Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
NIKOMACHISCHE ETHIK
ARISTOTELES
WERKE
IN DEUTSCHER ÜBERSETZUNG
BEGRÜNDET VON
ERNST GRUMACH
FORTGEFÜHRT VON
HELLMUT FLASHAR
HERAUSGEGEBEN VON
CHRISTOF RAPP
BAND 6
NIKOMACHISCHE ETHIK
ERSTER HALBBAND
DE GRUYTER
ARISTOTELES
NIKOMACHISCHE ETHIK
DOROTHEA FREDE
ERSTER HALBBAND
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-055948-4
e-ISBN (PDF) 978-3-11-056677-2
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-056569-0
www.degruyter.com
VORWORT
der inneren Einheit dieser Kultur überzeugt und sieht daher in Aristote-
les ein ‚Sammelbecken altgriechischer Tradition‘. So gilt ihm Aristoteles
als Konservator althellenischen Erbes, eines schon bei Homer deutlichen
Normbewusstseins, das sich bei den Philosophen im Wunsch nach der Er-
füllung des Traumes vom besten Menschen wie auch von einem besten Staat
manifestiert. Wie immer es um dieses noch aus dem 19. Jahrhundert fort-
wirkende Bild der inneren Einheit der Kultur im alten Griechenland be-
stellt sein mag, ist es nicht dazu angetan, die Besonderheit der aristotelischen
Ethik deutlich zu machen, der das heutige Interesse gilt.
Ein weiterer Schwerpunkt in Dirlmeiers Aristoteles-Interpretation be-
ruht auf der Faszination durch die Frage der Entwicklung der aristoteli-
schen Ethik aus ihren Anfängen, insbesondere aber in Hinblick auf den
Einfluss Platons. Diese Fragestellung hat, angestoßen durch Werner Jaegers
bahnbrechendes Werk zur Geschichte der Entwicklung der aristotelischen
Philosophie, in der Fachdiskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
eine dominante Rolle gespielt. Zwar hat die Frage der Entwicklung der aris-
totelischen Ethik auch am Anfang des 21. Jahrhunderts an Interesse nicht
verloren. Geändert hat sich aber das Interesse an einer Erklärung seiner
Ethik aus ihren Anfängen bei Platon. Die Auseinandersetzung mit Platon
stellt zwar auch heute noch einen wichtigen Gesichtspunkt der Aristoteles-
Interpretation dar. Mit der Einsicht, dass sich die Stufen seiner Entwicklung
kaum im Einzelnen rekonstruieren lassen, ist jedoch auch die Einsicht ge-
wachsen, dass sie ohnehin nur in begrenztem Umfang Licht auf seine Philo-
sophie wirft. Wie die Diskussionen der letzten Jahrzehnte zeigen, ist weder
die Hypothese von Aristoteles als gewandeltem Platoniker noch die Hypo-
these von Aristoteles als Antipoden Platons geeignet, als Schlüssel zu sei-
nen Texten zu dienen. Das bedeutet nicht, dass platonische oder auch anti-
platonische Elemente bei der Interpretation keine wichtige Rolle spielen. Es
bedeutet nur, dass die Konfrontation und der Vergleich mit Platon die In-
terpretation nicht mehr in dem Umfang bestimmen, der sich in Dirlmeiers
Vergleich der Bedeutung der Logik bei Platon und Aristoteles niederschlägt
(250): „Dazu kommt, dass Aristoteles die Bewegung des Gedankens ein-
fängt in die Bindung seiner voll ausgebildeten Logik. Auch Platon spricht
als Logiker, und die Schärfe seines Denkens ist nicht minder schneidend als
die des Aristoteles. Aber es ist ein großer Unterschied, ob ein Künstler die
Logik das innere Gewebe des Denkvorgangs bestimmen lässt, die Explika-
tion des Gedachten aber der schlichten Menschenrede anvertraut, die un-
mittelbar an ein Du gerichtet wird, oder ob terminologisch bereits verfes-
tigte Logik den Lehrvortrag in die Form syllogistischen Vorwärtsschreitens
zwingt. Da mag dann bei erster Entgegennahme, freilich nur bei der ersten,
der Eindruck entstehen, dass das Leben seziert wird und dann nur noch als
Präparat anwesend ist.“
Vorwort VII
Eine Apologie des auf den ersten Blick ‚unlebendig‘ wirkenden Aristo-
teles-Texts gegenüber dem ‚lebendigen‘ platonischen Dialog erübrigt sich
nicht nur deswegen, weil man heute ein klareres – und weit bescheideneres –
Bild von der Auswirkung der Syllogistik auf Aristoteles’ Philosophie im
Ganzen hat. Vielmehr hat sich der Zwang zum ständigen Vergleich und zur
Bewertung dieser beiden großen Philosophen bei der Detailuntersuchung
als hinderlich erwiesen. Das liegt nicht nur daran, dass Leser heute mit den
platonischen (und anderen antiken) Texten nicht mehr so vertraut sind, wie
Dirlmeier vorausgesetzt hat, und dass auch das Platon-Bild uneinheitlich ist.
Vielmehr muss das Anliegen sein, Aristoteles aus Aristoteles heraus zu in-
terpretieren, d.h. sich mehr um eine Rekonstruktion seiner Gedanken und
um eine philosophische Bewertung ihrer Tragweite zu bemühen als um ih-
ren Ursprung und um Parallelen aus seiner Zeit.
Aus dieser veränderten Perspektive heraus erweist sich auch eine neue
Übersetzung als unverzichtbar. Obwohl Dirlmeier um verständliches
Deutsch bemüht ist, um den des Griechischen nicht mächtigen Lesern Zu-
gang zu diesem Text zu vermitteln, ist es ihm – als klassischem Philologen –
doch ein vorrangiges Anliegen gewesen, ein Bild vom Charakter der aristo-
telischen Sprache zu geben, insbesondere von ihrer Prägnanz und Strenge,
wie auch von ihrer bis an die Grenzen des Verständlichen gehenden Kom-
primiertheit. Ein solcher Eindruck lässt sich jedoch in einer anderen Sprache
nur in bescheidenem Umfang vermitteln, und er geht zudem auf Kosten der
Verständlichkeit.
Die neue Übersetzung will zwar nah am Text bleiben, bemüht sich je-
doch um möglichst gute Verständlichkeit. Sie teilt freilich die Schwächen
aller Übersetzungen: Jede Übersetzung ist eine Interpretation. Wo der grie-
chische Text mehrere Deutungen zulässt, sieht sich der Übersetzer zu Ent-
scheidungen gezwungen. Gegenüber Dirlmeiers Übersetzung hat diese
neue Übertragung aber den Vorteil, dass sie zur Überprüfung die zahlrei-
chen Übersetzungen heranziehen konnte, die im letzten halben Jahrhundert
erschienen sind, wie etwa die durch Urmson bearbeitete Übersetzung von
Ross (1925) in der englischen Gesamtausgabe von Barnes (1984), neuheraus-
gegeben von L. Brown (2009), die französische Übersetzung von Gauthier-
Jolif (21970), die durch Bien überarbeitete Übersetzung von Rolfes (41985),
sowie die Übersetzungen von Gigon (1967), Irwin (1985), Natali (1999),
Crisp (2000), Broadie/Rowe (2002), Wolf (2006) und Reeve (2014).
Ein Kommentar sollte Zusammenhänge und zentrale Begriffe erläutern,
Argumente und ihre Begründungen analysieren und erklären; er sollte über-
dies Annahmen, die hinter zentralen Aussagen im Text stehen, skizzieren
und verständlich machen, warum ein bestimmtes Thema an der fraglichen
Stelle angesprochen wird. Ferner sollte er relevante Deutungsschwierigkei-
ten identifizieren und alternative Lösungen in der Sekundärliteratur präsen-
VIII Vorwort
tieren. Diesen Ansprüchen kann der vorliegende Kommentar aber aus zwei
Gründen nur ansatzweise gerecht werden.
Zum einen stammt die Einteilung in Bücher und Kapitel nicht von Aris-
toteles selbst, sondern sie verdankt sich der Absicht späterer Herausgeber,
durch Untergliederungen den Lesern den Zugriff und den Überblick zu er-
leichtern. Man tut daher gut daran, sich vor Augen zu halten, dass diese Ein-
teilungen u.U. künstliche Eingriffe in den Argumentationsfluss darstellen.
Der Kommentar geht dennoch jeweils von einem kurzen Überblick über die
einzelnen Bücher als ganzen aus, um dann kapitel- und – in Auswahl – ab-
schnittweise den Text zu erläutern. Dieses Verfahren mag schematisch und
schulmäßig wirken; es vermittelt aber nicht nur eine allgemeine Orientierung,
sondern auch leicht zugängliche Erläuterungen der einzelnen Abschnitte.
Zum anderen ist die Literatur zur Nikomachischen Ethik in den letzten
Jahrzehnten in einem geradezu ungeheuerlichen Ausmaß angewachsen, so
dass eingehendere Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Richtun-
gen im Rahmen dieses Kommentars nicht möglich sind. Auch auf eine Auf-
zählung von Autoren, mit denen man sich in Übereinstimmung befindet,
und eine Gegenüberstellung mit solchen, deren Interpretation man nicht
teilt, muss angesichts der schieren Anzahl von einschlägigen Arbeiten ver-
zichtet werden. Literaturverweise beschränken sich daher auf Beiträge zu
besonders kontroversen Punkten.
Der Kommentar erhebt auch nicht den Anspruch, „the book to end all
books“ zu liefern. Im Gegenteil. Gerade angesichts des heutigen vielschich-
tigen Interesses an Aristoteles’ Nikomachischer Ethik will der Kommentar
vor allem Anregungen im Umgang mit diesem schwierigen Werk liefern.
Er versteht sich daher als philosophische Einführung wie auch als Lesehilfe
angesichts der Menge an wertvollen Interpretationsvorschlägen, die in den
letzten Jahrzehnten zu einem besseren Verständnis des Anliegens dieser
Schrift und der Problematik der vielen Einzelfragen beigetragen haben. Der
Kommentar wendet sich auch nicht an die Fachwelt, sondern will einer all-
gemeineren Leserschaft den Zugang erleichtern.
Der gebotenen Kürze wegen hält sich der Kommentar an das Prinzip
des interpretatorischen Wohlwollens, d.h. er ist um die beste mit dem Text
verträgliche Interpretation bemüht und weist nur an besonders schwierigen
Stellen auf Lücken in der Argumentation und auf Probleme in der Verständ-
lichkeit hin. Es gibt inzwischen eine große Menge von Einzeluntersuchun-
gen, die auf Schwachstellen und Unstimmigkeiten in der Argumentation
eingehen (vgl. insbesondere die kritische Monographie von Bostock 2000).
Eine Auseinandersetzung mit solchen Einwänden ist im Rahmen des Kom-
mentars aber nur ansatzweise möglich, weil dazu sowohl eine Erörterung
des Textverständnisses wie auch eine Auseinandersetzung mit den Grund-
annahmen der Autoren erforderlich wären.
Vorwort IX
Seit dem Beginn der Arbeit an diesem Projekt habe ich vielfache Un-
terstützung erfahren. In erster Linie zu nennen ist Burkhard Reis, der mir
dank einer Finanzierung durch die DFG für die ersten vier Jahre zur Seite
stehen konnte und dies mit großem Engagement getan hat. Er hat nicht nur
die Übersetzung in immer neuen Versionen nachkontrolliert, sondern sich
auch der Probleme der Textkritik angenommen und zahlreiche Verbesse-
rungsvorschläge zum Kommentar gemacht. Das erste Jahr (2003–2004) über
konnte ich mich als Fellow des Center for Advanced Study in the Behavioral
Sciences in Stanford ganz der Arbeit an dem Projekt widmen und bin nicht
nur dieser Institution, sondern auch meinen Mit-Fellows für manches anre-
gende Gespräch dankbar. Nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst an
der Universität Hamburg im Jahr 2006 habe ich noch fünf Jahre in Berkeley
gelehrt. In dieser Zeit konnte ich mich nicht nur mit Kollegen, sondern vor
allem mit Studierenden in Seminaren und Vorlesungen über viele Probleme
der aristotelischen Ethik und Politik austauschen. Von 2012–2016 hat eine
Kooperation am Center for Advanced Studies der LMU bestanden, die Ge-
legenheit zu kritischen Überprüfungen von Übersetzung und Interpretation
bot. Christof Rapp und Philipp Brüllmann sei für zahllose Monita und Ver-
besserungsvorschläge gedankt. Schließlich will ich mich dem Bekenntnis des
großen Aristoteles-Kenners Ingemar Düring anschließen: „I may sometimes
have put down, from ignorance and forgetfulness, as my own, what ought
to have been credited to another. Let me say, however, that without the di-
ligent and careful work done by generations of scholars towards clarifying
obscure passages the presentation could not have been achieved“ (Aristotle
in the Ancient Biographical Tradition, Göteborg 1957, 9).
Auch bei der Fertigstellung des Manuskripts habe ich von verschiedenen
Seiten Unterstützung erfahren. Besonderen Dank schulde ich Annelore En-
gel für sorgfältiges Korrekturlesen des gesamten Manuskripts und meinem
Bruder, Hubertus von Nicolai, für Korrekturen zu einzelnen Teilen. Die
Endredaktion des Manuskripts hat Katja Flügel übernommen; sie hat mich
durch Überprüfung sämtlicher Zitate und Literaturangaben, durch kritische
Nachfragen zu unklaren Formulierungen oder Argumenten wie auch durch
die Korrektur von Schreibfehlern vor unzähligen Missgriffen bewahrt. Ihrer
Geduld und Ausdauer verdankt dieses Buch viel.
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Buch I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Buch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Buch III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Buch IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Buch V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Buch VI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Buch VII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
Buch VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Buch IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
Buch X . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
1. Die aristotelische Konzeption von Ethik:
Das Gute des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
2. Die aristotelischen Schriften zur Ethik und ihre Geschichte . 208
3. Der Text der Nikomachischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . 217
4. Zur Übersetzung zentraler Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . 221
5. Die beiden Arten von Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
6. Die beiden Arten des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
7. Der Aufbau der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
8. Zur Beurteilung der Konzeption des Glücks . . . . . . . . . . 237
9. Zur Methodik und ihren Ergebnissen . . . . . . . . . . . . . . 242
10. Aristoteles und seine Vorgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
11. Rezeption und Wirkungsgeschichte der aristotelischen Ethik . 253
12. Die Renaissance der Tugendethik im 20. Jh. . . . . . . . . . . 260
XII Inhaltsverzeichnis
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Aristoteles’ Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Platons Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
Weitere Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
I. Textausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
1. Ethische Schriften des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . 272
2. Andere Schriften des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . 273
3. Griechische Kommentare zur Nikomachischen Ethik . . . . 274
4. Arabische Kommentare zur Nikomachischen Ethik . . . . . 275
5. Lateinische Kommentare des Mittelalters
zur Nikomachischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
II. Moderne Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
1. Aristoteles: Nikomachische Ethik und Eudemische Ethik . . 276
2. Aristoteles-Kommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
III. Kommentare zur aristotelischen Ethik . . . . . . . . . . . . . 277
IV. Übersetzungen und Kommentare zu anderen Schriften
des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
V. Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
VI. Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Buch I
Die Vorzeichnung des Glücks als Ziel des menschlichen Lebens . . . . 315
Allgemeine Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Kapitel 1: Das menschliche Gute als das Ziel der Untersuchung . 318
Kapitel 2: Das Glück als das höchste menschliche Gut . . . . . . . 329
Kapitel 3: Verschiedene Vorstellungen vom Glück . . . . . . . . . 334
Kapitel 4: Kritik an der Idee des Guten bei Platon . . . . . . . . . 338
Kapitel 5: Kriterien zur Bestimmung des höchsten Guts:
Vollkommenheit und Autarkie . . . . . . . . . . . . . 349
Kapitel 6: Das Kriterium der Funktion (ergon) des Menschen . . 354
Kapitel 7: Methodische Überlegungen
zur Bestimmung des Guten . . . . . . . . . . . . . . . 364
Kapitel 8: Die Dreiteilung der Güter . . . . . . . . . . . . . . . . 368
Kapitel 9: Überprüfung der Bestimmungen des Glücks . . . . . . 371
Kapitel 10: Bedingungen des Zugangs zum Glück . . . . . . . . . 378
Kapitel 11: Die Unsicherheit des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . 382
Inhaltsverzeichnis XIII
Buch IX
Freundschaft – Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867
Kapitel 1: Streitigkeiten zwischen ungleichartigen Freundschaften
und ihre Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867
Kapitel 2: Konflikte zwischen unterschiedlichen Verpflichtungen . 871
Kapitel 3: Die Auflösung von Freundschaften . . . . . . . . . . . 874
Kapitel 4: Selbstliebe als Basis der Freundschaft . . . . . . . . . . 877
Kapitel 5: Freundschaft und Wohlwollen . . . . . . . . . . . . . . 886
Kapitel 6: Freundschaft und Eintracht . . . . . . . . . . . . . . . 889
Kapitel 7: Freundschaft und Wohltätigkeit . . . . . . . . . . . . . 891
Kapitel 8: Freundschaft und Selbstliebe . . . . . . . . . . . . . . . 897
Kapitel 9: Freundschaft und Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . 903
Kapitel 10: Wie viele Freunde braucht der Mensch? . . . . . . . . . 914
Kapitel 11: Freunde in glücklichen und unglücklichen Umständen 917
Kapitel 12: Freundschaft und Zusammenleben . . . . . . . . . . . 919
Buch X
Der Begriff der Lust. Die Formen des Glücks.
Die Erziehung der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 922
Allgemeine Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 922
Kapitel 1: Die Notwendigkeit einer Untersuchung über die Lust . 926
Kapitel 2: Gründe für und gegen eine Gleichsetzung der Lust
mit dem Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 928
Kapitel 3: Der Unterschied zwischen vollkommenen und
unvollkommenen Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . 938
Kapitel 4: Die Bestimmung der Lust als Vollendung des Tätigseins 944
Kapitel 5: Die verschiedenen Arten von Lust . . . . . . . . . . . . 950
Kapitel 6: Das Glück und das Vergnügen . . . . . . . . . . . . . . 956
Kapitel 7: Das Leben der theôria als die höchste Form des Glücks 959
Kapitel 8: Vergleich zwischen der besten und der zweitbesten
Form des Glücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 968
Kapitel 9: Die Bedeutung äußerer Güter für das Glück . . . . . . 974
Kapitel 10: Die Gesetzgebung und das gute Leben . . . . . . . . . 977
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 994
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005
ÜBERSETZUNG
Nikomachische Ethik
Buch I
Kapitel 1
Jede Kunst und jede Untersuchung, wie auch jede Handlung und jedes Vor- I. | 1094a
haben, scheint nach etwas Gutem zu streben. Daher hat man zu Recht das
Gute als das bestimmt, wonach alles strebt. Bei den Zielen zeigt sich jedoch
ein Unterschied. Denn die einen sind Tätigkeiten, die anderen | bestimmte 5
Produkte über diese hinaus. In den Fällen, in denen es Ziele über die Tätig-
keiten hinaus gibt, sind diese Produkte ihrer Natur nach besser als die Tätig-
keiten. Da es vielerlei Handlungen, Künste und Kenntnisse gibt, sind auch
die Ziele vielfältig. Bei der Medizin ist es die Gesundheit, beim Schiffsbau
das Schiff, bei der Kriegsführung der Sieg, bei der Hauswirtschaft der Reich-
tum. Bei denjenigen | von ihnen, die unter eine einzige Disziplin fallen – so 10
wie die Sattlerei und alle anderen Fertigkeiten, die zur Ausrüstung der Rei-
terei gehören, unter die Reitkunst fallen und diese und jede militärische Be-
tätigung wiederum unter die Kriegskunst, und auf die gleiche Weise sonstige
Tätigkeiten jeweils einer anderen Disziplin unterstehen – bei ihnen allen gilt,
dass die Ziele der leitenden Disziplinen | den Vorrang vor sämtlichen unter- 15
geordneten haben. Denn man verfolgt diese um jener willen. Dabei macht es
keinen Unterschied, ob die Tätigkeiten selbst Ziel des Handelns sind oder
noch etwas über sie hinaus, wie bei den genannten Arten von Kenntnissen.
Wenn es aber ein Ziel des Tätigseins gibt, welches wir um seiner selbst II.
willen wünschen, das übrige aber um seinetwillen, und wir nicht | alles eines 20
anderen wegen wählen (denn sonst ginge es ins Unendliche fort, und das
Streben wäre leer und sinnlos), so ist klar, dass eben dieses das Gute und das
höchste Gut wäre. Wird die Erkenntnis dieses Guts nun nicht einen großen
Einfluss auf unsere Lebensführung haben, so dass wir wie die Bogenschüt-
zen, die einen Zielpunkt haben, das Richtige leichter treffen können? Wenn
es sich | so verhält, dann muss man versuchen, wenigstens im Umriss zu er- 25
fassen, worin es besteht und welche Wissensart oder welche Fähigkeit dafür
zuständig ist. Es dürfte aber die mit der höchsten Autorität und Meister-
schaft sein. Als solche erweist sich die politische Wissenschaft. Denn diese
ordnet an, welche Kenntnisse in den | Staaten gebraucht werden sowie wel- 1094b
4 Buch I
che davon die einzelnen Bürger lernen sollen und bis zu welchem Grad. Au-
ßerdem sehen wir, dass selbst die angesehensten Fähigkeiten der politischen
Wissenschaft untergeordnet sind, wie etwa die Kriegskunst, die Hauswirt-
schaft und die Redekunst. Da die politische Wissenschaft sich der übrigen
5 auf das Handeln bezogenen Wissensarten bedient | und überdies per Gesetz
bestimmt, was man zu tun und zu lassen hat, dürfte ihr Ziel die Ziele der üb-
rigen umfassen, so dass eben dies das menschliche Gute wäre. Denn wenn es
auch für den Einzelnen und für den Staat das gleiche ist, so erscheint es doch
bedeutender und vollkommener, das Wohl des Staates zu bewirken und zu
erhalten. Zwar kann man schon zufrieden sein, wenn man es für einen Einzi-
10 gen bewirkt, | schöner und göttlicher ist es aber, es für ein Volk und für Staa-
ten zu tun. Auf diese Angelegenheiten ist unsere Untersuchung ausgerichtet;
sie ist eine Art politischer Wissenschaft.
III. Unsere Untersuchung dürfte aber hinreichen, wenn sie so viel Klarheit
erzielt, wie die vorliegende Materie zulässt. Genauigkeit ist nämlich nicht
bei allen Begründungen in gleichem Ausmaß anzustreben, so wie auch nicht
15 bei allen Produkten des Handwerks. Schöne und gerechte Handlungen, | um
die es der politischen Wissenschaft zu tun ist, weisen große Unterschiede
und Schwankungen auf, so dass man meinen könnte, sie beruhten nur auf
dem Gesetz und nicht auf der Natur. Solche Schwankungen gibt es auch bei
den Gütern, weil sie vielen zum Schaden gereichen. Denn schon manche
hat ihr Reichtum ins Verderben gestürzt, andere ihre Tapferkeit. Wenn man
20 über solche Dinge spricht | und von solchen Voraussetzungen ausgeht, muss
man schon zufrieden sein, die Wahrheit darüber im Groben und im Um-
riss herauszustellen, so wie man ja auch bei dem, was meistens der Fall ist,
von solchen Voraussetzungen ausgeht und entsprechende Schlussfolgerun-
gen zieht. In eben diesem Sinn sind daher auch die jeweiligen Begründungen
aufzunehmen. Denn der Gebildete zeichnet sich dadurch aus, dass er nur
25 so viel Genauigkeit innerhalb eines jeden Gebietes sucht, | wie es die Natur
des Gegenstandes zulässt. Es erscheint ebenso abwegig, einem Mathemati-
ker ein bloß plausibles Argument abzunehmen, wie von einem Redner ge-
naue Beweise zu fordern.
Jeder beurteilt richtig, was er kennt, und ist darüber ein guter Richter.
1095a Über | etwas Bestimmtes urteilt daher der darin Gebildete gut, überhaupt
aber der allseits Gebildete. Aus diesem Grund ist der junge Mensch kein
geeigneter Hörer der politischen Wissenschaft. Denn er ist noch unerfahren
in den Handlungen, die das Leben ausmachen; von diesen gehen aber diese
Erörterungen aus und haben sie zum Gegenstand. Außerdem steht ein Jun-
5 ger unter dem Einfluss der Affekte | und wird daher vergeblich und ohne
Nutzen diese Vorlesung hören, zumal ihr eigentliches Ziel nicht im Erken-
nen, sondern im Handeln liegt. Es macht allerdings keinen Unterschied, ob
jemand jung an Jahren oder dem Charakter nach unreif ist. Denn was ihm
Kapitel 2 5
fehlt, beruht nicht auf der Zeit, sondern darauf, dass er den Affekten gemäß
lebt und sich in allem nach ihnen richtet. Für solche Menschen ist aber das
Erkennen nutzlos, so wie auch für den Unbeherrschten. | Denjenigen da- 10
gegen, die sich bei ihren Bestrebungen von der Vernunft leiten lassen und
entsprechend handeln, dürfte es vielfachen Nutzen bringen, diese Dinge zu
verstehen.
Über die Zuhörerschaft, wie die Vorlesung aufzufassen ist und was wir
uns vorgenommen haben, sei so viel als Einleitung vorausgeschickt.
Kapitel 2
Wir wollen aber das Vorangegangene wieder aufnehmen und angesichts der IV.
Tatsache, dass jede Erkenntnis und jedes Vorhaben | nach einem Gut strebt, 15
bestimmen, worauf die politische Wissenschaft abzielt und was das höchste
aller Güter ist, die sich durch Handeln erreichen lassen. Was den Namen an-
geht, stimmen die meisten durchaus überein. Denn sowohl die Menge wie
auch kultivierte Leute sagen, es sei das Glück, und halten das gute Leben
und das Wohlergehen für dasselbe | wie das Glücklichsein. Darüber, was das 20
Glück ist, herrscht jedoch Uneinigkeit, und die Menge bestimmt es nicht
auf die gleiche Weise wie die Weisen. Viele verstehen darunter etwas von
den offensichtlichen und naheliegenden Dingen, wie Lust, Reichtum oder
Ehre, der eine dies, der andere das. Auch bevorzugt oft ein und derselbe Ver-
schiedenes, im Krankheitsfall die Gesundheit, in der Armut | den Reichtum. 25
Im Bewusstsein ihrer Unwissenheit bewundern manche aber auch diejeni-
gen, die etwas Außerordentliches verkünden, was über ihren Verstand geht.
Manche haben zudem gemeint, es gebe über die Vielfalt dieser Güter hinaus
noch etwas anderes, ein Gutes an sich, und dies sei die Ursache dafür, dass
alle jene gut sind. All diese Meinungen zu überprüfen, ist wohl ein fruchtlo-
ses Unterfangen; es genügt, diejenigen zu untersuchen, | die am gängigsten 30
sind oder eine Begründung zu haben scheinen.
Wir dürfen aber nicht übersehen, dass es einen Unterschied zwischen
Erklärungen gibt, die von den Prinzipien ausgehen, und solchen, die zu den
Prinzipien hinführen. Denn auch Platon pflegte zu Recht auf dieses Prob-
lem hinzuweisen und zu fragen, ob der Weg von den Prinzipien weg oder
zu ihnen hinführt; so wie | beim Stadion die Laufstrecke entweder von den 1095b
Schiedsrichtern aus zum Endpunkt hin oder wieder zu ihnen zurück führt.
Man muss nämlich bei Bekanntem anfangen; dieses aber hat zwei Bedeutun-
gen: das uns Bekannte und das schlechthin Bekannte. Es ist aber wohl doch
von dem uns Bekannten auszugehen. Daher muss man schon gut erzogen
und gewöhnt sein, um einer Vorlesung | über Fragen des Schönen, des Ge- 5
rechten und generell über politische Fragen hinreichend folgen zu können.
6 Buch I
Ausgangspunkt ist nämlich das ‚Dass‘; und wenn dies jemandem deutlich
genug ist, dann wird er nach dem ‚Warum‘ keinen weiteren Bedarf haben.
Wer gut erzogen ist, der hat schon die Prinzipien oder kann sie sich mit
Leichtigkeit aneignen. Wer aber weder über das eine noch über das andere
verfügt, der sollte auf die Worte Hesiods hören: |
10 „Der Beste von allen ist, wer alle Dinge selbst erkennt,
Edel ist aber auch, wer einem guten Ratgeber folgt.
Wer sie aber weder selbst erkennt, noch sich zu Herzen nimmt,
was er von einem anderen hört, der ist ein unbrauchbarer Mensch.“
Kapitel 3
V. Wir wollen die Erörterung aber dort wieder aufnehmen, wo wir abge-
15 schweift sind. Was das Gute | und das Glück angeht, so scheint man dabei
nicht ohne Grund von der jeweiligen Lebensweise auszugehen.1 Die Menge
und die gewöhnlichsten Leute nehmen an, es bestehe in der Lust, und lieben
daher das Leben des Genusses. Drei Lebensformen sind nämlich besonders
prominent: die eben genannte, die politische und als dritte die theoretische
Lebensform.
20 Die Menge erweist sich als ganz | sklavisch, indem sie die Lebensweise
des Viehs vorzieht; sie hat dafür allerdings insofern eine gewisse Rechtferti-
gung, als auch viele Mächtige die Neigungen des Sardanapal teilen.
Leute von feinem Geschmack und tatkräftiger Natur bevorzugen aber
die Ehre. In gewisser Weise ist sie in der Tat das Ziel des politischen Lebens.
Dies scheint aber immer noch zu oberflächlich im Vergleich zu dem Gut,
25 welches wir suchen. Denn die Ehre liegt bekanntlich | mehr in der Hand
derjenigen, die Ehren erweisen, als bei denen, die sie empfangen; vom Guten
aber nehmen wir an, dass es etwas Eigenes ist, das einem nur schwer genom-
men werden kann. Außerdem scheint man die Ehre zu suchen, um sich da-
von zu überzeugen, dass man selbst gut ist. Jedenfalls ist man darauf aus, von
Klugen geehrt zu werden, die einen kennen und der Tugend wegen ehren.
30 Somit ist klar, dass jedenfalls für | diese Menschen die Tugend das höhere
Gut ist. So dürfte man wohl auch eher in ihr das Ziel des politischen Lebens
sehen. Auch die Tugend erweist sich aber als nicht ganz vollkommen. Denn
bekanntlich kann man im Besitz der Tugend schlafen oder das ganze Le-
1096a ben tatenlos zubringen, und außerdem | kann man schwerstes Leid erfahren
oder in die größten Unglücksfälle geraten. Niemand aber würde jemanden
1
In Bywaters Ausgabe ist nach hypolambanein wohl versehentlich ein Punkt oder ein Kolon
ausgefallen.
Kapitel 4 7
glücklich nennen, der so lebt, es sei denn, um eine These um jeden Preis zu
verteidigen. Aber genug davon, denn diese Dinge sind schon hinreichend in
unseren populären Schriften besprochen worden.
Die dritte Lebensform ist die theoretische. | Wir werden sie noch im Fol- 5
genden einer Untersuchung unterziehen.
Das Leben des Gelderwerbs ist mit Zwang verbunden; auch ist der
Reichtum offensichtlich nicht das gesuchte Gut. Denn er dient dem Nutzen
und somit weiteren Zwecken. Daher würde man als Ziele eher die vorher
Genannten ansehen; denn sie werden um ihrer selbst willen geschätzt. Doch
auch sie scheinen nicht das Ziel zu sein, obwohl man | zu ihren Gunsten eine 10
große Menge an Argumenten zusammengetragen hat. Diese sollen aber hier
beiseite bleiben.
Kapitel 4
Es ist aber vielleicht besser, auch das allgemeine Gute zu überprüfen und VI.
die Schwierigkeiten durchzugehen, wie es gemeint ist, auch wenn uns eine
solche Untersuchung widerstrebt, weil befreundete Männer die Ideen einge-
führt haben. Man sollte es aber wohl für richtiger halten, ja sogar für erfor-
derlich, zur Rettung | der Wahrheit auch nahestehende Lehren zu widerle- 15
gen, zumal wenn man ein Philosoph ist. Denn obwohl uns beide teuer sind,
ist es ein heiliges Gebot, der Wahrheit die höhere Ehre zu erweisen.
Die Vertreter dieser Lehre haben nun keine Ideen für Gegenstände ange-
nommen, bei denen von ‚früher‘ und ‚später‘ die Rede ist; deshalb haben sie
auch keine Idee für die Zahlen eingeführt. ‚Gut‘ wird aber sowohl | in der 20
Kategorie des ‚Was‘ ausgesagt wie auch in der von Qualität und von Rela-
tivem. Das für sich Bestehende, die Substanz, ist aber von Natur aus früher
als das Relative (denn dieses gleicht einem Seitenschössling und einer Zutat
zum Seienden). Somit dürfte es bei diesen keine gemeinsame Idee des Guten
geben.
Ferner: Da ‚gut‘ auf ebenso viele Weisen verwendet wird wie ‚seiend‘
(denn es wird in der Kategorie der Substanz ausgesagt, wie von Gott oder | der 25
Vernunft, in der von Qualität von den Tugenden, in der von Quantität von
Maßvollem, in der von Relation von Nützlichem, in der Zeit vom rechten
Augenblick, beim Ort von der gesunden Gegend und anderem dieser Art),
ist klar, dass es kein gemeinsames Gutes geben kann, das allgemein und eines
wäre. Denn sonst würde man es nicht in allen Kategorien verwenden, son-
dern nur in einer einzigen.
Ferner: Da von den | Dingen, die unter eine Idee fallen, auch die Wissen- 30
schaft eine ist, müsste es auch von sämtlichem Guten eine bestimmte Wis-
senschaft geben. Nun gibt es aber sogar von Dingen, die ein und derselben
8 Buch I
ähnlicher Weise gibt es auch in anderen Fällen jeweils etwas anderes Gu-
tes. | Vielleicht sollte man diese Fragen aber jetzt auf sich beruhen lassen. 30
Denn darüber Genaues zu sagen, gehört eher in ein anderes Gebiet der
Philosophie.
Entsprechendes gilt auch für die Frage nach der Idee. Denn selbst wenn
es ein einheitliches Gutes gibt, das gemeinsam ausgesagt wird, oder ein abge-
trenntes Gutes selbst, das für sich besteht, so ist doch klar, dass der Mensch
es weder durch Handeln erreichen noch in Besitz nehmen könnte. Von die-
ser Art ist aber das, | was wir suchen. 35
Vielleicht könnte aber jemand das Erkennen | des Guten selbst doch in 1097a
Bezug auf die Dinge für besser halten, die man erwerben und besitzen kann;
denn wenn wir das Gute gleichsam als Vorbild hätten, könnten wir leichter
auch die Dinge erkennen, die für uns gut sind, und ihrer habhaft werden,
wenn wir sie einmal erkannt haben. Dieses Argument hat zwar eine gewisse
Plausibilität, passt aber nicht zum Vorgehen in den Künsten und Wissen-
schaften. | Denn obwohl sie alle nach etwas Gutem streben und nach dem 5
suchen, woran Bedarf besteht, kümmern sie sich nicht um die Erkenntnis
des Guten als solchen. Dass sämtliche Sachverständigen ein Hilfsmittel von
solcher Bedeutung nicht kennen und auch nicht danach suchen sollten, ist
aber nicht plausibel. Ohnehin ist unverständlich, welchen Nutzen ein Weber
oder ein Zimmermann aus der Erkenntnis des Guten selbst für sein Hand-
werk beziehen sollte, | oder wie jemand ein besserer Arzt oder Feldherr sein 10
wird, wenn er die Idee selbst gesehen hat. Auch die Gesundheit scheint der
Arzt nämlich nicht in dieser Weise zu betrachten, sondern die des Menschen,
und vielleicht sogar noch eher die Gesundheit dieses bestimmten Menschen,
da er den Einzelnen heilt. Soviel sei nun zu diesen Fragen gesagt.
Kapitel 5
Lasst uns aber auf das gesuchte Gute zurückkommen und überlegen, was es VII. | 15
denn wohl ist. Es scheint nämlich in jeder Handlungsweise und Kunst etwas
anderes zu sein; so ist es in der Medizin etwas anderes als in der Kriegskunst
und ebenso auch in allen übrigen. Was aber ist bei einer jeden das Gute? Ist
es nicht dasjenige, um dessentwillen alles Übrige getan wird? In der Medizin
ist dies die Gesundheit, in der Kriegskunst | der Sieg, in der Baukunst das 20
Haus, und bei anderen wiederum etwas anderes. Bei jeder Handlung und
jedem Vorhaben aber ist es das Ziel, denn um seinetwillen tut jeder das Üb-
rige. Wenn es daher ein bestimmtes Ziel für alle Tätigkeiten gibt, dann dürfte
dies das durch Handeln zu erreichende Gut sein, wenn aber mehrere Ziele,
dann wären es diese. Die Untersuchung hat so nach einem Umweg wieder
den gleichen Punkt erreicht.
10 Buch I
Kapitel 6
Zu sagen, dass das Beste das Glück ist, scheint nun etwas allgemein Aner-
kanntes zu sein, verlangt wird aber eine deutlichere Bestimmung, was es
denn nun ist. Diese dürfte sich vielleicht ergeben, wenn man die Funktion
| des Menschen ermittelt. Wie nämlich bei einem Flötenspieler, einem Bild- 25
hauer, ja bei jedem Künstler und überhaupt bei allen, die eine bestimmte
Funktion oder Tätigkeit ausüben, das ‚gut‘ und ‚die gute Weise‘ in ihrer
Funktion zu bestehen scheinen, so dürfte es sich auch beim Menschen ver-
halten, wenn es eine ihm eigene Funktion gibt. Gibt es nun bestimmte Funk-
tionen und Tätigkeiten des Zimmermanns und des Schuhmachers, des Men-
schen | aber nicht, sondern ist er von Natur aus funktionslos? Oder kann 30
man – so wie das Auge, die Hand, der Fuß und überhaupt jeder Körperteil
ganz offensichtlich je eine eigene Funktion hat – so auch beim Menschen
über all diese hinaus noch eine bestimmte Funktion annehmen? Welche aber
könnte das denn wohl sein?
Das Leben scheinen wir selbst mit den Pflanzen zu teilen, gesucht ist
aber das dem Menschen Eigene. | Auszusondern sind also diejenigen Le- 1098a
bensfunktionen, die der Ernährung und dem Wachstum dienen. Als nächs-
tes käme das mit Wahrnehmung begabte Leben; auch dieses scheint aber
dem Pferd, dem Rind und jedem Tier gemeinsam. Übrig bleibt also das tä-
tige Leben dessen, was Vernunft hat. Davon gehorcht gewissermaßen der
eine Teil der Vernunft, während der andere | sie hat und selbst denkt. Da man 5
aber auch von diesem Leben in zwei Weisen spricht, sollte man das tätige
Leben als die Funktion des Menschen bestimmen. Denn dieses dürfte man
als Leben im eigentlicheren Sinn bezeichnen.
Wenn nun die Funktion des Menschen in der Tätigkeit der Seele der
Vernunft gemäß – oder doch nicht ohne Vernunft – besteht, und wir von
dieser Funktion sagen, dass sie der Art nach dieselbe ist, gleich ob sie von
einem beliebigen oder von einem guten Vertreter ausgeübt wird, wie etwa
von einem gewöhnlichen oder einem guten | Kitharaspieler, so gibt es dieses 10
Verhältnis überhaupt in allen Fällen, wenn man zu der Funktion noch ein
Überragen hinsichtlich der Tugend hinzunimmt. So besteht die Funktion
des Kitharaspielers im Spielen, die des guten Spielers aber im guten Spielen.
Wenn das sich so verhält,2 – wenn wir als die Funktion des Menschen eine
bestimmte Art von Leben definieren, und zwar die Tätigkeit der Seele und
die Handlungen mit Vernunft, die Funktion des guten Menschen aber da-
rin liegt, diese auf gute und | schöne Weise auszuführen, jede Tätigkeit aber 15
der eigenen Tugend gemäß schön verrichtet wird: Wenn sich das so verhält,
dann erweist sich das menschliche Gute als Tätigkeit der Seele gemäß ihrer
2
Für Bywaters Athetese dieser vermeintlichen Wiederholung gibt es keinen guten Grund.
12 Buch I
Tugend. Wenn es aber mehrere Tugenden gibt, dann gemäß der besten und
vollkommensten.
Hinzu kommt aber noch: in einem vollkommenen Leben. Denn eine
Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein einziger Tag. So
macht auch nur ein Tag oder eine kurze Zeitspanne niemanden selig oder
glücklich.
Kapitel 7
20 Auf diese Weise sei nun das Gute umschrieben. Man muss nämlich vielleicht
zuerst einen Umriss vorlegen und später dann die Einzelheiten ausmalen. Es
scheint aber jeder fähig, fortzuführen und im Detail zu entfalten, was in den
Grundlinien richtig angelegt wurde, und auch die Zeit als Entdecker und
25 guter Helfer mitzuwirken. Daher ist es auch | zu den Fortschritten in den
Künsten gekommen, denn jeder ist in der Lage zu ergänzen, was noch fehlt.
Man soll sich aber auch an das früher Gesagte erinnern und nicht bei
allen Dingen in gleicher Weise nach Genauigkeit suchen, sondern bei je-
der Art von Gegenstand der vorliegenden Materie gemäß und so weit, wie
es der fraglichen Untersuchung angemessen ist. So bemühen sich der Zim-
30 mermann und der Geometer | in unterschiedlicher Weise um den rechten
Winkel; denn Ersterer verwendet ihn, soweit er für seine Arbeit nützlich
ist, Letzterer will wissen, was der Winkel ist oder von welcher Art, denn er
ist ein Betrachter des Wahren. Auf die gleiche Weise muss man auch bei al-
lem anderen vorgehen, damit nicht die Nebensächlichkeiten die eigentlichen
Aufgaben überwuchern. |
1098b Auch nach der Ursache soll man nicht überall in gleicher Weise fragen,
sondern in manchen Fällen genügt es, das ‚Dass‘ in angemessener Weise dar-
gelegt zu haben, so wie auch bei den Prinzipien. Das ‚Dass‘ ist nämlich ein
Erstes und ein Prinzip. Von den Prinzipien findet man die einen durch In-
duktion, die anderen durch Wahrnehmung, andere durch eine gewisse Ge-
5 wöhnung und wieder andere auf noch andere Weise. | Man muss aber bei
der Suche nach den einzelnen Prinzipien so vorgehen, wie es ihrer Natur
entspricht, und sich bemühen, sie richtig zu bestimmen, da sie einen großen
Einfluss auf alles haben, was aus ihnen folgt. Denn der Anfang ist bekannt-
lich mehr als die Hälfte des Ganzen, und durch ihn kommt bereits vieles von
dem, was man sucht, mit ans Licht.
Kapitel 9 13
Kapitel 8
Das Glück ist aber auch nicht bloß aufgrund dieser Schlussfolgerung | und VIII. | 10
der Voraussetzungen zu untersuchen, auf denen seine Erklärung beruht,
sondern auch aufgrund dessen, was man im Allgemeinen über es zu sagen
pflegt. Denn mit dem Wahren stimmen alle Gegebenheiten überein, zum
Falschen tritt das Wahre schnell in Widerspruch.
Nun hat man die Güter in drei Klassen eingeteilt und die einen als äu-
ßere Güter bezeichnet, die anderen als Güter der Seele und des Leibes. Die
Güter der Seele nennen wir aber Güter | im eigentlichen und höchsten Sinne 15
und rechnen die zur Seele gehörigen Handlungen und Tätigkeiten zu den
Gütern der Seele. Daher dürfte unsere Bestimmung richtig sein, jedenfalls
dieser Auffassung entsprechend, die alt ist und die Zustimmung der Philo-
sophen hat. Richtig ist sie aber auch, weil sie bestimmte Handlungen und
Tätigkeiten als das Ziel bezeichnet. Denn so erweist es sich als eines der Gü-
ter der Seele | und nicht der äußeren Güter. 20
Mit unserer Bestimmung stimmt aber auch überein, dass der Glückliche
gut leben und es ihm wohl ergehen soll. Denn das Glück ist gleichsam als
eine Art von Gut-Leben und Gut-Tun bestimmt worden.
Kapitel 9
Aber auch alles Weitere, was man noch in Verbindung mit dem Glück sucht,
scheint auf unsere Bestimmung zuzutreffen. Denn die einen halten es für Tu-
gend, andere für Klugheit, andere für eine Art von Weisheit; | wieder andere 25
halten es für all diese oder für eines davon, aber jeweils verbunden mit Lust
oder doch nicht ohne Lust, während andere auch noch das äußere Wohlerge-
hen mit dazu nehmen. Manche dieser Auffassungen werden von vielen und
von alters her vertreten, andere nur von wenigen und angesehenen Leuten.
Dass beide vollständig fehlgehen, ist nicht wahrscheinlich; vielmehr dürf-
ten sie zumindest in einem oder sogar in den meisten Punkten das Richtige
treffen. |
So steht unsere Bestimmung durchaus in Einklang mit denjenigen, die 30
das Glück als die Tugend oder als eine Tugend bezeichnen. Denn zur Tu-
gend gehört die ihr entsprechende Tätigkeit. Es macht allerdings wohl kei-
nen geringen Unterschied, ob man annimmt, das höchste Gut bestehe nur
im Besitz oder aber im Gebrauch, bzw. in der Disposition oder in der Tätig-
keit. Denn die Disposition kann | durchaus vorhanden sein, ohne etwas Gu- 1099a
tes zu bewirken, wie bei jemandem, der schläft oder sonst wie in Untätigkeit
verharrt; bei der Tätigkeit besteht diese Möglichkeit nicht: der Betreffende
wird notwendigerweise handeln und er wird gut handeln. So wie bei den
14 Buch I
Olympischen Spielen nicht die Schönsten und die Stärksten den Siegeskranz
5 erhalten, | sondern die Teilnehmer am Wettkampf (aus ihnen werden näm-
lich die Sieger hervorgehen), so werden auch nur diejenigen, die richtig han-
deln, die schönen und guten Dinge im Leben gewinnen.
Ihr Leben ist aber auch als solches lustvoll. Denn sich zu freuen ist Sa-
che der Seele; jeder hat aber seine Freude an dem, als dessen Liebhaber er
10 bezeichnet wird, so wie die Pferdeliebhaber an Pferden | oder die Liebhaber
von Schauspielen an Schauspielen. In derselben Weise hat auch der Gerech-
tigkeitsliebhaber seine Freude an Gerechtem, wie auch überhaupt der Tu-
gendliebhaber an Tugendhaftem. Nun widerstreiten bei den meisten Men-
schen die verschiedenen Arten von Lust einander, weil sie nicht von Natur
aus angenehm sind. Für Liebhaber des Schönen ist dagegen das von Natur
aus Lustvolle angenehm. Tugendhafte Handlungen sind aber derart, dass sie
15 sowohl für diese Menschen | wie auch an sich angenehm sind. Denn ihr Le-
ben bedarf nicht noch der Lust als eines zusätzlichen Schmucks, sondern es
enthält sie bereits in sich. Dem Gesagten ist nämlich noch hinzuzufügen,
dass auch niemand gut ist, der keine Freude an guten Handlungen hat. Denn
weder würde man jemanden gerecht nennen, der keine Freude an gerech-
20 tem Handeln hat, noch jemanden freigebig, der sich nicht an | freigebigem
Handeln freut, und ähnlich verhält es sich auch in den übrigen Fällen. Wenn
das aber so ist, dann sollten die tugendhaften Handlungen für sich genom-
men angenehm sein. Überdies sind sie aber auch gut und schön, und zwar
ein jedes in höchstem Maß, wenn der Gute sie denn richtig beurteilt. Er ur-
teilt darüber aber so, wie wir es gesagt haben. Das Glück ist also das Beste,
25 Schönste | und Lustvollste, und diese Eigenschaften lassen sich nicht von-
einander trennen, so wie es die Inschrift auf Delos will:
„Am schönsten ist das Gerechteste, am besten gesund zu sein,
Am süßesten aber ist, das zu erlangen, was man liebt.“
Denn all diese Eigenschaften kommen bei den besten Tätigkeiten zusam-
30 men. | Diese aber – oder die eine, beste unter ihnen – sagen wir, sei das Glück.
Gleichwohl scheint das Glück aber auch noch der äußeren Güter zu be-
dürfen, wie wir gesagt haben. Es ist nämlich unmöglich oder doch nicht
leicht, schöne Handlungen auszuführen, wenn man dafür nicht ausgestattet
1099b ist. Vieles wird nämlich | – wie durch Werkzeuge – durch Freunde, Reich-
tum und politischen Einfluss bewirkt. Fehlen bestimmte Dinge, so trüben
sie zudem das Glück, wie etwa vornehme Herkunft, gute Kinder oder gutes
Aussehen. Denn wer ganz hässlich, niedriger Herkunft, einsam und kin-
5 derlos ist, hat kaum Aussichten auf Glück, | noch weniger aber vielleicht,
wenn jemand ganz schlechte Kinder oder Freunde hat, oder wenn er gute
durch den Tod verloren hat. Wie wir gesagt haben, scheint das Glück zusätz-
lich auch solcher Glücksumstände zu bedürfen. Aus diesem Grund setzen
Kapitel 10 15
manche auch das Glück mit Glückszufällen gleich, andere dagegen mit der
Tugend.
Kapitel 10
Aus diesem Grund fragt man sich auch, ob das Glück durch Lernen, durch IX.
Gewöhnung oder auch | sonst wie durch Übung zu erwerben ist, oder ob 10
es sich aufgrund einer göttlichen Fügung oder durch Zufall einstellt. Wenn
es nämlich überhaupt irgendein Geschenk der Götter an die Menschen gibt,
dann ist sinnvoller Weise gerade das Glück gottgegeben, und das umso mehr,
als es das höchste unter den menschlichen Gütern ist. Dies gehört aber viel-
leicht besser in eine andere Art von Untersuchung. Aber auch wenn das
Glück | nichts Gottgesandtes ist, sondern durch Tugend und irgendeine Art 15
von Lernen oder Übung erworben wird, scheint es zu den göttlichsten Din-
gen zu gehören. Denn der Siegespreis und das Ziel der Tugend scheint das
Beste und etwas Göttliches und Seliges zu sein. Es dürfte aber auch etwas
vielen Gemeinsames sein. Denn alle, deren Streben nach Tugend keine Be-
hinderung im Weg steht, können es durch eine Art von Lernen | und Üben 20
erwerben. Wenn man aber besser auf diese Weise als durch Zufall glücklich
wird, dann ist es nur zu erwarten, dass es sich auch so verhält, wenn denn in
der Natur immer alles so gut angelegt, wie es nur sein kann, und ähnliches
auch für das gilt, was auf Kunst und jeder Art von Ursache beruht, insbe-
sondere aber auf der besten Ursache von allen. Das Wichtigste und Schönste
dem Zufall zuzuschreiben, wäre dagegen allzu | ungereimt. 25
Was wir suchen, wird auch durch unsere Definition mit erhellt. Denn
wir haben das Glück als eine Art von Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend
bezeichnet. Von den übrigen Gütern sind aber die einen dafür notwendige
Bedingungen, die anderen sind von Natur aus teils Mithelfer, teils sind sie
auch nach der Art von Werkzeugen nützlich. Dies dürfte aber auch mit dem
übereinstimmen, was wir anfangs gesagt haben. Denn wir haben | das Ziel 30
der politischen Wissenschaft als das höchste angesetzt, diese aber kümmert
sich vorrangig darum, den Bürgern bestimmte Eigenschaften zu verleihen,
d.h. sie gut und schöner Handlungen fähig zu machen.
Wir bezeichnen aber zu Recht weder das Rind noch das Pferd noch sonst
eines der anderen Tiere als glücklich. Denn keines von ihnen ist | fähig, sich 1100a
an solcher Tätigkeit zu beteiligen. Aus dem gleichen Grund ist auch ein
Kind nicht glücklich. Denn zu den entsprechenden Handlungen ist es we-
gen seines Alters noch nicht fähig. Wenn man Kinder so nennt, so preist man
sie glücklich, weil sie zu Hoffnungen Anlass geben. Denn zum Glück bedarf
es, wie wir schon sagten, sowohl der vollkommenen Tugend | wie auch eines 5
vollkommenen Lebens.
16 Buch I
Das Leben unterliegt aber vielerlei Wechseln und Zufällen aller Art,
und es können auch über den höchst Erfolgreichen noch im Alter große
Unglückfälle hereinbrechen, so wie es in den Sagen um Troja von Priamos
erzählt wird. Wer solche Schicksalsschläge erfährt und ein unglückseliges
Ende findet, den preist aber niemand glücklich.
Kapitel 11
X. | 10 Darf man aber auch sonst keinen Menschen glücklich preisen, solange er
lebt, sondern muss man, mit Solon, auf das Ende schauen? Und wenn man
dies wirklich annehmen muss, ist es dann auch der Fall, dass der Mensch
wirklich glücklich ist, wenn er tot ist? Oder ist das ganz und gar unsinnig,
zumal für uns, die wir das Glück als ein Tätigsein bestimmen? Wenn wir
15 aber | den Toten nicht glücklich nennen und auch Solon das nicht meint,
sondern nur, dass man einen Menschen erst dann mit Sicherheit glücklich
nennen kann, wenn er außer Reichweite aller Übel und Unglücksfälle ist, so
gibt es auch dagegen Einwände. Denn auch für einen Toten, so meint man,
gibt es doch sowohl Gutes wie auch Schlechtes, genau wie auch für einen
20 Lebenden, der nicht | bemerkt, was ihm geschieht. Das gilt etwa im Fall von
Ehre oder Schande, von Erfolgen und Misserfolgen der eigenen Kinder und
überhaupt der Nachkommen.
Auch darin liegt aber eine Schwierigkeit. Denn selbst wenn jemand bis
ins Greisenalter glücklich gelebt hat und sein Tod seinem Leben entsprach,
so kann es doch bei seinen Nachkommen zahlreiche Veränderungen geben.
25 Einige von ihnen mögen | rechtschaffen sein und in den Genuss eines Lebens
kommen, wie sie es verdienen, während die anderen das genaue Gegenteil
erfahren. Zudem ist klar, dass es ihnen, dem zeitlichen Abstand zu den Vor-
fahren entsprechend, höchst unterschiedlich ergehen kann. Es wäre jedoch
ganz unsinnig, dass auch der Tote all ihre Schicksalswendungen mitmachen
und bald glücklich, bald aber auch unglücklich sein sollte. Andererseits wäre
30 es auch seltsam, wenn nichts |, was ihren Nachkommen widerfährt, die To-
ten berührte, nicht einmal für eine gewisse Zeit.
Wir sollten aber zu unserem ersten Problem zurückkehren, denn viel-
leicht ergibt sich aus dessen Betrachtung auch etwas für das, was wir jetzt
suchen. Wenn man auf das Ende schauen und erst dann einen jeden glück-
lich preisen soll, nicht als sei er jetzt glücklich, sondern weil er es vorher
war, − wie sollte das nicht widersinnig sein, dass man von ihm, während er
35 | glücklich ist, nicht wahrheitsgemäß sagen darf, was der Fall ist, nur weil
1100b man | Lebende der Wechselfälle wegen nicht glücklich preisen will und weil
man das Glück für etwas Beständiges und nicht leicht Veränderbares hält,
während sich die Zufälle oft um dieselben Menschen im Kreis drehen? Denn
Kapitel 11 17
wenn wir uns nach | den Zufällen richten wollten, dann müssten wir die glei- 5
che Person oft glücklich und auch wieder unglücklich nennen; damit wür-
den wir aber den Glücklichen als ‚Chamäleon und auf unsicherem Boden
gegründet‘ darstellen. Oder ist es niemals richtig, sich nach den Zufällen zu
richten? Denn nicht an ihnen liegt es, ob man gut oder schlecht lebt, sondern
das menschliche Leben braucht sie nur zusätzlich, wie wir bereits gesagt
haben. | Vielmehr entscheiden die Tätigkeiten gemäß der Tugend über das 10
Glück, die gegenteiligen über das Gegenteil.
Auch die Lösung dieser Schwierigkeit bestätigt also unsere Bestimmung
des Glücks. Bei keinem anderen menschlichen Tun gibt es nämlich eine
solche Sicherheit wie bei den der Tugend entsprechenden Tätigkeiten. Sie
scheinen ja an Beständigkeit selbst die Wissenschaften zu übertreffen. | Von 15
diesen Tätigkeiten sind aber die erhabensten noch beständiger, weil die
Glücklichen sich während ihres ganzen Lebens am meisten und am dau-
erhaftesten mit ihnen beschäftigen. Dies dürfte wohl auch der Grund da-
für sein, warum man sie nicht vergisst. Dem Glücklichen wird also zuteil,
was wir suchen, und er wird während seines ganzen Lebens glücklich sein.
Denn er wird stets oder vor allem anderen tun und beachten, | was der Tu- 20
gend entspricht. Zufälle aber wird er auf die schönste und in jeder Hinsicht
angemessene Weise zu ertragen wissen, der doch wahrhaft gut, ‚vierkantig,
ohne Tadel‘ ist.
Da nun vieles durch Zufall geschieht und sich der Größe und Klein-
heit nach unterscheidet, ist klar, dass kleine Glückszufälle – wie auch ihr
Gegenteil – keine | Auswirkung auf das Leben haben, während große und 25
häufige Glücksfälle das Leben noch seliger machen (denn sie sind dazu an-
getan, es zu verschönern, und man macht in schöner und guter Weise von ih-
nen Gebrauch). Die entsprechenden Unglücksfälle bedrücken dagegen das
glückliche Leben und beeinträchtigen es, da sie Schmerzen mit sich bringen
| und vielen Tätigkeiten hinderlich sind. Gleichwohl scheint auch unter die- 30
sen Umständen das Schöne noch durch, wenn jemand viele und große Un-
glücksfälle mit Fassung zu ertragen weiß, nicht aus Unempfindlichkeit für
Schmerz, sondern weil er hohen und großen Sinnes ist. Wenn nämlich, wie
wir gesagt haben, die Tätigkeiten über das Leben entscheiden, dann kann
keiner der Glücklichen jemals ganz elendig werden, | da er niemals hassens- 35
werte oder niedrige Handlungen begehen wird.
Der wahrhaft | Gute und Verständige wird nämlich, so meinen wir, alle 1101a
Zufälle angemessen zu ertragen und aus der jeweiligen Situation das Beste
zu machen wissen, so wie auch ein guter Feldherr mit dem vorhandenen
Heer auf die bestmögliche Art Krieg führt, und ein Schuster aus | dem Leder, 5
das man ihm gibt, die besten Schuhe macht. Und auf dieselbe Weise verfah-
ren auch alle anderen Vertreter von Kunstfertigkeiten. Wenn dem so ist, so
wird der Glückliche auch niemals elendig werden, er wird freilich auch nicht
18 Buch I
völlig glücklich sein, wenn ihn Schicksalsschläge wie die des Priamos tref-
fen. Auch wird er kein Mensch von schillerndem und leicht veränderlichem
Wesen sein, denn er lässt sich nicht leicht aus dem Glückszustand bringen,
10 | zumal nicht durch beliebige Unglücksfälle, sondern nur durch große und
zahlreiche. Nach solchen dürfte er aber auch nicht innerhalb kurzer Zeit
wieder glücklich werden, sondern wenn überhaupt, dann in einem sehr lan-
gen und vollen Zeitabschnitt, in dem er große und schöne Dinge zustande
gebracht hat.
Was hindert uns also daran, den Glücklichen als denjenigen zu bestim-
15 men, der | Tätigkeiten gemäß der vollkommenen Tugend ausführt und hin-
reichend mit äußeren Gütern versehen ist, und zwar nicht nur für eine
beliebige Zeit, sondern für ein vollkommenes Leben? Oder ist noch hin-
zuzufügen, dass er nicht nur so leben, sondern auch entsprechend sterben
wird? Obwohl die Zukunft für uns undurchsichtig ist, bestimmen wir doch
das Glück als etwas in jeder Hinsicht und auf alle Weise Vollkommenes.
20 Unter dieser Voraussetzung werden wir diejenigen | unter den Lebenden als
selig bezeichnen, die über all das, was wir gesagt haben, verfügen und auch
weiterhin verfügen werden − selig allerdings als Menschen. Soviel sei zur
Klärung dieser Fragen gesagt.
XI. Die Annahme, dass die Geschicke der Nachkommen und sämtlicher
Freunde nicht den geringsten Einfluss haben sollten, erscheint aber allzu
freundschaftswidrig und den allgemeinen Vorstellungen zuwider. Da es
25 aber viele Widerfahrnisse und von höchst | unterschiedlicher Art gibt, und
manche einen mehr berühren als andere, erscheint es als ein langwieriges, ja
ein endloses Geschäft, sie im Einzelnen unterscheiden zu wollen; es dürfte
wohl ausreichen, sie im Allgemeinen und im Umriss zu bestimmen. Wie
von den Unglücksfällen, die einen selbst betreffen, manche ein gewisses Ge-
30 wicht und Einfluss auf das Leben | haben, andere dagegen leichter zu sein
scheinen, so trifft Ähnliches auch auf die Angelegenheiten aller Freunde zu.
Da es aber einen weit größeren Unterschied macht, ob diese Unglücksfälle
sämtlich zu Lebzeiten oder nach dem Tod eintreten, als wenn in den Tra-
gödien die schrecklichen und gesetzlosen Taten vorausgegangen sind oder
auf der Bühne geschehen, sollten wir auch diesen Unterschied berücksich-
35 tigen. Vielleicht | gilt das aber noch mehr in Hinblick auf das Problem, ob
1101b die Verstorbenen an etwas Gutem | oder Schlechtem teilhaben können. Falls
überhaupt irgendetwas zu ihnen durchdringt, sei es Gutes oder das Gegen-
teil davon, so scheint sich aus dem Gesagten zu ergeben, dass es entweder
nur etwas Schwaches und Geringes sein kann – entweder als solches oder
für sie – oder wenn nicht, dann doch nur von solcher Größe und Art, dass
5 es weder diejenigen glücklich macht, die es nicht sind, | noch auch das Glück
denjenigen entzieht, die es sind. Es ergibt sich somit, dass das Wohlergehen
der Freunde zwar in gewisser Weise die Verstorbenen affiziert, und ebenso
Kapitel 12 19
ihr Unglück, aber doch nur in der Weise und in dem Ausmaß, dass es weder
Glückliche zu Nichtglücklichen machen noch sonst irgendetwas von dieser
Art bewirken kann.
Kapitel 12
Nachdem diese Fragen gelöst sind, wollen wir jetzt noch überlegen, ob das XII. | 10
Glück zu den lobenswerten oder vielmehr zu den verehrungswürdigen Din-
gen gehört. Denn es ist offenbar, dass es jedenfalls nicht zu den bloßen Ver-
mögen gehört. Alles Lobenswerte scheint nun aber dafür gelobt zu wer-
den, dass es eine bestimmte Eigenschaft hat und sich zu etwas Bestimmtem
verhält. Den Gerechten und den Tapferen, wie überhaupt den | Guten und 15
die Tugend, loben wir nämlich für ihre Handlungen und Werke und ebenso
auch den Starken und den Wettläufer und alle anderen, weil sie von einer
bestimmten Art sind und sich in bestimmter Weise zu etwas Gutem und
Wertvollem verhalten. Das wird aber auch aus den Lobreden auf die Götter
deutlich, denn sie erscheinen lächerlich, wenn man sie auf uns bezieht. | Das 20
ergibt sich aber daraus, dass man Lob immer auf etwas Bestimmtes bezieht,
wie wir sagten. Wenn nun das Lob von dieser Art ist, dann ist klar, dass man
die besten Dinge nicht mit Lob, sondern mit etwas noch Höherem und Bes-
serem bedenkt, wie es ja auch offensichtlich der Fall ist. Denn wir preisen
sowohl die Götter als selig und glücklich wie auch die | göttlichsten unter 25
den Menschen. Ähnlich verhält es sich bei den Gütern. Niemand lobt näm-
lich das Glück so wie etwa die Gerechtigkeit, sondern man preist es als etwas
Göttlicheres und Verehrungswürdigeres.
Auch Eudoxos scheint aber damit treffend den Anspruch der Lust auf
den Siegespreis verteidigt zu haben. Dass man sie nicht mit Lob bedenkt,
obwohl sie zu den Gütern gehört, betrachtete er nämlich als Anzeichen da-
für, dass sie höher steht | als lobenswerte Dinge; von solcher Art aber seien 30
Gott und das Gute, denn auf sie beziehe man auch alle anderen Dinge.
Lob gebührt hingegen der Tugend. Denn sie macht uns bereit, gute
Handlungen zu vollbringen. Preisreden gelten dagegen den Taten, denen des
Körpers ebenso wie denen der Seele. Diese Fragen mit der gehörigen Ge-
nauigkeit zu behandeln, dürfte jedoch | Sache von Experten für Preisreden 35
sein. Uns ist aber aufgrund des | Gesagten klar, dass das Glück zu den ver- 1102a
ehrungswürdigen und vollkommenen Dingen gehört. Dies scheint sich aber
auch deswegen so zu verhalten, weil es ein Prinzip ist. Denn wir alle tun um
des Glücks willen alles Übrige; das Prinzip und die Ursache aller Güter aber
bestimmen wir als etwas Verehrungswürdiges und Göttliches.
20 Buch I
Kapitel 13
XIII. | 5 Da das Glück eine bestimmte Art von Tätigkeit der Seele gemäß der voll-
kommenen Tugend ist, sollten wir die Tugend näher untersuchen, denn viel-
leicht werden wir auf diese Weise zu einer noch besseren Einsicht in das
Glück gelangen. Dieser Tugend gilt auch, wie es scheint, am meisten das
Bemühen des wahrhaften Staatsmanns. Denn er will die Bürger gut und
10 den | Gesetzen gehorsam machen. Vorbilder dafür sind uns die Gesetzgeber
der Kreter und Spartaner, und wenn es sonst Männer von dieser Art gegeben
hat. Wenn diese Untersuchung zur politischen Wissenschaft gehört, dann ist
klar, dass sie dem Vorhaben entspricht, von dem wir ausgegangen sind. Die
Tugend, die es hier weiter zu untersuchen gilt, ist offensichtlich die mensch-
15 liche Tugend. Denn | wir haben ja auch nach dem menschlichen Gut und
dem menschlichen Glück gesucht. Als menschliche Tugend bezeichnen wir
aber nicht die des Körpers, sondern die der Seele, so wie wir auch das Glück
als eine Tätigkeit der Seele bezeichnen. Wenn das sich so verhält, dann muss
der Staatsmann bestimmte Kenntnisse von der Seele haben, so wie derjenige,
20 der die Augen | behandeln will, auch den ganzen Körper kennen muss, und
dies umso mehr, als die Staatskunst wertvoller und besser als die Medizin ist.
Die gebildeten unter den Ärzten verwenden viel Mühe auf das Wissen vom
Körper. Auch der Politiker muss also Studien über die Seele betreiben und
zwar zu dem genannten Zweck und in dem Ausmaß, in dem es für das Ge-
25 suchte | ausreicht. Denn allzu große Genauigkeit ist vielleicht aufwendiger,
als es für dieses Vorhaben nötig ist.
Über die Seele ist einiges bereits hinreichend in den exoterischen Schrif-
ten gesagt worden, und davon sollten wir Gebrauch machen, wie etwa da-
von, dass die Seele teils vernunftlos ist, teils Vernunft hat. Ob diese Teile sich
aber so voneinander unterscheiden wie die Körperteile und grundsätzlich
30 alles, was | teilbar ist, oder ob sie zwar der Definition nach zwei, ihrer Natur
nach aber untrennbar sind, so wie das Konvexe und das Konkave in einem
Kreisbogen, macht für das gegenwärtige Vorhaben keinen Unterschied.
Vom Vernunftlosen erscheint der eine Teil als etwas Gemeinsames und
Vegetatives; damit meine ich das, was Ernährung und Wachstum verur-
1102b sacht. Das betreffende Vermögen der Seele ist | allem zuzuschreiben, was
sich ernährt, einschließlich der Embryonen, ebenso aber auch den vollen-
deten Organismen, denn das ist sinnvoller, als dafür ein anderes Vermö-
gen anzunehmen. Bei diesem Vermögen scheint es eine bestimmte Tugend
zu geben, die allen gemeinsam und nicht menschlich ist. Denn dieser Teil
5 und | dieses Vermögen sind, wie es scheint, im Schlaf am aktivsten, und der
Gute und der Schlechte unterscheiden sich im Schlaf am wenigsten (daher
sagt man auch, dass sich während der Hälfte ihres Lebens die Glücklichen
nicht von den Elendigen unterscheiden; und dies ist auch nur folgerichtig,
Kapitel 13 21
denn der Schlaf ist die Untätigkeit der Seele in genau der Hinsicht, in der
man von ihr sagt, sie sei gut oder schlecht), wenn man davon absieht, dass
im Schlaf in geringem Umfang Bewegungen bis zur Seele durchdringen,
und daher | die Traumvorstellungen der Guten besser sind als die von Be- 10
liebigen. Aber genug darüber; lassen wird das vegetative Vermögen beiseite,
da es seiner Natur nach an der menschlichen Tugend keinen Anteil haben
kann.
Zur Natur der Seele scheint jedoch noch ein anderes, vernunftloses Ele-
ment zu gehören, das aber in gewisser Weise an der Vernunft teilhaben kann.
Denn beim Beherrschten und beim Unbeherrschten | loben wir die Vernunft 15
und was an der Seele Vernunft hat, da es in der richtigen Weise und zum
Besten antreibt. Beim Beherrschten und Unbeherrschten gibt es nun offen-
sichtlich von Natur aus neben der Vernunft noch ein anderes Element, das
sie bekämpft und sich ihr widersetzt. Denn genauso wie gelähmte Körper-
teile, die man nach rechts bewegen will, | stattdessen nach links abgleiten, 20
so verhält es sich auch bei der Seele, da die Bestrebungen der Unbeherrsch-
ten dem der Vernunft Entgegengesetzten gelten. Bei den Körpern sehen
wir freilich, was fehlgeht, bei der Seele sehen wir es hingegen nicht. Man
sollte aber wohl auch bei der Seele nicht weniger davon überzeugt sein, dass
es neben der Vernunft etwas gibt, was sich ihr widersetzt und | sich gegen 25
sie stemmt. In welcher Weise es von ihr verschieden ist, ist hier unerheb-
lich. Doch scheint dieses Element auch an der Vernunft Anteil zu haben,
wie wir gesagt haben, denn zumindest beim Beherrschten gehorcht es der
Vernunft – und vielleicht ist es beim Besonnenen und Tapferen sogar noch
williger zu gehorchen. Denn es stimmt in jeder Hinsicht mit der Vernunft
überein.
Auch beim vernunftlosen Element zeigt sich also eine zweifache Natur.
Das vegetative Vermögen hat nie | an der Vernunft teil; das begehrende und 30
überhaupt das strebende Vermögen hat in gewisser Weise an ihr teil, sofern
es auf sie hört und ihr gehorcht. In dieser Weise behaupten wir auch, dem
Rat des Vaters oder von Freunden Rechnung zu tragen, freilich nicht so,
wie man davon in der Mathematik spricht. Dass das Vernunftlose sich in
gewisser Weise von der Vernunft überreden lässt, bezeugen auch die War-
nungen und jede Art von Tadel | und Ermahnung. Wenn man auch von die- 1103a
sem Vermögen sagen soll, es habe Vernunft, dann wird es zweierlei geben,
was Vernunft hat; das eine hat Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich,
das andere aber ist gleichsam etwas, das auf die Vernunft wie auf den Vater
hört.
Auch die Tugend wird diesem Unterschied entsprechend aufgeteilt. Wir
nennen die einen von ihnen | rationale, die anderen ethische Tugenden, und 5
zwar nennen wir Weisheit, Verständigkeit und Klugheit rationale, Freige-
bigkeit und Besonnenheit ethische Tugenden. Wenn wir nämlich über den
22 Buch I
Charakter sprechen, dann sagen wir nicht, jemand sei weise oder verständig,
sondern er sei ausgeglichen oder besonnen. Auch den Weisen loben wir für
10 seine Disposition. Von den Dispositionen bezeichnen wir | die lobenswerten
aber als Tugenden.
Buch II
Kapitel 1
Es gibt also zwei Arten von Tugend, zum einen die rationale, | zum anderen I. | 15
die ethische. Die rationale Tugend entsteht und wächst überwiegend durch
Belehrung, daher erfordert sie Erfahrung und Zeit, die ethische Tugend da-
gegen ergibt sich aus der Gewöhnung; von daher hat sie auch ihren Namen
erhalten, der nur geringfügig von ‚Gewohnheit‘ abweicht. Daraus wird zu-
dem deutlich, dass keine der ethischen Tugenden in uns von Natur aus ent-
steht. | Denn nichts, was von Natur aus besteht, lässt sich durch Gewöhnung 20
verändern, so wie der Stein, der von Natur aus nach unten fällt, nicht daran
zu gewöhnen ist, nach oben zu steigen, auch wenn jemand es ihm angewöh-
nen wollte, indem er ihn zehntausend Mal nach oben wirft; noch auch kann
man das Feuer an die Bewegung nach unten gewöhnen, wie sich überhaupt
nichts durch Gewöhnung seiner Natur entgegen verändern lässt. Die Tugen-
den entstehen daher bei uns weder von Natur aus noch auch gegen die Na-
tur, sondern | wir sind zwar von Natur aus dazu veranlagt, sie anzunehmen, 25
vollkommen werden wir darin aber durch Gewöhnung.
Ferner: Bei dem, was uns von Natur aus zukommt, bringen wir zu-
nächst die Fähigkeit mit, später aber führen wir die entsprechenden Tätig-
keiten aus. Eben dies ist im Fall der Sinne deutlich. Denn wir haben unsere
Sinne nicht durch häufiges Sehen oder Hören erhalten, | sondern vielmehr 30
ist es umgekehrt: wir haben sie gebraucht, weil wir sie hatten, haben sie
aber nicht dadurch erworben, dass wir sie gebraucht haben. Die Tugen-
den dagegen erwerben wir durch vorheriges Tätigsein, so wie sonst auch
die verschiedenen Arten von Künsten. Denn was man zu tun gelernt ha-
ben muss, das lernt man, indem man es tut. So wird man zum Baumeis-
ter, indem man Häuser baut, zum Kitharaspieler, indem man Kithara spielt.
Auf eben diese Weise | werden wir auch gerecht, indem wir Gerechtes tun, 1103b
besonnen und tapfer, indem wir Besonnenes und Tapferes tun. Ein Beweis
dafür ist auch, was in den Staaten geschieht. Denn die Gesetzgeber ma-
chen die Bürger durch Gewöhnung gut, und | ebendas ist der Wunsch je- 5
des Gesetzgebers; wer dabei aber nicht richtig vorgeht, verfehlt sein Ziel,
24 Buch II
und genau dadurch unterscheidet sich eine gute Verfassung von einer
schlechten.
Ferner entsteht jede Tugend aus den gleichen Ursachen und durch die
gleichen Mittel, durch die sie auch zugrunde geht. Das trifft in ähnlicher
Weise für jede Kunst zu. Denn durch Kitharaspielen wird man zu einem gu-
10 ten wie auch zu einem schlechten Spieler. Entsprechendes gilt | auch für Bau-
meister und alle übrigen. Denn durch gutes Bauen werden sie zu guten Bau-
meistern, durch schlechtes zu schlechten. Wenn es sich nicht so verhielte,
bedürfte es keines Lehrers, sondern alle kämen schon als gute oder schlechte
Baumeister zur Welt. Genauso verhält es sich auch bei den Tugenden. Durch
15 das Handeln im Umgang | mit anderen Menschen werden die einen von uns
gerecht, die anderen ungerecht, durch das Handeln in gefährlichen Situatio-
nen und durch Gewöhnung an Furcht und Zuversicht werden die einen tap-
fer, die anderen feige. Das Gleiche gilt auch für das Verhalten gegenüber den
Begierden und dem Zorn. Die einen werden besonnen und ausgeglichen, die
20 anderen zügellos und | zornmütig; die einen, indem sie sich in entsprechen-
den Situationen auf die eine, die anderen, indem sie sich auf die andere Weise
verhalten. Mit einem Wort: die Dispositionen entstehen aus Tätigkeiten der
gleichen Art. Daher muss man darauf aus sein, seinen Tätigkeiten eine be-
stimmte Qualität zu verleihen; denn aus den Unterschieden zwischen ihnen
ergeben sich die entsprechenden Dispositionen. So macht es keinen geringen
Unterschied, ob man gleich von klein auf daran gewöhnt wird, sich so oder
25 so zu verhalten, | sondern einen sehr großen, oder vielmehr liegt darin sogar
der ganze Unterschied.
Kapitel 2
II. Da unsere gegenwärtige Untersuchung nicht wie unsere anderen auf Theo-
rie ausgerichtet ist (denn nicht um zu wissen, was die Tugend ist, untersu-
chen wir sie, sondern um gut zu werden; sonst hätte sie ja keinen Nutzen),
30 ist es notwendig, den Bereich der | Handlungen näher zu untersuchen, d.h.
wie man sie ausführen soll. Denn sie bestimmen auch die Qualität unserer
Dispositionen, wie wir bereits gesagt haben. Dass man der richtigen Begrün-
dung entsprechend handeln soll, ist allgemein anerkannt und sei hier vor-
ausgesetzt – später wird aber noch darüber zu sprechen und zu fragen sein,
sowohl was die richtige Begründung ist wie auch in welchem Verhältnis sie
sonst zu den Tugenden steht.
1104a Es sei aber | Übereinstimmung darüber vorausgesetzt, dass jede das Han-
deln betreffende Begründung nur im Umriss und nicht genau angegeben
werden kann, wie wir ja auch schon zu Anfang sagten, dass die Erklärungen
dem vorliegenden Gegenstand entsprechend einzufordern sind. Auf dem
Kapitel 2 25
Gebiet der Handlungen und des Nützlichen gibt es aber nichts Beständiges,
| so wenig wie bei dem, was der Gesundheit dient. Wenn sich nun schon die 5
Erklärung des Allgemeinen so verhält, dann hat die Erklärung des Einzelfalls
noch weniger Genauigkeit. Denn sie fällt weder unter eine Kunst noch unter
eine Anordnung, sondern die Handelnden selbst müssen das dem Augen-
blick Angemessene finden, so wie es auch in der Medizin und in der | Navi- 10
gation geschieht. Obwohl diese Untersuchung einen solchen Charakter hat,
muss man doch versuchen, Hilfe zu leisten.
Als erstes muss man bedenken, dass derartige Dispositionen ihrer Na-
tur nach durch Mangel und Übermaß zerstört werden. Das sehen wir – um
das Offensichtliche als Zeugnis für das nicht Offensichtliche anzuführen –
bei der Körperkraft und der Gesundheit. | Denn sowohl übertriebenes als 15
auch zu geringes Training zerstören die Körperkraft, so wie auch zu viel
und zu wenig an Essen und Trinken die Gesundheit ruinieren, während das
Angemessene sie erzeugt, steigert und erhält. Entsprechend verhält es sich
nun auch bei der Besonnenheit, der Tapferkeit und allen anderen Tugenden.
| Denn derjenige, der vor allem flieht, sich vor allem fürchtet und nichts 20
aushält, wird feige; wer dagegen überhaupt nichts fürchtet, sondern auf al-
les losgeht, wird tollkühn. In ähnlicher Weise wird auch derjenige, der jede
Lust genießt und sich keiner enthält, zügellos; wer dagegen jede vermeidet,
wie der Stumpfsinnige, wird gleichsam empfindungslos. | Besonnenheit und 25
Tapferkeit werden also durch das Übermaß und durch den Mangel zerstört,
durch die Mitte aber erhalten.
Aber nicht nur sind die Vorbedingungen und Ursachen von Entstehen,
Wachsen und Vergehen der Tugenden dieselben, auch ihre Betätigungen
werden auf ebendiesen beruhen. So verhält es sich nämlich auch bei | ande- 30
ren, offenkundigeren Dingen, wie bei der Körperkraft: Diese entsteht dar-
aus, dass man viel Nahrung zu sich nimmt und sich vielen Anstrengungen
unterzieht, und solche dürfte der Kräftige am besten leisten. Entsprechend
verhält es sich auch bei den Tugenden: Dadurch, dass wir uns der Lust ent-
halten, werden wir besonnen und | wenn wir es einmal geworden sind, ist 35
es für uns ein Leichtes, uns ihrer zu enthalten. Und so ist | es auch bei der 1104b
Tapferkeit. Wenn wir uns nämlich daran gewöhnen, das Furchtbare gering
zu schätzen und es zu ertragen, werden wir tapfer; und nachdem wir es ge-
worden sind, werden wir Furchtbares am leichtesten ertragen können.
Als Anzeichen für die jeweilige Disposition muss man aber die | bei den III. | 5
Tätigkeiten auftretenden Lust- und Schmerzgefühle werten. Wer sich näm-
lich der körperlichen Lüste enthält und sich eben darüber freut, ist beson-
nen; wen es schmerzt, ist zügellos; und wer Furchtbares erträgt und sich
daran erfreut oder es zumindest nicht schmerzhaft findet, ist tapfer; wer das
nur unter Schmerzen tut, ist feige. Die Charaktertugend ist nämlich auf Lust
und Schmerz bezogen. Denn | der Lust wegen begehen wir niedrige Hand- 10
26 Buch II
lungen, des Schmerzes wegen vermeiden wir die guten. Daher muss man
gleich von klein auf, wie Platon sagt, dazu erzogen worden sein, sich über
diejenigen Dinge zu freuen oder Schmerz zu empfinden, über die man es
soll. Denn darin besteht die richtige Erziehung.
Ferner: Wenn die Tugenden sich auf Handlungen und Affekte beziehen,
15 mit jedem Affekt und mit jeder Handlung aber | Lust oder Schmerz einher-
geht, dann bezieht sich auch aus diesem Grund die Tugend auf Lust und
Schmerz. Das bestätigt auch die Praxis der Bestrafungen, insofern sie Lust
und Schmerz mit sich bringen. Sie sind nämlich gewissermaßen Heilmittel;
zur Natur von Heilmitteln gehört es aber, durch Entgegengesetztes zu wir-
ken.
Weiterhin: Wie wir zuvor gesagt haben, ist jede Disposition der Seele
ihrer Natur nach auf diejenigen Dinge bezogen und mit ihnen beschäftigt,
20 durch die sie | schlechter oder besser zu werden pflegt. Der Lust und des
Schmerzes wegen aber werden Menschen schlecht, indem sie diese suchen
bzw. meiden, und zwar entweder diejenigen, die man nicht soll, oder wann
man nicht soll, oder wie man es nicht soll, oder wie viel weitere Unter-
schiede die Vernunft in Bezug auf derartiges macht. Aus diesem Grund de-
25 finiert man die Tugenden sogar als eine Art Freiheit von Affekten | und als
Ruhezustand; dies allerdings nicht zu Recht, wenn man es absolut und ohne
den Zusatz sagt: ‚so wie man soll‘ und ‚wie man es nicht soll‘ und ‚wann‘ –
und was sonst noch hinzugefügt wird. Wir gehen also davon aus, dass diese
Art von Tugend die besten Handlungen in Hinblick auf Lust und Schmerz
bewirkt, während die Schlechtigkeit das Gegenteil davon tut.
30 Auch aus Folgendem dürfte deutlich werden, dass | Tugend und Schlech-
tigkeit mit den gleichen Dingen befasst sind. Wenn es drei Gründe für das
Wählen und drei für das Vermeiden gibt, nämlich Schönes, Nützliches und
Lustvolles, sowie deren Gegenteil, Schändliches, Schädliches und Schmerz-
haftes, so ist der Gute geeignet, bei ihnen allen das Richtige, der Schlechte
dagegen das Falsche zu treffen, vor allem aber in Hinblick auf die Lust.
35 Denn diese teilen wir | mit den Tieren und sie begleitet alles, was Gegen-
1105a stand des Wählens ist. | Denn auch das Schöne und das Nützliche erweisen
sich als lustvoll.
Ferner: Wir alle sind von klein auf mit der Lust aufgewachsen. Daher ist
es schwierig, diese Verfassung wieder abzureiben, nachdem sie einmal das
5 Leben eingefärbt hat. Aber auch unsere Handlungen | bemessen wir nach
Lust und Schmerz, die einen von uns mehr, die anderen weniger. Deswegen
muss also unser ganzes Bemühen ihnen gelten, denn es macht für die Hand-
lungen keinen geringen Unterschied, ob man in der richtigen oder in der fal-
schen Weise Lust und Schmerz empfindet. Zudem ist es schwieriger gegen
die Lust anzukämpfen als gegen den Zorn, wie Heraklit sagt; und die Kunst
10 wie auch die Tugend gelten immer dem Schwierigeren, | denn dabei das
Kapitel 3 27
Richtige zu treffen ist von höherem Wert. Folglich dreht sich auch das ganze
Bemühen, sowohl für die Tugend wie auch für die Staatskunst, um Lust und
Schmerz. Denn wer mit ihnen auf die richtige Art umgeht, wird sich als gut,
wer dies auf die falsche Art tut, als schlecht erweisen. Dass die Tugend auf
Lust und Schmerz bezogen ist und dass dasjenige, woraus sie entsteht, sie
sowohl wachsen | wie auch zugrunde gehen lassen kann, wenn es nicht mehr 15
in derselben Weise getan wird, und dass sich auf ebendas, woraus die Tugend
entstanden ist, auch ihre Tätigkeit bezieht, sei damit festgestellt.
Kapitel 3
Jemand könnte aber fragen, wie wir das meinen, dass man Gerechtes tun IV.
muss, um gerecht zu werden, Besonnenes, um besonnen zu werden. Denn
wenn man Gerechtes und Besonnenes tut, | dann ist man doch bereits ge- 20
recht und besonnen, so wie man, wenn man sich im Schreiben und in der
Musik betätigt, bereits des Schreibens und der Musik mächtig ist. Oder ver-
hält es sich nicht so auch bei den Kunstfertigkeiten? Man kann nämlich et-
was der Schreibkunst Entsprechendes auch zufällig oder unter der Anleitung
eines anderen tun. Der Schreibkunst mächtig wird man aber erst dann sein,
wenn man nicht nur der Schreibkunst Entsprechendes, | sondern dies auch 25
in schreibkundiger Weise tut. Das aber bedeutet, dass man es der Schreib-
kunst entsprechend tut, die man in sich hat.
Zudem sind die Verhältnisse bei den Künsten und bei den Tugenden aber
nicht gleich. Denn die Produkte der Künste tragen ihr Gutsein in sich selbst;
es genügt daher, dass sie in einer entsprechenden Weise zustande kommen.
Was im Bereich der Tugenden getan wird, wird aber nicht schon dann in ge-
rechter | und besonnener Weise getan, wenn es eine bestimmte Beschaffen- 30
heit aufweist, sondern erst dann, wenn der Handelnde es in einer bestimm-
ten Verfassung tut: zum einen, wenn er mit Wissen handelt, weiterhin, wenn
er es absichtlich und der Sache selbst wegen tut, drittens, wenn er es auf-
grund einer festen und unveränderlichen Haltung tut. Diese anderen Bedin-
gungen | spielen sonst für den Besitz der Künste keine Rolle, mit Ausnahme 1105b
des Wissens. Für den Besitz der Tugenden hat dagegen das Wissen kein oder
nur wenig Gewicht, während das Übrige nicht wenig, sondern alles bedeu-
tet, insofern dieser Besitz sich eben aus dem häufigen Tun von Gerechtem
und | Besonnenem ergibt. Handlungen werden also gerecht und besonnen 5
genannt, wenn sie von der Art sind, wie sie der Besonnene oder der Ge-
rechte tun würde. Gerecht und besonnen ist aber nicht bereits derjenige,
der diese Dinge tut, sondern derjenige, der sie überdies so tut, wie Gerechte
und Besonnene sie tun. Man sagt also mit Recht, dass aus dem | Tun von 10
Gerechtem der Gerechte hervorgeht, aus dem von Besonnenem der Beson-
28 Buch II
nene. Ohne solches Tun aber hätte niemand auch nur die Aussicht, gut zu
werden.
Die Meisten tun das aber nicht, sondern suchen Zuflucht bei der Theorie,
im Glauben zu philosophieren und auf diese Weise gut zu werden. Sie tun
15 damit etwas Ähnliches wie die | Kranken, die dem Arzt zwar aufmerksam
zuhören, aber keine seiner Anordnungen ausführen. So wie diese mit einer
derartigen Therapie keine gute Verfassung des Körpers erlangen, so wird
es auch jenen ihre Seele betreffend nicht gelingen, wenn sie auf diese Weise
philosophieren.
Kapitel 4
V. | 20 Als nächstes müssen wir untersuchen, was die Tugend ist. Da nun | drei
Dinge in der Seele vorkommen: Affekte, Fähigkeiten und Dispositionen,
dürfte die Tugend eine von diesen sein. Als Affekte bezeichnen wir Begierde,
Zorn, Furcht, Zuversicht, Missgunst, Fröhlichkeit, Liebe, Hass, Sehn-
sucht, Wetteifer, Mitleid und überhaupt alles, mit dem Lust oder Schmerz
einhergeht. Als Fähigkeit bezeichnen wir aber dasjenige, aufgrund dessen
wir für Affekte empfänglich genannt werden, z.B. aufgrund dessen wir
25 fähig | sind, Zorn, Schmerz oder Mitleid zu empfinden. Als Disposition be-
zeichnen wir wiederum dasjenige, aufgrund dessen wir uns den Affekten
gegenüber gut oder schlecht verhalten. Sind wir etwa dem Zorn gegenüber
heftig oder lasch, dann sind wir schlecht disponiert, gut dagegen, wenn wir
uns auf mittlere Weise verhalten. Entsprechendes gilt auch in Bezug auf die
übrigen Affekte.
Affekte sind nun aber weder die Tugenden noch die Schlechtigkeiten;
30 denn wir werden nicht | der Affekte wegen gut oder schlecht genannt, wohl
aber der Tugenden und Schlechtigkeiten wegen. Ebenso werden wir der Af-
fekte wegen weder gelobt noch getadelt (denn weder wird derjenige gelobt,
der sich fürchtet oder erzürnt, noch auch wird derjenige getadelt, der über-
1106a haupt erzürnt | ist, sondern derjenige, der dies in bestimmter Weise ist), hin-
gegen werden wir der Tugenden und Schlechtigkeiten wegen gelobt oder ge-
tadelt. Ferner geraten wir unabsichtlich in Zorn oder Furcht, die Tugenden
dagegen sind Arten von Absichten oder doch nicht ohne Absichten. Außer-
5 dem sagt man von uns, wir seien in Hinblick auf die Affekte bewegt, | dage-
gen sagt man nicht, wir seien hinsichtlich der Tugenden und Laster bewegt,
sondern vielmehr, wir seien in bestimmter Weise disponiert.
Aus diesem Grund sind die Tugenden auch keine Fähigkeiten. Denn man
sagt von uns nicht, wir seien gut oder schlecht, weil wir überhaupt fähig sind
affiziert zu werden, noch auch werden wir dafür gelobt oder getadelt. Fer-
ner besitzen wir unsere Fähigkeiten von Natur aus; gut oder schlecht aber
Kapitel 5 29
werden wir nicht | von Natur aus. Darüber haben wir aber bereits früher 10
gesprochen.
Wenn die Tugenden nun weder Affekte noch Fähigkeiten sind, dann
bleibt nur übrig, dass sie Dispositionen sind. Was also die Tugend ihrer Gat-
tung nach ist, ist damit gesagt.
Kapitel 5
Man soll aber nicht einfach nur sagen, dass die Tugend eine Disposition ist, VI.
sondern auch angeben, | von welcher Art sie ist. Dazu ist nun zu bemerken, 15
dass jede Tugend den Gegenstand, dessen Tugend sie ist, in gute Verfassung
bringt und ihn seine Funktion gut erfüllen lässt, so wie etwa die Tugend des
Auges das Auge und seine Funktion gut macht. Denn dank der Tugend des
Auges sehen wir gut. Ebenso macht auch die Tugend des Pferdes das Pferd
| gut und lässt es gut im Laufen, im Tragen des Reiters und im Standhalten 20
dem Feind gegenüber sein. Wenn sich dies in allen Fällen so verhält, dann ist
auch die Tugend des Menschen diejenige Disposition, durch die er ein guter
Mensch wird und durch die er seine Funktion gut erfüllt. Wie das zugehen
soll, haben wir zwar schon gesagt, | es wird aber auch noch klar werden, 25
wenn wir die Natur der Tugend betrachten.
Von allem Teilbaren und Kontinuierlichen kann man nun ein größeres,
ein kleineres und ein gleiches Quantum nehmen, und zwar entweder in Be-
zug auf die Sache oder in Bezug auf uns. Das ‚Gleiche‘ aber ist eine Art
Mittleres zwischen Übermaß und Mangel. | Als ‚Mittleres der Sache nach‘ 30
bezeichne ich das, was zu den Extremen den gleichen Abstand hat und für
uns alle ein und dasselbe ist, als ‚Mittleres in Bezug auf uns‘ dagegen, was
weder zu viel noch zu wenig ist; das aber ist weder eines noch auch für alle
dasselbe. Wenn z.B. zehn viel, zwei wenig ist, dann nimmt man sechs als das
der Sache nach Mittlere an; denn es übertrifft um die gleiche Menge, | durch 35
die es selbst übertroffen wird. Es ist also das der arithmetischen Proportion
nach Mittlere. Das ‚Mittlere in Bezug auf uns‘ ist aber nicht so zu fassen.
Denn | wenn es für einen bestimmten Menschen zu viel ist, zehn Minen zu 1106b
sich zu nehmen, zwei Minen aber zu wenig, wird der Trainer keineswegs
eine Ration von sechs Minen vorschreiben. Vielleicht ist nämlich auch diese
Menge für den, der sie essen soll, zu viel oder zu wenig, und zwar zu we-
nig für Milon, zu viel für den Anfänger im athletischen Training. Dasselbe
gilt für den Wettlauf und | den Ringkampf. In dieser Weise meidet nun je- 5
der Kundige sowohl das Übermaß wie auch den Mangel, sondern sucht das
Mittlere und wählt es aus, und zwar nicht das Mittlere der Sache nach, son-
dern in Bezug auf uns.
30 Buch II
Wenn aber jede Disziplin ihre Funktion in der Weise gut erfüllt, dass
sie auf das Mittlere schaut und ihre Werke auf dieses hin ausrichtet (da-
10 her | pflegt man von gelungenen Werken zu sagen, dass man weder etwas
hinzufügen, noch etwas wegnehmen kann, da sowohl das Übermaß wie
auch der Mangel ihre Vollkommenheit verdirbt, während das Mittlere sie
bewahrt), und wenn gute Künstler, wie wir sagen, dieses bei der Arbeit im
Blick haben, und wenn die Tugend, so wie auch die Natur, noch genauer
15 und | besser als jede Kunst ist, dann sollte es ihr eigentümlich sein, auf das
Mittlere zu zielen. Ich spreche aber von der Charaktertugend. Denn diese
bezieht sich auf Affekte und Handlungen, und bei diesen gibt es Übermaß,
Mangel und das Mittlere. So kann man sowohl zu viel wie auch zu wenig an
Furcht, Zuversicht, Begierde, Zorn und Mitleid und überhaupt an Lust und
20 | Schmerz empfinden und beides nicht richtig. Sie aber zu empfinden wann
man soll, worüber, wem gegenüber, weswegen und wie man es soll, ist das
Mittlere und das Beste; und eben darin besteht die Tugend. In gleicher Weise
gibt es auch in Bezug auf die Handlungen Übermaß, Mangel und das Mitt-
25 lere. Die Tugend bezieht sich auf Affekte und | auf Handlungen; bei ihnen ist
das Übermaß wie auch der Mangel verfehlt und wird getadelt,3 während das
Mittlere mit Lob bedacht wird und das Richtige trifft. Die Tugend ist daher
eine Art Mitte, insofern sie auf das Mittlere abzielt.
Ferner kann man auf vielerlei Weisen fehlgehen (denn das Schlechte ge-
30 hört zum Unbegrenzten, wie es die | Pythagoreer darzustellen pflegten, das
Gute zum Begrenzten), das Richtige aber trifft man nur auf eine Weise. Da-
her ist auch das eine leicht, das andere schwer; denn das Ziel zu verfehlen ist
leicht, es zu treffen aber schwer. Auch aus diesem Grund gehören also Über-
maß und Mangel zum Laster, die Mitte aber zur Tugend: |
35 „Edel sind Menschen nur auf eine, schlecht aber auf jede Weise.“
Kapitel 6
Die Tugend ist also eine Disposition zu Entscheidungen, die in einer
1107a Mitte | in Bezug auf uns liegt und die durch eine Überlegung bestimmt wird,
so wie sie auch der Kluge bestimmen würde.4 Sie ist eine Mitte zwischen
zwei Schlechtigkeiten, von denen die eine dem Übermaß, die andere dem
5 Mangel gilt, und zwar insofern, als die eine es bei den Affekten und | Hand-
lungen an dem fehlen lässt, was man soll, die andere aber darüber hinaus-
3
Das von Bywater athetierte psegetai ist als chiastische Konstruktion beizubehalten.
4
1107a1 wird statt des von Bywater aus Aspasios übernommenen hôi mit den Handschriften
hôs gelesen.
Kapitel 7 31
geht, während die Tugend das Mittlere findet und wählt. Daher ist die Tu-
gend ihrem Wesen und der Definition nach, die sagt, was sie ist, eine Mitte;
in Hinblick auf das Beste und das Richtige ist sie aber ein Extrem.
Nun lässt aber nicht jede Handlung und jeder Affekt eine Mitte zu. Denn
bei einigen Affekten ist schon im Namen | eine Schlechtigkeit mit enthal- 10
ten, wie bei Schadenfreude, Schamlosigkeit oder Missgunst, und so auch im
Fall von Handlungen wie Ehebruch, Diebstahl oder Mord. Alle diese und
andere dieser Art werden so genannt, weil sie selbst schlecht sind, nicht ihr
Übermaß oder Mangel. Bei ihnen kann man nämlich niemals | das Richtige 15
treffen, sondern immer nur fehlgehen. Auch liegt in diesen Fällen das Rich-
tige oder Falsche nicht darin‚ mit welcher Frau oder wann oder wie man
ehebrechen soll, sondern es ist schlechthin verfehlt, irgendetwas von dieser
Art zu tun.
Ähnlich steht es mit der Annahme, es gebe bei ungerechten, feigen und
zügellosen Handlungen eine Mitte, ein Übermaß und | einen Mangel. Denn 20
so würden sich ja eine Mitte des Übermaßes und eine des Mangels ergeben,
wie auch ein Übermaß des Übermaßes und ein Mangel des Mangels. Wie es
aber an Besonnenheit und an Tapferkeit kein Übermaß und keinen Mangel
gibt, weil das Mittlere in gewisser Weise ein Extrem ist, so gibt es auch bei
solchen Handlungen weder eine Mitte noch Übermaß und Mangel, sondern
wie auch immer | man sie ausführt, sind sie verfehlt. Ganz allgemein gibt es 25
nämlich weder eine Mitte des Übermaßes und des Mangels noch auch ein
Übermaß und einen Mangel der Mitte.
Kapitel 7
Man darf das aber nicht nur allgemein behaupten, sondern muss es auch auf VII.
die einzelnen Arten anwenden. Denn von den | Erklärungen die Handlun- 30
gen betreffend enthalten die allgemeinen zwar mehr Gemeinsames, die aufs
Einzelne gehenden aber mehr Wahres. Die Handlungen sind nämlich auf
Einzelnes bezogen und hinsichtlich dieser ist Übereinstimmung zu erzielen.
Die einzelnen Arten sind unserer Tabelle zu entnehmen.
In Bezug auf Furcht und Zuversicht | ist die Tapferkeit die Mitte. Von de- 1107b
nen, die übertreiben, hat derjenige, der es durch Furchtlosigkeit tut, keinen
Namen (es gibt aber viele Arten ohne Namen), der es an Zuversicht über-
treibt, heißt tollkühn; wer sich dagegen im Übermaß fürchtet und es an Zu-
versicht fehlen lässt, ist feige.
In Bezug auf Lust und Schmerz – allerdings nicht | auf alle Arten und noch 5
weniger in Bezug auf Schmerz – ist die Mitte die Besonnenheit, das Übermaß
die Zügellosigkeit. Menschen, denen es an Lust mangelt, kommen kaum vor;
daher haben auch sie keinen Namen; sie mögen empfindungslos heißen.
32 Buch II
In Hinblick auf das Geben und Nehmen von Geld ist die Mitte die Frei-
10 gebigkeit, | das Übermaß und der Mangel sind Verschwendungssucht und
Geiz. Übermaß und Mangel manifestieren sich bei Menschen dieser Art in
gegensätzlicher Weise. Der Verschwender übertreibt es beim Geben und
lässt es am Nehmen fehlen; der Geizige übertreibt es beim Nehmen und
lässt es am Geben fehlen. – Im Augenblick reden wir nämlich nur im Umriss
15 und | begnügen uns mit einer Zusammenfassung. Genauere Bestimmungen
dazu sollen später folgen.
Auf unser Verhältnis zum Geld beziehen sich auch noch andere Disposi-
tionen; dabei besteht die Mitte in der Großzügigkeit (zwischen dem Groß-
zügigen und dem Freigebigen gibt es nämlich einen Unterschied: der eine
hat es mit großen, der andere mit kleinen Beträgen zu tun), das Übermaß
20 ist Extravaganz und Vulgarität, | der Mangel aber Schäbigkeit. Diese beiden
unterscheiden sich jedoch vom Übermaß und Mangel an Freigebigkeit; auf
welche Weise, wird später noch zu erörtern sein.
In Hinblick auf Ehre und Unehre ist die Mitte die Hochgesinntheit,
das Übermaß ist das, was man als eine Art Aufgeblasenheit bezeichnet, der
Mangel ist Kleinmütigkeit.
25 Wie sich nach unserer Bestimmung die | Freigebigkeit zur Großzügigkeit
verhält, indem sie sich durch die Kleinheit der Beträge von ihr unterscheidet,
so gibt es auch im Verhältnis zur Hochgesinntheit eine analoge Disposition.
Geht es der einen um große Ehren, geht es der anderen um kleine. Nach
Ehre kann man nämlich so streben, wie man soll, aber auch mehr und weni-
ger, als man soll. Wer es mit solchen Bestrebungen übertreibt, heißt ehrsüch-
30 tig, wer es daran fehlen lässt, heißt ehrgeizlos, der Mittlere | ist namenlos.
Namenlos sind aber auch die entsprechenden Charaktereigenschaften, aus-
genommen der Ehrgeiz als Disposition des Ehrgeizigen. Daher erheben die
Vertreter der Extremformen Anspruch auf den mittleren Bereich, und auch
wir selbst nennen den Mittleren manchmal ehrgeizig, manchmal ehrgeizlos
1108a und | loben manchmal den Ehrgeizigen, manchmal den Ehrgeizlosen. Wa-
rum wir das tun, soll später besprochen werden. Jetzt aber wollen wir noch
die übrigen Arten in der bisherigen Weise durchgehen.
5 Auch den Zorn betreffend gibt es ein Übermaß, einen Mangel und | eine
Mitte. Da sie aber eigentlich namenlos sind, wollen wir den Mittleren ausge-
glichen nennen und entsprechend die mittlere Disposition als Ausgeglichen-
heit bezeichnen. Was die Extreme angeht, so heiße der Übermäßige zorn-
mütig, die entsprechende Schlechtigkeit Zornmütigkeit, der Mangelhafte
aber heiße unerzürnbar und der Mangel Unerzürnbarkeit.
10 Es gibt aber auch noch drei weitere Mitten, die zwar | eine gewisse Ähn-
lichkeit miteinander haben, sich aber doch voneinander unterscheiden.
Denn während sie alle unseren gegenseitigen Umgang in Reden und Hand-
lungen betreffen, unterscheiden sie sich dadurch, dass es der einen Art um
Kapitel 7 33
die Wahrheit in diesen Dingen geht, den beiden anderen aber um das Ange-
nehme. Von diesem Angenehmen liegt die eine Art im Bereich des Vergnü-
gens, die andere betrifft sämtliche Lebensumstände. Auch über diese ist zu
reden, damit | wir leichter einsehen, dass bei allen die Mitte zu loben ist, die 15
Extremformen dagegen weder lobenswert noch richtig, sondern tadelnswert
sind. Auch von ihnen ist die Mehrzahl namenlos, man muss aber versuchen,
so wie auch in den anderen Fällen, Namen für sie zu prägen, damit sie klar
und leicht verfolgbar sind.
Was nun das Wahre angeht, | so soll die Person von mittlerer Disposition 20
wahrhaftig und die Mitte Wahrhaftigkeit heißen, das Übermaß der Selbst-
darstellung dagegen Angeberei und ihr Besitzer Angeber heißen, der Man-
gel aber falsche Bescheidenheit und der Betreffende ein falsch Bescheidener.
Was das Angenehme im Bereich des Vergnügens angeht, so heißt
der Mittlere unterhaltsam, seine Eigenschaft Unterhaltsamkeit, das Über-
maß | Possenreißerei und ihr Besitzer Possenreißer, wer es hingegen daran 25
fehlen lässt, wird steif und seine Disposition Steifheit genannt.
Was die weitere Art des Angenehmen im Leben überhaupt angeht, so
heißt derjenige, der so angenehm ist, wie er soll, freundlich und die Mitte
Freundlichkeit; wer es darin übertreibt, ohne einen Zweck damit zu verfol-
gen, der heiße gefallsüchtig, wer es aus Eigennutz tut, Schmeichler. Wer es
daran fehlen lässt | und in allen Dingen unangenehm ist, ist streitsüchtig und 30
griesgrämig.
Auch bei affektiven Zuständen und in Hinblick auf die Affekte gibt es
Mitten. Die Scham ist zwar keine Tugend, doch wird auch der Schamhafte
gelobt. Denn auch in diesem Bereich wird der eine als Mittlerer bezeichnet,
der andere aber als Übertreiber, so wie der Verschämte, der sich bei allem
schämt. Wer es aber daran fehlen lässt | oder gar keine Scham kennt, heißt 35
schamlos, der Mittlere dagegen schamhaft. | 1108b
Entrüstung ist die Mitte zwischen Missgunst und Schadenfreude; sie gel-
ten Schmerz und Lust, die darüber aufkommen, was den Nachbarn zustößt.
Den zu Entrüstung Geneigten ärgert es, wenn es ihnen unverdient gut geht;
der Missgünstige geht insofern über diesen hinaus, | als ihn das Wohlerge- 5
hen aller schmerzt; der Schadenfrohe ist so weit davon entfernt, Schmerz zu
empfinden, dass er sich sogar über Schaden freut. Auf diese Fälle einzugehen
wird aber anderswo Gelegenheit sein.
Die Gerechtigkeit betreffend, da man von ihr nicht in einfacher Weise
spricht, werden wir später Unterscheidungen treffen und von beiden sagen,
auf welche Weise sie Mitten sie sind. Ähnlich werden wir auch mit den rati-
onalen | Tugenden verfahren. 10
34 Buch II
Kapitel 8
VIII. Da es also drei Dispositionen gibt, zwei Schlechtigkeiten, die eine im Sinn
von Übermaß, die andere von Mangel, und eine Tugend, die Mitte, sind sie
alle in gewisser Weise allen entgegengesetzt. Denn die Extreme sind so-
15 wohl der Mitte wie auch einander entgegengesetzt, die | Mitte aber den Ex-
tremen. Wie nämlich das Gleiche in Bezug auf das Kleinere größer und in
Bezug auf das Größere kleiner ist, so übertreffen die mittleren Dispositi-
onen die des Mangels, werden aber selbst durch die des Übermaßes über-
troffen, und zwar bei den Affekten wie auch bei den Handlungen. Der
20 Tapfere | erscheint nämlich im Vergleich zum Feigen tollkühn, aber feige
im Vergleich zum Tollkühnen. Ebenso erscheint auch der Besonnene im
Vergleich zum Empfindungslosen zügellos, im Vergleich zum Zügellosen
empfindungslos, und der Freigebige wirkt im Vergleich zum Geizigen ver-
schwenderisch, im Vergleich zum Verschwender aber geizig. Daher schieben
von den Vertretern der Extreme jeweils der eine den Mittleren dem anderen
25 zu, so dass | der Feige den Tapferen tollkühn, der Tollkühne ihn feige nennt,
und entsprechend auch in den anderen Fällen.
Da die Dispositionen einander in dieser Weise entgegengesetzt sind, ist
der Gegensatz zwischen den Extremen am größten, größer als der zum Mitt-
leren. Denn sie sind weiter voneinander entfernt als vom Mittleren, so wie
30 etwa das Große vom Kleinen bzw. das Kleine | vom Großen weiter entfernt
ist als beide vom Gleichen. Außerdem zeigt sich bei manchen Extremen eine
gewisse Ähnlichkeit zum Mittleren, so wie bei der Tollkühnheit zur Tap-
ferkeit und bei der Verschwendungssucht zur Freigebigkeit; zwischen den
Extremen zeigt sich dagegen die größte Unähnlichkeit. Was aber die größte
35 Entfernung voneinander hat, definiert man als Gegensätze, so dass auch | in
größerem Gegensatz steht, was weiter voneinander entfernt ist.
1109a Zum Mittleren | steht nun bei bestimmten Arten die mangelhafte, bei an-
deren die übermäßige Disposition in größerem Gegensatz; so steht zur Tap-
ferkeit nicht die Tollkühnheit, das Übermaß, in größerem Gegensatz, son-
dern die Feigheit, der Mangel. Zur Besonnenheit wiederum steht nicht die
5 Empfindungslosigkeit, der Mangel, sondern die Zügellosigkeit, | das Über-
maß, in größerem Gegensatz. Das hat zwei Gründe, von denen der eine sich
aus der Sache selbst ergibt. Weil das eine Extrem dem Mittleren näher und
ähnlicher ist, setzen wir ihm nicht dieses, sondern vielmehr das andere ent-
gegen. Weil etwa die Tollkühnheit der Tapferkeit ähnlicher und näher zu
10 sein scheint, | die Feigheit dagegen unähnlicher, stellen wir sie mehr in Ge-
gensatz zur Tapferkeit. Denn was vom Mittleren weiter entfernt ist, scheint
ihr größerer Gegensatz zu sein. Dies ist nun der eine Grund, der sich aus
der Natur der Sache ergibt. Der andere Grund kommt von uns selbst her.
Dasjenige, wozu wir von Natur aus stärker hinneigen, erscheint uns in grö-
Kapitel 9 35
ßerem Gegensatz zum Mittleren zu stehen. So neigen wir etwa | von Natur 15
aus mehr der Lust zu; daher lassen wir uns leichter zur Zügellosigkeit als zur
Maßhaftigkeit hinziehen. Wir nennen also dasjenige mehr entgegengesetzt,
zu dem wir die größere Neigung haben, und deshalb steht die Zügellosig-
keit, als Übermaß, in einem größeren Gegensatz zur Besonnenheit.
Kapitel 9
Dass die Charaktertugend also eine Mitte ist, und in welcher Weise, und dass IX. | 20
sie eine Mitte zwischen zwei Schlechtigkeiten ist, einer des Übermaßes und
einer des Mangels, und dass sie dies deswegen ist, weil sie auf ein Mittleres in
den Affekten und Handlungen abzielt, ist nun hinreichend erklärt worden.
Aus diesem Grund ist es auch eine schwierige Aufgabe, gut zu sein. | Denn 25
jeweils das Mittlere zu treffen ist schwierig, so wie es etwa nicht jedermanns
Sache ist, den Mittelpunkt eines Kreises zu finden, sondern die des Kenners.
So kann zwar jeder mit Leichtigkeit in Zorn geraten, Geld geben und es auf-
wenden; wem gegenüber man es soll, wie viel, wann, weswegen und auf wel-
che Weise, das ist aber schon nicht mehr jedermanns Sache und auch nicht
leicht. Es richtig zu tun ist daher selten, lobenswert und | schön. 30
Deswegen muss, wer auf das Mittlere abzielt, sich als erstes vom größe-
ren Gegensatz entfernen, so wie auch Kalypso rät:
„von dieser Gischt und Woge dränge weg dein Schiff“.
Denn von den Extremen ist das eine mehr, das andere weniger fehlerhaft. Da
nun das Mittlere genau zu treffen schwer ist, | sollte man der ‚zweitbesten 35
Fahrt‘ nach, wie man sagt, das geringste Übel wählen. Dies | lässt sich am 1109b
besten in der von uns beschriebenen Weise tun.
Man muss jedoch auch sehen, zu welchen Dingen wir uns leicht verleiten
lassen, denn verschiedene Menschen neigen von Natur aus Verschiedenem zu.
Das aber machen die in uns aufkommende Lust und Unlust offenbar. | Man 5
muss sich dann selbst zum anderen Extrem hinziehen. Denn wenn wir uns
weit von Verfehlungen entfernen, werden wir zum Mittleren kommen, so
wie es diejenigen tun, die verzogenes Holz zurechtbiegen. In jedem Fall
muss man sich am meisten vor Lustvollem und der Lust in Acht nehmen,
denn wir beurteilen sie nicht unbefangen. Was die Ältesten des Volks der
Helena gegenüber empfunden haben, | das sollten wir der Lust gegenüber 10
empfinden und uns bei jeder Gelegenheit deren Worte vorsagen. Indem wir
nämlich der Lust den Laufpass geben, werden wir weniger leicht fehlgehen.
Wenn wir das tun, dann werden wir, um es kurz zu sagen, am leichtesten
fähig sein, das Mittlere zu treffen.
36 Buch II
15 Das ist aber wohl besonders in den Einzelfällen schwierig. | Denn es ist
nicht leicht, genau festzulegen, wie, welchen Menschen gegenüber, aus wel-
chem Anlass und wie lange man zornig sein soll. Denn auch wir selbst loben
ja manchmal diejenigen, die es daran fehlen lassen, und nennen sie ausgegli-
chen, manchmal dagegen loben wir diejenigen, die im Zorn verharren, und
nennen sie mannhaft. Wer aber nur wenig vom Richtigen abgeht, wird nicht
20 getadelt, sei es zum Mehr oder sei es zum | Weniger hin, sondern nur wer
allzu weit abgeht, denn dieser bleibt nicht verborgen. Doch bis wohin und
wie viel man fehlgehen muss, um tadelnswert zu sein, ist nicht leicht mit
einer Begründung genau zu bestimmen, so wie auch sonst nichts von den
Dingen, die Sache von Wahrnehmung sind. Denn alles Derartige hängt vom
Einzelnen ab, und das Urteil darüber beruht auf der Wahrnehmung. So viel
ist aber jedenfalls deutlich, dass die mittlere Disposition in allen Fällen Lob
25 verdient, wie auch, dass man | manchmal mehr zum Übermaß, manchmal
mehr zum Mangel hin abweichen soll, denn so werden wir am leichtesten
das Mittlere treffen.
Buch III
Kapitel 1
Da sich die Tugend also auf Affekte und Handlungen bezieht und Freiwil- I. | 30
liges Lob und Tadel erfährt, Unfreiwilliges dagegen Verständnis, manchmal
sogar Mitgefühl, muss man wohl bei der Untersuchung der Tugend auch
das Freiwillige und das Unfreiwillige gegeneinander abgrenzen. Auch den
Gesetzgebern ist dies für die Festsetzung von | Ehrungen und Strafen von 35
Nutzen.
Als unfreiwillig gilt nun, was durch Gewalt | oder aus Unwissen ge- 1110a
schieht. Gewaltsam ist aber dasjenige, dessen Ursprung außerhalb liegt, und
zwar derart, dass die handelnde oder leidende Person dazu nichts beiträgt,
wenn sie etwa von einer Windböe oder von Menschen, die sie in ihrer Ge-
walt haben, irgendwo hingetragen wird.
Wenn aber etwas aus Furcht vor einem noch größeren Übel oder auch
um eines | Schönen willen getan wird, – etwa wenn ein Tyrann jemandem 5
befiehlt, etwas Schändliches zu tun, dessen Eltern und Kinder er in seiner
Gewalt hat, und diese am Leben bleiben, wenn er es tut, aber sterben müs-
sen, wenn er es nicht tut – dann ist zweifelhaft, ob es sich um Freiwilli-
ges oder Unfreiwilliges handelt. Ähnlich verhält es sich auch, wenn man im
Sturm die Ladung über Bord wirft. Denn an sich wird niemand sie | freiwil- 10
lig fortwerfen; um sich und andere zu retten, werden es dagegen alle tun,
die bei Verstand sind. Derartige Handlungen sind zwar gemischter Art,
sie gleichen aber doch mehr den freiwilligen. Denn zu dem Zeitpunkt, zu
dem man sie tut, sind sie wählenswert, das Ziel der Handlung richtet sich
aber nach der augenblicklichen Situation. ‚Freiwillig‘ wie auch ‚unfreiwil-
lig‘ | ist also je nach dem Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem jemand handelt. 15
Der Betreffende handelt aber freiwillig, denn auch der Ursprung des Bewe-
gens der ausführenden Körperteile liegt bei derartigen Handlungen in ihm
selbst. Wovon aber der Ursprung in ihm selbst liegt, da liegt es auch bei ihm,
es zu tun oder nicht zu tun. Folglich ist derartiges freiwillig; an sich ist es
aber wohl unfreiwillig. Denn niemand würde etwas dieser Art für sich ge-
nommen wählen.
38 Buch III
Kapitel 2
Was aufgrund von Unwissenheit getan wird, ist zwar insgesamt nicht frei-
willig, unfreiwillig ist aber nur das, worüber man Schmerz und Bedauern
empfindet. Denn wer etwas aufgrund von Unwissenheit getan hat, | dem an 20
seiner Tat aber nichts unangenehm ist, hat sie zwar nicht freiwillig getan, je-
denfalls in Bezug auf das, was er nicht wusste, aber auch nicht unfreiwillig,
sofern sie ihm nicht leid tut. Von denen, die aus Unwissenheit handeln, gelte,
wer es bedauert, als jemand, der unfreiwillig handelt; wer aber nichts bedau-
ert, der gelte – weil er sich darin unterscheidet – als jemand, der nicht-frei-
willig handelt. Denn da er von Ersterem verschieden ist, ist es besser, wenn
er eine eigene Bezeichnung hat. |
Es scheint aber zudem ein Unterschied zu bestehen, wenn jemand auf- 25
grund von Unwissenheit oder in Unwissenheit handelt. Denn ein Betrun-
kener oder Wütender scheint nicht aufgrund von Unwissenheit zu han-
deln, sondern aus einer dieser Ursachen, aber nicht wissentlich, sondern
in Unwissenheit. Nun weiß zwar auch jeder schlechte Mensch nicht, was
er tun soll und was er zu unterlassen hat, und wegen dieser Art von Feh-
lern | werden Leute ungerecht und überhaupt schlecht; von ‚unfreiwillig‘ 30
ist aber nicht zu sprechen, wenn jemand nicht weiß, was das Zuträgliche
ist. Denn diese Unwissenheit sein Vorhaben betreffend ist nicht Grund von
Unfreiwilligkeit, sondern von Schlechtigkeit, so wie es überhaupt die Un-
wissenheit des Allgemeinen nicht ist, denn für sie werden Menschen geta-
delt. Vielmehr ist unfreiwillig, was auf Unkenntnis von Einzelheiten beruht,
in | denen die Handlung besteht und auf die sie sich bezieht. Solchen Men- 1111a
schen gelten auch Mitgefühl und Verständnis, denn wer etwas davon nicht
kennt, handelt unfreiwillig.
Es ist nun vielleicht nicht weniger wichtig bei diesen Einzelheiten zu
unterscheiden, welche und wie viele es gibt, nämlich wer der Handelnde
ist, was er tut, mit Bezug worauf und in welchem Zusammenhang, über-
dies manchmal auch | womit, z.B. mit welchem Werkzeug, weswegen (wie 5
etwa, um jemanden zu retten) und wie (wie etwa, ob leicht oder heftig).
Über all dies zusammen könnte nun niemand in Unwissenheit sein, der
nicht wahnsinnig ist, und offensichtlich auch nicht darüber, wer der Han-
delnde ist; denn wie könnte er sich selbst nicht kennen? Dagegen könnte er
nicht wissen, was er tut; so wie Leute sagen, etwas sei ihnen beim Sprechen
herausgerutscht,5 oder man habe nicht gewusst, dass es der Geheimhaltung
| unterliegt, wie Aischylos in Hinblick auf die Mysterien; oder wie jemand 10
sagt, das Katapult sei losgegangen, als er es vorführen wollte. Jemand könnte
5
Als Emendation der von Bywater in 1111a9 markierten Korruptele wird hier mit Rassow
legontas gelesen.
40 Buch III
auch den eigenen Sohn für einen Feind halten, wie Merope, oder meinen, der
gespitzte Speer sei oben abgerundet oder der Stein sei ein Bimsstein. Auch
kann man jemandem etwas zu trinken geben, um ihn zu retten, ihn damit
aber töten, oder jemanden in der Absicht ihn anzufassen niederschlagen,
15 | wie etwa beim Boxtraining. Weil es bezüglich all dieser Umstände, welche
eine Handlung kennzeichnen, ein Unwissen geben kann, scheint derjenige,
der einen dieser Umstände nicht kennt, unfreiwillig gehandelt zu haben, vor
allem aber, wenn es die wichtigsten Faktoren betrifft. Für die wichtigsten
hält man aber den Gegenstand der Handlung und ihren Zweck. Damit man
20 aber bei jemandem aufgrund einer derartigen Unwissenheit | von unfreiwil-
lig sprechen kann, muss ihm überdies die betreffende Handlung schmerzlich
sein und Bedauern hervorrufen.
Kapitel 3
Wenn nun unfreiwillig ist, was aufgrund von Gewalt und Unwissenheit ge-
schieht, dann dürfte als freiwillig dasjenige gelten, dessen Ursprung im Han-
delnden liegt, sofern dieser die einzelnen Umstände kennt, auf denen die
25 Handlung beruht. Denn es ist wohl nicht richtig, | als unfreiwillig zu be-
zeichnen, was aufgrund von Zorn oder aus Begierde getan wird.
Zum einen würde dann nämlich keines der übrigen Lebewesen etwas
freiwillig tun, auch Kinder nicht. Zum anderen: Tun wir nichts freiwillig von
dem, was wir aus Begierde oder aus Zorn tun, oder tun wir schöne Dinge
freiwillig, schändliche unfreiwillig? Oder wäre das lächerlich, da die Ursa-
30 che doch ein und dieselbe ist? Es würde aber unsinnig erscheinen, | unfrei-
willig zu nennen, was man doch erstreben soll. Denn über bestimmte Dinge
soll man doch zornig sein und ebenso auch bestimmte Dinge begehren, wie
etwa die Gesundheit und das Lernen. Außerdem erscheint das Unfreiwillige
als schmerzlich, die Erfüllung der Begierde dagegen als lustvoll.
Ferner: Wodurch unterscheiden sich der Art der Unfreiwilligkeit nach
diejenigen Fehler, die man aufgrund von Überlegung begeht, von denen, die
1111b man aus Zorn begeht? Zwar sollte man beide vermeiden; | da man die nicht-
rationalen Affekte aber für nicht weniger menschlich hält, so gilt dies auch
für die Handlungen des Menschen, die dem Zorn oder der Begierde ent-
springen. Es ist also unsinnig, sie dem Unfreiwilligen zuzuordnen.
Kapitel 4
II. Nachdem wir nun das Freiwillige und das Unfreiwillige gegeneinander ab-
5 gegrenzt haben, | ist als Nächstes die Entscheidung zu untersuchen. Denn
Kapitel 4 41
sie scheint aufs engste mit der Tugend verwandt und mehr zur Beurteilung
des Charakters beizutragen als die Handlungen. Die Entscheidung scheint
nun freiwillig zu sein, aber nicht dasselbe, sondern ‚freiwillig‘ umfasst mehr.
Denn am Freiwilligen haben auch Kinder und die übrigen Lebewesen teil,
nicht aber an Entscheidungen; auch nennen wir zwar plötzliches Tun | frei- 10
willig, rechnen es aber nicht Entscheidungen zu.
Diejenigen, die sagen, die Entscheidung sei Begierde, Drang, Wunsch
oder eine Art von Meinung, scheinen das nicht zu Recht zu sagen. Begierde
und Drang haben wir nämlich mit den vernunftlosen Wesen gemein, Ent-
scheidungen dagegen nicht. Auch handelt der Unbeherrschte aus Begierde,
aber ohne zu entscheiden; umgekehrt handelt | der Beherrschte aufgrund ei- 15
ner Entscheidung, aber nicht aus Begierde. Ferner kann eine Begierde einer
Entscheidung entgegengesetzt sein, nicht aber eine Begierde einer anderen.
Außerdem gilt die Begierde Lust- oder Schmerzvollem, die Entscheidung
dagegen auch weder Schmerz- noch Lustvollem. Noch weniger aber ist die
Entscheidung eine Art von Drang. Denn was aufgrund eines Drangs ge-
schieht, ist doch wohl am wenigsten einer Entscheidung zuzurechnen. Sie
ist freilich auch keine Art von Wunsch, | wenngleich sie ihm nahezustehen 20
scheint. Entscheidungen gelten nämlich nichts Unmöglichem, und falls je-
mand behaupten wollte, sich dafür zu entscheiden, dann würde man ihn
für einen Dummkopf halten. Ein Wunsch kann dagegen auch Unmöglichem
gelten, wie etwa der Unsterblichkeit. Zudem beziehen sich Wünsche auch
auf Dinge, die gar nicht durch einen selbst bewirkt werden könnten, wie
etwa, dass ein bestimmter Schauspieler oder Athlet den Sieg erringen möge.
| Niemand entscheidet sich für Dinge dieser Art, sondern nur für dasjenige, 25
wovon man annimmt, es könne durch einen selbst zustande kommen. Au-
ßerdem gilt der Wunsch mehr dem Ziel, die Entscheidung aber dem, was
darauf bezogen ist; so wünschen wir, gesund zu sein, entscheiden uns aber
für das, was zur Gesundheit beiträgt. Ebenso wünschen wir uns glücklich zu
sein, und sagen dies auch; aber zu sagen, „wir entscheiden uns dafür“, ist un-
sinnig. Entscheidungen scheinen nämlich überhaupt | auf diejenigen Dinge 30
bezogen zu sein, die bei uns liegen.
Die Entscheidung dürfte also auch keine Meinung sein. Denn Meinun-
gen sind bekanntlich auf alles gerichtet, auf ewige und unmögliche Dinge
nicht weniger als auf diejenigen, die bei uns liegen. Außerdem wird die Mei-
nung durch wahr und falsch unterschieden, nicht durch gut und schlecht,
die Entscheidung dagegen vielmehr durch letztere. Dass die Entschei-
dung | überhaupt dasselbe wie die Meinung ist, wird wohl niemand behaup- 1112a
ten, aber auch nicht wie eine bestimmte Art von Meinung. Denn weil wir
uns für Gutes oder Schlechtes entscheiden, haben wir einen bestimmten
Charakter, nicht aber, weil wir eine Meinung darüber haben. Auch entschei-
den wir uns zwar dafür, etwas Derartiges zu suchen oder zu meiden, eine
42 Buch III
Meinung aber bilden wir uns darüber, was es ist, wem es nützt oder auf wel-
5 che Weise. | Es zu suchen oder zu meiden ist aber nicht Gegenstand unserer
Meinung. Außerdem wird die Entscheidung mehr dafür gelobt, dass sie sich
auf das bezieht, worauf sie soll, oder dafür, dass sie richtig ist, die Meinung
dagegen wird dafür gelobt, dass sie wahr ist. Auch entscheiden wir uns für
das, wovon wir am sichersten wissen, dass es gut ist, Meinungen haben wir
aber auch über das, was wir nicht sicher wissen. Auch scheinen nicht die-
selben Menschen die besten Entscheidungen zu treffen und die besten Mei-
10 nungen zu haben, sondern | manche haben zwar die besseren Meinungen,
wählen aber aufgrund ihrer Schlechtigkeit nicht, was man soll. Ob der Ent-
scheidung eine Meinung vorangeht oder mit ihr einhergeht, macht keinen
Unterschied. Denn nicht das ist es, was wir suchen, sondern ob die Ent-
scheidung dasselbe ist wie die Meinung.
Was aber ist nun die Entscheidung und welcher Art ist sie, da sie keines
von den genannten Dingen ist? Sie ist zwar offensichtlich etwas Freiwilli-
15 ges, aber nicht alles, was freiwillig ist, | ist Gegenstand von Entscheidung.
Ist sie also etwa das, worüber man zuvor mit sich zurate gegangen ist? Die
Entscheidung geht ja mit Überlegung und Verstand einher, und ihr Name
scheint anzudeuten, dass sie dem gilt, was vor anderem gewählt wird.
Kapitel 5
III. Geht man nun über alle Dinge mit sich zurate und ist alles Gegenstand
von Beratung, oder gibt es über manches gar keine Beratung? Man sollte
20 wohl | als Gegenstand von Beratung nicht dasjenige bezeichnen, worüber
ein Dummkopf oder ein Wahnsinniger, sondern nur das, worüber der Ver-
nünftige mit sich zurate gehen würde. Niemand geht ja über Ewiges zurate,
wie etwa über die Weltordnung, oder darüber, dass die Diagonale und die
Seite inkommensurabel sind. Es geht aber auch niemand über Dinge zu-
rate, die zwar Veränderungen unterliegen, aber immer auf die gleiche Weise
25 geschehen, sei es nun aus Notwendigkeit, | von Natur aus, oder aufgrund
irgendeiner anderen Ursache – wie etwa über die Sonnwenden oder die Auf-
gänge von Himmelskörpern. Man berät auch nicht über Dinge, die bald so,
bald anders eintreten, wie Dürre oder Regenstürme, und ebenso wenig über
Zufälliges wie die Entdeckung eines Schatzes. Man tut es aber auch nicht
über sämtliche menschlichen Angelegenheiten. So geht kein Spartaner mit
30 sich zurate, welche Staatsordnung für die Skythen am besten wäre. | Denn
nichts davon könnte durch uns zustande kommen. Vielmehr beraten wir
über das, was bei uns liegt und durch Handeln zu erreichen ist; und genau
diese Dinge sind noch übrig. Denn Ursachen sind bekanntlich Natur, Not-
wendigkeit und Zufall, überdies aber die Vernunft und alles, was durch den
Kapitel 5 43
Menschen getan wird. Die Menschen gehen daher jeweils über das zurate,
was sie selbst durch Handeln bewirken können.
Auch auf dem Gebiet der | genauen und autarken Arten von Wissen gibt 1112b
es aber keine Beratung, wie etwa auf dem der Schreibkunst (wir sind uns
nämlich nicht im Zweifel darüber, wie man zu schreiben hat). Vielmehr be-
raten wir über das, was zwar durch uns zustande kommt, aber nicht immer
auf die gleiche Weise, wie etwa über Fragen der Medizin und des Gelder-
werbs, | und wir beraten mehr über Navigation als über sportliches Training, 5
und zwar in dem Maße, wie es bei ersterer weniger Genauigkeit gibt. In glei-
cher Weise verfahren wir bei allem Übrigen, und zwar beraten wir mehr in
Bezug auf die Kunstfertigkeiten als auf die Wissenschaften, denn bei erste-
ren sind wir uns mehr im Zweifel. Beratungen beziehen sich also auf Dinge,
die zwar meistens geschehen, bei denen es aber unklar ist, wie sie ausgehen,
und bei denen es Unbestimmtes gibt. | Ratgeber aber ziehen wir in beson- 10
ders schwerwiegenden Fällen hinzu, wenn wir uns selbst nicht zutrauen, sie
hinreichend zu erfassen.
Wir gehen mit uns aber nicht über die Ziele zurate, sondern über das, was
zu ihnen hinführt. Denn weder geht ein Arzt mit sich zurate, ob er heilen,
noch ein Redner, ob er überzeugen, noch ein Staatsmann, ob er gute Gesetze
geben soll, so wie auch bei den übrigen Disziplinen niemand | über das Ziel 15
mit sich zurate geht. Sondern wenn man ein Ziel festgelegt hat, prüft man,
wie und wodurch es zu erreichen ist. Sollte es sich zeigen, dass es durch
mehreres geht, dann prüft man weiter, wodurch es am leichtesten und am
schönsten geht. Lässt es sich aber nur durch eines erreichen, dann prüft man,
wie es durch dieses zustande kommt, und wodurch wiederum dieses ent-
steht, bis man zur ersten Ursache kommt, die beim Suchen | als letzte er- 20
reicht wird. Wer mit sich zurate geht, scheint aber in derselben Weise zu
suchen und zu analysieren wie bei einer geometrischen Konstruktion (zwar
scheint nicht jede Untersuchung ein Beraten zu sein – wie etwa nicht die ma-
thematische – wohl aber jedes Beraten eine Untersuchung), und das Letzte
in der Analyse scheint das Erste in der Ausführung zu sein.
Wenn man dabei auf etwas Unmögliches | stößt, dann gibt man es auf; 25
wenn man z.B. bestimmte Geldmittel braucht, diese aber nicht zu beschaf-
fen sind. Wenn es dagegen als möglich erscheint, dann versucht man, es aus-
zuführen. Möglich ist aber das, was durch uns geschehen könnte; denn auch
das, was durch Freunde getan wird, geschieht in gewisser Weise durch uns,
da der Ursprung in uns liegt. Wonach man sucht, sind manchmal die Werk-
zeuge, manchmal aber auch ihr Gebrauch; | und ebenso sucht man auch in 30
den sonstigen Fällen manchmal wodurch, manchmal wie oder auch durch
wen etwas zustande kommt. Es scheint also, wie gesagt, dass der Mensch
der Ursprung seiner Handlungen ist, die Beratung das betrifft, was er selbst
zu tun hat, die Handlungen aber anderer Dinge wegen getan werden. Nicht
44 Buch III
das Ziel dürfte nämlich Gegenstand der Beratung sein, sondern was zu ihm
1113a hinführt. Auch sind nicht die Einzeldinge Gegenstand von Beratung, | wie
etwa darüber, ob dieses hier Brot ist oder ob es so gebacken worden ist, wie
es soll, denn das ist Sache der Wahrnehmung. Denn will man immer weiter
mit sich zurate gehen, wird man ins Unendliche fortgehen.
Der Gegenstand von Beratung und Entscheidung ist zwar derselbe, nur
ist er bei der Entscheidung bereits klar bestimmt. Denn das Ergebnis der
5 Beratung ist das Entschiedene. | Jeder hört nämlich auf zu überlegen, wie er
handeln soll, wenn er den Ursprung auf sich selbst zurückgeführt hat, und
zwar zu dem leitenden Teil in ihm, denn dieser trifft die Entscheidungen.
Das wird auch aus den alten Staatsverfassungen deutlich, die Homer dar-
stellt. Die Könige ließen nämlich dem Volk verkünden, was sie entschieden
10 hatten. Da Gegenstand der | Entscheidung dasjenige ist, worüber man be-
rät, was man erstrebt und was bei uns liegt, wird auch die Entscheidung ein
mit Beratung verbundenes Streben nach dem bei uns Liegenden sein. Denn
aufgrund des Beratens kommen wir zu einem Urteil und erstreben das, was
dem Beraten entspricht. Damit sei die Entscheidung im Umriss bestimmt,
sowohl auf welche Art von Dingen sie sich bezieht, wie auch dass sie dem
gilt, was zum Ziel hinführt.
Kapitel 6
IV. | 15 Dass der Wunsch sich auf das Ziel bezieht, wurde bereits gesagt. Die einen
meinen nun, er beziehe sich auf das Gute, die anderen, auf das, was gut er-
scheint. Für diejenigen, die sagen, das Gewünschte sei das Gute, ergibt sich,
dass gar nicht gewünscht ist, was jemand wünscht, der nicht richtig wählt;
denn wenn es gewünscht sein soll, dann muss es gut sein; es traf sich aber so,
20 dass es schlecht war. | Für diejenigen dagegen, die sagen, gewünscht sei das,
was gut erscheint, ergibt sich, dass es kein von Natur aus Gewünschtes gibt,
sondern für einen jeden nur dasjenige, was ihm gut erscheint. Es erscheint
nun aber dem einen dies, dem anderen das gut, und wenn es sich gerade so
trifft, erscheint ihnen auch Entgegengesetztes gut.
Wenn uns diese Konsequenzen aber nicht zusagen, sollten wir dann er-
klären, überhaupt und in Wahrheit sei das Gute das Gewünschte, für jeden
25 Einzelnen aber dasjenige, was ihm so erscheint? | Für den Guten sei es also
das wahrhaft Gute, für den Schlechten aber, was sich gerade trifft, wie ja
auch den Körper betreffend für Menschen in guter Verfassung das wahrhaft
Gesunde gesund ist, für Kranke dagegen anderes, und ebenso auch Bitteres,
30 Süßes, Warmes, Schweres und alles andere. Der Gute | beurteilt nämlich alle
Dinge richtig, und in jedem Fall erscheint ihm das so, was wahr ist.
Kapitel 7 45
Kapitel 7
Da Gegenstand des Wunsches das Ziel ist, von Beratung und Entscheidung V.
dagegen dasjenige, was zum Ziel hinführt, beruhen auch die auf das Ziel
bezogenen Handlungen | auf Entscheidung und sind freiwillig. Darauf be- 5
ziehen sich aber die Tätigkeiten der Tugenden. Auch die Tugend liegt aber
bei uns und ebenso auch das Laster. Denn wo es bei uns liegt zu handeln,
da liegt es auch bei uns nicht zu handeln, und wo das Nicht, da auch das Ja.
Wenn folglich das Handeln bei uns liegt, das schön ist, dann | wird auch das 10
Nichthandeln bei uns liegen, das schändlich ist; und wenn das Nichthan-
deln bei uns liegt, das schön ist, dann liegt auch das Handeln bei uns, das
schändlich ist. Wenn es aber bei uns liegt, sowohl Schönes wie auch Schänd-
liches zu tun und ebenso es nicht zu tun, wenn das aber heißt, ein guter oder
schlechter Mensch zu sein, dann liegt es auch bei uns, gute oder schlechte
Menschen zu sein.
Zu sagen, niemand sei freiwillig | schlecht und niemand unfreiwillig 15
glücklich, erscheint teils falsch, teils wahr. Denn zwar ist niemand unfrei-
willig glücklich, die Schlechtigkeit ist aber freiwillig. Sonst müsste man doch
das eben Gesagte anzweifeln und bestreiten, dass der Mensch der Urheber
und Erzeuger seiner Handlungen ist, so wie er es von seinen Kindern ist.
Wenn dies aber offensichtlich zutrifft und wir unsere Handlungen | auf keine 20
anderen Ursachen zurückführen können als auf die in uns, dann liegt auch
das, was seinen Ursprung in uns hat, bei uns und ist freiwillig. Dies scheint
nun das Verhalten jedes einzelnen Menschen für sich, besonders aber das der
Gesetzgeber zu bezeugen. Denn sie züchtigen und bestrafen diejenigen, die
Schlechtes getan haben, sofern es nicht unter Zwang oder aus Unwissenheit
geschah, für welche die Täter | nicht verantwortlich sind; auch ehren sie die- 25
jenigen, die Schönes getan haben, um die einen zu ermutigen, die anderen
abzuhalten. Hingegen versucht niemand, jemanden zu einer Handlung zu
ermutigen, die weder bei uns liegt noch freiwillig ist, so wie es ja auch nichts
nützt, jemanden davon zu überzeugen, er solle keine Hitze, Schmerz, Hun-
ger und sonst etwas dieser Art empfinden. Wir werden | all das darum näm- 30
lich nicht weniger empfinden. Auch verhängen die Gesetzgeber Strafen für
46 Buch III
Übeln pflegt man also diejenigen zu tadeln, die bei uns liegen, aber nicht
diejenigen, die nicht bei uns liegen. Wenn | das zutrifft, dann dürften auch 30
in den übrigen Fällen die tadelnswerten unter den Schlechtigkeiten bei uns
liegen.
Wenn aber jemand sagen würde, dass zwar alle nach dem streben, was
ihnen gut erscheint, sie über diesen Eindruck aber nicht Herr seien, sondern
wie jeder gerade | beschaffen ist, so erscheine ihm auch das Ziel, (dann ist zu 1114b
sagen): Wenn jeder in gewisser Weise für seine Charakterdisposition verant-
wortlich ist, dann ist er in gewisser Weise auch für diesen Eindruck selbst
verantwortlich. Wenn aber nicht, dann ist niemand für seine eigenen Übelta-
ten verantwortlich; vielmehr | begeht er sie aus Unkenntnis des Ziels, weil er 5
glaubt, auf diese Weise das für ihn Beste zu erreichen. Das Streben nach dem
Ziel ist dann aber nicht selbst gewählt, sondern man muss schon mit einer
gewissen Sehfähigkeit geboren sein, aufgrund derer man richtig urteilen und
das wahrhaft Gute wählen wird, und begabt ist, wer damit von Natur aus
gut ausgestattet ist. Das Wichtigste und Schönste kann man dann aber we-
der von einem anderen | übernehmen noch auch lernen, sondern man wird 10
es so haben, wie es einem angeboren ist; und diesbezüglich gut und richtig
versehen zu sein, wäre die vollkommen und wahrhaft gute Naturbegabung.
Wenn das also wahr ist, wie soll dann aber die Tugend eher freiwillig sein
als das Laster? Denn beiden, dem Guten wie dem Schlechten gleicherma-
ßen, | erscheint doch das Ziel von Natur aus – oder wie auch immer – und ist 15
so festgelegt; alles Übrige aber beziehen sie auf dieses Ziel und handeln auf
entsprechende Weise.
Wenn nun aber jedem nicht von Natur aus das Ziel auf die jeweilige
Weise erscheint, sondern etwas auch bei ihm liegt, oder ob zwar das Ziel na-
türlich ist, die Tugend aber dennoch freiwillig ist, weil der Gute das Übrige
freiwillig tut, dann wäre auch das Laster | nicht weniger freiwillig. Denn in 20
gleicher Weise trifft auch auf den Schlechten zu, dass bei den Handlungen
etwas durch ihn geschieht, selbst wenn das vom Ziel nicht gilt. Wenn also,
wie gesagt, die Tugenden freiwillig sind, wir aber doch auch selbst in ge-
wisser Weise Mitursachen unserer Dispositionen sind und, sofern wir Men-
schen von einer bestimmten Art sind, uns entsprechende Ziele setzen, dann
müssten auch die Laster freiwillig sein; | mit ihnen verhält es sich nämlich 25
ebenso.6
6
Nach dem Vorschlag Rassows ist hier ergänzend der zweite Paragraph des folgenden
Kapitels zu lesen, der aufgrund einer Vertauschung ans Ende geraten ist.
48 Buch III
Kapitel 8
Was den Charaktertugenden gemeinsam ist, haben wir nun besprochen, in-
dem wir ihre Gattung im Umriss bestimmt haben: dass sie Mitten und Dis-
positionen sind, wodurch sie entstehen, und dass sie sich auch von sich aus
in diesen Dingen betätigen, dass sie bei uns liegen und freiwillig sind, und
30 dass sie so sind, wie es die richtige Überlegung | anordnen würde.
Die Handlungen sind aber nicht in der gleichen Weise freiwillig wie die
Dispositionen. Denn über die Handlungen sind wir von Anfang bis Ende
Herr, wenn wir das Einzelne kennen. Bei den Dispositionen sind wir dage-
1115a gen nur über den | Anfang Herr, ihr Fortschreiten im Einzelnen ist dagegen
nicht erkennbar, so wie auch nicht bei den Krankheiten. Weil es aber bei uns
gelegen hat, uns so oder auch nicht so zu verhalten, deswegen sind sie frei-
willig.7
Kapitel 9
Indem wir nun die Charaktertugenden einzeln aufnehmen, wollen wir sa-
5 gen, welche sie sind, | mit welcher Art von Gegenständen sie befasst sind
VI. und auf welche Weise. Zugleich wird auch klar werden, wie viele Tugenden
es gibt. Und als erstes wollen wir über die Tapferkeit reden. Dass sie eine
Mitte ist in Hinblick auf Furcht und Zuversicht, ist bereits deutlich gewor-
den. Auch ist offensichtlich, dass wir die furchtbaren Dinge fürchten, diese
aber sind, ganz allgemein gesagt, üble Dinge. Daher pflegt man auch die
Furcht als Erwartung eines Übels zu definieren. |
10 Wir fürchten nun zwar sämtliche Übel, wie Unehre, Armut, Krankheit,
Freundlosigkeit und Tod; vom Tapferen meint man aber nicht, dass er all
dies zum Gegenstand hat. Manches soll man nämlich sogar fürchten, und
eben das ist schön, und es nicht zu fürchten, wäre schändlich, wie etwa die
Unehre. Wer diese fürchtet, hat Anstand und Schamgefühl; wer sie nicht
15 fürchtet, ist schamlos. | Auch ein solcher wird aber von manchen in einem
übertragenen Sinn als tapfer bezeichnet, weil er eine gewisse Ähnlichkeit mit
dem Tapferen hat, denn auch der Tapfere ist jemand, der furchtlos ist. Armut
sollte man aber vielleicht nicht fürchten und auch Krankheit nicht, so wie
überhaupt nichts, was nicht auf einer Schlechtigkeit beruht und nicht an ei-
nem selbst liegt. Auch der in diesen Dingen Furchtlose ist also nicht tapfer,
20 wir nennen aber auch ihn so aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit. | Man-
che, die in Kriegsgefahren feige sind, sind nämlich freigebig und verhalten
sich dem Verlust ihres Vermögens gegenüber unbekümmert. Auch wenn je-
7
Zur Position dieser Passage vgl. Anm. 6.
Kapitel 10 49
mand sich vor Gewalt gegen Frau und Kinder, vor Missgunst oder derarti-
gem fürchtet, ist er nicht feige; noch auch ist tapfer, wer sich zuversichtlich
gibt, wenn er ausgepeitscht werden soll.
Mit welcher Art von furchtbaren Dingen hat | es also der Tapfere zu tun? 25
Nicht etwa mit den größten? Denn niemand ist gegenüber schrecklichen
Dingen standhafter als er. Das Furchtbarste aber ist der Tod; er ist näm-
lich eine absolute Grenze, und für den Toten scheint es nichts mehr zu ge-
ben, weder Gutes noch Schlechtes. Der Tapfere, so sollte man meinen, hat es
aber nicht mit dem Tod in allen Lebenslagen zu tun, wie etwa auf See oder
durch Krankheiten. In welchen aber dann? Doch wohl in | den schönsten? 30
Von dieser Art aber wäre der Tod im Krieg, denn darin liegt die größte und
schönste Gefahr. Dem entsprechen auch die besonderen Ehrungen, die in
Staaten und von Monarchen für sie verliehen werden. Im eigentlichen Sinn
tapfer dürfte daher derjenige genannt werden, der dem schönen Tod gegen-
über furchtlos ist wie auch dem gegenüber, was unmittelbar den Tod brin-
gen kann; und Derartiges gibt es | vor allem im Krieg. Nun ist der Tapfere 35
freilich auch auf See | und im Krankheitsfall furchtlos, aber nicht so wie die 1115b
Seeleute: Die Tapferen, nachdem sie die Hoffnung auf Rettung aufgegeben
haben, verachten nämlich einen solchen Tod; die Seeleute dagegen sind ihrer
Erfahrung wegen hoffnungsvoll. Tapferkeit legt man aber in Situationen an
den Tag, in denen man Stärke beweisen kann | oder das Sterben schön ist. 5
Diese Arten von Tod erlauben aber weder das eine noch das andere.
Kapitel 10
Das Furchtbare ist zwar nicht für alle Menschen dasselbe, von manchem VII.
sagen wir sogar, es übersteige Menschenkraft. Dies ist für jeden Menschen
furchterregend, jedenfalls wenn er bei Verstand ist. Furchtbares, das mensch-
lichem Maß entspricht, unterscheidet sich aber hinsichtlich seiner Größe
und dem | Mehr und Weniger. Ebenso verhält es sich mit dem, was Zuver- 10
sicht erregt. Der Tapfere ist so unerschütterlich, wie man das als Mensch
sein kann. Auch er hat Furcht vor derartigen Dingen, hält ihnen aber stand,
so wie man soll, um des Schönen willen und wie es die Vernunft verlangt;
denn dies ist das Ziel der Tugend. Man kann aber Derartiges mehr und we-
niger fürchten, und zudem kann man | auch Dinge fürchten, die gar nicht 15
furchtbar sind, als wären sie es. Zu diesen Verfehlungen kommt es, wenn
man fürchtet, was man nicht soll oder wie man es nicht soll oder auch wann
man es nicht soll oder anderes dieser Art. Ebenso verhält es sich mit dem,
was Zuversicht erregt. Wer also standhält und fürchtet, was man soll und
weswegen man es soll und wie und wann man es soll, und in entsprechender
Weise auch Zuversicht an den Tag legt, ist tapfer. Denn | der Tapfere fühlt 20
50 Buch III
und handelt in angemessener Weise und wie es die Vernunft verlangt. Ziel
jeder Tätigkeit ist aber das, was der jeweiligen Disposition entspricht, und
dies gilt also auch für den Tapferen;8 die Tapferkeit ist aber etwas Schönes
und daher ist auch ihr Ziel von dieser Art. Denn jede Disposition ist durch
ihr Ziel bestimmt. Um des Schönen willen bleibt der Tapfere folglich stand-
haft und tut, was der Tapferkeit entspricht.
Von denen, die durch Übermaß fehlgehen, hat derjenige, der es durch
25 Furchtlosigkeit tut, | keinen Namen (wir haben ja schon im Vorangehenden
gesagt, dass viele Dispositionen namenlos sind); jemand wäre aber wahnsin-
nig oder ganz schmerzunempfindlich, wenn er überhaupt nichts fürchtete –
weder Erdbeben noch Flutwellen, so wie man das den Kelten nachsagt. Wer
sich aber übermäßig zuversichtlich dem Furchtbaren gegenüber verhält, ist
30 tollkühn. Der Tollkühne scheint aber auch ein Aufschneider zu sein und | je-
mand, der Tapferkeit nur vortäuscht: Wie sich der Tapfere dem Furchtbaren
gegenüber verhält, so versucht es dieser dem Anschein nach; wo er es kann,
ahmt er ihn nämlich nach. Daher sind auch die meisten dieser Leute ‚toll-
kühn-feige‘; während sie sich wagemutig geben, halten sie dem Furchtbaren
doch nicht stand.
Wer dagegen Furcht im Übermaß hat, ist feige. Er fürchtet nämlich, was
35 man nicht soll | und wie man es nicht soll, und alles dieser Art hängt ihm
1116a an. | Es mangelt ihm auch an Zuversicht, sondern er sticht eher durch über-
triebene Wehleidigkeit hervor. Der Feige ist aber ohne Hoffnung, da er sich
vor allem fürchtet. Beim Tapferen ist es genau umgekehrt. Denn Zuversicht
5 zeichnet den Hoffnungsfrohen aus. Der Feige, | der Tollkühne und der Tap-
fere haben zwar mit denselben Dingen zu tun, sie verhalten sich zu ihnen
aber auf verschiedene Weise. Denn erstere legen Übermaß und Mangel an
den Tag, dieser aber verhält sich auf mittlere Weise und so, wie man soll. Die
Tollkühnen sind zudem übereifrig und wünschen sich zuvor zwar Gefahren
herbei, weichen in ihnen dann aber zurück; die Tapferen sind dagegen in
Aktionen zupackend, vorher aber bewahren sie Ruhe.
Kapitel 11
10 Die Tapferkeit ist also, wie gesagt, eine Mitte gegenüber dem, was unter den
genannten Umständen Zuversicht und Furcht erregt; sie wählt oder erträgt
Derartiges, weil es schön ist, es zu tun, oder auch weil es schändlich wäre, es
nicht zu tun. Zu sterben, um Armut, Liebe oder sonst irgendetwas Schmerz-
lichem zu entgehen, ist aber nicht Sache des Tapferen, sondern vielmehr des
8
1115b21: An der von Bywater als korrupt markierten Stelle wird die Emendation von
Susemihl übernommen.
Kapitel 11 51
Feigen. Denn es ist eine Schwäche, vor Bedrängnissen zu fliehen; und ein
solcher Mensch nimmt den Tod | nicht auf sich, weil es schön ist, sondern 15
um einem Übel zu entgehen. Die Tapferkeit ist also etwas von dieser Art.
Von Tapferkeit pflegt man aber auch noch in fünf anderen Weisen zu VIII.
sprechen. An erster Stelle steht die des Bürgerheers, da sie der eigentlichen
Tapferkeit am ähnlichsten ist. Die Bürger scheinen nämlich Gefahren so-
wohl der Strafe der Gesetze und der öffentlichen Schande wegen auf sich
zu nehmen, wie auch um der Ehrungen willen. | Daher scheint es dort die 20
Tapfersten zu geben, wo man Feiglinge für ehrlos hält und die Tapferen ehrt.
Solche Menschen stellt auch Homer in seiner Dichtung dar, wie etwa Dio-
medes und Hektor:
„Polydamas wird mich als erster mit Schimpf beladen…“
und: |
„Hektor wird dereinst im Kreise der Trojaner verkünden: 25
‚Der Sohn des Tydeus ist vor mir…‘“
Diese Art Tapferkeit gleicht der zuvor beschriebenen Art am meisten, weil
sie der Tugend wegen auftritt, der Scham und dem Streben nach Schönem
wegen, nämlich nach Ehre, sowie um Schande zu vermeiden, weil sie häss-
lich ist. |
Derselben Art könnte jemand auch solche Menschen zurechnen, die von 30
ihren Anführern gezwungen werden; sie sind aber schlechter, weil sie nicht
aus Scham, sondern aus Furcht so handeln, und nicht um Schändliches, son-
dern um Schmerzhaftes zu vermeiden. Ihre Befehlshaber zwingen sie näm-
lich dazu, so wie Hektor es tut:
„Wen fern vom Kampf ich sich verbergen sehe …, |
für den wird es kein Mittel geben, den Hunden zu entgehen.“ 35
Auch diejenigen, die ihnen ihre Posten zuweisen und jeden schlagen, der
zurückweicht, | tun dasselbe, genauso wie diejenigen, die ihre Mannschaf- 1116b
ten vor Gräben und Ähnlichem aufstellen. Sie alle üben nämlich Zwang aus.
Man soll aber nicht aufgrund von Zwang tapfer sein, sondern weil es schön
ist.
Auch Erfahrung in bestimmten Dingen hält man aber für eine Art von
Tapferkeit. Daher meinte auch Sokrates, | die Tapferkeit sei Wissen. So sind 5
die einen in dieser, die anderen in jener Weise erfahren, in Angelegenheiten
des Krieges sind es aber die Söldner. Bekanntlich gibt es im Krieg viele Situ-
ationen, die gefahrlos sind, und die Söldner überblicken diese am besten. Sie
erscheinen so als tapfer, weil die anderen nicht wissen, welche diese Situati-
onen sind. Ferner verstehen Söldner aufgrund ihrer | Erfahrung am besten 10
anzugreifen und sich zu verteidigen, zumal sie sich im Gebrauch von Waf-
52 Buch III
fen auskennen und solche besitzen, die am besten zum Angriff wie auch zur
Verteidigung geeignet sind. Sie kämpfen daher wie Bewaffnete gegen Waf-
fenlose oder wie Athleten gegen Amateure. Denn auch bei solchen Kämpfen
15 sind nicht die Tapfersten die Erfolgreichsten, sondern die | Stärksten und die
mit der besten körperlichen Verfassung. Söldner erweisen sich aber als feige,
wenn die Gefahr überhandnimmt und sie der Zahl und der Ausrüstung nach
unterlegen sind. Sie wenden sich als erste zur Flucht, während das Bürger-
heer ausharrt und in den Tod geht, so wie es tatsächlich beim Tempel des
20 Hermes geschehen ist. Denn für die Bürger ist die Flucht schändlich | und
der Tod einer solchen Rettung vorzuziehen. Die anderen dagegen haben die
Gefahr von vornherein nur in der Meinung, überlegen zu sein, auf sich ge-
nommen; haben sie aber erst einmal die wahre Lage erkannt, dann fliehen
sie, weil sie den Tod mehr als die Schande fürchten. Der Tapfere ist aber
nicht von dieser Art.
Auch den Zorn pflegt man in Beziehung zur Tapferkeit zu stellen. Denn
25 auch solche, die aus Zorn | wie wilde Tiere auf diejenigen losgehen, von de-
nen sie verwundet worden sind, gelten als tapfer, da Tapfere auch zum Zorn
neigen. Der Zorn verstärkt nämlich die Bereitschaft, sich in Gefahr zu be-
geben; daher sagt auch Homer: „er verlieh seinem Zorn Stärke“, „er weckte
Mut und Zorn in ihm“, „scharfen Mut um die Nüstern“ und „es kochte ihm
30 das Blut“. Denn alle diese Wendungen scheinen | das Erregen und Ansta-
cheln des Zorns zu bezeichnen. Die Tapferen handeln nun um des Schönen
willen, und der Zorn unterstützt sie dabei, Tiere dagegen aus Schmerz. Sie
tun das nämlich, weil sie getroffen sind oder sich fürchten; denn wenn sie
einmal im Wald oder im Sumpf verborgen sind,9 kommen sie nicht heraus.
35 Tapfer sind sie also nicht, wenn sie, von Schmerz oder Wut getrieben, | auf
die Gefahr losgehen, da sie ja nichts Schreckliches vorhersehen. Denn sonst
wären selbst Esel tapfer, die das aus Hunger tun. Selbst wenn sie geschla-
1117a gen werden, | hören sie nämlich mit dem Fressen nicht auf. Und schließlich
gehen auch die Ehebrecher aus Begierde vielerlei Wagnisse ein. Lebewesen,
die sich durch Schmerz oder Wut getrieben in Gefahr begeben, sind also
nicht tapfer.10 Die natürlichste scheint zwar die Tapferkeit aus wütender Er-
5 regung; | nimmt sie noch Absicht und Ziel hinzu, dann scheint sie Tapfer-
keit zu sein. Auch Menschen empfinden Schmerz, wenn sie zornig sind, und
Lust, wenn sie sich rächen. Kämpfen sie aus solchen Gründen, dann sind sie
zwar kämpferisch, aber nicht tapfer. Sie tun es nämlich nicht des Schönen
9
Bywater streicht hier nach Victorinus en helei, wohl weil solche Wortspiele bei Aristoteles
selten sind.
10
Bywater athetiert diesen Satz unter Berufung auf Handschrift Kb ; für den Kontext ist er
aber nötig.
Kapitel 12 53
wegen oder der Vernunft gemäß, sondern des Affektes wegen. Sie haben
aber etwas an sich, was der Tapferkeit nahe kommt. |
Auch die Hoffnungsfrohen sind jedoch nicht tapfer. Weil sie oft und über 10
viele gesiegt haben, sind sie nämlich in Gefahren zuversichtlich. Den Tapfe-
ren sind sie insofern ähnlich, als beide zuversichtlich sind. Doch die Tapfe-
ren sind aus den bereits genannten Gründen zuversichtlich, die Hoffnungs-
frohen sind es aber, weil sie meinen, sie seien die Stärksten und ihnen werde
nichts geschehen. So verhalten sich Menschen auch in Trunkenheit; auch sie
werden nämlich | zuversichtlich. Gehen die Ereignisse aber wider ihr Erwar- 15
ten aus, dann fliehen sie.
Das Kennzeichen des Tapferen war es jedoch, dem, was für Menschen
furchtbar ist und auch erscheint, deswegen standzuhalten, weil es schön
ist, und schändlich, es nicht zu tun. Daher scheint es auch ein Zeichen grö-
ßerer Tapferkeit zu sein, wenn jemand sich in plötzlichen Schrecknissen
furchtlos und unerschütterlich verhält, als wenn er es in den vorhersehbaren
tut. | Denn dieses Verhalten beruht eher auf der Disposition und weniger 20
auf der Vorbereitung. Bei vorhersehbaren Gefahren kann man sich nämlich
auch aufgrund von Überlegung und Vernunft entscheiden, bei plötzlichen
verhält man sich der Disposition entsprechend.
Als tapfer erscheinen auch die Unkundigen; sie sind nicht weit von den
Hoffnungsfrohen entfernt, aber insofern schlechter, als sie nicht das Selbst-
vertrauen haben wie die Hoffnungsfrohen, die daher auch eine | Weile stand- 25
halten. Wenn diejenigen, die sich bloß getäuscht haben, aber erkennen, dass
die Dinge anders liegen, oder auch nur den Verdacht schöpfen, dann fliehen
sie. So erging es den Argivern, als sie auf die Spartaner stießen und sie für
Sikyoner hielten. Wir haben also erklärt, von welcher Art die Tapferen und
von welcher Art diejenigen sind, die als tapfer gelten.
Kapitel 12
Die Tapferkeit ist zwar auf Zuversicht und Furcht bezogen, aber nicht auf IX.
beide in der gleichen | Weise, sondern mehr auf das Furchterregende. Denn 30
wer in derartigen Situationen unerschütterlich ist und sich darin so verhält,
wie man es soll, der ist tapferer als derjenige, der es demgegenüber tut, was
Zuversicht erregt. Man wird also, wie gesagt, aufgrund des Standhaltens
gegenüber Schmerzhaftem tapfer genannt. Daher ist die Tapferkeit auch
mit Schmerz verbunden und wird zu Recht gelobt. Denn es ist schwerer,
| Schmerzhaftes auszuhalten als sich des Lustvollen zu enthalten. 35
Dennoch | sollte das Ziel der Tapferkeit als etwas Lustvolles erscheinen, 1117b
was nur durch die Umstände verdunkelt wird, so wie das auch bei den sport-
lichen Wettkämpfen geschieht. Auch für Faustkämpfer ist nämlich das Ziel,
54 Buch III
um dessentwillen sie kämpfen, der Siegeskranz und die Ehrungen, eine Lust;
die eingesteckten Schläge sind dagegen schmerzhaft und unangenehm für
5 sie – da sie doch | aus Fleisch und Blut sind – wie überhaupt ihre Mühen.
Weil es davon eine Vielzahl gibt, scheint das Ziel, weil es geringfügig ist, gar
nichts Lustvolles an sich zu haben.
Wenn es sich also mit der Tapferkeit ähnlich verhält, dann werden Tod
und Verletzungen für den Tapferen schmerzhaft und unwillkommen sein; er
wird sie aber auf sich nehmen, weil es schön ist oder doch schändlich wäre,
10 es nicht zu tun. Und | je mehr er die Tugend als ganze besitzt und je glückli-
cher er ist, desto mehr wird ihn die Aussicht auf den Tod schmerzen. Denn
für einen solchen Menschen ist das Leben in höchstem Maße lebenswert und
er wird wissentlich der größten Güter beraubt, was schmerzlich ist. Doch
ist er darum nicht weniger tapfer, sondern vielleicht sogar noch mehr, weil
15 er das Schöne, das zum Krieg gehört, auf Kosten | der anderen Güter wählt.
Nicht bei allen Tugenden ist also das Tätigsein angenehm, außer insofern,
als es das Ziel berührt. Es ist aber durchaus möglich, dass solche Menschen
nicht die besten Soldaten sind, sondern eher solche, die zwar weniger tapfer
sind, aber sonst nichts Gutes kennen. Diese sind nämlich bereit, Gefahren
20 auf sich zu nehmen und ihr | Leben für einen geringen Lohn dranzugeben.
So viel sei also über die Tapferkeit gesagt. Was sie ist, lässt sich jedenfalls
im Umriss unschwer dem Gesagten entnehmen.
Kapitel 13
X. Nach der Tapferkeit wollen wir jetzt über die Besonnenheit sprechen, denn
diese beiden scheinen die Tugenden der vernunftlosen Seelenteile zu sein.
25 Dass | die Besonnenheit eine Mitte in Bezug auf die Lust ist, haben wir be-
reits gesagt; auf den Schmerz ist sie nämlich weniger und nicht in derselben
Weise bezogen. Auch die Zügellosigkeit zeigt sich im gleichen Bereich. Um
welche Arten von Lust es dabei geht, wollen wir jetzt bestimmen. Die see-
lischen Arten der Lust sind aber von den körperlichen zu trennen, wie etwa
Ehrliebe und Liebe zum Lernen. Es freut sich nämlich ein jeder über dasje-
30 nige, | dessen Liebhaber er ist; bei ihnen ist aber nicht der Körper betroffen,
sondern vielmehr das Denken. Menschen, denen es um diese Art von Lust
zu tun ist, nennt man nicht besonnen oder zügellos, ebenso wenig wie die-
jenigen, denen es um die übrigen Arten von Lust geht, die nicht den Körper
35 betreffen. Denn Menschen, die Geschichten lieben, gern erzählen und | ihre
1118a Tage mit Gerede über Beliebiges verbringen, | nennen wir zwar redselig,
aber nicht zügellos; und zügellos nennen wir auch solche nicht, die der Ver-
lust von Geld oder von Freunden schmerzt. Die Besonnenheit bezieht sich
also auf die körperlichen Arten von Lust, aber auch da wieder nicht auf alle.
Kapitel 13 55
Denn diejenigen, die sich an den Gegenständen des Sehens freuen, an Far-
ben, Gestalten oder an Bildern, werden weder als besonnen noch | als zügel- 5
los bezeichnet, obwohl man meinen sollte, auch über Derartiges könne man
Lust empfinden, wie man soll, und Übermaß oder Mangel an den Tag legen.
Ähnliches gilt auch für den Bereich des Hörens. Denn wer sich übermäßig
an Musik oder Schauspiel erfreut, den nennt niemand zügellos, noch auch
den besonnen, der es tut, wie man soll. Auch in Hinblick auf den Geruchs-
sinn nennt man Leute nicht so, es sei denn in | akzidenteller Weise. Wir nen- 10
nen nämlich nicht diejenigen zügellos, die sich am Geruch von Äpfeln, Ro-
sen oder Räucherwerk erfreuen, sondern eher diejenigen, die das beim Duft
von Parfum oder Speisen tun. An ihnen haben nämlich Zügellose ihre Lust,
weil diese sie an die Gegenstände ihrer Begierde erinnern. Auch bei anderen
Menschen kann man ja sehen, dass sie sich an den | Gerüchen von Speisen 15
erfreuen, wenn sie Hunger haben. Die Lust an solchen Dingen zeichnet aber
den Zügellosen aus, denn ihnen gilt seine Begierde.
Bei den übrigen Lebewesen gibt es auch keine Lust an Wahrnehmungen
dieser Art, es sei denn akzidentell. Denn die Hunde erfreuen sich nicht am
Geruch von Hasen, sondern am Fressen; der Geruch | lässt sie diese aber 20
wahrnehmen. Und so hat auch der Löwe seine Lust nicht am Brüllen des
Ochsen, sondern am Verzehr. Am Brüllen merkt der Löwe, dass der Ochse
in der Nähe ist, und daher scheint es, als bereite es ihm Lust. In gleicher
Weise hat er nicht Lust am Anblick von „Hirsch oder Wildziege“, sondern
daran, dass er sie zur Beute haben wird. Besonnenheit und Zügellosigkeit be-
ziehen sich nun auf solche Arten von Lust, an denen auch die übrigen | Tiere 25
teilhaben, daher erscheinen diese Arten auch sklavisch und animalisch. Sie
betreffen nämlich den Tast- und den Geschmackssinn. Aber auch vom Ge-
schmackssinn scheinen die Zügellosen nur wenig oder gar keinen Gebrauch
zu machen. An diesem liegt es nämlich, die Geschmacksunterschiede festzu-
stellen, so wie diejenigen es tun, die Weine erproben und Speisen abschme-
cken. An Derartigem haben | die Zügellosen jedenfalls nur wenig Lust, son- 30
dern vielmehr am Genuss, der ganz auf dem Tastsinn beruht – und zwar am
Essen, am Trinken und an der Sexualität. Daher hat ein gewisser Schlemmer
auch gebetet, sein Schlund möge länger als der eines Kranichs werden, als
gelte seine Lust der | Berührung. Die Zügellosigkeit gilt also der gemeinsten 1118b
Art von Wahrnehmung und sie dürfte zu Recht als tadelnswert erscheinen,
weil wir sie nicht haben, insofern wir Menschen, sondern insofern wir Tiere
sind. Aus solchen Dingen seine Lust zu beziehen und sie über alles zu lie-
ben, ist daher tierisch. Ausgenommen davon sind freilich die feinsten | For- 5
men von Lust an der Berührung, wie etwa jene, die in den Gymnasien durch
Massage und Erhitzung hervorgerufen werden. Beim Zügellosen betrifft die
Berührung nämlich nicht den ganzen Körper, sondern nur bestimmte Kör-
perteile.
56 Buch III
XI. Von den Begierden erscheinen die einen allen gemeinsam zu sein, an-
dere sind einzelnen Menschen eigen und erworben. Natürlich ist etwa die
10 Begierde nach Nahrung. | Denn jeder, dem es daran mangelt, begehrt feste
oder flüssige Nahrung, manchmal auch beides zugleich; zudem begehrt nach
‚Beilager‘, wie Homer sagt, wer jung ist und in der Blüte seiner Jahre steht.
Begierde nach dieser oder jener besonderen Art davon hat aber nicht jeder
und auch nicht nach denselben Dingen. Daher scheint uns solche Begierde
als etwas Eigentümliches. Dennoch ist auch daran etwas Natürliches. Denn
unterschiedliche Dinge sind unterschiedlichen Menschen angenehm, und
15 manche Dinge sind allen angenehmer | als andere. Die natürlichen Begier-
den betreffend gehen nur wenige fehl und auch nur in einer Richtung hin,
zum Übermaß. Was sich gerade bietet, bis zur Übersättigung zu essen und
zu trinken heißt, das Natürliche der Menge nach zu überschreiten, denn
die natürliche Begierde gilt nur dem Auffüllen eines Mangels. Daher nennt
20 man solche Leute Völler, weil | sie ihren Magen über das Gebotene hinaus
anfüllen. Dazu werden die allzu sklavisch Veranlagten. Ihre eigentümlichen
Arten von Lust betreffend gehen aber viele auf vielerlei Weisen fehl. Denn
wenn man Leute als ‚Liebhaber-von-Derartigem‘ bezeichnet, die Lust an
dem haben, an dem man es nicht soll, oder mehr als die meisten oder nicht in
25 der Weise, in der man es soll, dann überschreiten | die Zügellosen das richtige
Maß in all diesen Hinsichten; sie haben ihre Lust nämlich an manchem, an
dem man es nicht soll, weil es hassenswert ist, und selbst wenn es um Dinge
geht, an denen man Lust haben soll, so tun sie es doch mehr, als man soll,
und als die meisten es tun. Dass das Übermaß in Bezug auf diese Arten von
Lust Zügellosigkeit ist und Tadel verdient, ist also offenkundig.
Was aber den Schmerz angeht, so bezeichnet man – anders als bei der
30 Tapferkeit | – niemanden als besonnen, weil er ihn aushält, und niemanden
als zügellos, weil er es nicht tut. Vielmehr wird der Zügellose so genannt,
weil es ihn mehr schmerzt, als es soll, dass er etwas Lustvolles nicht be-
kommt; selbst den Schmerz verursacht bei ihm also die Lust. Der Besonnene
wird aber so genannt, weil ihn das Fehlen von Lustvollem oder der Verzicht
darauf nicht schmerzt.
Kapitel 14
1119a Der Zügellose begehrt nun alle Arten von Lust oder doch die größten,
und er wird von seiner Begierde dazu getrieben, sie auf Kosten von al-
lem anderen zu wählen. Daher schmerzt es ihn sowohl, wenn er sie ver-
fehlt, wie auch, wenn er sie begehrt; denn diese Begierde ist mit Schmerz
5 verbunden. | Es scheint aber widersinnig, der Lust wegen Schmerz zu er-
leiden.
Kapitel 15 57
Menschen, welche die Lust betreffend einen Mangel aufweisen und we-
niger Lust empfinden, als man soll, dürfte es aber kaum geben. Eine sol-
che Empfindungslosigkeit entspricht nämlich nicht der menschlichen Natur.
Denn auch die übrigen Lebewesen machen Unterschiede hinsichtlich ihrer
Nahrung: an manchem haben sie ihre Lust, an anderem dagegen nicht. Wenn
für jemanden gar nichts lustvoll ist und nichts einen Unterschied macht,
dann | wäre der wohl weit davon entfernt, ein Mensch zu sein. Einen Na- 10
men hat dieser aber nicht erhalten, weil er kaum vorkommt.
Der Besonnene verhält sich diesen Dingen gegenüber auf mittlere Weise.
Er freut sich nicht an dem, was dem Zügellosen am meisten Lust bereitet,
sondern findet es vielmehr abstoßend. Er hat weder allgemein Lust an Din-
gen, an denen man es nicht soll, noch auch allzu heftige an etwas dieser Art.
Daher empfindet er auch keinen Schmerz, wenn solche Dinge fehlen, und
begehrt sie nicht – oder wenn doch, dann nur in Maßen und nicht | mehr, als 15
man es soll, und auch nicht, wann man es nicht soll, und überhaupt nichts
von dieser Art. Was aber an Lustvollem Gesundheit und Wohlbefinden för-
dert, wird er maßvoll begehren und so, wie man es soll, und ebenso auch die
anderen Arten von angenehmen Dingen, sofern sie Gesundheit und Wohl-
befinden nicht hinderlich sind, dem Schönen nicht widersprechen oder über
seine Verhältnisse gehen. Denn wer sich auf Derartiges einlässt, liebt solche
Arten von Lust mehr, als | sie wert sind. Der Besonnene ist aber nicht von 20
dieser Art, sondern so, wie es der richtigen Begründung entspricht.
Kapitel 15
Die Zügellosigkeit gleicht eher einer freiwilligen Disposition als die Feig- XII.
heit. Erstere beruht nämlich auf Lust, Letztere auf Schmerz, und davon
wählt man das eine und meidet das andere. Zudem verstört und zerstört
der Schmerz die Natur dessen, der ihn hat, die Lust tut dagegen nichts der-
gleichen. | Daher ist Zügellosigkeit in höherem Maße freiwillig und daher 25
auch tadelnswerter. Zudem ist es leichter, Gewohnheiten in Bezug auf Lust-
volles anzunehmen, da es davon im Leben reichlich gibt und die Gewöh-
nung gefahrlos ist, während bei den furchterregenden Dingen das Gegenteil
der Fall ist. Die Feigheit selbst dürfte allerdings in anderer Weise freiwillig
sein als die einzelnen Handlungen. Denn die Feigheit selbst enthält keinen
Schmerz; bei einzelnen Handlungen verstört der Schmerz aber so sehr, dass
| der Betreffende die Waffen von sich wirft und auch sonstige schmähliche 30
Handlungen begeht. Daher meint man auch, diese Handlungen beruhten auf
Gewalt. Beim Zügellosen sind wiederum zwar die einzelnen Handlungen
freiwillig, denn er begehrt und erstrebt sie, seine gesamte Verfassung aber
weniger. Denn niemand begehrt, zügellos zu sein.
58 Buch III
Kapitel 1
Als Nächstes wollen wir über die Freigebigkeit sprechen. Sie scheint die I. | 20
Mitte in Hinblick auf den Besitz zu sein. Denn gelobt wird der Freigebige
weder für sein Verhalten in kriegerischen Auseinandersetzungen noch auch
in Lagen, die den Besonnenen erfordern, noch auch für Rechtsentscheidun-
gen, | sondern für das Geben und Nehmen von Besitz – allerdings mehr für 25
das Geben. Als Besitz bezeichnen wir alles, dessen Wert in Geld bemessen
wird. Verschwendungssucht und Geiz sind Übermaße und Mängel im Um-
gang mit Besitz. So schreiben wir Geiz immer denjenigen zu, die mehr | auf 30
Besitz aus sind, als man es soll. ‚Verschwendungssucht‘ gebrauchen wir
manchmal aber auch in komplexer Weise; denn als Verschwender bezeich-
nen wir auch die Unbeherrschten sowie diejenigen, die aus Zügellosigkeit
Geld vergeuden. Daher erscheinen diese auch als völlig nichtswürdig, weil
sie viele Laster zugleich haben. Sie werden also nicht im eigentlichen Sinn
so genannt; denn ein Verschwender ist eigentlich nur derjenige, der ein ein-
ziges Laster hat: | seine Habe zu vergeuden. Ein Verschwender ist nämlich, 1120a
wer durch sich selbst zugrunde gerichtet wird. Die Vernichtung der eigenen
Habe scheint aber eine Art Selbstzerstörung zu sein, zumal das Leben davon
abhängt. So verstehen wir also die Verschwendungssucht.
Was einen Gebrauch hat, kann man aber auf gute wie auch | auf schlechte 5
Weise gebrauchen. Nun gehört der Reichtum zu den Dingen, die einen Ge-
brauch haben. Von allem aber macht derjenige den besten Gebrauch, der
die betreffende Tugend besitzt. So wird auch derjenige seinen Reichtum am
besten zu gebrauchen wissen, der die Tugend besitzt, die sich auf das Vermö-
gen bezieht. Dieser aber ist der Freigebige. Denn der Gebrauch scheint im
Ausgeben und Verschenken von Vermögen zu bestehen, das Nehmen und
das Bewahren eher im Besitz. Daher | ist es eher Sache des Freigebigen zu 10
geben, wem man soll, als zu nehmen, woher man soll, oder nicht zu nehmen,
woher man nicht soll.
Zur Tugend gehört es nämlich eher, Gutes zu tun, als es zu empfangen,
wie auch eher, Schönes zu tun, als Schändliches zu unterlassen. Auch gehö-
60 Buch IV
15 ren offensichtlich Gutes und Schönes zu tun zum Geben, | Gutes zu emp-
fangen und Schändliches zu unterlassen zum Nehmen. Auch der Dank ge-
bührt demjenigen, der gibt, nicht dem, der nicht nimmt, und das gilt noch
mehr für das Lob. Es ist auch leichter, nicht zu nehmen, als etwas zu geben,
denn man ist weniger bereit, Eigenes wegzugeben, als Fremdes nicht an-
zunehmen. Freigebig nennt man diejenigen, die geben, während man die-
20 jenigen, die nicht nehmen, nicht | für ihre Freigebigkeit lobt, sondern eher
für ihre Gerechtigkeit; diejenigen, die nehmen, lobt man dagegen überhaupt
nicht. Von allen, die man ihrer Tugend wegen als Freunde liebt, liebt man
die Freigebigen beinah am meisten. Sie bringen nämlich Nutzen, und dieser
Nutzen liegt im Geben.
Kapitel 2
Die tugendhaften Handlungen sind schön und werden um des Schönen wil-
25 len getan. Der Freigebige wird daher um des Schönen willen | und in der
richtigen Weise geben, nämlich wem er soll und wie viel und wann – und
was sonst noch alles zum richtigen Geben gehört, und das mit Lust oder
ohne Unlust; denn Tugendhaftes ist erfreulich oder doch nicht schmerzlich,
am wenigsten aber schmerzlich. Wer gibt, wem er nicht soll, oder nicht um
des Schönen willen, sondern aus einem anderen Grund, wird nicht freigebig,
30 sondern anders genannt, so wie auch nicht, | wer es ungern tut, denn dieser
dürfte den Besitz dem schönen Handeln vorziehen, was zum Freigebigen
nicht passt.
Der Freigebige wird aber auch nichts nehmen, woher man es nicht soll.
Denn ein solches Nehmen passt nicht zu jemandem, der den Besitz gering
schätzt. Auch das Bitten ist nicht seine Sache. Denn wer gern Gutes tut,
dem fällt das Empfangen von Wohltaten schwer. Er wird es jedoch von da-
1120b her annehmen, woher man es soll, so als sei es aus | seinem eigenen Besitz,
nicht weil es schön, sondern weil es notwendig ist, damit er selbst etwas
zu geben hat. Auch wird er den eigenen Besitz nicht vernachlässigen, da er
doch wünscht, anderen damit auszuhelfen. Er wird aber auch nicht jedem
Beliebigen geben, damit er denen etwas zu geben hat, denen man soll, und
wann und wo es schön ist. Dennoch ist es auch ein klares Kennzeichen des
5 Freigebigen |, dass er es mit Geben übertreibt, so dass er für sich selbst we-
niger übrig lässt. Denn nicht auf sich selbst zu schauen, ist typisch für den
Freigebigen.
Die Freigebigkeit wird aber dem Vermögen entsprechend bestimmt.
Denn das Freigebige liegt nicht in der Menge des Gegebenen, sondern in der
Disposition des Gebers; dieser aber gibt seinem Vermögen entsprechend. Es
10 ist also durchaus möglich, | dass derjenige, der weniger gibt, dennoch der
Kapitel 2 61
Freigebigere ist, wenn er weniger hat, von dem er geben kann. Freigebiger
aber scheinen diejenigen zu sein, die ihr Vermögen nicht selbst erworben,
sondern geerbt haben; denn zum einen haben sie nie den Mangel kennen
gelernt, zum anderen lieben alle besonders dasjenige, was sie selbst hervor-
gebracht haben, so wie die Eltern und die Dichter. Für den | Freigebigen ist 15
es jedoch nicht leicht, reich zu bleiben, da er weder zum Nehmen noch zum
Bewahren, sondern zum Weggeben neigt und an seinem Vermögen nicht als
solchem, sondern des Gebens wegen hängt. Daher macht man es auch dem
Schicksal zum Vorwurf, dass diejenigen am wenigsten reich sind, die es am
meisten verdienen. Das ergibt sich aber nicht ohne Grund: Ein Vermögen
kann man – wie alles andere – nicht besitzen, wenn man sich nicht darum
kümmert, | dass man es hat. Auch wird der Freigebige nicht geben, wem man 20
nicht soll oder wann man nicht soll oder was sonst von dieser Art ist. Denn
dann würde er nicht mehr der Freigebigkeit gemäß handeln, und wenn er
sein Vermögen dafür aufgewendet hat, würde ihm nichts für das bleiben,
wofür man es aufwenden soll. Denn freigebig ist, wie gesagt, derjenige, der
sein Vermögen seinen Mitteln entsprechend und für das aufwendet, wofür
man es soll. Wer es darin übertreibt, | ist verschwenderisch. Daher bezeich- 25
nen wir auch Tyrannen nicht als Verschwender; denn angesichts der Größe
ihres Besitzes scheint es nicht leicht zu sein, es mit Geschenken und sonsti-
gen Aufwendungen zu übertreiben.
Da die Freigebigkeit demnach eine Mitte in Hinblick auf Geben und
Nehmen von Besitz ist, wird der Freigebige geben und sein Vermögen ver-
wenden, wofür man es soll und so viel, wie man soll, und zwar sowohl in
| kleinen wie auch in großen Dingen, und er wird ebendies mit Lust tun. 30
Er wird aber auch annehmen, woher man es soll und so viel, wie man soll;
denn da die Tugend eine Mitte in Hinblick auf beides ist, wird er beides in
der Weise tun, in der man es soll. Zur rechten Art des Gebens gehört näm-
lich auch eine entsprechende des Nehmens; ist das Nehmen nicht dieser Art,
widerspricht es dem Geben. Die zueinander gehörigen Arten treten nun zu-
gleich in ein und demselben Menschen auf, | während einander widerspre- 1121a
chende dies offensichtlich nicht tun.
Sollte es geschehen, dass der Freigebige dem zuwider ausgibt, was man
soll und was schön ist, dann wird es ihn schmerzen, ‹wenn er aber im rech-
ten Maß ausgibt und so wie man es soll, wird es ihn freuen›, im rechten
Maß und wie es das soll.11 Denn zur Tugend gehört es, Lust und Unlust zu
empfinden, worüber und wie man es soll. Mit dem Freigebigen ist zudem in
Geldgeschäften leicht umzugehen. | Er weiß nämlich auch Unrecht hinzu- 5
nehmen, da er das Geld ja nicht hoch schätzt und es ihn weit mehr ärgert,
wenn er nicht aufgewendet hat, was man soll, als es ihn schmerzt, wenn er
11
Ergänzung nach der arabischen Übersetzung.
62 Buch IV
etwas aufgewendet hat, was man nicht soll. Auch sagt ihm der Spruch des
Simonides nicht zu.
Kapitel 3
Der Verschwender geht aber auch in diesen Hinsichten fehl; denn Lust und
Unlust empfindet er nicht über das, worüber man soll, und in der Weise, wie
10 man es soll. Das wird uns aber im weiteren Fortgang | noch deutlicher wer-
den. Wie wir gesagt haben, stellen Verschwendungssucht und Geiz Über-
maß und Mangel dar, und zwar auf zwei Weisen: im Geben und im Nehmen.
Zum Geben rechnen wir nämlich auch den Aufwand. Die Verschwendungs-
sucht übertreibt es im Geben und im Nichtnehmen, lässt es also am Nehmen
15 fehlen; der Geiz | lässt es am Geben fehlen und übertreibt es im Nehmen,
freilich nur im Kleinen.
Bei der Verschwendung tritt beides kaum gepaart auf, da es nicht leicht
ist, allen zu geben, ohne von irgendwoher etwas zu nehmen. Privatleuten,
die geben, geht der Besitz schnell aus, daher hält man gerade sie für Ver-
20 schwender. Ein solcher Mensch sollte aber weit besser | erscheinen als ein
Geiziger, denn er ist durch das Alter wie auch durch die Not leicht zu heilen
und kann so zur mittleren Disposition gelangen. Zwar hat der Verschwen-
der die Haltung des Freigebigen, weil er gibt und nicht nimmt, aber beides
nicht so, wie man soll, und nicht auf gute Weise. Wenn er sich aber daran
gewöhnen könnte oder sich sonstwie änderte, dann würde er freigebig; er
25 wird dann nämlich geben, wem man soll, | und nichts nehmen, woher man
es nicht soll. Daher gilt er auch dem Charakter nach nicht als schlecht; denn
übermäßig zu geben und nicht zu nehmen, zeichnet nicht schlechte oder ge-
meine, sondern törichte Menschen aus. Der Verschwender dieser Art dünkt
uns weit besser als der Geizige, zum einen aus den genannten Gründen, zum
30 anderen, weil er vielen nützt, während der Geizige niemandem nützt, | nicht
einmal sich selbst.
Die meisten Verschwender nehmen aber, wie gesagt, auch von dort, wo-
her man es nicht soll, und sind in dieser Hinsicht sogar geizig. Sie entwickeln
eine Neigung zum Nehmen, weil sie gern ausgeben wollen, dies aber nicht
so einfach tun können, weil ihnen ihre Habe schnell ausgeht. So sind sie ge-
1121b zwungen, sich die Mittel anderweitig | zu verschaffen. Sie nehmen zugleich
bedenkenlos und von allen Seiten, da sie das Schöne ja nicht kümmert. Denn
im Bestreben auszugeben machen sie keinen Unterschied im Wie und Wo-
her. Daher ist auch ihr Geben nicht freigebig; denn es ist weder schön, noch
5 | hat es dies zum Zweck, noch ist es so, wie es soll. Denn manchmal machen
sie auch solche reich, die arm sein sollten. Während sie Menschen von gu-
tem Charakter womöglich nichts geben, lassen sie Schmeichlern oder Leu-
Kapitel 3 63
ten viel zukommen, die ihnen irgendeine Lust verschaffen. Daher sind die
meisten von ihnen auch zügellos. Denn weil sie ihr Geld mit vollen Händen
ausgeben, wenden sie auch viel für Ausschweifungen auf; und weil | sie ihr 10
Leben nicht auf das Schöne hin ausrichten, neigen sie den Lüsten zu. Bleibt
der Verschwender ohne Anleitung, gerät er auf solche Abwege; erfährt er
aber die rechte Fürsorge, könnte er das Mittlere erreichen und was man soll.
Der Geiz ist dagegen unheilbar (das Greisenalter und jede Art von
Schwäche scheinen nämlich die Menschen geizig zu machen); auch ist er den
| Menschen eher angeboren als die Verschwendungssucht. Denn die meisten 15
Menschen sind eher besitzliebend, als dass sie zum Geben bereit sind. Der
Geiz erstreckt sich auf vieles und ist vielgestaltig, denn er tritt bekanntlich
in vielerlei Formen auf. Denn da er zwei Seiten hat, den Mangel im Geben
und das Übermaß im Nehmen, tritt er nicht bei allen Menschen als Ganzer
auf, sondern manchmal | trennen sich die beiden Seiten, so dass die einen es 20
im Nehmen übertreiben, während die anderen es am Geben fehlen lassen.
Die einen, die unter Bezeichnungen wie ‚Knauser‘, ‚Knicker‘ oder ‚Geiz-
kragen‘ fallen, lassen es am Geben fehlen, begehren aber fremdes Gut nicht
und wollen es auch nicht nehmen. Einige tun dies aus einer gewissen Billig-
keit und Scheu vor Schändlichem heraus. | Manche scheinen nämlich deswe- 25
gen ihr Geld zusammenzuhalten – oder behaupten es jedenfalls –, damit sie
sich nicht irgendwann zu einer Schandtat gezwungen sehen. Zu diesen ge-
hören auch der Kümmelspalter und seinesgleichen; man nennt ihn so, weil
er es darin übertreibt, auch nicht das Geringste zu geben. Andere enthalten
sich aus Furcht fremden Besitzes, weil es nicht leicht ist, selbst das Gut an-
derer | an sich zu bringen, ohne dass diese einem das eigene abnehmen. Da- 30
her begnügen sie sich damit, weder zu nehmen noch zu geben.
Die anderen übertreiben es dagegen im Nehmen, indem sie alles und
von überall nehmen, so wie die Betreiber niedriger Gewerbe, Zuhälter und
alle dieser Art, wie auch die Wucherer, die kleine Beträge zu hohen Zinsen
ausleihen. | Sie alle nehmen, woher man es nicht soll, und so viel, wie man 1122a
nicht soll. Gemeinsam ist ihnen offensichtlich die schändliche Gewinnsucht.
Denn sie alle nehmen eines Gewinnes wegen Schande in Kauf, und sei er
noch so klein. Diejenigen aber, die im großen Stil nehmen, und zwar weder
woher man soll noch was man soll, so wie Tyrannen, die ganze Städte aus-
plündern und Heiligtümer berauben, die | nennen wir nicht geizig sondern 5
vielmehr lasterhaft, frevlerisch und ungerecht.
Auch der Falschspieler und der Kleiderdieb12 gehört zu den Geizigen,
denn auch ihnen geht es um schimpflichen Gewinn. Denn eines Gewinnes
wegen gehen beide ihrem Geschäft nach und nehmen Schande in Kauf; | die 10
12
In 1122a7 dürfte kai ho lêistês (= ‚und der Räuber‘) als Glosse zu dem seltenen Ausdruck
lôpodytês in den Text geraten sein.
64 Buch IV
einen setzen sich den größten Gefahren aus, um etwas an sich zu bringen,
die anderen bereichern sich an ihren Freunden, denen man doch geben
sollte. Da beide also Gewinn aus dem ziehen wollen, woraus man es nicht
soll, sind sie auf schändliche Weise gewinnsüchtig; somit sind auch alle diese
Weisen des Nehmens Arten von Geiz.
Man nennt den Geiz mit Recht das Gegenteil der Freigebigkeit. Er ist
15 nämlich ein größeres Übel als die | Verschwendungssucht, und die Men-
schen gehen eher in Bezug auf den Geiz fehl als auf dasjenige, was wir hier
als Verschwendungssucht beschrieben haben. So viel sei also über die Frei-
gebigkeit und über die ihr entgegengesetzten Laster gesagt.
