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* Der Aufsatz gibt in leicht überarbeiteter Form einen Vortrag wieder, den der
Verf. am 6. 1. 1973 zu Straßburg vor der Patristischen Arbeitsgemeinschaft
gehalten hat. Diese hatte ihrer Tagung das Rahmen-Thema »Exegese« gestellt;
dabei kam dem Vortrag von H. Dörrie die Aufgabe zu, die Methodik, die bei der
Exegese außerchristlicher antiker Dichtungen angewendet wurde, darzustellen
und von ihr zur Exegese in patristischer Zeit überzuleiten.
geschrieben und gesprochen wird, gilt als problemlos, denn alle Begleit-
umstände sind allen Hörern und Lesern bekannt — da sind Erklärung
oder gar Exegese nicht am Platz. Seltsamerweise hat die griechische
Antike Übersetzungsprobleme kaum gekannt; einen Austausch mit
anderssprachigen Völkern scheint es kaum gegeben zu haben; daß die
Septuaginta entstand, war eine ganz ungewöhnliche Ausnahme. Nach-
dem ihr Text aber vorlag, wurde dieser Text als ein griechischer Text
angesehen wie alle anderen auch. Die Frage, ob wichtige hebräische
Grundvorstellungen richtig wiedergegeben seien, stellte man sich vor-
erst1 gar nicht. Auf griechisch niedergeschriebene Worte sind eben so,
in ihrem griechischen Sinn, vollauf gültig. Die Frage, ob der auf
griechisch erzielte Sinn dem Sinn des Originals entspricht, oder ob er
von ihm in wichtigen Aspekten abweicht, stellte sich gar nicht: Man
war es durchaus nicht gewohnt, derartige Fragen an Texte der Gegen-
wart zu richten2. Vor allem wird man sich bei Behandlung vieler Fra-
gen, die das NT aufgibt, an diese grundlegende Regel zu erinnern
haben. So wichtig es stets ist, auf außer- und vor-griechische Vorstel-
lungen zurückzugreifen, in denen die Verfasser des NT lebten — für
ihre Leser war ihr Text, wenn er auf griechisch vorlag, ein griechischer
Text, und dieser wurde ohne weitere Reflexion so verstanden, als sei
er griechisch konzipiert. Keine Exegese und keine Hermeneutik leitete
dazu an, auch nur die Frage zu stellen, ob zwischen Original und Über-
setzung ein Abstand klafft. Kurz, die Vermutung, es könne durch die
Notwendigkeiten einer Übersetzungspraxis zur methodischen Begrün-
dung einer auf Gegenwärtiges gerichteten Philologie gekommen sein,
würde in die Irre führen. Auch als in recht erheblicher Breite griechi-
sche Literatur, zunächst Homer, dann Tragödien und vor allem Ko-
mödien, ins Lateinische übersetzt wurden, stellte sich diese Frage
nicht. Was da übersetzt wurde, sah man als Gegenwarts-Literatur an;
man forderte wohl, daß sie in Rom unterhaltend oder belehrend wirkte;
darum war elegantia das beherrschende Kriterium3. Auch in Rom nahm
man es nicht in Angriff, eine auf Gegenwartstexte bezogene Methode
des Erklärens zu erarbeiten.
1
Ohne Zweifel verdanken die nachmals rivalisierenden Übersetzungen des Aquila,
des Symmachos und des Theodotion ihre Entstehung dem Umstand, daß diese
Frage aus erkennbaren Gründen hohes Gewicht gewann: eine nun erst sich bil-
dende, eine nun erst gegen Hellenistisches sich abgrenzende Orthodoxie konnte
»Abweichungen« der LXX von der Masora nicht mehr tolerieren. Das führte aber
erst um 40, vielleicht um 50 n. Chr. dazu, daß Übersetzungen erstellt wurden, die
dieser Orthodoxie entsprachen. Damals bestand die LXX bereits knapp 300 Jahre.
2
Hierzu geben die bilinguen Inschriften des Königs Asoka eine sehr kennzeichnende
Illustration, vor allem was die Gleichsetzung von dharma mit anlangt;
vgl. D. Schlumberger: Journal Asiatique 246, 1958, 2ff.
