
mit Prostitution. War im Alten Israel der Gang zur Prostituierten offenbar als
ethisch unproblematisch betrachtet worden (vgl. Gen 38,15 f.; Jos 2,1; Ri 16,1), so
wird er von Paulus verurteilt. Entgegen der Einwände von Rentate Kirchhoff, dass
in 1Kor 6,12–20 eine »regelwidrige Sexualbeziehung« im weiteren Sinn bezeichnet
werde (Kirchhoff 1994), spricht doch die Konkretion der Ausführungen (V.
15 f.) oder die Erwähnung von Geld (V. 20) dafür, dass hier der Gang zu einer
Hure thematisiert wird. Die Argumentation von Paulus mag im Gegenüber zu
heutigen Bewertungsrastern überraschen: Nicht die Würde der Person der Prosti-
tuierten noch die Untreue gegenüber der eigenen Ehefrau, sondern die religiöse
Dimension verwehrt den Geschlechtsakt mit der Prostituierten für den Christen.
Der sexuelle Verkehr belastet in unmittelbarer Weise die Christusbeziehung. Weil
die Körperteile als Teil des Leibes Christi begriffen werden, können sie nicht zu-
gleich Hurenglieder (1Kor 6,15) werden; dies würde aber in Anwendung von Gen
382 C. Werk
werden (z. B. du Toit 2003, 107; Via/Gagnon 2003; Loader 2010, 7–34). Für Pau-
lus zumindest waren solche Beziehungen nicht im Blick.
Külling, Heinz: Ehe und Ehelosigkeit bei Paulus. Eine Auslegung zu 1. Korinther 6,12–7,40,
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Ruben Zimmermann
Paulus lässt in seinen Briefen ein hohes Maß an Selbstreflexion erkennen. Dazu
wird er v. a. durch jene Gegner herausgefordert, die ihm die apostolische Legiti-
mation abzusprechen versuchen. Das Ringen um ein Verständnis seiner selbst
reicht indessen tiefer. Es verbindet sich mit der grundlegenden Frage nach dem
Status des Menschen vor Gott und seiner Rolle in einer von Gott getrennten Welt.
Dabei lassen sich im Wesentlichen drei Gedankenkreise erkennen, in denen das
individuelle Selbstbild als Teil eines umfassenden Menschenbildes erscheint. Zum
Ersten sieht Paulus die maßgeblichen Koordinaten seiner Existenz in der Ge-
schöpflichkeit. Gott hat den Menschen in geschlechtlicher Komplementarität ge-
schaffen und hat ihn damit von Anfang an auch auf Beziehung hin angelegt. Das
schließt die Verantwortung gegenüber seinen Mitgeschöpfen, v. a. aber gegenüber
dem Schöpfer selbst ein. Damit ist der zweite Gedankenkreis verbunden. Paulus
erfährt sich als jemand, der dieser Verantwortung vor Gott nicht zu genügen ver-
mag, weil er im Widerstreit gegensätzlicher Mächte steht. Begrenzt durch das Ver-
hängnis des Todes erfährt er sich in einer Situation der Unfreiheit, die ihn von
Gott trennt. Darauf bezieht sich der dritte Gedankenkreis, der eine Hoffnungs-
perspektive eröffnet: In der Zugehörigkeit zu Christus wird der Mensch aus sei-
ner Versklavung herausgerissen und gleichsam neu erschaffen, was in der Taufe
einen biographisch bestimmbaren Haftpunkt hat. Mit Christus beginnt die
Menschheitsgeschichte neu, sodass sich die Koordinaten der gegenwärtigen
Existenz relativieren und alles Leben fortan nur noch im Sog dieses »Seins mit/in
Christus« zu begreifen ist. In diesen Gedankenkreisen bewegt sich das Selbstver-
ständnis, von dem her der Apostel seine Theologie formuliert und seine Verkün-
digung organisiert.
386 C. Werk
In seinem Weltverständnis greift Paulus auf Modelle der jüdischen wie auch
der hellenistischen Tradition zurück. Die Welt als Schöpfung des einen Gottes
bezeichnet er vorzugsweise mit dem abstrakten Begriff »Kosmos«, der Sichtbares
und Unsichtbares (2Kor 4,18), Vergängliches und Unvergängliches (1Kor 15,42),
Psychisches und Pneumatisches (1Kor 15,44) umfasst. Für Paulus bilden sich da-
rin offensichtlich diese Weltzeit und die Weltzeit Gottes bzw. die irdische und die
himmlische Welt ab, die sich indessen nicht nur überlagern, sondern auch berüh-
ren und durchdringen. Vom altorientalischen Weltbild hat Paulus die Vorstellung
einer vertikalen Struktur übernommen. Klassisch erscheint die Dreiteilung in die
Bereiche »Himmel, Erde und unter der Erde« (Phil 2,10). Nicht nur der Himmel
der Gestirne, sondern auch der Himmel Gottes befindet sich »oben«: das gilt z. B.
für Heilsorte wie das »obere Jerusalem« (Gal 4,26), »unser Politeuma« (Phil 3,20)
oder das »Paradies« (2Kor 12,2–4). Dabei werden die Himmel bereits im Plural
genannt (Phil 3,20; 2Kor 5,1); 2Kor 12,2–4 lässt zudem mit der Erwähnung eines
dritten Himmels das aus der frühjüdischen Literatur bekannte Siebenerschema
anklingen. Selbstverständlich erfolgt alles Offenbarungsgeschehen »vom Himmel
her«: so der »Zorn Gottes« (Röm 1,8), der »neue Mensch« (1Kor 15,47), unsere
neue Existenzweise (2Kor 5,1), die »obere Berufung« der Christen (Phil 3,14), v. a.
aber die Parusie Christi (1Thess 1,10; 4,16; Phil 3,20). In der Beschreibung des Pa-
rusiegeschehens scheinen sich für Paulus dann auch die zunächst noch getrenn-
ten Wirklichkeitsbereiche wieder ineinander aufzulösen. Denn wenn die »Einho-
lung des Kyrios« im Luftraum erfolgen soll (1Thess 4,17), ist das nur nach einer
vorherigen »Verwandlung« der noch Lebenden möglich (1Kor 15,50 f.; Phil 3,21),
deren Welt damit irrelevant wird und schließlich der Vernichtung anheimfällt.
Paulus nimmt auch die apokalyptische Weltsicht seiner Zeit in differenzierter
Weise auf. Das Schema zweier Äonen, die zeitlich-horizontal aufeinanderfolgen,
gibt dabei zunächst die Grundstruktur geschichtlichen Denkens vor. Von Paulus
wird dieses Schema jedoch insofern modifiziert, als mit dem Christusereignis die
neue Weltzeit schon anbricht und die alte, vergängliche Weltzeit überlagert. Da-
mit nimmt Paulus Vorstellungen eines räumlich-vertikalen Äonenschemas auf,
das in der frühjüdischen Apokalyptik ebenfalls ausgeprägt ist und das eine Brü-
cke zu philosophischen Weltbildern namentlich platonischer Provenienz schlägt.
Das große Interesse der jüdischen Theologie im 1. Jh. n.Chr. an der göttlichen
Welt, dem himmlischen Hofstaat, der Klassifizierung von Dienstengeln sowie an
der Vorstellung von Zwischenwesen überhaupt spielt bei Paulus eine auffällig ge-
ringe Rolle. Dennoch setzt auch er natürlich voraus, dass es zwischen Gott und
Mensch eine Welt geistiger Wesen gibt. Er sieht wie die meisten seiner Zeitgenos-
sen die Welt alltäglicher Lebenswirklichkeit vom Wirken solcher Kräfte bestimmt
und durchdrungen, wenngleich dieselben darin nicht aufgehen und eher als Ver-
bindung zwischen Gott und seiner Schöpfung in Erscheinung treten.
Einige wenige Schlaglichter zeigen, dass Paulus die jüdische Angelologie der
Zeit sehr wohl kennt und in seiner Verkündigung aufzugreifen vermag. Engel
sind an Schaltstellen der Heilsgeschichte vermittelnd tätig, wie etwa bei der Über-
III. Theologische Themen 387
gabe der Tora an Mose (Gal 3,19). Sie spielen auch eine maßgebliche Rolle bei der
Parusie Christi, deren apokalyptisches Szenario vom Schrei eines Erzengels einge-
leitet wird (1Thess 4,16), bevor Christus dann »mit allen seinen Heiligen« (1Thess
3,13) erscheint. Vor allem aber setzt Paulus die Präsenz von Engeln im Gottes-
dienst der Gemeinde voraus: Dies ist einer der Gründe dafür, Frauen, die in der
Gemeindeöffentlichkeit prophetisch reden, zur Bedeckung ihres Haares aufzu-
fordern (1Kor 11,10); in der Glossolalie bedienen sich die Glaubenden der »Spra-
che der Engel« (1Kor 13,1); der Apostel selbst wird in seiner apostolischen Existenz
insgesamt »ein Schauspiel für die Welt und die Engel und die Menschen« (1Kor
4,9). Dabei sind die Engel in ihrer Gottesbeziehung dem Menschen nicht prinzi-
piell vor- oder übergeordnet; in 1Kor 6,3 fragt Paulus angesichts von Rechtsstrei-
tigkeiten von Gemeindegliedern vor nicht-christlichen Richtern: »Wisst ihr nicht,
dass wir über Engel richten werden?« Damit spielt er offensichtlich auf jene gefal-
lenen Engel an, von deren Vergehen, Bestrafung und vergeblicher Bitte um Be-
gnadigung die Henochliteratur ausführlich berichtet (vgl. auch Jud/2Petr).
Schließlich kann Paulus in abgeschliffener Weise das Bild eines Engels seiner Me-
taphorik dienstbar machen, wenn es um den Ausdruck höchster Wertschätzung
geht: Weder er noch »ein Engel vom Himmel« sind legitimiert, das Evangelium
anders zu verkündigen, als es geschehen ist (Gal 1,8); »wie einen Engel Gottes«
haben ihn die Galater seinerzeit aufgenommen, als ihre Beziehung noch intakt
war (Gal 4,4).
Differenzierter stellt sich das Bild gegengöttlicher Mächte dar. Auch hier lässt
Paulus kein System erkennen, sondern greift punktuell bestehende Vorstellungen
auf. Eine hierarchische Zuordnung zwischen Satan und seinen Engeln, den Herr-
schaften, Mächten und Gewalten sowie den Dämonen und »Götzen« wird jeden-
falls nicht erkennbar. Deutlich ist nur, dass diese negativen Größen keine eigen-
ständige Macht besitzen. Trotz ihres durchaus ernstzunehmenden Potentials blei-
ben auch sie dem einen Gott untergeordnet und verfügen lediglich über einen
zugestandenen Spielraum.
Die Rolle des Satans spielt durchgängig auf jener Bühne, die dafür in der alt-
testamentlich-jüdischen Tradition vorbereitet ist. Vorzugsweise verwendet Paulus
dabei den Begriff σατανᾶς (Satan); den Begriff διάβολος (Teufel) gebraucht er
nicht; einmal greift er auch den in den Qumrantexten beheimateten Begriff »Be-
liar« auf (2Kor 6,15); merkwürdig und singulär erscheint die Rede vom »Gott
dieser Weltzeit« (2Kor 4,4), die eindeutig nicht den Gott Israels und Vater Jesu
Christi meint. Der Satan tritt v. a. als ein Verführer auf: Wenn Paulus die Christen
in Korinth warnt, sich in ihrer Gebetspraxis nicht vom Satan versuchen zu lassen
(1Kor 7,5), dann erinnert dies an die Versuche Satans in der jüdischen Adamlite-
ratur, die Voreltern an ihrer Bußübung nach der Vertreibung zu hindern; nach
2Kor 2,11 entspricht es einer Strategie Satans, die Gemeindeglieder »zu übervor-
teilen«, was in diesem Kontext auf die Zerstörung ihrer Gemeinschaft zielt; dass
er sich sogar als »Engel des Lichts« zu verstellen pflegt (2Kor 11,15), ist ebenfalls
aus der Adamliteratur bekannt; ganz gezielt »verblendet« er das Denken der Un-
388 C. Werk
gläubigen (2Kor 4,4). In 1Thess 2,18 vermag Paulus zu sagen, dass ihn der Satan
daran gehindert habe, die Gemeinde zu besuchen. Eine erstaunlich konstruktive
Rolle spielt der Satan hingegen in jenem Disziplinarverfahren, das Paulus in 1Kor
5,1–10 eher andeutet als wirklich beschreibt: Der Delinquent soll in einer Gemein-
deversammlung »dem Satan übergeben« werden »zur Vernichtung der Sarx, da-
mit das Pneuma gerettet werde am Tag des Herrn« (1Kor 5,5). Vieles bleibt hier
unklar – wie etwa die Relation zwischen σάρξ (Fleisch) und πνεῦμα (Geist) oder
die Reichweite dessen, was mit »Vernichtung der Sarx« gemeint ist. Eindeutig,
wenngleich in seiner Realisierung nicht weniger rätselhaft, lässt sich das Ziel be-
stimmen: nämlich die »Rettung des Pneuma«. Diesem Ziel dient das gesamte Ver-
fahren, und der Satan muss daran mitwirken. Wie auch immer sein Anteil dabei
bestimmt sein mag – er ist jedenfalls nicht der Handlungssouverän; seine de-
struktive Macht bleibt begrenzt und muss am Ende auch noch zur »Rettung des
Pneuma« beitragen. Eine ähnliche Funktion wird sichtbar, wenn Paulus in 2Kor
12,7 von jenem »Engel Satans« berichtet, der ihn »mit Fäusten schlägt«: Auf diese
Weise umschreibt er eine Krankheit, die er als vom Satan verursacht ansieht. Sie
hat indessen einen pädagogischen Effekt – nämlich den, dass Paulus sich nicht
»des Übermaßes der Offenbarungen überhebe«. Wider Willen fungiert Satan
auch hier als Werkzeug Gottes. Grundsätzlich aber leben die Glaubenden in
einem Bereich, der von der Macht Satans strikt geschieden ist und dessen Bewah-
rung auch in ihrer Verantwortung liegt – denn »Wie stimmt Christus mit Beliar
überein« (2Kor 6,14–18)?
Unklarer wird es dort, wo Paulus auf das Feld frühjüdisch-hellenistischer Dä-
monologie gerät. Dass man schon die »Herrscher/Archonten dieser Welt« (1Kor
2,6) darauf beziehen könnte, ist eher unwahrscheinlich. Deutlich über politische
Machthaber hinaus geht dann jedoch die Aussage, der Parusie-Christus werde am
Ende »die Herrschaft« dem übergeben, der Gott und Vater ist, nachdem er selbst
»jede Herrschaft und jede Macht und Kraft beseitigt hat« (1Kor 15,24). Darin
klingt eine aus der jüdischen Apokalyptik wohlbekannte Trias an, mit der für ge-
wöhnlich geistige Wesen bezeichnet werden, ohne dass deren Eigenart näher zu
bestimmen wäre; sie kommen v. a. dort in den Blick, wo politische Macht mit dem
Anspruch göttlicher Absolutheit auftritt. In guter Gesellschaft befinden sie sich in
Röm 8,38 f.: »Denn ich bin überzeugt: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch
Herrschaften, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Kräfte, / weder Ho-
hes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur können uns trennen von der
Liebe Gottes, die in Christus Jesus, unserem Herrn ist.« Damit wäre dann auch
schon alles Notwendige zum begrenzten Einfluss solcher Mächte gesagt. Ob auch
mit »allen Namen«, über die der Kyriosname Christi nach Phil 2,9 genannt ist,
vergleichbare Größen gemeint sind, muss wiederum offenbleiben; die viel disku-
tierten »Elemente der Welt« aus Gal 4,3 weisen auf eine ähnlich unbestimmte
Vorstellung hin.
»Dämonen«, die in der hellenistisch-römischen Welt allgegenwärtig sind,
bringt Paulus nur in einem, wenngleich sehr aufschlussreichen Zusammenhang
III. Theologische Themen 389
ins Spiel. Er betrifft die Frage, wie mit dem Genuss von »Götzenopferfleisch« um-
zugehen sei (1Kor 8 und 10). Die Herkunft von Fleisch aus kultischen Schlach-
tungen schreckt das Gewissen einiger Gemeindeglieder in Korinth auf. Sie be-
fürchten, das Fleisch selbst könne durch diesen Kontext gleichsam dämonisch
kontaminiert sein. Paulus weist diese Befürchtung jedoch mit einer bemerkens-
werten Argumentation grundsätzlich ab (1Kor 8,4–8): »Es gibt keinen Götzen in
der Welt, und es gibt keinen Gott außer dem einen«. Die Kulte, um die es geht,
gelten demnach nicht wirklichen Gottheiten, sondern lediglich »Götzen« bzw.
»sogenannten Göttern« oder »Kyrioi«, die in der Folge dann schlicht mit »Dämo-
nen« gleichgesetzt werden. Paulus verlagert die Frage deshalb vom Prinzipiellen
zum Pragmatischen. Realität wird den sogenannten, in Wahrheit gar nicht
existenten Numina nur dort zugestanden, wo man sie verehrt. Daran dürfen sich
Christen unter keinen Umständen beteiligen! Wo ihr Fleischverzehr ein solches
Missverständnis auslösen könnte, müssen sie auf eine strikte Abgrenzung achten.
Insofern wird die Unvereinbarkeit von Herrenmahl und heidnischer Kultmahl-
zeit von Paulus durch die Terminologie »Becher des Herrn/Becher der Dämonen«
sowie »Tisch des Herrn/Tisch der Dämonen« markiert (1Kor 10,21); beides
schließt einander aus. Die Eifersucht Gottes (1Kor 10,22) richtet sich dabei jedoch
nicht auf reale Konkurrenten, die aus dem Feld zu schlagen wären, sondern auf
einen Treuebruch gegenüber dem einzig wahren Gott.
Die Grenze zwischen »Dämonen« und »Geistern« bleibt unscharf. Bereits die
Rede vom »Geist Gottes« bzw. vom »Heiligen Geist« erweist sich als varianten-
reich. Vor allem aber fungiert der gleiche Begriff (πνεῦμα) nun auch zur Bezeich-
nung anderer »Geister«: In 1Kor 2,12 weiß Paulus zwischen dem »Geist der Welt«
und dem »Geist, der von Gott ist« zu unterscheiden; eine solche »Unterscheidung
der Geister« gilt in 1Kor 12,10 geradezu als Charisma; relativ unbestimmt kenn-
zeichnet Paulus in 1Kor 14,2 die Glossolalie als Rede »in einem Geist«, die für Gott
bestimmt ist, und fordert in 1Kor 14,12 dazu auf, »die Geister« (und nicht etwa die
»Geistesgaben«) zu erstreben; im Plural ist auch in 1Kor 14,32 von den »Geistern
der Propheten« die Rede; dass man »einen anderen Geist« empfangen kann als
den göttlichen, hält 2Kor 11,4 in der Polemik gegen die korinthischen Kontra-
henten beiläufig noch einmal fest. Daran wird zumindest eines deutlich: Das
göttliche Pneuma ist verwechselbar, vermag aber allein die Erkenntnis dieser Si-
tuation zu vermitteln; die »anderen Geister« fallen dann letztlich unter das glei-
che Verdikt wie die Götzen, Kyrioi oder Dämonen – nämlich »Nichtse« zu sein.
Ein letzter Punkt verdient in diesem Zusammenhang Beachtung. Paulus wertet
den Begriff der »Sünde« (ἁμαρτία) gegenüber dem der »Übertretung« oder kon-
kreten »Verfehlung« noch einmal auf und gibt ihm das Profil einer überindividu-
ellen, geradezu personifizierten Macht. Die »Sünde«, von der er stets im Singular
spricht, beherrscht den Menschen und hindert ihn daran, dem in der Tora offen-
barten Gotteswillen zu entsprechen. Sie befindet sich dabei in Koalition mit der
σάρξ (Fleisch); der Tod erscheint als ihr »Sold« (Röm 6,23). Aus ihrem Machtbe-
reich kann sich der Mensch nicht selbst befreien; es bedarf dazu eines Befreiungs-
390 C. Werk
aktes von außen, der durch Christus erfolgt und die Sünde (Gottferne) ebenso
wie den mit ihr verbundenen Tod auf eine neue und grundsätzliche Weise über-
windet. In der Christuszugehörigkeit sind damit alle widergöttlichen Mächte für
die Glaubenden wirkungslos geworden.
Dibelius, Martin: Die Geisterwelt im Glauben des Paulus, Göttingen 1909.
Horn, Friedrich Wilhelm: Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie
(FRLANT 154), Göttingen 1992.
Lichtenberger, Hermann/Lange, Armin/Römheld, K. F. Diethard (Hg.): Die Dämonen. Die
Dämonologie der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Um-
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Williams, Guy: The Spirit World in the Letters of Paul the Apostle. A Critical Examination of
the Role of Spiritual Beings in the Authentic Pauline Epistles (FRLANT 231), Göttingen 2009.
Christfried Böttrich
4.4.1. Neuschöpfung
Die Zusammenstellung der Schriften von Paulus mit den sog. Deuteropaulinen in
der Paulusbriefsammlung bewirkte, dass der in Gal 6,15; 2Kor 5,17 verwendete
frühjüdische Begriff ἡ καινὴ κτίσις (»die neue Schöpfung« [nicht: das neue Ge-
schöpf]) (Jub 4,26; 11QT 29,9; 1QS 5[11],11 f.; 1Hen 72,1) als Aussage des Paulus
über den christlichen Existenzwandel ausgelegt wurde und wird. Und in der Tat:
In Aufnahme platonisch-neupythagoreischer Prinzipien (dazu Faust 1993, 129–
137) wird nach Kol 3,9b-11; Eph 2,14 f. in der durch Christi Heil konstituierten
Kirche der καινὸς ἄνθρωπος (»neue Mensch«) Wirklichkeit. Denn in der Geist
existenz der Getauften (vgl. Eph 4,24) komme es zum Frieden zwischen der von
Gottes geschichtlicher Erwählung (vgl. Gen 12,1–3) in eine jüdische und nicht-jü-
dische Hälfte aufgeteilten Menschheitsschöpfung.
Verschiedene Beobachtungen an den Paulusbriefen, nämlich (1) dass das Pen-
dant neuer Mensch zu »alter Mensch« (Röm 6,6) fehlt, (2) dass in Gal 6,15 und
2Kor 5,17 ein Bezug zur Taufe fraglich ist (anders z. B. Schnelle 1983) und (3)
dass die paulinische, leiborientierte Theologie auf den eschatologischen Vorbe-
halt Wert legt (vgl. 2Kor 5,7; Röm 8,24c), lassen zwei Versuche, wie der letztgültig,
universal und endzeitlich gemeinte Begriff in seiner gegenwartsbezogenen Aus-
prägung bei Paulus zu verstehen sei, als problematisch erscheinen:
1. Neuschöpfung bei Paulus meine die proleptische Verwirklichung endzeit-
lich-universalen Neuschöpfungsheils (so Stuhlmacher 1967, 27) oder
2. Neuschöpfung sei in die sakramentale Dialektik von verborgen und offenbar
eingebunden (so z. B. Schlier 1971, 174).
Unter Beachtung des Kontextes der Neuschöpfungsaussage in 2Kor 5,14–17 er-
gibt sich alternativ, dass Paulus die Grundfigur einer theologischen Anthropolo-
gie vorträgt (Mell 2001/2009).
III. Theologische Themen 391
Wie die Variationen 1Kor 7,19; Gal 5,6 zeigen, liegt in Gal 6,15: »Weder Beschnit-
tenheit bedeutet etwas noch Unbeschnittenheit, sondern neue Schöpfung« For-
melsprache einer Christenheit vor, die als endzeitliche Heilsgemeinde aus Israel-
und Völkerchristen die von der Tora für Israel gezogene Grenze (vgl. Arist 139.142)
in ihrer (Herrenmahls-)Gemeinschaft überschreitet (vgl. Gal 2,12a). Der neue
Weg Antiochenischer Theologie (= Gal 3,26–29) (dazu Rau 1994) jenseits des von
der Tora ausgehenden Zwangs zur Identifikation als Jude oder Nichtjude orien-
tiert sich in einer Hinsicht an der Ethik, insofern das göttliche Endgericht nur
durch Liebeswerke bestanden wird (vgl. 1Kor 7,19 mit SapSal 6,18 und Gal 5,6 mit
z. B. 1Kor 13,2 fin.3 fin.; Gal 5,2; 6,3). Demgegenüber argumentiert Gal 6,15 schöp-
fungstheologisch: Unterscheidet alttestamentliche Anthropologie zwischen uni-
versaler Menschenschöpfung (vgl. Gen 1,26) und partikularer Erwählung Israels
(vgl. 12,1–3), so wird in frühjüdischer Zeit allein die jüdische Existenz als Gottes
Geschöpf wahrgenommen (vgl. Neh 9,6 f.: Abraham als erstgeschaffener Mensch;
JosAs 19,11; 27,10). Da für Antiochenische Theologie die Israel ausschließende
nicht-jüdische Lebensweise (Gal 6,15: »Unbeschnittenheit«) keine Alternative ist,
behauptet sie mit »neuer Schöpfung« ein neues Menschenbild: Denn der im
Christusbekenntnis verehrte Kyrios – so Antiochenische Theologie – verleiht Ju-
den wie Nichtjuden den reichen heilsnotwendigen Segen von Gerechtigkeit und
Weisheit (vgl. Röm 10,12 mit Ps 111,1a.3 LXX).
Um im Werben für das Evangelium der Torafreiheit zu überzeugen, verwendet
Paulus im Postskript des Galaterbriefs von der Formel Antiochenischer Theolo-
gie allein, dass mit dem Paradox des gekreuzigten Kyrios eine endzeitliche Zäsur
im göttlichen Heilshandeln an der Welt eingetreten ist (vgl. Gal 6,14 mit 1,4).
Da Paulus in 2Kor 5,14–17 bei der Beschreibung der seinen Aposteldienst bestim-
menden christologischen Liebesnorm allgemeine Formulierungen verwendet,
behauptet er Grundsätzlichkeit. Von dieser Bewertung ausgenommen dürfte sei-
ne Ansicht über Christus sein (= V. 16bc).
Durch Anspielung auf Jes 43,18 f. LXX macht Paulus in 2Kor 5,17b sprachlich
deutlich, dass weder die apokalyptische All-Vision (vgl. Jes 65,17; 66,22) noch die
individuelle Konversionstheologie (vgl. JosAs 8,9; 15,5.7; 27,10; bJev 48b [R. Jose b.
Chalafta, T 3]; TrGerim 2 fin. [R. Jehuda, T 3]) Verstehenshorizont seiner univer-
salen Neuschöpfungsaussage ist. Das letztgültige Urteil über die neue Verfassung
der Welt (2Kor 5,17a: »wenn jemand in Christus [sich befindet], [dann ist ent-
scheidend] neue Schöpfung«) ist durch Christi Tod geschichtlich bewirkt (vgl.
V. 15a) und besteht in der Erkenntnis seiner darin offenkundig werdenden Liebe.
Im protologischen Denken frühjüdischer Anthropologie, dass in Adams Schei-
tern am Bösen der von seiner Natur bestimmten Menschheit ihr Fall vorgegeben
392 C. Werk
ist (vgl. Philo opif. 145; 3Bar 54,15.19; ApkMos 14), versteht Paulus das Ereignis von
Christi Totenauferstehung als Durchbrechung der Todesverfallenheit bisheriger
Schöpfung und begreift Christus als prägenden Anfang einer neuen Menschheit
(vgl. 1Kor 15,22): Ist »in Christus« durch Christi Stellvertretung der Tod jedes
Menschen geschehen (2Kor 5,14c: »Ist einer für alle gestorben, so sind alle gestor-
ben«), so ist der von seinem Solipsismus – das (geschöpfliche) Leben, das nur sich
selbst kennt (V. 15b, vgl. Menander, Frgm. 257; 646; 775) – befreite Mensch dazu
frei, sich in Liebe hin zu seinem Befreier, Christus, zu verwirklichen (2Kor 5,15c).
Mit dieser Charakteristik wahrer Menschlichkeit als Freiheit zur Liebe nimmt
Paulus hellenistische Überlegungen über ein »glückliches Leben« auf, »wenn
wirklich jemand in allen Stücken mehr für Gott leben könnte als (nur) für sich
selbst« (Philo her. 111).
4.4.4. Gotteskindschaft
Den religiösen Beziehungsbegriff (τὰ) τέκνα (τοῦ) θεοῦ (»Gottes Kinder«), der
alttestamentliche Wurzeln besitzt (vgl. Jes 54,13; 63,8) und frühjüdisch das zu-
künftig toratreu handelnde Israel meint (vgl. Jub 1,24 f.), verwendet Paulus in
zwei Kontexten:
Zum einen zeigt er damit an, dass das Prädikat, zur endzeitlichen Familia Dei
zu gehören, nicht aufgrund irdischer Vorfindlichkeit, sondern nur durch souve-
räne göttliche Gnadenwahl verliehen wird. So führt er Röm 9,8b in Anknüpfung
an Gen 21,12 aus, dass nicht den jüdisch Geborenen, sondern nur Isaak als dem
Prototyp der »Kinder der Verheißung« die Bewertung (wahres) »Israel« zukommt
(Röm 9,6). Analog erläutert Phil 2,15 in Abwandlung von Dtn 32,5, dass das von
der Welt unterschiedene christliche Handeln seine Korrektheit nicht aus eigenem
Verdienst bezieht (Phil 2,13).
Zum anderen zeigt Paulus, dass für den Rechtfertigungsglauben der »Kinder
Gottes« (Röm 8,16.21) ein konstitutiver Zusammenhang zwischen vollgültigem
Gegenwartsheil und vollgültiger Zukunftsherrlichkeit besteht. Da Röm 8,14–17 in
Gal 4,6 f. in einer früheren Version vorliegt, in der zu Gotteskindschaft das Syno-
nym Gottessohnschaft (V. 6a) erscheint, lassen sich nicht nur Akzente paulinischer
Theologie, sondern auch ihr Herkommen aus Antiochenischer Theologie (= Gal
3,26–29) erkennen:
Für die Argumentation ab Gal 3,6, dass die an Christus Glaubenden Abrahams
korrekte (Glaubens-)Nachkommen sind (vgl. V. 29), wäre von den V. 26–29 nur
diejenige Aussage über die Gottessohnschaft (= V. 26) erforderlich. Der über-
schüssige Text sowie wortstatistische, strukturelle wie inhaltliche Eigenheiten las-
sen schließen, dass Paulus liturgische Sprache Antiochenischer Theologie auf-
greift (dazu Paulsen 1980/1997; Mell 1989, 306 f.):
III. Theologische Themen 393
Mit der Taufe wird eine soteriologische Gleichheit aller Christen im Heilsraum
des Gottessohnes Christus begründet, die die Klassifizierung des Menschen in
religiös-erwählungsgeschichtlicher (vgl. 2Makk 4,10–16; 6,1–9; Flav.Jos.Apion. I
180), rechtlich-sozialer (vgl. 1Makk 2,11) und biologisch-rollenspezifischer Hin-
sicht (vgl. Gen 1,27b; 5,2) nicht elitär für aufgehoben, sondern hinsichtlich ihrer
Privilegien für überwunden erklärt.
Gegenüber den Interpretationen als (1) Erfüllung alttestamentlicher Prophetie
(vgl. Jo 3,1 f.; so Stuhlmacher 1967) oder als (2) Aufnahme antiker politischer
Hoffnungen auf eine Ökumene der Menschheit (Betz 1988, 334–352) ist auf die
chiastische Zuordnung der Glieder aufmerksam zu machen, die eine Auseinan-
dersetzung mit dem schöpfungstheologisch begründeten Tora-Ideal des jü-
dischen, frei[geboren]en Mannes (vgl. TBer 7,18, R. Jehuda, T 3 [dazu bMen 43b];
jBer 13b,48; bMen 43b, R. Meir, T 3) nahelegt (so Lührmann 1975, 58; Mell 1989,
311–315): Da für die Christenheit nicht die andere Hälfte der Welt durch Aufwer-
tung der negativen Größen Grieche (Nichtjude), Sklave und weiblich infrage
kommt, würdigt Antiochenische Theologie im Rahmen einer Erwählungstheolo-
gie der Völker (vgl. 1Thess 1,4 mit 9) den in Christi Rettungsidentität existie-
renden einen und gleichen Menschen. Paulinische Hausgemeinden, in denen die-
se trennenden Antagonismen nicht gelten (vgl. Gal 2,11–14; 1Kor 1,26–28; 7,21 f.;
11,4 f.), wirken auf eine ständische Stadtgesellschaft attraktiv.
Nach Gal 4,6 f. wird die durch die einmalige Taufe empfangene Gottessohnschaft
im sich wiederholenden Gottesdienstgeschehen bestätigt, insofern Gott im Geist
seines Sohnes mit dem Ehre erweisenden Familienwort »Vater!« angebetet wird.
Mit der aramäisch-griechischen Anrede »ABBA Vater!« greift Paulus ein Frag-
ment der zweisprachigen Liturgie der Jerusalemer/palästinischen Urgemeinde
auf. Diese Praxis dürfte sich nicht in erster Linie als Fortsetzung der Frömmigkeit
des irdischen Jesus verstehen – Vater! ist eine überaus allgemeine Gottesanrede in
hellenistischer und jüdischer Religiosität –, sondern dürfte die auf Zukunft ange-
legte Qualität christlicher Geisterfahrung meinen (vgl. 2Kor 1,22): Dass der als
Vater angerufene Gott sich dem Wohl seiner (Menschen-)Familie verpflichtet
weiß (vgl. Jes 1,2.4; Jer 3,22), drückt Paulus aus der Perspektive des Kindes in der
Rechtskategorie der erbberechtigten Sohnschaft (Gal 4,7) bzw. Kindschaft (Röm
8,17) aus.
394 C. Werk
4.5. Freiheit
Rezeptionsgeschichtlich gesehen hat Paulus als Apostel der Freiheit in der abend-
ländischen Kulturgeschichte eine kaum zu überschätzende Rolle gespielt, na-
mentlich durch den reformatorischen Aufbruch, der 1520 in Luthers Programm-
schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (»davon S. Paulus viel schreybt«,
WA 7, 21) sein literarisches Denkmal erhalten hat. In exegetischer Perspektive ist
der Sachverhalt weniger klar. Inwiefern lässt sich die paulinische Verkündigung
insgesamt als »Freiheitsbotschaft« charakterisieren? Bildet deren Zentrum die
von der Reformation proklamierte Freiheit vom Gesetz? Die letztgenannte Frage
ist eng verklammert mit den Umbrüchen in der Paulusforschung, die unter der
Losung der »New Perspective on Paul« figurieren (Coppins 2009).
4.5.1. Eingrenzung
gegenüber diejenigen Aussagen dar, die die neue Identität der Glaubenden be-
schreiben. In den Entdifferenzierungsformeln vom Typ von Gal 3,28 (vgl. 5,6; 6,15;
1Kor 7,19; 12,13 und Kol 3,11) steht das neue Sein der Christusanhänger in Kontrast
zu den Koordinaten der alten Weltzeit, d. h. zu Ethnos, Status und Geschlecht.
Noch einmal weiter und unschärfer ist die teilweise von der ›älteren‹ Perspektive
vollzogene Subsumierung der gesamten paulinischen Soteriologie und nament-
lich der Rechtfertigungslehre unter die Kategorie der Freiheitsverkündigung.
Es ist unübersehbar, dass sich Paulus mit dem Rückgriff auf das ideenpolitisch so
gewichtige Freiheitsthema – das etwa auch die römischen Kaiser für ihre Wieder-
herstellung und Förderung der res publica programmatisch beansprucht haben
– in einem bedeutsamen Diskurs innerhalb der hellenistisch-römischen Kultur
positioniert (anders Plietzsch 2005). Dabei ist insbesondere an die popularphi-
losophische Proklamation der wahren Freiheit, die von den vorfindlichen Le-
bensbedingungen nicht tangiert wird, zu denken. Diese ist v. a. in der Stoa wie im
Kynismus kultiviert worden (vgl. Epiktet; Seneca; DioChrys.or. 14–15; 80; Philo
prob.). Auch das zeitgenössische Judentum hat sein Ideal des Lebens nach der
Tora und seine Erlösungshoffnung in diesem Horizont reinterpretiert (vgl. Philo;
Josephus; 4Makk 14,2; [m]Av 6,2). Ebenfalls in diesem Kontext zu verorten sind
die vereinzelten frühchristlichen Bezugnahmen auf die ἐλευθερία außerhalb des
Corpus Paulinum (Mt 17,26; Joh 8,31–36; Jak 1,25; 2,12; 1Petr 2,16; 2Petr 2,19); sie
sind nicht als unmittelbare Reflexe der paulinischen Tradition zu erachten. In der
Korintherkorrespondenz gibt es schließlich Signale dafür, dass sich heidenchrist-
liche Gemeinden auch unabhängig von der paulinischen Verkündigung auf die
populären Freiheitsideale berufen haben, im Fall der Korinther in einer dezidiert
individualistischen Variation (Paige 1992).
In 1Kor 7,17–24 nimmt Paulus seinen Ausgangspunkt bei der sozialen Differenz
zwischen Sklaven und Freien, die für die neue Identität der Glaubenden und ihr
Ethos keine Bedeutung mehr hat, sowenig wie die ethnische Differenz (V. 19). Das
Prinzip des »Bleibens« in den vorfindlichen Lebensumständen, das der Apostel in
einer eigentümlichen Kombination von alttestamentlich-jüdischem und
stoischem Gedankengut propagiert (V. 17.24), widerspricht dabei wahrscheinlich
nicht dem Ergreifen der Freilassungschance (V. 21b). Auffällig ist in V. 22 nicht
nur die Metaphorisierung des Freienstatus (der »im Herrn berufene Sklave« wird
als »Freigelassener des Herrn« identifiziert), sondern auch die Kennzeichnung
christlichen Lebens mit dem Status des Sklaven bzw. Knechts (V. 22), die sich
wesentlich jüdischer Tradition verdankt (in griechisch-hellenistischer Sprachre-
gelung sind δουλεία κτλ. [Sklaverei] fast ausschließlich sehr negativ konnotiert).
396 C. Werk
4.5.4. Galaterbrief
denchristlichen Glaubenden dazu auf, sich nicht den Geboten der Tora, v. a. der
Forderung nach Beschneidung und nach Befolgen von Speise- und Reinheitsge-
boten zu unterwerfen. Diese auf den Geltungsbereich des jüdischen Gesetzes zie-
lende Akzentuierung von Freiheit hat mit dem spezifischen Status der Heiden-
christen zu tun, den die New Perspective in den Fokus des Interesses gerückt hat:
Der Christusraum steht auch gebürtigen Heiden offen, ohne dass sie sich unter
das »Joch« jüdischer Ritualgebote zu begeben hätten. Umstritten ist dabei, ob es
bereits vor Paulus die »Hellenisten« (Apg 6,1–8,3; 11,19–21) waren, die im Blick auf
die nicht-jüdischen Christusgläubigen die Freiheit vom Kultgesetz proklamierten
(zweifelnd Dautzenberg 2001).
Ein Katalysator für diese Entwicklung könnte die griechisch-hellenistische
Profilierung von Freiheit speziell gegenüber vorfindlichen städtischen und eth-
nischen Gesetzen wie gegenüber gesellschaftlichen Konventionen gewesen sein,
die, von der sophistischen Bewegung ausgehend, etwa von Kynikern, radikalen
jüdischen Aufklärern und später bestimmten Gnostikern rezipiert wird. Diese an-
tike Form von Gesetzeskritik mündet meist nicht einfach in ›Antinomismus‹,
sondern verbindet sich leicht mit der Beanspruchung eines anderen, überlegenen
Gesetzes, etwa der Natur, des Kosmos oder der Seele bzw. des Inneren. Von da
spannt sich eine Brücke zum politischen Freiheitsverständnis, das gegenüber der
Knechtung durch externe Mächte und ihre Gesetze auf das Leben nach den eige-
nen Gesetzen der Polis, auf ihre Autonomie, setzt.
Eine streckenweise analoge Polarität zwischen Gesetzeskritik und Gesetzesaffir-
mation kennzeichnet auch den Galaterbrief. Die Freiheit der Heidenchristen von
den Torageboten, namentlich von Beschneidung und Speiseregeln, hat bei Paulus
ihren Ort in der Rechtfertigungslehre, wonach die Menschen nicht durch »Ge-
setzeswerke«, sondern allein durch Glauben Gerechtigkeit erlangen (2,16 f.21;
3,10–14). Im Anschluss an bestimmte theologische Figuren des griechischspra-
chigen Diasporajudentums artikuliert der Apostel in 3,23–4,11 den Nomos als uni-
versales Prinzip (anders als noch 3,15–19!), dem Heiden kraft ihrer Versklavung
unter die »Weltelemente« so gut wie Juden unterworfen sind. Dieser Raumzeit,
die mit Knechtschaft und Gefangenschaft assoziiert wird, steht die Geistsphäre
gegenüber, in der der Christus herrscht und die mit Gotteskindschaft (4,4–7) und
Freiheit (4,26 f.; 5,1) einhergeht; hier bestimmt nicht mehr der ethnische Status,
sondern die »neue Schöpfung« die Identität der Glaubenden (6,15). Wo Paulus
nun aber zur ethischen Argumentation (5,13–6,10) überleitet, rückt er die Ge-
setzesaffirmation in den Vordergrund, da sich die Christussphäre durch eine ihr
eigentümliche Normativität auszeichnet (Weder 1998) – die Liebe, die Paulus als
exklusive Quintessenz der Tora identifiziert (5,13 f.). Ethische Autonomie wird als
Christonomie pointiert (Konradt 2010a); ihr entspricht in 6,2 das wohl ad hoc
gebildete Syntagma »das Gesetz Christi«, das die Glaubenden erfüllen.
398 C. Werk
4.5.5. Römerbrief
Korrelation von Gesetz und Freiheit ortet Paulus zweitens diese exklusiv im
Christusgeist, zu dem Mose sich selbst umgewandt hat (V. 16 f.). Die Kontraposi-
tion von Freiheit und Pneuma im Gegenüber zu Sklaverei und Gesetz entspricht
derjenigen von Gal, diejenige von Leben und Tod (V. 6), die leitmotivisch die ge-
samte Argumentation von 3,7–18 strukturiert, hat ihr Pendant in Röm 7 f. (vgl.
bes. Röm 7,6). Drittens entschränkt der Apostel seinen eigenen Dienst am neuen
Bund, der dem Amt des Mose im Sinaibund antitypisch gegenübersteht (vgl. Gal
4,24–26) und der von Offenheit und Freimut (παρρησία, 3,12) gekennzeichnet ist,
auf die Glaubenden und ihre Erfahrungen von Geist und Freiheit schlechthin
(V. 18). Zugleich verbindet sich viertens mit der ἐλευθερία eine spezifische Geist
hermeneutik, die im verhüllenden »Buchstaben« (γράμμα) die »Schrift« (γραφή),
die von Christus zeugt, erschließt (vgl. Gal 4,21).
4.5.7. Bilanz
Paulus’ Proklamation der »Eleutheria in Jesus Christus« lässt sich in einem weit-
gespannten Freiheitsdiskurs der hellenistisch-römischen Kultur situieren, an dem
auch das Judentum teilnimmt. Sie ist im Galaterbrief eng mit der Frage der Gel-
tung bestimmter Toragebote verbunden, greift aber in umfassende ekklesiolo-
gische und pneumatologische Horizonte aus. Die Freiheitsverkündigung bildet
zwar nicht die zentrale Achse der Theologie des Apostels, sie artikuliert aber wie
andere paulinische Gedankenfiguren – beispielsweise die Versöhnungsbotschaft
(2Kor 5,14–6,2; Röm 5,1–11) – in einem bestimmten Kontext die christologische
Zentralperspektive des Apostels. Dieser liegt sein Verständnis des Evangeliums
von der in Jesu Kreuz und Auferweckung rettenden Alleinwirksamkeit Gottes zu-
grunde.
Coppins, Wayne: The Interpretation of Freedom in the Letters of Paul. With Special Reference
to the ›German‹ Tradition (WUNT II 261), Tübingen 2009.
Dautzenberg, Gerhard: Die Freiheit bei Paulus und in der Stoa, ThQ 176, 1996, 65–76.
Jones, F. Stanley: »Freiheit« in den Briefen des Apostels Paulus. Eine historische, exegetische
und religionsgeschichtliche Studie (GTA 34), Göttingen 1987.
Plietzsch, Susanne: Kontexte der Freiheit. Konzepte der Befreiung bei Paulus und im rabbi-
nischen Judentum (Judentum und Christentum 16), Stuttgart 2005.
Vollenweider, Samuel: Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei
Paulus und in seiner Umwelt (FRLANT 147), Göttingen 1989.
Samuel Vollenweider
400 C. Werk
5. Die Kirche
Die Frage, ob es in der paulinischen Ekklesiologie ein Zentrum gebe, das heißt, ob
die verschiedenen von ihm verwendeten Metaphern und Prädikate um einen Mit-
telpunkt herum angelegt sind, wurde bis in die jüngere Zeit häufig alternativ ent-
schieden: Entweder man votierte für »Volk Gottes« (λαὸς θεοῦ) oder für »Leib
Christi« (σῶμα Χριστοῦ) als ekklesiologisches Zentralmotiv des Paulus (Pro-
blembeschreibung bei Hainz 1992).
Albrecht Oepke (Oepke 1954) sah den Volk-Gottes-Gedanken im Zentrum der
paulinischen Ekklesiologie stehen und ordnete diesem das Motiv vom Leib Chris
ti unter. Ernst Käsemann (Käsemann 21972, 178–210) kehrte das Verhältnis um
und ließ den Volk-Gottes-Gedanken nur noch als historische Reminiszenz an die
jüdische Vergangenheit des Paulus gelten. Im Hintergrund dieser Kontroverse
steht der Problemkreis »Paulus und die Heilsgeschichte«. Während sich nach
Oepke bei Paulus eine heilsgeschichtlich-eschatologische Grundlinie feststellen
lässt, schließen sich nach Käsemann Heilsgeschichte und Rechfertigungsbot-
schaft grundsätzlich aus.
Die reine Wortstatistik hilft hier nicht viel weiter: Das Motiv vom »Leib Chris
ti« in ekklesiologischer Zuspitzung ist exegetisch unumstritten nur an zwei bzw.
drei Stellen belegt: 1Kor 12,27 (hier im Kontext der Bildrede vom Leib und den
Gliedern), Röm 12,5 (hier in paränetischem Kontext, doch in der Formulierung
gegenüber 1Kor 12,27 leicht variiert: »ein Leib in Christus«), und 1Kor 10,16 f. (hier
jedoch nicht ganz unumstritten im Kontext der eucharistischen Tischgemein-
schaft. Als weitere Texte, denen dieses Motiv zugrunde liegt, werden u. a. disku-
tiert: 1Kor 1,13; 6,12–20; 11,27.29).
Die Begrifflichkeit »Volk Gottes« (λαὸς θεοῦ) als Bezeichnung für die Ekklesia
begegnet im paulinischen Schrifttum explizit auch nur an zwei Stellen: 2Kor 6,16
und Röm 9,25 f. Und zwar handelt es sich in beiden Fällen um Schriftzitate und
nicht um Eigenformulierung des Paulus. Damit stellt sich die Frage, auf welchem
Weg überhaupt eine Entscheidung begründet werden kann und ob vielleicht eine
Analyse des gesamten Wortfeldes weiterhilft.
Walter Klaiber (Klaiber 1982) hat im Gefolge Käsemanns die zentrale Bedeu-
tung des Motivs vom Leib Christi hervorgehoben und dies rechtfertigungstheo-
logisch (christologisch) begründet. Allerdings stellte er in seiner Untersuchung
der ekklesiologischen Semantik zugleich fest, dass das Übergewicht ekklesiolo-
gischer Bezeichnungen, die Paulus sonst noch benutzt, dem Bereich der Gottes-
volk-Thematik zuzurechnen ist.
Helmut Merklein hat versucht, das Motiv vom Leib Christi als Ad-hoc-Bildung
des Paulus im Zuge der Abfassung des 1Kor zu erweisen. Merklein sieht den Got-
tesvolk-Gedanken als zentrale Kategorie paulinischer Ekklesiologie und begrün-
det dies u. a. mit dem Verständnis der Gemeinde als »Ekklesia«. An der christolo-
III. Theologische Themen 401
5.1.1. Ekklesia
gehören (Stuhlmacher 1965, 210–212; Roloff 1980, 1000 f.). Damit ist nicht eo
ipso Diskontinuität zum alttestamentlichen Gottesvolk impliziert (so Schrage
1963) und folglich der Anspruch, das »neue« oder »wahre« Volk Gottes zu sein
(denn diese Bezeichnungen kennt Paulus überhaupt nicht – zu Gal 6,16 s. u.),
sondern eher das Gegenteil, nämlich Anknüpfung (Berger 1989, 214 f.). Das wird
durch die Verwendung weiterer Begriffe, die in diesem erwählungsgeschicht-
lichen Kontext beheimatet sind, unterstrichen.
5.1.2. Heilige/Geheiligte
Aufgrund von 1Kor 1,2 und 2Kor 1,1, wo »Heilige« (ἅγιοι) und »ἐκκλησία« parallel
stehen, ist deren sachliche Nähe für Paulus offenkundig. Dies wird unterstützt
durch Röm 1,7 und Phil 1,1 wo die sonst gängige Anrede mit »Ekklesia« im
Präskript durch »Heilige« ersetzt ist. In der Mehrzahl der Belege wird mit dem
Prädikat »Heilige« die christliche Gemeinde bezeichnet (1Kor 1,2; 6,1 f.; Röm 1,7;
8,27; 12,13; 2Kor 1,1 u. ö.), es kann sich allerdings auch speziell auf die Urgemeinde
in Jerusalem beziehen (1Kor 16,1[15?]; 2Kor 8,4; 9,1.12; Röm 15,25 f.31). Nach 1Kor
1,2; 6,11; Phil 1,1; 4,21 gelten die Glaubenden als »durch Christus Geheiligte«
(ἡγιασμένοι), d. h. sie haben Anteil an der Heiligkeit Christi (vgl. 1Kor 1,30 und
strukturell gleich Röm 11,16).
5.1.3. Auserwählte/Berufene
Die Bezeichnung »Geliebte (Gottes)« schließt nahtlos an die Rede von der Erwäh-
lung/Berufung an. Nach Röm 11,28 sind die Israeliten »Geliebte um der Väter
willen«. Nach Röm 1,7 gilt dies für die christliche Gemeinde, wobei »Geliebte
Gottes« parallel zu »berufene Heilige« erscheint. Nach 1Thess 1,4 gelten die Chris-
ten als »von Gott Geliebte« und nach Röm 9,25 werden die Heiden als vormals
»nicht Geliebte« jetzt zu »Geliebten«, wobei die Bezeichnungen parallel zu »nicht
mein Volk« bzw. »mein Volk« stehen.
Die Vorstellung, dass Menschen Gottes Geliebte sind, lässt sich sowohl im Alten
Testament als auch in der frühjüdischen Literatur vielfältig nachweisen. Entweder
handelt es sich um das Gottesvolk selbst oder besondere Repräsentanten dessel-
ben (zahlreiche Belege bei Kraus 1996, 127, und bei Wischmeyer 1986a).
Die Stellung der Glaubenden als »Kinder Gottes« findet in mehreren Begriffen
Ausdruck: »Söhne« (υἱοί), »Kinder« (τέκνα) und »Sohnschaft« (υἱοθεσία). Die
Mehrzahl der Belege findet sich in den späteren Briefen des Apostels (Phil 2,15;
2Kor 6,18; Gal 3,26; 4,5–7; Röm 8,14–17.19.21.23.29; 9,26). Die große Bedeutung
dieser Prädikate bei Paulus ist im Neuen Testament nur vergleichbar mit der im
johanneischen Schrifttum bzw. mit der im Hebräerbrief.
Nach Gal 3,26 und 4,4 f. ist die Gottessohnschaft für Paulus eine Konsequenz
des In-Christus-Seins und wird durch den Glauben vermittelt. Nach Röm 8,15 f.
spielt die Gabe des Geistes eine tragende Rolle, denn dieser bezeugt dem Geist der
Glaubenden ihren Status als Söhne Gottes und ermöglicht den Anruf Gottes als
»Abba« (Horn 1992). Aus Gal 3,26–28 darf gefolgert werden, dass mit den »Söh-
nen« zugleich die »Töchter« gemeint sind.
Traditionsgeschichtlich ist auch für diese Begrifflichkeit der alttestamentliche
und frühjüdische Hintergrund entscheidend. Neben der Bezeichnung für Engel
und einem – im weiteren Sinn – messianologischen Gebrauch, findet sich »Sohn/
Söhne Gottes« in Anwendung auf Israel als Ausdruck für dessen Erwählung zum
Volk Gottes oder für einzelne Fromme (Belege bei Kraus 1996, 223–225). Bei
»Sohnschaft« (υἱοθεσία) handelt es sich hingegen um einen Begriff, der in der
LXX und in frühjüdischen Schriften so nicht belegt ist. Er stammt wohl aus der
hellenistischen Rechtssprache und drückt die Einsetzung als Sohn aus (Byrne
1973).
Nach Gal 3,16.19 ist Christus allein der Nachkomme Abrahams. Paulus behauptet
dies, indem er das Substantiv »Nachkommenschaft« (σπέρμα), das in Gen 12,7
(13,15; 17,7) zwar eine Vielzahl im Blick hat, aber grammatisch einen Singular dar-
404 C. Werk
stellt, im Sinn einer Vorankündigung auf Christus allein bezieht. Man mag das
heute für einen exegetischen Trick halten, aber es entspricht zeitgenössischer
Schriftexegese. Das Ziel, das Paulus dabei verfolgt, ist, einerseits die an Christus
glaubenden Nichtjuden in die Nachkommenschaft Abrahams zu integrieren, an-
dererseits die »fleischlichen«, nicht an Christus glaubenden Nachkommen Abra-
hams, die Juden, auszuschließen. Nach Gal 3,7 gelten im Kontext des Schriftbe-
weises aus Gen 15,6 und 12,3 die Glaubenden als »Söhne Abrahams«. Die Zugehö-
rigkeit zur Nachkommenschaft Abrahams stellt (nach Gal 3) somit ausschließlich
eine Folge der Zugehörigkeit zu Christus dar und ist zugleich die Voraussetzung,
um des Erbes teilhaftig zu werden. Dass der Gedankengang in diese Richtung
läuft, wird deutlich aus dem Schriftbeweis, den Paulus in Gal 4,21–31 durchführt,
wo er die Glaubenden als »Kinder gemäß der Verheißung« bzw. »Söhne der Frei-
en« (Sarah) bezeichnet, die nicht an Jesus glaubenden Juden aber als »Söhne der
Magd« (Hagar) bzw. als »Kinder gemäß dem Fleisch« apostrophiert, die keinen
Anteil am Erbe haben. Auch dieser Schriftbeweis, der nur aufgrund von Allegore-
se geführt werden konnte, erscheint heute als Trick, muss aber ebenfalls im Kon-
text zeitgenössischer Auslegung verstanden werden. Diese im Galaterbrief zutage
tretende Position hat Paulus aber nach Ansicht vieler Ausleger im Römerbrief
(Kap. 4; 9–11; 15) modifiziert.