Kapitel 4
II. Im Anschluss daran sollte es passend erscheinen, die Großzügigkeit durch-
20 zugehen. Denn auch sie gilt als eine Tugend, die den Besitz betrifft; | an-
ders als die Freigebigkeit bezieht sie sich aber nicht auf alle Handlungen,
die es mit Vermögen zu tun haben, sondern nur auf besonders aufwendige;
sie übertrifft darin die Freigebigkeit durch ihre Größe. Wie nämlich schon
ihr Name selbst zu verstehen gibt, geht es bei ihr um einen angemessenen
Aufwand im Großen. Die Größe ist freilich relativ. Denn wer für den Un-
25 terhalt einer Triere aufkommt, hat nicht den gleichen Aufwand | wie jemand,
der eine religiöse Festgesandtschaft übernimmt. Das Angemessene richtet
sich daher nach der Person, der Gelegenheit und dem Gegenstand. Wer bei
geringen oder mittleren Gelegenheiten angemessen gibt, entsprechend dem
Vers „oftmals gab ich dem Wanderer“, wird nicht großzügig genannt, wohl
aber wer das bei einer bedeutenden Gelegenheit tut. Denn der Großzügige
ist zwar freigebig, der Freigebige aber deshalb noch nicht großzügig. |
30 Der Mangel, der zu dieser Disposition gehört, wird als Schäbigkeit be-
zeichnet, das Übermaß als Vulgarität, Geschmacklosigkeit und dergleichen;
bei Letzterem geht es nicht um übermäßige Ausgaben für Dinge, für die
man es soll, sondern um protzigen Aufwand bei Gelegenheiten, bei denen
man es nicht soll, oder in einer Weise, in der man es nicht soll. Über diese
Dispositionen werden wir später noch sprechen.
35 Der Großzügige gleicht einem Kenner, denn | er hat einen Blick für das
Angemessene und vermag großen Aufwand mit Geschmack zu treiben. Wie
1122b | wir nämlich zu Anfang gesagt haben, wird die Disposition durch die Tä-
tigkeiten und die Gegenstände bestimmt, auf die sie sich beziehen. Die Auf-
wendungen des Großzügigen sind nun groß und angemessen. Entsprechend
sind also auch seine Werke; denn so werden Aufwendungen groß und dem
5 Werk angemessen sein. Daraus folgt, dass das Werk den | Aufwand wert
sein, wie auch der Aufwand des Werks würdig sein oder es sogar noch über-
Kapitel 5 65
treffen soll. Der Großzügige wird solchen Aufwand aber um des Schönen
willen treiben; denn das ist allen Tugenden gemeinsam. Auch wird er seine
Aufwendungen mit Lust und reichlich machen, da genaues Rechnen klein-
lich ist. Er dürfte auch mehr darauf achten, dass das Werk am schönsten und
angemessensten ist, als darauf, wie hoch die Kosten sind und | wie sie so ge- 10
ring wie möglich zu halten sind.
Der Großzügige ist also notwendigerweise auch freigebig. Denn auch
der Freigebige wird aufwenden, was man soll und wie man es soll. In diesen
Dingen, denen die Freigebigkeit gilt, liegt aber das Große am Großzügi-
gen, sozusagen seine Größe, und er wird mit gleichem Aufwand ein groß-
artigeres Werk zustande bringen. Die | ‚Tugend‘ einen Besitz und ein Werk 15
betreffend ist nämlich nicht dieselbe. Am Besitz schätzt man den größten
Wert am meisten, wie etwa Gold, am Werk dagegen das Großartige und das
Schöne. Denn beim Werk ruft der Anblick Bewunderung hervor, und es ist
das Großartige, das Bewunderung erregt. Beim Werk gibt es also eine Tu-
gend, die Großartigkeit, die in seiner Größe liegt.
Kapitel 5
Die Großzügigkeit gilt Aufwendungen, die wir ehrenvoll nennen, wie
etwa | für die Götter – Weihgeschenke, Bauten und Opferzeremonien – und 20
ebenso für alles, was mit Göttlichem zu tun hat, wie auch für Dienste am
Gemeinwohl, um die man miteinander wetteifert, wenn beschlossen wird,
jemand solle die Ausstattung einer Theateraufführung, den Unterhalt einer
Triere oder die festliche Bewirtung der Stadt übernehmen.
In all diesen Fällen richtet man sich aber, wie gesagt, auch nach dem Han-
delnden, | wer er ist und über welche Mittel er verfügt. Denn die Aufwen- 25
dungen müssen der Mittel wert sein und nicht nur zum Werk passen, sondern
auch zu dem, der es ausführt. Daher könnte ein Armer nicht großzügig sein,
weil er ja nichts hat, womit er in angemessener Weise großen Aufwand trei-
ben könnte. Wer es versucht, ist töricht; denn er wird aufwenden, was seinen
Mitteln widerspricht und dem, was er tun soll; der Tugend gemäß ist aber, es
auf richtige Weise zu tun. | Solche Aufwendungen stehen vielmehr denjenigen 30
Menschen an, die über die nötigen Mittel verfügen, ob sie diese nun erwor-
ben, von ihren Vorfahren ererbt oder anderen Beziehungen verdanken, und
die sich durch vornehme Herkunft, hohes Ansehen und Derartiges auszeich-
nen. In all dem liegt nämlich Größe und Würde. Das alles gilt nun vom Groß-
zügigen in besonderem Maß, und die Großzügigkeit besteht, wie | gesagt, in 35
Aufwendungen dieser Art, weil sie die bedeutendsten und ehrenvollsten sind.
An privaten Aufwendungen gehören dazu alle diejenigen, die | man nur 1123a
einmal macht, wie für eine Hochzeit und was sonst von dieser Art ist, ferner
66 Buch IV
Ausgaben, um die es der ganzen Stadt oder doch den angesehensten Bür-
gern zu tun ist, wie für den Empfang oder die Verabschiedung auswärtiger
Gäste, sowie für Geschenke und Gegengeschenke. Der Großzügige treibt
5 nämlich keinen Aufwand für sich selbst, sondern | für die Allgemeinheit,
und seine Geschenke haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Weihgaben. Sa-
che des Großzügigen ist es auch, sein Haus entsprechend seinem Reichtum
zu gestalten, denn auch das Haus ist eine Art Schmuck, und insbesondere
ist Aufwand für solche Werke zu betreiben, die von Dauer sind (denn diese
sind die schönsten), und in jedem Fall das Angemessene zu tun. Denn für die
10 Götter ist nicht dasselbe | angemessen wie für die Menschen, wie auch nicht
dasselbe für ein Heiligtum und für ein Grabmal.
Da sich ferner bei jeder Aufwendung die Größe nach der Art des Ge-
genstandes richtet, ist am großartigsten zwar das im Großen Große,13 in
diesem bestimmten Fall aber das, was unter diesen Umständen groß ist. So
unterscheidet sich auch das Große im Resultat von dem im Aufwand. Der
15 schönste Ball oder die schönste Ölflasche | ist nämlich großzügig als Ge-
schenk für ein Kind, selbst wenn der Geldwert klein und niedrig ist. Daher
ist es für den Großzügigen charakteristisch, in welcher Sache er auch tätig
sein mag, es auf großzügige Weise zu tun (ein solches Verhalten ist nämlich
nicht leicht zu überbieten) und so, dass es des Aufwands wert ist. Von sol-
cher Art ist also der Großzügige.
Kapitel 6
20 Wer es jedoch übertreibt, der Vulgäre, | übertreibt, wie gesagt, dadurch, dass
er bei Aufwendungen gegen das verstößt, was man soll. Bei geringfügigen
Anlässen wendet er nämlich viel auf und setzt sich auf geschmacklose Weise
prunkvoll in Szene, indem er etwa als Veranstalter eines Gemeinschaftses-
sens dieses wie ein Hochzeitsmahl ausrichtet oder als Ausstatter in einer
Komödie den Chor in Purpur auftreten lässt, wie es die Megarer tun. Und
25 alles dieser Art wird er nicht etwa des | Schönen willen tun, sondern um sei-
nen Reichtum zur Schau zu stellen, und weil er meint, dieser Dinge wegen
bewundert zu werden. Und wo man viel aufwenden soll, gibt er wenig aus,
wo wenig angebracht ist, dagegen viel.
Der Schäbige wird es wiederum an allem fehlen lassen, und selbst wenn
er den größten Aufwand betreibt, wird er das Schöne durch eine Kleinigkeit
30 verderben. Bei allem, was er unternimmt, ist er zögerlich und | sucht nach
Wegen, so wenig wie nur möglich auszugeben, und selbst darüber jammert
er noch und meint, in allen Dingen mehr zu tun, als man soll.
13
Bywaters Ergänzung von haplôs in 1123a12 ist nicht erforderlich.
Kapitel 7 67
Diese Dispositionen sind nun zwar Laster, Schande bringen sie jedoch
nicht mit sich, weil sie weder dem Nächsten zum Schaden gereichen noch
auch allzu anstößig sind.
Kapitel 7
Der Hochgesinntheit | scheint es, wie schon aus ihrem Namen hervorgeht, III. | 35
um große Dinge zu gehen; welcher Art diese sind, wollen wir nun als erstes
bestimmen. | Es macht aber keinen Unterschied, ob wir die Disposition oder 1123b
die ihr entsprechende Person untersuchen. Als hochgesinnt gilt nun, wer
sich großer Dinge für wert hält und ihrer auch wert ist; denn wer das nicht
seinem Wert entsprechend tut, ist töricht. Kein tugendhafter Mensch ist aber
töricht oder unvernünftig. Hochgesinnt ist also der so Beschriebene. |
Wer nur geringer Dinge wert ist und sich selbst auch entsprechend ein- 5
schätzt, ist zwar besonnen, aber nicht hochgesinnt. Denn die Hochgesinnt-
heit liegt in der Größe, so wie auch zur Schönheit ein großer Körper gehört;
kleine Menschen mögen zwar anmutig und wohlproportioniert sein, schön
sind sie aber nicht. Wer sich großer Dinge für wert hält, ohne es zu sein, ist
aufgeblasen; doch ist nicht jeder, der sich größerer Dinge für wert hält, als er
ist, deswegen schon aufgeblasen. Wer sich aber für weniger wert hält, | als er 10
ist, ist kleinmütig, gleich ob er großer, mittlerer oder geringer Dinge wert ist,
hinter denen er in seiner Einschätzung noch zurückbleibt. Am kleinmütigs-
ten aber dürfte derjenige erscheinen, der großer Dinge wert ist. Denn wie
würde er sich erst verhalten, wenn er nicht so großer Dinge wert wäre? Der
Hochgesinnte ist also in Hinblick auf die Größe ein Extrem, in Hinblick
auf das Verhalten, wie es sein soll, hält er die Mitte, da er sich seinem Wert
entsprechend | einschätzt. Die anderen gehen entweder darüber hinaus oder 15
bleiben dahinter zurück.
Wenn jemand sich nun großer Dinge für wert hält und es auch ist, zumal
der allergrößten, dann dürfte er sich vor allem auf eines beziehen. Von ‚Wert‘
spricht man nämlich in Hinblick auf die äußeren Güter. Als höchstes dieser
Güter werden wir wohl dasjenige ansetzen, was wir den Göttern zuteilen,
was die Angesehenen am meisten erstreben und was der | Siegespreis für die 20
schönsten Taten ist: solcher Art ist die Ehre; denn sie ist das größte der äuße-
ren Güter. Der Hochgesinnte verhält sich also Ehre und Unehre gegenüber
so, wie man soll. Auch ohne Beweis ist es offenkundig, dass die Hochge-
sinnten auf Ehre bezogen sind, denn sie halten sich am meisten der Ehre für
würdig, doch so wie es ihrem Wert entspricht. Der Kleinmütige lässt es so-
wohl in Bezug auf sich selbst fehlen | wie auch im Vergleich zur Wertschät- 25
zung des Hochgesinnten. Der Aufgeblasene übertreibt es in Bezug auf sich
selbst, nicht aber auf den Hochgesinnten.
68 Buch IV
Wenn er der größten Dinge wert ist, sollte der Hochgesinnte wohl auch
der Beste sein; denn da der Bessere jeweils der größeren Dinge wert ist, ist
der Beste der größten wert. Der wahrhaft Hochgesinnte muss daher gut
30 sein; er | dürfte sich durch das auszeichnen, was an jeder Tugend groß ist.
Es würde nämlich gar nicht zu ihm passen, Hals über Kopf zu fliehen oder
Unrecht zu begehen. Denn wozu sollte er etwas Nichtswürdiges tun, er,
für den es nichts Großes gibt? Wollte man das für die einzelnen Tugenden
durchprüfen, so würde ein Hochgesinnter, der nicht gut wäre, ganz lächer-
35 lich aussehen. Auch wäre er der Ehre nicht wert, | wenn er sich als schlecht
1124a erwiese, denn die Ehre ist der Siegespreis der Tugend und wird | den Guten
verliehen. Die Hochgesinntheit scheint also eine Art Schmuck der Tugen-
den zu sein, denn sie erhöht diese und entsteht nicht ohne sie. Daher ist es
schwer, wahrhaft hochgesinnt zu sein, denn ohne den Vollbesitz der Tugend
ist es nicht möglich. |
5 Der Hochgesinnte hat es also vor allem mit Ehre und Unehre zu tun.
Über die großen Ehren von Seiten der guten Menschen wird er sich im rech-
ten Maß freuen, in der Meinung, es werde ihm das zuteil, was ihm zusteht –
oder sogar weniger als das. Denn für die vollkommene Tugend könnte es gar
keine angemessenen Ehrungen geben. Annehmen wird er sie dennoch, weil
10 man ihm ja keine höheren anbieten kann. | Ehrungen durch beliebige Leute
und für Kleinigkeiten wird er ganz verachten, weil sie seinem Wert nicht
entsprechen, und ebenso auch Unehre, weil sie ihn nicht zu Recht treffen
wird.
Dem Hochgesinnten geht es also, wie gesagt, vor allem um Ehre; er hält
15 aber | auch das richtige Maß gegenüber Reichtum, Macht und jeder Art von
Glücks- und Unglücksfällen ein, was immer auch geschehen mag, und er
wird sich weder im Glücksfall übermäßig freuen noch im Unglücksfall über-
mäßig bekümmern. Denn nicht einmal der Ehre gegenüber verhält er sich so,
als sei sie das Größte. Macht und Reichtum sind aber nur um der Ehre willen
wählenswert; jedenfalls wünschen diejenigen, die sie haben, mit ihrer Hilfe
Ehre zu erringen. Für wen aber selbst die Ehre etwas Geringes ist, für den ist
20 es auch das Übrige; | daher hält man die Hochgesinnten auch für hochmütig.
Kapitel 8
Auch von den Glücksgütern meint man aber, dass sie zur Hochgesinntheit
beitragen. Denn man hält Menschen von vornehmer Abkunft, wie auch die
Mächtigen oder Reichen, höherer Ehre für wert, weil darin eine Überle-
genheit liegt und alles, was durch Gutes überlegen ist, höher geehrt wird.
Daher machen auch solche Dinge die Menschen höher gesinnt, da sie von
25 manchen geehrt werden. | In Wahrheit ist aber nur der Gute zu ehren. Wer
Kapitel 8 69
beide Arten von Gütern besitzt, den hält man jedoch noch mehr der Ehre
wert. Menschen, die diese Güter ohne die Tugend besitzen, halten sich aber
weder zu Recht großer Dinge für wert, noch werden sie zu Recht hochge-
sinnt genannt. Denn beides ist ohne die vollkommene Tugend nicht zu ha-
ben. Vielmehr werden sie hochmütig und arrogant, | wenn sie solche Dinge 30
haben, weil es ohne Tugend nicht leicht ist, mit dieser Art von Glücksgütern
angemessen umzugehen. Da sie damit nicht | umzugehen wissen und den- 1124b
noch meinen, den anderen überlegen zu sein, schauen sie auf diese herab, tun
aber selbst, was ihnen beliebt. Sie ahmen den Hochgesinnten nach, ohne ihm
gleich zu sein, und tun das dort, wo sie können. Der Tugend Gemäßes tun
sie zwar nicht, verachten aber die anderen. Wo der Hochgesinnte zu Recht
| verachtet, weil er richtig urteilt, tun die meisten anderen das in beliebiger 5
Weise.
Der Hochgesinnte sucht weder, sich in geringfügigen Gefahren auszu-
zeichnen, noch sucht er überhaupt die Gefahr, da er nur wenige Dinge ach-
tet; wohl aber ist er zu großen Gefahren bereit, und wenn er sich in Gefahr
begibt, schont er das eigene Leben nicht, weil er es nicht für wert erachtet,
um jeden Preis am Leben zu bleiben. Zwar ist er geneigt, anderen Gutes zu
tun, empfindet aber | Scham, es zu empfangen. Das eine zeichnet nämlich 10
den Überlegenen, das andere den Unterlegenen aus. Wohltaten erwidert er
durch größere, so dass derjenige, der damit angefangen hat, ihm zusätzlich
etwas schuldet und zum Empfänger einer Wohltat geworden ist. Auch be-
halten Hochgesinnte bekanntlich im Gedächtnis, wem14 sie selbst Gutes er-
wiesen haben, nicht aber, von wem sie es empfangen haben. Der Empfänger
ist nämlich dem Geber unterlegen, der Hochgesinnte will aber überlegen
sein und | hört15 vom einen gern, vom anderen ungern reden. Aus diesem 15
Grund soll es auch Thetis unterlassen haben, Zeus ihre eigenen Wohltaten
aufzuzählen, wie auch die Spartaner gegenüber den Athenern nur erwähnt
haben, was sie an Wohltaten empfangen hatten. Auch zeichnet es den Hoch-
gesinnten aus, um nichts oder kaum etwas zu bitten, selbst dagegen von sich
aus Hilfe zu leisten. Menschen von hohem Ansehen und Wohlstand gegen-
über tritt er groß auf, | mittleren Leuten gegenüber aber maßvoll. Denn ers- 20
teren überlegen zu sein, ist schwer und zeugt von Erhabenheit, bei letzteren
ist es dagegen leicht. Auch ist es nicht unfein, ersteren gegenüber erhaben
aufzutreten, während das kleinen Leuten gegenüber ebenso vulgär ist, wie
seine Kraft an Schwachen zu beweisen.
Allseitig begehrte Ehren oder solche, in denen sich andere auszeichnen,
strebt der Hochgesinnte nicht an. Auch bleibt er untätig und zurückhaltend,
wo es nicht um eine | große Ehre bzw. um eine große Tat geht, denn es ent- 25
14
1124b13 wird hous der Handschriften und mit Susemihl hyph’ hôn gelesen.
15
1124b15 wird akouei der Handschriften beibehalten.
70 Buch IV
spricht seiner Art, nur wenige Dinge, dafür aber große und nennenswerte zu
tun. Hass und Freundschaft muss er offen zur Schau tragen; sie zu verbergen
verrät nämlich den Furchtsamen, auch kümmert16 er sich um die Wahrheit
mehr als um sein Ansehen und spricht und handelt offen. Seine Rede ist frei-
30 mütig, weil er zum Herabsehen neigt; daher ist er | auch wahrhaftig, wenn er
sich nicht gerade bescheiden gibt wie gegenüber der Menge.17 Ferner kann er
1125a nicht in Abhängigkeit von einem anderen leben, | außer von einem Freund.
Derartiges tun nur sklavische Naturen, weshalb auch alle Schmeichler wie
Tagelöhner und alle Unterwürfigen Schmeichler sind. Der Hochgesinnte
neigt auch nicht zu Bewunderung; denn nichts gilt ihm als groß. Er ist nicht
nachtragend, denn ihm liegt nichts daran, Erinnerungen, zumal an erlitte-
5 nes Unrecht, wach zu halten, sondern | vielmehr darüber hinweg zu sehen.
Auch spricht er nicht über persönliche Dinge – weder über eigene, noch
über fremde; denn er ist weder auf Lob für sich selbst noch auf Tadel für an-
dere aus. Überhaupt ist er nicht geneigt, andere zu loben oder schlecht von
ihnen zu reden, nicht einmal seinen Feinden gegenüber, wenn es nicht um
eine Beleidigung geht.
Was Lebensnotwendiges oder Kleinigkeiten angeht, so ist er durchaus
10 nicht | zu Klagen oder Bitten geneigt, denn das würde zeigen, dass er Der-
artiges ernst nimmt. Es liegt ihm mehr am Besitz von Schönem, das nichts
einbringt, als an Gewinn- und Nutzbringendem, denn das zeugt davon, dass
er autark ist. Auch sind, wie man meint, die Schritte des Hochgesinnten ge-
messen, seine Stimme tief und seine Redeweise ruhig. Denn wer nur Weni-
15 ges | für wichtig hält, neigt nicht zum Eifer, wer nichts für groß hält, nicht
zur Aufregung, den Ursachen für Schrillheit in der Stimme und für Hast.
Kapitel 9
Von dieser Art ist also der Hochgesinnte; wer dahinter zurückbleibt, ist
kleinmütig, wer darüber hinausgeht, aufgeblasen. Für schlecht hält man
auch diese Menschen nicht, denn sie tun nichts Schlechtes, wohl aber für
fehlerhaft.
20 Der Kleinmütige, | der des Guten wert ist, beraubt sich nämlich dessen,
was seinem Wert entspricht, und etwas Schlechtes liegt bei ihm anscheinend
darin, dass er sich dieser Güter nicht für wert hält und zudem sich selbst
nicht kennt. Denn sonst würde er nach den Dingen streben, deren er wert
ist, da es sich doch um Gutes handelt. Menschen dieser Art erscheinen aber
16
1124b27 wird die Lesart melein der meisten Handschriften beibehalten.
17
1124b30 wird mit Bekker und Susemihl nach Nb und der arabischen Übersetzung eirôneian,
eirôna de gelesen.
Kapitel 10 71
weniger als töricht, sondern vielmehr als allzu zurückhaltend. Diese Selbst-
einschätzung macht sie aber auch schlechter. | Denn jeder strebt nach dem, 25
was seinem Wert entspricht, während diese sogar auf schöne Handlungen
und Unternehmungen verzichten, als seien sie ihrer nicht wert, und ebenso
auch auf die äußeren Güter.
Die Aufgeblasenen sind dagegen töricht, verkennen sich selbst und dies
ganz augenscheinlich. Denn obwohl sie es gar nicht wert sind, bemühen
sie sich um begehrte Ehrenämter und werden danach bloßgestellt. | Auch 30
schmücken sie sich mit schönen Kleidern, feinen Manieren und anderem
dieser Art; sie wünschen zudem öffentlich zu machen, was ihnen an Glücks-
fällen geschieht, und reden darüber so, als sollten sie dafür geehrt werden.
Die Kleinmütigkeit steht aber in größerem Gegensatz zur Hochgesinnt-
heit als die Aufgeblasenheit, denn sie kommt häufiger vor und ist schlechter.
Die | Hochgesinntheit ist aber, wie gesagt, auf große Ehre bezogen. 35
Kapitel 10
Es scheint aber in Bezug auf Ehre noch eine Tugend zu geben, wie anfangs IV. | 1125b
gesagt, von der gelten dürfte, dass sie zur Hochgesinntheit in einem ähnli-
chen Verhältnis wie die Freigebigkeit zur Großzügigkeit steht. Diese beiden
Tugenden stehen dem Großen fern, | verleihen uns aber dem Mittleren und 5
Kleinen gegenüber diejenigen Dispositionen, die man haben soll. So wie es
nun beim Nehmen und Geben von Besitz eine Mitte, ein Übermaß und ei-
nen Mangel gibt, so gibt es auch beim Streben nach Ehre ein Mehr- bzw. ein
Weniger-als-man-soll, ein Woher-man-soll und ein Wie-man-soll. Den Ehr-
geizigen tadeln wir nämlich, weil er mehr | Ehre sucht, als man soll, oder sie 10
von dort zu erlangen sucht, woher man es nicht soll, den Ehrgeizlosen ta-
deln wir, weil er nicht einmal in den schönen Dingen Ehre zu erlangen sucht.
Manchmal loben wir aber den Ehrgeizigen als mannhaft und als Liebhaber
von Schönem, manchmal auch den Ehrgeizlosen als gemäßigt und besonnen,
wie wir bereits anfangs festgestellt haben.
Da man von einem ‚Liebhaber-von-Derartigem‘ in mehr als einem Sinn
spricht, | beziehen wir offensichtlich ‚ehrgeizig‘ nicht immer auf dasselbe; 15
sondern als Lob gebrauchen wir es für den, der die Ehre mehr liebt als die
Menge, als Tadel für den, der sie mehr liebt, als man soll. Da die Mitte keinen
Namen hat, scheinen sich die Extreme um ihren Platz zu streiten, als sei er
leer. Wo es ein Übermaß und einen Mangel gibt, dort gibt es aber auch ein
Mittleres. Nach Ehre strebt man sowohl mehr | wie auch weniger, als man 20
soll, also gibt es auch das ‚Wie-man-soll‘. Man lobt nun diese Disposition,
die eine Mitte ohne Namen in Bezug auf die Ehre ist. Im Vergleich zur Ehr-
sucht erscheint sie wie Ehrgeizlosigkeit, im Vergleich zur Ehrgeizlosigkeit
72 Buch IV
wie Ehrsucht; im Vergleich zu beiden erscheint sie, als sei sie in gewisser
Weise auch beides. Entsprechendes scheint es nun auch bei den übrigen Tu-
25 genden zu geben. Hier | scheinen jedoch nur die Vertreter der Extreme ein-
ander entgegengesetzt zu sein, weil der Mittlere keinen Namen hat.
Kapitel 11
V. Die Mitte in Bezug auf den Zorn ist die Ausgeglichenheit. Da das Mittlere
keinen Namen hat, so wie eigentlich auch nicht die Extreme, setzen wir die
Ausgeglichenheit als das Mittlere an, obwohl sie eher dem Mangel zuneigt,
der auch ohne Namen ist. Das Übermaß könnte man als eine Art von Zorn-
30 mütigkeit bezeichnen. | Der Affekt selbst ist nämlich der Zorn, was ihn her-
vorruft, ist aber vielfältig und von unterschiedlicher Art.
Wer zornig wird, worüber und wem gegenüber man es soll, ferner auch
wie, wann und wie lang man es soll, wird gelobt. Dieser wäre also ausgegli-
chen, wenn es die Ausgeglichenheit ist, die gelobt wird. Denn der Ausgegli-
35 chene ist geneigt, sich weder reizen noch vom | Affekt mitreißen zu lassen,
1126a sondern er wird auf die Weise, aus dem Anlass und | so lange Zeit zornig
sein, wie es die Vernunft anordnet. Fehler scheint er eher zum Mangel hin zu
begehen; denn der Ausgeglichene ist nicht rachsüchtig, sondern neigt viel-
mehr zur Nachsicht.
Der Mangel, mag er eine ‚Unerzürnbarkeit‘ oder was auch immer sein,
5 wird getadelt, weil | man Menschen, die nicht zornig werden, worüber man
es soll, für töricht hält, und so auch diejenigen, die das nicht werden, wie,
wann oder wem gegenüber man es soll. Ein solcher scheint das weder wahr-
zunehmen noch schmerzt es ihn; da er nicht zornig wird, sucht er sich auch
nicht zu wehren. Beleidigungen auf sich sitzen zu lassen oder sie auch ge-
genüber Angehörigen zu übersehen, ist jedoch sklavisch.
Zum Übermaß kommt es in jeder der genannten Hinsichten (sowohl
10 wem gegenüber man nicht soll, | wie auch worüber man nicht soll und hef-
tiger, schneller und für eine längere Zeit). Alle zusammen treten jedoch
nicht bei einer einzigen Person auf. Das wäre schlicht unmöglich; denn die-
ses Übel zerstört sogar sich selbst und in großem Umfang wird es uner-
träglich. Die Jähzornigen geraten nun zwar schnell in Zorn, wem gegen-
15 über man nicht soll, worüber man nicht soll und mehr, als | man soll, hören
aber auch schnell wieder auf; darin verhalten sie sich am besten. Das ge-
schieht bei ihnen deshalb, weil sie ihren Zorn nicht in sich verschließen, son-
dern ihrer Hitzigkeit wegen offen zurückschlagen und sich dann beruhi-
gen. Im Übermaß erhitzen sich dagegen die Choleriker, die allem gegenüber
und bei jedem Anlass zum Jähzorn neigen; daher auch ihr Name. Bei den
20 Bitteren | löst sich der Zorn nur schwer, sondern hält lang an, weil sie ihre
Kapitel 12 73
Wut unterdrücken. Ruhe haben sie erst, wenn sie Vergeltung üben; denn die
Vergeltung macht dem Zorn ein Ende, indem sie den Schmerz durch Lust
ersetzt. Geschieht das nicht, tragen sie weiter an dieser Last. Weil das aber
nicht an der Oberfläche liegt, redet ihnen niemand gut zu; den Zorn allein zu
verdauen, | erfordert aber Zeit. Solche Menschen sind daher für sich selbst 25
und ihre engsten Freunde schwer erträglich. Ingrimmig aber nennen wir sol-
che, die Dinge übelnehmen, die man nicht soll, und mehr als man soll, und
für längere Zeit, als man soll, und die ohne Rache und Bestrafung nicht da-
von ablassen können. Der Ausgeglichenheit stellen wir aber eher das Über-
maß gegenüber. | Übermäßiges kommt auch weit häufiger vor; denn sich zu 30
rächen, liegt der menschlichen Natur näher; zudem sind die Ingrimmigen
für das Zusammenleben schwieriger.
Was wir auch schon früher bemerkt haben, wird auch aus dem jetzt Ge-
sagten deutlich: Es ist nicht leicht, festzulegen, wie, wem gegenüber, wor-
über und wie lang man zornig sein soll, und bis zu welchem Punkt jemand
richtig handelt oder | fehlgeht. Wer nur wenig abweicht, wird nicht getadelt, 35
weder zum Zuviel noch zum Zuwenig hin. Bisweilen | loben wir nämlich 1126b
diejenigen, die zu wenig in Zorn geraten, und nennen sie ausgeglichen, so
wie wir auch die Ingrimmigen mannhaft nennen, als seien sie zu herrschen
fähig.
Wie weit und wie jemand abweichen muss, um Tadel zu verdienen, dafür
lässt sich also nur schwer eine genaue Bestimmung geben. Das Urteil dar-
über hängt nämlich von den Einzelheiten und von der Wahrnehmung ab.
Soviel ist aber jedenfalls | klar, dass die mittlere Disposition lobenswert ist, 5
der gemäß wir zürnen, wem man soll, worüber man soll, wie man soll und
alles Weitere dieser Art, während die Arten des Übermaßes und des Mangels
tadelnswert sind: ist die Abweichung gering, dann ist sie nur wenig, ist sie
größer, dann ist sie in höherem Maß, ist sie groß, dann ist sie sehr tadelns-
wert. Es dürfte somit klar sein, dass man sich an die mittlere Disposition zu
halten hat. | So viel sei also über die Dispositionen gesagt, die sich auf den 10
Zorn beziehen.
Kapitel 12
Im geselligen Umgang und Zusammenleben, im Austausch von Reden und VI.
Handeln gelten die einen als liebedienerisch: Sie loben alles, um sich ange-
nehm zu machen, widersetzen sich nie, sondern meinen, sie dürften nieman-
dem, mit dem sie umgehen, unangenehm sein. Die anderen, die sich im Ge-
gensatz zu diesen | in allem widersetzen und sich gar nichts daraus machen, 15
jemandem weh zu tun, nennt man griesgrämig und streitsüchtig. Dass die
genannten Dispositionen tadelnswert sind, ist offensichtlich, wie auch, dass
74 Buch IV
die mittlere zwischen ihnen lobenswert ist, aufgrund deren man aufnimmt,
was und wie man es soll, und ebenso auch ablehnt. Einen Namen hat man
20 dieser Disposition nicht gegeben, | sie gleicht aber am ehesten der Freund-
schaft. Von dieser Art ist nämlich derjenige, den wir der mittleren Disposi-
tion entsprechend als einen rechten Freund bezeichnen würden, nur dass bei
letzterem noch das Lieben dazukommt. Von der Freundschaft unterscheidet
sich diese Disposition nämlich darin, dass bei ihr der Affekt oder das Lie-
ben denjenigen gegenüber fehlt, mit denen man umgeht. Nicht weil er liebt
oder hasst, nimmt ein solcher Mensch alles auf, wie er soll, sondern weil das
25 seine Art | ist. Denn er wird sich Unbekannten wie Bekannten, Vertrauten
wie auch Fremden gegenüber gleich verhalten, jedoch so, wie es jeweils an-
gemessen ist. Es ist nämlich nicht angebracht, sich in gleicher Weise um Be-
kannte und Fremde zu kümmern oder ihnen Unangenehmes zuzumuten.
Allgemein haben wir nun gesagt, dass ein solcher Mensch sich im Um-
gang so verhalten wird, wie man soll. Er wird aber besonders in Hinblick
30 auf das Schöne und das Nützliche darauf bedacht sein, | anderen nicht weh
zu tun, sondern sie zu erfreuen. Es scheint ihm nämlich um Angenehmes
und Unangenehmes im gegenseitigen Umgang zu gehen. Ist es dabei aber
unschön oder schädlich, in ein Vergnügen einzustimmen, dann wird er sich
widersetzen und es vorziehen, Missvergnügen zu erregen. Auch wenn je-
mand etwas tut, das ihm Schande, und zwar keine geringe, oder Schaden ein-
35 trägt, während | der Widerstand nur eine kleine Verstimmung erregt, dann
wird er es nicht zulassen, sondern Widerstand leisten. Mit angesehenen und
1127a gewöhnlichen Leuten, | mit engeren und ferneren Bekannten wird er unter-
schiedlich umgehen und ebenso in Hinblick auf weitere Unterschiede, und
er wird jeden so behandeln, wie es sich gehört. Und während er es eigentlich
vorzieht, Menschen zu erfreuen, und es vermeidet, sie zu verdrießen, richtet
5 er sich doch nach den Folgen, wenn diese bedeutender sind, d.h. | nach dem
Schönen und dem Nützlichen. Auch wird er um eines späteren großen Ver-
gnügens willen ein geringes Missvergnügen erregen.
Der Mittlere ist also von dieser Art, selbst wenn es für ihn keinen Namen
gibt. Von denen, die zur Freude anderer beitragen, ist liebedienerisch, wer
sich damit nur angenehm zu machen sucht, ohne sonst etwas zu suchen. Wer
sich damit aber einen Vorteil verschaffen will, sei es an Geld oder an dem,
10 was für | Geld zu haben ist, ist ein Schmeichler. Wer aber alles ablehnt, ist,
wie gesagt, griesgrämig und streitsüchtig. Weil das Mittlere keinen Namen
hat, scheinen nur die Extreme zueinander im Gegensatz zu stehen.
Kapitel 13 75
Kapitel 13
Auf nahezu dieselben Dinge bezieht sich aber auch die Mitte zwischen An- VII.
geberei und falscher Bescheidenheit. Auch sie hat keinen Namen. Es ist aber
nicht weniger wichtig, | auch derartige Dispositionen durchzugehen, denn 15
wir dürften alles, was den Charakter betrifft, noch besser verstehen, wenn
wir es im Einzelnen untersuchen, und wir sollten davon überzeugt sein, dass
die Tugenden Mitten sind, wenn wir sehen, dass es sich mit allen so verhält.
Was das Zusammenleben betrifft, so haben wir bereits gesagt, welche Men-
schen einander beim gegenseitigen Umgang angenehm oder unangenehm
sind. Jetzt wollen wir noch über diejenigen sprechen, die | beim Reden und 20
Handeln und in ihrem Gebaren wahr und falsch sind.
Der Angeber ist bekanntlich geneigt, allgemein angesehene Dinge vor-
zugeben, die er gar nicht hat, oder doch größere, als er sie hat. Der falsch
Bescheidene wiederum verleugnet, was er hat, oder macht es zumindest klei-
ner. Der Mittlere dagegen ist genau er selbst, wahrhaftig im Leben und in der
Rede, und von dem, | was er hat, gibt er zu, dass er es hat, nicht mehr und 25
nicht weniger. Das alles kann man jeweils um eines weiteren Zwecks willen
tun wie auch ohne einen solchen Zweck. Ein jeder aber spricht, handelt und
lebt so, wie er ist, wenn er keinen bestimmten Zweck verfolgt. Da das Un-
wahrhaftige überhaupt schlecht und tadelnswert, das Wahrhaftige dagegen
schön und | lobenswert ist, ist der Wahrhaftige lobenswert, denn er ist der 30
Mittlere. Die Unwahrhaftigen sind zwar beide tadelnswert, der Angeber je-
doch in höherem Maß. Über jeden dieser beiden wollen wir sprechen, zuvor
aber über den Wahrhaftigen.
Wir sprechen nämlich nicht von demjenigen, der sich in Vereinbarungen
an die Wahrheit hält oder in Fragen, die sich auf Ungerechtigkeit und Ge-
rechtigkeit beziehen | (denn dies ist Sache einer anderen Tugend), sondern 1127b
von demjenigen, der bei Anlässen, wo es keinen derartigen Unterschied gibt,
im Reden und im Leben wahrhaftig ist, weil er seiner Disposition nach so
ist. Ein solcher Mensch dürfte zu Recht als gut gelten. Denn da der Wahr-
heitsliebende auch dort die Wahrheit sagt, wo es keinen Unterschied macht,
wird er es | noch viel mehr tun, wo es darauf ankommt. Lügenhaftes dieser 5
Art wird er als etwas Schändliches meiden, zumal er es ja schon als solches
meidet. Ein solcher Mensch ist daher lobenswert. Er neigt dazu, lieber we-
niger in Anspruch zu nehmen, als wahr ist. Das erscheint nämlich taktvoller,
weil Übertreibungen abstoßend sind.
Wer | ohne einen weiteren Zweck vorgibt, mehr zu haben, als er hat, 10
gleicht zwar einem niedrigen Charakter (denn sonst würde ihn das Lügen
nicht freuen), scheint aber eher eitel als schlecht. Wird damit jedoch ein be-
stimmter Zweck verfolgt, so ist derjenige, dem es um Ansehen oder Ehre
76 Buch IV
geht, doch nicht allzu sehr als Angeber zu tadeln.18 Wer es aber des Geldes
wegen tut oder dessentwegen, was Geld einbringt, ist ein hässlicherer Cha-
rakter. Die Angeberei liegt freilich nicht in der Fähigkeit, sondern in der
15 Absicht; | ein Angeber ist man nämlich der Disposition wegen und weil man
einen solchen Charakter hat. So hat auch bei den Lügnern der eine am Lügen
selbst seine Freude, während der andere nach Ansehen oder nach Gewinn
strebt. Angeber, denen es um das Ansehen geht, täuschen daher Dinge vor,
die Lob und Preis einbringen. Diejenigen, die auf Gewinn aus sind, täuschen
20 Fähigkeiten vor, die für ihre Nächsten wertvoll sind und | deren Fehlen sich
leicht verbergen lässt, wie die eines Sehers, eines Weisen oder eines Arztes.
Aus diesem Grund täuscht die Mehrheit solche Dinge vor und übertreibt,
denn ihnen gelten die genannten Fähigkeiten.
Menschen von falscher Bescheidenheit setzen sich selbst herab; sie er-
scheinen daher als die feineren Charaktere. Denn wie es scheint, tun sie das
25 nicht eines Vorteils wegen, sondern um Wichtigtuerei zu meiden. | Sie ver-
leugnen besonders den Besitz angesehener Dinge, wie das auch Sokrates ge-
tan hat. Diejenigen aber, die Geringfügiges und Offensichtliches leugnen,
nennt man Zierpinsel und hält sie für verachtenswert. Auch wirkt ihr Tun
manchmal wie Angeberei, wie etwa das Tragen von spartanischer Kleidung.
Denn sowohl Übermaß wie auch übertriebener Mangel haben etwas Ange-
30 berisches. Wer dagegen von der Untertreibung | angemessen und in Bezug
auf Dinge Gebrauch macht, die nicht allzu hervorstechend und offensicht-
lich sind, erscheint von feiner Art. Im eigentlichen Gegensatz zum Wahrhaf-
tigen steht jedoch der Angeber; denn er ist der niedrigere Charakter.
Kapitel 14
VIII. Da im Leben auch die Erholung ihren Platz hat und in ihr wiederum auch
1128a scherzhafte Unterhaltung, gibt es bekanntlich auch dort | angemessene Ar-
ten des Umgangs, d.h. was man und auf welche Weise sagen bzw. sich an-
hören soll. Es macht allerdings einen Unterschied, ob man dabei redet oder
zuhört. Offensichtlich gibt es nun auch bei diesen Dingen ein Übermaß und
einen Mangel gegenüber dem Mittleren. Die einen übertreiben es mit dem
5 Lächerlichen; | sie gelten als Possenreißer und als vulgär, weil sie überall
nach Lächerlichem suchen und mehr darauf aus sind, Gelächter zu erregen,
als beim Reden den Anstand einzuhalten und den Verspotteten nicht zu ver-
letzen. Die anderen aber, die nichts Lächerliches sagen, sondern sich über
solche ärgern, die das tun, hält man für stumpf und steif. Diejenigen aber, die
10 | im Lächerlichen den richtigen Ton zu treffen wissen, nennt man unterhalt-
18
Die von Bywater konstatierte Korruptele lässt sich durch Streichung des Artikels heilen.
Kapitel 14 77
sam, als seien sie in der richtigen Weise beweglich. Denn Beweglichkeit die-
ser Art gehört bekanntlich zum Charakter; und wie man den Körper nach
seinen Bewegungen beurteilt, so tut man das auch beim Charakter.
Da das Lächerliche aber überall anzutreffen ist und die meisten Leute
mehr Gefallen an Scherzen und Spotten finden, als man soll, | werden auch 15
Possenreißer als unterhaltsam bezeichnet, als seien sie Menschen von feiner
Art. Dass sie sich davon aber unterscheiden, und zwar nicht wenig, wird aus
dem Gesagten deutlich. Zur mittleren Disposition gehört auch der Takt; den
Taktvollen zeichnet es nämlich aus, solche Dinge zu sagen und sich anzu-
hören, die zu einem guten und vornehmen Menschen passen. Denn es gibt
manches, was ein solcher an | Scherzhaftem sagen wie auch anhören darf. 20
Entsprechend unterscheidet sich der Scherz eines vornehmen von dem eines
sklavenhaften Menschen, der eines Gebildeten von dem eines Ungebildeten.
Das kann man auch an den alten und an den neuen Komödien erkennen:
Suchte man dort das Lächerliche in Beschimpfungen, so tut man es hier viel-
mehr in Anspielungen. Das macht aber keinen geringen Unterschied, | was 25
den Anstand angeht.
Soll man nun einen guten Spötter so bestimmen, dass er nichts sagt, was
sich für einen Vornehmen nicht gehört, oder dass er den, der ihm zuhört,
nicht verletzt, sondern ihn vielmehr belustigt? Oder ist auch das zu unbe-
stimmt? Denn verschiedenen Menschen erscheint Verschiedenes abstoßend
und belustigend. Und Entsprechendes wird man sich auch anhören. Und
was man sich anzuhören bereit ist, das wird man, wie es scheint, auch selbst
vortragen. Alles wird man daher nicht vorbringen. | Der Spott ist nämlich 30
eine Art von Beleidigung, und manche Arten von Beleidigungen verbieten
sogar die Gesetzgeber. Das sollten sie vielleicht auch den Spott betreffend
tun. Der Feine und Vornehme wird sich aber so verhalten, als sei er sich
gleichsam selbst Gesetz. Von dieser Art ist also der Mittlere, gleich ob man
ihn nun gewandt oder unterhaltsam nennt.
Der Possenreißer kann dagegen dem Lächerlichen nicht widerstehen und
| schont weder sich selbst noch andere, wenn er einen Lacherfolg erzielen 35
kann, sondern sagt Dinge, | die ein feiner Mensch niemals sagen und teils 1128b
nicht einmal anhören würde. Der Steife ist wiederum zu solchem Umgang
ganz unbrauchbar; denn er trägt nichts dazu bei und ist über alles verärgert.
Auch Erholung und Scherz scheinen aber im Leben notwendig.
Die Mitten im Leben | sind also die drei, die wir beschrieben haben; sie 5
alle gelten dem Austausch bestimmter Arten von Reden und Handlungen.
Sie unterscheiden sich jedoch darin voneinander, dass sich die eine Disposi-
tion auf die Wahrheit bezieht, die beiden anderen auf das Angenehme; von
den beiden, die das Angenehme betreffen, gilt die eine der scherzhaften Un-
terhaltung, die andere den übrigen Arten von Umgang im Leben.
78 Buch IV
Kapitel 15
IX. | 10 Über die Scham als eine Tugend zu sprechen ist nicht angemessen, denn sie
gleicht eher einem Affekt als einer Disposition. Sie wird jedenfalls als eine
Art Furcht vor Unehre bestimmt und wirkt sich ähnlich aus wie die Furcht
vor Schrecklichem. Denn wer sich schämt, errötet; wer den Tod fürchtet, er-
15 blasst. Beide | scheinen also in gewisser Weise körperliche Zustände zu sein,
was aber eher für Affekte als für Dispositionen charakteristisch ist.
Dieser Affekt ist aber nicht für jede Altersstufe passend, sondern nur
für die Jugend. Wir meinen nämlich, dass Jugendliche schamhaft sein sollen,
weil sie dem Affekt nach leben und deshalb in vieler Hinsicht fehlgehen, von
der Scham aber daran gehindert werden. Auch loben wir unter den Jungen
20 die Schamhaften, während | niemand einen Älteren dafür loben würde, dass
er für Scham empfänglich ist. Wir meinen nämlich, dass er überhaupt nichts
tun sollte, was Anlass zur Scham ist.
Einem guten Menschen steht zudem die Scham gar nicht an, weil sie bei
schlechten Handlungen aufkommt. Dergleichen sollte man aber überhaupt
nicht tun. Ob die Handlungen teils in Wahrheit, teils nur der Meinung nach
25 schlecht sind, macht keinen Unterschied: Man sollte keine von beiden tun, | so
dass man sich auch nicht zu schämen braucht. Denn die Bereitschaft, etwas
Schändliches zu tun, zeichnet den Schlechten aus.
Dazu disponiert zu sein, sich zu schämen, wenn man etwas dieser Art
tut, und sich deshalb für einen guten Menschen zu halten, ist jedoch unsin-
nig. Die Scham gilt nämlich den freiwilligen Handlungen, der Gute wird
30 aber niemals freiwillig etwas Schlechtes tun. | Die Scham könnte aber doch
bedingterweise gut sein: Falls man so handelte, würde man sich schämen.
Derartiges gibt es aber bei den Tugenden nicht. Wenn die Schamlosigkeit
schlecht ist, d.h. Schändliches zu tun, ohne sich zu schämen, so ist es doch
darum nicht schon anständig, so zu handeln und sich zu schämen.
Auch die Beherrschtheit ist aber keine Tugend, sondern eine gemischte
35 Disposition. Das wird | sie betreffend später noch gezeigt werden. Jetzt wol-
len wir über die Gerechtigkeit sprechen.
Buch V
Kapitel 1
Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit betreffend ist zu untersuchen, mit wel- I. | 1129a3
cher Art von Handlungen sie es zu tun haben, welche Art Mitte die | Ge- 5
rechtigkeit ist und wovon das Gerechte das Mittlere ist. Unsere Untersu-
chung soll daher derselben Vorgehensweise folgen wie die vorangegangenen
Erörterungen. Wir sehen nun, dass alle unter Gerechtigkeit diejenige Dis-
position verstehen wollen, welche die Menschen befähigt, gerecht zu han-
deln, sie Gerechtes tun und Gerechtes wünschen lässt. Ebenso gilt auch | von 10
der Ungerechtigkeit, dass sie Menschen Unrecht tun und Ungerechtes wün-
schen lässt. Deshalb sei dies zunächst auch für uns wie ein Umriss voraus-
gesetzt.
Mit den Dispositionen verhält es sich nämlich nicht so wie mit den Wis-
senschaften und Fähigkeiten. Denn wie es scheint, bezieht sich ein und die-
selbe Fähigkeit oder Wissenschaft auf Gegensätzliches; eine Disposition,
welche selbst Teil eines Gegensatzes ist, bezieht sich hingegen nicht auf
Gegensätzliches. | So lässt einen die Gesundheit nicht Gegensätzliches tun, 15
sondern nur Gesundes. Wir sagen nämlich, jemand gehe auf gesunde Weise,
wenn er wie ein Gesunder geht.
Nun erkennt man aber oft eine von zwei einander entgegengesetzten
Dispositionen von ihrem Gegenteil her; oft erkennt man Dispositionen aber
auch aus dem, was ihnen zugrunde liegt. Denn wenn deutlich ist, was die
gute körperliche Verfassung ist, dann | wird auch deutlich, was die schlechte 20
Verfassung ist, und so wie das, worauf die gute Verfassung beruht, sie deut-
lich macht, so macht auch die gute Verfassung deutlich, worauf sie beruht.
Wenn nämlich die gute Verfassung Festigkeit des Fleisches ist, dann muss
notwendigerweise die schlechte Verfassung Weichheit des Fleisches sein,
und dasjenige muss gut für die Verfassung sein, was Festigkeit im Fleisch
bewirkt. Auch folgt zumeist: Wenn der eine Begriff eines Gegensatzpaars in
mehreren Bedeutungen ausgesagt wird, | dann wird auch der andere in meh- 25
reren Bedeutungen ausgesagt; wenn etwa ‚gerecht‘, dann auch ‚ungerecht‘.
80 Buch V
Kapitel 2
Wie es scheint, spricht man von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in meh-
reren Bedeutungen. Weil diese aber nah beieinanderliegen, bleibt ihre Ho-
monymie verborgen und ist nicht so offensichtlich wie bei weit auseinan-
derliegenden Bedeutungen. Groß ist der Unterschied nämlich dann, wenn
30 er das Aussehen betrifft, so wie man etwa | ‚Schlüssel‘ homonym für den
Knochen unter dem Hals von Tieren und für das gebraucht, womit man Tü-
ren verschließt.
Lasst uns also feststellen, in wie vielen Bedeutungen man vom Unge-
rechten spricht. Ungerecht erscheint sowohl der Gesetzesbrecher wie auch
derjenige, der auf Mehrhaben und auf Ungleichheit aus ist. Daher ist klar,
dass gerecht sowohl der Gesetzestreue sein wird, wie auch derjenige, der auf
Gleichheit aus ist. Das Gerechte ist also das Gesetzliche und das Gleiche, das
1129b | Ungerechte das Gesetzwidrige und das Ungleiche. Da der Ungerechte aber
mehr haben will, wird er auf Güter aus sein, nicht auf alle, sondern auf sol-
che, die Gegenstand von Glücks- und Unglücksfällen sind. Diese sind zwar
für sich genommen immer Güter, für einen bestimmten Menschen sind sie
es aber nicht immer. Auf sie richten die Menschen jedoch ihre Gebete und
5 jagen ihnen nach. | Das sollte man aber nicht tun; vielmehr sollte man dafür
beten, dass dasjenige, was für sich genommen gut ist, auch für einen selbst
gut sein möge, und dann das wählen, was für einen selbst gut ist.
Der Ungerechte wählt aber nicht immer das Mehr, sondern auch das We-
niger, nämlich von dem, was für sich genommen schlecht ist. Weil aber auch
das kleinere Übel in gewisser Weise als gut erscheint und das ‚Mehrhaben-
10 wollen‘ auf Gutes bezogen wird, scheint auch er auf das | Mehrhaben aus zu
sein. Er ist aber auf Ungleichheit aus; denn sie umfasst beides und ist ihnen
gemeinsam.
Kapitel 3
Da der Gesetzesbrecher, wie gesagt, ungerecht ist, der Gesetzestreue ge-
recht, ist klar, dass alles Gesetzliche in bestimmter Weise gerecht ist. Was
nämlich durch die Gesetzgebung festgelegt ist, ist das Gesetzliche, und wir
15 nennen jedes einzelne davon gerecht. Die Gesetze sprechen aber über | alles;
sie zielen auf das Gemeinwohl ab, entweder für alle, für die Besten oder die
mit Autorität, sei es in Bezug auf die Tugend19 oder etwas anderes dieser Art.
Auf eine Weise nennen wir daher gerecht, was das Glück der politischen
Gemeinschaft und ihrer Teile bewirkt und erhält. Das Gesetz ordnet aber
19
Das von Bywater mit Kb athetierte kat’ aretên wird beibehalten.
Kapitel 4 81
auch an, die Taten des Tapferen | zu tun, wie seinen Posten nicht verlassen, 20
nicht fliehen oder die Waffen wegwerfen, und auch die Handlungen des Be-
sonnenen, also nicht Ehebruch oder andere Übergriffe begehen, und die des
Ausgeglichenen, wie niemanden schlagen oder beleidigen. In gleicher Weise
ordnet es den übrigen Tugenden und Lastern entsprechend das eine an und
verbietet das andere. Das tut auf richtige Weise | das richtig verfasste, auf 25
schlechtere das flüchtig entworfene Gesetz.
Diese Art der Gerechtigkeit ist nun die vollkommene Tugend, freilich
nicht für sich genommen, sondern in Bezug auf einen anderen. Aus diesem
Grund hält man die Gerechtigkeit auch oft für die größte Tugend – weder
der Abendstern noch der Morgenstern sei so wunderbar – und wir sagen es
mit dem Sprichwort: „In der | Gerechtigkeit ist alle Tugend vereint.“ Sie ist 30
zudem die vollkommenste Tugend, weil sie der Gebrauch der vollkomme-
nen Tugend ist; vollkommen aber ist sie, weil derjenige, der diese Tugend
hat, sie auch in Bezug auf einen anderen zu gebrauchen weiß, nicht nur in
Bezug auf sich selbst. Viele sind nämlich fähig, die Tugend in eigenen An-
gelegenheiten zu gebrauchen, sind dazu aber nicht fähig, | wenn es einen 1130a
anderen betrifft. Daher scheint der Ausspruch des Bias zutreffend, dass die
Herrschaft den Mann erweisen wird. Denn wer herrscht, steht bereits in Be-
ziehung zu anderen und ist in einer Gemeinschaft. Ebendeswegen, weil sie
einem anderen gilt, hält man auch die Gerechtigkeit als einzige unter den Tu-
genden für ein ‚fremdes Gut‘. | Denn sie bewirkt das, was für einen anderen 5
nützlich ist, sei es für einen Herrscher, sei es für einen Mitbürger.
Der Schlechteste ist nun, wer die Schlechtigkeit für sich und für seine
Freunde, der Beste, wer die Tugend nicht für sich selbst, sondern für andere
gebraucht. Denn das ist eine schwere Aufgabe. Diese Art von Gerechtigkeit
ist nun kein Teil der Tugend, sondern die ganze Tugend, wie auch die | entge- 10
gengesetzte Ungerechtigkeit kein Teil der Schlechtigkeit, sondern die ganze
ist. Worin sich die Tugend und diese Art von Gerechtigkeit unterscheiden,
ist aus dem Gesagten deutlich. Sie sind zwar dasselbe, ihr Sein ist es aber
nicht, sondern sofern diese Disposition auf einen anderen bezogen ist, ist sie
Gerechtigkeit, sofern sie für sich genommen ist, ist sie Tugend.
Kapitel 4
Wir suchen jedoch diejenige Gerechtigkeit, die ein Teil dieser Tugend ist. | Eine II. | 15
solche gibt es nämlich, wie wir behaupten. Und ebenso suchen wir die Un-
gerechtigkeit, die ein Teil dieser Schlechtigkeit ist. Ein Indiz dafür, dass es
sie gibt, ist: Wer Schlechtes im Sinne der übrigen Laster tut, tut zwar Un-
recht, ist aber nicht auf das Mehrhaben aus, wie z.B. wer aus Feigheit seinen
Schild wegwirft, aus Zorn andere verleumdet oder aus Geiz einem anderen
82 Buch V
20 nicht mit Geld aushilft. Wenn jemand dagegen | auf das Mehrhaben aus ist,
dann geschieht das oft aus keinem dieser Laster heraus – und auch nicht aus
allen −, wohl aber aus einer bestimmten Schlechtigkeit heraus (wir tadeln sie
nämlich), und zwar aus Ungerechtigkeit. Es gibt also noch eine andere Art
von Ungerechtigkeit, die Teil der Ungerechtigkeit als Ganzer ist, wie auch
etwas Ungerechtes, das Teil des Ungerechten als Ganzem im Sinne des Ge-
setzwidrigen ist.
25 Ferner: Wenn der eine eines Gewinns wegen Ehebruch begeht und | da-
für Geld nimmt, der andere aber aus Begierde noch draufzahlt und einen
Verlust hat, dann dürfte man Letzteren eher für zügellos als für jemanden
halten, der auf Mehrhaben aus ist, ersteren dagegen für ungerecht, aber nicht
für zügellos, und zwar offenbar des Gewinns wegen. Ferner: Alle anderen
Unrechtstaten führt man jeweils auf eine bestimmte Schlechtigkeit zurück,
30 etwa | auf Zügellosigkeit, wenn jemand Ehebruch begangen, auf Feigheit,
wenn jemand seinen Nebenmann in der Schlachtreihe im Stich gelassen,
oder auf Zorn, wenn er einen anderen geschlagen hat. Wenn jemand damit
aber einen Gewinn gemacht hat, führt man das auf keine andere Schlechtig-
keit als auf Ungerechtigkeit zurück.
Daher gibt es offensichtlich neben der Ungerechtigkeit als Ganzer noch
eine andere, die ein Teil von ihr und synonym mit ihr ist, weil ihre Defini-
1130b tion | zur selben Gattung gehört; denn beide sind in ihrer Wirkung auf ei-
nen anderen bezogen. Während die eine Art von Ungerechtigkeit mit Ehre,
Geld, Sicherheit oder mit dem zu tun hat, was sich alles unter einem gemein-
samen Namen zusammenfassen ließe und auf der Lust am Gewinn beruht,
5 gilt die andere Art all den Dingen, um die | es dem Guten zu tun ist.
Kapitel 5
Dass es mehrere Arten von Gerechtigkeit und dass es neben der Gerechtig-
keit im Sinne der ganzen Tugend noch eine andere gibt, ist nun klar. Wel-
che diese ist und von welcher Art, müssen wir erst noch zu erfassen suchen.
Nun wurde beim Ungerechten das Gesetzwidrige und das Ungleiche, beim
10 Gerechten das Gesetzliche und das Gleiche unterschieden. | Dem Gesetz-
widrigen entspricht folglich die zuerst genannte Ungerechtigkeit. Da das
Ungleiche nicht dasselbe ist wie das Gesetzwidrige, sondern sich von ihm
unterscheidet wie der Teil vom Ganzen (denn alles Ungleiche ist zwar ge-
setzwidrig, aber nicht alles Gesetzwidrige ungleich), ist auch das Ungerechte
bzw. die Ungerechtigkeit nicht dasselbe, sondern verschieden; die eine ist
15 ein Teil, die andere das Ganze. Diese Ungerechtigkeit ist nämlich | ein Teil
der ganzen Ungerechtigkeit, und ebenso ist auch diese Gerechtigkeit ein Teil
der ganzen Gerechtigkeit. Daher müssen wir über die partikulare Gerech-
Kapitel 6 83
tigkeit wie auch über die partikulare Ungerechtigkeit sprechen und auf die
gleiche Weise über das Gerechte und Ungerechte.
Die der ganzen Tugend zugeordnete Gerechtigkeit und Ungerechtig-
keit wollen wir beiseitelassen; diese Gerechtigkeit besteht | im Gebrauch der 20
ganzen Tugend in Bezug auf einen anderen, die Ungerechtigkeit in dem von
Schlechtigkeit. Auch das ihnen entsprechende Gerechte und Ungerechte be-
treffend, ist klar, wie sie zu bestimmen sind. Denn die Mehrzahl gesetzlicher
Anordnungen besteht sozusagen in dem, was die Tugend als Ganze anord-
net. Das Gesetz gebietet nämlich, jeder einzelnen Tugend gemäß zu leben,
und verbietet, es einem der Laster gemäß zu tun. | Was aber dazu geeignet 25
ist, die Tugend als Ganze zu erzeugen, sind diejenigen Anordnungen der
Gesetze, die man für die Erziehung das Gemeinwohl betreffend erlassen hat.
Ob die Erziehung des Einzelnen, die ihn zu einem schlechthin guten Men-
schen macht, Sache der politischen oder einer anderen Wissenschaft ist, wird
später zu entscheiden sein. Denn es ist vielleicht nicht dasselbe, ein guter
Mensch und ein guter Bürger in jeder Art von Staat zu sein. |
Von der partikularen Gerechtigkeit und dem ihr entsprechenden Gerech- 30
ten betrifft nun die eine Art die Verteilung von Ehren, Geld und anderen
Gütern, die unter den Mitgliedern des Gemeinwesens aufgeteilt werden (in
diesen Fällen kann der eine Gleiches wie auch Ungleiches erhalten wie der
andere). Die andere | Art betrifft den Ausgleich bei allen Arten von Trans- 1131a
aktionen zwischen den Bürgern. Davon gibt es wiederum zwei Teile. Denn
von den Transaktionen sind die einen freiwillig, die anderen unfreiwillig.
Freiwillig sind etwa Verkauf, Kauf, Darlehen, Bürgschaft, Nutzungsrecht,
Hinterlegung, Vermietung. Man nennt sie freiwillig, | weil der Anfang dieser 5
Transaktionen freiwillig ist. Von den unfreiwilligen sind die einen heimlich,
wie etwa Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Kuppelei, Abwerbung von
Sklaven, Meuchelmord, falsches Zeugnis; die anderen sind gewalttätig, wie
etwa Misshandlung, Freiheitsberaubung, Totschlag, Raub, Verstümmelung,
Verleumdung, Beleidigung.
Kapitel 6
Da nun sowohl der Ungerechte ungleich ist, wie auch das Ungerechte un- III. | 10
gleich, gibt es offenbar auch beim Ungleichen ein Mittleres. Dieses ist aber
das Gleiche. Denn bei jeder Art von Handlung, bei der es ein Mehr und
ein Weniger gibt, gibt es auch ein Gleiches. Wenn nun das Ungerechte un-
gleich ist, dann ist das Gerechte gleich, wie allen auch ohne Begründung
einleuchtet. Da aber das Gleiche ein Mittleres ist, dürfte auch das Gerechte
ein Mittleres | sein. Das Gleiche setzt nun aber mindestens zwei Dinge 15
voraus. Daher muss das Gerechte ein Mittleres und Gleiches in Bezug auf
84 Buch V
etwas Bestimmtes und für bestimmte Personen sein. Insofern das Gerechte
ein Mittleres ist, ist es das Mittlere zwischen Dingen, die mehr oder weni-
ger sind; insofern es gleich ist, ist es das Gleiche von zwei Dingen; insofern
es gerecht ist, ist es gerecht für bestimmte Personen. Das Gerechte beruht
20 also auf mindestens vier Faktoren: Die Personen, für die es gerecht ist, | sind
zwei, und die Dinge, um die es geht, sind auch zwei. Die Gleichheit wird
aber dieselbe bei den Personen wie auch bei den Dingen sein. Denn wie
diese, die Dinge, sich zueinander verhalten, so verhalten sich auch die Per-
sonen zueinander. Sind die Personen einander nicht gleich, dann werden sie
auch nicht Gleiches erhalten. Ebendaher kommt es auch zu Konflikten und
Vorwürfen, nämlich dann, wenn entweder Gleiche nicht Gleiches oder aber
Ungleiche Gleiches haben und zugeteilt bekommen.
25 Das macht auch die Verteilung der Würdigkeit nach | deutlich. Denn alle
stimmen darin überein, dass das Gerechte bei den Verteilungen einer be-
stimmten Würdigkeit entsprechen muss; doch reden nicht alle von dersel-
ben Würdigkeit, sondern die Demokraten meinen damit die freie Geburt,
die Oligarchen den Reichtum, manche auch die vornehme Abstammung, die
Aristokraten die Tugend.
30 Das Gerechte ist also eine Art von Proportion. | Proportionales ist näm-
lich nicht nur den Zahlen eigentümlich, die aus abstrakten Einheiten be-
stehen, sondern den Anzahlen überhaupt. Die Proportion ist nämlich eine
Gleichheit der Verhältnisse und besteht aus mindestens vier Gliedern. Dass
die Proportion bei diskreten Größen aus vier Gliedern besteht, ist offen-
sichtlich. Dasselbe gilt aber auch für kontinuierliche Größen, weil das eine
1131b Glied dann so behandelt wird, als sei es zwei, | und zweimal genannt wird.
Zum Beispiel: Wie sich Linie a zu Linie b verhält, so verhält sich Linie b zu
Linie c. Linie b wird also zweimal genannt, so dass es bei zweimaliger Set-
zung von b vier proportionale Glieder geben wird. Auch das Gerechte setzt
aber mindestens vier Glieder voraus, und das Verhältnis ist dabei dasselbe,
5 denn bei Personen und Dingen wird auf dieselbe Weise | geteilt. Wie sich
also Glied a zu Glied b verhält, so wird sich Glied c zu Glied d verhalten,
und so auch bei Vertauschung: So wie a sich zu c verhält, so wird sich b zu d
verhalten. Auch das Ganze wird folglich im selben Verhältnis zum Ganzen
stehen. Ebendiese Paarung stellt die Verteilung her, und wenn sie die Glieder
so zusammenstellt, dann ist die Paarung gerecht.
Kapitel 7
10 Die Verbindung von Glied a mit c und von b mit d | ist also das Gerechte
bei der Verteilung, und diese Art von Gerechtem ist ein Mittleres [<das Un-
Kapitel 7 85
gerechte ist hingegen das>, was gegen die Proportion verstößt].20 Denn das
Proportionale ist ein Mittleres, das Gerechte aber ein Proportionales. Die
Mathematiker nennen eine Proportion dieser Art ‚geometrisch‘. Bei der
geometrischen Proportion steht nämlich das Ganze im gleichen Verhältnis
zum Ganzen wie jeweils der eine Teil zum | anderen Teil. Diese Propor- 15
tion ist aber nicht kontinuierlich, denn ein und dasselbe Glied kann nicht
für eine Person und für eine Sache stehen. Das Gerechte ist nun dieses, das
Proportionale; das Ungerechte ist das, was gegen die Proportion verstößt.
Der eine Teil wird nämlich zu groß, der andere zu klein, so wie sich das
auch in Wirklichkeit zeigt. Denn wer Unrecht tut, hat zu viel, wer Unrecht
leidet, | zu wenig von dem betreffenden Gut. Bei Schlechtem verhält es sich 20
umgekehrt; an die Stelle des Guten tritt dann nämlich das kleinere Übel im
Verhältnis zum größeren Übel. Das kleinere Übel ist nämlich wählenswerter
als das größere. Das Wählenswerte ist ein Gut, das Wählenswertere aber ein
größeres Gut. Dies ist nun die eine Art des Gerechten. |
Die verbleibende Art betrifft das ausgleichende Gerechte; es betrifft die IV. | 25
Transaktionen, sowohl die freiwilligen wie auch die unfreiwilligen. Dieses
Gerechte ist aber seiner Form nach vom vorherigen verschieden. Das Ge-
rechte in der Verteilung der gemeinsamen Güter entspricht nämlich immer
der zuvor genannten Proportion. Denn auch wenn es um die Verteilung ge-
meinsamer Geldmittel | geht, wird sie ebendem Verhältnis entsprechen, in 30
welchem die eingebrachten Beträge zueinander stehen. Und das diesem Ge-
rechten entgegengesetzte Ungerechte ist das, was gegen die Proportion ver-
stößt. Das Gerechte bei Transaktionen ist zwar eine Art des Gleichen und
das | Ungerechte des Ungleichen, aber nicht nach der zuvor genannten, son- 1132a
dern nach der arithmetischen Proportion. Es macht nämlich keinen Unter-
schied, ob ein Guter einen Schlechten betrogen hat oder ein Schlechter einen
Guten, und ebenso wenig, ob ein Guter oder ein Schlechter Ehebruch be-
gangen hat. Vielmehr schaut | das Gesetz nur auf den Unterschied im Scha- 5
den und behandelt beide Personen als gleichwertig, wenn die eine Unrecht
tut, die andere Unrecht erleidet, wenn die eine Person einen Schaden zuge-
fügt, die andere ihn erlitten hat.
Der Richter versucht daher, dieses Unrecht als eine Art Ungleichheit aus-
zugleichen. Wenn nämlich der eine schlägt, der andere geschlagen wird, oder
der eine tötet, der andere getötet wird, stellen Leiden und Tun eine ungleiche
Verteilung dar. Der Richter versucht aber, | für den Verlust einen Ausgleich 10
zu schaffen, indem er vom Gewinn wegnimmt. In solchen Fällen spricht
man nämlich, vereinfacht gesagt, auch wenn die Bezeichnung für manche
Fälle unpassend ist, von einem Gewinn, z.B. für denjenigen, der Schläge aus-
teilt, von Verlust für denjenigen, der sie erlitten hat. Jedenfalls nennt man,
20
Der von Bywater ergänzte Halbsatz ist eine Antizipation von Zeile 17 oder 30.
86 Buch V
wenn man das Erlittene bemessen hat, das eine Verlust, das andere Gewinn.
15 Das Gleiche | ist somit das Mittlere zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig.
Gewinn und Verlust sind das einander entgegengesetzte Zuviel und Zuwe-
nig, und zwar der Gewinn zu viel an Gutem und zu wenig an Schlechtem,
der Verlust das Gegenteil. Als das Mittlere zwischen ihnen erweist sich aber
das Gleiche, von dem wir sagen, es sei gerecht. Folglich wäre das ausglei-
chende Gerechte das Mittlere zwischen Verlust und Gewinn. Daher neh-
20 men auch Menschen, wenn sie miteinander streiten, | Zuflucht zum Richter.
Zum Richter gehen heißt nämlich zum Gerechten gehen, denn der Richter
will gleichsam das lebendige Gerechte sein. Sie suchen den Richter als einen
Mittleren, und manche nennen ihn sogar ‚Vermittler‘, als werde ihnen Ge-
rechtigkeit zuteil, wenn sie das Mittlere erlangen. Das Gerechte ist also ein
25 Mittleres, wenn dies auch der Richter ist. Der | Richter stellt aber die Gleich-
heit wieder her, indem er wie bei einer ungleich geteilten Linie vom größeren
Abschnitt das abschneidet, was die Hälfte überragt, und es dem kleineren
Abschnitt hinzufügt. Wenn aber das Ganze in zwei Hälften geteilt ist, dann
sagt man, jeder habe das Seine, weil beide das Gleiche erhalten haben. Das
30 Gleiche ist aber das Mittlere zwischen dem Zuviel und | dem Zuwenig nach
der arithmetischen Proportion. Aus diesem Grund wird es gerecht genannt,
weil es zweigeteilt ist, so als ob man vom Gerechten als ‚Zweigeteiltem‘ und
vom Richter als ‚Zweiteilendem‘ spräche.
Wenn nun von einem von zwei gleichgroßen Dingen ein Teil weggenom-
men und dem anderen hinzugefügt wird, dann übertrifft das eine das andere
1132b um zwei dieser Teile. Würde dieser Teil nur weggenommen, dem anderen | aber
nicht hinzugefügt, dann überträfe das eine das andere nur um einen Teil. Es
übertrifft also das eine das Mittlere um einen Teil, so wie das Mittlere das-
jenige um einen Teil übertrifft, dem der Teil weggenommen wurde. Dar-
aus können wir also erkennen, was man demjenigen wegnehmen muss, was
zu viel hat, und was man demjenigen hinzutun muss, was zu wenig hat.
5 Um wie viel nämlich das Mittlere es übertrifft, so viel | muss man demjeni-
gen hinzufügen, das zu wenig hat, und um wie viel das Mittlere übertrof-
fen wird, so viel muss man vom Größten wegnehmen. Gegeben seien drei
gleichgroße Linien, aa‘, bb‘, cc‘. Man nehme nun von Linie aa‘ den Ab-
schnitt ae weg und füge Linie cc‘ den Abschnitt cd hinzu, so dass die ganze
Linie dcc‘ die Linie ea‘ um cd und um cf übertrifft; sie übertrifft dann die
10 Linie bb‘ um cd. [Derartiges gibt es auch bei den anderen Künsten. Es | würde
sie nämlich aufheben, wenn nicht dasjenige, was der Hersteller der Quan-
tität und Qualität nach bewirkt, entsprechend auch beim Hergestellten der
Quantität und Qualität nach bewirkt würde.]21
21
Der Verweis auf die Künste und das entsprechende Tun und Leiden muss einer Randglosse
entstammen; sie findet sich noch einmal in 8, 1133a14–16.
Kapitel 8 87
Kapitel 8
Manche meinen aber auch, gerecht an sich sei das Reziproke, wie die Py- V.
thagoreer gelehrt haben. Sie haben nämlich das Gerechte überhaupt als das
Reziproke22 definiert. Das Reziproke passt nun aber weder zum distributi-
ven noch zum | ausgleichenden Gerechten. Und doch wollen sie, dass selbst 25
der Spruch des Rhadamanthys ebendieses Gerechte zum Ausdruck bringt:
„Erlitte man, was man getan, dann würde genaues Recht geschehen.“
In vielen Fällen besteht da aber keine Übereinstimmung. Hat etwa ein
Amtsinhaber jemanden geschlagen, dann darf er dafür nicht wiederge-
schlagen werden. Auch soll jemand, der einen Amtsinhaber geschlagen hat,
nicht | nur wiedergeschlagen, sondern noch zusätzlich bestraft werden. Zu- 30
dem machen Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit einen großen Unterschied.
Diese Art des Gerechten sorgt hingegen für Zusammenhalt in Tauschge-
meinschaften, d.h. das Reziproke der Proportion und nicht der Gleichheit
nach. Zudem hält es den Staat zusammen, wenn man einander Proportionales
zurückgibt. Man sucht nämlich Schlechtes mit Schlechtem zu vergelten, | weil 1133a
es sonst wie Sklaverei erscheint, oder man sucht Gutes mit Gutem zu erwi-
dern. Denn anders kommt es zu keinem Austausch; der Austausch ist aber
der Grund für den Zusammenhalt. Daher pflegt man auch das Heiligtum der
Chariten an augenfälliger Stelle zu errichten, damit es zu wechselseitigem
Geben kommt. Denn dies ist der Dankbarkeit eigentümlich: Wer | einem ei- 5
nen Gefallen getan hat, dem muss man im Gegenzug Hilfe leisten und wie-
derum auch selbst den Anfang mit einem Gefallen machen.
Das proportionale wechselseitige Geben wird aber durch die Verknüp-
fung von diagonal Entgegengesetztem bewirkt. a stehe für einen Baumeis-
ter, b für einen Schuster, c für ein Haus und d für ein Paar Schuhe. Nun soll
der Baumeister vom Schuster dessen Produkt beziehen und | ihm dafür et- 10
22
Mit Handschriften Lb und Mb, Ross und G/J wird hier allôi ausgelassen.
88 Buch V
was von seinem eigenen Produkt geben. Wenn anfangs eine proportionale
Gleichheit vorliegt und danach der reziproke Austausch stattfindet, dann
wird sich ergeben, was wir meinen. Wenn aber nicht, dann gibt es nichts
Gleiches und Beständiges. Denn es kann leicht sein, dass das Produkt des ei-
nen höherwertig ist als das des anderen. Daher muss man sie einander gleich
15 machen. (Derartiges gibt es auch bei den anderen Künsten. Es | würde sie
nämlich aufheben, wenn nicht das, was der Hersteller der Quantität und
Qualität nach bewirkt, entsprechend auch beim Hergestellten der Quanti-
tät und Qualität nach bewirkt würde.) Denn aus zwei Ärzten entsteht keine
Gemeinschaft, sondern vielmehr aus einem Arzt und einem Bauern – wie
überhaupt aus solchen, die verschieden und ungleich sind. Zwischen diesen
ist jedoch Gleichheit herzustellen.
Es muss daher in gewisser Weise alles vergleichbar sein, was Gegenstand
20 des Austauschs ist. Dazu | ist auch das Geld aufgekommen und wirkt wie
eine Art von Mittlerem. Denn es bemisst alles, auch Übermaß und Man-
gel, und folglich auch, wie viele Schuhe einem Haus oder einer bestimm-
ten Menge von Nahrungsmitteln gleichwertig sind. Wie sich der Baumeis-
ter zum Schuhmacher verhält, genauso muss sich auch die Zahl der Schuhe
zu einem Haus oder zu der Menge von Nahrungsmitteln verhalten. Wenn
das nicht der Fall ist, wird es keinen Austausch und keine Gemeinschaft
25 geben. | Diese wird es aber nicht geben, wenn die Dinge einander nicht in
gewisser Weise gleich sind. Man muss daher, wie gesagt, alles mit einer be-
stimmten Einheit bemessen. In Wahrheit ist es aber der Bedarf, der alles zu-
sammenhält. Denn wenn die Menschen gar keinen Bedarf hätten oder nicht
im gleichen Ausmaß, dann würde es keinen oder doch nicht diese Art von
Austausch geben. Gleichsam stellvertretend für den Bedarf hat man daher
30 durch Übereinkunft das Geld eingeführt. | Aus diesem Grund hat es auch
den Namen ‚Geld‘ erhalten, weil es nicht von Natur aus, sondern dem Ge-
setz nach gilt, und weil es bei uns liegt, es zu verändern und es außer Ge-
brauch zu setzen.
Reziprokes wird es also dann geben, wenn Gleichheit hergestellt wor-
den ist, derart, dass wie der Bauer sich zum Schuhmacher verhält, sich auch
1133b das Produkt des Schuhmachers zu dem des Bauern verhält. | Man darf sie
aber nicht erst dann in dieses Proportionsverhältnis bringen, wenn der Aus-
tausch bereits stattgefunden hat (sonst würde nämlich bei einem der beiden
Extreme Überschüsse an beidem vorliegen), sondern solange jeder noch das
Seine hat. Sie sind dann nämlich Gleiche und Tauschpartner, weil sich fol-
gende Gleichheit zwischen ihnen herstellen lässt: Der Bauer sei a, die Nah-
5 rungsmittel seien c, | der Schuhmacher sei b, sein gleichgemachtes Produkt
sei d. Ließe sich keine solche Reziprozität herstellen, dann gäbe es keine
Gemeinschaft. Dass es der Bedarf ist, der sie wie eine Einheit zusammen-
hält, wird daraus deutlich, dass kein Austausch stattfindet, wenn sie keinen
Kapitel 9 89
Kapitel 9
Was das Ungerechte und was das Gerechte ist, haben wir nun gesagt. | Auf- 30
grund ihrer Bestimmung ist klar, dass gerechtes Tun das Mittlere zwischen
Unrechttun und Unrechtleiden ist. Das eine bedeutet nämlich zu viel, das
andere zu wenig zu haben. Die Gerechtigkeit ist eine Mitte, freilich nicht in
der gleichen Weise wie die übrigen Tugenden, sondern weil sie sich auf das
Mittlere bezieht, | die Ungerechtigkeit hingegen auf die Extreme. Auch ist 1134a
es die Gerechtigkeit, der gemäß man von einem Gerechten sagt, er sei be-
reit, das Gerechte mit Vorbedacht zu tun und bei der Verteilung − ob zwi-
schen ihm selbst und einem anderen oder zwischen zwei anderen − nicht
23
Bywater kennzeichnet zwar den Satz als korrupt, sein Sinn ist jedoch klar.
90 Buch V
Kapitel 10
VI. Da es möglich ist, Unrecht zu tun, ohne schon ungerecht zu sein, fragt sich,
welche ungerechten Handlungen man begehen muss, um ungerecht im Sinn
der einzelnen Arten von Ungerechtigkeit zu sein, z.B. ein Dieb, ein Ehebre-
cher oder ein Räuber. Oder werden sie sich in dieser Weise in nichts unter-
20 scheiden? | Jemand könnte nämlich mit einer Frau schlafen, mit Wissen, wer
sie ist, es aber nicht mit Vorbedacht, sondern aufgrund eines Affekts tun.
Damit tut er also zwar Unrecht, ist aber nicht ungerecht; wie jemand kein
Dieb ist, obwohl er gestohlen hat, und kein Ehebrecher, obwohl er Ehe-
bruch begangen hat. Und Entsprechendes gilt auch in den anderen Fällen.
(Wie sich das Reziproke zum Gerechten verhält, haben wir zuvor gesagt.)
25 Man darf aber nicht | vergessen, dass unsere Untersuchung ebenso dem
Gerechten überhaupt wie sie auch dem Gerechten im politischen Sinn gilt.
Letzteres findet sich bei Menschen, die der Autarkie wegen in Gemeinschaft
leben, bei Freien und Gleichen, seien sie nun proportional oder arithme-
tisch gleich. Daher herrscht zwischen Menschen, bei denen es das nicht gibt,
keine politische Gerechtigkeit, sondern nur eine gewisse Art von Gerech-
30 tem, das | ihr ähnlich ist. Gerechtes gibt es nämlich nur für Menschen, zwi-
schen denen es ein Gesetz gibt; ein Gesetz aber haben diejenigen, bei denen
es Ungerechtes gibt. Denn das Recht ist die Unterscheidung von Gerechtem
und Ungerechtem. Wo es Ungerechtigkeit unter den Menschen gibt, da wird
auch Ungerechtes getan (aber nicht bei allen, die Unrecht tun, liegt auch Un-
gerechtigkeit vor). Ungerechtes tun heißt aber, sich selbst zu viel vom Guten
35 und zu wenig vom Schlechten als solchem zuteilen. | Daher lassen wir auch
Kapitel 10 91
nicht den Menschen herrschen, sondern das Gesetz,24 weil der Mensch | zum 1134b
eigenen Vorteil herrscht und zum Tyrannen wird. Der Herrscher ist aber
Wächter über das Gerechte und wenn über das Gerechte, dann auch über
das Gleiche. Er billigt sich keinerlei Übermaß zu, wenn er gerecht ist, denn
er teilt sich nicht selbst mehr vom Guten als solchem zu, es sei denn, dass
ihm dies der Proportion nach zusteht; vielmehr | müht er sich für andere ab. 5
Daher sagt man auch, die Gerechtigkeit sei ein fremdes Gut, wie auch schon
zuvor erwähnt. Man muss ihm daher eine Art Lohn geben, namentlich aber
Ehre und Auszeichnungen. Wer sich jedoch mit Derartigem nicht begnügt,
wird zum Tyrannen.
Was gerecht bei einem Herrn über Sklaven und bei einem Vater ist, ist
nicht dasselbe wie diese Arten von Gerechtigkeit, es ist ihnen aber ähnlich.
Denn | gegenüber dem, was einem selbst gehört, gibt es keine Ungerechtig- 10
keit im eigentlichen Sinn. Der Sklave und auch das Kind, bis es ein bestimm-
tes Alter erreicht hat und selbständig geworden ist, sind wie ein Teil von ei-
nem selbst, niemand fügt sich selbst aber absichtlich Schaden zu und ist sich
selbst gegenüber ungerecht. Daher gibt es hier auch weder das Ungerechte
im politischen Sinn noch das Gerechte. Denn diese beruhen, wie gesagt, auf
dem Gesetz und betreffen Menschen, zwischen denen es von Natur aus ein
Gesetz gibt; das sind aber bekanntlich diejenigen, | die gleichen Anteil am 15
Herrschen und Beherrschtwerden haben. Gerechtes gibt es daher eher im
Verhältnis zur eigenen Frau als zu den Kindern und den Sklaven. Dieses ist
nämlich das Gerechte in der Verwaltung des Hauses. Auch das ist aber ver-
schieden vom Gerechten im politischen Sinn.
Vom Gerechten im politischen Sinn ist der eine Teil natürlich, der andere VII.
gesetzlich. Natürlich ist, was überall die gleiche Kraft hat | und nicht davon 20
abhängt, ob man es anerkennt oder nicht, gesetzlich ist hingegen dasjenige,
bei dem es zwar ursprünglich keinen Unterschied macht, ob dies oder jenes
gilt, wohl aber dann, wenn es einmal so erlassen worden ist, wie z.B. dass
das Lösegeld für einen Gefangenen eine Mine betragen, dass man eine Ziege
und nicht zwei Schafe opfern soll, oder was man sonst an Gesetzen für ein-
zelne Fälle zu erlassen pflegt, wie etwa, dass man dem Brasidas opfern soll,
und was den Charakter von Dekreten hat. Manche sind aber der Meinung,
alles Gesetzliche sei | von dieser Art, weil alles Natürliche unveränderlich ist 25
und überall die gleiche Kraft hat, so wie das Feuer hier wie in Persien brennt,
während sie sehen, wie sich Gerechtes verändert. Das verhält sich aber nicht
so, oder doch nur in gewisser Weise. Zwar mag es vielleicht bei den Göttern
niemals so sein, bei uns dagegen besteht zwar manches auch von Natur aus,
es ist aber | alles veränderlich. Dennoch ist das eine von Natur aus, das an- 30
dere nicht. Welche von den Dingen, die sich auch anders verhalten können,
24
Wie in den Handschriften Mb und Q wird hier mit Susemihl nomos statt logos gelesen.
92 Buch V
von Natur aus sind und welche nicht, sondern auf Gesetz und Überein-
kunft beruhen, wenn beide gleichermaßen veränderlich sind, ist klar. Die-
selbe Unterscheidung wird aber auch zu den anderen Fällen passen. So ist
die rechte Hand von Natur aus stärker, dennoch ist es möglich, dass alle
35 Menschen | beidhändig werden. Bei dem, was aufgrund von Übereinkunft
1135a und seines Nutzens wegen | gerecht ist, verhält es sich ähnlich wie bei den
Maßen. Denn die Maße für Wein und Korn sind nicht überall gleich groß,
sondern sie sind größer, wo gekauft, und kleiner, wo verkauft wird. Ebenso
ist das, was nicht von Natur aus, sondern aufgrund der menschlichen Ver-
hältnisse als gerecht gilt, nicht überall dasselbe, wie ja auch die Staatsver-
5 fassungen nicht dieselben | sind; aber nur eine ist überall von Natur aus die
beste. Jede gerechte und gesetzliche Bestimmung verhält sich aber wie das
Allgemeine zum Einzelnen. Was getan wird, ist vieles; von den gesetzlichen
Bestimmungen ist aber jede eine, denn sie ist allgemein. Es besteht nämlich
ein Unterschied zwischen einer ungerechten Tat und dem Ungerechten, ei-
10 ner gerechten Tat und dem Gerechten. Ungerecht | ist etwas von Natur aus
oder aufgrund einer Setzung; dieselbe Handlung, die, wenn sie ausgeführt
ist, eine ungerechte Tat ist, war das aber nicht, bevor sie ausgeführt wurde,
wohl aber ungerecht. Das Gleiche gilt für die gerechte Tat. Das Allgemeine
pflegt man aber eher als Rechtstatbestand zu bezeichnen, die Wiedergutma-
chung eines Unrechts dagegen als eine gerechte Tat. Im Einzelnen ist später
noch zu untersuchen, welche Arten solcher Handlungen und wie viele es
15 gibt und auf welche Sachverhalte | sie sich beziehen.
VIII. Wenn aber Gerechtes und Ungerechtes von der Art sind, wie wir gesagt
haben, dann handelt jemand ungerecht oder gerecht, wenn er es freiwillig
tut. Tut er es unfreiwillig, dann handelt er weder ungerecht noch gerecht,
es sei denn akzidentell. Denn Menschen tun auch Dinge, die akzidentell ge-
20 recht oder ungerecht sind. Ungerechte und | gerechte Handlungen bestimmt
man daher aufgrund des Freiwilligen und Unfreiwilligen. Ist die Handlung
freiwillig, so wird sie getadelt und ist dann zugleich eine Unrechtstat. Da-
her kann es auch etwas Ungerechtes geben, was noch keine Unrechtstat ist,
wenn die Freiwilligkeit fehlt. Als freiwillig bezeichne ich, wie schon früher
gesagt, wenn jemand etwas, das bei ihm liegt, wissentlich, also nicht in Un-
25 kenntnis darüber, | wem gegenüber, womit oder wozu er es tut, z.B. wen er
schlägt, womit und weshalb, und wenn nichts davon akzidentell oder unter
Zwang geschieht (wenn etwa jemand seine Hand nimmt und damit einen
anderen schlägt, so ist das nicht freiwillig, denn es liegt nicht bei ihm).
Es kann aber vorkommen, dass der Geschlagene der eigene Vater ist und
30 der Täter zwar | erkennt, dass dieser ein Mensch oder einer der Anwesenden
ist, nicht aber, dass er sein Vater ist. Entsprechende Unterscheidungen sind
auch in Hinblick auf den Zweck und die Handlung als Ganze zu treffen.
Unfreiwillig ist also, was dem Handelnden unbekannt ist oder, wenn schon
Kapitel 10 93
nicht unbekannt, so doch nicht bei ihm liegt, oder was aufgrund von Gewalt
geschieht. Denn auch vieles, was bei uns von Natur aus eintritt, | tun und er- 1135b
leiden wir wissentlich; nichts davon ist aber freiwillig oder unfreiwillig, wie
etwa alt werden oder sterben. Auch Akzidentelles gibt es in gleicher Weise
bei ungerechten und gerechten Handlungen. So könnte jemand hinterlegtes
Geld sowohl unfreiwillig wie auch aus | Furcht zurückgeben; von diesem 5
darf man aber weder behaupten, er tue Gerechtes, noch auch, er tue Recht,
es sei denn akzidentell. Ebenso muss man auch von jemandem, der das Hin-
terlegte aufgrund von Gewalt und unfreiwillig nicht zurückgibt, sagen, dass
er nur akzidentell ungerecht handelt und Unrecht tut. Freiwilliges tun wir
teils aufgrund einer Entscheidung, teils | ohne sie; aufgrund einer Entschei- 10
dung, was wir zuvor beraten haben, ohne Entscheidung, was wir ohne Be-
ratung getan haben.
Es gibt also drei Arten von Schädigungen im wechselseitigen Umgang:
Ein aufgrund von Unwissenheit begangener Fehler liegt dann vor, wenn die
Handlung weder den Gegenstand noch die Person, noch das Mittel oder
den Zweck trifft, die der Handelnde angenommen hat. Er glaubte entweder
nicht zu treffen oder nicht mit diesem Gegenstand oder nicht gerade diesen
bestimmten Menschen oder nicht zu diesem Zweck, | sondern es hat sich 15
nicht das ergeben, um dessentwillen er zu handeln meinte, z.B. den andern
nicht zu verwunden, sondern bloß aufzustören (oder nicht diesen Menschen
zu treffen oder nicht mit diesem Gegenstand). Tritt der Schaden wider jede
vernünftige Erwartung ein, dann ist es ein Unglücksfall. Tritt er zwar nicht
wider die vernünftige Erwartung ein, beruht aber auch nicht auf Schlechtig-
keit, dann ist es ein Fehler (einen Fehler macht man, wenn der Ursprung des
Unwissens25 bei einem selbst liegt; ein Unglück ist es dagegen, wenn er au-
ßerhalb liegt). Handelt | man zwar wissentlich, aber ohne Vorbedacht, dann 20
ist es eine Unrechtstat von der Art, wie man sie im Zorn oder aus einem der
anderen Affekte heraus begeht, welche Menschen entweder notwendig oder
natürlicherweise befallen. Wenn sie in dieser Weise einen Schaden zufügen
und einen Fehler machen, tun sie zwar Unrecht und es sind Unrechtstaten,
sie selbst sind aber deswegen noch nicht ungerecht und auch nicht schlecht.
Denn der Schaden beruht nicht auf Schlechtigkeit. | Beruht der Schaden da- 25
gegen auf Vorbedacht, dann ist der Betreffende ungerecht und schlecht. Da-
her urteilt man zu Recht, was aus Zorn geschehe, sei nicht mit Vorbedacht
getan. Denn angefangen hat nicht derjenige, der im Zorn handelt, sondern
wer ihn zum Zorn gereizt hat. Ferner streitet man nicht darüber, ob die Tat
geschehen ist oder nicht, sondern ob sie gerecht ist, denn der Zorn gilt dem,
was als Ungerechtigkeit erscheint. | Denn der Streit geht nicht darüber, ob 30
25
Die Übersetzung folgt dem Vorschlag Jacksons, agnoias statt aitias zu lesen; diese Lesart
liegt auch der arabischen Übersetzung zugrunde.
94 Buch V
Kapitel 11
IX. | 10 Jemand könnte sich aber fragen, ob das Unrechtleiden und Unrechttun hin-
reichend bestimmt wurden, und zwar als erstes, ob es Derartiges gibt, was
Euripides meint, wenn er paradoxerweise sagt:
„Getötet hab ich meine eigene Mutter, kurz gesagt.“
„Freiwillig die Freiwillige, oder die Unfreiwillige unfreiwillig?“ |
15 Kann man denn wirklich freiwillig Unrecht leiden oder kann man es nicht,
sondern ist jedes Unrechtleiden unfreiwillig, so wie jedes Unrechttun frei-
willig ist? Und ist denn entweder alles freiwillig oder unfreiwillig, oder ist
es im einen Fall freiwillig, im anderen unfreiwillig? Dasselbe fragt sich auch
bezüglich des Erleidens von Gerechtem. Denn da jedes gerechte Handeln
20 freiwillig ist, ist es plausibel, | dass es auf beiden Seiten dieselben Verhältnisse
gibt, d.h. dass das Erleiden von Ungerechtem und Gerechtem entweder bei-
des freiwillig oder beides unfreiwillig ist. Doch dürfte es schon beim Erlei-
den von Gerechtem unsinnig erscheinen, dass es stets freiwillig geschehen
soll. Denn manche erfahren auch unfreiwillig Gerechtes.
Weiterhin könnte jemand auch der Frage nachgehen, ob jeder, dem etwas
Ungerechtes widerfahren ist, Unrecht leidet, oder ob es sich so wie beim |
25 Tun auch beim Leiden verhält. Bei beidem, bei Tun und Leiden, ist es näm-
lich möglich, akzidentell an Gerechtem teilzuhaben; und so verhält es sich
offensichtlich auch im Fall von Ungerechtem. Denn etwas Ungerechtes zu
tun ist nicht dasselbe wie Unrechttun, und ebenso ist auch etwas Ungerech-
Kapitel 12 95
Kapitel 12
Von dem, was wir uns vorgenommen haben, bleiben noch zwei Fragen zu 15
besprechen: Ob derjenige Unrecht tut, der jemandem der Würdigkeit ent-
gegen zu viel zugeteilt hat, oder derjenige, der es erhalten hat, und ob man
sich dabei selbst Unrecht tun kann. Wenn nämlich das Erstgenannte mög-
lich ist und der Zuteilende Unrecht tut, nicht aber, wer zu viel erhalten
hat, | dann tut derjenige, der einem anderen wissentlich und freiwillig mehr 20
als sich selbst zuteilt, sich selbst Unrecht. Ebendies, so scheint es, tun die
Maßvollen; denn der Gute ist geneigt, sich mit dem kleineren Teil zu begnü-
gen. Oder trifft das gar nicht ohne weiteres zu? Denn wie es sich trifft, er-
hält er mehr von einem anderen Gut, wie etwa an Ansehen oder an Schönem
überhaupt. Dieses Problem löst sich auch aufgrund der Definition des Un-
96 Buch V
Kapitel 13
5 Die | Menschen glauben aber, es liege bei ihnen selbst, Unrecht zu tun, und
daher sei es auch leicht, gerecht zu sein. Das ist es aber nicht. Zwar ist es
leicht und liegt bei ihnen, mit der Frau des Nachbarn zu schlafen, einen
Umstehenden zu schlagen oder jemandem Geld zuzuschieben; all dies aber
aufgrund einer bestimmten Verfassung zu tun, ist weder leicht, noch liegt es
bei ihnen.
10 Ebenso | meint man auch, es erfordere keine besondere Weisheit zu er-
kennen, was gerecht und was ungerecht ist, weil es nicht schwer zu verste-
hen sei, worüber die Gesetze reden (obwohl das gar nicht das Gerechte ist,
es sei denn akzidenteller Weise). Wie aber beim Handeln und wie beim Ver-
teilen vorzugehen ist, damit es gerecht ist – das zu erkennen ist eine noch
15 schwierigere Aufgabe als zu wissen, was gesund ist. Denn auch hier | ist es
zwar leicht zu wissen, dass Honig, Wein, Nieswurz sowie Schneiden und
Brennen gesund sind; doch zu wissen, auf welche Weise, bei wem und zu
welchem Zeitpunkt man sie zur Heilung anwenden soll, ist eine so große
Aufgabe, dass es dazu den Arzt braucht.
Aus demselben Grund glaubt man auch, es sei nicht weniger Sache des
Gerechten, Unrecht zu tun; denn er sei dazu nicht weniger, sondern wo-
Kapitel 14 97
möglich sogar noch eher fähig, jede einzelne dieser Handlungen zu begehen,
nämlich | mit einer Frau zu schlafen oder jemanden zu schlagen, so wie auch 20
der Tapfere seinen Schild von sich werfen und auf der Flucht blindlings da-
vonlaufen könne. Feigesein oder Unrechttun bedeutet aber nicht einfach,
sich so zu verhalten, es sei denn akzidenteller Weise. Vielmehr muss man das
in einer bestimmten Verfassung tun, so wie auch ärztliches Vorgehen und
Heilen nicht einfach darin bestehen, zu schneiden oder nicht, | Medikamente 25
zu verabreichen oder nicht, sondern es in dieser bestimmten Weise zu tun.
Gerechtes gibt es zwischen Wesen, die an Dingen teilhaben, die für sich
genommen gut sind, und daran Übermaß und Mangel haben können. Für
manche Wesen gibt es gar kein Übermaß an Gutem, wie vielleicht für die
Götter. Für andere hingegen, die unheilbar Schlechten, ist selbst der kleinste
Anteil nicht nützlich, sondern | alle Güter schaden ihnen. Wieder anderen 30
nützen sie bis zu einem gewissen Grad. Das Gerechte ist daher etwas typisch
Menschliches.
Kapitel 14
Anschließend ist über die Billigkeit und das Billige zu sprechen, wie sich X.
die Billigkeit zur Gerechtigkeit, das Billige zum Gerechten verhält. Unter-
sucht man sie näher, so zeigt sich, dass sie weder schlichtweg dasselbe noch
der Gattung nach verschieden sind. Einerseits | loben wir zwar das Billige 35
und einen solchen Menschen, derart, dass wir ‚billig‘ | anstelle von ‚gut‘ als 1137b
Lob auch auf andere Bereiche übertragen und damit deutlich machen, dass
das Billigere besser ist. Andererseits aber erscheint es unsinnig, richtet man
sich nach der Wortbedeutung, dass das Billige als etwas zu loben sein soll,
das neben dem Gerechten steht. | Sind sie nämlich verschieden, dann ist ent- 5
weder das Gerechte oder das Billige nicht gut;26 sind sie aber beide gut, dann
sind sie dasselbe. Das sind in etwa die Überlegungen, die das Billige be-
treffend Schwierigkeiten machen. Diese Überlegungen sind auch alle in ge-
wisser Weise richtig und widersprechen einander nicht. Denn das Billige,
während es besser als eine bestimmte Art von Gerechtem ist, ist dennoch
gerecht; es ist aber nicht im Sinn einer anderen Gattung besser als das Ge-
rechte. | Dasselbe ist also gerecht und billig; während jedoch beide gut sind, 10
ist das Billige noch besser.
Die Schwierigkeit wird dadurch verursacht, dass das Billige zwar ge-
recht, aber nicht das dem Gesetz nach Gerechte, sondern eine Korrektur des
gesetzlichen Gerechten ist. Der Grund dafür liegt darin, dass jedes Gesetz
26
1137b4 f. wird mit Susemihl, der lateinischen Tradition folgend, ou dikaion athetiert (so
auch Ross, G/J, Dirlmeier).
98 Buch V
allgemein ist, über manche Dinge aber keine richtigen allgemeinen Aussagen
15 möglich sind. In den Fällen, | in denen Allgemeines gesagt werden muss, ob-
wohl ebendies auf richtige Weise nicht möglich ist, erfasst das Gesetz zwar
die Mehrzahl, ist sich der Möglichkeit von Fehlern aber bewusst und ist
darum nicht weniger richtig. Der Fehler liegt nämlich nicht beim Gesetz
und auch nicht beim Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache. Denn
bei praktischen Angelegenheiten ist die Materie von vornherein dieser Art.
20 Wenn | nun das Gesetz allgemein abgefasst ist, in diesem bestimmten Fall
aber etwas vorliegt, was dem Allgemeinen widerspricht, dann ist es richtig,
dort wo der Gesetzgeber eine Lücke gelassen und diesen Fall mit seiner ein-
fachen Formulierung nicht erfasst hat, das Fehlende auszugleichen, so wie
es der Gesetzgeber selbst getan hätte, wenn er dabei gewesen wäre und das
Gesetz in Kenntnis dieses Falls abgefasst hätte.
Daher ist das Billige gerecht und besser als eine bestimmte Art des Ge-
25 rechten, | aber nicht besser als das Gerechte überhaupt, sondern besser als
das Gerechte, welches durch die allgemeine Formulierung verfehlt wird.
Und so ist das Billige seiner Natur nach eine Korrektur des Gesetzes, in-
sofern dieses seiner Allgemeinheit wegen eine Lücke lässt. Das ist auch der
Grund dafür, dass nicht alles durch das Gesetz geregelt ist; denn über man-
ches kann man gar keine Gesetze erlassen, so dass es eines Dekrets bedarf.
30 Denn bei Unbestimmtem | ist auch der Richtstab unbestimmt, so wie der
Richtstab aus Blei, den man auf Lesbos beim Hausbau verwendet. Dieser
passt sich nämlich der Form des Steins an und bleibt nicht starr. Und so
passt sich auch das Dekret dem Sachverhalt an.
Was nun das Billige ist, dass es gerecht ist, und welcher Art von Gerechtem
gegenüber es besser ist, ist somit klar. Daraus wird aber auch deutlich, wer der
35 Billige | ist: Wer nämlich zu solchen Entscheidungen und Handlungen fähig
1138a ist und | nicht zum Schlechteren hin auf Rechtsgenauigkeit besteht, sondern
sich mit weniger zu begnügen bereit ist, selbst wenn er das Gesetz auf seiner
Seite hat, der ist billig, und ebendiese Disposition ist die Billigkeit; sie ist eine
Form von Gerechtigkeit und keine von ihr verschiedene Disposition.
Kapitel 15
XI. | 5 Ob man sich selbst Unrecht tun kann oder nicht, ist nach | dem Gesagten
offensichtlich. Die eine Art von Gerechtem betrifft nämlich das, was das
Gesetz in Hinblick auf jede Tugend anordnet. So befiehlt das Gesetz nicht,
dass man sich selbst tötet; was es nicht befiehlt, verbietet es aber. Wenn fer-
ner jemand dem Gesetz zuwider einem anderen freiwillig einen Schaden zu-
fügt, ohne damit einen Schaden zu vergelten, dann tut er Unrecht. Freiwillig
tut das aber derjenige, der weiß, wem er es antut und womit er es tut. Wer
Kapitel 15 99
sich etwa im Zorn selbst | entleibt, tut freiwillig und wider den richtigen 10
Grundsatz genau das, was das Gesetz nicht zulässt. Er tut also Unrecht.
Doch wem? Etwa dem Staat, nicht aber sich selbst? Denn er erleidet es ja
freiwillig; niemand aber leidet freiwillig Unrecht. Daher verhängt der Staat
auch eine Strafe, und es haftet demjenigen, der sich selbst tötet, eine Art Ehr-
losigkeit an, als tue er dem Staat Unrecht.
Ferner: Auch wenn jemand, der Unrecht tut, nur ungerecht | und nicht 15
vollends schlecht ist, kann er sich nicht selbst Unrecht tun. (Dieses Unrecht-
tun ist nämlich verschieden von jenem: Dieser Ungerechte ist nämlich in
ähnlicher Weise schlecht wie der Feige, d.h. nicht so, als habe er die ganze
Schlechtigkeit, so dass er auch nicht in diesem Sinne Unrecht tut). Denn
sonst könnte jemandem ein und dasselbe zugleich weggenommen und hin-
zugefügt werden. Das ist aber unmöglich, vielmehr | müssen Gerechtes und 20
Ungerechtes immer mehr als eine Person betreffen. Ferner: Unrechttun ist
freiwillig, vorsätzlich und geht dem Unrechtleiden voraus. Denn wenn je-
mand, weil er ein Unrecht erlitten hat, dasselbe zurückgibt, tut er bekannt-
lich kein Unrecht. Tut sich jemand aber selbst Unrecht, dann tut und er-
leidet er dasselbe gleichzeitig. Ferner wäre es möglich, freiwillig Unrecht
zu leiden. Außerdem: Niemand kann Unrecht tun, ohne eine bestimmte
Unrechtstat | zu begehen; niemand treibt aber Ehebruch mit seiner eigenen 25
Frau, bricht in sein eigenes Haus ein oder stiehlt sein Eigentum. Allgemein
löst sich das Problem, ob man sich selbst Unrecht tun kann, aber aufgrund
der Unterscheidung, die wir in Hinblick auf das freiwillige Unrechtleiden
getroffen haben.
Es ist nun offensichtlich, dass beides schlecht ist, sowohl das Unrecht-
leiden wie auch das Unrechttun (das eine | bedeutet nämlich weniger, das 30
andere mehr zu haben als das Mittlere, analog zum Gesunden in der Medi-
zin und dem guten Zustand beim sportlichen Training). Das Unrechttun ist
jedoch schlechter. Denn Unrechttun ist mit Schlechtigkeit verbunden und
tadelnswert, mit einer Schlechtigkeit, die vollständig und uneingeschränkt
ist oder doch nahezu (nicht alles freiwillige Unrechttun beruht nämlich auf
Ungerechtigkeit). Das Unrechtleiden ist dagegen ohne Schlechtigkeit und | 35
Ungerechtigkeit. Als solches ist das Unrechtleiden weniger schlecht; | nichts 1138b
hindert aber, dass es zufällig einmal ein größeres Übel ist. Darum kümmert
sich die Wissenschaft zwar nicht, sondern nennt eine Rippenfellentzündung
eine schlimmere Krankheit als eine Verstauchung. Dennoch kann sich zu-
fällig auch das Umgekehrte ergeben, wenn z.B. jemand, der einer Verstau-
chung wegen stürzt, infolgedessen | von seinen Feinden gefangengenommen 5
oder getötet wird.
Ein Gerechtes sich selbst gegenüber gibt es auch nicht in einem übertra-
genen Sinn und aufgrund einer Ähnlichkeit, wohl aber gegenüber manchem,
was zu einem gehört, allerdings nicht jede Art von Gerechtem, sondern das-
100 Buch V
jenige Gerechte, das die Herrschaft über Sklaven und den Haushalt betrifft.
In diesen Verhältnissen steht nämlich der vernünftige zum vernunftlosen
10 Seelenteil. | Schaut man auf diese Teile, dann kann man meinen, es gebe auch
eine Ungerechtigkeit sich selbst gegenüber, weil die Teile voneinander et-
was erleiden können, was ihrem Streben zuwider läuft. Es scheint also auch
zwischen ihnen ein Gerechtes zu geben wie zwischen Herrscher und Be-
herrschtem.
Auf diese Weise seien also die Gerechtigkeit und die übrigen, die Cha-
raktertugenden, bestimmt.
Buch VI
Kapitel 1
Da wir früher gesagt haben, dass man das Mittlere wählen soll, nicht das I.
Übermaß oder den Mangel, das | Mittlere aber so ist, wie es die richtige 20
Begründung bestimmt, wollen wir dies nun genauer untersuchen. Bei al-
len genannten Dispositionen, so wie auch sonst, gibt es einen bestimmten
Zielpunkt, auf den derjenige blickt, der über diese Begründung verfügt, und
seinen Bogen anspannt oder lockert. Auch gibt es eine Begrenzung der Mit-
ten, von denen wir sagen, sie lägen | der richtigen Begründung entsprechend 25
zwischen Übermaß und Mangel.
Diese Redeweise ist nun zwar wahr, aber keineswegs klar. Denn auch bei
den sonstigen Vorhaben, die Gegenstand eines Wissens sind, ist es richtig zu
sagen, dass man weder zu viel noch zu wenig Mühe bzw. Sorglosigkeit an
den Tag legen, sondern auf das Mittlere aus sein und so vorgehen soll, wie es
der richtigen Begründung entspricht. Wenn man aber nur dies wüsste, | dann 30
wäre es mit dem Wissen nicht weit her; man wüsste z.B. nicht, welche Me-
dikamente man dem Körper zuführen soll, wenn jemand nur sagte: ‚Alles,
was die Medizin anordnet, und wie der es tut, der über sie verfügt.‘ Daher
reicht es auch in Hinblick auf die Dispositionen der Seele nicht aus, in dieser
Weise etwas Wahres gesagt zu haben. Man muss vielmehr darüber hinaus ge-
nau festlegen, was die richtige Begründung ist und wie sie zu bestimmen ist.
Kapitel 2
Bei der Einteilung der Tugenden der Seele | haben wir gesagt, dass die einen 1139a
dem Charakter, die anderen der Vernunft zugehören. Da wir nun die Cha-
raktertugenden durchgegangen sind, wollen wir jetzt die übrigen Tugenden
behandeln, indem wir als erstes über die Seele sprechen. Früher haben wir
gesagt, dass es zwei Teile der Seele gibt, einen, der Vernunft hat, und ei-
nen | vernunftlosen; jetzt müssen wir entsprechend auch für den Teil, der 5
Vernunft hat, Unterteilungen vornehmen. Es sei nun vorausgesetzt, dass es
102 Buch VI
zwei Teile gibt, die Vernunft haben: einen, mit dem wir die Arten des Sei-
enden betrachten, deren Prinzipien sich nicht anders verhalten können, und
einen, mit dem wir das betrachten, was sich anders verhalten kann. Denn
auf Dinge, die ihrer Gattung nach verschieden sind, sind auch von Natur
10 aus jeweils der Gattung nach | verschiedene Teile der Seele bezogen, da ihr
Erkenntnisvermögen auf einer Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit ihren
Gegenständen beruht. Von diesen Teilen soll nun der eine ‚wissenschaftlich‘,
der andere ‚überlegend‘ heißen. Beraten und Überlegen ist nämlich ein und
dasselbe, niemand aber geht mit sich über Dinge zurate, die nicht anders
15 sein können. Folglich ist das überlegende Vermögen | ein bestimmter Teil
dessen, was Vernunft hat. Man muss nun herausfinden, welche Disposition
der beiden Teile die beste ist, denn diese ist jeweils seine Tugend; die Tugend
bezieht sich aber auf die ihnen eigentümliche Funktion.
II. Drei Vermögen gibt es nun in der Seele, die maßgeblich für Handeln
und Wahrheit sind: Wahrnehmung, Denken, Streben. Von diesen ist aber
die Wahrnehmung kein Prinzip irgendeiner Handlung; das zeigt sich daran,
20 dass | die Tiere zwar Wahrnehmung haben, am Handeln aber nicht teilha-
ben. Was nun aber beim Denken Bejahung und Verneinung ist, das ist beim
Streben das Suchen und Meiden. Da die Charaktertugend eine Disposition
zur Entscheidung, die Entscheidung aber ein auf Beratung beruhendes Stre-
ben ist, müssen folglich die Überlegung wahr und das Streben richtig sein,
25 | wenn die Entscheidung gut sein soll; auch muss die Überlegung dasselbe
bejahen, was das Streben verfolgt. Dieser Art sind also das praktische Den-
ken und die praktische Wahrheit. Beim theoretischen Denken, das weder auf
Handeln noch auf Herstellen ausgerichtet ist, bestehen ‚gut‘ und ‚schlecht‘
im Wahren und Falschen, denn darin besteht die Funktion jedes Denkver-
30 mögens. Die Wahrheit des praktischen | Denkens steht dagegen in Überein-
stimmung mit dem richtigen Streben.
Der Ursprung der Handlung ist nun die Entscheidung. Sie ist aber
der Anfang der Bewegung, nicht ihr Zweck; der Ursprung der Entschei-
dung sind hingegen das Streben und die dem Zweck geltende Überlegung.
Eine Entscheidung kann es daher weder ohne Vernunft und Denken noch
auch ohne eine Charakterdisposition geben. Denn gutes Handeln wie auch
35 sein | Gegenteil gibt es nicht ohne Denken und Charakter. Das Denken
selbst bewegt jedoch nichts, sondern nur das einem Zweck geltende und
1139b praktische Denken. | Der Zweck bestimmt freilich auch das herstellende
Vermögen, denn jeder, der etwas herstellt, tut das eines bestimmten Zwecks
wegen, allerdings keines Zwecks für sich genommen, sondern nur in Bezug
auf etwas und von etwas. Zweck für sich genommen ist vielmehr der Gegen-
stand des Handelns, denn Ziel ist das gute Handeln selbst und ihm gilt auch
das Streben. Daher ist die Entscheidung entweder ein strebendes Denken
5 oder | ein denkendes Streben, und ein Ursprung dieser Art ist der Mensch.
Kapitel 3 103
Kapitel 3
Diese Dispositionen wollen wir aber nochmals von einem allgemeineren III.
Standpunkt aus bestimmen. | Es sei angenommen, dass die Vermögen, mit 15
denen die Seele durch Bejahen oder Verneinen die Wahrheit trifft, fünf an
der Zahl sind. Diese sind Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und in-
tuitive Vernunft. Bei Urteil und Meinung kann man sich nämlich täuschen.
Was Wissenschaft ist, lässt sich aus Folgendem deutlich machen, wenn
man sie genau bestimmen soll und sich nicht auf bloße Ähnlichkeiten verlas-
sen darf: | Wir alle setzen voraus, dass das, was wir wissen, sich nicht anders 20
verhalten kann. Denn bei dem, was veränderlich ist, wissen wir nicht, ob es
der Fall ist oder nicht, wenn es aus unserem Blickfeld geraten ist. Gegen-
stand von Wissenschaft ist also, was mit Notwendigkeit besteht. Es ist daher
ewig; denn alles, was schlechthin notwendig ist, ist ewig. Das Ewige ist aber
ohne Werden und Vergehen. |
Ferner gilt jede Wissenschaft als lehrbar und ihr Gegenstand als erlern- 25
bar. Jede Lehre aber geht von bereits zuvor Erkanntem aus, wie wir auch in
den Analytiken sagen, denn sie verfährt teils mit Hilfe von Induktion, teils
mit Hilfe von Deduktion. Die Induktion führt zum Prinzip27 und dem All-
gemeinen hin, während die Deduktion vom Allgemeinen ausgeht. Demnach
gibt es | Prinzipien, von denen die Deduktion ausgeht, die nicht selbst wie- 30
der durch Deduktionen abgeleitet werden; sie beruhen also auf Induktion.
Die Wissenschaft erweist sich somit als die Disposition zum Umgang mit
Beweisen und was wir sonst noch an Bestimmungen in den Analytiken dazu
angeben. Jemand verfügt nämlich dann über Wissen, wenn er in bestimmter
Weise überzeugt ist und die Prinzipien kennt. Falls er diese aber nicht besser
27
1139b28 wird mit Greenwood et al. die Lesart der Handschrift Lb archês vorausgesetzt.
104 Buch VI
35 kennt als die Schlussfolgerung, | dann wird er dieses Wissen nur auf akziden-
telle Weise haben. Was Wissenschaft ist, sei nun auf diese Weise bestimmt.
Kapitel 4
IV. | 1140a Zu dem, was sich anders verhalten kann, gehören auch die Gegenstände
des Herstellens und des Handelns. Herstellung und Handlung sind aber
verschieden (wir verlassen uns dabei auch auf das in unseren exoterischen
Schriften Gesagte), so dass auch die mit Überlegung verbundene Disposi-
5 tion zum Handeln verschieden ist von der | mit Überlegung verbundenen
Disposition zum Herstellen. Deswegen ist auch die eine nicht in der anderen
enthalten; denn weder ist das Handeln ein Herstellen noch das Herstellen
ein Handeln. Wenn etwa die Baukunst eine bestimmte Kunst ist, und zwar
eine bestimmte Disposition zum Herstellen mit Überlegung, und wenn es
weder eine Kunst gibt, die nicht zugleich eine mit Überlegung verbundene
Disposition zum Herstellen ist, noch auch eine derartige Disposition, die
10 nicht zugleich eine Kunst ist, | dann dürften ‚Kunst‘ und ‚mit wahrer Über-
legung verbundene Disposition zum Herstellen‘ dasselbe sein.
Jede Kunst betrifft ein Entstehen, und das kunstgerechte Herstellen28 ist
ein Überlegen, wie etwas von den Dingen zustande kommen kann, die so-
wohl sein wie auch nicht sein können, und deren Ursprung im Hersteller,
15 aber nicht im Hergestellten liegt. Denn die | Kunst gilt weder Dingen, die
aus Notwendigkeit sind und entstehen, noch auch solchen, bei denen das
von Natur aus geschieht, denn diese Dinge haben ihren Ursprung in sich
selbst.
Da Herstellen und Handeln verschieden sind, gilt die Kunst notwendi-
gerweise dem Herstellen, aber nicht dem Handeln. Ferner beziehen sich in
gewisser Hinsicht Zufall und Kunst auf dieselben Dinge, so wie auch Aga-
20 thon sagt: „Die Kunst liebt den Zufall, der Zufall | die Kunst.“ Die Kunst ist
also, wie gesagt, eine mit wahrer Überlegung verbundene Disposition zum
Herstellen, die mangelhafte Kunst dagegen die mit falscher Überlegung ver-
bundene Disposition zum Herstellen, wobei beide sich auf das beziehen,
was sich anders verhalten kann.
28
1140a11 wird mit Susemihl Muretus’ Athetese von kai nach technazein übernommen.
Kapitel 5 105
Kapitel 5
Was die Klugheit ist, können wir dadurch erfassen, dass wir uns anschauen, V.
| welche Menschen wir klug nennen. Es kennzeichnet den Klugen, dass er 25
fähig ist, richtig mit sich über das für ihn Gute und Nützliche zurate zu ge-
hen, und zwar nicht in einer besonderen Hinsicht, wie etwa über das, was
Gesundheit oder Stärke, sondern über das, was das gute Leben im Ganzen
betrifft. Ein Anzeichen dafür ist, dass wir Menschen auch in Bezug auf etwas
Bestimmtes als klug bezeichnen, wenn sie gute Überlegungen ein gutes Ziel
betreffend anstellen, das nicht in die Zuständigkeit einer Kunst fällt. | Daher 30
wäre ganz allgemein klug derjenige, der gut mit sich zurate zu gehen weiß.
Nun geht aber niemand mit sich über Dinge zurate, die nicht anders sein
können, und auch nicht über solche, die er nicht ausführen kann. Wenn also
die Wissenschaft auf Beweisen beruht, es aber keine | Beweise von Dingen 35
gibt, deren Prinzipien auch anders sein können (denn sonst könnte alles
auch anders sein), und wenn man nicht | über Dinge zurate gehen kann, die 1140b
notwendig sind, dann wäre die Klugheit weder eine Wissenschaft noch eine
Kunst: keine Wissenschaft, weil die Gegenstände des Handelns anders sein
können, keine Kunst, weil die Gattung von Handeln und Herstellen ver-
schiedenen ist. Es ergibt sich also, dass die Klugheit eine | wahre, mit Über- 5
legung verbundene Disposition zum Handeln ist, die sich auf das bezieht,
was für den Menschen gut und schlecht ist. Während nun das Ziel der Her-
stellung von ihr verschieden ist, ist das bei der Handlung nicht so; Ziel ist
vielmehr das gute Handeln selbst.29 Aus diesem Grund halten wir Perikles
und seinesgleichen für klug, weil sie | überblicken können, was für sie selbst 10
und für die Menschen allgemein gut ist. Von dieser Art sind aber, wie wir
meinen, auch diejenigen, die sich in der Verwaltung des Hauses und in der
Politik auskennen.
Auch bezeichnen wir die Besonnenheit deswegen mit diesem Namen,
weil sie die Klugheit bewahrt. Denn sie bewahrt das entsprechende Urteil.
Lust- und Schmerzvolles zerstören oder verzerren nämlich nicht Urteile je-
der Art, wie etwa, dass das | Dreieck die Winkelsumme von zwei rechten 15
Winkeln hat oder nicht hat, sondern nur diejenigen Urteile, die sich auf das
beziehen, was zu tun ist. Denn die Prinzipien des Handelns liegen in dem
Ziel, dem das Handeln gilt. Wer aber einmal durch Lust oder Schmerz ver-
dorben ist, dem leuchtet sofort das Prinzip nicht mehr ein, wie auch, dass
zu diesem Zweck und aus diesem Grund alle Entscheidungen zu treffen und
29
Nach dem Vorschlag von Susemihl (nach Rassow und Muretus) empfiehlt sich, die
Reihenfolge der beiden Sätze von 1140b4–6 und 1140b6 f. zu vertauschen, weil ‚Es
ergibt sich also…‘ das Ergebnis der Unterscheidung zwischen Herstellung und Handeln
zusammenfasst.
106 Buch VI
20 alle Handlungen auszuführen sind. Denn die Schlechtigkeit ist für das | Prin-
zip verderblich. Daher muss die Klugheit eine wahre Disposition mit Über-
legung zum Handeln in Hinblick auf das menschliche Gute sein.
Nun gibt es zwar eine Tugend der Kunst, aber keine der Klugheit. Auch
ist im Bereich der Kunst eher derjenige vorzuziehen, der mit Absicht Fehler
macht; für die Klugheit und ebenso auch für die Charaktertugenden gilt das
25 weniger. Es ist nun offensichtlich dass die Klugheit eine Tugend | und keine
Kunst ist. Da es aber zwei Teile der Seele gibt, die Vernunft haben, wäre die
Klugheit die Tugend eines dieser beiden, und zwar desjenigen, der es mit
Meinungen zu tun hat. Denn die Meinung bezieht sich auf das, was sich an-
ders verhalten kann, und so auch die Klugheit. Allerdings ist die Klugheit
nicht bloß eine Disposition mit Überlegung. Ein Anzeichen dafür ist, dass
es bei einer solchen Disposition ein Vergessen gibt, während es das bei der
30 Klugheit | nicht gibt.
Kapitel 6
VI. Da die Wissenschaft im Urteil über allgemeine und notwendige Sachverhalte
besteht, es aber von allem Beweisbaren und von jeder Wissenschaft Prinzi-
pien gibt (denn die Wissenschaft ist mit Begründung verbunden), kann das
Grundprinzip des wissenschaftlich Erfassbaren weder selbst Gegenstand
35 von Wissenschaft noch von Kunst noch | auch von Klugheit sein. Wissen-
1141a schaftliche Sachverhalte sind nämlich zu beweisen; Kunst und Klugheit | gel-
ten hingegen Dingen, die sich anders verhalten können. Auch die Weisheit
gilt daher nicht den Prinzipien, denn es ist auch Sache des Weisen, von be-
stimmten Dingen Beweise zu haben.
Wenn nun die Dispositionen, mit denen wir die Wahrheit erfassen und
uns niemals täuschen, ob über das, was sich nicht anders verhalten oder über
5 das, was sich anders | verhalten kann, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und
intuitive Vernunft sind, von den ersteren drei (mit den Dreien meine ich
Klugheit, Wissenschaft und Weisheit) aber keine die gesuchte Disposition
sein kann, dann bleibt nur noch übrig, dass die intuitive Vernunft den Prin-
zipien gilt.
Kapitel 7
VII. | 10 Weisheit | sprechen wir aber auch in den Künsten denjenigen zu, die darin
die genauesten sind. So nennen wir Phidias einen weisen Bildhauer und Po-
lyklet einen weisen Bronzebildner; dabei meinen wir mit ‚Weisheit‘ nichts
anderes, als dass sie die Tugend dieser Kunst ist. Wir meinen aber auch, dass
Kapitel 7 107
manche Menschen ganz allgemein und nicht nur auf einem bestimmten Ge-
biet oder in einer bestimmten Hinsicht weise sind, wie Homer im Margites
sagt: |
„Diesen haben die Götter weder im Graben noch auch im Pflügen noch 15
auch in sonst etwas weise gemacht.“
Daraus wird deutlich, dass die Weisheit die genaueste der Wissenschaften
ist. Der Weise muss daher nicht nur wissen, was aus den Prinzipien folgt,
sondern auch die Prinzipien betreffend die Wahrheit kennen. Daher sollte
die Weisheit zugleich intuitive Vernunft und Wissenschaft sein; als das Wis-
sen | von den erhabensten Dingen enthält sie gewissermaßen das ‚Haupt‘. Es 20
wäre doch seltsam, wenn jemand die politische Wissenschaft oder die Klug-
heit für die wertvollste Wissensart hielte, wenn der Mensch gar nicht das
Beste aller Dinge im Kosmos ist.
Wenn nun für die Menschen und für die Fische jeweils etwas anderes ge-
sund und gut ist, das Weiße und das Gerade hingegen immer dasselbe sind,
dann werden wohl auch alle das, was weise ist, als dasselbe, | das, was klug 25
ist, aber jeweils als etwas anderes kennzeichnen. Wer die einzelnen ihn selbst
betreffenden Dinge richtig zu erfassen vermag, den nennt man klug, und
einem solchen pflegt man dergleichen anzuvertrauen. Daher werden auch
unter den Tieren manche als klug bezeichnet, sofern sie die Fähigkeit zur
Vorsorge für ihr eigenes Leben an den Tag legen.
Offensichtlich ist aber auch, dass Weisheit und politische Wissenschaft
nicht dasselbe sein können. Denn | wenn die Menschen dasjenige Wissen als 30
Weisheit bezeichnen wollten, welches das ihnen selbst Förderliche betrifft,
dann würde es viele Arten von Weisheit geben. Es gibt nämlich nicht eine
Weisheit von dem für alle Lebewesen Guten, sondern sie ist bei jeder Art
verschieden, so wie es auch keine einheitliche Medizin für alle gibt. Wenn
man sagt, dass der Mensch doch das Beste unter den übrigen Lebewesen ist,
so macht das keinen Unterschied. Es gibt nämlich andere Wesen, | die ihrer 1141b
Natur nach weit göttlicher sind als der Mensch, am deutlichsten aber dieje-
nigen, aus denen der Kosmos besteht.
Aus dem Gesagten ist offensichtlich, dass die Weisheit sowohl Wis-
senschaft wie auch intuitive Erkenntnis der ihrer Natur nach erhabensten
Dinge ist. Deswegen sagen die Leute, Anaxagoras, Thales und andere ih-
rer Art seien zwar weise, | aber nicht klug, wenn sie sehen, dass sie das ih- 5
nen selbst Nützliche nicht kennen, und daher sagen sie von ihnen, dass sie
sich auf Dinge verstehen, die zwar außergewöhnlich, staunenswert, schwie-
rig und göttlich, aber nutzlos sind, weil ihre Suche nicht den menschlichen
Gütern gilt.
108 Buch VI
Kapitel 8
Die Klugheit bezieht sich aber auf die menschlichen Güter und auf solche,
10 über die man beraten kann. Denn | als die Aufgabe des Klugen bezeichnen
wir vor allem dies: sich gut zu beraten. Niemand berät aber über das, was
nicht anders sein kann, noch auch über Dinge, die kein Ziel haben, welches
ein durch Handeln erreichbares Gut ist. Schlechthin wohlberaten ist aber
derjenige, der aufgrund von Überlegung auf das höchste für den Menschen
durch Handeln erreichbare Gut abzielt.
15 Auch befasst sich die Klugheit nicht | nur mit dem Allgemeinen, son-
dern muss auch das Einzelne erkennen. Sie gilt nämlich dem Handeln; die
Handlung ist aber auf das Einzelne bezogen. Deswegen sind auch manch-
mal Leute ohne Wissen im Handeln erfolgreicher als solche mit Wissen −
wie auch sonst die Erfahrenen. Wenn jemand z.B. zwar weiß, dass leichtes
Fleisch gut verdaulich und gesund ist, aber nicht weiß, welche Art Fleisch
20 leicht ist, dann wird er die | Gesundheit nicht bewirken; wer dagegen weiß,
dass das Fleisch von Geflügel leicht und gesund ist,30 wird das eher können.
Da die Klugheit zum Handeln befähigt, braucht man beide Arten von Wis-
sen, eher jedoch letztere Art. Auch hier sollte es jedoch eine leitende Art
geben.
VIII. Politische Wissenschaft und Klugheit sind nun zwar dieselbe Disposi-
25 tion, ihr Sein ist aber nicht dasselbe. Bei der Disposition, die auf den | Staat
bezogen ist, gilt die leitende Art von Klugheit der Gesetzgebung, die aufs
Einzelne gehende trägt dagegen den beiden gemeinsamen Namen ‚Politik‘;
sie gilt dem Handeln und Beraten. Denn der Beschluss führt zum Handeln,
gewissermaßen als letzter Schritt in der Beratung. Deswegen sagt man auch,
nur die damit befassten Leute seien politisch tätig. Denn nur sie ‚tun‘ wirk-
30 lich etwas, so wie die Handwerker. Auch meint | man mit Klugheit vor allem
diejenige Form, die einem selbst als Einzelnem gilt, und daher trägt diese
auch den allen gemeinsamen Namen ‚Klugheit‘. Zu den anderen Arten von
Klugheit gehören Hausverwaltung, Gesetzgebung und politische Tätigkeit,
und von dieser gilt die eine Art der Beratung, die andere der Rechtspre-
chung.
Kapitel 9
Zu wissen, was für einen selbst gut ist, wäre nun eine Art von Verstehen; sie
1142a unterscheidet sich aber erheblich von den anderen Arten. | Auch gilt der-
30
In 1141b20 wird das von Bywater nach Trendelenburg athetierte koupha kai beibehalten.
Kapitel 9 109
jenige als klug, der seinen eigenen Vorteil kennt und betreibt, die Politiker
aber als vielgeschäftig. Deswegen sagt Euripides:
„Wie könnt’ ich klug sein? Ich, der ich sorglos
als einer der Menge des Heers zählen |
und denselben Anteil hätte haben können? 5
Denn wer zu hoch hinaus will und allzu viel tut,…“
Man sucht nämlich das eigene Gut und meint, entsprechend handeln zu sol-
len. Auf dieser Meinung beruht die Auffassung, solche Menschen seien klug.
Um das Eigene kann es aber doch kaum ohne | die Verwaltung des Hauses 10
und des Staates gut stehen. Auch ist unklar und der Untersuchung wert, wie
man den eigenen Besitz verwalten soll.
Eine Bestätigung für das Gesagte liegt auch darin, dass man sich zwar
schon in der Jugend als weise in der Geometrie, Mathematik und in derarti-
gen Dingen zeigen, sich aber anscheinend nicht als klug erweisen kann. Der
Grund dafür ist, dass die Klugheit sich auch auf das Einzelne bezieht, das
man | erst durch Erfahrung kennen lernt; in der Jugend ist man aber nicht 15
erfahren. Denn erst die Länge der Zeit erzeugt Erfahrung. Man könnte sich
überdies auch fragen, warum ein Kind sich zwar als Mathematiker, nicht
aber als Weiser oder als Naturwissenschaftler hervortun kann. Liegt der
Grund nicht darin, dass die Gegenstände jener Wissenschaft durch Abstrak-
tion, während bei diesen die Prinzipien aus der Erfahrung gewonnen wer-
den, so dass | junge Menschen über sie noch keine festen Überzeugungen 20
haben, sondern nur so reden, während ihnen bei den mathematischen Prin-
zipien klar ist, was sie sind?
Ferner: Fehler bei der Beratung beziehen sich entweder auf das Allge-
meine oder auf das Einzelne, z.B. dass alles schwere Wasser schlecht ist oder
dass dieses Wasser hier schweres Wasser ist. Gleichwohl ist offensichtlich,
dass die Klugheit keine Wissenschaft ist. Sie bezieht sich nämlich, wie ge-
sagt, auf das letzte Einzelne, weil der Gegenstand des Handelns dieser Art
ist. Die Klugheit ist somit das Gegenstück zur intuitiven Vernunft. | Die in- 25
tuitive Vernunft bezieht sich nämlich auf diejenigen Begriffe, für die es keine
weitere Begründung mehr gibt, die Klugheit hingegen auf das, was zuletzt
kommt und was nicht Gegenstand von Wissen, sondern von Wahrnehmung
ist – aber nicht der Wahrnehmung dessen, was den Sinnen eigentümlich ist,
sondern derjenigen Art von Wahrnehmung, mit deren Hilfe wir wahrneh-
men, dass das letzte Element in einer mathematischen Analyse ein Dreieck
ist.31 Denn dort wird man innehalten. Sie ist jedoch eher | Wahrnehmung als 30
Klugheit, aber von anderer Art als die Sinneswahrnehmung.
31
Das von Bywater als Glosse athetierte en tois mathêmatikois wird beibehalten.
110 Buch VI
Kapitel 10
IX. Zwischen Suchen und Beraten besteht aber ein Unterschied; denn das Bera-
ten ist eine bestimmte Art des Suchens. Man muss nun auch bestimmen, was
die Wohlberatenheit ist, ob sie ein Wissen, eine Meinung, eine Geschicktheit
im Schätzen oder etwas von anderer Art ist. Ein Wissen ist sie offenbar nicht,
1142b denn man sucht nicht nach dem, | was man schon weiß, die Wohlberaten-
heit ist aber eine Art des Beratens, und wer mit sich zurate geht, sucht und
überlegt. Sie ist aber auch keine Geschicktheit im Schätzen, denn diese wirkt
ohne Überlegung und schnell, während man lange Zeit mit sich zurate geht.
5 Auch pflegt man zu sagen, | Beratenes müsse man zwar schnell tun, beraten
solle man sich jedoch langsam. Wohlberatenheit ist aber auch etwas ande-
res als Scharfsinnigkeit, denn diese ist eine bestimmte Art von Geschick-
lichkeit. Die Wohlberatenheit ist aber auch keine Art von Meinung. Denn
da derjenige, der sich schlecht berät, fehlgeht, während der es gut macht,
der sich richtig berät, ist offenbar, dass die Wohlberatenheit eine Art Rich-
10 tigkeit ist, aber weder die des Wissens noch auch die des Meinens. | Beim
Wissen gibt es nämlich keine Richtigkeit, da es auch keine Verfehlung gibt;
die Richtigkeit der Meinung ist aber ihre Wahrheit. Zugleich ist alles, was
Gegenstand von Meinung ist, bereits bestimmt. Nun ist die Wohlberaten-
heit aber auch nicht ohne Überlegung. Es bleibt also nur übrig, dass sie die
Richtigkeit des Überlegens ist, denn dieses ist noch keine Behauptung, wäh-
rend die Meinung ja gerade keine Suche mehr, sondern bereits eine Art von
15 Behauptung ist. Wer mit sich zurate geht, ob | er sich nun gut oder schlecht
berät, sucht aber etwas und überlegt.
Die Wohlberatenheit ist aber eine Richtigkeit des Beratens. Daher muss
man als erstes untersuchen, was diese Richtigkeit32 ist und worauf sie sich
bezieht. Da es mehrere Arten von Richtigkeit gibt, kann es nicht jede sein.
Denn auch der Zügellose33 und überhaupt der Schlechte wird aus seiner Über-
20 legung beziehen, was er sich zu suchen34 vornimmt, so dass er richtig | mit
sich zurate gegangen sein wird, obwohl er ein großes Übel gewählt hat. Man
hält es jedoch für etwas Gutes, sich gut beraten zu haben. Denn Wohlbera-
tenheit ist diejenige Richtigkeit in der Beratung, die Gutes bewirkt. Nun
kann man das aber auch aufgrund eines falschen Schlusses tun und so zwar
dasjenige erreichen, was man tun soll, aber nicht auf dem Weg, auf dem man
25 es soll, wenn der Mittelbegriff falsch ist. Folglich ist auch | das noch keine
Wohlberatenheit, wodurch man zwar erreicht, was man soll, aber nicht auf
dem Weg, auf dem man es soll.
32
Da es hier um die Richtigkeit, nicht um Beratung geht, wird boulê durch orthotês ersetzt.
33
Dem Vorschlag Grants folgend wird hier statt akratês akolastos gelesen.
34
Hier wird zêtein statt des von Bywater als korrupt markierten idein gelesen.
Kapitel 11 111
Ferner kann der eine das Richtige erreichen, indem er eine lange Zeit,
der andere, indem er rasch mit sich zurate geht. Auch ersteres ist daher noch
keine Wohlberatenheit. Sie ist vielmehr die Richtigkeit im Sinn von Nütz-
lichkeit, nämlich weswegen man es soll und wie und zu der Zeit, zu der man
es soll. Ferner kann man überhaupt wohlberaten sein oder nur für ein be-
stimmtes Ziel. Wohlberatenheit | überhaupt ist daher diejenige, die bezüg- 30
lich des allgemein richtigen Ziels das Richtige trifft, während eine bestimmte
dies nur für ein bestimmtes Ziel tut. Wenn die Klugen sich also durch das
Wohlberatensein auszeichnen, dann dürfte die Wohlberatenheit die Rich-
tigkeit hinsichtlich des für das Ziel Nützlichen sein, dessen wahres Erfassen
Sache der Klugheit ist.
Kapitel 11
Auch die Verständigkeit und die Wohlverständigkeit, aufgrund deren | wir X. | 1143a
Menschen verständig und wohlverständig nennen, sind weder als ganze
mit Wissenschaft oder Meinung identisch (sonst wären nämlich alle Men-
schen verständig) noch sind sie eine der Einzelwissenschaften, so wie etwa
die Medizin Wissenschaft vom Gesunden oder die Geometrie Wissenschaft
von den Größen ist. Die Verständigkeit befasst sich nämlich weder mit den
ewigen und | unveränderlichen noch auch mit beliebigen Dingen aus dem 5
Bereich des Werdens, sondern nur mit solchen, die jemand als schwierig an-
sehen und über die er mit sich zurate gehen könnte. Daher hat sie zwar die
gleichen Gegenstände wie die Klugheit, dennoch sind Verständigkeit und
Klugheit nicht dasselbe. Der Klugheit geht es nämlich um Anordnungen:
Was man tun oder auch nicht tun soll, ist ihr Ziel. Die Verständigkeit dage-
gen | urteilt nur. (Verständigkeit und Wohlverständigkeit sind nämlich das- 10
selbe, so wie auch die Verständigen und die Wohlverständigen.)
Verständigkeit ist aber weder das Haben noch das Erwerben von Klugheit.
Sondern so wie man das Lernen ein Verstehen nennt, wenn man dabei Ge-
brauch von der Wissenschaft macht, so spricht man auch von Verstehen, wenn
man von der Meinung Gebrauch macht, um eine Frage der | Klugheit zu beur- 15
teilen, wenn ein anderer spricht, und dabei richtig urteilt. Denn ‚richtig‘ und
‚schön‘ sind dasselbe. Von daher stammt auch der Name ‚Verständigkeit‘, auf-
grund deren man von Wohlverständigen spricht, wenn es um das Verstehen
beim Lernen geht. Denn auch das Lernen bezeichnen wir oft als Verstehen.
Was man als Verständnis35 bezeichnet, aufgrund dessen wir Menschen an- XI.
deren gegenüber verständnisvoll nennen und ihnen | Verstehen zusprechen, 20
35
Mit G/J II 2, 534 und Natali wird in 1143a20 nach der Emendation von H. Richards nicht
gnômê sondern syngnômê gelesen.
112 Buch VI
ist das richtige Urteil über das Billige. Ein Anzeichen dafür ist, dass wir ins-
besondere von dem auf Billigkeit Bedachten sagen, er sei verständnisvoll,
und es als billig bezeichnen, bei bestimmten Dingen Verständnis an den Tag
zu legen. Das Verständnis ist aber die Art von Verstehen, die das Billige
richtig zu beurteilen vermag. Richtig ist sie aber dann, wenn sie das Wahre
erfasst hat.
Kapitel 12
25 Alle diese Dispositionen treffen aus gutem Grund an demselben Punkt zu-
sammen; denn von Verständnis, Verständigkeit, Klugheit und intuitiver Ver-
nunft sprechen wir in Hinblick auf dieselben Menschen und sagen, sie hätten
es zu Verständnis und Vernunft gebracht und seien klug und verständig. Alle
30 diese Fähigkeiten gelten nämlich dem Letzten und dem Einzelnen, und | in-
sofern man zu beurteilen vermag, womit der Kluge befasst ist, ist man auch
verständig und verständnisvoll oder nachsichtig. Das Billige ist nämlich al-
len Guten einem anderen gegenüber gemeinsam. Alles, was zum Handeln
gehört, betrifft aber Einzelnes und Letztes. Und so wie der Kluge das Ein-
zelne kennen muss, so beziehen sich auch Verständigkeit und Urteilskraft
35 auf | das, was das Handeln betrifft; das ist aber ein Letztes.
1143b Auch die intuitive Vernunft bezieht sich auf das Letzte in | beiden Rich-
tungen; denn es ist die Vernunft, die sich auf die ersten Begriffe wie auf die
letzten Begriffe bezieht, und nicht die Überlegung. Bei Demonstrationen
gilt die intuitive Vernunft den unveränderlichen und ersten Begriffen, bei
praktischen Schlüssen gilt sie dem Letzten und Kontingenten, also der zwei-
ten Prämisse. Denn in ihnen liegt der Ausgangspunkt den Zweck betreffend;
5 aus dem Einzelnen ergibt sich nämlich | das Allgemeine. Davon muss man
Wahrnehmung haben, und diese Wahrnehmung ist intuitive Vernunft.
Daher meint man auch, dass diese Dinge naturgegeben sind und dass
zwar niemand von Natur aus weise ist, wohl aber Verständnis, Verständig-
keit und intuitive Vernunft hat. Ein Anzeichen dafür ist auch, dass wir mei-
nen, sie folgten den Lebensaltern und zu einem bestimmten Alter gehörten
intuitive Vernunft und Verständnis, so als sei die Natur ihre Ursache. [Daher
10 | ist die intuitive Vernunft zugleich Anfang und Ende. Denn daraus bestehen
die Beweise und gelten ihnen.]36 Man soll daher die unbewiesenen Aussagen
und Meinungen von Erfahrenen, Älteren oder Klugen nicht weniger beach-
ten als ihre Beweise; denn weil sie aus der Erfahrung ein Auge dafür haben,
15 sehen sie richtig. Was | also die Klugheit und die Weisheit sind, auf welche
36
Bywater und Susemihl athetieren diesen Satz als fehl am Platz. Er dürfte eine Glosse zu
Abschnitt 1143a35–b5 enthalten.
Kapitel 13 113
Gegenstände sich jede von beiden bezieht und dass jede die Tugend eines
anderen Teils der Seele ist, ist damit gesagt.
Kapitel 13
Jemand könnte aber in Bezug auf Klugheit und Weisheit das Problem auf- XII.
werfen, wozu sie eigentlich nütze sind. Denn die Weisheit wird keines der
Dinge betrachten, die | den Menschen glücklich machen, da sie mit keiner 20
Art von Werden befasst ist. Die Klugheit hat zwar ebendies zum Gegen-
stand, wozu aber braucht man sie? Denn selbst wenn die Klugheit sich auf
das bezieht, was für den Menschen gerecht, schön und gut ist, und es diese
Dinge sind, die der gute Mensch auszuführen hat, werden wir doch durch
das Wissen davon nicht besser geeignet sein, sie auszuführen, wenn | die Tu- 25
genden Dispositionen sind. Dasselbe gilt auch in Bezug auf Gesundheit und
Wohlbefinden, sofern nicht das Tun gemeint ist, sondern die Disposition;
denn das Wissen von Medizin und Gymnastik macht uns nicht zum Tätig-
sein geeigneter. Wenn jemand hingegen nicht dafür klug zu nennen ist, son-
dern weil er gut wird, dann wäre die Klugheit denen nichts nütze, die schon
gut sind, | wie auch denen nicht, die sie nicht haben. Es macht nämlich kei- 30
nen Unterschied, ob man sie selbst hat oder auf andere hört, die sie haben,
sondern Letzteres würde für uns völlig ausreichen, so wie das auch bei der
Gesundheit ist. Wir wünschen zwar, gesund zu sein, studieren aber deshalb
doch nicht Medizin. Darüber hinaus würde man es für merkwürdig halten,
wenn die Klugheit, obwohl sie unter der Weisheit steht, ihr dennoch über-
legen wäre. | Denn was etwas herstellt, herrscht darüber und ordnet alles an. 35
Über diese Fragen müssen wir also sprechen. Denn bisher haben wir
nur die diesbezüglichen Schwierigkeiten aufgezeigt. | Als erstes wollen wir 1144a
erklären, dass Weisheit und Klugheit notwendig auch für sich genommen
wählenswert sind, weil jede die Tugend eines Seelenteils ist, selbst wenn
keine von beiden irgendetwas bewirkte. Sie bewirken aber durchaus etwas,
wenn auch nicht so wie die Medizin die Gesundheit, sondern so wie die Ge-
sundheit diese selbst bewirkt, so | bewirkt auch die Weisheit das Glück. Da 5
sie ein Teil der Tugend als ganzer ist, macht sie uns dadurch glücklich, dass
wir sie haben und tätig sind.37 Unsere Funktion wird aber auch der Klugheit
und der Charaktertugend entsprechend erfüllt. Denn die Charaktertugend
macht das Ziel richtig, die Klugheit dasjenige, was dazu hinführt. Beim vier-
ten Teil der Seele, | dem vegetativen, gibt es dagegen keine Tugend dieser Art. 10
Denn es liegt nicht bei ihm, etwas zu tun oder nicht zu tun.
37
Bywater markiert in 1144a6 eine Korruptele. Die Kombination einer passiven mit einer
aktiven Verbform ist zwar ungewöhnlich, der Text ist aber insgesamt verständlich.
114 Buch VI
Zur Lösung des Problems, dass man der Klugheit wegen um nichts ge-
eigneter ist, Schönes und Gerechtes zu tun, müssen wir etwas weiter aus-
holen, indem wir folgenden Ausgangspunkt nehmen: So wie wir einerseits
sagen, dass manche Leute Gerechtes tun, ohne deswegen schon gerecht zu
15 sein – wie etwa | diejenigen, die das vom Gesetz Angeordnete unfreiwil-
lig, aus Unwissenheit oder aus einem anderen Grund und nicht um seiner
selbst willen tun (obwohl sie eben das tun, was man soll und was der Gute
zu tun hat), – so kann man offenbar jede Handlung auch in der Verfassung
ausführen, dass man selbst gut ist, d.h. aufgrund einer Entscheidung und
20 eben um der | Handlungen willen. Die Charaktertugend macht zwar die
Entscheidung richtig, dasjenige aber, was man um ihretwillen von Natur aus
tut, ist nicht Sache dieser Tugend, sondern eines anderes Vermögens. Dar-
auf müssen wir unser Augenmerk richten und noch Klareres darüber sagen.
Es gibt ein Vermögen, das man Geschicklichkeit nennt. Und zwar ist diese
25 so geartet, dass sie alles das, was zu einem festgesetzten | Ziel führt, zu tun
und zu erreichen vermag. Ist das Ziel schön, dann verdient sie Lob; ist es
schlecht, dann ist sie bloße Gerissenheit. Daher nennen wir sowohl die Klu-
gen wie auch die Gerissenen geschickt. Die Klugheit ist zwar nicht dasselbe
30 wie dieses Vermögen, ohne das Vermögen gibt es sie aber nicht. Das | Auge
der Seele erhält ihre Disposition jedoch nicht ohne die Charaktertugend, wie
wir schon gesagt haben und wie ohnehin klar ist. Denn die Schlüsse über das,
was zu tun ist, haben einen Anfangspunkt, der besagt: „Da das Ziel, nämlich
das Beste, von dieser Art ist“ – was immer es auch sei, was das Argument an-
geht, mag es Beliebiges sein. Von diesem Anfangspunkt hat aber nur der Gute
35 den richtigen Eindruck, denn die | Schlechtigkeit verzerrt den Eindruck und
macht, dass man sich über die Anfangspunkte des Handelns täuscht. Daher
1144b ist offenbar, dass unmöglich klug sein kann, wer nicht | gut ist.
XIII. Wir müssen daher auch die Charaktertugend noch einmal untersuchen;
denn auch bei dieser Tugend besteht ein ähnliches Verhältnis: So wie die
Klugheit sich zur Geschicklichkeit verhält – sie ist zwar nicht dasselbe, aber
doch ähnlich – so verhält sich die natürliche Tugend zur Tugend im eigent-
5 lichen Sinn. Uns allen scheint nämlich jede Charaktertugend | in gewisser
Weise von Natur aus anzugehören; denn gerecht, besonnen, tapfer und alles
andere sind wir gleich von Geburt an. Dennoch suchen wir nach dem ei-
gentlichen Guten als etwas anderem und wollen die entsprechenden Eigen-
schaften auf andere Weise besitzen. Denn auch Kinder und Tiere haben die
natürlichen Dispositionen; ohne Vernunft erweisen sie sich aber als schäd-
10 lich. | So viel erscheint jedenfalls augenfällig: Wie ein kräftiger Körper, der
sich ohne Sehkraft bewegt, schwer zu Fall kommen kann, weil ihm das Se-
hen fehlt, so ist es auch hier. Wenn aber die Vernunft dazukommt, dann
macht das einen Unterschied beim Handeln, und die Disposition, die ihr
doch ähnlich ist, wird dann Tugend im eigentlichen Sinn sein. So wie es bei
Kapitel 13 115
dem Seelenteil, zu dem die Meinungen gehören, zwei | Arten gibt, Geschick- 15
lichkeit und Klugheit, so gibt es auch zwei Arten im charakterlichen Teil: die
natürliche Tugend und die Tugend im eigentlichen Sinn; und dabei kommt
es zur Tugend im eigentlichen Sinn nicht ohne Klugheit.
Daher sagen manche, sämtliche Tugenden seien Arten von Klugheit, und
deshalb hat Sokrates teils das Richtige gesucht, teils auch verfehlt. Darin,
dass er meinte, | alle Tugenden seien Arten der Klugheit, war er im Irrtum; 20
dass sie nicht ohne Klugheit sein können, hat er aber zu Recht gesagt. Ein
Anzeichen dafür ist, dass auch heute alle bei der Definition der Tugend nicht
nur die Disposition und dasjenige bestimmen, worauf diese sich bezieht,
sondern noch hinzufügen, dass sie der richtigen Überlegung entspricht.
Richtig ist aber diejenige Überlegung, die der Klugheit entspricht. Jeder-
mann scheint also irgendwie zu ahnen, | dass eine solche Disposition, wenn 25
sie der Klugheit gemäß ist, Tugend ist. Man muss aber noch ein wenig darü-
ber hinausgehen. Die Tugend ist nicht nur die Disposition, die der richtigen
Überlegung entspricht, sondern vielmehr die Disposition mit der richtigen
Überlegung; die richtige Überlegung über derartiges Verhalten ist jedoch die
Klugheit. Sokrates hat nun gemeint, die Tugenden seien Überlegungen (sie
seien nämlich | sämtlich Arten von Wissen), wir dagegen meinen, sie seien 30
mit Überlegung verbunden. Aus dem Gesagten wird aber deutlich, dass man
ohne Klugheit nicht im eigentlichen Sinne gut sein kann, aber auch nicht
klug ohne die Charaktertugend.
Auf diese Weise ließe sich zudem auch das Argument widerlegen, mit
dem jemand in dialektischer Weise dafür argumentieren könnte, dass sich die
Tugenden voneinander trennen lassen: Weil ein und derselbe Mensch nicht
von Natur aus in | Hinblick auf alle im höchsten Maß begabt sei, könne er die 35
eine Tugend bereits besitzen, die andere aber noch nicht. Das ist nun zwar bei
den natürlichen Tugenden durchaus möglich, | nicht aber bei den Tugenden, 1145a
aufgrund deren man schlechthin gut genannt wird. Sie werden nämlich alle
zugleich mit der einen Disposition, mit der Klugheit, vorhanden sein.
Zudem ist offensichtlich, dass man die Klugheit selbst dann bräuchte,
wenn sie nicht zum Handeln führte, weil sie die Tugend des einen Seelenteils
ist und weil eine Entscheidung ohne | Klugheit wie auch ohne Charaktertu- 5
gend nicht richtig sein wird. Denn letztere bestimmt das Ziel, erstere lässt
uns das tun, was zum Ziel hinführt.
Gleichwohl hat die Klugheit keine Autorität über die Weisheit und auch
nicht über den besseren Seelenteil, so wenig wie die Medizin über die Ge-
sundheit. Denn die Klugheit macht von der Weisheit keinen Gebrauch, son-
dern sieht vielmehr zu, dass sie entsteht. | Folglich erteilt sie ihretwegen 10
zwar Anordnungen, erteilt diese jedoch nicht an sie. Das wäre zudem so, als
wollte man behaupten, die politische Klugheit herrsche über die Götter, weil
sie Anordnungen für alles im Staat trifft.
Buch VII
Kapitel 1
I. | 15 Danach müssen wir erklären, indem wir einen anderen Anfang machen, dass
es den Charakter betreffend drei Arten von Dispositionen gibt, die zu mei-
den sind, nämlich Schlechtigkeit, Unbeherrschtheit und tierische Rohheit.
Bei zweien von ihnen sind die Gegensätze offensichtlich: den einen nen-
nen wir Tugend, den anderen Beherrschtheit. Zur tierischen Rohheit dürfte
es am besten passen, ihr die übermenschliche Tugend gegenüberzustellen,
20 | eine heroische und göttliche, so wie Homer Hektor darstellt, wenn er Pri-
amos sagen lässt, er sei außerordentlich gut gewesen: „Auch schien er nicht
das Kind eines sterblichen Mannes zu sein, sondern eines göttlichen.“
Wenn also, wie man sagt, durch das Übermaß der Tugend aus Menschen
25 Götter werden, dann wäre die der Rohheit | entgegengesetzte Disposition
offenbar von dieser Art. Denn wie es bei einem Tier weder Schlechtigkeit
noch Tugend gibt, so gibt es sie auch nicht bei einem Gott. Ist seine Dis-
position erhabener als die Tugend, so ist sie beim Tier anderer Art als die
Schlechtigkeit. Wie aber ein göttlicher Mann selten ist (so pflegen die Spar-
taner in ihrer Mundart jemanden einen ‚göttlichen Mann‘ zu nennen, den sie
30 sehr bewundern), so ist auch | der tierisch Rohe unter den Menschen selten.
Am meisten kommt er unter den Barbaren vor, doch werden manche auch
aufgrund von Krankheit oder Verletzung so. Zudem gebrauchen wir es als
Schimpfwort für Menschen, die ein Übermaß an Schlechtigkeit an den Tag
legen. Auf diese Art von Disposition wollen wir aber später eingehen; über
35 die Schlechtigkeit haben wir | schon früher gesprochen.
Wir müssen nun aber die Unbeherrschtheit und die Weichlichkeit und
Schlaffheit erörtern, ebenso wie die Beherrschtheit und die Standhaftigkeit. |
1145b Man darf von ihnen nämlich nicht meinen, die eine sei dieselbe Disposition
wie die Tugend, die andere wie die Schlechtigkeit, freilich auch nicht, dass sie
einer anderen Gattung angehören.
Wir müssen jedoch, wie auch in anderen Fällen, feststellen, was als wahr
erscheint, und, indem wir zuerst Schwierigkeiten durchgehen, möglichst
5 sämtliche | anerkannten Meinungen über diese Arten von Dispositionen
Kapitel 3 117
bestätigen, oder wenn nicht sämtliche, so doch die meisten und die wich-
tigsten. Denn wenn sich die Schwierigkeiten auflösen lassen und die aner-
kannten Meinungen dabei unangetastet bleiben, dann wäre ein hinreichen-
der Nachweis erbracht.
Kapitel 2
Man meint nun von Beherrschtheit und Standhaftigkeit, sie gehörten zu den
guten und lobenswerten, von Unbeherrschtheit und Weichlichkeit, sie ge-
hörten zu | den schlechten und tadelnswerten Dingen. 10
Man meint, derselbe Mensch sei beherrscht und disponiert, bei seiner
Überzeugung zu bleiben, und derselbe sei unbeherrscht und disponiert, von
ihr abzugehen.
Auch handelt der Unbeherrschte, der weiß, dass schlecht ist, was er tut,
aufgrund eines Affekts; der Beherrschte, der weiß, dass seine Begierden
schlecht sind, folgt ihnen seiner Überzeugung wegen nicht.
Man meint, der Besonnene sei beherrscht und | standhaft. Während aber 15
die einen sagen, ein solcher sei in jeder Hinsicht besonnen, tun die ande-
ren das nicht. Und die einen nennen unterschiedslos den Zügellosen un-
beherrscht und den Unbeherrschten zügellos, die anderen sagen, sie seien
verschieden.
Vom Klugen sagt man manchmal, dass er nicht unbeherrscht sein kann,
manchmal sagt man aber auch von manchen Menschen, die klug und ge-
schickt sind, sie seien unbeherrscht.
Ferner nennt man Menschen auch unbeherrscht in Hinblick auf Zorn, | Ehre 20
und Gewinn.
Dies sind also die Dinge, die man darüber zu sagen pflegt.
Kapitel 3
Man könnte nun eine Schwierigkeit darin sehen, wie jemand, der richtig ur- II.
teilt, sich unbeherrscht verhalten kann. Wenn er Wissen hat, so sagen man-
che, sei das gar nicht möglich. Denn wie Sokrates gemeint hat, wäre es er-
staunlich, wenn bei jemandem zwar Wissen vorhanden wäre, etwas anderes
aber seiner Herr würde und es herumzerrte wie einen Sklaven. | Sokrates 25
hat nämlich überhaupt diese Auffassung bestritten, in der Meinung, Unbe-
herrschtheit gebe es gar nicht; niemand handle nämlich bei richtigem Urteil
dem Besten zuwider, sondern nur aufgrund von Unwissenheit. Dieses Ar-
gument widerspricht aber den Tatsachen; man muss also diesen Zustand un-
tersuchen und, wenn er auf Unwissenheit beruht, feststellen, welche Art von
118 Buch VII
30 Unwissenheit dabei im Spiel ist. | Denn dass derjenige, der sich unbeherrscht
verhält, nicht meint, so handeln zu sollen, bevor er in diesen Zustand gerät,
ist offensichtlich.
Es gibt nun Menschen, die dem teils zustimmen, teils auch nicht. Dass es
nichts Stärkeres gibt als das Wissen, dem stimmen sie zu; dass niemand dem
zuwider handelt, was ihm besser scheint, dem stimmen sie nicht zu; und
daher sagen sie, der Unbeherrschte werde von der Lust nicht überwältigt,
35 wenn | er Wissen, sondern wenn er nur eine Meinung hat. Wenn es aber statt
1146a um Wissen nur um Meinung geht und wenn statt einer starken | nur eine
schwache Überzeugung Widerstand leistet, so wie etwa bei Menschen, die
Zweifel hegen, dann wird man denjenigen gegenüber nachsichtig sein, die
starken Begierden gegenüber nicht an ihren Überzeugungen festhalten. Für
die Schlechtigkeit gibt es aber keine Nachsicht, wie auch sonst für nichts, das
5 tadelnswert ist. Ist es also die Klugheit, die Widerstand leistet? | Schließlich
ist sie das stärkste Vermögen. Das wäre jedoch absurd. Denn dann würde
derselbe Mensch zugleich klug und unbeherrscht sein. Niemand wird aber
je zugeben, es sei Sache des Klugen, freiwillig die schlimmsten Dinge zu tun.
Zudem wurde bereits früher gezeigt, dass der Kluge derjenige ist, der zum
richtigen Handeln disponiert ist (er weiß nämlich mit dem Einzelnen umzu-
gehen) und der auch die übrigen Tugenden besitzt.
10 Ferner: Wenn | der Beherrschte sich dadurch auszeichnet, dass er starke
und schlechte Begierden hat, dann wird weder der Besonnene beherrscht
noch der Beherrschte besonnen sein. Denn der Besonnene zeichnet sich we-
der durch allzu heftige noch auch durch schlechte Begierden aus, die der Be-
herrschte doch haben muss. Sind die Begierden nämlich gut, dann ist die Dis-
position schlecht, die ihn daran hindert, ihnen zu folgen, so dass nicht jede
15 Beherrschtheit | gut wäre; sind die Begierden schwach und nicht schlecht,
so ist es nicht bewundernswert, ihnen nicht zu folgen; sind sie schlecht aber
schwach, so liegt darin gar nichts Großes.
Ferner: Wenn die Beherrschtheit einen bei jeder Meinung bleiben lässt,
dann ist sie schlecht, wenn sie es bei einer falschen tut. Und wenn die Un-
beherrschtheit einen von jeder Meinung abgehen lässt, dann wird es auch
eine gute Unbeherrschtheit geben, wie etwa die von Neoptolemos in So-
20 phokles’ | Philoktetes. Dieser verdient nämlich Lob dafür, dass er nicht bei
dem geblieben ist, wozu ihn Odysseus überredet hatte, weil ihn das Lügen
schmerzte.
Ferner stellt die Beweisführung der Sophisten eine Schwierigkeit dar.
Weil sie für Paradoxes streiten wollen, um groß dazustehen, wenn es ihnen
25 gelingt, bringt einen ihre Schlussfolgerung in Schwierigkeiten. | Das Den-
ken ist nämlich wie festgebunden, wenn es einerseits nicht stehen bleiben
will, weil die Folgerung ihm nicht gefällt, andererseits nicht voranschreiten
kann, weil es das Argument nicht aufzulösen vermag. So ergibt sich aus ei-
Kapitel 4 119
Kapitel 4
Die Schwierigkeiten, die sich ergeben, sind etwa von dieser Art. Von ihnen
muss man die einen auflösen, die anderen beiseitelassen. Die Wahrheitsfin-
dung besteht nämlich in der Auflösung der Schwierigkeit.
Als erstes muss man nun prüfen, ob Unbeherrschte mit Wissen handeln III.
oder nicht, und wie sie es wissen; danach, auf welche Art von Dingen | man 10
die Unbeherrschten und die Beherrschten beziehen soll, damit meine ich, ob
auf jede Art von Lust und Schmerz oder nur auf ganz bestimmte Arten; wei-
terhin, ob der Beherrschte und der Standhafte ein und derselbe ist oder ob
sie voneinander verschieden sind. Und in ähnlicher Weise ist auch mit den
anderen Fragen zu verfahren, die zu dieser Untersuchung gehören.
Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Frage, ob | sich der Beherrschte 15
und der Unbeherrschte durch ihren Gegenstand oder durch die Art ihrer
Haltung voneinander unterscheiden, d.h. ob der Unbeherrschte nur in Be-
zug auf bestimmte Dinge unbeherrscht ist oder nicht oder nur in einer be-
stimmten Art von Haltung oder auch das nicht, sondern vielmehr in beidem.
[Ferner: Beziehen sich Unbeherrschtheit und Beherrschtheit auf alles oder
38
In 1146b2 ergänzt Bywater nach Ramsauer alla vor pepeismenos und tilgt das überlieferte
alla vor prattei. Die Übersetzung folgt der Überlieferung; denn beim Unbeherrschten ist
keine Überzeugungsänderung notwendig.
120 Buch VII
20 nicht?]39 Der schlechthin | Unbeherrschte ist dies nämlich nicht in Bezug auf
alles, sondern in Bezug auf dasselbe wie der Zügellose; auch verhält er sich
nicht überhaupt so, sonst wäre die Unbeherrschtheit dasselbe wie die Zü-
gellosigkeit, sondern in bestimmter Weise. Denn der Zügellose lässt sich von
Vorsätzen leiten, weil er der Ansicht ist, man müsse immer die sich gerade
bietende Lust suchen, der Unbeherrschte meint zwar, dass er das nicht soll,
sucht sie aber trotzdem.
Kapitel 5
25 Was nun die These angeht, dass | man sich der wahren Meinung, aber nicht
dem Wissen gegenüber unbeherrscht verhält, so macht sie für die Argumen-
tation keinen Unterschied. Denn manche, die etwas meinen, hegen keine
Zweifel, sondern glauben, es genau zu wissen. Sollten also Menschen mit
Meinungen aufgrund ihrer schwachen Überzeugung eher ihren Vorstellun-
gen zuwider handeln als Menschen mit Wissen, so wird dennoch das Wissen
gegenüber der Meinung keinen Unterschied machen. Denn manche haben
30 nicht | weniger Vertrauen in das, was sie meinen, als andere in das, was sie
wissen. Das macht Heraklit deutlich.
Da wir von Wissen aber auf zwei Weisen reden (denn man spricht von
Wissen sowohl bei demjenigen, der Wissen hat, es aber nicht gebraucht, wie
auch bei demjenigen, der es gebraucht), macht es einen Unterschied, ob je-
mand, der zwar Wissen hat, es aber nicht beachtet, tut, was er nicht tun
35 soll,40 oder ob er es tut, obwohl er es hat und es beachtet. | Denn das er-
scheint seltsam, nicht aber, wenn er es nicht beachtet.
1147a Ferner: Da es zwei | Arten von Prämissen gibt, hindert denjenigen, der
beide hat, nichts daran, wider sein Wissen zu handeln, wenn er zwar von
der allgemeinen Prämisse, nicht aber von der das Einzelne betreffenden Ge-
brauch macht. Denn beim Handeln geht es um das Einzelne. Bei der allge-
meinen Prämisse gibt es aber einen Unterschied: Sie betrifft teils die Per-
5 son, | teils die Sache. Wie zum Beispiel: ‚Jedem Menschen ist trockene Nah-
rung bekömmlich‘ – ‚Man selbst ist ein Mensch‘ oder: ‚Nahrung von solcher
Art ist trocken‘. Ob dieses Ding hier aber von solcher Art ist, dieses Wissen
hat der Betreffende entweder nicht oder er wendet es nicht an. Zwischen
diesen Weisen des Wissens besteht aber ein gewaltiger Unterschied, so dass
es keineswegs seltsam erscheint, es in diesem Sinn zu wissen, während es im
10 anderen Sinn | erstaunlich wäre.
39
1146b18 f. wird nach dem Vorschlag Rassows und Susemihls als Glosse athetiert.
40
Die Übersetzung schließt sich Susemihls Lesart an.
Kapitel 5 121
Ferner gibt es bei den Menschen auch noch eine andere Art des Habens
von Wissen als die eben genannten. Wir sehen nämlich, dass es für das Ha-
ben einen Unterschied macht, wenn man das Wissen zwar hat, es aber nicht
gebraucht, so dass man es auch in gewisser Weise haben und zugleich nicht
haben kann, so wie etwa Schlafende, Wahnsinnige oder Betrunkene. In ei-
ner solchen Verfassung befinden sich nun aber diejenigen, die | unter dem 15
Einfluss der Affekte stehen. Zornesanfälle, sexuelle Begierden und anderes
dieser Art verändern offensichtlich auch den Zustand des Körpers und trei-
ben manche sogar zum Wahnsinn. Es ist nun klar, dass man von den Unbe-
herrschten sagen muss, dass sie sich in einer ähnlichen Verfassung befinden.
Dass sie Reden von sich geben, die vom Wissen herrühren, ist kein Zeichen
für das Gegenteil. Denn auch Leute, die von den genannten | Affekten be- 20
fangen sind, können Beweise hersagen und Verse des Empedokles rezitieren,
und auch diejenigen, die gerade anfangen, etwas zu lernen, fügen zwar schon
die Wörter zusammen, haben aber noch kein Wissen davon. Dazu bedarf es
nämlich eines Zusammenwachsens, das aber braucht Zeit. Man muss also
annehmen, dass auch die Unbeherrschten so sprechen, wie es die Schauspie-
ler tun.
Ferner könnte man | die Ursache ihrer Natur nach auch so betrachten: 25
Die eine Meinung betrifft das Allgemeine, die andere das Einzelne, worü-
ber bereits die Sinneswahrnehmung bestimmt. Wird aus beiden eine, dann
bejaht die Seele im einen Fall notwendig die Schlussfolgerung, im anderen,
wenn es um ein Tun geht, wird man sofort tätig. Wenn man z.B. von allem
Süßen probieren soll und dieses Süße hier ein | solches Einzelnes ist, dann 30
wird notwendigerweise derjenige sofort tätig, der dazu in der Lage ist und
durch nichts daran gehindert wird. Wenn der Handelnde zwar die allge-
meine Meinung hat, die es verbietet, Süßes zu probieren, aber auch noch
die andere Meinung hat, dass alles Süße lustvoll ist und dass dieses hier süß
ist (und diese Meinung aktiv ist), und gerade die Begierde vorhanden ist,
dann sagt ihm die eine Meinung zwar, dass dies zu meiden ist, die Begierde
aber treibt ihn an, denn sie kann jeden seiner Teile | bewegen. So ergibt 35
sich, dass man sich zwar in gewisser Weise | aufgrund von Überlegung und 1147b
Meinung unbeherrscht verhält, diese Meinung aber nicht an sich, sondern
nur akzidentell der richtigen Überzeugung entgegengesetzt ist; denn die
Begierde und nicht die Meinung ist der richtigen Überzeugung entgegenge-
setzt. Daher und aus diesem Grund sind auch die Tiere nicht unbeherrscht,
denn sie haben keine | Vorstellung vom Allgemeinen, sondern Sinnesein- 5
drücke vom Einzelnen und Erinnerungen daran. Wie sich die Unwissen-
heit auflöst und der Unbeherrschte sein Wissen zurückgewinnt, dafür gibt
es keine besondere Erklärung, sondern dieselbe wie für den Betrunkenen
und den Schlafenden; man kann sie von den Naturwissenschaftlern er-
fahren.
122 Buch VII
10 Weil aber die letzte Prämisse zugleich eine Meinung | über Wahrnehm-
bares ist und auch die Handlungen bestimmt, ‚hat‘ der Unbeherrschte diese
Meinung entweder gar nicht, weil er unter dem Einfluss des Affekts steht,
oder er ‚hat‘ sie so, dass sein Haben kein Wissen ist, sondern ein Daherre-
den, so wie der Betrunkene Verse des Empedokles aufsagt. Und weil die
letzte Prämisse nicht allgemein ist und auch nicht in der gleichen Weise wie
die allgemeine Prämisse als Gegenstand von Wissen gilt, scheint sich auch
15 das zu ergeben, worauf | Sokrates hinauswollte. Denn der Affekt beherrscht
nicht das, was als Wissen im eigentlichen Sinn erscheint,41 noch auch wird
dieses Wissen des Affektes wegen herumgezerrt, sondern nur das Wissen,
das auf Wahrnehmung beruht. Über die Frage, ob ein Wissender und ein
nicht Wissender und wie jemand wissentlich unbeherrscht sein kann, sei nun
so viel gesagt.
Kapitel 6
IV. | 20 Als nächstes ist zu erörtern, ob es jemanden gibt, der schlechthin unbe-
herrscht ist, oder ob alle das nur in einer bestimmten Hinsicht sind, und
falls es ihn gibt, mit welchen Arten von Dingen er befasst ist. Es ist nun
aber offensichtlich, dass sowohl Beherrschte und Standhafte wie auch Un-
beherrschte und Weichliche mit Lust und Schmerz befasst sind.
Von den Dingen, die Lust erregen, sind die einen notwendig, die ande-
25 ren sind zwar | für sich genommen wählenswert, lassen aber ein Übermaß
zu. Notwendig sind die körperlichen Arten der Lust (ich meine diejenigen,
die sich auf Ernährung und Sexualität beziehen, d.h. auf solche körperli-
chen Lüste, denen wir die Zügellosigkeit und Besonnenheit zugeordnet ha-
ben). Die anderen sind nicht notwendig, aber um ihrer selbst willen wäh-
30 lenswert (ich meine | etwa Sieg, Ehre, Reichtum und alles, was sonst in dieser
Weise gut und angenehm ist). Menschen, die Derartiges im Übermaß und
der ihnen eigenen richtigen Überzeugung entgegen suchen, bezeichnen wir
nicht als schlechthin unbeherrscht, sondern setzen hinzu: unbeherrscht dem
35 Geld, dem Gewinn, der Ehre oder dem Zorn gegenüber; | sie gelten nicht
als schlechthin unbeherrscht, weil sie sich darin unterscheiden und nur auf-
grund einer Ähnlichkeit so genannt werden (so wie der Olympiasieger na-
1148a mens ‚Mensch‘; | bei ihm unterscheidet sich die Definition des Allgemeinen
nur wenig von der ihm eigenen, verschieden ist sie aber doch). Ein Anzei-
chen dafür ist aber, dass die Unbeherrschtheit selbst nicht nur als ein Fehler,
sondern als eine Art von Schlechtigkeit getadelt wird, entweder überhaupt
41
Die Übersetzung folgt in b15 f. der Emendation von Stewart.
Kapitel 6 123
oder teilweise. Dies gilt jedoch für keinen der Unbeherrschten dieser beson-
deren Art.
Was den Genuss | körperlicher Lust angeht, auf den wir den Besonnenen 5
und den Zügellosen beziehen, bezeichnet man denjenigen als unbeherrscht,
der ohne Vorsatz das Übermaß an Lustvollem sucht und an Schmerzhaftem
meidet, bei Hunger, Durst, Hitze und Kälte und bei allem, was den Tast-
sinn und den Geschmack betrifft, dies aber gegen seinen Vorsatz und | seine 10
Überzeugung tut, und zwar unbeherrscht ohne den Zusatz, dass er dies in
Bezug auf etwas Bestimmtes ist, wie z.B. auf den Zorn. Vielmehr nennt man
ihn schlechthin unbeherrscht. Ein Anzeichen dafür ist, dass auch die Weich-
lichen nur in Hinblick auf diese Arten von Lust und Schmerz so genannt
werden, aber nicht in Bezug auf eines dieser anderen Dinge. Aus diesem
Grund ordnen wir einander den Unbeherrschten und den Zügellosen, den
Beherrschten und den Besonnenen zu, weil es ihnen in gewisser Weise um
die gleichen Arten von Lust und Schmerz zu tun ist, aber | um keine von 15
den anderen. Sie alle sind nun zwar auf dasselbe bezogen, aber nicht in der-
selben Weise: Die einen handeln mit Vorsatz, die anderen nicht. Daher wür-
den wir auch eher jemanden zügellos nennen, der entweder ganz ohne oder
einer schwachen Begierde wegen ein Übermaß an Lust sucht und mäßige
Schmerzen meidet, als denjenigen, der das aus | heftiger Begierde tut. Denn 20
wie würde jener sich erst verhalten, wenn auch noch eine intensive Begierde
oder ein starker Schmerz über den Mangel an Notwendigem hinzukäme?
Da aber von den Arten von Begierde und Lust die einen in die Klasse
des Schönen und Guten gehören, denn manches Lustvolle ist von Natur aus
wählenswert, die anderen Arten aber das Gegenteil davon sind und wie-
der andere | dazwischen liegen (unserer früheren Unterscheidung entspre- 25
chend), wie etwa Geld, Gewinn, Sieg oder Ehre, wird man auch für all diese
nicht getadelt, wenn man für sie empfänglich ist, sie begehrt oder liebt, son-
dern nur wenn man dies in bestimmter Weise und im Übermaß tut. Das
gilt daher für alle die Menschen, die wider die Vernunft den von Natur aus
schönen | und guten Dingen erliegen und sie verfolgen, wie etwa diejeni- 30
gen, die sich mehr, als man soll, um Ehre, um Kinder oder Eltern bemühen.
Zwar gehört auch Derartiges zum Guten und man lobt Menschen, die sich
darum bemühen, es gibt aber auch in diesen Dingen ein Übermaß, wenn
jemand wie Niobe sogar gegen die Götter kämpfen wollte oder wie Saty-
ros, der | den Spitznamen ‚Vaterliebender‘ hatte, weil er sich seinem Vater 1148b
gegenüber allzu töricht aufführte. Schlechtigkeit liegt in Hinsicht auf diese
Dinge zwar nicht vor, aus dem bereits genannten Grund, dass jedes zu dem
von Natur aus um seiner selbst willen Wählbaren gehört, ihr Übermaß aber
schlecht und zu meiden ist. Ebenso wenig | liegt hier Unbeherrschtheit an 5
sich vor, denn sie ist nicht nur zu meiden, sondern auch tadelnswert. Der
Ähnlichkeit des Zustandes wegen spricht man zwar auch in all diesen Fäl-
124 Buch VII
len von Unbeherrschtheit, fügt aber noch hinzu, auf was sie sich bezieht.
So nennen wir auch jemanden einen schlechten Arzt oder einen schlechten
Schauspieler, den wir nicht überhaupt als schlecht bezeichnen würden. Da
10 auch hier nicht von Schlechtigkeit die Rede sein kann, weil | keiner dieser
Fälle eine solche darstellt, sondern ihr nur aufgrund einer Analogie ähn-
lich ist, darf man offensichtlich auch nur das als Unbeherrschtheit und Be-
herrschtheit ansehen, was sich auf die gleichen Dinge wie die Besonnenheit
und Zügellosigkeit bezieht. Beim Zorn sprechen wir so aber nur aufgrund
einer Ähnlichkeit und fügen daher auch ‚unbeherrscht im Zorn‘ hinzu, so
wie wir es auch bei der Ehre und dem Gewinn tun. |
V. | 15 Da nun einiges von Natur aus lustvoll ist, und zwar das eine ganz all-
gemein, das andere je nach Art von Tieren und Menschen, während ande-
res nicht von Natur aus lustvoll ist, sondern teils aufgrund von Verletzung,
teils durch Gewöhnung, teils aufgrund einer schlechten Naturanlage lustvoll
wird, kann man zu jeder dieser Arten entsprechende Dispositionen ausma-
20 chen. Ich meine damit tierische Verfassungen | wie die jener Frau, von der
berichtet wird, sie habe schwangere Frauen aufgeschlitzt und ihre Kinder
verschlungen, oder wie bei den Dingen, von denen man sagt, dass gewisse
verwilderte Völker am Schwarzen Meer ihre Lust an ihnen haben − die ei-
nen an rohem Fleisch, die anderen an Menschenfleisch; wieder andere sollen
einander ihre Kinder zum Festmahl überlassen oder tun, was man von Pha-
laris erzählt.
25 Diese Verfassungen sind nun von tierischer Art; | sie entstehen teils
durch Krankheit – bei manchen auch durch Wahnsinn wie bei demjenigen,
der seine Mutter als Opfer schlachtete und aufaß, oder bei dem Sklaven,
der die Leber eines Mitsklaven gegessen hat –, teils sind sie krankhafte Zu-
stände aufgrund von Natur oder Gewohnheit,42 wie etwa das Ausraufen
von Haaren, das Kauen von Fingernägeln oder auch von Kohle oder Erde;
das betrifft auch die Päderastie. Bei manchen entstehen diese Dispositionen
30 nämlich von Natur aus, | bei anderen infolge von Gewohnheit, wie bei den-
jenigen, die schon von Kindesalter an missbraucht worden sind. Diejenigen,
bei denen die Natur die Ursache ist, dürfte wohl niemand als unbeherrscht
bezeichnen, so wie auch nicht die Frauen, weil sie sich beim Geschlechts-
verkehr nicht aktiv, sondern passiv verhalten. Dasselbe gilt für diejenigen,
deren krankhafter Zustand auf Gewohnheit beruht. Diese Disposition zu
1149a haben, liegt nun zwar außerhalb der | Grenzen der Schlechtigkeit, wie über-
haupt die tierische Rohheit. Wenn jemand,43 der diese Art Disposition hat,
sie beherrscht oder von ihr beherrscht wird, ist letzteres kein Fall von Un-
beherrschtheit schlechthin, sondern von Unbeherrschtheit aufgrund einer
42
Die Übersetzung folgt in 1148b27 der Rassows Ergänzung <ê physei> ergänzt.
43
Die Übersetzung setzt mit Susemihl in 1149a1 das überwiegend überlieferte to de voraus.
Kapitel 7 125
Ähnlichkeit, so wie man denjenigen, der sich dem Zorn gegenüber in dieser
Weise verhält, unbeherrscht diesen Affekt betreffend, aber nicht schlechthin
unbeherrscht nennen sollte.
Jedes | Übermaß an Unverstand, Feigheit, Zügellosigkeit und Bösartig- 5
keit ist nun entweder eine tierische oder eine krankhafte Disposition. Wer
nämlich von Natur aus so ist, dass er sich vor allem fürchtet, sogar vor dem
Rascheln einer Maus, ist feige im Sinn einer tierischen Feigheit; jener Mensch,
der sich vor dem Hauswiesel gefürchtet hat, tat das dagegen infolge einer
Krankheit. Auch von den Unverständigen sind diejenigen tierisch, die von
Natur aus | des Denkens nicht fähig sind und nur nach ihren Sinneswahrneh- 10
mungen leben, so wie auch bestimmte Barbarenstämme, die weit weg von
uns leben. Andere sind dagegen infolge von Krankheit, etwa von Epilep-
sie, oder infolge von Wahnsinn in einem krankhaften Zustand. Bei manchen
Dispositionen ist es auch möglich, sie nur zeitweilig zu haben und nicht von
ihnen beherrscht zu werden. Ich meine, wenn etwa Phalaris seine Begierde,
ein Kind zu verspeisen, oder auch seine perverse sexuelle Lust | unter- 15
drückt hätte. Es ist aber auch möglich, von ihnen beherrscht zu werden und
sie nicht bloß zu haben.
So wie nun von der Schlechtigkeit die dem Menschen eigene als Schlech-
tigkeit überhaupt bezeichnet wird, die andere Art, die mit dem Zusatz ‚tie-
risch‘ oder ‚krankhaft‘ aber nicht schlechthin so genannt wird, so ist offen-
sichtlich, dass es auch bei der Unbeherrschtheit sowohl eine tierische wie
eine krankhafte Form gibt; Unbeherrschtheit schlechthin ist aber | nur dieje- 20
nige Unbeherrschtheit, die der menschlichen Zügellosigkeit entspricht.
Kapitel 7
Es ist also klar, dass Unbeherrschtheit und Beherrschtheit denselben Dingen
gelten, auf die sich auch die Zügellosigkeit und die Besonnenheit beziehen,
und dass in allen anderen Fällen eine andere Art von Unbeherrschtheit vor-
liegt, die in einem übertragenen Sinn und nicht schlechthin so genannt wird.
Wir wollen aber auch bedenken, dass | die Unbeherrschtheit im Zorn we- VI. | 25
niger schändlich ist als die aus Begierde. Der Zorn scheint nämlich in gewis-
ser Weise auf die Überlegung zu hören, sich dabei aber zu verhören, so wie
eilfertige Diener, die schon hinauslaufen, bevor sie alles gehört haben, was
man ihnen sagt, und dann den Auftrag falsch ausführen, oder wie Hunde,
die schon bellen, wenn jemand nur an die Tür klopft, ohne festzustellen,
ob er ein Freund ist. | Der Hitzigkeit und Übereiltheit seiner Natur wegen 30
hört der Zorn zwar etwas, den Auftrag hört er aber nicht, sondern drängt
zur Vergeltung. Hat nämlich die Überlegung oder die Vorstellung eine Be-
leidigung oder eine Herabsetzung angezeigt, dann empört sich der Zorn so-
126 Buch VII
fort, als habe er geschlossen, dass man gegen solches zu Felde ziehen muss.
35 Die Begierde aber, | wenn der Verstand oder die Wahrnehmung auch nur
1149b sagt, etwas sei lustvoll, drängt | zum Genuss. Daher folgt der Zorn in gewis-
ser Weise der Überlegung, die Begierde aber nicht; sie ist also schändlicher.
Denn der Unbeherrschte im Zorn unterliegt in gewisser Weise der Überle-
gung, jener dagegen der Begierde und nicht der Überlegung.
Ferner gilt Nachsicht eher denen, die ihren natürlichen Bestrebungen
5 folgen, | da sie auch eher denjenigen Begierden gegenüber gilt, die allen ge-
meinsam sind, und zwar soweit sie dies sind. Zorn und Verdruss sind aber
natürlicher als diejenigen Begierden, die dem Übermaß und dem nicht Not-
wendigen gelten. So sagte jemand, der seinen Vater schlug, zu seiner Vertei-
10 digung: „Auch dieser hat seinen Vater geschlagen, so wie jener | zuvor den
seinen“, und – auf sein Kind zeigend – hinzufügte: „Auch der hier wird mich
schlagen, wenn er ein Mann geworden ist, das liegt bei uns in der Familie.“
Oder wie bei dem Mann, der seinem Sohn, der dabei war, ihn aus dem Haus
zu schleifen, befahl, ihn an der Eingangstür loszulassen, denn auch er selbst
habe seinen Vater nur bis dorthin geschleift.
Ferner sind hinterhältigere Menschen ungerechter. Wer zum Zorn neigt,
15 ist jedoch nicht hinterhältig, | wie auch der Zorn es nicht ist, denn er ist of-
fen. Die Begierde ist dagegen hinterhältig, so wie die Dichter Aphrodite „die
ränkespinnende Tochter Zyperns“ nennen und Homer von ihrem schön ge-
stickten Gürtel sagt, ihm eigen sei „verführerische Schmeichelei, die selbst
den Verstand betört, ganz gleich, wie klug jemand auch sein mag“. Wenn
also diese Art von Unbeherrschtheit ungerechter und schändlicher ist als die
dem Zorn gegenüber, dann ist sie die Unbeherrschtheit im eigentlichen Sinn
20 und | in gewisser Weise eine Schlechtigkeit.
Ferner tut niemand Mutwilliges mit Unlust; jeder, der im Zorn handelt,
handelt aber mit Unlust, der Mutwillige dagegen mit Lust. Wenn nun die
Dinge, über die man mit größerem Recht zürnt, die ungerechteren sind,
dann gilt das auch für die Unbeherrschtheit aus Begierde; im Zorn gibt es
nämlich keinen Mutwillen.
Es ist also klar, dass die Unbeherrschtheit aus Begierde schändlicher ist
25 als die im | Zorn und dass Beherrschtheit und Unbeherrschtheit es mit Be-
gierde und körperlichen Lüsten zu tun haben. Bei diesen muss man aber
die Unterschiede berücksichtigen. Wie nämlich anfangs gesagt, sind von den
Begierden und Lüsten die einen menschlich und natürlich, sowohl ihrer Art
wie ihrem Ausmaß nach, die anderen sind tierisch, und wieder andere entste-
30 hen durch Verletzung oder | Krankheit. Nur auf die erste Art davon bezie-
hen sich Besonnenheit und Zügellosigkeit. Daher nennen wir auch die Tiere
weder besonnen noch zügellos, es sei denn in einem übertragenen Sinn und
wenn eine Tierart eine andere gänzlich durch Angriffslust, Bösartigkeit und
35 Gefräßigkeit übertrifft. Denn bei diesen Tieren gibt es weder Vorsatz | noch
Kapitel 8 127
Kapitel 8
Was Lust und Schmerz durch den Tast- und den Geschmackssinn angeht, VII.
| wie auch Begehren und Meiden, mit Bezug auf die zuvor Zügellosigkeit 10
und Besonnenheit bestimmt wurden, kann jemand so disponiert sein, dass
er denen unterliegt, welche die Mehrheit beherrscht, oder dass er die be-
herrscht, denen die Mehrheit unterliegt. Mit Bezug auf die Lust wird der
eine unbeherrscht, der andere beherrscht genannt, den Schmerz betreffend
der eine weichlich, der andere | standhaft. Bei den meisten Menschen liegt 15
die Disposition dazwischen, auch wenn sie eher zum Schlechteren hinnei-
gen.
Da aber manche Arten von Lust notwendig sind, andere nicht, und dies
bis zu einem gewissen Punkt, das Übermaß dagegen so wenig notwendig
ist wie der Mangel, und da es sich ähnlich auch mit Begierde und Schmerz
verhält, ist derjenige zügellos, der das Übermaß des Lustvollen oder Lust-
volles in übermäßiger Weise | und vorsätzlich sucht,44 indem er es des Lust- 20
vollen selbst wegen tut und nicht, insofern sich daraus noch etwas anderes
ergibt. Ein solcher kennt nämlich zwangsläufig kein Bedauern und ist daher
unheilbar; denn wer nicht fähig ist zu bedauern, ist unheilbar. Das Gegen-
teil ist, wer Mangel an Lust hat; der Mittlere ist besonnen. Ähnlich verhält
es sich mit dem, der den körperlichen Schmerzen ausweicht, nicht, weil er
ihnen unterliegt, sondern mit | Vorsatz. Von denen, die ohne Vorsatz han- 25
deln, treibt den einen die Lust, den anderen das Vermeiden von Schmerz,
der von der Begierde herrührt, daher unterscheiden sie sich voneinander.
(Jeder dürfte es aber für schlechter halten, wenn jemand ganz ohne oder nur
44
Bywater notiert hier eine Korruptele; folgt man mit Susemihl Handschrift Mb: ê kath’
hyperbolên kai dia prohairesin, so lässt sich der Text halten (vgl. auch B/R, 199).
128 Buch VII
45
Nach dem Vorschlag Spengels wird in 1150a32 ho d’ akolastos durch to de akrasias ersetzt.
46
Abweichend von Bywater wird hier mit fast allen Handschriften und den Kommentatoren
das passive progargalisthentes anstelle von progargalisantes gelesen.
Kapitel 9 129
vom Affekt nicht überwältigt werden, sei | er nun lustvoll oder schmerzlich. 25
Unbeherrscht in der voreiligen Art von Unbeherrschtheit sind vor allem die
impulsiven und erregbaren Menschen. Die einen warten ihrer Übereiltheit,
die anderen ihrer Heftigkeit wegen nicht auf die Vernunft, weil sie dazu nei-
gen, ihren Eindrücken zu folgen.
Kapitel 9
Der Zügellose kennt, wie gesagt, kein | Bedauern, denn er bleibt bei seinem VIII. | 30
Vorsatz. Jeder Unbeherrschte neigt dagegen zum Bedauern. Daher verhält
es sich gerade nicht so, wie wir es zuvor in der Formulierung der Schwie-
rigkeit dargestellt haben; vielmehr ist der Zügellose unheilbar, der Unbe-
herrschte heilbar. Die Schlechtigkeit gleicht nämlich einer Krankheit wie
der Wasser- oder der Schwindsucht, die Unbeherrschtheit dagegen epilep-
tischen Anfällen; denn erstere ist ein dauerhaftes, letztere kein dauerhaftes
| Übel. Überhaupt gehört die Unbeherrschtheit in eine andere Gattung als 35
die Schlechtigkeit. Die Schlechtigkeit bleibt einem nämlich verborgen; die
Unbeherrschtheit nicht. |
Von den Unbeherrschten sind diejenigen, die leicht außer sich geraten, 1151a
besser als diejenigen, die zwar die Überzeugung haben, aber nicht dabei
bleiben. Sie lassen sich nämlich schon von einem schwächeren Affekt über-
wältigen und handeln nicht wie die anderen, ohne vorher mit sich zurate zu
gehen. Der Unbeherrschte ist nämlich denen ähnlich, die schnell und von
wenig | Wein – weniger als die meisten − berauscht werden. Es ist nun offen- 5
sichtlich, dass die Unbeherrschtheit keine Schlechtigkeit ist (vielleicht aber
doch nur in gewisser Weise), denn sie widerspricht dem Vorsatz, während
die Schlechtigkeit mit ihm übereinstimmt. Dennoch sind beide einander im
Handeln gleich. Wie Demodokos über die Milesier sagt: „Unverständig sind
die Milesier zwar nicht, sie tun aber das, was | Unverständige tun.“ So sind 10
auch die Unbeherrschten zwar nicht ungerecht, tun aber Ungerechtes.
