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Medela Medias-in-res

Literaturhinweise: of Eloquence>, 1593, hist.-krit. Einl., Transkription und Komm.


M. Kruse: Die M. in der frz. Lit. (1960). - S. Meleuc: Struktur der (1996) 170; Übers. Verf. - 5ebd. 170; Übers. Verf.
M., in: H. Blumensath (Hg.): Strukturalismus in der Literatur- V. Hartmann
wiss. (1972) 295ff. - C. Rosso: La massima (Neapel 1968). - R.
Bubner, U. Dierse: Art. <M.>, in: HWPh, Bd. 5, Sp. 941-944. -> Amplificatio > Excusatio —> Gerichtsrede —> Minutio -» Plä-
doyer —» Statuslehre —> Verteidigungsrede
H. G. Coenen
—> Aphorismus —> Apophthegma —> Argutia-Bewegung
Denkspruch Gnome, Gnomik -> Locus communis -> Motto Medias-in-res (auch in medias res)
-> Sentenz -> Sprichwort —» Syllogismus —> Topik A. Der lateinische Ausdruck <M.> bzw. eigentlich <in
medias res> bedeutet <mitten in die Dinge hinein>. In die-
sem Sinne und Wortlaut ist er zuerst erwähnt in der <Ars
Medela Poetica> des H O R A Z , um den Stil Homers zu beschreiben:
«semper ad eventum festinat et in medias res / non secus
A. <Medel(l)a> ist als Teil des lateinischen Wortschat- ac notas auditorem rapit [...]» (immer eilt er zum Ziel
zes zweifelsfrei erst seit dem 2. Jh. n. Chr. nachweis- und mitten hinein ins Geschehen, als sei es bekannt, ent-
bar. [1] Die Grundbedeutungen <Heilung>, <Heilmittel> führt er den Hörer). [1] Rhetorisch betrachtet bedeutet
und <Heilverfahren> entsprechen denen von griech. M., eine Rede gegen die Regel des ordo naturalis, d.h.
θεραπεία, therápeia. Schon frühe Belege bezeugen ohne Einleitung (exordium) zu beginnen, wenn dies dem
metaphorischen Gebrauch, jedoch nicht in rhetorisch- Parteiinteresse des Redners, der utilitas dient. [2] Poe-
theoretischen Kontexten. <M.> bleibt bis ins 19. Jh. hinein tisch charakterisiert M. die Erzähltechnik (besonders die
Bestandteil der medizinischen Terminologie. [2] In medi- des Epos), die den Leser gleich zu einem wichtigen Punkt
zinaltheologisch inspirierten Werken vor allem des 17. der Handlung führt und die Vorgeschichte durch Rück-
Jh. wird das Wort im Sinne von <Trost> gebraucht. [3] blicke und Episoden während deren Verlauf nachholt.
B. Der einzige Beleg, der bislang für rhetorische Ver- Der Ausdruck <M.> findet in seiner rhetorischen
wendung nachweisbar ist, stammt aus H . PEACHAMS <The Gebrauchsweise seinen Eingang sogar in die deutsche
Garden of Eloquence> (1593) und damit aus einer huma- Umgangssprache und hat die Bedeutung «ohne Einlei-
nistischen Quelle. Die M. ist danach eine Gedankenfigur, tung und Umschweife zur Sache» zu kommen. [3]
die in der gerichtlichen Verteidigung ihren Ort hat, wo B.I. Antike. Bereits ARISTOTELES führt in seiner <Poe-
Täterschaft und Tatbestandsmäßigkeit nicht angefoch- tik> Homers Epen als Vorbild für erzählende Dichtung
ten werden können und «mit Pflastern aus guten Worten an, die wie die Tragödie Anfang, Mitte und Ende haben
und gefälliger Rede zu heilen» [4] versucht werden muß. soll, im Gegensatz zur Geschichtsschreibung aber nur
Ein Beispiel biete CICERO in seiner Rede für Marcus Cae- einen Teil herausgreift und die übrigen Ereignisse in Epi-
lius Rufus: «Der lasterhafte Lebenswandel und der Auf- soden behandelt. [4] Horaz führt dies in der < Ars Poetica>
ruhr, deren Caelius bezichtigt wurde, waren zu groß, als weiter aus. [5] In der Zeit nach Horaz [6] wird der Aus-
daß Cicero sie zu verteidigen wagte, und lagen zu offen druck in zwei verschiedenen Richtungen aufgefaßt: Ent-
zu Tage, als daß er'sie leugnen konnte. Trotzdem ließ er weder versteht man unter dem Begriff <M.> Auslassung
die Missetat durch zierliche Worte in milderem Licht und Inhaltsraffung ganzer Passagen [7] oder einfache
erscheinen und beschwichtigte so weit wie möglich die in Inversion (έξ άναστροφής, ex anastrophés). [8] Letztere
heftigem Zorn [...] entbrannten Richter. Er sagte, daß Interpretation wird dann, wohl in Analogie zu den virtu-
diese Dinge teilweise eher den Zeitläuften als dem tes des Redners, zur virtus poetica erklärt, die nun nicht
Manne als Laster anzurechnen seien. Er behauptete, mehr nur für das Epos, sondern auch für das Drama Gül-
einiges sei dem [jugendlichen] Alter [des Angeklagten] tigkeit besitzt. So formuliert z.B. D O N A T : «wir müssen
zuzuschreiben. Er setzte dem Verstoß gegen die Gesetze wissen, daß dichterisches Können [virtus poetica] darin
die Hoffnung auf deren künftige sorgfältige Beachtung besteht, daß es, beginnend bei dem aktuellsten Gesche-
entgegen; und als ein Heilmittel gegen die Mißgunst, die hen der Handlung, den Anfang und den Ursprung der
die gegenwärtigen Taten und Unternehmungen des Cae- Geschichte dem Zuschauer in Erzählung wiedergibt [...]
lius geweckt hatten, wendete er auch seine eigene Hoff- Diesem [...] Verlauf sind nicht nur die Tragödien- und
nung auf die Mäßigung und das ehrenhafte Betragen des Komödiendichter gefolgt, sondern ihn hielten sogar
Caelius in der Zukunft an.» [5] Die angeführten Beispiele Homer und Vergil ein.» [9] Ein ähnliches Konzept ver-
lassen sich nicht sinnvoll als Redeschmuck kategorisie- treten SERVIUS («a mediis incipere») [10] und MACROBIUS
ren. Sie haben ihren systematischen Ort in der Beweis- («a rerum medio incipere»). [11]
lehre. Es sind technische, sich der Kunstfertigkeit des In der lateinischen Literatur wird das Verfahren <M.>
Redners verdankende Argumente, die bei der Erörte- in der Bedeutung der strukturellen Umdrehung eines
rung des status qualitatis, der juristisch-ethischen Bewer- ganzen Werkes oder nur einer Phrase gebraucht und als
tung des Einzelfalls vorgebracht werden können. Sie die- typisch homerisch angesehen. So schreibt etwa CICERO,
nen der minutio (Verkleinerung) und excusatio (Ent- er wolle seinem Freund Atticus ύστερον πρότερον
schuldigung). Wenn Cicero die Zeitumstände für die Όμηρικώς (in der Weise Homers, in umgekehrter Rei-
Taten des Caelius verantwortlich macht, handelt es sich henfolge) antworten. [12] Dieselbe Auffassung vertritt
etwa um eine translatio criminis, eine Abwälzung der PLINIUS.[13]
Schuld auf Dritte, hier die Mitlebenden. Für die Rhetorik ist dem Sinn nach <M.> zuerst bei
QUINTILIAN in Zusammenhang mit der dispositio belegt:
Anmerkungen:
IThLL, Bd. 8 (1956) 517-519. - 2 J. Stachelhausen: D e pseudar-
«Denn dann ist die Gliederung einer ganzen Prozeßrede
throseos ... curatione et medela (1838). - 3S. Sturm: Animae am wirkungsvollsten, eine, die wirklich den Namen öko-
Fidelis Querela Et M.: Das ist: Einer gläubigen Seelen heftige nomische Gliederung verdient, wenn sie gar nicht anders
Klage über grosse Hertzens-Angst und darwider kräfftiger ihre feste Form gewinnen kann als gleichsam in unmittel-
Trost (Guben 1668). - 4B.-M. Koll: H. Peachams <The Garden barer Gegenwart des Gegenstands der Verhandlung: wo

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man das Prooemium bringen muß, wo darauf verzichten; scheidet, indem der Dichter bei seiner Erzählung zum
wo eine zusammenhängende Darlegung des Falles ange- Schein so weit die zeitliche Reihenfolge befolgt, wie es
bracht ist, wo eine verteilte; wo man dabei am Anfang der Natur des Geschehens entspricht, die meisten Ereig-
beginnen muß, wo nach homerischer Erzählart in der nisse aber durcheinanderbringt und von der Mitte aus
Mitte oder gar am Ende [...].»[14] Auch Horaz spricht anordnet («mediis orditur rebus»), um sie später in ande-
im Blick auf die richtige Anordnung des Stoffes von der rer Form nachzuholen. [28]
«Leistung und Schönheit der Ordnung» (ordinis haec vir-
tus erit et venus) [15], wohl in Anlehnung an die im Helle- Anmerkungen:
nismus aus der άρετή λέξεως (aretë léxeôs) des Redners IHor. Ars 148f. - 2vgl. Lausberg Hb. §452. - 3Duden: Das
für die Dichtung entwickelte άρετή τάξεως (aretë Fremdwtb. ( 5 1990) s. v. <in medias res>. - 4Arist. Poet. 1459a
(23). - S vgl. Hör. Ars 148Í. - 6 vgl. C.O. Brink: Horace on Poe-
táxeos). [16] Der griechische Begriff οικονομία (oikono-
try: The 'Ars Poetica' (Cambridge 1971) 221 f. - 7 Scholia Graeca
mía), der sowohl die gesamte dispositio als auch ihr in Homeri Iliadem, ree. H. Erbse, vol. 1 (1969) I, lb. - 8ebd. I,
Ergebnis, den ordo [17] bezeichnet, wird auch in den 8f.; vgl. auch ebd. vol. 4 (1975) Schol. Il XV, 56 a. - 9 Aeli Donati
Scholien zur <Ilias> verwendet, um deren Anfang zu cha- quod fertur commentum Terenti, ree. P. Wessner, vol. 1 (1902)
rakterisieren: «Der Dichter [...] hat in einer geschickten Ter. Andr. praef. II, 2, Übers. Verf. - lOServii Grammatici qui
Einteilung [οικονομικώς] beim Ende begonnen.» [18] feruntur in Vergilii carmina commentarli, ree. G. Thilo, H.
Der ordo teilt sich nach SULPICIUS[19] in ordo naturalis Hagen, vol. 1 (1881) in Aen. I, l , p . 4 f . - 1 1 Macrobius, Saturnalia
V, 2, 9. - 12 Cicero: Atticus-Briefe, lat.-dt., hg. von H. Kasten
und ordo artificiosus, letzteren charakterisiert er als ein
( 2 1976) 1,16,1. - 1 3 s i e h e Plin. ep. Ill, 9, 28. - 14Quint. VII, 10,
Umwenden der Reihenfolge durch das Auslassen des 11. - 15Hor. Ars 42-45. - 16vgl. Brink [6] 127ff. - 17Lausberg
exordium, durch Aufteilung und Unterbrechung der nar- Hb. §443. - 18Scholia Graeca in Homeri Iliadem, ed. G. Din-
ratio oder ihre unvollständige Wiedergabe. Gründe für dorf (Oxford 1875) p.4,15. - 19Sulp. Vict. 14, in: Rhet. Lat. min.,
die Aussparung des exordium sind z.B. die gute Vor- p. 320. - 20 s. Quint. IV, 1,72; vgl. Arist. Rhet. 1414b ff. (Ill 14). -
kenntnis des Richters oder die äußerst knapp bemessene 21 F. Quadlbauer: Zur Theorie der Komposition in der ma.
Zeit. [20] Rhet. u. Poetik, in: B. Vickers: Rhetoric revalued. Papers from
the Int. Soc. for the History of Rhet. (Birmingham/New York
Die inhaltliche Bestimmung des ordo artificialis hat
1982) 118f. - 22Hor. Ars 146f. - 23Quint. IV, 2, 40. - 24Laus-
sich demnach aus der Dichtungstheorie entwickelt, die berg Hb. §316. - 2 5 Galfrid, Documentum de arte versificandi I,
des ordo naturalis aus der Rhetorik. [21] Die Forderung 7, in: Farai 266. - 26s. G. Pontano: Dialoge, übers, v. H. Kiefer
nach brevitas, für die auch Homer [22] Vorbild ist, formu- (1984) 423. - 27B. Weinberg: A History of Literary Criticism in
liert Quintilian [23] für die narratio folgendermaßen: the Italian Renaissance (Chicago 1961) 145. - 28 Agricola 487ff.
«Kurz [brevis] wird die Erzählung vor allem, wenn wir
beginnen, den Sachverhalt von dem Punkt an darzustel- M. Riihl
len, wo sie den Richter angeht, zweitens, wenn wir nichts
sagen, was außerhalb des Falles liegt, sodann auch, wenn -* Dispositio —> Exordium —» Ordo —> Prooemium
wir alles streichen, durch dessen Entfernung weder der
Rechtserkenntnis noch dem Nutzen für unsere Sache
(utilitati) etwas genommen wird.» Gedankenkürze (nar- Mediation (lat. mediatio; griech. μεσιτεία, mesiteía; dt.
ratio brevis) und Gedankenordnung (ordo) tragen also Vermittlung; engl, mediation; frz. médiation; ital. media-
zum Erreichen gedanklicher Klarheit (narratio aperta) zione)
der Rede bei. [24] Α. Def. - B.I. Verfahren. - II. Rhetorik. - C. Gesch. I. Antike
II. Mittelalter und frühe Neuzeit. Hier läßt sich eine all- und Mittelalter. - II. Frühe Neuzeit. - III. Moderne und Gegen-
gemeine Rhetorisierung der Dichtung und ihrer Theorie wart.
feststellen. Darstellung des Geschehensablaufes und des Α. M. ist Streitbeilegung durch Vermittlung. Beilegung
Erzählstoffes sind im Mittelalter meist einziges Anliegen meint, daß die am Streit beteiligten Parteien an einer
der dispositio, die nur aus den beiden ordines besteht. echten Klärung interessiert und bereit sind, den Streit
G A L F R I D VON V I N S A U F gibt dabei dem ordo artificialis in friedlich auszutragen. Vermittlung kommt in Betracht,
seiner <Poetria nova> eindeutig den Vorzug, unterglie- wenn ein der Sache nach verhandelbarer Streit vorliegt,
dert diesen sogar noch durch die Gestaltung eines princi- die Streitparteien sich aber zur Aufnahme direkter Ver-
pium naturale und artificiale, dessen zweite Variante u.a. handlungen nicht mehr oder noch nicht in der Lage
auch «a medio» [25] beginnen kann. Er widerspricht sehen. [1] Vermittlung bedeutet, daß dann ein unabhän-
dabei aber an manchen Stellen, an denen in seiner Theo- giger Dritter die Parteien dahin bringt, daß sie in Ver-
rie das prooemium unerheblich wird, der konventionel- handlung treten und ihren Streit in freiem Einverneh-
len Auffassung von M. men beilegen können. [2] Dabei ist er zu strikter Neutra-
In der Renaissance, so z.B. bei G. PONTANO[26], wird lität verpflichtet. [3] Gleichwohl kann er den Parteien
der «ordo enarrandarum rerum» wieder als Unterschei- auch eigene Vorschläge unterbreiten. Zur Streitentschei-
dungsmerkmal zwischen Geschichtsschreibung («rerum dung ist ein Vermittler jedoch nicht berechtigt. [4] Das
gestarum ordinem sequatur ac Seriem»; sie folgt der Ord- Phänomen Vermittlung begegnet überall, wo Menschen
nung und der Abfolge des Geschehens) und Dichtung in Streit geraten und dank der Hilfe Außenstehender
bemüht («persaepe a mediis, non numquam etiam pene wieder ins Gespräch finden. In seiner Alltäglichkeit
ab ultimis narrandi principium capiat»; sie nimmt ihren bleibt dieses Phänomen oft unscheinbar und ohne beson-
Anfang der Erzählung sehr oft in der Mitte, bisweilen dere Bezeichnung. Von M. spricht man, wenn es sich um
sogar fast am Schluß). Neben Homer und Vergil gilt einen Streit von einigem Gewicht handelt, der Dritte aus-
ARIOST als weiteres vorbildliches Beispiel. [27] drücklich als Vermittler tätig wird und in dieser Funktion
In Deutschland fügt R . AGRICOLA den beiden bisheri- eine gesellschaftliche Zuständigkeit ausübt, mithin als
gen ordines zwar noch einen dritten, den ordo arbitrarius professioneller Mediator [5] agiert. M. ist institutionali-
(willkürlicher Ordnung) hinzu, steht aber insofern in der sierte Vermittlung. - M. bietet in erster Linie sachbezo-
Tradition, als die Dichtung sich von der Geschichts- gene Verhandlungshilfe [6]; können Verhandlungen auf-
schreibung nach wie vor durch den ordo artificialis unter- grund starker persönlicher Verstrickung der Streitpar-

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teien nicht ohne weiteres a u f g e n o m m e n werden, leistet rechtliche Jurisprudenz hatte deshalb ihre Lehre von der
M. vorrangig Klärungshilfe. [7] Ü b e r Z u s t a n d e k o m m e n Streitbeilegung universal verstanden, und M. nicht nur
und Erfolg einer M. entscheiden die Parteien: in der voll- im Völkerrecht, sondern auch im Verkehr freier und glei-
ständigen Freiwilligkeit dieses Verfahrens liegt ihr cher Bürger vorgesehen. [24] - Die juristische Bestim-
Risiko und ihre Chance. [8] Das Wort <M.> ist antiken mung wird im 20. Jh. von einer sozialwissenschaftlichen
Ursprungs; es bildet sich im nachklassischen Latein. [9] Auslegung überlagert. Soziologie und Politologie thema-
So begegnet das Substantiv mediatio erstmals bei A U G U - tisieren M. im R a h m e n ihrer Friedens- und Konfliktfor-
STINUS, der damit das Verhältnis zwischen Mensch und schung [25], vor allem aber bei der Untersuchung des
Gottheit problematisiert. [10] Das Substantiv mediator Justizsystems und seiner gesellschaftlichen Alternati-
ist schon im 2. Jh.n.Chr. bei A P U L E I U S nachweisbar. [11] ven. [26] Dabei folgen sie im Ansatz der juristischen
Beide F o r m e n folgen griechischen Vorbildern, die eben- Systematik zur Streitbeilegung, insofern auch sie die Mit-
falls erst relativ spät greifbar sind. [12] D e r Ausdruck für wirkung Dritter zum Unterscheidungsmerkmal erheben
den A k t e u r (μεσίτης, mesitës) ist auch hier die ältere und eine Skala abnehmender Parteiautonomie das
Prägung. Sie erscheint bei dem Historiker POLYBIOS [13] Grundgerüst abgibt. D o c h wenden die Sozialwissen-
und in verschiedenen urkundlichen Texten, die auf Papy- schaften diese Einteilung deskriptiv: Verhandeln, Ver-
rus überliefert sind. [14] D e r Wortstamm deutet die Posi- mitteln, Schlichten und staatliches Richten werden in
tion des Mediators an: μεσίτης ist, wer in der Mitte (τό ihrer Funktionsweise beschrieben und auf empirisch-
μέσον, to méson) steht, auf keiner Seite, sondern zwi- analytischer Basis erklärt. Die soziologische Konflikt-
schen den Parteien. Entsprechend lautet der N a m e für theorie [27] bildet jeweils den Horizont der Interpreta-
die Tätigkeit μεσιτεία, mesiteía. [15] D e r Begriff der M. tion. [28] M. wird hier als eine «Strategie der Konfliktbe-
wurzelt also in einer unmittelbar räumlichen Auffassung handlung» [29] verstanden, die sich zur Lösung von Kon-
des Geschehens. Im übertragenen Sinne verbindet sich flikten eines bestimmten Typus, insbesondere einer
mit ihr die Vorstellung proportional angemessener bestimmten Eskalationsstufe eignet. Diese Stufe ist
Bestimmung: die V e r b f o r m μεσιτεύω, mesiteúo meint erreicht, wenn die Parteien keine Möglichkeiten mehr
insbesondere <in das richtige Verhältnis setzen>. [16] Aus für eine kooperative Streitbehandlung sehen, aber auf-
d e m Lateinischen dringt <M.> E n d e des 14. Jh. in die grund ihrer Abhängigkeit voneinander an einer gütli-
europäischen Nationalsprachen vor, zunächst in die eng- chen Regelung interessiert sind. [30] Hier hilft ein Media-
lische [17] und die französische Sprache. [18] Ü b e r das tor den Parteien, neu anzusetzen und doch noch auto-
Französische als Sprache der neuzeitlichen Diploma- n o m zu einem Kompromiß zu finden. Die Bestellung
tie [19] erreicht das Wort <M.> schließlich auch die deut- eines Schlichters oder Schiedsrichters hingegen delegiert
sche Sprache, begünstigt durch Napoleon I., der 1803 die die Lösung an den herbeigerufenen Dritten. Die soziolo-
Schweiz mit einer «M.-Akte» zu befrieden sucht. [20] gische Analyse der Konfliktdynamik und der einzelnen
Doch erst im letzten Jahrzehnt des 20. Jh. gelangt der Phasen möglicher Intervention hat viel zum technischen
Ausdruck M. im Deutschen zu einiger Verbreitung, nun- Verständnis der M. beigetragen, und damit eine Profes-
mehr als Lehnwort aus der anglo-amerikanischen sionalisierung der M. ermöglicht, die auch der juristi-
Rechtssprache und Sozialwissenschaft. schen Seite zugute kommt. - In den U S A ist die Institu-
D e r Begriff der M. verdankt sein Profil der rationalen tionalisierung von M. am weitesten vorangeschritten: M.
Jurisprudenz der Frühen Neuzeit. Sie formt ihn zu einem hat sich hier zur bedeutendsten Form außergerichtlicher
Terminus technicus ihres Natur- und Völkerrechts. Hier Streitbeilegung («Alternative Dispute Resolution») ent-
steht der Begriff innerhalb der Systematik friedlicher wickelt. [31] Funktionsprobleme der Justiz veranlassen
Streitbeilegung. [21] Diese Systematik unterscheidet inzwischen auch europäische Gesellschaften, nach ame-
A r t e n der Streitbeilegung normativ, nämlich nach Rech- rikanischem Vorbild Mediationsverfahren einzufüh-
ten und Pflichten der Mitwirkenden, namentlich Dritter, ren. [32]
die an der Beilegung nicht als Partei beteiligt sind. M. ist Β. I. Verfahren. Die Durchführung einer M. richtet sich
diejenige Art, bei der ein Dritter zur Streitbeilegung nach funktionalen Gesichtspunkten, die zu einem infor-
aktiv beizutragen, aber den Streit nicht zu entscheiden mellen Verfahren ausdifferenziert werden können. -
hat. Entsprechend ist M. abzugrenzen: von nur passiver Zunächst müssen gewisse Voraussetzungen gegeben
oder technischer Unterstützung einerseits, den soge- sein. Ein Streit hat vorzuliegen, der, auch wenn er recht-
nannten guten Diensten (bons offices), wie sie vorliegen, lich relevant ist, von den Parteien autonom beigelegt
wenn der Dritte lediglich als Gastgeber fungiert, der werden kann. Die Streitfrage muß als Antwort einen
einen neutralen Boden bereitstellt, und ausdrücklicher Kompromiß aller am Streit beteiligten Parteien zulassen,
Schlichtung (arbitrage) andererseits, bei der der Dritte bei dem keiner alleiniger Sieger ist, sondern gewisserma-
von den Parteien vertraglich ermächtigt wird, den Streit ßen alle Gewinner sind; für dessen Aushandlung muß
durch einen Schiedsspruch zu entscheiden. Praktische ausreichend Zeit zur Verfügung stehen. Die Parteien
Bedeutung hatte diese Abstufung zunächst im Völker- müssen Rechtssubjekte sein, die in der Streitsache
recht [22], da hier der Souveränitätsanspruch der Streit- geschäftsfähig respektive entscheidungskompetent sind
parteien eine Streitbeilegung durch ständige Gerichte und im Verhältnis zueinander ungefähr gleiche Ver-
lange Zeit ausgeschlossen erscheinen ließ; sie ist heute handlungsstärke aufweisen. D e r Mediator schließlich
Teil der Charta der Vereinten Nationen. [23] - Doch ist m u ß das Vertrauen und die A n e r k e n n u n g aller Parteien
eine Unterscheidung verschiedener A r t e n der Streitbei- genießen, Konfliktstrukturen und -dynamik erkennen
legung auch innerstaatlich von Interesse: D e n n nicht können, Einfühlungsvermögen und Mediationserfah-
jeder Streit kann vor Gericht ausgetragen werden, und rung besitzen und imstande sein, den rechtlichen Spiel-
eine gerichtliche Klärung wird nicht in jedem Fall zu raum der Parteien einzuschätzen. [33] Fehlt es schon an
einer befriedigenden Beilegung führen. Eine generelle einer dieser Voraussetzungen, hat eine M. keine Aus-
Verpflichtung auf gerichtliche Entscheidung m u ß gera- sicht auf Erfolg; ein anderes, insbesondere gerichtliches
dezu illegitim erscheinen, wenn man d e m einzelnen Verfahren ist zur Streitbeilegung dann besser geeignet.
Menschen sittliche A u t o n o m i e zubilligt. Die vernunft- A u c h in dessen R a h m e n bleibt noch die Möglichkeit, ein

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Urteil abzuwenden und sich gütlich zu vergleichen, wor- schaften geleitet. [46] Gleichwohl übergeht die Schulrhe-
auf ein Zivilrichter nach deutschem Recht sogar hinzu- torik diese Möglichkeiten informeller Streitbeilegung
wirken hat. [34] Richterliche Vermittlung [35] ist aber und bevorzugt Situationen finaler Zuspitzung: Situatio-
nicht mehr M. im technischen Sinne. [36] nen, in denen der Streit öffentlich und die Entscheidung
Der konkrete Ablauf einer M. ergibt sich aus den Dritten übertragen ist. Zum Paradigma wurde der Par-
jeweiligen Umständen; in welcher Weise sie berücksich- teiantrag, der an Dritte appelliert, im Gegner aber nur
tigt werden, steht im Ermessen des Mediators. Er glie- die Konkurrenz erblickt, die es zu verdrängen gilt. Diese
dert dazu den Gesamtvorgang in Phasen, die nacheinan- Neigung erklärt sich aus der sophistischen Herkunft der
der zu durchschreiten sind. [37] Schon diese Strukturie- Rhetorik, wonach es die artistische Herausforderung ist,
rung bietet den Parteien erhebliche Entlastung. Die Vor- die den Redner zuerst interessiert. Die Literarisierung
bereitungsphase dient der Kontaktaufnahme; es geht der Rhetorik in hellenistischer Zeit tat ein übriges dazu,
darum, alle am Streit beteiligten Parteien an einen Tisch daß dramatische Situationen Beispiel blieben. - Will man
zu bringen. Bei politischen, zumal internationalen Kon- M. rhetorisch klassifizieren, zeigt sich: M. bedeutet,
flikten wird bereits in dieser Aufgabe die zentrale einen Streitfall (causa), der der Gattung der Gerichts-
Schwierigkeit bestehen. Sie läßt sich lösen, wenn es rede (genus iudiciale) unterfällt, nach den Regeln der
gelingt, die Aufmerksamkeit der Parteien auf Interessen Beratungsrede (genus deliberativum) zu behandeln. Der
zu lenken, die sie im Hinblick auf die Zukunft miteinan- Mediator initiiert und stabilisiert den Wechsel der Rede-
der teilen. [38] Nach einvernehmlicher Eröffnung des gattung, er ist für die Transparenz (perspicuitas) des Ver-
Verfahrens folgt eine Bestandsaufnahme, bei der eine fahrens verantwortlich. Daß M. sich im Gespräch voll-
jede Seite allen anderen ihre aktuelle Sicht der Dinge zieht, ist unwesentlich, denn für Gesprächsbeiträge gel-
schildert. Die Parteien müssen einander anhören, gegen- ten im Grundsatz die gleichen Regeln wie für Reden, wie
seitiges Unterbrechen ist ihnen grundsätzlich nicht schon CICERO bemerkt. [47] Den Teilen der Rede (partes
gestattet. Daran schließt sich eine Phase der Vertiefung orationis) entsprechen die Phasen des Gesprächs; die
an, die der Aufhellung bis dahin verborgener, zur Streit- hier und im übrigen notwendigen Modifikationen sind
beilegung aber wesentlicher Hintergründe dient. Der am Prinzip der Angemessenheit (aptum, decorum) zu
informelle, nichtöffentliche Charakter der M. erleichtert orientieren. Jedoch ergäben sich zunächst Empfehlun-
es hier, Stimmungen auszuloten und Gefühle zu äußern, gen für die Parteien, da die Rhetorik aus ihrer Perspek-
Wünsche auszusprechen und diejenigen Interessen frei- tive denkt und auf ihre Tüchtigkeit abzielt. - Demgegen-
zulegen, um die es den Parteien letztlich geht. Die Ver- über wählt die moderne Mediationsliteratur die Perspek-
tiefungsphase bildet das Herzstück der M.: erst durch tive des Dritten; auch wo sie konkrete Anleitung erteilt,
diese Weitung wird es möglich, den Streitpunkt so zu per- wendet sie sich an den Mediator. In ihren Handreichun-
spektivieren, daß sich der Horizont für eine Lösung öff- gen zur Gesprächsführung folgt sie den Erkenntnissen
net. [39] Die gemeinsame Suche nach einer Lösung, von der modernen Psychologie. [48] Die Praxis der M.
der alle profitieren, bildet die vierte Phase; ein schriftli- begreift sich als angewandte Sozial- und Verhaltenswis-
ches Übereinkommen der Parteien beschließt das Ver- senschaft; professionelle Mediatoren intervenieren als
fahren. [40] M. zielt auf ein konkretes Ergebnis, muß von außen kommende Experten. Ihre Überzeugungs-
aber ergebnisoffen geführt werden, damit die Parteien kraft und Autorität als Vermittler rührt dennoch weniger
das Ergebnis aus freien Stücken akzeptieren und die aus ihrem Wissen als aus ihrer spezifischen Erfahrung
Verständigung als eigene Leistung erleben. Um die Bin- und gesellschaftlichen Stellung. [49]
dungswirkung der Vereinbarung zu stärken, ist ein Nach- C. Geschichte. Vermittlung ist ein menschheitliches
gespräch angebracht, das den Vollzug der Übereinkunft Phänomen, das in allen Zeiten und Kulturen angetroffen
prüft und es erlaubt, sie nötigenfalls zu korrigieren. [41] - werden kann. [50] Der Begriff der M. hingegen setzt
Aus der Freiwilligkeit der M. resultieren auch Unwäg- einen institutionellen und intentionalen Kontext voraus,
barkeiten, die immer wieder zu einer Verschärfung des der historisch nur in der westlichen Welt zu finden ist;
Verfahrens Anlaß geben. So ist traditionell umstritten, insbesondere ein Gerichtswesen, das verschiedene rich-
ob und welche Druckmittel ein Mediator einsetzen darf, terliche Kompetenzen kennt, mit denen die Befugnis
um die Parteien verhandlungsbereit zu stimmen. [42] Bei eines Mediators kontrastieren kann und soll.
M. in politischen Fragen entstehen weitere Probleme: die I. In Antike und Mittelalter wird Vermittlung noch nicht
Parteien müssen sich hier immer wieder der Zustimmung als eigenständiges Verfahren angesehen. Wer als Ver-
derer vergewissern, die sie vertreten [43], und die verfas- mittler im Streit angerufen wird, ist zumeist auch zur Ent-
sungsmäßige Ordnung beachten, in der sie sich bewegen. scheidung der Streitigkeit ermächtigt. Differenziert wird
Das Demokratieprinzip erweist sich dabei als durchaus bei der Entscheidungsbefugnis danach, wie sie zustande-
ambivalent: es verlangt die Einbeziehung der Betroffe- kommt und auf welcher Grundlage die Entscheidung
nen in die politische Willensbildung, verweist aber ergeht. - So trennt das attische Recht im 4. Jh.v.Chr. zwi-
grundsätzlich auf die aus allgemeinen Wahlen hervorge- schen öffentlichen Richtern (δικασταί, dikastaí), die
gangenen Instanzen, was partikular vereinbarten Aus- durch das Los bestimmt werden, einerseits, und privat
handlungsgremien eine enge Grenze zieht. [44] bestellten Schiedsrichtern (διαιτηταί, diaitëtai) und
II. Rhetorik. In der Terminologie der klassischen Rhe- Schlichtern (διαλλακταί, diallaktaí) andererseits. [51]
torik ist der Begriff <M.> nicht inventarisiert; was nicht Während die Richter nach strengem Recht urteilen, ent-
überrascht, da es sich um ein neuzeitliches Konzept han- scheiden Schiedsrichter und Schlichter nach Billig-
delt, das erst aufgekommen ist, als die Nomenklatur der keit [52]; im Gegensatz zu den Schlichtern sind die
Rhetorik schon abgeschlossen war. Doch fehlt es auch an Schiedsrichter jedoch vereidigt, was bewirkt, daß ihr
funktionellen Äquivalenten. Das ist insofern bemerkens- Schiedsspruch (δίαιτα, diaita) zu voller Rechtskraft
wert, als schon ISOKRATES die Streitbeilegung durch Ver- erwächst. Der Schlichterspruch heißt dagegen nur διαλ-
mittlung der richterlichen Streitbeilegung gegenüber- λαγή, diallagé [53], was zugleich Vermittlung bedeutet:
stellte und sie sogar für ehrenwerter hielt. [45] Auch ein Vorschlag zur Güte, der sich aber als Entscheidung
haben große Redner vielfach diplomatische Gesandt- versteht, und deshalb vom Vorschlag eines modernen

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Mediation Mediation

Mediators zu unterscheiden ist, der stets der Zustim- senschaftlichen Literatur schlagartig Beachtung. [70] Als
mung der Parteien bedarf. Die Lehrbücher der Rhetorik erster Völkerrechtler spricht PUFENDORF von «mediato-
behandeln die richterlichen Kompetenzen nicht oder set- res pacis» (Friedensvermittlern), die von «arbitri proprie
zen sie als schon bekannt voraus, wie ARISTOTELES, der dicti» (Schiedsrichtern im eigentlichen Sinne) zu unter-
sie nur knapp erörtert. [54] Wer die wahre Redekunst scheiden sind, weil sie allein durch Autorität, Vernunft
pflegt, wird der Richter und Schiedsrichter erst gar nicht und Bitten die Kriegsparteien zum Frieden führen.
bedürfen, sagt von sich selbst ISOKRATES. E r habe es näm- Unter gewissen Umständen hält Pufendorf sogar eine
lich verstanden, sich nichts zuschulden kommen zu las- bewaffnete Vermittlung für gerechtfertigt, die durch
sen, und, wenn ihm Unrecht geschah, eine Bestrafung Drohung mit einer militärischen Intervention den Frie-
nicht auf dem Gerichtswege zu suchen, sondern die Strei- den erzwingt [71]; durchgesetzt hat sich diese Ansicht
tigkeiten έν τοις φίλοις τοις έκείνων διαλύεσθαι περίτών freilich nicht. [72] Die Gegenposition vertritt J.W.
αμφισβητουμένων (mit Hilfe der Freunde der Gegen- TEXTOR, der den Mediator mit dem «arbitrator» (Schlich-
seite aus dem Weg zu räumen). [55] Auch bei DEMOSTHE- ter) vergleicht: was dieser in privaten Streitigkeiten, ist
NES steht das Verbum διαλύειν, dialyein), das das jener in öffentlichen Angelegenheiten, die auch die
Moment des Vergleiches akzentuiert, synonym mit bedeutenderen sind. Wenn schon ein Schlichter wegen
διαλλάττειν, dialláttein gegen διαιτάν, diaitan.[56] In Befangenheit abgelehnt werden kann, dann erst recht ein
ähnlichen Wendungen äußern sich auch die Geschichts- Mediator; und mehr noch: es steht Mediationsparteien
schreiber, wenn sie Schlichtungsbemühungen im politi- frei, je nach Zeitpunkt und Umständen einen Vermitt-
schen Raum erwähnen. [57] In den Papyrus-Urkunden lungsvorschlag abzulehnen. [73] M. gelingt also nur,
hellenistischer und römischer Zeit erscheint der Aus- wenn die Rede des Vermittlers den Kairos trifft. Wäh-
druck μεσίτης, mesitës, der sowohl Mittelsmänner und rend Pufendorf meint, Rede notfalls durch Gewalt erset-
bestimmte Vertrauensleute, als auch Vergleichs-und zen zu können, ohne den Begriff der M. preiszugeben,
Schiedsrichter bezeichnen kann [58]; in der Wortverbin- fordert Textor von vornherein den Sinn für Angemes-
dung κριτής μεσίτης, krités mesitës [59] fungiert er als senheit, andernfalls M. ein aussichtsloses Unterfangen
Übersetzung des römischen arbiter (Schätzrichter). [60] - sei («sine spe vel effectu futurae» [74]). Auch an Arti-
Die römische Rechtssphäre kennt überhaupt nur autori- stenfakultäten wird die Vermittlerrolle diskutiert; inwie-
tative Vermittlung. Dies zeigt sich in der Geschichts- weit die dort erschienenen, zum Teil von Eloquenz-Pro-
schreibung [61] ebenso wie im Zivilprozeßrecht, das nur fessoren betreuten Dissertationen [75] Traditionsgut der
Richter- und Schiedsrichtertypen unterscheidet. [62] Die Rhetorik rezipieren, ist bisher unerforscht. In der deut-
Ausdrücke mediator und mediatio sind erst im 6. Jh. in schen Sprache sind die Ausdrücke <Vermittler> und
Rechtsquellen greifbar [63]; sie übersetzen die griechi- <Vermittlung> in politischer Bedeutung seit 1691 nach-
schen Termini mesitës und mesiteía/mesitía, gewinnen weisbar. [76] - Mitte des 18. Jh. ist die Entwicklung so
aber keine eigenständige Bedeutung. - Die Quellen des weit fortgeschritten, daß nicht mehr nur die Stellung des
lateinischen Mittelalters verwenden für Vermittlungs- Vermittlers erörtert, sondern M. als eigenständiges Insti-
vorgänge und -aufgaben andere Bezeichnungen. Bei tut aufgefaßt wird. Beide Aspekte verbindet W O L F F , des-
Amtsträgern heißt es formelhaft «reconciliavit», «socia- sen Lehrwerk die überlieferten Termini zu abschließen-
vit», «pacificavit»; die Tätigkeit der Vermittlung zielt der Klärung bringt. [77] In der kürzeren deutschen Aus-
auf «compositio» [64] bzw. amicabilis compositio, wie gabe heißt es: «Einen Mittler (mediator) nennt man eine
die gütliche Beilegung vor Gericht in den Novellen Person, welche sich bemüht, den Streit zwischen andern
heißt. [65] Vermittlung und Schlichtung werden der beyzulegen, ob sie gleich nicht das Recht dazu hat. Die
Sache nach geschieden, aber institutionell nicht getrennt, Handlung aber, wodurch die Beylegung von einem drit-
was den autoritativen Charakter der Vermittlung unter- ten entweder zu Stande gebracht, oder versucht wird,
streicht. Vergleichen sich die Streitparteien nicht, spricht nennt man die Vermittelung (mediatio).» [78] Im Gegen-
der Vermittler als Schiedsrichter. Das kanonische Recht satz zum Mittler sind Schiedsrichter (arbiter) und
kleidet solche Personalunion im 13. Jh. in die Formel Schiedsmann (arbitrator) durch einen Schiedsvertrag der
«arbiter arbitrator seu amicabilis compositor». [66] Parteien zum Spruch berechtigt; während der Schieds-
<Arbitrator> ist eine nachantike Prägung, die ebenfalls als richter zu entscheiden hat, dürfen Schiedsmann und
Übersetzung für mesitës dient. [67] Der wachsende Mittler nur Rat geben. Der Schiedsmann äußert sich
Widerstand der weltlichen Mächte gegen päpstliche Vor- allein im Spruch, stimmen die Parteien zu, sind sie gebun-
herrschaft, insbesondere gegen eine obligatorische den; der Mittler überlegt mit den Parteien und bezeugt
Schiedsgerichtsbarkeit der Kurie, führt im Spätmittelal- schließlich deren Übereinkunft. [79] Die Streitigkeiten
ter zu einer Entkoppelung von Vermittlung und Schlich- der Völker sind auf eben die Art beizulegen, «nach wel-
tung, allerdings nur auf höchster Ebene. Zum Durch- chem man die Streitigkeiten der Privatpersonen in dem
bruch kommt diese Tendenz im Frieden von Arras 1435, natürlichen Zustand zum Ende bringet», freundschaft-
in welchem Frankreich und Burgund die päpstlichen lich, oder durch direkten Vergleich, oder «durch Vermit-
Vermittler ausdrücklich «non tamquam iudices vel arbi- telung, oder durch einen Schiedsmann». [80] Entspre-
tros, sed velut mediatores et amicos communes» (nicht chend vereinfacht auch EMER DE VATTEL diese Systema-
sowohl als Richter oder Schiedsrichter als vielmehr als tik, indem er im Völkerrecht die Mitwirkung des Dritten
Mittler und gemeinsame Freunde) berufen. [68] Mit die- nur nach M. und Schiedsgerichtsbarkeit unterschei-
ser Abgrenzung ist der entscheidende Schritt zur M. det. [81] Deutlicher als seine Vorgänger stellt Vattel her-
getan. aus, daß es dabei auf Kriegsverhütung ankommt. Das
II. Frühe Neuzeit. Im 16. Jh. wird M. in der diplomati- Naturrecht verpflichtet nicht nur, zum jeweils mildesten
schen Praxis dominant und verdrängt die traditionellen Mittel der Streitbeilegung zu greifen [82], es verlangt
Schiedsverfahren; seit Mitte des 17. Jh. werden Friedens- auch, daß befreundete Mächte schon vor Ausbruch eines
verträge, sofern Dritte an ihrem Zustandekommen Krieges ihre M. anbieten und unparteiisch Vorschläge
beteiligt sind, fast nur noch im Wege der M. ausgehan- unterbreiten. [83] Da M. der Aussprache und gemeinsa-
delt. [69] Diese Entwicklung findet nach 1670 in der wis- mer Verhandlungen bedarf, empfiehlt es sich zudem,

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Mediation Mediation

Konferenzen und Kongresse zwischen den Nationen normiertes Gerichtsverfahren, das von sich aus die Situa-
abzuhalten, die aber nur dann Aussicht auf Erfolg haben, tion beschränkt. Es wäre darum an der Zeit, überliefertes
wenn alle Teilnehmer von dem aufrichtigen Wunsch rhetorisches Wissen derart zu reformulieren, daß es auch
nach Frieden und Einheit beseelt sind. [84] Die Praxis der dieser Herausforderung entspricht.
M. im 18. Jh. entsprach denn auch durchaus nicht immer
den Vernunftgeboten der Lehrbücher und scheute die Anmerkungen:
Verpflichtung. Anders als die Literatur differenzierte die 1F. Glasl: Konfliktmanagement (21990) 380f. - 2 C . W . Moore:
The M. Process. Practical Strategies for Resolving Conflict (San
Diplomatie zusätzlich zwischen M. und guten Diensten Francisco 21996) 15; C. Besemer: M., Vermittlung in Konflikten
als der geringeren Art der Einflußnahme Dritter auf die (51998) 14. - 3 The Society of Professionals in Dispute Resolu-
Streitbeilegung. [85] tion: Ethical Standards of Professional Responsibility (1986), in:
III. Moderne und Gegenwart. Erst im 19. Jh. findet M. Moore [2] 381. - 4 Art. 6 Haager Abkommen zur friedlichen
auch unabhängig vom Vorliegen konkreter Streitfälle Erledigung internat. Streitfälle; S. Breidenbach: M., Struktur,
Eingang in völkerrechtliche Verträge. Das erste Beispiel Chancen und Risiken von Vermittlung im Konflikt (1995) VII. -
5J. Folberg, A. Taylor: M., A Comprehensive Guide to Resol-
einer solchen Regelung bietet die Gründungsakte des ving Conflicts witout Litigation (San Francisco 1984) 13. - 6Fol-
Deutschen Bundes von 1815, die den Bundesgliedern berg [5] 7. - 7C. Thomann, F. Schulz v. Thun: Klärungshilfe
vorschreibt, ihre Streitigkeiten der Bundesversammlung (1988) 12f. - 8 M . Groner, B. Winograd: M„ in: S. Büchner u.a.:
vorzutragen: «Dieser liegt alsdann ob, die Vermittlung Außergerichtliche Streitbeilegung (1998) Kap. E, 311. - 9A.
durch einen Ausschuß zu versuchen». [86] Der erste Walde: Lat.-etym. Wtb., Bd.2 (31954) 57. - 10Augustinus,
internationale Vertrag, der seine Unterzeichner auf M. Quaestiones in heptateuchum II, 19; De civitate Dei IX, 16,2. -
verpflichtet, ist der Pariser Vertrag zur Beendigung des 11 Apuleius, Metamorphoses IX, 36. - 12ThLL Bd. 8,526; The-
Krimkrieges aus dem Jahre 1856. [87] Seit dem <Haager saurus Linguae Graecae Bd.5, 811. - 13Polybius, Historiae
Abkommen zur Friedlichen Erledigung internationaler XXVIII, 15, 8. - 14F. Preisigke, E. Kießling: Wtb. der griech.
Papyrus-Urkunden, Bd.2 (1927) 77. - 15frühester Beleg bei
Streitfälle» vom 18.10.1907 sind «Gute Dienste und Ver- Iosephus, Antiquitates Iudaicae XX, 3, 2. - 16 Preisigke, Kieß-
mittlung» allgemeinverbindlich positiviert. [88] Die Ein- ling [14] 77. - 1 7 T h e Oxford English Dictionary, Bd. 9 (Oxford
richtung internationaler Organisationen und Gerichts- 2
1989) 545. - 1 8 F. Godefroy: Dictionnaire de l'ancienne langue
höfe im 20. Jh. hat das Spektrum völkerrechtlicher Streit- Française, Bd.5 (Paris 1888) 212 b. -19C.G. Picavet: Le Fran-
beilegung erweitert, den völkerrechtlichen Begriff von çais et les langues étrangères dans la diplomatie au temps de
M. aber nicht verändert. [89] Agieren Einzelpersonen als Louis XIV., in: Revue des sciences politiques 51 (1928) 578-592.
internationale Vermittler, wird auch von <conciliation> - 20D. Frei: M., in: H.Helbling u.a.: Hb. der Schweizer Gesch.,
gesprochen. [90] - Auf innerstaatlicher Ebene hat die Bd.2 (Zürich 1977) 841-869, 843. - 21S. Pufendorf: De jure
naturae et gentium (Lund 1672) V, 13, § 7; C. Wolff: Grundsätze
Institutionalisierung von M. erst im 20. Jh. begonnen, und des Natur- und Völkerrechts (1754) II, 18, § 768; E. de Vattel: Le
zwar zunächst in den USA. Hier ist die Anwendung von droit des gens ou principes de la loi naturelle (Leiden 1758) II,
M. in Arbeitskonflikten seit 1898 anerkannt, um Streik- 18, §328. - 2 2 H. Duchhardt: «Friedensvermittlung» im Völker-
aktionen vorzubeugen. In den sechziger und siebziger recht des 17. und 18. Jh., in: ders.: Stud, zur Friedensvermittlung
Jahren des 20. Jh. hat sich M. in weiteren gesellschaftli- in der Frühen Neuzeit (1979) 89-117. - 23Charter of the United
chen Bereichen etabliert, vor allem dort, wo es gilt, Kon- Nations: Chapter VI, Article 33. - 24C. Wolff: Jus naturae
flikte in Dauerbeziehungen zukunftsorientiert zu lösen. methodo scientifica pertractatum (1745) V §§923-943. - 25 J.
Im gleichen Zuge hat eine markante Professionalisierung Bercovitch, J. Rubin (Hg.): M. in International Relations (New
der M. stattgefunden, die sich im Wachstum eines 1972 York 1992); F. Dukes: Resolving Public Conflict (Manchester
1996); H. Zilleßen (Hg.): M., Kooperatives Konfliktmanage-
gegründeten Berufsverbandes dokumentiert. 1995 zählt ment in der Umweltpolitik (1998). - 26 K. Röhl: Rechtssoziol.
die «Society of Professionals in Dispute Resolution» (1987) §§53-57; S. Goldberg, F. Sander, N. Rogers: Dispute
bereits mehr als 3000 Mitglieder, verteilt auf fünfzehn Resolution (Boston 21992) 102. - 27W. Bühl: Theorien sozialer
Sektionen. [91] Entsprechend vielfältig ist das Erschei- Konflikte (1976); C. Mitchell: The Structure of International
nungsbild der M. geworden. [92] In der Bundesrepublik Conflict (London 1981); D. Pruitt, J. Rubin: Social Conflict
Deutschland wird nach amerikanischem Vorbild seit (New York 1986). - 28Besemer [2] 24-33; Moore [2] 3-40; Fol-
1988 Umweltmediation [93], seit 1989 Familienmedia- berg [5] 18-37. - 29Glasl [1] 361. - 30ebd. 380ff. - 31C. Duve:
tion [94] praktiziert. Seit 1990 enthält das Jugendstraf- Alternative Dispute Resolution, in: Betriebs-Berater, Beilage
recht, seit 1994 das Erwachsenenstrafrecht den Täter- 10 (1998) 9-14. - 32H. Zilleßen: Institutionalisierung von M. in
den USA und in anderen Ländern, in: ders. [25] 39-47. - 33 H.
Opfer-Ausgleich. [95] Die 1996 neugefaßte Berufsord- Zilleßen: M. als kooperatives Konfliktmanagement, in: ders.
nung für Rechtsanwälte bezeichnet M. als originär [25] 17-38, 31. - 34Zivilprozeßordnung §279, Absatz 1. -
anwaltliche Tätigkeit. [96] Doch sind auch Soziologen, 35 Breidenbach [4] 306-317. - 36 N.M. Alexander: Wirtschafts-
Psychologen und Pädagogen als Mediatoren tätig, was mediation in Deutschland (1998) 103. - 37Moore [2] 66f.
bisweilen neue begriffliche Probleme aufwirft; etwa wenn (Abb.); Folberg [5] 38-72. - 38A. Curie: In the middle. Non-
es im Bereich der Familienmediation um die Abgrenzung Official M. in Violent Situations (Leamington Spa 1986) 15 ff.;
gegenüber therapeutisch orientierter Gesprächsführung R. Fisher, W. Ury, B. Patton: Getting to Yes (New York 1991)
geht, die nicht Interessenausgleich, sondern Bewältigung 17 ff. - 3 9 Folberg [5] 7; Moore [2] 231-243.-40 Groner [8] 321.-
seelischer Konflikte anstrebt. [97] Im Vordringen der M. 41 Folberg [5] 68 ff.; Besemer[2] 83. - 42A. Leser: Vermittlung
und Intervention als völkerrechtliche Mittel zur Vermeidung
auf innerstaatlicher Ebene manifestiert sich eine Diffe- eines Krieges (1917) 67 ff.; S. Touval, I.W. Zartman: Practitio-
renzierung der gesellschaftlichen Institutionen zur Streit- ners Problems of Leverage, in: dies. (Hg.): International M. in
beilegung, die Teil der Modernisierung moderner Gesell- Theory and Practice (Boulder 1985) 263-266; Breidenbach [4]
schaften am Ende des 20. Jh. ist. Auch das wiederer- 158 ff. - 4 3 Besemer [2] 100f.-44A. Engelbert: Konfliktmittlung
wachte Interesse an der rhetorischen Tradition läßt sich und Demokratieprinzip (1996) 193. - 45Isocr. Or. XV, 238. -
als Aspekt dieser Modernisierung deuten. Aufgabe des 46E. Bayer: Art. <Diplomatie>, in: LAW 1,761.-47Cic. De offi-
Redners ist es seit jeher, die jeweilige Streitsituation auf ciis I, 132. - 48 Folberg [5] 73-129; Besemer [2] 116-135; Tho-
Handlungsmöglichkeiten hin auszulegen. Ein informel- mann [7]. - 49 J.E. Beer: Peacemaking in Your Neighbourhood
(Philadelphia 1986) 83ff., 109; Zilleßen [25] 26f. - 50 L. Nader
les Verfahren wie die M. verlangt weit mehr an Einsatz (Hg.): Law in Culture and Society (Chicago 1969); P.H. Gulli-
der Person und Sinn für Angemessenheit als ein durch- ver: Disputes and Negotiations in Cross-Cultural Perspective

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Mediation Meditation

(New York 1979). - 51H.W. Wolff: Art. <Recht I: Griech. —> Beratungsrede Controversia —> Juristische Rhetorik ->
Recht>, in: LAW 2518-2520; T. Thalheim: Art. <Διαιτηχαι>, in: Kairos -> Konsens -> Konflikt -> Prozeß -> Verhandlungsfüh-
RE V.l (1903) 313-316. - 52J.H. Lipsius: Das attische Recht u. rung
Rechtsverfahren (1905) 224. - 53Lipsius [52] 222f. - 54Arist.
Rhet. 1374 b. - 55 Isocr. Or. [45] 27. - 56 Demosthenes, Or. 33,17;
Lipsius [52] 223. - 57Herodot, Historiae V, 95, 2; Xenophon,
Hellenika II, 4, 38; Plutarch, Vitae parallelae, Demetrius 22. - Meditation (griech. μελέτη, melétë; lat. meditatio; dt.
58 Preisigke [14] 77f. - 59Papyrus 44, in: T. Reinach (Hg.): Betrachtung; engl, meditation; frz. méditation; ital. medi-
Papyri Grecs et Démotiques (Paris 1905). - 60L. Mitteis: Neue tazione)
Urkunden, in: Savigny-Zs. für Rechtsgesch. (= ZRG), Roma- Α. Unter rhetorischen Gesichtspunkten lassen sich
nist. Abt. 26 (1905) 484-494,490. - 6 1 T . Livius, Ab urbe condita drei Varianten der M. unterscheiden: 1. M. als ein Ver-
XLIV, 14; Tacitus, Annales XII, 19. - 62 M. Käser, Κ. Hackl: Das
röm. Zivilprozeßrecht (21996) 28ff., 56ff., 639ff.; Digesta Justi- fahren der Textverarbeitung, das der rhetorischen Auf-
niani 17,2,76. - 63 Iuliani Epitome Latina Novellarum Iustiniani gabe der memoria zuzuordnen ist; Es bildet sich heraus in
C.115, §430; Papyrus Fuad I 85, 14. - 64G. Althoff: Art. Ver- Konkurrenz zur antiken Mnemotechnik, insbesondere
mittler», in: LMA 8 (1997) 1556. - 65Novellae 86, 2. - 66K.S. zu der seit der Herennius-Rhetorik und von CICERO favo-
Bader: Arbiter arbitrator seu amicabilis compositor, in: ZRG, risierten loci-imagines-Lehre. Während letztere auf die
Kanonistische Abt. 77 (1960) 239-276, 271 f.; K.H. Ziegler: optimale Merkfähigkeit von Texten zum Zwecke ihrer
Arbiter, arbitrator und amicabilis compositor, in: ZRG, Roma- exakten Reproduktion in der actio abzielt, ist die M. auf
nist. Abt. 84 (1967) 376-381, 379. - 67G. Goetz (Hg.): Corpus
Glossariorum latinorum, Bd.2 (1888) 368. - 68Duchhardt [22] die individuelle Aneignung des Textsinnes ausgerichtet.
90; Zitat ebd. - 69ebd. 91. - 70D.H. v. Ompteda: Litteratur des Ihre Grundlage bildet das Training des natürlichen
gesammten sowohl natürlichen als positiven Völckerrechts Gedächtnisses. 2. M. als Verfahren der Seelenführung
(1785ff.; ND 1963) Bd.2, §325, 667f. - 71Pufendorf [21]. - (Psychagogie), das der dispostilo zugehört: Es findet sich
72Duchhardt [22] 98f. - 73 J.W. Textor: Synopsis juris gentium sowohl in den sittlichen Exerzitien der Antike als auch in
(Basel 1680) XX, 50-53. - 74ebd. XX, 53. - 75F.W. Neumann: den geistlichen Exerzitien (exercitia spiritualia) des Spät-
De Mediatoris officio, eiusque requisitis (Altdorf 1676); E.F. mittelalters und der frühen Neuzeit und stellt eine syste-
Meurer: Mediator (Jena 1678). - 76Trübners Dt. Wtb., Bd.7
(1956) 509. - 77C. Wolff: Jus naturae methodo scientifica per- matische Methodik der seelischen Selbstbeeinflussung
tractatum (1745) V §§ 923-943; Jus gentium methodo scientifica dar, die die geistige und affektive Selbstkontrolle bzw.
pertractatum (1749) V §§569f.; VIII §§1036-1038. - 78Wolff die Ordnung der Seele für die Begegnung mit dem Gött-
[21] §768. - 79ebd. §770. - 80ebd. §1157. - 81Vattel [21] lichen bezweckt. 3. M. als Verfahren der Gedankenfin-
§§ 328f. - 82ebd. § 326. - 83 ebd. § 328. - 84ebd. § 330. - 85 E. de dung im Rahmen der rhetorischen inventio: Als solches
Melville: Vermittlung und Gute Dienste (1920) 3, 17; H. Hun- wird sie in der neueren protestantischen Homiletik seit
ger: Die Völkerrechtsvermittlung (1931) 28 ff.; H. Duchhardt: SCHLEIERMACHER verwendet. Zwischen historischer Exe-
Arbitration, M. oder Bons Offices? Die engl. Friedensvermitt-
lung in Nijmwegen 1676-1679, in: Duchhardt [22] 23-88, 87. - gese und Ausarbeitung der Predigt angesiedelt, besteht
86Dt. Bundesakte, Artikel 11. - 87Pariser Vertrag vom 30.03. ihre Aufgabe im Sammeln von aktualisierbaren Aspek-
1856, Art. 8. - 88 Haager Abkommen [4], Zweiter Titel, Art. 2-8. ten eines Bibeltextes, die als Stoffgrundlage für die Pre-
- 89M. Schröder: Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streit- digt dienen und die homiletische dispostilo vorbereiten.
beilegung und Sanktionen, in: W. Graf Vitzthum (Hg.): Völker- Die Termini <meditatio> und <meditari> werden in der
recht (1997) 581-663,557f. - 90R.L. Bindschedler: Conciliation lateinischen Bibel (Vulgata) zumeist als Übersetzungen
and M., in: R. Bernhardt (Hg.): Encyclopaedia of Public Inter- des hebräischen <haga> (brummen, stöhnen, murmeln)
national Law, Bd.l (Amsterdam 1981) 47-51. - 9 1 Zilleßen [32]
39 ff. - 92Folberg [5] 130. - 93M. Jeglitza, C. Hoyer: Dt. Verfah- bzw. des griechischen μελετάν (meletán; dt. üben,
ren alternativer Konfliktlösung bei Umweltstreitigkeiten, in: pflegen, ersinnen) verwendet. [1] Das frühe Mönchtum
Zilleßen [25] 137-183. - 94Groner [8] 287. - 95 § 10 Absatz I Satz bezeichnet damit das wiederholte laute Rezitieren bibli-
3 Nr. 7 Jugendgerichtsgesetz; §46 a Strafgesetzbuch. - 96 §1 scher Texte. Im Verlauf des Mittelalters rückt zunehmend
Absatz 3; §18 Berufsordnung für Rechtsanwälte. - 97 G. Mah- die Aufgabe der intellektuellen Betrachtung des göttli-
ler, H. Mähler: Trennungs- und Scheidungs-M. in der Praxis, in: chen Worts in den Vordergrund. Im Spätmittelalter und
Familiendynamik 4 (1992) 347-372,355. in der frühen Neuzeit wird darüber hinaus die Rolle der
Einbildungskraft zur sinnlichen Vergegenwärtigung der
Meditationsgegenstände hervorgehoben. In der Gegen-
Literaturhinweise:
R. Binter: Das Verhältnis von Vermittlung und Schiedsgerichts- wart wird M. verstanden als «eine methodische, Intellekt
barkeit nach dem Völkerbundspakt (1929). - R . Taubenschlag: II und Affekt des Menschen erfassende [...] Übung, welche
sequestro nel diritto dei papiri, in: Iura 2 (1951) 76-81. - F. auf erfahrungsmäßige Begegnung mit Gott zielt». [2]
Edmead: Analysis and Prediction in International M. (London Seit dem 11. Jh. bildet sich die M. als literarisches
1971). - L.L. Randolph: Third Party Settlement of Disputes in Genre aus, das der Gebetsliteratur verwandt ist. Im
Theory and Practice (Leiden 1973). - K. Kressel, D.G. Pruitt Unterschied zu dieser steht in der M. nicht die Rede zu
(Hg.): M.-Research (San Francisco 1989). - W. Hoffmann-Riem, Gott, sondern das Selbstgespräch im Zentrum. Diese
E. Schmidt-Aßmann (Hg.): Konfliktbewältigung durch Ver-
handlungen, 2 Bde. (1990). - F. Haft: Verhandeln, die Alterna- Meditationsliteratur kann als Fortführung der antiken
tive zum Rechtsstreit (1992). - R. Lederle: Gesellschaftliche Soliloquienliteratur angesehen werden; sie vollzieht
Reorientierung in Mediationsverfahren bei Umweltkonflikten jedoch gegenüber dieser eine stilistische Wendung von
(Fribourg 1995). - L. Boulle: M., Principles, Process, Practice der dialektischen Argumentation zur affektbetonten
(Sydney 1996). - P.L. Berger(Hg.): Die Grenzen der Gemein- Rede. [3] Zugleich entsteht seit dem Hochmittelalter ein
schaft. Konflikt und Vermittlung in pluralistischen Gesellschaf- reiches Schrifttum zur Bestimmung von Gegenständen
ten (1997). - S. Breidenbach, M. Henssler (Hg.): M. für Juristen und Methoden der M.
(1997). - R. Cario (Hg.): La médiation pénale (Paris 1997). - H. Ziel der M. ist die Ausrichtung des Lebens nach ethi-
Kamp: Vermittlung in Konflikten im hohen MA (1997). - U.
Hartmann: Staatsanwaltschaft und Täter-Opfer-Ausgleich schen Normen, im christlichen Kontext darüber hinaus
(1998). - R. Ponschab, A. Schweizer: Kooperation statt Kon- das Verständnis der Heiligen Schrift (lectio divina) sowie
frontation (1997). - C. Duve: M. und Vergleich im Prozeß (1999). das existentielle Gewahrwerden Gottes (contemplado).
Gegenstand der christlichen M. sind zumeist biblische
A. Kemmann Texte und Stoffe, wobei die Themenschwerpunkte auf

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Meditation Meditation

der Buße und auf der vita Christi (v.a. der Passion) lie- hinlesen. Dem Inhalt nach hat diese Weise des Meditie-
gen. Daneben bildet bereits seit der Antike die meditatio rens fast ausschließlich die Heilige Schrift zum Gegen-
mortis eine wichtige Variante der M., die in dem Genre stand. [10] Die Praxis der M. wird als Akt geistig-körper-
der ars-moriendi-Literatur ihren Ausdruck findet. [4] licher Aneignung des Textes vorgestellt und mit dem
Β. I. Antike. Die M. bzw. das sittliche Exerzitium der Bild des wiederkäuenden Tieres (vgl. Lev 11, 3; Dtn 14,
Antike stellt einen Akt der Selbstbeeinflussung dar, der 6) verbunden: In der Lektüre wird die Schrift dem Magen
mit der bewußten Absicht eines bestimmten sittlichen des Gedächtnisses einverleibt und in der wiederholten
Effekts ausgeübt wird; er weist insofern stets über sich Rezitation allmählich wiederkäuend verdaut (rumina-
hinaus, als er entweder selbst wiederholt oder mit ande- tio). Mit den Worten AUGUSTINS: «Wenn du nämlich
ren, gleichgerichteten Akten zu einem planvollen Gan- hörst oder wenn du liest, ißt du; wenn du darüber nach-
zen verbunden wird. [5] Ihren philosophischen Ort hat denkst [cogitas], käust du wieder [ruminas], damit du ein
die antike M. in den ethischen Lehren der hellenistischen reines Tier seiest und kein unreines.» [11] Dieser Kon-
Zeit, insbesondere in der Stoa. Als literarische Quellen zeption der M. als ruminatio liegt der schriftmagische
für die Praxis der M . dienen die Werke MARC A U R E L S , Gedanke der göttlichen Inspiration durch das Essen hei-
PLUTARCHS, EPIKTETS und SENECAS. Häufige Themen bil-
liger Texte zugrunde, der u.a. auch in der Bibel belegt ist
den die Überwindung der Todesfurcht, die Ergebung in (vgl. Ez 2, 8-3, 3; Offb 10, 9f.). [12] Die Vorstellung der
den Weltlauf, die Vergänglichkeit der Menschendinge ruminatio wird das ganze Mittelalter hindurch tradiert
oder die Freundestreue. Als Inhalte der M. fungieren oft und findet sich noch in der Frömmigkeitsliteratur der
affektive loci communes, auf das Gefühl wirkende For- protestantischen Orthodoxie und des Pietismus.
mulierungen philosophischer Gedanken. Die Methode
III. Hochmittelalter. Seit dem 11. Jh. sind religiöse
der antiken M. steht in enger Beziehung zur Rhetorik.
Texte mit dem Titel <meditatio> überliefert. Es handelt
Vor allem die Mittel der evidentia und der amplificado
werden angewandt zur sinnlichen Vergegenwärtigung sich hierbei um literarisierte M., deren textuelle Verfah-
und affektiven Vertiefung der gedanklichen Gehalte. rensweisen noch deutlich ihre Herkunft aus der monasti-
schen M. verraten, welche auf der Fähigkeit des Mönchs
Den systematischen Ort der M. innerhalb der antiken beruht, sich spontan und ohne jede Anstrengung an bibli-
Rhetorik bildet die memoria. QUINTILIAN stellt im memo- sche Zitate und Anspielungen zu erinnern, die sich
πα-Kapitel der <Institutio oratoria> der loci-imagines- gegenseitig hervorrufen, allein durch die Ähnlichkeit der
Lehre eine meditative Technik der memoratio gegen- Worte. Jedes Wort verweist auf ein oder mehrere andere
über, welche die Einprägung der mit der Rede beschrie- Worte, die sich miteinander verknüpfen und so das
benen Wachstafeln zum Ziel hat, so daß sie in der actio Gewebe der Darstellung bilden. [13] Solche Meditations-
vor dem geistigen Auge stehen und gleichsam vorgelesen texte sind u.a. von A N S E L M VON CANTERBURY (<Orationes
werden können. [6] Diese Methode setzt die Internalisie- sive Meditationes>), JEAN DE FÉCAMP (<Soliloquia>,
rung des 'Schrift-Bildes' voraus, die nicht, wie in der loci- <Meditationes>, <Manuale>, überliefert unter dem Namen
imagines-Lehre, durch die Zerlegung der Rede in eine Augustins), BERNHARD VON CLAIRVAUX (<Meditationes>)
temporalisierte 'Raum-Narration' erfolgt, sondern durch und BONAVENTURA (<Meditationes vitae Christi>) erhal-
das Meditieren über dem Text. Im murmelnden Vor- ten. Es handelt sich um sorgfältig komponierte Texte, die
sich-hin-Sprechen wird er visuell, artikulatorisch und in der spätantiken Tradition der Gebets- und Solilo-
auditiv angeeignet. Es handelt sich um eine tägliche quienliteratur stehen. Ihre grundlegende Form bildet das
Übung (exercitatio), die auf dem Training des natürlichen Selbstgespräch (im Wechsel mit dem Gottesgespräch des
Gedächtnisses durch beständige Wiederholung beruht. Gebets), das eine expressive, bilderreiche, deiktisch-
Voraussetzung des Memorierens ist laut Quintilian ein appellative und antithetisch strukturierte Diktion in den
guter Gesundheitszustand, insbesondere eine geregelte Dienst sprachlich evozierter Selbstaffektion stellt (z.B.
Verdauung. Der Text soll wie eine Speise wiedergekäut
Anselms <Meditatio ad concitandum timorem>). Ziel die-
werden, vollständig verdaut aber wird er erst über Nacht;
ser Affektion ist die Erfahrung des göttlichen Wortes:
denn «seine Befestigung verdankt das Gedächtnis gerade
der Zeit, die doch das Vergessen zu verursachen «Ich will erfahren, was ich höre, ich will fühlen, was ich
pflegt». [7] Diese Technik der memoria ähnelt der mona- glaube». [14] Diese Werke werden das ganze Mittelalter
stischen Auffassung von M. Der Überlieferungszusam- hindurch in zahlreichen Abschriften tradiert und seit
menhang ist jedoch bislang nicht erforscht. dem 16. Jh. in die Volkssprachen übersetzt. Sie bilden
II. Frühes Mittelalter. In der monastischen Tradition den Grundbestand und die literarischen Vorbilder für
tritt die enge Beziehung von M. und memoria deutlich die späteren Meditationstexte aller Konfessionen. [15]
zutage. M. heißt hier in erster Linie das laute bzw. mur- Parallel zu den literarischen Werken des hohen Mittel-
melnde Rezitieren der Heiligen Schrift zum Zwecke der alters versuchen die fast zeitgleich im 12. Jh. auftreten-
Memoration, das auf die jüdische Lektüre der Thora den Meditationstraktate, den Begriff der M. zu präzisie-
zurückgeht. [8] Als zentrale, häufig zitierte Anweisung ren. Der Übergang von der Patristik zur Scholastik
zu dieser Praxis fungiert Ps 1,1-2, der in der Vulgata lau- äußert sich hier als semantische Ausdifferenzierung der
tet: «Beatus vir qui [...] in lege [Domini] meditabitur die meditatio im Kontrast zu lectio, oratio und contemplado.
ac nocte» (Wohl dem, der über das Gesetz des Herrn Während die monastische lectio divina an der prinzipiel-
nachsinnt bei Tag und bei Nacht). Die Mönchsregeln len Einheit von lectio und meditatio festhielt, löst sich
kennen zwei Gelegenheiten zur M.: die Rezitation der nunmehr die M. von der Lektüre und wird zu einer intel-
Heiligen Schrift während der Arbeit und die Betrach- lektuellen Operation. «Die Meditation ist ein anhalten-
tung während der Bibellektüre (lectio divina). [9] Bei der des Nachdenken», lautet die knappe Definition des
monastischen M. handelt es sich nicht um einen rein gei- H U G O VON ST. VIKTOR. [16] Darin unterscheidet sie sich
stigen, innerlichen Vorgang, sondern um ein vernehmba- von dem affektiv geprägten Gebet ebenso wie von der
res Aufsagen von Texten und Formeln, dem sich die existentiellen Gotteserfahrung in der Kontemplation.
Mönche allein oder in Gemeinschaft hingeben, wobei sie G U I G O II. der Kartäuser weist ihr einen genau definierten
die Texte entweder auswendig hersagen oder vor sich Ort innerhalb der 'Mönchsleiter' (scala claustralium) zu:
«Die lectio besteht darin, daß man voll Eifer die Schrift

1017 1018
Meditation Meditation

kennenlernt. Die meditatio ist der Akt eines Geistes vol- zur Steigerung der Affekte. Der abschließende Teil, der
ler Erkenntnishunger, der sich unter der Führung seines der perorado entspricht, gliedert sich in die Danksagung
eigenen Verstandes auf die Suche begibt, um eine ver- (gradarum actio), die Anheimstellung (commendado)
borgene Wahrheit zu entdecken. Die oratio ist eine und die Ergebung in den göttlichen Willen (permissio).
innige Hinwendung des Herzens zu Gott, um vom Bösen V. Frühe Neuzeit. 1. Katholizismus. Die bekannteste
befreit zu werden und das Gute zu erlangen. Die contem- neuzeitliche Meditationsform, des IGNATIUS VON LOYOLA
platio ist der Aufschwung der Seele, die von Gott begei- <Exercitia spiritualia> (1548), stellt eine pragmatische
stert ewige Freuden kostet». [17] In dieser Konzeption Vereinfachung der Methoden der devotio moderna dar.
wird die M. zu einer Theorie der allegorischen Schrift- Sie folgt nicht mehr strikt den rhetorischen Regeln der
auslegung. Bei Hugo von St. Viktor dient sie zur dispositio, sondern geht eklektizistisch vor. Das grundle-
Erkenntnis des historischen, heilsgeschichtlichen und gende Verfahren bei Ignatius bildet die von Gansfort/
moralischen Schriftsinnes (sensus historiáis, allegoricus Mombaer übernommene, jedoch nicht weiter ausdiffe-
und tropologicus). [18] Im Laufe des Spätmittelalters renzierte M. mit Hilfe der drei Seelenkräfte Gedächtnis,
wird die Aufgabe der M. zunehmend auf die Erfassung Intellekt und Willen. Die wichtigste Leistung des
des tropologischen Schriftsinns reduziert. Gedächtnisses besteht in der compositio loci (Zurichtung
IV. Spätmittelalter. In den Meditationstraktaten der des Schauplatzes nach Personen, Worten, Handlungen,
spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung der devo- Ursache, Zeit, Ort, Weise usw.), die nach den Regeln der
tio moderna (14./15. Jh.) wird die M. allmählich zu einer rhetorisch-dialektischen Topik und Peristasenlehre ver-
systematischen Methode geistlicher Übungen ausgebaut. fährt; ihr Ziel ist es, «mit der Schau der Einbildung den
GERHART GROOTE, der Begründer der devotio moderna, leiblichen Ort zu sehen, an dem sich die zu betrachtende
unterscheidet in seinem Werk <De quatuor generibus Sache befindet». [20] Der nachdrückliche Einsatz der
meditationum> vier Gegenstände der M.: die Bibel, die Einbildungskraft ist eine der Neuerungen, die Ignatius
Offenbarungen der Heiligen, die scholastischen Lehr- gegenüber der devotio moderna durchsetzt, welche der
meinungen und die vom Gläubigen selbst geformten Bil- imaginado noch ambivalent gegenüberstand. Es folgt die
der. Seit FLORENTIUS RADEWIJNS (<Tractatulus devotus>) Betrachtung durch den Intellekt, deren vornehmstes
stehen die vita bzw. die Passion Christi sowie die vier letz- Mittel die rhetorische amplificado (per comparadonem,
ten Dinge (Tod, Jüngstes Gericht, Hölle, Paradies) im per incrementum, per enumeradonem, per partitionem)
Zentrum der spätmittelalterlichen M. Erste Ansätze zur darstellt: Durch Vergleich, Steigerung, Aufzählung und
methodischen Systematisierung finden sich bei THOMAS Zerlegung wird der Gegenstand ausgeweitet und vertie-
VON K E M P E N , der in den <Sermones de vita et passione fend durchdrungen. [21] Die Applikation des Willens
Domini> die Passionsmeditation in sieben Punkte glie- zielt auf die affektive Vergegenwärtigung und Aneig-
dert, die er der dialektischen Topik entlehnt (Wer leidet? nung des Gegenstandes. Hier kommt die Einbildungs-
Warum, wie sehr und für wen leidet er? Wie lange, an kraft ein zweites Mal zum Einsatz, diesmal in erweiterter
welchen Orten und an welchen Gliedern leidet er?) Aus Form als 'Anwendung der Sinne': Durch die Erfassung
diesen Ansätzen zu einer Rhetorisierung der M. entwik- mit allen fünf Sinnesorganen wird die Präsenz des Medi-
kelt W E S S E L GANSFORT eine <Scala meditatoria>, die erst- tierenden in der vorgestellten Szene simuliert; die rheto-
mals eine gegenstandsunabhängige Methode der M. dar- rische Technik, die dieses Verfahren bestimmt, ist die
stellt und von JEAN MOMBAER in sein <Rosetum exercitio- Lehre von der Anschaulichkeit (evidenda). Am Schluß
rum spiritualium> (1494) übernommen und popularisiert der ignatianischen M. stehen das Kolloquium mit Gott
wird. [19] Diese scala organisiert die M. gemäß den bzw. Christus und das Gebet. Es werden drei Gebetsfor-
Regeln der rhetorischen dispositio. Sie wird unterteilt in men unterschieden: Die erste ist diskursiv ausgerichtet,
drei Partien, deren mittlere sich nach den drei Seelen- die zweite beinhaltet die Wort-für-Wort-M. wichtiger
kräften in Gedächtnis (memoria), Verstand (intellectus) Gebetstexte im Sinne der ruminatio, die dritte koordi-
und Willen (voluntas) gliedert. Der Vorbereitungsteil niert Sprechen und Atmen zu einer psychomotorischen
dient der Auswahl und Präsentation des Themas und Übung. Der letztgenannte Gebetstyp entspricht dem in
fungiert somit als exordium. Der Gedächtnisteil ent- der Ostkirche seit dem Mittelalter gebräuchlichen sog.
spricht der narrado: Der Meditierende kommemoriert Jesus-Gebet, das in der rhythmisierten Wiederholung
den Gegenstand, zergliedert ihn in einer divisio gemäß bestimmter Gebetsformeln besteht. [22]
den rhetorischen loci, erhellt ihn durch die Anwendung 2. Protestantismus. Obwohl LUTHER in seiner eigenen
von Figuren, Vergleichen und Exempeln und erweitert Meditationspraxis von der devotio moderna beeinflußt
ihn mit den Mitteln der amplificado. Der intellektuelle ist [23], lehnt er die mit der methodischen M. verbundene
Teil bringt die Techniken dialektischer Argumentation Vorstellung einer durch geistliche Exerzitien zu erlan-
zum Einsatz, die zur Beurteilung und Diskussion unter- genden religiösen Perfektion ab. Dies führt zu einer Ent-
schiedlicher Meinungen über den Gegenstand (proposi- systematisierung der M. im Luthertum, die einhergeht
tiones), zu ihrer argumentativen Begründung (argumen- mit ihrer Ablösung von der Rhetorik und ihrer Hinwen-
tatio) und Widerlegung (refutatio) dienen. An seinem dung zur Hermeneutik. Ähnlich wie in der monastischen
Ende erhält die ruminatio ihren systematischen Ort: Sie lectio divina, steht die M. im Dienste einer ganzheitli-
faßt das Vorhergehende zusammen und durchdringt es chen, auf die existentielle Begegnung mit dem Gottes-
immer tiefer, bis die sinnlichen Vermögen angesprochen wort ausgerichteten Schriftexegese. Luthers Trias von
sind. Die ruminatio leitet über zum affektiven Teil der Gebet, M. und Anfechtung (oratio, meditatio, tentado)
M., bestehend u.a. aus dem Geschmack der göttlichen bezeichnet in erster Linie keine geordnete Skala der M.,
Süße (gustatio), dem Bekenntnis eigener Ohnmacht sondern unterschiedliche Aspekte desselben religiösen
(confessio), der Bitte um göttliche Hilfe (oratio) und dem Erlebens: einer den ganzen Menschen als geistig-affek-
Vertrauen auf die Güte Gottes (confidentia). Auch in tive Einheit umfassenden, durch die Heilige Schrift ver-
diesem Teil kommen dialektische loci zum Einsatz; die mittelten Erfahrung Gottes, die sich insbesondere in der
sprachliche Ausgestaltung wird berücksichtigt mit der Anfechtung ereignet. [24] Demgemäß sind auch die seit
Empfehlung von Figuren wie exclamatio und interrogano dem Ende des 16. Jh. erscheinenden lutherischen Medi-

1019 1020
Meditation Meditation

tationstexte wieder stark an der altkirchlichen Tradition behandelt die M. im Rahmen der homiletischen inventio,
orientiert. Häufig handelt es sich um dogmatisch bear- sieht jedoch zugleich eine dialektische Wechselwirkung
beitete Adaptationen von Werken (Pseudo-)Augustins, zwischen der Spontaneität der inventio und dem Schema-
Anselms, Bernhards oder Taulers, so etwa bei MARXIN tismus der dispositio, die parallel voranzutreiben seien.
MOLLERS <Meditationes sanctorum Patrum> (1584) oder Einzige methodische Richtlinie für die M. ist die Konzen-
bei JOHANN G E R H A R D S <Meditationes sacrae> ( 1 6 0 6 ) . Im tration auf einen bestimmten thematischen Punkt und das
17. Jh. wird die M. im Rahmen der lutherischen Kirchen- Festhalten alles dessen, was sich in der freien Gedanken-
reform (J. A R N D T , J. Gerhard, L . D U N T E , J. SCHMIDT) und erzeugung auf diesen Punkt bezieht. Im übrigen solle
später im Pietismus (PH. J. SPENER, A. H. FRANCKE) als «jeder wirklich das thun [...] was seiner eigenthümlichen
zentrale Übung christlicher Frömmigkeit propagiert. [25] Natur gemäß ist». [32] Die weitere Entwicklung der Pre-
Zugleich etablieren sich die lutherischen Meditations- digtmeditation im 20. Jh. ist gekennzeichnet durch metho-
texte durch die Anlehnung an die rhetorische Stilistik dische Systematisierung und durch die zunehmende
(J.M. MEYFART) und an die Poetik ( G . P H . HARSDÖRFFER) Bedeutung praktischer Anleitung. Hervorgehoben wird
als eigenes Genre literarischer Kunstprosa (z.B. Mey- die systematisch-theologische Funktion der M. als Ver-
farts <Das himmlische Jerusalem) [ 1 6 2 7 ] oder C.R. v. mittlung zwischen der historischen Exegese und der kon-
GREIFFENBERGS monumentale Betrachtungen Von kreten Situation der Gemeinde. W. STECK bestimmt die
Allerheiligster Menschwerdung [...] Unsers H E R R N und Predigtmeditation als «Denkprozeß [...], der Exegese
Heilands JESU Christi> [ 1 6 7 2 - 1 6 9 3 ] ) . Aus der pietisti- und Verkündigung, Vergangenheit und Gegenwart
zusammenschließt». [33] Daraus ergeben sich zwei
schen Meditationsliteratur des 18. Jh. sind die Werke G.
methodische Schritte: die exegetisch orientierte M. vom
TERSTEEGENS hervorzuheben. [ 2 6 ]
biblischen Text her und die homiletisch ausgerichtete M.
Die Weiterführung der methodischen M. im Protestan-
auf die Predigt hin. [34] Unter Bezugnahme auf die Her-
tismus erfolgt v. a. in England. Ihr wichtigster Vertreter ist
meneutik GADAMERS wird als Ziel der M. die «Horizont-
der anglikanische Bischof JOSEPH H A L L , dessen Schrift verschmelzung» von historischer und gegenwärtiger Ver-
<The Arte of Divine Meditation> (1606) in ganz Europa kündigung postuliert. [35] Der Schwerpunkt liegt einer-
verbreitet wurde. Dieses Werk enthält eine vereinfachte seits auf der persönlichen Auseinandersetzung des Predi-
Version der scala meditationis Gansforts/Mombaers, gers mit dem Bibeltext, andererseits auf der methodi-
deren Hauptschritte (praeparatio, intellectus/voluntas, schen Erarbeitung der aktuellen Textaussage. Im Mittel-
oratio) beibehalten werden. Neben dieser <Meditation punkt der von O. H A E N D L E R und M. SEITZ vertretenen
Deliberate) stellt Hall einen zweiten Typus vor, den er Auffassung der Predigtmeditation steht die «unmittel-
<Meditation Extemporal) nennt. Dabei handelt es sich bare Begegnung mit dem biblischen Text und die Bereit-
um eine spontane, von äußeren Gegenständen und schaft, sich von ihm ergreifen zu lassen». [36] Andere
Anlässen ausgehende Gelegenheitsmeditation, die Ele- Homiletiker wie L. F E N D T und B. K L A U S ergänzen die per-
mente der mittelalterlichen Natur- und Dingallegorese sönliche Betrachtung des Predigers durch die rational-
sowie der frühneuzeitlichen Emblematik aufnimmt. Hall methodische «homiletische Besinnung», die sie in vier
selbst hat diese Form der M. in seinen <Occasional Medi- Arbeitsschritte gliedern: a) Erwägungen zur homileti-
tations) (1630) literarisch ausgeführt, denen insbeson- schen Lage des Bibeltextes; b) Betrachtung der heutigen
dere in Deutschland eine breite und produktive Rezep- homiletischen Lage; c) Brückenschlag von der einstigen
tion zuteil wurde, die von Harsdörffer über C H . SCRIVER zur jetzigen Situation der Hörer; d) Überlegungen zur
bis ins 18. Jh. zu B.H. BROCKES verfolgt werden kann. [27] Gestalt der Predigt. [37] Wie bei Schleiermacher, ist die
Aus sozialgeschichtlicher Perspektive erscheint die M. M. auch in der neueren protestantischen Homiletik im
im 17./18. Jh. als wichtiger Faktor im Prozeß gesellschaft- Rahmen der inventio angesiedelt: Sie dient dazu, die für
licher Individualisierung. [28] Durch ihre introspektive, die heutigen Hörer relevanten Aspekte des biblischen
memorative Haltung, die auf individuelle Selbsterkennt- Textes zu finden und mündet in die dispositio der Predigt.
nis zielt, unterstützt sie die Herausbildung subjektiver
Innerlichkeit und liefert die Voraussetzungen zur Hervorgegangen aus Sammlungen von Musterpredig-
'wissenschaftlichen' Bestimmung des Menschen in der ten des 19. Jh., erscheinen im 20. Jh. vermehrt Hilfen zur
frühaufklärerischen Psychologie des 17. und frühen Predigtarbeit, wie z.B. R. A. KOHLRAUSCHS Predigtdispo-
18. Jh. [29] sitionen unter dem Titel <Vademecum Homileticum>
VI. 19. /20. Jh. In der 2. Hälfte des 19. Jh. werden wich- oder K. H A U S S E N S <Predigtstudien> (1928), die exege-
tige Meditationstexte der frühen Neuzeit wiederentdeckt tisch-homiletische Bearbeitungen der kanonischen Pre-
und neu verlegt. Seit der Beschäftigung mit den indischen digttexte (Perikopen) enthalten. Daraus hat sich eine
Religionen in der Romantik haben außereuropäische eigene Textsorte der Predigtmeditationen entwickelt,
Meditationsformen eine zwar schwankende, aber anhal- deren Modell die seit 1946 erscheinenden <Göttinger
tende Konjunktur. Daneben ist ein verstärktes Interesse Predigtmeditationen> bilden, welche vor allem den
für die ignatianischen Exerzitien zu beobachten. Für die Ertrag der historisch-kritischen Exegese für das Ver-
Rhetorik von Wichtigkeit ist die Integration der M. in die ständnis der einzelnen Perikopen zusammenzufassen
protestantische Predigtlehre (Homiletik). Schon Luthers suchen. Spätere Predigthilfen stellen deutlicher die
hermeneutischer Meditationsbegriff steht in enger Bezie- Bedürfnisse der Frömmigkeit heraus. Die Verbindung
hung zur Verkündigung. [30] Mit SCHLEIERMACHER erhält von gegenwärtiger Situation und historischer Auslegung
die M. eine zentrale Stellung in der Predigtvorbereitung. im Sinne der «homiletischen Besinnung» intendieren die
Er definiert sie als eine freiwillige oder absichtliche 1968 von E. L A N G E begründeten <Predigtstudien>. [38]
Gedankenerzeugung, die man nicht auf Formeln und
Regeln zurückführen könne und deren Aufgabe darin
Anmerkungen:
bestehe, daß aus einem Keim, «gleichviel ob eine Einheit lvgl. Ε. v. Severus: Das Wort "Meditari" im Sprachgebrauch
von Text und Thema für die thematische Rede oder eine der Hl. Schrift, in: Geist und Leben 26 (1953) 365-375. - 2M.
allgemeine Ansicht der Schrifterklärung in der Homilie, Nicol: M. bei Luther ( 2 1990) 15. - 3 vgl. G. Butzer: Rhet. der M„
Gedanken entwickelt werden». [31] Schleiermacher in: G. Kurz (Hg.): M. und Erinnerung in der Frühen Neuzeit

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Meditation Meinung, Meinungsfreiheit

(2000). - 4vgl. R. Rudolf: Die Ars-moriendi-Lit. des MA, in: Meinung, Meinungsfreiheit (Meinung: griech: δόξα,
JbIG 3/1 (1971) 22-29. -5vgl. P. Rabbow: Seelenführung (1954) doxa; lat. opinio; engl, opinion, belief; frz. opinion; ital.
15-22. - 6 vgl. Quint. XI, 2, 32. - 7ebd. XI, 2,43. - 8 vgl. I. Illich: opinione)
Im Weinberg des Textes (1991) 60f. - 9 vgl. A. de Vogüé: Les
deux fonctions de la méditation dans les Règles monastiques A. Def. - B.I. Antike. - II. Mittelalter und Humanismus. - III.
anciennes, in: Rev. d'Histoire de la Spiritualité 51 (1971) 3-16. - Neuzeit. - 1. Wissenschaftsbegriff. - 2. Politik. - 3. Meinungs-
lOvgl. H. Bacht: "Meditatio" in den ältesten Mönchsquellen, in: freiheit und öffentliche Meinung.
Geist und Leben 28 (1955) 360-373. - 11 Augustinus: Enarr. in A. <Meinung> wird im allgemeinen in epistemologi-
Ps XXXVI, Sermo III, 5, in: CChr. SL, Bd. 38,371, Übers. Verf. - scher Bedeutung als Ausdruck subjektiven Fürwahrhal-
12vgl. G. Butzer: Pac-man und seine Freunde. Szenen aus der tens aufgefaßt. Damit kann zum einen der intentionale
Gesch. der Grammatophagie, in: DVjs Sonderh. <Medien des Sinn des Meinens und das geistige Gerichtetsein bezeich-
Gedächtnisses> (1998) 228-244. - 13vgl. J. Leclercq: Wiss. und net werden (engl, meaning), zum anderen der Modus der
Gottverlangen (1963) 83-102. - 14Anselm von Canterbury:
Oratio ad sanctum Iohannem Baptistam, in: ders.: Opera omnia, Gewißheit, der sich im Vergleich zum Wissen als defizi-
hg. von F.S. Schmitt, Bd. 3 (1946) 26-29, hier: 29, Übers. Verf. - tär erweist (engl, belief). Meinung gilt dann entweder als
15 vgl. K. Erdei: Auf dem Wege zu sich selbst: Die M. im 16. Jh. eine Vorstufe des Wissens oder wird im Gegensatz zum
(1990). - 1 6 Hugo von St. Viktor: De meditando seu meditandi Wissen als ein Hindernis wahrer Erkenntnis verstanden.
artificio, in: ML, Bd. 176, 993-998, hier: 993, Übers. Verf. - Hinter diese Auffassung zurück führt die allgemeine
17Guigo II der Kartäuser: Scala claustralium sive tractatus de Bedeutung des Begriffs, der ganz unspezifisch im Sinne
modo orandi, c. 1, in: ML, Bd. 184, 475-484, hier: 476, Übers, von <Auffassung>, <Ansicht> oder <Uberzeugung> ge-
nach R. Esser: <Cogitatio> und <meditatio> (1985) 96. - 18vgl.
Hugo von St. Viktor [16] 994. - 19vgl. J. Mauburnus: Rosetum braucht werden kann (engl, opinion). An diesen Sprach-
Exercitiorum spiritualium et sacrarum meditationum (Paris gebrauch ist aus rhetorischer Perspektive anzuknüpfen.
1510) tit. XX, c. 1-8. - 20 Ignatius von Loyola: Exercitia spiritua- Meinung in diesem Verständnis erschöpft sich nicht im
lia Nr. 47, übers. vonH.U. v. Balthasar: Ignatius von Loyola: Die Bejahen eines Satzes, sondern steht für ein dispositiona-
Exerzitien ("1993) 26. - 21 vgl. Rabbow [5] 56-80. - 22vgl. H. les Wissen, das den Wirklichkeitsbezug und die Weltaus-
Bacht: Das "Jesus-Gebet" - seine Gesch. und seine Problema- legung des Subjekts zum Ausdruck bringt. Meinungen
tik, in: Geist und Leben 24 (1951) 326-338. - 23vgl. Nicol [2] besitzen insofern eine genuin praktische Bedeutung, als
21 ff. - 24vgl. O. Bayer: Oratio - meditatio - tentatio, in:
Lutherjb. (1987) 7-59. - 25vgl. U. Sträter: M. und Kirchenre- sie das Selbstverständnis des Individuums und dessen
form in der luther. Kirche des 17. Jh. (1995). - 26 vgl. M. Nicol: Orientierung repräsentieren.
Εν. M. bei Gerhard Tersteegen, in: Theol. Beitr. 21 (1990) 136- Nur unter diesen Prämissen wird plausibel, inwiefern
150. - 27 vgl. U. Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall (1987) die Freiheit der Meinung ein politisch bekräftigter nor-
83-101. - 28 vgl. Kurz [3], - 29 vgl. Th. Müller: Rhet. und bürgerl. mativer Anspruch werden kann. Meinungsfreiheit wird
Identität (1990). - 30vgl. Nicol [2] 53f„ 61, 63. - 31F. Schleier- verstanden als subjektives Recht auf freie Entfaltung ins-
macher: Die prakt. Theol. nach den Grundsäzen der ev. Kirche, besondere der religiösen und politischen Anschauungen.
hg. von J. Frerichs (1850) 270. - 32ebd. 272. - 33W. Steck: Das
homilet. Verfahren (1974) 32. - 34vgl. J. Wolff: Ani. zur Predigt- Sie beschränkt sich jedoch nicht auf die Freiheit des Den-
meditation (1955). - 35 vgl. W. Trillhaas: Ev. Predigtlehre kens, sondern schließt in ihrer konsequenten Deutung
(51964) 78ff. - 36 M. Seitz: Zum Problem der sog. Predigtmedita- die Äußerung der Meinung und die ungehinderte Ver-
tion, in: ders.: Praxis des Glaubens (21979) 21-32, hier: 24. - breitung derselben ein. Im freien Spiel der Meinungen
37vgl. L. Fendt, B. Klaus: Homiletik (21970) 80-93. - 38vgl. D. etabliert sich die öffentliche Meinung als das Organ
Rössler: Grundriß der Prakt. Theol. (1986) 356f. gemeinsamer Orientierung, das im Rahmen politischer
Verfassungen als Legitimationsinstanz in Anspruch
Literaturhinweise: genommen wird, dabei jedoch den Verdacht der Mani-
P. Debongnie: Jean Mombaer de Bruxelles (Löwen 1928). - L. pulierbarkeit erregt. In dieser ambivalenten Gestalt zeigt
Zarncke: Die Exercitia Spiritualia des Ignatius von Loyola in sich das ganze Potential, aber auch die Grenze der Mei-
ihren geistesgesch. Zusammenhängen (1931). - L.A.M. Goos- nung.
sens: De meditatie in de eerste tijd van de Moderne Devotie B.I. Antike. Meinung ist der Gegenstand und das
(Haarlem/Antwerpen 1952). - L. Claßen: Die "Übung mit den Medium der klassischen Rhetorik, die insbesondere
drei Seelenkräften" im Ganzen der Exerzitien, in: F. Wulf (Hg.):
Ignatius v. Loyola (1956) 263-300. - H. Wolter: M. bei Bernhard
durch Aristoteles ihre Ausprägung erfahren hat. Ihr vor-
von Clairvaux, in: Geist und Leben 29 (1956) 206-218. - H. Rah- aus liegt jedoch die Unterscheidung von Meinung (δόξα,
ner: Die 'Anwendung der Sinne' in der Betrachtungsmethode doxa) und Wissen (επιστήμη, epistëmë), die sich im grie-
des hl. Ignatius v. Loyola, in: Zs. für kath. Theol. 79 (1957) 434- chischen Denken seit den Vorsokratikern ausgebildet
456. - H.H. Eßer: Aufgabe und Leistung der Predigtmeditation, hat. Während bei P A R M E N I D E S noch Meinung als Resul-
in: Monatsschr. für Pastoraltheol. 47 (1958) 221-230,283-295. - tat der sinnlichen Wahrnehmung identifiziert und vom
M. Josuttis: Homiletik und Rhet., in: Monatschr. für Pastoral- Wissen über das Seiende, das allein Wahrheit beanspru-
theol. 57 (1968) 511-527. - F. Ruppert: Meditatio - Ruminatio,
in: Erbe und Auftrag 53 (1977) 83-93. - E. v. Severus, A. Solig-
chen kann, unterschieden wird, sehen die Sophisten im
nac, M. Goossens, M. Sauvage, J. Sudbrack: Art. <Méditation>, Streit der Meinungen das Medium der Wahrheit, so
in: Diet, de Spiritualité, ascétique et mystique, Bd. 10 (Paris zwar, daß dabei ein über die Meinung hinausweisender
1977-1980) 906-934. - P. Hadot: Exercices spirituels et philoso- Begriff von Wahrheit bestritten wird. Die Rhetorik avan-
phie antique (Paris 1981). - R. A. McCabe: Joseph Hall. A Study ciert dadurch zum Medium des Logos, denn der Aus-
in Satire and Meditation (Oxford 1982). - E. Koch: Therapeut. tausch der Meinungen gewährt Orientierung in theoreti-
Theol. Die Meditationes sacrae von Johann Gerhard, in: Pietis- schen und praktischen Fragen gleichermaßen. Auf die
mus und Neuzeit 13 (1987) 25-46. - F. Posset: Bible Reading
"With Closed Eyes" in the Monastic Tradition: an Overlooked
sophistische Entdeckung des Potentials der Meinungen
Aspect of Martin Luther's Hermeneutics, in: The Amer. Bene- datiert auch der Machtzuwachs, den die Rhetorik im 5.
dictine Rev. 38/39 (1987/88) 293-306. - M. Nicol: Art. <M. II>, in: Jh. erfahren hat. Die Redner verfügen über die Meinun-
TRE, Bd. 22 (1992) 337-353. gen, sofern sie Meinungs- und Entscheidungsbildung
G. Butzer strukturieren und dadurch Einfluß auf das Selbstver-
ständnis der Einzelnen sowohl als der Gemeinschaft neh-
-* Confessio —> Erbauungsliteratur -> Gebet -> Homiletik -» men. Der Hintergrund für diesen Prestigegewinn der
Memoria -» Mystik -> Predigt -» Schriftauslegung —> Rezitation Rhetorik ist die im Zuge der Demokratisierung der Polis