8
So Cicero mehrfach, am ausführlichsten in der Vorrede zu de finibus l, l—12.
3. So ist alle antike Philologie erstens retrospektiv, und sie ist zwei-
tens auf Texte bezogen, die sich vordergr ndigem Verst ndnis ent-
ziehen. Eines der Schl sselworte ist αίνιγμα, das R tsel. Man war ber-
zeugt davon, da gerade die gro en Dichter absichtsvoll ihre Dich-
tungen verschl sselt haben4; in diesen ist ein Wissen enthalten, das
der Masse der Banausen, der άμαθεΐ$, der zur Bildung Unf higen nicht
zug nglich sein soll. Wenn das zutrifft, dann mu eine Methode der
Entschl sselung aufgesucht werden, die auf den im Hintergrund der
Texte verborgenen Sinn f hrt.
Nur mit wenigen S tzen m chte ich begr nden, wie es zu
diesem Axiom vom verborgenen, und dabei eigentlichen Hintersinn
kam; diese historische Darstellung soll uns nicht lange aufhalten, sie
soll nur die Situation der Exegese, wie sie von etwa 200 vor bis 200
nach Christus bestand, beleuchten.
Das bezeichnete Axiom tr gt zun chst einmal apologetische Z ge.
Angriffe, die im 6. und im 5. Jahrhundert gegen Homer vorgetragen
wurden, konnten mit seiner Hilfe abgeschlagen werden. Wer da An-
sto nahm an der Unmoralit t der G tter, von denen Homer erz hlt,
da sie stehlen, ehebrechen und einander betr gen — κλέτττειν,
μοιχεύειν και αλλήλους άπατευειν5 —, der mu te sich sagen lassen, da
er bei solchem Verst ndnis das, was der Dichter in Wahrheit meinte,
v llig verfehlt habe; wer den Dichter derart im w rtlich-vordergr n-
digen Sinne verstehe, m sse als ein Banause angesehen werden. Neben
der apologetischen Tendenz wird schon im 6. Jahrh. die Auffassung
erkennbar, da in den Versen Homers geheimes Wissen verborgen sei;
wer den Schl ssel hat, der geheimes Wissen auf schlie t, der findet in
den Epen Homers eine Offenbarung eschatologischer Geheimnisse.
Hier mu die Parallele zum delphischen Orakel hergestellt werden
(vgl. Anm. 4); so wie die Pythia, von Apollon begeistert, ihr ber-
menschliches Wissen in einem R tselspruch mitteilt, so habe Homer,
und nach ihm die brigen Dichter, denen der Enthusiasmos zu Teil
wurde, das Wissen, das Apollon ihnen einhauchte — inspirierte —
είσέττνευσεν —, in ihren Dichtungen zugleich ausgesagt und verborgen.
Wenn alles dieses gilt, dann ist Philologie nichts anderes als eine sub-
tile Kunst des Entschl sseins, eine Kunst, die eben auf das gerichtet
ist, was die vordergr ndige Aussage verbirgt. Damit zugleich ist ge-
4
Auf die F lle der hiermit zusammenh ngenden Fragen, auf das Motiv der Dichter-
weihe und auf das Postulat, da Dichter im Rausche oder in der Entr ckung
schaffen, kann hier nicht eingegangen werden. Hinter derlei Erw gungen steht die
Tendenz, Dichtung als durch die Gottheit legitimiert und inspiriert zu erweisen.
Ist sie inspiriert, dann kann, ja mu jeder Vers wie ein Orakel ausgelegt werden.
5
Dies der ber hmte, oft zitierte Vers des Xenophanes B 11; Fragmente der Vor-
sokratiker I6 132, 4 Diels-Kranz.
sagt, warum alle Philologie notwendig eine philologia sacra ist; gegen-
wartsnahe, triviale und eindeutige Texte interessieren nicht.