Da der Unbeherrschte dazu neigt, körperliche Lüste im Übermaß ohne
Überzeugung und gegen die richtige Überlegung zu suchen, der Zügellose
das jedoch aus Überzeugung tut, weil er jemand ist, der darauf aus ist, diese
Art Lust zu suchen, lässt sich der erste leicht vom Besseren überzeugen, die-
ser dagegen nicht. | Denn die Tugend bewahrt das Prinzip, die Schlechtigkeit 15
verdirbt es. Bei den Handlungen ist aber das ‚Worumwillen‘ das Prinzip,
so wie in der Mathematik die Axiome. Weder dort noch hier ist aber die
Überlegung der Lehrer der Prinzipien. Vielmehr ist es die Tugend, ob die
natürliche oder die durch Gewöhnung erworbene, die richtiges Meinen das
Prinzip betreffend lehrt. Besonnen ist also ein | Mensch dieser Art, zügellos 20
sein Gegenteil.
130 Buch VII
Es kommt nun vor, dass jemand eines Affekts wegen der richtigen Über-
zeugung entgegen außer sich gerät, den dieser Affekt zwar insoweit be-
herrscht, dass er nicht der richtigen Überlegung entsprechend handelt, aber
doch nicht so weit, dass der Affekt ihn davon überzeugt, hemmungslos sol-
chen Arten von Lust nachjagen zu sollen. Dieser Art ist der Unbeherrschte;
25 er ist besser als der | Zügellose und nicht überhaupt schlecht. Denn das Beste
bleibt gewahrt, nämlich das Prinzip. Mit seinem Gegenstück verhält es sich
anders: Er bleibt bei seiner Überzeugung und gerät jedenfalls nicht durch
einen Affekt außer sich. Daraus wird also deutlich, dass die eine Disposition
gut, die andere schlecht ist.
Kapitel 10
IX. | 30 Ist nun beherrscht, wer bei jeder beliebigen Überzeugung und | bei jedem
beliebigen Vorsatz oder wer bei den richtigen bleibt? Und ist derjenige un-
beherrscht, der nicht bei jedem beliebigen Vorsatz und bei jeder beliebi-
gen Überzeugung bleibt, oder aber derjenige, der nicht bei Überzeugungen
bleibt, die nicht falsch sind, und beim richtigen Vorsatz, wie wir es zuvor
als eine der Schwierigkeiten formuliert haben? Oder ist es nur akzidentell
35 jede beliebige Art | von Überzeugungen und Vorsätzen, bei denen der eine
bleibt, der andere nicht bleibt, an sich aber sind es wahre Überzeugungen
und richtige Vorsätze? Wenn nämlich jemand etwas Bestimmtes um etwas
1151b Bestimmten willen | wählt oder sucht, dann sucht und wählt er dies an sich,
akzidentell aber jedes Beliebige. Mit ‚an sich‘ meinen wir ‚für sich genom-
men‘. Daher ist es in gewisser Hinsicht jede beliebige Meinung, bei welcher
der eine bleibt, während der andere von ihr abgeht, an sich aber die wahre
Meinung.
5 Es gibt aber auch Menschen, die | bei ihrer Meinung zu bleiben geneigt
sind und die man starrsinnig nennt; sie sind nur schwer zu überzeugen und
nicht leicht umzustimmen. Sie haben zwar eine gewisse Ähnlichkeit mit
dem Beherrschten, so wie auch der Verschwender mit dem Freigebigen, der
Tollkühne mit dem Zuversichtlichen, sie sind aber in vieler Hinsicht ver-
schieden. Wer sich nämlich durch Affekt und Begierde nicht bewegen lässt,
10 | wenngleich er bei der richtigen Gelegenheit leicht umzustimmen ist, ist der
Beherrschte. Die Starrsinnigen sind dagegen nicht durch Vernunftgründe,
wohl aber durch ihre Begierden zu bestimmen, und viele von ihnen werden
von der Lust getrieben. Starrsinnig sind aber sowohl die Eigensinnigen wie
auch die Unbelehrbaren und die Sturen; die Eigensinnigen sind dies jedoch
aufgrund von Lust und Schmerz. Sie freuen sich nämlich wie über einen
15 Sieg, wenn sie sich nicht | haben überzeugen lassen, und es schmerzt sie,
wenn sich ihre Meinung nicht durchsetzt, als gehe es um eine öffentliche
Kapitel 11 131
Abstimmung. Daher sind sie dem Unbeherrschten ähnlicher als dem Be-
herrschten.
Es gibt aber auch Menschen, die nicht aus Unbeherrschtheit von ihren
Meinungen abgehen wie Neoptolemos im Philoktetes des Sophokles. Denn
selbst wenn er einer Lust wegen nicht bei seiner Meinung geblieben ist, so
doch einer schönen Lust wegen. | Für ihn war es nämlich schön, die Wahr- 20
heit zu sagen, nachdem er sich von Odysseus zur Lüge hatte überreden las-
sen. Nicht jeder, der etwas aus Lust tut, ist nämlich zügellos, schlecht oder
unbeherrscht, sondern nur derjenige, der das einer schändlichen Lust wegen
tut.
Kapitel 11
Da es aber auch Menschen gibt, die geneigt sind, sich weniger an körperli-
chen Dingen zu erfreuen, als man soll, und sich nicht an ihre Überzeugung
zu halten, hält | der Beherrschte die Mitte zwischen diesem und dem Unbe- 25
herrschten. Der Unbeherrschte hält sich nämlich nicht an seine Überzeu-
gung, weil er zu viel, jener andere dagegen, weil er zu wenig von der genann-
ten Lust hat, der Beherrschte wiederum hält an seiner Überzeugung fest und
lässt sich weder des einen noch des anderen wegen davon abbringen. Wenn
nun aber die Beherrschtheit etwas Gutes ist, müssen die beiden entgegen-
gesetzten Dispositionen schlecht sein, so wie sie es anscheinend | auch sind. 30
Weil aber die eine von ihnen nur bei ganz wenigen Menschen und nur ganz
selten auftritt, meint man, dass allein die Unbeherrschtheit das Gegenteil der
Beherrschtheit ist, so wie man auch nur die Zügellosigkeit für das Gegenteil
der Besonnenheit hält.
Da man aber vielen Dingen aufgrund einer Ähnlichkeit ihre Bezeich-
nung gibt, ist man auch aufgrund ihrer Ähnlichkeit dazu gekommen, von
der Beherrschtheit des Besonnenen zu sprechen. Dem Beherrschten | wie 35
auch dem Besonnenen liegt es nämlich fern, der körperlichen Lust wegen
seiner Überzeugung | zuwider zu handeln. Der eine hat aber schlechte Be- 1152a
gierden, der andere nicht. Und der eine ist jemand, der eine seiner Überzeu-
gung widersprechende Lust erst gar nicht hat, der andere ist jemand, der sie
zwar hat, sich von ihr aber nicht leiten lässt. Ähnlich sind einander aber auch
der Unbeherrschte und der Zügellose: Trotz ihrer Verschiedenheit | verfol- 5
gen beide die körperliche Lust, nur tut der eine das, weil er meint, es tun zu
sollen, während der andere das nicht meint.
Auch kann ein und derselbe Mensch nicht zugleich klug und unbe- X.
herrscht sein. Denn wie wir gezeigt haben, ist man zugleich klug und dem
Charakter nach gut. Ferner ist man nicht durch Wissen allein klug, sondern
weil man zu entsprechendem Handeln bereit ist; der Unbeherrschte ist das
132 Buch VII
47
Anders als Bywater setzen Susemihl et al. hier einen Punkt und lassen einen neuen Absatz
folgen.
Kapitel 13 133
Kapitel 12
Lust und Schmerz zu untersuchen, ist die Aufgabe desjenigen, der sich mit XI. | 1152b
politischer Philosophie befasst. Denn er ist der Meister des Ziels, auf das wir
schauen, wenn wir jeweils das eine für sich genommen schlecht, das andere
gut nennen. Zudem ist es auch notwendig, | sie näher zu untersuchen, denn 5
wir haben vorausgesetzt, dass sich Tugend und Schlechtigkeit des Charak-
ters auf Schmerz und Lust beziehen. Ferner sagen die meisten, das Glück
gehe mit Lust einher. Daher hat man auch die Bezeichnung für den Glückli-
chen von ‚sich freuen‘ abgeleitet.
Die einen meinen nun, keine Lust sei gut, weder für sich genommen
noch akzidentell; das | Gute und die Lust seien nämlich nicht dasselbe. Die 10
anderen meinen, zwar seien manche Arten gut, die meisten aber schlecht.
Außerdem gibt es noch eine dritte Gruppe, die meint, selbst wenn alle Arten
gut wären, könne die Lust doch nicht das höchste Gut sein.
Dass die Lust überhaupt kein Gut ist, begründet man damit, dass jede
Lust ein wahrnehmbares Werden zu einem natürlichen Zustand hin ist; kein
Werden gehört aber zur selben Gattung wie sein Ziel, wie z.B. der Hausbau
nicht in die Gattung des | Hauses gehört. Ferner meidet der Besonnene die 15
Lust. Ferner sucht der Kluge das Schmerzlose, nicht das Lustvolle. Ferner
ist jede Art von Lust dem Denken hinderlich, und zwar umso mehr, je in-
tensiver die Lust ist, wie im Fall der Liebeslust; niemand sei dabei nämlich
des Denkens fähig. Ferner ist keine Kunst mit der Lust befasst; jedes Gute
ist aber das Produkt einer Kunst. Ferner suchen auch Kinder | und Tiere die 20
Lust. Dass nicht jede Lust gut ist, begründet man damit, dass es schimpfliche
und schändliche, wie auch, dass es schädliche Arten gibt; denn manches, was
Lust bereitet, macht krank. Dass die Lust nicht das höchste Gut ist, begrün-
det man damit, dass sie kein Ziel, sondern ein Werden ist.
Das ist in etwa, was man darüber zu sagen pflegt.
Kapitel 13
Warum sich aus diesen Argumenten nicht ergibt, dass die Lust kein Gut XII. | 25
ist, und auch nicht, dass sie nicht das höchste Gut ist, wird aus Folgendem
deutlich.
Erstens: Da man von ‚gut‘ in zwei Bedeutungen spricht, zum einen von
‚gut an sich‘, zum anderen von ‚gut für jemanden‘, wird es Entsprechendes
auch bei der Natur der Dinge und ihren Dispositionen geben und daher
auch bei Veränderungen und Entstehungen. Auch sind von den Dingen, die
man für schlecht hält, die einen zwar an sich schlecht, für einen bestimmten
Menschen | aber nicht, sondern sie sind für diesen wählenswert. Andere sind 30
134 Buch VII
nicht einmal für diesen, sondern nur zu einem bestimmten Zeitpunkt und
für kurze Zeit wählenswert, aber nicht immer.48 Wieder andere sind dage-
gen überhaupt keine Arten von Lust, sondern scheinen es nur zu sein, näm-
lich diejenigen, die mit Schmerz verbunden sind und etwa der Heilung von
Kranken dienen.
Ferner: Wenn eine Art des Guten eine Tätigkeit, eine andere eine Dis-
35 position ist, | sind diejenigen Tätigkeiten, die den natürlichen Zustand wie-
derherstellen, nur akzidentell lustvoll. Bei den Begierden ist die Tätigkeit
aber die der übrigen Disposition und Natur. Es gibt nämlich auch Arten
1153a von Lust, | die nicht mit Schmerz und Begierde verbunden sind, wie etwa
die Lust am Nachdenken, weil es der eigenen Natur dabei an nichts man-
gelt. Ein Zeichen dafür ist, dass einem nicht dieselben Dinge angenehm sind,
während die eigene Natur wieder aufgefüllt wird und nachdem sie wieder-
hergestellt ist. Denn nachdem sie wiederhergestellt ist, erfreut man sich an
dem, was an sich lustvoll ist, während des Auffüllens aber auch am Gegen-
5 teil. | Man genießt nämlich sogar Scharfes und Bitteres, obwohl beides weder
von Natur aus noch an sich lustvoll ist, so dass es auch die Arten der Lust
nicht sind. Denn so wie sich die lustvollen Dinge voneinander unterschei-
den, so tun es auch die Arten von Lust, die von ihnen stammen.
Ferner: Es muss nicht notwendig etwas anderes, Besseres, geben als die
Lust, wie diejenigen meinen, die sagen, das Ziel sei besser als das Werden.
10 Denn nicht jede Lust ist ein Werden oder mit | Werden verbunden, son-
dern sie betrifft auch Tätigkeiten und Ziele. Diese Arten von Lust treten
aber nicht beim Werden, sondern beim Ausüben auf. Auch ist nicht bei je-
der Lust das Ziel etwas von ihr Verschiedenes, sondern nur bei denjenigen,
die zur Vollendung der Natur führen. Deswegen ist es auch nicht richtig
zu sagen, die Lust sei ein wahrnehmbares Werden; vielmehr soll man sie als
15 eine ‚Tätigkeit der naturgemäßen Disposition‘ bezeichnen | und statt ‚wahr-
nehmbar‘ soll man ‚ungehindert‘ sagen. Manche halten allerdings die Lust
für ein Werden, als sei es das Gute im eigentlichen Sinn. Sie meinen nämlich,
die Tätigkeit sei ein Werden. Tatsächlich ist sie aber etwas anderes.
Dass die Lust schlecht sein soll, weil manches, was lustvoll ist, zu Krank-
heiten führt, kommt auf dasselbe heraus wie die Erklärung, dass manches,
was die Gesundheit fördert, schlecht für den Gelderwerb ist. In dieser Hin-
sicht sind zwar beide Dinge schlecht, sie sind aber deswegen nicht schon an
20 sich schlecht, | denn selbst das Denken schadet manchmal der Gesundheit.
Weder die Klugheit noch sonst irgendeine Disposition wird aber durch
die Lust behindert, die bei ihnen aufkommt, sondern nur durch fremde Ar-
48
In 1152b31 wird statt haplôs (so Bywater nach Aspasios) nach Rassow mit Susemihl aei
ergänzt.
Kapitel 14 135
ten von Lust; vielmehr bewirkt die Lust am Denken und am Lernen, dass
man noch mehr denkt und lernt.
Dass keine Art von Lust das Produkt einer Kunst ist, hat seinen guten
Grund. Denn auch | sonst ist keine Tätigkeit Sache einer Kunst, sondern nur 25
die Fertigkeit. Allerdings scheinen die Kunst der Parfumherstellung und die
Kochkunst der Lust zu gelten.
Dass der Besonnene die Lust meidet und der Kluge das schmerzlose Le-
ben sucht, dass Kinder und Tiere die Lust suchen – für all das gibt es dieselbe
Lösung. Es wurde ja bereits gesagt, in welcher Weise | jede Lust an sich gut 30
und in welcher Weise sie nicht gut ist. Tiere und Kinder suchen nach denje-
nigen Arten von Lust, von denen der Besonnene frei zu sein sucht, nämlich
die Arten, die mit Begierde und Schmerz verbunden sind, die körperlichen
Lüste (sie sind solcher Art) und das Übermaß an ihnen, in Bezug auf die der
Zügellose zügellos ist. Daher meidet der Besonnene diese Art, | zumal es für 35
ihn eigene Arten von Lust gibt.
Kapitel 14
Man ist sich aber auch darin einig, dass der Schmerz schlecht und zu meiden XIII. | 1153b
ist; denn die eine Art ist für sich genommen schlecht, die andere dadurch,
dass sie in bestimmter Weise hinderlich ist. Das Gegenteil dessen, was zu
meiden ist, insofern es zu meiden und schlecht ist, ist jedoch gut. Die Lust
ist also notwendig ein Gut. Denn so wie | Speusippos dieses Argument zu 5
widerlegen versucht hat: das Verhältnis sei analog zum Gegensatz des Grö-
ßeren zum Kleineren und zum Gleichgroßen, lässt es sich nicht widerlegen.
Denn er würde doch nicht behaupten, die Lust sei für sich genommen etwas
Schlechtes.
Wenn aber manche Arten von Lust schlecht sind, schließt das nicht aus,
dass eine bestimmte Art von Lust das höchste Gut ist, so wenig wie es aus-
schließt, dass eine bestimmte Art von Wissen das höchste Gut ist, wenn
manche Wissensarten schlecht sind. Vielleicht ist es sogar notwendig, wenn
es bei jeder Disposition | ungehinderte Tätigkeiten gibt – gleich, ob das 10
Glück in der Betätigung sämtlicher Dispositionen oder einer bestimmten
unter ihnen besteht –, dass diese Tätigkeit, sofern sie ungehindert ist, die
wählenswerteste von allen ist. Ebendiese Tätigkeit ist aber die Lust. Folglich
wäre das höchste Gut eine bestimmte Art von Lust, selbst wenn die meis-
ten Arten schlecht sein sollten, vielleicht sogar für sich genommen. Deshalb
halten alle das glückliche Leben für lustvoll | und flechten die Lust in das 15
Glück mit ein − aus gutem Grund. Denn keine Tätigkeit, wenn sie behindert
wird, ist vollkommen; das Glück gehört aber zu den vollkommenen Din-
gen. Daher braucht der Glückliche auch zusätzlich die körperlichen Güter,
136 Buch VII
die äußeren Güter und den Glückszufall, damit er nicht in dieser Hinsicht
behindert wird. Wer aber behauptet, ein Mensch, der aufs Rad geflochten
20 wird oder in großes Unglück | gerät, sei glücklich, sofern er nur gut ist, sagt
absichtlich oder unabsichtlich Unsinniges. Weil man auch auf den Zufall an-
gewiesen ist, meinen manche sogar, der Glückszufall sei dasselbe wie das
Glück, obwohl er das gar nicht ist; denn im Übermaß wird der Glückszu-
fall dem Glück sogar zum Hindernis, und vielleicht ist es dann nicht mehr
25 gerechtfertigt, von ‚Glückszufall‘ zu reden. | Seine Grenze richtet sich viel-
mehr nach dem Glück.
Auch ist die Tatsache, dass alle, Tiere und Menschen, die Lust verfolgen,
ein Zeichen dafür, dass sie in gewisser Weise das höchste Gut ist:
„Kein Ruf wird jemals ganz vergehen, den viele Völker…“
30 Weil aber nicht ein und dieselbe Natur und Disposition die beste ist | oder
dafür gehalten wird, suchen auch nicht alle dieselbe Lust; Lust suchen
aber alle. Vielleicht suchen sie aber nicht diejenige, von der sie es mei-
nen, noch auch diejenige, von der sie es behaupten mögen, sondern die-
selbe. Denn alles hat von Natur aus etwas Göttliches. Das Anrecht auf den
Namen ‚Lust‘ haben aber die körperlichen Lüste für sich gepachtet, weil
35 man auf diese am häufigsten aus ist und | alle an ihnen teilhaben. Weil man
1154a nur | diese kennt, glaubt man, sie seien die einzigen, die es gibt.
Es ist aber auch offensichtlich, dass der Glückliche, wenn die Lust und
die Tätigkeit kein Gut sind, nicht mit Lust leben wird. Denn wozu sollte er
sie brauchen, wenn sie gar nicht gut ist, sondern er ebenso gut auch unter
5 Schmerzen leben kann? Denn der | Schmerz ist weder schlecht noch gut,
wenn es nicht auch die Lust ist. Warum sollte er ihn dann aber meiden?
Auch das Leben des Guten wird daher um nichts lustvoller sein, wenn es
nicht auch seine Tätigkeiten sind.
XIV. Was die körperlichen Arten von Lust angeht, müssen also diejenigen,
die sagen, manche Arten seien zwar höchst erstrebenswert, wie etwa die
10 schönen, | aber nicht diejenigen körperlichen, denen der Zügellose anhängt,
der Frage nachgehen: Warum sind denn dann die ihnen entgegengesetzten
Schmerzen schlecht? Schlechtem ist doch Gutes entgegengesetzt. Oder sind
die notwendigen Arten von Lust in der Weise gut, wie auch das gut ist, was
nicht schlecht ist? Oder sind sie vielmehr bis zu einem gewissen Grad gut?
Bei Dispositionen und Vorgängen, bei denen es kein Übermaß dem Besseren
gegenüber gibt, gibt es auch keines bei der Lust. Wo es aber ein Übermaß
15 gibt, | gibt es dies auch bei der Lust. Nun gibt es aber bei den körperlichen
Arten der Lust ein Übermaß, und der Schlechte ist dadurch schlecht, dass er
das Übermaß und nicht die notwendigen Arten sucht. Denn irgendwie ha-
ben alle ihre Lust am Essen, am Wein und an der Sexualität, aber nicht alle
so, wie man es soll. Mit dem Schmerz verhält es sich entgegengesetzt: Nicht
Kapitel 15 137
das Übermaß meidet man, sondern man meidet ihn überhaupt; | denn nicht 20
dem Übermaß der Lust ist der Schmerz entgegengesetzt, außer für denjeni-
gen, der das Übermaß sucht.
Kapitel 15
Da man aber nicht nur die Wahrheit sagen, sondern auch die Ursache für
den Irrtum angeben soll – denn es trägt zur Überzeugung bei, wenn ver-
ständlich wird, warum etwas wahr zu sein scheint, ohne | es zu sein, weil es 25
die Überzeugung vom Wahren verstärkt –, müssen wir erklären, warum die
körperlichen Arten von Lust als in höherem Maß wählenswert erscheinen.
Erstens erscheinen sie so, weil sie den Schmerz vertreiben; übermäßiger
Schmerzen wegen sucht man übermäßige Lust und überhaupt die körperli-
che Lust, als sei sie ein Heilmittel. Diese Heilmittel wirken heftig, | und des- 30
halb sucht man sie auch, weil sie als Kontrast zum Gegenteil auftreten. Die
Lust erscheint also, wie gesagt, aus zwei Gründen als nicht gut: Die einen
Arten von Lust sind Tätigkeiten einer schlechten Natur (ob schlecht von
Geburt an wie beim Tier oder ob durch Gewohnheit wie die von schlechten
Menschen); die anderen Arten sind Heilungen einer mangelhaften Natur,
und Haben ist besser als | Werden. Diese Art Lust tritt aber während der 1154b
Vervollkommnung auf und ist daher akzidenteller Weise gut.
Ferner: Körperliche Lüste werden, weil sie heftig sind, von solchen Men-
schen gesucht, die sich an anderen Arten nicht freuen können. Diese Men-
schen rufen daher in sich selbst gewisse Durstgefühle hervor. Wenn diese
unschädlich sind, dann ist daran nichts auszusetzen. | Sind sie aber schäd- 5
lich, dann ist es schlecht; denn solche Menschen haben sonst nichts, was
ihnen Lust bereitet. Für viele ist nämlich von Natur aus unangenehm, was
weder Lust noch Schmerz enthält. Denn das Lebewesen müht sich ständig,
wie auch die Naturforscher bezeugen, wenn sie erklären, dass Sehen und
Hören Unlust bereiten;49 nur seien wir, wie sie sagen, längst daran gewöhnt.
Die Menschen sind zwar in der | Jugend aufgrund des Wachstums wie in ei- 10
nem Rauschzustand, und daher ist das Jungsein süß. Menschen von erreg-
barer Natur bedürfen aber immer eines Heilmittels, denn auch ihr Körper
ist aufgrund seiner Mischung ständig irritiert und sie sind stets von heftiger
Begierde erfüllt.
Den Schmerz vertreibt aber die entgegengesetzte Lust, so wie auch jede
beliebige, sofern sie heftig ist, und | deswegen werden Menschen zügellos 15
und schlecht. Diejenigen Arten von Lust, die keinen Schmerz enthalten, ha-
ben jedoch kein Übermaß, denn sie beziehen sich auf die von Natur aus und
49
Mit Susemihl wird in 1154b8 nach Mb to horan kai to akouein gelesen.
138 Buch VII
Kapitel 1
Im Anschluss daran sollte eine Untersuchung der Freundschaft folgen; sie 1155a
ist nämlich eine Art von Tugend oder doch mit Tugend verbunden. Sie ist
aber auch höchst notwendig für das | Leben. 5
Niemand würde nämlich ein Leben ohne Freunde wählen, selbst wenn er
alle übrigen Güter hätte. Denn auch Menschen, die über Reichtum, Ämter
und Macht verfügen, haben anscheinend besonderen Bedarf an Freunden.
Denn wozu würde ihnen solcher Wohlstand nützen, wenn man ihnen die
Gelegenheit zum Erweisen von Wohltaten nähme, die vor allem den Freun-
den gegenüber am meisten Lob verdienen? Und wie ließe sich der Wohlstand
| ohne Freunde bewahren und sicherstellen? Je größer er ist, desto gefährde- 10
ter ist er. Auch in Armut und allem anderen Unglück hält man die Freunde
für die einzige Zuflucht. Jungen Menschen sind Freunde eine Hilfe bei der
Vermeidung von Fehlern, den älteren bei der Pflege und zur Unterstützung
von Handlungen, bei denen sie ihrer Schwäche wegen versagen, den Men-
schen in der Blüte | ihrer Jahre beim Vollbringen schöner Taten. ‚Wenn zwei 15
zusammen gehen‘, sind sie nämlich besser im Denken und Handeln.
Auch von Natur aus scheint die Freundschaft sowohl dem Erzeuger ge-
genüber dem Erzeugten eingepflanzt wie auch dem Erzeugten gegenüber
dem Erzeuger, und dies nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei den
Vögeln und bei den meisten Lebewesen. Sie besteht auch zwischen den An-
gehörigen der gleichen Art, | besonders aber zwischen den Menschen, wes- 20
halb wir auch bei ihnen die menschenfreundlichen loben. Auch auf Reisen
kann man sehen, dass jeder Mensch dem Menschen verwandt und befreun-
det ist.
Auch die Staaten scheint die Freundschaft zusammenzuhalten, und die
Gesetzgeber scheinen sich noch mehr um sie zu bemühen als um die Ge-
rechtigkeit. Denn Eintracht | scheint etwas der Freundschaft Ähnliches 25
zu sein, und diese streben die Gesetzgeber vor allem an, so wie sie umge-
kehrt die Zwietracht als Feindschaft zu verhindern trachten. Wenn Men-
schen Freunde sind, bedürfen sie keiner Gerechtigkeit; wenn sie gerecht
140 Buch VIII
sind, bedürfen sie aber zusätzlich der Freundschaft. Auch scheint unter dem
Gerechten das Freundschaftliche das Gerechteste zu sein.
30 Freundschaft ist aber nicht nur notwendig, sondern auch schön. Denn | wir
loben Menschen, die ihre Freunde lieben, und es gilt als eines der schönen
Dinge, viele Freunde zu haben. Ferner meint man, dass es dieselben Men-
schen sind, die gut und auch Freunde sind.
Kapitel 2
Über die Freundschaft wird aber nicht wenig gestritten. Die einen bestim-
men sie nämlich als eine Art von Gleichheit und halten Gleiche für Freunde;
35 daher auch das Sprichwort ‚Gleiche zu Gleichen‘ oder ‚Dohle zu | Dohle‘
1155b und Sonstiges dieser Art. Andere | behaupten dagegen, alle diese verhielten
sich zueinander ‚wie die Töpfer‘. Man pflegt in ebendiesen Fragen auch auf
Höheres und eher die Natur Betreffendes zurückzugreifen. So sagt Euripides
etwa, die ausgedörrte Erde liebe den Regen, oder der erhabene Himmel, re-
5 genschwanger, liebe es, zur Erde herabzufallen, und Heraklit sagt, dass | das
Widerstrebende zusammengeht, aus Gegensätzlichem die schönste Harmo-
nie entsteht und alles aus Streit hervorgeht. Das Gegenteil davon sagt mit
anderen wiederum Empedokles; Gleiches strebe nämlich nach Gleichem.
Soweit sich diese Fragen auf die Natur beziehen, mögen sie beiseite blei-
ben, denn sie gehören nicht zur gegenwärtigen Untersuchung. Vielmehr
wollen wir die Fragen, die sich auf menschliche Verhältnisse beziehen, be-
10 sonders | was Charaktere und Affekte angeht, näher untersuchen, wie etwa,
ob Freundschaft zwischen allen Menschen entsteht oder ob Menschen,
die schlecht sind, keine Freunde sein können und ob es nur eine Art von
Freundschaft oder mehrere gibt. Diejenigen, die nur eine Art annehmen,
weil Freundschaft das Mehr und das Weniger zulässt,50 vertrauen dabei näm-
15 lich auf ein unzureichendes Indiz. Denn | das Mehr und das Weniger gibt es
auch bei Dingen, die der Art nach verschieden sind. Darüber ist aber schon
früher gesprochen worden.
II. Vielleicht werden sich diese Fragen klären, wenn wir erst einmal erfasst
haben, was das Liebenswerte ist. Denn anscheinend liebt man nicht alles,
sondern nur das Liebenswerte; das liegt aber in dem, was gut, lustvoll oder
20 nützlich ist. | Als nützlich dürfte jedoch das erscheinen, woraus sich etwas
Gutes oder eine Lust ergibt, so dass entweder das Gute oder das Lustvolle
als Ziele liebenswert wären. Lieben die Menschen nun das Gute oder das für
sie selbst Gute? Dazwischen gibt es nämlich manchmal Diskrepanzen, ähn-
lich wie auch im Fall des Lustvollen. Wie es scheint, liebt jeder das für ihn
50
Mit den Handschriften wird der Artikel beibehalten.
Kapitel 3 141
selbst Gute, und liebenswert an sich ist zwar das Gute, für jeden Einzelnen | 25
jedoch das jeweils für ihn Gute. Der Einzelne liebt aber nicht das tatsächlich
für ihn Gute, sondern was ihm so erscheint. Das macht aber keinen Unter-
schied, sondern das Liebenswerte wird das sein, was so erscheint.
Wenn es also drei Dinge gibt, aufgrund deren Menschen etwas lieben,
bezeichnet man die Liebe zu unbeseelten Dingen dennoch nicht als Freund-
schaft. Denn dabei gibt es weder Gegenliebe noch den Wunsch von Gutem
für das Gegenüber (es wäre wohl lächerlich, dem Wein | Gutes zu wünschen, 30
sondern allenfalls wünscht man, er möge erhalten bleiben, damit man selbst
darüber verfügen kann). Hingegen sagt man, dass man dem Freund um sei-
netwillen die guten Dinge wünschen soll. Wer jemandem in dieser Weise
gute Dinge wünscht, den nennt man aber nur wohlgesinnt, solange dasselbe
nicht auch von der anderen Seite kommt; denn gegenseitiges Wohlwollen
nennt man Freundschaft. Oder muss man noch hinzufügen: Wenn es ih-
nen nicht verborgen bleibt? Viele | sind nämlich Menschen wohlgesinnt, die 35
sie nie gesehen haben, die sie aber für gut | oder nützlich halten, und von 1156a
letzteren könnte jemand auch dasselbe für einen der ersteren empfinden.
Diese sind einander also offensichtlich wohlgesinnt. Wie aber könnte man
sie als Freunde bezeichnen, wenn ihnen ihre Einstellung zueinander ver-
borgen bleibt? Freunde müssen einander also wohlwollen und gute Dinge
wünschen, ohne dass ihnen dies verborgen bleibt, | und zwar aus einem der 5
genannten Gründe.
Kapitel 3
Diese Gründe sind jedoch von verschiedener Art, daher gilt dies auch für die III.
Arten der Liebe und der Freundschaft. Es gibt also drei Arten von Freund-
schaft, genauso viele wie Arten von Liebenswertem. Zu jedem davon gibt
es nämlich eine entsprechende Gegenliebe, die nicht verborgen ist. Und wo
man einander gegenseitig liebt, wünscht man einander Gutes | in der Hin- 10
sicht, in der man einander liebt.
Diejenigen, die einander des Nutzens wegen lieben, lieben einander nicht
als solche, sondern insofern sie voneinander etwas Gutes erhalten. Ebenso
verhält es sich bei denen, die es der Lust wegen tun; denn man schätzt die
Unterhaltsamen nicht ihrer Eigenschaften wegen, sondern weil sie einem
angenehm sind. Diejenigen, die einander des Nutzens wegen lieben, | tun 15
dies also des eigenen Guten wegen, so wie auch diejenigen, die dies der ei-
genen Lust wegen tun, auf das für sie selbst Angenehme aus sind, und nicht
insofern der, den sie lieben, ein Mensch dieser Art ist, sondern insofern er
nützlich oder angenehm ist. Diese Freundschaften sind also nur akzidentell;
denn man liebt den Betreffenden nicht, insofern er der ist, der er ist, sondern
142 Buch VIII
insofern er einem etwas Gutes bzw. etwas Angenehmes liefert. Daher lö-
20 sen sich solche Freundschaften leicht auf, | wenn die Betreffenden nicht die
gleichen bleiben. Denn wenn sie einem nicht mehr angenehm oder nützlich
sind, hört man auf, sie zu lieben. Das Nützliche ist aber nicht von Dauer,
sondern bald ist es dies, bald ist es jenes. Entfällt aber der Grund, weshalb sie
Freunde waren, dann löst sich auch die Freundschaft auf, weil sie nur dem
Nützlichen gegolten hat.
25 Diese Art Freundschaft | gibt es bekanntlich am meisten unter den Alten
(in dieser Altersstufe sucht man nämlich nicht das Angenehme, sondern den
Nutzen). Bei Menschen in der Blüte ihrer Jahre und bei Jungen findet sie
sich, wenn es ihnen nur um den Nutzen zu tun ist. Solche Menschen leben
auch kaum zusammen, denn manchmal sind sie einander nicht einmal ange-
nehm und haben daher keinen weiteren Bedarf nach Umgang, wenn sie ein-
30 ander nicht nützlich sind. | Sie sind einander nämlich nur in dem Maß ange-
nehm, in dem sie sich etwas Gutes erhoffen. Zu dieser Art von Freundschaft
rechnet man auch die Gastfreundschaft.
Die Freundschaft unter den Jungen scheint dagegen der Lust wegen zu
bestehen. Denn sie leben nach ihren Affekten und suchen vor allem das, was
ihnen angenehm ist und unmittelbar vor ihnen liegt. Mit zunehmendem Al-
ter werden ihnen aber andere Dinge angenehm. Darum werden die Jungen
35 schnell | Freunde und hören ebenso schnell wieder auf. Denn mit dem An-
1156b genehmen | wechselt auch die Freundschaft, und diese Art von Lust ändert
sich schnell. Außerdem neigen die Jungen der erotischen Liebe zu; die ero-
tische Freundschaft richtet sich aber zumeist nach dem Affekt und gilt der
Lust. Deshalb verlieben sie sich leicht und hören schnell wieder damit auf;
5 ja, oft ändern sie sich im Lauf ein und desselben Tages. | Auch wünschen sie,
ihre Tage zusammen zu verbringen und zusammen zu leben. So erlangen sie
nämlich das, was dieser Art von Freundschaft entspricht.
Kapitel 4
Vollkommen ist dagegen die Freundschaft zwischen guten und der Tugend
nach gleichen Menschen. Denn diese wünschen einander in gleicher Weise
10 Gutes, insofern sie gut sind; sie sind aber als solche gut. Diejenigen, die | den
Freunden um ihrer selbst willen Gutes wünschen, sind Freunde im höchs-
ten Grad, denn sie verhalten sich so aufgrund ihrer eigenen Natur und nicht
bloß akzidentell. Ihre Freundschaft bleibt daher bestehen, solange sie gut
sind; die Tugend ist aber etwas Beständiges. Auch ist jeder von beiden so-
wohl an sich wie auch für den Freund gut, denn die Guten sind nicht nur
überhaupt gut, sondern auch nützlich füreinander. Ebenso sind sie einander
15 aber auch | angenehm; denn die Guten sind sowohl überhaupt wie auch für-
Kapitel 5 143
einander angenehm. Jeder hat nämlich seine Freude an den ihm eigentümli-
chen Handlungen und solchen von dieser Art; bei den Guten sind diese aber
dieselben oder ähnlich.
Eine Freundschaft dieser Art ist also aus gutem Grund beständig, denn
in ihr fügt sich alles zusammen, was bei Freunden gegeben sein muss. Jede
Freundschaft besteht nämlich zwar eines Guten | oder einer Lust wegen, sei 20
es überhaupt oder für den, der liebt, und beruht auf einer gewissen Ähn-
lichkeit. Bei dieser Freundschaft kommen aber alle genannten Eigenschaften
den Freunden als solchen zu; denn sie sind in dieser Weise wie auch in Bezug
auf das Übrige gleich.51 Und was überhaupt gut ist, das ist auch überhaupt
angenehm und daher ist es auch im höchsten Maße liebenswert. Liebe und
Freundschaft gibt es also am meisten zwischen solchen Menschen und diese
Freundschaft ist die beste. |
Solche Freundschaften sind aber selten, denn Menschen dieser Art gibt 25
es wenige. Ferner bedarf es dazu der Zeit und der Vertrautheit. Denn wie
das Sprichwort sagt, kann man einander nicht kennengelernt haben, bevor
man nicht zusammen das sprichwörtliche Quantum Salz verzehrt hat. Man
kann einander weder als Freund angenommen haben noch auch Freunde
sein, bevor sich nicht jeder dem anderen gegenüber als liebenswert erwiesen
und sein Vertrauen gewonnen hat. Menschen, die | sich zueinander schnell 30
auf freundschaftliche Art verhalten, wünschen zwar Freunde zu sein, sind es
aber nicht, wenn sie nicht auch liebenswert sind und dies voneinander wis-
sen. Denn zum Wunsch nach Freundschaft kommt es schnell, zur Freund-
schaft jedoch nicht.
Kapitel 5
Diese Art von Freundschaft ist also sowohl der Dauer nach wie auch in IV.
allem Übrigen vollkommen, und | ein jeder erhält vom anderen in jeder Hin- 35
sicht dieselben und ähnlichen Dinge, wie es eben zwischen Freunden zuge-
hen soll. Die Freundschaft, die | auf Lust beruht, hat mit dieser eine gewisse 1157a
Ähnlichkeit, denn angenehm sind einander auch die Guten. Entsprechendes
gilt für die Freundschaft, die des Nutzens wegen besteht, denn die Guten
sind einander auch nützlich.
Auch unter solchen Menschen bleiben die Freundschaften am ehesten
dann bestehen, wenn beide voneinander dasselbe erhalten, wie etwa | Lust; 5
und nicht nur das, sondern wenn sie denselben Ursprung hat, wie zwischen
Unterhaltsamen und nicht wie zwischen Liebhaber und Geliebtem. Denn
Letztere haben nicht an demselben ihre Lust, sondern der eine erfreut sich
51
Hier wird mit Susemihl nach Kb , G und Aspasios homoioi statt homoia gelesen.
144 Buch VIII
am Anblick des anderen, der andere an den Gefälligkeiten, die der Liebha-
ber ihm leistet. Schwindet die Jugendblüte, schwindet manchmal auch die
10 Freundschaft – dem einen ist dann nämlich der | Anblick nicht mehr erfreu-
lich, der andere erhält keine Gefälligkeiten mehr. Viele bleiben aber auch
weiterhin Freunde, wenn sie aufgrund ihrer Vertrautheit den Charakter des
anderen liebgewonnen haben und sie dem Charakter nach ähnlich sind. Die-
jenigen, die bei einer Liebesbeziehung nicht Lust, sondern Nutzen austau-
schen, sind aber in geringerem Maße Freunde und weniger beständig. Bei
15 denjenigen, die allein des Nutzens wegen Freunde sind, | löst sich mit dem
Nutzen auch die Freundschaft auf. Denn sie waren nicht Freunde voneinan-
der, sondern nur des Nützlichen.
Der Lust oder des Nutzens wegen können sogar Schlechte miteinan-
der befreundet sein oder Gute mit Schlechten oder solche, die weder gut
noch schlecht sind, mit beliebigen Menschen. Aufgrund ihrer eigenen Na-
tur können aber offensichtlich nur die Guten Freunde sein, denn Schlechte
20 haben keine Freude aneinander, wenn | ihnen kein Vorteil entsteht. Auch ist
nur die Freundschaft zwischen Guten vor Verleumdungen sicher, weil man
nicht leicht Reden über jemanden Glauben schenkt, den man selbst über
eine lange Zeit hin geprüft hat. Zwischen diesen besteht aber Vertrauen: Der
andere würde einem niemals Unrecht tun − und was man sonst von einer
wahren Freundschaft erwartet. Nichts hindert aber daran, dass Derartiges
25 auch bei den übrigen Arten von Freundschaft | vorkommt.
Weil die Menschen auch diejenigen Freunde nennen, die es des Nutzens
wegen sind, so wie das auch die Staaten tun (Kriegsbündnisse kommen be-
kanntlich zwischen den Staaten um des Nutzens willen zustande), so wie
auch diejenigen, die einander der Lust wegen lieben, wie die Kinder, sollten
30 wohl auch wir | solche Menschen als Freunde bezeichnen, aber doch sa-
gen, dass es mehrere Arten von Freundschaft gibt. Freundschaft im primä-
ren und eigentlichen Sinn ist die zwischen Guten, insofern sie gut sind. Die
übrigen Arten sind Freundschaften gemäß einer Ähnlichkeit. Sofern näm-
lich etwas Gutes und etwas Ähnliches gegeben ist, sind die Betreffenden
Freunde. Auch das Lustvolle ist ein Gut für die Liebhaber der Lust. Diese
35 beiden Arten von Freundschaft | verbinden sich jedoch kaum miteinander,
und es werden nicht dieselben Menschen der Lust und des Nutzens wegen
Freunde. Denn was nur akzidentell zusammentrifft, fügt sich kaum als Paar
zusammen.
Kapitel 7 145
Kapitel 6
Da die Freundschaft in diese Arten aufgeteilt ist, werden die Schlechten 1157b
der Lust oder des Nutzens wegen Freunde sein, denn darin sind sie ein-
ander ähnlich; die Guten werden dagegen um ihrer selbst willen Freunde
sein, nämlich insofern sie gut sind. Diese sind nun Freunde im eigentlichen
Sinn, von den anderen dagegen gilt das nur akzidentell | und insofern sie eine 5
Ähnlichkeit mit jenen haben.
Wie man nun die Tugenden betreffend die einen in Bezug auf die Dis- V.
position, die anderen in Bezug auf die Tätigkeit gut nennt, so tut man es
auch bei der Freundschaft. Die einen, die zusammenleben, erfreuen sich an-
einander und verschaffen einander Gutes; die anderen, die gerade schlafen
oder dem Ort nach getrennt sind, sind zwar nicht tätig, aber dazu dispo-
niert, | freundschaftlich tätig zu sein. Denn die Verschiedenheit des Ortes 10
hebt die Freundschaft als solche nicht auf, sondern nur das Tätigsein. Dau-
ert die Abwesenheit allerdings länger an, dann lässt sie anscheinend sogar
die Freundschaft selbst in Vergessenheit geraten. Daher sagt man auch: „Der
Mangel an Gespräch hat schon viele Freundschaften aufgelöst.“
Weder alte noch sauertöpfische Menschen scheinen zur Freundschaft ge-
eignet. | Denn es gibt wenig Angenehmes an ihnen; niemand vermag aber 15
seine Tage mit Menschen zu verbringen, die unangenehm oder doch nicht
angenehm sind. Denn die Natur meidet offenbar vor allem das Unange-
nehme und sucht das Angenehme.
Menschen, die einander zwar zugetan sind, aber nicht zusammen leben,
gleichen eher Wohlwollenden als Freunden. Denn nichts zeichnet Freunde
so sehr aus wie das Zusammenleben. | Auf den Nutzen sind nämlich die 20
Bedürftigen aus, auf das Zusammenleben aber besonders die vollkommen
Glücklichen, denn gerade zu ihnen passt Einsamkeit am wenigsten. Man
kann aber seine Tage nicht zusammen verbringen, wenn man einander nicht
angenehm ist und Freude an den gleichen Dingen hat; eben das aber scheint
die Freundschaft zwischen Gefährten auszuzeichnen.
Kapitel 7
Freundschaft im höchsten Sinn ist, wie nun schon oft gesagt, die zwischen
den Guten. Liebenswert und wählenswert erscheint nämlich das überhaupt
Gute oder Angenehme, für den Einzelnen aber dasjenige, was für ihn so
ist. Der Gute ist dies für den Guten aber aufgrund von beidem. Das Lieben
gleicht nun aber einem Affekt, die Freundschaft einer Disposition. Denn
Lieben | gilt nicht weniger dem Unbeseelten, wiederlieben tut man jedoch 30
mit Vorsatz, und der Vorsatz beruht auf einer Disposition. Auch wünscht
146 Buch VIII
man denen Gutes, die man um ihretwillen liebt, nicht bloß aufgrund eines
Affekts, sondern aufgrund einer Disposition. Und man liebt, indem man
den Freund liebt, das eigene Gute. Denn der Gute, wenn er ein Freund wird,
35 wird ein Gut für den, dessen Freund er wird. Jeder von beiden | liebt also das
für ihn selbst Gute und gibt Gleiches zurück durch Wünschen und durch
1158a Angenehmsein. Denn Freundschaft nennt man auch Gleichheit, | diese gibt
es aber am meisten bei der Freundschaft zwischen Guten.
VI. Unter Sauertöpfischen und Ältlichen kommt es umso weniger zu
Freundschaft, je verdrießlicher sie sind und je weniger sie am Umgang mit
anderen Freude haben. Denn gerade sie scheinen am meisten das Freund-
schaftliche und das zu kennzeichnen, was zur Freundschaft führt. Daher |
5 werden Junge schnell Freunde, Alte aber nicht, denn man wird niemandes
Freund, an dem man keine Freude hat. Das Gleiche trifft auf die Sauertöp-
fischen zu. Sie hegen zwar Wohlwollen füreinander, denn sie wünschen ein-
ander Gutes und helfen einander bei Bedarf auch aus. Richtige Freunde sind
sie aber nicht, weil sie weder ihre Tage miteinander verbringen noch Freude
10 aneinander haben, | was doch bekanntlich das Freundschaftliche am meisten
auszeichnet.
Man kann aber nicht vielen ein Freund im Sinn der vollkommenen
Freundschaft sein, so wie man auch nicht zugleich in viele verliebt sein kann
(denn das erscheint wie ein Übermaß, und Derartiges fühlt man naturgemäß
nur für einen Menschen). Auch kommt es nicht leicht vor, dass viele demsel-
ben zugleich sehr gefallen, und vielleicht auch nicht, dass viele zugleich gut
15 sind. Man muss nämlich sowohl | Erfahrung sammeln, wie auch miteinander
vertraut werden, was höchst schwierig ist. Wohl aber kann man vielen des
Nutzens und der Lust wegen angenehm sein, denn solche Menschen gibt es
viele, und die Hilfeleistungen erfordern wenig Zeit. Von diesen Arten der
Freundschaft ist diejenige, die auf der Lust beruht, der eigentlichen Freund-
schaft ähnlicher, wenn beide dasselbe bekommen und ihre Freude aneinan-
20 der oder an | denselben Dingen haben, wie dies bei den Freundschaften der
Jugend der Fall ist. Denn in diesen Freundschaften liegt eher etwas Großzü-
giges. Freundschaften, die rein dem Nutzen gelten, sind aber etwas für Krä-
merseelen. Auch die Glücklichen haben zwar keinen Bedarf an nützlichen,
wohl aber an angenehmen Menschen, denn auch sie haben den Wunsch, mit
jemandem zusammenzuleben. Unangenehmes nehmen sie zwar für kurze
25 Zeit hin, auf Dauer würde das aber niemand ertragen, ja nicht einmal | das
Gute selbst, wenn es einem unangenehm wäre. Daher suchen sie Freunde,
die ihnen angenehm sind; als solche sollten sie aber wohl auch gut sein und
zwar auch für sie gut, denn so wird alles vorhanden sein, was Freunde ha-
ben sollen.
Machthaber scheinen aber von ihren Freunden jeweils gesondert Ge-
brauch zu machen. Manche sind ihnen nämlich nützlich, andere angenehm;
Kapitel 8 147
nur selten sind dieselben | beides zugleich. Mächtige suchen nämlich weder 30
solche, bei denen das Angenehme mit der Tugend verbunden ist, noch auch
solche, die nützlich für schöne Taten sind. Vielmehr suchen sie Unterhalt-
same für ihre Lustbarkeiten und Geschickte zur Ausführung ihrer Befehle,
beides ist aber kaum bei ein und demselben zu finden. Nun haben wir zwar
gesagt, dass der Gute zugleich angenehm und nützlich ist. Ein solcher wird
aber einem an Macht Überlegenen kein Freund sein, wenn dieser ihn nicht
auch | an Tugend übertrifft, denn sonst kommt es zu keinem Ausgleich in 35
Bezug auf das, wodurch er von ihm übertroffen wird. Solche Machthaber
gibt es aber kaum.
Kapitel 8
Die genannten Arten der Freundschaft beruhen auf Gleichheit, denn den 1158b
Freunden wird voneinander entweder dasselbe zuteil, und sie wünschen es
einander, oder sie tauschen Verschiedenes gegeneinander ein, wie etwa Lust
gegen Nutzen. Dass letztere Freundschaften jedoch in geringerem Grad und
weniger beständig sind, | haben wir schon gesagt. Wegen ihrer Ähnlichkeit 5
und Unähnlichkeit in derselben Hinsicht erscheinen sie sowohl als Freund-
schaften wie auch nicht als Freundschaften. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit
der auf Tugend beruhenden Freundschaft erscheinen sie nämlich als Freund-
schaften; die eine enthält nämlich das Angenehme, die andere das Nützliche,
beides gehört aber auch zur Tugendfreundschaft. Weil letztere aber nicht für
Verleumdung anfällig und beständig ist, erstere | sich dagegen schnell ändern 10
und sich auch in vielen anderen Hinsichten von ihr unterscheiden, erschei-
nen sie wiederum nicht als Freundschaften, eben ihrer Unähnlichkeit mit
der eigentlichen Freundschaft wegen.
Eine andere Art von Freundschaft ist aber diejenige, die auf Überlegen- VII.
heit beruht, wie die Freundschaft des Vaters zum Sohn und überhaupt die
des Älteren zum Jüngeren, des Mannes zur Frau und jedes Herrschenden
zum Beherrschten. Diese Formen unterscheiden sich aber auch noch un-
tereinander. | Denn die Freundschaft der Eltern zu den Kindern ist nicht 15
dieselbe wie die der Herrschenden zu den Beherrschten, wie auch nicht die
des Vaters zum Sohn und des Sohns zum Vater und auch nicht die des Man-
nes zur Frau und der Frau zum Mann. Denn wie Tugend und Funktion bei
beiden verschieden sind, so sind auch die Gründe verschieden, aus denen
sie einander lieben. Daher sind auch die Arten des Liebens und der Freund-
schaft verschieden. | Dem einen wird folglich vom anderen nicht dasselbe 20
zuteil und er sollte es auch nicht erwarten. Wenn die Kinder aber den El-
tern zuteilwerden lassen, was man seinen Erzeugern schuldet, und die El-
tern den Kindern, was man seinen Kindern schuldet, dann wird die Freund-
148 Buch VIII
schaft zwischen ihnen beständig und gut sein. Bei allen Freundschaften, die
25 auf Überlegenheit beruhen, | muss aber auch das Lieben diesem Verhältnis
entsprechen. So wird etwa der Bessere mehr geliebt als er selbst liebt, wie
auch der Nützlichere, und Entsprechendes gilt auch für jeden der Übrigen.
Wenn das Lieben sich nach der Würdigkeit richtet, dann stellt sich in gewis-
ser Weise Gleichheit ein; diese aber, so scheint es, gehört zur Freundschaft.
Kapitel 9
30 Die Gleichheit | ist aber anscheinend beim Gerechten nicht dieselbe wie bei
der Freundschaft. Denn das Gerechte betreffend ist in erster Linie gleich,
was der Würdigkeit nach, in zweiter Linie, was der Quantität nach gleich ist;
bei der Freundschaft steht an erster Stelle das der Quantität nach und erst an
zweiter Stelle das der Würdigkeit nach Gleiche. Das zeigt sich dann, wenn
sich ein großer Abstand in Bezug auf Tugend, Schlechtigkeit, Wohlstand
oder etwas anderes auftut. Denn dann sind die Menschen keine Freunde
35 mehr | und erwarten das auch nicht. Am deutlichsten ist dies im Fall der
Götter, weil sie uns in allem, was gut ist, in höchstem Maß überlegen sind.
1159a Deutlich ist dies aber | auch im Fall von Königen. Denn Menschen, die weit
unter ihnen stehen, erwarten nicht, mit ihnen befreundet zu sein, und das-
selbe gilt für solche, die nichts wert sind, gegenüber den Besten und den
Klügsten. Eine genaue Grenze, bis zu der man befreundet sein kann, gibt
es in diesen Dingen allerdings nicht. Auch wenn man nämlich vieles weg-
5 nimmt, bleibt die Freundschaft | dennoch bestehen; ist der eine aber sehr
weit entfernt, wie etwa ein Gott, dann kann es keine Freundschaft geben.
Daher sieht man auch eine Schwierigkeit darin, ob Freunde ihren Freun-
den womöglich die größten aller Güter gar nicht wünschen sollten, wie etwa
Götter zu sein. Denn Freunde würden diese dann für sie gar nicht mehr sein
und folglich auch nichts Gutes, da Freunde doch zu den Gütern gehören.
10 Wenn wir also zu Recht festgestellt haben, dass der Freund dem Freund | um
dessentwillen Gutes wünscht, dann muss dieser derjenige bleiben, der er ist.
Man wird ihm daher, sofern er ein Mensch ist, die höchsten Güter wün-
schen. (Aber vielleicht auch wieder nicht alle, denn jeder wünscht die Güter
am meisten für sich selbst).
VIII. Die Meisten wünschen aber, wie es scheint, aus Ehrsucht eher geliebt
zu werden als zu lieben. Daher sind den meisten auch die Schmeichler lieb.
15 Denn | ein Schmeichler ist ein Freund, der einem unterlegen ist oder doch
vorgibt, es zu sein52 und mehr zu lieben, als geliebt zu werden. Geliebt zu
52
Die Übersetzung liest mit Susemihl das durch Sylburg ergänzte <einai> nach toioutos in
1159a15.
Kapitel 10 149
werden scheint aber dem Geehrtwerden nahe zu sein, und eben darauf sind
die meisten aus. Sie scheinen die Ehre aber nicht um ihrer selbst willen zu
wählen, sondern nur akzidentell. Die einen, die Mehrheit, freut sich näm-
lich darüber, von Einflussreichen geehrt zu werden, | der Hoffnung we- 20
gen, weil sie glauben, dass sie von diesen etwas erhalten werden, wenn sie
es brauchen. Sie freuen sich also über die Ehre wie über ein Vorzeichen auf
Wohltaten. Die anderen trachten nach Ehre von Seiten Guter und Verstän-
diger, weil sie darauf aus sind, die eigene Meinung über sich selbst zu be-
stätigen. Solche freuen sich also darüber, dass sie gut sind, indem sie dem
Urteil derer vertrauen, die sich so äußern. | Geliebt zu werden erfreut die 25
Menschen aber als solches. Daher sollte man meinen, dass es besser ist, ge-
liebt als geehrt zu werden, und dass die Freundschaft als solche wählenswert
ist.
Die Freundschaft liegt aber anscheinend mehr im Lieben als im Geliebt-
werden. Ein Anzeichen dafür sind die Mütter, für die die Freude im Lie-
ben selbst liegt. Manche überlassen ja sogar ihre Kinder anderen zur Auf-
zucht und lieben sie, solange sie etwas von ihnen wissen, | suchen aber nicht 30
danach, wiedergeliebt zu werden, wenn nicht beides möglich ist. Vielmehr
scheint es ihnen zu genügen, wenn sie sehen, dass es ihren Kindern gut geht,
und lieben sie auch dann, wenn sie ihren Müttern nichts von dem erweisen,
was Müttern gebührt, weil die Kinder sie gar nicht kennen.
Kapitel 10
Wenn die Freundschaft aber eher im Lieben besteht und wir diejenigen
loben, die ihre Freunde lieben, | dann scheint das Lieben die Tugend von 35
Freunden zu sein, so dass | die Freunde und ihre Freundschaft beständig 1159b
sind, zwischen denen sich diese Beziehung ihrer Würdigkeit entsprechend
einstellt. Auch Ungleiche können auf diese Weise am ehesten Freunde sein,
weil sich so eine Gleichheit zwischen ihnen ergibt.
Gleichheit und Ähnlichkeit sind nun Freundschaft, und am meisten die
Ähnlichkeit bei denjenigen, die einander an Tugend ähnlich sind. Weil diese
Freunde in sich beständig sind, | sind sie das auch füreinander; sie haben we- 5
der ein Bedürfnis nach schlechten Handlungen noch auch helfen sie dabei,
sondern verhindern sie vielmehr. Denn es zeichnet die Guten aus, weder
selbst Verfehlungen zu begehen noch solche bei ihren Freunden zuzulassen.
Die Schlechten haben dagegen nichts Beständiges an sich, da sie nicht einmal
sich selbst gleich bleiben. Freunde werden sie nur für kurze Zeit, | solange 10
sie sich wechselseitig an ihrer Schlechtigkeit freuen. Freunde, die einander
nützlich und angenehm sind, bleiben dagegen länger beisammen, und zwar
genau so lange wie sie einander Lust oder Nutzen verschaffen.
150 Buch VIII
Kapitel 11
IX. | 25 Freundschaft und Gerechtigkeit scheinen sich, wie anfangs angemerkt, auf
dieselben Dinge zu beziehen und zwischen denselben Personen zu beste-
hen. Denn in jeder Gemeinschaft gibt es anscheinend eine bestimmte Art
des Gerechten wie auch von Freundschaft. So pflegen doch Schiffsgenos-
sen und Kriegskameraden einander Freunde zu nennen und ebenso auch die
30 Mitglieder anderer Gemeinschaften. | So weit die Gemeinschaft zwischen
ihnen reicht, so weit reicht die Freundschaft, denn so weit reicht auch die
Gerechtigkeit. Das sagt zu Recht auch das Sprichwort: „Freunden ist alles
gemeinsam“, denn die Freundschaft liegt in der Gemeinschaft. Brüdern und
Gefährten ist alles gemeinsam, bei den übrigen ist es begrenzt, bei den einen
ist es mehr, bei den anderen weniger, denn auch von den Freundschaften ge-
35 hen die einen weiter, | die anderen weniger weit.
1160a Auch beim Gerechten gibt es aber Unterschiede. Denn | für Eltern ist ih-
ren Kindern gegenüber nicht dasselbe gerecht wie für Brüder, auch nicht für
Gefährten und für Mitbürger und ebenso nicht für die übrigen Arten von
Freundschaft. Auch das Ungerechte ist daher jedem von ihnen gegenüber
5 verschieden; es wird umso größer, je enger die Freundschaft zu ihm ist: | Einen
Gefährten um sein Vermögen zu bringen ist schlimmer als einen Mitbürger,
dem Bruder nicht zu Hilfe zu kommen schlimmer als einem Fremden, den
Vater zu schlagen schlimmer als einen beliebigen anderen. Mit der Freund-
schaft nimmt naturgemäß auch das Gerechte zu, da sie dieselben Personen
betreffen und sich gleich weit erstrecken.
Kapitel 12 151
Alle Arten von Gemeinschaften gleichen aber Teilen der politischen Ge-
meinschaft. Denn Menschen | gehen eines bestimmten Nutzens wegen ge- 10
meinsam vor und tun dies, um sich etwas zu verschaffen, was sie zum Leben
brauchen. Auch die politische Gemeinschaft hat sich bekanntlich ursprüng-
lich des Nutzens wegen zusammengefunden und bleibt seinetwegen auch
bestehen. Denn darauf zielen auch die Gesetzgeber ab, und man sagt zudem,
gerecht sei, was dem gemeinsamen Nutzen dient.
Die übrigen Gemeinschaften streben nun | nach dem Nutzen einer be- 15
stimmten Art, so wie etwa Seefahrer nach dem solchen Reisen eigenen Nut-
zen durch Gewinn oder etwas dieser Art. Kriegskameraden geht es um den
Nutzen aus dem Krieg, sei es, dass sie auf Beute, auf Sieg oder auf die Er-
oberung einer Stadt aus sind. Entsprechendes gilt auch für Mitglieder ei-
ner Phyle oder eines Demos.53 | Sie alle scheinen jedoch der politischen Ge- 20
meinschaft untergeordnet zu sein; denn diese hat nicht den augenblicklichen
Nutzen zum Ziel, sondern den für das ganze Leben. Gewisse Gemeinschaf-
ten entstehen aber anscheinend auch des Vergnügens | wegen, wie etwa die 25
von Kult- oder Bankettgenossen, denn sie haben Opferfeiern und Gesel-
ligkeit zum Ziel. Opferungen und derartige Zusammenkünfte veranstaltet
man, um den Göttern Ehre zu erweisen und sich selbst dabei angenehme
Erholung zu verschaffen. Die althergebrachten Opferriten und Zusammen-
künfte hat man nämlich anscheinend nach der Einbringung der Ernte ab-
gehalten, als eine Art Erstlingsopfer, denn zu diesem Zeitpunkt hatte man
am meisten Muße. Alle Gemeinschaften scheinen also Teile der politischen
Gemeinschaft zu sein, und zu | Gemeinschaften dieser Art werden auch die 30
entsprechenden Freundschaften gehören.
Kapitel 12
Es gibt aber drei Arten von Staatsverfassungen und ebenso viele Abarten, X.
die gewissermaßen ihre Verfallsformen sind. Die Verfassungen sind Königs-
herrschaft und Aristokratie sowie eine dritte Form, die auf der Vermögens-
klasse beruht und für die der Name Timokratie angemessen erscheint; | die 35
meisten haben sich aber angewöhnt, sie ‚Politie‘ zu nennen. Von diesen ist
die beste die Königsherrschaft, die schlechteste die Timokratie.
Die Abart | der Königsherrschaft ist die Tyrannis; denn beide sind zwar 1160b
Alleinherrschaften, zwischen ihnen besteht aber der größte Unterschied.
Der Tyrann sucht nämlich den eigenen Nutzen, der König dagegen den der
Regierten. Denn keiner ist ein König, der nicht autark und an allen Gütern
53
Die Übersetzung folgt Bywaters Vorschlag zur Umstellung von 1160a19 f.
152 Buch VIII
5 überlegen ist. | Einem solchen fehlt es an nichts, daher wird er nicht nach
dem eigenen, sondern nach dem Nutzen der Regierten trachten. Wäre er
nicht von dieser Art, dann wäre er nur ein Titular-König. Die Tyrannis ist
das Gegenteil dieser Verfassung; denn der Tyrann sucht das eigene Gute. Es
ist nur allzu deutlich, dass sie die schlechteste Verfassung ist; am schlech-
10 testen ist das Gegenteil des Besten. | Die Königsherrschaft entartet nun zur
Tyrannis; denn diese ist die schlechte Form der Alleinherrschaft, und ein
schlechter König wird zum Tyrannen.
Die Aristokratie wird zur Oligarchie aufgrund der Schlechtigkeit der
Machthaber, welche die öffentlichen Güter der Würdigkeit entgegen vertei-
len, indem sie alle oder die meisten Güter für sich selbst in Anspruch neh-
15 men und Ämter | immer an dieselben vergeben, weil sie Reichtum am höchs-
ten schätzen. Deswegen herrschen wenige und Schlechte statt der Besten.
Die Timokratie wird zur Demokratie, denn diese beiden Verfassungen
grenzen aneinander. Auch die Timokratie beansprucht nämlich, die Herr-
schaft der Mehrheit zu sein, weil alle, die der gleichen Vermögensklasse an-
20 gehören, untereinander gleich sind. Die | Demokratie ist die am wenigsten
schlechte Verfassung; sie weicht nämlich nur wenig von der Politie ab. In
dieser Weise gehen die Verfassungen zumeist ineinander über, denn so ver-
ändern sie sich am wenigsten und am leichtesten.
Abbilder und gleichsam Beispiele dieser Verfassungen könnte man auch
in den Hausgemeinschaften finden. Denn die Gemeinschaft des Vaters mit
25 den Söhnen | hat die Form der Königsherrschaft, weil der Vater für das Wohl
der Kinder sorgt. Daher kommt es auch, dass Zeus bei Homer ‚Vater‘ ge-
nannt wird, denn das Königtum will eine väterliche Herrschaft sein. Bei den
Persern ist die Herrschaft des Vaters dagegen tyrannisch, weil sie mit ihren
Söhnen wie mit Sklaven umgehen. Tyrannisch ist auch die Herrschaft des
30 Herrn über die Sklaven, denn | sie dient dem Nutzen des Herrn. Diese Art
von Herrschaft erscheint als richtig, die persische dagegen verfehlt, denn zu
Verschiedenen gehört auch eine verschiedene Herrschaft.
Die Verfassung bei Mann und Frau ist offenbar aristokratisch. Der Mann
herrscht nämlich seiner Würdigkeit entsprechend und über die Dinge, über
35 die der Mann zu herrschen hat; was zu bestimmen Sache der Frau ist, | über-
lässt er dagegen ihr. Ist der Mann aber Herr über alles, dann verkehrt er das
1161a Verhältnis in eine Oligarchie, denn er tut es der Würdigkeit entgegen | und
nicht, insofern er besser ist. Gelegentlich herrschen aber die Frauen, wenn
sie Erbinnen sind. Diese Herrschaftsverhältnisse beruhen daher nicht auf
Tugend, sondern auf Reichtum und Macht, wie in den Oligarchien.
Das Verhältnis zwischen Brüdern gleicht dem in der Timokratie. Sie sind
5 einander nämlich gleich, | bis auf den Unterschied im Alter. Ist der Alters-
unterschied sehr groß, dann ist die Freundschaft keine brüderliche mehr.
Demokratie findet sich am ehesten in Haushalten, in denen es keinen Herrn
Kapitel 13 153
gibt (denn dort sind alle einander gleich), sowie in solchen, in denen der
Hausherr schwach ist und jeder tun kann, was er will.
Kapitel 13
Jeder Verfassung entspricht anscheinend eine Art von Freundschaft, wenn XI. | 10
zu ihr auch Gerechtigkeit gehört. Bei einem König liegt die Freundschaft
zu den Untertanen im Übermaß seiner Wohltaten. Denn weil er selbst gut
ist, erweist er den Untertanen Wohltaten, wenn er dafür sorgt, dass es ih-
nen gut geht, so wie ein Hirt für seine Schafe. Deshalb hat auch Homer |
Agamemnon einen Völkerhirten genannt. Von dieser Art ist auch die väter- 15
liche Freundschaft, sie zeichnet sich jedoch durch die Größe der Wohltaten
aus; denn der Vater ist die Ursache für das Sein der Kinder, was man für die
größte Wohltat hält, für Ernährung und Erziehung. Auch den Vorfahren
schreibt man aber diese Wohltaten zu. Von Natur aus ist daher der Vater
bestimmt, über die Söhne zu herrschen, die Vorfahren über die Nachkom-
men, der König | über die Untertanen. Diese Freundschaften beruhen aber 20
auf Überlegenheit, und daher erweist man den Erzeugern Ehre. Auch das
Gerechte ist daher auf beiden Seiten nicht dasselbe, vielmehr richtet es sich
nach der Würdigkeit, so wie das auch für die Freundschaft gilt. Die Freund-
schaft des Mannes zur Frau ist dieselbe wie die Freundschaft in der Aristo-
kratie. Sie richtet sich nämlich nach der Tugend, und der Bessere erhält mehr
Gutes, | jeder aber das Passende, und so verhält es sich auch mit dem Ge- 25
rechten. Die Freundschaft unter Brüdern ist der zwischen Gefährten ähn-
lich; sie sind einander nämlich gleich und gleichen Alters. Solche Menschen
haben aber zumeist auch die gleichen Affekte und den gleichen Charakter.
Dieser Freundschaft ähnlich ist auch diejenige, die zur Timokratie gehört,
denn die Bürger wollen gleich und gut sein. Daher teilen sie sich die Herr-
schaft und mit gleichem Anspruch. Und so ist | auch ihre Freundschaft. 30
In den abartigen Formen von Verfassungen gibt es so wie Gerechtes auch
Freundschaft nur in geringem Maß, und am wenigsten in der schlechtesten
Form; denn in der Tyrannis ist keine oder nur ganz wenig Freundschaft zu
finden. Wo nämlich Herrschern und Beherrschten nichts gemein ist, gibt es
keine Freundschaft, weil es dort auch kein Gerechtes gibt, wie auch nicht
zwischen Handwerker und Handwerkszeug, | zwischen Seele und Körper, 35
zwischen Herr und Sklave. | Denn für all diese sorgt zwar derjenige, der sie 1161b
gebraucht, doch gibt es gegenüber Unbeseeltem weder Freundschaft noch
Gerechtigkeit. Es gibt sie aber auch nicht gegenüber einem Pferd und einem
Rind und auch nicht einem Sklaven gegenüber, insofern er Sklave ist, denn es
gibt da nichts Gemeinsames. Der Sklave ist nämlich ein beseeltes Werkzeug,
das Werkzeug ein unbeseelter | Sklave. Insofern er Sklave ist, gibt es keine 5
154 Buch VIII
Kapitel 14
XII. Jede Freundschaft besteht nun zwar, wie gesagt, in einer Art von Gemein-
schaft. Man könnte aber die Freundschaft zwischen Verwandten und Ge-
fährten auch von den übrigen absondern. Die Freundschaften zwischen
Bürgern, Angehörigen einer Phyle, Mitreisenden und was sonst noch von
dieser Art ist, haben nämlich eher den Charakter von Vereinigungen, weil
15 sie | auf einer bestimmten Übereinkunft zu beruhen scheinen. Diesen könnte
man auch die Gastfreundschaft zuordnen.
Auch die Freundschaft zwischen Verwandten hat offenbar viele Formen,
sie alle sind aber von der elterlichen Freundschaft abgeleitet. Die Eltern lie-
ben nämlich ihre Kinder als einen Teil von sich selbst, die Kinder ihre Eltern
20 als die, von denen sie herstammen. | Die Eltern wissen freilich besser, was
von ihnen stammt, als die Kinder wissen, dass sie von ihnen stammen. Und
überhaupt ist dem Erzeuger dasjenige, was von ihm stammt, mehr zugehö-
rig als das Erzeugte demjenigen, das es erzeugt hat. Denn das, was von etwas
stammt, ist dem zugehörig, von dem es stammt, so wie etwa ein Zahn, ein
Haar usw. dem zugehörig ist, der sie hat. Dem Erzeugten ist dagegen dasje-
nige, von dem es stammt, entweder gar nicht zugehörig oder doch weniger.
25 Dazu trägt auch die Länge der Zeit bei: Während | die Eltern ihre Kinder
gleich von Geburt an lieben, lieben diese ihre Eltern erst mit der Zeit, wenn
sie zu Verständnis und Wahrnehmung gekommen sind. Daraus wird auch
klar, warum die Mütter mehr lieben.
Eltern lieben also ihre Kinder wie sich selbst; ihre Abkömmlinge sind
nämlich gewissermaßen ‚andere Selbste‘, die sich von ihnen gelöst haben.
30 Kinder lieben ihre Eltern, weil | sie aus ihnen entstanden sind, Brüder lie-
ben einander, weil sie von denselben Eltern stammen. Denn ihre Selbigkeit
mit Bezug auf die Eltern lässt sie auch untereinander dieselben sein, weshalb
man von ‚demselben Blut‘, ‚derselben Wurzel‘ und dergleichen spricht. Sie
sind also in gewisser Weise dieselben, auch wenn sie für sich getrennt sind.
Es trägt aber auch viel zur Freundschaft bei, dass sie zusammen
aufgewachsen und gleichen Alters sind: Der Gleichaltrige sucht den
35 Gleichaltrigen, | und gemeinsame Gewohnheiten machen Gefährten. Des-
1162a halb | ist auch die brüderliche Freundschaft der zwischen Gefährten ähnlich.
Kapitel 14 155
Kapitel 15
XIII. | 35 Da es aber drei Arten von Freundschaft gibt, wie am Anfang gesagt, | und bei
jeder die einen aufgrund von Gleichheit, die anderen aufgrund von Überle-
1162b genheit Freunde sind (denn so wie gute Menschen Freunde werden und | ein
Besserer der Freund eines Schlechteren wird, so werden es auch diejenigen,
die des Angenehmen und solche, die des Nutzens wegen Freunde werden
und die einander gleichviel oder in unterschiedlicher Weise Nutzen brin-
gen), so müssen Gleiche der Art der Gleichheit entsprechend im Lieben und
allen übrigen Dingen für Gleichheit sorgen, Ungleiche aber für einen der
Überlegenheit entsprechenden Ausgleich. |
5 Zu Vorwürfen und Beschwerden kommt es, wie zu erwarten, entweder
nur oder am häufigsten bei der Freundschaft, die dem Nutzen gilt. Denn
diejenigen, die der Tugend wegen Freunde sind, sind darauf bedacht, ein-
ander Gutes zu tun (denn das gehört zur Tugend und Freundschaft), und
wo man darum bemüht ist, gibt es weder Vorwürfe noch Streitigkeiten.
10 Denn | niemand nimmt es übel, wenn der, der ihn liebt, ihm Gutes tut; son-
dern wenn er ein feiner Mensch ist, wehrt er sich, indem er gleichfalls Gu-
tes tut. Der Überlegene, der erreicht, was er begehrt, wird das dem Freund
nicht zum Vorwurf machen, denn beide streben nach dem Guten. Auch zwi-
schen denen, die der Lust wegen Freunde sind, kommt es kaum zu Vorwür-
fen. Denn beide erhalten zugleich, was sie begehren, wenn sie mit Lust ihre
15 Zeit zusammen verbringen. Auch würde jemand lächerlich | erscheinen, der
dem anderen vorwirft, dass er ihm keine Lust bereitet, obwohl es ihm doch
frei steht, seine Tage nicht mehr mit ihm zu verbringen. Bei der Nutzen-
freundschaft kommt es aber leicht zu Vorwürfen. Denn weil die Betreffen-
den des Nutzens wegen miteinander umgehen, haben sie stets Bedarf nach
mehr davon und meinen, weniger zu erhalten, als ihnen zusteht, und monie-
ren, dass sie nicht so viel erhalten, wie sie brauchen, obwohl sie es verdie-
20 nen. Wer | ihnen Gutes tut, kann gar nicht so viel leisten, wie die Empfänger
brauchen.
Wie nun das Gerechte von zweifacher Natur ist, das eine ungeschrie-
ben, das andere gesetzlich, so beruht auch die Nutzenfreundschaft teils auf
der Basis des allgemein Üblichen, teils auf gesetzlicher Basis. Zu Vorwürfen
25 kommt es aber zumeist dann, wenn eine Beziehung | nicht so beendet wird,
wie sie vereinbart worden ist. Die Freundschaftsbeziehung, die auf dem Ge-
setz basiert, geht von festen Abmachungen aus: Bei der rein geschäftlichen
Beziehung gilt die Regel ‚von Hand zu Hand‘; eine freiere Beziehung lässt
zwar einen zeitlichen Spielraum zu, Leistung und Gegenleistung müssen
aber der Abmachung entsprechen. Dabei ist die Verpflichtung klar und nicht
umstritten; das Freundschaftliche liegt nur im Aufschub. Aus diesem Grund
30 lässt man mancherorts in diesen Fällen | keine Gerichtsverfahren zu, son-
Kapitel 15 157
54
In 1163a2 wird mit Susemihl et al. kai hekonti beibehalten.
158 Buch VIII
Kapitel 16
XIV. Streitigkeiten gibt es aber auch bei Freundschaften, die auf Überlegenheit
25 beruhen, | denn jeder von beiden könnte fordern, mehr zu bekommen. So-
bald das geschieht, löst sich die Freundschaft jedoch auf. Der Bessere glaubt
nämlich, ihm stehe es zu, mehr zu haben, weil man dem Guten mehr zutei-
len sollte. Ähnlich denkt auch der Nützlichere. Sie sagen, dass ein Nutzlo-
ser nicht den gleichen Anteil erhalten dürfe: Es komme einer Dienstleistung
30 statt einer Freundschaft gleich, wenn | das, was aus der Freundschaft resul-
tiert, nicht dem Wert der eigenen Leistung entspricht. Sie meinen nämlich,
so wie bei einer Geschäftsbeziehung derjenige mehr erhält, der mehr bei-
getragen hat, so müsse es auch bei der Freundschaft zugehen. Umgekehrt
meint der Bedürftige und Unterlegene, einem guten Freund stehe es an, Be-
dürftigen auszuhelfen. Welcher Nutzen, so sagt er sich, liegt darin, mit ei-
35 nem Guten | oder Mächtigen befreundet zu sein, wenn man davon gar nichts
1163b haben soll? | Wie es scheint, sind beide Forderungen berechtigt und jeder
sollte aus der Freundschaft mehr beziehen, allerdings nicht von derselben
Sache, sondern der Überlegene mehr an Ehre, der Bedürftige mehr an Ge-
5 winn. Denn für Tugend und Wohltätigkeit ist die Ehre der Lohn; | für Be-
dürftige besteht der Gewinn dagegen in der Hilfeleistung.
So verhält es sich offenbar auch in Angelegenheiten des Staates. Denn
wer nichts Gutes zur Gemeinschaft beiträgt, den ehrt man nicht. Gemein-
schaftliche Güter gibt man nämlich demjenigen, der Gutes für das Gemein-
wohl tut. Ehre ist aber ein gemeinschaftliches Gut. Man kann aber nicht
zugleich einen Gewinn und Ehren aus den Gemeinschaftsgütern beziehen;
10 denn niemand nimmt einen geringeren Anteil an allem hin. | Kommt jemand
beim Geld schlechter weg, dann erhält er Ehre; wer für Geschenke empfäng-
lich ist, dem gibt man Geld. Die Verteilung der Würdigkeit nach sorgt näm-
lich für Ausgleich und erhält die Freundschaft, wie wir gesagt haben.
In dieser Weise muss man also mit Ungleichen umgehen, und jemand, der
einen Nutzen in Hinblick auf das Geld oder die Tugend hat, sollte als Ge-
15 genleistung Ehre erweisen und damit tun, was er kann. | Denn die Freund-
schaft trachtet nur nach dem Möglichen, nicht nach dem, was der Würdig-
keit entspricht, zumal dies gar nicht in allen Fällen möglich ist, wie etwa bei
Ehren für die Götter und die Eltern. Niemand könnte ihnen nämlich je den
angemessenen Wert zurückerstatten; für gut hält man aber denjenigen, der
ihnen nach Kräften dient.
Daher sollte man meinen, dass es zwar einem Sohn nicht freisteht, sich
20 von seinem Vater loszusagen, wohl aber einem Vater von seinem Sohn. | Was
dieser schuldet, muss er zurückgeben; nichts von dem, was er tut, ist aber ein
gebührender Ausgleich für das, was für ihn zuvor getan worden ist, so dass
er immer ein Schuldner bleiben wird. Wem etwas geschuldet ist, dem steht es
Kapitel 16 159
dagegen frei, Schulden zu erlassen; also gilt das auch für den Vater. Zugleich
würde sich, wie es scheint, wohl niemand von seinem Sohn lossagen, wenn
dessen Schlechtigkeit nicht jedes Maß überschreitet. Denn auch abgesehen
von der natürlichen Freundschaft, passt es nicht zur menschlichen Natur,
Unterstützung | zurückzuweisen. Der Sohn aber, wenn er schlecht ist, wird 25
es zu vermeiden suchen, den Vater zu unterstützen oder dafür Mühen auf
sich zu nehmen. Denn die meisten Menschen wünschen zwar, Wohltaten zu
erhalten, anderen solche zu erweisen, meiden sie aber als nutzlos. Über diese
Fragen sei nun so viel gesagt.
Buch IX
Kapitel 1
I. In allen Freundschaften zwischen Ungleichartigen ist es, wie gesagt, die Pro-
portion, die für Gleichheit sorgt und die Freundschaft bewahrt. In der Freund-
35 schaft unter Bürgern erhält z.B. der Schuhmacher | einen angemessenen Ge-
1164a genwert für seine Schuhe und ebenso der Weber und die Übrigen. | Dafür
ist als gemeinsames Maß das Geld eingeführt worden; es ist also das Geld,
auf das man alles bezieht und mit dem man alles bemisst.
In der erotischen Freundschaft erhebt der Liebhaber manchmal den Vor-
wurf, dass er für seine übergroße Liebe nicht wiedergeliebt wird, obwohl er
5 vielleicht gar nichts Liebenswertes an sich hat, | während sich der Geliebte
oft beklagt, dass der Liebhaber ihm zuvor alles Mögliche versprochen hat,
jetzt aber nichts davon einhält. Zu dergleichen kommt es, wenn der Lieb-
haber den Geliebten der Lust wegen, dieser den Liebhaber jedoch des Nut-
zens wegen liebt, diese Eigenschaften aber nicht bei beiden vorliegen. Denn
10 weil ihre Freundschaft darauf beruht, löst sie sich auf, wenn | sie nicht das
bekommen, weswegen sie einander geliebt haben. Sie schätzten ja nicht die
Person des anderen, sondern nur solche Eigenschaften an ihnen, die nicht
beständig waren. Daher sind es auch die Freundschaften nicht. Beständig ist
dagegen, wie gesagt, die Freundschaft, die dem Charakter gilt, weil sie um
ihrer selbst willen besteht.
Freunde streiten aber, wenn sie etwas anderes erhalten als das, was sie be-
15 gehren. | Denn wenn man nicht das bekommt, was man begehrt, ist es so, als
bekäme man gar nichts. So hatte z.B. jemand einem Kitharaspieler verspro-
chen, je besser er spiele, desto mehr werde er dafür bekommen. Als dieser
am nächsten Morgen das Versprochene einforderte, erwiderte der andere, er
habe ihm Lust mit Lust vergolten. Hätte nun jeder von beiden ebendies ge-
wünscht, dann wäre das in Ordnung gewesen. Wenn aber der eine Vergnü-
gen, der andere Gewinn gewollt hat, und der eine das Seine bekommen hat,
20 | der andere nicht, dann kann es um diese Gemeinschaft nicht gut stehen.
Denn was man gerade braucht, darauf ist man aus, und dafür ist man bereit,
das Seinige zu geben.
Kapitel 1 161
Wer von beiden soll nun aber den Wert festsetzen – wer zuerst gibt oder
wer zuerst annimmt? Wer gibt, scheint dies aber doch dem anderen zu über-
lassen. Das habe, sagt man, auch Protagoras getan. | Denn wann immer er 25
jemanden etwas gelehrt hatte, forderte er den Schüler auf, einzuschätzen,
wie viel ihm das Gelernte wert sei, und so viel nahm er dann. Manche hal-
ten es aber in solchen Dingen lieber mit dem Prinzip: dem Mann werde sein
Lohn. Diejenigen aber, die das Geld im Voraus annehmen und dann nichts
von dem tun, was sie zugesagt haben, weil sie allzu große Versprechungen
gemacht hatten, | handeln sich berechtigte Klagen ein; denn sie leisten nicht 30
das, was sie versprochen haben. Zu solchem Vorgehen sind die Sophisten
vielleicht gezwungen, weil ihnen sonst niemand für das, was sie wissen, Geld
geben würde. Gegen diejenigen, die nicht das tun, wofür sie Geld erhalten
haben, erhebt man also mit Recht Vorwürfe.
Wo über die Leistung keine Abmachungen bestehen, gibt es, wie gesagt,
bei denen keine Vorwürfe, die um der Freunde selbst willen | als erste gege- 35
ben haben; denn dieser Art | ist die Tugendfreundschaft. Die Gegenleistung 1164b
ist aber ihrer Absicht entsprechend zu erbringen, weil es die Absicht ist,
die den Freund und die Tugend auszeichnet. Und so sollte man sich offen-
bar auch denen gegenüber verhalten, die einem die Philosophie vermittelt
haben. Denn ihr Wert ist mit Geld nicht zu bemessen, und auch die Ehre
könnte keinen Ausgleich bringen. | Vielleicht reicht es aber aus, das Mögli- 5
che zu tun, wie den Göttern oder den Eltern gegenüber.
Wo das Geben aber nicht von dieser Art ist, sondern auf Gegenleistung
aus ist, sollte diese so beschaffen sein, dass beide Seiten ihren Wert für an-
gemessen halten. Sollte das nicht gehen, so dürfte es nicht nur notwendig, |
sondern auch gerecht erscheinen, wenn derjenige den Wert festlegt, der zu- 10
erst etwas erhalten hat. Denn so viel Nutzen er bezieht oder so viel er für
dieses Vergnügen zu geben bereit ist, so viel muss der andere zurückbekom-
men, damit er von ihm den angemessenen Preis erhält.
Auch bei Käufen geht man offensichtlich so vor, und daher verbieten
mancherorts Gesetze das Prozessieren über freiwillig eingegangene Kon-
trakte, weil man eine Vereinbarung mit jemandem, dem man vertraut hat,
nur so beenden dürfe, | wie man sie eingegangen ist. Denn man hält es für 15
gerechter, dass derjenige, dem man eine Sache überlassen hat, ihren Preis
festsetzt, als derjenige, der sie ihm überlassen hat. Meistens wird näm-
lich eine Sache von denen, die sie besitzen, und denen, die sie haben wol-
len, nicht gleich hoch eingeschätzt. Jedem erscheint nämlich das Eigene
und was er gibt, besonders wertvoll. Dennoch soll die Vergütung den
Wert haben, den | der Empfänger festlegt. Vielleicht sollte dieser den Wert 20
der Sache aber nicht danach bestimmen, wie er ihm erscheint, nachdem
er sie bereits erhalten hat, sondern wie er ihm erschienen ist, bevor er sie
hatte.
162 Buch IX
Kapitel 2
II. Eine Schwierigkeit liegt aber auch in Fragen wie der, ob man alles dem Va-
ter zukommen lassen und ihm in allen Stücken gehorchen soll. Oder soll
man vielmehr im Krankheitsfall dem Arzt vertrauen, zum Feldherrn aber
25 denjenigen wählen, der | sich in der Kriegsführung auskennt? Ebenso ist
fraglich, ob man eher einem Freund als einem Guten helfen soll, wie auch,
ob man eher einem Wohltäter zum Dank seine Gabe erwidern als einem Ge-
fährten einen Gefallen tun soll, wenn nicht beides möglich ist. Ist es etwa
leicht, in derartigen Fällen genaue Unterscheidungen zu treffen? In diesen
Fragen gibt es nämlich vielerlei Unterschiede aller Art, sowohl im Hinblick
30 auf Größe und Kleinheit wie auch auf das Schöne | und das Notwendige.
Dass man nicht alles ein und derselben Person geben soll, ist offensicht-
lich. Auch soll man zumeist eher Wohltaten erwidern als Gefährten einen
Gefallen tun, so wie man auch eher einem Gläubiger ein Darlehen zurück-
zahlen soll als das Geld einem Gefährten geben. Vielleicht gilt aber auch das
35 nicht immer? Muss man etwa jemanden, der | einen von Räubern losgekauft
hat, auch seinerseits loskaufen, wer immer er auch sei? Und muss man ihm
etwa das Geld wiedergeben, wenn er es verlangt, obwohl er gar nicht in
1165a Gefangenschaft ist, | statt damit den eigenen Vater loszukaufen? Man sollte
doch meinen, dass man den Vater sogar noch eher loskaufen soll als sich
selbst.
Zwar ist, wie gesagt, im Allgemeinen zurückzuerstatten, was man schul-
det; wenn aber das Schenken an Schönheit und Notwendigkeit weit überle-
5 gen ist, dann ist ihm der Vorzug zu geben. | Manchmal ist es nämlich nicht
von gleichem Wert, eine ausstehende Schuld zu begleichen, wenn man statt-
dessen einem anderen eine Wohltat erweisen kann, von dem man weiß, dass
er gut ist, während die Gegenleistung jemandem zugutekommt, den man für
schlecht hält. Auch muss man manchmal jemandem, der einem ein Darlehen
gegeben hat, nicht seinerseits ein Darlehen geben. Denn der eine hat es in der
Erwartung gewährt, das Geliehene zurückzubekommen, weil er es einem
10 Guten gegeben hat, während der andere keine Hoffnung hat, es | von die-
sem Schlechten wiederzubekommen. Falls es sich wirklich so verhält, dann
ist der Anspruch auf beiden Seiten nicht gleich. Falls es sich zwar nicht so
verhält, die Betroffenen dies aber meinen, dann dürfte man ihr Tun jeden-
falls für verständlich halten. Wie wir nun schon oft angemerkt haben, haben
Regeln, die Affekte und Handlungen betreffen, den gleichen Grad von Ge-
nauigkeit wie der Gegenstand, auf den sie sich beziehen.
15 Dass man nicht allen dasselbe zurückgeben | und auch nicht alles dem
Vater geben soll, so wie man auch dem Zeus nicht alles opfert, ist offensicht-
lich. Denn weil Eltern, Brüdern, Gefährten und Wohltätern Verschiedenes
gebührt, soll man einem jeden das ihm Zustehende und Passende geben. Das
Kapitel 3 163
scheinen die Leute auch tatsächlich zu tun: Zu Hochzeiten laden sie die Ver-
wandten ein, weil sie derselben Familie angehören | und daher auch an den 20
die Familie betreffenden Zeremonien teilnehmen. Aus demselben Grund
geht man auch davon aus, dass zu Trauerfeiern in erster Linie die Verwand-
ten kommen sollen.
Man sollte aber meinen, dass man vor allem den Lebensunterhalt der El-
tern sicherstellen muss, weil man es ihnen schuldet und es schöner ist, für
diejenigen zu sorgen, welche die Ursache des eigenen Seins sind, als dies für
sich selbst zu tun. Auch Ehre sollte man den Eltern erweisen, so wie den
Göttern, wenn auch nicht | Ehre jeder Art. Auch soll man dem Vater nicht 25
dieselbe Ehre wie der Mutter erweisen, so wie auch nicht die Art von Ehre,
die man einem Weisen oder einem Feldherrn zollt, sondern dem Vater er-
weist man die Ehre, die dem Vater, und ebenso der Mutter die Ehre, die der
Mutter gebührt. Auch jedem Älteren soll man die seinem Alter entsprechen-
den Ehren erweisen, indem man aufsteht, seinen Platz anbietet, und was sich
sonst gehört. Den Gefährten und Brüdern schuldet man hingegen Offenheit
| und Gemeinsamkeit in allen Dingen. Auch sollte man bemüht sein, Ver- 30
wandten, Mitgliedern derselben Phyle, Mitbürgern, wie auch allen anderen
das zu geben, was ihnen jeweils zusteht, und durch einen Vergleich feststel-
len, was einem jeden der Nähe der Verwandtschaft, der Tugend oder der
Nützlichkeit nach gebührt. Bei Menschen von der gleichen Art fällt der Ver-
gleich leichter; bei ungleichen ist er schwieriger. Doch | sollte man deshalb 35
nicht nachlassen, sondern so genaue Unterscheidungen treffen wie möglich.
Kapitel 3
Als eine schwierige Frage erweist sich auch, ob man Freundschaften | mit III. | 1165b
Menschen, die nicht dieselben bleiben, auflösen soll oder nicht. Dass man
Freundschaft zu denen auflöst, die der Lust oder des Nutzens wegen
Freunde sind, wenn sie diese Eigenschaften nicht mehr haben, ist wohl ver-
ständlich. Denn um ihretwillen war man befreundet, und wenn diese nicht
mehr gegeben sind, ist es nur zu erwarten, dass man den anderen nicht mehr
liebt.
Vorwürfe könnte jemand aber demjenigen machen, | der ihn nur des 5
Nutzens und der Lust wegen geliebt, aber vorgegeben hat, er liebe ihn sei-
nes Charakters wegen. Wie wir nämlich zu Anfang gesagt haben, entstehen
die meisten Streitigkeiten zwischen Freunden, wenn sie nicht in der Weise
Freunde sind, wie sie es zu sein meinen. Wenn nun jemand sich täuscht und
annimmt, er werde seines Charakters wegen geliebt, obwohl der andere sich
gar nicht entsprechend verhält, dann | sollte er sich selbst die Schuld geben. 10
Wenn er hingegen durch Vorspiegelungen des anderen getäuscht wurde,
164 Buch IX
dann macht er demjenigen, der ihn getäuscht hat, mit Recht Vorwürfe, und
zwar noch mehr als einem Falschmünzer, weil es bei dieser Übeltat um
Wertvolleres geht.
Wenn man sich aber mit jemandem als einem Guten angefreundet hat,
dieser sich jedoch zum Schlechten verändert hat und das auch offensichtlich
wird, soll man ihn dann noch lieben? Oder ist das unmöglich, wenn doch
15 nicht alles | liebenswert ist, sondern nur das Gute, das Schlechte aber nicht
liebenswert ist und man es gar nicht lieben darf? Man darf nämlich kein
Liebhaber von Schlechtem sein und sich keinem Schlechten angleichen; ge-
sellt sich doch, wie gesagt, Gleiches zu Gleichem. Muss man diese Freund-
schaft also sofort auflösen? Oder nicht die Freundschaft mit allen, sondern
nur mit denen, die in ihrer Schlechtigkeit unheilbar sind? Denjenigen, die
Aussicht auf Besserung haben, soll man vielmehr helfen und zwar noch eher
20 den Charakter als das | Vermögen betreffend, und dies umso mehr, als diese
Hilfe besser und der Freundschaft angemessener ist. Andererseits scheint
auch derjenige, der die Freundschaft auflöst, damit etwas Verständliches zu
tun, weil er nicht der Freund eines Menschen dieser Art gewesen ist. Wenn
der Freund sich verändert hat und er ihn nicht retten kann, dann gibt er ihn
auf.
Wenn aber der eine derselbe bleibt, während der andere besser wird und
ihn an Tugend weit übertrifft, sollte er ihn dann noch als einen Freund be-
25 handeln? Oder ist das unmöglich? | Ist der Abstand groß, wird das offenbar,
wie etwa bei Freundschaften aus Kindertagen. Wenn der eine dem Geiste
nach ein Kind geblieben, der andere aber ein Mann im besten Sinn geworden
ist, wie könnten sie da Freunde bleiben, wenn ihnen weder dieselben Dinge
zusagen noch dasselbe Lust und Schmerz bereitet? Denn im Umgang mit-
30 einander wird es diese Erfahrungen dann nicht geben. Ohne | sie ist es aber
unmöglich, Freunde zu sein, denn dann ist auch ein Zusammenleben nicht
mehr möglich. Darüber haben wir aber bereits gesprochen.
Soll man sich nun einem solchen Menschen gegenüber nicht anders ver-
halten als man es täte, wenn dieser nie ein Freund gewesen wäre? Oder soll
man nicht vielmehr die Erinnerung an die vergangene Vertrautheit bewah-
ren und, unserer Überzeugung entsprechend, dass man Freunden eher einen
35 Gefallen schuldet als Fremden, | der einstigen Freundschaft wegen auch für
frühere Freunde etwas übrig haben, sofern es zur Auflösung nicht wegen ei-
nes Übermaßes an Schlechtigkeit kommt?
Kapitel 4 165
Kapitel 4
Die Merkmale der Freundschaft den Nächsten gegenüber, durch die man IV. | 1166a
auch die Arten der Freundschaften bestimmt, scheinen aber aus den Bezie-
hungen zu sich selbst zu stammen. Als Freund bezeichnet man nämlich den-
jenigen, der dem anderen das Gute oder scheinbar Gute um seinetwillen
wünscht und tut, oder denjenigen, | der um des Freundes willen wünscht, 5
dass dieser existiert und lebt, so wie Mütter es ihren Kindern oder auch
Freunde es einander nach einem Zerwürfnis wünschen. Andere verstehen
unter einem Freund jemanden, der seine Zeit mit dem anderen zubringt, die-
selben Dinge wählt oder Freude und Leid mit dem Freund teilt. Auch das
gilt vor allem für die Mütter. Durch eines dieser Merkmale | bestimmt man 10
auch die Freundschaft.
Jedes dieser Merkmale kommt aber dem Guten im Verhältnis zu sich
selbst zu, aber auch allen anderen, sofern sie sich für gut halten. Die Tugend
und der Gute scheinen aber, wie gesagt, für alles das Maß zu sein. Der Gute
stimmt nämlich mit sich selbst überein und strebt mit ganzer Seele nach den-
selben Dingen. Auch sich selbst wünscht er daher | Gutes oder was ihm so 15
erscheint, und handelt entsprechend; denn es ist Sache des Guten, sich um
das Gute zu bemühen. Er tut das um seiner selbst willen, nämlich seinem
denkenden Teil zuliebe; denn dieser scheint das Wesen eines jeden zu sein.
Auch wünscht er, zu leben und erhalten zu bleiben; besonders aber wünscht
er das für den Teil, mit dem er denkt; denn für den Guten ist das Sein gut,
und jeder | wünscht sich das Gute. 20
Niemand würde aber wählen, ein anderer zu werden und als jenes Ge-
wordene alles zu haben,55 so wie jetzt Gott das Gute hat, sondern nur, wenn
er bleibt, was er ist. Jeder dürfte aber ebendas sein, was denkt, oder doch in
erster Linie. Auch seine Zeit will ein solcher Mensch mit sich selbst verbrin-
gen, das tut er nämlich mit Lust. Denn | wie die Erinnerungen an vergangene 25
Taten erfreulich sind, so sind auch die Hoffnungen auf die zukünftigen gut
und daher erfreulich. Auch hat er für das Denken einen Schatz an Dingen,
die der Betrachtung wert sind. Ferner teilt er Freude und Leid im höchsten
Maß mit sich selbst, weil ihm allzeit dasselbe schmerzlich oder angenehm
ist, nicht bald dies bald das. Er hat nämlich, sozusagen, nichts zu bereuen.
Da der Gute also im Verhältnis zu | sich selbst alle diese Einstellungen 30
hat, sich aber zu einem Freund so verhält wie zu sich selbst, denn der Freund
ist ein anderes Selbst, scheint auch die Freundschaft etwas von dieser Art zu
sein, und Freunde sind diejenigen, welche diese Einstellungen haben. Ob
es aber eine Freundschaft mit sich selbst gibt oder nicht, mag für den Au-
genblick dahingestellt bleiben. Eine Freundschaft scheint aber insofern | zu 35
55
In 1166a21 wird das überlieferte ekeino to genomenon beibehalten.
166 Buch IX
1166b bestehen, als man zwei oder mehr ist, wie sich aus dem Gesagten | und auch
daraus ergibt, dass man das Übermaß der Freundschaft mit der zu sich selbst
zu vergleichen pflegt.
Die genannten Merkmale gibt es, wie es scheint, aber auch bei der Mehr-
zahl der Menschen, selbst wenn sie schlecht sind. Haben sie diese Einstel-
5 lungen also, insofern sie mit sich zufrieden sind und sich für gut halten? | Es
hat sie aber keiner, der zu den Grundschlechten und Frevlern gehört, nicht
einmal dem Anschein nach. Auch Schlechte haben sie aber kaum; denn sie
sind mit sich selbst uneins, indem sie zwar das eine begehren, das andere
aber wünschen, so wie die Unbeherrschten. Anstelle dessen, was ihnen gut
10 erscheint, wählen sie nämlich das Lustvolle, | selbst wenn es schädlich ist.
Andere wiederum unterlassen aus Feigheit und Trägheit, das zu tun, was sie
als das Beste für sich selbst ansehen.
Wer aber viele Untaten begangen hat und seiner Verruchtheit wegen ver-
hasst ist, flieht sogar das Leben und setzt sich selbst ein Ende. Auch su-
chen die ganz Schlechten andere, mit denen sie ihre Tage verbringen kön-
15 nen, sich selbst fliehen sie. | Denn ganz auf sich gestellt erinnern sie sich
an vielerlei Schlimmes und erwarten weiteres dieser Art; sind sie dagegen
mit anderen zusammen, vergessen sie es. Weil sie auch nichts Liebenswer-
tes an sich haben, empfinden sie keine Freundschaft zu sich selbst. Solche
Menschen teilen weder Freude noch Leid mit sich selbst, weil ihre Seele
20 in Aufruhr ist: | Schmerzt es den einen Teil aufgrund seiner Schlechtigkeit,
auf bestimmte Dinge zu verzichten, freut sich der andere Teil, und der eine
zieht hierhin, der andere dorthin, als wollten sie die Seele zerreißen. Weil
man nicht zugleich Schmerz und Lust empfinden kann, stellt sich aber als-
bald Verdruss über diese Lust ein und man wünscht, man hätte sie nicht er-
25 fahren. | Schlechte Menschen sind nämlich voller Reue. Nicht einmal sich
selbst gegenüber scheint der Schlechte also freundschaftlich eingestellt zu
sein, weil er nichts Liebenswertes an sich hat. Wenn dies ein überaus un-
glücklicher Zustand ist, muss man die Schlechtigkeit nach Kräften meiden
und sich bemühen, gut zu sein. Denn nur so kann man sowohl sich selbst ge-
genüber freundschaftlich verhalten und einem anderen zum Freund werden.
Kapitel 5
V. | 30 Das Wohlwollen gleicht zwar der freundschaftlichen Einstellung, ist aber
noch keine Freundschaft. Denn Wohlwollen stellt sich auch gegenüber
Unbekannten und im Verborgenen ein, Freundschaft dagegen nicht. Dar-
über haben wir auch schon früher gesprochen. Wohlwollen ist aber auch
keine Liebe, denn es enthält weder Spannung noch Begehren, wie sie mit
Liebe doch einhergehen. Zudem setzt die Liebe Vertrautheit voraus, wäh-
Kapitel 6 167
rend | Wohlwollen auch ganz plötzlich aufkommen kann, wie etwa Wett- 35
kämpfern | gegenüber: Zwar wird man ihnen wohlgesonnen und teilt ihre 1167a
Wünsche, man würde aber nichts mit ihnen zusammen tun. Das Wohlwol-
len für sie entsteht, wie gesagt, plötzlich, und die Zuneigung ist oberfläch-
lich.
Das Wohlwollen scheint also ein Anfang der Freundschaft zu sein, so wie
die Freude am Anblick ein Anfang der Verliebtheit ist. Denn | man verliebt 5
sich in niemanden, an dessen Aussehen man nicht zuvor seine Freude hatte;
wer sich am Aussehen erfreut, ist damit aber noch nicht verliebt, sondern
erst, wenn er sich in seiner Abwesenheit nach ihm sehnt und seine Anwesen-
heit begehrt. Entsprechend kann man auch nicht Freunde sein, ohne zuvor
Wohlwollen füreinander gefasst zu haben; Wohlwollende hegen aber noch
keine Freundesliebe. Sie wünschen zwar denjenigen Gutes, denen sie wohl-
wollen, | würden aber nicht mit ihnen zusammen tätig werden und ihnen 10
zuliebe Beschwerliches auf sich nehmen.
Man könnte dieses Wohlwollen daher in einem übertragenen Sinn als
eine ‚untätige Freundschaft‘ bezeichnen, die allerdings mit der Zeit und zu-
nehmender Vertrautheit zu einer echten Freundschaft wird, aber nicht zu
der Freundschaft, der es um Nutzen oder Lust geht, denn auf sie bezieht
sich das Wohlwollen nicht. Zwar | erwidert jemand, dem eine Wohltat er- 15
wiesen wurde, diese mit Wohlwollen und verhält sich damit gerecht. Wenn
aber jemand einem anderen etwas Gutes tun will, in der Hoffnung, durch
ihn zu Reichtum zu kommen, dann scheint er nicht dem anderen wohl zu
wollen, sondern vielmehr sich selbst, so wie er auch kein Freund ist, wenn
er ihm einen Dienst um eines bestimmten Nutzens willen leistet. Überhaupt
entsteht Wohlwollen aufgrund einer bestimmten Tugend und Anständig-
keit, wenn einem | jemand als schön, tapfer oder etwas dieser Art erscheint, 20
wie wir es bereits im Fall der Wettkämpfer erklärt haben.
Kapitel 6
Eine freundschaftliche Einstellung scheint aber auch die Eintracht zu sein. VI.
Sie ist daher keine bloße Meinungsgleichheit, denn die könnte es auch bei
Menschen geben, die einander gar nicht kennen. Auch nennt man nicht die-
jenigen einträchtig, die über irgendetwas Beliebiges die gleiche Meinung ha-
ben, | wie etwa über die Himmelserscheinungen; denn darüber gleich zu 25
denken, hat mit Freundschaft nichts zu tun. Vielmehr sagt man, Staaten
seien einträchtig, wenn man dort über das Nützliche gleich urteilt, einhellige
Entscheidungen trifft und auch ausführt, was man gemeinsam beschlossen
hat. Einträchtig ist man also über die Gegenstände des Handelns, und zwar
über solche, die von Bedeutung sind und | beiden Seiten oder allen zugute- 30
168 Buch IX
kommen können, so z.B. in den Staaten, wenn es allen richtig erscheint, Äm-
ter durch Wahl zu besetzen, ein Bündnis mit den Spartanern abzuschließen
oder Pittakos herrschen zu lassen, als er das auch selbst wünschte.
Wenn aber jede Seite die Herrschaft nur für sich selbst wünscht, wie die
Brüder in den Phönizierinnen, dann herrscht Zwietracht zwischen ihnen.
Denn einträchtig sein heißt nicht, dass beide Seiten dasselbe im Sinn haben,
35 | was immer es auch sein möge, sondern wenn es derselben Sache gilt, wenn
1167b z.B. sowohl das Volk | wie auch die Guten meinen, dass die Besten herrschen
sollen. Denn so bekommen alle, wonach sie streben. Die Eintracht erweist
sich folglich als eine politische Freundschaft, wie sie ja auch tatsächlich ge-
nannt wird. Sie betrifft nämlich das Nützliche und was sich auf das Leben
überhaupt auswirkt.
5 Eintracht | dieser Art besteht aber zwischen den Guten. Denn sie sind so-
wohl mit sich selbst wie auch untereinander einträchtig, weil sie sozusagen
immer bei demselben bleiben. Denn die Wünsche solcher Menschen sind
beständig und fluten nicht hin und her wie der Euripos. Sie wünschen Ge-
rechtes und Nützliches und streben auch gemeinsam danach.
10 Die Schlechten können dagegen nicht einträchtig sein | oder doch nur
in ganz geringem Grad, so wie sie auch keine Freunde sein können. Denn
an Vorteilhaftem begehren sie immer zu viel zu haben, an Anstrengungen
und Dienstleistungen für die Gemeinschaft lassen sie es fehlen. Während
jeder das Vorteilhafte für sich selbst wünscht, beobachtet er seinen Nach-
barn scharf und stellt sich ihm in den Weg: Das Gemeinwohl gehe zugrunde,
wenn man nicht genau darauf schaue. Daher kommt Zwietracht unter ihnen
15 auf, | weil sie einander zwar gegenseitig dazu zwingen, gerecht zu handeln,
es selbst aber nicht tun wollen.
Kapitel 7
VII. Wohltäter hegen anscheinend mehr Liebe für diejenigen, denen sie wohl tun,
als die Empfänger von Wohltaten für die Geber, und dies betrachtet man
20 wie etwas Paradoxes. Die meisten sind der Ansicht, | es liege daran, dass die
einen Schuldner, die anderen Gläubiger sind: Wie im Fall von Darlehen die
Schuldner wünschen, dass ihre Gläubiger nicht existieren, die Darlehensge-
ber dagegen über die Sicherheit ihrer Schuldner besorgt sind, so wünschen
auch die Wohltäter, dass die Empfänger ihrer Wohltaten existieren, um de-
25 ren Dank entgegennehmen zu können, | während den Empfängern an der
Rückerstattung nichts gelegen ist. Epicharm würde vielleicht sagen, dass sie
so reden, weil sie die Dinge nur von der schlechten Seite her sehen; es scheint
aber doch der menschlichen Natur gemäß. Denn die meisten Menschen nei-
gen zum Vergessen und sind mehr darauf aus, Gutes zu erfahren als es zu tun.
Kapitel 7 169
Der Grund dürfte aber tiefer in der menschlichen Natur liegen und der
Fall der | Darlehensgeber ihm gar nicht ähnlich sein. Denn diese hegen gar 30
keine Liebe für ihre Schuldner, sondern nur den Wunsch, sie mögen erhal-
ten bleiben, damit sie ihr Geld zurückbekommen. Wer dagegen Gutes getan
hat, liebt und schätzt die Empfänger dieser Wohltaten, selbst wenn sie ihm
in keiner Weise nützlich sind und es auch in Zukunft nicht sein werden.
Ebendas trifft aber auch auf Künstler und Handwerker zu: Ein jeder liebt
nämlich sein Werk | mehr, als das Werk ihn lieben würde, wenn es beseelt 35
wäre. | Am meisten gilt das wohl von den Dichtern, denn sie lieben ihre ei- 1168a
genen Dichtungen über alle Maßen, als seien sie ihre Kinder. Ähnlich ist das
Verhältnis bei den Wohltätern; denn dasjenige, was ihre Wohltat empfangen
hat, ist ihr Werk, und daher lieben sie es mehr | als das Werk den liebt, der 5
es gemacht hat. Der Grund dafür ist, dass für alle ihr Sein wählens- und lie-
benswert ist, wir aber durch Tätigsein sind, indem wir leben und handeln.
Das Werk ist aber in gewisser Weise die Verwirklichung des Herstellers. Er
liebt also sein Werk, weil er auch sein Sein liebt. Das liegt aber in der Natur
der Dinge; denn was jemand der Möglichkeit nach ist, das zeigt sein Werk
in Wirklichkeit.
Zugleich | ist für den Wohltäter aber auch schön, was seine Handlung be- 10
wirkt, so dass er Freude an dem hat, worin sie besteht. Für den Empfänger
liegt dagegen im Geber nichts Schönes, sondern allenfalls etwas Nützliches;
das ist aber weniger angenehm und liebenswert. Angenehm ist nämlich bei
Gegenwärtigem das Tätigsein, bei Zukünftigem die Erwartung, bei Vergan-
genem die Erinnerung. Am angenehmsten | und im höchsten Maße liebens- 15
wert ist aber das, was zum Tätigsein gehört. Für den, der es geschaffen hat,
ist das Werk etwas Bleibendes, weil Schönes dauerhaft ist. Für den Emp-
fänger geht der Nutzen dagegen vorüber. Auch die Erinnerung an schöne
Dinge ist angenehm, an nützliche dagegen nicht oder doch weniger, wäh-
rend es sich bei der Erwartung umgekehrt zu verhalten scheint.
Auch gleicht das Lieben dem Tun, das | Geliebtwerden dem Leiden. Wer 20
sich im Handeln hervortut, tut es auch im Lieben und in dem, was sonst zur
Freundschaft gehört. Ferner lieben alle mehr, was sie mit Mühe zustande ge-
bracht haben, so wie auch das Geld mehr liebt, wer es selbst erworben, als
wer es geerbt hat. Gutes zu empfangen scheint aber mühelos, Gutes zu tun
dagegen mühevoll zu sein. Deshalb | sind es auch die Mütter, die ihren Kin- 25
dern mehr Liebe entgegenbringen. Denn es kostet sie mehr Mühe, sie zur
Welt zu bringen; auch wissen sie besser, dass die Kinder ihre eigenen sind.
Das dürfte aber auch die Wohltäter kennzeichnen.
170 Buch IX
Kapitel 8
VIII. Man fragt sich aber auch, ob man sich selbst oder einen anderen am meis-
ten lieben soll. Man pflegt nämlich diejenigen zu tadeln, die sich selbst am
30 meisten | lieben, und sie ‚selbstliebend‘ zu nennen, als sei das etwas Schänd-
liches. Auch meint man, der Schlechte tue alles um seiner selbst willen, und
zwar umso mehr, je schlechter er ist, und daher wirft man ihm vor, er tue
nichts, was ihm nicht selbst zugutekommt. Vom Guten meint man dagegen,
er handle des Schönen wegen, und je besser er sei, umso mehr handle er um
35 des Schönen willen und tue dies einem Freund zuliebe, | vernachlässige aber
das Eigene.
1168b Diesen Argumenten | widersprechen aber die tatsächlichen Gegebenhei-
ten, und das nicht ohne Grund. Denn wie man sagt, soll man denjenigen am
meisten lieben, der einem am meisten Freund ist; am meisten Freund ist aber,
wer demjenigen, dem er Gutes wünscht, dieses um seinetwillen wünscht,
auch wenn niemand davon erfahren wird. Genau das trifft aber bei jedem
am meisten im Verhältnis zu sich selbst zu, so wie auch alle anderen Merk-
5 male, | durch die der Freund bestimmt wird. Denn wie wir gesagt haben,
stammen alle Merkmale vom Verhältnis zu sich selbst her und werden von
daher auf die anderen übertragen. Auch alle Sprichwörter stimmen damit
überein, wie etwa ‚eine Seele‘, ‚Freunden ist alles gemeinsam‘, ‚Gleichheit
ist Freundschaft‘ und ‚das Knie ist einem näher als das Schienbein‘. Denn all
dies dürfte am meisten für jeden im Verhältnis zu sich selbst gelten. Man ist
10 sich nämlich selbst am meisten | Freund und sollte sich also auch selbst am
meisten lieben.
Man fragt sich daher mit Recht, welchem dieser beiden Standpunkte man
sich anschließen soll, weil beide etwas Glaubwürdiges an sich haben. Viel-
leicht sollte man aber die Begründungen für beide Standpunkte getrennt be-
handeln und feststellen, wie weit und in welcher Weise sie jeweils wahr sind.
Das dürfte wohl klar werden, wenn wir herausfinden, in welchem Sinn da-
15 bei jeweils von ‚Selbstliebe‘ | die Rede ist.
Diejenigen, die daraus einen Vorwurf machen, nennen solche Menschen
selbstliebend, die für sich selbst zu viel an Geld, Ehre und körperlicher Lust
beanspruchen. Denn diese begehrt die Menge und ist eifrig um sie bemüht,
als wären sie das Beste, und deshalb sind sie auch umkämpft. Wer davon zu
20 viel haben will, ist | seinen Begierden ergeben, wie auch überhaupt den Af-
fekten und dem vernunftlosen Seelenteil. Von dieser Art ist aber die Menge.
Daher stammt auch die Bezeichnung ‚Selbstliebe‘ von der Art her, die am
häufigsten vorkommt und überdies schlecht ist. Man tadelt daher diejenigen
mit Recht, die sich in dieser Weise selbst lieben. Dass die Meisten diejenigen
selbstliebend zu nennen pflegen, die sich derartige Güter zuschanzen, ist of-
25 fenbar. | Wäre dagegen jemand stets bemüht, selbst am meisten von allen an
Kapitel 8 171
so bekommt der Freund zwar das Geld, er selbst aber das Schöne und teilt
sich somit das größere Gut zu. Ebenso verhält er sich in Hinblick auf Ehren
30 und Machtpositionen. | All dies wird er dem Freund überlassen, denn es ist
für ihn schön und lobenswert. Man hält ihn daher mit Recht für gut, weil er
vor allem anderen das Schöne wählt.
Auch beim Handeln kann er dem Freund den Vortritt lassen, weil es
schöner ist, dem Freund Anlass zum Handeln zu sein, als die Handlung
35 selbst auszuführen. In allen | lobenswerten Dingen erweist sich also der
1169b Gute als jemand, der sich selbst mehr vom Schönen | zuteilt. In dieser Weise
soll man, wie gesagt, selbstliebend sein, so wie es die Menge ist, darf man es
nicht sein.
Kapitel 9
IX. Man streitet sich aber auch über den Glücklichen, ob er Freunde brauchen
5 wird oder nicht. Man sagt nämlich, die | vollkommen Glücklichen und Au-
tarken bedürften keiner Freunde, weil sie schon alle Güter hätten. Weil sie
autark seien, hätten sie keinen weiteren Bedarf. Ein Freund aber, der ein an-
deres Selbst ist, würde etwas beitragen, wozu man von sich aus nicht in der
Lage wäre. Daher das Sprichwort: „Wenn die Gottheit Gutes tut, wozu be-
darf es da der Freunde?“
Es erscheint jedoch unsinnig, dem Glücklichen zwar sämtliche Güter zu-
10 zuteilen, Freunde aber nicht zu geben, | was doch als das größte der äußeren
Güter gilt. Wenn es sich zudem für einen Freund eher gehört, Gutes zu tun
als zu empfangen, und es den Guten und die Tugend auszeichnet, Wohltaten
zu erweisen, und wenn es schöner ist, Freunden Gutes zu tun als Fremden,
dann braucht der Gute Freunde, die Wohltaten von ihm erfahren.
Man fragt sich daher auch, ob man Freunde eher im Glück oder im Un-
15 glück nötig hat, | weil doch der vom Unglück Betroffene Menschen braucht,
die Gutes tun wollen, und die vom Glück Begünstigten solche brauchen, de-
nen sie Gutes tun können. Zudem ist es wohl auch unsinnig, den vollkom-
men Glücklichen zum Einsiedler zu machen, denn niemand würde wählen,
alle Güter für sich allein zu haben. Der Mensch ist nämlich ein in Gemein-
schaft lebendes Wesen und von Natur aus auf Zusammenleben hin ange-
20 legt. Das gilt also auch für den vollkommen Glücklichen; denn er | hat alle
natürlichen Güter, und es ist offensichtlich besser, die Zeit mit Freunden
und Guten zu verbringen statt mit Fremden und Beliebigen. Der Glückliche
braucht also Freunde.
Was meinen aber die Vertreter der ersten Ansicht und inwiefern tref-
fen sie damit etwas Wahres? Etwa weil die Mehrheit annimmt, Freunde
seien diejenigen, die einem nützlich sind? An solchen wird der vollkommen
Kapitel 9 173
Glückliche freilich keinen Bedarf haben, | weil er bereits sämtliche Güter be- 25
sitzt. Auch Freunde um der Lust willen wird er nicht oder doch nur wenige
brauchen, denn weil sein Leben angenehm ist, bedarf es keiner von außen
zugeführten Lust. Weil er aber keine solchen Freunde braucht, scheint er gar
keine Freunde zu brauchen.
Das ist aber wohl nicht richtig. Denn wie wir zu Anfang gesagt haben,
ist das Glück eine Art Tätigkeit, eine Tätigkeit ist aber offensichtlich etwas,
das | geschieht und nicht vorhanden ist wie ein Besitz. Wenn das Glücklich- 30
sein aber im Lebendig- und Tätigsein besteht, die Tätigkeit des Guten aber
als solche gut und angenehm ist, wie anfangs gesagt, und wenn auch das ei-
nem Eigene zum Angenehmen gehört, wir ferner unsere Nächsten besser
als uns selbst und ihre Handlungen besser als | unsere eigenen betrachten 35
können, den Guten aber die Handlungen tugendhafter Freunde | angenehm 1170a
sind (denn beide haben das von Natur aus Angenehme): dann wird der voll-
kommen Glückliche also solche Freunde brauchen, weil er der Betrachtung
guter und ihm eigener Handlungen den Vorzug gibt und von ebendieser Art
die Handlungen des Guten sind, der zugleich ein Freund ist. Auch meint
man, dass der Glückliche auf angenehme Weise leben soll. | Für den Ein- 5
samen ist das Leben aber schwierig, denn es ist nicht leicht, für sich allein
kontinuierlich tätig zu sein; mit anderen zusammen und in Bezug auf an-
dere ist es leichter. So wird die Tätigkeit kontinuierlicher sein, weil sie in
sich angenehm ist, wie sie es beim vollkommen Glücklichen sein soll. Der
Gute, insofern er gut ist, freut sich nämlich über der Tugend gemäße Hand-
lungen, während ihm solche, die auf Schlechtigkeit beruhen, | zuwider sind, 10
wie etwa dem Musiker schöne Melodien Lust, hässliche Unlust bereiten.
Außerdem dürfte das Zusammenleben mit Guten eine gewisse Übung in der
Tugend mit sich bringen, wie auch Theognis sagt.
Betrachtet man die Sache noch mehr von der menschlichen Natur her,
so erscheint der Gute für den Guten von Natur aus als Freund wählens-
wert. Denn | das von Natur aus Gute ist, wie gesagt, für den Guten als sol- 15
ches gut und angenehm. Nun definiert man ‚Leben‘ bei den Tieren durch
die Fähigkeit der Wahrnehmung, bei Menschen aber durch die der Wahr-
nehmung oder des Denkens. Die Fähigkeit wird aber auf die Tätigkeit zu-
rückgeführt, und in der Tätigkeit liegt das Entscheidende. Leben scheint da-
her entscheidend im Wahrnehmen oder Denken zu bestehen. Leben gehört
aber zu den Dingen, die | für sich genommen gut und angenehm sind. Es 20
zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass es etwas klar Begrenztes ist, das Be-
grenzte gehört aber zur Natur des Guten. Was nun von Natur aus gut ist,
ist es auch für den Guten, und daher erscheint es auch allen angenehm zu
sein. Das darf man aber nicht auf ein schändliches und verdorbenes Leben
beziehen, genauso wenig wie auf eines voller Schmerz. Denn ein solches
Leben ist für sich genommen unbegrenzt, ganz wie die Dinge, die zu ihm
174 Buch IX
Kapitel 10
X. | 20 Soll man sich aber möglichst viele Menschen zu Freunden machen, oder
wird nicht das, was man über die Gastfreundschaft treffend sagt: „Weder
Gastfreund von vielen noch von keinem“, auch zur Freundschaft passen:
dass man weder freundlos sein noch auch Freunde im Übermaß haben soll?
Wo es um Freunde um des Nutzens willen geht, dürfte man diesen Rat als
25 völlig zutreffend ansehen. Denn vielen Menschen | Gegendienste zu leisten,
ist mühevoll, und das Leben reicht nicht aus, es zu tun. Mehr Freunde, als
Kapitel 11 175
die eigene Lebensweise erfordert, sind nämlich überflüssig und für ein Le-
ben auf schöne Weise sogar hinderlich, also braucht man sie nicht. Auch die
Lust betreffend genügen aber wenige Freunde, so wie die Würze im Essen.
Sollen nun aber die guten Freunde | möglichst zahlreich sein, oder gibt es 30
auch für die Menge solcher Freunde ein Maß, so wie auch für die Einwoh-
ner einer Stadt? Denn so wie aus zehn Menschen noch keine Stadt entstehen
könnte, so sind zehnmal zehntausend keine Stadt mehr. Eine genaue Anzahl
gibt es aber vielleicht nicht, sondern es könnte jede sein, die innerhalb be-
stimmter Grenzen liegt. Auch die Menge von Freunden | ist also begrenzt 1171a
und besteht wohl in der größten Anzahl, mit denen man zusammenleben
könnte, denn dies hat sich als das wichtigste Merkmal der Freundschaft er-
wiesen. Dass es unmöglich ist, mit vielen zusammenzuleben und sich unter
ihnen aufzuteilen, liegt aber auf der Hand. Zudem müssten sie auch unter-
einander Freunde sein, wenn | alle ihre Tage miteinander verbringen sollen; 5
mit vielen lässt sich das aber kaum bewerkstelligen. Auch fällt es schwer, mit
vielen persönlich Freude und Leid zu teilen, weil es sich leicht ergeben kann,
dass man sich gleichzeitig mit dem einen zu freuen und mit dem anderen zu
trauern hat.
Es ist daher wohl am besten, nicht danach zu streben, möglichst viele
Freunde zu haben, sondern nur so viele, wie für das | Zusammenleben aus- 10
reichen, denn es dürfte sich als unmöglich erweisen, mit vielen intensiv be-
freundet zu sein. Darum kann man auch nicht zugleich in mehrere verliebt
sein. Verliebtheit ist nämlich wie eine Art Übermaß der Freundschaft, und
Derartiges gibt es nur einem einzigen Menschen gegenüber. Auch eine in-
tensive Freundschaft hat man also nur mit wenigen.
So verhält es sich offenbar auch in Wirklichkeit. Denn Freundschaft
zwischen Gefährten gibt es nicht zwischen vielen, | und die vielbesungenen 15
Freundschaften bestehen immer nur aus zwei Menschen. Wer dagegen viele
Freunde hat und mit allen vertraulich umgeht, außer in politischen Angele-
genheiten, scheint niemandes Freund zu sein. Solche Leute nennt man aber
eher liebedienerisch. In politischen Angelegenheiten kann man jedoch mit
vielen befreundet sein, nicht als ein Liebediener, sondern vielmehr als ein
wirklich guter Mensch. Der Tugend wegen und um ihrer selbst willen kann
man aber nicht | vieler Leute Freund sein; man muss schon zufrieden sein, 20
wenige dieser Art zu finden.
Kapitel 11
Braucht man Freunde nun eher in Glücks- oder in Unglücksfällen? Man XI.
sucht sie ja in beiden. Die Unglücklichen brauchen nämlich ihre Hilfe,
die Glücklichen brauchen sie zum Zusammenleben und als die Empfän-
176 Buch IX
ger ihrer Wohltaten, weil sie doch Gutes zu tun wünschen. Notwendiger
25 sind Freunde nun | zwar im Unglück, und deshalb hat man dann nützliche
Freunde; schöner ist es aber, sie im Glück zu haben, und deshalb sucht man
die Guten, denn es ist vorzuziehen, solchen Menschen Gutes zu tun und
mit ihnen zusammen zu sein. Schon die bloße Anwesenheit von Freunden
ist nämlich angenehm, im Glück wie im Unglück. Denn die Kummervollen
30 erleichtert es, | wenn Freunde ihr Leid teilen. Daher könnte man sich fra-
gen, ob die Freunde gewissermaßen an der Last mittragen oder ob dies zwar
nicht der Fall ist, wohl aber die Freunde durch ihre Anwesenheit und die
Vorstellung, dass sie das Leid teilen, den Schmerz vermindern. Ob man nun
dadurch oder durch etwas anderes erleichtert wird, mag hier beiseite blei-
ben. Jedenfalls scheint es sich so zu verhalten, wie wir gesagt haben. |
35 Die Anwesenheit von Freunden scheint aber eine Mischung aus verschie-
1171b denen Dingen zu sein. Einerseits ist schon allein | angenehm, die Freunde
zu sehen, besonders für jemanden im Unglück, und ist eine Hilfe gegen
den Schmerz. Denn der Freund ist durch seinen Anblick wie auch durch
seine Worte ein Trost, wenn er taktvoll ist. Er kennt nämlich den Charak-
5 ter und weiß, was einen erfreut und was einen betrübt. Andererseits | ist es
schmerzlich, den Freund über das eigene Unglück betrübt zu sehen, denn
jeder scheut sich, Ursache für den Schmerz von Freunden zu sein. Daher
vermeidet ein Mensch von mannhafter Natur, die Freunde an seinem Kum-
mer teilnehmen zu lassen, und wenn er nicht übermäßig unempfindlich für
Schmerz ist, wird er nicht ertragen, dass die Freunde Kummer haben. Mit-
10 klagende lässt er überhaupt nicht zu, zumal er selbst nicht | zum Wehklagen
neigt. Schwache Frauen und Männer dieser Art freuen sich dagegen über
Mitjammernde und lieben sie als ihre Freunde und Mitleidende. Man soll
aber offensichtlich in allen Dingen den Besseren nachahmen.
In Glücksfällen macht die Anwesenheit von Freunden das Zusammen-
sein erfreulich wie auch der Gedanke, dass sie sich über die Güter freuen,
15 die einem zuteilgeworden sind. | Daher dürfte gelten, dass man im Glücks-
fall die Freunde bereitwillig herbeirufen soll (denn die Bereitschaft zum
Wohltun ist schön), im Unglücksfall hingegen nur zögerlich, denn man soll
sie möglichst wenig am eigenen Unglück teilnehmen lassen. Daher auch
der Ausspruch: „Genug, dass ich unglücklich bin“. Am ehesten soll man
Freunde noch herbeirufen, wenn sie einem mit geringer Mühe einen großen
Nutzen bringen können. |
20 Umgekehrt ist es aber vielleicht angebracht, ungerufen und bereitwillig
Freunde im Unglück aufzusuchen, denn für einen Freund gehört es sich,
Gutes zu tun, vor allem denjenigen, die in Not sind und nicht darum ersucht
haben. Das ist nämlich für beide Seiten schöner und angenehmer. Im Glück
sollte man bereitwillig seine Mitwirkung anbieten, denn auch dazu braucht
25 man Freunde. Mit der Entgegennahme von Wohltaten, sollte man | sich aber
Kapitel 12 177
Zeit lassen. Denn es ist unfein, auf den eigenen Nutzen aus zu sein. Wenn
man etwas zurückweist, sollte man sich aber vor dem Ruf der Unfreundlich-
keit hüten, denn auch dieser kommt manchmal auf.
Die Anwesenheit von Freunden erweist sich also unter all diesen Um-
ständen als wählenswert.
Kapitel 12
Verhält es sich nun also nicht so: Wie es Verliebten am liebsten ist, einander XII.
zu sehen, | und sie diese Wahrnehmung lieber wählen als die übrigen, weil 30
von ihr Sein und Entstehung der Liebe am meisten abhängen, so ist auch für
Freunde das Zusammenleben am wählenswertesten. Denn die Freundschaft
ist eine Gemeinschaft, und so wie man sich zu sich selbst verhält, so verhält
man sich auch zum Freund. Nun ist aber einen selbst betreffend die Wahr-
nehmung wählenswert, dass man ist, und | daher ist sie es auch in Hinblick 35
auf den Freund. Diese Tätigkeit ergibt sich aber beim Zusammenleben, | so 1172a
dass Freunde mit Recht danach streben.
Was auch immer für einen jeden das Sein bedeutet oder weswegen jeder zu
leben wünscht, eben damit wollen sie zusammen mit ihren Freunden ihr Le-
ben verbringen. Daher trinken die einen zusammen, andere würfeln zusam-
men, andere treiben zusammen Sport, gehen zusammen auf die Jagd | oder 5
betreiben zusammen Philosophie. Sie alle verbringen ihre Tage zusammen
mit dem, was sie im Leben am meisten lieben. Denn weil sie mit den Freun-
den zusammenleben wollen, tun sie diejenigen Dinge und teilen sie mitein-
ander, in denen für sie das Zusammenleben besteht.
Die Freundschaft zwischen schlechten Menschen entwickelt sich des-
halb zum Schlechten hin. Denn weil sie unbeständig sind, nehmen sie ge-
meinsam an Schlechtem teil und | werden auch dadurch schlecht, dass sie 10
sich einander angleichen.
Die Freundschaft unter Guten entwickelt sich dagegen zum Guten hin,
weil sie durch den Umgang miteinander wächst. Wie es scheint, werden
Freunde auch dadurch noch besser, dass sie gemeinsam tätig sind und einan-
der zurechtweisen. Denn jeder übernimmt vom anderen diejenigen Ausprä-
gungen, an denen er Gefallen hat. Daher das Sprichwort: „Edles von edlen
Menschen.“
Über die Freundschaft sei | so viel gesagt. Im Folgenden wird die Lust zu 15
untersuchen sein.
Buch X
Kapitel 1
I. | 20 Danach sollte wohl eine Untersuchung der Lust folgen. | Sie scheint nämlich
ganz besonders eng mit unserer Natur verbunden zu sein. Deswegen er-
zieht man auch die Jugend, indem man sie mit Hilfe von Lust und Schmerz
steuert. Auch ist es bekanntlich für die Charaktertugend entscheidend, dass
man sich über das freut, worüber man soll, und hasst, was man soll. Denn
diese Einstellungen beziehen sich auf alles im Leben und haben einen star-
25 ken Einfluss die Tugend und das glückliche | Leben betreffend. Lustvolles
pflegt man nämlich zu wählen, Schmerzhaftes zu meiden. Man sollte über
diese Gegenstände also56 unter keinen Umständen hinweggehen, zumal sie
Anlass für eine erhebliche Kontroverse sind.
Die einen sagen nämlich, die Lust sei das Gute, die anderen dagegen, sie
sei durchweg schlecht. Von Letzteren sind aber die einen vielleicht wirklich
30 davon überzeugt, dass es sich so verhält, die anderen meinen jedoch, | es sei
besser für unsere Lebensführung, die Lust als etwas Schlechtes hinzustel-
len, auch wenn sie es nicht ist. Denn da die meisten Menschen ihr zuneigen
und ihr sklavisch dienen, müsse man sie zum Gegenteil hinlenken, denn so
gelange man zum Mittleren. Das zu sagen, ist aber wenig glücklich. Denn
35 im Bereich der Affekte und | Handlungen sind Reden weniger glaubwürdig
als Taten. Widersprechen die Worte dem Augenschein, so ernten sie Ver-
1172b achtung und | heben auch das mit auf, was an ihnen wahr ist. Wird nämlich
jemand, der die Lust tadelt, dabei beobachtet, wie er selbst nach ihr strebt,
dann meint man, er neige der Lust zu, als sei sie als Ganze erstrebenswert.
Genau zu unterscheiden, ist schließlich nicht Sache der Menge. Wahre Re-
5 den scheinen daher nicht nur für das Wissen | am nützlichsten zu sein, son-
dern ebenso auch für die Lebensführung. Stimmen sie nämlich mit den Ta-
ten überein, vertraut man ihnen, und daher leiten sie auch diejenigen, die sie
verstehen, dazu an, ihnen entsprechend zu leben. Doch genug darüber. Lasst
uns nun durchgehen, was man über die Lust gesagt hat.
56
Es wird hier mit Mb Rackham und G/J dê anstelle von de gelesen.
Kapitel 2 179
Kapitel 2
Eudoxos war nun der Meinung, die Lust sei das Gute, weil | man sieht, dass II. | 10
alles nach ihr strebt, Vernünftiges ebenso wie Vernunftloses. In allen Fällen
sei aber das Wählenswerte das Gute und das mit der größten Anziehungs-
kraft. Dass nun alles auf dasselbe zusteuert, zeige an, dass es für alle das
Beste ist, denn ein jedes finde das für sich selbst Gute, so wie es auch seine
Nahrung findet. Was aber für alle gut ist und wonach alles strebt, | das sei 15
das Gute.
Diesen Argumenten hat man aber mehr Eudoxos’ tugendhaften Charak-
ters wegen als um ihrer selbst willen Glauben geschenkt. Er galt nämlich als
ungewöhnlich besonnen, und daher meinte man, er sage das nicht, weil er
selbst ein Freund der Lust sei, sondern weil es sich in Wahrheit so verhalte.
Er hielt die Sache aber für nicht weniger klar, wenn man vom Gegenteil
ausgeht: Wie der Schmerz für alle als solcher zu meiden ist, | so sei entspre- 20
chend sein Gegenteil wählenswert. Im höchsten Grad wählenswert sei aber
dasjenige, was wir weder aufgrund von etwas anderem noch um eines ande-
ren willen wählen. Von dieser Art aber sei anerkanntermaßen die Lust, denn
niemand fragt, zu welchem Zweck man sich freut, so als sei die Lust an sich
wählenswert. Auch mache sie jedes der übrigen guten Dinge, dem man sie
hinzufügt, noch wählenswerter, wie etwa | gerechtes oder besonnenes Han- 25
deln; das Gute werde aber durch sich selbst vermehrt.
Dieses letzte Argument scheint nun zwar zu zeigen, dass die Lust zu den
Gütern gehört, aber doch nicht mehr als anderes; denn jedes Gut ist zusam-
men mit einem anderen Gut noch wählenswerter als für sich allein. Mit ei-
nem Argument dieser Art widerlegt auch Platon, dass die Lust das Gute ist:
| Mit Vernunft werde das lustvolle Leben nämlich wählenswerter als ohne 30
sie; wenn aber das gemischte Leben besser sei, dann sei die Lust nicht das
Gute. Denn durch nichts, was man ihm hinzufügt, werde das Gute selbst
noch wählenswerter. Es ist also klar, dass auch sonst nichts das Gute sein
kann, was zusammen mit etwas anderem, an sich Gutem, noch wählenswer-
ter wird. Was ist nun ein derartiges Gut, woran auch | wir teilhaben können? 35
Denn etwas von dieser Art ist es, was wir suchen.
Diejenigen, die einwenden, dass das, wonach alle streben, kein Gut sei,
behaupten jedoch Unsinniges. Was | nämlich alle für richtig halten, von dem 1173a
sagen wir, dass es auch so ist. Wer diese Überzeugung verwirft, wird aber
schwerlich etwas Überzeugenderes zu sagen haben. Wenn nun nur die ver-
nunftlosen Wesen nach Lust strebten, dann spräche noch etwas für diesen
Standpunkt; wenn das aber auch die vernunftbegabten Wesen tun, welchen
Sinn könnte er dann noch haben? Vielleicht steckt aber selbst in den nied-
rigen Lebewesen ein natürliches Gutes, | Stärkeres, als es ihnen an sich ent- 5
spricht, das nach dem ihnen eigentümlichen Gut strebt.
180 Buch X
Auch über das Gegenteil scheinen diese Leute aber nichts Richtiges zu
sagen. Sie behaupten nämlich, selbst wenn der Schmerz etwas Schlechtes ist,
sei die Lust doch noch nichts Gutes; denn Schlechtes sei sowohl Schlechtem
entgegengesetzt wie auch beides dem, was weder gut noch schlecht ist. Da-
mit sagen sie zwar nichts Unrichtiges, sagen aber auch nicht die Wahrheit
10 über das, wovon hier die Rede ist. | Sind nämlich beide Gegensätze schlecht,57
dann sind beide zu meiden, sind sie weder gut noch schlecht, dann sind ent-
weder beide nicht oder aber beide in gleicher Weise zu meiden. Nun meidet
man offensichtlich den Schmerz als ein Übel, die Lust aber sucht man als ein
Gut, daher sind sie einander auch in dieser Weise entgegengesetzt.
III. Doch auch wenn die Lust keine Art von Qualität ist, folgt daraus nicht,
15 dass sie kein Gut ist. Denn auch die Tätigkeiten der Tugend | sind keine
Qualitäten und ebenso wenig ist es das Glück. Ferner sagen sie, das Gute sei
begrenzt, die Lust hingegen unbegrenzt, weil sie das Mehr und das Weni-
ger zulasse.58 Wenn sie nun vom ‚Lust erfahren‘ ausgehend so urteilen, dann
wird Entsprechendes auch für die Gerechtigkeit und die übrigen Tugenden
gelten, von denen man offensichtlich sagt, dass Menschen mehr oder weni-
20 ger so | sind und den Tugenden gemäß handeln. Man ist nämlich in höherem
Maß gerecht und tapfer, kann aber auch mehr oder weniger gerecht oder be-
sonnen handeln. Wenn sie das aber von der Lust behaupten, dann geben sie
den eigentlichen Grund dafür nicht an, d.h. dass die einen Arten von Lust
ungemischt, die anderen gemischt sind. Und was spricht dagegen, dass es
sich mit der Lust wie mit der Gesundheit verhält, die zwar als solche etwas
25 Begrenztes ist, aber | dennoch das Mehr und das Weniger zulässt? Nicht
bei allen Menschen besteht die Gesundheit nämlich in derselben Propor-
tion, noch ist sie bei ein und demselben Menschen immer dieselbe. Vielmehr
bleibt sie auch dann, wenn sie nachlässt, bis zu einem gewissen Punkt erhal-
ten und unterscheidet sich dabei durch mehr und weniger. Derartiges kann
es also auch in Bezug auf die Lust geben.
Wenn sie zudem das Gute als vollkommen, Veränderungs- und Werde-
30 prozesse | dagegen als unvollkommen bestimmen, dann versuchen sie, die
Lust als eine Veränderung und ein Werden zu erweisen. Sie scheinen es je-
doch nicht einmal damit richtig zu treffen, dass sie die Lust als eine Ver-
änderung bestimmen. Jeder Veränderung scheint nämlich Schnelligkeit und
Langsamkeit eigen, und wenn nicht für sich allein genommen, wie etwa der
Bewegung des Alls, dann relativ zu etwas anderem. Der Lust kommt aber
1173b beides nicht zu. Zwar kann man schnell in Lust geraten, so wie | man auch
schnell in Zorn geraten kann, schnell Lust haben kann man jedoch nicht,
auch nicht im Vergleich zu etwas anderem, wohl aber kann man das beim
57
In 1173a10 wird mit Susemihl amphoin men gar ontôn kakôn gelesen.
58
Das von Bywater athetierte to in 1173a17 und 25 wird beibehalten.
Kapitel 2 181
Laufen, Wachsen und allem von dieser Art tun. Es ist also zwar möglich,
schnell oder langsam in Lust überzugehen, unmöglich ist es aber, sich auf
schnelle Weise lustvoll zu betätigen, will sagen, sich schnell zu freuen. Zu-
dem: Wie sollte die Lust ein Werden sein? | Meint man doch, dass nicht Be- 5
liebiges aus Beliebigem entsteht; sondern woraus etwas entsteht, darin löst
es sich auch wieder auf. Und wovon die Lust das Werden ist, davon wäre der
Schmerz das Vergehen.
Auch sagen sie, der Schmerz sei ein Mangel an dem, was der Natur ge-
mäß ist, die Lust eine Wiederauffüllung. Dies ist aber ein körperlicher Vor-
gang. Wenn | die Lust also eine Wiederauffüllung des der Natur Gemäßen 10
wäre, dann müsste dasjenige Lust erfahren, in dem die Wiederauffüllung
stattfindet, d.h. der Körper. Das scheint aber nicht richtig. Die Lust ist also
gar keine Wiederauffüllung, sondern man empfindet Lust, während man
wieder aufgefüllt wird, und Schmerz, während man leer wird.59 Diese Mei-
nung scheint aber von denjenigen Lust- und Schmerzempfindungen herzu-
stammen, die mit der Ernährung verbunden sind; denn | nachdem man dabei 15
einen Mangel erfahren und zunächst Schmerz empfunden hat, empfindet
man die Wiederauffüllung als lustvoll. Das geschieht freilich nicht bei allen
Arten von Lust; denn die Lust am Lernen beruht nicht auf Schmerz und so
verhält es sich bei den Wahrnehmungen auch bei der Lust an Gerüchen und
an vielem, was man hört und sieht, sowie auch bei der Lust an Erinnerungen
und Erwartungen. Wovon aber sollte Derartiges ein Werden sein? | Denn 20
dabei geht kein Mangel voraus, der wiederaufzufüllen wäre.
Denjenigen, welche die schändlichen Arten von Lust anführen, könnte
man entgegenhalten, dass Derartiges gar nicht lustvoll ist. Denn auch von
dem, was für Leute in schlechter Verfassung lustvoll ist, sollte man nicht
meinen, dass es tatsächlich lustvoll ist, außer für ebendiese, so wie man auch
nicht für gesund, süß oder bitter halten soll, was für Kranke so ist, noch
auch | für weiß, was denen so erscheint, die ein Augenleiden haben. Oder 25
vielleicht könnte man es auch so ausdrücken, dass die Lustempfindungen
zwar wählenswert sind, aber nicht, wenn sie von solchen Quellen stammen,
so wie das Reichsein, aber nicht, wenn man dafür Verrat begehen, oder das
Gesundsein, sofern man dafür nicht alles und jedes essen muss. Oder man
könnte sagen, dass es unterschiedliche Arten von Lust gibt, denn die Lust
am Schönen ist verschieden von der am Schändlichen. Und so wie niemand
| die Lust des Gerechten haben kann, ohne gerecht zu sein, noch die an Mu- 30
sik, ohne musikalisch zu sein, so ist es auch in den anderen Fällen.
Auch die Tatsache, dass der Freund verschieden vom Schmeichler ist,
scheint offenbar zu machen, dass Lust kein Gut ist oder dass diese beiden
59
Hier wird Spengels Konjektur übernommen, der temnomenos durch kenoumenos ersetzt
hat.
182 Buch X
der Art nach verschieden sind. Denn der eine scheint den Umgang um des
Guten willen, der andere um der Lust willen zu suchen, und während man
1174a dem einen Vorwürfe macht, | lobt man den anderen, weil sein Umgang ei-
nem anderen Ziel gilt.
Niemand würde zudem wählen, sein ganzes Leben lang den Verstand ei-
nes Kindes zu haben und das zu genießen, woran Kinder die größte Freude
haben, wie auch niemand Lust um den Preis einer ganz schändlichen Tat er-
fahren will, selbst wenn er daraus keinerlei Schmerz zu erwarten hat.
5 Um viele Dinge | würden wir uns aber selbst dann ernsthaft bemühen,
wenn sie keine Lust mit sich brächten, wie Sehen, Erinnern, Wissen oder
den Besitz der Tugenden. Auch wenn mit ihnen notwendigerweise eine Lust
einhergeht, so macht das keinen Unterschied; wir würden sie nämlich auch
dann wählen, wenn daraus keine Lust entstünde.
Dass die Lust nun weder das Gute noch auch jede Art von Lust wäh-
10 lenswert ist, scheint offenbar zu sein, wie auch, | dass man manche für sich
genommen wählt, die sich von den anderen entweder ihrer Art oder ihrer
Herkunft nach unterscheiden. Was man über Lust und Schmerz zu sagen
pflegt, sei damit hinreichend erörtert.
Kapitel 3
IV. Was die Lust oder welcher Art sie ist, dürfte deutlicher werden, wenn wir die
15 Frage von Anfang an aufnehmen. Das Sehen scheint nämlich zu jedem | Zeit-
punkt vollkommen zu sein, denn es fehlt ihm nichts, was später hinzukäme
und seine Form vollendete. Derartigem gleicht nun auch die Lust. Sie ist
nämlich etwas Ganzes, und zu keiner Zeit wird jemand eine Lust erfahren,
deren Form erst bei längerer Zeitdauer vollendet würde. Ebendeshalb ist die
Lust auch keine Veränderung.
20 Jede Veränderung findet nämlich in der Zeit | und eines Ziels wegen statt,
wie etwa die des Hausbauens, und sie ist vollkommen, wenn sie erreicht,
worauf sie abzielt. Dies geschieht aber entweder in der ganzen oder in die-
ser bestimmten Zeit. In ihren Teilen und in dieser Zeit sind alle Bewegun-
gen unvollkommen und unterscheiden sich der Form nach sowohl von der
Bewegung als ganzer wie auch voneinander. Denn das Zusammenfügen der
Steine ist verschieden vom Kannelieren der Säulen und beides wiederum von
25 der Herstellung des Tempels. | Dessen Herstellung ist nämlich vollkommen,
wenn bezüglich des Vorhabens nichts fehlt. Hingegen ist das Herstellen des
Fundaments ebenso unvollkommen wie das der Triglyphe, denn jedes ist
nur das Herstellen eines Teils. Sie unterscheiden sich also der Form nach,
und es ist nicht möglich, zu jeder beliebigen Zeit eine ihrer Form nach voll-
Kapitel 4 183
Kapitel 4
Da jede Wahrnehmung in Bezug auf das jeweils Wahrnehmbare tätig ist, | und 15
zwar in vollkommener Weise, wenn sie in guter Verfassung auf das Schönste
in ihrem Bereich bezogen ist, dies aber die vollkommene Tätigkeit am meis-
ten auszuzeichnen scheint (ob man nun sagt, die Wahrnehmung selbst sei
tätig oder ihr Organ, soll keinen Unterschied machen), ist folglich bei jeder
Wahrnehmung die Tätigkeit dessen am besten, was sich in der besten Verfas-
sung befindet und sich auf den besten Gegenstand richtet, der in ihren Be-
reich fällt. Diese Tätigkeit | dürfte also am vollkommensten und lustvollsten 20
sein. Gehört nämlich zu jeder Wahrnehmung eine Lust, so wie auch zum
60
In 1174b10 wird mit Ramsauer tês hêdonês statt tên hêdonên gelesen.
184 Buch X
Kapitel 5
Ob wir aber das Leben der Lust wegen oder die Lust des Lebens wegen
wählen, sei im Augenblick dahingestellt. Denn beides | scheint eng anein- 20
andergebunden und keine Trennung zuzulassen. Ohne Tätigkeit entsteht V.
keine Lust, und die Lust macht jede Tätigkeit vollkommen. Daher scheint es
auch verschiedene Arten von Lust zu geben, denn wir meinen, dass der Art
nach Verschiedenes durch Verschiedenes vollkommen gemacht wird. Das
zeigt sich sowohl bei den natürlichen wie auch bei den künstlich hergestell-
ten Dingen, wie etwa bei Tieren und Bäumen, bei einem Bild und einer Sta-
tue, | einem Haus und einem Gerät. Und ebenso meinen wir, dass auch Tä- 25
tigkeiten verschiedener Art durch der Art nach Verschiedenes vollkommen
werden. Nun sind aber die Tätigkeiten des Denkens von denen der Wahr-
nehmungen verschieden und auch diese unterscheiden sich jeweils wieder
voneinander der Art nach, also gilt das auch für die Arten der Lust, die sie
vollkommen machen.
Das dürfte auch daraus deutlich werden, dass | jede Art von Lust eng 30
der Tätigkeit zugehörig ist, die sie vollkommen macht; denn die ihr je ei-
gentümliche Lust wird die Tätigkeit noch intensivieren. Wer nämlich mit
Lust tätig ist, urteilt über alles besser und genauer. So werden z.B. Menschen
Geometer, die Freude an der Geometrie haben, und diese werden alles noch
sorgfältiger durchdenken. Und ebenso machen auch die Liebhaber von Mu-
sik, von Baukunst und | alle übrigen Fortschritte in Hinblick auf das ihnen 35
eigentümliche Werk, weil sie Freude daran haben. Die eigentümliche Lust
wird diese Fortschritte verstärken, und alles, was sie verstärkt, ist ihnen ei-
gentümlich. Für das, | was der Art nach verschieden ist, ist aber auch das ihm 1175b
Eigentümliche von unterschiedlicher Art.
Das dürfte aber noch daraus deutlicher werden, dass Lust aus anderen
Quellen den Tätigkeiten hinderlich ist. So sind Liebhaber des Flötenspiels
nicht mehr imstande, Gesprächen zuzuhören, sobald sie jemanden Flöte
spielen hören, | weil sie mehr Freude am Flötenspiel haben als an ihrer au- 5
genblicklichen Tätigkeit. Die Lust am Flötenspiel macht daher ihrer Mitwir-
kung am Gespräch ein Ende. Ähnliches geschieht auch in anderen Fällen,
wenn man in zwei Richtungen zugleich tätig ist. Die lustvollere Tätigkeit
verdrängt die andere, und zwar umso mehr, je mehr sie diese an Lust über-
trifft, so dass man | die andere betreffend schließlich gar nicht mehr tätig ist. 10
Daher tun wir anderes gar nicht mehr, wenn uns etwas besondere Lust be-
reitet, treiben aber andere Dinge, wenn etwas uns nur wenig Lust verschafft,
so wie etwa die Leute, die im Theater gern zu Süßigkeiten greifen, dies be-
sonders dann tun, wenn die Schauspieler schlecht sind.
Da die den Tätigkeiten eigentümliche Lust sie genauer, dauerhafter und
| besser macht, während fremde Lust sie verdirbt, sind diese beiden Arten 15
186 Buch X
trifft auch auf Süßes zu; dem Fieberkranken schmeckt nämlich nicht das-
selbe süß wie dem Gesunden, und dem Kranken erscheint nicht dasselbe
warm wie dem, | der wohlauf ist, und dasselbe ergibt sich auch in anderen 15
Fällen.
In allen Fällen dieser Art scheint aber dasjenige der Fall zu sein, was dem
Guten so erscheint. Wenn man das zu Recht behauptet, wie es doch scheint,
und wenn die Tugend und der Gute das Maß eines jeden Dinges ist, insofern
er dieser Art ist, dann wäre auch die Lust dasjenige, was diesem als eine sol-
che erscheint, und lustvoll wäre dasjenige, woran dieser sich erfreut. Wenn
aber Dinge, | die diesem zuwider sind, einem anderen als lustvoll erscheinen, 20
dann ist daran nichts Verwunderliches; denn bei Menschen kommt es zu vie-
lerlei Zerstörungen und Verderbnissen. Lustvoll ist dergleichen aber nicht,
außer für diese und solche in dieser Verfassung. Diejenigen Arten, die nach
allgemeiner Übereinstimmung als schändlich gelten, darf man offensichtlich
nicht als Lust bezeichnen, außer für die Verdorbenen. Von denen aber, die
gut zu sein scheinen, von welcher und | welcher Art Lust sollte man sagen, 25
sie sei die des Menschen? Oder ist das nicht aus den Tätigkeiten offensicht-
lich? Denn mit diesen geht doch die Lust einher. Ob es nun eine oder meh-
rere Tätigkeiten sind, die den vollkommenen und glücklichen Menschen
auszeichnen, als die Lust des Menschen im eigentlichen Sinn sollte man die-
jenige bezeichnen, die diese Art von Tätigkeiten vollkommen macht, die üb-
rigen aber als zweitrangig oder noch nachrangiger, so wie es auch die Tätig-
keiten sind.
Kapitel 6
Nachdem wir über die verschiedenen Arten von Tugenden, von Freund- VI. | 30
schaften und von Lust gesprochen haben, bleibt uns noch übrig, im Um-
riss das Glück durchzugehen, da wir es als das Ziel des menschlichen Tuns
verstehen. Wenn wir dazu jetzt das zuvor Gesagte wieder aufgreifen, wird
unsere Darstellung kürzer und bündiger ausfallen. Nun haben wir gesagt,
dass das Glück keine Disposition ist, denn sonst würde es auch dem zu-
kommen, der sein Leben lang schläft, wie eine Pflanze | dahinlebt oder von 35
den größten Unglücksfällen heimgesucht wird. Wenn uns das jedoch | nicht 1176b
zusagt, sondern das Glück vielmehr zu den Tätigkeiten zu rechnen ist, wie
schon früher erklärt, und wenn die Tätigkeiten teils notwendig sind und um
etwas anderen willen, teils um ihrer selbst willen wählenswert sind, dann
ist klar, dass man das Glück zu den Dingen rechnen muss, die für sich ge-
nommen und | nicht um etwas anderen willen wählenswert sind. Denn dem 5
Glück fehlt es an nichts, sondern es ist autark. Für sich genommen sind aber
diejenigen Tätigkeiten wählenswert, bei denen man nichts über diese hinaus
188 Buch X
sucht. Als solche gelten die tugendhaften Handlungen, denn Schönes und
Gutes zu tun gehört zu dem, was um seiner selbst willen wählenswert ist.
10 Dies gilt nun aber auch für die scherzhaften Vergnügungen, denn | man
wählt sie nicht um etwas anderen willen. Sie schaden einem jedoch mehr,
als dass sie nützen, wenn man ihretwegen Körper und Besitz vernachläs-
sigt. Bei solchem Zeitvertreib suchen aber die meisten von denen Zuflucht,
die man glücklich nennt. So erfreut sich der Gunst von Tyrannen, wer in
15 solchem Zeitvertreib gewandt ist; denn was diese begehren, | darin weiß er
sich ihnen angenehm zu machen, und daher brauchen sie Menschen dieser
Art. Man meint nun zwar, dass solche Dinge das Glück ausmachen, weil die
Mächtigen damit ihre Muße verbringen; solche Menschen sind aber viel-
leicht kein Beweis. Denn Tugend und Vernunft, von denen doch die guten
Handlungen kommen, bestehen nicht in der Ausübung von Macht. Auch
20 darf man, weil diese Menschen, die nie | reine und eines Freien würdige Lust
gekostet haben, sich in körperliche Lüste flüchten, diese nicht deswegen für
wählenswerter halten. Auch die Kinder halten nämlich das, was bei ihnen
als wertvoll gilt, für das Beste. Es ist also zu erwarten, dass wie Kindern
und Erwachsenen so auch schlechten und guten Menschen Verschieden-
25 artiges als wertvoll erscheint. Wie | wir nun schon oft gesagt haben, sind
diejenigen Dinge wertvoll und lustvoll, die dies für den Guten sind. Für
einen jeden ist aber diejenige Tätigkeit die wählenswerteste, die seiner ei-
gentümlichen Disposition entspricht, und für den Guten ist das folglich die
der Tugend gemäße Tätigkeit. Das Glück besteht folglich nicht in der Ver-
gnügung.
Es wäre ja auch widersinnig, wenn das Vergnügen das Ziel wäre und man
30 das | ganze Leben lang Mühen und Leid auf sich nähme, nur um sich zu
vergnügen. Wir wählen sozusagen alles um etwas anderen willen, mit Aus-
nahme des Glücks; denn das Glück ist das Ziel. Sich des Vergnügens wegen
anzustrengen und abzumühen, erscheint jedoch einfältig und allzu kindisch.
„Sich vergnügen, um Ernsthaftes zu tun“, wie Anacharsis sagt, scheint es da-
35 gegen richtig zu treffen. Das Vergnügen gleicht nämlich der Erholung, | und
weil man zu ständiger Mühe nicht fähig ist, braucht man Erholung. Ein
1177a Ziel ist | die Erholung also nicht, denn man sucht sie des Tätigseins wegen.
Glücklich scheint vielmehr das Leben gemäß der Tugend zu sein.
Dies ist aber ein Leben ernsten Bemühens und besteht nicht in der Ver-
gnügung. Wir nennen das Ernsthafte besser als das Lächerliche und Ver-
5 gnügliche, und ernsthafter nennen wir immer die Tätigkeit des Besseren, | so-
wohl die der Seelenteile wie auch die der Menschen überhaupt, denn die
Tätigkeit des Besseren ist stärker und hat eher die Natur des Glücks. Auch
kann jeder Beliebige körperliche Arten von Lust genießen, der Sklave nicht
weniger als der Beste; Anteil am Glück würde einem Sklaven aber niemand
zuschreiben, wenn nicht auch an der entsprechenden Art von Leben. Denn
Kapitel 7 189
das | Glück besteht nicht im Zeitvertreib solcher Art, sondern in den Tätig- 10
keiten gemäß der Tugend, wie wir schon früher gesagt haben.
Kapitel 7
Wenn das Glück aber eine Tätigkeit gemäß der Tugend ist, dann ist zu er- VII.
warten, dass sie der höchsten Tugend gemäß ist. Diese wäre aber die Tätig-
keit unseres besten Teils. Ob dieser nun die Vernunft oder etwas anderes ist,
was von Natur aus zu herrschen, | zu leiten und Einsicht in Schönes und 15
Göttliches zu haben scheint, sei dies nun selbst etwas Göttliches oder sei es
bloß das Göttlichste in uns: Seine Tätigkeit gemäß der ihm eigenen Tugend
dürfte das vollkommene Glück sein. Sie ist, wie gesagt, eine betrachtende
Tätigkeit.
Das dürfte aber sowohl mit dem früher Gesagten übereinstimmen wie
auch mit der Wahrheit zur Bestimmung des Mittleren. | Diese Tätigkeit ist 20
nämlich die beste; denn die Vernunft ist das Beste in uns und bezieht sich
auf die besten erkennbaren Dinge. Ferner ist sie die kontinuierlichste Tä-
tigkeit, denn wir können weit eher kontinuierlich denken, als sonst irgend-
etwas tun. Auch meinen wir, dass dem Glück Lust beigemischt sein muss;
die lustvollste unter den der Tugend gemäßen Tätigkeiten | ist aber nach all- 25
gemeinem Einverständnis diejenige, die der Weisheit gilt. Die Philosophie
scheint aber Lust von wunderbarer Reinheit und Beständigkeit zu enthalten,
und es liegt nah, dass diese Tätigkeit für Wissende noch lustvoller ist als für
Suchende. Auch dürfte das, was wir Autarkie nennen, am meisten zur be-
trachtenden Tätigkeit gehören. Die zum Leben notwendigen Dinge braucht
der Weise zwar ebenso wie der Gerechte und die Übrigen. | Ist er damit hin- 30
reichend versorgt, dann braucht der Gerechte aber immer noch Menschen,
denen gegenüber und mit denen zusammen er gerecht handeln kann, und
Ähnliches gilt für den Besonnenen, den Tapferen und jeden anderen. Der
Weise kann jedoch auch, wenn er für sich allein ist, Betrachtungen anstel-
len, und je weiser er ist, desto mehr. Zwar mag es vielleicht noch besser ge-
hen, wenn er Mithelfer hat, dennoch | ist er im höchsten Maß autark. Auch 1177b
scheint die Betrachtung allein um ihrer selbst willen geschätzt zu werden;
denn über das Betrachten hinaus ergibt sich nichts weiter aus ihr, während
wir aus den praktischen Tätigkeiten mehr oder weniger Nutzen über die
Handlung hinaus beziehen.
Vom Glück gilt zudem, dass es in der Muße liegt. | Denn wir sind ge- 5
schäftig, um Muße zu haben, und führen Krieg, um in Frieden zu leben.
Bei den auf das Handeln bezogenen Tugenden liegen die Tätigkeiten entwe-
der im politischen oder im militärischen Bereich; diesbezügliche Tätigkei-
ten erweisen sich aber als unmußevoll. Für die militärischen Tätigkeiten gilt
190 Buch X
das ganz und gar, denn niemand wählt es, Krieg um des Krieges willen zu
10 führen, oder | bereitet deswegen einen Krieg vor. Wer Freunde zu Feinden
macht, damit es zu Kampf und Morden kommt, den würde man für ganz
blutrünstig halten. Aber auch die Tätigkeit des Politikers ist unmußevoll,
weil sie über die eigentliche politische Tätigkeit hinaus Macht und Ehre den
Vorzug gibt, oder doch dem Glück für sich selbst und für die Bürger, als et-
15 was von der politischen Tätigkeit Verschiedenem, | und das wir offensicht-
lich auch als etwas von ihr Verschiedenes suchen. Wenn sich also einerseits
unter den tugendgemäßen Tätigkeiten die politische und die militärische
durch Erhabenheit und Größe auszeichnen, diese aber ohne Muße und auf
ein bestimmtes Ziel ausgerichtet sind und nicht um ihrer selbst willen er-
20 strebt werden, wenn andererseits die Tätigkeit der Vernunft | als betrach-
tende durch Ernsthaftigkeit hervorzustechen scheint, über sich selbst hinaus
kein weiteres Ziel anstrebt und die ihr eigentümliche Lust enthält, welche
die Tätigkeit noch intensiviert, und wenn sie zudem61 so autark, mußevoll
und mühelos ist, wie sie beim Menschen nur sein kann, und zudem auch al-
les Übrige, was man sonst dem Glückseligen beilegt, offensichtlich gerade
diese Tätigkeit auszeichnet: Wenn das so ist, dann dürfte sie das vollkom-
25 mene Glück | des Menschen ausmachen, sofern sie eine volle Lebensspanne
umfasst. Denn nichts, was zum Glück gehört, ist unvollkommen.
Eine solche Art des Lebens wäre jedoch höher, als es dem Menschen
entspricht. Denn nicht insofern er ein Mensch ist, wird er so leben, sondern
sofern es in ihm etwas Göttliches gibt. Je mehr aber dieses Göttliche seine
zusammengesetzte Natur überragt, desto mehr überragt auch die entspre-
30 chende Tätigkeit die gemäß der anderen Art von Tugend. | Ist also die Ver-
nunft im Vergleich zum Menschen göttlich, dann ist auch das Leben der Ver-
nunft im Vergleich zum menschlichen Leben göttlich. Man soll aber nicht
Ratgebern folgend nur Menschliches denken, weil man ein Mensch, bzw.
Sterbliches, weil man ein Sterblicher ist, sondern sich so weit wie möglich
unsterblich machen und alles tun, um dem Höchsten in sich gemäß zu leben.
1178a Denn wenn | dieses Element auch seinem Umfang nach gering ist, übertrifft
es doch alles andere umso mehr an Macht und Würdigkeit. Man sollte mei-
nen, dass ein jeder ebendieses Element ist, da es doch das Wichtigste und
Beste ist. Es wäre nämlich widersinnig, wenn man nicht die einem selbst ei-
gentümliche Lebensweise wählen wollte, sondern die eines anderen Wesens.
5 Zudem | wird das, was wir schon zuvor gesagt haben, auch jetzt passen: Was
jedem von Natur eigentümlich ist, das ist für jedes das Beste und Lustvollste.
Für den Menschen ist dies daher das Leben gemäß der Vernunft, wenn denn
61
Mit Susemihl und Stewart 1892, II 447 wird hier nach Mb und Ob de statt dê gelesen, da die
Apodosis dieses Satzgefüges erst in b24 folgt.
Kapitel 8 191
der Mensch dies mehr als alles andere ist. Dieses Leben ist daher auch das
glücklichste.
Kapitel 8
In zweiter Linie glücklich ist aber das Leben, das der anderen Art von Tu- VIII.
gend gemäß ist, denn die | ihr entsprechenden Tätigkeiten sind typisch 10
menschlicher Art. Gerechtes, Tapferes und den übrigen Tugenden Gemäßes
tun wir nämlich untereinander, indem wir im geschäftlichen Umgang, bei
wechselseitigem Bedarf und überhaupt bei Handlungen und Affekten aller
Art das jedem Einzelnen Angemessene beachten. All diese scheinen aber
typisch menschlicher Art zu sein. Einiges davon scheint sogar | vom Kör- 15
per herzukommen und die Charaktertugend in vieler Hinsicht an die Af-
fekte gebunden zu sein. Die Klugheit ist aber eng mit der Charaktertugend
verbunden und diese mit der Klugheit, da die Prinzipien der Klugheit den
Charaktertugenden gemäß sind, während das, was an den Charaktertugen-
den richtig ist, wiederum der Klugheit gemäß ist. Da die Charaktertugenden
aber auch | mit den Affekten verbunden sind, betreffen sie die zusammen- 20
gesetzte Natur. Die Tugenden der zusammengesetzten Natur sind jedoch
typisch menschlich, daher sind es auch die ihnen gemäße Lebensweise und
das Glück.
Die Tugend der Vernunft ist aber davon getrennt. Nur so viel sei über
sie gesagt, denn eine genauere Behandlung ginge über unser Vorhaben hi-
naus. Von dieser Tugend dürfte nun gelten, dass sie äußere Hilfsmittel nur
wenig oder doch weniger | benötigt als die Charaktertugend. Der Bedarf 25
an Lebensnotwendigem wird zwar in beiden Fällen gleich sein, auch wenn
der Politiker größeren körperlichen Anstrengungen und anderem dieser
Art ausgesetzt ist. Dürfte dieser Unterschied gering sein, so wird er doch
die Tätigkeiten betreffend erheblich sein. Denn der Freigebige wird Geld
brauchen, um freigebig handeln, so wie | auch der Gerechte, um Empfange- 30
nes erwidern zu können (Wünsche liegen nämlich nicht offen zutage, und
auch wer nicht gerecht ist, tut so, als wünschte er, gerecht zu handeln). Der
Tapfere braucht Macht, wenn er etwas seiner Tugend Entsprechendes voll-
bringen will, und der Besonnene bedarf der Gelegenheit. Denn wie sonst
sollte er oder einer der anderen als ein Mensch dieser Art erkennbar sein?
Es ist zwar umstritten, ob | bei der Tugend die Absicht oder die Handlung 35
wichtiger ist, da sie doch in beidem | liegt. Dass ihre Vollkommenheit in 1178b
beidem besteht, ist aber offenkundig. Für Handlungen braucht man jedoch
viele Dinge und das umso mehr, je bedeutender und schöner sie sind. Der
Betrachtende hat hingegen jedenfalls für seine Tätigkeit keinen Bedarf an
solchen Dingen, sondern sie sind sozusagen | der Betrachtung sogar eher 5
192 Buch X
hinderlich. Sofern er aber Mensch ist und mit vielen zusammenlebt, wird er
wählen, der Tugend Gemäßes zu tun. Er wird also auch solcher Dinge be-
dürfen, um als Mensch zu leben.
Dass das vollkommene Glück in der Tätigkeit des Betrachtens besteht,
dürfte auch aus Folgendem deutlich werden: Wir gehen doch davon aus,
10 dass die Götter im höchsten Maß selig und glücklich sind. | Welche Art von
Handlungen sollte man ihnen aber zuschreiben? Etwa gerechte? Würden
sie nicht lächerlich erscheinen, wenn sie Verträge miteinander abschließen,
hinterlegtes Geld zurückerstatten oder anderes dieser Art tun sollten? Oder
auch tapfere Handlungen, indem sie Furchtbarem gegenüber standhalten
und Gefahren ertragen, weil es schön ist?62 Oder auch freigebige Handlun-
15 gen? Wem aber sollten sie etwas geben? Auch wäre es seltsam, dass | sie
Geld oder etwas dergleichen haben sollten. Und worin sollten ihre beson-
nenen Handlungen bestehen? Wäre das nicht ein billiges Lob, da sie gar
keine schlechten Begierden haben? Geht man es der Reihe nach durch, so
wird sich alles, was mit dem Handeln zu tun hat, als kleinlich und der Göt-
ter unwürdig erweisen. Gleichwohl gehen alle davon aus, dass sie leben und
daher auch tätig sind. Jedenfalls meint sicher niemand, dass sie schlafen wie
20 | Endymion. Nimmt man aber etwas Lebendigem die Möglichkeit des Han-
delns, mehr noch als die des Herstellens, was bleibt dann noch übrig außer
der Betrachtung? Folglich dürfte die Tätigkeit des Gottes − an Glückselig-
keit alles übertreffend − die betrachtende sein. Auch unter den menschlichen
Tätigkeiten wird daher diejenige das höchste Glück mit sich bringen, die
dieser am engsten verwandt ist.
Ein Anzeichen dafür ist auch, dass die übrigen Lebewesen am Glück
25 nicht teilhaben, | weil ihnen eine derartige Tätigkeit vollständig abgeht.
Während für die Götter aber das ganze Leben glückselig ist, gilt dies für das
Leben der Menschen, insofern es etwas dieser Tätigkeit Ähnliches enthält.
Von den übrigen Lebewesen ist keines glücklich, weil keines in irgendeiner
Weise Anteil am Betrachten hat. So weit also das Betrachten reicht, so weit
30 reicht auch das Glück, und wer | in höherem Grad der Betrachtung fähig ist,
ist auch in höherem Maß glücklich – und das nicht akzidentell, sondern auf-
grund der Betrachtung. Denn diese ist als solche wertvoll. Das Glück dürfte
daher eine Art Betrachtung sein.
62
Bywater vermutet hier eine Lücke; der Text lässt sich aber als Anakoluth mit zwei
Akkusativkonstruktionen halten.
Kapitel 9 193
Kapitel 9
Der Glückliche wird jedoch auch Bedarf an äußerem Wohlstand haben, da er
ein Mensch ist. Denn seine Natur ist, was das Betrachten angeht, nicht autark;
vielmehr muss auch der Körper | gesund sowie Nahrung und sonstige Pflege 35
vorhanden sein. | Man darf jedoch nicht meinen, dass jemand, der glücklich 1179a
werden soll, vieler und großer Dinge bedarf, nur weil es unmöglich ist, ohne
die äußeren Güter glücklich zu sein. Denn die Autarkie liegt nicht im Über-
maß und auch das Handeln nicht, sondern man kann schöne Dinge tun, auch
ohne ‚über Erde und Meer zu herrschen‘. | Auch mit bescheidenen Mitteln 5
kann man der Tugend gemäß handeln. Das ist leicht zu sehen, denn Privat-
leute tun bekanntlich nicht weniger, sondern sogar mehr Gutes als die Mäch-
tigen. Es genügt also, nur so viel zur Verfügung zu haben. Glücklich wird
nämlich das Leben desjenigen sein, der gemäß der Tugend tätig ist.
Auch Solon | hat wohl die Glücklichen richtig gekennzeichnet, wenn er 10
sagt, seiner Meinung nach hätten sie, in Maßen mit äußeren Gütern verse-
hen, die schönsten Taten vollbracht und auf besonnene Weise gelebt. Denn
auch bei bescheidenem Besitz kann man tun, was man soll. Auch Anaxago-
ras scheint unter dem Glücklichen weder einen Reichen noch einen Mächti-
gen verstanden zu haben, wenn er sagt, | es würde ihn nicht wundern, wenn 15
der Glückliche der Menge als ein seltsamer Mensch erschiene. Denn die
Menge urteilt nach Äußerlichkeiten, da sie nur diese wahrnimmt. Auch die
Meinungen der Weisen scheinen also in Einklang mit unseren Erklärungen
zu stehen. Nun haben zwar auch solche Meinungen eine gewisse Beweis-
kraft, die Wahrheit beurteilt man im Bereich des Handelns aber nach den
Taten und dem Leben, denn in ihnen liegt | das Entscheidende. Man muss 20
das zuvor Gesagte also überprüfen, indem man es auf die Taten und das Le-
ben anwendet, und wenn es mit ihnen zusammenstimmt, dann muss man
es annehmen, steht es dazu jedoch im Widerspruch, dann muss man darin
bloße Worte sehen.
Wer aber der Vernunft entsprechend tätig ist und ihr dient, scheint zu-
gleich in der besten Verfassung und den Göttern am liebsten zu sein. Denn
wenn | es von Seiten der Götter eine gewisse Fürsorge für die menschlichen 25
Angelegenheiten gibt, wie man doch meint, dann sollte man erwarten, dass
sie an dem ihre Freude haben, was das Beste und ihnen am nächsten Ver-
wandte ist (das aber dürfte die Vernunft sein), und dass sie es Menschen, die
ebendies am meisten lieben und achten, mit Wohltaten vergelten, weil sie
sich um diejenigen Dinge kümmern, die den Göttern lieb sind, und auf rich-
tige und auf schöne Weise handeln. Dass all dies | auf den Weisen im höchs- 30
ten Maß zutrifft, ist offenkundig; er ist also den Göttern am liebsten. Eben-
dieser ist wohl auch am glücklichsten, so dass der Weise auch deswegen im
höchsten Maß glücklich sein sollte.
194 Buch X
Kapitel 10
IX. Wenn nun über diese Dinge und die Tugenden, zudem auch über Freund-
35 schaft und Lust in Umrissen hinreichend gesprochen worden ist, | dürfen
wir dann annehmen, dass unser Vorhaben sein Ziel erreicht hat? Oder liegt,
1179b wie gesagt, | im Bereich des Handelns das Ziel nicht darin, die Dinge jeweils
zu betrachten und zu erfassen, sondern vielmehr darin, sie zu tun? Auch bei
der Tugend reicht es ja nicht aus, sie zu verstehen, sondern wir müssen ver-
suchen, sie zu haben und anzuwenden, oder wenn es sonst eine Weise gibt,
in der wir gut werden.
5 Wenn nun Worte allein ausreichten, | um Menschen gut zu machen, dann
würden sie nach Theognis zu Recht ‚vielfachen und großen Lohn verdie-
nen‘, und man müsste sie sich zu verschaffen suchen. Nun scheinen Worte
zwar die Kraft zu haben, die gut Erzogenen unter den Jungen anzuleiten
und anzuspornen, wie auch zu bewirken, dass ein gut Veranlagter, der das
10 Schöne wahrhaft liebt, sich von der Tugend ergreifen lässt. | Die Menge ver-
mögen Worte aber nicht zum Guten und Schönen hinzuleiten, da sie von
Natur aus nicht der Scham, sondern nur der Furcht gehorcht, so wie sie auch
schlechte Handlungen nicht ihrer Schändlichkeit, sondern der Strafe wegen
unterlässt. Denn da die Menge ihren Affekten gemäß lebt, sucht sie die ihr
eigenen Arten von Lust und das, woraus diese entspringen, meidet aber die
15 entsprechende Unlust. | Vom Schönen und wahrhaft Lustvollen hat sie nicht
einmal eine Vorstellung, da sie es nie gekostet hat. Welche Worte sollten also
solche Leute zurechtbiegen? Es ist nämlich unmöglich oder jedenfalls nicht
leicht, von langer Hand im Charakter Verankertes durch bloße Worte zu
20 beseitigen. Vielleicht müssen wir schon zufrieden sein, | einen Anteil an der
Tugend zu erreichen, wenn alles vorhanden ist, durch das wir gut zu werden
scheinen.
Die einen meinen nun, man werde von Natur aus gut, andere, man werde
es durch Gewöhnung, wieder andere, man werde es durch Belehrung. Was
die Naturanlage angeht, so ist klar, dass sie nicht in unserer Hand liegt, son-
dern aufgrund einer göttlichen Ursache den wahrhaft vom Glückszufall Be-
günstigten zuteilwird. Reden und Belehrung wirken aber wohl schwerlich
25 bei allen; vielmehr | muss die Seele des Hörers durch Gewöhnung vorbe-
arbeitet sein, damit sie in der rechten Weise Lust und Abscheu empfindet,
so wie die Erde, wenn sie die Saat ernähren soll. Denn wer seinen Affekten
gemäß lebt, wird auf Worte, die ihn davon abbringen wollen, weder hören
noch sie auch überhaupt verstehen. Wie aber sollte es möglich sein, jeman-
den in einer solchen Verfassung umzustimmen? Überhaupt gibt der Affekt,
so meint man, nicht etwa den Worten nach, sondern nur dem Zwang. Der
30 Charakter muss also | in gewisser Weise schon vorher der Tugend verwandt
sein, das Schöne lieben und vom Schändlichen abgestoßen sein.
Kapitel 10 195
Von klein auf die richtige Hinleitung zur Tugend zu erhalten, ist aber
schwierig, wenn man nicht unter entsprechenden Gesetzen aufwächst.
Denn besonnen und standhaft zu leben ist der Menge nicht angenehm,
erst recht nicht der Jugend. Daher müssen Erziehung | und Beschäftigun- 35
gen durch Gesetze geregelt sein. Denn was zur Gewohnheit geworden ist,
wird einem nicht unangenehm | sein. Es reicht aber vielleicht nicht aus, nur 1180a
in der Jugend die richtige Erziehung und Fürsorge zu erhalten, sondern da
man auch als Erwachsener solchen Beschäftigungen nachgehen und sie sich
zur Gewohnheit machen soll, brauchen wir auch dafür Gesetze, wie über-
haupt für das ganze Leben. Denn die Menge | gehorcht dem Zwang eher als 5
Worten und den Strafen leichter als dem Schönen. Daher glauben manche,
die Gesetzgeber müssten zwar zur Tugend aufrufen und zum Handeln um
des Schönen willen ermuntern, da dies aber nur bei denjenigen Gehör fin-
den werde, deren Gewohnheiten sich schon gut entwickelt haben, müss-
ten sie widerspenstigen Menschen und schlechteren Naturen Züchtigun-
gen und Strafen auferlegen, die | Unheilbaren jedoch ganz aus dem Staat 10
verbannen. Denn der Gute, der sein Leben am Schönen orientiert, werde
dem Wort gehorchen, während man den Schlechten, der nur auf Lust aus
ist, durch Schmerzen züchtigen müsse wie ein Tier unter dem Joch. Aus die-
sem Grund sagen sie auch, man müsse Schmerzen von der Art anwenden,
die denjenigen Lüsten möglichst entgegengesetzt sind, die solche Menschen
lieben.
Wenn nun, wie gesagt, | der Mensch, der gut werden soll, richtig erzo- 15
gen und gewöhnt werden und danach sein Leben lang guten Beschäftigun-
gen nachgehen muss, so dass er weder unfreiwillig noch freiwillig Schlechtes
tut, so dürfte dies bei denen der Fall sein, die einem gewissen Vernunft-
prinzip und einer richtigen Ordnung gemäß leben, die Wirkungsmacht ha-
ben. Der väterlichen Anordnung fehlt es nun an Stärke und | nötigender 20
Kraft, wie überhaupt der Anordnung eines einzelnen Menschen, wenn die-
ser nicht gerade ein König oder jemand von dieser Art ist. Das Gesetz hin-
gegen hat nötigende Kraft, da es eine Regel ist, die auf einer bestimmten
Klugheit und Vernunft beruht. Zudem hasst man zwar die Menschen, die
sich den eigenen Bestrebungen in den Weg stellen, selbst wenn sie das zu
Recht tun, das Gesetz hasst man dagegen nicht, wenn es anordnet, was gut
ist.
Nur im | Staat der Spartaner und in wenigen anderen hat der Gesetzge- 25
ber bekanntlich für Erziehung und Beschäftigungen Sorge getragen. In den
meisten Staaten vernachlässigt man dergleichen völlig, und jeder lebt dort,
wie er will, indem er nach Kyklopenart ‚Recht setzt über Frau und Kin-
der‘. Am besten ist nun zwar, wenn gemeinschaftliche Fürsorge | der rich- 30
tigen Art getroffen wird. Wo dies aber in der Gemeinschaft vernachlässigt
wird, sollte man es für richtig halten, dass jeder den eigenen Kindern und
196 Buch X
Freunden zur Tugend verhilft, der das tun kann oder doch diese Absicht
hat.63
Nach dem Gesagten sollte man aber meinen, dass derjenige das besser
kann, der die Fähigkeit eines Gesetzgebers erworben hat. Denn es ist klar,
35 dass öffentliche Fürsorge durch | Gesetze und gute Fürsorge durch gute
1180b Gesetze geleistet wird. | Ob die Gesetze geschrieben oder ungeschrieben
sind, sollte keinen Unterschied machen, und auch nicht, ob einzelne oder
viele durch sie erzogen werden, so wie auch nicht in der Musik, Gymnastik
oder den übrigen Beschäftigungen. Denn wie sich in den Staaten die Ge-
5 setze und Sitten durchsetzen, so tun es im | Hause die väterlichen Worte
und Gepflogenheiten, und dies sogar noch in höherem Grad aufgrund der
Verwandtschaft und der Wohltaten. Denn man ist von Natur aus von vorn-
herein bereit, den Vater zu lieben und ihm gehorsam zu sein. Ferner hat die
individuelle Erziehung auch gewisse Vorteile gegenüber der gemeinschaft-
lichen, so wie auch die Behandlung in der Medizin. Denn zwar nützen dem
10 Fieberkranken im Allgemeinen Bettruhe und Fasten, | einem bestimmten
Menschen aber vielleicht nicht. Auch der Trainer im Faustkampf schreibt
vielleicht nicht allen den gleichen Kampfstil vor. Daher scheint der Einzelfall
genauer behandelt zu werden, wenn die Fürsorge individuell geleistet wird;
denn so erhält jeder eher das für ihn Zuträgliche.
Die beste Fürsorge für den Einzelfall dürfte jedoch von Seiten eines Arz-
tes, Trainers und jedes anderen dann geleistet werden, wenn dieser allge-
15 meines Wissen hat, was | für alle oder für Menschen eines bestimmten Typs
zuträglich ist (denn von den Wissenschaften sagt man, sie seien vom Allge-
meinen, und das sind sie auch). Zwar hindert einen vielleicht nichts daran,
einen Einzelnen auch ohne Wissen richtig zu behandeln, sofern man auf-
grund von Erfahrung genau beobachtet hat, was im Einzelfall geschieht, so
wie auch manche sich als die besten Ärzte für sich selbst erweisen, die einem
20 anderen durchaus nicht | helfen können. Nichtsdestoweniger dürfte aber
doch gelten, dass jeder, der ein Experte in einer Kunst oder Wissenschaft
werden will, sich dem Allgemeinen zuwenden und es so gut wie möglich er-
fassen muss. Denn wie wir gesagt haben, sind eben darauf die Wissenschaf-
ten bezogen.
Sicher muss sich daher64 auch die Fähigkeit eines Gesetzgebers anzueig-
25 nen | suchen, wer Menschen durch Fürsorge besser zu machen wünscht,
gleich ob viele oder wenige, wenn wir denn durch die Gesetze gut werden.
Jeden Beliebigen, der ihm gerade vorgesetzt wird, in eine gute Verfassung zu
bringen, ist nicht Sache des ersten Besten, sondern wenn von irgendjeman-
63
Die Übersetzung folgt Bywaters Vorschlag einer Transposition der Klausel kai dran auto
dynasthai von Zeile a30 in Zeile a32.
64
Mit Susemihl wird nach Rassow hier dê gelesen.
Kapitel 10 197
dem, dann vom Wissenden, so wie auch in der Medizin und in den übrigen
Disziplinen, bei denen es Raum für Fürsorge und Klugheit gibt.
Sollten wir also als nächstes untersuchen, woher und wie jemand zum
Gesetzgeber wird? Etwa so wie | auch in den übrigen Bereichen, nämlich 30
von den Politikern her? Denn von der Gesetzgebung haben wir doch an-
genommen, dass sie ein Teil der politischen Wissenschaft ist. Oder scheint
es sich in den politischen Angelegenheiten gar nicht so zu verhalten wie mit
den übrigen Arten von Wissen und Fähigkeiten? In den übrigen Diszipli-
nen sind es nämlich offensichtlich dieselben Leute, welche die Fähigkeiten
weitergeben und sie ausüben, wie Ärzte und Maler. | Als Lehrer der Politik 35
preisen sich zwar die Sophisten an, | keiner von ihnen übt sie jedoch aus. 1181a
Das tun vielmehr die in der Politik Tätigen; sie scheinen dazu aber eher auf-
grund einer gewissen Begabung und Erfahrung als aufgrund von Wissen in
der Lage. Denn offensichtlich schreiben und sprechen sie nicht über diese
Gegenstände, obwohl dies doch vielleicht noch wertvoller wäre als das Re-
den vor Gericht oder | in der Volksversammlung. Auch haben sie ihre eige- 5
nen Söhne oder Freunde nicht zu Staatsmännern gemacht. Das wäre aber
doch zu erwarten, wenn sie es könnten. Denn weder könnten sie ihren Staa-
ten etwas Besseres hinterlassen noch würden sie für sich selbst etwas anderes
dem Besitz dieser Fähigkeit vorziehen und daher auch nicht für diejenigen,
die ihnen am nächsten stehen. Nicht wenig scheint aber auch | die Erfahrung 10
beizutragen, denn sonst würde man nicht durch Vertrautheit mit der Politik
zum Staatsmann. Deswegen scheint es, dass diejenigen, die nach politischem
Wissen streben, überdies auch noch Erfahrung brauchen.
Diejenigen unter den Sophisten, die sich als Lehrer anpreisen, scheinen
aber allzu weit davon entfernt zu sein, Politik lehren zu können. Sie wissen
nämlich gar nicht, welcher Art sie ist und mit welcher Art von Gegenstän-
den sie befasst ist, denn sonst | würden sie die Politik nicht mit der Rhetorik 15
gleichsetzen, geschweige denn sie ihr unterordnen. Noch auch würden sie
es für leicht halten, Gesetze zu geben, indem man einfach die besonders ge-
achteten unter den Gesetzen sammelt, weil man dann aus ihnen die besten
auswählen könne – so als sei die Auswahl nicht Sache von Verständnis und
die richtige Beurteilung nicht das Wichtigste daran, so wie auch in der Mu-
sik. Die Erfahrenen | urteilen über jedes Produkt richtig und verstehen, wo- 20
durch und wie es zustande kommt und was womit zusammenpasst. Uner-
fahrene dagegen müssen schon damit zufrieden sein, wenn ihnen nicht völlig
entgeht, ob ein Werk gut oder schlecht gemacht ist, wie etwa in der Malerei.
Die Gesetze sind aber gleichsam die Produkte des politischen Wissens.
| Wie also könnte jemand von ihnen lernen, Gesetze zu geben und zu be- 1181b
urteilen, welche die besten sind? Denn auch Arzt wird man anscheinend
nicht aufgrund von Textbüchern. Und doch versuchen die Schriften, nicht
nur die Heilmittel anzugeben, sondern auch, wie bei der Heilung vorzu-
198 Buch X
5 gehen ist und wie man | die einzelnen Arten von Patienten zu behandeln
hat, indem sie deren Zustände unterscheiden. Diese Schriften erweisen sich
nun zwar als nützlich für Leute mit Erfahrung, für Unerfahrene dagegen als
nutzlos. Daher werden sich vielleicht auch Sammlungen von Gesetzen und
von Staatsverfassungen für diejenigen als nützlich erweisen, die fähig sind,
sie zu untersuchen und zu beurteilen, was an ihnen richtig und was das Ge-
genteil ist und welche Gesetze zu welchen Verfassungen passen. Wer jedoch
10 solche Sammlungen ohne | die entsprechende Disposition durchgeht, ist zu
einem richtigen Urteil nicht fähig, es sei denn durch Zufall; er könnte aber
vielleicht immerhin ein besseres Verständnis dafür entwickeln.
Da unsere Vorgänger die Frage der Gesetzgebung unerforscht gelas-
sen haben, ist es vielleicht besser, dass wir sie selbst näher untersuchen, und
15 überhaupt die Frage der Staatsverfassung, um so nach | Kräften die Philo-
sophie der menschlichen Dinge zu ihrer Vollendung zu bringen. Als erstes
wollen wir nun versuchen, wenn unsere Vorgänger im Einzelnen etwas Zu-
treffendes gesagt haben, dies durchzugehen. Anschließend wollen wir auf
der Basis unserer Sammlung von Verfassungen untersuchen, welche Um-
stände die Staaten und die verschiedenen Arten von Verfassungen bewahren
20 und welche sie zerstören, und aus welchen Gründen die einen Staaten | gut,
die anderen schlecht verwaltet werden. Wenn wir all dies untersucht haben,
dann werden wir wohl auch besser verstehen, welche Art von Verfassung die
beste ist, wie jede einzelne geordnet ist und welche Gesetze und Gebräuche
sie verwendet. Mit dieser Untersuchung wollen wir nun anfangen.
Einleitung
EINLEITUNG
nur herauszufinden, welche Anlagen und Talente er hat, sondern auch, wie
sie zu fördern und anzuwenden sind.
So steht für Aristoteles fest, dass der Mensch zwar ein von der Natur
zur Ausbildung von Kultur, insbesondere von politischer Kultur, bestimm-
tes Lebewesen ist, dass sich ihre Ordnung aber, anderes als bei sonstigen in
Gemeinschaft lebenden Tieren, nicht von Natur aus einstellt, sondern durch
die Menschen selbst zu schaffen ist. Daher ist der Mensch innerhalb der
Natur ein Ausnahme: Natürliches geschieht sonst ‚immer‘ oder doch ‚meis-
tens‘. Beim Menschen ist das nicht so. Wenn Aristoteles dennoch auf einer
teleologischen Bestimmung des Menschen besteht, so deshalb, weil das ihm
vorgegebene Ziel, das gute, menschenwürdige Leben, weder ins Belieben
des Einzelnen gestellt ist noch auch auf bloßer Konvention oder Tradition
beruht.
Auf die Gründe dafür, dass die Menschen in besonderer Weise auf sich
selbst gestellt und aufeinander angewiesen sind, ist schon Platon verschie-
dentlich eingegangen. So lässt er im Dialog Protagoras den berühmten
Sophisten in seinem ‚großen Mythos‘ die mangelhafte Ausstattung des Men-
schen durch die Natur schildern. Der Mensch wird nackt und bloß geboren,
ohne natürlichen Schutz, Nahrung oder Mittel zu seiner Verteidigung. Zum
Überleben bedarf es daher einerseits der Produkte der Handwerkskünste,
andererseits aber auch der ‚staatsbürgerlichen‘ Tugenden von Gerechtigkeit
und gegenseitiger Achtung, weil der Mensch auf Gemeinschaft angewiesen
ist, die Erhaltung einer Gemeinschaft aber Recht und gegenseitigen Respekt
voraussetzt (Prot. 320c–328a). Mit der menschlichen Bedürftigkeit begrün-
det Platon andernorts auch das Prinzip der Arbeitsteilung, das er als die
Ursache für die Gründung von Staaten und der dafür erforderlichen Prinzi-
pien der Gerechtigkeit präsentiert (Resp. II 369b–372a).