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Meinung, Meinungsfreiheit Meinung, Meinungsfreiheit

erfolgende «Politisierung der Polis-Ordnung» [1], eine im Vergleich zur Wissenschaft minderes Wissen dar, son-
Entwicklung, die auf dem Bewußtsein der Gestaltbarkeit dern beziehen sich auf das, was sich meistens, aber nicht
von Praxis und Politik beruht. So sieht der Sophist GOR- notwendig immer auf eine bestimmte Weise verhält. [10]
GIAS in der Meinung die zwar trügerische, aber alternati- Was unter diese Kategorie fällt, läßt sich nun nicht
venlose Instanz praktischer Orientierung. [2] PROTAGO- anders bestimmen als dadurch, daß es allen oder den
RAS' Vorstellung einer kollektiven doxastischen Hand- meisten oder den Weisen einleuchtet. Deren logische
lungsbasis erhellt zugleich die konstitutive Bedeutung Bestimmung faßt Aristoteles als ένδοξα, éndoxa, als all-
der Meinung für die demokratische Welt. [3] Die sophi- gemein geteilte Meinungen, die als Prämissen eines dia-
stische Rhetorik rekurriert auf die umlaufenden konkur- lektischen Schlusses auftreten können. [11] Mit dieser
rierenden Meinungen, die eine Handlungssituation aus- sowohl ontologischen als auch epistemologischen Be-
leuchten und Handlungsmöglichkeiten erschließen. Daß stimmung ist der Horizont der Rhetorik abgesteckt, der
Meinungen standpunktbezogen sind, muß nicht als identisch ist mit der Reichweite der Meinung als dem
Nachteil verbucht werden, wenn das Handeln selbst und Bereich dessen, was mit größerer oder geringerer Plausi-
insbesondere die politischen Entscheidungen diesen bilität erschlossen werden kann.
Standpunkten Rechnung tragen sollen. Wenn jedoch Diese Sphäre des Möglichen, dessen, was so oder auch
derselbe Protagoras sich damit brüstet, «den schwäche- anders sein kann, ist die Welt der Praxis im weitesten
ren Logos zum stärkeren» machen zu können [4], kommt Sinne. Meinungen sind insofern das Medium, in dem sich
die Ambivalenz dieses ganz auf Meinung gestützten Handlungsräume erschließen und Entscheidungen fällen
Rhetorikkonzepts zum Ausdruck. Nicht nur die Orien- lassen. Meinungen eignen sich deshalb als Substrat der
tierungsfunktion, sondern auch ein dramatisch zuge- Rhetorik, weil sich in ihnen die drei Überzeugungsmittel,
spitzter Orientierungsbedarf läßt sich im Medium der i.e. logische, ethische und pathetische Momente auf
Meinung darstellen, ohne daß deutlich wird, wie in dieser zwanglose Weise verbinden. Sowohl die Auslegung von
Dynamik des Wandels noch tatsächlich Orientierung Handlungssituationen als auch die Motivation der Han-
gefunden werden kann. Letztlich mündet der sophisti- delnden basiert auf einem Konglomerat von Überlegun-
sche Anspruch auf die unumschränkte Verfügbarkeit der gen, Gewohnheiten und affektiven Dispositionen, die in
Meinung in den Versuch einer Instrumentalisierung der den Meinungen verschmelzen.
Meinung für kontingente Zwecke, ein Ansinnen, das Indem Handlungen auf die Auslegung der jeweiligen
dem rhetorischen Ausgangspunkt, der Einsicht in die Situation, auf die Entdeckung von Alternativen und die
konstitutive Bedeutung der Meinung diametral entge- Bereitschaft der Beteiligten zur Kooperation angewie-
gengesetzt ist. sen sind, erweist sich die Rhetorik, die den Umgang mit
Indem PLATON in seiner Kritik der Sophistik diese Pro- Meinungen systematisch anleitet, als genuin politische
blematik aufgreift, wird seine Skepsis gegenüber der Disziplin. Der Mensch ist, gemäß der klassisch geworde-
Meinung plausibel. Gegen die sophistische Nivellie- nen Definition, das politische Lebewesen genau in der
rungstendenz gerichtet beharrt seine Philosophie auf der Bedeutung, daß er sich seine soziale Lebenswelt sprach-
Differenz von Wissen (epistémë) und Meinen, wiewohl lich erschließen muß. Die politische Welt ist nicht einfach
er wie kein anderer auf die Schwierigkeiten einer klaren als factum brutum vorgegeben, sondern konstituiert sich
Unterscheidung hinweist. [5] Es gibt kein externes Krite- im Spiel der Meinungen. In den Meinungen schlagen sich
rium der Identifikation von Wissen. Wenn Piaton den die unterschiedlichen Dispositionen der Individuen nie-
Rekurs auf das Gute als die entscheidende Qualifikation der, lassen sich die Perspektiven der Handelnden darstel-
des Wissenden vorstellt, so ist damit jedoch die Frage len und Differenzen sowohl als Gemeinsamkeiten arti-
nach dem Zweck des Wissens und Handelns, die von den kulieren. Die politische Rede, deren Ideal die gemein-
Sophisten neutralisiert wurde, wieder in die Diskussion same Beratung und der Austausch der Meinungen
ist [12], wird so zum Organ der Orientierung in prakti-
gebracht. [6] Meinungen sind damit nicht grundsätzlich
schen Verhältnissen.
diskreditiert, im Unterschied zum Wissen aber prinzi-
piell ambivalent. Piaton ist deshalb die Rhetorik, die er Diese systematisch klar ausgewiesene Rolle der Mei-
in ihrer sophistischen Spielart präsentiert, insgesamt nung ist bedingt durch ein entsprechendes Praxiskonzept
suspekt. Der strategischen Inanspruchnahme der Mei- und eine Epistemologie, die dem Wahrscheinlichen im
nung und dem darauf gründenden Machtbewußtsein der Sinne des Möglichen einen eigenen, vom Wahrheitsbe-
Sophisten begegnet er dadurch, daß er das Wissen um die griff unabhängigen Stellenwert zuerkennt. Hinter dem
Zwecke des Handelns in Spiel bringt, das nicht rheto- modernen Verständnis von Meinung liegen fundamen-
risch, sondern dialogisch erschlossen wird. [7] Der tale Veränderungen, die sowohl das Verständnis der
Sophist verfügt nicht über wirkliche Macht, weil er das Politik als auch die Unterscheidung von Meinung und
Worumwillen des Tuns vergißt und deshalb von einer Wissen betreffen. Das neue Politikverständnis ergibt sich
Verfügbarkeit der Meinung ausgeht, die der Struktur aus der Emanzipation des Subjekts als eines Trägers
von Praxis widerspricht. natürlicher Rechte, die letztgenannte Voraussetzung
Der Praxiszusammenhang als ganzer ist auch einer dokumentiert sich in der Entstehung der neuzeitlichen
planmäßig verfahrenden Rhetorik nicht verfügbar. ARI- Wissenschaften. Beide Entwicklungen hängen systema-
STOTELES zieht daraus die Konsequenz einer Rhetorik-
tisch zusammen und bedingen das Interesse an der Frei-
konzeption, die nicht instrumenten angelegt ist, sondern heit der Meinung, die sich paradoxerweise einer politi-
schen Depotenzierung der Meinung und einer gleichzei-
die Konstitution der Praxis nachzeichnet. [8] Dieses klas-
tigen normativen Aufwertung der Meinenden verdankt.
sische Modell begründet die systematische Verbindung
In dem Maße, in dem die Meinung als Orientierungsin-
von Rhetorik und Meinung. Rhetorik zielt nach Aristo-
stanz der praktischen Welt fragwürdig wird, kann sie zum
teles auf das «Glaubenerweckende» [9], die Meinung
Indikator der rechtlich verbürgten subjektiven Freihei-
also, und wird in dieser Bedeutung der Dialektik an die
ten werden. Erst auf dieser Basis können dann die Mei-
Seite gestellt. Die Prämissen der Rhetorik beruhen frei-
nungen eine konstitutive Funktion im Rahmen der poli-
lich nicht auf wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern auf tischen Ordnung übernehmen.
wahrscheinlichen Sätzen. Diese wiederum stellen kein

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Meinung, Meinungsfreiheit Meinung, Meinungsfreiheit

II. Mittelalter und Humanismus. In der spätantiken gleichsam eine Ethik des wissenschaftlichen Denkens.
christlichen Tradition ist zunächst der Verfall der klassi- Der menschliche Verstand hat sich gegen die Verführun-
schen Rhetorik und damit der Bedeutungsverlust der gen des Willens und der Leidenschaften zu verwahren,
Meinung zu verzeichnen. Die mit A U G U S T I N U S einset- die ihn bei den Meinungen verweilen lassen, statt sich der
zende Vereinnahmung der Rhetorik für homiletische Wahrheit zuzuwenden.
Zwecke setzt einen festen Bestand doktrinalen Wissens DESCARTES entwickelt das Programm für diese Selbst-
voraus, von dem aus die Wirkung auf die Meinungen ver- disziplinierung des Geistes, die sich in der Auseinander-
anschlagt werden kann, ohne daß den Meinungen selbst setzung mit den Meinungen zu bewähren hat. Es gilt,
eine eigenständige Bedeutung zukäme. [13] Für das dem Verstand eine verläßliche Methode zu bieten, denn
christliche Denken ist diese Weichenstellung entschei- wenn das Denken auf Wahrheit hin angelegt ist, so kön-
dend. Das ändert sich erst im Zusammenhang mit der nen die Irrtümer durch den falschen Gebrauch der geisti-
Wiederentdeckung der aristotelischen Logik, die als gen Kräfte verursacht sein. Nicht der Methodengedanke
Grundlage der Wissenschaften rezipiert wird. Die im 12. als solcher ist neu, vielmehr verdankt dieser sich, wie die
Jh. wieder zugängliche Topik des Aristoteles wird von zahlreichen humanistischen Traktate seit dem Ende des
J O H A N N E S VON SALISBURY als methodologische Struktur 15. Jh. und insbesondere die <Dialecticae institutiones>
einer Argumentationslogik interpretiert, die eine auf M. (1543) des PETRUS R A M U S belegen, der Universalisierung
gegründete Wissenschaft präfiguriert. [14] rhetorischer Kategorien in der dialektischen Logik als
Im weiteren wird diese methodologische Verknüpfung Leitwissenschaft. Aber signifikant ist die Konsequenz,
von rhetorischer Topik und dialektischer Logik beibe- mit der Descartes das Substrat dieser Logik, die umlau-
halten, aber erst der Humanismus sucht in Verbindung fenden Meinungen, als Voraussetzungen des Wissens
mit seinem Bildungsanspruch ein systematisches Ver- diskreditiert. Als Heilmittel gegen die Meinungen dient
ständnis der Meinung, das die aristotelische Konzeption ein radikaler Skeptizismus, der jedoch nicht in die voll-
der éndoxa wieder in den Kontext praktischer Orientie- ständige Urteilsenthaltung mündet, sondern lediglich
rung überführt. [15] Charakteristisch für diese Entwick- dem Wissen das Fundament bereitet. Der Umsturz aller
lung sind die <Dialecticae disputationes> (1439) von L. Meinungen ist eine Läuterung des Verstandes, der dann
V A L L A , die Wissenschaft durch die topischen Kategorien nach festen Regeln wissenschaftliche Wahrheit er-
sprachlicher Weltauslegung zu begründen suchen. Es ist schließt. Wenn nur das als wahr anzunehmen ist, was evi-
jedoch hervorzuheben, daß diese Funktion nicht der dentermaßen einleuchtet und was sich dem Denken klar
Rhetorik, sondern der Dialektik als der Leitwissenschaft und distinkt darstellt [19], muß alles unsichere Wissen
aller Disziplinen zugeschrieben wird. Damit wird die außer acht gelassen werden. So zeigt sich das Wahr-
praktische Funktion der Meinung nivelliert zugunsten scheinliche, das Meinen also, in unmittelbarer Nachbar-
eines universalen Methodenkonzepts. Letztlich scheitert schaft des Falschen.
aber die humanistische Wissenschaftskonzeption genau Wenn G. Vico, ein zu seiner Zeit anachronistischer
an diesem von ihr selbst proponierten methodologischen Verteidiger der rhetorisch-topischen Tradition, durch
Konzept, das eine wirkliche Begründung des Wissens eine Rehabilitierung des Wahrscheinlichen diese Ent-
fordert und doch nicht zu liefern vermag. [16] wicklung der neuzeitlichen Wissenschaft zu korrigieren
III. Neuzeit. 1. Wissenschaftsbegriff. Für die neuzeitli- sucht, verkennt er gerade die entscheidende Pointe des
che Begründung der Wissenschaft sind damit die Krite- kritischen Programms der Wissenschaften: die Orientie-
rien ex negativo vorgegeben. B A C O N S <Novum Orga- rung am Prinzip der Gewißheit als Maßstab der Wahr-
num», das auf dem Boden der rhetorischen Tradition ver- heit. Er verrät schon durch die Benennung des Wahr-
faßt wurde, ist die neuzeitliche Antwort auf das Dilemma scheinlichen als des Wahrheitsähnlichen, daß er die Idee
der Methodenfrage. Es zieht eine klare Trennungslinie unbedingter Wahrheit voraussetzen muß, um privativ die
zwischen den rhetorischen Mitteln, die auf Zustimmung Wahrscheinlichkeit zu bestimmen. Die verisimilia, ver-
angelegt sind, und den Kriterien der Wissenschaftlich- standen als ein Mittleres zwischen dem Wahren und dem
keit, die sich allein an der Sachangemessenheit orientie- Falschen [20], besitzen zwar als Alltagswissen eine
ren. [17] Für die Meinungen, die den Fundus der traditio- gewisse Bedeutung, können aber nach Maßgabe der
nellen Dialektik bilden, hat Bacon demgemäß nur Ver- methodischen Regeln der Kritik keine wissenschaftliche
achtung übrig. Sein neues Wissenschaftsprogramm erbt Dignität beanspruchen. Dennoch bildet Vicos Werk die
zwar die rhetorischen Kategorien der Dialektik und Brücke zur Tradition der klassischen Rhetorik und
ihren Anspruch, alle Regionen des Wissens methodisch Topik, die er dem neuzeitlichen Wissenschaftsprogramm
zu erschließen, doch gelingt dies nur unter der Voraus- an die Seite stellen möchte. Die Topik als Kunst des rich-
setzung einer vollständigen Abkoppelung der Wissen- tigen Umgangs mit den Meinungen muß der Kritik und
schaft von den tradierten Meinungen und Begriffen. Wis- dem Beweis vorausgehen, weil erst die umfassende
senschaft basiert auf der Erforschung der natürlichen Kenntnis der Umstände ein klares Urteil verbürgt. Nicht
Zusammenhänge und darf nicht von ungeprüften Vor- zu ersetzen ist die Topik aber auch deshalb, weil nur sie
meinungen oder von tradierten Lehrsätzen verunklärt den Zugang zu den Fragen der Moral und Politik
werden. In seiner Lehre von den sogenannten <Idolen> erschließt. Nicht der wissenschaftliche Verstand, son-
untersucht Bacon die Täuschungsursachen, die den Geist dern allein der sensus communis wird der Komplexität
der Menschen verwirren. [18] Als Quellen solcher leeren der von M. geprägten Praxis gerecht.
Meinungen (placita quaedam inania) identifiziert er die Indessen setzt sich mit dem neuzeitlichen Wissen-
Struktur der menschlichen Sinneswahrnehmung (idola schaftsmodell die Auffassung durch, Meinung sei eine
tribus), die Idiosynkrasien und die Bedingungen der «ungewisse Erkenntnis in Sachen, da man doch eine
Sozialisation des Einzelnen (idola specus), den auf Kon- Gewißheit haben kan» [21], auch wenn gleichzeitig noch
ventionen beruhenden falschen Sprachgebrauch (idola die topische Tradition in Erinnerung ist. In dieser Hal-
fori) und die tradierten irrigen Lehrsätze und Dogmen tung verbindet sich die Tendenz der Wiederbelebung des
(idola theatri). Indem Bacon die Einwirkungen dieser pyrrhonischen Skeptizismus, der in zweifelhaften Ange-
Meinungen auf den Verstand erläutert, skizziert er legenheiten die Urteilsenthaltung empfiehlt, mit der

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Meinung, Meinungsfreiheit Meinung, Meinungsfreiheit

Aussicht auf Gewißheit, die jedes methodische procedere permanenten Streits aufgefaßt wird. Der durch die unter-
gewährt. In diesem Sinne bildet bei B A C O N die Beseiti- schiedlichen Meinungen hervorgerufene Krieg aller
gung der Irrtümer die Voraussetzung des Wissenschafts- gegen alle kann nur durch eine radikale Umorientierung,
programms. Seine Idolenlehre beabsichtigt als Propä- durch den Rekurs auf das allen gemeinsame Interesse an
deutikum eine Reinigung von allem Meinungshaften und der Selbsterhaltung sistiert werden. Die Rhetorik ist
disqualifiziert damit alles nicht methodisch erworbene damit als Medium der Verständigung disqualifiziert. An
Wissen als vorschnelles Urteil, als Vorurteil. Bei DES- ihre Stelle tritt die methodisch gereinigte Vernunft, auf
CARTES ist dieser Zusammenhang systematisch entwik- deren Basis der Staat systematisch konstruiert wird. [29]
kelt. Sein Methodentraktat beschränkt sich zwar auf die Nicht das Spiel der Meinungen, sondern Befehlsstruktu-
Forderung, einmal im Leben an allem zu zweifeln [22], ren bilden das sprachliche Medium der politischen
aber das Wissenschaftsverständnis ist durchgängig auf Gemeinschaft, die von einer Logik der Macht bestimmt
eine Kritik der Meinung gegründet, sofern vorschnelles wird. Das grenzenlose Machtstreben der Individuen wird
Urteilen oder das Urteilen aufgrund vorgefaßter Mei- durch das Machtmonopol des Leviathan, der sich als
nungen eine dauernde Bedrohung der Wissenschaftlich- absoluter Souverän präsentiert, gebrochen. Realisiert
keit darstellt. Der gegen alle Meinungen ausgesprochene wird diese Konstruktion nach der Formel eines Vertrags,
Verdacht ist deshalb konstitutiv für das ganze Unterneh- in dem sich die Einzelnen zusammenschließen und
men. Wenn Wahrheit die Leistung des Verstandes ist, so gemeinsam einer zentralen Gewalt unterwerfen. Nach
können Meinungen, analog zu Irrtümern, nur durch den diesem Modell wird Politik als reine Wissenschaft
Willen, durch eine unrechtmäßige Bejahung eines begründet und unabhängig von den kontingenten und
Urteils Akzeptanz finden. [23] Im Vorurteil manifestiert kontroversen Meinungen ins Werk gesetzt. Mit dem Ver-
sich also eine moralisch anstößige Haltung. tragskonstrukt sind nicht nur die Meinungen, sondern
Diese dispositionale Charakteristik der Meinung wird auch der Wahrheitsanspruch für politische Belange neu-
im weiteren vertieft. Die Logik von P O R T - R O Y A L betont tralisiert. Für Verständigungsprozesse läßt das hobbes-
die ethische Seite der Vorurteilskritik und identifiziert sche Staatsmodell deshalb wenig Raum, und der Levia-
Eigenliebe und Autoritätsgläubigkeit als die entschei- than selbst greift auf die Meinung nur in strategischer
denden Motive dafür, an Meinungen festzuhalten. [24] Absicht zurück. Diese Suspendierung aller subjektiven
Einer so ansetzenden Vorurteilskritik kann nicht mit und insbesondere religiösen Meinungen dient dazu, poli-
einem einmaligen Akt skeptizistischer Befreiung von tische Ordnung jenseits der Kontingenz der Handlungs-
den Meinungen entsprochen werden, sie fordert viel- welt zu etablieren, ersetzt aber damit jede sachliche
mehr eine ständige Bereitschaft, die Urteile zu revidie- Orientierung der Politik durch das Kriterium bloßer
ren. Vorurteilskritik wird dadurch ubiquitär. Sicherheit. Dies bedeutet für die Meinungen, daß sie in
Daß nicht die Meinung als solche zu diskreditieren ist, der Perspektive des Herrschaftssystem gleichgültig wer-
sondern nur die zu Irrtümern führenden Vorstellungen, den, also dem Belieben der Einzelnen überantwortet
wird von den Kritikern einer immer umfassender ange- werden. Die Diskreditierung der Meinung eröffnet aber
legten Vorurteilskritik ins Feld geführt. Vor allem im gleichzeitig einen neuen Spielraum, in dem das Subjekt
Namen der Religion wird die Unantastbarkeit sogenann- unterhalb der Ebene staatlichen Handelns, allerdings um
ter legitimer Vorurteile behauptet [25], ohne damit je- den Preis seiner politischen Bedeutungslosigkeit, neue
doch den Status der Meinung grundsätzlich anzugreifen. Freiheit gewinnt. Mit dieser Trennung einer öffentlichen
So wird, vermittelt über die wissenschaftliche Perspek- und einer privaten Sphäre ist bereits das liberale Ver-
tive, die praktische Unverzichtbarkeit derselben doku- ständnis der Meinung vorgezeichnet.
mentiert, und obwohl die Meinungen damit nur verzerrt LOCKES «law of opinion», das als Regulativ neben die
wahrgenommen werden, gewinnen sie damit zunehmend göttlichen und bürgerlichen Gesetze tritt [30], verweist
mehr Aufmerksamkeit. Die Autoren der Aufklärung auf diese praktische Funktion der Meinung unterhalb
bieten eine differenzierte Darstellung der Meinung in der staatlichen Handlungsebene. Das Urteilen auf der
ihrer theoretischen und praktischen Funktion. [26] So Basis der Maximen und Konventionen einer Gesell-
insinuiert T H O M A S I U S eine an die aristotelische Klug- schaft bildet gewissermaßen ein natürliches Medium der
heitslehre anschließende Reform der Lebenswelt, die auf Orientierung, in dem sich eine Gesellschaft als morali-
einem reflektierten Umgang mit den Meinungen sche Welt etabliert. Auffällig im Unterschied zur franzö-
beruht. [27] Die dabei versuchte Verbindung von prakti- sischen Tradition ist dabei die Verschränkung von Mei-
scher Klugheit und Vorurteilskritik schärft einerseits den nungsbildung und Kritik {private censure), die Ausdruck
Sinn für die Meinung und fordert andererseits unbe- einer rhetorischen Verständigungsleistung außerhalb
grenzte Kritikbereitschaft. Gleichzeitig wird das Wahr- der Sphäre rationaler Argumentation ist. Trotz ihrer
scheinliche wieder in die Logik integriert, aus der es im unbezweifelbaren Kontingenz zeigt sich damit wieder
Namen der Wissenschaft verstoßen wurde. Der allgegen- die praktische Bedeutung der Meinungen, die jenseits
wärtige Vorurteilsverdacht bringt es mit sich, daß der rechtlicher und politischer Strukturen einen fundamen-
Gewißheitsanspruch letztlich selbst ins Wanken ge- talen Konsens verkörpern und zugleich den Differenzen
rät. [28] der Standpunkte Rechnung tragen. Lockes Konzeption
2. Politik. In bezug auf die praktischen Verhältnisse wird bleibt jedoch insgesamt ambivalent, sofern er diese Basis
jedoch ein anderer Weg eingeschlagen. Während sowohl rhetorischer Orientierung durch Meinung nicht mit der
Bacon als auch Descartes sich noch dagegen verwahren, vertraglich konstruierten Staatlichkeit zu vermitteln
die Kritik der Meinung auf die Welt des Handelns zu weiß. Das law of opinion ist explizit auf den Skopus pri-
übertragen, die nur in den Meinungen ihre Stabilität fin- vaten Urteilens beschränkt.
den kann, wagt H O B B E S eine Übertragung des neuen In der anglo-schottischen Moralphilosophie des 18. Jh.
Wissenschaftsverständnisses auf die Praxis. Seine scien- wird der Versuch unternommen, auch die politische
tia civilis begründet einen Neuanfang des politischen Dimension der Meinung wiederzugewinnen. Der Rekurs
Denkens dadurch, daß die Meinung, statt die Verge- auf den common sense, den Alltagsverstand und die
meinschaftung der Individuen zu befördern, als Ursache Üblichkeiten der Lebenswelt soll die Defizite einer wis-

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Meinung, Meinungsfreiheit Meinung, Meinungsfreiheit

senschaftlichen Konzeption von Praxis korrigieren. einer Beteiligung der Bürger am politischen Geschehen
SHAFTESBURY, H U M E und SMITH [31] erheben Einspruch verbunden, das die meist nationalen demokratischen
gegen die theoretische Auflösung des praktischen Selbst- Bewegungen bestimmt. Doch erweist sich für diese
verständnisses einer historisch gewachsenen Sittlichkeit demokratische Perspektive die Subjektivität der Mei-
und wenden sich im Namen der Meinung gegen das nung insofern als ein Problem, als die Meinungsbildung
methodische Konstrukt einer vertraglich begründeten der Einzelnen im Kontext der Meinungen anderer und
Gemeinschaft. Während bei Shaftesbury diese Idee des deshalb nicht ohne äußeren Einfluß stattfindet. Wenn
common sense durch die metaphysische Voraussetzung die individuelle Meinung unter den Druck der Mehr-
einer in den Meinungen dokumentierten quasi natürli- heitsmeinung gerät, reduziert sich die Chance einer Rea-
chen Sozialität erkauft wird, berücksichtigt Hume die lisierung der Vernunft und die vermeintliche Kontrolle
den Meinungen eigene Perspektivität, die ganz entschei- der Herrschaft schlägt um in eine Tyrannei der Mehrheit.
dend zur Gemeinschaftsbildung beiträgt und der Mög- TOCQUEVILLE hat diese Gefahr feinsinnig registriert und
lichkeit eines Konsenses keineswegs widerspricht, diesen vor der Gefahr totalitärer Tendenzen unter dem Deck-
vielmehr erst ermöglicht. Dies zu zeigen gelingt Hume mantel der Demokratie gewarnt. [36]
jedoch nur unter der Voraussetzung der Einbindung des Das entscheidende Problem, das Verhältnis von Mei-
individuellen Meinens in die Statik fester Traditionen, nung und Vernunft im Spannungsfeld individueller und
die in der modernen Welt freilich zunehmend fragwürdig kollektiver Orientierung, ist damit indes noch nicht
werden. berührt. Daß das liberale Freiheitsrecht sich mit den kol-
Dieses Spannungsverhältnis von individueller und kol- lektiven Meinungsbildungsprozessen verträgt, versteht
lektiver Meinung bestimmt die politischen Auseinander- sich nicht von selbst. R.L. D ' A R G E N S O N klagt diesen
setzungen um die Meinung in der Phase des Konstitutio- Zusammenhang ein und fordert, allerdings noch unter
nalismus, wobei die angelsächsischen Länder auf eine dem Stichwort des «Interesses der Öffentlichkeit», eine
lange Tradition der Etablierung von Grundrechten Berücksichtigung der Disposition der Beherrschten sei-
zurückgreifen können. [ 3 2 ] Für J . M A D I S O N ist die viel tens der Regierenden, die allein die Lebendigkeit des
beklagte Differenz der Meinungen schlechterdings kon- Staates gewährleistet. [37] Damit wird Politik auf den
stitutiv für das politische Leben. Er rekurriert nicht auf zwanglosen Prozeß der Verständigung zwischen Herr-
eine untergründige Gemeinsamkeit, sondern beleuchtet scher und Beherrschten verpflichtet, ein Programm, das
die Bedingungen einer Kultivierung dieser unterschiedli- schließlich R O U S S E A U mit letzter Konsequenz ausgear-
chen Meinungen im Rahmen einer republikanischen beitet hat. Zwar spricht auch Rousseau ganz im Sinne der
Verfassung, die dem Prinzip der Repräsentation ver- Aufklärer noch despektierlich von den bloßen Meinun-
pflichtet ist. [33] Die institutionell garantierte Entfaltung gen im Sinne von Vorurteilen [38], prägt aber anderer-
der Meinung wird so zur Bedingung des Zusammenhalts seits den Terminus der öffentlichen Meinung als Kollek-
der politischen Gemeinschaft. tivsingular. [39] Die öffentliche Meinung ist der gesell-
Der vormals private Austausch der Meinungen hat so schaftliche Reflex der Sitten und dient als Bindeglied
den Rang eines die Verfassung tragenden Prinzips zwischen der Regierung und dem Volk zunächst in dem
gewonnen. Am Vorabend der Französischen Revolution Sinne, daß die Regierung Einfluß auf die Sitten gewinnt.
sucht E. B U R K E den erfolgreichen Kampf der Amerika- Die in Lockes law of opinion explizit privat verstandenen
ner um ihre Unabhängigkeit seinen Wählern nahezubrin- Meinungen erhalten nun das Siegel des Öffentlichen. Im
gen mit der Formel: «That general opinion is the vehicle <Contrat social) wird dieser Umdeutung Rechnung getra-
and organ of legislative omnipotence.» (Diese allge- gen. Dort werden die Meinungen im Sinne der öffentli-
meine Meinung ist das Ausdrucksmittel und Organ einer chen Meinung als «la véritable constitution de l'Etat»
uneingeschränkten gesetzgebenden Gewalt.) [34] Zwar ausgewiesen. [40] Die öffentliche Meinung ist das
sind die damit verbundenen verfassungstheoretischen Medium, in dem das substantiell Gemeinsame zum Aus-
Vorstellungen recht vage, doch deutet sich bereits eine druck kommt, das R O U S S E A U in Gestalt der volonté
Verbindung von freier Meinungsäußerung und repräsen- générale zum Grundprinzip politischer Ordnung erhebt.
tativer Artikulation der öffentlichen Meinung an. Der opake Gemeinwille bedarf einer Vermittlungsin-
3. Meinungsfreiheit und öffentliche Meinung. Im politi- stanz, die mit der öffentlichen Meinung zur Verfügung
schen Kontext wird die ursprünglich naturrechtlich auf- steht. Die öffentliche Meinung ist jedoch nicht schlecht-
gefaßte Gedankenfreiheit in die Forderung nach Mei- hin mit dem Gemeinwillen identisch. Dazwischen spannt
nungsfreiheit umgemünzt. Aber erst mit der französi- sich vielmehr der Bogen subtiler Interpretation, die den
schen <Déclaration des droits de l'homme et du citoyen> Inbegriff politischer Kunst darstellt, eine Fähigkeit, die
von 1798 wird die Meinungsfreiheit als Rechtsanspruch selbst nicht methodisch angeleitet werden kann und in
kodifiziert und 1791 in die französische Verfassung über- deutlichem Kontrast zum kontraktualistischen Pro-
nommen. Damit ist jedoch noch keineswegs eine Lösung gramm des <Contrat social· steht. Die öffentliche Mei-
gefunden für die Frage, wie die divergenten Meinungen nung bedarf eines Fachmannes, der als «Censeur» auf
sich mit der Organisation der politischen Gemeinschaft ihre Artikulation verpflichtet wird. [41] Dies ist eine
vereinbaren lassen. Der Liberalismus propagiert im genuin rhetorische Aufgabe, die im Wandel von der pri-
Anschluß an die Aufklärung die unbeschränkte Mei- vaten Kritik des lockeschen law of opinion zur öffentli-
nungsfreiheit in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, in chen Funktion unter den Druck des staatlichen Macht-
der mit der Ausbreitung der Vernunft allmählich die monopols gerät. Dennoch ist nicht zu bestreiten, daß
Last staatlicher Herrschaft reduziert oder diese zumin- Rousseau damit an die klassische Rhetorik anknüpft und
dest kontrolliert werden kann. So verteidigt M I L L die sich explizit von der seit Descartes üblichen Einschät-
Meinungsfreiheit mit dem Argument, daß sich nur unter zung der Rhetorik als Kunst der Manipulation distan-
der Bedingung konkurrierender Meinungen die Wahr- ziert. Ihre Grenze findet diese Konzeption in den als
heit durchsetzen kann. [35] Damit scheint sich Meinung Bezugspunkt unterstellten Sitten eines Volkes, die Rous-
auf Dauer selbst überflüssig zu machen. Andererseits seau als feste Größe und als Basis des Gemeinwesens
aber ist mit der Idee der Meinungsfreiheit das Programm betrachtet. Weil die öffentliche Meinung letztlich nur als

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Meinung, Meinungsfreiheit Meinung, Meinungsfreiheit

Ausdruck der daraus resultierenden volonté générale gilt, rechnet mit der aufgeklärten Meinung, die durch die von
erübrigt sich ein freier Meinungsaustausch. Der rhetori- ihm proponierten Maßnahmen erst zu bilden wäre. LA
sche Spielraum der Meinung beschränkt sich auf die H A R P E , Kritiker der Politik Turgots, weiß um dessen
Interpretationsleistung des Politikers. Dabei bleibt offen, zweifelhafte Inanspruchnahme der Meinung. Er gesteht
wie sich die Instanz des Volkes als Subjekt der öffentli- ihm zu, als erster die Politik nicht im Sinne souveräner
chen Meinung konstituiert. Die öffentliche Meinung in Entscheidungen, sondern kraft Raisonnement und
Korrespondenz zur Verfassung setzt einen homogenen Überzeugung (persuasion) betrieben zu haben, schränkt
politischen Körper voraus, dessen Konstitution offenbar diese Würdigung aber sogleich ein durch den Zusatz, daß
nicht mit rhetorischen Prozessen rechnet und damit um dieser nicht dem Geist der Diskussion vertraut, sondern
so rätselhafter erscheint. So gilt die öffentliche Meinung auf die unmittelbare Wirkung der Wahrheit setzt. [47]
als eigentliche Verfassung und setzt doch wiederum eine Im Gegenzug verkörpert die Politik NECKERS das
Verfassung als Legitimationsgrund voraus. populistische Spiel mit der öffentlichen Meinung, die nun
Mit dieser Hypothek ist öffentliche Meinung belastet, als «sentiment général» zum unmittelbaren Ausdruck
wenn sie im Vorfeld der Französischen Revolution als der Empfindung des Volkes stilisiert wird. Dessen
Organ der Aufklärung in Anspruch genommen wird. D u angebliche Eindeutigkeit und Einheitlichkeit erübrigt
M A R S A I S [42] kann die öffentliche Meinung bereits als jede Interpretation oder Vermittlung. [48] Insgeheim
fest etablierte Instanz betrachten, die im Gefüge der muß aber auch diese Strategie die Strömungen der Mei-
Gesellschaft eine beträchtliche Macht verkörpert. Neu nungen rhetorisch entschlüsseln und mit den eigenen
ist, daß diese Macht nun von der intellektuellen Elite der politischen Vorhaben in Beziehung setzen. Was Necker
Aufklärer in Anspruch genommen wird, wie MERCIER aus dieser Perspektive als Legitimationsgrundlage aus-
deutlich macht, und damit die Möglichkeit des Einflusses gibt, erscheint seinen Gegnern mit dem gleichen Recht
der Intellektuellen auf die Regierung eröffnet. [43] Die als Ausdruck kontingenter Strömungen, die jederzeit
Macht der öffentlichen Meinung beruht auf einer rheto- manipulierbar sind.
risch begründeten Kompetenz, die sich aber nicht als sol- Die Politik der öffentlichen Meinung führt unweiger-
che offenbart, sondern durch den Wahrheitsanspruch lich zu einer Spannung zwischen der normativen Auffas-
der Aufklärer einerseits und die Mittel politischer Herr- sung der öffentlichen Meinung und ihrer desillusionie-
schaft andererseits verdeckt wird. renden Wirklichkeit. [49] Dies gilt für die Aufklärer nicht
Der Anspruch auf die Meinungsführerschaft der Intel- weniger als für die Verfechter einer originären Meinung
lektuellen begrenzt zunächst den Geltungsbereich der des Volkes. Wenn eine Wahrheitsinstanz außerhalb der
öffentlichen Meinung auf den Kreis der Aufklärer. So Dimension der Meinung veranschlagt wird, sind die rhe-
erscheint diese als Vehikel der Durchsetzung der Ver- torischen Möglichkeiten ebenso überfordert, wie sie mit
nunft, die sich aufgrund ihrer eigenen Machtlosigkeit Gleichsetzung von öffentlicher Meinung und Volksemp-
dieses Mediums bedient. Doch schlägt diese Instrumen- finden unterschätzt werden. Die Instrumentalisierung
talisierung der Meinung und ihrer rhetorischen Dimen- der Meinung im Dienste der Wahrheit verkennt die
sion auf die Vernunft selbst zurück. Das macht sich Eigendynamik der Meinung ebenso wie ihre Inanspruch-
bemerkbar im Werk CONDORCETS, der sich publizistisch nahme zu kontingenten Zwecken. Letztlich relativieren
auf die öffentliche Meinung beruft und von ihr die Unter- sich die gegensätzlichen Einschätzungen der öffentlichen
stützung für die politischen Ziele der Physiokraten Meinung dadurch, daß diese in beiden Perspektiven zwi-
erhofft, zugleich aber eine Eigendynamik der Meinung schen der Gestalt einer manipulierbaren Einstellung und
diagnostiziert, die den Anspruch der Vernunft bedroht. einer unumgänglichen Legitimationsinstanz oszilliert.
So kommt er zur Abgrenzung der «opinion publique» In der Tat ist diese widersprüchliche Diagnose ein
von der «opinion populaire» [44], eine Unterscheidung, Resultat der Reduktion des rhetorischen Potentials der
die vor allem das Mißtrauen gegenüber dem Medium, öffentlichen Meinung. Sowohl die Erscheinungsweise
dessen sich die Aufklärer bedienen, deutlich macht. der öffentlichen Meinung als auch ihr Stellenwert als
Durch drei verschiedene Instanzen kann die öffentliche Legitimationsinstanz bleiben dadurch im Dunkeln. Die
Meinung beeinflußt werden: durch die Meinung der Auf- Situation ändert sich schlagartig durch die Erhebung des
klärer, durch die Meinung der Herrschaftsträger und bislang pejorativ bewerteten Volkes zum Subjekt der
durch die Vorurteile des Volkes selbst, das in dieser Hin- öffentlichen Meinung und insbesondere durch dessen
sicht nicht als politisches Volk, sondern als Pöbel {popu- Identifikation mit dem politisch repräsentativen Teil,
lace) ausgezeichnet wird. [45] Ganz im Sinne Rousseaus dem Dritten Stand, den SIEYÈS kurzerhand mit der
nimmt Condorcet die öffentliche Meinung als Organ des Nation gleichsetzt. Das Vorbild der amerikanischen Ver-
Gemeinwillens, das den Umweg über stets korrumpier- fassung und ihrer Nationalrepräsentation ist dafür weg-
bare Instanzen der Repräsentation ersparen soll. [46] In weisend. Aber auch Sieyès muß unterstellen, daß die
dieser Funktion muß sie erst durch die Vernunft geläu- Nation letztlich mit einer Stimme spricht und einen
tert werden, um nicht der als sophistisch aufgefaßten gemeinsamen Willen zum Ausdruck bringt. [50] Der
Rhetorik zum Opfer zu fallen. So sucht dieser Rekurs auf komplexe Prozeß kollektiver Meinungsbildung erscheint
die Meinung sich zum Zwecke der Verbreitung der hier in extremer Verkürzung, wird aber durch den
Wahrheit und der Interpretation des Gemeinwillens der Anspruch, die Nation zu repräsentieren, zumindest zum
rhetorischen Möglichkeiten zu bedienen, muß aber greifbaren Problem. Unmittelbar vor der Französischen
gleichzeitig deren Wirkungen ausblenden. Revolution wird die öffentliche Meinung als Instanz
bekräftigt, die sich mit ihren hohen Legitimationsforde-
In der Umsetzung physiokratischer Politik durch TUR-
rungen für unterschiedliche Zwecke und Programme in
GOT kommt dieses Dilemma zum Ausdruck. Er beruft
Anspruch nehmen läßt. So wird ein politisches, im Kern
sich auf die öffentliche Meinung als Legitimationsgrund-
ein rhetorisches Potential freigesetzt, das den Rahmen
lage seines politischen Handelns. In dieser Bedeutung als
überkommener Politik sprengt.
Tribunal erweist sich die rhetorische Kraft der öffentli-
chen Meinung, sofern sie sich durch Kritik und Zustim- Der Liberalismus angelsächsischer Prägung setzt
mung expliziert und konkretisiert. Doch auch Turgot ebenfalls auf die Legitimationsleistung der öffentlichen

1033 1034
Meinung, Meinungsfreiheit Meinung, Meinungsfreiheit

Meinung, die sich nun jedoch als Kontrollmacht und als Die gegenwärtige Praxis dieser Auslegung verbindet
F o r u m der Öffentlichkeit manifestiert. D a f ü r liefert dementsprechend das subjektive Recht auf Meinungs-
B E N T H A M im Blick auf die französischen Verhältnisse freiheit mit dem demokratischen Organ der öffentlichen
den Grundriß, in dem die Rolle der öffentlichen Mei- Meinung, dessen Voraussetzung und Korrektiv es
nung im Parlamentarismus bestimmt wird. [51] Ihre pri- ist. [53] Demgegenüber geht die psychologische und die
märe A u f g a b e ist die Kritik der politischen Macht. Es darauf basierende demoskopische Auffassung von einer
zeichnet Benthams Umgang mit der öffentlichen Mei- starren Opposition individualistischer und kollektivisti-
nung aus, daß er diese nicht als homogene Instanz auf- scher Meinungen aus. In der modernen Massenpsycholo-
faßt, sondern mit einer Pluralität kontroverser Meinun- gie gibt sich die Enttäuschung Ausdruck, daß sich die
gen rechnet, die sich jeder Reduktion auf einen unter- Meinungen d e m Maßstab der Vernunft nicht fügen wol-
stellten Gemeinwillen verweigern. D e n n o c h beharrt er len. W ä h r e n d das Urteil des Einzelnen einerseits mit
darauf, daß die öffentliche Meinung in der Gesamtheit dem Ideal wissenschaftlicher Vernunft konfrontiert
der perspektivischen Meinung die ganze Weisheit und wird, m u ß anderseits das Individuum in der Masse mit
Gerechtigkeit des Volkes artikuliert und dem Parlament gesetzmäßiger Notwendigkeit regredieren zu einem Fak-
zugänglich macht. Zugleich ist die öffentliche Meinung tor kollektiven Wahns. [54] Dagegen erscheint das auf
auf die Institution des parlamentarischen Forums ange- Operationalisierbarkeit zugeschnittene Konzept der
wiesen, um sich zu qualifizieren und angesichts der Demoskopie eigentümlich neutral, muß jedoch deshalb
Gefahr, bloße Vorurteile und Irrtümer zu kolportieren, die Orientierungsfunktion der Meinung systematisch
entsprechend zu läutern. Damit sind sowohl die Mei- ausblenden. [55] Die methodisch betriebene Isolierung
nungsäußerung als auch die Meinungsbildung in ihrer der Einzelmeinungen kann sich auch durch deren stati-
rhetorischen Komplexität erkannt. Dennoch bleibt auch stische Verrechnung nicht mehr der politischen Bedeu-
Benthams Ansatz, wie das liberale D e n k e n überhaupt, tung vergewissern, die sie gerade im Zeichen demokrati-
der Opposition von Meinung und politischer Herrschaft scher Meinungsbildung beansprucht. Die unbestreitbare
verhaftet. Einer rhetorischen Gestaltung der Politik sind Treffsicherheit der U m f r a g e n bezüglich der Berechnung
damit enge Grenzen gesetzt, sofern die Meinung zwar als sozialer Trends wird im politischen Rahmen konterka-
Kontrollorgan Macht verbürgt, damit aber ihrer eigentli- riert durch den erklärten Verzicht, diese Dynamik selbst
chen Repräsentation in den politischen Entscheidungs- theoretisch einzuholen und zu begreifen. [56] Gerade
prozessen selbst im Wege steht. Letztlich ist dafür der darin zeigt sich aber die methodisch nicht reduzierbare
Maßstab einer dem Meinen entzogenen Vernunft ver- rhetorische Dimension der Meinungen, die praktische
antwortlich zu machen, der unter der H a n d auch die libe- Orientierungen nicht nur widerspiegeln, sondern im
rale Auffassung der öffentlichen Meinung prägt und im G r u n d e selbst stiften.
Unterschied zur klassischen Konstellation der Rhetorik
die Differenz zwischen Wissen und Können, Wahrheit Anmerkungen:
und Macht zementiert. IChr. Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen
Mit der Sensibilität f ü r die Vieldeutigkeit der öffentli- (1983) 145. - 2Gorgias 8f. - 3 J. Ober: Mass and Elite in Demo-
chen Meinung kommt indessen die rhetorische Dimen- cratic Athens (Princeton 1989). - 4nach Arist. Rhet. 1420a 24. -
sion der Meinung zum Vorschein, die durch das Konzept 5Platon: Theaitetos 187b ff. - 6Plat. Pol. 505d. - 7Plat. Gorg.
der volonté générale und der E n g f ü h r u n g von Meinung 466a ff. - 8 s . dazu insgesamt P. Ptassek, B. Sandkaulen-Bock, J.
Wagner, G. Zenkert: Macht und Meinung. Die rhet. Konstitu-
und V e r n u n f t verdeckt wird. Dadurch wird aber zugleich tion der politischen Welt (1992); zur antiken Rhet. vgl. Kap. I-
die Ambivalenz sichtbar, die der Meinung zu eigen ist, III. - 9 Arist. Rhet. 1355b 31. - lOebd. 1357a 3ff. - llArist.
wenn sie für die Zwecke der Legitimation politischer Top. 100b 18ff. - 1 2 Arist. Rhet. 1,4. - 13vgl. Aug. Doctr. Buch
Macht in Anspruch genommen wird. H E G E L hat diese IV. - 14Joh. v. Sal., vgl. etwa 871 d ff. - 15 s. dazu W. Schmidt-
Zweideutigkeit mit paradoxer Zuspitzung auf den Biggemann: Topica universalis. Eine Modeligesch, humanisti-
Begriff gebracht indem er fordert, daß die öffentliche scher und barocker Wiss. (1983). - 16P. Ptassek: Rhet. Rationa-
Meinung ebensosehr zu achten als zu verachten ist, denn lität (1993) Kap. II. - 17F. Bacon: Novum Organum (London
sie enthält gleichermaßen das wahre Urteil bezüglich der 1620) I, 29. - 18 ebd. I, 38ff. - 19 Descartes: Discours de la
méthode (1637) in: Ch. Adam, P. Tannery (Hg.): Œuvres
öffentlichen Angelegenheiten als das Besondere des complètes Bd. IV, (Paris 1910) II, 7. - 20 Vico: Stud. Kap. III. -
Meinens der Vielen. [52] Diese Einschätzung kann als 21 J.G. Walch: Philos. Lex. (41775) Art. <Meinung>. - 22Descar-
treffende Diagnose ihrer theoretischen Indienstnahme tes: Meditationes de prima philosophia (1641) in: Œuvres [19],
gelten, läßt aber die Frage nach ihrer Orientierungslei- Bd.8,1 §1. - 23ders.: Principia philosophiae (1644) in: Œuvres
stung offen. Nur via negationis läßt sich ihr rhetorisches [19] Bd. 8,1 §34. - 24 A. Arnauld, P. Nicole: La logique ou l'art
M o m e n t erschließen, sofern der U m g a n g mit der öffent- de penser (Paris 1662) Kap. XX: Du mauvais raisonnement que
lichen Meinung eine Auslegungs- und Vermittlungsauf- l'on commet dans la vie civile. - 2 5 A. J. du Plessis, Duc de Riche-
lieu: Traitté, qui contient la méthode la plus facile et plus assurée
gabe darstellt. pour convertir ceux, qui se sont séparés de l'Église (Paris 1651);
D a s Problem der Meinungsfreiheit erfährt dadurch G. Voetius: Disputatio de praejudiciis verae religionis (1643) in:
eine neue Beleuchtung, sofern die Meinungen einerseits ders.: Selectae disputationes II (Utrecht 1655). - 26W. Schnei-
eine über die Legitimation hinausgehende, die Konstitu- ders: Aufklärung und Vorurteilskritik. Stud, zur Gesch. der
tion der politischen Gemeinschaft betreffende Aufgabe Vorurteilstheorie (1983). - 27 Chr. Thomasius: Einl. in die Ver-
ü b e r n e h m e n , und andererseits diese durch die Subjekti- nunftlehre (1691); ders.: Ausübung der Vernunftlehre (1691). -
vität des Meinens permanent unterlaufen. Eine Verabso- 28 vgl. A. Rüdiger: De sensu veri et falsi (1722); A.F. Müller:
Einl. in die philos. Wiss. (21733). - 29Th. Hobbes: Leviathan
lutierung der Meinungsfreiheit verbietet sich damit (London 1651); s. dazu Ptassek et. al. [8] 102ff. - 3 0 J . Locke: An
ebenso wie eine Instrumentalisierung der Meinung im Essay Concerning Human Understanding (London 1690) II,
Dienste einer höheren Wahrheit. Tatsächlich ist das Ver- Kap. XXVIII, 10-13. - 31A.A.C. Earl of Shaftesbury: An
hältnis der ephemeren Meinung und der sich in der Inquiry concerning Virtue, or Merit (London 1711); D. Hume:
öffentlichen Meinung ausdrückenden signifikanten All- A Treatise of Human Nature (London 1739-40), B. Ill; A.
gemeinheit im Prozeß politischer Verständigung fall- Smith: The Theory of Moral Sentiments (London 1759). -32Für
weise stets neu auszulegen. die Meinungsfreiheit ist insbesondere das Werk J. Miltons

1035 1036
Memoria Memoria

< Areopagitica> von Bedeutung: hg. v. E. Arber (London 1868). - dual- als Erfahrungsgedächtnis zur Disposition steht. Sie
3 3 A . Hamilton, J. Madison, J. Jay: The Federalist (1787/88) erfordert andererseits besonders die disziplinäre Exten-
Nr. 10. - 3 4 E . Burke: Politics, hg. v. R.J.S. Hoffman, P. Levaek sion hin zur Ethnologie und zur allgemeinen Kulturtheo-
(New York 1949) 106, Übers. Verf. - 35 J. St. Mill: O n Liberty
rie, wenn das kulturelle bzw. soziale Gedächtnis in den
(London 1859). - 3 6 A . de Tocqueville: D e la démocratie en
Amérique, Bd. I (Paris 1835). - 3 7 R . L . d'Argenson: Considéra-
Blick kommt. Kreuzungspunkte beider Bereiche von -
tions sur le Gouvernement ancien et présent de la France (1737) gerade auch politischer - Aktualität sind jene Debatten,
übers. v. H. Hömig (1985) 59. - 3 8 J . - J . Rousseau: Discours qui a die eine Krise des Erfahrungsgedächtnisses in seiner
remporté le prix à l'Académie de Dijon. En l'année 1750. Sur Abkoppelung von der Vergangenheit feststellen und als
cette question proposée par la m ê m e Académie: Si le rétablisse- Heilmittel gegen das Vergessen eine öffentliche Ge-
ment des Sciences & des Arts a contribué à épurer les mœurs denkmanie inszenieren. [1]
(Genf 1750) 3. - 39ders.: Lettre à M. d'Alembert sur les specta-
cles, hg. v. M. Fuchs (Lille/Genf 1948) 98; s. dazu W. Hennis: D e r
II. Als Arbeitsgebiet der Rhetorik ist die M. das Ins-
Begriff der öffentlichen Meinung bei Rousseau, in: Archiv für Gedächtnis-Einprägen der zu haltenden Rede (M. ver-
Rechts- und Sozialphilos. 43 (1957); zur öffentlichen Meinung borum) bzw. ihrer Gegenstände (M. rerum) zum Zweck
insgesamt: J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit der Wiedererinnerung (reminiscentia) im mündlichen
(1962); G. Zenkert: D i e Macht der öffentlichen Meinung, in: Vortrag (actiolpronuntiatio). [2] Bereits die antike Rhe-
Der Staat 31.3 (1992). - 40J.-J. Rousseau: D u contrat social, in: torik entwickelt dieses Gebiet theoriegeleitet zu einer ars
Œuvres complètes Bd. 3, hg. v. Β. Gagnemin u. M. Raymond memorativa (auch: M. artifìcialis, griech. Mnemonik) [3],
(Paris 1964) II 12, 394. - « R o u s s e a u [40] IV 7, 458f. - 42C.C. d.h. zu einer Gedächtniskunst, die das natürliche Ge-
D u Marsais: Essai sur les préjugés (London 1770) 299. - 43 L. S.
dächtnis (M. naturalis) als die physiologische Grundlage
Mercier: Notions claires sur les gouvernements (Amsterdam
1787) V i f . - 4 4 M . J . A . N . C , de Condorcet: Avertissements
der Erinnerung stärken soll. 'Kunst' ist hier zu verstehen
insérés par Condorcet dans l'édition complète des œuvres de im Sinne des alten Bedeutungshorizontes als 'Technik',
Voltaire, in: Œuvres, hg. v. A . Condorcet-O'Connor, M.F. d.h. als lehr- und lernbare Fertigkeit. Der historisch kon-
Arago (Paris 1847^19) Bd. 4, 418. - 45ders.: Réflexions sur le stanten Wahrnehmung einer Mnemonik als operativem
commerce, in: Œuvres [44] Bd.9, 201. - 46ders.: Sur l'état des Gegenstandsbereich stehen entsprechend historisch
protestants en France, ebd. Bd.5, 521. - 47J.F. de La Harpe: variante Mnemotechniken gegenüber.
Correspondance littéraire, B d . l (Paris 1820) 368f. - 4 8 J . Nek-
ker: Sur la législation et le commerce des grains (Paris 1780) Möglichkeitsbedingung für die Stärkung des natürli-
153f. - 4 9 R . Reichardt: Reform und Reformation bei Condor- chen Gedächtnisses durch eine ars ist die Annahme einer
cet. Ein Beitr. zur späten Aufklärung in Frankreich (1973) 2 9 2 - analogen Verfaßtheit beider Sphären. Diese Analogie
312. - 5 0 E . J . Sieyès: Politische Sehr., hg. v. E. Schmitt, R. Reich- beruht auf einer Beziehung von Merkörtern (loci), die in
hardt (1975) 237. - 51J. Bentham: Tactiques des assemblées einer je spezifischen Ordnung verfügbar sind, und darein
politiques délibérantes (Genf 1816) Kap.3. - 5 2 G . W . F . Hegel: gesetzten Merkbildern (imagines). [4] Das natürliche
Grundlinien der Philos, des Rechts (1821) §§315ff. - 5 3 H . Rid- Gedächtnis läßt sich diätetisch kräftigen durch alles, was
der: Meinungsfreiheit, in: F.L. Neumann, H.C. Nipperdey, U.
im Sinne der Humoralpathologie seine notwendige
Scheuner (Hg.): D i e Grundrechte (1954). - 5 4 G . Le Bon: Psy-
chologie des foules (Paris 1895). - 5 5 F . H . Allport: Towards a
Wärme und Feuchtigkeit garantiert (ausreichender
Science of Public Opinion, in: Public Opinion Quarterly 1 Schlaf, Schutz vor Hitze und Kälte, Vermeidung von
(1937). - 56E. Noelle-Neumann: Öffentliche Meinung. D i e Ent- »Unkeuschheit« und heftigen Affekten, ausgewogene
deckung der Schweigespirale (1989), kritisch dazu Ptassek et al. Ernährung usw.). [5]
[8] 261 ff. Die M. ist also zum einen der Aufbewahrungsort aller
G. Zenkert Gedächtnisinhalte. Die gängigsten Metaphern bzw.
Allegorien der M. sind das Schatzhaus bzw. die Wachsta-
—> Doxa —> Endoxa —> Episteme —> Interesse —> Iudicium —> fel, das Pergament oder das Papier. Die <Rhetorica ad
Manipulation —> Öffentlichkeit -> Politische Rhetorik -> Rede- Herennium> formuliert: «Nunc ad thesaurum invento-
freiheit -» Wahrheit, Wahrscheinlichkeit rum atque ad omnium partium rhetoricae custodem,
memoriam, transeamus.» (Nun wollen wir zum Schatz-
haus der gefundenen Gedanken und zum Hüter aller
Memoria (griech. μνήμη, mnémë; dt. Gedächtnis; engl, Teile der Redekunst übergehen, dem Gedächtnis.) [6]
memory; frz. mémoire; ital. memoria) Die Bestimmungen der M. in der antiken Rhetorik blei-
A . Def. - B.I. Antike. - II. Mittelalter. - III. Frühe Neuzeit. - IV. ben formal und ohne theoretischen Anspruch. Am ehe-
Aufklärung. - V. 19. Jh. - VI. 20. Jh./Forschungsgeschichte. sten hat man einen solchen in jener Passage zu erkennen,
A.I. Die Wortbedeutung von M. bleibt von der Antike wo Q U I N T I L I A N auf affekttheoretischer Basis die Meta-
bis zur Gegenwart stabil, hängt funktional indessen von pher des geistigen Sich-Einprägens (imprimi) formuliert,
den medizinisch-physiologischen, psychologischen, das sich analog zum Einprägen eines Siegelrings in
soziologischen, theologischen bzw. kulturwissenschaftli- Wachs verhält. [7] Umgekehrt ist die M. aber jener Ort,
chen Fassungen des Gedächtnisses ab. Die M. als kultu- von dem Gedächtnisinhalte durch Wiedererinnern (lat.
relles Gedächtnis ist die Basis für die Selbstvergewisse- reminiscentia, griech. άνάμνησις, anámnesis) abgerufen
rung und Identitätsbildung des einzelnen wie des Kollek- werden können, was sie zur notwendigen Grundlage
tivs, vermittelt nicht zuletzt über die Künste; Mnemo- aller rhetorischen oder künstlerischen inventio macht.
syne, die Göttin der Erinnerung, ist daher die Mutter der Da das Gedächtnis eine Struktur, eine Ordnung, besitzt,
Musen. ist auch die dispositio einer Rede oder eines Kunstwer-
kes von der M. geprägt.
Damit sind zum einen wesentliche Gegenstandsberei-
che der theoretischen Begründung der M. angedeutet. Die zentrale Rolle, die bereits die Antike dem
Zum anderen ist ablesbar, warum die M. heute einen Gedächtnis als conditio sine qua non der Identitätsbil-
nahezu ubiquitären Gegenstand der geisteswissenschaft- dung zumißt, schlägt sich in einem reichen - anekdoti-
lichen Forschung ausmacht: Sie erfordert interdiszipli- schen oder exempelhaften - Inventar nieder, das in zahl-
näre Fragestellungen bis hin zu den Naturwissenschaften reichen Texten aus dem Genus der ars memorativa
(Gehirnphysiologie, Kognitionswissenschaft, Empiri- Gedächtnishelden und Vergeßliche quer durch die Zei-
sche Psychologie) einerseits, zumal dort, wo das Indivi- ten verzeichnet. [8] In den einschlägigen Erzählungen

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Memoria Memoria

finden sich u.a. als antike Heroen der M. JULIUS CAESAR, Wege werden vorgeschlagen, die beide auf einer Ver-
CHARMADAS, A P P I U S C L A U D I U S , C R A S S U S , KYROS, L U C I U S ödung des Gedächtnisses beruhen: erstens die Veräußer-
SCIPIO, METRODOROS VON SKEPSIS, MITHRIDATES, SENECA lichung des Gedächtnisinhaltes, wie sie bereits PLATON
d.Ä., THEMISTOKLES sowie aus neuerer Zeit G U I D O als grundlegende Kritik an der Schrift konzipiert
UBALDO, der Kardinal D U PERRON, JACOBUS M A Z O N I U S hatte. [17] «Derohalben man auch in der täglichen Erfah-
oder JOHANNES PAÓPP. E S handelt sich zum einen um rung / wie Plato meldet / spüret / daß die Schrifften der
Herrscher, Feldherren, Diplomaten u. dgl. sowie zum memoriae zuwider seyndt: Sintemal man gemeiniglich
anderen um 'Herrscher' der Gelehrtenrepublik. Diesen keinen grossen Fleiß oder Gedancken auff die Ding
ist v.a. die Rolle zugemessen, die Effektivität der jeweils schlaget / die man beschrieben / oder schrifftlich verfas-
vorgeführten Mnemotechnik(en) zu belegen. Jenen, den set hat: Vnd ist zuverwundern / wie die hergegen / so
politischen Führungskräften, dagegen hat von Geburt weder schreiben noch lesen können / ihre Sachen so
her eine hervorragende M. naturalis zu eignen, die ihre ordentlich wissen in ihrem Gedächtnuß zubehalten.» [18]
Herrschaftsbefugnis legitimiert. [9] Die Theorie des per- In dieser Hinsicht ist auch der Satz von K A N T legitimiert,
fekten Fürsten geht bis weit in die Neuzeit hinein davon den er in sein Tagebuch schrieb, als sein Diener Lampe
aus, daß seine individuelle M. so umfangreich wie die ihn bestohlen hatte: «Der Name Lampe muß nun sofort
kollektive sein müsse, daß er durch seine Erinnerung so vergessen werden.» [19] Hierbei handelt es sich also um
scheinen müsse, als habe er zu allen Zeiten gelebt. [10] eine Art des zuversichtlichen Verlierens eines Gedächt-
Wird ein solches gleichsam übermenschliches Vermö- nisinhaltes, ausgelöst durch seine Externalisierung.
gen nicht der hohen Geburt wegen vorausgesetzt, son- Zweitens gibt es Vorschläge zur Amnestonik, die sich
dern ist es Resultat einer ars, einer Kunstfertigkeit, kann des Repertoires der Mnemonik selbst bedienen und
diese auch den Verdacht der Magie auf sich ziehen. Das damit integraler Bestandteil der Gedächtniskunst sind:
gilt für die Verfasser von mnemotechnischen Schriften eine Art Bilderlöschkunst. Sie kennt einen graduellen
wie im metonymischen Sinn für die Texte selbst: «Der Übergang von der ersten Methode her, wenn empfohlen
Magievorwurf oder auch jener der pseudomagischen wird, einmal besetzte Merkörter nicht wiederzuerinnern
Scharlatanerie trifft unter anderen Roger Bacon, Ray- und sie so langsam ins Vergessen gleiten zu lassen. [20]
mundus Lullus, Thomas Murner, Agrippa von Nettes- Aber auch die radikalere Variante hat ihre Anhänger
heim und Giordano Bruno. Er zielt auf Geheimwissen ( u . a . L . D O L C E , L . SCHENCKEL u n d A . B R U X I U S ) : D i e ima-
aus nichtchristlicher Tradition, wobei die Kritik oft kaum gines, die an einem Merkort untergebracht sind, sollen
mehr ist als der Grauschleier jenes Pauschalverdachts, durch neue imagines überblendet und unsichtbar
mit dem alle akademisch und konfessionstheologisch gemacht werden. [21]
nicht akkreditierten Wissenschaften und Wissenstechni- Möglichkeitsbedingung für alle angeführten Operatio-
ken überzogen werden.» [11] nen des Gedächtnisses ist die entweder medizinische,
Als komplementäres Gegenstück zum starken und theologische oder affekttheoretische Konstruktion der
tüchtigen Gedächtnis gibt es selbstverständlich auch das M. Die Rhetorik partizipiert in ihrem Theorieaufwand
Phänomen des Vergeßlich-Seins. Es ist so sehr der nur ansatzweise an den genannten Bereichen, ohne sie
Anlaßgrund für die Theorien und Praktiken der M. artifi- jedoch eigenständig weiterzuentwickeln. Von der Antike
cialis, daß es häufig nur dann in einiger Ausführlichkeit bis ins 18. Jh. blieb das Drei-Kammer-Modell des
thematisch wird, wenn es als Verlust einer vorher gran- Gehirns virulent. [22] Es wurde erst durch die Kraniolo-
diosen M. wahrnehmbar ist. In gleicher anekdotischer gie (auch Organologie) F. G A L L S (1758-1828) entschei-
Gestalt wie die Gedächtnishelden werden die beklagens- dend modifiziert, wobei auch Gall die räumlich-topologi-
werten Gedächtnisschwächlinge von der mnemotechni- sche Anordnung der Vermögen des Gehirns im Sinne
schen Literatur vorgeführt. Beispiele sind die griechi- einer Lokalisationstheorie bewahrte. Das Drei-Kam-
schen Rhetoren DEMOSTHENES und HERMOGENES wie mer-Modell beruht, in kurzen Zügen und schematisch
auch aus neuerer Zeit der niederländische Poet und beschrieben, auf folgenden Annahmen. Seit G A L E N (129—
Gelehrte D . H E I N S I U S . 199), oder eigentlich, neueren Forschungen zufolge,
SO wie der lamentabel ist, der sich nicht erinnern kann, bereits seit HEROPHILOS (330-250 v. Chr.) wird die M.
ist es indessen auch derjenige, dem kein Vergessen physiologisch im Gehirn, und zwar allgemein im Hinter-
gegönnt ist. Die Möglichkeit einer «Vergeßkunst» (ars haupt, angesiedelt als letztes Glied der Reihe der drei
oblivionalis, Amnestonik) wird denn auch sowohl in Gehirnkammern (cellulae, ventriculi ). Diese Reihe ver-
anekdotischer wie systematischer Hinsicht verhandelt. läuft von sensus communis / ratio über imaginatio / phan-
Unter Berufung auf CICERO [ 1 2 ] berichtet etwa T H . G A R - tasia zur M. Die Kammern sind nacheinander durch
ZONI in der <Piazza Universale» von THEMISTOKLES, schlauchartige Gänge (vermes) verbunden, die ihre
einem athenischen Politiker, der stets als ein Heros der Kommunikation ermöglichen. - Das sich auf distinkte
M. naturalis dargestellt wird. SIMONIDES [ 1 3 ] habe offe- Ventrikel stützende Gehirnmodell findet eine analoge
riert, ihn die Kunst des Gedächtnisses zu lehren. Darauf Fortsetzung in den Prinzipien der Mnemotechniken von
habe Themistokles geantwortet, «er wolte lieber eine der Antike bis zur Neuzeit, die ebenfalls topologisch
Vergeßkunst lernen: Dann / sagt er / es gedencket mir organisiert sind: Sie berufen sich in ihrer Wahl von Merk-
mehr / als mir lieb ist / vnd kan nicht vergessen / was ich örtern auf Architektur, teilweise im öffentlichen Raum
gerne vergessen wolte.». [14] der Stadt, teilweise aber auch explizit auf das Haus selbst
Damit ist bereits ein modernes Theorem formuliert, mit seinen Zimmern, darüber hinaus auf Hand-, Baum-
nämlich die Autonomie des Erinnerns bzw. die Unmög- und Zodiacus-Schemata etc. [23]
lichkeit des intentionalen - und d.h.: partiellen - Verges- Die Botschaften, die die fünf Sinne an den sensus com-
sens. [15] So sehr die zeitgenössische Forschung auf vor- munis übermitteln, werden von diesem vereinheitlicht,
nehmlich semiotischer Grundlage betont, daß es kein abstrahiert und der Beurteilung (ratio) zugeführt. Von
willentliches Vergessen geben könne [16], so sehr macht dort gelangen sie an das Vorstellungsvermögen, um
die mnemotechnische Literatur doch immer wieder den schließlich in der M. verwahrt zu werden. Der Akt des
Versuch, eine ars oblivionalis zu formulieren. Zwei Erinnerns befördert die Gedächtnisinhalte über die Ima-

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Memoria Memoria

gination in den sensus communis bzw. die ratio und intelligence). Allen diesen Beschreibungsversuchen des
macht sie damit wieder anschaulich bzw. der Erkenntnis Menschen liegt als Gemeinsames zugrunde, daß die M.
zugänglich. Bei Versagen der Erinnerung können leichte als das Kernstück individueller wie kollektiver menschli-
Schläge auf das Hinterhaupt dieser Bewegung von hin- cher Identität begriffen wird.
ten nach vorne nachhelfen.
Wenn in Räumen Bewegung stattfinden soll, dann Anmerkungen:
muß es ein Medium geben, das diese Bewegung ermög- 1 vgl. dazu A . Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wand-
licht. In der galenischen Tradition wird angenommen, lungen des kulturellen Gedächtnisses (1999). - 2 Lausberg Hb.
§§ 1083-1090 - 3 H . Blum: D i e antike Mnemotechnik (1969). -
daß in den Gehirnventrikeln, den Verbindungsschläu-
4vgl. dazu B.I. - Svgl. W. Neuber: D e r Arzt und das Reisen.
chen und in den Nervenbahnen ein Gleitfluidum, die Z u m Anleitungsverhältnis von R e g i m e n und A p o d e m i k in der
Lebensgeister (spiritus, πνεύμα, pneúma) existiert, «eine frühneuzeitlichen Reisetheorie, in: U . Benzenhöfer, W. Kühl-
Art von Seelenatem, der als Prinzip und Medium mann (Hg.): Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen
aller Empfindlichkeit und Beweglichkeit angesehen Neuzeit. Stud, am Grenzrain von Literaturgesch. und Medizin-
wird.». [24] Dieses pneuma «bewerkstelligt den Trans- historie (1992) 94-113. - 6 Auct. ad Her. III, 28. - 7Quint. XI, 2,
port der Sinnesempfindungen vom Sinnesorgan zum 4; vgl. H. Weinrich: Typen der Gedächtnismetaphorik, in: A B G
9 (1964) 23-26. - 8 J. J. Berns, W. Neuber: Nachwort der Heraus-
Hirn und gewährleistet ihren Bearbeitungs- und Ver-
geber, in: dies. (Hg.): D a s enzyklop. Gedächtnis der Frühen
wandlungsprozeß auf dem Wege durch die Hirnkam- Neuzeit. Enzyklopädie- und Lexikonart. zur Mnemonik (1998)
mern». [25] 377-392, bes. 385-388. - 9vgl. A . Traninger: D o m ä n e n des
Damit ist man an jenem Punkt angelangt, wo der letzte Gedächtnisses. D a s Scheitern der Mnemotechnik an der memo-
Grund für die kognitiven, imaginativen und memorati- ria des absoluten Herrschers, in: J. J. Berns, W. Neuber: Seelen-
ven Funktionen des Gehirns in die Seelenvermögen ver- maschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungs-
legt wird. Denn es ist die Seele, die letztlich den Körper grenzen der Mnemotechniken vom späten M A bis zum Beginn
der Moderne (1999) 37-51. - 1 0 vgl. W. Neuber: Locus, Lemma,
an die Außenwelt anbindet. Die Seele, auch im christli-
Motto. Entwurf zu einer mnemonischen Emblematiktheorie, in:
chen Sinne als pneuma verstanden, korrespondiert phy- J.J. Berns, W. Neuber (Hg.): Ars memorativa. Zur kulturgesch.
siologisch dem Atem. [26] Die vordere Gehirnkammer Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750 (1993) 351-372, hier
ist nach dieser Vorstellung dafür verantwortlich, daß das 367f. - 11 Berns, Neuber [8] 392. - 1 2 vgl. Cie. D e or. II, 299. -
Hirn ein- und ausatmet und dabei den spiritus animae 13vgl. unten B.I. - 1 4 T h o m a s o Garzoni: Piazza Universale
(ψυχικόν πνεύμα, psychikón pneúma) bereitet. «Dan (Venedig 1589), hier zit. in der dt. Übers. (Frankfurt 1641) nach:
gleich wie wir alle Augenblick wahrnemen / daß unser Berns, Neuber [8] 41. Ein modernes Beispiel für jemanden, der
aufgrund einer psychophysischen Störung nicht vergessen kann,
Auge kan alles erblicken / unser Ohr alles anhören / wie
ist Venjamin Solomonovic Seresevskij; zu ihm vgl. R. Lach-
solches aber geschehe / kaum und fast nicht recht man mann: D i e Unlöschbarkeit der Zeichen. D a s semiotische
begreiffet: also können die / immer aus dem Gehirn Unglück des Mnemonisten, in: A . Haverkamp, R Lachmann
schweiffende Geisterlein / an- und zu sich nehmen das (Hg.): Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift. Stud, zur Mne-
Vorbild der Dinge / wie die äusserliche Sinne selbige vor- motechnik (1991) 111-141; P. Rossi: Che cosa abbiamo dimenti-
gestellet / und leiten es geschwind mit sich ins Gehirn: cato sulla memoria? In: ders.: Il passato, la memoria, l'oblio
Das Gehirn bewegt sich dabey nach seiner Kraft / und (Bologna 1991) 35-59, bes. 37ff. - 15vgl. B.V. - 16vgl. U . Eco:
Ars oblivionalis. Sulla difficoltà di costruire un'Ars oblivionalis,
würket so fort die Erkentniß / den Unterscheid und die
in: Memento. Techniche della memoria e dell'oblio (= Kos III
Gedanken [...].» [27] [1987], no. 30) 40-53; ders.: A n Ars Oblivionalis? Forget It!, in:
Damit ist die Physiologie in der Metaphysik gelandet, Publications of the Modern Language Association of America
die in ihren theoretischen Annahmen vorchristliche 103 (1988) 254-261; H. Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des
Wurzeln besitzt. [28] Die Übernahme von Konzepten Vergessens ( 2 1997). - 17vgl. dazu B.I. - 18Garzoni [14] 45. -
hauptsächlich (neu)platonischer und aristotelischer Pro- 19F. Gross: I. Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenos-
venienz formiert in christlicher Adaptation die Vorstel- sen. D i e Biogr. von E.L. von Borowski, R.B. Jachmann und
E . A . Ch. Wasianski (1993) 234. - 20vgl. S. Izquierdo: Pharus
lungen von Seele und Gedächtnis bis weit in die Neuzeit
Scientiarum (Lyon 1659); vgl. Berns, N e u b e r [8] 190-231, hier
hinein. Erst die moderne Gehirnphysiologie [29] argu- bes. 230f. - 2 1 L. Dolce: D i a l o g o [...] nel quale si ragiona del
mentiert ohne Metaphysik, das Erinnerungsvermögen ist m o d o di accrescere, et conservar la memoria (Venedig 1575); L.
eine neuronale Funktion auf der Grundlage von elektro- Schenckel: D e memoria libri duo ( D o u a i 1593); A . Bruxius:
chemischen Prozessen. Daneben ist 'Gedächtnis'/'Erin- Simonides redivivus, sive ars memoriae, et oblivionis (Leipzig
nerung' auch eine Fähigkeit bzw. Funktion, die dem 1610); zu Bruxius vgl. W. Neuber: D i e vergessene Stadt. Zum
Immunsystem eignet (memory cells). Verschwinden des Urbanen in der ars memorativa der Frühen
Neuzeit, in: Berns, Neuber [9] 91-108. - 22 vgl. W. Sudhoff: D i e
Abendländische Gesellschaften neigen dazu, den
Lehre von den Hirnventrikeln in textlicher und graphischer Tra-
Menschen als Allegorie der jeweils fortgeschrittensten dition des Altertums und M A , in: Archiv für Gesch. der Medizin
Technologie zu beschreiben. Von daher rührt der Ver- 7 (1913) 149-205; E. Clarke, Κ. Dewhurst: Die Funktionen des
gleich des Gedächtnisses bzw. der Seele mit einer Wachs- Gehirns. Lokalisationstheorien der Antike bis zur Gegenwart.
tafel, mit Pergament oder Papier. Das Zeitalter der A u s dem Engl, übertr. u. erw. von M. Straschill (1973) 11 ff.; L.
Mechanik, das mit der Erfindung der Räderuhr im spä- Bolzoni: La fabbrica del pensiero: dall'arte della M. alle neuro-
ten Mittelalter beginnt, ersetzt dieses Bildinventar durch scienze (Florenz 1 9 9 0 ) . - 2 3 vgl. dazu B.I-III. - 2 4 Berns, Neuber
[8] 389. - 25 ebd. - 26 vgl. Art. «Geist., in: LThk 3 , Bd. IV 370f. -
die Maschine, mit der kosmische, soziale und physiologi-
27 J.G. Schottelius: Ethica (1669, N D 1980) 95. - 28 vgl. B.I. -
sche Vorgänge bzw. die Seelenvermögen analogisiert 29vgl. W. Singer: Gehirn und Kognition (1990). - 30 vgl. Β. II-
werden. [30] Die Entwicklung der elektronischen Daten- IV. - 3 1 vgl. G.-L. Darsow (Hg.): Metamorphosen. Gedächtnis-
verarbeitung mit ihren immens werdenden Speicherme- medien im Computerzeitalter (1999).
dien [31] hat schließlich die populäre Vorstellung in die
Welt gesetzt, das Gehirn funktioniere wie ein Rechner,
sei also ein vernetzter Speicher. Im Umkehrschluß wird B.I. Antike. Bereits in der Antike wird die M. einer
der Versuch unternommen, den Menschen oder wenig- Seelenfakultät, d.h. einem Vermögen der Seele, zuge-
stens seine kognitiven Fähigkeiten im Technizismus des schrieben. PYTHAGORAS (um 600/570-um 509 v. Chr.) und
elektronischen Rechners zu reproduzieren (artificial E M P E D O K L E S (um 492-432 v. Chr.) messen der Seele

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Memoria Memoria

durch die Erinnerung die Gabe zu, der Wahrheit teilhaf- richts die Grundmechanismen des Dialogs sprengt, der
tig zu werden. [1] Dieses Konzept ist für die Philosophie eine stete Veränderung des sprachlichen Ausdrucks vor-
Piatons von Konsequenz. aussetzt. Das geschriebene Wort reagiert nicht auf die
Auch P L A T O N denkt die M. [2] grundsätzlich als See- Befragung durch den Leser, sondern bedeutet endlos das
lenvermögen. Für ihn ist die Seele ein selbstbewegendes Gleiche; die Schrift ist stumm.
Prinzip, das den Kosmos und - als Individualseele - den Dennoch ist es der Prozeß der Durchsetzung der
Körper am Leben, d.h. in Bewegung erhält. Diese Schrift, der die M., die vormals als Göttin Mnemosyne im
unsterbliche Seele ist der Träger von immer schon prä- Olymp angesiedelt war, in die Welt der Stadt und der
existent gedachtem Wissen - sei es auf der Grundlage menschlichen Berufe hereinholt und auch die Wahrneh-
einer früheren Inkarnation, sei es auf der Grundlage des mung der Seele verändert. Seele und Geist erscheinen als
intelligiblen Urbildes (παράδειγμα, parádeigma), das etwas, das eine räumliche Ausdehnung besitzt, und gei-
von Piaton als Idee (είδος, eidos) bezeichnet wird: als stig-seelische Vorgänge werden in Begriffen der Bewe-
wirkliches Urbild, das im Abbild der Dinge, d.h. ihrer gung beschrieben. Diese Grundannahmen sind von lan-
materiellen Gestalt, gegenwärtig ist. Aus dieser An- ger Dauer. Die christliche Welt erbt sie von der heidni-
nahme ergibt sich das Paradox, daß jede Form des Ler- schen und verändert sie nach den eignen Anforderun-
nens nur als Akt der Erinnerung verstanden werden gen. [10]
kann. Denn nur wenn man von einer Sache bereits etwas Unter christlichen Prämissen [11] gerät so die M. natu-
verstehe, dann könne man sie auch erlernen. «Lernen» ralis schon bei A U G U S T I N U S [12] (354-430) zu einem
ist daher kein Wissenserwerb, sondern Erinnerung. theologischen Gegenstand, ja zum zentralen Austra-
Mehrere Aspekte der M.-Konzeption Piatons finden gungsort von Welt- und Gotteserkenntnis. [13] In Aneig-
sich auch bei ARISTOTELES [3] wieder. Wie sein Lehrer nung der (neu)platonischen Ideenlehre sieht Augustinus
versteht dieser die M. als eines der Seelenvermögen und die M., vermittelt über die Seele, als des göttlichen Prin-
übernimmt die Metapher des 'Abdruckes' in der Seele zips teilhaftig, da sonst Vorstellungen wie z.B. Gott und
als Bild für die Speicherung. [4] Im Unterschied zu Piaton das Selige Leben nicht gedacht, d.h. erinnert werden
aber betont Aristoteles die Fähigkeit der Seele, das zu könnten. [14] Diese künftighin unhintergehbare Theolo-
bewahren, was ihr durch die Vermittlung der Sinne gisierung des Gedächtnisses hat Konsequenzen für den
anvertraut bzw. eingeprägt wurde. Solcherart erlaubt das Begriff der Ordnung. Ordnung ist ja nach dem Sünden-
Gedächtnis die Wahrnehmung der Zeit. [5] Aristoteles fall nicht mehr in den Phänomenen oder Dingen selbst,
unterscheidet drei Teile der Seele, nämlich φαντασία, sondern sie entspringt einem kognitiven Akt in heilsge-
phantasía, μνήμη, mnemë und άνάμνησις, anámnesis, schichtlicher Absicht: «Die Aussicht auf universales Wis-
lokalisiert deren Sitz allerdings nicht im Gehirn, wie es sen und auf eine zureichende mnemotechnische Beherr-
auch der jüngeren galenischen Medizintradition ent- schung dieses Wissens konnte [...] die Funktion eines
spricht, sondern im Herzen. Kompensationsmediums gegenüber der Läsion durch
Damit sind jeweils nur die seeleninternen Möglichkei- den Sündenfall erhalten.» [15] Dies gilt nicht allein für
ten der M. berührt, noch nicht aber das grundsätzlich die universalwissenschaftlichen Anstrengungen späterer
prekäre Verhältnis von externer Speicherung und inne- Zeiten [16], sondern auch schon bei Augustinus für die
rem Gedächtnis. Vor allem das Verhältnis von Schrift Funktionsweise der M. artificialis. Als er Lehrern der
und M. erscheint als grundlegendes Problem früher Kul- Heiligen Schrift Ratschläge gibt [17], schlägt er vor, nicht
turen. [6] Für die abendländische Tradition am folgen- einfach dem Schüler alles auswendig zu rezitieren, son-
reichsten ist Piatons Position, der Schrift und Gedächtnis dern die Gegenstände der biblischen Geschichte aus
in eine Beziehung der wechselseitigen Ausschließung einer Zusammenfassung des wortgetreuen Materials
setzt; er sieht die Schrift als ein Medium der M., das nur nachzuerzählen und zu erläutern, sei es summatim oder
uneigentliche Erinnerungen hervorrufen bzw. gar dem nach dem Modus der M. rerum. Diese summarischen res
Vergessen Vorschub leisten könne. können von den Lehrern als textuelle Stücke aufgelöst
Im <Phaidros> [7] läßt Piaton seinen Lehrer Sokrates oder ausgeweitet, d.h. als Stücke präsentiert werden, die
dazu folgende Argumentation führen: Der Zauberer die richtige Größe besitzen, um sie als einzelne Blöcke zu
Theuth preist dem König Thamus die von ihm erfundene memorieren. [18] Diese Praxis einer Fundierung der M.
Schrift als eine Kunst an, die die Ägypter «weiser» und artificialis hat ihre Wurzeln in den jüdischen [19] wie
«gedächtnisreicher» machen werde, da sie ihnen ein auch in den römischen Schulen. Die M. naturalis ist bei
φάρμακον, phármakon, ein «Heilmittel für Gedächtnis Augustinus hingegen eine Folge von gleichsam prästabi-
und Weisheit» biete. Thamus hält dem entgegen, daß die lierten Kammern bzw. Hallen, die untereinander in
Buchstaben des Alphabets «den Seelen der Lernenden Beziehung stehen. Der Rekurs auf die räumliche Struk-
vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung tur der von der Rhetorik ausgebildeten Merkörterlehre
der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich der ars memorativa bzw. deren Schatzhaus-Metapher ist
nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber hier evident und angesichts des bürgerlichen Berufes von
innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Augustinus (Rhetoriklehrer) lediglich konsequent.
Nicht also für die Erinnerung, sondern nur für das Erin- Die antike Rhetorik tradiert nicht allein Anweisungen
nern hast Du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit zur Stärkung der M. naturalis durch eine ars memorativa,
bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht sondern auch die Gründungslegende der Gedächtnis-
die Sache selbst.» [8] kunst, die als ein Ordnungsmodell verstanden wird, das
Darüber hinaus kritisiert Sokrates den Umstand, daß aus dem Chaos, der Katastrophe, geboren wurde. Es kor-
jene, die sich der Schrift bedienen, tatsächlich denken, respondiert solcherart strukturell mit der christlichen
der schriftlich festgehaltene Gedanke sei mehr als ein Schöpfungsmythologie und läßt sich in nachheidnischen
Mittel, sich dessen zu erinnern, was man schon weiß. Sie Zeiten ebenfalls ohne Probleme aneignen. Als legendä-
sagen nicht, daß das Wort im Buch in «ehrwürdigem rer Begründer der Gedächtniskunst gilt für Cicero und
Schweigen» [9] verharre und übersehen so, daß die Quintilian S I M O N I D E S VON K E O S (um 557^167 v. Chr.); bis
schriftliche Mitteilung als Ersatz des mündlichen Unter- ins 19. Jh. werden neben ihm auch wiederholt Hippias

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Memoria Memoria

von Elis, Metrodoros, Pythagoras und Theodektes geht von den Voraussetzungen aus, daß sich das am
genannt. Simonides jedenfalls sei während eines Gast- besten dem Gedächtnis einprägt, was man durch den
mahles im Hause des Skopas vor die Türe gerufen wor- Gesichtssinn wahrgenommen hat [29], und daß «corpus
den; in demselben Augenblick, als Simonides das Haus intellegi sine loco non potest» [30], daß man sich einen
verließ, stürzte es ein. Alle Gäste seien nicht allein getö- Körper nicht ohne seinen Ort vorstellen kann. Daran
tet, ihre Leichen seien vielmehr bis zur Unkenntlichkeit fügt er den Satz: «Qua re [...] locis est utendum multis,
entstellt worden. Nur durch die Erinnerung an jene Orte, inlustribus, explicatis, modicis intervallis.» (Deshalb [...]
wo jeder Gast gelegen habe, sei Simonides in der Lage muß man viele auffallende, deutlich abgegrenzte und
gewesen, die Toten zu identifizieren: «Tum Simonides durch mäßige Abstände getrennte Orter verwen-
dicitur memor ordinis, quo quisque discubuerat, corpora den.) [31] Woher die Örter zu nehmen sind - nämlich aus
suis reddidisse.» (Dann soll Simonides, eingedenk der dem täglich visuell wahrgenommenen Lebensraum des
Ordnung, in welcher ein jeder gelegen hatte, die Körper Städters - , ist so selbstverständlich, daß es nicht gesagt zu
[der getöteten Gäste] den Ihren zurückgegeben werden braucht; wichtig ist allein der Hinweis auf die
haben.) [20] Der Vorgang der räumlichen Erinnerung gleichsam zeichentheoretische, d.h. differenziell be-
veranlagt Simonides zu erkennen, welche Bedeutung der stimmte, Verfaßtheit der loci, die zahlreich, auffallend,
Ordnung für das Gedächtnis zukommt: «hac tum re deutlich abgegrenzt und durch mäßige Abstände ge-
admonitus invenisse fertur [Simonides] ordinem esse trennt sein sollen. Auch die <Herennius-Rhetorik> hatte
maxime, qui memoriae lumen adferret» (durch diesen dies herausgestrichen: «Praeterea dissimiles forma atque
Umstand aufmerksam geworden, soll Simonides heraus- natura loci conparandi sunt, ut distincti interlucere pos-
gefunden haben, daß es hauptsächlich die Ordnung ist, sint.» (Außerdem sind Örter zu schaffen, die sich in ihrer
die Licht in das Gedächtnis bringen kann). [21] Form und Natur unterscheiden, damit sie sich klar abhe-
Über eine räumliche Ordnung wird eine Erinnerung ben können.) [32]
vermittelt, die erst die individuelle Bestattung der Toten QUINTILIAN schließlich ist, dem großen Umfang und
erlaubt. [22] Die M. ermöglicht also eine spezifische kul- der Detailliertheit seiner Anweisungen entsprechend,
turelle Praxis und zwar aufgrund einer topologischen am explizitesten. Die Rückkehr an einen physischen Ort
Grundstruktur: «tanta vis admonitionis inest in locis, ut stimuliert sofort die Erinnerung an das, was man dort
non sine causa ex iis memoriae ducta sit disciplina» (eine erlebt hat. [33] Auf diese Feststellung folgt die Aufzäh-
so große Kraft der Erinnerung wohnt den Orten inne, lung von physischen Orten, die als mnemonische loci
daß nicht ohne Grund aus ihnen die Gedächtniskunst in Frage kommen: ein großes Haus ( d o m u m forte
gezogen worden sein soll.) [23] magnam), öffentliche Bauten (in operibus publicis), ein
Die M.-Lehre der lateinischen Rhetoriken [24] greift langer Weg (in itinere longo), der Saum einer Stadt
dieses Prinzip auf und erweitert es systematisch zur Trias (urbium ambitu) oder auch Bilder (picturis). [34] In der
von loci, ordo und imagines: Der Redner solle sich städti- Hauptsache sind dies Gegebenheiten, die dem empiri-
sche Orte, loci, einprägen, die er im Geiste abschreiten schen Raumvollzug des Städters entsprechen.
könne, weil sie ihm vertraut sind (ordo). Ebenfalls im Daß dies ein spezifisch kulturgeschichtlich geprägter
Geiste sollen an diese Gedächtnis-Örter gleichsam Ansatz ist, oder - ex negativo - , daß dies kein Konstrukt
'lebende Bilder' (imagines agentes) gesetzt werden, die ist, welches der antiken Mnemonik a priori inhärent
die Worte der Rede oder ihre Gegenstände versinnbildli- wäre, läßt sich durch die Tatsache erweisen, daß die
chen. Das geistige Auge soll zumal durch ihre Schockwir- Gründungslegende der ars memorativa nicht den öffent-
kung (aufgrund von Grausamkeit, Obszönität, Lächer- lichen Raum zum Ausgangspunkt nimmt, sondern die
lichkeit etc.), d.h. auf der Basis der Selbstaffizierung, zur Katastrophe eines massenhaften Todes in einem ge-
leichteren Erinnerung geleitet werden. schlossenen Privatraum, dem Haus des Skopas. Der phy-
Die mnemonischen loci der antiken Rhetorik [25] ver- sische Raum als Organisationsmuster der mnemoni-
danken sich dem je individuellen Zugriff auf den physi- schen Strukturbildung wird von der römischen Rhetorik
schen Urbanen Raum. Die rhetorische Leitschrift des übernommen, jedoch in den Urbanen Raum übersetzt.
späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, die als Rhe- Aus dieser Umorientierung - die von der Republik bis
torica secunda Cicero zugeschriebene <Herennius-Rhe- weit in die Kaiserzeit hinein gültig bleibt - läßt sich daher
torik>, schlägt als Örter «aedes, intercolumnium, angu- schließen, daß es eine Affinität der forensischen Situie-
lum, fornicem, et alia quae his similia sunt» [26] vor, also: rung der Rhetorik mit Wahrnehmungsmustern gibt, die
ein Haus, eine Kolonnade, einen Winkel, einen Bogen durch die allgemeine verbale und visuelle Kultur genährt
und anderes, was diesen Dingen ähnlich ist. Dieses sind. [35] Der physische urbane Raum ist als Strukturvor-
zunächst nur archtitekturtypologische Programm wird gabe kultureller Selbstwahrnehmung zu betrachten, er
zur architektonischen Landschaft geweitet: «Cogitatio ermöglicht dem Akt des intentionalen Erinnerns die
enim quamvis regionem potest amplecti, et in ea situm größtmögliche Geläufigkeit im Sinne einer störungs-
loci cuiusdam ad suum arbitrium fabrican et architec- freien Orientierung innerhalb seines tiefensemantisch
tari» (Das Denken kann nämlich jede beliebige Gegend besetzten Gefüges von Örtern: Denn die Urbanen loci
umfassen und in ihr die Anlage eines Orts nach eigenem werden in der Rede nicht kommunikativ aktualisiert,
Gutdünken herstellen und bauen.) [27] Aus dem Haus sondern dienen der imaginativen Orientierung des Red-
und den genannten architektonischen Versatzstücken ners in einem ihm identifikatorisch angemessenen Habi-
wird ein urbaner Raum konstruiert, der dem Gedächtnis tat.
zur Verfügung steht und in zugleich metaphorischer wie Die Serialität der loci fungiert dabei als Garant für die
eigentlicher Weise mit dem Begriff architectari belegt individuell freie Beweglichkeit. Sie setzt distinktive und
erscheint. signifikante Merkmale der Architektur voraus [36] - eine
Deutlicher noch wird die Beziehung des imaginären zeichentheoretische Verfaßtheit, die bereits in der
Merkraums auf den physischen Urbanen Raum bei <Herennius-Rhetorik> und bei Cicero feststellbar war,
CICERO. Die Verdeutlichung liegt, was nur auf den ersten und die auch von Quintilian wiederholt wird: «Loca deli-
Blick paradox anmutet, in einem Übergehen. [28] Cicero gunt quam maxime spatiosa, multa varietate signata.»