Nun habe ich die These von einem apokalyptischen Homer mit
extremer Pointierung vorgetragen6. W hrend der langen Jahrhunderte,
da die Griechen Homer nicht nur lasen, sondern studierten, galt das
eben Gesagte wohl im ganzen, doch gelangte man im einzelnen zu
weit gef cherter Differenzierung. Die zentrale These, in Homers Ge-
dichten sei eine Erl sungslehre verborgen, stammt gewi aus der
Orphik. Selbstverst ndlich ist diese These nie l ckenlos durchgef hrt
worden. Aber sie ist auch nie widerlegt und nie mit Entschiedenheit
verlassen worden; sie ist im Untergrund und im Hintergrund der
HomerrExegese stets latent vorhanden.
4. Im 4. und im 3. Jahrh., in der Zeit also, da sich der Hellenis-
mus vorbereitete, wird die zuvor leidenschaftlich gef hrte Kontro-
verse um Homer weit milder; die radikale Ablehnung Homers, zuletzt
von Plat on aus ethischen Gr nden vertreten, kommt zum Schweigen;
von nun an stehen sich zwei grunds tzliche Meinungen ber Homer
gegen ber, (a) Durch Aristoteles bricht sich die Ansicht Bahn, Homer
sei zwar ein Dichter von berdurchschnittlicher Klugheit gewesen.
Alles aber habe er nicht wissen k nnen, und gelegentlich seien ihm
— aus Zerstreutheit sozusagen — kleine Ungeschicklichkeiten unter-
laufen; diese These kennen wir aus dem zum Sprichwort gewordenen
Vers des Horaz, ars poet. 359/60
indignor quandoque bonus dormitat Homerus —
verum operi longo fas est obrepere somnum.
Auf diese, vor allem von Aristoteles begr ndete und von den gro en
Alexandrinern verfochtene Einstellung zu Homer wird sogleich n her
einzugehen sein; zun chst soll ihr (b) die entgegengesetzte Haltung ge-
gen bergestellt werden, f r die wiederumHoraz der klassische Zeuge ist ;
im 2. Brief des 1. Epistel-Buches wird Homer als Verk nder der nach-
mals stoischen Ethik gefeiert; danach w re die Ilias ein Lehrgedicht
ber die schlimmen Folgen des Zornes — in der Tat erw chst ja die
Handlung des Epos aus dem Zorn des Achilleus; die Troer aber w ren
um nichts besser; was sie unternehmen, ist gleichfalls von b sen
Affekten bestimmt:
Iliacos intra muros peccatur et extra (epist. l, 2, 16).
6
Wie weit eine solche Homer-Auslegung gehen konnte, davon gibt der von Platon
im Kriton 43 B wiedergegebene Traum des Sokrates ein eindrucksvolles Zeugnis.
Der von Achilleus als Drohung ausgesprochene Vers I 363 wird als Verhei ung der
Heimkehr in die wahre Heimat gedeutet:
ήμοπτί κεν τρντάτχρ Φθίην έρίβωλον ϊκοιο.
So ist die Ilias zu verstehen als eine Sammlung der negativen, der war-
nenden Beispiele. Zu ihr tritt die Odyssee in Kontrast. Denn Odysseus
verkörpert das Ideal des Wissenden und Weisen; während seine Ge-
fährten, während die Freier im Palast zu Ithaka, ohne ihre Affekte zu
beherrschen, von einem Fehler in den anderen fallen und schließlich
durch eigene Schuld ihr Leben verlieren, gibt Odysseus wieder und
wieder das Beispiel, wie man sich richtig entscheidet. Ja, mit seiner
Darstellung der Freier, die zuchtlos Geld und Gut verprassen, das
ihnen nicht gehört, hat Homer auf die ihm zeitgenössische Gesellschaft,
die alle Fehler einer Wohlstandsgesellschaft aufwies, hingewiesen:
in cute curanda plus aequo operata iuventus7.
So klingt in den Versen des Horaz, ep. I 2, 23ff. bereits ein Motiv an,
das nachmals in der homerischen Allegorese eine hohe Bedeutung er-
langen sollte: Kirke wird zum Symbol der bösen Lust, zum Symbol
einer lasterhaften, dem Logos widerstreitenden Lebensführung, durch
die die Menschen zu Schweinen werden. Nur Odysseus vermag die
Faszination, welche diese domina meretrix ausübt, zu überwinden.