Aristoteles hebt nun weniger auf die negative Seite des Menschen ab als
Platon, d.h. auf seine Bedürftigkeit, als vielmehr auf den positiven Aspekt:
Ein Leben in einer wohlgeordneten Gemeinschaft erlaubt es dem Menschen,
seine in ihm von Natur aus angelegten rationalen und charakterlichen Fähig-
keiten auszubilden und anzuwenden. Der Mensch ist nicht nur ein Her-
dentier, das in einer strukturell differenzierten Organisation lebt, wie etwa
Bienen und Ameisen, sondern er unterscheidet sich von ihnen durch den
Besitz der Sprache, aufgrund derer er sich über Gutes und Schlechtes, über
Nützliches und Schädliches, über Recht und Unrecht zu verständigen ver-
mag (Pol. I 2, 1253a7–18). Das Angewiesensein auf eine wohl-strukturierte
politische Ordnung hat zur Folge, dass die aristotelische Ethik keine Indi-
vidualethik ist, sondern die der ganzen Gemeinschaft, der Polis. Auf diese
Tatsache weist Aristoteles gleich zu Anfang der Nikomachischen Ethik hin,
wenn er von einer ‚Meisterwissenschaft des Lebens‘ spricht, deren Aufgabe
es ist, durch die richtigen Gesetze für die Entwicklung und Ausübung der
1. Die aristotelische Konzeption von Ethik: Das Gute des Menschen 205
vermittelt worden war. Denn Platon war der Überzeugung, dass die Lei-
tung eines gut organisierten Staates nur charakterlich gefestigten Menschen
anvertraut werden darf, die zudem über die nötigen Geisteskräfte und wis-
senschaftlich fundierten Einsichten verfügen.
Obwohl es kaum Informationen über die Interna des Schulbetriebs in
der Akademie gibt, ist doch klar, dass die Verbindung zwischen ethisch-
politischer und wissenschaftlicher Bildung zur Zeit des Eintritts des jungen
Aristoteles (367 v. Chr.) zum festen Bestand dessen gehörte, was an Pla-
tons Schule vermittelt wurde. Von dieser Verbindung ist Aristoteles auch
später nie abgerückt. Unterschiede, die sich zwischen den platonischen und
den aristotelischen Vorstellungen auftaten, betreffen nur die Bestimmung
der Tugenden und das Zusammenwirken von rationalen Fähigkeiten und
charakterlichen Eigenschaften. Auf diese Gemeinsamkeiten und die Unter-
schiede ist hier nicht näher einzugehen. Es sei nur so viel angedeutet: Wie
Platon unterscheidet Aristoteles zwischen rationalen Tugenden – also den
besonderen Fähigkeiten der Vernunft, die entsprechend auszubilden sind –
und anderen guten Eigenschaften, die auf Gewöhnung und Training beru-
hen, die man als ‚Charaktertugenden‘ bezeichnet. Während Platon aber nur
eine Art der intellektuellen Tugend annimmt, die sowohl theoretisches wie
praktisches Wissen umfasst, die er bisweilen als sophia, bisweilen als phronê-
sis oder auch als epistêmê bezeichnet, trennt Aristoteles diese beiden Fähig-
keiten, unterscheidet also zwischen theoretischer und praktischer Vernunft.
Während die theoretische Vernunft (sophia) für wissenschaftliches Denken
und die Erkenntnis des Wahren zuständig ist, gilt die praktische Vernunft
(phronêsis) dem durch Handeln zu erreichenden Guten und den dazu erfor-
derlichen Mitteln und Wegen. Dies ist der eine wesentliche Unterschied
zwischen der platonischen und der aristotelischen Ethik.
Ein zweiter wesentlicher Unterschied betrifft die Charaktertugenden.
Während Platon nur drei Arten dieser Tugenden annimmt, nämlich Tapfer-
keit, Besonnenheit und Gerechtigkeit, und sie der Weisheit unterordnet, gibt
es bei Aristoteles einen weit umfassenderen Katalog von Charaktertugen-
den, und ihr Verhältnis zur praktischen Vernunft ist komplexer als bei Pla-
ton. Überdies, und in diesem Unterschied liegt gewissermaßen das Wahrzei-
chen der aristotelischen Ethik, stellt Aristoteles jeder Charaktertugend nicht
nur ein, sondern jeweils zwei Laster bzw. Schlechtigkeiten gegenüber. So
ist das Gegenteil der Tapferkeit nicht nur die Feigheit, sondern die Feigheit
einerseits und die Tollkühnheit andererseits; das Gegenteil der Freigebigkeit
ist nicht nur der Geiz, sondern auch die Verschwendungssucht. Wenn Aris-
toteles den Charaktertugenden und Lastern somit eine triadische Struktur
unterstellt, so ist das keine bloße Ergänzung, sondern das Ergebnis einer
wohlerwogenen Theorie: Jede Charaktertugend ist als ‚Mitte‘ zwischen
Übermaß und Mangel zu verstehen – einem Übermaß und einem Mangel
1. Die aristotelische Konzeption von Ethik: Das Gute des Menschen 207
anderen Menschen dient, manifestiert sich überdies darin, dass zu den ‚Para-
metern des Sollens‘, die eine Handlung bestimmen und für ihre Beurteilung
wesentlich sind, auch gehört, ‚für wen‘ sie bestimmt ist bzw. ‚wem gegen-
über‘ sie ausgeführt wird. Die Auswirkung einer Handlung auf andere spielt
also eine zentrale Rolle bei ihrer Beurteilung.
‚edierte‘ Werke handelt und Widmungen bei Aristoteles auch sonst nicht zu
finden sind. Andere Fachleute gehen davon aus, dass Eudemos nach Aristo-
teles’ Tod die Bearbeitung der einen Version, Aristoteles’ Sohn Nikomachos
dagegen die der anderen Version übernommen hat. Gegen letztere Annahme
spricht jedoch, dass Nikomachos zur Zeit von Aristoteles’ Tod noch ein
Kind war und einer späteren Nachricht zufolge als ganz junger Mann im
Krieg gefallen ist (Eusebios, Praeparatio evangelica 15.2–15.3). Es ist daher
höchst unwahrscheinlich, dass er die Überarbeitung eines der Hauptwerke
seines Vaters übernommen hat.
Für die Tatsache, dass es zwei Versionen der Ethik gibt, die mit unter-
schiedlichen Titeln bedacht wurden, bietet sich jedoch eine einfachere Erklä-
rung an: Aristoteles hat selbst die frühere Version seiner Ethik, der EE, in
seinen letzten Jahren einer gründlichen Revision unterzogen, ist an der Fer-
tigstellung der EN jedoch durch seinen Tod in Chalkis im Jahr 322 gehindert
worden. Dorthin hatte er sich mit seiner Familie 323 zurückgezogen, weil
ihm in Athen nach dem plötzlichen Tod Alexanders des Großen in Babylon
ein Gerichtsverfahren drohte. Aristoteles galt seiner Beziehungen zu Alex-
ander wegen als Makedonenfreund und war daher ein Angriffsziel für Poli-
tiker, die Athens Unabhängigkeit von der makedonischen Herrschaft wie-
derherstellen wollten.
Die revidierte Fassung der Ethik dürfte nach Aristoteles’ Tod als Teil sei-
nes Nachlasses mit der Familie, wohl unter der Obhut von Theophrast, nach
Athen zurückgebracht worden sein. Deshalb liegt die Vermutung nah, dass
man in seiner Schule dem Umstand, zwei verschiedene Versionen der Ethik
vor sich zu haben, dadurch Rechnung trug, dass man die neuere Version, die
mit Nikomachos nach Athen zurückgekommen war, nach ihm, die ältere
nach dem in Athen verbliebenen Eudemos benannt hat. Da Theophrast eine
eigene Ethik verfasst hat, kam er als Namensgeber nicht in Frage.
Die beiden Schriften zur Ethik betreffend besteht nun aber insofern noch
ein besonderes Problem, als die ‚mittleren Bücher‘, nämlich EN V–VII und
EE IV–VI, in der Überlieferung miteinander identisch sind. Für die Erklä-
rung dieser Tatsache gibt es mehrere Möglichkeiten: Zum einen könnte
Aristoteles zu einer Überarbeitung der mittleren Bücher nicht mehr gekom-
men sein, so dass die mittleren Bücher der EE ihren Platz in der EN behiel-
ten. Zum anderen könnten die mittleren Bücher einer der beiden Versionen
früh verloren gegangen sein, so dass man das Verlorene aus dem anderen
Werk ergänzt hat. Im Prinzip ist ein Transfer in beide Richtungen möglich,
von der EE zur EN und umgekehrt. Nun hat eine der beiden handschriftli-
chen Überlieferungszweige der EE im Mittelalter die mittleren Bücher mit
dem Verweis ausgelassen, sie seien dieselben wie die zentralen Bücher der
EN. Ein wirklich verlässliches Kriterium ist das aber nicht; es beruht viel-
leicht nur darauf, dass man in der Spätantike und im Mittelalter in der EN
210 Einleitung
die Hauptschrift gesehen und die EE daher vernachlässigt hat. Das erklärt
auch den allgemein schlechten Zustand der Handschriften der EE.
Eine sorgfältige Überprüfung der Handschriften hat aber ergeben,
dass die mittleren Bücher in den – sehr späten − Handschriften der EE aus
einer der älteren Handschriften der EN übernommen worden sein müssen
(Harlfinger 1971, 38–50). Es gibt nämlich keine signifikanten Abweichun-
gen (‚Trennfehler‘) zwischen den mittleren Büchern beider Ethiken, wie
es sie geben müsste, wenn sie auf seit der Antike voneinander unabhängi-
gen Überlieferungstraditionen beruhten. Das besagt jedoch nichts über die
Zugehörigkeit dieser Bücher in der Antike. Entscheidend für diese Frage
kann daher nicht die spätere Überlieferungsgeschichte, sondern nur ihre
Nähe zum erhaltenen Text der EE einerseits und der EN andererseits sein.
Aufschlussreich für diese Frage sind aber auch Informationen über das
ungewöhnliche und reichlich verwickelte Schicksal von Aristoteles’ ‚esoteri-
schen‘ Schriften im 3. bis 1. Jh. v. Chr., die wir dem Historiker und Geogra-
phen Strabon (Buch XIII der Geographica) und Plutarchs Biographie Sullas
(26, 1–2) verdanken. Diesen Berichten nach hat Theophrast seine und Aris-
toteles’ Bibliothek, die auch ihre Manuskripte umfasste, testamentarisch sei-
nem Freund Neleus vermacht (vgl. Diogenes Laertius V 52). Da Neleus aber,
anscheinend wider Erwarten, nicht zum Schulhaupt des Peripatos gewählt
wurde, ist er unter Mitnahme der Bibliothek in seine Heimatstadt Skep-
sis in Kleinasien zurückgekehrt. Seine Nachkommen sollen die Schriften
in einem unterirdischen Stollen aufbewahrt haben, um sie vor dem Zugriff
der bibliophilen Könige von Pergamon zu verbergen. Erst im 1. Jh. hat die
Familie die Schriften, die sich ihrer unsachgemäßen Aufbewahrungsweise
wegen in schlechtem Zustand befanden, an einen Büchersammler namens
Apellikon verkauft, der die Manuskripte des Aristoteles zusammengestellt,
ergänzt und herausgegeben hat. Diese Manuskripte hat Sulla 86 v. Chr. nach
der Eroberung Athens mit nach Rom genommen und dort einem gelehrten
griechischen Kriegsgefangenen namens Tyrannion zur Überarbeitung über-
lassen. Plutarch fügt ergänzend hinzu, dass der Peripatetiker Andronikos
von Rhodos aufgrund von Abschriften dieser Manuskripte diese Schriften
von Aristoteles und Theophrast veröffentlicht und dazu auch ein Schrif-
tenverzeichnis angefertigt hat. Auch die später traditionelle Zusammenstel-
lung von Aristoteles’ Werken in den uns bekannten Pragmatien ist – einer
Bemerkung bei Porphyrios zufolge (Vita Plotini 24, 9–11) – Andronikos
zu verdanken. Die Ausgabe der Werke des Aristoteles durch Andronikos
war daher für die weitere Geschichte des Aristotelismus von entscheidender
Bedeutung (anders allerdings Barnes 1997). Ob Andronikos diese Ausgabe
in Rom oder in Athen angefertigt und zu welcher Zeit er das getan hat, ist
ungewiss. Da Cicero ihn nicht erwähnt, nimmt man an, dass diese Edition
erst nach dessen Tod erschienen ist.
2. Die aristotelischen Schriften zur Ethik und ihre Geschichte 211
Cicero ist nämlich für die Frage der Überlieferung der EN ein wichti-
ger Zeuge. Denn er erwähnt in De Finibus III 1, er sei auf dem Weg in die
Bibliothek des jungen Lucullus, um dort bestimmte commentarii des Aris-
toteles auszuleihen, die er nicht selbst besaß und bisher auch nicht kannte.
Dazu gehörte offensichtlich auch die Nikomachische Ethik (De Finibus
V 12). Mit dem ungewöhnlichen Titel weiß Cicero aber anscheinend nichts
anzufangen, denn er geht zunächst von der Autorschaft von Aristoteles’
Sohn Nikomachos aus, erwähnt aber auch, dass andere diese Schrift Aristo-
teles selbst zuschreiben, und gibt sich schließlich mit der Erklärung zufrie-
den, dass ein kluger Vater doch auch einen klugen Sohn haben sollte. Von
zwei verschiedenen Werken spricht Cicero nicht, wie von manchen Autoren
behauptet, sondern nur von De moribus libri. Eudemos erwähnt er dage-
gen nicht. Da Cicero an derselben Stelle auch den Unterschied zwischen
den populären, ‚exoterischen‘ Schriften und den schwierigeren Traktaten
von Aristoteles und Theophrast erläutert, hatten Kenner in Rom also schon
vor der Ausgabe des Andronikos Zugang zu den wiedergefundenen ‚esoteri-
schen‘ Schriften, zu denen auch die Nikomachische Ethik gehört hat.
Es ist allerdings zweifelhaft, ob die aristotelischen Schulschriften wirk-
lich über zweihundert Jahre lang den Mitgliedern des Peripatos nicht mehr
zugänglich gewesen sind. So wird die Frage, ob es in Athen und in der Bib-
liothek von Alexandria keine Kopien der Schulschriften gegeben hat, seit
dem frühen 19. Jh. intensiv diskutiert (zu Gründen, die gegen die Unzu-
gänglichkeit der Schriften sprechen, vgl. Moraux 1973, 3–93, zu Gründen,
die dafür sprechen, vgl. Barnes 1997; Primavesi 2007; Hatzimichali 2013;
2016). Obwohl für eine ausführliche Erörterung der verwickelten Proble-
matik hier nicht der Ort ist, sei so viel angedeutet: Es besteht kein Zweifel
daran, dass die Bibliothek von Alexandria eine reichhaltige Sammlung der
Schriften des Aristoteles enthielt. Davon zeugen etwa die Schriftenverzeich-
nisse bei Diogenes Laertius (V 22–27) und bei Hesychius von Milet, die man
auf den Bibliothekar Hermippos zurückführt, der im 3. Jh. v. Chr. in Ale-
xandria gewirkt haben soll. Schon ein bloßer Blick in diese Verzeichnisse
zeigt aber, dass sowohl die Titel wie auch die Buchzahlen betreffend kaum
Übereinstimmungen mit dem uns heute geläufigen Werkverzeichnis festzu-
stellen sind, das sich der Tradition des Andronikos verdankt. Nicht nur das:
Es ist fraglich, ob die uns bekannten Schulschriften in dieser Bibliothek in
Einzelschriften oder unter anderen Titeln enthalten waren.
Primavesi 2007 hat aber mit guten Gründe dafür argumentiert, dass Stra-
bons Bericht über das Verschwinden der Schulschriften eine gewisse Basis
haben muss (Strabon war ein Schüler des Peripatetikers Boethos, vgl. Geo-
graphica XVI 2, 24), selbst wenn seine Behauptung über den schlechten
Zustand der Schriften eine starke Übertreibung darstellt und wohl auch
nicht sämtliche esoterische Schriften nur im Stollen von Skepsis überlebt
212 Einleitung
Da von Aspasios’ Kommentar zu den mittleren Büchern nur ein Teil von
Buch VII (ab 7, 1149b32 an) erhalten ist, bietet er keine weiteren Informa-
tionen über die mittleren Bücher. Es kann daher gar keine Rede davon sein,
dass Aspasios in Eudemos den Verfasser aller drei mittleren Bücher gesehen
hat (pace Jaeger 1923, 239; zu Aspasios vgl. auch § 3). Auch von einem Aus-
fall der drei mittleren Bücher spricht Aspasios nicht. Wenn er an einer Stelle
die Tatsache, dass Aristoteles eine bestimmte Erklärung nicht gegeben hat,
damit erklärt, es handle sich um etwas, das in der EN ‚ausgefallen‘ sei (161,
9 f.: en tois ekpeptôkosi tôn Nikomacheiôn), so spricht er nicht von ausge-
fallenen Büchern, geschweige denn von drei Büchern. Wie eine Parallelstelle
zeigt, an der Aspasios denselben Ausdruck verwendet, geht es um ein ver-
sehentliches Auslassen (64, 30). Hingegen lässt seine Bemerkung, Eudemos
und Theophrast stimmten Aristoteles’ Beurteilung der Freundschaft zwi-
schen Ungleichen zu (178, 1–5), darauf schließen, dass Aspasios alle drei
Ethiken zur Verfügung hatte – neben der Nikomachischen Ethik des Aris-
toteles auch die ‚Ethik des Eudemos‘ und die des Theophrast – und dass er
auch ihren Inhalt verglichen hat.
Dass die kurze Abhandlung über die Lust in beiden Ethiken identisch
ist, spricht dafür, dass Aristoteles die Revision der EN nicht zu Ende füh-
ren konnte, sonst hätte er sicher das Textstück von VII 12–15 getilgt, des-
sen Neufassung in X 1–5 enthalten ist. Zu dieser Annahme passt, dass der
Text der EN auch sonst nicht überall die Klarheit und Kohärenz im Aufbau
erlangt hat, die andere, wenn auch nicht alle aristotelischen Schriften aus-
zeichnen. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass Aristoteles mit der Revision
erst in seinem letzten Lebensjahr begonnen hat. Er dürfte lang vorher daran
gearbeitet haben, wie auch der Vorlesungscharakter des Manuskripts bestä-
tigt. Die hier angebotene Erklärung setzt lediglich voraus, dass Aristoteles
das Werk nach seiner Flucht aus Athen im Jahr 323 mit nach Chalkis genom-
men hat und seine Überarbeitung nicht mehr abschließen konnte, weil er
sonst manche der Unebenheiten beseitigt hätte, an denen sich aufmerksame
Leser stoßen.
Wenn Aristoteles also zuerst eine Schrift über Ethik in acht Büchern ver-
fasst und diese Schrift dann in einer überarbeiteten Version auf zehn Bücher
ausgedehnt hat, so ist doch weder über die Entstehungszeit der EE noch über
die der EN etwas Sicheres auszumachen. Denn er scheint beide Versionen in
der Lehre verwendet zu haben. Die Anfänge von Aristoteles’ Beschäftigung
mit ethischen Problemen dürften auf seine Zeit in Platons Akademie zurück-
gehen, weist er doch in der frühen Schrift Topik (I 14) auf die Dreiteilung in
Ethik, Physik und Logik hin und auf die Notwendigkeit einer Differenzie-
rung zwischen den ihnen jeweils eigenen Problemen und Prinzipien.
Zur allgemeinen Orientierung sei hier an die drei Phasen erinnert, in die
man das Leben des Aristoteles einzuteilen pflegt, seine Lehr-, Wander- und
214 Einleitung
Werke des Eudemos, insbesondere zur Logik; die Ethik betreffend spricht er
aber nur von der EN und verweist auch auf mehrere ihrer Bücher, darunter
auch auf manche der mittleren Bücher. Dass Alexander, der sonst auch auf
Abweichungen in den Handschriften eingeht, keinen Hinweis auf Zweifel
an der Zuschreibung dieser Bücher an die EN gibt, sollte für sich sprechen.
Spätere Kommentatoren rechnen zwar die EE zu den Schriften des Aristo-
teles, Gegenstand eines Kommentars war sie aber nicht.
Schließlich sei hervorgehoben, dass die mittleren Bücher zwangsläufig
sowohl Übereinstimmungen mit den übrigen Büchern der EN wie auch mit
den erhaltenen Teilen der EE enthalten. Denn Aristoteles hat seine Meinung
ja nicht in jeder Hinsicht geändert; vielfach nimmt er nur eine Umorganisa-
tion in der Präsentation vor. Daher gibt es viele Übereinstimmungen zwi-
schen beiden Texten, eine Tatsache, die im 20. Jh. die Fachleute davon über-
zeugt hat, dass nicht Eudemos, sondern Aristoteles selbst der Autor der EE
gewesen sein muss. Obwohl im Kommentar kein Raum für Vergleiche in
der Behandlung wichtiger Fragen in den beiden Ethiken ist, finden sich an
wichtigen Stellen Hinweise auf Abweichungen wie auch auf Übereinstim-
mungen (eine aufschlussreiche Synopse von Parallelstellen und Abweichun-
gen bietet Burnets Ausgabe von 1900).
Übergang von der Kennzeichnung der Tugenden am Ende von Buch I zur
Diskussion der Charaktertugenden in Buch II. Ferner unterbricht die Ein-
teilung in Buch III und IV die fortlaufende Erörterung der einzelnen Cha-
raktertugenden, und Entsprechendes gilt für die Diskussion der Freund-
schaft in Buch VIII und IX. Man tut daher gut daran, sich an die Tatsache
zu erinnern, dass die Bucheinteilung nicht auf Aristoteles selbst zurückgeht.
Die Einteilung zeugt jedoch vom Bemühen der ersten Herausgeber, sachlich
Zusammengehöriges nach Möglichkeit beisammen zu halten. Daher lässt
sich auch der Inhalt in etwa den Büchern entsprechend charakterisieren.
Dass die Länge der Bücher der Kapazität von Papyrusrollen geschuldet ist,
ist keine befriedigende Erklärung, wie man der Tatsache entnehmen kann,
dass z.B. die Rhetorik, ein Text von vergleichbarem Umfang wie die EN, nur
drei Bücher umfasst. Der Herausgeber hat aber anscheinend für die einzel-
nen Bücher in etwa gleiche Längen angestrebt.
Die auch heute noch üblichen Einteilungen in Kapitel sind erst in den
griechisch-lateinischen Druckausgaben der Renaissance vorgenommen wor-
den. Die griechischen Handschriften bieten nämlich über Absätze markie-
rende Einrückungen hinaus keine Feineinteilung des Texts. Die lateinische
Übersetzung von Robert Grosseteste enthält zwar Einteilungen in Kapi-
tel, die Renaissanceausgaben haben diese Einteilungen aber nicht übernom-
men. Unglücklicherweise haben sich bei der Kapiteleinteilung der EN zwei
verschiedene Schemata eingebürgert. Das eine Schema stammt von Johan-
nes Argyropulos im 15. Jh. (‚A‘), das andere vom Basler Gelehrten Theodor
Zwinger (‚B‘), der in seiner Einzelausgabe der Nikomachischen Ethik von
1556/1582 ausdrücklich von einer neuen, eigenständigen Einteilung spricht
(vgl. Reis 2008, 374). Dass sich diese beiden Einteilungsschemata nebenein-
ander gehalten haben, beruht darauf, dass die 3. Auflage der griechisch-latei-
nischen Basler Ausgabe (der sog. ‚Erasmus-Ausgabe‘), beide Kapiteleintei-
lungen vermerkt; sie kennzeichnet die Kapiteleinteilung der Ausgabe nach
Argyropulos durch römische, die der Ausgabe nach Zwinger durch arabi-
sche Ziffern. Auch die Ausgaben von Casaubonus von 1590 und von du Val
von 1619 sind dieser Konvention gefolgt.
Die Kapiteleinteilung betreffend besteht deswegen bis heute eine Art
von ‚Schisma‘, weil Bekkers Folio-Ausgabe nur die Einteilung mit arabi-
schen Zahlen, also ‚B‘ enthält. Wie es dazu gekommen ist, wird wohl immer
unklar bleiben, denn Bekkers Kollationsarbeit hat die Basler Erasmus-Aus-
gabe mit beiden Einteilungen zugrunde gelegen. Möglicherweise war es gar
nicht Bekkers eigene Entscheidung, auf die römischen Ziffern zu verzich-
ten, sondern die des Setzers, weil in Bekkers Ausgabe sonst nur arabische
Kapitel-Zahlen verwendet werden. Zwar enthalten heutige Ausgaben sämt-
lich die Seitenzahlen von Bekkers Folio-Ausgabe, die Gelehrten in Konti-
nentaleuropa folgen jedoch Bekkers Kapitel-Einteilung (‚B‘), während die
4. Zur Übersetzung zentraler Begriffe 221
Wie schon im Vorwort angedeutet, ist die Übersetzung in erster Linie auf
gute Lesbarkeit aus. Zwar versucht sie, textnah zu bleiben, bemüht sich aber
nicht um eine Art Abbild der aristotelischen Sprache im Deutschen. Damit
wäre nicht nur dem des Griechischen Unkundigen nicht gedient, sondern es
würde häufig auf Kosten der Verständlichkeit gehen. Insbesondere Aristo-
teles’ oft sehr verkürzte Ausdrucksweise, die schon den antiken Kommen-
tatoren Mühe gemacht hat, lässt sich im Deutschen nicht nachahmen. Wo
man im Griechischen aufgrund der Vertrautheit mit Aristoteles’ sprachli-
chen Gepflogenheiten Fehlendes ergänzen oder grammatisch Mehrdeutiges
entschlüsseln kann, sähe man sich im Deutschen hoffnungslosen Verwir-
rungen ausgesetzt. Abkürzungen oder signifikante Mehrdeutigkeiten lassen
sich in einer anderen Sprache oft gar nicht angemessen wiedergeben. Die
senkrechten Striche im Text markieren die Zeilenangaben in Bekkers Aus-
gabe. Da die Übersetzung aber zwangsläufig Umstellungen und Umformu-
222 Einleitung
das Bewusstsein deutlich, dass das Glück etwas Permanentes sein sollte; ins-
besondere Diskussionen in Talkshows lassen aber erkennen, dass man damit
vornehmlich die subjektive Befindlichkeit, besondere Erlebnisse, Empfin-
dungen oder Einstellungen meint und sich daher fragt, warum diese Arten
von Glückszuständen und -erlebnissen so flüchtig sind. Im Griechischen
geht es dagegen um objektive Gegebenheiten, um Lebensinhalte, um das
Gelingen der eigenen Vorhaben. Eudämonie ist nicht mit Euphorie zu ver-
wechseln. Im Englischen verwenden Philosophen zur Bezeichnung des
objektiven positiven Lebenszustandes gern den Ausdruck ‚flourishing‘, also
etwa ‚florieren‘ oder ‚blühen‘. Im Deutschen ist ersterer aber weitgehend auf
die Geschäftswelt beschränkt, letzterer auf Pflanzen. Bei Menschen spricht
man nur in einem metaphorischen Sinn von einer ‚Blüte‘; mit dem ‚blühen-
den Leben‘ ist in erster Linie die Gesundheit gemeint.
Auch bei der Übersetzung des Wortes aretê mit ‚Tugend‘ sieht man
sich vor eine ähnliche Verlegenheit gestellt. Dieser Ausdruck wirkt heute
im Deutschen einerseits altmodisch, andererseits vage, zumal die christliche
Interpretation der Tugenden, die neben Glaube, Liebe, Hoffnung besonde-
ren Wert auf Enthaltsamkeit, Selbstlosigkeit und Demut legt, seit der Auf-
klärung an Einfluss verloren hat. Diese Deutung des Begriffs der Tugend hat
mit dem ursprünglichen Begriff der Tugend im Altgriechischen aber wenig
mehr als den Namen gemeinsam. Wie ein Blick in die Lexika zeigt, etwa
LSJ, hatte aretê einen sehr viel weiteren Anwendungsbereich. Es bezeich-
net nämlich ganz allgemein hervorragende Fähigkeiten und Eigenschaften
verschiedenster Art. Zwar ist aretê nach Auskunft von Etymologen mit
anêr (‚Mann‘) urverwandt, ebenso wie das lateinische Pendant ‚virtus‘; es
bezeichnete also ursprünglich die Mannhaftigkeit. Der Ausdruck ist aber
schon früh auch auf Tiere und sogar auf leblose Gegenstände übertragen
worden. So ist bei Homer von der ‚Tugend‘ von Pferden die Rede. Wenn
Platon seinen Sokrates von der ‚Tugend‘ des Pferdes, des Auges oder eines
Messers sprechen lässt (Resp. I 335b; 342a et pass.), so erhebt nicht einmal
sein Gegner Thrasymachos dagegen Einspruch. Aretê kann daher ganz all-
gemein mit ‚Tauglichkeit‘ oder ‚Tüchtigkeit‘ übersetzt werden, womit auch
die etymologische Verwandtschaft zu ‚Tugend‘ im Deutschen angezeigt ist,
eine Assoziation, die im Deutschen des Mittelalters noch üblich war (vgl.
Eifler 1970). Diese Lösung hat aber den Nachteil, dass man heute unter
Tüchtigkeit hauptsächlich die berufliche Eignung und den entsprechenden
Erfolg versteht, so dass dieser Ausdruck weder zu den moralischen oder
Charaktertugenden noch auch zu den intellektuellen Tugenden passt Die
Lösung von Wolf 2006, aretê mit dem Kunstwort ‚Gutheit‘ zu übersetzen,
hat nicht nur den Nachteil, dass es ein sperriger Neologismus ist, sondern es
lässt sich auch kein Plural bilden, so dass sie auf ‚Tugenden‘ nicht verzichten
kann.
4. Zur Übersetzung zentraler Begriffe 225
ter Weise zu erfahren und auf sie zu regieren. In der Vergangenheit hat
man pathos mit ‚Affekt‘ übersetzt. Inzwischen ist man zu den modische-
ren ‚Emotionen‘ übergegangen. Abgesehen davon, dass es eine Vielfalt an
Emotionstheorien gibt, die das Verständnis von Aristoteles’ Auffassung von
der Natur der pathê nicht erhellen, bringt dieser Begriff nicht zum Aus-
druck, dass es Aristoteles vorzüglich um freud- oder leidvolle Eindrücke
und Erfahrungen zu tun ist, die sich bei den Betroffenen in entsprechenden
Arten von Bestrebungen positiver oder negativer Art manifestieren.
Auf die Unterscheidung zwischen den beiden für die Ethik zentralen Tugen-
darten, den Charaktertugenden und den rationalen Tugenden, ist bereits
zuvor hingewiesen worden. Zu ihrer Erläuterung ist kurz auf die aristo-
telische ‚Psychologie‘ einzugehen. Weil Aristoteles unter ‚Seele‘ nicht bloß
die menschliche Persönlichkeit, sondern sämtliche organischen Funktionen
versteht, die Lebewesen als solche auszeichnen, einschließlich der Pflan-
zen, gehören zu den Tugenden der Seele sämtliche guten Fähigkeiten, die
zum Leben erforderlich sind. Aristoteles geht dabei von einer Hierarchie
unter den Lebewesen aus, an deren Spitze der Mensch steht, weil er sich
von allen anderen Lebewesen durch den Besitz seines rationalen Seelenteils
unterscheidet. Der nicht-rationale Teil, der ihm mit den Tieren gemeinsam
ist, umfasst neben sämtlichen vegetativen, d.h. den physiologischen Funkti-
onen, auch die Vermögen der Bewegung, der Sinneswahrnehmung und der
Affekte. Der rationale Teil, den nur der Mensch besitzt, enthält seinerseits
verschiedenartige Vermögen; die theoretische, die praktische und die pro-
duktive Vernunft. Erstere gilt, kurz gefasst, dem Verstehen von allem, was
ist, die zweite gilt dem, was zu tun ist, dem Handeln, letztere dem Herstellen
von Produkten von Kunst und Handwerk.
Aristoteles geht aber davon aus, dass der rationale und der nicht-rati-
onale Seelenteil nicht voneinander zu trennen sind, jedenfalls wenn es um
gewöhnliches Weltwissen geht (auf das Sonderproblem des ‚aktiven Intel-
lekts‘, eines rein abstrakten Denkens und eines rationalen Strebens wie dem
nach Wissen, ist hier nicht einzugehen). Das theoretische Vermögen ist auf
die Sinneswahrnehmungen angewiesen, das praktische Vermögen sowohl
auf die Sinne wie auch auf das Strebevermögen. Denn jedes Handeln setzt
ein Bestreben, etwas Bestimmtes tun oder meiden zu wollen, voraus, und
dieses Bestreben beruht auf einem Affekt und hat daher seine Wurzel im
nicht-rationalen Seelenteil. Diese Tatsache ist wichtig, weil sie erklärt, was
Aristoteles unter Charaktereigenschaften versteht (vgl. § 4).
5. Die beiden Arten von Tugend 229
trale Bedeutung: Ohne sie wäre der Mensch schlimmer als jedes wilde Tier
(Pol. I 2).
Auf dieser Gewöhnung beruht auch die richtige Urteilskraft darüber,
wie zu handeln ist. Und ebendies ist die ‚praktische‘ Vernunft, die es dem
erwachsenen Menschen erlaubt, selbst Überlegungen anzustellen und Ent-
scheidungen zu treffen. Wenn Aristoteles zwischen der praktischen und der
theoretischen Vernunft unterscheidet, so liegt das nicht allein daran, dass sie
verschiedenen Gegenständen gelten, nämlich dem, was der Fall ist, und dem,
was zu tun und zu meiden ist, sondern auch daran, dass sie auf verschiedene
Weise entstehen: Beruht die theoretische Vernunft auf Erfahrung und Beleh-
rung, so beruht die praktische Vernunft zwar auch auf Belehrung, ist aber
ohne Erfahrung und Gewöhnung nicht zu erreichen, weil diese zugleich die
notwendige affektive Einstellung zum eigenen Handeln vermitteln. Nur wer
lernt, seine Freude an den richtigen Handlungsweisen zu haben und die fal-
schen zu verabscheuen, wird von sich aus das Richtige tun und das Falsche
meiden.
Die Erziehung des Menschen zum Guten war bereits ein Kernanliegen
von Platons Philosophie. Platon setzt dabei jedoch auf die ständige Len-
kung und Kontrolle der nicht-rationalen Seelenteile durch die Vernunft, wie
der berühmte Vergleich der Seele mit einem Wagenlenker, der seine Pferde
im Griff hat, plastisch zum Ausdruck bringt (Phdr. 246a–247e). Auch Pla-
ton führt zwar die übrigen Tugenden auf Gewohnheit und Übung zurück;
ohne die ständige Kontrolle durch die Vernunft wären die übrigen Tugen-
den aber nichts wert, da sie nahe bei denen des Körpers anzusiedeln sind
(Resp. VII 518d–519b). Für Aristoteles haben sich hingegen ‚die Pferde‘ des
gut Erzogenen die praktischen Vernunftprinzipien bereits zu eigen gemacht.
Nicht nur das: Ein Vergleich des Tugendkanons bei Platon mit dem des
Aristoteles führt zu interessanten Ergebnissen. Denn Aristoteles nimmt an
den vier sogenannten Kardinaltugenden – Weisheit, Gerechtigkeit, Tapfer-
keit und Besonnenheit – wichtige Veränderungen vor. Zum einen wird die
Liste der Charaktertugenden beträchtlich erweitert. Zu Tapferkeit, Beson-
nenheit und Gerechtigkeit kommen noch weitere Charaktertugenden
hinzu. Aristoteles war offensichtlich der Auffassung, dass auch Freigebig-
keit, gesunder Ehrgeiz, die Mäßigung im Zorn usw. auf je eigenen Affekten
beruhen und durch entsprechende Handlungsweisen einzuüben sind. Zum
anderen wird die Weisheit in theoretische Vernunft und praktische Vernunft
aufgespalten. Dazu hier nur in Kürze: Während die theoretische Vernunft
deduktiv vorgeht, d.h. aus gegebenen Prinzipien die richtigen Folgerun-
gen ableitet, ermittelt die praktische Vernunft die richtigen Mittel und Wege
hin zu einem bestimmten, als wünschbar erkannten Ziel. Gemeint ist aber
keine rein instrumentale Kalkulation, der jedes Mittel recht ist, wie man das
Aristoteles manchmal unterstellt. Vielmehr geht es um das Ermitteln mora-
6. Die beiden Arten des Glücks 231
lisch richtiger Mittel und Wege. Die praktische Vernunft ist insofern unauf-
löslich mit dem Charakter verbunden, als dieser nicht nur das Ziel festlegt,
sondern auch Einfluss auf die Wahl der Mittel hat. Über die intrikate Art
des Zusammenwirkens von Charakter und Vernunft äußert Aristoteles sich
nicht näher; Leser sind darauf angewiesen, sich darüber aus seinen Erklärun-
gen zur Beratung, zur Entscheidung und zum Wunsch in Buch III und VI
selbst einen Reim zu machen.
Die Zweiteilung des rationalen Teils in theoretische und praktische Ver-
nunft zeugt nicht nur davon, dass Aristoteles die Verschiedenheit ihrer
Gegenstände als gewichtiger ansieht als Platon, sondern auch davon, dass
er – anders als sein alter Lehrer – dem Anblick des ‚gestirnten Himmels über
sich‘ keine moralische Wirksamkeit für die Lebensführung zuspricht. Daher
gibt es bei Aristoteles auch keine Philosophenkönige. Der Philosoph und
der Staatsmann haben vielmehr verschiedene Aufgabenbereiche.
formen ist auch deswegen erheblich, weil mit theôria an dieser Stelle nicht
Wissenschaften aller Arten gemeint sind, sondern nur das Wissen vom ewig
Unveränderlichen. Das ist eine Einschränkung, die den Abstand zwischen
dem ‚Theoretiker‘, der sich einzig mit den ersten Prinzipien des Universums
beschäftigt, und dem ‚Praktiker‘, der sich um die Belange des Lebens in der
Gemeinschaft kümmert, noch vergrößert.
Nun gibt es in der EN gewisse Vorverweise auf eine Zweiteilung des
glücklichen Lebens. In der Übersicht über die Vorstellungen vom guten
Leben in EN I 3 wird die theoretische Lebensweise mit aufgeführt, ihre
Bewertung aber auf später verschoben. Auf eine Hierarchisierung deu-
tet scheinbar der Zusatz zur Erläuterung des Guten als ‚Tätigkeit der Seele
gemäß ihrer Tugend‘ hin: Wenn es mehrere Tugenden gibt, dann ist die
Tätigkeit gemäß der besten und vollkommensten die beste (I 6, 1098a17 f.).
Und in der Erörterung der intellektuellen Fähigkeiten in Buch VI wird die
Höherwertigkeit der theoretischen vor der praktischen Vernunft mit dem
Hinweis darauf begründet, dass der Mensch nicht das beste Lebewesen im
Kosmos ist (7, 1141a33–b2). Aus diesen Gründen kommt die Bevorzugung
der theoretischen Lebensform am Ende des Werks also nicht ganz unver-
hofft, wenngleich diese Anzeichen einen nicht dazu verführen sollten, das
Werk so zu lesen, als finde die reichhaltige Untersuchung des praktischen
guten Lebens und seiner Bedingungen erst in der theôria als dem einzig wah-
ren Lebensziel ihren krönenden Abschluss, demgegenüber sich das prakti-
sche Leben als zweitrangig erweist.
Über die Bewertung dieser Zweiteilung des Glücks herrscht unter den
Interpreten bis heute große Uneinigkeit. Schließlich ist es von erheblicher
Bedeutung für die Bewertung dieses Werks, ob das ‚menschliche‘ Leben,
das doch das eigentliche Thema der ganzen Schrift ist, im Vergleich zum
‚göttlichen‘ Leben nur ein Leben zweiter Güte darstellt. Die eine Partei der
Interpreten gibt einer ‚dominanten‘ Interpretation des Glücks den Vorzug,
d.h. sie sieht in der theoretischen Lebensweise die beste Art, derart dass das
Glück im primären Sinn darauf beschränkt ist, während alle anderen Tätig-
keiten eine zweitrangige Form des Glücks darstellen (so Hardie 1968; G/J
2
1970; Kenny 1978 − für die EN, aber nicht für die EE; 1992; Cooper 1987;
Kraut 1989 et al.). Die andere Partei geht von einem ‚inklusiven‘ Glücks-
begriff aus, d.h. sie sieht in der eudaimonia die Verwirklichung sämtlicher
Talente des Menschen, einschließlich der Beschäftigung mit der theôria (so
Ackrill 1974; Irwin 1985; Cooper 1975; Broadie 1991; verschiedene Beiträge
in Destrée/Zingano (Hg.) 2014). Überdies gibt es eine Vielzahl von Vermitt-
lungsvorschlägen zum Umgang mit dieser Problematik auch innerhalb die-
ser beiden Parteien. Denn es geht hier um eine für die Gesamtbewertung
der aristotelischen Ethik maßgebliche Frage, da sie die innere Kohärenz sei-
nes Glücksbegriffs betrifft. Der Text von X 7–9 macht es den ‚Inklusivisten‘
6. Die beiden Arten des Glücks 233
und den ‚Kompatibilisten‘ freilich nicht leicht, weil er das Trennende zwi-
schen den beiden Lebensformen deutlich hervorhebt und es unterlässt, auf
Verbindendes hinzuweisen. Aristoteles besteht nämlich darauf, dass selbst
die besten praktischen Tätigkeiten, die des Politikers, mühevoll (ascholoi)
sind, während einzig die theôria eine der Muße (scholê) angemessene Tätig-
keit (X 7) ist. Auch die Charaktertugenden werden abgewertet: Die Götter
haben weder Bedarf an Gerechtigkeit noch an Tapferkeit oder Freigebig-
keit, da sie nicht in irgendwelche Händel miteinander verstrickt sind und
auch mit Geld nichts zu tun haben (X 8). Vielmehr besteht ihr Leben in
reiner theôria. Für das theoretische ‚gottgleiche‘ Leben sind daher auch die
Charaktertugenden verzichtbar. Daher scheint auch die Annahme, dass das
Glück im Zusammenleben besteht und der Mensch ein zôon politikon ist,
für das gottgleiche Leben des ‚Theoretikers‘ nicht zu gelten.
Da diese Bevorzugung des rein Geistigen, Göttlichen und die Herab-
stufung des Menschlichen den Einfluss platonischer Gedanken nahelegen,
gehen manche Interpreten davon aus, dass dieses Textstück aus einer frü-
hen Phase in Aristoteles’ Entwicklung stammt, und nehmen eine enge Ver-
wandtschaft zum Protreptikos an, der von Aristoteles noch in seiner Akade-
miezeit verfassten ‚Werbeschrift‘ für die Philosophie, die an Themison, einen
Fürsten auf Zypern, gerichtet ist (so Jaeger 1923, I 4; II ‚Die Urethik‘; G/J
II 2, 873–875). Diese Annahme hat heute freilich nur noch wenige Freunde,
und dies nicht nur der Kritik an Jaegers Rekonstruktion der Entwicklung
des Aristoteles wegen. Gegen die Annahme, dass der Protreptikos selbst die
Quelle ist, spricht nämlich die Tatsache, dass dort zwar die Vorzüge der rei-
nen theôria hervorgehoben werden, von einer Trennung zwischen theoreti-
schem und praktischem Leben aber nicht die Rede ist. Vielmehr verweist der
Text darauf, dass die theôria auch die ersten Prinzipien des praktisches Tuns
liefert, insbesondere die Gesetzgebung betreffend (Protr. 46–53). Die Emp-
fehlung der Konzentration auf die reine Theorie und der Enthaltung von
jeder politischen Tätigkeit dürfte einen fürstlichen Adressaten zudem kaum
für die Philosophie gewinnen.
Für die Annahme, dass X 7–9 gleichwohl ein Textstück ist, dass einem
anderen Kontext entstammt und noch zu weiterer Bearbeitung vorgesehen
war, spricht neben der Kompromisslosigkeit in der Bevorzugung der theo-
retischen Lebensform die Tatsache, dass sich das nachfolgende Schlusska-
pitel 10 unvermittelt wieder dem praktischen Leben zuwendet und von der
theôria gar keine Notiz mehr nimmt. Vielmehr wird dort die Frage nach der
moralischen Erziehung der Bürger aufgenommen, insbesondere der Erzie-
hung der Gesetzgeber, und damit zugleich die Überleitung zum Studium der
Politik hergestellt.
Von einer strikten Trennung einer ‚göttlichen‘ und einer ‚menschlichen‘
Lebensweise ist bei Aristoteles dagegen an einer anderen Stelle die Rede,
234 Einleitung
nämlich am Anfang von Buch VII der Politik, anlässlich der Suche nach der-
jenigen politischen Verfassung, welche der Entfaltung des Besten im Men-
schen dient. Dort verweist Aristoteles auf eine Kontroverse über die Frage,
welcher Lebensform prinzipiell der Vorzug gebührt: der eines Menschen,
der als Bürger an den Angelegenheiten der Gemeinschaft teilnimmt, oder
der eines Philosophen, der von ihr abgetrennt ganz für sich wie ein Fremder
(xenikos) im Staat lebt (2, 1324a13–23). Da dieses Buch deutliche Affinitä-
ten an platonische Vorstellungen vom besten Staat und der Erziehung der
Bürger aufweist, hält man es allgemein für früh. Aristoteles dürfte daher auf
eine Kontroverse in der Akademie über die Beteiligung von Philosophen an
Staatsangelegenheiten anspielen, zu der Platon selbst Anlass gegeben hat.
Denn einerseits wird von den Philosophenkönigen ein fünfzehn Jahre wäh-
render Dienst in der ‚Höhle‘ der Politik erwartet (Resp. VII 539e–540c).
Andererseits enthält sich der wahre Philosoph dem Theaitetos zufolge von
jeder Beschäftigung mit politischen Angelegenheiten, sondern ist nur sei-
nem Körper nach Teil des Staates, während sein Geist ‚die Dinge über dem
Himmel und unter der Erde betrachtet‘ und nach ‚einer Angleichung an
Gott strebt‘ (Tht. 172c–177b). Wie immer Platon diese Empfehlungen auch
gemeint haben mag, sie bieten Anlass für eine Kontroverse unter seinen
Schülern über die Beteiligung des Philosophen an der Politik, zu der auch
der junge Aristoteles beigetragen hat. Das Textstück in EN X 7–9 dürfte sei-
nem Beitrag zu dieser Kontroverse entstammen.
Wie sich später in Pol. VII zeigt, hat Aristoteles für die Kontroverse
eine inklusive Lösung im Auge. Denn er geht dort differenzierend auf die
Kriterien von ‚Muße‘ und ‚Unmuße‘ ein (Pol. VII 14 + 15), Begriffe, die
in der EE gar nicht und in der EN nur in Buch X 7 auftauchen und als
Argument für die Überlegenheit des Philosophen dienen. Die Erziehung
hat vielmehr das Ziel, die Harmonie zwischen Naturanlagen, Gewohnhei-
ten und Vernunft herzustellen. Wie diese Harmonie zu erzielen ist, deutet
Aristoteles anschließend in dem unvollständig gebliebenen Buch VIII an.
Dort unterscheidet er zwischen den Dingen, welche Kinder lernen sollten,
weil sie nützlich sind, und solchen, die in ‚schönen mußevollen Tätigkei-
ten bestehen‘ (3, 1337b31 f.: scholazein kalôs). Da dieses Programm nicht
über das Kindesalter hinauskommt, wird einzig die Musik als Tätigkeit
gekennzeichnet, die man um ihrer selbst willen betreibt. Dass das Pro-
gramm weit darüber hinausgehen sollte, zeigt aber das Versprechen, über
die Anzahl der entsprechenden Tätigkeiten, ihre Form und die Art ihres
Erwerbs später mehr sagen zu wollen (3, 1338a32–34). Die Rede von einer
Mehrzahl von Tätigkeiten lässt schließen, dass außer musischen Tätigkeiten
auch bestimmte Wissenschaften sowie die Politik gemeint sind. In Aristo-
teles’ bestem Staat sollen die Bürger einander nämlich beim Regieren ab-
wechseln (zu dieser Thematik ausführlicher Frede 2019a).
7. Der Aufbau der Schrift 235
erwähnt, bietet die Wiederaufnahme des Begriffs des Glücks weniger eine
Abrundung der Bestimmung des guten Lebens als eine problematische
Erweiterung, weil hier die praktische, ‚menschliche‘ Lebensform gegen-
über der theoretischen, ‚göttlichen‘ als zweitrangig dargestellt wird. Das
Abschlusskapitel 10 wendet sich dagegen der Frage nach der Erziehung in
praktischer Hinsicht zu, insbesondere aber der Frage nach der Erziehung
der Gesetzgeber, von deren Tätigkeit das Wohl der Gemeinschaft abhängt.
Damit wird zugleich der Bezug auf die Notwendigkeit einer politischen
Meisterwissenschaft hergestellt, von der Aristoteles am Anfang der EN aus-
gegangen ist. Da dieses Wissen ein eingehendes Studium der unterschiedli-
chen Staatsverfassungen und der besten Staatsform erfordert, erweist sich
die Politik als die Fortsetzung der Untersuchung über das gute Leben.
Trotz ihres im Prinzip einprägsamen und transparenten ‚Fahrplans‘
ist die EN keine leichte Lektüre. Das liegt nicht nur an der Tatsache, dass
Aristoteles, wie er selbst wiederholt sagt, nur einen Umriss liefert, der vie-
les offenlässt, und es liegt auch nicht nur an seiner bereits erwähnten Nei-
gung zur Brachylogie. Vielmehr scheint Aristoteles bei der Revision seiner
Ethik, welche die EN gegenüber der EE darstellt, zwar eine insgesamt klare
Strategie zu verfolgen, aber nicht mehr dazu gekommen zu sein, alle Ecken
und Kanten zu beseitigen. Zu diesen Ecken und Kanten gehört nicht nur
die Doppelfassung der Behandlung des Begriffs der Lust in VII 12–15 und
X 1–5, die voneinander nichts wissen, und die scharfe Entgegensetzung von
theoretischer und praktischer Lebensweise. Der Text enthält zudem auch
Wiederholungen, Zusätze oder unklare Kapitelabfolgen, wie etwa in der
Erörterung diverser Fragen zur Gerechtigkeit in der zweiten Hälfte von
Buch V. Unebenheiten dieser Art lassen schließen, dass Aristoteles seine
Revision nicht zu Ende führen konnte.
Was das Leben in der Polis angeht, so ist Aristoteles’ Analyse der Vor-
aussetzungen für ein glückliches Lebens zwar universalistisch angelegt, d.h.
sie gilt prinzipiell für alle Bürger. Er geht aber nicht davon aus, dass alle in
gleicher Weise geeignet sind und die gleichen Chancen haben, ihr mensch-
liches Potential voll zu entwickeln. Das erklärt den unbestreitbar elitären
Einschlag seiner Ethik, der sich vor allem in der Unterscheidung zwischen
den ‚Guten‘ und ‚der Menge‘ niederschlägt. Daher ist Aristoteles oft so ver-
standen worden, als gelte seine Ethik nur der Aristokratie seiner Zeit. Das
ist freilich so nicht richtig, denn in einer Hinsicht ist Aristoteles durchaus
egalitär: Die ethischen Tugenden kann im Prinzip jeder erwerben, der in
einer wohlgeordneten politischen und familiären Gemeinschaft aufwächst.
In beidem sieht er allerdings notwendige Bedingungen.
Bei der Rede von ‚Egalität‘ sind jedoch wichtige Einschränkungen zu
machen: Gleichheit besteht für Aristoteles nur zwischen frei geborenen
Männern, die in der Lage sind, einen ‚freien‘, d.h. einen gehobenen Lebens-
stil zu pflegen. Gleichheit gilt nicht für Frauen, Arbeiter und für Sklaven.
Die aristotelische Polis ist eine reine Männergesellschaft, und als Bürger im
vollen Sinn gilt nur derjenige, der die Zeit und die Bildung mitbringt, die für
die politische Tätigkeit nötig sind, d.h. wer nicht von seiner Hände Arbeit
leben muss. Aristoteles war kein Sozialrevolutionär; der Gedanke an eine
Umverteilung finanzieller Mittel liegt ihm ebenso fern wie andere Maß-
nahmen zur Herstellung von Chancengleichheit durch besondere Talent-
förderung oder die Förderung sozialer Durchlässigkeit. Zweifeln an der
natürlichen Minderbegabung von Frauen gibt er – anders als sein Lehrer
Platon – keinen Raum, wie er auch ausdrücklich die Sklaverei als die Kon-
sequenz natürlicher Unterschiede zwischen den Menschen verteidigt. Diese
Einschränkungen sind grundsätzlich bei der Beurteilung der aristotelischen
Ethik zu berücksichtigen. Zu beachten ist zudem, dass Aristoteles’ Analyse
zwar ganz allgemein den Bedingungen des guten Lebens gilt, ihr Gewicht
aber auf dem jeweils Besten liegt, weil die teleologische Ausrichtung sei-
nes Denkens ihn nach den besten, d.h. nach denjenigen Exemplaren suchen
lässt, welche die menschliche Natur vollständig realisierten (vgl. Cooper
1977, 629). Das hat den verblüffenden Effekt, dass Aristoteles einerseits so
spricht, als seien die ethischen Prinzipien und Regeln für alle gültig, ande-
rerseits das Beste und den Besten als selten, wenn nicht gar als unerreichbar
darstellt.
Eine weitere Besonderheit, die sich für die aristotelische Ethik aus der
Konzentration auf das gute Leben ergibt, liegt in der oben bereits erwähnten
Ego-Zentriertheit dieser Ethik, eine Tatsache, die den Kommentatoren nicht
entgangen ist (Glassen 1957; Hardie 1968 et al.). Es ist, wie gesagt, zwar eine
Binsenweisheit, dass jeder und jede sein/ihr Leben selbst zu leben haben,
weil man stets man selbst ist; auf diesem Punkt liegt aber Aristoteles’ beson-
240 Einleitung
deres Augenmerk. Diese Tatsache bringt er etwa damit zum Ausdruck, dass
er die Selbstliebe als Basis der Freundschaft kennzeichnet und erklärt, das
Verhältnis zu einem Freund beruhe in jeder Hinsicht auf dem Verhältnis,
das man zu sich selbst hat (Buch IX 4 + 8). Damit redet Aristoteles jedoch
keinem Egoismus das Wort, wie vielfach fälschlich angenommen wird, son-
dern er wird nur der Tatsache gerecht, dass in der Frage, wie das jeweilige
gute Leben zu gestalten ist, der Einzelne − auch innerhalb der Gemeinschaft
– jeweils das Zentrum seiner eigenen Überlegungen ist. Zwar spricht Aristo-
teles manchmal so, als gehe es bei Handlungsentscheidungen letztlich immer
um das eigene Wohlergehen, während von allgemeinen Pflichten anderen
gegenüber nur selten die Rede ist. Bei der Beurteilung dieser Ego-Zentriert-
heit ist aber im Auge zu behalten, dass sie eine Folge aus der Konzentration
auf das gute Leben ist und nicht etwa deren Ziel.
Aristoteles geht nicht davon aus, dass jede Entscheidung des Einzelnen
durch die Überlegung bestimmt wird: „Ist das gut für mich?“ oder „Wie
dient das meinem Glück?“ Das Eigenwohl ist keineswegs das eigentli-
che Ziel, für das alle anderen Ziele in Wahrheit nur die Mittel sind. Wenn
Aristoteles das Glück als das höchste und letzte Ziel bezeichnet, so meint
er nicht, dass nur das eigene Glück ein Ziel an sich ist, sondern dass das
Glück das einzige Ziel ist, das nicht auch als Mittel für etwas Weiteres die-
nen kann. Die kritische Frage ist vielmehr jeweils: „Wie passt eine solche
Handlung in mein Leben?“ So hat man sich bei jeder Entscheidung nicht
nur zu fragen, ob die Handlung von der Art ist, wie sie sein soll, wem gegen-
über sie es soll, wann sie es soll, sondern ob man selbst dazu geeignet ist,
sie auszuführen. Dass jeder und jede diese Fragen für sich selbst zu beant-
worten haben, heißt aber nicht, dass andere nur als Mittel dienen oder dass
es keine objektive Beurteilung für die Richtigkeit der Antwort gibt. Ob
jemand einem Freund in der Not in angemessener Weise geholfen hat, ist
durchaus einer allgemeinen Beurteilung fähig, solange man alle Einzelhei-
ten und die Situation des Handelnden in Betracht zieht. Und die Hilfe für
einen Freund hat nicht primär das eigene Glück zum Ziel, wohl aber ist
sie ein konstitutiver Teil des eigenen Lebens und damit auch des eigenen
Glücks.
Die Maßstäbe für die Beurteilung des Handelns sind daher durchaus all-
gemeiner Art; sie werden den Einzelnen durch Erziehung und Gewöhnung
vermittelt, und die Verpflichtungen anderen gegenüber sind keineswegs ins
eigene Belieben gestellt. Dies lassen nicht nur Aristoteles’ Analysen der ein-
zelnen Tugenden und der betreffenden Handlungsweisen erkennen, son-
dern insbesondere seine Diskussion der Freundschaft in Buch VIII + IX, in
der es um die Frage der Gegenseitigkeit geht. Eben dadurch wird der Ein-
druck einer einseitigen Fixierung auf den Handelnden in der Analyse mora-
lischen Handelns korrigiert.
8. Zur Beurteilung der Konzeption des Glücks 241
Der Begriff der Freundschaft ist sehr weit gefasst; denn er schließt sämt-
liche menschlichen Beziehungen ein, von der Familie bis zu den Mitbürgern.
In der Erörterung der Freundschaft behandelt Aristoteles zudem die grund-
sätzliche Frage, inwieweit man sein Leben mit anderen teilen, d.h. inwiefern
das Leben auch ein Mit-Leben mit anderen sein kann. Er war sich näm-
lich durchaus im Klaren darüber, dass das eigene Bewusstsein eine grund-
sätzliche Begrenzung des Verständnisses für andere Menschen darstellt,
weil man ihre Gedanken nur mittelbar teilen kann. Daher fragt er sich, in
welcher Weise und bis zu welchem Grad ein Freund ‚ein anderes Selbst‘
sein kann. Diese Frage hat sich in der Antike sonst anscheinend niemand
gestellt.
Der Titel ‚Ethik‘ scheint nicht nur, wie oben erwähnt, bereits in der Aka-
demie üblich gewesen zu sein, sondern Aristoteles legt auch großen Wert
auf das richtige Verständnis dieser Bezeichnung, indem er wiederholt auf die
Etymologie des Begriffs hinweist – d.h. dass êthos (‚Charakter‘) von ěthos
(‚Gewohnheit‘) abgeleitet ist. Nicht nur entfällt auf die Diskussion der Cha-
raktertugenden beinah die Hälfte des Textes, sondern gegenüber der ausführ-
lichen Diskussion der Charaktertugend nimmt sich die Klärung der ratio-
nalen Tugenden, einschließlich der praktischen Vernunft, der Klugheit, sehr
bescheiden aus (Buch VI). Auch ist es sicher kein Zufall, dass Aristoteles die
Charaktertugenden an den Anfang seiner Untersuchung gestellt hat. Viel-
mehr ist ihm an der Betonung der Bedeutung gelegen, die er ihnen zumisst:
Sie sind seine wichtigste Neuerung gegenüber der platonischen Ethik. Zwar
sieht auch Platon, jedenfalls von der Politeia an, im charakterlichen Trai-
ning eine Vorbedingung für die Tugend, und in den Nomoi bezeichnet er
eine entsprechende Erziehung sogar als die wesentliche Aufgabe des Staates.
Dennoch kommt den Charaktertugenden bei Platon insofern eine unterge-
ordnete Rolle zu, als sie wie bloße Vorbedingungen behandelt werden, wäh-
rend die Vernunft die beherrschende Funktion hat. Demgegenüber stellt die
Konzeption der Charaktertugenden bei Aristoteles insofern eine deutliche
Verschiebung innerhalb der Ethik dar, als die Charaktertugenden die Ziele
des Handelns festlegen.
Die Philosophenschulen des Hellenismus sind Aristoteles nicht darin
gefolgt, in den Charaktertugenden das Wesentliche zu sehen. Dennoch hat
sich der Titel ‚Ethik‘ gehalten. Zwar hat man die Ethik auch als ‚Lebens-
kunst‘ bezeichnet (ars vivendi bei Cicero, De Finibus I 42.19 oder ars vitae
bei Seneca, Epistulae morales 95.7.2); als Terminus technicus für die philoso-
phische Disziplin eignet sich die Bezeichnung ‚Lebenskunst‘ aber schlecht.
Auch diese Tatsache dürfte mit dazu beigetragen haben, dass sich ‚Ethik‘
gehalten hat. Ciceros Übersetzung von êthikê mit moralis (De fato 1) hat
diese Terminologie auch in der lateinischen Tradition etabliert. Die heu-
tige Unterscheidung zwischen ‚Moral‘ zur Bezeichnung der herrschenden
242 Einleitung
ren Ausführungen, und Ähnliches gilt für andere Texte wie den Anfang der
Metaphysik, der Physik oder etwa der Analytica posteriora: „Jede Lehre und
jedes Lernen entsteht aus bereits vorhandenem Erkennen.“
In den letzten Jahrzehnten hat sich jedoch eine Art Orthodoxie heraus-
gebildet, wonach für Aristoteles ganz allgemein ‚die endoxische Methode‘
charakteristisch ist, d.h. dass er von gemeinhin akzeptierten Voraussetzun-
gen, sogenannten endoxa, ausgeht und diese einer Art von dialektischem
Überprüfungsverfahren unterzieht. Die Hauptquelle für diese Annahme
ist die Topik, wo Aristoteles den Unterschied zwischen wissenschaftlichen
Beweisen und dialektischen Argumentationen herausstellt und letztere auf
endoxa (d.h. auf ‚respektierte‘, oder ‚anerkannte Meinungen‘) zurückführt.
Zur Art dieser Meinungen merkt er an, Top. I 1, 100b21–23: „Anerkannte
Meinungen (endoxa) sind diejenigen, die entweder von allen oder den meis-
ten oder den Fachleuten (sophoi) und von diesen wiederum entweder von
allen oder den meisten oder den bekanntesten (malista gnôrimoi) und aner-
kanntesten (endoxoi) für richtig gehalten werden“ (Übersetzung: T. Wag-
ner/Ch. Rapp, vgl. dazu auch die Einleitung in Wagner/Rapp 2004).
Manche Interpreten sehen nun in dieser Kennzeichnung der Endoxa
sogar einen Beweis dafür, dass Aristoteles als Philosoph des Common Sense
anzusehen ist, dessen Untersuchungen durchweg von allgemein Akzeptier-
tem ausgehen. Schon der Zusammenhang in der Topik sollte jedoch zur Vor-
sicht mahnen. Im Unterschied zu den Prämissen wissenschaftlicher Beweise
sind die Prämissen dialektischer Schlüsse nämlich nicht notwendigerweise
wahr (so auch Anal. pr. II 27, 70a3–11; in Anal. post. I 6, 74b21–26 wird
die Annahme von Prinzipien, die auf Endoxa beruhen, sogar als ‚einfältig‘
bezeichnet). Das dialektische Verfahren hat auch nicht den Zweck, die Prä-
missen als wahr zu erweisen, sondern es dient einer Art von Diskussions-
spiel, in dem der eine Partner eine Prämisse auswählt, der andere Partner ihn
durch geschicktes Fragen (die ebenfalls auf Endoxa beruhen) dazu bringen
soll, eine der ursprünglich akzeptierten These widersprechende Folgerung
zu akzeptieren. Nicht die Ermittlung von Wahrheit, sondern erfolgreiches
Argumentieren ist das Ziel dieses Verfahrens. Sonst könnte sich nicht der
Frager wie auch der Befragte auf Endoxa verlassen.
Die Befürworter einer ubiquitären Verwendbarkeit der endoxischen
Methode können sich freilich darauf berufen, dass Aristoteles ihr in der Topik
selbst noch eine andere Funktion zuweist, die über argumentative Übungs-
spiele weit hinausgeht. Er sagt nämlich ausdrücklich, dass die Methode auch
philosophischen Zwecken dient: „weil wir, wenn wir zu beiden Seiten hin
Schwierigkeiten durchgehen können, leichter an jedem sowohl das Wahre
als auch das Falsche erblicken werden. Ferner ist sie aber auch für die ersten
Sätze jeder Wissenschaft nützlich. Da man erste Prinzipien nicht beweisen
kann, ist es notwendig, sie mit Hilfe der über sie bestehenden anerkann-
244 Einleitung
und auf die Erörterung erster Prinzipien, weil man zu ihrem Verständnis
nicht auf noch höhere Prinzipien zurückgreifen kann. Letzteres ist aber nur
ein Weg und nicht etwa der Weg zu den ersten Prinzipien. Ansonsten ist
von diesem philosophischen Nutzen einer Untersuchung von Endoxa in der
Topik nicht weiter die Rede. Auf den beschränkten Nutzen dieses Verfah-
rens bei Aristoteles verweisen auch die Kritiker an der Überbewertung die-
ses Verfahrens (G/J II 1, 18–20; Hardie ²1980, 39; Barnes 1980; Reeve 1992;
Anagnostopoulos 1994; Salmieri 2009, 319 f.; Natali 2010; Frede 2012a und
mehrere Beiträge in Henry/Nielsen (Hg.) 2015).
Eine Überbewertung des ‚endoxischen Verfahrens‘ hat zur Folge, dass
auf diese Weise wichtige Unterschiede in Aristoteles’ Vorgehensweise ver-
deckt werden. Bei der Erklärung seiner eigenen Grundvorstellungen geht
Aristoteles nämlich zumeist rein expositorisch vor: Er legt sie zunächst ‚im
Umriss‘ (typôi) dar, um sie dann im Einzelnen zu begründen (vgl. EN I 7,
1098a20–25). Nichts deutet darauf hin, dass grundlegende Vorstellungen wie
etwa seine Konzeption des Glücks, der Charaktertugend oder die Unter-
scheidung ihrer verschiedenen Arten usw. Resultate einer dialektischen
Auseinandersetzung mit den Meinungen anderer sind oder sein sollen.
Natürlich nimmt Aristoteles im Lauf seiner Untersuchungen auch Bezug
auf die Meinungen anderer, pflichtet ihnen bei oder weist sie zurück. Auch
stellt er selbst Fragen zu seinen eigenen Vorstellungen und nimmt mögliche
Einwände gegen sie auf (‚man könnte sich fragen‘). Eine zentrale Funktion
haben derartige Überlegungen aber selten. Auch Rechtfertigungen der eige-
nen Auffassung durch Abwägen von pro und contra kommen kaum vor.
Abgesehen von seinem expositorischen Vorgehen macht Aristoteles aber
auch Angaben über den richtigen Weg zu den ersten Prinzipien. Er tut das
in der EN zwar nicht so eingehend wie in seiner Wissenschaftslehre, den
Analytica posteriora; die EN enthält aber immerhin eine Kurzfassung: Die
methodischen Einschübe in I 2 und 7 lassen erkennen, dass Aristoteles –
wie in seiner Wissenschaftslehre − vor allem in der Induktion die für die
Ethik angemessene Methode sieht. Gemeint ist, dass vom ‚uns Bekannten‘
auszugehen ist, um so schließlich das ‚an sich Bekannte‘ zu erreichen (I 2,
1095b2–8). Mit dem ‚uns Bekannten‘ meint er aber nicht gängige Meinun-
gen, sondern allgemeine Erfahrungen. Diese Voraussetzungen betreffen
das ‚Dass‘ (to hoti), welches einem bekannt sein muss, um zum Verständ-
nis des ‚Warum‘ (to dioti) zu gelangen. Als Prinzipien sind diese Voraus-
setzungen des ‚Dass‘ und des ‚Warum‘ jedoch wahr und keine Endoxa,
die noch einer dialektischen Überprüfung bedürfen. Entsprechend äußert
sich Aristoteles auch an der Parallelstelle zur Methodik (I 7, 1098b1–8). In
der Ethik beruht das ‚Wissen, dass‘, anders als in der Naturwissenschaft,
nicht allein auf Erfahrung, sondern auch auf der durch Erziehung vermit-
telten Gewöhnung. Reflexionen auf diese durch die Erziehung vermittelten
246 Einleitung
Annahmen führen schließlich zur Einsicht in das ‚Warum‘, d.h. in die ersten
Prinzipien.
Deduktive Verfahren verwendet Aristoteles in seinen systematischen
Abhandlungen nur selten. Zwar finden sich manchmal Argumente, die man
– mit einigem Aufwand – in syllogistische Form umwandeln könnte. Auch
diese sind jedoch selten und keineswegs typisch für Aristoteles’ Vorgehens-
weise. Vielmehr geht er, wie gesagt, zumeist expositorisch vor, d.h. er stellt
die Grundzüge seiner eigenen Auffassung über die Natur der Sache vor
und erläutert sie anschließend. Wenn er dabei auch Fragen, Schwierigkei-
ten und mögliche Einwände aufnimmt, lässt sich daraus jedoch keine uni-
forme aporetische Vorgehensweise oder dialektische Rechtfertigung seiner
Position konstruieren (zur Dialektik bei Aristoteles vgl. Irwin 1988; und
die Kritik bei Striker 1991, Broadie 1993 und Barnes 2011). Denn anders
als die uniforme Übersetzung von aporia o.ä. im Englischen durch ‚puzzle‘
suggeriert, ist aporetisches Vorgehen in der EN selten, im Unterschied zur
EE, die sehr viel häufiger auf Probleme und Widersprüche eingeht (so auch
Cooper 2009, 207 f.; Frede 2012a, 189–192). Eine Erklärung wie die in EE
I 3, 1215a6 f., man solle strittige Meinungen über das gute Leben unter-
suchen, weil die Widerlegung entgegengesetzter Meinungen ein Beweis
für die Richtigkeit der eigenen Position ist, sucht man in der EN verge-
bens. Angesichts der Vieldeutigkeit der Verwendungsweise von ‚Dialektik‘
in der Geschichte der Philosophie sollte man ohnehin Aristoteles’ eigene
Anweisung beherzigen, dass Dialektik und Philosophie grundsätzlich aus-
einanderzuhalten sind: Die Dialektik ist eine erprobende Disziplin (pei-
rastikê) über Dinge, welche die Philosophie erkennt (gnôristikê) (Met. Γ 2,
1004b25 f.).
Zudem ist es irreführend, jede fremde Meinung, die im Text aufge-
nommen wird, als Beispiel für das endoxische Verfahren zu interpretieren.
Wenn solche Meinungen nur angesprochen werden, um sie als unzutreffend
zurückzuweisen, ohne weitere Überprüfung und ohne dass ihre Zurück-
weisung zur Erklärung der aristotelischen Konzeption etwas beiträgt, dann
kann von einer dialektischen Vorgehensweise nicht die Rede sein. So weist
Aristoteles zwar verschiedene gängige Meinungen über das Glück in EN
I 3 umgehend zurück. Seine eigene Vorstellung über die Natur des guten
Lebens lässt sich aus dieser Zurückweisung jedoch ebenso wenig herausdes-
tillieren wie aus seiner anschließenden, ausführlichen Kritik an Platons Idee
des Guten. Diese beiden Kapitel sind übrigens die einzigen, die überhaupt
fremde Meinungen über das Gute zum Thema haben. Gerade in der Erörte-
rung zentraler Begriffe wie etwa der Tugend oder auch einzelner Tugenden
wie der Gerechtigkeit verzichtet Aristoteles auf jede Auseinandersetzung
mit anerkannten Meinungen, einschließlich der Meinungen prominenter
Vorgänger.
9. Zur Methodik und ihren Ergebnissen 247
beruht, wie auch der Fähigkeiten, die der praktisch gute Mensch dazu mit-
bringen muss. Für all das liefert Aristoteles selbst die Grundlagen, und tut
das so systematisch, wie man Prinzipielles einführen und rechtfertigen kann.
So erklärt er z.B., welche Tugenden der Mensch hat und wie er sie gebraucht,
um mit anderen angemessen umgehen zu können. Dazu erklärt er, was Frei-
willigkeit und Unfreiwilligkeit des Handelns bedeutet, was bei uns liegt und
was es heißt, Entscheidungen zu treffen. Zudem erklärt er, welche Arten von
Tugenden es gibt und wie sich die Charaktertugenden von den intellektuel-
len Tugenden unterscheiden.
Freilich stellt sich die Frage, woher Aristoteles all das weiß oder zu wis-
sen meint, was er hier vorlegt. Diese Frage stellt sich natürlich nicht nur
für die EN, sondern auch für seine anderen Schriften, in denen er zwar die
Früchte seines systematischen Nachdenkens über den Gegenstand präsen-
tiert, aber nichts darüber sagt, wie er zu seinen Resultaten gekommen ist.
Auch dort ist die Art der Präsentation weitgehend expositorisch-explikativ
– und sie ist autoritativ: Er hält das, was er sagt, offensichtlich für wahr und
für klar. Denn er umreißt zunächst den Gegenstandsbereich und bestimmt
das Wesen der für ihn spezifischen Gegenstände und ihre Eigenschaften im
weitesten Sinn. Das gilt für die Syllogistik in den Analytica priora ebenso
wie für die Kategorienlehre, für die Physik ebenso wie für seine biologischen
Schriften. In der EN erklärt er z.B., welchem Schema er bei seinen Bestim-
mungen der einzelnen Charaktertugenden folgt: „Indem wird nun die Cha-
raktertugenden einzeln aufnehmen, wollen wir sagen, welche sie sind, mit
welcher Art von Gegenständen sie befasst sind und auf welche Weise.“
(III 9, 1115a4 f.). Und ebendies tut er in der Folge in deskriptiver Weise,
ohne weitere Begründungen und ohne eine dialektische Auseinandersetzung
mit pro und contra. Zweifel an der Richtigkeit seiner Darlegungen scheint er
nicht zu hegen, sieht man von Bezeugungen argumentativer Bescheidenheit
ab, die sich in Wendungen wie ‚es scheint‘, ‚man könnte meinen‘ und ‚viel-
leicht‘ niederschlagen.
Auf einem ganz anderen Blatt steht Aristoteles’ Bekenntnis, dass in der
Ethik nicht dieselbe Art von Genauigkeit wie in der Mathematik zu erwar-
ten ist, sondern man schon zufrieden sein muss, wenn man das Richtige im
Groben und im Umriss trifft (I 1, 1094b11–27). Dieser Vorbehalt gilt jedoch
nicht seinen eigenen philosophischen Grundlegungen, wie seiner Bestim-
mung des Guten, des Glücks und der Tugenden, sondern nur der Beurtei-
lung einzelner Fälle, d.h. was jeweils als gut oder schlecht zu gelten hat.
Eben darauf verweisen seine Beispiele, wonach manche Menschen durch
ihren Reichtum, andere durch ihre Tapferkeit ins Verderben gestürzt wor-
den sind. Weil in derartigen Fällen die besonderen Umstände zu berück-
sichtigen sind, kann es für sie keine Regeln von mathematischer Präzision
geben, sondern sie gelten nur ‚meistens‘. Es wäre aber ein fundamentaler
9. Zur Methodik und ihren Ergebnissen 249
Irrtum, daraus zu schließen, dass die Ethik als solche eine ‚unpräzise Dis-
ziplin‘ ist, was ihre Grundprinzipien angeht. Vielmehr ist es eine Sache, die
Grundlagen der Ethik zu bestimmen, eine andere, genaue Regeln für die
Lebensführung aufzustellen. Nicht was Gerechtigkeit oder Klugheit sind,
ist nur meistens wahr, sondern dass bestimmte Handlungsweisen gerecht
oder klug sind oder dass bestimmte äußere Güter sich als nützlich er-
weisen.
Bei praktischen Fragen, wie das Leben im Einzelnen einzurichten ist
und welche Entscheidungen jeweils richtig sind, gibt es immer einen Ermes-
sensspielraum, für die der Einzelne selbst verantwortlich ist. Mit dieser
Ungenauigkeit steht die Ethik aber nicht allein da, sondern teilt sie auch
mit anderen Disziplinen, die Veränderlichem gelten. Wie Aristoteles wie-
derholt bemerkt, lassen sich in der Natur Zufälle nie ausschließen, die zu
einem anderen als dem normalerweise zu erwartenden Ergebnis führen. Je
komplexer die Sachlage ist, desto mehr Unsicherheiten gibt es, so dass auch
Regeln in der sublunaren Natur nur meistens gelten. Das heißt aber nicht,
dass die Grundprinzipien und Grundbegriffe der Naturwissenschaft nur
meistens zutreffen, also etwa, was Bewegung als solche ist und welche Arten
es gibt oder was Ort, Zeit, Kontinuum usw. sind.
Konkrete Regeln für praktisches Verhalten gibt Aristoteles weder für die
Lebensführung im Allgemeinen noch für tugendhaftes Verhalten im Einzel-
nen. Selbst mit Beispielen hält er sich auffällig zurück und verzichtet auch
weitgehend auf kasuistische Überlegungen. Er setzt vielmehr voraus, dass
seine Hörer eine gute Erziehung schon mitbringen, was ihren Charakter
angeht, und daher in der Lage sind, die allgemeinen Prinzipien im Einzelfall
richtig anzuwenden. Und eben dem gilt auch Aristoteles’ Warnung vor der
Ungenauigkeit in der Ethik: Selbst wenn man die Prinzipien richtigen Han-
delns für den Normalfall kennt, gibt es für den einzelnen Fall keine Gewiss-
heit, wie sie anzuwenden sind. Man muss sich vielmehr versichern, wer die
Person ist, mit der man es zu tun hat, und was die Umstände des jeweiligen
Handelns sind.
Die Beurteilung der konkreten Fälle erfordert nicht nur eine gute cha-
rakterliche Erziehung, sondern auch hinreichende Erfahrung, die es den
Betreffenden ermöglichen, auch in ungewöhnlichen Situationen das Rich-
tige zu tun. In dieser Hinsicht vergleicht Aristoteles die Ethik mit anderen
Disziplinen wie etwa mit der Medizin oder der Navigation: In kritischen
Augenblicken ist der Handelnde auf sich selbst gestellt, wenn es um die Ent-
scheidung geht, wie ein bestimmter Patient zu behandeln ist oder wie man
sein Schiff in einem Sturm zu führen hat. Dass es dafür keine ehernen Regeln
gibt, die stets zu den richtigen Resultaten führen, wie in der Mathematik,
heißt aber nicht, dass es in der Medizin und Navigation keine Regeln und
nichts zu lernen gibt.
250 Einleitung
gen berücksichtigt werden, bleiben diese anonym, sind sehr knapp gehalten
und beschränken sich fast ganz auf Buch I (2 + 3; 8 + 9). Daher stellt sich die
Frage, ob Aristoteles der Auffassung war, dass seine philosophischen Vor-
gänger zur Frage des guten Lebens und der dafür erforderlichen Tugenden
nichts Nennenswertes zu bieten hatten.
Die Berechtigung von Aristoteles’ Kritik an Platons Idee des Guten ist
Gegenstand des Kommentars an der gegebenen Stelle. Für die Annahme,
dass in Aristoteles’ Augen mit der Kritik an der Idee des Guten zugleich
auch Platons Konzeption des guten Lebens als solche ad acta gelegt wäre,
gibt es jedoch keinen Grund. Nun geht Aristoteles in der Politik eingehen-
der auf Platons Idealstaatsvorstellungen ein, sowohl auf die der Politeia, wie
auch auf die der Nomoi (Pol. II 1–6). Dort nimmt er auch die Idealstaatsvor-
stellung anderer Vorgänger kritisch unter die Lupe (II 7 + 8). Das könnte
darauf hindeuten, dass er allgemeine Vorstellungen vom guten Leben in der
EN bewusst ausgespart hat. Das erklärt aber nicht, warum Aristoteles sich
nicht in für die Ethik zentralen Punkten mit Platon und anderen auseinan-
dersetzt, etwa in der Frage des Begriffs der Tugend. Wie oben bereits ange-
deutet, stellt gerade die Konzeption der Charaktertugend das wesentlich
Neue in der aristotelischen Ethik dar. Dass die charakterlichen Dispositio-
nen wichtig sind, hat Platon, jedenfalls von der Politeia an, durchaus gese-
hen und sowohl in seine Psychologie, in seine Erziehungstheorie wie auch in
seine Konzeption des guten Lebens mit einbezogen. Darauf geht Aristoteles
jedoch nicht ein. Da darin signifikante Unterschiede zwischen der platoni-
schen und der aristotelischen Position liegen, insbesondere in Bezug auf die
Affekte und ihre Funktion bei der Bestimmung der Ziele von Handlungen,
würden sich kritische Vergleiche nachgerade anbieten. Entsprechendes gilt
auch für die Behandlung der einzelnen Tugenden, insbesondere aber für die
der Gerechtigkeit.
Auch die Tatsache, dass Aristoteles auf keinen der Vorsokratiker näher
eingeht, sondern sich im ersten Buch mit einer sehr allgemeinen Berufung
auf die Meinungen von ‚Weisen der alten Zeit‘ begnügt, deren Vorstellun-
gen angeblich sämtlich mit den seinen übereinstimmen und ihm daher als
Bestätigung dienen, gibt Anlass zur Verwunderung. Mögen ihm die Vor-
stellungen Heraklits, der Pythagoreer oder die ‚Reinigungsvorschriften‘ von
Empedokles allzu abgehoben und fern von seinen eigenen Anliegen erschie-
nen sein, so kann Gleiches doch für Demokrit nicht gelten, von dessen ethi-
schen Vorstellungen ein reichhaltiges Reservoir späterer Zitatensammlungen
zeugt. In der EN erwähnt Aristoteles Demokrit aber gar nicht, während er
sich andernorts mit den naturwissenschaftlichen Vorstellungen, die dessen
Atomtheorie zugrunde liegen, ausführlich befasst. Ob er Demokrits ethi-
sche Schriften nicht gekannt oder darin keine seinen Prinzipienreflexionen
vergleichbare Konzeption gesehen hat, ist schwer zu sagen.
11. Rezeption und Wirkungsgeschichte der aristotelischen Ethik 253
aus allen Schichten an (vgl. Nussbaum 1994). Denn sie wendeten sich nicht
allein an Bürger von höchstem Bildungs- und Begabungsgrad und setzten
keine ‚Muße‘ voraus, d.h. die Freiheit von körperlicher Arbeit. Zwar ist
man sich heutzutage darüber einig, dass Aristoteles’ Konzeption des guten
Lebens einen erheblichen Einfluss auf die Ethik der Stoiker und Epikureer
hatte, selbst wenn das Ausmaß dieses Einflusses unterschiedlich beurteilt
wird (vgl. dazu Nielsen 2012 und Gill 2012). Den Begriff der Charakter-
tugend als einer mittleren Disposition zwischen den Lastern von Übermaß
und Mangel, also das ‚Wahrzeichen‘ der aristotelischen Ethik, hat sich aber
anscheinend niemand zu eigen gemacht, sondern dieser Begriff wurde teils
auf eine metriopatheia reduziert, auf eine ‚Mäßigung der Affekte‘, teils auf
apatheia, der Freiheit von Affekten, wie bei den Stoikern. Und statt der
Vielzahl der aristotelischen Charaktertugenden beherrschten weitgehend
Platons vier ‚Kardinaltugenden‘ das Feld (vgl. Szaif 2012; Inwood 2014).
Die Vernachlässigung der aristotelischen Ethik setzte sich aber auch in
der Spätantike fort, also auch in der der Zeit nach der Wiederentdeckung
der aristotelischen Lehrschriften und dem Aufschwung der peripatetischen
Tradition im 1. Jh. v. Chr., der sich in der Intensität der Kommentiertätigkeit
zu vielen aristotelischen Schriften manifestiert (dazu Sorabji 1990 und 2004).
Da die Kommentare vor allem der Lehre dienten, reflektieren sie, welche
Schriften im Zentrum der Aufmerksamkeit standen und welche nicht. Nun
ist zwar der älteste erhaltene Kommentar zu Aristoteles der des Aspasios
zur Nikomachischen Ethik (§ 2 und 3) und Aspasios verweist auch auf Kom-
mentare von Vorläufern (44, 19–45, 17; dazu Moraux 1984, 261–270). Nach-
folger dieses Kommentars scheint es aber nicht gegeben zu haben, abgesehen
von einem verlorenen Kommentar des Porphyrios und einer gleichfalls ver-
lorenen Paraphrase des Themistios. Alexander von Aphrodisias, der große
Kommentator und letzte ‚reine‘ Aristoteliker, hat anscheinend keinen Kom-
mentar zur Ethik verfasst, obwohl er für Fragen der Ethik durchaus Inter-
esse hatte, wie seine Ethischen Probleme bezeugen (vgl. Sharples 1990). Er
könnte aber die Form von Essays vorgezogen haben, weil sie ihm erlaubte,
sich auf bestimmte Positionen der Stoiker zu konzentrieren, die für Aristo-
teliker gerade auf dem Gebiet der Ethik eine besondere Herausforderung
dargestellt haben, wie auch Alexanders Traktat Über das Schicksal und die
nur in arabischer Übersetzung erhaltene Schrift Über die Vorsehung bestä-
tigen. Das Fehlen eines Kommentars von Alexander spricht aber dafür, dass
er die EN nicht als ganze zum Gegenstand der Lehre gemacht hat, obwohl
er sie öfter erwähnt.
Der Kommentar des Aspasios ist das einzige Zeugnis über die Rezep-
tion der EN durch die Aristoteliker der Spätantike. Denn aus der Zeit des
Neuplatonismus, in der man Aristoteles zunächst kritisch gegenüberstand,
später jedoch um den Nachweis einer weitgehenden Übereinstimmung
11. Rezeption und Wirkungsgeschichte der aristotelischen Ethik 255
zwischen Platon und Aristoteles bemüht war, ist kein Kommentar zur EN
erhalten und es scheint auch bis zum 11. Jh. keinen gegeben zu haben. Die
beiden einzigen, teilweise erhaltenen, griechischen Kommentare aus der
Spätzeit stammen von Eustratios von Nikaia und von Michael von Ephesos,
die im 11. und 12. Jh. in Konstantinopel wirkten. Teile ihrer Kommentare
sind in zwei Kompilationen zur EN durch einen unbekannten Autor aus
dem 13. Jh. enthalten. Dieser Kompilator hat anscheinend alles aufgenom-
men, was er finden konnte, auch Scholien anonymer Autoren. In der zwei-
ten Redaktion konnte er mehrere dieser Scholien durch Bücher des Aspa-
sios ersetzen. In dieser Kompilation stammen von Aspasios die Bücher I–IV,
VII–VIII; von Eustratios Buch I und VI, von Michael Buch V und IX–X
(zur Zusammenstellung dieser Kompilationen und zum Zustand des Aspa-
sios-Textes vgl. Moraux 1984, 250–254; Mercken 1990; Barnes 1999).
Diese magere Ausbeute, was die Rezeption der Ethik angeht, muss
zunächst angesichts der großen Menge von Kommentaren zu anderen
Werken des Aristoteles merkwürdig erscheinen. Das Interesse der späte-
ren Neuplatoniker an Aristoteles hat sich aber vor allem auf seine Schriften
zur Logik, zur Naturphilosophie und zur Metaphysik beschränkt, während
man sich bei der Ethik an Platon hielt. Zudem war selbst ein ‚reiner‘ Aristo-
teliker wie Aspasios der Meinung, Ethik und Politik seien zwar notwendig,
aber weniger erhaben als die theoretische Philosophie (1,3–2,14).
Das Desinteresse der Neuplatoniker an der aristotelischen Ethik dürfte
sich zudem daraus erklären, dass Aristoteles ein reines ‚Diesseitsevangelium‘
predigt: Er sieht weder die Unsterblichkeit der Seele vor noch ihre Wieder-
geburt oder einen Aufstieg zum höchsten Einen und Guten. Zudem dürfte
man auch die aristotelische Konzeption des guten Lebens, welche die selb-
ständige Polis als das notwendige Umfeld voraussetzt, als lebensfremd emp-
funden haben. Dafür spricht auch die Tatsache, dass zur Politik kein Kom-
mentar erhalten ist und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nie einer existiert
hat. Das Leben im römischen Reich in der Spätantike und in der byzantini-
schen Zeit hatte einen ganz anderen Charakter und andere Voraussetzungen
als das in der kleinen autonomen Polis. Diese Tatsache erklärt wohl auch das
Desinteresse an der Poetik und an der Rhetorik.
Auch das Interesse der arabischen Philosophen an der EN war anschei-
nend begrenzt (dazu Adamson 2010). Zwar hat es Übersetzungen sowie
Kommentare von al-Farabi und von Averroes gegeben. Erhalten ist aber
nur die oben erwähnte lückenhafte Handschrift von Fez aus dem 12. Jh.
(dazu Akasoy/Fidora 2005; eine kurze Darstellung zum Wert der arabischen
Handschrift für die Textkritik liefern Schmidt/Ullmann 2012 und Akasoy
2012). Von den Kommentaren ist nur der ‚mittlere Kommentar‘ des Aver-
roes in lateinischer Übersetzung erhalten. Auch die arabischen Philosophen
hatten also an der Ethik des Aristoteles deutlich weniger Interesse als an
256 Einleitung
anderen Teilen seiner Philosophie – vielleicht aus ähnlichen Gründen wie die
Neuplatoniker des byzantinischen Reichs. So ist es sicher auch kein Zufall,
dass es keine Übersetzung der Politik ins Arabische gegeben hat.
Daher stellt sich die Frage, wie sich die große Aufmerksamkeit erklä-
ren lässt, die der lateinische Westen im Hochmittelalter der Nikomachischen
Ethik und der Politik gleich nach ihrer Wiederentdeckung und Übersetzung
ins Lateinische entgegengebracht hat. Dazu muss man sich Folgendes vor
Augen halten: Während die Philosophie der späteren Kommentatoren im
Byzantinischen Reich im Wesentlichen neuplatonisch war und dies auch in
der Spätzeit geblieben ist, gab es im lateinischen Westen einen Neuanfang in
der Philosophie, unter eigenständiger Anknüpfung an die antiken Vorbilder.
Die Zeit des Hochmittelalters mit den ersten Universitätsgründungen war
zudem nicht nur eine Zeit geistigen und wirtschaftlichen Aufschwungs, son-
dern auch politischer Veränderungen und Verwerfungen. Aristoteles wurde
gewissermaßen zum Zentrum des Geisteslebens, weil seine Texte geeignet
waren, als Grundlage des Curriculums der ‚Artistenfakultät‘, der Vorgän-
gerin der Philosophischen Fakultät, zu dienen. Das Interesse beschränkte
sich daher nicht auf die im Neuplatonismus bevorzugten Schriften, sondern
neben der EN wurden auch die Politik und die Rhetorik rezipiert. Die ersten
lateinischen Übersetzungen der EN stammen aus dem späten 12. und frühen
13. Jh.; sie wurden in Paris hergestellt und sind nur teilweise erhalten. Sie
umfassten die sog. ethica vetus – EN II und III – und die ethica moderna −
EN I und IV–X (zu den Einzelheiten vgl. G/J I 1, 111–116 und die Einlei-
tungen zu den Ausgaben des Aristoteles Latinus). Die Wirkung dieser Über-
setzungen war erheblich, wie die Tatsache zeigt, dass das Studium der EN
bereits 1215 in das Curriculum der Pariser Artistenfakultät aufgenommen
und sie alsbald in mehreren Kommentaren behandelt wurde.
Von ungleich größerer Wirkung auf Philosophie und Theologie des
Mittelalters als diese ersten Teilübersetzungen war aber die Übersetzung
von Robert Grosseteste, des Bischofs von Lincoln, der anscheinend in fort-
geschrittenem Alter Griechisch lernen und überdies die Hilfe von Gelehr-
ten aus dem Griechisch-sprechenden Teil Süditaliens in Anspruch neh-
men konnte. Diese Übersetzung erschien 1246/7 und hatte eine ungeheure
Verbreitung, wie die Tatsache bezeugt, dass sie in über 300 Handschriften
erhalten ist (vgl. dazu Luscombe 2005). Grosseteste hat der Übersetzung
des Texts der EN zudem auch Übersetzungen der erhaltenen griechischen
Kommentare beigefügt (der ‚byzantinischen Kompilation‘). Albertus Mag-
nus hat diese Übersetzung, neben den älteren Teilübersetzungen, seinem
Kommentar (ca. 1250–1252) zugrunde gelegt, auf den er später noch eine
Paraphrase folgen ließ (ca. 1262, vgl. Müller 2001). Der Kommentar Tho-
mas von Aquins, der auf der (durch Wilhelm von Moerbeke überarbeiteten)
Übersetzung von Grosseteste basiert (1271–1272, Opera Omnia 47/2, vgl.
11. Rezeption und Wirkungsgeschichte der aristotelischen Ethik 257
Natur der Tugend, über ihre verschiedenen Arten und über die Kriterien für
ihre Rechtfertigung.
Nun hat, wie gesagt, auch in der Antike zwischen den verschiedenen
Schulen keine Einigkeit darüber bestanden, welche Form des Lebens als
das höchste Gut anzusehen ist und welche Funktion den Tugenden dabei
zukommt. Wenn man heute den Begriff der ‚Tugendethik‘ mit der aristoteli-
schen Ethik assoziiert, so hebt man damit auf eine Besonderheit dieser Ethik
ab, nicht auf eine Gemeinsamkeit sämtlicher Philosophen der Antike. In der
Neuzeit haben sich aber keine solchen Schulen mit klaren Abgrenzungen
mehr gebildet, sondern es gab nur verschiedene Richtungen, deren spätere
Bezeichnungen als ‚Empirismus‘, ‚Sentimentalismus‘ oder ‚Rationalismus‘
nur Grobeinteilungen darstellen.
Kant hat zwar die verschiedenen Arten von Pflichten in der Metaphysik
der Sitten unter dem Titel Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre
erörtert und zwischen Rechtspflichten und Tugendpflichten unterschieden.
Diese Schrift ist aber von der Nachwelt kaum rezipiert worden; als maß-
geblich galt vielmehr die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die diese
Unterscheidung nicht macht, sondern zwischen strengen und verdienstli-
chen Pflichten unterscheidet. In die Diskussionen der kantischen Pflichte-
nethik und des Utilitarismus im 19. Jh. hat man die Tugenden daher entwe-
der gar nicht oder nicht in dem von Aristoteles gemeinten Sinn einbezogen.
Verschiedene Versuche einzelner Philosophen, an Aristoteles anzuknüpfen,
sei es auf der Basis eines ‚moral common sense‘, sei es im Sinn idealistischer
Vorstellungen, erwiesen sich als wenig tragfähig.
Auch im allgemeinen Bewusstsein und Sprachgebrauch waren die
Tugenden auf dem Rückzug. Sofern man die Tugenden mit den christlichen
Tugenden gleichsetzte, insbesondere mit Demut, Selbstverleugnung und
Enthaltsamkeit, haben sie mit dem Schwinden der Autorität der Kirchen an
Bedeutung verloren. Sofern man in den Tugenden Eigenschaften sah, die der
Obrigkeitsstaat von seinen Bürgern erwartete, waren sie verdächtig. Zudem
mag der moralinsaure Beigeschmack, den der Begriff der Tugend im vikto-
rianischen Zeitalter angenommen hat, mit dazu beigetragen haben, dass im
20. Jh. selbst der Ausdruck ‚Tugend‘ außer Gebrauch geraten ist, wie das
zitierte Motto aus Thomas Manns Zauberberg dokumentiert. Diese Ten-
denz manifestiert sich etwa in manchen englischen Aristoteles-Übersetzun-
gen, die mit ebendieser Begründung ‚virtue‘ durch ‚excellence‘ ersetzt haben.
Es war aber nicht nur die Tugend- und Glücksvergessenheit, die zu
einer Vernachlässigung der aristotelischen Ethik geführt haben, sondern sie
wurde auch von den Fachleuten in der zweiten Hälfte des 19. und der ers-
ten Hälfte des 20. Jh. aus unterschiedlichen Gründen als unhaltbar kriti-
siert, sofern man überhaupt von ihr Notiz nahm (vgl. die Darstellung bei
Chappell 2006; Welchman 2012). Die aristotelische Ethik erschien nur noch
260 Einleitung
als ein historisches Dokument von Interesse, nicht zuletzt auch deswegen,
weil die Gesellschaftsordnung, die Aristoteles voraussetzt, mit modernen
Vorstellungen schwer vereinbar ist. Seine auf die Oberschicht in der kleinen
Polis beschränkte Konzeption des guten Lebens lässt sich nur schwer auf die
Verhältnisse in demokratisch verfassten Großstaaten und auf die moderne
Arbeitswelt übertragen, selbst wenn man von seiner Befürwortung der Skla-
verei und der Ausgrenzung von Arbeitern und Frauen aus dem politischen
Leben absieht.
In der angelsächsischen Philosophie hatte sich zudem die Überzeugung
durchgesetzt, dass Philosophen sich auf Fragen der Metaethik beschrän-
ken sollten, also auf die Analyse von Begriffen wie dem des Guten, auf die
Überprüfung der Kohärenz entsprechender Urteile sowie auf Analysen
des Unterschieds zwischen moralischen und nicht-moralischen Prinzipien.
Auch auf dem europäischen Kontinent ging man andere Wege. In Deutsch-
land haben im 19. Jh. insbesondere Trendelenburg und seine Schüler Bren-
tano und Eucken für eine erneute Beschäftigung mit Aristoteles gesorgt, eine
Tradition, in die man auch Heidegger stellen kann. Des Weiteren seien die
Ethik Nikolai Hartmanns genannt, sowie die Anknüpfung an die Ethik und
Politik des Aristoteles durch Joachim Ritter und seine Schule. Wenn diese
Wege hier nicht verfolgt werden, so nicht nur weil die Aristoteles-Rezeption
dieser Schulen und Richtungen sich doch stark unterschied, sondern weil
die bemerkenswerte Renaissance der aristotelischen Ethik in der zweiten
Hälfte des 20. Jh. ihren Ursprung in der angelsächsischen Philosophie hat.
In der angelsächsischen Welt hat von der Mitte des 20. Jh. an ein Umdenken
in der Bewertung der aristotelischen Ethik eingesetzt. Verschiedene Philo-
sophen sahen die Konzentration auf die reine Analyse von Grundbegrif-
fen wie ‚Gut‘, ‚Richtig‘, ‚Sollen‘ usw. als steril und unbefriedigend an. Die
Unzufriedenheit mit der Sterilität dieses Philosophierens kam aus den Rei-
hen der analytisch geschulten Philosophen selbst. Ein wichtiges Angriffs-
signal gab Elizabeth Anscombes Kritik (1958) an der Fruchtlosigkeit der
Auseinandersetzungen unter den Moralphilosophen: Ihren Analysen fehle
ein tragfähiges Fundament, wenn sie weder den historischen Hintergrund
moralisch relevanter Begriffe berücksichtigen, wie etwa des Begriffs der
Tugend, noch die Art von philosophischer Psychologie miteinbeziehen, die
zu den wesentlichen Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit der Ethik
gehört. Einen entscheidenden Beitrag zur Grundlegung einer philosophi-
schen Psychologie hat Anscombe selbst mit ihrer Schrift Intentions (1957)
12. Die Renaissance der Tugendethik im 20. Jh. 261
geleistet. Philippa Foot 1958 und 1959 (repr. 1978) hat vor allem gegen den
damals vielfach herrschenden ‚Emotivismus‘ und gegen das Dogma von der
unüberwindlichen Trennung von Fakten und Werten (‚naturalistischer Fehl-
schluss‘) argumentiert und Nachdruck darauf gelegt, dass moralisch rele-
vante Begriffe keinen Sinn haben, wenn man sie nicht in Verbindung zum
menschlichen Wohlergehen setzt und allgemein akzeptierte Vorstellungen
darüber hat, worin dieses Wohlergehen besteht.
Diese Kritik, mit der Anscombe und Foot keineswegs allein standen, hat
zu einer Rückbesinnung auf die Tugenden und einer darauf aufbauenden
Ethik geführt, z.T. in Anknüpfung an Aristoteles, wenn auch aus durch-
aus verschiedenen Gründen und aufgrund unterschiedlicher Vorstellun-
gen über den Charakter der Tugenden und ihre Aktualisierbarkeit (z.B.
v. Wright 1963; Geach 1977; McDowell 1980; MacIntyre 21984; 1988;
Williams 1985; Hursthouse 1999; Foot 2001 et al.). Wie die mittlerweile
kaum überschaubare Fülle der Literatur zu dieser Thematik zeigt, ist aus
der Rückbesinnung auf die Bedeutung der Tugend eine breite Bewegung
geworden, deren Vertreter in der Tugendethik eine Alternative zur deon-
tologischen und zur utilitaristischen Ethik sehen. Angesichts der Vielfalt
der verschiedenen Ansätze, die sich nicht durchweg auf Aristoteles stützen,
sondern auch verwandte Vorstellungen in Traditionen anderer Kulturkreise
miteinbeziehen, ist auf eine kritische Würdigung dieser verzweigten Ent-
wicklung hier zu verzichten (vgl. die relevanten Beiträge in Russell 2013 und
Besser-Jones/Slote 2015).
Sofern man sich auf Aristoteles als Gewährsmann beruft, ist aber an Fol-
gendes zu erinnern: Zum einen ist die Bezeichnung ‚Tugendethik‘ in seinem
Fall irreführend, weil es Aristoteles um das gute Leben, die eudaimonia, zu
tun ist, während die Tugenden nur ihre wesentlichen Konstituenten sind,
und zwar sowohl die rationalen Tugenden wie auch die des Charakters. Zum
anderen ist daran zu denken, dass die Voraussetzungen, von denen Aristote-
les ausgeht, seiner Ethik bestimmte Grenzen setzen. Diese Grenzen ergeben
sich aus seiner Konzeption des Menschen als eines zôon politikon. Damit
ist, wie oben bereits erwähnt, nicht gemeint, dass der Mensch ein geselliges
Wesen ist, so wie andere Herdentiere, und auch nicht, dass er ein Wesen ist,
das in einem funktional organisierten Verband lebt, wie Bienen und Amei-
sen, sondern dass er von Natur aus für ein Leben in der Polis bestimmt ist.
Aristoteles sieht in der kleinen, von den Bürgern selbst verwalteten Polis
die natürliche und beste Organisationsform des menschlichen Lebens, da sie
ihren Bürgern die Möglichkeit zur Entfaltung und Ausübung ihrer besten
Fähigkeiten gibt. Dazu müssen die Bürger einander aber kennen und ver-
trauen.
Diese ‚Kleinstaaterei‘ hat nicht allein historische Gründe, sondern sie
stellt gewissermaßen die Bedingung der Möglichkeit der aristotelischen
262 Einleitung
Konzeption des menschlichen Guten dar. Die kleine Polis ermöglicht dem
Einzelnen nicht nur die Entwicklung und Entfaltung seiner charakterlichen
und intellektuellen Fähigkeiten und die Verfolgung seines eigenen Wohls,
sondern sie bietet ihm zugleich die Möglichkeit, seinen Beitrag zum Gemein-
wohl zu leisten und damit seine praktischen, d.h. auch politischen, Fähigkei-
ten voll auszuüben. Aus der Verbindung des Wohls des Einzelnen mit dem
Gemeinwohl ergibt sich die aristotelische Bestimmung der Tugenden. Sieht
man vom Sonderfall der theôria ab, zu deren Ausübung die Polis jedenfalls
Gelegenheit geben soll, bieten Organisation und Verwaltung der Polis ihren
Bürgern die Möglichkeit zur Anwendung ihrer praktischen Kompetenz im
Kleinen wie im Großen.
Auch Aristoteles’ Katalog der Charaktertugenden ist auf das Leben in
der Polis zugeschnitten. Diese Tatsache erklärt, warum er auf eine explizite
Rechtfertigung seines Kanons verzichtet (vgl. Frede 2014). Sämtliche Cha-
raktertugenden gelten dem Umgang mit anderen Menschen im privaten wie
im öffentlichen Leben − in einer überschaubaren und in sich geschlossenen
Gemeinschaft. Daraus ergibt sich, welche Dispositionen sich als wünschbar
erweisen und durch Einübung in soziale Praktiken zu erwerben sind. Es
macht auch begreiflich, warum Aristoteles für bestimmte wünschenswerte
Affekte, wie etwa das Mitgefühl mit dem Unglück anderer, keine festen
charakterlichen Dispositionen annimmt: Angesichts des großen Spektrums
der Arten von Unglück ist der Gedanke an den Erwerb einer angemesse-
nen mittleren Haltung zwischen Übermaß und Mangel durch eine entspre-
chende Gewöhnung an das Unglück anderer unsinnig. Aus der Notwen-
digkeit eines bestimmten Bereichs von durch Handeln zu erwerbenden
Dispositionen ergibt sich auch, warum andere wünschenswerte Eigenschaf-
ten wie Fleiß, Aufmerksamkeit oder Ausdauer, auf die heutige Tugendethi-
ker besonderen Wert legen, bei Aristoteles gar nicht vorkommen: Sie haben
keinen spezifischen Handlungsbereich und kein spezifisches Ziel, sondern
sind Komponenten sämtlicher Charaktertugenden.
Vor dem Hintergrund des Lebens in der Polis werden auch auf den ers-
ten Blick kurios erscheinende Differenzierungen in Aristoteles’ Tugend-
katalog verständlich, wie etwa die Unterscheidung zwischen Freigebigkeit
und Großzügigkeit und die zwischen Ehrgeiz im Kleinen und im Großen
(‚Hochgesinntheit‘): Beide Arten von Dispositionen werden in einer Polis
gebraucht, weil es verschiedene Bürger sind, die fähig sind, sich der klei-
nen und der großen Aufgaben und Ausgaben anzunehmen haben: nicht
jeder hat die Mittel zu großem Mäzenatentum oder ist zum Staatsmann
oder Feldherrn bestimmt, aber jeder sollte diejenigen politische Aufgaben
wahrnehmen, zu denen er in der Lage ist, wie etwa die eines Schöffen und
eines Ratsmitglieds. Und vor dem Hintergrund der Polis wird nicht nur
begreiflich, warum Aristoteles auch die ‚sozialen‘ Tugenden von Freund-
12. Die Renaissance der Tugendethik im 20. Jh. 263
Auch heute spricht man von der Entwicklung des Menschen, von Reife,
von Erwachsenwerden, nicht bloß von ‚Ausgewachsenwerden‘, und man
sagt damit doch, dass es bei Menschen etwas zu entwickeln und zur Reife
zu bringen gibt. Auch spricht man von Selbstfindung und Selbstverwirk-
lichung, obwohl diese Ausdrücke in den letzten Jahren ins Lächerlich-
Geschmäcklerische abgedriftet sind. Die Einsicht, dass man ‚etwas‘ werden
muss, wird zwar zumeist nur auf das berufliche Fortkommen bezogen; dass
man ‚jemand‘ werden muss, gilt aber der Persönlichkeit als solcher. Und in
dieser Hinsicht hat die Rede von einem ergon des Menschen ihre Gültigkeit
behalten. Die Führung des eigenen Lebens, die Wahl und Gestaltung sei-
nes Inhalts und entsprechender Tätigkeiten, ist eine Aufgabe, die jeder zu
bewältigen hat. Und dazu trägt auch die Einsicht bei, dass der Mensch ein
auf Tätigkeit hin angelegtes Wesen ist. Selbst das Nichtstun will gelernt sein,
wie die Freizeitindustrie deutlich macht.
Diese Tatsachen werden heutzutage in der Erziehung, in der Psycholo-
gie, in der Soziologie, in der Politik- und Rechtswissenschaft berücksich-
tigt. An deren Einsichten und Ergebnisse können auch Bemühungen um
eine Tugendethik anknüpfen, wie auch umgekehrt diese Disziplinen von den
Ansätzen der Tugendethiker etwas lernen können. Dass der Mensch seinen
Tätigkeitsdrang sinnvoll kanalisieren muss, würde Aristoteles zwar nicht so
ausgedrückt haben, der Sache nach aber bestätigen. Und ebendies macht die
Aktualität der aristotelischen Ethik aus. Mittlerweile regt sich auch in der
Öffentlichkeit wieder ein Interesse an der Frage nach dem guten, sinnvollen
Leben, und dieses Interesse verdankt sich nur in sehr begrenztem Maß den
Anregungen durch Philosophen. Vielmehr beruht dieses Phänomen auf der
Tatsache, dass sich gerade in unruhigen und unsicheren Zeiten die wesentli-
chen Fragen gewissermaßen von selbst stellen: Wie soll man leben? Wie sol-
len wir miteinander leben? Was für ein Mensch sollte man sein, für sich, für
andere? Welche Fähigkeiten und Eigenschaften braucht man dazu? Das wie-
der erwachte Bewusstsein davon, dass diese Fragen früher ein Kernanliegen
der Philosophie waren, hat die Einsicht verstärkt, dass man sie nicht allein
den oben genannten Fachleuten überlassen sollte, denn ohne angemessene
Vorstellungen davon, was das menschliche Gute (und Schlechte) eigentlich
ist, kann man gar nicht auskommen. Daher ist auch das Interesse an einer
philosophischen Anthropologie wieder erwacht. Es ist ein Zeichen dafür,
dass in der Frage, was der Mensch ist, auch heute eine wesentliche philoso-
phische Herausforderung liegt.
Aristoteles wird nun deswegen zu Recht als auctor dieser Fragestellung
angesehen, weil er sich ihrer als erster in einer Weise angenommen hat, die
auch heute noch in einer entscheidenden Hinsicht Vorbildcharakter hat. Für
Aristoteles ist die Behandlung dieser Frage nämlich eine Aufgabe, die der
Mensch selbst zu lösen hat. Aristoteles hat sich dazu weder auf eine gött-
266 Einleitung
aller sein sollten, und dies nicht allein aus ökonomischen Gründen. Auch
in populären Diskursen hat die Forderung nach einer Ethik der Tugenden
daher einen gewissen Widerhall gefunden, selbst wenn über die Art und
Herkunft der wünschbaren Eigenschaften keine Einhelligkeit besteht und
dem Begriff der Tugend im allgemeinen Bewusstsein noch immer etwas
Altertümlich-Unbestimmtes anhaftet.
Ähnlich steht es um den Begriff des Glücks, der in den letzten Jahren
zwar eine bemerkenswerte Renaissance, aber keine Konkretisierung erfah-
ren hat. Das ist wohl auch deswegen nicht zu erwarten, weil man unter
Glück weithin die subjektive Befindlichkeit des Einzelnen versteht. Diese
Befindlichkeit lässt sich aber nicht mit objektiven Maßstäben messen, und
wirksame Rezepte für ihre dauerhafte Erhaltung kann es nicht geben. Gegen
den allgemeinen Sprachgebrauch das Glück betreffend lässt sich schwer
etwas ausrichten, jedenfalls nicht, so lang so große Uneinigkeit über objek-
tive Standards des guten Lebens herrscht. Diese Uneinigkeit wird angesichts
der Komplexität der Fragestellung auch weiter bestehen, denn Einigkeit
kann sich allenfalls in einem eng begrenzten Kulturraum einstellen. An der
Aktualität der Fragestellung ändern die Schwierigkeiten ihrer Beantwortung
jedoch nichts. Jedes konstruktive Miteinander innerhalb der einzelnen Staa-
ten wie auch zwischen den Staaten setzt voraus, dass der Mensch – kan-
tisch gesprochen – dazu fähig ist, aus seiner ‚ungeselligen Geselligkeit‘ etwas
Konstruktives zu machen. Dazu kann aber ein besseres Verständnis dessen,
was Tugend ist, worauf sie beruht und welche Bedeutung sie für das Leben
des Einzelnen wie auch für das der Gesamtheit hat, einen wichtigen Beitrag
leisten.
Bibliographie
Bibliographie
Abkürzungen
Aristoteles’ Werke
Anal. pr. Analytica priora (Erste Analytiken)
Anal. post. Analytica posteriora (Zweite Analytiken)
Cael. De caelo (Über den Himmel)
Cat. Categoriae (Kategorienlehre)
De an. De anima (Über die Seele)
De divin. De divinatione per somnum (Über die Weissagen aus
Träumen)
De insomn. De insomniis (Über Träume)
De int. De interpretatione (Über Aussagen)
De iuv. De iuventute et senectute (Über Jugend und Alter)
De long. De longitudine et brevitate vitae (Über die Länge und
Kürze des Lebens)
De mem. De memoria (Über das Gedächtnis)
De resp. De respiratione (Über die Atmung)
De sens. De sensu et sensibilibus (Über Sinneswahrnehmung
und ihre Gegenstände)
De somn. De somno et vigilia (Über Schlafen und Wachen)
EE Ethica Eudemica (Eudemische Ethik)
EN Ethica Nicomachea (Nikomachische Ethik)
GA De generatione animalium (Über die Entstehung von
Tieren)
GC De generatione et corruptione (Über Entstehung und
Vergehen)
HA Historia animalium (Untersuchungen über Tiere)
IA De incessu animalium (Über die Fortbewegung von
Tieren)
MA De motu animalium (Über die Bewegung der Tiere)
Met. Metaphysica (Metaphysik)
270 Bibliographie
Platons Werke
Apol. Apologie
Charm. Charmides
Crat. Kratylos
Cri. Kriton
Crit. Kritias
Ep. Epistulae (Briefe)
Euthd. Euthydemos
Euthphr. Euthyphron
Gorg. Gorgias
Hp. ma. Hippias maior (Größerer Hippias)
Hp. mi. Hippias minor (Kleinerer Hippias)
La. Laches
Leg. Nomoi (Gesetze)
Ly. Lysis
Men. Menon
Mx. Menexenos
Prm. Parmenides
Phd. Phaidon
Phdr. Phaidros
Phlb. Philebos
Plt. Politikos
Prot. Protagoras
Resp. Respublica (Staat)
Soph. Sophistes
Symp. Symposion
Tht. Theaitetos
Tim. Timaios
Abkürzungen 271
Weitere Abkürzungen
B/R Broadie, S./Rowe, C. 2002: Aristotle, Nicomachean
Ethics. Translation, Introduction, and Commentary,
Oxford
CAG Diels, H. (Hg.) 1882–1909: Commentaria in Aristote-
lem Graeca, Berlin
Der neue Pauly Cancik, H./Landfester, M./Schneider, H. (Hg.) 1996–
2003: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike,
16 Bde., Stuttgart
DK Diels, H./Kranz, W. (Hg.) 61951–1952: Die Fragmente
der Vorsokratiker, 3 Bde., Zürich
G/J Gauthier, R. A./Jolif, J. Y. 1958–1959: Aristote.
L’Éthique à Nicomaque, introduction, traduction et
commentaire, 2 Bde., Louvain (mit neuer Einleitung
2
1970; ND: 2002)
Ind. Ar. Bonitz, H. 1870: Index Aristotelicus, Berlin
Kühner/Gerth Kühner, R./Gerth, B. 31898–1904: Ausführliche Gram-
matik der griechischen Sprache. Zweiter Teil: Satzlehre,
2 Bde., Hannover
LSJ Liddell, H. G./Scott, R./Jones, H. S. 1996: A Greek-
English Lexicon. With a Revised Supplement, Oxford
RE Pauly, A./Wissowa, G./Kroll, W. et al. (Hg.) 1893–
1980: Paulys Realencyclopädie der classischen Alter-
tumswissenschaft, Stuttgart
Smyth Smyth, H. W. 1920: Greek Grammar, New York
I. Textausgaben
Nikomachische Ethik
Bekker, I. 1831: Aristotelis Opera, ex recensione Immanuelis Bekkeri edidit
Academia Regia Borussica, vol. 2,4 continens Ethicam, Berlin (Editio
altera quam curavit O. Gigon: 1960)
Burnet, J. 1900: The Ethics of Aristotle. Edited with an Introduction and
Notes, London
Bywater, I. 1890: Aristotelis Ethica Nicomachea, Oxford
Jackson, H. 1879: ΠΕΡΙ ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗΣ. The Fifth Book of the Nicoma-
chean Ethics, Greek Text and Commentary, Cambridge
Ramsauer, G. 1878: Aristotelis Ethica Nicomachea, edidit et commentario
continuo instruxit, Leipzig
Susemihl, F. 1887: Aristotelis Ethica Nicomachea, Leipzig
Susemihl, F./Apelt, O. 1912: Aristotelis Ethica Nicomachea, ediderunt,
Leipzig
Zell, C. 1820: Aristotelis Ethica Nicomachea libri X, recognovit et illustra-
vit, Heidelberg
Eudemische Ethik
Susemihl, F. 1884: Aristotelis Ethica Eudemia, Leipzig
Walzer, R. R./Mingay, J. M. 1991: Aristotelis Ethica Eudemia, Oxford
Magna Moralia
Susemihl, F. 1883: Aristotelis quae feruntur Magna Moralia, Leipzig 1883
I. Textausgaben 273
Gesamtausgabe
Bekker, I. 1831–1870: Aristotelis Opera, ex recensione Immanuelis Bek-
keri edidit Academia Regia Borussica, 2 Bde., Berlin (Editio altera quam
curavit O. Gigon: 1960)
De anima
Ross, W. D. 1961: Aristotle, De anima. Edited with Introduction and Com-
mentary, Oxford
De caelo
Allan, D. J. 1936: Aristotelis De caelo, Oxford
Metaphysik
Jaeger, W. 1957: Aristotelis Metaphysica, Oxford
Ross, W. D. 1924: Aristotle’s Metaphysics. A Revised Text with Introduc-
tion and Commentary, Oxford
Parva Naturalia
Ross, W. D. 1955: Aristotle’s Parva Naturalia. A Revised Text with Intro-
duction and Commentary, Oxford
Physik
Ross, W. D. 1936: Aristotle’s Physics. A Revised Text with Introduction and
Commentary, Oxford
274 Bibliographie
Poetik
Kassel, R. 21966: Aristotelis de arte poetica liber, Oxford (11965)
Politik
Ross, W. D. 1957: Aristotelis Politica, Oxford
Susemihl, F. 1894: Aristotelis Politica. Nova impressio correctior, Leipzig
Protrepticus
Düring, I. 1961: Aristotle’s Protrepticus. An Attempt at Reconstruction,
Göteborg
Düring, I. 21993: Der Protreptikos des Aristoteles. Einleitung, Text, Über-
setzung und Kommentar, Frankfurt a.M. (11969)
Hutchinson, D. S./Johnson, M. R. 2017: Protrepticus. A Reconstruction of
Aristotle’s Lost Dialogue, www.protrepticus.info
Ross, W. D. 1955: Aristotelis Fragmenta Selecta, Oxford
Schneeweiß, G. 2005: Aristoteles. Protreptikos, Darmstadt
Rhetorik
Kassel, R. 1976: Aristotelis ars rhetorica, Berlin
Ross, W. D. 1959: Aristotelis ars rhetorica, Oxford
Topik
Ross, W. D. 1958: Aristotelis Topica et Sophistici Elenchi, Oxford
2. Aristoteles-Kommentare
Konstan, D. 2001: Aspasius, Anonymous, Michael of Ephesus, On Aristotle
Nicomachean Ethics 8–9 (Ancient Commentators on Aristotle), Ithaca,
N.Y.
III. Kommentare zur aristotelischen Ethik 277
V. Hilfsmittel
Frede, D. 1999: Plato on What the Body’s Eye Tells the Mind’s Eye, in: Pro-
ceedings of the Aristotelian Society 99, 191–209
Frede, D. 2001: Staatsverfassung und Staatsbürger ([Pol.] III 1–5), in:
O. Höffe (Hg.), Aristoteles. Politik, Berlin, 75–92
Frede, D. 2005: Citizenship in Aristotle’s Politics, in: Kraut/Skultety 2005,
167–184
Frede, D. 2006: Pleasure and Pain in Aristotle’s Ethics, in: Kraut 2006, 255–
275
Frede, D. 2009: Nicomachean Ethics VII.11–12. Pleasure, in: Natali 2009,
183–207
Frede, D. 2010: Aristoteles und der freie Wille, in: K. Crone/R. Schnepf/
J. Stolzenberg (Hg.), Über die Seele, Frankfurt a.M., 35–55
Frede, D. 2012: The Doctrine of Forms under Critique (Metaphysics A 9,
990a33–991b9), in: C. Steel (Hg.), Aristotle’s Metaphysics Alpha. Sym-
posium Aristotelicum, Oxford, 265–296
Frede, D. 2012a: The endoxon Mystique. What endoxa are and What They
are Not, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 43, 185–215
Frede, D. 2013: The Historic Decline of Virtue Ethics, in: Russel 2013, 124–
148
Frede, D. 2014: A Swarm of Virtues. On the Unity and Completeness of
Aristotle’s Scheme of Character-Virtues, in: M. Lee (Hg.), Strategies of
Argument. Essays in Ancient Ethics, Epistemology, and Logic, Oxford,
83–103
Frede, D. 2014a: Free Will in Aristotle?, in: Destrée/Salles/Zingano 2014,
39–57
Frede, D. 2018: A Superannuated Student: Aristotle and Authority in the
Academy, in: J. Bryan, R. Wardy, J. Warren (Hg.), Authors and Authori-
ties in Ancient Philosophy, Cambridge, 78–101
Frede, D. 2019: On the So-Called Common Books of the Eudemian and the
Nicomachean Ethics, in: Phronesis 64, 84–116
Frede, D. 2019a: New Perspectives on an Old Controversy: The Theoreti-
cal and the Practical Life in Aristotle, in: Zeitschrift für Philosophische
Forschung 73, 481–510
Frede, M. 2011: A Free Will. Origins of the Notion in Ancient Thought,
Berkeley
Frede, M./Charles, D. (Hg.) 2000: Aristotle’s Metaphysics Lambda. Sympo-
sium Aristotelicum, Oxford
Frede M./Patzig, G. (Hg.) 1988: Aristoteles, Metaphysik Z. Text, Überset-
zung und Kommentar, München
Fritz, K. v. 1980: Zur Interpretation des fünften Buches von Aristoteles’
Nikomachischer Ethik, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 62,
241–275
290 Bibliographie
Fürst, A. 1996: Streit unter Freunden. Ideal und Realität in der Freund-
schaftslehre der Antike, Stuttgart
Furley, D. J. 1967: Two Studies in the Greek Atomists, Princeton
Gabrielsen, V. 1986: Phanera and Aphanes Ousia in Classical Athens, in:
Classica et Mediaevalia 37, 99–114
Gadamer, H.-G. 1928: Der aristotelische Protreptikos und die entwick-
lungsgeschichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik, in: Hermes
63, 138–164
Gadamer, H.-G. 1978: Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles
(Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-
hist. Klasse, Bd. 1978/3), Heidelberg
Gagarin, M. 1981: Drakon and Early Athenian Homicide Law, New Haven
Gaskin, R. 1995: The Sea Battle and the Master Argument. Aristotle and
Diodorus Cronus on the Metaphysics of the Future, Berlin
Gauthier, R. A. 1951: Magnanimité: l’idéal de la grandeur dans la philoso-
phie païenne et dans la théologie chrétienne, Paris
Geach, P. 1977: The Virtues, Cambridge
Georgiadis, C. 1987: Equitable and Equity in Aristotle, in: S. Panagiotou
(Hg.), Justice, Law and Method in Plato and Aristotle, Edmonton, 159–
172
Gill, C. (Hg.) 2005: Virtue, Norms, and Objectivity. Issues in Ancient and
Modern Ethics, Oxford
Gill, C. 2012: The Transformation of Aristotle’s Ethics in Roman Philoso-
phy, in: Miller 2012, 31–52.
Glassen, P. 1957: A Fallacy in Aristotle’s Argument about the Good, in: Phi-
losophical Quarterly 7, 319–322
Gooch P. W. 1983: Aristotle and the Happy Dead, in: Classical Philology
78, 112–116
Gordon, J.-St. 2007: Aristoteles über Gerechtigkeit. Das 5. Buch der Niko-
machischen Ethik, Freiburg
Gosling, J. C. B. 1975: Philebus, Oxford
Gosling, J. C. B./Taylor, C. C. W. 1982: The Greeks on Pleasure, Oxford
Gottlieb, P. 1994: Aristotle’s ‚Nameless‘ Virtues, in: Apeiron 27, 1–15
Gottlieb, P. 2009: The Virtue of Aristotle’s Ethics, Cambridge
Gottschalk, H. B. 1990: The Earliest Aristotelian Commentators, in: Sorabji
1990, 55–81
Greene, W. C. 1944: Moira. Fate, Good and Evil in Greek Thought, Cam-
bridge (ND: 1948)
Grönroos, G. 2007: Listening to Reason in Aristotle’s Moral Psychology, in:
Oxford Studies in Ancient Philosophy 32, 251–271
Hadreas, P. 1995: Eunoia. Aristotle on the Beginning of Friendship, in:
Ancient Philosophy 15, 393–402
VI. Weitere Literatur 291
Hein, C. 1985: Definition und Einteilung der Philosophie. Von der spätan-
tiken Einleitungsliteratur zur arabischen Enzyklopädie, Frankfurt a.M.
Heinaman. R. 1986: The Eudemian Ethics on Knowledge and Voluntary
Action, in: Phronesis 31, 128–147
Heinaman. R. 1988: Compulsion and Voluntary Action in the Eudemian
Ethics, in: Nous 22, 253–281
Heinaman. R. (Hg.) 1995: Aristotle and Moral Realism, London
Heinaman. R. 2002: The Improvability of Eudaimonia in the Nicomachean
Ethics, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 23, 99–145
Heinaman. R. 2011: Pleasure as an Activity in the Nicomachean Ethics, in:
Pakaluk/Pearson 2011, 7–45
Heinimann, F. 1945: Nomos und Physis: Herkunft und Bedeutung einer
Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Basel
Henry, D./Nielsen, K. M. (Hg.) 2015: Bridging the Gap between Aristotle’s
Science and Ethics, Oxford
Hirzel, R. 1900: Agraphos Nomos, Leipzig (ND: Hildesheim 1977)
Höffe, O. (Hg.) 1995: Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Berlin (22006)
Höffe, O. 1995a: Ethik als praktische Philosophie – Methodische Überle-
gungen ([EN] I 1, 1094a22–1095a13), in: Höffe 1995, 13–38
Höffe, O. 21996: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, Berlin
(11971)
Höffe, O. 42014: Aristoteles, München (11996)
Hoffmann, E. 1972: Aristoteles’ Philosophie der Freundschaft, in: F.-P.
Hager (Hg.), Ethik und Politik des Aristoteles (Wege der Forschung
208), Darmstadt, 149–182
Holton, R. 2009: Willing, Wanting, Waiting, Oxford
Honnefelder, L. (Hg.) 2005: Albertus Magnus und die Anfänge der Aristo-
teles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. Von Richard Rufus bis Fran-
ciscus de Mayronis, Münster
Horn, C. 1998: Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu
den Neuplatonikern, München
Horn, C. 2006: Epieikeia. The Competence of the Perfectly Just Person in
Aristotle, in: Reis/Haffmans 2006, 142–166
Horn, C. (Hg.) 2016: Aristotle’s Metaphysics Lambda. New Essays, Berlin
Horn, C./Neschke-Hentschke, A. (Hg.) 2008: Politischer Aristotelis-
mus. Die Rezeption der aristotelischen Politik von der Antike bis zum
19. Jahrhundert, Stuttgart
Huffman, C. 1993: Philolaus of Croton, Pythagorean and Presocratic. A
Commentary on the Fragments and Testimonia with Interpretive Essays,
Cambridge
Hurka, T. 2001: Virtue, Vice, and Value, Oxford
VI. Weitere Literatur 293
Irwin, T. H. 2010: Morality as Law and Morality in the Laws, in: C. Bobo-
nich (Hg.), Plato’s Laws. A Critical Guide, Cambridge, 92–107
Irwin, T. H. 2011: Beauty and Morality in Aristotle, in: Miller 2011, 239–253
Isnardi Parente, M. (Hg.) 1980: Speusippus. Frammenti (La scuola die Pla-
tone 1), Neapel
Jackson, H. 1875: On Dislocations in the Text of the Fifth Book of the
[Nicomachean] Ethics, in: Journal of Philology 6, 100–113
Jaeger, W. 1912: Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des
Aristoteles, Berlin
Jaeger, W. 21955: Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwick-
lung, Berlin (11923)
Jaeger, W. 1957: Aristotle’s Use of Medicine as Model of Method in His
Ethics, in: Journal of Hellenic Studies 77, 54–61
Jaeger, W. 21960: Der Großgesinnte (aus der Nikomachischen Ethik des
Aristoteles), in: ders., Humanistische Reden und Vorträge, Berlin, 186–
194 (11937)
Jedan, C. 2000: Willensfreiheit bei Aristoteles?, Göttingen
Johansen, T. K. 2012: The Powers of Aristotle’s Soul, Oxford
Johansen, T. K. 2014: Parts in Aristotle’s Definition of Soul. De Anima
Books I and II, in: Corcilius/Perler 2014, 39–61
Johnson, M. R. 2005: Aristotle on Teleology, Oxford
Jost, L. 1991: Eudemian Ethical Method, in: J. P. Anton/A. Preus (Hg.),
Essays in Ancient Philosophy IV. Aristotle’s Ethics, Albany, 29–40
Jost, L. 2014: The Eudemian Ethics and Its Controversial Relationship to
the Nicomachean Ethics, in: Polansky 2014, 410–427
Judson, L. 1997: Aristotle on Fair Exchange, in: Oxford Studies in Ancient
Philosophy 15, 147–175
Just, R. 1989: Women in Athenian Law and Life, London
Kahn, C. H. 1966: Sensation and Consciousness in Aristotle’s Psychology,
in: Archiv für Geschichte der Philosophie 48, 43–81
Kahn, C. H. 1981: Aristotle and Altruism, in: Mind 90, 20–40
Kahn, C. H. 1985: The Place of the Prime Mover in Aristotle’s Teleology, in:
A. Gotthelf (Hg.), Aristotle on Nature and Living Things, Cambridge,
183–205
Kahn, C. H. 1988: Discovering the Will. From Aristotle to Augustine, in:
J. M. Dillon/A. A. Long (Hg.), The Question of ‘Eclecticism’. Studies in
Later Greek Philosophy, Berkeley, 234–259
Kamtekar, R. (Hg.) 2012: Virtue and Happiness. Essays in Honour of
Julia Annas (Oxford Studies in Ancient Philosophy, Supplementband),
Oxford
Kamtekar, R. 2014: The Relationship between Aristotle’s Ethical and Politi-
cal Discourses (NE X 9), in: Polansky 2014, 370–382
VI. Weitere Literatur 295
Lawrence, G. 2006: Human Good and Human Function, in: Kraut 2006,
37–75
Lear, G. R. 22006: Happy Lives and the Highest Good. An Essay on
Aristotle’s Nicomachean Ethics, Princeton (12004)
Lear, G. R. 2006a: Aristotle on Moral Virtue and the Fine, in: Kraut 2006,
116–136
Lear, G. R. 2010: Response to Kosman, in: Classical Philology 105,4
(Special Issue: Beauty, Harmony, and the Good, hg. von E. Asmis), 357–
362
Lear, J. 1988: Aristotle. The Desire to Understand, Cambridge
Lee, M. 2014: Justice and the Laws in Aristotle’s Ethics, in: M. Lee (Hg.),
Strategies of Argument. Essays in Ancient Ethics, Epistemology, and
Logic, Oxford 2014, 104–123
Leigh, F. (Hg.) 2012: The Eudemian Ethics on the Voluntary, Friendship,
and Luck, Leiden
Leunissen, M. 2013: ‚Becoming Good Starts with Nature‘. Aristotle on the
Moral Advantages and the Heritability of Good Natural Character, in:
Oxford Studies in Ancient Philosophy 44, 99–127
Leunissen, M. 2017: From Natural Character to Moral Virtue in Aristotle,
Oxford
Leyden, W. v. 1985: Aristotle on Equality and Justice. His Political Argu-
ment, London
Lieberg, G. 1958: Die Lehre von der Lust in den Ethiken des Aristoteles,
München
Lienemann, B. 2013: Plötzliche und unbeherrschte Handlungen aus Vorei-
ligkeit. Zwei besondere Arten zurechenbarer Handlungen in der aristo-
telischen Ethik, in: Mesch 2013, 229–249
Lienemann, B. 2018: Aristoteles’ Konzeption der Zurechnung, Berlin
Lines, D. A. 2002: Aristotle’s Ethics in the Italian Renaissance (ca. 1300–
1650). The Universities and the Problem of Moral Education, Leiden
Lines, D. A. 2012: Aristotle’s Ethics in the Renaissance, in: Miller 2012, 171–
193
Lipsius, J. H. 1905–15: Das attische Recht und Rechtsverfahren, 3 Bde.,
Leipzig
Lloyd-Jones, H. 1971: The Justice of Zeus, Berkeley
Lohr, C. H. 1988–2013: Latin Aristotle Commentaries, 5 Bde., Florenz
Long, A. A. 2004: Eudaimonism, Divinity, and Rationality in Greek Ethics,
in: Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy
19, 123–143
Lorenz, H. 2006: The Brute Within. Appetitive Desire in Plato and Aris-
totle, Oxford
298 Bibliographie
Ricken, F. 1995: Wert und Wesen der Lust ([EN] VII 12–15 und X 1–5), in:
Höffe 1995, 207–228
Ricken, F. 2000: Ist Freundschaft eine Tugend? Die Einheit des Freund-
schaftsbegriffs der Nikomachischen Ethik, in: Theologie und Philoso-
phie 75, 481–492
Rickert, G. A. 1989: Hekôn and Akôn in Early Greek Thought, Atlanta
Rippe, K. P./Schaber, P. (Hg.) 1998: Tugendethik, Stuttgart
Roberts, J. 1989: Aristotle on Responsibility for Action and Character, in:
Ancient Philosophy 9, 23–36
Roberts, J. 2000: Justice and the Polis, in: Rowe/Schofield 2000, 344–365
Robeyns, I. 2016: The Capability Approach, in: E. Zalta (Hg.), The Stanford
Encyclopedia of Philosophy, URL: https://plato.stanford.edu/archives/
win2016/entries/capability-approach/
Roche, T. D. 1988: On the Alleged Metaphysical Foundation of Aristotle’s
Ethics, in: Ancient Philosophy 8, 49–62
Roche, T. D. 2014: Happiness and the External Goods, in: Polansky 2014,
34–63
Rogers, K. 1993: Aristotle’s Conception of to kalon, in: Ancient Philosophy
13, 355–371
Romilly, J. de 1971: La loi dans la pensée grecque. Des origines à Aristote,
Paris
Rorty, A. O. (Hg.) 1980: Essays on Aristotle’s Ethics, Berkeley
Rorty, A. O. (Hg.) 1996: Essays on Aristotle’s Rhetoric, Berkeley
Rosen, F. 1975: The Political Context of Aristotle’s Categories of Justice, in:
Phronesis 20, 228–240
Rosen, R. M./Sluiter, I. (Hg.) 2003: Andreia. Studies in Manliness and Cou-
rage in Classical Antiquity, Leiden
Ross, W. D. 1930: The Right and the Good, Oxford (neu hg. von P. Stratton-
Lake: Oxford 2002)
Ross, W. D. 51949: Aristotle, London (11923)
Rowe, C. J. 1971: The Eudemian and Nicomachean Ethics. A Study in the
Development of Aristotle’s Thought (Proceedings of the Cambridge
Philological Society, Suppl. 3), Cambridge
Rowe, C. J. 1971a: The Meaning of phronêsis in the Eudemian Ethics, in:
Moraux/Harlfinger 1971, 73–92
Rowe, C. J. 1983: De Aristotelis in tribus libris Ethicorum dicendi ratione.
Particles, Connectives and Style in Three Books from the Aristotelian
Ethical Treatises, in: Liverpool Classical Monthly 8, 4–11; 37–40; 54–57;
70–74
Rowe, C. J./Schofield, M. (Hg.) 2000: The Cambridge History of Greek and
Roman Political Thought, Cambridge
VI. Weitere Literatur 305
KOMMENTAR
Die Vorzeichnung des Glücks
als Ziel des menschlichen Lebens
Buch I
Allgemeine Vorbemerkungen
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, steht in der Nikomachischen Ethik
immer wieder die Frage an, ob es sich hier um ein Werk ‚aus einem Guss‘
handelt, d.h. ob ihm eine einheitliche Konzeption zugrunde liegt oder ob
es Brüche aufweist, die Anzeichen dafür sind, dass Aristoteles verschiedene
Ansätze verfolgt, mit der Redaktion nicht fertig geworden ist oder spätere
Ergänzungen hinzugefügt hat. Das erste Buch folgt zwar insgesamt einer
klaren Linie bei der Bestimmung des Glücks als des höchsten menschlichen
Guts, es ist aber auch nicht frei von Wiederholungen, und es wird nicht
immer unmittelbar deutlich, ob Aristoteles, etwa bei der Bestimmung der
Kriterien des guten Lebens, einen einheitlichen Ansatz verfolgt oder unter-
schiedliche Aspekte ins Spiel bringt.
Wie Aristoteles’ wiederholte Verweise auf den ‚umrisshaften‘ Cha-
rakter des Gesagten nahelegen, dient dieses Buch vor allem der Vorzeich-
nung der Kernfrage des ganzen Werks in ihren Grundzügen: Was ist das
Glück als das höchste durch Handeln zu erreichende Gut, worin besteht
es, welche Eigenschaften bzw. Fähigkeiten setzt es voraus? Und inwie-
fern hängt es von äußeren Umständen ab? Zu dem umrisshaften Cha-
rakter dieser Vorzeichnung passt nicht nur der für Aristoteles auch sonst
charakteristische karge Stil, sondern auch die Tatsache, dass er die Erläu-
terungen seiner eigenen Vorgaben und die Rechtfertigung seiner Kon-
zeption des Glücks auf das Nötigste beschränkt. So verzichtet er auf eine
eingehende kritische Durchmusterung der Meinung seiner Vorgänger,
mit Ausnahme von Platons Idee des Guten (Kap. 4), sondern begnügt
sich mit Verweisen auf die Unzulänglichkeit der gängigen Meinungen
über das Glück (Kap. 3; 5) und mit der Berufung darauf, dass der Ent-
wurf (Kap. 7: perigraphê) seiner eigenen Konzeption des Glücks nicht
nur den von alters her akzeptierten philosophischen Ansichten entspricht
(Kap. 8), sondern sich, nach einigen Modifikationen, auch mit bestimm-
ten weiteren Anforderungen vereinbaren lässt, die man an das Glück stellt
(Kap. 9).
316 Kommentar
Es gibt aber zwei Gründe dafür, dass Aristoteles nicht geradewegs dieje-
nigen erstrebenswerten Güter/Ziele auswählt, die für das gute Leben erfor-
derlich sind – etwa mit der Rechtfertigung, der Mensch sei ein aktives Le-
bewesen und somit könne man sich bei der Bestimmung des Guten auf die
dafür relevanten Aktivitäten beschränken. Zum einen ist zunächst eine all-
gemeine Ordnung und Rangordnung unter sämtlichen Zielen herzustellen.
Zum anderen ist im ‚guten Leben‘ auch Raum für Güter, die keine Hand-
lungsziele sind. Erst wenn die Konzeption des guten Lebens in ihren Grund-
zügen feststeht, lässt sich unter den verschiedenen Gütern daher eine Ord-
nung etablieren. Diese Vorgangsweise – vom Allgemeinen, Unbestimmten
zum Spezifischeren, Bestimmten – erklärt, warum Aristoteles zunächst vie-
les offen lässt, was noch der Konkretisierung bedarf. Man sollte ihm daher
keine Beweise unterstellen, wo es ihm nur um schrittweise Hinführungen
und Eingrenzungen zu tun ist. Diesbezügliche Missverständnisse erklären,
warum insbesondere Buch I Gegenstand höchst kontroverser Interpretatio-
nen und Bewertungen ist. Das gilt insbesondere für die Vorzeichnung des/r
höchsten Ziels/Güter in Kap. 1–3 und für die Definition der eudaimonia
und ihre Erläuterung in Kap. 5–9. Einhelligkeit über das, was Aristoteles
dort sagt, und über seine Vorgehensweise besteht unter den Interpreten bis
heute nicht, zumal Aristoteles’ Abgrenzung der eigenen Konzeption gegen-
über anderen Auffassungen über die Natur des Glücks bzw. des höchsten
Guts sehr knapp gehalten ist (Kap. 2–4). Sie beschränkt sich zunächst auf
eine kurze Vorzeichnung des Verhältnisses von Zielen und Gütern, gefolgt
von einer kritischen Musterung gängiger Vorstellungen dazu und ergänzt
durch eine Kritik an Platons Idee des Guten.
Trotz der Knappheit dieser Ausführungen und der Kargheit der Aus-
drucksweise enthält das Buch jedoch manche Wiederholungen und Exkurse,
auf die Aristoteles z.T. selbst hinweist. So nimmt er mehrfach Fragen der
angemessenen Methodik und ihrer Standards auf (Kap. 1, 2 und 7) und geht
auch auf Nebenfragen, wie etwa auf die Maxime des Solon, niemand sei vor
seinem Ende glücklich zu schätzen, in einer für eine Einführung unerwar-
tet ausführlichen Weise ein. Dass Aristoteles gleichwohl davon ausgeht, mit
seiner Vorzeichnung des menschlichen Glücks, der eudaimonia, das Fun-
dament für alles Weitere gelegt zu haben, bezeugt der Übergang zur Be-
stimmung der für die menschliche Natur charakteristischen zweifachen Art
von Tugend im 13. Kapitel des Buchs, der Tugend des Charakters und der
Tugend des Intellekts. Für diese Grundlegung verweist Aristoteles zudem
auf die Autorität der politischen Wissenschaft als der ‚Meisterwissenschaft‘
des Lebens für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft. Danach ist es der
Staatsmann (politikos) bzw. der Gesetzgeber (nomothetês), der die Standards
des menschlichen Lebens festlegt. Wenn es Aristoteles mit dieser Autorität
ernst ist, so fragt sich, woher wiederum die Standards dieser Wissenschaft
318 Kommentar
(1) 1094a1–b11 „Jede Kunst und jede Untersuchung, wie auch jede Hand-
lung und jedes Vorhaben, scheint nach etwas Gutem zu streben“: Wie in
vielen seiner grundlegenden Traktate (vgl. z.B. Met. A 1; Pol. I 1; Phys. I 1;
Anal. post. I 1) beginnt Aristoteles auch die EN mit einer Art von ‚Kern-
satz‘, der zugleich den Gegenstand der Untersuchung in allgemeiner Weise
vorzeichnet. Dabei handelt es sich jeweils um generelle Aussagen, von de-
nen Aristoteles annimmt, dass ihnen intelligente Leser − bei hinreichender
Buch I, Kapitel 1 319
Tun im weitesten Sinn zu beziehen. Angesichts der Tatsache, dass von sämt-
lichen Disziplinen und Untersuchungen die Rede ist, dürfte aber keine psy-
chologische Erklärung im Sinn der Motivation menschlicher Bemühungen
gemeint sein (III 6) (Vertreter der psychologischen Erklärung sind McDo-
well 1980; Irwin 1980; Höffe 21996; Bostock 2000, 8 f.; Lawrence 2006; dazu
kritisch Brüllmann 2011, 48–53; 108–116). Die unpersönliche Konstruktion
legt vielmehr nahe, dass es um die teleologische Ausrichtung jeder Art von
Disziplin und Tätigkeit geht. Zugleich ist damit angezeigt, dass Güter und
Ziele gleichzusetzen sind (so auch Pakaluk 2005, 49). Wie die Vielfalt der
anschließend angeführten Beispiele und ihre Verschiedenheit nahelegen, ist
damit aber noch keine inhaltliche Bestimmung des Guten verbunden. Wenn
aber die ‚Künste‘ und ‚Untersuchungen‘ auch die Wissenschaften einschlie-
ßen sollen, so ist zu fragen, in welchem Sinn letztere ein Gut anstreben.
Aristoteles muss nicht mehr behaupten wollen, als dass jede Wissenschaft in
ihrem Gegenstand das ihr eigene Gut hat. So ist der Beweis eines Theorems
ein der Mathematik inhärentes Gut, die Herstellung einer Statue ein Gut der
Bildhauerkunst oder die eines Schrankes das der Tischlerei (zum ‚Streben‘ in
einem übertragenen Sinn vgl. auch EE I 8, 1218a30–33).
(1.2) 1094a2–3 „Daher hat man zu Recht das Gute (t’agathon) als das be-
stimmt, wonach alles strebt“: Diese Folgerung wird in der Sekundärliteratur
oft als Fehlschluss kritisiert, weil Aristoteles angeblich aus der Tatsache, dass
alles nach etwas Gutem strebt, den Schluss zieht, es gebe ein einziges Gut,
wonach alles strebt. Somit wäre ihm ein ‚Quantorendreher‘ unterlaufen: für
jedes (x) gilt, dass es nach einem (y) strebt à es gibt ein (y), wonach jedes
(x) strebt. Dass Aristoteles seine Bestimmung des höchsten menschlichen
Gutes auf einem elementaren logischen Fehler aufbaut, ist aber nicht nur an
sich unwahrscheinlich, sondern auch deswegen nicht plausibel, weil es sei-
ner Voraussetzung widerspricht, dass es bei jeder Suche jeweils ein letztes
Gut gibt. Zudem betont Aristoteles auch im Folgenden wiederholt die Viel-
falt der Ziele und behandelt die Frage nach einem/dem höchsten menschli-
chen Gut als noch offen. Auch muss ‚das Gute‘ (t’agathon) nicht notwendig
ein einziges Gutes bezeichnen, wie etwa Platons Idee des Guten, sondern es
kann auch das jeweilige Gut (vgl. 5, 1097a18) oder auch die Klasse von Gü-
tern bezeichnen. In analoger Weise spricht Aristoteles auch von dem Schö-
nen, dem Nützlichen und dem Angenehmen, ohne zu meinen, es gebe davon
nur eine einzige Art, geschweige denn ein einziges Objekt (vgl. II 2, 1104b;
VIII 2, 1155b19).
Wer aber sind die Vertreter der Auffassung, ‚das Gute sei, wonach al-
les strebt‘? Aristoteles behandelt diese Sentenz verschiedentlich wie einen
Gemeinplatz (Top. III 1, 116a19 f.; Rhet. I 6, 1362a23; b14). In EN X 2,
1172b14 f. führt er sie als Eudoxos’ Begründung dafür an, dass die Lust das
Gute ist. Auch Platon verwendet diese Sentenz im Philebos (20d), allerdings
Buch I, Kapitel 1 321
nicht als eine Definition des Guten, sondern er behandelt das Begehren aller
als eines von drei Kriterien zur Bestimmung dessen, was Menschen für gut
halten: „alles, was es kennt, jagt ihm nach und begehrt es (ephietai)“. Wenn
Aristoteles dieser Sentenz zustimmt, so tut er das in einem noch näher zu
spezifizierenden Sinn, so wie bei vielem, was er zwar für wahr, aber noch
nicht für klar hält (vgl. EN VI 1, 1138b26; EE VIII 3, 1249b6).
(1.2.1) 1094a4–6 „Denn die einen sind Tätigkeiten (energeiai), die anderen
bestimmte Produkte (erga) über diese hinaus“: Die Unterscheidung zwi-
schen Aktivitäten mit oder ohne ein Produkt oder Werk spielt in der aris-
totelischen Ethik eine wichtige Rolle. An dieser Stelle wird sie nicht näher
erläutert, sondern vorausgesetzt, dass die Zuhörer mit Terminologie und
Grundvorstellungen vertraut sind (zum Begriff von energeia = ‚Aktivität/
Tätigkeit‘ vgl. die ausführliche Diskussion der verschiedenen Bedeutun-
gen in Metaphysik Θ). Da Aristoteles hier auch diejenigen Tätigkeiten als
energeiai bezeichnet, die ein Produkt haben (der zweifache Gebrauch von
energeia soll offensichtlich die Verwandtschaft von en-erg-eia mit ergon =
‚Werk, Produkt‘ hervorheben), ist klar, dass er sich nicht auf perfekte Ak-
tivitäten beschränkt, d.h. auf Tätigkeiten, die kein Produkt herstellten, weil
sie ihr Ziel in sich haben. Damit sind nicht etwa Tätigkeiten gemeint, die in
keinem weiteren Zusammenhang stehen oder ohne Rücksicht auf ihre Kon-
sequenzen ausgeführt werden, sondern das Ziel ist ein integraler Teil der
Tätigkeit. Das gilt nicht nur für Beschäftigungen in Mußestunden, wie etwa
das Lesen eines Buchs, das Schachspiel oder das Musizieren, sondern vor al-
lem für Tätigkeiten wie moralisches Handeln und die Beschäftigung mit der
Wissenschaft, die man um ihrer selbst willen ausführt.
Eine scharfe Trennung zwischen einer reinen Tätigkeit und der Tätig-
keit um eines Produktes willen ist jedoch bei näherem Hinsehen problema-
tisch, weil das gute Handeln auf ein Resultat und auf Erfolg aus ist und nicht
etwa nur der Selbstbestätigung dient. Dies gilt auch für die von Aristoteles
besonders ausgezeichneten tugendhaften Handlungen, die dem ‚Schönen‘
(kalon) gelten, als solche aber auch zum menschlichen Wohl beitragen (zum
Schönen vgl. die Anmerkung in der Einleitung § 4). Auch die Behauptung,
das Werk oder Produkt sei seiner Natur nach besser oder wertvoller als die
Tätigkeit, die es hervorbringt (1094a5–9), könnte problematisch erscheinen,
da bei sinnvollen Produktionen beides einen Wert hat. Die Höherbewertung
des Produkts kann aber auch darauf beruhen, dass sein Wert nicht von der
Absicht seines Herstellers abhängt. Hingegen ist eine großzügige Handlung
nur dann großzügig, wenn sie keinem weiteren Ziel dient.
(1.2.2) 1094a9–17 „die unter eine einzige Disziplin fallen“: Wie oben ange-
deutet, besteht bei Aristoteles eine gewisse Spannung zwischen der Aner-
kennung einer Vielzahl von Gütern und der Tendenz zu einer Hierarchi-
sierung mit dem Fokus auf einem höchsten Gut. An dieser Stelle geht er
322 Kommentar
allerdings von einer Mehrzahl leitender Disziplinen aus, ohne sich auf eine
einzige festzulegen. Das Beispiel von der Unterordnung verschiedener Dis-
ziplinen, die mit der Pferdezucht zu tun haben, unter die Kriegskunst und
ihr spezifisches Gut, den Sieg, schließt zudem einen Eigenwert der unterge-
ordneten Tätigkeiten und ihrer Ziele nicht aus, wie es auch nicht ausschließt,
dass Pferde auch zu anderen Zwecken gebraucht werden. Zwar behauptet
Aristoteles zunächst, „man verfolgt diese [sc. Ziele] um jener willen“, unter-
stellt ihnen aber nicht, dass Letzteres ihr einziges Ziel ist. In die Hierarchie
bezieht er nämlich auch solche Aktivitäten mit ein, die kein Produkt her-
vorbringen, sondern ihren Zweck in sich haben (1094a16–18). Eine solche
Hierarchie bedeutet weder, dass sämtliche Tätigkeiten nur Mittel zu einem
einzigen höheren Zweck sind, noch auch, dass die übergeordnete Kunst sich
sämtliche Ziele der untergeordneten Disziplinen zu eigen macht. Ein Gene-
ral der Kavallerie lässt sich weder das Zügel- noch das Sattelmachen ange-
legen sein.
(1.3) 1094a18–b11 „Wenn es aber ein Ziel des Tätigseins gibt“: Dieser Ab-
schnitt scheint zunächst den Eindruck zu bestätigen, dass Aristoteles doch
auf eine Hierarchie der Ziele im strengen Sinn hinaus will, und den Kriti-
kern recht zu geben, die hier eine Wiederholung des in 1094a2 f. angedeute-
ten Fehlschlusses aufgrund von Quantorenverschiebung sehen, derart dass
es ein (einziges) Gut geben muss, wenn alle nach etwas Gutem streben (zur
Fehlschlussdebatte seit Glassen 1957 vgl. Anscombe 21963, 34; Hardie 1965;
Ackrill 1980, 29–33; Stemmer 1992; Annas 1993, 31–34 und den Überblick
bei Brüllmann 2011, 50–57). Denn prima facie plädiert Aristoteles für Fol-
gendes: (i) dass es nur ein oberstes Ziel gibt, welches um seiner selbst willen
gewählt wird und das schlechthin Beste ist; (ii) dass ohne ein solches letztes
Ziel das Begehren „leer und sinnlos“ wäre, weil es sonst einen unendlichen
Regress von Zielen gibt. − Dagegen ist aber zu beachten, dass der Text auf
ein höchstes Ziel nur als eine Möglichkeit verweist, wie auch der Optativ
in der Konklusion nahelegt. Zudem ist nur die Rede davon, dass wir nicht
alles um etwas anderes willen wählen, und nur dem gilt die Klausel (ii), die
einen unendlichen Regress ausschließt. Der Verweis auf ein letztes Ziel, wel-
ches zugleich das Gute ist, stellt eine bloße Zuspitzung zur Betonung der
Wichtigkeit einer Ordnung unter den Zielsetzungen/Gütern dar. Aus die-
sem Grund dürfte Aristoteles hier auch vom Wünschen und Wählen spre-
chen, ohne darin eine psychologische Beobachtung zu sehen: Es geht ihm
lediglich um die Notwendigkeit, dass jede derartige Reihe auf einen An-
fangspunkt aus sein muss, wenn kein unendlicher Regress vorliegen soll.
Dass Aristoteles ein einziges höchstes Ziel im Auge hat, legt zwar zu-
nächst sein Vergleich zwischen diesem Ziel und der Zielscheibe von Bogen-
schützen nah, die darauf abzielen, ins Schwarze zu treffen. Der Vergleich
betrifft aber nur die Organisation von Zielen überhaupt. So ist die politi-
Buch I, Kapitel 1 323
sche Wissenschaft nicht auf ein einziges Ziel ausgerichtet: Zwar ‚umfasst‘
(1094b6: periechoi) sie sämtliche menschlichen Fähigkeiten und Tätigkeiten,
behandelt sie aber keineswegs als Mittel zu einem einzigen Ziel, sondern
sorgt nur für ihre Koordination. Dieses Umfassen bedeutet nicht, dass sich
der Politiker sämtliche untergeordneten Disziplinen und ihre Ziele zu eigen
macht, sondern nur, dass er sie kennt und ihren Gebrauch koordiniert.
Zwar bezeichnet Aristoteles das von der politischen Wissenschaft an-
visierte Ziel summarisch als ‚das menschliche Gut‘ (1094b7: t’anthrôpinon
agathon), er behandelt aber im Folgenden die Frage nach der Einheit oder
Vielheit von Zielen als weiterhin offen. Denn die Diskussion der mögli-
chen ‚Lebensformen‘ in Kap. 3 gilt unterschiedlichen (letzten) Gütern wie
Ehre, Lust, theôria. Auch der Anfang von Kap. 5, 1097a15–24 geht von einer
Mehrzahl unterschiedlicher Ziele aus. Als Beleg für ein einziges Lebensziel
wird oft auf EE I 2, 1214b6–11 verwiesen, wo die Notwendigkeit der Wahl
eines einzigen Ziels (skopos) hervorgehoben wird; das ist aber eine Zuspit-
zung, die Aristoteles hier vermeidet.
(1.3.1) 1094a23 „so dass wir wie die Bogenschützen (toxotai), die einen Ziel-
punkt (skopos) haben“: Der Vergleich mit einem Bogenschützen und der
Wünschbarkeit einer Zielscheibe (zur Metaphorik vgl. Platon, Resp. VII
519b) schließt eine Pluralität von Zielen nicht aus, sondern hebt vielmehr
den Vorteil einer Orientierung im Leben überhaupt hervor. So wird ver-
ständlich, dass Aristoteles es im Folgenden für ausreichend erklärt, „im Um-
riss“ (typôi) zu erfassen, worin das Ziel besteht. Die politische Wissenschaft
ist nicht etwa dieses Ziel, sondern nur die dafür zuständige Meisterdisziplin,
welche die anderen Tätigkeiten anleitet und koordiniert; daher dient sie so-
wohl dem Einzelwohl wie auch dem Gesamtwohl der Bürger.
(1.3.2) 1094a26–b11 „Es dürfte aber die (Wissenschaft) mit der höchsten
Autorität (kyriôtatê) und Meisterschaft (architektonikê) sein“: ‚Kyrios‘ dient
Aristoteles einerseits zur Kennzeichnung der hauptsächlichen oder eigent-
lichen Bedeutung einer Sache (EN I 6, 1098a6; VI 13, 1144b4), andererseits
auch für das autoritative Element (EN I 11, 1100b9 f.; II 2, 1103b30) Die
Kombination mit ‚architektonikê‘ spricht hier für letztere Bedeutung, denn
sie betrifft die anordnende Funktion der politischen Wissenschaft. Sicher ist
auch die Assoziation mit der Baukunst und der Unterscheidung zwischen
Meistern und gewöhnlichen Handwerkern gewollt (Pol. III 11, 1282a3; vgl.
Platon, Plt. 261c).
(1.3.3) 1094a27 „die politische Wissenschaft (politikê)“: Diese (heute leicht
missverständlichen) Übersetzung soll der Tatsache Rechnung tragen, dass es
um eine besondere Form übergeordneten Wissens geht, im Unterschied zur
aktiven Beteiligung an der Tagespolitik (vgl. VI 8, 1141b25 f.). Wenn Aristo-
teles hier der politischen Wissenschaft die höchste Autorität zuschreibt (we-
niger emphatisch in EE I 9, 1218b12–16), da sie per Gesetz anordnet, welche
324 Kommentar
Kenntnisse die Bürger erwerben sollen und bis zu welchem Grad, und wie
sie sich moralisch zu verhalten haben, so geht er damit weit über das hinaus,
was damals das Geschäft der Politiker war (vgl. auch II 1, 1103a2–6). Wie
Aristoteles am Ende der EN (X 10) deutlich macht, werden die meisten Staa-
ten eben dieser Aufgabe gar nicht gerecht. Damit ist nicht gesagt, dass Aris-
toteles sämtliche existierenden Staatsformen für schlecht und ihre Bürger für
charakterlich minderwertig hält. Wäre das so, könnte er nicht auf eine mo-
ralisch hinreichend vorgebildete Hörerschaft zählen. Die Konzeption der
‚architektonischen‘ Wissenschaft des Lebens als Staatskunst stellt zugleich
ein Desiderat und den Rahmen der aristotelischen Ethik dar. Die Anord-
nungen des Staatsmanns, was die Bürger zu tun und zu lassen haben, be-
ziehen sich aber nur auf das Verhalten, das sich per Gesetz regeln lässt, und
sind kein dirigistisches Reglement des Lebens der einzelnen Bürger. Auch
gibt der Staatsmann den Bürgern nicht vor, was sie jeweils als höchstes Gut
in ihrem eigenen Leben anstreben sollen; vielmehr ist das umfassende Gut
das Gemeinwohl, an dem alle Bürger teilhaben.
(1.4) 1094b7–11 „Denn wenn es (das Gute) auch für den Einzelnen und für
den Staat (polis) das gleiche ist“: Inwiefern das Wohl des einzelnen Bür-
gers sich mit dem der Gemeinschaft deckt, bleibt hier offen. Wie sich zei-
gen wird, sieht Aristoteles in der Gemeinschaft die Grundbedingung für die
Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit, nicht aber ein dem Einzelnen
übergeordnetes Gebilde. Auch eine Isomorphie von Bürger und Staat, wie
in Platons Politeia, setzt er nicht voraus. Der Staat ist vielmehr die Gemein-
schaft der Bürger, und das Staatswohl ist daher vom Wohl seiner Bürger
nicht zu trennen (so auch G/J II 1, 10–12; zur Frage, ob Aristoteles eine in-
dividualistische oder eine holistische bzw. kollektivistische Position vertritt,
vgl. Miller 1995, Kap. 6). Es ist nur schöner und göttlicher, für das Wohl
eines Volkes (ethnos) und von Staaten (poleis) zu sorgen, als nur für das ei-
gene. Da Aristoteles’ Analyse der kleinen, überschaubaren Polis gilt, also
dem kleinen Stadtstaat mit einem landwirtschaftlich zureichenden Hinter-
land, ist von ‚Völkern‘ sonst nicht die Rede. ‚Göttlich‘ (theios) ist hier nur
der Ausdruck für die besonders hohe Wertschätzung, ohne religiösen Hin-
tergrund.
Auf die Möglichkeit von Konflikten zwischen Einzelwohl und Gemein-
wohl geht Aristoteles nicht ein. Er behandelt aber die Sorge um das Eigen-
wohl oder das Wohl der eigenen Hausgemeinschaft als verschieden von der
Bemühung um das Wohl der Gemeinschaft, die den Staatsbürger als solchen
angeht und das Anliegen des Staatsmannes (politikos) ist. Da er sich mit der
Darstellung der Prinzipien im Allgemeinen begnügt, geht er nur selten auf
Fragen der praktischen Umsetzbarkeit ein. Gemeinwohl und Einzelwohl
stimmen aber idealiter überein (Pol. III 6, 1278b21–24). Dass den Bürgern
Opfer für das Allgemeinwohl abverlangt werden, bringt später die Erörte-
Buch I, Kapitel 1 325
(2.3) 1094b21 „bei dem, was meistens der Fall ist (hôs epi to poly)“: So
kennzeichnet Aristoteles sonst Sachverhalte bzw. Ereignisse in der Natur,
die nicht mit strikter Notwendigkeit eintreten (vgl. Met. Δ 30; Phys. II 5,
196b10–17; Anal. pr. I 3, 25b14 et pass.). In der Natur sind für Abwei-
chungen von der Regel äußere, zufällige, d.h. nicht zum regulären Ablauf
gehörige Störfaktoren verantwortlich. In der Ethik geht es dagegen nicht
um Zufälligkeiten, sondern um die Besonderheiten von Einzelfällen, wie
sich später in der Bestimmung der Tugenden und der Notwendigkeit der
richtigen Beurteilung der Handlungsumstände zeigen wird. Die Rede von
‚meistens‘ lässt aber erkennen, dass es durchaus Regeln und Standards für
richtiges Handeln gibt. Dafür sorgt die politische Wissenschaft mit ent-
sprechenden Gesetzen. Diese Tatsache übersehen nicht nur die Partiku-
laristen unter den Interpreten, sondern auch alle diejenigen, die der Auf-
fassung sind, dass auch die Grundprinzipien der Ethik nur zumeist gelten
und allenfalls metaethische Prinzipien davon auszunehmen sind. Auf Re-
geln und Ausnahmen geht Aristoteles zwar nur selten ein, wie er sich über-
haupt der Kasuistik weitgehend enthält. Gelegentlich verweist er aber auf
Bedingungen hin, die ‚meistens‘ gegeben sind (vgl. III 5, 1112b8; IX 2,
1164b30: Man soll zwar Wohltaten meistens erwidern, gegebenenfalls aber
doch eher dem eigenen Vater helfen).
(3) 1094b27–1095a13 „Jeder beurteilt richtig, was er kennt, und ist darüber
ein guter Richter“: Aus der Ungenauigkeit dieser Disziplin erklärt sich auch,
dass Aristoteles im letzten Abschnitt des Kapitels ausführlich auf die Vorbe-
dingungen eingeht, die seine Hörer (1095a2: akroatês) mitbringen müssen,
eine Erklärung, die keine Parallele in seinen anderen Werken hat. Die rich-
tige Einschätzung des Maßes an Genauigkeit, die der Gegenstand zulässt, ist
laut Aristoteles nachgerade das Kennzeichen des Gebildeten (1094b23–25).
Da es einer guten Urteilsfähigkeit bedarf, ist die Vorlesung für Jugendliche
und charakterlich unreife Menschen nicht geeignet, denn neben dem richti-
gen Urteilsvermögen ist auch ein guter Charakter nötig. Durch Lehre allein
lassen sie sich nicht vermitteln. Für das Urteilsvermögen ist ein gewisser Er-
fahrungsschatz erforderlich, insbesondere was die unterschiedlichen Bedin-
gungen von Handlungsumständen und die Möglichkeit von Abweichungen
von der Norm angeht. Auf dieser Überzeugung beruht auch die Erklärung,
das eigentliche Ziel der Vorlesung sei nicht das Erkennen, sondern das Han-
deln (1095a5f.). Dies scheint zunächst schlecht zu der Behauptung zu pas-
sen, nur der Vernünftige werde von seinem Unterricht profitieren (1095a10).
Mit dem ‚Vernünftigen‘ ist hier aber nicht der Wissende als solcher gemeint,
sondern derjenige, dessen Bestrebungen durch die Vernunft (kata logon) ge-
leitet werden, denn diese Bestrebungen beruhen auf dem Charakter (1095a7:
êthos). Jugendliche lassen sich statt von der Vernunft von ihren Affekten
328 Kommentar
(1) 1095a14–30: Das durch Handeln erreichbare höchste Gut ist das Glück;
seine Natur ist aber Gegenstand divergierender Meinungen. (2) 1095a30–b9:
Es gibt zwei Wege: Den Weg von uns Bekanntem zu den Prinzipien hin und
den Weg von den Prinzipien zum uns Bekannten. Die Ethik geht den ersten
Weg.
(2) 1095a30–b13 „Wir dürfen aber nicht übersehen, dass es einen Unter-
schied zwischen Erklärungen gibt, die von den Prinzipien (archai) ausge-
hen, und solchen, die zu den Prinzipien hinführen“: Methodisch gesehen ist
dieser kurze Abschnitt von großer Bedeutung, denn nachdem er in Kap. 1
nur vor übertriebenen Erwartungen die Genauigkeit betreffend gewarnt hat,
äußert sich Aristoteles hier positiv zur Vorgehensweise. Die Bemerkungen
sind mit den entsprechenden Ausführungen in Kap. 7, 1098a33–b8 zusam-
men zu lesen. Dass Aristoteles seine Überlegungen zur Methodik nicht in
einem Kapitel zusammengefasst hat, sondern jeweils stückweise an ihm pas-
senden Stellen einfließen lässt, dürfte der Absicht geschuldet sein, das für
die Ethik Charakteristische für Hörer/Leser einprägsam zu formulieren
und auf eine längere, systematische Darstellung und Rechtfertigung zu ver-
zichten.
Die nähere Kennzeichnung der Vorgangsweise zeigt, dass Aristoteles –
anders als vielfach in der Sekundärliteratur angenommen – keiner dialekti-
schen Behandlung auf der Basis von ‚anerkannten Meinungen‘ (endoxa) mit
332 Kommentar
Abwägungen von pro und contra das Wort redet (vgl. dazu Top. I 2, 101a36–
b4). Vielmehr geht er epagogisch vor. Was darunter zu verstehen ist, lässt
sich der näheren Kennzeichnung des Vorgehens hier und in Kap. 7 entneh-
men, wo epagôgê explizit genannt wird (dazu auch VI 3, 1139b26–31).
(2.1) 1095a30–b1 „Erklärungen …, die von den Prinzipien ausgehen, und
solchen, die zu den Prinzipien hinführen“: Die Methodik wird oft mit der
in der Neuzeit üblichen Unterscheidung zwischen deduktivem und induk-
tivem Vorgehen gleichgesetzt. Dieser Vergleich ist zwar insofern gerechtfer-
tigt, als Aristoteles mit Platon zwischen solchen Wissenschaften unterschei-
det, die wie die Mathematik von Axiomen ausgehen – also von allgemein
akzeptierten Prinzipien – und daraus Folgerungen ableiten, und solchen
Wissenschaften, die Prinzipien aus Einzelfällen ableiten. Auch die Begriffe
‚apodeiktisch‘ und ‚epagogisch‘ stammen von Aristoteles. Das Verfahren,
das Aristoteles im Auge hat, ist aber nur entfernt verwandt mit dem, was
man heute als ‚epagogisch‘ bezeichnet. Denn es geht ihm nicht um eine stati-
stisch abgesicherte empirische Basis, von der aus man auf universell geltende
Gesetze schließt, sondern – wie die näheren Ausführungen zeigen – um be-
kannte Phänomene, die sich auf noch nicht bekannte, erste Prinzipien zu-
rückführen lassen.
(2.1.1) 1095a32–1095b1 „Denn auch Platon pflegte zu Recht auf dieses
Problem hinzuweisen“: In Platons Dialogen findet sich kein Hinweis auf
diese Vorgehensweise. Wie bereits Grant 1874 angemerkt hat, sind die Ver-
wendung von Platons Namen mit Artikel und die imperfektische Verb-
form als Anzeichen zu werten, dass es sich um von ihm mündlich Vor-
getragenes handelt. Der Vergleich des Unterschieds zwischen dem Weg
zu den Prinzipien hin und wieder von ihnen zurück mit dem Weg eines
Wettlaufs bis zu einem Umkehrpunkt und wieder zurück zu den Schieds-
richtern (1 stadion = 1600 Fuß) könnte aber fester Bestand der Methoden-
diskussionen in der Akademie gewesen sein. Dafür spricht auch die for-
melhafte Kennzeichnung.
(2.2) 1095b2–8 „Man muss nämlich bei Bekanntem anfangen“: Die Unter-
scheidung zwischen dem ‚uns (hêmin) Bekannten‘ und dem ‚schlechthin
(haplôs) Bekannten‘ erläutert Aristoteles auch an anderer Stelle (vgl. Phys.
I 1, 184a16–26; Anal. post. I 2, 71b33–72a5; Met. Z 3, 1029a33–1029b12 et
pass.). Gemeint sind vertraute Phänomene, die man auf ihre allgemeinen
Prinzipien zurückführt. Letztere werden zwar als solche später erkannt als
die entsprechenden einzelnen Erfahrungen, ihrer Allgemeinheit wegen ha-
ben sie aber einen höheren ‚Verstehensgehalt‘. So ist es z.B. ‚uns bekannter‘,
dass der Bremsweg mit zunehmender Geschwindigkeit zunimmt. Dass er
mit dem Quadrat der Geschwindigkeit wächst, ist dagegen ‚schlechthin‘ be-
kannt bzw. ‚schlechthin verständlich‘, wenn man das Prinzip der Geschwin-
Buch I, Kapitel 2 333
digkeit einmal verstanden hat. Auf solche erste Prinzipien stößt man im
Ausgang von ‚uns Bekannterem‘ oder ‚uns Verständlicherem‘.
(2.2.1) 1095b3–4 „Es ist aber wohl (isôs) doch von dem uns Bekannten aus-
zugehen“: Während bei wissenschaftlichen Beweisen das ‚uns Bekannte‘
nicht der richtige Ausgangspunkt ist, hält dies Aristoteles in der Ethik an-
scheinend für den richtigen Ausgangspunkt. Was ist nun in der Ethik das
‚uns Bekannte‘? Es geht nicht um die Überzeugungen von jedermann, die
noch einer Kritik zu unterziehen sind, sondern Aristoteles appelliert an das
Vorverständnis seiner Hörer: Um über Gerechtes und Ungerechtes, wie
überhaupt über Politisches, urteilen zu können, müssen sie bereits mit den
Phänomenen vertraut sein, d.h. schon wissen, was unter ‚gerecht‘ und ‚un-
gerecht‘ zu verstehen ist und welche Sachverhalte damit gemeint sind, auch
wenn sie die allgemeinen Prinzipien des Unterschieds zwischen Gerechtig-
keit und Ungerechtigkeit als solche noch nicht kennen.
(2.2.2) 1095b6 „Ausgangspunkt (archê) ist nämlich das ‚Dass‘ (to hoti); und
wenn dies jemandem deutlich genug ist, dann wird er nach dem ‚Warum‘ (to
dioti) keinen weiteren Bedarf haben“: Das Wort archê hat dieselben Bedeu-
tungsnuancen wie das lateinische principium. Es kann sowohl ‚Anfang‘ im
zeitlichen und örtlichen Sinn wie auch ‚Herrschaft‘ oder ‚herrschendes Prin-
zip‘ bedeuten. In diesem Abschnitt spielt Aristoteles beide Verwendungen
gegeneinander aus: man schreitet vom natürlichen Ausgangspunkt zu den
Prinzipien als zu den Begründungen fort. Auf die Unterscheidung zwischen
dem ‚Dass‘, dem bloßen Faktum, d.h. dass ein Sachverhalt besteht, und dem
‚Warum‘, der Begründung, geht Aristoteles an anderer Stelle näher ein (vgl.
Met. A 1, 981a24–b13; 3, 983a24–b5; Phys. II 3, 194b16–23; Anal. post. I 13)
und sieht in der Rückführung auf das ‚Warum‘ das Ziel wissenschaftlicher
Untersuchungen. Wenn er das ‚Warum‘ hier als vernachlässigenswert be-
zeichnet, erscheint dies zunächst ebenso verwunderlich wie die Versiche-
rung an der Parallelstelle in 7, 1098a34–b4, man müsse nicht überall in glei-
cher Weise nach der Ursache (aitia) fragen.
Der Verzicht auf das ‚Warum‘ an dieser Stelle dürfte mehrere Gründe ha-
ben: Zum einen will Aristoteles in der Ethik auf die Art der strengen Prin-
zipienforschung verzichten, die er für seine Wissenschaftstheorie fordert.
Vielmehr nimmt er an, dass bei ethischen Fragen die Vertrautheit mit den
Fakten zur Einsicht in das ‚Warum‘ führt. Wer sich hinreichend mit schö-
nen und gerechten Handlungen befasst, wird auch verstehen, was schön und
gerecht bedeuten. Auch in seiner Wissenschaftstheorie erwähnt Aristote-
les einmal, bei hinreichender Deutlichkeit eines Phänomens müsse nach der
Ursache nicht gefragt werden (Anal. post. II 2, 90a24–30).
(2.3) 1095b8–13 „Der Beste von allen ist, wer alle Dinge selbst erkennt“:
Was trägt diese ‚Dichtermoral‘ aus Hesiods Werke und Tage (293–6) zur
Methodenklärung bei? Sie bestätigt den höheren Wert der Erkenntnis der
334 Kommentar
Prinzipien vor dem bloßen Befolgen von Einsichten, die sich anderen ver-
danken, auch wenn diese als Basis für das Leben ausreichen. Wer beide Ar-
ten nicht hat, ist für das Leben unbrauchbar. Die Dichtermoral bekräftigt
zudem, dass nicht nur für allzu junge Hörer, sondern auch für alle anderen
eine entsprechende Erziehung die unerlässliche Voraussetzung für das Stu-
dium ethischer Fragen ist. Dass Aristoteles den Dichter ausführlich zitiert,
soll offensichtlich dem Gesagten besonderen Nachdruck verleihen.
(1) 1095b14–19: Zur Bestimmung des Glücks empfiehlt sich die Überprü-
fung der bevorzugten Lebensformen. (2) 1095b19–22: Ein Leben der Lust
ist des Menschen unwürdig. (3) 1095b22–29: Ehre ist kein eigenständiges
Ziel. (4) 1095b29–1096a4: Auch die Tugend allein ist nicht hinreichend.
(5) 1096a4–5: Die Erörterung der theoretischen Betrachtung wird auf später
verschoben. (6) 1096a5–10: Der Reichtum ist nur Mittel und kein Ziel.
(1) 1095b14–19 „Wir wollen die Erörterung aber dort wieder aufnehmen,
wo wir abgeschweift sind“: Mit der ‚Abschweifung‘ ist der methodische Ex-
kurs im letzten Kapitel gemeint. Aristoteles hält den Ansatz zur Bestim-
mung des Glücks bei den ‚vorherrschenden Lebensformen‘ insofern für an-
gezeigt, als ihnen zu entnehmen ist, was allgemein als erstrebenswert gilt.
Neben dem Leben des Genusses, dem gewöhnliche Leute den Vorzug ge-
ben, verdienen das ‚politische‘ und das ‚theoretische‘ Leben besondere Auf-
merksamkeit. Was das politische Leben eigentlich ausmacht, wird im Fol-
genden näher präzisiert; die Erörterung des theoretischen Lebens wird auf
später verschoben.
(1.1) 1095b16 „so scheint man dabei nicht ohne Grund … auszugehen“:
Wie zur Übersetzung bereits angemerkt, ist in Bywaters Text in Zeile b16
das Satzzeichen ausgefallen (Bekker setzt dort ein Kolon, Susemihl einen
Punkt). Diese Auslassung hat in vielen Übersetzungen zu unnötig kompli-
zierten Konstruktionen geführt. Ein Junktim zwischen den Überlegungen,
dass sich aus den üblichen Lebensweisen das Gute und das Glück bestim-
Buch I, Kapitel 3 335
men lassen, und der Kennzeichnung der Position der ‚vulgären Hedonisten‘
ist aber mit Sicherheit nicht beabsichtigt.
(1.2) 1095b17–19 „Drei Lebensformen sind nämlich besonders prominent
(proechontes)“: Besonders prominent sind sie, weil sie der Lust, der Ehre
und der Wahrheit gelten. In EE I 4, 1215a26–b6 hat Aristoteles diese Drei-
teilung näher begründet, die er hier nur kurz resümiert (nähere Erläuterun-
gen zu üblichen Glücksvorstellungen finden sich auch in Rhet. I 5, 1360b5–
31; ob Aristoteles sich auch an den drei Typen von Seelen und ihren Zielen
bei Platon orientiert hat, ist unklar, vgl. Resp. IX 580d–581c).
(2) 1095b19–22 „Die Menge (hoi polloi) erweist sich als ganz sklavisch (an-
drapodôdeis)“: Obwohl Aristoteles keine antihedonistische Position vertritt,
beurteilt er das Leben der Art von Lust, in dem „die Menge und die gewöhn-
lichsten Leute“ ihre Erfüllung finden, als ‚sklavisch‘, weil er darunter die
niedrigste Form des Menschseins sieht. Wie in Pol. I, 4–7 eingehend begrün-
det, hat für Aristoteles der ‚natürliche Sklave‘ keine höheren intellektuellen
Fähigkeiten, sondern wird nur von körperlichen Bedürfnissen beherrscht
(bes. 1254b16–55a3, vgl. dazu Schofield 1990). Dieses Leben gilt derjenigen
Art von Lust, die Menschen und Tieren (boskêmata, eigentlich: ‚Weidetiere‘)
gemeinsam ist, also die auf Nahrung und Sexualität beschränkte Sinnenlust.
Dass es auch höhere Arten von Lust gibt, die Aristoteles als integralen Be-
standteil moralisch richtiger Handlungen und daher auch jeder gelungenen
Lebensform ansieht, wird erst später deutlich (vgl. I 8; II 2; VII 12–15 und
X 1–5). Eine gewisse Rechtfertigung dieser Lebenskonzeption der Menge
liefert das schlechte Vorbild solcher Machthaber und Reicher (hoi en tois
exousiais), die sich ‚sardanapalischen‘ Genüssen hingeben. Aristoteles’ Ver-
hältnis zur Menge zeichnet sich durch eine gewisse Ambivalenz aus. Einer-
seits steht er ihr oft mit Verachtung gegenüber, wenn er unterstellt, dass sie
ihr Leben nur dem Essen, Trinken und sexuellen Genüssen widmet. Ande-
rerseits beruft er sich aber auch oft auf die Meinung der Mehrheit der Men-
schen als Bestätigung der Richtigkeit von Überzeugungen (was alle meinen,
kann nicht ganz verfehlt sein) und billigt in der Politik der Urteilsfähigkeit
‚der Vielen‘ sogar eine gewisse Überlegenheit gegenüber der von Fachleuten
zu (vgl. bes. Pol. III 11). Je nach Zusammenhang ist also in der Übersetzung
zwischen ‚der Menge‘ und ‚der Mehrheit‘ zu unterscheiden.
(2.1) 1095b22 „Sardanapal“: Der assyrische König von Niniveh (eigtl. As-
surbanipal) galt als sagenhaft reich und genusssüchtig (669–626 v. Chr.). Da-
von zeugt die angebliche Grabinschrift, für die Cicero Aristoteles als Ge-
währsmann angibt (Tusculanae Disputationes V 35, 101; De Finibus II 32,
106; vgl. Athenaeus, Deipnosophistai VIII 14, 5). Die Inschrift besagt, dass
Sardanapal zwar seine sinnlichen Genüsse mit ins Grab nehmen konnte, sei-
nen Reichtum aber zurücklassen musste. Die Berechtigung seines Rufs als
336 Kommentar
Décadent sehen Fachleute zwar als unbegründet an, vor allem angesichts
seiner kulturellen (insbesondere bibliophilen) Anstrengungen. Der Zerfall
des assyrischen Reichs nach seinem Tod dürfte aber zu dem Klischee bei-
getragen haben. Da Sardanapal auch bei Aristophanes erwähnt wird (Vögel
1021: „Wer ist dieser Sardanapal?“), muss sein Ruf älteren Datums sein, auch
wenn Herodot davon nichts berichtet (Historien II 150, 9). Es gab anschei-
nend Sammlungen angeblicher Grabinschriften, denen z.B. auch das Epi-
gramm über Midas entstammen dürfte, über das sich Sokrates lustig macht
(Phdr. 246c–d).
(4) 1095b29–1096a4 „Somit ist klar, dass jedenfalls für diese Menschen die
Tugend das höhere Gut ist“: Der Argumentationsfaden, der die Tugend zum
Buch I, Kapitel 3 337
Ziel des politischen Lebens macht, erscheint zunächst noch dünn, denn es
sind ja nur die von Aristoteles aufgeklärten Praktiker, die auf die Tugend aus
sind. Aristoteles ist es aber ganz ernst damit, dass der Politiker die Tugend
zum Ziel haben sollte – denn eben davon ist er für den (wahren) Staatsmann
und Gesetzgeber in Kap. 1 ausgegangen, für den Meister-Architekten des
Lebens, der bestimmt, was die Bürger zu tun und zu lassen haben.
(4.1) 1095b31–1096a4 „Auch die Tugend erweist sich aber als nicht ganz
vollkommen (atelestera)“: Die beiden Gründe, aus denen die Tugend allein
nicht ausreicht, werden hier zunächst nur aufgezählt und später noch ein-
gehender erläutert (Kap. 6). Wenn Aristoteles dies vorwegnimmt, so um das
Ungenügen einer Gleichsetzung von Glück und Tugend zu erklären. (i) Der
bloße Besitz der Tugend reicht für das Glück nicht aus, weil man sie auch im
Schlaf oder bei Untätigkeit hat; für das gute Leben ist aber gerade das Tätig-
sein das entscheidende Charakteristikum. (ii) Ferner bietet die Tugend kei-
nen Schutz gegen die Widrigkeiten des Lebens. Auch der Tugendhafte kann
unglücklich werden, wenn ihn die größten Unglücksfälle treffen. In wel-
chem Sinn diese Möglichkeit für das Glück selbst nicht gilt, wird später noch
näher erörtert. Es sei hier nur vorausgeschickt, dass Aristoteles ‚Glück‘ als
einen Perfektionsbegriff behandelt, analog etwa zur Gesundheit. So schließt
Gesundheit als solche Krankheiten aus; jeder gesunde Mensch ist dagegen
jederzeit für Krankheiten anfällig und kann in unterschiedlichem Grad ge-
sund sein. Ein analoges Verhältnis besteht auch im Fall des Glücks.
(4.2) 1096a1 f. „Niemand aber würde jemanden glücklich nennen, der so
lebt“: Dem ist später entgegengehalten worden, eben dies sei die These des
Sokrates, d.h. dass der Gute (= Wissende) gar nicht unglücklich sein kann.
Der platonische Sokrates vertritt zwar diese Position nicht in der radikalen
Form wie später die Stoiker; er wird aber manchmal in entsprechender Weise
herausgefordert (vgl. Gorg. 473c–d; Resp. II 361e–362a; IV 444e–445b). Aris-
toteles dürfte aber nicht Sokrates, sondern eine andere philosophische Po-
sition im Auge haben, wie seine Bemerkung anzeigt, auf eine solche ‚These‘
versteife man sich nur, um sie um jeden Preis zu verteidigen. Unter einer
‚These‘ ist laut Top. I 11, 104b19–22 eine Annahme zu verstehen, die der ge-
wöhnlichen Meinung widerspricht (hypolêpsis paradoxos).
(4.3) 1096a3 f. „in den populären Schriften (enkykliois)“: Damit bezieht sich
Aristoteles auf seine auch stilistisch ausgefeilten Schriften, die er manchmal
als ‚exoterisch‘ oder auch als ‚herausgegeben‘ bezeichnet (vgl. Einleitung
§ 1). Ob diese Schriften auf Jugendwerke beschränkt waren, ist zweifelhaft
(so nach Jaeger 1923; Dirlmeier 1956, 274 f.; dagegen Düring 1961, 281–286).
Jedenfalls spricht nichts dagegen, dass Aristoteles auch später noch Trak-
tate für ein breiteres Publikum verfasst hat, wie entsprechende Verweise auf
ausführlichere Diskussionen an anderer Stelle nahelegen (s. I 13, 1102a26–
28 zur Unterscheidung zwischen dem vernünftigen und dem vernunftlosen
338 Kommentar
(5) 1096a4 f. „Die dritte Lebensform ist die theoretische (theôrêtikos)“: Die
Übersetzung stellt vor gewisse Schwierigkeiten, weil Aristoteles das Adjek-
tiv wie auch das Nomen theôria teils zur Bezeichnung von Wissenschaft im
Allgemeinen, teils in einem spezielleren Sinn der Wissenschaft vom Unver-
änderlichen verwendet (vgl. die Einteilung geistiger Fähigkeiten in theoreti-
sche, praktische und herstellende in Met. E 1, 1025b25 und die entsprechen-
den Einträge in Bonitz, Ind. Ar. s.v. 329a12–30). Was unter theoretischem
Wissen zu verstehen ist, wird eingehender in Buch VI, bes. Kap. 6 und 7, er-
örtert. Auf die ‚theoretische Lebensform‘ und ihre Bewertung kommt Aris-
toteles erst in Buch X 6–9 zurück.
(6) 1096a5–10 „Das Leben des Gelderwerbs ist mit Zwang verbunden“: Die-
ser Appendix soll erklären, warum dem Reichtum keine Lebensform gelten
kann, die das Glück ausmacht, obwohl der Reichtum laut 2, 1095a23 zu
den ‚naheliegenden Gütern‘ gehört. Hier wird diese Lebensform aus zwei
Gründen ausgeschlossen. (i) Mit dem Zwang dürfte gemeint sein, dass Geld-
geschäfte allerhand Zwänge mit sich bringen, so dass der Betreffende in sei-
nen Entscheidungen nicht frei ist. So wird in EE I 4, 1215a25–37 erwähnt,
niemand, der mit allen lebensnotwendigen Gütern hinreichend versehen ist,
werde von sich aus dem Gelderwerb nachgehen, und die Politik nennt Geld-
geschäfte, die über die häuslichen Ökonomie hinausgehen, gegen die Natur
(Pol. I 10, 1258a38–b8; vgl. auch VII 1; 9, 1328b33–1329a2). (ii) Reichtum ist
kein Zweck an sich, sondern Geld ist nur ein Mittel. Hier werden also Mittel
und Zweck verwechselt.
(6.1) 1096a7–10 „Daher würde man als Ziele eher die vorher Genannten
ansehen“: Auf weitere Erwiderungen auf Argumente zugunsten von Lust,
Ehre oder Tugend will Aristoteles sich hier nicht einlassen. Ihre Rolle im gu-
ten Leben wird später noch näher bestimmt.
(1) 1096a11–17 „Es ist aber vielleicht besser, auch das allgemeine Gute (to
katholou) zu überprüfen“: In den vorangegangenen Kapiteln hat Aristoteles
zunächst unterschiedliche Vorstellungen über das höchste Gut (Lust, Ehre,
Reichtum, Tugend) vorgestellt und kurz begründet, warum sie nicht das Ziel
eines zufriedenstellenden Lebens sein können. Die Frage, ob alles Gute auf
ein ‚Gutes an sich‘ als Ursache zurückzuführen ist, erfährt dagegen eine aus-
führliche Untersuchung (vgl. B/R 269; zur Kritik an Platons Ideenlehre in
Met. A 6 und 9 vgl. Fine 1993; Steel 2012; Frede 2012).
(1.1) 1096a13 „weil befreundete Männer die Ideen eingeführt haben“: Die
Einführung der Kritik an der platonischen Konzeption gibt sich auffällig
konziliant: Platon wird hier zwar nicht namentlich genannt, trotz des Plu-
rals ist er aber zweifellos gemeint, denn er ist derjenige, der „die Ideen ein-
geführt“ hat. Wenn Aristoteles sich hier des polemischen Tons enthält, der
seine Kritik an der Ideenlehre sonst auszeichnet, spricht das für eine grö-
ßere zeitliche und sachliche Distanz zu dieser Lehre (vgl. Met. A 9, 991a22:
„leeres Gerede und poetische Metaphorik“; An. post. I 22, 83a33: „bloßes
Gezwitscher“; EE I 8, 1217b16–23). Dieser sachliche Abstand spiegelt sich
auch in der ungewöhnlich feierlichen Form der ‚Apologie‘ für diese Kritik
wider: Bei aller Freundschaft ist es dennoch eine heilige Pflicht (hosion), der
Wahrheit den Vorzug zu geben.
(1.2) 1096a15 „auch nahestehende Lehren (ta oikeia) zu widerlegen (anair-
ein)“: Das Adjektiv oikeion lässt erkennen, dass sich Aristoteles dieser Lehre
noch immer verpflichtet sieht. In der Tat stützen sich seine Widerlegungs-
gründe z.T. auf Annahmen, die er nicht nur dieser Lehre unterstellt, sondern
in gewissem Umfang selbst teilt oder doch zu einem früheren Zeitpunkt ge-
teilt hat. Eine genaue Trennlinie lässt sich allerdings nicht ziehen.
(1.3) 1096a16–17 „Denn obwohl uns beide teuer sind, ist es ein heiliges Ge-
bot, der Wahrheit die höhere Ehre zu erweisen“: Diese Maxime wird immer
wieder gern zitiert, vor allem in verschiedenen aus dem Mittelalter stam-
menden lateinischen Kurzfassungen („Amicus Plato magis amica veritas“;
Buch I, Kapitel 4 341
zur Geschichte dieser Maxime vgl. G/J II 1, 37). Dieser Topos hat aber auch
Vorgänger: Sokrates ermahnt seine Freunde im Phaidon, sich nicht um ihn,
sondern um die Wahrheit zu kümmern (Phd. 91c), und in der Politeia recht-
fertigt er so seine Abwertung der Dichtkunst (Resp. X 595b–c): „gleichwohl
darf niemand höher geachtet werden als die Wahrheit.“ Wo Aristoteles in
der EN Platon namentlich nennt, tut er dies übrigens durchweg in einem
zustimmenden Sinn (vgl. die Anmerkungen zum Umgang mit Prinzipien
in I 2, 1095a30–b1; zur Notwendigkeit einer richtigen Gewöhnung an Lust
und Schmerz von klein auf in II 2, 1104b11–13; zur Tatsache, dass die Lust
allein nicht das Gute sein kann, X 2, 1172b28–32).