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Memoria Memoria

(Man wählt Örter aus, die möglichst geräumig und durch stieren nur diagrammatische und phonetisch-graphema-
große Mannigfaltigkeit gekennzeichnet sind.) [37] Ord- tische Mnemotechniken zu homiletischen oder schuli-
nung bleibt jedoch für die antike Rhetorik ein formaler schen Zwecken, die seit dem 9. Jh. in der Unterrichtspra-
Begriff, ein Faktor, der die kognitiven Fähigkeiten auf xis eingesetzt wurden, ohne daß ihre Prinzipien systema-
die Wahrnehmung eines physischen Raumes bezieht, um tisch schriftlich niedergelegt worden wären. [2] Dazu
durch dessen Kohärenz die Kohärenz der argumentatio kommen klösterliche Meditations-[3] und inventio-
zu verbürgen: «Item putamus oportere ex ordine hos Traktate. [4] In den Bildungsanstalten, im Gottes-
locos habere, ne quando perturbatione ordinis inpedia- dienst [5] und an den Höfen bündeln sich standesspezifi-
mur.» (Daher glauben wir, daß es sich schickt, aus der sche Varianten der Herausbildung eines kollektiven
Ordnung diese Örter zu gewinnen, damit wir niemals Gedächtnisses durch einen gemeinsamen Lebensvollzug
durch eine Störung der Ordnung behindert werden.) [38] und Bildungserwerb, wie allgemein pädagogisch-didakti-
Ordnung ist hier, anders als unter christlichen Prämissen, sche Praxis, Kanon, Ritus, Zeremoniell und Fest eine
nicht weiter theoretisch begründet, sondern das schlichte zentrale Funktion bei der Herstellung von erinnernder
Gegenteil von perturbatio. Damit ist indessen ein semio- Gruppenidentität besitzen. [6]
tisches Modell für die ars memorativa gegeben, dessen Die Anfänge der volkssprachlichen Laienkultur tra-
Struktur in ihrer Wiederbelebung im 13. Jh. [39] beibe- gen ganz überwiegend die Züge einer Memorialkultur, in
halten, aber teils auf einen anderen Zeichenapparat der Rechts- und Besitzverhältnisse [7] ebenso wie dyna-
bezogen wurde. stische Traditionen [8] und poetische, kultische und all-
tagspraktische Überlieferungen schriftlos mittels Erin-
Anmerkungen: nerungszeichen bewahrt werden. Erst seit dem 12. Jh.
lvgl. C. Baroin: Art. «Erinnerung», in: DNP 4, Sp.70f. - 2vgl. beginnt auch in der laikalen Oberschicht der Schriftge-
Piaton, Menon 81a-98a, Phaidr. 72e-77a. - 3 vgl. Aristoteles, brauch Formen und Inhalte kultureller Überlieferung
περί μνήμης και άναμνήσως, Peri mnëmës kai anamnëseôs, in: durchgreifend zu verändern. Es sind aber vorerst
ders.: Kleine naturwiss. Sehr. (Parva Naturalia), übers, und hg. begrenzte Sektoren (Herrschaftsausübung, Recht [9],
von E. Dont (1997) 87-100; vgl. dazu F. Berndt: Aristotle:
Towards a Poetics of Memory, in: Th. Wagenbauer (Hg.): The
Geschichtsschreibung), in denen die Schrift das schrift-
Poetics of Memory (1998) 23-42. - 4vgl. Platon: Theaitetos lose Erinnern verdrängt. Im Spätmittelalter erfaßt die
191c-192a; Aristoteles [3] 450a-b. - 5 vgl. ebd. 449b. - 6 vgl. unten Verschriftlichung des Bewahrenswerten auch Ge-
Β.VI. - 7 v g l . Plat. Phaidr. 274c-275c. - 8 e b d . 275a. - 9 e b d . 275d. brauchstexte. [10] Es entstehen Möglichkeiten zur indivi-
- 1 0 vgl. L. Bolzoni: La stanza della memoria. Modelli letterari e duellen Erinnerung des Selbst in adligen und bürgerli-
iconografici nell'età della stampa (Turin 1995) XVIIIf. - 1 1 vgl. chen Memoiren, Autobiographien, Reiseberichten und
Th. Leinkauf: Scientia universalis, memoria und status corruptio- verwandten Textsorten.
ns. Überlegungen zu philos, und theol. Implikationen der Uni-
versalwiss. sowie zum Verhältnis von Universalwiss. und Theo-
Wie die antiken Schriften zur M. unterscheiden auch
rien des Gedächtnisses, in: J.J. Berns, W. Neuber (Hg.): Ars jene des Mittelalters - über die Differenz von M. rerum
memorativa. Zur kulturgesch. Bedeutung der Gedächtniskunst und M. verborum - zwischen dem, was heute verbales
1400-1750 (1993) 1-34. - 12vgl. Augustinus, Bekenntnisse, Lat. und visuelles Gedächtnis genannt wird. Diagramme der
und Dt. Eingel., übers, und eri. von J. Bernhard (1987), bes. Schrift werden jedoch ebenso als visuell eingeschätzt wie
Buch X. - 1 3 vgl. J. Kreuzer: Pulchritudo. Vom Erkennen Gottes das, was heute als Bild gilt: Als Ergebnis dieser Verhält-
bei Augustin. Bemerkungen zu den Büchern IX, X und XI der nisse wird die Seite als Ganzes, mit ihrer Schrift und
<Confessiones> (1990) 16-104; S. Ferretti: Zur Ontologie der
Erinnerung in Augustinus' <Confessiones>, in: A. Assmann, D.
ihrem gesamten Schmuck, für ein kognitiv wertvolles
Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kultu- Bild angesehen. A U G U S T I N U S [11] wie noch A L K U I N (732-
rellen Erinnerung (1991) 356-362. - 14vgl. Augustinus, Confes- 804) nehmen an, daß die phantasia bzw. die vis imagina-
siones Lib. X 20f. - 15vgl. Leinkauf [11] 7. - 16vgl. v.a. B.III. - tiva eine Art von Übersetzung des Gelesenen vollzieht,
17vgl. Augustinus, De catechizandis rudibus 3, in: CChr.SL so daß die Worte Bilder in der Imagination aufkommen
Bd. 46,124-126. - 18vgl. M. Carruthers: Rhet. M. und die Praxis lassen. Darüberhinaus können die Bilder in der Imagina-
des Erinnerns. Boncompagno da Signas <Rhetorica novissima>, tion gemischt und neu zusammengesetzt werden, um
in: J.J. Berns, W. Neuber: Seelenmaschinen. Gattungstraditio-
nen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken
eine neue Anordnung zu schaffen. [12]
vom späten MA bis zum Beginn der Moderne (1999) 15-36, hier Im Mittelalter werden aber gegenüber der Antike
33. - 19vgl. dazu B. Gerhardsson: Memory and Manuscript eigenständige Formen der Gedächtnisübung entwickelt,
(Uppsala 1961), bes. Kap. 11. - 20Quint. XI, 2,13. - 21 Cie. De die im engen Zusammenhang mit der zeitgenössischen
or. II, 353. - 22vgl. dazu S. Goldmann: Statt Totenklage Schreibkultur stehen und die ein neues Memoriaver-
Gedächtnis, in: Poetica 21 (1989) 43-66. - 23Cicero, De finibus ständnis voraussetzen. So gibt es alphabetische bzw.
bonorum et malorum V, 1-2. - 24 vgl. Auct. ad Her. III, 16-24; numerische loci, die am Seitenrand den Text markieren,
Cie. De or. II, 350-360; Quint. XI, 2, 1-51. - 25vgl. dazu H.
Blum: Die antike Mnemotechnik (Hildesheim/New York 1969)
oder Merkörter in Form der Tierkreiszeichen oder ande-
3-12. - 26Auct. ad Her. III, 29. - 27ebd. III, 32. - 28vgl. F.A. rer graphischer Marken, die einen geschriebenen Text
Yates: The Art of Memory (Chicago/London 7 1987) 45; vgl. segmentieren und die Segmente dem Gedächtnis einprä-
ebenso M. Carruthers: The Book of Memory. A Study in Medie- gen helfen. Mit diesen Modellen wird einerseits «dem
val Culture (Cambridge 1990) 28. - 29vgl. Cie. De or. II, 357. - rascheren Wissensumschlag in der an Raum und Bedeu-
30ebd. II, 358. - 31 ebd. - 3 2 Auct. ad Her. III, 31. - 3 3 vgl. Quint. tung gewinnenden akademischen Lehre (quantitativer
XI, 2,17. - 34ebd. XI, 2,18 u. 21. - 35vgl. E.W. Leach: The Rhe- Aspekt), aber auch dem Bedürfnis nach partikularen
toric of Space. Literary and Artistic Representation of Land-
scape in Republican and Augustan Rome (Princeton 1988) 78. -
Zugängen zum Text für die Belange der wissenschaftli-
36vgl. ebd. 77. - 37Quint. XI, 2,18. - 38 Auct. ad Her. Ill, 30. - chen Diskussion (qualitativer Aspekt) Rechnung getra-
39vgl. Β.II. gen.» [13] Die mittelalterlichen Formen der Memorier-
hilfen sind jedenfalls wesentlich dadurch gekennzeich-
net, daß sie sich grundlegend am Medium Buch orientie-
II. Das Mittelalter [ 1] kennt bis zum Einsetzen der Ari- ren und seine visuellen Gestaltungsmöglichkeiten zu
stoteles-Rezeption im 13. Jh. durchaus Abhandlungen mnemonischen Zwecken nutzen. [14] Die Mnemotechni-
zur M., nicht aber im Sinne einer ars memorativa. Es exi- ken des Mittelalters sind hauptsächlich auf zweidimen-

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Memoria Memoria

sionale Modelle von Örtern hin orientiert (Diagramme, sich auf der Grundlage einer funktionalen Analogie voll-
Raster etc.). [15] «Mit der Orientierung auf den Entwurf zieht: jener zwischen den Prozessen der Seele und jenen
systemhaft geordneter Gedächtnisflächen entspricht die der Mechanik. Generell sind zwei Typen von Seelenma-
ars memorativa methodisch den verschriftlichten Texter- schinen zu unterscheiden: göttliche und menschliche.
schließungsformen.» [16] Gott schafft die menschliche Seele und gibt ihr ein Struk-
Eine die lebensweltliche Erfahrung des physischen turgesetz (göttliche Seelenmaschine). Der Mensch ver-
Raums restituierende Mnemonik, die zugleich wieder sucht, diese göttliche Seelenmaschine zu optimieren,
den Namen einer ars verdient [17], kommt erst mit dem indem er bestimmte Seelenvermögen - wie etwa das
13. Jh. zustande, als durch die Rezeption der Aristoteli- Gedächtnis - unter Respektierung ihres Strukturgeset-
schen Schrift <De anima> mit ihrem Anhang <De memo- zes regelgeleitet beeinflußt (menschliche Seelenma-
ria et reminiscentia> [18] die pragmatische Problematik schine).
des Memorierens von Texten erstmals und folgenreich Die Implantierung des Maschinenbegriffs in die Seele
aus dem Bereich der Rhetorik ausgegliedert und in den ist kein mittelalterlicher, frühneuzeitlicher oder auch nur
Bereich der Logik bzw. Ethik übergeführt wurde. [19] So anticartesianisch gemeinter Akt, sondern ein Vorgang
wie etwa wenig später erstmals die bekannten mathema- innerhalb der mittelalterlichen Theologie, der in der
tischen Regeln der Optik auf das Sehen angewendet wur- griechisch-römischen Antike bereits präludiert ist. Denn
den - was zur Erfindung der Zentralperspektive führte - , der Begriff <Seelenmaschine> partizipiert an der alten,
so wurde nun erst das bekannte theologische Fundament schon in der Antike sich konstituierenden und in Spätan-
des Gedächtnisses mit dem Akt des Merkens und Erin- tike und Mittelalter sich verzweigenden Metapher der
nerns zugleich gedacht. Maschine selbst, die bereits im Mittelalter den Bedeu-
A L B E R T U S M A G N U S kommentiert in seiner Schrift <De tungshorizont des modernen Begriffs der <Methode> vor-
bono> [20] erstmals unter aristotelischen Voraussetzun- wegnahm (Agrippa von Nettesheim etwa konzipiert die
gen die architektur-mnemonischen Passagen der <Rheto- Lullistische Kombinatorik als eine inventionelle Denk-
rica ad Herennium>. Er zeigt jedoch spezifische Adapta- maschine, die omne scibile, alles Wißbare, zur Erörte-
tionen des in der antiken Anleitung vorgeschlagenen rung bringen kann). [29] Im großen Zeitalter der Mecha-
Architektur-Repertoires, das bei ihm nun weniger durch nik [30] war dann die Maschinenmetapher auf nahezu
einen antikischen Urbanismus gekennzeichnet ist, als alles zu beziehen, was als in regulierter dynamischer
vielmehr durch den Reflex eines Klerikers auf sein Bewegung befindlich gedacht werden konnte: die Welt
genuines Habitat. Wo die antike Schrift aedes, interco- bzw. den Kosmos, den Staat [31], den Menschen und
lumnium, angulas und forrtex als loci vorschlägt, da ver- eben die Seele. Die technischen Begriffe fabrica und
sammelt Albertus Versatzstücke eines - wenn auch u.U. machina treten schon in der Antike auch in übertragener
im Urbanen Verband gelegenen - Klosters: templum, Bedeutung auf. [32] Der menschliche Körper, die Welt,
intercolumnium (vermutlich ist jedoch nicht eine Kolon- die Natur werden in diesen semantischen Feldern meta-
nadenordnung gemeint, sondern ein Kreuzgang oder ein phorisiert. Metaphorisch sprechen bereits Cicero und
Kirchenschiff) [21],pratum und hospitale. [22] Diese Tra- Lukrez von der fabrica mundi oder machina mundi,
dition geht weiter zum <Foenix> des P E T R U S R A V E N N A S Cicero auch von der fabrica naturae. Diese übertragene
(Venedig 1491) und der Schrift <Artis memorativae natu- Rede bleibt mindestens bis ins 18. Jh. lebendig. [33]
ralis et artificialis certa, facilis et verax traditio) von Erst christliche Lehrer waren es, die, zumeist jedoch
L O R E N Z FRIES (Straßburg 1 5 2 3 ) [ 2 3 ] , die beide den Raum unter Rückgriff auf platonische Vorstellungen, die
einer realen Kirche als /ocus-Modell vorschlagen. Alber- Maschinentopik in den spirituellen und seelischen
tus reagiert mit seiner Rekonstruktion, die sich als fol- Bereich transponierten. So sprechen Augustinus, Caesa-
genreich erweisen sollte [24], in der Tat auf die gestie- rius, Bischof von Arles und Gregor d.Gr. von der christli-
gene Gelegenheit und Notwendigkeit öffentlicher Rede chen Lehre als fabrica spiritalis, und in solchem Kontext
im geistlichen wie im säkularen Bereich (z.B. Universi- kommt es denn auch erstmals (sofern das beim heutigen
tät, Volkspredigt, Hof, Stadt). [25] Kenntnisstand mit Bestimmtheit gesagt werden darf) zu
Generell läßt die wissensvermittelnde Literatur des expliziten Erwähnungen von Seelenmaschinen: Macro-
Zeitalters der Scholastik eine neue Etappe in der bius spricht gegen Ende des 4. Jh. von der mundanae ani-
Geschichte der M. erkennen, was auf der Basis des Dar- mae fabrica, Gregor d. Gr. von der machina mentis. [34]
gestellten zu zwei grundlegenden Konsequenzen führt. Prüft man, in welchem Zusammenhang diese vier Auto-
Erstens wird die ars memorativa selbständig, d.h. es ren von fabrica spiritalis und Seelenmaschinen sprechen,
wächst die Zahl der von Rhetoriken unabhängigen mne- so ergibt sich, daß sie in Predigt, Bibelexegese und
motechnischen Anweisungsschriften. Eine genuin deut- Erbauungspoesie neutestamentliche Architekturmeta-
sche Texttradition ist hierbei nicht anzusetzen; «Deut- phorik, die das Leib/Seele-Verhältnis bezeichnet - so
sche Texte sind ausschließlich über ihren Quellen- bzw. etwa im 1. Korintherbrief 3,9 oder im 1. Petrusbrief 2,5 -
Kontextbezug zur lateinischen Tradition zu verste- mit griechisch-römischen Kosmologievorstellungen ver-
hen.» [26] Zweitens ist schon im 15. Jh. «das meditative knüpfen. Darlegungen zu dem Problem, wie machina
memoria-Konze.pl [...] zumindest aus der mnemotechni- mundi und machina mentis konkret zu denken sind, gibt
schen Traktatliteratur nahezu vollständig verschwun- es in Antike und Frühmittelalter nicht.
den.» [27] Anders formuliert: Mit dem 15. Jh. tritt ein Erst B O N C O M P A G N O D A S I G N A macht in seiner ca. 1235
neuer Typus der mnemonischen Literatur auf, der in den fertiggestellten <Rhetorica novissima> [35] ein Maschi-
klassischen Rhetoriken nur rudimentär verankert ist und nenmodell wichtig, das eine Koppelung von Weltma-
der mit der frömmigkeitspraktischen Funktion der mit- schine und Seelenmaschine darstellt. Boncompagno ent-
telalterlichen Traktate und ihrer 'Ethik des Lesens' wickelt im neunten Buch seiner Rhetorik, das <De ador-
bricht. nationibus> handelt, eine Metaphernmaschine. Das
Zu der restituierten Mnemonik nach antiken Struktur- Wesen der (bild)geschmückten Rede, der adornatio,
mustern - doch mit neuer funktioneller Ausrichtung - sieht er in der Übertragung, der transumptio: «Tran-
tritt im Mittelalter die Maschinisierung [28] der M., die sumptio est mater omnium adornationum que non desi-

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nit dicendorum genera circuire: vel transumptio est que- das Geheimnis durch Verschlüsselung zu bewahren, son-
dam imago loquendi in qua unum ponitur et reliquum dern vor allem dazu, den Inhalt memorieren zu hel-
intelligitur; vel transumptio est transmutatio locutio- fen. [40] Die Maschine ist die Verlängerung, die Projek-
num, que semper intellectum imaginarium representat: tion, des mentalen Mechanismus. Bei Fontana wird letz-
vel transumptio est positio unius dictionis vel orationis lich dieselbe Analogiebeziehung zwischen seelisch-
pro altera, que quandoque ad laudem, quandoque ad kognitiven und mechanischen Prozessen postuliert, die
vituperium rei transumpte redundat; vel transumptio est Boncompagno schon als Vision vorschwebte und die
quoddam naturale velamen, sub quo rerum secreta Leibniz dann nochmals rund zweieinhalb Jahrhunderte
occultius et secretius proferuntur.» (Die transumptio ist später im Hinblick auf die Perzeptionen behaupten
die Mutter jeglicher Ausschmückung, welche nicht auf- wird. [41]
hört, die Arten des Aussagens zu umschreiben: Oder die Diese Analogiebeziehung, zunächst von der Seele aus
transumptio ist irgendein Redebild, in dem ein Teil gedacht, kann auch ihre Richtung umwenden. Fontana
gesagt und der übrige Teil verstanden wird; oder die schreibt: «Aus diesen und aus anderen Motiven scheint
transumptio ist eine Vertauschung der Wörter, die es, daß die Uhren erfunden worden sind, die für uns die
immer ein bildliches Verständnis darstellt: oder die Erinnerung vergangener Zeiten und Taten konservie-
transumptio ist der Ersatz einer Aussage oder Rede ren.» Er fährt fort, daß er selbst bereits Uhren gebaut
durch eine andere, der einmal zum Lob, einmal zum habe, die ihn zur Arbeit gerufen hätten, auch wenn er
Tadel einer Sache in Übertragungen ausschweift; oder selbst nicht daran gedacht habe: «gleichsam als ob sie in
die transumptio ist gewissermaßen ein natürlicher sich ein wahres und eigenes Gedächtnis hätten.» [42] Die
Schleier, unter dem die Geheimnisse der Dinge verbor- Interdependenz zwischen Seele und Maschine ist damit
gener und heimlicher gezeigt werden.) [36] austauschbar, die Seelenmaschine mehr als eine Meta-
In einer Vision sieht Boncompagno dann im 3. Kapitel pher. Eine externalisierte M. kann analog zu jener inter-
dieses 9. Buches, wie die Weltmaschine mittels eines nen gedacht werden, die traditionell eine Seelenpotenz
Räderwerks eine transumptio der Künste und Berufe lei- darstellt. Diese Konzeption bleibt die gesamte Neuzeit
stet. Das System der artes et professiones erscheint der über virulent.
machina mundialis als ein Getriebe von elf rotae princi-
pales und fünf rotulae subtiles implantiert: Das Werk der Anmerkungen:
elf großen Räder, denen jeweils besondere (Bild-) Berei- lvgl. H. Hajdu: Das mnemotechnische Schrifttum des MA
che zugedacht sind, besteht aus den <Sieben Freien Kün- (Budapest 1936); M. Carruthers: The Book of Memory. A study
in medieval culture (Cambridge 1990) 28; Β. Roy, P. Zumthor
sten) sowie ius civile, ius canonicum und Theologie. (Hg.): Jeux de mémoire. Aspects de la mnémotechnie médiéval
Ergänzt werden die elf rotae principales dann durch fünf (Montréal/Paris 1985). - 2 v g l . S. Heimann-Seelbach: Ars memo-
Rädchen, in denen theologisch und akademisch dubiose rativa. Genese, Uberlieferung und Funktion der mnemotechni-
Künste begriffen sind (Nekromantie, Geomantie, Pyro- schen Traktatlit. im 15. Jh. (Phil. Habil. masch. 1998) 12. - 3 vgl.
mantie, Spatomantie und Alchemie). [37] Durch die J. Coleman: Das Bleichen des Gedächtnisses. Des Hl. Bern-
Umwälzung dieser elf Räder entsteht eine solche hards monastische Mnemotechnik, in: A. Haverkamp, R. Lach-
Unmenge von Übertragungsmöglichkeiten, daß nie- mann (Hg.): Gedächtniskunst. Raum - Bild - Schrift, Stud, zur
Mnemotechnik (1991) 207-227; M. Carruthers: The Craft of
mand sie realisieren kann. [38] Das Räderwerk, dessen Thought. Meditation, Rhetoric, and the Making of Images, 400-
technische Gegebenheiten Boncompagno nicht weiter 1200 (Cambridge, MA 1998); J. Kreuzer: Der Seelengrund als
erläutert, ist Weltmaschine, machina mundialis, und Subjekt und Objekt der Erinnerung bei Eckhart und Tauler, in:
zugleich enzyklopädische Wissens- und Wissenschafts- J.J. Berns, W. Neuber: Seelenmaschinen. Gattungstraditionen,
maschine, indem es alles partikulär Gewußte miteinan- Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom
der kombinierbar und somit alles Wißbare durch trans- späten MA bis zum Beginn der Moderne (1999) 169-186. - 4M.
umptiones ermittelbar macht. Doch schließlich ist es Carruthers: Rhet. <memoria> und die Praxis des Erinnerns. Bon-
compagno da Signas <Rhetorica novissima>, in: Berns, Neuber
auch Seelenmaschine, machina mentis, sofern ohne die [3] 15-36, hier 15, zur M. als «sacra pagina».-5 vgl. Κ. Schmid, J.
durch die transumptiones entstehenden Formen allego- Wollasch (Hg.): M. Der gesch. Zeugniswert des liturgischen
ria, tropologia, moralitas, metaphora et quelibet locutio Gedenkens im MA (1984). - 6 vgl. H. Wenzel: Hören und Sehen,
figurata die Seelenpotenzen ratio, intellectus und memo- Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im MA (1995). - 7vgl.
ria nicht realisiert werden könnten. M.T. Clanchy: From Memory to Written Record (London
Die Koppelung von Seelenmaschine und Weltma- 1979). - 8vgl. O.G. Oexle: M. und Memorialüberlieferung im
schine war keine individuelle Wahnvision des Bologne- frühen MA, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976) 70-95;
ders.: M. als Kultur (1995); K. Schmid: Gebetsgedenken und
ser Rhetorikprofessors, sondern wurde wohl in vielen adliges Selbstverständnis im MA (1983); Β. Stock: The Implica-
Klöstern und Universitäten gedacht und materialisierte tions of Literacy (Princeton 1983). - 9 vgl. L. Kuchenbuch: Ver-
sich zu Beginn des 14. Jh. anschaulich, hörbar und hand- rechtlichung von Erinnerung im Medium der Schrift (9. Jh.), in:
greiflich in einem Getriebe: jenem der Räderuhr als Zeit- A. Assmann, D. Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funk-
maschine. Deren sinnliche Attraktivität bestand zum tionen der kulturellen Erinnerung (1991) 36-47. - lOvgl. J.D.
einen in der visuellen Demonstrativität des Räderwerkes Müller (Hg.): Wissen für den Hof (1994). - 11 vgl. S. Ferretti:
als transumptio der machina mundi; deren akustische Zur Ontologie der Erinnerung in Augustinus' <Confessiones>,
in: A. Assmann, D. Harth (Hg.): Mnemosyne. Formen und
Sensation aber bestand im Schlagwerk, das seine Würde Funktionen der kulturellen Erinnerung (1991) 356-363. - 1 2 vgl.
als Hilfsinstrument der M. hatte. Die Räderuhr des 14. Carruthers [4] 30. - 13vgl. Heimann-Seelbach [2] 13. - 14vgl.
Jh. ist eine Erfindung, die auf eine maschinelle Transfor- Carruthers [1] 80. - 1 5 vgl. ebd. 144; vgl. zudem M. Evans: The
mation von Himmelsarbeit und Seelenarbeit angelegt ist. Geometry of the Mind, in: Architectural Association Quarterly
Um 1430, also rund 200 Jahre nach Boncompagnos 12 (1980) 32-55. - 16 Heimann-Seelbach [2] 13. - 17vgl. Carru-
Maschinenvision, findet sich, wie L. Bolzoni gezeigt hat, thers [1] 153. - 18 Aristoteles, Kleine naturwiss. Sehr. (Parva
in G I O V A N N I F O N T A N A S mnemotechnischem Traktat Naturalia), übers, und hg. von E. Dönt (1997). - 19vgl. Carru-
thers [1] 153. - 20 Albertus Magnus, De bono tract. IV, quaest.
<Secretum de thesauro experimentorum ymaginationis II, art. 2, eine engl. Übers, vgl. ebd. 267-280. - 21 vgl. Carruthers
hominum>[39] der Entwurf einer Maschine, die zum [1] 139. - 22vgl. ebd. - 23vgl. L. Fries: Ein kurzer bericht wie
Chiffrieren dient. Die Chiffre allerdings hilft nicht nur,

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Memoria Memoria

man die gedechtniss wund'barlichen stercken mag ... (1523), nuntijs et tabellarijs pernecessarium» (ein überaus not-
abgedr. in: J.M. Massing: Laurent Fries et son <Ars memora- wendiges Werk für alle Theologen, Prediger und Beicht-
tiva). La Cathédrale de Strasbourg comme espace mnémonique, väter, Juristen, Richter, Prokuratoren, Advokaten und
in: Bulletin de la Cathédrale de Strasbourg XVI (1984) 69-78. -
Notare, Ärzte, Philosophen, Lehrer der freien Künste,
24 vgl. B.III. - 25 vgl. Carruthers [1] 154.-26 Heimann-Seelbach
[2] 11. - 27ebd. 9. - 28vgl. generell J.J. Berns, W. Neuber: See- außerdem Händler, Gesandte und Briefboten). [3] D e r
lenmaschinen. Zur Konstruktion einer Gattungsgesch. der ma. gleiche Anspruch findet sich noch fast 200 J a h r e später
und frühneuzeitlichen ars memorativa, in: dies. [3] 745-764. - analog formuliert, wenn es auf dem Titelblatt von
29 vgl. Agrippa von Nettesheim, In Artem brevem Raymundi JOHANN HEINRICH D Ö B E L S <Collegium Mnemonicum> [4]
Lulli commentarla (Köln 1513); dazu: R. Friedlein, A. Tranin- heißt: «Gantz neu eröffnete Geheimnisse D e r Gedächt-
ger: Art. <Lullismus>, in: HWRh, Bd. 5. - 30 vgl. dazu exempla- niß=Kunst / Darinn / Vermöge der in Kupfer gestoche-
risch J.-C. Beaune: L'automat et ses mobiles (Paris 1980); A.
nen Gedächtniß=Stube / D e r unvergleichliche Vortheil
Sutter: Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges
bei Descartes, Leibniz, La Mettrie und Kant (1988); H. Möbius, angewiesen wird / Die H. Bibel / Jurisprudenz, Chronolo-
J.J. Berns (Hg.): Die Mechanik in den Künsten. Stud, zur ästhe- gie, Oratorie &c. Nebst denen Mathematischen und
tischen Bedeutung von Naturwiss. und Technologie (1990). - andern Wissenschaften gleichsam spielend in kurtzer
31 vgl. B. Stollberg-Rilinger: Der Staat als Maschine. Zur polit. Zeit dem Gedächtniß zu inspirieren.»
Metaphorik des absoluten Fürstenstaats (1986); D. Peil: Unters, Schon diese förmliche Explosion von mnemonischen
zur Staats-und Herrschaftsmetaphorik in lit. Zeugnissen von der Traktaten in der Frühen Neuzeit legt eine grundlegende
Antike bis zur Gegenwart (1983). - 32vgl. A. Rehmann: Die
Veränderung gegenüber dem Mittelalter nahe, die sich
Gesch. der technischen Begriffe fabrica und machina in den
romanischen Sprachen (Diss. 1935). - 33vgl. K.-H. Ludwig, M. einem neuen Verständnis der M. verdankt. Diese Verän-
Popplow: Art. <Maschine>, in: LMA VI, Sp. 362f.; W. Schmidt- derung kann auch in inhaltlicher Hinsicht markiert wer-
Biggemann: Art. <Maschine>, in: HWPh V, Sp. 790-802. - 34zu den. Trotz einer Fülle von Autoritätsberufungen auf
fabrica spiritalis s.: J. Zycha (Hg.): Augustinus, Contra Faustum, Thomas von Aquin, Albertus Magnus und Hugo von St.
in: Corpus scriptorum eccl. Latinorum, Bd. 25,1 (1891) Buch 1, Viktor läßt sich die ars memorativa seit dem 15. J h . nicht
3; Caesarius v. Arles: Epistula de humilitate ad monachos, Kap. lückenlos auf ihre mittelalterliche Gattungstradition
2,3, in: C. F. Arnold: Caesarius v. Arelate und die gallische Kir-
zurückführen. Zwar hat die Maschinisierung des Seelen-
che seiner Zeit (1894) 468^90; M. Adriaen (Hg.): Gregorius d.
Gr., Moralia in Job, in: CChrSL, Bd. 143 A (1979) Buch XVII, konzeptes grundlegende Auswirkungen auf die Theorie
42; zu mundanae animae fabrica s.: J. Willis (Hg): Macrobius, der M.; zwar reaktiviert Albertus Magnus den memoria-
Commentarli in somnium Scipionis (1963) Buch I, 12, 6 (unter len Typus des räumlichen gegenüber dem bis dahin vor-
Beziehung auf Plato); vgl. außerdem Buch I, 6, 65 und 15, 5; s. herrschenden Typus des an der Schrift und an der Buch-
auch ders. (Hg.): Macrobius, Saturnalia (1963) Buch VII, 4, 3: seite orientierten Flächengedächtnisses - doch hat das
ipsa natura, fabricae huius auctor et nutrix; zu machina mentis s. Mittelalter kein geschlossenes mnemotechnisches
M. Adriaen (Hg.): Gregor d. Gr., Moralia in Job, in: CChrSL,
Regelwerk bereit gehalten, das auf beliebige Fälle anzu-
Bd. 143 (1979) Buch VI, 58; vgl. auch V, 55: contemplationis
machina. -35vgl. die Ausg. Boncompagni Rhetorica Novissima, wenden gewesen wäre. Zwei Gründe sind im wesentli-
in: Bibliotheca Iuridica Medii Aevi, ed. A. Gaudenzi, Bd. 2 chen für diese Diskontinuität verantwortlich zu machen.
(Bologna 1892) 249-297. - 36 ebd. 281; Übers. Verf. - 37 vgl. ebd. Zum ersten fehlen in «den deutschsprachigen Schreiber-
285. - 38vgl. ebd. 285f. - 39vgl. L. Bolzoni: La stanza della handbüchern des 15.Jh. [...] die Gedächtnislehren nor-
memoria. Modelli letterari e iconografici nell'età della stampa malerweise, weil die memoria außerhalb der Schriftlich-
(Turin 1995) 103-111. - 4 0 vgl. ebd. 103. - 4 1 vgl. Β. III. - 4 2 vgl. keitsprozesse steht.» [5] Hier pflanzt sich der alte Platoni-
Bolzoni [39] 104f.
sche Gegensatz von Schrift und M. fort. [6] A m radikal-
sten wird im 16. Jh. der Begriff des Textes in einer Weise
III. In der Frühen Neuzeit steigt die Zahl der mnemoni- neu formuliert, die ihn an das Medium der Schrift
schen Traktate, die unabhängig von Rhetoriken entstan- anschließt und damit den A k t der mündlichen Perfor-
den, sprunghaft an, so daß man hier legitimerweise von manz als sekundär erscheinen läßt. In der Folge wird der
der Blütezeit der ars memorativa sprechen kann. Begin- Memorialteil der traditionellen Rhetoriken ausgedünnt
nend mit der Erfindung des Buchdruckes, lassen sich bis und geht im protestantischen Bereich fast gänzlich verlo-
zum Jahr 1700 in Europa - den slawischen Teil einmal ren. [7] Die Gymnasialrede bleibt der nahezu ausschließ-
ausgenommen - rund 800 Autoren nachweisen, die circa liche praktische Motivationsgrund für die M. innerhalb
1000 mnemonische Traktate verfaßt haben, welche ihrer- der Schulrhetorik.
seits in gut 2500 Druckausgaben nachzuweisen sind. [1] Zum zweiten ist die mit dem 15. Jh. einsetzende Syste-
Ein universalistischer Geltungsanspruch der M. wie auch matisierung und Autonomisierung der Mnemonik
der Mnemonik ist hierfür geltend zu machen, der die gegenüber der Rhetorik einem Rückgriff auf andere
unterschiedlichsten kulturellen Bereiche berührt und antike Quellen als jene der römischen Rhetorik geschul-
teils divergente Formen und Memoriakonzepte nach sich det. Die mnemonischen Traktate des 15. Jh. reaktivieren
zieht. E r erweist sich auf verschiedenen Ebenen. Zum «den in den klassischen Quellen in nurmehr rudimentä-
einen gehören gerade die gegenstandsunabhängigen rer Form bewahrten Diskurs über die natürliche Entste-
Traktate zur Gedächtniskunst zu den erfolgreichsten hung und zivilisatorische Wirkung der Künste, ihre ethi-
und auflagenhäufigsten Publikationen aus dem Genus sche Dignität und lebenspraktische Nützlichkeit, ihre
der ars memorativa. Zum anderen wird die Mnemonik Lehrbarkeit und Anbindung an eine elitär gedachte
für weite Bereiche der zeitgenössischen Wissenschafts- Gruppe von Inhabern des entsprechenden Spezialwis-
theorie strukturkonstitutiv. [2] Zum dritten operieren sens.» [8] Dieser Diskurs wurzelt in der Sophistik und ist
mnemonische Traktate selbst mit dem Nachweis ihrer damit wiederum rhetorisch vermittelt. Die ars memora-
universellen gesellschaftlichen Nützlichkeit, so etwa im tiva des im 15. J h . vorfindlichen Typs geht «auf eine
Titel von JOHANN ROMBERCHS <Congestorium Artificiose Sekundärrezeption der griechischen Mnemonik zurück
Memories Das Werk sei ein «opus omnibus Theologis: [...], welche im zweiten Jahrzehnt des [15.] J h . einsetzte
predicatoribus et confessoribus: Juristis: iudicibus procu- und von bestimmten greco-romanischen Gelehrten
ratoribus: aduocatis et notarijs: medicis: philosophis. humanistischer Ausrichtung getragen wurde.» [9] Ihre
Artium liberalium professoribus. Jnsuper mercatoribus rasche Ausbreitung und vielfältige Bearbeitung läßt sich

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nicht auf deren personelle Beziehungen reduzieren. Sie Wissens orientiert sind, können nicht zuletzt die frühneu-
erklärt sich vielmehr aus der dieser Gedächtniskunst zeitlichen Utopien belegen. Als literarische Entwürfe
zugeschriebenen Leistungsfähigkeit und manifestiert einer idealen Gesellschaft operieren Utopien seit ihrem
sich «in einer 'technischen' und einer epistemischen Eng- Initialtext, der <Utopia> [30] von T H O M A S M O R U S (Lou-
führung der Lehre [...]. Memoria rerum und memoria vain 1516), mit der Denkfigur einer idealen Ordnung, die
verborum können [...] in diesem Zusammenhang zu häufig auch das Wissen über die Welt und seine didakti-
Leitbegriffen werden, in welchen die Teilhabe der sche Vermittlung betrifft. Der Schriftraum der Utopie
Gedächtniskunst an paradigmatisch in Opposition zuein- bildet einen perfekt geordneten fiktionalen Raum, in
ander stehenden Konzepten kultureller Erinnerung dem sich die Idealgesellschaft eingerichtet hat. Die Mau-
beschlossen liegt.» [10] Das heißt, daß auch und gerade in ern und Gebäude der utopischen Städte gliedern und
der Frühen Neuzeit sich zahlreiche Belege dafür finden, versinnlichen nicht allein die soziale Struktur, sondern
daß kulturelles Gedächtnis und ars memorativa unmittel- fungieren gleichzeitig oft als gebaute mnemonisch-
bar aufeinander bezogen bzw. miteinander verschränkt didaktische Enzyklopädien, gleichsam als Bildarchive
sind. der Schöpfung, als geordnete Sammlungen aller ihrer
Zwar spielt etwa die nicht mnemotechnisch inten- Zeichen.
dierte M. eine bedeutende Rolle in der Herrschaftspraxis Die wichtigsten Beispiele dafür finden sich zu Beginn
der Frühen Neuzeit wie in der durch sie vermittelten des 17. Jh.: in der <Civitas Solis>[31] TOMMASO C A M P A -
kulturellen Identitätsbildung. Das Beispiel von NELLAS und in der davon beeinflußten <Christianopo-
Kaiser Maximilians I. Ruhmeswerken (Ehrenpforte, lis> [32] J O H A N N V A L E N T I N A N D R E A E S . Die Civitas Solis
Triumphzug, Tewrdannckh, Weißkunig, Freidal) zeigt, ist auf einen runden Hügel gebaut und als riesige Ringan-
wie die individuelle Lebenserinnerung, aus der privile- lage konzipiert, deren sieben konzentrische Bauglieder
gierten Position des Herrschers, sich literarisch und bild- explizit nach den damals bekannten sieben Planeten des
lich zum Exemplarischen überhöhen kann. [11] In beiden Sonnensystems benannt sind und damit die kosmische
Medien ist ebenso eine kollektive Erinnerung beabsich- Ordnung selbst abbilden. Auch der Tempel im Zentrum
tigt, wie sie durch andere Formen fürstlicher Erinne- der Stadt ist von vollkommen runder Gestalt. In seiner
rungszeichen (Monumente etc.) im öffentlichen Raum Mitte befindet sich der Altar, der eine große Kugel trägt,
formuliert wird. [12] auf der das Firmament abgebildet, und eine weitere
Dazu tritt jedoch erstens die mnemotechnische Instru- Kugel, auf die die Erde gemalt ist. Die Wölbung der gro-
mentalisierung von realer Architektur, wie sie bereits im ßen Kuppel des Tempels zieren die sieben Ordnungen
Hinblick auf Petrus Ravennas und Lorenz Fries ange- der Gestirne; jeweils drei Verse geben ihre Namen an
sprochen wurde. [13] Diese mnemonische Nutzungsmög- sowie die Kräfte, mit denen sie auf die irdischen Dinge
lichkeit gebauter Urbanität erstreckt sich über die einwirken. Eine strikte, ins Objektive des Kosmischen
gesamte Frühe Neuzeit. Als Beispiele unter vielen sind gewendete Ordnung von loci ist mit imagines versehen,
FRIEDRICH RIEDERERS <Spiegel der waren Rhetorio deren Ausdeutung bzw. Sinnstiftung durch kurze Texte
(1493) [14], J O H A N N ROMBERCHS <Congestorium Artifi- ebenfalls objektiv abgesichert erscheint.
ciose Memorie> (1533) [15] und E R H A R D W E I G E L S W i e - Dieses mnemonisch-didaktische Prinzip durchzieht
nerischer Tugend-Spiegel> (1687) [16] zu nennen. Dazu alle sieben ringförmigen Bauordnungen der Civitas Solis.
kommen, zweitens, weitere Mnemoniken, die auf Rea- Ihre sämtlichen Mauern sind innen und außen sowie
lien bezogene Modellkonstruktionen vorschlagen, wie oben und unten mit Bildern und dazugehörigen erläu-
z.B. Chartiludien (etwa T H O M A S M U R N E R S <Logica ternden Versen geschmückt, die die Wissenschaften dar-
memorativa> [17]), Handmnemoniken, die schon in der stellen. Auf die Gestirne, die sich im Tempel abgebildet
mittelalterlichen Erzählpraxis und seit G U I D O VON finden, folgen auf den Mauern des innersten Ringes alle
A R E Z Z O (um 992-ca. 1050) für die Musizierpraxis ge- Figuren der Mathematik. Daran schließen sich, nach
nutzt wurden [18], standesspezifische Requisitenalpha- außen fortschreitend bzw. absteigend, die folgenden Dis-
bete (etwa bei Romberch), Ahnentafeln und Stamm- ziplinen: Kosmographie, physische und politische Geo-
bäume. [19] Im weiteren Sinne gehören dazu auch rhyth- graphie, Mineralogie, Limnologie, Klimatologie, Bota-
misch-akustische Merktechniken, wie Verse [20], Melo- nik, Heilkunde, systematische Zoologie, dann die
dien [21] und Reime [22] etc. Drittens ist im Kontext der mechanischen Künste. Eine Bildergalerie aller Entdek-
Verschränkung von kulturellem Gedächtnis und Mne- ker und Erfinder wissenschaftlicher und technischer
monik auf die Entstehung zahlreicher Formen der Dinge sowie aller Gesetzgeber schließt am äußersten
gegenstands- oder funktionsspezifisch applizierten Ge- Ring das gigantische Bildprogramm des Sonnenstaates
dächtniskunst, etwa für die Bibel, die Homiletik, die ab. Seine Gesellschaft bedarf der ständigen Erinnerung
Logik, die Annalistik, das Corpus juris etc. hinzuweisen, durch die räumliche Ordnung und die visuellen Bildzei-
die sich sämtlich einer kulturellen Praxis bzw. dem Ein- chen, daß sie in ihrer idealen Gestalt Teil, Spiegel und
üben in die M. kulturell relevanter Gegenstandsbereiche Vollzug der Schöpfungsharmonie ist. Alle in diese
verdanken. Die Metaphorisierung der Realität in mne- Gesellschaft Hineingeborenen werden anhand des Pro-
monischen Baumschemata [23] und Architekturen [24], gramms von Merkörtern und Bildern sozialisiert.
die sich als Palast-[25] und Theatrum-memoriae- Analoges gilt für die Christianopolis: Die Regelmäßig-
Modelle [26] exemplarisch bei G I U L I O CAMILLO [27] und keit der Architektur stellt Beziehungen unter den ver-
R O B E R T FLUDD[28] aufzeigen läßt, verweist zugleich streuten Dingen der Welt her, die im Bild repräsentiert
bereits auf der Ebene der loci auf eine zunehmende werden. Die Bedeutung ist den Dingen der Schöpfung
Kodifizierung einer aus dem kulturellen Gedächtnis nicht immanent, sondern wird, in einem Versuch, den
gespeisten Imagination und M., wie sie sich auch in der Sündenfall und seinen Verlust an Heilserkenntnis wett-
Instrumentalisierung anderer vorfindlicher Bildtypen - zumachen, durch die örtliche Bindung bzw. kategoriale
etwa des Reichsadlers [29] - niedergeschlagen hat. Verräumlichung der Dinge erst hergestellt. Die mnemo-
Wie deutlich mnemotechnisch intendierte Architek- nisch intendierte räumliche Ordnung ist, weil sie das
turmodelle auf die Einübung kulturell verbindlichen Wesen der Dinge in ihrer heilsgeschichtlichen Bedeu-

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tung erschließt, mit dem Heilsplan konform und damit diese Selbstwahrnehmung semantisch zu leisten haben,
von objektiver Bedeutung. nicht aber der urbane öffentliche Raum. [38]
Die Rückübersetzung der kategorialen Heilsordnung F. Riederers <Spiegel der waren Rhetoric* [39] aus dem
in den physischen Urbanen Raum gelingt allerdings nur Jahr 1493 schließt hier an. Riederer übersetzt im wesent-
unter der Voraussetzung einer narrativischen Konstruk- lichen die <Rhetorica ad Herennium>. E r konzipiert die
tion, die als Basis eines durch die M. gestifteten rationa- loci jedoch wie Hirschfelder vornehmlich aus den Innen-
len Weltzusammenhangs gesehen werden kann. Es läßt räumen des Hauses, aus seinen Türen, Kammern und
sich nämlich feststellen, daß ein wesentlicher Zweig der Stuben, bzw. aus seinen Bewohnern, dem Hausvater, der
frühneuzeitlichen Gattungskonstitution der ars memora- Werkstätte oder dem Kontor, der Familie und dem
tiva bereits um 1600 im Hinblick auf den physischen Gesinde. Diese anschaulichen loci können auch ersetzt
Urbanen Raum die antike Theoriebildung preisgibt: Das werden, indem alphabetisch geordnete Wörter die städti-
mnemonische Modell des physischen Urbanen Raumes sche Lebenswirklichkeit im Sinne der Tiefensemantik
verschwindet im Sinne einer Nicht-Aktualisierung, die der Örter repräsentieren: vom «Barbierer» über den
auf der systemlogischen Disfunktionalität des Modells «bettler», den «bittel», den «Bogner» bis zum «Bur-
beruht. [33] Dabei läßt sich zugleich zeigen, daß die loci- ger». [40]
Systeme der ars memorativa mehr sind als sinnfreie for- Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zu Rom-
male Strukturen; ihnen eignet vielmehr der Status von berchs <Congestorium Artificiose Memorie> (1533). [41]
tiefensemantisch besetzten Formationen mit kognitiven Romberch verbindet das alphabetische Verfahren Rie-
Aufgaben und einem strikten Wechselbezug zum jeweils derers mit dem räumlichen des physischen Urbanen
beanspruchten Inventar der imagines. Raums, indem er den Raum selbst alphabetisiert, d.h.
Für das Verschwinden des physischen Urbanen Raums nach Prinzipien ordnet, wie sie in einer Fixierung vermit-
in einem bedeutsamen Teilbereich der ars memorativa tels Schrift gesucht werden müssen. Wie sein mnemoni-
der Frühen Neuzeit sind gedächtnistheologische wie sches Stadtbild [42] zeigt, wird damit aus dem empiri-
mediale Gründe zu nennen. Denn im Sinne einer theolo- schen, physischen Raum, der körperlich durchwandert
gisch kollektivierten und heilsgeschichtlich orientierten werden mußte, ein urbaner Schrift-Raum, der sich in sei-
M. konnte der Rückgriff auf den physischen Urbanen ner Alphabetisierung nicht der individuellen Erfahrung
Raum der römischen Rhetorik nur als Störfaktor begrif- verdankt, sondern dem kollektiven Wissen um die stän-
fen werden, der seiner Individualität und Arbitrarität dische Ordnung des Gemeinwesens zugeschrieben wer-
wegen eliminiert bzw. durch andere Modelle substituiert den muß: von der «Abatia» über den «Barbitonsor», den
werden mußte. «Bellator», den «Bibliopola» und den «Bovicida» zum
Wenn der physische urbane Raum in diesem Kontext «Bvbvlcvs». Man kann diesen Rekurs auf eine kulturelle
nur unter den Bedingungen heilsgeschichtlicher Idealität M. zugleich als Imaginationsdisziplinierung bezeichnen,
noch mnemoniktauglich ist, dann ist zu beschreiben und die auf einer grundsätzlich theologisch motivierten
zu erklären, was mit ihm innerhalb des gattungsge- Selbstvergewisserung der gottgegebenen ständischen
schichtlichen Funktionskontinuums der frühneuzeitli- Gesellschaftsordnung beruht. Romberchs Zusammen-
chen ars memorativa geschieht. Zwei Traditionen sind führung von christlicher Ständeordnung und dem physi-
hier zu unterscheiden: erstens die mnemonischen Passa- schen Stadtraum ist der erste Schritt zu dessen Eliminie-
gen innerhalb der rhetorischen Anleitungsliteratur [34] rung, und zwar vermittels Enträumlichung: In seiner
im weiteren Sinne und zweitens Mnemoniken, die - häu- schriftlichen Fassung verschwindet der physische urbane
fig von Medizinern verfaßt - außerhalb des rhetorischen Raum in der universellen Topik des Mediums Buch, das
Zusammenhangs angesiedelt sind und aufgrund ihres seine formalen Wissensordnungen auf alle /oci-Systeme
topischen Universalismus zunächst tendenziell und zu ausdehnt. - Soweit der rhetorische Gattungskontext.
Beginn des 17. Jh. auch tatsächlich den methodologi- Der medizinisch-universaltopische Gattungszusam-
schen Bemühungen der scientia universalis zuzuschrei- menhang der ars memorativa ist demgegenüber zunächst
ben sind. durch einen strikten Empirismus des Urbanen gekenn-
B E R N H A R D H I R S C H F E L D E R S Handschrift mit dem Titel zeichnet. W A L T E R H E R M A N N R I F F S <De memoria artifi-
<Ars memorativa> [35] (1470-1475) ist am Beginn des ciale (1541) rekurriert ohne jede auf das Medium Buch
rhetorischen Gattungszusammenhanges der Mnemonik abstellende Überformung auf die Anweisungen der
zu nennen. Hirschfelder verfaßte den Traktat vermutlich römischen Rhetorik. Es gibt einen Weg, eine infinite
im Zusammenhang mit seinen Bemühungen um den Menge an loci zu schaffen und zu entwerfen: «cum nemi-
deutschen Briefstil innerhalb seiner Kanzleipraxis. Er nem lateat situs ciuitatis originalis» (denn niemandem
bezieht die antiken Anweisungen zur Konstruktion von bleibt die ursprüngliche Anlage der Stadt verbor-
loci und imagines aktualisierend auf die zeitgenössische gen). [43] Riff schlägt einen geistigen Rundgang durch
städtische Wirtschaftspraxis, indem er die loci aus dem verschiedene Stadtteile vor, damit man sich die Häuser
Haus und dem «Handl», der in dem Haus angesiedelt ist, von Freunden, die Gebäude der Reichen, Amtsgebäude
gewinnt. Nicht die Architektur allein, sondern auch vergegenwärtigt, bzw. ein großes Haus mit seinen Räu-
«weib», «kindt», «magt» und «knecht» und die guten und men. [44]
schlechten Eigenschaften dieser Menschen dienen der Analog dazu sind die Anweisungen zur loci-Konzep-
Gewinnung der Merkörter. [36] Die loci müssen immer tion bei G U G L I E L M U S G R A T A R O L U S in seinem Traktat <De
in einem Kausalverhältnis zu ihrem ¿mago-Inhalt stehen, memoria* (1553), einer Schrift, die die erfolgreichste
sonst ist die «locierung vergessenlich nicht ordenlich Mnemonik des 16. Jh. ist und deren Druckgeschichte bis
noch geRecht». [37] Hirschfelder greift damit auf jenes weit in das 17. Jh. hineinreicht. Gratarolus folgt Riff fast
Modell der römischen Mnemonik zurück, das die loci als wörtlich: «cum neminem lateat ciuitatis originalis situs
Tiefenstruktur kultureller Selbstwahrnehmung formu- vel in qua diu habitauit» (denn niemandem bleibt die
lierte. Der kennzeichnende Unterschied besteht darin, ursprüngliche Anlage der Stadt verborgen, besonders
daß bei Hirschfelder wie auch in den Anweisungen von wenn er lange in ihr gewohnt hat). Gratarolus schlägt die
Riederer vor allem die Innenräume des Bürgerhauses geistige Vergegenwärtigung der Häuser von Freunden,

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der öffentlichen oder Amtsgebäude vor bzw. ein großes eines Sinns, des Sehens, denn der Satz betont in seiner
Haus mit seinen Räumen. [45] Fortsetzung den Primat des Sehsinns vor dem Hören. -
Auch GIAMBATTISTA DELLA PORTAS <Ars Reminiscendi> Es geht Bruxius nicht um die Repräsentation der Dinge,
(1602) favorisiert den räumlichen Empirismus. Man soll, sondern um ihre begriffliche Reduzierbarkeit und Klas-
sagt er, sich zuerst die loci vorstellen, wo etwas gesche- sifikation, die metaphorisch als Architektur bezeichnet
hen ist, um sich das Geschehene selbst in Erinnerung zu wird. Die Architektur des physischen Urbanen Raums ist
rufen. Dieser Rat betrifft authentische Erlebnisse und damit hinfällig. [50]
damit wohl auch die M. naturalis·, für die Gewinnung von Die Betonung der topischen Seite der M., d.h. der
loci zu mnemonischen Zwecken schlägt er ein großes Ordnungsfunktion der mnemonischen Örter, ist ein all-
Haus vor, in dem wir wohnen oder oft aus und ein gehen, gemeiner Prozeß der Frühen Neuzeit. Er führt dazu, daß
zitiert aber auch wörtlich die <Rhetorica ad Herennium>: sie zum Substrat von Wissenschaftstheorie sowie Enzy-
«cogitatio enim quamuis regionem amplecti potest, & in klopädik wird, was die M. in spezifischer Weise mit
ea situm loci cuiusdam ad suum arbitrium fabricari, & den Wissensordnungen verknüpft. Die frühneuzeitliche
architectari» (Die gedankliche Vorstellungskraft näm- Mnemonik ist in wesentlichen Zügen durch den Ramis-
lich kann jede beliebige Gegend umfassen und in ihr die mus [51] sowie durch die Rezeption jener Schriften grun-
Lage eines gewissen Ortes nach ihrem Gutdünken schaf- diert, die unter dem Namen von R A M Ó N L L U L L (Raimun-
fen und aufbauen.). [46] Hier taucht wieder die aus der dus Lullus) überliefert wurden. [52]
römischen Rhetorik stammende Architektur-Metapher Die loci gehorchen bei PETRUS R A M U S nur in äußerster
für das Funktionieren der M. auf. Wie bei Riff und Gra- Formalisierung den Prinzipien der antiken Gedächtnis-
tarolus auch, kann bei della Porta ein unmittelbarer kunst. Ihnen ist jedes Moment einer empirischen Räum-
Bezug auf die Empirie des physischen Urbanen Raums lichkeit ebenso abhanden gekommen wie die Bilder ins-
festgestellt werden, der sich des städtischen Ambientes gesamt - sie beziehen sich nicht mehr auf eine imagi-
im Sinne einer kulturellen Selbstvergewisserung bedient. nierte Reihe von architektonischen Örtern, sondern nur
D a ß dieses Konzept sich gerade bei Medizinern findet, noch auf ein System von Begriffen. Denn Ramus hatte
scheint wenig überraschend. Die Medizin muß neben die beiden Disziplinen der Rhetorik und der Dialektik
der Erdkunde, der sie wissenschaftssystematisch ver- neu formuliert. Die Rhetorik war dabei, ihrer antiken
wandt [47] ist, als die empirische Wissenschaft des 16. Jh. und humanistischen Gestalt gegenüber, fast gänzlich zer-
schlechthin bezeichnet werden. Gerade die Ärzte sind es stört worden. Nach der neuen Definition der Rhetorik
denn auch, die sich als Kosmographen betätigen und, wie durch Ramus waren ihr von fünf Arbeitsbereichen nur
etwa Gratarolus, sich der Gattung der Apodemik zuwen- die elocutio und die actio geblieben, die anderen drei
den, die auf topischer Grundlage die empirische Raum- Teile hatte er der Dialektik, die als Lehre von der
erschließung zu systemischer Vollständigkeit und Regel- Erkenntnisbildung seine Einheitswissenschaft begrün-
haftigkeit führte. Apodemik und Mnemonik sind einan- den sollte, zugeschlagen. Neuer Schlüsselbereich für die
der insofern verwandt [48], als beide mit Topiken des Dialektik wird nun die Topik, d.h. die Lehre von den
Raums operieren; sie unterscheiden sich darin, daß der Merk- und Fundörtern der Argumente.
physische urbane Raum für die Apodemik die Wissens- Damit ist in einem technischen Sinn festgehalten, daß
materie darstellt, für die Mnemonik aber die Wissens- der M., die seit jeher die reziproken Vorgänge von Mer-
form im Sinne einer identitätsanzeigenden Tiefenseman- ken und Erinnern, von Ablegen und Finden geregelt
tik des Gedächtnisses. hatte, bei Ramus eine wissenschaftsbegründende Stel-
Die Architekturmetaphorik des Gedächtnisses, wie lung zukam. Doch nicht allein in einem technischen, son-
die <Rhetorica ad Herennium> und mit ihr della Porta sie dern auch in einem theologisch-psychologischen Sinn
formulierten, ist schließlich im Wege einer metaphori- steht die Theorie des Gedächtnisses an der Basis des
schen Substitution unmittelbar für die Eliminierung des Ramismus. Ramus beschreibt die M. einerseits als das
physischen Urbanen Raumes als M.-Substrat im vorlie- Vermögen, die geschichtlichen Erfahrungen, d.h. das
genden Kontext verantwortlich. Dies läßt sich am Bei- topische Argumentationsmaterial, zu speichern, und
spiel von A D A M B R U X I U S ' Traktat <Simonides Redivivus> andererseits als das Vermögen, die Vorgänge der
zeigen, einer ramistisch geprägten Schrift, deren wesent- Urteilskraft festzuhalten, die die geschichtlichen Erfah-
licher Teil in fortschreitender Begriffszerlegung mit dem rungen ordnen und bewerten. [53] Die Urteilskraft
äußeren Kennzeichen der geschwungenen Klammern bedarf, weil sie durch den Sündenfall verdunkelt ist, also
besteht. Bruxius war, was seinen gedächtnistheoreti- der M. Die M. aber ist topisch, nach Merk- bzw. Fund-
schen Ansatz betrifft, ebenso Aristoteliker wie die ande- örtern, organisiert, was den Prinzipien sowohl der
ren Ärzte unter den Mnemonikern. Die zentrale Modifi- Gedächtniskunst als auch der Dialektik entspricht.
kation gegenüber Riff, Gratarolus und della Porta ist um Die zweite wesentliche Begründung einer scientia uni-
so aufschlußreicher. versalis auf der Grundlage einer universellen, topischen
Eine klassifikatorische, dialektische Topik konstitu- M. ist durch den Lullismus [54] gegeben. Das Kern-
iert bei Bruxius das focus-System, das mit jenem Begriff stück [55] der lullischen Philosophie ist die <Ars magna>,
besetzt wird, der von der <Rhetorica ad Herennium> her die weniger als Philosophie denn als Universalgramma-
bekannt ist, nämlich mit dem Wort architectari. Umge- tik geplant war, durch die eine gemeinsame Beschrei-
kehrt formuliert: Durch die Modellsubstitution von bung von christlichen und moslemischen Sprachen gelei-
Architektur durch ein begriffslogisches Topos-System stet werden sollte. Das Konzept bietet sich jedoch für
verliert der Begriff architectari seinen eigentlichen Sinn eine Theorie der Universalsprache ebenso an wie für
und geht in einen ausschließlich metaphorischen Sinn eine Theorie des universellen Wissens, da es für beide
über - «etsi igitur maximam partem ex auditu & visu, «die identische Begründung einer Teilhabe am göttli-
rerum species architectemur, distinctionesque accipia- chen Wissen» [56] gab. Lullus' Philosophie bot zudem
mus» (auch wenn wir größtenteils die Begriffe der Dinge eine Menge von Begriffen, die sich als loci communes
aus dem Hören und Sehen aufbauen und Unterschiede verstehen ließen und die daher eine Anbindung an alle
wahrnehmen) [49]; dabei besteht eine Privilegierung topischen Modelle der M. ermöglichten.

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Das große Interesse an den lullistischen Texten ver- bewerkstelligen. Dies ist ein Gesetz, welches in seine
weist auf ihre Bedeutung als ars combinatoria und ars Natur eingeschrieben ist; oder eine Confirmation. Er
inveniendi nicht allein für die Wissensorganisation und giebt gedachtem Kunstwerke eine Structur, vermöge
Heuristik, sondern auch für die Überführung der Kombi- welcher die Handlungen zusammen, so dasselbe nach
natorik in die Mathematik. «Schon Agrippa von Nettes- göttlichem Willen vollziehen soll, in eben der Ordnung,
heim begreift die ars memoriae nur noch als Teil der 'ars natürlicher Weise, aus ihm selbst erfolgen. Eben diesen
Lullii'. Izquierdo, Morhof und selbst noch Krünitz folgen Begriff habe ich von der Seele. Ich betrachte sie als ein
dieser Ansicht.» [57] SEBASTIÍN IZQUIERDO [58] etwa immaterielles Automa; dessen innerliche Einrichtung
meint, die M. localis könne die ars combinatoria unter- und Verfassung eine Concentration, oder Abbildung
stützen, die der wichtigste Teil der scientia universalis sei. eines materiellen Automatis ist; die sodann in dieser
Und D.G. MORHOF führt über die Mnemonik aus: «Sie Seele einerley Wirkung, abschildernder Weise, hervor-
wird gewissermaßen für einen Sproß der Lullianischen bringet.»^]
Kunst gehalten, und man glaubt, sie gründe auf densel- Das Seelenmaschinenmodell kann als theologisches
ben Prinzipien. Da nämlich das Gedächtnis die Ordnung Substrat sämtlicher mnemonisch motivierter Bemühun-
der Dinge voraussetzt, die Lullianische Kunst aber gen um die scientia universalis angesehen werden, deren
darum bemüht ist, alle Dinge auf bestimmte Ordnungen kategoriale Seite sich allerdings auf die Konzeption und
und Klassen zurückzuführen, scheint dieses geradezu kombinatorische Vernetzung der loci konzentriert. Die
von selbst aus ihnen zu folgen, außer wenn vielleicht ein Faszinationslogik eines universalwissenschaftlich inten-
anderer Modus der Anwendung übernommen wird. Lul- dierten und in der Mnemonik verankerten Systems von
lus selbst neigt dem ausdrücklich zu [...].» [59] loci strahlt solcherart über das ganze 17. Jh. aus. A. KIR-
Die Rezeption des Lullismus hat eine lange Verlaufs- CHER [69] bemüht sich, das lullistische Alphabet mit
geschichte, in deren mnemonischen Kontext des 16. Jh. einem Symbolinventar zu kombinieren, das als kombina-
wesentlich G. Bruno gehört. [60] Doch «über die Gleich- torische <Ars magna sciendi> [70] systematischen Er-
richtung mit anderen Wissensvorstellungen einerseits kenntnisanspruch erhebt. Ihre inneren Grenzen erreicht
und über die grammatische Kombinatorik mit Buchsta- diese Kunst in ihrer «Unfähigkeit [...], zu argumentieren
bensymbolen andererseits konnte der Lullismus erst hin- und zu begründen. [...] solange sie mit der Kombinatorik
auskommen, als er mit der systematischen Wissen- nichts über den Sinn und den Zusammenhang der Ergeb-
schaftsauffassung im Anschluß an den Ramismus zusam- nisse der Invention aussagen konnte, blieb diese Kunst
mentraf.» [61] Dies war bei J.H. ALSTED der Fall, in des- steril.» [71] Letzten Endes sind auch die Anstrengungen,
sen <Encyclopaedia> [62] das topisch-mnemonische die Leibniz [72] zur Gewinnung einer scientia generalis
Strukturprinzip der Enzyklopädie seinen systemischen unternimmt, zum Scheitern verurteilt, weil sich die domi-
Höhepunkt erreicht. Alsted bestimmt die Mnemonik als nanten Systemteile, Ramismus und Lullismus, als nicht
eine Disziplin, «die sich in allen anderen Disziplinen und kompatibel erwiesen. «Daß Leibniz diesen Konflikt
in sich selbst repetiert». [63] «Die Enzyklopädie ist das zugespitzt hat, daß er ihn, weil er nicht zu lösen war, den-
veräußerlichte, das auswendige topische Gerüst der noch durch die Nicht-Veröffentlichung seiner Werke zur
Mnemonik, ist das Regulativ, das die Mnemonik durch Scientia universalis ausgehalten hat, gehört zu seinen
innere Bewegung im Geist zu verlebendigen und zu bemerkenswertesten Taten.» [73]
bewähren hat. Die Mnemonik ist auf Enzyklopädik der- Wenngleich die theoretischen Bemühungen um eine
art bezogen, daß die memoria die Gesamtheit der Diszi- Universalwissenschaft auf mnemonischer Grundlage
plinen - den circulus disciplinarum, die catena scientia- nicht aufgehen können, so zeitigen sie dennoch Folgen in
rum - in ihrem Geist bewegt, sie erinnernd vergegenwär- der praktischen Philosophie [74] und in der angewandten
tigt und Revue passieren läßt.» [64] Kategorienlehre, die beide ohne eine Fundierung in der
So bleibt denn auch das Konzept der Seelenmaschine M. nicht auskommen. Zu dem zweiten Komplex gehören
im Horizont der Mnemonik virulent. Es grundiert bei- die Wunderkammern [75], aber auch die Emblema-
spielsweise die Andachtspraxis [65], wirft jedoch zugleich tik [76], die zugleich eine Schnittstelle des topischen und
theoretische Probleme auf. So muß sich LEIBNIZ gegen P. des bildlichen Bereichs der ars memorativa darstellt.
Bayles Empörung wehren, wie denn die einfache und Dieser Bildbereich verdeutlicht zu guter Letzt noch-
unteilbare Seele mit einem Uhrwerk verglichen werden mals, als wie stark die Verschränkung der Mnemonik mit
könne. Leibniz antwortet: «Der Vergleich der Seele mit dem kulturellen Gedächtnis angesehen werden muß.
einer Uhr bezog sich nur auf die geregelte Genauigkeit Hatte die gesamte scientia-universalis-Debatte über ihre
der Veränderungen, die selbst in den besten Uhren nur unterschiedlichen Topiken die <Struktur der gesell-
unvollkommen, in den Werken Gottes dagegen vollkom- schaftlichen Einbildungskraft) [77] definiert, so kodifi-
men ist, sodaß man die Seele einen der genauesten, zierten auch die mnemotechnischen Traktate mit ihren
immateriellen Automaten nennen kann.» [66] Die Emp- Anweisungen zur Verfertigung der imagines die kultu-
findung der Seele setzt sich für Leibniz «stets aus einer relle Imagination. Gegenüber der antiken Rhetorik wird
Reihe von Perzeptionen zusammen [...], was für unsren in der Frühen Neuzeit ein gewaltiges Inventar an äußerli-
Zweck genau dieselbe Wirkung hat, wie wenn sie sich chen Bildern mobilisiert, das sich durch den Buch-
gleich einer Maschine aus Teilen zusammensetzte. Denn druck [78] verbreitet. Die entsprechenden Anleitungs-
jede vorhergehende Perzeption hat einen Einfluß auf die schriften spannen ihren thematischen Bogen von der
folgenden, entsprechend einem Ordnungsgesetze, das so Bibelmnemonik [79] bis hin zur Universalgeschichte. [80]
gut für die Perzeptionen wie für die Bewegungen In diesem weiten Horizont ist die von den mnemotechni-
gilt.» [67] schen Traktaten behauptete universelle Geltung der ars
Freilich bleiben für Leibniz die Maschineneffekte memorativa keine bloße Behauptung oder Chimäre. Sie
abhängig vom Willen Gottes, der die Maschine selbst erweist sich nicht zuletzt in der mnemonischen Grundie-
gebaut hat. Wenn Gott ein in sich selbst bewegendes rung potentiell aller literarischen Gattungen der Frühen
Kunstwerk schafft, dann stattet er es nicht nur mit einer Neuzeit. [81]
Ordnung aus, sondern auch mit dem «Mittel, dieselbe zu

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Anmerkungen: tecnica española de los siglos XVII y XVIII (Salamanca 1988). -


lvgl. dazu künftig: J.J. Berns, W. Neuber (Hg.): Bibliogr. der 27vgl. G. Camillo: L'idea del teatro. A cura di L. Bolzoni
Quellenschr. zur Mnemonik. Drucke bis 1700 (2002). - 2vgl. (Palermo 1991); vgl. dazu F. A. Yates: The Art of Memory (Lon-
dazu unten. - 3 J. Romberch: Congestorium Artificiose Memo- don 1966), dt.: Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristo-
rie. V.P.F. Joannis Romberch de Kyrspe. Regularis obseruantie teles bis Shakespeare (1990); L. Olivato: Dal teatro della memo-
predicatorie: Omnium de memoria preceptiones aggregatim ria al grande teatro dell'architettura: Giulio Camillo Delminio e
complectens ... [Am Ende:] Venezia: Melchiore Sessa 1533; Sebastiano Serlio, in: Bolletino del Centro Internazionale di
Übers. Verf. - 4 J.H. Döbel: Collegium Mnemonicum (Hamburg Studi di Architettura «Andrea Palladio> 21 (1979) 233-252; G.
1707). - 5 J . Knape: F. Riederers <ars memorativa> (1493), in: J.J. Barbieri: L'artificiosa rota. Il Teatro di Giulio Camillo, in: ders.:
Berns, W. Neuber (Hg.): Seelenmaschinen. Gattungstraditio- Architettura e utopia nella Venezia del Cinquecento (Mailand
nen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken 1980); L. Bolzoni: Il teatro della memoria. Studi su Giulio
vom späten MA bis zum Beginn der Moderne (1999) 53-65, hier Camillo (Padua 1984); dies.: La stanza della memoria. Modelli
53. - 6vgl. oben B.I.; vgl. dazu außerdem: D. Thiel: Schrift, letterari e iconografici nell'età della stampa (Turin 1995) passim.
Gedächtnis, Gedächtniskunst. Zur Instrumentalisierung des - 28 vgl. R. Fludd: Utriusque cosmi maioris scilecet et minoris
Graphischen bei Francis Bacon, in: J.J. Berns, W. Neuber (Hg.): metaphysica, physica atque technica historia (Oppenheim 1617-
Ars memorativa. Zur kulturgesch. Bedeutung der Gedächtnis- 19); vgl. dazu W. Schmidt-Biggemann: R. Fludds <Theatrum
kunst 1400-1750 (1993) 170-205. - 7 vgl. J. Knape: Die Stellung memoriae>, in: Berns, Neuber [6] 154-169. - 29vgl. J.J. Berns:
der memoria in der frühneuzeitlichen Rhetoriktheorie, in: Aquila Biceps. Die mnemonische Belastbarkeit des Reichsad-
Berns, Neuber [6] 274-285. - 8 vgl. S. Heimann-Seelbach: Ars lers und das Problem der Schemaüberblendung, in: Berns, Neu-
memorativa. Genese, Überlieferung und Funktion der mnemo- ber [5] 407-461. - 30 vgl. A. Prévost: L'Utopie de Thomas More.
technischen Traktatlit. im 15. Jh. (Phil. Habil. masch. 1998) 549. - Présentation texte original, apparat critique exégèse, traduction
9 ebd. 14. - 10 ebd. - 11 vgl. J.-D. Müller: Gedechtnus. Lit. und et notes (Paris 1978); Th. More: Utopia. Latin text and English
Hofges. um Maximilian I. (1981). - 1 2 vgl. S. Schama: Landscape translation. Edited by G.M. Logan, R M. Adams and C.H. Mil-
and Memory (London 1995).-13 vgl. B.II. -14[Friedrich Riede- ler (Cambridge 1995). - 31 T. Campanella: Realis philosophiae
rer:] Spiegel der waren Rhetoric, vß M. Tullio. C. vnd andern epilogisticae partes quatuor, hoc est de rerum natura, hominum
getütscht [...]. [Freiburg i.Br.] [Durch fridrichen Riedrer versa- moribus, politica [. . . ] & oeconomica, cum adnotationibus phy-
meli / gedruckt / vnd volendet. An mittwoch vor sant Lucien tag siologicis [. . ·] A Thobia Adami nunc primum editae. (Appendix
nach desselben vnsers lieben herren gottes Jhesu christi geburt politicae Civitas solis.) (Frankfurt: Impensis G. Tampachii
vier zehenhundert Nüntzig vnd drü iar gezalt.] - 15 Romberch 1623). - 32V. Andreae: Reipublicae Christianopolitanae Des-
[3J.-16E. Weigel: Wienerischer Tugend=Spiegel. Darinnen alle criptio (Straßburg 1619). - 33vgl. W. Neuber: Die vergessene
Tugenden [...] vorgestellet [...] werden [...]. Nürnberg / bey Stadt. Zum Verschwinden des Urbanen in der ars memorativa
Wolffgang Moritz Endtern (MDCLXXXVII); vgl. dazu U. der Frühen Neuzeit, in: Berns, Neuber [5] 91-108. - 3 4 vgl. dazu
Schütte: Fortifizierte Tugenden. Praktische Philos., Mathematik W. Neuber: Fremde Welt im europäischen Horizont. Zur Topik
und Gedächtniskunst in E. Weigels <Wienerischem der dt. Amerika-Reiseberichte der Frühen Neuzeit (1991) 186-
Tugend=Spiegel> (1687), in: Berns, Neuber [5] 661-675. - 17Th. 197. - 35 [B. Hirschfelder:] Ars memorativa Ein kurtzer tractat
Murner: Logica memorativa (Straßburg: Grüninger 1508, ND Der edln vnd hochgclerten kunst der gedechtnus. Ms. der Baye-
Nieuwkoop 1967); vgl. dazu M. Stoffers, P. Thijs: De <Logica rischen Staatsbibliothek. Sign. cgm. 4413. Fol. 143v-184v. - 3 6 vgl.
memorativa> van Th. Murner, in: Jaarboek voor Nederlandse ebd. Fol. 145v-146r. - 37ebd. Fol. 146'-146 v . - 38das gleiche gilt
Boekgeschiedenis 5 (1998). 7-26; dies.: A Question of Mentality. für den «im deutschen Sprachraum weitestverbeitete[n]
The Changed Appreciation of Th. Murner's Logical Card Game, anonyme[n] Memoriertraktat des 15. Jh.s» (S. Heimann-Seel-
in: W. Reinink, J. Stumpel (Hg.): Memory & Oblivion (Dord- bach: Memoriertraktate der Schedeischen Bibliothek, in: Ars
recht 1999) 275-293; D. Hoffmannn: Die mnemonischen Kar- memorativa [8] 126-144, hier: 129), den Heimann-Seelbach in
tenspiele Th. Murners, in: Berns, Neuber [5] 585-604. - 1 8 vgl. W. der Fassung cgm. 4413a ediert hat (vgl. ebd. 131-141). - 39Rie-
Brückner: Hand und Heil im <Schatzbehalter> und auf volkstüm- derer [14], - 4 0 v l . ebd. LXV. - 4 1 Romberch [3],-42vgl. ebd. Fol.
licher Graphik, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmu- 3 5 v . - 4 3 W . H . R i f f : DE MEMORIA ARTIFICIALI QVAM MEMORATIVAM
seums (1965) 60-109; ders.: Bildkatechese und Seelentraining.
Geistliche Hände in der religiösen Unterweisungspraxis seit ARTEM vocant (Anno MDCXLI) 8. - 4 4 e b d . - 4 5 z i t . nach der
dem Spätma., ebd. (1978) 35-70; C. Berger: The Hand and the Ausg. DE MEMORIA REPARANDA, AVGENDA, SERVANDAQVE ...
Art of Memory, in: Musica disciplina 35 (1981) 87-120; F.R. de la (Zürich 1553) 76 f. - 46 Giambattista della Porta: ARS REMINIS-
Flor: La mano mnemònica, in: Fragmentos (1991) 170-175; J. CENDI. IOAN. BAPTISTAE PORTAE NEAPOLITANL ( N e a p e l 1602) 6f.,
Härders: Hand und Gedächtnis in der Musik von Guido von vgl. Auct. ad Her. III, 32. - 47vgl. G. Reisch: Margarita Philoso-
Arezzo bis Herder. Raum- und Zeitvorstellungen in Musiktheo- phica cum additionibus nouis... (Basel 1517). - 48zum Verhält-
rie und Musizierpraxis des MA und der Frühen Neuzeit, in: Mor- nis von Mnemonik und Apodemik vgl. Neuber [34] 169-179. -
gen-Glantz. Zs. der Christian Knorr von Rosenroth-Ges. 7 4 9 A . B r u x i u s : SIMONIDES REDIVIVUS, SIVE ARS MEMORIAE, ET OBLI-
(1997) 285-310. - 1 9 vgl. H. Schadt: Die Darstellung der Arbores VIONI^. .. (Leipzig 1610) 20. - 5 0 v g l . M. Mulsow: Seelenwagen
Consanguinitatis und der Arbores Affinitatis. Bildschemata in und Ähnlichkeitsmaschine. Zur Reichweite der praktischen
juristischen Hss. (1982); K. Heck: Ahnentafel und Stammbaum. Geometrie in der Ars cyclognomica von Cornelius Gemma, in:
Zwei genealogische Modelle und ihre mnemotechnische Aufrü- Berns, Neuber [5] 2 4 9 - 2 7 7 - 5 1 vgl. W. Ong: Ramus: Method and
stung bei frühneuzeitlichen Dynastien, in: Berns, Neuber [5] 563- the Decay of Dialogue (Cambridge MA 1958, ND New York
584. - 20 vgl. L. Benkert: Der historiographische Merkvers. (Phil. 1979); ders.: Ramus and Talon Inventory (Folcroft PA 1969); W.
Diss. 1970); E. Bockelmann: Vers - Kognition - Gedächtnis, in: Schmidt-Biggemann: Topica universalis. Eine Modellgesch.
Berns, Neuber [6] 297-312. - 21 vgl. L. Schmidt: Andachtsmne- humanistischer und barocker Wiss. (1983) bes. 31-66. - 52ein-
monik im italienischen geistlichen Madrigal, in: Berns, Neuber schließlich der Tradition der Pseudo-Lulliana. - 53 vgl. Schmidt-
[5] 727-742. - 22 vgl. G. di Stefano: A propos de la rime mnémo- Biggemann [51] 49. - 54vgl. ebd. 156-176; P. Rossi: Clavis uni-
nique, in: Β. Roy, P. Zumthor (Hg.): Jeux de mémoire (Paris/ versalis. Arti mnemoniche e logica combinatoria da Lullo a Leib-
Montréal 1985) 35^12. - 23 vgl. P. Dronke: Arbor Caritatis, in: niz (Mailand/Neapel 1960). - 55vgl. Schmidt-Biggemann [51]
P.L. Heyworth (Hg.): Medieval Studies for J.A.W. Bennett 157. - 56ebd. - 57J.J. Berns, W. Neuber: Nachwort, in: dies.
(Oxford 1981) 207-243; Schadt [19], - 24vgl. F. A. Yates: Archi- (Hg.): Das enzyklop. Gedächtnis der Frühen Neuzeit. Enzyklo-
tecture and the Art of Memory, in: Architectural Association pädie- und Lexikonart. zur Mnemonik (1998) 391. - 58vgl.
Quarterly 12 (1980). Heft 4. 4-13. - 25 vgl. S. Sinisi: Il palazzo S. Izquierdo: Pharus Scientiarum (Lyon 1659); vgl. Berns, Neu-
della memoria, in: Arte Lombarda 18 (1973) 150-160; J.D. ber [57] 190-231. - 59D.G. Morhof: Polyhistor literarius, philo-
Spence: The Memory Palace of Matteo Ricci (New York 1984). - sophicus et practicus (1708); vgl. Berns, Neuber [57] 258-309,
26vgl. F. Ruffini: Teatri prima del teatro. Visioni dell'edificio e hier 267. - 60 vgl. S. Clucas: Amorem, artem, magiam, mathesim.
della scena tra Umanesimo e Rinascimento (Rom 1983); F.R. de Brunian Images and the Domestication of the Soul, in: Zeit-
la Flor: El Teatro de la memoria. Siete Ensayos sobre Mnemo- sprünge 3 (1999) 5-24; A.B. Kilcher: Ars memorativa und ars
cabalistica. Die Kabbala in der Mnemonik der Frühen Neuzeit,

1063 1064
Memoria Memoria

in: Berns, Neuber [5] 199-248.-61 Schmidt-Biggemann [51] 157. rativa auch im 18. Jh., doch ist in den entsprechenden prak-
- 62 Aisted; vgl. Berns, Neuber [57] 144-187; vgl. dazu Schmidt- tischen Anleitungsschriften [1] kein Reflex darauf festzu-
Biggemann [51] 100-154; Th. Leinkauf: Systema mnemonicum stellen, was die Innovation der M.-Konzeption zu dieser
und circulus encyclopaediae. J.H. Alsteds Versuch einer Fundie- Zeit ausmacht: ihre psychologische, anthropologische
rung des universalen Wissens in der ars memorativa, in: Berns,
Neuber [5] 279-307. - 6 3 e b d . 281; vgl. auch U. Ernst: Memoria
und geschichtsphilosophische Fassung. Durch sie verliert
und ars memorativa in der Tradition der Enzyklop. Von Plinius die Rhetorik als Systemort für die Reflexion der M. noch-
zur Enzyclopédie française, in: Berns, Neuber [5] 109-168. - mals weiter an Bedeutung. Auffällig ist zudem, daß alle
64 vgl. Berns, Neuber: Nachwort, in: dies. [57] 383. - 6 5 J. J. Berns: Formen von Ordnungen, die einen inneren Nexus der
<Vergleichung eines Vhrwercks, vnd eines frommen andächti- Welt in Kategorien einer topischen M. formulieren, einer
gen Menschens.> Zum Verhältnis von Mystik und Mechanik bei grundsätzlichen Modifikation bzw. Kritik unterzogen
Spee, in: I.M. Battafarano (Hg.): Friedrich von Spee. Dichter, werden.
Theologe und Bekämpfer der Hexenprozesse (Gardolo di
Trento 1988) 101-206; E. Locher: Der Bildersaal der Seele bei F. Das gilt erstens für die Enzyklopädien nach dem
Spee. Zwischen Aristoteles' <De anima> und J. Bernoullis Per- Muster von ALSTEDS <Encyclopaedia> oder IZQUIERDOS
mutation und Kombination, in: Berns, Neuber [6] 206-221. - <Pharus>. Ihr topisches Strukturprinzip kann einerseits
66 G.W. Leibniz: Aufklärung der Schwierigkeiten, die H. Bayle das rasch wachsende Wissen nicht mehr aufnehmen.
in dem neuen <System der Vereinigung von Seele und Körper> Zum anderen gehorchen sie explizit wie implizit einer -
gefunden hat (1688), in: Hauptschr. zur Grundlegung der Philos. wie auch immer theologisch bzw. philosophisch begrün-
Übers, von A. Buchenau, hg. von E. Cassirer, Bd. 2 ( 3 1966) 276- deten (vgl. <Philosophia perennis> [2]) - Wissenshierar-
286, hier 282. - 67ebd. 283f. - 68G.W. Leibniz: Art. <Rorarius>, chie, die im 18. Jh. zugunsten einer alphabetischen und
in: P. Bayle: Hist, und Critisches Wtb. Nach der neuesten Aufl.
von 1740, ins Dt. übers, von J. Chr. Gottsched, Bd. 4 (1744, N D
damit egalitären, aber zugleich formalistischen Anord-
Hildesheim/New York 1978) 78-94, hier 93. - 69vgl. Schmidt- nung der Lemmata aufgegeben wird.
Biggemann [51] 176-186; Th. Leinkauf: Mundus combinatus. Das gilt zweitens auch für die kombinatorische Belast-
Stud, zur Struktur der barocken Universalwiss. am Beispiel A. barkeit der M., die das Zentralstück ihrer lullistischen
Kirchers SJ (1602-1680) (1993). - 70A. Kircher: Ars magna Tradition ausgemacht hatte. Das kombinatorisch mecha-
sciendi, in XII libros digesta... (Amsterdam 1669). - 7 1 Schmidt- nisierte Gedächtnis in J. SWIFTS Satire <Gulliver's Tra-
Biggemann [51] 186. - 72vgl. J. Neubauer: Symbolismus und
symbolische Logik. Die Idee einer Ars combinatoria in der Ent-
vels) [3] (1726) etwa fordert im Negativbild das beseelte
wicklung der modernen Dichtung (1978); Schmidt-Biggemann Gedächtnis ein, das als 'Genie' oder als Ergebnis von
[51] 186-211; M. Cambi: L'interpretazione leibniziana della 'Studium' entworfen wird. Der Text führt eine riesige
logica di Lullo. Riflessioni sulla <Dissertatio de Arte Combinato- Maschine vor, die sich in der Akademie von «Lagado»
ria) (1666), in: Atti dell'Accademia di Scienze Morali e Politiche befindet. Sie enthält alle Wörter des Lexikons. Die
96 (Neapel 1985) 335-362. - 73 Schmidt-Biggemann [51] 211. - Maschine bzw. ihr Rahmen ist «Twenty Foot square [...].
74vgl. E. Locher: Hypotypose und memoria in der Ästhetik The Superficies was composed of several Bits of Wood,
Harsdörffers, in: Berns, Neuber [5] 67-88. - 75 vgl. A. Lugli: about the Bigness of a Dye [i.e. a small cube], but some
Naturalia e Mirabilia. La collezione enciclopedica nelle Wun- larger than others. They were all linked together by slen-
derkammern d'Europa (Mailand 1983). - 76 vgl. J. Knape: Mne-
monik, Bildbuch und Emblematik im Zeitalter S. Brants (Brant,
der Wires. These Bits of Wood were covered on every
Schwarzenberg, Alciati), in: W. Bies, Η. Jung (Hg.): Mnemo- Square with Paper pasted on them; and on these Papers
syne. FS für M. Lurker zum 60. Geburtstag (1989) 133-178; vgl. were written all the Words of their Language in their
W. Neuber: Locus, Lemma, Motto. Entwurf zu einer mnemoni- several Moods, Tenses, and Declensions, but without any
schen Emblematiktheorie, in: Berns, Neuber [6] 351-372. - Order.» (Zwanzig Fuß im Quadrat [...]. Die Oberfläche
77 vgl. L. Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der ges. Einbil- war aus zahlreichen Holzteilen zusammengesetzt, unge-
dungskraft (1976). - 78vgl. J.J. Berns: Umrüstung der Mnemo- fähr von der Größe eines kleinen Würfels, aber einige
technik im Kontext von Reformation und Gutenbergs Erfin- größer als andere. Sie waren alle durch dünne Drähte
dung, in: Berns, Neuber [6] 35-72. - 79vgl. J.M. Massing: From
miteinander verbunden. Diese Holzteile waren auf allen
Manuscript to Engravings. Late Medieval Mnemonic Bibles, in:
Berns, Neuber [6] 101-115. - 80vgl. G.F. Strasser: Johannes Flächen mit Papier beklebt, und auf diesen Papierstük-
Bunos mnemotechnische Verfahren, in: Berns, Neuber [5] 639- ken waren alle Wörter ihrer Sprache in ihren verschiede-
660. - 81 vgl. dazu exemplarisch Neubauer [72]; Κ. Α. Ott: Die nen Modi, Zeiten und Deklinationsformen, jedoch ohne
Bedeutung der Mnemotechnik für den Aufbau der Divina irgendeine Ordnung niedergeschrieben.)
Comedia, in: Dt. Dante-Jb. 62 (1987) 63-193; H.F. Plett: Topik
und Memoria. Strukturen mnemonischer Bildlichkeit in der Mit Kurbeln wird der Apparat in Bewegung gesetzt
engl. Lit. des XVII. Jh., in: D. Breuer, W. Schanze (Hg.): Topik und produziert Wortkombinationen; jene, die drei oder
(1981) 307-333; Neuber [34] 166-214; U. Ernst: <Ars memora- vier Worte enthalten, die Teil eines Satzes sein könnten,
tiva> und < Ars poetica> in MA und Früher Neuzeit. Prolegomena werden in ein Buch notiert. Darauf wird die Operation
zu einer mnemonistischen Dichtungsteorie, in: Berns, Neuber wiederholt, insgesamt sechs Stunden täglich. Ein Profes-
[6] 73-100; P.J. Smith: Gedächtnis und Gedächtniskunst bei sor, der Erfinder dieser Maschine, plant, die Satzfrag-
Rabelais, ebd. [6] 222-236; D. Breuer: <Gedächtnis-Kunst> oder mente eines Tages zusammenzusetzen «und der Welt aus
<Gedächtnis-Gunst>? Grimmelshausens Diskurs über das
Gedächtnis und die manieristische Gedächtnislehre, ebd. [6]
diesem reichhaltigen Material ein komplettes Corpus
237-249; Locher [73]; A. Traninger: Mühelose Wiss. Lullismus aller Künste und Wissenschaften zu schenken». Der Witz
und Rhet. in den deutschsprachigen Ländern der Frühen Neu- daran ist, daß diese Maschine selbst - und gerade in der
zeit (Phil. Diss, masch. Wien 1998). Ordnungslosigkeit ihres Sekundärmaterials, der Wörter
- ein exteriorisiertes Gedächtnis darstellt, mit dessen
Hilfe «selbst die ungebildetste Person für eine angemes-
Literaturhinweise: sene Gebühr und mit ein wenig körperlicher Arbeit
L. Volkmann: Ars memorativa, in: Jb. der Kunsthist. Sammlun- Bücher der Philosophie, Poesie, Politik, des Rechts, der
gen in Wien. N.F. 3 (1929) 111-200. - E. Locher: Curiositas und Mathematik und Theologie schreiben könnte, und das
M. im dt. Barock (Wien/Lana 1990). - S. Rieger: Speichern/Mer-
ohne die geringste Unterstützung durch Genius oder
ken. Die künstlichen Intelligenzen des Barock (1997).
Studien.» Der Genius fehlt der Apparatur, die Erinne-
IV. Aufklärung. Zwar erhalten sich die Modelle einer rungsordnung ist zerstört, die Seelenmaschine ist seelen-
los geworden, das Gedächtnis nichts weiter als ein Trüm-
mit locus/imago-Kombinationen operierenden ars memo-

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Memoria Memoria

m e r h a u f e n aus Kurbeln, Holzklötzchen, D r ä h t e n und verbinden konnten, wäre ohne Vorstellungskraft und
Papierfetzen. Die Erinnerungsarbeit ist mechanisch und ohne Erinnerung, er wäre völlig unfähig zur Reflexion,
führt zu einer <écriture automatique >, die noch nicht die wäre ein Idiot). [10] Im umgekehrten Fall garantiert die
hermeneutische Würde des U n b e w u ß t e n erlangt hat. Ideenverkettung erst das, was als kulturelles Gedächtnis
Und auch die W ü r d e der Theologie und der Philosophie bezeichnet werden kann: «Avec quelque rapidité que la
als der besichernden Leitdisziplinen der Maschinenme- conversation change de sujet, celui qui conserve son
tapher hat sich auf das egalitäre Niveau von Jurispru- sang-froid & qui connoît un peu le caractère de ceux qui
denz, Politik, Mathematik und Poesie nivelliert. Hier parlent, voit toujours par quelle liaison d'idées on passe
manifestiert sich, nicht zuletzt im Postulat des <Genius>, d'une matière à une autre.» (Egal, mit welcher
die Renaturalisierung des Gedächtnisses als Seelenver- Geschwindigkeit das Gespräch sein Thema wechselt,
mögen, wie sie als kritischer Einwand gegen alle F o r m e n sieht doch immer derjenige, der die R u h e bewahrt und
einer Gedächtnis&wnif seit Melanchthon immer wieder ein wenig den Charakter des Sprechenden kennt, durch
formuliert worden war. welche Ideenverbindung man von einem T h e m a zum
D a ß die kombinatorische M. auf der Basis des Maschi- nächsten gelangt.) [11]
nenmodells der Seele im 18. Jh. in eine Krise geraten war, Eine analoge W e n d e in der Konzeption der M.
läßt sich der historisch referierenden Übersicht des Arti- läßt sich bei dem Neapolitaner Rhetorikprofessor
kels <Seele> entnehmen, die Z E D L E R S <Universal Lexicon G. Vico [12] beobachten, wenngleich unter anderen Prä-
Aller Wissenschafften und Künste> 1743 bietet. Hier missen. Vico geht über den Systemrahmen der Rhetorik
wird unter anderem berichtet, daß die «neuern Materiali- hinaus und gestaltet die M. «zur Matrix eines neuartigen
sten» - Spinoza und H o b b e s - die Existenz einer Seele kulturhistorischen Gedächtnisses» um, in das «die klassi-
leugneten; indem nämlich Spinoza «die Seele vor keine sche Gedächtniskunst, [...] die A n a m n e s e als philosophi-
von dem Cörper wesentlich unterschiedene Sub- sches, ideenvermittelndes Gedächtnis und das gemein-
stanz» [4] halte, während H o b b e s die Substanzialität der schaftliche, soziale Tradition stiftende Gedächtnis glei-
Seele leugne, zugleich aber behaupte, «das das Wort chermaßen einbezogen werden». [13] H o m e r wird für
Substantz und Cörper einerley bedeute, woraus man Vico zum Symbol einer M., die «die Identität von Nation
leicht schliessen kan, was er vor einen Unterscheid unter und lebendigem, epischem, kollektivem Gedächt-
der Seele und dem menschlichen Cörper gemacht nis» [14] verbürgt. Als archaisches Gedächtnis ist diese
habe». [5] In Deutschland sei 1713 anonym ein Buch mit Form der M. allerdings nicht wiederherzustellen und
d e m Titel <Zweyer Freunden vertrauter Brief-Wechsel historisch geworden. D a f ü r Vico das Gedächtnis aller-
vom Wesen der Seele> erschienen, das sich noch deutli- dings auch in einem ontogenetischen Kontext steht, kann
cher artikuliert: «Es stellet sich der Verfasser den Men- er bildungsstrategische Ansätze entwickeln, in denen die
schen ohne Seele für, und was man sonst Seele nennt, M. durch ihre beinahe völlige Identität mit der Phantasie
hält er nur vor gewisse Kräfte, die aus einer mechani- zumal bei der Jugend gefördert werden kann: «Denn wie
schen Wirckung ihren Anfang nehmen, daraus er das das Alter im Verstand, so hat die Jugend ihre Stärke in
gantze Werck des Verstehens und Wollens erklären der Phantasie, und sie, die man seit jeher f ü r das glück-
will.» [6] lichste Zeichen künftiger Begabung gehalten hat, darf
Auch C H R . W O L F F muß sich, von Seiten des lutheri- man doch bei den Knaben unter keinen Umständen
schen Theologen Johann Franciscus Buddeus, den Vor- ersticken. Auch das Gedächtnis, das sich mit der Phanta-
wurf gefallen lassen, seine Philosophie lege es darauf an, sie, wenn nicht ganz, so doch beinahe deckt, m u ß bei den
«die Seele aller Freyheit zu berauben. Dahin gehöre Knaben, die in keiner anderen Fähigkeit so viel vermö-
denn auch, daß er die Seele nicht anders als ein Uhrwerck gen, mit Sorgfalt ausgebildet werden. Auch dürfen die
concipire, darinnen alle perceptiones cogitationum, voli- Geister f ü r die Künste, die ihre Kraft aus der Phantasie,
tionum, decretorum, ja alle Bewegungen in einer unver- dem Gedächtnis oder beiden zusammen schöpfen, wie
rückten Ordnung, wie in der mechanischen Welt, ausein- Malerei, Dichtkunst, Redekunst, Jurisprudenz, ja nicht
ander folgten.» [7] Wolff war hierin Leibniz gefolgt, des- unempfänglich gemacht werden». [15] D e r anticartesia-
sen Philosophie im 18. Jh. wirkungsmächtig blieb. Leib- nische Reflex [16], der Vicos Überlegungen motiviert,
niz hatte postuliert, daß die Seelen ihre Vorstellungen hat gemeinsam mit der Koppelung der Anthropologie an
durch die M. [8] verknüpfen und d a ß die M o n a d e nie die Geschichtsphilosophie seine Fortsetzung bei Ha-
ganz ohne Vorstellungen («les petites ou insensibles per- mann und Herder gefunden.
ceptions» [9]) sei, was als (neu-)platonisch-augustini- J . G . H E R D E R sieht im Anschluß an Leibniz die Seele
scher Rest verstanden werden kann. So ist für ihn der als «Spiegel des Weltalls». [17] Die Entwicklung ihrer
Z u s a m m e n h a n g denkbar, der das Seiende mit d e m Uni- Kräfte ist das Ziel der Bildung zur Humanität, die die
versum verbindet und die Identität des Individuums stif- Geschichtsphilosophie darstellt. [18] Die Geschichte die-
tet. Sogar wenn das Individuum keine ausdrückliche ser Bildung kann sich nicht anders vollziehen denn durch
Erinnerung an die «insensibles perceptions» mehr hätte, die Sprache, indem sie die Erkenntnisse der Anschauung
so würden sie diese Erinnerung doch im Laufe der Ent- «durchs Wort dem Gedächtnis, der Rück-Erinnerung,
wicklung wieder erwecken. Damit ist es möglich gewor- dem Verstände, ja endlich d e m Verstände der Men-
den, die M. aus d e m Gebiet der Metaphysik auf das der schen, der Tradition, einverleibt.» [19]
Geschichte, deren Einheit sie stiftet, zu übertragen. Eine Vorform der psychologischen Neukonzeption
Was sich bereits bei P. R a m u s und F. Bacon abgezeich- der M. findet sich bereits bei C H R . T H O M A S I U S . E r hatte in
net hatte und bei Leibniz konkretisiert wurde, führt die seiner Rezension von D . G . Morhofs <Polyhistor> [20] zur
<Encyclopédie> fort. Sie weist die M. der Geschichte zu: Unterstützung des Gedächtnisses je nach individueller
A u f g r u n d des assoziativen Verkettungsvermögens der Nützlichkeit Metrum und Reim, Hilfswörter, Symbola
«perceptions» entsteht die M. Ein Mensch, «chez qui les und imagines toleriert. Zugleich aber hatte er gewarnt,
idées n'ont jamais pû se lier [...] serait sans imagination die imagines könnten verrückt machen, weil sie den ordo
& sans mémoire, il seroit absolument incapable de réfle- naturalis, auf dem die menschliche Vernunft und
xion, ce seroit un imbecille» (bei d e m die Ideen sich nie Erkenntniskraft beruhen, bedrohten; gegen Morhof

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Memoria Memoria

stellt Thomasius die lullistische Kombinatorik daher m n e m o n i s c h e n E m b l e m a t i k t h e o r i e , in: Berns, N e u b e r [12] 366f.
nicht zur Logik, der der ordo naturalis entspricht, son- - 25 vgl. C h r . Wolff: Psychologia empirica m e t h o d o scientifica
dern zur Mnemonik mit ihrem artifiziellen ordo. p e r t r a c t a t a , q u a ea, q u a e d e a n i m a h u m a n a . . . e x p e r i e n t i a e fide
constant, c o n t i n e n t u r et ad solidam p h i l o s o p h i a e . . . ac t h e o l o -
Die Natürlichkeitsprämisse der M. wirkt zum einen giae t r a c t a t i o n e m via sternitur ( F r a n k f u r t / L e i p z i g 1732).
direkt in die Individualitäts- und Geniediskussion des 18.
Jh.: «Je vollkommener das Genie eines Menschen (d.i. Literaturhinweise:
die sämmtlichen Erkenntnißvermögen und ihre gehörige C. v. B o r m a n n : A r t . <Erinnerung>, in: H W P h II, Sp. 636-643. -
Proportion untereinander) ist, je gesunder und bewegli- F . E . W e i n e r t : A r t . <Gedächtnis>, e b d . III, S p . 3 5 ^ 2 .
cher sein Körper gebauet ist, desto besser muß auch das
angeborne Gedächtniß seyn.» [21] Und F. SCHILLER kann V. 19. Jh. Ab der Wende zum neuen Jahrhundert wer-
über Philipp II. sagen, er habe «alle Eigenschaften zu den Strategien einer Formierung des kollektiven
einem großen Staatsmann - einen lebhaften Geist, ein Gedächtnisses kritisiert und unterlaufen. Auf der einen
erstaunendes Gedächtnis, eine unermüdete Arbeitsam- Seite erlauben die Massenkommunikationsmittel einen
keit» [22] besessen. Dies ist ein eklatanter Bruch der aus- immer wirksameren Zugriff auf kollektive Bewußtseins-
gehenden Frühen Neuzeit gegenüber. JACOBUS B O S C H I U S inhalte, zu denen die Selektion und Strukturierung der
etwa hatte in seiner <Symbolographia> (1701) [23] noch Bilder von der Vergangenheit gehören. Auf der anderen
den Versuch unternommen, den späteren Kaiser Karl Seite wird die verordnete oder manipulierte M. als Ent-
VI. dadurch herrschaftstüchtig zu machen, daß dieser fremdung vom individuellen Verhältnis des Subjekts zu
durch mnemonische Hilfsmittel sein Gedächtnis exten- dem, was ihm vorausliegt, erkannt.
dieren sollte. [24] Die Gedächtniskunst gerät nicht zuletzt in anthropolo-
Zum anderen wirkt die Natürlichkeitsprämisse der M. gischer und philosophischer Fassung der M. unter Druck.
nicht weniger unvermittelt in die Anthropologie via Psy- K A N T geht in seiner <Anthropologie in pragmatischer
chologie. Bereits bei Thomasius deutet sich diese Wende Hinsicht) (1798) davon aus, daß Gedächtnis und Erinne-
an, nach der die M. strikt als natürliches Vermögen auf- rung auf Assoziation beruhen. Er unterscheidet drei
gefaßt und zum Gegenstand einer <Psychologia empi- Arten des Memorierens, das mechanische, das ingeniöse
rica>[25] gemacht wurde - mit weitreichenden Konse- und das judiziöse. [1] Mechanisches Memorieren ist Aus-
quenzen. Denn letztlich hängt auch L E S S I N G S Auffas- wendigkeit ohne Verständnis des Sinns. Ingeniöses
sung von der Katharsis im bürgerlichen Trauerspiel von Memorieren entspricht technisch der Mnemonik und
dieser Psychologie ab: Die Erinnerung an die empirische beruht auf einer Assoziation ohne Sinnverwandtschaft;
Welt als soziales System ist implizite Voraussetzung für aus Kants Sicht belastet es das Gedächtnis mehr, als ihm
das Funktionieren der empathetischen Identifikation zu helfen. Nur das judiziöse Memorieren ist mit der nöti-
mit den Helden auf der Bühne (Furcht-und-Mitleid-Dia- gen Dignität des Verstehens ausgestattet, es bezieht sich
lektik). auf Gedankensysteme bzw. Topiken. Hinsichtlich der
Mnemonik kommt Kant zu dem Urteil: «Eine Gedächt-
Anmerkungen: niskunst (ars mnemonica) als allgemeine Lehre gibt es
l v g l . L. V o l k m a n n : Ars memorativa, in: Jb. d e r Kunsthist. nicht.» [2] D.h. es gibt nur mnemotechnische Spezialfälle,
Sammlungen in Wien. N.F. 3 (1929) 111-200, hier 95-97. - 2vgl. von denen Kant als einzigen «die Denksprüche in Versen
W. Schmidt-Biggemann: E n z y k l o p . und Philosophia perennis,
(versus memoriales)» [3] nennt; dies ist ein letztes Echo
in: F.M. Eybl u.a. (Hg.): E n z y k l o p . d e r F r ü h e n Neuzeit. Beitr. zu
ihrer E r f o r s c h u n g (1995) 1 - 1 8 ; ders.: Philosophia perennis: Hist. des historischen Phänomens, daß in den Regelpoetiken
Umrisse abendländischer Spiritualität in A n t i k e , M A u n d Frü- seit der Frühen Neuzeit [4], die nichts sind als eine Son-
her Neuzeit (1998). - 3 J . Swift: Gulliver's Travels. C o m p l e t e , derform der rhetorischen Anleitungsliteratur, die ord-
Authoritative Text with Bibliographical and Historical Con- nungslogische Stelle der M. durch die Metrik vertreten
texts, Critical History, and Essays f r o m Five Critical Perspecti- wurde. - Schließlich fordert Kant, daß zu einem guten
ves. Ed. by Chr. F o x ( B o s t o n / N e w Y o r k 1995) 173-175; Übers, Gedächtnis die Urteilskraft treten müsse, um die «rohe
der folg. Zit. V e r f . - 4 A r t . <Seele>, in: Z e d i e r Bd. 36 (1743)
Materie» [5] zu verarbeiten.
Sp. 1051-1143, hier 1053. - 5vgl. ebd. 1054. - 6vgl. ebd. 1056. -
7 vgl. ebd. 1084. - 8 Leibniz: M o n a d o l o g i e § 19-26 = Philos. Sehr., Dem entspricht mutatis mutandis H E G E L S Position in
hg. v. C. J. G e r h a r d t ( P S G ) , Bd. 6 (1885, N D 1965) 610-611. - der <Enzyklopädie> (1817). Er geht von der Feststellung
9 e b d . §21 = P S G 6,610. - lOvgl. D i d e r o t Encycl., in: J.J. Berns, aus, daß «das Gedächtnis, das im gemeinen Leben oft mit
W. N e u b e r (Hg.): D a s enzyklop. G e d ä c h t n i s d e r F r ü h e n N e u - Erinnerung, auch Vorstellung und Einbildungskraft ver-
zeit. Enzyklopädie- und L e x i k o n a r t . zur M n e m o n i k (1998) 3 2 5 - wechselt und gleichbedeutend gebraucht wird, es über-
335; hier 334; Ü b e r s . Verf. - l l e b d ; Ü b e r s . Verf. - 12 vgl. W. haupt nur mit Zeichen zu tun hat.» [6] Von dieser Posi-
Busch: Archaische Mentalität u n d kollektives G e d ä c h t n i s in G.
tion aus formuliert er einen scharfen Angriff auf die Vor-
Vicos <Nuova Scienza», in: J.J. Berns, W. N e u b e r (Hg.): Ars
memorativa. Z u r kulturgesch. B e d e u t u n g d e r G e d ä c h t n i s k u n s t stellung, die M. operiere mit Bildern, und auf die Mne-
1400-1750 (1993) 250-273. - 1 3 e b d . 272. - 1 4 e b d . 273. - 1 5 Vico monik. Das «reproduzierende Gedächtnis hat und er-
Stud. 28f. - 1 6 v g l . K.-O. Apel: G . Vicos Anticartesianismus u n d kennt im Namen die Sache und mit der Sache den
sein P r o g r a m m einer <Neuen Wiss.>, in: Z e i t s p r ü n g e 3 (1999) H. Namen, ohne Anschauung und Bild.» [7] Die «vor eini-
1/2. 209-245. - 17 J G . H e r d e r : I d e e n zur Philos, d e r G e s c h . der ger Zeit wieder aufgewärmte und billig wieder verges-
Menschheit, in: ders.: W e r k e , hg. von B. S u p h a n , Bd. 13 (1887) sene» Bildmnemonik hat «das Gedächtnis wieder zur
199. - 18vgl. ebd. 352f. - 1 9 e b d . 357. - 20vgl. C h r . Thomasius:
Einbildungskraft» herabgesetzt, indem sie es auf «schale,
Freimütige, lustige und e r n s t h a f t e , j e d o c h v e r n u n f t m ä ß i g e
G e d a n k e n o d e r M o n a t s g e s p r ä c h e . Bd. II. J u l i - D e z e m b e r 1688 alberne, ganz zufällige Zusammenhänge» reduzierte.
( N D 1972), bes. 606-619. - 2 1 J . G . Krünitz: O e c o n o m i s c h e Gedächtnis aber entspricht der Auswendigkeit, es ope-
Encyclopädie, in: Berns, N e u b e r [10] 337-349; hier 339. - 22F. riert «eigentlich von innen heraus», hat es mit einem
Schiller: Philipp d e r Z w e i t e , König von Spanien (1786), in: «Dasein» zu tun, «welches das Produkt der Intelligenz
Sämtliche W e r k e , hg. von G . Fricke, H . G . G ö p f e r t , Bd.4: Hist. selbst ist». Die Mnemonik dagegen bleibt äußerlich, liest
Sehr. ( 5 1976) 25. - 23 vgl. J a c o b u s Boschius: Symbolographia «vom Tableau der Einbildungskraft sozusagen» [8] ab.
sive d e arte symbolica s e r m o n e s Septem (1701, N D G r a z 1972). —
Entsprechend übernimmt Hegel von Kant den Begriff
24vgl. W. N e u b e r : Locus, L e m m a , M o t t o . Entwurf zu einer
des mechanischen Gedächtnisses, der eine Auswendig-