Werthafter Gegenpol gegen dieses Symbol der Verführung (das in dem
mittelalterlichen Typos der Frau Venus fortleben sollte) ist die Ge-
stalt der Penelope, in welcher sich alle virtutes, vor allem castitas und
temperantia verkörpern.
Nun ist ein solches Homer-Verständnis gewiß nicht von Horaz
begründet worden; wohl aber führt Horaz die grundsätzlichen Ent-
scheidungen aus, zu denen die stoisch inspirierte Schule zu Pergamon
gelangt war. Deren Exegesen leben in zwei schmalen Werken weiter,
die um die Mitte des 1. Jahrh. n. Chr. verfaßt sind und die beide fast
vollständig auf uns gekommen sind:
1. die sog. homerische Theologie des L. Annaeus Kornutos8, 2. die
homerischen Allegorien des Herakleitos9. Hier liegen wichtige, gegen-
seitig sich stützende Zeugnisse dafür vor, wie Homer, im vollen Besitz
des seither sich verdunkelnden Logos, eine ethisch-theologische Ur-
Weisheit ausgesprochen und zugleich verhüllt habe. Diese Bewertung
und Auswertung Homers gipfelt darin, daß in jedem Vers, auch in
scheinbar trivialen, etwa nur überleitenden Versen eine geheime Weis-
heit verborgen sei, die es aufzufinden gilt. Denn bei dieser Bewertung
geht man davon aus, daß Homer über ein vollkommenes, seither kei-
7
Horaz. epist. l, 2, 29.
8
Da diese Texte seit 90 und seit 70 Jahren nicht mehr neu bearbeitet wurden, nenne
ich die vollständigen Titel der selten gewordenen Ausgaben: Cornuti Theologiae
Graecae compendium recensuit et emendabat Carolus Lang, Leipzig (Teubner)
1881.
9
Heracliti quaestiones Homericae. Ediderunt Societatis Philologae Bonnensis
Sodales; prolegomena scripsit Franciscus Oelmann, Leipzig (Teubner) 1910.
nem Menschen mehr zug ngliches Wissen verf gte. Und zugleich ist
Homer so weise gewesen, nicht sein ganzes Wissen dem Vordergr n-
digen, d. h. in der buchst blich zu nehmenden Aussage mitzuteilen.
Sondern der volle Ertrag aus der Lekt re Homers ist demjenigen vor-
behalten, der zum tieferen Sinne vordringt. Dieser Sinn, der unter dem
litteralen Sinn verborgen ist, wird mit υπόνοια bezeichnet. Und was
er besagt, kann nicht rational, kann nicht objektiv ans Licht gehoben
werden, sondern nur vermutungsweise — δι*ύττονοία$.
Denn der Dichter hat ja keine w rtlich zu nehmende Aussage
gemacht, er hat — wie der delphische Gott im Orakel — ein Zeichen10
gesetzt. Auftrag an alle Exegese ist mithin, sich der eigentlichen In-
tention so weit wie m glich zu n hern. Aber es kann nicht von ihr ge-
fordert werden, da sie das in Symbolen Ausgedr ckte voll aussch pft.
Exegese kann nur N herungswerte geben — das dr ckt sich brigens
gerade in der Fachsprache der Exegeten so aus, da man gern den
Komparativ ohne Erg nzung setzt: Diese Wendung sei φυσικώτερον
zu verstehen, jene ήθικώτερον. Man ist auf dem Wege — ein wichtiger
Punkt, der uns noch besch ftigen wird —, um zu Kriterien f r die
richtige Auslegung zu gelangen.
5. Nun hat, wie zuvor angedeutet, diese bis ins Extrem gehende
Auswertung Homers als eines Tr gers fast okkulten Wissens nicht un-
bestritten geherrscht. Eine weit n chternere, rational bestimmte Er-
kl rungsweise Homers hat das, was ich eben zu kennzeichnen ver-
suchte, f r Jahrhunderte zur ckgedr ngt — aber eben nur zur ck-
gedr ngt. Am Ende der hellenistischen, durch Rationalit t gepr gten
Jahrhunderte steht die allegorische Homer-Erkl rung wieder kon-
kurrenzlos im Vordergrund. Die rationale, nicht von einem globalen
Werturteil ausgehende Philologie, so wie sie lange in Alexandreia eine
Heimstatt hatte, ist letzten Endes doch nur Episode geblieben.