(2.1.2) 1096a20 „auch in der von Qualität“: Die Paraphrase bei Aspasios
(11,26–29) legt nah, dass er bei Aristoteles nur en tôi ti kai en tôi pros ti ge-
lesen hat. Dies entspricht in der Tat der Unterscheidung zwischen ‚an sich‘
bzw. ‚für sich‘ und ‚mit Bezug auf anderes‘ etwa in Platons Sophistes (Spen-
gel hat daher vorgeschlagen, das ‚Wie‘ im Text zu athetieren). Platon hat
aber selbst den Begriff der Qualität eingeführt (Tht. 182a: poiotês), und die
‚Kritik an der Sprache‘ im VII. Brief (Ep. 342e; 343c) beruft sich darauf, dass
es einer Definition nicht anzusehen ist, ob sie das Wesen (to ti) der fragli-
chen Sache trifft oder nur eine Qualität (poion ti) angibt. Dass Platon sich
der Besonderheit von Relativa von früh auf bewusst war, kann hier nicht
eigens nachgewiesen werden (zu Platons Behandlung von Relativbegriffen
vgl. Owen 1960; Scheibe 1967); als bloße Seitenschösslinge des Seienden gel-
ten sie Platon nicht, wie die Beispiele von Ideen zeigen: das Größere, Klei-
nere und Gleichgroße (Phd. 74a–75d); und im Sophistes (254c–256c). Unter
den Mitgliedern der Akademie scheint sich jedoch der Konsensus gebildet
zu haben, dass Relativbegriffe als solche unvollständig sind und daher die
Bedingung des ‚an sich‘ (kath’ hauto) nicht erfüllen (Met. A 9, 990b15–16;
20; vgl. dazu die Exzerpte aus Aristoteles’ Schrift Peri Ideôn, CAG I und die
Diskussion bei Fine 1993; Frede 2012, 276 f.).
(2.1.3) 1096a21 f. „Seitenschössling (paraphyas)“: In den biologischen Schrif-
ten verwendet Aristoteles diesen Begriff gelegentlich zur Bezeichnung von
Auswüchsen und Seitentrieben (vgl. HA IV 2, 526a29 f.; PA III 10, 672b27).
Eine vergleichbare Kennzeichnung des Relativen findet sich in Met. N 1,
1088a21–1088b4, sie gilt aber ebenfalls der Auseinandersetzung mit der in-
nerakademischen Prinzipienlehre.
(2.2) 1096a23–29 „Ferner: Da ‚gut‘ auf ebenso viele Weisen verwendet wird
wie ‚seiend‘ (on)“: Der zweite Einwand gegen einen allgemeinen Begriff des
Guten gibt nicht vor, Platonisches mit Platonischem zu widerlegen. Viel-
mehr beruft sich Aristoteles auf die kategoriale Vieldeutigkeit von ‚gut‘ und
behauptet, es habe ebenso viele Bedeutungen wie ‚seiend‘. Dabei setzt er of-
fensichtlich voraus, dass seine Hörer/Leser die Begründung für die irredu-
zible Vieldeutigkeit von ‚seiend‘ kennen und wissen, dass es keinen gemein-
samen Gattungsbegriff mit einer einheitlichen Definition gibt. Beispiele aus
den verschiedenen Kategorien sollen zeigen, dass auch ‚gut‘ jeweils einen an-
deren Sinn hat (Substanz: Gott und die Vernunft; Qualität: Tugend; Quanti-
tät: richtiges Maß; Zeit: richtiger Augenblick usw.).
In der Sekundärliteratur hat Aristoteles’ Annahme der Vieldeutig-
keit transkategorialer Prädikate vielfach Kritik erfahren (vgl. Ackrill 1973;
Woods 1982, 66–69; zur Parallelstelle in EE I 8 vgl. Shields’ 1999 allgemeine
Erörterung von Homonymie bei Aristoteles; eine informative Zusammen-
fassung gibt Brüllmann 2011, 77–88). So wird eingewendet, dass ‚gut‘ als
‚Empfehlungswort‘ immer dieselbe Bedeutung hat, auch wenn die betref-
Buch I, Kapitel 4 343
so scheint er zu meinen, dass das Gute nicht nur als höchstes Prinzip alle
guten Verhältnisse umfasst und damit eine Art regulatives Prinzip darstellt
(wie Stewart 1892 I, 74–77 mit anderen zur Verteidigung der platonischen
Position vorschlägt), sondern dass dieses Prinzip auch die einzelnen Arten
bestimmt. Ob das eine Fehldeutung oder eine im Ganzen berechtigte Zu-
spitzung platonischer Tendenzen ist, lässt sich angesichts der Tatsache nicht
entscheiden, dass wir die innerschulischen Diskussionen in der Akademie
nicht kennen.
(2.4) 1096a34–b5 „Man könnte sich aber auch fragen, was sie denn nun ei-
gentlich mit dem jeweiligen ‚Ding selbst‘ (autoekaston) meinen“: Dieser An-
griff gilt der Konzeption der Ideen als vorbildhaften, selbständigen Entitä-
ten überhaupt, nicht nur der Idee des Guten. Die Kennzeichnung der Ideen
durch Komposita mit ‚auto-‘ dürfte in der Schuldiskussion üblich gewor-
den sein. Die Grundlage dafür hat Platon aber mit seiner Auszeichnung der
Ideen geliefert: „und allem, dem wir das Siegel ‚was es selbst ist‘ (auto ho
estin) aufprägen“ (Phd. 75d). Aristoteles verwendet diese Ausdrücke auch
an anderer Stelle, vielleicht mit leicht spottendem Unterton (vgl. autoan-
thrôpos: Met. A 9, 991a29; b19; autoagathon: B 2, 996a28 f.; autohippos: Z 16,
1040b33; M 8, 1084a14 f.; autozôon: Top. V 7, 137b11). Die entscheidende
Frage ist, ob dieselbe Definition für ‚die Sache selbst‘ und für ihre Mani-
festationen zu gelten hat, also für ‚den Menschen selbst‘ und für einen be-
stimmten Menschen. Träfe dies zu, so bestünde kein sachlicher Unterschied
zwischen dem Guten selbst und einem einzelnen Guten. Nun ist das Ver-
hältnis zwischen den Ideen und ihren Teilhabern in der Tat ein Problem, das
in der Platon-Forschung bis zum heutigen Tag kontrovers diskutiert wird.
Dass Platon selbst von keiner simplen Wesensgleichheit von Ideen und ihren
Repräsentanten ausging, zeigt sich bereits in seiner Erörterung im Phaidon.
Denn nicht nur werden die Ideen dort dem Bereich des Intelligiblen und
ihre Teilhaber dem des Sensiblen zugesprochen (Phd. 72e–84b), sondern
Platon spricht auch von einer ‚Eponymie‘-Beziehung zwischen ihnen: die
Teilhaber werden zwar nach den Ideen benannt, sie sind aber keine Wesen-
heiten (Phd. 102b–103c). Im Parmenides wird die Teilhabe-Beziehung einer
grundsätzlichen Kritik unterzogen.
(2.4.1) 1096b5–8 „Einleuchtender scheint aber das, was die Pythagoreer da-
rüber gesagt haben“: In einer Art Nachtrag hebt Aristoteles die Vorteile des
Systems der Pythagoreer hervor, die in einer Tabelle (systoichia) zehn ele-
mentare Paare zusammengestellt haben, bei denen jeweils ein guter bzw.
vollkommener Begriff einem schlechten bzw. unvollkommenen gegenüber-
steht (vgl. dazu Met. A 5, 986a22–b8 und die Erörterung bei Schofield 2012,
155–158). Den Vorteil einer solchen tabellarischen Gegenüberstellung, auf
die Aristoteles sich auch sonst manchmal beruft (vgl. Bonitz, Ind. Ar. s.v.
systoichia, 736b33–60), dürfte er darin sehen, dass sie die Beziehungen zwi-
Buch I, Kapitel 4 345
schen den Elementen dieser Rubriken offen lässt: Grenze, Eines, Gutes etc.
sind einander weder über- und untergeordnet noch auseinander ableitbar.
Genaueres will Aristoteles laut Met. A 5, 986a12 in seiner ‚eigenen Untersu-
chung‘ über die Pythagoreer ausgeführt haben. Da dieses Werk nicht erhal-
ten ist, lässt sich über Herkunft und Bedeutung dieser Einteilung nichts Nä-
heres ausmachen. Auch Alexander v. Aphrodisias scheint keine Details zu
kennen, denn er spricht nur von ‚bestimmten Pythagoreern‘ (In Aristotelis
Metaphysica commentaria 41,32–42,11), die von einer Zehnzahl ausgehen,
und fügt später noch hinzu, sie hätten Gut und Schlecht den beiden Kolum-
nen als Oberbegriffe zugeordnet (47,15–18).
(2.4.2) 1096b7 „Diesen hat sich anscheinend auch Speusippos angeschlos-
sen“: Speusippos (ca. 410–339 v. Chr.), Platons Neffe und Nachfolger als
Schulhaupt der Akademie, hat anscheinend für sich bestehende Ideen abge-
lehnt und zudem für die verschiedenen Seinsbereiche jeweils eigene Einhei-
ten und Vielheiten angenommen. Darauf dürfte sich Aristoteles’ Bemerkung
beziehen, er habe sich in dieser Hinsicht den Pythagoreern angeschlossen
(vgl. die Zuschreibung einer Mehrzahl von Prinzipien an Speusippos in Met.
Z 2, 1028b21–24). In welcher Hinsicht und in welchem Umfang Speusip-
pos sich von Platons Philosophie entfernt hat, ist eine umstrittene Frage,
weil keine seiner Schriften erhalten ist (vgl. Diogenes Laertius IV 4–5) und
auch ausdrücklich ihm zugeschriebene Zitate selten sind (vgl. Isnardi-Pa-
rente 1980; Tarán 1981). Eine wichtige Rolle spielt Speusippos (ohne Na-
mensnennung) in Aristoteles’ Kritik an Platons Auffassung über die Natur
der Zahlen in Met. M und N (vgl. dazu Annas 1976, 73–75). In der EN geht
Aristoteles zudem kritisch auf Speusippos’ Behandlung der Lust ein (VII 14,
1153b4–7; X 2, 1173a5–13).
(3) 1096b8–26 „Gegen das hier Vorgebrachte erhebt (hypobainei) sich je-
doch ein Einwand“: Dass Aristoteles diesen Einwand im Indikativ präsen-
tiert, reflektiert nicht notwendig eine aktuelle Diskussion (anders Flashar
1995, 69). Denn die Unterscheidung zwischen Dingen, die man um ihrer
selbst willen erstrebt, und solchen, die nur die Mittel dazu sind, macht Aris-
toteles nicht nur selbst, sondern sie erinnert auch an Platons Differenzie-
rung verschiedener Arten von Gütern (Resp. II 357b–c): (i) allein um seiner
selbst willen Geschätztes wie die harmlosen Freuden des Daseins, (ii) um
seiner selbst willen und um eines weiteren Zweckes willen Geschätztes wie
Wissen, Sehen und Gesundsein, (iii) nur um eines anderen Zweckes willen
Geschätztes, wie Gymnastik, Heilung oder der Gelderwerb. Dafür, dass
Aristoteles an diese Differenzierung anknüpft, spricht die Tatsache, dass er
nahezu dieselben Beispiele gebraucht. Wie er andeutet, sieht er die Unter-
scheidung zwischen (i) und (ii) aber als unerheblich für die Bestimmung der
Idee des Guten an, weil man vieles, was man um seiner selbst willen erstrebt,
346 Kommentar
(4) 1096b26–31 „In welchem Sinn werden also die Dinge gut genannt?“:
Aristoteles sieht sich genötigt, selbst eine Erklärung für die verschiedenen
Verwendungen von ‚gut‘ zu liefern, da ihre Namensgleichheit doch nicht
zufällig sein kann. Homonymie als solche bedeutet nach Cat. 1, 1a1–6 Na-
mensgleichheit bei Verschiedenheit der Definition. Das schließt aber eine
nahe Verwandtschaft zwischen unterschiedlichen Begriffsverwendungen
nicht aus. Zur Erklärung solcher Verwandtschaftsbeziehungen macht Aris-
Buch I, Kapitel 4 347
toteles drei Vorschläge: (i) Sie sind von derselben Bedeutung abgeleitet (aph’
henos). (ii) sie beziehen sich auf eine Zentralbedeutung (pros hen). (iii) es
besteht eine Analogie zwischen ihnen. Erläutert wird nur die Einheit der
Analogie: die Sehfähigkeit im Körper ist in einem analogen Sinn gut wie die
Vernunft in der Seele: beide haben die Fähigkeit, ihre Funktion gut zu erfül-
len. Wenn nur eine Analogie vorliegt, erübrigt sich aber die Idee des Guten,
weil Analoges nicht im selben Sinn gut ist. An der Parallelstelle in EE I 8,
1217b25–35 lehnt Aristoteles eine synonyme Verwendung sowohl für Seien-
des wie auch für Gutes grundsätzlich ab, zieht eine Analogiebeziehung aber
nicht in Betracht.
(4.1) 1096b27 f. „weil sie von einem Gut abgeleitet (aph’ henos) oder weil
sie sämtlich auf ein Gut bezogen sind (pros hen)“: Von einer ‚Ableitung‘
spricht Aristoteles selten und nur in unspezifischer Weise. Dass er damit
Fälle von Paronymie meint (Cat. 1, 1a12–14, so Flashar 1995), ist unwahr-
scheinlich, denn Paronymie bezieht sich nur auf die Verschiedenheit von
Wortendungen (z.B. ‚Grammatik‘ und ‚grammatisch‘). aph’ henos könnte
jedoch als alternativer Ausdruck zu pros hen gemeint sein, d.h. zu der Be-
ziehung, die man heute unter der englischen Bezeichnung ‚focal meaning‘
diskutiert (zur Bedeutung vgl. Owen 1960). Die pros hen-Beziehung liefert
in der Metaphysik die Rechtfertigung einer Wissenschaft vom Seienden qua
Seiendem: Kategorial verschiedenen Dinge werden nicht alle im selben Sinn
seiend genannt, stehen aber alle in Bezug zu einer zentralen Bedeutung, der
Substanz. Denn alle anderen Eigenschaften sind das, was sie sind, in Bezug
auf eine Substanz: die Qualität einer Substanz, die Quantität einer Substanz
usw. (Met. Γ 2, 1003a33–b10 et al). Dass diese Möglichkeit hier nicht weiter
verfolgt wird, beruht sicher darauf, dass sie das Verhältnis der Idee zu ihren
Repräsentanten nicht erklären kann. Einen Zentralbegriff wie die Substanz,
auf den sich sämtliche Bedeutungen beziehen ließen, gibt es nämlich im Fall
von ‚gut‘ nicht.
(5) 1096b31–1097a14 „Entsprechendes gilt auch für die Frage nach der
Idee“: Grundsätzlich gehört die Frage nach der Idee und ihrem Verhältnis
zu ihren Teilhabern ins Gebiet der Metaphysik und nicht in das der Ethik.
Denn zum einen geht es um den Status der Ideen und ihre ‚Abgetrenntheit‘
von den Teilhabern, zum anderen um ihre Vorbildfunktion.
(5.1) 1096b32–35 „Denn selbst wenn es ein einheitliches Gutes gibt, das ge-
meinsam ausgesagt wird“: Wenn Aristoteles eine weitere Erörterung des
Nutzens von Ideen in Hinblick auf ihre Abgehobenheit ablehnt, so könnte
man ihm entgegnen, dass die Kenntnis eines transzendenten Prinzips des
Guten für die Ethik als solche relevant sein könnte. Denn auch Aristote-
les hält die Kenntnis der allgemeinen Prinzipien der Ethik für notwendig.
Zwischen diesen beiden Arten von Prinzipien besteht aber ein großer Un-
348 Kommentar
terschied: In Aristoteles’ Erklärung ist das Gute das Höchste, was für Men-
schen durch Handeln erreichbar ist. Eben dies gilt nicht für einen ganz all-
gemeinen Begriff des Guten und eine Idee des Guten, die für sich besteht
(chôris). Nun ist zwar die Behauptung, die Ideen seien für Platon etwas, was
jenseits der konkreten Wirklichkeit ‚für sich‘ besteht, eine strittige Frage.
Das höchste menschliche Gut, das durch Handeln erreicht werden kann, re-
präsentiert die Idee des Guten aber in der Tat nicht.
(5.2) 1096b35–1097a14 „Vielleicht könnte aber jemand das Erkennen des
Guten selbst doch in Bezug auf die Dinge für besser halten, … denn wenn
wir das Gute gleichsam als Vorbild (paradeigma) hätten“: Mit der Konzep-
tion der Idee als Vorbild (paradeigma), der Aristoteles hier zunächst eine
gewisse Plausibilität (1097a3) zubilligt, nimmt er offensichtlich Platons
Konzeption der Ideen als Vorbilder auf, mit deren Hilfe man die Dinge auf
Erden nicht nur besser erkennen, sondern auch leichter erreichen kann (vgl.
Resp. VI 484c–d et pass.). Die Gründe, aus denen Aristoteles diese Mög-
lichkeit zurückweist, erscheinen zunächst rein pragmatischer Natur: Die
Wissenschaften und Künste richten sich gar nicht nach solchen Vorbildern.
Denn obwohl sie alle nach etwas Gutem suchen, orientieren sie sich nicht
an dem Guten als solchem. Gäbe es solch nützliche Hilfsmittel, so würden
die Sachverständigen sich um sie bemühen. Aristoteles will hier sicher nicht
sagen, dass Experten längst alles Wissenswerte kennen. Vielmehr gesteht er
durchaus zu, dass alle Experten auf der Suche nach Gutem sind und dass dies
in gleicher Weise für Handwerker, Feldherrn und Ärzte gilt. Er meint aber,
dass sie sich aus gutem Grund nicht um das Gute an sich kümmern, sondern
nur um das je für ihre eigene Kunst spezifische Gute.
(5.2.1) 1097a11–14 „Auch die Gesundheit scheint der Arzt nämlich nicht
in dieser Weise zu betrachten“: Aristoteles bestreitet nicht, dass der Arzt
sich um die Gesundheit als um ein allgemeines Gut kümmert. Überlegungen
über das Gute an sich – also über die Frage hinaus, welcher Art von Gut die
Gesundheit des Menschen ist − tragen zum Verständnis der Gesundheit aber
nichts bei. Dies gilt auch für das menschliche Gute überhaupt: Wie sich noch
zeigen wird, lässt es sich nur in Orientierung an der Natur des Menschen be-
stimmen (s. I 6: das Ergon-Argument).
Eine allgemeine Beurteilung der Berechtigung der aristotelischen Kritik
an Platon erweist sich insofern als schwierig, als über Natur und Wirksam-
keit der platonischen Idee des Guten bis heute keine Einigkeit herrscht (vgl.
die Aristoteles-Kritik bei Cherniss 1944, bes. 202 ff.). Ob die Idee des Gu-
ten z.B. substantiell zur Bestimmung der menschlichen Gesundheit beiträgt,
hängt davon ab, in welcher Weise sich die allgemeinen Prinzipien konkreti-
sieren lassen, die Platon dafür etwa im Timaios in Anwendung bringt. Das
ist auch deswegen ein schwieriges und langwieriges Unterfangen, weil die
Experten sich nicht einmal in der Frage einig sind, ob Platons Ausführungen
Buch I, Kapitel 5 349
über die kosmische Ordnung und ihren Einfluss auf die menschliche Natur
wörtlich oder metaphorisch zu verstehen sind.
Später wird noch deutlich, dass auch Aristoteles im menschlichen Guten
nicht das höchste Gut sieht, weil der Mensch nicht das Beste im Kosmos ist
und es noch eine höhere Art von Erkenntnis gibt. Aristoteles besteht jedoch
auf einer Trennung der verschiedenen Arten von Gutem und der Form ihrer
Erkenntnis; eine mathesis universalis des Guten gibt es seiner Auffassung
nach nicht. Diese Tatsache dürfte erklären, warum Aristoteles seinen Hö-
rern hier eine Untersuchung zumutet, die von den Belangen der Ethik weit
weg führt.
(1) 1097a15–24: Der Vielheit der Ziele wegen ist zu prüfen, ob es ein ih-
nen gemeinsames höchstes Ziel gibt. (2) 1097a24–34: Als Kriterium gilt
die Vollkommenheit dessen, was nur um seiner selbst willen erstrebt
wird. (3) 1097a34–b6: Als vollkommenstes Gut erweist sich das Glück.
(4) 1097b6–14: Ein weiteres Merkmal des Guten ist die Autarkie (autarkeia).
(5) 1097b14–21: Autarkie heißt, dass das Leben für sich wählenswert ist und
es ihm an nichts fehlt.
(1) 1097a15–24 „Lasst uns aber auf das gesuchte Gute zurückkommen und
überlegen, was es denn wohl ist“: Verschiedene Disziplinen wie Medizin,
350 Kommentar
Kriegs- oder Baukunst haben jeweils unterschiedliche Ziele. Als das Gute
gilt jeweils, was nur um seiner selbst willen getan wird, während alles andere
ihm dient. Es fragt sich nun, ob es eine Vielzahl solcher letzter Ziele gibt
oder ob es überdies ein bestimmtes Ziel gibt, das allen Tätigkeiten gemein-
sam ist. Die Alternative, dass es im Leben ein oder mehrere höchste Güter
gibt, ist also immer noch offen. Daraus lässt sich schließen, dass Aristoteles
in seinen anfänglichen Überlegungen über die Notwendigkeit eines letzten
Zieles keinen Beweis sieht. Auch wird deutlich, dass im ‚Erstrebtsein‘ zwar
eine Gemeinsamkeit alles Guten liegt, dass es als solches aber kein Charak-
teristikum ist, welches die Einheit oder Einheitlichkeit des Guten begründet
(vgl. dazu Rowe 1971).
(1.1) 1097a24 „Die Untersuchung hat so nach einem Umweg (metabainôn)
wieder den gleichen Punkt erreicht“: Zu diesem Umweg gehört nicht al-
lein die Kritik an Platons Idee des Guten, sondern auch die Orientierung
an den verschiedenartigen Lebensformen (bioi) aus Kap. 2 + 3. Denn hier
kehrt Aristoteles zu den allgemeinen Bestimmungen von Gütern als Zielen
und ihrem Verhältnis zueinander zurück, die er in Kap. 1 vorgezeichnet hat.
(2) 1097a24–34 „Diesen Punkt aber muss man noch klarer herauszustellen
suchen“: Die Frage einer Hierarchisierung der Zielsetzungen wird hier in
differenzierterer Weise mithilfe weiterer Kriterien behandelt, die zur Be-
stimmung des höchsten Gutes führen sollen. Das erste ist das Kriterium der
Vollkommenheit (teleion) von Zielen. Die Übersetzung von teleios mit ‚voll-
kommen‘ lässt nicht erkennen, dass das Adjektiv zu telos = ‚Ziel/Ende‘ ge-
hört. Es kann ‚vollkommen‘ oder ‚vollständig‘ bedeuten wie auch ‚final‘ im
Sinne von ‚zielhaft‘ oder ‚endhaft‘ (vgl. die Übersetzung von Wolf). Bei der
Konzentration auf die End-haftigkeit höchster Ziele geht aber der im Grie-
chischen mitschwingende Sinn von ‚vollkommen‘ verloren.
Als Kriterium der Vollkommenheit soll zunächst gelten, ob etwas um
seiner selbst willen gewählt wird. Die Überprüfung der Vollkommenheit
der Ziele führt nun zu einer Dreiteilung der Ziele: Zum einen wird grund-
sätzlich zwischen vollkommenen und unvollkommenen Zielen unterschie-
den; unvollkommen sind diejenigen Ziele, die nur als Mittel zu einem voll-
kommenen Ziel erstrebt werden: von dieser Art sind Reichtum, Flöten und
Werkzeuge (organa) überhaupt. Unter den vollkommeneren Zielen ist eine
weitere Differenzierung vorzunehmen zwischen dem, was nur um seiner
selbst willen, und dem, was auch um etwas anderen willen erstrebt wird. Am
vollkommensten ist das, was nie um etwas anderen willen, sondern nur um
seiner selbst willen erstrebt wird.
Diese Unterscheidung erinnert an die bereits zu Kap. 4 erwähnte Gü-
tereinteilung, die Platon Glaukon bei seiner Forderung nach einer Vertei-
digung der Gerechtigkeit zugrunde legen lässt (Resp. II 357b–d): Manches
Buch I, Kapitel 5 351
begehrt man nur um seiner selbst willen, anderes sowohl um seiner selbst
willen wie auch um eines weiteren Zieles willen, ein drittes nur um eines
anderen willen. Anders als Platon betrachtet Aristoteles aber als schlechthin
vollkommen diejenigen Güter, die man nur um ihrer selbst willen erstrebt.
(3) 1097a34–b6 „Als ein solches Ziel gilt aber im höchsten Maß (malista) das
Glück“: Die Rede vom höchsten Maß besagt nicht eo ipso, dass das Glück
das einzige intrinsisch wertvolle Gut ist. Es fragt sich aber, ob Aristoteles
damit diejenigen Güter ausschließen will, die man zwar auch um ihrer selbst
willen erstrebt, aber auch deswegen, weil sie zum Glück beitragen. Sind sie
keine intrinsisch wertvollen Güter, sondern nur Mittel zum höheren Zweck?
Diese Frage ist deswegen wichtig, weil sie für die Entscheidung über die ‚ex-
klusive‘ oder ‚inklusive‘ Deutung des Glücksbegriffs heranzuziehen ist. ‚Ex-
klusivisten‘ betrachten das Glück als eine Sache sui generis (Kraut 1989; Lear
2
2006), während ‚Inklusivisten‘ meinen, es bestehe aus den für sich genom-
men erstrebenswerten Gütern als ihren Konstituenten (so Burnet 1900, 33;
Ackrill 1974; Cooper 1975; Irwin 1980 et al.). Kritiker wenden sich gegen
die inklusive Deutung, u. a. mit dem Hinweis auf die Kritik an den hier auf-
gezählten Gütern wie Ehre und Lust und dem Ungenügen der Tugend in der
Erörterung der ihnen gewidmeten Lebensweisen in Kap. 3. Dagegen spricht
aber nicht nur, dass Aristoteles sie ausdrücklich als für sich wählenswert
bezeichnet, sondern dass über Lust und Ehre noch nicht das letzte Wort
gesprochen ist. Denn obwohl ein Leben körperlicher Lust eines Menschen
nicht würdig ist, gilt diese Kritik doch nicht der Lust an guten Handlungen
(9, 1099a7), und die Ehre wird in II 7, 1107b21–1108a1 als Gegenstand und
Ziel der Hochgesinntheit präsentiert (vgl. IV 7, 1123b19: Ehre als Siegespreis
für die schönsten Taten). Dass zur Tugend auch die Betätigung gehört, zeigt
nicht, dass sie als ein Mittel zum Glück aufzufassen ist.
Wenn hier das Verhältnis dieser verschiedenartigen Güter zum Glück als
höchstem Gut noch offen bleibt, so vor allem, weil der Begriff der Tugend
noch unbestimmt ist, und daher nicht klar ist, in welcher Weise die tugend-
haften Handlungen Konstituenten des Glücks sind. Diese Vielfalt wird zu-
nächst zwar angesprochen, ihre Bedeutung für das gute Leben aber erst in
den detaillierten Ausführungen in den nachfolgenden Büchern ganz deut-
lich: Das Glück besteht in der Ausführung tugendhafter Handlungen, die
nicht nur als Mittel zu einem noch höheren Zweck zu verstehen sind. Das
Glück ist aber das einzige Gut, das man nur um seiner selbst willen wählt.
Für die übrigen Güter gilt, dass sie jeweils auch um des guten Lebens willen
gewählt werden: Man begehrt sie, weil sie entweder integrale Bestandteile
des guten Lebens sind oder dazu beitragen. Über die Frage, in welchem Sinn
dies für Ehre, Lust, Vernunft usw. gilt, ist mit der allgemeinen Bewertung,
352 Kommentar
dass man sie sowohl um ihrer selbst willen als auch des Glücks wegen er-
strebt, noch nichts Definitives gesagt.
(4) 1097b6–14: „Dasselbe Ergebnis scheint sich beim Ausgang vom Begriff
der Autarkie (autarkeia) zu ergeben“: Mit demselben Ergebnis ist gemeint,
dass auch die Autarkie zeigt, dass das Glück das höchste Gut ist. Wenn hier
auf die Übersetzung von autarkeia mit ‚Selbstgenügsamkeit‘ verzichtet
wird, so weil man mit diesem Wort eine Art von Selbstbescheidung oder
Selbst-Isolierung assoziieren könnte. Das ist aber nicht die Bedeutung des
griechischen Ausdrucks. Vielmehr hat man damit von früh an einerseits die
politisch-ökonomische, andererseits auch die persönliche Unabhängigkeit
verbunden. Das Ideal der bäuerlichen Unabhängigkeit findet sich schon bei
Hesiod (Werke und Tage 471–478); Thukydides lässt Perikles die Autar-
kie Athens hervorheben (Historiae II 36), und Xenophon betont die Un-
abhängigkeit des Sokrates von materiellen Bedürfnissen (Memorabilia I 2,
14). Besondere Prominenz erhält der Begriff durch Platons Rechtfertigung
des Prinzips der Arbeitsteilung aufgrund der Tatsache, dass die Menschen
nicht autark sind, sondern einander brauchen (Resp. II 369b; III 387d).
Auch Platon verknüpft das menschliche Gute mit der Autarkie (Phlb. 20d
und 67a).
Für Aristoteles ist das Kriterium der Autarkie deswegen eine wichtige
Ergänzung zur Bedingung der Vollkommenheit, weil es auch der inhaltli-
chen Konkretisierung des guten Lebens dient. Denn wie er deutlich macht,
ist die Autarkie in einem ‚expansiven‘ Sinn zu verstehen: Autark ist nicht das
Leben eines einsamen Individuums mit möglichst wenig Bedürfnissen, son-
dern das Leben in der Gemeinschaft und allem, was dazu gehört.
(4.1) 1097b7–11 „nicht, was für jemanden allein genügt, der sein Leben in
Einsamkeit verbringt, sondern auch für Eltern, Kinder und Ehefrau sowie
überhaupt für Freunde und Mitbürger“: Die lose grammatische Konstruk-
tion lässt für die Konkretisierung der Autarkie zwei Deutungen zu. Zum
einen könnte es sich bei dem Dativ (Eltern, Kindern und Ehefrau) um eine
Attraktion des Kasus handeln, die bedeutet, dass zur Selbstgenügsamkeit
des Einzelnen auch die Existenz von Familie, Freunden und Mitbürgern ge-
hört. Zum anderen kann der Dativ als dativus commodi gedeutet werden, so
dass der Betreffende nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Eltern
etc. lebt und deren Autarkie mit bedingt. Für Letzteres spricht, dass Aris-
toteles gewisse Grenzen setzt, was die Vorfahren, Nachfahren und Freunde
von Freunden angeht. Diese Begrenzung bezieht sich nicht darauf, dass man
Vorfahren, Nachfahren und Freunde von Freunden hat, sondern dass die
Einbeziehung allzu vieler Menschen in das eigene Leben das Kriterium der
Autarkie unbrauchbar machen würde. Auf das Verhältnis zu anderen geht
Aristoteles in der Erörterung der Tugenden sonst nur selten ein, sondern
Buch I, Kapitel 5 353
nimmt es erst in den Büchern über die Freundschaft auf (VIII und IX). Dort
erweist sich das Zusammenleben mit anderen als ein integraler Bestandteil
des Glücks. Die Bedeutung des Aspekts des Zusammenlebens für die Be-
stimmung des Glücks wird oft nicht hinreichend berücksichtigt, weil man
in diesen Büchern eine gesonderte Abhandlung sieht.
(4.2) 1097b11 „da der Mensch von Natur aus ein in einer Gemeinschaft le-
bendes (politikon) Wesen ist“: Hier wie auch an anderer Stelle besagt die be-
rühmte Kennzeichnung des Menschen als zôon politikon, dass der Mensch
von Natur aus nicht nur ein geselliges Lebewesen, sondern dass er für das
Leben in einer Polis bestimmt ist (vgl. auch EN IX 9, 1169b18; Pol. I 2,
1253a3; III 6, 1278b19; HA I 1, 487b33–488a14). So begründet Aristoteles
auch in Pol. I 2, 1252b31–1253a3 die Natürlichkeit der Polis: „Wenn daher
die früheren Formen der Gemeinschaft natürlich (physei) sind, so ist es auch
der Staat, denn er ist ihr Ziel (telos), die Natur aber ist das Ziel. Denn so wie
ein jedes ist, wenn es sich voll entwickelt hat, das bezeichnen wir als seine
Natur, wie bei einem Menschen, einem Pferd oder einem Haushalt. Zudem
sind das Wozu und das Ziel das Beste; die Autarkie ist aber das Ziel und das
Beste. Daraus ist ersichtlich, dass der Staat von Natur aus besteht und dass
der Mensch von Natur aus ein politisches (= in einer Polis lebendes) Lebe-
wesen ist.“
(4.3) 1097b11–14 „Dem sind freilich gewisse Grenzen (horos) zu setzen“:
Die Frage nach der Begrenzung der Anzahl von Freunden wird in IX 10
aufgenommen. Dort geht es allerdings weniger um die Notwendigkeit, auch
Freunde von Freunden und weiter entfernte Verwandte zu den Freunden zu
rechnen, als vielmehr um die Frage, mit wie vielen Menschen der Gute sein
Leben teilen kann. Grundsätzlich stellt die Familie ein Netzwerk von gegen-
seitigen Freundschaftsbeziehungen dar, deren Art vom Grad der Verwandt-
schaft abhängt (VIII 11–14).
(5) 1097b14–21 „Das Autarke aber bestimmen wir als das, was für sich allein
genommen das Leben wählenswert macht und es an nichts fehlen lässt“: In
die Bestimmung dessen, was mit ‚autark‘ gemeint ist, fügt Aristoteles neben
den beiden Kriterien, dass das Leben (i) wählenswert sein muss und (ii) es
ihm an nichts mangeln darf, noch die weitere Qualifikation (iii) hinzu, dass
es kein Zustand sein kann, der mit anderem zusammengezählt wird (syna-
rithmoumenê; zur Bedeutung von ‚mitzählen‘ vgl. auch EN II 3, 1105b1;
Rhet. I 7, 1363b16–21; Top. III 3, 118b10–19 über vermehr- und verminder-
bare Güter). Das bedeutet, dass das Glück ein Zustand ist, der grundsätz-
lich nicht durch andere Güter ergänz- und vermehrbar ist. Es fragt sich nun,
was mit dieser Qualifikation ausgeschlossen werden soll. Da der Inhalt des
glücklichen Lebens noch nicht näher bestimmt worden ist, muss der Aus-
schluss der ‚Vermehrbarkeit‘ den rein konzeptionellen Sinn haben, dass es
354 Kommentar
kein Ganzes ist, das durch Aggregation seiner einzelnen Elemente zustande
kommt. Vielmehr ist das Glück ein Gesamtzustand, der auf bestimmten Be-
dingungen beruht. Das gilt in gleicher Weise, ob man nun von einer inklu-
sivistischen oder von einer exklusivistischen Interpretation der eudaimonia
ausgeht (pace Lear 22006, 63–71).
Da bisher von Dingen die Rede war, die das gute Leben enthalten muss,
wie Freunde, Familie usw., muss es Aristoteles um die Klarstellung gehen,
dass diese Elemente nicht additiv das Glück ausmachen, so wie auch die
Merkmale der Gesundheit nicht als addierbare Faktoren aufzufassen sind.
Der gesunde Körper zeichnet sich zwar durch allerhand Fähigkeiten aus;
Gesundheit als solche ist aber nichts Zusammenzählbares und auch nichts
durch Hinzufügung weiter Vermehrbares. Dieser Begriff der Vollkommen-
heit des Glücks schließt aber nicht aus, dass der einzelne Mensch ein mehr
oder weniger gutes, d.h. glückliches Leben führen kann, weil er alles, was
zum guten Leben gehört, besser oder schlechter realisiert, so wie auch ein
Mensch mehr oder weniger gesund sein kann, wenn seine verschiedenen
Körperfunktionen in unterschiedlich gutem Zustand sind. So erklärt sich
auch die Tatsache, dass Aristoteles später die Frage aufnimmt, ob Unglücks-
fälle ein gutes Leben beeinträchtigen oder sogar unmöglich machen kön-
nen (vgl. 9, 1099a31–b6 und Kap. 11). Es ist also zu unterscheiden zwischen
dem, was das gute Leben ist, und wie der Einzelne es lebt.
Funktion besteht. Seine Konzeption einer Funktion des Menschen als sol-
chem beruht auf der Annahme, dass das Leben an sich eine ‚Aufgabe‘ ist, die
zu erfüllen die spezifische Funktion des Menschen darstellt. Diese Funktion
lässt sich aber ihrerseits wiederum im Rückgriff auf diejenigen Lebensfunk-
tionen bestimmen, durch die sich der Mensch von allen anderen Lebewesen
unterscheidet, nämlich durch die rationalen Fähigkeiten, in deren Ausübung
das menschliche Leben überhaupt und in deren guter Ausübung das gute
menschliche Leben besteht.
Sieht man von der Frage nach der Stringenz dieser Begründung ab, so
stellt die Deutung des ‚Ergon-Arguments‘ vor die Frage, ob die Prinzipien
auf einem metaphysischen oder auf einem naturphilosophischen Fundament
beruhen. Die Alternative, Metaphysik oder Naturphilosophie, ist aber irre-
führend. Mit Ausnahme des ubiquitären telos meidet Aristoteles zwar die für
seine Metaphysik typischen Begriffe. So ist von Materie (hylê) gar nicht, von
eidos nur im Sinn von ‚Art‘, nicht von ‚Form‘ die Rede, und der Begriff des
Wesens (ti ên einai) wird nur einmal in der Bestimmung der Tugend verwen-
det (II 6, 1107a7). Metaphysisch ist nur die Grundannahme, dass alle Lebe-
wesen ein telos haben. Von einer ‚biologistischen‘ Konzeption seiner Ethik
kann gleichwohl keine Rede sein, denn zur Abgrenzung der dem Menschen
eigenen Funktion gegenüber der von anderen Lebewesen stützt sich Aristo-
teles zwar auch auf biologische Kriterien, da er diese Funktionen für natur-
gegeben hält; eine biologistische Konzeption des guten Lebens ergibt sich
daraus jedoch nicht: Von Natur aus ist nur die Fähigkeit zum Erwerb und
zur Ausübung der Tugenden im Menschen angelegt. Darüber hinaus bedarf
es noch der Entwicklung durch die moralisch-intellektuelle Erziehung, und
diese Entwicklung steht nicht unter der Kontrolle der Natur. Das erklärt
auch, warum die Abgrenzung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten von
denen der Tiere sehr knapp ausfällt, während dem Unterschied zwischen
der guten und der bloß beliebigen Ausübung der vernünftigen Fähigkeiten
weit mehr Gewicht beigemessen wird. So ergibt sich als Resultat: Das für
den Menschen Gute, das Glück, liegt im Tätigsein der Seele gemäß der Tu-
gend in einem vollkommenen Leben. Wie dieses Leben auszusehen hat, lässt
sich nicht durch Beobachtung der tatsächlichen Lebensweise des Menschen
feststellen, wie im Fall der übrigen Lebewesen, sondern nur durch Überle-
gungen über den best-möglichen Gebrauch, den Menschen von den sie aus-
zeichnenden Fähigkeiten machen können.
Gute als Tätigkeit der Seele gemäß der ihr eigenen Tugend. (4) 1098a18–20:
Dieses Tätigsein setzt eine bestimmte Lebensdauer voraus.
(1) 1097b22–33 „Zu sagen, dass das Beste (to ariston) das Glück (eudaimo-
nia) ist, scheint nun etwas allgemein Anerkanntes zu sein“: Der Satz lässt
sich, grammatisch gesehen, so lesen, dass ‚das Glück‘ Subjekt und ‚das Beste‘
Prädikatsnomen ist, oder – wie in der Übersetzung angenommen – , dass
‚das Beste‘ Subjekt und ‚das Glück‘ Prädikatsnomen ist. Für letztere Deu-
tung spricht, dass die Funktion im Folgenden der Ermittlung des Besten
dient (so auch B/R 276; Wolf 22007; ausführlicher Brüllmann 2011, 131–
133). Das nachfolgende Ergon-Argument liefert daher keinen Neuansatz
für die Bestimmung des Glücks, sondern dient nur seiner genaueren Be-
stimmung. Angesichts der Schwierigkeit, die in der Uneinigkeit unter den
Menschen über die Natur des Glücks liegt, hat sich Aristoteles bereits im
vorigen Kapitel auf die Frage nach dem letzten Ziel jeder Tätigkeit als dem
zu erstrebenden Guten verlegt und dazu die Bedingungen eingeführt, dass
das menschliche Gute vollkommen und autark in dem angegebenen Sinn zu
sein hat. Die Frage nach der dem Menschen eigenen Funktion stellt also eine
Fortsetzung der Bestimmung des höchsten Gutes dar.
(1.1) 1097b24 f. „Diese dürfte sich vielleicht ergeben, wenn man die Funk-
tion (ergon) des Menschen ermittelt“: Das Wort ergon, wird hier – wie von
den meisten Übersetzern – mit ‚Funktion‘ oder auch mit ‚Aufgabe‘ über-
setzt. Der Begriff hat ein breites Bedeutungsspektrum: ‚Werk‘, ‚Arbeit‘,
‚Aufgabe‘, ‚Leistung‘, aber auch ‚Produkt‘ (vgl. Einleitung § 4). Letztere Be-
deutung hat Aristoteles anfangs bei der Unterscheidung zwischen vollkom-
menen Tätigkeiten (praxeis) und solchen, die ein Produkt (ergon) haben,
vorausgesetzt (1, 1094a4–6). Hier dagegen geht er von der abstrakteren Be-
deutung ‚Aufgabe‘ oder ‚Funktion‘ aus. Auch diese abstraktere Bedeutung
ist keine Erfindung von Aristoteles, sondern im Sprachgebrauch durchaus
üblich (vgl. LSJ s.v. ‚ergon‘ IV). Auch Platon gebraucht diesen Ausdruck
verschiedentlich (vgl. Gorg. 517c und Resp. 335d: Es kann nicht ‚Aufgabe‘
(ergon) des Gerechten sein, jemandem zu schaden).
Noch prominenter ist Platons Gebrauch des Funktionsarguments zur
Rechtfertigung, dass das Leben des Gerechten besser ist als das des Unge-
rechten (Resp. I 352d–354a): Dieses Argument beruft sich auf eine Reihe
analoger Fälle, wonach die Funktion oder Leistung bei allen Dingen dasje-
nige ist, was nur es allein oder was es besser als alles andere zustande bringt,
wie bei Pferden, Augen, Ohren oder Messern (353a). Damit ringt Sokrates
dem Sophisten Thrasymachos das Zugeständnis ab, dass die Gerechtigkeit
diejenige Funktion der Seele ist, die für das gute und damit für das glückli-
che Leben verantwortlich ist. In Platons Beispielen hat die Funktion jedoch
den instrumentellen Sinn der ‚Funktion für etwas‘, das gilt nicht nur für die
Buch I, Kapitel 6 357
Sehfunktion der Augen, sondern auch für die Funktion der Gerechtigkeit.
Aristoteles dagegen setzte für die Funktion des Menschen einen finalisti-
schen und keinen instrumentalistischen Sinn voraus, der Art, dass sie ein
intrinsisches Gut darstellt (vgl. dazu insbesondere die Analyse von Barney
2008, samt Überblick zur einschlägigen Literatur der letzten Jahrzehnte).
Die Aufgabe des Menschen besteht in der Führung des eigenen Lebens un-
ter Einsatz der ihm dazu zur Verfügung stehenden Mittel, nicht in einem da-
rüber hinausliegenden Ziel. Das Leben hat also nicht nur eine Aufgabe; es ist
selbst eine Aufgabe. Das gilt auch für den Beitrag, den der einzelne Bürger
zum gemeinschaftlichen Leben leistet: eben das ist seine politische Natur;
auch darin liegt aber ein ihm immanentes Ziel. Auch von der wissenschaft-
lichen Tätigkeit sagt Aristoteles nie, sie diene ‚der Wissenschaft‘ als einem
weiteren Ziel. Der besondere Status der theôria verdankt sich vielmehr der
Vollkommenheit dieser Tätigkeit und ihrer Gegenstände.
(1.2) 1097b25–33 „Wie nämlich … bei allen, die eine bestimmte Funktion
(ergon) oder Tätigkeit (praxis) ausüben das ‚gut‘ (t’agathon) und ‚die gute
Weise‘ (to eu) in ihrer Funktion zu bestehen scheinen“: Der Funktionsge-
danke wird zunächst durch die Aufzählung analoger Fälle erläutert. Diese
fallen in zwei Klassen: (i) Künste und Handwerke; sie zeichnen sich durch
ihre spezifische Funktion aus, in der das ihnen eigene Gute liegt. Dass dies
auch auf den Menschen als solchen zutrifft, legt zunächst die rhetorisch ge-
schickte Frage nahe, ob denn der Mensch allein ‚ohne Aufgabe‘ (a-(e)rgon)
sei – ein Ausdruck, der zugleich auch ‚untätig‘ oder sogar ‚faul‘ bedeuten
kann. (ii) Einzelne Körperteile: Wenn Augen, Hände und Füße jeweils eine
bestimmte Funktion haben, sollte auch der Mensch insgesamt eine Funktion
haben.
Wie viele Kritiker vermerken, ist dieser Analogieschluss kein zwingen-
der Beweis. Weder folgt aus der Tatsache, dass Künste und Handwerke eine
Funktion haben, dass der Mensch als solcher eine hat, noch folgt daraus,
dass sämtliche Teile eine Funktion innerhalb eines organischen Ganzen ha-
ben, dass auch das Ganze eine hat. Aristoteles dürfte aber auf die Zweck-
haftigkeit als solche abheben wollen und meinen, dass man auch bei einem
komplexen System von einer Gesamt-Funktion in dem Sinn sprechen kann,
dass es in sich zweckhaft organisiert ist. So dienen nicht nur die Teile eines
lebendigen Organismus, sondern der Organismus als Ganzer dem Leben als
Zweck. Nach einem weiteren Zweck des Ganzen ist daher nicht zu fragen.
Dass Aristoteles bei der Behandlung der Funktion des Menschen nicht den
Fehler macht, von Funktion im instrumentellen Sinn auszugehen und diese
dann absolut zu setzen, lässt sich auch der Ergänzung von ergon durch pra-
xis (1097b26) entnehmen. Diese Tatsache wird in der Kritik an der Auswei-
tung von ergon auf den Menschen als solchen nicht hinreichend berücksich-
tigt. Denn von Tätigkeiten, die ihren Zweck in sich selbst haben, war bereits
358 Kommentar
in I 1 die Rede. Offen ist nur, ob es eine dem Menschen eigene Art von Tä-
tigkeit gibt, die sein Leben als solches auszeichnet.
(1.3) 1097b32 „so auch beim Menschen (anthrôpou)“: Wie das ‚bei‘ in der
Übersetzung anzeigt, geht es hier nur um die Zuschreibung der Funktion
überhaupt, ohne die Implikation, sie sei gut für ihn. Zwar ist es sicher auch
gut für Künstler und Handwerker, ihre Aufgabe nicht nur zu erfüllen, son-
dern sie gut zu erfüllen; ihr eigenes Gut haben sie jedoch nicht zum Ziel, und
nichts deutet hier darauf hin, dass Aristoteles das sagen will. Hier liegt also
kein illegitimer Schritt von dem, was an etwas gut ist oder worin etwas gut
ist, zu dem, was für es selbst gut ist, wie viele Interpreten meinen (so die seit
Glassen 1957 vielfach wiederholte Kritik; vgl. Bostock 2000, 26–29). Warum
die für den Menschen typische Tätigkeit aber auch für ihn gut ist, ergibt sich
erst im folgenden Abschnitt, der das menschliche Leben als die ihm eigen-
tümliche Funktion bestimmt.
(2) 1097b33–1098a7 „Das Leben (zôê) scheinen wir selbst mit den Pflanzen
zu teilen“: Dass das Leben allen Lebewesen gemeinsam ist, ist nur scheinbar
eine Trivialität. Denn die Ausdifferenzierung der jeweils für bestimmte Le-
bewesen charakteristischen Funktionen erlaubt Aristoteles, eine natürliche
Hierarchie von Lebensfunktionen aufzustellen und damit höhere von nied-
rigeren Lebewesen zu unterscheiden.
(2.1) 1097b34–1098a1 „Auszusondern sind also diejenigen Lebensfunktio-
nen, die der Ernährung (threptikê) und dem Wachstum (auxêtikê) dienen“:
Alle Lebewesen zeichnen sich durch Aktivsein aus. Der Unterschied zwi-
schen niedrigeren und höheren Lebewesen liegt nur in den jeweils für sie
charakteristischen Funktionen. So haben die Pflanzen nur das vegetative
Vermögen, durch das sich alles Lebendige von Unbelebtem unterscheidet,
d.h. sich selbst zu ernähren, zu wachsen und sich fortzupflanzen (dazu De
an. II 2). Das ‚Aussondern‘ bedeutet nicht, dass höhere Lebewesen diese
Funktionen nicht benötigen; sie sind aber nicht charakteristisch für die ih-
nen eigentümliche Lebensweise.
(2.2) 1098a1–3 „Als nächstes käme das mit Wahrnehmung begabte Leben“:
Wenn Aristoteles hier die Fähigkeiten von Tieren auf die Wahrnehmung re-
duziert, so beschränkt er sich auf eine Minimalerklärung. Auf die Fähig-
keiten von Tieren geht er nicht nur in seiner Psychologie (De an. II 3–11),
sondern auch in seinen biologischen Untersuchungen ausführlich ein (vgl.
HA). Tiere zeichnen sich natürlich durch sehr viel mehr aus als durch die
Fähigkeit der Wahrnehmung; die meisten sind nicht nur zur Bewegung, son-
dern auch zu planvollem Verhalten in der Lage, das in ihnen von Natur aus
angelegt ist.
(2.3) 1098a3–7 „Übrig bleibt also das tätige (praktikê) Leben dessen, was
Vernunft hat“: Da Aristoteles ausdrücklich darauf hinweist, dass Menschen
Buch I, Kapitel 6 359
die übrigen Funktionen mit den Pflanzen und Lebewesen teilen, hat er keine
Beschränkung der menschlichen Seele auf die Vernunft im Auge. Die volle
Erfüllung der übrigen Lebensfunktionen ist vielmehr Voraussetzung für das
menschliche Wohlergehen. Das bestätigt nicht nur die Tatsache, dass Aristo-
teles körperliche Güter zu den notwendigen Bedingungen des guten Lebens
rechnet, sondern auch, dass er die Wahrnehmungen – vor allem das Sehen –
gern als Beispiel für vollkommene Aktivitäten anführt, die ihren Zweck in
sich tragen (zum ‚zoologischen‘ Fundament des Menschen vgl. Kullmann,
1980/1991; Cooper 1999c).
(2.3.1) 1098a3–4 „Übrig bleibt also das tätige Leben (praktikê sc. zôê) des-
sen, was Vernunft hat (tou logon echontos)“: Wenn hier logos mit ‚Vernunft‘
übersetzt wird, so ist damit lediglich die generische Fähigkeit des Verstehens
gemeint, die allen Menschen gemeinsam ist. Der Ausdruck ‚praktisch‘ be-
deutet keine Beschränkung auf das moralische Handeln, sondern ist in dem
weiteren Sinn von ‚praxis‘ gemeint, der sämtliche menschlichen planvollen
Tätigkeiten auszeichnet und sie vom Verhalten von Tieren unterscheidet.
(2.3.2) 1098a4–7 „Davon gehorcht gewissermaßen der eine Teil der Ver-
nunft“: Zur weiteren Spezifizierung der Vernunft nimmt Aristoteles an-
deutungsweise diejenige Differenzierung vorweg, die er am Ende des ersten
Buchs noch näher erläutern wird, nämlich die Unterteilung in einen Teil
der Seele, der Vernunft hat und ausübt, und einen anderen Teil, der bloß
den Geboten der Vernunft gehorcht. Zu letzterem gehören vor allem die
Affekte und das Begehren überhaupt; als solche werden sie hier prinzipiell
dem nicht-rationalen Seelenteil zugerechnet (anders Dirlmeier 1956, 278 f.,
der eine Anlehnung an die platonische Dreiteilung der Seele annimmt;
G/J. II 1, 56; Cooper 1999a).
(2.3.3) 1098a5–7 „Da man aber auch von diesem Leben in zwei Weisen
spricht“: Eine weitere Differenzierung des rationalen Seelenteils wird hier
nicht vorgenommen, sondern das aktive Leben vom untätigen Leben ab-
gegrenzt. Zwar gehört auch der inaktive, potentielle Zustand im Schlaf
oder in Untätigkeit mit zum Leben (3, 1095a31–33). Im eigentlichen Sinn
besteht Leben aber in der Betätigung sämtlicher Lebensfunktionen, insbe-
sondere der für die Spezies charakteristischen. Diese ‚aktivistische‘ Lebens-
konzeption ist von entscheidender Bedeutung für die Ethik des Aristoteles.
Dass darin nachgerade das Programm der Nikomachischen Ethik zu sehen
ist, manifestiert sich in der Tatsache, dass Aristoteles die Unterscheidung
zwischen verschiedenen menschlichen Tätigkeiten und ihren Zielsetzun-
gen zum Anfangspunkt seiner Untersuchung überhaupt gemacht hat. Diese
Ausrichtung der Untersuchung findet hier also ihre Rechtfertigung: Die Be-
tätigung der Vernunft gehört nicht nur zur Natur des Menschen, sondern sie
ist die Natur des Menschen (zum Vergleich zwischen Menschen und Tieren,
vgl. Pol. VII 13, 1332b3–5; De an. II 3; EN VII 5, 1147b3–5).
360 Kommentar
(3) 1098a7–18 „Wenn nun die Funktion des Menschen in der Tätigkeit (ener-
geia) der Seele der Vernunft gemäß ... besteht“: Stellen von zentraler Wich-
tigkeit zeichnen sich in der EN oft durch lange Satzgefüge aus, die mit Hilfe
verschiedener Konditionalsätze gebildet werden („wenn …und wenn…“).
Da diese manchmal auch wiederholende Zusammenfassungen enthalten,
bieten sie damit auch Anlass zu Eingriffen durch Herausgeber. So athetiert
Bywater die Zeilen a12–16 als Glosse zu den vorangehenden Zeilen a7–11.
Da es Aristoteles aber um die Klarstellung des Kernpunktes seiner Theorie
geht, hat eine sämtliche Voraussetzungen nochmals zusammenfassende Dar-
stellung ihren guten Sinn. Die meisten Übersetzer gehen daher auch vom
überlieferten Text aus (er ist auch in der arabischen Übersetzung von Fes ent-
halten). Angesichts der Komplexität der Satzperiode gliedert man sie durch
Hervorhebungen und durch eine entsprechende Interpunktion. In solchen
Satzperioden, die keine Deduktionen im strengen Sinn sind, sondern eher
Explikationen, fasst Aristoteles oft an entscheidenden Stellen seine Gedan-
ken zusammen. In diesem Kapitel finden sich insgesamt drei Satzperioden
dieser Art, jeweils eingeleitet mit einem „Wenn“ (1098a7; 12; 16).
(3.1) 1098a10–11 „wenn man zu der Funktion noch ein Überragen (hypero-
chê) hinsichtlich der Tugend (aretê) hinzunimmt“: Das höchste Gut besteht
nicht allein in der Erfüllung der spezifischen Funktionen des Menschen als
solcher, sondern es ist überdies zwischen der bloßen und der guten Aus-
übung der betreffenden Tätigkeit zu differenzieren. Aristoteles verdeutlicht
diesen Unterschied durch das Beispiel des bloßen und des guten Ausübens
einer Kunst wie der des Kitharaspielens. Die Anwendung dieser Analogie
auf das Handeln ist allerdings nicht unproblematisch. Denn bei einer Kunst
ist die Unterscheidung zwischen guten und indifferenten Vertretern un-
problematisch, während diese Unterscheidung das Handeln betreffend ihre
Schwierigkeiten hat; denn sensu stricto fällt indifferentes Handeln nicht in
den Bereich der Tugend. Auf diesen Unterschied rekurriert Aristoteles spä-
Buch I, Kapitel 6 361
ter, wenn er der Kunst eine ‚Tugend‘ zubilligt, der Klugheit dagegen nicht
(VI 5, 1140b21–30). Hier will er aber darauf hinaus, dass die Funktion des
Menschen, die das gute Leben ausmacht, dem überragenden Spielen des gu-
ten Musikers entspricht.
(3.2) 1098a16 f. „dann erweist sich das menschliche Gute (to anthrôpinon
agathon) als Tätigkeit (energeia) der Seele gemäß ihrer Tugend“: Das höchste
Gut besteht für den Menschen nicht im bloßen Besitz der betreffenden Tu-
gend/Tüchtigkeit, sondern in deren meisterhafter Ausübung. Auch dieses
wichtige Ergebnis ist allerdings wieder nur eine allgemeine Kennzeichnung.
Dessen ist sich Aristoteles aber völlig bewusst, wie seine Bemerkung, es
handle sich um eine bloße Vorzeichnung, andeutet (7, 1098a20: perigegraph-
thô). Eine inhaltliche Bestimmung müsste nicht nur näher auf die Zweitei-
lung des Vernunftvermögens in einen anordnenden und einen gehorchenden
Teil eingehen, sondern auch auf deren Anwendung im Leben; erst dann lässt
sich bestimmen, worin die beste Tätigkeit der Seele besteht. Eine genauere
Vorstellung darüber, was das gute Leben nach Aristoteles bedeutet, vermit-
teln erst die Konkretisierungen tugendhaften Verhaltens in den weiteren Bü-
chern der EN.
Stellt nun dieser Übergang zum Guten im menschlichen Leben eine Ver-
sion des sog. ‚naturalistischen Fehlschlusses‘ dar, wird also von dem, was ist,
auf das geschlossen, was sein soll? Von einem Sollen ist in diesem Kapitel gar
nicht die Rede. Aristoteles sieht vielmehr in der teleologischen Ausrichtung
sämtlicher Lebensfunktionen, einschließlich der menschlichen, eine Tatsa-
che. So wie das Leben von Tieren in der Betätigung ihrer charakteristischen
Fähigkeiten besteht und daher in diesem Sinn gut für sie ist, so besteht auch
das gute Leben des Menschen in der Betätigung seiner spezifischen Fähig-
keiten und ist gut für ihn.
Diese Analogie könnte als eine biologistische Rechtfertigung des Funk-
tionsarguments gewertet werden, was auch zu den häufigen Verweisen in
der EN auf die Natur (physis) und was von Natur aus der Fall ist (physei)
zu passen scheint. Dagegen ist jedoch zu betonen, dass Aristoteles sich zwar
auf bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier beruft (so auch
der Vergleich zwischen den Menschen und anderen Herdentieren in Pol. I 2,
1253a7–10), daraus aber keine von der Natur vorgegebene beste Lebens-
weise ableitet, die sich durch entsprechende Studien ermitteln ließe. Eine
Unterscheidung zwischen natürlicher und ethischer Teleologie ist daher un-
tunlich (vgl. Wolf 22007, 44). Auf die Frage, warum wir uns unserer rationa-
len Fähigkeiten bedienen sollen, würde Aristoteles nur antworten: weil wir
die sind, die wir sind. Und man kann hinzufügen: schon dass wir darüber rä-
sonieren, bestätigt dies als Faktum. Das heißt nicht, dass das Vernünftigsein
das Ziel all unserer Tätigkeiten ist – vielmehr ist die Vernunft in allen unse-
ren Tätigkeiten am Werk. Welche Eigenschaften für ein autarkes Leben er-
362 Kommentar
forderlich sind und woher die menschliche Vernunft ihre Maßstäbe nimmt,
wird aber erst in den folgenden Büchern zur Sprache kommen.
(3.3) 1098a17 f. „Wenn es aber mehrere Tugenden gibt, dann gemäß der
besten und vollkommensten (teleiotatê)“: Dieser Satz ist Gegenstand einer
Kontroverse von grundsätzlicher Bedeutung, weil es scheint, als werde hier
einer ganz bestimmten Tugend der Vorzug gegeben. Denn obwohl in dem
vorliegenden Abschnitt von der Funktion des Menschen die Rede ist, hat
Aristoteles doch bisher den Eindruck erweckt, dass die menschliche Le-
bensweise eine Vielfalt von Tätigkeiten und der entsprechenden Tugenden
enthält. Darauf deutet etwa die Erklärung hin, ‚jedes‘ (1098a15: hekaston)
werde der eigenen Tugend gemäß schön verrichtet. Dass nun eine einzige
Tugend als die beste unter den vielen den Vorrang in der Bestimmung des
guten Lebens haben soll, dient den Befürwortern einer ‚dominanten‘ oder
‚exklusiven‘ Interpretation als wichtiger Beleg dafür, dass auch die Über-
legungen im 1. Kapitel im Sinn einer Hierarchisierung der Güter und der
Dominanz eines einzigen höchsten Gutes zu deuten sind (vgl. Hardie 1965;
Kenny 1978; 1992; Kraut 1989; Stemmer 1992; Lear 22006 et al.). Die Exklu-
sivisten sehen in dieser Erklärung zudem eine Vorwegnahme der späteren
Unterscheidung zwischen praktischer Klugheit und theoretischer Vernunft
und deren Bevorzugung, die in Buch X 7–9 näher begründet wird. Demnach
ist das beste Leben das des Philosophen, weil es der Kultivierung des ‚gött-
lichen Elements‘ im Menschen dient, während die praktische Lebensweise
zweitrangig ist und der ‚menschlichen‘, affektiven Seite Rechnung trägt. ‚In-
klusivisten‘ (Ackrill 1974; Irwin 1991; Broadie 1991; Bostock 2000 et al.)
gehen dagegen von der Voraussetzung aus, dass Aristoteles das praktische
Leben, das im Zentrum seiner Ethik steht, nicht zugunsten des Lebens der
reinen theôria abwerten will. Sie nehmen vielmehr an, dass die beste und
vollkommenste Tugend in einem umfassenden Sinn zu verstehen ist und –
wie das Ergon-Argument nahelegt – die für die gesamte Lebensführung als
solche verantwortliche Fähigkeit meint, die aber eine Vielzahl konstitutiver
Elemente enthält.
In der Tat spricht nichts dagegen, dass mit der besten und vollkommens-
ten Tugend die beste praktische, nämlich die politische Wissenschaft gemeint
ist, d.h. die Meisterwissenschaft des menschlichen Lebens, die alle anderen
umfasst. Diese Auszeichnung erfährt sie nicht nur zu Anfang, sondern auch
weiterhin (10, 1099b29–32). Zudem wäre es seltsam, wenn Aristoteles das
gute, autarke Leben als eines kennzeichnet, das sämtliche Tugenden ein-
schließt und Familie, Freunde und Mitbürger mit umfasst (5, 1097b1–21;
vgl. II 5, 1106a14–25), zugleich aber eine Abwertung eben dieser vollkom-
menen und autarken Lebensweise im Auge hat. Denn zum Abschluss der
Vorzeichnung der Bedingungen des guten Lebens in I 13 hebt Aristoteles
noch eigens hervor, dass das menschliche Gut, die menschliche Tugend und
Buch I, Kapitel 6 363
das menschliche Glück das Ziel seiner Untersuchung sind; auf eben diesen
Punkt kommt er verschiedentlich, insbesondere aber am Ende der EN wie-
der zurück (X 10). Die Erörterung der ‚theoretischen‘ Lebensweise hat Aris-
toteles dagegen bewusst aufgeschoben (3, 1096a4 f.). Wie sich erweisen wird,
ist sie keine menschliche, sondern eine göttliche Fähigkeit, deren Betätigung
in das politische Leben nicht ohne weiteres integrierbar ist. Darauf verweist
auch die einzige andere Stelle, an der Aristoteles sich über den höheren
Wert der theoretischen gegenüber der praktischen Vernunft äußert (VI 7,
1141a20–b8). Solange es aber um das menschliche Gute und das in dieser
Hinsicht höchste Gut geht, ist davon auszugehen, dass die Meisterwissen-
schaft die dafür zuständige Disziplin ist; dominant ist sie nur insofern, als ihr
Ziel das aller anderen praktischen Disziplinen umfasst, wie das der Strategik,
das der Hauswirtschaft und der Rhetorik (1, 1094b3). Man muss also die Er-
örterung des guten Lebens in den weiteren neun Büchern nicht unter dem
Vorbehalt lesen, dass es eine noch vollkommenere Form des Lebens gibt, die
erst in Buch X 7–9 offenbar wird. Das tun aber selbst diejenigen Interpreten,
die den Wunsch zum Ausdruck bringen, Aristoteles hätte diese Kapitel nie
geschrieben (stellvertretend für viele Whiting 1986, 70; Broadie 1991, 370).
Eine andere Frage ist, ob und in welchem Sinne Aristoteles’ Konzentra-
tion auf die Verwirklichung der eigenen besten Fähigkeiten eine Ethik des
Egoismus begründet (vgl. Bostock 2000, 27 et al.). Wie schon in der Ein-
leitung angedeutet (§ 1), ist hier zu differenzieren: Aus der Tatsache, dass
jeweils das eigene Wohlergehen im Zentrum steht, folgt nicht, dass diese
Selbst-Sorge nur oder vornehmlich dem Eigenwohl gilt. Die Ego-Zent-
riertheit der aristotelischen Glückskonzeption ist nicht mit Egozentrismus
gleichzusetzen. Es ist zwar eine Binsenweisheit, dass man nur das eigene
Leben leben kann und nicht das eines anderen; an solche Selbstverständlich-
keiten ist aber bei der Beurteilung des guten Lebens zu erinnern. Auch das
selbstloseste Leben ist immer das Leben eines bestimmen Menschen, der
darin die für ihn selbst richtige Lebensform sieht. Dass und wie das Leben
für Aristoteles auch andere Menschen zum Ziel hat, wird in der Analyse
der Tugenden und der Freundschaft noch deutlicher. In der Erörterung der
Freundschaft greift Aristoteles nämlich ausdrücklich auf das Ergon-Argu-
ment zurück, um zu zeigen, in welcher Weise andere Menschen das ergon
menschlichen Tuns darstellen können (IX 7, 1167b28–1168a9).
(4) 1098a18–20 „in einem vollkommenen Leben (en biôi teleiôi)“: Dieser
Zusatz ist kein Plädoyer für eine möglichst lange Lebenszeit. Vielmehr ist
gemeint, dass zur Tätigkeit die volle Entwicklung, Entfaltung und Aus-
übung der typisch menschlichen Fähigkeiten gehören. Die Bedingung ei-
ner hinreichenden Lebenszeit bringt Aristoteles durch das Sprichwort „eine
Schwalbe macht noch keinen Frühling“ (über die Verbreitung des Sprich-
364 Kommentar
worts lässt sich nichts feststellen). Damit der Mensch die für ihn charakte-
ristischen Fähigkeiten ausbilden und ausüben kann, muss ein solches Leben
zwar von hinreichender Dauer sein, um diesen Namen zu verdienen. Da in
der Diskussion der Freundschaft aber betont wird, es sei schöner, für seine
Freunde zu sterben, und ein Jahr mit entsprechenden Taten sei vielen Jahren
voll indifferenter Tätigkeiten vorzuziehen, kommt es auf die Dauer als sol-
che nicht an (IX 8, 1169a18–26). Dafür spricht auch die Tatsache, dass Aris-
toteles die Reifezeit (akmê) als die eigentliche Zeit menschlicher Aktivität
ansieht, während er das Alter durch Schwäche, moralische Verengung und
Pessimismus kennzeichnet (VIII 1, 1155a.13 f.; 3, 1156a24 f.; 6, 1157b13–17;
Rhet. II 13).
(4.1) 1098a19 „selig (makarios) oder glücklich (eudaimôn)“: ‚Selig‘ wird im
Deutschen nur noch zur Kennzeichnung einer außergewöhnlichen Hoch-
stimmung oder eines besonderen spirituellen Zustands wie in den Seligprei-
sungen des Christentums verwendet. Das ist im Griechischen nicht gemeint,
sondern die Götter sind die Seligen (makarioi) schlechthin, weil sie den
Wechselfällen des menschlichen Lebens wie Armut, Erniedrigung, Krank-
heit und Tod nicht ausgesetzt sind. In der EN wird makarios alternativ wie
auch in Kombination mit eudaimôn (‚vollkommen glücklich‘) verwendet;
auf ‚selig‘ kann die Übersetzung aber nicht verzichten, wenn beide genannt
werden. Zur Bedeutung von makarios im Unterschied zu eudaimôn in vor-
aristotelischer Zeit, vgl. de Heer 1969, bes. 99–103). Makarios ist auch der
Ausdruck, der in der Bergpredigt verwendet wird (Matth. 5, 3–11).
Mit der Forderung nach einem auch zeitlich vollkommenen Leben ist die
allgemeine Charakterisierung des menschlichen Guten abgeschlossen; die
Definition als ‚Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend‘ gilt fortan als etabliert.
In den folgenden Kapiteln geht Aristoteles auf verschiedene Fragen über das
Glück ein, die sich auf dieser allgemeinen Ebene beantworten lassen, bevor
er in Kapitel 13 mit der Zweiteilung der Tugend in die ‚ethischen Tugenden‘
oder ‚Charaktertugenden‘ und die ‚rationalen Tugenden‘ die Grundlage für
die Erörterung der Tugenden im Einzelnen legt.
(1) 1098a20–26: Die getroffene Bestimmung des höchsten Gutes liefert nur
einen Umriss, der noch der Ausführung bedarf. (2) 1098a26–33: Das Maß an
Genauigkeit muss dem Gegenstand entsprechen. (3) 1098a33–b8: Die Prin-
zipien dieser Untersuchung betreffen das ‚Dass‘ und nicht notwendig das
‚Warum‘.
(1) 1098a20–26 „Auf diese Weise sei nun das Gute umschrieben (perige-
graphthô)“: Aristoteles’ Erklärung, seine bisherige Bestimmung der Na-
tur des Guten liefere nur eine Vorzeichnung, ist nicht zu verwechseln mit
der grundsätzlichen Einschränkung in Kapitel 1, der Gegenstand der Ethik
könne nur im Groben und im Umriss (1094b20: pachylôs kai typôi) darge-
stellt werden, weil es bei den Einzelheiten viele Unterschiede und Abwei-
chungen gibt. Vielmehr sind bisher nur sehr allgemeine Bestimmungen ge-
troffen worden, die noch der Konkretisierung bedürfen. Die Metaphorik
vom Umriss, der noch auszumalen ist, stammt aus der Malerei (s.a. GA II 4,
743b20–24). Sie erinnert auch an Platons Beschreibung der Arbeit des Ge-
setzgebers (Leg. VI 769a–770b). Wie Aristoteles’ Kritik an Platons Nomoi in
Politik II 6 bestätigt, war er mit diesem Werk vertraut; ob er bewusst sprach-
liche Anleihen macht, ist aber schwer zu sagen, denn sehr genau nimmt Aris-
toteles es mit Platons Texten in der Regel nicht.
Für seinen Umriss beansprucht Aristoteles jedenfalls, in exemplarischer
Weise die Grundlagen für etwas Neues gelegt zu haben, denn er versteht ihn
offensichtlich als die Basis eines umfassenden Projekts, das erst mit der Zeit
zur Vollendung kommen wird, wie auch sein Vergleich mit der Entwicklung
der Künste nahelegt. Aristoteles gibt hier zweierlei zu seinem Umriss zu
verstehen: Er liefert die Grundlage für die Ethik als eigenständige Disziplin,
an deren weiterer Ausgestaltung auch andere mitwirken können. Die Zeit
soll als ‚Helfer‘ dienen, weil die Grundlage nur die Basis der Ordnung für
das gute Leben sein kann.
(1.1) 1098a22 „Es scheint aber jeder fähig“: Aristoteles’ ungewöhnliches Zu-
trauen zu jedermann dürfte sich auf den Kreis seiner Zuhörer beschränken,
die bereits über eine hinreichende Erziehung und Vorbildung verfügen.
(1.2) 1098a25 „Fortschritt (epidosis)“: Der Fortschrittsgedanke spielt zwar
im antiken Selbstverständnis nur eine bescheidene Rolle (vgl. dazu die Kon-
troverse zwischen L. Edelstein 1967 und E. R. Dodds 1973). Das Bewusst-
sein, dass die Zivilisation aus primitiven Anfängen hervorgegangen ist und
an verschiedenen Orten ein unterschiedliches Niveau erreicht hat, war aber
allgemein vorhanden und manifestiert sich auch bei Aristoteles. Dies be-
trifft die Entwicklung der Polis (Pol. I 2) ebenso wie die der Künste (Poet.
4, 1449a9–31, und 26) und Wissenschaften (Met. A 1 + 2). Allerdings setzt
Aristoteles jeweils eine Entwicklung bis zur Vollendung voraus und keinen
unbegrenzten Fortschritt.
366 Kommentar
(2) 1098a26–33 „Man soll sich aber auch an das früher Gesagte erinnern
und nicht bei allen Dingen in gleicher Weise nach Genauigkeit (akribeia) su-
chen“: Mit diesem caveat nimmt Aristoteles Bezug auf seine Einschränkun-
gen in 1, 1094b11–14; 23–27. Er gibt diesem Postulat hier jedoch insofern
eine andere Wendung, als er weder auf die Unterschiedlichkeit in den Ein-
zelfällen noch auf die Verschiedenheit in der Vorgehensweise abhebt (stren-
ger Beweis in der Mathematik vs. plausible Argumentation in der Rhetorik),
sondern auf die Unterschiedlichkeit in der Behandlung derselben Objekte in
verschiedenen Disziplinen (vgl. dazu Wolf 22007, 60 f.). Der Zimmermann
wie der Geometer befassen sich zwar mit dem rechten Winkel; ersterer be-
gnügt sich aber mit dessen Anwendung beim Bauen, ohne sich um seine De-
finition zu kümmern; dem Geometer dagegen geht es um das Wesen und die
charakteristischen Eigenschaften des rechten Winkels (eine ähnliche Unter-
scheidung findet sich in Platons Philebos 62a–b). Der Vergleich soll anzei-
gen, dass es nicht erforderlich ist, die Prinzipien über die Belange der jewei-
ligen Untersuchung hinaus zu überprüfen.
(2.1) 1098a31 f. „denn er ist ein Betrachter des Wahren (theatês t’alêthous).“
Die Bemerkung über den Geometer gibt zu verstehen, dass die betrachtende
Lebensweise keinen praktischen Zweck verfolgt, sondern nur auf die Wahr-
heit aus ist. Darauf ist grundsätzlich bei der Analyse der theoretischen Le-
bensweise zu achten. Sie besteht nicht allein in der Betrachtung des Göttli-
chen, wie man aus der starken Betonung dieses Aspekts der theôria in Buch
X 7, 1177a13–18; 8, 1178b7–32 schließen könnte, sondern umfasst sämtliche
Wissenschaften, deren Ziel im Auffinden von Wahrem besteht.
(2.2) 1098a32 f. „damit nicht die Nebensächlichkeiten (parerga) die eigentli-
chen Aufgaben überwuchern“: Da Aristoteles ausdrücklich zu einem Aus-
füllen der Einzelheiten seines Grundrisses aufgefordert hat, fragt man sich,
welche Nebensachen er hier meint. Die Bemerkung dürfte hervorheben
wollen, dass sich seine Untersuchung mit allgemeinen Kennzeichnungen
begnügt, jedoch auf Details wie auch auf Kasuistik verzichtet.
(3) 1098a33–b8 „Auch nach der Ursache (aitia) soll man nicht überall in
gleicher Weise fragen“: Der dritte Punkt scheint zunächst nur in verkürz-
ter Form die Unterscheidung zwischen dem ‚Dass‘ (hoti) und dem ‚Warum‘
(dioti) aus Kap. 2, 1095b6–8, wieder aufzunehmen. Dort hat Aristoteles aber
das ‚Warum‘ teils als verzichtbar, teils als leicht zu finden bezeichnet. Hier
dagegen rekurriert er darauf, dass auch erste Prinzipien (archai) im ‚Dass‘
bestehen, und spezifiziert dazu verschiedene Weisen der Erfassung die-
ses ‚Dass‘: Wie Aristoteles in seiner Wissenschaftstheorie in Anal. post I 1,
71a11–17 ausführt, besteht das Erfassen von ersten Prinzipien zum einen in
der Bedeutung der Begriffe (ti sêmainei), zum anderen darin, dass der be-
treffende Sachverhalt besteht (hoti estin). Wie Anal. post. I 13 zu entnehmen
Buch I, Kapitel 7 367
ist, liegt die ‚Ursache‘ in der richtigen Formulierung und Anordnung der
Prinzipien.
(3.1) 1098b3–6 „Von den Prinzipien findet man die einen durch Induktion
(epagôgê)“: Induktion ist bei Aristoteles, wie bereits zu Kap. 1 angemerkt,
kein Terminus technicus mit einer eng begrenzten Bedeutung, wie etwa der
Verallgemeinerung aufgrund einer möglichst großen Zahl von Einzelfällen,
sondern er bezeichnet verschiedenartige Hinführungen zu einer Erkenntnis,
ausgehend von Dingen, mit denen man bereits vertraut ist (vgl. Anal. post.
I 1, 71a5–11; II 19; EN V 3, 1139b28–36). Zu solchen Hinführungen ver-
wendet Aristoteles gern Analogien, wie etwa in seiner Rechtfertigung des
Ergon-Arguments in Kap. 6.
(3.2) 1098b4 „die anderen durch Wahrnehmung“: Die Wahrnehmung spielt
bei der Induktion eine entscheidende Rolle, denn wie Aristoteles an anderer
Stelle ausführt, geht jede Erfahrung von der Wahrnehmung aus (Anal. post.
II 19). Auch in der Ethik spielt die Wahrnehmung eine wichtige Rolle bei
der Erfassung der Einzelfälle. Inwiefern sie auch bei der Erfassung des je-
weiligen Guten mitwirken, ist eine wichtige Frage, auf die Aristoteles später
eingehen wird (III 6).
(3.3) 1098b4 „durch eine gewisse Gewöhnung“: Damit dürfte Aristoteles
vor allem die Prinzipien der Charaktertugenden meinen, wie in Buch II
noch näher begründet wird. Dort wird aber auch deutlich, dass unter Ge-
wöhnung nicht bloße Angewohnheiten oder durch Routine erworbene Fer-
tigkeiten zu verstehen sind, sondern eine gründliche Vertrautheit mit der
Sache, die sich in vielen Disziplinen erst durch die Praxis einstellt.
Diese Überlegungen über den Umgang mit den Prinzipien zeigen, dass
Aristoteles sich durchaus bewusst ist, dass diese Bestimmung nicht auf
strengen Beweisen beruht, sondern auf einer Vielfalt von unterschiedlichen
Arten von Annäherungen an seinen Gegenstand. Seine Warnung vor unan-
gemessenen Standards bei der Suche nach den Prinzipien zeigt also, dass das
kurze Methodenkapitel nicht zufällig an diese Stelle geraten und daher auch
nicht als Zeichen für eine lockere Lehr- und Schreibweise bei Aristoteles zu
werten ist. Auch sollte man in diesem Methodenexkurs nicht das Resultat
einer späteren Bearbeitung durch einen Redaktor sehen, der ein loses Blatt
in Händen hatte. Die von G/J vorgeschlagene Einfügung von 1098a26–b8
an die Methodenüberlegungen in 1. Kap. ist daher nicht gerechtfertigt. Viel-
mehr nimmt Aristoteles hier bewusst seine früheren Methodenüberlegun-
gen zur Rechtfertigung seines Ergebnisses wieder auf, um sein umrisshaftes
Vorgehen zu erklären.
(3.4) 1098b7 „Denn der Anfang (archê) ist bekanntlich mehr als die Hälfte
des Ganzen“: Aristoteles spielt auch hier mit der Doppelbedeutung von ar-
chê als ‚Anfang‘ und als ‚Prinzip‘. Das auf Hesiod (Werke und Tage 40) zu-
rückgehende Sprichwort findet sich mehrfach bei Platon (Resp. V 466c; Leg.
368 Kommentar
III 690e und VI 753e7 f.) und auch sonst bei Aristoteles (Pol. V 4, 1303b29;
Soph. el. 34, 183b22 f.). Auch diese Bemerkung soll rechtfertigen, dass Aris-
toteles seine eigentliche Aufgabe in der Vorzeichnung der Grundlagen und
nicht in der Ausarbeitung sämtlicher Details sieht.
(1) 1098b9–12: Die eigene Bestimmung des Glücks ist durch Rückgriff auf
allgemein geteilte Auffassungen zu überprüfen. (2) 1098b12–20: Dazu ge-
hört die Dreiteilung der Güter in äußere Güter, Güter des Leibes und Gü-
ter der Seele. (3) 1098b20–22: Die Kennzeichnung des Glücks als ‚gut leben‘
und ‚gut tun‘ zeugt davon, dass es ein seelisches Gut ist.
(1) 1098b9–12 „Das Glück (peri autês) ist aber auch nicht bloß aufgrund
dieser Schlussfolgerung und der Voraussetzungen zu untersuchen“: Gram-
matisch gesehen wäre es das Natürlichste, das (im Griechischen feminine)
Pronomen auf das ‚Prinzip‘ (archê) am Ende des letzten Kapitels zu bezie-
hen (so z.B. Irwin 21999, 307). G/J folgen dagegen dem Vorschlag Susemihls,
peri autês durch peri autou zu ersetzen und autou auf das Gute zu bezie-
hen. An die Regeln des grammatischen Rückbezuges von Pronomina auf
das letzte Nomen hält man sich im Griechischen weniger streng als etwa im
Deutschen, und dies gilt ganz besonders für Aristoteles. Da es ihm hier nicht
um die Übereinstimmung seiner Prinzipien überhaupt mit der ‚allgemeinen
Auffassung‘ geht, sondern um die seiner Konzeption der eudaimonia, ist
anzunehmen, dass er die methodischen Bemerkungen als abgeschlossen be-
trachtet und sich auf den Anfang von Kapitel 6 zurück bezieht, d.h. auf die
Übereinstimmung bezüglich des Glücks (so auch B/R, 280). Dieser Bezug
liegt zwar weiter zurück; in Kap. 6 ist das Gute aber verschiedentlich mit
dem Glücklichsein gleichgesetzt worden. Obwohl Aristoteles hier von einer
Schlussfolgerung (symperasma) und ihren Voraussetzungen (ex hôn) spricht,
dürfte er in seiner Bestimmung des höchsten Gutes in Kap. 6 keinen Beweis
im eigentlichen Sinn sehen.
(1.1) 1098b10–11 „was man im Allgemeinen darüber zu sagen pflegt (lego-
mena)“: Aristoteles’ Umgang mit allgemein akzeptierten Meinungen hat,
wie in der Einleitung (§ 9) ausgeführt, in der Diskussion seiner Methodik in
Buch I, Kapitel 8 369
den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erfahren. So sieht man oft in Aris-
toteles’ Berufung auf Meinungen (legomena) eine Anwendung der endoxi-
schen Methode. Hier geht es aber nicht um die Klärung von Kontroversem
durch eine Überprüfung gängiger Meinungen, sondern um die Bestäti-
gung von Aristoteles’ eigener Theorie durch allgemein Akzeptiertes. Zwar
schwankt Aristoteles in seiner Beurteilung dessen, was ‚man sagt‘; überwie-
gend sieht er aber in der communis opinio eine wichtige Quelle, wie seine
wiederholte Versicherung bestätigt, dass nicht falsch sein kann, was alle für
richtig halten.
(1.2) 1098b11 f. „Denn mit dem Wahren stimmen alle Gegebenheiten (ta
hyparchonta) überein“: Die Formulierung dieses Satzes ist deswegen prob-
lematisch, weil man sich fragt, ob Aristoteles mit ‚den Gegebenheiten‘ wirk-
lich die allgemeinen Meinungen bezeichnen und sie damit zu Wahrheitskri-
terien machen will. Wie der Nachsatz nahelegt, scheint sich Aristoteles aber
um die Unterscheidung zwischen dem zu Prüfenden und dem Prüfungskri-
terium nicht sonderlich zu sorgen, sondern nur darauf hinauszuwollen, dass
Übereinstimmungen als Anzeichen für Wahres, Widersprüche für Falsches
anzusehen sind.
(2) 1098b12–20 „Nun hat man die Güter in drei Teile eingeteilt“: Als allge-
mein anerkannte Meinung präsentiert Aristoteles die Dreiteilung der Güter
in äußere Güter, Güter des Leibes und Güter der Seele. Güterbewertungen
hatten eine gewisse Tradition, wie auch die delische Inschrift zeigt, von der
Aristotles in EE I 1 ausgeht und die er in 9, 1099a27 f. zitieren wird. Zur
Tradition solcher Güterkataloge gehören auch Pindars rätselhafter Vergleich
von Wasser, Gold und Feuer (Oden 1,1) und die Verse im platonischen Gor-
gias (451e): „die man bei Trinkgelagen zu singen pflegt, ...sich guter Ge-
sundheit zu erfreuen ist das Beste, das zweite ist Schönheit zu besitzen, das
dritte ist auf ehrenhafte Weise reich zu werden.“ Die hier vorgelegte sys-
tematische Einteilung findet sich häufig bei Platon und stammt vielleicht
von Sokrates, wie Apol. 30a–b nahelegt. Platon rekurriert nicht nur verschie-
dentlich auf diese Dreiteilung (vgl. Gorg. 467e; 477b–c; Men. 78c–e; Resp.
IX 591a–e; Leg. I 631b–d), sondern befürwortet auch die Höchstbewertung
der seelischen Güter, während er körperliche und äußere Güter oft in eins
zusammenfasst (dazu ausführlicher Dirlmeier 1956, 281 f.). Auch in Rhet. I
5, 1360b24–27 geht Aristoteles auf diese Dreiteilung ein und erörtert in den
folgenden Kapiteln ausführlich die verschiedenen Arten von äußeren Gü-
tern wie auch die des Körpers. Er ist also auch selbst ein prominenter Ver-
treter dieser legomena, die er hier als alt (palaia) und von den Philosophen
anerkannt bezeichnet.
(2.1) 1098b15 f. „und rechnen die zur Seele gehörigen Handlungen (pra-
xeis) und Tätigkeiten (energeiai) zu den Gütern der Seele“: Aristoteles ist
370 Kommentar
(3) 1098b20–22 „Mit unserer Bestimmung stimmt aber auch überein, dass
der Glückliche gut leben (eu zên) und es ihm wohl ergehen (eu prattein)
soll“: Eine weitere Bestätigung seiner Auffassung sieht Aristoteles auch in
den üblichen Kennzeichnungen des Glücks und führt dazu auch noch die
entsprechenden Nomina euzôia und eupraxia an, wobei euzôia seine eigene
Wortprägung zu sein scheint. Eupraxia findet sich dagegen häufig in klas-
sischer Zeit als Bezeichnung auch für äußeres Wohlergehen und Erfolg. Im
Deutschen ist die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks eu prattein schwer wie-
derzugeben, weil er sowohl transitiv wie auch intransitiv gebraucht wird,
also sowohl ‚gut tun‘ wie auch ‚gut ergehen‘ meinen kann. Dieser Nachsatz
soll die Gleichsetzung von Glück und gutem Leben im Sinne von Tätigsein
offensichtlich auch terminologisch untermauern.
Buch I, Kapitel 9 371
(1) 1098b22–29: Die herkömmlichen Meinungen über das Glück werden ge-
nauer spezifiziert. (2) 1098b30–1099a7: Das Glück besteht nicht im Besitz
der Tugend, sondern in der entsprechenden Tätigkeit. (3) 1099a7–31: Zum
guten Leben gehört auch eine entsprechende Lust. (4) 1099a31–b8: Äußere
Güter gehören zu den Voraussetzungen des Glücks.
(1) 1098b22–29 „Aber auch alles weitere, was man noch in Verbindung mit
dem Glück sucht, scheint auf unsere Bestimmung zuzutreffen“: Zu den
sonstigen Vorstellungen gehören sowohl solche, die das Glück mit Tugend
(aretê), Klugheit (phronêsis) oder einer Art von Weisheit (sophia tis) gleich-
setzen, sowie solche, die es überdies mit Lust und äußerem Wohlergehen
verbinden. Um eine eingehende Erörterung und Bewertung dieser unter-
schiedlichen Vorstellungen ist es Aristoteles hier nicht zu tun, sondern um
den Nachweis, dass sie – nach geeigneten Modifikationen – mit der aristo-
telischen Konzeption vereinbar sind. Auch kommen nicht alle Glücks-Kan-
didaten hier überhaupt zur Sprache, denn Klugheit und Weisheit werden
stillschweigend übergangen; sie sind Thema von Buch VI. Mit dem Tri-
pel Tugend, Klugheit und Weisheit bezieht sich Aristoteles zweifellos auf
die sokratisch-platonische Tradition (zu Sokrates vgl. EE I 5, 1216b3–10).
In Platons Frühdialogen manifestiert sich eine Tendenz, Tugend und Wis-
sen gleichzusetzen; in den mittleren Dialogen entfaltet sich zwar ein dif-
ferenzierteres Bild, eine systematische Unterscheidung zwischen Klugheit
(phronêsis) und Weisheit (sophia) ist bei Platon aber nicht zu finden, viel-
mehr behandelt er sie oft wie Synonyme. So wie jedoch bestimmte Sokrati-
ker – etwa Antisthenes – puristischere Positionen vertreten und als einziges
372 Kommentar
Gut die Tugend im Sinn von Wissen anerkannt haben, dürften auch andere
Sokratiker und einzelne Mitglieder der Akademie jeweils eigene Schwer-
punkte gesetzt haben. Auf eine Erörterung dieser verschiedenen Positio-
nen verzichtet Aristoteles; wenn er sie dennoch aufführt, so offensichtlich
um anzuzeigen, dass seine Modifikationen und Qualifikationen in gewisser
Weise alle umfassen. Ob Aristoteles hier auch auf seine eigene Unterschei-
dung zwischen Klugheit und Weisheit (tis − eine bestimmte Art) voraus-
weist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.
(1.1) 1098b25 „aber jeweils verbunden mit Lust oder doch nicht ohne Lust“:
Auf reine Hedonisten wie etwa Eudoxos (X 2) bezieht sich Aristoteles hier
nicht. Als Vertreter einer ‚Kombinationslösung‘ kommt Platon in Frage,
der in Resp. IX 585b–587a der philosophischen Lust die besten Noten gibt,
im Philebos das Glück überhaupt als Mischung aus Wissen und Lust kenn-
zeichnet und in den Gesetzen die richtige Erziehung hinsichtlich von Lust
und Schmerz fordert. Wie sich in EN VII 12–15 zeigen wird, hat die plato-
nische Auffassung über die Natur der Lust auch andere Mitglieder der Aka-
demie beeinflusst.
(1.2) 1098b26 „während andere auch noch das äußere Wohlergehen (ektos
euetêria) mit dazu nehmen“: Der Ausdruck euetêria bedeutet eigentlich
günstige Wetterverhältnisse. Als Vertreter dieser Auffassung gilt Xenokrates
(Clemens v. Alexandria, Stromata II 22, 133; die populäre Auffassung über
die Bedeutung äußerer Güter reflektiert Rhet. I 5, 1360b19–26).
(1.3) 1098b27–29 „Manche dieser Auffassungen werden von vielen und von
alters her vertreten, andere nur von wenigen und angesehenen (endoxoi)
Leuten“: Welche Art von Leuten ist gemeint? Da diese Vorstellungen vom
Glück nicht die gängigen Meinungen von Kap. 3 aufnehmen, die Lust, Ehre
und Reichtum mit dem Glück gleichsetzen, sondern sämtlich von höherem
Niveau sind, ist anzunehmen, dass Aristoteles Meinungen von Dichtern und
Philosophen vor Augen hat. Dies wird auch nicht dadurch ausgeschlossen,
dass er ‚von vielen‘ und ‚von alters her‘ spricht und sie ‚den wenigen und an-
gesehenen Leuten‘ gegenüberstellt. Von der Forderung nach Tugend, Klug-
heit und Weisheit im Allgemeinen zeugen etwa die Verse des Simonides und
Äußerungen von Vorsokratikern. Inwieweit ein Unterschied zu den Weni-
gen besteht, wird noch zu verfolgen sein. An beiden Arten von Meinungen
nimmt Aristoteles gewisse Korrekturen vor, um sie als Bestätigung seiner
Auffassung präsentieren zu können: Sie gehen nicht vollständig fehl, son-
dern sind vielleicht sogar in den meisten Punkten richtig. Diese Überprü-
fung dient der weiteren Konkretisierung des eigenen Glücksbegriffs, insbe-
sondere die Relevanz der Lust und der äußeren Güter betreffend.
Dieser Einklang steht unter dem Vorbehalt, dass das Glück nicht schon im
Besitz (ktêsis) oder der Disposition (hexis) liegt, sondern erst in der Aus-
übung (chrêsis) oder der Betätigung (energeia) der Tugend. Auf diesen Un-
terschied hat Aristoteles bereits in seiner Kritik an der Unvollkommen-
heit der Tugend hingewiesen (3, 1095b31–33): Die Tugend hat man auch im
Schlaf oder in Untätigkeit. Das Glück besteht aber nicht im Besitz, sondern
in der Ausübung der Tugend. Die Bedeutung dieses Unterschiedes wird
noch durch den einprägsamen Vergleich mit den Teilnehmern an den Olym-
pischen Spielen illustriert: Den Preis erhalten dort nicht die Schönsten und
die Stärksten, sondern die Kämpfer und Sieger. Entsprechend besteht auch
das glückliche Leben im richtigen und erfolgreichen Tätigsein.
(3) 1099a7–31 „Ihr Leben ist aber auch als solches lustvoll (hêdys)“: Zur
Übersetzung von Lust (hêdonê) sowie der dazugehörigen Adjektive und
Verben sei angemerkt, dass die griechischen Ausdrücke sich auf jede posi-
tive Wahrnehmung, Empfindung oder Erfahrung beziehen und keine be-
sondere Intensität implizieren müssen, wie im Deutschen durch ‚lustvoll‘
und insbesondere durch den Plural ‚Lüste‘ nahegelegt wird. Daher wird in
der Übersetzung je nach Kontext zwischen ‚Lust‘, ‚Freude‘, ‚lustvoll‘, ‚an-
genehm‘ usw. variiert. Entsprechendes gilt auch für den Gegenbegriff lypê:
er kann körperlichen Schmerz ebenso wie Unlust aller Art und überhaupt
unangenehme Erfahrungen bezeichnen.
(3.1) 1099a7–11 „Denn sich zu freuen ist Sache der Seele (tôn psychikôn)“:
Eine Begründung für die Zuweisung der Lust an die Seele wird nur inso-
fern gegeben, als die verschiedenen Liebhabereien, die dazu aufgezählt wer-
den, zur Seele gehören und in entsprechenden Tätigkeiten bestehen. Eine
nähere Bestimmung der Natur der Lust bietet Aristoteles aber hier nicht
und nimmt auch seine Kritik am Leben der Lust als sklavisch und animalisch
(3, 1095b19–22) nicht wieder auf. Es zeigt sich aber, dass die Lust einer dif-
ferenzierten Beurteilung bedarf.
(3.1.1) 1099a9 „als dessen Liebhaber (philotoioutos) er bezeichnet wird“:
Wie bei der Verwendung von Komposita mit ‚-freund‘ oder ‚-liebhaber‘ als
Suffixen im Deutschen erlaubt auch das Griechische, Komposita aller Arten
mit ‚philo-‘ zu bilden. Diese Möglichkeit hat sich Platon zur Bestimmung
der wahren Philosophen zunutze macht, um den Unterschied zwischen
den Weisheitsfreunden (philosophoi) und den Schaulustigen (philotheamo-
nes) herauszustellen (Resp. V 474b–480a) und die drei Klassen des Staates
als weisheitsliebend, ehrliebend und gewinnliebend (philosophoi, philoti-
moi, philochrêmatoi) herauszustellen (Resp. VIII 548a–550b). Auch Aristo-
teles’ Aufzählung unterschiedlicher Liebhabereien gibt zu verstehen, dass
Lust nicht gleich Lust ist, sondern je nach Gegenstand und Tätigkeit große
Unterschiede bestehen. Dies zeigt sich auch an der Rede von Liebhabern
374 Kommentar
der Gerechtigkeit und der Tugend überhaupt. In welchem Sinn es gute und
schlechte Liebhabereien bzw. gute und schlechte Lust gibt, wird in Buch II 2
näher begründet. Je nach Kontext ist mit ‚Lust‘ also ganz Verschiedenes ge-
meint. Daher enthält der Text neben Verdammungsurteilen auch Plädoyers
zugunsten der Lust gegen ihre Kritiker.
(3.2) 1099a11–21 „Nun widerstreiten bei den meisten Menschen die ver-
schiedenen Arten von Lust einander“: Dieser Widerstreit wird nicht auf ein
Konkurrenzverhältnis zwischen verschiedenen Arten von Liebhabereien,
sondern auf eine grundsätzliche Unverträglichkeit zurückgeführt: Von Na-
tur aus (physei) angenehm ist nur Schönes. Wenn der Mensch nicht nur an
den seiner (eigentlichen) Natur entsprechenden Tätigkeiten Freude hat, son-
dern auch an solchen, die dieser Natur nicht entsprechen, dann besteht zwi-
schen ihnen ein natürlicher Widerstreit. Die Unterscheidung zwischen na-
türlichen und nicht-natürlichen Arten von Lust erlaubt es Aristoteles im
Folgenden, die richtigen Arten von Lust als integralen Bestandteil des guten
Lebens zu behandeln.
(3.2.1) 1099a15 f. „Denn ihr Leben bedarf nicht noch der Lust als eines zu-
sätzlichen Schmucks (periapton)“: Die Lust erweist sich so, anders als in
Kap. 3 anvisiert, nicht als das Ziel einer bestimmten Lebensform, sondern
als ein Bestandteil menschlicher Tätigkeiten und ist in diesem Sinn auch Be-
standteil des Glücks. Ob diese Bestimmung der Lust als Bestandteil von Tä-
tigkeiten für sämtliche Arten von Lust gelten soll, wird hier nicht themati-
siert. Auch die späteren Einlassungen über die Lust sind diesbezüglich nicht
eindeutig (vgl. VII 13, 1153a7–15; 14, 1153b9-19; X 3 + 4).
(3.2.2) 1099a17–21 „Dem Gesagten ist nämlich noch hinzuzufügen, dass
auch niemand gut ist, der keine Freude an guten Handlungen hat“: Dieser
Zusatz macht die Tragweite von Aristoteles’ integrativer Konzeption der
Lust deutlich, die er in Buch II 3 wieder aufnehmen und noch näher erläu-
tern wird. Denn damit wird klar, dass er weder eine anti-hedonistische Po-
sition vertritt noch auch als Hedonist im üblichen Sinn gelten kann. Inter-
pretationen, die Aristoteles als aufgeklärten Hedonisten behandeln, gehen
in die Irre. Die Lust ist nämlich nicht das Ziel, sondern ein Bestandteil der
Handlung. Zudem liefert die mit den Handlungen verbundene Lust gewis-
sermaßen einen Lackmustest für das Vorliegen der jeweiligen Charakter-
eigenschaften. Denn diese Eigenschaften manifestieren sich darin, dass der
Betreffende entsprechende Handlungen gern ausführt. Wer keine Freude
an gerechten und freigebigen Handlungen hat, ist nicht gerecht oder frei-
gebig. Weil tugendhafte Handlungen der menschlichen Natur entsprechen,
sind sie nicht nur für bestimmte Personen, sondern auch ‚an sich angenehm‘
(1099a15: kath’ hautas). Schlechte Menschen und überhaupt solche, die sich
nicht im natürlichen Zustand befinden, empfinden dagegen nur das ihrem
Zustand Entsprechende als angenehm (vgl. dazu VII 13).
Buch I, Kapitel 9 375
Dass Lust ein integraler Bestandteil des Lebens ist, stellt eine wichtige
Vorentscheidung für alles Weitere dar. Eine nähere Rechtfertigung gibt Aris-
toteles hier allerdings nicht und geht auch nicht weiter auf die Frage ein, ob
seine Erklärung sämtlichen Arten von Lust (und Schmerz) gelten soll, wie
etwa körperlicher Lust und Schmerz. Auch auf die Möglichkeit von Kon-
flikten zwischen verschiedenartigen tugendhaften Handlungsweisen geht
Aristoteles nur sehr selten und in Andeutungen ein (vgl. III 1, 1110a4–19:
Handlungen zur Vermeidung größerer Übel). Kasuistik, die heutzutage im
Zentrum der Diskussion steht, sieht er offensichtlich nicht als die Aufgabe
seiner grundlegenden Konzipierung des guten Lebens an. Daher setzt er vo-
raus, dass es eine prinzipielle Disharmonie zwischen den Zielen verschie-
dener Tugenden nicht geben kann, wie auch sein Verweis auf die richtigen
Gewohnheiten und eine entsprechende Erziehung zu verstehen gibt, die die
Hörer seiner Vorlesung mitbringen müssen. In der Diskussion der einzelnen
Tugenden kommt gelegentlich zum Ausdruck, dass dem Handelnden auch
Mühen und Schmerzen abverlangt werden können, so dass nicht alle Hand-
lungen gewissermaßen müheloser Ausdruck der eigenen Natur sind (vgl.
dazu die Haltung des Tapferen, der sein eigenes – gutes und erfreuliches –
Leben für ein schönes Ziel opfert (III 12)).
(3.3) 1099a22–31 „Überdies sind sie aber auch gut und schön, und zwar ein
jedes in höchstem Maß“: Die Integration der Lust hat zur Folge, dass die
Handlungen des guten Menschen (spoudaios) nicht nur im höchsten Maß
gut (agathon) und schön (kalon), sondern auch lustvoll (1099a24: hêdiston)
sein sollen. Gutes Handeln, so könnte man einwenden, sollte für einen ent-
sprechend Disponierten doch eher selbstverständlich als besonders lustvoll
sein. Wenn Aristoteles damit aber keinen Grad verbindet, sondern nur sagen
will, dass die Handlung als solche für den Betreffenden uneingeschränkt er-
freulich ist, dann ist dagegen nichts einzuwenden, zumal für die Richtigkeit
seiner Handlungsweise auf seine Urteilsfähigkeit verwiesen wird (1099a23:
krinei).
(3.4) 1099a24–28 „diese Eigenschaften lassen sich nicht voneinander tren-
nen, so wie es die Inschrift auf Delos will“: Dieses Epigramm war laut
EE I 1 in der Vorhalle des Tempels der Leto auf Delos angebracht und hatte
daher eine ähnliche Autorität wie die berühmten Sinnsprüche von Delphi:
„Erkenne dich selbst“, „Nichts zu viel“. In EE I 1, 1214a1–9 nimmt Aris-
toteles die Frage, warum dem Spruch in Delos nicht zuzustimmen ist, der
das Schönste, Beste und Angenehmste in einen Gegensatz zueinander stellt,
zum Ausgangspunkt der ganzen Schrift überhaupt; in der EN dagegen ver-
weist er darauf nur zur Bestätigung der Einheit des Guten, Schönen und
Lustvollen. Sein Widerspruch gegen eine Trennung des Guten, des Schönen
und des Lustvollen dient hier nur der Kennzeichnung der besten Aktivität,
in der das Glück besteht. In der Betonung einer einzigen, besten Tätigkeit
376 Kommentar
(4) 1099a31–b8 „Gleichwohl scheint das Glück aber auch noch der äußeren
Güter zu bedürfen“: Hier nimmt Aristoteles Stellung zu der Meinung, dass
zum guten Leben auch der äußere Wohlstand gehört (1098b26), nachdem er
selbst zuvor äußere Güter als sekundär eingestuft hat (8, 1098b13; 20). Er
tut das unter zwei Gesichtspunkten. Zum einen geht es um die Mittel zur
Ausführung guter Handlungen, zum anderen um Faktoren, deren Fehlen
eine Einschränkung des Glücks bedeuten würde (zu dieser Zweiteilung vgl.
Irwin 1985). Eine Trennung von körperlichen und rein äußeren Gütern wird
hier nicht vorgenommen; denn zu ersteren gehört anscheinend auch das gute
Aussehen.
(4.1) 1099a32–b2 „Es ist nämlich unmöglich oder doch nicht leicht,
schöne Handlungen auszuführen, wenn man dafür nicht ausgestattet ist
(achorêgêtos)“: Dass Aristoteles zu den Mitteln neben Reichtum und poli-
tischem Einfluss auch die Freunde zählt, derer man sich als Werkzeuge (or-
gana) bedient, verliert seine Befremdlichkeit, wenn man etwa an die Verfol-
gung politischer Ziele denkt, die man nicht ohne Hilfe ausführen kann (so
auch III 5, 1112b27–29). Auch bei der Beschaffung von Mitteln zur Wohltä-
tigkeit oder Großzügigkeit ist man u.U. auf Freunde angewiesen (IV 1). Wie
der Diskussion der Autarkie zu entnehmen ist, die auch Familie, Freunde
und Mitbürger einschließt (5, 1097b6–14), beschränkt sich die Bedeutung
von Freunden aber nicht auf derartige Hilfsfunktionen. Bei letzteren geht
es nur um die Mitwirkung von Freunden an bestimmten Handlungen, die
ohne sie nicht möglich wären.
(4.2) 1099b2–7 „Fehlen bestimmte Dinge, so trüben sie zudem das Glück
(rhypainousin)“: Die zweite Gruppe von äußeren Gütern erscheint prob-
lematisch, weil sie keine bloßen Mittel zu einem bestimmten guten Zweck
sind, sondern Faktoren, die grundsätzlich das Glück beeinträchtigen kön-
nen. Die Existenz solcher Faktoren scheint zunächst der Konzeption der
Autarkie des Glücks insofern zu widersprechen, als ihr nichts mangeln darf,
sondern das Glück auch nicht etwas mit anderen Gütern Zusammenzählba-
Buch I, Kapitel 9 377
res sein soll (5, 1097b14–17). Von dieser Immunität des Glücks scheint Aris-
toteles mit der Erklärung abzurücken, dass hässliches Aussehen, niedrige
Herkunft, Einsamkeit, Kinderlosigkeit etc. eine grundsätzliche Beeinträch-
tigung des Glücks darstellen oder es sogar ganz unmöglich machen.
Warum dieser Einwand nicht zutrifft, wurde bereits früher angemerkt
und mit Hilfe der Analogie der Gesundheit erklärt: Während das Glück als
solches nicht in einer Summe von Gütern besteht, sondern einen Zustand
der Vollkommenheit darstellt, kann es bei einzelnen Menschen Beeinträch-
tigungen geben, die ihr Tätigsein stören oder sogar ganz verhindern. Der
Katalog der Beeinträchtigungen spiegelt nicht nur Konventionelles wider
(Hässlichkeit, niedrige Herkunft, Kinderlosigkeit), sondern verweist auch
auf Tätigkeiten, die sich entweder gar nicht oder nicht richtig ausführen las-
sen. Armut zwingt zu manueller Arbeit, so dass die Betreffenden in Aristo-
teles’ Augen kein glückliches Leben führen können. Vornehme Herkunft
(eugeneia) und gutes Aussehen (kallos) sind für politische Tätigkeit von Be-
deutung. Dass Freunde und Kinder zum autarken Leben gehören, wurde
schon 5, 1097b8–11 erwähnt und wird in der Erörterung der Freundschaft
in VIII und IX noch vertieft. Wer weder Kinder noch Freunde hat, kann sich
in dieser Hinsicht nicht voll entfalten. Ob Aristoteles in schlechten Kindern
und Freunden nur eine Minderung der Möglichkeiten des Tätigseins oder
auch ein Anzeichen für missglücktes eigenes Tätigsein sieht, ist schwer zu
sagen. Auch die Frage, welchen Grad von Beeinträchtigung das Glück des
Einzelnen verträgt, um überhaupt noch als Glück zu gelten, bleibt offen.
(4.3) 1099b7 f. „Aus diesem Grund setzen manche auch das Glück (eudai-
monia) mit Glückszufällen (eutychia) gleich“: Eine philosophische Theorie
dürfte hier nicht gemeint sein, sondern nur die weitverbreitete Verwechs-
lung des Glücks mit dem Glückszufall, die auch der allgemeine Sprachge-
brauch begünstigt.
(4.4) 1099b8 „andere dagegen mit der Tugend“: In der späteren, von Plato-
nikern und Stoikern beeinflussten Tradition, die allein die Tugend für aus-
schlaggebend hielten, ist die Wertschätzung äußerer Güter bei Aristoteles
oft kritisiert worden. Diese beruht jedoch auf einer grundsätzlich anderen
Vorstellung von Autarkie: Für Aristoteles besteht Autarkie nicht in der Be-
dürfnislosigkeit eines von seiner Umgebung möglichst unabhängigen Indi-
viduums, denn eine solche ist mit seiner Konzeption des Menschen als eines
aktiv tätigen Gemeinschaftswesens nicht vereinbar. Inwiefern für Aristote-
les das Glück des Einzelnen deshalb immer unter bestimmten Vorbehalten
steht, ist eine Frage, der er in Kapitel 11 nachgeht.
378 Kommentar
(1) 1099b9–25: Der Abschnitt stellt die Alternativen zum Erwerb des Glücks
vor und spricht sich für den Erwerb des Glücks durch Lernen und Üben
aus. (2) 1099b25–32: Die Tugend ist die Basis des Glücks, während alle an-
deren Güter Hilfsfunktionen haben. (3) 1099b32–1100a5: Glück gibt es nur
bei erwachsenen Menschen. (4) 1100a5–9: Auch der Zufall hat einen gewis-
sen Einfluss auf das Glück.
(1) 1099b9–25 „Aus diesem Grund fragt man sich auch, ob das Glück durch
Lernen (mathêton), durch Gewöhnung (ethiston) oder auch sonst wie durch
Übung (askêton) zu erwerben ist“: Das Thema von Platons Menon ist zwar
der Erwerb der Tugend, nicht des Glücks, die Auswahl der Möglichkeiten
sind aber dieselben (Men. 70a: „durch Lehre, Übung, von Natur aus oder
auf sonstige Weise“). Dass Aristoteles statt vom Erwerb der Tugend von
der des Glücks spricht, liegt nicht nur daran, dass für ihn das Glück die Tu-
gend voraussetzt, sondern auch daran, dass zum allgemeinen Verständnis
von Tugend auch der Erfolg gehört, d.h. das Glück im herkömmlichen Sinn
von Macht und Reichtum. Daraus erklärt sich, warum ein ehrgeiziger junger
Mann wie Menon sich überhaupt für den Erwerb der Tugend interessiert.
Wie leicht einsichtig, lässt Aristoteles’ eigener Tugendbegriff, der auf ei-
ner Zweiteilung in Tugenden des Charakters und der Vernunft beruht, eine
einfache Entscheidung für eine von Platons Alternativen nicht zu. Auf diese
Zweiteilung hat Aristoteles zwar in Kap. 6 bereits kurz hingewiesen, ihre ei-
gentliche Diskussion wird aber erst am Ende von Buch I aufgenommen und
in Buch II fortgesetzt. Die Alternativen bei Platon bieten Aristoteles aber
die Gelegenheit, im Vorfeld zwei Fragen zu klären, auf die er später nicht
wieder zurückkommt: die Frage nach Einfluss der göttlichen Fügung (theia
moira) und des Zufalls (tychê) auf das Glück, denn diese Bedingungen wer-
den im Menon näher erläutert (99a: tychê; 99b–100b: theia moira).
(1.1) 1099b11–18 „Wenn es nämlich überhaupt irgendein Geschenk (dôrêma)
der Götter an die Menschen gibt“: Aristoteles behandelt die konventionel-
Buch I, Kapitel 10 379
len religiösen Vorstellungen zumeist mit höflicher Distanz. Das tut er auch
hier, indem er die Möglichkeit von Geschenken der Götter zwar einführt,
ihre Behandlung dann aber einer anderen Art von Untersuchung zuweist
(er bezieht sich damit vielleicht auf EE VIII 2, wo er auf diese Möglich-
keit näher eingeht). Dass er auf diese Thematik überhaupt eingeht, dürfte
der Tatsache geschuldet sein, dass man in den Göttern oft die Ursache von
Glück und Unglück sah. Dass Aristoteles sich diese Vorstellung zunutze
macht, wenn es ihm angezeigt scheint, bestätigt die Tatsache, dass er in der
abschließenden Erörterung des Glücks am Ende der EN darauf zurück-
kommt und erklärt, wenn irgendjemand, dann seien die ‚Theoretiker‘ den
Göttern am liebsten und ihrer Fürsorge würdig (X 9, 1179a22–32). Eine per-
sönliche Vorsehung ist aber prinzipiell mit Aristoteles’ Gottesbegriff un-
vereinbar, denn die geistige Ursache des Universums, der sog. Unbewegte
Beweger, wie er vor allem in Met. Λ 7–10 bestimmt wird, ist eine transzen-
dente geistige, aber keine ordnende kosmologische Kraft, die ihre Fürsorge
auf die Menschen ausdehnt. Wenn Aristoteles von einem göttlichen Element
am Menschen spricht, so ist damit nicht allein die Vernunft gemeint, sondern
alles, was über gewöhnliches Menschenmaß hinausgeht. Eben diesen Status
nimmt er hier auch für das Glück in Anspruch, wenn er es als „Siegespreis
(athlon) und Ziel (telos) der Tugend“ kennzeichnet.
(1.2) 1099b18–20 „Es dürfte aber auch etwas vielen Gemeinsames (polykoi-
non) sein“: Diese Erklärung soll offensichtlich den Eindruck vermeiden, das
Glück sei etwas Elitäres. Die Betonung, dass das Glück im Prinzip vielen of-
fen steht, soll zeigen, dass die ‚Bestheitsbedingung‘, auf die hier wie auch an
anderer Stelle abgehoben wird, keinen exklusiven Sinn hat und somit einem
exklusiven Glücksbegriff widerspricht.
(1.2.1) 1099b19 „deren Streben nach Tugend keine Behinderung im Weg
steht (pepêrômenois)“: Das Verb (pêroun), von dem der Ausdruck abgeleitet
ist, heißt eigentlich ‚verletzen‘ oder auch ‚verstümmeln‘. Auf die verschie-
denen Arten von Verletzungen‚ die einer moralisch angemessenen Entwick-
lung im Weg stehen können, geht Aristoteles später ein (VII 6, 1148b15–
1149a1). Er macht dort krankhafte (nosêmatôdeis) und tierische (thêriôdeis)
Verfassungen für abnormes Verhalten und dafür verantwortlich, dass solche
Menschen überhaupt außerhalb des Bereichs moralischer Schlechtigkeit ste-
hen. Diese Behinderung beruht folglich nicht auf bloßem Fehlen äußerer
Güter, sondern betrifft die Persönlichkeit, sei es von Natur aus, sei es durch
Krankheit oder durch abnorme soziale Bedingungen.
(1.3) 1099b20–25 „Wenn man aber besser auf diese Weise als durch Zufall (dia
tychên) glücklich wird“: Da Aristoteles auf die Notwendigkeit von Glücks-
gütern hingewiesen hat, ist ihm an der Klarstellung gelegen, dass der Zufall
(tychê) grundsätzlich nicht die Ursache für den Erwerb des Glücks sein kann,
eine Annahme, die freilich der weithin herrschenden Auffassung von der Be-
380 Kommentar
deutung der Tyche widerspricht (vgl. dazu Strohm 1944; Greene 1944). Aris-
toteles’ Begründung, in der Natur sei alles so zum besten eingerichtet, be-
ruht auf dem teleologischen Prinzip, das seinem Naturverständnis als solchem
zugrunde liegt, und sich am häufigsten in der bekannten Formulierung aus-
drückt: „Die Natur tut nichts umsonst“ (vgl. De an. III 9, 432b21; III 12,
434a31 et pass.). Zur Erklärung sei hier nur auf Folgendes hingewiesen: Aris-
toteles denkt nicht an eine aktiv anordnende Mutter Natur, sondern sieht den
Bereich der Natur als ein geordnetes System an, in dem alles seine Funktion
hat, sei es in der Physiologie der Lebewesen, sei es innerhalb der belebten Welt
als ganzer oder auch in der Gesamtordnung des Kosmos. So erklären sich op-
timistisch wirkende Tendenzen in Aristoteles’ Naturphilosophie, die ihn auch
hier davon sprechen lassen, dass in der Natur alles zum Besten geordnet ist.
Der Zufall (tychê) beruht hingegen auf dem akzidentellen Zusammentreffen
von Ereignissen (vgl. dazu Phys. II 4–8; vgl. Frede 1992). Obwohl es auch da-
bei gute Resultate gibt, wäre es von der Natur schlecht eingerichtet, wenn das
Glück des Menschen auf einem bloßen Zusammentreffen nicht zusammenge-
höriger Faktoren beruhte, weil es damit dem Bereich menschlicher Planung
und Handlung entzogen wäre.
(2) 1099b25–32 „Was wir suchen, wird auch durch unsere Definition mit
erhellt“: Aus der Definition des Glücks als einer Tätigkeit der Seele gemäß
der Tugend lässt sich schließen, dass der Erwerb der fraglichen Fähigkeiten
auf Lernen und Üben beruht. Dass die Tugend eine Sache der Erziehung
und der Einsicht ist, gehört zu den Grundvoraussetzungen der aristoteli-
schen Ethik (vgl. 1, 1094b27–1095a11 et pass.). Durch welche Art von Üben
und Lernen die Tugend erworben wird, bleibt hier noch offen. Alle übrigen
Güter haben sich entweder als notwendige Bedingungen, als Mithelfer oder
als Hilfsmittel zur Ausführung tugendhafter Handlungen erwiesen, wie die
Behandlung der äußeren Güter im letzten Kapitel gezeigt hat, zu denen auch
der Glückszufall gehört. Der Erwerb des Glücks beim Einzelnen ist auch
von kontingenten Faktoren abhängig, die nicht der eigenen Kontrolle unter-
liegen: Der Erwerb hängt von einer guten Erziehung ab, das Tätigsein von
geeigneten Mitteln und Mithelfern, das Fortbestehen von äußeren Glücks-
umständen.
(3) 1099b32–1100a5 „Wir bezeichnen aber zu Recht weder das Rind noch
das Pferd noch sonst eines der anderen Tiere als glücklich“: Da auch Tiere
eine Seele haben und entsprechend tätig sind, könnte man meinen, der aris-
totelische Glücksbegriff der Aktivität (energeia) in Übereinstimmung mit
der besten Fähigkeit gelte auch für Tiere, zumal ‚Tugend/Tauglichkeit‘ im
Griechischen nicht auf menschliche Fähigkeiten beschränkt ist. Dass man
gemeinhin von eudaimonia nur in Bezug auf Menschen sprich, erscheint
Buch I, Kapitel 10 381
kein hinreichender Grund dafür, den Tieren einen analogen Zustand abzu-
sprechen, wenn sie das ihnen eigentümliche telos erreicht haben, also ihre
Hochblüte, und entsprechend aktiv sind. Aristoteles hat jedoch zuvor expli-
zit das Glück auf das menschliche ergon, auf die Aktivität des vernünftigen
Seelenteils beschränkt (6, 1098a7–8; 14). Der Grund für diese Privilegierung
der eigenen Spezies liegt darin, dass von Handeln (praxis) nur im Fall eines
bewussten Tuns auf der Basis von Überlegung gesprochen werden kann. Die
Tiere reagieren nur auf Wahrnehmungen und lassen sich durch ihre Begier-
den leiten (vgl. De an. III 3, 429a4–6; 10, 433b27–30). Sie haben daher zwar
ein Leben (zôê), aber keine ‚Biographie‘ (bios).
(3.1) 1100a1–5 „Aus dem gleichen Grund ist auch ein Kind nicht glücklich“:
Diese Behauptung dürfte uns zunächst paradox vorkommen, weil wir gern
von einer glücklichen Kindheit sprechen und gerade den Kindern die Fähig-
keit zum Glück im Sinn von selbstvergessener Freude zusprechen. Dagegen
ist aber daran zu erinnern, dass mit eudaimonia gerade nicht die subjektive,
momentane Befindlichkeit gemeint ist, sondern die Betätigung des besten,
rationalen Vermögens im Dienste des guten Lebens als solchem. Dazu sind
Kinder noch nicht in der Lage. Wenn man sie dennoch glücklich preist, so
gilt dies nur der Hoffnung auf die Zukunft.
(4) 1100a5–9 „Das Leben unterliegt aber vielerlei Wechseln (metabolai) und
Zufällen (tychai) aller Art“: Die Bedingung, dass das Glück in der vollkom-
menen Ausübung der besten Tätigkeit in einem vollkommenen Leben be-
steht, hat Aristoteles bereits früher so ausgelegt, dass dieser Zustand eine
gewisse Dauer voraussetzt (6, 1098a18–20). Dass das Glück durch große
Unglücksfälle beeinträchtigt, wenn nicht gar zerstört werden kann, ist da-
gegen nur andeutungsweise erwähnt worden (9, 1099b2–8). Das Unglück
des Priamos ist deswegen sprichwörtlich, weil er als König von Troja über
eine blühende Stadt herrschte, mit einer Familie von fünfzig Söhnen und
Töchtern. Im Alter musste er die Eroberung und Zerstörung der Stadt, den
Tod sämtlicher Söhne und die Versklavung seiner Frau und Töchter erle-
ben. Angesichts dieser Zerbrechlichkeit des Glücks ist daran zu erinnern,
dass die zuvor postulierte Autarkie und Vollkommenheit des Glücks nur
bedeutet, dass das Glück selbst ein nicht vermehrbares oder verminderba-
res Optimum ist, sein Besitz aber keine Immunität des Einzelnen mit sich
bringt (vgl. 7, 1097b14–21). Große Unglücksfälle schränken das Tätigsein
nicht nur ein, so wie etwa das Fehlen von Mitteln und äußeren Gütern, son-
dern schließen es überhaupt aus.
382 Kommentar
zu verwechseln ist, so ist auch die Bilanz eines Lebens nicht schon im Au-
genblick des Todes zu ziehen. Aristoteles will damit nicht konventionellen
religiösen Vorstellungen Rechnung tragen, sondern nur die Konsequenzen
herausstellen, die sich für seinen Begriff des Glücks aus der Veränderlichkeit
der Glücksumstände ergeben.
(1) 1100a10–30: Die Maxime des Solon gibt Anlass zu scheinbar wider-
sprüchlichen Folgerungen über das Glück des Menschen. (2) 1100a31–b22:
Die Wechselfälle des Lebens stellen das Glück unter gewisse Vorbehalte.
(3) 1100b22–1101a21: Das Glück wird zwar durch große Glücks- und Un-
glücksfälle beeinflusst; eine völlige Umwertung bewirken sie aber nicht.
(4) 1101a22–1101b9: Analoges gilt auch für den Einfluss des Schicksals von
Nahestehenden über den Tod hinaus.
(1) 1100a10–30 „Darf man aber auch sonst keinen Menschen glücklich prei-
sen, solange er lebt, sondern muss man, mit Solon, auf das Ende schauen?“:
Die Hintergründe von Solons Rat, sich nicht vor seinem Ende glücklich zu
schätzen, kennen wir aus Herodots Schilderung von Solons Begegnung mit
Krösus, dem sagenhaft reichen und mächtigen König von Lydien (Historien
I 30–33; zur Übersicht über die literarischen Zeugnisse vgl. G/J II 1, 77).
Aristoteles konstruiert dazu das Dilemma, dass die Menschen (i) weder vor
(ii) noch auch nach ihrem Tod glücklich zu nennen sind. Die Gründe für
und gegen die beiden ‚Hörner‘ dieses Dilemmas füllen den Rest des Kapi-
tels.
(1.1) 1100a18–21 „Denn auch für einen Toten, so meint man, gibt es doch
sowohl Gutes wie auch Schlechtes“: Dass die Toten davon nichts merken,
stellt deswegen keinen Einwand dar, weil solches Unwissen auch bei Le-
benden am objektiven Glücks- bzw. Unglücks-Zustand nichts ändert. Die
Tragödie bietet dafür gute Beispiele, was sich daraus ergeben kann, dass man
nicht weiß, wie es um einen steht, wie im Fall des Ödipus. Entsprechendes
sollte daher auch für die Toten gelten.
(1.2) 1100a21–29 „Auch darin liegt aber eine Schwierigkeit“: Diese Schwie-
rigkeit ist eine Art reductio ad impossibile: Zum einen können die Glücks-
und Unglücksumstände der Nachkommen zur gleichen Zeit ganz unter-
schiedlich sein, so dass der Tote zugleich glücklich und unglücklich sein
müsste. Zum anderen ändern sich die Glücksumstände der Nachkom-
men, so dass der Tote abwechselnd glücklich und unglücklich zu nennen
wäre.
(1.3) 1100a29 f. „Andererseits wäre es auch seltsam, wenn nichts, was ih-
ren Nachfolgern widerfährt, die Toten berührte, nicht einmal für eine ge-
wisse Zeit“: Die Auflösung dieses Dilemmas zeigt, dass mehr dahinter steckt
als ein Zugeständnis an allgemeine und religiöse Vorstellungen: So wie das
384 Kommentar
Glück Nahestehender einen Einfluss auf das eigene Glück hat, gilt das, in
gewissem Umfang, auch für die Toten.
haupt die Rede ist (1100b9: anthrôpinos bios) und von der Fähigkeit, mit
Zufällen zurechtzukommen, will Aristoteles wohl sagen, dass man diese Fä-
higkeit nicht verlieren kann, während man einzelne Einsichten in den Wis-
senschaften vergessen kann. Dass die praktische Vernunft keinem Vergessen
unterliegt, hebt er auch später in der Erörterung der phronêsis hervor (VI 5,
1140b28–30).
(2.4.1) 1100b19 f. „Denn er wird stets oder vor allem anderen tun (praxei)
und beachten (theôrêsei), was der Tugend entspricht“: Der Verweis auf das
theôrein ist hier nicht im Sinne philosophischer Kontemplation zu deuten.
Vielmehr kann es nur im Sinn von ‚beachten‘ gemeint sein, der auch bei der
Charakterisierung des Akratikers eine wichtige Rolle spielt, der zwar die
richtigen Prinzipien hat, sie aber nicht beachtet (VII 5, 1146b31–35).
(2.4.2) 1100b21 f. „der doch wahrhaft gut, ‚vierkantig (tetragônos), ohne Ta-
del (aneu psogou)‘ ist“: Der Ausdruck stammt aus einem Lehrgedicht des
Simonides an Skopas aus Thessalien (Frg. 37 = PMG 542 Page): „Schwer ist
es, ein wahrhaft guter Mann zu werden, vierkantig an Händen, Füßen und
im Geist, ohne Tadel.“ Die Auslegung dieses Gedichts ist Gegenstand einer
Auseinandersetzung über den Sinn von Dichterinterpretationen bei Platon
(Prot. 339a–347c).
(3) 1100b22–1101a21 „Da nun vieles durch Zufall geschieht und sich der
Größe und Kleinheit nach unterscheidet“: Wie sich zeigt, ist mit der Beto-
nung der Beständigkeit des tugendhaften Lebens die Bewertung des Ein-
flusses der äußeren Glücksumstände, positiver und negativer Art, auf das
Glück noch nicht abgeschlossen. Vielmehr geht Aristoteles dieser Frage in
– für seine Verhältnisse – ungewöhnlicher Ausführlichkeit nach, wenn er ge-
ringfügigen Veränderungen zum Besseren oder Schlechteren hin keinen Ein-
fluss auf das Glück, großen Glücksfällen aber eine Steigerung des Glücks,
großen Unglücksfällen eine Verminderung zugesteht. Es ist ihm offensicht-
lich an einer grundsätzlichen Klarstellung des Zusammenhanges zwischen
eudaimonia (Glück) und eutychia (Glückfalls) und ihres Gegenteils gelegen.
(3.1) 1100b25–28 „während große und häufige Glücksfälle das Leben noch
seliger (makariôteron) machen“: Diese Einlassung scheint zunächst der Be-
stimmung der Vollkommenheit und Selbstgenügsamkeit des Glücks zu wi-
dersprechen, die Aristoteles mit der Versicherung verknüpft hat, das Glück
sei prinzipiell durch Hinzuzählen äußerer Glücksgüter nicht vermehrbar
(5, 1097b14–21, vgl. die Kritik bei Bostock 2000, 13–15). Wie schon zur
‚Trübung des Glücks‘ angemerkt (9, 1099b2–7), ist dazu der Unterschied zu
beachten zwischen der Konzeption des Glücks als solcher, das kein additives
Gut ist, und dem mehr oder weniger glücklichen Leben einzelner Personen.
So erklärt sich auch die Versicherung, die Glückszufälle „schmückten“ das
Leben und ihr Gebrauch sei schön und gut; denn große Glückszufälle kön-
386 Kommentar
(4) 1101a22–1101b9: „Die Annahme, dass die Geschicke (tychai) der Nach-
kommen und sämtlicher Freunde nicht den geringsten Einfluss haben soll-
ten, erscheint aber allzu freundschaftswidrig (aphilos) und den allgemeinen
Vorstellungen (tais doxais) zuwider“: Dieser Abschnitt enthält die Lösung
des Dilemmas in (1). Da es um Freundschaft geht, bedeutet aphilos hier nicht
Freundlosigkeit, sondern die Unvereinbarkeit mit dem Geist der Freund-
schaft. Dem Geist der Freundschaft widerspricht die Annahme, dass die
Geschicke von Freunden keinen Einfluss auf das ‚Glück‘ eines Toten ha-
ben; denn Freundschaft beruht auf wechselseitigem Wünschen von Gutem
(VIII 2, 1155b27–34 et pass.: eunoia, euboulia). Der Geist der Freundschaft
verbietet es daher, so zu sprechen, als sei das Geschick der Nachkommen
‚nichts‘ für die Toten. Die Tatsache, dass Aristoteles den Geist der Freund-
schaft bemüht, spricht dagegen, dass er diese Lösung nur um der Konven-
tion willen vorschlägt, wie der Verweis auf die allgemeinen Vorstellungen
nahelegen könnte.
(4.1) 1101a26 f. „erscheint es als ein langwieriges, ja ein endloses Geschäft“:
Auf eine Kasuistik will sich Aristoteles angesichts der ungeheuren Möglich-
keiten solcher Unglücksfälle nicht weiter einlassen, sondern begnügt sich
mit einem allgemeinen Umriss: Für Freunde und Familie soll Ähnliches gel-
ten wie für die Beeinträchtigungen durch die Geschicke Nahstehender zu
Lebezeiten. Auch diese Kennzeichnung spricht dafür, dass es ihm mit dem
Kompromiss durchaus ernst ist.
(4.2) 1101a31–b1 „Da es aber einen weit größeren Unterschied macht, ob
diese Unglücksfälle sämtlich zu Lebzeiten oder nach dem Tod eintreten“:
Dieser Nachtrag dient dazu, klarzustellen, dass der Einfluss solcher Un-
glücksfälle eng begrenzt ist. Die Tragödie betreffend gab es die Regel, beson-
ders schreckliche Ereignisse (deina) nicht auf die Bühne zu bringen, sondern
sie z.B. durch einen Bericht einzubeziehen (Poet. 14, 1453b32 ff. et pass.). So
wird Ödipus’ Mord an Laios oder der Selbstmord der Iokaste nur berichtet.
(vgl. Poetik, Kap. 14, dazu auch Horaz, Ars Poetica 179–188). Entsprechend
ist auch der Unterschied zwischen Unglücksfällen Nahestehender zu ver-
stehen, die man selbst erlebt, und solchen, die erst nach dem eigenen Tod
geschehen.
(4.2) 1101b1–9 „Falls überhaupt irgendetwas zu ihnen durchdringt, sei es
Gutes oder das Gegenteil davon“: Diese Klausel könnte überraschen, weil
Aristoteles von der Sterblichkeit des menschlichen Teils der Seele überzeugt
ist und im Tod die absolute Grenze sieht, jenseits der es für den Menschen
nichts mehr gibt, weder Gutes noch Schlechtes (III 9, 1115a26–28). Die all-
gemeinen Vorstellungen über den Status Verstorbener waren aber diffus. In
der Tragödie wird den Toten nicht nur eine Anteilnahme, sondern auch ein
gewisser Einfluss auf die weiteren Geschehnisse eingeräumt. Wenn Aristo-
teles sich auf diese religiösen Vorstellungen bezieht, so um etwas zum Aus-
Buch I, Kapitel 12 389
druck zu bringen, das er auch unabhängig davon für richtig hält (dazu Pritzl
1983; Gooch 1983): Das Glück und Unglück von Freunden und Nachkom-
men kann zwar Licht oder Schatten auf das Leben eines Verstorbenen wer-
fen, ändert aber nichts Wesentliches an seinem Charakter.
(1) 1101b10–27 „ob das Glück zu den lobenswerten (epaineton) oder viel-
mehr zu den verehrungswürdigen (timion) Dingen gehört“: Trotz des etwas
altmodischen Klangs von ‚verehrungswürdig‘ scheint diese Übersetzung
deswegen vorzuziehen, weil es dem Gegenstand als solchem gilt. Eine sol-
che Unterscheidung steht uns heute sehr fern, weil Lobreden (oder auch
Lobgedichte), sieht man von der Laudatio ab, nicht mehr zu unserer Kultur
gehören. Für Aristoteles ist die Lob- und Tadelsrede dagegen eine Redegat-
tung, die jeder zu beherrschen hat (Rhet. I 3; 9). Er hält sich aber sonst nicht
an die Unterscheidung zwischen Lobenswertem und Verehrungswürdigem,
sondern gebraucht sie synonym (vgl. Stewart 1892, I 153 f.), so wie das auch
Platon tut (Symp. 177b1; d2).
(1.1) 1101b12 „Denn es ist offenbar, dass es (sc. das Glück) jedenfalls nicht
zu den bloßen Vermögen (dynamis) gehört“: Da das Glück im Tätigsein be-
steht, ist es eine Aktualität und keine Potentialität. Bloße Vermögen sind
390 Kommentar
nicht nur ‚untätig‘, sondern die rationalen Vermögen können auch schlech-
ten Zwecken dienen (vgl. Met. Θ 5).
(1.2) 1101b12–14 „Alles Lobenswerte scheint nun aber dafür gelobt zu
werden, dass es eine bestimmte Eigenschaft (poion) hat und sich zu etwas
Bestimmtem verhält (pros ti pôs echein)“: Der Sinn dieser Unterscheidung
ergibt sich aus den Beispielen: Gerechte, Tapfere etc. werden für ganz be-
stimmte Eigenschaften und für das entsprechende Verhalten gelobt.
(1.3) 1101b18–25 „Das wird aber auch aus den Lobreden (epainoi) auf die
Götter deutlich“: Lobreden auf die Götter waren nicht nur auf die Dichtung
beschränkt, sondern gehörten, wie Platons Symposion zeigt, auch zur ge-
pflegten Unterhaltung. Die Bezeichnung als Lobrede ist Aristoteles zufolge
aber für die Götter eigentlich unangemessen, weil damit menschliche Ver-
hältnisse auf sie übertragen werden. Als vollkommenen Wesen gebührt den
Göttern nicht Lob, sondern Verehrung, wie dies auch in bestimmten tradi-
tionellen Epitheta zum Ausdruck kommt, die sie selig (makarizein) oder
glücklich preisen (eudaimonizein). Entsprechendes gilt auch für die besten
Menschen, die man ihrer Vollkommenheit wegen als göttlich preist (zur
göttlichen Tugend vgl. VII 1).
(1.4) 1101b25–27 „Niemand lobt nämlich das Glück wie etwa die Gerechtig-
keit“: Das Glück wird als etwas Vollkommenes und letztes Ziel eben nicht
für etwas gelobt wie etwa die Gerechtigkeit aufgrund eines bestimmten
gerechtes Handelns. Aristoteles beruft sich oft darauf, dass der Sprachge-
brauch ein Anzeichen für das angemessene sachliche Verständnis ist. ‚Was
man sagt‘, zeigt daher an, dass die Sache richtig getroffen ist. Umgekehrt be-
deutet ‚niemand spricht so‘, dass sich die Sache nicht so verhält (vgl. VII 3,
1146a6).
(2) 1101b27–31 „Auch Eudoxos scheint aber damit treffend den Anspruch
der Lust auf den Siegespreis (tôn aristeiôn) verteidigt zu haben.“ Eudoxos
von Knidos (ca. 395–342, die Daten sind unsicher), war einer der bedeu-
tendsten Astronomen und Mathematiker des 4. Jahrhunderts (vgl. dazu Las-
serre 1966). Eudoxos studierte unter anderem in Ägypten und Unteritalien
und gründete später eine eigene Schule in Kyzikos am Schwarzen Meer. Um
368 soll er mit seiner ganzen Schule nach Athen gekommen und mit Platons
Akademie zumindest assoziiert gewesen sein, also etwa zur Zeit des Ein-
tritts des jungen Aristoteles in die Schule. Sein Modell zur Erklärung der
Himmelsbewegungen mit Hilfe zusammengesetzter Kreisbahnen liegt nicht
nur Platons Kosmologie im Timaios zugrunde, sondern auch Aristoteles’
Theorie vom Unbewegten Beweger (vgl. Met. Λ 8, 1073b17–32). Eudoxos
hat sich anscheinend auch an Diskussionen über metaphysische Probleme
beteiligt (vgl. Met. A 9, 991a14–18; M 5 1079b20–22). Zudem war er ein pro-
Buch I, Kapitel 12 391
minenter Verteidiger der Auffassung, die Lust sei das höchste Gut (vgl. X 2,
1172b9–25).
Das Imperfekt spricht dafür, dass Aristoteles an eine konkrete Diskus-
sion in der Akademie denkt, bei der Eudoxos für die Lust plädiert hat (vgl.
den Wettstreit zwischen Wissen und Lust um den Rang des höchsten Guts
in Platons Philebos, 11a–d; 22b–23a). Aristoteles pflichtet Eudoxos darin
bei, in der Tatsache, dass man Lust nicht lobt, ein Anzeichen dafür zu se-
hen (mênuein), dass sie über den (bloß) lobenswerten Dingen steht. Auf die
Gründe für Eudoxos’ hedonistische Position kommt Aristoteles später in
seiner Lustlehre zurück (X 2). Er selbst hält die Lust zwar nicht für das
höchste Gut, sieht in ihr aber einen integralen Bestandteil des guten Lebens,
weil sie zu vollkommenem Handeln gehört (9, 1099a7–16).
(1) 1102a5–26: Zur besseren Einsicht in das Glück ist die Tugend näher zu
untersuchen. (2) 1102a26–32: Sie setzt die Unterscheidung zwischen einem
nicht-rationalen und einem rationalen Teil der Seele voraus. (3) 1102a32–
b12: Der nicht-rationale Teil enthält das vegetative Vermögen, das allen Le-
bewesen gemeinsam ist. (4) 1102b13–28: Zum nicht-rationalen Teil gehört
auch das Begehren, das den Geboten der Vernunft folgen, sich ihnen aber
Buch I, Kapitel 13 393
auch widersetzen kann. (5) 1102b28–1103a3: Das Begehren gehört zum rati-
onalen Teil, wenn es auf die Vernunft hört. (6) 1103a3–10: Der Zweiteilung
der menschlichen Vermögen entspricht die Zweiteilung der Tugend: Die Tu-
genden der Vernunft sind ‚rationale‘, die Tugenden des der Vernunft gehor-
chenden Elements sind ‚ethische‘ Tugenden.
(1) 1102a5–26 „Da das Glück eine bestimmte Art von Tätigkeit der Seele
gemäß der vollkommenen Tugend ist“: Zunächst ist zu fragen, warum die
bisherigen, doch recht ausführlichen Bestimmungen der Tugend als Basis
für das Glück nicht ausreichen. Denn Aristoteles hat zur Genüge dargelegt,
dass das Glück in der seelischen Tätigkeit gemäß den besten Fähigkeiten
besteht. Was fehlt also noch? Zur Bestimmung der Tugend sind bisher zwar
allgemeine Kriterien angegeben worden, eine nähere Spezifizierung der Fä-
higkeiten, die das Handeln bestimmen, steht aber noch aus. Erforderlich ist
daher eine nähere Bestimmung der Natur der spezifisch menschlichen Tu-
genden, ihrer Entstehung und Ausbildung, sowie der Art, wie sie die Hand-
lungen bestimmen und das gute Leben zu einem Ganzen machen.
(1.1) 1102a7–9 „Dieser Tugend gilt auch … am meisten das Bemühen des
wahrhaften Staatsmanns“: Wie am Anfang betont, hat die politische Wissen-
schaft insofern ‚architektonischen‘ Charakter, als sie das Leben in der Ge-
meinschaft ordnet und per Gesetz bestimmt, was die Bürger lernen und tun
sollen (1, 1094a27–b7; vgl. 10, 1099b29–32). Der Rückgriff auf den Anfang
des Werks und der Verweis auf die Aufgaben der Staatskunst bestätigen, dass
Aristoteles’ Konzeption des guten Lebens in dem Sinn ‚politisch‘ ist, dass es
ein Leben in einer wohlgeordneten Gemeinschaft ist und auf guten Geset-
zen beruht.
(1.2) 1102a10 f. „Vorbilder dafür sind uns die Gesetzgeber der Kreter und
Spartaner“: Die Vorbildfunktion, die Aristoteles, wie vor ihm Platon, dem
Staat der Kreter und Spartaner zuspricht, wird oft als Anzeichen für eine oli-
garchiefreundliche Haltung gedeutet. Diese Vorbildfunktion hat aber enge
Grenzen. Zum einen gilt sie den legendären frühen Gesetzgebern dieser
Staaten. Die politische Ordnung und Gesetzgebung Kretas hat man auf Mi-
nos zurückgeführt, auf den Sohn des Zeus und ersten König. An dessen Ge-
setzgebung soll sich auch Lykurg, der erste Gesetzgeber Spartas, orientiert
haben (vgl. Pol. II 10). Zum anderen gilt die Vorbildfunktion der Tatsache,
dass die Gesetzgebung beider Staaten überhaupt die Erziehung und Lebens-
weise der Bürger berücksichtigt. Das bestätigen die Bewertung der sparta-
nischen Verfassung am Ende der EN (X 10, 1180a24–26) und in der Politik
(II 5, 1263b36–1264a1 et pass.). Im Übrigen äußert sich Aristoteles durchaus
kritisch über verschiedene politische Institutionen Spartas und Kretas, über
ihren Militarismus und die oligarchischen Besitzverhältnisse (Pol. II 9–10).
Die unterschiedliche Beurteilung Spartas stellt uns daher vor kein Rätsel
394 Kommentar
(pace Dirlmeier 1956, 292). Es besteht hier durchaus Einigkeit mit Platons
Nomoi: Der Athenische Fremde lobt an der Gesetzgebung Spartas und Kre-
tas, dass sie die moralische Erziehung der Bürger einbezieht, bemängelt aber,
dass sie die Bürger ausschließlich für den Krieg und nicht für ein Leben
im Frieden erzieht und die dafür erforderlichen Tugenden vernachlässigt
(Leg. I 628e–631d; vgl. Aristoteles, Pol. VII 2, 1324b5–9; 14, 1333b11–26;
15, 1334a39–b4).
(1.3) 1102a13–15 „ Die Tugend, die es hier weiter zu untersuchen gilt, ist
offensichtlich die menschliche (anthrôpinê) Tugend“: Wenn Aristoteles her-
vorhebt, dass es um die menschliche Tugend, um das menschliche Gut und
um das menschliche Glück geht, so setzt er damit ein wichtiges Signal, was
den Gegenstand der Ethik angeht. Das ‚göttliche Element‘, auf das er in
Buch X zu sprechen kommt, wird mit dieser Betonung des Menschlichen
bewusst ausgeschlossen. Dieses Signal übersehen die Vertreter einer ‚domi-
nanten‘ Deutung der Ethik, wenn sie voraussetzen, dass der Verweis auf die
höchste Tugend in I 5 der theôria gilt und dass in der theôria grundsätzlich
der Hintergrund der weiteren Untersuchung zu sehen ist.
(1.4) 1102a16–26 „Als menschliche Tugend bezeichnen wir aber nicht die
des Körpers, sondern die der Seele“: Aufgabe des Staatsmannes ist weni-
ger die Sorge für das leibliche Wohl der Bürger, als vielmehr die Sorge für
ihre seelische Verfassung. Daher fordert Aristoteles, der Staatsmann müsse
über hinreichende Erkenntnisse der Natur der Seele verfügen und vergleicht
dazu, wiederum in Übereinstimmung mit Platon, den Staatsmann mit den
gebildeten unter den Ärzten. Wie das Wissen des Augenarztes nicht auf das
Auge beschränkt sein darf, sondern Kenntnisse über den Körper als gan-
zen voraussetzt, so muss auch der Staatsmann über Kenntnisse der Seele als
ganzer verfügen (vgl. dazu die ‚holistische‘ Konzeption in Platon, Charm.
156b–157c). Diese Konzeption der Gesundheit verdankt sich der hippokra-
tischen Ärzteschule (vgl. De sens. 1, 436a19–b1); von ihrem Einfluss zeugt
auch die häufige Verwendung von Analogien zwischen der politischen Wis-
senschaft und der Medizin.
(1.4.1) 1102a23–26 „Auch der Politiker muss also Studien über die Seele be-
treiben (theôrêteon)“: Wie Aristoteles hinzufügt, sollten sich diese Studien
aber im Rahmen des für die Politik Erforderlichen halten. Diese Einschrän-
kung bezieht sich nicht auf die Frage der Genauigkeit in der Ethik; vielmehr
soll sie signalisieren, dass Aristoteles von den politisch Interessierten unter
seinen Hörern keine Durchdringung der Arcana seiner ‚Psychologie‘ erwar-
tet. Über die Organisation des Unterrichts in Aristoteles’ Schule ist nichts
Näheres bekannt; diese Stelle spricht aber dafür, dass sich der Studienplan
nach der Interessenlage der Hörer richtete und dem zukünftigen Politiker
kein allzu gründliches Studium naturwissenschaftlicher Fragen abverlangte.
Buch I, Kapitel 13 395
(2) 1102a26–32 „Über die Seele ist einiges bereits hinreichend in den exote-
rischen Schriften gesagt worden“: Zunächst ist es verwunderlich, dass Aris-
toteles hier statt auf seine Schriften De anima und Parva naturalia auf eines
seiner populären Werke verweist. Dafür gibt es zwei mögliche Erklärungen.
(i) De anima ist erst nach Verfassung von EN I entstanden, denn die Schrift
‚Über die Seele‘ wird allgemein für spät gehalten, weil sich nur wenige Ver-
weise auf sie finden. (ii) Er will den Studenten der politischen Wissenschaft
die komplexen Erklärungen der Seelenfunktionen in dieser Schrift nicht zu-
muten. Das Folgende ist aber nicht leicht verständlich, eben weil sich Aris-
toteles, was die Seelenfunktionen angeht, auf das Allernötigste beschränkt
und seine Erklärungen über Andeutungen nicht hinausgehen.
(2.1) 1102a26 f. „exoterische Schriften (exôterikoi logoi)“: Inzwischen be-
steht weitgehend Einigkeit, dass diese Bezeichnung sich nicht auf Schriften
anderer Autoren, sondern auf Aristoteles’ eigene Schriften bezieht, die er für
einen breiteren Interessentenkreis verfasst hat (vgl. Einleitung § 1; 2). Auf
seine exoterischen Schriften verweist er auch zur Unterscheidung zwischen
Handeln und Herstellen (VI 4, 1140a2 f.). EE I 8, 1217b22–24 unterscheidet
ausdrücklich zwischen exôterikoi logoi und philosophischen Schriften – en
tois kata philosophian. Ob seine verschiedenen Bezeichnungen dieser Schrif-
ten als ‚exoterisch‘, ‚enkyklisch‘ oder ‚herausgegeben‘ Unterschiede anzei-
gen sollen, lässt sich nicht mehr feststellen. Auch ist nicht sicher, dass diese
Schriften nur aus Aristoteles’ Frühzeit stammen, sondern er könnte auch
später noch Schriften für ein breiteres Publikum verfasst haben. Jedenfalls
muss der Verweis nicht dem Protreptikos gelten, wie G/J II 1, 93 f. im An-
schluss an Jaeger vorschlagen, denn diese aus Fragmenten rekonstruierte
Schrift befasst sich zwar eingehend mit der Seele und mit dem Unterschied
zwischen nicht-rationalen und rationalen Vermögen, sieht aber gerade keine
strikte Trennung zwischen praktischer und theoretischer Vernunft vor, son-
dern macht die Weisheit (phronêsis) für beides verantwortlich.
(2.2) 1102a28–32 „Ob diese Teile sich aber so voneinander unterscheiden
wie die Körperteile und grundsätzlich alles, was teilbar ist“: Körperteile sind
nicht nur räumlich getrennt und erfüllen jeweils unterschiedliche Funktio-
nen, sondern sind auch im buchstäblichen Sinn voneinander abtrennbar, wie
Hand und Fuß. Wie man in De anima feststellen kann, hält Aristoteles die
Rede von ‚Teilen‘ der Seele zwar für problematisch, verwendet sie aber den-
noch (De an. I 5, 411a26–b30; zu dieser Problematik vgl. Corcilius/Gregoric
2010; Johansen 2012; 2014). In De an. geht er nicht von einer Trennung der
Teile im Sinne Platons, sondern nur von einer Funktionsunterscheidung aus,
so wie sie auch die Erörterung des Ergon-Arguments in EN I 6 voraussetzt.
Von dieser Lösung dürfte er auch hier ausgehen. Der Verweis auf eine bloße
‚Verschiedenheit der Definition nach‘ (tôi logôi) auf die Verschiedenheit von
Konvexem und Konkavem trägt freilich nicht zur Erhellung dieses Verhält-
396 Kommentar
nisses bei. Denn der Definition nach sind auch ‚Mensch‘ und ‚was es heißt,
Mensch zu sein‘ verschieden; sie sind aber nicht trennbar, und Entsprechen-
des gilt, mutatis mutandis, für das Beispiel von Konvexem und Konkavem,
das nur die Unterscheidung zwischen der Innen- und der Außenkrümmung
betrifft.
(3) 1102a32–b12 „Vom Vernunftlosen erscheint der eine Teil als etwas Ge-
meinsames (koinon) und Vegetatives (phytikon)“: Die Zuschreibung einer
Seele an alle Lebewesen, einschließlich der Pflanzen (phyta), beruht darauf,
dass Aristoteles in der Seele das Prinzip des Lebens sieht. Eine spiritualisti-
sche Naturvorstellung ist damit nicht verbunden. Belebte Gegenstände un-
terscheiden sich von unbelebten dadurch, dass sie nicht nur ein Prinzip zu
aktiven Veränderungen in sich haben, sondern sich selbst erhalten und fort-
pflanzen (vgl. De an. II 1, 412a14 f. und die Definition des allen Seelen Ge-
meinsamen nach 412a27 f.: „Seele ist die erste Aktualität aller Körper, die
potentiell Leben haben“).
Im Prinzip bietet Aristoteles hier gegenüber Kap. 6, 1097b33–1098a3
nichts wesentlich Neues, sondern führt nur näher aus, in welchem Sinn das
vegetative Vermögen allen Organismen zugrunde liegt. Auch Embryonen
haben bereits das gleiche vegetative Vermögen wie selbständige Organis-
men, nämlich die Fähigkeit zur Ernährung und zum Wachstum. Bei den
Menschen sind die vegetativen Vermögen im Schlaf am aktivsten, also in
dem Zustand, in dem die höheren Fähigkeiten untätig sind (vgl. De somn. 1,
454b32–455a3). So sind die Tugenden im Schlaf zwar vorhanden, aber nicht
wirksam (vgl. 3, 1095b32 f.; 9, 1098b33–1099a2). Daher unterscheiden sich
gute und schlechte Menschen im Schlaf kaum voneinander.
(3.1) 1102b9–12 „wenn man davon absieht, dass im Schlaf in geringem Um-
fang Bewegungen bis zur Seele durchdringen“: Traumbilder werden laut
Aristoteles durch Bilder in der Vorstellungskraft (phantasia) hervorgerufen,
die auch im Schlaf aktiv sind und auf Residuen von Wahrnehmungen be-
ruhen. (De insomn. 1, 459a14–22). Die Art dieser Bilder spiegelt in gewis-
sem Umfang auch die Persönlichkeit wider, so dass Träume darüber eine ge-
wisse Aussagekraft haben (De insomn. 2, 460b4–11; 462a29–31). Hier dienen
die Ausführungen zur Rolle des vegetativen Teils der Seele aber offensicht-
lich nur der Rechtfertigung dafür, dass die Tugend (aretê) des vegetativen
Teils in die weitere Untersuchung der spezifisch menschlichen Fähigkeiten
nicht mit einzubeziehen ist. Deshalb lässt Aristoteles auch die Funktion der
Wahrnehmungen unkommentiert, auf denen die Traumbilder beruhen.
(4) 1102b13–28 „Zur Natur der Seele scheint jedoch noch ein anderes, ver-
nunftloses Element (alogos) zu gehören, das aber in gewisser Weise an der
Vernunft teilhaben kann (logou metechein)“: Diese Zweiteilung der Seele
Buch I, Kapitel 13 397
weicht insofern von der Dreiteilung von 6, 1098a3–8 ab, als sie einerseits
das Menschen und Tieren gemeinsame Wahrnehmungsvermögen übergeht
(zum Problem des Verhältnisses zwischen Wahrnehmung und Vernunft vgl.
De an. III 9, 432a30 f.), andererseits die Fähigkeit, auf die Vernunft zu hören,
jedenfalls zunächst dem ‚vernunftlosen‘ Teil der Seele zuschreibt, während
in Kap. 6 dem nicht-rationalen Teil zwei verschiedene Arten von rationalem
Vermögen gegenübergestellt werden: Das eine gehorcht den Geboten der
Vernunft, das andere hat sie und denkt selbst. Es gibt also in EN I ein zwei-
und ein dreiteiliges Seelenmodell. Ein wirklicher Unterschied in der Theorie
der Seelenfunktionen liegt darin jedoch nicht, sondern nur eine andere Zu-
ordnung, denn die Zweiteilung von Kap. 13 hebt die Tatsache hervor, dass
das Begehren, wie auch die Wahrnehmung, auch beim Menschen grundsätz-
lich eine Funktion des nicht-rationalen Seelenteils ist.
(4.1) 1102b14–28 „Denn beim Beherrschten (enkratês) und beim Unbe-
herrschten (akratês) loben wir die Vernunft (logos)“: Die Phänomene von
Beherrschtheit und Unbeherrschtheit (akrasia: heute oft missverständlich
mit ‚Willensschwäche‘ übersetzt) setzt Aristoteles als bekannt voraus; eine
genauere Bestimmung und Analyse folgen in VII 1–11. Beide Phänomene
beruhen darauf, dass der Mensch nicht-rationalen Begierden ausgesetzt ist,
denen er folgen oder auch nicht folgen kann. Zunächst befremdet es, dass
sowohl im Fall des Beherrschten wie auch des Unbeherrschten die Vernunft
gelobt wird. Falls hier keine Korruptele vorliegt, dürfte dieses Lob einer
verkürzten Darstellung geschuldet sein: Nur Menschen sind überhaupt zu
beiden Verhaltensweisen fähig, weil nur bei ihnen die Vernunft auf das Be-
gehren einwirkt. Auch der Unbeherrschte ‚hört‘ im Prinzip die Stimme der
Vernunft, folgt ihr aber nicht. Eben dies soll der Vergleich des Unbeherrsch-
ten mit einem Menschen zeigen, der einer Lähmung wegen keine Kontrolle
über seine Körperteile hat, so dass sie das Gegenteil der eigentlich beabsich-
tigten Bewegung ausführen.
(4.2) 1102b25 „In welcher Weise es von ihr verschieden ist, ist hier unerheb-
lich“: Die Bemerkung muss sich auf den Unterschied zwischen dem ‚Wider-
setzlichen‘ im Körper und dem in der Seele beziehen. Denn der Unterschied
zwischen der Vernunft und dem sich ihr widersetzenden begehrenden Ele-
ment ist für alles Weitere von großer Bedeutung.
(4.3) 1102b25–28 „Doch scheint dieses Element auch an der Vernunft An-
teil zu haben“: Dieses Element umfasst sowohl die Affekte wie auch die
dazugehörigen Bestrebungen. Diese Affizierbarkeit ist zwar von Natur aus
gegeben, untersteht aber – mit zunehmendem Alter – der Kontrolle der Ver-
nunft. Wie es zu dieser Kontrolle kommt, ist Gegenstand der Untersuchung
der charakterlichen Erziehung in Buch II.
398 Kommentar
(5) 1102b28–1103a3 „Auch beim vernunftlosen Element zeigt sich also eine
zweifache Natur“: Aristoteles geht davon aus, dass das eine Element des
Vernunftlosen, das vegetative Vermögen, nie unter der Kontrolle der Ver-
nunft steht, weil die physiologischen Vorgänge von Ernährung, Wachsen
oder Schwinden sich von der Vernunft nicht beeinflussen lassen. Dagegen
ist das andere vernunftlose Element in der Lage, auf die Gebote der Ver-
nunft zu hören. Zum ersten Mal gibt Aristoteles hier zu erkennen, welche
Art von Vermögen er damit überhaupt meint: Es ist das begehrende (epi-
thymêtikon) und das Strebevermögen überhaupt (orektikon). Ersteres wird
zumeist in dem engeren Sinn von Begierde nach körperlichen Genüssen ver-
wendet, während das Strebevermögen auch alle anderen Arten von Begeh-
ren bezeichnet, wie Aristoteles hier mit ‚im ganzen‘ (holôs) andeutet. Ob es
auch ein rein rationales Strebevermögen gibt, ist eine umstrittene Frage (vgl.
Lorenz 2009, bes. 177–184).
Für diese Annahme spricht eine Stelle in De anima (III 9), die den
Wunsch (boulêsis) dem rationalen (logistikon), die Begierden (epithymia)
und den Mut bzw. den Drang (thymos) dem nicht-rationalen Teil zuschreibt.
Zugleich wird dort aber auch davor gewarnt, das Strebevermögen ‚ausein-
anderzureißen‘ (III 9, 432b3–7: diaspan). Daher spricht einiges für die An-
nahme, dass der rationale Wunsch das durch die Vernunft geprägte Stre-
ben ist und sämtlichen Charaktertugenden gilt. Wie das gemeint ist, wird
sich aber erst aus der Übersicht über die Charaktertugenden in Buch II,
den Erklärungen zur Handlungstheorie in Buch III 3–8 und zur Funktion
der Klugheit in VI 13 ergeben. Eine Dreiteilung der Seele nach dem Vorbild
Platons zieht Aristoteles zwar gelegentlich in Betracht, sie ist aber mit sei-
ner Konzeption der Charaktertugenden, die sämtlich dem nicht-rationalen
Seelenteil angehören, nicht zu vereinbaren. Eine grundsätzliche Unterschei-
dung zwischen einfachen nur-appetitiven Arten von Begierde und einem
halb-rationalen ‚mutartigen‘ (thymoeides) Seelenteil, der als Verbündeter der
Vernunft fungiert, wie Platon ihn in Resp. IV den Wächtern zuschreibt, sieht
Aristoteles nicht vor (pace Dirlmeier 1956, 292 f.; G/J II 1, 98–100 et al.).
(5.1) 1102b31–33 „In dieser Weise behaupten wir auch, dem Rat des Va-
ters oder von Freunden Rechnung zu tragen (echein logon)“: Im Deutschen
lässt sich das Spiel mit der Doppeldeutigkeit von logos im Sinn von ‚Ver-
nunft‘ und von ‚Rechnung‘ nicht wiedergeben, auf welche die Bemerkung
hinweist, ‚Rechnung tragen‘ sei nicht im mathematischen Sinn gemeint. Da
sich der Verweis auf den Vater wiederholt (1103a3) hat Rackham 21934 ihn
als ‚parenthetical note‘ bezeichnet. In der arabischen Übersetzung fehlt er.
Andererseits ist diese Erläuterung der Art dieses ‚Zuhörens‘ durchaus er-
hellend und wirkt daher nicht wie eine später in den Text geratene Glosse.
Die Verwendung der Metapher von einem anordnenden Vater und einem
gehorsamen Sohn gestattet es nämlich, die Klärung des Verhältnisses zwi-
Buch I, Kapitel 13 399
tionalen Tugenden ist Gegenstand von Buch VI. Die Weisheit wird dort als
das theoretische Vermögen von der Klugheit als dem praktischen Vermögen
unterschieden, zu dem die Verständigkeit als die Unterart gehört, welche die
Entscheidungen der Klugheit richtig beurteilt. Diese Zweiteilung manifes-
tiert sich hier in der Gegenüberstellung von ‚weise‘ und ‚verständig‘ als Ver-
tretern der intellektuellen Tugenden mit zwei Arten von Charaktertugenden
(‚ausgeglichen‘ und ‚besonnen‘, a7 f.)
(6.2) 1103a6 f. „Freigebigkeit und Besonnenheit sind ethische Tugenden
(êthikai aretai)“: Während êthos als Bezeichnung für den Charakter auf ei-
ner alten Tradition beruht, könnte Aristoteles selbst das Adjektiv zur Kenn-
zeichnung derjenigen Dispositionen des nicht-rationalen Seelenteils geprägt
haben, die unter der Kontrolle der Vernunft stehen. Dafür spricht die Tatsa-
che, dass er wiederholt und an verschieden Stellen auf die Etymologie dieses
Ausdrucks hinweist.
Die Charaktertugenden
Buch II
Allgemeine Vorbemerkungen
Von Aristoteles’ Bewusstsein, mit dem Begriff der Charaktertugend als einer
erworbenen Disposition zu moralisch richtigem Handeln, die in der rich-
tigen ‚Mitte‘ zwischen Mangel und Übermaß liegt, etwas ganz Neues ein-
zuführen, zeugt die behutsame Vorgehensweise, in der er die wesentlichen
Bestimmungsstücke Schritt für Schritt einführt. Diese ‚Mittentheorie‘ ist
insofern neu, als vor Aristoteles niemand eine triadische Entgegensetzung
der Tugenden und Laster angenommen hat, vielmehr hat man jeder Tugend
nur ein Laster gegenübergestellt. Die Theorie hat aber gewisse Vorbilder in
der Medizin (vgl. Tracy 1969; Wehrli 1951). Worauf bezieht sich nun die
Mitte und nach welchem Maßstab bemisst man sie? Die Mitte gilt sowohl
den Affekten, wie etwa Furcht oder Begierde, als auch den dazugehörigen
Handlungsweisen – ob man standhält oder ihnen nachgibt. Ob die ‚Mitte‘
im wörtlichen Sinn, d.h. von arithmetischer oder geometrischer Proportion
zu verstehen ist, wird immer wieder kontrovers diskutiert, da Aristoteles bei
der Einführung der Mitte auf mathematische Verhältnisse verweist und auch
seine Exemplifizierung mit Hilfe von Medizin und Gymnastik dies nahele-
gen könnte. Dagegen sprechen jedoch die ‚Parameter des Sollens‘, auf deren
Berücksichtigung Aristoteles für den Einzelfall besteht, d.h. ob man so han-
delt (und fühlt), wie man es soll, wann man es soll, wem gegenüber man es
soll usw. Mit dem einfachen Schema von Übermaß, Mitte und Mangel lassen
sich diese Parameter, die nicht quantitativer Natur sind, insofern vereinba-
ren, als die Verfehlungen entweder ein Zuviel oder ein Zuwenig im Bereich
der jeweiligen Tugenden darstellen. Dies gilt auch für die Kennzeichnung
der betreffenden Dispositionen. So ist feige, wer nicht bereit und fähig ist,
zur richtigen Zeit, in der richtigen Weise und um des richtigen Ziels willen
sein Leben zu riskieren; tollkühn ist dagegen, wer Gefahren im Übermaß
auf sich nimmt, während der Tapfere in der richtigen Weise zum Umgang
mit der Gefahr disponiert ist. Die Rede vom ‚Mittleren‘, dem Übermaß und
dem Mangel hat daher, anders als manche Kritiker meinen, doch ihren guten
Sinn, wenn es um die Charakterisierung der Dispositionen als solcher geht.
402 Kommentar
(1) 1103a14–26: Die rationalen Tugenden werden durch Belehrung, die ethi-
schen Tugenden durch Gewöhnung erworben. (2) 1103a26–b6: Im Un-
terschied zu angeborenen Fähigkeiten werden ethische Tugenden wie die
Künste durch aktives Einüben erworben. (3) 1103b6–25: Gutes Tätigsein
führt zu guten, schlechtes zu schlechten Dispositionen; dazu gehören auch
die affektiven Einstellungen zu den jeweiligen Situationen.
(1) 1103a14–26 „Es gibt also zwei Arten von Tugend, zum einen die rati-
onale (dianoêtikê), zum anderen die ethische (êthikê)“: Mit dieser Unter-
scheidung setzt Aristoteles die Erörterung der Tugenden aus I 13 fort. Wenn
zu den rationalen Fähigkeiten angemerkt wird, dass sie auf Belehrung (di-
daskalia) beruhen und daher Erfahrung (empeiria) und Zeit (chronos) brau-
chen, dürfte Aristoteles damit nicht sagen wollen, dass die ethischen Tu-
genden das nicht brauchen. Vielmehr erfordert Gewöhnung eo ipso sowohl
Zeit wie auch Erfahrung. Bei den rationalen Tugenden ist das weniger klar.
Daher betont Aristoteles auch sonst manchmal die Notwendigkeit von Er-
fahrung für bestimmte Wissenschaften (vgl. Met. A 1, 981a1–b2, Anal. post.
II 19, 100a3–b5). Die spätere Bemerkung, Mathematik und Geometrie setze
keine Erfahrung voraus und schon ein Kind sei dazu in der Lage, dürfte
sich auf die intuitive Fähigkeit beziehen (VI 9, 1142a11–20); auch ist nicht
gemeint, dass jedes Kind diese Fähigkeit hat. Auf die Art des Erwerbs der
dianoetischen Tugenden geht Aristoteles auch später nicht ein. Im Zent-
rum stehen vielmehr die Charaktertugenden, die er fast durchweg als ‚die
Tugenden‘ adressiert. Dass auch sie Belehrung voraussetzen, kommt hier
nur indirekt zum Ausdruck, ist bei ihrer Deutung jedoch stets im Auge zu
behalten (zur Alternative von Belehrung und Gewöhnung s. Taylor 2006,
59 f.).
(1.1) 1103a17 f. „von daher hat sie auch ihren Namen erhalten, der nur ge-
ringfügig von ‚Gewohnheit‘ (ĕthos) abweicht“: Auf Etymologien weist
Aristoteles auch sonst gelegentlich hin (zur Zügellosigkeit: III 15, 1119a32–
b15). Wenn er so spricht, als sei die Bezeichnung ‚ethisch‘ etwas Etabliertes,
so dürfte er sich auf Platon beziehen, der zwar nicht das Adjektiv êthikê
verwendet, wohl aber das Wort êthos = ‚Charakter‘ (mit langem Êta) auf
ĕthos (mit kurzem Epsilon) zurückführt (Leg. VII 792e2). Dass der Charak-
ter schon früh Gegenstand philosophischer Überlegungen war, bezeugt das
für Heraklit überlieferte Fragment DK 22 B 119, der Charakter (êthos) sei
Buch II, Kapitel 1 405
der ‚Daimon‘ des Menschen, d.h. sein guter oder böser Geist ist (zur Vorge-
schichte des Tugendbegriffs s. G/J II 1, 101–106).
(1.2) 1103a19–20 „Denn nichts, was von Natur aus besteht, lässt sich durch
Gewöhnung verändern (ethizetai)“: Die Ausführlichkeit der Behandlung
des Unterschieds zwischen natürlichen und erworbenen Eigenschaften ist
ein Zeichen für die Wichtigkeit, die Aristoteles dem richtigen Verständnis
der Entstehung der Charaktertugenden beimisst, da sie ihr Wesen erklärt.
So verweist er auf mehrere Beispiele für naturgegebene Eigenschaften, die
auch durch längere Einwirkung nicht zu verändern sind. Dass das Feuer von
Natur aus aufsteigt, Steine nach unten fallen, wenn sie nicht durch äußere
Faktoren daran gehindert werden, gehört zu den Grundannahmen der aris-
totelischen Naturphilosophie (vgl. Phys. IV 1–5; Cael. IV 3, 310b16). Hätten
Menschen die Tugenden von Natur aus, dann wären sie entweder angeboren
oder würden sich von selbst entwickeln. Sie sind aber auch nicht gegen die
Natur (para physin), denn die Menschen haben die natürliche Anlage, Tu-
genden auszubilden. Diese Tatsache verbietet es, der aristotelischen Ethik
ein ‚biologistisches‘ Fundament zuzuschreiben und sich dazu auf seine Te-
leologie zu berufen, wie man es manchmal dem Ergon-Argument unter-
stellt. Aristoteles geht nur davon aus, dass es eine natürliche ‚Bestform‘ des
Menschen gibt, die erreicht wird, wenn er seine besten Anlagen entwickelt
und anwendet.
(2) 1103a26–b6 „Bei dem, was uns von Natur aus zukommt, bringen wir
zunächst die Fähigkeit mit“: Hier wird, in sehr gedrängter Form, der Unter-
schied zwischen den von Natur aus bereits vorhandenen und den von Na-
tur aus erwerbbaren Fähigkeiten herausgestellt. Beispiele für Ersteres sind
die Sinneswahrnehmungen, die bereits von Geburt an vollständig entwickelt
sind. Sie sind daher sofort ‚voll gebrauchsfähig‘.
(2.1) 1103a31 f. „Die Tugenden dagegen erwerben wir durch vorheriges Tä-
tigsein (energein), so wie sonst auch die verschiedenen Arten von Küns-
ten (epi tôn allôn technôn)“: Da Aristoteles die Tugenden nicht den Kunst-
fertigkeiten gleichsetzen will, ist von einer Attraktion von allôs (=‚sonst‘)
zum Nomen auszugehen (eine ähnliche Konstruktion findet sich auch in
2, 1103b34 und 3, 1105b1, vgl. dazu Kühner/Gerth II 1, § 405 Anm. 1;
Smyth § 1272). Die ‚erwerbbaren‘ Fähigkeiten bedürfen noch der Ausbil-
dung: man erwirbt sie, indem man sie (bzw. die Anlage dazu) gebraucht.
Diese Erklärung erläutert Aristoteles mit Hilfe von Kunst und Kunstfer-
tigkeiten (technai), weil ihr Erwerb gleichfalls die Ausübung der entspre-
chenden Tätigkeiten voraussetzt (vgl. auch Met. ϴ 8, 1049b29–32: Man
wird niemanden als Baumeister ansehen, der noch kein Haus gebaut hat,
und niemanden als Kitharaspieler, der noch nicht auf der Kithara gespielt
hat).
406 Kommentar
Über das ‚Wie‘ des Erwerbs der Tugenden und anderer Fertigkeiten äu-
ßert sich Aristoteles hier nicht weiter; auf das scheinbare Paradoxon, wie
man etwas tun kann, was man noch nicht beherrscht, kommt er aber spä-
ter zurück (3, 1105a17–26). Er vertraut offensichtlich auf die Plausibilität
der Analogiefälle, dass man das Kitharaspielen und das Hausbauen lernt,
indem man, wenn auch zunächst noch anfängerhaft, spielt und baut. Ent-
sprechendes soll auch für die Charaktertugenden gelten: man wird gerecht,
indem man Gerechtes tut. Dass diese Gewöhnung auch eine Beteiligung der
Vernunft voraussetzt, lassen bereits die Analogiefälle erkennen: Das Spielen
auf der Kithara, eines besonders anspruchsvollen Instruments, wie auch die
Betätigung in der Baukunst setzen weit mehr voraus als den Erwerb manu-
eller Geschicklichkeit. Vielmehr erfordern sie auch die Vermittlung der Re-
geln der Kunst durch einen Lehrer (vgl. 1103b13). Ein Kitharaspieler musste
nicht nur sein Instrument beherrschen lernen, sondern auch die komplizier-
ten Tonsysteme. Man spielte nicht vom Blatt, sondern improvisierte. Ent-
sprechendes gilt für den Baumeister, der nicht nur manuell geschickt sein,
sondern die Regeln der Architektur kennen muss. Durch bloßes Nachah-
men von Vorbildern kann man sich solche Kunstfertigkeiten nicht aneignen.
Die eigentlichen Unterschiede zwischen technischen und ethischen Fertig-
keiten kommen erst später zur Sprache (3, 1105a26–b5; zur generellen Un-
terscheidung zwischen Herstellen/Produzieren (poiêsis) und Handeln (pra-
xis) vgl. VI 4).
(2.2) 1103b2–6 „Ein Beweis dafür ist auch, was in den Staaten geschieht“:
Eine gute Gesetzgebung bewährt sich dadurch, dass sie die Bürger zu tu-
gendhaftem Verhalten erzieht, indem sie diese an gerechtes und besonnenes
Verhalten gewöhnt, während eine schlechte Gesetzgebung das nicht schafft.
Die wiederholten Hinweise auf die aktive Rolle des Gesetzgebers legen nah,
dass Aristoteles öffentlich anerkannte Standards meint. Diese Tatsache wi-
derspricht der Annahme der ‚Partikularisten‘, dass die Gewöhnung durch
Erziehung in einer bloß impliziten Aneignung von Standards besteht, die
einer Verallgemeinerung weder fähig noch bedürftig sind, sondern in der Fä-
higkeit besteht, sich im Einzelfall intuitiv richtig zu verhalten. Die Annahme
einer bloß gewohnheitsmäßigen Übernahme von implizit bestehenden Stan-
dards wird aber weder durch den Verweis auf das Erlernen von Künsten ge-
stützt noch auf die Aufgabe guter Gesetzgeber. Die Gesetze sind allgemein
formuliert; hinreichende Kenntnisse vonseiten der Bürger werden vorausge-
setzt (III 7, 1113b33–1114a3).
(3) 1103b6–25 „Ferner entsteht jede Tugend aus den gleichen Ursachen und
durch die gleichen Mittel, durch die sie auch zugrunde geht“: Dass gutes
Handeln zur Entwicklung eines guten, schlechtes zu der eines schlechten
Charakters führt, begründet Aristoteles wiederum mit der Analogie zu den
Buch II, Kapitel 1 407
Künsten: Die Qualität des Übens und Ausübens bestimmt, ob jemand ein
guter oder ein schlechter Kitharaspieler bzw. Baumeister wird. Der Ver-
weis auf die Notwendigkeit eines Lehrers (1103b12: tou didaxontos) be-
stätigt hier, dass keine bloßen Gewohnheiten gemeint sind. Denn er macht
deutlich, dass das Erlernen der Baukunst und der Musik mehr erfordert als
das bloße Nachahmen bestimmter Tätigkeiten. Von Nachahmung (mime-
sis) und Nachahmen (mimeisthai) ist in der EN bezeichnenderweise nur
dann die Rede, wenn jemand bloß vorgibt, eine Tugend zu besitzen (III 10,
1115b29–32; IV 8, 1124b2–4). Vielmehr wird sich zeigen, dass die morali-
schen Standards nicht allein durch Routine oder Drill anerzogen werden,
sondern durch Handeln unter Aufsicht und Anleitung. Wenn zuvor der An-
schein entstanden ist, Aristoteles sei an der Belehrung wenig gelegen, so liegt
der Grund darin, dass ein rein theoretisches Verständnis in der Ethik nicht
genügt (vgl. 3, 1105b12–18).
(3.1) 1103b14–20 „Durch das Handeln im Umgang mit anderen Menschen
werden die einen von uns gerecht, die anderen ungerecht“: Durch gutes
Üben eignet man sich die Standards der Gerechtigkeit an, während man sie
durch schlechtes Üben verfehlt. Dass die Einübung auch die Affekte betrifft,
lässt sich der Analogie mit den Künsten zwar nicht entnehmen und wird
auch im Fall der Gerechtigkeit nicht deutlich; bei Tapferkeit, Besonnenheit
und Ausgeglichenheit gilt das Üben jedoch dem Umgang mit Furcht und
Zuversicht, mit Begierde und Zorn.
Wenn Aristoteles hier so spricht, als würden die Tugenden auf die gleiche
Weise verdorben wie erworben, so muss mit dem Verderb zunächst gemeint
sein, dass man sie erst gar nicht erwirbt, wie auch Aspasios anmerkt (41,
17–20). Aristoteles geht aber davon aus, dass man auch gute Dispositionen
wieder verlieren, also verderben kann. Erworbene schlechte Dispositionen
hält er zwar für schwer veränderbar (III 7, 1114a11–31), da er aber Strafen
als Heilmittel bezeichnet (2, 1104b16–18) und auch später Heilbare (iatos)
von Unheilbaren (aniatos) unterscheidet (IV 3, 1121a20–25; b12–15; VII 3,
1146a33 f. et pass.), scheint er grundsätzlich von einer Veränderbarkeit des
Charakters auszugehen, so wie er meint, dass auch Erwachsene sich zeitle-
bens darum zu kümmern haben (X 10, 1180a1–5).
(3.2) 1103b21–22 „Mit einem Wort: die Dispositionen (hexeis) entstehen aus
Tätigkeiten der gleichen Art“: Aristoteles verwendet hexis in sehr unter-
schiedlichen Weisen (s. Bonitz, Ind. Ar. 260b31–261b4). Nicht immer sind
damit erworbene Eigenschaften gemeint. Bei erworbenen Dispositionen
unterscheidet Aristoteles manchmal zwischen hexis als einer Langzeit- und
diathesis als einer Kurzzeit-Disposition (vgl. Cat. 8, 8b26–9a13). In der EN
verwendet er die beiden Ausdrücke aber wie Synonyme.
(3.3) 1103b24 f. „ob man gleich von klein auf (ek neôn) daran gewöhnt
wird“: Auf die Art der Vermittlung durch die Erziehung geht Aristoteles
408 Kommentar
nicht näher ein, so dass Interpreten in diesem Punkt oft eine grundsätzliche
Schwierigkeit sehen. Es dürfte sich aber um einen Prozess von zunehmender
Komplexität handeln, so wie man auch heute Kindern und Jugendlichen, je
nach Alter auf unterschiedliche Weise, die Standards richtigen Handelns und
ihre Begründung vermittelt. Dass die Erziehung auch verbale Instruktion
einschließt, bezeugt neben dem Verweis auf Lob und Tadel besonders der
Verweis in Pol. I 2, 1253a9–18, dass in der Sprache der entscheidende Unter-
schied zwischen Mensch und Tier liegt, weil die Menschen nicht nur gut und
schlecht, gerecht und ungerecht unterscheiden, sondern sich darüber auch
mit Hilfe der Sprache verständigen können.
(1) 1103b26–34: Nicht theoretisches Wissen, sondern der Erwerb der Tu-
gend ist das eigentliche Ziel der Ethik. (2) 1103b34–1104a11: Erklärun-
gen für richtiges Handeln können nur in Umrissen angegeben werden.
(3) 1104a11–b3: Die Tugend besteht in einer Mitte zwischen Zuviel und
Zuwenig, während Mangel und Übermaß sie zerstören. (4) 1104b3–28:
Die mit den Handlungen verbundenen Lust- und Schmerzgefühle sind ein
wichtiges Indiz für Tugenden und Laster. (5) 1104b29–1105a1: Die Guten
und die Schlechten unterscheiden sich auch hinsichtlich der drei allgemei-
nen Handlungsgründe, des Schönen, des Nützlichen und des Lustvollen.
(6) 1105a1–16: Da die Lebensweisen entscheidend von der Einstellung zu
Lust und Schmerz geprägt sind, sind diese wesentliche formative, erhaltende
oder zerstörende Faktoren.
(3) 1104a11–b3 „Als erstes muss man bedenken, dass derartige Dispositio-
nen ihrer Natur nach durch Mangel (endeia) und Übermaß (hyperbolê) zer-
stört werden“: Wie oben angemerkt, muss mit Zerstörung gemeint sein, dass
die Disposition sich gar nicht erst richtig entwickelt (so auch Taylor 2006,
73). Dass sich Aristoteles darüber bei der Einführung seiner Theorie von der
Tugend als einer Mitte zwischen Zuviel und Zuwenig hinwegsetzt, dürfte
412 Kommentar
(3.2) 1104a27–b3 „Aber nicht nur sind die Vorbedingungen und Ursachen
von Entstehen, Wachsen und Vergehen der Tugenden dieselben, auch ihre
Betätigungen (energeiai) werden auf ebendiesen beruhen“: Aristoteles be-
tont hier, dass bei den Charaktertugenden nicht nur die affektiven Kompo-
nenten wie Furcht und Lust relevant sind, sondern auch das betreffende Tä-
tigsein, d.h. wie man mit dem Furchtbaren und der Lust umgeht.
(3.3) 1104a26 f. „durch die Mitte aber erhalten“: Die Bezeichnung für die
Mitte schwankt zwischen dem Nomen (mesotês), der mittleren Disposition
zwischen zwei Extremen, und dem adjektivischen Abstraktum ‚das Mitt-
lere‘ (to meson), das sich auf Handlungen und Affekte bezieht. Nicht ge-
meint ist jedenfalls das Mittelmaß oder goldene Mittelmäßigkeit. Die Mög-
lichkeit eines Mittleren zwischen zwei Übeln wird bereits in Cat. 11, 14a2–6
erwähnt, auch mit Verweis auf die Möglichkeit einer Mitte zwischen Mangel
und Übermaß.
Die Unterscheidung von Mitte, Übermaß und Mangel besagt zunächst
nicht mehr, als dass man des Guten zu viel wie auch zu wenig tun, haben
oder auch erleiden kann. Aus diesem Gemeinplatz wird erst durch die sys-
tematische Anwendung auf moralisches Handeln, auf die betreffenden Af-
fekte und die ihnen zugrunde liegenden Dispositionen, eine originelle und
interessante Theorie. Denn mit der systematischen triadischen Anordnung
der Charaktertugenden und Laster als mittlere, übermäßige und mangel-
hafte Dispositionen führt Aristoteles etwas ganz Neues ein.
(4) 1104b3–28 „Als Anzeichen (sêmeion) für die jeweilige Disposition muss
man aber die bei den Tätigkeiten auftretenden Lust- und Schmerzgefühle
werten“: Hier geht es nicht um Lust und Schmerz als Gegenstände der
Handlungen, wie körperliche Lust im Fall der Besonnenheit und Furcht als
eine Art Schmerz im Fall der Tapferkeit, sondern um die mit dem Handeln
selbst verbundenen Lust- und Schmerz- bzw. Unlustgefühle, die Aristoteles
bereits zuvor als integrale Bestandteile des richtigen Handelns bezeichnet
hat (I 9, 1099a7–21) und hier wie eine Art von Lackmus-Test für Tugend und
Schlechtigkeit behandelt. Dazu sei hervorgehoben, dass Lust (hêdonê) und
Schmerz (lypê) als generische Namen für jede Art von angenehmer oder un-
angenehmer Empfindung, Einstellung oder Erfahrung dienen. Sie umfassen
daher ein großes Spektrum zwischen sehr schwachen und höchst intensiven
Empfindungen: Lust umfasst den Bereich von stillem Wohlgefallen bis zu
orgiastischen Freuden, Schmerz den von geringem Unbehagen bis zu größ-
ter Abneigung oder körperlicher Qual. Im Deutschen passen die Überset-
zungen von hêdonê und lypê mit ‚Lust‘ und ‚Schmerz‘ besser zu den Affek-
ten, ‚Freude‘ und ‚Unlust‘ besser zu den Handlungen. Da der Text aber oft
beides verbindet, lässt sich eine solche Trennung nicht konsequent durch-
führen.
414 Kommentar
644b). Während Platon aber der musischen Erziehung durch Gesang und
Tanz die entscheidende Rolle zuweist, verlegt sich Aristoteles auf die Ein-
übung durch richtiges Handeln.
(4.3) 1104b13–18 „Wenn die Tugenden sich auf Handlungen (praxeis) und
Affekte (pathê) beziehen, mit jedem Affekt und mit jeder Handlung Lust
und Schmerz einhergeht, dann bezieht sich auch aus diesem Grund die Tu-
gend auf Lust und Schmerz“: Während bisher die Handlungen im Zentrum
gestanden haben, stellt Aristoteles ihnen hier die Affekte wie gleichberech-
tigte Komplementärbegriffe zur Seite. Zur Übersetzung von pathos durch
das altmodischere ‚Affekt‘ statt durch das heute übliche ‚Emotion‘ sei an-
gemerkt, dass letztere Übersetzung die Herkunft von paschein (‚leiden‘, ‚er-
fahren‘) und damit die weitere Bedeutung von pathos im generischen Sinn
verdeckt (vgl. Bonitz, Ind. Ar. s.v. pathêma, 554a–555b; pathos, 555b–557b).
Das Nomen emotio ist weder im klassischen noch im späteren und mit-
telalterlichen Latein verwendet worden, auch das Verb emovere ist selten.
‚Emotion‘ hat erst in der Neuzeit Verbreitung gefunden; es bedeutet eigent-
lich ‚Bewegung‘, ‚Erregung‘, eine Verwendung, die sich etwa bei Descartes
findet, wenn er die ‚passions‘ als ‚émotions‘ kennzeichnet (Les Passions de
l’âme, Paris 1649, Artikel 27–28). Auf die weitere Geschichte des Begriffs
Emotion ist hier nicht einzugehen (vgl. Landweer/Renz 2008; Harbsmeier/
Möckel 2009; de Sousa 2014).
Pathê sind für Aristoteles grundsätzlich etwas, das einem Gegenstand
geschieht, nichts, was er tut (vgl. Met. Δ 22). In dem hier vorausgesetzten
Sinn werden die Affekte durch den Eindruck bestimmt, den ein Mensch von
einer bestimmten Situation hat. Dieser Eindruck kann, muss aber nicht, auf
einem expliziten Urteil beruhen, kann aber auch spontan aus dem unmit-
telbaren Eindruck resultieren – so kann Zorn unmittelbar durch eine belei-
digende Handlung, wie etwa einen Schlag ins Gesicht, aber auch durch die
Schilderung einer Herabsetzung hervorgerufen werden. Unterschiede dieser
Art dürften erklären, warum Aristoteles zwar verschiedentlich auf die Af-
fekte eingeht, eine allgemeine Affektenlehre auf der Basis einer einheitlichen
Definition aber weder in seiner Ethik noch in seiner Psychologie herausar-
beitet. Seine eingehende Behandlung der Affekte in Rhetorik II 1–13 liefert
zwar wichtige Informationen, sie verzichtet aber gleichfalls auf eine einheit-
liche Definition und kennzeichnet die einzelnen Affekte auf unterschiedli-
che Weise (zur allgemeinen Bedeutung von pathos und zur Besonderheit der
Affekte vgl. Fortenbaugh 22002; Rapp 2002, II 541–543; zur Forschungslage
und Literatur auch Krewet 2011). Wie sich hier andeutet und im Folgenden
bestätigen wird, sind Affekte nicht nur lustvolle oder unlustvolle Reaktio-
nen auf äußere Eindrücke, sondern sind mit einem Begehren des Suchens
oder Meidens verbunden. Da dieses Begehren das Handeln mitbestimmt,
sieht Aristoteles anscheinend kein Problem darin, pathê und praxeis in ei-
416 Kommentar
(5) 1104b29–1105a1 „Auch aus Folgendem dürfte deutlich werden, dass Tu-
gend und Schlechtigkeit mit den gleichen Dingen befasst sind“: In diesem
Abschnitt nimmt Aristoteles Bezug auf die Motivation von Handlungswei-
sen durch das Schöne, das Nützliche und das Lustvolle, wie auch auf die
Vermeidung ihrer Gegenstücke, des Hässlichen, Schädlichen und Schmerz-
vollen (vgl. dazu Platon, Gorg. 474d–475e). Dass bei der Tugend alle drei
Faktoren zusammentreffen, ist bereits in I 9, 1099a7–29 hervorgehoben
worden, und auf diesen Katalog von Zielen rekurriert Aristoteles auch an
anderer Stelle. Mit ‚schön‘ und ‚hässlich‘ sind moralisch Gutes und Schlech-
tes gemeint. Zwar verwendet Aristoteles ‚schön‘ und ‚gut‘ und ihre negati-
ven Gegenstücke oft wie Synonyme, ‚gut‘ ist aber der weitere Begriff, und
‚schön‘ hat immer eine gewisse Emphase und gilt dem Ziel des Handelns,
das um seiner selbst willen gewählt wird, also weder des Nutzens noch der
Lust wegen. Der Gute unterscheidet sich vom Schlechten darin, dass er in
allen Stücken das Richtige trifft. Der Schlechte wird vornehmlich durch die
Art von Lust bestimmt, die wir mit den Tieren teilen. Als Gegenstand ele-
mentarer Begierden ist diese Lust eine besonders gravierende Fehlerquelle.
(6) 1105a1–16 „Ferner: Wir alle sind von klein auf mit der Lust aufgewach-
sen“: Die Gründe für den besonderen Einfluss von Lust und Schmerz wer-
den noch einmal zusammengefasst. Wenn der Lust eine ‚dem Leben ein-
gefärbte Verfassung‘ (pathos enkechrôsmenon) zugeschrieben wird, die sich
nur schwer wieder abreiben (apotripsasthai) lässt, so ist damit kein bestimm-
ter Affekt gemeint, sondern die Empfänglichkeit für bestimmte Arten von
Lust überhaupt (vgl. dazu Platons Vorstellung von der Tapferkeit als einer
‚in die Wolle gefärbte‘ seelische Disposition, Resp. IV 429d–e).
418 Kommentar
(1) 1105a17–26 „Jemand könnte aber fragen, wie wir das meinen, dass man
Gerechtes tun muss, um gerecht zu werden“: Hier wird klargestellt, was es
heißt, die Tugenden zu erwerben, indem man sie gebraucht (1, 1103a31–b6).
Es erinnert entfernt an das Paradoxon in Platons Menon (80d–e), wie man
suchen kann, was man nicht kennt. Hier besteht das scheinbare Paradoxon
in Folgendem: Um Gerechtes zu tun, müsste man bereits gerecht sein, so
wie man auch zum Lesen, Schreiben oder Musizieren bereits die entspre-
chenden Fertigkeiten besitzen muss.
(1.1) 1105a20 f. „wenn man sich im Schreiben (ta grammatika) und in der
Musik (ta mousika) betätigt“. Von grammatikê ist zwar ‚Grammatik‘ abge-
leitet, eine solche Disziplin gab es aber in der klassischen Zeit noch nicht.
Der Ausdruck bezeichnet vielmehr die Fähigkeit des Lesens und Schreibens
(hier auf das Schreiben verkürzt). Unter mousikê verstand man zwar oftmals
sämtliche Musenkünste, besonders die Dichtung. Zur Allgemeinbildung
gehörte aber vor allem die Fähigkeit, Lieder zur Lyra oder Kithara vorzu-
tragen, so dass der Schulunterricht auch die Vermittlung der komplizier-
ten griechischen Tonartensysteme einschloss. Die Analogie zu den Künsten
führt zu einer vorläufigen Lösung des Paradoxons: Es ist zwischen einer
der Kunst bloß gemäßen und einer kunstgerechten Ausführung zu unter-
scheiden. Erstere kann auch zufällig oder unter der Anleitung eines Anderen
richtig sein, während die kunstgerechte Ausführung den Vollbesitz der Fä-
higkeit voraussetzt. Da es für die Künste Lehrer gibt, wie etwa den Musik-
lehrer und den Lehrer im Lesen und Schreiben, liegt es auf der Hand, dass
sich der Schüler die Kompetenz unter entsprechender Anleitung aneignet
(zur moralischen Erziehung und Entwicklung vgl. Burnyeat 1980; Sherman
1989, Kap. 2).
Platon behandelt Musik und Schreibkunst verschiedentlich als die para-
digmatischen Künste zur Illustration fachgerechten Vorgehens. Im Theaite-
tos trifft er auch die hier relevante Unterscheidung zwischen dem bloß zu-
fällig richtigen und dem fachgerechten Umgang mit den Buchstaben (207b).