1069 1070
Memoria Memoria

keit ohne Sinnverständnis meint, und setzt ihm ein SCHELLING sieht im «transzendentalen Gedächtnis»
Gedächtniskonzept entgegen, das den «Übergang in die der Vernunft die Stufen, die die Naturphilosophie
Tätigkeit des Gedankens» [9] offenhält. beschreibt, ins Bewußtsein geholt, so daß der Weg zur
Kants und Hegels Aufwertung des Gedächtnisses im Selbstanschauung vollendet werden kann. «Alles Philo-
Sinne des Verstehens und des Denkens bezeichnet ideali- sophieren besteht in einem Erinnern des Zustandes, in
stische Positionen, die von der antiidealistischen Herbar- welchem wir eins waren mit der Natur.» [23] Nicht zuletzt
tianischen Psychologie angegriffen und von der experi- ist es das Ich, das sich im Akt des Philosophierens histo-
mentalpsychologischen Memoriaforschung des späten risch selbst aufspüren kann: «Die Philosophie ist insofern
19. Jh. methodisch radikal widerlegt werden. J.F. HER- für das Ich nichts anderes als eine Anamnese, Erinne-
BART, dessen psychologische und formalästhetische Kon- rung dessen, was es in seinem allgemeinen (seinem vorin-
zepte sich aus der Leibniz-Wölfischen Tradition herlei- dividuellen) Sein getan und gelitten hat.» [24]
ten [10], übt grundsätzliche Kritik am Konzept von M. Damit wird die M. ebenso im Kontext eines Ur-
und Imagination. Es komme auf diesem Gebiet «nur dar- sprungsmythos angesiedelt, wie dies bei Augustinus oder
auf an, ob wohl mit und neben den Gesetzen der Mecha- bei Vico der Fall gewesen war und wie es sich auch bei F.
nik von der unmittelbaren und der mittelbaren Wiederer- NIETZSCHE darstellt. In der zweiten Abhandlung <Zur
weckung der Vorstellungen an eine Wirksamkeit solcher Genealogie der Moral> (1887) betrachtet Nietzsche den
besonderen Vermögen, wie Gedächtnis und Einbildungs- Menschen am Beginn der Geschichte als ein Tatwesen,
kraft, könne gedacht werden.» [11] Herbart schließt diese das wesentlich von einer Vergeßlichkeit geprägt ist, die
Möglichkeit aus. Auch W. W U N D T geht davon aus, daß die es ihm erlaubt, ohne Rück-Sicht vorwärts zu leben. Ver-
vermögenspsychologische Kategorie der M. erst durch stöße - in einem vormoralischen Sinne gedacht - gegen
eine assoziationspsychologische Analyse fruchtbar Regeln der Gemeinschaft werden von dieser mit Züchti-
gemacht werden könne. [12] Insgesamt bevorzugen zahl- gung geahndet: «nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt
reiche Ansätze zur Psychologie des Gedächtnisses im 19. im Gedächtniss»[25]. Auf diese Weise erzeugt die
Jh. daher Begriffe wie <Assoziation>, <Reproduktion> und Gesellschaft durch Züchtigung erst die M. Die Bestra-
<Vergessen>. H. E B B I N G H A U S schließlich geht in seiner fungen prägen sich ein, bis sie schließlich zu einem
bahnbrechenden experimentalpsychologischen Arbeit Gewissen verinnerlicht werden, «das mit der Überzeu-
<Über das Gedächtnis) (1885) davon aus, daß ein Ver- gung verbunden ist, nicht aus Furcht vor Sanktionen der
ständnis des Funktionierens des Gedächtnisses nur über Allgemeinheit zu willfahren, sondern aus innerstem
das Memorieren von nicht in einem Sinnzusammenhang Antrieb heraus moralischen Gesetzen zu gehor-
stehenden Partikeln möglich sei. Sein weiter Gedächtnis- chen.» [26] Bei Nietzsche werden die geschichts- und die
begriff umfaßt dabei alle Vorgänge des sprachlichen Ler- subjektphilosophische Fassung der M. in einer Weise
nens und Behaltens, der Assoziation und der Reproduk- zusammengedacht, die für das 19. Jh. insgesamt prägend
tion; seinen Niederschlag findet dieses Konzept v.a. in der ist. Bereits die romantische Erinnerung ist «onto- wie
modernen Lernpsychologie. phylogenetisch zu verstehen als Sehnsucht nach den ver-
Trotz dieses psychologietheoretischen Scheiterns der lorenen Zeiten kindheitlichen Gefühls und darin nach
Positionen von Kant und Hegel sind ihre Invektiven dem einheitlichen Ursprung, dem 'zunächst' die Kind-
gegen die praktische Gedächtniskunst insofern folgen- heit angesiedelt ist». [27] Besonders im Sinne eines indi-
reich, als diese weiter jeder modernen Memoriakonzep- vidualgeschichtlichen Rekonstruktionsprozesses, an des-
tion entraten muß. Schon zu Beginn des 19. Jh. ist die sen Ende die Konstitution des subjektiven Ich steht, wird
Gedächtniskunst historisch geworden, was an den Anlei- diese Konzeption der M. literarisch fruchtbar. Einschlä-
tungsschriften abgelesen werden kann. [13] Hier ist gig sind hier alle Formen von autobiographischen Tex-
exemplarisch auf GREGOR VON F E I N A I G L E [ 1 4 ] , J O H A N N ten, die sich als «Erinnerungstexte» [28] verstehen lassen
CHRISTOPHER VON A R E T I N [ 1 5 ] , CHRISTIAN KÄSTNER [ 1 6 ] , und die den Austragungsort des literarischen Subjektdis-
KARL MORGENSTERN [ 1 7 ] , JOHANN GRAF MAILÄTH[18] kurses darstellen.
und H E R M A N N K O T H E [ 1 9 ] zu verweisen, deren Werke das Diese Erinnerungstexte des 19. Jh. sind durch eine
gesamte 19. Jh. prägen, die aber weder gedächtnistheore- mnemotechnische Topik organisiert. In Erinnerungsräu-
tisch noch merktechnisch über ihre antiken und frühneu- men «deponieren die autobiographischen Helden [...]
zeitlichen Vorbilder hinausgelangen können. ihre Erinnerungen auf den Stationen ihres Lebensweges,
Gerade der Idealismus formuliert in geschichts- wie in gewissermaßen nachträglich an den dafür vorgesehenen
subjektphilosophischer Hinsicht die markantesten Aus- Orten, als szenisch präsentierte, einander nicht chrono-
sagen zum Gedächtnis am Beginn des Jahrhunderts. Was logisch, sondern assoziationslogisch hervorrufende Bil-
an geschichtsphilosophischen Fassungen der M. aus dem der, Szenen und Episoden.» [29] Da Biographie wie
18. Jh. tradiert wurde, hat Hegel zusammengefaßt, der Autobiographie des 18. und 19. Jh. von der Topik der
das Werden des Geistes in der Geschichte als sich vermit- Leichenrede strukturiert werden, und zwar nach den rhe-
telndes Werden versteht, als Erinnerung: Indem die torischen loci a persona[30], läßt sich die Gesellschaft-
Vollendung des Geistes «darin besteht, das, was er ist, lichkeit individueller Erinnerung leicht erweisen; sie
seine Substanz, vollkommen zu wissen, so ist dies Wissen führt in letzter Konsequenz zu einer Enteignung der Sub-
sein Insichgehen, in welchem er sein Dasein verläßt und jektivität. Demnach bilden die Erinnerungstexte des
seine Gestalt der Erinnerung übergibt.» [20] Die «Er- 19. Jh. nicht die individuelle oder subjektive M. ab, «son-
innerung» hat die «Erfahrung der früheren Geister» als dern die Memoria der Erinnerung als spezifischen Bezie-
Geschichte aufbewahrt und ist «das Innere und die in der hungsmodus» [31]; ihr liegen ein verbindliches Bildarchiv
Tat höhere Form der Substanz.» [21] Das Ziel der und ein narratives Paradigma zugrunde. Der Akt des
Geschichte ist das absolute Wissen, wobei die Geschichte Schreibens selbst ist eine Gedächtnishandlung, die M.
und «die Wissenschaft des erscheinenden Wissens» einan- wird «zum räumlichen Modell eines Textes, der als ein
der durchdringen müssen; «beide zusammen, die begrif- generatives System Bilder produziert und die Rolle eines
fene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädel- sich selbst tradierenden und bearbeitenden kulturellen
stätte des absoluten Geistes». [22] Speichers übernimmt.» [32]

1071 1072
Memoria Memoria

Trotz des Verschwindens der Schulrhetorik in den oder im <Paracelsus> (1898) vor, daß die subjektive Ver-
gymnasialen Curricula des 19. Jh. ist damit eine aus der faßtheit der M. jeden zwischenmenschlichen Austausch,
Rhetorik und aus der Mnemonik stammende Grund- geschweige denn kollektive F o r m e n der Identitätsbil-
struktur der M. nachweisbar. Sie ist nicht zuletzt für den dung, äußerlich bleiben läßt. [41] Kennzeichnend für die
psychologischen Kulminationspunkt des 19. Jh., die Psy- M o d e r n e ist, d a ß die Erinnerung weniger als subjektiv zu
choanalyse, anzusetzen. Z u m einen wurzelt F R E U D S steuernde Technik denn als nicht willentlich zu beein-
Betonung der Rolle, die die Kindheitseindrücke als flussendes Geschehen verstanden wird: D i e mémoire
unbewußte Erinnerung für das spätere Leben des Indivi- involontaire in M. P R O U S T S R o m a n <A la recherche du
duums spielen, in den romantischen Memoriakonzepten. temps perdu> kann als Poetik der E r i n n e r u n g gelesen
Für Freud «sind unsere Erinnerungen, die am tiefsten werden, so wie der R o m a n in seiner Gesamtheit als
uns eingeprägten nicht ausgenommen, an sich unbewußt. Simulation von Freuds Modell des U n b e w u ß t e n . [42]
[...] Was wir unseren Charakter nennen, beruht ja auf
den Erinnerungsspuren unserer Eindrücke, und zwar Anmerkungen:
l v g l . I. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. u.
sind gerade die Eindrücke, die am stärksten auf uns
eingel. von W. Becker (1983) 107. - 2ebd. 109. - 3 e b d . - 4als
gewirkt hatten, die unserer ersten Jugend, solche, die fast eines der spätesten Beispiele vgl. die «Institutio ad eloquentiam>
nie bewußt werden.» [33] - Was von den Kindheitsein- (Wien 1805); vgl. dazu W. Neuber: Zur Dichtungstheorie der
drücken gilt, gilt mutatis mutandis von den Hysterikern. österr. Restauration. D i e <Institutio ad eloquentiam>, in: H.
In den mit seinem Lehrer J. Breuer verfaßten <Studien Zeman (Hg.): D i e österr. Lit. Ihr Profil an der W e n d e vom 18.
über Hysterie> (1892) wird eingangs programmatisch zum 19. Jh. (1750-1830) (Graz 1979) 23-53. - 5 Kant [1] 109. -
festgehalten, daß der Hysterische unter Reminiszenzen 6 G . W . F . Hegel: Enzyklop., in: Werke, hg. von E. Moldenhauer
und K.M. Michel, Bd. 10 (1986) §458. - 7 e b d . §462. - 8 ebd. -
leide. Diese werden zunächst in der Hypnose, die als
9ebd. §464. - lOvgl. G. Jäger: D i e Herbartianische Ästhetik -
Memoriatechnik zu verstehen ist, später in der freien ein österr. W e g in die Moderne, in: Z e m a n [4] 195-219. - 1 1 J . F .
Assoziation aktiviert, damit sie zu bewußten Erinnerun- Herbart: Lehrbuch zur Psychol. ( 3 1882) 47. - 12vgl. W. Wundt:
gen umgeformt werden können. D a b e i steht der Erinne- Grundriß der Psychol. ( 5 1902) 296. - 1 3 vgl. K.H. Scheidler: Art.
rungsvollzug, der erst die Therapie ermöglicht, im Vor- <Gedächtnißkunst>, in: J.S. Ersch, J.G. Gruber: Allg. Enzyklop.
dergrund, nicht der Erinnerungsinhalt. In seiner roman- der Wiss. und Künste. Erste Section. A - G . 55. Theil (1852)
tischen Begründung nimmt dieser Prozeß seinen Weg Sp.401b-412a; L. Volkmann: Ars memorativa, in: Jb. der Kunst-
hist. Sammlungen in Wien. N.F. 3 (1929) 111-200, hier 197-199.
vom Gefühl zur Reflexion. [34]
- 14vgl. G. von Feinaigle: Notice sur la mnémonique (Paris
Z u m anderen sind jedoch die antiken Wurzeln von 1806); Mnemonik oder praktische Gedächtniskunst zum Selbst-
Freuds Memoriakonzept geltend zu machen. [35] So unterricht nach den Vöries, des Herrn von Feinaigle. Mit vielen
hatte bereits der A u e t o r ad H e r e n n i u m darauf hingewie- Kupfern und Holzstichen (1811); ders.: The N e w Art of Memory
sen [36], daß die Eindrücke der Kindheit einen prägen- (London 3 1813). - 1 5 vgl. J. Chr. Freyherr von Aretin: Systemati-
den Charakter besitzen (freilich ohne die Kategorie des sche Anleitung zur Theorie und Praxis der Mnemnonik, nebst
Unbewußten). Zurecht wurde festgestellt, daß sich den Grundlinien zur Gesch. und Kritik dieser Wiss. (1810). -
16vgl. Chr. A.L. Kästner: Briefe über die Mnemonik. N o c h ein
zumal im Konzept der Deckerinnerung, die frühkindli-
Versuch, die Ehre einer Verkannten zu retten (1828). - 17vgl.
che Erlebnisse camoufliert, Freuds Psychoanalyse als Caroli Morgensternii C o m m e n t a n o de arte veterum mnemo-
eine ars memorativa verstehen läßt, als «a technique for nica secundis curis recognita et aueta, in: Scholae semestres, in
deciphering the psychic intent encoded in screen memo- Caesarea Universitate litteraria, quae Dorpati constituta est, a
ries» (eine Technik, um die psychischen Absichten zu d. XII. Ian. usque ad d. X. Iun. M D C C C X X X V . habendae
entziffern, die in Deckerinnerungen kodiert sind). [37] (1834) I-XLIV. - 1 8 vgl. I. Graf Mailáth: Mnemonik, oder Kunst,
Dazu kommt der ebenfalls deutlich auf die Tradition das Gedächtniß nach Regeln zu stärken, und dessen Kraft
außerordentlich zu erhöhen (Wien 1842). - 19vgl. H. Kothe:
der ars memorativa verweisende Begriff der «imago» bei
Mnemonik der Bibel. Praktische Anleitung . . . sich ... die
Freud. [38] U n d selbst die Beobachtung des unwillkürli- genaue A n g a b e von Buch, Capitel und Vers in wenigen Tagen
chen Funktionierens der M. ist in der Geschichte der ars fest einzuprägen (1853); ders.: Mnemonik der griech. Sprache.
memorativa lange vor Freud belegt. Schon 1852 konnte Praktische Anleitung für angehende Schüler im Griech., sich die
«die durch die Thatsachen der Erfahrung und des nothwendigsten Vocabeln und Würzelwörter dieser Sprache ...
Bewußtseins zur G e n ü g e bewiesene Ohnmacht des Wil- in wenigen Tagen fest einzuprägen (1853); ders.: Katechismus
lens dem Gedächtniß gegenüber» [39] festgestellt wer- der Mnemotechnik oder Gedächtnislehre (Leipzig 1854, 5 1882).
- 2 0 G . W . F . Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Werke, hg.
den. Die Vorläuferschaft der Beobachtung, daß die M.
von E. Moldenhauer, Bd. 3. (1970) 590. - 21 ebd. 591. - 22 ebd. -
eigenmächtig operiert, ist indessen bereits im 17. Jh. zu 23F.W.J. Schelling: Allg. Deduktion des dynamischen Prozes-
finden. Als Simonides dem Themistokles offerierte, ihn ses oder der Kategorien der Physik (1800), in: Werke, hg. von
in der ars memorativa zu unterweisen, «habe er geant- K.F.A. Schelling. B d . 4 (1859) 77. - 24ders.: Zur Gesch. der
wortet / er wolte lieber eine Vergeßkunst lernen: D a n n / neueren Philos. (1827), in: Werke [23] Bd. 10 (1861) 94f. - 25F.
sagt er / es gedencket mir mehr / als mir lieb ist / vnd kan Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Sämtl. Werke. Krit.
nicht vergessen / was ich gerne vergessen wolte.» [40] Studienausg., hg. von C. Colli und M. Montinari Bd. 5 ( 2 1988)
295. - 26 M. Koch: «Mnemotechnik des Schönem. Stud, zur poe-
In letzter Konsequenz ist zu erkennen, daß Freud den
tischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus (1988) 121. -
Memoriabegriff durch einen Zeichenbegriff ersetzt: Die 27ebd. 102. - 28 F. Berndt: Anamnesis. Stud, zur Topik der Erin-
Psychoanalyse formuliert den Sachverhalt, daß die M. nerung in der erzählenden Lit. zwischen 1800 und 1900 (Moritz -
sich jedem Konzept von Wahrheit entzieht, wesenhaft Keller - Raabe) (1999) 5. - 29ebd. 8. - 30 vgl. ebd. - 3 1 ebd. 12. -
deutungsbedürftig ist. Besitzt für Freud die erinnernde 32ebd. 49. - 33 S. Freud: D i e Traumdeutung, in: G W , hg. von A .
freie Assoziation wissenschaftspraktisch Bedeutung, so Freud. Bd.2/3 (London 1942) 545. - 34vgl. Koch [26] 281f. -
lehnt er sie doch für weite Teile jener künstlerischen Pra- 35 vgl. etwa Piatons Wachstafelmodell der M. aus dem Theaite-
tos; S. Freud: Notiz über den Wunderblock, in: G W Bd. 14
xis, die sich auf ihn beruft, ab (écriture automatique, Sur-
( 5 1976) 3-8. - 36 Auct. ad Her. III, 22, 35. - 3 7 P . H . Hutton: T h e
realismus). Dennoch kann der Modellcharakter der Psy- Art of Memory Reconceived: From Rhetoric to Psychoanalysis,
choanalyse für die literarische Praxis kaum überschätzt in: Journal of the History of Ideas 48 (1987) 371-392, hier 388;
werden. SCHNITZLER etwa führt wiederholt, z.B. in der Übers. Verf. - 38 vgl. zudem H. Blum: D i e antike Mnemotech-
<Frage an das Schicksal· (1889) aus d e m <Anatol>-Zyklus

1073 1074
Memoria Memoria

nik (Hildesheim/New York 1969) 172-185 zur Korrespondenz Privileg zu genießen, das verbindliche Wissen über die
der antiken Mnemonik mit Theorien der Psychologie, sowie Welt zu verwalten. Dichtung wäre demnach hier noch die
J.Ph. Antoine: The Art of Memory and Its Relations to the ausschließliche Organisationsform der kulturellen M.,
Unconscious, in: Comparative Civilizations Review 18 (1988)
1-21. - 39 vgl. Scheidler [13] 367. - 40Th. Garzoni: Piazza uni-
die ein personales Dispositiv darstellt und nur performa-
versale (1641) zit. J.J. Berns, W. Neuber (Hg.): Das enzyklop. tiv zu realisieren ist. Erst die Entwicklung der Alphabet-
Gedächtnis der Frühen Neuzeit. Enzyklopädie- und Lexikonart. schrift läßt den Menschen die Verfügungsgewalt über
zur Mnemonik (1998) 41. - 4 1 vgl. W. Neuber: Paradigmenwech- sein Gedächtnis gewinnen, indem er nunmehr seinen
sel in psycholog. Erkenntnistheorie und Lit.: Zur Ablöse des literarischen Schöpfungen reflektierend gegenübertre-
Herbartianismus in Österreich (Herbart und Hamerling, Freud ten und solcherart zu Individualisierung und Ich-Konsti-
und Schnitzler), in: H. Zeman (Hg.): Die österr. Lit. Ihr Profil tution gelangen konnte. Im Medium der Schrift muß
von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880-1980)
( 1 9 8 9 ) 4 4 1 - 4 7 4 . - 4 2 g l . B e r n d t [28] 2.
Dichtung nicht mehr die Gesamtheit des Wissens präsent
halten, kann sich thematisch wie auch im Hinblick auf die
Literaturhinweis: Gattungen ausdifferenzieren.
K. Dockhorn: <M.> in der Rhet., in: Dockhorn 96-104. An diese sowie die erstgenannte Forschungsrichtung
schließen die zahlreichen Arbeiten von A. und J. ASS-
VI. 20. Jh. und Forschungsgeschichte. Die M. als Teil- MANN an. [6] Literatur wird bei ihnen im weitesten Sinne
bereich der Rhetorik spielt heute keine Rolle mehr. als Schriftkultur verstanden und Schrift ihrerseits als
Zwar haben sich Memorieranleitungen nach dem Muster Notationssystem, das als ein externer Zwischenspeicher
«Verbessern Sie Ihr Gedächtnis» oder «Improve Your die «zerdehnte Kommunikation», also die Mitteilung
Memory» etc., teilweise auch als applizierte Anweisun- und Reaktualisierung der Mitteilung über einen langen
gen etwa für Studierende, als Rest der alten Gedächtnis- Zeitraum hinweg, erlaubt. Schriftkultur erscheint mithin
kunst bis heute in einer breiten Palette auf dem Buch- als Sonderfall des kulturellen Gedächtnisses, und umge-
markt erhalten. [1] Diese Präsenz der Mnemonik ist kehrt läßt sich kultureller Wandel auch in jener Rolle
jedoch nicht das Wichtige, das über den Begriff der M. beschreiben, die der Schrift als Kommunikations- und
für das 20. Jh. festzuhalten wäre. Wesentlich ist vielmehr Speichermedium zukommt. Kulturelle Überlieferung
die kulturwissenschaftliche Konzeptualisierung der M., basiert demnach in oralen Gesellschaften auf performa-
die bedeutende Implikationen für die Literaturwissen- tiver Repetition, in skripturalen Gesellschaften auf dau-
schaft besitzt. (Von einer Forschungsskizze der physiolo- erhafter Speicherung, die ohne rituelle Erneuerung aus-
gischen, theologischen oder psychologischen M.-Theo- kommt. Da Schrift selbst jedoch kein Gedächtnis ist,
rien muß hier abgesehen werden.) sondern nur dessen Medium, muß eine bestimmt Form
Die moderne kulturwissenschaftliche Memoriafor- von Erinnerungskultur dem Speicher dort zuhilfe kom-
schung beginnt fast gleichzeitig in den zwanziger Jahren men, wo eine besonders lange zerdehnte Kommunika-
auf den Gebieten der Mnemonik und des kollektiven tion den primären Sinnzugang nicht mehr erlaubt (z.B.
Gedächtnisses. Dessen Erforschung setzt mit M . H A L B - Exegese und Kommentar kanonischer, unantastbarer
WACHS [2] ein und basiert auf dem soziologischen bzw. Texte etc.).
kulturanthropologischen Nachweis, daß die Familie, reli- Ebenfalls auf die zwanziger Jahre geht die von M.M.
giöse Gruppen und gesellschaftliche Klassen als Instan- BACHTIN [7] initiierte Memoriakonzeption zurück, die
zen des kollektiven Gedächtnisses von größter Bedeu- Parallelen zu Havelock aufweist. Im Unterschied zu
tung sind. Namen, Riten und Symbole sind nicht äußerli- Havelock weist Bachtin die Repetition/Reflexion-
che Speichermedien oder historisches Sediment, sondern Dichotomie den Kategorien Epos/Roman zu; der
Voraussetzung für die Selektion und Strukturierung Roman (seit der Frühen Neuzeit) sei durch Reflexion als
gegenwärtiger Erfahrungen in Relation zu ihrem ge- Denk-, Sprach-, Schreib- und Lebensform geprägt, durch
schichtlichen Kontext. Dazu treten geschichtliche Über- Vielstimmigkeit und Prozessualität. Bachtins Ansatz
lieferung, Zeit- und Raumvorstellungen. [3] Individuelle wurde von J. KRISTEVA und v.a. von R. LACHMANN [8]
Erinnerung ist, wenn sie nicht bewußt reflektiert wird, weiterentwickelt. Hier gerät die M. in den Zusammen-
häufig nichts als die Repräsentation kollektiven Wissens, hang der Intertextualitätstheorie und ist für die Litera-
wie es sich im Prozeß der gesellschaftlichen Interaktion turwissenschaft von größter Bedeutung. Lachmann
unbemerkt akkumuliert. Je stärker der einzelne der betont den systemischen Charakter des kulturellen
Beeinflussung von außen her nachgibt, desto mehr Gedächtnisses, seine Funktion als Modellbildung der
glaubt er, selbst frei zu denken und zu fühlen. Individua- kulturellen M. Eines dieser Modelle sind literarische
lität ist damit ein Akt des erinnernden Widerstandes Texte. Sie selbst besitzen ein Gedächtnis, das durch
gegen die Gruppenidentität. intertextuelle Bezüge auf die Vergangenheit konstituiert
Eine zweite Richtung ergibt sich aus den Forschungen ist: Texte werden als Möglichkeitsbedingung für neue
zu den Verbindungen von Schrift und Gedächtnis, die, Texte angesehen, die jene aufheben bzw. überschreiben.
erneut seit den zwanziger Jahren, maßgeblich von den Erinnern erscheint demnach nicht allein als Bewahren,
Altphilologen M. PARRY und E.A. HAVELOCK [ 4 ] geprägt sondern auch als Umschrift und Aktualisierung. Litera-
und in jüngster Zeit von J. DERRIDA [5] philosophisch turwissenschaft wird hier als Kultursemiotik gefaßt.
zugespitzt wurden. Kulturen, so die Kernannahme dieser Zeitgenössische Ansätze sind bemüht, die Intertextua-
Richtung, sind durch ihre Aufzeichnungs-, Speicher- und litätsdebatte auf die Topik zu beziehen. [9] Eine nicht zu
Übertragungsmedien definiert. Konkreter gesprochen, übersehende Vorläuferschaft in diesem Bereich wie im
geht es um den Fragenkomplex von Mündlichkeit und Hinblick auf Lachmann kommt E.R. CURTIUS [10] zu, der
Schriftlichkeit, um die kulturtheoretischen Implikatio- die Topik als Restitution eines kollektiven Gedächtnis-
nen der oral poetry, deren Memorieren auf ständige ses und konseqenterweise die literarische bzw. künstleri-
Rezitation bzw. Repetition angewiesen ist, und die sche inventio schlechthin als Erinnerungsakt versteht.
Medialität der Schrift als kulturelles Speichersystem. Jegliche Einbildungskraft muß auf die Elemente des kol-
Nach Havelock fällt dem Dichter in einer oralen Kultur lektiven Gedächtnisses zurückgreifen. Curtius kann sich
die Rolle zu, der Hort des Gedächtnisses zu sein und das seinerseits auf das große Projekt des ikonographisch-kul-

1075 1076
Memoria Merkdichtung

turanthropologischen Mnemosyne-Atlas von A. WAR- dazu W. Neuber: Topik und Intertextualität. Begriffshierarchie
BURG [11] beziehen. und ramistische Wissenschaft in Th. Zwingers <Methodus Apo-
Diese wie alle anderen topologischen Konstruktionen demica>, in: W. Kühlmann, W. Neuber (Hg.): Intertextualität in
der Frühen Neuzeit. Stud, zu ihren theoretischen und prakti-
des kulturellen Gedächtnisses bindet es an die rhetori- schen Perspektiven (1994) 253-278. - lOvgl. Curtius. - 1 1 vgl. A.
sche M. zurück. Sogar der soziologische Ansatz von Warburg-Mnemosyne-Atlas: Begleittexte zur Ausstellung < Aby
Halbwachs hält diese Verbindung auf zwei Ebenen Warburg - Mnemosyne>, Akademie der Bildenden Künste
gegenwärtig. Erstens auf der Ebene des rednerischen Wien, Red.: W. Rappl (Wien 1993). - 12 Halb wachs [3] 27. -
Appells an die endoxa, die gemeinsamen Überzeugun- 13vgl. ebd. 127-163. - 14ebd. 127. - 15vgl. J.J. Berns, W. Neu-
gen einer Gruppe: «Die gesamte Kunst des Redners ber: Ars memorativa. Eine Forschungsbibliogr. zu den Quel-
besteht vielleicht darin, seinen Zuhörern die Illusion zu lenschr. der Gedächtniskunst von den antiken Anfängen bis um
verschaffen, daß die Überzeugungen und Gefühle, die er 1700. Unter Mitwirkung von S. Heimann und B. Keller sowie
in ihnen wachruft, ihnen nicht von außen her eingegeben redaktioneller Mitarbeit von U. Looft, in: Frühneuzeit-Info 3
(1992) H. 1, 65-87. - 16 vgl. O. Wrede: Mnemotechnik in grafi-
worden sind, daß sie sie von sich selbst aus entwickelt schen Benutzeroberflächen, in: formdiskurs - Zs. für Theorie
haben, daß er lediglich erraten hat, was im geheimen und Design, H. 1 (1997). - 17 A. Dieberger: Navigation in
ihres Bewußtseins entstand, und daß er ihnen nur seine Textual Virtual Environments Using a City Metaphor (Diss.
Stimme geliehen hat.» [12] Und zweitens auf der struktu- Wien 1995).
rellen Ebene des Raums [13] mit seiner «Macht des mate-
riellen Milieus» [14], einem unmittelbaren Rekurs auf die Literaturhinweise:
antike Lehre der Merkörter. Die Erfindung des Gedächtnisses. Texte, zusammengestellt und
Neben dieser kulturwissenschaftlichen Orientierung eingel. von D. Harth (1991). - S. Schama: Landscape and
Memory (New York 1995). - K.-U. Hemken (Hg.): Gedächtnis-
der M. ist schließlich auf die Erforschung der ars memora- bilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst (1996).
tiva zu verweisen, die die Rhetorikforschung im engeren - D. Harth: Das Gedächtnis der Kulturwiss. und die Klass. Tra-
Sinne weiterführt und zugleich auf zahlreiche Disziplinen dition, in: ders.: Das Gedächtnis der Kulturwiss. (1998) 79-121.
verteilt, was die Bedeutung der Rhetorik als kulturelles
Basisphänomen nochmals unterstreicht. Die moderne W. Neuber
Forschung zur M. qua Mnemonik beginnt auf kunstwis-
senschaftlichem Gebiet (VOLKMANN 1929) und wird von —> Actio —> Dispositio —> Elocutio -> Emblem, Emblematik ->
Philosophiehistorikern weitergeführt (ONG 1958; Rossi Exercitatio —> Imaginatio —» Imago —> Imitatio —> Intertextuali-
1958 und 1960; SCHMIDT-BIGGEMANN 1983); aus beiden tät —> Inventio —> Lullismus -> Merkdichtung -» Mündlichkeit
Richtungen speist sich auch die grundlegende Arbeit von -> Ordo —> Phantasie —> Psychologie —> Ramismus —> Topik
YATES (1966 u.ö.), deren notwendige Unzulänglichkeiten
erst seit den neunziger Jahren systematisch wahrgenom-
men und durch interdisziplinäre Ansätze korrigiert wer- Merkdichtung
d e n ( B O L Z O N I 1 9 9 0 u . 1 9 9 5 ; CARRUTHERS 1 9 9 0 ; B E R N S / A. An sich ist alle Dichtung M., da sie Merk-Würdiges
NEUBER 1993,1998 u. 1999). Diese Forschungsliteratur ist bewahren möchte. Im engeren Sinne können wir von M.
mittlerweile bibliographisch erschlossen. [15] Zu guter dort sprechen, wo poetische Mittel wie Vers und Reim,
Letzt ist darauf zu verweisen, daß durch den Einsatz der Rhythmus, Alliteration und markante syntaktische Bau-
elektronischen Rechnertechnologie das Modell und der formen zur Fixierung und Tradierung bewahrenswerter
Begriff des Speichers für die Leistung der M. eine bedeut- Inhalte eingesetzt worden sind. <Poesie ist Nachricht>
same Aufwertung erfahren haben. Zugleich werden nennt G. Kalow sein diesem Phänomen gewidmetes
Konzepte der antiken Mnemonik aktiviert, wo es um das Buch. [1] Der Hexameter hat bei der mündlichen Tradie-
Entwerfen von Benutzeroberflächen [16] und um das rung der Epen Homers und seiner Vorgänger sicher
'Navigieren' im Internet [17] geht. seine Bedeutung gehabt, der Antike war die konservie-
rende Wirkung des Verses auch theoretisch geläufig [2],
Anmerkungen: experimentell hat sie an Schülern unseres Jahrhunderts
lvgl. exemplarisch R.W. und R. Fry: Improve Your Memory R. Wessely nachgewiesen. [3]
(Franklin Lakes, NJ 1996); G. Beyer: Gedächtnistraining.
Gedächtnis- und Konzentrationsleistung spielend verbessern
In der weitläufigen Gattung des Weisheitsspruches, rei-
(1998). - 2M. Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen chend von den altindischen Veden und den Weisheitsbü-
Bedingungen (1966). - 3 vgl. ders.: Das kollektive Gedächtnis. chern des Alten Testaments, von den spätantiken <Disti-
Mit einem Geleitwort zur dt. Ausg. v. H. Maus. Aus dem Frz. cha Catonis> und ihren mittelalterlichen Nachfolgern,
von H. Lhoest-Offermann (1991). - 4vgl. E.A. Havelock: von der altnordischen <Havamal> bis hin zu unseren
Schriftlichkeit. Das griech. Alphabet als kulturelle Revolution. Inschriften an Haus und Gerät («Das Schönste auf dem
Mit einer Einl. von A. u. J. Assmann (1990); ders.: Als die Muse Erdenrund / ist trautes Heim auf festem Grund.»), nicht
schreiben lernte (1992). - 5 vgl. J. Derrida: La Pharmacie de Pia- zu vergessen das Sprichwort [4], ist dieses Phänomen bis
ton. In: Phèdre / Platon. Trad, inéd., intr. et notes par L. Brisson. heute am lebendigsten zu beobachten. Alle Bereiche ver-
Suivi de La Pharmacie de Platon de J. Derrida, Ed. corr. (Paris
1997). - 6 vgl. J. Assmann, T. Hölscher (Hg.): Kultur und
nünftigen, 'zivilisierten' menschlichen Verhaltens von
Gedächtnis (1988); Α. Assmann, D. Harth (Hg): Mnemosyne. der Religion bis zu Tischmanieren werden von dieser
Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. (1991); A. Gattung erfaßt. [5]
Assmann, J. Assmann, C. Hardmeier (Hg): Schrift und Im engsten Sinne wird unter M. ein poetisches Gebilde
Gedächtnis (1983); A. Assmann: Erinnerungsräume. Formen verstanden, das nicht Weisheit, sondern Wissen fördern
und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (1999); J. Ass- will. Merkverse finden sich in fast allen Disziplinen schu-
mann: Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und polit.
Identität in frühen Hochkulturen (1992). - 7vgl. M.M. Bachtin: lischen und universitären Unterrichts und darüber hin-
Unters, zur Poetik und Theorie des Romans, hg. von E. aus in allen möglichen Alltagsbereichen, wobei mit
Kowalski, M. Wegner (1986). - 8vgl. R. Lachmann: Gedächtnis zunehmender Verschriftlichung ihre Verbreitung zu-
und Lit. Intertextualität in der russ. Moderne (1990); S. Shaha- rückgeht. Auch sie bedienen sich poetischer Mittel zur
dat: Intertextualität: Lektüre - Text - Intertext, in: M. Pechliva- Unterstützung des Gedächtnisses, «weil der Rhythmus
nos u.a. (Hg.): Einf. in die Literaturwiss. (1995) 200-206. - 9 vgl. einen regelmäßigen Sylbenfall enthält, der dem Mecha-

1077 1078
Merkdichtung Merkdichtung

nism des Gedächtnisses sehr zum Vortheil gereicht» [6], fenen deutschen Hexameter in der Bauernregel «Sä
und sind deshalb von anderen verbalen mnemotechni- Korn Aegidii, Habern, Gersten Benedicti, / Sä Flachs
schen Hilfsmitteln wie künstlich gebildeten Merkwör- Urbani, Wicken, Ruben Kiliani, / Sä Hanf Urbani, Viti
tern und -sätzen u.a. zu trennen. Es besteht kein Zusam- Kraut, Erbes Gregori, / Linsen Jacobique Philippi, grab
menhang zur klassischen antiken, sich auf visuell-räumli- Ruben Vincula Petri, / Schneide Kraut Simonis et Judae,
che Repräsentationsmodelle stützenden Gedächtnis- / Trag Sperber Sixti, fahe Wachteln Bartholomaei, /
kunst. Kleib Stuben Calixti, heiß warm Natalis Christi, / Iß
B.I. Der geläufige Merkvers der Antike, die aus den Lammsbraten Blasii, gut Häring Oculi mei, / Heb an
großen Epikern entnommene Sentenz [7], gehört in den Martini, trink Wein per circulum anni.» [18]
Bereich des Weisheitsspruches. Als Zeugen für die mne- In der Theologie entsteht der Typus des <Bibelmemo-
motechnische Wirkung des Verses werden die Rhetori- riale>, dessen teilweise komplex gebaute Merkverse
k e r EUENOS u n d THEODEKTES g e n a n n t . [8] D i e v o n H . Orientierung über den Inhalt der einzelnen biblischen
Weis gesammelten lateinischen Merkverse zu den zwölf Bücher und ihrer Kapitel ermöglichen. Markante Bei-
olympischen Göttern (ENNIUS), ZU den neun Musen, den spiele sind das <Summarium biblicum> des ALEXANDER
sieben Weisen, den zwölf Tierkreiszeichen u.a. dürften DE VILLA DEI (um 1200) und das <Roseum memoriale
weitgehend jüngeren Ursprungs sein. [9] divinorum eloquiorum> des PETRUS VON ROSENHEIM
Beherrschte der Hexameter bzw. das Distichon den (1423-26). [19] Der Typus wird in der Neuzeit fortge-
antiken und lange noch den mittelalterlichen Merkvers, führt, jetzt auch mit eingestreuten deutschen Versen.
so hatten die Germanen auf lang- und kurzzeiliger Stab- Der praktischen Theologie dienen katechetische Merk-
reimbasis eine Form der M. geschaffen, mit der katalog- verse. [20]
artig mythisches, heroisches, geschichtliches und poeto- Im Rechtswesen finden wir Einschlägiges einmal im
logisches Wissen transportiert worden ist, die sog. weiten Bereich des deutschen Rechtssprichwortes, das
<Thula>. Sie ist uns in erster Linie in dem Niederschlag sich im Mittelalter durchaus produktiv auch auf der
erhalten, den sie in altnordischen Helden- und Skalden- Grundlage des kanonischen und des römischen Rechts
liedern, im altenglischen <Wídsíth>, aber auch in der entwickelt. [21] Daneben ist noch das zweisprachige Uni-
Gotengeschichte des JORDANES gefunden hat. [10] kum der <Termini Iuristarum> anzuführen. [22]
II. Das Mittelalter entwickelt neuen Wissensstoff durch Lateinische Merkverse aus dem Bereich der Medizin
die Christianisierung, durch die Intensivierung der Aus- sammeln sich im <Regimen sanitatis Salernitanum>,
bildung in den Septem artes liberales, die später in das einem ständig anschwellenden und in unterschiedlich-
humanistische Gymnasium verlagert wird, und durch die sten Zusammenstellungen überlieferten Textkorpus,
Entstehung der Universität mit ihren typischen Fakultä- dessen Nachwirkungen noch in jüngeren Jahrhunderten
ten. In vielen Disziplinen werden Merkverse zur Unter- - zunehmend in die Volkssprache übergehend - zu spü-
stützung der noch weitgehend mündlichen Stoffvermitt- ren sind. [23] Gedruckte Kalender und Almanache des
lung eingesetzt. 15. und 16. Jahrhunderts enthalten gerne deutsche Merk-
Für die Septem artes liberales gibt es den verbreiteten verse zum Aderlassen, Abführen, Baden usw. [24]
Merkvers «Gram loquitur, Dia vera docet, Rhe verba Außerhalb des Bildungsbetriebes bewegt sich der
colorât, / Mus canit, Ar numerat, Geo pondérât, Ast historiographische Merkvers, für den Benkert zahlreiche
docet astra» (Gram[matik] spricht, Dia[lektik] lehrt Beispiele aus mittelalterlichen Geschichtswerken zu-
Wahres, Rheftorik] schmückt Worte aus, / Mus[ik] singt, sammengetragen hat. [25]
A r i t h m e t i k ] zählt, Geofmetrie] mißt, A s t r o n o m i e ] III. Im Merkvers der Neuzeit dominiert zunehmend die
lehrt die Gestirne). [11] Merkverse zu den drei Diszipli- Volkssprache, womit auch Hexameter und Distichon
nen des Triviums verzeichnet Aisted [12]. Im Bereich der durch endgereimte Sprüche ersetzt werden. Der Fächer-
Grammatik wurden aus hexametrisch verifizierten kanon des Gymnasiums macht sich zunehmend bemerk-
Lehrbüchern wie dem <Doctrinale> des ALEXANDER DE bar, und weitere Alltagsbereiche werden einbezogen.
VILLA DEI (1199) und anderen einzelne Merkverse iso- Deutsche Lehrbücher zur lateinischen Grammatik ent-
liert, wie im späteren <Exercitium puerorum grammati- halten häufig Merkverse, von denen einige bis heute
cale* (ab 1485 vielfach gedruckt) und in spätmittelalterli- geläufig sind. Großen Erfolg hat die von JOH. GOTTFR.
chen Vokabularen geschehen. [13] Das gilt auch für die GROSS wohl geschaffene und anonym herausgegebene
Verslehre. [14] In die Logik gehört der verbreitete, von Merkverssammlung <Der angehende Lateiner>. [26]
PETRUS HISPANUS ( = J o h a n n e s X X I . , 13. J h . ) s t a m m e n d e Auch geographische und geschichtliche Merkverse wer-
Vers «Barbara, celarent, darii, ferion, baralipton, / den bis heute mündlich weitergegeben, sichere Quellen
Celantes, dabitis, fapesmo, frisesomorum; / Cesare, ließen sich nicht finden. [27] Im außerschulischen
camestres, festino, baroco; darapti, / Felapto, disamis, Bereich haben sich insbesondere die gereimten Bauern-
datisi, bocardo, ferison.», in dem es auf die Vokalfolgen regeln stark ausgebreitet. [28] Nicht nur diese, sondern
(aaa, eae usw.) ankommt, Symbole für bestimmte Prä- auch andere Typen des Merkverses werden gerne par-
missen und Schlußfolgerungen. [15] Die verschiedenen odiert: «Wenn Silvester hell und klar, / ist am nächsten
Methoden (modi), eine lehrreiche Anekdote (Chrie) Tag Neujahr.» [29]
rhetorisch zu behandeln, werden in dem Merkvers
«Quis, quid, cur, contra, simile, exemplaria, testes?» Anmerkungen:
(Wer, was, warum, Gegenteil, Ähnliches, Beispiele, Zeu- I G . Kalow: Poesie ist Nachricht (1975). - 2Quint. XI, 2, 39; zu
gen?) zusammengefaßt, der von MATTHAEUS VON diesem und ähnlichen Zeugnissen aus jüngerer Zeit s. U. Ernst:
VENDÜME (12. Jh.) stammen soll. [16] Merkverse aus dem Ars memorativa und Ars poetica in M A und Früher Neuzeit, in:
J.J. Berns, W. Neuber (Hg.): Ars memorativa (1993) 73-100,
Bereich des Quadriviums sind wenig erschlossen, Hin- hier 76ff. - 3R. Wessely: Zur Frage des Auswendiglernens, in:
weise einschließlich astrologischer, alchemistischer und Neue Jbb. für das klass. Altertum 16 (1905) 297-309, 373-386,
komputistischer Fachliteratur gibt D. Klein. [17] Kalen- hier 303ff. - 4G. Peukes: Untersuchungen zum Sprichwort im
darischer Merkvers ist der <Cisiojanus> nur dort, wo er Dt. (1977) 65-73: <Zur Funktion von Reim und Rhythmus in der
versifiziert ist; bemerkenswert sind die frühen, unbehol- Aussage des Sprichworts>. - 5 s . dazu die Kap. <Offizien-, Virtus-

1079 1080
Message Message

und Civilitaslit.» in: Th. Brüggemann, O. Brunken (Hg.): Hb. zur oder <Nachricht> ins Deutsche übersetzt, wobei die Über-
Kinder- und Jugendlit., Bd. 1 - 3 (1982-1991). - 6J.S. Ersch, setzung des englischen Ausdrucks mit gewissen Schwie-
J.G.Gruber (Hg.): Allg. Enzyklop. der Wiss. und Künste, Bd. rigkeiten verbunden ist (das Gleiche gilt für den entspre-
1/55 (1852) 406b. - 7Curtius 68. - 8Plat. Phaidr. 267a; H. Blum:
chenden französischen Ausdruck message). Folgende
Die antike Mnemotechnik (1969) lOOff. - 9 H . Weis: Bella bulla.
Lat. Sprachspielereien ( 5 1969) 16ff. - 1 0 A. Heusler: Die altger- grundlegende Bedeutungen können unterschieden wer-
man. Dicht. ( 2 1941) 79ff.; H. de Boor in: Germ. Altertums- den: (1) eine mündliche oder schriftliche Mitteilung, die
kunde, hg. von H. Schneider (1938) 358ff. - 11H. Walther: Initia von einer Person an eine andere geschickt wird; (2) als
carminum ac versuum medii aevi posterions Latinorum ( 2 1969) Erweiterung von (1); eine Nachricht; (3) eine göttlich
Nr. 7273. - 1 2 Aisted 466f. - 13 D. Klein: Zur Praxis des Latein- inspirierte Mitteilung durch einen Propheten, eine reli-
unterrichts. Versus memoriales in lat.-dt. Vokabularen des spä- giöse Botschaft; (4) eine offizielle Mitteilung des Königs
ten MA, in: N. Henkel, N. Palmer (Hg.): Latein und Volksspra-
oder der Königin ans Parlament, eine offizielle Anspra-
che im dt. M A 1100-1500 (1992) 337-350. - 14J. Leonhardt:
Dimensio syllabarum (1989) 107ff. - 15Wallher [11] Nr.2068; che; (5) eine implizite Aussage oder Moral, z.B. in einem
J.M. Bochenski: Formale Logik ( 5 1996) 244ff (§32). - 16 Weis Kunstwerk. Aus diesen Bedeutungen erfährt der Begriff
[9] 20; Walther [11] Nr.25427ff. mit Varianten. - 17Klein [13] in der Moderne eine Ausweitung sowie eine Bedeu-
338ff.; zu komputistischen Merkversen s. B. Bischoft: Ma. Stu- tungsveränderung. Als Fachbegriff wird er in mehreren
dien, Bd. 2 (1967) 192-227. - 18W. Wackernagel: Gesch. des dt. Gebieten verwendet, wobei sich zwei wesentliche Be-
Hexameters und Pentameters bis auf Klopstock (1831) U f f . ; A. deutungsfelder unterscheiden lassen: (a) eine Nachricht,
Holtorf: <Cisioianus>, in: VerfLex. 2 , Bd. 1,1285ff. - 19J.M. Mas-
(b) die Konklusion oder Quintessenz, die sich aus einer
sing: From Manuscript to Engravings. Late Medieval Mnemonic
Bibles, in: Ars memorativa [2] 101-115, hier 107f.; H. Rosenfeld: Gesamtheit von Informationen direkt oder indirekt
<Peter von Rosenheim», in: VerfLex 2 , Bd. 7,518-521; F. J. Worst- erschließen läßt.
brock: Libri pauperum, in: Chr. Meier u.a. (Hg.): Der Codex im <M.> als Fachbegriff ist ursprünglich ein Terminus der
Gebrauch (1996) 41-60, hier 48ff. - 20 E. Weidenhiller: Unters, modernen Kommunikationstheorie, der allerdings in
zur deutschsprachigen katechetischen Lit. des späten M A einem sehr engen kommunikationstechnischen Sinn ver-
(1965) 190ff.; D. Harmening: Katechismuslit., in: N.R. Wolf wendet wird. Er wird dann von der Semiotik aufgenom-
(Hg.): Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Lit. im
men und als wesentlicher Bestandteil von Theorien über
M A (1987) 91-102, hier 98; K. Baumann: Aberglaube für Laien
(1989) 193ff. - 21J. Grimm: Von der Poesie im Recht, in: Klei- das Verhältnis von M., Signalen, Informationen und
nere Schriften, Bd.6 (1882) 152-191; R. Schmidt-Wiegand, U. Codes im Rahmen globaler Zeichen- und Kommunika-
Schowe: Dt. Rechtsregeln und Rechtssprichwörter. Ein Lex. tionstheorien weiterentwickelt. Auch in der Sprachwis-
(1996). - 22K. Kirchert: Die <Termini Iuristarum>. Lat.-dt. senschaft wird <M.> gelegentlich als Terminus verwendet.
Sprachmischung «in abscheulichen Versen», in: Henkel, Palmer Besonders durch die Anwendung bestimmter semioti-
[13] 296-309. - 23 K. Sudhoff: Das Salernitaner Regimen in kür- scher Theorien auf andere Wissensbereiche (insb. die
zester Gestalt, in: Arch, für Gesch. der Medizin 16 (1925) 222; G.
Massenkommunikation) erfährt der Terminus dann eine
Keil: <Regimen sanitatis Salernitanum», in: VerfLex 2 , Bd.7,
1105ff. - 24W.-D. Müller-Jahnke: Astrologisch-magische Theo- weite Verbreitung und damit verbunden eine Bedeu-
rie und Praxis in der Heilkunde der frühen Neuzeit (1985) 179ff. tungserweiterung.
B. Bereiche und Disziplinen. I. Kommunikationstheo-
- 25 L. Benkert: Der historiographische Merkvers (Diss. Würz- rie. Als terminus technicus taucht der Begriff erst nach
burg 1960); B.U. Hucker: Hist. Merkverse als Quellen der Lan-
desgesch., in: Bll. für dt. Landesgesch. 120 (1984) 293-328. - dem 2. Weltkrieg im Rahmen einer ursprünglich mathe-
26Halle 2 1742, 6 1795. - 27 A. Hummel: Hilfsbuch für den Unter- matisch ausgerichteten, speziell für die Nachrichtentech-
richt in der Erdkunde (1885) 115-134; J.Chr. Lose (Losius): Sin- nik entwickelten Informations- bzw. Kommunikations-
gende Geographie (Hildesheim 1708), dazu ausführlich I. theorie auf (Shannon, Weaver [1]; nach Cherry sowie
Hruby, in: Brüggemann, Brunken [5] Bd. 2, 593-626. - 28 A. Shannon und Weaver gehen diese Theorie sowie Ter-
Hauser: Bauernregeln. Eine schweizerische Slg. mit Erl. (1973). mini wie <Information>, <Signal>, <M.> auf den Ansatz von
- 29P. Köhler (Hg.): Poetische Scherzartikel (1991) 130ff. H A R T L E Y nach dem 1. Weltkrieg zurück [2]). Nach dem
informationstheoretischen Modell von S H A N N O N und
Literaturhinweise:
W E A V E R enthält jedes Kommunikationssystem folgende
A. Canel: Recherches sur les jeux d'esprit (Evreux 1867) 333-
357; H. Hajdu: Das mnemotechnische Schrifttum des M A Teile [3]:
(Budapest 1936; N D 1967) 46-56; H.A. Hilgers: Versuch über
dt. Cisiojani, in: V. Honemann u.a. (Hg.): Poesie und
Information
Gebrauchslit. im dt. MA (1979) 127-163; Ν. Henkel: Dt. Über-
Source Transmitter Receiver Destination
setzungen lat. Schultexte (1988) Register; E. Bockelmann: Vers
- Kognition - Gedächtnis, in: J.J. Berns, W. Neuber (Hg.): Ars
memorativa (1993) 297-312; G. Bernt: <Merkverse>, in: L M A
Bd.6, 541; R.M. Kully: Denk- und Merkverse als Gebrauchs-
poesie, in: Ze hove und an der strâzen, FS V. Schupp (1999)
134-151.
A. Hollorf
Noise Source
-» Dichtung -» Didaktik -> Katalog —> Gebrauchsliteratur - *
Lehrdichtung -» Memoria
Dabei wählt die information source (Informationsquelle)
eine desired message (gewünschte Nachricht) aus einer
Message (dt. Botschaft, Mitteilung, Nachricht; frz. mes- Menge möglicher Nachrichten. Der transmitter (Sender)
sage; ital. messagio) nimmt die Nachricht an, wandelt sie in ein Signal um und
A. Definitorische Aspekte. Der engl. Begriff <M.> sendet sie über den Kommunikationskanal an den recei-
stammt aus dem Altfranzösischen (message), ursprüng- ver (Empfänger), der das Signal in die Nachricht zurück-
lich aus dem Mittellatein (missaticum\ Sendbotenbezirk, wandelt. [4] Signal bezieht sich hier auf die physikalische
Auftrag, Gesandschaft). M. wird in seiner allgemeinen Form der M.; auch die Termini <M.> und <Information>
Bedeutung je nach Kontext mit <Botschaft>, <Mitteilung> werden in einem technischen Sinn verstanden: so ist die

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Message Message

Information ein quantitatives Maß für die Wahlmöglich- dings wird bei ihm - wie bei Jakobson - der Ausdruck M.
keiten bei der Auswahl einer M., sie hat also nichts mit nie eindeutig definiert.
semantischer Bedeutung zu tun. [5] Semantische As- BARTHES, dessen Semiotik auch in der Tradition von
pekte bleiben ausdrücklich ausgeklammert: «[...] seman- HJELMSLEV steht, verwendet ebenfalls den Terminus M.
tic aspects of communication are irrelevant to the engi- im Sinne von <Mitteilung>, wobei er die Jakobsonsche
neering aspects» (semantische Aspekte der Kommuni- Relation Code - M. mit der Saussureschen Unterschei-
kation sind für die technischen Aspekte irrelevant). [6] dung zwischen langue und parole gleichsetzt. [19] Inner-
Diese Theorie, die sogar eine mathematische Weiterent- halb der soziokulturellen Semiotik Barthes' wird M.
wicklung (formal message theory [7]) fand, wird zur Stan- jedoch in einem so weiten Sinne verstanden, daß Barthes
dardtheorie in der Nachrichtentechnik. Der Ausdruck z.B. behaupten kann, die M. eines Bartes sei, «ich bin
<M.> wird in der nachfolgenden Diskussion meistens im eine unabhängige Person», die M. einer Werbung für ita-
Zusammenhang des Komplexes Signal-M.-Information lienische Nahrungsmittel «Frische» und «Italienisch»;
gebraucht. Obwohl sich dieses Modell ausdrücklich auf und sogar, die M. aller Werbung sei die ausgezeichnete
die physikalisch-technischen Aspekte der Kommunika- Qualität des jeweiligen Produkts bzw. die gesamte Wer-
tion beschränken will, ist es von verschiedenen Seiten bung sei eine M. [20] Nach Barthes bilden diese konnota-
wegen der Ausklammerung semantischer Aspekte, der tiven Botschaften eigenständige sekundäre Codes bei-
Linearität und der Vereinfachung der komplexen Kom- spielsweise in der Mode oder in der Werbung, deren
munikationssituation kritisiert worden. [8] Inhalte durch Ideologien bzw. deren Mythen bestimmt
Dennoch sollte dieses Kommunikationsmodell zum sind (auch Mythen sind für Barthes messages [21]). Die-
zentralen Bezugspunkt der späteren Diskussion werden, ser breit gefaßte Barthessche Ansatz sollte dennoch - vor
nicht nur innerhalb der Nachrichtentechnik, sondern allem in kritischen Abhandlungen zur Werbung und zu
auch innerhalb aller mit Kommunikation befaßten Diszi- den Massenmedien - eine weite Verbreitung finden.
plinen wie z.B. in der Psychologie. [9] Die mit dem Auch bei Eco wird M. zum zentralen Terminus der
Modell verbundenen Probleme von Sinn, Bedeutung, Semiotik: «[...] alle Kommunikationsformen [funktio-
Referenz und Denotation - zentrale Themen der moder- nieren] als Sendung von Botschaften auf der Grundlage
nen Semantik, Semiotik und Pragmatik - können aller- von zugrundeliegenden Codes» [22]; in einer Untersu-
dings innerhalb der Kommunikationstheorie nicht völlig chung der television message (Botschaft des Fernsehens)
gelöst werden. definiert er M. wie folgt: «The message is the objective
II. Semiotik. Durch Verwendung dieses Terminus in complex of sign vehicles built on the basis of one or more
der Semiotik entsteht eine Verbindung zu den Zeichen- codes to transmit certain meanings, and interpreted and
theorien von Peirce, Morris und Saussure, bei manchen interpretable on the basis of the same or other codes»
Autoren wird M. sogar zum Schlüsselbegriff. Als einer (die M. ist der objektive Komplex von Zeichenträgern,
der ersten sieht JAKOBSON die M. als einen wesentlichen konstruiert auf der Grundlage einer bzw. mehrerer
und konstitutiven Faktor jedes Kommunikationsereig- Codes, um bestimmte Bedeutungen zu übertragen; sie
nisses an: sein Modell weist eine gewisse Ähnlichkeit mit wird interpretiert und interpretierbar auf der Grundlage
dem Kommunikationsmodell von Shannon und Weaver der gleichen oder anderer Codes). [23] Eco versucht, die
auf und berücksichtigt insgesamt sechs Faktoren: addres- verschiedenen Strömungen der Semiotik bzw. Semiolo-
ser (Sender), addressee (Empfänger), context (Zusam- gie und Kommunikationstheorie in einer weit gefaßten
menhang), contact (Kanal), code und M. [10] Jakobson Synthese zu verbinden, die sich von der Ästhetik und
versteht dieses Modell auch als Erweiterung des Modells Rhetorik hin zur Werbung und Massenkommunikation
von BÜHLER, der jedoch nur die drei ersten Faktoren und sogar zur Architektur auf die verschiedensten Felder
(bzw. die damit verbundenen Funktionen Symptom, der menschlichen Kultur anwenden läßt. [24] Dabei
Appell, Symbol) unterscheidet. [11] Nach Jakobson ent- besteht allerdings die Gefahr, daß die Spezifik der einzel-
sprechen den genannten Faktoren folgende Sprachfunk- nen Kommunikationsfelder nicht immer in den Blick
tionen [12]: emotive, conative (konativ), referential (refe- kommt.
rentiell), phatic (phatisch), metalingual (metasprachlich) Auch in der neueren social semiotic-Theorie von HAL-
und poetic (poetisch) - wobei die poetische Funktion den LIDAY und anderen - hier handelt es sich um einen Ver-
Skopus bzw. das Interesse auf die M. selbst lenkt. [13] such, der Semiotik eine soziale Dimension zu geben -
Hauptsächlich durch das Jakobsonsche Modell erfährt spielt die M. eine zentrale Rolle als kleinste semiotische
der Terminus <M.> besonders in der Sprachwissenschaft Einheit. M. wird - ähnlich wie bei Eco - wie folgt defi-
eine weitere Verbreitung (vgl. etwa MARTINET [14] zu niert: «A message must have a material existence in
code-message·, HYMES[15] spricht u.a. von addresser which at least two units of meaning, that is signs, are
(Sender), addressee (Empfänger), code, channel (Kanal), organized into a syntagmatic structure or syntagm» (Eine
forms of messages; LEECH übernimmt das Jakobsonsche M. muß eine materielle Existenz haben, wobei zwei
Modell und VANOYE macht es sogar zur Grundlage seiner Bedeutungseinheiten, nämlich Zeichen, zu einer syntag-
Text- und Stilanalyse [16]). matischen Struktur oder einem Syntagma verbunden
Bei PRIETO, dessen Theorie eine Synthese von Elemen- werden). [25]
ten der Zeichentheorie von Saussure mit einer dem III. Massenmedien und Werbung. Aufgrund seiner
Shannonschen Modell teilweise ähnlichen Kommunika- breiten Bedeutung im Englischen und in den romani-
tionstheorie darstellt, wird M. (mit Nachricht ins Deut- schen Sprachen und teilweise aufgrund der semiotischen
sche übersetzt) zum zentralen Terminus vor allem in sei- Theorien von Barthes, Eco u.a. wird M. - meistens in
nem Werk <Messages et signaux> (dt. <Nachrichten und einem recht weiten Sinn - in vielen wissenschaftlichen
Signale>) [17]: für ihn besteht die Aufgabe von Signalen und populärwissenschaftlichen Abhandlungen über
darin, Nachrichten (messages) zu übermitteln. [18] Dar- Massenmedien, Massenkommunikation und Werbung
auf aufbauend entwickelt er eine komplexe Theorie von verwendet. SIL VERSTONE z.B. spricht - ähnlich wie Eco -
Kommunikationsakten der Nachrichtenübermittlung von der «message of television» (die Botschaft des Fern-
zwischen Sendern und Empfängern mittels Codes. Aller- sehens), die er anhand von strukturalistischen und

1083 1084
Message Message

semiotischen Theorien wie die oben diskutierte von wissenschaftlicher Terminus heute kaum noch verwen-
Barthes im wesentlichen als Botschaft bzw. Botschaften det wird.
auf einer konnotativen Metaebene analysiert. [26] Dennoch erlaubt gerade die Bedeutungsbreite des
In der Diskussion um die Auswirkungen der Massen- Ausdrucks <M.>, einen allgemeinen und spezifischen
medien in der modernen Gesellschaft finden vor allem Bezug zur klassischen Rhetorik herzustellen. Auf einer
auch die Thesen des kanadischen Wissenschaftlers sehr allgemeinen Ebene kann in der Tat die M. im Sinne
M C L U H A N große Resonanz - insb. sein Diktum «the Q U I N T I L I A N S als sermo (Rede) verstanden werden, die
medium is the message» (Das Medium ist die Botschaft), notwendig res et verba besitzt, d.h. einen sachlichen
Titel des ersten Kapitels seines bekanntesten Werkes Inhalt und eine sprachliche Form. [35] Bedenkt man, daß
Understanding Media> (dt. <Die magischen Ka- die res, der sachlich-gedankliche Inhalt, in der traditio-
näle>). [27] Hier wird der Ausdruck in einem metonymi- nellen rhetorischen inventio und disposino behandelt
schen Sinne verwendet, da normalerweise Medien Trä- wird, die verba dagegen in der elocutio, wird jedoch auch
ger von Nachrichten und nicht die Nachrichten selbst deutlich, daß die Bestimmung der M. als <Nachricht>
sind. Dieses Diktum meint zunächst, daß der Inhalt eines oder <Information> zu kurz greift. Deshalb liegt auch die
Mediums blind macht, wenn es darum geht, seine eigent- klassische rhetorische Fragestellung nach der Art und
lichen und tiefgreifenden Auswirkungen auf Mensch und Weise der Darstellung von Information zu Sachverhal-
Gesellschaft zu verstehen: «It is the medium that shapes ten oder Ereignissen (narratio) sowie ihrer argumentati-
and controls the scale and form of human association and ven Inszenierung (argumentatio) jenseits des Fragehori-
action» (Es ist das Medium, das Ausmaß und Form des zonts der skizzierten modernen Kommunikationsmo-
menschlichen Zusammenlebens und Handelns gestaltet delle. Umgekehrt ergibt sich in der linguistischen
und steuert). [28] McLuhan illustriert das u.a. am moder- Variante des Kommunikationsmodells bei Jakobson und
nen, d.h. elektronischen Zeitalter (the electric age), wel- Nachfolgern ein spezifischer, ja sogar direkter Bezug zur
ches das mechanische Zeitalter der Fragmentierung und traditionellen elocutio, der sich u.a. darin zeigt, daß
Zentralisierung ablöst und einen Übergang in die Dezen- Jakobson selbst zur Bestimmung der poetischen Funk-
tralisierung, die Gleichzeitigkeit und die Ganzheit der tion neben phonetischen Eigenschaften der Poesie auch
Betrachtung bewirkt. An anderen Stellen ist dieses Dik- semantische Verfahren wie Metapher oder Metonymie
tum sogar noch radikaler als Aufhebung der Unterschei- unterscheidet und sich sogar ausdrücklich auf die mittel-
dung Medium/M. gedacht: genauso wenig wie wir nach alterliche Unterscheidung zwischen einem schweren und
dem Inhalt einer Melodie, eines Hauses oder eines leichten Redeschmuck (ornatus difficilis vs. facilis)
Kleids fragen können, genauso wenig können wir nach bezieht [36]: damit können - ja sogar: müssen - alle von
dem Inhalt bzw. der M. eines Mediums fragen. [29] Die der klassischen Rhetorik unterschiedenen rhetorischen
Thesen von McLuhan sind von verschiedener Seite kriti- Figuren und Tropen zur Analyse der poetisch-rhetori-
siert worden: W I L L I A M S Z.B. tadelt seinen technological schen Funktion von messages angewendet werden. Diese
determinism, wonach die Technik einseitig unsere Kultur Konsequenz hat Victoroff explizit für die Analyse von
und Gesellschaft bestimmt - McLuhan würde diese Werbetexten und -bildern gezogen, da für ihn allein eine
Medien nur als Ursache darstellen, ohne deren soziales rhetorische Analyse der M. einer Werbeanzeige, ja sogar
und kulturelles Umfeld zu berücksichtigen. [30] einer ganzen Werbekampagne eine befriedigende Inter-
Auch in der modernen Diskussion über die Massen- pretation der darin enthaltenen Sinndimensionen lie-
medien wird <M.> zu einem wichtigen Terminus; bei man- fert. [37]
chen Autoren wird er sogar zum Schlüsselbegriff. So
bestimmt etwa G E R B N E R seine message system analysis Anmerkungen:
wie folgt: «Communication is interaction through messa- 1C. E. Shannon, W. Weaver: The Mathematical Theory of Com-
ges. Messages are formally coded symbolic or represen- munication (Urbana 1949). - 2C. Cherry: On Human Commu-
tational events of some shared significance in a culture, nication. A Review, a Survey, and a Criticism (Cambridge, M A
produced for the purpose of evoking significance» (Die 1957) 41 ff; vgl. Shannon, Weaver [1] 31; vgl. R.V.H. Hartley:
Transmission of Information, in: Bell System Technical Journal
Kommunikation ist durch Nachrichten vermittelte Inter-
(1928); vgl. J. Lyons: Semantics I, II (Cambridge 1977): 32ff. -
aktion. Nachrichten sind formal kodierte symbolische 3Shannon, Weaver [1] 7; vgl. Κ. Bühler: Sprachtheorie. Die
bzw. Repräsentationsereignisse, deren Bedeutung in Darstellungsfunktion der Sprache (1934). - 4 S h a n n o n , Weaver
einer Kultur geteilt wird; sie werden produziert, um [1] 7. - 5 vgl. Lyons [2]; vgl. G. Miller: Language and Communi-
Bedeutung hervorzurufen). [31] cation (New York 1951) 41 ff.; vgl. U. Eco: Einf. in d. Semiotik
In der Werbung schließlich wird der Ausdruck <M.> (1972) 52ff. - 6Shannon, Weaver [1] 8. - 7vgl. z.B. D. Harrah:
häufig gebraucht, sowohl in seiner Alltagsbedeutung [32] Formal M. Theory, in: Y. Bar-Hillel (Hg.): Pragmatics of Natu-
ral Languages (Dordrecht 1971) 69 - 8 3 . - 8 vgl. z.B Α. Mattelart,
als auch als Fachausdruck - in vielen Fällen von Jakob-
M. Mattelart: Theories of Communication (London 1998) 50ff.;
son, Barthes oder Eco übernommen. VICTOROFF bei- vgl. Y. Bar-Hillel: Language and Information (Reading, M A
spielsweise diskutiert u.a. das Barthessche Modell mit 1964) 222ff. - 9 vgl. Miller [5] 6ff., 41 ff. - 10 R. Jakobson: Lin-
seinen problematischen Begriffen und Unterscheidun- guistics and Poetics, in: T.A. Sebeok (Hg.): Style in Language
gen und konfrontiert es mit anderen Ansätzen. [33] (Cambridge, M A 1960) 353; vgl. auch R. Jakobson: Selected
VESTERGAARD und S C H R 0 D E R gehen eklektisch vor: sie Writings ( D e n Haag 1962); vgl. auch R. Jakobson, M. Halle:
verwenden z.T. das Jakobson-Leech-Modell zur Analyse Fundamentals of Language ( D e n Haag 1956) 15,75ff.; vgl. auch
Miller [5] 7 sowie Eco [5] 19. - l l B ü h l e r [3]. - 12vgl. ebd. 28. -
von verbal messages und visual messages (M. wird auch
13 Jakobson [10] (1960) 356. - 1 4 A . Martinet: Grundzüge der
hier in der Alltagsbedeutung verwendet). [34] Allg. Sprachwiss. (1963), frz.: Éléments de linguistique générale
IV. Rhetorik. Die gezeigte Fülle von Verwendungen (Paris 1960). - 1 5 D. Hymes: Towards ethnographies of commu-
und Bedeutungen des Ausdrucks <M.> in der Kommuni- nicative events, in: P.P. Giglioli (Hg.): Language and Social
kationstheorie, Semiotik und Sprachwissenschaft wie Context (Harmondsworth 1972). - 16G.N. Leech: Semantics
auch in den Diskussionen über Massenkommunikation (London 1974) 49ff. u. F. Vanoye: Expression. Communication
und Werbung und die damit verbundene fortschreitende (Paris 1973). - 17L.J. Prieto: Nachrichten und Signale (1972),
frz.: Messages et signaux (Paris 1966). - 1 8 ebd. 14. - 1 9 R. Bar-
Vagheit dieses Terminus erklären vielleicht, daß <M.> als

1085 1086
Metalepsis Metalepsis

thes: L'aventuresémiologique (Paris 1985) 24ff.; vgl. L. Hjelms- Metonymie aufgefaßt (wobei dieser keineswegs auf die
lev: P r o l e g o m e n a t o a Theory of Language (Madison 1961). - 'substantivische Funktion' eingeschränkt ist [2]): Bei der
2 0 R . Barthes: Mythologies (Paris 1957); ders.: Image-Music- 'donatischen' M. handelt es sich um eine auf der Evoka-
Text. Essays Selected and Translated by Stephen H e a t h (Glas-
gow 1977); Barthes [19]; vgl. E. Eggs: Art. <Konnotation/ D e n o -
tion einer Kette von assoziativen Verbindungen im sel-
tation», in: H W R h 4 (1998) Sp. 1242-1256. - 21Barthes: Mytho- ben Erfahrungsrahmen beruhende (Fern-) Metonymie,
logies [20] 215. - 2 2 E c o [5] 19. - 2 3 U . Eco: Towards a semiotic bei der 'melanchthonschen' dagegen um eine einfache
inquiry into the television M., in: J. Corner, J. Hawthorn (Hg.): Metonymie auf der Basis der Grund-Folge-Relation.
Communication Studies. A n Introductory R e a d e r ( L o n d o n Folglich ist die M. konzeptuell entweder als Sonderform
1980) 135; vgl. C. Morris: Signs, Language, and Behavior ( N e w der Synonymie oder als Subtyp der Metonymie, nicht
York 1946) 20ff. - 2 4 E c o [5] 50ff. - 2 5 R . H o d g e , G. Kress: jedoch als «Tropus zwischen Metapher und Metony-
Social Semiotics (Cambridge 1988) 262. - 26 R. Silverstone: The
M. of Television. Myth and Narrative in Contemporary Culture
mie» [3] zu betrachten, wo sie allerdings in den Tropen-
( L o n d o n 1981). - 2 7 M . McLuhan: Understanding Media (Lon- lehren traditionell unter systematischen Gesichtspunk-
don 1964), zit. n. der Ausg. v. 1967, dt.: D i e magischen Kanäle ten zumeist eingeordnet wird. Schon in der Rhetorik des
(1968). - 2 8 e b d . 16. - 2 9 e b d . 21. - 3 0 R . Williams: Television, 18. Jh. war die M., in ihrer metonymischen Lesart, zu
T e c h n o l o g y and Cultural Form ( L o n d o n 1974). - 3 1 G . Gerbner: einer speziellen (z.T. euphemistischen) Variante indirek-
Mass M e d i a Discourse: M. System Analysis as a C o m p o n e n t of ten Formulierens geworden. Hieran anschließend wird
Cultural Indicators, in: T . A . van Dijk (Hg.): Discourse and der Begriff in der modernen Literaturtheorie auf unter-
Communication. N e w A p p r o a c h e s to the Analysis of Mass
Media Discourse and Communication (Berlin 1985) 14. - 3 2 vgl.
schiedliche Erscheinungsformen der textuellen Anspie-
J.C. Dastot: La publicité. Principes et m é t h o d e s (Verviers 1973); lung ausgedehnt - bis hin zur Bezeichnung der bewußten
vgl. K.B. Rotzoll: Advertisements, in: T . A . van Dijk (Hg.): Dis- oder unbewußten Wiederaufnahme von Motiven und
course and Communication. N e w A p p r o a c h e s to the Analysis of Formulierungen früherer Autoren als literarisches Zitat,
Mass Media Discourse and Communication (Berlin 1985) 94 - Reminiszenz oder kulturelles Echo. In der strukturalisti-
105. - 3 3 D . Victoroff: La publicité et l'image. L'image de la schen Literaturwissenschaft kann er sogar die explizite
publicité. (Paris 1978). - 3 4 T . Vestergaard, K. Schr0der: The Durchbrechung der narrativen Sphären durch einen
Language of Advertising ( L o n d o n 1985). - 3 5 Quint. III, 1,1; vgl.
Lausberg Hb. §45. - 36 Jakobson: Linguistics [10] 374. - 3 7 V i c -
(auktorialen) Erzähler bezeichnen.
toroff [33] 131,148,153; vgl. dazu auch R. Barthes: Rhet. des Bil- B.I. Antike. Schon bei den griechischen Rhetorikern
des, in: Alternative 54 (1967) 107ff. und Grammatikern erscheint der Begriff der M. in einer
semantischen Heterogenität, die für die gesamte
D. McElholm
Geschichte seiner Verwendung bis heute prägend geblie-
-> Adressant/Adressat —> Feedback —> C o d e -> Information —» ben ist.
Kommunikationstheorie M a s s e n k o m m u n i k a t i o n —> Semio- Als Status ist die M. zwar seit ARISTOTELES [4] bezeugt,
tik -> Werbung der Begriff scheint jedoch auf HERMAGORAS zurückzuge-
h e n ^ ] . Im attischen Recht ist die M. oder auch παρα-
γραφή (paragraphe) ein Einwand gegen die Gültigkeit
Metalepsis (dt. auch Metalepse; griech. μετάλη(μ)ψις, einer Klage: «wenn der Verklagte die ihm Schuld gege-
metále(m)psis,; lat. metale(m)psis, translatio bzw. bene That weder leugnen, noch deren Bezeichnung
tran(s)sumptio; engl, metalepsis; frz. métalepse; ital. durch den Kläger verwerfen, noch endlich sie vertheidi-
metalepsi oder metalessi). gen kann, [bleibt] ihm noch viertens die Behauptung
A. Seit der griechischen Antike findet der Begriff der übrig [...], die Klage werde nicht auf die richtige Weise
M. (von μεταλαμβάνειν, metalambánein - teilnehmen, erhoben, d.h. er kann die Competenz des Klägers oder
übernehmen, übertragen, verändern) sowohl in der Sta- des Gerichtshofes angreifen, oder versuchen, aus sonst
tus- als auch in der Tropenlehre Verwendung. Im Rah- irgendwelchem Grunde die Entscheidung über die Klage
men der Statuslehre bezeichnet M. die translatio, d.h. hinauszuschieben» [6]. Es findet hier also eine ζήτησις
den für das genus iudiciale typischen Versuch des Ange- (Erwägung) statt, περί του εί δει τον άγώνα είσελθεΐν
klagten, die Zuständigkeit des Gerichts bzw. die Recht- (darüber, ob das Verfahren in Gang gebracht werden
mäßigkeit des Verfahrens in Zweifel zu ziehen. [1] In die- soll) [7], Dem griechischen Begriff entspricht im römi-
ser Lesart ist der Begriff seit der Spätantike nur noch von schen Gerichtswesen der der translatio (Verschiebung).
geringer Bedeutung. Als Tropus ist die M. im Laufe ihrer Der <Rhetorica ad Herennium> zufolge entsteht aus der
Begriffsgeschichte extrem unterschiedlich definiert wor- translatio eine Streitfrage, «wenn der Angeklagte sagt,
den, wobei von alters her konkurrierende Begriffsbe- der Termin müsse verschoben werden oder der Ankläger
stimmungen vermischt worden sind. Trotz der Dominanz bzw. die Richter müßten ausgetauscht werden» (Ex
eklektischen Zitierverhaltens hat sich daher auch nicht translatione controversia nascitur, cum aut tempus diffe-
ansatzweise eine allgemein akzeptierte Definition her- rendum, aut accusatorem mutandum, aut iudices mutan-
ausbilden können. Allein für die Zeitspanne von der dos reus dicit) [8]. Eine solche Vorgehensweise ist in der
Antike bis in die Barockrhetorik lassen sich drei recht römischen Gerichtspraxis jedoch selten. [9] QUINTILIAN
unterschiedliche M.-Begriffe ausmachen, an denen sich spricht in seiner Statuslehre von der μετάλημψις, «quam
die jeweils späteren Autoren dennoch zumeist in glei- nos varie translativam, transumptivam, transpositivam
chem Maße orientieren: Nach ihren geschichtswirksa- vocamus» (M., die wir je nachdem die Übertragungs-,
men Urhebern läßt sich dabei eine 'tryphonisch-quinti- Übernahme- oder Umstellungsart nennen), gliedert sie
lianische' von einer 'donatischen' und einer 'melanch- jedoch unter dem lateinischen Synonym translatio aus
thonschen' M. unterscheiden. Als 'tryphonisch-quintilia- der Gruppe der Gesetzesstatus aus. [10] AUGUSTINUS
nische' M. ist die Verwendung des falschen, d.h. kon- dagegen greift den (griechischen) Begriff - unter Beru-
textuell nicht gemeinten Teilsynonyms eines homony- fung auf Hermagoras - wieder auf: Von den meisten
men (bzw. polysemen) Wortes zu bestimmen (im letzte- römischen Gelehrten werde die M. translatio, von weni-
ren Fall kann sie als bewußtes Wortspiel oder als Über- gen reprehensio (Widerlegung) genannt; beides sei
setzungs- bzw. Wortselektionsfehler auftreten). In den berechtigt: «Die einen sagten reprehensio, deswegen ver-
beiden anderen Fällen wird die M. als Spezialfall der steht sich, weil besonders dann, wenn eine Sache vor den

1087 1088
Metalepsis Metalepsis

Richter kommt, versucht wird, sie anzufechten {repre- re, kontextuell ungeeignete, insofern «semantisch
henderé) und gleichsam aufzuhalten, die anderen transla- schiefe» [21], aber inhaltlich mit der ersten verbundene
tio, weil der Angeklagte das Klagerecht nicht gänzlich zum Ausdruck bringt. Eine M. liegt demnach z.B. vor,
ausschließt, sondern, um sich der gegenwärtigen Prozeß- wenn man einen Zentauren, der Chiron (Χείρων: 'gerin-
lage zu entziehen, die Klage auf ein andersartiges Ver- ger', i.S.v. 'sozial niedrigstehend') heißt, Ή σ σ ω ν ('gerin-
fahren verschiebt (trans ferre), das entweder bereits statt- ger' i.S.v. 'weniger') nennt oder, wie oben schon im
gefunden hat oder noch stattfinden soll.» [11] SULPICIUS Zusammenhang mit Tryphon erläutert, νήσοι όξείαι
VICTOR, der sich dem Status der M. besonders ausführlich (steile Inseln) als νήσοι θ ο α ί (schnelle Inseln) bezeich-
widmet [12], nennt als weiteres Synonym praescrip- net. Einige weitere Beispiele deuten darauf hin, daß bei
tio[ 13]. den Römern ein polemischer Gebrauch der M. bei
Als Tropus verdankt die M. oder lateinisch transsump- Eigennamen in der politischen Rede eher verpönt gewe-
tio «wohl lediglich der falschen Interpretation einiger sen sein muß, denn, so fragt Quintilian rhetorisch: «Wer
Homerstellen» ihren Ursprung. [14] würde es von uns hinnehmen, wenn wir Verres ('Eber')
Nach TRYPHON ist sie eine λέξις έκ συνωνυμίας τό 'Schwein' oder Aelius Catus ('den Schlauen') 'gebildet'
όμώνυμον δηλοΰσα (Ausdruck, der mit einem synony- nennen wollten?» (nos quis ferat, si Verrem 'suem' aut
men Wort einen [mit dem gemeinten] homonymen Aelium Catum 'doctum' nominemus?). Das Wesen der
Begriff bezeichnet) [15]. In diesem Sinne bestimmt, setzt M. sieht Quintilian darin, «ut inter id, quod transfertur, et
die M. sowohl das Vorhandensein eines homonymen id, quo transfertur, sit medius quidam gradus, nihil ipse
Ausdrucks als auch die Existenz eines Synonyms zu einer significans, sed praebens transitum» (daß es zwischen
von dessen Teilbedeutungen voraus; die M. besteht dann dem, was übertragen wird, und dem, worauf es übertra-
darin, daß anstelle der gemeinten Teilbedeutung des gen wird, gleichsam eine mittlere Stufe gibt, die selbst
Homonyms das Synonym der nicht-gemeinten verwen- nichts bezeichnet, sondern nur einen Ubergang bie-
det wird. So setzt Homer [16] an die Stelle von νήσοι tet). [22] Das zusätzlich angeführte Beispiel «cano» (ich
όξείαι (spitze Inseln) νήσοι θοαί (schnelle Inseln), wobei besinge) - «canto» (ich singe), wobei «canto» «dico» (ich
οξύς sowohl <scharf, spitz> als auch <schnell> bedeuten sage) bedeute und die Mittelstufe darstelle, ist zwar in
kann, während θ ο ό ς - so zumindest die Lesart bei Try- Anbetracht der gegebenen Definition wenig erhellend,
phon oder Quintilian [17] - nur in der Bedeutung jedoch nicht ohne Auswirkungen auf spätere Begriffsbe-
<schnell> gebräuchlich ist (ein gegenwartssprachliches stimmungen geblieben. Für Volkmann fällt die M. auch
Beispiel wäre etwa die Formulierung «Die Mahlzeit bei Quintilian mit der Metonymie zusammen, «nur dass
beschließt» statt «Das Gericht beschließt», in der die eben hier die Metonymie mittelst einer Homonymie zu
Homonymie von «Gericht» als a) Justizbehörde> und b) Stande kommt». [23] Diese Auffassung stehe jedoch
<Mahlzeit> wortspielerisch ausgenutzt wird). Eine M. nicht ganz in Einklang mit der Erklärung «quae ex alio
enthalten angeblich auch die Zeilen eines unbekannten tropo in alium velut viam praestat» (die von einem Tro-
Dichters: Τεύκρος δέ τόξου χρώμενος φειδωλίςχ / ύπέρ pus zum anderen gewissermaßen einen Übergang bie-
τάφρου πηδώντας εστησε Φρύγας (Teukros aber mit sei- tet) [24], denn es sei keineswegs klar, wo ein solcher
nes Bogens Kargheit / brachte den Ansturm der Phryger Übergang stattfinden solle, zumal gerade das auf Ver-
über den Graben zum Stehen). Statt ακρίβεια (Gründ- mittlung von verres (<Eber>) beruhende Verres-Beispiel
lichkeit, Sparsamkeit) soll hier φειδωλία (Sparsamkeit, zeige, daß von einer semantischen Leere des «medius
Kargheit) gesetzt sein; der Anonymus gibt dazu folgende gradus» nicht die Rede sein könne. [25] Auch die Ant-
Erläuterung: «Denn der φειδωλία [Sparsamkeit, Karg- wort auf die Frage, zwischen welchen Tropen der Tropus
heit] ist synonym die άκρίβεια κατά δόσιν [Genauigkeit der M. den Übergang biete, ist Quintilian der Nachwelt
im Geben], dieser wiederum ist homonym die άκρίβεια schuldig geblieben. Während er jedenfalls bei den
κατά τέχνην [Genauigkeit in der Arbeit], d.h. die Römern als «rarissimus und improbissimus» (sehr selten
ευστοχία [Treffsicherheit].» [18] Der Homer-Kommen- und ungezogen) gelte, sei dieser Tropus bei den Grie-
tator EUSTATHIOS (12. Jh.) findet eine M. in Homers chen häufiger anzutreffen. Allenfalls in der Komödie
Wendung ερρε κακή γλήνη (Pack' dich, feige Pupille) sieht Quintilian für die M. einen poetischen Nutzen.
anstelle von ερρε ώ δειλόν κοράσιον (Pack' dich, du
nichtsnutziges Mädchen) [19], denn κόρη ist ein Homo- Einen deutlichen Zugewinn an begrifflicher Klarheit
nym, das sowohl <Mädchen> als auch <Pupille> bedeuten bringen die Definitionen der lateinischen Grammatiker
kann, γλήνη dagegen ist - als partielles Synonym - nur in d e s 3. u n d 4. J h . S c h o n DONATUS, d e r d i e M . i m <De T r o -
letzterem Sinne gebräuchlich. Ohne nähere Angaben pis> betitelten Kapitel seiner <Ars Grammatica» nach
erklärt Eustathius jedoch die so verstandene M. als von Metapher und Katachrese, aber unmittelbar vor der
derjenigen der Redner verschieden: «Denn jene ist Metonymie behandelt, findet die für die weitere Begriffs-
denen, die sich poetisch ausdrücken, unerwünscht». geschichte bis in die Barockrhetorik hinein bestimmen-
Indem er an anderer Stelle die Metonymie als eine Art den Formulierungen: Für ihn ist die M. eine «Redeweise,
M. bestimmt und sogar schreibt: «Die erläuternde Deu- die schrittweise zu dem vordringt, was sie zeigt» (Meta-
tung von Ausdrücken wird <M.> und <nützliche lepsis est dictio gradatim pergens ad id quod osten-
Umschreibung) [μετάφρασις καίριος] genannt», zeigt dit). [26] Indem er das Terenz-Zitat «quasi tu dicas, fac-
sich bei ihm von der ohnehin schwierigen M. kein klarer tum id Consilio meo» (als ob du sagst, es sei durch meinen
Begriff. Bei QUINTILIAN [20] wird die M. mit dem lateini- Rat geschehen) [27] erläutert als «dicas pro credas, non
schen Begriff transsumptio (Übernahme) gleichgesetzt enim dicimus, nisi quod credimus; ab eo quod sequitur id
und zwischen Katachrese (abusio) und Epitheton behan- quod praecedit: figura μετάληψις a posterioribus ad
delt. In dieser Lesart ist sie für ihn ein Tropus, der priora» ("du sagst" für "du glaubst", wir sagen nämlich
dadurch ein Wortspiel ermöglicht, daß ein polysemes nichts, was wir nicht glauben; von dem, was folgt, auf das,
Wort - zumeist scherzhaft oder in polemischer Absicht - was voraufgeht; Figur der M. von den späteren Dingen
durch ein (partielles) Synonym ersetzt wird, das anstelle auf die früheren) [28], versteht Donatus die M. anschei-
der ursprünglich gemeinten Teilbedeutung eine ande- nend zugleich als indirekten Sprechakt auf der Basis der
Metonymie, aber nicht mehr, wie Quintilian, als zwi-

1089 1090
Metalepsis Metalepsis

sehen zwei anderen Tropen vermittelnden Meta-Tropus. laborando adquiruntur bonis» (eine Redeweise, die
Dennoch schließt er dabei unverkennbar an Quintilians schrittweise zu dem vordringt, was sie zeigt, und die von
«cano - canto»-Beispiel an. In fast wortgleicher dem her, was vorausgeht, das andeutet, was folgt, wie in
Beschreibung wird die M. auch von den lateinischen <Du wirst die Mühen Deiner Früchte verzehren>;
Grammatikern CHARISIUS und DIOMEDES ausschließlich 'Mühen' steht nämlich für die Güter, die durch Arbeit
als Tropus behandelt. Die von ihnen gegebene Defini- erworben werden). [38] Als rhetorischer Terminus
tion folgt im wesentlichen derjenigen Tryphons: «Meta- scheint die M. im gesamten mittelalterlichen Diskurs von
lepsis est per transsumptionem dictionum proprietatis allenfalls marginaler Bedeutung gewesen zu sein; der
dilatio, dictio gradatim homonymiae ad propriam signifi- Begriff ist daher wenig frequent. Zwar nimmt OCKHAM in
cationem descendens» (die M. ist das Hinausschieben seine Liste der modi, in denen «die Ausdrücke von ihrer
der Bedeutung von Ausdrücken durch Übertragung, eigentlichen in eine uneigentliche Bedeutung überführt
Ausdruck von Homonymie, der stufenweise zur tatsäch- werden», auch die metalempsis auf [39], doch geschieht
lichen Bedeutung hinabsteigt). [29] Offenbar wird die M. dies bezeichnenderweise in einem der Kapitel, die die
von beiden Autoren als eine letztlich durch enzyklopädi- modi aequivocationis (Arten von Mehrdeutigkeit)
sches Wissen ermöglichte Kette von Assoziationen bzw. behandeln und in dem Teil der <Summa Logicae> zu fin-
Konnotationen verstanden, deren einzelne Glieder den sind, der «De Fallaciis» (Von den Fehlschlüssen)
durch Zugehörigkeit zum selben Erfahrungsrahmen so überschrieben ist.
eng miteinander verknüpft sind, daß eine Art Fern- III. Humanismus, Barock. Ist die 'tryphonisch-quinti-
Metonymie entsteht. Als Beispiel dient jeweils die Wen- lianische' M. als lexikalisch-semantische Relation zwi-
dung «speluncis abdidit atris» (er verbarg [sie] in farblo- schen einem Homonym und dessen Teilsynonym zu
sen Höhlen) [30]; von der Farblosigkeit werde hier näm- bestimmen, so kann die 'donatische' als auf enzyklopä-
lich auf die Schwärze, von der Schwärze auf die Finster- disch bedingten Assoziationen beruhende Fern-Metony-
nis und dadurch auf unermeßliche Tiefe geschlossen (ab mie beschrieben werden. Obgleich alle Autoren der frü-
atris enim nigrae intelleguntur, ex nigris tenebras haben- hen Neuzeit, die sich mit der M. beschäftigen, sowohl die
tes, et per hoc in praeeeps profundae). Wie dieses geht Begriffsbestimmungen Quintilians als auch diejenigen
wohl auch das zweite der in späteren Ausführungen zur Donatus' mehr oder weniger wortwörtlich übernehmen
M. bis in die Barockzeit als Beispiele immer wieder und in der Regel dieselben Beispiele anführen und fast
reproduzierten Vergil-Zitate letztlich auf Donatus wortgleich diskutieren, ist diese prinzipielle Differenz
zurück: «post aliquot mea regna videns mirabor aristas» offenbar - mit Ausnahme von Vossius - keinem von
(nach einigen Ähren werde ich, mein Reich sehend, stau- ihnen bewußt geworden. Dennoch lassen sich bei aller
n e n ) ^ ] . Von POMPEIUS wird es dahingehend erläutert, Ähnlichkeit der Argumentation, die mit dem Rückgriff
daß aristae (Ähren) auf die segetes (Saaten auf den Fel- auf dieselben Quellen verbunden ist, durchaus unter-
dern) verweise, segetes auf die aestates (Sommer) und schiedliche Akzentuierungen erkennen.
aestates schließlich auf anni (Jahre); «post aliquot ari- Nach ERASMUS steht die M. auf der Grenze zur Kata-
stas» (nach einigen Ähren) bedeute daher <nach einigen chrese («Abusioni confinis est»); dennoch wird sie in der
Jahren>[32], Weil ihre Interpretation stets eine solche Reihenfolge der Darstellung zwischen Onomatopöie
Assoziationskette voraussetzt, wird die M. von POMPEIUS und Metonymie bzw. Synekdoche eingeordnet. Sie
- noch klarer als bei Quintilian, Donatus, Charisius oder begegnet in der Dichtung («in carmine») häufiger als in
Diomedes - als «accessus quidam gradatim perveniens der freien Rede («oratio soluta») und kommt dort
ad finem, sed longo ordine» (eine über eine lange Stufen- zustande, «wo stufenweise zu dem übergegangen wird,
folge ans Ziel gelangende Ännäherung) [33] bestimmt. was wir zeigen»; insofern könne sie auch als eine «Unter-
Während schließlich SACERDOS Donatus' Formulierun- art der Synekdoche» betrachtet werden. [40] Entspre-
gen nur paraphrasiert[34], dreht IULIAN die in dessen chend wird die M. im in späteren Ausgaben mitabge-
Definition angegebene Schluß-Richtung um; die Vergil- druckten Kommentar von VELTKIRCHIUS als «translatio
Beispiele aufnehmend sagt er nämlich, auch die Vertau- uerbi a causa uel adfectu sumpta» (von der Ursache oder
schung von dem, was voraufgeht, mit dem, was folgt, dem Verursachten her genommene Übertragung eines
werde M. genannt (dicta autem metalepsis ab eo quod Wortes) erläutert. So spreche man etwa auf metalepti-
praecedit id quod sequitur), und erläutert dies u.a. an sche Weise von <trauriger Armut> (tristis egestas), weil
dem Beispielsatz «inque manus chartae nodosaque venit diese traurige Menschen hervorbringe. [41] Wenngleich
arundo» (und in die Hand gelangt das Papier und das Erasmus - neben der illustrativen Verwendung der
knotige Schilfrohr) [35], in dem mit manus (Hand) die kanonisierten Vergil-Zitate - auch das bei Tryphon und
verba (Worte) und mit arundo (Schilfrohr) die litterae Quintilian diskutierte Homer-Beispiel anklingen läßt
(Buchstaben) gemeint seien. [36] Auch hier zeigt sich, («Graeci uocant acutum quod uelox intelligi uolunt» -
daß die M. nunmehr zu einer - an die Metapher angren- die Griechen nennen das spitz, was sie als schnell verstan-
zenden - Metonymie auf der Basis der Kausalrelation den wissen wollen), steht sein M.-Begriff doch demjeni-
geworden ist. gen Donatus' näher. Anders als bei den übrigen Bestim-
II. Mittelalter. In eben diesem Sinne - und mit demsel- mungsstücken ist ihm aber die Nachwelt - mit Ausnahme
ben Beispiel - wird der Begriff der M. von ISIDOR aufge- von MINTURNO[42], der sogar Erscheinungen wie das
griffen und zwischen Metapher und Metonymie sehr Setzen von <Achilles> für <der Unbezwingbare) als hier-
knapp abgehandelt, ohne daß zu diesen eine Beziehung hergehörig betrachtet - bei der Klassifikation der M. als
hergestellt würde. Auch für ihn ist die M. der Tropus vom Synekdoche nicht gefolgt. Den Autoritäten der Spätan-
Vorhergehenden auf das, was folgt («Metalempsis est tike folgend, wird die M . auch von MELANCHTHON im «De
tropus a praecedente quod sequitur»), [37] In vergleich- Tropis et Schematibus» überschriebenen Kapitel von
barer Weise bestimmt B E D A die M. als eine «dictio grada- <De Elementis Rhetorices> nach der Metapher und vor
tim pergens ad id quod ostendit, et ab eo quod praecedit Synekdoche und Metonymie behandelt. Für ihn wird
id quod sequitur insinuans, ut Labores fruetuum tuorum dort von einer M. gesprochen, «wo nicht wie oben [d.h.
manducabis [Ps 127,2]; labores enim posuit pro his quae bei der Metapher] eine Benennung von Ähnlichem über-