Als Alexandreia Hauptstadt des Ptolom er-Reiches wurde, als die
Neugr ndung nicht nur wirtschaftlich aufbl hte, sondern zu einem
kulturellen Mittelpunkt wurde, war man sich durchaus bewu t, da
hier ein Neu-Beginn stattfand. Gewi , im Methodischen war man in
vielem dem Aristoteles verpflichtet, und es soll nicht verkannt werden,
da in mancher exegetischen Frage gern auf die άπορήματα Όμηρικά
des Aristoteles zur ckgegriffen wurde. Aber in viel breiterer Weise, als
das f r Aristoteles m glich gewesen w re, hat man neue Fundamente
gelegt. Und das hat man in einer m glichst rationalen, m glichst von
bisherigen Traditionen nicht belasteten Weise getan.
10
Vgl. Herakleitos von Ephesos (nicht mit dem in Anm. 9 genannten Stoiker gleichen
Namens — oder Pseudonyms — zu verwechseln) B 93, Fragm. der Vorskr. Ie 172, 7
Diels/Kranz ό άναξ oft το μαντεΐόν εστί το εν Δελφοΐς ούτε λέγει οί/τε κρύπτει, αλλά
σημαίνει.
11
Bisher lag keine Ausgabe oder Sammlung vor, die das reichlich überlieferte Ma-
terial vollständig und zugleich kritisch gesichtet zugänglich machte. Diese Lücke
wird nun dank der entsagungsvollen Arbeit von H. Erbse geschlossen: Scholia
Graeca in Homeri Diadem (scholia vetera) recensuit Hartmut Erbse, Berlin 1969ff.,
bisher (1973) 3 Bände, vom A bis zum reichend.
den, ja sind gegensätzlich. Aber sie dienen nicht primär dem Ziele ob-
jektiver Erklärung, sondern dem Ziel der Rechtfertigung.
Zugleich war, was die Alexandriner leisteten, auch darauf gerich-
tet, der kritische Beitrag solle übersehbar, ja möglichst auf den ersten
Blick übersichtlich sein. So setzte Zenodot einen waagerechten Strich,
einen kleinen Spieß, jeweils neben jeden Vers, den er für unecht hielt.
An diesem Spieß, dem Obelos, konnte ein jeder Leser bequem sehen,
wo der Herausgeber etwas aufgespießt hatte, das ihm verdächtig
schien. Wir wissen nicht, ob Zenodot seine Athetesen eigens begrün-
dete; vielleicht ging er davon aus, daß seine kritischen Zweifel un-
mittelbar einsichtig seien.
b) Knapp hundert Jahre nach seinem Tode (f 260) hat Zenodot
durch Aristarchos von Samothrake (217—145) eine sehr strenge Kritik
erfahren. Was wir von Zenodot wissen, wissen wir eigentlich nur durch
Aristarch12, der sehr oft gegen Zenodot entschied. Um seine Behand-
lung des Textes einsichtig und übersehbar zu machen, führte er wei-
tere kritische Zeichen ein, darunter als wichtigstes das Sternchen
, — den Asterisk. Damit wollte Aristarch zum Problem der
Umstellungen und der Wiederholungen beitragen; er setzte den
Stern*, wo ein durch Wiederholung verdächtiger Vers am richtigen
Platze zu stehen schien, und er setzte den Asterisk mit Obelos, wo der
betr. Vers falsch stand. Auch hier ging es um die Feststellung des
legitimen Vers-Bestandes.