In Gal 3,26; Röm 9,7; 11,1; 2Kor 11,22 ist der kollektive, auf die Gemeindeglieder
bezogene Sinn belegt (das gilt auch für Röm 4,13.16.18). Er besagt, dass alle, die an
Christus glauben, ob nun aus den Völkern oder aus Israel kommend, gleichwer-
tigen Zugang zu den göttlichen Verheißungen haben und keine Zusatzbedin-
gungen erfüllen müssen (Beachtung von Speisegeboten etc.).
Im Neuen Testament begegnet die Redeweise von der Nachkommenschaft Ab-
rahams auch außerhalb des paulinischen Schrifttums (vgl. Mt 3,9; Lk 1,55; 13,16;
Joh 8,33.37; Hebr 2,11 u. ö.), hat aber dort nicht das theologische Gewicht wie beim
Apostel. Als traditionsgeschichtlicher Hintergrund bei Paulus ist v. a. an die (mo-
difiziert gedeutete, s. u. »Erben«) biblische Landverheißung zu denken (Gen 12,7;
13,15–18; 15,18 u. ö.), aber auch an den Bund Gottes mit Abraham (Gen 17,9 f.19)
und an die Bezeichnung des Gottesvolkes Israel durch diese Begrifflichkeit (PsSal
9,9; 18,3; TestLev 18,5; 3Makk 6,3 u. ö.). Zwar gibt es im hellenistischen Judentum
Ansätze, Abraham als universalen Vater der Menschheit zu verstehen, doch spre-
chen diese Stellen nirgends von der »Nachkommenschaft Abrahams« und es lässt
sich auch keine Anknüpfung des Paulus an diese Vorstellung nachweisen. Daher
bilden die genannten Belege, in denen die Vorstellung von Israel als Nachkom-
menschaft Abrahams Ausdruck findet, für Paulus den Interpretationsrahmen.
Lässt sich in Gal 3 noch eine Engführung auf den einen Nachkommen Abra-
hams, Christus, feststellen, und ist das Entscheidungskriterium, wer dazu gehört,
allein der Glaube, so hat Paulus in Röm 4 diese Engführung aufgebrochen, sodass
die leibliche Nachkommenschaft Abrahams, die Juden, nicht völlig herausfallen.
Paulus hat diese Sicht in Röm 4 grundgelegt und dann in Röm 9–11; 15,7–13 wei-
tergeführt. Die Interpretation insbesondere der Aussagen in Röm 4,12.14.16 und
III. Theologische Themen 405
des Gedankengangs in Röm 9–11 ist freilich noch immer umstritten (zur Diskus-
sion von Röm 4: Kraus 1996, 276–286; zu Röm 9–11 die Beiträge in Wilk/Wagner
2010). Unter der Bezeichnung Nachkommenschaft Abrahams, die bei Paulus auf
dem Hintergrund der Verheißung in Gen 12,3 (und deren Wiederaufnahmen in
Gen 18,18; 22,18; 26,4; 28,14) verstanden werden muss: »in dir sollen gesegnet wer-
den alle Geschlechter der Erde«, könnten dann fleischliche und geistliche Nach-
kommen Abrahams zusammengefasst werden. Damit wäre die Bezeichnung als
Nachkommenschaft Abrahams im Römerbrief zu einem von der Verheißung her
geprägten Begriff geworden und nicht mehr als Ausschlusskriterium verstanden.
Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die in der LXX gebrauchte Verbform
»es sollen gesegnet werden« (ἐνευλογηθήσονται) sich nur an Stellen findet, die
von Gen 12 abhängig sind und sonst nirgends in der Gräzität.
5.1.7. Erben
Wer Sohn Gottes ist und zur Nachkommenschaft Abrahams gehört, hat konse-
quenterweise Teil am Erbe; Sohnschaft und Erbe gehören unabdingbar zusam-
men (Gal 3,26–29; Röm 8,17; vgl. Apk 21,7). Nach Adrian Schenker (Schenker
1978) gründet diese Vorstellung im israelitischen Familienrecht. War im Alten
Testament die Vorstellung vom Erbe mit dem dauerhaften Besitz des Landes ver-
bunden, so wurde dies bereits im Frühjudentum sachlich und eschatologisch aus-
geweitet und metaphorisiert (Belege bei Kraus 1996, 229 f.; vgl. Ders. 2003, 251–
274) und schließlich bei Paulus mit dem Erben des Gottesreiches (βασιλεία τοῦ
θεοῦ) verbunden (1Kor 6,9 f.; 15,50; Gal 5,21).
Die Begrifflichkeit »Volk Gottes« (λαὸς θεοῦ) als Bezeichnung für die Ekklesia
begegnet – wie bereits erwähnt – explizit nur an zwei Stellen: 2Kor 6,16 und Röm
9,25 f. In beiden Fällen zitiert Paulus aus der Schrift. Die Ansicht, dass es sich bei
2Kor 6,14–7,1 um eine genuin paulinische Passage und nicht um eine nachpauli-
nische Interpolation handelt, findet in jüngeren Arbeiten zunehmend Befürwor-
ter (dazu Kraus 1996, 261 f.268; Wilk 2008a). Der Text wird deshalb hier einbe-
zogen.
2Kor 6,16b lautet: »Denn wir sind der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott
gesagt hat: ›Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott
sein, und sie werden mein Volk sein‹.« Die Aussage des Paulus über die Gemeinde
als ›Tempel Gottes‹ wird hier durch ein Mischzitat aus der Schrift interpretiert
(Lev 26,11 f.; Ez 37,27), welches das Motiv vom Wohnen Gottes in der Mitte seines
Volkes sowie die Bundesformel enthält. Bereits im Alten Testament wird dahinter
die Vorstellung sichtbar, dass Gott seine Herrlichkeit (Schekina) in Jerusalem
wohnen lässt. In exilisch-nachexilischer Zeit wurde dies stärker personalisiert
und auf das Verhältnis Gott-Israel bezogen (Janowski 1987, 189–191). Als weite-
406 C. Werk
ren Hintergrund von 2Kor 6,16 ist auf Sach 2,14 f. LXX zu verweisen. Die Schrift-
zitate wurden von Paulus allerdings nicht unverändert gelassen, sondern so mo-
difiziert, dass sie jetzt seine Aussage über die Gemeinde als Tempel des lebendigen
Gottes stützen (Kraus 1996, 265 f.; Wilk 2008a, 679–684).
In Röm 9,25 f. liegt – nach 2Kor 6,16 – der zweite Beleg vor, in dem Paulus die
an Christus Glaubenden als Volk Gottes (λαὸς θεοῦ) bezeichnet. Wiederum er-
folgt dies im Rahmen von Schriftzitaten (Hos 2,25 [2,23 LXX]; 2,1 LXX), die Pau-
lus jedoch völlig in den Duktus seiner Argumentation eingebaut hat (Koch 1986,
104 f.166–168.173 f.279 f.). Dass darin eine Substitution Israels durch die Kirche aus
Juden und Heiden impliziert sei (so Hübner 1993, 309), ist damit nicht gesagt,
denn der Gedankengang in Röm 9–11 führt schließlich zu einem anderen Ergeb-
nis: die Israeliten bleiben »gemäß der Erwählung Geliebte um der Väter willen,
denn Gottes Gnadengaben und Berufung sind unbereubar« (Röm 11,28b–29).
Die äußerst sparsame Verwendung der Terminologie Volk Gottes bei Paulus
verweist auf einen doppelten Sachverhalt: Zum einen war die Begrifflichkeit für
ihn unablösbar mit Israel als dem ersterwählten Gottesvolk verbunden; dies geht
aus Röm 10,21 (= Jes 65,2); Röm 11,1 f. (= Ps 93,14 LXX); Röm 15,10 (= Dtn 32,43
LXX); 1Kor 10,7 (= Ex 32,6) hervor (Roloff 1993, 119). Zum andern versteht Pau-
lus das Gottesvolk-Sein sowohl Israels als auch der Ekklesia von der Verheißung
an Abraham her, in welche die Völker durch Christus einbezogen sind (Gal 3,26–
29; Röm 9,9; 11,28–32). »Gottesvolk« ist für Paulus ein Verheißungsbegriff (Kraus
1996, 325 f.359). Als Kirche und Israel überwölbende Bezeichnung ließe sich des-
halb »Nachkommenschaft/Söhne Abrahams« nennen.
Aufgrund der dargestellten Sachverhalte wird man sagen können, dass es sich
bei den hier vorgestellten Prädikaten nicht nur um unverbunden nebeneinander-
stehende Bezeichnungen handelt, mit welchen Paulus die Wirklichkeit der Ge-
meinde zu beschreiben versucht, sondern dass wir es vielmehr mit einem durch-
gängigen Thema zu tun haben, das für die paulinische Ekklesiologie einen über-
greifenden Zusammenhang repräsentiert: das Thema »Volk Gottes«, in dessen
Hintergrund das Selbstverständnis Israels als Matrix erkennbar wird. Auch wenn
Paulus die Ekklesia an keiner Stelle, an der er selbst formuliert, explizit als Volk
Gottes (λαὸς [τοῦ] θεοῦ) bezeichnet, sondern dies lediglich durch Zitate aus dem
Alten Testament geschieht, so kann nicht übersehen werden, dass die Prädikate
Auserwählte, Berufene, Heilige, Geheiligte, Geliebte Gottes, Kinder Gottes, Nach-
kommenschaft/Söhne Abrahams, Erben sämtlich diesem thematischen Komplex
zuzurechnen sind.
5.1.9. Gemeinschaft/Brüder
Konstituiert wird die Gemeinde nach Paulus durch ihre Gemeinschaft (κοινωνία)
mit Christus bzw. am Evangelium und im Heiligen Geist (1Kor 1,9; 10,16; 2Kor 8,4;
13,13; Phil 1,5; 2,1 u. ö.). Die Wechselseitigkeit des Verhältnisses spielt dabei die
entscheidende Rolle: »Gemeinschaft (mit jemandem) durch (gemeinsame) Teil-
III. Theologische Themen 407
habe (an etwas).« (Hainz 1981, 751). Durch ihre Gemeinschaft mit Christus oder
am Evangelium oder im Heiligen Geist sind die Gemeindeglieder untereinander
Teilhaber (κοινωνοί) (2Kor 1,7; 8,23; Phlm 17) und »Brüder«. Grund des Bru-
der-Seins ist Christus; er ist »Erstgeborener unter vielen Brüdern« und »Urbild«,
dem die Brüder gleichgestaltet werden (Röm 8,29). Aus Gal 3,28 darf gefolgert
werden, dass auch die Bezeichnung »Brüder« bei Paulus inklusiv zu verstehen ist
und daher auch die »Schwestern« eingeschlossen sind. Denn »in Christus« gilt
nicht mehr »männlich« noch »weiblich«.
Das Syntagma »Gerechtigkeit Gottes« wird von Paulus in den meisten Fällen ge-
braucht, um Gottes Bundestreue bzw. seine Schöpfertreue zu artikulieren. Das
408 C. Werk
bedeutet, dass Gottes eigenes Wesen, das eben von »Gerechtigkeit« durchdrungen
ist, sich schaffend zum Vorteil der Menschen und der Schöpfung durchsetzt (z. B.
Röm 3,26: Gottes Gerechtigkeit erweist sich so, dass er selbst als gerecht erkannt
wird und [hier im Sinn von: indem] den rechtfertigt, der an Jesus glaubt). Hier
koinzidieren Gottes Sein und Gottes Schaffen.
In 2Kor 5,21 wird Gerechtigkeit Gottes als ekklesiologischer Begriff gebraucht.
Dabei handelt es sich sprachlich um eine »Metonymie« bzw. die Sprachfigur ab-
stractum pro concreto. D.h. durch die Begrifflichkeit »Gerechtigkeit Gottes« – auf
die Glaubenden angewendet – kommt zum Ausdruck, dass sie als »von Gott Ge-
rechtfertigte« gelten. »Gerechtfertigt-sein« ist insofern ein Beziehungsbegriff: mit
Gott Gemeinschaft haben. Voraussetzung dafür ist, dass Christus von Gott zur
»Sünde« gemacht wurde. Diese Begrifflichkeit steht im Kontext parallel zu dem
Ausdruck »Neuschöpfung« (2Kor 5,17). »Neuschöpfung« und »Gerechtigkeit
Gottes« als ekklesiologische Begriffe interpretieren sich damit gegenseitig und
zeigen den eschatologischen Horizont auf, in dem Paulus das Handeln Gottes in
Christus ansiedelt.
Baldermann, Ingo/Dassmann, Ernst (Hg.): Volk Gottes, Gemeinde und Gesellschaft (JBTh 7),
Neukirchen-Vluyn 1992.
Klaiber, Walter: Rechtfertigung und Gemeinde (FRLANT 127), Göttingen 1982.
Klauck, Hans-Josef: Volk Gottes und Leib Christi, in: Ders.: Alte Welt und neuer Glaube
(NTOA 29), Göttingen 1994, 277–301.
Kraus, Wolfgang: Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus (WUNT 85),
Tübingen 1996.
Ders.: Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die »Hellenisten«, Paulus und die Aufnahme der
Heiden in das endzeitliche Gottesvolk (SBS 179), Stuttgart 1999.
Roloff, Jürgen: Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993.
Wolfgang Kraus
5.2.1. Ämter
Die paulinische Ekklesiologie ist noch ›unentwickelt‹; sie ist mehr von ekklesialen
Prädikaten (wie Ekklesia, Volk Gottes, Heilige, Erwählte, Brüder/Schwestern) und
Metaphern (Tempel, Kinder Gottes, Leib) geprägt als von bestimmten Funktions-
bezeichnungen oder gar einheitlich geregelten Autoritätsstrukturen. Die Diskus-
sion der paulinischen Aussagen zu den ›Ämtern‹ erfolgte meist unter den Vorzei-
chen der späteren Entwicklung (Eph, Past, Ignatius etc.) bzw. in Eintragung spä-
terer Fragestellungen. So wurde (im amtskirchlichen Argumentationsinteresse)
versucht, die Legitimität der späteren kirchlichen Strukturen dadurch zu stützen,
dass man sie in nuce schon bei Paulus aufzeigen wollte oder den Epheserbrief und
die Pastoralbriefe mit heranzog, während andere (im amtskritischen Interesse)
die in nachpaulinischer Zeit entwickelte Ämterordnung unter Hinweis auf die
ursprüngliche, ganz ›charismatische‹ Gemeindestruktur in den paulinischen
III. Theologische Themen 409
5.2.1.1. Apostel
Zu beginnen ist mit der Wirksamkeit von Aposteln bzw. dem ›Amt‹ des Apostels
(ἀποστολή/Apostolat: Röm 1,5; 1Kor 9,2; Gal 2,8), das Paulus für sich reklamiert,
allerdings neben anderen, die vor ihm Apostel waren (1Kor 15,8 f.). Er betont den
Anspruch, »berufener Apostel« zu sein, in seinen Präskripten (noch nicht in
410 C. Werk
1Thess!) und verteidigt dies in einer breiten Apologie (2Kor 2,14–7,4), doch ge-
schieht dies erst, als sein Evangelium und seine Vollmacht bestritten wurden,
nach der Trennung von der antiochenischen Gemeinde (Gal 2,11–14). Paulus ist
nun nicht mehr ›Gemeindeapostel‹, sondern kann nur noch auf seine besondere
Berufung verweisen (Frey 2005). Der Titel ἀπόστολος (Apostel) ist eine grie-
chische Bildung, evtl. aus dem Kreis der Jerusalemer ›Hellenisten‹; er bezeichnete
dort (und dann auch in Antiochien) frühe missionarische Zeugen des Auferstan-
denen, ggf. auch Gemeindeboten (so dann in 2Kor 8,23; Phil 2,25). Paulus hat den
Terminus wohl zuerst wie die ›Hellenisten‹ und die antiochenische Gemeinde
(vgl. Apg 14,4.14) in einem weiteren Sinn von »missionarischer Zeuge/Sendbote«
verwendet (vgl. noch 2Kor 11,5; 12,11 f.), bevor er ihn dann in Auseinanderset-
zungen stärker mit der von ihm dezidiert reklamierten Osterzeugenschaft ver-
band. Wie 1Thess 2,7 (wo Timotheus und Silvanus mit gemeint sind; vgl. 1Thess
1,1) und 1Kor 15,7 (»alle Apostel« in Unterscheidung von den Zwölf) zeigen, wur-
den anfangs über die Zwölf hinaus weitere Zeugen und Missionare der frühesten
Zeit als »Apostel« bezeichnet. Auch Paulus hat den Kreis der Apostel weiter ge-
fasst und konnte Barnabas, Silvanus und Timotheus (der kein Osterzeuge war!)
sowie nach Röm 16,7 Andronikus und Junia (eine Frau!) so bezeichnen. Hingegen
beschränkt Lukas im Anschluss an eine Jerusalemer Tradition den Titel auf die
Zwölf als Augenzeugen des irdischen Jesus und des Auferstandenen und gesteht
ihn daher selbst Paulus (außer traditionell in Apg 14,4.14) nicht zu.
Eine gemeindeleitende Funktion der Apostel überhaupt oder auch der Zwölf
lässt sich in den paulinischen Texten nicht erkennen. Auch für Jerusalem spricht
Paulus nur von den ›Angesehenen‹ und ›Säulen‹ (Gal 2,9): Jakobus (der nicht als
›Apostel‹ bezeichnet wird), Kephas (= Petrus) und Johannes. Für sich selbst bean-
sprucht Paulus eine besondere apostolische Autorität in den von ihm gegründe-
ten Gemeinden, die er in Anwesenheit direkt und durch Briefe indirekt wahr-
nimmt. Für das von ihm im Konsens mit allen Aposteln verkündigte Evangelium
(vgl. 1Kor 15,11) beansprucht er kriteriale Bedeutung (vgl. 1Kor 3,10; Gal 1,8 f.),
auch gegen andere, die sich zur Legitimation ihrer Botschaft auf Apostel und de-
ren Empfehlung oder auf Jerusalemer Traditionen berufen (Gal; 2Kor 3,1). Von
einer Weitergabe seines Apostolats an andere (d. h. einer Sukzession) ist bei Pau-
lus selbst nirgendwo die Rede. Paulus hat zwar selbst auch als Prophet und Lehrer
gewirkt, aber diese Funktionen nicht von seinem Apostolat abgeleitet.
Die geprägte Trias »Apostel, Propheten und Lehrer« (1Kor 12,28) stammt wohl aus
Antiochien. Aus dieser Gemeinde begegnet in Apg 13,1 eine Liste von fünf führen-
den Personen als προφῆται (Propheten) καὶ διδάσκαλοι (Lehrer). Anders als die
überörtlich missionierenden, Gemeinden gründenden »Apostel« haben die »Pro-
pheten und Lehrer« offenbar örtliche Leitungsfunktionen wahrgenommen. Von
Wanderpropheten, die es sicher gab, spricht Paulus nicht; ihnen kommt keine
III. Theologische Themen 411
feste gemeindliche Funktion zu. In der Gemeinde hatten »Propheten« (vgl. Röm
12,6) die wichtige Aufgabe der vom Geist geleiteten, die Gemeinde aufbauenden
(1Kor 14,5), Herzen ›aufdeckenden‹ und ggf. Umkehr wirkenden (1Kor 14,24 f.)
Verkündigung im Gottesdienst, »Lehrer« hingegen die Vermittlung der Überliefe-
rung (der Schrift wie auch der urchristlichen, jesuanischen Tradition). Denkbar
ist, dass Barnabas und Paulus solche in den von ihnen gegründeten Gemeinden
einsetzten (Koch 2010, 174), sofern sich geeignete Personen fanden; in der etwas
später von Paulus gegründeten Gemeinde in Thessalonich begegnen aber nur
unspezifische Termini (1Thess 5,12).
Wie Religion als Verehrung der Götter in der Antike gemeinschaftlich begangen
wurde, so ist es für Paulus keine Frage, dass der Glaube nicht nur das Leben des
einzelnen Menschen verändert, sondern diesen eingliedert in eine neue Gemein-
schaft, die ἐκκλησία, womit Paulus die Ortsgemeinde meint. Mit der Gemein-
III. Theologische Themen 413
schaft der an Christus Glaubenden aus Juden und Nichtjuden entsteht jedoch
eine neue soziale Größe ohne unmittelbare Vorbilder. Vor allem die soziale Inho-
mogenität der Gemeinden, in denen sich Männer und Frauen, Sklavinnen und
Freie, Jüdinnen und Nichtjuden treffen, unterscheidet diese von der ἐκκλησία der
Polis, der Versammlung der freien Männer, und von den damals beliebten Verei-
nen (Meeks 1993, 158–180; Ebel 2004).
Wenn die Worte fehlen, weil Neues beginnt, sind Metaphern Mittel der Ver-
ständigung. Bildspender aus der Erfahrungswelt (Leib, Bauen etc.) werden über-
tragen auf die Gemeinde als Bildempfänger. Paulus verwendet unterschiedliche
Bildspender, weil er kein festes Konzept der Gemeinschaft hat noch eine »Ekkle-
siologie« über die Heilsbedeutsamkeit der Kirche entwirft (dazu Roloff 1993,
87 f.). Vielmehr argumentiert er situationsbezogen mit Metaphern im Interesse
einer ganz bestimmten Pragmatik, etwa um die Heiligkeit der Gemeinde (»unge-
säuerter Teig«) oder ihre innere Zusammengehörigkeit (mittels der Leibmeta-
phorik) herauszustellen.
Die meisten Metaphern begegnen in der korinthischen Korrespondenz, denn
hier ist es Paulus besonders darum zu tun, die Glaubenden zu einer Gemeinschaft
unter seiner Leitung zusammenzuführen. Neben den im Folgenden genauer an-
gesprochenen Metaphern gibt es weitere: Die Gemeinde ist Pflanzung Gottes, von
Paulus gesät, von Apollos getränkt (1Kor 3,6–9a). In 2Kor 3,1–3 wird die korinthi-
sche Gemeinde als Empfehlungsbrief metaphorisiert, der in das Herz des Paulus
eingeschrieben ist: Mit diesem Brief kann er sich aller Welt empfehlen. In 2Kor
11,2–4 stellt Paulus die Gemeinde als »reine Braut« dar, um seine Befürchtung zu
beschreiben, dass er seinen Einfluss in der Gemeinde verliert: Er habe die Ge-
meinde Christus verlobt, aber sie gehe auf Avancen anderer ein (hier in Anspie-
lung auf die Paradieserzählung als Verführung der Eva beschrieben). In militä-
rischer Metaphorik fordert er hingegen die Gemeinde in Philippi auf, als Kampf-
gemeinschaft gemeinsam die Frontlinie zu halten (Phil 1,27–30).
Signifikant ist, dass Paulus anders als die Paulusschule die Haus-Metaphorik
nicht verwendet. Diese macht den patriarchal strukturierten Haushalt (οἶκος)
zum Bild der Gemeinde, sodass implizit auch die hierarchische Struktur der Ge-
meinde etabliert wird (1Tim 3,1–5.12.15 f.; Wagener 1994). In den von Paulus
selbst geprägten Metaphern sind die Gemeindeglieder gleichgestellt. Nur sich
selbst schreibt er übergeordnete Funktionen zu (als Vater, Mutter, Baumeister,
Brautwerber etc.; C.III.5.2.3.).
5.2.2.1. Die Metapher vom Leib und den Gliedern: 1Kor 12,12–31; Röm 12,4 f.
σῶμα) und den vielen Gliedern (πολλὰ μέλη – der Begriff μέλος umfasst im Grie-
chischen auch innere Organe und Augen etc.). Die Rede vom »Leib Christi«
(σῶμα τοῦ Χριστοῦ) kommt wohl aus dem Abendmahlskontext (1Kor 10,16 f.).
Das Organismusbild als solches ist aber aus der politischen Sprache der grie-
chisch-römischen Literatur vertraut (Walter 2001, 70–98). Denn das Bild des
Leibes verdeutlicht die Einheit der sozialen Gemeinschaft, ein hohes Ideal in jener
Zeit. Während in diesen politischen Organismusmetaphern häufig ein Glied,
etwa das Haupt oder der Magen, eine Führungsperson darstellt, das Bild also eine
Hierarchie legitimiert, adaptiert Paulus die Metapher egalitär, sind doch die
Glieder von gleichem Wert (vgl. bes. 12,21).
In Röm 12,4 f. liegt uns gewissermaßen eine pointierte Kurzfassung vor, denn
Paulus schreibt der Gemeinde in Rom, die ihm nicht persönlich bekannt ist, von
aktuellen Anlässen abstrahiert: Ein Leib besteht aus vielen Gliedern und stellt
doch insgesamt einen Leib dar. In 1Kor 12 wird deutlicher, dass das Bild wie eine
Ellipse »zwei Pole« hat (Walter 2001, 131): Einerseits geht es darum, den christo-
logisch begründeten Einheitsgedanken zu unterstreichen, nämlich dass die unter-
schiedlichen Glieder alle zusammen den einen Leib bilden (1Kor 12,19–26). An-
ders als in späteren Adaptionen in Kol 1,18; Eph 1,22 f.; 5,23, nach welchen Christus
als Haupt die Kirche als seinen Leib regiert, bildet nach 1Kor 12 die Gemeinde
insgesamt den Christusleib (12,27). Andererseits geht es darum, dass alle Glieder
nicht nur trotz, sondern gerade wegen ihrer Unterschiedenheit gleich wichtig
sind (vgl. 1Kor 12,14–18).
In Weiterführung der Baumetapher stellt 1Kor 3,16 f. die Gemeinde als Tempel
Gottes (ναὸς θεοῦ) dar, als Ort der Anwesenheit des Geistes Gottes. So warnt
III. Theologische Themen 415
Paulus davor, die Gemeinde zu schädigen: Wer als »Tempelschänder« die Ge-
meinde angreift, muss dessen gewahr sein, dass Gott selbst diesen strafen wird.
Die Metapher beschreibt also die Heiligkeit der Gemeinde und deren Schutz
durch Gott. Es geht nicht darum, dass die Gemeinde den vorgeblich überholten
Tempelkult in Jerusalem substituiere (Böttrich 1999).
Mit dem Bild von der Gemeinde als ungesäuertem Teig (νέον φύραμα, ἄζυμοι), in
dem kein bisschen Sauerteigs geduldet werden darf, weil »ein wenig Sauerteig den
ganzen Teig durchsäuert« (5,6), verdeutlicht Paulus seine Forderung, dass die Ge-
meinde nicht ein einziges Glied dulden darf, das den ethischen Anforderungen
nicht entspricht. Paulus spielt auf die Pessachfeier und konkret auf die Forderung
an, allen gesäuerten Teig vor dem Pessachfest zu entfernen (Ex 12,15.19; 13,7). Sau-
erteig wird assoziiert mit Schlechtigkeit und Unzucht, ungesäuerter Teig mit Lau-
terkeit und Wahrhaftigkeit (5,8). Jesus selbst wirkt wie das geschlachtete Pessach-
tier den Schutz der Gemeinde. Die zugrunde liegende Auffassung ist also die, dass
die Gemeinde als Ganze heilig ist und ihre Reinheit bewahren muss, indem sie
sich nicht »vermengt« mit Unzucht, Götzendienst und sonstigem Fehlverhalten
der Umwelt. So begründet Paulus seine Forderung an die Gemeinde in Korinth,
den »Unzuchtssünder« wie Sauerteig aus der Gemeinde auszuschließen, damit er
die Gemeinde nicht »ansteckt« (vgl. 1Kor 5,1–5). Die Außenwelt der Gemeinde
wird in Analogie zur Rede von den Heiligen ( C.III.5.1.) als gottfern und böse
charakterisiert.
Die Metaphern haben stets eine aktuelle Pragmatik und ergeben kein kohären-
tes Bild. Mehrere der Metaphern beschreiben die Rolle des Paulus in der von ihm
gegründeten Gemeinde, weil er mit ihr verbunden ist ( C.III.5.2.3.). Wie im Bild
der Gemeinde als »Leib Christi« ist in fast allen Metaphern aber auch Jesus Chris
tus eingezeichnet, indem er im Bildspender sichtbar wird (als Fundament 1Kor
3,11; Pessachtier 1Kor 5,7; Bräutigam 2Kor 11,2; »Brief Christi« 2Kor 3,3). Die Ge-
meinde erscheint als heilige, von der Umwelt geschiedene Gemeinschaft, die auf
Christus gegründet ist.
Gerber, Christine: Paulus und seine ›Kinder‹. Studien zur Beziehungsmetaphorik in den pau-
linischen Briefen (BZNW 136), Berlin/New York 2005.
Kitzberger, Ingrid: Bau der Gemeinde. Das paulinische Wortfeld οἰκοδομή/ἐποικοδομεῖν (fzb
53), Würzburg 1986.
Walter, Matthias: Gemeinde als Leib Christi. Untersuchungen zum Corpus Paulinum und zu
den »Apostolischen Vätern« (NTOA 49), Freiburg (CH)/Göttingen 2001.
Christine Gerber
416 C. Werk
Diese Darstellung geht davon aus, dass die Beziehung des Paulus zu den von ihm
gegründeten Gemeinden sich nicht aus dem Apostolat selbst ableiten lässt (ge-
nauer Gerber 2005; anders z. B. Vorholt 2008, der synthetisch eine »Apostolats-
theologie« entwirft und die ganze Wirksamkeit des Paulus unter den Apostolat
subsumiert). Denn der Begriff »Apostel«, d. h. »Abgesandter«, also »Missionar«,
spielt zwar für die Selbstlegitimation des Paulus als reisender Verkündiger des
Evangeliums unter Nichtjuden eine große Rolle (Gal 1 f.), impliziert jedoch keine
Autoritätsfunktion gegenüber bestehenden Gemeinden. Der Begriff fällt nur im
1. Korintherbrief häufiger, v. a. im Kontext des Apostelrechts. Erst in der Paulus-
schule wird Paulus zu dem Apostel schlechthin und Apostel das Signum des Pau-
lus (Roloff 1993, 224 f. zu Kol; 1Tim 2,7). Der Wunsch des Paulus, nach einer
Gemeindegründung die Beziehung zu den Gemeinden zu pflegen, motiviert wei-
tere Besuche und die Briefe (abgesehen vom Römerbrief sind unsere Primärquel-
len über Paulus Briefe an von ihm gegründete Gemeinden). Doch den Anspruch,
auch nach Gemeindegründung und Abreise als religiöse Autorität anerkannt zu
werden, muss Paulus, wie die Briefe spiegeln, eigens begründen. Gerade die ko-
rinthische Korrespondenz zeigt, dass die Gemeinde Paulus, der im persönlichen
Auftreten nicht unumstritten war (2Kor 10,10), nicht einfach als hervorgehobene
Autorität akzeptiert. Da soziale Vorbilder für die Rolle des Gemeindegründers
fehlen, greift Paulus, um seinen Anspruch zu begründen, zu diversen Metaphern,
welche seine Autorität legitimieren sollen, stellt sich als Vorbild dar und unter-
streicht seinen Einsatz für die Gemeinden.
Der Apostolat des Paulus ist begründet in seiner besonderen Berufung, und
auch die Rolle, die er in den Gemeinden beansprucht, hängt an seiner Person. Ein
allgemeines »Amtsverständnis« ist daraus nicht abzuleiten (anders Vorholt
2008, 412–414).
Schon der Widerspruch zwischen der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen
in der Verwendung des Apostelbegriffs zeigt, dass dieser in der ältesten Christen-
heit noch nicht klar definiert ist. Während Paulus für den Verfasser des luka-
nischen Doppelwerkes kein Apostel ist, sondern nur Auferstehungszeugen, die
Jesus schon zu Lebzeiten nachfolgten (Apg 1,21 f.), beansprucht Paulus in seinen
Briefen, Apostel zu sein. Da das Lexem ἀπόστολος zunächst unspezifisch ist – es
bezeichnet z. B. die Flottenexpedition –, eignet es sich offenbar, zur Bezeichnung
der neuen Missionarsrolle zu werden (Lohmeyer 1994). Paulus äußert sich nicht
grundsätzlich über den Apostolat als Amt. Er führt den Begriff meist in Bezug auf
seine Person an, zur Selbstvorstellung in Präskripten (Röm 1,1; 1Kor 1,1; 2Kor 1,1;
Gal 1,1) und zur Legitimation seiner Völkermission sowie im Zusammenhang des
Rechts auf Unterhalt, das offenbar fest mit dem Begriff Apostel verbunden war
(1Thess 2,7; 1Kor 9,1 f.). Gelegentlich spricht er aber auch von Gemeindegesand-
ten als Aposteln (2Kor 8,23; Phil 2,25).
III. Theologische Themen 417
Grundlegend für seinen Apostolat ist die Vision des Auferstandenen (1Kor 9,1).
Darum stellt sich Paulus vor als »berufener Apostel Jesu Christi durch den Willen
Gottes« (1Kor 1,1). Paulus kennt andere, die Apostel vor ihm waren (Gal 1,17). Der
Kreis der Apostel und Apostelinnen (Röm 16,7; Brooten 1986) ist auch für Pau-
lus begrenzt, wiewohl nicht auf die Zwölf, und Paulus ist der Letzte ihrer (1Kor
15,9 f.). Auch die sog. »Superapostel«, gegen die Paulus in 2Kor 10–13 polemisiert
(11,5; 12,11), können offenbar einen Apostolat beanspruchen, auch wenn Paulus
das in einer Invektive als Täuschung darstellt (11,13 f.).
Apostel werden in Funktionslisten an erster Stelle genannt, sind sie doch die
ersten, die an einem Ort das Evangelium verkündigen (1Kor 12,28; vgl. Eph 4,11).
Aber die Rolle des Apostels ist offenbar ohne soziale Vorbilder. Dass ihr, wie die
ältere Forschung meinte, ein »semitisches Botenrecht« zugrunde liegt, wonach
der Apostel als Bote den Auftraggeber vertritt, der Apostel also Repräsentant
Christi ist, ist zweifelhaft (Vorholt 2008, 59; Gerber 2005, 119–121). In Gal 1,15 f.
stilisiert Paulus seine Berufung wie die der Propheten, doch das gilt zunächst für
ihn persönlich und seine besondere Berufung. Und von der Verkündigungstätig-
keit spricht Paulus nicht im Zusammenhang seines Apostolats, sondern als
διακονία (Dienst) (2Kor 3; 5).
Fast stereotyp betont Paulus, dass er seinen Apostolat der besonderen Gnade
(χάρις) Gottes verdankt (1Kor 3,10; 15,10; Gal 2,9; Röm 15,15). Er spielt darauf an,
dass Gott gerade den Verfolger der Gemeinde »begnadete« – und damit einzigar-
tig zur Verkündigung des Evangeliums befähigte (vgl. 2Kor 4,6; 5,18; s. auch 1Tim
1,15 f.).
Sich selbst sieht Paulus, zumindest im Rückblick von Gal 1,15 f., durch die Auf-
erstehungsvision sogleich beauftragt zur Verkündigung des Evangeliums unter
den nicht-jüdischen Menschen. Dass er hierin seinen besonderen Apostolat sieht,
machen Aussagen im Römerbrief deutlich, in denen Paulus sein Selbstverständ-
nis charakterisiert, v. a. um seine Theologie vom Evangelium für Juden und
Nichtjuden (Gal 1,16 f.), aber auch seinen Plan einer Spanienmission zu begrün-
den. In Gal 1,5 schreibt Paulus seinen Völkerapostolat gewissermaßen in das
Heilsgeschehen ein. Und in Röm 15,14–29 zeichnet er sich in kultischer Metapho-
rik als Priester Jesu Christi, der »die Darbringung der Völker« als Gott ange-
nehmes Opfer zur Aufgabe hat (Röm 15,16; Horn 2009a). Die Mission unter den
Völkern ist sein Auftrag, und zwar gerade dort, wo das Evangelium noch nicht
verkündigt wurde, wie er mit Jes 52,15 begründet (Röm 15,20 f.).
Die Beziehung des Paulus zu den von ihm gegründeten Gemeinden ist vielfach
Thema der Briefe und daher hier nur an Beispielen zu skizzieren. Bedeutsam ist
die Apologie der paulinischen Verkündigungstätigkeit (διακονία) in 2Kor 2–7.
Die jüngere Exegese hat gezeigt, dass Paulus hier mit der 1. Person Pl. (»wir«) von
sich selbst spricht, also sich verteidigend darstellt als einzigartigen Übermittler
des Heilsangebots für die Gemeinde in Korinth (Schröter 1993). Weniger strikt,
aber in ähnlicher Tendenz stellt Paulus auch in den anderen Briefen dar, dass er
selbst für die von ihm gegründeten Gemeinden von einzigartiger Bedeutung ist.
418 C. Werk
Frey, Jörg: Paulus und die Apostel. Zur Entwicklung des paulinischen Apostelbegriffs und zum
Verhältnis des Heidenapostels zu seinen »Kollegen«, in: Becker, Eve-Marie/Pilhofer, Peter
(Hg.): Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 192–227.
Gerber, Christine: Paulus und seine ›Kinder‹. Studien zur Beziehungsmetaphorik in den pau-
linischen Briefen (BZNW 136), Berlin/New York 2005.
Schröter, Jens: Der versöhnte Versöhner. Paulus als unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang
zwischen Gott und Gemeinde nach 2 Kor 2,14–7,4 (TANZ 10), Tübingen 1993.
Vorholt, Robert: Der Dienst der Versöhnung. Studien zur Apostolatstheologie des Paulus
(WMANT 118), Neukirchen-Vluyn 2008.
Christine Gerber
5.3.1. Charismen
Von einem Charisma (Singular: Röm 1,11; 5,15 f.; 6,23; 1Kor 1,7; 7,7; 2Kor 1,11) oder
von Charismen (Plural: Röm 1,29; 12,6; 1Kor 12,4.9.28.30 f.) spricht Paulus gele-
gentlich in unterschiedlichen Kontexten im 1. Korinther- und im Römerbrief,
recht konzentriert allerdings von χαρίσματα (Charismen) als Wechselbegriff zu
πνευματικά (Geistesgaben) in Röm 12,6 und 1Kor 12,4.9.28.30 f.; in Röm 1,11
spricht Paulus gar von geistlicher Gabe. Als Übersetzung empfiehlt sich für
χάρισμα (Charisma) Gabe oder Geschenk, der Plural χαρίσματα kann spezifischer
im Sinn von Begabungen aufgefasst werden. Erstmals in 1Kor 12,4–11, sodann in
1Kor 12,28–30 und schließlich in Röm 12,6–8 bündelt Paulus Begabungen inner-
halb der Gemeinde unter diesen Begriff oder verbindet Einzelbegabungen mit
ihm. Dies legt nahe, dass die spezifische Gemeindesituation in Korinth zur Aus-
bildung der Charismenlehre geführt hat. Der pneumatische Enthusiasmus, der
nicht ohne einen wesentlichen Einfluss durch Paulus während seines Gründungs
aufenthalts in Korinth zu denken ist, wird mittels der Charismenlehre in mehr-
facher Hinsicht eingeordnet: a) Nicht nur der exzeptionell Geistbegabte ist Cha-
rismatiker, sondern jeder Christ hat ein Charisma von Gott empfangen (1Kor
7,7). b) Die offensichtlichen Begabungen verdanken sich einer Zuteilung Gottes
(1Kor 1,7) oder des Geistes (1Kor 12,4.11). c) Die Begabungen stehen in ihrer Viel-
zahl und Vielgestaltigkeit einer Hierarchisierung entgegen. d) Allein die Liebe gilt
als die ›höchste Begabung‹ und wird den Charismen übergeordnet (1Kor 12,31;
14,1; auch der Übergang von Röm 12,6–8 zu Röm 12,9). e) Die Charismen werden
als Setzungen oder Einrichtungen Gottes im Raum der Kirche nach der Maßgabe
des Zuträglichen (1Kor 12,7) verstanden (1Kor 12,28). f) Die Charismen werden
daher auch mit der auf die Kirche bezogenen Metapher vom Leib und den Glie-
dern verbunden (Röm 12,4 f.; 1Kor 12,12–17). Sie dienen der Erbauung der Ge-
meinde. g) Die Charismen sind nicht in einem Gegensatz von Geist und Amt zu
interpretieren, da in allen drei Texten gemeindeleitende Ämter oder Funktionen
als Charismen und nicht ihnen gegenüberstehend begriffen werden.
III. Theologische Themen 421
Nachdem Paulus in 1Kor 12,4–6 einleitend von Charismen, Diensten und Betä-
tigungen gesprochen und sie abwechslungshalber auf denselben Geist, denselben
Herrn und denselben Gott zurückgeführt hat, nennt er im engeren Sinn folgende
Charismen: a) intellektuelle Begabungen: Wort der Weisheit, Wort der Erkennt-
nis; b) Wundertaten: Vertrauen (›Berge versetzender Glaube‹), Gaben der Hei-
lungen, Betätigungen von Machterweisen; c) Sprachkompetenz: Prophetie, Beur-
teilungen der Geistesäußerungen, Arten von Sprachen (Glossolalie), Übersetzung
der Sprachen. In Röm 12,4–6 sind ohne klare Gliederung hintereinander aufge-
führt: Prophetie, Dienst (Diakonie), Lehre, Ermahnung, Verteilung von Gaben,
Vorstehen, Barmherzigkeit.
In 1Kor 12,28–30 setzt die Reihe mit einer Aufzählung kirchlicher Ämter ein, die
in ihrer sich bereits abzeichnenden Institutionalität nicht im Gegensatz zum
Geist stehen: Apostel, Propheten, Lehrer. Es schließt sich nahtlos eine Aufzählung
von Begabungen an, die teilweise bereits aus 1Kor 12,4–6 bekannt sind: Gaben der
Heilungen, Hilfeleistungen, Leitungstätigkeiten, Arten von Sprachen. In den bei-
den Charismenkatalogen des 1. Korintherbriefs ist das enthusiastisch-ekstatische
Charisma der Glossolalie jeweils als Letztes der Charismen genannt. Dies impli-
ziert sicher auch eine leichte Abwertung, ohne allerdings den Charakter als Cha-
risma grundsätzlich infrage zu stellen.
Die Charismenkataloge sind von Paulus frei auf die Briefsituation hin entwor-
fen worden und folgen nicht einem vorgegebenen Muster. Sie streben in keiner
Weise Vollständigkeit an, sondern bringen die vom Geist gewirkten und wahrge-
nommenen Lebensäußerungen der Gemeinden zum Ausdruck. In allen drei Ka-
talogen begegnet die Prophetie, deren Vorrang gegenüber der Glossolalie unver-
kennbar ist. Diese wiederum, verstanden als Fähigkeit, in der dem natürlichen
Menschen unverständlichen himmlischen Sprache, der Sprache der Engel zu
sprechen (1Kor 13,1), wird stets mit dem Charisma der Übersetzung der Glossola-
lie verbunden und auch nur so im Gottesdienst zugelassen (vgl. auch 1Kor 14,26–
33). Der Katalog in Röm 12,4–6 gibt den kirchenleitenden Begabungen einen Vor-
rang, ohne dies mit Ämtern zu verbinden. Die Kataloge im 1. Korintherbrief hin-
gegen nehmen daneben auch die Wunder wirkenden und enthusiastischen
Begabungen auf. Allein die Heilungsgabe wird von allen Charismen in 1Kor 12,9
und 12,28.30 explizit nochmals mit dem Begriff Charisma verbunden, aber von
den Betätigungen der Machterweise (1Kor 12,9) unterschieden. Letztere sind wohl
auf Dämonenaustreibungen zu beziehen. Welche Gestalt solche Krankenhei-
lungs- und Exorzismuspraxis in Korinth hatte und in welchem Verhältnis sie zur
profanen Heilkunst am Asklepion in Korinth stand, wird aus den Texten nicht
erkennbar. Die Heilkunst ist für Paulus aber selbstverständlicher Ausdruck der
Lebenswirklichkeit der Gemeinde.
Horn, Friedrich Wilhelm: Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie
(FRLANT 154), Göttingen 1992.
Kollmann, Bernd: Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und
Schamanismus in Antike und Christentum (FRLANT 170), Göttingen 1996.
422 C. Werk
Schulz, Siegfried: Die Charismenlehre des Paulus. Bilanz und Ergebnisse, in: Friedrich, Jo-
hannes/Pöhlmann, Wolfgang/Stuhlmacher, Peter (Hg.): Rechtfertigung, Tübingen 1976,
443–460.
Zeller, Dieter: Charis bei Philon und Paulus (SBS 142), Stuttgart 1990.
Ders.: Der erste Brief an die Korinther (KEK V), Göttingen 2010.
Friedrich W. Horn
Paulus zählt zusammen mit Johannes und Lukas zu den grossen Theologen des
Heiligen Geistes (πνεῦμα) im Neuen Testament. Zugleich dokumentieren seine
Briefe die Geisterfahrungen des Urchristentums in beachtlicher Bandbreite.
Beides, Spiritualität wie Reflexion, steht in intensiver Wechselwirkung und wird
im Folgenden umrisshaft dargestellt.
Geisterfahrung und Geisttheologie des Paulus und seiner Gemeinden wie über-
haupt des Urchristentums sind v. a. von der vielfältigen Spiritualität des Frühju-
dentums bestimmt. Der Geist spielt in kosmologischen, anthropologischen, ›mys-
tischen‹ und eschatologischen Zusammenhängen eine Schlüsselrolle; ebenso be-
deutsam sind die Wechselwirkungen zwischen Geisttheologie und Ethik (Rabens
2010) sowie bestimmte hermeneutische Modelle (Inspiration; Prophetie). Neben
den Strömungen im griechischen Diasporajudentum sind v. a. die Qumrantexte
von Gewicht. Für die religionsgeschichtliche Verortung des paulinischen Gegen-
satzes zwischen Geist und Fleisch (πνεῦμα und σάρξ) als zweier Machtsphären,
die die Identität samt dem Verhalten von Gruppen und Einzelnen konstituieren,
darf man Philos Schriften (samt De Sampsone) und (vor-)essenische Texte (be-
sonders 1/4QInstr [Frey 1999]) nicht gegeneinander ausspielen. Schwieriger zu
beurteilen ist der Stellenwert des Einflusses von hellenistischen Vorstellungen –
vielfach jüdisch vermittelt –, etwa von Inspirationsmodellen oder von Bausteinen
stoischer Kosmologie. Sicher in Anschlag zu bringen ist dieser kulturelle Kontext
für die heidenchristlichen Rezipienten der Verkündigung, etwa in Korinth. Um-
stritten ist die Frage, inwieweit die – gerade auch im frühchristlichen Verständnis
– mit dem Pneuma gern assoziierte subtile Stofflichkeit neben Altem Testament
und Judentum auch auf die philosophische Physik (Engberg-Pedersen 2010)
zurückgeht.
5.3.2.3. Eschatologie
5.3.2.4. Kosmologie
Da Paulus den Geist mit der im Anbruch befindlichen Endzeit korreliert, steht
der Schöpfergeist (Gen 1,2; SapSal 7,22) nicht in seinem theologischen Fokus. Sei-
ne »Weisheitsrede« an die Vollkommenen (1Kor 2,6–16) zeigt aber, dass er den
Geist in der göttlichen, oberen Sphäre verortet. Wenn er den Geist zum privile-
gierten Medium der Gotteserkenntnis macht, misst er ihm einen bedeutsamen
erkenntnistheoretischen Status zu (V. 11–16).
424 C. Werk
5.3.2.5. Anthropologie
Während der 1. Thessalonicherbrief vom Geist als einer göttlichen Gabe spricht,
die in die Obhut der Glaubenden gelegt ist (4,8; 5,19.23), orten der Galater- und
der Römerbrief diesen im Spannungsfeld von umfassenden Machtsphären (v. a.
Gal 5,16–6,10; Röm 8,4–14): In Fleisch und Geist haben die Glaubenden an den
beiden miteinander kollidierenden Weltzeiten teil. Gestellt in die ›Gleichzeitigkeit
des Ungleichzeitigen‹ werden sie aufgerufen, immer neu von der alten Welt zur
neuen Welt hinüberzugehen. Unabhängig von dieser Antithese schreibt Paulus
den (christusgläubigen) Menschen ein Pneuma als Personzentrum zu (z. B. 1Kor
2,11; 7,34; 16,18; 2Kor 2,13), dessen Status nicht scharf vom geschenkten Pneuma,
das im Leib Wohnung nimmt (Röm 8,9–11; 1Kor 6,19), zu scheiden ist – zumal
dieses seinerseits gelegentlich als individuiertes Derivat des Gottesgeistes er-
scheint (vgl. 1Kor 7,40; 14,14 f.32). Das anthropologische Pneuma, in 1Thess 5,23
sogar in trichotomischem Gefüge, nimmt den Ort ein, den im antiken Menschen-
verständnis weitherum der νοῦς (Verstand) bzw. die ψυχή (Seele) innehat. Die
schöpfungsmäßige Ausstattung des Menschen mit göttlichem Geist auf der Linie
von Gen 2,7 (»Lebenshauch«; vgl. SapSal 15,11) hat Paulus demgegenüber nicht im
Blick – zumindest nicht in 1Kor 15,42–49 –, da er das Pneuma exklusiv Christus
und den Seinen zuschreibt.
5.3.2.6. Christologie
5.3.2.7. Ekklesiologie
Da der Geist in der Gemeinde als Ganzer wohnt (1Kor 3,16; 2Kor 6,16; 2Tim 1,14),
bestimmt er Ritus wie Ethos, Struktur wie Recht. Er wirkt insbesondere die
Selbstorganisation der Gemeinde zum einheitlichen, aber ausdifferenzierten Leib
Christi, repräsentiert in der Vielfalt der als Charismen pointierten Geistesgaben
(1Kor 12; Röm 12,3–8). 1Kor 12–14 benennen als Kriterien des Geistes das Christus-
bekenntnis (12,3), den Gemeindeaufbau (οἰκοδομή) und die Liebe. Der Geist
III. Theologische Themen 425
5.3.2.8. Ethik
Die Sentenz von Gal 5,25 (»Wenn wir im Geist leben, wollen wir uns auch am
Geist ausrichten«) illustriert die doppelte Funktion des Geistes in der pauli-
nischen Ethik. Einerseits setzt er die Norm des neuen Lebens, andrerseits ist er die
Kraft zum neuen Wandel, deren genauer Status allerdings strittig ist (lässt sich das
erwünschte Verhalten als geistgewirkte Resonanz auf Christus angemessen ver-
stehen [Gal 5,18; Röm 8,14]?). Die Liebe gilt als »erste Frucht« des Geistes (Gal
5,22; vgl. Röm 5,5; 1Kor 13 im Kontext von 12–14), die die Tora summiert und er-
füllt (Gal 5,14; Röm 13,8–10). Der Geist ist die Quelle von gemeinschaftsbezo-
genen Tugenden wie Liebe, Milde, Demut, Friede und Langmut (1Kor 4,21; Gal
5,22; 6,1; 2Kor 6,6).
5.3.2.9. Hermeneutik
Schließlich spielt der Geist eine entscheidende Rolle in der Schriftauslegung. Ex-
emplarisch dafür steht der midraschartige Abschnitt von 2Kor 3,6–18: Unter dem
Leitmotiv von tötendem Buchstaben und lebendig machendem Geist (V. 6; vgl.
Röm 2,29; 7,6) bietet die Gegenüberstellung von mosaischem und apostolischem
Amt eine pneumatische Relektüre von Ex 34, die die Tora zum Zeugen des Evan-
geliums macht.
Engberg-Pedersen, Troels: Cosmology and Self in the Apostle Paul. The Material Spirit, Ox-
ford 2010.
Erlemann, Kurt: Unfassbar? Der Heilige Geist im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 2010.
Frey, Jörg: Die paulinische Antithese von Fleisch und Geist und die palästinisch-jüdische Weis-
heitstradition, ZNW 90, 1999, 45–77.
Frey, Jörg/Sattler, Dorothea (Hg.): Heiliger Geist (JBTh 24), 2011.
Horn, Friedrich Wilhelm: Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie
(FRLANT 154), Göttingen 1992.
Levison, John R.: Filled with the Spirit, Grand Rapids 2009.
Rabens, Volker: The Holy Spirit and Ethics in Paul. Transformation and Empowering for Reli-
gious-Ethical Life (WUNT II 283), Tübingen 2010.
Samuel Vollenweider
5.4. Abendmahl
einen dann enthalten werden, wenn es die Rücksicht auf die »Schwachen« in der
Gemeinde gebietet, die diese Erkenntnis nicht haben. Zum anderen verbietet es
die in jedem kultischen Mahl vollzogene Verbindung mit der verehrten Gottheit
– im christlichen Mahl mit Jesus Christus –, dass Mitglieder der christlichen Ge-
meinde an heidnischen Gottheiten gewidmeten Mählern teilnehmen.
Den Ausführungen ist indirekt zu entnehmen, dass Mitglieder der korinthi-
schen Gemeinde die Feier des christlichen Mahles nicht exklusiv aufgefasst, son-
dern weiterhin an anderen Kultmählern teilgenommen haben. Es handelt sich
also um ehemalige Heiden, die ihre frühere Praxis auch als Mitglieder der christ-
lichen Gemeinde fortsetzten. Dass Paulus zufolge die Zugehörigkeit zu Jesus
Christus dagegen die Teilnahme an heidnischen Kultmählern kategorisch aus-
schließt, führt er in 10,1–13 zunächst am Beispiel Israels aus. Die Analogie zur
christlichen Gemeinde wird dadurch hergestellt, dass Paulus von »unseren Vä-
tern« sagt, dass sie »auf Mose getauft« waren (10,2) und »geistliche Speise aßen«
und »geistlichen Trank tranken« (10,3 f.). Bereits das Volk Israel lebte demnach in
der durch Christus bestimmten, geistgewirkten Wirklichkeit, weshalb Paulus so-
gar formulieren kann, dass der wasserspendende Felsen in der Wüste »Christus
war«.