Dieser setzt den Vollbesitz der Disziplin voraus. Die Analogie zu den Küns-
ten ist für das Tugendwissen insofern aufschlussreich, als sie bestätigt, dass
Aristoteles in ihm eine fachgerechte Kompetenz sieht. Es fragt sich aller-
dings, wie umfassend diese Kompetenz das gute Leben betreffend sein muss,
d.h. ob der Tugendhafte über einen Lebensplan verfügen muss, wie manche
Interpreten annehmen. Die Analogie zu den Künsten legt folgendes nah: Ein
Kitharaspieler beherrscht zwar sein Instrument und die verschiedenen Ton-
420 Kommentar
systeme; was er im Einzelnen daraus machen wird, ist aber nicht von vorn-
herein festgelegt. Entsprechend hat der Tugendhafte zwar klare Vorstellun-
gen vom menschlichen Guten im Allgemeinen und allem, was dazu gehört,
die ihm erlauben, im Einzelfall die richtige Entscheidung zu fällen. Sowohl
die Ziele wie auch die Wahl der Mittel hängen aber von den jeweiligen Le-
benssituationen ab, die sich nur begrenzt voraussehen oder planen lassen.
Ein Rekurs auf das eigene Leben als Ganzes ist auch nur bei Entscheidungen
von besonderer Bedeutung erforderlich und möglich.
(2) 1105a26–b12 „Zudem sind die Verhältnisse bei den Künsten und bei
den Tugenden aber nicht gleich“: Die gern verwendete Parallele zwischen
Kunstfertigkeiten und Tugenden wird hier in einer wichtigen Hinsicht mo-
difiziert: Bei einem Artefakt kommt es nur auf die ihm inhärenten Qualitä-
ten an und auf die Frage, ob sie sich dem Wissen des Herstellers und nicht
dem Zufall verdankt. Die Absicht des Herstellers spielt keine Rolle. Bei ei-
ner tugendhaften Handlung müssen dagegen drei Bedingungen erfüllt sein.
Der Handelnde muss (i) wissentlich (eidôs), (ii) absichtlich (proairoumenos),
(iii) aus einer festen Disposition heraus (bebaiôs, ametakinêtôs) gehandelt
haben. Aristoteles verwendet prohairesis oft in diesem weiten Sinn von ‚Ab-
sicht‘ oder ‚Vorsatz‘ und nicht in dem erst in III 4 entwickelten Sinn von
‚Entscheidung‘ (anders B/R, 300).
(2.1) 1105a33–b2 „Diese anderen Bedingungen spielen sonst für den Be-
sitz der Künste (tas allas technas) keine Rolle“: Hier wird, ähnlich wie in
1, 1103a32 und 2, 1103b34, eine Attraktion von allôs zum Nomen vorausge-
setzt, denn den Tugenden werden nicht ‚andere Künste‘ gegenübergestellt,
sondern Besonderheiten, was ihren Besitz angeht.
(2.2) 1105b5–12 „Handlungen (pragmata) werden also gerecht und beson-
nen genannt, wenn sie von der Art sind, wie sie der Besonnene oder der
Gerechte tun würde“: Damit ist das Paradoxon gelöst, wie man tugendhaft
handeln kann, ohne bereits selbst tugendhaft zu sein. Es reicht nicht aus,
etwas zu tun, was de facto gerecht oder besonnen ist. Vielmehr muss man
die Handlungen wissentlich und absichtlich ausführen, d.h. qua gerecht und
besonnen. Nur solche Handlungen können überhaupt zum Besitz der Tu-
gend führen.
(3) 1105b12–18 „Die Meisten tun das aber nicht, sondern suchen Zuflucht
bei der Theorie“: Da sich Aristoteles hier auf Gebildete bezieht, muss die
Mehrzahl derjenigen gemeint sein, die sich für Philosophie interessieren,
insbesondere aber bestimmte Sokratiker, die die Tugend für Wissen halten.
(3.1) 1105b12 „Zuflucht bei der Theorie (epi ton logon katapheugontes)“:
Aristoteles mag hier zwar eine literarische Anspielung auf Sokrates’ Zu-
flucht zu ‚den logoi‘ im Phaidon (99e: eis tous logous kataphygonta; vgl. auch
Buch II, Kapitel 4 421
Phd. 76e) beabsichtigen, dass er auch Platon zu dieser Mehrheit rechnet, ist
aber unwahrscheinlich. Denn Platon schreibt zwar dem Wissen eine zentrale
Rolle zu, ist sich aber auch der Bedeutung einer Gewöhnung von klein auf
bewusst (Gorg. 510d; Resp. V 469b et pass.). Dies gilt insbesondere für die
Nomoi, wo Gesetze für die Gewöhnung im Umgang mit Lust und Schmerz
sorgen sollen (Leg. II 659d et pass.). Das Bild vom Kranken ohne Aussicht
auf Besserung passt aber nicht zu Platon, sondern vielmehr zu jungen Leu-
ten der Oberschicht, die sich gern als Philosophen gerieren, jedoch nicht
entsprechend handeln.
(1) 1105b19–28 „Als nächstes müssen wir untersuchen, was die Tugend
ist“: Wenn Aristoteles’ frühere Versicherung, es gehe der Ethik nicht um
das Wissen, was die Tugend ist, sondern um das Gutwerden (2, 1103b27 f.),
den Eindruck erweckt hat, Definitionen seien verzichtbar, so belehrt er seine
Hörer/Leser hier eines Besseren. Denn in diesem Kapitel wird das Genus,
im nächsten Kapitel die differentia specifica der Charaktertugend bestimmt.
Definitionen sind überall unverzichtbar, wo es um Grundbegriffe und Prin-
zipien geht.
(1.1) 1105b19–21 „Da nun drei Dinge in der Seele vorkommen: Affekte
(pathê), Fähigkeiten (dynameis) und Dispositionen (hexeis), dürfte die Tu-
gend eine von diesen sein“: Die gewählte Vorgehensweise, die Charaktertu-
gend durch ein Ausscheidungsverfahren zu bestimmen, das zunächst drei
422 Kommentar
Arten von Anlagen in der Seele vorstellt, dann zwei davon für nicht zutref-
fend erklärt und die dritte als die gesuchte präsentiert, erinnert an Platons
Bestimmung der Gerechtigkeit (Resp. IV 427e–433c: Hat man von vier Tu-
genden drei bestimmt, so muss die verbleibende die gesuchte sein). Eine Be-
gründung dafür, dass nur diese drei Anlagen für die Tugend relevant sind,
liefert Aristoteles nicht. Er setzt einfach voraus, dass nur die Affekte und
nur die sie betreffenden Kapazitäten in Frage kommen, d.h. die Fähigkeit,
Affekte zu empfinden und entsprechend disponiert zu sein.
Angesichts der bisherigen Betonung der engen Verbindung zwischen
Tugend und Handeln erscheint es zunächst merkwürdig, dass die Gattung
der Tugend nicht mit Bezug auf das Handeln bestimmt wird, sondern aus-
schließlich auf die Affekte. Denn die Tugend ist bisher in erster Linie als
Disposition (hexis) zum Handeln gekennzeichnet worden, so dass man dies
auch für die Bestimmung ihrer Gattung erwarten würde (I 13, 1103a9; II 1,
1103b22 f.; 2, 1103b31; 1104b4; 19). Für die Hinwendung zu den Affek-
ten gibt es aber einen guten Grund, den Aristoteles allerdings nicht explizit
macht: In ihrer natürlichen Form sind Affekte (pathê) Reaktionen des nicht-
rationalen Seelenteils und sind damit eben das nicht-rationale Element, das
der Kontrolle der Vernunft untersteht, wie in I 13 vorgesehen. Sie sind zu-
dem keine bloß passiven Eindrücke, wie der Name suggerieren könnte, son-
dern enthalten jeweils ein bestimmtes Begehren positiver oder negativer Art,
etwas zu suchen oder zu meiden, d.h. etwas zu tun oder abzuwehren.
(1.2) 1105b21–23 „Als Affekte (pathê) bezeichnen wir Begierde (epithy-
mia), Zorn (orgê), Furcht (phobos), Zuversicht (tharsos), Missgunst (phtho-
nos), Fröhlichkeit (chara), Liebe (philia), Hass (misos), Sehnsucht (pothos),
Wetteifer (zêlos), Mitleid (eleos) und überhaupt alles, mit dem Lust (hêdonê)
oder Schmerz (lypê) einhergeht (hepetai)“: Für diese Aufzählung wird keine
Vollständigkeit beansprucht, wie der Zusatz „und überhaupt alles“ andeu-
tet. Ähnliche Listen, zumeist kürzere, finden sich auch in anderen Schriften.
Von einem Kanon ist aber nicht zu sprechen, wie die Lockerheit der Reihen-
folge und die Unterschiedlichkeit der Auswahl schließen lassen (vgl. EE II 2,
1220b12–14; De an. I 1, 403a16–18; Rhet. II 1, 1378a19–22).
(1.2.1) 1105b23 „und überhaupt alles, mit dem Lust oder Schmerz einher-
geht (hepetai)“: Das Verhältnis der Affekte zu Lust und Schmerz ist nicht
leicht zu bestimmen. Das Verb hepesthai kann einerseits die zeitliche oder
kausale Folge bezeichnen, andererseits auch eine enge interne Verbindung.
Da Aristoteles die Affekte in der Rhetorik mit der gleichen Formel einführt,
anschließend aber viele der Affekte selbst als Schmerz/Verstörung oder Lust
bezeichnet, kann keine Folge im rein zeitlichen oder kausalen Sinn gemeint
sein (Rhet. II 1, 1378a20–22: „Pathê sind dasjenige, aufgrund dessen Men-
schen sich so verändern, dass es ihr Urteil beeinflusst, und sie sind mit Lust
und Schmerz verbunden“). Wenn Aristoteles es vermeidet, die Affekte kur-
Buch II, Kapitel 4 423
zerhand als Arten von Lust oder Schmerz oder als eine Kombination aus
beidem zu präsentieren, so dürfte das auch auf der komplexen Natur der Af-
fekte beruhen: in ihnen verbindet sich eine als positiv oder negativ erfahrene
Einwirkung mit dem Begehren nach Erfüllung oder Vermeidung.
Während diese Aufzählung nahelegt, dass alle Affekte von gleicher Art
sind, finden sich später Unterschiede. So werden in III 3, 1111a33–b3 Zorn/
Wut und Begierde als nicht-rational bezeichnet (aloga pathê), was nahelegt,
dass alle übrigen Affekte rational sind. Diese Annahme widerspricht aber
der Annahme, dass alle Charaktertugenden zum nicht-rationalen Teil der
Seele gehören, weil sie auf verschiedenen Formen des Begehrens beruhen,
die der Vernunft gehorchen. Wenn Aristoteles die Einheitlichkeit der Cha-
raktertugenden nicht aufgeben will, muss das grundsätzlich für alle Affekte
gelten.
(1.3) 1105b23–25 „Als Fähigkeit (dynamis) bezeichnen wir aber dasjenige,
aufgrund dessen wir für Affekte empfänglich (pathêtikoi) genannt werden“:
‚Fähigkeit‘ bezieht sich hier nur auf die zur Empfindung von Affekten, also
nur auf eine Unterklasse dessen, was Aristoteles sonst unter dynamis ver-
steht, wie etwa in seiner Unterscheidung angeborener und erworbener Fä-
higkeiten am Anfang dieses Buchs (1, 1103a26–b6).
(1.4) 1105b25–26 „Als Disposition (hexis) bezeichnen wir wiederum das-
jenige, aufgrund dessen wir uns den Affekten gegenüber gut oder schlecht
verhalten“: Auch die Dispositionen, die sonst sämtliche Arten von Langzeit-
Besitz oder Haltungen umfassen (vgl. I 9, 1098b33–1099a7; II 1, 1103b21–
23; 2, 1103b30–34; 1104b3–13), werden auf die Einstellungen den Affekten
gegenüber beschränkt, die gut oder schlecht sein können. Wie das Beispiel
des Zorns zeigt, kann man dazu disponiert sein, zu viel, zu wenig oder auf
mittlere Weise zornig zu werden. Auf die jeweils erforderliche Konditionie-
rung und ihre Standards geht Aristoteles später in der Beschreibung der ein-
zelnen Tugenden und Schlechtigkeiten ein.
(2) 1105b28–1106a6 „Affekte sind nun aber weder die Tugenden noch die
Schlechtigkeiten“: Als Ausscheidungskriterium dient die Tatsache, dass
Menschen nicht der Affekte, sondern nur der Tugend und des Lasters we-
gen gut oder schlecht genannt, gelobt oder getadelt werden. Wenn Aristote-
les sich auf die Sprachpraxis beruft, so offensichtlich, weil wir über die nö-
tigen Differenzierungen zumindest implizit immer schon verfügen: Wären
Affekte als solche moralisch zu bewerten, würde man sie auch entsprechend
beurteilen. Die Affekte sind aber natürliche Widerfahrnisse der Seele. Wel-
che Unterschiede zwischen ihnen bestehen, ergibt sich aus den Analysen der
Tugenden.
(2.1) 1106a2 f. „Ferner geraten wir unabsichtlich (aprohairetôs) in Zorn oder
Furcht“: Nachdem er eine Bedingung der Tugend aufgezeigt hat, die durch
424 Kommentar
die Affekte nicht erfüllt wird, verweist Aristoteles auf zwei weitere Merk-
male der Affekte, die zu den Tugenden nicht passen. Das eine Merkmal be-
steht darin, dass Affekte unabsichtlich, d.h. spontan, erfahren werden, wäh-
rend zur Tugend die Absicht gehört (vgl. 3, 1105a31 f.). Eine Vorwegnahme
von Aristoteles’ eigener, enger gefassten Bestimmung von prohairesis als
Entscheidung oder Entschluss (III 4–6) ist hier nicht anzunehmen, denn von
Überlegung oder Beratung kann bei Affekten noch viel weniger die Rede
sein als von Absicht. Denn wer absichtlich zornig, traurig usw. ist, d.h. sich
aktiv so gibt, der ist es nicht wirklich, sondern gibt nur vor, es zu sein. Auch
das weitere Merkmal, das die Affekte von den Tugenden unterscheidet, das
Bewegtwerden der Seele (kineisthai), bestätigt, dass Affekte, wie ihr Name
sagt, passive Einwirkungen auf die Seele sind. Auch dieses Kriterium recht-
fertigt Aristoteles mit Verweis auf den allgemeinen Sprachgebrauch: Wäh-
rend man sagt, man werde durch die Affekte bewegt, sagt man das nicht
von Tugenden und Lastern. Von letzteren sagt man lediglich, man sei in be-
stimmter Weise disponiert (diakeisthai pôs). Die Berufung auf den Sprachge-
braucht ist zu unterscheiden von der Berufung auf herrschende Meinungen
und rechtfertigt es daher auch nicht, Aristoteles eine Ethik des Common
Sense zu unterstellen. Während herrschende Meinungen wahr oder falsch
sein können, behandelt Aristoteles den Sprachgebrauch als ein untrügliches
Kriterium. ‚Niemand spricht so‘, heißt: Es ist nicht so.
(3) 1106a6–10 „Aus diesem Grund sind die Tugenden auch keine Fähigkei-
ten (dynameis)“: Zur Rechtfertigung, dass die Tugenden keine (bloßen) Fä-
higkeiten sind, wird auf die Tatsache verwiesen, dass Menschen nicht auf-
grund der bloßen Fähigkeit, affiziert zu werden, gut oder schlecht genannt,
gelobt oder getadelt werden. Fähigkeiten hat man von Natur aus, dagegen ist
man nicht von Natur aus gut oder schlecht. Die Tugenden gibt es also nicht
von Natur aus, sondern sie müssen erworben werden (vgl. 1, 1103a23–26).
An diesem Unterscheidungskriterium ist an sich nichts auszusetzen. Dass
die Tugend keine dynamis ist, gilt aber nur, weil Aristoteles Fähigkeiten hier
auf natürliche Fähigkeiten, affiziert zu werden, beschränkt. Da es auch er-
worbene Fähigkeiten gibt, wird nur ausgeschlossen, dass die Tugend eine
naturgegebene Fähigkeit ist, Affekte zu erleiden (zu natürlichen Tugenden
von Geburt an vgl. VI 13, 1144b3–17).
(4) 1106a10–13 „Wenn die Tugenden nun weder Affekte noch Fähigkeiten
sind, dann bleibt nur übrig, dass sie Dispositionen (hexis) sind“: Das Er-
gebnis dieses Ausschlussverfahrens zur Bestimmung der Gattung (genos)
der Tugend stellt der Sache nach keine Überraschung dar. Dass die Tugen-
den eine Art von hexis sind oder auf hexeis beruhen, hat Aristoteles sei-
ner Konzeption des Tugenderwerbs durch die Gewöhnung von vornherein
Buch II, Kapitel 4 425
(1) 1106a14–26: Zur weiteren Erklärung wird auf den Begriff der Funktion
zurückgegriffen. (2) 1106a24–b7: Zur Bestimmung der Mitte wird zwischen
dem arithmetischen ‚Mittleren der Sache nach‘ und dem proportionalen
‚Mittleren in Bezug auf uns‘ unterschieden. (3) 1106b8–28: Die Charaktertu-
gend ist eine Mitte zwischen Übermaß und Mangel bei Affekten und Hand-
lungen. (4) 1106b28–35: Der richtigen Mitte stehen unbegrenzt viele Weisen
des Verfehlens gegenüber.
(1) 1106a14–26 „Man soll aber nicht einfach nur sagen, dass die Tugend eine
Disposition (hexis) ist, sondern auch angeben, von welcher Art (poia) sie
ist“: Anders als die Festlegung der Gattung der Charaktertugend auf die
428 Kommentar
(2.2) 1106b5–7 „In dieser Weise meidet nun jeder Kundige sowohl das Über-
maß wie auch den Mangel“: Obwohl an dieser Stelle nur quantitative Un-
terschiede berücksichtigt werden, ist daraus nicht zu schließen, dass Aristo-
teles ein quantitatives Modell im Sinn hat. Zwar erwähnt er nur die Menge
an Nahrung und vermeidet damit eine Diskussion der übrigen Parameter,
etwa die Zusammensetzung des Essens und sonstige Reglements wie Zeit-
punkt, Dauer, Gelegenheit usw. Angesichts seiner Vorliebe für den Vergleich
der guten charakterlichen Verfassung mit der Gesundheit und der Aufgabe
des Staatsmannes mit der des Arztes oder Trainers ist aber auszuschließen,
dass Übermaß und Mangel nur dem Quantum der Nahrung gelten. Zwar
stützt die Tatsache, dass der Quantifizierung überhaupt so viel Raum ge-
geben wird, prima facie eine quantitative Interpretation von Mitte, Mangel
und Übermaß; wie sich im Folgenden zeigt, können sie aber nur in einem
metaphorischen Sinn gemeint sein.
(3) 1106b8–28 „Wenn aber jede Disziplin (epistemê) ihre Funktion in der
Weise gut erfüllt, dass sie auf das Mittlere schaut“: Da hier die Konsequen-
zen aus der Mittentheorie für jede Kennerschaft gezogen werden, muss sich
herausstellen, wie die Rede vom ‚Mittleren‘ gemeint ist. Zunächst spricht
alles für eine quantitative Deutung, wie der Verweis auf Kunstwerke na-
helegt, für die sich Aristoteles auf die Redewendung beruft, einem gelun-
genen Werk sei nichts hinzuzufügen und nichts wegzunehmen. Nun will
Aristoteles dies auch für Kunstwerke sicher nicht in einem wörtlichen Sinn
behaupten. Die Rede von einem Zuviel und Zuwenig in einem quantitati-
ven Sinn kann zwar für einzelne quantifizierbare Aspekte eines Kunstwerks
zutreffen, ihm als Ganzen aber nur in einem übertragenen Sinn gelten, zu-
mal wenn es nicht um Statuen, sondern um Dichtung und Musik geht. Das
dürfte Aristoteles nicht entgangen sein.
(3.1) 1106b16–21 „Ich spreche aber von der Charaktertugend (êthikê)“: Da
Aristoteles sich hier vorzüglich auf die Affekte bezieht, auf das Zuviel, Zu-
wenig und ein Mittleres an Furcht, Zuversicht, Begierde usw., liegt hier in
der Tat nahe, ihm eine quantitative Deutung zu unterstellen. Denn bei den
Affekten ist es zunächst nicht schwer, ein Kontinuum mit Mitte, Übermaß
und Mangel in einem wörtlichen Sinn anzunehmen, wie etwa an Zorn, Be-
gierde oder Furcht. Darauf berufen sich die Vertreter einer quantitativen
Interpretation (vgl. Urmson 1980 und die Kritik daran bei Hursthouse
1980/81; 2006). Die Übertragung auf Handlungen erscheint dann kein gro-
ßer Schritt: man tut entweder zuviel, zuwenig oder gerade genug des Guten.
(3.2) 1106b21–28 „Sie aber zu empfinden wann man soll (hote dei), worüber
(eph’ hois), wem gegenüber (pros hous), weswegen (hou heneka) und wie man
es soll (hôs dei), ist das Mittlere und das Beste“: Diese ‚Parameter des Sollens‘
sprechen eindeutig gegen eine Quantifizierung auch nur der Affekte. Denn
430 Kommentar
sie betreffen die einzelnen Umstände und nicht etwa Dauer, Häufigkeit oder
Intensität. Weder der richtige Zeitpunkt noch der Anlass noch die Personen
noch der Zweck noch die Art und Weise lassen eine Quantifizierung zu, und
es ist schwer zu glauben, dass Aristoteles das übersehen haben soll. Nicht
nur hat er die Parameter schon früher in Anschlag gebracht (2, 1104b18–26
in Bezug auf Lust und Schmerz), sondern er bezieht sie auch später in die
Erläuterungen der einzelnen Tugenden und Laster ein. Die mathematische
Genauigkeit soll offensichtlich nur veranschaulichen, dass der Tugendhafte
es in all den aufgezählten Hinsichten des Sollens genau richtig macht, wäh-
rend der Schlechte sie verfehlt. Was das Zuviel und Zuwenig angeht, so muss
damit gemeint sein, dass Handlungen und Affekte dem von dem Bereich der
Tugend geforderte Maß nicht genügen. Schießt der Tollkühne in jeder Hin-
sicht über das Ziel hinaus, so bleibt der Feige dahinter zurück.
Wenn Aristoteles aber in Wahrheit keine Quantifizierung im Sinn hat,
warum führt er dann das mathematische Modell ein, das von einem teilba-
ren Kontinuum ausgeht, wie es die Unterscheidung zwischen arithmetischer
und geometrischer Mitte voraussetzt? Die Tatsache, dass die Parallelstelle
in EE II 3, 1220b21–28 Disziplinen wie Gymnastik, Medizin, Navigation
ganz generell als teilbare Kontinua bezeichnet, weil jede Bewegung (kinêsis)
kontinuierlich und jede Handlung (praxis) eine Bewegung ist, spricht dafür,
dass er diese Darstellung von vornherein cum grano salis verstehen will. Die
einzige Tugend, zu deren Erläuterung Aristoteles später auf mathematische
Verhältnisse rekurrieren wird, ist die Gerechtigkeit; dort geht es aber nur um
die Verteilung und um die Restitution von Gütern (V 6–8).
(3.2.1) 1106b26 „ist das Übermaß wie auch der Mangel verfehlt und wird
getadelt (psegetai)“: Bywaters Athetese von ‚wird getadelt‘ glättet zwar den
Text; da aber von der Mitte gesagt wird, sie werde gelobt und treffe das
Richtige, wird mit der Glättung die chiastische Konstruktion zerstört.
(3.2.2) 1106b27 f. „Die Tugend ist also eine Art Mitte (mesotês tis), insofern
sie auf das Mittlere abzielt (stochastikê ge ousa)“: Mit ‚eine Art‘ ist angezeigt,
dass der Begriff der Mitte noch der Erläuterung bedarf; die Einschränkung
(‚insofern‘) soll andeuten, dass nur die Absicht, das Richtige zu treffen, es
erlaubt, von einer Mitte zu sprechen. Es ist jedenfalls nicht gemeint, dass der
moralisch gut Erzogene sich stets in einem mittleren Gefühlszustand befin-
det, also stets ein modicum an Furcht, Lust, Zorn etc. mit sich herumträgt.
Vielmehr geht es nur um die Fähigkeit, in jeder Lage in gebotener Weise af-
fektiv zu reagieren und zu handeln.
(4) 1106b28–35 „Ferner kann man auf vielerlei Weisen fehlgehen“: Auf die
Unmöglichkeit, sämtliche Formen der Schlechtigkeit durchzugehen, weil
sie im Prinzip unbegrenzt sind, während es nur ein richtiges Ziel gibt, ver-
weist bereits Platon (Resp. IV 445c–d). Da die Typen von Schlechtigkeiten
Buch II, Kapitel 6 431
begrenzt sind, scheint sich Aristoteles am Bild vom Bogenschützen und der
Zielscheibe zu orientieren, der das Ziel in jeder Richtung verfehlen kann
(vgl. I 1, 1094a22–24).
(4.1) 1106b29 f. „denn das Schlechte gehört zum Unbegrenzten (apeiron),
wie es die Pythagoreer darzustellen pflegten“: Gemeint ist das pythago-
reische Einteilungsschema (systasis) mit seiner Zuordnung von Gutem je-
der Art zu Begrenztem und Schlechtem zu Unbegrenztem, das Aristoteles
auch in der Kritik an Platons Idee des Guten erwähnt (I 4, 1096b5–7) und in
Met. A 5, 986a14–b2 in schematischer Form näher erläutert (vgl. dazu Scho-
field 2012).
(4.2) 1106b35 „Edel sind Menschen nur auf eine, schlecht aber auf jede
Weise“: Der Dichter dieses Pentameters ist unbekannt. Die Sentenz als sol-
che ist aber sehr geläufig. Die ‚Vielgewandtheit‘ des Odysseus (Homer,
Odyssee I 1) ist nicht nur als Kompliment gemeint (vgl. dazu die Diskussion
in Platons Hp. mi. 364e–368b).
So unterschiedlich die Auffassungen über die Konzeption der aristote-
lischen Mesotês-Lehre sind, so unterschiedlich fallen auch Kritik und Vor-
schläge zur Rechtfertigung dieser Theorie aus. Abgesehen von Kritikern, die
sie im Kern für verfehlt halten (Wolf 1995), gibt es vielerlei Vorschläge zur
Güte, wie etwa den von Hursthouse 1980/81, statt von einer Mitte nur von
einem Mittelpunkt (Zielpunkt) zu sprechen, der auf alle Weise verfehlt wer-
den kann; von Quantitäten ist dann allerdings nur in einem metaphorischen
Sinn zu sprechen. Für eine Rechtfertigung der qualitativen und quantitati-
ven Kriterien plädiert Rapp 2006, der darauf hinweist, dass das Urteil über
quantitative Verfehlungen oder Richtigkeit oft einen qualitativen Sinn hat,
so dass sich beides nicht trennen lässt; denn es hängt von den qualitativen
Parametern ab, ob ein Affekt oder eine Handlung zu stark oder zu schwach
zu nennen ist (ähnlich auch Müller 2004).
Mitte, weil schon ihr Name anzeigt, dass sie Schlechtigkeiten sind. Ferner
sind Iterationen auszuschließen: Schlechte Handlungen haben weder Mitte
noch Übermaß und Mangel. Auch bei guten Handlungen gibt es diese nicht;
vielmehr ist das Mittlere eine Art von Extrem im Sinn eines Optimums, das
keine weiteren Modifikationen zulässt.
(1.2) 1107a1 f. „einer Mitte in Bezug auf uns … die durch eine Überlegung
(logôi) bestimmt wird, so wie (hôs) sie auch der Kluge (phronimos) bestim-
men würde“: Statt des von Bywater aus Aspasios’ Paraphrase (42,12–20)
übernommenen hôi wird hier die Lesart der Handschriften beibehalten.
Wie zuvor zu pros hêmas angemerkt (5, 1106a28–32), bedeutet diese Modi-
fikation, dass sich die Mitte nach den besonderen Umständen des einzelnen
Handelnden richtet. Es gibt also kein vorgegebenes Verfahren zur Festle-
gung der Mitte. Wenn der Kluge (phronimos) hier als Maßstab angeführt
wird, so weil er in jeder Situation das Richtige herausfinden würde. Auch
die Klugheit wird hier also ‚proleptisch‘ mit aufgenommen, denn die Tu-
gend der praktischen Rationalität wird als solche erst in Buch VI näher be-
stimmt. Ohne einen solchen Verweis auf rationale Fähigkeiten ließe sich die
Charaktertugend deswegen nicht bestimmen, weil es um die Festlegungen
der Qualifikationen von Affekten und Handlungen geht (‚was man soll, wie
man soll, wann man soll, zu dem Zweck, zu dem man soll‘), die auf den
Anordnungen der Vernunft beruhen (I 13, 1103a3–10). Diese Anordnun-
gen müssen nicht immer explizit gemacht werden, wie der Optativ andeutet
(‚bestimmen würde‘). Es bedarf jedoch immer der rationalen Einschätzung
der Situation. Dazu sollte jeder moralisch hinreichend Gebildete imstande
sein, der über ein gutes Urteil und Erfahrung in den ‚das Leben betreffen-
den Handlungen‘ verfügt (I 1, 1094b27–1095a4; ähnlich Bostock 2000, 44 f.
et al.; Taylor 2006, 108–110, mit Verweis auf die umfangreiche Literatur).
(1.3) 1107a2–6 „Sie ist eine Mitte (mesotês) zwischen zwei Schlechtigkeiten“:
Für diese Mitte wird noch einmal hervorgehoben, dass sie sowohl die Af-
fekte wie auch die Handlungen betrifft. Dass dieses Treffen der Mitte nicht
eine Sache purer Gewohnheit ist, bringt der Zusatz zum Ausdruck, dass die
Mitte eigens zu finden (heuriskein) und zu wählen (haireisthai) ist. Die Mitte
betreffend macht die Berufung auf den ‚Klugen‘ deutlich, dass Aristoteles
von einer bestimmten Konzeption des vernünftigen Menschen im prakti-
schen Sinn ausgeht.
(1.4) 1107a6–7 „Daher ist die Tugend ihrem Wesen (ousia) und der Defini-
tion (logos) nach, die sagt, was sie ist (to ti ên einai), eine Mitte“: Der Aus-
druck ousia wird in EN selten, die epexegetisch gemeinte ausführlichere
Formel ‚das, was es ist‘ (wörtlich: ‚was es war, dies zu sein‘) überhaupt nur
an dieser Stelle verwendet. Aristoteles fährt ungewohnt schweres termino-
logisches Geschütz auf, um deutlich zu machen, dass er die Definition der
Charaktertugend damit als etabliert betrachtet.
(1.5) 1107a7–8 „im Hinblick auf das Beste und das Richtige ist sie aber ein
Extrem (akrotês)“: Mit ‚Extremen‘ (akra) kann Verschiedenes gemeint sein.
Es bezeichnet im Allgemeinen konträre Gegensätze (vgl. Cat. 10, 12a23).
In der Syllogistik werden so die Außenterme gekennzeichnet (Anal. pr. I 4,
26a18 et pass.). In EN wird akrotaton bzw. akroi einerseits zur Bezeich-
434 Kommentar
(2) 1107a8–17 „Nun lässt aber nicht jede Handlung und jeder Affekt eine
Mitte zu“: Der Bereich der Tugenden wird hier eingeschränkt: Es gibt keine
Mitte bei Affekten, deren Namen bereits die Konnotation von Schlechtem
haben, wie Schadenfreude (epichairekakia), Schamlosigkeit (anaischyntia)
und Missgunst (phthonos). Entsprechendes gilt für Handlungen wie Ehe-
bruch, Diebstahl oder Mord. Schlechtes kann man weder im richtigen Maß
tun noch fühlen. Darin liegt eine Modifikation der anfänglichen Erklärung,
Affekte seien als solche weder gut noch schlecht, weil wir sie von Natur
aus haben; gut oder schlecht seien nur die sie betreffenden Dispositionen
(4, 1105b28–1106a2). Da er in der Liste der natürlichen pathê auch die Miss-
gunst anführt (1105b22), könnte gemeint sein, dass derartige Affekte zwar
natürlicherweise vorhanden sind, bei Erwachsenen aber nicht mehr vor-
kommen dürfen, weil sie dann Gegenstand einer festen Disposition sind.
Dafür spricht, dass Aristoteles später einräumt, dass Menschen von Natur
aus auch schlechten Affekten zugeneigt sind (8, 1109a14–19), und rät, man
müsse sich zum Gegenteil hin ‚zurechtbiegen‘ (9, 1109b1–13). Im Fall von
per se schlechten Handlungen, wie Diebstahl, Mord und Ehebruch, stellt
sich das Problem nicht, da sie nicht von Natur aus vorgegeben sind, sondern
auf Entscheidungen beruhen. Die Symmetrie zwischen Handlungen und
Affekten hat also Grenzen. In beiden Fällen gilt freilich: Schlechte Affekte
wie auch schlechte Handlungen erlauben keine Verbesserung durch Beach-
tung von Parametern des Sollens. Das illustriert Aristoteles in einem selte-
nen Anflug von Humor: Eine richtige Weise, Ehebruch zu begehen, gibt es
nicht, sondern es macht keinen Unterschied, mit welcher Frau, wann oder
wie man Ehebruch begeht.
(2.1) 1107a11 „Ehebruch (moicheia)“: Ehebruch war ein strafbarer Delikt;
über Männer konnte die Todesstrafe verhängt werden. Frauen konnten zwar
nicht vor Gericht gestellt werden, der Ehemann musste sich aber schei-
den lassen. Den Ehebruch erwähnt Aristoteles häufiger, weil er die einzige
Handlung aus übermäßiger körperlicher Begierde ist, die nicht nur anderen,
sondern auch der Gemeinschaft als ganzer schadet.
(3) 1107a18–27 „Ähnlich steht es mit der Annahme, es gebe bei ungerech-
ten, feigen und zügellosen Handlungen eine Mitte“: Diese Ergänzung soll
die Möglichkeit einer Iteration ausschließen, d.h. die Unterscheidung von
Übermaß, Mitte und Mangel in Hinblick auf Tugenden und Laster. Der da-
Buch II, Kapitel 7 435
mit angesprochene Gedanke an einen Mangel des Mangels, ein Übermaß des
Übermaßes etc. liegt zwar nicht eben nah; die Frage nach Gradunterschie-
den im Bereich von Tugenden und Lastern hat aber eine gewisse Berechti-
gung, wenn man sie als Segmente eines Kontinuums versteht (so auch B/R,
306). Zudem räumt Aristoteles im Folgenden ein, dass oft das eine Extrem
näher bei der Mitte liegt als das andere (8, 1109a1–12), so dass das Mittlere
nicht leicht zu bestimmen ist, sondern diesbezüglich eine gewisse Großzü-
gigkeit geboten ist (9, 1109b14–26).
(1) 1107a28–33 „Man darf das aber nicht nur allgemein (katholou) behaup-
ten, sondern muss es auch auf die einzelnen Arten (ta kath’ hekasta) an-
wenden“: Mit dem Einzelnen sind hier nicht konkrete Fälle von Handlun-
436 Kommentar
gen und Affekten gemeint, sondern die einzelnen Arten von Tugenden und
Schlechtigkeiten (zu dieser Bedeutung von ‚einzeln‘ vgl. Taylor 2006, 113 f.).
Wenn Aristoteles sein weiteres Vorgehen damit begründet, das Allgemeine
betreffe mehr das Gemeinsame, das Einzelne liege aber näher an der Wahr-
heit, dann hebt es darauf ab, dass die Charakterisierung der einzelnen Arten
von Tugenden und Lastern informativer ist als ihre globale Kennzeichnung
als Mitte, Übermaß und Mangel. Da er dies zunächst in Bezug auf die Hand-
lungen begründet, würde man erwarten, dass er sie zum Zentrum eines ein-
heitlichen Schemas von Mitte, Übermaß und Mangel macht. Daran hält er
sich aber nicht, sondern klassifiziert die Tugenden und Laster ganz unter-
schiedlich. Ferner führt er zwei Tripel von Affekten ohne entsprechende Tu-
genddisposition ein. Über die Frage der Vollständigkeit seiner Tabelle äußert
sich Aristoteles nicht (zu dieser Frage Frede 2014).
(1.1) 1107a32 f. „Die einzelnen Arten sind unserer Tabelle (diagraphê) zu ent-
nehmen“: Die Tabelle von zehn Tugenden und Schlechtigkeiten war vermut-
lich als Schaubild im Vorlesungsraum angebracht (dieselbe Bezeichnung ha-
ben auch anatomische Darstellungen, vgl. HA I 17, 497a32; IV 1, 525a9). An
der Parallelstelle in EE II 3, 1220b37–1221a12 ist die Tabelle (hypographê) im
Text enthalten und wird anschließend erläutert; sie enthält vierzehn Triaden.
(2.1) 1107a33–b4 „In Bezug auf Furcht und Zuversicht ist die Tapferkeit die
Mitte“: Die Erklärung des Modells wird hier noch dadurch verkompliziert,
dass die drei Dispositionen nicht einem Affekt, sondern zwei gegensätzli-
chen Affekten gelten, nämlich Furcht (phobos) und Zuversicht/Mut (thar-
ros): Der allzu Furchtlose hat keinen Namen, der allzu Zuversichtliche ist
tollkühn. Die Feigheit wird entsprechend als Übertreibung von Furcht ei-
nerseits und als Mangel an Zuversicht andererseits gekennzeichnet. Furcht
und Zuversicht sind Affekte und als solche neutral (4, 1105b22); nur ihr
Übermaß und Mangel sind Laster. Da es gegenüber Furcht und Zuversicht
aber nur eine Mitte, die Tapferkeit (andreia), gibt und das Übermaß des ei-
nen Affekts mit dem Mangel am anderen zusammenfällt, fragt sich, warum
die Tapferkeit auf zwei Affekten beruht, die es bei den übrigen Tugenden
und Lastern nicht gibt. Zudem fragt sich, ob dem Tapferen eine Mischung
aus beiden Affekten zu unterstellen ist, von denen die eine abnimmt, wenn
die andere zunimmt, oder ob von zwei unabhängigen Affektskalen auszuge-
hen ist, mit zwei verschiedenen Mitten (auf diese Frage geht der Kommentar
zu III 10 näher ein).
(2.2) 1107b4–8 „In Bezug auf Lust und Schmerz – allerdings nicht auf alle
Arten und noch weniger in Bezug auf Schmerz − ist die Mitte die Besonnen-
heit, das Übermaß die Zügellosigkeit“: Wie sich später in der Detailanalyse
zeigt (III 13–15), sind Lust und Schmerz nicht das Pendant zu Furcht und
Zuversicht; vielmehr gilt die Besonnenheit primär der körperlichen Lust
an Essen, Trinken und Sexualität, während der Schmerz (die Unlust) nur ei-
ner entgangenen Lust gilt, den vornehmlich der Zügellose empfindet. Eine
Besonderheit liegt auch darin, dass der Mangel an Lust kaum vorkommt,
weil es um natürliche körperliche Bedürfnissen geht. Die Dreiteilung
liegt in ihrem Fall nicht auf der Hand, wie auch die Einführung einer
speziellen Bezeichnung ‚empfindungslos‘ (anaisthêtos) für den Lustlosen
anzeigt.
(2.3) 1107b8–21 „In Hinblick auf das Geben und Nehmen von Geld ist die
Mitte die Freigebigkeit“: Ein Affekt wird hier nicht genannt, sondern nur
der Umgang mit Geld oder Besitz. Aristoteles dürfte zwar voraussetzen,
dass mit der Erziehung zur Tugend auch eine entsprechende Affektivität
dem Handeln gegenüber einhergeht, d.h. dass man anderen gern (oder un-
gern) aushilft. Von einem natürlichen pathos, d.h. von einer Affektivität in
der Einstellung zur eigenen Habe, die von Natur aus im Menschen ange-
legt ist, ist nicht die Rede. Es ist aber anzunehmen, dass es sie gibt, weil alle
Charaktertugenden ihre Wurzel im nicht-rationalen Seelenteil haben. Dar-
auf wird in der Erörterung der detaillierten Beschreibungen der Tugenden
in Buch IV einzugehen sein. Für die Annahme solcher Affekte spricht die
Erklärung der natürlichen Tugenden von Geburt an, zu der neben Beson-
438 Kommentar
nenheit und Tapferkeit auch die Gerechtigkeit und alle übrigen gehören sol-
len (VI 13, 1144b4–9).
(2.4) 1107b16–21 „Auf unser Verhältnis zum Geld beziehen sich auch noch
andere Dispositionen“: Dass Aristoteles dem liberalen Umgang mit Geld
‚im Großen‘ mit der Großzügigkeit (megaloprepeia) eine eigene Tugend zu-
schreibt, erscheint zunächst ebenso seltsam wie die anschließende Zweitei-
lung von Tugend und Laster in Hinblick auf die Ehre. Die Großzügigkeit
hat aber mit der Öffentlichkeit einen anderen Adressaten, und von einem
‚Nehmen‘ ist bei ihm nicht die Rede, sondern nur von der Gebefreudigkeit,
auf die die Gemeinschaft von Seiten der Reichen angewiesen war. Sie betrifft
z.B. das Ausrüsten von Kriegsschiffen und die Ausstattung von Theaterauf-
führungen. Philanthropie im Sinn von Wohltätigkeit zugunsten der Armen
ist damit nicht gemeint.
(2.5) 1107b21–27 „In Hinblick auf Ehre (timê) und Unehre (atimia) ist die
Mitte die Hochgesinntheit (megalopsychia)“: Die ‚Ehre im Großen‘ bezieht
sich auf ehrenvolle Taten, derer sich der Tugendhafte für würdig erachtet,
während sich der Aufgeblasene allzu viel, der Kleinmütige zu wenig zutraut.
Obwohl die Übersetzung mit ‚Hochgesinntheit‘ nicht unproblematisch ist,
weil man im Deutschen damit nicht hohe Ehren assoziiert, so wird sie doch
der Tatsache am ehesten gerecht, dass der Hochgesinnte in gewisser Weise
das Ideal eines Menschen darstellt, wie in der detaillierten Erörterung deut-
lich wird (IV 7–9). Die Übersetzung mit ‚Stolz‘ (vgl. Ross; Wolf) hat den
Nachteil, dass man damit ein übertriebenes Selbstgefühl assoziiert und die
besondere Art der Ambitioniertheit des Hochgesinnten nicht zum Aus-
druck kommt.
(2.6) 1107b27–1108a4 „Nach Ehre kann man nämlich so streben (oregest-
hai), wie man soll“: Dass überhaupt ein Unterschied zwischen Streben nach
Ehre im Großen und im Kleinen gemacht wird, beruht darauf, dass mit phi-
lotimia statt herausragender Leistungen das Streben nach staatsbürgerlichen
Ehrungen und öffentlichen Ämtern assoziiert wird. Über die ‚Unehre‘ (ati-
mia) als Gegenstand einer moralischen Haltung äußert sich Aristoteles nicht
näher. Wenn er sie mit aufführt, so weil der Unehrgeizige sich zu wenig aus
dem Fehlen von Ehre oder sogar aus Unehre macht (vgl. Pol. III 1, 1275a20–
22 et pass.; Rhet. I 7, 1365a5 et pass.).
(2.6.2) 1107b30–1108a4 „Namenlos (anônymos) sind aber auch die entspre-
chenden Charaktereigenschaften“: Für die meisten dieser Charaktereigen-
schaften gibt es keine Bezeichnungen; etwas besser steht es um die Adjek-
tive. So gibt es eine Bezeichnung für den Ehrgeizlosen − aphilotimos, aber
keine für die Ehrgeizlosigkeit. Diese Lücke hat gravierende Auswirkun-
gen auf die Beurteilung der Tugenden und Schlechtigkeiten: Auch mora-
lisch Aufgeklärte sind sich oft unsicher und nennen den Mittleren daher
teils ehrgeizig, teils ehrgeizlos (vgl. dazu. IV 7–10). Auf weitere Gründe für
Buch II, Kapitel 7 439
Ind. Ar. sv. pathêma; pathos, 554a–557a). Mit der Bezugnahme auf ‚affek-
tive Zustände‘ will er hier aber hervorheben, dass es auch lobenswerte Arten
von affektiven Dispositionen gibt, die Mitte, Übermaß und Mangel zulas-
sen, aber keine Gegenstände fester, durch Gewohnheit erworbener Disposi-
tionen zu entsprechendem Handeln sind.
(3.1) 1108a31–35 „Die Scham ist zwar keine Tugend, doch wird auch der
Schamhafte gelobt“: Das Wort aidôs hat ein breit gefächertes Bedeutungs-
spektrum von ‚Scheu‘, ‚Scham‘, aber auch ‚Respekt‘ (Homer, Odyssee XVII
347: ‚falsche Scham‘, zitiert in Platon, Charm. 160e–161a; dagegen Prot.
322c–d: Gerechtigkeit und ‚Respekt‘ (aidôs) sind Geschenke der Götter für
das menschliche Zusammenleben). Wie seiner Erklärung in IV 15 zu entneh-
men ist, versteht Aristoteles unter aidôs nur Scham den eigenen schlechten
Handlungen gegenüber und erklärt, dass der moralisch gut Erzogene keine
solchen Handlungen begeht, so dass es keine entsprechende tugendhafte
mittlere Disposition gibt.
Diese Triade fällt in mehrfacher Hinsicht aus dem Schema heraus. Sie wird
zwar als eine Mitte, ein Übermaß und ein Mangel präsentiert, diese haben
aber keinen einheitlichen Gegenstand. Denn die Entrüstung gilt unverdien-
tem Glück des Nachbarn, die Missgunst jeder Art von Glück, die Schaden-
freude jeder Art von Unglück der Nachbarn. Nun könnte man sich fragen,
warum Aristoteles für die Entrüstung keine eigene Mitte mit Übermaß und
Mangel annimmt. Das dürfte darauf beruhen, dass es keine zur Entrüstung
gehörigen Handlungsweisen über das Beobachten der Nachbarn hinaus gibt.
Die Praxis einer ständigen Beobachtung des verdienten oder unverdienten
Glücks der Nachbarn als Teil der moralischen Erziehung dürfte Aristote-
les jedoch nicht billigen, weil sie zu Borniertheit und Selbstgerechtigkeit
führt. Entsprechendes gilt auch für andere Affekte in Aristoteles’ Liste in
4, 1105b22 f., die nicht zum Gegenstand einer Tugend gemacht werden. So
ist der Hass kein geeigneter Gegenstand für eine systematisch eingeübte
Haltung mit entsprechenden Tätigkeiten, auch wenn es ‚gute Hasser‘ gibt.
Entsprechendes dürfte mutatis mutandis für Sehnsucht, Wetteifer und Mit-
leid gelten.
442 Kommentar
(3.2.1) 1108b6 f. „Auf diese Fälle einzugehen wird aber anderswo (allothi)
Gelegenheit sein“: Der Verweis, diese Fälle seien anderswo (nicht etwa ‚spä-
ter‘: hysteron; ephexês) zu erörtern, besagt, dass Aristoteles gar nicht vorhat,
diese Dispositionen im Folgenden zu behandeln. Sie werden in der Detail-
analyse am Ende von Buch IV als einzige nicht wieder aufgenommen. Dass
er diese Triade hier überhaupt erwähnt, dürfte darauf beruhen, dass die Ta-
belle in EN II aus einer Revision der Tabelle in EE hervorgegangen ist. Dort
wird die Entrüstung als die Mitte der Missgunst und der Schadenfreude ge-
genüberstellt (II 3, 1221a3; 1221a38–1221b3) und später auch näher erörtert
(III 7, 1233b16–29; vgl. auch Rhetorik II 9 + 10).
(1) 1108b11–26 „Da es also drei Dispositionen gibt, … sind sie alle in gewis-
ser Weise allen entgegengesetzt“: Um die Art der Gegensätze zwischen den
444 Kommentar
Extremen auf der einen und zwischen der Mitte und den Extremen auf der
anderen Seite zu erhellen, greift Aristoteles wieder auf den Vergleich dreier
unterschiedlicher Größen (Größeres, Kleineres und ‚Gleiches‘ (= Gleichgro-
ßes) zurück. Diesen Vergleich hat er bereits in 5, 1106a26–32 zur Erklärung
der differentia specifica der Tugend als Mitte angeführt. Wie alle Vergleiche
hat auch dieser seine Schwierigkeiten. Denn Dispositionen sind keine Grö-
ßen, und das gilt auch für die Handlungen und Affekte. Vergleichbar ist nur
die Affinität zwischen den Typen, wie sie in Kap. 7 gekennzeichnet wer-
den: als Dispositionen zu Furcht und Zuversicht, zur Lust, zum Geben und
Nehmen von Geld usw. Dass die Rede von vergleichbaren Quantitäten nur
in einem metaphorischen Sinn gemeint ist, zeigen aber die weiteren Erläu-
terungen. Das ‚Zuviel‘ der Tollkühnheit gegenüber der Tapferkeit lässt sich
ebenso wenig rein quantitativ fassen wie das ‚Zuwenig‘ bei der Tapferkeit; es
geht vielmehr um die Charakterisierung und Bewertung des Umgangs mit
den für die Tugend typischen Zielen als solchen, nicht um einzelne Hand-
lungen und ihre Umstände.
(1.1) 1108b19 f. „Der Tapfere erscheint nämlich im Vergleich zum Feigen
tollkühn, aber feige im Vergleich zum Tollkühnen“: Je nachdem, welche
Disposition als die Norm gilt, erscheint die mittlere Disposition mit dem
anderen Extrem identisch. Dies erklärt auch die Unstimmigkeiten in ihrer
Bewertung: Die Vertreter der Extreme ‚drängen‘ die Vertreter der mittleren
Disposition jeweils ins gegnerische Lager, so dass der Tollkühne den Tapfe-
ren als Feigling, der Feigling ihn als tollkühn bezeichnet (zur Tendenz der
Bewertungsverschiebung bei Tugenden und Lastern vgl. Platon, Resp. VIII
560d–561a und Thukydides, Historiae III 82, 2–8).
(3) 1108b35–1109a19 „Zum Mittleren steht nun bei bestimmten Arten die
mangelhafte, bei anderen die übermäßige Disposition in größerem Gegen-
satz“: Was für die Tapferkeit im Verhältnis zur Feigheit und Tollkühnheit
gilt, gilt prinzipiell für alle Arten von Tugenden und Lastern: Die Entfer-
Buch II, Kapitel 8 445
nung zwischen einem der beiden Gegensätze zur Mitte kann unterschied-
lich groß sein. Aristoteles begnügt sich aber nicht mit dieser Feststellung,
sondern unterscheidet noch zwischen objektiven und subjektiven Gründen
für die Entfernung.
(3.1) 1109a5–12 „Das hat zwei Gründe, von denen der eine sich aus der Sa-
che (pragma) selbst ergibt“: Die Ursache ‚der Sache nach‘ liegt in dem ob-
jektiv gegebenen größeren Abstand der Mitte zu einem der beiden Extreme.
Daraus erklärt sich, dass man in diesen Fällen der Tugend eher die eine Art
der Schlechtigkeit gegenüberstellt als die andere, wie etwa im Fall der Tap-
ferkeit die Feigheit den größeren Gegensatz darstellt als die Tollkühnheit.
(3.2) 1109a12–19 „Der andere Grund kommt von uns selbst her (ex
hêmôn autôn)“: Hiermit sind nicht etwa individuell verschiedene Un-
terschiede in der Disposition gemeint – einer ist von Natur aus ein Feig-
ling, ein anderer ein Wagehals. Vielmehr geht es um naturgegebene Ten-
denzen des Menschen zu einem der beiden Extreme hin, also um eine in
der menschlichen Natur liegende Prädisposition zum Mangel oder Über-
maß. Diese Prädisposition hat nicht nur ihre Auswirkungen auf das Ver-
halten, sondern auch auf das Urteil: Wozu Menschen von Natur aus die
größere Neigung haben, das erscheint ihnen – wenn sie darin ein Laster se-
hen – als der größere Gegensatz. Man könnte zwar auch das Umgekehrte
erwarten, d.h. dass Menschen die eigenen Laster für Tugenden halten. Es
geht hier aber nicht um persönliche Einschätzungen, sondern um die all-
gemeine Einschätzung der Menschheit überhaupt, die darin das Richtige
trifft.
(3.3) 1109a16 „zur Maßhaftigkeit (kosmiotês)“: Wie die Schlussfolgerung
zeigt (a19), verwendet Aristoteles diesen Ausdruck hier synonym mit Be-
sonnenheit. Er bringt besser als sôphrosynê zum Ausdruck, dass die Tugend
nicht in grundsätzlicher Enthaltsamkeit von Lust besteht, sondern im richti-
gen Maß. Auf das andere Extrem, die Empfindungslosigkeit, verweist Aris-
toteles hier gar nicht, weil er zuvor eingestanden hat, dass die Neigung dazu
selten und unnatürlich ist.
Die Ausführlichkeit der Größenvergleiche in diesem Kapitel erscheint
prima facie übertrieben pedantisch. Angesichts der Neuheit seiner Konzep-
tion der Charaktertugend als Mitte zwischen zwei Extremen muss Aristote-
les aber daran gelegen sein, Missverständnisse von vornherein auszuschlie-
ßen. Dazu gehört einerseits, dass die ‚Mitte‘ keine einfache Mitte darstellt,
die sich mit arithmetischen oder geometrischen Verfahren festlegen ließe.
Andererseits kann er so verständlich machen, warum die triadische Anord-
nung von Tugenden und Lastern nicht Teil des allgemeinen Verständnis-
ses ist: Zum einen ist oft das eine Extrem schwer von der Mitte zu unter-
scheiden, zum anderen nehmen die Menschen als Laster nur dasjenige wahr,
wozu sie selbst am meisten neigen.
446 Kommentar
(1) 1109a20–30: Das Mittlere zu treffen ist schwierig, weil alle Parameter zu
berücksichtigen sind. (2) 1109a30–b1: Im Zweifelsfall ist das größere Übels
zu meiden. (3) 1109b1–13: Bestimmten Neigungen gegenüber muss man
sich grundsätzlich widersetzen. (4) 1109b14–26: Genauigkeit in Einzelfällen
gibt es nicht.
(1) 1109a20–30 „Dass die Charaktertugend (êthikê aretê) also eine Mitte ist,
und in welcher Weise“: Dass die Ethik eine ‚stochastische‘ Disziplin ist, hat
Aristoteles bereits in seinen Überlegungen zur Charakterbestimmung er-
wähnt (5, 1106b14–16; 27 f.). Wie die Wiederaufnahme der Metapher vom
Zielen auf die Mitte anzeigt, bleibt es eine schwierige Aufgabe (ergon).
Hursthouse 2006 beruft sich darauf mit ihrem Vorschlag, die Mitte durch
den zentralen Punkt zu ersetzen (Ins-Schwarze-Treffen) und von Übermaß
und Mangel abzusehen. Das käme aber einer totalen Revision der aristoteli-
schen Tugendlehre gleich.
(1.1) 1109a25 f. „den Mittelpunkt eines Kreises zu finden“: Dieser Vergleich
ist deswegen irreführend, weil es bei der Tugend, anders als in der Geome-
trie, keine ‚technische‘ Verfahrensweise zur Bestimmung des Mittelpunkts
gibt. Das tertium comparationis kann nur sein, dass solches Können auf We-
nige beschränkt ist. Im Bereich des Praktischen sind Könner selten, weil
es schwierig ist, bezüglich der Parameter des Sollens genau das Richtige
zu treffen. Auf die Seltenheit wahrhaft Tugendhafter wird auch sonst gele-
gentlich hingewiesen (VII 1, 1145a27 f.; VIII 4, 1156b24 f.). Zumeist spricht
Aristoteles jedoch so, als sei jeder gut Erzogene dazu imstande, geht also
von einem großzügigeren Begriff von Tugend aus.
Buch II, Kapitel 9 447
(2) 1109a30–b1 „Deswegen muss, wer auf das Mittlere abzielt, sich als ers-
tes vom größeren Gegensatz entfernen“: Dass Aristoteles den Vergleich mit
dem Geometer nicht für glücklich hält, zeigt sich an der Art der weiteren
Ratschläge. Denn statt eines Königsweges zur Bestimmung der Mitte emp-
fiehlt er Strategien zur Vermeidung von Fehlern. Der erste besteht darin,
sich von demjenigen Extrem fernzuhalten, das weiter von der Mitte entfernt
ist (vgl. 8, 1109a5–19), und damit das größere Übel zu meiden.
(2.1) 1109a31–b1 „so wie auch Kalypso rät“: Hier irrt Aristoteles. Der Rat
stammt nicht von Kalypso, sondern von Kirke (Homer, Odyssee XII 219 f.):
Odysseus soll sich bei der Durchfahrt zwischen Skylla und Charybdis nä-
her an die Skylla halten, weil so nur sechs Mann, sonst aber alle umkommen
müssen (XII 108–110). Odysseus wählt also in der Tat das kleinere Übel.
Entsprechendes besagt auch die Redewendung von der ‚zweiten Fahrt‘
(deuteros plous, vgl. Pol. III 13, 1284b19), die auch Platon verschiedentlich
verwendet (Phd. 99c: die Flucht zu den logoi; Phlb. 19c). Gemeint ist das
Rudern, das zwar weit mühsamer ist als das Segeln, zu dem man sich aber
bei Windstille und im Sturm gezwungen sieht. Derartige pragmatische Rat-
schläge im Umgang mit Zwangslagen finden sich bei Aristoteles selten, wie
er auch auf Konfliktfälle nicht weiter eingeht (vgl. aber die ‚Mischfälle‘ in
III 1, 1110a4–19).
(3) 1109b1–13 „Man muss jedoch auch sehen, zu welchen Dingen wir uns
leicht verleiten lassen (eukataphoroi)“: Als weitere Strategie wird empfohlen,
dasjenige Extrem zu meiden, zu dem man von Natur aus neigt, insbesondere
aber die Lust betreffend (vgl. 8, 1109a15: eukataphorôteroi). Gemeint ist nur
die körperliche Lust und nicht die Art, die mit richtigem Handeln verbun-
den ist. Zur Korrektur empfiehlt Aristoteles ein Gegensteuern, mit dem er
die Hoffnung verbindet, dass ebendies zur mittleren Haltung führt.
(3.1) 1109b6 f. „die verzogenes Holz zurechtbiegen“: Diesen Vergleich be-
müht bei Platon auch Protagoras in seiner ‚großen Rede‘ über die Erzie-
hung: „Wenn er aber nicht freiwillig gehorcht, so machen sie ihn durch Dro-
hungen und Schläge gerade, als sei er ein verzogenes und verbogenes Holz.“
(Prot. 325b) Dazu sei auch an Kants berühmtes Wort vom ‚krummen Holz‘
erinnert. Nur ist Kant weniger optimistisch als Aristoteles, dass der Mensch
sich wirklich zurechtbiegen lässt: „Aus so krummem Holze, als woraus der
Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ (Idee
zu einer Universalgeschichte in weltbürgerlicher Absicht, AA VIII 23)
(3.2) 1109b9–11 „Was die Ältesten des Volks der Helena gegenüber empfun-
den haben, das sollten wir der Lust gegenüber empfinden und uns bei jeder
Gelegenheit deren Worte vorsagen“: Die Ältesten der Trojaner hatten gera-
ten, Helena zu den Griechen zurückzuschicken, Homer, Ilias III 158–160:
„Gleichwohl, mag sie noch so schön sein, soll sie doch auf den Schiffen zu-
448 Kommentar
rückfahren und weder uns noch unseren Kindern in Zukunft Leiden berei-
ten!“ Diese Worte sollen also wie ein Talisman gegen die Verführungen der
Lust wirken.
(4) 1109b14–26 „Das ist aber wohl besonders in den Einzelfällen schwie-
rig“: Hier geht es nicht mehr um die Vermeidung von Lust, sondern gene-
rell um das Treffen des Mittleren, wie das Beispiel vom Zorn zeigt. Dass
man es hier richtig treffen kann, beruht darauf, dass mit Zorn nicht jede Art
von Ärger gemeint ist, wie etwa die Wut über den verlorenen Groschen,
sondern nur die Reaktion auf eine Beleidigung (vgl. IV 11; Rhet. II 2). Es
gilt sorgfältig abzuwägen, wem gegenüber, aus welchem Anlass, in welchem
Ausmaß und in welcher Weise man zu Recht zornig ist. Allgemeine Krite-
rien lassen sich dafür nicht angeben, und daher ist man sich auch im Urteil
darüber oft uneins. So lobt man einerseits den Mangel und nennt denjeni-
gen ausgeglichen, der nicht genug Zorn aufbringt, andererseits lobt man das
Übermaß und nennt jemanden mannhaft, der von seinem Zorn nicht lassen
kann.
(4.1) 1109b23 „und das Urteil (krisis) darüber beruht auf der Wahrnehmung
(aisthêsis)“: In welchem Sinn Aristoteles hier von Wahrnehmung spricht,
ist von großer Bedeutung für alles Weitere. Denn auch später nimmt er
die Wahrnehmung in ähnlicher Weise in Anspruch. Von Wahrnehmung ist
aber in verschiedener Weise die Rede. Teils geht es um die reinen Sinnes-
wahrnehmungen mit Hilfe der einzelnen Sinnesorgane, die wir von Ge-
burt an besitzen und nur auszuüben brauchen (1, 1103a28–31). Diese sind
auf die spezifischen Sinneseindrücke und diesbezügliche Unterscheidun-
gen beschränkt (vgl. De an. II 5, 417b22–28). Teils geht es um eine Art
‚moralischer Wahrnehmung‘. So steht für Aristoteles die Wahrnehmung
am Endpunkt des Mit-sich-zu-Rate-Gehens; er meint damit die Feststel-
lung der für das Handeln relevanten Einzelheiten (III 5, 1113a1). Auch der
Klugheit wird später eine ‚Art von Wahrnehmung‘ zugesprochen (VI 9,
1142a23–30), allerdings mit der Maßgabe, sie sei der Feststellung eines Ma-
thematikers vergleichbar, dass eine bestimmte Figur ein Dreieck ist. Ferner
spricht Aristoteles auch vom ‚Auge‘ der Erfahrung, das einen die Dinge
richtig sehen lässt (12, 1143b2–5), und vom Auge der Seele überhaupt
(13, 1144a30). Für die Auffassung, es gehe um Sinneswahrnehmung im
wörtlichen Sinn, hat sich insbesondere Moss (2011; 2012) stark gemacht.
Sie beruft sich darauf, dass schon der Tonfall der Stimme und eine bloße
Geste den Eindruck hervorrufen können, man sei beleidigt worden. Diese
Interpretation hat vielerorts Zustimmung gefunden; Widerspruch ist aber
nicht ausgeblieben (Morison 2013; Vasiliou 2014). An dieser Stelle sei nur
darauf aufmerksam gemacht, dass Aristoteles nicht davon spricht, wie
man eine Beleidigung erkennt, sondern vom richtigen Umgang mit ihr.
Buch II, Kapitel 9 449
Am Ende der ‚Beratungskette‘ steht die Einsicht, wem gegenüber man aus
welchen Gründen, wie lang und auf welche Weise zornig sein soll. Auch
der schärfste Blick und das beste Gehör vermitteln einem keine derartigen
Einsichten.
Kommentar
Buch III
Allgemeine Vorbemerkungen
Das dritte Buch enthält zwei Teile. Der erste Teil (Kap. 1–8) ist eine Art Ein-
schub mit einer Analyse von für die Erklärung des Handelns grundlegen-
den Begriffen: Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit, Beratung, Entscheidung
und Wunsch. Der zweite Teil (Kap. 9–15) macht mit Tapferkeit und Beson-
nenheit den Anfang der Analyse der einzelnen Tugenden und Laster, ihrer
Gegenstände und der für sie charakteristischen Dispositionen und Verhal-
tensweisen. Da diese Analyse in Buch IV fortgesetzt wird, ist die Aufteilung
offensichtlich der Länge einer Buchrolle geschuldet; der Sache nach bilden
der zweite Teil von Buch III und Buch IV eine Einheit.
Teil I erfährt mit Recht besonders viel Aufmerksamkeit, weil die hier er-
örterten Begriffe die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlun-
gen und für seinen Charakter begründen. Das zeigt auch der systematische
Aufbau dieses Textstücks. Ausgangspunkt ist die Bestimmung der Freiwil-
ligkeit als der notwendigen Bedingung von Verantwortung, im Unterschied
zur Unfreiwilligkeit. Die Kriterien dieser Unterscheidung sind im Wesent-
lichen negativer Art: freiwillig ist, was nicht unfreiwillig ist; unfreiwillig ist,
was auf äußerer Gewalt (Kap. 1) oder auf Unwissenheit von für das Handeln
wesentlichen Faktoren beruht (Kap. 2); der Einfluss der Affekte stellt keine
Form von Gewalt dar (Kap. 3). Es folgt eine Klärung der für das Handeln
im engeren Sinn wesentlichen Faktoren: der Entscheidung über Mittel und
Wege (Kap. 4), des Beratens als deren Voraussetzung (Kap. 5) und der Be-
stimmung des Handlungsziels durch den Wunsch (Kap. 6). Das Zusammen-
wirken sämtlicher dieser für das Handeln entscheidenden Faktoren erklärt
die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln und ihre Grenzen sowie die
Verantwortung für den eigenen Charakter (Kap. 7 + 8).
Einen Begriff, der sich mit ‚Verantwortung‘ übersetzen ließe, hat Aris-
toteles allerdings nicht. Auch das Adjektiv aitios gebraucht er nur selten
zur Kennzeichnung eines Verantwortlichen oder Schuldigen, sondern von
Ursächlichem aller Art. Stattdessen spricht Aristoteles von dem, was ‚bei
uns‘ (eph’ hêmin) liegt, zur Kennzeichnung dessen, wofür wir verantwort-
Buch III, Allgemeine Vorbemerkungen 451
eine unnötige oder sogar störende spätere Zutat. Von dem modernen Begriff
des Willens ist ohnehin nicht zu sprechen, wenn man etwa Kants Begriff des
Willens als ‚Vermögen der Regeln‘ mit Nietzsches ‚Wille zur Macht‘ als ei-
ner allem Lebendigen gemeinsamen blinden Kraft vergleicht oder auch die
diffusen Vorstellungen durchforstet, die den gegenwärtigen Debatten über
Willensfreiheit zugrunde liegen.
Ob im Fehlen eines Begriffs des Willens bei Aristoteles selbst ein Manko
zu sehen ist, hängt von der Beurteilung der Kooperation zwischen den drei
psychischen Vermögen ab, die er stattdessen zur Erklärung menschlicher
Verantwortung in Anspruch nimmt, also von Wunsch, Beratung und Ent-
scheidung. Es zeigt sich, dass der Mensch zwar sowohl in seinen Zielsetzun-
gen wie auch in der Wahl seiner Mittel durch seinen Charakter bestimmt
wird; für den Charakter ist der Einzelne aber insofern verantwortlich, als
er nicht nur bei dessen Bildung mitgewirkt hat, sondern auf ihn auch fort-
laufend durch sein Handeln einwirkt. Aristoteles’ Äußerungen über eine
spätere Reformierbarkeit der menschlichen Persönlichkeit sind teils opti-
mistisch, wie seine Bemerkung über das Geradebiegen verzogenen Holzes
zeigt, teils pessimistisch, was die Heilungschancen bestimmter Laster und
die Unheilbarkeit schlechter Menschen überhaupt angeht. Der Mensch ist
aber nicht durch irgendwelche verborgenen Mechanismen determiniert,
sondern durch selbst erworbene Dispositionen, zu denen auch die prakti-
sche Rationalität gehört.
Die Festlegung, dass der Wunsch das Ziel der Handlung bestimmt, wäh-
rend Beratung und Entscheidung den Mitteln gelten, sorgt zwar für Ord-
nung und Übersichtlichkeit, ist aber nicht ohne Schwierigkeiten. Denn wäh-
rend es sich bei Kunst und Handwerk (technê) anbietet, das Ziel, d.h. das
Produkt, von den Mitteln und Methoden zu seiner Verwirklichung abzu-
trennen, erweist es sich im Fall moralischen Handelns als problematisch,
weil die Mittel und Wege so als moralisch neutral erscheinen könnten. Die
Frage, ob die technê-Analogie einen Irrweg darstellt, der mehr Schwierig-
keiten aufwirft, als er löst, wird daher von vielen Interpreten diskutiert und
unterschiedlich beurteilt (Hardie 1968; G/J 21970; Cooper 1975; Kenny
1979/22016; Moss 2011). Dass Aristoteles kein Opfer dieser Analogie, son-
dern sich der Schwierigkeiten durchaus bewusst ist, das Zusammenspiel von
Charakter und praktischer Rationalität zu erklären, zeigt seine Behandlung
der unterschiedlichen Faktoren, die das Handeln bestimmen. Zwar lässt sie,
auch ihres skizzenhaften Charakters wegen, viele Fragen offen; im ‚Umriss‘
wird aber durchaus deutlich, wie dieses Zusammenspiel funktioniert: Der
Wunsch legt das Ziel fest, während praktische Überlegungen durch Bera-
tung über die dafür geeigneten Mittel und Wege zu Entscheidungen und
damit zum Handeln führen. Wenn Aristoteles nicht chronologisch vorgeht,
d.h. mit dem Wunsch anfängt und ihm Beratung und Entscheidung folgen
Buch III, Allgemeine Vorbemerkungen 453
lässt, so hat das gute Gründe. Denn was man analytisch trennen kann, ist
nicht nur in der Praxis nicht zu trennen: Der Wunsch bestimmt auch die
Art seiner Verwirklichung durch Beratung und Entscheidung mit, wird aber
seinerseits durch sie in einer Weise konkretisiert, wie dies durch ‚Ziel‘ im
Unterschied zu ‚Mitteln und Wegen‘ nicht zum Ausdruck gebracht wird. In
dieser Hinsicht ist auch der Vergleich mit der Herstellung von Produkten
irreführend.
Teil II beginnt mit der Erörterung der einzelnen Charaktertugenden und
Schlechtigkeiten. Die Liste der in II 7 aufgeführten Tugenden und Laster
wird in nahezu derselben Reihenfolge abgearbeitet; nur bei den sozialen Tu-
genden gibt es eine Vertauschung. In der Behandlung der einzelnen Tugen-
den und Laster folgt Aristoteles im Wesentlichen dem dafür vorgegebenen
Schema (III 9) zur Bestimmung der Disposition, ihres Gegenstandsbereichs
und der Art des Umgangs damit. Bei der Kennzeichnung des Gegenstands-
bereichs bezieht sich Aristoteles in manchen Fällen als erstes auf die charak-
teristischen Affekte, wie im Fall von Tapferkeit, Besonnenheit und Zorn, in
der Mehrzahl der Fälle aber auf die Art des Handelns, wobei in manchen
Fällen offenbleibt, welche Art von Affekt dem Handeln zugrunde liegt. Von
allen Tugenden erfährt die Tapferkeit nicht nur die ausführlichste, sondern
auch die differenzierteste Behandlung, denn es werden auch noch Neben-
formen erörtert. Ob Aristoteles solche Differenzierungen nur der Tapfer-
keit zuschreiben oder sie als exemplarisch für andere Tugenden präsentieren
will, ist eine offene Frage.
Tapferkeit im eigentlichen Sinn wird auf den Umgang mit Kriegsge-
fahren beschränkt (Kap. 9). Es folgt eine Kennzeichnung von Tapferkeit,
Feigheit und Tollkühnheit (Kap. 10). Ferner werden fünf Nebenarten von
Tapferkeit gekennzeichnet (Kap. 11). Den Abschluss macht eine Kennzeich-
nung der mit Tapferkeit verbundenen Art von Lust und Schmerz (Kap. 12).
Die Besonnenheit, mit Zügellosigkeit und Empfindungslosigkeit als Las-
tern, wird auf ganz bestimmte Arten von körperlicher Lust beschränkt
(Kap. 13). Es folgt eine kurze zusammenfassende Erklärung von Übermaß,
Mangel und der richtigen Mitte der Besonnenheit (Kap. 14). Die Erörterung
schließt mit einer vergleichenden Betrachtung über Feigheit und Zügello-
sigkeit (Kap. 15).
Die Sorgfalt, die Aristoteles bei der Festlegung des Bereiches der einzel-
nen Charaktertugenden und der entsprechenden Verhaltensweisen an den
Tag legt, lässt erkennen, dass er Dispositionen eng auf bestimmte Gegen-
standsbereiche begrenzen will. So gilt Tapferkeit im eigentlichen Sinn nur
der Gefahr in kriegerischen Auseinandersetzungen und Besonnenheit nur
der Lust an Essen, Trinken und an der Sexualität. Entsprechendes gilt auch
für die Bestimmung der übrigen Tugenden in Buch IV und der verschiede-
nen Formen von Gerechtigkeit in Buch V. Diese enge Eingrenzung dürfte
454 Kommentar
der Unterscheidung von Mitte, Übermaß und Mangel und der Notwendig-
keit ihrer Vergleichbarkeit geschuldet sein. Denn wenn die Rede von einer
‚richtigen Mitte‘ keine bloße façon de parler sein soll, setzt sie einen ge-
nau spezifizierbaren Gegenstandsbereich voraus. So lässt sich Tapferkeit im
Umgang mit Gefahr für Leib und Leben nicht mit Zivilcourage vergleichen,
was die richtige Mitte, Übermaß und Mangel im Handeln angeht, und das-
selbe gilt auch für die betreffenden Affekte. Denn der Umgang mit Furcht
vor physischer Bedrohung ist von anderer Art als der mit Angst vor Ver-
leumdungen, Beleidigungen und anderen Formen ziviler Anfeindungen.
(1) 1109b30–35 „Da sich die Tugend also auf Affekte und Handlungen be-
zieht und Freiwilliges (hekousia) Lob und Tadel erfährt, Unfreiwilliges (ak-
Buch III, Kapitel 1 455
position, es ist aber nicht sinnvoll, sie freiwillig oder unfreiwillig zu nennen.
Freiwillig ist nur dasjenige, was man aufgrund von Affekten tut (vgl. dazu
die kurze Erörterung des Einflusses von Zorn und Begierde in Kap. 3). Auf
diese Asymmetrie zwischen Affekten und Handeln geht Aristoteles nicht
explizit ein, zumal sein Interesse an der angemessenen affektiven Gewöh-
nung im Folgenden abnimmt (vgl. Kosman 1980). Auch unfreiwilliges Er-
tragen findet nur in diesem Kapitel Erwähnung; die eigentliche Aufmerk-
samkeit gilt unfreiwilligem Tun, denn es betrifft die Frage der Mitwirkung.
(1.2) 1109b34 f. „Auch den Gesetzgebern ist dies für die Festsetzung von
Ehrungen und Strafen von Nutzen“: Der Gesetzgeber wird als Adressat
der Untersuchung immer wieder erwähnt. Wenn Aristoteles hier auf Beloh-
nung (timê) und Strafe (kolasis) als Ergänzung zu Lob (epainos) und Tadel
(psogos) (1110a19–26) verweist, so macht er damit zugleich deutlich, dass es
ihm nicht um Tätigkeiten jeder Art zu tun ist, sondern nur um als gut oder
schlecht zu bewertendes Handeln, das auch Gegenstand von Gesetzgebung
und Rechtsprechung ist. Lob und Tadel, Belohnung und Strafe werden zwar
häufig erwähnt, die Art dieser Sanktionen wird aber nicht näher spezifiziert.
(2) 1109b35–1110a4 „Als unfreiwillig gilt nun, was durch Gewalt (biâi) oder
aus Unwissen (di’ agnoian) geschieht“: Gewalt liegt nur vor, wenn der Be-
troffene von sich aus gar nichts zu dem Geschehen beiträgt. Wie die Beispiele
vom Wind, der ein Schiff irgendwo hinträgt (vgl. dazu Platon, Leg. IX 866d:
Ein verbannter Mörder, der unfreiwillig an Land getragen wird, wird nicht
bestraft), und von der gewaltsamen Entführung durch andere Menschen an-
zeigen, legt Aristoteles das Kriterium, der Ursprung müsse ‚außerhalb‘ des
Betreffenden liegen, so eng aus, dass auch eine Entscheidung unter zwang-
haften Umständen als freiwillig gilt. Das bestätigt die spätere Präzisierung
(1110a15–18), es gehe um den „Ursprung des Bewegens der ausführenden
Körperteile“, welcher in einem selbst liegen muss. Als unfreiwillig gilt also
zwar der Fall, wenn jemand einem mit Gewalt die Hand führt, um jemanden
damit zu schlagen (V 10, 1135a27 f.; EE II 8, 1224b13–15), nicht aber, wenn
man selbst aus Furcht vor Gewalt handgreiflich wird. Unfreiwilligkeit setzt
zwar nicht unbedingt rohe Gewalt voraus, wohl aber (wie im Fall der Wind-
böe) höhere Gewalt, gegen die man nichts ausrichten kann (zum Begriff der
Gewalt (bia) vgl Met. D 5, 1015a26–b6).
(3) 1110a4–19 „Wenn aber etwas aus Furcht vor einem noch größeren Übel
oder auch um eines Schönen willen getan wird“: Mehr Aufmerksamkeit als
den Fällen purer Unfreiwilligkeit widmet Aristoteles den Handlungen, die
er als Mischfälle (miktai) aus freiwilligem und unfreiwilligem Tun bezeich-
net, weil besondere Umstände zu Entscheidungen zwingen, die man unter
normalen Umständen nicht treffen würde, sondern nur als Mittel zur Ver-
Buch III, Kapitel 1 457
meidung eines noch größeren Übels oder um eines schönen Zwecks willen
ergreift. Mit dem ‚Schönen‘ muss hier die Rettung von Eltern und Kindern
gemeint sein, die der Betreffende durch eine an sich schändliche Handlung
erkauft. Aristoteles gibt zwar kein Beispiel, da er aber von ‚schändlich‘ (ais-
chron) spricht, scheint es überflüssig, ihn gegen den Vorwurf verteidigen zu
wollen, er lasse somit ‚dirty hands‘ zu; gemeint sind sicher nicht bloß ‚läss-
liche Sünden‘ (zur Frage und zur relevanten Literatur vgl. Lienemann 2018,
106–111).
Der Begriff eines ‚Mischfalls‘ von Freiwilligem und Unfreiwilligem, der
aber gleichwohl dem Freiwilligen zuzuordnen ist, scheint eine Erfindung
von Aristoteles zu sein. Ein Bezug zu Platons ‚Mitte‘ zwischen Freiwillig-
keit und Unfreiwilligkeit bei Handlungen im Affekt besteht nicht (Leg. IX
866d–867c; dazu Bobonich 2002, 267–273). Das ist hier nicht gemeint. Von
Mischung ist vielmehr insofern die Rede, als die konkrete Handlung frei-
willig ist, weil sie Gegenstand von Entscheidung ist und das Prinzip der
Bewegung beim Handelnden liegt. Der Handlungstypus als solcher – das
Überbordwerfen der Ladung oder das Begehen einer schändlichen Tat − ist
unfreiwillig, weil der Betroffene sie sonst nicht wählen würde.
Auch heute spricht man im Fall des Tyrannen, der Eltern oder Kinder in
seiner Gewalt hat und diese zu ermorden droht, juristisch nicht von Zwang,
sondern von ‚entschuldigendem Notstand‘ (vgl. dazu § 35 Strafgesetzbuch
(StGB): „Wer in einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben … eine rechts-
widrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen … abzu-
wenden, handelt ohne Schuld.“). Entsprechendes gilt auch für das Über-
bordwerfen der Ladung im Sturm, wenn das Schiff nur so zu retten ist. Auch
im Mittelalter und in der Neuzeit war der Tatbestand des ‚Schiffswurfs‘ Teil
des Seerechts, dem römischen Recht entsprechend (Digesten XIV 2.1: Lex
Rhodia de iactura).
(3.1) 1110a13 f. „das Ziel (telos) der Handlung richtet sich aber nach der au-
genblicklichen Situation (kata ton kairon)“: Wie diese Erklärung zeigt, wird
für die Festlegung des Ziels durch den Charakter eine gewisse Flexibilität
vorausgesetzt; der Betreffende muss in der Lage sein, unter den besonde-
ren Umständen Ziele anzunehmen, die er normalerweise nicht annehmen
würde. Daher stellt auch das eine freiwillige Handlung dar, wofür man sich
in einer Notlage entscheidet. Aristoteles will nicht die Notlage als solche be-
streiten, sondern hervorheben, dass es auch dann richtige und falsche Ent-
scheidungen gibt.
(3.2) 1110a15–18 „denn auch der Ursprung des Bewegens der ausführen-
den Körperteile (ta organika merê) liegt bei derartigen Handlungen in ihm
selbst“: Der Verweis auf die ausführenden Organe könnte zunächst be-
fremdlich erscheinen, weil der Mensch sämtliche Organe in sich trägt (vgl.
G/J II 1, 174). Es ist aber zu beachten, dass Aristoteles hier umständlich vom
458 Kommentar
seine Mutter zu ermorden. Die Mutter hatte den Vater durch eine List dazu
gebracht, am Kampf der ‚Sieben gegen Theben‘ teilzunehmen, in dem er
umkam. Zuvor hatte der Vater den Sohn unter Androhung eines Fluchs ver-
pflichtet, ihn im Falle seines Todes zu rächen. Wie der anonyme Kommen-
tar (CAG XX, 142,28 f.) anmerkt, bestand der Fluch in der Androhung von
Dürre und Kinderlosigkeit. Da Muttermord als ein ruchloses Verbrechen
galt, sieht Aristoteles in den angedrohten Übeln keinen Zwang. Auch in be-
sonders harten Fällen bleibt es dem Ermessen des Einzelnen überlassen, um
welchen Preis ein guter Zweck erreicht werden darf und wann man Nöti-
gungen – wie dem Fluch des Vaters und den prophezeiten Übeln – wider-
stehen muss.
(5) 1110b1–9 „Welche Art von Verhalten soll man also erzwungen nennen?“:
Die erneute Diskussion fügt dem Vorangegangenen insofern etwas Neues
hinzu, als Aristoteles deutlich macht, dass der Handelnde in der Lage sein
muss, die Situation wie auch die Konsequenzen aus den Handlungsoptionen
abzuwägen. Denn es ist die Verschiedenheit der jeweiligen Handlungsum-
stände, die das Aufstellen allgemeiner Beurteilungskriterien erschwert oder
unmöglich macht. Solche ergänzende Zusammenfassungen sind nicht selten;
sie dürften dem Vorlesungscharakter geschuldet sein und geben keinen An-
lass für editorische Korrekturen, die G/J II 1, 171 f. vorschlagen.
(6) 1110b9–17 „Wenn jemand aber behaupten wollte, auch in lustvollen (he-
dea) und schönen (kala) Dingen liege Gewalt (biaia)“: Vermutlich hat Aris-
toteles das Plädoyer des Sophisten Gorgias im Sinn, der sich in seiner Lob-
rede auf Helena, auf den unwiderstehlichen Zwang der Liebe berufen hat
(vgl. DK 82 B 11, 15–19). Gorgias steht damit aber nicht allein. Auch Platon
nimmt im Protagoras die Frage nach der Macht der Lust auf und schreibt ihr
in den Nomoi eine bezwingende Kraft zu (Leg. IX 863b: apatê biaios – ‚ge-
waltsame Täuschung‘). Einen sachlichen Grund, warum angenehme psychi-
sche Eindrücke von außen nicht als Zwang zu verstehen sind, führt Aristo-
teles nicht an, sondern begnügt sich mit dem argumentum ad hominem, dass
sich die Menschen die schönen Handlungen selbst zuzurechnen und nur für
Schändliches der Lust die Schuld zuzuschieben pflegen. Der Einfluss äuße-
rer Eindrücke auf menschliches Verhalten überhaupt wird erst in den fol-
genden Kapiteln behandelt.
(6.1) 1110b11 f. „Zudem tut, wer der Gewalt wegen und unfreiwillig han-
delt, dies nur ungern“: Wenn Aristoteles zusätzlich Schmerz und Bedauern
als Charakteristika des Unfreiwilligen anführt, so trägt er damit der Tatsache
Rechnung, dass man mit dem Ausdruck akôn/akousion, wie auch im Deut-
schen mit ‚unfreiwillig‘, einen ablehnenden, entschuldigenden Sinn verbin-
det (s. das Plädoyer des Sängers Phemius, er sei vor den Freiern unfreiwil-
460 Kommentar
(1) 1110b18–24 „Was aufgrund von Unwissenheit (di’ agnoian) getan wird,
ist zwar insgesamt nicht freiwillig, unfreiwillig ist aber nur das, worüber
Buch III, Kapitel 2 461
man Schmerz und Bedauern empfindet“: Was für den Zwang gilt, soll auch
für die Unwissenheit gelten, d.h. dass etwas nur dann unfreiwillig ist, wenn
dem Betreffenden das Ergebnis seines Tuns unangenehm ist (vgl. Rhet. I 13,
1373b33–36; vgl. Platon, Leg. IX 866e). Diese Qualifikation, ihre Gründe
und ihre Rechtfertigung, sind seit langem Gegenstand detaillierter Analy-
sen und auch von Kritik (vgl. Kenny 1979, 53; Broadie 1991, 132–148; Irwin
2
1999, 203; Taylor 2006, 141–145; Sauvé Meyer 22011; Encheñique 2012; Lie-
nemann 2018, 112–122). ‚Unfreiwillig‘ (akôn) hat – wie auch im Deutschen
oder Englischen − zugleich einen ‚entschuldigenden‘ Sinn und stellt eine Di-
stanzierung zur eigenen Handlung dar (vgl. die Ausführungen bei Austin
1956/57). So würde man ein zwar unbeabsichtigtes, aber positives Hand-
lungsresultat nicht als unfreiwillig bezeichnen oder jemandem sagen, man
habe ihm unfreiwillig oder gar wider Willen aus der Not geholfen, sondern
vielmehr, man habe es nicht beabsichtigt. Wer nicht bedauert, was er unab-
sichtlich getan hat, sieht offensichtlich keinen Grund für eine Distanzierung
oder Entschuldigung.
(1.1) 1110b19 „worüber man Schmerz (epilypon) und Bedauern (metame-
leia) empfindet“: Das griechische Wort metameleia, das hier mit ‚Bedauern‘
übersetzt wird, bedeutet eigentlich ‚nachträgliche Umbesinnung‘ und kann
daher auch Reue bedeuten (metameleia vgl. A. Dihle 1982, 30 f.). Reue setzt
aber voraus, dass man absichtlich gehandelt und die Tat erst im Nachhinein
als falsch erkannt hat (so auch B/R, 313). Das ist hier aber nicht gemeint.
(1.2) 1110b23–25 „wer aber nichts bedauert, der gelte (estô) – weil er sich
darin unterscheidet – als jemand, der nicht-freiwillig handelt (ouch hekôn)“:
Aristoteles sieht sich genötigt, sprachschöpferisch tätig zu werden, um den
nicht-entschuldigenden Sinn zu kennzeichnen.
In De motu animalium 11, 703b3–10 verwendet Aristoteles die Unter-
scheidung zwischen ‚unfreiwillig‘ und ‚nicht-freiwillig‘ anders: nicht-frei-
willig sind die unbeeinflussbaren Körpervorgänge wie Atmung, Wachen
oder Schlafen, unfreiwillig hingegen unerwünschte körperliche Regungen,
wie erhöhter Herzschlag oder die Bewegung der Pudenda. Auch diese ter-
minologische Unterscheidung bestätigt, dass Aristoteles an einer sorgfälti-
gen Abgrenzung der Kennzeichnungen gelegen ist.
(3) 1111a3–21 „Es ist nun vielleicht nicht weniger wichtig bei diesen Ein-
zelheiten zu unterscheiden, welche und wie viele es gibt“: Zur stichwortar-
tigen Kennzeichnung der verschiedenen Möglichkeiten von Unkenntnis der
einzelnen Handlungsumstände verwendet Aristoteles zumeist Frageprono-
mina: Wer (tis) etwas tut, was (ti) er tut, mit Bezug worauf (peri ti), worin
(en tini), womit (tini), weswegen (heneka tinos) und wie (pôs) er es tut. Auf
eine nähere Kennzeichnung der verschiedenen Handlungsumstände wird
verzichtet; die dazu angeführten Beispiele sollen nur die Typen kennzeich-
nen, die man aus einschlägigen Gerichtsfällen und aus der entsprechenden
Literatur kennt. Aristoteles ist weder um die Plausibilität seiner Beispiele
noch um ihre Zuordnung zu den verschiedenen Aspekten besorgt (vgl. die
Kritik bei Taylor 2006, 146). Das Ausplaudern scheint ein Fall des ‚Was‘ der
unfreiwilligen Handlung, das Auslösen des Katapults ein Fall von ‚Worin‘,
das Werfen des Bimssteins und des Speers ein Fall von ‚Womit‘, und das
Niederschlagen beim Boxtraining ein Fall von ‚Wie‘ zu sein.
(3.1) 1111a8 „denn wie könnte er sich selbst nicht kennen“: Wenn Aristo-
teles meint, über das ‚Wer‘ könne der Handelnde nicht in Unkenntnis sein,
dann berücksichtigt er Fälle wie den des Ödipus nicht, dessen tragische Ver-
strickungen auch auf der Unkenntnis der eigenen Identität beruhen. Auch
in anderen Tragödien, wie etwa im Ion des Euripides, spielt Unkenntnis der
eigenen Identität eine wichtige Rolle.
(3.2) 1111a9 „wie Leute sagen (phasin), es sei ihnen beim Sprechen (legon-
tas) herausgerutscht (ekpesein)“: Wie zur Übersetzung angemerkt, wird hier
nach Rassows Vorschlag legontes durch legontas ersetzt.
(3.3) 1111a10 „wie Aischylos in Hinblick auf die Mysterien“: Die ‚Mys-
terien‘ beziehen sich auf den Demeter-Kult in Eleusis, an denen jeder er-
464 Kommentar
Werfen, und Entsprechendes gilt etwa für das Loslassen des Katapults. Auf
diesen Punkt hat Aristoteles bereits am Anfang des Kapitels mit der Klausel
hingewiesen: „jedenfalls mit Bezug auf das, was er nicht wusste“ (1110b21).
Auf die Frage der Vermeidbarkeit des Unwissens, also um die Frage, die
heute mit den Begriffen von Fahrlässigkeit und grober Fahrlässigkeit ver-
bunden sind, geht Aristoteles hier nicht ein, wie etwa im Fall des Verken-
nens, dass der Stein kein Bimsstein, der Speer scharf und nicht abgerun-
det, das Mittel tödlich ist. Auch die Frage der Schuldzumessung wird nicht
gestellt; sie wird aber in der Erörterung der Gerechtigkeit aufgenommen
(V 10, 1135b11–24). Dort unterscheidet Aristoteles verschiedene Arten von
‚Fehlern‘ und geht auch auf die Frage der Vorhersehbarkeit ein.
(1) 1111a22–25: Freiwillig ist auch, was aus Zorn oder Begierde getan wird.
(2) 1111a25–1111b3: Dafür gibt es drei Gründe: (i) Kinder und Tiere würden
sonst nichts freiwillig tun; (ii) auch schöne Handlungen resultieren aus Zorn
und Begierde; (iii) auch was man im Zorn tut, ist menschlich.
(1) 1111a22–25 „Wenn nun unfreiwillig ist, was aufgrund von Gewalt und
Unwissenheit geschieht“: Eine solche Ergänzung erscheint zunächst des-
wegen nicht erforderlich, weil Aristoteles bereits ausgeschlossen hat, dass
die Lust zu den ‚Zwangsmitteln‘ von außen gehört (1, 1110b9–17). Wenn
er dennoch eigens einen Nachweis führt, dass Freiwilligkeit auch durch be-
sonders starke Affekte wie Begierde und Zorn nicht aufgehoben wird, so
scheint er damit hier ein Thema kurz abtun zu wollen, das er in EE II 7–10
einer längeren aporetischen Behandlung unterzogen hat. Es geht nicht um
die Freiwilligkeit der Affekte selbst, sondern um dasjenige, was man auf-
grund ihrer tut.
(1.1) 1111a24 f. „was aufgrund von Zorn (thymos) oder aus Begierde (epi-
thymia) getan wird“: ‚Zorn‘ wird bei Aristoteles in unterschiedlichen Be-
deutungsnuancen verwendet und daher auch unterschiedlich übersetzt
(Ross: ‚anger‘; B/R: ‚temper‘; Irwin und Taylor: ‚spirit‘; G/J: ‚emportement‘;
466 Kommentar
(2) 1111a25–1111b3 „Zum einen würde dann nämlich keines der übrigen
Lebewesen etwas freiwillig tun“: Es folgen drei Argumente zum Beweis,
dass Zorn und Begierde die Freiwilligkeit nicht aufheben.
(2.1) 1111a25 f. „würde dann nämlich keines der übrigen Lebewesen etwas
freiwillig tun, auch Kinder nicht“: Vermutlich hält Aristoteles sich an den
gewöhnlichen Sprachgebrauch, dem zufolge man nicht nur von Kindern,
sondern auch von Tieren sagt, sie agierten freiwillig, wenn kein Zwang aus-
geübt wird. Die Bedingung, dass das Handeln wissentlich geschieht, kann
für Tiere aber gar nicht, für Kinder nur in einem sehr begrenzten Sinn gelten.
Es geht also um Freiwilligkeit in einem abgeschwächten Sinn (zu Ähnlich-
keiten zwischen Kindern und Tieren vgl. HA VIII 1, 588a26–b3).
(2.2) 1111a27–33 „Tun wir nichts freiwillig von dem, was wir aus Begierde
oder aus Zorn tun“: Da man sowohl Schönes wie auch Schlechtes aufgrund
von Begierde und Zorn tut, also beides auf derselben Ursache beruht, kann
man sich nicht das Schöne selbst zuschreiben, das Schlechte dagegen als un-
freiwillig abtun; diese Lösung ist bereits in 1, 1110b14 f. als unsinnig zurück-
gewiesen worden.
(2.2.1) 1111a30–33 „Denn über bestimmte Dinge soll man doch zornig sein
und ebenso auch bestimmte Dinge begehren“: Um welche Dinge es sich
handelt, kommt in der Erörterung der betreffenden Tugenden der Ausge-
glichenheit (IV 11) und Besonnenheit (III 13–15) zur Sprache. Verwunder-
lich ist aber, dass das Begehren (epithymein) auch der Gesundheit und dem
Lernen gelten soll, denn epithymia ist sonst auf körperliche Genüsse be-
schränkt. Wie diese Art rationalen Begehrens einzuordnen ist, kommt aber
auch später nicht zur Sprache.
(2.3) 1111a33–b3 „Wodurch unterscheiden sich der Art der Unfreiwilligkeit
nach diejenigen Fehler, die man aufgrund von Überlegung (logismos) be-
geht, von denen, die man aus Zorn begeht?“: Da im ersten Fall die Kontrolle
bei der Vernunft liegt, könnte man meinen, dass das für Verfehlungen im
Zorn nicht gilt. Dass auch solche Verfehlungen dem Menschen zuzurechnen
sind, wird damit gerechtfertigt, dass auch die an sich vernunftlosen Affekte
(1111b1: aloga pathê) zur menschlichen Natur (anthropika) gehören. Ge-
meint ist, dass die Affekte zu den Charakterdispositionen gehören und da-
Buch III, Kapitel 4 467
her nach I 13 auf die Gebote der Vernunft hören können. Daher sind auch
die Handlungen freiwillig, die man aus Zorn oder Begierde begeht.
(1) 1111b4–10: Entscheidung fällt zwar in den Bereich des Freiwilligen, ist
aber enger zu fassen. (2) 1111b10–30: Entscheidung ist nicht dasselbe wie
Begierde, Drang und Wunsch. (3) 1111b30–1112a13: Entscheidung ist nicht
dasselbe wie Meinung. (4) 1112a13–17: Zur weiteren Klärung des Begriffs
der Entscheidung ist der Begriff des Beratens hinzuzunehmen.
(1) 1111b4–10 „Nachdem wir nun das Freiwillige und das Unfreiwillige ge-
geneinander abgegrenzt haben, ist als Nächstes die Entscheidung (prohaire-
sis) zu untersuchen“: Erst Aristoteles hat anscheinend prohairesis zu einem
für die ethische Theorie zentralen Terminus technicus gemacht, wie seine
Erklärung am Ende dieses Kapitels durchblicken lässt. Die Übersetzung von
prohairesis mit ‚Entscheidung‘ ist der Tatsache geschuldet, dass Aristoteles
sie als das Resultat einer erfolgreich abgeschlossenen Beratschlagung kenn-
zeichnet, die unmittelbar das Handeln zu Folge hat (5, 1113a2–7). An sich
hat prohairesis im Griechischen ein breites Spektrum, wie etwa die Liste von
acht verschiedenen Bedeutungen bei LSJ bestätigt, u.a. ‚Wahl‘, ‚Auswahl‘;
‚Absicht‘, ‚Plan‘, ‚Vorhaben‘, ‚Vorzug‘, ‚Grundsatz‘ oder ‚Vorgehensweise‘.
Auf einzelne Handlungsentscheidungen, in dem von Aristoteles intendier-
468 Kommentar
ten Sinn, war der Ausdruck zuvor nicht festgelegt (vgl. die Aufstellung bei
G/J II 1, 189 f. und Kullmann 1943). Auch Aristoteles verwendet den Aus-
druck verschiedentlich in diesem weiteren Sinn (vgl. EN I 1, 1094a2; 13,
1102a13; X 10, 1179a35). Den hier intendierten Sinn hat er bereits in seiner
Definition der Charaktertugend vorweggenommen (II 6, 1106b36 f.): „Die
Tugend ist also eine Disposition zu Entscheidungen (hexis prohairetikê), die
in einer Mitte in Bezug auf uns liegt“. An diese Tatsache erinnert hier die
Versicherung, die Entscheidung „scheint aufs engste mit der Tugend ver-
wandt.“
(1.1) 1111b6 „Denn sie scheint … mehr zur Beurteilung (krinein) des Cha-
rakters beizutragen als die Handlungen“: Entscheidungen sagen deswegen
mehr über den Charakter aus als die Handlungen, weil man es einer Hand-
lung als solcher nicht ansieht, welchem Zweck sie dient (vgl. II 3, 1105a28–
34). Um zu wissen, ob eine Handlung gerecht oder besonnen ist, muss man
vielmehr die Entscheidung des Handelnden kennen. Auch sind Erfolg oder
Misserfolg einer Handlung keine ausschlaggebenden Kriterien zur Beurtei-
lung des Charakters des Handelnden.
(1.2) 1111b7–10 „Denn am Freiwilligen haben auch Kinder und die übrigen
Lebewesen teil, nicht aber an Entscheidungen“: Wenn Kindern und Tieren
zwar freiwilliges Verhalten (vgl. 3, 1111a25 f.), aber keine prohairesis zu-
gesprochen wird, dann nur in dem hier angenommenen engen Sinn einer
auf Beratung beruhenden Entscheidung. Dass Kinder und Tiere Präferen-
zen haben, dürfte Aristoteles nicht bestreiten wollen. In MA 6, 700b17 f.
schreibt Aristoteles zwar Lebewesen als solchen zunächst Denken, Vor-
stellungsgabe, Entscheidung, Wunsch und Begierde zu, macht im Folgen-
den aber deutlich, dass das Verhalten verschiedener Lebewesen durch un-
terschiedliche Vermögen bestimmt wird; dabei werden Wahrnehmung und
Vorstellungskraft als von der Vernunft verschiedene, ihr aber entsprechende
Ursachen des Verhaltens präsentiert (700b18–24). Dirlmeiers Behauptung
(21969, 327), Aristoteles schreibe dort auch den Tieren prohaireseis zu, ist
also irreführend. Laut HA VIII 1, 588a31–b3 unterscheiden sich Kinder
nur insofern von den Tieren, als in ihnen die typisch menschlichen Ver-
mögen bereits angelegt sind. Entsprechend bezeichnet Aristoteles in Poli-
tik I 13, 1260a13 f.; 31–33 das Kind als ‚unvollkommenen‘ Menschen, weil
seine praktische Vernunft noch nicht entwickelt ist. Über die Grenzen des
Kindesalters und das Einsetzen der Vernunft betreffend macht er keine ge-
nauen Angaben (VI 12, 1143b7–9). Da er aber von Siebener-Perioden in der
Entwicklung im menschlichen Leben ausgeht (vgl. Pol. VII 17; HA VII 1),
dürfte gemeint sein, dass die charakterliche Vorbildung im Alter von 7 be-
ginnt, die Vernunft im Alter von 14 einsetzt und mit 21 voll entwickelt ist.
(1.2.1) 1111b9 f. „auch nennen wir zwar plötzliches Tun (ta exaiphnês) frei-
willig“: Später wird noch eine Erklärung folgen, dass gerade das Verhalten
Buch III, Kapitel 4 469
(2) 1111b10–30 „Diejenigen, die sagen, die Entscheidung sei Begierde (epi-
thymia), Drang (thymos), Wunsch (boulêsis) oder eine Art von Meinung
(doxa), scheinen das nicht zu Recht zu sagen“: Da erst Aristoteles eine ter-
minologische Festlegung zur Bedeutung von prohairesis vornimmt, ist es ein
rhetorischer Trick, anderen diesbezüglich Fehlidentifizierungen zu unter-
stellen. Er bietet aber die Gelegenheit zu einer genauen Spezifizierung des
Unterschieds zwischen prohaireis und allen anderen Kandidaten zur Vorbe-
reitung der eigenen Definition (5, 1113a9–14).
Mit „Begierde, Drang, Wunsch“ (1111b11) ersetzt Aristoteles hier nicht
etwa seine Zweiteilung der Seele durch die von Platon bekannte Dreitei-
lung, sondern er nimmt sie als etwas allgemein Bekanntes auf. Er dürfte
auch nicht Platons Rechtfertigung im Auge haben; denn Platon assoziiert
den Mut (thymos) oder das ‚Muthafte‘ (thymoeides) mit der Tapferkeit und
behandelt es als möglichen Verbündeten der Vernunft (Resp. III 375a–376c;
IV 435d–440e). Davon geht Aristoteles nicht aus, wenn er den ‚thymos‘ auch
Kindern und Tieren zuspricht. Die Dreiteilung scheint aber als solche all-
gemeine Zustimmung gefunden zu haben; auch Aristoteles geht davon an
anderer Stelle aus.
(2.1) 1111b13–18 „Auch handelt der Unbeherrschte (akratês) aus Begierde,
aber ohne zu entscheiden; umgekehrt handelt der Beherrschte (enkratês)
aufgrund einer Entscheidung, aber nicht aus Begierde.“ Die Schlüsselrolle,
die der Begierde in Hinblick auf den Unterschied zwischen Unbeherrscht-
heit und Beherrschtheit zukommt, wird später Thema einer eigenen Un-
tersuchung (VII 1–11). Wie sich dort zeigt, lassen sich Beherrschtheit und
Unbeherrschtheit nicht ohne weiteres in das Schema von Tugenden und
Lastern einordnen, weil der Unbeherrschte unter dem Einfluss von Be-
gierden wider besseres Wissen handelt, während der Beherrschte das nicht
tut.
(2.1.1) 1111b15 f. „Ferner kann eine Begierde einer Entscheidung entgegen-
gesetzt sein (enantiousthai), nicht aber eine Begierde einer anderen“: Begier-
den werden durch ihre Objekte bestimmt und können daher einander nicht
entgegengesetzt sein; das schließt natürlich nicht aus, dass eine Begierde
mit einer anderen konkurrieren kann (vgl. dazu Platons Rechtfertigung der
Existenz von drei Seelenteilen, Resp. IV 436b; 437b–439c).
(2.1.2) 1111b16 f. „Außerdem gilt die Begierde Lust- oder Schmerzvollem“:
Mit Schmerz ist die Begierde nur insofern verbunden, als den Betreffenden
entgangene Lust schmerzt (II 3, 1104b6 f.; vgl. 13, 1117b26; 1118b28–33; an-
470 Kommentar
ders Taylor 2006, 153). Auch sonst rechnet Aristoteles die Begierde nicht zu
den mit Schmerzen gemischten Gefühlen (Rhet. I 11, 1370a16–23).
(2.1.3) 1111b17 f. „die Entscheidung dagegen auch weder Schmerz- noch
Lustvollem“. Diese Behauptung erscheint zunächst problematisch, weil
es für das tugendhafte Handeln kennzeichnend ist, dass es mit Lust und
Schmerz verbunden ist (II 2, 1104b3–18). Da die Entscheidung den Mitteln
zu einem guten Ziel gilt, ist sie jedoch nicht per se auf Lust oder Schmerz
bezogen, sondern auf die zielführende Handlungsweise.
(2.2) 1111b18 f. „Noch weniger aber ist die Entscheidung eine Art von
Drang (thymos)“: Zur Übersetzung mit ‚Drang‘ sei auf die früheren An-
merkungen zur Übersetzung durch ‚Zorn‘ bzw. ‚Mut‘ oder ‚Wut‘ verwiesen
(2, 1110b25–27). ‚Zorn‘ oder ‚Wut‘ können hier nicht gemeint sein, weil nie-
mand sie mit ‚Entscheidung‘ gleichsetzen würde. Das im Englischen gern
verwendete ‚spirit‘ hat keine deutsche Entsprechung. Da Aristoteles den
thymos auch den vernunftlosen Lebewesen zuschreibt, muss aber etwas wie
Drang oder Erregung gemeint sein, wie sie auch Tiere an den Tag legen.
(2.3) 1111b19–30 „Sie ist freilich auch keine Art von Wunsch (boulêsis),
wenngleich sie ihm nahezustehen scheint“: Zur Begründung verweist Aris-
toteles auf mehrere Unvereinbarkeiten in der Verwendung von ‚Wunsch‘
und ‚Entscheidung‘. Daraus erhellt auch, warum boulêsis nicht mit ‚Willen‘
zu übersetzen ist: Man kann sich zwar Unmögliches wünschen wie auch
Dinge, die nicht der eigenen Kontrolle unterliegen, eine Sache des Willens
wären sie aber nicht (zu den Bedeutungsnuancen der griechischen Ausdrü-
cke, die ein Wollen, Wünschen, Bereitschaft oder eine Absicht ausdrücken,
vgl. die Übersicht bei G/J II 1, 192–194 und Dihle 1982, Kap. II). Zur Be-
stätigung, dass Entscheidungen sich, anders als Wünsche, nicht auf Unmög-
liches beziehen, beruft sich Aristoteles auf den Sprachgebrauch: Niemand,
der sich etwas wünscht, was er für unmöglich hält, würde behaupten, er ent-
scheide sich dazu. Hingegen kann etwas als unmöglich Erkanntes weiterhin
Gegenstand eines Wunsches bleiben. So wird der unheilbar Kranke weiter-
hin wünschen, gesund zu werden; eine diesbezügliche Entscheidung kann er
aber nicht treffen.
(2.3.1) 1111b22 f. „wie etwa der Unsterblichkeit (athanasia)“: Wie auch an-
dere Kommentatoren anmerken, ist damit nicht die Theorie der Abtrenn-
barkeit und Wiedergeburt der Seele gemeint, sondern der schlichte Wunsch,
das Leben möge nie zu Ende gehen (vgl. dazu Xenophon, Symposion I 15, 8).
(2.3.2) 1111b23–26 „Zudem beziehen sich Wünsche auch auf Dinge, die gar
nicht durch einen selbst bewirkt werden könnten“: Die Begründung ist ähn-
lich wie im Fall des Unmöglichen: Niemand sagt, man entscheide sich für
etwas, das man nicht selbst ausführen kann. Man kann zwar wünschen, ein
bestimmter Sportler oder ein Schauspieler möge siegen, sich aber für nichts
dergleichen entscheiden.
Buch III, Kapitel 4 471
(2.3.3) 1111b26–30 „Außerdem gilt der Wunsch mehr dem Ziel (telos), die
Entscheidung aber dem, was darauf bezogen ist (pros to telos)“: Das vorsich-
tige ‚mehr‘ (mallon) zeigt an, dass Wunsch und Entscheidung nicht strikt
voneinander zu trennen sind. Denn die Entscheidung dient dem Wunsch;
sie hat ihn zum Ausgangspunkt und das Handeln umfasst beide zugleich.
Das Verhältnis von Wunsch und Entscheidung ist aber auch nicht das von
Ziel und Mittel in einem bloß instrumentalen Sinn. Dass das Ziel selbst nicht
auf Entscheidung beruhen soll, will zunächst nicht einleuchten, zumal frü-
her von einer Wahl von Zielen die Rede war (I 1, 1094a13–16; 5, 1097a24–b6
et pass.). Wie es dazu kommt, macht aber erst die Erörterung des Wunsches
in Kap. 6 deutlich. Dass das Ziel kein Gegenstand von Entscheidung ist, be-
deutete nicht, dass es nicht auf Überlegungen anderer Art beruht. Vielmehr
nimmt Aristoteles ganz bewusst eine Verengung von prohairesis vor, die es
erlaubt, Ziel und Zielführendes im weitesten Sinn zu unterscheiden und sie
verschiedenen Vermögen zuzuweisen, eine Tatsache, die auch die Erörte-
rung des Begriffs der phronêsis in Buch VI deutlich macht.
(2.3.4) 1111b29 f. „Überhaupt scheint nämlich die Entscheidung auf die
Dinge bezogen zu sein, die bei uns liegen (ta eph’ hemin)“: Dass etwas ‚bei
uns‘ liegt, hält Aristoteles für selbstverständlich. Der Ausdruck ist zwar
der Umgangssprache entnommen, Aristoteles verwendet ihn aber fast aus-
schließlich in der Ethik (vgl. EE II 8, 1225a31 et pass.; MM I 9, 1187a22 et
pass.; zum Ausdruck und seiner Verwendung vgl. Bobzien 2013, 113). Später
wird dieser Ausdruck zum Zentralbegriff in der philosophischen Auseinan-
dersetzung über das, was wir heute als das Problem von Determinismus und
Willensfreiheit bezeichnen. Die Philosophen des hellenistischen Zeitalters
stritten nicht über die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat, sondern
ob etwas ‚bei uns‘ bzw. ‚in unserer Hand liegt‘. Die Debatten wurden darum
aber nicht weniger scharf geführt (vgl. Kahn 1988; Gaskin 1995; Bobzien
1998, Jedan 2000; M. Frede 2011). Da das Lateinische keinen Artikel hat, sa-
hen sich Übersetzer wie Cicero und Seneca zu besonderen Wortschöpfun-
gen gezwungen. Zwar verwendet Cicero manchmal in nobis (De fato 9, 40),
zumeist aber in nostra potestate (9, 25; 31 et pass.), gelegentlich auch volun-
tas (9, 20). Seneca verwendet voluntas, daneben aber auch in nostra potestate
(zur Bedeutung von velle im Sinn von ‚wanting‘, statt von ‚willing‘ vgl. In-
wood 2005, 132–156).
nen Wert zu legen, denn im Folgenden mischen sich rein formale mit sach-
lichen Merkmalen. Auch verzichtet Aristoteles auf nähere Begründungen:
(i) 1111b31–33: ‚Meinung‘ umfasst einen weiteren Bereich als ‚Entschei-
dung‘, weil Meinungen schlechthin alles zum Gegenstand haben können,
neben dem, was bei uns liegt, auch Ewiges und Unmögliches. (ii) 1111b33 f.:
Meinungen werden als wahr oder falsch, aber nicht als gut oder schlecht be-
zeichnet, Entscheidungen dagegen ‚eher‘ als letzteres. (iii) 1112a1–3: Den
Charakter erkennt man daran, ob man Gutes oder Schlechtes vorzieht, nicht
aber an unserer Meinung darüber. (iv) 1112a3–5: Man entscheidet sich dafür,
etwas zu verfolgen oder zu meiden; eine Meinung hat man darüber, was es
ist und wem es nützt. (v) 1112a5–7: Entscheidungen werden dafür gelobt,
dass sie dem gelten, was man tun soll, oder weil sie richtig (orthôs) sind, im
Unterschied zur Meinung, die dafür gelobt wird, dass sie wahr (alêthôs) ist.
An diese terminologische Unterscheidung hält sich Aristoteles allerdings an
anderer Stelle nicht (vgl. VI 10, 1142b16–22 zur euboulia). (vi) 1112a7 f.:
Entscheidungen gelten dem, von dem man am sichersten weiß (malista is-
men), dass es das Beste ist, während man Meinungen auch über Dinge hat,
von denen man kein genaues Wissen hat. Letzteres ist zwar unbestreitbar;
dass man über Unsicheres keine Entscheidungen trifft, ist aber angesichts
der früher konstatierten grundsätzlichen Unsicherheit moralischen Han-
delns problematisch. Aristoteles will hier nur sagen, dass eine Entscheidung
erst dann getroffen wird, wenn man über die Einzelheiten hinreichend mit
sich zurate gegangen ist (5, 1113a2–5). (vii) 1112a8–11: Die Behauptung,
nicht immer seien die gleichen Leute die besten im Entscheiden und im Mei-
nen, dürfte sich auf die Unbeherrschten beziehen. Dass richtige Meinungen
nicht automatisch das entsprechende Handeln nach sich ziehen, gilt Aristo-
teles als ausgemacht (vgl. II 3, 1105b12–18).
(3.1) 1112a11–13 „Ob der Entscheidung eine Meinung vorangeht (progi-
netai) oder mit ihr einhergeht (parakolouthei), macht keinen Unterschied“:
Hier zeigt sich, dass Aristoteles zwar keine Identität, wohl aber eine enge
Verbindung zwischen Meinung und Entscheidung voraussetzt. Denn die
Annahmen über die Einzelheiten von Handlungen sind Meinungen: wer der
Betreffende ist, womit, wozu und wie die Handlung auszuführen ist. Darauf
beruht auch die Entscheidung, was zu tun ist.
(4) 1112a13–17 „Was aber ist nun die Entscheidung und welcher Art ist sie,
da sie keines von den genannten Dingen ist?“: Eine Definition der Entschei-
dung liefert dieses Ausscheidungsverfahren nicht. Aristoteles verbucht aber
als positives Ergebnis, dass auch Entscheidung etwas Freiwilliges ist. Was
zur Bestimmung von Entscheidung noch fehlt, legt die rhetorisch gemein-
ten Frage nah, dass sie dasjenige ist, worüber man zuvor zurate gegangen ist
(probebouleumenon). Diese Feststellung soll auch die Bemerkung über die
Buch III, Kapitel 5 473
(1) 1112a18–34 „Geht man nun über alle Dinge mit sich zurate und ist al-
les Gegenstand von Beratung (boulê)?“: Die Übersetzung von boulê und
474 Kommentar
(2) 1112a34–b11 „Auch auf dem Gebiet der genauen (akribês) und autar-
ken Arten von Wissen (epistêmê) gibt es aber keine Beratung“: Trotz der
Verwendung von epistêmê kann hier nicht die Mathematik oder die Natur-
wissenschaften gemeint sein, weil sie zuvor schon ausgeschieden sind. In
welchem Sinn aber kann die Schreibkunst als ‚genaue‘ und ‚autarke‘ Diszi-
plin gelten, die keinem Zweifel unterliegt und bei der es keinen Beratungs-
bedarf gibt? Der Gesichtspunkt dürfte derselbe sein, der auch Platon in
seinem Spätwerk dazu bestimmt, die Schreibkunst zusammen mit der Mu-
sik als paradigmatische Wissensart zu präsentieren (vgl. Tht. 206a–b; Soph.
253b; Phlb. 17a–18d). Grund dafür ist, dass Buchstaben wie auch die Ton-
arten vollständige Systeme mit feststehenden Elementen darstellen (vgl. II
3, 1105a21–26). Nach der Standardisierung der Rechtschreibung vom Jahr
403 gab es nur noch minimale Abweichungen in der Schreibweise. Zudem
gab es anscheinend keine Diskrepanzen zwischen Phonemen und Graphe-
men, die in vielen Sprachen Probleme mit der Rechtschreibung verursachen.
Die Aufzählung zeigt, dass Aristoteles daran gelegen ist, den Unterschied
zu denjenigen Disziplinen hervorzuheben, die mit ähnlichen Unsicherhei-
ten befrachtet sind wie moralisches Handeln, nämlich Medizin, Nautik oder
auch Geldgeschäfte (vgl. II 4, 1104a2–11). Auf den Unterschied zwischen
technischen Produktionen und moralischen Handlungen, der schon gele-
gentlich angeklungen ist und VI 4 näher begründet wird, kommt es ihm hier
nicht an, vielmehr will er auf eine Analogie zwischen allen Bereichen hinaus,
in denen es Beratungsbedarf gibt.
(2.1) 1112b8–11 „Beratungen beziehen sich also auf Dinge, die zwar meis-
tens geschehen (hôs epi to poly), bei denen es aber unklar ist, wie sie aus-
gehen“: Dass es in ethischen Fragen um Dinge geht, die meistens gesche-
hen, gehört zu den Grundvoraussetzungen (vgl. I 1, 1094b21). Aus diesem
Buch III, Kapitel 5 475
Grund erlaubt die Ethik zwar keine Genauigkeit wie die Mathematik, wohl
aber ceteris paribus Regeln. Beratungsbedarf gibt es immer dann, wenn ein
Fall ihnen nicht entspricht. In besonders schwerwiegenden Fällen (eis ta me-
gala) zieht man daher Ratgeber herbei (symbouloi), wenn man sich selbst
nicht den nötigen Durchblick zutraut.
(3) 1112b11–24 „Wir gehen mit uns aber nicht über die Ziele zurate, son-
dern über das, was zu ihnen hinführt (ta pros ta telê)“: Dass nicht Ziele, son-
dern nur das, was auf das Ziel hinführt, Gegenstand von Entscheidung (und
Beratung) sein sollen, ist bereits 4, 1111b26–30 vorweggenommen worden.
Die ‚Arbeitsteilung‘ von Ziel und Weg betreffend scheint Aristoteles darauf
zu vertrauen, dass die angeführten Analogiefälle sie plausibel machen: We-
der der Arzt noch der Redner noch der Politiker beraten über die Ziele ih-
rer Tätigkeit, vielmehr sind Gesundheit, Überzeugung und gute Gesetze die
vorgegebenen Ziele dieser Disziplinen (so auch Rhet. I 6, 1362a17–21 zur
Beratungsrede; Met. Z 7, 1032b6–22 zur Gesundheit). Es fragt sich aber, ob
die Übertragung der Verhältnisse in den Fachdisziplinen auf die Ethik nicht
irreführend ist. Denn im Bereich von Medizin, Rhetorik und Gesetzgebung
steht das Ziel jeweils ex officio fest, selbst wenn Missbrauch oder Unterlas-
sung durch einzelne Vertreter nicht auszuschließen ist. Ein Arzt geht nicht
mit sich zurate, ob er einen bestimmten Kranken heilen wird, sondern nur,
wie er das tun kann, also mit welchen Mitteln.
Dass Analoges auch für die Ziele im Bereich des menschlichen Handelns
gelten soll, erscheint zunächst auch dann problematisch, wenn man Aristo-
teles zugesteht, dass die Ethik das gute Leben als solches zum Ziel hat und
niemand darüber berät, ob er glücklich sein will. Dieses höchste Ziel kann
aber nicht gemeint sein (pace Cooper 1975, 14–19 et al.). Denn Aristoteles
scheint an einzelne Handlungen zu denken, wie seine weitere Beschreibung
des Vorgehens nahelegt, denn er spricht vom ‚Festlegen‘ (themenoi) eines
Ziels. Dieses Festlegen setzt jedoch eine eigene Art von Überlegung oder
Verstehen voraus, die dem diagnostischen Blick des Arztes vergleichbar ist,
der nicht nur feststellt, dass der Patient krank ist, sondern auch, was ihm
fehlt. Erst dann kann er mit sich zurate gehen, wie der Kranke zu heilen ist.
(3.1) 1112b16 f. „dann prüft man weiter, wodurch es am leichtesten (rhasta)
und am schönsten (kallista) geht“: Diesem Nebensatz ist zu entnehmen,
dass nicht jedes Mittel zur Verwirklichung eines vorgegebenen Ziels recht
ist, der Zweck also nicht alle Mittel heiligt. Die Mittel und Wege sollen viel-
mehr möglichst leicht und ‚schön‘, d.h. moralisch gut sein. Da Mittel auch
die Handlungsweisen einschließen, kommt diesem Verweis auf die beste
und schönste Weise großes Gewicht zu.
(3.2) 1112b18–20 „bis man zur ersten Ursache (aition) kommt, die beim Su-
chen als letzte erreicht wird“: Mit dieser skizzenhaften Beschreibung der
476 Kommentar
Methode muss Folgendes gemeint sein: Wenn das Ziel vorgegeben ist, führt
die Suche nach den Mitteln und Wegen schließlich zu einer ersten Ursache,
mit der die Suche ihr Ende findet. Diese erste Ursache liegt darin, dass man
bei der Beratung bei sich selbst in seinem Jetzt und Hier angekommen ist.
Es geht also nicht um ‚erste Ursachen‘ im Sinne von ersten Prinzipien (B/R,
316 lassen diesen praktischen Aspekt außer Acht, wenn sie darin eine offene
Frage sehen). Die letzte durch die ‚Heuristik‘ der Analyse gefundene Ursa-
che stellt vielmehr den ersten Schritt in der Ausführung dar (ähnlich Met. Z
7, 1032b6–10). Ob damit gemeint ist, dass der letzte Schritt in der Beratung
wirklich zugleich der erste Schritt im Handeln sein soll, ist umstritten. In
manchen Fällen wird das so sein; zwingend ist es deswegen nicht, weil man
heute eine Entscheidung treffen kann, die man erst morgen oder zu einem
anderen Zeitpunkt ausführt. Der letzte Schritt in der Beratung ergibt jedoch,
was der erste Schritt beim Handeln sein muss.
(3.3) 1112b20–24 „Wer mit sich zurate geht, scheint aber in derselben Weise
zu suchen und zu analysieren (analyein) wie bei einer geometrischen Kon-
struktion (diagramma)“: Dass es hier nicht um die deduktive Vorgehens-
weise geht, wie manche Interpreten vorschlagen (Stewart 1892, 262–266),
legt die Rede von einer Konstruktion und ihrer Analysis nahe (Grant 1874,
20 f. et al.). Sie veranschaulicht die Vorgehensweise, bei der Beratung von
einem gegebenen Ziel aus ‚rückwärts‘ eine Kette von Mitteln und Wegen
bis zum Handelnden selbst zu finden. In syllogistische Form lässt sich diese
Vorgehensweise nicht bringen, so dass es auch keinen Zusammenhang mit
dem ‚praktischen Syllogismus‘ gibt, der in Buch VII zur Darstellung von
Unbeherrschtheit und Beherrschtheit verwendet wird (vgl. Corcilius 2008a,
250–261). Vielmehr geht die Analyse vom Konstruktionsziel aus und sucht
dessen konstitutive Elemente auf, so wie sich etwa ein Polygon in Drei-
ecke zerlegen lässt, die dann die Grundlage des synthetischen Konstrukti-
onsverfahrens bieten (zur Analysis in der Geometrie nach Aristoteles vgl.
Heath 1949, 270–272; Hardie 1968, 166 mit weiteren Literaturverweisen).
Aristoteles legt zwar Wert auf die Feststellung, dass die Beratung im Sinne
der Rekonstruktion einer zum Ziel führenden Reihe von Handlungen nicht
mit einer theoretischen Untersuchung gleichzusetzen ist, ordnet aber beide
Verfahren der Gattung der ‚Untersuchung‘ zu (1112b21–23: zêtêsis). In ver-
kürzter Form wird auf diese rekonstruktive Vorgehensweise auch in VI 13,
1144a31–34 hingewiesen (ausführlicher und mit ausdrücklichem Verweis
auf die Analytiken in EE II 10, 1227a5–18). Daher erklärt Aristoteles, die
letzte Ursache in dieser Kette sei dann erreicht, wenn der Beratende den
Ursprung der Handlung auf sich selbst zurückgeführt hat (1113a5 f.), d.h.
wenn er den Schritt gefunden hat, der unmittelbar ‚bei ihm‘ liegt und der
in der nachfolgenden Handlungskette als erster ausgeführt wird. So erklärt
sich auch die ‚erste Ursache‘ von 1112b19.
Buch III, Kapitel 5 477
Analyse
→
Ziel |––| Handelnder
← Handlung
Die Orientierung am analytischen Verfahren, das Aristoteles auch in der
Logik voraussetzt, d.h. dass zu einer gegebenen Konklusion die erforderli-
chen Prämissen zu suchen sind, erklärt die Art dieser Arbeitsteilung. Es er-
schwert allerdings das Verständnis, dass Aristoteles nicht explizit sagt, dass
es der Wunsch (boulêsis) ist, der das Ziel setzt. Er hat das zwar zuvor schon
angedeutet; die Bedeutung dieser Bemerkung ist aber leicht zu übersehen,
weil nur beiläufig in der Erklärung dafür erwähnt wird, dass Entscheidung
und Wunsch nicht dasselbe sind (4, 1111b26–30). Dass der Wunsch auch
eine diagnostische Fähigkeit hat, die das Ziel festlegt, ist nur der knappen
Darstellung in Kap. 6 zu entnehmen.
(4) 1112b24–1113a2 „Wenn man dabei auf etwas Unmögliches stößt, dann
gibt man es auf“: Die weitere Beschreibung des analytischen Verfahrens be-
stätigt, dass es der Verwirklichung konkreter Handlungsziele gilt. Das zeigt
der Verweis auf Geldmittel, die nicht zu beschaffen sind, wie auch der Hin-
weis, auch durch Freunde Bewirktes komme in gewisser Hinsicht durch ei-
nen selbst zustande. Zugleich wird hier deutlich, dass die Rede von ‚Mitteln
und Wegen‘ nicht rein instrumentell auszulegen ist: Die Suche nach den Ur-
sachen gilt zwar manchmal den Werkzeugen (organa), manchmal aber auch
ihrem Gebrauch (chreia), also der praktischen Ausführung. Sie schließen
zum einen weitere Handlungen ein, wie etwa die Beschaffung von Geldmit-
teln, um einem Freund zu helfen. Diese Teil-Handlungen sind nicht nur auf
ihre Machbarkeit, sondern auch auf ihre moralische Vertretbarkeit zu über-
prüfen. Das gilt z.B. der Frage, um wie viel Geld man einen Freund bitten
kann, ohne ihn in die Verlegenheit zu bringen, dieses Ansinnen abschlagen
zu müssen. Hätte Aristoteles zu den Mitteln die bekannten Parameter des
Sollens hinzugefügt: ‚wodurch man soll (dei)‘ usw., hätte sich das Problem
der scheinbaren moralischen Neutralität der Mittel nicht gestellt. Denn das
Sollen, auf das Aristoteles bei der Bestimmung der Charaktertugenden so
viel Wert legt, gilt nicht nur der Festlegung der Ziele, sondern auch der Be-
ratung und Entscheidung (4, 1112a6).
(4.1) 1112b31–34 „Es scheint also, wie gesagt, dass der Mensch der Ursprung
(archê) seiner Handlungen ist“: Der Mensch ist sowohl der Schlusspunkt in
der Analyse der Mittel und Wege wie auch der Anfangspunkt des konkreten
Handelns in der Ausführung. Dass die Handlungen ‚anderer Dinge wegen‘
geschehen, zeigt an, dass der Handelnde zwar Anfang und Ende der Bera-
tungskette ist, seine Handlungen aber nicht notwendig ihm selbst gelten,
sondern dem guten Zweck, wie etwa im Fall der Hilfe für einen Freund.
478 Kommentar
(5) 1113a2–9 „Der Gegenstand von Beratung und Entscheidung ist zwar
derselbe, nur ist er bei der Entscheidung bereits klar bestimmt (aphôrisme-
non)“: Die Entscheidung ist nicht etwa nur der letzte Schritt der Beratung,
sondern umfasst sämtliche Schritte der Analyse. Auch ist mit dieser Festle-
gung kein plötzlicher ‚Energieschub‘ verbunden, der etwa die oft bei Aristo-
teles vermisste Willenskraft in sich birgt, die das Handeln auslöst. Vielmehr
ist das Streben zu handeln bereits mit der Festlegung des Ziels vorgegeben.
(5.1) 1113a6 „zu dem leitenden Teil in ihm (to hêgoumenon)“: Der Aus-
druck wird hier synonym zu dem gebräuchlicheren kyrion verwendet. Dass
Aristoteles hier Wert auf den leitenden Teil als Letztinstanz legt, soll anzei-
gen, dass es die Vernunft ist, die für die Entscheidung verantwortlich ist.
(5.2) 1113a7–9 „Das wird auch aus den alten Staatsverfassungen deutlich,
die Homer darstellt“: Eine Formel findet sich bei Homer nicht; die Könige
wurden aber als Führer (hêgemones) und Köpfe (koiranes) des Volkes be-
zeichnet (vgl. Ilias II 487; 760 et pass.). Aristoteles ist kein Befürworter der
alten Monarchien, die er für ein Relikt der alten Stammesgesellschaft hält
(vgl. Pol. I 2, 1252b18–26). Er führt jedoch zur Rechtfertigung einer ersten
Ursache des Kosmos in Met. L 10, 1076a4 den Vers bei Homer an: „Viel-
köpfigkeit ist nicht gut; ein Kopf (heis koiranos) soll es sein.“ (Ilias II 204)
(5.3) 1113a9–14 „Da Gegenstand der Entscheidung dasjenige ist, worüber
man berät, was man erstrebt und was bei uns liegt“: Wie sich zeigt, besteht
die Entscheidung nicht allein in der erfolgreichen Beratung. Vielmehr gehört
zur Entscheidung auch das Streben (orexis). Da von einem Streben bisher in
der Analyse von Beratung und Entscheidung nicht die Rede war, sieht sich
Aristoteles zu der Erklärung genötigt, das Streben sei bereits ein Element
des Beratens: „wir … erstreben das, was dem Beraten entspricht“ (1113a12:
oregometha kata tên bouleusin). Das Streben ist also kein zusätzliches Ver-
mögen, sondern die Motivationskraft der Beratung, denn ohne ein Streben
Buch III, Kapitel 6 479
(1) 1113a15–22: Die Frage nach dem Gegenstand des Wunsches wird in
Form eines Dilemmas präsentiert: Sowohl die Annahme, es sei das Gute, wie
auch die, es sei das, was gut erscheint, führt zu unannehmbaren Konsequen-
zen. (2) 1113a22–31: Die Lösung liegt in der Differenzierung zwischen dem
wahrhaft Guten und dem für den Einzelnen Wünschbaren. (3) 1113a31–b2:
Der gute Mensch ist Maß und Richtschnur für das wahrhaft Gute und An-
genehme.
480 Kommentar
(1) 1113a15–22 „Dass der Wunsch (boulêsis) sich auf das Ziel (telos) bezieht,
wurde bereits gesagt“: Der Verweis bezieht sich auf 4, 1111b26 f., wo dem
Wunsch das Ziel zugeteilt worden ist, der Entscheidung dasjenige, was zum
Ziel führt. Da boulêsis neben ‚Wunsch‘ auch ‚Absicht‘, ‚Intention‘ oder ‚Ein-
stellung‘ bedeutet, würde man eine genauere Bestimmung der Art des Stre-
bens und des kognitiven Vermögens erwarten, die den Wunsch auszeichnen.
Darüber hat Aristoteles aber zuvor nichts weiter gesagt, bis auf den Hinweis
auf die Unterscheidung von Begierde (thymos) und Wunsch (4, 1111b11),
die auf Platon zurückgeht und den Wunsch dem rationalen Seelenteil zuord-
net. Auf diese Unterscheidung rekurriert Aristoteles auch sonst manchmal
teils kritisch, teils auch mit Zustimmung.
Viele Interpreten sehen im Wunsch ein rein rationales Strebevermögen
(vgl. Irwin 1988, Kap. 15; Cooper 1999a; b; Lorenz 2009a). Sie können sich
dazu auch auf weitere Textstellen stützen, die von einer Unterscheidung
zwischen dem rationalen und nicht-rationalen Strebevermögen ausgehen
und den Wunsch ersterem zuschreiben (vgl. De an. III 9, 432b5–7; Top. IV 5,
126a12 f.). Die Wünsche, die Aristoteles den Menschen in 4, 1111b24–30 zu-
schreibt, haben zudem einen rationalen Gehalt: Wir wünschen gesund und
glücklich zu sein, wir wünschen, dass bestimmte Schauspieler oder Sport-
ler siegen. Auch diejenigen Wünsche, die Aristoteles als paradigmatisch an-
führt, sind rationale Wünsche, nämlich die des Arztes, einen Patienten zu
heilen, des Staatsmanns, gute Gesetze zu geben oder des Redners zu über-
zeugen. Auch die später erwähnte ‚Lernliebe‘ (13, 1117b29: philomatheia)
ist zweifellos ein rationaler Wunsch.
Auf der anderen Seite gibt es Anzeichen dafür, dass Aristoteles das
Streben als solches dem nicht-rationalen Seelenteil zuweisen will (I 13,
1102b30 f.; De an. II 3, 414b2). So schreibt er in Pol. VII 15, 1334b17–28
die boulêsis ausdrücklich dem nicht-rationalen Teil zu; es ist ein Vermögen,
das Kinder zusammen mit thymos und epithymia von Geburt an haben, mit
der Maßgabe, es sei in der Lage, ‚auf die Vernunft zu hören‘. Zudem findet
sich an der zentralen Stelle, an der die drei Arten von Streben unterschieden
werden, eine Warnung davor, das Strebevermögen als solches ‚auseinander-
zureißen‘ (De an. III 9, 432b5: diaspan), d.h. es nicht verschiedenen See-
lenteilen zuzuteilen. Eine solche Aufteilung verbietet sich insbesondere für
die Ethik. Denn wenn der Wunsch durch die Charaktertugenden bestimmt
wird, muss er auf den Affekten beruhen und kann nicht in einem rein rati-
onalen Streben nach dem jeweiligen Ziel bestehen (zur affektiven Basis der
Wünsche vgl. Mele 1984; Kenny 1979, 98; Taylor 2006, 106; Müller 2009).
Dass das Wünschen komplexer Natur ist, ergibt sich aus der einführenden
Bestimmung der Charaktertugenden in II 2: Man muss sowohl die Affekte
wie auch die Handlungen betreffend richtig disponiert sein. Aus diesem
Grund nennt Aristoteles es auch falsch, die Tugenden als Freiheit von den
Buch III, Kapitel 6 481
dale Bedeutung haben, d.h. entweder das bezeichnen, was man de facto
wünscht (das Gewünschte), oder das, was man wünschen kann oder soll
(das Wünschbare/zu Wünschende). Diese Unterscheidung macht Aristote-
les hier nicht. Er zielt auch nicht darauf ab, dass die Betreffenden in Wirk-
lichkeit etwas anderes wünschen. Wie die Rede von ‚unliebsamen Konse-
quenzen‘ dieser Auffassung zeigt, geht es ihm allein um die Tatsache, dass
aus der Identifizierung der Gegenstände des Wünschens mit ‚dem Guten‘
folgen würde, dass Wünsche nach Nicht-Gutem keinen Gegenstand haben
und somit gar keine Wünsche wären.
(1.3) 1113a20–22 „Für diejenigen dagegen, die sagen, gewünscht sei das, was
gut erscheint (to phainomenon agathon), ergibt sich, dass es kein von Na-
tur (physei) aus Gewünschtes gibt“: Die andere Partei sind Relativisten vom
Schlage des Sophisten Protagoras. Das lässt sich nicht nur aus der Folgerung
schließen, es gebe dann nichts, was von Natur aus Gegenstand des Wüns-
chens sei, sondern auch aus der Erklärung, für jeden sei dasjenige gut, was
ihm gut erscheint (zur Position des Protagoras vgl. Platon, Tht. 151e–152c;
171d–172b; 177c–178a). In eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Posi-
tion tritt Aristoteles nicht ein; er ist nicht auf eine Widerlegung der Theorie
der Relativisten aus. Denn Relativisten würden die Konsequenz, dass dann
nichts ‚von Natur aus‘, sondern Beliebiges und sogar Gegensätzliches Ge-
genstand von Wünschen ist, nicht als Einwand, sondern als eine Bestätigung
ihrer Position betrachten. Wie der folgende Abschnitt zeigt, spricht Aristo-
teles hier vielmehr im Namen derjenigen, die diese relativistischen Konse-
quenzen für inakzeptabel halten, sondern davon ausgehen, dass es etwas von
Natur aus für den Menschen Gutes gibt.
(2) 1113a22–31 „Wenn uns diese Konsequenzen aber nicht zusagen (mê are-
skei), sollten wir dann erklären, überhaupt (haplôs) und in Wahrheit (kat’
alêtheian) sei das Gute das Gewünschte“: Aristoteles’ Lösung für das Di-
lemma besteht in der Unterscheidung zwischen dem Guten, das uneinge-
schränkt und in Wahrheit Gegenstand von Wünschen ist, und dem, was je-
dem Einzelnen als wünschenswert erscheint. Es gibt folglich ein objektiv
wünschbares Ziel, das wahrhaft Gute; ferner gibt es das jeweils aus der Per-
spektive der Einzelnen Erwünschte, das ihnen gut erscheint. Objektiv zu
wünschen ist aber nur dasjenige, was dem Guten gut erscheint, nicht da-
gegen, was allen anderen so erscheint. Hier wird nun nicht etwa Sein ge-
gen Schein ausgespielt. Die Erklärung, für jeden Einzelnen (hekastôi) sei
dasjenige Gegenstand des Wünschens, was ihm so erscheint (to phainome-
non), gilt vielmehr für alle, auch für den Guten. Gemeint ist nicht der An-
schein, sondern dass die Qualität des Eindrucks des jeweiligen Gutes von
der Qualität der Person abhängt, derart, dass der Gute das wahrhaft Gute,
Buch III, Kapitel 6 483
der Schlechte dagegen Beliebiges für gut und für wünschenswert hält (vgl.
Top. VI 8, 146b36–147a4).
(2.1) 1113a26–29 „wie ja auch den Körper betreffend für Menschen in guter
Verfassung das wahrhaft Gesunde gesund ist, für Kranke dagegen anderes“:
Die Analogie mit der Gesundheit, die Aristoteles auch sonst oft bemüht,
soll für Aufklärung darüber sorgen, wie die Relativität des Eindrucks ge-
meint ist. Ganz klar formuliert ist die Analogie allerdings nicht. Denn vom
Erscheinen ist nicht die Rede, sondern davon, dass für Gesunde und Kranke
etwas anderes gesund ist. Entsprechendes müsste auch für die nachfolgen-
den Beispiele gelten, die sich auf heute als ‚sekundär‘ bezeichnete Qualitäten
beziehen, nämlich auf Bitteres, Süßes, Warmes und Schweres: Für Gesunde
ist etwas anderes bitter, süß, warm und schwer als für Kranke. Damit er-
weckt Aristoteles zunächst den Eindruck, als stimme er dem Satz des Pro-
tagoras zu, dass für jeden die Dinge so sind, wie sie ihm erscheinen. Erst
im Nachsatz über den Guten kehrt er zu ‚erscheint‘ zurück: Für Kranke ist
nicht etwas anderes bitter und süß, sondern es erscheint ihnen nur so. Stan-
dard für das, was tatsächlich bitter und süß ist, ist der Gesunde (zum Gesun-
den als Standard vgl. X 5, 1176a10–15).
Wie Taylor 2006, 161–163, feststellt, bleibt offen, ob Aristoteles dahin-
gehend zu verstehen ist, (i) dass der Gute in diesen Fällen als ‚konstitutive‘
Autorität dargestellt wird, wie die Dinge sind, oder ob er (ii) der Indikator
dafür ist, wie sie ganz unabhängig davon sind, wie sie dem Menschen er-
scheinen. Falls (i) gemeint ist, wäre die Rede vom guten Menschen als dem
‚Maß‘ nur eine Modifizierung von Protagoras’ relativistischer Maxime. Da
Aristoteles aber vom ‚wahrhaft Guten‘ spricht, den er im Folgenden als Maß
und Richtschnur bezeichnet, muss die stärkere These (ii) gemeint sein (so
auch Charles 1995, 156–158).
(1) 1113b3–14: Wie die Handlungen sind auch die Tugenden und Laster frei-
willig. (2) 1113b14–1114a3: Dem Einwand, niemand sei freiwillig schlecht,
widerspricht, dass der Mensch als Urheber seiner Handlungen gilt und auch
so behandelt wird. (3) 1114a3–21: Dispositionen stehen zwar fest, ihr Er-
werb ist aber freiwillig. (4) 1114a21–31: Das gilt auch für bestimmte Ver-
fassungen des Körpers. (5) 1114a31–b16: Der Einwand, dass die Eindrücke,
auf denen die Bestimmung der Ziele beruhen, nicht der eigenen Kontrolle
unterliegen, wird auf seine Konsequenzen und seine Voraussetzungen hin
überprüft. (6) 1114b16–25: Selbst wenn es eine natürlichen Prädisposition
Buch III, Kapitel 7 487
die Ziele betreffend gibt, besteht doch eine Mitverantwortung für den eige-
nen Charakter.
(1) 1113b3–14 „Da Gegenstand des Wunsches das Ziel ist, von Beratung
und Entscheidung dagegen dasjenige, was zum Ziel hinführt“: Hier wird die
Frage nach der Verantwortung für den Wunsch und das auf Beratung und
Entscheidung beruhende Handeln gestellt. Das Handeln betreffend zeigt
Aristoteles, dass auch die betreffenden Tugenden und Laster ‚bei uns‘ (eph’
hêmin) liegen, weil sie auf den entsprechenden Tätigkeiten beruhen (vgl.
Kommentar zu 4, 1111b26–30). Als Beweis für die Freiwilligkeit des Han-
delns führt er an, dass es beim Handeln immer die Alternative des Nicht-
handelns gibt. Ist die eine Alternative schön, dann ist die andere schändlich,
und daher besteht jeweils immer die Wahl zwischen beidem durch Tun oder
Unterlassen. Der Schluss, so wie das Handeln und Nichthandeln bei einem
selbst liegt, so liege auch das Gut- und Schlechtsein bei einem selbst, setzt
voraus, dass es um Typen von Handlungen und nicht um Einzelentschei-
dungen geht, die besonderen Umständen geschuldet sein können.
(1.1) 1113b6 „Auch die Tugend liegt aber (de) bei uns“: Bywater und Suse-
mihl folgen der indirekten Überlieferung, wonach bereits hier geschlossen
wird (dê), dass auch die Tugend bei uns liegt. Es spricht aber viel dafür, dass
damit nur eine Art Vorankündigung gemeint ist, deren nähere Begründung
noch folgt, so dass die schwächere Anknüpfung gemeint sein muss. Ein Be-
weis im strikten Sinn liegt hier nicht vor.
(1.2) 1113b8 „und wo das Nicht (to mê), da auch das Ja (to nai)“: Dies ver-
kürzte Redewendung wird oft so missverstanden, als sei nicht Handeln oder
Nichthandeln, sondern das Ja- oder Neinsagen gemeint. Das verbietet sich
aber schon aus sprachlichen Gründen. Denn es geht nicht um das Reden,
sondern nur um das Tun. Wichtiger noch: Ginge es um Reden, so würde das
‚Nein‘ durch ou und nicht durch mê ausgedrückt. Das zeigt etwa die Regel
in der Dialektik, der Gegner müsse mit Ja (nai) oder Nein (ou) antworten
(vgl. Top. VIII 2, 158a16; 6, 160a33 et pass.). Es liegt also nur eine sprachliche
Variante zur Formel ‚Handeln oder nicht‘ vor (to prattein kai mê; zur Pro-
blematik dieser Textstelle und ihrer Rezeptionsgeschichte über die Jahrhun-
derte vgl. Bobzien 2013).
(1.3) 1113b8–11 „Wenn folglich das Handeln bei uns liegt, das schön ist,
dann wird auch das Nichthandeln bei uns liegen, das schändlich ist“: Un-
terlassungen werden zwar oft milder beurteilt als Handlungen; dafür dürfte
aber vor allem die Rechtspraxis verantwortlich sein, die zumeist den Täter
und nicht den ‚Unterlasser‘ bestraft. Daher ist Aristoteles an der Feststel-
lung gelegen, dass dies für die moralische Beurteilung nicht gilt.
(1.4) 1113b11–14 „Wenn es aber bei uns liegt, sowohl Schönes wie auch
Schändliches zu tun und ebenso es nicht zu tun“: Aristoteles schließt da-
488 Kommentar
raus, dass es bei einem selbst liegt, Schönes und Schlechtes zu tun, dass es
auch bei uns liegt, gut oder schlecht zu sein. Dabei sind die Qualifikationen
mit zu berücksichtigen, die in II 3 in Hinblick auf die Kennzeichnung mora-
lisch richtigen Handelns zu machen sind: es besteht nicht im bloßen Tun von
Gutem oder Schlechtem, sondern es muss auch mit Wissen und um seiner
selbst willen getan werden.
(1.5) 1113b14–16 „wenn das aber heißt (touto d’ ên), ein guter oder schlech-
ter Mensch zu sein“: Die Übersetzung setzt das ‚definitorische‘ Imperfekt
voraus. Wie manche Kommentatoren anmerken, ist das ein Verweis auf
das Ergebnis der vorausgegangenen Argumentationen: ‚Es hat sich her-
ausgestellt‘. Ähnliche Formulierungen finden sich auch weiterhin im Text
(8, 1115a2; 11, 1117a16; V 7, 1132a17). Das Resultat bestätigt, was zuvor be-
reits vorweggenommen wurde: dass (habituell) gutes und schlechtes Han-
deln mit Gut- und Schlechtsein und daher auch mit dem Charakter gleich-
zusetzen ist (vgl. dazu Sauvé Meyer 22011).
(2) 1113b14–30 „Zu sagen, niemand sei freiwillig schlecht (ponêros) und nie-
mand unfreiwillig glücklich (makarios), erscheint teils falsch, teils wahr“:
Der Spruch, auf den Aristoteles dabei Bezug nimmt, besagt eigentlich, dass
niemand freiwillig Mühen auf sich nimmt, hat also nicht den ‚sokratischen‘
Sinn, dass niemand freiwillig schlecht ist. Das Zitat stammt aus einem Drama
des Epicharm über Herakles und dessen ‚Arbeiten‘ (so der Anonyme Kom-
mentator CAG IX 155.2–14).
In seiner Erwiderung beruft sich Aristoteles auf das Prinzip, dass der
Mensch der Ursprung (archê) seiner Handlungen ist, so wie er auch der ‚Ur-
heber‘ seiner Kinder ist. Archê wird hier im selben Sinn verwendet wie in
der Kennzeichnung der Freiwilligkeit: der Ursprung der Bewegung liegt in
einem selbst (1, 1110a15–18; b3–5 et pass.). Gemeint ist nur die Erzeugung.
Die Verneinung einer unendlichen Kausalreihe ist sicher nicht gemeint (Tay-
lor 2006, 166), denn es gibt keinen Grund, gerade an dieser Stelle die Zu-
rückweisung deterministischer Vorstellungen im Allgemeinen bzw. Aussa-
gen über eine absolute erste Ursache zu vermuten.
(2.1) 1113b21–26 „Dies scheint nun das Verhalten jedes einzelnen Men-
schen für sich, besonders aber das der Gesetzgeber zu bezeugen“: Aristo-
teles beruft sich, wie andere Philosophen vor und nach ihm, auf den Sinn
von Bestrafungen und Ehrungen: Beide gelten nur denjenigen Handlungen,
die nicht auf Zwang oder unverschuldeter Unwissenheit beruhen; sie die-
nen einerseits der Abschreckung, andererseits dem Anreiz zu weiteren gu-
ten Handlungen. Ähnlich hat Platon den Sophisten Protagoras (Prot. 322e–
328a) ausführlich die pädagogische Bedeutung der Strafe erläutern und
darauf verweisen lassen, dass niemand für Dinge bestraft wird, die auf Na-
tur oder Zufall beruhen (323d). Aristoteles’ Begründung enthält verschie-
Buch III, Kapitel 7 489
(3) 1114a3–21 „Aber vielleicht ist jemand ein solcher (toioutos), der sich
nicht kümmert (mê epimelêthênai)?“: Ob jemand diesen Einwand erhoben
oder ob Aristoteles ihn selbst konstruiert hat, muss offenbleiben. Sicher ist
ihm die irritierende Erklärung „Ich bin nun mal so“ ebenso geläufig wie uns.
Hier geht es nicht um die einzelnen Tugenden und Laster, sondern um den
moralischen Gesamtzustand, für den der Einzelne durch seine Lebensweise
als ganze verantwortlich (aitios) ist. Der Lebensweise (diagein) als solcher ist
die Verfestigung der Verfassung zu verdanken, zu der jede einzelne Hand-
lung beiträgt.
(3.1) 1114a9 f. „Nicht zu wissen, dass unsere Dispositionen (hexeis) aus
dem Tätigsein (energein) resultieren, bringt nur ein völliger Ignorant fertig
(anaisthêtos)“: Auch hier ist Unwissenheit keine Entschuldigung. Aristoteles
setzt voraus, dass man die Erklärung über den Erwerb des Charakters durch
entsprechendes Tätigsein allgemein teilt. Das heißt natürlich nicht, dass er
490 Kommentar
(4) 1114a21–31 „Freiwillig sind aber nicht nur die Schlechtigkeiten der Seele,
sondern bei manchen Menschen auch die Übel (kakia) des Körpers“: Die
Buch III, Kapitel 7 491
(5) 1114a31–b16 „Wenn aber jemand (tis) sagen würde, dass zwar alle nach
dem streben, was ihnen gut erscheint, sie über diesen Eindruck (tês phanta-
sias) aber nicht Herr seien“: Dass ein anderer diesen Einwand erhoben hat,
lässt sich zwar nicht mit Sicherheit ausschließen; die sprachliche Formulie-
rung legt aber nahe, dass Aristoteles ihn konstruiert hat. Auf Relativisten
wie Protagoras kann er sich nicht beziehen; denn unserer Information nach
haben sie sich die Frage nach der Herrschaft über ihre Eindrücke gar nicht
gestellt und daher auch keine entsprechenden Folgerungen gezogen. Diese
Möglichkeit könnte aber in der Diskussion in Aristoteles’ Schule zur Spra-
che gekommen sein. Zudem mag es Vertreter einer Naturtheorie der Tu-
genden gegeben haben, zumindest für bestimmte Tugenden, die Aristoteles
dahingehend formuliert, dass die natürliche Anlage der Menschen für ihre
Eindrücke verantwortlich ist (so Taylor 2006, 171 f.).
(5.1) 1114a32 f. „sondern wie jeder gerade beschaffen ist (hopoios), so er-
scheine ihm auch das Ziel“: Hier wird ein die Frage der Determiniertheit be-
treffend wichtiger Punkt angesprochen: dass man im Augenblick von Ent-
scheidungen nicht anders handeln kann, weil man eben der ist, der man ist.
Aristoteles stellt das gar nicht in Abrede: Jeder wird im Einzelfall durch
seine eigenen Vorstellungen bestimmt, d.h. durch seinen Charakter determi-
niert. Eine Lücke im Kausalgefüge besteht auch bei Entscheidungen nicht.
(5.2) 1114b1–16 „Wenn jeder in gewisser Weise (pôs) für seine Charakter-
disposition (hexis) verantwortlich (aitios) ist“: Die Erwiderung auf diesen
Einwand ist eine Art reductio ad impossibile. Sie geht von der Alternativ-
frage aus, ob der Mensch für seinen Charakter verantwortlich ist oder nicht,
und verweist auf eine Reihe unliebsamer Konsequenzen aus der Verneinung:
(i) Ist der Mensch nicht für seinen Charakter verantwortlich, dann auch
nicht für seine schlechten Handlungen, sondern begeht sie aus Unkenntnis,
weil er sie für das Beste hält. (ii) Das Ziel ist dann aber grundsätzlich nicht
selbst gewählt, sondern seine Richtigkeit verdankt sich einer ‚angeborenen
Sehfähigkeit‘, also einer natürlichen Begabung. (iii) Was das wahrhaft Gute
ist, kann man von anderen nicht lernen; das Schönste und Beste verdankt
sich einer Naturbegabung. (iv) Wenn das Ziel von Natur aus vorgegeben
492 Kommentar
ist, ist die Tugend ebenso wenig freiwillig wie das Laster. (v) Das gilt auch
für das Handeln, das zum Ziel führen soll. Als unliebsame Konsequenz aus
diesen Argumenten ergibt sich, dass der Mensch weder für Gutes noch für
Schlechtes verantwortlich ist.
(5.3) 1114b6 f. „man muss schon mit einer gewissen Sehfähigkeit geboren sein
(phynai dei hôsper opsin echonta)“: Auch Aristoteles geht von einer morali-
schen ‚Sehfähigkeit‘ (vgl. 6, 1113a32 f.) aus, hält sie aber nicht für angeboren,
sondern für erworben. Der alternativen Theorie nach besteht die Tugend in
einer guten Naturanlage (1114b12: euphyia), das Laster in einer schlechten.
Aristoteles selbst hält zwar gewisse gute natürliche Anlagen für notwendige,
nicht aber für hinreichende Bedingungen der Tugend. Die Natur hat er aber
als Ursache der Tugend bereits ausgeschlossen, weil sie dann weder erlern-
bar noch durch Übung zu erwerben wäre (II 1, 1103a18–31). Von Natur
aus gibt es nur die Fähigkeit, sie zu entwickeln (4, 1106a9 f.). Zwar vertritt
Aristoteles später die Position, dass Menschen ‚in gewisser Weise‘ die Tu-
genden von Geburt an haben VI 13, 1144b3–19), sieht in diesen natürlichen
Anlagen aber nur eine Vorstufe der Tugend und nicht die Tugend selbst. Die
Möglichkeit, dass Menschen von Natur aus unterschiedlich veranlagt sind,
vor allem, was ihre Schwächen angeht, wurde schon früher erwähnt (II 9,
1109b1–7). Das heißt aber nur, dass die Erziehung dort besonders wichtig ist
und Gegenmaßnahmen zu ergreifen sind, wie besonders die Metapher vom
Zurechtbiegen des krummen Holzes zeigt. Die Annahme, man sei nicht für
die Zielfindung verantwortlich, erweist sich daher als unvereinbar mit der
aristotelischen Konzeption der Charaktertugend. Umso erstaunlicher ist es,
dass Aristoteles diese Annahme im Folgenden nicht rundweg zurückweist,
sondern sie mit einem gewissen Entgegenkommen behandelt.
(6) 1114b16–25 „Wenn nun aber jedem nicht von Natur aus das Ziel auf die
jeweilige Weise erscheint, sondern etwas auch bei ihm liegt, oder ob zwar das
Ziel natürlich ist“: Aristoteles ist bemüht, die Konsequenzen aus dieser Hy-
pothese mit der Begründung abzuschwächen, die Tugend sei dennoch frei-
willig, „weil der Gute das Übrige freiwillig tut“ – und Entsprechendes daher
auch für das Laster gilt. Dass das Ziel von der Natur festgelegt sein soll, wi-
derspricht aber der früheren Erklärung für die Festlegung des Ziels, wonach
es dem richtigen Urteil des Guten – und der Täuschung des Schlechten ge-
schuldet ist (6, 1113a29–31). Daher fragt sich, was Aristoteles dazu veranlasst,
der Natur wenigstens hypothetisch einen derartigen Einfluss auf die Bestim-
mung des Ziels einzuräumen und nur die Handlungen selbst von dieser De-
terminierung auszunehmen. Seine Strategie könnte sein, der Hypothese nach-
zugeben, um zu zeigen, dass selbst dann Menschen in gewissem Umfang für
ihre Disposition verantwortlich sind. Weitere Beispiele für eine dialektische
Vorgehensweise dieser Art, finden sich in der EN sonst aber nicht.
Buch III, Kapitel 7 493
(6.1) 1114b22–24 „wir aber doch auch selbst in gewisser Weise Mitursachen
(synaitioi) unserer Dispositionen sind“: Auch diese Begründung enthält eine
Einschränkung der Verantwortlichkeit, denn der Mensch wird hier nicht als
verantwortlich (1114b2 f.: aitios et pass.), sondern nur noch als ‚mitverant-
wortlich‘ bezeichnet. Im üblichen Sprachgebrauch sind synaitioi Mitschul-
dige oder auch Mithelfer (vgl. Isokrates, Antidosis 96; Philippos 44; Xe-
nophon, Kyropädie I, 15; Demosthenes, Kranzrede 212.7 et pass.). Platon
verwendet den Ausdruck auch zur Bezeichnung von Helfern (Plt. 281d–e;
287c–d; 289c) und von notwendigen Bedingungen (Tim. 76d). Bei Aristo-
teles taucht das Wort in unterschiedlichen Bedeutungsnuancen auf. In Der
Staat der Athener 25, 3 sind Mithelfer gemeint, in den anderen Schriften
mitverursachende Faktoren (De sens. 4, 441a29; De an. II 4, 416a13 f.; GA V
3, 782a26 f.) oder auch notwendige Bedingungen (Met. D 5, 1015a21). Eine
terminologische Verfestigung, aus der sich seine Gewichtung der ‚Mitver-
antwortung‘ erschließen ließe, ist nicht festzustellen.
(6.2) 1114b17–20 „die Tugend aber dennoch freiwillig ist, weil der Gute das
Übrige (ta loipa) freiwillig tut“: Es fragt sich, was ‚das Übrige‘ sein soll, das
die Freiwilligkeit der Tugend auch dann sicherstellt, wenn das Ziel durch
die eigene Natur festgelegt ist. Hierzu gibt es eine nachklappernde Erklä-
rung im folgenden Kapitel (8, 1114b30–1115a3). Rassow hat sie an Kap. 7
angefügt, unter der Annahme, dass ein Kopist die Reihenfolge der Satzperi-
oden vertauscht hat (so auch Susemihl; Stewart). In der Tat wird so deutlich,
dass folgender Unterschied zwischen der Verantwortung für die einzelnen
Handlungen und für den Charakter besteht: Handlungen liegen von Anfang
bis Ende bei einem selbst, wenn man alle Umstände kennt; bei der Disposi-
tion liegt nur der Anfang bei einem selbst, ihr Fortschritt ist dagegen nicht
bemerkbar (zur Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit bestimmter Dispositio-
nen vgl. III 15).
Es bleibt aber zu fragen, was der Grund für Aristoteles’ Konzilianz ist.
Denn sie betrifft Einschränkungen seiner eigenen Theorie über das Wesen
und den Erwerb der Charaktertugenden. Dafür bieten sich mehrere Erklä-
rungen an. (i) Nach dem Vorschlag mancher Interpreten (Grant; Stewart)
erteilt Aristoteles hier einem platonisierenden Opponenten das Wort, der
für eine Naturbegabung (euphyia) plädiert hat. Das erklärt aber nicht, wa-
rum Aristoteles ihm den Charakter betreffend so große Zugeständnisse
macht. (ii) Da Aristoteles die Natürlichkeit gewisser Neigungen einräumt
(vgl. II 8, 1109a12–19; 9, 1109b1–7) und darauf auch in den Erläuterungen
zu den einzelnen Tugenden zurückkommt, will er diesbezüglich wenigstens
eine Mitverantwortung des Menschen rechtfertigen. Dagegen spricht jedoch
die Grundannahme des aristotelischen Modells, wonach die Ziele durch Er-
ziehung und Gewöhnung festgelegt werden. (iii) Es ist ein Gedankenexperi-
ment, dessen Voraussetzungen Aristoteles zwar nicht akzeptiert, das er aber
494 Kommentar
(1.2) 1114b29 f. „dass sie … freiwillig (hekousioi) sind, und dass sie so sind,
wie es die richtige Überlegung (orthos logos) anordnen würde (prostaxêi)“:
Auch diese Begründung passt besser zu den Handlungen als zu den Disposi-
tionen. Von den Tugenden gehen Anordnungen aus, sie unterliegen solchen
aber nicht selbst. In der Definition der Charaktertugend in II 6, 1107a1 f.
wird lediglich gesagt, die Tugend sei durch einen logos bestimmt, so wie sie
auch der Kluge bestimmen würde (horiseien). Von Anordnungen ist dort
nicht die Rede. Ob man Aristoteles selbst diese Flüchtigkeit unterstellen
soll, muss offenbleiben.
(2) 1114b30–1115a3 „Die Handlungen sind aber nicht in der gleichen Weise
freiwillig wie die Dispositionen“: Wie zur Übersetzung angemerkt und im
Kommentar zu Kap. 7 näher begründet, gibt es gute Gründe, diesen Textab-
schnitt im Anschluss an Rassow ans Ende der Erörterung der Freiwilligkeit
der Tugenden und Handlungen zu stellen. Denn damit liefert Aristoteles
nach seiner konzilianten Behandlung der These, die Tugend beruhe auf einer
Naturanlage, mit der Erklärung der Einzelne sei aber ihre Mitursache, eine
abschließende Klarstellung: Die Handlungen liegen vollständig ‚bei uns‘, so-
fern man alle Umstände kennt, weil man jeden einzelnen Schritt der Bera-
tung ausführen oder auch abbrechen kann. Bei den Dispositionen gilt das
nur für den Anfang, d.h. für den Anfang ihres Erwerbs oder ihres Verderbs.
stimmung der Disposition der Tapferkeit, ihres Gegenstandes und der Art
des Handelns zugleich ein Muster für die weitere Diskussion der Tugen-
den und der dazugehörigen Laster liefert. Wie dabei deutlich wird, gilt die
Tapferkeit im eigentlichen Sinn nur dem richtigen Umgang mit der Furcht
gegenüber Gefahren im Krieg, nicht dem Ertragen anderer Widrigkeiten.
Diese Beschränkung scheint nicht allein darauf zu beruhen, dass die Furcht
vor Verwundung oder Tod physischem Schmerz gilt, sondern auch darauf,
dass andere Übel nicht Gegenstand derselben Art von Handlung und Ent-
scheidung sind, wie es die Rede von einer richtigen Mitte mit Übermaß und
Mangel erfordert.
(1) 1115a4 f.: Zu jeder Tugend ist jeweils ihr Wesen, ihr spezifischer Gegen-
stand und die Art des Verhaltens zu bestimmen. (2) 1115a6–24: Die Tapfer-
keit ist eine Mitte in Hinblick auf Furcht und Zuversicht. (3) 1115a24–b6:
Gegenstand der Tapferkeit ist die Gefahr im Krieg.
ihm an der Aufklärung über die verschiedenen Arten gelegen sein. Konkrete
Anweisungen oder auch Beispiele für das Verhalten im Bereich der einzel-
nen Charaktertugenden gibt Aristoteles allerdings nicht. Vielmehr begnügt
er sich mit allgemeinen Kennzeichnungen der affektiven Einstellungen und
der betreffenden Handlungsweisen. Er setzt voraus, dass die moralisch rich-
tig Erzogenen sowohl über die richtige affektive Einstellung wie auch über
hinreichend Erfahrung und Urteilsvermögen verfügen, um im Einzelfall je-
weils die richtige Entscheidung zu treffen. Wie bereits zu II 2, 1104b18–28
angemerkt, betreffen die ‚Parameter des Sollens‘ nicht allgemeine Rechte
und Pflichten, sondern die angemessenen Modifikationen der jeweils ange-
messenen Affekte und Handlungsweisen. Die Normen, die Aristoteles für
das Gesollte voraussetzt, verdanken sich der Einübung in entsprechendes
Handeln und Fühlen von klein auf.
(2) 1115a6–24 „Und als erstes wollen wir über die Tapferkeit reden. Dass
sie eine Mitte ist in Hinblick auf Furcht (phobos) und Zuversicht (tharros),
ist bereits deutlich geworden“: Nur die Bestimmung der Tapferkeit bezieht
sich auf ein Paar entgegengesetzter Affekte. Damit trägt Aristoteles offen-
sichtlich der Tatsache Rechnung, dass Furcht nur ein negativer Affekt ist,
denn sie besteht in der „Erwartung (prosdokia) eines Übels“ (vgl. dazu Pla-
ton, La. 198b; Prot. 358d; Tim. 70c; Aristoteles, Rhet. II 5, 1382b29 f.). Der
Furcht wird mit der Zuversicht noch ein positiver Affekt zur Seite gestellt,
weil sich Mitte, Übermaß und Mangel nicht allein durch Furcht und die Ab-
wesenheit von Furcht erklären lassen.
(2.1) 1115a7 „Zuversicht (tharros/tharsos)“: Im allgemeinen Sprachgebrauch
wird dieser Ausdruck auch synonym mit Tapferkeit verwendet (vgl. Pla-
ton, Prot. 349e). Aristoteles versteht unter Zuversicht die positive affek-
tive Einstellung angesichts von Gefahr für Leib und Leben. Die Zuversicht
scheint – im Unterschied zur Furcht, die eine Art Schmerz ist – insofern
ein angenehmes Gefühl zu enthalten, als sie auf der Hoffnung beruht, mit
der Gefahr fertig zu werden (so Kap. 12; von Risikolust oder Kampfgeist
spricht Aristoteles nicht). Es bleibt aber offen, ob der Tapferkeit nur eine
Gefühlsskala oder aber zwei Skalen von im Prinzip unabhängigen Affek-
ten zugrunde liegen. Im ersten Fall gäbe es eine Skala mit Furcht an einem
Ende und Zuversicht am anderen, derart dass bei abnehmender Furcht die
Zuversicht wächst und umgekehrt. Im zweiten Fall wären Furcht und Zu-
versicht gleichzeitig vorhanden, so dass die richtige Mitte – je nach Lage
der Dinge – sowohl das richtige Maß an Furcht wie auch das an Zuversicht
enthält (zu dieser Problematik vgl. Ross 51949, 205–7; Urmson 1980, 169 f.;
Pears 1980; Pearson 2014). Für die Annahme von zwei Skalen sprechen die
Ausführungen in Kap. 10 und die Bemerkung, dass die Tapferkeit deswegen
mehr der Furcht als der Zuversicht gilt, weil es ein höheres Maß an Tapfer-
498 Kommentar
(2.2) 1115a10–24 „Wir fürchten nun zwar sämtliche Übel, wie Unehre, Ar-
mut, Krankheit“: Andreia bedeutet eigentlich ‚Mannhaftigkeit‘ und umfasst
daher traditionell ein breites Spektrum von als besonders mannhaft gelten-
den Eigenschaften (vgl. dazu Rosen/Sluiter 2003). Dieses Spektrum setzt
auch Platon voraus (vgl. La. 191e). Wenn Aristoteles das Ertragen von Ar-
mut, Krankheit usw. aus dem Bereich der Tapferkeit im eigentlichen Sinn
ausschließt, so nimmt er bewusst eine Einengung vor, weil er diese Tugend
auf den aktiven Umgang mit physischer Bedrohung im Krieg beschränken
will.
(2.2.1) 1115a12–14 „Manches soll man nämlich sogar fürchten“: Die Furcht
vor Unehre ist zwar berechtigt, sie gehört aber in den Bereich der Scham
(aidôs). Die Scham ist laut II 7, 1108a30–35 zwar keine Tugend, aber doch
ein affektiver Zustand mit einer Mitte. Die Annahme einer richtigen Mitte
wird allerdings später für die Scham revidiert: Sie gehört gar nicht in den Be-
reich der Tugenden, weil der Tugendhafte nichts tut, für das er sich schämen
müsste; nur bei Jugendlichen ist Scham als Gegengewicht gegen den Einfluss
der Affekte am Platz (IV 15).
(2.2.2) 1115a14 f. „wer sie nicht fürchtet, ist schamlos“: Furchtlosigkeit an-
gesichts von Unehre ist eine Art von Schamlosigkeit und somit ein Laster.
Dass man die Schamlosigkeit in einem ‚übertragenen Sinn‘ (kata metapho-
ran) als Tapferkeit bezeichnet, bedeutet eine Korrektur des üblichen Sprach-
gebrauchs, insbesondere die Gleichmut gegenüber dem Auspeitschen be-
treffend (1115a23 f.).
(2.2.3) 1115a16 „denn auch der Tapfere ist jemand, der furchtlos (aphobos)
ist“: Die Furchtlosigkeit des Tapferen (vgl. auch a33: adeês; b1) verträgt
sich scheinbar nicht gut mit der nachfolgenden Erklärung, der Tod sei das
Furchtbarste aller Dinge, der Tapfere halte aber Furcht und Zuversicht be-
Buch III, Kapitel 9 499
treffend die richtige Mitte ein. Furchtlosigkeit bezeichnet nicht die Abwe-
senheit jeder Furcht, sondern die Haltung dessen, der mit der Furcht in der
richtigen Weise umzugehen versteht (10, 1115b10–24).
(2.2.4) 1115a17–24 „Armut sollte (dei) man aber vielleicht nicht fürchten
und auch Krankheit nicht“: Da Armut und Krankheit Faktoren sind, die das
Glück beeinträchtigen können (vgl. I 9, 1099a31–b8), will Aristoteles nicht
bestreiten, dass man sich vor ihnen hüten soll. Es gibt jedoch keine Dispo-
sition gegenüber widrigen Umständen dieser Art, die durch Handeln zu er-
werben ist. Die Charaktertugenden gelten ihren jeweiligen Affekten nicht in
toto, sondern nur in bestimmter Hinsicht, wie sich auch bei der Besonnen-
heit zeigen wird (vgl. Kap. 13).
(2.2.5) 1115a22 f. „Gewalt (hybris) gegen Frau und Kinder“: Mit hybris kön-
nen Übergriffe aller Art gemeint sein – geistige wie auch physische: Über-
mut, Beleidigung, Misshandlung, aber auch Vergewaltigung. Auch in diesem
Fall bestreitet Aristoteles nicht, dass hier Anlass zur Furcht ist, sondern nur,
dass der Umgang mit solchen Bedrohungen ein Fall von Tapferkeit ist.
(3) 1115a24–b6 „Mit welcher Art von furchtbaren Dingen (phobera) hat es
also der Tapfere zu tun?“: Gegenstand der Tapferkeit ist nur die größte al-
ler Gefahren, der Tod im Krieg (dies ist eine Setzung und kein ungültiger
Schluss – pace Taylor 2006, 176). Diese Zuspitzung könnte deswegen ver-
wundern, weil Aristoteles sonst Krieg und Kriegshandlungen distanziert
gegenübersteht (vgl. X 7, 1177b4–12: Das Leben in Frieden ist das Ziel des
Krieges; die Kriegsführung um des Krieges willen wäre blutrünstig; ähnlich
Pol. VII 14, 1333a30–b5; 1334a2–10; 15, 1334a11–b5). An einer Beschöni-
gung dieses Todes als solchem ist Aristoteles nicht gelegen, da er ihn als ‚das
Furchtbarste‘ bezeichnet, weil er die Grenze des Lebens überhaupt ist, jen-
seits derer es für den Menschen nichts mehr gibt. Später fügt er noch hinzu,
dass der Tugendhafte mit dem Leben mehr verliert als andere und den Tod
daher als besonders schmerzlich empfindet (12, 1117b10–16).
In welchem Sinn ist der Tod im Krieg aber etwas Schönes und die ihn be-
treffende Gefahr die schönste? Hier wie auch in der Behandlung der übrigen
Charaktertugenden bezeichnet Aristoteles die Ziele jeweils als ‚schön‘, ohne
näher zu erläutern, worin dieses ‚Schöne‘ besteht (vgl. II 9, 1109a24–30:
richtiges Handeln „ist daher sowohl selten, lobenswert und schön (kalon)).
Diese Abstinenz das Schöne betreffend dürfte auch der Tatsache geschuldet
sein, dass das Schöne die jeweilige Handlungsweise gewissermaßen integ-
riert ist und kein darüber hinausgehendes Ziel darstellt. Denn Erfolg und
Misserfolg ändern an der Handlung als solcher nichts, z.B. ob es gelingt, das
Vaterland zu retten. Die Erklärung, der Gute werde sein Leben für einen
Freund und für das Vaterland opfern, macht deutlich, dass Heroismus kein
Selbstzweck ist, sondern durchaus ein Ziel hat (IX 8, 1169a18–26; die Frage
500 Kommentar
ist (Prot. 349e–351a). Dagegen spricht aber seine Behandlung der Tapferkeit
in der Politeia (IV 429a–430c).
(1) 1115b7–24: Tapferkeit betrifft Furchtbares und bezieht sich auf Furcht
und Zuversicht im richtigen Maß. (2) 1115b24–33: Tollkühnheit besteht im
Übermaß an Furchtlosigkeit und Zuversicht. (3) 1115b33–1116a9: Feigheit
ist ein Übermaß an Furcht und ein Mangel an Zuversicht.
(1) 1115b7–24 „Das Furchtbare ist zwar nicht für alle Menschen dasselbe,
von manchem sagen wir sogar, es übersteige Menschenkraft (hyper anthrô-
pon)“: Dass es Unerträgliches gibt, ist bereits bei der Unterscheidung von
Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit berücksichtigt worden (1, 1110a23–26).
Zur Tugend der Tapferkeit gehört weder übermenschlicher Heroismus
noch Wahnwitz. Vielmehr empfindet jeder Furcht, der bei Verstand ist,
und nimmt nur solche Dinge auf sich, die im Bereich des Erträglichen
liegen.
(1.1) 1115b10–16 „Der Tapfere ist so unerschütterlich (anekplêktos), wie
man das als Mensch sein kann“: Hier steht nicht die Tapferkeit als Disposi-
tion, sondern der Tapfere im Zentrum; dabei bleibt Aristoteles auch in der
Kennzeichnung der Schlechtigkeiten. Furcht vor Gefahren gehört ausdrück-
lich mit zur Definition der Tapferkeit, wie die Aufzählung der Parameter des
Sollens bestätigen, und zwar sowohl die Affekte wie auch die Handlungs-
weise betreffend und dies um eines schönen Zieles willen.
(1.1.1) 1115b10 und 16 f. „Ebenso verhält es sich mit dem, was Zuversicht
erregt (tharralea)“: Inwiefern zwischen Furcht und Zuversicht ein Junk-
tim bestehen soll, ist auch hier nicht mit Sicherheit auszumachen. Denn ei-
nerseits werden sie hier als Komplemente behandelt, wenn dem Tapferen
Standhalten und Fürchten in der richtigen Weise zugeschrieben wird, ande-
502 Kommentar
(2) 1115b24–33 „Von denen, die durch Übermaß fehlgehen, hat derjenige,
der es durch Furchtlosigkeit (aphobia) tut, keinen Namen“: Aristoteles un-
terscheidet hier zwei Arten des Übermaßes, das der Furchtlosigkeit und das
der Zuversicht, und bezieht die Bezeichnung ‚Tollkühnheit‘ nur auf Letz-
teres, anscheinend der etymologischen Verwandtschaft wegen (tharralea –
tharros). Dass nicht alle Dispositionen eigene Bezeichnungen haben, hat
Aristoteles bereits in den Erläuterungen vermerkt (II 7, 1107b2). Da das zu
‚Aphobie‘ gehörige Adjektiv aphobos bereits bei Pindar, in der Tragödie wie
auch bei Platon zur Bezeichnung einer furchtlosen Person verwendet wird,
ist Aristoteles wohl so zu verstehen, dass es keine Bezeichnung für Leute
gibt, die ihrer Disposition nach ganz unempfänglich für Furcht sind; dafür
spricht auch seine Bemerkung, ein solcher Mensch müsse entweder wahn-
sinnig (mainomenos) oder völlig schmerzunempfindlich (analgêtos) sein,
also jenseits des Menschlichen stehen. Zur moralisch richtigen Erziehung
gehört auch das ‚Sich-Fürchtenlernen‘ im richtigen Maß.
(2.1) 1115b27 f. „weder Erdbeben (seismos) noch Flutwellen (kymata), so
wie man das den Kelten nachsagt“: Die im Norden lebenden Kelten (im
heutigen Bulgarien) waren für die Griechen immer wieder eine Bedrohung;
sie galten als kriegerisches Volk, das vor nichts zurückschreckt (vgl. Platon,
Leg. I 637d; Aristoteles, EE III 1, 1229b28 f. et pass.). Die Legende schreibt
ihnen den Schwur zu, weder der Einsturz des Himmels noch Erdbeben oder
Flutwellen könnte sie zur Abkehr eines Vorhabens bringen. Über die Be-
richte bei Ephoros, auf die Aristoteles’ Äußerungen zurückgehen, äußert
sich Strabon allerdings skeptisch (Geographica VII 1.2).
(2.2) 1115b28 f. „Wer sich aber übermäßig zuversichtlich (tharrein) dem
Furchtbaren gegenüber verhält, ist tollkühn“: Zwischen der Übertreibung
aufgrund von Furchtlosigkeit (aphobia) und der aufgrund von Zuversicht
soll offensichtlich auch ein sachlicher Unterschied bestehen. Der ‚Furcht-
Buch III, Kapitel 10: 503
lose‘ kennt die Furcht nicht, während der Tollkühne sie zwar kennt, ihr aber
mit allzu viel Selbstvertrauen begegnet („übermäßig zuversichtlich dem
Furchtbaren gegenüber“). ‚Tollkühn‘ ist daher keine treffende Übersetzung
für thrasys; denn durch Kühnheit zeichnet sich der übermäßig Zuversichtli-
che gar nicht aus, wie die nachfolgende Charakterisierung seiner Haltung als
einer Mischung aus Ignoranz und Feigheit deutlich macht.
(2.2.1) 1115b29–33 „Der Tollkühne scheint aber auch ein Aufschneider zu
sein“: Dass als ‚tollkühn‘ nur derjenige bezeichnet wird, der sich mutig gibt,
weil er die Gefahr unterschätzt, zeigt die Erklärung, dass er Tapferkeit bloß
vortäuscht und in Wahrheit eine Mischung aus Zuversicht und Feigheit an
den Tag legt. Der für Furcht Unempfängliche hat zu derartigen Täuschun-
gen keinen Anlass.
(2.2.2) 1115b32 „tollkühn-feige (thrasydeilos)“: Dieses Oxymoron hat Aris-
toteles anscheinend selbst geprägt (vgl. EE III 7, 1234b2). Alle weiteren Be-
lege stammen erst aus späterer Zeit.
(3) 1115b33–1116a9 „Wer dagegen Furcht im Übermaß hat, ist feige (dei-
los)“: Der Feige wird summarisch als Kombination aus Übermaß an Furcht
und aus Mangel an Zuversicht beschrieben. Die folgenden Kapitel enthalten
aber noch Ergänzendes zur Besonderheit feigen Verhaltens. Dass der Feige
besonders wehleidig ist (en tais lypais hyperballôn), wird durch Mangel an
Zuversicht erklärt; der Feige hat aus übergroßer Furcht keine Hoffnung und
traut sich daher nichts zu.
(3.1) 1116a3–9 „Beim Tapferen ist es genau umgekehrt. Denn Zuversicht
zeichnet den Hoffnungsfrohen (euelpis) aus“: Hier bestätigt sich, dass die
echte Zuversicht des Tapferen auf einer gewissen Hoffnung beruht; denn die
Hoffnung muss der Aussicht gelten, der Gefahr Herr werden zu können.
Das gilt prima facie nicht für Kämpfer, die wissen, dass ihre Lage aussichts-
los ist, wie die Spartaner bei den Thermopylen. Ihre Zuversicht muss aber
dem Zutrauen in das schöne Ziel gelten (vgl. 12, 1116b15–23: das Bürger-
heer, das im Unterschied zum Söldner bis zum Tod kämpft).
(3.2) 1116a7–9 „Die Tollkühnen sind zudem übereifrig und wünschen sich
zuvor zwar Gefahren herbei“: Auch die abschließende Betrachtung gilt
nicht dem ‚Aphoben‘, sondern nur dem vorgeblichen Verächter von Gefahr.
Die Bereitschaft, sich aus solchen Gründen in Gefahr zu begeben, ist kein
Zeichen von Tapferkeit, weil die Betreffenden nicht wissen, was auf sie zu-
kommt. Der Tapfere dagegen wünscht sich Gefahren nicht herbei, verhält
sich aber zupackend (oxys: eigtl. ‚scharf‘), wenn sie da sind. Zu diesem Urteil
passt auch die spätere Feststellung, dass der Tapfere sein Leben nur ungern
verliert, weil der Vollbesitz der Tugend ein besonders gutes Leben garantiert
(12, 1117b7–16), und der Tapfere als Kämpfer nicht immer erfolgreich ist
(ibid. 17–20).
504 Kommentar
(1) 1116a10–16 „Die Tapferkeit ist also, wie gesagt, eine Mitte gegenüber
dem, was unter den genannten Umständen Zuversicht und Furcht erregt“:
Da dieser Abschnitt nur eine Abrundung der allgemeinen Bestimmungen
der Tapferkeit liefert, steht er in der Edition nach Argyropulos mit guten
Gründen am Ende des vorigen Kapitels, denn er bestätigt nur die Definition
der Tapferkeit. Sie besteht nicht allein im Standhalten oder im Aushalten des
Todes, sondern im richtigen Fühlen und Handeln im Umgang mit Furcht-
barem, weswegen man soll und wie und wann man es soll.
(1.1) 1116a12–15 „Zu sterben, um Armut, Liebe oder sonst irgendetwas
Schmerzlichem zu entgehen, ist aber nicht Sache des Tapferen, sondern viel-
mehr des Feigen“: Nur das standhafte Ertragen des Todes um eines schönen
Zieles willen ist Tapferkeit; Selbstmord aus Furcht vor Armut, aus Liebes-
kummer oder einem anderen Leid ist eine Art Feigheit und Weichlichkeit
(zur ‚Weichlichkeit‘ (malakia) als Unvermögen, Schmerzen oder Mühen
zu ertragen, vgl. VII 8, 1150a31–b5). Denn man entzieht sich damit nur ei-
ner Bedrängnis, verfolgt aber kein schönes Ziel. An eine religiöse Rechtfer-
tigung des Verbots wie bei Platon (Phd. 61c–62c) denkt Aristoteles nicht;
auch auf eine Rechtfertigung unter bestimmten Umständen geht er nicht ein
(Platon, Leg. IX 873c; Dirlmeier 1956, 341 f. mit weiteren Belegen). In der
Erörterung der Gerechtigkeit nimmt er aber die Frage auf, ob der Betref-
fende sich selbst oder der Gemeinschaft Unrecht tut (V 15, 1138a5–14). Zur
literarischen Behandlung des Selbstmords vgl. Toohey 2004, bes. Kap. 5.
Buch III, Kapitel 11 505
(2) 1116a16–1117a28 „Von Tapferkeit pflegt man aber auch noch in fünf
anderen Weisen zu sprechen“: Gemeint sind Arten, in denen man üblicher-
weise von Tapferkeit spricht. Die Handlungen haben zwar alle mit Gefahr
im Krieg zu tun und sind deshalb nicht mit den zuvor genannten Formen
der Tapferkeit im metaphorischen Sinn zu verwechseln (Kap. 9); sie gelten
aber nur in eingeschränktem Sinn oder gar nicht dem Schönen.
(2.1) 1116a17–b3 „An erster Stelle steht die des Bürgerheers (politikê), da sie
der eigentlichen Tapferkeit am ähnlichsten ist“: Ein Heer von Bürgern be-
zeichnete man als politikon (manchmal mit der Ergänzung strateuma o.ä.),
im Unterschied zu einem Söldnerheer oder einem Heer von Bundesgenos-
sen (vgl. 1116b18; Xenophon, Hellenika V 3, 25). Platon versteht unter po-
litikê andreia die Tapferkeit der Wächter, die ihrer Erziehung gemäß dem
Gesetz gehorchen und diesbezüglich die richtige Überzeugung haben, im
Unterschied zu Sklaven oder Tieren (Resp. IV 430c). Wenn Aristoteles dem
Bürgerheer nur die zweitbeste Art der Tapferkeit zubilligt, so unter der An-
nahme, dass ihr Ziel in der Ehre oder in der Vermeidung öffentlicher Strafe
und Schande (a19: oneidê) liegt: Die schwerbewaffneten Fußsoldaten (Hop-
liten) waren auf die Deckung durch den Schild ihres Nachbarn angewiesen;
die Flucht eines Einzelnen bedeutete daher eine Gefahr für alle und das Ver-
lassen der Schlachtreihe stand unter Strafe (vgl. EN V 3, 1129b19–21; Platon,
Leg. XII 943c–945b). Obwohl auch der ‚bürgerlichen Tapferkeit‘ ein gewis-
ses Streben nach Schönem (1116a28) unterstellt wird, gilt das nur mit der
Einschränkung, es gehe um öffentliche Ehrungen (zur Ehre als Ziel vgl. I 3).
(2.1.1) 1116a21–26 „Solche Menschen stellt auch Homer in seiner Dich-
tung dar“: Der erste Sprecher ist Hektor, der sich nicht vor Achill hinter
die Mauern Trojas flüchten will, weil Polydamas ihm das zum Vorwurf ma-
chen würde (Homer, Ilias XXII 100). Der zweite Sprecher ist Diomedes,
der Sohn des Tydeus: Hektor soll sich nicht damit brüsten können, er sei
aus Furcht vor ihm zu den Schiffen geflohen (Ilias VIII 148 f.). Die Verse
waren offensichtlich so bekannt, dass Aristoteles sie nicht einmal vollstän-
dig zitiert.
(2.1.2) 1116a29–b3 „Derselben Art könnte jemand auch solche Menschen
zurechnen, die von ihren Anführern gezwungen werden (anankazomenoi);
sie sind aber schlechter“: Die Tapferkeit aus Angst vor Strafe durch die Be-
fehlshaber nimmt einen niedrigeren Rang ein als die erste Art bürgerlicher
Tapferkeit, weil hier das Motiv nicht Ehrungen oder Angst vor Schande ist,
sondern die Angst vor Schmerzen (lypêron), also vor körperlicher Züchti-
gung.
(2.1.3) 1116a33–35 „wie Hektor es tut: Wen fern vom Kampf ich sich ver-
bergen sehe“: Diese Drohung stammt zwar von Agamemnon, der sich da-
mit an das griechische Heer wendet (Ilias II 391–393). Auch Hektor bedroht
später aber in ähnlichen Worten mögliche Drückeberger unter den Troja-
506 Kommentar
nern mit Tod und der Verweigerung eines Begräbnisses, falls er sie fern vom
Kampf antrifft (Ilias XV 346–351). – Die Verweigerung eines Begräbnisses
galt als besonders schwere Strafe („den Hunden und Vögeln zum Fraß“, vgl.
Sophokles, Antigone 26–30; 203–206).
(2.1.4) 1116a36–b3 „Auch diejenigen, die ihnen ihre Posten zuweisen und
jeden schlagen, der zurückweicht“: Die Tatsache, dass Aristoteles noch wei-
tere Zwangsmaßnahmen erwähnt, lässt schließen, dass solche Druckmittel
häufiger zur Anwendung gekommen sind. Der anonyme Kommentar (CAG
XIX, 164,28–165,3) verweist dazu auf den Bericht bei Herodot (Historien
VII 223), die Perser seien in der Schlacht bei den Thermopylen mit Peit-
schenhieben in den Kampf getrieben worden. Die Aufstellung vor Gräben
und Hindernissen schreibt der Kommentator (mit Vorsicht) den Sparta-
nern zu. Wie Aristoteles’ Zusammenfassung erkennen lässt, sieht er in dem
Standhalten aus Furcht vor Strafe oder anderen derartigen Zwängen keine
Tugend. Der eigentlichen Tapferkeit kommt nur die ‚bürgerliche‘ Tapferkeit
nahe.
(2.2) 1116b3–23 „Auch Erfahrung (empeiria) in bestimmten Dingen hält
man aber für eine Art von Tapferkeit“: Erfahrung im Sinn eines Fachwissens
unterstellt Aristoteles den Söldnern (1116b6: stratiôtai). Wie LSJ anmerken,
bezeichnete stratiôtês im Unterschied zum misthophoros (Lohnträger) ur-
sprünglich den Angehörigen eines Heers überhaupt; die Verwendung von
stratiôtês im Sinn von Söldner wurde aber im 4. Jh. gebräuchlich, weil Bür-
gerheere zunehmend durch Söldner ersetzt wurden (vgl. Pol. V 6, 1306a21 f.).
(2.2.1) 1116b4 f. „daher meinte auch Sokrates, die Tapferkeit sei Wissen (epi-
stêmê)“: Der Sokrates der früheren Dialoge vertritt die Tapferkeit betref-
fend zwei verschiedene Positionen. Zum einen argumentiert er, dass Zuver-
sicht auf Fachwissen beruht – wie das von Brunnentauchern oder Reitern
(Prot. 349e–351b). An anderer Stelle weist er die Vorstellung zurück, Tap-
ferkeit sei eine Fachkompetenz (La. 192c–193d). Vielmehr begründet er ein
Tugendwissen, das die Kriterien der Anwendung der Tugend und ihr Ver-
hältnis zum Guten überhaupt betrifft (La. 194d; Men. 88a–89a). Xenophon
schreibt Sokrates die Auffassung zu, die natürliche Anlage zur Tapferkeit
werde durch Lernen (mathêsis) und Training (meletê) verstärkt (Memorabi-
lien III 9, 1–2). Ferner lässt er Sokrates in IV 6, 10–11 die These verteidigen,
dass niemand sich tapfer verhalten kann, der den richtigen Umgang mit der
Gefahr nicht versteht (eidotes hôs dei chrêsthai).
(2.2.2) 1116b6–15 „Bekanntlich gibt es im Krieg viele Situationen, die ge-
fahrlos (kena) sind“: In der Erklärung, dass Söldner zwar tapfer erscheinen,
aber nicht wirklich tapfer sind, haben Erfahrung und Kompetenz unter-
schiedliche Funktionen, die sämtlich darauf hinauslaufen, dass sich Söldner
keiner echten Gefahr aussetzen. Zum einen kennen sie solche Situationen,
die ganz ohne Risiko sind. Zum anderen sind sie den anderen im Gebrauch
Buch III, Kapitel 11 507
von Waffen überlegen. Wo diese Überlegenheit nicht gegeben ist, fliehen sie
als erste, während ein Bürgerheer den Tod einer Rettung durch Flucht vor-
zieht.
(2.2.3) 1116b17–19 „so wie es tatsächlich beim Tempel des Hermes (Her-
maion) geschehen ist“: Diese Schlacht fand 353/2 während des 3. ‚Heiligen
Kriegs‘ um Delphi statt. Dem anonymen Kommentator zufolge (165.24–
166.4) haben die Bürger Koroneas, einer Stadt in Böotien, sich dort bis zu
ihrem Untergang gegen die Phoker gewehrt, während die Söldner und Bun-
desgenossen sie im Stich ließen
(2.3) 1116b23–1117a9 „Auch den Zorn (thymos) pflegt man in Beziehung
zur Tapferkeit zu stellen“: Wie schon zu 3, 1111a24 f. angemerkt, ist die
Übersetzung von thymos mit ‚Zorn‘ nur ein Notbehelf, denn der Begriff
wird hier nicht in dem engen Sinn gebraucht, den Aristoteles dem Zorn un-
terstellt (vgl. II 7, 1108a4–9; IV 11: Begehren nach Vergeltung für eine Krän-
kung). Mit Zorn ist hier Aggressivität, Tatendrang oder auch Wut gemeint,
wie im Beispiel von Verwundeten, die sich wie Tiere auf ihre Angreifer stür-
zen. Da dieses Verhalten nicht auf einer mittleren Haltung dem Furchtba-
ren gegenüber beruht, ist es kein Fall von Tapferkeit, sondern der Zorn hat
insofern eine unterstützende Funktion, als er die Angriffslust der Tapferen
verstärkt.