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Metalepsis Metalepsis

tragen, sondern von der Ursache oder Wirkung her sis, vel Transumptio» dann vor, «wenn gleichsam stufen-
genommen wird»; als Beispiel nennt er u.a. «pallida weise zu dem übergegangen wird, was durch die Worte
mors» (bleicher Tod), weil dieser die Körper erbleichen gezeigt wird», doch stellt sich Verepaeus die Frage,
lasse, und "Ich bin die Auferstehung und das Leben", warum dieser an sich eher seltene Tropus bei den Dich-
d.h. der Wiedererwecker und Lebendigmacher.» Gram- tern häufiger als bei den Rednern zu finden sei: «Wenn
matikern, die einwenden könnten, daß es sich hier um du nämlich diese Figur in der ungebundenen Rede
Metonymien handele, macht Melanchthon mangelnde gebrauchst, wird die Ausdrucksweise dunkler sein und
Genauigkeit bei der Unterscheidung der Figuren zum für den Verstand schwierig. Deshalb ist sie weniger not-
Vorwurf. Er selbst, so führt er aus, fasse derartige Benen- wendig als vielmehr gekünstelt. Deren Erkenntnis schaut
nungen «nach griechischer Gepflogenheit» als M. und also mehr darauf, daß wir wissen, wo und warum die
trenne damit schärfer zwischen beiden Tropen, als dies Dichter transsumptive Worte gebraucht haben, als daß
andere täten, nur um ohne Mühe erkennen und unter- wir sie selbst mit dieser Freiheit gebrauchen. Fürwahr,
scheiden zu können. [43] Trotz dieser Begründungsver- wenn die M. die Ursache aus der Wirkung zu verstehen
suche geht jedoch aus den von Melanchthon angeführten gibt, wird deutlich, daß sie zur Metonymie gerechnet
Beispielen unzweifelhaft hervor, daß die M. für ihn werden kann. Aber bei der Metonymie bezeichnet die
nichts anderes als eine einfache Metonymie auf der Basis Wirkung die Ursache auf kürzere, bei der M. allerdings
der Grund-Folge-Relation darstellt. Von einigen späte- auf längere Weise, wodurch sie doch endlich stufenweise
ren Autoren ist seine Konzeption auch in diesem Sinne zu dieser vordringt.» [47] Weil also der pragmatische
aufgenommen worden. S U S E N B R O T U S ' Bestimmung der Sinn dieses Tropus darin liegt, den Adressaten durch
M. ist den beiden großen Vorbildern aus der Antike glei- Nennung der Wirkung zur stufenweisen assoziativen
chermaßen verpflichtet. Wie für Donatus (aber, wie an Rekonstruktion der Ursache zu animieren, erweist sich
den Formulierungen unschwer zu erkennen ist, vermit- die M. zugleich als zu komplex für die Bewältigung der
telt über Melanchthon) liegt für ihn dort eine M. bzw. alltäglichen Normalkommunikation.
transumptio vor, wo «stufenweise zu dem übergegangen In <The Garden of Eloquence> holt PEACHAM die über-
wird, was gezeigt wird». Erläuternd setzt er jedoch hinzu: lieferte Begriffsbestimmung mitsamt eines der charakte-
«Oder vielmehr besteht sie darin, daß ein Ausdruck ristischen Beispiele in die englische Rhetorik ein: «Meta-
etwas von seiner eigentlichen Bedeutung Verschiedenes, lepsis, when we goe by degrees to that which is shewed, a
nämlich etwas von dem, was vorhergegangen ist, fygure sildom vsed of Oratours, and not ofte of Poets, as
bezeichnet.» Zur Beschreibung der «Natur» der M. über- to saye, he lyeth in a darcke Dungeon. Now in speaking
nimmt er dagegen exakt den Wortlaut der Definition of darcknesse, we vnderstand closenesse, by closenesse,
Quintilians, fügt ihr jedoch die Bemerkung hinzu, die M. blacknesse, by blacknesse, deepenesse. Virgil by eares of
unterscheide sich von benachbarten Tropen dadurch, Corn, he signifyeth harvestes, by haruestes, sommers,
daß sie gleichsam über mehrere Stufen zu dem fort- and by sommers, yeares.» (M., wenn wir uns stufenweise
schreite, was wir zu verstehen geben wollen [44], Obwohl zu dem hinbewegen, was gezeigt wird, eine von Rednern
beide Zusätze Susenbrotus' z.T. paraphrasierend sind, selten und auch von Dichtern nicht oft benutzte Figur,
legen sie doch die Vermutung nahe, daß die als «poeti- wie z.B. Er liegt in einem dunklen Verlies. Indem wir nun
scher und überaus seltener» Tropus gekennzeichnete von Dunkelheit reden, denken wir an Abgeschlossen-
und durch die Standard-Vergil-Zitate exemplifizierte M. heit, bei Abgeschlossenheit an Schwärze, bei Schwärze
hier nicht mehr als Relation zwischen zwei Tropen, son- an Tiefe. Vergil verweist mit Ähren auf Ernten, mit Ern-
dern als semantischer Prozeß verstanden wird. In ähnli- ten auf Sommer und mit Sommer auf Jahre). [48] Diese
cher Weise wird die M. von CAVALCANTI fast zeitgleich als aus der Antike übernommene Bestimmung, der die Vor-
«Art der Vertauschung» (modo di mutatione) bestimmt, stellung von der stufenweisen Überwindung einer
«die uns vom gewählten vertauschten Wort gleichsam semantischen bzw. assoziativen Distanz als Prinzip
stufenweise zur gemeinten Sache führt, wobei die mitt- zugrunde liegt, hat P U T T E N H A M [49] sehr anschaulich auf
lere Stufe nur als Weg dazu dient» (che dalla parola den Punkt gebracht, indem er die M. als «the figure of the
presa, & tramutata, ci conduce alla cosa significata, quasi farre-fet» (Figur des Weithergeholten) bezeichnet: «as
per gradi, non ci seruendo il grado di mezo ad altro, che a when we had rather fetch a word a great way off then to
darci la uia). [45] Mit Verweis auf Quintilian, dessen use our nerer hand to expresse the matter aswel & plai-
Definition fast wörtlich wiederholt wird, und unter ner» (als wenn wir ein Wort lieber von weiter entfernt
Rückgriff auf die schon von den lateinischen Grammati- herholten, als die näher bei der Hand liegenden zu benut-
kern des 4. Jh. stereotyp wiederholten Vergil-Beispiele zen, um die Sache ebensogut und schlichter auszudrük-
wird die M. auch bei SOAREZ in die Reihe der Tropen ein- ken).
gefügt und in einem eigenen (kurzen) Kapitel behan- Für Vossius ist die M. ein «tropus multiplex in voce
delt. [46] Zwar wird die Gradualität («gradatim») des unâ; sive, cùm gradatim ex unâ significatione proceditur
interpretativen Übergangs <ex alio in aliud> (von dem in alienam» (ein mehrfacher Tropus in einem einzigen
einen zum anderen) als charakteristisches Merkmal die- Wort; oder wenn schrittweise von einer Bedeutung zu
ses Tropus hervorgehoben, doch nicht, wie bei Quintilian einer anderen übergegangen wird). [50] Natürlich wird
selbst, auf die Beziehung zwischen zwei Tropen einge- dies an einem der bekannten Vergil-Zitate exemplifi-
schränkt. Eine eigene Akzentuierung ist auch darin zu ziert. In seinem Hauptwerk behandelt er die M. neben
erkennen, daß der Tropus der M. nicht nur als «rarißi- Antonomasie, Koinótes, Syllepsis, Litotes und Euphe-
mus» (sehr selten), sondern auch als «maximè impro- mismus im Kapitel über die «Unterarten der primären
prius» (in höchstem Grade uneigentlich) bezeichnet Tropen» (De primariorvm troporvm speciebvs). Hier
wird. Selbst wenn auch er die typischen Vergil-Beispiele stellt er sie zunächst, unter Rekurs auf Donatus, als einen
aufnimmt (denen er jedoch einige weitere Belegstellen Spezialfall der Metonymie dar, der dadurch entsteht, daß
an die Seite stellt), bewahrt V E R E P A E U S in seinem Kapitel «aus der Ursache die Folge oder aus der Folge die Ursa-
«Quod est Metalepsis?» ein überraschendes Maß an che verstanden wird» (ex antecedente intelligitur conse-
Eigenständigkeit. Zwar liegt auch für ihn eine «Metalep- quens, aut ex conséquente antecedens). [51] Die Zei-

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Metalepsis Metalepsis

chenrelationen zwischen scriptum (Schrift), oratio M. genannt und als besondere Art von Tropus betrachtet
(Rede), conceptus (Begriff) und res (Sache) sind insofern (wie Kirchmannius am ensto-Beispiel erläutert), «wenn
als metaleptische Beziehungen zu betrachten. Eine M. gleichsam stufenweise zu dem übergegangen wird, was
des ersten Typs (metálepsis consequentis) liegt daher bezeichnet wird». [58] Für U H S E stellt die M. einen Spe-
z.B. vor, wenn für credere (glauben) bzw. sentire (fühlen) zialfall der Metonymie dar und tritt in zwei Erschei-
dicere (sagen) gesetzt wird, während die Verwendung nungsformen auf: «a. Antecedens P R O Conseqvente: Er
von facere (tun, handeln) für dicere (sagen) oder narrare hat gelebt, i.e: Er ist todt. b. Conseqvens P R O Antece-
([die Taten] erzählen, berichten) als «metálepsis antece- dente: Du wirst bald taumeln, i.e.: Du wirst bald besoffen
dentis» zu bestimmen ist. [52] Unter Berufung auf Quin- seyn.» [59]
tilian und Eustathius unterscheidet Vossius von der M. Mit «Antecedens pro conséquente & ν. ν.» läßt auch
als spezieller Metonymie darüber hinaus die M. «grada- FABRICIUS zwei Varianten der M. zu. Erhellend sind seine
tionis», die darin besteht, daß «schrittweise von einer Beispiele, in denen die Notwendigkeit der kognitiven
Bedeutung zu einer anderen übergegangen wird». In die- interpretativen Anreicherung des tatsächlichen Aus-
ser Lesart sei die M. «nicht Subtyp irgendeines primären drucks deutlich wird: Für ihn liegt eine M. vor, wenn man
Tropus, sondern vielmehr ein Akzidens der Tropen» etwa statt «memento mori» (gedenke des Todes) sagt
(non tarn tropi alicujus primarij species est, quàm tropo- «meditare funus tuum» (bedenke deine Beerdigung)
rum accidens), die sowohl bei der Metapher als auch bei oder an die Stelle der ergebnisorientierten Formulierung
der Metonymie in Erscheinung treten könne. Im Vergil- «wann das frauenzimmer courtesirt, verliert es seine
Zitat «saepe etiam effossis, si vera est fama, latebris / sub renommee» die Beschreibung der Voraussetzungen für
terra fovere larem» (sind ihre Schlupfwinkel aufgegra- eine solche Aussage setzt und etwa sagt: «Wo ein frauen-
ben, so pflegen sie, falls die Überlieferung zutrifft, oft zimmer sich gewöhnt in den fenstern zu liegen, und nach
noch den Hausgott unter der Erde) [53] sind für Vossius denen iungen herren zu sehen, von ihnen visiten anzu-
beide Möglichkeiten zu finden: Als Bezeichnung des nehmen, mit verliebten blicken zu spielen, sich
Hausgottes stehe hier lar, metonymisch für das Haus beschencken zu lassen, da ist es von hertzen gefehlt.» [60]
(idomicilium) selbst, welches wiederum metaphorisch die In derselben Weise wird die M. auch bei HALLBAUER zur
Bienenhöhle bezeichne. Deutlich auf die M. bezogen ist Metonymie gerechnet. Als Beispiele für die Variante
das Beispiel: «tum silvis scaena coruscis / desuper, hor- «antecedens pro conséquente» führt er an: «er hat aus
rentique atrum nemus imminet umbra» (dann in den zit- gestohlen, d.i. er ist am Galgen»; die Form «consequens
ternden Wäldern der Schauplatz / von oben herab, für pro antecedente» wird exemplifiziert durch «hôte dich
den Schaudernden, beherrscht der Schatten den lichtlo- fór dem Tabulat, d.i. mache keine Schulden». [61]
sen Hain). [54] Der Hain (nemus), so Vossius, werde hier Am Ende eines langen und verworrenen Überliefe-
lichtlos (ater) anstelle von finster (tenebricosus) genannt, rungsprozesses bleibt es Vico vorbehalten, zumindest in
tenebricosus wiederum stehe für densus (dicht); die die Bestimmung der 'donatischen' M. und in Quintilians
Dichtheit (densitas) sei aber der Grund dafür, daß der kryptische These, wonach die M. zwischen zwei Tropen
Hain schattig (opacus) und dadurch lichtlos (ater) einen Übergang biete, eine gewisse abschließende Klar-
sei. [55] Die M. in diesem Sinne ist also als das rhetorische heit zu bringen. An einem der in der Literatur immer
Nahelegen eines Schlusses von der Bedeutung des ver- wieder angeführten Beispiele kann er nämlich zeigen,
wendeten Wortes über eines oder mehrere vermittelnde, daß die M. ein «plurium troporum nexus» (eine Ver-
im selben Erfahrungsrahmen miteinander verbundene knüpfung mehrerer Tropen) ist, denn bei Vergil werde
Zwischenglieder auf eine tatsächlich gemeinte Bedeu- mittels einer Synekdoche <Ähren> für <Ernte>, dann
tung zu bestimmen. Für Vossius paßt die M. besser zum durch Metonymie <Ernte> für <Sommer> und schließlich
Dichter als zum Redner, aber selbst von diesen werde sie wiederum mittels Synekdoche <Sommer> für <Jahr>
eher selten verwendet, weil sie, wenn sie allzu weit ver- gesetzt. [62] Implizit hebt er später in seiner <Scienza
dichtet oder hergeholt werde, zur Dunkelheit der Rede Nuova> die, so könnte man sagen, evolutionäre Rationa-
beitrage; wenn sie dagegen weder in zu dichter Abfolge lität dieses assoziativen Denkprozesses hervor, wenn er
erscheine noch schwerfällig sei, werde man ihr Lob zol- schreibt, dieses Band der Synekdoche bzw. Metonymie
len, weil sie wegen der Stufenfolge die Empfehlung des wie in «Es war die dritte Ernte» entstehe ohne Zweifel
Scharfsinns (ingenium) habe. [56] Im Sinne der - letztlich durch Naturnotwendigkeit, denn es hätten weit mehr als
von Donatus inspirierten - <M. gradationis> ist der tausend Jahre vergehen müssen, damit bei den Nationen
Begriff von BURMEISTER, annähernd zeitgleich, in seine dieser astronomische Begriff <Jahr> entstanden sei. [63]
musikalische Figurenlehre übernommen worden, in der IV. Von der Aufklärung bis in die Gegenwart. Wie sich
rhetorische Termini auf die Musik übertragen werden. spätestens bei HALLBAUER andeutet, ist die ('donatische')
Hier bezeichnet er eine Gestaltungstechnik der Fuge, «in M. zu Beginn der Aufklärung vollends zur metonymi-
der zwei Motive von hier nach dort in die Harmonie schen Anspielung geworden. Dies zeigt sich schon bei
übernommen und in die Fuge verwandelt werden» (in GOTTSCHED, der den Begriff mit <Zustandswechsel> ver-
quo duae Melodiae in Harmonía hinc inde transsumun- deutscht und zwei Varianten unterscheidet: «1) Das vor-
tur & in fugam vertuntur). [57] hergehende fórs nachfolgende. Z.E. Man sagt: [...] Er ist
Im Gegensatz zu Vossius' Begriffsbestimmung ist die- reich gewesen, fór; er ist verarmet: Er hat wohl studiret,
jenige von KIRCHMANNIUS, wie schon die verwendeten an statt, er ist sehr gelehrt: [...]. 2) Das Nachfolgende fórs
Beispiele nahelegen, eindeutig auf Melanchthon bezo- Vorhergehende: Er hat nicht viel vergessen, an statt, er
gen. Für Kirchmannius liegt eine «Metonymia Effectus» hat nicht viel gelernet: [...] E r wirds nicht lange machen;
vor, «wenn ein im eigentlichen Sinne einen Effekt das heißt, er ist todtkrank.» [64]
bezeichnender Ausdruck an die Stelle der wirkenden Noch deutlicher ist A D E L U N G [65], der den «Zusam-
Ursache gesetzt wird». Indem die M. so als (spezielle) menhang zwischen dem Vorhergehenden und Nachfol-
Metonymie konzipiert ist, wird Melanchthons These von genden, welcher oft als ein eigener Trope aufgestellet,
der Eigenständigkeit der M. als Tropus implizit zurück- und alsdann die Metalepse genannt wird», ausdrücklich
gewiesen: Von anderen Rhetorikern werde es dagegen als Spielart der Metonymie behandelt. An seinen wie an

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Metalepsis Metalepsis

Gottscheds Beispielen, die stets die metonymietypische Fehler bei der Wortselektion, die in der automatischen
Relation der Zusammengehörigkeit im selben Erfah- Übersetzung besonders häufig auftreten, können M. die-
rungsrahmen einschließen, wird erkennbar, daß die M. ser Art zu «chaotische[n] Erscheinungen] der Überset-
hier zuweilen in die Nähe des Euphemismus rückt. zungs-Technik» [77] werden. Einen Sonderfall stellt die
Nach der Aufklärung als rhetorischer Terminus kaum Verwendung eines (appellativen) Synonyms anstelle
noch wahrgenommen, von Grammatiken und (Fremd-) eines nomen proprium dar (etwa wenn ein Herr Krämer
Wörterbüchern allenfalls als Metonymie der Grund- als <Herr Einzelhändler angesprochen wird).
Folge-Relation behandelt [66] oder, zumindest andeu- Als Bezeichnung einer auf der Grund-Folge-Relation
tungsweise, als Prinzip (letztlich auf der Metonymie basierenden einfachen Metonymie hat der Begriff der M.
beruhenden [67]) semantischen Wandels in den Blick durch zu starke Verengung an Brauchbarkeit verloren;
genommen [68], wurde der Begriff der M. erst von der als Bezeichnung kultureller Echos ist er von der moder-
modernen Literaturtheorie wieder aufgegriffen, dabei nen Literaturtheorie überdehnt worden. Im Sinne der -
aber zugleich den eigenen Interessen anverwandelt. bewußten oder unbewußten - Ersetzung eines Wortes
Unter Rekurs auf FONTANIER [69] wird die M. von durch ein kontextuell unpassendes partielles Synonym,
G E N E T T E [70] im Rahmen der strukturalistischen Litera- der Anspielung durch Fern-Metonymie oder eines wich-
turtheorie als erzähltechnischer Kunstgriff bestimmt, tigen Prinzips des semantischen Wandels könnte er sich
durch den die in erster Linie auf der unterschiedlichen dagegen - über die Rhetorik hinaus - für die linguistische
Zeitstruktur beruhende «bewegliche Grenze» (frontière Semantik bzw. Pragmatik durchaus als nützlich erweisen.
mouvante) zwischen der realen und der erzählten Welt
bzw. zwischen verschiedenen Erzählwelten überschrit- Anmerkungen:
ten bzw. verwischt wird. Eine solche <métalepse narra- 1 Ueding/Steinbrink 28f. u. 334. - 2Lausberg El. §218 2) b). -
tive> ist vor allem für den auktorialen Roman typisch, 3 Metzler Lit. Lex., hg. von G. und I. Schweikle (1984) 282;
Metzler Lex. Sprache, hg. von H. Glück (1993) 386. - 4 Arist.
dessen Erzähler sich seinem Leser gegenüber gern kom- Rhet. III, 15,1416a 33. - 5 vgl. Quint. III, 6, 60; Fortun. Rhet. I,
mentierend oder informierend in die fiktionale Hand- 12 sowie Aug. Rhet., in; Rhet. Lat. min. p. 143,11. - 6 Volkmann
lung (<Diegese>) einmischt. Generell besteht sie in der 84f. - 7Hermogenes, D e statibus, in: Rhet. Graec. Sp., Bd. 2,
«intrusion du narrateur ou du narrataire extradiégétique p. 1 4 1 Í . - 8 Auct. ad Her. 1,12,22. - 9 vgl. auch Cie. Inv. II, 19,57.
dans l'univers diégétique (ou de personnages diégétiques - 1 0 Quint. III, 6,46 u. III, 6, 66ff.; vgl. dazu auch Ars Rhetorica
dans un univers métadiégétique, etc.), ou inversement» Clodiani, in: Rhet. Lat. min. p.590,11. - 1 1 Aug. Rhet., in: Rhet.
(Eindringen des Erzählers oder der extradiegetischen Lat. Min. p. 143,12-17. - 12Sulp. Vict. p.338ff. - 13ebd. p.338,
31ff. - 14Volkmann 427. - ISTryphon, Περί τρόπων, in: Rhet.
Erzählung in das diegetische Universum (oder von die- Graec. Sp., Bd.3, p. 195. - 1 6 O d y s s e e XV, 299. - 1 7 Q u i n t . VIII,
getischen Figuren in ein metadiegetisches Universum 6, 37; vgl. dagegen die polysemantische Erläuterung von
usw.) oder umgekehrt). [71] Genettes M.-Begriff kann θ ο ό ς bei W. Pape: Griech.-Dt. Handwtb., Bd.l (1849) 1101. -
auch die wechselseitige Durchdringung verschiedener 18 Anonymus, Περί τρόπων, in: Rhet. Graec. Sp., Bd. 3, p. 209. -
semiotischer Welten bezeichnen (etwa das fiktive Her- 19Ilias VIII, 164; vgl. Eustathius zu II. I, 198 p.79. - 20Quint.
austreten von Personen aus Fotos oder Büchern). Indem VIII, 6,37ff.; VI, 3,52. - 21 Lausberg El. § 173. - 22 Quint. VIII,
er den Begriff auf die Assoziation bzw. den (mehr oder 6, 38. - 23Volkmann (>1872) 365. - 24Quint. VIII, 6, 37. -
25 Volkmann [23] 365. - 26 Donati Ars Grammatica, in: Gramm.
weniger) bewußten Einsatz literarischer und mythologi- Lat., Bd. 4, 353-402, 400. - 27Terenz, Andria 502. - 28 Donatus,
scher Motive sowie eines (mehr oder weniger) kanoni- Commentum Andriae III, 22, in: Commentum Terentii, ed. P.
sierten Schatzes an Zitaten oder Symbolen ausdehnt, hat Wessner (1966) Bd. 1, 33-261, 170; zit. Volkmann [23] 365. -
H O L L A N D E R [72] der M. als Tropus im Rahmen einer eher 29 Fl. Sosipater Charisius V.P.: Instit. Gram. Lib. IV, in: Gramm.
postmodernen Literaturkonzeption eine diachronische Lat., Bd. 1, 1-296, 273; Diomedis Artis Grammaticae Libri III,
Dimension gegeben. Als literarische Anspielung oder in: Gramm. Lat., Bd.l, 297-529, 458. - 30Verg. Aen. I, 60. -
kulturelles Echo ist die M. damit zugleich die vor allem 31 Vergil, Eclog. I, 69. - 32 Pompeii Commentum Artis Donati,
in: Gramm. Lat., Bd.5, 81-312, 306. - 33ebd. - 34Marii Plotii
lexikalisch-semantische bzw. syntaktische Form ästheti- Sacerdotis Artium Grammaticarum Libri Tres, in: Gramm. Lat.,
scher Intertextualität; insofern ist die Interpretation sol- Bd. 6,415-546,467. -35Persius, Saturae III, 11. - 3 6 Excerpta ex
cher «diachronic, allusive figures» (diachronischen Iuliani commentario in Donatum, in: Gramm. Lat., Bd.5, 317-
Anspielungsfiguren) [73] derjenigen von Bildcollagen in 328,324. -37Isid. Etym. 1 , 3 7 , 7 - 9 . - 3 8 Beda, De schematibus et
der modernen Kunst analog. Obwohl sich Hollander auf tropis, in: Rhet. Lat. min. p. 612, 25. - 39 Venerabiiis Inceptoris
Quintilian beruft [74], steht seine Konzeption historisch Guillelmi de Ockham Summa Logicae (St. Bonaventure, N.Y.
der 'donatischen' am nächsten und rückt die M. in eine 1974) III, 3, 92. - 40Des. Erasmi Roterodami De duplici Copia
uerborum ac rerum Commentarij duo (Basel 1520) 15f. - 4 1 Des.
bedenkliche Nähe zum Topos. Erasmi Roterodami De duplici copia verborum ac Rerum Com-
Angesichts der beschriebenen Vielzahl und Vielfalt mentarij (Köln 1542) 88f. - 4 2 A . Minturno, De poeta (Venedig
der Begriffsbestimmungen ist die Beobachtung überra- 1559; N D München 1970) VI, p. 461. - 4 3 De Elementis Rhetori-
schend, daß von den drei die Geschichte des Begriffs der ces, in: Operum Philippi Melanchthonis Tomi Quinqué (Basel
M. als Tropus weitgehend beherrschenden Definitionen 1541) Tom. V, 239-287, 265. - 441. Susenbrotus, Epitome Tro-
in neueren Rhetorik-Handbüchern ernsthaft nur die 'try- porum ac Schematum et Grammaticorum & Rhetorum (Zürich
phonisch-quintilianische' in die Gegenwart eingeholt 1541) l l f . - 4 5 B . Cavalcanti: La Retorica (Venedig 1560) 262. -
wird, während die begriffsgeschichtlich viel bedeutsa- 46 C. Soarez: De Arte Rhetorica libri tres (Köln 1590) lOOf. -
mere M. der Grund-Folge-Metonymie allenfalls beiläu- 47 S. Verepaeus, Praeceptiones De Figuris seu De Tropis et
fige Erwähnung findet. So bestimmt Lausberg die M., Schematibus (Köln 1590) 49. -48Peacham, s.v. <M.>. - 4 9 G . Put-
unter Rekurs auf Quintilian, als die «Setzung eines in tenham: The Arte of English Poesie (London 1589), ed. G.D.
Willcock, A. Walker (Cambridge 1936) 183. - 50G.J. Vossius,
dem betreffenden Kontext ungeeigneten Synonyms»; in
Elementa Rhetorica, Oratoriis ejusdem Partitionibus accommo-
diesem Sinne ist sie mit der Metonymie lediglich «ver- data (Amsterdam 1646) 22. - 51 Vossius, Pars II, p. 160. - 52ebd.
wandt». [75] Ein solcher Fall liege vor, wenn etwa Goe- p. 161. - 53 Vergil, Geórgica IV, 42f. - 54Verg. Aen. I, 164f. -
thes Fügung «Natur und Geist» [76] durch das nur par- 55 vgl. Vossius, Pars II, 164f. - 5 6 vgl. ebd. 165 - 57J. Burmeister:
tielle Synonyma enthaltende <Landschaft und Gespenst> Musica Poetica (Rostock 1606; N D Basel 1955) 58; vgl. dazu D.
wiedergegeben werde. Als typische, semantisch bedingte Β artel: Hb. der musikalischen Figurenlehre (1985) 24 und 206ff.

1097 1098
Metapher Metapher

- 58J. Kirchmannius, Rudimenta Rhetoricae (Braunschweig Analogie oder Ähnlichkeit gründenden Sprachformen
1646) 46. - 59E. Uhse: Wohl-informirter Redner, ... (Leipzig und den entsprechenden Text- und Denkformen wird
5
1712; N D 1974) 24; ähnlich in Frankreich auch C.C. DuMarsais: nicht erörtert. Dennoch bleiben in der antiken Rhetorik
Traitédes tropes (1757), hg. ν. F. Douay-Soublin (Paris 1988)
110-114. - 60 Fabricius 186f. - 61 Hallbauer Orat. 472. - 62 G.B.
diese Text- und Denkformen des Ähnlichen nicht ausge-
Vico: Institutiones Oratoriae, in: Opere, ed. F. Nicolini, Bd. 8 blendet, da sie nicht nur im Zusammenhang der inventio
(Bari 1941) §42. - 63ders.: Principj di Scienza Nuova (Neapel bzw. Argumentationslehre, sondern gerade auch inner-
1744; N D Florenz 1994) 158. - 64 Gottsched Redek. 249; vgl. halb der elocutio bzw. Stillehre berücksichtigt werden.
auch ders.: Handlex. der schönen Wiss. und freyen Künste Schon der A U C T O R AD H E R E N N I U M unterscheidet nämlich
(Leipzig 1760; N D Hildesheim 1970) 1089 sowie Zedier, Bd.20, auf Ähnlichkeit gründende rhetorische Figuren wie den
1215. - 65J.Chr. Adelung: Ueber den Deutschen Styl. Erster auf Analogie basierenden Vergleich oder das sich auf
Theil (Berlin 1785) 396f. - 66vgl. z.B. H. Bauer: Vollständige
Gramm, der nhd. Sprache, Bd. 5 (1833) 279; J. Kehrein:
historische Einzelfälle stützende Exemplum. Und seit
Fremdwtb. (1876). - 67 A. Burkhardt: Zwischen Poesie und D O N A T U S , der diese Denkfiguren im Tropus der
Ökonomie. Die Metonymie als semantisches Prinzip, in: Z G L όμοίωσις (homoiösis) zusammenfaßt, sind sie bis ins 18.
24 (1996) 175-194. - 68 Morier 667f. - 6 9 P . Fontanier: Les Figu- Jh. integraler Bestandteil der Stil- und Tropenlehre, wie
res du discours (Paris 1968) 127-129. - 70 G. Genette: Figures III sie in Rhetoriken, Poetiken, Grammatiken, Lehrbüchern
(Paris 1972) 243-246. - 71 ebd. 244. - 72 J. Hollander: The Figure usw. tradiert wird. Insofern finden sich selbst in reduktio-
of Echo (Berkeley / Los Angeles / London 1981) 113-149. - nistischen Rhetoriken der Neuzeit, die sich als reine elo-
73ebd. 114. - 74ebd. - 75Lausberg Hb. §571; vgl. auch §568,
Anm. sowie Lausberg El. §§ 175 und 218. - 76Faust II 1,4897. -
cutio bzw. Stillehre verstehen, Teile und Spuren der alten
77Lausberg El. §173. Argumentationslehre. Da sich gerade in den Erörter-
ungen dieser auf Ähnlichkeit gründenden Text- und
Argumentationsformen wichtige Zusammenhänge und
Literaturhinweise:
Ernesti Graec. 212ff. - Lausberg Hb. §131, 568.3, 571. - L.A.
Unterschiede aufzeigen lassen, müssen diese so weit wie
Sonnino: A Handbook to Sixteenth-Century Rhetoric (London nötig und möglich behandelt werden.
1968) 186f. Wesentliches Ergebnis der Erörterung der griechi-
Α. Burkhardt schen und lateinischen Rhetorik ist einmal, daß die M.
durchgängig als Übertragung und nicht - wie ein heute
—> Homonymie -> Metonymie —> Statuslehre Synekdoche —> noch weit verbreitetes Vorurteil unterstellt - als Substi-
Synonymie -» Tropus tution verstanden wurde, zum andern, daß die antike
Rhetorik den spezifischen semiotischen Status der M. -
d.h. die ihr eigentümliche Form des Anders-Sagens - im
Metapher (griech. μεταφορά, metaphorá; lat. meta- Vergleich zur Allegorie, Ironie oder sogar zu den Nach-
phora, translatio; engl, metaphor; frz. métaphore; ital. barschaftstropen Metonymie oder Synekdoche nicht
metafora) begrifflich bestimmen konnte. Dies gilt besonders auch
A. Definitorisch-systematische Zuordnung. - B.I. Griech. und für das Mittelalter, das 'Zeitalter der (Bibel-)Allego-
lat. Antike. - II. Mittelalter. - 1. Bibelexegese. - 2. Dichtungs- rese', das den spirituellen Sinn der Bibel, der Dinge und
lehre. - III. Renaissance, Barock, Aufklärung. - IV. Spätes 19. der Welt zu dechiffrieren sucht. Im Zentrum der Suche
und 20. Jh. - 1 . M. in der Sprache. - 2. Kognitive Basis der M. - 3. steht deshalb die Allegorie und nicht die M. Dennoch
Konstitution der M. kommen in den großen Neuen Poetiken von G A L F R I D VON
A. Schon in der Antike galt die M. als «der häufigste V I N S A U F , v o n G E R V A S I U S VON MELKLEY u n d v o n J O H A N -
und bei weitem schönste Tropus». [1] Im 20. Jh., insbe- NES VON G A R L A N D I A neue Aspekte, ja sogar Zusammen-
sondere in den letzten 30 Jahren, sollte sie zum in allen hänge zwischen den einzelnen Tropen in den Blick. So
Geistes- und Sozialwissenschaften nahezu ausschließlich sieht etwa schon Galfrid den metaphorischen Charakter
diskutierten Tropus werden. Indem sie sich fast nur auf der individuellen Antonomasie, und Gervasius entwirft
ARISTOTELES bezieht, unterscheidet sich die moderne eine systematische Wort-, Tropen- und Figurenlehre,
Forschung wesentlich von der Tradition, in der die Dis- deren Grundlage die Kategorien Identität, Ähnlichkeit
kussion der M. durch die in der lateinischen Rhetorik und Kontrarietät sind, eine Lehre, die in ihrer Ausarbei-
entwickelte Figuren- und Tropenlehre bestimmt wird. tung bedeutend differenzierter als die für die große
Da sich damit die Bedeutung der M. erst aus ihrer Stel- Mehrheit der modernen Ansätze typische Reduktion der
lung innerhalb der Tropen (und der Denkfiguren) ergibt, Tropen auf die M. und Metonymie ist. Deshalb über-
muß die Geschichte der Theorien zur M. notwendig die rascht es nicht, daß auch die Moderne das semiotische
jeweils vorgenommenen Abgrenzungen zu den übrigen Problem der Sinnkonstitution durch die M. nicht klären
Tropen - insbesondere zu den Ähnlichkeitstropen wie kann - obwohl in der Renaissance und besonders in
die Allegorie, die Antonomasie oder das Ikon - berück- der Philosophischen Grammatik wichtige Grundsteine
sichtigen. Die lateinische Figuren- und Tropenlehre bil- gesetzt werden.
det freilich nur den Klassifikationsrahmen, innerhalb Die vielfältigen Strömungen der Renaissance, die etwa
dessen neue Aspekte der M. gesehen und begrifflich beim 'rhetorischen' Dialektiker A G R I C O L A zur Einsicht in
gefaßt werden. Diese neuen Sicht weisen werden jedoch das inferentielle Analogiepotential der M. führte, sollen
in der Regel durch einen mehr oder weniger expliziten dadurch überschaubar bleiben, daß hier neben einem
Bezug auf Aristoteles erst möglich gemacht. In diesem minimalistischen und maximalistischen Traditionsstrang
Rückbezug geht es nicht nur um sprachliche und stilisti- eine traditionalistische Strömung unterschieden wird, die
sche Merkmale der M., sondern um ihre logischen, philo- sich auch letztlich durchsetzen konnte. Die minimalisti-
sophischen und kognitiven Dimensionen. Diese werden sche Richtung, die R A M U S in seiner Reduktion der Tro-
zwar bei Aristoteles angesprochen, nicht aber systema- pen auf die M., die Metonymie, die Synekdoche und die
tisch erörtert. So ist auffallend, daß er die M. und das Ironie verfolgt, beeinflußt - vermittelt über G. Vicos
Argument aus der Analogie unterscheidet, ohne jedoch spekulativen Entwurf der metaphorisch-tropischen Ur-
systematisch auf ihre Gemeinsamkeiten und Unter- sprache - bis in die Moderne anthropologische Theorien
schiede zu reflektieren. Der Zusammenhang von auf zur Phylogenese, aber auch zur Ontogenese des Denkens

1099 1100
Metapher Metapher

und der Sprache. Die maximalistische Richtung, vor Beauzée und Fontanier hinauskommt, soll in einem
allem durch SCALIGER und PUTTENHAM repräsentiert, will ersten Durchgang durch die Moderne dargestellt wer-
nicht nur eine möglichst vollständige Liste der Tropen den, wie die historische, die strukturalistische und die
und Figuren aufstellen, sondern beansprucht auch, kognitivistische Sprachwissenschaft das Problem der M.
besonders bei SCALIGER, diesen vielfältigen Stoff in ein diskutiert. Ein überraschendes Ergebnis ist vielleicht,
neues Ordnungssystem bringen zu können. Beide unter- daß LAKOFF sich nicht wesentlich von der historischen
scheiden sich aber wesentlich dadurch, daß bei Putten- Sprachwissenschaft eines DARMESTETER unterscheidet.
ham noch die argumentative Funktion von den auf Ähn- Ein wesentliches Ergebnis dieser Erörterungen ist frei-
lichkeit und Analogie gründenden Textformen bewußt lich der Nachweis, daß der Strukturalismus (gleichgültig
bleibt, während Scaliger diese, einschließlich der Tropen, ob in der reduktionistischen Variante von JAKOBSON ein-
ent-logisiert. Darin sollten ihm Poetiken der Aufklärung schließlich ihrer Anwendung bei L A C A N , der rhetori-
wie etwa die GOTTSCHEDS folgen. Fortan sind Gleichnis, schen der <groupe μ> oder der merkmalsemantischen von
Fabel, Exempel oder Parabel keine argumentativen, son- RASTIER) auf Grund seines Sprachimmanentismus vor

dern nur noch literarische Texte. Innerhalb der traditio- dem Phänomen der M. scheitern muß. Deshalb zeigt die-
nalistischen Strömung kann man eine mehr aristotelische ser Durchgang auch, daß zwei zentrale Fragen, nämlich
und eine mehr quintilianische Richtung unterscheiden. das Problem der Analogie und das Problem der Konsti-
Erstere, die in Italien und Spanien in den Manierismus tution der M. in Äußerungen, ungelöst geblieben sind.
und die Argutiabewegung mündet und in Deutschland Das erste Problem wird im zweiten Durchgang durch
vor allem von HARSDÖRFFER vertreten wird, holt ihr die Moderne unter dem Titel <Die kognitive Basis der
Credo, daß der Dichter durch seine scharfsinnigen Ver- M.: Ähnlichkeit, Analogie, Projektionen und Interaktio-
gleiche und Metaphern ungewöhnliche und überra- nen» behandelt. Untersucht werden dabei sowohl
schende Zusammenhänge aufzeigen muß, mehr oder die literarisch-philosophische Interaktionstheorie von
weniger direkt von Aristoteles' entsprechenden Ausfüh- R I C H A R D S , die verstehenspsychologische von STÄHLIN
rungen in der <Rhetorik>. Der Bezug auf Quintilian oder die konnotative und modelltheoretische von B L A C K ,
kennzeichnet hingegen protestantische und jesuitische als auch die mehr naturwissenschaftlich orientierten
Rhetoriken, aber auch die im Kontext der Logik und All- Ansätze bei H E S S E oder G E N T N E R . Am Beispiel von K I T -
gemeinen Grammatik von PORT-ROYAL entstandene ΤΑΥ soll schließlich exemplarisch gezeigt werden, daß das
Rhetorik von LAMY über D U M A R S A I S und B E A U Z É E bis von der Interaktionstheorie, aber auch der strukturalisti-
FONTANIER. Wesentliches und meist übersehenes Kenn- schen und kognitivistischen Sprachwissenschaft nicht
zeichen dieser Konzeption ist, daß mit Tropen und damit gelöste Problem des Verhältnisses von Sprache, Denken,
auch Metaphern keine Gefühle, Affekte oder Passionen Wirklichkeit, d.h. von sprachlicher Bedeutung, begriffli-
ausgedrückt werden - wie fast alle anderen Denkrichtun- cher Aneignung der Wirklichkeit und Strukturen der
gen unterstellen - , sondern kognitive Tätigkeiten vollzo- Wirklichkeit zu Aporien bei der konkreten Analyse von
gen werden: Tropen dienen dazu, die Begleitvorstellun- M. führen muß.
gen, die wir von den Dingen haben, auszudrücken und Das zweite Problem wird im dritten und letzten
mitteilbar zu machen. Diese kognitionsphilosophische Durchgang durch die Moderne diskutiert. Wie der pro-
Bestimmung erklärt, daß die Tropen wie andere Sprach- grammatische Titel dieses Teils <Die Konstitution der
formen in der Philosophischen Grammatik> abgehan- Metapher: Äußerungen, Texte, Argumentationen» an-
delt werden. Das Resultat dieser systematischen Erörte- zeigt, geht es nicht nur um die Konstitutionsbedingungen
rung der Tropen ist nicht nur die völlige Neubestimmung der M. (M. sind Wörter in Äußerungen, die nur in Texten
der Worttropen (M., Metonymie, Synekdoche und Anto- erkannt werden können) und um die Klärung der spezifi-
nomasie) bei Fontanier, sondern auch die fundamentale schen semiotischen Form der Sinnanzeige durch die M.
Unterscheidung in habitualisierte, in einer Sprache lexi- im Vergleich mit den übrigen Tropen, sondern auch um
kalisierte Tropen und M. einerseits und in neue tropische die notwendige (Wieder-)Integrierung von Texten und
Verwendungen der Sprache andererseits. Eine unmittel- Argumentation in das Problemfeld der M. Die wenigen
bare Konsequenz dieser Unterscheidung ist, daß die seriösen textlinguistischen Ansätze (z.B. WEINRICH,
KALLMEYER) können deshalb nicht überzeugen, weil sie
Katachrese nicht mehr als Trope begriffen wird, sondern
als ein zur Sprache gehörendes Wort, dem sprachge- den von der Interaktionstheorie, aber auch den von der
schichtlich gesehen ein tropischer Prozeß zugrunde liegt. traditionellen Rhetorik, insbesondere von Fontanier,
Zur gleichen Zeit wird freilich noch von R O U S S E A U die und Dialektik entwickelten Grad der Systematisierung
metaphorische Sprache als Ursprache der Gefühle und Differenzierung nicht erreichen. Äuch die <Neue
begriffen, eine Vorstellung, die im benachbarten Rhetorik» von PERELMAN/OLBRECHTS-TYTECA, die als
erste die M. systematisch im Kontext der auf Analogie
Deutschland durch H E R D E R zur Idee des Geistes einer
gründenden Ärgumentationsformen untersuchen, kann
Nation, der sich in M. ausdrückt, hypostasiert wird.
trotz einer Fülle von faszinierenden Einzelbeobachtun-
Selbst für H E G E L sind im Gegensatz zu K A N T Metaphern gen nicht überzeugen, weil Sprache - wie schon bei Ari-
und Vergleichungen noch im Dienste der Empfindungen stoteles - als immer schon vorgegebenes, sinnkonstituie-
stehende Ausdrucksformen. rendes System ausgeblendet ist. Deshalb bleibt als nicht
Die Unterscheidungen Fontaniers werden - leider nur unbedingt negatives Ergebnis, daß die Moderne den von
zum Teil - von der historischen Sprachwissenschaft über- der traditionellen Rhetorik hinterlassenen Forschungs-
nommen und führen etwa bei H . P A U L zur Differenzie- auftrag noch erfüllen muß, nämlich zu untersuchen, in
rung in usuelle und okkasionelle Bedeutung, aber auch zu wie vielfältiger Weise die M. mit anderen Formen des
einer Fülle von sprachgeschichtlichen Untersuchungen, Ähnlichen in Texten verknüpft ist, aber auch welche
die detailliert nachweisen, welche metaphorischen oder inferentiellen Prozesse beim Verstehen von Metaphern
tropischen Prozesse zur für jede Sprache typischen Poly- in bestimmten Texttypen vorausgesetzt werden müssen
semie geführt haben. Um zu zeigen, daß die moderne und wie diese mit den expliziten Text- und Argumenta-
Sprachwissenschaft nicht über den systematischen tionsformen des analogischen Schließens, also etwa den a
Erkenntnisstand der <Allgemeinen Tropologie> von

1101 1102
Metapher Metapher

fortiori- und den ad absurdum-Argumenten, verzahnt steht still» (Stillstehen (G) wird hier auf die Art und
und verdichtet werden. Sache «Vor-Anker-Liegen» übertragen). Umgekehrt
wird in «Odysseus hat tausende edler Taten vollbracht»
Anmerkungen: das Wort für die Art (tausende) zur Benennung der Gat-
1 Quint. VIII, 6, 4, Übers. Verf. tung <viele> verwendet und in «Abschöpfend ihm mit
Β. I. Griechische und lateinische Antike. Die erste syste- dem Schwert die Seele/das Leben» wird eine Art des
matische Erörterung der M. findet sich in der <Poetik> Wegnehmens (G), nämlich Abschneiden (A x ) durch
und in der <Rhetorik> von ARISTOTELES. Sie wird - oft nur Abschöpfen benannt. [9] Im Gegensatz zu diesen drei
indirekt - Bezugs- und Angelpunkt späterer Auseinan- Formen der Übertragung gründen sich M. gemäß der
dersetzungen mit der M. bleiben. In der Poetik definiert Analogie auf in bestimmten Hinsichten ähnliche Dinge.
er die M. als «das Übertragen (έπιφορά, epiphorá) eines Sagt man nämlich «Das Alter ist der Abend des Lebens»,
anderen Wortes, entweder von der Gattung zur Art oder so vergleicht man implizit den Bereich <Tag> mit dem
von der Art zur Gattung oder von der Art zur Art oder Bereich <Leben>. Aristoteles präzisiert sogar die Art des
gemäß der Analogie». [1] Diese Idee der Übertragung Vergleichs, indem er als zugrundeliegende Analogie «So
findet sich sinngemäß in allen späteren rhetorischen wie der Tag zum Abend, so das Leben zum Alter» setzt.
Abhandlungen. Die Formulierung «Übertragung eines Von hier aus ergibt sich seine Definition der Bestim-
anderen Wortes» ist hier ganz entsprechend der Aristote- mung der M. gemäß der Analogie; sie kann nämlich
lischen Sprachauffassung begriffsrealistisch zu verstehen: gebildet werden, wenn das Zweite zum Ersten sich ähn-
Die Metapher ist die Übertragung eines Wortes, das 'von lich (ομοίως, homoiös) verhält wie das Vierte zum Drit-
Haus aus' eine andere Sache bezeichnet. Genau das sagt ten; dann kann man nämlich statt des Zweiten das Vierte
auch die <Rhetorik an Herennius>: «Translatio est, cum und statt des Vierten das Zweite sagen. [10] Auffallend
verbum in quandam rem transferetur ex alia re» (Eine ist nun, daß bei der Erörterung der Funktionen der M.
Übertragung (= M.) liegt vor, wenn ein Wort von einer und der Einzelbeispiele die begriffslogische Bestim-
anderen Sache auf eine bestimmte Sache übertragen mung keine Rolle spielt: Die beiden ersten Formen -
wird). [2] Die moderne Idee einer Substitution oder Erset- von der Gattung zur Art und umgekehrt - werden in der
zung eines eigentlichen Wortes durch ein uneigentliches <Rhetorik> zwar erwähnt, aber nicht erörtert; im Zen-
ist somit der traditionellen Rhetorik völlig fremd. Eine trum steht die M. gemäß der Analogie, von der aus auch
interpretierende Übersetzung wie etwa «Eine Metapher die M. von der Art zur Art gedacht wird. Dieses äußere
ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentli- Indiz erklärt natürlich noch nicht, warum in der späteren
cher Bedeutung verwendet wird)» [3] verdeckt diesen Rhetoriktradition die beiden ersten Formen der Über-
Zusammenhang. Deshalb sind gerade in der Moderne tragung nicht mehr als M., sondern meistens als Metony-
vertretene Auffassungen, die antike Rhetorik habe eine mien bzw. Synekdochen bestimmt wurden. Der innere
«Substitutionstheorie» - der zufolge «bei der Metapher Grund für diese Entwicklung ist freilich darin zu suchen,
das eigentliche Wort durch ein fremdes ersetzt (substitu- daß die Übertragung von der Art auf die Art und die
iert)» wird - vertreten, die im wesentlichen «auf Aristote- gemäß der Analogie zwei wesentliche Eigenschaften tei-
les zurückgehe» [4], irrig. Ebenso falsch ist die besonders len: sie können nur gebildet werden, wenn Dinge in
seit RICHARDS im angelsächsischen Raum vertretene andersartigen bzw. heterogenen Erfahrungsbereichen
Auffassung, Aristoteles habe die M. bloß als «ein Mittel als ähnlich, d.h. in bestimmten Hinsichten identisch
der poetischen Redeweise» [5] bestimmt. Das Gegenteil bestimmbar sind. Aufgrund dieser Heterogenität darf
ist der Fall: Für Aristoteles ist die M. kein abweichender die M. gemäß der Analogie nicht im Sinne der mathema-
oder ungewöhnlicher Sprachgebrauch: «Alle Leute tischen Proportion (a:b « c:d) verstanden werden. [11]
unterhalten sich nämlich, indem sie metaphorische, Das mögen neben der schon erwähnten M. zwei weitere
gemeinübliche und wörtliche Ausdrücke verwenden». [6] Beispiele verdeutlichen:
Und nicht erst die Moderne hat erkannt, daß die M. nicht R (Tag, Abend) » Q (Leben, Alter)
nur dem Schmuck der Rede dient. Seit Aristoteles wird R (Haken, Kleidungsstück) « Q (Anker, Schiff) (1412a 15)
formelhaft wiederholt, daß die M. gerade auch dann not- a b c d
wendig ist, wenn in der Umgangssprache für eine
bestimmte Sache kein Wort vorhanden ist. [7] Richtig ist Beide Analogien erfüllen die genannten Kriterien, da die
hingegen die Auffassung, Aristoteles habe eine «Ver- Relationen R und Q jeweils andersartigen Wirklichkeits-
gleichstheorie» [8] vertreten, sofern man diese auf die bereichen zugehören. Das zweite Kriterium, die Ähn-
beiden letzten der von ihm unterschiedenen Formen der lichkeit oder das In-bestimmten-Hinsichten-Identische,
M. beschränkt. Doch: Was ist unter dieser Vergleichs- ergibt sich bei Abend und Alter daraus, daß beide
theorie zu verstehen? Zunächst muß festgehalten wer- Endphasen des jeweils zuerst Genannten sind; das Iden-
den, daß Aristoteles die drei ersten Formen der M. nicht tische in der zweiten Analogie ist: «Das erste dient
vergleichstheoretisch, sondern begriffslogisch bestimmt, jeweils zur Befestigung des Zweiten», ihr wesentlicher
insofern in ihnen die drei möglichen Übertragungen Unterschied besteht, wie Aristoteles selbst betont, im
innerhalb einer Begriffspyramide reflektiert werden: «von unten» und «von oben». Offenbar lassen sich auch
M. von der Art auf die Art nach diesem Analogieschema
verstehen. Das sei an der Stoppelmetapher verdeutlicht:
«Wenn der Dichter das Alter Stoppel nennt, dann belehrt
G er uns und bewirkt mittels der Gattung eine Erkenntnis -
beide sind nämlich Abgeblühtes». [12]

An An+l R (Stoppel, Halm) Q (Alter, Mannesalter)


In gleicher Weise läßt sich die bekannte M. «Achill, der
Ein Beispiel für die Übertragung eines Wortes, das eine Löwe, stürzte sich auf ihn» [13] als eine M. aus der Analo-
G(attung) bezeichnet, auf die A(rt) ist: «Mein Schiff gie begreifen:

1103 1104
Metapher Metapher

R (Löwe, Tiere) Q (Achill, Menschen) chen Stellen, in denen Aristoteles betont, daß sich Ver-
Das In-bestimmten-Hinsichten-Identische ist mutig·, des- gleich und M. nur hinsichtlich «der Form der Darstel-
halb konnte, so Aristoteles, «der Dichter den Achill, lung» unterscheiden; der Vergleich ist «weniger ange-
indem er übertrug, einen Löwen nennen». [14] M. aus der nehm», weil er «weitläufiger formuliert ist», und er
Art auf die Art und M. gemäß der Analogie reflektieren «bringt nicht zum Ausdruck, daß dieses jenes ist». [20]
somit unterschiedliche Aspekte des gleichen Vorgangs: Die Tatsache, daß sich ähnliche Aussagen bei C I C E R O
oder Q U I N T I L I A N finden, hat bis heute das Vorurteil
Die erste Bestimmung berücksichtigt die Tatsache, daß
erhalten, die traditionelle Rhetorik habe ausgehend von
die verglichenen Begriffe und Sachen immer gleichran-
Aristoteles eine «Vergleichstheorie» vertreten, der zu-
gig sein müssen, die zweite Bestimmung hebt sowohl her- folge «die Metapher ein um die Partikel «wie» verkürzter
vor, daß analoge Dinge in heterogenen Bereichen vergli- Vergleich» [21] sei. Nun zeigen schon die zitierten Bei-
chen werden können, als auch, daß analoge Ähnlichkeit spiele, daß eikon nicht als einfacher grammatischer Ver-
immer nur relational und zwar als Identität von Rela- gleich, sondern vielmehr als Vergleich von heterogenen
tionen in bestimmten Hinsichten begriffen werden Dingen zu verstehen ist. Daß es Aristoteles zudem nicht
kann. [15] Warum aber spricht Aristoteles in Fällen wie um die Partikel <wie> geht, zeigt schon der erwähnte
«Abschöpfen mit dem Schwert das Leben» oder etwa der hypothetische Vergleich, aber auch Vergleiche wie das
Stoppelmetapher, aber auch bei Sprichwörtern oder Volk ist «ähnlich einem Schiffsführer, der zwar stark,
Redewendungen von einer Übertragung von der Art auf aber ziemlich taub ist». [22] Deshalb betont er, daß ein
die Art? «Wenn jemand z.B. in Erwartung eines Vorteils Vergleich nur dann gut ist, «wenn eine Übertragung
etwas an sich nimmt, später aber dadurch einen Schaden (metaphorá) stattfindet». [23] «Gut angesehene Verglei-
erleidet, dann sagt man: „Wie der Karpathier mit dem che sind auf eine gewisse Weise Metaphern; denn sie
Hasen": beide haben nämlich den schon erwähnten werden immer aus zwei Dingen so wie die Metapher aus
Schaden erlitten" [16] - wie bekanntlich auch in der Neu- der Analogie gesagt; wir sagen z.B. "der Schild ist die
zeit die Australier mit der Einführung des Kaninchens. Trinkschale des Ares" [...]; wenn wir aber den Schild
Die Antwort scheint wohl darin zu liegen, daß es in all "Trinkschale" nennen, dann ist das einfach». [24]
diesen Fällen primär nicht um die analogen Dinge, son-
dern um die analoge Relation geht. Am Beispiel der Zu (b): Von hier aus läßt sich verstehen, daß Aristote-
ersten M. erläutert: les unmittelbar vor dem Achillesbeispiel sagt: «Das eikön
ist auch eine M.» [25] Berücksichtigt man, daß Aristote-
les oft den gleichen Ausdruck als Art- und Gattungsbe-
Abschöpfen (Eimer, Wasser) = Abschneiden (Schwert, Seele) griff verwendet [26], so kann M. hier allgemein als Gat-
1 I tungsbegriff im Sinne von Übertragung verstanden wer-
den. Bezeichnet man den Bereich, aus dem der Vergleich
Wegnehmen
oder die M. entnommen ist, als Vergleichsbereich, so läßt
sich diese Stelle eindeutig bestimmen im Sinne von: die
Hier wird deutlich, daß mit jeder Art-zur-Art- und Ana- eikön ist auch eine Übertragung aus einem andersartigen
logiemetapher eine indirekte Induktion und Begriffsbil- Vergleichsbereich. Deshalb ist eikön oft im Sinne von
dung vorgenommen wird. [17] Um die M. «Abschöpfend <Gleichnis> bestimmt und übersetzt worden. Da <Gleich-
mit dem Schwerte ihm die Seele/das Leben» zu verste- nis> im Deutschen zu stark die biblische oder moralische
hen, muß man nicht nur nachvollziehen, daß der Vor- Allegorie konnotiert, wird im folgenden für das hier
gang des Abschneidens mit dem Wort einer anderen Gemeinte die Bezeichnung Analogievergleich verwen-
gleichrangigen Art bezeichnet wird, sondern auch, daß det. Bezeichnet man nun den Bereich, in den übertragen
beide Arten des Wegnehmens sind. Und um etwa das wird, als thematischen Bereich, so gilt offenbar, daß in
metaphorische Rätsel «Ein Richter und ein Altar sind einer M. wie «Achill ist ein Löwe» jeweils eine Sache aus
dasselbe» zu verstehen, muß man das ihnen Gemeinsame dem Vergleichsbereich (Löwe) und eine aus dem thema-
tischen Bereich (Achill) genannt sind. Dies ist eine M. in
- nämlich: «zu beiden nimmt man Zuflucht, wenn man
praesentia. Bei einer absoluten M. wie «Der Löwe stürzte
Unrecht erleidet» [18] - wie auch immer diffus begriffen
sich auf ihn» ist dieses Thema nicht explizit genannt, also
haben. Diese Betonung der kognitiven Funktion der M. in absentia. Daraus ergibt sich folgendes Bild der aristo-
steht keinesfalls, wie N I E R A A D annimmt, im Gegensatz zu telischen Metaphernkonzeption:
Stellen in der <Topik>, in denen Aristoteles auf die
Gefahren der mehrdeutigen und metaphorischen Rede
für das logische Schließen hinweist. [19] Mit mehrdeuti- Metaphern
gen und metaphorischen Reden können in der Tat keine
konsistenten Schlüsse vollzogen werden.
Auffallend ist nun nicht nur, daß Aristoteles bei Rät-
seln und Vergleichen wie der erwähnten Karpathierana- Gattung —> Art Art Gattung Art —» Art gemäß der
logie von M. spricht. Selbst ein hypothetischer Vergleich Analogie
wie «Die gefall'ne junge Mannschaft ist aus der Stadt ver- - Sprichwort/Redewendung
schwunden - wie wenn jemand einem Jahr den Frühlinu - Analogievergleich
nähme» stellt für ihn eine M. dar. Dem entspricht eine - Metapher in praesentia
auf den ersten Blick widersprüchliche Bestimmung d o und in absentia
Vergleichs (είκών, eikön) im Hinblick auf die M. Einmal - Metaphorisches Rätsel
nämlich bestimmt er die M. als kürzere Form des Ver
gleichs (a), zum andern hingegen umgekehrt den Ver-
gleich als M. (b). Der in diesem Schema eingerahmte Bereich bildet bis
Zu (a): So ist die oft zitierte Formulierung «Achilles heute das Problemfeld der M. für die gesamte nachari-
stürzte sich wie ein Löwe auf ihn» ein Vergleich (eikön) stotelische Diskussion. Obwohl Aristoteles selbst nicht
und «ein Löwe stürzte sich auf ihn» eine M. Dem entspre- explizit von heterogenen Bereichen spricht - der Aus-

1105 1106
Metapher Metapher

druck stammt von Perelman und Olbrechts-Tyteca, die torische Tradition über. Eine metaphorische Rede ist
ihre Metapherntheorie ganz in die Tradition der aristo- gelungen, wenn sie zu ihrem Gegenstand paßt und wenn
telischen Analogiekonzeption stellen [27] - , ist das damit sie «deutlich (σαφές, saphés), anmutig (ηδύ, hëdy) und
Gemeinte sachlich dadurch umschrieben und präsent, fremdartig (ξενικόν, xenikón)» [38] ist. Passend wird sie,
daß er von «Verwandtem» [28] spricht: «Man muß Meta- wenn man die Analogie beachtet und z.B. prüft, ob ein
phern [...] von Verwandtem und nicht Offensichtlichem «einem jungen Mann passendes Purpurkleid auch für
bilden, wie es ja auch in der Philosophie ein Zeichen einen Greis schicklich ist». [39] Gelungen ist eine Rede
eines scharfsinnigen Verstandes ist, das Ähnliche schließlich, wenn sie «sich auf eine M. aus der Analogie
(ομοιον, hómoion) in weit auseinander liegenden Din- stützt und das Gemeinte vor Augen führt». [40] Dieses
gen zu schauen». [29] In der Tat nimmt schon in der Vor-Augen-Führen wird dadurch erreicht, daß man
<Topik> und später in der <Metaphysik> das Sehen von Unbeseeltes zu Beseeltem macht und, vor allem, daß
Analogem eine zentrale Rolle ein. So ist das Schauen des man die Dinge in actu (ενέργεια, enérgeia) zeigt. [41]
Ähnlichen im Verschiedenen in der <Topik> ein zentra- So übernimmt der À U C T O R A D H E R E N N I U M wörtlich
les Erkenntnisinstrument: «Wie z.B. der Augapfel im das Vor-Augen-Führen (ante oculos ponere), betont die
Auge, so auch die Vernunft in der Seele; so wie die Ruhe Kürze (brevitas) der M., bei ihm und den Lateinern als
im Meer, so auch die Windstille in der Luft; dies muß translatio bezeichnet, wie auch die Möglichkeit, durch
man auch bei Begriffen und Sachen üben, die weit aus- metaphorische Rede obszöne Ausdrücke vermeiden zu
einander liegen» [30]; der Topos aus der Analogie spielt können und führt die Funktion der M. für die amplifica-
nicht nur in der <Topik>, sondern auch in der <Rhetorik> tio und den ornatus an. Auch das Merkmal des Passenden
als Form des Schließens und Argumentierens eine her- und Schicklichen wird erwähnt, es wird freilich nicht an
ausragende Rolle. [31] In der <Metaphysik> wird das die Analogie, sondern allgemein an das Ähnliche gebun-
Aufzeigen von Analogien als Form der Begriffsbestim- den: «Die Übertragung (translatio), sagt man, muß
mung beschrieben: «Was wir unter enérgeia verstehen bescheiden und schicklich (pudens) sein, damit sie mit
wollen, kann durch Epagoge (Induktion), die sich auf gutem Grund auf eine ganz ähnliche (consimile) Sache
Einzelfälle stützt, klargemacht werden; man muß näm- übergehe und nicht der Eindruck entsteht, als sei sie
lich nicht immer eine Definition suchen, man kann auch ohne Überlegung unabsichtlich und gierig auf eine
das Analoge zusammensehen: so wie bauen zu Fähigkeit- unähnliche Sache hinübergesprungen». [42] Auch bei
zu-Bauen, so Wachsein zu Schlafen, so derjenige, der CICERO klingt diese moralische Konnotation an, betont er
sieht zu derjenige, der die Augen geschlossen hat [...]. Der doch, die M. müsse «behutsam und schicklich (verecun-
Unterschied ist, daß das erste dieser Vergleichsglieder dus) sein». [ 4 3 ] Bei Q U I N T I L I A N tritt das Kriterium der
immer enérgeia (In-Tätigkeit) ist, während das zweite Ähnlichkeit in den Hintergrund - M. sollen nicht «zu
dynatón (fähig-zu) ist». [32] Auch in naturwissenschaftli- unähnlich» sein und keine «weitläufige Ähnlichkeit» zei-
chen Abhandlungen ist das Aufzeigen von Analogien gen - und die Wertungskriterien selbst erhalten eine eher
ein legitimes Erkenntnismittel, sofern diese sachlich ästhetisch-stilistische Orientierung: Schlechte M. kön-
zutreffen. So hebt Aristoteles etwa die Analogie von nen Überdruß (taedium) erregen, schmutzig und ekeler-
Lungen und Kiemen bezüglich der Atmungsfunktion regend (sordidus) oder auch deformiert und häßlich
und die von Zunge und Saugrüssel (bei Insekten) bezüg- (deformis) wirken. [44]
lich des Geschmackssinns hervor [33], wendet sich aber Die brevitas, bei Äristoteles noch als Nebenaspekt
etwa gegen die Analogie von EMPEDOKLES, wonach das behandelt, tritt dann bei den Lateinern immer mehr ins
Meer «der Schweiß der Erde» [34] sei. Empedokles' Zentrum. So bestimmt Cicero in <De oratore> die M. als
naturwissenschaftliche Analogien - wie etwa die Erklä- «Kurzform eines zu einem einzigen Wort zusammenge-
rung der Atmung durch den Vorgang des Wasserschöp- zogenen Vergleichs, ein Wort nämlich, das an einer frem-
fens mit der Klepsydra (eine Tonröhre, die am Boden den Stelle steht, so als ob es seine eigene wäre» (Similitu-
mit mehreren kleinen Öffnungen versehen ist, durch die dinis est ad verbum unum contrada brevitas, quod ver-
das Wasser genauso wie die Luft durch die Hautporen bum in alieno loco tamquam in suo positumf...] [45]).
eindringen kann) oder die des Aufbaus des Auges durch Auch hier muß <Vergleich> (similitude) als Analogiever-
die Laterne [35] - setzen zwar auf der Ebene der jeweili- gleich verstanden werden. Gelungen sind diese Übertra-
gen konkreten Analogie heterogene Erfahrungsberei- gungen, wenn sie eine Sache anschaulicher und deutli-
che voraus; dadurch aber, daß diese Analogien in eine cher (clarior) machen. Im <Orator> führt Cicero die
kosmologische Weltdeutung eingefügt sind, in der Anmut sogar als wesentliches Definitionsstück auf: M.
Mikrokosmos und Makrokosmos, Inneres und Äußeres, sind Stilfiguren «die aufgrund einer Ähnlichkeit auf eine
Subjekt und Objekt durch gleiche Prinzipien (Liebe/ andere Sache, entweder um der Rede Anmut zu verlei-
Haß, Gleiches zum Gleichen) 'magisch' regiert werden, hen oder aus Mangel, übertragen werden» (quae per
sind sie Teil eines homogenen Raums, in dem Verschie- similitudinem ad aliam rem, aut suavitatis, aut inopiae
denes als Gleiches wahrgenommen wird: «Dasselbe sind causa, transferuntur[46]). Die beiden angeführten
Haare und Blätter und der Vögel dichte Federn und Gründe für die Bildung der M. - Anmut oder Schmuck
Schuppen». [36] Damit fehlt bei Empedokles nicht nur und Notwendigkeit wegen Ermangelung eines Wortes -
das Bewußtsein der Heterogenität der in Analogien fassen die Überlegungen von Aristoteles formelhaft
oder M. verglichenen Erfahrungsbereiche, sondern zusammen, freilich unter Ausblendung der kognitiven
gerade auch das Bewußtsein der Übertragung. [37] Dies Dimension. Bei TRYPHON gelten diese Gründe nicht nur
ist der fundamentale Unterschied zu Aristoteles, dessen für die M., sondern für alle Tropen. [47] Und mit D O N A T
Metapherdefinition genau dieses Bewußtsein als wird für alle Tropen die Formel «ornatus necessitatisque
wesentlich setzt. causa» (aus Schmuck und Notwendigkeit) für die weitere
Die kognitive und erkenntnistheoretische Fundierung Tradition verbindlich. Und wie schon vor ihm der Auetor
der M. bei Aristoteles geht in den lateinischen Rhetori- ad Herennium bezeichnet Tryphon M. und Tropen, die
ken verloren. Die aristotelischen rhetorisch-stilistischen in Ermangelung eines Wortes gebildet werden müssen,
Bestimmungen gehen hingegen ungebrochen in die rhe- als Katachresen (κατάχρησις, katáchrcsis; abusio). Neu

1107 1108
Metapher Metapher

bei Tryphon und den ihm folgenden Rhetorikern ist die damit die M. als sprachliches Phänomen der Bedeu-
Einteilung der M. in vier Übertragungsarten: Belebtes —• tungsveränderung bestimmt.
Belebtes; Unbelebtes Unbelebtes; Belebtes —> Unbe- Fortan können Tropen und M. nicht mehr begriffsrea-
lebtes; Unbelebtes —» Belebtes. Ein wesentliches Detail listisch als das Verwenden eines Ausdrucks verstanden
ist, daß Tryphon immer von der Übertragungsrichtung werden, der von Haus aus eigentlich eine andere Sache
her definiert (von Belebtem au/Unbelebtes), Quintilian bezeichnet, sondern als Verwendung eines Ausdrucks
hingegen das gleiche Phänomen vom Ergebnis her im uneigentlichen Sinn.
beschreibt (für Unbelebtes Belebtes). [48] Vielleicht Freilich dürfen diese Stellen in keinem Fall wie bei
wurde diese Viererklassifikation, wie Lausberg vermu- Lausberg als Beleg für die These gelesen werden, die
tet, von Aristoteles angeregt [49] - freilich muß man dann Lateiner hätten eine Theorie der Substitution bzw. der
hinzufügen, daß Aristoteles nur die dritte im Zusammen- immutatio vertreten: «Der tropus», so Lausberg, «als
hang des Vor-Augen-Führens und Lebendig-Machens immutatio setzt ein semantisch verwandtes Wort an die
durch enérgeia behandelt und angeraten hat. [50] Stelle eines verbum proprium». [57] Selbst in der von
Wesentlich ist, daß immer mehr rhetorisch-stilistische Lausberg unmittelbar darauf zitierten Quintilian-Stelle
Gütemerkmale und Gründe zur Bestimmung der M. wird nicht gesagt, daß an die Stelle des eigentlichen Wor-
angeführt werden, die tendenziell die kognitiv-erkennt- tes ein anderes gesetzt wird: «Es ist also der Tropus eine
nistheoretische Dimension der M. verdecken. Ein Indiz Rede, die von der natürlichen und hauptsächlichen
für dieses Verdecken und Vergessen ist, daß in den ange- Bedeutung auf eine andere, um die Rede auszuschmük-
führten M.-Definitionen die Analogie verschwunden ist: ken, übertragen wird» (est igitur trópos sermo a naturali
es geht nur noch allgemein um die Ähnlichkeit (simili- et principali significatione translatus ad aliam ornandae
tude>), in der jedoch noch diffus das ganze Bedeutungs- orationis gratia); man mag, trotz des Partizips translatus
feld vom Analogischen bis hin zum Vergleich mit- (von transferre, übertragen) und der lokalen Präpositio-
schwingt. Mit diesem Verdecken und Vergessen geht nen a —» ad (d.h. von einer Stelle auf die andere) hier
zugleich die noch bei Aristoteles gegebene Zentralität noch eine Substitutionstheorie herauslesen. Dies wird
der M. verloren: Sie wird neben andere Sinnfiguren bzw. jedoch durch den folgenden Satz Quintilians ausge-
Tropen (τρόποι, trópoi) gestellt und abgehandelt. So fin- schlossen: «oder, wie die Grammatiker meist definieren,
ein Ausdruck, der von der Stelle, in der er zu Hause ist,
det sich schon beim Auetor ad Herennium die M. neben 9
auf eine andere Stelle übertragen wird, in der er nicht zu
weiteren Tropen (exornationes verborum) [51]:
Hause ist» (vel, aut plerique grammatici finiunt, dictio
nominatio (Onomatopöie/ superlatio (Hyperbel) ab eo loco, in quo propria est, translata in eum, in quo
Lautmalerei) intellectio (Synekdoche) non est). [58] Es wird hier, um das Gemeinte zu verdeut-
pronominatio (Antonomasie) abusio (Katachrese) lichen, proprius mit <zu Hause> übersetzt. Die Lausberg-
denominatio (Metonymie) translatio (Metapher) sche These kann sich deshalb nur auf den Sprachge-
circumitio (Periphrase) permutatio (Allegorie; brauch Quintilians stützen, der in der Tat oft die von ihm
transgressio (Hyperbaton) mit Ironie) zitierten Beispiele - wie die oben genannten Übertra-
gungsarten - mit der Substitutionsformel <A für B> prä-
Die drei letzten Tropen gründen auf Ähnlichkeit (zur sentiert. Gesprochen wird hier deshalb nicht vom Laus-
Antonomasie s.u.). Quintilian übernimmt diese Liste in bergschen Mißverständnis, sondern von der Lausberg-
seinem Kapitel über die Tropen [52], verwendet aber in schen Reduktion. Diese Reduktion der Tropen auf die
der Regel die griechischen Bezeichnungen und fügt die Substitution wird die moderne Diskussion nachhaltig
Metalepse (transsumptio) und das Epitheton (adposi- bestimmen.
tum) hinzu. Die von ihm ebenfalls aufgeführten Tropen
Rätsel (aenigma) und Ironie gehören zur Allegorie. Eine Die Begrifflichkeit der lateinischen Tropenlehre, ins-
Spur der alten Zentralität der M. ist sicher darin zu besondere die der Herennius-Rhetorik, läßt einen noch
sehen, daß Quintilian sie als erste behandelt. [53] Sicher starken Einfluß der stoischen Sprach- und Tropenlehre
findet sich auch noch bei Quintilian die Idee, daß die M. erkennen. Barwick hat plausibel gemacht, daß die Stoi-
ein kürzerer Analogievergleich ist («in totum autem ker drei Übertragungsarten unterschieden haben: simili-
metaphora brevior est similitudo» (insgesamt aber ist tudo, vicinitas, contrarium (Ähnlichkeit, Nachbarschaft,
die M. ein kürzerer [nicht: verkürzter!] Vergleich). [54] Gegensätzliches). [59] M., Katachrese, Metalepse und
Die bei Aristoteles noch gegebene Uneindeutigkeit wird Allegorie können der Ähnlichkeit, Antonomasie, Meto-
von ihm so gelöst, daß er die Übertragung mit Partikel nymie und Synekdoche der Nachbarschaft und die Iro-
(wie Achill) als comparatio (Vergleichung) bezeichnet. nie der Gegensätzlichkeit zugeordnet werden. Dennoch
Doch an anderer Stelle nimmt er der M. ihre differentia hat diese nach sachlogischen Relationen aufgebaute
specifica, da die Ähnlichkeit als Legitimationsinstanz <Dreierlehre> zu keiner lateinischen systematischen Tro-
der Übertragung fehlt: «Übertragen wird also ein penlehre geführt, der diese Übertragungsarten als Ein-
Nomen oder ein Verb von dem Ort, in dem es eigentlich teilungsprinzip zugrunde läge. Dies deshalb, weil es den
verwendet wird, in den Ort, in dem entweder ein eigenes Lateinern gar nicht um sachlogische oder logische Fra-
Wort fehlt oder ein übertragenes besser als das eigentli- gen geht, sondern um das semiotische Problem des
che Wort ist» (transfertur ergo nomen aut verbum ex eo Etwas-anders-Sagen-als-Meinen. Dieses Problem jeder
loco, in quo proprium est, in eum, in quo aut proprium tropischen Rede als solches überhaupt gesehen zu haben
deest aut translatum proprio melius est). [55] Daß diese (ohne es freilich theoretisch lösen zu können), ist sicher
das große Verdienst der lateinischen Rhetorik.
Definition nicht mehr begriffsrealistisch gelesen werden
darf, wird klar, wenn man sie im Hinblick auf die Defini- Um dies zu verdeutlichen, müssen auch auch die ande-
tion des Tropus liest: dieser ist nämlich «die gelungene ren Formen des Übertragens mittels Ähnlichkeit -
Änderung eines Wortes oder eines Ausdrucks von der Katachrese, Allegorie und Rätsel (zur Antonomasie
eigentlichen Bedeutung in eine andere» (verbi vel ser- s.u.) - behandelt werden. Die Katachrese (abusio), beim
monis a propria significatione in aliam cum virtute muta- Auetor ad Herennium noch die ungebräuchliche Ver-
tio [Hervorh. Verf.]). [56] Hier wird der Tropus und wendung von Adjektiven, wird bei Quintilian allgemein

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Metapher Metapher

zur Bezeichnung jeglichen Übertragens im Falle einer Übertragen des Ähnlichen kommt bei ihm erst auf einer
fehlenden Benennung. [60] Die Allegorie (permutado, höheren Ebene in den Blick, nämlich der Argumenta-
inversio) definiert der Auetor ad Herennium als eine tion. Auf dieser Ebene unterscheidet er nicht nur den
Rede, die «durch die Worte anderes als durch den Sinn Schluß aus der Analogie, sondern auch verschiedene
anzeigt» (oratio aliud verbis aliud sententia demon- Formen des argumentativ zu verstehenden παράδειγμα,
strans) [61]; dieses <Anders-Sagen-als-Meinen> wird mit parádeigma, d.h. der rhetorischen έπαγωγή, epagôgé
Hilfe der Kriterien ähnlich und gegensätzlich in zwei (Induktion), nämlich historische Beispiele, Fabeln und
Arten zerlegt: im ersten Fall werden mehrere M. aus Parabeln. [71] Diese logisch-argumentativen Formen
dem gleichen Vergleichsfeld verwendet, im zweiten Fall des Ähnlichen werden deshalb auch bei Cicero in
handelt es sich um das <Gegenteil-des-Gemeinten- den Abhandlungen <De inventione> und <Topica>[72]
Sagen>, also um die Ironie. Der erste Fall, die durchge- und bei Quintilian in den Beweiskapiteln des V. Buchs
führte M.> oder Ähnlichkeitsallegorie, entspricht dem, diskutiert; und in diesem Zusammenhang bemerkt
was in der Moderne als métaphore filée (vernetzte M.) Quintilian, daß die Ähnlichkeit nicht nur zum Beweisen,
bezeichnet wird. Für beide Arten unterscheidet der sondern auch «ad orationis ornatum» (zum Schmuck der
Autor zusätzlich noch den Fall, in dem historische Fak- Rede) [73] herangezogen wird. Der Zusammenhang
ten oder Personen das Vergleichsfeld bilden, also etwa, zwischen diesen Formen der Ähnlichkeit wird auch bei
wenn man einen Menschen, der seinen Vater ehrt, in Quintilian nicht systematisch diskutiert. Auf Ähnlich-
Form einer Ähnlichkeitsallegorie als «Aeneas» bezeich- keit gründendes Denken und metaphorisches Sprechen
net, oder im Falle der Ironie, wenn man einen gewissen- gehören wie schon bei Aristoteles zwei wohlgetrennten
losen Vatermörder als «Aeneas» bezeichnet. [62] Dieser Seinsbereichen zu. Dies erklärt, daß Quintilian an den
hier gesehene wesentliche Unterschied zwischen zwei wenigen Stellen, an denen er das Verhältnis dieser
Arten des Anders-Sagens, nämlich der Ähnlichkeits- Bereiche thematisiert, oft zu widersprüchlichen Aussa-
und der Gegenteilallegorie, wird bei Quintilian ver- gen kommt, so z.B., wenn er betont, daß «auch in den
deckt, da er die Allegorie in die beiden Arten des Beispielen (exempla) eine Allegorie gegeben ist, wenn
Anders-Sagens und des Gegenteil-Sagens (Ironie, Sar- sie verwendet werden, ohne daß man vorher ihren Sinn
kasmus, u.a.) einteilt. [63] Damit werden Logik (etwas angibt». [74] Hier wird eine Denkform (das Beispiel) zu
aus einem ähnlichen Vergleichsbereich nehmen) und einer Sprachform (die Allegorie) einfach dadurch, daß
Semiotik (etwas anders sagen) vermischt. Im Gegensatz eine pragmatische Bedingung jeden Vergleiches, näm-
zum Auetor werden Rätsel und historische Beispiele lich daß der Vergleichsbereich bekannt sein muß, nicht
(exempla) als eigenständige Arten der Allegorie be- erfüllt ist.
stimmt. Das Rätsel verbindet Quintilian wie Cicero und Nun wäre es falsch, würde man diese Trennung von
Tryphon mit der dunklen M. oder Allegorie [64] - sicher Denken und Sprechen als historische Grenze der tradi-
ein Anklang an Aristoteles, der freilich noch die kogni- tionellen Rhetorik bestimmen. Wenn dieser Zusam-
tive Funktion «gut gemachter» Rätsel kannte: diese menhang auch nicht systematisch diskutiert wird, so
nämlich «vermitteln eine Einsicht und werden durch wird er doch faktisch durch die Unterscheidung von
eine Metapher gesagt». [65] Für die exempla, die auf die Gedankenfiguren hergestellt. So kennt schon der Auetor
Logik der inventio und Topik verweisen, betont Quinti- ad Herennium drei auf Ähnlichkeit gründende exor-
lian, daß nur die als Allegorie bezeichnet werden dürfen, nationes sententiarum (Gedankenfiguren): exemplum,
in denen der gemeinte Sinn nicht expliziert wird (etwa imago, similitudo. Das Exemplum entspricht dem histo-
«wie Dionys in Korinth»), [66] Auffallend ist, daß bei rischen Beispiel, die Imago ist das Vergleichen von sich
Quintilian eine wesentliche von Cicero gesehene ähnlichen Formen oder Gestalten (Tiere und/oder Men-
Bestimmung fehlt, nämlich daß die Anreihung von M. in schen) [75], die Similitudo, d.h. der Analogievergleich,
der Allegorie ein Ganzes ausmachen. [67] Auch in <De schließlich kennt vier Arten: Gegensatz, Negation,
Oratore> betont Cicero, daß die Wirkung der Allegorie Zusammenstellung (conlatio), kurzer Vergleich. Die
nicht eine «des Wortes, sondern der Rede/des Textes» letzte Art bezeichnet die sprachliche Form, die drei
(non verbi, sed orationis) ist - das Gleiche gilt auch für ersten hingegen logische Möglichkeiten der Analogie.
das Rätsel. [68] Damit kommt bei Cicero die Allegorie Eine gegensätzliche Analogie liegt vor, wenn gezeigt
als spezifische Textform in den Blick. Deshalb ist der wird, daß analoge Dinge im Vergleichs- und themati-
Unterschied zwischen M. und Allegorie, wie Lausberg schen Bereich konträr sind (im Gegensatz zum Fackel-
annimmt, zumindest bei Cicero nicht bloß «quantita- träger, der erschöpft dem folgenden Träger die Fackel
tiv». [69] Da bei Quintilian die Allegorie nicht als Text-, übergibt, übergibt der Feldherr, der sich zurückzieht, in
sondern als Darstellungsform konzipiert ist, kann er eine voller Kraft und Kompetenz die Macht an seinen Nach-
Mischform «ohne Metapher» unterscheiden, in der folger) [76]; bei der negativen Analogie wird von Negati-
Beschreibungen oder Handlungen wörtlich zu nehmen vem auf Negatives geschlossen (genauso wenig wie im
sind, die gemeinten Personen hingegen allegorisch Vergleichsbereich V, genauso wenig im thematischen
benannt sind. Bereich T) - im Gegensatz zur Parallelisierung (conla-
In diesem Ausblenden der Allegorie als Textform tio), bei der vom Gleichen auf Gleiches geschlossen
bleibt Quintilian dem theoretischen Rahmen der aristo- wird. [77] Diese logischen Formen werden vom Auetor
telischen Tropenlehre verpflichtet. Dieser hatte zwar die ad Herennium nun dadurch in die Stillehre integriert,
Allegorie nicht begrifflich unterschieden, sachlich ist sie daß er die schon bei Aristoteles entwickelten Gütekrite-
aber in seiner Erörterung von klugen Sentenzen implizit rien - Klarheit und Kürze, das Vor-Augen-Führen, das
gegeben - in diesen ist nämlich «das, was man sagt, nicht Angemessene - übernimmt. Ein Beispiel für eine pas-
das, was man meint». [70] Der Grund ist darin zu suchen, sende Analogie ist: «Genauso wie die Schwalben im
daß auch Aristoteles das metaphorische Sprechen aus- Sommer bei uns bleiben und beim ersten Frost wegzie-
schließlich als Form der λέξις, léxis, d.h. des sprachli- hen [...].» Aus der gleichen Analogie (similitudo) ergibt
chen Ausdrucks, diskutiert; der Text als eigenständige sich nun, wenn wir Wörter metaphorisch (per translatio-
und sinnordnende Ebene bleibt ausgeblendet, und das nem) verwenden: «Genauso bleiben falsche Freunde bei

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Metapher Metapher

uns in friedlichen Zeiten, und sobald sie den Winter homoiösis verdeckte Bezug zur metaphorischen und
unseres Schicksals gesehen haben, fliegen sie weg, alle- sogar poetischen Rede explizit (wieder)hergestellt wer-
samt». [78] In dieser für die gegebene Fragestellung zen- den.
tralen Stelle wird zwar der Zusammenhang zwischen
Analogie als Denkform und M. als Sprachform aufge- Anmerkungen:
zeigt, nicht aber systematisch reflektiert. Da auch der 1 Arist. Poet. 1457b 6, Übers. Verf. - 2 Auct. ad Her. IV, 34,45. -
3Arist. Poet. 2 1 , 1 4 5 7 b , Übers. Fuhrmann, 67; zur Metaphern-
Auetor Sprache nur als 'Kleid des Denkens' begreifen
theorie bei Aristoteles siehe P. Ricoeur: La métaphore vive
kann und nicht als 'Ort des Denkens', kann er nicht die (Paris 1975) 13ff u. 325ff.; I. Tamba-Mecz, P. Veyne: Metaphora
epistemologischen Grenzen seiner Zeit überschreiten. et comparaison chez Aristote, in: Revue des études grecques 92
Das kommt auch in seinen die Behandlung der Gedan- (1981) 77-98; E. Eggs: Die Rhet. des Aristoteles (1984) 316ff.;
kenfiguren einleitenden Worten zum Ausdruck: «Eine A. Cazzullo: La verità della parola (Mailand 1987); J . Lallot:
Wortfigur liegt vor, wenn die feine Ausschmückung in Metaphora: le fonctionnement sémiotique de la métaphore
der Rede selbst eingezeichnet und erkennbar ist. Eine selon Aristote, in: La métaphore. Actes du colloque du 14/15
octobre 1987 (Grenoble 1988) 47-58; A . Petit: Métaphore et
Gedankenfigur erhält ihren Wert nicht aus den Worten,
mathésis dans la Rhétorique d'Aristote, ebd. 59-71; R . Harris,
sondern aus den Sachen selbst.» [79] T . J . Taylor: Landmarks in Linguistic Thought (London 1989)
Diese Trennung der Sprache und des durch die Logik 20-34. - 4 G . Kurz: M., Allegorie, Symbol (1982) 7; vgl. u.a. G.
der Sache bestimmten Denkens kennzeichnet auch die Kurz, T. Pelster: M. Theorie und Unterrichtsmodell (1976) 7ff.;
weitere Behandlung dieser auf Ähnlichkeit gründenden M. Johnson: Philosophical Perspectives in Metaphor (Minnea-
Denkfiguren. Eine Ausnahme scheint Quintilian zu bil- polis 1981) 24ff.; R . Drux: M. und Metonymie, in: B . Sandig
den, der in klassischer Manier das Vergleichen (compa- (Hg.) Stilistisch-rhet. Diskursanalyse (1988) 63-74; J.P. van
Noppen: Einl.: M. u. Religion, in: ders (Hg.): Erinnern, um
ratio) explizit aus der Gruppe der Gedankenfiguren aus-
Neues zu sagen. Die Bedeutung der M. für die religiöse Sprache
schließt, da es auch ein «Beweismittel» (probatio) ist und (1988) 7 - 5 2 , 1 8 f f ; M. Pielenz: Argumentation u. M. (1992) 61ff.;
deshalb auch in der inventio behandelt werden muß. [80]
G. Frieling: Unters, zur Theorie der M. (1996) 27f. ; A. Goatly:
Dort freilich versteht er unter den vergleichenden The Language of Metaphor (London 1997) 116ff. - 5 so Kurz [4]
Schlüssen a fortiori-Argumente («Wer einen Tempel- 8 . - 6 Arist. Rhet. 1404b 3 4 . - 7 s i e h e Arist. Poet. 1457b 25ff. und
raub begeht, wird doch wohl auch einen einfachen Dieb- Eggs [3] 325ff. - 8Kurz [4] 8. - 9 Arist. Poet. 1457b 10. - lOvgl.
stahl begehen») oder a ραπ-Schlüsse. [81] Doch Quinti- ebd. 16. - 1 1 siehe etwa H. Weinrich: Art. <M.>, in: HWPh, Bd. 5,
lian ist nicht konsequent, da er die gleichen Formen wie- Sp. 1179-1186. - 12Arist. Rhet. 1410b 14. - 1 3 ebd. 1406b 22. -
der im VIII. Buch zum Stil als Formen des Steigerns und 14ebd. 1406b 23. - 1 5 vgl. Eggs [3] 326ff. - 1 6 Arist. Rhet. 1413a
18. - 17 vgl. Eggs [3] 334 u. W. Schmidt: Theorie der Induktion
Abschwächens behandelt. [82] Und im gleichen Buch
(1974) 95ff. - 18 Arist. Rhet. 1412a 14. - 19 J . Nieraad: Bildge-
wird auch die similitudo, d.h. der Analogievergleich, segnet u. bildverflucht: Forsch, zur sprachlichen Metaphorik
erörtert, jedoch nicht als Gedankenfigur, sondern als (1977) 85ff.; vgl. Arist. Top. 106a 9ff. u. 139b 32ff. - 20 Arist.
Wortschmuck. [83] Wenn die similitudo argumentativ Rhet. 1410b 18; vgl. dazu Ricoeur [3] 34ff. - 21 Kurz [4] 8. - 22 A-
eingesetzt wird, dann ist sie ein Beweismittel («Wenn rist. Rhet. 1406b 35. - 23ebd. 1413a 5. - 24ebd. 1412b 34. -
Selbstbeherrschung eine Tugend ist, dann doch auch die 25 ebd. 1406b 20. - 2 6 vgl. Eggs [3] 5 9 , 6 3 , 1 6 5 , 1 8 9 , 2 6 5 , 3 2 9 , 3 4 4 .
Enthaltsamkeit») [84], wenn sie hingegen verwendet - 27 Perelman 5 3 5 . - 2 8 Arist. Rhet. 1405 a 35. - 29 ebd. 1412a 11;
wird, um von den Dingen ein Bild (imago) zu vermit- vgl. ebd. 1405a 35. - 30 Arist. Top. 108a 9; vgl. Eggs [3] 402ff. -
teln [85], dann gehört sie zum Wortschmuck («Einem 31 vgl. Eggs [3] 392ff. - 3 2 Aristoteles, Metaphysik 1048a 35; vgl.
H. Happ: Hyle. Stud, zum aristotelischen Materie-Begriff
Geier gleich kreist er um sein Opfer»). Der hier
(1971) 680ff. - 33 Aristoteles, D e partibus animalium 645b u.
gemeinte wesentliche Unterschied zwischen argumenta- 679a; vgl. A. Steudel-Günther: Analogie u. Paraphrase in Fach-
tiver und deskriptiver Verwendung des Ähnlichen wird und Gemeinsprache (1995) 2 0 f f . - 3 4 Aristoteles, Meteorologie,
nach Quintilian wieder lange verdeckt werden, wohl Übers. H. Strohm (1970) 48. - 3 5 vgl. V S Frg. 84 u. 100; dazu Ari-
auch deshalb, weil er von ihm nicht systematisch erörtert stoteles, Parva naturalia 437b 24 u. 473a 15; vgl. D. O'Brien: T h e
wird. Durchsetzen wird sich die Einteilung von D O N A T , Effect of a Simile: Empedocles' Theories of Seeing and Breath-
der neben dem Auetor ad Herennium als Referenzautor ing, in: The Journal of Hellenic Studies 90 (1970) 140-179 u.
Steudel-Günther [33] 32ff.; allg. W. Kranz: Empedokles
des Mittelalters gelten kann. Donat folgt zwar dem Aue-
(Zürich 1949). - 36 VS Frg. 82. - 37vgl. G . E . R . Lloyd: Polarity
tor, behandelt aber im III. Buch seiner Grammatik die and Analogy. Two Types of Argumentation in Early Greek
Formen der Ähnlichkeit nicht mehr als Denkfiguren, Thought (Cambridge 1966) 228f u. Steudel-Günther [33] 44ff. -
sondern als Tropen der Ähnlichkeit (homoiösisj. Donat 38 Arist. Rhet. 1405a 8. - 3 9 e b d . 1405a 13. - 4 0 ebd. 1411b 22. -
unterscheidet drei Arten der homoiösis: Ikon, Parabole, 41 ebd. 1411b 24ff. - 42 Auct. ad Her. IV,34,45. - 43 Cie. D e or.
Paradigma. [86] Dies entspricht genau den Figuren III, 165; vgl. 163. - 4 4 Q u i n t . V i l i , 6 , 1 4 - 1 7 . - 45Cic. D e or. III,
imago, conlatio, exemplum beim Auetor. Im Gegensatz 157. - 4 6 Cie. Or. 27,92. - 47Tryphon, Peri trópon p. 191,12, in:
Donat, Ars maior 111,6. - 48 vgl. Tryphon [47] p. 192,14 u. Quint.
zu diesem wird freilich nur eine Unterart der similitudo,
V I I I , 6 , 9 . - 49 Lausberg Hb. § 559, S. 286. - 50 Arist. Rhet. 1411b
eben die conlatio bzw. die parabole, berücksichtigt. Ein 24ff. - 51 Auct. ad Her. IV, 42-46; vgl. Lausberg Hb. 282ff
Blick in Ciceros argumentationstheoretische Frühschrift (§ 552ff.); Martin 261 ff. - 52 Quint. VIII, 6. - 53 ders. VIII, 6 , 4 . -
<De inventione> zeigt jedoch, daß Cicero die Donatsche 54ders. V I I I , 6, 8. - 55ders. VIII, 6, 5. - 56ders. VIII, 6, 1. -
Einteilung vorformuliert hatte (nämlich als imago, colla- 57 Lausberg Hb. § 552. - 58 Quint. IX, 1,4. - 59 Κ. Barwick: Pro-
tio, exemplum). [87] bleme der stoischen Sprachlehre und Rhet. (1957) 89ff.; vgl.
Durch die Donatsche Behandlung der Gedankenfi- Jün-tin Wang: Modi significandi. Logik der Tropen u. signum
signorum, in: T . T . Ballmer, R. Posner (Hg.): Nach-Chomsky-
guren des Ähnlichen als Tropen der homoiösis wird nun
sche Linguistik (1985) 115-123. - 60 Quint. VIII, 6, 34-36. -
nicht nur das auf Analogie gründende Denken auf eine 61 Auct. ad Her. IV, 46. - 62ebd. - 63 Quint. VIII, 6,44. - 64ebd.
grammatische Sprachfigur reduziert; auch der sachliche 6,14 und ebd. 6,52; vgl. Cie. D e or. III, 167 u. Tryphon [47] p. 193,
Zusammenhang und Unterschied im Vergleich mit der 1 4 . - 6 5 Arist. Rhet. 1405a 24; vgl. 1405b 3 . - 6 6 Quint. V I I I , 6,52.
M. und der Allegorie wird verdeckt. In diesem Verdek- - 67 vgl. Cie. Or. 28,94. - 68 Cie. D e or. III, 169 u. 167. - 69 Laus-
ken liegt aber auch ein begriffliches Konfliktpotential, berg Hb. 441 f. (§895). - 70 Arist. Rhet. 1412a 22. - 71 vgl. Eggs
das mit aller Schärfe in der Renaissance und im Barock [3] 264ff. - 7 2 Cie. Inv. 1,46-49 u. Cie. Top. 68-71. - 7 3 Quint. V,
aufbrechen wird. Dann wird nämlich der in der 1 1 , 5 . - 74Quint. VIII, 6 , 5 2 . - 75 Auct. ad Her. IV, 62. - 76ebd.