Stellt Paulus somit durch deutliche Anklänge an urchristliche Tauf- und
Abendmahlssprache eine Verbindung zwischen der Geschichte Israels und der
christlichen Gemeinde her, so lassen sich auch aus dem negativen Verhalten der
Israeliten und den Konsequenzen daraus Schlussfolgerungen ziehen. Indem sie
ihrer von Gott und Christus her bestimmten Wirklichkeit nicht gerecht geworden
sind, sondern zu Götzendienern wurden und dafür von Gott ihre Strafe erhielten,
sind sie zu warnenden Vorbildern (τύποι) für die christliche Gemeinde geworden
(10,6). Weil Christus bereits in der Geschichte Israels präsent war, ist diese Ge-
schichte auch für die zu Gott und Christus bekehrten Heiden offen und bildet
den maßgeblichen Deutungshorizont für die Gestalt und das Verhalten christ-
licher Gemeinde.
Der unmittelbar auf das Mahl bezogene Abschnitt setzt in 10,14 mit der Auffor-
derung ein, vor dem Götzendienst zu fliehen (φεύγετε ἀπὸ τῆς εἰδωλολατρίας).
Damit geht Paulus vom Beispiel Israels direkt zur Wirklichkeit der Gemeinde
über und stellt deren Mahl in den Horizont der Warnung vor Götzendienst.
Zur Begründung greift er in 10,16 auf eine ihm bereits vorliegende urchristliche
Mahlüberlieferung zurück, in deren Zentrum die Gemeinschaft des Blutes und
des Leibes Christi steht. Dass es sich um eine ältere Überlieferung handelt, geht
bereits aus den parallel konstruierten Sätzen hervor, des Weiteren aus den Aus-
drücken »Kelch des Segens« und »Brot, das wir brechen«, schließlich aus den Dif-
ferenzen zu der in 11,23b–25 zitierten Überlieferung. Dort ist vom »Danken«
(εὐχαριστεῖν) über Brot und Kelch die Rede, in 10,16 dagegen vom »Segnen«
(εὐλογεῖν) des Kelches; in 11,24 f. stehen sich »mein Leib« (τὸ σῶμά μου) und »der
neue Bund in meinem Blut« (ἡ καινὴ διαθήκη ἐν τῷ ἐμῷ αἵματι) gegenüber, in
10,16 dagegen »Leib Christi« und »Blut Christi«; schließlich wird in 10,16 der
428 C. Werk
Kelch vor dem Brot genannt, in 11,24 f. ist es umgekehrt. Paulus greift demzufolge
in 10,16 auf eine andere urchristliche Mahlüberlieferung zurück als in 11,24 f., wo
er diejenigen Worte zitiert, die Jesus selbst beim letzten Mahl in Jerusalem ge-
sprochen haben soll. Aufgrund des paränetischen Charakters seiner Ausfüh-
rungen hat er die Überlieferung in 10,16 in rhetorische Fragen umgeformt.
Mit der Bezeichnung »Kelch des Segens, den wir segnen« wird ein jüdischer
Ritus einschließlich der damit verbundenen Bezeichnung auf das Mahl der christ-
lichen Gemeinde übertragen: Der »Kelch des Segens« ist der Kelch, über dem im
jüdischen Mahl das Segensgebet gesprochen wurde; er ist nunmehr derjenige,
über dem auch die christliche Gemeinde betet. Das Gebet über dem Kelch – ana-
log dann auch dasjenige über dem Brot – wird damit zu einem charakteristischen
Kennzeichen des christlichen Mahles. In Did 9 und 10 sind derartige Gebete über-
liefert, und auch Justin und Irenäus erwähnen die Praxis der Gebete über Kelch
und Brot.
In 1Kor 10,16 stehen – ähnlich wie auch in den in 1Kor 11 zitierten »Einsetzungs-
worten« – die Begriffe »Blut« und »Leib« einander gegenüber. Ungeachtet ihrer
syntaktischen Korrespondenz handelt es sich dabei nicht um semantische Äqui-
valenzbegriffe. Das ist vielmehr nur bei »Fleisch« und »Blut« der Fall, wie es in
Joh 6,53–56 und dann im 2. Jh. bei Ignatius, Justin und Irenäus bezeugt ist. Wie
die von Justin, 1 apol. 66,3, zitierte Fassung belegt, konnte diese Äquivalenz später
auch die Gestalt der Einsetzungsworte prägen.
Die Gegenüberstellung von »Leib« und »Blut« zeigt dagegen, dass in beiden
Worten jeweils die ganze Person Jesu bezeichnet wird: einmal – beim Begriff
»Leib« – im Blick auf seine irdische Wirksamkeit, das andere Mal – bei »Blut« –
im Blick auf sein für andere dahingegebenes Leben. Das Verhältnis von »Leib«
und »Blut« wird für das Verständnis der Einsetzungsworte später noch wichtig
werden. Im Blick auf 1Kor 10,16 ist zunächst festzuhalten, dass durch »Leib Chris
ti« und »Blut Christi« die durch Segenskelch und gebrochenes Brot hergestellte
Gemeinschaft als eine durch die Person Christi, sein Leben und seinen Tod, be-
stimmte qualifiziert wird.
Diese Qualifizierung begründet zugleich die Gestalt der Gemeinschaft. Das
macht Paulus in 10,17 anhand des einen Brotes deutlich, das den einen Leib sym-
bolisiert: Weil alle an dem einen Brot – und damit an Christus – Anteil haben,
bilden sie untereinander den einen, von der Gemeinschaft mit Christus her be-
stimmten Leib.
Die gegenüber 11,23b–25 andere Reihenfolge der Mahlelemente Kelch und Brot
in 10,16 kann auf Paulus selbst zurückzuführen sein, der dadurch einen Anschluss
an die in 10,17 vorgenommene Deutung des einen Brotes als des einen Leibes der
Gemeinde herstellen wollte. Sie kann aber auch dadurch veranlasst sein, dass
Paulus den die Gemeinschaft mit Christus vermittelnden Segenskelch dem für
heidnische Kultmähler charakteristischen Trankopfer pointiert entgegensetzen
wollte. Dass sich die Reihenfolge der Argumentationssituation des Abschnitts
verdankt, wird auch durch 10,21 nahegelegt, wo zuerst der Kelch, dann der Tisch
des Herrn und der Dämonen einander gegenübergestellt werden.
III. Theologische Themen 429
Der entscheidende Aspekt in 1Kor 10,14–22 ist die Exklusivität der durch Se-
genskelch und gebrochenes Brot vermittelten Gemeinschaft Christi. Dies macht
Paulus zunächst in 10,18 anhand des »Israel nach dem Fleisch« deutlich. Er be-
zieht sich damit auf das vorfindliche Israel seiner Zeit, das durch den Verzehr der
Opfer zu »Gemeinschaftern« am Altar wird, auf dem diese dargebracht werden.
Gemeint sind die Opfer im Jerusalemer Tempel, die allerdings nicht – wie bei
heidnischen Opfermahlzeiten – im Anschluss von den Teilnehmern verzehrt wur-
den, sondern allenfalls von den Priestern. Paulus kommt es in seiner Argumenta-
tion jedoch auf die durch das Essen von geopfertem Fleisch zustande kommende
Gemeinschaft an. Deshalb stellt er eine Verbindung zwischen den in Israel darge-
brachten Opfern und der durch ihren Verzehr hergestellten Verbindung zu Gott
mithilfe des vom Begriff »Gemeinschaft« (κοινωνία) abgeleiteten personalen
Subjekts »Gemeinschafter« (κοινωνοί) her.
Der eigentliche Zielpunkt der Argumentation ist die Unvereinbarkeit der im
Mahlvollzug hergestellten, durch Christus qualifizierten Gemeinschaft mit derje-
nigen, die durch heidnische Opfermähler vermittelt wird. Das wird in 10,19–21
daran deutlich, dass Paulus nunmehr auch im Blick auf die den Dämonen darge-
brachten Opfer davon spricht, dass diejenigen, die daran teilhaben, zu »Gemein-
schaftern« der Dämonen werden. Dass dies mit der auf Christus bezogenen Ge-
meinschaft unvereinbar ist, hält Paulus abschließend mit einem doppelten asser-
torischen »Ihr könnt nicht den Kelch des Herrn trinken und den Kelch der
Dämonen! Ihr könnt nicht am Tisch des Herrn Anteil haben und am Tisch der
Dämonen!« fest.
Paulus interpretiert in 1Kor 10,14–22 das Mahl der christlichen Gemeinde dem-
nach als Vollzug einer exklusiven, auf Christus bezogenen Gemeinschaft. Die Vo-
raussetzung dabei ist, dass das Kennzeichen kultischer Mähler darin besteht, eine
Vereinigung mit der jeweils verehrten Gottheit herzustellen. Anders als für die zu
Christus bekehrten heidnischen Korinther, die offenbar auch weiterhin an Opfer-
mählern anderer Gottheiten teilnahmen, besitzt die Verbindung mit Christus für
Paulus dabei exklusiven Charakter. Deshalb steht sie derjenigen mit den »Dämo-
nen« diametral entgegen. Grundlage für diese Auffassung ist die Überzeugung,
dass es nur einen Gott und einen Herrn Jesus Christus gibt.
Die zweite Stelle, an der Paulus die Mahlfeier thematisiert, gehört in den größe-
ren Zusammenhang von 1Kor 11–14, in dem verschiedene den Gottesdienst und
das Leben der Gemeinde betreffende Fragen (Prophezeien der Frauen, Geistesga-
ben und darauf gründende Funktionen in der Gemeinde, Zungenreden) behan-
delt werden. Der auf das Abendmahl bezogene Abschnitt gehört deshalb einer
anderen Problemstellung als der in Kap. 8–10 behandelten an.
Anlass für die in 11,17 einsetzende Kritik an der korinthischen Mahlpraxis ist
die Nachricht, dass durch die Art und Weise, wie die Gemeinde zusammen-
430 C. Werk
immer auch und zuerst das Mahl, in dem der Herr Jesus Christus vergegenwärtigt
und die Gemeinschaft mit ihm vollzogen wird.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich schließlich die Aufnahme und Interpreta-
tion der Mahlüberlieferung in 11,23–26 im vorliegenden Kontext. Paulus weist
ausdrücklich darauf hin, dass er diese Überlieferung den Korinthern bereits frü-
her übermittelt hatte. Der Grund für ihre nochmalige Zitierung ist deshalb, dass
sie ein Argument für die Korrektur der korinthischen Praxis darstellt.
Als Aufnahme einer auf den irdischen Jesus zurückgeführten Überlieferung
sind die Einsetzungsworte bereits an anderer Stelle interpretiert worden ( C.
III.2.1.). Hier sollen dagegen die im Blick auf das Mahlverständnis relevanten As-
pekte betrachtet werden. Paulus zitiert eine Überlieferung, deren historischer
Haftpunkt das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern in Jerusalem ist. Daraus ist,
wie der Paulustext und seine Parallelen in den synoptischen Evangelien zeigen,
bereits früh eine sprachlich geprägte Überlieferung entstanden, die die Bedeu-
tung dieses Mahles in Form einer auf Jesus selbst zurückgeführten Interpretation
festhielt. Die ursprüngliche Gestalt dieser Überlieferung lässt sich nicht mehr re-
konstruieren. Erkennbar sind jedoch zwei Stränge, in denen sie tradiert wurde.
Sie liegen zum einen in Mk 14,22–24 und Mt 26,26–28, zum anderen in Lk 22,19 f.
und 1Kor 11,23b–25 vor. Gemeinsam ist ihnen, dass sie das Brotbrechen und -ver-
teilen sowie das Herumreichen des Kelches als Mahlhandlungen Jesu schildern,
die jeweils durch ein eigenes Wort gedeutet werden. Dabei wird die Brothandlung
auf den Leib Jesu, die Kelchhandlung auf sein Blut bezogen. Wie bereits bei der
Interpretation von 10,16 bemerkt, handelt es sich nicht um semantische Korre-
spondenzbegriffe, sondern um jeweils eigene Deutungen des Wirkens und Ge-
schicks Jesu. Dies geschieht zunächst so, dass das Brechen des Brotes und sein
Verteilen unter den Mahlteilnehmern als Symbol für die Person Jesu (»Das ist
mein Leib«) steht. Damit wird seine gesamte Wirksamkeit als eine solche gedeu-
tet, die für andere da ist. Das lenkt den Blick zurück auf die Zuwendung Jesu zu
den Menschen, denen er während seiner irdischen Wirksamkeit begegnet ist, die
er von Krankheiten und bösen Geistern befreit und mit denen er Mahlgemein-
schaft gefeiert hat. In der Brothandlung des letzten Mahles wird dies aufgenom-
men und in symbolischer Weise verdichtet: Das gebrochene, unter allen Mahlteil-
nehmern verteilte Brot »ist« Jesu Leib, indem es seine Existenz für andere symbo-
lisiert.
Das Kelchwort deutet in vergleichbarer Weise das Leben Jesu (»mein Blut«) als
die Eröffnung eines neuen Bundes mit Gott. Es blickt dabei zugleich voraus auf
seinen Tod: Das Bundesblut wird nach israelitisch-jüdischer Tradition vergossen,
um den Bund zu besiegeln. Darum wird in den synoptischen Evangelien das Ver-
gießen des Blutes Jesu ausdrücklich genannt.
Ausgehend von diesen Gemeinsamkeiten lassen sich zwischen den beiden ge-
nannten Strängen folgende Unterschiede feststellen:
– bei Lukas und Paulus begegnet die Wendung »für euch« beim Brotwort, bei
Markus und Matthäus fehlt dies;
432 C. Werk
– bei Lukas und Paulus stehen sich »Leib« und »Kelch des neuen Bundes« ge-
genüber, bei Markus und Matthäus dagegen »Leib« und »Blut des Bundes«;
– bei Lukas und Paulus begegnet die Anordnung zur Wiederholung der Mahl-
handlungen zur Vergegenwärtigung Jesu (bei Lukas nur beim Brotwort), bei Mar-
kus und Matthäus fehlt dies.
Für die Überlieferung ist demnach insgesamt kennzeichnend, dass sie die Be-
deutung des Mahles der christlichen Gemeinde im letzten Mahl Jesu verankert.
Darin ist seine Wirksamkeit einschließlich seines Todes in den Handlungen des
Brotbrechens und -verteilens sowie des Herumreichens des Kelches verdichtet
und in den deutenden Worten expliziert. Die Deutung des »für euch« beim Brot-
wort ist deshalb auch beim von Markus und Matthäus geschilderten Akt des
Brotbrechens inhaltlich vorausgesetzt, ebenso wie trotz des Fehlens eines Wieder-
holungsbefehls davon auszugehen ist, dass in den Gemeinden, die die Verfasser
des Markus- und des Matthäusevangeliums vor Augen haben, das christliche
Mahl gefeiert wird.
Ein Merkmal der von Paulus zitierten Fassung ist der zweimalige Wiederho-
lungsbefehl. Dadurch wird die »Vergegenwärtigung« Jesu (dies ist der den Sinn
des griechischen ἀνάμνησις am besten wiedergebende deutsche Begriff) als Zen-
trum der christlichen Mahlfeier betont. Kennzeichnend ist weiter, dass Paulus im
Anschluss an die Überlieferung deren aus seiner Sicht zentralen Inhalt noch ein-
mal zusammenfasst, indem er die Mahlfeier als »Verkündigung des Todes des
Herrn, bis er kommt« kennzeichnet (11,26). Für Paulus ist die Mahlfeier der
christlichen Gemeinde demnach ein Verkündigungsgeschehen: Die zum Herren-
mahl versammelte Gemeinde verkündigt dessen Tod – was nur heißen kann: die
mit diesem Tod verbundenen Heilswirkungen – in Erwartung seiner Parusie.
Wenn Paulus die Überlieferung vom letzten Mahl Jesu im Kontext seiner Aus-
führungen in 1Kor 11 zitiert, will er damit die diesem Mahl widersprechende ko-
rinthische Praxis korrigieren: Das von Jesus in der genannten Weise gedeutete
Mahl ist dadurch gekennzeichnet, dass er allen Mahlteilnehmern in gleicher Wei-
se Anteil an dem von seinem Wirken und seinem Tod ausgehenden Heil gibt. Das
entscheidende Kennzeichen dieses Mahles ist deshalb, dass alle in derselben Weise
an dem einen Brot und dem einen Kelch Anteil haben und damit ihre im Herrn
Jesus begründete Gemeinschaft vollziehen und das darin liegende Heil verkün-
den. Eine Mahlpraxis, die dies nicht sichtbar und erfahrbar werden lässt, muss
darum Paulus zufolge als Versündigung an Leib und Blut des Herrn und damit an
der durch die gemeinsame Anteilhabe an ihm begründeten Gemeinschaft verur-
teilt werden (11,27–32).
Hahn, Ferdinand: Zum Stand der Erforschung des urchristlichen Herrenmahls, in: Ders.: Exe-
getische Beiträge zum ökumenischen Gespräch (Gesammelte Aufsätze I), Göttingen 1986,
242–252.
Hofius, Otfried: Gemeinschaft am Tisch des Herrn. Das Zeugnis des Neuen Testaments, in:
Ders.: Exegetische Studien (WUNT 223), Tübingen 2008, 203–217.
III. Theologische Themen 433
Die Beschäftigung mit einer Ethik des Paulus erfordert einige Vorbemerkungen:
Ist es überhaupt berechtigt, von ›Ethik‹ im strengen Sinn zu sprechen? In wel-
chem Verhältnis stehen Ethik und Theologie zueinander, besonders die Rechtfer-
tigung im Glauben zu den Werken des Gesetzes? Wie argumentiert Paulus, wie
begründet er seine Handlungsentscheidungen und -bewertungen? Welche unter-
schiedlichen Normen sind leitend? Im Folgenden sollen diese meta-ethischen Fra-
gen eigens thematisiert werden, bevor dann einzelne Aspekte der Ethik in weite-
ren Teilartikeln vertieft werden.
Das formal-begriffliche Problem: Darf man überhaupt von ›Ethik‹ sprechen? Die
uns überlieferten Briefe des Paulus sind Gelegenheitsschriften ( C.I.) und keine
theoretischen Abhandlungen über Normen und Handlungsbegründungen. Hin-
sichtlich der Gattung kann man also sagen: Paulus hat keine ›Ethik‹ im Sinne ei-
ner Handlungstheorie geschrieben. Können wir folglich nur ›moralische Äuße-
rungen‹ wahrnehmen, die sich auf gelebtes ›Ethos‹ beziehen und müssen die Fra-
ge nach einer ›Ethik‹ aufgeben?
Paulus ist nicht nur ein situativer ›Moralprediger‹, sondern beschäftigt sich in
seinen Schriften auch grundsätzlicher mit dem, was zu tun (möglich) ist, erörtert
Fragen, welches konkrete Verhalten besser oder schlechter ist, und verweist dabei
auf Normen oder Ziele, die seine Auffassung begründen. Mit anderen Worten:
Paulus liefert eine Reflexion und Begründung von Handlungen; er argumentiert
dabei nicht nur persönlich, sondern erhebt Anspruch auf allgemeine Geltung
oder zumindest versucht er, Handlungsgründe intersubjektiv zu kommunizieren
und seine Adressaten argumentativ zu überzeugen. Ferner geht er nicht nur de-
skriptiv vor, sondern bewertet und appelliert an die Adressaten, sodass wir einen
präskriptiv normativen Anspruch erkennen können. Wie sich jenseits einiger
Spannungen oder Entwicklungen der theologische Gesamtentwurf des Paulus
durch große Kohärenz und Stimmigkeit auszeichnet, so kann auch für seine ethi-
schen Ausführungen ein stimmiges Gesamtkonzept angenommen werden (mit
434 C. Werk
zogen (so beim Römer- und Galaterbrief) und lässt sich bei anderen Schriften (1.
Korinther-, Philemonbrief) gar nicht erkennen. Vor allem entspricht die Klassifi-
kation bestimmter Aussagen in die Sprachmodi »Indikativ« und »Imperativ« kei-
neswegs dem paulinischen Sprachgebrauch. Die gleichen Aussagen können von
Paulus sowohl indikativisch als auch imperativisch formuliert werden (z. B.
»Christus anziehen« in Gal 3,27; Röm 13,14; »Waffen des Glaubens tragen« in
1Thess 5,8; Röm 13,12; »Sauerteig sein« in 1Kor 5,7b/7a.8). In der Einzelargumen-
tation spielen oft ganz andere Normen z. B. auch aus der hellenistischen Umwelt
und jüdischen Tradition ( C.III.5.5.2.; C.III.5.5.3.) eine Rolle, ohne dass das
Christusgeschehen eigens genannt wird. Das Modell suggeriert eine zeitliche oder
logische Vorordnung des Indikativs vor den Imperativ, führt aber damit zugleich
eine Trennung ein, die das von Paulus als Einheit begriffene Handeln im Glauben
nachträglich zergliedert. Die Formel ist starr und entspricht weder der Dynamik
noch der Vielfalt paulinischer Handlungsbegründung, sie »entspricht deshalb
nicht dem Denken des Apostels« (Blischke 2007, 459). Die simplifizierenden Me-
taphern von Indikativ und Imperativ verhindern ferner eine Anbindung der pau-
linischen Ethik an den systematisch-theologischen wie auch allgemeinen moral-
philosophischen Diskurs (zur Kritik R. Zimmermann 2007, 264 f.).
Jenseits von Indikativ und Imperativ: Seit einiger Zeit gibt es nun innerhalb der
neutestamentlichen Wissenschaft das Bemühen, alternative Begründungsmuster
zu benennen. Einen christologischen Zugang entwickelt Knut Backhaus, der den
Lebensvollzug unmittelbar aus der Christusbeziehung begründet. »Christologie
ist in sich, nicht erst nachträglich, ethisch, und Ethik ist in der Wahrnehmung des
Paulus gar nicht anders zu vollziehen denn als gelebte Treue zur Christologie.«
(Backhaus 2000, 13). Für Richard A. Burridge ist, seinem Leitparadigma der
»Imitatio Christi« folgend, auch die paulinische Ethik eine Ethik der Nachah-
mung, die direkt oder indirekt im moralischen Vorbild Jesu wurzle (Burridge
2007, 138–154). Für Udo Schnelle und ausführlich dann Folker Blischke vollzieht
sich im Akt der Geistgabe durch die Taufe eine »Transformation und Partizipati-
on« (Schnelle 2003a, 117) des Glaubenden. Die Teilhabe am neuen Sein schaffe
somit eine Lebens- und Handlungseinheit. »Das neue ethische Handeln ist [. . .]
wesenseigener Teil des Beziehungsverhältnisses mit Christus und steht mit die-
sem in einem Entsprechungsverhältnis.« (Blischke 2007, 459). Noch stärker
pneumatologisch ist die Begründung bei Volker Rabens. Der Heilige Geist ermög-
liche nicht nur vertiefte Kenntnis Gottes und Jesu und damit auch des ethisch
Guten, sondern befähige in motivationaler und ontologischer Weise den Glau-
benden auch zu einem ethischen Leben (Rabens 2010). Einen durch die soziolo-
gischen Arbeiten von Anthony Giddens inspirierten ekklesiologischen Ansatz hat
David G. Horrell vorgelegt, in dem das Wechselverhältnis von individuellen
Handlungen und sozialen Strukturen in den Mittelpunkt gerückt wird. Die In-
fragestellung bestehender sozialer Hierarchien werde direkt aus der Kreuzestheo-
logie abgeleitet, die im Anschluss an 1Kor 1–3 selbst eine Umkehrung der Werte-
ordnung der Welt darstelle (Horrell 2005, 195).
436 C. Werk
Die Vielfalt der Normen: Um Handeln zu begründen und zu fordern, ist der Ver-
weis auf ›Normen‹ unerlässlich. Unter ›Norm‹ soll hier ein Grundsatz verstanden
werden, der einen Sollensanspruch an das Tun und Unterlassen des Einzelnen
bzw. einer Gruppe stellt (Forschner 1992, 200 f.). Eine Norm ist folglich ein
III. Theologische Themen 437
Wertbegriff, der Handeln als gut und richtig einstuft und damit direkt oder indi-
rekt mit einem Appell verbunden ist, entsprechend zu handeln. Fast jede Aussage
kann in dieser Hinsicht einen moralischen Status erlangen, wenn aus ihr ein wie
auch immer gearteter Anspruch abgeleitet wird, was getan werden soll. So ist be-
reits eine Feststellung (»Man hört, dass porneia unter Euch ist«; 1Kor 5,1) oder
eine Frage (»Wisst ihr nicht, dass ihr ein Tempel Gottes seid?«; 1Kor 3,16; 6,19) ein
impliziter Appell; andere Sätze nehmen direkt Wertungen vor (»Es ist gut, keine
Frau zu berühren«; 1Kor 7,1), folgen stereotypen Wertungsmustern der Umwelt
(1Kor 6,9 f.) oder sprechen in grammatischen Imperativen einen Sollensanspruch
aus (1Kor 6,18; 10,14).
Darüber hinaus gibt es Metaphern wie die »Gemeinde als Leib« (1Kor 12) oder
begriffliche Verdichtungen wie »Freiheit« (2Kor 3,17; Gal 5,1) oder »Gewissen«
(1Kor 8,7–12), die mit einem einzelnen Wort oder Syntagma ganze ethische Kon-
zepte abrufen. Man kann bei Paulus allgemeine Moralinstanzen wie »Natur« (Röm
1,26; 1Kor 11,14) oder »Sitte/Gewohnheit« (1Kor 9,7; 11,13.16) und institutionali-
sierte kulturell geprägte Moralkodices (z. B. die Tora) differenzieren. Selbst einzel-
ne Personen können einen moralischen Status erlangen, wenn sie innerhalb einer
Bezugsgruppe Autorität genießen, so etwa Paulus selbst (1Kor 11,1). Weiterfüh-
rend ist ferner die Differenzierung zwischen formalethischen Prinzipien (z. B.
»Pflicht« in 1Kor 11,10; 2Kor 12,14) und einzelnen materialethischen Gütern (z. B.
»Liebe« in 1Kor 13; Gal 5,13 f.), die als Begründungsinstanzen angeführt werden
können. Um einen kleinen Einblick in die Fülle ethischer Normen zu geben,
sollen in der Tabelle die Normen aufgelistet werden, die allein in zwei Briefen
(1. Korinther- und Galaterbrief) verwendet werden (s. u.).
Ethische Argumentationsweisen: Die paulinischen Texte, selbst seine Argumen-
tationen im engeren Sinn, können mit sehr unterschiedlichen Methoden analy-
siert werden (z. B. Rhetorik, Traditionsgeschichte). Unter ethischer Perspektive ist
zu fragen, wodurch eine Aussage ethische Urteilskraft erlangt. Wie vollzieht sich
die ethische Reflexion, wie wird eine Norm begründet, wie soll ein Adressat von
einer moralischen Wertungsaussage überzeugt werden? Obgleich die Begrün-
dung der Ethik im frühen Christentum und selbst bei Paulus auch durch narra-
tive (1Thess 2,14–16), metaphorische (1Kor 12,12–31) oder doxologische (Phil 2,5–
11) Reflexionsformen vollzogen wird, dominiert in den Briefen des Apostels doch
die rationale Argumentation. Innerhalb ethischer Theorie wurden bestimmte
Argumentations- und Begründungstypen herausgearbeitet, die auf je eigene Wei-
se ethische Überzeugungskraft erlangen wollen (Pieper 2007, 185–233) und an die
im Folgenden angeknüpft werden soll:
Paulus argumentiert vielfach deontologisch, d. h. aus einer vorgegebenen Norm
wie z. B. der Tora (1Kor 9,9) oder einem Jesuswort (1Kor 7,10 f.) werden Schlüsse
für das ethisch Richtige gezogen. Daneben begegnen aber auch teleologische Ar-
gumentationen, d. h. eine Handlung wird als ›gut‹ bewertet, weil sie ein bestimm-
tes Ziel erreicht. »Damit die Gemeinde aufgebaut werde« (1Kor 14,5) ist das über-
geordnete Ziel, das dienliche Handlungen positiv bewertet. Signifikant ist dabei,
438 C. Werk
Georg Henrik von Wright (erlaubt, verboten, geboten) analysiert werden können
(von Wright 1994). Daneben gibt es auch ethische Urteile, die bewusst irrational
paradox (Umkehrung der Wertigkeiten in 1Kor 1,27 f.) oder mit Bezug auf Gefühle
intuitiv bzw. emotional gewonnen werden (Röm 14,15; 2Kor 7,11 f.). Neben eindeu-
tigen Werturteilen (gut/schlecht ist [. . .]; Röm 14,20; Phil 4,14) erkennen wir auch
eine Güterabwägung (1Kor 7,38), und Paulus fordert explizit zur Prüfung von
Normen auf (Röm 12,2; 1Thess 5,21). So gibt es nicht nur ›gut‹ und ›böse‹ (Röm
12,21; 16,19; 2Kor 5,10), sondern auch ›gut‹ und ›besser‹ (1Kor 7,38 im Blick auf
Ehelosigkeit – Heirat).
5.5.1.3. Fazit
Ob in Bezug auf die erhaltenen Briefe des Paulus überhaupt von »Ethik« gespro-
chen werden könne, ist gegenwärtig umstritten. Die Einführung der beschrei-
bungssprachlichen Kategorie »Ethos« (Wolter 2009b, bes. 127–136) zielt eher auf
die (gewohnheitsmäßige, akzeptierte) Praxis einer Gruppe als auf die Reflexionen
eines Einzelnen und postuliert einen (historisch wenig plausiblen) Idealtyp spe-
zifisch »paulinischer« Gemeinden. Aufgrund der Quellenlage erscheint es gera-
ten, den Textbefund als Reaktion auf ein vorhandenes, vielleicht nicht einmal
gemeindespezifisches Ethos zu verstehen (R. Zimmermann 2007, 276) oder von
»moral instruction«, »moral language« und »moral thought« (Löhr 2010, 197) zu
sprechen.
Weiter als die Diskussion um den »Ethos«-Begriff führt die Einsicht, dass eine
systematische Unterscheidung von »Theologie« (im Sinne einer Reflexion auf das
Göttliche) und »Ethik« bei Paulus (wie auch sonst im Neuen Testament) nicht
nachzuweisen ist. Zwar ist in einzelnen Briefen eine Nachstellung handlungsbe-
zogener und -orientierender Argumentationen zu finden (Röm 12–15; Gal 5 f.;
Phil 4; 1Thess 4 f.; vgl. Kol 3 f. sowie die strukturelle Parallele bei Sen.ep. 94 f.),
doch ist damit keine konzeptionelle Trennung oder Bewertung (bzw. Abwertung)
verbunden. So konnten der 1. Thessalonicher-, der Philipper- oder der 1. Korin-
therbrief auch insgesamt als paränetisch oder als literarische Beispiele delibera-
tiver Rhetorik eingeordnet werden.
Zu berücksichtigen ist ferner, dass in den Paulusbriefen nicht das Ganze der
paulinischen Lehre enthalten sein kann. Die Texte bzw. ihre instruierenden Passa-
gen nehmen ihren Standpunkt durchweg nach der Bekehrung und sozialen (ek-
klesialen) Neuintegration der Adressaten und sind so als (literarische) »postlimi-
nale« oder »postkonversionale Mahnreden« (Berger 2005, 190–196) zu bezeich-
nen: Sie intendieren bzw. entwerfen Adressaten, die nicht erst von der Richtigkeit
des vermittelten Weltbilds überzeugt werden sollen. Sie setzen vielfach eine
(mündliche) Unterweisung voraus (explizit z. B. in 1Thess 4,1 f., vorausblickend
1Kor 11,33), deren Umrisse nur schemenhaft zu erkennen sind und gewiss nicht
einfach aus den Paulusreden der Apostelgeschichte ergänzt werden können. Am
ehesten dürfte der Römerbrief, an eine Paulus persönlich unbekannte Gruppe
von Christen gerichtet, eine grundsätzlichere Theologie und Ethik umfassende
Darstellung paulinischen Denkens sein. Gerade hier aber zeigt sich vom ersten
Kapitel an eine enge Verknüpfung von theologischer Darlegung und moralischer
Orientierung bzw. Normierung.
Bedenkt man dies, wird man den paulinischen Befund kaum mit Verweis auf
den Kontext hellenistisch-römischer Philosophie, die durch einen »Primat der
praktischen Vernunft« (Hossenfelder 1995, 14–22) gekennzeichnet sein soll (ein
die Kontingenzen der Textüberlieferung zu wenig beachtendes Urteil), erklären
können. Ohne Zweifel jedoch konnte das persönliche Auftreten des Apostels als
das eines Wanderphilosophen gelten (vgl. 2Tim 4,13; Weiser 2003, 318 f.). Im
III. Theologische Themen 441
wird wahrgenommen (Röm 8,18–22). Der Glaubende wird als »neue Schöpfung«
bezeichnet (2Kor 5,17; Gal 6,15) und ist so als ein zum Tun des Guten Befähigter
angesprochen. In diesem Zusammenhang kann auch der Begriff der Freiheit ver-
wendet werden (Röm 8,2.21; vgl. 6,18.22), der auch in der Erörterung von kon-
kreten Normkonflikten begegnet (1Kor 10,29; Gal 2,4; 5,1.13).
Auffällig ist, dass Paulus einen Leitbegriff antiker Ethik, denjenigen der Ge-
rechtigkeit (δικαιοσύνη), wohl schon in der christlichen Tradition vorfindet
(Röm 3,25 f.; 2Kor 5,21) und aufnimmt; mit der Rede von der »Gerechtigkeit
Gottes« rekurriert er aber besonders auf die eschatologisch-soteriologisch inter-
pretierte Vorstellung von der Bundesgerechtigkeit Gottes und versteht ihn somit
wesentlich nicht ethisch.
Der Apostel kennt nicht nur, zumal in Römerbrief, »das Gute« als allgemeinen,
aber wichtigen Leitbegriff seiner Ethik; man kann auch von einer darüber hi-
nausgehenden impliziten Güterlehre sprechen. Sofern man den antik-philoso-
phischen Leitbegriff der εὐδαιμονία (Glückseligkeit im Unterschied zum Zufalls-
glück) nicht ausschließlich weltimmanent interpretiert (wozu philosophiege-
schichtlich kein Grund besteht) und sofern man sein (im Vergleich zu paganer
Philosophie wie zum Judentum auffälliges) Fehlen bei Paulus wie im ganzen
Neuen Testament nicht als entscheidendes Gegenargument wertet, kann man
durchaus von einem teleologisch-eudämonistischen Grundzug paulinischer
Ethik sprechen. Neben Gütern des Alltags wie Unanstößigkeit (1Kor 10,32; Phil
1,10), Beliebtheit und guter Ruf (Phil 4,8), Freiheit von Bedrängnis oder Sorge
(1Kor 7,28.32) u. a. werden auch transzendent-eschatologische Größen wie die
Rettung (σωτηρία; Phil 2,12), das ewige Leben (Röm 2,7) oder die Königsherr-
schaft Gottes (1Kor 6,9 f.; Gal 5,19–21) als höchstes Gut zum Handeln positiv oder
negativ in Beziehung gesetzt. Diese teleologische Grundstruktur verbindet das
paulinische Denken mit sonstiger antiker Ethik.
Horn, Friedrich Wilhelm: Ethik des Neuen Testaments 1993–2009, ThR 76, 2011, 1–36, bes. 28–
36.
Löhr, Hermut: Paulus und der Wille zur Tat. Beobachtungen zu einer frühchristlichen Theolo-
gie als Anweisung zur Lebenskunst, ZNW 98, 2007, 165–188.
Wolter, Michael: Identität und Ethos bei Paulus, in: Ders.: Theologie und Ethos im frühen
Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas (WUNT 236), Tübingen 2009, 121–169.
Zimmermann, Ruben: Jenseits von Indikativ und Imperativ. Entwurf einer ›impliziten Ethik‹
des Paulus am Beispiel des 1. Korintherbriefes, ThLZ 132, 2007, 259–284.
Hermut Löhr
Die Frage nach der Rolle der Tora in der Ethik des Paulus wird seit 1989 wieder
kontrovers diskutiert (über frühere Debatten orientiert Martin 1989, 21–68),
ähnlich wie auch das Selbstverständnis des Apostels hinsichtlich seiner jüdischen
III. Theologische Themen 445
Identität (vgl. einerseits die These, Paulus fühle sich nur noch ethnisch als Jude
[Witherington III 1998, 98; ähnlich Sanders 1983, 207; Wischmeyer 1986,
181.184], andererseits die Thesen, Paulus bringe seine jüdische Identität immer
wieder mit Nachdruck ein [Niebuhr 1992, 179] bzw. lese einige Passagen aus den
Gottesknechtsliedern als Prophetie auf sein eigenes Wirken [Wilk 1998, 406]).
Heikki Räisänens Bestreitung eines kohärenten Torakonzeptes bei Paulus (Räi-
sänen 21987, 199) hat sich nicht durchgesetzt. Da wo man den bis 1989 geltenden
Konsens fortführt, wird die nachgeordnete Rolle der Tora in der paulinischen
Ethik quantitativ mit der geringen Anzahl der Torazitate in ethischen Kontexten,
qualitativ mit Verweis auf andere Grundlagen paulinischer Ethik begründet.
Torazitate in ethischen Zusammenhängen gelten als wenig tragend (Deidun
1981, 157). Nicht selten entscheide Paulus gegen die Tora, so etwa in 1Kor 10,27–30
(trotz Ex 34,15) und (trotz Gen 17,10–14) in 1Kor 7,19 (Lindemann 1986; ähnlich
Horn 2009, 228 f.; Schnelle 2003a, 123 f.). In Röm 13,8–10 folge das Torazitat der
These in V. 8 und bestätige sie, nicht umgekehrt (Koch 1986, 296). Nicht die Men-
ge der rezipierten Inhalte, sondern der über diese Traditionen hinausweisende
Standpunkt des Paulus sei entscheidend (so auch Wischmeyer 1986, 181.184): Der
Apostel betone aufgrund seiner heilsgeschichtlichen Sichtweise einseitig die uni-
versalisierbaren Elemente (Theissen 1991, 349). Das Liebesgebot Lev 19,18 sei
Ausdruck, aber nicht Grund christlicher Ethik (Deidun 1981, 159) und werde von
Paulus nur wegen seiner Entsprechung zum Christusereignis aufgenommen
(Lindemann 1986, 264), nur deswegen könne mit dem Liebesgebot auch die Tora
insgesamt in christliche Ethik integriert werden (Wolter 2001a, 82–84).
Hatte Rudolf Bultmann der Ethik der Tora auch für das neue Sein weiterhin
Gültigkeit zugesprochen (Bultmann 71977, 342; ähnlich Strecker 1996, 154), so
gilt nach Morna Hooker (Hooker 1982, 52) und Walter Schmithals (Schmithals
1988, 476) Röm 10,4 (»Christus ist das Ende des Gesetzes«; zur alternativen Über-
setzung von τέλος mit »Ziel« s. u.) auch für die Ethik; Liebe erfüllt alle Gebote des
Gesetzes; so werde es überflüssig. Gal 5,14; 6,2 seien im Indikativ, nicht im Impe-
rativ formuliert. Auch habe Paulus bewusst das weniger eindeutige Verbum
πληρόω (erfüllen) anstelle von ποιέω (tun) gewählt, um zwischen Gal 3,19–24
und dem Vorwurf des Antinomismus (Barclay 1988, 142; Westerholm 1998,
201) auszugleichen.
Die Basis paulinischer Ethik liege in der Soteriologie (Seifrid 1992, 19 Anm. 62),
die neue Norm paulinischer Ethik im »Evangelium von Jesus Christus« (Sonn-
tag 2000, 300). Das Gesetz sei somit durch Christus und den Geist abgelöst
(Westerholm 1998, 195–197; Thurén 2000, 86; Thielman 1994, 142 f., in Korrek-
tur zu Thielman 1989); ihm komme nur noch die Rolle des usus elenchthicus zu
(Pate 2000, 419). Die Verweise auf Christus und den Apostel seien wichtiger als
diejenigen auf das Alte Testament (Tuckett 2000, 423). Dieses sei »seines selbst-
verständlich verbindlichen Charakters als lebensgestaltender Norm enthoben«
(Becker 31998, 462). Die Nächstenliebe werde im Judentum durch das Motiv der
imitatio Dei, bei Paulus durch den Glauben an Christus motiviert, der den Gläu-
bigen zur Nachahmung aufruft (Oegema 1999, 270).
446 C. Werk
Die bereits genannten Stellen Gal 5,14; Röm 8,4; 13,8–10 führten aber auch zu
einer grundlegend anderen Auffassung, was die Relevanz der Tora für die Ethik
des Paulus betrifft: Brice Martin (Martin 1989, 149) behauptete auf der Grund-
lage der genannten Belege die fortdauernde Gültigkeit der moralischen Wei-
sungen der Tora (ähnlich von der Osten-Sacken 1989, 35 f.42, der in Röm 10,4
τέλος nicht als »Ende«, sondern als »Ziel« deutet). Peter Tomson (Tomson 1990,
73) zufolge sei in den paulinischen Gemeinden die Tora für die Judenchristen in
vollem, für die Heidenchristen in reduziertem Umfang verpflichtend, die nächste
Analogie sei das rabbinische Konzept der »noachidischen Gebote« (vgl. San 56
a/b), die auch für Nichtjuden gültig sein sollten. Brian S. Rosner betrachtet das
Alte Testament ungeachtet der wenigen Schriftzitate als autoritative und forma-
tive Quelle paulinischer Ethik, so u. a. die Tradition der Heiligkeit Israels für 1Kor
5 und die Tradition der Keuschheit Josephs (Gen 39) für 1Kor 6,12–20 (Rosner
1994, 24.68.145). Traugott Holtz (Holtz 1991) und Eckart Reinmuth (Reinmuth
2004, 127) unterstreichen, dass einzig die Tora bei Paulus die Regeln für ein Le-
ben nach dem Willen Gottes vorgebe. Die Dissertation von Karin Finsterbusch
(Finsterbusch 1996) trägt die Hauptthese bereits im Titel (Die Thora als Le-
bensweisung für Heidenchristen). Gal 5,13–15 seien bewusst als Gegengewicht zu
Gal 3 gesetzt, und Röm 2,12–16 bezeichnet die Tora als Kriterium für das Endge-
richt. Nach Lukas Kundert (Kundert 1999) ist Jesus Christus der wahre Interpret
der Tora durch sein Leben, Sterben und Auferstehen. Karl-Wilhelm Niebuhr
(Niebuhr 1999, 446 f.) führt die geringe Anzahl von Torazitaten im 1. Korinther-
brief auf die Diasporasituation zurück, aufgrund deren bestimmte Inhalte be-
nannt, andere ausgeklammert würden; die Paulusbriefe seien darin der frühjü-
dischen Diasporaliteratur vergleichbar (aaO. 452). Andrie du Toit (du Toit 2003,
101) zufolge sollte man Verweise des Apostels auf die Natur nicht gegen Torabe-
züge ausspielen; der Schöpfer und der Gesetzgeber seien ein und derselbe. Mo-
gens Müller (Müller 2004, 209–211) zufolge ist in Christus die Funktion der
Tora als identity und boundary marker an ihr Ende gekommen, aber nicht ihr
ethischer Gehalt. Todd Wilson (Wilson 2007, 18) sieht die Funktion der vier To-
rabezüge in Gal 5,13–6,10 in dem Aufweis dessen, dass der Geist die Christen zur
Erfüllung des Gesetzes befähigt, sodass dessen Fluch nicht mehr greifen muss.
Peter Wick (Wick 2006, 148) entnimmt Röm 13,8–10, Paulus setzte »überall vo-
raus, dass wer an Christus glaubt, nicht gegen die ethischen Weisungen der Tora
verstoßen darf«.
Aus dem forschungsgeschichtlichen Durchgang ergeben sich folgende Konse-
quenzen:
1. Eine adäquate Beschreibung der Bedeutung/Funktion der Tora in der Ethik
des Paulus setzt ein Verständnis des Gesamten seiner Theologie und damit auch
seiner grundsätzlichen Haltung zur Tora voraus.
2. Paulus beansprucht auch nach seiner Berufung, als Israelit zu gelten (Röm
11,1), und hat an gewissen Eigenheiten jüdischen und speziell pharisäischen Den-
kens auch nach seiner Berufung festgehalten. Zu diesen Eigenheiten gehört u. a.,
III. Theologische Themen 447
dass Funktion und Kontext einer Aussage für die Interpretation wichtiger sind als
das Ideal der Widerspruchsfreiheit.
3. Autororientiert lässt sich nach dem Einfluss biblischer Motive bei Paulus fra-
gen, rezipientenorientiert muss aber ebenso gefragt werden, warum Paulus nicht
kommuniziert, dass er biblische Motive aufgreift.
4. Die Ebenen der materialen Einzelweisung, deren Begründung sowie der Be-
gründung der paulinischen Ethik insgesamt dürfen nicht vermischt werden.
Anhand dieser drei Ebenen ist denn auch die folgende Darstellung gegliedert.
Meiser, Martin (Hg.): The Torah in the Ethics of Paul (LNTS 473), London/New York 2012.
Niebuhr, Karl-Wilhelm: Tora ohne Tempel. Paulus und der Jakobusbrief im Zusammenhang
frühjüdischer Torarezeption für die Diaspora, in: Ego, Beate/Lange, Armin/Pilhofer, Peter
(Hg.): Gemeinde ohne Tempel (WUNT 118), Tübingen 1999, 427–460.
Rosner, Brian S.: Paul, Scripture and Ethics. A Study of 1 Corinthians 5–7 (AGJU 22), Leiden
u. a. 1994.
Schnelle, Udo: Die Begründung und die Gestaltung der Ethik bei Paulus, in: Gebauer, Ro-
land/Meiser, Martin (Hg.): Die bleibende Gegenwart des Evangeliums (MThSt 76), Marburg
2003, 109–131.
Martin Meiser
Die Liebe ist bei Paulus die zentrale ethische Tugend für die Gestaltung des christ-
lichen Lebens überhaupt. Das kann man schon daran erkennen, dass innerhalb
des gesamten Neuen Testaments nur im Corpus Paulinum die Liebe mit dem
Glauben ( C.III.3.6.) zu einem Begriffspaar verbunden wird. Die Reihe der Texte
reicht von 1Thess 5,8 (»[. . .] bekleidet mit dem Harnisch des Glaubens und der
Liebe«) bis zu der chiastischen Reihe, die Paulus in Phlm 5–7 aus diesen beiden
Begriffen konstruiert: »Liebe« – »Glaube« – »Glaube« – »Liebe«. Darüber hinaus
gibt es das Begriffspaar »Glaube und Liebe« auch noch in Gal 5,6 und 1Thess 3,6
sowie in Eph 1,15; 3,17; 6,23; Kol 1,4; 2Thess 1,3; 1Tim 1,14; 2,15; 2Tim 1,13. In 1Thess
1,3; 5,8; 1Kor 13,13 erweitert Paulus dieses Begriffspaar um die »Hoffnung«, und
wenn noch andere Begriffe hinzutreten, bleibt die besondere Zusammengehörig-
keit von Glaube und Liebe dadurch gewahrt, dass beide Begriffe in den Aufzäh-
lungen entweder die Außenglieder bilden (2Kor 8,7) oder dass sie zusammen am
Anfang der Reihe (1Tim 2,15; Tit 2,2) oder in der Mitte (1Tim 6,11; 2Tim 2,22)
stehen (vgl. auch die Korrespondenz in der konzentrischen Reihe 2Tim 3,10 f.).
Vor allem Phlm 5 mit seiner chiastischen Anordnung (»Liebe [. . .] gegenüber al-
len Heiligen« und »Glaube [. . .] an den Herrn Jesus«) lässt erkennen, dass Paulus
die Liebe als komplementäre Ergänzung zum Glauben verstanden wissen will:
Dieser richtet sich (gewissermaßen ›vertikal‹) auf Jesus Christus, jene (gewisser-
maßen ›horizontal‹) auf die anderen Christen.
Diese Ausrichtung des Begriffspaars spricht dafür, dass Paulus mit der Ver-
knüpfung von Glaube und Liebe die interpretatio christiana einer alten Tradition
der hellenistischen Ethik vornimmt. Es handelt sich dabei um den sog. »Kanon
der zwei Tugenden«, der die komplexe Gesamtheit des menschlichen Verhaltens
auf zwei elementare Relationen reduziert und jede unter ein zusammenfassendes
ethisches Leitprinzip stellt: das Verhalten zum einen gegenüber Gott und zum
anderen gegenüber den Menschen. Gegenüber Gott gilt »Frömmigkeit« als ethi-
sches Leitprinzip, gegenüber den Menschen »Gerechtigkeit« oder »Menschenlie-
be« (vgl. Isok.panathen. 124; Dion.Halikarn.ant.rom. 4,9,2; Diod.S. I 92,5; Plut.
Demetrius 24,9 f.; Mark Aurel 7,66 sowie mit weiteren Belegen Dihle 1968). Philo
450 C. Werk
macht hat ( C.III.5.1; 5.2.2 ), sondern die auch sonst in seiner Ethik eine bedeut-
same Rolle spielt. Die egalitäre Reziprozität, die das Verhältnis von Geschwistern
kennzeichnet, wird auch außerhalb des Neuen Testaments mit der Aufforderung
zur wechselseitigen Liebe verbunden (dazu Wolter 2011, 323–325). Es ist dabei
v. a. immer wieder die Aufforderung zur wechselseitigen Bruderliebe, die auf die-
se Weise formuliert wird (vgl. Jub 36,4: »Liebt untereinander eure Brüder [. . .];
indem ein jeder für seinen Bruder sucht, wodurch er ihm Gutes tun kann«;
TestSeb 8,5 f.; TestJos 17,2 f.; Plut.mor. 480c; DioChrys.or. 74,12; nach Ps.Plut.mor.
7e gehört es zu den ethischen Pflichten, »die Freunde zu lieben«). In diesen Zu-
sammenhang gehört darum auch die in den paulinischen Briefen verbreitete An-
rede »Geliebter/Geliebte« (Röm 12,19; 16,5.8 f.12; 1Kor 10,14; 2Kor 7,1; 12,19; Phil
2,12 u. ö.), die sich in der paganen Umwelt des Neuen Testaments nur innerfami-
liär findet. Ganz analog ist auch von »Bruderliebe« in der paganen Umwelt nur in
Bezug auf das Verhältnis zwischen leiblichen Geschwistern die Rede.
Darüber hinaus dürfte auch von großer Bedeutung gewesen sein, dass in der
Umwelt des frühen Christentums gerade in diesem Zusammenhang die Hingabe
des eigenen Lebens für andere als Tat der Liebe galt (vgl. z. B. Plato symp. 179b
über Alkestis: »Füreinander sterben können nur die Liebenden«; das werde am
Beispiel der Alkestis erkennbar, »weil sie allein für ihren Gatten sterben wollte
[. . .] aufgrund der Liebe«; Arist.e.N. 1169a19 f.; Vita Philonidis 22; Epict.diss. 2,7,3).
In diesem Sinne hat auch Paulus die Lebenshingabe Jesu gedeutet (Röm 5,8; 2Kor
5,14; Gal 2,20; Eph 5,2.25). Mit der Liebe hatte er darum nicht nur eine wichtige
Kategorie zur Hand, mit deren Hilfe er die stellvertretende Lebenshingabe Jesu als
Tat der Liebe deuten konnte, sondern auch eine auf der Identitätsebene angesie-
delte Begründung für die ethische Liebesforderung. Dieser Zusammenhang
machte es den Gemeinden möglich, die Aufforderung zur wechselseitigen Liebe
als Aufforderung zu deuten, sich in ihrem Umgang miteinander an Jesus Christus
selbst zu orientieren. In Eph 5,2.25 wird diese Korrelation dann auch explizit zum
Ausdruck gebracht.
Dieser Hintergrund macht verständlich, dass Paulus v. a. in solchen Zusam-
menhängen auf die Liebe zu sprechen kommt, wenn es um die Aufhebung und
Einebnung der Unterschiede geht, durch die Christen aufgrund ihrer alltagskul-
turellen Bindungen immer noch voneinander getrennt sind. Es ist geradezu ein
durchlaufendes Charakteristikum der Liebe, dass sie darauf aus ist, solche Unter-
schiede zu überwinden. Das gilt sowohl, wenn es zwischen Christen unterschied-
liche Auffassungen über die Beachtung von Speisetabus gibt (Röm 14,15; 1Kor 8,1),
als auch mit Bezug auf den Unterschied zwischen Juden und Heiden (Gal 5,6) wie
zwischen dem Herrn und seinem Sklaven (Phlm 5–7.16).
Keiner anderen Intention verdankt sich auch das sog. ›Hohelied der Liebe‹ in
1Kor 12,31–13,13, bei dem es sich in formgeschichtlicher Hinsicht um ein Enkomi-
on (eine Lobrede) auf eine bestimmte Tugend handelt. Außerneutestamentliche
Analogien finden sich z. B. in Plato symp. 177d und 1/3Esr 3–4. Paulus reagiert mit
dieser ›Lobrede auf die Liebe‹ auf eine bestimmte Situation in der korinthischen
452 C. Werk
Gemeinde ( C.I.2.2): Aus 1Kor 12–14 wird erkennbar, dass es in ihr Auseinander-
setzungen darüber gab, welche der sog. »Geistesgaben« (12,1) oder »Charismen«
(12,4) wichtiger waren als andere und dementsprechend denjenigen, die über sie
verfügten, ein höheres Prestige innerhalb der Gemeinde eintrugen. Von ihnen
werden »Prophetie«, »Zungenrede« und »Erkenntnis« in 13,8 erwähnt. Dieser
Trias stellt Paulus in V. 13 die Trias »Glaube, Hoffnung, Liebe« gegenüber. Er will
damit deutlich machen, dass allein Glaube, Hoffnung und Liebe authentische
Merkmale einer christlichen Existenz sind, weil allein sie wirklich allen Christen
gemeinsam sind. Genau das haben sie den »Geistesgaben« voraus, die immer in-
dividuell und unterschiedlich verteilt sind. Dass Paulus in V. 13b dann noch die
Liebe über Glaube und Hoffnung hinaushebt, hat seinen Grund nicht darin, dass
allein sie (und zwar im Unterschied zu Glaube und Hoffnung) auch im Eschaton
fortbesteht, denn mit »am größten« meint Paulus die sachliche Bedeutung der
Liebe in der Gegenwart und nicht ihre zeitliche Dauer. Mit dieser Schlussbemer-
kung führt er die Leser vielmehr wieder zum ursprünglichen Thema des Kapitels
zurück. Die Charismatiker sollen mit der Unterschiedlichkeit ihrer Geistesgaben
so umgehen, dass sie die Liebe mit den in V. 4–7 beschriebenen Verhaltensweisen
zur Grundlage des Umgangs miteinander machen.