Es sei erlaubt, hier sogleich auf Origenes vorzugreifen. Die kriti-
schen Zeichen, die Origenes in den Septuaginta-Text einführte, ja der
Vergleich der Septuaginta mit dem hebräischen Text und mit anderen
Übersetzungen diente ja eben dem Zweck, den die Alexandriner am
Homer verfolgten: Es galt zunächst einmal, die im Quantitativen zu-
verlässige Feststellung zu treffen, welche Verse unzweifelhaft den
Textbestand ausmachen. Allerdings muß dann auch sogleich folgender
Schritt getan werden: Wenn es gelingt, den Text sei es Homers sei es
der Septuaginta zweifelsfrei zu konstituieren, dann muß dieser Text in
sich schlüssig, er muß sachlich richtig und poetisch wertvoll sein; er
kann also keine Fehler enthalten. In der Bewertung Homers ist weit-
hin vorweggenommen, was nachmals im Dogma von der Inspiration der
Heiligen Schriften ausgesagt ist; äußersten Falles können dem Homer
zeitbedingte Irrtümer zuerkannt werden — die pergamenische Schule
hätte auch das geleugnet — aber er vermag nichts Unschickliches
— $ — auszusagen. Dabei hat das Wort eine ästhetische
und eine ethische Bedeutung; weder kann Homer einen Verstoß gegen
12
Hierzu ist noch immer unentbehrlich: K. Lehrs: De Aristarchi studiis Homericis,
Lpz. 31882 (Nachdruck 1964); H. Erbse: Über Aristarchs Ilias-Ausgaben, Hermes
87, 1959, 275—303.
Zeitschr. f. d. neutest. Wiss., 65. Band, 1974 9
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130 Heinrich Dome, Zur Methodik antiker Exegese
die Regeln der Dichtkunst, noch des guten Geschmackes noch des
moralisch Anst ndigen begangen haben — diese dreifache Wertung
hat auch die alexandrinische Arbeit am Homer tief beeinflu t;
Aristarch jedenfalls sah es als vollauf legitim an, um des απρεπές
willen, das er in einem bestimmten Verse tadelte, diesen Vers auszu-
schlie en.
c) Im einzelnen hat die alexandrinische Philologie sehr viel ge-
leistet — au er Zenodot und Aristarch w ren noch viele weitere zu
nennen, die sich n chtern an der Bew ltigung des riesigen Details be-
teiligten. Allm hlich bildeten sich ganze Zweige der Texterkl rung
heraus; auf der einen Seite die γλώσσαι oder σχόλια — das waren
Noten, durch die man schwierige homerische Worte erkl rte; seit lan-
gem unterschied sich der Wortschatz des Alltagsgriechisch von Wort-
schatz und Wortwahl Homers; diesen Abstand vermochten paraphra-
sierende Glossen zu verringern. Wurden die Fragen, die ein bestimmter
Zusammenhang aufgab, komplexer, dann war es angezeigt, ein
υπόμνημα zu schreiben: Da fa te man regelm ig die Frage, die man
an Homer richtete, recht knapp zusammen und versuchte eine be-
gr ndete Antwort zu geben. Diese in Frage und Antwort gekleidete
Form der Untersuchung geht auf Aristoteles zur ck, ein υπόμνημα
sp rt ein R tsel auf, das Homer den Lesern aufgibt. Die alexandri-
nische Schule l st solche R tsel m glichst mit rationalen Mitteln; aber
die λύσεις, die sie findet, sind doch in aller Regel darauf gerichtet,
Homer gegen ein Mi verst ndnis, das der oberfl chliche Leser hegen
k nnte, zu verteidigen.
Ihrem Wesen nach f hrte die alexandrinische Schule nicht zu um-
fassenden Ergebnissen; sie konnte nur punktuell wirksam werden.
Darin bestand — jedenfalls f r modernes Urteil, ihre St rke. Denn die
geradezu grunds tzliche Beschr nkung auf das Detail zwang zur Ob-
jektivit t. Eben hierin ist aber auch ihre Schw che begr ndet; diese
Schule konnte und durfte ja keine generell verwendbare Formel f r
eine Exegese aufstellen; so war ihr im ganzen der Rang einer Hilfs-
wissenschaft zuzuerkennen.