1113 1114
Metapher Metapher

IV, 59. - 77ebd. IV, 60. - 78ebd. IV, 61. - 79ebd. IV, 18. - gen». [9] Deshalb können spätere Exegeten statt von
80Quint. IX, 2, 100. - 81ders. V, 10, 87. - 82ders. VIII, 4. - Typus je nach Art der figura (Person, Tier, Sache, Ereig-
8 3 ders. V I I I . 3 , 7 2 - 8 1 . - 8 4 d e r s . V , 1 0 , 8 9 . - 8 5 ders. V I I I , 3 , 7 2 . -
nis) auch bedeutungsgleich von imago (Bild), Symbol,
86Donat, Ars maior III, 6. - 87Cic. Inv. I, 3 0 , 4 9 .
(Vor-)Zeichen oder Exempel sprechen. Die Bedeutung
dieser Lehre vom spirituellen Sinn zeigt sich schon in den
II. Mittelalter. M. als Form eines auf Ähnlichkeit <Etymologiae> ISIDORS VON S E V I L L A (560-636), die eine
gegründeten Anders-Sagens ist in der mittelalterlichen wichtige Grundlage für die <Allegorischen Wörterbü-
Bibelauslegung und Allegorese allgegenwärtig. Dane- cher> des Mittelalter werden. Diese wiederum bilden
ben wird in rhetorischen und grammatischen Abhand- wesentliche Vorbilder mittelalterlicher Dichtung. Für die
lungen die römische Behandlung der M. - im wesentli- deutsche Dichtung gilt die Enzyklopädie <De Universo>
chen die des Auetor ad Herennium und des Donat - fort- von HRABANUS MAURUS ( 7 7 6 - 8 5 6 ) [10] als wichtiges
geschrieben. Neue oder verdeckte alte Aspekte kommen Bezugswerk, das auch in der zweiten Hälfte des 9. Jh. die
erst in den um 1200 entstehenden Poetriae Novae (Neue Grundlage des ersten deutschen allegorischen Wörter-
Dichtungslehren) in den Blick. b u c h s und B i b e l k o m m e n t a r s von OTFRID VON WEISSEN-
1. Bibelexegese. Die mittelalterliche Allegorese kann als BURG bildet. [11] Die Bibel wird so zum von Gott erschaf-
Christianisierung der antiken Textexegese und Text alle - fenen «allegorischen Kunstwerk» [12], das wie die von
gorese und zugleich als Hermeneutisierung der Rhetorik ihm erschaffene Welt der Exegese bedarf. Biblische Text-
bestimmt werden. [1] Die christliche Bibelexegese ge- allegorese und Dingallegorese bilden letztlich eine Ein-
winnt im 3 . Jh. mit O R Í G E N E S und ein Jh. später mit C A S - heit. Diese Omnipräsenz des Allegorischen erklärt ein-
SIAN erste feste Konturen. Bei Cassian findet sich schon mal, daß die allegorische Darstellung auch für neue Dich-
die Unterscheidung vom vierfachen Sinn der Heiligen tung zur Norm wird [13], und zum anderen, daß die Alle-
Schrift: der (i) wörtlich-historische Sinn einerseits und gorese nicht nur auf die Bibel, sondern auch auf die antike
drei spirituelle Sinndimensionen andererseits: (ii) tropo- Dichtung angewendet wird - wie etwa im Aeneiskom-
logisch (Bedeutung für das menschliche Leben), (iii) alle- mentar (Ende 12. Jh.) von B E R N H A R D U S S I L V E S T R I S , der
gorisch (Bedeutung - in der Regel einer Gegebenheit des auf die <Saturnalien> von M A C R O B I U S (Anfang 5. Jh.)
A T - für das NT bzw. für Christus oder die Kirche), (iv) zurückgreift - ein Kompendium für die Auslegung anti-
anagogisch (Bedeutung für das Verstehen des Himmels ker Dichter, vor allem Vergils. [14] Auch für THOMAS VON
und der jenseitigen Dinge). [2] Insbesondere der allegori- A Q U I N (1225-74) bedürfen Bibel und Welt der Allego-
sche Sinn wird dann im 5. Jh. von A U G U S T I N U S normbil- rese, damit der ihnen von Gott gegebene spirituelle Sinn
dend für das Mittelalter ausdifferenziert. Die M. als Tro- deutlich werde. «Die äußere Schöpfung wie die literari-
pus wird von ihm nur kurz behandelt [3], sie spielt eine sche der Bibel ist dem menschlichen Fassungsvermögen
nur nebensächliche Rolle. So schreibt er in der Schrift zuliebe hervorgebracht worden, damit auf diese sichtbare
<Contra mendacium> der M. wie auch den übrigen rheto- Weise das Unsichtbare, die Wahrheit um Gott, allego-
rischen Tropen eine besondere Form der Wahrheit zu. risch dargestellt werde». [15] Die Welt ist bei Thomas
Da sie die Übertragung «eines Wortes von der eigentlich pyramidenförmig auf Gott hin zentriert. Zwar bestimmt
bezeichneten Sache auf eine ihm nicht eigene Sache» (de er die Ordnung der Welt durch sich selbst, hinsichtlich der
re propria ad rem non propriam verbi alieuius transla- Ausführung aber läßt er die körperlichen Dinge durch die
tio) [4] ist, versteht man ihre Wahrheit und ihren Sinn, geistigen und die niederen Geister durch die höheren
wenn man sie auf das, was sie eigentlich bezeichnet, regieren. Die menschlichen Sinne sind in diesem spiritu-
zurückbezieht. [5] Beides unterscheidet die M. von der ellen System nur deshalb nützlich, weil sie zur geistigen
Lüge, in der es nur den wörtlichen Sinn gibt, der zudem Erkenntnis führen. [16] Überraschend ist jedoch, daß der
falsch ist. Zentral ist bei ihm dagegen das allegorische Aquinate diese körperlich-sinnlichen Dinge in seiner
Anders-Meinen. Augustin, schon geschult in Gramma- <Summa theologiae> als M. bezeichnet. «Alle menschli-
tik, Rhetorik und Dialektik, lernte beim Mailänder che Erkenntnis hat ihren Anfang im Sinnlichen. Deshalb
Bischof AMBROSIUS, einem 'Virtuosen auf dem Gebiet wird uns in der Heiligen Schrift Spirituelles als Meta-
der Allegorese', den dunklen und rätselhaften Bibelstel- phern von Dinglich-Konkretem (sub metaphoris corpo-
len ihren eigentlichen und tieferen, d.h. theologischen ralium) überliefert». [17] Wenn dagegen Dichter M.
Sinn zuzuordnen. In dieser <Hermeneutisierung der Rhe- benutzen, dann machen sie das «wegen der repraesenta-
torik und Christianisierung der heidnischen Textexe- tio. Diese ist nämlich dem Menschen von Natur aus ange-
gese und Textallegorese> [6] bleibt der rhetorische nehm» (Repraesentatio enim naturaliter homnini delecta-
Begriff der Allegorese erhalten und erfährt zugleich eine bilis est). In der Bibel aber werden M. «aus Notwendig-
Erweiterung, da der gemeinte, spirituelle Sinn als wesent- keit und Nützlichkeit» (propter necessitatem et utilitatem)
licher gesetzt wird. [7] So ist der von Kain getötete Abel verwendet. [18] Hier deutet Thomas offenbar die alte
allegorisch und figuraliter als der von den Juden getötete rhetorische Formel von den Entstehungsgründen der M.
Christus zu verstehen, ebenso ist der anstelle Isaaks geop- - Notwendigkeit oder Schmuck - theologisch um: die
ferte Widder als Christus oder die Arche Noah als «figura Notwendigkeit wird der Bibel zugeordnet, der Schmuck
der in den Fluten der Welt sicher gesteuerten Kirche» zu der nicht-biblischen Dichtung. Das läßt sich auch am hier
deuten. [8] Das A T wird hier, wie schon beim Apostel verwendeten Begriff der repraesentatio verdeutlichen;
Paulus, als eine Art <Vorausanalogie> - oder neuplato- repraesentatio bedeutet nicht nur <Gegenwärtig-
nisch formuliert: als <Schatten> (umbra; σκιά, skiá) - für Machen>, sondern auch, als rhetorischer Terminus, <Vor-
die sich in Christus vollendende Heilsgeschichte gedeu- Augen-Führen>. In der römischen Rhetorik wird die
tet. In diesem Begriff der <Figur> verdichten sich bei repraesentatio (griech. ύποτύπωσίς, hypotypösis) als
Augustin die rhetorische Bedeutung der figura als unei- Gedankenfigur behandelt und oft in Zusammenhang mit
gentliche Form der Rede mit dem philosophischen Sinne der ένάργεια, enárgeia, also dem sinnlichen Vor-Augen-
von gestalteter Form>, aber auch mit dem theologischen Führen>, gebracht. [19] Quintilian behandelt sie auch im
Sinn von τύπος, typos als gestaltetem Vor-Bild>: «In die- 8. Buch im Zusammenhang mit dem Wortschmuck, wo er
sem Sinne war Adam typos Christi, Vorbild des Künfti- sie nicht nur mit dem Schmuckmittel enárgeia gleichsetzt,

1115 1116
Metapher Metapher

sondern auch gegen die perspicuitas (begriffliche Klar- BÉTHUNE findet sich die Donatsche Einteilung. [29] Das
heit) abgrenzt. [20] Neben dieser theologischen Bedeu- <Doctrinale> behandelt drei homoiösis-Formen (Ikon,
tung der M. als allegorisches Bild verwendet Thomas die- Paradigma, Parabel), während im <Graecismus>, der die
sen Ausdruck noch im traditionellen Sinn als sprachli- Figuren und Tropen am Anfang behandelt, auffällt, daß
chen Tropus. Tropen gehören dann zum Literalsinn, er die Ähnlichkeitstropen Allegorie, Paradigma und
wenn das von ihnen Gemeinte keinen spirituellen Sinn schließlich M. abschließend als eine Gruppe erörtert (bei
hat: «sub sensu litterali includitur parabolicus seu meta- Donat steht die M. an erster Stelle). [30] Dies ist sicher auf
phoricus» (unter dem Literalsinn ist der parabolische wie die im 13. Jh. entstandenen poetriae novae zurückzufüh-
der metaphorische eingeschlossen). [21] Das verdeutlicht ren - das sind Dichtungslehren, die ihren Gegenstand
Thomas am rhetorischen Schulbeispiel pratum ridet (die durch Rückgriff auf die Rhetorik neu zu bestimmen
Wiese lacht), das im Sinne von «die Wiese ist erblüht» zu suchen. [31] Die wichtigsten sind die 1210 noch in Hexa-
verstehen ist. Damit stellt sich freilich das auslegungs- metern geschriebene <Poetria nova> GALFRIDS VON V I N -
praktische Problem, wann ein Tropus nicht bloß literal, SAUF, die Prosaschrift <Ars poetica> (um 1215) von GER-
sondern allegorisch zu verstehen ist. D a ß für jeden einzel- VASIUS VON MELKLEY und die <Parisiana Poetria> von
nen Exegeten ein großer spekulativer Spielraum gegeben JOHANNES VON GARLANDIA (um 1235). Alle drei Autoren
war, kann schon ein kurzer Blick auf die verschiedenen sind Engländer, die zwar die römische Figurenlehre über-
Bibelexegesen verdeutlichen. [22] Mit dieser Verdoppe- nehmen, sie aber mit unterschiedlichem Rückgriff auf
lung des Begriffs der M. als sprachlicher Tropus und als Aristoteles neu bestimmen. Das zeigt sich äußerlich
allegorisches Bild nimmt Thomas eine fundamentale schon daran, daß in Galfrids Abhandlung, einem mit
Trennung vor: ersterer bleibt als alltagsweltlicher Modus
didaktischem Geschick geschriebenen Lehrwerk, das
des Sagens an die Sprache gebunden, letzteres ist ein von
metaphorische Übertragen, bei ihm transumptio, wieder
der Sprache losgelöstes Bild, sinnlich-konkretes Zeichen
zur zentralen Figur wird. Die didaktische Intention Gal-
oder Symbol, das auf einen 'tieferen', ja geheimnisvollen
frids zeigt sich schon in den ersten Zeilen seiner fast zwei-
und nur dem Wissenden und Eingeweihten zugänglichen
Sinn verweist, der zugleich seinsmäßig 'höher' steht. hundert Verse umfassenden Darstellung der Μ.: «Wenn
es ein Mensch ist, über den ich rede, so werde ich Aus-
Im Gegensatz zum Theologen ist für den Logiker Tho- drücke von etwas Ähnlichem auf diesen Gegenstand
mas von Aquin die M. Quelle von Trug und Schein (das übertragen [...]. Wenn du z.B. folgendes sagen willst: Der
gilt für alle Tropen). Deshalb dürfen die Prämissen in der Frühling schmückt den Boden, die ersten Blumen wachsen
logisch stringenten Rede nicht mehrdeutig sein - «ex tro- aus dem Boden, das Wetter wird schön [...], so frage dich,
picis locutionibus non est recta argumentationis proces- welche Worte über unser menschliches Leben genauso
sio» (aus tropischen Reden entsteht kein korrektes logi- passend gesagt werden können»; also etwa: «Der Früh-
sches Verfahren). [23] Das entspricht der Auffassung der ling bemalt den Boden mit Blumen; die Blumenknospen
Scholastik und der Tradition der Logik und Dialektik, werden geboren', das milde Wetter verführt uns». [32] Die
die sich auf die <Topik> von Aristoteles zurückführen hier klare Trennung von Vergleichsbereich und themati-
läßt: dort nämlich wird dem Dialektiker empfohlen, vor schem Bereich ist wohl der Grund dafür, daß Galfrid -
jeder Argumentation zu prüfen, ob keine Mehrdeutigkeit neben der M. (transferatioj, der Allegorie (permutado)
vorliegt - dies könnte ja zu Trug- oder Scheinschlüssen und der Neubenennung (nominado) - auch die Antono-
führen. [24] masie (pronominado), die in der Tradition die Verwen-
2. Dichtungslehre. In den rhetorisch-grammatischen dung eines für eine Person typischen Gattungsnamens
Abhandlungen, die sich ausschließlich auf die sprachliche statt eines Eigennamens bezeichnete (also etwa der Phi-
M. beziehen, verläuft auf den ersten Blick die Geschichte losoph für <Aristoteles>), zu den durch Ähnlichkeit legiti-
der Bestimmung des metaphorischen Anders-Sagens mierten Übertragungen (transsumptiones) zählt. Auch
weniger spekulativ. Neben der <Rhetorica ad Heren- die übrigen Tropen - Metonymie, Hyperbel, Synekdo-
nium>, die Cicero zugeschrieben wurde, wird das dritte che, Katachrese, Hyperbaton - sind für Galfrid trans-
Buch der <Ars maior> Donats, das Figuren und Tropen sumptiones (Übertragungen der Bezeichnungen für eine
behandelt - auch als Barbarismus (nach dem ersten Wort Sache auf eine andere Sache). Diese sind freilich von
dieses Buchs) verbreitet - , im Mittelalter zur wichtigsten «geringerem Wert» [33] und werden deshalb auch kürzer
Quelle für die Darstellung der rhetorischen Figuren und behandelt; noch kürzer werden die homoiösis-Formen
Tropen. Deshalb bleibt die M. eine nicht besonders aus- (Vergleich, Exempel, Gleichnis) vorgestellt - freilich, wie
gezeichnete Trope - bis auf wenige Ausnahmen. So über- beim Auetor ad Herennium, als Denkfiguren. [34]
nehmen etwa ISIDOR VON SEVILLA in seinen <Etymologien> Wesentlich ist jedoch, daß Galfrid bei der Antonomasie
und B E D A in seiner Abhandlung über <Figuren und Tro- neben der ab- oder aufwertenden Verwendung von
pen> (De schematibus et tropis) [25] nicht nur die Defini- Eigennamen («Dieser Paris da...») nur den Fall des über-
tion des Tropus, sondern auch die Einteilung Donats in tragenden Gebrauchs von Eigennamen berücksichtigt:
dreizehn Tropen, d.h. einschließlich der Homöosis. Bei «Dieser Meister, unser Tiphis, lenkt unser Boot»; und er
der M. spricht Isidor von translatio usurpata («M. est verbi unterscheidet sogar die ironische Verwendung als Anti-
alicuius usurpata translatio») [26], und Beda definiert die phrase, wie wenn man z.B. von einem ungehobelten Spre-
M. als «rerum verborumque translatio», also als «Über-
cher sagt, er sei ein «richtiger Cicero». [35] Die ganze Dar-
tragung von Dingen und Wörtern» [27], eine 'dunkle'
stellung folgt offenbar der des Auetor ad Herennium,
Definition, die nur einen Sinn erhält, wenn man sie als
freilich hatte dieser eine solche Verwendung von Eigen-
Ausdruck des nicht geklärten Problems des Verhältnisses
namen als <historische Allegorie) bezeichnet. Die seit
von Sachwissen und sprachlicher Bedeutung interpre-
tiert. Dagegen betont er sehr klar den argumentationslo- Lausberg gängige Auffassung, diese Form der Antono-
gischen Charakter der homoiösis, da er sie als demonstra- masie sei zuerst von Vossius 1630 unterschieden worden
tio [28] definiert. Auch in den großen Lerngrammmati- - daher der Name <Vossianische Antonomasie) [36] -
ken des Mittelalters, dem <Doctrinale> von ALEXANDER muß deshalb berichtigt werden.
DE VILLA D E I und dem <Graecismus> des EBERHARD VON Obwohl er die Funktion der metaphorischen Rede für
die Dichtung lobend hervorhebt, bleibt Galfrid in Auf-

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Metapher Metapher

bau und Gliederung ganz der Herennius-Rhetorik ver- Schmuckfiguren wie die generische Antonomasie oder
pflichtet. Völlig anders gehen Gervasius von Melkley die Teil-/Ganzes-Synekdoche sind deshalb Identitätsfigu-
und Johannes von Garlandia vor. Johannes' <Poetria>, ren, weil sie die gleiche Sache wie der eigentlich zu verwen-
inhaltlich und in der didaktischen Intention stark von dende Ausdruck bezeichnen. [41] Entsprechend manife-
Galfrid beeinflußt, steht sowohl in der Tradition der anti- stiert sich die contrarietas in allen Formen antithetischer
ken Poetik und vor allem der rhetorischen Stillehre als Darstellung oder Argumentation, aber auch in der n e g a -
auch der ars dictaminis (Briefe und Urkunden), will also tiven Allegorie>, der Ironie. [42]
vor allem praktische Hinweise für das Schreiben, insbe- Ebenso weit ist die Ähnlichkeit gefaßt. Sie umfaßt drei
sondere von Briefen, geben. Dieser Mischcharakter zeigt Arten: Neuzuschreibung (assumptio), Übertragung
sich in der Gliederung (inventio, Wahl des Themas, (transumptio) und explikatives oder argumentatives
Anfang und dispositio, Teile des Briefes, Fehler in Ver- Vergleichen (omiosis). Eine Neuzuschreibung liegt z.B.
sen und Briefen, Schmuck in Versen und Prosa, Stoff- vor bei grammatikalischen Ableitungen (im Deutschen
sammlung). Dies erklärt, daß Johannes die <Wort- und etwa wässern aus Wasser aufgrund der Ähnlichkeit der
Sinnfiguren> - er spricht genauso wenig wie Galfrid von voces) oder bei Umkategorisierungen (so wird in der
Tropen - nicht nur im Schmuckkapitel, in dem er sich in Umkategorisierung des Verbs gehen zum Nomen Gehen
seinen Definitionen eng an die römische Tradition hält, dieser vox eine neue grammatische Bedeutung zuge-
behandelt. So untersucht er im inventio-Kapitel die M. schrieben (consignificatio)). In drei Achilles wird einer
unter der Fragestellung: «Wie sind Verben metaphorisch vox mit einer festen significatio eine weitere - drei Solda-
zu verwenden?», unterscheidet Verben, die zum Bereich ten - hinzugefügt. Auch dies ist eine Form der assump-
<Geist>, von solchen, die zum Bereich <Körper> gehören tio. [43] In der zweiten Art, der transumptio, wird die
und betont, daß sie wechselseitig übertragen werden eigentliche significatio eines Wortes oder eines Satzes
können, sofern sie kongruent sind. [37] Im 2. Kapitel (oratio) auf ein anderes Wort (= M.) bzw. einen anderen
behandelt er das gleiche Problem und gibt den Hinweis, Satz (= Allegorie) übertragen. [44] Dies entspricht ganz
daß der Artbegriff «laufen», der für Belebtes im eigentli- der Tradition. Neu ist, daß Gervasius die verschiedenen
chen Sinn sagbar ist, auch metaphorisch vom «Wasser» Möglichkeiten unter dem Titel <Absolute M.> nach Wort-
und von der «Zeit» ausgesagt werden kann, da ihnen ein arten abhandelt. So ist das Schulbeispiel «Die Wiese
gemeinsamer Gattungsbegriff, eben «sich bewegen» lacht» eine absolute M. mit übertragenem Verb, weil die
zugrunde liegt [38] - in diesem praktischen Hinweis wird Vergleichssache, eben <Mensch>, nicht genannt ist. Abso-
offensichtlich die M. von der Art auf die Art bei Aristote- lute M. sind offenbar nichts anderes als das, was in der
les angewendet. Von hier aus erstaunt es nicht, daß die Moderne als konventionalisierte M. bezeichnet wird.
homoiösis-Techniken (imago, exemplum, similitudo) wie Gervasius untersucht nicht nur die metaphorischen
bei Galfrid als Denkfiguren abgehandelt werden. [39] Übertragungen hinsichtlich der Wortarten, sondern auch
Im Gegensatz zu den praktisch-didaktischen Lehrwer- Übertragungen auf andere Wortarten, nämlich Eigenna-
ken von Galfrid und von Johannes ist Gervasius von Mel- men statt Allgemeinnamen oder statt Adjektiven, also
kley insofern systematischer und philosophischer, als er etwa kein Hektor für <kein guter Soldat> oder Er war
die traditionelle Figurenliste auf dem Hintergrund der Paris, dann Hektor für <Er war schön, dann tapfer> [45],
scholastischen Sprach- und Grammatiktheorie völlig neu also das, was Galfrid als Antonomasie bezeichnet hatte.
gliedert. Alle Formen der Rede (Wort, Satz, Text) ein- Neu ist die zweite Gruppe, die <bezogene M.> (respectiva
schließlich rein grammatischer Erscheinungen werden transumptio), die Gervasius ebenfalls nach Wortarten
nämlich semiotisch in drei Gruppen - Identität (idempti- untersucht, wie z.B. Zuweilen ist er warm, zuweilen kalt
tas), Ähnlichkeit (similitudo), Gegensätzlichkeit (contra- oder Jetzt verlangt er nach dem Pferd, jetzt nach dem Esel
rietas) - eingeordnet. Diese Gliederung ist streng von der für <er ist unentschlossen/wechselhaft (inconstans)> [46] -
stoischen, nach sachlogischen Kriterien vorgenommenen hier werden zwar immer zwei Worte (warm/kalt, Pferd/
Unterscheidung (Ähnlichkeit, Nähe, Gegensätzliches) zu Esel) aufeinander bezogen, strenggenommen handelt es
unterscheiden, da es hier um das Verhältnis von dictio und sich aber um eine Form der Generalisierung. Die dritte
res, von Wort und Sache, geht. Jedes Wort hat zwei Seiten: Art der auf Ähnlichkeit basierenden Redetechniken ist
den Wortkörper (vox) und die Bedeutung (significatio). die homoiösis, die in Ikon, Paradigma und Analogiever-
Die Bedeutung kann lexikalisch (significatio) oder gram- gleich (comparatio) zerlegt wird, wobei, wie bei Beda,
matikalisch (consignificatio) sein. Deshalb kann Gerva- deren argumentative Funktion (demonstratio) hervorge-
sius nicht nur bei gleichen Wortkörpern oder Konstruktio- hoben wird. Beim Paradigma ist dagegen die aristoteli-
nen von Identität sprechen, sondern auch bei verschiede- sche Tradition erkennbar, da es in den apologus (= reali-
nen Wortkörpern oder Konstruktionen, die bedeutungs- ter nicht möglich, wie z.B. Fabel) und die parabola (= real
gleich sind, und bei Redefiguren, die sich auf die gleiche mögliche Geschehnisse) zerlegt wird. [47]
Sache beziehen. Die idemptitas bezieht sich deshalb Das ergibt folgendes Schema:
zunächst auf die grammatisch korrekte Rede, aber auch
auf Figuren, bei denen keine der drei Änderungskatego-
rien (Hinzufügen, Wegnehmen, Umstellung) wirkt, also FIGUREN/TROPEN
Klang- und Wiederholungsfiguren wie etwa Paronomasie
oder Reim. Wirken die drei Änderungskategorien, so han-
delt es sich um Veränderungen (mutationes), die sich Identität Ähnlichkeit Kontrarietät
ebenfalls auf Morphologie und Grammatik beziehen kön-
nen wie z.B. Appositionen oder Relativsätze - die bezo-
gen auf den Elementarsatz, mit dem sie strukturell iden- assumptio transumptio homoiösis
tisch sind, als <Hinzufügungen> begriffen werden können -
oder <Transmutationen> wie «ein mutiger Mann» in «ein Metonymie Neuschöpfung Metapher Ikon Allegorie
Mann mit Mut», die aufgrund ihrer Bedeutungsgleichheit Synekdoche Umkategori- Allegorie Parabel (negativ)
als identisch bestimmt werden können. [40] Auch sierung Ironie

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Metapher Metapher

Dieses Schema zeigt drei zentrale Mängel: Die semioti- vgl. Lausberg Hb. §§810-813. - 20Quint. VIII, 3, 61. - 2 1 T h o -
sche Tatsache, daß Metonymie und M. eine wesentliche mas v. Aquin, Super ad Galatas 1,7; vgl. ders. [17] IV, 1 , 1 0 . 1 tr 1
q 5 m; Winkler [2] 7ff. - 22 vgl. u.a. Hartmann [11] etwa zu Eck-
Gemeinsamkeit haben, eben Tropen zu sein, wird nicht
hart u. Winkler [2] 60ff. und 86ff.; allg. H. u. M. Schmidt : D i e
berücksichtigt. Ebenso zeigt die doppelte Klassifizierung vergessene Bildersprache christlicher Kunst ( 2 1982). - 23 vgl.
der Allegorie, daß - wie schon bei Quintilian - sachlogi- Thomas v. Aquin, In 4 libros sententiarum magistri Petri Lom-
sche (Kontrarietät) und semiotische (Etwas-anders- bardi III, 11, 1; In libros posteriorum analyticorum II, 16; In
Sagen-als-Meinen) Modi zusammengedacht werden; das librum Boethii de trinitate II, 3, 5. - 24Arist. Top. 1, 15. -
wesentliche Merkmal der Ähnlichkeitsallegorie und der 25 Beda, D e schematibus et tropis, in: Rhet. Lat. min. 607ff. -
Ironie, nämlich tropische Formen des Anders-Sagens zu 26Isid. Etym. 1,37, 2. - 2 7 B e d a [25] 611. - 28ebd. 618. - 29 Al-
exander de Villa-Dei: Doctrinale, hg. v.D. Reichling (1893)
sein, kommt so überhaupt nicht in den Blick. Und inner-
167ff. (V. 2497-2572). - 30Eberhard von Béthune, Graecismus,
halb der Ähnlichkeitsfiguren findet sich das Problem, ob hg. v.J. Wrobel (1887, N D 1987), 8ff.; vgl. Murphy R M 36ff.,
denn die neue Zuschreibung einer (con-)significatio zu 151 ff. - 3 1 Murphy R M 168ff.; Klopsch [14] 44ff. u. 64ff.; H.
einer vox genauso wie das Verändern einer significatio in Brinkmann: Zu W e s e n u. Form ma. Dicht. (1928) 68ff. - 32Gal-
eine andere significatio im Falle der M. überhaupt gleich frid 55ff„ v. 77Iff.; vgl. Krewitt [2] 313ff. - 33Galfrid 64, V. 962.
behandelt werden kann. Auch hier stellt sich die semioti- - 34ebd. 80ff, V. 1258ff. - 35ebd. 62, V. 932ff. - 36Lausberg
sche Frage, ob denn die Relation Wortkörper/Inhalt Hb. §581. - 37Joh v. Garl. 28. - 38 ebd. 48. - 39 ebd. 131 ff. -
genauso wie die Relationen Inhalt/Inhalt, Inhalt/Sache 40Gervasius von Melkley, Ars Poetica, hg. v.H.J. Gräbener
oder Sache/Sache behandelt werden kann. Mehr noch: (1965) 48ff. u. 76ff.; vgl. Krewitt [2] 364ff. - 41 ebd. 67ff. -
42ebd. 155ff. - 43Gervasius [40] 89, 5-107, 19. - 44vgl. ebd.
ob Inhalt/Inhalt-Relationen wie Umkategorisierungen
108,2ff. - 45ebd. 109ff. und l l l f f . - 46ebd. 123ff. - 47ebd.
genauso wie tropische Formen des Anders-Sagens 150ff. - 48 vgl. ebd. lOOff.
behandelt werden können. Dies zeigt sich gerade auch in
einer widersprüchlichen Behandlung der tropischen III. Renaissance, Barock, Aufklärung, In Randberei-
Verwendung von Eigennamen. Gervasius behandelt chen des Denkens der Renaissance vollzieht sich eine
diese, wie gezeigt, sowohl als Übertragung (transumptio) Art Säkularisierung christlicher Allegorese und neupla-
(Das ist kein Hektor) und ausdrücklich als Neuzuschrei- tonischer Mystik, die sich freilich auf eine lange Tradi-
bung (assumptio) (Soldaten, alles Hektoren). Und in die- tion des magischen und kosmogonischen Denkens stüt-
sem Beispiel erkennt er zusätzlich eine Synekdoche, also zen kann. Die Übergänge von der Allegorese zur Mystik
eine Identitätstrope. [48] Diese uneinheitliche Behand- bis hin zur Magie sind fließend. Genauso wie die Allego-
lung der singulären Àntonomasie verweist letztlich auf rese sich auf die Relationen der Nachbarschaft (Metony-
das auch im Mittelalter theoretisch nicht gelöste semioti- mie) und der Ähnlichkeit (Analogie/M.) stützt, genauso
sche Problem des tropischen und metaphorischen kann der Magier sich der «ansteckenden» und der
Anders-Sagens. Praktisch freilich hatte Galfrid in sei- «homöopathischen» Magie [1] bedienen. Für M. Fou-
nem Vorgehen und der Wahl seiner Beispiele dieses cault repräsentiert das sich auf Ähnlichkeit gründende
Problem gelöst - und auch das Problem, daß Tropen nur Denken von P A R A C E L S U S , A G R I P P A VON N E T T E S H E I M oder
C A M P A N E L L A sogar die <Episteme> der Renaissance, d.h.
als solche erkannt werden können, wenn klar ist, um
welche Sache es eigentlich geht, d.h. wenn das Thema das ihr zugrunde liegende Denk- und Wissenssystem.
einer Rede konstituiert ist. Foucault unterscheidet vier Formen der Ähnlichkeit:
convenientia, analogia, aemulatio, Sympathie/Antipa-
thie. [2] Es überrascht, daß für Foucault die convenientia,
Anmerkungen: d.h. das räumliche Nebeneinander, eine Form der Ähn-
l v g l . C.P. Mayer: D i e Zeichen in der geistigen Entwicklung lichkeit und nicht der metonymischen Nachbarschaft ist.
und der Theol. des jungen Augustinus (1969) l l ó f f . ; J. Pépin: Foucault kann diese Auffassung nur durch die spekula-
Saint Augustin et la fonction protreptique de l'allégorie, in:
tive These abstützen, daß die «Nachbarschaft nicht eine
Recherches. Aug. Suppl. 1 (1958) 243-286; zur Allegorik im
antiken Schrifttum H.-J. Klauck: Allegorie u. Allegorese in syn-
äußere Beziehung zwischen den Dingen ist, sondern das
optischen Gleichnistexten (1978) 32ff. - 2 vgl. Johannis Cassiani Zeichen einer zumindest dunklen Verwandtschaft». [3]
consolationes XXIIII, ed. M. Petschenig (Wien 1886) 14,8; vgl. Auch die beiden letzten Formen sind im strengen Sinn
H. de Lubac: Exégèse Médiévale. Les quatre sens de l'écriture, keine Arten des Ähnlichen, sondern aus der Analogie
I - I V (Paris 1959-63, zit. n. d. Ausg. 1993) I, 139ff.; bes. E. mit menschlicher Erfahrung selbst ableitbare Anthropo-
Winkler: Exegetische Methoden bei Meister Eckhart (1965) morphisierungen. Das läßt sich leicht zeigen. Nur Dinge,
1-18; W. Blank: Die dt. Minneallegorie (1970) 15ff.; U. Krewitt: die in einer Analogierelation stehen, können nämlich
M. und tropische Rede in der Auffassung des M A (1971) 443ff. miteinander wetteifern (aemulatio). So reflektieren sich
- 3 Aug. Doctr. III, 29,40. - 4ders., Contra mendacium 10,24. -
5 ebd. 5, 7. - 6 Mayer [1] 341 ff.; Pépin [1] 243-286; vgl. Krewitt - wie Spiegel - Sterne, Augen, aber auch Gräser, sie wett-
[2] 109ff., I18ff. - 7vgl. bes. Aug. Doctr. IV, 7 , 1 5 . - 8 M a y e r [1]
eifern miteinander, weil sie an der gleichen Stelle der
340f; vgl. Augustinus, D e diversis questionibus 83, in: ML, Bd.
40,42. - 9 M a y e r [1] 334. - lOHraban, M L 111, 12D/13A; Isidor,
kosmologischen Analogierelation: Sterne/Himmel ~
Allegoriae M L 83, 97 (= Isid. Etym. I, 37, 22); Ps-Hraban, M L Augen/Gesicht « Gräser/Erde ~ Mineralien/Felsen «
112, 850B; F. Ohly: V o m geistigen Sinn des Wortes im M A , in: Hautflecken/Körper usw. stehen. Die Augen leuchten
Z D A 89, 1 - 2 3 (Sonderdruck 1966); vgl. ders.: M. für die Sün- nicht nur wie die Sterne, sie haben auch beim Magier und
denstufen u. die Gegenwirkungen der Gnade (1990). - 11 vgl. Seher die Kraft, Verborgenes und Dunkles, also auch die
R. Hartmann: Allegorisches Wtb. zu Otfrieds von Weissenburg Geheimnisse des Himmels, der Erde und des Schicksals
Evangeliendichtung (1975). - 1 2 H . H . Glunz.: D i e Literaturäs- zu schauen. Umgekehrt kann man in den Sternen sein
thetik des europäischen M A (1963; Ί 9 3 7 ) 166ff. - 1 3 H . Brink- Schicksal lesen, ja das Firmament selbst ist ein magisches
mann: Ma. Hermeneutik (1980). - 14J. Jones, E. Jones (Hg.):
Buch, voller Signaturen, das von der Imagination - der
Commentum quod dicitur Bernardi Silvestris super sex libros
Eneidos Virgilii (London 1977); vgl. Curtius 118ff„ 441ff.; P. «Sonne im Menschen» [4] - dechiffriert werden muß.
Klopsch: Einf. in d. Dichtungslehren des lat. M A (1980) 96ff. - Wie schon bei Empedokles meint Analogie nicht bloß,
15Glunz [12] 394; vgl. Lubac [2] 1,124ff. u. IV, 272. - 16Thomas daß sich analoge Dinge gleich verhalten, sondern viel-
v. Aquin, Summa contra gentiles III, 83 und III, 33. - 17ders., mehr, daß sich Gleiches anzieht (liebt) und Ungleiches
Summa theologiae I, 1, 9. - 18ebd. - 19vgl. Quint. IX, 2, 40ff.; abstößt (haßt). Dieses anthropomorphisierte Analogie-

1121 1122
Metapher Metapher

prinzip erklärt die vierte Art der Ähnlichkeit, die Sympa- im Kernbereich des Denkens des Humanismus und der
thie und Antipathie. So ist für Agrippa in <De occulta phi- Renaissance vorbereitet.
losophia> (1510) wie schon für «die Ägypter die Natur Ein wesentlicher Aspekt dieses Kernbereichs ist durch
eine Magierin [...], d.h. die magische Kraft selbst, die sich einen Ciceronianismus bestimmt, der sich jedoch nicht
durch Anziehung des Ähnlichen durch das Ähnliche, des mehr an Logik, Grammatik und rhetorischer Figuren-
Übereinstimmenden durch das Übereinstimmende lehre, sondern am Ideal des perfectas orator orientiert.
äußert. Diese Anziehung in Folge der gegenseitigen Der Stilist und Redner Cicero und der Gelehrte Quinti-
Übereinstimmung der Dinge, des oberen mit dem unte- lian werden bei P . BEMBO, Β . VARCHI, SPERONE SPERONI
ren, nannten die Griechen συμπάθεια (sympátheia); so oder Pico DELLA MIRANDOLA zu neuen Leitbildern. [10]
stimmt mit der Erde das Wasser in der Kälte, das Wasser Rhetorik ist nicht mehr trockene ars dicendi, sondern
mit der Luft in der Feuchtigkeit, die Luft mit dem Feuer Habitus einer Elite. Gegen diesen Universalanspruch
in der Wärme, das Feuer mit dem Himmel in der Materie wendet sich schon früh in mehreren gegen Cicero und
überein, und es vermischt sich das Feuer mit dem Wasser Quintilian gerichteten Schriften PETRUS R A M U S . Er und
nur durch die Luft, die Luft mit der Erde nur durch das seine Nachfolger werden hier zur minimalistischen Rich-
Wasser. So verbindet sich auch die Seele mit dem Körper tung der neuzeitlichen Tropen- und Figurenlehre gerech-
nur durch den Lebensgeist, und der Verstand mit dem net (1.). Daneben lassen sich eine maximalistische (2.)
Lebensgeist nur durch die Seele». [5] Doch diese Welt ist und eine traditionalistische (3.) Richtung unterscheiden:
wie in der neuplatonischen Mystik und bei Thomas von erstere ist durch eine Erweiterung bzw. zumindest voll-
Aquin stufenförmig von oben nach unten geordnet: ständige Auflistung aller bisher in der Tradition unter-
«Denn es herrscht in der Natur ein solcher Zusammen- schiedenen Figuren und Tropen gekennzeichnet, letztere
hang und eine solche Übereinstimmung, daß jede obere versucht dagegen, die traditionelle Tropenlehre durch
Kraft durch das einzelne Untere in langer und ununter- verschiedene Präzisierungen zu verbessern.
brochener Reihe ihre Strahlen austeilend bis zum letzten 1. Für Ramus gehören inventio und argumentatio zu
strömt, und andererseits das Untere durch die einzelnen den einschlägigen Disziplinen Logik und Dialektik, nicht
Stufen des Oberen bis zum Höchsten gelangt». [6] So wie aber zur Rhetorik, die sich um die elocutio und pronun-
«unter den Oberen Freundschaft und Feindschaft tiatio zu kümmern hat. Die Tropen selbst führt er auf vier
besteht, so richten sich auch danach die Neigungen der Arten zurück: Metonymie, Ironie, Μ., Synekdoche. In
ihnen untergebenen Dinge unserer Welt». [7] Zwischen allen findet eine «mutatio propriae significationis in
gleichrangigen Dingen besteht Sympathie und Antipa- verbo» (eine Vertauschung der eigentlichen Bedeutung
thie, Liebe und Haß: «Jedes Ding hat etwas Furchtbares, im Wort) statt und zwar «von den Ursachen auf die Wir-
Schreckliches, Feindliches und Zerstörendes, und dage- kung bzw. den Subjekten (subjecta) auf das ihnen akzi-
gen etwas Freundliches, Freudiges, Stärkendes und dentell Zukommende (adjuncta) und umgekehrt»
Erhaltendes. So ist unter den Elementen das Feuer ein (Metonymie), «von Gegensätzlichem auf Gegensätzli-
Gegner des Wassers und die Luft eine Feindin der Erde ches» (Ironie), «von Ähnlichem auf Ähnliches» (M.) und
[...]. Im Tierreich besteht Freundschaft zwischen Amsel «vom Ganzen auf den Teil und umgekehrt» (Synekdo-
und Drossel, zwischen der Krähe und dem Reiher, zwi- che). [11] Die übrigen Tropen werden als echte oder nur
schen den Pfauen und Tauben». Antipathie und Wider- scheinbare Unterarten dieser vier <genera> bestimmt. Im
willen hingegen haben z.B. Ameisen «gegen Majoran, Unterschied zur systematischen Tropenlehre der Stoa
gegen die Flügel einer Fledermaus und das Herz eines werden hier die Einteilungskriterien - nebeneinanderlie-
Wiedehopfes, vor deren Gegenwart sie fliehen. [...] Die gend, gegensätzlich, ähnlich - den entsprechenden Tro-
Gurken hassen das Öl dergestalt, daß sie sich hakenför- pen zugeschrieben, und innerhalb des Nebeneinanderlie-
mig krümmen, um es nicht zu berühren». [8] Daß Sympa- genden wird zusätzlich die Teil-Ganzes-Beziehung
thie und Antipathie nur zwischen gleichrangigen Dingen neben der Metonymie unterschieden. Von hier aus ist
entstehen kann und darf, übersieht Foucault. Diese uni- klar, daß sich Ramus vehement gegen die Subsumierung
verselle Analogie, dieses Wetteifern, Anziehen und der Ironie unter die Allegorie bei Quintilian wendet;
Abstoßen hat für den Menschen auch praktische Konse- aber auch, da er den Tropus als eine Veränderung im
quenzen: analoge Dinge nämlich, Dinge also, die sich Wort bestimmt (mutatio in verbo), daß er die Allegorie,
anziehen, haben auch für AGRIPPA die Fähigkeit, Qualitä- sofern ihr eine M. zugrunde liegt, nicht als Textform, son-
ten des Dinges, mit dem sie sympathetisch wetteifern und dern als Aneinanderreihung von mehreren M.
von dem sie angezogen werden, zu übernehmen. Wenn bestimmt. [12] In der Klassifikation von Ramus, aber
wir nämlich z.B. Liebe erwecken wollen, «so müssen wir auch in seiner Definition des Tropus liegt eine radikale
ein Tier suchen, das in der Liebe sich auszeichnet. Dahin Abkehr von der lateinischen Rhetorik vor. Dadurch, daß
gehören die Taube, der Sperling, die Schwalbe, die Bach- er den Tropus als mutatio in verbo bestimmt, wird die tro-
stelze. Von diesen Tieren müssen wir diejenigen Teile pische Rede zu einer inhaltlichen Veränderung, die im
oder Glieder nehmen, in denen hauptsächlich der Lie- Wort geschieht. Zugleich ist diese Bestimmung eine
bestrieb herrscht» [9] - analoge Dinge übertragen nicht Abkehr von der in der mittelalterlichen Bibelallegorese
bloß metaphorisch, sondern auch faktisch ihre Eigen- teilweise vorgenommenen Vergegenständlichung der M.
schaften, freilich nur dann, wenn sie in ein räumliches als (Voraus-) Bild und natürlich eine Abkehr von jegli-
Nebeneinander mit dem ihnen analogen Ding gebracht cher mystischen und magischen Auslegung. Eine weitere
werden. Diesem magisch-kosmogonischen Denken fehlt Konsequenz des ramistischen Systems ist, daß die lo-
offenbar nicht nur das Bewußtsein der Übertragung und gischen und argumentativen Ähnlichkeitsformen, also
damit der Andersartigkeit der analogen Dinge, sondern etwa das Paradigma, aber auch die von Donat und
auch das Bewußtsein, daß diese Übertragungen Formen dem Mittelalter noch unterschiedenen Formen der
der an Sprache gebundenen begrifflichen Repräsentie- homoiösis, zur Dialektik und Logik gerechnet werden.
rung der Wirklichkeit sind. Beides wird zwar erst im 18. Kurz: die M. gehört zur Sprache, das Paradigma - d.h.
Jh. in der von der <Allgemeinen Grammatik> entwickel- Vergleichen und Folgern aus dem Ähnlichen-zur Logik.
ten Tropenlehre systematisch herausgearbeitet, ist aber Diese radikale Trennung wird vom 'rhetorischen' Dia-

1123 1124
Metapher Metapher

lektiker A G R I C O L A in <De inventione dialectica> nicht Bei G O T T S C H E D steht die M. wieder im Zentrum der
vorgenommen, da er bei der Erörterung des Topos aus Tropen bzw. der «verblümten Redensarten», die er des-
der Ähnlichkeit auf den Nutzen der M., die «ohne Verzö- halb auch vor der Metonymie, der Synekdoche und der
gerung die Ähnlichkeit» aufzeigt, hinweist. Will man Ironie behandelt. In seiner begriffsrealistischen Defini-
nämlich nachweisen, daß Liebe ein Übel ist, so soll man tion der M. folgt er fast wörtlich Aristoteles: «Die Meta-
nachschauen «was von der Liebe in metaphorischer phore ist also eine verblümte Redensart, wo man anstatt
Bedeutung gewöhnlich gesagt wird». So kann man z.B. in eines Wortes, das sich in eigentlichem Verstände zu der
der M. «aus Liebe entbrannt» schnell ein Argument aus Sache schicket, ein anderes nimmt, welches eine gewisse
der zerstörerischen und alles vernichtenden Kraft des Aehnlichkeit damit hat, und also ein kurzes Gleichniß in
Feuers gewinnen. [13] Hier ist angedeutet, was schon bei sich schließt». [20] Kennzeichnend für diese Dichtkunst
Aristoteles angelegt ist und in der Moderne systemati- ist freilich, daß die argumentativen Ähnlichkeitsformen
siert wird, nämlich daß die der M. implizit zugrundelie- nicht mehr als solche, sondern nur noch als Textformen,
genden Inferenzen sich nicht wesentlich von den in expli- nämlich als Gleichnis und Vergleichung, gesehen wer-
ziten Argumenten verwendeten Ähnlichkeitsschlüssen den. [21]
unterscheiden. Von großer Bedeutung für die Moderne wurde, daß G.
Das ramistische Viererschema findet sich nicht nur in Vico nicht nur in seiner Rhetorik, den <Institutiones Ora-
der lateinischen <Rhetorica> ( 1 5 4 7 ) und der französi- toriae> (1711) [22], sondern auch in seiner <Scienza
schen <Rhétorique> ( 1 5 5 5 ) seiner Schüler O . T A L O N und Nuova> (1725/44) die ramistische Einteilung übernimmt
A. F O U Q U E L I N - zwei fast identischen Abhandlungen -, und spekulativ auf die Entwicklung der menschlichen
sondern auch in vielen protestantischen und anglikani- Sprache anwendet. Vico unterscheidet drei Zeitalter, das
schen Rhetoriken bis ins 1 8 . Jh.: K E C K E R M A N N ( 1 6 1 2 ) , der Götter (Theokratie), das der Heroen (Aristokratie)
F A R N A B Y ( 1 6 2 5 ) und Vossius ( 1 6 0 5 / 1 6 3 0 ) , ja sogar G O T T - und das der Menschen (Republik), denen drei <Spra-
SCHED übernimmt in seiner <Critischen Dichtkunst) chen> entsprechen: die natürlich-mythische, die poeti-
( 1 7 4 2 ) dieses Schema. sche und die Volks- bzw. Epistolarsprache. Der poeti-
Fouquelin behandelt ganz im Sinne von Ramus die schen Sprache liegen die vier Tropen M., Metonymie,
Katachrese, die Allegorie, das Rätsel und die Hyperbel Synekdoche und Ironie, die sich nacheinander herausbil-
als Formen der M., die er, sofern diesen überhaupt eine den, zugrunde. Diese Tropen sind «notwendige Aus-
translation zugrunde liegt, respective als hart klingende, drucksmodi der ersten poetischen Nationen» und nicht
mehrfache, dunkle und über- bzw. untertreibende M. bloß «geistreiche Erfindungen» (ingegnosi ritruovati)
bestimmt. [14] Die M. wird nach der Metonymie und Iro- von Dichtern. [23] Da Vico diese Äbfolge der Zeitalter
nie behandelt. Die Frage der Gütekriterien wird nur kurz und der Tropen zugleich diachron und synchron, phylo-
erörtert, freilich mit explizitem Bezug auf Aristoteles' genetisch und ontogenetisch denkt, liegen die Tropen
Begriff des <Vor-Augen-Führens> und der Projektion auch einer jeden Volkssprache (volgare) zugrunde und
von Beseeltem auf Unbeseeltes. Ganz der ramistischen sind notwendig für den Spracherwerb. Daraus folgt wei-
Doktrin entsprechend fehlen in dieser Rhetorik die dia- ter, daß die tropische Rede, vor der eigentlichen, von den
lektischen Teile inventio und dispositio. Beide Teile fin- Grammatiken privilegierten prosaischen Sprache war
den sich wieder im II. und III. Buch der Rhetorik von und ist. Genau dieser Gesichtspunkt sollte in der
Vossius, freilich meint inventio nicht mehr die Argumen- Moderne von einer zugleich kulturanthropologischen
tationslehre, sondern das Finden des passenden Ethos und psychologischen Theorie der Entstehung der Spra-
und Pathos. Die inventio im alten Sinn wird nur kurz im I. chen wieder aufgegriffen werden. [24] Von den Tropen
Buch vorgestellt. In dieser Ent-Logisierung der Rhetorik ist die M. wie schon für Aristoteles oder Quintilian die
folgt Vossius den Ramisten, ebenso wie in seiner Unter- «hellste, notwendigste, häufigste» (la più luminosa, la più
scheidung von vier Haupttropen, die er aber im Gegen- necessaria, la più spessa). Sie verlangt ingegno und fanta-
satz zu Fouquelin in der Reihenfolge M., Metonymie, sia, Geist und Einbildungskraft. Sie wird am meisten
Synekdoche, Ironie abhandelt. Die M. definiert er inten- gerühmt, wenn sie «unbelebten Dingen» (cose insensate)
sional: eine M. liegt vor, «cum vox à propriâ significa- «Gefühl und Leidenschaft» (senso e passione) ver-
tione deflectitur ad alienam propter similitudinem» leiht. [25] Mit dieser stilistischen Anthropomorphisie-
(wenn ein Wort von seiner eigentlichen Bedeutung zu rung der Dinge durch die M. wendet Vico, wie schon vor
einer anderen aufgrund einer Ähnlichkeit verändert ihm das Barock, das aristotelische Gütekriterium des
wird). [15] Da das hier verwendete Verb deflectere auch Vor-Augen-Führens und energetischen Beseelens spe-
Verbiegen konnotiert, wird hier der metaphorische kulativ. Da er gleichzeitig aber auch durch viele Beispiele
Sprachgebrauch zugleich als Abweichung bestimmt. zeigt, daß in den historischen Sprachen selbst die «Mehr-
Vossius unterscheidet, wie schon vor ihm Galfrid, neben zahl der Ausdrücke für unbelebte Dinge vom menschli-
der traditionellen generischen Antonomasie die singu- chen Körper und seinen Teilen, von seinen Sinnen und
lare Antonomasie; beides sind Unterarten der Synekdo- seinen Leidenschaften übertragen wurden» [26], sollte er
che, die erste entspricht der generalisierenden Synekdo- Ende des 19. Jh. nicht nur zu einem Vorläufer der histori-
che, die zweite der partikularisierenden Synekdoche. schen Sprachwissenschaft, sondern auch zu einem wichti-
Dies hindert ihn freilich nicht daran, in bestimmten Fäl- gen Bezug für neuere Erkenntnis- und Wissenschafts-
len (etwa «Er ist ein römischer Jupiter») die singulare theorien werden.
Antonomasie auch als M. zu bestimmen. [16] Wie bei 2. Neben der ramistischen Reduktion findet sich in die-
Ramus bilden Allegorie und Katachrese keine besonde- ser Epoche auch die entgegengesetzte Bewegung: so
ren Tropen, da sie aus anderen Tropen gebildet wer- unterscheidet etwa N. C A U S S I N in <De eloquentia sacra et
den; [17] als Arten der Allegorie unterscheidet Vossius humana> (1643) über zweihundert nicht differenzierte
ganz traditionell die Fabel, den Mythos, das Rätsel, das und alphabetisch aufgelistete Tropen und Figuren. Vor-
Sprichwort. [18] Auch die Denkfiguren der homoiösis bild für diese maximalistische Richtung ist I.C. SCALIGER
werden behandelt [19], freilich unter Rückgriff auf SCALI- mit seinen monumentalen <Poetices libri septem>. Bei
GER, der diese Formen ent-logisiert hatte. Scaliger wird diese Ausweitung durch eine Verallgemei-

1125 1126
Metapher Metapher

nerung des Terminus <Figur> möglich, die bei ihm jede argumentativen Charakter der collatio bei Scaliger gele-
«tolerierbare Darstellung der Begriffe, die vom norma- sen werden, sondern muß umgekehrt als Beleg für die
len Gebrauch abweicht» [27] umfaßt, also alle traditio- Vermischung von darstellendem und argumentativem
nellen Tropen und Wort-, Stellungs- oder Satzfiguren, Vergleichen interpretiert werden: collatio meint somit
aber auch die syllogistischen Schlußfiguren, die ja vom bei Scaliger nur noch allgemein das positive oder das
«gewöhnlichen Sprachgebrauch» weit entfernt sind. [28] kontrastierende Gegenüberstellen von Vergleichbarem.
Die sprachlichen Figuren selbst teilt Scaliger in zwei Die gleiche Verflachung läßt sich bei der Behandlung
Gruppen ein: (a) «solche, die das, was ist» und (b) «sol- der Allegorie feststellen. Scaliger behandelt sie zunächst
che, die dessen Gegenteil» (aut id quod est aut contra- als eine spezifische Form der comparatio, bei der vor dem
rium) ausdrücken. In der ersten Gruppe unterscheidet er eigentlichen Thema eine Geschichte oder zumindest
vier Arten, je nachdem, ob eine Figur das, was ist, «in eine zusammenhängende Darstellung gegeben wird; des-
gleicher Weise oder durch mehr oder durch weniger oder halb bezeichnet er diese auch als praetextum. [35] Die
anders» (aut aeque aut plus aut minus aut aliter) sagt. [29] «wahre Allegorie» gehört freilich zur vierten Art der
Die M. (translatio) gehört zur ersten Art und wird von Figuren, die das, was ist, anders sagen. Scaliger bezieht
Scaliger neben dem Bild, dem Beispiel, der Vergleichung sich nun zwar am Ende seiner Darstellung der allegori-
und dem Vergleich (imago/translatio, exemplum, colla- schen Figuren auf die traditionelle Auffassung, daß «die
tio, comparatio) unter dem Oberbegriff der Annäherung Allegorie durch Ähnlichkeit und Metaphern ent-
(assimilatio) zusammengefaßt, wobei der Aristoteliker steht» [36], ohne daß dies aber seine Erörterung beein-
Scaliger bei Exemplum ausdrücklich auf den griechi- flussen würde. In dieser Erörterung werden nämlich u.a.
schen Terminus παράδειγμα, parádeigma) hinweist. Neu die Fabel, die Erzählung (mythos), das Rätsel oder das
ist nicht nur, daß die M. als eine Unterart des Bildes Sprichwort behandelt. Äuch hier werden offenbar
behandelt wird, sondern vor allem, daß Bild und M. der ursprünglich argumentative Formen (Aristoteles behan-
gleichen Gruppe wie die drei übrigen, eben der assimila- delte die Fabel noch als eine Form des Paradigmas) mit
tio, zugeordnet werden. Deshalb betont Scaliger zu Textformen (Rätsel) und Ausdrucksformen (Sprich-
Recht, daß «die Alten» für diese Gruppe «noch keinen wort) zusammengebracht. Dieses Vermischen bewirkt
gemeinsamen Namen kannten». [30] Doch dieses auch hier insofern eine Ent-Logisierung, als der argu-
Zusammenbringen der verschiedenen Ebenen, auf mentative Charakter der Fabel verloren geht. Da durch
denen Ähnlichkeit wirken kann - Wort, Text, Argumen- dieses Vermischen auch die spezifischen Differenzen der
tation - führt nicht zu einer Präzisierung der Gemein- anderen allegorischen Figuren verwischt werden, bleibt
samkeiten und Unterschiede dieser Rede figuren, son- für sie letztlich nur die allgemeine Bestimmung, die Scali-
dern vielmehr zu ihrer Verwischung. So übernimmt Sca- ger für ihre Gattung, eben die Allegorie gibt: sie ist «eine
liger zwar die aristotelische realistische Definition der Figur, die etwas anderes sagt, aber etwas anderes ähnli-
M.: eine M. liegt vor, «wenn wir das, was ist, von einer ches meint» (figura aliud dicens, aliud intellegens
Sache auf eine [andere] übertragen» (quoties e re in rem simile). [37] Der Zusatz ähnliches (simile) macht klar,
transferimus id quod est)- wie etwa «die Welle der Grü- daß auch Scaligere systematische Figurenlehre genauso
ßenden». [31] Da diese M. jedoch gleichzeitig als Bild gegenüber dem semiotischen Problem des Anders-
begriffen wird, verliert die M. ihre Besonderheit, nämlich Sagens blind bleibt, wie in der Antike die Stoa oder im
eine Form des tropischen Anders-Sagens zu sein. Bilder Mittelalter der große Entwurf des Gervasius von Mel-
müssen für Scaliger nämlich nicht immer auf einer meta- kley.
phorischen Übertragung gründen, es genügt, daß sie Ein weiteres Beispiel in dieser Gruppe der extensiven
«zwei Dinge durch eine assimilatio, die man όμοίωσις Behandlung der Figuren ist die <Arte of English Poesie>
(homoiösis) nennt, unter eine und die gleiche Vorstel- (1589) von PUTTENHAM. Im Gegensatz zu Scaligers onto-
lung bringen». Das unterscheidet das Bild auch vom logischer Klassifikation gliedert er die Figuren lingui-
exemplum, das verwendet wird, «damit etwas auf stisch und zugleich pragmatisch - sozusagen: in engli-
bestimmte Weise geschehe». [32] Hier hat das exemplum scher Manier - in «auricular figures» und «sensable figu-
keine argumentative Funktion mehr, es ist rein deskrip- res»; erstere, die «Ohr-Figuren», betreffen die Wort- und
tiv und kann deshalb, wie Scaliger selbst hervorhebt, als Konstruktionsfiguren, also die voces bzw. Signifikanten,
Figur behandelt werden. Die gleiche Ent-Logisierung letztere sind Sinnfiguren «because they alter and affect
läßt sich für die Behandlung der comparatio und der con- the minde by alteration of sence» (weil sie den Verstand
latio feststellen, die sich beide auf «voneinander durch Sinnveränderung wandeln und beeinflussen). [38]
getrennte Dinge» beziehen. Die comparatio meint nicht Und innerhalb dieser Gruppe unterscheidet er ganz tra-
mehr wie noch bei Quintilian die a fortiori- oder die a ditionell die Sinnfiguren in Einzelwörtern, d.h. die Tro-
pari-Argumentation, sondern nur noch Vergleiche, bei pen, und die, welche den Sinn von ganzen Sätzen und
denen zuerst der Vergleichsbereich und dann «das, Reden (in whole clauses and speaches) verändern. [39]
wovon die Rede ist» [33], also das Thema genannt wird. D a ß Puttenham Allegorie, Ironie oder das Rätsel zur
Bei der collatio werden zwei voneinander getrennte letzten Untergruppe zählt, wird von seinem pragmati-
Dinge oder Sachverhalte miteinander verglichen, um schen Ansatz her nahegelegt. Ebenso naheliegend ist,
ihre Ähnlichkeit («Unwürdig ist es, wenn χ die Handlung daß er die Katachrese und die M. zur ersten Untergruppe
Ρ und wenn y die Handlung Q vollziehen») oder ihre zählt. Die M. (transport) wird als erste und am ausführ-
Unähnlichkeit («x ist nicht überlegen wegen P, sondern lichsten in dieser Untergruppe behandelt. Seine Defini-
wegen Q») kontrastierend darzustellen. Wenn Scaliger tion der M. ist intensional: «a kinde of wresting of a single
sowohl für das positive wie auch das kontrastierende word from his own right signification, to another not so
Vergleichen als Beispiele a fortiori-Argumente anführt naturall, but yet of some affinitie or convenience with it»
(«Wenn ich nach des Turnus Tod bereit bin, sie [die (eine Art Wegnehmen eines Wortes von seiner eigenen
Feinde] als Bundesgenossen herbeizurufen, warum soll richtigen Bedeutung, hin zu einer anderen, nicht so
ich dann nicht, solange er noch lebt, die Streitigkeiten natürlichen, aber doch mit ihm verwandt und zu ihm pas-
beenden?») [34], dann darf dies nicht als Indiz für den send). [40] Freilich nimmt Puttenham eine wesentliche

1127 1128
Metapher Metapher

Uminterpretation der M. und der Tropen vor, wenn er borum ac Rerum Copia> (Vom Reichtum der Wörter
die Allegorie wie auch jede Übertragung als eine Art von und Sachen) (1516) eine große Rolle. Es handelt sich um
dissimulano («a kinde of dissimulation») bezeichnet. Das keine systematische Abhandlung, sondern um eine Illu-
celare artem (die Kunst verbergen) war bei Cicero ein strierung der wichtigsten sich auf Wörter, zum Teil auf
Stilkriterium, das allzu artifizielle und gekünstelte Tech- Sätze beziehenden Sinnfiguren (= Kp. I) und der sich auf
niken verhindern sollte, hier - wie auch im Barock - wird Texte beziehenden Gedankenfiguren (= Kp. II) beim
es jedoch zu einem wesentlichen Kennzeichen tropischer Auetor ad Herennium, Cicero und Quintilian. Im Kapi-
Rede überhaupt. [41] Dies ist sicher auf die in der franzö- tel zu den Sinnfiguren finden sich deshalb auch die wich-
sischen <Pléiade> entwickelte Idee, daß sich wahre Kunst tigsten Tropen der lateinischen Rhetorik, freilich mit
verbirgt, zurückzuführen, aber auch auf den in der italie- einigen spezifischen Akzentuierungen. Bei der M. unter-
nischen Renaissance besonders von CASTIGLIONE entwik- scheidet Erasmus nämlich neben den traditionellen vier
kelten Begriff der sprezzatura, durch den sich die höfi- Übertragungsarten - (un)belebt <-> (un)belebt - die
sche Elite in einer Art edler Distanz und Verachtung deflexio, d.h. die M. von der Art zur Art, die er sogar für
gegenüber dem Gemeinen abgrenzen will. Diesen die wichtigste hält, und zeigt, daß vielen Adagia (Sprich-
Zusammenhang stellt Puttenham selbst her, wenn er das wörtern) eine Allegorie oder M. zugrunde liegt. [46] Von
geflügelte Wort «Qui nescit dissimulare nescit regnare» den Textfiguren der Ähnlichkeit behandelt Erasmus im
(Wer nicht weiß, wie man verbirgt, weiß nicht, wie man II. Buch Exempel, Parabel und Imago im Zusammen-
regiert) als Bestätigung zitiert. [42] Die Darstellungsfor- hang der «11. Methode», d.h. einen Text auszuschmük-
men der Ähnlichkeit (Ikon, Parabel, Paradigma) werden ken und zu amplifizieren - das ist bei Erasmus noch die
in der dritten Gruppe, den «sententious figures», in Methode, die sich auf die traditionelle rhetorische
denen Ohr und Sinn zugleich angesprochen wird, wie in Beweislehre stützt. Da Exempel und Parabel das gleiche
der Tradition als homoiösis, «the figure of resemblance» Verfahren zugrunde liegt, hält Erasmus die Unterschei-
(Ähnlichkeitsfigur), behandelt, wobei Puttenham ganz dung in einzelnes historisches Exempel vs. in Natur oder
der Tradition entsprechend das Ikon als die auf Übertra- Zufall liegende Parabel für eine Haarspalterei - was
gungen zurückgreifende Porträtierung und das Para- sicher nicht die Zustimmung der Logiker seiner Zeit
digma als historisches Beispiel bestimmt. Bei der Parabel fand, da ersteres logisch gesehen ein Paradigma, letztere
benennt Puttenham sogar den metaphorischen Charak- freilich ein Analogieargument darstellt. Ganz der logi-
ter: «Wann immer man durch Ähnlichkeit eine Moral schen Tradition, die hier auch Quintilian einbezieht, ent-
oder gute Lehre vermitteln will», so Puttenham, «indem spricht, daß er die rhetorische comparatio als a fortiori-
man eine natürliche Sache metaphorisch auf eine andere, Ärgumentation begreift. Traditionell ist auch sein Hin-
oder einen Fall auf den andern anwendet, und aus ihnen weis, daß verkürzte Exempla als M. oder Allegorie ver-
auf eine ähnliche Konsequenz in anderen Fällen folgert, standen werden können.
dann nennen das die Griechen Parabel.» (whensoever by
your similitude ye will seeme to teach any moralitie or In der Erasmus-Tradition stehen mehrere italienische
good lesson [...], metaphoricall applying one naturall Rhetoriken und Poetiken wie z.B. B. D A N I E L L O S <Della
thing to another, or one case to another, inferring by Poetica> (1536), in der vor allem die Ähnlichkeitstropen
them a like consequence in other cases, the Greekes call M. und Allegorie neben einer Reihe von Konstruktions-
it Parabola). [43] Hier ist metaphorisch offenbar ganz im figuren ausführlich am Beispiel der italienischen Klassi-
Sinne von analogisch zu verstehen. R. SHERRY hatte ker - Dante, Boccaccio, Petrarca - kritisch diskutiert
knapp vierzig Jahre vorher in seinem <Treatise of Sche- werden [47], und die dialektische Stillehre <La topica, o
mes and Tropes> (1550), einer Kompilation aus Stillehre vero della elocuzione) (ca. 1540) von G. C A M I L L O D E L M I -
und dialektischer Beweislehre, das Problem des Verhält- Nio, der, viel radikaler als etwa Agricola, die Dialektik
nisses von Tropen und Argumentationsformen ganz auf die Rhetorik projiziert. Er entwirft nämlich eine
anders gelöst. Letztere behandelt er nämlich im Teil pro- «Topica delle figurate locuzioni» (Topik der übertrage-
ves - das sind die Beweisformen. Und da er sich mehr an nen Redeformen), denen im wesentlichen die gleichen
der Behandlung der inventio in den Topiken als in den Topoi wie bei Agricola - also auch die Topoi von «ver-
Rhetoriken orientiert, unterscheidet er nicht mehr wie wandten Dingen, vom Ähnlichen und vom Vergliche-
die Donat-Tradition die homoiösis-Textformen, son- nen» zugrunde liegen. [48] Daneben behandelt er die
dern, wie schon Aristoteles, das Exemplum und danach «einfachen» figurativen Wortfiguren (Synekdoche,
die Parabel. [44] Dies erklärt wiederum, daß er die M. Metonymie) und die «übertragenen», d.h. die M., die er
selbst realistisch erklärt: «a worde translated from the wie Quintilian, freilich begriffsrealistisch, definiert. [49]
thynge that it properlye signifieth, unto another whych Wie Erasmus unterscheidet er neben den vier Übertra-
may agre with it by a similitude» (ein Wort, das von einer gungsformen eine fünfte, die er jedoch enger als dieser
Sache, die es eigentlich meint, auf eine andere übertra- bestimmt, nämlich als M. «vom benachbarten Teil im sel-
gen wird, die mit ihm durch eine Ähnlichkeit überein- ben Individuum» («da vicina parte nel medesimo indivi-
stimmen mag). [45] Vergleicht man diese englischen duo») - damit sind M. von der Art zur Art wie «spre-
Abhandlungen mit Scaliger, so fällt auf, daß in ihnen wie chende Augen» gemeint, in denen der für einen Körper-
in der Tradition die Unterschiede zwischen Wort, Text teil spezifische Ausdruck auf einen anderen Körperteil
und Satz gesehen werden, ja sogar, daß Puttenham ihre übertragen wird. Bedeutend systematischer und konser-
Gemeinsamkeiten hervorhebt, ohne jedoch ihre Unter- vativer geht etwa M E L A N C H T H O N in seinen <De rhetorica
schiede zugunsten eines recht allgemeinen Textbegriffs libri tres> (1519) vor, der die Allegorie aus den Worttro-
wie Scaliger zu verwischen. pen ausschließt, da «sie nicht im Wort, sondern im Sinn
ist» (non est in verbo, sed in sententia). Der noch andau-
ernde Einfluß der mittelalterlichen Allegorese zeigt sich
3. Langfristig sollte sich aber die konservative Lösung, darin, daß er den vierfachen Schriftsinn (litteralis, tropo-
d.h. die vorsichtig-kritische Fortschreibung der Tradi- logicus, allegoricus, anagogicus) ausführlich behandelt.
tion, insbesondere Quintilians, durchsetzen. Für diese Die Μ. selbst bestimmt er wie die Lateiner: sie liegt vor,
Richtung spielt die klar und gut geschriebene, mehrmals «wenn aufgrund einer Ähnlichkeit ein Wort von seiner
aufgelegte Abhandlung von E R A S M U S <De Utraque Ver-

1129 1130
Metapher Metapher

eigentlichen Bedeutung übertragen wird». [50] Und wie lian, also als a fortiori- und a pari-Argumentation zu ver-
bei Quintilian werden die Textformen der Ähnlichkeit stehen. Diese Bezüge, aber auch wesentliche Unter-
nicht als Schmuck-, sondern als Argumentationstechni- schiede, werden verdeckt, wenn man einer langen Tradi-
ken behandelt, denen die loci dialectici 'aus dem Ähnli- tion entsprechend diese drei Techniken resp. mit
chen' (ex similibus) zugrunde liegen. [51] «Gleichnis», «Gegenbild» und «Vergleich» über-
Auch die erste englischsprachige Rhetorik, die <Arte setzt. [57]
of Rhetorique> (1553) von T H . W I L S O N , übernimmt die Auch die Bibelrhetorik im 17. Jh. steht ganz in der Tra-
quintilianische Tropenliste, schließt aber die Allegorie dition der lateinischen Rhetorik und der Kirchenväter
als eigenständigen Tropus aus, da sie nichts anderes als (Augustin, Isidor, Beda): B. WESTHAMMER veröffentlicht
«eine M., die über einen ganzen Satz oder eine ganze 1528 eine für Theologen bestimmte Tropenlehre, die
Rede verwendet wird» darstelle (a Metaphore used 1551 durch eine allgemeine Stillehre ergänzt wird; 1591
throughout a whole sentence, or Oration). [52] Wie bei wird von H. A C H E M I U S eine kurze Tropenlehre unter
Quintilian wird die M. als erster Tropus behandelt und dem Titel <Technologia Rhetorica> publiziert, in der
auch intensional definiert: «Die M. ist die Veränderung nicht nur die traditionellen Definitionen zu finden sind,
(alteration) eines Wortes von der eigentlichen und natür- sondern auch sinngemäß die traditionelle Begründung
lichen Bedeutung (proper and naturall meaning) zu der, für ihre Verwendung, nämlich Notwendigkeit und
die nicht eigentlich ist [...] aufgrund einer Ähnlich- Anmut (iucunditas/delectatio) [58], vorgebracht wird.
keit». [53] Im Gegensatz zu Quintilian unterscheidet Wil- Von besonderer Bedeutung für das Verständnis der
son drei Ubertragungsarten: Körperliches auf Geistiges, deutschen Barockrhetorik und -poetik ist, daß in ihr der
Vernunft-Habendes auf Dinge ohne Vernunft, Belebtes bei Agricola explizit hergestellte Zusammenhang der M.
auf Unbelebtes. Die homoiösis-Techniken werden - der mit anderen wort- und satzübergreifenden Redeformen
Donat-Tradition entsprechend - bei den Tropen aufge- des Ähnlichen weitergeführt wird. Bei BIRKEN, H A R S -
führt, jedoch - mit ausdrücklichem Hinweis auf Quinti- DÖRFFER, K I N D E R M A N N oder M Ä N N L I N G wird - wie schon
lian - den Schmuckfiguren zugeordnet. Dabei werden ein Jahrhundert vorher bei Camillo Delminio - die rhe-
unter dem Oberbegriff <Similitudo> sowohl der Analo- torische inventio zusammen mit den Topoi oder loci (und
gievergleich als auch die a /orí/on-Argumentationen damit auch der locus a simile) auf die Poetik proji-
zusammengefaßt. Auffallend bei der ausführlichen Dar- ziert. [59] Das ist der wesentliche Unterschied zu Scaliger
stellung der Exempla ist, daß nicht nur historische Bei- und der ramistischen Schule. Dies erklärt, daß Harsdorf -
spiele und biblische Gleichnisse, sondern Beispiele aus fer Mitte des 17. Jh. in seinem <Poetischen Trichter> nicht
der apokryphen mythisch-magischen Tradition behan- mehr die M., sondern das Gleichnis als «Königin» der
delt werden. [54] Figuren bestimmt. 'Gleichnis' bedeutet bei Harsdörffer
Die konservative Lösung ist auch für die meisten jesui- Analogievergleich: «Hangen etliche Sachen durch eine
tischen Rhetoriken in der Nachfolge von C . SOAREZ' <De Gleichniß aneinander / daß man eines an Statt deß
arte rhetorica> (1560) bis hin zu L. V U L C A N O S <Sagata andern setzen kann / und entstehet also die Umset-
Pallas> (1687/88) kennzeichnend. Wie Quintilian beginnt zung», [60] d.h. die M. Der kognitive und erkenntnis-
Soarez mit der M., dieser folgen Synekdoche, Met- theoretische Charakter des Gleichnisses wird von ihm
onymie, Antonomasie, Katachrese, Onomatopöie, dann so bestimmt: «Der Lehrbegierige Verstand hat
Metalepse, Allegorie, Periphrase, Hyperbaton und zwey Mittel sich zu vergnügen: 1. In Erkanntniß der
Hyperbel, also ohne die homoiösis-Tropen. Trotz der Sachen selbsten [...]. 2. Durch Gegenhaltung gleichstän-
Nähe zu Quintilian wird die M. wieder extensional defi- diger Sachen / wann man viel auf einmahl anschauet / und
niert: sie ist eine «Übertragung (translatio) von dem Ort, solche gegeneinander hält / ihre Gleichheit und
in dem es zuhause (proprium) ist, in den Ort, in dem das Ungleichheit betrachtet / und diese Erkanntniß ver-
eigentliche Wort fehlt oder in dem es besser als das gnüget den Verstand so vielmehr / so viel weiter sie sich
eigentliche ist». [55] Auch Vulcano behandelt im III. erstreket / eine Sache vollständiger an das Liecht set-
Buch (= Elocutio) die gleichen Tropen, die M. freilich zet». [61] Damit formuliert Harsdörffer auch zentrale
wird, wie bei Quintilian, intensional definiert: «Die M. ist Einsichten der modernen Metapherndiskussion. Hier
ein Tropus, in dem aus Ähnlichem Ähnliches gemeint aber - wie etwa Willems - 'Gleichnis' als «allegorisches
wird» (Metaphora tropus est quo ex simili simile signifi- Bild» [62] zu verstehen, stellt ein Mißverständnis dar;
catur). [56] Die Ähnlichkeitstechniken - de similitudine, ebenso die Folgerung von Willems, für die Harsdörffer-
de dissimilitudine und de comparationis - werden im sche Poetik stelle Dichtung «wesentlich uneigentliche
Zusammenhang mit der Argumentationslehre im I. Buch Rede, uneigentliche wesentlich bildliche Rede und Bild-
(= Inventio) behandelt. Diese klare Trennung von Logik lichkeit wesentlich allegorische Bildlichkeit» dar. [63]
und Sprache ist nicht nur auf Quintilian zurückzuführen, Daß die Harsdörffersche Poetik nicht wie bei Willems
der die comparatio ebenfalls in der inventio behandelte, nur vom aristotelischen Begriff der <Mimesis> her
sondern sicher auch auf den Einfluß der ramistischen gedacht werden kann, zeigt sich schon darin, daß Hars-
Schule. Auffallend ist freilich, daß die beiden ersten dörffer an der zitierten Stelle fast wörtlich die zentralen
Techniken zwar von der <Herennius-Rhetorik> über- Gedanken von Aristoteles zur Erkenntnisfunktion der
nommen, nicht aber wie dort innerhalb der Gedankenfi- M. aus der Analogie übernimmt. [64] Die Erkenntnis-
guren behandelt werden. Die Verdoppelung der Ähn- funktion des analogischen Vergleichens verdeutlicht
lichkeitsformen in Gedankenfiguren (elocutio) und Harsdörffer zusätzlich durch die Hebel-Metapher: «Die-
Argumentationen (inventio) wird somit wieder zurück- sem nach ist die Gleichniß der Hebel oder die Hebstan-
genommen, wobei freilich die alten Bezeichnungen gen / welche durch Kunstfügige Ein- und Anwendung
erhalten bleiben. Die erste Technik (similitudo) umfaßt aus dem Schlamm der Unwissenheit empor schwin-
nämlich Analogieargumente vom Ähnlichen auf Ähnli- get». [65] Dem folgt, nach einem expliziten Hinweis auf
ches, die zweite (dissimilitudo) entspricht der gegensätz- Aristoteles eine ausführliche Diskussion der quintiliani-
lichen Analogie beim Auetor ad Herennium, die dritte schen Unterscheidung von erklärenden und beweisen-
schließlich ist identisch mit der comparatio bei Quinti- den Analogievergleichen (similitudines). [66] Die glei-

1131 1132
Metapher Metapher

chen Unterscheidungen hatte Harsdörffer schon im II. duelle und generische Antonomasie; ihr Unterschied
Teil seines <Poetischen Trichters> vorgenommen, in dem besteht darin, daß erstere eher oberflächlich und explizit,
er im vierten Kapitel als vierte Quelle poetischer «Erfin- letztere eher tief und implizit ist. [72] Wenn jemand vom
dung» das Gleichnis behandelt, aus welchem «viel hell- Gesetzgeber Drakon sagt, er sei kein Mensch, sondern
scheinende Gedanken herfließen». [67] Die kognitive, ja ein Dragone (= Drachen), dann liegt für Tesauro eine M.
sogar argumentationstheoretische Grundbedeutung des aus dem Zweideutigen vor [73]; die M. umfaßt somit bei
Gleichnisses wird auch in den von Harsdörffer unter- ihm auch Wortfiguren wie die Paronomasie bzw. die
schiedenen Arten von Gleichnissen greifbar; es sind dies Antanaklasis. Da Tesauro die M. aus dem Zweideutigen
Lehrgedichte, Exempla und Geschichten (zu denen die a mit der M. aus der Analogie zur Unterart des Ähnlichen
fortiori- und a pan-Argumente zählen) und mehrere zu (simile) zusammenfaßt (wobei erstere aus einer Ähnlich-
einem Zweck verwendete Gleichnisse. Damit sind meh- keit der Namen, letztere aus einer Ähnlichkeit der
rere aus verschiedenen Bereichen genommene Analo- Sachen entsteht), verwischt er zudem den wesentlichen
gieargumente gemeint, die argumentativ auf die gleiche Unterschied zwischen Wortfiguren und Tropen. [74] Die
Konklusion hin koorientiert sind. [68] Dem folgt eine M. der Opposition und der Dezeption gehören zur
ausführliche Behandlung der Gütekriterien der M. Unterart des Gegensätzlichen (contrario), wobei in der
(«wann nemlich eine Sache wegen grosser Gleichheit mit Opposition ein sachlicher Gegensatz, in der Dezeption
der anderen Umsetzt oder für die andere gesetzt hingegen ein subjektiv empfundener zum Ausdruck
wird») [69] - nicht zu gehäuft, nicht angemessen, zu hete- kommt. [75] All diesen Formen der M. liegt ein Verglei-
rogen, zu unpassend («wiedrig») - die ganz der lateini- chen zugrunde, während die Hyperbel und die Hypoty-
schen Stillehre entsprechen. pose für Tesauro absolute Zuschreibungen darstel-
Ein Blick auf die von Harsdörffer zitierten Beispiele len. [76] Diese einfachen Formen der M. werden wie in
zeigt, daß ihm nicht nur die griechisch-lateinische Rheto- der Tradition durch die metafore continuate ergänzt, also
rik der Antike und die allegorisch-mittelalterliche Tradi- durch die in den «schönsten scharfsinnigen Sentenzen
tion, sondern auch der neuzeitliche, von Italien ausge- und der Allegorie» (i più bei Motti Arguti, & l'Allego-
hende Manierismus bzw. die Argutia-Bewegung bekannt r i a ) ^ ] durchgeführten M. Das illustriert Tesauro mit
sind. Ein erstes Beispiel sind die 14 rhetorischen Übun- der M. «Rose, Königin der Blumen» (rosa, Reina de'
gen <1 Furori della gioventù» (1629) von G.B. M A N Z I N I Fiori) wiederum anhand der aristotelischen Katego-
und das tragikomische Epos <La secchia rapita> (1622- rien. [78] Doch auch Argumente können für Tesauro
1630) von A. TASSONI, in dem verschiedene Gattungstra- 'metaphorisch' sein, vor allem dann, wenn sie «scharfsin-
ditionen und Stilebenen auf burleske und ingeniöse nige Gedankengänge» (concetti arguti) zum Ausdruck
Weise gemischt werden. Die Argutiabewegung will bringen. Gelingt dies, so manifestiert sich zugleich eine
bewußt die Grenzen der überlieferten Regelpoetik und «enthymematische Urbanität» (urbanità entimematica).
Normativität des Angemessenen überschreiten, ohne Daß diese Urbanität für Tesauro gerade durch scharfsin-
sich freilich von der Tradition lösen zu wollen: die dort nige Trugschlüsse, Paradoxien und Paralogien erreicht
unterschiedenen Techniken sollen nämlich mit Scharf- wird, folgt fast mit Notwendigkeit aus seiner Bestim-
sinn (argutia) und geistreicher Phantasie (ingenium) so mung der M. als 'Mutter aller scharfsinnigen Gedan-
verwendet werden, daß überraschende und neue Zusam- ken'. [79] Der Klassifikationseifer Tesauros findet dann
menhänge aufscheinen und 'aufblitzen'. Deshalb in einer Darstellung der scharfsinnigen concetti, die mit
erscheinen auch im Untertitel der wichtigsten theoreti- jeder der von ihm unterschiedenen Metaphernarten voll-
schen Abhandlung dieser Bewegung in Italien, dem zogen werden können, ihren krönenden Abschluß. [80]
<Cannocchiale Aristotelico o sia Idea dell'arguta e inge- Ergebnis dieser sicher geistreichen Zusammenschau von
gnosa Elocutione> (1655) - dem <Aristotelischen Fern- Verschiedenem und Entlegenem durch Tesauro selbst ist
rohr> - von E. TESAURO, die beiden Schlüsselbegriffe die- freilich, daß wesentliche, von der Tradition mühevoll
ser Bewegung. Die M. ist für Tesauro nicht nur «die Mut- herauskristallisierte Differenzen verwischt werden.
ter der Poesie, der Symbole und der allegorischen Sen- Zentraler Bezugsautor Tesauros ist G. MARINO, der
tenzen (imprese)» und «aller scharfsinnigen Gedanken vor allem durch seine Gedichtsammlung <La Lira> (1602-
(argutezze)», sondern auch die wichtigste und höchste 15) zum Vorbild der nach ihm benannten Marinisten
der «ingeniösen Figuren» (figure ingegnose), mit denen wurde. Auch B. GRACIÁN bezieht sich in seiner rheto-
neue und überraschende begriffliche Zusammenhänge risch-poetischen Abhandlung <Agudeza y Arte de Inge-
aufgezeigt werden. Deshalb widmet er der M. in seiner nio* (1649) mehrfach auf Marino - freilich neben den
Abhandlung fast 250 Seiten - mehr als ein Drittel des griechischen und römischen Klassikern sowie den spani-
Gesamttextes. [70] Tesauro liest gleichsam die gesamte schen Autoren Q U E V E D O , J U A N R U F O , GÓNGORA und vor
rhetorische Tradition mit dem aristotelischen Fernrohr, allem LOPE DE VEGA. [81] Da Gracián sich an das traditio-
d.h. mit dem aristotelischen Lehrgebäude, freilich in nelle Lehrgebäude der Rhetorik hält, ist er zwar im Ver-
barocker Manier. Das zeigt seine Unterteilung der einfa- gleich zu Tesauro konservativer, dennoch beansprucht
chen M. in acht Arten - Ähnlichkeit, Attribution, Zwei- aber auch er schon im <1. Discurso> seiner Abhandlung,
deutiges (equivoco), Hypotypose, Hyperbel, Lakonis- Regeln für die Rede mit Scharfsinn (agudeza) aufstellen
mus, Opposition, Enttäuschung (decettione). Diese zu können und zu müssen, da die Alten diese nur für den
Arten werden zudem unter Rückgriff auf die aristoteli- Syllogismus und die tropische Rede gefunden hätten [82]
schen Kategorien in jeweils zehn Unterarten ausdiffe- - daher der zweite Teil des Titels <Arte de I n g e n i o (ars
renziert. Bei der M. aus der Ähnlichkeit, die der aristote- der geistvollen Imagination). Daraus folgt, daß das von
lischen M. aus der Analogie und der von der Art zur Art einer Kunst geleitete Herstellen (artifìcio) der agudeza
entspricht, unterscheidet Tesauro zusätzlich noch meh- nicht mit dem von der Dialektik geleiteten Finden der
rere Vergleichsbereiche (Recht, Militär, Medizin, See- Argumente einerseits noch dem von der Rhetorik erklär-
fahrt, Architektur usw.). [71] Die M. der Attribution und ten Herstellen einer durch Figuren und Tropen ausge-
des Lakonismus umfassen die aristotelische M. von der schmückten Rede andererseits verwechselt werden darf.
Art auf die Gattung und umgekehrt, aber auch die indivi- Die geistvolle Imagination (ingenio) begnügt sich nicht

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Metapher Metapher

wie das Urteil mit der Wahrheit (verdad) und strebt auch für einen anderen Gegenstand verwendet hatte, dann ist
nicht bloß Anmut (hermosura) an. [83] Das ganze tradi- diese Art sich auszudrücken übertragen; und die Wörter,
tionelle Gebäude der «Tropen und rhetorischen Figu- die man von der Sache überträgt, die sie eigentlich
ren» bildet nämlich die Materie der agudeza und dient als bezeichnen, um sie für eine Sache zu verwenden, die sie
ihr «Fundament». [84] Von daher erklärt sich die Bestim- nur indirekt bezeichnen, nennt man Tropen [...]. Die
mung der agudeza: «Consiste, pues, este artificio concep- Tropen bezeichnen die Sachen, auf die man sie anwen-
tuoso, en una primorosa concordancia, en una armónica det, nur auf Grund der Verbindung und der Beziehung,
correlación entre dos o tres cognoscibles extremos, die diese Sachen mit jenen haben, für die sie die eigentli-
expresado por un acto del entendimiento» (Dieses chen Namen sind). [89] Da hier der allgemeine aristoteli-
begriffliche artificio, das in einem Akt des Verstehens sche Metaphernbegriff für alle Tropen verwendet wird,
und Erkennens ausgedrückt wird, besteht somit in einer überrascht es nicht, daß Lamy an anderer Stelle mit Hin-
vollkommenen Übereinstimmung, in einer harmoni- weis auf die griechische Bedeutung betont, daß «alle Tro-
schen Korrelation zwischen zwei oder drei weit ausein- pen Metaphern» sind, wie auch, daß die M. im engen Sinn
ander liegenden Sachen). [85] Daß damit nicht nur das vorliegt, wenn man «ein fremdes Wort für das eigentliche
aristotelische Gütekriterium (Schauen des Analogen in (propre) setzt, das man von einer Sache entlehnt, die der,
weit Auseinanderliegendem) gemeint ist, sondern ein worüber man redet, ähnlich ist». [90] Auf die römische
verblüffender Zusammenhang von in irgendeiner Hin- Tradition verweisen seine Ausführungen zur Allegorie,
sicht Ähnlichem, wird durch den eigentümlichen Aufbau die wie bei Quintilian als «Fortführung mehrerer Meta-
der Abhandlung von Gracián deutlich. Er durchgeht phern» bestimmt wird, die, wenn zu dunkel, zu «Rätseln»
gleichsam die ganze rhetorische Stillehre unter der Fra- (énigmes) werden können. [91] Dennoch sind diese
gestellung, inwieweit die geforderte agudeza erfüllt ist, Bestimmungen überraschend, weil sie im Gegensatz zur
um dies dann an seinen Bezugsautoren zu illustrieren. rationalistischen Sprachkonzeption von Port-Royal ste-
Deshalb behandelt er nicht nur die auf Analogie beru- hen. In der Tat steht die begriffsrealistische These, daß
henden Formen der Ähnlichkeit (Analogievergleich, M., die Bedeutung der Tropen aus der «Verbindung und der
Allegorie, Rätsel, Fabel, Parabel usw. [86]), sondern Beziehung» hervorgehe, in denen die im wörtlichen
auch Wortfiguren wie etwa Paronomasien zwischen Dios Gebrauch gemeinte Sache zu andern Sachen steht, quer
(Gott) und di os (ich habe euch gegeben) oder zwischen zum Rationalismus von Port-Royal. Für die <Logik> von
modestia (Bescheidenheit) und molestia (Belästi- Port-Royal sind nicht nur die «idées principales», son-
gung) [87] oder den scharfsinnigen Gebrauch von mehr- dern auch die «idées accessoires», die durch Begleitvor-
deutigen Wörtern, von Paradoxien oder von antitheti- stellungen oder durch rhetorische Techniken hervorge-
schen Konstruktionen usw. [88] Dadurch freilich, daß rufen werden, Produkt des menschlichen Geistes. [92]
Gracián die verschiedenen Formen des Ähnlichen als Das berücksichtigt Lamy, wenn er einleitend sagt, daß
bekannt voraussetzt und nicht systematisch diskutiert, keine Sprache reich genug ist, «pour fournir des termes
werden auch bei ihm, trotz seiner Zentrierung auf die capables d'exprimer toutes les différentes faces sous les-
kognitive Dimension von Vergleichen, Analogien, Meta- quelles l'esprit peut se représenter une même chose» (um
phern oder Allegorien, deren Unterschiede verwischt. Äusdrücke bereitzustellen, welche all die unterschiedli-
Dies gilt besonders für die semiotische Differenz der M. chen Gestalten ausdrücken, unter denen der Geist sich
im Vergleich zu anderen Formen des sprachlichen Aus- die gleiche Sache vorstellen kann). [93] Das sich damit
spielens des Ähnlichen. für Lamy ergebende Dilemma zwischen begriffsrealisti-
Doch auch in den anderen, bisher behandelten rheto- scher Tradition und rationalistischer Sprachtheorie
risch-poetischen Abhandlungen der Neuzeit, in denen bleibt somit bei ihm ungelöst. Ebenso unvereinbar mit
die aristotelischen oder quintilianischen Definitionen dem offiziellen Verständnis von Port-Royal, nach dem
formelhaft wiederholt werden, bleibt die spezifische den Begleitideen und rhetorischen Techniken Affekte
Semiotik der M. ungeklärt. Hier wird die im Rahmen der zugrunde liegen («neben der hauptsächlichen Sache
Allgemeinen Grammatik in Frankreich entwickelte bringen die übertragenen Ausdrücke die innere Bewe-
Theorie der Tropen einige für die Moderne verbindlich gung und das Gefühl des Redenden zum Aus-
werdende Unterscheidungen herausarbeiten können. druck» [94]), ist die Behandlung der Tropen bei Lamy. Er
Das semiotische Problem der M. zeigt sich schon in der ordnet nämlich nur den Stellungs- und Sinnfiguren die
Rhetorik von B . LAMY ( 1 6 7 6 ) , die der rationalistischen Affekte zu, nicht aber den Tropen. Die Tropen drücken
Schule von Port-Royal zuzurechnen ist. Ihr Einfluß zeigt wie die eigentlichen Ausdrücke die Bewegungen unseres
sich u.a. darin, daß sie 1753 ins Deutsche übersetzt «Willens» (volonté) und unserer «Gedanken» (pensées)
wurde. Daß auch Lamys Rhetorik traditionalistisch ist, aus, die passions hingegen haben eine eigene Sprache
belegt ein Blick auf die von ihm behandelten Tropen: (langage particulier), die der «Figuren». [95] Dies erklärt,
Metonymie, Synekdoche, Antonomasie, M., Allegorie, daß er bei der Behandlung der traditionellen Gütekrite-
Litotes, Hyperbel, Ironie, Katachrese. Diese Nähe zur rien der Tropen nur die Forderung nach Klarheit und
Tradition zeigt sich auch in der Definition des Tropus: Angemessenheit diskutiert, nicht aber die an die Affekte
«Quand on se sert, pour signifier une chose, d'un mot qui gebundene suavitas. [96] Zu den Figuren freilich, welche
ne luy est pas propre, & que l'usage avoit appliqué à un die Affekte ausdrücken, gehören nicht nur exclamation
autre sujet, cette maniere de s'expliquer est figurée; & (Ausruf), Ellipse oder Wiederholung (d.h. Figuren, die
ces mots qu'on transporte de la chose qu'ils signifient von der natürlichen Anordnung (ordre naturel) der Wör-
proprement, pour les appliquer à une autre qu'ils ne ter abweichen), sondern auch die alten logischen Verfah-
signifient qu'indirectement, sont appelez Tropes [...]. ren similitude und comparaison, d.h. beide sind bei Lamy
Les Tropes ne signifient les choses auxquelles on les nur noch Beschreibungen, denen eine Analogie
applique, qu'à cause de la liaison & du rapport que ces zugrunde liegt, wobei letztere etwas lebendiger als
choses ont avec celles dont ils sont le propre nom» (Wenn erstere ist. Die gleiche Auffassung wird ein Jahrhundert
man sich, um eine Sache zu bezeichnen, eines Wortes später auch von JAUCOURT im Artikel <Figure> der Ency-
bedient, das dieser nicht eigen ist, und das der Gebrauch clopédie) vertreten: «In der Verwirrung eines heftigen

1135 1136
Metapher Metapher

Affekts (passion violente)» gebraucht man Wendungen, porte, pour ainsi dire, la signification propre d'un mot à
die man als «hyperboles, similitudes, prosopopées, hyper- une autre signification qui ne lui convient qu'en vertu
bates» bezeichnet, «also Wortfiguren oder Gedankenfi- d'une comparaison qui est dans l'esprit» (Die M. ist eine
guren». [97] Der Aufwertung der Tropen als begriffliche Figur, durch die man sozusagen die eigentliche Bedeu-
Verfahren entspricht so eine Abwertung der logisch- tung eines Wortes auf eine andere Bedeutung überträgt,
argumentativen Funktion der Denkfiguren bei Lamy die zu ihm nur dank eines Vergleichs paßt, der im Geiste
und der Grammaire Générale. In dieser Behandlung der ist). [104] Hier wird die M. zum ersten Mal rein begriffs-
Tropen unterscheidet sich Lamy wesentlich von den poe- rationalistisch ohne jeglichen Sachbezug definiert.
tisch-rhetorischen Abhandlungen der Renaissance und Dieser begriffsrationalistische Rahmen dominiert
des Barock, für die auch die Tropen an die Affekte auch bei den Definitionen der übrigen Tropen. Die Alle-
gebunden sind. [98] Wenn aber die eigentlichen wie die gorie wird von Dumarsais zwar ganz traditionell als eine
tropisch gebrauchten Wörter gleichermaßen zum «fortgeführte Metapher» definiert, dennoch gelingt es
gewöhnlichen Sprachgebrauch gehören, drängt sich der ihm, ihren Unterschied zur M. zu präzisieren, indem er
Gedanke, daß der «Reichtum der Sprachen besonders in zeigt, daß in einer Rede mit M. wie «das Feuer in ihren
den Tropen liegt» [99], geradezu auf. Das ist ein neuer, Augen» immer ein Term mit wörtlicher Bedeutung ver-
epochemachender Gedanke. Er bildet das Zentrum des wendet wird, während in der Allegorie alle Terme
1730 erschienenen <Traité des Tropes> von D U M A R S A I S zunächst unter einer wörtlichen Bedeutung präsentiert
und sollte eineinhalb Jahrhunderte später von der histo- werden, welche nicht mit der eigentlich gemeinten über-
rischen Sprachwissenschaft wieder aufgegriffen werden. einstimmt, die wiederum durch einen Vergleich (compa-
Es erstaunt deshalb nicht, daß Dumarsais die Lehre raison) erschlossen wird. [105] Auch wenn Dumarsais
und Analyse der Tropen und der M. zur Grammatik ganz traditionell Rätsel und Sprichwörter als allegori-
rechnet. Sicher wurden diese auch in den antiken Gram- sche Formen der Rede behandelt, unterscheidet er sich
matiken mit aufgeführt - freilich als eine Art Anhängsel, doch dadurch wesentlich von der rhetorischen Tradition,
nicht als «wesentlicher Teil» (partie essentielle) der daß er auch die Fiktionen (fictions), nämlich «Lehrfa-
Grammatik, welche die «wirkliche Bedeutung der Wör- beln, Parabeln und moralische Fabeln» [106] als Allego-
ter verstehbar machen» muß. [100] Es ist deshalb konse- rien behandelt. Damit wird endgültig die letzte Spur und
quent, daß Dumarsais vor seiner Erörterung der Tropen der letzte Hinweis auf die ursprüngliche argumentative
das Verhältnis von eigentlicher und übertragener Bedeu- Funktion dieser homoiösis-Techniken gelöscht. Auch
tung diskutiert. Doch auch ihm gelingt es nicht, das die Ironie wird nicht mehr zum allegorischen Anders-
Dilemma zwischen der begriffsrealistischen Tradition Sagen-als-Meinen gerechnet und wie bei Ramus als «das
und der rationalistischen Grundkonzeption zu lösen, da Gegenteil von dem, was man sagt, meinen» [107]
er einmal die verschiedenen, eine Sache begleitenden bestimmt. Bei der Antonomasie behandelt er wie vor
Umstände und Gegebenheiten («Les objets [...] sont ihm schon Lamy sowohl die generische als auch die sin-
toujours accompagnés de différentes circonstances qui gulare Antonomasie, subsumiert sie aber nicht wie dieser
nous frappent»), also einen sachlichen Bezug, hervor- unter die Metonymie, sondern unter die Synekdoche.
hebt und zum andern, im gleichen Atemzug, als Quelle In dieser Behandlung sollte ihm 1821/1830 P. F O N T A -
und Ursprung der übertragenen Bedeutungen die «zwi- NIER mit seinen <Figures du Discours> (die für die franzö-
schen den Begleitvorstellungen [idées accessoires] gege-
sischsprachige Diskussion bis heute wohl wichtigste
bene Verbindung» angibt. Auch die traditionellen Güte-
Abhandlung) folgen, der die Antonomasie als Individu-
merkmale Klarheit, Vor-Augen-Führen und Lebendig-
keit (vivacité), Schmuck und wieder das ästhetische ums-Synekdoche (synecdoque d'individu) bezeichnet, im
Gefallen sowie ihre negativen Pendants finden sich bei Gegensatz zur gewöhnlichen Synekdoche, bei der eine
ihm, ja sogar Aristoteles' enérgeia-Theorie klingt an Art für einen Gattungsnamen oder umgekehrt verwen-
(«Die Tropen geben unseren Ausdrücken mehr Ener- det wird. [108] Freilich vermerkt er am Ende seiner Dis-
gie» (plus d'énergie) [101]), und Lamys Idee des durch kussion dieser Trope, daß sie in der zweiten Form
Tropen gegebenen Reichtums einer Sprache wird sogar (Eigennamen für Gattungsnamen) «am häufig-
radikalisiert: «Es gibt vielleicht überhaupt kein Wort, das sten» [109] eine M. darstellt. Damit wird 600 Jahre nach
nicht in irgendeinem Sinne übertragen verwendet G A L F R I D VON V I N S A U F wieder der sachliche Zusammen-
wird». [102] Von hier aus ergibt sich, daß er sich gegen die hang einer metaphorischen Übertragung durch Verwen-
Auffassung wendet, zuerst seien Worte aus Mangel, dung des Eigennamens («Das ist ein richtiger Cicero»)
danach um auszuschmücken tropisch verwendet wor- und der durch Verwendung einer Art («Cicero ist der
den [103], wie auch, daß er als ersten Tropus die Katach- Stern der Rhetorik») gesehen. Auch an einer anderen
rese behandelt, bei ihm zu verstehen als jede sprachliche Stelle, der Einordnung der Tropen nämlich, geht er über
Neuschöpfung, der eine tropische Übertragung, also die Tradition hinaus. Er unterscheidet Tropen, die aus
nicht nur die M. zugrunde liegt. Daß Dumarsais wieder einem Wort bestehen - Metonymie, Synekdoche (Anto-
eine große Liste von Tropen behandelt - nämlich: nomasie) und M. - , von aus mehreren Wörtern bestehen-
Katachrese, Metonymie, Metalepse, Synekdoche, Anto- den Tropen, die für ihn im strengen Sinn keine Tropen
nomasie, Communication, Litotes, Hyperbel, Hypoty- sind, da sie «nie aus Notwendigkeit verwendet wer-
pose, M., Oratorische Syllepse, Allegorie, Allusion, Iro- den». [110] In dieser zweiten Gruppe der 'uneigentli-
nie, Euphemismus, Antiphrase, Periphrase, Hypallage, chen' Tropen unterscheidet er drei Arten: Tropen mit
Onomatopoeia - ist sicher aus dem zentralen Anspruch fiktivem Sinn (u.a. Personifizierung, Subjektivierung,
dieser Abhandlung zu erklären, alle in einer Sprache Allegorie, Allegorisierung), Tropen mit reflexivem Sinn
gegebenen tropischen Prozesse zu behandeln. Vielleicht (u.a. Hyperbel, Andeutung, Litotes, Metalepse) und
erklärt dieser fast schon sprachwissenschaftliche Blick Tropen mit oppositivem Sinn (u.a. Ironie, Asteismus).
von Dumarsais, daß er im Gegensatz zu Lamy bei der Der Realisierungsrahmen für alle drei Arten ist, was oft
Definition der M. den sachlogischer Rahmen völlig auf- übersehen wird [111], die Aussage (proposition); die bei-
gibt: «La métaphore est une figure par laquelle on trans- den letzten unterscheiden sich dadurch, daß das wörtlich
Gesagte bei reflexiven Tropen die gleiche Orientierung