In die Nähe dieser Argumentation war Paulus bereits in 1Kor 8,1 gekommen,
wo er »Erkenntnis« und »Liebe« einander gegenüberstellt und die gemeinschafts-
fördernde Bedeutung der Liebe betont. Denn Liebe kann jeder. Das unterscheidet
sie von den »Geistesgaben«. Es geht Paulus also auch hier darum, dass die Ge-
meinde nicht ihre Unterschiedlichkeit in den Mittelpunkt stellt, sondern sich um
die Darstellung ihrer Einheit bemüht.
Auf das Gebot der Nächstenliebe von Lev 19,18 kommt Paulus nur an zwei Stel-
len zu sprechen: in Röm 13,9 und in Gal 5,14. In beiden Fällen geht es darum, dass
Paulus mithilfe dieses Gebotes zum Ausdruck bringen will, dass es die Liebe ist,
durch die das Gesetz erfüllt wird.
Dass Paulus gerade in den beiden Briefen, in denen er sich kritisch mit der Tora
auseinandersetzt ( C.III.3.7.4.), das Liebesgebot von Lev 19,18 zitiert, ist alles an-
dere als ein Zufall. Thema ist darum auch in beiden Texten nicht die Liebe, son-
dern das Gesetz und wie es zu erfüllen ist. Das gilt gerade auch für den letzten
Satz in Röm 13,10, den viele Bibelübersetzungen missverständlich wiedergeben.
Subjekt ist hier »die Erfüllung des Gesetzes«, und »die Liebe« ist das Prädikats-
nomen. Paulus will die Leser in die Lage versetzen, sagen zu können, dass auch sie
die Rechtsforderung des Gesetzes erfüllen – nämlich durch die Liebe. Die Liebe
setzt das Gesetz weder außer Kraft noch tritt sie an seine Stelle. Was Paulus viel-
mehr zum Ausdruck bringen will, ist nichts anderes, als dass die Beachtung des
Liebesgebots zu demselben Ergebnis führt wie die Beachtung aller anderen
Rechtsforderungen des Gesetzes. Mithilfe des Liebesgebots stellt er den Umgang
mit den Forderungen der Tora vielmehr in eine neue ethische Systematik ein:
nicht mehr ›bottom up‹, sondern ›top down‹.
III. Theologische Themen 453
Freilich gilt auch, dass Paulus dem Liebesgebot nicht darum Verbindlichkeit
zuschreibt, weil es in der Tora steht. Genau das Gegenteil ist vielmehr der Fall: In
beiden Texten beginnt Paulus mit der Liebesforderung (Röm 13,8a; Gal 5,13c),
und dann reflektiert er von ihr aus auf Lev 19,18. Seine Ethik der Liebe kommt
darum nicht ohne Grund in den anderen Texten gänzlich ohne die Reflexion auf
Lev 19,18 aus. Dieser alttestamentliche Text ist vielmehr allein darum von Bedeu-
tung, weil Paulus mit seiner Hilfe eine Brücke bauen kann, die von der herausra-
genden Bedeutung der Liebe als zentraler christlicher Tugend zur Tora führt.
Dass es in der Tora dieses Gebot gibt, macht es Paulus überhaupt erst möglich, sie
in seine Ethik zu integrieren. Das Liebesgebot adelt die Tora und nicht umge-
kehrt.
Im Kontext der Sachfrage, die Paulus im Römer- und im Galaterbrief disku-
tiert, bekommt die Ausrichtung der paulinischen Argumentation damit ein deut-
lich erkennbares Profil: Durch die Liebe erfüllen Heidenchristen die Tora, ohne
dass sie Juden werden müssen, und sie treten damit auch auf dieser Ebene in
Gemeinschaft mit den jüdischen Christen, die ihr alltagsweltliches Leben an der
Tora orientieren. Umgekehrt gilt aber natürlich auch für diese die Liebesforde-
rung mit ihren Implikationen. Nicht nur der Glaube, sondern auch die Liebe
macht jüdische und nicht-jüdische Christen einander gleich, denn sie macht die
Unterschiede zwischen ihnen unsichtbar. Damit sind auch Röm 13,10 und Gal 5,14
den oben behandelten Texten an die Seite zu stellen.
Söding, Thomas: Das Liebesgebot bei Paulus. Die Mahnung zur Agape im Rahmen der pauli-
nischen Ethik (NTA 26), Münster 1995.
Michael Wolter
Im Folgenden wird der Begriff »Kirche« in dem Sinne verwandt, wie er sich bei
Paulus in Gal 1,13 und anderswo (1Kor 1,2; 10,32; 11,16.22; 15,9; 2Kor 1,1; 1Thess
2,14) findet: Kirche als »Gemeinde Gottes«. Der Ausdruck reicht bis in die frühe
nachösterliche Zeit zurück und spiegelt das Selbstverständnis der judenchrist-
lichen Gemeinden in Palästina. Mit »Israel« ist zunächst das von Gott erwählte
Volk gemeint, das sich durch die Exklusivität seiner Bindung an diesen erwäh-
lenden Gott von allen übrigen Völkern unterschieden weiß (Dtn 7,6 f.; 10,15; 14,2;
Jub 2,19 f. u. ö.). Paulus nimmt diesen Sprachgebrauch auf (Röm 9,31; 10,19.21),
akzentuiert aber neu, indem er das Bedeutungsspektrum des ursprünglich eth-
nisch und religiös definierten Israel-Begriffs erweitert und ihn auch auf jüdische
wie nicht-jüdische Christen bezieht (z. B. Röm 9,6b[fin.]; 11,7; Gal 6,16). Daraus
wird ersichtlich: Einerseits besteht zwischen Kirche und Israel ein theologisch
begründetes Zuordnungsverhältnis, andererseits ein differenziert zu bewertendes
Spannungsverhältnis, sofern von »Israel« in Abgrenzung zu den Völkern die
Rede ist.
454 C. Werk
»Nachkomme Abrahams« und »Hebräer« zu sein (Röm 11,1; 2Kor 11,22; Phil 3,5;
vgl. Röm 9,4.7). Er ist Benjaminit (Röm 11,1; Phil 3,5) wie der erste israelitische
König (1Sam 9,1 f.), mit dem ihn, folgt man der Apostelgeschichte, auch sein (jü-
discher) Name verbindet: Saulus (7,58; 8,1; 9,1.11; 13,9 u. ö.). Nirgends wird ersicht-
lich, dass er, der ehemalige pharisäische »Eiferer« für die väterlichen Überliefe-
rungen und Verfolger der »Gemeinde Gottes« (Gal 1,13 f.; Phil 3,5 f.), seinen ge-
genwärtigen Status als von Gott berufener Völkerapostel (Röm 11,13; vgl. Gal
1,15 f.; 2,8 f.) in Abgrenzung zu seinem Juden-Sein und seiner Identität als Israelit
definiert.
Angesichts der Tatsache, dass Paulus zeitlebens Jude geblieben ist und sich auch
so verstanden hat – die Feststellung: »Ich bin den Juden wie ein Jude geworden«
(1Kor 9,20) spricht keinesfalls dagegen –, wirken seine Aussagen über Israel umso
befremdlicher. Sei erscheinen ambivalent, ja widersprüchlich und lassen sich
nach verbreiteter Auffassung auf keinen einheitlichen Nenner bringen. Es sind
v. a. der 1. Thessalonicher-, der Galater- und der Römerbrief, die den Eindruck
erwecken, als spiegelten sie nicht nur eine unterschiedliche Perspektive auf das
theologische Beziehungsverhältnis von Kirche und Israel, sondern einen Paradig-
menwechsel: von einer negativen hin zu einer positiven Verhältnisbestimmung.
Liest man die entsprechenden Äußerungen synoptisch, ist ein Gefälle zwischen
dem ältesten (1Thess) und wohl jüngsten Brief (Röm) unverkennbar.
Eingangs des 1. Thessalonicherbriefs dankt Paulus für den Glaubensstand der
Gemeinde (1,2 f.). Trotz »großer Bedrängnis« hat sie das Wort freudig angenom-
men (1,6). Mit der »großen Bedrängnis« sind konkrete Leidenserfahrungen – etwa
sozialer Druck, Diffamierung, Beziehungsverluste – gemeint, als deren Urheber
die eigenen Landsleute genannt werden (2,14). Paulus selbst musste Thessalonich
überstürzt verlassen (Apg 17,10). Seinen vorzeitigen Weggang aus der Provinz-
hauptstadt Makedoniens verbindet Apg 17,5–9 mit einer gegen ihn und Silas/Sil-
vanus gerichteten Initiative der ortsansässigen Judenschaft. Wahrscheinlich spielt
1Thess 2,14–16 darauf an. Dort reitet Paulus eine scharfe Attacke gegen die Juden
(V. 14). Durch sie hätte die »Gemeinde Gottes« in Judäa dasselbe erlitten wie die
thessalonischen Christen seitens ihren heidnischen Mitbürger. Anschließend
heißt es von den Juden weiter, sie hätten den Herrn Jesus und die Propheten getö-
tet, »uns« verfolgt, gefielen Gott nicht und seien überhaupt allen Menschen feind-
lich (V. 14 f.), indem sie »uns hindern, den Heiden (das Evangelium) zu verkündi-
gen« V. 16). Die Kette der Vorwürfe mündet in den Satz: »Über sie wird das Zorn-
gericht Gottes endgültig hereinbrechen« (V. 16c). Vielfach wird er so gedeutet, als
laufe seine judenkritische Sinnspitze auf eine Substitution Israels durch die Kirche
hinaus. Dann wäre gemeint: Die Kirche ist das neue Israel, das an die Stelle des
alten getreten ist und es beerbt hat. Unter dieser Voraussetzung wird Paulus’ Sicht
456 C. Werk
im 1Thess folgendermaßen bestimmt: »In der eschatologischen Zeit ist die Erwäh-
lung auf die Kirche aus Juden und Heiden übergegangen. Für die die Heidenmis-
sion behindernden Juden bleibt nur der eschatologische Zorn übrig« (Lüdemann
1983, 24 f.). Anders formuliert: Das letzte Wort über sie ist schon gesprochen. Im
endzeitlichen Gericht sind sie der Verwerfung preisgegeben.
Der Galaterbrief reflektiert eine andere Problemsituation. Mit ziemlicher Si-
cherheit ist er nach dem 1. Thessalonicherbrief entstanden. Zumeist wird er zeit-
lich in die Nähe des Römerbriefs gerückt. Dafür sprechen u. a. die engen theolo-
gischen Berührungen und Strukturparallelen im Briefaufbau. Vermutlich ist das
an verschiedene (Haus-)Gemeinden gerichtete Zirkularschreiben (1,2) nur weni-
ge Monate vorher abgefasst worden. Ein besonderes Kennzeichen des Galater-
briefs ist seine z. T. harte Polemik. Mit ihr reagiert Paulus auf die Aktivitäten ju-
denchristlicher Missionare, die von außen in die Gemeinden gestoßen sind und
gegen seine Verkündigung agitieren, wohl auch seine apostolische Legitimität
infrage stellen (vgl. 1,1). Auslöser des Konflikts ist ein Streit über die Funktion und
Bedeutung der Beschneidung im Bereich der Ekklesia. Im Kern geht es um die
Frage nach der Heilsrelevanz der Beschneidung für die Mitglieder der »Gemeinde
Gottes« (1,13). Sie ist gleichbedeutend mit der anderen Frage, wer oder was christ-
liche Identität konstituiert. Sollte der Beschneidung diese ihr von den Gegnern
zugeschriebene Funktion zukommen, erhielte sie den Rang eines christlichen
Differenzmerkmals und wäre darum unverzichtbar. Das hieße aber zugleich:
Nichtjuden ist der direkte Weg in die christliche Gemeinschaft verbaut. Er führt
nur über das Judentum. Aus Sicht der Gegner ist das in der Tat der Fall. Für sie
sind die Galater, obwohl Christen, Heiden (ἔθνη) im Sinne der Tora, weil ihnen
mit der Beschneidung das »Zeichen des Bundes« (Gen 17,11) fehlt. Folglich müs-
sen sie sich beschneiden lassen. Erst wenn sie diesen Schritt vollzogen haben und
Proselyten geworden sind, gehören sie zu dem in Abraham erwählten Gottesvolk
Israel. Eine Alternative gibt es nicht. Rechtmäßige Nachkommen Abrahams und
Mitempfänger der ihm gegebenen Verheißungen (Gen 12,2 f.; 15,5.18; 17,16; 22,17
u. ö.) sind ausschließlich jene, die wie er (Gen 17,24.26; vgl. 17,9–14) beschnitten
sind. »Gemeinde Gottes« (1,13) bzw. Kirche ist deshalb für die Fremdmissionare
nur innerhalb der halachisch definierten Grenzen des Judentums vorstellbar.
Paulus hält dagegen, indem er sich ebenfalls auf Abraham beruft (3,6–9). Gen
15,6 entnimmt er, dass der Erzvater als noch Unbeschnittener die Verheißungen
empfing und allein aufgrund seines Glaubens von Gott gerecht gesprochen wur-
de. Daraus folgert er, wiederum im Rückgriff auf die Schrift (Gen 12,3; 18,18), dass
Gottes Verheißungen seit jeher universale Gültigkeit besitzen, Menschen aus der
Völkerwelt also immer schon in sie eingeschlossen sind. Die in den biblischen
Bezugstexten gebrauchte singularische Form »Nachkomme« interpretiert Paulus
dann auf Christus hin. Mit dem einen Nachkommen ist niemand anders als er
gemeint (Gal 3,16). Weil das so ist, sind auch alle, die an ihn glauben und getauft
sind (3,26 f.), Nachkommen Abrahams und Erben der ihm zuteil gewordenen
Verheißungen (3,14.22.29), seien sie Juden- oder Heidenchristen.
III. Theologische Themen 457
Im galatischen Konflikt entwickelt Paulus mit Verweis auf Abraham ein Ver-
ständnis von »Israel«, das sich von dem seiner Gegner fundamental unterschei-
det. Nicht leibliche Abstammung begründet die Zugehörigkeit zum erwählten
Gottesvolk. Einziges Kriterium ist vielmehr der Glaube. Er stellt nicht nur eine
notwendige, sondern auch hinreichende Bedingung dar. Durch ihn und ihre Tau-
fe »auf Christus« sind die heidenchristlichen Galater längst, was den Kontra-
henten als Wirkeffekt der angemahnten Beschneidung gilt: »Gottes Kinder« (3,26;
4,4–7). Hingegen befinden sich die nicht glaubenden, d. h. dem Evangelium sich
verschließenden Juden »unter dem Gesetz« (3,23; 4,5.21; 5,18), das den Fluch an-
droht (3,10), in Haft hält (3,23 f.) und, so die Quintessenz der Sara-Hagar-Alle-
gorese (4,21–31), in Gestalt der Sinai-Tora zur Knechtschaft führt. Der Kontrast
könnte nicht schärfer sein: hier das mit dem »jetzigen Jerusalem« (4,25) gleichge-
setzte toraorientierte Judentum, das wie der Sohn der Magd Hagar vom Erbe
ausgeschlossen ist (4,30); dort die Christen, die das »obere Jerusalem« (4,26) zur
Mutter haben und als »Kinder der Freien« (4,31) Verheißungserben sind.
In diese Linie fügt sich 6,16 ein: »Alle nun, die im Einklang mit diesem Maßstab
stehen (nämlich dass in Jesus Christus »weder Beschneidung noch Unbeschnit-
ten-Sein etwas gilt, sondern neue Schöpfung« [6,15]) – Friede und Barmherzig-
keit (komme) über sie und über das Israel Gottes«. Wenn Paulus hier vom »Israel
Gottes« spricht, ist kaum an das empirische Israel gedacht. Der Genitiv hat iden-
tifizierende Funktion und markiert den Unterschied zwischen einem »wahren«
und einem »falschen« Israel. Auch vom brieflichen Kontext her (3,7.9.29; 4,28.31)
und im Blick auf die aktuelle Diskussionslage liegt es näher, den Ausdruck auf die
Gesamtheit der Christen zu beziehen, also inklusive der Völkerchristen, zu denen
die Galater gehören.
Der Galaterbrief scheint hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Kirche
und Israel nahtlos an 1Thess 2,14–16 anzuknüpfen. Da er das »Israel Gottes« mit
der Kirche identifiziere, »die jenseits der Knechtschaft des Gesetzes« stehe, ver-
trete er eine »konsequente Enterbungstheorie« (Roloff 1993, 126). In ihr sei »kein
Raum mehr für eine selbständige Qualität Israels post Christus natum« (Kraus
1996, 252). Demnach ließe sich die in beiden Briefen zur Anschauung gebrachte
Position so charakterisieren: Die Kirche aus Juden- und Heidenchristen repräsen-
tiert das wahre Israel. Auf Seiten des geschichtlich verstandenen Israel bleibt nur
ein »theologisches Vakuum« übrig (Theobald 2001b, 329). Die Gesamtheit der
nicht glaubenden Juden ist entweder verworfen (1Thess) oder hat trotz genealo-
gisch vermittelter Kontinuität den Anspruch verwirkt, damit auch in der Konti-
nuität der Erwählung Abrahams zu stehen (Gal).
Wesentlich differenzierter äußert sich Paulus im Römerbrief. Schon der pro-
grammatische Auftakt in 1,16 f. lässt dies erkennen. Die Verse geben das Thema an
und verweisen auf den Problemhorizont, der im Brief entfaltet wird. Einerseits
gilt: Das Evangelium ist eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt, sei er
Jude oder Grieche (V. 16, vgl. 10,11 [= Jes 28,16]). Dass und warum es der Glaube
ist, durch den Gott einen jeden Menschen ohne Rücksicht auf seine ethnische
458 C. Werk
gangsthese »Aber es ist nicht so, dass Gottes Wort hinfällig geworden ist« anzu-
treten.
Der bis 11,10 entwickelte Gedankengang lässt sich aufs Wesentliche konzen-
triert so zusammenfassen: Israel als Ganzes ist das von Gott erwählte Volk, nicht
bloß ein Rest. Denn die an Abraham ergangene Verheißung richtete sich ohne
Einschränkung an seine natürlichen Nachkommen. In seiner freien Gnadenwahl
(9,11b; 11,5) hat Gott diese Zusage bis jetzt nur an einem Teil erfüllt. Die Übrigen
haben zwar »Eifer um Gott«, aber die rechte Erkenntnis der Gottesgerechtigkeit
blieb ihnen versperrt (9,31; 10,2 f.). Sie wurden verhärtet (11,7), sodass sie am
»Stein des Anstoßes«, Christus, zu Fall gekommen sind (9,32 f.). Diese von Gott
geschehene Verhärtung – von einer »Schuld« Israels kann deshalb keine Rede sein
– steht ebenso wenig im Widerspruch zur Schrift (11,8–10) wie die Berufung der
dem Evangelium Glauben schenkenden Heiden in das Gottesvolk (9,25 f.). Und
weil es die Judenchristen gibt, hat Gott sein Wort weder gebrochen noch ist Israel
wie Sodom und Gomorrha geworden (9,29). Doch ist damit noch nicht die Frage
beantwortet, wie es um das künftige Geschick des mehrheitlich dem Evangelium
von Jesus Christus sich versagenden Israel bestellt ist.
Ihr wendet sich Paulus in 11,11–32 zu. Er muss nun zeigen, dass und wie das
geschichtlich noch unabgegoltene »den Juden zuerst« (1,16c) sich an »ganz Israel«
(11,26a) eschatologisch realisiert. Sein Beweisziel steuert er schrittweise an (11,1b–
15.16–24.25–32), indem er aus unterschiedlicher Perspektive das Verhältnis Israels
zu den Heiden, genauer: das Nein der »Übrigen« zum Evangelium und das Ja der
an Christus glaubenden Nichtjuden unter dem Aspekt ihrer von Gott bestimm-
ten Aufgabe füreinander in den Blick nimmt. Weder Israels Straucheln am »Stein
des Anstoßes« (9,32) und »Fels des Ärgernisses« (9,33) noch seine Verhärtung
sind der Endzweck von Gottes Handeln. Effektive Folge von Israels Unglaube ist
der Weg des Evangeliums zu den Völkern. Damit verbindet sich wiederum eine
bestimmte Absicht. Die Gewinnung der Heiden hat heilvolle Bedeutung für Isra-
el. Sie soll die vom christusgläubigen »Rest« unterschiedene Mehrheit der Juden
eifersüchtig machen (11,11.14; vgl. 10,19). Eifersucht motiviert zur nachahmenden
Konkurrenz. So birgt selbst Israels »Fehltritt« eine jetzt zwar noch rätselhafte,
letztlich aber positiv zu Buche schlagende Bewegung in sich. Führt seine zeitweise
»Verwerfung« bzw. »Zurücksetzung« zur Versöhung der Völkerwelt mit Gott,
wird seine Wiederannahme – 11,23 f. spricht vom »Wiedereinpfropfen« der he-
rausgebrochenen Zweige (vgl. 11,17–21) – nichts anderes sein als »Leben aus den
Toten« (11,15). Bereits hier klingt an, was 11,25 in apokalyptischer Terminologie als
ein »Geheimnis« bezeichnet. Nachdem die »Vollzahl der Heiden«, d. h. ihre von
Gott festgesetze Zahl, ins Heil »eingegangen sein wird«, wird der vom Zion kom-
mende Parusie-Christus »die Gottlosigkeit von Jakob entfernen« (11,26c). Auf
diese Weise geschieht, was 11,26a als Gewissheit formuliert: »Ganz Israel wird ge-
rettet werden«. Über das Wann äußert sich Paulus nicht. Wichtig ist allein: Israels
Heilsferne ist nicht von Dauer, sondern zeitlich befristet. Mit der Überwindung
des jüdischen Nein wird Gottes Bundeszusage (11,27), die er Abraham und seiner
460 C. Werk
Die in Röm 9–11 entfaltete Perspektive auf das Verhältnis von Kirche und Israel
wird häufig im Sinne einer Selbstkorrektur interpretiert. Paulus relativiere seine
früheren Urteile nicht nur, sondern nehme sie vollständig zurück. Während er
das empirische Israel in 1Thess 2,14–16 faktisch abgeschrieben und im Gala
terbrief gleich in doppelter Hinsicht theologisch profaniert habe (Aberkennung
der Abrahamskindschaft, Reservierung des Israel-Begriffs für die »Gemeinde
Gottes«), werde es jetzt wieder in die verheißungsgeschichtliche Kontinuität des
erwählten Gottesvolkes eingestellt. Diese gravierenden Differenzen ließen auf ei-
nen Entwicklungsprozess im paulinischen Denken schließen, der durch substan-
tielle Wandlungen gekennzeichnet sei und zu einem vertieften Verständnis von
Israel geführt habe. Fraglich ist jedoch, ob dies tatsächlich der Fall ist. Eine verän-
derte Sicht bedeutet nicht notwendig auch, dass es keine Konstante gibt. In der
Sache wiederholt Paulus im Römerbrief, was er im Galaterbrief gesagt hat: Wahre
Abrahamskindschaft und Erwählungskontinuität werden nicht genealogisch,
sondern allein durch den Glauben vermittelt. Eine Heilsperspektive für Israel an
Christus vorbei kennt auch Röm 11,25–27 nicht. Und der im 1. Thessalonicher-
brief an die Juden adressierte Vorwurf: »Sie hindern uns, den Heiden [das Evan-
gelium] zu verkündigen, damit sie gerettet werden« (2,16a) könnte ein Indiz da-
für sein, dass Paulus sich schon viel früher als zur Zeit der Abfassung des Römer-
briefs darüber im Klaren war, dass zwischen der künftigen Errettung von »ganz
Israel« und dem Heil für die Völkerwelt ein unauflöslicher innerer Zusammen-
hang besteht. Ebenso wenig wie er sich eine rein heidenchristliche Kirche vorstel-
len kann und will, vermag er das mehrheitliche Nein Israels zum Evangelium als
einen Zustand ad infinitum zu begreifen. Die entscheidende Differenz gegenüber
dem 1. Thessalonicherbrief liegt in der Revision des »endgültig« von 2,16c. Nicht
die Ankündigung des endgültig hereinbrechenden Zorngerichts ist das Letzte,
was Paulus von Israel zu sagen weiß, sondern dessen in Gottes unverbrüchlicher
Verheißungstreue gründende Teilhabe am universalen Erlösungsgeschehen:
»Gott hat nämlich alle an den Unglauben preisgegeben, damit er sich aller erbar-
me« (Röm 11,32).
III. Theologische Themen 461
Bachmann, Michael: Kirche und Israel Gottes, in: Ders.: Antijudaismus im Galaterbrief? Exe-
getische Studien zu einem polemischen Schreiben und zur Theologie des Apostels Paulus
(NTOA 42), Freiburg (CH)/Göttingen 1999, 159–189.
Bell, Richard H.: The Irrevocable Call of God. An Inquiry into Paul’s Theology of Israel
(WUNT 184), Tübingen 2005.
Kraus, Wolfgang: Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus (WUNT 85),
Tübingen 1996.
Sänger, Dieter: Die Verkündigung des Gekreuzigten und Israel. Studien zum Verhältnis von
Kirche und Israel bei Paulus und im frühen Christentum (WUNT 75), Tübingen 1994.
Theobald, Michael: Kirche und Israel nach Röm 9–11, in: Ders.: Studien zum Römerbrief
(WUNT 136), Tübingen 2001, 324–349.
Dieter Sänger
6. Die Hoffnung
Was das Thema »Auferstehung der Toten« für Paulus bedeutet, lässt sich auf zwei-
fache Weise bestimmen. Zum einen kommt darin ein Stück seiner religiösen So-
zialisation zum Vorschein, denn die Auferstehungshoffnung ist fester Bestandteil
pharisäischer Theologie (Flav.Jos.Bell. II 163–166/Flav.Jos.Ant. XVIII 14; Mk
12,18–27 par.). Ein solches Erbe äußert sich etwa in der pauschalen Prädikation
Gottes, »der die Toten auferweckt/lebendig macht« (2Kor 1,9; Röm 4,17). Lukas
nimmt diesen Zug noch deutlicher auf und gestaltet ihn im Blick auf die Kontro-
verse zwischen Pharisäern und Sadduzäern erzählerisch aus (Apg 23,6–8;
24,14 f.20 f.). Dass man in dieser Frage auch auf dem weiten Feld von Philosophie
und hellenistischer Religiosität unterschiedlicher Meinung sein konnte, macht
Lukas anhand der Areopagrede des Paulus in Athen deutlich (Apg 17,18.32); ein
vergleichbares Gesprächsklima wird schon die Auseinandersetzung in Korinth
geprägt haben. Zum anderen erweist sich das Thema insgesamt als ein Herzstück
paulinischer Theologie, auch wenn seine Behandlung in den erhalten gebliebe-
nen Briefen situationsbezogen erfolgt. Immerhin präsentiert sich 1Kor 15,1–58 als
eine durchdachte, sorgfältig komponierte Einheit von grundsätzlicher Bedeutung
an exponierter Stelle. Nicht ohne Grund spitzt auch Lukas die Botschaft des Pau-
lus immer wieder auf die Frage der Auferstehungshoffnung zu (vgl. Apg 17,18.32;
23,6; 24,15.21; 26,8.23; dazu 4,1 f.). Die alttestamentliche Tradition, an der sich ein
allmählicher Durchbruch dieser Hoffnung in der Glaubensgeschichte Israels be-
obachten lässt, ist für Paulus stets präsent, bleibt argumentativ aber eher im Hin-
tergrund.
Die Frage nach der Auferstehung der Toten stellt keinen isolierbaren Topos dar.
Vielmehr ist sie eng mit der Christologie und der Soteriologie vernetzt. Dass die
Toten auferstehen werden, resultiert für Paulus primär und grundlegend aus der
Auferstehung Christi selbst: Diesen Zusammenhang entwickelt er ausführlich in
462 C. Werk
Im Blick auf die Gesamtstruktur des 1. Korintherbriefs gewinnt man den Ein-
druck, Paulus habe sich das Thema Auferstehung bewusst bis zum Schluss aufge-
spart. 1Kor 15 bietet nicht nur die längste, sondern auch die argumentativ an-
spruchsvollste Einheit des ganzen Briefes. Sie setzt weder mit der stereotypen
Formel »über xy aber [. . .]« noch mit dem Verweis auf konkrete Nachrichten aus
Korinth ein, sondern mit der Beschwörung eines dreifachen Konsenses: Was
Paulus nun mitzuteilen beabsichtigt, entspricht a) der seinerzeit in Korinth be-
III. Theologische Themen 463
Toter« gehen sie von der Fortexistenz eines unsterblichen Teiles im Menschen
(etwa der »Seele«) aus, was in guter platonischer Tradition stünde. Solchen Vor-
stellungen hat sich die jüdische Theologie im 1. Jh. n.Chr. bereits geöffnet, wie
man an Philo von Alexandrien sehen kann. In diesem geistigen Milieu ist dann
auch am ehesten der religiöse Kontext der Auferstehungsleugner in Korinth zu
suchen (Sellin 1986). Beide Parolen, die Paulus zitiert, würden sich dann wech-
selseitig interpretieren: 15,35 erweist sich als Schlüssel für das Verständnis von
15,12; was die erste Parole noch in der Schwebe hält, gewinnt mit der zweiten an
Kontur. Demnach aber wäre schon in dem ersten Argumentationsgang die Leib-
lichkeit der Auferstehung impliziert, wenn die Auferstehung Jesu als eine leibliche
Auferstehung vorausgesetzt ist.
Zunächst betreibt Paulus einigen Aufwand, um die Auferstehungshoffnung
christologisch zu begründen (15,12–34). Über das konkrete logische Muster seiner
Argumentation hat es eine längere Debatte gegeben (Vos 1999). Sicher ist, dass
Paulus ganz bewusst zu diesem rhetorischen Mittel greift. Ihm liegt daran, die
korinthische Bestreitung der Auferstehungshoffnung als einen Denkfehler zu
entlarven und auf der Ebene rationaler Schlussfolgerungen zu widerlegen. Unter
der Voraussetzung der Auferstehung Jesu erscheint jener Einwand als Trugschluss;
wer das eine bekennt, kann das andere nicht ablehnen. Vielmehr: Wer das tut,
stellt damit auch den Kern des urchristlichen Bekenntnisses infrage. Insofern geht
die Argumentation zwangsläufig über das Muster eines modus tollens oder ponens
hinaus und nimmt den Charakter eines argumentum ad hominem an, um den
Kasus entsprechend wirksam entfalten zu können. In Abschnitt I (12–19) formu-
liert Paulus zwei Reihen von »Wenn-dann-Sätzen«, die jeweils von dem Leitsatz
»Wenn es eine Auferstehung Toter nicht gibt, dann ist auch Christus nicht aufer-
weckt worden« (13.16) eingeleitet werden. Zur Eröffnung steht in 15,12 das Be-
kenntnis zur Auferweckung Jesu in einem programmatischen Kontrast zu jener
Parole der Auferstehungsleugner. In Abschnitt II (20–28) skizziert Paulus darauf-
hin ein heilsgeschichtliches Szenario, wozu er die Adam-Christus-Typologie
(21 f.) einführt: Durch Adam kam der Tod in die Welt, durch Christus kommt die
Auferstehung der Toten. Diese Entsprechung beruht auf der Voraussetzung, dass
Adams Verfehlung nicht als Episode einer individuellen Biographie, sondern als
exemplarisches, prototypisches Geschehen zu verstehen sei. Es liegt auf der Hand,
dass Paulus hier ebenfalls auf Vorstellungen aus der jüdisch-hellenistischen Theo
logie alexandrinischer Provenienz zurückgreift, in der die Vorstellung von zwei
»Urmenschen« schon bekannt ist (Sellin 1986). Paulus indessen modifiziert die-
se Vorstellung und baut sie dann besonders in 15,45–47 charakteristisch aus. Vor-
dringlich geht es ihm darum, deutlich zu machen: So wie mit der Erschaffung des
Menschen ein »Modell« entstand, das für die gesamte Menschheit prägend wur-
de, so ist auch die Neuschaffung des Menschen in Christus kein singulärer Akt,
sondern einer, der fortan die Geschichte der Menschheit prägt; mit Christus be-
ginnt die Menschheitsgeschichte unter veränderten Vorzeichen noch einmal neu.
Deshalb gebraucht Paulus nun für Christus auch gezielt den Begriff des »Ersten/
III. Theologische Themen 465
Erstlings« (ἀπαρχή) und spannt den Bogen dieses Neubeginns bis zur endzeit-
lichen Vollendung der Gottesherrschaft aus, »damit Gott alles in allem sei« (15,28).
In Abschnitt III (29–34) schließlich stellt Paulus dann noch einmal einige Fallbei-
spiele zusammen, an denen deutlich wird: Christuszugehörigkeit ist auf eine Zu-
kunft hin angelegt, die nicht an der Todesgrenze endet. Mit einem Appell an die
»Erkenntnis Gottes« schließt Paulus in 15,34 diesen ersten Argumentationsgang
sachgemäß ab.
Schwieriger gestaltet sich die Argumentation hinsichtlich des zweiten Ein-
spruchs, der nun ganz direkt nach dem »Leib« in der Auferstehungsexistenz fragt
(15,35). Hier unternimmt es Paulus nachdrücklich, die Auferstehung als eine
ganzheitlich-leibliche zu verteidigen. In Abschnitt IV (35–49) setzt er zunächst
mit einem Gleichnis ein, das aus der landwirtschaftlichen Erfahrung stammt (36–
38): Saatkorn und Weizen stehen in einem organischen Zusammenhang und sind
dennoch nicht dasselbe. Dazwischen liegt der »Tod« des Saatkorns, aus dem das
neue Leben erst hervorgehen kann. Doch dieses Gleichnis vermag noch nicht zu
befriedigen, da im Falle von Saatkorn und Weizen beide σώματα (Leiber) im Be-
reich materieller Wirklichkeit verbleiben. Darüber versucht Paulus hinauszu-
kommen, indem er nun relativ unvermittelt den Begriff des »Fleisches« (σάρξ)
einführt und daran verschiedene qualitative Ebenen demonstriert: die erste Reihe
(39) setzt noch einmal im Bereich materieller Wirklichkeit an – Mensch, Vieh,
Vögel und Fische haben eine unterschiedliche »Beschaffenheit« (σάρξ). Dann
aber kehrt er zum Begriff des »Leibes« (σῶμα) zurück und postuliert einen
grundlegenden qualitativen Unterschied zwischen »himmlischen« und »irdischen
Leibern« (40 f.) – als Beispiele dienen ihm dafür nun Sonne, Mond und Sterne.
Ihre unterschiedliche »Herrlichkeit/Schönheit« (δόξα) markiert ihre Zugehörig-
keit zu unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen, wobei es Paulus darum geht,
dass es sich in beiden Wirklichkeitsbereichen tatsächlich um σώματα handelt –
also nicht um rein geistige, immaterielle Phänomene, sondern um Größen, denen
eine wahrnehmbare Körperlichkeit eignet. Nicht die Körperlichkeit als solche
steht zur Debatte, sondern allein ihre Beschaffenheit. Zu deren Beschreibung
greift Paulus zwei Kategorien auf, die seinen korinthischen Adressaten geläufig
sein mussten: Beide Wirklichkeitsbereiche lassen sich grundlegend durch den Ge-
gensatz von »Vergänglichkeit« und »Unvergänglichkeit« charakterisieren; die
weiteren Gegensätze (Erbärmlichkeit – Schönheit, Schwachheit – Kraft) sind da-
raus nur abgeleitet. Daraufhin schlägt Paulus wieder den Bogen zum Menschen
und prägt vor diesem Hintergrund ein neues Begriffspaar aus – nämlich das eines
»psychischen« und eines »pneumatisches« Leibes. Dass er mit dem »psychischen
Leib« den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit meint, als materiell konstituiertes
lebendiges Wesen, ist vom Zusammenhang her klar. Mit dem »pneumatischen
Leib« aber meint Paulus dann den Menschen in seiner Auferstehungswirklichkeit,
die er als eine ebenso körperlich wahrnehmbare, wenngleich unter dem Vorzei-
chen der Unvergänglichkeit völlig anders geartete Existenzweise versteht. Um die-
sen Gedanken mit der Auferstehung zu verbinden, greift er noch einmal die
466 C. Werk
Ein Problem, das in 1Thess 4 und 1Kor 15 ebenfalls offenbleibt, klingt in Phil 1 und
3 noch einmal an: Was geschieht zwischen dem Tod des Einzelnen und der Paru-
sie Christi? Wann beginnt die Gemeinschaft mit dem Kyrios?
Paulus schreibt aus der Haft; die Lage ist so bedrohlich, dass er am Leben ver-
zweifelt. In dieser Situation öffnet er den Philippern sein Herz. Er weiß, dass
Christus an seinem Leib verherrlicht wird – »sei es durch Leben oder durch Tod«.
Deshalb hat er die Größe, selbst das Sterben als Gewinn betrachten zu können
(Phil 1,20). Zugleich setzt ihm jedoch trotz aller Bedrängnisse auch die Verant-
wortung für seine Gemeinden zu. Das führt zu einem persönlichen Konflikt:
»Was ich aber wählen soll, weiß ich nicht. Ich bin hin- und hergerissen: Ich habe
Verlangen, aufzubrechen und mit Christus zu sein, was auch viel besser wäre. Das
Bleiben im Fleisch aber ist notwendiger um euretwillen.« (Phil 1,22–24). Diese
Töne klingen ganz anders, als es die ausschließliche Ausrichtung auf den Paru-
sie-Christus erwarten ließe. Bedeutet ein vorzeitiges Todesgeschick, schon unmit-
telbar nach dem Tod »mit Christus« zu sein? Anstelle von »Auferstehung« spricht
Paulus davon »aufzubrechen«. Das Ziel, die Gemeinschaft mit Christus, ist das-
selbe.
Wenig später kommt Paulus dann expressis verbis auf das Thema Auferstehung
zurück. Die Erkenntnis Christi impliziert, auch »die Kraft seiner Auferstehung«
zu erkennen. Demnach eignet der Auferstehung Jesu eine Wirksamkeit, die von
Paulus Besitz ergreift – so nämlich, dass er »gleichgestaltet mit seinem Tod, viel-
leicht auch zur Auferstehung von den Toten gelangen möchte« (Phil 3,10). Die
vage Formulierung überrascht: In Röm 6,3–8 wird Paulus diesen Gedanken sehr
viel zuversichtlicher aussprechen. Ist diese Hoffnung zudem identisch mit der
Erwartung, bereits im Tod »mit Christus« zu sein (Phil 1,23)? Abschließend öffnet
sich noch einmal der Blick auf die Parusie. Vom Himmel her erwartet Paulus mit
den Philippern den Retter, »der den Leib unserer Niedrigkeit verwandeln wird,
gleichgestaltet dem Leib seiner Herrlichkeit« (Phil 3,20 f.). Die Terminologie lässt
an 1Kor 15,45–47.51 f. denken. Geht Paulus trotz eines drohenden gewaltsamen
Todes davon aus, die Parusie noch zu erleben und »verwandelt« zu werden? Oder
beschreibt er damit ganz allgemein den Beginn einer neuen Existenzweise in der
Auferstehungswirklichkeit?
Auf eine ähnlich persönliche Weise kommt Paulus noch einmal im 2. Korinther-
brief auf die Auferstehung zu sprechen. Doch dabei bedient er sich nun einer
ganz anderen Terminologie. Der Rahmen bleibt der gleiche wie in 1Kor 15: Es gibt
zwei Wirklichkeitsbereiche, die sich als »sichtbar-vergänglich« und als »unsicht-
bar-ewig« unterscheiden lassen (2Kor 4,17 f.). Neu ist hingegen, wie Paulus den
Übergang von dem einen in den anderen Wirklichkeitsbereich beschreibt.
III. Theologische Themen 469
Paulus betont nun stärker das Moment der Kontinuität, nimmt aber dabei den
Gedanken der Leiblichkeit zurück. Zunächst führt er dazu das Bild vom »äuße-
ren« und »inneren Menschen« ein: Der äußere geht zugrunde, der innere jedoch
wird täglich erneuert – und offensichtlich auch über die Todesgrenze hinaus be-
wahrt! Was aber ist damit gemeint? Geht es dabei nun doch um eine Art unsterb-
lichen Identitätskern im Menschen? Nach wie vor verbietet es sich für Paulus,
dafür den Begriff der »Seele« zu verwenden. So beginnen im Folgenden die Bilder
zu verschwimmen, mit denen er nach Alternativen sucht: Was er in 1Kor 15,44
noch als »psychischen« und »pneumatischen Leib« bezeichnet hatte, erscheint
nun als »irdisches Haus, das Zelt« und als »Bau von Gott her, ein nicht mit Hän-
den gemachtes ewiges Haus in den Himmeln« (2Kor 5,1), um kurz darauf mit der
aus 1Kor 15,53 f. bekannten Metapher vom »Bekleiden« des Vergänglichen mit Un-
vergänglichkeit parallelisiert zu werden (1Kor 5,2–4). Das Kontinuum besteht da-
rin, dass beide körperliche Existenzweisen als Behausung, wenngleich von unter-
schiedlicher Beschaffenheit, betrachtet werden – mehr noch aber darin, dass der
»Bewohner« beider Behausungen identisch ist! Vermutlich sieht Paulus »das
Durchhaltende« (Walter 1998) dabei im göttlichen Pneuma, das in der Taufe
verliehen worden ist und seither als »Angeld« (2Kor 5,5) der vollendeten Chris
tusgemeinschaft fungiert; von diesem Pneuma her konstituiert sich dann in der
Auferstehung auch der »pneumatische Mensch«. Damit hat sich der Akzent ver-
schoben; weniger das somatische als das pneumatische Element steht nun für die
Verbindung beider Wirklichkeitsbereiche.
Die größte Schwierigkeit bereitet 2Kor 5,3: Was bedeutet es, »als Entkleidete
nicht als nackt befunden zu werden«? Denkt Paulus hier an einen Bruch zwischen
Tod und Neuschöpfung? Ein Zustand der »Nacktheit«, in den die vom Leib losge-
löste Seele nach platonischer Tradition gerät, ist für Paulus jedenfalls ausgeschlos-
sen; in dieser wie in jener Wirklichkeit bleibt der Mensch ein Ganzer. Das ver-
schärft jedoch noch einmal die Frage nach dem Kontinuum bzw. dem, was »sich
durchhält«. Denkt Paulus bei der »Überkleidung«, durch die »das Sterbliche vom
Leben verschlungen wird«, auch hier an die »Verwandlung«? Dann wäre der Ge-
danke der Leiblichkeit immerhin noch impliziert. Doch davon spricht Paulus
nicht mehr. Wenig später kann er sogar formulieren, »aus dem Leib (σῶμα) aus-
ziehen und zu Hause bei dem Herrn« sein zu wollen (2Kor 5,8). Den pneuma-
tischen »Leib« scheint er in diesem Kontext nicht mehr im Blick zu haben. Dass
Paulus hier den Boden einer leiblichen Auferstehungshoffnung verlassen und sich
bereits vorsichtig einem platonisch-philonischen Denken annähern würde, wird
man indessen kaum sagen können. In erster Linie handelt es sich um ein termi-
nologisches Problem, wenn er den in 1Kor 15 noch favorisierten Begriff des
»Leibes« für die Auferstehungswirklichkeit nun zunehmend vermeidet. Darin
spiegelt sich lediglich eine Sensibilität für jene Probleme wider, die seine korin-
thischen Gesprächspartner mit diesem Begriff haben mussten.
470 C. Werk
In seinem Schreiben nach Rom greift Paulus das Thema Auferstehung erneut und
wiederum an exponierter Stelle auf. Der Zusammenhang zwischen der Auferste-
hung Jesu und der Auferstehungshoffnung der Glaubenden gründet fundamental
im Geschehen der Taufe. In der Taufe aber konstituiert sich Christuszugehörig-
keit als ein »Gleichgestaltet-Werden« mit Tod und Auferstehung Jesu. Die Taufe
ist der biographisch bestimmbare Anfangspunkt christlicher Existenz und mar-
kiert einen Bruch, den Paulus durch die Metaphorik von »mitsterben« und »mit-
auferstehen« beschreibt. Das impliziert bereits einen Akt der Neuschöpfung; die
»Neuheit des Lebens« (Röm 6,4) prägt fortan das weitere Leben der Getauften.
Dennoch bleibt die Auferstehung zu vollendeter Christusgemeinschaft ein Hoff-
nungsgut: »Wenn wir aber mit Christus gestorben sind, so glauben wir, dass wir
auch mit ihm leben werden« (Röm 6,8).
Nirgends hat Paulus die christliche Existenz als den Anfang einer völlig neuen
Wirklichkeit dichter beschrieben als hier. Der »Leib der Sünde« ist in der Taufe
bereits vernichtet worden; die Herrschaft der Sünde ist schon gebrochen; die Teil-
habe an der Auferstehung Jesu ist mehr als nur eine Verheißung – sie realisiert
sich bereits in einer neuen Lebenswirklichkeit. Allein ihre Vollendung steht noch
aus, die jenseits der Todesgrenze dann endgültig manifestiert, was jetzt schon be-
gonnen hat. Dafür bedarf es dann auch einer Verwandlung der irdischen Leib-
lichkeit, auf die Paulus nun wieder viel direkter als in 2Kor 5 zu sprechen kommt.
Das »Durchhaltende« indessen bleibt Gottes Geist: »Wenn aber der Geist dessen,
der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, dann wird auch der, der
Jesus von den Toten auferweckt hat, eure sterblichen Leiber lebendig machen
kraft seines in euch wohnenden Geistes« (Röm 8,11). Das meint nichts anderes, als
dass die Leiblichkeit der Getauften dann auch der Leiblichkeit des auferstandenen
Christus »gleichgestaltet« werden wird. Entsprechend meint in Röm 8,23 die »Er-
lösung unseres (sterblichen) Leibes« auch nicht etwa dessen Auflösung oder Ab-
trennung, sondern seine Verwandlung in die neue Auferstehungswirklichkeit des
Leibes Christi (ob diese nun als pneumatischer Leib, als ewiges Haus, als neues
Gewand oder schlicht als neue Schöpfung zu bezeichnen ist) – und das deshalb,
weil »das Angeld des Geistes« bereits in der Taufe empfangen worden ist.
Alkier, Stefan: Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testa-
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Frankemölle, Hubert: Das Taufverständnis des Paulus. Taufe, Tod und Auferstehung nach
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III. Theologische Themen 471
hoffnung bei Paulus, in: Trowitzsch, Michael (Hg.): Paulus, Apostel Jesu Christi, Tübingen
1998, 109–127.
Christfried Böttrich
Aussagen über das endzeitliche (oder bereits wirksame) Gericht Gottes nehmen
in fast allen Briefen des Paulus breiten Raum ein. Sie erfolgen in Aufnahme und
Modifikation biblischer und frühjüdischer Traditionen und zeigen, wie stark
Paulus vom jüdisch-apokalyptischen Denken geprägt war (Hengel 2002a). Die-
ser Sachverhalt wurde oft unterschätzt oder verdrängt, um Paulus von der jü-
dischen Vorstellungswelt abzurücken (Baumgarten 1975). Dabei wurden Ge-
richtsaussagen als Relikt jüdischer Vorstellungen angesehen oder durch das theo-
logische ›Vorzeichen‹ der Rechtfertigungslehre ›domestiziert‹ und sachlich
entwertet (zuletzt Adam 2009). Auch in Entwürfen der New Perspective on Paul
(z. B. Dunn 1998; anders Wright 1997) wird dem Thema und damit dem ›foren-
sischen‹ Horizont des paulinischen Denkens eher wenig Bedeutung beigemessen.
Doch obwohl Paulus im Licht des Evangeliums alle Überlieferungsbestände in
einen neuen Horizont rückt, bleiben die apokalyptischen Denkformen grundle-
gend, nicht zuletzt für die Christologie (Auferstehung, Erhöhung, Gottesreich),
aber auch für die soteriologische Rede von Gnade und Rechtfertigung: Allein un-
ter Voraussetzung der potentiell bedrohlichen Aussagen über Gericht und Ver-
derben ist die Kraft der Rede von Rettung und Heil, Gerechtigkeit und ewigem
Leben verstehbar. Das Evangelium – zumal als ›Wort vom Kreuz‹ – hebt den Ernst
der Gerichtsaussagen nicht auf, sondern bekräftigt diesen, wenngleich der Modus
der Begegnung und die Kriterien des ›Rechtspruchs‹ für die Glaubenden verän-
dert sind. Denn nach Röm 1,17 f. wird gerade im Zusammenhang des Evangeli-
ums der »Zorn Gottes« ersichtlich, wie umgekehrt das am Kreuz ergehende Ge-
richt über den Sünder der Rettung und der Ermöglichung von Leben und Heil
dient (Merklein 1990). Darin ist – in einer spezifisch-soteriologischen Weise
modifiziert – der Sachverhalt aufgenommen, dass in der biblischen und der nach-
biblisch-apokalyptischen Tradition die Rede vom ›Gericht‹ nicht nur negativ ver-
standen ist, sondern der endgültigen Beseitigung des Bösen (vgl. Röm 16,20) und
der universalen Durchsetzung der Herrschaft Gottes dienen soll.
Die Forschung unterscheidet meist zwischen unterschiedlichen Gerichts-›Kon-
zeptionen‹, v. a. der eines juridisch-forensischen ›Rechtsverfahrens‹ vor Gottes
Thron und der eines rein negativen Straf- bzw. Vernichtungsgerichts. Gelegentlich
differenziert man weitere Konzeptionen (Brandenburger 1993): die Rede vom
»Zorn Gottes« (die aber meist metonymisch für das Zorn- bzw. Strafgericht
steht), die Vorstellung vom Kommen des Weltenherrn zur Rettung der Seinen
und die eines universalen Weltgerichts. Diese Konzeptionen sind teilweise jedoch
schon in frühjüdischen Texten miteinander verschmolzen, sodass die Differenzie-
rungen nicht streng durchführbar sind.
472 C. Werk
Paulus selbst bietet nirgendwo einen geschlossenen Abriss des von ihm erwar-
teten Endgeschehens; auch die von ihm rezipierte apokalyptische ›Ereignisord-
nung‹ in 1Kor 15,23–28 ist höchst selektiv; es ist daher nicht möglich, die Daten
(wie z. B. Stuhlmacher 2002, 85 f.) in ein durchgehendes Schema zu systemati-
sieren. Im Nebeneinander unterschiedlicher, z. T. sachlich nicht völlig kohärenter
Vorstellungen und Bilder, ›Konzepte‹ und Aspekte entspricht der paulinische Be-
fund dem, was wir aus zeitgenössischen jüdischen Texten (z. B. Henoch, Qumran,
4Esr, 2Bar etc.) kennen. Dass Paulus im Vergleich zu diesen Texten deutlich weni-
ger ins Detail der apokalyptischen Vorstellungen geht, zeigt die Akzentverlage-
rung, wenngleich die oft knappen Verweise eher darauf hindeuten, dass Paulus
auch bei seinen Adressaten die Kenntnis dieser Vorstellungen voraussetzt. Die
paulinischen Aussagen sind aber nur sachgemäß zu verstehen, wenn man nicht
nur nach dem Vorstellungs- und Sachgehalt, sondern auch nach der argumenta-
tiven und rhetorischen Funktion der Gerichtsaussagen im jeweiligen Kontext
fragt (Konradt 2003; Bull 2006); zugleich ist der bildhaft-metaphorische Cha-
rakter jeder Art eschatologischer Reden zu berücksichtigen.
Die Rede vom Gericht zieht sich durch alle Paulusbriefe, von dem besonders
eschatologisch geprägten 1. Thessalonicherbrief bis zum Römerbrief, wo Paulus
elfmal vom eschatologischen Gericht redet (Bull 2006). Von einer ›Entwicklung‹
im Sinne einer sukzessiven Reduktion apokalyptischer Vorstellungen bzw. futu-
rischer Erwartung kann daher auch im Blick auf 2Kor 5 oder Phil (gegen Schnel-
le 1989) keine Rede sein. In dem stark von der Erwartung der Parusie (1,10; 2,20;
3,13; 4,15–17; 5,23) bzw. des ›Tages des Herrn‹ (5,5) bestimmten 1. Thessalonicher-
brief begegnet die Rede vom »Zorn« (ὀργή) knapp an drei prominenten Stellen
(1,10; 2,16; 5,9): Nach 1,10 wird Jesus als Retter (ῥυόμενος) der Glaubenden aus
dem künftigen »Zorn«(-Gericht) vom Himmel erwartet; 3,13 ergänzt »mit allen
seinen Heiligen (= Engeln)«. Ein Zorngericht ergeht nach biblisch-frühjüdischer
Tradition (s. Konradt 2003, 57–65) über Israel wie die Völker, v. a. über Sünde
und Götzendienst, während die Gerechten von ihm verschont bleiben. In 1Thess
1,10 dient das Motiv dazu, die Gemeinde ihrer künftigen Rettung zu vergewissern;
die Vorstellung selbst bleibt vage, sie ist hier weder mit einem förmlichen Ge-
richtsverfahren verbunden noch in den Kontext eines ›allgemeinen Weltgerichts‹
(vgl. aber Röm 2,5–11) einzuzeichnen. Auch in 1Thess 5,9 stehen sich Zorn und
Rettung (σωτηρία) alternativ gegenüber, wobei es auch hier um die Vergewisse-
rung der Gemeinde und – damit verbunden – die Paränese zu entsprechendem
Verhalten geht, damit die Gemeinde Christus »untadelig« begegnen kann (5,23).
In diesem Interesse erinnert auch 4,6 an Gottes universale Richterfunktion. 2,16
spricht von einem (auch hier wohl zukünftig verstandenen) Zorngericht über die
angehäuften Sünden derer, die Gottes Heilswerk verhindern und deren ›Maß‹
schon jetzt ›vollgeworden‹ ist. Auch diese Aussage fungiert wie 1,10 und 5,9 zur
III. Theologische Themen 473
soteriologischen ›Gleichheit‹ von Juden und Heiden vor dem göttlichen Zorn
bzw. der negativen Beurteilung formuliert Paulus in Röm 3,21–31 (vgl. 1,16 f.) das
Evangelium von der im Glauben geschenkten Gerechtigkeit »aus Gnade« durch
die Erlösung in Christus.