6. Fast in jedem Punkte gilt das Gegenteil von der pergameni-
schen Schule, die der stoischen Philosophie nahestand. Hier galten
zwei Axiome, die in weiter Entfernung von jeglicher Philologie oder
Literaturwissenschaft gewonnen waren:
a) Den Dichtern der Fr hzeit war der Logos noch unmittelbar
zug nglich, w hrend er sich den Menschen der Gegenwart mehr und
mehr entzieht. Also kann den Dichtungen der fr hesten Zeit, so wie
brigens den Gesetzgebungswerken, eine Belehrung entnommen wer-
den, die ohne dieses Zeugnis den heutigen Menschen nicht zug nglich
w re.
darauf angewiesen, daß sie dem Logos oder dem Pneuma als einer
Richtschnur folgt. Durch den Logos, durch das Pneuma ist der Exe-
gese ihre Methode vorgegeben; die Methode kann nicht nach Belieben
abgeändert werden. Da es nur einen Logos, nur ein Pneuma gibt, das
mit sich selbst identisch bleibt und nie irrt, ist der Ausgangspunkt ein-
deutig bestimmt, der Weg eindeutig bestimmt, das Ziel eindeutig be-
stimmt.
In einem einzigen Punkt ließ der Platonismus es zu, daß exe-
getische Ergebnisse mehrdeutig waren, d. h. daß mehrere Deutungen
vorgetragen wurden: Die intellektuellen Kräfte der Menschen sind
verschieden; nur wenige dringen bis auf den Grund der metaphysischen
Erkenntnis vor; ja es ist möglich, daß jenseits von dem, was Menschen
zu erkennen möglich ist, noch erhabenere Stufen der Erkenntnis be-
stehen; so gilt es als zulässig, daß in der Deutung zahlreicher Phäno-
mene in Natur- und Geisteswelt verschiedene Deutungen vorgetragen
werden. Mag ein jeder diejenige Deutung wählen, die seiner Verstandes-
kraft angemessen ist; auch Exegese kann immer nur auf ein symbol-
haftes Verstehen führen; das Eigentliche steht jeweils dahinter; es ist
' faßbar.
Es ist oft übersehen worden, daß der meist unvollständig zitierte
Vers des Terentianus Maurus19 eben dieses aussagt:
pro captu lectoris habent sua fata libelli,
um es modern zu paraphrasieren: »Die Wirkungsgeschichte aller
Bücher wird bestimmt von der Verständnisfähigkeit ihrer Leser«. In-
sofern ließ der Platonismus es zu, ja, er rechnete damit, daß alle Exe-
gese nicht zur Deckung mit dem von Homer oder besonders von
Plat on Gemeinten gelangt, sondern in jeweils wechselndem Abstand
von ihrem Gegenstand Halt macht; welche Nähe zum Eigentlichen
erreicht wird, hängt von der Fähigkeit ab, das Eigentliche zu erkennen.
Wohl klingt das Argument von der menschlichen Schwäche und
Fehlerhaftigkeit bei christlichen Exegeten wieder und wieder an, ja,
man darf es einen Prooimientopos nennen. Im Grundsätzlichen freilich
steht der christliche Anspruch dem der Stoa näher als der eben ge-
kennzeichneten, Stufen des Verständnisses zulassenden platonischen
Lehre. Dem Stufungsdenken sind die christlichen Väter je länger je
mehr abgeneigt; wenn dem Stuf ungsschema im einzelnen auch manche
Zugeständnisse gemacht worden sind, im Grunde war man der Aus-
schließlichkeit, welche die stoische Exegese postulierte, bei weitem
näher. Zwar scheint Origenes in dem viel erörterten Methoden-Kapi-
tel 4, 2, 4 eine Stufung zuzulassen — jene Stufung, die
für die verschiedenen Schichten im Menschen je eine somatische, eine
psychische und endlich eine pneumatische Exegese fordert.
19
Terentianus Maurus, carm. her. 1286.
Aber das ist keine Stufung im Sinne des Platonismus, denn sie
konzediert ja keine Legitimation für die, die bei der somatischen oder
psychischen Exegese stehen bleiben, weil ihre Kräfte nicht weiter
reichen; einem solchen Rückfall in gnostische Prädestinations-Lehre
hat Origenes gewiß nicht das Wort geredet; vielmehr sind die unteren
Stufen nur Vorstufen; alles Entscheidende spielt sich in der dem Geist
zugewandten Stufe, in der pneumatischen Exegese ab.