1137 1138
Metapher Metapher

wie das eigentlich Gemeinte hat, im letzten Fall hingegen gen. Damit ist die von F. DE SAUSSURE, dem Begründer
eine gegensätzliche. Für beide Propositionstropen gilt der modernen strukturalistischen Sprachwissenschaft,
jedoch, daß die zwei notwendigen Sinnebenen im Rah- getroffene Unterscheidung zwischen Sprachgeschichte
men alltagsweltlicher Prädikation verbleiben, während und Sprachsystem, zwischen Diachronie und Synchro-
in der ersten Form, den Tropen mit fiktivem Sinn, die nie, vorweggenommen. [117] Der tropologische Sinn, so
wörtlich gesagte Ebene insofern fiktiv ist, als sie in kei- läßt sich jetzt Fontanier verstehen, «ist entweder übertra-
nem direkten Zusammenhang mit der Alltagswelt steht. gen (figuré) oder rein erweitert (extensif), je nachdem, ob
Dabei setzt Fontanier, hier wieder ganz der Tradition die neue Bedeutung [...] dem Wort frei und gleichsam
entsprechend, Allegorie und Allegorismus mit der M. in spielerisch gegeben wurde, oder ob sie eine erzwungene,
Beziehung. Der Unterschied zwischen beiden liegt nicht habituelle, fast eine genauso eigentliche (propre) Bedeu-
darin, wie TODOROV meint, daß im ersten Fall zwei tung wie die ursprüngliche Bedeutung geworden
Behauptungen, im zweiten hingegen nur eine vollzogen ist. [118] Von hier aus wird klar, warum Fontanier die
werden [112], sondern darin, daß in der Allegorie beide Katachrese nicht mehr zu den Tropen rechnet. Katachre-
Bedeutungen präsent sind, während im Allegorismus nur sen sind für ihn habitualisierte, ursprünglich aus einem
eine Sinnebene dominiert, da die allegorische Spannung tropologischen Prozeß entstandene Bedeutungserweite-
im Text selbst aufgelöst wird. So etwa die folgenden rungen, die aufgrund einer Sprachlücke notwendig
Worte Cäsars: waren. Diese werden deshalb von ihm auch gesondert in
«Dieser schreckliche Koloß, der sich zu seinem Fall einem «Supplement» zur Theorie der Tropen behan-
hinneigt [das allegorisch Gemeinte ist Rom] [...] verlangt delt. [119] Genau diese Bestimmung der Katachrese fin-
meinen Arm, um sein Haupt zu stützen». [113] Trotz die- det sich schon bei B E A U Z É E : «Die Tropen sind die Quel-
ser wichtigen Differenzierung, die sich schon bei Quinti- len der Katachrese, weil sie von da ihre notwendigen
lian findet, und trotz der damit verbundenen Loslösung Entlehnungen hernimmt; aber sie ist überhaupt kein
vom Einzelwort, kommt auch bei Fontanier die Ord- Tropus». [120] Damit ist die in der Logik von Port-Royal
nungsfunktion des Textes nicht in den Blick - obwohl er formulierte Idee, daß Wörter neben der ursprünglichen
mit seiner Abhandlung explizit den Anspruch erhebt, die Bedeutung auch tropologische Bedeutungen haben, die
Lücken und Mängel der Abhandlung von Dumarsais Ausdruck der «idées accessoires» sind, zu einem sprach-
aufzulösen. So wirft er diesem schon in den Vorbemer- wissenschaftlichen Faktum geworden. [121] Die Nähe
kungen vor, die Frage nicht geklärt zu haben, welche Fontaniers zu Port-Royal zeigt sich auch darin, daß er die
Arten von Ideen unterschieden werden müssen und, vor Tatsache, daß in einer Sprache die tropologischen
allem, wie diese Ideen sprachlich ausgedrückt werden. Bedeutungen die ursprünglichen ersetzen können, mit
Die von Fontanier dann in den ersten Kapiteln entwik- einer spekulativen Reflexion über Begleitvorstellungen
kelte Sprachtheorie stützt sich ganz auf die Grammaire zu begründen sucht: «Es ist nicht selten, daß die Begleit-
Générale, insbesondere in ihrer Ausprägung in der vorstellungen (idées accessoires) die Vorstellungskraft
<Encyclopédie> und bei B E A U Z É E . Dadurch kommt zwar (imagination) viel stärker prägen und für sie viel gegen-
die Tatsache in den Blick, daß sich tropische Rede in Sät- wärtiger als die Grundbedeutung sind». [122]
zen realisiert, andererseits aber geht der bei Dumarsais Die Tropen selbst oder - wie jetzt gesagt werden kann
noch vorhandene begriffsrealistische Rest bei der - die Begleitvorstellungen teilt Fontanier wie schon vor
Bestimmung der tropischen Rede völlig verloren. Der ihm Beauzée in drei Gruppen ein: Worttropen (a) der
Sachbezug, der nicht völlig mit dem modernen Terminus Entsprechung (correspondance) oder Metonymien, (b)
der Referenz gleichgesetzt werden kann [114], wird als der Verknüpfung (connexion) oder Synekdochen und (c)
sens objectif bezeichnet und vom sens littéral und sens der Ähnlichkeit (ressemblance) oder M. [123] Innerhalb
intellectuel (spirituel) unterschieden. [115] Der letzte der Verknüpfung wird noch die Antonomasie berück-
bezieht sich auf die Proposition und umfaßt die drei sichtigt. Alle vier können auch als «gemischter Tropus»
schon behandelten Propositionstropen (fiktiv, reflexiv, in Form der Syllepse verwendet werden, d.h. wenn in
oppositiv), wohingegen der sens littéral den Worttropen einer Aussage ein Lexem sowohl in wörtlicher als auch
zugrunde liegt. Dieser sens littéral, dieser Wortsinn, tropischer Bedeutung auftaucht («Ein Affe bleibt immer
umfaßt nicht nur den «ursprünglichen, natürlichen und ein Affe» - «Er ist mehr Nero als Nero selbst»), [124] M.
eigentlichen», sondern auch den «abgeleiteten und tro- bestehen darin, daß «eine Vorstellung [idée] unter dem
pologischen Sinn». [116] Dieser tropologische Sinn kann Zeichen einer anderen, überraschenderen und bekann-
nun «übertragen» (figuré) oder «erweitert» (extensif) teren Vorstellung vorgebracht wird, die mit der ersten
sein. Damit meint Fontanier, was oft übersehen wird, durch keine andere Verbindung als der einer gewissen
einen einfachen Tatbestand: Wortbedeutungen sind Übereinstimmung oder Analogie [conformité ou analo-
dann extensiv, wenn bestimmte tropologische Prozesse gie] zusammengehalten wird». [125] Der sprachwissen-
in einer Sprache habitualisiert und lexikalisiert sind; diese schaftliche Zugriff Fontaniers zeigt sich auch darin, daß
Veränderungen können zu einer 'Ausdehnung' (sens er nicht nur die vier Übertragungsarten (± belebt <-» ±
étendu) der Gegenstände führen, die unter einen unbelebt) unterscheidet, sondern auch M. nach Wortar-
bestimmten Begriff fallen (also etwa Stuhlbein), sie kön- ten (Nomen, Adjektiv, Partizip, Verb, Adverb). Das
nen aber auch eine 'Einschränkung' (sens restreint) nach System Fontaniers stellt sich somit wie in Abb. 1 dar.
sich ziehen (im Französischen umfaßte chef (lat. caput) Dieser sprachwissenschaftliche Zugriff zeigt sich vor
noch den menschlichen Kopf, seit dem Mittelalter wird allem aber darin, daß in ihm von den alten und oft langen
dafür aber tête verwendet). 'Ausdehnende' und Tropenlisten nur noch die Metonymie, die Synekdoche,
'einschränkende' Bedeutungsveränderungen entstehen die Antonomasie und die M. berücksichtigt sind. Die
somit in der Diachronie einer Sprache, neue und im Propositionstropen sind, wie betont, für Fontanier keine
strengen Sinn 'übertragene und uneigentliche' (figuré) Tropen im strengen Sinn. Das ist ein bisher überhaupt
tropologische Effekte hingegen sind nur bezogen auf die noch nicht in seiner revolutionären Bedeutung gesehe-
jeweilige Synchronie einer Sprache bestimmbar, d.h. auf nes Novum in der Geschichte der Theorien zur übertra-
die in ihr habitualisierten und lexikalisierten Bedeutun- genen Rede, das nicht mit den logischen Ansätzen der

1139 1140
Metapher Metapher

Formen des S I N N S

objektiv littéral geistig


objectif littéral intellectuel/spirituel
(Worttropen) (Propositionstropen)

ursprünglich tropologisch fiktiv reflexiv oppositiv


primitif tropologique fictif réflexif oppositif

übertragen erweitert
figuré extensif
( étendu/restreint)
NEU HABITUALISIERT
I I [= Katachrese]
[Metonymie, Metapher, Synekdoche/Antonomasie] [Allegorie . [Hyperbel . . . ] [Ironie . . . ]

Abb.l
Stoa, von Gervasius oder von Ramus gleichgesetzt wer- vorgestellt. Denn, zwischen einem despotischen Staate
den kann, weil dort der Unterschied zwischen Wort und und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl
Aussage nicht gesehen und das Gegensätzliche als aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität
grundlegendes Klassifikationskriterium genommen zu reflektieren». Dies führt ihn zur Beobachtung, daß
wird. Warum aber gerade diese vier Tropen? Die Ant- «unsere Sprache voll» ist «von dergleichen indirekten
wort ist verblüffend einfach: Metonymie, M., Synekdo- Darstellungen nach einer Analogie, wodurch der Aus-
che und Antonomasie können, habitualisiert, die Bedeu- druck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, son-
tung der Wörter verändern, sie betreffen also die langue dern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält». Als Bei-
im Sinne von F. de Saussure, d.h. das Sprachsystem; die spiele führt er u.a. Grund (Stütze, Basis) oder abhängen
übrigen Tropen betreffen die parole, genauer den prag- (von oben gehalten werden) an, und betont, daß es sich
matischen Sinn von Aussagen in spezifischen Kommuni- dabei nicht «um schematische, sondern symbolische
kationssituationen; deshalb können sie nie in den seman- Hypotyposen», handelt. [127] Hypotyposen versteht
tischen Kernbereich der Sprache eindringen, in dem das Kant ganz im Sinne der Rhetorik- und Philosophietradi-
historische Apriori jeglicher Kommunikation geregelt tion (s.o. Thomas von Aquin) als bildliche Darstellung, als
wird, den Bereich der Bedeutung der Wörter. Veranschaulichung und «Versinnlichung» eines Begriffs.
Der Preis dieser historischen Errungenschaft ist freilich Kann ein Begriff durch eine Anschauung direkt darge-
recht hoch. Denn in dieser systematischen sprachwissen- stellt werden, handelt es sich um eine schematische Hypo-
schaftlichen und sprachphilosophischen Reflexion auf die typose; ist dies nur analogisch möglich, so liegt eine sym-
litterale und tropologische Bedeutung der Wörter hat die bolische Hypotypose vor, in der freilich nicht der Begriff
Logik, die Argumentation, ja sogar die Kognition keinen selbst «dem Inhalte nach» veranschaulicht wird, sondern
systematischen Ort mehr. Deshalb wird die historische, bloß die «Regel» bzw. die «Form der Reflexion» angege-
aber auch die strukturalistische Sprachwissenschaft ver- ben wird. [128] Aus diesen Ausführungen folgt nicht, daß
suchen, die Tropen als sprachimmanente Prozesse zu Kant hier Symbol im Sinne von M. verwendet, sondern
beschreiben. Daß dies scheitern muß, folgt aus der Tatsa- nur: bestimmte M. können als Symbole verstanden wer-
che, daß sie den von der Allgemeinen Grammatik und den, welche jeweils die Regel und Form anzeigen, in der
Tropologie) mitgeschleppten und ungelösten Wider- die Urteilskraft mittels einer Analogie den gemeinten
spruch unbefragt übernimmt. Wenn nämlich die Tropen Begriff erschließen muß. Das radikal Neue ist freilich in
Ausdruck der idées accessoires sind, die mit den verschie- der Beobachtung Kants zu sehen, daß diese symbolischen
denen Konstellationen, in denen sie sich sachlich befinden M. bei Begriffen notwendig sind, denen «vielleicht nie
können, kognitiv assoziiert werden, dann sind die Tropen eine Anschauung direkt korrespondieren kann». [129]
nicht bloß ein sprachliches oder begriffliches Phänomen, Diese Idee formuliert schon einige Jahre vorher LAMBERT
sondern eben auch ein sachlich-logisches Problem. in seinem <Organon>. Sprachen haben nämlich für Lam-
Genau diesen Aspekt verdeutlicht K A N T in seinen zur bert ein «sehr allgemeines Mittel, unbekanntere und auch
gleichen Zeit wie die Schriften Beauzées erschienen Kriti- gar nicht in die Sinne fallenden Dinge durch bekanntere
ken zur <Reinen Vernunft> (1784) und zur <Urteilskraft> vorstellig zu machen, [...] die Metaphern. Auf diese Weise
(1790). Genauso wie die Grammaire Générale die M. drücken wir alles, was zur Intellektualwelt gehört, durch
durch ihre Behandlung als grammatisches Phänomen auf- Wörter aus, die nach ihrem buchstäblichen Verstände
wertet, genauso bricht Kant - in der philosophischen Tra- sinnliche Dinge vorstellen, und es ist wohl auch nicht mög-
dition - mit der dominierenden Auffassung, daß M. nur lich, die abstrakten Begriffe anders als auf diese Art bei
zur Veranschaulichung oder der Erweckung von Leiden- andern zu erwecken». Grund dieser «Vergleichung» ist
schaften dienten, und so eher von wahrer Erkenntnis weg- die «Ähnlichkeit des Eindrucks der äußerlichen und inne-
als hinführten. Kant reflektiert, um zu zeigen, daß das ren Empfindungen». [130]
Schöne «Symbol des Sittlich-guten» [126] ist, auf die M. In Ganz anders HEGEL, der in seinen <Vorlesungen zur
diesem Kontext analysiert er das von ihm gegebene Bei- Ästhetik) die alte Abwertung von M. und Analogiever-
spiel - «ein monarchischer Staat ist eine Handmühle» - gleich fortführt. M. und Gleichnis entstehen aus «der
wie folgt: der monarchische Staat ist hier «nur symbolisch bloß schwelgerischen Lust der Phantasie» oder «dem

1141 1142
Metapher Metapher

bloßen Schwelgen der Phantasie» [131]; die M. dient oft occulta philosophia (1519), zit. nach d. dt. Übers. <Geheime Phi-
«nur als äußerer Schmuck» und kann «leicht ins Pretiöse, losophie u. Magie> (1982) 82f. - 6 ebd. 83. - 7ebd. 47. - 8 ebd.
Gesuchte oder Spielende ausarten» - «Die Italiener 46ff. - 9ebd. 44. - lOzu Renaissance-Poetiken: H.F. Plett:
Renaissance-Poetik: Zwischen Imitation und Innovation, in:
besonders haben sich in dergleichen Gaukeleien einge- ders. (Hg.): Renaissance-Poetik (1994) 1-20. - I I P . Ramus:
lassen; auch Shakespeare ist nicht ganz frei davon» [132]; Scholarum rhetoricarum ... (Frankfurt 1581; ND 1965) 148. -
und Vergleichungen dienen dem «Verweilen» im Ver- 12ebd. 145ff.; zu Ramus W.J. Ong: Ramus, Method, and the
gleichsbereich; und im «Okzident» wird dieses Verwei- Decay of Dialogue (Cambridge 1958). - 13 R. Agricola: De
len «vornehmlich ein Interesse der Empfindungen, inventione dialéctica libri tres (1528; ND 1976), I, 25 (dt. 130);
besonders der Liebe». [133] Neu ist freilich seine Eintei- weitere Lit. zu Ramus u. Agricola in: E. Eggs: Art. Argumenta-
lung der vergleichenden Kunstformen>. Die erste tion, in: HWRh 1,973ff. - 1 4 A. Fouquelin: La Rhétorique fran-
çoise (1555) zit. nach d. Ausg. von F. Goyet, in: Traités de poéti-
Gruppe, die u.a. Fabel, Parabel und Sprichwort umfaßt, que et de rhétorique de la Renaissance (Paris 1990) 345-464,
bleibt insofern im Konkreten, als sie sich auf eine Dar- 367ff.; eine alphabetische Liste der wichtigsten Definitionen zu
stellung des Vergleichbereichs beschränkt: «Das Ver- den rhet. Figuren in: L. A. Sonnino: A Handbook to Sixteenth-
gleichen aber der allgemeinen Bedeutung und des einzel- Century Rhetoric (London 1968). - 15Vossius IV, p. 83. -
nen Falls als subjektive Tätigkeit ist noch nicht ausdrück- 16ebd. p. 171 ff. - 17ebd. p. 192f. - 18ebd. p. 198ff. - 19ebd. p.
lich herausgestellt». [134] In der nächsten Gruppe auf der 380ff. -20Gottsched Dichtk., I und II (31742), zit. n. Gottsched,
«zweiten Stufe» ist dagegen «die Bedeutung das erste, Ausg. Werke, hg. von J. Birke u. B. Birke, VI, 1 und VI, 2 (1973)
VI, 1 326. - 2 1 ebd. 404ff. - 22 Vico Inst, or., in: F. Sa. Pomodoro
was vor dem Bewußtsein steht, und die konkrete Ver- (ed.): Opere di G. Vico, Bd.8 (Neapel 1869). - 23G. Vico: La
bildlichung derselben das nur Danebenstehende und scienza nuova (1744), hg. v. P. Rossi (Mailand 1977) 287; vgl. bes.
Beiherspielende»; hierzu zählen M., Rätsel, Allegorie, M. Mooney: Vico in the Tradition of Rhetoric (Princeton 1985),
Bild und Gleichnis. Die dritte Gruppe schließlich wird bes. 47ff.; allg. Κ.O. Apel: Die Idee d. Sprache in d. Tradition
aus Lehrgedichten und «beschreibender Poesie» gebil- des Humanismus von Dante bis Vico (31980) 350ff.; B. Vickers:
det, beides höhere Kunstformen, weil in ihnen das «Her- In Defence of Rhetoric (Oxford 1988) 439ff. - 24H. White:
auskehren der allgemeinen Natur der Gegenstände» klar Topics of Discourse (Baltimore 1978) 197ff.; M. Danesi: Vico,
Metaphor, Origin of Language (Bloomington 1993) 60ff. -
getrennt ist vom «Schildern ihrer konkreten Erschei- 25Vico [23] 283. - 26ebd. 284ff. - 27Scaliger III, 29, S.372. -
nung»; «wahrhafte Kunstwerke» entstehen freilich erst, 28ebd. III, 70. - 29ebd. III, 31, S.382. - 30ebd. III, 49, S.431. -
wenn beide Ebenen zu einer «echten Ineinsbildung» 31 ebd. III, 49, S.422. - 32ebd. III, 49, S.433. - 33ebd. - 34ebd.
zusammengefügt werden. [135] S.438. - 35ebd. III, 52, S.463. - 36ebd. III, 83, S.543. - 37ebd.
Trotz dieser partiellen Aufwertung der M. bleibt sie III, 528. - 38 G. Puttenham: The Arte of English Poesie (London
auch bei Hegel im Gegensatz zu Lamy und der ihm fol- 1589; ND Menston 1968) 148; ein Vergleich dieser Schrift mit
genden Allgemeinen Grammatik an die Affekte gebun- Scaligers Poetik in: H.F. Plett: The Place and Function of Style
in Renaissance Poetics, in: Murphy RE 356-375. - 39 ebd. 155. -
den. Freilich kann man innerhalb dieser Affekttheorie 40ebd. 148. - 41siehe Cie. De Or. II, 1,1; H.F. Plett: Rhet. der
zwei Richtungen unterscheiden: einmal die dominie- Affekte (1975) 82f. - 4 2 Puttenham [38] 155; vgl. D. Javitch: Poe-
rende Auffassung, die, wie etwa VOLTAIRE, der M. jegli- try and Courtliness in Renaissance England (Princeton 1978);
chen Erkenntniswert abstreitet, [136] zum andern die vor W G: Müller: Das Problem des Stils in der Poetik der Renais-
allem in der Romantik in Nachfolge von R O U S S E A U ver- sance, in: Plett [10] 133-146. - 43Puttenham [38] 205. - 44R.
tretene Aufwertung, daß in der metaphorischen Sprache Sherry: A Treatise of Schemes and Tropes (1550; ND New York
die Ursprache der Menschheit zu suchen sei: «Da», so 1977) 78ff. u. 88ff. -45ebd. 40. - 46Erasmus: De Utraque Ver-
borum ac Rerum Copia (1516) I, Kp. 16 u. 17. - 47 B. Daniello:
Rousseau apodiktisch, «die ersten Motive, die den Men- Della Poesia, in: Β. Weinberg (Hg.): Trattati di poetica et reto-
schen sprechen ließen, die Affekte {passions] waren, rica del Cinquecento, 4 Bde. (Bari 1979) I, 227-318. - 48G.C.
waren auch die ersten Ausdrücke die Tropen». [137] Delminio: La Topica, o vero della elocuzione (ca. 1540), in:
Diese Idee greift H E R D E R auf und projiziert sie sogar auf Weinberg [47] I, 357-407, 384ff. - 49ebd. 364. - 50P. Melanch-
den Charakter einer Nation. Der «Metapherngeist» lebt thon: De rhetorica libri tres (Wittenberg 1519), zit. η. Corpus
in «allen wilden Sprachen [...]; nur freilich in jeder nach reformatorum 13, Melanchthons Werke IV, 464ff. - 51 ebd. 490.
Maß der Bildung der Nation und nach Eigenheit ihrer -52Thomas Wilson: Arte of Rhetorique (1553; ND Amsterdam
1969) Fol. 94. -53ebd. Fol. 92.-54ebd. Fol. 94 u. lOlff.-55Soa-
Denkart [...]. Eine feurige Nation offenbart ihren Mut in rez 143. - 56 N. Vulcano: Sagata Pallas sive pugnatrix eloquentia
solchen Metaphern». «War Gott», so Herder an der glei- (1687/8), zit. n. der Ausg. T. Feigenbutz u. A. Reichensperger, 2
chen Stelle mit pointiert rhetorischer Frage, «[nicht Bde. (1997) II, 178ff. -57ebd. 1,155ff„ 161ff. u. 165ff. -58Hen-
doch] so sehr Liebhaber von Hyperbolen, ungereimten ricus Achemius: Technologia Rhetorica (Helmstedt 1591); vgl.
Metaphern, daß er diesen Geist bis in die Grundwurzeln Dyck 162ff. - 59vgl. Dyck 51ff. - 60G.P. Harsdörffer: Poeti-
seiner Sprache prägte»? [138] scher Trichter III (Nürnberg 1653) 56, §52. - 61 ebd. 57 §53. -
Beide Traditionen werden in J E A N P A U L S <Vorschule 62G. Willems: Anschaulichkeit (1989) 249. - 63ebd. 250. -
64 vgl. bes. die oben schon zitierten Stellen aus Arist. Rhet.:
derÄsthetik> (1813) vermittelt: «Der bildliche Witz kann 1405a 35, 1410b 10 u. 1412a 11. - 65Harsdörffer [60] 57 §53. -
entweder den Körper beseelen oder den Geist verkör- 66vgl. oben u. Quint. 8,3, 72. - 67G.P. Harsdörffer: Poetischer
pern». Ebenso waren M. ursprünglich «wie bei Kindern, Trichter II (Nürnberg 1648) 10,49. - 68ebd. 54ff. - 69ebd. 59. -
nur abgedrungene Synonymen des Leibes und Geistes. 70 E. Tesauro: Il Cannocchiale Aristotelico (Turin 1670), zit. n.
[...] Das tropische Beseelen und Beleiben fiel noch in d. Ausg. v. A. Buck (l968) 266. - 71 ebd. 305-341. - 72ebd. 342-
eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. 364 u. 434-441. -73ebd. 285 u. 365-396. -74ebd. 304f. -75ebd.
Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehun- 441-481. -76ebd. 304f. u. 396-433. -77ebd. 481. -78ebd. 484ff.
- 79ebd. 487ff. - 80ebd. 501-540. - 81Baltasar Gracián: Agu-
gen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern». [139] deza y Arte de Ingenio (Huesca 1649), zit. n. d. Ausg. ν. E. Cor-
Anmerkungen: rea Calderón (Madrid 1969) 2 Bde.; vgl. Curtius 297ff. -
lvgl. J. Frazer: The Golden Bough: A Study in Magic and Reli- 82Gracián [81] 1,47.-83ebd. 54 (= disc. 2). -84ebd.204 (= disc.
gion I (New York 31935) Kp. III; vgl. die kritische Diskussion in: 20).-85 ebd. 55 (= disc. 2).-86 ebd. 1,114ff, (disc. 9-13), II, 105 ff
E. Leach: Kultur u. Kommunikation (1978) 39ff. - 2M. Fou- (= disc. 40) u. II, 179ff„ 191ff. (= disc. 55-57). -87ebd. II, 45ff. (=
cault: Les mots et les choses (Paris 1966) 32ff. - 3 e b d . 33. - 4 vgl. disc. 32). - 8 8 ebd. 53ff. (= disc. 33). - 8 9 Lamy 58f. -90ebd. 62. -
Paracelsus: Mikrokosmos u. Makrokosmos. Okkulte Schriften, 91 ebd. 63/4. - 92A. Arnauld, P. Nicole: La logique ou l'art de
hg. von H. Werner (1989) 227. - 5 Agrippa ν. Nettesheim: De

1143 1144
Metapher Metapher

penser (1662/83), Ausg. 1683, zit. n. d. Ausg. v. L. Marin (Paris étudiée dans leurs significations) (1887) von A. D A R M E -
1970) 130ff. - 93Lamy [89] 57. - 94vgl. Logique [92] 130. - STETER. Wie bei Fontanier wird Antonomasie als Art der
95Lamy 76. - 96ebd. 67-75. - 97Diderot Encycl., Vol. I, Bd.6, Synekdoche behandelt. Darmesteter bezieht sich selbst
766 (Art. <Figure> von M. de Jaucourt). - 98 vgl. etwa Puttenham
auf diese Tradition, freilich um sich von dieser abzugren-
[38] 128ff. u. Dyck 84ff.; allg. Plett [41]. - 99Lamy [89] 67. -
lOODumarsais: Traité des tropes (1730), zit. n. d. Ausg. Paris zen, da diese nur stilistische und nicht linguistische
1977, 22. - 1 0 1 ebd. 29. - 102ebd. 63. - 103ebd. 32ff. - 104ebd. Aspekte berücksichtigt hätte. «Zwischen den Stilfiguren
112. - 1 0 5 ebd. 129. - 1 0 6 ebd. 132. - 1 0 7 ebd. 141. -108Fontanier eines Dichters und denen der Volkssprache gibt es kei-
95. -109ebd. 97. - HOebd. 109. - 1 1 1 vgl. T. Todorov: Théories nerlei Unterschied». [3] Die M. ist somit nicht nur ein
du symbole (Paris 1977) 96ff. - 1 1 2 vgl. ebd. 98ff. - 113Fontanier Problem des Stils, sondern auch der Sprache. Mehr noch:
116. - 114ebd. 93ff. - 115ebd. 55ff. - 116ebd. 57ff. - 117F. de an den in einer Sprache lexikalisierten Tropen und
Saussure: Cours de linguistique générale (Lausanne 1916; Paris
besonders an den M. kann man «den Geist» (le génie)
1968). - 1 1 8 vgl. Fontanier 77. - 119ebd. 209ff. - 120N. Beauzée:
Encyclopédie méthodologique, I—III (Paris 1782-86) I, 581. - einer Sprache und einer Nation ablesen. [4] Mit diesem
121 Logique [92] 134ff. - 122Fontanier 160. - 123ebd. 79ff., Gedanken greift Darmesteter die von L A M Y und vor
87ff., 99ff.; vgl. Beauzée [120] III, 581 u. Diderot/D'Alembert allem von V i c o vertretene Auffassung wieder auf, daß
[97] Vol. 3, Bd.6,699. - 124Fontanier 106. - 125Fontanier 99. - sich in den Tropen und Metaphern einer Sprache deren
126Kant KU, 254 (§59); vgl. H.H. Holz: M., in: J. Sandkühler Reichtum zeigt, freilich in der über R I V A R O L , R O U S S E A U
(Hg.): Europ. Enzyklop. zu Philos, und Wissenschaftslehre und H E R D E R bis in die Romantik tradierten politisch-
(1990) III, 379ff.; P. de Man: The Epistemology of metaphor, in:
ideologischen Version, wonach j e d e Sprache in ihren
S. Sacks (Ed.): On Metaphor (Chicago 1978) 11-28, 24ff.; A.T.
Nuyen: The Kantian Theory of Metaphor, in: PaR 22 (1989) Tropen und M. den Geist und die Weltanschauung einer
95-109. - 127Kant [126] 253. - 128ebd. 252. - 129ebd. 254. - Nation ausdrückt. [5] M. B R É A L wird jedoch in der einige
130 J. H. Lambert: Neues Organon II (Leipzig 1764), zit. n. d. Jahre später erschienenen Untersuchung zur histori-
Ausg. Berlin 1990, 556 (§192). - 131G.W.F. Hegel: Vorlesun- schen Semantik diesen Topos relativieren: die M. einer
gen über die Ästhetik, in: Werke (Frankfurt 1970) Bd. 13, 522 u. Sprache drücken nämlich den «Geist von jedermann aus,
534. - 1 3 2 ebd. 518 u. 519. -133 ebd. 529. - 134ebd. 489. - 1 3 5 ebd. der von einer Nation zur andern nicht sehr variiert»; des-
490f.; vgl. 507ff. u. 539ff. - 136vgl. Voltaire: Dialogues entre
halb geht es der Sprachwissenschaft nicht darum, «diese
Lucrèce et Posidonius, in: Mélanges (Paris 1961) 327ff.; J.-J.:
Rousseau: Essai sur l'origine des langues (1781), zit. η. d. Ausg. Bilder zu bewundern, sondern zu zeigen, daß die Sprache
Bordeaux 1970, 9,10. - 137Rousseau [136] 45 (= Kp. III). - voll von ihnen ist». [6]
138J.G. Herder: Abh. über d. Ursprung der Sprache (Berlin Die M. selbst definiert Darmesteter rationalistisch und
1772), zit. n. d. Ausg. Stuttgart 1966,64. - 1 3 9 J. Paul: Vorschule sachlogisch; sie ist nämlich «eine Figur, durch die der
d. Ästhetik (1813); zit. n. d. Ausg. ν. N. Miller (1990) 184. Geist [esprit] den Namen eines Objektes auf ein anderes
anwendet, dank eines gemeinsamen Charakterzugs, der
IV. Spätes 19. und 20. Jh. Die Moderne. Fontanier hatte sie zusammenrücken und vergleichen läßt». [7] Neu in
seine Abhandlung für Schüler Höherer Lehranstalten der Abhandlung Darmesteters ist nicht nur, daß er an
geschrieben. Seine Theorie wird auch in Lehrwerken für einer Fülle von Beispielen vor allem des Französischen
die verschiedenen Lernstufen, insbesondere in den clas- zeigt, wie vielfältig in der Bedeutungsgeschichte die tro-
ses de rhétorique (Rhetorik-Klassen) bis in die 2. Hälfte pischen Prozesse wirken, oder daß er verschiedene für
des 20. Jh. Eingang finden. Dies erklärt, daß man heute bestimmte Sprachen typische Vergleichsbereiche (Land-
noch in anspruchsvolleren Wörterbüchern unter Trope wirtschaft, Krieg, Spiel, usw.) verdeutlicht, sondern auch,
die vier 'königlichen' Tropen findet, eben M., Antono- daß er zwei komplexe tropische Verfahren unterschei-
masie, Metonymie und Synekdoche, oft auch zusammen det: die Ausstrahlung (rayonnement) und die Verkettung
mit der Katachrese.[l] In eher populären Wörterbü- (enchaînement), die oft auch miteinander verbunden
chern werden freilich nur die M. und die Metonymie werden. E i n e Ausstrahlung liegt vor, wenn der einer M.
angegeben. [2] Während die erste Liste eine spezifisch zugrunde liegende Vergleichsbereich in mehrere ana-
französische Entwicklung widerspiegelt, ist die Zweierli- loge Bereiche projiziert wird (etwa Zahn eines Kamms,
ste Ausdruck neuerer sprachwissenschaftlicher, aber einer Säge, eines Antriebrades, usw.), in der Verkettung
auch anthropologischer und psychoanalytischer Theo- bauen die tropischen Prozesse hingegen auf die ihnen
rien. Beide Richtungen sind jedoch von der neuesten vorgängigen Bedeutungsveränderungen auf (etwa plume
Forschung oft vehement in Frage gestellt worden, weil im Französischen: V o g e l f e d e r —> S c h r e i b f e d e r —>
sie die logisch-kognitive Dimension ausklammern. D a S c h r e i b f e d e r aus Metall/Federhalter). [8] H . P A U L wird
wesentliche Erkenntnisse der Allgemeinen Grammatik diese Überlegungen, die auch in Deutschland von F.
und Tropologie noch im 19. J h . von der historischen H A A S E , L. T O B L E R oder O. H E Y gemacht wurden, im
Sprachwissenschaft übernommen wurden, beginnt dieser Kapitel <Wandel der Wortbedeutung) seiner <Prinzipien
Abschnitt mit einer Erörterung der sprachwissenschaftli- der Sprachgeschichte) (1886) aufgreifen und zusätzlich
chen Forschung von der historischen Sprachwissenschaft zwischen usueller und okkasioneller Bedeutung unter-
über strukturalistische bis hin zu modernen kognitiven scheiden; die usuelle Bedeutung umfaßt «den gesamten
Ansätzen (ausgeklammert bleiben textlinguistische Vorstellungsinhalt, der sich für die Angehörigen einer
Modelle) ( = 1.). Diese Erörterung wird zeigen, daß zwei Sprachgenossenschaft mit einem Worte verbindet», die
Problemfelder ungelöst bleiben, einmal nämlich das Pro- okkasionelle Bedeutung ist hingegen der «Vorstellungs-
blem der Analogie, zum andern das Problem der Konsti- inhalt, welchen der Redende, indem er das Wort aus-
tution von M. in Äußerungen, Texten und Argumenta- spricht, damit verbindet». [9] Dies entspricht der einige
tionen. Die Forschung, die sich vornehmlich auf die Jahre später von F. DE SAUSSURE getroffenen Unterschei-
damit angeschnittenen Fragen bezieht, wird nacheinan- dung von langue (Sprache) und parole ( R e d e ) bzw. von
der in den Abschnitten 2. und 3. behandelt. sprachlicher Bedeutung und Redesinn. Die Tropen drük-
1. M. in der Sprache: Von der historischen bis zur kogni- ken immer eine okkasionelle Bedeutung aus. Okka-
tiven Sprachwissenschaft. Die von der Allgemeinen sionelle Bedeutungen können zu usuellen Bedeutun-
Grammatik und Tropologie ererbte Tropenliste findet gen werden, sofern eine Sprachgemeinschaft diesen
sich auch in der Semantik-Abhandlung <La Vie des mots Gebrauch übernimmt. Aufgrund der Komplexität dieses

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Metapher Metapher

Prozesses sind die Grenzen zwischen usueller und okka- (die hier im sprachwissenschaftlichen Sinne als Verwen-
sioneller Bedeutung fließend. [10] Pauls Unterscheidung dung analoger Formen zu verstehen ist) - die Benennung
entspricht somit Fontaniers Differenzierung in einen (naming), die Übertragung und die Permutation. Unter
usuellen litteralen und einen tropologischen Sinn, frei- das letzte Verfahren fallen Synekdoche und Metonymie
lich mit dem wichtigen Unterschied, daß Paul mit <okka- (in «hundert Segel sah ich kommen» wird die Weise des
sionell> nur den tropologisch übertragenen (figuré) Sinn Zugriffs auf Segel permutiert, da es nicht bloß als Segel,
meint; der tropologisch erweiterte (extensif) Sinn wird sondern als Teil des Schiffes zu verstehen ist), die M. fällt
hingegen zur usuellen Bedeutung gerechnet. Damit unter die Benennung und die Übertragung. Eine größere
gehören bei Paul «Der Hahn kräht» und «Er dreht den Verbreitung sollte die Klassifikation von U L L M A N N [16]
Hahn auf» zur usuellen Bedeutung, «Der Hahn beleidigt finden. Ullmann wendet die alten stoischen Unterschei-
schon wieder unsere Kunden» (im Sinne von «eine Per- dungskriterien - Ähnlichkeit und Nachbarschaft - auf
son, die sich wie ein Hahn verhält oder so aussieht») zur den Wortinhalt (sense) und die Wortform (name) an. Es
okkasionellen Bedeutung. Dagegen übernimmt er die gibt einmal Sinnähnlichkeit (Hut, Mütze, Helm) und
von Fontanier getroffene Unterscheidung in Bedeu- Sinnkontiguität (Hut, Kopf, Hals) sowie Namensähnlich-
tungsausdehnung und -einschränkung, bei ihm jedoch als keit (Hut, Mut, tut) und Namenskontiguität (Damenhut,
Verallgemeinerung und Spezialisierung bezeichnet. Der Hutmacher), also Ähnlichkeit und Kontiguität der Signi-
Einfluß der traditionellen Rhetorik in Pauls Theorie des fikate einerseits und der Signifikanten andererseits. Die
Bedeutungswandels ist unverkennbar (er unterscheidet M. ist die typische Form der Sinnähnlichkeit, Synekdo-
neben der M. die Ironie, die Litotes und den Euphemis- che und Metonymie sind die typischen Formen der Sinn-
mus), jedoch ist auffallend, daß er bei den sprachge- kontiguität. Auch für Ullmann ist die M. die wichtigste
schichtlich zentralen Tropen die rhetorische Terminolo- und häufigste Form: «Die M. ist derart in die Struktur der
gie vermeidet. So spricht er etwa nicht von Antonomasie, Sprache verflochten, daß wir ihr schon in verschiedenster
sondern von der «Verwandlung von Eigennamen in Gestalt begegnet sind: als Hauptelement der Motivie-
Appellativa», bei der Synekdoche verweist er auf «die rung, als Ausdrucksmittel, als Quelle der Synonymie und
aus der lateinischen Stilistik als pars pro toto bekannte Polysemie, als Ventil für starke Emotionen, als Mittel,
Figur» und die Metonymie wird als «Übertragung auf das Lücken im Wortschatz zu schließen, und noch in anderen
räumlich, zeitlich oder kausal Verknüpfte» umschrie- Formen». [17] Die M. definiert er als «kondensierten
ben. [11] Dennoch fällt Paul - aus sprachwissenschaftli- Vergleich», bei dem immer «zwei Glieder gegenwärtig
cher Sicht - hinter die Allgemeine Grammatik und Tro- [sind]: das eigentlich Gemeinte und dessen Vergleichsbe-
penlehre zurück, da er neben den vier linguistischen Tro- reich». Wie Ullmann selbst betont, entspricht das eigent-
pen weitere Tropen zuläßt. Wie stark Paul von der alten lich Gemeinte der «Sachsphäre» bzw. dem «Tenor» bei
Rhetorik abhängt, ohne dies freilich im historischen RICHARDS, der <Vergleichsbereich> entspricht der «Bild-
Kontext einer sich als objektive Wissenschaft verstehen- sphäre» bzw. dem «Vehikel» beim selben Autor. [18]
den Sprachwissenschaft zugeben zu können, zeigt sich Auch diese Definition kann offenbar nicht das alte
schließlich darin, daß er die seit Aristoteles formelhaft Dilemma zwischen sprachimmanenter Sinnveränderung
wiederholten Entstehungsgründe für die M. reprodu- und sachlogischer Begründung lösen. Hinzu kommt, daß
ziert: M. werden nämlich nicht nur in Fällen verwendet, sie deshalb nicht der traditionellen Auffassung ent-
in denen «noch keine adäquaten Bezeichnungen existie- spricht, weil nicht nur das wesentliche Bestimmungs-
ren», sondern auch da, «wo eine schon bestehende stück - Übertragung eines Wortes - fehlt, sondern auch,
Benennung zur Verfügung steht, treibt oft ein innerer weil <kondensierter Vergleich) nicht mit <kürzerem Ver-
Drang zur Bevorzugung eines metaphorischen Aus- gleich> identisch ist. Ganz im Sinne der traditionellen
drucks. Die M. ist eben etwas, was mit Notwendigkeit aus Rhetorik sind freilich die von Ullmann unterschiedenen
der menschlichen Natur fliesst und sich geltend macht Metaphernarten, nämlich anthropomorphe und synäs-
und nicht bloss in der Dichtersprache, sondern auch in thetische M., Tiermetapher sowie die Übertragung vom
der volkstümlichen Umgangssprache». [12] Diese For- Konkreten zum Abstrakten. [19]
mulierung kann offenbar nicht im Sinne der Substitu- Von großer Bedeutung wurde, daß JAKOBSON 1956
tionstheorie gelesen werden. Daß Pauls Konzeption Ähnlichkeit und Kontiguität nicht nur als die beiden
durchaus mit der klassischen Übertragungstheorie ver- wesentlichen Prinzipien menschlicher Sprache und Rede
einbar ist, folgt schon aus seiner Entgegensetzung von bestimmte, sondern sie auch zwei Typen der Aphasie,
usuellem und okkasionellem Gebrauch: die Rede vom der Selektions - und Kontiguitätsaphasie, zugrunde legte.
okkasionellen Gebrauch eines Wortes impliziert ja Da Jakobson diese Unterscheidung explizit mit den bei-
gerade nicht, daß ein anderes Wort ersetzt wird, sondern den von der strukturalistischen Sprachwissenschaft
nur, daß es übertragen verwendet wird. unterschiedenen Konstitutionsprinzipien Paradigma
Diese Theorie des Bedeutungswandels bildet bis weit und Syntagma verbindet, bedeutet die Selektionsaphasie,
in die 2. Hälfte des 20. Jh. den theoretischen Rahmen der daß Sprecher mit einer Selektionsaphasie zwar Wörter
historischen Semantik. Ihre Evidenz scheint so groß, daß zu Syntagmen und Sätzen verbinden, nicht aber die sach-
sie nicht nur eher traditionell orientierte Forscher lich notwendigen Wörter selegieren können; in der Kon-
wie PORZIG [13] übernehmen; selbst der Strukturalist tiguitätsaphasie hingegen können sie keine korrekten
BLOOMFIELD grenzt ganz im Sinne der alten Rhetorik die Syntagmen oder Sätze mehr bilden (Agrammatismus).
«normale (oder zentrale)» von der «marginalen (meta- Doch Jakobson geht noch einen Schritt weiter: «Den
phorisch oder übertragen)» Bedeutung ab. [14] Dennoch ersten Weg könnte man den metaphorischen, den zwei-
lassen sich zwei Tendenzen feststellen: einmal die Ten- ten den metonymischen Weg bezeichnen, da diese Wege
denz, die Anzahl der Tropen zu reduzieren, zum andern durch die M. bzw. die Metonymie am besten zum Aus-
die schon bei Paul angelegte Tendenz, die Tropen der Sti- druck kommen». [20] Mit dieser Bedeutungserweiterung
listik zuzuschreiben. So unterscheidet etwa STERN 1931 in wird offenbar der spezifische Unterschied der M. - eben
einer Morphologie und Semantik umfassenden Klassifi- eine tropische Form der Rede zu sein - im Vergleich zu
kation [15] - neben der Verkürzung und der Analogie anderen Formen semantischer Ähnlichkeit verwischt.

1147 1148
Metapher Metapher

Deshalb ist auch von verschiedener Seite darauf hinge- tät der Zeichenkörper voiles + bateaux, zu verstehen:
wiesen worden, daß damit nicht entscheidbar ist, ob ein «Die Verknüpfung vom Schiff und dem Segel ist nir-
Ausdruck synonym oder metaphorisch zu verstehen ist, gendwo anders als im Signifikanten, und die Metonymie
oder ob sogar eine semantische Anomalie vorliegt. [21] stützt sich gerade auf dieses Wort an Wort dieser Ver-
Die Reduktion der Tropen auf M. und Metonymie knüpfung». [30] Anders gesagt: die Ordnung der Sprache
wird in der Anthropologie - dort schon vorbereitet durch bestimmt die Ordnung der Vorstellungen und der Dinge.
die Unterscheidung von FRAZER in eine 'homöopathi- Nun läßt sich diese weitgehende These, daß erst durch
sche' Ähnlichkeits- und eine 'ansteckende' Kontiguitäts- Sprache Beziehungen gesetzt werden, leicht widerlegen.
magie - etwa von LEACH übernommen. [22] Große Ver- Danach müßte ja allein schon die Wort-an-Wort-Ver-
breitung fand sie in der Psychoanalyse durch L A C A N , der knüpfung «Dreißig Planken eines Schiffes sind schon
sie nach seiner strukturalistischen Wende zu einem angefault» genügen, um Planke als Synekdoche für Schiff
Grundpfeiler seiner Lehre machte. Freilich wird oft verwenden zu können, was offensichtlich nicht der Fall
übersehen, daß Lacan, geprägt vom französischen Erzie- ist. Wenn Planke nicht als Synekdoche fungieren kann,
hungssystem, für die Bestimmung der mécanismes de dann sicher auch deshalb, weil Planken keine herausra-
l'inconscient (Mechanismen des Unbewußten) auf die genden und typischen Teile von Schiffen sind.
Rhetorik zurückgreift: «Die Periphrase, das Hyperba- Auch die strukturalistische Semantik kann die von der
ton, die Ellipse, das Zer- und Unterbrechen der Syntax, traditionellen Rhetorik offengelassenen Probleme nicht
die Vorwegnahme, die Darstellung durch das Gegenteil, klären. Das gilt sowohl für die der Tradition gegenüber
die Digression und die Ironie sind Stilfiguren \figurae offenere angelsächsische Variante, wie sie etwa bei
sententiarum bei Quintilian], genauso wie die Katach- L Y O N S zum Ausdruck kommt, als auch für die eng an den
rese, die Litotes, die Antonomasie und die szenische Systemgedanken gebundene französische Variante. So
Darstellung Tropen sind, deren Namen sich der Feder als betont Lyons in seinem Standardwerk <Semantics>
die angemessensten aufdrängen, um diese Mechanismen (1977) zwar, daß die M. nicht bloß die Stilistik, sondern
zu bezeichnen. Kann man in ihnen bloß eine einfache Art auch den Bedeutungswandel und - in der Synchronie -
des Sagens sehen, wenn gerade diese Figuren in der Rhe- die Bildung von Komposita und vor allem die Frage der
torik der tatsächlich vom Analysierten geäußerten Rede Homonymie und der Polysemie betrifft, d.h. die Frage
am Werk sind?» [23] Für Lacan beginnt erst mit der der Einheit und Anzahl der in einer Sprache existieren-
'Machart' des Textes des Analysierten oder Traumer- den Wörter. Bei der Behandlung des letzten Problems
zählers das 'Wichtige' - «C'est à la version du texte que verwendet er <M.> als Oberbegriff für M. und Metony-
l'important commence» - und «dieses Wichtige ist nach mie, also im Sinne von <Tropus>. Homonymie liegt vor,
Freud in der Ausarbeitung des Traumes, das heißt in sei- wenn verschiedene Wörter den gleichen Signifikanten
ner Rhetorik gegeben». [24] Diese Rhetorik des Traumes haben (etwa Futter für Tiere und Futter im Mantel); Poly-
umschreibt Lacan wie folgt: «Ellipse und Pleonasmus, semie ist gegeben, wenn ein Wort mehrere Bedeutungen
Hyperbaton oder Syllepse, Regression, Wiederholung, hat, die voneinander tropisch ableitbar sind (etwa abge-
Apposition, das sind die syntaktischen Verschiebungen; brannt im Sinne von niedergebrannt und kein Geld mehr
Metapher, Katachrese, Antonomasie, Allegorie, Meto- haben). In Wörterbüchern erhalten homonyme Wörter
nymie und Synekdoche, das die semantischen Verdich- in der Regel verschiedene Einträge, die Bedeutungen
tungen, an denen Freud uns die wichtigtuerischen oder eines polysemen Wortes werden hingegen innerhalb
demonstrativen, die heuchlerischen oder überzeugen- eines Eintrags erläutert. Deshalb kann Lyons betonen,
den, die zurückweisenden oder die verführerischen daß «Polysemie - das Produkt metaphorischer Kreativi-
Intentionen lehren will, mit denen das Subjekt seinen tät - wesentlich für das Funktionieren von Sprachen als
Traumdiskurs moduliert». [25] Von hier aus überrascht flexible und effiziente semiotische Systeme ist». [31] Wie
es, daß Lacan nicht nur sämtliche sprachlich-rhetori- jedoch diese Kreativität sich im einzelnen zeigt und
schen Prozesse auf die M. und die Metonymie zurück- beschreiben läßt, wird von Lyons nicht diskutiert.
führt, sondern beide auch mit den von Freud unterschie-
denen Verfahren der Verdichtung und Verschiebung Auch die französische strukturalistische Semantik, die
gleichsetzt. [26] Die Problematik dieser Gleichsetzung einen konsequenten Sprachimmanentismus vertritt, da
zeigt sich u.a. darin, daß sich die Verdichtung bei Freud sie die M. ausschließlich als Relationen zwischen Bedeu-
nicht bloß auf den Inhalt, sondern auch auf den Aus- tungsmerkmalen (traits sémantiques) bzw. Semen zu
druck bezieht (so ist etwa alcoholidays eine Verdichtung beschreiben sucht, kommt über das in der rhetorischen
von alcohol und holidays mit Mischwortbildung), [27] Tradition Gesehene nicht hinaus. Das zeigt sich beson-
ebenso meint Verschiebung allgemein Verschiebung des ders deutlich in der in mehrere Sprachen übersetzten
psychischen Akzentes und in der Witzabhandlung sogar <Rhétorique générale> von D U B O I S u.a., eine Lütticher
eine bestimmte logische Technik des Scheinschlus- Forschergruppe, die sich auch <groupe μ> nannte. Unge-
ses. [28] Die M. und die Metonymie definiert Lacan nicht wöhnlich ist, daß diese Gruppe die traditionellen Ände-
inhaltlich, sondern ausschließlich als Operationen mit rungskategorien - Hinzufügen (adiectio), Wegnehmen
Zeichenkörpern (signifiants): die M. wird als «un mot (detractio), Ersetzen (immutatio/substitutio), Umstellen
pour un autre» (ein Wort für ein anderes) [29] bestimmt, (transmutatio/permutatio) -, die in der Antike nur für die
also als Substitution, wobei das metaphorische Wort eine Beschreibung der Wort- und Satzfiguren, also für mor-
neue Bedeutung erhält, die Metonymie hingegen als pho-phonologische (Metaplasmen) und syntaktische
«mot à mot» (Wort an Wort). Metonymie ist hier ganz im Veränderungen (Metataxen) herangezogen wurden,
Sinne von Jakobson zu verstehen, für den schon die Kon- auch auf die Tropen und Inhaltsfiguren anwendet. So
tiguität von Zeichenkörpern, also ihr Nebeneinander in werden etwa die generische Antonomasie (der Redner
einer Zeichenkette, eine Form der Metonymie darstellt. für Cicero) als Wegnehmen, die singuläre Antonomasie
So ist nach Lacan trente voiles (dreißig Segel) für bateaux (Peter ist kein Cicero) hingegen als Hinzufügung klassifi-
(Schiffe) - es handelt sich im strengen Sinn um eine Syn- ziert. [32] Diese erstaunliche Klassifikation ist nur mög-
ekdoche - als trente voiles [de bateaux], d.h. als Kontigui- lich, wenn man als Bezugsgröße nicht Wörter, sondern
Bedeutungsmerkmale nimmt: aus dieser Sicht werden in

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Metapher Metapher

der generischen Antonomasie Cicero gleichsam Bedeu- rent, weil es durch den situativen oder textuellen Kontext
tungsmerkmale weggenommen. Erstaunlich ist auch, beigebracht werden muß. Solche allgemeinen Seme
daß die M. als Ergebnis von zwei Synekdochen beschrie- bezeichnet Rastier auch als «Klasseme»; diese bilden
ben wird. [33] So haben nach Auffassung der Autoren in semantische Dimensionen. Gleichzeitig wird das «axiolo-
«Ein junges Mädchen ist eine Birke» junges Mädchen gische» - hier pejorative - Merkmal von Hund und bellen
und Birke das gemeinsame Bedeutungsmerkmal (sème) in der zweiten Isotopie «aktualisiert». [38] Zwischen den
biegsam. Nun könnte man statt Birke auch die Biegsame Klassemen besteht für Rastier, ganz der traditionellen
und statt das biegsame (Ding) auch das junge Mädchen Auffassung entsprechend, eine Inkompatibilität, gleich-
sagen, im ersten Fall handelt es sich für die Autoren um zeitig teilen aber die Sememe (Wortbedeutungen) von
eine generalisierende Synekdoche, im zweiten Fall um bellen und schreien ein Sem, nämlich /Art-des-sich-mit-
eine partikularisierende Synekdoche. Von hier aus ist es der-Stimme-Äußerns/. Daraus ergibt sich folgende Defi-
nur noch ein Schritt, die M. «Ein junges Mädchen ist eine nition: «Wir nennen jede Verbindung (connexion) von
Birke» als Ergebnis einer generalisierenden und einer lexikalisierten Sememen (oder Gruppen von Sememen)
partikularisierenden Synekdoche zu beschreiben, wobei metaphorisch dergestalt, daß es eine Inkompatibilität
das gemeinsame Merkmal, das tertium comparationis, zwischen mindestens einem Merkmal ihres Klassems,
unausgesprochen bleibt. Damit wird bei der <groupe μ> und eine Identität zwischen mindestens einem Merkmal
nicht nur das Wort als Bezugsgröße aufgegeben, sondern ihrer begrifflichen Kernbedeutung (semantème)
auch das zentrale Definitionsstück der ungewöhnlichen gibt.» [39] Entsprechend könnte man in einer gängigen
Übertragung. M. wird so zu einem 'Spiel mit Semen', hier M. wie «[Wir haben gute Argumente.] Mit diesen Waffen
sogar mit einem einzigen gemeinsamen Sem. Genau dies schlagen wir sie» die beiden inkompatiblen Klasseme
wurde schon früh von R U W E T moniert: «[...] im allgemei- sehr allgemein als /abstrakt/ vs. /konkret/ und das identi-
nen rufen die Metaphern, vor allem die gelungenen, ein sche Sem als /Mittel der Auseinandersetzung/ bestim-
ganzes Bündel von mehr oder weniger starken und kla- men. Man könnte hier statt der semantischen Dimensio-
ren Assoziationen und Analogien wach». [34] nen /abstrakt/ vs. /konkret/ auch von «meso-generi-
Auch bei RASTIER wird das Wort als Bezugsgröße auf- schen» Merkmalen, also etwa von /Argumentation/ vs.
gegeben wie auch die Idee der Übertragung. Freilich /Kampf/ sprechen. In diesem Fall spricht Rastier von
bestehen zwischen der <groupe μ> und Rastier wichtige «domaines sémantiques», also von semantischen Berei-
Unterschiede, die sich vor allem daraus ergeben, daß sich chen. [40] Da Rastier das Verhältnis dieser beiden Struk-
Rastier nicht mehr auf die lateinische, insbesondere turierungen nicht systematisch diskutiert, wird nicht klar,
quintilianische Tradition, sondern direkt auf Aristoteles wann Isotopien nach abstrakten Dimensionen, wann
bezieht. So beschreibt Rastier 1972 - in Anlehnung an nach Bereichen konstituiert werden. Klar ist freilich, daß
die von POTTIER und besonders G R E I M A S entwickelte die makro-generischen Dimensionen ganz den seit TRY-
strukturelle Semantik - am Beispiel des Gedichtes PHON in der Rhetorik unterschiedenen Übertragungsar-
<Salut> von Mallarmé die M. als «Isotopienbündel [...], ten entsprechen. Auch das Verhältnis zwischen den bei-
das zwischen zwei verschiedenen Feldern angehörenden den Isotopien bestimmt Rastier ganz traditionell: im
Sememen oder Gruppen von Sememen hergestellt gegebenen Fall ist nämlich die zweite Isotopie: mit Waf-
wird». [35] Damit ist gemeint, daß in <Salut> Wörter mit fen schlagen die «isotopie comparante» (vergleichende
Bedeutungen (Sememe) aus dem Bereich <Seefahrt> und Isotopie), die erste mit Argumenten schlagen die «isoto-
solche aus dem Bereich <Bankett> verwendet werden pie comparée» (die verglichene Isotopie). [41] Das ent-
(Wörter, die inhaltlich einem Bereich zugehören, bilden spricht der Unterscheidung in Vergleichsbereich (compa-
eine Isotopie). Es geht also nicht mehr um den tropologi- rant) und thematischen Bereich (comparé). Im Gegensatz
schen Gebrauch eines Wortes, sondern um spezifische zur <groupe μ> wird in diesem konfigurationalen Ansatz
Konstellationen von Isotopien. In einer neueren syste- die M. nicht als Substitution, sondern als Kontraktion
matischen Abhandlung bestimmt Rastier in Auseinan- von Semen begriffen, die durchaus auch reziprok sein
dersetzung mit verschiedenen Kritikern die Isotopie als kann. [42] Und ganz im Sinne von Aristoteles unterschei-
«Wiederholung einer linguistischen Einheit», die sich det Rastier analogische Beziehungen zwischen den Iso-
syntagmatisch manifestiert. Diese linguistischen Einhei- topien; so liegt etwa eine nicht einfache Analogie im Ari-
ten sind semantische Merkmale (Bedeutungskomponen- stoteles-Beispiel «Der Schild ist der Becher des Ares», die
ten) von Wörtern. [36] So sorgt etwa in «Der Kapitän ließ nach Rastier, im Gegensatz zu Aristoteles, nur drei
die Segel setzen» das Sem /Schiffahrt/ für eine Isotopie, Terme impliziert, vier Terme liegen hingegen vor in «Das
da es in den beiden Sememen (d.h. den Bedeutungsinhal- Militärrecht (A) steht zum Recht (B) wie die Militärmu-
ten von Kapitän und Segel) enthalten ist. Isotopien sind sik (C) zur Musik (D)». Zwischen A und C und zwischen
nicht an die Syntax gebunden, da sie auch satzübergrei- Β und D bestehen «connexions métaphoriques» (meta-
fend formuliert werden können: «Der Kapitän kam um 8 phorische Verknüpfungen), eine These, die Rastier nach
Uhr. Kurz danach ließ er die Segel setzen». Diese Isoto- eigener Auffassung «avec maint auteur depuis Aristote»
pie ist generisch. Dagegen ist die Isotopie in «Die Mor- (mit manchem Autor seit Aristoteles) vertritt. [43] Das
gendämmerung zündete die Quelle an» spezifisch, da in ist offensichtlich ein metonymischer Sprachgebrauch, da
ihr dreimal das spezifische Sem /inchoativ/ bzw. /steht am nach Aristoteles die genannten Relationen nur die
Anfang/ syntagmatisch manifest ist. Isotopien können Grundlage oder Basis für bestimmte M. bilden. Hinzu
zusätzlich inhärent oder adhärent sein, je nachdem, ob kommt, daß im zitierten Beispiel überhaupt keine M.
die Seme zum denotativen Bedeutungskern oder zur vorkommt, handelt es sich doch um einen Vergleich.
konnotativen Nebenbedeutung gehören. [37] Daraus Auch im Aperçu von Sartre: «La musique de jazz, c'est
ergibt sich für M., daß sie «poly-isotopisch» sind. So sind comme les bananes, ça se consomme sur place» (Die
etwa in «Dieser Polizeihund bellt» zwei Isotopien enthal- Jazzmusik, das ist wie Bananen: das wird sofort konsu-
ten: die erste Isotopie wird durch das «makro-generi- miert) - das Rastier als ein Beispiel für den Fall analy-
sche» inhärente Sem /Tier/ gebildet, die zweite hingegen siert, in dem das identische Sem /leichtverderblich/
durch das adhärente Sem /menschlich/; dieses ist adhä- («périssable») [44] adhärent ist, also nur konnotativ

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Metapher Metapher

erschlossen wird - ist keinerlei M. vorhanden. Eine M. im métaphore vive, die Anfang der 70er Jahre in kritischer
engeren Sinne wäre «Die Jazzmusik ist eine Banane. Auseinandersetzung gegen den dominierenden Struktu-
(Beide sind leichtverderblich)». Es ist leicht zu erkennen, ralismus geschrieben wurden, unterstellt, daß auch Fon-
daß das Sartre-Aperçu in dieser Form die gleiche Struk- tanier die Substitutionstheorie vertreten habe - für Ri-
tur wie die Stoppelmetapher hat: «Das Alter ist eine cœur Ausdruck des «Niedergangs der Rhetorik». [47]
Stoppel. (Beide sind abgeblüht)». Entsprechend unterstellt BLACK, daß die von ihm als
Die gegebenen Beispiele machen zunächst deutlich, Beleg für die Substitutionstheorie zitierten Lexika und
daß auch der Ansatz von Rastier den wesentlichen Handbücher für die ganze Rhetorik typisch sind. [48]
Unterschied zwischen M. und Vergleich nicht zu erklä- Auch in deutschsprachigen, dem Strukturalismus nahe-
ren vermag. Dem entspricht seine Klassifikation von stehenden Abhandlungen wie etwa PLETT (1975) findet
metaphorischen «Konnektoren». Die drei Formen sind: sich diese Idee. Für Plett besteht sogar jeder Tropus «(1)
(i) die «contextes équatifs», das sind die «gleichsetzen- aus einem ersetzenden Ausdruck, dem Substituens [...];
den Kontexte» wie etwa «Männer (Nl) sind Papiertiger und (2) einem ersetzten Ausdruck, dem Substitu-
(N2)», in denen die Verbindung zwischen zwei Isotopien tum». [49] Doch auch in neueren deutschsprachigen Stili-
syntaktisch hergestellt wird; (ii) die «enclosures» (engl. stiken und Rhetoriken wird diese Substitutionstheorie
hedges; Hecken, Einzäunungen), d.h. Vergleichspartikel nicht nur vertreten, sondern in der Regel auch der tradi-
(wie, als) oder Ausdrücke bzw. Umschreibungen wie tionellen, insbesondere lateinischen Rhetorik zuge-
man könnte sagen, die anzeigen, daß es sich um unter- schrieben. [50] Plett selbst hatte auch in einer früheren,
schiedliche Bereiche (Allotopien) handelt; (iii) die poly- noch mehr der traditionellen Rhetorik verpflichteten
semen Wörter («Seine Rede ist platt wie [...]»).[45] Untersuchung diese Theorie zur Grundlage seiner
Diese Formen sind zwar «weder notwendig noch hinrei- Beschreibung der Tropen gemacht. [51] Im deutschen
chend» (die M. ist für Rastier letztlich nur über inkompa- Sprachraum scheint die Auffassung, die traditionelle
tible Isotopien bestimmbar), dennoch aber zeigen sie Rhetorik habe eine Substitutionstheorie vertreten, fast
nicht nur, daß M. und Vergleich nicht unterschieden wer- zum Gemeinplatz geworden zu sein. [52] Dies ist sicher
den, sondern auch, daß Rastier usuelle Sprachbedeutung auch auf die oben aufgezeigte Lausbergsche Reduktion
und okkasionellen Äußerungssinn gleich behandelt; die zurückzuführen. So überrascht es nicht, daß in französi-
Folge ist einmal, daß überraschende und nicht lexikali- schen, nicht-strukturalistischen Abhandlungen in der
sierte Vergleiche oder M., wie etwa das Sartresche Aper- Regel die Übertragungstheorie zu finden ist, die sich ent-
çu, genauso wie gängige Redewendungen behandelt wer- weder auf Dumarsais oder Fontanier beruft, in neuerer
den, zum andern, daß Rastier keinerlei Kriterien zur Zeit immer mehr auf Aristoteles. [53]
Unterscheidung des Vergleichsbereichs und des themati- Das Scheitern des Strukturalismus ist notwendige
schen Bereichs angibt (woraus sich seine Terminologie Konsequenz des ihm zugrundeliegenden Dogmas, daß
comparant vs. comparé erklärt). Rastiers konfiguratio- nicht nur phonologische, morphologische oder syntakti-
nale Semantik- und Metapherntheorie kann, weil sie die sche, sondern auch semantische Phänomene sprachim-
Syntax auf der konkreten Äußerungsebene ausblendet, manent erklärt werden können. Man muß deshalb von
nicht systematisch zwischen Redegegenstand (Thema) einer Ironie der Geschichte der neueren Sprachwissen-
und Prädikationen (direkt vs. indirekt über Tropen) über schaft sprechen, daß LAKOFF, der seine Semantik- und
diesen Gegenstand unterscheiden. Daß diese Unter- Prototypentheorie immer vehement gegen Aristoteles
scheidung notwendig ist, zeigt wiederum seine Differen- und die historische Sprachwissenschaft abgegrenzt hat,
zierung in comparant vs. comparé, die ja eine Hierarchi- sich wieder den Erkenntnissen eben dieser historischen
sierung in Vergleichsgeber und Verglichenes voraus- Sprachwissenschaft und auch der traditionellen Rhetorik
setzt. Rastiers Einwand, daß in poetischen Texten oft annähert. So zeigt Lakoff im Anschluß an D I X O N (1982),
nicht entscheidbar ist, welche Isotopie dominierend daß im australischen Dyirbal jedes Wort zu einer der fol-
ist [46], greift deshalb nicht, weil jede Interpretation not- genden Kategorien gehört: bayi, balan, balam und bala.
wendig eine Isotopie als themakonstitutierend heraus- Unter die Kategorie bayi fallen z.B.: Männer, Kängu-
greifen muß. Sind in einem Text verschiedene Isotopien ruhs, Opossums, Fledermäuse, die meisten Schlangen, die
als themabildend möglich, so ist dies kein Beleg dafür, meisten Fische, einige Vögel, die meisten Insekten, der
daß die Unterscheidung in Vergleichsbereich und the- Mond, Stürme, Regenbogen, Boomerangs, Angelspeere
matischen Bereich obsolet oder unsinnig ist, sondern ein usw. [54] Die einzelnen Exemplare der Kategorie bayi
Beleg dafür, daß die Ebenen in bestimmten Texten poe- haben zwar kein gemeinsames Merkmal, sie sind aber
tisch 'ausgespielt' werden können. jeweils durch eine lokale Ähnlichkeit verbunden. So ist
Will man diese Belege positiv wenden, so hat der z.B. der Mond in dieser Kategorie, weil er in Dyirbal-
Strukturalismus gezeigt, daß eine sprachimmanente und/ Mythen immer als Ehemann auftaucht (daher seine
oder konfigurationale Erklärung nicht hinreicht, um dem Ähnlichkeit mit Männern). Angelspeere gehören in
Phänomen M. gerecht zu werden, einmal, weil die Syntax diese Kategorie, weil sie mit Fischen in einer metonymi-
auf der Ebene der Äußerung ausgeblendet ist, zum schen Beziehung stehen. Lakoff geht bei seinen Erklä-
andern, weil nicht systematisch zwischen sprachlicher rungen wie die historische Sprachwissenschaft davon
Bedeutung (meaning) und Gebrauchsbedeutung (use) aus, daß es zentrale Basiselemente, also Grundbedeu-
unterschieden wird. M. ist nicht bloß ein semantisches tungen, gibt (hier: Männer), daß alle Elemente über die
oder kognitives Phänomen, sondern umfaßt notwendig Basiselemente miteinander verzahnt sind (weshalb sie
Syntax und Pragmatik. keine gemeinsamen Merkmale haben müssen), und daß
Das Beispiel von Rastier zeigt jedoch auch, daß die diese «chainings» (Verzahnungen) motiviert sind («cen-
Substitutionstheorie nicht notwendig an die strukturali- trality, chaining, no common properties, motivation»);
stische Merkmalstheorie gebunden ist. Auffallend ist, formal lassen sich diese Verzahnungen oder Verkettun-
daß diese Theorie bis in die 80er Jahre gerade auch im gen vor allem als metonymische und metaphorische Pro-
Strukturalismus dominierte. Vielleicht ist dadurch zu zesse beschreiben - genau das hatte Darmesteter unter
erklären, daß RicœuR in seinen Untersuchungen zur der < Verkettung> verstanden. Und ebenso wie die histori-

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Metapher Metapher

sehe Sprachwissenschaft geht Lakoff davon aus, daß die die letzten beiden Untersuchungen haben gezeigt, daß
Motivierungen inhaltlich durch die spezifische natürliche diese Felder durch mehrere Erfahrungskomplexe struk-
Umwelt oder durch spezifische Wissensformen (darun- turiert sein können: so unterscheidet etwa Bachelard für
ter auch Mythen) erklärbar sind. Ergebnis dieser tropo- das Feuer u.a. den Prometheus-, den Empedokles- und
logischen Prozesse sind polyseme Kategorien bzw. Wör- den Novaliskomplex. [59]
ter. Neu ist bei Lakoff freilich, daß er seine Analysen Die zuletzt aufgeführten Bildbereiche decken die
durch eine allgemeine Kognitionstheorie begründet. ganze Spanne von alltagsweltlicher bis hin zur wissen-
Lakoff vertritt einen realistischen kognitiven Konstruk- schaftlichen Metaphorik oder sogar Modellbildung ab.
tivismus, wendet sich also gegen den naiven Empirimus, Die von Johnson und Lakoff behandelten Bildbereiche
der etwa die Prototypentheorie von R O S C H kennzeich- gehören hingegen zum Standardinventar alltagsweltli-
nete. [55] Nach diesem «conceptual relativism» [56] wird chen Denkens und Sprechens. Es ist sicher ein Verdienst
Wirklichkeit über Idealized Cognitive Models (ICM) beider Autoren, im Detail gezeigt zu haben, daß und wie
(idealisierte kognitive Modelle) angeeignet: so ist etwa diese in der Alltagssprache funktionieren. Doch welchen
das skizzierte Dyirbal-Klassifikationssystem, aber auch kognitiven und epistemologischen Status haben diese
die Einteilung der Woche in sieben Tage ein ICM; metaphorischen ICM? Und in welchem Verhältnis ste-
ebenso ist der Begriff <Junggeselle> in westlichen Gesell- hen sie zu den Übertragungsarten? Diese zentralen Fra-
schaften ein ICM, das eine Gesellschaft mit monogamer gen bleiben bei Johnson und Lakoff genauso wie bei
Ehe und ein typisches Heiratsalter impliziert (deshalb Rastier (der sie immerhin terminologisch unterscheidet)
sind Priester, Homosexuelle, sehr alte unverheiratete ungeklärt. Die Richtung, in der die Lösung dieser Fragen
Männer, auf einer Insel ausgesetzte Männer im heiratsfä- zu suchen ist, ergibt sich, wenn man mit Fontanier die
higen Alter, usw. keine Junggesellen). [57] ICM als habitualisierte tropologische Formen alltags-
Auch M. sind ICM, kognitive Modelle der Wirklich- sprachlicher Kommunikation bestimmt. Bei der M. liegt
keit. Diesen Gedanken hatten LAKOFF/JOHNSON schon dieser Form, wie Fontanier mit der rhetorischen Tradi-
1980 in einer - die neuere Linguistik in weiten Bereichen tion formulierte, eine «Gleichförmigkeit oder Analo-
lange als novissima et ultima ratio dominierenden - gie» [60] zugrunde. Damit stellt sich auch bei Lakoff wie
Untersuchung formuliert, in der neben der M. nur noch beim modernen Strukturalismus wieder das Problem der
die Metonymie unterschieden wird. Solche Modelle sind Analogie. Daß Lakoff selbst dieses Problem sieht, zeigt
etwa: Argumentation-ist-Krieg, Liebe-ist-eine-Reise, sich äußerlich schon darin, daß er in neueren Publikatio-
Gesellschaft-ist-eine-Person, Die-Inflation-ist-ein-Geg- nen die ICM nicht mehr als X-ist-Y formuliert, sondern
ner oder Ideen-sind-Gegenstände. [58] Man beachte, daß Χ,-ist-WIE-Y; die alten Formulierungen seien, sagt
hier unter dem Terminus <Modell> nicht nur der Ver- Lakoff jetzt, aus mnemotechnischen Gründen gewählte
gleichsbereich, sondern auch der thematische Bereich Ausdrücke gewesen, «mnemonic names»; sachlich rich-
gefaßt wird. tig sei «Target-Domain as Source-Domain» (Ziel-
Den ersten vier Modellen liegen offenbar Metaphern- Bereich als Ausgangs-Bereich); bezogen auf die «Projek-
felder zugrunde, die zumindest für moderne Industriege- tion» (mapping) Liebe/Reise bemerkt er dann: «Wenn
sellschaften typisch sind, beim letzten hingegen handelt ich von der Liebe ist eine Reise-Metapher spreche,
es sich um eine traditionelle Übertragungsart. Man muß benutze ich eine mnemotechnische Menge von ontologi-
nun das letzte Modell nur als konkret -» abstrakt para- schen Übereinstimmungen [correspondences], die eine
phrasieren, um zu sehen, daß diese Idee zum historischen Projektion charakterisieren, nämlich: Liebe als Reise-
Erfahrungsschatz der Rhetorik gehört und sogar über Projektion. Die Liebenden entsprechen Reisenden». [61]
Lamy, Dumarsais u.a. in die Philosophie (Lambert, Damit ist Lakoff nach einer langen Reise wieder bei Ari-
Kant, u.a.) und die ganze historische Sprachwissenschaft stoteles und der so geschmähten Vergleichstheorie ange-
(Darmesteter, Ullmann, u.a.) 'ausstrahlte'. Faßt man den kommen - ohne freilich die wesentliche Erkenntnis von
Begriff <abstrakt> weit, so können auch die ersten vier Fontanier und der ihm folgenden historischen Sprach-
Modelle dieser Übertragungsart zugeordnet werden. wissenschaft in seine Theorie zu integrieren, eben die
Solche Übertragungsarten (belebt —> unbelebt / konkret Notwendigkeit, zwischen sprachlicher Bedeutung und
—> abstrakt) sind sicher universell; ontologisch gesehen okkasionellem Redesinn zu unterscheiden.
handelt es sich um Seinsbereiche, linguistisch gesehen um Es wundert deshalb nicht, wenn im Umfeld von Lakoff
durch Klassifikationsmerkmale oder Klasseme differen- die M. sogar als Analogie bezeichnet wird. So hat etwa M.
zierbare Bereiche. Ganz anders ist das bei den Meta- TURNER die Frage untersucht, auf welchen semantischen
phernfeldern·. diese Felder sind historisch gewachsene oder kognitiven Ebenen eine M. überhaupt möglich ist,
Erfahrungs-, Produktions- und Handlungsbereiche. Sie und festgestellt, daß über und unter dem «basic level»
unterscheiden sich offenbar nicht nur, wie Rastier (Basisebene) keine M. möglich sind. In der Prototypen-
annimmt, durch ihren Allgemeinheitsgrad von den klas- semantik ist diese Basisebene konstituiert durch Katego-
sematischen Seinsbereichen (meso- vs. makrogenerisch): rien, die in der Regel auf Arten verweisen, mit denen wir
ontologische Kategorien wie Klasseme kann man näm- praktisch und kognitiv konkret umgehen: Brot, Messer,
lich nicht unmittelbar erleben, wohl aber Kriege, Reisen, Fahrrad, Stuhl, Schlüssel, Katze, Felsen, Argument, Reise,
Argumentationen, usw. Auch hier gibt es einen reichen usw. Über dieser Ebene (etwa Lebewesen sind anorgani-
Erfahrungsschatz, nicht nur in der Rhetorik, sondern sche Dinge) und unter dieser Ebene (etwa Eine Rose ist
gerade auch in der neueren Forschung. Von den oft faszi- eine Nelke) sind keine M. oder Analogien möglich. Auf
nierenden neueren Untersuchungen seien hier exempla- der Basisebene ist dies nur möglich, wenn es sich um
risch die Untersuchungen CURTIUS' zum Buch genannt, «contrasting mental models» (kontrastierende mentale
die WEINRICHS zu den Metaphernfeldern Münze, die Modelle) handelt. Zwei mentale Modelle bzw. zwei
Arbeit von STOLT zur Waffenmetaphorik in der frühneu- Begriffe sind dann «sehr verschieden [very different],
hochdeutschen Literatur und vor allem die Arbeiten von wenn eine Kategorie, die höher als die Basisebene ist,
J. SCHLANGER zum Organismus im 19. Jh. und von G. einen dieser Begriffe, nicht aber den andern, ent-
BACHELARD zum Feuer, zur Erde und zur Luft. Gerade hält». [62] Als Beispiele für die höheren mental models

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Metapher Metapher

führt Turner u.a. an: physisch/nicht-physisch, Person/ menschlich macht» [69] - genau das sagt auch Aristoteles
Nicht-Person, Ereignis/Nicht-Ereignis, also die klassi- in einer Rhetorikstelle, in der es ihm nicht um das gut-
schen Übertragungsarten. [63] Freilich weist Turner dar- Metaphern-Bilden geht: «Alle Leute unterhalten sich
auf hin, daß unterhalb der Basisebene zwar Ein Pekinese nämlich, indem sie metaphorische, gemeinübliche und
ist ein Doberman nicht möglich ist, wohl aber Dieser wörtliche Ausdrücke verwenden». [70] All dies führt
Pekinese ist ein Doberman. Daß nur bei dieser singulären nach Richards zum «dritten und schlimmsten» Punkt,
Referenz, nicht aber bei der generischen Referenz eine «wonach die Metapher im Sprachgebrauch etwas Beson-
Analogie möglich ist, kann Turner nur dadurch erklären, deres und Außergewöhnliches sei, eine Abweichung
daß im ersten Fall Doberman «nicht als Name einer [deviation] von ihrer normalen Funktionsweise». [71]
Kategorie, sondern als M.» zu verstehen ist. [64] Damit Offenbar erübrigt sich auch dieser Kritikpunkt. Trotz
behandeln Lakoff und Turner die M. letztlich wie Rastier dieser Kritik an Aristoteles nähert sich Richards nach
konfigurational. Deshalb bleibt auch ungeklärt, welche einer berechtigten Kritik von Metaphernkonzepten sei-
Bedingungen erfüllt sein müssen, damit in einem konkre- ner Zeit, in denen vage Termini wie <Vorstellung), <Bild>,
ten Redeakt ein Ausdruck als M. verstanden wird. <Figur>, <Bedeutung> usw. verwendet werden, wieder der
Ebenso ungeklärt bleibt, wie die Analogie beim Verste- aristotelischen Konzeption, indem er die M. als eine
hen einer M. überhaupt 'ins Spiel kommt'. Die neuere «Doppeleinheit» (double unit) bestimmt, die aus einem
Forschung wird hier zunächst im Hinblick auf die zweite «tenor» und einem «vehicle» besteht. Diese Doppelein-
Fragestellung diskutiert. heit ist nicht an Sprache gebunden, da sie auch in der
2. Kognitive Basis der M.: Ähnlichkeit, Analogie, Pro- Wahrnehmung etwa dann entstehen kann, «wenn ein
jektionen und Interaktionen. Ausgehend von einer Stelle Gebäude, das wir betrachten, ein Gesicht zu haben
der aristotelischen <Rhetorik> untersucht Turner in einer scheint». [72] Hier ist Gebäude das <principal subject>
neueren Studie die Frage, welche Bedingungen gelun- (Hauptgegenstand), der Tenor, das Gesicht hingegen das
gene metaphorische Projektionen erfüllen müssen. Eine Vehikel. Aus dieser Erweiterung folgt nicht nur, daß
der von Aristoteles genannten Bedingungen ist, daß die Richards die M. kognitionspsychologisch denkt, sondern
M. zu ihrem Gegenstand «passen» muß. Dafür muß die auch, daß das Problem des Verhältnisses Sprachbedeu-
«Analogie» beachtet werden. Das sei genauso, wie man tung vs. Begriff ausgeblendet bleibt. Seine eigentliche
zu prüfen habe, ob das «einem jungen Mann angemes- Fragestellung ist somit: Welche kognitiven Prozesse lie-
sene Purpurkleid auch für einen Greis schicklich ist». [65] gen dem Erfassen der Doppeleinheit M. zugrunde?
Obwohl hier eindeutig die ethisch-ästhetische Angemes- Genau dies ist offenbar auch die Fragestellung von John-
senheit der M. angesprochen wird, kommt bei Turner son und Lakoff. Richards versucht, diese Frage noch zu
nur die kognitive Dimension in den Blick, da er nur die klären, indem er, ganz aristotelisch, auf die möglichen
Frage, «was eine M. konzeptuell passend macht», unter- Beziehungen zwischen Tenor und Vehikel reflektiert -
sucht. Turners Hypothese, die er in dieser Studie zu und nicht wie Johnson und Lakoff durch die Konstruk-
begründen sucht, ist, daß metaphorisch-analogische Pro- tion von idealisierten Modellen. Dabei unterstellt er wie
jektion die «Bildstruktur des Zielbereichs nicht verletzen die Tradition, daß zwischen beiden eine Analogie vor-
darf». [66] Auffallend ist, daß Turner hier selbst termino- liegt, die sich zudem als eine ihnen gemeinsame «Basis»
logisch auf die in der neueren Forschung im angelsächsi- (ground), d.h. dem tertium comparationis, bestimmen
schen Sprachraum lange vehement kritisierte Ver- läßt. Daher auch seine ganz traditionelle Fragestellung
gleichs- und Analogietheorie von Aristoteles zurück- nach «der Basis der Verschiebung» (the ground of the
greift. Obwohl man diese veränderte Sicht als Paradig- shift). Diese Basis ist bei Bein eines Pferdes und Bein
mawechsel bezeichnen könnte, ist es wohl sinnvoller, von eines Tisches leicht bestimmbar (etwa «der Tisch steht»
einer die neuere Forschung kennzeichnenden Rückbe- usw.), nicht aber, wenn wir jemanden «duck» (Ente) nen-
sinnung auf Aristoteles zu sprechen, die zunächst ableh- nen; hier liegt nämlich keine unmittelbare und tatsächli-
nend-kritisch war. So ist Stein des Anstoßes für che Ähnlichkeit vor, sondern eine, die sich auf unsere
RICHARDS' <Philosophy of Rhetoric> (1936) - eine «attitudes» (Einstellungen) gründet. Im gegebenen Fall
Abhandlung, die nicht nur Lakoff, sondern die ganze ist dies nach Richards «irgendwie ein Gefühl zärtlicher
angelsächsische Forschung bis in die 90er Jahre wesent- und amüsierter Zuwendung», das er aus einer tropologi-
lich bestimmt hat - eine Bemerkung von Aristoteles in schen Bedeutung von duck, nämlich: «entzückender
der <Poetik>, wonach «gut Metaphern bilden» nicht von oder reizender Gegenstand» ableitet. [73] Hier werden
einem andern übernommen werden kann, sondern Zei- diese beiden Formen als sachliche vs. konnotative Analo-
chen eines «Talents» (ευφυία, euphyía) ist. [67] Der grie- gie bezeichnet. Die fehlende Reflexion auf die Rolle der
chische Ausdruck bedeutet ursprünglich «guter Wuchs», Sprache führt ihn freilich zu einigen Fehlurteilen. So fol-
von daher dann «gute Natur», «gute Disposition», gert er etwa aus seiner Beobachtung, daß es sich beim
«Naturgabe», «Talent» oder «Begabung». In der von Holzbein eines Menschen sowohl um ein «metaphori-
Richards benutzten Übersetzung findet sich die auf die sches» als auch «wörtliches Bein» handelt, daß «ein Wort
Romantik zurückgehende Übersetzung «genius». [68] simultan sowohl wörtlich (literal) als auch metaphorisch
Daraus folgert Richards, Aristoteles habe behauptet, die sein kann». [74] Zunächst muß man festhalten, daß Holz-
Fähigkeit, M. zu bilden, sei eine besondere «Gabe», über bein keine M. ist, sondern ein normales Kompositum
die nicht alle verfügten. Dieses Mißverständnis läßt sich (Ein Bein aus Holz); deshalb liegt etwa in «Das Holzbein
leicht klären, da Aristoteles nicht von der Fähigkeit, M. ist schon wieder da» eine Synekdoche vor (sofern klar ist,
zu bilden, spricht, sondern von der Fähigkeit, gut M. zu daß es sich um eine Person mit einem Holzbein handelt);
bilden. Damit ist auch der zweite Kritikpunkt Richards' und in «Er geht mit seinem Holzbein ganz normal» wird
hinfällig, mit dem er zum Ausdruck bringt, daß ihm nicht man nicht sagen wollen, daß Holzbein metaphorisch ist,
einsichtig ist, warum man M. nicht übernehmen bzw. sondern eben nur, daß es sich um kein echtes Bein han-
erlernen kann. «Als Individuen erwerben wir den delt. Dagegen wird man zu Tischbein sagen können, daß
Umgang mit Metaphern», so der Einwand Richards, es sich - diachronisch gesehen - um eine habitualisierte
«genauso wie wir alles andere lernen, was uns spezifisch M. handelt, weshalb das gleiche Wort in einer Äußerung

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Metapher Metapher

wie «Das rechte Tischbein ist kürzer» in seiner heutigen noia» [80] gipfelt, liest Richards nur den zweiten Teil
wörtlich-Iiteralen Bedeutung verwendet wird. nach oder (versteht es somit als exklusive (aut) und nicht
Richards will mit seinen Überlegungen den Nachweis als inklusive (vel) Konjunktion) und übersieht somit, daß
führen, (i) daß zwischen dem Tenor und dem Vehikel das 'plötzliche Äneinanderhalten' eine implizite Form
verschiedene Arten der Interaktion möglich sind, (ii) daß des Vergleichens ist. Deshalb ist es ganz im Sinne von
diese Interaktionen nicht auf eine «Verschiebung und Breton, wenn Richards gegen ihn betont: «Das wichtig-
Verdrängung von Wörtern» beschränkt sind, sondern «in ste, was geschieht - zusätzlich zu einer allgemeinen Ver-
allererster Linie Austausch und Verkehr von Gedanken» wirrung und Anspannung - sind die Anstrengungen des
darstellen, und (iii) «daß es in diesen Interaktionsarten Denkens, sie zu verknüpfen», d.h. eine Analogie herzu-
zwischen gleichzeitig präsenten Gedanken (co-present stellen. Dies wiederum erklärt, daß er selbst die surreali-
thoughts) eine immense Vielfalt gibt». [75] Deshalb kann stische Konzeption der kühnen M. vertritt: «Wenn die
er auch pointiert formulieren: «Denken ist metaphorisch beiden zusammengebrachten Objekte entfernter von-
und geht vergleichend vor; von daher leiten sich die einander liegen, wird die Spannung größer. Diese Span-
Metaphern der Sprache ab.» [76] Da man in diesem Satz nung ist mit der Elastizität des Bogens vergleichbar, der
das Adverb metaphorisch im Sinne von vergleichend ver- Quelle der Durchschlagskraft des Schusses». [81] Das
stehen muß, steht er nicht im Gegensatz zur aristoteli- gleiche hatte Breton mit einer moderne Erfahrung
schen Auffassung - genauso wenig wie die Punkte (ii) reflektierenden M. ausgedrückt: «Der Wert eines Bildes
und (iii). Neu - bezogen auf die im 18. Jh. auch in Eng- (image) hängt von der Schönheit des erhaltenen Funkens
land vertretene, auf Aristoteles zurückgreifende Analo- ab; er ist deshalb eine Funktion des Spannungswiderstan-
gietheorie - ist jedoch die in Punkt (i) formulierte Inter- des zwischen zwei Leitern.» [82]
aktionstheorie. Warum kann es dann nach Richards auch Wie bei Richards ist auch STÄHLINS Zugriff in seiner
M. geben, bei denen nicht die Ähnlichkeit, sondern die Abhandlung zur <Psychologie der M.> (1914) kognitions-
Unähnlichkeit wichtig ist? [77] Einmal deshalb, weil er psychologisch; diese luzide Untersuchung wurde im
einen eingeschränkten Analogiebegriff (im Sinne von deutschen Sprachraum kaum [83] und auch in der nicht
<faktisch oder konnotativ ähnlich») verwendet; daß es deutschsprachigen Forschung fast nicht zur Kenntnis
auch negative Analogien gibt, ist von der Tradition nie genommen. Stählin reflektiert nicht allgemein auf die der
ausgeschlossen und sogar terminologisch in den ver- M. zugrundeliegenden Denkprozesse, sondern versucht,
schiedenen Formen der auf Analogie basierenden Denk- die sprachpsychologische Frage zu klären: «Was geht in
figuren herausgearbeitet worden. Zum andern deshalb, uns vor, wenn wir gehörte oder gelesene Metaphern ver-
weil er sich selbst in der Analyse des zentralen Beispiels stehen?» [84] Seine Antwort ist zunächst, daß «bei der M.
zur Abstützung dieser Unähnlichkeitsthese widerspricht. ein Gegenstand mit dem Namen eines anderen Gegen-
In diesem Beispiel, einem Gedicht von DENHAM, wird auf standes, der einer anderen Sphäre zugehört, bezeichnet
verschiedenen Ebenen die Analogie zwischen dem [wird], ohne daß diese Übertragung selbst sprachlich
Tenor «Einbildungskraft (mind) des Dichters» und dem zum Ausdruck kommt». [85] Hier wird zum ersten Mal
Vehikel «Fluß» ausgeschrieben. Zur Zeile «Though klar unterschieden zwischen dem Gegenstand und der
deep, yet clear; though gentle, yet not dull» (Obwohl tief, Sphäre (bzw. dem Erfahrungsbereich), der dieser Gegen-
so doch klar; obwohl sanft, so doch nicht schwerfällig) stand zugehört (bei Richards umfassen Tenor und Vehi-
bemerkt er, daß deep hier bezogen auf die Einbildungs- kel beides). Das metaphorische Verstehen selbst
kraft u.a. meint: «geheimnisvoll, eine Menge Aktivität, bestimmt Stählin als «die Bewußtseinslage der doppelten
reich an Kenntnis und Kraft» und somit «nicht vom Fluß Bedeutung»: der metaphorische Ausdruck steht nämlich
herrührt». [78] Diese Beschreibung überrascht, weil sie «jedesmal in einer gewissen Spannung mit dem Zusam-
im Gegensatz zu Richards' eigener Analyse der konnota- menhang . Er stammt aus einem Gebiet, von dem hier
tiven M. steht, bei der er ja selbst betont hatte, daß die nicht die Rede ist, und wird auf ein Gebiet angewendet,
sachliche Ähnlichkeit keine zentrale Rolle spielt. In die- auf dem er nicht daheim ist». Dadurch entsteht die für
sem Sinne wäre eher richtig zu sagen, daß es sich um eine das Verstehen der M. eigentümliche Bewußtseinslage:
rhetorische Syllepse handelt, also eine Wortfigur, in der zunächst kommen wie bei jedem Wortverstehen «Merk-
zwei Bedeutungen eines Wortes, hier die ursprüngliche male zum Bewußtsein, Beziehungen tauchen auf, Bezie-
und die habitualisierte metaphorische, präsent sind. hungsgegenstände fallen ein, Gefühlswerte klingen an,
Berücksichtigt man zusätzlich die globale Argumenta- und vor allem: es wird eine Sphäre bewußt, in die der
tionsstruktur des Textes von Richards, so fällt auf, daß es Gegenstand hineingehört. Gleichzeitig aber bin ich durch
ihm gar nicht um die Widerlegung der Analogietheorie den Zusammenhang gezwungen, ein anderes Stoffge-
geht, sondern - ganz aristotelisch - um die «rechte biet, eine andere Sphäre ins Auge zu fassen. Der Zusam-
Mitte». Das Zuwenig sind Theorien, welche die M. auf menhang liefert mir die Beziehungsgegenstände, mit
sachlich identische Vergleichsbereiche reduzieren, das denen das Wort hier in Beziehung gesetzt werden soll,
Zuviel sind surrealistische Konzeptionen, die in der Tra- und es sind andere Beziehungsgegenstände, als die mir
dition des Manierismus oder Concettismus den Ver- sonst wohl bei diesem Wort einfallen möchten». [86]
gleich «als bloßes Zusammenfügen zweier Dinge, um zu Genau dies bezeichnet Stählin als Bewußtseinslage der
sehen, was passiert» bestimmten, «eine zeitgenössische doppelten Bedeutung. Wesentlich ist, daß in Stählins
modische Verirrung, die den Extremfall für die Norm Verstehenstheorie nicht unterstellt wird, daß sich die
nimmt». Als besonders herausragenden «Anführer» die- Bedeutung des als M. dienenden Ausdrucks verändert.
ser Richtung gilt ihm A. BRETON, den er wie folgt zitiert: Das unterscheidet ihn nicht nur von der Substitutions-
«Zwei denkbar weit voneinander entfernte Gegenstände theorie, sondern auch von neueren noch zu behandeln-
vergleichen, oder sie durch irgendein anderes Verfahren den Theorien zur M. Das wird deutlich, wenn man ein
plötzlich und auffallend aneinanderhalten, bleibt die von Stählin für die doppelte Bewußtseinslage gegebenes
höchste Aufgabe, welche die Poesie erstreben Beispiel betrachtet: «Das Kamel ist das Schiff der
kann.» [79] In seiner vehementen Kritik, die sogar im Wüste». Stählin zeigt, wie nach ihm Richards, daß zwi-
Vorwurf vom «surrealistischen Kult künstlerischer Para- schen beiden Bereichen verstehenspsychologisch eine

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Metapher Metapher

Interaktion stattfindet, «ein Austausch der Merkmale, sogar, wie Aristoteles betont, zu einer spontanen
eine Vereinigung der beiderseitigen Sphären, eine Ver- Begriffsbildung führen.
schmelzung von Bild und Sache». [87] Diese Verschmel- Die theoretische Bedeutung der These der doppelten
zung darf offenbar nicht zur Identität führen, da damit Bewußtseinslage ist von der im Umfeld von Stählin ent-
die Spannung und Nicht-Identität zwischen beiden standenen entwicklungspsychologischen Untersuchung
Bereichen aufgehoben wäre. Damit läßt sich das Verste- von H. W E R N E R über die <Ursprünge der M.> (1919) -
hen allgemein im Sinne von Stählin als gleichzeitige eine sicher spekulative, aber doch in vielen Punkten
Bewegung hin zum Identischen und zum Nicht-Identi- bedenkenswerte Arbeit - aufgezeigt worden. Da Werner
schen bestimmen. Daraus folgt, daß Stählin im Gegen- wie Stählin vom «Bewußtsein einer Zweiheit» ausgeht,
satz zu Richards katachretische Verwendungen wie kann er die auf Vico zurückgehende romantische Auffas-
«Haupt einer Räuberbande», «Fuß des Berges» oder sung der metaphorischen Sprache als Ursprache der
«Lebensgarcg» nicht als M. bestimmt, da keine doppelte Menschheit gleichsam umkehren. Das Bewußtsein einer
Bewußtseinslage entsteht. Mit dieser sachlich richtigen Zweiheit, das für das Verstehen einer M. notwendig ist,
Auffassung (s.u.) steht er quer zu den in der Moderne ist vielmehr das Ergebnis der menschlichen Entwick-
dominierenden Theorien. M. im strengen Sinn können lungsgeschichte. Genauso wenig wie man bei 'Primiti-
somit wie schon bei Fontanier und Paul nur bei den über- ven' von einer metaphorischen Sprache sprechen kann,
tragenen tropologischen Sinneffekten bzw. den okkasio- genauso wenig wird man sagen können, daß ein Kind, das
nellen Bedeutungen entstehen. Die sachliche Nähe zur ein Flugzeug als Vogel bezeichnet, eine M. verwendet.
Allgemeinen Grammatik und Tropologie, die Stählin Warum sollen Dinge, die fliegen können, nicht den glei-
wohl nicht bekannt ist, zeigt sich auch darin, daß die chen Namen haben? Für Außenstehende, die aufgrund
Beziehungsgegenstände und Gefühlswerte, die einem in ihrer Sprachkonventionen diese beiden Gegenstände
beiden Sphären einfallen, durchaus mit den idées acces- verschiedenen Arten zuordnen, mag dies sicher zutreffen.
soires bei Port-Royal oder bei Lamy und Dumarsais Freilich sollten diese bedenken, daß sie etwa mit Stuhl
gleichgesetzt werden können. Umgekehrt kann die Dinge bezeichnen, auf denen man liegen (Liegestuhl)
Spannung auch dann verloren gehen, wenn die Bild- oder überhaupt nicht sitzen kann (Lehrstuhl), ganz zu
sphäre so stark in den Vordergrund rückt, «daß ein schweigen vom Stuhlgang. [93] Wie in der Ontogenese
gehörtes Bild die Aufmerksamkeit so lebhaft beschäftigt, dieses private Sehen und vergleichend-analogische Iden-
so intensive Bedeutungserlebnisse auslöst, den auffas- tischsetzen mit dem Erwerb einer konventionalisierten
senden Geist so gewaltsam oder verführerisch in sein Sprache verzahnt ist, hat WYGOTSKI gezeigt. [94]
entlegenes Gebiet reißt, daß der Faden des Zusammen-
hangs darüber vollkommen abgerissen» [88] wird. Hier Phylogenetisch ist das metaphorische Bewußtsein
spricht nicht nur der Theologe und Psychologe Stählin nach Werner aus dem Tabu entstanden, das sich in drei
(wie er selbst betont) von seinen eigenen Erfahrungen Formen manifestiert: Kontakt-, Ähnlichkeits- und Kon-
bezüglich der Reaktionen mancher Zuhörer auf seine trasttabu. Kontakt- oder Kontiguitätstabuierung zeigt
Predigten; hier sind offenbar auch wesentliche Überle- sich etwa schon früh darin, «daß das Eigentum des Toten
gungen der rhetorischen Tradition zur enárgeia, zur ebenso tabuiert wurde, wie der Tote selbst.» [95] Ebenso
Hypotypose oder zum Bild kondensiert zusammenge- darf der Name des Toten nicht genannt werden. Aus der
faßt. Von hier aus ist klar, daß Stählin jede Vergleichs- Notwendigkeit nun, sich auf tabuierte Objekte zu bezie-
theorie ablehnen muß, welche das Erkennen des tertium hen und doch gleichzeitig so tun zu müssen, als ob man
comparationis als wesentliche Bedingung des Verstehens sich nicht auf sie bezöge, entstand die M.: sie ist nämlich
einer M. hypostasiert. [89] Auch die Auffassung von W. eine «doppelzüngige» Sprachform, mit der man zugleich
STERN, der im Anschluß an Aristoteles die M. als «unbe- lügen und die Wahrheit sagen kann, in ihr kommt ein
wußte Analogietätigkeit» [90] bestimmt hatte, erscheint «zwiespältiges Streben des Verhüllens und Enthüllens»
ihm, obwohl sachlich adäquater als die Vergleichstheo- zum Ausdruck, sie ist eine Form der «offenen Heimlich-
rie, nicht angemessen, weil diese «erst nachträglich» in keit». [96] Werner geht zusätzlich davon aus, daß «Wort-
das metaphorische Verstehen «hineininterpretiert» wird, metaphern» zuerst sprachlos als «Dingmetaphern» sozial
«es ist das logische Präparat aus einem Vorgang, der eingeübt wurden, also etwa, wenn ein Mann 'dingmeta-
nichts weniger als ein logischer Denkakt ist». [91] Ein phorisch' «Wasser aus einem Teich in den Mund nimmt,
naheliegender Einwand ist, daß Stählin selbst bei seiner es nach allen Seiten hin ausspuckt und die Flüssigkeit
Beschreibung dieses logischen Denkaktes <M.> genau auch auf sich selbst gießt», um Regen herbeizuzau-
diese Analogietätigkeit unterstellt. Berücksichtigt man bern. [97] Der Zusammenhang zwischen diesen positiven
den Einwand von DAVIDSON, daß jede Vergleichstheorie Dingmetaphern, in denen keinerlei Verbot erkennbar
(dies gilt auch für die Analogietheorie) daran scheitern ist, und der Tabuierung als zweitem Ursprung der Wort-
muß, daß sie nicht erklären kann, wie aus einem Ver- metapher wird aus den Ausführungen von Werner nicht
gleich, in dem ja die Ausdrücke wörtlich verwendet wer- ersichtlich. Diese Vagheit zeigt sich auch darin, daß Wer-
den, eine M. mit übertragener Bedeutung entstehen ner zwei Metaphernarten unterscheidet, die Symptom-
kann [92], so wird man dennoch Stählin zustimmen müs- und die Gleichnismetapher, denen Berührungs- bzw.
sen: M. ist nicht bloß eine unbewußte Analogietätigkeit, Ähnlichkeitsassoziationen zugrunde liegen. Erstere
sondern, wie wir bisher immer betonten, ein spezifischer kann sogar in die zweite übergehen. Wenn z.B. ein Mann
semiotischer Prozeß, dem eine mehr oder weniger eine Schwalbe mit sich trägt, um seinen Feinden schnell
bewußte Analogietätigkeit zugrunde liegt. In welchem auszuweichen, dann ist das eine dinghafte Symptomme-
Grad diese Analogietätigkeit bewußt ist, hängt in hohem tapher, in der ein «symptomatischer Teil», eben die
Maße vom Verwendungskontext ab: bei einer für einen Schnelligkeit genommen wird; wird hingegen die Schnel-
didaktischen oder wissenschaftlichen Zweck konzipier- ligkeit als «tertium comparationis» und «Mittler aufge-
ten M. wird dieser Grad bedeutend höher sein als etwa faßt [...] zwischen dem Tiere und dem Wilden, der diese
bei einer alltagsweltlichen M., die spontan zur Auf- oder Eigenschaft besitzen will [Ich möchte so schnell sein wie
Abwertung verwendet wird. Im ersten Fall kann dies eine Schwalbe]», dann ist eine Gleichnismetapher ent-
standen. [98] Das Beispiel läßt erkennen, daß Werner M.