Gerichtsmotive begegnen schließlich erneut in der situationsgemäß modifi-
zierten Aufnahme der Motive von 1Kor 8–10 in Röm 14 f., wo Paulus das gegensei-
tige ›Richten‹ abweist (14,3 f.10.13) unter Hinweis auf die alleinige Verantwortung
vor dem Herrn (vgl. 1Kor 4,1–5) und die letztliche Beurteilung aller (Glaubenden)
vor dem »Richterstuhl Gottes« (14,10; vgl. 2Kor 5,10). Dieser argumentative Ver-
weis auf das Endgericht zeigt, dass dessen potentiell bedrohliche Realität zwi-
schen Paulus und seinen Adressaten eine »unstrittige theologische Tatsache« war
(Bull 2006, 143).
Vor dem Hintergrund der als Realität erfassten Sünden-, Gerichts- bzw. Todver-
fallenheit aller Menschen kann auch »Heil« für Paulus nicht in Kontinuität zum
irdischen Leben (so noch in zahlreichen alttestamentlichen und frühjüdischen
Vorstellungen), sondern nur noch als »Rettung« aus dem Zorn(-Gericht) bzw.
dem Tod verstanden werden. Prägnant formuliert schon 1Thess 5,9, dass die Ret-
tung »durch unseren Herrn Jesus Christus« erfolgt, »der für uns gestorben ist.«
Sie wird erhofft für den ›Tag‹ (der Parusie; vgl. Röm 8,24), ist aber im Tod Jesu
verbürgt und den im Glauben mit Christus Verbundenen gegenwärtig zugesagt
und zugeeignet. Für die Art und Weise, wie Jesu Tod zur ›Rettung‹ der Todverfal-
lenen dienen und als Heilsgeschehen verstanden werden kann, gibt es bei Paulus
verschiedene Sprachmuster, die sich gegenseitig nicht ausschließen. Betont die
neuere (v. a. englische) Forschung besonders das Element der Partizipation (2Kor
5,14), so ist doch der forensische Aspekt der ›Gerechtigkeit‹ für Paulus schon auf-
grund seiner pharisäisch-jüdischen Prägung grundlegend und in 2Kor 5,21 im
Modell personaler Stellvertretung zur Sprache gebracht: Christus wurde ›für uns‹
zur Sünde (d. h. metonymisch zum Sünder), damit wir in ihm Gerechtigkeit vor
Gott würden. Das Kreuz Christi ist insofern (vorweggenommenes) Strafgericht
über die Sünde der Sünder, und Christi Gerechtigkeit wird, zur Rettung wirksam,
jedem Glaubenden zugeeignet (Röm 1,16 f.). Rechtfertigung ist dabei nicht allein
Phänomen der ›Anrechnung‹, des Für-Gerecht-Haltens (Luther, Bultmann), son-
dern durchaus ein Akt der Neuschöpfung, des Gerecht-Machens, die mit dem
Herrschaftswechsel, der Zueignung zu Christus, erfolgt (Käsemann) und neuen
Gehorsam impliziert. Es ist zugleich ein Handeln Gottes, das menschlicher Ver-
fügbarkeit entzogen ist, da das Gesetz und auch das Tun der vom Gesetz gefor-
derten Werke (Gal 2,16; Röm 3,20) nicht die Macht haben, von Sünde und Tod zu
befreien und neues Leben zu eröffnen (Röm 8,2 f.). Daher expliziert Paulus in
Röm 3,24 auf dem Hintergrund der in Röm 1,18–3,20 postulierten allgemeinen
Todverfallenheit so, dass »wir geschenkweise (δωρεάν) gerecht [gemacht] werden
durch Gottes Gnade (χάρις) aufgrund der in Christus [geschehenen] Erlösung«.
Diese Erlösung, die Vergebung der Sünden und Versöhnung mit Gott (2Kor 5,17;
vgl. Röm 5,1) impliziert und auf ein neues Leben »im Geist« zielt (Röm 8,4), ist
das Resultat der ungeschuldeten Zuwendung Gottes zu seinen Geschöpfen, ja sei-
ner erwählenden Liebe (Röm 5,8). Das als Heilsgeschehen gedeutete Kreuz Chris
ti lässt somit sowohl den Ernst des göttlichen Gerichtshandelns als auch die Tiefe
seiner liebenden Zuwendung erkennen, ohne dass das eine durch das andere ab-
gemildert oder infrage gestellt wäre. »Gnade« (χάρις) wird so zum Inbegriff des
in Christus geschehenen und zugewandten Heils und gelangt so – nicht nur flos-
kelhaft – in die paulinischen Briefpräskripte und -schlüsse anstelle des üblichen
χαίρειν (sich freuen) (schon 1Thess 1,1; 5,28).
Brandenburger, Egon: Art. Gericht Gottes III: NT, TRE 12, 1984, 469–483.
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Synofzik, Ernst: Die Gerichts- und Vergeltungsaussagen bei Paulus (GTA 8), Göttingen 1977.
Jörg Frey
IV. Strukturen
1. Schriftbezüge im Werk des Paulus
Wie Paulus die »heiligen Schriften« (Röm 1,2) – von ihm meist einfach »die
Schriften« (15,4 u. ö.) oder »die Schrift« (4,3 u. ö.) genannt – verwendet und ge-
deutet hat, ist zumal in den letzten 150 Jahren intensiv erforscht worden. Dabei
hat man für viele Probleme plausible Lösungen gefunden. Doch noch immer bie-
tet das Thema Anlass zu Auseinandersetzungen. Schon seine Definition bleibt
kontrovers. Wer sie möglichst eng fasst, sucht den Schriftgebrauch zu charakteri-
sieren, der sich innerhalb der unumstritten echten Briefe des Paulus in Form von
Zitaten vollzieht. Im weitesten Sinne besteht die Aufgabe darin, aus allen Schrift-
bezügen in den einschlägigen Quellen zu erschließen, inwiefern die Schrift sein
Denken und Wirken geprägt hat. Dieser prinzipielle Dissens muss bei der fol-
genden Darstellung durchgehend berücksichtigt werden.
1.1. Grundlagen
Zur Zeit des Paulus gab es noch keinen festen »Kanon« heiliger Schriften. Ansätze
zur Fixierung seines Umfangs sind erstmals gegen Ende des 1. Jh. n.Chr. bezeugt
(4Esr 14,44–46; Flav.Jos.Apion. I 37–41). Einigen älteren Angaben (Sir, Prolog
1 f.8–10.24 f.; 4Q397, Frgm. 14–21 10; Philo cont. 25) zufolge war aber im zeitgenös-
sischen Judentum der autoritative Status des Pentateuchs, der Prophetenbücher
(inkl. Jos-2Kön) sowie der Psalmen und einiger anderer Bücher weithin aner-
kannt; nur der Umfang der letzten Gruppe stand infrage. Auch der hebräische
Wortlaut der Schriften war im 1. Jh. n.Chr. noch im Fluss; freilich hatte der Pro-
zess seiner Verfestigung bereits begonnen. Dies spiegelt sich nicht zuletzt im Tra-
ditionsbereich der Septuaginta (LXX) wider: Zum einen betonte man in Bezug
auf ihren Kern, den Pentateuch, zunehmend die Verlässlichkeit der Übersetzung
(Arist 310 f.; Philo Mos. II 38 f.); zum andern ist in einigen LXX-Papyri und der
Zwölfprophetenrolle aus Nachal Chever (8H. evXIIgr) das Bestreben dokumen-
tiert, Abweichungen der griechischen Fassung vom (jeweils vorliegenden) hebrä-
ischen Text zu beheben. Umgekehrt belegen diese (frühen, ab dem 2. Jh. systema-
tisch betriebenen) Rezensionen und jene Äußerungen die große Bedeutung der
480 C. Werk
1.2. Vorgaben
Wenn der Apostel die Schriften las (oder hörte), deutete und benutzte, tat er dies
im Anschluss an eine unter den jüdischen Zeitgenossen ebenso verbreitete wie
differenzierte Praxis der Schriftverwendung und -auslegung. Im Zuge des kano-
nischen Prozesses bildete sich ja je länger, je mehr die Überzeugung, die Schriften
seien von Gott offenbart oder inspiriert (z. B. pHab 2,9 f.; Philo Mos. II 188–191).
Das religiöse Leben mit ihnen zu verknüpfen, wurde daher zum identitätsstif-
tenden Faktor des Judentums. Dies aber geschah – z. T. unter Hinweis auf gött-
liche Autorisierung (vgl. Jub; T; pHab) – auf sehr verschiedenen Wegen. Deren
Vielfalt erwuchs erstens aus der Diversität der Schrift selbst: Gesetze, die einzu-
halten sind, bedurften anderer Verfahren der Aneignung als Prophetien, die ge-
IV. Strukturen 481
ren. Stets aber ging es darum, Klarheit über die eigene religiöse Identität zu ge-
winnen. Gerade die Vielfalt der Verwendungszusammenhänge spiegelt daher die
Annahme einer inneren Einheit der Schrift wider. Dieselbe Annahme steht hinter
den vielen exegetischen Traditionen, die jeweils über Gattungsgrenzen und me-
thodische Differenzen hinweg eine weitgehende Konvergenz im Verständnis be-
stimmter Schriftaussagen erkennen lassen.
In diesem Kontext entwickelten christusgläubige Juden schon vor Paulus eine
spezifische Art der Schriftauslegung. Wie diverse traditionelle Aussagen in seinen
Briefen zeigen, lasen sie die Schrift im Licht ihres Christusglaubens, verstanden
sie als dessen Bekräftigung und nutzten sie dazu, ihn zu explizieren: Sie be-
kannten, Christus sei »den Schriften gemäß« gestorben und auferweckt worden
(1Kor 15,3 f.), und sprachen von der Heilsbedeutung des Christusgeschehens in
Wendungen, die der Schrift entstammten (Röm 3,25 f.; 4,25 u. ö.); sie feierten im
Herrenmahl die Aufrichtung des in Jer 31 angekündigten »neuen Bundes« (1Kor
11,25) und präsentierten das, was in der Bindung an Christus erlebt und erhofft
wurde, als Erfüllung der Heilsverheißungen Gottes für die Endzeit (3,16 u. ö.;
1Thess 1,9 f. u. ö.); sie griffen Vorstellungen und Aussagen der Schrift in gottes-
dienstlichen Akklamationen ebenso auf wie in der Paränese (1Kor 8,6 u. ö.; Gal
5,19–23 u. ö.). Methodisch und hermeneutisch führten die frühen Christen dabei
jüdische Gepflogenheiten fort; mit ihrer endzeitlich ausgerichteten Erfüllungsin-
terpretation, die der Schriftprophetie einen oft überraschend neuen Sinn abge-
wann, standen sie zumal der Qumrangemeinschaft nahe (vgl. pHab VI 14–VII 5).
Charakteristisch ist allerdings, dass das Bekenntnis zu Gottes neuem, endgül-
tigem Heilshandeln in Christus den Ausgangs- und Bezugspunkt ihrer erneu(er)-
ten Schriftlektüre bildete.
Ausweislich der genannten Stellen war Paulus mit dieser frühchristlichen Lese-
weise vertraut: z. T. vielleicht bereits aus der Zeit, als er Christen verfolgte (Gal 1,13
u. ö.), z. T. wohl infolge von positiven Begegnungen (1,17–19), v. a. aber aufgrund
seiner langjährigen Zugehörigkeit zur Gemeinde in Antiochia (1,21–2,11) – wo er
freilich an der Entwicklung christusgläubiger Schriftauslegung selbst mitwirkte.
So war nach 1Kor 15,1–5 sein Evangelium ebenfalls von Anfang an in der Schrift
verwurzelt. Ob und ggf. in welchem Umfang er in jenen Jahren auch schon lernte,
das Christusbekenntnis mit der Zitation einzelner Schriftworte zu untermauern
(vgl. Apg 13,33–37), ist aber ungewiss. Die Beurteilung dieses Problems hängt
nicht zuletzt davon ab, welche exegetischen Fertigkeiten man dem »vorchrist-
lichen« Paulus zuschreibt und wo im antiken Judentum man ihn religiös behei-
matet sieht. Das aber lässt sich am besten aus dem in seinen Briefen dokumen-
tierten Schriftgebrauch erschließen.
Sieht man von den generellen Notizen zum Sinn der Schrift oder einzelner ihrer
Teile (dazu s. u.) zunächst ab, so enthalten die authentischen Briefe des Paulus
IV. Strukturen 483
Rabbinen anwandten, v. a. mit Schlüssen e contrario (Gal 3,12; Röm 4,13; 9,7 f.), a
minore ad maius (2Kor 3,7–11; Röm 5,15.17; 9,17.22 f.), vom Besonderen aufs Allge-
meine (1Kor 14,21 f.; Röm 7,1–3; 9,17 f.; 10,16 f.), aus dem literarischen Kontext (Gal
3,17; Röm 4,10) und aus dem Sachzusammenhang mit anderen Stellen (Gal 3,6–9;
Röm 5,14; 9,12 f.; 13,9 f.). In Röm 4,2–10 sind mehrere dieser Auslegungsverfahren
kombiniert.
Vielerorts sind explizite Schriftbezüge allerdings ohne solche exegetische Me-
thodik in die Briefe des Paulus eingebaut; sie dienen dann unmittelbar dazu, Dar-
legungen oder Mahnungen zu bestätigen, zu begründen oder zu entfalten. Auch
dabei fanden jedoch traditionelle Verfahren Anwendung. Zum einen hat Paulus
bei einigen wichtigen Argumentationsschritten Zitate aus verschiedenen Büchern
oder Teilen der Schrift aneinandergereiht (1Kor 3,19 f.; Röm 9,25–29; 10,19–21;
11,8–10; 15,9–12). Zum andern hat er nicht nur bei den Paraphrasen bestimmte
Aspekte der biblischen Texte herausgestellt, sondern auch in vielen Zitaten sein
Verständnis des jeweils angeführten Schriftwortes durch Umstellungen, gramma-
tische Änderungen, Auslassungen, Zusätze oder Umformulierungen (für die er
meist verwandte Bibelstellen heranzog) präzise zum Ausdruck gebracht. Diese
aktualisierenden Modifikationen des vorgegebenen Wortlauts ähneln der man
cherorts in D (3,21–4,2; 7,14 f.; 8,14 f. u. ö.) belegten Zitiertechnik sowie dem Um-
gang mit dem hebräischen Text, der einigen LXX-Übersetzungen (v. a. der von
Jes) und Targumim zugrunde liegt.
Der skizzierte Befund lässt zwei Rückschlüsse auf die Eigenart paulinischer
Schriftverwendung zu: 1. Während die Gestaltung und die Erläuterung des Wort-
lauts vieler Zitate auf die schriftgelehrte Arbeit an Texten hindeuten, legen die
Verknüpfung und die paraphrasierende Wiedergabe diverser Schriftworte die
Annahme nahe, dass sie, aufgrund profunder Schriftkenntnis, aus dem Gedächt-
nis angeführt wurden. Beides gehört bei Paulus offenbar zusammen. 2. In forma-
ler und methodischer Hinsicht entsprechen die expliziten Schriftbezüge des Apo-
stels eher der im palästinischen Raum beheimateten Schriftgelehrsamkeit; nur
gelegentlich berühren sie sich mit der Exegese des hellenistischen Diasporajuden-
tums. Dazu passt der Umstand, dass sich inhaltliche Parallelen zu seinen durch
Zitate und Paraphrasen vollzogenen Interpretationen zumeist in Texten palästi-
nischer Provenienz (z. B. Jub; ApkMos; diverse Qumrantexte), in Targumim oder
in rabbinischen Schriften finden. Die Selbstbezeichnung »Hebräer« gilt also auch
für den Schriftausleger Paulus.
Die Palette an Themen, zu denen Paulus explizit die Schrift angeführt hat, reicht
von der Herrschaft der Sünde (Röm 3,10–18; 5,12–14) und des Todes (1Kor 15,21)
über den kritisch-heilvollen Charakter von Christusgeschehen (Gal 3,13; Röm
9,33; 15,3.12) und -botschaft (1Kor 1,19; 2,9; 3,19 f.) bis zur endzeitlichen Vollen-
dung des in Christus eröffneten Heils (1Kor 6,2; 15,38–49.54 f.; 2Kor 6,17 f.; Röm
IV. Strukturen 485
11,26 f.; 14,11). Dabei werden Glaubens- und Gottesgerechtigkeit (Gal 3,6.8.16;
Röm 1,17; 3,4; 4; 10,6–8.11), der Apostolat des Paulus (1Kor 9,9.13; 2Kor 3,6–13;
4,6.13; 6,2; Röm 10,15; 15,9.21), die Rolle Israels in der Völkerwelt (2,24; 9,4 f.6–18;
10,16.19–21; 11,8–10), der Sinn des Gesetzes (Gal 3,10.12.19; 4,22–25; 2Kor 3,16; Röm
7,2 f.7; 10,5), die Erwählung der Gemeinde (Gal 4,27 f.; 2Kor 6,16; Röm 9,25–29;
11,2–4; 15,10 f.), ihre Bedrängnis (Gal 4,29 f.; 2Kor 11,3; Röm 8,36; 12,19) und diverse
Aspekte christlicher Lebensführung (1Kor 1,31; 6,16; 8,4; 10,1–11; 11,7 f.12; 14,21; Gal
5,14; 2Kor 6,17a–c; 8,15; 9,9; Röm 13,9) besonders intensiv durch Rückgriffe auf die
Schrift erläutert. Die genannten Themen hängen eng zusammen. Das zeigt sich
auch daran, dass Sachgehalt und Verwendung eines Zitats ohne Weiteres in ver-
schiedene Bereiche weisen können (vgl. z. B. den paränetischen Gebrauch des auf
die Parusie gedeuteten Jesajaworts in 14,11). Die Wurzel dieses Zusammenhangs
aber liegt – wie zumal der Römerbrief deutlich macht – darin, dass all jene The-
men Aspekte der Grundüberzeugung des Paulus darstellen: Es ist der eine, grund-
legend durch die Schrift bezeugte Gott, der in Christus das eschatologische Heil
für Israel und die Weltvölker heraufführt.
Gerade diese Grundüberzeugung sah der Apostel in den angeschriebenen Ge-
meinden auf vielfältige Weise bestritten, angezweifelt, gefährdet oder vernachläs-
sigt – teils von jüdischer, teils von »heidnischer« Seite. Wo immer das geschah,
war er genötigt, seine Position als schriftgemäß zu erweisen; und dazu hat er in
seinen Briefen Schriftbezüge als solche ausgewiesen. Die expliziten Bezugnahmen
des Paulus auf die Schrift erwuchsen also aus den Erlebnissen, Anfragen und
Konflikten, die ihn veranlassten, die o.g. Themen brieflich zu erörtern; und sie
dienten dazu, die Schrift als den Maßstab zu etablieren oder zu erweisen, an dem
sich Glaube und Lebensvollzug der Briefadressaten ebenso zu orientieren hatten
wie sein eigenes Wirken (vgl. 1Kor 4,6).
Die Identifikation von impliziten Schriftbezügen ist im Einzelfall oft strittig. Hin-
ter diesem Forschungsstreit steht ein Dissens bei der Kategorisierung solcher Be-
züge und bei der Definition von Kriterien zu ihrer Erfassung. Im Folgenden kann
hierzu deshalb nur ein Vorschlag gemacht werden. Da unklar bleibt, in welchem
Maß die Adressaten der paulinischen Briefe die Schrift kannten, also implizite
Bezüge darauf erkennen konnten, wird dafür eine autor- bzw. textbezogene Per-
spektive gewählt: a) Bei einer Anspielung hat Paulus eine Formulierung der
Schrift unter Beachtung ihres (kontextuell bedingten) Sinngehalts in die eigenen
Ausführungen integriert. Evident ist das dort, wo, wie in 1Kor 2,16; 2Kor 10,17;
Röm 2,6 u. ö., ganze Sätze reproduziert werden (diese gelten manchen Forsche-
rinnen und Forschern noch als Zitate). Klar identifizierbar sind ferner die Stellen,
an denen Teilsätze (wie in Phil 1,19: »dies wird für mich auf Rettung hinauslau-
fen«), Wendungen (etwa »geschrieben [. . .] auf Steintafeln« [2Kor 3,3]), Angaben
(z. B. zur Erstlingsgabe in Röm 11,16) oder Wortverbindungen (wie »anziehen
486 C. Werk
[. . .] Panzer [. . .] Helm [. . .]« in 1Thess 5,8) aus der Schrift stammen. Hier und da
mögen sogar Begriffe (etwa »Frucht der Gerechtigkeit« in Phil 1,10) als Anspie-
lungen zu werten sein. Deren Eigenart besteht jedenfalls darin, dass der Sinnge-
halt einer paulinischen Aussage im Licht des Quelltextes wesentlich vertieft oder
erweitert erscheint. b) Reminiszenzen liegen demgegenüber dort vor, wo Paulus
sich der Ausdrucksweise oder Begrifflichkeit der Schrift bedient hat, ohne den
spezifischen Sachgehalt des jeweiligen Referenztextes wachzurufen; dies dürfte
z. B. in 1Thess 2,10 (»ihr seid Zeugen und Gott«; vgl. Jes 43,12) oder Röm 9,22
(»Gefäße/Geräte des Zorns«; vgl. Jer 27[50],25 u. ö.) der Fall sein. Die Abgrenzung
gegenüber Anspielungen ist aber naturgemäß oft diskutabel. c) Umgekehrt kann
man für viele Aussagen des Apostels eine motivische Entsprechung zu Bibeltexten
vermuten, obwohl beide sprachlich kaum übereinstimmen. So wird z. B. in der
Exegese 2Kor 5,14–21 oft von Jes 52–53 her gedeutet. Dass solche Entsprechungen
im paulinischen Text intendiert sind, lässt sich allerdings nur schwer wahrschein-
lich machen. d) Von einem Echo sollte man sprechen, wenn der Kontext eines
Schriftworts sich sprachlich und/oder sachlich im Umfeld der betreffenden pau-
linischen Anführung widerspiegelt – wie es z. B. bei Jes 9,1/2Kor 4,6 (vgl. 4,8 mit
Jes 8,22) der Fall ist. Anders als Anspielungen liegt solchen Berührungen ja kaum
eine auktoriale Absicht zugrunde; sie sind eher Ausdruck der kontextgemäßen
Rezeption und Wiedergabe eines Schriftwortes. Derartige Echos lassen sich – in
unterschiedlicher Fülle – bei allen paulinischen Zitaten wahrnehmen. Ein ent-
sprechender Nachweis könnte deshalb als Argument zur Plausibilisierung von
Anspielungen taugen; doch das ist umstritten. Wenn man aber darüber hinaus
den ursprünglichen Kontext eines von Paulus angeführten Schriftwortes auch
jenseits solcher Berührungen als Horizont für das Verständnis des betreffenden
Schriftbezugs voraussetzt, betritt man das Feld der Spekulation.
Selbstverständlich ergibt sich ein erweitertes Bild von Paulus als Leser und
Nutzer der Schrift, wenn die impliziten Schriftbezüge berücksichtigt werden.
Schon die klaren Anspielungen und Echos zeigen: Seine Briefe stützen sich in
größerem Ausmaß auf die Schrift, als die Zitate an sich erkennen lassen. Zum ei-
nen wirken Letztere über ihren eigentlichen Bezugsrahmen bei Paulus hinaus auf
seine Ausführungen im jeweiligen Umfeld ein (vgl. etwa [zu Jes 8,14 in Röm 9,33]
9,29–10,8 mit Jes 8,13–22); zudem finden sich dort oft weitere Anspielungen (z. B.
neben dem Ps-Zitat in 2Kor 9,9 in 9,6 f.10 [Spr 22,8.8a; Jes 55,10; Hos 10,12]). Seine
Zitierpraxis erschöpft sich also nicht im Einsatz einzelner Schriftworte, sondern
schließt die Verarbeitung weiterer biblischer Text- und Sachzusammenhänge ein.
Zum andern tritt in den zahlreichen Anspielungen ein breit gestreuter und um-
fassender Schriftgebrauch zutage: Viele Passagen ohne Zitate sind gleichwohl
durch die Schrift geprägt, sei es in Form eines speziellen Textes (wie Jes 49,1–8 in
Gal 1,10–2,10) oder eines Bündels von Aussagen (wie in Röm 1,18–32); das Gleiche
gilt für Themen, bei denen explizite Schriftbezüge fehlen (vgl. nur den Rekurs auf
Ez 11,19 f.; 36,25–27 in der paulinischen Pneumatologie [von 1Thess 4,7 f. bis Röm
8,2–11]); und dabei zog der Apostel auch Bücher heran, aus denen er nie zitiert hat
IV. Strukturen 487
1.6. Schriftverständnis
Zweimal wird in den Briefen des Paulus notiert, dass eine Aussage der Schrift »um
unsertwillen [. . .] geschrieben« sei; dabei hat er in 1Kor 9,10 ein Gebot (allego-
risch) auf sich und die Apostel, in Röm 4,23 f. einen Satz der Abrahamerzählung
(verallgemeinernd) auf sich und die Briefadressaten bezogen. Beide Notizen sind
Ausdruck einer fundamentalen Einsicht: Die Schrift richtet sich generell an die
Christusgläubigen. Diese Einsicht beruht zum einen auf der allen jüdischen Zeit-
genossen geläufigen Anschauung, dass die Schrift grundlegende Bedeutung für
den aktuellen Lebensvollzug habe, zum andern auf der frühchristlichen Auffas-
sung, das Christusbekenntnis entspreche der Schrift und werde durch sie bestä-
tigt. Aus der Verknüpfung beider Gesichtspunkte entstand die Überzeugung, die
den Schriftgebrauch des Paulus trägt und prägt: Erst bei einer Lektüre, die vom
Christusbekenntnis aus die eigene Lebenswirklichkeit reflektiert, entfaltet die
Schrift ihren eschatologischen Sinn.
Der neue Sinn der Schrift tritt also dadurch zutage, dass das Christusgeschehen
als Zielpunkt ihrer Verheißungen (2Kor 1,20) identifiziert wird. So kündigt sich
nämlich schon in der Abrahamserzählung an, dass »Heiden« wie Juden aus Glau-
ben gerechtfertigt und den Abraham verheißenen Segen erlangen würden (Gal
3,6–9 u. ö.). Die Schriftpropheten weisen ihrerseits auf das Evangelium von Jesus
Christus voraus, den Gott als Davidssohn in der Auferweckung zum Herrn über
die Weltvölker gemacht hat (Röm 1,1–5 [die wohl deuteropaulinische Aussage
16,25–27 bleibt hier außer Betracht]). Insofern bezeugen das Gesetz (als »Gesetz
des Glaubens« [3,27]) und die Propheten gemeinsam die im Evangelium offenbar
te Gottesgerechtigkeit (3,21). Paulus hat demgemäß in der Schrift viele weitere
Aussagen entdeckt, die jenes Offenbarungsgeschehen ankündigen oder präfigu-
rieren, von der Passion Christi (15,3) über die kritisch-rettende Wirkung der
Christuspredigt (1Kor 1,19) bis zur universalen Anerkennung Jesu als des Herrn
bei der Parusie (Phil 2,10 f.). Aus solchen Entdeckungen erwächst dann ein Vor-
gang, in dem sich Christusbekenntnis und Schriftauslegung wechselseitig erhel-
len: Einerseits tritt erst im Licht jenes Bekenntnisses zutage, welche Bedeutung
die Worte der Schrift für die Christusgläubigen haben; andererseits macht erst die
neu gedeutete Schrift diverse Aspekte und Konsequenzen des Christusbekennt-
nisses verständlich.
488 C. Werk
andere Teile der Schrift mitwirken (Röm 3,9–19); es taugt also zu nichts ande-
rem, als Menschen ihre Sündhaftigkeit erkennen zu lassen (3,20). Doch indem es
sie auf diese Weise in der Sünde einschließt, bereitet es der Rechtfertigung derer,
die an Christus glauben, den Boden (Gal 3,22–24). Es ist gerade darauf angelegt,
dass seiner verurteilenden Wirkung in Christus ein Ende gesetzt (vgl. 2Kor
3,13 f.) und jedem Christusgläubigen Gerechtigkeit zuteil wird (Röm 10,4). Dies
erschließt sich indes nur denen, die das Gesetz vom Christusglauben her lesen
(vgl. 10,6–8); denn sie, die Christus durch seinen Kreuzestod aus der Gewalt des
jedem Übertreter der Gebote angekündigten Fluchs erlöst hat (Gal 3,10.13), ha-
ben den Geist empfangen (3,14), der ihnen die Bedeutung des Gesetzes enthüllt
(2Kor 3,16 f.).
Daraufhin bietet die Schrift den Christusgläubigen drittens zahlreiche Wei-
sungen zur Lebensgestaltung. Unter der Regie des Geistes finden sie solche zu-
nächst im Gesetz. Denn sobald er in den Gläubigen wohnt (Röm 8,9 u. ö.), besei-
tigt er den Zwiespalt, in den die Sünde sie und das Gesetz gestürzt hatte (7,15–23).
So tritt an die Stelle des von ihr beherrschten, zum Tode verurteilenden Gesetzes
das Gesetz, das, vom Geist regiert, ins Leben führt (8,2); und so werden die Glau-
benden von der Sünde befreit (6,18 u. ö.) und befähigt, die Forderung des Ge-
setzes als »Weisung zum Leben« (7,10) zu erfüllen (8,4). Deren Sachgehalt bleibt
dabei weithin unverändert. Dass das Gesetz für »Heiden« nur partiell oder in
übertragenem Sinn gilt (2,14); dass es über die biblischen Gebote hinausreicht
und auch in nichtbiblischen Weisungen seine aktuelle Gestalt gewinnt (2,22b
u. ö.); dass im Blick auf zwischenmenschliches Tun das Nächstenliebegebot als
Auslegungskriterium dient (13,9; Gal 5,14); dass Paraklese oft ohne klare Schrift-
bezüge erfolgt: all dies teilt Paulus prinzipiell mit der zeitgenössisch-jüdischen
Toraparänese. Typisch ist aber, dass er seine am Gesetz orientierten Mahnungen
im Christusgeschehen verankert (1Thess 4,1 f. u. ö.) und in den Horizont der End-
zeit gerückt hat (Röm 13,11 u. ö.). Beides entspricht der pneumatologischen Prä-
gung seiner Ethik (Gal 5,16 u. ö.), gilt ihm doch der Geist einerseits als Geist
Christi (Röm 8,9 u. ö.), andererseits als Erstlingsgabe der endzeitlichen Vollen-
dung (8,23 u. ö.).
Auf dieser Basis hat Paulus noch viele andere Aussagen aus diversen Büchern
der Schrift paränetisch ausgewertet: Weisheitsregeln (Röm 12,20; 1Kor 1,31 u. ö.),
Bekenntnissätze (3,19; 10,26 u. ö.), Erzählungen (6,16; 2Kor 8,15 u. ö.), Prophetien
(6,17 f.; Röm 14,11 u. ö.) u. a. m.; bisweilen ist der interpretatorische Aufwand da-
für recht hoch (s. z. B. 1Kor 14,21 f.). An zwei Stellen hat er sein Vorgehen eigens
begründet – und zwar erneut im Rekurs auf Christologie und Eschatologie: Nach
10,(5–)11 wurden die Berichte vom Verderben, das Israels Wüstengeneration ob
ihres Götzendienstes wiederholt getroffen hat, »zu unserer Zurechtweisung ge-
schrieben«, da »wir« diejenigen seien, »zu denen die Vollendung der Zeiten ge-
langt ist«; eben darum müsse man jene Vorgänge typologisch auffassen. Nach
Röm 15,(3–)4 wiederum ist das Psalmwort, dem Christus durch die Übernahme
ungerechtfertigter, weil letztlich Gott treffender Schmähungen entsprochen hat,
490 C. Werk
2. Hellenistisch-jüdische Theologie
Das Judentum der hellenistisch-römischen Zeit hat mit der Synthese von bi-
blisch-jüdischer Religion und griechischer Bildung und Kultur eine eigene jü-
dische Theologie hervorgebracht, die in ihren Anfängen in die Frühzeit des Hel-
lenismus zurückreicht, im 1. Jh. n.Chr. mit der religionsphilosophischen Schrift
auslegung Philos ihren Höhepunkt erreicht hat und im Laufe der Spätantike in
dem Maße verschwunden ist, wie sich jüdisches Denken aus dem griechischen
Sprach- und Kulturraum in die hebräischsprachige Eigenwelt einer auf der Tora
basierenden Rechtsgelehrsamkeit zurückgezogen hat. In die hellenistisch-jü-
dische Epoche fällt mit der Entstehung des Christentums auch die paulinische
Theologie. Nach seiner religiösen ( B.II.1.3.) und kulturellen Prägung ( B.
II.1.4.) ist Paulus unbeschadet seiner pharisäischen Orientierung ( B.II.2.) dem
hellenistischen Judentum zuzurechnen. Für eine genauere Verhältnisbestimmung
ist der Begriff des hellenistischen Judentums zunächst historisch, kulturell und
religiös zu differenzieren. Sodann wird ein kurzer Überblick über die wichtigsten
Quellen gegeben, um im Anschluss daran das paulinische Denken innerhalb des
hellenistisch-jüdischen Spektrums zu positionieren.
Seit der Alexanderzeit ist das Judentum in allen Lebensbereichen mit der neuen
Weltkultur des Hellenismus in Berührung gekommen, und zwar im judäischen
Kernland und den umgebenden Regionen (Hengel 31988; Collins/Sterling
2001) wie auch in der Diaspora mit Alexandrien als wichtigstem geistigen Zen-
trum (Barclay 1996). Die Rezeptionsweisen dieser Kultur bewegen sich in viel-
fältigen Ausprägungen und Schattierungen zwischen einem programmatischen
Antagonismus auf der einen und konsequenter Assimilation auf der anderen Sei-
te. Auf dieser Skala besetzt das hellenistische Judentum das breite Mittelfeld, in
welchem sich eine mehr oder weniger große Aufgeschlossenheit gegenüber grie-
chischer Sprache und Kultur mit der Profilierung jüdischer Identität verbindet.
Nicht die gesamte jüdische Literatur aus hellenistisch-römischer Zeit (in deut-
scher Übersetzung in den JSHRZ zugänglich) kann also zur Literatur des helle-
nistischen Judentums gerechnet werden. Entscheidendes Kriterium ist vielmehr
das Medium der griechischen Sprache. Zwar können auch hebräischsprachige
Quellen Berührungen mit dem Hellenismus aufweisen, so Jesus Sirach (dazu
Collins 1997, 23–41) oder Kohelet, doch dient die Sprachgrenze im Rahmen die-
ser Darstellung als erster Anhaltspunkt. Damit scheidet die Qumranliteratur aus
dem hellenistisch-jüdischen Korpus ebenso aus wie etwa die Henochschriften
oder das Jubiläenbuch. Auch die Übersetzungsliteratur ins Griechische kann un-
berücksichtigt bleiben, weil diese sich zumeist späteren Interessen verdankt oder
überhaupt christlich ist. Zwar ist auch innerhalb des verbleibenden Quellenbe-
standes eine erhebliche Bandbreite an Nähe und Distanz jüdischer Lebensweise
492 C. Werk
menschliche Vernunft, wenn sie erst durch das Mosegesetz geformt ist, selbst die
stärksten vitalen Affekte besiegt. Dies dient nicht nur der Demonstration des phi-
losophischen Ranges jüdischer Lebensweise, sondern zugleich auch dem Nach-
weis vernunftgeleiteter Affektkontrolle als einer anthropologischen Möglichkeit.
Jüdisches Denken positioniert sich hier selbstbewusst in der Popularphilosophie
und -ethik seiner Zeit.
und Einheit Gottes her und teilt damit ein hellenistisch-jüdisches Grundanliegen.
In der Ethik liegt Paulus mit der Konzentration der Tora auf das Liebesgebot (Gal
5,14; Röm 13,9) ebenfalls im hellenistisch-jüdischen Trend (Berger 1972;
Wischmeyer 1986; Nissen 1974).
Trotz dieser weitreichenden und z. T. tiefgreifenden Gemeinsamkeiten hat der
christliche Paulus das kulturtheologische Interesse des hellenistischen Judentums
niemals zu seiner Sache gemacht. Die Formel »den Juden ein Jude, den Griechen
ein Grieche« findet sich im Wortlaut bei Paulus eben gerade nicht, auch wenn
1Kor 9,20 f. oft so wiedergegeben wird. Symptomatisch ist das völlige Fehlen des
hellenistisch-jüdisch ansonsten völlig unverzichtbaren Terminus εὐσέβεια
(Frömmigkeit), zusammen mit δικαιοσύνη (Gerechtigkeit) wichtigstes Merkmal
jüdischer Gottesverehrung zum Aufweis ihrer »Kulturtauglichkeit«. Der übli-
cherweise politisch besetzte Terminus πολίτευμα (Bürgerrecht, Kontext ist der
Anspruch auf administrative Eigenständigkeit der Juden in den hellenistischen
Städten) ist bei Paulus in Phil 3,20 transzendent und eschatologisch: »Unser Bür-
gerrecht aber ist im Himmel, von wo wir auch erwarten den Retter, den Herrn
Jesus Christus.« Auf dem Felde der Eschatologie tritt der Abstand zu Philo denn
auch besonders augenfällig zutage: Die protologische Ausrichtung der korinthi-
schen Christologie in 1Kor 15,45–49 wird von Paulus eschatologisch transfor-
miert: »Die Orientierung der Korinther an der himmlischen, archetypischen Welt
wird umgebrochen auf die alle Schöpfung umgreifende, gemeinsame Vollen-
dungszukunft in der Totenauferstehung« (Vollenweider 1998, 130). Vollends
fremd ist hellenistisch-jüdischer Kulturtheologie der apokalyptische Ausblick in
1Kor 15,52. Paulus ist generell insoweit kein hellenistisch-jüdischer Theologe, als
er Apokalyptiker ist (dazu Hengel 2002a). Außerdem ist zweierlei zu beobach-
ten: (1) Eine Gesamtschau hellenistisch-jüdischer Elemente im paulinischen
Denken lässt abgesehen von den »propädeutischen« Aussagen in Röm 1 f. eine
auffällige Häufung innerhalb von 1.2 Kor erkennen. (2) Gerade in den Korinther-
briefen äußert sich Paulus am kritischsten gegenüber »Juden« und »Griechen«
gleichermaßen. Die paulinische Kreuzestheologie 1Kor 1,18–31 formuliert einen
fundamentalen Widerspruch an beide Adressen und verwirft jede »Weisheit«, die
nicht vom gekreuzigten Christus bestimmt ist. Dieser kreuzestheologische Im-
puls markiert die Stelle im paulinischen Denken, die hellenistisch-jüdischer Kul-
turtheologie am fernsten steht: Weder kann vom Kreuz Christi her Jude-Sein als
Statusvorteil verstanden werden. Damit wird jegliche hellenistisch-jüdische Apo-
logetik gegenstandslos. Noch ist es aus kreuzestheologischer Perspektive ange-
zeigt, den Standards griechischer Paideia genügen zu wollen oder zu müssen.
Allem Anschein nach hat Paulus erst durch die korinthische Theologie (mit dem
Alexandriner Apollos als führendem Kopf?) und nicht schon in Antiochien Be-
kanntschaft mit einer profilierten christlichen Spielart hellenistisch-jüdischer
Theologie gemacht, die ihn nötigte, sie sich ad hoc anzueignen, um weitestge-
hend kritisch darauf zu reagieren. Mit John Barclay kann man daher von einem
das paulinische Denken bestimmenden kulturellen Antagonismus sprechen
IV. Strukturen 497
(Barclay 1996, 381–395), nur eben mit der Besonderheit, dass der kritische Im-
puls dieses Denkens auch das Judentum nicht ausnimmt. Andererseits hat die
Analyse von 1Kor 15 durch Gerhard Sellin exemplarisch gezeigt, dass die Paulus-
briefe ohne die ständige Rückfrage nach einem möglichen hellenistisch-jüdischen
Hintergrund kaum angemessen interpretiert werden können (Sellin 1986). Die-
ser doppelte Befund legt eine perspektivisch gegenläufige Beantwortung der ein-
gangs gestellten Fragen nahe: Nimmt man an der »Juden« und »Griechen« glei-
chermaßen brüskierenden Kreuzestheologie von 1Kor 1 Maß, erstaunt der reiche
Gebrauch, den Paulus von hellenistisch-jüdischen Motiven macht. Orientiert
man sich dagegen am gewiss zutreffenden Urteil Sellins, der von »philonischen
Anklängen fast in jedem Kapitel« der Paulusbriefe spricht (s. o.) und Paulus da-
mit einen Platz im hellenistischen Judentum insgesamt zuweist, wird man umso
aufmerksamer auf Axiome der paulinischen Theologie achten, die diesen Rah-
men sprengen.
Borgen, Peder/Giversen, Søren (Hg.): The New Testament and Hellenistic Judaism, Peabody
1997.
Barclay, John M. G.: Jews in the Mediterranean Diaspora. From Alexander to Trajan
(323 BCE−117 CE), Edinburgh 1996.
Kooten, Geurt Hendrik van: Paul’s Anthropology in Context. The Image of God, Assimilation
to God, and Tripartite Man in Ancient Judaism, Ancient Philosophy and Early Christianity
(WUNT 232), Tübingen 2008.
Runia, David T.: Philo in Early Christian Literature. A Survey, Assen 1993, 66–74.
Sellin, Gerhard: Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und
exegetische Untersuchung von 1 Korinther 15 (FRLANT 138), Göttingen 1986.
Strecker, Georg/Schnelle, Udo (Hg.) unter Mitarbeit von Gerald Seelig: Neuer Wettstein,
Bd. II/1: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, Berlin/New York 1996.
Manuel Vogel
Die paulinische Theologie ist u. a. geprägt von Aussagen und Themen, die Paulus
bei seinem Anschluss an die Jesusbewegung übernahm, durchdachte und neu
formulierte. In den Paulusbriefen lassen sich daher manche Passagen als vorpau-
linische Textstücke bestimmen, die in der Forschung häufig mit der antioche-
nischen Gemeinde, in der Paulus lange wirkte, verbunden werden.
Naturgemäß ist die Herausarbeitung der meisten vorpaulinischen Texte und For-
meln nicht unumstritten, da Paulus diese zum einen nur selten entsprechend ein-
führte, zum anderen aber auch durch Bearbeitungen veränderte. Neben Zitati-
onsformeln sind mögliche Hinweise: Stilwechsel, grammatikalische Brüche, ab-
498 C. Werk
Die Präexistenz des Christus, sein Hineingehen in die menschliche Existenz bis
zum Äußersten sowie die Erhöhung und Erwartung der eschatologischen Herr-
schaft wurden, wenn der Hymnus vorpaulinisch ist, also schon früh als Deutung
des Christusereignisses formuliert. Als religionsgeschichtlicher Hintergrund ist
wahrscheinlich die hellenistisch-jüdische Weisheitslehre anzusehen. Im Kontext
des Philipperbriefs setzt Paulus das Christuslob ein, um Christus als das Vorbild
für Demut zu verdeutlichen, dem die Gemeinde folgen soll (2,1–5). Traditionelle
Christushymnen enthalten auch nachpaulinische Texte: Kol 1,15–20; 1Tim 3,16;
Hebr 1,3; 1Petr 2,22–24.
Immer wieder finden sich bei Paulus knappe Sätze, die formelhaft die Grund-
aussagen der christlichen Botschaft festhalten. Sie waren wichtige Elemente zur
Deutung des Heilsgeschehens in Gottesdienst, Schriftauslegung und Lehre. Auf-
grund ihrer Bezugnahme auf die Schrift, aber auch durch die Inhalte ist für diese
Formeln in der Regel judenchristliche Herkunft anzunehmen.
Auferweckungsformel: Eine wesentliche Grundaussage der frühchristlichen Ver-
kündigung lautet: »Gott hat ihn von den Toten auferweckt« (Röm 10,9; vgl. 1Kor
6,14; 15,15; Eph 1,20; Apg 13,30) bzw. als Partizipialform »der Jesus/ihn von den
Toten auferweckt hat« (1Thess 1,10; Gal 1,1; 2Kor 4,14; Röm 4,24; 8,11; vgl. Kol 2,12;
Apg 3,15; 4,10; 1Petr 1,21). Gott als Subjekt der Auferstehung ist auch hinter der
passivischen Form (»der von den Toten erweckt wurde«) zu erkennen (1Kor 15,20;
Röm 6,4.9; 7,4; vgl. 2Tim 2,8). Paulus benützt die Auferweckungsformel bereits
im 1. Thessalonicherbrief und hält daran bis zum Römerbrief fest. Sie bringt
Gottes endzeitliches Handeln an Jesus auf eine Kurzform, in der die soteriolo-
gische Dimension anklingt. Da es ohne den Glauben an die Auferweckung keine
nachösterliche Jesusbewegung gegeben hätte, ist dies mit einiger Gewissheit die
älteste Glaubensformel, die wir kennen (Wengst 1972, 42 f.).
Sterbensformel: Die Bedeutung des Todes Jesu für die Glaubenden wird formel-
haft festgehalten in dem Satz: »Christus ist für uns gestorben« (Röm 5,8; parti-
zipial: 1Thess 5,10; Röm 5,6; vgl. auch Röm 14,15; 1Kor 8,11; 2Kor 5,14 f.). In 1Thess
4,14 ist bereits als Glaube formuliert: »Jesus ist gestorben und auferstanden« (vgl.
Röm 14,9). Zu verweisen ist aber v. a. auf die von Paulus ausdrücklich übernom-
mene Bekenntnisformel in 1Kor 15,3b–5, in der festgehalten ist, »dass Christus für
unsere Sünden gestorben ist nach den Schriften; und dass er begraben wurde und
dass er auferweckt worden ist am dritten Tag nach den Schriften; und dass er
Kephas erschienen ist, dann den Zwölfen.«
Sowohl die Sterbe- als auch die Auferweckungsformel wurden also bereits vor
Paulus kombiniert (das wird auch als »Kontrastformel« bezeichnet; Schenke
1990, 24 f.), als Drittes tritt hier noch die Erscheinungsfomel hinzu (vgl. Lk 24,34).
1Kor 15,3b–5 ist in dem Sinn eine wahrscheinlich sehr alte Bekenntnisformulie-
rung, die Geschichte und religiöse Deutung eng verknüpft: Sterben und Auferwe-
ckung Christi werden von der Schrift her verstanden, und zwar aufgrund der
Erscheinungen des Auferstandenen. Mit »für unsere Sünden« ist die Bedeutung
für das Heil der Glaubenden angesprochen. Herkunft und ursprüngliche Sprache
500 C. Werk
der Maßstab des eschatologischen Gerichts proklamiert worden sei, was freilich
auch bestritten wurde (Berger 1970, 10–40).
In den Fragen nach der Entstehung dieser vorpaulinischen Texte und Formeln,
wieweit sie Paulus prägten oder von ihm geprägt wurden bzw. ob sie auf dem
Hintergrund der Gemeinde Antiochiens zu erklären sind oder vielmehr schon in
den ersten Monaten der nachösterlichen Jesusbewegung in Jerusalem entstanden
sind, ist die exegetische Forschung gespalten.
Jürgen Becker hielt in seinem Paulusbuch unter der Überschrift »Die Bedeu-
tung der antiochenischen Gemeinde für die Christenheit« fest: »Was Paulus spä-
ter an alter Tradition benutzt, entstammt im wesentlichen dem antiochenischen
Gemeindewissen.« (Becker 31998, 109). Als Zeugnis antiochenischer Theologie
wird von ihm neben den angeführten vorpaulinischen Traditionen und Formeln
der 1. Thessalonicherbrief genannt (138–148). 1Thess 1,9 f. sei als Kurzform des
antiochenischen Evangeliums für Nichtjuden zu lesen. Im Hintergrund stehe eine
Betonung der Erwählung als Gottes endzeitliches Handeln, eine antiochenische
Missionstheologie, die ganz selbstverständlich heidenchristlich orientiert gewe-
sen sei. Offen bleibt hier, wieweit Themen wie Gesetz, Gerechtigkeit und Recht-
fertigung schon aus antiochenischer Tradition zur paulinischen Theologie ge-
hörten oder ob sie, weil sie im 1. Thessalonicherbrief fehlen, erst später von Pau-
lus entwickelt wurden. Noch viel weitgehender ordnet Klaus Berger in seiner
Theologiegeschichte weite Teile des Neuen Testaments »antiochenischen Theolo-
gien« zu (Berger 21995, 178).
Hingegen betonten Martin Hengel und Anna Maria Schwemer, dass Paulus
schon vor seiner Zeit in Antiochien die wesentlichen Grundlagen seines Glaubens
empfangen habe »und in den Jahren danach das ›antiochenische Credo‹ sicher
stärker mitgestaltet [hat], als dass er sich von diesem (von dem wir herzlich wenig
wissen) prägen ließ« (Hengel/Schwemer 1998, 429). Zudem sei durch die nach
Antiochien geflüchteten Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde, die Hellenisten
(vgl. Apg 6,1; 11,20), die theologische Kontinuität gewährleistet (zur Theologie der
Hellenisten: Zugmann 2009, 300–406).
Es ist zumindest aus Gal 2,1–14 zu erkennen – bestätigt durch Apg 11,20 – dass
v. a. in Antiochien und von dort aus in vielen Gemeinden in Syrien und Kilikien
die Unterscheidung von Juden und Nichtjuden in der Gemeinde aufgehoben war.
Von Nichtjuden wurden Beschneidung und Einhaltung von Speisevorschriften
nicht mehr gefordert. Das war wahrscheinlich verbunden mit einer veränderten
Einschätzung der Tora, deren kultische Regeln zugunsten der Agape-Forderung
zurückgedrängt wurden. Darüber hinaus ist vielleicht mit einer kritischen Bewer-
tung des Jerusalemer Tempelkults zu rechnen, die mit einer Sühnedeutung des
Todes Jesu einherging. Möglicherweise gehörte auch die Rede von der Gerechtig-
keit und Rechtfertigung, die alle Menschen gleichermaßen durch das Christuser-
504 C. Werk
Zu den Befunden gehört nicht nur die Wahrnehmung von Differenzen zwischen
verschiedenen Aussagen des Paulus zum selben Thema, sondern auch die Beob
achtung, dass er auf einmal Themen oder Motive einspielen kann (z. B. in der
Christologie), die ihm in den Briefen zuvor noch fern gelegen haben; das könnte
auf neue »Entwicklungen« hindeuten, muss es aber nicht.
Tora: Weder im 1. Thessalonicher- noch im 2. Korintherbrief handelt Paulus
von der Tora (νόμος). Im 1. Korintherbrief erklärt er eine Lebensführung, die ihr
konform ist (ὑπὸ νόμον), programmatisch zu einem »Adiaphoron«: Um Heiden
für Christus zu »gewinnen«, würde er sie aufgeben; um toratreue Juden zu »ge-
winnen«, würde er leben wie sie (1Kor 9,20 f.) – niemals würde er anderen ein
torakonformes Leben als heilsnotwendig aufdrängen (könnte man aus der Per-
spektive des Gal kommentierend hinzufügen). Die Sentenz 1Kor 7,(18)19 bestätigt
diese Einstellung: Sie empfiehlt das »Halten der Gebote Gottes« als dasjenige, wo-
rauf es einzig ankommt, und lobt weder das Beschnitten-Sein noch das Unbe-
schnitten-Sein. 1Kor 15,56, eine enigmatische Anmerkung zum voranstehenden
Schriftzitat Jes 25,8 und Hos 13,14: »[. . .] die Macht der Sünde aber ist das Gesetz«,
versteht nur, wer Paulus darüber schon einmal hat reden hören (gilt das auch für
die Korinther?). Im Übrigen ist sie deutungsbedürftig, um nicht zu sagen miss-
verständlich.
Gal 3,1–29 ordnet die Tora exegetisch in die »Heilsökonomie« Gottes ein (Ab-
raham – Sinai – Christus), aber paradox und vermittelt: paradox, insofern sie
gerade dadurch der »Gnade« Gottes in Jesus Christus (Gal 2,21) zuarbeiten soll,
dass sie die Menschen im Gefängnis der Sünde »einschließt«, vermittelt, insofern
sie – im Unterschied zur unmittelbar von Gott gegebenen »Verheißung« (Gal
3,17 f.) – »durch Engel angeordnet« worden sei (Gal 3,19), also nur »mittelbar aus
göttlicher Nähe« stammt (Becker 1998, 55). Im Übrigen nimmt der Text sie als
Faktor einer begrenzten geschichtlichen Periode in den Blick, die von der Sinaiof-
fenbarung bis zum Kommen Christi reicht.
Die Differenzen hierzu im Römerbrief sind markant: Bemühte Paulus sich im
Galaterbrief v. a. um eine Relationsbestimmung von »Verheißung« und »Gesetz«,
so sehen wir ihn nun mit der von »Gesetz« und »Sünde« (vgl. 1Kor 15,56) ringen.
Die Emphase ruht einerseits auf der Betonung der »Heiligkeit« des »Gesetzes
Gottes« (Röm 7,12; vgl. V. 14.22), andererseits auf dem Nachweis, dass die Macht
der »Sünde« es instrumentalisiert (Röm 7,7–13). Zudem begreift er es nicht als
Signum einer Etappe, nach deren Ende es seine Aufgabe erfüllt hätte, sondern
müht sich im Gegenteil um den Nachweis, dass die Erfüllung der »Forderung des
506 C. Werk
Gesetzes« erst in einem durch Christus ermöglichten »Leben κατὰ πνεῦμα (nach
dem Geist)« möglich ist (Röm 8,4; vgl. auch 3,21). Spricht er in Gal 5,14 davon,
dass »das ganze Gesetz« »in einem Wort erfüllt« würde, nämlich in der Weisung
Lev 19,18, so generalisiert er in Röm 13,9 die zweite Dekalogtafel (»und was immer
sonst es an Geboten gibt«), um Lev 19,18 als ihre »Aufgipfelung«, »Zusammenfas-
sung« oder hermeneutische Mitte zu bezeichnen.