(2.3.1) 1116b27–29 „daher sagt auch Homer“: Die Homer-Zitate sollen von
einer engen Verbindung zwischen der Tapferkeit und dem thymos im Sinn
von Tatkraft, Entschlossenheit, Mut oder auch Wut zeugen. Homer behan-
delt den thymos wiederholt als eine eigenständige seelische Kraft, die vor
allem im Kampf, aber auch in anderen schwierigen Lagen das Durchhalten
bewirkt (vgl. Dihle 1982, 26 f.). Aristoteles zitiert auch hier allerdings nicht
wörtlich. Bei der Wendung vom „scharfen Mut (menos) um die Nase“ geht
es zudem um Odysseus Erregung beim Anblick seines alten Vaters (Odyssee
XXIV 318 f.). Vom Kochen des Blutes spricht Homer nicht; vielmehr ist es
Aristoteles selbst, der den Zorn mit dem „Kochen des Blutes und des War-
men am Herzen“ verbindet (De an. I 1, 403a31–b1).
(2.3.2) 1116b31–1117a2 „Tiere [handeln] dagegen aus Schmerz“: Hier stellt
Aristoteles seinen Vergleich mit verwundeten Tieren richtig, indem er ihr
aggressives Verhalten nicht auf Zorn, sondern auf Schmerz und Furcht zu-
rückführt. Wenn sie können, kommen sie aus dem Schutz einer Deckung
in Wald (en hylêi) oder Sumpf (en helei) nicht mehr heraus. Wie zur Über-
setzung angemerkt, gibt es keinen Grund, en helei als Glosse zu tilgen,
wie es Bywater im Anschluss an Victorinus tut, vermutlich, weil derartige
Wortspiele bei Aristoteles selten sind. Er dürfte jedoch mit dem Zusatz von
‚Sumpf‘ anzeigen wollen, dass hylê hier im Sinn von Wald zu verstehen ist,
nicht von Materie. Da Tiere Furchtbares als solches nicht vorhersehen und
nicht bewusst handeln, sind sie nicht tapfer. An anderer Stelle schreibt Aris-
508 Kommentar
nügen die genannten Formen nur unvollständig (2.1), in einem sehr einge-
schränkten Sinn (2.3) oder gar nicht (2.2; 2.4; 2.5.2).
(2.5.1) 1117a17–22 „Daher scheint es auch ein Zeichen größerer Tapferkeit
zu sein, wenn jemand sich in plötzlichen Schrecknissen (aiphnidiois phobois)
furchtlos (aphobos) und unerschütterlich (atarachos) verhält“: Da Aristo-
teles zuvor erklärt hat, plötzliche Tätigkeiten beruhten nicht auf Entschei-
dungen (4, 1111b9 f.), überrascht es zunächst, dass spontanes Handeln ein
Zeichen größerer Tapferkeit sein soll als ein Handeln, das auf einer Ent-
scheidung beruht. Kommentatoren haben daher verschiedene Erklärungen
vorgeschlagen. Da der Text in Zeile 22 kein Verb enthält, lässt sich ‚entschei-
den‘ aus Zeile 21 ergänzen, derart dass das Handeln auf einer plötzlichen
Entscheidung beruht, der nur keine Beratung vorausgegangen ist (so Irwin
2
1999). Eine solche Ergänzung ist aber nicht erforderlich. Vielmehr schätzt
der Betreffende die Situation unmittelbar richtig ein, weil er die richtige Dis-
position und die entsprechende Erfahrung hat (vgl. Taylors 2006, 198 f. Un-
terscheidung zwischen Handeln aufgrund von Überlegung und überlegtem
Handeln). Wer zu schnellem Handeln nicht in der Lage ist, zeigt, dass er ent-
weder die Situation nicht verstanden oder keine feste und unveränderliche
Einstellung hat (II 3, 1105a32 f.).
(2.5.2) 1117a22–28 „Als tapfer erscheinen auch die Unkundigen (agnooun-
tes)“: Bei den Unwissenden kann insofern noch weniger von Tapferkeit die
Rede sein, weil sie von der Gefahr gar nichts wissen. Sie handeln daher ‚un-
freiwillig tapfer‘ in dem in III 2 spezifizierten Sinn von ‚Handeln in Unwis-
senheit‘. Deswegen geben sie auch sofort auf, wenn sie die Gefahr bemerken
oder auch nur den Verdacht schöpfen, sie könnten sich getäuscht haben,
während die ‚Hoffnungsvollen‘ immerhin so lange in der Gefahr ausharren,
wie ihr Glaube an ihre Überlegenheit anhält.
(2.5.2.1) 1117a26 „So erging es den Argivern, als sie auf die Spartaner stießen
und sie für Sikyoner hielten“: Dieses Beispiel für ‚Tapferkeit in Unwissen-
heit‘ bereitet gewisse Schwierigkeiten. Von einem solchen Zwischenfall im
Jahr 392 berichtet Xenophon (Hellenika IV 4, 8–11), freilich mit anderem
Hergang: Die Spartaner hatten sich nach einem Sieg über die Sikyoner mit
deren Schilden bewaffnet; die Argiver ergriffen aber keineswegs die Flucht,
als sie ihren Irrtum bemerkten, sondern wurden im Kampf mit den Sparta-
nern aufgerieben.
Auch in EE III 1, 1229a11–31 werden fünf Abarten von Tapferkeit er-
örtert. Bei der Kennzeichnung gibt es aber deutliche Unterschiede. Auf die
Tapferkeit des Bürgerheers wie auch auf die des Söldnerheers geht EE nur
kurz ein; Tapferkeit unter Zwang wird gar nicht erwähnt. Die Unkenntnis
wird nicht hasenfüßigen Ignoranten, sondern Kindern und Wahnsinnigen
zugeschrieben. Neben dem thymos wird auch der erôs mit angeführt, weil
diese Affekte die Menschen ‚außer sich‘ geraten lassen (1229a25: ekstatikon).
510 Kommentar
(1) 1117a29–35: Die Tapferkeit scheint auf Schmerz und nicht auf Lust be-
zogen. (2) 1117a35–b6: Bei tapferen Handlungen gilt die Lust dem Ziel.
(3) 1117b7–22: Es ist zwischen dem Effekt des Handelns, Tod und Verwun-
dung, und dem eigentlichen Ziel zu unterscheiden.
(1) 1117a29–35 „Die Tapferkeit ist zwar auf Zuversicht und Furcht bezogen,
aber nicht auf beide in der gleichen Weise“: Bisher sind beide Affekte so be-
handelt worden, als seien sie in gleicher Weise Gegenstand der Tapferkeit.
Zuversicht und Furcht werden hier aber als voneinander unabhängige Mo-
tivationskräfte behandelt; die eine besteht im Zutrauen, dass einem nichts
geschehen wird, die andere gilt einer Bedrohung von Leib und Leben. Die
Betonung, dass die Tapferkeit in erster Linie mit Schmerz zu tun hat, soll
nicht nur das größere Gewicht der Furcht bei der Tapferkeit hervorheben,
sondern auch klarstellen, dass die Lust, die zum tapferem Handeln gehört,
nicht auf das Element des Zuversichtlichen zurückzuführen ist, sondern in-
trinsisch mit dem an sich schmerzhaften Handeln und dessen Ziel verbun-
den ist.
(1.1) 1117a32 „Schmerzhaftes (lypêron)“: Wie zur Erörterung von Lust und
Schmerz in II 2 angemerkt, ist lypê die generische Bezeichnung für jede Art
des Unangenehmen, seien es Affekte, Wahrnehmungen oder auch ein Han-
deln unter Schmerzen. Obwohl die Übersetzung durch ‚Schmerz‘ und Ver-
wandtes nicht immer gut passt, wird doch zumeist auf Synonyme verzich-
Buch III, Kapitel 12 511
tet. Gegenstand der Tapferkeit ist zwar primär der körperliche Schmerz von
Tod und Verwundung bzw. ihre Erwartung; davon zu unterscheiden ist aber
die Einstellung des Tapferen zum Verlust seines Lebens.
(2) 1117a35–b6 „Dennoch sollte das Ziel der Tapferkeit als etwas Lustvolles
erscheinen (hêdy)“: Das scheinbare Paradoxon, dass die Tapferkeit in erster
Linie auf Schmerz bezogen ist, aber dennoch wie jede tugendhafte Hand-
lung mit einer eigenen Lust verbunden sein soll, löst Aristoteles durch die
Unterscheidung zwischen den – für sich genommen schmerzlichen – Hand-
lungsumständen und der Lust, die dem schönen Handlungsziel gilt. Er
räumt allerdings ein, dass die Aussicht auf Verwundung und Tod das Ele-
ment der Lust verdunkelt, wie der Vergleich mit sportlichen Wettkämpfen
wie dem Faustkampf veranschaulicht, der mit so großen Schmerzen verbun-
den ist, dass die Freude am Sieg demgegenüber gering erscheint. Die Rede
vom Siegerkranz und von Ehrungen könnte nun nahelegen, dass die Lust
nur diesem Aspekt als einem über das Handeln hinausgehenden Ziel gilt.
Der Verlierer würde dann ebenso leer ausgehen wie der Tapfere, der sein
Leben verliert. Gemeint sein muss vielmehr, dass zum Kämpfen immer das
Bewusstsein gehört, dass es einem schönen Ziel dient. Eben deswegen ist
die Lust ein integraler Bestandteil moralisch guten Handelns, so dass sie zu-
gleich ein Test für das Vorliegen der betreffenden Charaktereigenschaft ist
(vgl. I 9, 1098b23–25; bes. 1099a7–31; II 3, 1105a28–33).
(2.1) 1117b3 „Faustkämpfer (pyktês)“: Faustkampf war ein besonders harter
Sport, der buchstäblich mit harten Bandagen ausgeführt wurde und oft ein
blutiges Ende nahm. Das erklärt auch, warum Aristoteles die Belohnung als
geringfügig im Verhältnis zu dem bezeichnet, was die Wettkämpfer zuvor
einzustecken haben (vgl. Poliakoff 1987; Decker 22012).
(3) 1117b7–22 „Wenn es sich also mit der Tapferkeit ähnlich verhält, dann
werden Tod und Verletzungen für den Tapferen schmerzhaft und unwill-
kommen sein“: Aristoteles modifiziert hier auch seine frühere Erklärung,
der Tapfere halte dem Schrecklichen entweder mit Freude oder doch nicht
unter Schmerzen stand (II 2, 1104b7 f.). Nicht nur ist der Kampf ein bluti-
ges Handwerk, sondern der Tod ist das Furchterregendste von allem, weil er
die absolute Grenze des Lebens ist (9, 1115a26 f.). Für den Guten ist er ein
besonders harter Verlust, weil der Tod das Ende eines höchst lebenswerten
Lebens ist (1117b12: malista zên axion).
(3.1) 1117b13–16 „Doch ist er darum nicht weniger tapfer, sondern viel-
leicht sogar noch mehr, weil er das Schöne, das zum Krieg gehört (to en tôi
polemôi kalon), auf Kosten der anderen Güter wählt“: Weder hier noch an-
derswo lässt sich Aristoteles über dieses Schöne im Krieg weiter aus. Da er
aber später sagt, dass der Krieg dem Frieden dient (X 7, 1177b4–18; vgl. Pol.
512 Kommentar
VII 14, 1333a37–b5), muss die Aussicht auf Frieden das Schöne sein, das der
Tapfere im Sinn hat.
(3.1.1) 1117b16 „außer insofern, als es das Ziel berührt (tou telous ephapte-
tai)“: Das vorsichtige ‚berührt‘ soll vermutlich andeuten, dass man dieses
Ziel nicht erreichen muss, sondern zum Ausdruck kommen soll, dass das
Handeln durch das schöne Ziel geprägt ist. Das scheint Taylor 2006, 121 f.
zu übersehen, wenn er der Tapferkeit nur einen instrumentellen Wert zu-
billigt; ein Problem, welches er nur mit Hilfe der Zuversicht für lösbar hält.
Gegen die Forderung, moralisch richtige Handlungen müssten mit Lust
ausgeführt werden, wenden Kritiker ein, dass Aristoteles den Unterschied
nicht berücksichtigt, ob man eine Handlung bereitwillig ausführt (auch
‚gern‘), weil man sie für richtig hält, oder ob man das mit Lust tut. Denn nie-
mand sollte Lust am Töten empfinden, auch wenn er es für richtig hält, und
Ähnliches dürfte auch für bestimmte andere Handlungsweisen gelten. Aris-
toteles unterscheidet aber nicht zwischen einer Handlung als ganzer und
ihren Teilaspekten. So wird die Notwendigkeit, Schlechtes und Unangeneh-
mes in Kauf nehmen zu müssen, nicht eigens thematisiert, also Probleme,
die heute oft im Zentrum von Debatten stehen. Dass Aristoteles das Töten
generell für nichts Schönes hält, kommt aber in seiner Kritik an der Kriegs-
führung als solcher zum Ausdruck wie auch an kriegerischen Staaten und
ihrer Heroisierung des Tötens (vgl. X 7, 1177b9–12; Pol. VII 2, 1324b1–22).
(3.2) 1117b17–20 „Es ist aber durchaus möglich, dass solche Menschen nicht
die besten (kratistoi) Soldaten sind“: Dass die Tapferen sich im Kampf nicht
immer als die Stärksten/Erfolgreichsten erweisen, hat Aristoteles bereits zu-
vor angedeutet: Gut bewaffneten und erfahrenen Söldnern gegenüber haben
andere nicht immer die besseren Aussichten (1116b13–15). Zuvor hatte er
Söldnern zwar unterstellt, dass sie sich auf ihre Erfahrung verlassen und sich
in Gefahr davonmachen. Hier geht es aber nur um den Kontrast zwischen
Menschen, die ein gutes Leben haben, und solchen, denen an ihrem Leben
nichts gelegen sein kann.
(3.3) 1117b20–22 „So viel sei also über die Tapferkeit gesagt“: Die Behaup-
tung, die Tapferkeit nur im Umriss (typôi) gekennzeichnet zu haben, könnte
angesichts der ausführlichen Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches, ihrer
Ab- und Nebenarten, sowie des Charakters der Tapferen und seines Ver-
haltens seltsam erscheinen. Auf die näheren Umstände und Bedingungen
tapferen Handelns geht Aristoteles aber nicht ein und gibt auch keine Rat-
schläge der Klugheit. Der Umriss soll vielmehr die Unterschiede zwischen
den verschiedenen Arten von Tapferkeit hervorheben und erklären, welche
Rolle die Tapferkeit im Leben des Guten überhaupt spielt. Es geht also um
das ‚Warum‘ und nicht bloß um das ‚Dass‘.
Buch III, Kapitel 13 513
(1) 1117b23–1118a16 „Nach der Tapferkeit wollen wir jetzt über die Beson-
nenheit sprechen, denn diese beiden scheinen die Tugenden der vernunft-
losen Seelenteile (tôn alogôn merôn) zu sein“: Dass nur diese beiden Tu-
genden nicht-rationalen Vermögen gelten sollen, ist angesichts der Tatsache
problematisch, dass sämtliche Charaktertugenden ihre Wurzeln im nicht-
rationalen Seelenteil haben (I 13, 1102b28–1103a3; II 5). Ebenso merkwür-
dig erscheint prima facie, dass von Seelenteilen im Plural die Rede ist. Ein
Einfluss von Platons Dreiteilung der Seele ist darin aber nicht zu sehen (pace
G/J II 1, 238). Vielmehr liegen körperlicher Lust und körperlichem Schmerz
andersartige Empfindungen zugrunde als den übrigen Affekten. Zwar haben
nach De anima sämtliche pathê (wie Mitleid, Fröhlichkeit, Liebe und Hass)
eine körperliche Komponente, wie z.B. der Zorn das Kochen des Blutes (I 1,
403a16–18), diese körperlichen Komponenten sind aber nicht mit dem Ge-
genstand der Affekte zu verwechseln. So hat der Zorn nicht das Kochen,
sondern eine Beleidigung zum Gegenstand. Tapferkeit und Besonnenheit
gelten dagegen körperlichem Schmerz und körperlicher Lust.
514 Kommentar
(1.1) 1117b24–26 „Dass die Besonnenheit eine Mitte in Bezug auf die Lust
ist, haben wir bereits gesagt“: In der Übersicht über Tugenden und Laster
in II 7, 1107b4–8 ist vermerkt, dass die Besonnenheit die richtige Mitte ge-
genüber der Lust ist, aber nicht gegenüber allen Arten. Sie bezieht sich zwar
auch auf den Schmerz, wenn auch ‚weniger‘. Diese Einschränkungen wer-
den hier aufgenommen und näher begründet.
(1.2) 1117b28–1118a1 „Die seelischen (psychikai) Arten der Lust sind aber
von den körperlichen (sômatikai) zu trennen“: Bei dieser Unterscheidung ist
zu beachten, dass auch die körperlichen Arten von Lust von der Seele wahr-
genommen werden (vgl. De sens. 1, 436a6–10; in diesem Sinn ist jede Lust
‚psychisch‘, vgl. EN I 9, 1099a7–15). ‚Körperlich‘ bedeutet hier nur, dass
diese Lust nur einer bestimmten Sinneswahrnehmung gilt, dem Tastsinn.
Das gilt für die Gegenstände anderer Tugenden wie Ehre, Geld usw. nicht.
Und es gilt auch nicht von den Gegenständen weiterer Freuden (1117b33:
hosai mê sômatikai) wie der Lust an Geschichten, Musik und Reden aller
Art. Ihnen liegt auch keiner der in II 4 genannten Affekte zugrunde. Der-
artige Liebhabereien, einschließlich des Lerneifers (philomatheia), scheint
Aristoteles nicht zu den Charaktertugenden zu zählen.
(1.3) 1117b31–34 „Menschen, denen es um diese Art von Lust zu tun ist,
nennt man aber nicht besonnen“: Im allgemeinen Sprachgebrauch wird sô-
phrosynê oft in dem sehr weiten Sinn von ‚gesundem Menschenverstand‘
überhaupt verwendet (von Homer bis ins 4. Jh., vgl. North 1966). Platons
Charmides geht von vier verschiedenen Bedeutungen aus: Bedächtigkeit,
Schamhaftigkeit, Selbsterkenntnis und Wissen des Wissens. Xenophon,
Memorabilien III 9, 4–5, lässt Sokrates für die Identität von sôphrosynê und
sophia argumentieren. Aristoteles nimmt demgegenüber eine starke Ein-
schränkung vor, an die er sich freilich nicht immer hält. So bezeichnet er
später die bescheidene Selbsteinschätzung als Fall von Besonnenheit (sô-
phrosynê: IV 7, 1123b5 f.) und erklärt sôphrosynê als eine ‚Bewahrung der
phronesis‘ (VI 5, 1140b11–14). Die Berufung auf den allgemeinen Sprach-
gebrauch ist eher im Fall der Zügellosigkeit (akolasia) gerechtfertigt. Zwar
wird auch akolasia synonym mit Ungerechtigkeit oder Ausschreitung ge-
braucht, in der Hauptsache gilt sie aber körperlichen Ausschweifungen.
(1.4) 1118a1–16 „Die Besonnenheit bezieht sich also auf die körperlichen
Arten von Lust, aber auch da wieder nicht auf alle“: Ausgeschlossen ist
schwelgerische Übertreibung in Hinblick auf Farben, Formen und Töne, die
man nicht als Zügellosigkeit, sondern eher als Torheit oder Narretei (aphro-
syne; anoia) bezeichnen würde. Aristoteles ist sich durchaus bewusst, dass
die Freude an schönen Bildern, an Musik oder Schauspiel keine bloßen Sin-
nesfreuden sind (Poet. 4, 1448b5–24 et pass; Pol. VIII 5–7). Hier ist es ihm
aber nur um den Ausschluss weiterer Arten von Sinnenlust zu tun, die nicht
auf dem Affekt der Begierde beruhen.
Buch III, Kapitel 13 515
(1.4.1) 1118a9 f. „Ebenso nennt man Leute des Geruchssinns wegen nicht
so“: Von Aristoteles’ trockenem Humor zeugt manchmal die Wahl seiner
Beispiele, wie im Fall spezieller Sinnenlüste. Zügellosigkeit liegt aber nur
dann vor, wenn die Lust in Wirklichkeit dem Essen und der Sexualität gilt.
(2) 1118a16–b8 „Bei den übrigen Lebewesen gibt es auch keine Lust an
Wahrnehmungen dieser Art, es sei denn akzidentell (kata symbebêkos)“: Da
Aristoteles den Tieren sonst eine große Bandbreite an Gefühlen zuschreibt
(HA VIII 1, 588a13–b4), erscheint die Behauptung merkwürdig, dass ihnen
nur Fressen und Sexualität Lust bereitet. Die Parallelstelle in EE vermerkt
dazu noch, dies sei so, obwohl die Wahrnehmung vieler Tiere schärfer sei als
die von Menschen (III 2, 1230b36–1231a5; vgl. auch De an. II 3, 414b2–14).
Von Tierbeobachtungen zeugt aber die Bemerkung, Gerüche seien für Tiere
nur angenehm, solange sie hungrig sind (De sens. 5, 443b21–26).
(2.1) 1118a22 f. „Hirsch oder Wildziege“: Homer vergleicht die Kampfes-
lust von Menelaos beim Anblick von Paris mit der Lust eines hungrigen Lö-
wen, der auf einen Hirsch oder eine wilde Ziege stößt (Ilias III 24).
(2.2) 1118a23–b1 „Besonnenheit und Zügellosigkeit beziehen sich nun auf
solche Arten von Lust, an denen auch die übrigen Tiere teilhaben, daher er-
scheinen diese Arten auch sklavisch und animalisch“: Während Aristoteles
sonst dem Menschen in Hinblick auf den Geschmackssinn ein besonders
feines Unterscheidungsvermögen zuschreibt (vgl. De an. II 9 + 10), redu-
ziert er die körperliche Lust hier bewusst auf ihre niedrigste Form. Denn
selbst der Geschmackssinn soll bei dieser Lust nur eine Nebenrolle spielen,
weil die Zügellosen die Feinunterscheidungen professioneller Verkoster von
Speisen und Weinen nicht machen. Gemeint sind nur Schlemmer, die einzig
auf möglichst große Mengen von Essen und Trinken aus sind.
(2.2.1) 1118a32–b1 „ein gewisser Schlemmer (opsophagos)“: In EE III 2,
1231a15–18 gibt Aristoteles den Namen dieses Gourmands als ‚Philoxenos,
Sohn des Eryxis‘ an. Diese Namen legen nah, dass es sich um eine Figur aus
der Komödie handelt: ‚Gelage-Freund, Sohn von Rülpser‘ (vgl. G/J II 1,
241).
(2.3) 1118b1–8 „Die Zügellosigkeit gilt also der gemeinsten Art von Wahr-
nehmung (koinotatê)“: An anderer Stelle erklärt Aristoteles den Geschmack
für eine Art von Tastsinn, weil zu beidem das Vermögen gehört, zwischen
den elementaren Qualitäten von Heiß und Kalt, Trocken und Feucht zu un-
terscheiden. Beiden spricht er ein reiches Spektrum an Qualitätsunterschei-
dungen zu (De an. II 10, 422b10–16; vgl. De sens. 1, 436b15–17; 4). Derartige
Differenzierungsmöglichkeiten werden hier aber nur insofern berücksich-
tigt, als im Folgenden auch unnatürliche, erworbene Begierden bestimmter
Menschen mit einbezogen werden.
516 Kommentar
(3) 1118b8–28 „Von den Begierden (epithymiai) erscheinen die einen allen
gemeinsam (koinai) zu sein, andere sind den einzelnen Menschen eigentüm-
lich (idioi) und erworben (epithetoi)“: Neben natürlichen, Menschen und
Tieren gemeinsamen Begierden werden hier auch noch bestimmte indivi-
duell erworbene Vorlieben mit einbezogen. An dieser Stelle wird aber der
Eindruck korrigiert, körperliche Lüste als solche seien etwas Negatives: Be-
stimmte Arten von Begehren sind nicht nur natürlich, sondern auch not-
wendig. Das gilt für Hunger, Durst und die Sexualität (der Verweis auf Ho-
mer bezieht sich auf Ilias XXIV 129 f.: Speise, sitos, und Beilager, eunê).
Auch der unterschiedliche Appetit nach bestimmten Genüssen bedeutet
noch nicht per se etwas Unnatürliches.
(3.1) 1118b15–21 „Die natürlichen Begierden betreffend gehen nur wenige
fehl und auch nur in einer Richtung hin, zum Übermaß“: Im Bereich der
natürlichen Begierden besteht das Übermaß nur in der Menge, die über den
Ausgleich eines natürlichen Mangels (endeia) hinausgeht. Dieses Übermaß
betrifft die niedrigste Stufe menschlichen Begehrens: Das reine ‚Füllen‘ über
das natürliche Maß hinaus, die Völlerei, ist ein Anzeichen einer allzu sklavi-
schen Natur (1118b20 f.: lian andrapodôdês). Die Vorstellung, dass die da-
zugehörige Lust einem Füllen oder Nachfüllen gilt, geht auf Platon zurück
(Gorg. 492a–496e; Symp. 202e; Resp. IX 585a–586a; Phlb. 31e–36b; 42c; 47c).
Aristoteles knüpft daran später in seiner Behandlung der Lust insofern an,
als er zwar die Begierde, nicht aber die Lust auf die Erfüllung eines Mangels
zurückführt.
(3.2) 1118b21–27 „Ihre eigentümlichen (idioi) Arten von Lust betreffend
gehen aber viele auf vielerlei Weisen fehl“: Während das Übermaß an na-
türlichen Begierden der Menschen als relativ harmlos eingestuft wird, gilt
das nicht für die eigentümlichen Begierden, die bestimmte Menschen kulti-
vieren. Da sie auch als ‚hassenswert‘ (b25: misêta) gekennzeichnet werden,
dürften sie weniger besonderen Ess- und Trinkgewohnheiten, als vielmehr
sexuellen Vorlieben gelten.
(3.2.1) 1118b22 „‚Liebhaber-von-Derartigem‘ (philotoioutos)“: Dieser Aus-
druck wird zunächst als Passepartout zur Kennzeichnung von Liebhabe-
reien aller Art verwendet wie der des Pferdeliebhabers oder Weinliebha-
bers (I 9, 1099a7). Es kann als Lob wie auch als Tadel gemeint sein (IV 10,
Buch III, Kapitel 14 517
(4) 1118b28–33 „Was aber den Schmerz angeht, so bezeichnet man – anders
als bei der Tapferkeit – niemanden als besonnen, weil er ihn aushält“: Zum
Abschluss der Erörterung der Zügellosigkeit wird die Behauptung erklärt,
die Besonnenheit sei weniger und in anderer Weise auf den Schmerz bezo-
gen als auf die Lust (1117b26; II 7, 1107b5). Für das Ertragen körperlicher
Beschwerden sieht Aristoteles keine eigene Tugend vor, sondern nimmt spä-
ter in der Erörterung von Beherrschtheit und Unbeherrschtheit auch Stand-
haftigkeit (karteria) und Wehleidigkeit (malakia) im Umgang mit Schmerz
auf (VII 8, 1150a31–b28).
(4.1) 1118b30–33 „Vielmehr wird der Zügellose so genannt, weil es ihn mehr
schmerzt, als es soll, dass er etwas Lustvolles nicht bekommt“: Zur Zügello-
sigkeit gehört somit nur der Frustrationsschmerz, wenn er seiner Begierde
nicht nachgehen kann. Um diesen Schmerz geht es im folgenden Kapitel.
(1) 1119a1–5: Zur Begierde des Zügellosen nach körperlicher Lust gehört
auch Schmerz. (2) 1119a5–11: Ein grundsätzlicher Mangel an Begierde ent-
spricht weder der menschlichen Natur noch der von Lebewesen überhaupt.
(3) 1119a11–20: Der Besonnene begehrt nichts im Übermaß oder was er
nicht soll, sondern nur, was Gesundheit und Wohlbefinden dient.
(1) 1119a1–5 „Der Zügellose begehrt nun alle Arten von Lust oder doch die
größten“: Mit ‚alle Arten‘ sind nur die Lust an Essen, Trinken und Sexualität
gemeint. Zu dem bereits genannten ‚Frustrationsschmerz‘ kommt hier noch
518 Kommentar
der Schmerz hinzu, der mit heftigen Begierden verbunden ist. Die These
erinnert deutlich an Sokrates’ Kritik am Lebensideal des Kallikles, das in
ständigem Ausgleich für Mängel aller Art besteht und daher zwangsläufig
Schmerz mit sich bringt (Gorg. 493a–494a).
(2) 1119a5–11 „Menschen, welche die Lust betreffend einen Mangel aufwei-
sen und weniger Lust empfinden, als man soll, dürfte es aber kaum geben“:
Aristoteles behauptet nicht, dass solche Menschen gar keine Lust verspüren,
sondern nur, dass sie weniger Lust an Nahrung und Sexualität haben, als es
für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden gut ist. Ob darin eine durch Ge-
wöhnung erworbene Disposition zu sehen ist oder vielmehr eine natürliche
Anlage, bleibt offen. Kritiker halten diese Disposition für ein Konstrukt,
das der Theorie geschuldet ist, dass zu jeder Tugend ein Übermaß und ein
Mangel gehört. Aristoteles dürfte aber Fälle allgemeiner Appetit- und Lust-
losigkeit im Auge haben, die zwar selten sind, aber gelegentlich vorkommen.
(2.1) 1119a7 „Empfindungslosigkeit (anaisthêsia)“: Wie Aristoteles bei der
Einführung des triadischen Schemas angemerkt hat, hat der Mangel seiner
Seltenheit wegen keinen Namen (II 7, 1107b6–8). Sonst bezeichnet ‚Anäs-
thesie‘ zumeist die Unfähigkeit, etwas wahrzunehmen, oder Objekte, die
der Wahrnehmung nicht zugänglich sind. Daneben bedeutet der Ausdruck
aber auch Gefühllosigkeit oder Gleichgültigkeit.
(3) 1119a11–20 „Der Besonnene verhält sich diesen Dingen gegenüber auf
mittlere Weise“: Die Bestimmung der Besonnenheit beschränkt sich weit-
gehend auf eine Abgrenzung gegenüber dem Übermaß: (i) Der Besonnene
genießt die natürlichen und den Tieren gemeinsamen Arten von Lust im
richtigen Maß; (ii) an den Dingen, an denen der Zügellose seine höchste Lust
empfindet, hat er keine Freude, sondern empfindet ihnen gegenüber sogar
Widerwillen; (iii) Begehren nach dem Lebensnotwendigem empfindet er nur
in dem Maß, wie man soll, wann man soll, wonach man soll.
(3.1) 1119a16 „Was aber an Lustvollem Gesundheit und Wohlbefinden (eu-
hexia) fördert, wird er maßvoll begehren“: Mit dem ‚Wohlbefinden‘ (euhe-
xia) ist offensichtlich nur das eigene körperliche Wohlergehen gemeint und
nicht die allgemeine ‚Wohldisponiertheit‘ der Seele. Jedenfalls gibt es keinen
Hinweis darauf, dass Aristoteles hier einen Doppelsinn des Wortes im Sinn
hat (zu euhexia und dem Gegenbegriff kachexia vgl. V 1, 1129a17–26).
Die Bemerkung, das Verhalten des Besonnenen dürfe dem Schönen nicht
widersprechen (a18: para to kalon), deutet an, dass es auch bei der Beson-
nenheit ein spezifisches Schönes gibt; dieser Eindruck wird auch im Folgen-
den bestätigt (15, 1119b16). Alle Arten von Tätigkeiten, die das gute Leben
ausmachen, haben also ein spezifisches Schönes zum Ziel, d.h. auch solche,
die vornehmlich dem eigenen und dem körperlichen Wohl dienen.
Buch III, Kapitel 15 519
(1) 1119a21–33: Feigheit ist weniger freiwillig als Zügellosigkeit, sowohl das
Handeln wie auch die Disposition betreffend. (2) 1119a33–b18: Zwischen
der Zügellosigkeit und der Ungezügeltheit von Kindern besteht nicht nur
dem Namen nach eine Ähnlichkeit.
1104b22). Die Besonderheit ist hier aber, dass das Meiden beim Schmerz ein
Ausweichen vor Zerstörerischem ist. Das Suchen von Lust ist dagegen ziel-
gerichtet und führt so leichter zum Erwerb einer Disposition als der Um-
gang mit Schmerz.
(1.2) 1119a23 f. „Zudem verstört (existêsi) und zerstört (phtheirei) der
Schmerz die Natur (physis) dessen, der ihn hat“: Hier wird auf die zerrüt-
tende Wirkung des Furchtbaren für die menschliche Konstitution über-
haupt verwiesen. Der Erwerb von Tapferkeit stellt daher ungleich höhere
Anforderungen an den Menschen als der von Besonnenheit. Wird anfangs
dem Tapferen unterstellt, dass er Furchtbares gern erträgt oder es doch nicht
schmerzhaft findet (II 2, 1104b7–9), so wird später anerkannt, dass Tod
und Verwundung auch dem Tapferen unwillkommen sind (III 12, 1117b8:
akonti). Da er gegen Zerstörung und Verstörung und damit gegen eine Art
von Gewalt anzukämpfen hat, gilt das Handeln des Feigen als weniger frei-
willig als das Handeln des Zügellosen, der Lustvollem nachgeht.
(1.3) 1119a25–27 „Zudem ist es leichter, Gewohnheiten in Bezug auf Lust-
volles anzunehmen“: Für den richtigen Umgang mit der Lust bietet das Le-
ben täglich Gelegenheit. Das gilt für Umgang mit Furchtbarem nicht, weil
Tapferkeit und Feigheit auf das Verhalten in Kriegshandlungen beschränkt
sind und das tägliche Leben im Frieden kaum Gelegenheit zum Erwerb die-
ser Tugend bietet. − Aristoteles selbst hat nie Kriegsdienst geleistet, weil er
schon im Alter von siebzehn Jahren nach Athen kam und die meiste Zeit
seines Lebens als Metöke in anderen Städten lebte.
(1.4) 1119a20–31 „Die Feigheit selbst dürfte allerdings in anderer Weise
freiwillig sein als die einzelnen Handlungen“: Diese Erklärung kehrt prima
facie die frühere Bestimmung über die Freiwilligkeit um, wonach der Be-
sitz von Dispositionen freiwillig ist, weil das betreffende Handeln freiwil-
lig ist. Einzelne Handlungen im Kampf sind aber deswegen in geringerem
Maß freiwillig, weil die Umstände gewaltsam sind (1119a31: biaia, vgl.
1, 1110a1; a23–26). Der Besitz der Disposition der Feigheit als solcher ist
dagegen schmerzfrei.
(1.5) 1119a31–33 „Beim Zügellosen sind wiederum zwar die einzelnen
Handlungen freiwillig, … seine gesamte Verfassung aber weniger“: Der Be-
sitz der Disposition wird hier ‚weniger freiwillig‘ genannt als die einzelnen
Handlungen, weil niemand die Zügellosigkeit als solche begehrt. Das ‚we-
niger‘ weist darauf hin, dass der Zügellose den Erwerb seiner Disposition
sehenden Auges in Kauf nimmt und nur der Lust nachgibt. Dass niemand
sie als solche begehrt, gilt für sämtliche schlechten Dispositionen, nicht nur
für die Zügellosigkeit.
Tatsache Rechnung tragen, dass man auch Kinder zügellos nennt, obwohl
sie noch keine festen Dispositionen haben. Dazu greift er auf die Etymo-
logie des Ausdrucks zurück. Die Ausdrücke kolasis und kolazein bedeuten
‚Strafe‘ und ‚Züchtigung‘ und werden auf Kinder wie auf Erwachsene bezo-
gen. Um die Frage der etymologischen Priorität scheint es Aristoteles aber
weniger zu tun als vielmehr um die Frage der sachlichen Priorität (zu ‚frü-
her‘ und ‚später‘ vgl. Met. Δ 1). Welche Priorität er meint, ist seit der Antike
umstritten (s. Taylor 2006, 202). Der Sache nach dürfte die Disposition der
Zügellosigkeit aber ‚früher‘ sein als die der Zeit nach frühere kindliche Un-
gezügeltheit.
(2.1) 1119b3–7 „Auch scheint der übertragene Gebrauch nicht unpassend“:
Ob die Disposition oder das Kind gemeint ist, bleibt unklar, weil es in bei-
den Fällen ein Wachstum gibt, das ungebremst sein kann. Auf Kinder und
die Bedingungen ihrer moralischen Erziehung geht Aristoteles in der EN
sonst selten ein, betont aber verschiedentlich, dass die Einübung der für die
Charakterbildung erforderlichen Handlungsweisen früh einsetzen muss.
Das gilt besonders für die körperliche Lust, weil diese Begierden von An-
fang an vorhanden sind und sonst gar nicht unter die Kontrolle der Vernunft
kommen.
(2.2) 1119b11–15 „Daher sollten die Begierden mäßig und von geringer Zahl
sein“: Weil Menschen von Natur aus dazu veranlagt sind, ihren Begierden
zu folgen, sind diese nicht nur ins rechte Maß zu bringen, sondern auch der
Anzahl nach klein zu halten. Der Vergleich zwischen Tapferkeit und Beson-
nenheit soll zeigen, warum der Mensch den Begierden gegenüber besondere
Vorsichtsmaßnahmen zu treffen hat: Anders als beim Furchtbaren wird er
nicht von außen gezwungen, seinen Neigungen zuwider zu handeln, son-
dern er muss vielmehr einen Affekt der Disziplinierung unterwerfen, der
von Geburt an zur eigenen Natur gehört.
(2.2.1) 1119b13–15 „Denn so wie das Kind (pais) nach der Anordnung des
Erziehers (paidagôgos) leben soll“: Die ‚Pädagogen‘ waren in der Regel Skla-
ven, welche Jungen zum Unterricht und zu Sportveranstaltungen bringen
sollten. Ihre Aufgabe war auf die äußere Kontrolle beschränkt (vgl. Platon,
Lysis 223a).
(2.3) 1119b16 „denn Zielpunkt (skopos) ist für beide das Schöne (to kalon)“:
Das für die Besonnenheit spezifische Schöne wird nicht näher bestimmt; es
wird nur gesagt, dass die körperlichen Begierden der Vernunft, d.h. allen
Parametern des Sollens entsprechen müssen. Im Fall der körperlichen Lust
besteht das schöne Ziel in Gesundheit und Wohlbefinden, d.h. im richtigen
Maß (14, 1119a16).
Kommentar
Buch IV
Allgemeine Vorbemerkungen
Buch IV setzt die Analyse der Charaktertugenden fort und folgt dem in III 9
vorgelegten Schema, wonach jeweils eine Definition der Tugend und der
dazugehörigen Laster zu liefern ist sowie eine Kennzeichnung ihres Gegen-
standsbereichs und der Art der Tätigkeiten. Nach diesem Programm rich-
tet sich Aristoteles auch in der Bestimmung von Freigebigkeit (1–3), Groß-
zügigkeit (4–6), Hochgesinntheit (7–9), Ehrgeiz (10), Ausgeglichenheit im
Zorn (11) und der Tugenden von Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit und Un-
terhaltsamkeit (12–14). Wenn die drei letzteren gemeinhin als ‚sozial‘ be-
zeichnet werden, so hat sich da ein Anglizismus breitgemacht: gemeint sind
der gesellige Umgang innerhalb der Gemeinschaft und die dafür wünschens-
werten Standards. ‚Sozial‘ im heutigen Sinn sind von den Tugenden allenfalls
Freigebigkeit und Großzügigkeit; auch in ihrer Analyse steht dieser Aspekt
jedoch weniger im Zentrum als ihre Bedeutung für das Leben des Handeln-
den selbst. Eine zentrale Rolle spielt der Nutzen für andere nur in der Defi-
nition der Gerechtigkeit.
Aristoteles’ Analysen der einzelnen Tugenden und Laster werden von
Lesern oft vernachlässigt, weil sie trotz oder wegen ihres Detailreichtums
uninteressant erscheinen. Daher fragt man sich nach dem Sinn des Auf-
wands. Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen ist Aristoteles daran gelegen,
die Ausweitung des Katalogs von Charaktertugenden über die vier ‚Kar-
dinaltugenden‘ Platons hinaus zu rechtfertigen. Zum anderen ist er um die
Rechtfertigung der triadischen Anordnung von Tugenden und Lastern be-
müht, d.h., dass es jeweils eine Mitte zwischen Übermaß und Mangel gibt.
Die Details sind nicht nur für das Verständnis der Charaktertugenden, son-
dern der Konzeption des guten Lebens überhaupt wichtig. Die Details be-
treffen nämlich die Standards des wechselseitigen Umgangs und geben Aus-
kunft über die Werte und Anforderungen im Einzelnen. Dies erklärt auch
die wundersame Verdoppelung der Tugenden und Laster, die dem Besitz
und der Ehre gelten. Sie ist prima facie verwunderlich, weil der Unterschied
nur in der Größe des Besitzes und der Ehre zu liegen scheint. Dieser Ein-
Buch IV, Allgemeine Vorbemerkungen 523
druck ist aber falsch. Während die Freigebigkeit den privaten Umgang be-
trifft und im wechselseitigen Geben und Nehmen besteht, gilt die Groß-
zügigkeit Wohltätigkeiten im Interesse der Öffentlichkeit; von Nehmen ist
nicht die Rede. Das Streben nach Ehre im Großen gilt großen Taten im Be-
reich des Politischen; das Streben nach Ehre im Kleinen gilt öffentlichen
Ämtern und Ehrungen.
Die sog. ‚sozialen‘ Tugenden betreffend fragt man sich, warum Freund-
lichkeit, Unterhaltsamkeit und Wahrhaftigkeit überhaupt Teil des Tugend-
katalogs sind, zumal mit ‚Wahrhaftigkeit‘ nicht etwa Ehrlichkeit als solche,
sondern nur die Art, sich selbst zu präsentieren gemeint ist. Andere uns
wichtiger erscheinende Eigenschaften wie z.B. Ehrlichkeit, Verlässlichkeit,
Mitgefühl o.ä. finden hingegen keine Berücksichtigung. Der Grund liegt in
der engen Beschränkung der Charaktertugend auf genau bestimmte Ge-
genstandsbereiche: Charaktertugenden werden durch Gewöhnung an be-
stimmte Handlungsweisen innerhalb der Gemeinschaft erworben. Nur so
hat die Konzeption einer richtigen Mitte zwischen Mangel und Übermaß
bei Handeln und Fühlen einen Sinn. Aus diesem Grund hat Aristoteles die
Tapferkeit auf die Gefahr im Krieg, die Besonnenheit auf bestimmte Arten
körperlicher Lust beschränkt. Eine solche Beschränkung gibt es bei Ehr-
lichkeit oder Verlässlichkeit nicht. Wieder anders liegt die Sache beim Mit-
gefühl: Es gilt Unglücksfällen aller Art, welche die Nächsten betreffen; eine
durch Gewöhnung erworbene feste Disposition im Umgang damit ist weder
möglich noch wünschenswert.
Eine Rechtfertigung für die Vollständigkeit und Folgerichtigkeit seines
Tugendkatalogs gibt Aristoteles nicht; seit Häcker 1863 hat sich niemand
dieser Frage angenommen. Aristoteles’ abschließende Erklärung dafür,
dass Scham nicht Gegenstand einer festen Charakterdisposition sein kann
(Kap.15), lässt aber schließen, dass er annimmt, sämtliche für das Zusam-
menleben wesentlichen Charaktereigenschaften erfasst zu haben. Denn es
ist sein Ziel, alle wünschenswerten und zu meidenden menschlichen Cha-
raktereigenschaften im Umriss zu zeichnen, einen Umriss, der Gesetzge-
bern, Erziehern und philosophisch Interessierten als Studienmaterial dienen
kann (zur Behandlung der einzelnen Tugenden vgl. Gottlieb 2009; Curzer
2012; Frede 2014).
524 Kommentar
leben mussten und sich einer gehobenen Lebensart befleißigten. Dazu ge-
hört auch der liberale Umgang mit dem eigenen Besitz, der einen entspre-
chenden Wohlstand voraussetzt (zur Frage der Freigebigkeit vgl. Festugière
1947; Davies 1981; Hare 1988; Young 1994; v. Reden 1995). Die Verwaltung
des Besitzes ist dagegen Sache einer anderen Fähigkeit, der oikonomia, der
Hauswirtschaft; Aristoteles sieht in ihr eine Form der praktischen Vernunft
(vgl. VI 5, 1140b10 f. et pass.).
(1.1) 1119b23–26 „Denn gelobt wird der Freigebige“: Das Lob gilt dem Ge-
ben und dem Nehmen; ‚mehr‘ allerdings dem Geben. Nicht nur gehört zu
einem fröhlichen Geber auch ein fröhlicher Nehmer, sondern, wie sich zeigt,
muss der Geber auch zu nehmen wissen, damit er nicht mittellos wird. Auf
diese Notwendigkeit kommt Aristoteles in den Kapiteln über die Freige-
bigkeit mehrfach zurück. Zudem ist zu unterscheiden, ob das Nehmen der
Möglichkeit weiteren Gebens dient oder nur dem eigenen Besitz. Ein libe-
raler Umgang mit dem eigenen Besitz, das Geben, war nicht nur ein wichti-
ges Element privater Beziehungen, sondern auch ein fester Bestand des Le-
bens in der Gemeinschaft. Auf diesen Aspekt geht Aristoteles später in der
Erörterung der Freundschaft noch näher ein (bes. IX 7 zur Wohltätigkeit).
Die immer wieder betonte Asymmetrie zwischen Geben und Nehmen be-
ruht auf einem gewissen Gefälle zwischen Geber und Nehmer. Daher ist die
Freigebigkeit trotz der Forderung nach einer Geringschätzung des eigenen
Besitzes und einem ‚Absehen von sich selbst‘ keine altruistische Einstellung
(2, 1120a31b6). Vielmehr manifestiert sich hier ein Faktor, der auch bei be-
stimmten anderen Tugenden eine wichtige Rolle spielt: Der Handelnde ist
immer der Überlegene, der Empfänger der Unterlegene.
(1.2) 1119b26 f. „Als Besitz (chrêmata) bezeichnen wir alles, dessen Wert in
Geld bemessen wird“: Bei der Freigebigkeit erfordert die Mitte neben der
Erfüllung der üblichen Parameter des Sollens (wem gegenüber, in welcher
Weise usw.) auch die richtige Einschätzung des Werts dessen, was man gibt.
Es gibt hier eine Richtigkeit, die nicht im Belieben des Einzelnen steht und
sich nicht allein nach dem Gefühl richtet.
(1.2.1) 1119b27 f. „Verschwendungssucht und Geiz sind Übermaße (hyper-
bolai) und Mängel (elleipseis) im Umgang mit Besitz“: Der sonst seltene Plu-
ral deutet auf die Komplexität und Vielfältigkeit dieser Dispositionen hin,
die Arten des Gebens und Nehmens bzw. des Nichtgebens und Nichtneh-
mens betreffend, die in Kap. 3 noch näher erläutert werden.
(1.3) 1119b28–30 „So schreiben wir Geiz (aneleutheria) immer denjenigen
zu, die mehr auf Besitz aus sind, als man es soll“: Im Deutschen gibt es zu
Freigebigkeit keinen einheitlichen Komplementärbegriff wie das griechische
aneleutheria (eigtl. ‚Unfreiheit‘, ‚Illiberalität‘). Mangels eines passenderen
Begriffs wird ‚Geiz‘ hier als generische Bezeichnung verwendet, die sowohl
das Geben wie das Nehmen umfasst. Es ist Aristoteles offensichtlich daran
526 Kommentar
(2) 1120a4–11 „Was einen Gebrauch (chreia) hat, kann man aber auf gute wie
auch auf schlechte Weise gebrauchen“: Aristoteles spielt hier ganz deutlich
mit der Verwandtschaft zwischen Besitz (chrêmata = Gebrauchsdinge), Ge-
brauch (chreia) und gebrauchen (chrêsthai), um nahezulegen, das der eigent-
liche Sinn des Reichtums in seinem Gebrauch besteht. Dass der Reichtum
kein Selbstzweck ist, beruht aber nicht nur auf diesem Wortspiel, sondern
wurde bereits in I 3, 1096a5–9 begründet. Dennoch erscheint es zunächst
ein gewagter Schritt, vom Gebrauch des Besitzes, der doch als ein Mittel zu
einem bestimmten Zweck verstanden werden sollte, zum Geben als seinem
Gebrauch überzugehen (vgl. dazu Taylor 2006, 205). Eine Tugend würden
wir, wenn überhaupt, doch eher im umsichtigen Umgang mit dem Besitz
sehen.
(2.1) 1120a9–11 „Daher ist es eher Sache des Freigebigen zu geben, wem
man soll, als zu nehmen, woher man soll, oder nicht zu nehmen, woher man
nicht soll“: Die Freigebigkeit setzt sowohl die richtige Urteilskraft darü-
ber voraus, wer ein würdiger Empfänger ist, wie auch, wenngleich weniger,
woher man selbst etwas annehmen soll. Die dazugehörige Erziehung setzt
ein funktionierendes System wechselseitigen Gebens und Nehmens voraus.
Denn nur so kann von einer Norm des Gebens und Nehmens die Rede sein,
die ein Urteil über das ‚Gesollte‘ erlaubt. Bei der Spezifikation des ‚Sollens‘
rekurriert Aristoteles insbesondere auf die beteiligten Personen: Freigebig-
keit zeichnet sich eher dadurch aus, dass man gibt, wem man soll (hois dei),
als dass man annimmt, von wem man soll, oder nichts nimmt, von wem man
es nicht soll (1120a9–11). Wie sich in den beiden folgenden Kapiteln zeigen
wird, sind die Normen komplex, da sie auch die Lebensumstände von Ge-
bern und Nehmern berücksichtigen.
(3) 1120a11–23 „Zur Tugend gehört es nämlich eher, Gutes zu tun (eu poi-
ein), als es zu empfangen (eu paschein)“: Im Deutschen lässt sich die Pa-
rallele zwischen ‚Wohl-Tun‘ und ‚Wohl-Erleiden‘ nicht wiedergeben. Die
Tugend setzt beides voraus; denn auch das richtige Nehmen bedarf der Ge-
Buch IV, Kapitel 2 527
(1) 1120a23–31: Zur Freigebigkeit gehört auch ein ihr eigentümliches Schö-
nes. (2) 1120a31–b6: Der Freigebige ist um des Gebens willen auch zum
Nehmen bereit und kümmert sich deshalb um seinen Besitz. (3) 1120b7–27:
Freigebiges Handeln richtet sich nach der Größe des Besitzes. (4) 1120b27–
1221a1: Eine Mitte gibt es nicht nur beim Geben, sondern auch beim Neh-
men. (5) 1121a1–7: Zur Freigebigkeit gehört auch eine besondere Art von
Lust und Schmerz.
528 Kommentar
(1) 1120a23–31 „Die tugendhaften Handlungen sind schön (kalai) und wer-
den um des Schönen willen (tou kalou heneka) getan“: Obwohl Aristoteles
das Schöne als Merkmal aller tugendhaften Handlungen bezeichnet, steht es
hier doch an besonders prominenter Stelle. Aristoteles geht offensichtlich
davon aus, dass seine Hörer/Leser wissen, was dieses Schöne ist: freigebi-
ges Verhalten in Erfüllung sämtlicher Qualifikationen des richtigen Gebens
(wem man soll, wie viel man soll, wann man soll, wofür man soll). Für ein
sinnvolles Geschenk an einen Wohlhabenden gilt daher ein anderer Maßstab
als für die Unterstützung eines Bedürftigen. Das Ziel, der Nutzen des Be-
schenkten, ist kein über das Geben hinausgehendes Ziel, sondern konstitu-
tiver Teil der schönen Handlung.
(1.1) 1120a26 f. „und das mit Lust (hêdeôs) oder ohne Unlust (alypôs)“: Zur
Lust/Freude als Kriterium des Vorliegens der Tugend vgl. II 2, 1104b3–
1105a16. Dass hier dieselbe Abschwächung gemacht wird wie bei der Tap-
ferkeit (III 12, 1117b15 f.), verwundert zunächst. Denn der Tapfere muss
schließlich Verwundung und Tod auf sich nehmen. Aristoteles dürfte aber
darauf abheben, dass auch das Geben mit Schwierigkeiten und Misslichkei-
ten verbunden sein kann, insbesondere die Beschaffung der Mittel betref-
fend (1120a34–b3).
(2) 1120a31–b6 „Der Freigebige wird aber auch nichts nehmen, woher man
es nicht soll“: Der Tugendhafte wird nichts von jemandem nehmen, der ihm
nicht verpflichtet ist, weil es den Eindruck erweckt, es sei ihm daran gelegen,
ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit herzustellen.
(2.1) 1120a34–b1 „so als (hoion) sei es aus seinem eigenen Besitz“: Gemeint
ist, dass der Freigebige fremden Besitz verwendet, über den er aber so ver-
fügen kann wie über seinen eigenen. Die nachfolgenden Bemerkungen zum
prudentiellen Umgang mit dem eigenen Besitz, sind insofern eine Ergän-
zung, als sie die Notwendigkeit des Besitzes für das Geben betonen. Zum
richtigen Umgang mit eigenem Besitz gehört es aber auch, dass der Freige-
bige es eher mit dem Geben übertreibt, so dass er für sich selbst wenig übrig
lässt, weil er nicht ‚auf sich selbst schaut‘ (blepein eph’ heauton). Damit ist
keine grundsätzliche Selbstlosigkeit gemeint, sondern die Fähigkeit, vom ei-
genen Nutzen abzusehen.
(3) 1120b7–27 „Die Freigebigkeit wird aber dem Vermögen (ousia) entspre-
chend bestimmt“: Hier wird begründet, warum es keine allgemein gültigen
quantitativen Festlegungen für die Freigebigkeit gibt. Nicht die Größe der
Gabe als solche ist das Kriterium für das Vorliegen von Freigebigkeit, son-
dern sie bemisst sich nach dem Vermögen des Gebers. Die Verwendung von
ousia anstelle von chrêmata soll wohl anzeigen, dass es um den ‚substantiel-
len‘ Besitz geht (vgl. 1, 1120a1). Die Bedingung, dass die Mitte ‚relativ zu uns‘
Buch IV, Kapitel 2 529
ist (vgl. II 6, 1107a1), gilt in diesem Fall dem Stand des Vermögens. Das Ge-
ben einer kleineren Summe von Seiten eines wenig Vermögenden kann frei-
gebiger sein als das Geben einer größeren Summe durch einen sehr Reichen.
(3.1) 1120b11–25 „Freigebiger aber scheinen diejenigen zu sein, die ihr Ver-
mögen nicht selbst erworben, sondern geerbt haben“: Dieser Einschub soll
erklären, dass Unterschiede im Ausmaß der Gebefreudigkeit auch von den
Lebensumständen abhängen. So geben Menschen mit leichterer Hand, die
ihr Vermögen nicht selbst erarbeitet haben, da sie weder die Not kennen,
noch auch vom ‚Erzeugerstolz‘ derjenigen erfüllt sind, die ihren Besitz
selbst erarbeitet haben. Mit letzterer Erklärung schließt sich Aristoteles na-
hezu verbatim Platon an. Denn so erläutert Sokrates die gelassene Haltung
des alten Kephalos gegenüber seinem ererbten Reichtum (Resp. I 330b–c).
Aristoteles erwähnt die natürliche Hochschätzung der eigenen Kinder und
sonstiger ‚Erzeugnisse‘ auch in der Erörterung der Freundschaft (VIII 14,
1161b16–24; IX 7, 1168a5–9). Im Unterschied zu Platon, der Sokrates hin-
zufügen lässt, ‚Selfmademen‘ hätten gar nichts anderes im Sinn als Geld, be-
handelt Aristoteles ihre Haltung mit einer gewissen Sympathie. Denn dass
er ein Ausgeben mit leichter Hand auch kritisch sieht, zeigt sein Verweis da-
rauf, dass das Vermögen zu den Dingen gehört, um die man sich kümmern
muss.
(3.1.1) 1120b17–20 „Daher macht man es auch dem Schicksal (tychê) zum
Vorwurf“: Mit ‚Schicksal‘ ist nicht die Vorbestimmung, sondern die unbe-
rechenbare Göttin Tychê gemeint, von der auch früher wiederholt die Rede
war, wenn es um günstige und ungünstige Zufälle geht (I 10, 1099b20–25
et pass.). Der Topos von der ungerechten Verteilung des Reichtums ist z.B.
Gegenstand von Aristophanes’ Komödie Ploutos (Reichtum), der dort als
blinde Gottheit dargestellt wird, welche die Falschen begünstigt.
(3.2) 1120b25–27 „Daher bezeichnen wir auch Tyrannen nicht als Ver-
schwender“: Die Beurteilung von Verschwendung richtet sich nach der
Größe des Besitzes; übergroße Besitztümer liegen daher außerhalb des Be-
reichs von Freigebigkeit. Die Tyrannen werden auch aus dem Bereich des
Geizes ausgenommen; da ihr Besitz auf Raub beruht, gehört er in den Be-
reich von Ungerechtigkeit (vgl. 3, 1122a3–7). Die Aufwendungen von Ty-
rannen gelten prinzipiell nicht dem Schönen, sondern der Erhaltung ihrer
Macht (vgl. Pol. V 10, 1311a1–13 et pass.).
Grund wird auch erwähnt, dass Herkunft und Umfang der fraglichen Mit-
tel ‚richtig‘ sein müssen. Von anderen darf man nur dann etwas annehmen,
wenn diese allgemein freigebig sind, so dass keine anderen Motive im Spiel
sind. Einander ‚entgegengesetzt‘ sind die Ziele, wenn etwa der Nehmer nur
seinen Besitz vergrößern will oder der Geber nur auf Dankbarkeit aus ist.
(5) 1121a1–7 „Sollte es geschehen, dass der Freigebige dem zuwider ausgibt,
was man soll und was schön ist, dann wird es ihn schmerzen“: Hier dürfte
es um den Irrtum über die Person des Beschenkten gehen, über Anlass, Aus-
maß oder Zeitpunkt (vgl. III 2, 1110b18–24; 1111a19–21).
(5.1) 1121a2 „wenn er aber im rechten Maß ausgibt und so wie man es soll,
‹wird es ihn freuen›“: Die Ergänzung ist aus der arabischen Übersetzung
übernommen (vgl. Schmidt/Ullmann 2012, 40 f.). Sie rechtfertigt die Folge-
rung im Nachsatz, dass es zur Tugend gehört, sowohl Lust wie auch Unlust
zu empfinden, worüber und wie man soll.
(5.2) 1121a4 f. „Mit dem Freigebigen ist zudem in Geldgeschäften leicht um-
zugehen (eukoinônêtos)“: Das Lob für die Bereitwilligkeit des Freigebigen,
in finanziellen Angelegenheiten auch mögliche Nachteile hinzunehmen,
dürfte Geschäften auf Treu und Glauben gelten. Es ist zudem gut, wenn
Freunde sich leicht damit abfinden, wenn ein Geschäft nicht zu ihren Guns-
ten ausgeht (vgl. VIII 15, 1162b21–31).
(5.3) 1121a7 „Auch sagt ihm der Spruch des Simonides (tou Simônidou)
nicht zu“: Der Vorzug wird hier Bywaters Konjekturvorschlag gegeben, der
auch in der arabischen Übersetzung, enthalten ist (Schmidt/Ullmann 2012,
41). Denn von Simonides stammt die berühmte Maxime, es sei besser reich
als weise zu sein, weil die Weisen vor die Türen der Reichen gehen (vgl.
Rhet. II 16, 1391a9–12; Platon, Resp. V 489b). Für die überlieferte Version
(tôi Simônidêi: „dem Simonides gefällt der Freigebige nicht“) spricht zwar
die bekannte Geldgier des Simonides; dennoch ist es sinnvoller, den Freige-
bigen der Maxime des Simonides seine Zustimmung verweigern zu lassen,
als festzustellen, dass der Freigebige nicht im Sinn des längst verstorbenen
Dichters ist (556–467 v. Chr.).
(2) 1121a16–30 „Bei der Verschwendung tritt beides kaum gepaart auf“:
Gemeint ist die Kombination des Übertreibens im Geben und im Nicht-
nehmen. Niemand kann länger als Geber auftreten, ohne irgendetwas an-
zunehmen. Gleichwohl gibt es solche Menschen, und sie werden gemeinhin
als Verschwender im eigentlichen Sinn betrachtet, weil sie sich schnell rui-
nieren. Diese sind ‚Privatleute‘ (idiôtai); Verschwender öffentlichen Besitzes
sind nicht gemeint, weil sie sich nicht selbst ruinieren.
(2.1) 1121a19 f. „Ein solcher Mensch sollte aber weit besser erscheinen als
ein Geiziger“: Der Verschwender ist dem Geizigen in zwei Hinsichten über-
legen: (i) Sein Zustand ist ‚leicht heilbar‘ (euiatos), weil Not und zunehmen-
des Alter ihn eines Besseren belehren. (ii) Die Haltung des Verschwenders
ist viel näher bei der Mitte, d.h. bei der Disposition des Freigebigen, weil bei-
den die Bereitschaft zum Geben gemeinsam ist. Daher hat der Verschwender
auch keinen schlechten Charakter, sondern ist bloß töricht (êlithios).
532 Kommentar
(2.2) 1121a29 f. „während der Geizige niemandem nützt, nicht einmal sich
selbst“: Der Geizige nützt deswegen nicht einmal sich selbst, weil er ein
verfehltes Leben führt. Denn wie zur allgemeinen Bestimmung des Glücks
angeführt, ist der Reichtum ein bloßes Mittel und kein Ziel. Der Geiz stellt
daher eine Pervertierung des Guten im Leben dar (vgl. I 3, 1096a5–7).
(3) 1121a30–b12 „Die meisten Verschwender nehmen aber, wie gesagt, auch
von dort, woher man es nicht soll, und sind in dieser Hinsicht sogar gei-
zig (aneleutheroi)“: Der kleineren Gruppe der leicht heilbaren steht eine
große Gruppe von Verschwendern gegenüber, die schwer heilbar sind, weil
sie nicht nur wahllos geben, sondern sich auch an hemmungsloses Nehmen
gewöhnen, um ihre Ausgaben finanzieren zu können. Sie werden daher zu-
gleich geizig im Sinn von habgierig (man erinnere sich an die ‚Tollkühn-Fei-
gen‘ in der Erörterung der Tapferkeit, III 7, 1115b32). Da diese Verschwen-
der nicht über die richtigen Maßstäbe verfügen, beschaffen sie sich die Mittel
wahllos und ohne Rücksicht darauf, woher sie stammen.
(3.1) 1121b7 f. „Daher sind die meisten von ihnen auch zügellos“: Die
Kombination von Zügellosigkeit und Verschwendung hat schon zuvor als
Beispiel für komplexe Formen der Verschwendung gedient (1, 1119b31–
1120a1). Aristoteles gibt hier zu verstehen, dass das Verschwenden um des
Gebens willen seltener ist als das Verschwenden um eines anderen Ziels wil-
len, etwa aus dem Bedürfnis nach Ausschweifungen oder nach Schmeiche-
lei. Die Schmeichelei wird deswegen als eine gefährliche Sache gekennzeich-
net, weil sie nicht allein der Befriedigung der persönlichen Eitelkeit dient,
sondern auch gewisse Verpflichtungen gegenüber den Schmeichlern mit sich
bringt.
(3.2) 1121b10–12 „Bleibt der Verschwender ohne Anleitung (apaidagôgêtos),
gerät er auf solche Abwege“: Der hemmungslose Verschwender wird nicht
schon durch die Erfahrung von Not eines Besseren belehrt, sondern bedarf
eines eingehenden Charaktertrainings durch andere, die ihn auf den rechten
Weg bringen.
(4) 1121b12–21 „Der Geiz (aneleutheria) ist dagegen unheilbar (…); auch
ist er den Menschen eher angeboren (symphyesteron) als die Verschwen-
dungssucht“: Wie oben angemerkt, ist mit aneleutheria nicht allein der Geiz
gemeint, d.h. übermäßiges Festhalten am eigenen Besitz, sondern auch die
Habgier. Daher geht Aristoteles auch im Folgenden auf viele – ihrer Natur
nach unterschiedliche – Eigenschaften und Verhaltensformen ein. Generell
setzt er eine größere Affinität der Menschen zum Besitz (philochrêmatoi) als
zum Geben (dotikoi) voraus.
(4.1) 1121b13 f. „das Greisenalter (gêras) und jede Art von Schwäche (ady-
namia) scheinen nämlich die Menschen geizig zu machen“: Aristoteles
Buch IV, Kapitel 3 533
zeichnet aber auch sonst ein bemerkenswert negatives Bild des Alters (vgl.
Rhet. II 13). So sind Alte angeblich nur der Nutzenfreundschaft fähig (VIII
3, 1156a24–6 et pass.). Es dürfte sich um allgemeine Klischees handeln, die
auch durch die Komödie inspiriert sind. Mit ‚Schwäche‘ (adynamia) ist
nicht nur die körperliche Schwäche gemeint, sondern auch der Mangel an
Macht und Einfluss, weil Alte auch von Bürgerrechten und -pflichten dis-
pensiert waren.
(4.2) 1121b17–21 „Denn da er [der Geiz (aneleutheria)] zwei Seiten hat, den
Mangel im Geben und das Übermaß im Nehmen“: Diese beiden Seiten der
‚Illiberalität‘ treten oft getrennt auf, weil viele Geizige nicht habgierig sind
und viele Habgierige nicht mit dem geizen, was sie errafft haben. Wenn Aris-
toteles nur eine richtige Disposition annimmt, so nicht nur, weil alle Formen
den materiellen Besitz zum Gegenstand haben, sondern weil er die richtige
Mitte dem eigenen Besitz gegenüber nicht in einem gesunden Besitzstreben,
sondern vielmehr in der Freigebigkeit sieht.
(5) 1121b21–31 „Die einen, die unter Bezeichnungen wie ‚Knauser‘ (phei-
dôloi), ‚Knicker‘ (glischroi) oder ‚Geizkragen‘ (kimbikes) fallen“: Wie viele
Sprachen, verfügt auch das Griechische über eine reiche Palette von Kenn-
zeichnungen für Geizige, die Aristoteles genüsslich aufzählt. Nach EE III 4,
1232a12–14 unterscheidet sich der Knauser vom Geizkragen darin, dass der
Knauser ungern gibt, während der Geizhals sich um kleine Beträge sorgt.
Dem sprichwörtlich geizigen Dichter Simonides scheint bereits Xenopha-
nes den Beinamen kimbix gegeben zu haben (DK Frg. 21). Die im Sinn des
Nichtausgebens Geizigen werden grundsätzlich besser beurteilt als die Hab-
süchtigen, weil sie nicht nach fremdem Gut streben, sondern es nicht einmal
annehmen wollen. Vielmehr liegt ihrem Besitzstreben sogar ‚eine gewisse
Billigkeit‘ (dia tina epieikeian) und ‚Scheu vor Schändlichem‘ (eulabeian tôn
aischrôn) zugrunde. Sie halten ihren Besitz zusammen und geben nichts, um
nie in die Lage zu kommen, etwas Schändliches tun zu müssen.
(5.1) 1121b27 „Kümmelspalter (kyminopristês)“: Da Kümmel billig war, ist
das Spalten eine besonders lächerliche Form des Geizes. Der Ausdruck ist in
der Komödie beliebt; Aristophanes macht daraus in den Wespen 1357 sogar
den ‚Kümmelspalterkardamonpuhler‘ (kyminopristokardamoglyphos).
(zum Wucher als widernatürlicher Art des Gelderwerbs vgl. Pol. I 10,
1258b1–7).
(6.1) 1122a3–7 „Diejenigen aber, die im großen Stil nehmen … so wie Ty-
rannen, die ganze Städte ausplündern und Heiligtümer ausrauben“: Wie
die Größe ihres Besitzes es verbietet, für Tyrannen von Verschwendung zu
sprechen (2, 1120b25–27), lässt auch die Größe ihres Raubes nicht zu, sie als
geizig oder habsüchtig zu bezeichnen. Denn ihr Geben und Nehmen fällt
nicht in den Bereich der Tugenden und Laster, die dem Besitz gelten, son-
dern in die Kategorie der großen Übeltäter (ponêros), Frevler (asebês) und
Gesetzlosen (adikos; vgl. V 2, 1129a26–b1).
(6.2) 1122a7 „der Kleiderdieb (lôpodytês)“: Dieser Ausdruck wird für Dieb-
stähle im Kleinen verwendet. Die Berücksichtigung von Kleinkriminellen,
die eigentlich in den Bereich der Gerechtigkeit gehören, dürfte darauf beru-
hen, dass es hier nicht um das Begehen von Unrecht, sondern um die Dispo-
sition der Habsucht geht.
(6.3) 1122a7 „und der Räuber“: ‚Räuber‘ (lêistês) dürfte vermutlich als
Glosse zu dem seltenen Ausdruck lôpodytês (‚Kleiderdieb‘) in den Text ge-
raten sein. Raub ist kein Fall von Kleinkriminalität, sondern wird später als
eine Form gewaltsamer Ungerechtigkeit gekennzeichnet (V 10, 1134a19).
(7) 1122a13–17 „Man nennt den Geiz mit Recht das Gegenteil der Freigebig-
keit“: Wie zumeist am Ende der Erörterung der zu einer Tugend gehörenden
Laster bestimmt Aristoteles auch hier das größere Extrem als das eigentliche
Gegenteil dieser Tugend. Das wird im Griechischen schon durch die Wort-
wahl deutlich: eleutheriotês – aneleutheria. Wie Aristoteles hervorhebt, ist
der Geiz schlimmer als die Verschwendungssucht, weil er nicht heilbar ist
und Menschen dazu von Natur aus eher neigen als zur Verschwendung.
auch nur eine Art von Übermaß und Mangel, nämlich Vulgarität und Schä-
bigkeit. Dass Aristoteles dieser Tugend überhaupt so viel Aufmerksamkeit
schenkt, ist vor dem Hintergrund der damaligen Stiftungspraxis zu verste-
hen. Von reichen Bürgern wurde die Übernahme großer Ausgaben im Inter-
esse der Öffentlichkeit erwartet bzw. gefordert. Da diese Tugend ein großes
Vermögen voraussetzt, kann offensichtlich nicht jeder sie erwerben. Daran
scheint sich Aristoteles aber nicht zu stören; denn er hebt die besondere
Größe dieser Tugend mit ungewöhnlichem rhetorischen Aufwand hervor.
(1) 1122a18–29 „Im Anschluss daran sollte es passend erscheinen, die Groß-
zügigkeit (megaloprepeia) durchzugehen“: Die Übersetzung von megalopre-
peia mit ‚Großzügigkeit‘ ist nur eine Notlösung. Im Deutschen gibt es kei-
nen Ausdruck, der zugleich den Wortsinn des Griechischen (megaloprepês =
eig. ‚Großem angemessen‘) erkennen lässt, wie das Lateinische magnificen-
tia (engl./franz.: magnificence). Vor Aristoteles wurde megaloprepeia und
Verwandtes in einem sehr weiten Sinn zur Bezeichnung von ‚Großartigkeit‘
verwandt. So spricht Platon von der megaloprepeia der Wächter in seinem
Staat (Resp. III 402c), karikiert damit aber auch großspuriges Auftreten (vgl.
Symp. 199c; Tht. 161c).
(1.1) 1122a24 „Die Größe ist freilich relativ“: Sie betrifft den Gegenstand
des Aufwands und seinen Zweck. So erfordert die Unterhaltung einer Tri-
ere, eines Drei-Decker-Kriegsschiffs mit 170 Ruderern, vom triêrarchos ei-
nen Aufwand, der (zumeist) höher war als die Funktion eines architheôros,
des Leiters einer religiösen oder kulturellen Gesandtschaft, etwa zur Kon-
sultation eines der Orakel, zum Besuch eines Heiligtums oder zur Teilnahme
an panhellenischen Festen wie denen in Olympia oder Nemea. Auch die
Übernahme von Theateraufführungen, von Bauten usw. gehörte zu diesen
Aufgaben (2, 1122b19–23). Solche Aufgaben konnten daher nur von sehr
reichen Bürgern übernommen werden (vgl. Der Neue Pauly, Bd. 12/1, s.v.
‚Theoria‘, 398–400; ‚Trierarchie‘, 810 f.).
(1.2) 1122a27 „oftmals gab ich dem Wanderer (alêtês)“: Mit diesen Worten
präsentiert sich Odysseus (Od. XVII, 420; XIX, 76) als ein Mensch, der in
besseren Tagen selbst reich war und sich Wandersleuten gegenüber als wohl-
tätig erwiesen hat. Dieses Verhalten macht ihn aber noch nicht zu einem
536 Kommentar
‚Großzügigen‘, weil es nur um geringe Beträge geht. Der Großzügige ist da-
her zwar freigebig, das umgekehrte Verhältnis besteht jedoch nicht.
(2) 1122a29–34 „Der Mangel, der zu dieser Disposition gehört, wird als
Schäbigkeit (mikroprepeia) bezeichnet, das Übermaß als Vulgarität (banau-
sia), Geschmacklosigkeit (apeirokalia) und dergleichen“: Das Wort mikro-
prepeia scheint Aristoteles selbst als Gegenbegriff zu megaloprepeia geprägt
zu haben. Nicht nur fehlen Belege dafür in klassischer Zeit, sondern der Aus-
druck findet sich auch bei Aristoteles nur in den ethischen Schriften und in
der Rhetorik. Nachahmer hat er damit erst in der Spätantike gefunden. Die
banausia zur Kennzeichnung vulgärer Übertreibung ist von banausos, der
Bezeichnung für niedrige Handwerker, abgeleitet. Apeirokalia heißt wört-
lich ‚das Verfehlen von Schönem‘ (vgl. Platon, Phdr. 244c). Das Fehlverhal-
ten des Übertreibens besteht nicht nur im übermäßigem Aufwand für einen
an sich würdigen Anlass, sondern auch in der Art und Weise des Verfehlens.
keit: In beiden Fällen müssen Umfang und Art des Gebens so sein, ‚wie sie
sollen‘.
(4.1) 1122b12 „In diesen Dingen (en toutois)“: Es ist unklar, ob damit die
zuvor genannten Parameter des Aufwendens gemeint sind, d.h. ‚was man
(aufwenden) soll und wie man soll‘, oder das tertium comparationis mit der
Freigebigkeit (1122b13: peri tauta). Für Letzteres spricht, dass der Großzü-
gige den Freigebigen darin übertreffen soll, dass er mit den gleichen Mitteln
eine größere Wirkung erzielt (vgl. 1122a35 f.).
(4.2) 1122b14 f. „Die ‚Tugend‘ (aretê) einen Besitz und ein Werk betreffend
ist nämlich nicht dieselbe“: Die Anführungsstriche sollen anzeigen, dass
aretê hier in dem allgemeinen Sinn von Vortrefflichkeit gemeint ist, die auch
unbelebte Gegenstände auszeichnet. Während die Vortrefflichkeit des Be-
sitzes (ktêma) in Geldwert bemessen wird, besteht die Vortrefflichkeit des
Werks in seiner Großartigkeit und Schönheit.
(4.3) 1122b18 „die Großartigkeit, die in seiner Größe liegt“: Da im Deut-
schen die Angemessenheit, die im Ausdruck megaloprepeia mitschwingt,
nicht zum Ausdruck kommt, klingt dieser Schlusssatz wie eine Tautologie.
Aristoteles will mit diesen, für seine Verhältnisse ungewöhnlich gedrechsel-
ten Wortspielen mit ‚Großem‘, mit ‚Größe‘ und ‚Großartigem‘ zum Aus-
druck bringen, dass die Größe nicht im materiellen Wert der Aufwendung,
sondern in der Angemessenheit des Werks für seinen Zweck liegt.
Trennung zwischen den Göttern (hoi theoi) und ‚allem Göttlichen‘ (pan to
daimonion) liegt vermutlich die Unterscheidung zwischen den zwölf kano-
nischen Göttern und Göttinnen und den sonstigen Gottheiten zugrunde,
die Gegenstand kultischer Verehrung waren, wie Heroen und Lokalgotthei-
ten. Wie die Aufzählung der Gaben erkennen lässt (Tempelbauten, Opfer-
zeremonien, Weihgeschenke), war die Spannweite solcher Ausgaben groß.
Da diese Geschenke auch dem Unterhalt der Heiligtümer selbst dienten, lag
ihr Nutzen nicht nur in der Repräsentation. An zweiter Stelle stehen Auf-
wendungen im Dienste des Gemeinwohls (1122b21: pros to koinon), wie die
bereits erwähnte Ausstattung von Gesandtschaften, Theateraufführungen
oder der Unterhalt von Kriegsschiffen. Als weitere Möglichkeit von Auf-
wendungen, um die man besonders wetteiferte (euphilotimêta: anscheinend
wiederum eine Wortprägung durch Aristoteles), galt die ‚Bewirtung der
Stadt‘ (hestiân tên polin). Auch wenn damit nicht die ganze Stadt gemeint
ist, sondern die Vollbürger aus dem eigenen Distrikt (dêmos), muss diese
Gastlichkeit ein sehr kostspieliges Vergnügen gewesen sein. Was den Wett-
eifer um das Tätigsein angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass solche Pflich-
ten reichen Bürgern vielfach per Dekret auferlegt wurden und besonders in
Notzeiten eine Härte darstellten (vgl. Davies 1981; Christ 1990).
(2) 1122b23–35 „In all diesen Fällen richtet man sich aber … auch nach dem
Handelnden, wer er ist und über welche Mittel er verfügt“: Wie bei allen
tugendhaften Handlungen wird auch bei denen des Großzügigen ein an-
gemessenes Verhältnis zwischen der Person, dem Ziel der Handlung und
den erforderlichen Mittel vorausgesetzt. Bedingung ist aber nicht allein der
Reichtum, sondern auch eine entsprechende Herkunft und Ansehen. Da
es bei den übrigen Charaktertugenden keine derartigen Restriktionen gibt,
liegt darin eine Einschränkung in Hinblick auf die Vollständigkeit der Cha-
raktertugenden: nicht jeder ist der Großzügigkeit fähig. Falls Aristoteles das
nicht übersehen hat, muss er davon ausgegangen sein, dass jeder diejenigen
Tugenden erwirbt, die seine Lebensumstände erlauben.
chende Bauten. Überhaupt sollen sie Geld nur für bleibende Werke (1123a8:
polychronia) ausgeben, aber darauf bedacht sein, dass die Repräsentation
den Zweck der Bauten nicht übersteigt. So ist ein Grabmal nicht wie ei-
nen Tempel auszustatten, weil es nur einem Menschen und keiner Gottheit
gilt. Eine großzügige Bestattung rechnete man aber zu den ‚schönen‘ Dingen
(Platon, Hp. ma. 291d–e: megaloprepôs taphênai).
(4) 1123a10–19 „Da sich ferner bei jeder Aufwendung die Größe nach der
Art des Gegenstandes (mega en tôi genei) richtet, ist am großartigsten zwar
das im Großen Große (to en megalôi mega)“: Die komprimierte Ausdrucks-
weise hat zu verschiedenen Verbesserungsversuchen geführt. Was Aristote-
les sagen will, ist aber ziemlich einfach: Das im höchsten Grad Großzügige
(to megaloprepestaton) manifestiert sich zwar in dem, was allgemein an gro-
ßen Dingen groß ist; im Einzelfall muss die Größe aber der Art des Ge-
genstandes entsprechen. Daher ist auf Bywaters Einfügung von ‚schlecht-
hin‘ zu verzichten. Denn es geht nicht um das schlechthin Größte, sondern
um eine Gegenüberstellung von allgemein als großartig anerkannten Dingen
und solchen, die man nur im Vergleich zu anderem ihrer Art so nennt, wie
im Fall von Kinderspielzeug.
(4.1) 1123a14–18 „Der schönste Ball (sphaira) oder die schönste Ölfla-
sche (lêkythos) ist nämlich großzügig als Geschenk für ein Kind (paidikon
dôron)“: Hier sind Geschenke für Jungen in einem Alter gemeint, in wel-
chem sie sich bereits sportlich betätigen. Der Wert (timê) solcher Aufwen-
dungen ist zwangsläufig gering, weil man für solche Dinge nicht viel ausge-
ben kann. Dass hier die Möglichkeit von Großzügigkeit in kleinen Dingen
eingeräumt wird, widerspricht nur scheinbar der anfänglichen Beschrän-
kung dieser Tugend auf Aufwendungen im großen Rahmen (vgl. G/J II 1,
271). Vielmehr geht es darum, dass der Großzügige es sich angelegen sein
lässt, sich auch bei geringfügigen Ausgaben in Hinblick auf den Zweck der
Gabe und die dafür aufgewendeten Mittel nicht übertreffen zu lassen.
nai)“: Dem Vulgären geht es nicht um den Dienst an der Gemeinschaft, son-
dern nur um Protzerei und Bewunderung. Da er nicht die richtigen Maß-
stäbe hat, wahrt er bei seinen Aufwendungen das rechte Maß nicht, sondern
tut entweder zu viel oder zu wenig.
(3) 1123a31–33 „Diese Dispositionen sind nun zwar Laster (kakiai), Schande
(oneidê) bringen sie jedoch nicht mit sich“: Zunächst verwundert es, dass ge-
rade bei öffentlichen Unternehmungen ein solches Versagen nicht Gegen-
stand von Schande sein soll. Mit ‚Schande‘ ist aber die öffentlich sanktio-
nierte Ächtung gemeint, die auch mit Strafe belegt werden kann, wie etwa
im Fall der Feigheit eines Bürgerheers (III 11, 1116a17–29) und der von Gei-
zigen, die schändlichen Gewinn aus anderen beziehen (3, 1121b31–1122a3).
Vulgarität und Schäbigkeit setzen ihre Urheber dagegen nur der Lächerlich-
keit aus. Dass nicht alle Untugenden gleich schwer wiegen, ist schon vor-
her gelegentlich zum Ausdruck gekommen, etwa bei der Erklärung, eine
Handlung sei zwar töricht, aber nicht bösartig. Im Folgenden merkt Aristo-
teles zudem zu bestimmten Charakterfehlern an, sie seien keine Laster, weil
sie niemandem schaden (9, 1125a18: Kleinmütigkeit und Aufgeblasenheit).
Der Aufschneider ohne Gewinnstreben (13, 1127b11) wird „eher eitel als
schlecht“ genannt, im Unterschied zum Hochstapler, dem es um den eige-
nen Gewinn geht.
dern er weiß, dass er ihrer wert ist, d.h. dass er sie ausführen kann. Der
Kleinmütige traut sich dagegen die Dinge nicht zu, die eigentlich seinem
Wert entsprechen, während der Aufgeblasene sich mehr zutraut, als seinem
Wert entspricht. Die Hochgesinntheit ist daher, ähnlich wie die Großzügig-
keit, nur ganz bestimmten Menschen vorbehalten, die sich zu Recht großer
Taten für wert erachten.
Da die Hochgesinntheit auf ‚große Dinge‘ überhaupt abzielt, könnte sie
als eine ‚Tugend der Tugenden‘ erscheinen, ohne eigenen Bereich. Es ist je-
doch daran zu erinnern, dass in I 3 das Leben der Ehre als das ‚politische‘
gekennzeichnet wurde. Die großen Taten sind also solche, durch die sich in
erster Linie Staatsmänner und Strategen auszeichnen. Der Verhaltenskodex,
der dazu im folgenden Kapitel entworfen wird, soll vermutlich an den Cha-
rakter von Persönlichkeiten wie die eines Perikles und anderer Staatsmänner
aus der goldenen Vergangenheit Athens erinnern, die sich sämtlich auch als
Strategen hervorgetan haben.
Da die Hochgesinntheit eine bestimmte Charaktertugend ist, ist sie nicht
die ‚göttliche Tugend‘, von der später die Rede ist (vgl. VII 1); denn diese
soll außerhalb des Bereichs der menschlichen Tugend überhaupt liegen (pace
Hardie 1978, 77; Curzer 1990). Auch die Tugend des politischen ‚Übermen-
schen‘ kann nicht gemeint sein, der allen anderen Menschen so überlegen
ist, dass ihm die Alleinherrschaft auf Lebenszeit zu überlassen ist, weil er
Zeus vergleichbar und ein ‚Gesetz für sich‘ ist (vgl. Pol. III 13, 1284a3–15
et pass.). Schließlich ist mit Hochgesinntheit auch nicht die Philosophie ge-
meint, wie manche Interpreten im Anschluss an die antike Tradition seit As-
pasios annehmen. Denn Aristoteles schreibt dem Philosophen keine hohen
Ambitionen innerhalb der Gemeinschaft zu (pace Stewart 1892, II 335 f.;
G/J II 1, 272 f.). Der Hochgesinnte ist vielmehr ein Mensch, der zu Recht
Ambitionen hegt, große Taten für die Gemeinschaft zu vollbringen, und sich
seiner Umgebung eben darin überlegen weiß. Das erklärt auch die Distanz
seinen Mitmenschen gegenüber, die Aristoteles viel Kritik und Spott in der
Sekundärliteratur eingetragen hat, weil diese Beschreibung egalitären Vor-
stellungen widerspricht und beim ersten Lesen wie eine Karikatur wirkt (zu
einer Bewertung der verschiedenen Interpretationen vgl. Crisp 2006, bes.
169–177).
(1) 1123a34–b4: Der Hochgesinnte hält sich zu Recht großer Dinge für wert.
(2) 1123b5–15: Durch Mangel zeichnet sich der Kleinmütige, durch Über-
maß der Aufgeblasene aus. (3) 1123b15–26: Gegenstand der Hochgesinnt-
heit ist die Ehre, das höchste der äußeren Güter. (4) 1123b26–1224a4: Die
Hochgesinntheit setzt den Besitz sämtlicher Tugenden voraus. (5) 1124a4–
12: Der Hochgesinnte sieht in der Ehre die Bestätigung seiner vollkomme-
nen Tugend. (6) 1124a12–20: Andere äußere Güter hält er für gering.
Buch IV, Kapitel 7 543
(2) 1123b5–15 „Wer nur geringer Dinge wert ist und sich selbst auch ent-
sprechend einschätzt, ist zwar besonnen (sôphrôn), aber nicht hochgesinnt“:
‚Besonnen‘ hat hier die herkömmliche weitere Bedeutung von Selbstbe-
scheidung; denn um den angemessenen Umgang mit der Lust geht es nicht.
Der in diesem Sinn Besonnene weiß, dass er zu großen Taten nicht fähig
ist; eine Tugend liegt in dieser gesunden Selbsteinschätzung deswegen nicht,
weil sie keine schönen Handlungen zur Folge hat.
(2.1) 1123b6–8 „so wie auch zur Schönheit ein große Körper gehört“: Zu
den ‚Tugenden des Körpers‘ rechnet Aristoteles sonst Größe, Schönheit,
Kraft und sportliche Fähigkeiten und betrachtet grundsätzlich die Tauglich-
keit des Körpers für die dem Lebensalter gemäßen Anstrengungen als das
Kriterium für Schönheit; in der Jugend sei es der sportliche, in der Blütezeit
der kriegerische Körper und im Alter der für das Notwendige hinreichend
kräftige Körper (Rhet. I 5, 1361b7–14). Körperliche Schönheit ist also die
Manifestation dieser Tüchtigkeit. Es geht daher nicht allein um das Ausse-
hen; denn kleinen Menschen wird zwar Anmut und Wohlgestalt zugespro-
chen, Schönheit aber nicht. Auch Platon sieht in der Größe ein wichtiges
Merkmal körperlicher Schönheit (vgl. die Trias körperlicher Perfektionen:
Größe, Gesundheit, Kraft in Men. 72b–e; Phd. 65d et pass).
(2.2) 1123b8 f. „Wer sich großer Dinge für wert hält, ohne es zu sein, ist auf-
geblasen (chaunos)“: Die Übersetzung von chaunos mit ‚aufgeblasen‘ bietet
sich insofern an, als das Wort eigentlich ‚lose‘, ‚locker‘, ‚leer‘ (bei Perso-
nen auch ‚mit offenem Mund‘) bedeutet. Der Aufgeblasene nimmt also den
Mund zu voll. Die Einschränkung, nicht jeder, der sich allzu großer Dinge
für wert hält, sei schon aufgeblasen, muss Leuten gelten, die das nicht auf-
grund einer festen Disposition und nur gelegentlich tun.
(2.3) 1123b9–11 „Wer sich aber für weniger wert hält, als er ist, ist kleinmü-
tig (mikropsychos)“: Mikropsychia bezeichnet sonst allgemeine Verzagtheit.
Aristoteles beschränkt den Begriff hier auf hohe Handlungsziele, deren die
Person eigentlich fähig ist. Dass er darin eine besonders wichtige Fehlhal-
tung sieht, macht der Zusatz deutlich, es sei unerheblich, ob die Diskrepanz
zwischen dem wahren Wert der Person und ihrer Selbsteinschätzung groß,
mittel oder gering ist. Dahinter steht die Auffassung, dass ein gewisses Aus-
maß an Selbstüberschätzung besser ist als Selbstunterschätzung. Das mani-
festiert sich auch in der für uns erstaunlichen abschließenden Feststellung,
Buch IV, Kapitel 7 545
(3) 1123b15–26 „Wenn jemand sich nun großer Dinge für wert hält und es
auch ist“: Der Begriff, der für diese Tugend kennzeichnend ist, die Ehre
(timê), wird erst hier eingeführt. Ehre ist aber nicht das eigentliche Ziel des
Hochgesinnten, sondern sie dient vielmehr als Bestätigung und auch Maß-
stab der Größe seiner Handlungsweisen. Ebendies soll die Rede von der
Ehre als dem Siegespreis für die schönsten Taten zum Ausdruck bringen.
Zu den Taten des Hochgesinnten gehört auch der Erfolg, der sonst in der
Analyse der Tugenden nicht weiter hervorgehoben wird. Dazu ist an den
Vergleich mit den Kämpfern bei den Olympischen Spielen in I 9, 1099a3–7
zu erinnern: Bekränzt werden nicht die Schönsten und Stärksten, sondern
diejenigen, die kämpfen und gewinnen (zu Spannungen zwischen Ehre und
Tugend vgl. Taylor 2006, 218).
(4) 1123b26–1224a4 „Wenn er der größten Dinge wert ist, sollte der Hoch-
gesinnte wohl auch der Beste (aristos) sein“: Mit der ‚Bestheitsforderung‘
für den megalopsychos erklärt sich, worauf sein Wert beruht: Er muss nicht
nur sämtliche Tugenden besitzen, sondern auch „was an jeder Tugend groß
(mega) ist“. Aus dieser Beschreibung könnte man schließen, dass die Hoch-
gesinntheit keinen eigenen Gegenstandsbereich hat, sondern sämtliche Tu-
genden umfasst, analog zur universalen Gerechtigkeit. Das ist aber nicht ge-
meint, sondern nur, dass die großen Taten im Dienst der Gemeinschaft den
Besitz aller anderen Tugenden voraussetzen, weil feiges, ungerechtes Ver-
halten usw. damit unvereinbar ist. Die Hochgesinntheit ist daher nicht die
Tugend aller Tugenden, wohl aber muss der Hochgesinnte über sämtliche
anderen Tugenden verfügen, die zur Ausführung von Taten gehören, die von
einem Staatsmann zu erwarten sind.
(4.1) 1123b31 „Hals über Kopf zu fliehen (pheugein paraseisanti)“: Der
Ausdruck bedeutet eigentlich ‚mit den Armen rudernd zu fliehen‘ (vgl. IA
3, 705a17). Ob diese Zutat humorvoll gemeint ist oder nicht, in jedem Fall ist
eine hastige Flucht gemeint, die dem Tapferen und daher auch dem Hoch-
546 Kommentar
gesinnten nicht ansteht (vgl. G/J II 1, 281; Dirlmeier 1956, 376). Dass die
Bewährung des Hochgesinnten auch auf militärischem Gebiet liegt, bestä-
tigt die Bemerkung, er suche zwar die Gefahr nicht, zeichne sich in großen
Gefahren aber aus (8, 1124b6–9).
(4.2) 1123b32 „Denn wozu sollte er etwas Nichtwürdiges tun, er, für den
es nichts Großes gibt?“: Die Begründung, dem Hochgesinnten ‚erscheine
nichts groß‘, muss deswegen befremden, weil doch schon sein Name be-
sagt, dass er Großes im Sinn hat. Da Aristoteles dem später noch hinzufügen
wird, der Hochgesinnte bewundere nichts (8, 1125a2 f.), lässt sich diese Be-
merkung nicht einfach als obiter dictum wegerklären. Gemeint sein dürfte,
dass der Hochgesinnte weder seine eigenen noch auch die Taten von anderen
für besonders groß hält oder bewundert.
(4.3) 1123b35–1124a3 „die Ehre ist der Siegespreis (athlon) der Tugend und
wird den Guten verliehen“: Dies scheint der Annahme zu widersprechen,
dass Ehre nur ein äußeres Gut ist (vgl. I 10, 1099b17). Zudem fragt sich, ob
der Hochgesinnte nur auf solche tugendhaften Handlungen aus ist, die Ehre
einbringen, oder ob beides nicht zu trennen ist. Da die Betonung auf der
Größe liegt, dürfte dem Hochgesinnten in der Tat nur an solchen Handlun-
gen gelegen sein, mit denen man (zurecht) Ehre einlegen kann. Die Ehre lie-
fert somit das Kriterium zur Kennzeichnung der Art und Größe der Hand-
lungen, nicht aber ihr Ziel.
(4.4) 1124a1 f. „Die Hochgesinntheit scheint also eine Art Schmuck (kos-
mos) der Tugenden zu sein“: Über die Bedeutung von kosmos besteht Un-
einigkeit unter den Kommentatoren. Da es neben Schmuck oder Orna-
ment auch die Ordnung (einschließlich der Himmelsordnung) bezeichnet,
könnte die Hochgesinntheit als die Ordnung oder das System sämtlicher
Tugenden verstanden werden (so etwa Hardie 1978 et al.). Da die mega-
lopsychia aber als eine Charaktertugend unter anderen aufgeführt wird,
erscheint diese Annahme nicht plausibel, zumal nicht zu sehen ist, inwie-
fern sie ein Ordnungsprinzip für die übrigen Tugenden enthalten soll (so
Taylor 2006, 221). Vielmehr betätigt sich der Hochgesinnte im Sinne der-
jenigen Tugend, die jeweils für ein großes Werk erforderlich ist. Es dürfte
gerade die Heterogenität der großen Dinge sein, die Aristoteles dazu ver-
anlasst, in ihrer Ehr-Würdigkeit den gemeinsamen Faktor zu suchen.
Trotz des Bezuges der megalopsychia auf sämtliche Tugenden wäre es da-
her falsch, die Hochgesinntheit als Tugend zweiter Stufe zu bezeichnen
(Taylor 2006, 217); denn der Hochgesinnte ist nicht per se auf die Anwen-
dung sämtlicher Tugenden aus. Die Hochgesinntheit ist nur eine, frei-
lich besonders anspruchsvolle Charaktertugend. Mit dieser Konstruktion
will Aristoteles aber weder die alte Adelsethik fortschreiben (Gigon 1967,
378) noch einen neuen Typus von Mensch erschaffen (Dirlmeier 1956,
370–373).
Buch IV, Kapitel 7 547
(4.5) 1124a4 „Denn ohne den Vollbesitz der Tugend (kalokagathia) ist es
nicht möglich“: Es ist kein Zufall, dass Aristoteles diesen Begriff, der oft als
der Inbegriff der Tugend im alten Griechenland verstanden wird, hier zum
ersten Mal in der EN verwendet, während sonst von ‚vollkommener Tu-
gend‘ die Rede ist (vgl. 7, 1124a8; 8, 1124a28 f.: pantelês aretê; I 10, 1100a4;
13, 1102a6: aretê teleia). Die Hochgesinntheit ist jedoch deswegen nicht
mit der vollkommenen Tugend gleichzusetzen, weil es dem Hochgesinn-
ten nicht um die Tugend in ihrer Gesamtheit zu tun ist. Das Kompositum
kalokagathia scheint übrigens erst Ende des 5. Jh. üblich geworden zu sein
(vgl. Der Neue Pauly, Bd. 6, sv. ‚Kalokagathia‘, 210). Platon verwendet den
Ausdruck nicht. Aristoteles verwendet ihn gelegentlich; so kennzeichnet er
in EN X 10, 1179b10 damit die Art von Tugend, derer die Menge nicht fä-
hig ist.
(5) 1124a4–12 „Der Hochgesinnte hat es also vor allem mit Ehre und Un-
ehre zu tun“: Dass die Ehre nicht das eigentliche Ziel des Hochgesinnten ist,
zeigt auch die Ambivalenz im Umgang mit ihr. Sie erfreut ihn nur, wenn sie
von Seiten guter Menschen kommt (1124a6: hypo tôn spoudaiôn). Zudem ist
er sich bewusst, dass es gar keine Art von Ehrung gibt, die den großen Taten
gerecht werden könnte; letztere stehen grundsätzlich über der Ehre. Daher
macht sich der Hochgesinnte nichts aus Ehren für Geringfügigkeiten oder
von Seiten beliebiger Leute, so wie er sich auch durch Unehre von solcher
Seite nicht betroffen fühlt.
(6) 1124a12–20 „er hält aber auch das richtige Maß gegenüber Reichtum
(ploutos), Macht (dynasteia) und jeder Art von Glücks- (eutychia) und Un-
glücksfällen (atychia) ein“: In Reichtum und Macht als solchen sieht Aristo-
teles keine Werte an sich, wie seine kritische Behandlung der Glücksgüter und
deren Auswirkung auf den Charakter in der Rhetorik bestätigt (II 15–17).
Die Versicherung, dass der Hochgesinnte auch die übrigen äußeren Güter im
richtigen Maß schätzt, soll der Tatsache Rechnung tragen, dass sein Handeln
auf äußeren Erfolg angewiesen ist. So ist für großes Handeln nicht nur ein
hinreichender Besitz, sondern in der Politik auch Macht und Einfluss erfor-
derlich. Da Menschen, die sich um Ehre bemühen, oft im Verdacht stehen,
dass es ihnen auf die Macht als solche ankommt, hebt Aristoteles hervor, dass
der Hochgesinnte diese Güter nicht überbewertet.
(6.1) 1124a16 f. „Denn nicht einmal der Ehre gegenüber verhält er sich so,
als sei sie das Größte“: Sein eigentliches Ziel sind die großen Taten. Nur
dafür und von Seiten von Leuten, die sie beurteilen können, sind Ehrun-
gen auch angemessene Ehren. Ehre von anderer Seite verachtet der Hoch-
gesinnte. Diese Verachtung, auf die auch in der Folge rekurriert wird
(8, 1124b1–6; 29: kataphronein = ‚herabsehen‘), sollte man weder überbe-
548 Kommentar
(1) 1124a20–b6: Der Besitz von Glücksgütern ohne Tugend ist keine Hoch-
gesinntheit. (2) 1124b6–23: Die Überlegenheit des Hochgesinnten kenn-
zeichnet seine Art von Tapferkeit und Freigebigkeit. (3) 1124b23–1125a9:
Hochgesinntheit manifestiert sich auch in den sonstigen Verhaltensweisen
anderen Menschen gegenüber. (4) 1125a9–16: Entsprechendes gilt für den
Umgang mit Lebensnotwendigem, mit Besitz und für sonstiges Verhalten
im Alltag.
nichts aus der Ruhe bringen lässt. Daher gibt es bei ihm weder Hast noch ein
Überschlagen der Stimme (zur Bedeutung der hohen und tiefen Stimme vgl.
GA V 7, bes. 786b24–787a1). Perikles könnte hier Modell gestanden haben;
denn sowohl Thukydides (Historiae II 65) wie auch Plutarch in seiner Vita
des Perikles (5, 1–3) schreiben ihm eine betont ruhevolle und distanzierte
Verhaltensweise zu (vgl. Azoulay 2010).
Die Beurteilung des Hochgesinnten unter den Kommentatoren fällt seit
jeher höchst unterschiedlich aus. Sie reicht von Bewunderung für das Ideal
eines solchen, im wirklichen Leben allerdings seltenen Menschen bis zur Be-
lustigung oder Empörung über das elitäre und undemokratische Gehabe des
Hochgesinnten (vgl. dazu Stewart 1892 ad loc. und Hardie 1968, 119). Es ist
aber daran zu erinnern, dass es hier wesentlich um Staatsmänner und Feld-
herrn geht, von denen man nicht nur eine besondere Würdigkeit, sondern
auch eine besondere Würde erwartet hat.
(1) 1125a16–19: Der Mangel beim Kleinmütigen und das Übermaß beim
Aufgeblasenen sind Fehler, aber keine Schlechtigkeit. (2) 1125a19–27: Der
Fehler des Kleinmütigen besteht in der Unterschätzung seiner Fähigkeiten
und entsprechenden Unterlassungen. (3) 1125a27–32: Der Fehler des Auf-
geblasenen besteht in der Überschätzung seiner Fähigkeiten und entspre-
chendem Fehlverhalten. (4) 1125a32–35: Kleinmütigkeit ist der schlimmere
Fehler.
(1) 1125a16–19 „Von dieser Art ist also der Hochgesinnte; wer dahinter zu-
rückbleibt, ist kleinmütig, wer darüber hinausgeht, aufgeblasen“: Auf für
Kleinmütige und Aufgeblasene typische Handlungsweisen geht Aristoteles
gar nicht ein, sondern beschränkt sich auf die Tatsache, dass sie ihren Wert
falsch einschätzen. Dass sie der Gemeinschaft damit schaden, dass sie zu viel
554 Kommentar
oder zu wenig tun, zieht er nicht in Betracht, sondern bezieht ihre Fehler
nur auf ihr Verhältnis zu sich selbst.
(2) 1125a19–27 „Der Kleinmütige, der des Guten wert ist, beraubt sich
nämlich dessen, was seinem Wert entspricht“: Wer sich selbst nicht genug
zutraut, macht sich schlechter, als er sein könnte, weil er seine Fähigkei-
ten nicht seinen Möglichkeiten entsprechend entwickelt. Diese Feststellung
erinnert an das Beispiel des Menschen bei Kant, der seine Talente rosten
lässt (Grundlegung II, 423), ein Verhalten, von dem ein rationales Wesen
nicht wollen kann, dass es ein allgemeines Gesetz werde. Der Gedanke an
die Selbstwidersprüchlichkeit eines solchen Wollens findet sich bei Aristote-
les nicht, wohl aber ein teleologisch bestimmtes Sollen: Jeder soll so viel aus
sich machen, wie er kann. Die Selbstunterschätzung führt Aristoteles nicht
auf mangelnde Intelligenz zurück, sondern auf Zögerlichkeit (oknêroi), und
dürfte damit mangelnden Mut meinen.
(2.1) 1125a27 „und ebenso auch auf die äußeren Güter“: Dass der Kleinmü-
tige auch diesbezüglich eine Unterlassung begeht, soll heißen, dass er nicht
nur die schönen Taten nicht ausführt, sondern auch die entsprechenden Eh-
rungen nicht erfährt. Dass man sein Licht nicht unter den Scheffel stellen
soll, ist ein wichtiges Trennmerkmal zwischen antiken und christlich beein-
flussten modernen Tugendvorstellungen.
scheint zweifelhaft, denn woher sollte ein Zuwachs an Wert kommen? Viel-
mehr spricht der Ausdruck ‚schlechter‘ für eine teleologische Begründung:
Es ist schlechter, das eigene Potential zu unterschätzen und nicht zu ver-
wirklichen als es zu überschätzen. Denn wo es nichts zu entwickeln gibt,
wird nichts versäumt.
Auch diese Beurteilung hat Aristoteles Kritik eingetragen, weil man die
Kleinmütigkeit mit Bescheidenheit assoziiert und darin keinen oder nur ei-
nen weit geringeren Fehler sieht als in der Aufgeblasenheit. Um Beschei-
denheit geht es hier aber anscheinend nicht, sondern um den Mangel an Mut
und Entschlossenheit, das eigene Potential angemessen zu entwickeln und
einzusetzen.
(1) 1125b1–14: Auch im Bereich kleiner oder mittlerer Ehren gibt es Mitte,
Mangel und ein Übermaß. (2) 1125b14–25: ‚Ehrgeiz‘ wird einerseits als Lob,
andererseits als Tadel gebraucht, weil es keine feste Bezeichnung für die
Mitte gibt.
(1) 1125b1–14 „Es scheint aber in Bezug auf die Ehre noch eine Tugend zu
geben, wie anfangs gesagt“: ‚Anfangs‘ bezieht sich auf die Übersicht über
Tugenden und Laster in II 7, 1107b21–1108a2. Dort hat Aristoteles in Bezug
auf niedrige Ehren eine eigene Charaktertugend mit Übermaß und Mangel
eingeführt und darauf hingewiesen, dass die Unterschiede auch deswegen
556 Kommentar
übersehen werden, weil es keine Namen für diese Dispositionen gibt. Auf
die richtige Selbsteinschätzung als Mitte verweist er zwar nicht, sie dürfte
aber in den Parametern des Sollens enthalten sein, d.h. ob man mehr oder
weniger Ehre anstrebt, als man soll, woher man soll, wie man soll und wo-
für. Darauf hat Aristoteles bei der Spezifizierung der Hochgesinntheit nicht
rekurriert, vermutlich weil sie außerhalb des gewöhnlichen Spektrums liegt.
Hier geht es dagegen um Ehrungen im konventionellen Sinn, zu denen vor
allem die Ämter gehören, die Gegenstand des Wettbewerbs unter den Bür-
gern sind. Das übersieht Taylor 2006, 227 f. bei seiner Kritik an der grund-
sätzlichen Anerkennung einer solchen Tugend.
(1.1) 1125b8–11 „Den Ehrgeizigen (philotimos) tadeln wir nämlich“: Auch
im Deutschen unterscheidet man zwischen gesundem und übermäßigem
oder auch krankhaftem Ehrgeiz oder Ehrsucht, wenn diese Bezeichnung
auch zumeist auf das persönliche Fortkommen und nicht auf öffentliche Eh-
rungen bezogen wird. Die Übersicht bei LSJ zeigt, dass philotimia und phi-
lotimos zwar oft in einem negativen, oft aber auch in einem positiven Sinn
verwendet werden, manchmal allerdings mit einem Zusatz wie ‚in Hinblick
auf Schönes‘ (vgl. Platon, Symp. 178d: epi tois kalois; Aristoteles, Pol. VII 2,
1324a30: philotimotatoi pros aretên).
(1.1.1) 1125b10 „den Ehrgeizlosen (aphilotimos)“: Der Ehrgeizlose ist dem
Kleinmütigen insofern ähnlich, als auch er nicht nach Schönem strebt. Ob-
wohl von Würdigkeit und Selbsteinschätzung nicht die Rede ist, geht Aris-
toteles davon aus, dass im Bereich kleiner Ehren jeder Mensch ein entspre-
chendes Bestreben in Hinblick auf ‚schöne Dinge‘ haben sollte, zu denen die
Gemeinschaft Gelegenheit bietet.
(1.2) 1125b11–14 „Manchmal loben wir aber den Ehrgeizigen als mannhaft
(andrôdês) und als Liebhaber von Schönem (philokalos)“: Die Ambivalenz
in der Bewertung des Ehrgeizigen und des Ehrgeizlosen beruht auf den As-
soziationen, die jeweils mit diesen Bezeichnungen verbunden werden. Die
Bezeichnung philokalos findet sich häufig bei Autoren der klassischen Zeit
zur Hervorhebung besonders guter Qualitäten, sowohl im ethischen wie
auch im ästhetischen Sinn. Wenn der Ehrgeizlose als besonnen (sôphrôn)
bezeichnet wird, so wiederum in dem unspezifischen, konventionellen Sinn,
von dem auch in Bezug auf den Kleinmütigen die Rede ist (7, 1123b5).
spiele werden neben Liebhabern von Pferden und Schauspielen auch die
Liebhaber von Gerechtigkeit und Tugend genannt. III 13, 1118b22–25 wird
zwar auf die Ambivalenz verwiesen, aber nur die Übertreibung erläutert. Im
üblichen Sprachgebrauch gibt es bei Komposita mit ‚phil-‘ ein Schwanken
in der Bewertung, die es auch im Deutschen gibt, je nachdem, ob man damit
eine bloße Vorliebe oder eine Sucht verbindet. Auf diese Ambivalenz rekur-
riert Aristoteles später auch in der Erörterung der Selbstliebe (vgl. IX 8).
(2.1) 1125b17 f. „Da die Mitte keinen Namen hat, scheinen sich die Ext-
reme um ihren Platz zu streiten, als sei er leer“: Die fehlende Bezeichnung
macht Aristoteles verschiedentlich für Schwierigkeiten bei der Unterschei-
dung von Tugenden und Lastern und der Rechtfertigung seines Dreiersche-
mas verantwortlich. Manchmal bemüht er sich um sprachliche Neuschöp-
fungen, manchmal belässt er es bei der Feststellung, dass es keinen Namen
gibt. Mit der schwankenden Wortbedeutung geht auch eine schwankende
Beurteilung der Charakteranlagen einher. Besonders das Fehlen einer Be-
zeichnung für die richtige Mitte verstärkt solche Schwankungen, weil sie
aus der Perspektive des einen Extrems wie das andere Extrem wirkt. Da-
her erscheint die Mitte so, als sei sie beide Extreme zugleich. Eine abschlie-
ßende vergleichende Bewertung von Ehrgeizlosigkeit und Ehrsucht wird
nicht vorgenommen, so bleibt offen, ob die Ehrgeizlosigkeit in Analogie zur
Kleinmütigkeit als die schlechtere Disposition zu gelten hat, weil sie sich
nicht um schöne Dinge bemüht.
(2.2) 1125b23 f. „Entsprechendes scheint es nun auch bei den übrigen Tu-
genden zu geben“: In seinen allgemeinen Erläuterungen zur Unterscheidung
von Mitte, Übermaß und Mangel hat Aristoteles bereits auf die Tendenz der
Extreme hingewiesen, jeweils die Mitte mit dem anderen Extrem zu identi-
fizieren (vgl. II 8, 1108b15–26: „Daher schieben von den Vertretern der Ex-
treme jeweils der eine den Mittleren dem anderen zu, so dass der Feige den
Tapferen tollkühn, der Tollkühne ihn feige nennt, und entsprechend auch in
den anderen Fällen.“). Auf diesen Punkt weist Aristoteles eigens hin, weil
Entsprechendes auch für alle anderen Tugenden und Laster gilt, für die es
keine etablierten Namen gibt (vgl. III 10, 1115b25; IV 12, 1126b19 f.; 13,
1127b13–15; V 7, 1132a10–19). Er sieht darin auch den Grund dafür, dass man
allgemein die triadische Anordnung von Tugenden und Lastern übersieht.
nig sein soll, wird nicht geliefert, sondern nur nebenbei erwähnt, dass der
Zorn einer Beleidigung gilt und auf Vergeltung aus ist. Auch ist die Kenn-
zeichnung der richtigen Disposition dem Zorn gegenüber und des betreffen-
den Mangels knapp gehalten. Stattdessen werden nicht weniger als vier ver-
schiedene Arten des Übermaßes im Zorn vorgestellt. Die relative Kürze der
Behandlung des Umgangs mit dem Zorn dürfte auf der Vielfalt der Anlässe
für den Zorn beruhen, auf die Aristoteles eingangs hinweist. Vielleicht setzt
er auch die Vertrautheit seiner Hörer/Leser mit der detaillierten Erörterung
von Zorn und Ausgeglichenheit in Rhetorik II 2 + 3 voraus, die nicht nur
auf die verschiedenen Arten von Herabsetzungen, Kränkungen oder Über-
griffe, sondern auch auf die Lust an der Vergeltung eingeht.
(1) 1125b26–31: Die mittlere Einstellung zum Zorn ist die Ausgeglichenheit,
das Übermaß besteht in der Zornmütigkeit, der Mangel soll ‚Unerzürnbar-
keit‘ heißen. (2) 1125b31–1126a3: Die mittlere Disposition ist die Fähigkeit,
sich im richtigen Ausmaß zu erzürnen. (3) 1126a3–8: Die Unfähigkeit sich
zu erzürnen bedeutet das Hinnehmen von Beleidigungen. (4) 1126a8–31: Es
gibt vier Typen des Übermaßes im Zorn. (5) 1126a31–b10: Genaue Abgren-
zungen der richtigen Mitte erweisen sich als schwierig.
(1) 1125b26–31 „Die Mitte in Bezug auf den Zorn (orgai) ist die Ausgegli-
chenheit“: Wie Aristoteles zu verstehen gibt, sind seine Bezeichnungen für
die verschiedenen Dispositionen Verlegenheitslösungen, weil es für sie keine
angemessenen Begriffe gibt. Der Ausdruck praotês bezeichnet nämlich eher
den Mangel an Zorn als die richtige Mitte. In der Rhetorik stellt dieser Ter-
minus deswegen kein Problem dar, weil Redner sich auf das Beschwichtigen
oder Besänftigen des Zorns verstehen müssen; um die richtige Disposition
geht es dort nicht. Sonst verwendet Aristoteles praos auch zur Unterschei-
dung von zahmen und wilden Tieren (HA VI 18, 572a3; VIII 1, 588a21 et
pass.). Übersetzer verwenden zumeist ‚Sanftmut‘ oder ‚Milde‘. Wenn hier
‚Ausgeglichenheit‘ der Vorzug gegeben wird, so nicht nur, um Assoziatio-
nen mit christlichen Tugenden zu vermeiden, sondern weil Aristoteles für
die mittlere Disposition den Zorn im richtigen Maß fordert. Auch Dirlmei-
ers ‚vornehme Ruhe‘ trifft es daher nicht.
(1.1) 1125b27 „so wie eigentlich auch nicht die Extreme“: Auch der Mangel
hat keinen Namen, denn aorgêsia (Unerzürnbarkeit) ist eine Neuprägung
durch Aristoteles, und dasselbe gilt wohl auch für das Nomen ‚Zornmütig-
keit‘ (orgilotês), das aus dem Adjektiv orgilos (= ‚reizbar, jähzornig‘) abgelei-
tet ist. Auf ‚Jähzornigkeit‘ ist deswegen zu verzichten, weil der Jähzorn nur
eine Unterart des Übermaßes im Zorn darstellt.
(1.2) 1125b30 f. „Der Affekt selbst ist nämlich der Zorn; was ihn hervor-
ruft, ist aber vielfältig und von unterschiedlicher Art“: Aristoteles verzich-
Buch IV, Kapitel 11 559
tet nicht nur auf eine formelle Definition des Zorns, sondern auch auf eine
Kennzeichnung seiner Ursachen. Wie die Erörterung in der Rhetorik bestä-
tigt, sind diese sehr unterschiedlich. Diese Details will Aristoteles sich hier
offensichtlich ersparen, sondern begnügt sich mit der allgemeinen Kenn-
zeichnung der Dispositionen. Es ist aber zu beachten, dass der Zorn nur
Personen gilt. Allgemeiner Ärger (‚Frustration‘) und Wut, die sich auch auf
Sachen beziehen können (‚die Wut über den verlorenen Groschen‘), sind
nicht gemeint.
(2) 1125b31–1126a3 „Wer zornig wird, worüber und wem gegenüber man
es soll, ferner auch wie, wann und für wie lang man es soll, wird gelobt“:
Hier zählt Aristoteles nur die Aspekte auf, in Hinblick auf die es ein Sollen
bzw. ein Nichtsollen dem Zorn gegenüber gibt. Es gibt also nicht nur eine
Berechtigung, sondern u.U. sogar eine Verpflichtung zum Zorn. In der Rhe-
torik findet sich dazu viel Aufschlussreiches: Es geht um Vergeltung für eine
Beleidigung durch Menschen, denen Derartiges aus verschiedenen Grün-
den nicht zusteht; die Arten von Beleidigungen, Übergriffen oder Krän-
kungen sind ebenso vielfältig wie die Möglichkeiten zur Vergeltung (Rhet.
II 2; zu Aristoteles’ Behandlung des Zorns vgl. Konstan 2006). All dies spart
sich Aristoteles hier und begnügt sich mit dem Verweis auf die relevanten
Parameter des Sollens und darauf, dass die Vernunft dazu das Richtige an-
ordnet (1125b35: hôs an ho logos taxêi). Dass man mit dem Zorn allgemein
das Bedürfnis nach Vergeltung verbunden hat, bestätigen nicht nur viele li-
terarische Zeugnisse, sondern auch theoretische Abhandlungen über den
Zorn aus späterer Zeit (vgl. Plutarch, De cohibenda ira, Moralia 452f–464d;
Seneca, De ira, Dialoge III, 1; zum Zorn in der Antike vgl. Braund/Most
2003).
(2.1) 1126a1–3 „Fehler scheint er eher zum Mangel hin zu begehen“: Der
Ausgeglichene neigt deswegen eher dem Mangel zu, weil ihm nicht an Ra-
che gelegen ist, sondern er zur Nachsicht neigt (syngnômê wird in VI 11,
1143a19–24 als eine Nebenform der Klugheit gekennzeichnet, ist also kein
Affekt, sondern eine intellektuelle Tugend). Wenn es dieser Nachsicht zu
widersprechen scheint, dass im nächsten Abschnitt die Unerzürnbarkeit
als ‚sklavisch‘ getadelt wird, so ist der Unterschied zwischen Vergeltung
und Rachsucht zu beachten. Auch vom Hochgesinnten gilt, dass er nicht
rachsüchtig (mnêsikakos) ist, sondern erlittenes Unrecht eher vergisst (8,
1125a3–5).
ein Streben nach Vergeltung für eine unverdiente Herabsetzung ist, brodelt
dieses schmerzvolle Bestreben in den Bitteren weiter, ein Zustand, der so-
wohl für die Betreffenden selbst wie auch für ihre Umgebung schwer zu
ertragen ist, zumal wenn diese nicht weiß, was dem Bitteren zu schaffen
macht.
(4.3.1) 1126a21 f. „denn die Vergeltung (timôria) macht dem Zorn ein Ende,
indem sie den Schmerz durch Lust ersetzt“: Die Erklärung über die erleich-
ternde Wirkung der Vergeltung gilt nicht nur für den Bitteren, sondern für
sämtliche Formen des Zorns. Dass Rache süß ist, ist eine Einsicht, für die
man gern Homer anführt (Ilias XVIII, 108–110): „der Zorn (cholos), der
selbst den Weisen pflegt zu erbittern, und der, weit süßer zuerst denn sanft
gleitender Honig, bald in der Männer Brust aufwächst wie dampfendes
Feuer“ (vgl. Rhet. I 11, 1370b11 f.; Platon, Phlb. 47d–48d).
(4.4) 1126a26–31 „Ingrimmig (chalepoi) aber nennen wir solche, die Dinge
übelnehmen“: Gemeint sind Menschen, die nicht nur übermäßigen Zorn
empfinden, sondern an ihm um jeden Preis festhalten. Der Unterschied zwi-
schen dem Ingrimmigen und dem Bitteren liegt darin, dass Ingrimmige ihren
Zorn nicht verbergen, sich aber dennoch nicht davon abbringen lassen. Aris-
toteles dürfte hier auch den berühmten Zorn des Achilleus im Auge haben,
der ‚unendliches Leid über die Griechen bringt‘ und sich davon nicht einmal
durch seinen Freund Patroklos abbringen lässt, vielleicht im Unterschied
zur Bitterkeit und Unzugänglichkeit des Ajas, der darüber Selbstmord be-
geht.
(4.5) 1126a29 f. „Der Ausgeglichenheit stellen wir aber eher das Übermaß
gegenüber“: Aristoteles hält zwar den übermäßigen Zorn für der mensch-
lichen Natur gemäßer (1126a30: anthrôpikôteron) als die Unerzürnbarkeit,
beurteilt ihn aber als den größeren Fehler, weil er häufiger vorkommt und
sich für das Zusammenleben fatal auswirken kann. Das bestätigt auch die
nachfolgende Bemerkung, die Ingrimmigen seien für das Zusammenleben
schwierig: Sich rächen zu wollen, ist zwar menschlich; für das Zusammen-
leben ist übermäßiger und anhaltender Zorn aber schädlicher als die Uner-
zürnbarkeit.
(5) 1126a31–b10 „Was wir auch schon früher (en tois proteron) bemerkt ha-
ben“: Der Verweis bezieht sich auf die Erklärung von II 9, 1109b14–26 über
die Schwierigkeiten einer genauen Bestimmung der richtigen Mitte. Diese
Erklärung wird hier nahezu wortgetreu wiederholt, bis auf die Tatsache,
dass in II 9, 1109b18 ff. nicht mehr vom Zorn, sondern von den Charakter-
tugenden im Allgemeinen die Rede ist. Da Selbstzitate bei Aristoteles selten
sind, könnte dieser Abschnitt ein späterer Zusatz durch einen Herausgeber
sein, der die relativ kurzen Ausführungen über den Zorn mit Hilfe des Text-
stücks aus Buch II anreichern wollte (so G/J II 1, 304).
562 Kommentar
(5.1) 1126a36–b2 „so wie wir auch die Ingrimmigen mannhaft (andrôdês)
nennen, als seien sie zu herrschen fähig (dynamenous archein)“: Diese Er-
klärung, die sich auch in II 9, 1109b16–18 findet, gilt der sprichwörtlichen
Neigung von Machthabern zu anhaltendem Zorn.
(5.2) 1126b2–4 „Das Urteil darüber hängt nämlich von den Einzelheiten und
von der Wahrnehmung ab“: Auch dieser Abschnitt hat seine Entsprechung
in II 9, 1109b20–23. Wie dazu angemerkt, kann es nicht um Sinneswahrneh-
mungen im engeren Sinn gehen, weil sie nicht beurteilen können, ob eine
unberechtigte Herabsetzung vorliegt.
(5.3) 1126b7–9 „ist die Abweichung gering, dann ist sie nur wenig“: Diese
Graduierung der Tadelswürdigkeit hat zwar keine wörtliche Vorlage in II 9,
entspricht aber insofern dem Geist des dort Gesagten, als es eine gewisse To-
leranz bei geringfügigen Abweichungen zum Mehr oder Weniger empfiehlt,
die bei deutlichen Abweichungen nicht gegeben ist (1109b18–21).
Eine abschließende vergleichende Bewertung von Übermaß und Mangel
beim Zorn nimmt Aristoteles nicht vor, auch von Schlechtigkeit spricht er
nicht. Der größere Gegensatz muss aber nicht das größere Laster sein. Mit
der Unerzürnbarkeit lässt es sich zwar leichter leben; da Aristoteles das Ver-
halten oben aber als töricht und sklavisch bezeichnet hat, dürfte sie die grö-
ßere Verfehlung darstellen.
(2) 1126b28–1127a6 „Allgemein haben wir nun gesagt, dass ein solcher
Mensch sich im Umgang so verhalten wird, wie man soll“: Dieses Sollen
wird dahingehend spezifiziert, anderen ‚in Hinblick auf das Schöne und das
Nützliche‘ keine Unlust zu bereiten, sondern vielmehr zu ihrer Freude mit
beizutragen (synhêdynein). Es fragt sich nun, was mit dem Schönen (kalon)
im geselligen Umgang gemeint ist und warum auch das Nützliche (symphe-
ron) erwähnt wird. Als ‚schön‘ gilt offensichtlich nicht nur Erhabenes oder
Bewundernswertes, sondern auch ‚zweckfreie‘ Höflichkeit und Umgäng-
lichkeit im öffentlichen und im privaten Umgang auch im Alltag.
(2.1) 1126b31–33 „Ist es dabei aber unschön oder schädlich, in ein Vergnü-
gen einzustimmen“: Im geselligen Umgang muss der Freundliche notfalls
auch als Spielverderber auftreten, falls entweder gegen den Anstand versto-
ßen wird oder andere zu Schaden kommen. Weil Aristoteles keine Beispiel
nennt, bleibt offen, ob damit private Geselligkeiten gemeint sind, die aus der
Kontrolle geraten, oder auch politische oder andere öffentliche Veranstal-
tungen, bei denen man sich mit Einwänden unbeliebt machen kann. Auf bei-
des könnte sich die Berechnung beziehen, die Aristoteles dem Freundlichen
abverlangt, nämlich anderen auch zu deren Missvergnügen entgegenzutre-
ten, wenn es um Ungehöriges oder um Schaden geht.
(3) 1127a6–12 „Der Mittlere ist also von dieser Art, auch wenn es für ihn
keinen Namen gibt“: Um seinem Plädoyer für eine solche Tugend Nach-
druck zu verleihen, fasst Aristoteles noch einmal die zu Anfang gegebene
Charakteristik der Vertreter des einen Extrems zusammen: des Gefallsüch-
tigen, dem es nur um die Beliebtheit geht, im Unterschied zum Schmeichler
(kolax), der um materieller Vorteile willen anderen nach dem Mund redet.
Buch IV, Kapitel 13 565
(3.1) 1127a11 f. „Weil das Mittlere keinen Namen hat, scheinen nur die Ex-
treme zueinander im Gegensatz zu stehen“: Eine abschließende Bewer-
tung, welches das schlechtere Extrem ist, wird nicht vorgenommen. Das
dürfte auch daran liegen, dass es beim Übermaß zwei Arten gibt. Denn der
Schmeichler ist schlechter als der Gefallsüchtige und dürfte auch schlechter
bewertet werden als der Griesgrämige.
(1) 1127a13–20: Für das Zusammenleben ist die richtige Mitte zwischen
Aufschneiderei und vorgeblicher Bescheidenheit wichtig. (2) 1127a20–33:
Diese Dispositionen unterscheiden sich darin, ob man sich für mehr, für
weniger oder für genau das ausgibt, was man ist. (3) 1127a33–b9: Die Wahr-
heit bezieht sich nur auf die eigene Person. (4) 1127b9–22: Aufschneide-
rei hat drei Formen: sie gilt entweder dem Lügen, dem Ansehen oder dem
Gewinn. (5) 1127b22–32: Auch die falsche Bescheidenheit hat verschiedene
Ziele: zum einen die Vermeidung von Wichtigtuerei, zum anderen angebe-
rische Ziererei.
566 Kommentar
(1) 1127a13–20 „Auf nahezu dieselben Dinge bezieht sich aber auch die
Mitte zwischen Angeberei (alazoneia) und falscher Bescheidenheit (eirô-
neia)“: Während Aristoteles in der Übersicht in II 7, 1108a19–23 die Mitte
einfach als ‚Wahrheit‘ (alêtheia) und den Mittleren als ‚wahr‘ (alêthês) be-
zeichnet hat, im Unterschied zur Angeberei und Tiefstapelei, geht er hier
von der Feststellung aus, dass die Mitte keinen Namen hat und nähert ihr
sich durch Unterscheidung von Übermaß und Mangel. Mit ‚nahezu diesel-
ben Dinge‘ ist das gesellige Leben gemeint, in dem auch die Darstellung der
eigenen Person ihren Platz hat.
(1.1) 1127a14–17 „Es ist aber nicht weniger wichtig, auch derartige Dispo-
sitionen durchzugehen“: Damit wird die Ausweitung des Tugendkatalogs
auf solche Dispositionen gerechtfertigt, die nicht einmal einen Namen ha-
ben. Daher hebt Aristoteles hervor, dass es in all diesen Fällen (epi pantôn)
‚Mitten‘ gibt.
(1.1.1) 1127a14 „eirôneia“: Wie schon zuvor angemerkt (II 7, 1108a22; IV 8,
1124b30 f.), ist eine Übersetzung mit ‚Ironie‘ deswegen unpassend, weil es
nicht darum geht, dass jemand auf transparente Weise das Gegenteil dessen
sagt, was er meint („sehr witzig“), um jemanden damit zu ärgern oder zu
amüsieren. Vielmehr geht es hier um falsche oder vorgespiegelte Beschei-
denheit, aber nicht unter der Voraussetzung, dass die anderen dies wissen
(zur ‚Ironie‘ und Sokrates s. unten).
(1.2) 1127a19 f. „Jetzt wollen wir noch über diejenigen sprechen, die beim
Reden und Handeln und in ihrem Gebaren (prospoiêma) wahr und falsch
sind“: Wahrhaftigkeit in der Selbstpräsentation manifestiert sich nicht allein
im Reden, sondern auch im sonstigen Verhalten. Das Nomen prospoiêma ist
vom Verb prospoiein (= ‚vorgeben‘, ‚sich geben‘) abgeleitet und kann einen
positiven wie auch einen negativen Sinn haben, also wahr oder falsch sein.
den man authekastos zu nennen pflegt, legt jedoch nah, dass der Ausdruck
auch sonst üblich war.
(3) 1127a33–b9 „Wir sprechen nämlich nicht von demjenigen, der sich in
Vereinbarungen (homologiai) an die Wahrheit hält oder in Fragen, die sich
auf Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit beziehen“: Gemeint sind politische
und geschäftliche Beziehungen sowie rechtlich relevante Vereinbarungen
(vgl. VIII 14, 1161b13–16; 15, 1162b27).
(3.1) 1127b7–9 „Er neigt dazu, lieber weniger in Anspruch zu nehmen“:
Dass der Wahrhaftige eher zur Untertreibung neigt, aus Widerwillen gegen
Übertreibung, weil ihm Letzteres verhasst ist, zeugt davon, dass die Mehr-
heit eher zum Gegenteil neigt. So ist auch dem Hochgesinnten Zurückhal-
tung im Auftreten gegenüber kleinen Leuten und der Menge überhaupt un-
terstellt worden (8, 1124b19–23; 30 f.).
(4) 1127b9–22 „Wer ohne einen weiteren Zweck vorgibt, mehr zu haben, als
er hat, gleicht zwar einem niedrigen Charakter (…), scheint aber eher eitel
(mataios) als schlecht (kakos)“: Über den Eitlen wird nichts weiter gesagt,
denn er schadet niemandem. Anders liegt der Fall bei denjenigen, die auf
Gewinn aus sind und dazu Fähigkeiten vortäuschen, die sie gar nicht haben,
also bei Menschen, die wir als Hochstapler bezeichnen.
(4.1) 1127b12 f. „doch nicht allzu sehr als Angeber zu tadeln“: Wie zur
Übersetzung angemerkt, ist die von Bywater notierte Korruptele hôs ho
alazôn leicht durch Immelmanns Konjektur hôs g’ alazôn (= „jedenfalls als
Aufschneider“) zu heilen oder auch, wie bei Ross, durch die ersatzlose Strei-
chung des Artikels (so auch G/J und B/R).
(4.2) 1127b14 f. „Die Angeberei liegt freilich nicht in der Fähigkeit (dyna-
mis), sondern in der Absicht (prohairesis)“: Ihrer Allgemeinheit wegen ist
diese Bemerkung an dieser Stelle zunächst schwer zu verstehen, weswegen
Bywater sie mit Verweis auf Aspasios erst ans Ende dieses Abschnitts stellen
will (b22). Vielleicht handelt es sich um eine Randglosse; denn mit derselben
Begründung wird in Rhet. I 1, 1355b17–21 der grundsätzliche Unterschied
zwischen Sophisten und Dialektikern gekennzeichnet.
(4.3) 1127b15–22 „So hat auch bei den Lügnern der eine am Lügen selbst
seine Freude, während der andere nach Ansehen oder nach Gewinn strebt“:
Dieser Abschnitt leitet insofern zu etwas Neuem über, als er erläutert, wel-
cher materielle Gewinn sich aus solcher Angeberei schlagen lässt, und fügt
hinzu, dass die meisten Angeber aus solchen Motiven handeln.
(4.4) 1127b19 f. „täuschen Fähigkeiten vor …wie die eines Sehers (mantis),
eines Weisen (sophos) oder eines Arztes (iatros)“: Angesichts eines weit ver-
breiteten Zutrauens in die Wahrsagerei und einer mangelnden Kontrolle
über die Medizin waren gewinnbringende Scharlatanerie und Quacksalberei
568 Kommentar
häufig. Wer die sophoi sind, auf die ihre Nachbarn hereinfallen, ist unsicher.
Es könnten ‚Kenner‘ verschiedenster Art, aber auch Wanderlehrer gemeint
sein, wie schlechte Sophisten (so Aspasios, 124,8–10).
paidias)“: Auf den Stellenwert der Erholung geht Aristoteles nicht weiter
ein und auch nicht auf den Unterschied zwischen Erholung und Muße, wie
später in EN X 6. Die Frage nach dem richtigen Maß in scherzhaften Unter-
haltungen war aber kein so ausgefallenes Thema, wie es uns zunächst schei-
nen mag. Dafür spricht die Tatsache, dass Isokrates es als eine bedauerliche
neue Mode bezeichnet, in der Unterhaltsamkeit, eutrapelia, eine Tugend zu
sehen (Areopagiticus 48–50). Aristoteles hatte also einen konkreten Anlass,
einer solchen Kritik nicht nur entgegenzutreten, sondern auch die Grenzen
der Unterhaltsamkeit aufzuzeigen.
(1.1) 1128a2 „Es macht allerdings einen Unterschied, ob man dabei redet
oder zuhört“: Dieses Unterschieds wegen wird in EE III 7, 1234a14–23 so-
gar eine Zweiteilung dieser Tugend und der zugehörigen Mitten vorgeschla-
gen, weil es eine Sache ist, anderen Witziges aufgrund eines guten Urteils
vorzutragen, eine andere, selbst Gegenstand von Witzen zu sein. Insbe-
sondere gilt es, die Mitte zwischen Vulgärem und ‚Frostigem‘ zu wahren.
Von dieser Unterscheidung findet sich hier aber nur noch eine Andeutung
(1128a28–30).
(1.2) 1128a4–7 „Die einen übertreiben es mit dem Lächerlichen (geloion);
sie gelten als Possenreißer (bômolochoi) und als vulgär (phortikoi)“: Diese
Bezeichnung für den notorischen Witzbold ist auch aus der Komödie be-
kannt, also keine Neuprägung durch Aristoteles. Laut LSJ bezeichnete man
ursprünglich Bettler als bômolochoi, die an Altären (bômos) Teile der Brand-
opfer zu ergattern suchten und sich dazu allerlei Tricks und Clownerien ein-
fallen ließen. Aristoteles geht es aber nur um Menschen der Oberklasse, die
bei Geselligkeiten mit Witz zu brillieren versuchen. An solchen Menschen
ist in erster Linie auszusetzen, dass sie in ihrem ständigen Bemühen, Ge-
lächter hervorzurufen, weder die Grenzen des Anstandes beachten, noch im
Auge behalten, ob sie andere mit ihrem Spott verletzen. Eine gewisse Vor-
stellung von der Art dieses Spotts vermittelt nicht nur die Komödie, sondern
auch die Lobrede des Alkibiades auf Sokrates (Symp. 215c–222c).
(1.3) 1128a7–9 „Die anderen aber, die nichts Lächerliches sagen, … hält man
für stumpf (agroikoi) und steif (sklêroi)“: Das Gegenstück zu den Possenrei-
ßern sind diejenigen, die keinen Sinn für witzige Unterhaltungen haben und
auf alles Derartige nur mit Ärger reagieren. ‚Steif‘ dürfte hier epexegetisch
zu ‚stumpf‘ gemeint sein; denn agroikos (eigtl. ‚bäurisch‘) wird auch zur Be-
zeichnung der Stumpfheit des für körperliche Lust Unempfänglichen ver-
wendet (II 2, 1104a24 f.) sowie der Sturheit des Starrsinnigen, der auf einer
einmal gefassten Meinung beharrt (VII 10, 1151b12–17).
(1.4) 1128a9–12 „Diejenigen aber, die im Lächerlichen den richtigen Ton zu
treffen wissen, nennt man unterhaltsam (eutrapeloi)“: Der Ausdruck (abge-
leitet von (trepein = ‚wenden‘) wird auch oft mit ‚Gewandtheit‘ übersetzt,
und darauf bezieht sich auch der Hinweis auf die erforderliche Beweglich-
Buch IV, Kapitel 14 571
keit des Charakters; denn der Witz in der Unterhaltung setzt Schnelligkeit
und Treffsicherheit voraus. In Rhet. II 12, 1389b10–12 erklärt Aristoteles
über die Jugend, sie sei lachlustig (philogelôtes) und liebe daher auch den
Witz (phileutrapeloi), denn er diene ‚gebildeter Unterhaltung‘ (pepaideu-
menê eutrapelia)“. Sonst wird eutrapelia teils in einem positiven, teils aber
auch in einem negativen Sinn verwendet und im Sinn von ‚Wendigkeit‘ nicht
auf Unterhaltung beschränkt (vgl. Thukydides, Historiae II 41, 2; Platon,
Resp. VIII 563a; vgl. EN X 6, 1176b13 f.).
(2) 1128a12–25 „Da das Lächerliche (geloion) aber überall anzutreffen ist,
… werden auch Possenreißer als unterhaltsam bezeichnet“: Wie bei anderen
Tugenden und Lastern, herrscht auch auf diesem Gebiet Unsicherheit über
die genauen Grenzen, zumal die meisten Menschen mehr zum Komischen
hinneigen als zur Steifheit. Aristoteles verweist daher darauf, dass die Un-
terhaltsamen auf diesem Gebiet über den nötigen Takt (epidexiotês) verfü-
gen, der Possenreißern abgeht. Der Ausdruck epidexios bedeutet eigentlich
‚rechtshändig‘ und wird oft im Sinn von ‚klug‘, ‚geschickt‘ oder ‚taktvoll‘
verwendet.
(2.1) 1128a22–25 „Das kann man auch an den alten und an den neuen Komö-
dien erkennen: Suchte man dort das Lächerliche in Beschimpfungen (aisch-
rologia), so tut man es hier vielmehr in Anspielungen (hyponoia)“: Wo für
Aristoteles die Grenze zwischen der Alten und der Neuen Komödie liegt,
ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Die Komödien des Aristophanes zeu-
gen aber von diesem Wandel; denn während in seinen früheren Werken an
Schimpfwörtern und Zoten nicht gespart wird (wie etwa in der Karikatur
des Sokrates in den Wolken oder allgemein in den Thesmophoriazousen),
sind die späten Stücke (wie etwa der Ploutos) in der Diktion sehr zurückhal-
tend. Auch verzichten sie auf die Darstellung aktueller politischer Ereignisse
und die Karikierung lebender Personen; sie zeichnen nur noch Typen von
Menschen nach und gehen ins zeitlos Märchenhafte über.
Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Bemerkung über die
Verwendung von Beschimpfungen nicht Aristoteles’ Urteil über die Komö-
die als solche zusammenfasst; denn er hat anscheinend auch der Komödie
eine kathartische Wirkung zugesprochen (Poet. 5, 1449a32–36). Wie eine Be-
merkung in Rhet. III 18, 1419b3–9 zeigt, hat er im 2. Buch der Poetik zwei
Arten des Komischen unterschieden, von denen die eine „zu einem Vorneh-
men passt, die andere nicht.“ Auch Platon hat in die Gesetzesvorschriften
der Nomoi ein Verbot der Beleidigung an öffentlichen Orten aufgenommen,
das generell für alle Schmähungen (loidoria) gelten soll, die jemanden lächer-
lich machen; die Komödie betreffend unterscheidet er, ob sie zum Zorn reizt
oder nicht, und verbietet bei Strafe die Verspottung von Bürgern auf offener
Bühne (Leg. XI 934e–936b).
572 Kommentar
(3) 1128a25–33 „Soll man nun einen guten Spötter so bestimmen, dass er
nichts sagt, was sich für einen Vornehmen (eleutherios) nicht gehört“: Krite-
rium ist – ähnlich wie in der Rhetorik – der Vornehme, der den Adressaten
nicht verletzt, sondern ihn belustigt. Die Grenzen des Erträglichen müssen
sich zudem nach der Person richten: Menschen sind nicht nur verschieden
in dem, was sie abstoßend oder amüsant finden, sondern verhalten sich auch
selbst entsprechend. Was man von anderen an Spott gern entgegennimmt,
das teilt man auch anderen gegenüber gern aus.
(3.1) 1128a30 f. „Der Spott (skômma) ist nämlich eine Art von Beleidigung
(loidorêma), und manche Arten von Beleidigungen verbieten sogar die Ge-
setzgeber“: Bereits Solon scheint die Möglichkeit der Klage wegen Verun-
glimpfung geschaffen zu haben (kakêgoria), die später noch auf Beleidigung
(loidoria) im Allgemeinen ausgeweitet wurde. Aristophanes z.B. gibt in den
Wespen zu verstehen, dass der von ihm verspottete Kleon erfolgreich gegen
ihn geklagt hat (1284–1291).
(3.2) 1128a31–33 „Der Feine (charieis) und Vornehme (eleutherios) wird sich
aber so verhalten, als sei er sich gleichsam selbst Gesetz“: Aristoteles erwar-
tet zwar keine Kontrolle durch den Gesetzgeber, zumal es dafür keine all-
gemein gültigen Maßstäbe geben kann, wohl aber soll ‚der Mittlere‘ die Per-
sonifizierung des richtigen Maßes sein. Für die Unterhaltsamkeit gilt also
dasselbe wie für die übrigen Tugenden: Da es für den Einzelfall keine allge-
meinen Regeln gibt, muss der hinreichend Gebildete selbst entscheiden, wo
jeweils die Grenze des Komischen liegt. Das ist aber keine bloße Gefühls-
sache, sondern der Ausbildung des nötigen Urteilsvermögens durch die Er-
ziehung geschuldet.
(5) 1128b4–9 „Die Mitten im Leben (en tôi biôi) sind also die drei, die wir
beschrieben haben“: Die häufigen Verweise auf das Leben in diesem Kapitel
dienen anscheinend der Rechtfertigung der Aufnahme der drei sozialen Tu-
genden in den Katalog der Charaktertugenden. Das bringt auch die Zusam-
menfassung ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Ausdruck: Der
einen Disposition geht es um Wahrheit, den beiden anderen um das Ange-
nehme (hêdy) in der Unterhaltung und im täglichen Umgang. Auf eine Be-
Buch IV, Kapitel 15 573
(1) 1128b10–15: Scham ist keine Tugend, sondern nur ein der Furcht ver-
gleichbarer Affekt. (2) 1128b15–21: Eine Funktion hat die Scham nur in der
Jugend. (3) 1128b21–26: Schlechtes, das Scham verursacht, ist grundsätzlich
zu meiden. (4) 1128b26–33: Schamhaftigkeit ist auch keine bedingt gute Dis-
position. (5) 1128b33–35: Die Beherrschtheit ist erst im Anschluss an die
Gerechtigkeit zu erörtern.
(1) 1128b10–15 „Über die Scham (aidôs) als eine Tugend zu sprechen ist nicht
angemessen, denn sie gleicht eher einem Affekt (pathos) als einer Disposi-
tion (hexis)“: Aidôs hat in der Tradition ein reiches Bedeutungsspektrum,
das neben Scham auch Mäßigkeit, Scheu, Ehrfurcht, Furcht oder Verehrung
einschließt (die Vorgeschichte behandelt v. Erffa 1937; zur Gesamtdarstel-
lung vgl. Cairns 1993). Aristoteles sieht in einer festen Disposition, Scham
zu empfinden, deswegen keine Tugend, weil sie eine Gewöhnung an un-
ehrenhaftes Handeln voraussetzt. Der Annahme, eine Charaktertugend der
Scham werde nicht in Betracht gezogen, weil sie eine ‚nicht-praktische‘, nur
restriktive Emotion ist (Fortenbaugh 22002, 79–83), widerspricht die Tatsa-
che, dass auch das Unterlassen ein Handeln ist (vgl. III 7, 1113b7–11).
(1.1) 1128b11–13 „Sie wird jedenfalls als eine Art Furcht vor Unehre (adoxia)
bestimmt und wirkt sich ähnlich aus wie die Furcht vor Schrecklichem“: Mit
adoxia ist der schlechte Ruf oder das schlechtes Ansehen gemeint. Diese
Kennzeichnung der Scham als einer Art von Furcht zeigt, dass die Scham
574 Kommentar
zunächst nur in einem prospektiven und präventiven Sinn von ‚Scham vor‘
verstanden wird. Wie Kritiker monieren, geht Aristoteles in der Folge aber
ohne weiteres auf den retrospektiven Sinn von ‚Scham über‘ ein (Taylor
2006, 235 f.). Dieser Unterscheidung ist Aristoteles sich aber durchaus be-
wusst (Rhet. II 6, 1383b14 f.: „was einem an Schlechtem Unehre einträgt, sei
es Vergangenes, Zukünftiges oder Gegenwärtiges“). Den Unterschied dürfte
er hier deswegen vernachlässigen, weil die gleichen Arten von Handlungen
Anlass für Scham sind: Wovor man Scham empfindet, darüber schämt man
sich auch. Nur die präventive Scham kann aber überhaupt ein Anwärter für
eine Tugend sein.
(1.2) 1128b13–15 „Denn wer sich schämt, errötet; wer den Tod fürchtet, er-
blasst“: Körperliche Zustände gehören laut De anima I 1, 403a16–b19 zu
sämtlichen Affekten, wie dort in Hinblick auf den Zorn ausgeführt wird: Ei-
nerseits ist er ein Streben nach Vergeltung, andererseits ein ‚Sieden des Blu-
tes und der Hitze in der Herzgegend‘. Zur Furcht selbst gehört ein Erstarren
des Bluts (vgl. auch Cat. 8, 9b11–19; MA 7, 701b28–32). Auch der Scham
liegt also ein eigener körperlicher Zustand zugrunde. Man errötet jedenfalls
sowohl aus Scham vor einer schlechten Handlung wie auch über eine solche;
‚Furcht vor‘ liegt im letzten Fall natürlich nicht vor.
(2) 1128b15–21 „Dieser Affekt ist aber nicht für jede Altersstufe passend,
sondern nur für die Jugend“: Die Scham ist zwar nicht per se schlecht; eine
Neigung zur Scham ist aber nur in der Jugend gut, weil sie ihren Affek-
ten nach lebt (vgl. auch I 1, 1095a4–9: kata pathos zên). Lobenswert ist die
Scham bei der Jugend nur ihres präventiven Effekts wegen, während bei Er-
wachsenen Lob nicht angebracht ist. Eine Mitte zwischen Schamlosigkeit
und Verschämtheit, wie in II 7, 1108a30–35 beschrieben, wird hier auch für
Jugendliche nicht empfohlen.
(3) 1128b21–26 „Einem guten Menschen steht zudem die Scham gar nicht
an, weil sie bei schlechten Handlungen aufkommt“: Da der Tugendhafte
schlechte Handlungen prinzipiell nicht begeht, billigt Aristoteles der Scham
bei Erwachsenen nicht einmal einen relativen Wert zu. Die Möglichkeit
einer Art instinktiver Zurückhaltung (Taylor 2006, 235: „restraint inhibi-
ting possible future actions“) zieht er nicht in Betracht. Sie wäre nicht nur
ebenso schwer zu beschreiben wie Sokrates’ ‚göttliches Warnzeichen‘, son-
dern verträgt sich schlecht mit Aristoteles’ Bemühungen um klare Kenn-
zeichnungen der Affekte in Hinblick auf ihre Gegenstände und Handlungs-
weisen.
(3.1) 1128b23–26 „Ob die Handlungen teils in Wahrheit (kat’ alêtheian),
teils nur der Meinung nach (kata doxan) schlecht sind, macht keinen Un-
terschied“: Da Aristoteles sonst großen Wert auf den Unterschied zwischen
Buch IV, Kapitel 15 575
Sein und Schein legt, verwundert diese Versicherung auf den ersten Blick.
Gemeint sein dürfte aber, dass man nichts tun sollte, was auch nur im Ruf
des Schändlichen steht.
(5) 1128b33–35 „Auch die Beherrschtheit (enkrateia) ist aber keine Tugend,
sondern eine gemischte Disposition (miktê)“: Ob dieser Verweis ein Zei-
chen dafür ist, dass Aristoteles eine Verbindung zwischen Scham und Be-
herrschtheit sieht, muss offenbleiben; denn in der späteren Erörterung der
Beherrschtheit ist von Scham als ‚Handlungshemmer‘ auf Seiten des Be-
herrschten nicht die Rede. Die Beherrschtheit ist jedenfalls kein Teil der
Liste von II 7. Eine Interpolation ist für diese Stelle aber nicht anzunehmen,
wie Grant und Stewart vorschlagen. Denn wenn Aristoteles hier auf die Be-
herrschtheit verweist, so weil man in ihr eine Tugend ‚unter Vorbehalt‘ se-
hen könnte, weil der Beherrschte zwar schlechte Begierden hat, ihnen aber
nicht folgt (VII 1). Die Erörterung der Beherrschtheit in Buch VII bezeich-
net sie zwar nicht als eine gemischte Disposition; da die Beherrschtheit aber
ihrer schlechten Begierden wegen ein Merkmal der Schlechtigkeit erfüllt, hat
dieser Ausdruck seine Berechtigung.
(5.1) 1128b35 „Jetzt wollen wir über die Gerechtigkeit sprechen“: Diese An-
kündigung ist insofern wichtig, als sie dafür spricht, dass der Text keine Er-
örterung der affektiven Dispositionen enthalten hat, die in der ‚Liste‘ auf-
576 Kommentar
Buch V
Allgemeine Vorbemerkungen
Gerechtigkeit, Recht und Gesetzlichkeit haben im griechischen Geistesle-
ben von früh an eine wichtige Rolle gespielt (vgl. Lloyd-Jones 1971). Im
Vergleich zu Platons monumentaler Erörterung der Gerechtigkeit in der Po-
liteia nimmt sich der Umfang von Aristoteles’ Behandlung dieses Begriffs
bescheiden aus, obwohl ihr in der EN ein eigenes Buch gewidmet ist, das
wohl auch nicht zufällig die Mitte dieses Werks einnimmt. Denn auch an-
gesichts der engen Verbindung zwischen Ethik und Politik kommt der Ge-
rechtigkeit als der für die Gemeinschaft entscheidenden Tugend eine zentrale
Funktion in der Konzeption des guten Lebens zu. Auf eine Auseinanderset-
zung mit der Tradition und seinen Vorgängern verzichtet Aristoteles aber
ganz, so wie er dies auch bei der Bestimmung der übrigen Charaktertugen-
den und des Tugendbegriffs überhaupt tut. Vielmehr konzentriert er sich auf
die Tatsache, dass es signifikante Unterschiede zwischen der Gerechtigkeit
und den übrigen Charaktertugenden gibt. Auf einen dieser Unterschiede
weist bereits seine Bemerkung in der Übersicht über die Charaktertugenden
in Buch II hin, die Gerechtigkeit sei für sich zu behandeln, weil von ihr in
mehr als einer Weise die Rede ist; überdies sei zu eruieren, in welcher Weise
es jeweils eine Mitte gibt (7, 1108b7–9).
Wie sich herausstellt, sprengt die Gerechtigkeit in mehrfacher Hinsicht
das Schema der Charaktertugenden; denn es geht nicht um eine schlichte
Unterscheidung zweier Arten von Dispositionen, die jeweils eine eigene
Mitte zwischen zwei Lastern darstellen. Vielmehr unterscheidet Aristote-
les zwischen der ‚universalen‘ Gerechtigkeit im Sinn der Gesetzlichkeit, die
von den Bürgern eines Staates die Ausübung sämtlicher Charaktertugen-
den verlangt, und der ‚partikularen‘ Gerechtigkeit, einer Disposition, der es
um Gleichheit zu tun ist (Kap. 1–3). Die partikulare Art der Gerechtigkeit
erfährt aber noch weitere Differenzierungen. So wird unterschieden zwi-
schen der ‚distributiven‘ Gerechtigkeit, die der Verteilung öffentlicher Gü-
ter (und Lasten) unter den Bürgern gilt, und der ‚korrektiven‘ oder ‚ausglei-
chenden‘ Gerechtigkeit, der es um Kompensation von Rechtsverletzungen
578 Kommentar
geht (Kap. 4–7). Bei beiden Arten gibt es jeweils ein Mittleres, ein Zuviel
und ein Zuwenig. Eine den übrigen Charaktertugenden vergleichbare enge
Begrenzung von Gegenstand und Disposition liegt aber nicht vor, zumal
die korrektive Gerechtigkeit auf Rechtsverletzungen ganz unterschiedli-
cher Art bezogen ist. Hinzu kommt noch die ‚reziproke‘ Gerechtigkeit der
Vergeltung; Vergeltung als solche weist Aristoteles zwar als archaisch zu-
rück, macht Reziprozität aber zum Prinzip des wirtschaftlichen Austauschs
(Kap. 8).
Wie sich zeigt, ist keine dieser Formen von Gerechtigkeit eine Charak-
terdisposition, die in einer Mitte zwischen Übermaß und Mangel besteht.
Die universale Gerechtigkeit umfasst vielmehr sämtliche Charaktertugen-
den, sofern sie Gegenstand gesetzlicher Regelungen sind, setzt also sämtli-
che Mitten voraus, mit der Maßgabe, dass die universale Gerechtigkeit dem
Wohl der anderen gilt. Bei den partikularen Formen der Gerechtigkeit gibt
es dagegen jeweils nur ein Laster: die Ungerechtigkeit des ‚Mehrhabenwol-
lens‘ demgegenüber, was einem von Rechts wegen zusteht. Eine Disposition
des ‚Zuwenighabenwollens‘, also ein entsprechender Mangel, stellt – wie
sich später zeigt − keine Form von Ungerechtigkeit dar. Wer freiwillig eine
Benachteiligung auf sich nimmt, erfährt kein Unrecht. Es ist daher weder
möglich, freiwillig Unrecht zu leiden, noch sich freiwillig selbst Unrecht zu
tun (Kap. 11–12; 15). Die triadische Form einer Mitte zwischen Übermaß
und Mangel ist daher im Fall der Gerechtigkeit nicht gegeben. Dieses Prob-
lem scheint Aristoteles in der EE noch nicht erkannt zu haben, wie man der
Tatsache entnehmen kann, dass ihre Liste der Tugenden und Laster die Tri-
ade ‚Gewinn – Verlust – Gerecht‘ enthält (II 3, 1221a4) und in der anschlie-
ßenden Erläuterung das Übermaß des Gewinnliebenden, der von überall
nimmt, dem Mangel des Verlustbereiten gegenüberstellt, der von nirgendwo
oder nur von allzu Wenigem nimmt (1221a23).
Die Einbeziehung der Gesetzlichkeit als solcher verdankt sich offenbar
dem politischen Aspekt, der in der EN gewissermaßen den Rahmen der Er-
örterung des Ethischen darstellt und der in der EE charakteristischer Weise
fehlt. Denn dort ist keine Rede von einer ‚Meisterwissenschaft‘ des Lebens,
die das Leben der Gemeinschaft durch Gesetze regelt, wie in EN I 1. Auch
endet die EE nicht mit der Forderung nach einer adäquaten Erziehung der
Gesetzgeber, die in EN X 10 den Übergang zur Politik liefert. Es ist also die
‚Politisierung‘ der Ethik, die Aristoteles zu der Zweiteilung von universaler
und partikularer Gerechtigkeit geführt haben dürfte, weil er in der Einstel-
lung den Gesetzen gegenüber, die dem Gemeinwohl dienen, mehr gesehen
hat als die bloße Bereitschaft, den Anforderungen der einzelnen Tugenden
zu genügen (vgl. dazu Kraut 2002; Striker 2006; Lee 2014).
Während die Behandlung der übrigen Charaktertugenden begründeten
Anlass zu Zweifeln gibt, ob Aristoteles dem ‚Mittleren‘ einen mathematisch
Buch V, Allgemeine Vorbemerkungen 579
zen gibt. Ohne diese Annahme wäre der Vorwurf berechtigt, seine Gerech-
tigkeitskonzeption sei mit jeder noch so pervertierten Rechtsordnung kom-
patibel (vgl. G/J II, 328). Dass Aristoteles in der EN grundsätzlich von guten
Verhältnissen ausgeht, zeigen jedoch schon sein Ausgang von einer Meister-
wissenschaft des Lebens und seine wiederholte Forderung an die Gesetz-
geber, durch gute Gesetze für die Tugenden und das Glück der Bürger zu
sorgen (vgl. I 1, 1094b4–7; 13, 1102a5–10; II 1, 1103b2–6 et pass.). Dass die
Wirklichkeit diesem Ideal nicht immer entspricht, d.h. dass Recht und Ge-
setz nicht notwendig mit Gerechtigkeit gleichzusetzen sind, wird in EN nur
gelegentlich angedeutet; diese Problematik ist vielmehr Gegenstand der Po-
litik. Aristoteles ist sich aber durchaus bewusst, dass schlechte Gesetze in ei-
nem schlechten Staat von seinen Bürgern allerhand Untugenden verlangen.
Auf diesen Gesichtspunkt hebt er jedoch in der Erörterung der universalen
Gerechtigkeit in Buch V der EN nicht eigens ab.
Auf einen Vergleich der aristotelischen mit der platonischen Konzeption
der Gerechtigkeit in der Politeia und in den Nomoi ist hier zu verzichten.
Die Bedeutung von Platons Nomoi für Aristoteles’ Konzeption der Gerech-
tigkeit ist seit langem bekannt. Auch liegt die Affinität der Rede von einem
‚Haben des Gleichen‘ bei Aristoteles zum ‚Tun und Haben des Seinen‘ bei
Platon auf der Hand, ebenso wie die des ‚Mehrhabenwollens‘ (pleonexia)
als einem Begehren nach unrechter Vorteilsnahme im Fall der partikularen
Ungerechtigkeit.
(2) 1129a11–17 „Mit den Dispositionen verhält es sich nämlich nicht so wie
mit den Wissenschaften und Fähigkeiten“: Dass Wissenschaften konträre
Gegensätze umfassen, ist eines der Standardprinzipien der aristotelischen
Wissenschaftslehre (vgl. Anal. pr. I 1, 24a21; Met. B 2, 996a20). So ist z.B.
medizinisches Wissen zugleich Wissen vom Gesunden und vom Kranken.
Buch V, Kapitel 1 583
Für Fähigkeiten gilt das nicht allgemein, sondern es gibt sowohl ein- wie
auch zweiseitige Fähigkeiten (vgl. die Abgrenzung einseitiger, nicht-rationa-
ler gegenüber zweiseitigen, rationalen Fähigkeiten in Met. Θ 2 und 5).
(2.1) 1129a14–17 „eine Disposition (hexis), welche selbst Teil eines Gegen-
satzes ist, bezieht sich hingegen nicht auf Gegensätzliches“: Gemeint ist eine
Disposition wie die Gesundheit: Sie bewirkt nur Gesundes und manifestiert
sich auch nur in Gesundem, wie etwa in der für einen Gesunden charakteris-
tischen Gangart. Entsprechend gilt für die Charaktertugenden, wie auch für
die Laster, dass sie jeweils nur einer Art von Ziel gelten. Platons berühmtes
Paradoxon, dass der Gerechte zugleich auch im höchsten Maß zur Unge-
rechtigkeit fähig ist (Resp. I 332c–334b), weist Aristoteles später kurz zu-
rück (13, 1137a17–26).
(3) 1129a17–26 „Nun erkennt man aber oft eine von zwei einander ent-
gegengesetzten Dispositionen von ihrem Gegenteil her“: Das Verfahren,
vom Gegenteil auszugehen, wird auch in Top. I 15; II 8, 113b15–26 und
Rhet. II 23, 1397a7–19 empfohlen. Statt dies mit einem schlichten Beispiel
wie Gesundheit und Krankheit zu erläutern, führt Aristoteles hier aber zu-
nächst eine komplizierte Erweiterung ein.
(3.1) 1129a18–23 „oft erkennt man Dispositionen aber auch aus dem, was
ihnen zugrunde liegt (apo tôn hypokeimenôn)“: Diese umständliche Erklä-
rung besagt, dass man Gesundheit nicht nur im Ausgang von Krankheit er-
kennen kann – und umgekehrt, sondern dass das auch für die dazugehörigen
Faktoren gilt: Weiß man, was die gute körperliche Verfassung ist und wor-
auf sie beruht, dann weiß man das auch von der schlechten Verfassung. Das
Beispiel vom festen Fleisch erläutert dieses Verhältnis: Wenn Gesundheit auf
festem Fleisch beruht, dann ist weiches Fleisch Ursache von Krankheit.
(3.2) 1129a23–26 „Auch folgt zumeist“: Erst der letzte Satz macht deutlich,
worauf die Gegenüberstellung der Verhältnisse bei polaren Gegensätzen hi-
naus will: Gibt es bei dem einen Gegensatz mehr als eine Art, dann gibt es
sie meistens auch beim anderen Gegensatz. Die leichter erkennbare Mehr-
deutigkeit auf Seiten der Ungerechtigkeit spricht daher dafür, dass es eine
entsprechende Mehrdeutigkeit auch bei der Gerechtigkeit gibt (zum Prinzip
der Erkennbarkeit von Mehrdeutigkeiten vgl. Top. I 15, 106a9–22).
584 Kommentar
(1) 1129a26–31 „Wie es scheint, spricht man von Gerechtigkeit und Un-
gerechtigkeit in mehreren Bedeutungen“: Das ‚scheint‘ kann sich nicht auf
allgemein Akzeptiertes beziehen, denn sonst wäre die Erklärung überflüs-
sig, dass Homonymien nicht auffallen, wenn die beiden Bedeutungen nah
beieinanderliegen. Homonymie liegt laut Cat. 1, 1a1–6 immer dann vor,
wenn zwar Namensgleichheit besteht, die auf den Namen bezogenen De-
finitionen des Wesens (ousia) jedoch verschieden sind. Homonymie ist da-
her nicht auf zufällige Namensgleichheit oder auf sehr weitläufig verwandte
Begriffe beschränkt wie z.B. auf ‚Bank‘ im Sinn von Sitzgelegenheit und
Geldinstitut, sondern gilt auch für nahverwandte Begriffe wie die beiden
Bedeutungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Homonymien sind
aber besonders dann leicht zu erkennen, wenn sich die Gegenstände schon
im Aussehen unterscheiden, wie im Fall von ‚Schlüssel‘ (kleis). Im Griechi-
schen ist die Bezeichnung für Schlüssel und Schlüsselbein dieselbe. Das ist
kein Zufall: Wie Abbildungen zeigen, hatten Schlüssel eine dem Schlüssel-
bein sehr ähnliche, geschwungene Form mit hakenartigen Enden, die dazu
dienten, einen innen angebrachten Riegel anzuheben (vgl. dazu Diels 1897,
117–151, bes.123–135). Es besteht also zwar eine Ähnlichkeit im Ausse-
Buch V, Kapitel 2 585
hen; über die Homonymie dieses Ausdrucks kann es aber keine Täuschung
geben.
(2) 1129a31–b6 „Lasst uns also feststellen, in wie vielen Bedeutungen man
vom Ungerechten (adikos) spricht“: Zu Kap. 1 ist bereits vermerkt wor-
den, dass in der Erörterung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit häufig
auch das Abstraktum ‚das Gerechte‘, ‚das Ungerechte‘ verwendet wird; hier
kommt noch ‚der Gerechte‘ bzw. ‚der Ungerechte‘ hinzu, d.h. also der ge-
rechte oder ungerechte Mensch. Die Bemühung um solche Präzision lässt
erkennen, dass es Aristoteles nicht allein um die Charakterdispositionen,
sondern auch um die Kennzeichnung von Verhältnissen geht, auf denen die
verschiedenen Formen von Gerechtigkeit beruhen. Die Übersetzung hält
unter Verzicht auf Eleganz an den Abstrakta fest: das Gerechte und das Un-
gerechte, im Unterschied zur Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit und zur
gerechten und ungerechten Person.
(2.1) 1129a32 f. „Ungerecht erscheint sowohl der Gesetzesbrecher (parano-
mon) wie auch derjenige, der auf Mehrhaben (pleonektês) und auf Ungleich-
heit (anisos) aus ist“: Auf der Seite des Ungerechten wird der Unterschied
zwischen der universalen und der partikularen Ungerechtigkeit besonders
deutlich, weil die Adjektive zeigen, dass der eine gegen die Gesetze (nomos)
überhaupt verstößt, während der andere sich durch Mehrhabenwollen aus-
zeichnet und in dieser Weise Gleichheit und Fairness missachtet. Nicht nur
Platon hat in der ‚Sucht nach mehr‘, der Gier, die Ursache der Ungerech-
tigkeit gesehen (verwendet werden sowohl das Nomen pleonexia wie auch
Verbalkonstruktionen mit pleon echein)‚ sondern auch Thukydides sieht im
Mehrhabenwollen die Erklärung für politische Aggressionen, für Rechts-
und Vertragsbrüche. Auf der Seite des Gerechten sticht die Homonymie in
der Tat nicht so hervor wie im Fall des Ungerechten, denn der Unterschied
zwischen ‚gesetzlich‘ (nomimos) und ‚gleich‘ (isos) ist weniger markant.
(2.2) 1129a34 f. „Das Gerechte ist also das Gesetzliche (nomimos) und das
Gleiche (ison), das Ungerechte das Gesetzwidrige (paranomos) und das Un-
gleiche (anison)“: Aristoteles verwendet ‚gleich‘ nicht nur zur Bezeichnung
der gerechten Verhältnisse, sondern bezeichnet auch den entsprechend dis-
ponierten Menschen als ‚den Gleichen‘. Einen absoluten Gebrauch von
‚gleich‘ gibt es im Deutschen aber nicht, wie ihn das Griechische als Be-
zeichnung für Personen wie auch für Sachverhalte zulässt. So kann etwa
ein Richter als isos im Sinn von ‚fair‘ oder ‚unparteiisch‘, eine Entscheidung
kann isos im Sinn von ‚ausgewogen‘ oder ‚adäquat‘ gekennzeichnet werden
(vgl. LSJ s.v. isos). Aristoteles tut also nichts Außergewöhnliches, wenn er
diese Wortfamilie zur Kennzeichnung der partikularen Gerechtigkeit ver-
wendet. Da partikulare Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit bei Aristoteles aber
einen größeren Bereich als den von Fairness oder Unfairness umfasst, bieten
586 Kommentar
die Anleihen aus dem Englischen keine für alle Arten praktikable Lösung.
Daher bleibt es bei dem wenig prägnanten ‚gleich‘ zur Kennzeichnung der
Persönlichkeit (‚der Gleiche‘) und des Prinzips (‚das Gleiche‘).
G/J I 1, 335 f. verweisen darauf, dass Gesetzlichkeit (légalité) und Gleich-
heit (égalité) wie auch ihre Gegensätze vor Aristoteles unterschiedslos ver-
wendet wurden. Seine Unterscheidung zwischen Gesetzlichkeit und Gleich-
heit stellt also eine Neuerung dar. Die Kennzeichnung des Unterschieds mit
Hilfe von ‚Legalität‘ und ‚Egalität‘ könnte jedoch falsche Assoziationen nahe
legen. Denn einerseits ist es Aristoteles nicht um die bloß formale Befolgung
der Gesetze zu tun, seien sie geschrieben oder ungeschrieben, andererseits
geht es ihm auch nicht um die prinzipielle Gleichheit aller Menschen. Er ist
durchaus nicht davon überzeugt, dass in Fragen der Gerechtigkeit alle Men-
schen gleich sind, sondern vertritt den Grundsatz: Gleiches für Gleiche, Un-
gleiches für Ungleiche. Nur der Ausgleich für Rechtsverletzungen hat ohne
Ansehen der Person zu geschehen.
(2.3) 1129b1–6 „Da der Ungerechte aber mehr haben will“: Dem Ungerech-
ten geht es um materielle Güter, weshalb Aristoteles sie als Güter des glück-
lichen und unglücklichen Zufalls (tychê) bezeichnet. Damit sind diejenigen
Glücksgüter aus EN I 9, 1099a31–b8 gemeint, die man sich selbst und zu
Lasten anderer verschaffen kann, wie etwa Reichtum, Ehre oder Macht.
(2.4) 1129b3–6 „Diese sind zwar für sich genommen immer Güter, für einen
bestimmten Menschen sind sie es aber nicht immer“: Gemeint sein muss vor
allem die Möglichkeit des Missbrauches, aber auch von Unglücksfällen, de-
nen auch der Verweis auf die ‚Unterschiede und Schwankungen im Leben‘
gilt, aufgrund deren manchen Menschen ihr Reichtum zum Verderben wird
(I 1, 1094b14–19).
(2.5) 1129b4–6 „Auf sie richten die Menschen jedoch ihre Gebete (euchon-
tai) und jagen ihnen nach“: Wenn Aristoteles stattdessen empfiehlt, man
solle die Götter darum bitten, dass die Dinge, die für sich genommen gut
sind, auch für einen selbst gut sein mögen, so will er sagen, dass man darum
bitten soll, die Götter möchten einen zu einem guten Menschen machen,
weil man dann den richtigen Gebrauch von den Glücksgütern macht. Wie
schon früher angemerkt, wissen nur die Guten, was für sie selbst gut ist
(III 6, 1113a29–33).
(3) 1129b6–11 „Der Ungerechte wählt aber nicht immer das Mehr“: Zu die-
ser Klausel sieht sich Aristoteles durch ein mögliches Missverständnis seiner
Gleichsetzung von Ungleichheit und Mehrhabenwollen veranlasst. Da das
Gemeinschaftsleben auch Nachteile und Lasten mit sich bringt, zeichnen
sich Ungerechte in diesem Fall durch das Bestreben aus, jeweils das gerin-
gere Übel und somit weniger haben zu wollen, als ihnen zukommt. Dem-
gegenüber betont Aristoteles, dass das geringere Übel mit einem Mehr an
Buch V, Kapitel 2 587
Gutem gleichzusetzen ist. Die Aufnahme dieser Klausel lässt erkennen, dass
Aristoteles mit seiner Unterscheidung von zwei Arten des Gerechten und
Ungerechten Neuland betritt und daher auch terminologische Präzision für
erforderlich hält.
(3.1) 1129b9 „Mehrhabenwollen“ (pleonexia): Dieser Ausdruck, zusammen
mit dem Verb pleonektein und dem Adjektiv pleonektês, hat im Griechi-
schen häufig den pejorativen Sinn von Hab- oder Machtgier, wenn damit
die Eigenschaften von Personen gemeint sind. Sonst bedeutet er auch ‚Ge-
winn‘, ‚Vorteil‘ oder ‚Überlegenheit‘ in einem neutralen oder auch positiven
Sinn (vgl. die Liste bei G/J II 1, 335 f.). In ihrer Verwendung als Gegen-
satz zur Gleichheit – isotês – haben pleonexia und Verwandtes jedoch ein-
deutig die Konnotation von ungerechter Vorteilsnahme (vgl. etwa Platon,
Gorg. 483b–484b; 508a). In der Übersetzung wird, mangels eines passende-
ren Ausdrucks, an der unhandlichen Formulierung ‚Mehrhabenwollen‘ fest-
gehalten; denn ‚Gier‘ legt nicht nur Habsucht nah, sondern zeigt auch nicht,
dass eine Disposition des Mehrhabenwollens von Glücksgütern zum Nach-
teil anderer wider das Gesetz gemeint ist (ähnlich Young 2006, 190–192).
Die Bedeutung dieses Unterschieds unterschätzt Williams’ Kritik (1980)
an Aristoteles, wenn er – neben der fehlenden Mitte − bemängelt, dass es
für diese Ungerechtigkeit kein einheitliches Motiv gibt, so dass sich die un-
gerechten Handlungen nicht von lasterhaften Handlungen anderer Art un-
terscheiden. Es gibt aber durchaus den Typus Mensch, der prinzipiell mehr
für sich in Anspruch nimmt, als ihm von Rechts wegen zusteht, ohne des-
halb von übermäßiger Gewinn- oder Ehrsucht getrieben zu sein. Williams’
Kritik an der Heterogenität der Ziele des Ungerechten weist allerdings auf
einen Punkt hin, in dem sich die partikulare Gerechtigkeit in der Tat von al-
len übrigen Charaktertugenden unterscheidet: Keine ihrer Arten ist eng auf
einen bestimmten Gegenstandsbereich beschränkt. Dass Aristoteles dies in
dem Bestreben übersehen hat, die Gerechtigkeit den übrigen Charaktertu-
genden anzupassen (Williams 1980, 198: ‚overassimilate‘), ist aber deswegen
unwahrscheinlich, weil er nicht nur ausdrücklich auf die Vielzahl der äuße-
ren Güter hinweist, um die es dem Ungerechten zu tun ist, sondern auch
Rechtsvergehen verschiedenster Arten anführt (5, 1131a2–9). Sie alle vereint
aber die Tatsache, dass ihnen ein ungerechtes Streben nach Vorteilen zu-
grunde liegt (4, 1130a24–32).
588 Kommentar
(1) 1129b11–25: Die universale Gerechtigkeit ist das Gesetzliche, das dem
Wohl der Gemeinschaft dient und tugendhafte Handlungen jeglicher Art er-
fordert. (2) 1129b25–1130a5: Die Vollkommenheit der universalen Gerech-
tigkeit beruht darauf, dass sämtliche Tugenden zum Wohl anderer gebraucht
werden. (3) 1130a5–13: Das Gegenteil der universalen Gerechtigkeit ist die
universale Ungerechtigkeit.
(1) 1129b11–25 „Da der Gesetzesbrecher, wie gesagt, ungerecht ist, der Ge-
setzestreue gerecht, ist klar, dass alles Gesetzliche in bestimmter Weise (pôs)
gerecht ist“: Wenn Aristoteles unterstellt, dass die Gesetze tugendhaftes
Handeln in allen Bereichen verlangen, dann setzt er voraus, dass dies jeden-
falls im Prinzip die Intention der Gesetzgeber ist. Das gilt auch dann, wenn
nicht alle Gesetze im selben Sinn dem Gemeinwohl gelten und nicht alle in
gleicher Weise gut sind (1129b25; vgl. II 1, 1103b2–6). Da diese Intention
der Gesetze vorausgesetzt wird, stellt sich die Frage vieler Kommentato-
ren nicht, ob geschriebenes oder ungeschriebenes Recht gemeint ist oder ob
Aristoteles als Rechtspositivist zu verstehen ist. Er hat von Anfang an klar-
gestellt, dass sämtliche Tugenden auf Gesetzen beruhen und dass der richtig
Erzogene die Anordnungen und Verbote kennt.
(1.1) 1129b15–17 „sie zielen auf das Gemeinwohl ab, entweder für alle, für
die Besten (aristoi) oder die mit Autorität (kyrioi), sei es in Bezug auf die Tu-
gend oder etwas anderes dieser Art“: Wie auch die Uneinigkeit in der Über-
lieferung zeigt, ist nicht klar, ob diese Feststellung sich auf die tatsächlichen
Verhältnisse bezieht oder normativ gemeint ist. Denn die Gesetze sollten
Buch V, Kapitel 3 589
dem Wohl aller und nicht einer bestimmten Gruppe dienen, wie Aristote-
les auch zur Unterscheidung richtiger und verfehlter Staatsverfassungen an-
führt (vgl. Pol. III 6 + 7, bes. 1279a16–20). Der Dativ ‚für‘ gilt aber nicht den
Nutznießern, sondern den Adressaten der Gesetze: Die Anordnungen der
Gesetze wenden sich an alle, an die Besten und an die mit besonderer Auto-
rität, was die Tugend o.ä. angeht. Daher ist an dem von Bywater athetierten
Verweis auf die Tugend festzuhalten (vgl. Stewarts Überblick (1892, I 390 f.)
über die verschiedenen Versuche zu Emendationen des Texts). Wie das hohe
Lob für die universale Gerechtigkeit im Folgenden zeigt, geht Aristoteles
davon aus, dass die Gesetze hohe Anforderungen an sämtliche Bürger stel-
len. Schlechte Gesetze, wie sie in verfehlten Staatsformen herrschen, werden
hier nicht in Betracht gezogen, sondern nur die Möglichkeit von weniger
guten, improvisierten Gesetzen.
(1.2) 1129b23 f. „In gleicher Weise ordnet es den übrigen Tugenden und
Lastern entsprechend das eine an und verbietet das andere“: Es fragt sich, ob
Aristoteles tatsächlich sämtliche Tugenden in den Bereich des gesetzlich Ge-
regelten einbeziehen will, also außer den aufgezählten Arten, die tatsächlich
Gegenstand von Gesetzen sind, auch Freigebigkeit, Ehrgeiz und die sozia-
len Tugenden von Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit und Gewandtheit. Dass
das Verhalten in all diesen Bereichen Gegenstand von gesetzlichen Regelun-
gen sein sollte, erscheint zunächst befremdlich, so dass man meinen könnte,
nomos wäre im Sinn von ‚Sitte‘ oder ‚Brauch‘ gemeint. Das ist zwar nicht
auszuschließen, dagegen spricht aber nicht nur der Wortlaut (die Gesetze
‚sagen‘, ‚ordnen an‘, ‚befehlen‘, ‚verbieten‘), sondern die Tatsache, dass die
Gesetze sich auf alle Bereiche beziehen, sofern sie das Gemeinwohl oder das
Wohl anderer betreffen. Ebendies ist die Aufgabe der anfangs erwähnten
Meisterwissenschaft, für eine das ganze Leben in der Gemeinschaft umfas-
sende Gesetzgebung zu sorgen. Darauf wird Aristoteles auch am Ende des
Werks wieder zurückkommen.
(2) 1129b25–1130a5 „Diese Art der Gerechtigkeit ist nun die vollkommene
(teleia) Tugend, freilich nicht für sich genommen, sondern in Bezug auf ei-
nen anderen (pros heteron)“: Von ‚vollkommener Tugend‘ war zuvor in dem
Sinne der höchsten Tugend und ihrer unbeeinträchtigten Ausübung die Rede
(I 6, 1098a17 f.; 11, 1101a14–16). Wenn hier die universale Gerechtigkeit als
vollkommen bezeichnet wird, so einerseits, weil sie sämtliche Tugenden um-
fasst, andererseits, weil sie sich auf andere und nicht allein auf den Handeln-
den selbst bezieht. Der Gegensatz ‚für sich – in Bezug auf andere‘ ist prima
facie deswegen problematisch, weil die meisten Tugenden sich auch auf an-
dere Menschen beziehen. Eine Ausnahme ist m.E. die Besonnenheit, sofern
sie nur dem Essen und Trinken gilt; denn bereits sexuelles Verhalten bezieht
andere ein. Alle weiteren Tugenden haben es immer auch mit anderen zu
590 Kommentar
tun. Das gilt für Tapferkeit ebenso wie für Freigebigkeit im Großen und
im Kleinen, Hochgesinntheit, Ausgeglichenheit; die sozialen Tugenden sind
ohnehin auf andere bezogen. Diese Tatsache spiegelt sich auch in den vielen
‚Klauseln des Sollens‘ wider, welche die verschiedenen Tugenden spezifi-
zieren: wem gegenüber, wie und wann man es soll. Auch das jeder Tugend
eigene Schöne, welches das eigentliche Ziel des Handelns ist, dürfte nichts
sein, das nur dem eigenen Selbst gilt.
(2.1) 1129b28 f. „weder der Abendstern noch der Morgenstern sei so wun-
derbar (thaumastos)“: Der Vergleich mit dem Abend- und dem Morgenstern
entstammt dem anonymen Kommentar (210,9) zufolge der Tragödie Mela-
nippe des Euripides (Frg. 486). Das Sprichwort: ‚in der Gerechtigkeit ist alle
Tugend vereinigt‘ wird dem Dichter Theognis zugeschrieben (Elegien 147).
Empedokles vergleicht in ähnlich hymnischer Weise die Gerechtigkeit mit
dem Glanz des Himmels (DK Frg. 31 B35).
(2.2) 1129b31–1130a2 „vollkommen aber ist sie, weil derjenige, der diese
Tugend hat, sie auch in Bezug auf einen anderen (pros heteron) zu gebrau-
chen weiß, nicht nur in Bezug auf sich selbst“: Diese Aussage scheint die
oben vermerkte Selbstbezogenheit tugendhaften Handelns als solchen noch
zu verstärken. Will man nicht von einer Blindheit auf Aristoteles’ Seite für
diese Problematik ausgehen, so legt sich die Erklärung nahe, dass gesetz-
lich angeordnete Tugenden beliebigen anderen gelten und in ihrer Anwen-
dung nicht auf den eigenen Lebenskreis beschränkt sind (1129b33: en tois
oikeiois), d.h. auf Familie, Freunde oder Nachbarn, die zum eigenen guten
Lebens gehören (I 5, 1097b6–14). Dazu rechnet Aristoteles zwar auch die
Mitbürger, der wesentliche Unterschied dürfte aber darin liegen, dass das
Gesetz tugendhafte Handlungen ohne Ansehen der Person verlangt und
somit eine persönliche Auswahl unter den Mitbürgern ausschließt (ähnlich
Stewart 1892, I 394; B/R, 337). Dass darin eine besondere Härte liegen soll
(1130a8: ergon chalepon), könnte auch auf einen Aspekt abheben, den Aris-
toteles sonst weitgehend ausklammert, nämlich auf Konflikte, die bei der
Wahl zwischen zwei tugendhaften Zielen auftreten können. Eine gesetzli-
che Anordnung kann dazu nötigen, einer tugendhaften Handlung, die Fern-
stehenden nützt, den Vorzug vor einer anderen zu geben, die einen selbst
oder Nahestehende betrifft. Wenn man bei Aristoteles eine Rechtfertigung
allgemeiner Rechte und Pflichten vermisst, also dessen, was heute von den
Prinzipien von Moral und Moralphilosophie erwartet wird, so sind diese im
Begriff der universalen Gerechtigkeit enthalten. Dass diese Tatsache oft in
kritischen Würdigungen der aristotelischen Ethik übersehen wird, ist sicher
auch der Knappheit der Behandlung dieses Begriffs geschuldet (dazu B/R,
34 f. und Lee 2014). Auf mögliche Konflikte zwischen allgemeinen Verbind-
lichkeiten und Pflichten gegenüber Nahestehenden geht Aristoteles spä-
ter in der Erörterung der Freundschaft näher ein (IX 2). Dies wird oft von
Buch V, Kapitel 3 591
(3) 1130a5–13 „Der Schlechteste (kakistos) ist nun, wer die Schlechtigkeit
(kakia) für sich und für seine Freunde“: Es geht vermutlich nicht allein da-
rum, dass der Schlechte und seine Freunde die Nutznießer ihrer eigenen
Verbrechen sind, sondern dass er andere in seine Verbrechen hineinzieht.
Dass vom Schlechten später gesagt wird, dass ihm die Güter keinerlei Nut-
zen, sondern nur Schaden bringen (13, 1137a28–30) und dass er zur Freund-
592 Kommentar
schaft gar nicht fähig ist, nicht einmal sich selbst gegenüber (IX 4, 1166b2–
29), widerspricht dem nicht. Denn der Intention nach tut der Schlechte, was
er für sich und für seine Freunde für gut hält, nämlich anderen widerrecht-
lich zu schaden. Eben darauf kommt es hier an.
(3.1) 1130a12 f. „Sie sind zwar dasselbe, ihr Sein ist es aber nicht (to einai
ou to auto)“: Als Ergebnis fasst Aristoteles zusammen, dass die vollkom-
mene Tugend und die universale Gerechtigkeit zwar dieselben Tugenden
enthalten, also koextensiv sind, sich jedoch ihrem ‚Sein‘ nach unterschei-
den. Diese Differenzierung findet sich bei Aristoteles auch an anderer Stelle
als Kennzeichnung von Dingen, die zwar der Sache nach untrennbar sind,
sich in ihrer Definition aber unterscheiden. Wie groß der Unterschied ist,
hängt von der Art der Dinge ab (vgl. De an. III 2, 425b26 f.; 7, 431a29; Phys.
IV 13, 222a19 f. et pass.). Als Beispiel führt Aristoteles gern das Verhältnis
von Konvexem zu Konkavem an; nicht immer geht es aber um bloße As-
pektunterscheidung. Für das Verhältnis der vollkommenen Tugend zur Ge-
rechtigkeit scheint Aristoteles nicht von einer bloßen Aspektunterscheidung
auszugehen; denn er sagt, insofern (hêi) sie auf andere bezogen ist, sei sie
Gerechtigkeit, insofern sie die entsprechende vollkommene Disposition an
sich (haplôs) ist, sei sie Tugend. Gemeint ist der metaphysische Unterschied
zwischen der Tugend als einer Qualität der Seele, also für sich genommen,
und der Tugend, insofern sie in der Relation zu etwas anderem (pros ti) be-
steht; ebendiesen Unterschied macht die Definition deutlich.
Es ist freilich zu fragen, ob nicht doch ein grundsätzlicher Unterschied
darin liegt, dass eine tugendhafte Handlung vom Gesetz angeordnet ist und
daher nicht nur im eigenen Ermessen liegt. Dabei geht es nicht um den Nut-
zen der Handlungen, sondern um die Tatsache, dass man vom Gesetz genö-
tigt wird, sie auszuführen. Und diese Tatsache sollte nicht nur einen Einfluss
auf die Ausübung der betreffenden Tugend haben, sondern auch auf die Dis-
position. Denn man ist doch anscheinend weder in der Festlegung des Ziels
noch in der Wahl der Mittel frei. Aristoteles könnte aber davon ausgehen,
dass der Tugendhafte die Ziele der Gemeinschaft so verinnerlicht hat, dass
für ihn das Schöne per se im Gemeinwohl besteht, sofern es um Entschei-
dungen geht, die über den Privatbereich hinausgehen. Das würde erklären,
warum Aristoteles gerade in diesem Punkt in der Erklärung der einzelnen
Charaktertugenden so schweigsam ist und sich über die Natur des Schönen
nicht näher auslässt. Denn bei den unterschiedlichen Tugenden dürfte sich
das jeweilige Schöne in unterschiedlichem Grad vom Gemeinwohl isolieren
lassen – bei der Tapferkeit, der Großzügigkeit und der Großgesinntheit we-
nig bis gar nicht, bei der Freigebigkeit und der Ausgeglichenheit im Zorn
dagegen in viel höherem Maß, da sie überwiegend auf den privaten bzw.
häuslichen Bereich beschränkt sind. Es kann aber nicht darum gehen, dass
der Mensch zwei verschiedene Arten von Charaktertugenden erwirbt, die
Buch V, Kapitel 4 593
eine zum privaten, die andere zum öffentlichen Gebrauch. Ferner geht es
nicht um den Gegensatz zwischen Egoismus und Altruismus. Vielmehr geht
es um den Gegensatz zwischen Gemeinwohl und Eigenwohl, wobei auch
das Gemeinwohl enge Grenzen hat: Seine Grenzen sind nämlich die Po-
lis-Grenzen. Von einer Ausdehnung auf eine Gemeinschaft aller Griechen
spricht Aristoteles nicht und von der ganzen Menschheit ist nur kurz in der
Erörterung der Freundschaft die Rede (VIII 1, 1155a16–22).
(1) 1130a14–24 „Wir suchen jedoch diejenige Gerechtigkeit, die ein Teil der
Tugend ist“: Das ‚jedoch‘ (ge) macht deutlich, dass es Aristoteles um einen
ganz bestimmten Teil der Tugend zu tun ist, den es innerhalb der universalen
Gerechtigkeit abzugrenzen gilt, nämlich diejenige, die im Mehrhabenwollen
besteht (vgl. 2, 1129a31–b6: pleonektês). Hier werden die Motive verschie-
dener anderer Arten von Unrechttun im Sinn des Gesetzwidrigen demjeni-
gen Unrechttun gegenübergestellt, dem es nur um unrechten Gewinn geht.
Ein Ungerechter dieser Art muss keines der übrigen Laster haben.
(2) 1130a24–32 „Ferner: Wenn der eine eines Gewinns wegen (kerdainein)
Ehebruch (moicheia) begeht und dafür Geld nimmt“: Da Ehebruch eine
Straftat war (vgl. 5, 1131a6; II 9, 1107a11), ist er ein besonders gutes Beispiel
594 Kommentar
für die Unterscheidung der beiden Arten von Ungerechtigkeit, die durch das
jeweilige Motiv konstituiert wird. Ein Fall von Pleonexie ist es, wenn der
Ehebruch nur dem Gewinn gilt; ein Fall von Gesetzwidrigkeit ist es, wenn
der Ehebruch aus Zügellosigkeit begangen wird und der Betreffende keinen
Gewinn, sondern sogar einen Verlust hat.
(2.1) 1130a28–32 „Ferner: Alle anderen Unrechtstaten führt man jeweils
auf eine bestimmte Schlechtigkeit zurück“: Wenn es nicht um Gewinn geht,
werden die verschiedenen Arten von Verstößen gegen das Gesetz nach dem
betreffenden Charakterfehler benannt; so ist das Im-Stich-Lassen von Ka-
meraden in der Schlacht aus Furcht ein Fall von Feigheit, das Schlagen eines
anderen ein Fall von übermäßigem Zorn. Nur das Motiv des Gewinns recht-
fertigt die Bezeichnung der Handlung als Ungerechtigkeit ohne weiteren
Zusatz. Dass der Gewinn nicht nur finanzieller Art ist, wird im Folgenden
deutlich.
29: Die Gesetzlichkeit betrifft Fragen der Lebensführung in toto und ist Sa-
che des Gesetzgebers. (3) 1130b30–1131a9: Die partikulare Gerechtigkeit
hat zwei Unterarten: die distributive und die retributive Gerechtigkeit.
(1) 1130b6–18 „Dass es mehrere Arten von Gerechtigkeit und dass es ne-
ben der Gerechtigkeit im Sinne der ganzen Tugend noch eine andere gibt,
ist nun klar“: Bei der Gegenüberstellung von universaler und partikularer
Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit wird nicht weiter auf das ‚Mehrhaben‘
verwiesen, sondern auf Gleichheit und Ungleichheit im Unterschied zu Ge-
setzlichkeit und Gesetzwidrigkeit. Die Umständlichkeit der Formulierun-
gen und die Wiederholungen sind wohl auch damit zu erklären, dass die
universale Gerechtigkeit hier verabschiedet wird.
(1.1) 1130b10–14 „Da das Ungleiche nicht dasselbe ist wie das Gesetzwid-
rige, sondern sich von ihm unterscheidet wie der Teil vom Ganzen“: Die
Übersetzung dieser Periode ist problematisch, denn der Wortlaut in Zeile 14
(‚verschieden von ihnen‘ – hetera ekeinôn) steht in keinem genauen Bezug
zu Zeile 11; Aristoteles ist manchmal irritierend großzügig im Gebrauch
rückverweisender Pronomina. Sinngemäß ist jedoch klar, dass man das Un-
gerechte und die Ungerechtigkeit betreffend differenzieren muss, ob sie im
Sinne von ‚Teil = ungleich‘ oder von ‚Ganzem = ungesetzlich‘ verstanden
werden.
(1.2) 1130b12 f. „denn alles Ungleiche ist zwar gesetzwidrig, aber nicht alles
Gesetzwidrige ungleich“: Die im Apparat zum griechischen Text vermerkte
alternative Überlieferung mit dem Zusatz in Handschriften Lb und Nb: „das
Zuviel ist alles ungleich, das Ungleiche aber nicht alles zu viel“, hat Bekker
in den Text aufgenommen. Der Zusatz dürfte aber aus einer Randglosse in
den Text geraten sein, in der ein Interpret auch das ‚Mehrhaben‘ aus Ka-
pitel 4 einzubeziehen versucht hat. Die Integration dieser Randbemerkung
hat dann offensichtlich zu verschiedenen Versuchen geführt, das Verhältnis
von ‚Mehr‘ zu ‚Ungleich‘ als ein weiteres Teil-Ganzes-Verhältnis zu erklä-
ren (vgl. die Erörterung der komplizierten Überlieferungslage bei Stewart
1892, I 406–409).