1161 1162
Metapher Metapher

im weiten Sinne als Tropus versteht (die Symptommeta- Annahme hätte Black gehindert, das schöne Wort von
pher entspricht der Synekdoche oder der Metonymie). Sir T H . B R O W N «Light is but the shadow of God» (Licht
Es überrascht deshalb auch nicht, daß er für spätere Ent- ist nur ein Schatten Gottes) als M. zu begreifen, handelt
wicklungsstufen zwei «Satzmetaphern» - eine «Meta- es sich doch, wie schon die Älten wußten, um ein Oxymo-
pher des Spottes» (das hyperbolische Abwerten) und ron. Eine weitere Konsequenz der Theorie der Gemein-
eine «Metapher der Ironie» - unterscheidet. [99] Wie plätze ist, daß Black das Phänomen der überraschenden
schon Vico projiziert Werner damit die Tropenlehre auf M. nicht erklären kann, in der ja neue Zusammenhänge,
die Entwicklungsgeschichte der Menschheit, freilich mit Ähnlichkeiten und Analogien aufscheinen können. Das
dem Unterschied, daß die M. erst nach den Kontiguitäts- scheint Black selbst gesehen zu haben, wenn er in einem
tropen Metonymie und Synekdoche angesetzt wird und späteren Aufsatz «mit besonderem Nachdruck» hervor-
vor allem, daß die Tropen im strengen Sinn als Bewußt- hebt, «daß der Produzent einer M. einen neuen und nicht
sein einer Zweiheit erst am Ende eines langen Entwick- trivialen Implikationskomplex einführen kann». [104]
lungsprozesses stehen. Dies steht offenbar im Widerspruch zur Bestimmung des
Dieser Problemzusammenhang mit den übrigen Tro- Implikationskomplexes als Menge der gängigen éndoxa
pen geht in der modernen Forschung verloren oder wird zu einer Sache. Greift man auf die alte Annahme der
auf den Gegensatz zwischen M. und Metonymie redu- Analogie zurück, so läßt sich dieses Phänomen leicht
ziert. So geht es BLACK in seinen epochemachenden bestimmen: eine überraschende M. entsteht dann, wenn
Untersuchungen <Models and Metaphors> (1962) nur zwischen heterogenen Implikationskomplexen verblüf-
noch um die Theorie der M. Black übernimmt, wie nach fende Analogien aufgezeigt werden.
ihm Lakoff und viele andere, zentrale Gedanken der Black unterscheidet sich somit in doppelter Hinsicht
Interaktionstheorie von Richards, grenzt sich aber von wesentlich von Richards: (i) dadurch, daß er als Realisie-
diesem dadurch ab, daß er die M. nicht als einfachen rungsrahmen der M. die Aussage setzt; (ii) daß die Inter-
Ausdruck, sondern als statement (Aussage) bezeichnet. aktion nicht bloß zwischen Gedanken, sondern zwischen
Von daher erklären sich auch seine neuen Begriffspaare: Implikationskomplexen stattfindet. Die Bedeutung der
in einem metaphorischen statement wie «der Mensch ist zweiten Annahme für das naturwissenschaftliche Den-
ein Wolf» ist Wolf die M., der Rest, wörtlich verwendet, ken ist von M.B. H E S S E in Anlehnung an Black unter-
bildet den frame (Rahmen). Doch auch Black nimmt in sucht worden. Eine fast notwendige Konsequenz dieser
einem zweiten Schritt eine Verdoppelung vor, und zwar Annahme ist die Idee, durch M. veränderten sich nicht
innerhalb einer metaphorischen Aussage, die zwei unter- nur unsere Vorstellungen über die Gegenstände im the-
schiedliche subjects (Gegenstände) hat: «a principal sub- matischen Bereich, sondern auch im Vergleichsbereich.
ject and a subsidiary one» (einen Haupt- und einen Für Black bewirkt die Wolfmetapher, daß «der Wolf
Nebengegenstand). Haupt- und Nebengegenstand ent- menschlicher zu sein scheint». [105] Die gleiche Idee und
sprechen Tenor und Vehikel bei Richards. Diese Gegen- das gleiche Beispiel findet sich auch bei Hesse. «Natur»,
stände «sind oft am besten eher als System von Gegen- so ein weiteres Beispiel, «wird mehr wie eine Maschine in
ständen denn als Gegenstände zu betrachten». [100] Die- der mechanischen Philosophie, und tatsächliche, kon-
ses System von Gegenständen bezeichnet Black auch als krete Maschinen ihrerseits werden so betrachtet, als ob
«system of associated commonplaces» (System von asso- sie bis auf ihre wesentlichen Qualitäten von Masse in
ziierten Gemeinplätzen) oder als «system of associated Bewegung entblößt seien». [106] Diese Idee der Beein-
implications» (System von assoziierten Implikatio- flussung der Analoga entspricht offenbar der aemulatio
nen). [101] In einem späteren Aufsatz umschreibt er die- im magischen Denken der Renaissance. Freilich besteht
sen «association-complex» als die Menge der éndoxa im für Hesse ein wesentlicher Unterschied zwischen der
Sinne von Aristoteles, d.h. als die Menge der «gängigen poetischen M. und dem wissenschaftlichen Modell.
Meinungen, die von Mitgliedern einer Sprachgemein- Erstere ist «unerwartet», soll «verblüffen» und soll als
schaft geteilt werden». [102] Eine metaphorische Aus- Ganzes «genossen» und nicht in «pedantischen Details»
sage entsteht nun dadurch, daß das System der Gemein- analysiert werden. «Wissenschaftliche Modelle sind
plätze des Nebengegenstandes auf den Hauptgegenstand jedoch glücklicherweise nicht so schwer zugänglich». Sie
angewandt oder «projiziert» wird (dies schließt auch ad setzen einen wohlbekannten Vergleichsbereich voraus,
/zoc-Implikationen ein), so daß zwischen beiden eine der als Modell «in neuen Beobachtungsbereichen» aus-
Interaktion stattfindet, die «Merkmale des Hauptgegen- gewertet wird. [107] Vielleicht erklärt dies, daß Hesse
standes dadurch auswählt, hervorhebt, unterdrückt und nur annimmt, daß sich bei Anwendungen eines Modells
organisiert, daß sie Aussagen über ihn einbezieht, die auf ein Explanandum, also den zu erklärenden themati-
normalerweise auf den Nebengegenstand angewandt schen Bereich (M T), die Bedeutung der verwendeten
werden.» Dabei geht Black, wie schon Quintilian, davon Terme verändert und oft auch vorgängige Beschreibun-
aus, daß dieser Prozeß eine Bedeutungsveränderung mit gen und Erklärungen durch das Modell präzisiert oder
sich bringt, im Gegensatz zur rhetorischen Tradition aber verändert werden, nicht aber, daß das Erklärungsmodell
behauptet er, daß diesem Prozeß nicht notwendig eine selbst aufgrund seiner Projektion auf einen anderen
Ähnlichkeit oder eine Analogie zugrunde liegt. Freilich Bereich gleichsam retroaktiv geändert werden muß oder
bleibt Black den Beweis für seine These schuldig. Was er sogar nicht bloß als Modell, sondern auch als inadäquate
zeigt, ist, daß es «im allgemeinen keine einfache Basis Erklärung für den Vergleichsbereich (E -»/ V) aufgege-
[ground]» für die M. gibt. [103] Hier hätten ihm sicher die ben werden muß. Hier gibt es jedoch Beispiele in der
Vertreter der traditionellen Theorie der M. als Übertra- Wissenschaftsgeschichte - wie etwa die Phlogistontheo-
gung zugestimmt. Und Vertreter der Allgemeinen Tro- rie im 17./18. Jh. [108] oder die aktuellen Theorien zum
pologie hätten darauf hingewiesen, daß - da ja das Black- Atomkern [109] - , in denen sich all diese Interaktionen,
sche System der Gemeinplätze ihren Begleitideen ent- also auch die Aufgabe der ursprünglichen Auffassungen
spricht - nur in dem Punkt ein wesentlicher Unterschied über den Vergleichsbereich, beobachten lassen. Wesent-
besteht, daß sie eine wie auch immer geartete Ähnlich- lich für das Verständnis der M. (und der Tropen) ist frei-
keit in andersartigen Bereichen annehmen. Genau diese lich, daß Hesse zeigt, daß die Relationen in einer Analo-

1163 1164
Metapher Metapher

gie R(a,b) ~ Q(c,d) im Gegensatz zur mathematischen erklärungsadäquater und akzeptierbarer die Analogie);
Proportion von «verschiedener Art» [110], also hetero- (iv) keine fremden oder unwesentlichen Assoziationen
gen sind, wie auch, daß in Modellen horizontale von ver- (no extraneous associations) (nur die wesentlichen
tikalen Relationen zu unterscheiden sind. Im Erfah- Gemeinsamkeiten zählen); (v) keine gemischten Analo-
rungsbereich Schall bestehen vertikale Relationen z.B. gien (als Quellbereich soll nur ein relationales Netzwerk
zwischen Echo, Lautstärke, Tonhöhe, durch das Ohr gewählt werden); (vi) Analogie ist kein Kausalprinzip
wahrnehmbar, im Bereich Licht entsprechend Spiege- (analoge Dinge stehen in keinem ursächlichen Verhält-
lung, Helligkeit, Farbe, durch das Auge wahrnehmbar. nis zueinander). [112] Die ersten Punkte stellen offenbar
Zwischen den jeweils entsprechenden Elementen in bei- eine Präzisierung der Grundbestimmung der Analogie
den Reihen bestehen horizontale Relationen der Ähn- durch Aristoteles dar (identische Relationen in hetero-
lichkeit. Die vertikalen Relationen bezeichnet Hesse genen Bereichen begrifflich schauen; theörein), der
auch als Kausalrelationen. [111] Diese entsprechen offen- letzte Punkt ist gegen das alchimistische und magische
bar den Nachbarschaftsbeziehungen in der traditionellen Denken des ausgehenden Mittelalters und der Renais-
Rhetorik bzw. den Kontiguitätsbeziehungen in der struk- sance gerichtet. Die wichtigsten Unterschiede des alchi-
turellen Semantik, die horizontalen Beziehungen ent- mistischen im Vergleich zum modernen Denken sehen
sprechen den Ähnlichkeitsbeziehungen. Wie betont, G E N T N E R und JESZIORSKI nicht in formaler Hinsicht, son-
gehören die Kontiguitätsbeziehungen zu einem homoge- dern in der Vagheit der alchimistischen Analogien, dann
nen Raum, die Ahnlichkeitsbeziehungen verknüpfen in den «komplexen Zielen» der Alchimisten, die nicht
hingegen heterogene Räume. Die Erklärungskraft eines
nur die materielle Welt erklären, sondern auch zur «gei-
Modells kann sich damit prinzipiell auf die Elemente
stigen Transzendenz» gelangen wollten, und schließlich
oder die Relationen zwischen ihnen beziehen, also:
in deren Machtanspruch. [113] Im Gegensatz zu Gent-
ner, die (i) allgemeine Prinzipien der sachlich plausiblen
(i) R(a,b) - Q(c,?)(ii) R(a,b) « ?(c,d)
Analogie herausarbeiten will, ohne freilich (ii) auf die
(die kursiv gedruckten Relationen gehören zum Thema sprachliche Form und damit das Problem der M. zu
und Explanandum) reflektieren, versucht A. STEUDEL-GÜNTHER, beide Pro-
Ein einfaches Beispiel mag das illustrieren. Wenn man blemfelder in ihren historischen Ausprägungen wissen-
z.B. weiß, daß Vögel (a) Lungen (b) zum Überleben in schaftsgeschichtlich und sprachgeschichtlich zu analysie-
der Luft (R) brauchen, und daß Fische (c) im Wasser ren. Deshalb ist ihr Text, bei aller Übereinstimmung mit
überleben (Q), nicht aber womit, kann man gezielt nach Gentner, bedeutend konkreter und dichter. Als Grund-
einem Organ (d) suchen, das eine vergleichbare Funk- lage der Analyse des sprachlichen Aspekts dient die
tion wie (b) erfüllt. Wenn man hingegen weiß, daß Fische moderne Wissenschaftsmetaphorik in populärwissen-
(c) Kiemen (d) haben, nicht aber in welcher Relation (Q) schaftlichen Texten am Beispiel des Autoabgaskatalysa-
beide stehen, kann man das <Vogelmodell> zu Hilfe neh- tors, des elektrischen Stroms und des HIV-Virus. [114]
men und R in den zu erklärenden thematischen Bereich Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Analo-
projizieren. Beide Projektionen sind für Hesse auch Fälle gie werden in konstruktiver Weiterentwicklung von Ari-
der materialen Analogie. Es ist leicht zu erkennen, daß stoteles erörtert, einmal durch eine Gegenüberstellung
die Erklärung (i) der M. aus der Analogie, die Erklärung mit dem Analogiebegriff bei Empedokles, zum andern
(ii) hingegen der M. von der Art auf die Art entsprechen durch eine differenzierte Analyse der Herausbildung der
(s.o.) und zwar als Katachrese, d.h. wenn sie aus Notwen- neuzeitlichen Chemie bei Lavoisier u.a. am Beispiel der
digkeit wegen einer Sprachlücke gebildet werden müssen Begriffe <Wärme>, <Licht>, <Elektrizität> und vor allem
- (i) liegt nämlich auch der Katachrese Tischbein dessen Auseinandersetzung mit der Phlogistontheorie
zugrunde, (ii) der Katachrese vergehen. Nun gibt es auch und der daraus resultierenden Entdeckung des Sauer-
Analogien, in denen alle Gegenstände und Relationen stoffs. [115]
bekannt sind, das ist der ornatus-Fall der traditionellen Die «nachhaltige Modellfunktion der M.» [116] für die
Rhetorik. Hier spricht Hesse von formaler Analogie. In Wissenschafts- und Geistesgeschichte hat vor allem H.
ihren Grundannahmen steht Hesse somit ganz in der BLUMENBERG verdeutlicht. Diese Funktion zeigt sich
Tradition der Rhetorik, freilich mit dem wesentlichen nicht nur darin, daß das Modell die Sicht auf den Gegen-
Unterschied, daß die Erklärungsprinzipien nicht mehr stand modelliert, sondern auch darin, daß die an ein
auf sprachliche Bedeutungsbeziehungen, sondern auf bestimmtes Modell gebundenen M. mit dessen Kanoni-
sachliche bzw. begriffliche Relationen angewendet wer- sierung zur «residualen Hintergrundmetaphorik» ver-
den. blassen und nicht mehr wahrgenommen werden. [117] Im
Die erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Über- Gegensatz zu Hesse oder Gentner, für die die M. nicht
legungen zur Analogie werden im angelsächsischen bloß eine heuristische, sondern eine konstitutive, Wirk-
Sprachraum vor allem von D. GENTNER, zunächst mit lichkeitserkenntnis erst ermöglichende Funktion hat,
eher didaktischer Fragestellung, weitergeführt. Gentner hebt Blumenberg jedoch das Suggestiv-Verführische der
untersucht deshalb auch nicht primär die logische Struk- M. hervor: «Als Erklärung erscheint, was doch nur Kon-
tur analogischen Denkens, sondern vielmehr die Bedin- figuration ist.» Die M. «nutzt die Suggestion der
gungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Analogie in Anschaulichkeit und ist dadurch nicht nur Vorstufe oder
wissenschaftlichem, aber auch alltagsweltlichem Denken Basis der Begriffsbildung, sondern verhindert sie auch
als plausibel und überzeugend akzeptiert wird. Dies sind oder verleitet sie in Richtung ihrer Suggestionen». [118]
(i) strukturelle Konsistenz (Objekte im Quell- und Ziel- Auch bei BACHELARD klingt der alte Skeptizismus der
bereich müssen in einer Eins-zu-eins-Beziehung stehen); Logiker gegen die M. an, da für ihn unreflektiert ange-
(ii) Fokussierung auf Relationen (die Relationen werden wendete alltagsweltliche M. zu «Hindernissen» (obsta-
beibehalten und die besondere Gestalt oder Konstitu- cles) für den wissenschaftlichen Fortschritt werden kön-
tion der Objekte ausgeblendet); (iii) Systematizität (je nen. Als Beispiel dient ihm das «arme Wort Schwamm»,
allgemeiner die analogen Relationen und je mehr beson- dessen alltagsweltliche Erklärungsstrukur - Flüssiges
dere Relationen durch sie impliziert werden, um so anzuziehen und es bei Druck abzustoßen - in verschie-

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Metapher Metapher

dene Bereiche (Wärme, Lust, Elektrizität) projiziert sich diese? Klar ist, daß Kittay damit die alte Erkenntnis
wurde. Der Schwamm ist so «un denkmittel de l'empi- wieder aufgreift, daß M. oft an eine bestimmte Sprache
risme naïf» (ein Denkmittel des naiven Empiri- gebunden sind, wie auch, daß ihnen nicht bloß sprachli-
mus).[119] Deshalb entsteht für Bachelard der wahre che, sondern auch kognitive Prozesse zugrunde liegen.
wissenschaftliche Fortschritt erst aus einem Bruch zwi- Unklar ist jedoch, wie diese semantischen Felder auf die
schen alltagsweltlicher und wissenschaftlicher Erkennt- Begriffsbereiche zu beziehen sind. Der Grund für die
nis. [120] Vagheit ist einmal darin zu sehen, daß Kittay wie Saus-
Den zuletzt skizzierten Ansätzen ist gemeinsam, daß sure und Hjelmslev davon ausgeht, daß erst durch
sie das Problem der Analogie von der sachlich richtigen sprachliche Bedeutungen das Denken geformt wird,
Analogie her denken, wobei Steudel-Günther zusätzlich gleichzeitig aber annimmt, daß es «von Einzelsprachen
auf die sich daraus ergebenden sprachlichen Manifesta- unabhängige begriffliche Substrata» [123] gibt, zum
tionen reflektiert. Ganz im Gegensatz dazu steht die andern, daß sie semantische Felder nicht nur im
Untersuchung von E.F. KITTAY zur M., deren Untertitel strukturalistischen Sinn als konfigurationale, paradigma-
<Its Cognitive Force and Linguistic Structure> (Ihre tisch bestimmbare Wortfelder (Berufsbezeichnungen,
kognitive Kraft und sprachliche Struktur) schon anzeigt, Wochentage, Denken, Fortbewegung, usw.) [124] be-
daß sie eine neue Theorie entwerfen will, die Lakoff mit greift, sondern auch - in Anlehnung an PORZIG, aber auch
der strukturellen Semantik verknüpft. Da sie aber gleich- an neuere Ansätze [125] - syntagmatisch bestimmt: so ist
zeitig Unterscheidungen von Richards und Black über- reiten mit jeglicher Art von Reittier (Pferd, Esel, Kamel)
nimmt, ergibt sich eine Art Mischprodukt. Die M. verbindbar, kicken impliziert Fuß und bei fällen denkt
bestimmt sie mit Rückgriff auf HJELMSLEV als konnotati- man an Baum. Solche Beziehungen sind lexikalische
ves Zeichen, in dem das Vehikel als Ausdrucksebene für Solidaritäten [126], also sprachlich habitualisiert und
das «Thema» (topic) fungiert, das damit die sekundäre lexikalisiert. Gilt dies auch für «Er fällte den Baum mit
konnotative Bedeutung bildet. So ist etwa in «[Arbeiter] einer Säge?» Sicher nicht, da man Bäume auch mit dem
Bienen von England schmieden Waffen» das Vehikel Beil fällen und mit Sägen nicht nur Bäume zertrennen
Bienen zunächst wörtlich als ein Zeichen mit einer Aus- kann. Eine gängige Lösung wäre hier, daß man «Er fällte
drucks- und Inhaltsebene zu verstehen (A-I v ) und dieses den Baum mit einem Instrument» als Grundstruktur
ganze Zeichen wiederum bildet die Ausdrucksebene für annimmt, freilich wäre dies wieder zu allgemein, da man
den íopí'c-Inhalt (I T ); eine M. hat somit folgende Struk- sehr wohl weiß, daß man dies nur mit bestimmten Arten
tur. [Α-Ι ν ]Ιτ· [121] Diese Anwendung der Hjelms- von Instrumenten tun kann. Von den möglichen Bezie-
levschen Zeichentheorie ist mehrfach problematisch: hungen, in denen ein Gegenstand steht, ist offenbar nur
Hjelmslev hat immer Zeichensysteme im Blick; ein kon- ein kleiner Teil sprachlich lexikalisiert, der größte Teil
notatives System bezieht sich nicht nur auf die Inhalts- gehört zu unserem Wirklichkeitswissen. Wo ist die
seite, wie die M., sondern auch auf die Ausdrucksseite Grenze zwischen Sprach-und Sachstrukturen, zwischen
eines denotativen Systems (so umfaßt etwa das Konnota- Sprachwissen und Wirklichkeitskenntnis, zwischen
tionssystem süddeutscher Sprachstil das primäre De- semantischen Feldern und Begriffsbereichen? Da all
notationsystem Deutsch in seiner ganzen Breite, also in diese Fragen bei Kittay ungeklärt bleiben, überrascht es
Aussprache, Syntax, Semantik oder Stil); das Modell nicht, daß sie bei ihren konkreten Analysen oft gar nicht
kann nicht klären, daß in der Regel als Vehikelbedeu- auf semantische Felder zurückgreift, sondern auf typisie-
tung I v gerade nicht die denotative, sondern die konnota- rende Beschreibungen oder Geschichten. So führt sie
tive Bedeutung ausgespielt wird (vgl.: Petra ist eine etwa die Sokratische Maieutik auf folgende Vehikel-
Biene). Dies erklärt, daß die von Kittay angegebenen struktur zurück: «Eine Hebamme hilft einer Mutter (sie!)
Bedingungen des Verstehens einer M. nicht mit diesem - und hindert diese nicht - , ein Kind zu gebären mittels
Zeichenmodell übereinstimmen. Diese Bedingungen Getränken und Beschwörungen», sowie die /opic-Struk-
sind: (i) dem Vehikel wird zunächst seine primäre tur: «Sokrates hilft seinen Schülern - und hindert diese
Bedeutung («first-order sense») zugeschrieben; (ii) ein nicht - , richtige (und nicht falsche) Ideen mittels seiner
Teil der Kontrast- und Affinitätsrelationen, in denen der Dialektik zu gebären». [127] Die erste Struktur gehört
Vehikelterm mit anderen Termen in seinem eigenen zum Feld der Kindergeburt (field of childbirth), die
semantischen Feld («in its own semantic field») steht, zweite zum Feld des Lernens, [128] also nicht, wie erwar-
wird auf einen Teil des Begriffsbereichs («concept tet, zum <Begriffsbereich>. Kittay betont am Ende einer
domain») eines anderen («different») semantischen Fel- langen detaillierten Beschreibung dieser Strukturen
des projiziert, nämlich dem des topic; die sich daraus er- dann noch, daß diese M. sehr komplex und produktiv sei,
gebende Interpretation wird dem Vehikelterm zuge- weil auch neues Wissen über die Geburt in sie integriert
schrieben; (iii) dadurch wird bewirkt, daß die Struktur werden kann. So findet etwa die Nachgeburtsdepression
eines Teils des topic-Bereichs homomorph zu der im ihr Analogon im Gefühl eines Studenten oder Schrift-
Vehikelbereich wird; (iv) das Feld, das als Quelle der stellers, der sich nach Vollendung seines Werks von die-
Analogie («source of the analogy») dient, wird präsent sem lösen muß. [129] Das mag allgemein sicher zutreffen,
gehalten und liefert so der ganzen Interpretation der M. entspricht aber nicht mehr der sokratischen (oder plato-
eine konnotative Struktur. [122] Die kursiv hervorgeho- nischen) Intention. Das in diesen beiden Bereichen für
benen Wörter machen zunächst deutlich, daß Kittay Sokrates Wesentliche ist ja bekanntlich gar nicht die von
letztlich die traditionelle Übertragungstheorie vertritt: Kittay skizzierte homomorphe Struktur, sondern sein
ein Wort wird von dem Ort, der ihm eigen ist, auf einen pädagogisches Konzept, daß Schüler (oder allgemein
anderen aufgrund einer Analogie übertragen. Daß der Menschen) nicht eines Lehrers bedürfen, der als allein
Vergleichs- und der Themabereich im Hinblick auf die Wissender ihnen die Wahrheit beibringen muß, da sie in
verglichenen Dinge und Relationen homomorph ist, sich selbst wahre Gedanken haben, die freilich erst durch
gehört ebenfalls zum traditionellen Wissensbestand. Neu die dialektische Gesprächskunst des Lehrers das 'Licht
ist freilich, daß diese Übertragung als Basis semantische der Welt' erblicken, d.h. ihnen bewußt werden. Deshalb
Felder bzw. Begriffsbereiche hat. Worin unterscheiden heißt es im <Theaitetos>: «Geburtshilfe zu leisten nötigt

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Metapher Metapher

mich der Gott, erzeugen aber hat er mir verwehrt. Daher man mit einer M. meinen kann». [132] Ebenso liegt der
bin ich selbst keineswegs etwa weise, habe auch nichts Unterschied zwischen Lüge und M. nicht in der Bedeu-
dergleichen aufzuzeigen als Ausgeburt meiner eigenen tung von Wörtern, sondern in der Verwendung von Wör-
Seele». Und diejenigen, so Sokrates, «denen es der Gott tern in Sätzen. [133] So hält man sich bei der Lüge durch-
vergönnt, kommen im Gespräch zu wahren Gedanken aus an den gängigen Sprachgebrauch, man tut aber so, als
ganz offenbar ohne jemals irgend etwas von mir gelernt ob man eine bestimmte Aussage für wahr hält, obwohl
zu haben, sondern nur aus sich selbst entdecken sie viel dies nicht der Fall ist. Auch im metaphorischen
Schönes und halten es fest; die Geburtshilfe indes leisten Gebrauch eines Wortes liegt keine - wie G R I C E meint -
dabei der Gott und ich». [130] Deshalb könnte man das Verletzung der Maxime der Aufrichtigkeit (bzw. der
hier Gemeinte auch durch folgende rhetorische Frage, in Qualität) vor, sondern eben ein spezifischer Gebrauch
der ein auf Analogie gegründetes ad absurdum - Argu- eines Wortes. Die M. ist jenseits von wahr und
ment enthalten ist, ausdrücken: «Wer wollte denn von falsch. [134] So berechtigt freilich die Thesen von David-
einer Hebamme verlangen, selbst die Kinder, bei deren son erscheinen, er kann gerade nicht den durch metapho-
Geburt sie hilft, auf die Welt zu bringen?» Dieses Argu- rischen oder tropischen Gebrauch bewirkten sprachli-
ment ist offenbar gegen Leute mit einem dogmatischen chen Bedeutungswandel erklären. Hier wird man sicher
Erziehungskonzept gerichtet. Daraus folgt weiter, daß ein differenzierteres Modell als die Allgemeine Tropolo-
das Thema der ganzen platonischen Passage gar nicht das gie und historische Sprachwissenschaft entwickeln müs-
Feld des Lernens ist, sondern die Frage nach dem rechten sen, ohne jedoch die Grunderkenntnis in Frage zu stel-
Erkenntnis- und Erziehungskonzept. len, daß dieser Bedeutungswandel Ergebnis einer Habi-
Das gegebene Beispiel zeigt exemplarisch, daß man tualisierung von ursprünglich tropologischen Verwen-
für das Verstehen einer M. den intentionalen und/oder dungsweisen ist.
argumentativen Kontext kennen muß, in dem sie verwen- Doch auch bei Davidson bleibt die Frage der Konstitu-
det wird. Dies gilt gerade auch bei Standardmetaphern tion der M. ebenso ungeklärt wie bei dem von ihm kriti-
wie etwa «Sie ist eine Biene», die man in Standardsitua- sierten Black. Black hatte die M. immerhin als statement
tionen by default - d.h. in Ermangelung zusätzlicher mit zwei verschiedenen Gegenständen, dem Haupt- und
Information - im Sinne von <fleißig> interpretieren wird. Nebengegenstand begriffen. W E I N R I C H geht in seiner
Hat man solche Informationen, dann wird man der M. Theorie einen Schritt weiter, indem er die M. als ein Text-
nicht nur einen anderen Sinn, sondern auch der ganzen phänomen bestimmt: «Wort und Kontext machen
Äußerung eine spezifische Intention des Sprechers zusammen die M.» So wird etwa in dem Vers von Ver-
zuschreiben können: «Sie singt den ganzen Tag monoton laine «Votre âme est un paysage choisi» (Ihre Seele ist
vor sich hin. Sie ist eine Biene (die mir den Kopf zer- eine erlesene Landschaft) die Determinationserwartung
sägt).» von Landschaft durch den gegebenen Kontext konterde-
3. Konstitution der M.: Äußerungen, Texte, Argumenta- terminiert. Mit Black ließe sich sagen, daß die Bedeu-
tionen. Bei aller Varietät und Verschiedenheit haben die tungserwartung des Fokus durch den Rahmen enttäuscht
bisherigen Erörterungen doch gezeigt, daß in der moder- wird. Mit dem Terminus Determinationserwartung geht
nen Forschung über die Schulen und Theorien hinaus ein Weinrich freilich über den rein intensionalen Bedeu-
recht breiter Konsens darüber gegeben ist, daß die M. tungsbegriff hinaus, da damit Wörter gemeint sind, die
eine Erscheinung der konkreten Äußerung, der Rede, der Dinge und Sachverhalte bezeichnen, die - wie wir sagen
Parole, des Diskurses oder des Textes ist. Deshalb muß wollen - zum Erfahrungsbereich <Landschaft> passen:
streng zwischen usueller und okkasioneller Bedeutung, «Das Wort paysage setzt die Erwartung eines Kontextes,
zwischen Bedeutung in einer Sprache und Sinn in einem in dem wahrscheinlich weiter von Landschaftlichem die
spezifischen Kontext, kurz: zwischen meaning und use Rede sein wird.» [135] Da nun Landschaft in einem Kon-
unterschieden werden. Ebenso breit ist der Konsens dar- text auftaucht, in dem keines dieser erwarteten Wörter
über, daß bei der Interpretation einer M. nicht nur verwendet wird, «entsteht ein Überraschungseffekt und
sprachliche, sondern auch begriffliche und assoziativ- eine Spannung zwischen der ursprünglichen Wortbedeu-
konnotative Wissenselemente ins Spiel kommen. Zusätz- tung und der vom Kontext erzwungenen Meinung» [136],
lich muß, was im letzten Beispiel deutlich und auch von d.h. dem spezifischen Sinn, den das Wort durch den Kon-
vielen Autoren hervorgehoben wird, der konkrete Ver- text erhält. Diese Theorie entspricht durchaus einer
wendungszusammenhang, d.h. die singulare Redesitua- Variante der klassischen Übertragungstheorie (ein Wort
tion, berücksichtigt werden. Da es sich dabei um ein Wis- wird an einem Ort, an dem es nicht zuhause ist, verwen-
sen von einzelnen Fakten handelt, kann man von enzy- det). Was fehlt, ist die diese Verwendung legitimierende
klopädischem Wissen sprechen. Wenn man das assozia-
Basis, eben die Ähnlichkeit. Im Hinblick auf die Interak-
tiv-konnotative Element nicht bloß wie Black als éndoxa
tionstheorien ist erstaunlich, daß die Spannung nicht zwi-
(Meinungen, Plausibilitäten) bezeichnet, sondern ganz
im Sinne der rhetorischen und dialektischen Tradition schen zwei verschiedenen Begriffsfeldern oder Erfah-
als topisch, so läßt sich einfach sagen, daß jede M. im rungsbereichen entsteht, sondern innerhalb des Wortes
Spannungsfeld von sprachlichem, kognitivem, topischem zwischen dessen Sprachbedeutung und okkasionellem
und enzyklopädischem Wissen entsteht. Damit erscheint Textsinn, der zudem noch einseitig vom konterdetermi-
die provokante These von D A V I D S O N , daß ein metaphori- nierenden Kontext aufgezwungen wird. Doch in einer
scher Ausdruck nur eine wörtliche Bedeutung und keine früheren Untersuchung zur kühnen M., die noch inner-
wie auch immer geartete konnotative, figurative oder halb der traditionellen Fragestellung bleibt, kehrt er das
uneigentliche Bedeutung habe, durchaus gerechtfertigt, Verhältnis um: dort nämlich bestimmt der «Bildspender»
sofern man sich klar macht, daß Davidson hier die den «Bildempfänger (Sache)» [137] - d.h. im gegebenen
sprachliche Bedeutung im Blick hat und nicht den Beispiel: Landschaft bestimmt die Seele. Diese sachlogi-
Gebrauch (use).[ 131] Da die enzyklopädischen Kon- sche Bestimmung steht offenbar im Gegensatz zur text-
texte prinzipiell unendlich sind, betont Davidson auch linguistischen Erklärung der M.
zurecht, daß sich «kein Ende für das ausmachen läßt, was Auch KALLMEYER u.a., die in ihrem textlinguistischen
Ansatz Überlegungen von Weinrich zu der strukturalisti-

1169 1170
Metapher Metapher

sehen Isotopie-Theorie (Greimas, Rastier) integrieren, dest plausiblen Analogien können in metaphorischen
umgehen dieses Problem, indem sie die Frage der Kon- Alltagswertungen durchaus mehrere Quell- oder Ver-
terdetermination ausblenden. Von Weinrich überneh- gleichsbereiche ausgespielt werden. Hier könnte etwa
men die Autoren deshalb nur die Termini <Bildspender> auch der an das Kontinuum «runde.. .eckige Gegen-
und <Bildempfänger>, zwischen denen auch für sie eine stände) gebundene Topos <Je runder, um so besser> evo-
«gerichtete Beziehung» besteht. [138] Im Gegensatz zu ziert werden und wie folgt verstärkt werden: «Sie ist ein
Weinrich gehen die Autoren von Geschichten aus, auf die sperriger Eisblock». Damit kann festgehalten werden,
in Texten referiert wird. So sind etwa in «In diesem daß bei sachanalogischen M. Analogien zwischen Rela-
Küstenabschnitt wachsen Hotels, blüht der Tourismus tionen, bei konnotativen M. hingegen graduierbare
[...]» eine botanische und eine touristische Geschichte Topoi (in der Regel Bewertungstopoi) zugrunde liegen.
enthalten, beiden entsprechen sprachlich wie bei Rastier Damit ist freilich noch nicht geklärt, wie das Thema in
Isotopieebenen, die inkompatibel sind; beide sind gerich- einer metaphorischen Äußerung konstituiert wird. Hört
tet, da eine Ebene die bildspendende, die andere die bild- oder liest man eine Äußerung wie: «Der Eisberg schmilzt
empfangende Isotopie bildet. Bezogen auf die dargestell- dahin», wird man in Standardsituationen (d.h. by default)
ten Geschichten sprechen die Autoren auch von Projek- Eisberg wörtlich nehmen. In diesem Fall spricht man von
tionsebene (Bildspender) und thematischer Ebene, zwi- direkter Referenz, d.h. Eisberg ist das Thema. In Kon-
schen beiden Ebenen muß eine Analogie oder Ähnlich- texten, in denen klar ist, daß Sally gemeint ist, wird man
keit bestehen. Dies erklärt, daß für die Autoren M. inner- Eisberg als Tropus mit schiefer Referenz begreifen:
halb von Projektionen von Geschichten möglich «Sally ist kalt und rücksichtslos, doch der Tod ihrer Katze
sind. [139] Da nun die Textform dieser Geschichten hat sie ganz durcheinander gebracht. Endlich: Dieser
offensichtlich der 'gemischten' rhetorischen Allegorie Eisberg schmilzt dahin». In diesem Fall bildet nicht Eis-
entspricht, folgt aus dieser Theorie, daß die M. an eine berg das Thema, sondern eben Sally. Aus diesen Beispie-
besondere Textform gebunden ist und von dieser auch len folgen zwei fundamentale Regeln (da diese nicht nur
abgeleitet werden muß. Nun gibt es eine Fülle von kreati- für M. gelten, wird hier von Tropen gesprochen):
ven M., die in einfachen Aussagen vorkommen, die nicht (i) Ob ein Wort wörtlich oder tropisch zu verstehen
an diese Textform gebunden sind; deshalb hat die rheto- ist, läßt sich nur aus dem Äußerungs- und Verwendungs-
rische Tradition die Allegorie als metaphora continuata zusammenhang schließen (dies wendet sich sowohl
(und nicht die M. als allegoria contracta) bestimmt. gegen die heute noch weit verbreitete Auffassung, daß
Man muß deshalb an den Ursprungsort der M., die der wörtliche Gebrauch der normale und primäre ist, wie
Aussage, zurückkehren und fragen, wie M. an diesem Ort auch gegen ihre Umkehrung, daß die tropische Rede die
konstituiert werden. Wie betont, ist in «Sally ist ein Eis- ursprüngliche ist).
block» nach Black Sally der Hauptgegenstand und Eis- (ii) Zur Bestimmung des Themas einer Äußerung
block der Nebengegenstand. Das ist nicht einsichtig. genügt es nicht, wenn man das Referenzobjekt einer
Vergleicht man diese Aussage mit «Sally zeigt wenig Äußerung kennt (in vielen Fällen ist das der Gegenstand,
Emotionen» oder «Sally ist in der Küche», so gilt, daß alle der vom Satzsubjekt denotiert wird); prinzipiell läßt sich
drei Aussagen einen Referenten oder Aussagegegen- ohne Kenntnis des Textzusammenhangs das Thema
stand haben, eben Sally. Anders gesagt: Sally ist in allen einer Äußerung nicht bestimmen (die Konsequenz die-
drei Fällen das Thema. Sie unterscheiden sich jedoch in ser Regel ist, daß Tropen, obwohl im Gebrauch eines
der Art ihrer Prädikate. Das betont auch SEARLE. Freilich Wortes innerhalb einer Äußerung angezeigt, sich nur auf
will Searle am ersten Beispiel die Vergleichstheorie der Textebene bestimmen lassen, wobei in Standardsi-
widerlegen. Sein zentrales Argument ist, daß zwischen tuationen eine einzelne Äußerung den minimalen Text-
Sally und Eisblock keinerlei sachliche Ähnlichkeit gege- zusammenhang bilden kann).
ben ist. [140] Nun ist im Gegensatz zu referentiellen M. Daraus folgt weder, daß die M. eine Aussage oder
wie «Er befindet sich im Abend seines Lebens», in dem Äußerung (Black) ist, noch, daß sie ein Text (Kallmeyer
Vergleichs- und thematischer Bereich sachlich korrelie- u.a.) ist, sondern vielmehr: die M. ist eine spezifische
ren, dieser unmittelbare Sachbezug bei konnotativen semiotische Verwendung eines Ausdrucks in Äußerun-
Metaphern wie «Sally ist ein Eisblock» nicht gegeben. In gen, die als solche nur auf der Textebene erkannt werden
dieser M. geht es offenbar gar nicht um objektive Ähn- kann. Damit läßt sich auch Stählins Auffassung, daß
lichkeit, sondern eben um eine spezifische Form des ana- Katachresen wie Tischbein keine Metaphern sind, leicht
logischen Vergleichens. Die Skala der sozialen und emo- begründen. So sind etwa in: «Peter a kam recht spät nach
tionalen Kommunikation wird nämlich mit der Tempera- Hause. Er a setzte sich in die Ecke. Der Bär b war mal wie-
turskala korreliert, wobei offenbar der graduierbare der mürrisch» Peter und der Bär nicht koreferent. In
Topos <Je wärmer, um so besser> gilt. Da dieser Topos Standardsituationen wird man sagen können, daß Bär
auf das soziale und emotionale Verhalten übertragbar wörtlich verwendet wird und damit auf den echten Bär
ist, wird mit einer M. wie «Sally ist ein Eisblock» nicht referiert. Sagt man hingegen: «Peter a kam recht spät
nur ein Wert innerhalb der Skala, sondern die ganze nach Hause. Er a setzte sich in die Ecke. Dieser Bär a war
Skala mit dem Topos in den thematischen Bereich proji- mal wieder mürrisch», so ist klar, daß dieser Bär meta-
ziert. Offenbar ist die große Mehrzahl der Wörter in die- phorisch, also in schiefer Referenz verwendet wird. Da
sem Bereich katachretisch (vgl. «Sie ist freundlich, hat sich die beiden Texte nur durch den Gebrauch des Arti-
viel Wärme, ist immer ausgeglichen und wirkt nie hit- kels und des Demonstrativpronomens unterscheiden,
zig»)· Hier wird deutlich, daß der Topos <Je wärmer, um muß ihr Unterschied in der Bedeutung dieser beiden
so besser> nur für das rechte Maß gilt, da sich bei Extre- Ausdrücke gesucht werden. Vereinfacht gesagt gilt, daß
men die Wertung umkehrt. [141] Hier wird also nicht nur, sich Demonstrativpronomen immer auf ein vorher im
wie Lakoff gegen Searle kritisch anmerkt, ein idealisier- Text genanntes identisches Referenzobjekt beziehen
tes Modell (Gefühl ist wie Temperatur) angewen- (müssen), während der bestimmte Artikel in dieser Text-
det [142], sondern ein im Vergleichsbereich geltender position alle möglichen Assoziationen und Implikatio-
Topos. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen oder zumin- nen eines vorher genannten Referenzobjektes anzeigen

1171 1172
Metapher Metapher

kann, dieses muß nur bekannt und determiniert, nicht che, geht es hingegen um einen Gast, der Salat bestellt
aber identisch sein (also nicht nur: «Gestern sah ich einen hatte, kann sie «Der Salat ist weg ohne zu bezahlen», also
Engländer. Der Mann trug einen grünen Hut» sondern eine Metonymie, verwenden. Der wesentliche Unter-
auch: «Er näherte sich dem Ofen. Die Hitze wurde uner- schied zwischen diesen beiden Nachbarschaftstropen ist,
träglich» (im zweiten Fall handelt es sich um eine asso- daß die Metonymie zwei Gegenstände voraussetzt, zwi-
ziative Anapher). [143] Man kann leicht sehen, daß in die- schen denen alle möglichen Beziehungen bestehen kön-
sen Kontexten der bestimmte Artikel immer einen wört- nen, während die Synekdoche nur einen Gegenstand,
lichen Gebrauch indiziert. Deshalb kann man den genauer: eine Gestalt, zur Basis hat, wobei, wie im gege-
bestimmten Artikel als Indikator für den wörtlichen benen Beispiel, der Ausdruck für einen Teil zur Bezeich-
Gebrauch eines Ausdrucks verwenden. Dazu die Probe nung der ganzen Gestalt verwendet wird, oder wenn -
für das Tischbein·. «Peter setzte sich auf den Tisch. Das wie in «Peter ist braungebrannt» (wenn man nur sein
linke Tischbein, schon leicht morsch, zerbrach». Hier ist Gesicht sehen kann) - der Ausdruck für die ganze Gestalt
offenbar Tischbein wörtlich und in direkter Referenz nur einen Teil bezeichnet. Freilich können nur herausra-
verwendet. Gleiches gilt etwa für Wärme als Ausdruck gende und/oder typische Teile für das Ganze stehen, wes-
für Emotionen: «Sie war sehr sympathisch. Die Wärme, halb man etwa nicht «100 Bretter sah ich kommen» für
die sie ausstrahlte, ergriff selbst mich». Wärme ist somit Schiff verwenden kann. Wie in der Rhetorik an Heren-
wie Tischbein eine Katachrese. Nimmt man hingegen nius, bei Ramus u.a. zählen hier nur Teil/Ganzes-Über-
den Blackschen Wolf («Peter a drückte sich vor der Ver- tragungen zur Synekdoche, die seit Quintilian mitbe-
antwortung. Der Wolf b rannte weg»), so kann man an der rücksichtigten Art/Gattungs-Übertragungen sind nicht
unterschiedlichen Referenz feststellen, daß Wolf keine nur logisch und sachlich, sondern auch sprachlich funda-
habitualisierte Bedeutung hat, also auch keine Katach- mental so von den ersteren unterschieden, daß mit ihnen
rese ist. Deshalb muß man, um Wo//metaphorisch auszu- keine Tropen im strengen Sinn gebildet werden kön-
spielen, im gegebenen Kontext dieser verwenden. Damit nen. [145]
läßt sich die dritte Konstitutionsregel der M. kurz formu-
lieren: M. operieren hingegen über heterogenen Räumen und
implizieren eine Analogie zwischen Relationen (sacha-
(iii) Wenn ein tropischer Ausdruck in der Position nalogische M.) oder durch einen graduierbaren Topos
einer Anapher durch den bestimmten Artikel indiziert orientierte Kontinua (konnotative M.). In beiden Fällen
werden kann, handelt es sich um eine Katachrese. Muß aber werden Terme, die Arten bezeichnen (Appellativa),
das Demonstrativpronomen verwendet werden, handelt aus dem Vergleichsbereich auf den thematischen
es sich um einen Tropus. Bereich übertragen; das ist der wesentliche Unterschied
Die Regel gilt mutatis mutandis für Verbmetaphern. zur (singulären) Antonomasie, in der immer nur Eigen-
So läßt sich an «Er attackierte jeden Punkt meiner Argu- namen aus dem Vergleichsbereich übertragen werden:
mentation» durchaus «Die Attacken griffen allesamt ins «Hans kann zwar schreiben, aber er ist kein Goethe». Im
Leere» anschließen. Dies ist in «Er kochte (vor Wut). Das thematischen Bereich können sich die übertragenen
Kochen dauerte den ganzen Vormittag an» offenbar Appellativa und Eigennamen auf Individua oder auf
unmöglich. Damit ist die Einsicht von Beauzée, Fonta- Arten beziehen. Daraus ergeben sich zwei wesentliche
nier, Stählin u.a. präzisiert, daß Ausdrücke wie Tisch- Unterschiede zwischen M. und Antonomasie:
bein, Wärme oder attackieren keine Metaphern sind, son- (i) Bei der M. wird neben dem Wirklichkeitswissen das
dern eben katachretische Ausdrücke, denen sprachge- sprachliche Wissen über die Artbegriffe mit ausgespielt,
schichtlich ein tropischer Prozeß zugrunde liegt. Diese bei der Antonomasie hingegen nur das enzyklopädische
Ausdrücke wurden oft als lexikalisierte M. bezeichnet, Wissen; ohne Kenntnis der für ein Individuum herausra-
was insofern berechtigt ist, als jedem Sprecher bewußt ist genden und typischen Fakten bleibt die Antonomasie
(oder bewußt gemacht werden kann), daß metaphori- unverstanden. Deshalb gilt: eine kreative M. «zerbricht
sche Katachresen auf Grund einer Ähnlichkeit tropisch eine vorgängige Kategorisierung» [146], zeigt neue
abgeleitete Ausdrücke sind; ungenau wird diese Bezeich- Zusammenhänge auf und kann, wenn habitualisiert, zu
nung freilich, wenn verdeckt bleibt, daß in lexikalisierten einer neuen sprachlichen Kategorisierung führen; eine
M. ein wesentliches Bestimmungsstück der M., eben ihre Antonomasie hingegen ist der sprachliche Ort, an dem
Doppelbödigkeit, fehlt, die in der Rede durch die Koprä- enzyklopädisches Wissen über Individuen versprachlicht
senz eines Vergleichs- und eines Themabereichs manifest wird.
ist. Damit sind nur Fälle wie «Peter ist ein Wolf» oder (ii) Der M. und der Antonomasie liegen distinkte
«Jazzmusik ist eine Banane» im strengen Sinn M. Um Erfahrungsbereiche zugrunde, diese sind jedoch bei der
diese beiden Metapherntypen zu unterscheiden, wird M. heterogen, bei der Antonomasie gleichartig.
hier von konventionellen im Gegensatz zu neuen (bzw.
kreativen) M. gesprochen. Da das Kriterium der Distinktivität von der generi-
schen Antonomasie nicht erfüllt wird und sie zudem ein
Wodurch unterscheidet sich die M. von anderen For- gängiges Verfahren anaphorischer Verknüpfung in Tex-
men analogischen Übertragens wie der Antonomasie, ten ist («A. berichtete von Goethe. Der Dichterfürst war
der Redewendung, dem Sprichwort oder der Allegorie? an diesem Tag [...]»), stellt diese Form keinen Tropus
Hier wurde gezeigt, daß die die moderne Forschung dar. [147]
kennzeichnende Reduktion der Tropen auf M. und Die getroffenen Unterscheidungen entsprechen
Metonymie wesentliche Unterschiede im Hinblick auf denen der Stoa (vicinitas, similitudo, contrarium; Nach-
die Antonomasie und Synekdoche verdeckt. Der M. und barschaft, Ähnlichkeit, Gegensätzliches) mit der Ausdif-
Antonomasie ist gemeinsam, daß sie Beziehungen zwi- ferenzierung innerhalb der vicinitas in Teil/Ganzes-
schen distinkten Räumen aufzeigen, während Synekdo- Beziehungen (Synekdoche) und subiecta/adiuncta-
che und Metonymie nur in homogenen Räumen operie- Beziehungen bei Ramus, freilich mit dem Unterschied,
ren. [144] Wenn etwa eine Bedienung in einem Restau- daß hier die Ironie (mit dem Gegensätzlichen als Basis)
rant sich auf einen Gast mit «Der Rundkopf ist weg ohne nicht zu den Worttropen gerechnet wird. Dies schließt
zu bezahlen» bezieht, handelt es sich um eine Synekdo- zwar an die Allgemeine Tropologie an (Beauzée, Fonta-

1173 1174
Metapher Metapher

nier), unterscheidet sich aber dadurch, daß hier die aufgrund einer habitualisierten Zuordnung nicht bloß
Antonomasie mit der M. zu einer Gruppe zusammenge- wörtlich im Vergleichsbereich, sondern im auf den the-
faßt ist: ihnen ist das Doppelbödige gemeinsam, d.h. zwei matischen Bereich übertragenen Sinn verstanden wer-
distinkte Bereiche, die bei der Sinnzuschreibung präsent den müssen. Um Redewendungen zu verstehen, muß
sind. Da die Unterscheidung Antonomasie vs. M. der man sprachliche Konventionen beherrschen, allegori-
Differenz zwischen Eigennamen und Appellativa ent- sche Texte kann man dagegen nur verstehen, wenn man
spricht, ist sie nicht nur in logischer, sondern gerade auch literarische Konventionen versteht. Wird in Texten die
in linguistischer Hinsicht fundamental. Dennoch ist mit strukturelle Identität der Vergleichs- und Themage-
diesen Unterscheidungen, wie hier immer wieder betont schichte ausdrücklich angezeigt, handelt es sich um eine
wurde, das semiotische Problem der Form der Anzeige Form des Analogievergleichs. In diesen Definitionen ist
des Sinns noch nicht bestimmt. Dieses Problem läßt sich unterstellt, daß Redewendungen und Allegorietexten
lösen, wenn man die Bestimmung der M. durch Aristote- metaphorische Projektionen zugrunde liegen. Das steht
les im Lichte der Tradition und der aktuellen Diskussion quer zur in der rhetorischen Tradition oft vorgebrachten
liest: wenn man die eigentliche (proprium) Verwendung These, die Allegorie ließe auch andere Tropen zu, wie
eines Wortes als die Verwendung bestimmt, in der das auch zur in der neueren Forschung vertretenen Auffas-
Wort thematisch daheim ist (- usuelle Standardverwen- sung, Redewendungen lägen oft auch Metonymien
dung), kann man die M. wie folgt definieren: die M. ist zugrunde.
die Verwendung eines Wortes in einem Kontext, in dem So ist etwa nach GOOSSENS der Ausdruck <to be a
es thematisch nicht daheim ist, wobei eine Analogie (vor- close-lipped person> (geschlossene Lippen haben,
ausgesetzt ist. Diese Definition setzt voraus, daß M. nur schweigsam sein) ein 'metaphtonymischer' Ausdruck,
in Kontexten möglich sind, in denen das Thema schon d.h. eine aus einer Metonymie gebildete M. [149] Nun
konstituiert ist, wobei sich diese Konstitution auf der kann eine Äußerung wie <The close-lipped man is still
Textebene innerhalb von Äußerungen vollzieht. Dies here> sowohl als Metonymie - genauer: als Synekdoche -
impliziert keinesfalls eine Abweichungstheorie. Man verstanden werden ( - der Mann, der die ganze Zeit über
muß ja nur mit Aristoteles den Sprachgebrauch als seine Lippen geschlossen hatte) oder als M. (= der
gewöhnlich bestimmen, in dem Wörter mit ihrem eigent- Schweigsame). Da der Mann im zweiten Fall offenbar
lichen oder übertragenen Sinn sowie Fremdwörter ver- keine geschlossenen Lippen zu haben braucht, liegen nur
wendet werden. Da nun im Analogievergleich (d.h. des in diesem Fall zwei heterogene Bereiche vor (eben im
Vergleichens über heterogene Räume) (i) die Form der Vergleichsbereich ein Mann mit geschlossenen Lippen
Analogie ausdrücklich angezeigt und (ii) die Wörter und im thematischen Bereich ein Mann, der schweigt). In
nicht doppelbödig verwendet werden, muß man präzisie- dieser Verwendung handelt es sich somit nicht um ein
ren: metaphtonymisches Zwitterwesen, sondern um eine
Die M. ist die doppelbödige Verwendung eines Wortes metaphorische Redewendung, der im Vergleichsbereich
in einem Kontext, in dem es thematisch nicht daheim ist, eine Kontiguitätsbeziehung zugrunde liegt. Umgekehrt
wobei die (voraus-)gesetzte Analogie nicht ausdrücklich stellt für Goossens «to get up on one's hind legs» (sich auf
angezeigt wird. seine Hinterbeine stellen) eine «M. innerhalb der Meto-
Das ist zugleich die Form des semiotischen Anders- nymie» dar. [150] Die zugrundeliegende Metonymie ist
Sagens durch die M. Damit lassen sich auch alle Formen «He is on his legs» im Sinne von «Er steht (auf seinen
des Analogievergleichs wie folgt definieren: Beinen), um eine öffentliche Rede zu halten». In diesem
Ein Analogievergleich ist die ausdrücklich angezeigte Fall will er nicht nur eine Rede halten, sondern steht auch
vergleichende Gegenüberstellung von mindestens zwei tatsächlich auf den Beinen. Deshalb kann dieser Satz
Sachverhalten, die eine Analogie (voraus-)setzen. auch ganz wörtlich gemeint sein (z.B. Das Kind liegt
In dieser Formulierung ist die in der neueren For- nicht mehr im Sand, sondern steht fest auf seinen Bei-
schung oft betonte Tatsache, daß M. Analogien nicht nur nen). Zudem kann das Prädikat in diesem Satz, was
voraussetzen, sondern selbst setzen können, berücksich- Goossens nicht sieht, als metaphorische Redewendung
tigt. [148] Bei kreativen M. wird der Zuhörer in der Regel verstanden werden (im Sinne von gesund und nicht bett-
durch eine wie in der obigen Metapherdefinition lägerig sein) - deshalb kann man durchaus sagen: «He is
bestimmte Verwendung eines Wortes aufgefordert, neue in bed, but he is on his legs» (Er liegt zwar im Bett, ist
Analogien zu schauen. Damit kann man die quintiliani- aber gesund). Nach Goossens wird nun durch Hinzufü-
sche Kurzformel <Die M. ist ein kürzerer Vergleich) prä- gung von hind in dieser Metonymie «He is on his hind
zisieren, indem man die spezifischen Unterschiede des legs» eine metaphorische Interpretation der Metonymie
Analogievergleichs benennt: (i) im Vergleich werden indiziert. Richtig ist, daß «He is on his hind legs» wie im
Wörter in ihrem usuellen Sinn gebraucht; (ii) die Form Deutschen als metaphorische Redewendung - also nicht
des Vergleichs wird ausdrücklich angezeigt; (iii) im wörtlich - zu verstehen ist (wobei im Vergleichsbereich
Fokus des Vergleichs stehen deshalb Sachverhalte. wohl das sich aufbäumende Pferd anzunehmen ist).
So läßt sich das (metaphorische) Rätsel als ein Analo- Damit gilt, daß Redewendungen prinzipiell in dem Sinne
gietext definieren, in dem bei ausdrücklicher Benennung metaphorisch sind, daß sie heterogene Bereiche voraus-
der heterogenen Bereiche nach der gemeinsamen Ver- setzen. Es gibt zwar 'Signifikantenzwitter' bzw. 'Verdich-
gleichsdimension gefragt wird. Die Allegorie als Rede- tungen mit Mischwortbildung' (wie HEINES «Ich habe
wendung ist die Verwendung von einer ein Ganzes bil- mich mit Rothschild ganz famillionär unterhal-
denden Wortgruppe (bzw. eines aus mehreren Wörtern ten») [151], 'Tropenzwitter' wie Metaphtonymien gibt es
bestehenden Signifikanten), die aufgrund einer habituali- nicht. Das Gleiche gilt für allegorische Texte, wobei
sierten Zuordnung einen Sachverhalt im thematischen natürlich nicht ausgeschlossen ist, daß innerhalb der Ver-
Bereich und nicht den im Vergleichsbereich bei wörtli- gleichsgeschichte alle möglichen Tropen und Figuren
cher Lesart denotierten analogen Sachverhalt bezeich- verwendet werden. Redewendungen sind zudem streng
net. Die Allegorie als Text unterscheidet sich dadurch, von Sprichwörtern zu unterscheiden. Die linguistische
daß mehrere zu einer Geschichte gehörende Sachverhalte Forschung hat beide lange in einer Kategorie zusammen-

1175 1176
Metapher Metapher

gefaßt und dabei übersehen, daß Redewendungen eine auf dem Wasser sieht, dann kann man schließen, daß es
Form des allegorischen Anders-Sagens sind, während sich um ein Segelboot handelt»); und um zu verstehen,
Sprichwörter populäre generische Aussagen sind, die alle daß Jazz eine Banane ist, muß man nicht nur die spezifi-
Formen von Topoi abdecken können: so etwa spezifische schen Topoi im Vergleichsbereich <Bananen sind leicht
Topoi («Ein Hund, der bellt, beißt nicht») oder gemein- verderbliche und thematischen Bereich Jazzmusik ist
same Topoi bzw. Schlußregeln («Eine Schwalbe macht nur kurzlebig), sondern auch den generalisierenden Ana-
noch keinen Sommer»), [152] Deshalb wurden Sprich- logieschluß auf das tertium analogiae kennen (beide sind
wörter zusammen mit Maximen auch in der traditionel- vergänglich). [154]
len Rhetorik im Argumentationsteil behandelt. Kann man mit M. argumentieren? Sicher nicht. Man
Damit können zwei weitere Unterschiede zwischen M. kann jedoch Argumente vorbringen, in denen M. vor-
und Antonomasie einerseits und Metonymie und Synek- kommen, M. selbst sind aber keine Argumente, sondern
doche andererseits leicht bestimmt werden, (i) Alle vier 'schiefe' Behauptungen. Deshalb kann man auch gegen
Tropen können referentiell gebraucht werden, aber nur M. bzw. die in ihnen vorausgesetzte Analogie argumen-
die M. und die Antonomasie auch prädikativ (referen- tieren. So läßt sich ja gegen «Jazz ist eine Banane» argu-
tiell: Peter kam verspätet. Dieser Bär... / Ich habe einen mentativ einwenden: «Aber Jazz ist doch inzwischen
großartigen Schriftsteller kennengelernt. Dieser Goethe klassisch'.». Dieser Einwand bezieht sich offenbar auf
...; prädikativ: Er ist ein Bär / ein Goethe), (ii) Im Falle den im thematischen Bereich vorausgesetzten spezifi-
der M. und Antonomasie handelt es sich bei referentiel- schen Topos. P I E L E N Z hat in einer neueren Arbeit die
lem Gebrauch, wie betont, um eine schiefe Referenz, weil These vertreten, daß «jeder Topos letztlich metaphorisch
Dieser Bär und Dieser Goethe nicht 'gerade' auf ihr vermittelt» ist. Das gilt weder für spezifische (bzw. mate-
eigentliches Objekt, sondern auf das vorher im Kontext riale) noch gemeinsame (bzw. formale) Topoi. So ist
hergestellte thematische Objekt referieren. Deshalb sind sicher der spezifische Topos «Die Arbeit ist eine Tret-
diese Formen der Referenz immer auch doppelbödig. mühle» [155] eine generische metaphorische Aussage,
Diese Eigenschaft fehlt Metonymien und Synekdochen, nicht aber Aussagen wie «Einen stärkeren Gegner greift
weil sie immer wörtlich, d.h. auf ihr eigentliches Objekt, man nicht an», «Bananen verderben leicht» oder «Je sel-
referieren: «Der Salat ist weg, ohne zu bezahlen» refe- tener, um so besser» und dergleichen mehr. Und die
riert genauso auf tatsächlich vorhandene Objekte wie Behauptung, auch gemeinsame Topoi bzw. Schlußregeln
etwa «30 Segel sah ich kommen». Freilich durchbrechen seien M., ist in Anbetracht des in der Tradition damit
die beiden Tropen die von Ramus und Port-Royal gese- Gemeinten (u.a. auch den modus ponens) nachgerade
hene Korrespondenzregel der Referenz, wonach der erstaunlich. Dies gilt gerade auch für den vom Autor
Referenzausdruck der gemeinten Seinskategorie ent- angeführten «Vergleichstopos», den er mit Quintilian
sprechen muß. Diese wären in den gegebenen Beispielen einführt. [156] Damit sind die a pari - und a fortiori-
<Der Mann (der Salat bestellt hatte)> und <Schiffe (mit 30 Schlußregeln (s.o.) gemeint, also etwa <Wenn das weni-
Segeln) >. In beiden Fällen sind die gemeinten Seinskate- ger Wahrscheinliche der Fall ist, dann kann man schlie-
gorien Substanzen oder subiuncta, mit den Referenzaus- ßen, daß auch das eher Wahrscheinliche der Fall ist>.
drücken werden aber adiuncta bzw. idées accessoires Hier ist nichts Metaphorisches zu entdecken, es sei denn,
(Begleitvorstellungen) denotiert. Deshalb wird hier bei man wolle unter metaphorisch allgemein vergleichend
den Kontiguitätstropen von verschobener Referenz verstehen. Dies gilt auch für die Anwendung dieses
gesprochen. Damit besteht die spezifische Form des Topos: «Α., der schon mehrfach einen Tempelraub
Anders-Sagens bei Kontiguitätstropen im wörtlichen begangen hat, dürfte doch wohl auch diesen einfachen
Gebrauch von Referenzausdrücken, freilich mit verscho- Diebstahl begangen haben». Hier geht es nicht um Ana-
bener Referenz- Diese zeigt sich sprachlich als logie oder Ähnlichkeiten, sondern um relative Wahr-
Ellipse. [153] Bleibt abschließend die Ironie, die ja noch scheinlichkeiten. [157]
beim <Auctor ad Herennium> zur Allegorie gerechnet Deshalb sind diese Argumente auch von P E R E L M A N /
wurde. Im Gegensatz zur M. setzt die Ironie nicht zwei OLBRECHTS-TYTECA als Argumente der «doppelten Hier-
heterogene Bereiche voraus, sie ist nicht doppelbödig archie» behandelt worden, während die Analogieargu-
und damit auch nicht durch die doppelte Bewegung des mente nach der Argumentation aus dem Beispiel, der
gleichzeitigen Ver- und Enthüllens gekennzeichnet. Sie Illustration und dem Modell als Denkformen, «welche
ist doppelzüngig, da sie das Gegenteil von dem sagt, was die Struktur des Wirklichen begründen» diskutiert wer-
sie meint, und dieses durch paralinguistische oder rheto- den. [158] Die Autoren beziehen sich bei ihrer Diskus-
rische Mittel anzeigt. Man kann auch mit der englischen sion der M. einmal auf die Tradition «der Logiker, von
Redewendung «to talk with one's tongue in one's cheek» Aristoteles bis John Stuart Mill» [159], zum andern auf
(in ironischer Weise reden) sagen, daß sie ihre wahre Richards. Von der logischen Tradition übernehmen sie
Zunge in der Wange versteckt. Da die Ironie, wie schon die Grundthese, daß der M. eine Analogie zugrunde
Fontanier hervorhob, keine Wort-, sondern eine Propo- liegt. J.S. M I L L hatte in seinem <System of Logio (1843)
sitionstrope ist, müssen keine Negations- oder Opposi- die M. im Kontext der «fallacies of generalisation»
tionsterme verwendet werden, damit hinter dem Lob der (Trugschlüsse der Generalisierung) behandelt und wie
Tadel, hinter der Informationsfrage die scharfe Kritik die ganze logische Tradition vor ihm bestimmte Formen
oder hinter der freundlichen Feststellung der entlar- der Analogie und M. als 'Verirrungen' (aberrations)
vende Vorwurf aufscheint. bestimmt: «Wir kommen immer wieder zum Resultat,
Gerade die letzten Beispiele machen deutlich, daß das daß diejenigen die größten Sklaven der metaphorischen
Verstehen von Tropen bestimmte Formen von implizi- Sprache sind, die nur einen Satz (set) von Metaphern
ten Inferenzen notwendig voraussetzt. So muß einem haben». [160] Daß diese Kritik durchaus berechtigt und
etwa, um das Segelbeispiel verstehen zu können, der spe- nötig ist, mag folgende Stelle belegen: «Neger waren nie-
zifische Topos <Segel sind typische Teile eines Bootes> mals so zivilisiert wie Weiße es manchmal sind, deshalb
wie auch die Schlußregel der Abduktion bekannt sein ist es unmöglich, daß sie jemals so sein dürften. Von
(«Wenn man Segel von der und der Form am Horizont Frauen, als einer Klasse, nimmt man an, daß sie bis jetzt

1177 1178
Metapher Metapher

intellektuell nicht mit den Männern gleich gewesen sind, Widersprüchen deutlich gemacht, daß das Problem der
deshalb sind sie notwendigerweise minderwertig (infe- M. zugleich ein Problem der Tropen und der Gedanken-
rior)». [161] Dennoch erscheint ihm die Analogie, sofern figuren der homoiösis, aber auch der auf Ähnlichkeit
bestimmte wissenschaftliche Standards eingehalten wer- gründenden Text- und Argumentationsformen ist.
den, als ein durchaus plausibles Verfahren. [162] Auch Damit haben die Alte und Neue Rhetorik der Moderne,
die M. kann eine wissensförderliche Funktion haben. M. insbesondere der Literatur- und Sprachwissenschaft,
sind keine Argumente, sondern «unterstellen (assume) einen immer noch nicht eingelösten Forschungsauftrag
die Proposition, für deren Beweis sie beigebracht wur- hinterlassen, nämlich zu untersuchen, in wie vielfältiger
den: ihr Nutzen besteht darin, bei deren Erfassen (appre- Weise all diese Formen in Texten und bestimmten Text-
hension) behilflich zu sein; und auch, daß das, was die gattungen verknüpft sind. Daß dabei auch das Problem
Person, welche die M. verwendet, deutlich machen will, der Intertextualität berücksichtigt werden muß, mag der
klar und lebendig verstanden wird (clearly and erste Satz von BRECHTS ironisch-liebevoller (oder sarka-
vividly).» [163] Das entspricht offenbar der alten aristo- stisch-bösartiger?) Erzählung <Der verwundete Sokra-
telischen und rhetorischen Auffassung des Vor-Augen- tes> anzeigen: «Sokrates, der Sohn der Hebamme, der in
Führens und damit auch der repraesentatio bzw. der seinen Zwiegesprächen so gut und leicht und unter so
Hypotypose bei Thomas von Aquin. Im Gegensatz zu kräftigen Scherzen seine Freunde wohlgestalteter
Mill sehen Perelman/Olbrechts-Tyteca in der Analogie - Gedanken entbinden konnte und sie so mit eigenen Kin-
wie die rhetorische und dialektische inventio-Lehre - ein dern versorgte, anstatt wie andere Lehrer ihnen Bastarde
plausibles Argumentationsverfahren, das sich «von kei- aufzuhängen, galt nicht nur als der klügste aller Grie-
nem anderen Raisonnement unterscheidet, denn für alle chen, sondern auch als einer der tapfersten.» [166]
gilt, daß ihre Konklusionen immer einer neuen Prüfung
unterworfen werden können». [164] Da sie letztlich eine Anmerkungen:
1 siehe die letzte Ausg. des Petit Robert: Dictionnaire de la
argumentative Konsenstheorie vertreten, ist ihnen auch langue française (Paris 1980ff.); Bibliogr. zur M.: W. Shibles:
die bei Aristoteles angedeutete und in der modernen epi- Metaphor: An Annotated Bibliography and History (Whitewa-
stemologischen Analogieforschung oft vertretene Idee ter 1971); J. Bosque: Bibliografía sobre la metáfora, in: Revista
fremd, daß durch Analogien neue Weltentwürfe aufge- de Literatura 46 (1984) 173-194; J.-P. van Noppen u.a. (Hg.):
zeigt werden. Die M. selbst bestimmen sie als «eine ver- Metaphor: A Bibliography of Post-1970 Publications (Amster-
dichtete Analogie, welche aus der Verschmelzung dam 1985); dies.: Metaphor II: A Classified Bibliography of
(fusion) eines Elementes aus dem Vergleichsbereich Publications from 1985-1990 (Amsterdam 1991); allg. zur M.:
H.H. Lieb: Der Umfang des historischen Metaphernbegriffs
(phore) mit einem Element aus dem thematischen (Diss. Köln 1964); J. Nieraad (Hg.): Linguistik der M., in: Lin-
Bereich (thème) [wie Richards als Doppeleinheit von guistik u. Didaktik 1973 (Sonderheft); J. Molino u.a. (Hg.): Pro-
phore (Vergleichsbereich)] resultiert». [165] Die Defini- blèmes de la métaphore, Langages 54 (1979); R.R. Hoffman:
tion zeigt, daß das Begriffspaar phore vs. thème mit der Recent Research on Metaphor (Trier 1982); D.S. Miall (Hg.):
Unterscheidung von Richards in vehicle vs. tenor zwar Metaphor: Problems and Perspectives (Brighton 1982); W.
analog, nicht aber identisch ist. Bei Richards meinen Paprotté, R. Dirven (Hg.): The Ubiquity of Metaphor (Amster-
diese Begriffe primär die zwei semantischen Pole der dam 1985); W. Koller: Dimensionen des Metaphernproblems,
in: Zs. f. Semiotik 4 (1986) 379-410; Nuessel: Metaphor and
Doppeleinheit M., die im Wort kontrahiert werden und Cognition: A Survey of Recent Publications, in: Journal of Lite-
kopräsent sind. Bei Perelman/Olbrechts-Tyteca, die rary Semantics 20 (1991) 37-52; W. Bergem u.a. (Hg.): M. u.
diese Begriffe bei der Analyse der Analogie als Argu- Modell (Trier 1996); A. Goatly: The Language of Metaphor
mentationsform festlegen, bezeichnen diese Begriffe (London 1997). - 2siehe die Ausg. d. Dictionnaire Hachette
heterogene Erfahrungsbereiche, die durch eine encyclopédique (Paris 1980ff.). - 3 A. Darmesteter: La Vie des
bestimmte Form der Analogie korreliert werden, wobei mots étudiée dans leurs significations (Paris 1887), zit. n. d.
in Argumentationen (d.h. Texten) notwendig ein Bereich Ausg. Paris 1979, 46. - 4ebd. 88f. - 5 J.G. Herder: Abh. über d.
Ursprung der Sprache (Berlin 1772), zit. η. d. Ausg. Stuttgart
als Vergleichsbereich in den das Thema der Argumenta- 1966,63ff. - 6M. Bréal: Essai de sémantique (Paris 1897) 125. -
tion bildenden Bereich projiziert wird. In einer detaillier- 7Darmesteter [3] 51. - 8ebd. 68ff. - 9H. Paul: Prinzipien d.
ten Diskussion einer Fülle von Beispielen - die sich wohl- Sprachgesch. (51920) 75. - 1 0 ebd. 84. - 1 1 ebd. 83,93ff. u. 98ff. -
tuend von der großen Mehrheit moderner Abhandlun- 12ebd. 94. - 13 W. Porzig: Das Wunder d. Sprache (Bern "1967)
gen unterscheidet, die meinen, mit wenigen Beispielen 38ff. u. 121 ff. - 14L. Bloomfield: Language (London 1935) 149.
ihrem Gegenstand gerecht werden zu können - zeigen - 15 G. Stern: Meaning and Change of Meaning (Göteborg
Perelman/Olbrechts-Tyteca, daß der M. alle Formen der 1931). - 16S. Ullmann: The Principles of Semantics (Glasgow
1951); vgl. P. Ricoeur: La métaphore vive (Paris 1975) 142ff. -
Analogie zugrunde liegen können. Ebenso machen sie 17 S. Ullmann: Semantics. An Introduction to the Science of
immer wieder deutlich, daß M. in den von ihnen unter- Meaning (Oxford 1962), zit. η. d. dt. Ausg. Frankfurt 1973,266. -
suchten argumentativen Texten nie isoliert, sondern 18ebd. 267; vgl. I.A. Richards: The Philosophy of Rhetoric
immer mit anderen Formen des Analogievergleichs, aber (Oxford 1964; zuerst 1936) 96ff. - 1 9 Ullmann [17] 268ff. - 20 R.
auch innerhalb von nicht-analogischen Argumenten vor- Jakobson: Der Doppelcharakter d. Sprache (dt. Übers.), in: J.
kommen. Die dabei gemachten Beobachtungen sollen Ihwe (Hg.): Literaturwiss. und Linguistik I (1971) 328; zuerst in:
hier nicht im Einzelnen vorgestellt werden. Dies auch R. Jakobson, M. Halle: Fundamentals of Language, Part II, 2 u. 5
(Den Haag 1956). - 21 vgl. H. Hörmann: Semantische Anoma-
deshalb, weil sie an manchen Stellen nicht immer voll- lie, M. und Witz, in: Fol 5 (1971) 310-330. - 22J. Frazer: The
ständig sind. Die Grauzone dieser Neuen Rhetorik ist ja, Golden Bough: A Study in Magic and Religion I (New York
daß in ihr die elocutio, also die ganze rhetorische Stil- 3
1935) Kp. III; E. Leach: Kultur u. Kommunikation (1978) 25ff
lehre, nur noch in Form der M. vertreten ist. Deshalb u. 39ff.; vgl. Ricœur [16] 227ff. - 23 J. Lacan: L'instance de la let-
wäre es zuviel verlangt, wenn man von ihr das fordern tre dans l'inconscient ou la raison depuis Freud (1957) in: J.
wollte, was die Alte Rhetorik, aber auch die moderne Lin- Lacan: Ecrits I (Paris 1966) 249-289, 280f. - 24J. Lacan:
guistik, nicht geleistet haben: die semiotischen Formen Fonction et champ de la parole et du langage en psychanalyse
(1953), in: Ecrits I (Paris 1966) 111-208, 146. - 25ebd. - 26vgl.
des Anders-Sagens von Wörtern, Sätzen und Texten zu Lacan [23] 265ff. - 27 vgl. S. Freud: Der Witz u. seine Beziehung
bestimmen. Freilich haben Alte und Neue Rhetorik zum Unbewußten (1905), zit. η. Studienausg. IV (1970) 25; zur
gerade in ihren Grauzonen, Unstimmigkeiten und

1179 1180
Metapher Metapher

M. in d. Psychoanalyse u. bei Freud: R. Rogers: Metaphor. A French Prose (Oxford 1953) 62ff.; Ulimann [17] 268 u. M.-C.
Psychoanalytic View (Berkeley 1978); D.L. Carveth: Die M. des Bertau: Sprachspiel M. (1966) 158ff. - 8 2 Breton [79] (1924) 52. -
Analytikers, in: M.B. Buchholz (Hg.): Metaphernanalyse (1993) 83 vgl. aber Kurz, Pelster [52] und G. Kurz: M., Allegorie, Sym-
15-71. - 28ebd. 47ff. - 29Lacan [23] 265. - 30ebd. 263. - 31J. bol (1982). - 84W. Stählin: Zur Psychol, u. Statistik der M., in:
Lyons: Semantics 2 (Cambridge 1977) 567. - 32vgl. Schema in J. Archiv f. Psychol. 31 (1914) 297-425,311. - 85 ebd. 321. - 86 ebd.
Dubois u.a.: Rhétorique générale (Paris 1970) 49; das Schema 321/2. - 87ebd. 324. - 88ebd. 327. - 89vgl. ebd. 339ff. - 90ebd.
findet sich auch im Art. <Änderungskategorien>, in: HRW1,563/ 341; vgl. W. Stern: Die Analogie im volkstümlichen D e n k e n
4; zur Kritik vgl. Ricoeur [16] 173ff u. 201 ff. - 33 Dubois [32] (1893) 15Iff. - 91 ebd. 342. - 92D. Davidson: What Metaphors
106ff. - 3 4 N . Ruwet: Synecdoques et métonymies, in: Poétique 6 Mean, in: S. Sacks (Hg.): On Metaphor (Chicago 1979) 29-47,
(1975); zit. n. d. dt. Übers, in: A. Haverkamp (Hg.): Theorien der 36/7. - 93 vgl. H. Gipper: Sessel oder Stuhl? In: Sprache - Schlüs-
M. (1983) 252-282, 257; vgl. d. Kritik in M. Le Guern: Sémanti- sel z. Welt, Fs. f. L. Weisgerber (1959) 271-292; U. Hoinkes:
que de la métaphore et de la métonymie (Paris 1973) 13f. u. in F. Immer wieder 'Stuhl', in: U. Hoinkes (Hg.): Panorama der lexi-
Keller-Bauer: Metaphorisches Verstehen (1984) 38ff. - 35F. kalischen Semantik (1995) 307-328. - 94vgl. L.S. Wygotski:
Rastier: Systématique des isotopies, in: A.J. Greimas (Hg.): Denken u. Sprechen (1969). - 95H. Werner: Die Ursprünge der
Essais de sémiotique poétique (Paris 1972) 80-106, 88; zit. n. d. M. (1919) 45. - 96ebd. 52f. - 97ebd. 57. - 98ebd. 61f u. 63f. -
dt. Übers, in W. Kallmeyer et al. (Hg.): Lektürekolleg zur Text- 99ebd. 94ff. u. 103ff. - 1 0 0 B l a c k [48] 44; dazu Ricoeur [16] 109ff.;
linguistik (1974) 166/7. - 36F. Rastier: Sémantique interpréta- H. Edmonds: Metaphernkommunikation (1986) 51 ff.; H. Hül-
tive (Paris 1987) 91ff., 130ff. - 37ebd. 112ff. - 38ebd. 178f. - zer: Die M. (1987) 161 ff. - 1 0 1 Black [48] 40 u. 44. - 1 0 2 M. Black:
39ebd. 187. - 40ebd. 51 ff. u. 112ff. - 41ebd. 202ff. - 42ebd. More about Metaphors, in: Α. Ortony (Hg.): Metaphor and
191 ff. - 43 ebd. 189. - 4 4 ebd. 192. - 45 ebd. 194 f. - 4 6 ebd. 211 ff. - Thought (Cambridge 1979) 28f. - 103Black [48] 41 u. 44f. -
47Ricoeur [16] 63ff. - 48M. Black: Models and Metaphors 104Black [102] 28f. - 105ebd. 44. - 1 0 6 M B. Hesse: Models and
(Ithaca 1962) 3Iff. - 49H.F. Plett: Textwiss.u. Textanalyse Analogies in Science (Notre Dame 1966) 163. - 107ebd. 168f. -
(1975) 256. - 50vgl. etwa B. Asmuth, L. Berg-Ehlers: Stilistik 108vgl. A. Steudel-Günther: Analogie u. Paraphrase in Fach-
(1974) 122; M.D. Kuznec, J.M. Skrebnev: Stilistik d. engl. Spra- und Gemeinsprache (1995) 50ff. - 1 0 9 vgl. C. Sutton: The Heart
che ( 2 1968) 23ff. - 51H.F. Plett: Einf. in d. rhet. Textanalyse of the Atom, in: New Scientist 83 (1995) 1-4; vgl. die linguisti-
( 2 1973) 70ff. - 52 vgl. G. Kurz, T. Pelster: M.. Theorie und Unter- sche Analyse in: D. McElholm: Text and Argumentation in
richtsmodell (1976) 7ff.; W. Berg: Uneigentliches Sprechen English for Science and Technology (Diss. Hannover 1999)
(1978) lOOff.; G. Wolff: Metaphorischer Sprachgebrauch. 325 ff. - 1 1 0 Hesse [106] 67. - 111 ebd. 60ff. - 112D. Gentner, M.
Arbeitshefte f. d. Unterricht (1982) 12ff.; R. Drux: M. u. Meto- Jeziorski: From metaphor to analogy in science, in: Ortony [58]
nymie, in: B. Sandig (Hg.): Stilistisch-rhet. Diskursanalyse 447^180. - 113 ebd. 471ff. - 114Steudel-Günther [108] 180ff. -
(1988) 63ff.; B. Sowinski: Stilistik (1991) 133ff.; G. Frieling: 115ebd. 13ff., 7Iff. u. l l l f f . - 116H. Blumenberg: Paradigmen
Unters, zur Theorie d. M. (1996) 27ff. - 53 vgl. H. Suhamy: Les zu einer Metaphorologie, in: A B G 6 (1960) 5-142 u. 301-305,80.
figures de style (Paris 1981) 20ff.; A. Reboul: La rhétorique
- 117vgl. B. Debatin: Die Modellfunktion der M., in: H.J.
(Paris 1986) 45ff.; P. Bacry: Les figures de style (Paris 1992)
Schneider (Hg.): M., Kognition, Künstliche Intelligenz (1996)
40ff.; M. Aquien: Dictionnaire de poétique (Paris 1993) 176ff. u.
83-103; zur M. in d. Sprache d. Soziol.: W. Bühl: Z u r Ordnung
306ff.; G. Molinié: Dictionnaire de rhétorique (Paris 1992)
des Wissen (1984) 155ff. - 118 H. Blumenberg: Beobachtungen
213ff. u. 329f. - 54R.M.W. Dixon: Where have all the adjectives
an M., in: A B G 15 (1971) 212. - 1 1 9 G. Bachelard: La formation
gone? (Berlin 1982); G. Lakoff: Classifiers as a Reflection of
de l'esprit scientifique (Paris 1938) 74ff.; vgl. dazu kritisch Steu-
Mind, in: C. Craig (Hg.): Noun Classes and Categorization
del-Günther [108] 115ff.; vgl. allgemein: Colloque de Cerisy:
(Amsterdam 1986) 13-51; G. Lakoff: Women, Fire, and Dange-
Bachelard (Paris 1974). - 120 G. Bachelard: Le matérialisme
rous Things (Chicago 1987). - 55E. Rosch: Natural Categories,
rationnel (Paris 1963) 207ff. - 121E.F. Kittay: Metaphor. Its
in: Cognitive Psychology 4 (1973) 328-350; E. Rosch, B.B. Lloyd
Cognitive Force and Linguistic Structure (Oxford 1987) 28ff. u.
(Hg.): Cognition and categorization (Hillsdale 1973); dazu G.
146ff.; vgl. L. Hjelmslev: Prolegomena to a Theory of Language
Kleiber: Prototypes et prototypes: encore une affaire de
(Madison 1961) u. E. Eggs: Art. <Konnotation/Denotation>, in:
famille?, in: D. Dubois (Hg.): Sémantique et cognition. Catégo-
H W R h , Bd. 4, Sp. 1252ff. - 1 2 2 K i t t a y [121] 156f. - 123ebd. 228.
ries, prototypes, typicalité(Paris 1991) 103-129; vgl. dazu die
- 1 2 4 ebd. 230ff. - 1 2 5 vgl. Porzig [13] 123 ff., C.J. Fillmore: Types
Rez. von E. Eggs in: Zs. f. frz. Sprache u. Lit. 105 (1995) 65-73. -
of Lexical Information, in: D. Steinberg, L. A. Jakobovits (Hg.):
56 Lakoff [54] (1987) 334. - 5 7 e b d . 70ff. - 5 8 G. Lakoff, M. John-
Semantics (Cambridge 1971) 370-392; Lyons [31] 2, 261ff. -
son: Metaphors We Live By (Chicago 1980) 5ff., 16,ff. 43ff. u. G.
126vgl. E. Coseriu: Lexikalische Solidaritäten, in: Poetica 1
Lakoff: The Contemporary Theory of Metaphor, in: A. Ortony:
(167) 293-303. - 127Kittay [121] 278ff. - 128ebd. 285. - 129ebd.
Metaphor and Thought (Cambridge 2 1994) 202-251; dazu M.
283 f. - 1 3 0 Platon, Theaitetos 150 c-d. - 1 3 1 Davidson [92] 30ff. -
Pielenz: Argumentation u. M. (1992) 66ff. - 59 Curtius 306ff.; H.
132ebd. 44. - 1 3 3 e b d . 40ff. - 134vgl. H.P. Grice: Logic and Con-
Weinrich: Münze und Wort, in: ders. Sprache in Texten (1976)
versation., in: P. Cole, J.L. Morgan (Hg.): Syntax and Semantics,
276-290; B. Stolt: Wortkampf (1974); J. Schlanger: Les méta-
Bd. 3 (London 1975) 41-58; dazu E. Eggs: Eine Form des 'unei-
phores de l'organisme (Paris 1972): G. Bachelard: La psychana-
gentlichen' Sprechens: die Ironie, in: Fol (1979) 413-435. -
lyse du feu (Paris 1949); ders.: La terre et les rêveries de la
135 H. Weinrich: Allgemeine Semantik der M., in: Weinrich [59]
volonté (Paris 1948); ders.: L'air et les songes (Paris 1943). -
317-327, 319. - 136ebd. 320. - 137Weinrich [79] 297f. - 138W.
ôOFontanier 99. - 61Lakoff [58] (1994) 207. - 62M. Turner:
Kallmeyer: Lektürekolleg zur Textlinguistik, Bd. 1 ( 3 1980) 165.
Categories and Analogies, in: D.H. Helman (Hg.): Analogical
Reasoning (Dordrecht 1988) 3-24, 11; vgl. Rastier [36] 187f. u. - 139ebd. 166ff. - 140J.R. Searle: Metaphor, in: Ortony [58]
G. Kleiber: Métaphore: le problème de la déviance, in: Langue 83-111,91 f. - 1 4 1 vgl. E. Eggs: Grammaire du discours argumen-
française 101 (1994): 35-56. - 63Turner [62] 11-13. - 64ebd. tatif (Paris 1994) u. ders.: Die Bedeutung der Topik für eine lin-
16/7. - 6 5 Arist. Rhet. 1405a 13 (s.o.). - 6 6 M . Turner: An Image guistische Argumentationstheorie, in: G. Ueding (Hg.): Rhet.
Schematic Constraint on Metaphor, in: R. A. Geiger, B. Rudzka- und Topik (2000). - 142 Lakoff [58] (1994). - 1 4 3 vgl. G. Kleiber:
Ostyn (Hg.): Conceptualizations and Mental Processing in L'anaphore associative roule-t-elle ou non sur des stéréotypes?,
Language (New York 1993) 291-306, 292; vgl. 303 A n m . l . - in C. Plantin (Hg.): Lieux communs, topoi, stéréotypes, clichés
67 Arist. Poet. 1459a 7. - 68 Richards [18] 89; vgl. dt. Übers, in (Paris 1993) 355 - 371 u. Eggs [141] (1994). - 144vgl. Eggs [141]
Haverkamp [34] 31ff. - 69ebd. 92. - 70 Arist. Rhet. 1404b 34. - (1994) 187ff. - 1 4 5 v g l . ebd. 195ff. u. Ricoeur [16] 231 f. - 146RÌ-
71 Richards [18] 92. - 7 2 e b d . 116/7. - 7 3 e b d . 177ff. - 7 4 e b d . 118. cœur [16] 251. - 147vgl. Eggs [141] (1994) 196ff.; vgl. Κ. Jonas-
- 7 5 ebd. 93 ff. - 7 6 ebd. 94. - 7 7 e b d . 119ff.-78ebd. 122. - 7 9 e b d . son: Les noms propres métaphoriques, in: Langue française 92
123; zit. n. A. Breton: Les vases communicants (Paris 1970) 129, (1991) 64-81; G. Kleiber: Y a-t-il de la métaphore sous les noms
A n m . l ; vgl. A. Breton: Manifeste du surréalisme (1924), in: propres en antonomase?, in: Studia Romanica Posnaniensia 19
ders.: Manifestes du surréalisme (Paris 1970) 31 ff.; vgl. H. Wein- (1994) 37-52. - 148vgl. Richards [18]; Weinrich [79]; H. Wein-
rich: Semantik der kühnen M., in: ders. [59] 295-316, 297. - rich u.a.: Die M. Bochumer Diskussion, in: Poetica 2 (1968) 100-
80Richards [18] 124. - 81 ebd. 124/5.; vgl. R.A. Sayce: Style in 130,118f. - 1 4 9 L. Goossens: Metaphtonymy. The Interaction of
Metaphor and M e t o n y m y . . . , in: ders., P. Pauwels u.a. (Hg.): By

1181 1182
Metaplasmus Metaplasmus

Word of Mouth (Amsterdam 1995) 159-174, 169f. - 150ebd. in poemate pars aliqua orationis vitiosa sit, metaplas-
171 ff. - 1 5 1 vgl. Freud [27] 20ff. - 152vgl. P. Guiraud: Les locu-
mum dicunt» (Nach der Meinung einiger [Gelehrter] ist
tions françaises (Paris 1961); A. Thun: Probleme der Phraseolo- der Barbarismus ein fehlerhafter Teil der Rede in der
gie (1978); Ν. Norrick: H o w Proverbs Mean (1985); G. Gréciano
(Hg.): Phraséologie contrastive (Strasbourg 1989); J.-C. Ans-
Umgangssprache. Diese Definition trennt den Metaplas-
combre: Proverbes et formes proverbiales, in: Langue française mus vom Barbarismus der, wie gesagt, in der Umgangs-
sprache stattfindet, weil man es einen Metaplasmus
102 (1994) 95-107; G. Kleiber: Sur la définition du proverbe, in:
ders.: Nominales (Paris 1994) 207-224; Eggs [141] (1994) 122ff.;nennt, wenn in einem Gedicht irgendein Teil der Rede
R. W. Gibbs u.a: Proverbs and Metaphorical Mind, in: Metaphor fehlerhaft ist). [5] Dann wird aber diese Definition des M.
and Symbolic Activity 11 (3) (1996) 207-216. - 153siehe E. Eggs:auch auf andere Gattungen ausgeweitet: «metaplasmus
Art. <Metonymie>, in: HWRh, Bd.5, Sp. 1203. - 154siehe E. est una pars orationis figurata contra consuetudinem vel
Eggs: Art. <Logik>, in: HWRh, Bd. 5, Sp. 414ff. - 155M. Pielenz:
Argumentation u. M. (1993) 136/7. - 156ebd. u. 121; vgl. Quint.
ornatus alicuius causa vel metri necessitate cogente»
V, 10, 87. - 157vgl. Eggs [141] (1999). - 158Perelman 461 ff; (Ein M. ist ein entweder zum Zweck der Zierde oder aus
471 ff. - 159 ebd. 539. - 160J. S. Mill: System of Logic (Londonzwingenden metrischen Gründen gegen die Sprachge-
1916; zuerst 1843) 521 (= 5, 5, 6). - 161ebd. 516 (= 5, 5, 4). -wohnheit ausgeschmückter Teil der Rede) [6]; und wei-
ter: «ergo inter barbarismum et metaplasmum hoc inte-
162ebd. 364ff. (= 3 , 2 0 , 1 - 3 ) . - 163ebd. 524. - 164Perelman 500.
- 165 ebd. 535. - 166 Β. Brecht: Der verwundete Sokrates, in: rest, quod barbarismus in communi sermone, metaplas-
ders.: Gesch. (1962) 109. mus in poemate est, item quod barbarismus citra auctori-
E. Eggs tatem lectionis inperite nunc a quibusdam praesumitur,
metaplasmus autem ille est, qui ex vetere scriptorum auc-
-» Allegorie Analogie > Antonomasie —> Comparatio -> toritate praeiudicatae consuetudinis ratione profertur,
Elocutio -> Hyperbel -> Imago > Ironie —> Katachrese —· Lito-
tes -» Metonymie —> Ornatus -» Personifikation —> Similitudo -»
item quod metaplasmus [...] a doctis fit scienter, barba-
Synekdoche -> Tropus —> Verbum proprium —> Wortschöp- rismus vero ab inprudentibus nulla aut veterum aut con-
fungstheorien suetudinis auctoritate perspecta adsumitur». (Also
besteht zwischen dem Barbarismus und dem M. dieser
Unterschied, daß der Barbarismus in der Prosaliteratur,
Metaplasmus (griech. μεταπλασμός, metaplasmós; lat. der M. aber in einem Gedicht auftritt, und ebenfalls, daß
metaplasmus, transformatio; engl, metaplasm; frz. méta- der Barbarismus ohne eine autoritative Belegstelle aus
plasme; ital. metaplasmo) der Literatur und ohne sprachliche Kenntnisse jetzt von
A. Der M. betrifft verschiedene Formen der absichtli- irgendwelchen Leuten verwendet wird, der M. aber jene
chen und gestatteten Abweichung von der Sprachrichtig- Abweichung ist, die gestützt auf die alte Autorität
keit im Einzelwort (Latinitas in verbis singulis) und als bestimmter Autoren und nach der Regel einer bewähr-
Stilmittel eingesetzte Verstöße gegen die sprachliche ten sprachlichen Gewohnheit vorgetragen wird, und
Orthographie und Orthoepie. Im grammatisch-rhetori- ebenfalls [...], daß der M. kundig von Gelehrten einge-
schen System wird der M. als ein Problem der virtutes et setzt wird, der Barbarismus aber von Ungebildeten ohne
vitia elocutionis und der Figurenlehre behandelt. Typolo- Bezug auf eine Autorität der alten Schriftsteller oder die
gisch unterscheidet man im klassischen Lehrsystem vier sprachliche Gewohnheit benutzt wird). [7]
Änderungskategorien einer Umformung von Wörtern Q U I N T I L I A N und die römischen Grammatiker bis zu
gegenüber ihrer regulären Formfl]: die <Detractio> Consentius führen eine wertvolle Anzahl von Beispielen
(Aphärese, Synkope, Apokope, Systole, Synizese und für die einzelnen Formen des M. auf, die meist aus VER-
Synaloephe), die <Adiectio> (Prosthese, Epenthese, GIL und anderen bedeutenden Dichtern stammen. Der
Paragoge, Dihaerese und Ektasis), die <Immutatio> M. ist also nach antiker Auffassung primär eine in der
(Ersetzung von Einheiten) und die <Transmutatio> Poetik durch den Grundsatz der licentia geduldete
(Inversion, Palindrom, Anagramm). Innerhalb dieser Abweichung, sofern er von anerkannten, gebildeten
vier Grundoperationen kann man noch präziser nach Autoren mit der Absicht eingesetzt wird, gezielt Affekte
den tria loca (Wortanfang, -mitte und -ende), ferner nach zu erregen, an die Hörer zu appellieren, zu archaisieren,
den von den Änderungen betroffenen Buchstaben, dem Gedicht ornatus oder einen regionalen color zu ver-
Vokalquantitäten, dem Akzent oder der Aspiration dif- leihen, eine für das Ohr unangenehme Massierung von
ferenzieren. M. können nur im gesprochenen (pronuntia- Silben zu vermeiden oder (als Reim-M.) ein bestimmtes
tio) oder im geschriebenen Wort (scriptum) zum Aus- Metrum zu wahren. In der Poetik und Metrik betreffen
druck kommen. [2] daher metaplastische Phänomene die absichtliche Deh-
Eine besonders konsequente Scheidung beider eng nung, Kürzung, Kontraktion bestimmter Silben oder
verwandter Begriffe barbarismus und metaplasmus fin- Worte zur Wahrung eines bestimmten Reim- oder
det sich in der <Ars de barbarismis et metaplasmis> [3] des Rhythmussystems und die Akzentsetzungen. Vergil
Grammatikers CONSENTIUS im 5. Jh. n. Chr. Er beginnt benutzt z.B. in der <Aeneis> die Form repostum statt
mit der grundlegenden Feststellung, daß der barbarismus repositum. [8] Der Reim-M. bedient sich gerne veralte-
und der M. aus den gleichen sprachlichen Operationen ter, mundartlicher oder seltener Wortformen, die Fach-
entstehen und daher nur im Zusammenhang miteinan- und Sondersprachen entstammen, und bildet oft 'un-
der definiert und im Einzelfall voneinander abgegrenzt reine', fehlerhafte Reime.
werden können: «quia quidam modi, ex quibus proveni- Alle absichtlichen Änderungen gegenüber der sprach-
unt, ipsis communes sunt, coniuncte de his dicendum est» lichen consuetude und norma rectitudinis, d.h. alle meta-
(Weil einige Weisen, wodurch diese entstehen, ihnen plastischen Deviationen, können als rhetorische Mittel
gemeinsam ist, kann man auch nur über sie in Verbin- ihre Wirkung nur bei Hörern oder Lesern als Rezipien-
dung miteinander sprechen). [4] Er definiert den M. ten erreichen, die mit der korrekten Regelgrammatik,
zunächst mit Bezug auf die Dichtung: «Barbarismus est, der Orthographie und Orthoepie vertraut sind. Ohne
ut quidam volunt, una pars orationis vitiosa in communi eine allgemein anerkannte norma rectitudinis kann man
sermone, haec definitio separat metaplasmum eo, quod keine lizensierten Abweichungen absichtlich einsetzen.
fieri barbarismum dixi in communi sermone, quoniam, si Die Verwendung von M. als rhetorisches Kunstmittel ist

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