Israel: In seinem ältesten uns bekannten Brief »tröstet« Paulus seine noch junge
Gemeinde, die vonseiten ihrer Mitbürger unter Druck geraten war, damit, dass
auch »die Gemeinden Gottes« in Judäa vonseiten ihrer »Landsleute« Gleiches er-
litten hätten (1Thess 2,14), um eine eigentlich unnötige, aus lauter Stereotypen
bestehende Polemik gegen »die Juden« anzufügen (1Thess 2,15 f.): Mit dem Vor-
wurf: »sie haben den Herrn Jesus getötet«, setzt sie ein, mit der Gerichtsaussage:
»es ist aber der Zorn (ἠ ὀργή) über sie gänzlich (εἰς τέλος) hereingebrochen«,
endet sie. – Im Römerbrief, dem letzten uns bekannten Brief, schlägt Paulus an-
dere Töne an, wenn er von seinen »Stammverwandten« spricht (9,3). Dass sie Je-
sus getötet hätten, spielt jetzt keine Rolle mehr, entscheidend ist für ihn vielmehr
ihr mehrheitliches Nein zur nachösterlichen Verkündigung des Evangeliums un-
ter den Heiden (Röm 10,9.14–21). Dieses Nein deutet er nicht als Ausdruck ihrer
Böswilligkeit (1Thess 2,16a), sondern als von Gott selbst verhängte »Verhärtung«
(Röm 11,7 f.25). Zwar nennt er noch die Juden, die nicht an das Evangelium glau-
ben, »Gefäße des Zorns (ὀργῆς), die zum Verderben bestimmt« seien (Röm 9,22),
aber er bettet diese Aussage jetzt in eine »dialektische« Erörterung ein, an deren
Ende die prophetische Ansage der »Errettung« »ganz Israels« steht – unkonditio-
niert, durch den Parusie-Christus selbst.
Ein weiterer Spannungsbogen ergibt sich, wenn man die Israel-Aussage Gal
6,16 mit den Israel-Aussagen von Röm 9–11 vergleicht. Gal 6,16, ein Segensspruch,
der sich an die 19. Benediktion des Šmone Esre anschließt, lautet: »Und alle, die
sich nach diesem Maßstab (κανών) richten [gemeint ist der Kanon von Gal 6,15;
vgl. 5,6] – Friede über sie und Erbarmen – und (oder: das heißt) über das Israel
Gottes«. Worauf bezieht sich das nachklappende, durch den Genitiv τοῦ θεοῦ de-
finierte »Israel«? Auf die Kirche (Becker 1998, 102), in der nur noch der »Maß-
stab« des Glaubens an Jesus Christus (vgl. 5,6) gilt, nicht aber die Frage, ob je-
mand »beschnitten« – also Jude – ist oder nicht? Dann wäre das καί explikativ
(»das heißt«). Oder es ist additiv (»und«) gemeint, sodass zu deuten wäre: »Frie-
de« über die, welche sich nach diesem Kanon richten [ihr Heidenchristen in Ga-
latien und darüber hinaus] – und Israel, sofern es sich durch Gottes neue Schöp-
fung in Christus auch bestimmen lässt. Dieses »Israel« wären dann die Juden-
christen, insoweit sie sich wirklich an die Entscheidung des sog. Apostelkonvents
gebunden sähen (Betz 1988, 543–548). – In Röm 9–11 erscheint der Israel-Name
nirgends vom Judentum abgelöst (vgl. Röm 9,4.31; 10,19; 11,7). Paulus »definiert«
ihn zwar vom Erwählungsgedanken her neu, sodass nicht schon die Abstammung
darüber befindet, wer zu Israel gehört (Röm 9,6) – und dies im Blick darauf, dass
in der Gegenwart der erwählte »Rest« Israels, die Judenchristen, mit dem vorfind-
IV. Strukturen 507
lichen Israel nicht mehr deckungsgleich ist (Röm 10,27–29 einerseits, Röm 11,4–7
andererseits) –, aber genau dies erhofft letztendlich wieder seine Prophetie der
»Errettung« »ganz Israels« (Röm 11,26) durch den Parusie-Christus: dass »der
Retter vom Zion« dann auch den jetzt noch verhärteten Teil des Volks in das Heil
einbeziehen wird.
Eine dritte und letzte Differenz betrifft die Jerusalem-Thematik: Während Gal
4,21–31 das »obere Jerusalem, das unsere Mutter ist«, polemisch vom »gegenwär-
tigen Jerusalem« abhebt, geben die Reisepläne des Paulus in Röm 15,25–27 (vgl.
auch V. 19) in Verbindung mit seiner Rede vom judenchristlichen »Rest« in Röm
11 eine positive Einstellung zur Stadt und den in ihr beheimateten »Heiligen« zu
erkennen. Gerade in der Phase der Mission, in der Paulus mit Spanien die west-
lichen Grenzen des Römischen Reiches anzielt, bedarf es nach seiner Überzeu-
gung der festen Verwurzelung der Jesusbewegung in der »Heiligen Stadt«, das
heißt: der partnerschaftlichen »Gemeinschaft« (Röm 15,26 f.) mit den dortigen
Jesusgläubigen.
Eschatologie: Die Rede von der Parusie des Herrn (in 1Thess 3,13; 4,15; 5,23; und
1Kor 15, nicht in 2Kor, Phil und Röm) bzw. vom kommenden »Tag« Christi (Phil
1,10 [vgl. auch 3,11.20 f.; 4,5]; Röm 13,12) als Datum des Heils begleitet Paulus vom
ersten bis zum letzten Schreiben; im Römerbrief erklärt er sogar, dass »der Tag
nahe herbeigekommen«, »das Heil uns jetzt« also »näher sei als zu der Zeit, da wir
zum Glauben kamen« (Röm 13,11 f.). Dennoch gibt es auffällige Differenzen zwi-
schen den eschatologischen Texten 1Thess 4, 1Kor 15, 2Kor 5 und Phil 1.
Im ältesten Text, 1Thess 4, spricht Paulus angesichts von Todesfällen, welche die
junge Gemeinde heimgesucht haben (wie viele, ist unbekannt), von der zukünf-
tigen Entrückung der bei der Parusie noch Lebenden, erklärt aber, dass die Toten
zuvor »in Christus auferstehen werden«, sodass sie nichts verpassen würden; bei-
de – die noch Lebenden und die Toten – werden dann »allezeit mit dem Herrn«
sein können.
In 1Kor 15 lässt Paulus von einer Entrückung der bei der Parusie noch Lebenden
nichts mehr verlauten, betont vielmehr, dass »wir nicht alle entschlafen, aber alle
verwandelt werden« (1Kor 15,51). Der Grund, warum er die Vorstellung von einer
Verwandlung (dazu Back 2002) hier neu einführt, dürfte die gegen die Opponen-
ten in Korinth in Stellung gebrachte Einsicht in die Sterblichkeit des Menschen
sein, nämlich »dass das Vergängliche das Unvergängliche nicht erben« könne (V.
50). Die Formulierung: »alle werden wir nicht entschlafen«, deutet vielleicht an,
dass Paulus inzwischen mit dem Tod vor der Parusie als dem Normalfall rechnet.
Die autobiographischen Notizen 1Kor 15,32 und 2Kor 1,8–11 zeigen jedenfalls, dass
er selbst dem Tod in »Asien« (Ephesus) schon ins Antlitz geschaut hat (Klein
1973, 251, überzieht, wenn er zu 1Kor 15,51 erklärt: »dies ist ungefähr das Gegenteil
der Gewissheit von 1Thess 4«; Lindemann 1991).
Die Frage nach der Auferstehungsleiblichkeit ist Thema auch in 2Kor 5,1–10.
Hatte Paulus »den Gedanken einer begrifflichen Trennung von ›irdischem‹ und
›himmlischem‹ Leib des Menschen« in 1Kor 15 schon »angedacht«, so bezeichnet
508 C. Werk
er in 2Kor 5,1–10 »nur noch den irdischen Menschen als σῶμα« (Walter 1998,
126 f.), um für den »himmlischen« Metaphern zu benutzen, deren Zuordnung im
Einzelnen schwer zu deuten ist (»irdisches Zelt«/«nicht von Händen gemachtes,
ewiges Haus«; Bekleidung mit einem Gewand). Einerseits lässt der in V. 1 thema-
tisierte Fall, »dass unser irdisches Zelt abgebrochen wird«, an den individuellen
Tod als Horizont der Fragestellung denken – mit der Folge, dass in der Exegese
über eine Christusgemeinschaft unmittelbar nach dem Sterben spekuliert wird
bzw. darüber, dass Paulus im Bild vom »Nackt-Befunden-Werden« V. 3 seine
Angst vor einem »Zwischenzustand« zwischen Tod und Parusie zum Ausdruck
brächte. Andererseits erinnert das Bild vom »Über-Bekleidet-Werden« (ἐπεν
δύσασθαι) – »damit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde« (V. 4) – an
die Vorstellung von der »Verwandlung«, die in 1Kor 15 an der Parusie haftet, von
der im 2. Korintherbrief aber nicht die Rede ist, wie überhaupt zeitliche Abfolgen
hier nicht thematisiert werden (anders 1Kor 15,23–28); auch nicht am Ende des
Abschnitts, wo Paulus den Blick auf den »Richterstuhl Christi« lenkt, aber nicht,
um einen »apokalyptischen Fahrplan« in Erinnerung zu rufen, sondern um die
Verantwortung vor dem Herrn einzuschärfen, eine Verantwortung, die alle »fern«
vom Herrn (V. 6.8 f.) hier und jetzt haben. Was den Text von Anfang bis Ende
bewegt, ist die Hoffnung auf den Durchbruch des Lebens angesichts irdischer
Vergänglichkeit (vgl. auch 2Kor 4,7), ohne über das Wie zu reflektieren.
Im Unterschied zu 2Kor 5,1–10 artikuliert Paulus in Phil 1,18b–26 seine Zu-
kunftserwartung eindeutig auf dem Hintergrund persönlicher Krisenerfahrung,
konkret als Gefangener (Phil 1,12–18a). Auch hier spielt die Zeit in ihrer Dehnung
keine Rolle, vielmehr verdichtet sich für Paulus in seiner Notsituation alles auf
die Alternative: »(weiter)leben im Fleisch« (V. 22) oder »aus der Welt scheiden
und mit Christus sein« (V. 23). Eine am eigenen Sterben orientierte individuelle
Eschatologie zeichnet sich ab, an deren möglichen Implikationen und Konse-
quenzen Paulus hier allerdings nicht interessiert ist. Wichtiger ist ihm die Alter-
native als solche, die er für sich – 2Kor 5,9 f. analog – durch seine Inpflichtnahme
durch den Herrn entschieden sieht, konkret: durch seinen apostolischen Dienst
»zum Fortschritt« seiner Adressaten (V. 25).
Christologie: Während Paulus den wiederkommenden Sohn Gottes 1Thess 1,10
zufolge als unseren »Retter aus dem kommenden Zorn« »von den Himmeln her«
erwartet, richtet sich seine Hoffnung in Röm 11,26 auf ihn als »Retter vom Zion
her«, womit wohl das himmlische Zion gemeint ist. In Röm 1,3 (vgl. auch 15,12)
bezeichnet er den irdischen Jesus zum ersten Mal in judenchristlicher Tradition
als Davidspross, in Röm 3,25 spricht er von seinem Tod in kultischer Metaphorik
mit Jerusalem-Kolorit (»Sühnmal«: ἱλαστήριον) (vgl. auch Röm 15,16). Das ist
neu gegenüber seinen früheren Schreiben (Theobald 2011).
Mit den zuvor genannten Themen sind lediglich die Brennpunkte der Diskus-
sion benannt. Um sie recht zu gewichten, wäre es notwendig, sie in den Rahmen
der Wiederaufnahmen von Themen in den paulinischen Briefen überhaupt hi-
IV. Strukturen 509
neinzustellen. James P. Ware hat jüngst eine detaillierte paulinische Synopse vor-
gelegt (Ware 2010).
In der liberalen Theologie des 19./20. Jh. sprach man gerne von der »Entwick-
lung« paulinischer Lehrbegriffe (Schnelle 2003, 20 Anm. 79), z. B. von einer »ju-
ridischen Rechtfertigungslehre« hin zu einer ontischen In-Christus-Mystik etc.
Damit verbanden sich religionsgeschichtliche Konzepte, die bis heute Paulus in
seiner Eschatologie auf dem Weg von einer apokalyptisch geprägten zu einer
»räumlich« gedachten hellenistischen Individualeschatologie sehen (Walter
1996). Entwicklungskonzepte hängen vielfach an der Rekonstruktion der Frühzeit
des Paulus (Wilckens 1982a; Räisänen 1987a). Solche müssen aber – auch wenn
sie umgekehrt in Abwehr eines Entwicklungsmodells die Grundelemente der
»Rechtfertigungslehre« schon im Berufungswiderfahrnis des Paulus vor Damas-
kus festmachen wollen – hypothetisch bleiben, weil die Frühzeit im Unterschied
zu seinem späteren Wirken im Raum der Ägäis nicht literarisch dokumentiert ist.
Der zeitliche Spielraum für Entwicklungen ist aber auch bei dieser Spätzeit eng
(Gal – Röm).
Diffus bleiben die Termini, die der Deutung der wahrgenommenen Diffe-
renzen dienen (Sänger 2009, 253 Anm. 28): Die Rede ist von Variationen, Akzent-
verschiebungen, Modifikationen, Perspektivwechseln, Widersprüchen und Revi-
sionen. Wer von »different aspects of an overall concept« (Delobel 1990, 347)
spricht, leistet einer monolithischen Vorstellung von der paulinischen Theologie
Vorschub, die weder neue Erfahrungen des Paulus ernst nimmt (wie die in 1Kor
15,32; 2Kor 1,8–11 und Phil 1,13 thematisierten) noch Veränderungen bei den
Adressaten. Um die Differenzen gewichten zu können, sind folgende Fragen hilf-
reich:
(a1) Markiert Paulus, dass er von früheren Äußerungen abweicht oder (a2)
stellt er umgekehrt in neuen Zusammenhängen gezielt Kontinuität zu früheren
Äußerungen her?
(b) Revidiert er frühere Aussagen stillschweigend – erkenntlich vielleicht da-
ran, dass er schon einmal durchgespielte Gedanken nach Art einer retractatio
noch einmal aufgreift und neu fasst – jetzt freilich an andere Adressaten gerich-
tet? Und lassen sich Gründe für ein solches Verfahren erkennen?
(c) Hängen Differenzen damit zusammen, dass frühere Aussagen (nicht nur
schriftliche, auch mündlich kolportierte sind möglich) Nachfragen auslösten,
vielleicht auch Missverständnisse oder gar polemische Gegnerschaft, sodass Pau-
lus sich gezwungen sieht, jetzt neu und besser zu formulieren?
(d) Erklären sich differente Formulierungen von der Situation der Adressaten
her? Musste Paulus mit Rücksicht auf diese zuvor Gedachtes anderes formulie-
ren?
510 C. Werk
(e) Oder formuliert er deswegen anders, weil er selbst inzwischen neu über die
Sache denkt?
(f) Auch bleibt das jeweilige Gewicht der zu vergleichenden Aussagen zu be-
rücksichtigen.
Diese und vielleicht noch weitere Fragen liefern die Kriterien, um zu entschei-
den, ob Vergleiche differenter Texte tatsächlich zur Annahme von »Wandlungen«
des paulinischen Denkens führen müssen oder nicht.
Auf der Basis des oben dokumentierten Befunds können im Folgenden nur einige
neuralgische Punkte benannt werden:
(1) Gemäß Kriterium [a1] bedeutet die Ansage der »Errettung« »ganz Israels«
durch den Parusie-Christus (Röm 11,26 f.) tatsächlich etwas Neues – vorausge-
setzt, man nimmt ihre Qualifizierung als »Geheimnis« (V. 25), das Paulus auf sein
Gebet um das »Heil« der Juden (Röm 10,1) hin von Gott offenbart wurde, ernst.
Gewiss lassen sich die hochreflektierten Kapitel Röm 9–11 nur bedingt mit der
stereotypen Polemik gegen die Ἰουδαῖοι in 1Thess 2,15 f. vergleichen [f], doch
Röm 9,22 zeigt, dass der Gerichtstopos von 1Thess 2,16c (ὀργή) nicht vergessen
ist, sondern auf neuer Reflexionsstufe noch einmal durchdacht wird (Theobald
2009, 144–146). Wenn irgendwo, dann lässt sich an der Frage nach der Zukunft
Israels von einer »Wandlung« im Denken des Paulus sprechen (Schnelle 1989).
Ob sich das auch an einem Vergleich des Römer- mit dem Galaterbrief festma-
chen lässt, die zeitlich nahe beieinanderliegen, bleibt allerdings zweifelhaft, da es
dem Galaterbrief ja nicht um die Frage nach der Zukunft Israels geht.
(2) Auch die Einleitung der eschatologischen Kundgabe 1Kor 15,51 (»siehe, ich
sage euch ein Geheimnis«) soll vielleicht signalisieren, dass Paulus die Vorstellung
von der »Verwandlung« aller anstelle ihrer »Entrückung« neu einführen will [a1].
Der Wechsel könnte indes auch der Situation der Korinther geschuldet sein [d],
da Paulus mit der Erwartung einer Entrückung »den in Korinth virulenten En-
thusiasmus« gestützt hätte, während es ihm aber gerade darauf ankam, »einen
ungebrochenen Übergang von der gegenwärtigen in die zukünftige Existenzweise
zu verneinen« (Lindemann 2000, 368). Da beides sich nicht ausschließt, dürfte es
jener »Enthusiasmus« gewesen sein, der bei ihm den Umbau seiner eschatolo-
gischen Vorstellung bewirkt hat.
(3) Was Phil 1 und 2Kor 5 betrifft, so widerruft Paulus nirgends in diesen Brie-
fen seine Parusieerwartung (vgl. im Gegenteil Phil 1,10), knüpft in 2Kor 5,4c (»da-
mit das Sterbliche vom Leben verschlungen werde«) vielmehr an 1Kor 15,53 f. an
[a2], womit er den Lesern die Kontinuität seiner eschatologischen Optionen an-
zeigt (Lindemann 1991, 393). Von daher bleibt es problematisch, mit Phil 1,23 eine
»Wandlung« hin zu einer individuellen Eschatologie belegen zu wollen – nach
Udo Schnelle habe der Apostel den Wunsch, »zu sterben und unmittelbar in die
IV. Strukturen 511
Was heißt »Kontingenz« und was »Kohärenz«? Wie hilfreich sind solche Konzepte
für eine Analyse der theologischen Äußerungen des Paulus, der ja »Theologie in
Briefform« treibt? Ist sein Denken »kohärent« oder nicht? Und woran misst sich
das? An seinen Argumentationsformen und rhetorischen Mitteln, die er in den
Texten zur Anwendung bringt? Oder an Grundoptionen, die sich in seinen Brie-
fen durchhalten?
Entscheidend dürfte sein, die beiden Faktoren – »Kontingenz« und »Kohärenz«
– im Gleichgewicht zu halten und sich vor zwei Extremen zu hüten: Paulus ist
weder Pragmatiker, der seine theologischen Äußerungen allein seinem Missions-
werk unterordnet, noch ist er Dogmatiker, dem es v. a. um sein theologisch
kohärentes System geht.
5.1. Begriffsklärungen
In keinem Fall dienen die Briefe des Paulus einer missionarischen Erstverkündi-
gung des Evangeliums, sie setzen sie vielmehr voraus – entweder die eigene Mis-
sion (wie im Fall von 1Thess oder 1.2Kor etc.) oder (wie bei Röm) diejenige an-
derer Glaubenszeugen. Was Paulus in seinen Briefen treibt, ist immer »Theolo-
gie«, sekundäre Explikation oder Auslegung des Evangeliums in eine bestimmte
Situation hinein, aber nirgends nach Art einer Einbahnstraße. Dafür bürgt schon
die Form dieser »Theologie« – der Brief als ihr literarisches Kommunikations-
medium.
Über den Brief als Form seines Theologie-Treibens legt Paulus nirgends Re-
chenschaft ab (vgl. aber den Reflex 2Kor 10,10). Auch hat er sich nicht bewusst zu
ihm als der für ihn geeigneten Ausdrucksform entschieden; diese drängte sich
ihm vielmehr auf, als er von seinen Gemeinden getrennt war – und er hat dieses
514 C. Werk
Medium der Kommunikation mit ihnen voll genutzt. Nicht dem Austausch von
Belanglosigkeiten galt es, sondern der Klärung ihrer Fragen im Licht des Evange-
liums. Die hier entworfenen theologischen Perspektiven sind somit dialogischer
Natur und die Briefform Ausdruck der Kontextualität seiner Theologie, die man
mit Hans Weder »Theologie in Briefform« nennen kann (Weder 1986, 318–322).
»Die Gestalt von Briefen kann nicht jede Theologie annehmen«, urteilt Weder,
»deshalb ist der paulinische Brief aufschlußreich für seine Theologie« (318) – den
Römerbrief, der nicht situationsgelöst interpretiert werden darf, nicht ausgenom-
men ( C.I.2.7.). »Eine Theologie in Briefform zeichnet sich [. . .] aus durch den
Willen zur Argumentation. Gerade ein Brief ist denkbar ungeeignet, ein abschlie-
ßendes Wort zu sagen.« »Die Adressaten der paulinischen Briefe müssen Gelegen-
heit haben, einverstanden zu sein« (320), wobei der Diskurs Öffentlichkeit sucht,
die Öffentlichkeit der Gemeinden, in welcher der Brief zum Vortrag kommen will
(vgl. 1Thess 5,27). »Schließlich zeichnet sich eine Theologie in Briefform dadurch
aus, dass sie der Auslegung verpflichtet ist. In den Briefen werden oft konkrete
Fragen des Zusammenlebens oder des Lebens und Todes überhaupt besprochen.
Paulus bearbeitet diese Fragen so, dass er das Geschehen Gottes in der Welt aus-
legt, auslegt in seinem Anspruch an das Verhalten des Menschen [. . .]« (321). Da-
rin hat das paulinische Paradigma von »Theologie« Modellcharakter.
Gibt es »elementare Linien und Grundentscheide«, die sich bei Paulus durchhal-
ten, »weil sie von einem gemeinsamen Denkansatz herkommen« (Becker 1989,
395), oder haben wir es bei seiner »Theologie« mit einem unsystematischen Ge-
bilde zu tun, dessen Einzelteile unausgeglichen und widersprüchlich nebeneinan-
der stehen (z. B. Räisänen 21987)? »Der Einfluss des [. . .] dialogischen Potentials
auf das Wachsen und Werden der paulinischen Theologie ist nicht zu unterschät-
zen« (Sänger 2009, 255), aber genau dies setzt auch Grundoptionen voraus, die
jenes Wachsen und Werden allererst ermöglichen und freisetzen, weil sie als
Grundoptionen immer wieder aufs Neue bewahrheitet werden wollen. Die im
Folgenden ausgewählten und kurz vorgestellten Kohärenz stiftenden »Organisa-
tionspunkte« im paulinischen Denken müssen sich nicht gegenseitig ausschlie-
ßen, sie können auch kompatibel miteinander sein (im Einzelnen vgl. die ent-
sprechenden Abschnitte in diesem Handbuch).
(1) Des Öfteren erwähnt Paulus seine Berufung vor Damaskus als seine eigent-
liche Lebenswende, die ihm erst die Augen für die wahren Ziele und Werte seines
Weges geöffnet habe ( B.III.). Der Eindruck entsteht, dass genau dieses Wider-
fahrnis des auferweckten Gekreuzigten der Quellort nicht nur seines Lebens, son-
dern auch seines Denkens ist. Fraglos wird hier dessen Erfahrungsgrundlage
deutlich, auch dass sein theologisches Denken immer nur Nach-Denken sein
kann, konkret der Erfahrung, allein durch »Gottes Gnade« in Jesus Christus zu
»sein« (1Kor 15,10).
Vergessen darf man aber dabei zweierlei nicht: zum einen, dass Paulus entspre-
chend den unterschiedlichen Briefsituationen auch sehr unterschiedliche Model-
le heranziehen kann, um sein Widerfahrnis zu versprachlichen (Propheten- bzw.
Apostelberufung; »Offenbarung«; Ostererscheinung; »Sehen« des Herrn etc.)
( B.III.3.); zum anderen, dass er immer nur sehr diskret davon spricht und sich
nicht selbst einfach zum Argument macht, sondern an seinem apostolischen Weg
Kommunizierbares verdeutlicht: die Macht und Andersheit des auferweckten
Herrn, der kraft des Glaubens im Leben aller umstürzend wirkt.
(2) Dieser Glaube an Jesus Christus verdichtet sich bei ihm in einer reichen
Bekenntnistradition, in Glaubensformeln, die in äußerst kondensierter Form von
Tod und Auferweckung Jesu handeln, auch schon, wie in 1Kor 15,3–5, in knapper
narrativer Form, sodass wir hier die Keimzelle des späteren christlichen Glau-
bensbekenntnisses vor uns haben. Paulus selbst hat diese Formeln schon über-
nommen und gibt sie weiter, offenkundig davon überzeugt, dass sie so etwas wie
das Rückgrat des von ihm proklamierten Evangeliums sind. Oft genug sind seine
Argumentationen auch Auslegungen oder Entfaltungen solcher Bekenntnissätze
(Conzelmann 1967, 186 f.).
516 C. Werk
Das heißt aber nicht, dass er die mit seiner Rechtfertigungsbotschaft verbun-
dene Grundoption unter anderen Umständen nicht auch hätte anders sagen kön-
nen, was er ja tatsächlich getan hat, wenn man das Sprachspiel 1Kor 1–4 von der
Weisheit des Kreuzes und der Weisheit, nach der die Menschen suchen, unter
dieser Rücksicht liest. Ein ganz anderes Sprachspiel ist das von der durch die Tau-
fe vermittelten Teilhabe am Tod Christi als Übergang vom Unheil ins Heil, das Ed
P. Sanders zum »Herz der paulinischen Theologie« erklärt (Sanders 1995). Von
daher ist die Rechtfertigungslehre des Paulus weniger die »alles strukturierende
Mitte« seines Denkens (so aber Sänger 2009, 249) – das kommt eher seiner Rede
vom Evangelium zu –, als vielmehr der »authentische Wahrnehmungs- und In-
terpretationshorizont der paulinischen Anthropologie« (ebd.).
(5) Nach Johan Christiaan Beker gehört zum Kohärenz stiftenden Zentrum
paulinischen Denkens der apokalyptische Interpretationsrahmen des Evangeli-
ums hinzu; er kann von ihm nicht als »weltanschaulich« bedingter Rahmen abge-
streift werden, weil er die kosmisch-universale Weite des in der Mitte der Evange-
liumsverkündigung stehenden Glaubens an die Auferweckung des Gekreuzigten
als Auftakt einer neuen Welt beinhaltet, in der Gott endgültig »alles in allem« sein
wird (1Kor 15,28). Es ist dieser »Sieg Gottes«, den Paulus in seiner Evangeliums-
verkündigung jeweils situationell zum Zuge bringt. »[T]he hermeneutical inter-
action between the coherent center of the gospel and its contingency – that is, the
manner in which the one gospel of ›Christ crucified and risen‹ in its apocalyptic
setting achieves incarnational depth and relevance in every particularity and va-
riety of the human situation – constitutes Paul’s particular contribution to the
theology« (Beker 1980, 35).
Beker, Johan Christiaan: Paul the Apostle. The Triumph of God in Life and Thought, Edin
burgh 1980.
Ders.: Paul’s Theology: Consistent or Inconsistent?, NTS 34, 1988, 364–377.
Weder, Hans: Neutestamentliche Hermeneutik (ZGB), Zürich 1986.
Michael Theobald
D. Wirkung und Rezeption
520 D. Wirkung und Rezeption
Die Annahme der Existenz einer Paulusschule ist ein Ergebnis der neuzeitlichen
kritischen Forschung, die innerhalb der paulinischen Schriften pseudepigra-
phische Briefe identifiziert, woraus auf eine Schultradition geschlossen wurde.
Der Begriff »Paulusschule« wird zum ersten Mal von Heinrich Julius Holtzmann
konsequent für die Beschreibung der Abfassungsverhältnisse der Pastoralbriefe
verwendet (Holtzmann 1880, 117). Die pseudepigraphische Abfassung impliziert
dabei notwendig die Vorstellung eines Kreises von Schülern, die sich auf den Na-
men des Paulus berufen und in seinem Namen neue Schriften verfassen. Die Hy-
pothese einer Paulusschule hängt daher maßgeblich an der pseudepigraphischen
Beurteilung der Pastoralbriefe im 19. Jh. (Merkel 2005), die v. a. durch Ferdinand
Christian Baur auf weitere Schriften ausgeweitet wurde, der von den Paulusbrie-
fen nur den Römer- und den Galaterbrief sowie den 1. und 2. Korintherbrief als
authentisch anerkannte (Baur 1845, 499–504). Nach dem heute verbreiteten Kon-
sens gelten der 2. Thessalonicher-, der Epheser-, der Kolosser- sowie der 1. und 2.
Timotheus- und der Titusbrief als pseudonyme Schriften, welche die Paulusschu-
le repräsentieren.
Die Frage nach der Existenz einer Paulusschule ist wesentlich eine Frage nach
der Art der Wirkung des Apostels und seiner Briefe auf seine Gemeinden, seine
Anhänger und insbesondere seine engeren Mitarbeiter, die in seinem Namen sei-
ne Briefe sammeln, zusammenstellen, überarbeiten und schließlich unter dem
Namen des Paulus weitere Briefe schreiben und damit die Sammlung ergänzen.
In diesem Punkt gehen die Auffassungen der Forschung weit auseinander. Wäh-
rend für die einen Paulus bewusst eine Schultradition begründet hat (Conzel-
mann 1979; Vegge 2006) bzw. selbst die Sammlung seiner Schriften initiierte
(Trobisch 1989), sehen andere den Apostel eher als einen Außenseiter, der weder
zu Lebzeiten noch in seiner unmittelbaren Nachwirkung eine große Bedeutung
hatte (Käsemann 31970, 241 f.).
Es ist daher zu unterscheiden zwischen der Hypothese einer von Paulus selbst
ins Leben gerufenen Schultradition und der Hypothese einer Paulusschule, die
aus der Existenz pseudepigraphischer Schriften abgeleitet wird. Die These einer
regelrechten Schulgründung durch Paulus wird unter Hinweis auf Apg 19,9 be-
reits in der biblischen Überlieferung verankert. Dort berichtet Lukas von einer
»Schule des Tyrannus« (σχολὴ Τυράννου) in Ephesus, in der Paulus über längere
Zeit gelehrt und – so die Schlussfolgerung – seine Schultradition begründet habe.
Der an dieser Stelle verwendete Begriff der σχολή bezeichnet jedoch lediglich ei-
nen Ort, an dem man sich treffen und gegebenenfalls auch lehren konnte; dass
dort Paulus selbst eine Schule begründet habe, geht aus Apg 19,9 nicht hervor.
Darüber hinaus spricht Lukas nicht von einem »Lehren« (διδάσκειν) des Paulus,
sondern verwendet in unterschiedlichen Zusammenhängen – wie etwa auch im
I. Die Paulusschule und die theologische Entwicklung 521
Kontext der Synagogenreden des Paulus – den Begriff der »argumentativen Un-
terredung« (διαλέγομαι). Auch erwähnen weder Lukas noch Paulus selbst einen
Schülerkreis. Entscheidend für eine Interpretation von Texten wie Apg 19,9 oder
auch 17,16–34 im Sinne eines Schulbetriebes ist vielmehr der Vergleich mit dem
antiken Schulwesen. Dabei wird vorausgesetzt, dass Paulus selbst eine Schulbil-
dung auf unterschiedlichen Ebenen durchlaufen habe, daher mit diesen Struk-
turen vertraut gewesen sei und sie bewusst für die Etablierung, Bewahrung und
Überlieferung seiner Lehre einsetzte. »Paulus war zweifellos der überragende
Theologe seiner Zeit, der in eigenständiger Weise eine neue und wirkungsmäch-
tige Theologie entwickelte. Zugleich entstammte er einer Schultradition und
gründete selbst eine Schule, von der die Proto- und Deuteropaulinen in unter-
schiedlicher Weise Zeugnis ablegen« (Schnelle 2003, 146). Als Vorbild für die
Charakteristik einer Paulusschule gelten die antiken Philosophenschulen, in de-
nen ein gemeinsamer Lebens- und Lernprozess auf der Grundlage eines perso-
nalen Lehrer-Schüler-Verhältnisses entfaltet wird (vgl. z. B. die Schulen der Stoa,
der Epikuräer, des Sokrates, Plato und Aristoteles, aber auch jüdische »Schulrich-
tungen« oder »Lehrhäuser«; Bousset 1915; Vegge 2006; Alexander 1994). Der
Begriff »Schule« impliziert jedoch nicht nur den institutionellen Aspekt, sondern
bezieht sich gleichzeitig auf die Tradierung einer sich kontinuierlich fortset-
zenden Lehrmeinung, einer »Schulrichtung« also, die durch die Bewahrung und
Pflege bestimmter Inhalte gekennzeichnet ist. In den Pastoralbriefen etwa wird
der Begriff der παραθήκη (1Tim 6,20; 2Tim 1,12.14) in diesem Sinn verstanden
(Wolter 1988, 114–130). Für Paulus selbst wird eine solche Intention jedoch auch
durch die theologische Vorstellung von einer nahen Enderwartung problematisch
(Ollrog 1979, 118).
Das literarische Mittel der Pseudepigraphie gilt in diesem Kontext – nicht zu-
letzt in Analogie zur pseudonymen Schriftenproduktion in Philosophenschulen
– als legitimes Mittel, die Tradition des Apostels zu bewahren: »Die Schüler der
Apostel schrieben – griechischer und jüdischer Sitte entsprechend – im Namen
ihrer Lehrer oder ganz ohne Autorenangabe, weil ihre eigene Individualität ange-
sichts der zu bewahrenden und weiter zu entfaltenden apostolischen Lehre nur
von geringer oder gar keiner Bedeutung war« (Stuhlmacher 1999, 2). Plausibili-
siert wird die Existenz einer Paulusschule innerhalb der neutestamentlichen
Überlieferung oft durch den Vergleich mit der sog. johanneischen Schule (dazu
Schnelle 1995; Schmeller 2001). Abgesehen von der Tatsache, dass auch hier
Hinweise auf eine bewusste Schulgründung fehlen, ist zu bedenken, dass sich in
der johanneischen Tradition das Phänomen anders darstellt, da man es hier mit
ganz unterschiedlichen Schriftgattungen zu tun hat: einem Evangelium (ein-
schließlich einer ausdrücklichen Bearbeitung durch einen Schülerkreis, der sich
in einem »Wir« zu erkennen gibt; vgl. Joh 21,24 f.), Briefen (2.3 Joh), einem trak-
tatartigen Schreiben (1Joh) sowie – in gewissem Maße – auch einer apokalyp-
tischen Schrift (Apk). Darin wird eine literarische Dynamik erkennbar, die eine
dem philosophischen Schulbetrieb zumindest vergleichbare Struktur nahelegt
522 D. Wirkung und Rezeption
und frühen 2. Jh. sowie die Frage nach der Bedeutung einzelner Persönlichkeiten
– wie etwa der ehemaligen Mitarbeiter des Paulus – eine größere Rolle spielen
müssen als dies im Allgemeinen der Fall ist.
Conzelmann, Hans: Die Schule des Paulus, in: Andresen, Carl/Klein, Günter (Hg.): Theolo-
gia crucis – signum crucis, Tübingen 1979, 85–96.
Müller, Peter: Anfänge der Paulusschule. Dargestellt am Zweiten Thessalonicherbrief und am
Kolosserbrief (AThANT 74), Zürich 1988.
Schmeller, Thomas: Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der
Bildungswelt seiner Zeit. Mit einem Beitrag von Christian Cebulj zur Johanneischen Schule
(HBS 20), Freiburg 2001.
Vegge, Tor: Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134),
Berlin/New York 2006.
Jens Herzer
rer bzw. das Schuloberhaupt zurückgeführt wird (in der philosophischen Litera-
tur z. B. Sokratikerbriefe, Platobriefe, Chionbriefe u. a.), was auch auf religiöse
Literatur übertragbar ist. Charakteristisch für solche Schriften ist, dass die Anga-
be des Schulhauptes als Verfasser nicht über die wahren Abfassungsverhältnisse
hinwegtäuschen soll, sondern innerhalb des Schulkontextes auf einem offenen
Konsens beruhen kann. Dem entspricht ihre literarische Gestaltung, die sie
schließlich von der Fälschung unterscheidet, bei der die Täuschungsabsicht durch
die literarische Gestaltung der Fiktion etwa durch persönliche Notizen, Echt-
heitsbeglaubigungen, Unterschriftsfälschung etc. in den Vordergrund tritt.
Im Blick auf die paulinische Brieftradition wird die Charakterisierung von Pau-
lusbriefen als Produkten einer Paulusschule bzw. unbekannten Autoren mit dem
Hinweis auf die allgemeine Verbreitung der Pseudepigraphie in der Antike plau-
sibilisiert. Die Autorität des Paulus werde benutzt, um in bestimmten Situationen
anstehende Probleme im Sinne des Apostels zu lösen. Dabei liege die Legitimität
dieses Vorgehens in der Absicht der Sicherung und Bewahrung der apostolischen
Tradition in einer sich verändernden Situation begründet, aus »ökumenischer
Verantwortung« heraus und damit in »gesamtkirchliche(r) Perspektive« (Schnel-
le 72011, 325). Allerdings existierte nicht nur in der literarischen Welt der Antike,
sondern auch im frühen Christentum ein Bewusstsein für die Problematik eines
solchen Vorgehens. Die Warnung vor gefälschten Paulusbriefen in 2Thess 2,2 setzt
dies bereits voraus, selbst wenn sie ihrerseits Teil eines pseudepigraphischen
Briefes sein sollte, und auch die Verwerfung der pseudonym verfassten Paulus
akten durch Tertullian (bapt. 17) ist ein frühes Beispiel für einen kritischen Um-
gang mit der Frage nach der Authentizität christlicher Schriften. Der Name des
Paulus über einer Schrift begründet also nicht ohne Weiteres deren Autorität.
Wurden Schriften als gefälscht erkannt, wurden sie in der Regel nicht mehr ak-
zeptiert. »Altkirchliche Theologen haben getreu der traditionellen Echtheitskritik
der alexandrinischen Philologie auch an der altkirchlichen Pseudepigraphie Kri-
tik geübt und manche Fälschung aufgedeckt« (Balz 1969, 432 f.). So werden z. B.
im Canon Muratori der Laodicenerbrief und der Alexandrinerbrief als Fälschun-
gen unter dem Namen des Paulus (Pauli nomine fincte, Z. 64 f.) abgelehnt.
Die pseudonyme Abfassung von Paulusbriefen ist jedoch nicht von vornherein
so zu beurteilen, als sei aufgrund der religiösen Motivation eine falsche Verfasser-
angabe aus moralischen Gründen ausgeschlossen. Die Legitimität von Pseudepi-
graphie entscheidet sich stets an der literarischen Charakteristik, die Rückschlüs-
se auf die Absichten zulässt. So ließe sich der Epheserbrief aufgrund seiner inhalt-
lichen Aspekte und seiner literarischen Merkmale (abhängig vom Kolosserbrief,
keine persönlichen Notizen) als ein fiktiver pseudepigraphischer Brief verstehen,
entstanden innerhalb einer paulinischen Gemeinde, die das Erbe der paulinischen
Theologie für sich zusammenfasst und dafür keine besonderen Stilmittel braucht,
II. Deutero- und tritopaulinische Briefe 525
um mit der Fiktion die Echtheit vorzutäuschen (Gese 1997). Unter der Vorausset-
zung der Pseudonymität liegt darin ein wesentlicher Unterschied etwa zum 2.
Thessalonicherbrief, bei dem in 3,17 – wie in Kol 4,18 – eine Unterschriftsfäl-
schung vorläge, oder auch zum 2. Timotheus- und Titusbrief, die aufgrund ihrer
übermäßigen persönlichen Fiktion als »Tendenzfälschungen« (Balz 1969, 431;
Frenschkowski 2009, 215) einzustufen wären und eine »methodisch angelegte
Täuschung, eine bewusste und künstlerisch raffiniert durchgeführte Autoritäts-
anmaßung darstellen« (Brox 1977, 324; vgl. Luttenberger 2012). Interessanter-
weise gilt dies nicht für den 1. Timotheusbrief, der in seiner inhaltlichen Anlage,
der wahrscheinlichen Abhängigkeit vom 2. Timotheusbrief und vom Titusbrief
(Engelmann 2012) sowie seiner literarischen Form (Fehlen persönlicher Noti-
zen) dem Epheserbrief entspricht und in Analogie zu »Schulprodukten« (Balz
1969, 431) verstanden werden kann.
Die Kontroverse um die Berechtigung der Annahme, dass es auch im Neuen Tes
tament Pseudepigraphie gibt, hat die Diskussion seit Anfang des 19. Jh. erschwert
und eine phänomenologisch differenzierende Wahrnehmung der Problematik
behindert, nicht zuletzt durch Verweis auf den moralischen Anspruch christlicher
Autoren. Im Gegenzug dazu ist es nicht sinnvoll zu bestreiten, dass christliche
Pseudepigraphie bzw. paulinische Pseudepistolographie auch Fälschung sein
kann, um einem daraus resultierenden moralischen Problem zu entgehen. Es
überzeugt auch nicht, die platonische Idee der »guten Lüge« bzw. die Vorstellung
von der pia fraus oder des dolus bonus zu bemühen, wonach das Schreiben unter
falschem Namen durch die gute Absicht gerechtfertigt wäre (Brox 1975, 83 f.;
Merz 2007). Die Vielfältigkeit des Phänomens sowie die Schwierigkeit einer Be-
gründung im konkreten Fall dürfen nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass
die bloße Verbreitung des Phänomens der Pseudepigraphie ihre selbstverständ-
liche Legitimität und Akzeptanz einschließe. Eine wesentliche Voraussetzung für
die Kriterienfrage bei der Beurteilung von Pseudepigraphie ist die differenzierte
Wahrnehmung der Durchführung der pseudepigraphischen Fiktion in den kon-
kreten Texten, folglich die Unterscheidung verschiedener Arten von Pseudepigra-
phie auch im Neuen Testament sowie ggf. eine Neubewertung der infrage stehen-
den Schriften (Herzer 2009).
Balz, Heinrich: Anonymität und Pseudepigraphie im Urchristentum. Überlegungen zum lite-
rarischen und theologischen Problem der urchristlichen und gemeinantiken Pseudepigra-
phie, ZThK 66, 1969, 403–436.
Baum, Armin D.: Pseudepigraphie und literarische Fälschung im frühen Christentum. Mit aus-
gewählten Quellentexten samt deutscher Übersetzung (WUNT II 138), Tübingen 2001.
Brox, Norbert: Falsche Verfasserangaben. Zur Erklärung der frühchristlichen Pseudepigraphie
(SBS 79), Stuttgart 1975.
Frey, Jörg/Herzer, Jens/Janssen, Martina/Rothschild, Clare K. (Hg., unter Mitarbeit von
526 D. Wirkung und Rezeption
2. Kolosserbrief
2.1. Inhalt
Nach dem Präskript (1,1 f.) folgt in 1,3–11 ein Eingangsteil, in dem eine Danksa-
gung (1,3–6), die Erinnerung an die Erstverkündigung durch Epaphras (1,7 f.)
und die Bitte um die tiefere Erkenntnis Christi (1,9–11) verbunden sind.
Der folgende Abschnitt umfasst 1,12–2,23 und besteht aus mehreren, inhaltlich
aufeinander bezogenen Gedankengängen: Grund zum Dank haben die Kolosser,
weil sie durch Christus aus der Macht der Finsternis errettet und in das Reich
Christi versetzt sind (1,12–14). In der hymnischen Passage 1,15–20 wird Christus
als Erstgeborener der Schöpfung und als Erstgeborener aus den Toten gerühmt,
durch den Gott den ganzen Kosmos mit sich versöhnt hat. Eingeschlossen in die-
se Versöhnung sind die Kolosser: Sie sind durch Christi Tod versöhnt (1,22) und
sollen deshalb im Glauben und in der Hoffnung des Evangeliums fest bleiben
(1,23). Diener dieses Evangeliums ist Paulus (1,25). Er verkündet den Heiden den
herrlichen Reichtum des Geheimnisses Christi (1,27). Im Rahmen dieser Aufgabe
nimmt Paulus auch Leiden auf sich (1,24) und setzt sich außerordentlich für die
Christen in und um Kolossä ein, obwohl er die Gemeinden nicht persönlich
kennt (2,1–5).
2,6 greift auf 1,23 zurück: Weil die Glaubenden durch Christus versöhnt sind,
sollen sie in ihm leben, in ihm verwurzelt und dankbar sein (2,6 f.). Auf keinen
Fall sollen sie sich von menschlichen Lehren über die Mächte der Welt beeinflus-
sen lassen (2,8). Denn die Fülle der Gottheit wohnt in Christus, nicht in den
Mächten (2,9.15). An dieser Fülle haben die Glaubenden Anteil (2,10), in Christus
sind sie beschnitten (2,11), mit ihm begraben und auferstanden (2,12 f.). Was für
die Kirche insgesamt gilt (1,18), gilt auch für die Glaubenden in Kolossä. Deshalb
sollen sie sich an Christus halten und sich nicht menschliche Satzungen in Bezug
auf kosmische Mächte und Gewalten auferlegen lassen, denen sie gar nicht mehr
unterstehen (2,16–23). Asketische Vorschriften, das Halten bestimmter Zeiten und
Tage oder die Verehrung von Engeln sind nur scheinbar weise und demütig, in
Wirklichkeit aber hochmütig und falsch: Hochmütig, weil mit ihrer Hilfe die
Christen in Kolossä abqualifiziert werden, und falsch, weil diese Vorschriften sich
gerade nicht an Christus orientieren. Der wiederholt ausgesprochene Dank für
die erfahrene Erlösung in Kol 1; 3,15 f. und die hymnischen Texte in 1,15–20; 2,9–15
II. Deutero- und tritopaulinische Briefe 527
schaffen die Grundlage, auf der Kol 2,8.16–23 eine gegnerische Auffassung ab-
wehrt.
3,1–4 fassen dies zusammen und leiten zu dem ermahnenden Abschnitt (3,5–
4,6) über. Wie ein Scharnier verbindet der Abschnitt die vorangehenden und fol-
genden Passagen. In 3,5–11 wird mithilfe eines Lasterkatalogs zunächst dargelegt,
was die Christen meiden, in 3,12–17 mithilfe eines Tugendkatalogs, woran sie sich
orientieren sollen. Beide Abschnitte enden mit einem Hinweis auf Christus, wo-
bei die umfassende Aussage 3,17 (»alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken,
das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn«)
zur folgenden Haustafel überleitet (3,18–4,1). Diese geht in reziproker Weise auf
die Pflichten der Bewohner des christlichen Hauses ein, auf Frauen und Männer,
Kinder und Väter, Sklaven und Herren. Der Schlusssatz in 4,1 (»bedenkt, dass
auch ihr einen Herrn im Himmel habt«) gehört in erster Linie zur Sklaven- und
Herrenparänese, gibt aber zugleich der sozialen Pyramide der Hausgemeinschaft
eine neue Spitze und verändert sie damit insgesamt.
Der Schlussabschnitt 4,7–18 enthält eine ausführliche Grußliste. Auffällig sind
v. a. die erneute Betonung des Dienstes, den Epaphras für die Gemeinde leistet
(4,12 f.), und die Erwähnung von Laodikeia samt der Aufforderung zum Aus-
tausch der Briefe (4,13.16). Ein eigenhändiger Gruß schließt den Brief ab.
2.2. Die christologische Grundlinie und ihre Anwendung auf die Kolosser
Grundlegende Bedeutung für den ganzen Brief hat Christus als »Bild Gottes«.
1,15–20 (der Abschnitt ist in gehobener Sprache und lobender Absicht verfasst,
ohne dass ein Hymnus im eigentlichen Sinn vorliegt; vorgeschlagen werden auch
die Bezeichnungen Enkomion/Preisgedicht und Epainos/Lob) war vermutlich be-
reits in der Gemeindetradition bekannt: Christus ist Schöpfungsmittler, Haupt
des kosmischen Leibes und der Kirche 1,15–18a, Erstgeborener aus den Toten,
Zentrum göttlicher Fülle und Versöhner des Alls mit Gott 1,18b–20. Der Verfasser
nimmt dieses Christuslob auf und macht es zum grundlegenden Argument sei-
ner Ausführungen: Wenn Christus »Bild des unsichtbaren Gottes« ist (nicht
bloßes Abbild, sondern wirkendes Wesen), dann kommt ihm die Herrschaft im
Kosmos und gegenüber dem Kosmos zu. Im Hintergrund stehen Vorstellungen,
die im hellenistischen Judentum, beispielsweise bei Philo von Alexandrien, zum
Logos und zur Sophia entwickelt worden waren und auf Christus übertragen wur-
den. Wer sich nun in der Kirche zur Herrscherstellung Christi bekennt, erkennt
damit zugleich die untergeordnete Stellung aller anderen Mächte und Gewalten.
Was hier im Blick auf die Bedeutung Christi für den Kosmos und die Kirche
ausgesagt ist, wird in 1,21–23 und 2,9–15 aufgegriffen und auf die Glaubenden in
Kolossä bezogen. Der Abschnitt ist voller Beziehungsaussagen: In Christus haben
die Kolosser an der Fülle der Gottheit teil (2,9 f.), in ihm sind sie mit einer nicht
mit Händen gemachten Beschneidung beschnitten, in der Taufe mit ihm begra-
ben und in der Kraft Gottes mit ihm auferstanden (2,11 f.); was immer Mächte
528 D. Wirkung und Rezeption
und Weltelemente von den Glaubenden fordern könnten, hat Christus ans Kreuz
geheftet und damit überwunden (2,13–15). Deshalb sollen sich die Glaubenden an
Christus orientieren (3,1–4.17); durch die Taufe (2,12; 3,9 f.) sind sie dazu befreit.
»Im Herrn« zu handeln stellt deshalb auch die Leitlinie der Haustafel 3,18–4,1 dar,
die an die stoische Ethik, die ökonomische Literatur und deren Rezeption im Ju-
dentum angelehnt ist, durch die Hinweise auf »den Herrn« aber einen klaren
christlichen Akzent erhält. Christus mit Liedern zu loben (3,16) und in seinem
Namen zu handeln sind die beiden Seiten derselben Münze. Auch der Dank an
Gott findet sich als Mahnung in 3,15 wieder, denn der Dank für die erfahrene
Versöhnung in Christus bewahrt davor, sich von anderen Mächten abhängig zu
machen. Dank, Lob und Betrachtung des in Christus gewirkten Heils sind dem
Inhalt des Briefes angemessene Sprachformen.
Die christologische Grundierung des Briefes erhellt auch die in 2,4.8.16–23 kriti-
sierte gegnerische Position. Denn diese »Philosophie« (2,8) hält sich gerade nicht
an Christus als Haupt (2,19), sondern gründet sich auf menschlichen Lehren und
die »Elemente der Welt« (2,8.20).
Die genaue Bestimmung der gegnerischen Position ist nicht leicht. Die Vielfalt
der vertretenen Auffassungen hat ihren Grund darin, dass die Angaben in Kol 2
diese Position eher andeuten als klar beschreiben. Viel Aufmerksamkeit, insbe-
sondere in der angelsächsischen Forschung, hat die These eines jüdischen Hinter-
grunds der gegnerischen Position erlangt. Dabei beruft man sich v. a. auf Be-
schneidung, Sabbat und Neumond sowie die Engelverehrung, die in 2,11.16.18
erwähnt werden (Francis 1973). Aber die Aussagen sind vage und lassen einen
jüdischen Denkhorizont nicht mit Sicherheit erkennen. Versteht man, wie es vom
Textduktus her naheliegt, 2,18 dagegen im objektiven Sinn als Dienst an den En-
geln (Wolter 1993, 146), ist die Verortung in einem jüdischen Denken ohnehin
schwierig.
Vertreten wird auch die Deutung, dass in Kol 2 keine konkreten Gegner kriti-
siert, sondern allgemeine Probleme der frühen christlichen Gemeinde aufgegrif-
fen werden, die sich daraus ergeben, dass die einstigen Lebenskonzepte und Glau-
bensüberzeugungen mit dem neuen Glauben an Christus nicht kompatibel sind
und zu Dissonanzen führen (Maisch 2003, 32–40). Im Vergleich mit dem geho-
benen und lobenden Stil in Kap. 1 f. ist v. a. am Ende von Kap. 2 die Polemik aber
so deutlich, dass eine fiktive und allgemein gehaltene Kritik unwahrscheinlich ist.
Die klare Kritik daran, dass sich die Philosophie nicht an Christus orientiert,
legt vielmehr den Schluss nahe, dass sich die gegnerische Position zwar als christ-
lich versteht, zur Erreichung des Heils aber neben Christus noch bestimmte Riten
und Verhaltensweisen für erforderlich hält (Müller 2009a). Diese dienen der
Verehrung der Weltelemente (2,8.20), die als personal gedachte Mächte in der
Lage sind, den Aufstieg zu Gott zu fördern oder zu behindern.
II. Deutero- und tritopaulinische Briefe 529
Obwohl der Kolosserbrief als Brief des Apostels Paulus gelesen werden will, sind
die Zweifel an der Verfasserschaft groß. Sprache, Theologie, die Vorstellung vom
paulinischen Apostolat und die vorausgesetzte Situation weisen auf einen Paulus-
schüler hin, der sich in der Tradition des Apostels an die Gemeinden im Lykostal
wendet.
Im Blick auf die Sprache sind einige Vorzugswörter, die Satzfügung (v. a. die
Verwendung von Präpositionen, Konjunktionen und Partikeln) und der eigen-
ständige, teilweise überladene Stil auffällig (vgl. z. B. 1,9–11.24–27). Er weist Ab-
weichungen gegenüber den Paulinen auf.
Im Blick auf die Theologie lassen sich die Vorstellung einer schon geschehenen
Auferstehung (vgl. 2,12; 3,1 mit Röm 6) und eines im Himmel bereits vorhan-
denen Heilsgutes (1,5; 3,1 f.) nur schwer mit paulinischen Vorstellungen vereinba-
ren. Ein eschatologischer Ausblick ist zwar vorhanden (3,4), wird aber durch den
räumlichen Gegensatz von oben und unten überlagert. Die Orientierung an der
im Himmel bereitliegenden Hoffnung (1,5) und an dem, »was oben ist«, wird
auch zur Leitlinie für die Paränese.