10. Antike Exegese ist auf eine Fülle von Gegenständen angewen-
det worden; außer den Autoren, die mehrfach zu erwähnen waren,
konnten einzelne Orakel, einzelne Sprichwörter, aber auch einzelne
Bräuche und Riten Gegenstand der Deutung sein; eine Exegese war
ja immer dann statthaft und geboten, wenn es galt, einen verborgenen
Sinngehalt sichtbar zu machen. Die Fülle dieser Gegenstände ist in
aller Regel durch eine Methode, die ich habe darstellen wollen, ent-
schlüsselt worden. Mancher hat dieser Methode mißtraut, denn nicht
selten waren ihre Ergebnisse, namentlich für Außenstehende, abstrus
oder unglaubwürdig. Nie ist die Methode, die zur Rede stand, ihrer
Grundlage nach kritisiert worden; nicht wenige haben sich in ihrer
Anwendung große Zurückhaltung auferlegt; die Philologen zu Alexan-
dreia haben den Versuch gemacht, den ganzen Komplex auf wenige,
einfache Fakten zu reduzieren; kurz, man hat Abstriche gemacht —
aber man hat nie eine Methode entwickelt, die mit der gekennzeich-
neten, vor allem zu Pergamon geübten Methode in Konkurrenz trat.
Sondern diese Art, Texte zu entschlüsseln, erweist sich als durchaus
kontinuierlich; es ist das eine der Konstanten antiker Geistigkeit. So
machte es keinen großen Unterschied aus, ob sich die Stoa, ob sich die
Platoniker oder ob sich Philon dieser Methode bedienten: immer wird
ein übergreifendes, ein für absolut gehaltenes Verständnis in die betr.
Texte hineingetragen. Und das muß so sein — hätte man zugeben
müssen, daß die Texte, auf die solche Exegese sich bezieht, nach-
weislich einen anderen, also einen inkommensurablen Sinn haben —
die betr. Philosophie oder Religion hätte sich nicht mehr auf diese
Texte stützen können. Antiker Exegese wohnt stets etwas Apolo-
getisches inne: dadurch, daß die Dichtung Homers als Ausdruck des
reinen Logos, und dadurch daß das Hohe Lied Salomos als Ausdruck
des Heiligen Geistes erwiesen wird, sind diese Gedichte gegen jedes
Fehl-Verständnis geschützt; auch das sonst Anstößige — die Vereini-
gung des Zeus mit Hera so gut wie die Vereinigung der bräutlichen
Sulamit mit dem Bräutigam — wird der vordergründigen Mißdeutung
entrückt, weil vom hintergründigen Sinn aus gedeutet. So sehr christ-
liche Exegese nachmals variiert wurde, so vielfältig ihre Ziele und ihre
Ergebnisse werden sollten, die eben bezeichnete, aus antiker Geistig-
keit zu erklärende Konstante hat in christlicher Exegese außerordent-
lich stark nachgewirkt. Gewiß wäre es verfehlt, wollte man den ganzen
Komplex der Exegese nur von diesem einen Punkt her erklären; Kurz-
formeln sind immer unglaubwürdig. Aber es sollte mit Nachdruck un-
terstrichen werden, in wie hohem Maße die Fragestellungen, die
Methode und die Ergebnisse christlicher Exegese von der voraufge-
henden, seit langem auf Theologisches spezialisierten Exegese nament-
lich der Stoiker vorgeformt waren. Ziel dieses Vertrages war, die hier
zu Tage liegende, geradezu saekulare Konstante sichtbar zu machen:
Die Inhalte des Christentums sind von denen der vorauf gehenden
Epoche weithin verschieden. Aber die Werkzeuge, durch die solche
Inhalte sich auf schließen lassen, weisen in aller Regel einen hohen
Grad an Kontinuität auf; das eben bestätigt sich am Ansatz und an
der Methodik, die man aufbot, um die zentral wichtigen Texte exe-
getisch zu erschließen: Antike Exegese, vorchristliche wie christliche,
ist nicht unmittelbar an den Texten erarbeitet und entwickelt worden.
Sondern sie entstammt einem jahrhundertealten, einem durch Jahr-
hunderte hindurch bewahrten und bestätigten Bildungserbe.