Die Bedeutung des paulinischen Apostolats wird stark unterstrichen, auf die
ganze Kirche ausgedehnt und sogar auf das (christusförmige) Leiden des Apostels
bezogen. Er verkündigt das Geheimnis Gottes und ist selbst Teil des Offenba-
rungsgeschehens (2,1–5). Epaphras wird als »Paulusnachfolger« dargestellt; seine
Aufgabe entspricht der des Paulus, ist aber auf das Lykostal begrenzt. Dies ver-
weist auf eine Situation, in der die Bedeutung des Paulus für die gesamte Kirche
festgehalten werden muss. Das paulinische Evangelium wird zur apostolischen
Tradition, die von dem Nachfolger Epaphras wachgehalten wird.
Die Einzelbeobachtungen können jeweils für sich genommen die nachpauli-
nische Herkunft des Briefes nicht zweifelsfrei stützen, gemeinsam weisen sie aber
deutlich in diese Richtung. Die mehrfach vertretene Hypothese, ein Sekretär habe
im Auftrag und mit Wissen des Paulus den Brief verfasst, ist nicht in der Lage, die
Differenzen zur paulinischen Theologie hinreichend zu klären. In einer schwie-
rigen Situation greift der Verfasser des Briefes auf die Autorität des Apostels zu-
rück, um mit ihrer Hilfe die Gemeinden daran zu erinnern, dass Christus nicht
nur das Haupt der Kirche, sondern des ganzen Kosmos und dass in ihm das Heil
eröffnet ist. Daran festzuhalten und dafür zu danken ist für den Verfasser das
beste Mittel gegen alles, was Ansprüche an die Glaubenden stellen könnte.
Francis, Fred O.: Humility and Angel Worship in Colossae, in: Ders./Meeks, Wayne A.: Con-
flict at Colossae, Missoula 1973, 163–195.
Maisch, Ingrid: Der Brief an die Gemeinde in Kolossä (Theologischer Kommentar zum Neuen
Testament 12), Stuttgart 2003.
Müller, Peter: Gegner im Kolosserbrief. Methodische Überlegungen zu einem schwierigen Ka-
pitel, in: Kraus, Wolfgang (Hg.): Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte (BZNW
163), Berlin/New York 2009, 365–394.
Ders. (Hg.): Kolosser-Studien (BThSt 103), Neukirchen-Vluyn 2009.
530 D. Wirkung und Rezeption
Sumney, Jerry L.: Colossians. A Commentary (The New Testament Library), Louisville/London
2008.
Wolter, Michael: Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh 1993.
Peter Müller
3. Epheserbrief
In der kleinasiatischen Metropole Ephesus wirkte Paulus gut zwei Jahre etwa vom
Frühjahr 53 bis zum Sommer 55 n.Chr., hier wurde er wohl auch inhaftiert (vgl.
1Kor 15,32; 2Kor 1,8 f.; 11,23). Der Epheserbrief legt die Gefangenschaft des Paulus
um Christi willen für den Autor zugrunde (vgl. Eph 3,1; zur Verfasserfrage s. u.);
das Schreiben ist v. a. in Kap. 1–3 so etwas wie ein feierlich-liturgischer Gebetstext
und auf seine Weise der theologisch vielleicht eigenständigste Brief im gesamten
Corpus Paulinum.
Bereits in den ältesten Sammlungen paulinischer Briefe im 2. Jh. n.Chr. wird er
in einer Reihe mit den anderen Paulusbriefen aufgeführt, so im P46, dem Canon
Muratori und dem Kanon des Markion, wo er wohl mit dem dort genannten Lao
dicenerbrief identisch ist (vgl. Tert.Marc. V 11,17). Allerdings ist die Adressierung
»an die Heiligen in Ephesus« (Eph 1,1) textkritisch unsicher, da sie in den ältesten
Handschriften nicht belegt ist. Man muss die Frage der ursprünglichen Be-
zeugung wohl offen lassen, wenngleich sich eine gewisse Wahrscheinlichkeit für
die Authentizität des Ortsnamens Ephesus in der Briefzuschrift aus dem pseud
epigraphen Charakter des Schreibens ergibt. Immerhin verbinden schon Irenäus,
Tertullian und Clemens von Alexandrien den Brief mit Ephesus.
Das Schreiben lässt sich in zwei etwa gleich umfangreiche Teile gliedern, einen
»lehrhaften« (Eph 1,3–3,21) und einen »ermahnenden« Teil (Eph 4,1–6,24). Im
ersten Teil folgt auf eine theologisch dichte Eulogie (Eph 1,3–14) mit anschlie-
ßender Fürbitte um die Erkenntnis des göttlichen Heilshandelns (Eph 1,15–23)
eine Erinnerung der Adressaten an ihre neue, vom Auferwecktsein mit Christus
geprägte Existenz (Eph 2,1–10). Damit ist das zentrale Thema des Briefes vorbe-
reitet: die universale Kirche als Raum der Offenbarung des göttlichen Heilsge-
heimnisses, in der Juden und Heiden als Repräsentanten der ehemals zerrissenen,
nun aber durch das befriedende Versöhnungswerk Jesu Christi befriedeten
Menschheit zusammengeführt wurden (Eph 2,11–22). Die Kirche hat den Auftrag,
in der Autorität des Völkerapostels Paulus das Heilswerk Christi zu verwirklichen
(Eph 3,1–13). Bitte und Lob in Korrespondenz zum Eingangslobpreis beschließen
den ersten Briefteil (Eph 3,14–21).
II. Deutero- und tritopaulinische Briefe 531
Der zweite Teil beginnt mit einem Aufruf zur Einheit (Eph 4,1–6), die sich in
den verschiedenen ekklesialen Diensten Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten,
Lehrer konkretisiert (Eph 4,7–16) und auf die Verwirklichung des »neuen Men-
schen« hinzielt (Eph 4,17–24). Dazu gehört eine innergemeindliche Praxis der
Liebe (Eph 4,25–5,2) und eine dem geschenkten Heil entsprechende Grundhal-
tung in Reden und Handeln (Eph 5,3–20). Es folgen Ermahnungen zum christ-
lichen Einsatz in Hausgemeinschaft und Öffentlichkeit (Eph 5,21–6,9) sowie zur
christlich geführten Auseinandersetzung mit den Mächten des Bösen in der Welt
(Eph 6,10–20). Der Brief endet mit Hinweisen auf den Briefüberbringer Tychikus
und einem Segenswunsch (Eph 6,21–24).
Das Schreiben ist in eine briefliche Form gekleidet: Das Präskript (Eph 1,1 f.) mit
Angabe der Adressaten und das Postskript mit Segenswunsch (Eph 6,21–24) bil-
den den Rahmen, innerhalb dessen das Briefkorpus mit seiner durchgängigen
Anrede an die Adressaten steht. Eine eigentliche briefliche Kommunikationssitua-
tion, aus der sich der Anlass des Schreibens oder der Zustand der Gemeinde bzw.
die Entwicklungen in ihr oder das Verhältnis des Verfassers zu ihr ableiten ließen,
ist allerdings nicht erkennbar; auch fehlen die für die paulinischen Briefe ansons
ten üblichen allgemeinen oder personenbezogenen Schlussgrüße. Situationsbe-
zogenen Charakter haben einzig das Selbstzeugnis des Paulus als Gefangener
(Eph 3,1) und seine am Briefschluss geäußerte Absicht, seinen Mitarbeiter Tychi-
kus zu den Adressaten zu senden (Eph 6,21); über die Umstände der Gefangen-
schaft und ggf. eventuelle Unwägbarkeiten hinsichtlich ihres Ausgangs ist aber,
anders als beispielsweise im Phil (vgl. 1,20–24), so gut wie nichts zu erfahren.
Insgesamt herrscht der Eindruck vor, dass der Epheserbrief sich nicht an eine
bestimmte Gemeinde in ihren aktuellen Glaubens- und Existenzfragen richtet,
sondern den Charakter eines Zirkularschreibens mit übergreifender theolo-
gischer Thematik hat. Die Adressaten sind Heidenchristen, die in der einen Kir-
che an der Verheißung Israels teilhaben und denen dieselbe Erwählungszusage
Gottes wie den Judenchristen gilt (Eph 1,4; 2,19). Primär ist sicher der kleinasia-
tische Raum angesprochen, worauf schon die Adressierung an die Christen in der
Metropole Ephesus hindeutet, aber letztlich ist der Epheserbrief universal ausge-
richtet.
Damit ist die Frage der Verfasserschaft bereits angesprochen. Nachdem so ein-
flussreiche Forscher wie Wilhelm Martin Leberecht de Wette und Ferdinand
Christian Baur im 19. Jh. die paulinische Verfasserschaft des Epheserbriefs bestrit-
ten hatten, hat sich in der neueren Forschung bis auf wenige Ausnahmen die Auf-
fassung durchgesetzt, der Brief sei ein in paulinischer Tradition stehendes pseud
532 D. Wirkung und Rezeption
epigraphes Schreiben, das am Ausgang des 1. Jh. n.Chr. verfasst wurde. Die Grün-
de für diese Annahme liegen nicht nur in der gegenüber den für sicher authentisch
gehaltenen Paulusbriefen eigenen Sprache, sondern v. a. in der weiterentwickelten
Christologie, insbesondere in der vom hellenistischen Weltleib-Modell (vgl. orph.
fr. 168: »Zeus ist Haupt, Zeus ist Mitte, aus Zeus ist alles hervorgegangen«) inspi-
rierten Leib-Christi-Metaphorik, und im Zusammenhang damit in einer univer-
salisierten Ekklesiologie. Zwar kann auch Paulus in seinem Bild von Gemeinde
und Kirche den Blick über die Einzelgemeinde punktuell ausweiten (vgl. Gal 1,13),
im Epheserbrief ist aber die Idee der Universalkirche das entscheidende ekklesio-
logische Konzept. Ekklesia, Kirche, ist im Epheserbrief der Heilsraum, der sich als
Leib mit Christus als Haupt darstellt (1,22 f.). Zwar ist in diesem Brief die pauli-
nische Vorstellung vom Leib als einem dynamischen Organismus nicht völlig ver-
drängt (vgl. 4,16), aber dominant ist das dem hellenistischen Weltleib-Modell
entlehnte Bild von der Kirche als dem Leib Christi.
Auf eine gegenüber Paulus fortgeschrittene Zeit verweist v. a. die Bedeutung
der Tradition: Während Paulus in 1Kor 3,11 das Fundament der Gemeinde in Jesus
Christus selbst sieht, sind in Eph 2,20 die »Apostel und Propheten« die Garanten
für die – um in der Metaphorik von Eph 2,20 zu sprechen – Stabilität des Hauses,
dessen Eckstein Jesus Christus ist. Damit wird der Tradition entscheidendes Ge-
wicht für die eigene Identitätsbildung eingeräumt. Sie ist Garant für die Kontinu-
ität mit dem Ursprung.
Die nachpaulinische Verfasserschaft bestätigt sich schließlich in der Rezeption
weiter Teile des Kolosserbriefs durch den Autor des Epheserbriefs. In der Annah-
me, der Kolosserbrief sei ein authentisches Schreiben des Paulus selbst, hat der
Paulus des Epheserbriefs v. a. weite Teile der Paränese des Kol aufgenommen und
ekklesiologisch fortgeschrieben (vgl. die Haustafel Eph 5,21–6,9 im Gegenüber zu
Kol 3,18–4,1). Dagegen hat er die aktuelle Auseinandersetzung des Kolosser-
brief-Autors mit der in dessen Sicht die Gemeinde gefährdenden »Philosophie«
(Kol 2,8–23) übergangen. Die anzunehmende Kenntnis des Römerbriefs, des 1.
und 2. Korintherbriefs, des Galater- und des 1. Thessalonicherbriefs bestätigen
umso mehr die Wahrscheinlichkeit, dass der Autor des Epheserbriefs, der viel-
leicht zu den in Eph 4,11 genannten »Lehrern« gehörte, die nachpaulinische Ge-
neration repräsentierte. Man wird nicht zu weit gehen in der Annahme, dass der
Verfasser sich die Autorschaft des Paulus zu eigen machte, um die Summe pauli-
nischer Theologie zusammenfassend zur Darstellung zu bringen.
Kaum eine Schrift des Neuen Testaments denkt so ausgeprägt in räumlichen Ka-
tegorien wie der Epheserbrief. Diese finden sich zwar auch bereits im Kolosser-
brief mit dem Bild von Christus, dem Allversöhner (Kol 1,15–20), aber der Ephe-
serbrief entwirft seine Theologie konzeptionell in räumlichen Vorstellungen.
»Heil« und »Unheil« stellen sich für ihn im räumlichen Antagonismus der himm-
II. Deutero- und tritopaulinische Briefe 533
lischen und irdischen Bereiche dar: Über allen Himmeln thront Gott bzw.
herrscht Christus (Eph 4,10), die himmlischen Bereiche selbst sind erfüllt vom
Licht, an dem die Glaubenden teilhaben (Eph 5,8), während die irdischen Be-
reiche vom »Äon dieser Welt« beherrscht sind (Eph 2,2). Der Herrscher dieser
Welt ist immer noch in den »Söhnen des Ungehorsams« und den »Begierden des
Fleisches« (Eph 2,2 f.) sowie allem gottlosen Dasein wirksam. Die Kirche als der
Leib Christi ragt in beide Bereiche hinein und wächst zu einem kosmischen Leib,
der allein Christus unterworfen ist (Eph 1,23; 4,16). Den himmlischen Heilsbe-
reich und den irdischen Unheilsbereich trennte eine Mauer, die nun Christus
durch seinen versöhnenden Kreuzestod niedergerissen hat (2,14–18).
(4,16). Theologisch grundgelegt ist die Option der ekklesialen Einheit in den sie-
ben Einheits-Akklamationen in 4,4–6: Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein
Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller. Symbolisiert bereits die Zahl
»7« der einzelnen Glieder die Ganzheit, so umfassen die Glieder der Akklamation
selbst alle Existenz- und Lebensbereiche der Christen. Der Anschluss von Eph
4,4–6 an die theologisch-christologische Akklamation in 1Kor 8,6 ist unverkenn-
bar. Der eine Gott steht zwar über allem, aber gerade darin hält er alles zusammen
und vereint alles in Christus.
Mit der sich durch den ganzen Brief hindurchziehenden Thematik der Einheit
stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang des »lehrhaften« mit dem »ermah-
nenden« Teil des Epheserbriefs. Fällt schon der ausgedehnten Paränese, die im-
merhin etwa die Hälfte des Schreibens ausmacht, vom Umfang her besondere
Bedeutung zu, so verbinden signifikante Leitbegriffe beide Briefteile miteinander.
Sowohl in der Eulogie Eph 1,3–14 als auch in der erinnernden Gegenüberstellung
von altem und neuem Leben Eph 2,1–10 sowie der Reflexion über die Versöhnung
der Menschheit von Juden und Heiden in dem einen Leib Eph 2,11–22 begegnen
zentrale Aussagen, die in der Paränese aufgegriffen werden. Exemplarisch sind
dafür der Begriff und das Motiv der Erlösung in Eph 1,7.14 und Eph 4,30, die Me-
tapher der Versiegelung in Eph 1,13 und 4,30 sowie der Gegensatz von Tod und
Leben Eph 2,1–10, der sachlich in Eph 4,17–24 wieder aufgenommen wird, zu nen-
nen. Eine dem erkannten Gotteswillen entsprechende Lebensführung ist für den
Autor des Epheserbriefs ein notwendiger Bestandteil der Ekklesiologie selbst.
Ohne das Kriterium des Lebensvollzugs bliebe die Ekklesiologie eine geschichts-
lose Idee und geriete zu einer reinen Abstraktion. Die Paränese ist so gesehen als
eine Darstellung der Theologie und Ekklesiologie zu verstehen, deshalb hat die
theologisch prägnante Akklamation in Eph 4,4–6 die Funktion einer Grundle-
gung für die folgenden Ermahnungen.
tende Kraft und lässt die paulinische Theologie auf die gegenüber den 50er Jahren
des 1. Jh. veränderten Existenzfragen »paulinisch« antworten.
Faust, Eberhard: Pax Christi et Pax Caesaris (NTOA 24), Freiburg (CH)/Göttingen 1993.
Schwindt, Rainer: Das Weltbild des Epheserbriefes (WUNT 148), Tübingen 2002.
Sellin, Gerhard: Der Brief an die Epheser (KEK VIII), Göttingen 2008.
Wolter, Michael (Hg.): Ethik als angewandte Ekklesiologie. Der Brief an die Epheser (SMBen.
BE 17), Rom 2005.
Rudolf Hoppe
4. Zweiter Thessalonicherbrief
dies über den erwähnten Satz hinaus ausdrücklich zu notieren. Die bei den Adres-
saten vorausgesetzte Autorität des Apostels Paulus will der Verfasser des Briefes
für sich beanspruchen, was er auch durch seine Schlussbemerkung unterstreicht,
den Gruß am Ende des Briefes eigenhändig geschrieben zu haben (2Thess 3,17).
Schon diese wenigen Beobachtungen legen es nahe, den 1. Thessalonicherbrief
als die literarische Vorlage für den 2. Thessalonicherbrief und die Pseudepigra-
phie des Letzteren anzunehmen. Wer die tatsächlichen Adressaten des Briefes wa-
ren, ist schwer auszumachen. Es ist denkbar, dass einige Jahrzehnte nach dem 1.
Thessalonicherbrief – also gegen Ende des 1. Jh. n.Chr. – wiederum die Gemeinde
in Thessalonich angeschrieben wurde; ebenso kann überlegt werden, ob der Brief
ein späteres Zirkularschreiben war, mit dem insbesondere die im 1. Thessalo-
nicherbrief von Paulus vertretene Naherwartung berichtigt werden sollte.
4.2. Aufbau
entiert sein soll. Zudem solle sich die Gemeinde am Verfasser ein Beispiel neh-
men, der keinen Unterhalt von dieser verlangt habe, obwohl er das Recht dazu
gehabt habe. Der Verfasser fordert zu einem ruhigen und arbeitsamen Leben auf.
Zuletzt findet sich noch eine Zurechtweisung eines solchen Gemeindegliedes,
das möglicherweise nicht den hier notierten Anordnungen folgen werde (2Thess
3,13–15). – Mit dem Hinweis auf den eigenhändig geschriebenen Gruß und mit
dem Segenswunsch schließt der Brief ab (2Thess 3,17 f.).
eignissen noch eine gewisse Zeit des ruhigen Lebens eingeräumt wird. Gott selbst
– so eine hier mögliche Deutung – hält den Widersacher noch auf (Reinmuth
1998, 180 f.). Wenn der Widersacher auftreten wird, wird Gott eine Kraft schicken,
welche in die Irre führen wird. Dies bedeutet den Vollzug des Gerichts an den
nicht glaubenden Menschen (2Thess 2,11 f.).
Die Pragmatik des 2. Thessalonicherbriefs ist daraufhin ausgerichtet, die Adres-
saten auf ihr gegenwärtiges und dem Glauben entsprechendes Leben zu ver-
pflichten. Die von Paulus im 1. Brief an die Thessalonicher vertretene Naherwar-
tung der Wiederkunft Christi entspricht nach Auffassung des 2. Thessalonicher-
briefs nicht mehr der Situation der Glaubenden seiner Zeit. Ein fundamentaler
theologischer Widerspruch zu Paulus muss das nicht sein, aber doch eine kräftige
Korrektur der zu erwartenden Endzeitereignisse.
Metzger, Paul: Katechon. II Thess 2,1–12 im Horizont apokalyptischen Denkens (BZNW 135),
Berlin/New York 2005.
Reinmuth, Eckart: Der zweite Brief an die Thessalonicher, in: Walter, Nikolaus/Reinmuth,
Eckart/Lampe, Peter: Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon (NTD
8/2), Göttingen 1998, 157–202.
Trilling, Wolfgang: Der zweite Brief an die Thessalonicher (EKK XIV), Zürich u. a. 1980.
Wrede, William: Die Echtheit des zweiten Thessalonicherbriefs (TU 24,2 = N. F. 9,2), Leipzig
1903.
Christof Landmesser
5. Die Pastoralbriefe
Mit dem Begriff »Pastoralbriefe« (Past) werden seit dem 18. Jh. die unter dem
Namen des Paulus geschriebenen Briefe an Timotheus und Titus bezeichnet (von
Lips 1994), die sich durch die Adressierung an enge Mitarbeiter des Paulus von
den Gemeindebriefen unterscheiden und insofern eine Sonderstellung einneh-
men. Ihr pastoraler Charakter, den bereits Thomas von Aquin (1224–1274) her-
vorgehoben hatte, kommt nicht nur durch die spezifische Adressierung, sondern
besonders durch den Inhalt der Schreiben zum Ausdruck. Dabei geht es v. a. um
die Zuweisung unterschiedlicher Aufgaben an die Verantwortlichen in den Ge-
meinden, wobei die zwischen Paulus und den Gemeinden vermittelnde Rolle der
beiden Mitarbeiter entscheidend ist. Dementsprechend können der 1. Timotheus-
und der Titusbrief in Anlehnung an das Genre der Mandatsschreiben (mandata
principis) verstanden werden, wie sie aus der politischen und wirtschaftlichen
Administration bekannt sind (Wolter 1988, 161–180; Herzer 2011). Demgegen-
über trägt der 2. Timotheusbrief deutliche Züge eines Testaments, in welchem
Timotheus als Träger des apostolischen Erbes erscheint (Weiser 1998).
II. Deutero- und tritopaulinische Briefe 539
Bedeutsam für diese Anlage der Pastoralbriefe ist die Charakteristik von Timo-
theus und Titus als Mitarbeiter des Paulus (von Lips 2008). Beide Personen sind
enge Vertraute des Apostels, die während seiner Missionsarbeit wichtige Vermitt-
lungsaufgaben zwischen dem abwesenden Apostel und seinen Gemeinden erfül-
len. Der Heidenchrist Titus gilt Paulus als Exemplum der gesetzesfreien Heiden-
mission (Gal 2,1–3), und da die Kollekte der paulinischen Gemeinden für Paulus
Ausdruck der Verbundenheit der von ihm gegründeten heidenchristlichen Ge-
meinden mit der Jerusalemer Gemeinde ist (Gal 2,10), kommt Titus eine beson-
dere Verantwortung für das Gelingen der Kollektenaktion zu (2Kor 8,1–23). In
besonderer Weise war Paulus mit dem aus dem kleinasiatischen Lystra stammen-
den Timotheus verbunden, der in einigen Briefen sogar als Mitabsender genannt
ist (2Kor 1,1; Phil 1,1; 1Thess 1,1; Phlm 1; vgl. Kol 1,1; 2Thess 1,1). Nach Apg 16,1–3
wurde er von Paulus beschnitten und begegnet – im Unterschied zu Titus, der in
der Apostelgeschichte nicht vorkommt – auch weiterhin als Begleiter auf der
zweiten und dritten Missionsreise.
Die drei Briefe lassen ein unterschiedliches Profil erkennen. Am ausführlichs-
ten angelegt und thematisch klar strukturiert ist der 1. Timotheusbrief, in dessen
Zentrum es um die Festigung bestehender Gemeinde- bzw. Ämterstrukturen
geht. Timotheus soll dafür die Verantwortung übernehmen und wird in Ephesus
als wichtigem Zentrum paulinischer Tradition verortet (1,3). Grundlage dessen ist
einerseits das Vorbild des Paulus als »Prototyp« des begnadigten Sünders, an dem
das Wirken Gottes für alle Glaubenden exemplarisch deutlich wird (1,12–17; En-
gelmann 2013), andererseits aber auch die Vorstellung von der Gemeinde als
»Haus Gottes«, in welchem die Wahrheit des Glaubens in Gestalt des Bekennt-
nisses geschützt und bewahrt wird (3,15 f.). Dabei korreliert im 1. Timotheusbrief
der Begriff der Glaubenswahrheit mit dem der Frömmigkeit (εὐσέβεια) als einer
christlichen Grundhaltung, die auf ein »ruhiges und stilles Leben« (2,2) ausge-
richtet ist (Mutschler 2010), ein grundlegender Zusammenhang, der jedoch
den 1. Timotheusbrief vom Titusbrief und dem 2. Timotheusbrief unterscheidet
(Herzer 2007). Man hat dafür den Begriff des »bürgerlichen Christentums« ge-
prägt (Schwarz 1983), der jedoch nicht unproblematisch ist (Reiser 1993). Nach
einer grundsätzlichen Erörterung über das Verhalten von Männern und Frauen
im Leben der Gemeinde (2,8–15) wird das Amt des Gemeindevorstehers als eine
verantwortungsvolle Aufgabe (ἐπισκοπή) beschrieben, die man bereits anstreben
kann (3,1–7). Der Episkopos trägt mit den Diakonen (3,8–13) und den (übrigen)
Presbytern (5,17–21) Sorge für das Leben der Gemeinde. Mit der ausführlichen
Erörterung der Witwenversorgung (5,3–16) wird eine offenbar aktuelle Frage ge-
klärt und gleichzeitig vor einer falschen asketischen Lebenshaltung gewarnt (vgl.
5,8.14.23; Wagener 1994). Wichtig für die Einordnung des Briefes in die früh-
christliche Geschichte ist die ausdrückliche Erwähnung der »fälschlich so ge-
nannten Gnosis« in 6,20, womit als häretisch angesehene Strömungen gemeint
sind, von denen man sich abgrenzen soll (Herzer 2008). Ebenfalls charakteris
tisch für den 1. Timotheusbrief ist neben der Neuinterpretation verschiedener
540 D. Wirkung und Rezeption
Auch wenn sich der 1. und 2. Timotheusbrief und der Titusbrief aufgrund der
Adressierung sowie struktureller und inhaltlicher Ähnlichkeiten literarisch als
eine Gruppe von Schreiben innerhalb des Corpus Paulinum zusammenfassen las-
sen, so muss doch ihr je eigenes inhaltliches und literarisches Profil wahrgenom-
II. Deutero- und tritopaulinische Briefe 541
Auch wenn die pseudepigraphische Perspektive auf die Pastoralbriefe weithin an-
erkannt ist, wirft sie Probleme auf, die nicht nur zu unterschiedlichen Erklä-
rungsmodellen der fiktionalen Strategie, sondern auch immer wieder zur Vertei-
digung der Authentizität geführt haben. Das inhaltliche und literarische Profil
der Briefe macht die Hypothese eines Corpus Pastorale problematisch (Engel-
mann 2012). Darüber hinaus ist die Ausführlichkeit der persönlichen Notizen im
Titusbrief und dem 2. Timotheusbrief für pseudepigraphische Briefe weder nötig
noch charakteristisch. Da dies einen signifikanten Unterschied zwischen dem 2.
Timotheus- und dem Titusbrief einerseits und dem 1. Timotheusbrief anderer-
seits darstellt, ist die Art der Pseudepigraphie innerhalb der drei Briefe unter-
schiedlich zu beurteilen. Allein der 1. Timotheusbrief weist literarische Merkmale
eines sog. Schulpseudepigraphons auf, bei dem die Fiktion keine Täuschungsab-
sicht verfolgt (Herzer 2009). Aufgrund der persönlichen Gestaltung des 2. Timo-
theus- und des Titusbriefs trägt deren Fiktionalität jedoch die Charakteristika der
Fälschung (Brox 1977, 324). Für diese Probleme wurden verschiedene Lösungs-
möglichkeiten vorgeschlagen. Bis in die Gegenwart wird die Authentizität der
542 D. Wirkung und Rezeption
drei Briefe verteidigt (Johnson 2001; Towner 2006), wobei jedoch ebenfalls de-
ren unterschiedliches Profil kaum hinreichend gewürdigt bzw. in der Regel auf
die Mitwirkung eines oder mehrerer »Sekretäre« zurückgeführt wird. Andere hal-
ten zumindest den 2. Timotheusbrief für einen authentischen Brief (Prior 1989;
Murphy-O’Connor 1991; Gourgues 2009) oder verstehen die persönlichen Pas-
sagen als authentische Fragmente, die in fiktive Briefe eingearbeitet wurden
(Harrison 1921, 115–124; kritisch Cook 1984). Ein anderer Vorschlag weist die
drei Briefe als pseudepigraphische Schreiben aufgrund der Unterschiede ver-
schiedenen Autoren in einer zeitlichen Abfolge und in entsprechender Abhängig-
keit zu (Tit: 65–80 n.Chr., 2Tim: 80–100 n.Chr., 1Tim: 100–130 n.Chr.; Richards
2002, 220.228.236). Schließlich bekommt die Hypothese eines Corpus Pastorale ein
anderes Profil und v. a. eine andere Intention durch die in Anlehnung an antike
Briefsammlungen vorgenommene Interpretation der Pastoralbriefe als litera-
rischer Briefroman, in welchem die Konstruktion der Erzählung einer Paulusge-
schichte im Vordergrund stehe (Pervo 1994; Glaser 2010). Auch wenn die Brief
roman-Hypothese nicht zuletzt wegen des fehlenden Nachweises der Gattung im
Altertum unwahrscheinlich ist, so weist sie doch darauf hin, dass die Personalno-
tizen der Pastoralbriefe in ihren Konsequenzen für ihre Gesamtbeurteilung sorg-
fältiger als bisher beachtet werden müssen (Luttenberger 2012).
Herzer, Jens: Fiktion oder Täuschung? Zur Diskussion über die Pseudepigraphie der Pastoral-
briefe, in: Frey, Jörg/Herzer, Jens/Janssen, Martina/Rothschild, Clare K. (Hg., unter Mit-
arbeit von Michaela Engelmann): Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen
Briefen – Pseudepigraphy and Author Fiction in Early Christian Letters (WUNT 246), Tübin-
gen 2009, 489–536.
Merz, Annette: Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und
Rezeption der Pastoralbriefe (NTOA 52), Göttingen/Freiburg (CH) 2004.
Wolter, Michael: Die Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen 1988.
Jens Herzer
und Samaria bis hin nach Antiochia durch den Zwölferkreis und die »Helle-
nisten« geschildert wurde (Apg 2–11), bestimmt das Wirken des Paulus den weite-
ren Gang der Ereignisse bis zum Ende der Darstellung. Durch Paulus (zunächst
mit Barnabas, später mit anderen Mitarbeitern) wird die Christusbotschaft nach
Zypern sowie in die kleinasiatischen und griechischen Provinzen gebracht (Apg
13–20). Der letzte Teil (21–28) schildert sodann die Verhaftung und die Verhöre
des Paulus sowie seine Überstellung nach Rom. Wirken und Geschick des Paulus
bestimmen damit den weitaus größten Teil der in der Apostelgeschichte berichte-
ten Ereignisse. Die Darstellung bewegt sich dementsprechend zu einem wesent-
lichen Teil in denjenigen Gebieten, in denen Paulus gewirkt hat, wogegen andere
Städte und Regionen – etwa Alexandria, Smyrna und Pergamon, die Cyrenaika,
Pontus und Bithynien oder Ägypten – nicht oder nur am Rand in den Blick tre-
ten. Das in der Apostelgeschichte beschriebene Christentum ist demnach wesent-
lich paulinisches Christentum, das zugleich in Kontinuität zu Jesus und den Au-
genzeugen seines Wirkens – v. a. diese heißen bei Lukas »Apostel« – steht.
In der älteren deutschsprachigen Forschung ist häufig eine grundlegende Dif-
ferenz zwischen dem in der Apostelgeschichte gezeichneten Paulusbild und
demjenigen, das sich aus seinen eigenen Briefen ergibt, behauptet worden. Dafür
wurden vornehmlich chronologische und inhaltliche Differenzen ins Feld ge-
führt. Die neuere Forschung tendiert dagegen stärker dazu, eine Kontinuität zwi-
schen Wirken und Theologie des Paulus und ihrer Darstellung in der Apostelge-
schichte zu sehen. Lukas will das Wirken des Paulus für die entstehende Kirche
fruchtbar machen und greift in dieser Absicht aus einem zeitlichen Abstand von
etwas mehr als zwanzig Jahren darauf zurück. Dabei gewinnt Paulus grundle-
gende Bedeutung für die Geschichtstheologie des Lukas. Das wird bereits am Pro-
fil seiner Person deutlich, in das etliche Informationen einfließen, die sich nur in
der Apostelgeschichte finden.
stelgeschichte, wogegen sich Paulus in seinen eigenen Briefen stets mit seinem
griechisch-römischen Namen »Paulos« nennt. Paulus, der dem Stamm Benjamin
angehörte, trug demnach denselben Namen wie der israelitische König Saul, der
ebenfalls Benjaminit war. Die Apostelgeschichte nennt ihn von dem Moment an
mit seinem griechisch-römischen Namen, als er auf der ersten Missionsreise zum
ersten Mal aktiv in Erscheinung tritt (13,6–12). Der Wechsel von der einen zu der
anderen Namensbezeichnung (der nicht mit der Bekehrung verbunden ist) wird
dabei in Apg 13,9 eher nebenbei mit der Bemerkung »Saulos, der auch Paulos
heißt« vorgenommen.
Die Treue des Paulus zu den jüdischen Überlieferungen wird durch die Bemer-
kung, er sei ein »Eiferer für Gott« gewesen (22,3) und habe deshalb in der Zeit vor
seiner Bekehrung die Anhänger Jesu verfolgt, besonders betont. Paulus wird dem-
nach als Diasporajude mit enger Beziehung zu Jerusalem und fester Verwurze-
lung in den jüdischen Überlieferungen gezeichnet.
Das lässt sich mit Notizen aus den Paulusbriefen verbinden. Auch Paulus selbst
spricht von seiner Herkunft aus dem Volk Israel und bezeichnet sich als Israelit,
Same Abrahams, Benjaminit, Hebräer und Pharisäer (Röm 11,1; 2Kor 11,22; Phil
3,5); auch er spricht von seinem Eifer für die väterlichen Überlieferungen, in dem
er die Gemeinde verfolgt habe (Gal 1,14; Phil 3,6; vgl. 1Kor 15,9). Nicht belegt ist
bei Paulus allerdings, dass er seine Jugend in Jerusalem verbracht und dort eine
(pharisäische) Ausbildung genossen habe. Diese Information des Lukas ist des-
halb in Zweifel gezogen worden, u. a. mit dem Hinweis auf die Bemerkung des
Paulus, er sei den Gemeinden Judäas vor seiner Bekehrung unbekannt gewesen
(Gal 1,22).
Diese Notiz spricht allerdings nicht gegen die Darstellung der Apostelgeschich-
te, denn Paulus bezieht sich hier zum einen auf die Zeit nach seiner Bekehrung,
nicht auf seine Ausbildung, zum anderen spricht er nicht von Jerusalem selbst,
sondern von den umliegenden Gebieten Judäas. Zudem ist historisch plausibel,
dass Paulus an dem Ort, an dem er selbst ausgebildet wurde, mit der Verfolgertä-
tigkeit begann und dabei die tempel- und gesetzeskritischen Tendenzen der Jeru-
salemer Gemeinde eine ausschlaggebende Rolle spielten. Dies wiederum würde
mit der Bemerkung des Paulus, er habe die »Gemeinde Gottes« verfolgt, überein-
stimmen, denn diese Bezeichnung dürfte sich auf die christliche Gemeinde in
Jerusalem beziehen.
Zu den nur in der Apostelgeschichte belegten biographischen Informationen
gehört auch die Notiz, Paulus habe das Bürgerrecht der Stadt Tarsus gehabt
(21,39) und sei sogar Bürger des Römischen Reiches gewesen (16,37 f.; 22,25–29;
23,27). Auch diese Angabe ist mit dem Hinweis bezweifelt worden, sie verdanke
sich der Absicht des Lukas, Paulus als Bindeglied zwischen Judentum und rö-
mischem Staat darzustellen. Näher als die These, Lukas habe das römische Bür-
gerrecht des Paulus selbst erschlossen, liegt jedoch die Annahme, dass es sich um
eine zutreffende historische Information handelt, die er an einigen Stellen in die
Erzählung einfügt, um dadurch seinem Paulusbild spezifische Akzente zu verlei-
III. Die Paulusdarstellung der Apostelgeschichte 545
hen. Das Vorgehen der Behörden gegen Paulus in Philippi und Jerusalem wird auf
diese Weise nämlich als in besonderer Weise unberechtigt herausgestellt, weil es
sich gegen einen römischen Bürger richtet.
Im Zusammenhang mit dem Aufenthalt in Korinth nennt Lukas auch den Be-
ruf des Paulus. Was der griechische Begriff σκηνοποιός (Apg 18,3) genau bedeu-
tet, bleibt allerdings unsicher. Ob er den Beruf des Zeltmachers bezeichnet, wie
häufig angenommen, ist nicht eindeutig, weil diese Bedeutung in der antiken Li-
teratur nicht belegt ist. Welches Handwerk Paulus ausgeübt hat, lässt sich also
nicht eindeutig sagen. Sicher bezeugt ist allerdings, dass er sich in den Orten, in
denen er sich länger aufhielt, seinen Lebensunterhalt mit diesem Beruf verdiente.
Die Apostelgeschichte nennt dies ausdrücklich im Fall von Korinth, wo Paulus
sich Apg 18,11 zufolge 18 Monate aufgehalten hat. Auch Paulus selbst stellt mehr-
fach heraus, dass er von eigener Arbeit lebe und seinen Gemeinden nicht zur Last
falle (1Thess 2,9; 1Kor 9,1–23; 2Kor 11,7–9; 12,13–17).
Paulus tritt in der Apostelgeschichte als »Bürger zweier Welten« in Erschei-
nung. Er stammt aus einer hellenistischen Stadt der jüdischen Diaspora und hat
in Jerusalem eine strenge jüdische Ausbildung erfahren. Er ist mit den jüdischen
Schriften und Traditionen eng vertraut, weiß sich aber auch in der griechischen
Sprache und sogar in philosophischem Milieu sicher zu bewegen. Besonders
markant kommt dies in den Reden zum Ausdruck, die Paulus in der Apostelge-
schichte sowohl vor Juden als auch vor Heiden hält. Bei den Reden der Apostelge-
schichte handelt es sich, wie seit den Studien von Martin Dibelius anerkannt ist,
um Kompositionen des Lukas, mit deren Hilfe er herausgehobene Personen (ins-
besondere Petrus, Stephanus und Paulus) charakterisiert und die zugleich für den
Gang der geschilderten Ereignisse von Bedeutung sind. Er bedient sich dazu des
in der antiken Geschichtsschreibung verbreiteten Stilmittels, die berichteten Er-
eignisse durch Reden der handelnden Personen interpretieren und vorantreiben
zu lassen. Im Blick auf Paulus ist dabei charakteristisch, dass er wie Petrus Reden
vor Juden und Gottesfürchtigen hält und dabei an die Schriften Israels anknüpft,
aber auch vor Heiden redet, denen er unter Aufnahme philosophischer Motive
den Gott Israels verkündigt (so besonders in der Rede auf dem Areopag in Athen,
17,22–34; vor Heiden redet Paulus aber auch bereits in Lystra, Apg 14,15–17). Des
Weiteren hält Paulus am Ende seiner öffentlichen Wirksamkeit eine Abschiedsre-
de, in der er auf seine Tätigkeit zurück- und auf die Zeit nach seinem Weggang
vorausblickt und die Gemeinden der Fürsorge von Ältesten anvertraut, die als
»Bischöfe« (ἐπίσκοποι) das Hirtenamt in der Gemeinde wahrnehmen sollen
(20,18–35). Schließlich finden sich zwei autobiographische Reden, in denen Pau-
lus vor den Juden Jerusalems bzw. dem König Agrippa seine Bekehrung und Be-
rufung schildert (22,3–16; 26,4–18).
Durch diese Reden gewinnt der Paulus der Apostelgeschichte eigenes Profil. Er
zeigt sich sowohl mit Schriften und Traditionen Israels als auch mit Themen und
Motiven paganer Philosophie vertraut. Er schließt seine Wirksamkeit im ägä-
ischen Raum durch eine testamentarische Rede ab und blickt auf die spätere Si-
546 D. Wirkung und Rezeption
tuation der Gemeinden voraus. Er beschreibt sich selbst als in Treue zu den väter-
lichen Überlieferungen stehend, die die Grundlage für seine Verkündigung der
Christusbotschaft bilden. In den Reden des Paulus kommen demnach wesent-
liche Aspekte seines Weges in der Apostelgeschichte zur Sprache; sie dienen zu-
gleich dazu, die erzählte Zeit der paulinischen Mission mit der Erzählzeit des Lu-
kas zu verknüpfen.
Dagegen wird in der Apostelgeschichte nirgends erwähnt, dass Paulus Briefe
geschrieben habe, wenngleich wahrscheinlich ist, dass Lukas zumindest einige der
Briefe des Paulus kannte. Der Grund hierfür dürfte darin zu suchen sein, dass
Paulus in der Apostelgeschichte als derjenige in Erscheinung tritt, durch dessen
Wirken das Christuszeugnis nach Kleinasien und Griechenland bis hin nach Rom
ausgebreitet wurde. Darum wird stets von seinen Erstbesuchen in den betref-
fenden Städten berichtet, wogegen die sich hieran anschließenden Entwicklungen
in den Gemeinden, auf die Paulus in seinen Briefen reagiert, nicht mehr Gegen-
stand der Darstellung der Apostelgeschichte sind.
Paulus tritt in der Apostelgeschichte aber nicht nur als Redner, sondern auch
als Wundertäter in Erscheinung. Er vollbringt Straf- und Heilungswunder, sogar
seinen Schweiß- und Taschentüchern werden heilende Kräfte zugeschrieben
(19,11 f.). Damit rückt er neben Petrus und die anderen Apostel, von denen in
ähnlicher Weise gesagt wird, dass durch sie erstaunliche Machttaten geschahen
(5,12–15). In diesen Taten ist stets die Macht Gottes wirksam, die durch Paulus
auch unter Heiden erfahrbar wird.
Schließlich ist die Wirksamkeit des Paulus durch eine zunehmende Eigenstän-
digkeit gegenüber den Jerusalemer Aposteln gekennzeichnet. Nachdem Barnabas
als Bindeglied aus der Erzählung abgetreten ist, treten andere Mitarbeiter und
Begleiter in den Kreis des Paulus ein, die zum Teil auch aus seinen eigenen Briefen
bekannt sind: Timotheus, Silas (Silvanus), Aquila und Priszilla. Auch der im 1.
Korintherbrief genannte Apollos wird in der Apostelgeschichte erwähnt, auch
wenn er hier nie mit Paulus zusammentrifft (18,24–19,1).
Paulus betritt die Bühne der Apostelgeschichte als strenger Verfechter jüdischer
Traditionen, der Gefallen an der Steinigung des Stephanus findet (8,1) und kurz
darauf nach Damaskus reisen will, um als wut- und mordschnaubender Verfolger
Jesusjünger gefangen nach Jerusalem zu führen (9,1 f.). Dieses Szenario dient
dazu, seine Bekehrung vorzubereiten, die einen ersten dramatischen Höhepunkt
der Paulusdarstellung der Apostelgeschichte bildet (9,1–19).
Die besondere Bedeutung dieses Ereignisses wird daran sichtbar, dass Paulus in
Kap. 22 und 26 zweimal rückblickend darauf zu sprechen kommt. Wie auch in
seinen Selbstaussagen (Gal 1,13–17; 1Kor 9,1; 15,8 f.; 2Kor 4,6; Phil 3,4–11) sind da-
bei die Bekehrung von seiner Tätigkeit als Verfolger der Jesusanhänger zum Glau-
III. Die Paulusdarstellung der Apostelgeschichte 547
ben an Jesus Christus und der Auftrag, fortan dem Zeugnis für diesen Glauben zu
dienen, miteinander verbunden. Sowohl Paulus als auch Lukas führen dies auf
eine Erscheinung des Erhöhten zurück, mit dem Paulus konfrontiert und für den
er in den Dienst genommen wird. Lukas malt das Ereignis darüber hinaus mit
Elementen einer Bekehrungserzählung aus (Licht und Stimme vom Himmel, Er-
blinden und Fasten), die bei Paulus fehlen, allerdings auch bei Lukas im Gefälle
der drei Berichte immer mehr zurücktreten.
Die mit der Bekehrung verbundene Berufung wird in allen drei Berichten der
Apostelgeschichte auf prägnante Weise formuliert: Paulus soll den Namen Jesu
vor Heiden, Könige und die Söhne Israels tragen und für diesen Namen leiden
(9,15 f.); er soll Zeuge vor allen Menschen für die Dinge sein, die ihm der Erhöhte
mitgeteilt hat (22,14 f.); er soll die Menschen zum Glauben an den erhöhten Jesus
bekehren (26,16–18). Die Bekehrung des Paulus ist damit der Ausgangspunkt sei-
ner Zeugenschaft, sie fungiert zugleich als Modell für die Bekehrung zu Gott und
Jesus Christus überhaupt. Letzteres wird an den Motiven der Bekehrungserzäh-
lung sowie an der Bekehrungsterminologie in 26,18 (Augen öffnen; Wendung von
der Finsternis zum Licht bzw. von Satan zu Gott) besonders deutlich.
Die paulinische Mission (Apg 13–20) vollzieht sich in zwei Abschnitten, die durch
das Treffen der Antiochener Abgesandten mit den Jerusalemer Aposteln (das sog.
»Apostelkonzil«, 15,1–35) voneinander abgesetzt sind. Sie bewegen sich in unter-
schiedlichen geographischen Räumen; jeweils steht eine große Rede des Paulus
im Zentrum: diejenige in der Synagoge in Antiochia in Pisidien (13,16–41) sowie
diejenige auf dem Areopag in Athen (17,22–34). Abgeschlossen wird die Mission
durch die Abschiedsrede des Paulus in Milet. Der sich daran anschließende Teil
(21–28) hat die Verhaftung und die Verhöre des Paulus sowie seine Überstellung
nach Rom zum Inhalt. Lukas hat die Mission des Paulus demnach literarisch
sorgfältig gestaltet und dabei diejenigen Facetten besonders herausgearbeitet, die
sein Interesse am Wirken des Paulus prägen.
Am Beginn steht die Aussendung von Barnabas und Paulus als antiochenische
Missionare. Dem gehen sowohl die Öffnung der Christusbotschaft für die Heiden
durch die Petrusvision (Apg 10,1–11,18) als auch die Gründung der antioche-
nischen Gemeinde durch aus Jerusalem vertriebene Judenchristen (11,19–26) vo-
raus. Paulus wird demnach von Beginn an in den Prozess der Entstehung der
Kirche eingebunden, der in Jerusalem einsetzt und zunächst durch den Kreis der
zwölf Apostel, die »Hellenisten« und Barnabas getragen wird, woran sich das
Wirken des Paulus anschließt. Die Kontinuität dieses Prozesses wird dadurch be-
sonders deutlich, dass die Voraussetzung für die Aufnahme von Heiden ins Got-
tesvolk bereits zuvor von Gott selbst geschaffen wurde. Paulus ist demnach mit
einem spezifischen Auftrag in den Prozess der Ausbreitung der Christusbotschaft
548 D. Wirkung und Rezeption
rum führt zur Freude der Heiden, die zum ewigen Leben bestimmt sind (13,46–
48).
In der Mission von Barnabas und Paulus treten somit charakteristische Merk-
male hervor, die die Paulusmission auch im Folgenden prägen werden. Lukas hat
sie in die Form einer sorgfältig komponierten Erzählung einer von Antiochia aus-
gehenden und dort auch wieder endenden Misssionsunternehmung gefasst, in
deren Zentrum die große Rede des Paulus steht und deren Thema die Öffnung
der Christusbotschaft für die Heiden ist. In der Geschichtsdarstellung der Apo-
stelgeschichte füllt diese Reise zugleich die Phase zwischen der Gründung der
Gemeinde von Antiochia und dem Apostelkonzil aus und steht damit paradigma-
tisch für diese Zeit.
Paulus selber erwähnt diese Reise nicht. In seinem einzigen autobiographi-
schen Bericht über diese Zeit fällt lediglich die Bemerkung, er sei »in den Ge-
genden Syriens und Kilikiens« gewesen (Gal 1,21). Der Grund dafür dürfte darin
zu suchen sein, dass Paulus an der betreffenden Stelle lediglich einen gerafften
Überblick über die Zeit von seiner Berufung bis zum Apostelkonzil gibt, ohne auf
Details einzugehen. Es besteht also kein Anlass, aufgrund der fragmentarischen
Angaben in Gal 1 an der Historizität der Reise zu zweifeln. Die Frage, ob in den
auf dieser Reise aufgesuchten Orten die Adressaten des Galaterbriefs zu suchen
sind (so die sog. »südgalatische Hypothese«), ist damit allerdings nicht entschie-
den. Hierauf braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. Deutlich ist
jedenfalls, dass Paulus der Apostelgeschichte zufolge noch nicht auf dieser Reise,
sondern erst nach dem Apostelkonzil galatisches Gebiet erreicht (16,6).
Die zweite Missionsphase beginnt nach dem Apostelkonzil, setzt also die dort
getroffene Vereinbarung voraus. Anders als bei Paulus in Gal 2,1–10 ist das Ergeb-
nis dieses Treffens in der Apostelgeschichte allerdings nicht die Aufteilung der
Missionsgebiete zwischen Petrus und Paulus (so Gal 2,9), sondern die Formulie-
rung der Bedingungen für die Aufnahme von Heiden ins Gottesvolk. Die in
15,20.29 (vgl. auch 21,25) genannten Forderungen (Enthalten von Götzenopfer-
fleisch, Blut, Ersticktem und Unzucht) verstehen sich vor dem Hintergrund der in
Lev 17 und 18 für in Israel lebende Fremde formulierten Regelungen und haben in
der Apostelgeschichte das Ziel, die Reinheit des christlichen Gottesvolkes zu ge-
währleisten. Diese Forderungen waren ursprünglich sicher nicht mit dem Jerusa-
lemer Treffen verbunden, sondern verdanken sich vermutlich einer zeitlich und
lokal begrenzten Regelung für das Zusammenleben von Juden und Heiden in ei-
ner christlichen (evtl. der antiochenischen) Gemeinde. Indem sie bei Lukas durch
die Verknüpfung mit dem Apostelkonzil als generelle Regelungen verbindlich ge-
macht werden, wird der bleibende Bezug der christlichen Kirche zur Geschichte
Israels sichergestellt. Dem wusste sich auch der Paulus der Apostelgeschichte (wie
auch der »historische« Paulus) stets verpflichtet.
Die sich anschließende Paulusmission wird durch die Briefe des Paulus an die
Gemeinden von Philippi, Thessalonich und Korinth sowohl im Blick auf Anga-
ben zu den Mitarbeitern (und -absendern) als auch zum Reiseweg partiell unter-
550 D. Wirkung und Rezeption
stützt. Ein Merkmal dieser Phase ist der Apostelgeschichte zufolge die zuneh-
mende Feindseligkeit der Juden gegenüber Paulus und seiner Verkündigung so-
wie die damit einhergehende Trennung der entstehenden Kirche vom Judentum.
Das wird etwa an dem Widerstand deutlich, der sich in Thessalonich, Korinth
und Ephesus von jüdischer Seite gegen Paulus formiert und dazu führt, dass seine
anfängliche Predigt in der Synagoge in Korinth im benachbarten Haus des Got-
tesfürchtigen Titius Justus (18,7), in Ephesus in der Lehrhalle des Tyrannus (19,9)
fortgesetzt wird. Auf diese Weise wird die sich anbahnende Trennung auch räum-
lich vor Augen geführt.
Der jüdischen Ablehnung korrespondiert auf heidnischer Seite eine ebenfalls
feindselige Haltung. Diese schlägt Paulus in Philippi und Ephesus entgegen und
ist darin begründet, dass die christlichen Missionare heidnischerseits als Juden
betrachtet werden, die die Sitten und Götter der griechisch-römischen Welt nicht
anerkennen und durch ihr missionarisches Wirken eine Gefahr für diese darstel-
len. Allerdings macht Lukas deutlich, dass die Anschuldigungen und Feindselig-
keiten – in konzentrierter Form beim Volksauflauf im Theater zu Ephesus – zu
Unrecht vorgebracht werden, da von den Christen keine politische Gefahr aus-
geht. Sowohl die Verhaftung in Philippi als auch der Aufruhr in Ephesus werden
deshalb als illegal und unberechtigt dargestellt.
Die damit von Lukas verfolgte Intention ist allerdings nicht, wie früher mitun-
ter angenommen, die Christen durch politische Apologetik gegenüber dem rö-
mischen Staat und seinen Behörden zu verteidigen. Die Apostelgeschichte ist viel-
mehr an die christlichen Gemeinden gerichtet und bestimmt deren Ort ange-
sichts der Trennung vom Judentum als Fortsetzung der Geschichte Israels im
Lichte des Wirkens Gottes durch Jesus Christus. Daraus resultiert ein eigenes
Profil innerhalb der griechisch-römischen Welt, das durch das Wirken des Paulus
im Gegenüber zu Judentum und paganer Welt paradigmatisch vor Augen gestellt
wird.
Der letzte Teil der Apostelgeschichte beschreibt die Verhaftung des Paulus, sei-
ne Verhöre in Jerusalem und Cäsarea sowie die Überfahrt nach Rom. Damit tritt
der zweite Teil seiner in 9,15 f. formulierten Bestimmung als Werkzeug des erhöh-
ten Jesus in den Blick, nämlich für den Namen des Erhöhten zu leiden. Dies hatte
sich bei früheren Anfeindungen und Gefangenschaften bereits angedeutet, wird
aber nunmehr für die Darstellung insgesamt prägend. Paulus wird damit zum
Modell des für Christus leidenden Zeugen, der immer wieder betont, in Treue zu
den Hoffnungen Israels zu stehen, und der trotz seiner Gefangenschaft Wunder
wirkt (28,8 f.) und frei verkündigt (28,30 f.). Obwohl Lukas vom Tod des Paulus
wusste, endet seine Darstellung mit dem Bild des gefangenen, gleichwohl unge-
hindert das Reich Gottes verkündigenden Paulus.
III. Die Paulusdarstellung der Apostelgeschichte 551
4. Fazit
war (Sir 44,20; 1Makk 2,52; Jub 17,15–18,16, s. auch 4Q225), Paulus selbst verweise
in Röm 4,2 auf die Option einer Rechtfertigung Abrahams aus Werken als eine im
Raum stehende These, und Jakobus führe das Abrahambeispiel in 2,21 als Er-
kenntnisgrund für seine These von 2,20 in Form einer rhetorischen Frage ein, die
das Einverständnis der Adressaten voraussetzt. Im Adressatenkreis scheint das
Abrahambild nicht kontrovers gewesen zu sein. Die engen sprachlichen Berüh-
rungen muss man dann als durch die frühchristliche Begriffsgeschichte von
»Glaube« beeinflusste Parallelentwicklung auf der Basis jüdischer Tradition ver-
stehen. Eine Variante zu dieser Position ist, dass Jak 2,14–26 lediglich die sprach-
liche Vorarbeit von Paulus voraussetzt, ohne Paulus selbst oder seine Nachfolger
polemisch im Visier zu haben (Burchard 2000, 125 f.). Jak 2,21–23 könnte dann
so eingeordnet werden, dass hier ein frühjüdische Abrahamtradition fortschrei-
bender judenchristlicher Rekurs auf Abraham rezipiert wird, dessen Gestalt
durch die antipaulinische Opposition in den 50er Jahren des 1. Jh. n.Chr. mitge-
formt wurde, ohne dass die antipaulinische Stoßrichtung in Jak 2 noch von Ge-
wicht wäre (Konradt 2004, 186 f.).
Überblickt man die neuere Diskussion, kristallisiert sich keine klare For-
schungstendenz heraus. Weder besteht – unter der Voraussetzung, dass Jakobus
sich kritisch gegen Paulus wendet – Konsens über die Art dieser Bezugnahme.
Noch kann überhaupt noch von einem magnus consensus bezüglich der genann-
ten Voraussetzung geredet werden.
2. Matthäusevangelium
ben (Mt 7,21–23), gegen Paulus und seine Anhänger (Sim 2007). Zwingende
Gründe, die von Matthäus in 5,17–19 oder 7,15–23 zurückgewiesene Position spe-
ziell mit Paulus(anhängern) zu identifizieren, gibt es freilich nicht. Es handelt
sich hier vielmehr um eine die Komplexität der frühchristlichen Missions- und
Entwicklungsgeschichte verstellende Reduktion der Optionen.
3. Markusevangelium
Anders als bei Matthäus stellt sich bei dessen Vorgänger Markus die Frage, ob
dieser sich positiv von paulinischer Theologie beeinflussen ließ. Konvergenzen
zwischen Markus und Paulus wie die starke Gewichtung des Todes Jesu sind evi-
dent. Hingewiesen wurde ferner unter anderem auf Markus’ Ablehnung der Spei-
segebote der Tora (Mk 7,19, vgl. Röm 14,14.20) und seine klare Bejahung der Hei-
denmission bei Wahrung eines jüdischen πρῶτον (zuerst) (Mk 7,27, vgl. Röm
1,16). Auch kann man Markus’ Motiv des Jüngerunverständnisses (z. B. Mk 6,51 f.)
und seine Darstellung der Familie Jesu (Mk 3,20 f.31–35) als distanzierte Haltung
zu den Autoritäten Jerusalems lesen, was zu einem Paulusanhänger gut passen
würde. Gleichwohl bleibt zu fragen, ob die genannten Aspekte spezifisch genug
sind, um Markus mit hinreichender Plausibilität mit Paulus zu verbinden (beja-
hend z. B. Marcus 2000), oder ob die genannten Affinitäten nicht eher als paral-
lele Manifestationen weiter verbreiteter Überzeugungen zu klassifizieren sind
(Werner 1923; Lindemann 1979). Zudem sind auch die Differenzen nicht zu
übersehen: Weder finden z. B. die spezifischen Pointen des paulinischen Gesetzes-
verständnisses im Markusevangelium Widerhall, noch begegnet die Rede vom
Kreuz bei Markus als eigener, spezifischer Sachzusammenhang im umfassende-
ren Rahmen der Deutung des Todes Jesu. Allein vom markinischen Textbefund
her lässt sich ein markinischer Paulinismus daher nicht hinreichend wahrschein-
lich machen. Gehört das Markusevangelium nach Syrien, fehlen auch anderwei-
tige Indizien für die Verbreitung spezifisch paulinischen Gedankenguts im regio-
nalen Kontext des Markusevangeliums zur Zeit seiner Abfassung. Anders läge der
Sachverhalt allerdings, wenn das Markusevangelium in Rom entstanden sein
sollte.
4. Johannesevangelium
Auch im Blick auf das Verhältnis des johanneischen Kreises zu Paulus gehen die
Beurteilungen auseinander (zur Forschungsgeschichte Hoegen-Rohls 2004).
Christologische Berührungspunkte wie die mit einer soteriologischen Zielangabe
verbundene Rede von der Sendung des präexistenten Gottessohnes (1Joh 4,9 f.;
Joh 3,16, vgl. Röm 8,3 f.; Gal 4,4 f.), die Deutung des Sterbens Jesu als liebende
Selbsthingabe, die zugleich für die Begründung der Agape-Ethik fruchtbar ge-
IV. Antipaulinismus und Paulinismus im neutestamentlichen Schrifttum 555
macht wird (Joh 13,34 f.; 15,12–17, vgl. Gal 2,20 u. ö.), Konvergenzen in der jewei-
ligen kreuzestheologischen Ausrichtung, ferner die Gegenüberstellung von Ge-
setz und Gnade (Joh 1,17 f., vgl. Röm 6,14; Gal 2,21) oder die Rede vom »Sklaven
der Sünde« (Joh 8,34 f., vgl. Röm 6,16–18) werden als Indizien für paulinischen
Einfluss auf die johanneische Schule gewertet (Schnelle 1987). Auf der anderen
Seite sind die Berührungspunkte auf frühe theologische Grundentscheide im ent-
stehenden Christentum zurückgeführt worden, die jeweils eigenständig auskon-
zipiert wurden (J. Becker 2006). Die Frage ist verhängt mit dem Problem der
Lokalisierung der johanneischen Schriften. Wenn diese in Ephesus entstanden
sind, lässt schon diese Verortung in einem Zentrum von Paulus’ Wirken nach
einem paulinischen Einfluss fragen, wenngleich das ephesinische »Christentum«
in sich differenziert war. Der sich im kleinasiatischen Raum bewegende Verfasser
der Johannesapokalypse etwa hat zwar sicher von Paulus gewusst (Karrer 1986;
Müller-Fieberg 2009), schweigt aber über den Völkerapostel.
5. Erster Petrusbrief
Der 1. Petrusbrief wird weithin als ein von paulinischem Denken beeinflusstes
Schreiben angesehen. So weist der neutestamentliche Konkordanzbefund z. B. die
Wendung »in Christus« (1Petr 3,16; 5,10.14, vgl. Gal 3,28; Phil 2,5 u. ö.) und die
Rede von χαρίσματα (Gnadengaben) (1Petr 4,10, vgl. Röm 12,6; 1Kor 12,4.9.28
u. ö.) als charakteristisch paulinisch aus. Die Freiheitsaussage in 1Petr 2,16 erin-
nert an 1Kor 9,19; Gal 5,13. Zudem ist auf das starke Gewicht der soteriologischen
Deutung des Todes Jesu im 1. Petrusbrief hinzuweisen. Kontroversen bestehen
aber über den Grad der Beeinflussung. Auf der einen Seite wurde eine bewusste
Ausrichtung an Paulus postuliert – bis hin zu der Annahme, dass der 1. Petrus-
brief ursprünglich ein in der adscriptio unter die Autorität des Paulus gestelltes
Pseudepigraphon war und die Verfasserangabe in der Textüberlieferung unab-
sichtlich in Petrus geändert wurde (Schenke/Fischer 1978, 199–203). Auf der
anderen Seite hat z. B. Leonhard Goppelt geurteilt, der 1. Petrusbrief entstamme
einer kirchlichen Tradition, die »von Paulus zwar beeinflußt, aber nicht geprägt«
sei (Goppelt 1978, 50). Noch deutlicher hat Jens Herzer die These eines Paulinis-
mus im 1. Petrusbrief zurückgewiesen (Herzer 1998). Bedeutsam ist hier insbe-
sondere die Überlegung, dass paulinische Wendungen bereits in anderweitige
kirchliche Tradition eingegangen sein können und in dieser Gestalt im 1. Petrus-
brief Aufnahme gefunden haben. In der inhaltlichen Entfaltung gehe der 1. Pe-
trusbrief jedenfalls eigene Wege.
556 D. Wirkung und Rezeption
6. Hebräerbrief
Im Blick auf den Hebräerbrief hat sich als Mehrheitsmeinung durchgesetzt, dass
der Auctor ad Hebraeos weder als ein Paulusschüler noch gar als ein Paulusgegner,
sondern als ein eigenständiger theologischer Kopf zu klassifizieren ist. Die –
schwerlich dem Aufbau einer literarischen Fiktion dienende, sondern auf einer
realen Beziehung basierende – Nennung von Timotheus (Hebr 13,23) verweist
zwar auf Kontakte des Auctor ad Hebraeos zum »paulinischen Christentum«. Aber
Affinitäten, wie sie sich insbesondere im Bereich der Christologie und Soteriolo-
gie mit ihrem Fokus auf dem Tod Jesu zeigen, weisen nicht auf traditionsge-
schichtliche oder gar literarische Abhängigkeit des Hebräerbriefs von Paulus (an-
ders zuletzt Rothschild 2009), sondern auf parallele Partizipation an Traditi-
onen (Backhaus 2009), die, wie etwa die Differenzen im Glaubensverständnis
illustrieren, jeweils unterschiedlich ausgestaltet wurden.
Die Paulinismus-/Antipaulinismus-Debatte tendiert in einigen Ausprägungen
dazu, Paulus zum Dreh- und Angelpunkt der gesamten frühchristlichen Entwick-
lungsgeschichte zu machen. Die Darstellung der Apostelgeschichte leistet dem
Vorschub. Die Apostelgeschichte erhellt freilich nur ein Fragment der Entstehung
und frühen Ausbreitung des Christentums, und es bleibt zu fragen, ob die Bedeu-
tung, die Paulus in der Schriftensammlung des Neuen Testaments durch das
große Corpus Paulinum und die sich in ihrem zweiten Teil auf ihn konzentrieren-
de Apostelgeschichte innehat, zuweilen zu unkritisch auf die historischen Konstel-
lationen im 1. Jh. projiziert wird und damit in einer Art Pan(anti)paulinismus die
komplexeren und vielfältigeren Entwicklungszusammenhänge des entstehenden
Christentums unterbestimmt bleiben oder gar verstellt werden. Festzuhalten ist
zudem, dass die Diskussion geographisch differenziert zu führen ist. So wäre etwa
hinsichtlich der Frage einer antipaulinischen Stoßrichtung im Jakobusbrief oder
im Matthäusevangelium zu erörtern, welche Rolle Paulus im Bereich des sy-
rischen Christentums um 80 n.Chr., das durch die genannten Schriften repräsen-
tiert wird, spielte bzw. ob sich plausibel machen lässt, dass Sammlungen von Pau-
lusbriefen bereits zu dieser Zeit in diesem geographischen Raum verbreitet wa-
ren. Das Problem dabei ist, dass es dafür keine aussagekräftigen anderweitigen
Quellen gibt. Die Ignatiusbriefe weisen auch unter der Voraussetzung ihrer Echt-
heit bereits auf eine spätere Zeit.
Backhaus, Knut: Der Hebräerbrief und die Paulus-Schule, in: Ders.: Der sprechende Gott.
Gesammelte Studien zum Hebräerbrief (WUNT 240), Tübingen 2009, 21–48.
Dassmann, Ernst: Der Stachel im Fleisch. Paulus in der frühchristlichen Literatur bis Irenäus,
Münster 1979.
Herzer, Jens: Petrus oder Paulus? Studien über das Verhältnis des Ersten Petrusbriefes zur pau-
linischen Tradition (WUNT 103), Tübingen 1998.
Konradt, Matthias: Der Jakobusbrief im frühchristlichen Kontext. Überlegungen zum traditi-
onsgeschichtlichen Verhältnis des Jakobusbriefes zur Jesusüberlieferung, zur paulinischen
V. Paulus in den apokryphen Apostelakten 557
Tradition und zum 1Petr, in: Schlosser, Jacques (Hg.): The Catholic Epistles and the Tradi-
tion (BEThL 176), Leuven 2004, 171–212.
Lindemann, Andreas: Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption
der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion (BHTh 58), Tübin-
gen 1979.
Sim, David C.: Matthew and the Pauline Corpus: A Preliminary Intertextual Study, JSNT 31,
2009, 401–422.
Matthias Konradt
Lektra sowie seine Kinder Simaias und Zeno, die auch in Theklaakten begegnen.
Eine weitere Beziehung von Personalnotizen besteht zu den in 2Tim 1,15 bzw. 4,10
genannten Hermogenes und Demas. Schließlich werden in 2Tim 3,11 Antiochia,
Ikonion und Lystra als Orte von Verfolgungen und Leiden des Paulus genannt,
wobei einige Handschriften die Glosse τουτέστιν ἃ διὰ τὴν Θέκλαν πέπονθεν
(das ist es, was er wegen Thekla litt) verzeichnen.
Im Zusammenhang der Ankunft in Ikonion findet sich auch die bekannte
Schilderung des Paulus als eines Mannes »klein von Gestalt, mit kahlem Kopf und
krummen Beinen, in edler Haltung, mit zusammengewachsenen Augenbrauen
und ein klein wenig hervortretender Nase, voller Freundlichkeit; denn bald er-
schien er wie ein Mensch, bald hatte er eines Engels Angesicht.« (Act.Thecl. 3)
Diese Passage zeigt, dass die Theklaakten an einer detaillierten Darstellung des
Äußeren des Paulus interessiert waren, die sich in den älteren Quellen nicht fin-
det.
Im Haus des Onesiphoros kommt es zu einer Eucharistiefeier und einer Ver-
kündigung durch Paulus, die als »Wort Gottes über die Enthaltsamkeit und die
Auferstehung« (λόγος θεοῦ περὶ ἐκρατείας καὶ ἀναστάσεως) charakterisiert und
durch eine Reihe von zwölf Seligpreisungen inhaltlich ausgeführt wird, in denen
die Themen Enthaltsamkeit, Reinheit und Weltentsagung betont werden. Darin
zeigt sich bereits die asketische Tendenz der Theklaakten, die auch später noch
hervortritt.
Für den weiteren Verlauf grundlegend ist die Einführung von Thekla, die der
Predigt des Paulus zuhört und sich daraufhin entschließt, fortan ein enthaltsames
Leben zu führen. Daraus resultiert ein Konflikt, denn Thekla ist mit Thamyris
verlobt, der gemeinsam mit ihrer Mutter Theokleia versucht, Thekla an ihrem
Entschluss zu hindern. Diese hält jedoch treu zu Paulus und soll daraufhin auf
dem Scheiterhaufen verbrannt werden, was jedoch durch göttliches Eingreifen
verhindert wird. Thekla folgt Paulus nach Antiochia, wo sich eine zweite Marty-
riumsszene ereignet, denn sie wird von einem enttäuschten Verehrer ins Theater
geführt, um dort von wilden Tieren zerrissen zu werden. Auch dies misslingt je-
doch, weil die Tiere Thekla wundersamerweise nichts antun. Sie begibt sich nach
Myra, wo sie mit Paulus zusammentrifft, der inzwischen dorthin weitergezogen
ist. Nach der Begegnung kehrt sie nach Ikonion zurück, wo sie erfährt, dass
Thamyris inzwischen gestorben ist, und legt sowohl dort als auch in Seleukia
Zeugnis für Jesus Christus ab.
Die Theklaakten sind demnach v. a. daran interessiert, Thekla als konsequente
Zeugin für Christus zu präsentieren. Dabei können durchaus historische Erinne-
rungen an eine Frau im Hintergrund stehen, die in der Frühzeit des Christentums
der betreffenden Region eine wichtige Rolle gespielt hat. Deutlich ist jedoch auch,
dass das Interesse der Darstellung auf die legendarische Präsentation einer Glau-
benszeugin gerichtet ist, die von Gott in größter Gefahr vor ihren Feinden geret-
tet wird. Dies steht in den Theklaakten deutlich stärker im Zentrum des Interes-
ses als die Schilderung von Weg und Geschick des Paulus.
V. Paulus in den apokryphen Apostelakten 559
Die folgenden Szenen sind nur fragmentarisch überliefert. Sie berichten vom
Wirken des Paulus in Myra, Sidon, Tyrus, Smyrna, Ephesus, Philippi und Korinth.
Dabei sticht die auch anderweitig (Hieronymus, Hippolyt) erwähnte Episode von
dem frommen Löwen hervor, der Paulus nicht zerreißt, sondern stattdessen von
ihm getauft wird. Mit dem Philippi-Aufenthalt verbunden ist eine Korrespon-
denz mit der korinthischen Gemeinde (3Kor). Aufgrund von Irrlehren doke-
tischen und gnostischen Charakters wendet sich die korinthische Gemeinde an
Paulus und bittet ihn um Rat. In seinem Antwortschreiben geht Paulus ausführ-
lich auf die häretischen Lehren ein und widerlegt sie durch Berufung auf sein ei-
genes Zeugnis und dasjenige der Apostel über die Geburt Jesu Christi aus dem
Geschlecht Davids, sein Wirken und seine Auferstehung.
Im weiteren Verlauf gelangt Paulus sodann nach Rom, wo er unter Nero das
Martyrium durch das Schwert erleidet. Dabei liegt in der Erwähnung von Titus
aus Dalmatien und Lukas in MartPl wiederum eine Personalverbindung zum 2.
Timotheusbrief vor, wo diese in 4,10 f. erwähnt werden. Die Darstellung des Mar-
tyriums ist charakterisiert durch die Überlegenheit des Paulus, der Nero im Ver-
hör ankündigt, er werde nach seiner Enthauptung wieder auferstehen, was dann
auch eintritt.
Die Paulusakten sind ein Zeugnis für das Wirken und Geschick des Paulus, das
verschiedene Überlieferungen zu einer Gesamtdarstellung romanhaften Charak-
ters verbindet und dabei theologische und kirchliche Interessen des 2. Jh. verfolgt.
Das Verhältnis zur lukanischen Apostelgeschichte und zu den Pastoralbriefen
wird sich am besten so erklären lassen, dass der Autor diese Schriften voraussetzt,
sie aber gemeinsam mit weiteren Überlieferungen aus dem paulinischen Traditi-
onsbereich zu einer eigenen Darstellung verarbeitet hat. Deutlich erkennbar ist
das Interesse, eine asketische Lebenshaltung zu propagieren, als häretisch beur-
teilte Tendenzen zu bekämpfen und in der Person Theklas eine vorbildliche Glau-
benszeugin zu präsentieren. Die Paulusdarstellung trägt legendarische, roman-
hafte Züge und unterscheidet sich damit in ihrem Charakter von derjenigen der
Apostelgeschichte des Lukas.
Eine weitere Erwähnung des Paulus findet sich in den Petrusakten (ActPetr).
Hier wird berichtet, dass er vom Herrn den Auftrag erhält, Rom zu verlassen und
nach Spanien zu gehen. Es folgt eine Abschiedsszene mit Eucharistiefeier, in die
ein Strafwunder und eine Belehrung des Paulus eingebettet sind. Am Hafen ver-
sammelt sich sodann noch einmal eine größere Menschenmenge, darunter etli-
che Personen höheren Standes, die Paulus ihrer Treue zu ihm versichern.
Der Passus findet sich auf pp. 45–48 der Actus Vercellenses, einem fragmenta-
risch erhaltenen lateinischen Manuskript aus dem 6./7. Jh., das vermutlich auf
eine Übersetzung aus dem 3. oder 4. Jh. zurückgeht. Vorausgegangen ist offenbar
ein (nicht erhaltener) Bericht über das Wirken des Paulus in Rom, an das sich
nunmehr dasjenige des Petrus anschließt, von dem im Folgenden berichtet wird.
Am Ende der Petrusakten wird kurz erwähnt, dass Paulus nach dem Martyrium
des Petrus wieder nach Rom zurückgekehrt sei.
560 D. Wirkung und Rezeption
VI. Markion
Markion hat einen eigenen Bibelkanon entworfen, bestehend aus dem Evangeli-
um (d. h. dem Lukasevangelium, das aber nicht so genannt wird, vgl. Tert.Marc.
4,2,3) sowie – in dieser Reihenfolge – zehn Paulusbriefen: Gal, 1/2 Kor, Röm,
1/2Thess, Eph, Phil, Kol, Phlm). Für Markion war der Epheserbrief an die Lao-
dicener gerichtet (Tert.Marc. 5,11,12; 5,17,1); möglicherweise stützt er sich dabei
auf eine bereits vorliegende Tradition (Schmid 1995, 111). Der Bischof Epiphanius
von Salamis liest ca. 375 n.Chr. das markionitische Neue Testament in zwei biblioi,
d. h. dem Evangelium und den zehn Paulusbriefen (Epiph.haer. 42,9,3; Schmid
1995, 150). In der Forschung wird begründet die Auffassung vertreten, dass es
möglicherweise Markion war, der für den so konzipierten Kanon die Bezeich-
nung ›Neues Testament‹ (καινὴ διαθήκη) gebraucht hat (Kinzig 1994). Markion
hat sein Neues Testament textkritisch bearbeitet. Doch ist der Umfang dieser text-
kritischen Operationen im Einzelnen umstritten. Ebenso schwierig ist es, den
VI. Markion 561
aufgrund der Eigenschaften der moralischen Naturen, der Gesetze und der Wun-
dertaten ein Unterschied zwischen Christus und dem Schöpfer begründet werden
sollte (Tert.Marc. 2,29,1: »gestientes ex qualitatibus ingeniorum sive legum sive
virtutum discernere atque alienare Christum a Creatore ut optimum a iudice et
mitem a fero et salutarem ab exitioso«). Markion variiert mit seiner Theologie
einen philosophisch-theologischen Leitdiskurs der Antike, nämlich die Frage, ob
diese oder jene Aussage über die Götter/über Gott ›gottgeziemend‹ (θεοπρεπής)
sei (Aland 1991, 94). Die Aussagen, die nicht zur Güte und Geduld des obersten
Gottes passen wollen, verwirft er dabei nicht einfach (es ist möglich, dass das Alte
Testament in den markionitischen Gottesdiensten weiter ausgelegt wurde; May
2005, 43–50; Moll 2009, 82 f.) oder allegorisiert sie (dazu Löhr 2012, 156–159),
sondern bezieht sie auf den Gott des Alten Testamentes. Die Aussagen über den
Eifer, die Reue und v. a. den strafenden Zorn dieses Gottes erscheinen Markion als
nicht gottgeziemend: Mit dieser Kritik – die von anderen antiken Bibellesern ge-
teilt wurde – nimmt Markion einen besonders im 2. Jh. breit rezipierten ethisch-
therapeutischen Diskurs auf, der den leidenschaftlichen Zorn kritisierte und An-
leitung zur Zornvermeidung oder Zornbeherrschung gab (Löhr 2012, 163 f.).
Auch diese Welt ist in ihrer Unvollkommenheit nicht gottgeziemend und ist also
Werk des niederen Kosmokrators.
Die erkennbare theologische Leitperspektive Markions knüpft also nicht in ir-
gendeiner evidenten Weise bei den Grundgedanken des historischen Paulus an.
Tertullian erwähnt einen Brief Markions, in dem dieser offenbar seinen Bruch
mit der römischen Kirche rechtfertigte (Tert.Marc.1,1,6; 4,4,3; carn.Chr. 2,4).
Möglicherweise hat Markion in diesem Brief seine Unterscheidung zwischen
einem guten und einem richtenden und strafenden Gott mit Verweis auf Lk 6,43
und Jes 45,3 begründet – auch hier ist ein paulinischer Ansatz nicht erkennbar.
Wie aber kam Markion dann dazu, ein auf die Schriften des Apostels Paulus
konzentriertes Neues Testament zu entwerfen? Erkennbar ist, dass Markion für
seine Textkritik, die auf der Annahme judaisierender, angeblich verfälschender
Interpolationen beruhte, offenbar hermeneutisch auf Gal 2,14; 1,7; 2,4 f.; vgl. 2Kor
11,3 (Tert.Marc.1,20,1.4; 4,3,2; 5,3,2) verwies. Dabei scheint Markion den Vorwurf
des Paulus gegenüber Kephas, nicht richtig gemäß der Wahrheit des Evangeliums
zu wandeln, auf weitere Apostel ausgedehnt zu haben und die ›falschen Brüder‹
von Gal 2,4 mit den Falschaposteln von 2Kor 11,3 identifiziert zu haben (so jeden-
falls Norelli 1986). Die auf Griechisch verfassten Antithesen sollten – so Tertulli-
an – die Nichtübereinstimmung (discordia) zwischen Evangelium und Gesetz
darlegen. Vermutlich geht diese Formulierung Tertullians auf Markion zurück,
der damit paulinische Terminologie aufnehmen würde (Norelli 1986, 552). Mar-
kion versteht also offenbar seine eigene theologische Frontstellung und seine ei-
gene Textkritik als Verlängerung der Auseinandersetzung des Paulus mit seinen
galatischen Gegnern.
Ulrich Schmid hat eine Analyse des markionitischen Paulustextes vorgelegt, die
– unbeschadet der erzielten Einzelergebnisse (Becker 2002a) – auf jeden Fall
VII. Der Briefwechsel Paulus – Seneca 563
damit vermutlich um die Mitte des 4. Jh. anzusetzen. Über den Ort kann nichts
Genaueres gesagt werden, als dass er im lateinischsprachigen Westen des Rö-
mischen Reiches zu suchen ist. Bereits Erasmus von Rotterdam verurteilte den
Briefwechsel im Vorwort seiner Seneca-Ausgabe von 1515 als triviale, ungehörige
(frigidus aut ineptus) Fälschung. Die Echtheit der Briefe – und damit eine Entste-
hung im 1. Jh. – wird heute praktisch nicht mehr vertreten.
Historischer Anhaltspunkt für die Idee eines solchen Briefwechsels ist die Tat-
sache, dass Paulus und Seneca um das Jahr 60 tatsächlich zur selben Zeit in Rom
waren und sich ihre Wege dort gekreuzt haben könnten. Das würde durch die in
einigen Handschriften bezeugte Lesart von Apg 28,16 zusätzlich gestützt, die aus-
führt, dass Paulus nicht mit den übrigen Gefangenen, sondern »außerhalb der
Kaserne« (ἔξω τῆς παρεμβολῆς) untergebracht und von einem Soldaten eigens
bewacht wurde. Wenn Letzterer zur Prätorianergarde des Burrus gehört hätte, der
zu dieser Zeit gemeinsam mit Seneca die politischen Geschäfte des Imperium
Romanum führte, wäre eine persönliche Bekanntschaft von Paulus und Seneca
vorstellbar. Anlass zu derartigen Spekulationen könnte zusätzlich die in Apg 18,12
erwähnte Begegnung von Paulus mit Gallio (eigentlich Marcus Annaeus Nova-
tus), dem Statthalter Achaias und Bruder Senecas, geliefert haben.
Der Briefwechsel selbst ist lateinisch abgefasst und besteht überwiegend aus
kurzen Schreiben, in denen meistenteils Höflichkeiten und persönliche Nach-
richten ausgetauscht werden. Die Briefe X bis XIV tragen zudem Datumsanga-
ben. Die Reihenfolge scheint bei diesen Briefen durcheinander geraten zu sein,
denn zum einen antwortet Brief XII (nicht XI) auf Brief X, zum anderen ergäbe
sich aus den Daten die Reihenfolge X, XIII, XIV, XII, XI, was wiederum inhaltlich
keine sinnvolle Abfolge ergibt. Dieses Problem ist demnach ungelöst, ebenso wie
die Frage, auf welcher Überlieferungsstufe die Unordnung entstanden ist.
Die Briefe Senecas beginnen stets mit »Seneca grüßt Paulus« (Seneca Paulo sa-
lutem), wogegen das Präskript der Paulusbriefe den Absender erst an zweiter Stel-
le nennt: »Den Annaeus Seneca grüßt Paulus« (Annaeo Senecae Paulus salutem).
Damit soll offenbar eine Demutsgeste des Paulus zum Ausdruck gebracht wer-
den. In Brief X wird dies ausdrücklich thematisiert, denn Paulus schreibt dort, es
sei für ihn eigentlich ziemend, seinen Namen erst am Ende seiner Briefe zu nen-
nen. Amüsant ist sodann die Bemerkung Senecas in Brief XII, Paulus möge sich
eines korrekten Lateins befleißigen (Latinitati morem gerere).
In den ersten Briefen (I–VI) versichern sich beide Briefschreiber der gegensei-
tigen Wertschätzung und vereinbaren, bald zusammenzutreffen. In Brief VII er-
wähnt Seneca die Briefe des Paulus an die Galater, Korinther und Achäer (ver-
mutlich 2Kor) und äußert seinen Respekt vor den darin ausgeführten Gedanken.
Es entsteht sodann eine kleine Missstimmung darüber, dass Seneca diese Gedan-
ken dem Kaiser vorgetragen hat, was Paulus missbilligt (Brief VII–IX). In Brief XI
werden der Brand Roms im Jahr 64 sowie die sich daran anschließende Verfol-
gung von Christen und Juden erwähnt. Von der Philosophie Senecas und der
Theologie des Paulus sind allenfalls entfernte Anklänge erkennbar.
VIII. Paulusapokalypsen 565
Die Frage nach der Intention der Fälschung hat von dem Befund auszugehen,
dass nicht tiefgehende philosophische oder theologische Erörterungen, sondern
Freundschaftstopik den Briefen ihr spezifisches Gepräge gibt. Wenn der maßgeb-
liche Apostel des Christentums mit dem mächtigsten Mann und einem der klügs
ten Köpfe Roms ein enges persönliches Verhältnis gepflegt hat, ja dieser sogar
wünscht, das alter ego des Paulus zu sein (Brief XII), dann ist das Christentum auf
Augenhöhe mit den Einflussreichen und Gebildeten seiner Zeit. Dass dafür Se
neca als Briefpartner des Paulus gewählt wurde, verwundert umso weniger, als er
sich bei lateinischen Theologen einer hohen Wertschätzung erfreute, die in
Tertullians berühmtem Diktum »Seneca saepe noster« (De anima 20,1) verdichtet
wurde. Der Briefwechsel diente demnach dazu, die Verbindung zu dem geschätz-
ten Staatsmann und Philosophen apostolisch zu verankern. Dass sich dazu die
Person des Paulus anbot, lag biographisch wie sachlich nahe.
Fürst, Alfons: Pseudepigraphie und Apostolizität im apokryphen Briefwechsel zwischen Paulus
und Seneca, JbAC 41, 1998, 77–117.
Fürst, Alfons u. a.: Der apokryphe Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus. Zusammen mit
dem Brief des Mordechai an Alexander und dem Brief des Annaeus Seneca über Hochmut
und Götterbilder, eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von Alfons
Fürst, Therese Fuhrer, Folker Siegert und Peter Walter (SAPERE 11), Tübingen 2006.
Klauck, Hans-Josef: Wenn Seneca an Paulus schreibt: Ein apokrypher Briefwechsel, in: Ders.:
Die apokryphe Bibel. Ein anderer Zugang zum frühen Christentum (Tria Corda 4), Tübingen
2008, 199–228.
Jens Schröter
VIII. Paulusapokalypsen
1. Die Paulusapokalypse aus Nag Hammadi (NHC V 2)
Unter dem Namen des Paulus sind zwei voneinander unabhängige Apokalypsen
überliefert. Die ältere begegnet in Codex V aus Nag Hammadi als zweite Schrift
und eröffnet eine Reihe von insgesamt vier sehr unterschiedlichen Apokalypsen,
die in diesem Codex versammelt sind. Sie wurde ursprünglich vermutlich auf
Griechisch verfasst, ist jedoch nur in einer koptischen Übersetzung aus der Mitte
des 4. Jh. erhalten. Entstanden ist sie vermutlich im späteren 2. Jh., genauere In-
dizien für eine Datierung fehlen jedoch. Es handelt sich um einen kurzen Text
von knapp sieben Papyrusseiten, der v. a. am Anfang stark zerstört ist. Der Titel
»Die Apokalypse des Paulus« findet sich sowohl am Anfang als auch am Ende des
Manuskripts.
Inhaltlicher Ausgangspunkt ist die in 2Kor 12,2–4 von Paulus berichtete Entrü-
ckung eines Menschen – vermutlich spricht er von sich selbst – in den dritten
Himmel bzw. ins Paradies, der dort unaussprechliche Worte hört. Daraus könnte
sich ein Bezug zu den Lehren der Valentinianer ergeben, die Irenäus zufolge Spe-
566 D. Wirkung und Rezeption
weisung eines Engels von dem damaligen Bewohner des Hauses entdeckt worden
sein.
Der Hauptteil der Schrift setzt mit der Aufforderung an Paulus ein, das Men-
schengeschlecht zur Buße aufzurufen. Die Schöpfung sei Gott untertan, allein die
Menschen sündigten fortwährend und gingen damit dem Gericht entgegen. Da-
rauf wird Paulus in den dritten Himmel entrückt, wo er vor dem Thron Gottes
die Engel und Erzengel sowie die 24 Ältesten singen hört. Er gelangt zu den Stät-
ten der Gerechten, begegnet Henoch, sieht das Land der Verheißung, wo sich die
Seelen der Gerechten bis zur Wiederkunft Christi aufhalten, und den Acheru-
sischen See, in dem der Erzengel Michael die Seelen der reuigen Sünder tauft.
Anschließend wird er von dem Engel in einem goldenen Schiff zu der Stadt
Christi geleitet, die von zwölf Toren und vier Flüssen umgeben ist, die Honig,
Milch, Öl und Wein führen. An diesen Flüssen begegnet Paulus den Propheten
Israels, den von Herodes ermordeten Kindern, den Patriarchen sowie denen, die
sich ganz Gott geweiht haben. In der Mitte der Stadt, die sich als Jerusalem er-
weist, sieht er David singend neben einem hohen Altar stehen.
Hierauf wird Paulus an den Ozean geführt, der die gesamte Erde umgibt. Jen-
seits dessen sieht er zwei siedende Flüsse, in denen die Sünder und Gottlosen
entsprechend dem Grad ihrer Vergehen leiden müssen. Er sieht, wie ein Presbyter,
ein Bischof, ein Diakon und ein Vorleser grausam bestraft werden, weil sie ihre
Ämter nicht würdig ausgeführt haben. Schließlich gelangt Paulus an den Ort, an
dem alle Strafen zusammenfließen. Dort sieht er weitere grausame Bestrafungen
verschiedener Menschengruppen. Der Ort aller Strafen, der diesen Gang ab-
schließt, ist mit sieben Siegeln versiegelt. Als er geöffnet wird, verbreitet sich übler
Gestank. Hier befinden sich diejenigen, die die Grundlagen des christlichen Be-
kenntnisses leugnen: dass Christus im Fleisch gekommen ist und von der Jung-
frau Maria geboren wurde, dass das Brot der Eucharistie und der Kelch des Segens
Leib und Blut Christi seien.
Im nächsten Teil sieht Paulus den Himmel offen und den Erzengel Michael
herabsteigen. Aufgrund der Fürbitte von Paulus und Michael steigt der Sohn
Gottes selbst vom Himmel herab und gewährt den Gepeinigten »eine Nacht und
einen Tag Erquickung für immer«.
Paulus wird anschließend ins Paradies geführt und begegnet Maria, der Mutter
des Herrn, sowie den Patriarchen, Mose, den Propheten, Noah, Elia und Elisa,
Zacharias und Johannes sowie schließlich Adam. Zum Schluss wird Paulus auf
den Ölberg gebracht, wo er Petrus und die Apostel trifft. Dieser Schluss wird in
den einzelnen Überlieferungssträngen unterschiedlich dargestellt, sodass die
Schrift auf verschiedene Weise endet.
In die Visio Pauli sind zahlreiche Motive jüdisch-christlicher Apokalyptik ein-
gewoben. Damit gibt sie einen weiten Überblick über spätantike und mittelalter-
liche Jenseits- und Unterweltsvorstellungen. Im Blick auf die Person des Paulus
ist bemerkenswert, dass er – anknüpfend an die neutestamentlich belegte Rede
von seiner Entrückung – als Empfänger einer umfangreichen Vision dargestellt
568 D. Wirkung und Rezeption
Abb. 1: Marmorplatte mit der Inschrift PAULO APOSTOLOMART unter dem Papstaltar
in der Basilica Papale di San Paolo Fuori le Mura
Abb. 4: Fresko in der Paulusgrotte in Ephesus: Paulus als Lehrer. Photo: N. Gail/ÖAI
Abb. 5: Glasmedaillon mit Petrus und Paulus vor einer Stele mit Christusmonogramm,
4./5. Jh., Photo: Vatikanische Museen
572 D. Wirkung und Rezeption
Abb. 6: Sarkophag mit der Darstellung der sogenannten »traditio legis«, 4. Jh., Vatikanische
Museen. Photo: C. N. Pomp M.A., Mainz
Abb. 7: Gewölbemosaik der »traditio legis«, Anfang 5. Jh., Santa Costanza, Rom.
Photo: C. N. Pomp M.A., Mainz
IX. Archäologische und ikonographische Zeugnisse der frühen Paulusverehrung 573
Hermut Löhr, geb. 1963, Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fa-
kultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Winrich Löhr, geb. 1961, Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
Martin Meiser, geb. 1957, Professor für Neues Testament an der Philosophischen Fakultät I,
Fachrichtung Evangelische Theologie, der Universität des Saarlandes, Saarbrücken.
Ulrich Mell, geb. 1956, Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik an der Wirt-
schafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Hohenheim (Stuttgart).
Peter Müller, geb. 1950, Professor für Biblislche Theologie und ihre Diadaktik an der Pädago-
gischen Hochschule Karlsruhe.
Karl-Wilhelm Niebuhr, geb. 1956, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät
der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Markus Öhler, geb. 1967, Professor für Neutestamentliche Wissenschaft an der Evangelisch-
Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Heike Omerzu, geb. 1970, Professorin für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der
Universität Kopenhagen.
Wilhelm Pratscher, geb. 1947, Professor (em.) für Neutestamentliche Wissenschaft an der Evan-
gelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Dieter Sänger, geb. 1949, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Thomas Schmeller, geb. 1956, Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments am
Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Udo Schnelle, geb. 1952, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Mar-
tin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Stefan Schreiber, geb. 1967, Professor für Neutestamentliche Wissenschaft an der Katho-
lisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg.
Jens Schröter, geb. 1961, Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments sowie der
neutestamentlichen Apokryphen an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität
zu Berlin.
Thomas Söding, geb. 1956, Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fa-
kultät der Ruhr-Universität Bochum.
Christian Strecker, geb. 1960, Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule
Neuendettelsau.
Michael Theobald, geb. 1948, Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen
Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen.
Tor Vegge, geb. 1956, Professor am Institut für Religion, Philosophie und Geschichte an der
Universität Agder, Kristiansand.
Joseph Verheyden, geb. 1957, Professor für Neues Testament an der Fakultät für Theologie und
Religionswissenschaft der Katholieke Universiteit Leuven.
Manuel Vogel, geb. 1964, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der
Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Samuel Vollenweider, geb. 1953, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät
der Universität Zürich.
Florian Wilk, geb. 1961, Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der
Georg-August-Universität Göttingen.
Michael Wolter, geb. 1950, Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen
Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Ruben Zimmermann, geb. 1968, Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theolo-
gischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Marmorplatte mit der Inschrift PAULO APOSTOLOMART unter dem Papstaltar in der
Basilica Papale di San Paolo Fuori le Mura.
Abb. 3: Paulusbildnis. Älteste bekannte Darstellung, 2. Hälfte des 3. Jh, entdeckt im Jahr 2009 in
den Katakomben der Theka in Rom.
(http://www.heiligenlexikon.de/Grundlagen/Gemeinfreiheit.html)
Abb. 4: Fresko in der Paulusgrotte in Ephesus: Paulus als Lehrer. Photo: N. Gail/ÖAI.
Abb. 5: Glasmedaillon mit Petrus und Paulus vor einer Stele mit Christusmonogramm, 4./5. Jh.
Photo: Vatikanische Museen.
Abb. 6: Sarkophag mit der Darstellung der sog. »traditio legis«, 4. Jh., Vatikanische Museen.
Photo: C.N. Pomp M.A., Mainz.
Abb. 7: Santa Costanza. Mosaic del S. VII »Traditio Legis«. Creative Commons Public Licence
3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/legalcode)
Literaturverzeichnis
Im Literaturverzeichnis sind alle Titel aufgeführt, die von den Beiträgerinnen und Beiträgern
des Paulus Handbuchs im Text erwähnt oder als Lesevorschlag am Ende des Artikels genannt
wurden. Auf diese Literatur wird im Text mit dem Namen der Autorin/des Autors und Publika-
tionsjahr, gelegentlich zusätzlich mit der Auflagenzahl verwiesen. Die Publikationen sind bei
jeder Autorin/jedem Autor chronologisch angeordnet. Bei mehreren Publikationen im selben
Jahr sind zusätzlich im Text und im Literaturverzeichnis Buchstaben an das Publikationsjahr
angefügt worden.
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9,1–9 80 f.
Exodus 9,1 f. 76
34,6 f. 322 9,23–30 91
9,30 92 f., 96
Levitikus 11,19–21 99, 105
19,18 377, 452 f. 11,20 503
11,25 f. 91 f., 96 f.
Deuteronomium 11,27–30 47, 115, 117 f., 267
6,4 310, 356 11,28 118
21,23 84, 289, 319 f., 327 12,25 267
13–20 547
Psalm 13 f. 98, 164, 253, 268, 557
31,1 f. 63 13,1–3 99
143,2 355 13,1 410
13,9 49, 57
Jesaja 13,38 f. 548
52,7 62 14,11–13 101
53 323 f. 14,12 95
66,19 271 14,26–28 99
15,1–34 104–107, 547
Habakuk 15,1–29 267
2,4 352, 354 15,20 104, 549
15,29 104, 109, 549
16,1–4 62
Neues Testament 16,6–10 205
16,10–17 551
Matthäus 16,16–40 205
16,17 f. 553 16,37 f. 55
28,18–20 553 18,1–17 47
18,2 46, 110, 219
Markus 18,12–16 46
7,19 554 18,12 110
7,27 554 18,18–23 47
18,22 104, 112, 267 f.
Apostelgeschichte 19,9 520 f.
1,8 126 20,1–38 115
6,1–6 76 20,1–3 47
6,11–14 85 20,4 117 f.
6,11 79 20,5–15 551
636 Register
1.Timotheus Bell.
1,3 127 II 119–166 73
2.Timotheus Vit.
1,4 143 10–12 73
1,15–18 125
3,11 98
4,6–8 127 Frühes Christentum
4,11 551
4,16 f. 125 f. 1. Clemens
4,17 f. 127 5,5–7 48, 206
5,7 125 f., 269
Titus
1,5 46, 127 Acta Theclae
3,12 46 3 558
Hieronymus
Judentum Ad Philemona 23 50
Namen
Abraham 36, 197, 348, 404 f., 456, 552 f. Junia 246
Achaikus 246
Adam 369–371, 373 Kephas/Petrus 96, 106–109, 258, 549, 569,
Agrippa II. 124 572, 574
Ampilatus 246 Klemens 248
Ananias, Hohepriester 48 Krispus 173, 238, 248
Andronikus 246
Andronikus und Junia 244, 412 Lukas 112, 248, 551
Apelles 246 Luzius 248
Apollos 113, 174, 176, 244, 246, 258 Lydia 205, 238, 251
Apphia 210, 246
Aquila 219, 238, 246 Maria 248
Archippus 210, 247 Markion 15, 148, 560–563
Aretas IV. 94
Aristarch 247 Nero 124, 127 f., 559
Nympha 239, 252
Barnabas 47, 92, 95–98, 103, 231, 244, 247,
504, 547 f. Onesimus 161 f., 211, 249
Onesiphoros 252, 557 f.
Chloe 247
Paulus (s. Sachregister)
Demas 247 Persis 249
Philemon 210, 238 f., 249
Epänetus 247 Philippus 251
Epaphras 248 Philo v. Alexandrien 493, 497, 534
Epaphroditus 207, 244, 248 Phoebe 173, 238, 243, 249, 254, 412
Erastos 113, 165, 238, 248 Priszilla 219, 238, 246
Euodia 248 – und Aquila 113, 238, 412
Titus 47, 103, 105 f., 113, 250, 254 f., 539, Tryphosa 250
559 Tychikus 251
Trophimus 118, 121, 251
Tryphäna 250 Urbanus 250
Orte
Achaia 47, 148, 162 f. Laodikeia 239, 527
Antiochia in Pisidien 99 f., 102, 164, 547 Lykaonien 47, 101, 112, 164
Antiochien am Orontes 91–98, 99 f., 102, Lystra 98, 101 f., 117, 164, 574
105, 258, 269, 498, 503 f.
Arabia 47, 92, 94 f., 269 Makedonien 48, 127, 148, 162 f., 166 f., 203,
Areopag 574 269
Asia 117 Milet 48, 269, 547
Assos 48 Myra 559
Athen 111, 114, 159, 166, 269, 547
Attalia 102 Neapolis 166
Nikopolis 46, 540
Basilica San Paolo fuori le mura 568 f.
Beröa 111, 117, 159, 166, 269 Pamphylien 47, 98, 102, 164
Paphos 49, 99
Cäsarea 47, 92, 121, 161, 206 Perge 99, 102, 164
Philippi 48, 102, 111, 114, 159 f., 164 203–205,
Dalmatien 559 238, 269, 559
Damaskus 47, 77, 80 f., 87, 91–98, 574 Phrygien 112
Derbe 102, 117, 164 Pisidien 47, 98, 112
Ephesus 47, 113, 127, 160–162, 202 f., 206, 238, Rom 48, 158, 160, 162, 246, 550, 559
246, 267, 269, 520, 530, 555, 559, 571
Salamis 99
Galatien, Landschaft 164, 201 f. Samothrake 166
Galatien, Provinz 99, 102, 112, 164, 201 f. San Sebastiano alle Catacombe 569
Seleukia 99
Hierapolis 239 Sidon 559
Smyrna 559
Ikonion 98, 100–102, 164, 558 Spanien 48, 62, 126 f., 161, 220, 269, 271, 559
Illyrien 269 Syrien-Kilikien 47, 92, 96, 104
Jerusalem 47, 62, 105, 223, 269, 498, 507, Tarsus 45, 47, 50 f., 56, 62, 70, 92 f., 269, 275,
510 f. 543
Thessalonich 111, 117, 159, 164, 166 f., 173,
Kenchreä 165, 173, 238 238, 269
Kilikien 47, 50 Troas 48, 102, 112, 166, 239, 269
Kolossä 527 f. Tyrus 559
Korinth 46–48, 102, 111, 159, 162, 165 f., 173,
238, 246, 267, 269, 559 Via Egnatia 166
Kreta 46, 127, 540 Via Sebaste 98
Forschungsgeschichte
Augustinus 371 Holtzmann, Heinrich Julius 520
Baur, Ferdinand Christian 16–19, 30, 520, Käsemann, Ernst 27 f., 277
531, 541
Betz, Hans Dieter 150, 199 Liberale Theologie 19, 24, 305
Bousset, Wilhelm 22 f. Lietzmann, Hans 4
Bultmann, Rudolf 24–29, 30, 277, 305 f. Luther, Martin 30, 194, 358
Sachen
Abba 310, 393, 502 Analogien 483
Abendmahl (s. auch Herrenmahl) 21 f., Angelologie 386 f.
181 f., 425–433 Anthropologie 25, 61, 183, 226, 354–357,
Abrahamstradition 36 f., 552 f. 366–399, 424
Adam-Christus-Typologie 63, 224, 356, Antichrist 304
369–371, 398, 464 antiimperiale Paulusdeutung 267, 278
Adoption 331 Antinomismus 361
adventus-Ritual 302 f. Antiochenische Quelle 98
ägäische Mission 109 Antiochenische Theologie 391–394, 503 f.
Äonen 386 Antiochenischer Konflikt 103–109, 247, 276
Äonenschema 64, 386 Antipaulinismus 265
Agape (s. auch Liebe) 184 Apokalyptik 64 f., 229, 301 f., 386, 517
Agonistik 118, 241, 300, 477 Apologie 185–187, 417
Akklamation 501 Apostel 183, 191, 231 f., 244, 285, 409 f.
Alexandrinerbrief 524 – ~amt 228
Allegoresen 483 – ~begriff 191, 231
Allegorie 63 f. Apostelakten, apokryphe 557–560
Allmacht 310 Aposteldekret 104, 109, 549
Altes Testament (s. auch Schrift) 222, Apostelgeschichte 44 f., 55, 125, 542–551
479–490 Apostelkonvent 47, 103–109, 117, 230, 547,
Amt 408–412, 416, 420 f., 539 f. 549
Sachen 645
Apostolat 82, 186, 230, 416–420, 485, 529 – Rhetorik 147 f., 199 f.
Appellation 58, 122, 124 – Schnellschreiber 195
Arbeit 272 f. – Schreibmaterialien 136 f.
Archonten 388 – Sekretär 11 f., 137 f., 144, 542
Argumentation 149–158, 222, 437–439, 514 – Sekretärtheorie 146 f.
Askese 178–180, 558 – Verlesung 144
Auferbauung 184 Briefe der Gemeinden 140, 148
Auferstehung 183, 529 Briefe des Paulus 113 f., 132–134, 136–227,
– der Toten 61, 171, 461–471 255, 513
– des Leibes 380 – ambassadorial letter 143
– Jesu Christi 285–294, 461 – apologetic letter 154 f.
Auferstehungstheologie 172 – Bittbrief 143
Auferweckung 64 f., 229 – Chronologie 158–165
Auferweckungsformel 499 – Empfehlungsbrief 143
Aufseher 204 – Familienbrief 207
Auserwählte 402 – fiktive Gesprächspartner 223
Auslegungsmethoden 63 f. – Freundschaftsbrief 207
– Gemeindebrief 143, 145 f.
Barmherzigkeit 352 – Geschäftsbrief 147
Bau Gottes 414 – Koautoren 139, 144
Befreiung 326, 331 – Kollektenbrief 147
Begierde 383 – Kompilation 14
Bekehrung 47, 80–91, 345, 504, 546 f., 574 – literarische Person 144
Bekehrungsreligion 345 – Mandatsschreiben 538
Bekehrungssprache 62 – Mitverfasserschaft 255
Bekenntnistradition 515–517 – Parousia-Motiv 132, 143
Berufene 402 – Privatbrief 148
Berufung 45, 229 f. – Sammlung 11–16
– vor Damaskus 80–91, 229 f., 515 – Testament 538
Beschneidung 59, 62, 105–107, 191, 196, 208, – Textgeschichte 6–11
261, 264 f., 348, 456 – Theologie in Briefform 513 f.
Beschneidungsgebot 359, 454 – Versöhnungsbrief 147
Bild Gottes 527 – Verwaltungsschreiben 147
Biographie-Forschung 128–130 – Umfang 140
Bischof 204 Briefwechsel Paulus – Seneca 563–565
Böse, das 226 Bruder, Brüder 209 f., 213, 406 f.
Boten 254 Bruderliebe 451
Brief 63, 513 Bund 34, 276, 404
– Anlass 143–145 Bundesnomismus 32, 35
– Autor 137 f., 143–145 Bürgerrecht 45, 55–58, 121, 123, 544 f.
– Beförderung 139 f. – Doppelbürgerschaft 56
– Brieftheorie 146 f. – römisches 45, 56–58, 126, 544 f.
– Diktat 144 – tarsisches 45, 56, 544 f.
– Epistolographie 136–165
– Form 141–143, 145–148 Canon Muratori 15, 125, 148, 524
– Formular 145 Charis 321 f.
– Gattung 141–143, 147 Charisma, Charismen 175, 178, 183, 409, 412,
– Kopie 11, 139 420–422
– Präskript 139 Christentum 238–243
646 Register
Sünde 25, 224, 226, 324, 329, 334, 336, 353, Tugendlehre 443
355, 360 f., 366–378, 389, 398 Typologie 63, 483
Synagoge 50, 102, 113 f., 270
Synagogengemeinden 228, 230 Unsterblichkeit der Seele 208
Syneisaktenehe 382 Universalismus 495
Synkretismus 21, 23 Unterhalt 272 f., 419
synoptische Überlieferung 282–284 Unterhaltsfrage 82, 192
Unterhaltsverzicht 272 f.
Tag Christi 64, 203, 507 Unterkunft 272 f.
Tag des Herrn 64, 168, 171, 203, 300, 472, 535, Unterstützung 419
537 Unzucht 179, 381
Taufe 21 f., 87, 114 f., 125, 173, 182, 224, 239, Urmensch-Mythos 370
291, 332–337, 379, 393, 462, 470, 502
Tauftradition 333 Vater 309 f.
Teilungshypothesen 12–14 Verheißung 392, 460, 487 f., 490
Tempel, Jerusalem 79, 120 f., 325, 414 f. Verkündigung 253, 337 f.
– Gottes (Gemeinde) 335, 405 f., 414 f. Vernunft 440
Tempelkult 503 Versöhnung 326, 328 f., 331
Tendenzkritik 17 Versöhnungsgesandter 234
Testament 540 Verstand 424
Teufel 387 Verteidigungsrede 199
Textkritik 10 f. Verurteilung 330
Theklaakten 557–560 Verwandlung 386, 508
theologia crucis 28, 172, 317 Vikariatstaufe 333
Theologie 273–279 Visio Pauli 566–568
Theozentrik 225 Vision 65, 83, 229
Thessalonicherbrief Völkermission 82, 95
– erster 142, 159 f., 165–172 Völkerwallfahrt 119
– zweiter 535–538 Volk Gottes 36, 400 f., 405
Timotheusbrief Volkskunde 38
– erster 539 f. Vorbild 418
– zweiter 540 vorpaulinische Texte, Formeln 221,
Titusbrief 540 497–504
Tod 170, 224, 226, 288, 355, 374–378
– Jesu Christi Wandermissionare 191, 260
– Interpretationen des Todes Christi Wandlung 227, 277, 504–511
321–331 Weisheit 65 f., 175–177, 315 f., 496
Todessehnsucht 468 Weisheitstheologie 315, 534
Tora 25, 59, 74, 78 f., 85, 105, 196 f., 349, 358, Weltbild 385–390
372, 374–378, 396, 444–449, 453 f., 505 f. Weltelemente 261, 528
Torheit 315–318 Werke 349, 358, 477
Totenauferweckung 340 Werke des Gesetzes 31–33, 36 f., 354,
Tradition 28, 220 f., 286, 497–504, 532 358–360, 376, 552
Tränenbrief 185–187, 189 f. Willensfreiheit 370
Transformation 90 f. Wir-Passagen 112, 114, 252, 551
Treue Gottes 511 Wirklichkeit 346
Tritopaulinismus 143, 523–526, 541 Wohlgeruch Christi 234 f.
Tugend 449 Wunder 183
Tugendkataloge 66, 443 Wundertäter 546
Sachen 653