(2) 1130b18–29 „Die der ganzen Tugend zugeordnete Gerechtigkeit und Un-
gerechtigkeit wollen wir beiseitelassen“: Damit wird die universale Gerech-
tigkeit nicht etwa für irrelevant erklärt, sondern nur der Tatsache Rechnung
getragen, dass sie keine bestimmte Charaktertugend ist, sondern sämtli-
che Charaktertugenden voraussetzt und als solche kein spezifisches Mitt-
leres hat, sondern sämtliche Arten von Mitten umfasst. In gewisser Weise
stellt die universale Gerechtigkeit aber dennoch ein zentrales Thema der EN
überhaupt dar, weil sie die für das Wohl der Bürger verantwortliche Rechts-
ordnung als solche betrifft. Eine entsprechende Gesetzgebung, die insbe-
Buch V, Kapitel 5 597
sondere die Erziehung der Bürger umfasst, gehört zwar von Beginn an zu
den Grundvoraussetzungen der aristotelischen Ethik (I 1, 1094a18–b11) und
ist dort der ‚Meisterwissenschaft‘ zugewiesen worden; mehr als ein Postulat
ist diese Zuweisung dort aber nicht.
(2.1) 1130b19 f. „im Gebrauch (chrêsis) der ganzen Tugend“: Wie B/R, 338
monieren, ist die Konzeption der partikularen Gerechtigkeit inkohärent,
wenn die Gerechtigkeit koextensiv mit der ganzen Tugend sein soll. Denn
wenn die Gerechtigkeit sämtliche Tugenden umfasst, insofern diese auf an-
dere bezogen sind, müsste das Gesamt der Tugenden eine der partikularen
Gerechtigkeit entsprechende Tugend enthalten, die nicht auf andere bezo-
gen ist. Diesen Einwand hat Aristoteles jedoch in gewisser Weise mit der
Erklärung über die höhere Vollkommenheit der Gerechtigkeit selbst vor-
weggenommen (3, 1129b25–33). Diese höhere Vollkommenheit beruht nicht
nur auf dem Bezug zu anderen, sondern darauf, dass der ganze Bereich der
Tugenden eo ipso auf andere bezogen ist.
(2.2) 1130b26–29 „Ob die Erziehung des Einzelnen, die ihn zu einem
schlechthin guten Menschen macht, Sache der politischen (politikê) oder
einer anderen Wissenschaft ist“: Diese Frage ist zwar im Prinzip bereits
in Buch I 1 entschieden worden; eine nähere Kennzeichnung der politi-
schen Wissenschaft steht jedoch noch aus. Sie wird am Ende von EN X (10,
1180b3–12) aufgenommen und in differenzierender Weise beantwortet. Alle
Bürger müssen in einem Staat mit guten Gesetzen leben, wenn sie gut wer-
den sollen. Sofern es aber um die Erziehung der zukünftigen Gesetzgeber
geht, ist sie Sache der politischen Wissenschaft, die das Studium der Gesetz-
gebung betrifft.
(2.3) 1130b28 f. „Denn es ist vielleicht nicht dasselbe, ein guter Mensch und
ein guter Bürger in jeder Art von Staat zu sein“: Die Frage, ob ein guter Bür-
ger ein guter Mensch ist bzw. ob die Tugend des guten Menschen die Tugend
des guten Bürgers ist, wird in der Politik mehrfach angesprochen; denn die
Tätigkeiten von Bürgern richten sich nach den Anforderungen der jeweili-
gen Staatsform, die nicht alle gleich gut sind (vgl. dazu Pol. III 4, 1276b27–
35; 13, 1283b35–43). Auch von denjenigen Staatsverfassungen, die Aristote-
les als ‚richtig‘ akzeptiert, weil sie dem Gemeinwohl dienen, erfüllt nur die
Aristokratie aristotelischer Prägung die Bedingung, dass die Tätigkeiten des
guten Bürgers auch die des guten Menschen sind (Pol. IV 7, 1293b3–7). Das
liegt nicht allein daran, dass in den meisten Staaten keine idealen Verhält-
nisse herrschen, sondern dass Aristoteles das Bürgerrecht, d.h. das Recht
auf aktive Beteiligung auf die entsprechend Gebildeten beschränken will,
weil nur sie in der Lage sind, abwechselnd zu regieren und sich regieren zu
lassen (Pol. III 4).
598 Kommentar
(3) 1130b30–1131a9 „Von der partikularen Gerechtigkeit und dem ihr ent-
sprechenden Gerechten betrifft nun die eine Art (eidos) die Verteilung von
Ehren, Geld und anderen Gütern“: Eine gemeinsame Kennzeichnung der
beiden Arten der partikularen Gerechtigkeit wird weder hier noch im Fol-
genden geliefert. Es scheint Aristoteles zu genügen, dass es jeweils eine be-
stimmte Art von Gleichheit und Ungleichheit gibt. Auch die Frage nach
der Charakterdisposition(en), die den Unterarten zugrunde liegt, wird nicht
aufgenommen; von einem ‚Mehrhabenwollen‘ ist hier nicht die Rede, eine
Tatsache, die viele Interpreten bezweifeln lässt, dass diese Form von Gerech-
tigkeit überhaupt als eine Charaktertugend zu verstehen ist (vgl. B/R 339;
anders Polansky 2014a). So geht es der distributiven Art der Gerechtigkeit
um die Verteilung öffentlicher Güter (und Lasten), der korrektiven Gerech-
tigkeit um den Ausgleich für einen Schaden. Die korrektive Gerechtigkeit
bzw. Ungerechtigkeit wird weiterhin danach differenziert, ob der Schaden
auf freiwillig oder auf unfreiwillig eingegangenen Transaktionen beruht,
und bei letzteren wiederum, ob sie auf heimlichem oder gewaltsamem, d.h.
auf offenem Vorgehen beruhen. Zur Erklärung der verschiedenen Möglich-
keiten, um die es bei dem Ausgleich geht, werden jeweils Beispiele schädi-
gender Handlungsweisen angeführt.
Die Vielfalt dieser Tatbestände erklärt, warum Aristoteles sich über die
dazugehörige Disposition(en) nicht weiter äußert. Zwar ist es unproblema-
tisch, der ausgleichenden Gerechtigkeit eine einheitliche Disposition zuzu-
ordnen, zumal der Richter ihr Vertreter ist. Bei der Ungerechtigkeit sind die
Motive aber so unterschiedlich wie die Arten von Übertretung, Vergehen
und Verbrechen, und die Rede von Gewinn und Verlust stellt keine echte
Gemeinsamkeit her (pace Polansky 2014a). Aristoteles verweist zudem spä-
ter selbst darauf, dass die Kennzeichnung durch Gewinn und Verlust für
manche der Vergehen und Verbrechen unpassend ist, weil sie ihren Ursprung
in freiwillig eingegangenen Transaktionen hat (7, 1132a10–19; b11–20).
[reziproke Gerechtigkeit
Austauch von Handelsgütern]
Buch V, Kapitel 5 599
(3.1) 1130b31 f. „betrifft nun die eine Art (eidos) die Verteilung (dianomai)
von Ehren, Geld und anderen Gütern“: Mit der ‚Verteilungsgerechtigkeit‘
im heute diskutierten Sinn von sozialem Ausgleich hat die ‚distributive Ge-
rechtigkeit‘ (dianemêtikon: 7, 1131b27; nemêtikon: 8, 1132b24) nur den
Namen gemeinsam. Hier geht es nur um die Verteilung öffentlicher Güter.
Dazu gehört neben Ehrungen und der Verteilung von Ämtern auch die Auf-
teilung von Geldmitteln, die dem Staat etwa durch die Entdeckung von Bo-
denschätzen oder im Krieg zufließen (in 7, 1131b20–26; 1132a16f. ist auch
von Verteilung von Schlechtem die Rede, womit Pflichten und Lasten ge-
meint sein müssen). Je nach Art der Güter, die zur Verteilung anstehen, sind
die Maßstäbe wie auch die Ansprüche der ‚Würdigkeit‘ unterschiedlich, auf
der Gleichheit und Ungleichheit beruhen (für isotimia gibt es aus klassischer
Zeit nur eine Belegstelle: Xenophon, Hieron 8, 10; sie zeugt aber davon,
dass dieser Begriff existiert hat). Die Frage der Würdigkeit und der entspre-
chenden Standards ist Gegenstand des folgenden Kapitels. Auf die Berechti-
gung proportionaler Vergleichbarkeit hat auch Platon hingewiesen und so-
gar Zeus als den Garanten solcher Verhältnisse bezeichnet (Leg. VI 757a–b),
und Aristoteles geht darauf auch in Pol. III 9, 1280a6–24; 12, 1282b18–21
mit Rückverweis auf die Ethik ein, allerdings ohne explizite Bezugnahme
auf die distributive Gerechtigkeit.
(3.2) 1130b33 f. „die andere Art betrifft den Ausgleich (diorthôtikon: eig.
‚korrektiv‘) bei allen Arten von Transaktionen (synallagmata) zwischen den
Bürgern“: Diese Form des Gerechten setzt eine rechtlich relevante Verlet-
zung der Gleichheit durch einen Bürger voraus. Wie die Beispiele zeigen,
umfassten diese ‚Transaktionen‘ weit mehr als dem Ausdruck synallagma
eigentlich entspricht, der zwar jede Art von Vertrag oder Übereinkunft um-
fasst, nicht aber die aufgezählten ‚unfreiwilligen‘ Arten des Umgangs (vgl.
RE IV A, s.v. synallagma). Wie Aristoteles später bestätigt, passt der Aus-
druck eigentlich nur zu freiwillig eingegangenen Transaktionen, also zu
Geschäften. Die Übersetzung mit ‚Transaktion‘ ist nicht sonderlich glück-
lich; es gibt aber keine einheitliche Bezeichnung für Handlungen, die nicht
nur Geschäftliches, sondern auch Vergehen und Verbrechen aller Art um-
fassen.
Im antiken Athen gab es keine formale Trennung zwischen Zivilrecht
bzw. Vertragsrecht und Strafrecht. Aristoteles behilft sich mit der Unter-
scheidung zwischen Transaktionen, die man freiwillig oder unfreiwillig ein-
geht. Es kommt ihm anscheinend nur auf die Tatsache an, dass jeweils eine
Ungleichheit vorliegt, die nach einem Ausgleich verlangt. Den Aspekt der
Strafe berücksichtigt er nicht. Die Liste der ‚unfreiwilligen‘ Arten von Be-
ziehungen enthält sowohl auf Seiten der heimlich begangenen wie auch auf
der von gewaltsamen Taten schwerere oder minder schwere Übertretungen,
Vergehen und Verbrechen. Jedenfalls dürfte Aristoteles in heimlich began-
600 Kommentar
(1) 1131a10–24 „Da nun sowohl der Ungerechte ungleich ist, wie auch das
Ungerechte ungleich“: Vom Mittleren in Bezug auf Personen und Sachen
war in den Erläuterungen zur universalen Gerechtigkeit als Gesetzlichkeit
nicht die Rede. Sie setzt sämtliche Tugenden und deren Mitten voraus. Zur
Erläuterung der verschiedenen Arten von partikularer Gerechtigkeit als
Gleichheit wird an das Prinzip appelliert, dass es überall, wo es ein Mehr
und Weniger gibt, auch ein Gleiches und damit ein Mittleres gibt. Aristote-
les verzichtet hier auf eine nähere Erläuterung der Disposition des gerechten
Menschen (eine Ergänzung dazu wird in Kap. 9 nachgeliefert). Stattdessen
konzentriert er sich bei der Vorbereitung des rechnerischen Verfahrens zur
Bestimmung des Mittleren ganz auf die Klärung der formalen Verhältnisse
zwischen den verschiedenen Faktoren, nämlich zwischen den beteiligten
Personen und den Gütern, die zur Verteilung anstehen.
(1.2) 1131a15–21 „Das Gleiche setzt nun aber mindestens zwei Dinge vor-
aus“: Der Abstraktheit der Darstellung wegen ist die Erläuterung zum Glei-
chen als einem ‚Mittleren‘ zunächst schwer verständlich. (i) Das Mittlere ist
das ‚Gleiche‘ zwischen Mehr und Weniger bzw. zwischen zu viel und zu
wenig. (ii) Gleichheit ist die Gleichheit zwischen zwei Gütern. (iii) Diese
Gleichheit bezieht sich auf mindestens zwei Personen. Wenn die Zusam-
menfassung von ‚mindestens vier Faktoren‘ (1131a19: en elachistois) spricht,
so trägt sie der Tatsache Rechnung, dass Gleichheit auch mehr als zwei
602 Kommentar
Dinge betreffen und zwischen mehr als zwei Personen bestehen kann. Der
Einfachheit halber beschränkt sich Aristoteles aber auf die Mindestzahl und
kommt daher zu dem Ergebnis, dass Gleichheit im Fall der distributiven
Gerechtigkeit vier Faktoren miteinander in Bezug zu setzen hat: die betrof-
fenen Personen und die Güter, die es zwischen ihnen zu verteilen gilt.
(1.3) 1131a21–24 „Die Gleichheit wird aber dieselbe bei den Personen wie
auch bei den Dingen sein“: Der Ausgleich findet natürlich nur auf Seiten der
Dinge statt. Die Dinge, um deren Verteilung es geht, sind öffentliche Gelder,
Ämtern und Ehrungen (5, 1130b31–33). Im Prinzip gibt es also bezüglich
der Güterverteilung ein faires Verfahren: Ihrer Würdigkeit nach ungleiche
Menschen müssen nach der Proportion ungleichwertige Güter, ihrer Wür-
digkeit nach gleiche Menschen dagegen gleiche Güter erhalten.
(2) 1131a24–29 „Das macht auch die Verteilung der Würdigkeit nach (kat’
axian) deutlich“: Wie Aristoteles hier deutlich macht, besteht über das Prin-
zip einer Verteilung nach Würdigkeit als solches keine Unstimmigkeit, son-
dern nur über die Bemessungsgrundlage der Würdigkeit. Axia bezeichnet
oft den ‚Wert‘ oder die ‚Würdigkeit‘ im Sinn dessen, was dem Einzelnen
gebührt. Hier geht es jedoch nicht um den persönlichen Wert, wie in der
Erörterung bestimmter Charaktertugenden (vgl. die Würdigkeit des Hoch-
gesinnten für hohe Ehren: IV 7, 1123b1–26), sondern nur um die politische
‚Wertigkeit‘ der verschiedenen Klassen, die immer wieder Anlass zu politi-
schen Konflikten gab.
(2.1) 1131a27–29 „die Demokraten meinen damit die freie Geburt (eleuthe-
ria), die Oligarchen den Reichtum, manche auch die vornehme Abstam-
mung, die Aristokraten die Tugend“: In der Demokratie haben alle Frei-
geborenen die gleichen Rechte. In Oligarchien gibt es unterschiedliche
Vermögensbemessungen. Die vornehme Geburt betrifft die Ansprüche des
Adels; die Tugend die von Aristoteles favorisierte Geistesaristokratie. Auf
die Berechtigung dieser unterschiedlichen Wertungen geht Aristoteles in der
Politik näher ein (Pol. III 9, 1280a7–1281a10; 10–13). Wie sich derartige An-
sprüche quantitativ bewerten lassen sollen, bleibt offen. Ehren (timai) betra-
fen neben der Ämterverteilung auch öffentliche Auszeichnungen, wie etwa
für Verdienste im Krieg, in der Wahrnehmung von Ämtern oder bei Ge-
sandtschaften. Zu verteilen gab es aber auch öffentliche Geldmittel, sowie
Funktionen bei religiösen Festen oder besondere Privilegien wie Sitze im
Theater etc.
Keyt (1991) will die distributive Gerechtigkeit – vor dem Hintergrund
der Diskussion in der Politik – auf die Ämterverteilung beschränken, weil
die Frage der Prinzipien politischer Mitwirkung und der Verteilung von
Ämtern offensichtlich von besonderer Brisanz war (vgl. Pol. V 1, 1301b28–
1302a8). In der Tat ist anzunehmen, dass die Verteilung für Aristoteles auch
Buch V, Kapitel 6 603
(3) 1131a29-b9 „Das Gerechte ist also eine Art von Proportion (analogon
ti)“: Es folgt eine Erklärung des Verhältnisses zwischen Personen und Gü-
tern mit Hilfe einer geometrischen Darstellung. Diese Ausführungen zum
mathematischen Verfahren fallen unverhältnismäßig lang aus, sowohl was
die Erklärung der verschiedenen möglichen proportionalen Verhältnisse be-
trifft wie auch die praktische Demonstration proportionaler Verhältnisse. So
ist von einer gewissen Verselbständigung in der symbolischen Illustration
dieses an sich nebensächlichen Verfahrens zu sprechen, von dem Aristoteles
kaum annehmen kann, dass es praktisch verwendbar ist. Vergleichbar aus-
führliche mathematische Darstellungen finden sich außer in der Erklärung
der zenonischen Bewegungsparadoxien in Phys. V 9–10 nur in De mem. 2,
451a17–b22 zur Veranschaulichung der zeitlichen Verhältnisse zwischen
verschiedenen Erinnerungen.
(3.1) 1131a30 f. „Proportionales ist nämlich nicht nur den Zahlen eigentüm-
lich, die aus abstrakten Einheiten (monadikos arithmos) bestehen“: Propor-
tionsrechnungen sind nicht auf Zahlen als abstrakte Einheiten verstanden
beschränkt, sondern lassen sich auch zwischen Quantitäten anderer Art
herstellen. Die nachfolgende Demonstration bezieht sich auf geometrische
Linien. Die Rede von ‚reinen‘ Zahlen dient anscheinend der Abgrenzung
gegen die Pythagoreer, die Zahlen wie Größen behandelt haben (vgl. Met.
M 6, 1080b19; 30 et pass.; zur Unterscheidung zwischen Zahlen als solchen
und den Anzahlen konkreter Dinge vgl. Platon, Phlb. 56d–57a).
604 Kommentar
Die Proportion aus drei Gliedern a : b = b : c lässt sich durch folgende Figur
veranschaulichen:
Die Proportion aus vier Gliedern a : b = c : d lässt sich dagegen durch die
Figur eines Dreiecks veranschaulichen
(3.3) 1131b3–9 „Auch das Gerechte setzt aber mindestens vier Glieder vo-
raus und das Verhältnis ist dabei dasselbe“: Die distributive Gerechtigkeit
sorgt für folgende Verteilung: Wie sich Person a der Würdigkeit nach zu
Person b verhält, so verhält sich die Menge des Gutes c zur Menge des Gu-
tes d (a : b = c : d). Überdies wird hervorgehoben, dass – wie bei jeder Pro-
portion aus vier diskreten Gliedern − für sie auch das Kommutativgesetz
gilt, wonach auch das Verhältnis zwischen Person a zu dem ihm zugeteilten
Gut c dem Verhältnis von Person b zu dem ihm zugeteilten Gut d entspricht
(a : c = b : d).
(3.3.1) 1131b7–9 „Auch das Ganze (to holon) wird folglich im selben Ver-
hältnis zum Ganzen stehen“: Traditionell nimmt man an, dass mit dem
‚Ganzen‘ die Proportion der Summe von Personen und Gütern zur Wür-
Buch V, Kapitel 7 605
(3) 1132a6–32 „Der Richter (dikastês) versucht daher, dieses Unrecht als
eine Art Ungleichheit auszugleichen“: Wenn vom Richter im Singular die
Rede ist, der als das Maß aller Dinge fungiert, so handelt es sich um eine
Idealisierung. Denn weder gab es Berufsrichter noch auch haben Ein-
zelne Entscheidungen gefällt, sondern Geschworenengerichte, die nur
aus Schöffen bestanden. Der Vorsitzende hatte nur für die Einhaltung des
Procedere zu sorgen (dazu Bleicken 41995, 240–242; 413–418). Die Ge-
608 Kommentar
richte urteilten nicht nach eigenem Ermessen, sondern nach der Gesetzes-
lage.
(3.1) 1132a8–10 „Wenn nämlich der eine schlägt, der andere geschlagen
wird, oder der eine tötet, der andere getötet wird, stellen Leiden und Tun
eine ungleiche Verteilung dar“: Schon die Sperrigkeit der Ausdrucksweise
zeugt von Aristoteles’ Bewusstsein, dass die Kennzeichnung des Verhält-
nisses zwischen Täter und Opfer als einer ‚ungleichen Verteilung‘ bei Tat-
beständen wie den hier genannten seltsam wirken muss. Die Annahme eines
‚Gewinns‘ auf Seiten des Täters und eines ‚Verlusts‘ auf Seiten des Opfers
ist ein Kunstgriff, dessen sich Aristoteles bedient, um die Rede von einem
‚Mittleren‘ plausibel zu machen. Strafe, die über den Ausgleich hinausgeht,
wird nur kurz im Zusammenhang mit der ‚reziproken‘ Gerechtigkeit er-
wähnt (8, 1132b28–31): Wer einen Amtsträger schlägt, wird nicht nur wie-
dergeschlagen, sondern auch bestraft (kolasthênai).
(3.2) 1132a10–19 „In solchen Fällen spricht man nämlich, vereinfacht ge-
sagt, auch wenn die Bezeichnung für manche Fälle unpassend ist, von ei-
nem Gewinn (kerdos)“: Der Wortlaut legt zwar nahe, dass es sich um eine
allgemeine Konvention handelt, auf Seiten des Täters von einem Gewinn
(kerdos), auf Seiten des Opfers von einem Verlust (zêmia) zu sprechen. Bei
dieser – wie Aristoteles selbst einräumt – ‚vereinfachenden‘ Redeweise, die
zu vielen Fällen nicht gut passt, dürfte es sich aber um seine eigene Neue-
rung handeln. Sie scheint das Erbe der sehr viel einfacheren Konzeption der
Gerechtigkeit in der EE zu sein, die auf Gewinn- und Verlustbereitschaft
basiert (EE II 3,1221a4; 23 f.). Diese Konzeption beschränkt Aristoteles hier
auf die ausgleichende Gerechtigkeit, räumt aber ein, dass diese Terminologie
eigentlich unpassend ist und ergänzt später, dass sie vom freiwilligen Aus-
tausch stammt (1132b11–16).
(3.3) 1132a19–32 „Daher nehmen auch Menschen, wenn sie miteinander
streiten, Zuflucht zum Richter (dikastês)“: Dass Aristoteles es sich angele-
gen sein lässt, zur Erklärung des arithmetischen Rechtsverhältnisses anstelle
einer abstrakten Darstellung zunächst den Richter als personifizierte Ge-
rechtigkeit im Sinne eines ‚Mittlers‘ darzustellen, dürfte der Neuheit seines
Modells geschuldet sein. Dafür spricht nicht nur die ungewöhnliche Bild-
haftigkeit der Sprache, sondern auch die Ausführlichkeit der Erklärung, in
welchem Sinn der Richter für Ausgleich zu sorgen hat: Er bemisst gewis-
sermaßen wie mit einem Maßband Gewinn und Verlust, schneidet bei der
einen Partei das Stück ab, das über das Mittlere hinausragt, fügt das Abge-
schnittene der anderen Partei hinzu und stellt so das arithmetische Mittel
her. Richter hatten aber, wie oben angemerkt, als Mitglieder eines Schöffen-
gerichts weder die Möglichkeit zur Beratung noch zur Urteilsbemessung;
sie hatten nur mit ihrem Stimmstein für oder gegen den Angeklagten zu
entscheiden. Nur das Strafmaß wurde in bestimmten Fällen in einer weite-
Buch V, Kapitel 7 609
ren Abstimmung festgesetzt; auch diese Abstimmung bot aber keine Gele-
genheit zu der hier vorgesehenen ‚Maßarbeit‘. Aristoteles scheint eher den
selbständig urteilenden Schiedsrichter (diaitêtês) im Auge zu haben, der die
Aufgabe hatte, als Vermittler tätig zu werden, bevor ein Fall an ein Gericht
ging (vgl. Pol. IV 12, 1297a4 f.; in Der Staat der Athener wird dieses Amt
ausführlich beschrieben (Kap. 53); es war ein Amt, dessen Ablehnung mit
Ehrverlust einherging. Zum Unterschied zwischen Richter und Schiedsrich-
ter vgl. auch Pol. II 8, 1268b3–22: Schiedsrichter können sich untereinander
verständigen, während das den Richtern nicht erlaubt ist). In Rhet. I 13,
1374b19–22 empfiehlt Aristoteles, die schiedsrichterliche Entscheidung ei-
nem Prozess vorzuziehen, weil der Schiedsrichter sich nach der Billigkeit (to
epieikes) richtet, der Richter strikt nach dem Gesetz.
(3.3.1) 1132a23 „Vermittler (mesidioi)“: In der Politik bezeichnet Aristoteles
so einen politischen Vermittler (Pol. V 6, 1306a28). Weitere Belege für diesen
Ausdruck gibt es nicht.
(3.3.2) 1132a30–32 „Aus diesem Grund wird es gerecht genannt, weil es
zweigeteilt (dicha) ist“: Zur Bestätigung bemüht Aristoteles auch noch eine
Etymologie für das Gerechte und den Richter, die angesichts der Altehr-
würdigkeit der Dikê, der Göttin des Rechts, nicht ernst gemeint sein kann:
Angeblich stammt das Gerechte von dicha (dem Adverb zu dis = ‚zwei‘, d.h.
‚entzweit‘, ‚getrennt‘), so dass das Gerechte = dikaion eigentlich dichaion
und der Richter statt dikastês eigentlich dichastês genannt werden müssten.
Das Wortspiel ist im Deutschen nicht nachzumachen, weil sich zwischen
‚gerecht‘ und ‚zwei‘ keine etymologische Verwandtschaft konstruieren lässt.
Vielleicht hat Aristoteles sich hier durch Platons Kratylos inspirieren lassen
(vgl. Crat. 412c–e: diaion). Sonst sind phantasievolle Etymologien bei ihm
selten.
(4) 1132a32–b11 „Wenn nun von einem von zwei gleichgroßen Dingen ein
Teil weggenommen und dem anderen hinzugefügt wird, dann übertrifft das
eine das andere um zwei dieser Teile“: Obwohl die Herstellung der arithme-
tischen Mitte eigentlich keiner weiteren Erklärung bedarf, geht Aristoteles
doch mit großer Ausführlichkeit auf das rechnerische Verfahren ein, um zu
erklären, wie es funktioniert. Die Illustration mit Hilfe von drei Linien (an-
ders als in Kap. 6 werden diese mit ihren Endpunkten gekennzeichnet) soll
sicherstellen, dass der Leser nicht irregeht: Was von der einen Linie abge-
trennt wird, wird der anderen hinzugefügt und nicht etwa beiseitegelassen,
weil sonst dem Opfer der Verlust nicht erstattet wird. Es ergibt sich folgen-
des Bild:
610 Kommentar
a‘ e a
(Opfer)
b‘ b
(Mittleres)
c‘ f c d
(Täter)
Dass di’ autôn auf Kauf und Verkauf zurückverweist, ist deswegen nicht
plausibel, weil sie nur ein Beispiel darstellen, das nicht den ganzen Bereich
gerechten Verhaltens abdeckt. Daher ist Rassows Einfügung von <ta> der
Vorzug zu geben.
(5.2) 1132b19 „dem Freiwilligen entgegen (para to hekousion)“: Die Schluss-
folgerung ist flüchtig formuliert, denn die Klausel kann sich nur auf den
Verlust beziehen. Wie die späteren Ausführungen bestätigen, kann nie-
mand freiwillig Unrecht leiden: Nimmt jemand freiwillig einen Verlust bzw.
Nachteil hin, stellt dies kein Unrecht dar (Kap. 11 + 12).
hören (vgl. VIII 15; IX 1). Die Tatsache, dass freiwillige Transaktionen ein
breites Feld zwischenmenschlichen Handelns umfassen, scheint Aristoteles
dazu veranlasst zu haben, auf die Prinzipien des Austauschs überhaupt zu
reflektieren und die Ergebnisse als eine Art Appendix in den Text aufzuneh-
men (vgl. Jackson 1879, 87; Ross 51949, 218–220; Hardie 1968, 194; G/J II 1,
371–384; eine detaillierte Darstellung liefert Meikle 1995, bes. Kapitel 1 + 2
zum Unterschied zwischen Gebrauchswert und Tauschwert). Der Begriff
der Reziprozität wird sonst weder in EN noch in EE verwendet, in MM I 33
bezieht er sich nur auf die Vergeltung.
Aristoteles stellt nicht in Abrede, dass die Bewertung der Güter auf-
grund des wechselseitigen Bedarfs ein gewisses Problem darstellt, weil die
Produkte unterschiedlicher Formen von Arbeit eigentlich nicht miteinan-
der vergleichbar sind. Er sieht aber im Bedarf und der dadurch festgelegten
Proportionalität des Werts der Güter die Grundlage des Handels und im
Geld die einheitliche Maßeinheit für die Bestimmung des Werts von Gütern.
Daher liefert dieses Kapitel, zusammen mit den Ausführungen über Natur
und Nutzen des Geldes im ersten Buch der Politik (Kap. 8–11), den Ansatz
zu einer Theorie der Ökonomik und des Geldes. Dass diese Thematik auch
in Aristoteles’ Augen eine Neuerung darstellt, zeigen Wiederholungen und
Nachträge, insbesondere die Proportionsverhältnisse betreffend. Da das In-
teresse hier aber nur den Bedingungen des Austauschs gilt, vermittelt dieses
Kapitel nur bedingt Einsichten darüber, was Aristoteles in Hinblick auf eine
Theorie der Wirtschaft ‚schon‘ oder ‚noch nicht‘ gesehen hat.
(1) 1132b21–31: Das Prinzip der reziproken Vergeltung ist weder mit
der distributiven noch mit der ausgleichenden Gerechtigkeit vereinbar.
(2) 1132b31–1133a5: Reziproker proportionaler Austausch hält Gemein-
schaften zusammen. (3) 1133a5–18: Die Tauschgerechtigkeit beruht auf einer
besonderen Form von Proportion. (4) 1133a19–31: Das Geld dient als neu-
trale Bemessungsgrundlage des Werts unterschiedlicher Güter. (5) 1133a31–
b10: Grundlage der Bemessung ist der Bedarf. (6) 1133b10–18: Das Geld ist
der Garant für Kontinuität im Austausch. (7) 1133b18–28: Nur der Bedarf
macht die unterschiedlichen Güter miteinander kommensurabel; die Einheit
der Bemessung liefert das Geld.
(1) 1132b21–31 „Manche meinen aber auch, gerecht an sich sei das Reziproke
(antipeponthos), wie die Pythagoreer gelehrt haben“: Der Ausdruck, hier
mit ‚reziprok‘ übersetzt, bedeutet wörtlich ‚Wiedererleiden‘ und bezeichnet
Vergeltung. In der Geometrie bezeichnet man damit reziprok Proportio-
nales. Die Pythagoreer haben anscheinend beide Bedeutungen miteinander
assoziiert. So erklärt Alexander von Aphrodisias in seinem Kommentar zu
Met. A 5, 985b26 (CAG I, 38, 9–17) unter Verweis auf Aristoteles’ Schrift
Buch V, Kapitel 8 613
über die Pythagoreer, sie hätten die Vergeltung (antipeponthos) als Grund-
prinzip der Gerechtigkeit angesehen und ihr daher eine Quadratzahl zuge-
ordnet (‚gleich mal gleich‘), wobei einige die Vier (= 2 × 2), andere die Neun
(3 × 3) wählten. Euklid verwendet antipeponthos zur Bezeichnung korres-
pondierender Linien und Flächen.
(1.1) 1132b23 „das Reziproke (to antipeponthos [allôi])“: Wie schon zur
Übersetzung angemerkt, ist hier nach dem Vorschlag von Jackson mit G/J
II 1, 373 das auch in vielen Handschriften nicht vorhandene allôi ausge-
lassen, da das passivische antipeponthos sonst nur absolut gebraucht wird.
Burnet ad loc. deutet allôi als „was einem im Gegensatz zu etwas anderem
angetan wird“; diese Rechtfertigung ist jedoch unnötig kompliziert und geht
über den Text hinaus.
(1.2) 1132b25–27 „Und doch wollen sie, dass selbst der Spruch des Rhada-
manthys ebendieses Gerechte zum Ausdruck bringt“: Mit den Verfechtern
des Vergeltungsgedankens, die sich auf Rhadamanthys berufen, sind ver-
mutlich nicht die Pythagoreer gemeint, sondern die Vertreter der archai-
schen Rechtsvorstellung einer Vergeltung von ‚Auge um Auge, Zahn um
Zahn‘ überhaupt. Rhadamanthys wird bei den frühgriechischen Dichtern
als Bruder des Königs Minos zugleich als Muster an Tugend und Gerechtig-
keit und als Totenrichter erwähnt (vgl. Platon, Leg. I 625a; Apol. 41a; Gorg.
524a–526b); er gilt auch als Schöpfer des archaischen Rechts (Leg. XII 948c).
Die Verse, die Aristoteles dazu anführt, stammen dem anonymen Kom-
mentar zufolge von Hesiod (CAG XX, 222, 22: „Wer Schlechtes säht, wird
schlechte Früchte ernten. Erleidet man, was man getan …“).
(1.3) 1132b28–30 „In vielen Fällen besteht da aber keine Übereinstimmung“:
Die angeführten Beispiele zeigen, dass ‚genaues Recht‘ nicht in der Erwide-
rung mit gleicher Münze bestehen kann. Da in klassischer Zeit auch Amts-
trägern das Schlagen von Bürgern nicht erlaubt war, sind die Beispiele nur
hypothetischer Art; sie sollen zeigen, dass Wiedervergeltung im genauen
Sinn nicht sinnvoll ist. Denn einen Amtsträger, der einen (kraft Amtes)
schlägt, darf man nicht wiederschlagen, und jemand, der einen Amtsträger
schlägt, wird dafür nicht nur wiedergeschlagen, sondern noch zusätzlich be-
straft (kolasthênai).
(1.4) 1132b30 f. „Zudem machen Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit einen
großen Unterschied“: Wenn Aristoteles diesen Punkt kurz abtut, so weil das
archaische Recht als antiquiert galt. Denn bereits der Gesetzgeber Drakon
hatte im 7. Jh. mit der Berücksichtigung des Unterschieds zwischen Mord
und Totschlag ‚ohne Vorbedacht‘ (mê ek pronoias) das archaische Vergel-
tungsrecht eingeschränkt (Gagarin 1981). Auf die Beurteilung verschiede-
ner Grade von Verschuldung geht Aristoteles später näher ein (10, 1135a15–
b11).
614 Kommentar
(2) 1132b31–1133a5 „Diese Art des Gerechten sorgt hingegen für Zusam-
menhalt in Tauschgemeinschaften (koinôniai allaktikai)“: Ob hier eine wei-
tere Art partikularer Gerechtigkeit vorliegt, ist eine unter den Kommenta-
toren seit langem strittige Frage (einen Überblick über die ältere Literatur
bietet Judson 1997). Weil es um Austausch (allagê) geht, sehen manche In-
terpreten darin eine Form von korrektiver Gerechtigkeit. Andere gehen von
einer Form der distributiven Gerechtigkeit aus. Der Unterschied dieser drit-
ten Art gegenüber den beiden anderen sollte aber klar sein. Es geht weder
um Verteilung nach Kriterien der Würdigkeit noch auch um die Wiedergut-
machung eines Unrechts, sondern nur um eine Erklärung der Bedingungen
des Tauschs und der Bewertung von Waren. Es gibt dafür weder rechtli-
che Regelungen noch richterliche Entscheidungen. Denn im Unterschied zu
den freiwilligen Transaktionen, die Gegenstand korrektiver Gerechtigkeit
sind, ist beim Tauschhandel nicht nur der Ursprung des Geschäfts freiwillig
(5, 1131a5: archê), sondern der ganze Handel. Von Ungerechtigkeit ist be-
zeichnender Weise gar nicht die Rede.
(2.1) 1132b33–1133a5 „Zudem hält es den Staat zusammen“: In diesem Ein-
schub verweist Aristoteles auf die Nützlichkeit von wechselseitiger Ver-
geltung für den Geist der Gemeinschaft: Wenn die Bürger einander nicht
Schlechtes mit Schlechtem vergelten dürfen, halten sie diesen Zustand für
Sklaverei. Die Vergeltung (hier: metadosis) von Gutem mit Gutem dient da-
gegen dem sozialen Zusammenhalt überhaupt. Wie Aristoteles später zur
Freundschaft anmerkt, setzt sie gegenseitiges Wohlwollen (eunoia) und Re-
ziprozität voraus (vgl. VIII 2, 1155b33 f.). Das schließt auch die Bürger-
freundschaft mit ein.
(2.2) 1133a3–5 „Daher pflegt man auch das Heiligtum der Chariten an au-
genfälliger Stelle zu errichten, damit es zu wechselseitigem Geben kommt“:
Die Chariten genossen seit alters her als Segenspenderinnen allgemeine Ver-
ehrung, insbesondere als Personifikationen von Anmut, Glanz und Freude
(vgl. Deichgräber 1971, 53 f.). Das Wort charis wird sowohl im Sinn von
‚Gefälligkeit‘ wie auch von ‚Dank‘ verwendet (vgl. LSJ s.v. charis: ‚favour
done or returned‘). Diese Doppeldeutigkeit macht sich Aristoteles zunutze,
um für die Gemeinschaft ein System wechselseitigen Austauschs von Gefäl-
ligkeiten zu fordern (vgl. auch Rhet. II 7).
Haus des Baumeisters nahelegt. Anderes als man erwarten würde, spricht
Aristoteles nicht von einem proportionalen Austausch, bei dem die Qualität
und die Quantität der Produkte miteinander in ein angemessenes Verhältnis
gesetzt werden, sondern er bezieht sich vielmehr auf die Produzenten (zu
den Schwierigkeiten einer wörtlichen Interpretation vgl. Finley 1970). Der
unterschiedliche Wert kann ihnen nicht als Menschen zukommen, sondern
als Vertretern ihres Berufs: Nicht der Baumeister, sondern sein Produkt hat
einen höheren Wert als das eines Schuhmachers. Wenig später wird deutlich,
dass der Tauschwert des Produkts nicht etwa durch seine Qualität, sondern
durch den Bedarf des Käufers bestimmt wird (1133b27). Anders als im Fall
der distributiven und der korrektiven Gerechtigkeit, wird nur angedeutet,
wie die reziproke Proportion aussieht, die auf der ‚diagonalen Verknüp-
fung‘ beruht: Person a soll so viel vom Gut d von Person b und Person b
so viel vom Gut c von Person a erhalten, wie es ihrer Leistung entspricht.
Die von den Kommentatoren üblicher Weise gebotene Illustration mit Hilfe
eines durch Diagonalen aufgeteilten Quadrats oder Rechtecks hat den
Nachteil, dass sich so keine proportionale Verschiedenheit zwischen Perso-
nen und Gütern darstellen lässt, sondern Personen und Güter einander nur
gegenübergestellt werden. Daher ist eine Darstellung unter Hinzunahme
einer Mittellinie vorzuziehen, derart, dass der Wert der von Person a und
Person b eingebrachten Produkte sich proportional zu dem Quantum an
Gütern verhält, die jeder vom anderen erhält. So erhält a das Produkt c, b das
Produkt d. ‚Diagonal entgegengesetzt‘ heißt hier also ‚kreuzweise‘.
Der Baumeister a hat daher Anspruch auf so viel mehr an Schuhen c, den
Produkten von Schuhmacher b, wie es dem höheren Wert seines Produkts
entspricht, während der Schuhmacher b nur Anspruch auf einen geringeren
Teil des Produktes d des Baumeisters hat. Der Ausgleich ist dann erreicht,
wenn beide Tauschpartner ein ihrem Wert proportional entsprechendes Gut
erhalten haben. Das Beispiel von der Proportion zwischen Schuhen und ei-
nem Haus, löst des großen Wertunterschieds wegen zunächst Verwunde-
616 Kommentar
rung aus. Es scheint aber nur dem Bemühen um einen möglichst großen
Wertunterschied zwischen den Produkten geschuldet.
(3.1) 1133a10 f. „Wenn anfangs eine proportionale Gleichheit vorliegt und
danach der reziproke Austausch stattfindet (to antipeponthos genêtai)“: Das
Wort ‚Austauschen‘ steht nicht im Text, sondern wörtlich lautet er: „wird
das Reziproke sich ergeben“. Da aber von einer Priorität der Gleichheit vor
der Reziprozität die Rede ist, Gleichheit und Reziprozität als solche aber
gleichzeitig erreicht werden, ist davon auszugehen, dass das Resultat, also
der Austausch der Güter, gemeint ist.
(3.2) 1133a13 „dass das Produkt des einen höherwertig (kreitton) als das
des anderen ist“: Die Verwendung des Adjektivs, das oft ‚besser‘ bedeutet,
hat verschiedentlich zu der Auffassung geführt, hier seien Qualitätsunter-
schiede in der Arbeit gemeint. Da Aristoteles den Tauschwert aber nicht so
bestimmt, sondern darauf abhebt, dass unterschiedliche Güter nicht mitein-
ander kommensurabel sind, ist davon auszugehen, dass es nur um den höhe-
ren Tauschwert geht (vgl. dazu Meikle 1995, 10 f.).
(3.3) 1133a14–16 „(Derartiges gibt es auch bei den anderen Künsten…)“:
Dieses in Parenthese gesetzte Textstück ist die Dublette des in 7, 1132b9–11
athetierten Satzes. Wirklich am Platz ist er auch hier nicht. Zwar ist richtig,
dass Kunst und Handwerk voraussetzen, dass die Veränderungen am passi-
ven Objekt der Qualität und der Quantität nach den Einwirkungen der ak-
tiven Ursache entsprechen müssen (vgl. Phys. III 3). Daraus erklärt sich aber
nicht der Unterschied im Wert des Produktes eines Baumeisters und des ei-
nes Schumachers. Denn im Folgenden wird nicht etwa die Arbeitsleistung
verschiedener Produzenten und die dadurch bewirkte Veränderung an ih-
rem Material, sondern nur der Bedarf als Basis des Werts ihrer Produkte be-
rücksichtigt. Es scheint sich nur um eine Randglosse zur Erklärung des Un-
terschieds zwischen Produkten aufgrund der investierten Arbeit zu handeln.
(4) 1133a19–31 „Es muss daher in gewisser Weise alles vergleichbar sein, was
Gegenstand des Austauschs ist. Dazu ist auch das Geld (nomisma) aufge-
kommen“: Das Geld erweist sich als das Mittel für die Vergleichbarkeit al-
ler Güter und fungiert somit als eine Art von Mittlerem zwischen Übermaß
und Mangel. Dies ist die einzige Stelle, an der Aristoteles in der Erörterung
der Gerechtigkeit auf Übermaß und Mangel hinweist; zuvor war nur von
zu viel und zu wenig die Rede. Charakterliche Bedingungen sind aber nicht
gemeint, auch nicht die Tendenz, entweder zu viel oder zu wenig für die ei-
genen Produkte zu fordern. Es geht allein um die Möglichkeit objektiver
Standards für den Austausch, wie die Erklärung der Funktion des Geldes bei
Tauschgeschäften komplexerer Art zeigt: Geld dient als die Einheit für die
Bewertung der Güter und daher zur Herstellung ihrer Kommensurabilität.
Damit sagt Aristoteles das Geld betreffend im Prinzip nichts Neues. Auch
Buch V, Kapitel 8 617
Platon vermerkt in Resp. II 371b, dass das Geld die Funktion eines neutra-
len Zahlungsmittels hat und zugleich mit dem Austausch auf Marktplätzen
aufgekommen ist. Aristoteles ist aber unserem Wissen nach der erste, der auf
das grundsätzliche Problem der Kommensurabilität unterschiedlicher Gü-
ter eingeht und zeigt, welche Hilfsfunktion das Geld dabei hat.
(4.1) 1133a26–31 „In Wahrheit ist es aber der Bedarf (chreia), der alles zu-
sammenhält“: Nicht das Geld, sondern der Bedarf macht die Waren mitein-
ander vergleichbar. Das Geld ist nur das Mittel zur Bemessung seines Werts.
Zwar sieht schon Platon in dem wechselseitigen ökonomischen Bedarf (Resp.
II 369b–c: chreia) die Ursache für die Arbeitsteilung und verweist in diesem
Zusammenhang auch auf die Nützlichkeit eines Marktes und des Geldes
als ‚Symbol‘ für den Tauschwert (ibid. 371b–c). Auf den Wert der Produkte
als solchen bezieht er den Bedarf aber nicht, wie er überhaupt nicht wei-
ter auf die Art des Austauschs eingeht. Ebendarauf will Aristoteles mit sei-
ner Erklärung für den Mechanismus hinaus, der zur Festlegung des Wer-
tes von Gütern führt. Dieser Wert ist folglich keine Eigenschaft der Güter
selbst, sondern wird von außen bestimmt. Da dieses Modell auf den direkten
Austausch zwischen zwei Personen beschränkt bleibt, ist es nicht sinnvoll,
für Aristoteles zwischen einer subjektiven und einer objektiven Bedeutung
des Bedarfs zu unterscheiden, die der heutigen Unterscheidung zwischen
Nachfrage und Bedürfnis zugrunde liegen. Für eine ‚objektive‘ Bedeutung
spricht zwar die Erklärung, dass es ohne einen Bedarf zu keinem Austausch
kommt; auf die subjektive Seite des Bedarfs verweist nur die Empfehlung,
den Preis vor dem Austausch festzulegen. Am Bedarf als solchem ändert
sich dadurch nichts. Auf Tausch, Kauf und Verkauf geht Aristoteles später
in der Erörterung heterogener Freundschaften ein und verweist dabei auch
auf den subjektiven Aspekt bei der Einschätzung des Werts des eigenen Bei-
trags (IX 1, 1164b16–21). Vom Bedarf ist dort zwar nicht die Rede, wohl
aber davon, dass der ‚Nehmer‘ den Wert festlegt, weil seine Einschätzung
des Gebrauchswerts der Ware den Ausschlag für den Austausch gibt.
(4.2) 1133a28–31 „Gleichsam stellvertretend für den Bedarf hat man daher
durch Übereinkunft (kata synthêkên) das Geld eingeführt“: Die Einführung
des Geldes als Wertmesser, Zahlungsmittel und Tauschmedium anstelle von
bestimmten Standardwaren hat in Griechenland um 600 v. Chr. eingesetzt
und im 5. Jh. zu Münzprägungen in den wichtigsten Stadtstaaten geführt.
Es war also eine Entwicklung in historischer Zeit und es gehörte zum allge-
meinen Bewusstsein, dass das Geld kein von Natur aus bestehender Wert ist,
sondern auf Konvention beruht und dass sich dieser Wert stets ändern und
auch außer Funktion gesetzt werden kann (vgl. Pol. I 9, 1257b10–24). Ange-
sichts der unterschiedlichen Geldprägungen in den griechischen Städten und
in fremden Ländern war auch nicht zu übersehen, dass die Gültigkeit des
Geldes jeweils auf entsprechenden Gesetzen beruht. Dass Aristoteles zur
618 Kommentar
Erklärung des Wertes von Gütern nur den Bedarf, modern gesprochen, nur
die Nachfrage, nicht aber das Angebot anführt, beruht darauf, dass damals
nicht auf Vorrat produziert wurde. Zwar gab es Manufakturen, die z.B. Va-
sen in größeren Mengen produzierten, mit einer Marktwirtschaft im moder-
nen Sinn lassen sich die Verhältnisse jedoch nicht vergleichen (zur Rolle des
Bedarfs und zur Problematik der Kommensurabilität durch die Bemessung
mit Hilfe von Geld vgl. Meikle 1991; v. Reden 2010).
(4.3) 1133a30 f. „Aus diesem Grund hat es auch den Namen ‚Geld‘ (no-
misma) erhalten“: Das Wortspiel beruht darauf, dass die Bezeichnung für
‚Geld‘ = nomisma eng mit nomos = ‚Gesetz‘ verwandt ist. Im Deutschen hat
es zwar keine Entsprechung, es lässt sich aber eine Verbindung zwischen
‚Geld‘ und ‚gelten‘ herstellen.
(5) 1133a31–b10 „Reziprokes wird es also dann geben, wenn Gleichheit her-
gestellt worden ist“: Hier geht es wieder um die praktische Frage einer An-
gleichung von Produkten. Die Darstellung des Proportionsverhältnisses ist
dieselbe wie zuvor (1133a7–10). Der Rat, mit der Berechnung der Proporti-
onen nicht erst nach Abschluss eines Tauschgeschäfts anzufangen, bedeutet,
dass man vor dem Abschluss genau abwägen muss, wie viel einem die Güter
wert sind. Denn sonst liegt der Vorteil ganz auf einer Seite: Der Betreffende
erhält mehr von den Gütern des anderen und muss dafür weniger an den
eigenen Gütern aufwenden. Zuvor sind beide Seiten insofern gleich (isoi),
als sie auf angemessenen Ausgleich bestehen können. Dies ist die einzige
Anspielung auf die Möglichkeit ungerechter Verhältnisse, wenngleich dieser
Ausdruck nicht gebraucht wird. Ein Unrecht liegt aber deswegen nicht vor,
weil sich bei direktem Austausch niemand auf einen unfairen Preis einlassen
muss. Auf Not- und Zwangslagen, verursacht etwa durch ein Monopol, ver-
weist Aristoteles hier nicht (vgl. dagegen Pol. I 11, 1259a3–36).
(5.1) 1133b1 f. „das eine der beiden Extreme (to heteron akron)“: Als ‚Ext-
reme‘ oder Außenterme hat Aristoteles zuvor einerseits die Gegensätze zum
Mittleren, andererseits auch die Mitte selbst bezeichnet (II 6, 1107a8 und 23;
7, 1108a7 et pass.). Bei Proportionenrechnungen gilt die Bezeichnung – ähn-
lich wie in der Logik − den außen liegenden Größen; in diesem Fall wird als
‚das eine Extrem‘ der Bauer genannt; gemeint ist aber sein Produkt. Wird
der Wert seines Produkts zu hoch eingeschätzt, dann erhält er zu viel vom
anderen Extrem, dem Produkt des Schusters.
(5.2) 1133b6–10 „Dass es der Bedarf (chreia) ist, der sie wie eine Einheit zu-
sammenhält“: Die Richtigkeit des proportionalen Verhältnisses als solches ist
keine hinreichende Bedingung für einen Austausch, sondern es muss noch
der gegenseitige Bedarf dazukommen. Dass in Wirklichkeit die Kommen-
surabilität der Güter auf dem Bedarf beruht, wird unten noch näher erklärt.
Buch V, Kapitel 8 619
(5.3) 1133b8–10 „so wie jemand Bedarf nach dem hat, was man selbst be-
sitzt, z.B. Wein, und dafür den Export von Getreide (sitou exagôgê) anbie-
tet“: Bywater markiert hier eine Korruptele und vermutet des Plurals wegen
(1133b9: didontes) eine Lücke im Manuskript. An Versuchen, die Textstelle
zu verbessern, hat es nicht gefehlt, wie der Apparat bei Susemihl zeigt. Die
Sachlage ist aber trotz der verkürzten Ausdrucksweise und des irritierenden
Plurals grundsätzlich klar: Die eine Person besitzt Wein, die andere Person
hat Bedarf an Wein und bietet dafür den Export von Getreide an. Für den
Handel mit Getreide gab es strenge Regulierungen, auch ‚Exportlizenzen‘,
weil die Versorgung der eigenen Bevölkerung sicherzustellen war (vgl. Rhet.
I 4, 1360a12–18 und Pseudo-Aristoteles, Oikonomika II 2, 1348b34–1349a3;
1352a17–23).
(6) 1133b10–18 „Für den zukünftigen Austausch, der − wenn jetzt kein Be-
darf besteht − stattfinden wird, wenn wieder ein Bedarf besteht, ist uns das
Geld gewissermaßen Bürge“: Dieser Abschnitt erklärt die Bedeutung des
Geldes für den Tauschhandel nicht nur über die Gegenwart hinaus, son-
dern auch für das Bestehen einer Gemeinschaft überhaupt. Die Erörterung
führt daher mehrere Gedanken zusammen, indem sie Kurz- und Langzeit-
perspektiven miteinander kombiniert: Zum einen schreibt sie dem Geld
eine Überbrückungsfunktion für die Zeit mangelnder Nachfrage zu. Denn
wer Geld hat, kann darauf zählen, etwas dafür zu bekommen. Zum ande-
ren unterliegt auch der Geldwert Schwankungen, obwohl er stabiler als der
Wert anderer Güter ist (zum Phänomen der zeitweiligen Geldentwertung,
z.B. während einer Hungersnot oder bei Geldvermehrung, vgl. Pol. I 9,
1257b10–16).
(6.1) 1133b14 f. „Daher muss zuvor der Geldwert von allem festgelegt sein
(tetimêsthai)“: Amtliche Festlegungen von Preisen gab es nicht, mit Aus-
nahme von Sonderfällen wie dem Getreidepreis. Aristoteles dürfte sich dar-
auf beziehen, dass jeder Austausch die vorherige Festlegung des Geldwerts
beider Waren voraussetzt (zur Übersetzung vgl. Meikle 1995, 21 f.). Liegt
der Preis fest, dann funktioniert auch der Austausch, weil das Geld das Maß
ist, das die verschiedenen Güter kommensurabel macht.
(6.2) 1133b17 f. „Gäbe es keinen Austausch, dann gäbe es keine Gemein-
schaft“: Wie die komprimierte Zusammenfassung zeigt, ist das Geld die
notwendige Bedingung für Kommensurabilität, Kommensurabilität die Be-
dingung für Gleichheit, Gleichheit die Bedingung für Austausch und Aus-
tausch die Bedingung für die Tauschgemeinschaft. Also ist das Geld eine
notwendige Bedingung für diese Gemeinschaft. Das gilt nicht allein für ein-
fache Tauschgemeinschaften, sondern auch für die Gemeinschaft einer Polis.
Zwar ist sie keine bloße Interessengemeinschaft; der gegenseitige Nutzen
der Bürger ist aber das Band, das sie zusammenhält, und zu diesem Nutzen
620 Kommentar
gehört wesentlich auch der Austausch von Gütern (zur Freundschaft zwi-
schen Bürgern vgl. VIII 1; 3; 11).
(7) 1133b18–28 „In Wahrheit (têi alêtheiai) ist es nun zwar unmöglich, dass
so unterschiedliche Dinge miteinander kommensurabel werden“: Obwohl
Aristoteles zuvor gesagt hat, ‚in Wahrheit‘ mache der Bedarf die Güter kom-
mensurabel (1133a26 f.), räumt er hier ein, dass es eine wirkliche Kommen-
surabilität der unterschiedlichen Tauschgüter gar nicht gibt, sondern dass
diese sich nur hinreichend (hikanôs) aus dem Bedarf ergibt. Diese Einschrän-
kung zeigt an, dass die Vergleichbarkeit der Güter zwar für den Tauschhan-
del ausreicht, der Bedarf aber das einzige Fundament dieser Gleichheit ist
und nicht etwa die vom Produzenten investierte Arbeit, also ein interner
Wert der Güter. Als Bemessungsgrundlage wird auch hier das Geld bezeich-
net, dessen Wert auf einer Festsetzung beruht (1133b21: ex hypotheseôs, ge-
genüber 1133a29: kata synthêkên – Konvention).
(7.1) 1133b23–28 „Ein Haus sei a, zehn Minen sei b, ein Bett (klinê) sei c. a
ist die Hälfte von b, wenn ein Haus fünf Minen wert oder ihnen gleich ist;
das Bett, c, ist der zehnte Teil von b“: Das seltsame Beispiel soll veranschau-
lichen, dass sehr unterschiedliche Güter, die als solche nicht kommensurabel
sind, dennoch Gegenstand von Austausch sind. Der Grund für die unnötig
kompliziert erscheinende Rechnung liegt darin, dass Aristoteles das Geld
hier als eine dritte Größe darstellen will: das Haus ist die Hälfte der Summe
von zehn Minen wert, ein Bett ein Zehntel davon, also ist der Preis eines
Hauses so hoch wie der von fünf Betten. Das Erstaunen über den niedrigen
Hauspreis vermindert sich, wenn man sich klar macht, dass mit ‚Bett‘ (klinê)
kein Bettgestell gemeint ist, sondern die elegante, oft sehr reich verzierte
Liege, auf der die Teilnehmer an einem Trinkgelage (symposion) ruhten. Zu-
dem dürfte Aristoteles ein möglichst einfaches Zahlenverhältnis gewählt ha-
ben.
(7.1.1) 1133b23 „zehn Minen“: Gemeint ist hier die Münzmine, nicht die
II 5, 1106b1 f. erwähnte Gewichtsmine von ca. 500g. Münzen hatten an ver-
schiedenen Orten unterschiedliches Gewicht. Auch ihr heutiger Geldwert
ist schwer zu schätzen. Eine attische Mine soll 70 Drachmen enthalten ha-
ben, hatte also einen hohen Wert.
(7.2) 1133b26–28 „Dass der Tausch auf diese Weise vonstattenging, bevor es
das Geld gab, ist klar“: Hier korrigiert Aristoteles den Eindruck, dass das
Geld für den Tauschhandel unverzichtbar ist. Eine Bewertung der Ergebnisse
seiner Analyse der ‚ökonomischen‘ Gerechtigkeit liefert Aristoteles nicht,
sondern bricht seine Untersuchung abrupt ab. Da die allgemeine Zusam-
menfassung über den Begriff des Gerechten und Ungerechten im folgenden
Kapitel keinen Bezug auf diese besondere Art des Gerechten nimmt, steht
zu vermuten, dass Aristoteles diesen Exkurs erst nachträglich eingefügt hat.
Buch V, Kapitel 9 621
(1) 1133b29–1134a6: Die Gerechtigkeit ist insofern eine Mitte, als sie dem
Mittleren zwischen zu viel und zu wenig gilt. (2) 1134a6–16: Die Ungerech-
tigkeit zielt auf zu viel an Vorteilhaftem, zu wenig an Schädlichem ab. Die
Erklärung der Natur von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Allgemei-
nen gilt damit als abgeschlossen.
(1) 1133b29–1134a6 „Was das Ungerechte und was das Gerechte ist, haben
wir nun gesagt“: Wenn hier die distributive Gerechtigkeit im Zentrum steht,
so weil es bei ihr am ehesten plausibel ist, dass das Handeln auf ein Mittleres
zwischen zu viel und zu wenig abzielt. Gerechtigkeit ist aber nur insofern
‚auf ein Mittleres bezogen‘, als sie nicht der einen Seite zu viel, der anderen
zu wenig zuteilt. Der Gerechtigkeit steht also nur eine Disposition, die zum
Unrechttun, gegenüber.
(1.1) 1133b30 f. „dass gerechtes Tun (dikaiopragia) das Mittlere zwischen
Unrechttun (adikein) und Unrechtleiden (adikeisthai) ist“: Aristoteles ver-
wendet hier das in klassischer Zeit sonst nicht belegte Nomen dikaiopragia
statt der Verbalkonstruktion dikaia prattein oder des Verbs dikaioun. Der-
artige Nominalbezeichnungen (vgl. 10, 1135a12; 20: dikaiopragêma) und das
dazugehörige Verb (dikaiopragein: 1135a16; 18 et pass.) werden auch im Fol-
genden häufiger verwendet (vgl. 1134a12 et pass.). Ob Aristoteles dies tut,
weil er eine Vereinfachung durch Komposita bevorzugt, oder um anzuzei-
gen, dass es um den Handlungstypus und nicht um einzelne Handlungen
geht, ist schwer zu entscheiden. Gerechtes Tun steht jedenfalls nur insofern
zwischen Unrechttun und Unrechtleiden, als es auf das Mittlere zwischen
622 Kommentar
dem bezogen ist, was der Täter zu viel und das Opfer zu wenig hat. Diese
Tatsache wird seit Jackson 1879, 100 immer wieder als grundsätzlicher Ein-
wand gegen die aristotelische Konzeption triadisch geordneter Charakter-
dispositionen angeführt: Sie versagt ausgerechnet bei der Gerechtigkeit, der
zentralen Tugend schlechthin. Nun hat Aristoteles selbst bei der Vorstel-
lung seines Tugendkatalogs auf diese Anomalie hingewiesen (II 7); er war
sich also, anders als noch in EE II 3, durchaus dessen bewusst, dass die Ge-
rechtigkeit durch dieses Schema nicht erfasst wird. Eine für seine Theorie
fatale Ausnahmestellung hat er darin aber anscheinend nicht gesehen. Dazu
ist (mit Stewart 1892, I 473 f.) daran zu erinnern, dass die Gerechtigkeit zwar
keine mittlere Disposition zwischen Übermaß und Mangel ist, der Kern der
Definition der Charaktertugend von II 6, 1106b36–1107a2 aber auch auf sie
zutrifft. Auch sie ist eine „Disposition zu Entscheidungen (prohairetikê),
die in einer Mitte in Bezug auf uns liegt und die durch eine Überlegung be-
stimmt wird, so wie sie auch der Kluge bestimmen würde“. Denn wie al-
len anderen tugendhaften Handlungen zielt auch die Gerechtigkeit auf eine
Entscheidung zwischen zu viel und zu wenig ab, die jeweils der Situation zu
entsprechen hat.
(1.2) 1134a2–6 „Auch ist es die Gerechtigkeit, der gemäß man von einem
Gerechten sagt, er sei bereit, das Gerechte mit Vorbedacht (kata prohaire-
sin) zu tun“: Diese Disposition wird am Beispiel der Verteilungsgerechtig-
keit exemplifiziert: Der Verteilende gibt nicht der einen Partei zu viel (die er
auch selbst sein kann), der anderen zu wenig. Zur korrektiven Gerechtigkeit
passt diese Erklärung nicht, weil sie auf die Korrektur von bereits begange-
nem Unrecht durch einen Richter beschränkt ist. Später erwähnt Aristoteles
zwar auch den Fall eines ungerechten Richters, der nicht nur eine der beiden
Parteien ungerechterweise bevorzugt, sondern sich damit auch selbst einen
Gewinn zuschanzt (12, 1137a1–4). Er kennzeichnet diesen Fall aber nicht als
einen Verstoß gegen die korrektive Gerechtigkeit, sondern gegen die Vertei-
lungsgerechtigkeit.
(2) 1134a6–16 „Die Ungerechtigkeit bezieht sich dagegen auf das Unge-
rechte“: Auch die Bestimmung der Disposition des Ungerechten ist auf die
distributive Gerechtigkeit zugeschnitten. Denn erwähnt wird nur die Zutei-
lung eines Übermaßes an Vorteilhaftem und eines Mangels an Nachteiligem
an eine der beiden Seiten. Ergänzend wird noch hinzugefügt, dass bei einer
Verteilung zwischen anderen die Entscheidung je nach Lage der Dinge zu-
gunsten der einen oder der anderen Partei ausfällt. Damit ist nicht gemeint,
dass die Verteilung zufällig ausfällt, sondern dass der Ungerechte, wenn er
selbst nicht betroffen ist, nach eigenem Gusto die eine Partei bevorzugt und
die andere benachteiligt.
Buch V, Kapitel 10 623
(2.1) 1134a12 „Bei ungerechtem Handeln (adikêma) ist das Zuwenig das
Unrechtleiden, das Zuviel das Unrechttun“: Diese abschließende Diagnose
ist das Pendant zur obigen Erklärung über das gerechte Tun (dikaiopragia).
Aristoteles hebt also den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Ge-
rechtigkeit und den übrigen Charaktertugenden hervor: Das Zuviel und Zu-
wenig bezieht sich nicht auf die Möglichkeit, zu viel oder zu wenig an Gu-
tem bzw. an Schlechtem zu tun, sondern darauf, dass der eine der Täter, der
andere das Opfer ungerechter Handlungsweisen ist.
(2.2) 1134a14–16 „Von der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sei auf diese
Weise im Allgemeinen gesagt, was ihre Natur ist“: Diese Feststellung lässt
erkennen, dass Aristoteles die allgemeine Kennzeichnung der Arten von
Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit als solchen für abgeschlossen hält. Die
nachfolgenden Kapitel nehmen in loser Folge Fragen auf, die teils Ergän-
zungen, teils Erweiterungen zur Frage von Gerechtigkeit und Ungerechtig-
keit sind. Es scheint sich um einzelne Textstücke zu handeln, die Aristoteles
noch einer weiteren Bearbeitung unterziehen wollte.
(1) 1134a17–24: Ungerecht ist nur, wer vorsätzlich handelt. (2) 1134a24–b8:
Das politische Gerechte ist charakteristisch für Gemeinschaften, die unter
einem Gesetz leben, das Ungerechte für gesetzlose Gemeinschaften mit un-
gerechter Verteilung. (3) 1134b8–18: Innerhalb der Hausgemeinschaft gibt
es Gerechtigkeit nur in einem abgeleiteten Sinn. (4) 1134b18–1135a15: Das
politische Gerechte betreffend ist zwischen von Natur aus Gerechtem und
pragmatischen gesetzlichen Regelungen zu unterscheiden. (5) 1135a15–b11:
Im Bereich der Gerechtigkeit ist bei Handlungen nicht nur Freiwilligkeit
und Unfreiwilligkeit, sondern auch die Art der Unwissenheit zu berück-
sichtigen. (6) 1135b11–1136a1: Das Ausmaß der Schuld bemisst sich einer-
seits an der Vorhersehbarkeit der Konsequenzen einer Handlung, anderer-
seits daran, ob sie auf Vorbedacht beruht. (7) 1136a1–9: Zusammenfassung
über Recht- und Unrechttun.
(1) 1134a17–24 „Da es möglich ist Unrecht zu tun (adikein), ohne schon un-
gerecht (adikos) zu sein“: Dieser Absatz dürfte eine Randglosse sein, für die
der Herausgeber keinen passenden Ort gefunden hat. Auf den grundsätzli-
chen Unterschied zwischen Handlungen, die auf einer bestimmten tugend-
haften oder lasterhaften Disposition beruhen, und solchen, die anders moti-
viert sind, hat Aristoteles bereits mehrfach verwiesen (vgl. II 3, 1105a26–33
et pass.). Auch der Unterschied zwischen Verstößen gegen das Gesetz auf-
grund von Mehrhabenwollen und gesetzwidrigen Handlungen aus Feig-
heit, Zorn, Geiz oder Begierde ist zuvor schon angesprochen worden
(4, 1130a24–32). Da die Frage der Zurechnung und der moralischen Bewer-
tung ungerechter Handlungen auch Gegenstand des letzten Teils dieses Ka-
pitels ist (1135b11–1136a9), wäre dieser Absatz dort eher am Platz. Denn
dort wird der Unterschied zwischen Unrechtstaten und Handlungen im Af-
fekt näher erläutert.
(1.1) 1134a19 „Oder werden sie sich in dieser Weise (houtô) in nichts unter-
scheiden?“: Einer Handlung ist als solcher nicht anzusehen, aus welchem
Grund jemand etwas Unrechtes tut. Ihre Beurteilung hängt zudem nicht nur
davon ab, ob der Täter wissentlich und willentlich gehandelt hat, sondern
von der besonderen Motivation, d.h. ob er auf einen Vorteil aus war oder
aufgrund einer anderen Schlechtigkeit gehandelt hat.
(1.2) 1134a23 f. „Wie sich das Reziproke zum Gerechten verhält, haben wir
zuvor gesagt“: Dieser Verweis passt besser ans Ende von Kap. 9; er ist ver-
mutlich durch die nachträgliche Einfügung des ersten Absatzes ‚verrutscht‘.
Buch V, Kapitel 10 625
(2) 1134a24–b8 „Man darf aber nicht vergessen, dass unsere Untersuchung
ebenso dem Gerechten überhaupt (haplôs) wie sie auch dem Gerechten im
politischen Sinn (politikon dikaion) gilt“: Dieser Begriff wird hier neu ein-
geführt. Das politische Gerechte umfasst anscheinend alles außer der Haus-
gemeinschaft (so auch MM I 33, 1194b5–29). Ein expliziter Bezug zur frü-
heren Einteilung in universale und partikulare Gerechtigkeit wird nicht
hergestellt. Eine Unverträglichkeit besteht jedoch nicht, denn auch die uni-
versale Gerechtigkeit ist zuvor ‚gesetzlich‘ genannt worden (3, 1129b11–25:
nomimos dikaios). Vielmehr ist der Aspekt der Behandlung ein anderer. Im
Zentrum steht hier nicht das Gesamt der Tugenden, sondern der Status der
Bürger, wie auch der Verweis auf Autarkie, auf Freiheit und Gleichheit be-
stätigt. Das ‚politische Gerechte‘ umfasst insofern mehr als die universale
Gerechtigkeit, als zu ihm auch das positive, gesetzte Recht gehört. Insbe-
sondere gilt das politische Gerechte der gesetzlich garantierten Gleichheit,
gleich ob im proportionalen oder im arithmetischen Sinn; wo diese fehlt,
gibt es nur eine Abart des Gerechten, das aufgrund einer Ähnlichkeit so
heißt. Gemeint sind die Verhältnisse in der Tyrannis und in extremen For-
men der Oligarchie. Wenn es in diesen Staatsformen Gesetze gibt, so dienen
sie nicht dem politischen Gerechten, sondern nur dem Eigenwohl der Herr-
scher. Von ‚Recht‘ (dikê) kann in diesem Fall nicht die Rede sein. Von der-
selben Vorstellung geht auch die Politik aus: „Die Gerechtigkeit ist politisch
(politikon), denn das Recht (dikê) ist die Ordnung (taxis) einer politischen
Gemeinschaft, die Gerechtigkeit die Beurteilung (krisis) des Gerechten“ (I 2,
1253a37 f.).
(2.1) 1134a35 f. „Daher lassen wir auch nicht den Menschen herrschen,
sondern das Gesetz“: Wie zur Übersetzung vermerkt, wird hier mit Su-
semihl nach Handschriften Mb und Q nomos statt logos gelesen (so auch
G/J II 1, 388; Dirlmeiers Versuch, das Problem durch ‚geschriebenes Ge-
setz‘ zu lösen, weil logos und nomos füreinander eintreten können, ist eine
reine Verlegenheitslösung). Dieses Plädoyer dafür, dass nur eine Herrschaft
der Gesetze frei von Machtmissbrauch ist und nicht dem eigenen Vorteil
dient, erinnert sicher nicht zufällig an Platons Überzeugung, Missbrauch sei
nur durch eine Mischverfassung zu verhindern, in der die Menschen ledig-
lich als die Hüter der Gesetze (nomophylakes) fungieren (Leg. III 691c–d;
IX 875a–d). Aristoteles versteht unter einer Herrschaft der Gesetze dieje-
nige Staatsform, in der die Bürger einander in der Regierung abwechseln
und das Gesetz als ‚Vernunft ohne Begehren‘ fungiert (Pol. III 16, 1287a15–
32: aneu orexeôs nous).
(2.2) 1134b1–8 „Der Herrscher (archôn) ist aber Wächter über das Gerechte
(phylax tou dikaiou) und wenn über das Gerechte, dann auch über das Glei-
che“: Wenn der Singular in der Rede auf einen allmächtigen Monarchen hin-
zudeuten scheint, den man mit Ehrbezeugungen bei Laune halten muss, so
626 Kommentar
(3) 1134b8–18 „Was gerecht bei einem Herrn über Sklaven und bei einem
Vater ist, ist nicht dasselbe wie diese Arten von Gerechtigkeit (toutois), es
ist ihnen aber ähnlich“: In modernen Augen muss es zunächst schockie-
ren, wenn Aristoteles die Gerechtigkeit innerhalb der Hausgemeinschaft für
vergleichbar mit der in einer Tyrannis hält. Es geht hier jedoch nur um die
Frage der politischen Gerechtigkeit, d.h. um die Frage der Beteiligung der
‚Herrschaft‘ im Haus, an der die Frau mehr Anteil hat als Kinder und Skla-
ven. Die Versicherung, man könne sich selbst kein Unrecht antun, soll nicht
Willkürakte rechtfertigen, sondern schließt sie aus. Auf die Frage der Ge-
rechtigkeit innerhalb der Familie kommt Aristoteles in der Diskussion der
Freundschaft wieder zurück und nimmt sich dort auch eingehend der Frage
der Gleichheit und Ungleichheit an (VIII 13–14).
(3.1) 1134b13–18 „Denn diese (sc. das politische Ungerechte und Gerechte)
beruhen, wie gesagt, auf dem Gesetz und betreffen Menschen …, die glei-
chen Anteil am Herrschen und Beherrschtwerden haben“: ‚Abwechselnd
herrschen und beherrscht werden‘ kennzeichnet in der Politik den Status
des Staatsbürgers (vgl. dazu Pol. III 4, 1277b25–27 et pass.). Einen solchen
Wechsel gibt es in der Familie nicht, sondern eine andere Art von Arbeits-
teilung.
Buch V, Kapitel 10 627
(4) 1134b18–1135a15 „Vom Gerechten im politischen Sinn ist der eine Teil
natürlich (physikon), der andere gesetzlich (nomikon)“: Da zuvor das Gesetz
als Garant des politischen Gerechten bezeichnet worden ist (1134a30–b1),
erscheint dieser Gegensatz zwischen dem natürlichen Gerechten und dem,
was auf dem Gesetz beruht, zunächst befremdlich. Es geht hier aber nicht
um den Gegensatz zwischen Natur und Gesetz an sich, sondern lediglich
um die Abgrenzung von Vorschriften, die sich nur gesetzlichen Regelungen
verdanken. ‚Gesetzlich‘ (nomikon) steht hier also nicht für das Gesetzliche
im Sinn der universalen Gerechtigkeit (nomimon: 2, 1129a34 et pass.), son-
dern für reine Setzungen im Sinne von positivem Recht. Dies zeigen die Bei-
spiele von Sachverhalten, die ihrer Natur nach neutral sind, durch Setzungen
aber rechtlich verbindlich werden. Auch sie dienen, wie heute etwa die Ver-
kehrsregeln, dem Wohl der Gemeinschaft.
In der Diskussion über eine Naturrechtslehre bei Aristoteles nimmt die-
ser Abschnitt eine zentrale Stelle ein, da nur hier ausdrücklich eine Dicho-
tomie zwischen dem natürlichen und dem auf Konvention beruhenden Ge-
rechten vorgenommen wird. Nun sind natürliche Gerechtigkeit, Naturrecht
und natürliche Gesetzlichkeit nicht ohne weiteres gleichzusetzen (vgl. Striker
1996a). Obwohl Aristoteles keine Beispiele für natürlicherweise Gerechtes
gibt, ist anzunehmen, dass es alles einschließt, was zur universalen Gerechtig-
keit gehört. Denn auch die Charaktertugenden beruhen insofern auf natür-
lichen Standards, als sie diejenigen Eigenschaften sind, die den Bestzustand
der menschlichen Natur garantieren. Daher sind auch diese Standards ‚über-
all dieselben‘, d.h. sie sind überall die besten. Die Debatte, ob nicht nur das
Recht, sondern auch die Moralität überhaupt auf natürlichen Gegebenhei-
ten oder auf bloßen Konventionen beruht, ist bereits Mitte des 5. Jh. v. Chr.
durch die Sophistik angestoßen worden (vgl. dazu Heinimann 1945). Eine
Grenzziehung zwischen dem von Natur aus Richtigen und konventionell
Üblichem wäre für die übrigen Tugenden – wie etwa im Fall von Tapferkeit
oder Großzügigkeit – noch schwieriger als im Fall der Gerechtigkeit, weil
es in ihrem Bereich nur wenig Tatbestände gibt, die der Gesetzgebung un-
terliegen, sondern die Regeln sich weitgehend der Tradition verdanken. Auf
das Problem als solches hat Aristoteles selbst bereits in EN I 3, 1094b14–18
mit seiner Erklärung hingewiesen, es sei Gegenstand einer erheblichen Kon-
troverse, ob es das Schöne und Gerechte nur aufgrund des Gesetzes (nomôi
monon einai) und nicht von Natur aus (physei de mê) gibt. Ebendieser Punkt
sei Gegenstand der politischen Wissenschaft. Aristoteles nimmt hier also eine
Frage von grundsätzlicher Bedeutung auf. Die Unterscheidung zwischen na-
türlicher und konventioneller Gerechtigkeit wird ausführlicher in der Rhe-
torik behandelt (I 10, 1368b7–10; 13, 1373b1–18). Dort wird zwischen spezi-
ellen (idia) und gemeinsamen Gesetzen (koinoi) unterschieden; speziell sind
diejenigen Gesetze, die sich die einzelnen Staaten selbst geben, während ge-
628 Kommentar
meinsam die ungeschriebenen Gesetze sind, die der Natur gemäß (kata phy-
sin) und überall dieselben sind. Das heißt nicht, dass sie de facto überall gel-
ten, wohl aber, dass sie eigentlich überall gelten sollten.
(4.1) 1134b19 f. „Natürlich ist, was überall die gleiche Kraft (dynamis) hat“:
Auf den Begriff der ‚Natur‘ bei Aristoteles ist hier nicht näher einzugehen.
Vielmehr muss der Hinweis genügen, dass er darin auch andernorts keine
‚Mutter Natur‘ sieht, die im All als ordnende Kraft oder Gesetzgeberin wal-
tet, auch wenn er verschiedentlich von der Gesamtnatur sagt, sie tue nichts
umsonst (De an. III 9, 432b21; III 12, 434a31; Cael. I 4, 271a33 et pass.). Da-
mit will er aber nur sagen, dass alles einem bestimmten Zweck dient, nicht,
dass es durch eine höhere Macht so eingerichtet worden ist. Das natürliche
Gerechte ist durch die menschliche Natur vorgegeben und gilt den Bezie-
hungen zwischen den Bürgern von Gemeinschaften, die dem menschlichen
Guten dienen. Wenn von dem natürlichen Gerechten gesagt wird, es hänge
nicht davon ab, ob Menschen es anerkennen oder nicht, so bedeutet das le-
diglich, dass entsprechende Gesetze im Prinzip überall ihre Gültigkeit ha-
ben, weil die Bestform menschlichen Lebens überall dieselbe ist. Die Rede
von der gleichen dynamis (‚Kraft‘) könnte missverständlich sein, zumal in
Verbindung mit dem Beispiel des Feuers, das in Griechenland ebenso wie in
Persien brennt. Dieses Missverständnis wird sich aber noch aufklären.
(4.2) 1134b21 f. „dass das Lösegeld für einen Gefangenen eine Mine betra-
gen…soll“: Diese Beispiele sollen zeigen, dass bei gesetzlichen Festlegungen
zwar eine gewisse Beliebigkeit herrscht, danach aber strikte rechtliche Ver-
bindlichkeit besteht. Hier sind wohl Kriegsgefangene gemeint (vgl. Herodot,
Historien VI 79); Lösegeld wurde aber auch für Menschen bezahlt, die in die
Hand von Räubern oder Piraten geraten waren und als Sklaven verkauft
wurden. Ob es auch dafür ‚feste Preise‘ gab, ist unsicher (zur Verpflichtung,
dem Freikäufer dieses Geld zurückzuerstatten, vgl. IX 2, 1164b33–1165a2).
Ein Beispiel für die prinzipielle Beliebigkeit der Art der Opferungen findet
sich in einer Anmerkung bei Herodot (II 42): In Theben opfert man dem
Zeus Ziegen anstelle von Schafen.
(4.3) 1134b23 f. „dass man Brasidas opfern soll“: Brasidas war ein angesehe-
ner Heerführer der Spartaner im Peloponnesischen Krieg, der sich bei der
Verteidigung von Amphipolis hervorgetan hat. Er ist dort 422 im Kampf
gegen die Athener gefallen und hat die heroischen Ehren eines ‚Stadtgrün-
ders‘ erhalten. Zu Brasidas’ Verdiensten um Amphipolis vgl. Thukydides,
Historiae V 6, 11.
(4.4) 1134b24 „was den Charakter von Dekreten hat (psêphismatôdê)“: Als
psêphismata bezeichnete man einerseits Abstimmungen, andererseits die aus
ihnen hervorgegangenen Dekrete. Sowohl Gesetze wie Dekrete beruhten
auf Beschlüssen der Volksversammlung zu bestimmten Fragen (zum Un-
terschied vgl. MacDowell 1978, 45). Dekrete erforderten keine umfangrei-
Buch V, Kapitel 10 629
Frage vgl. Miller 1991, 289–292). Hier scheint er aber sagen zu wollen, dass
eine solche Gewöhnung gegen die Natur auch vorteilhaft sein kann.
(4.6) 1134b35–1135a5 „Bei dem, was aufgrund von Übereinkunft (synthêkê)
und seines Nutzens (symphoron) wegen gerecht ist, verhält es sich ähnlich
wie bei den Maßen“: Da in den verschiedenen Poleis unterschiedliche Maße
und Gewichte galten, spricht Aristoteles ein bekanntes Phänomen an, wenn
er sagt, sie seien teils bloßer Übereinkunft, teils einem besonderen Nutzen
geschuldet, wie etwa der Tatsache, dass man bei Einkauf und Verkauf un-
terschiedliche Maße verwendet. Damit ist nicht die Neigung zum Betrü-
gen durch Manipulation von Maßen und Gewichten gemeint, sondern der
Unterschied zwischen den Maßen, die man im Groß- und im Einzelhandel
gebraucht.
(4.6.1) 1135a3–5 „Ebenso ist das, was nicht von Natur aus, sondern auf-
grund der menschlichen Verhältnisse als gerecht gilt (anthrôpina dikaia),
nicht überall dasselbe“: Mit Letzterem sind nicht nur Setzungen gemeint,
sondern die Gesetzgebung in den Staaten überhaupt, deren Verfassung nicht
dem von Natur aus Besten entspricht.
(4.6.2) 1135a5 „aber nur eine ist überall von Natur aus die beste“: Dieser
kleine Halbsatz ist von großer Bedeutung; denn er bestätigt, dass Aristote-
les von einer idealen Staatsform für alle Menschen ausgeht. Sie verkörpert
das von Natur aus Gerechte, während unter den herrschenden Bedingungen
dasjenige als gerecht gilt, was man dafür hält. In der Politik unterscheidet
Aristoteles drei Arten von bester Staatsform, (i) den nach Wunsch (‚Gebet‘:
kat’ euchên) besten Staat, (ii) den unter normalen Umständen besten Staat
und (iii) den unter bestimmten, weniger günstigen Umständen besten Staat
(IV 1, 1288b21–39). Die Prinzipien der besten Verfassung und die Möglich-
keit ihrer Verwirklichung sind das eigentliche Anliegen der Politik, die in
Buch VII den Entwurf von Aristoteles’ eigenem Idealstaat enthält, d.h. die
Form, die der menschlichen Natur am besten gerecht wird.
(4.7) 1135a5–15 „Jede gerechte (dikaia) und gesetzliche (nomima) Bestim-
mung verhält sich aber wie das Allgemeine zum Einzelnen“: Aristoteles
macht keinen Unterschied zwischen Recht und Gesetz, sondern hebt nur
hervor, dass die Prinzipien des Gerechten, sowohl die natürlichen wie auch
die gesetzten (physei ê taxei), Rechtsvorschriften allgemeiner Art sind, wäh-
rend Handlungen das Einzelne betreffen. Für letztere gilt, dass sie erst nach
ihrer Ausführung ein Unrecht sind; zuvor sind sie nur ihrem Charakter nach
ungerecht. Zur Kennzeichnung des Unterschieds zwischen Allgemeinem
und Einzelnem wird eine eigene Terminologie eingeführt, die in der Über-
setzung schwer wiederzugeben ist, weil die Ausdrücke für das Einzelne wie
‚Unrechtstat‘ (adikêma) oder ‚Rechtstat‘ (dikaiôma) im Deutschen unge-
bräuchlich sind. Dasselbe gilt auch für die Kennzeichnung des Allgemei-
nen als ‚Rechtstatbestand‘ (dikaiopragêma). Ob Aristoteles diese Begriffe
Buch V, Kapitel 10 631
selbst geprägt hat oder sich auf Gepflogenheiten stützt, lässt sich nicht er-
mitteln. Er scheint ursprünglich eine ausführlichere systematische Untersu-
chung geplant zu haben, wie sein (unerfülltes) Versprechen nahelegt, später
(1135a15: hysteron) im Einzelnen zu untersuchen, welche Arten und wie
viele solcher Handlungen es gibt und auf welche Sachverhalte sie sich bezie-
hen. Die Anmerkung zur ‚Rechtstat‘, sie gelte der Wiedergutmachung (ep-
anorthôma), zeigt, dass die politische Gerechtigkeit neben der distributiven
(s.o. 1134a33 f.) auch die retributive Gerechtigkeit umfasst.
(5) 1135a15–b11 „Wenn aber Gerechtes und Ungerechtes von der Art sind,
wie wir gesagt haben, dann handelt jemand ungerecht oder gerecht, wenn er
es freiwillig (hekôn) tut“: Auf die Differenzierung zwischen freiwilligen und
unfreiwilligen Handlungen und deren Umstände verwendet Aristoteles hier
ungewöhnlich viel Sorgfalt. Er begnügt sich nicht etwa mit einem Rückver-
weis auf die in Buch III 1–3 erarbeiteten Differenzierungen, sondern fügt au-
ßer den Bedingungen, dass Handlungen (i) wissentlich und (ii) nicht durch
Gewalt zustande gekommen sind, noch weitere Nuancierungen hinzu, wel-
che für die Schuldzuweisung und die Entlastung relevant sind. Die Konzen-
tration auf Rechtsfragen erklärt auch, dass Aristoteles die Unterscheidung
zwischen dem Unfreiwilligen und dem Nicht-Freiwilligen (III 2, 1110b18–
24) nicht wieder aufnimmt, denn die subjektive Einstellung zu einer bereits
begangenen Tat, ob man sie bedauert oder nicht, ist für den Rechtstatbestand
irrelevant.
(5.1) 1135a19–23 „Ungerechte und gerechte Handlungen bestimmt man
daher aufgrund des Freiwilligen (hekôn) und Unfreiwilligen (akôn)“: Wie
zur Übersetzung von III 1–2 angemerkt, ist die Übersetzung mit ‚freiwillig‘
und ‚unfreiwillig‘ ein Notbehelf. Im Griechischen deckt hekôn das breite
Spektrum zwischen ‚nicht unfreiwillig‘, ‚willentlich‘ und ‚vorsätzlich‘ ab.
So differenziert Aristoteles zwischen freiwilligen Handlungen, die auf einer
Entscheidung mit vorheriger Beratung beruhen, und solchen, die ohne eine
Entscheidung ausgeführt werden (1135b9–11). Im ersten Fall würden wir
von vorsätzlicher, im zweiten von spontaner, aber willentlicher Handlung
sprechen. ‚Freiwillig‘ ist also wie in Buch III in dem generischen Sinn zu
verstehen, der es erlaubt, sämtliche Aktivitäten mit einzubeziehen, die man
von sich aus tut. Da es Aristoteles hier in erster Linie um Unrecht und um
Schuldzuweisung in unterschiedlichen Graden geht, unterscheidet sich die
Diskussion von Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit an dieser Stelle von der
in Buch III vor allem in zwei Hinsichten: Die Erörterung von Gewalt ist ge-
genüber III 1 deutlich reduziert; ‚gemischte Fälle‘, in denen der Betreffende
sich zu einer Wahl zwischen zwei Übeln genötigt sieht, werden gar nicht
berücksichtigt. Dagegen erfährt das Unwissen eine sehr viel differenziertere
Behandlung. Denn hier stellt Aristoteles die kritische Frage nach der Ver-
632 Kommentar
antwortung für solches Unwissen und spricht damit an, was wir heute als
Fahrlässigkeit oder grobe Fahrlässigkeit bezeichnen.
(5.2) 1235a23–b2 „Als freiwillig bezeichne ich, wie schon früher gesagt,
wenn jemand etwas, das bei ihm liegt, wissentlich, also nicht in Unkennt-
nis darüber, wem gegenüber, womit oder wozu er es tut“: Die allgemeinen
Bedingungen, auf denen das Vorliegen von Freiwilligkeit beruht, sind zu-
nächst die gleichen wie in Buch III 1–3, nämlich die Kenntnis der einzel-
nen Umstände der Handlungen: der betroffenen Personen, der Mittel und
des Zwecks der Handlung. Hier wird jedoch noch deutlicher hervorgeho-
ben, dass sich Unfreiwilligkeit nur auf ebenden Umstand des Handelns be-
schränkt, der einem unbekannt ist. So hat man zwar nicht freiwillig seinen
Vater geschlagen (eine Straftat von besonderer Schwere), wenn man nicht
wusste, wer der Geschlagene war, wohl aber hat man einen Menschen ge-
schlagen. Zudem wird betont, dass auch das Unwissen nicht bei einem selbst
liegen darf, wenn man es hätte wissen können.
(5.2.1) 1135a33–b2 „Denn auch vieles, was bei uns von Natur aus eintritt,
tun und erleiden wir wissentlich; nichts davon ist aber freiwillig oder unfrei-
willig, wie etwa alt werden oder sterben“: Damit soll erklärt werden, warum
Wissen nicht immer garantiert, dass die Sache ‚bei uns liegt‘. Nun sind Al-
tern und Sterben keine Handlungen im aristotelischen Sinn, wohl aber Ge-
schehnisse, deren wir uns bewusst sind. Nicht alle Fälle lassen sich folglich
unter die Alternative subsumieren: Unwissen oder Gewalt.
(5.3) 1135b2–11 „Auch Akzidentelles (kata symbebêkos) gibt es in gleicher
Weise bei ungerechten und gerechten Handlungen“: Als akzidentell gerecht
und ungerecht hat Aristoteles zunächst die Fälle bezeichnet, in denen das
Handeln auf Unwissen beruht (1135a26). Hier wird das Spektrum des akzi-
dentell Gerechten oder Ungerechten insofern erweitert, als auch Handlun-
gen einbezogen werden, die zwar de facto gerecht oder ungerecht sind und
auch wissentlich ausgeführt werden, bei deren Beurteilung aber besondere
Umstände zu berücksichtigen sind. So kann jemand auch aus Furcht eine
gerechte oder auch eine ungerechte Handlung ausführen. Jemand, der an-
vertrautes Geld nur aus Furcht zurückerstattet, handelt zwar freiwillig, be-
geht aber nur akzidentell eine gerechte Handlung. Entsprechendes gilt für
denjenigen, der nur aus Furcht solches Geld nicht zurückerstattet, also zwar
freiwillig aber akzidentell ungerecht handelt.
(6) 1135b11–1136a1 „Es gibt also drei Arten von Schädigungen (blabê) im
wechselseitigen Umgang“: Hier geht es um eine Differenzierung der Art der
Verantwortung. Je nach Art und Umfang der Kenntnisse der Handlungsum-
stände ist zu unterscheiden zwischen: (i) Fehler (hamartêma), (ii) Unglücks-
fall (atychêma), (iii) Unrechtstat (adikêma) (vgl. dazu Rhet. I 13, 1374b4–
10). Als Quelle für diese Unterscheidung von Schädigungen wird oft auch
Buch V, Kapitel 10 633
(7) 1136a1–9 „Wenn jemand einen anderen mit Vorbedacht schädigt, so tut
er Unrecht“: Die Zusammenfassung hebt die Bedeutung des Vorbedachts
nicht nur für das Unrechttun hervor, sondern auch für das Rechttun, weil
der Vorbedacht in beiden Fällen zeigt, dass der Betreffende nicht nur etwas
Ungerechtes oder Gerechtes getan hat, sondern auch die entsprechende Dis-
position besitzt. Das gilt sowohl für Verstöße gegen die Proportion (para
to analogon) wie auch gegen die Gleichheit (para to ison), also für Fälle von
distributiver und retributiver Ungerechtigkeit.
(7.1) 1136a5 f. „Unfreiwillige Handlungen sind teils verzeihlich (syngnômo-
nika), teils auch nicht“: Mit dieser abschließenden Erklärung nimmt Aris-
toteles nicht erneut Stellung zu der vorangegangenen Differenzierung zwi-
schen den verschiedenen Arten von Verfehlungen, sondern bezieht sich auf
Buch V, Kapitel 11 635
(1) 1136a10–23 „Jemand könnte sich aber fragen, ob das Unrechtleiden und
Unrechttun hinreichend bestimmt wurden“: Zunächst wird infrage gestellt,
ob jedes Unrechttun freiwillig und jedes Unrechtleiden unfreiwillig ist, oder
ob es beim Unrechtleiden die Möglichkeit von Freiwilligkeit wie auch von
Unfreiwilligkeit gibt. Aristoteles geht hier aporetisch vor, d.h. er geht auf die
Thematik in Form von Fragen ein, die sich jemand stellen könnte (aporein/
diaporein). Diese Ausdrücke werden in diesen Kapiteln häufig gebraucht;
ähnlich aporetisch geht es erst wieder in der Frage des ‚Nutzens‘ der Klug-
heit zu (VI 13), in der Behandlung der Unbeherrschtheit (VII 2–4) und in
Detailfragen zur Freundschaft (IX).
Die Analyse der Argumentation wird dadurch erschwert, dass das Deut-
sche keine durchgängig verwendbaren Aktiv- und Passivformen zur Über-
setzung der Verbpaare adikein − adikeisthai (Unrecht tun – Unrecht leiden)
und dikaiopragein – dikaiousthai (Gerechtes tun – Gerechtes leiden) kennt.
Die Umschreibungen für die Passivkonstruktionen sind im Deutschen nicht
nur unelegant, sie lassen auch die Parallelität zwischen den Verbpaaren nicht
erkennen, weil man zwar von ‚Unrecht leiden‘ sprechen kann, aber nicht
von ‚Gerechtes leiden‘, wo es um das Erfahren einer gerechten Behandlung
geht. Zudem kommt im Deutschen nicht zum Ausdruck, dass die passiven
Verbformen das absichtliche Handeln auf der ‚Aktivseite‘ voraussetzen, so
wie im Fall von ‚beleidigen‘ und ‚beleidigt werden‘. Trotz der Uneleganz
und der Missverständlichkeit der Ausdrucksweise, verwendet die Überset-
zung aber durchweg ‚leiden‘, weil ein Wechsel zwischen ‚widerfahren‘, ‚er-
fahren‘ oder ‚behandelt werden‘ nicht erkennen lässt, dass im Griechischen
durchweg dieselbe Form verwendet wird.
(1.1) 1136a13 f. „Getötet (katektan) hab ich meine eigene Mutter“: Die
Verse des Euripides, die Aristoteles dazu anführt und als paradox bezeich-
net, stammen vermutlich aus der verlorenen Tragödie Alkmaion, die zum
Sagenkreis des Kampfes der ‚Sieben gegen Theben‘ gehört. Den Fall des
Alkmaion hat Aristoteles bereits in III 1, 1110a27–29 erwähnt und die Be-
hauptung als absurd zurückgewiesen, er sei durch die Umstände zum Mut-
termord gezwungen worden. An dieser Stelle geht es nicht um die Gewalt,
sondern um die Möglichkeit unfreiwilligen Unrechttuns und freiwilligen
Unrechtleidens. Da die Tragödie nicht überliefert ist, sind die Umstände
des Geschehens nicht bekannt, d.h. ob die Mutter den Tod letztlich frei-
willig über sich ergehen lässt, wie es der Frager anscheinend für möglich
hält. Das Verb katakteinein kann nämlich sowohl ‚töten‘ wie auch ‚ermor-
Buch V, Kapitel 11 637
den‘ bedeuten. Daher ist auch ein ‚unfreiwilliges‘ Töten und Getötetwer-
den möglich, weil beides aus Versehen geschehen kann. ‚Mord‘ schließt
das aus. Wenn Aristotles auf diese Ambiguität nicht hinweist, liegt darin
vermutlich Absicht.
(1.2) 1136a16–18 „Und ist denn entweder alles freiwillig oder unfreiwillig,
oder ist es im einen Fall freiwillig, im anderen unfreiwillig?“: Gemeint sein
muss, ob Unrechtleiden als solches unfreiwillig ist oder ob es dabei fallweise
Unterschiede gibt. Da die Analogie des Unrechttuns bereits im vorangegan-
gen Satz mit denselben Worten eingeführt worden ist, wird mit Bywater der
zweite Halbsatz als Dittographie athetiert (so auch G/J II 1, 412), weil die
bloße Wiederholung des bereits Gesagten keine zusätzliche Verdeutlichung
der Alternative bringt. An der eigentlichen Sachlage ändert die Entschei-
dung für oder gegen eine Streichung nichts. Die Frage ist, ob auf beiden Sei-
ten korrespondierende Verhältnisse bestehen: Ist alles Unrechtleiden unfrei-
willig, so wie alles Unrechttun freiwillig ist? Zu diesem Ergebnis führt die
Untersuchung der verschiedenen Möglichkeiten.
(1.3) 1136a18–23 „Dasselbe fragt sich auch bezüglich des Erleidens von Ge-
rechtem (dikaiousthai)“: Diese Frage nimmt Aristoteles deswegen auf, weil
man meinen könnte, dass für das Erleiden von Gerechtem und Ungerechtem
dieselben Bedingungen gelten wie für das Tun, also entweder beides freiwil-
lig oder beides unfreiwillig ist. Diese Annahme bestätigt sich jedoch nicht.
Zwar ist jedes Rechttun (dikaiopragein) (wie auch das Unrechttun) freiwillig
bzw. absichtlich; vom Gegenstück, dem Erleiden von Gerechtem, gilt das je-
doch nicht durchweg. Dass Menschen auch unfreiwillig Gerechtes erleiden
(die Passivkonstruktion dikaiousthai scheint Aristoteles’ eigene Prägung zu
sein), beruht darauf, dass der passivische Ausdruck zwei Möglichkeiten zu-
lässt: Gerechtigkeit kann sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Be-
troffenen ausfallen. Während man ersteres gern annimmt, ist nicht jeder wil-
lens, eine gerechte Strafe auf sich zu nehmen.
(2) 1136a23–31 „Weiterhin könnte jemand auch der Frage nachgehen, ob je-
der, dem etwas Ungerechtes widerfahren ist, Unrecht leidet“: Die Frage re-
kurriert auf die zuvor erörterte Unterscheidung zwischen dem bloßen Tun
von etwas Ungerechtem und Unrechtstaten (10, 1135b2–11). Entsprechen-
des gilt auch für das Unrechtleiden, wie die Unterscheidung zwischen ‚et-
was Ungerechtes erleiden‘ (adika paschein) und ‚Unrechtleiden‘ (adikeist-
hai) deutlich macht. ‚Akzidentelles‘ Tun und Leiden setzt voraus, dass der
Tatbestand de facto ein Unrecht ist, aber nicht qua Unrecht getan und er-
fahren wird. Auch für das ‚Rechttun‘ (dikaiopragein) gilt, dass es nicht de
facto Gerechtem gilt, sondern um des Gerechten willen getan wird. Dass
Unrechttun ist zugleich die notwendige Bedingung für das Unrechtleiden.
638 Kommentar
Tugend geschuldet ist (Dirlmeier 1956, 428), scheint nicht im Sinne Homers,
denn er bemerkt dazu, Zeus müsse Glaukos seines Verstandes beraubt haben
(phrenas exeleto Zeus), da er ‚den Wert von hundert Rindern gegen den von
neun eintauscht‘. Aristoteles führt diesen Fall nicht als einen Fall von Un-
beherrschtheit, sondern nur als Begründung dafür an, dass diese Gold-gab-
ich-für-Eisen-Aktion kein Fall von Unrechtleiden ist: Glaukos ist für seine
Handlung selbst verantwortlich, es gibt niemanden, der ihm Unrecht tut.
Dass auch Diomedes mit der Annahme der Rüstung kein Unrecht tut, wird
im nächsten Kapitel deutlich.
(1) 1136b15–31 „Von dem, was wir uns vorgenommen haben, bleiben noch
zwei Fragen zu besprechen“: Mit dem ‚Vorhaben‘ ist die Frage am Anfang
des letzten Kapitels gemeint, ob die Begriffe von Unrechttun und Unrecht-
leiden hinreichend bestimmt sind. Die Frage wird hier auch auf den Emp-
fänger ausgedehnt.
(1.1) 1136b15–17 „Ob derjenige Unrecht tut, der jemandem der Würdig-
keit entgegen zu viel zugeteilt hat, oder derjenige, der es erhalten hat“: Im
Prinzip ist die Möglichkeit, sich freiwillig selbst Unrecht zu tun, bereits mit
der Begründung zurückgewiesen worden, dass man es wissentlich und dem
eigenen Wunsch gemäß tun müsste. Hier soll vermutlich zweierlei hervor-
gehoben werden: Zum einen liegt Unrecht beim Verteiler und nicht beim
Nehmer, zum anderen erleidet der Nehmer, der freiwillig einen Nachteil auf
sich nimmt, selbst dann kein Unrecht, wenn der Verteiler damit Unrecht tut.
(1.2) 1136b20 f. „denn der Gute ist geneigt, sich mit dem kleineren Teil zu
begnügen (elattôtikos)“: Den Ausdruck elattôtikos scheint Aristoteles eigens
als Bezeichnung für Menschen mit dieser Disposition geprägt zu haben,
denn er findet sich außer an dieser Stelle nur noch in der Kennzeichnung der
Billigkeit (14, 1138a1; vgl. MM II 1, 1198b24–33). Es ist Aristoteles um die
Klarstellung zu tun, dass jemand der dazu disponiert ist, sich mit weniger
zu begnügen, keine Disposition des Mangels in Bezug auf die Gerechtigkeit
640 Kommentar
hat, also nicht die Disposition freiwillig Unrecht zu leiden hat, sondern viel-
mehr maßvoll ist (metrios). Der ‚zu weniger Bereite‘ stellt zwar das Gegen-
teil des ‚Mehrwollenden‘ (pleonektês) dar, er ist aber nicht der zêmiôdês, der
‚Verlustbereite‘ von EE II 3, 1221a23. Denn seine Selbstbescheidung hat ihre
Kompensation: Der Maßvolle erhält ein Mehr an Ansehen und an Schönem
überhaupt. Diesen Vorteil wird Aristoteles auch für die Freundschaft im ei-
gentlichen Sinn in Anspruch nehmen (IX 8, 1169a26–29).
(1.3) 1136b25–29 „Es ist zudem offensichtlich, dass Unrecht tut, wer zu viel
zuteilt, wer zu viel hat aber nicht immer (aei)“: Der Text ist hier proble-
matisch. Für die in den meisten Handschriften überlieferte Lesart spricht,
dass die ursprüngliche Definition der distributiven Gerechtigkeit nahe-
legen könnte, dass das Unrecht auf Seiten dessen liegt, der zu viel erhält
(7, 1131b19–21). Gegen diese Lesart spricht, dass das Unrechttun nur dem
Austeilenden mit der Begründung zugeschrieben wird, die Ursache (archê)
der Handlung liege bei ihm. Daher gibt Susemihl mit Rassow der Lesart von
Handschrift Kb den Vorzug: „wer mehr erhält, tut kein Unrecht (ouk adi-
kei)“ (so auch Stewart 1892 und G/J II 1, 417 f.). Die Maxime, der Hehler sei
genauso schlimm wie der Stehler, trifft daher den Fall des Begünstigten bei
ungerechter Verteilung nicht.
(1.4) 1136b29–31 „Ferner: Da ‚Tun‘ (poiein) in mehreren Weisen gebraucht
wird“: Hier dürfte es sich um eine Randglosse handeln. Wenn der ‚Nehmer‘
damit zusätzlich von der Verantwortung entlastet werden soll, dass nicht jedes
Tun ein Handeln ist, so ist der Vergleich mit dem Tun lebloser Dinge, einem
Körperteil oder einem Diener dafür nicht geeignet. Denn für den ‚Nehmer‘
wäre damit nur etwas gewonnen, wenn er sich gegen das Annehmen nicht hätte
wehren können. Zum ‚Tun‘ lebloser Dinge ist anzumerken, dass die Vorschrift
aus archaischer Zeit, leblose Gegenstände, die den Tod eines Menschen verur-
sacht hatten, dadurch zu bestrafen, dass man sie über die Stadtgrenzen warf,
auch noch in klassischer Zeit galt; Tiere und Sklaven pflegte man zu töten.
(2.1) 1136b33 f. „Denn das gesetzliche Gerechte (to nomikon) und das Ge-
rechte im primären Sinn (to prôton)“: Dieser Gegensatz erinnert zwar an die
Unterscheidung zwischen dem auf Setzung beruhenden Gerechten und dem
natürlichen Gerechten (10, 1134b18–24), hier muss jedoch mit nomikon die
bloß formal korrekte Anwendung der Gesetze im Unterschied zu dem ge-
meint sein, was in Wahrheit gerecht ist.
(2.2) 1136b34–1137a4 „Hat der Betreffende aber wissentlich ungerecht ge-
urteilt“: Wissentlich gefällte Fehlurteile sind Fälle von Mehrhabenwollen
(pleonektei), wenn der Richter einen Vorteil daraus zieht. Dieser Vorteil
kann etwa in der zu erwartenden Dankbarkeit (charis) der durch das Urteil
begünstigten Partei bestehen oder in der Vergeltung (timôria) in eigener Sa-
che, wenn ein Richter sein Amt dazu missbraucht, sich zu rächen. In Athen
war diese Möglichkeit angesichts der hohen Zahl von Richtern, d.h. von
Schöffen, und durch ihre Auslosung am Tag des Prozesses allerdings gering
(vgl. Bleicken 41995, 421 f.).
(2.3) 1137a2–4 „Wie jemand einen Anteil an der Beute einer Unrechtstat er-
halten würde (merisaito tou adikêmatos)“: In diesem Vergleich bezieht sich
Aristoteles auf die Art der Vorteilsnahme des Richters, der wie ein Verbre-
cher seinen Anteil an einer gemeinsamen Tat entgegennimmt. Das Beispiel
des Ackers, über den der Richter zu entscheiden hatte, macht deutlich, dass
der ‚Anteil‘ nicht im wörtlichen Sinn gemeint ist, also nicht in dem Gut be-
steht, das Gegenstand des Rechtsstreits ist, sondern dass der Richter dafür
mit Geld belohnt wird.
(1) 1137a4–9: Aus der Tatsache, dass Unrechttun leicht ist, folgt nicht, dass
auch Gerechtsein leicht ist. (2) 1137a9–17: Gesetzeskenntnis reicht nicht aus
für gerechtes Handeln. (3) 1137a17–26: Ungerechtigkeit ist nicht dasselbe
wie Unrechttun. (4) 1137a26–30: Gerechtes und Ungerechtes gibt es nur im
Bereich des Menschlichen.
642 Kommentar
(1) 1137a4–9 „Die Menschen glauben aber, es liege bei ihnen selbst (eph’
heautois), Unrecht zu tun, und daher sei es auch leicht, gerecht zu sein“:
Die Erklärung ist elliptisch formuliert, sowohl den Irrtum wie auch dessen
Korrektur betreffend. Der Irrtum liegt in der Annahme: So wie es bei einem
selbst liegt, Unrecht zu tun, so liegt es auch bei einem selbst, Gerechtes zu
tun. Und wenn Gerechtes zu tun bei einem selbst liegt, dann liegt es auch bei
einem selbst, gerecht zu sein, nämlich es ‚aufgrund einer bestimmten Hal-
tung‘ (hôdi echontas) zu tun. Da diese Erklärung aber unmittelbar auf die
Aufzählung ungerechter Handlungenweisen aller Art folgt, während von
gerechten Handlungen nicht die Rede ist, scheint die Argumentation dem
Erwerb der Ungerechtigkeit zu gelten (ähnlich auch 1137a23). Das ist aber
sicher nicht das Argumentationsziel, vielmehr ist zusätzlich der ‚Schluss auf
das Gegenteil‘ zu ziehen: das Handeln aufgrund der gerechten Disposition
ist weder leicht noch liegt es bei einem selbst, auch wenn man das wünscht
(vgl. III 5,1114a11–21).
(2) 1137a9–17 „Ebenso meint man auch, es erfordere keine besondere Weis-
heit (ouden sophon) zu erkennen, was gerecht und was ungerecht ist“: In die-
sem Fall gilt der Einwand anscheinend nicht der Disposition, sondern dem
Verständnis und der Anwendung der Gesetze. Aristoteles erwartet zwar von
guten Bürgern die Kenntnisse der Gesetze, jedenfalls wenn sie nicht schwer
zu verstehen sind (III 5, 1113b33–1114a3). Er wird aber in Kap. 14 die Bil-
ligkeit als ein wichtiges Korrektiv der Gerechtigkeit darstellen, das Weisheit
erfordert. Dazu passt der Vergleich mit der Medizin und die Behauptung,
die richtige Anwendung der Gerechtigkeit sei eine noch schwierigere Ange-
legenheit als das Heilen eines Patienten in der Medizin.
(2.1) 1137a11 f. „es sei denn akzidenteller Weise“: Gemeint sein könnte zum
einen, dass nicht jedes Gesetz gut ist, zum anderen, dass Unkundige dem
bloßen Wortlaut von Gesetzten nicht bzw. nur akzidenteller Weise entneh-
men können, was gerecht ist.
(3) 1137a17–26 „Aus demselben Grund (di’ auto touto) glaubt man auch, es sei
nicht weniger Sache des Gerechten, Unrecht zu tun“: ‚Derselbe Grund‘ muss
bedeuten, dass man nicht weiß, welcher Art von Disposition die Gerechtig-
keit ist. Argumentiert wird dafür aber nicht, sondern wiederum nur für den
Unterschied zwischen Unrechttun und Ungerechtigkeit. Dass man die Dis-
position der Ungerechtigkeit besitzen muss, um fachmännisch Unrecht zu
tun, ist aber kaum das eigentliche Argumentationsziel. Vielmehr dürfte eine
Anspielung auf das Argument vom Expertenwissen bei Platon gemeint sein
(Resp. I 333e–334b): Dort wird Polemarchos zu dem Zugeständnis gebracht,
jedes Expertenwissen umfasse zugleich auch das Gegenteil; daher sei der Ge-
rechte zugleich auch am besten zu Unrechtstaten wie Unterschlagungen o.ä.
Buch V, Kapitel 13 643
fähig (vgl. auch Hp. mi. 375e–376b). Die ‚Korrektur‘ ist ähnlich paradox ab-
gefasst wie die zu (1): Das bloße Tun von etwas Feigem oder Ungerechtem ist
noch kein Zeichen dafür, dass man die betreffende Disposition der Feigheit
oder Ungerechtigkeit besitzt. Die Folgerung wäre dann: Und so ist es auch
noch kein Zeichen für Tapferkeit und Gerechtigkeit, das Umgekehrte zu tun.
über die Defizite des geschriebenen Rechts, das dem besonderen Fall nicht
gerecht werden kann (Plt. 293a–303d; Leg. IX 875b–876e).
Die Präzisierung der Billigkeit im Sinne einer Korrektur von Lücken
und Ungenauigkeiten in den Gesetzen scheint sich Aristoteles zu verdanken
(Brunschwig 1996). Eine feste Wortbedeutung wie später das Lateinische ae-
quitas hatten epieikes und epieikeia in der klassischen Zeit aber nicht. Denn
nicht nur Platon, sondern auch Aristoteles selbst verwendet epieikês und
epieikeia häufig im allgemeinen Sinne von ‚gut‘ oder ‚anständig‘. So werden
agathos, spoudaios und epieikês häufig als Bezeichnungen des Tugendhaf-
ten überhaupt gebraucht, ohne dass sich eine besondere Bedeutungsnuance
feststellen ließe (z.B. I 13, 1102b10; III 7, 1113b13 f. et pass.; dazu Horn
2006). Da heutzutage die Rede von ‚recht und billig‘ in der Umgangssprache
selten geworden ist und ‚billig‘ zumeist im Sinn von ‚wohlfeil‘ oder sogar
von ‚wertlos‘ verwendet wird, meiden manche Übersetzer diese Ausdrucks-
weise. So spricht Dirlmeiers Übersetzung von ‚Güte in der Gerechtigkeit‘.
Da im Englischen ‚equity‘ auch den Anteil an Eigenkapital bezeichnet, ver-
wenden Irwin ‚decency‘ und B/R ‚reasonableness‘; diese Ersetzungen lassen
jedoch nicht erkennen, dass dieser Begriff bei Aristoteles eine klar definierte
juridische Bedeutung hat.
Die Einsicht, dass der Buchstabe des Gesetzes nicht immer dem Geist
des Gesetzes entspricht, dass Recht und Gesetz nicht immer dasselbe sind,
war natürlich Allgemeinbesitz (zum Gegensatz zwischen dem Wortlaut –
logos − und der Intention des Gesetzes – dianoia – vgl. Rhet. I 13, 1374b12 f.;
Pol. III 16, 1287b3–8). Mit Billigkeit ist aber nicht eo ipso ‚Milde‘ oder
‚Nachsicht‘ (syngnômê) verbunden; auch impliziert sie nicht die Maxime
„In dubio pro reo“. Denn u.U. ist damit sogar eine besondere Strenge in der
Auslegung im Geiste des Gesetzes verbunden (so auch Horn 2006, 143). Das
gilt umso mehr, als vor Gericht Ankläger und Angeklagte ihre Sache persön-
lich vorzutragen hatten, so dass die Billigkeit von Seiten der Richter jeweils
nur der einen oder der anderen der beiden Parteien zugutekommen konnte.
Dass Aristoteles’ Diskussion der Billigkeit gleichwohl im Tenor einer wohl-
wollenden Gesetzesinterpretation gehalten ist, dürfte der Tatsache geschul-
det sein, dass er die Gesetzeskorrektur aus der Perspektive desjenigen sieht,
dem sie zu Recht zugutekommt. Diese Orientierung macht auch den Über-
gang zur Explikation der Disposition des ‚Billigen‘ als der Disposition eines
Menschen verständlich, der auf allzu große Rechtsgenauigkeit verzichtet.
(1) 1137a31–b11: Der Begriff des Billigen stellt insofern eine Schwierigkeit
dar, als es weder dasselbe wie das Gerechte noch auch der Gattung nach
von ihm verschieden ist. (2) 1137b11–24: Das Billige ist eine Korrektur des
Gesetzes zur Anpassung an bestimmte Fälle. (3) 1137b24–32: Die Anwen-
646 Kommentar
(1) 1137a31–b11 „Anschließend ist über die Billigkeit (epieikeia) und das
Billige (epikeikes) zu sprechen, wie sich die Billigkeit zur Gerechtigkeit, das
Billige zum Gerechten verhält“: Die Notwendigkeit einer näheren Kenn-
zeichnung der Billigkeit ergibt sich zunächst daraus, dass dieser Begriff ganz
allgemein als Ausdruck besonderen Lobes gebraucht wurde und nicht auf
die Rechtssphäre beschränkt war. Daraus ergibt sich scheinbar eine Aporie:
epieikes wird oft im selben Sinn wie ‚gut‘ verwendet; in komparativer Ver-
wendung bedeutet das Billigere dann das Bessere. Verwendet man billig in-
nerhalb des Bereichs des Gerechten, unterscheidet man das Billige aber vom
Gerechten, so dass es den Anschein hat, dass sie entweder nicht beide gut
oder aber in Wahrheit dasselbe sind.
(1.1) 1137a33–b2 „dass wir ‚billig‘ anstelle von ‚gut‘ als Lob auch auf andere
Bereiche übertragen (metapheromen)“: Aristoteles spricht so, als sei die juri-
dische Verwendung die zentrale Bedeutung von epieikês, die allgemeine Be-
deutung dagegen ein erweiterter Gebrauch. Die Wortgeschichte zeigt aber,
dass die juridische Verwendung eine Verengung und Präzisierung der allge-
meinen Wortbedeutung darstellt.
(1.2) 1137b4 f. „Sind sie nämlich verschieden, dann ist entweder das Ge-
rechte oder das Billige nicht gut; sind sie aber beide gut, dann sind sie das-
selbe“: Wie zur Übersetzung angemerkt, lautet die Aporie der Mehrheit der
Handschriften zufolge anders, nämlich: „entweder das Gerechte ist nicht
gut (spoudaion) oder das Billige ist nicht gerecht (dikaion), wenn es verschie-
den vom Gerechten ist; sind aber beide gut, so sind sie dasselbe.“ Der Text
ergibt jedoch einen besseren Sinn, wenn man Handschrift Nb und der latei-
nischen Tradition folgend mit Susemihl und anderen Interpreten (vgl. G/J
II 1, 433) ‚ist nicht gerecht‘ hinter ‚das Billige‘ athetiert. Denn die Schlussfol-
gerung, dass beide dasselbe sein müssen, wenn sie gut sind, ist die Alterna-
tive zu der Folgerung, dass nicht beide gut sein können, wenn sie verschie-
den sind. Dass beide dasselbe sind, folgt dagegen nicht aus der Alternative,
entweder sei das Gerechte nicht gut oder das Billige nicht gerecht. Ein Re-
daktor, der diesen Punkt nicht verstanden hat, dürfte versucht haben, aus
dem Dilemma ein Trilemma zu machen, weil im nächsten Abschnitt davon
die Rede ist, das Billige sei gleichwohl etwas Gerechtes.
(1.3) 1137b5–11 „Das sind in etwa die Überlegungen, die das Billige betref-
fend Schwierigkeiten machen“: Die vermeintliche Aporie erfährt zunächst
eine formale Auflösung durch eine nähere Bestimmung des logischen Ver-
hältnisses, in dem die fraglichen Begriffe zueinander stehen: Das Billige ist
besser als das Gerechte einer bestimmten Art, gehört aber derselben Gat-
tung an und ist nur innerhalb dieser Gattung besser. Damit steht der An-
Buch V, Kapitel 14 647
nahme nichts mehr im Weg, dass das Billige und das Gerechte (der Gattung
nach) ein und dasselbe sind, dass zudem beide gut sind, dass aber das Billige
besser als das allgemein abgefasste Gerechte ist.
(2) 1137b11–24 „Die Schwierigkeit wird dadurch verursacht, dass das Bil-
lige zwar gerecht, aber nicht das dem Gesetz nach Gerechte (ou to kata no-
mon), sondern eine Korrektur des gesetzlichen Gerechten ist“: Die sachli-
che Auflösung der Aporie besteht in der Erklärung der ‚bestimmten Art des
Gerechten‘, dem das Billige überlegen ist: Es ist das gesetzliche Gerechte
(nomimon dikaion). Das Billige ist eine Korrektur (epanorthôma) des ge-
setzlichen Gerechten in den Fällen, die das Gesetz entweder gar nicht oder
nicht richtig erfasst. Dass das Gesetz einer Korrektur oder Verbesserung
bedarf, beruht auf seiner Allgemeinheit, die zwar die Mehrzahl der Fälle er-
fasst, bestimmten Fällen aber nicht gerecht werden kann.
(2.1) 1137b15 f. „die Mehrzahl (to hôs epi to pleon)“: Wenn Aristoteles hier
statt des viel häufiger gebrauchten hôs epi to poly (‚meistens‘), den selte-
neren, intensiveren Ausdruck (vgl. Pol. III 13, 1283a33: hôs epi to pleon)
gebraucht, so dürfte er andeuten wollen, dass das Gesetz seiner Intention
nach allgemein ist und nur wenige Fälle nicht erfasst. Eine partikularisti-
sche Deutung der aristotelischen Gerechtigkeitskonzeption lässt sich damit
jedoch nicht rechtfertigen (und damit auch der aristotelischen Ethik über-
haupt, wie sie etwa McDowell und Wiggins auch unter Hinweis auf den Be-
griff der Billigkeit vertreten, vgl. dazu Horn 2006, 145–164 unter Einbezie-
hung einschlägiger Texte aus der Rhetorik und Politik). Vielmehr lässt der
Tenor von Aristoteles’ Ausführungen erwarten, dass die Gesetze die Mehr-
zahl der Fälle adäquat erfassen und nur in bestimmten Fällen der Anpassung
bedürfen. Andernfalls wäre die Rede von Verfehlungen und Auslassungen
irreführend, die der Gesetzgeber nicht berücksichtigt oder an die er nicht
gedacht hat. Denn diese müssen sich objektiv spezifizieren lassen. Die Bil-
ligkeit ist daher nicht das Äquivalent zur Fähigkeit, im Einzelfall die richtige
Entscheidung zu treffen, die von jedem moralisch richtig Erzogenen erwar-
tet wird. Vielmehr nimmt die Billigkeit explizite Korrekturen oder Ergän-
zungen der Gesetze vor, die u.U. auch die Form eines Dekrets haben kön-
nen (1137b29). Von den üblichen Parametern – wie man soll, wann man soll,
wem gegenüber man soll etc. – ist daher nicht die Rede. Vielmehr werden
vom ‚Billigen‘ sowohl die Kenntnisse der Gesetze wie auch ein besonders
gutes Urteilvermögen bei der Begründung von Ausnahmen oder Ergänzun-
gen erwartet.
(2.2) 1137b17 „und ist darum nicht weniger richtig“: Zunächst klingt diese
Verteidigung des Gesetzes paradox: Es enthält zwar Verfehlungen, ist aber
dennoch richtig. Die Verteidigung legt aber dar, dass ein Fehler weder beim
Gesetz noch beim Gesetzgeber liegt, sondern der ‚Materie in praktischen
648 Kommentar
Angelegenheiten‘ (hylê tôn praktôn) geschuldet ist. Gemeint ist die Kom-
plexität von Tatbeständen, die von allgemein abgefassten Gesetzestexten
nicht erfasst werden können (zu dieser Verwendung von hylê vgl. EN I 6,
1098a28; II 2, 1104a3).
(2.3) 1137b21 f. „dort wo der Gesetzgeber eine Lücke gelassen (hêi paralei-
pei) … hat, das Fehlende auszugleichen“: Ob ein Unterschied zwischen ei-
ner bloßen Gesetzeslücke und einer Korrekturbedürftigkeit des Gesetzes
beabsichtigt ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Da es um die Korrek-
tur von Fehlern in bestimmten Einzelfällen geht, ist die Urteilsfähigkeit des
Richters gefordert, nicht die Umformulierung der Gesetze, denn allgemeine
Regeln zweiter Stufe sind dafür nicht zu erwarten (vgl. Brunschwig 1996,
116 ff.).
(2.4) 1137b22–24 „wenn er dabei gewesen wäre und das Gesetz in Kenntnis
dieses Falls abgefasst hätte“: Die Korrektur des Gesetzes verdankt sich ei-
ner hypothetischen Konsultation des Gesetzgebers. Richter sehen sich auf-
gefordert, auf der Basis ihrer Rechtskenntnisse zwei verschiedene Dinge zu
tun. Sie können überlegen: (i) wie der Gesetzgeber selbst den vorliegenden
Fall beurteilen würde, wäre er an der Stelle der Richter, und (ii) wie das Ge-
setz angesichts seiner allgemeinen Abfassung zu präzisieren wäre, um Fälle
wie den vorliegenden zu erfassen − etwa durch eine Klausel, die ihrerseits
allgemeinen Charakter hat. Die beiden Möglichkeiten schließen einander
zwar nicht aus; oft dürfte aber Möglichkeit (i) hinreichen. Beide Optionen
erfordern Überlegungen darüber, wie das Gesetz auszulegen ist (intentio le-
gis), um es auf diesen konkreten Fall anwenden zu können. Es geht also um
‚kreative Rechtsfindung‘ durch Besinnung auf die Intention des Gesetzes
und seiner Bedeutung in der allgemeinen Rechtspraxis. Ein Beispiel für ei-
nen Fall von Billigkeit wird hier nicht angeführt. Rhet. I 13, 1374a32–b1 er-
wähnt aber den Fall, in dem jemand einen anderen mit einem eisernen Fin-
gerring verwundet hat. Der Täter hat damit zwar formal gesehen gegen das
Gesetz verstoßen, das ‚Schlagen mit Eisen‘ unter Strafe stellt. Sache der Bil-
ligkeit ist die Berücksichtigung der Tatsache, dass das Tragen des Rings nicht
absichtlich zur Verletzung des Opfers führen sollte (an einen Schlagring ist
nicht gedacht), so dass hier kein Fall von Verletzung durch Schläge mit Eisen
vorliegt. Gesetze können nicht sämtliche Ausnahmen berücksichtigen, z.B.
die Art, Größe und Funktion aller erdenklichen metallenen Gegenstände
betreffend. Daher wäre hier eher an Möglichkeit (i) als an Möglichkeit (ii) zu
denken (zur Behandlung der Billigkeit in der Rhet. vgl. den Überblick mit
einem kurzen Forschungsbericht bei Rapp 2002, II 486–505).
(3) 1137b24–32 „Daher ist das Billige gerecht und besser als eine bestimmte
Art des Gerechten, aber nicht besser als das Gerechte überhaupt (tou dika-
iou haplôs), sondern besser als das Gerechte, welches durch die allgemeine
Buch V, Kapitel 14 649
(4) 1137b33–1138a3 „Daraus wird aber auch deutlich, wer der Billige (ho
epieikês) ist“: Wie beim Gerechten und Ungerechten, so wird auch hier noch
eine kurze Charakterisierung des betreffenden Menschtypus hinzugefügt.
Ob Aristoteles damit Richter meint oder vielmehr Menschen von ‚billigem‘
Charakter im Allgemeinen, ist unter den Kommentatoren strittig. Der Text
650 Kommentar
scheint nämlich auf zwei verschiedene Aspekte abzuheben. So wird der Bil-
lige als jemand gekennzeichnet, der nicht zum Schlechteren hin (epi to chei-
ron) auf Rechtsgenauigkeit (akribodikaios) besteht. Für letzteren Ausdruck
gibt es sonst nur wenige und sehr späte Belegstellen, aus denen sich keine
Rückschlüsse ziehen lassen. Es liegt zunächst nah, dass der Verzicht auf un-
angemessene Paragraphenreiterei auf Seiten von Richtern zu Ungunsten des
Angeklagten gemeint ist. Dazu scheint aber die weitere Kennzeichnung des
Billigen als eines Menschen nicht gut zu passen, der weniger in Anspruch
zu nehmen (elattôtikos) bereit ist, selbst wenn er das Gesetz auf seiner Seite
hat, also den Eigennutzen hintanstellt. Als elattôtikos ist zuvor der ‚Mäßige‘
bezeichnet worden, der bereit ist, sich bei der Verteilung von Gütern mit ei-
nem geringeren Anteil zufriedenzugeben (12, 1136b20 f.). Manche Interpre-
ten unterstellen Aristoteles daher eine Art Zweiteilung in der Behandlung
der Billigkeit: Während sie zunächst nur der Korrektur unzureichend abge-
fasster Gesetze gilt, ist anschließend der milde, nachsichtige Menschentyp
im Allgemeinen gemeint. Es geht hier aber nicht um Verteilungsgerechtig-
keit, sondern um den Umgang mit Gesetzen. Zudem wird in ein und dem-
selben Satz gesagt, der Billige sei derjenige, der nicht zum Schlechteren hin
auf Rechtsgenauigkeit besteht, und der weniger in Anspruch zu nehmen be-
reit ist. Es dürfte sich daher um die Kennzeichnung derselben Disposition
im Umgang mit Gesetzen handeln, die sich im Verzicht darauf manifestiert,
bei der Rechtsauslegung auf den Buchstaben des Gesetzes zu pochen (vgl.
Brunschwig, 135–141; B/R, 355: „tends to take a less strict view of things
… not to exact all that the laws permit“). Nun kann sich Billigkeit ohnehin
nur auf zwei ‚Berufsgruppen‘ beziehen, auf Richter und auf Ankläger. An-
geklagten, die das Recht auf ihrer Seite haben, würde man einen Verzicht auf
Rechtsgenauigkeit nicht empfehlen. In Frage steht also keine Nachgiebig-
keit, sondern nur die Bereitschaft zu maßvoller Handhabung der Gesetze,
sei es als Richter, sei es als Ankläger, d.h. sich mit weniger zufriedenzugeben,
als das Gesetz es erlaubt. Damit könnte Aristoteles zugleich auch der allge-
meinen Meinung entgegentreten wollen, die in der Billigkeit eine ‚Rechts-
minderung‘ gesehen hat. Dafür spricht auch die Definition der Billigkeit in
Top. VI 3, 141a16 als einer „Minderung (elattôsis) des Nützlichen und Ge-
rechten“ (vgl. auch Pseudo-Platon, Definitionen 412b).
Auf den Begriff der Billigkeit geht Aristoteles zwar auch in Rhet. I 13,
1374a25–b23 und 15, 1375a25–b15 näher ein und macht dort ähnlich präzise
Angaben darüber, wie es zu Auslassungen und Ungenauigkeiten in der Ge-
setzgebung kommen kann, für deren Ausgleich die Billigkeit zu sorgen hat.
Zur Aufklärung der Frage, ob Billigkeit nur in der Korrektur von Rechts-
ungenauigkeit besteht oder auch allgemeine Nachsichtigkeit in Gesetzesfra-
gen einbezieht, trägt die Erörterung in der Rhetorik aber insofern nicht bei,
als sie ein anderes Anliegen verfolgt. Sie ist nämlich auf das Verhalten von
Buch V, Kapitel 15 651
(1) 1138a4–14: Wer sich selbst tötet, tut sich kein Unrecht im Sinn der uni-
versalen Gerechtigkeit an. (2) 1138a14–28: Selbsttötung ist auch kein Un-
recht im Sinn der partikularen Gerechtigkeit. (3) 1138a28–b5: Unrechttun
ist schlechter als Unrechtleiden. (4) 1138b5–14: Gerechtes und Ungerechtes
zwischen den Seelenteilen gibt es nur in einem übertragenen Sinn.
(1) 1138a4–14 „Ob man sich selbst Unrecht tun kann oder nicht, ist nach
dem Gesagten offensichtlich“: ‚Das Gesagte‘ bezieht sich auf die Erörterun-
gen in Kap. 11 und 12; denn in die Erörterung der Frage, ob man freiwillig
652 Kommentar
Unrecht leiden kann, hat Aristoteles auch die Möglichkeit einbezogen, sich
selbst Unrecht zu tun, und beides mit der Begründung ausgeschlossen, dass
Unrecht nur dann vorliegt, wenn es gegen den Wunsch des Betroffenen ge-
schieht. Hier wird die Frage zunächst unter der Perspektive aufgenommen,
ob dies auch für die universale Gerechtigkeit gilt, d.h. ob man sich in Hin-
blick auf gesetzlich Gebotenes oder Verbotenes selbst Unrecht tun kann.
Als Paradefall wird der Selbstmord erörtert, weil Selbstmord nicht nur per
Gesetz verboten ist, sondern, wie auch sein Name nahelegt, eine Unrechtstat
gegen sich selbst zu sein scheint. Dies bringt auch die Verwendung der Ver-
ben apokteinymi (‚umbringen‘, ‚exekutieren‘) und sphattein (‚abschlachten‘)
zum Ausdruck. Diese Rechtfertigung eines Unrechttuns gegen sich selbst
erweist sich aber deshalb als unhaltbar, weil der Selbstmord zwar eine Un-
rechtstat, aber kein Unrecht gegen sich selbst, sondern nur gegen den Staat
ist. Ein Unrecht gegen sich selbst ist ausgeschlossen, weil der Betreffende es
freiwillig erleidet. Zwar kann man sich freiwillig schädigen lassen, ein Un-
recht erleidet man damit aber nicht (vgl. 11, 1136b5–9).
(1.1) 1138a6 f. „So befiehlt das Gesetz nicht (ou keleuei), dass man sich selbst
tötet; was es nicht befiehlt, verbietet es aber (apagoreuei)“: Die Behauptung,
was das Gesetz nicht anordne, verbiete es, erscheint zunächst absurd, da sie
den Unterschied zwischen gebotenen und erlaubten Handlungen ignoriert
(zu ‚nicht anordnen‘ vgl. MA 11, 703b5–8; De an. III 9, 432b29–31; EE III
1, 1229a7–11). Daher sind dazu verschiedene Verbesserungsvorschläge ge-
macht worden. So meint Stewart 1892 ad loc., es gehe nicht bloß um Ge-
setze, sondern um alles umfassende Brauchtümer überhaupt. Damit ist das
Problem aber nur verschoben, denn auch von Brauchtum kann schwerlich
gelten, alles, was es nicht erlaube, verbiete es. Irwin 21999, 238 verweist auf
Zeile 11, wo statt von ‚nicht anordnen‘ von ‚nicht zulassen‘ die Rede ist (ouk
eâ); gemeint ist dort jedoch nur die Tatsache, dass das Gesetz den Selbstmord
verbietet (1138a7: apagoreuei). Eine weitere Möglichkeit ist, ou keleuei im
Sinn von ‚befiehlt, dass nicht‘ zu verstehen, analog zu anderen Verben des
Sagens oder Denkens, die wie ou phêmi ‚ich verneine‘, ‚ich untersage‘ be-
deutet (Smyth, 2692a führt dazu auch ou keleuô an, jedoch ohne weiteren
Beleg, und auch eine Suche im TLG ergibt dazu nichts Einschlägiges). Diese
Erklärung wäre zudem stark pleonastisch: „Das Gesetz untersagt, dass man
sich selbst tötet; was es untersagt, das verbietet es.“ Will man Aristoteles
keinen eklatanten Fehler unterstellen, folgt man am besten Burnets (1900)
Vorschlag, dass es nur um Gesetze in Hinblick auf Tötungen geht: Sämtliche
Tötungen, die das Gesetz nicht anordnet, wie etwa im Kriegsfall oder in der
Justiz, verbietet es. Unter dieses Verdikt fällt auch der Selbstmord. In der
Übersetzung zu ergänzen wäre daher: „Was es diesbezüglich nicht befiehlt,
verbietet es“.
Buch V, Kapitel 15 653
(1.2) 1138a9–12 „Wer sich etwa im Zorn selbst entleibt, tut freiwillig und
wider den richtigen Grundsatz genau das, was das Gesetz nicht zulässt“:
Diese Darstellung soll zeigen, dass der Selbstmord formal die Kriterien des
Unrechttuns erfüllt. Dieses Unrecht richtet sich aber nicht gegen den Täter
selbst, sondern nur gegen die Gemeinschaft (vgl. V 3, 1129b14–19: Die uni-
versale Gerechtigkeit hat das Gemeinwohl zum Ziel – to koinêi sympheron).
Eine Bluttat war eo ipso eine gegen das Gemeinwohl gerichtete Handlung.
(1.3) 1138a12–14 „Daher verhängt der Staat auch eine Strafe und es haftet
demjenigen, der sich selbst tötet, eine Art Ehrlosigkeit (tis atimia) an, als tue
er dem Staat Unrecht“: Der Selbstmord wurde zwar nicht als Verbrechen
geächtet, war aber Gegenstand von dem Ehrverlust vergleichbaren Sankti-
onen. So erwähnt Aischines (Gegen Ktesiphon 244.8), dass man die Hand
des Betreffenden getrennt zu bestatten pflegte, und vergleicht diese Maß-
nahme damit, dass man auch leblose Gegenstände, die ursächlich am Tod ei-
nes Menschen beteiligt waren, über die Grenze der Stadt zu werfen pflegte.
Solche Maßnahmen galten aber der rituellen Reinigung von einer Bluttat,
und nicht als Form von Bestrafung. Ähnlich sieht Platon in Leg. IX 873c–d
für Selbstmörder eine von anderen Gräbern getrennte anonyme Bestattung
vor.
(2) 1138a14–28 „Ferner: Auch wenn jemand, der Unrecht tut, nur ungerecht
und nicht vollends schlecht ist, kann er sich nicht selbst Unrecht tun“: Hier
wird die partikulare Art von Ungerechtigkeit isoliert behandelt. Nicht je-
der, der gegen die ausgleichende Gerechtigkeit verstößt, hat einen schlech-
ten Charakter, sondern ist nur bereit, jemandem einen Schaden zuzufügen.
Dazu gehören neben den anfangs freiwillig eingegangenen Transaktionen
auch diejenigen, die man unfreiwillig eingeht (vgl. Kap. 5, 1131a1–9). Die
Selbsttötung, so könnte man meinen, ist nur ein Schaden bzw. ein Verlust,
aber kein Unrecht, das man sich selbst zufügt (vgl. 7, 1132a24–b11).
(2.1) 1138a18–20 „Denn sonst könnte jemandem ein und dasselbe zugleich
weggenommen und hinzugefügt werden“: Niemand kann sich aber selbst
etwas wegnehmen, weil er sich damit zugleich selbst ebendas geben würde,
was er sich selbst nimmt. Da Aristoteles die ausgleichende Gerechtigkeit als
eine Sache von ‚Gewinn‘ und ‚Verlust‘ dargestellt hat, ist dieser Einwand,
dass hier Gewinn und Verlust zusammenfallen müsste, weniger seltsam, als
er zunächst auf uns wirkt.
(2.2) 1138a20–23 „Ferner: Unrechttun ist freiwillig, vorsätzlich und geht
dem Unrechtleiden voraus (proteron)“: Das ‚voraus‘ (proteron eigentl. ‚frü-
her‘) hat nicht nur einen zeitlichen, sondern auch einen logischen Sinn (zu
den verschiedenen Bedeutungen von ‚früher‘ vgl. Met. Δ 11): Damit jemand
Unrecht leidet, muss jemand Unrecht begangen haben. Das gilt auch dann,
wenn beides zeitlich zusammenfällt. Bei ein und derselben Person kann es
654 Kommentar
ein solches Prioritätsverhältnis des Tuns gegenüber dem Leiden aber nicht
geben, sondern beide sind in jeder Hinsicht gleichzeitig.
(2.3) 1138a24–28 „Außerdem: Niemand kann Unrecht tun, ohne eine be-
stimmte Unrechtstat zu begehen“: Die Beispiele von Vergehen oder Verbre-
chen wie Ehebruch, Einbruch und Diebstahl zeigen, warum man sich auch
in solchen Fällen kein Unrecht zufügen kann: Ein entsprechendes Verhalten
sich selbst gegenüber ist per se weder Ehebruch noch Einbruch noch Dieb-
stahl. Dass Aristoteles diesen einschlägigen Einwand erst an dieser Stelle an-
führt, erklärt sich vermutlich daraus, dass er zunächst eine Analyse des Pro-
blems auf abstrakterer Ebene durchführen wollte. Ohnehin, so gibt seine
abschließend Bemerkung zu verstehen, hat die Frage, ob man sich selbst
Unrecht tun kann, eigentlich bereits mit dem Nachweis ihre Antwort gefun-
den, dass man nicht freiwillig durch sich selbst Unrecht leiden kann, denn
das bedeutet auch, dass man sich freiwillig kein Unrecht tun kann (vgl. 11,
1136a31–34).
(3) 1138a28–b5 „Es ist nun offensichtlich, dass beides schlecht (phaula) ist,
sowohl das Unrechtleiden wie auch das Unrechttun“: Da dieser Abschnitt
eine Unterbrechung der Diskussion darstellt, ob man sich selbst Unrecht
tun kann, haben Kommentatoren vorgeschlagen, ihn ans Ende des Kapitels
zu stellen (vgl. Susemihl 1887). Es scheint sich aber eher um einen Einschub
zu handeln als um eine allgemeine Zusammenfassung, die als Abschluss des
ganzen Buchs gedacht ist. Denn er erinnert zwar an die berühmte Erörte-
rung in Platons Gorgias (470a–481b), an der Sokrates Polos das Zugeständ-
nis abringt, dass Unrechtleiden zwar schmerzvoll, Unrechttun aber als Scha-
den an der Seele das größere Übel ist. Das Argument, dass Unrechttun mit
Schlechtigkeit (kakia) verbunden ist, während Unrechtleiden zwar einen
Schaden, aber keine Schlechtigkeit darstellt, gehört jedoch zu den Voraus-
setzungen, von denen Aristoteles ausgegangen ist, deren erneute Aufnahme
sich hier erübrigt.
(3.1) 1138a35–b5 „Als solches ist das Unrechtleiden weniger schlecht; nichts
hindert aber, dass es zufällig einmal ein größeres Übel ist“: Diese, der Sa-
che nach irrelevante Nachbemerkung gilt nur der Schädlichkeit, die zufäl-
lig auf Seiten desjenigen größer sein kann, der Unrecht leidet, als auf der
Seite dessen, der Unrecht tut. Das dazu angeführte Beispiel veranschau-
licht lediglich, welche Art von unglücklichen Zufällen schädlicher sein
kann.
(3.1.1) 1138b2–5 „Darum kümmert sich die Wissenschaft (technê) zwar
nicht“: Diese Erläuterung ist vermutlich aus einer Glosse in den Text ein-
gedrungen. Der Verweis auf die Medizin von 1138a31 dürfte einen Kom-
mentator zu der sachlich irrelevanten Bemerkung veranlasst haben, dass
Ärzte zwar eine Rippenfellentzündung für schlimmer halten als eine Ver-
Buch V, Kapitel 15 655
stauchung, dass Letztere aber zufällig zum Tod des Betroffenen führen kann
und daher das größere Übel darstellt (ähnlich G/J II 1, 430).
(4) 1138b5–14 „Ein Gerechtes sich selbst gegenüber gibt es auch nicht in
einem übertragenen Sinn (kata metaphoran) und aufgrund einer Ähnlich-
keit (homoiotêta), wohl aber gegenüber manchem, was zu einem gehört“:
In dieser abschließenden Bemerkung, dass es sich selbst gegenüber keine
Gerechtigkeit geben kann, weil das Verhältnis zwischen dem vernünftigen
und dem vernunftlosen Seelenteil dem zwischen Herrn und Sklaven bzw.
den Mitgliedern des Haushalts gleichkommt, sehen manche Kommentato-
ren eine bewusste Distanzierung von Platons Konzeption der Gerechtigkeit
(Resp. IV 441e–442a; 443c–e). Es dürfte sich hier aber nur um ein Echo auf
Aristoteles’ Ausführungen zum übertragenen Sinn der Rede von Gerechtig-
keit innerhalb des Haushalts handeln, die in der Herrschaft über Sklaven (to
despotikon) und über das Hauswesen (to oikonomikon) überhaupt besteht
(V 10, 1134b8–16). Eine Abrundung der Erörterung der Gerechtigkeit als
Ganzer beabsichtigt Aristoteles damit sicher nicht. Ob diese Schlussformu-
lierung überhaupt von ihm stammt, ist zudem unsicher, wie das auch für
manche der anderen Buch-Übergänge gilt.
Kommentar
Buch VI
Allgemeine Vorbemerkungen
Dieses Buch erfüllt das Versprechen, die Klugheit zu bestimmen, das ratio-
nale Gegenstück zur Charaktertugend (II 6, 1107a1 f.). Es tut aber nicht nur
das, sondern liefert einen allgemeinen Überblick über sämtliche rationalen
Fähigkeiten, ihre Gegenstände und Funktionen. Da es sonst in den erhal-
tenen Werken des Aristoteles keinen derartigen Überblick gibt, behandelt
man Buch VI auch ganz allgemein als Schlüssel zur aristotelischen Episte-
mologie und Methodenlehre. Dieser Nebeneffekt ist sicher nicht unbeab-
sichtigt, denn Aristoteles hat die Tendenz, wichtige Unterscheidungen nur
einmal zu treffen. Der eigentlich beabsichtigte Effekt liegt aber darin, dass
sich auf der Seite des praktischen Denkens analoge Verhältnisse zum theore-
tischen Denken herausstellen lassen.
Einer letzten Überarbeitung hat Aristoteles dieses Buch nicht unterzo-
gen, denn vieles eigentlich Zusammengehörige wird im Text getrennt be-
handelt, so dass sich synoptisches Lesen empfiehlt (zum Aufbau des Buchs
und Problemen vgl. Natali 2014). Auch sind Abfolge von Argumenten und
Ausdrucksweise nicht immer sehr klar, so dass man in der Übersetzung um
Ausgleich bemüht sein muss. Das Buch hat zudem scheinbar zwei Anfänge
und zwei Abschlüsse. Das erste Kapitel nimmt die Ankündigung von II 2,
1103b31–34 auf, die richtige Begründung, den orthos logos, genauer bestim-
men und die Frage der ‚Begrenzung‘ (horos) der Mitten klären zu wollen.
Das zweite Kapitel ignoriert diesen Ansatz, kündigt indessen an, nach den
Charaktertugenden seien jetzt die übrigen Tugenden zu untersuchen. Damit
ist in der Tat das Programm des Buches angezeigt, denn es folgt zunächst
eine allgemeine Bestimmung der einzelnen rationalen Tugenden von Wissen-
schaft (sophia, epistêmê), Kunstfertigkeit (technê) und Klugheit (phronêsis)
(Kap. 3–7). An sie schließt eine vergleichende Betrachtung von Weisheit und
Klugheit in Hinblick auf ihre ersten Prinzipien und ihre Vorgehensweise an
(Kap. 8 + 9). Des Weiteren werden mit der Klugheit verwandte Fähigkeiten
wie Einsicht, Verständigkeit und Verständnis untersucht (Kap. 10–12). In
einer Art Anhang wird eine Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Un-
Buch VI, Allgemeine Vorbemerkungen 657
gend und Klugheit erklärt auch das Ungenügen einer rein rationalen Kon-
zeption der Tugend, wie Sokrates sie vertreten hat.
Die Annahme einer strikten Arbeitsteilung zwischen Klugheit und Cha-
rakter hat einen grundsätzlichen Nachteil: Sie beschränkt die Funktion der
phronêsis, auf die Ermittlung der Art und Weise, in der jeweils ein bestimm-
tes Handlungsziel zu erreichen ist. Diese Verengung widerspricht aber dem
weiteren Sinn, den Aristoteles an denjenigen Stellen mit der phronêsis ver-
knüpft, an denen er sie für die Lebensführung überhaupt verantwortlich
macht. Ihre höchste Form zeichnet den Staatsmann aus, weniger anspruchs-
volle Formen den politisch Tätigen und den Haushaltsvorstand. Zwar er-
fordern auch diese Tätigkeiten ein Mit-sich-zurate-Gehen. Die Ziele des
Staatsmanns, Politikers oder auch des einfachen ‚Ökonomen‘ werden aber
nicht einfach durch ihren Charakter festgelegt, wie Aristoteles das für Ein-
zelhandlungen voraussetzt, sondern sie erfordern eine umfassendere Vor-
stellung vom guten Leben. Dass es mehr als eine Art von Klugheit gibt, ist
dem Text jedoch nur indirekt zu entnehmen. Dieses Problem ist nicht neu,
sondern durch die Arbeitsteilung zwischen Beratung (bouleusis), Entschei-
dung (prohairesis) und Zielsetzung durch den Wunsch (boulêsis) in Buch III
3–8 vorbereitet, wo nur angedeutet wird, wie der Wunsch das Ziel festlegt.
Auf diese Unterscheidungen bezieht sich Aristoteles aber nicht explizit zu-
rück. Vom Wunsch ist in Buch VI nicht die Rede; vielmehr macht Aristotles
nur den Charakter selbst für die Festlegung des Ziels verantwortlich.
‚Mittleren‘ ist als solche leer; denn zu seiner Ermittlung bedarf es einer nä-
heren Bestimmung der richtigen Begründung.
(1) 1138b18–25 „Da wir früher gesagt haben, dass man das Mittlere (me-
son) wählen soll“: Hier wird die Forderung nach dem orthos logos aufgegrif-
fen, nach der richtigen Begründung, von dem bei der Einführung der Cha-
raktertugend die Rede war (II 2, 1103b31–34; vgl. auch III 8, 1114b29; 14,
1119a20). Wie dazu angemerkt, ist die Übersetzung von logos schon wegen
der Vieldeutigkeit dieses Ausdrucks im Griechischen ein Problem. So fin-
det man in den Übersetzungen neben ‚Begründung‘ und ‚Überlegung‘ auch
‚Prinzip‘, ‚Rechtfertigung‘, ‚Plan‘, ‚Regel‘ o.ä. Es empfiehlt sich ein Wechsel
zwischen ‚Überlegung‘ und ‚Begründung‘, je nachdem, ob es um das Den-
ken selbst oder um dessen Fundierung geht. Auf die Bedeutung dieses logos
verweist zwar auch die Definition der Charaktertugend und nimmt dafür
die Autorität des phronimos in Anspruch (II 6, 1106b36–1107a1). Ange-
sichts der Tatsache, dass das Mittlere ‚relativ zu uns‘ (pros hêmas) zu bestim-
men ist und den Parametern des Sollens zu entsprechen hat, ist die Forde-
rung nach einer Begrenzung (horos) aber seltsam, suggeriert sie doch, dass
eine feste Größe gemeint ist. Im Folgenden ist denn auch von einem horos
nicht mehr die Rede und der Ausdruck orthos logos wird erst im Schluss-
kapitel wieder aufgenommen (VI 13, 1144b21–28). Zwar ist zwischendrin
verschiedentlich von logos und gelegentlich auch von alêthês logos die Rede
(4, 1140a10; 20 f.; 5, 1140b5; 20 f.). Die Kombination mit ‚richtig‘ hat sich
Aristoteles aber anscheinend bis zum Schluss aufgespart, nachdem er klar-
gestellt hat, dass Meinungen wahr, praktische Überlegungen dagegen richtig
sind (Kap. 10). In der EE ist übrigens sehr viel häufiger vom orthos logos die
Rede, und Aristoteles macht dort von vornherein klar, dass er mit der Cha-
raktertugend verbunden und für die Bestimmung des jeweils Besten zustän-
dig ist (II 5, 1222a6–12 et pass.). Auch der Ausdruck horos (1222a16 f.) wird
in der EE häufiger verwendet, während er in der EN selten ist, vermutlich
weil Aristoteles Assoziationen mit festen Größen für das Mittlere vermei-
den will. Das Ende der EE geht kurz auf Begrenzungen ein, unter Berufung
auf eine frühere Erörterung (VIII 3, 1249a21–b6; b13–25). Der dortige Ver-
weis auf die phronêsis (1249b14–16) dürfte sich auf die Erörterung der Klug-
heit im verlorenen Buch V der EE beziehen.
(1.1) 1138b21 f. „Bei allen genannten Dispositionen, so wie auch sonst (epi
tôn allôn), gibt es einen bestimmten Zielpunkt“: Es fragt sich, ob Aristoteles
hier die Möglichkeit anvisiert, dass es außer den bereits erörterten Charak-
tertugenden noch weitere gibt. Da er aber für die Charaktertugenden Voll-
ständigkeit annimmt (III 9, 1115a5) und diese auch später nochmals bestätigt
(VI 13, 1145a1 f.), ist das wenig wahrscheinlich. Vielmehr nimmt er, in leicht
abgewandelter Form, sein früheres Versprechen wieder auf, den orthos logos
660 Kommentar
(2) 1138b25–34 „Diese Redeweise ist nun zwar wahr, aber keineswegs klar“:
Aristoteles ist sich der inhaltlichen Leere der Formel bewusst, man solle auf
das Mittlere abzielen und der richtigen Begründung entsprechend vorgehen.
Eine Handlungsanweisung lässt sich aus einer solchen Formel nicht ablei-
ten, wie das Beispiel der Medizin deutlich macht: Der Ratschlag, man solle
sich nach den Anweisungen der Medizin bzw. ihres Besitzers richten, ist
auch deswegen leer, weil die Medizin gar keine genauen Regeln für den Ein-
zelfall bereitstellt (II 2, 1104a5–10). Die inkriminierte Redeweise findet sich
in verkürzter Form auch in EE VIII 3, 1249b3–6.
Die Tatsache, dass Kapitel 2 einen ganz neuen, von Kapitel 1 unabhän-
gigen Anfang macht, lässt Raum für mehrere Erklärungen. Im 19. Jh. haben
manche Interpreten, welche die EE für das Werk des Eudemos hielten, vor-
geschlagen, dass Aristoteles das kurze Einleitungskapitel erst nachträglich
vorangestellt hat, um deutlich zu machen, dass Buch VI die zuvor angekün-
digte Ergänzung liefern soll (Rassow 1874, 19 f.; Grant 1866 ad loc.; Stewart
1892 ad loc.). Wahrscheinlicher ist aber, wie gesagt, dass wir den Anfang des
entsprechenden Buches der EE vor uns haben, den Aristoteles zunächst an
diesem Platz gelassen hat, vermutlich weil ihm an einem Bezug zur ‚Mit-
tentheorie‘ als Ausgangspunkt für die Erörterung der Klugheit gelegen war.
Zu einer Integration der beiden Anfänge ist er dann nicht mehr gekommen.
Buch VI, Kapitel 2 661
(1) 1138b35–1139a17 „Bei der Einteilung der Tugenden der Seele haben wir
gesagt, dass die einen dem Charakter (êthos), die anderen der Vernunft (dia-
noia) zugehören“: Damit nimmt Aristoteles das Resümee von I 13, 1103a3–
10 wieder auf. Dort hat er angedeutet, dass es nicht nur eine Mehrzahl von
Charaktertugenden, sondern auch eine Mehrzahl von intellektuellen Tu-
genden gibt, wie Weisheit, Verständigkeit und Klugheit. Das erklärt, wa-
rum Aristoteles sich in Buch VI nicht ausschließlich auf die Dichotomie von
662 Kommentar
(2) 1139a17–31 „Drei Vermögen gibt es nun in der Seele, die maßgeblich
(kyria) für Handlung und Wahrheit sind: Wahrnehmung (aisthêsis), Denken
(nous), Streben (orexis)“: Die Auswahl dieser drei Vermögen ist deswegen
zunächst verwirrend, weil sie drei ganz unterschiedliche Arten zusammen-
bringt. Es handelt sich anscheinend um eine programmatische Auswahl, de-
Buch VI, Kapitel 2 663
(3) 1139a31–b5 „Der Ursprung der Handlung ist nun die Entscheidung
(prohairesis)“: Hier werden die ursächlichen Verhältnisse genauer expliziert,
die man aus Buch III 3–5 kennt, wenn auch in etwas anderer Akzentuierung.
Wie dort dargelegt (5, 1112b23 f.), ist die Entscheidung der letzte Schritt in
der Beratungskette und der erste Schritt bei der Ausführung einer Hand-
lung. Die Entscheidung ist daher die causa movens des Handelns (zur Be-
wegungsursache vgl. Phys. II 3, 195a8; De an. II 4, 415b10; Met. A 5, 987a8
et pass.), während das Streben die causa movens der Entscheidung ist. Der
Zweck, die Finalursache, steht schon vor Beratung und Entscheidung fest.
Auf die Festlegung des Zwecks, auf die Aristoteles hier nicht näher eingeht,
folgt zweierlei: zum einen das Streben (orexis), zum anderen das Beraten.
Das ist zwar der Sache nach nichts Neues, sondern wiederholt, in anderen
Worten, das Ergebnis von III 5, 1113a9–14, dass die Entscheidung ein bera-
tendes Streben oder eine strebende Beratung ist. Neu ist allerdings, dass der
Charakter explizit mit als Ursache angeführt wird: Er bestimmt das Streben,
das zu Vernunft und Denken hinzukommen muss.
(3.1) 1139a33–b5 „Eine Entscheidung kann es daher weder ohne Vernunft
und Denken noch auch ohne eine Charakterdisposition (êthikê hexis) ge-
ben“: Aristoteles modifiziert hier durch den Verweis auf die Notwendig-
keit der Charakterdisposition in gewisser Weise den rationalen Charakter
664 Kommentar
der Entscheidung. Das Streben ist nämlich nicht per se Sache der Vernunft,
sondern entstammt dem affektiven Seelenteil. Das wird zwar auch hier nicht
expressis verbis gesagt, ist jedoch der Sinn des Verweises auf die Bedeutung
des Charakters und auf die Tatsache, dass das Streben den Zweck bestimmt.
Die Entscheidung hat daher eine Art Zwitterstellung: Sie ist eine strebende
Vernunft (orektikos nous) oder ein vernünftiges Streben (orexis dianoêtikê)
(vgl. III 5, 1113a9–12). Aus diesem Grund ist die praktische Vernunft vom
nicht-rationalen Seelenteil nicht zu trennen. Die Interdependenz von Den-
ken und Streben bedeutet für die phronêsis also eine Art Spagat zwischen ih-
rer affektiven Bestimmtheit und ihrem rationalen Charakter. Denn eine Ent-
scheidung ist nur dann gut, wenn das praktische Denken die angemessenen
Mittel wählt und durch das Streben nach dem richtigen Ziel bestimmt ist.
Die ‚Güte‘ des theoretischen Denkens hängt dagegen allein von der Wahr-
heit des Gedachten ab.
(3.2) 1139a35 f. „Das Denken selbst bewegt jedoch nichts (ouden kinei),
sondern nur das einem Zweck geltende und praktische Denken“: Die kurze
Feststellung, dass das Denken allein nichts bewegt, wird an anderer Stelle
ausführlicher begründet: Der bloße Gedanke als solcher, dass eine bestimmte
Sache lust- oder schmerzvoll ist, führt nicht zum Handeln, solange das ent-
sprechende Streben fehlt (De an. III 9, 432b26–III 10, 433a16). Dass mit dem
richtigen Streben nach einem Ziel der Wunsch (boulêsis) gemeint ist, der
zugleich das Ziel bestimmt, übergeht Aristoteles hier, wie überhaupt vom
Wunsch in Buch VII nicht die Rede ist. Vielleicht tut er das, weil ihm hier an
einer Differenzierung zwischen verschiedenen Arten von orexis nicht gele-
gen ist; denn sämtliche Bestrebungen des Charakters haben ihren Ursprung
im nicht-rationalen Seelenteil. Rein rationale Wünsche, wie etwa die nach
Wissen, gehören nicht dazu. Wie es zur Synthese zwischen dem desiderati-
ven und dem rationalen Element kommt, und ob das Streben bei rationalen
Wünschen grundsätzlich in den Bereich der Vernunft gehört, wie manche
Kommentatoren meinen (G/J II 2, 445–448; Irwin et al.), lässt sich aufgrund
des vorliegenden Textes nicht entscheiden. In jedem Fall aber wird die enge
Verflochtenheit von Streben und Denken betont, wenn Aristoteles die Ent-
scheidung als ‚strebendes Denken‘ oder ‚denkendes Streben‘ bezeichnet und
erklärt, der Mensch sei ein solches Prinzip (1139b5: archê).
(3.3) 1139b1–5 „Der Zweck bestimmt freilich auch das herstellende Ver-
mögen (poiêtikê)“: Die Gemeinsamkeit zwischen praktischem und herstel-
lendem Denken, die sie vom theoretischen Denken trennt, liegt darin, dass
beide durch ihr Ziel zum Tätigsein motiviert werden. Beim Herstellen liegt
das Ziel allerdings nicht im Tätigsein selbst, sondern im Produkt.
(3.3.1) 1139b2 f. „sondern nur in Bezug auf etwas (pros ti) und von etwas
(tinos)“: Die Kennzeichnung dieses Bezugs beim Herstellen ist sehr allge-
mein gehalten. So könnte Aristoteles zwischen der Funktion eines Geräts
Buch VI, Kapitel 3 665
und dem Zweck unterscheiden, dem es dient, er könnte mit tinos aber auch
den Besitzer meinen (‚von jemandem‘). Genaueres enthält auch die Unter-
scheidung zwischen Handeln und Herstellen in Kap. 4 nicht.
(3.3.2) 1139b3 f. „denn Ziel ist das gute Handeln (eupraxia) selbst“: Wie für
viele der Nomina mit dem Präfix eu- gibt es auch für eupraxia keine ange-
messene Übersetzung, da man mit dem ‚Gelingen‘ im Deutschen meist das
Resultat, nicht aber die intrinsische ‚Gelungenheit‘ einer Handlung assozi-
iert. Eupraxia kann sowohl die Gelungenheit einer bestimmten Handlung,
das Wohlgelingen im Allgemeinen wie auch die betreffende Fähigkeit be-
zeichnen.
auch nicht die theoretischen Disziplinen als ganze, sondern setzt zusätzlich
die Prinzipiengewinnung durch Induktion voraus.
(1) 1139b14–18: Der erste Teil stellt die fünf ‚wahrheitsverbürgenden‘ Ver-
mögen vor. (2) 1139b18–24: Wissenschaft gilt ewigen, unveränderlichen und
notwendigen Gegenständen. (3) 1139b25–36: Wissenschaft liefert Dedukti-
onen aus Prinzipien.
(1) 1139b14–18 „Diese Dispositionen wollen wir aber nochmals von einem
allgemeineren Standpunkt aus (anôthen) bestimmen“: Dass Aristoteles hier
einen weiteren Anfang ‚von weiter oben‘ macht, bedeutet, dass er auf noch
höhere Prinzipien zurückgreift. In der Tat ändert sich damit die Perspektive,
denn statt der einfachen Rückführung der Entscheidung auf wahres Denken
im Einklang mit richtigem Streben wird hier auf sämtliche Vermögen rekur-
riert, die auf Wahrheit beruhen. Wenn Aristoteles fünf ‚wahrheitsgarantie-
rende‘ Dispositionen per fiat („es sei angenommen“ – estô) einführt, so weil
er weder den Nachweis führen will, dass sie nicht falsch sein können, noch
auch, dass es nur diese fünf Fähigkeiten gibt. Später werden noch weitere,
mit der Klugheit verwandte Fähigkeiten erörtert, wie Verständigkeit, Ein-
sicht etc. Den hier aufgezählten Vermögen ist gemeinsam, dass sie sämtlich
‚durch Bejahung und Verneinung die Wahrheit treffen‘. Unfehlbarkeit wird
dem Menschen damit natürlich nicht zugeschrieben, sondern nur darauf
verwiesen, dass schon der Name dieser Vermögen die Wahrheit des Erfass-
ten impliziert. Wie schon im Zusammenhang mit der ‚praktischen Wahrheit‘
im letzten Kapitel (1139a17–27) hervorgehoben, beruhen solche Vermögen
auf einem logos, der wahr sein muss.
Die Übersetzung von epistêmê mit ‚Wissenschaft‘ ist unglücklich, weil
man heute damit die Naturwissenschaft in toto assoziiert und nicht die
‚strenge‘ Wissenschaft der Deduktion wie in der Mathematik. Eben sie ist
hier aber gemeint, denn Aristoteles beschränkt die epistêmê auf das Dedu-
zieren. Das Erfassen der Prinzipien, also auch der Axiome in der Mathema-
tik, schreibt er dagegen dem nous zu, der intuitiven Vernunft. Beides zu-
sammen, macht die theoretische Vernunfterkenntnis aus, die er als sophia
bezeichnet und in Kap. 6 und 7 näher erläutert. Die Übersetzung von sophia
mit ‚Weisheit‘ hat zwar die Tradition für sich; es ist aber zu beachten, dass
allgemeine Lebensweisheit nicht gemeint ist. In den Analytiken verwendet
Aristoteles den Begriff der sophia zwar nicht, geht aber ausführlich auf den
Unterschied ein zwischen dem nous als dem Vermögen der Erkenntnis der
Prinzipien und der epistêmê als dem Vermögen der Deduktion (bes. Anal.
post. II 19).
(1.1) 1139b17 f. „Bei Urteil (hypolêpsis) und Meinung (doxa) kann man sich
nämlich täuschen“: Urteile (eig.: ‚Annahme‘) und Meinungen sind per defi-
Buch VI, Kapitel 3 667
nitionem entweder wahr oder falsch. Diese Abgrenzung soll nicht besagen,
dass die übrigen Vermögen Unfehlbarkeit garantieren. Denn der Besitzer
einer Kunstfertigkeit, einer Wissenschaft etc. kann sich täuschen; das gilt
jedoch nicht für die Fähigkeiten als solche. Falsches Wissen ist kein Wis-
sen, und ein Kunstfehler ist ein Zeichen mangelnder Kunst, nicht der Man-
gelhaftigkeit der Kunst selbst. Aristoteles behandelt die Bezeichnungen der
Disziplinen also in dem Sinn, in dem wir heute von ‚Perfektionsbegriffen‘
sprechen. Der Ausdruck hypolêpsis wird bei Aristoteles häufig in einem rein
neutralen Sinn verwendet, den auch ‚Urteil‘ im Deutschen hat, solange man
darunter bloße Feststellungen versteht. So gebraucht Aristoteles hypolêpsis
in De an. III 3, 427b16–18; 24–26 als generische Bezeichnung für alles, was
nicht Wahrnehmung oder phantasia ist.
(2) 1139b18–24 „Was Wissenschaft (epistêmê) ist, lässt sich aus Folgendem
deutlich machen, wenn man sie genau bestimmen soll und sich nicht auf
bloße Ähnlichkeiten verlassen darf“: Mit den ‚Ähnlichkeiten‘ dürften die
vielfältigen Verwendungen des Begriffs epistêmê im allgemeinen Sprach-
gebrauch gemeint sein, die jede Disziplin einbezieht, die irgendwie syste-
matisch vorgeht, so dass gewöhnlich auch solche Arten von Fähigkeiten
gemeint sind, deren Gegenstände veränderlich und daher keiner strengen
Beweisführung fähig sind (vgl. das breite Spektrum in EN I 1).
(2.1) 1139b19–21 „Wir alle setzen voraus“: Mit der Annahme, dass es Wissen
nur von Unveränderlichem geben kann, ist sich Aristoteles mit Platon und
vermutlich auch mit den Mitgliedern der Akademie einig (so auch B/R, 365):
Bei Veränderlichem gibt es keine Sicherheit, dass die Urteile auch dann noch
wahr sind, wenn man den Gegenstand nicht mehr wahrnimmt.
(2.2) 1139b23–25 „Es ist daher ewig“: Der Begriff der Wissenschaft, der auf
Notwendiges im Sinn von Ewigem beschränkt ist und kein Werden und Ver-
gehen zulässt, würde einen großen Teil der Naturwissenschaft ausschließen,
wie die sublunare Physik, die Biologie und die Psychologie, also Gebiete,
zu deren Entwicklung Aristoteles selbst Wesentliches beigetragen hat. Er
orientiert sich hier vielmehr eng an der Prinzipienlehre der Analytica Pos-
teriora, die die Mathematik als die paradigmatische Wissenschaft behandelt
(vgl. bes. I 4). Aristoteles wendet seine Wissenschaftslehre dort aber auch auf
Dinge an, die Veränderungen unterliegen, auf biologische oder medizinische
Sachverhalte. Zudem mildert er die strengen Bedingungen durch des Zuge-
ständnis ab, dass die Wissenschaft auch Dinge behandelt, die ihrer Natur
nach weder ewig sind, noch immer auf die gleiche Weise geschehen, sondern
nur ‚meistens‘ der Fall sind (Anal. post. I 14, 79a21 f.; 30, 87b20–25), so dass
Wissenschaft auch die Naturphilosophie mit umfasst. Auf diese mildernden
Umstände verzichtet er hier jedoch bei der Kennzeichnung des theoreti-
schen Wissens.
668 Kommentar
(3) 1139b25–36 „Ferner gilt jede Wissenschaft als lehrbar und ihr Gegen-
stand als erlernbar“: Zur Erklärung von Lehrbarkeit und Lernbarkeit ver-
weist Aristoteles auf die Grundvoraussetzung, die der Ausgangspunkt sei-
ner Wissenschaftslehre in den Analytica Posteriora ist. Er zitiert sich zwar
nicht wörtlich, der Sache nach besteht aber völlige Übereinstimmung:
„Jedes den Verstand betreffende Lehren und jedes Lernen geschieht auf der
Basis von vorhandener Erkenntnis (Anal. post. I 1, 71a1 f.: ek prohypar-
chousês gnôseôs).“ Dort wird offensichtlich bewusst kein Verb des ‚Wissens‘,
sondern nur des Vorerkennens verwendet. Hier begnügt sich Aristoteles mit
einer kurzen Kennzeichnung des Unterschieds zwischen Induktion und
Deduktion: Die Induktion führt zu den Prinzipien hin, die Deduktion geht
von den Prinzipien aus und leitet Folgerungen aus ihnen ab. Es ist derselbe
Unterschied, den Aristoteles anfangs als ‚den Weg zu den Prinzipien hin
und von den Prinzipien weg‘ und als den Weg vom ‚uns Bekannten‘ zum
‚schlechthin Bekannten‘ gekennzeichnet hat (EN I 2, 1095a30–b8). Dass es
unterschiedliche Wege zu den Prinzipien gibt, ist I 7, 1098b3 f. zu entneh-
men, wo neben der Wahrnehmung und der Gewöhnung auch die Induktion
als Weg zu den Prinzipien angeführt wird. Eine systematische Unterschei-
dung macht Aristoteles nicht, so wie er auch keine allgemeine Theorie der
Induktion hat, sondern Induktion (‚Hinführung‘) manchmal auf Wahrneh-
mung und Erfahrung (bes. Anal. post. II 19), manchmal aber auch auf Bei-
spiele zurückführt (Anal. post. I 1, 71a5–10).
(3.1) 1139b29–31 „Demnach gibt es Prinzipien, von denen die Deduktion
ausgeht, die nicht selbst wieder durch Deduktionen abgeleitet werden“: Die
Anforderungen, die erste Prämissen erfüllen müssen, sind in Anal. post. I 2
zunächst in einem Katalog zusammengefasst und werden in den folgenden
Kapiteln eingehend erörtert: Die Prämissen von Deduktionen müssen wahr,
primär und unvermittelt, d.h. nicht demonstrierbar sein. Überdies müssen
die Prämissen ‚besser bekannt‘ sein als die Folgerung und dieser insofern
vorgeordnet sein, als sie ihren Grund enthalten (2, 71b19–33). Auf eben-
diese Bestimmungen verweist hier die Bemerkung, man müsse „in bestimm-
ter Weise überzeugt sein und die Prinzipien kennen“. Die Erfassung dieser
Prinzipien ist Sache der intuitiven Erkenntnis, des nous, wie in Kap. 6 noch
eigens betont wird.
(3.2) 1139b34 f. „Falls er diese (sc. die Prinzipien) aber nicht besser kennt
als die Schlussfolgerung (symperasma), dann wird er dieses Wissen nur auf
akzidentelle (kata symbebekos) Weise haben“: Da die Schlussfolgerung das
aus den Prämissen abgeleitete Wissen enthält, ist von wirklichem Wissen
nur dann zu sprechen, wenn man die Grundprinzipien als solche erkannt
hat (vgl. Anal. post I 2, 71b9 f.). Andernfalls versteht man zwar, dass die
Folgerung wahr ist, aber nicht, warum der betreffende Sachverhalt besteht.
Für die Wissenschaft im eigentlichen Sinn gilt also, was Aristoteles in Fra-
Buch VI, Kapitel 4 669
gen der Ethik zunächst als entbehrlich bezeichnet hat (vgl. I 2, 1095b6–8; 7,
1098b1–3), nämlich dass man über das ‚Wissen, warum‘ (to dihoti) verfügt
und nicht nur über das ‚Wissen, dass‘ (to hoti). Es geht hier also nicht um die
psychologische Art der Überzeugung, wie Dirlmeier 1956, 447 meint, son-
dern um das richtige epistemische Verhältnis von Grund und Folge. Auch
eine Abwertung des bloß syllogistischen Wissens ist nicht beabsichtigt (so
G/J II 2, 455 mit Burnet ad loc.); vielmehr geht es allein um die wissenschaft-
liche Grundlage syllogistischen Schließens.
(1) 1140a1–10 „Zu dem, was sich anders verhalten kann, gehören auch die
Gegenstände des Herstellens (poiein) und des Handelns (prattein)“: Im
Gegensatz zur Wissenschaft ist der Bereich von Handeln und Herstellen
das Veränderliche. Auf diese Tatsache hat Aristoteles zwar bereits im Zu-
sammenhang mit Beratung und Entscheidung als den Voraussetzungen des
Handelns hingewiesen (III 5, 1112a20–34). Wenn er es hier eigens unter-
streicht, so offensichtlich, weil darin eine Gemeinsamkeit von Herstellung
und Handlung liegt, welche die beiden ‚tätigen‘ Fähigkeiten von den theo-
retischen unterscheidet. Poiêsis (der Terminus wird hier erstmals gebraucht)
und praxis sind jedoch verschiedenartige Tätigkeiten, und daher sind auch
670 Kommentar
(2) 1140a10–16 „Jede Kunst betrifft ein Entstehen (peri genesin)“: Hier geht
es um die Unterscheidung von Hergestelltem und von Natur aus Entstan-
denem. Entscheidend ist das Kriterium, dass beim Herstellen das Prinzip
(archê) im Hersteller und nicht im Hergestellten liegt. Aristoteles scheint
auch hier auf das Vorverständnis seiner Leser bzw. Hörer zu rechnen, denn
er sagt nicht einmal, ob es sich bei dem Prinzip um die causa efficiens oder
die causa formalis bzw. um die causa finalis handelt. Auf diese Thematik geht
er aber sowohl in der Metaphysik wie auch in den naturwissenschaftlichen
Werken wiederholt ein. Bei den Produkten der Kunst liegen mit Ausnahme
der Materialursache sämtliche Prinzipien im Handwerker oder Künstler: Er
ist sowohl die Formal- wie auch die Finalursache, weil er das ‚Wie‘ und das
‚Was‘ des Entstehens und seinen Zweck bestimmt; zudem ist er auch die Be-
wegungsursache, da er entweder selbst Hand anlegt oder andere dazu ver-
anlasst. In der Natur liegen alle Ursachen – zumindest potentiell – im ent-
Buch VI, Kapitel 5 671
(1) 1140a24–31: Klugheit ist die Fähigkeit des richtigen Beratens. (2) 1140a31–
b11: Klugheit wird als wahre praktische Disposition mit Überlegung hin-
sichtlich des für Menschen Guten und Schlechten definiert. (3) 1140b11–
21: Die Besonnenheit ist eine Art Bewahrung der Prinzipien der Klugheit.
(4) 1140b21–30: Klugheit und Kunst unterscheiden sich nicht nur in der Art
ihrer Tätigkeit.
(1) 1140a24–31 „Was die Klugheit (phronêsis) ist, können wir dadurch er-
fassen, dass wir uns anschauen, welche Menschen wir klug (phronimoi) nen-
nen“: Dass Aristoteles hier nicht einfach die bereits im letzten Kapitel be-
gonnene Bestimmung der Klugheit als Disposition mit wahrer Überlegung
zum Handeln fortsetzt, sondern mit der Frage, welche Art Menschen wir
klug nennen, an das allgemeine Verständnis appelliert, dürfte auch ein rhe-
torisches Mittel sein, Hörer und Leser zu besonderer Aufmerksamkeit auf-
zufordern, weil er phronêsis in einem engeren als dem allgemein üblichen
Sinn verwendet. So macht Platon keinen Unterschied zwischen Wissen und
Klugheit, sondern verwendet sophia, epistêmê und phronêsis wie Synonyme,
wie Aristoteles das auch selbst zunächst in der EE tut.
(1.1) 1140a27–30 „und zwar nicht in einer besonderen Hinsicht (kata me-
ros), wie etwa über das, was Gesundheit und Stärke“: Gesundheit und Stärke
sind die besonderen Ziele einer bestimmten Kunst, nämlich der Medizin
und Gymnastik.
(1.2) 1140a28–30 „Ein Anzeichen dafür ist, dass wir Menschen auch in Be-
zug auf etwas Bestimmtes als klug bezeichnen“: Der Bezug der Klugheit auf
das ganze Leben soll nicht ausschließen, dass man Menschen auch in beson-
deren Hinsichten klug nennt, wie etwa das prudentielle Beraten betreffend,
wie die eigene Gesundheit und Kraft sicherzustellen sind.
(2) 1140a31–b11 „Nun geht niemand mit sich über Dinge zurate, die nicht
anders sein können, und auch nicht über solche, die er nicht ausführen kann“:
Die grundsätzliche Begrenzung dessen, worüber man mit sich zurate geht,
ist bereits verschiedentlich angesprochen worden (III 5; VI 2, 1139a13 f.; 4,
1140a1 f.). Der erneute Verweis auf diese Unterscheidung dient also nur der
Verdeutlichung, so wie auch die Wiederholung des Unterschieds zwischen
Herstellen und Handeln.
Buch VI, Kapitel 5 673
(2.1) 1140b4–7 „Es ergibt sich also, dass die Klugheit“: Wie zur Überset-
zung angemerkt, scheint hier die Reihenfolge der Sätze vertauscht wor-
den zu sein, denn die allgemeine Erklärung über die Natur der Klugheit ist
die Folgerung daraus, dass die Herstellung ein von ihr verschiedenes telos
hat, während das für die Handlung nicht gilt (b6 f.). Letztere Feststellung
schließt nahtlos an Zeile b4 an. Dass dies zumeist übersehen wird, dürfte
dem wiederholenden Charakter des hier Gesagten zu verdanken sein. Dass
die praxis kein von ihr verschiedenes Ziel hat, heißt jedoch nicht, dass Hand-
lungen grundsätzlich keinem weiteren Ziel dienen; vielmehr soll damit her-
vorgehoben werden, dass nur die poiêsis dies grundsätzlich tut, weil sie ein
Produkt hat (dazu Ebert 1976).
(2.2) 1140b7–11 „Aus diesem Grund halten wir Perikles und seinesgleichen
für klug“: Dieser Zusatz schließt natürlicherweise an die allgemeine Folge-
rung an, die Klugheit sei eine wahre, mit Überlegung verbundene Disposi-
tion zum Handeln in Bezug auf das für den Menschen Gute und Schlechte.
Damit wird zugleich angezeigt, dass die Klugheit nicht nur dem eigenen Gu-
ten gilt, wie es zunächst scheint (1140a26), sondern auch auf das für die All-
gemeinheit Gute abzielt. Aristoteles unterstellt solchen Staatsmännern aller-
dings nicht den Einsatz für das Wohl der Menschheit über die eigene Polis
hinaus, wie es hier den Anschein haben könnte. Das Urteil über Perikles
fällt bei ihm unterschiedlich aus. Während die Athênaiôn Politeia betont,
dass der Niedergang Athens erst nach dem Tod des Perikles einsetzte (28, 1),
macht Aristoteles Perikles in der Politik für die Hinwendung zur radikalen
Demokratie verantwortlich und damit für die Abwendung von der von So-
lon konzipierten Form der Demokratie (Pol. II 12, 1273b28–1274a22).
(2.2.1) 1140b10 f. „auch diejenigen, die sich in der Verwaltung des Hauses
(oikonomikoi) und in der Politik (politikoi) auskennen“: Der Unterschied
zwischen der Klugheit, die nur dem Eigenwohl bzw. dem des eigenen Hau-
ses dient, und derjenigen, die dem Gemeinwohl gilt, wird in 8, 1142b23–9,
1142a11 noch näher erläutert. In diesem Zusammenhang findet sich auch ein
Hinweis auf die ‚architektonische‘ Wissenschaft, also auf die Meisterwissen-
schaft des Lebens (vgl. I 1). In dieser Spezifizierung des Ziels der politischen
phronêsis könnte man insofern eine Schwierigkeit sehen, als Staatsmänner
wie auch Hausverwalter auf Resultate aus sind, die über ihr eigenes Handeln
hinausgehen, so dass die Grenzziehung zwischen poiêsis und praxis proble-
matisch wird. Der grundsätzliche Unterschied dürfte für Aristoteles jedoch
darin liegen, dass der Zweck, dem ein Kunstprodukt dient, nicht feststeht,
während das menschliche Wohl, im Großen wie im Kleinen, konstitutiver
Teil des Handelns ist. Zwar mag ein Architekt mit einem Haus auch wohl-
tätige Zwecke für die Gemeinschaft verfolgen; eine solche Verbindung zwi-
schen einem Hausbau und dem menschlichen Wohl betrachtet Aristoteles
aber als akzidentell, weil zwischen dem eigentlichen Ziel des Baumeisters,
674 Kommentar
dem Haus, und dessen ‚Wohltätigkeit‘ keine innere Verbindung besteht. Der
Architekt könnte ebenso gut auch die Absicht haben, einen Wettbewerb zu
gewinnen oder Geld zu verdienen. Zwar tragen auch Kunst und Handwerk
zum Gemeinwohl mit bei, es ist aber nicht ihr spezifisches Ziel.
(4) 1140b21–30 „Nun gibt es zwar eine Tugend (aretê) der Kunst, aber keine
der Klugheit“: Da die Kunst zuvor zu den ‚wahrheitsverbürgenden‘ Vermö-
gen gezählt worden ist (3, 1139b16), ist es verwunderlich, dass sie nun keine
Tugend sein, sondern vielmehr eine haben soll. Innerhalb der Kunst bzw.
dem Handwerk macht Aristoteles aber einen Unterschied zwischen Meis-
terschaft und Durchschnitt. So hebt er später die aretê von Meistern der
Kunst wie Phidias und Polyklet ihrer besonderen ‚Genauigkeit‘ (akribes-
tatoi) wegen hervor, womit er die Vortrefflichkeit ihrer Kunstwerke meint,
nicht etwa ihre Abbildfunktion (VI 7, 1141a9–12).
(4.1) 1140b22–24 „Auch ist im Bereich der Kunst eher derjenige vorzuzie-
hen, der mit Absicht Fehler macht; für die Klugheit und ebenso auch für
die Charaktertugenden gilt das weniger“: Gemeint ist das Problem von Pla-
tons Hippias minor, ob derjenige, der absichtlich etwas Falsches sagt oder
tut, nicht besser ist, als derjenige, der dies unabsichtlich tut; denn ersterer
Buch VI, Kapitel 6 675
ist fähig, es richtig zu machen, letzterer nicht. Dass dies bei einer Kunst
anders zu beurteilen ist als bei der Tugend, lässt Platon dort allenfalls an-
klingen. Aristoteles erwähnt diese Frage auch in Top. IV 5, 126a35–38 und
Met. Δ 29, 1025a6–13. Wenn er sie hier nur anspricht, aber nicht eigens er-
örtert, so zählt er darauf, dass die Antwort im Prinzip klar ist: Wer in der
Kunst absichtlich einen Fehler macht, kann es besser. Und das ist für die
Kunst das entscheidende Kriterium. Warum ein Künstler derartiges tut, ist
keine für die Kunst relevante Frage. Wer dagegen im Bereich der Klugheit
und der Charaktertugend absichtlich einen Fehler begeht, tut absichtlich et-
was Schlechtes und verstößt damit gegen das Prinzip. Wenn Aristoteles die
Möglichkeit absichtlicher Fehler für die Klugheit dennoch nicht rundheraus
ablehnt (1140b23 f.: „weniger“), so vermutlich, weil auch der Kluge in einer
Zwangslage absichtlich etwas Falsches sagen oder tun würde.
(4.2) 1140b25–28 „Da es aber zwei Teile der Seele gibt, die Vernunft haben,
wäre die Klugheit die Tugend eines dieser beiden“: Hierin liegt die Erklä-
rung für die scheinbare Abwertung der Kunst: Aristoteles will sich nur auf
zwei Teile der rationalen Seele konzentrieren, auf den theoretischen und auf
den praktischen Teil. Dass die Klugheit auf Meinungen (doxa) bezogen ist,
heißt nicht, dass der Kluge Fehler macht, sondern dass er es mit Veränderli-
chem zu tun hat. Ein Wissen kann es davon nicht geben. Da sich die Hand-
lungsumstände stets ändern können, hat der Kluge nur Meinungen zum Ge-
genstand, trifft damit jedoch immer das Richtige (so auch Dirlmeier 1956,
451; anders G/J II 1, 478, die hier eine Spur von ‚pensée primitive‘ sehen).
(4.3) 1140b28 „Allerdings ist die Klugheit nicht bloß eine Disposition mit
Überlegung“: Gemeint sein muss, dass die Klugheit deswegen nicht den Sta-
tus einer bloßen Disposition hat, weil sie nie untätig ist. Daher gibt es bei
ihr kein Vergessen (lêthê), wie sonst im Fall von veränderlichen Dingen (vgl.
Top. VII 3, 153b27–29). Die Tätigkeiten (energeiai) des Klugen sind deswe-
gen am verlässlichsten und sogar noch beständiger als die Tätigkeiten in den
Wissenschaften, weil er sein ganzes Leben lang tätig ist (I 11, 1100b11–18).
(2) 1141a3–8 „Wenn nun die Dispositionen, mit denen wir die Wahrheit er-
fassen und uns niemals täuschen“: Das Ergebnis dieses Ausscheidungsver-
fahrens ist, dass die Prinzipien der Wissenschaft nur durch die intuitive Ver-
nunft (nous) erfasst werden. Wie die Versicherung in 1141a3 f. zeigt, es gebe
Dispositionen, welche die Wahrheit erfassen und keine Täuschung enthal-
ten, gibt es ein untrügliches Wissen sowohl in theoretischer als auch in prak-
tischer Hinsicht. In welcher Weise dies auch bei der phronêsis mitwirkt, wird
sich in den folgenden Kapiteln erweisen.
(2.1) 1141a7 f. „dann bleibt nur noch übrig, dass die intuitive Vernunft
(nous) den Prinzipien gilt“: Wie bereits zu Kap. 3 angemerkt, liegt hier eine
enge Beschränkung der Verwendung von nous auf die Einsicht in die Natur
der elementaren Gegenstände der Wissenschaft vor. Platon hat dafür inso-
fern ein Vorbild geliefert, als er im Liniengleichnis dem nous bzw. der noêsis
die Einsicht in die Ideen zuweist und ihr einen ‚nicht-hypothetischen‘ Sta-
Buch VI, Kapitel 7 677
tus zuschreibt, derart dass sie einer weiteren Begründung weder fähig noch
bedürftig ist (vgl. Resp. VI 509d–511e). Da Aristoteles diese Einsicht als eine
Sache sui generis ansieht, während er sonst nous oft in einem viel weite-
ren Sinn verwendet, soll die Übersetzung mit ‚intuitive Vernunft‘ zum Aus-
druck bringen, dass hier eine besondere Leistung unmittelbaren Erfassens
gemeint ist. Nicht gemeint sind Einfälle und freie Assoziationen, die man im
Deutschen oft als Intuitionen bezeichnet.
Die Rede von der Erfassung der ersten Prinzipien durch intuitive Ver-
nunft klingt zunächst mysteriöser als sie ist. Wie Aristoteles am Anfang
seiner Wissenschaftslehre erklärt, sind dabei zwei Arten von Verstehen vo-
rauszusetzen: (1) was der elementare Gegenstand ist, den man mit einem
bestimmten Ausdruck bezeichnet, wie etwa ‚Punkt‘ oder ‚Dreieck‘, und
(2) dass es diesen Gegenstand gibt bzw. dass der betreffende Sachverhalt be-
steht (Anal. post. I 1, 71a1–17). Vorausgesetzt ist also das Verständnis, was
ein Punkt oder ein Dreieck ist, und dass diese Figur ein Dreieck oder ein
Punkt ist. Die Einsicht in das Wesen dieser Gegenstände vermittelt die In-
duktion (epagôgê) (3, 1139b26–32; vgl. dazu I 7, 1098b3 f.), d.h. der Weg, der
„vom uns Bekannteren zum schlechthin Bekannteren“ hinführt. Dieser Weg
vom Einzelnen zum Allgemeinen hin ist aber nur der Weg, nicht das Ziel.
Das Ziel ist vielmehr die Leistung der Vernunft, die das Wesen des fragli-
chen Gegenstands herauszufiltern vermag. Weitere Informationen über die
intuitive Vernunft gibt Aristoteles im Folgenden nicht. Die Frage, wie sich
aus einer Vielheit von sinnlich gegebenen Erfahrungen allgemeine Begriffe
und Begriffszusammenhänge herausdestillieren lassen, ist Gegenstand des
berühmten Schlusskapitels der Anal. post. II 19, dessen Kenntnis Aristoteles
hier vielleicht voraussetzt; denn auch dort schreibt er den letzten Schritt in
der Erfassung des Wesens jedes Dings dem nous zu (vgl. dazu Barnes 21993,
248–260; Detel 1993, II 829–888). Grundsätzlich geht man daher, wie für
Platon, auch für Aristoteles von einer Unterscheidung zwischen noetischem
und dianoetischem Denken und seinen Gegenständen aus (vgl. dazu Oehler
1962).
Natur der Weisheit als solcher, als vielmehr ihrer Vorrangstellung gegenüber
der Klugheit und politischen Wissenschaft: Die Weisheit gilt den erhabens-
ten Gegenständen im Kosmos, zu denen der Mensch nicht gehört. Zudem
ist die Klugheit auf das menschliche Wohl beschränkt und umfasst nicht das
Wohl sämtlicher Lebewesen. Diese Hierarchisierung der rationalen Seelen-
vermögen, die Konzentration der theoretischen Vernunft auf die ‚erhabe-
nen Gegenstände‘ und die Herabstufung der praktischen Vernunft, macht
dieses Kapitel zu einer Schlüsselstelle in der Debatte über die Zweiteilung
der Konzeption des Glücks. Denn daraus ergibt sich, dass auch die poli-
tische Wissenschaft, einschließlich der ‚architektonischen Wissenschaft des
Lebens‘, nur nachgeordneten Rangs ist. Der Bezug auf die erhabensten Ge-
genstände im Kosmos legt zudem nah, dass die Weisheit auf den ‚göttlichen‘
Teil des Universums beschränkt ist.
(1) 1141a9–22: ‚Weisheit‘ wird in der Kunst und auch sonst im Leben immer
den Besten zugesprochen; der Würde und Beständigkeit ihrer Gegenstände
wegen hat die Weisheit den höchsten Rang. (2) 1141a22–28: Die Klugheit
hat nur das Wohl des Menschen, nicht das sämtlicher Lebewesen zum Ge-
genstand. (3) 1141a28–b2: Auch die politische Wissenschaft ist nur auf das
Wohl von Menschen beschränkt und gilt nicht den besten Gegenständen.
(4) 1141b2–8: Die Weisheit gilt nur den erhabensten Dingen und nicht dem
Nutzen der Menschen.
(1) 1141a9–22 „Weisheit (sophia) sprechen wir aber auch in den Künsten
denjenigen zu, die darin die genauesten (akribestatoi) sind“: Aristoteles trägt
hier der Tatsache Rechnung, dass umgangssprachlich besondere Könner als
sophoi bezeichnet werden (zur Wortgeschichte und Vielfalt der Verwendung
von sophia vgl. Dirlmeier 1956, 452). Zu den ‚Künsten‘ gehören nicht nur
die schönen Künste, sondern auch Handwerkskünste und Fähigkeiten wie
Medizin und Navigation. Zur Genauigkeit ist an Aristoteles’ Erklärung zur
‚Mitte‘ zu erinnern: Kunstwerke zeichnen sich dadurch aus, dass sie kein
Zuviel oder Zuwenig aufweisen, sondern genau das Mittlere treffen. Ein
Künstler ist dann am ‚genauesten‘, wenn er aus seinem Material das Beste zu
machen versteht (II 5, 1106b5–16).
(1.1) 1141a12 „dass sie die Tugend (aretê) dieser Kunst ist“: Diese Begrün-
dung für die Auszeichnung bestimmter Künstler nimmt die Erklärung von
5, 1140b21 f. wieder auf, dass es innerhalb einer technê noch eine aretê geben
kann, die in der besonderen Meisterschaft besteht, während die phronêsis als
eine Tugend keine weitere Bestform zulässt.
(1.2) 1141a12–16 „Wir meinen aber auch, dass manche Menschen ganz all-
gemein … weise sind“: Hier reflektiert Aristoteles auf die allgemeine Wort-
bedeutung von ‚kundig‘ und zitiert dazu Verse aus dem Homer zugeschrie-
Buch VI, Kapitel 7 679
(2) 1141a22–28 „Wenn nun für die Menschen und für die Fische jeweils
etwas anderes gesund und gut ist“: Der Vergleich zwischen Weisheit und
Klugheit soll zeigen, dass die Weisheit auch in der Anwendung auf Verän-
derliches beständig ist, weil ihre Gegenstände stets dieselben sind, wie etwa
die Eigenschaften ‚weiß‘ oder ‚gerade‘. Bei der Klugheit wechseln dagegen
die Gegenstände, weil das, was für Menschen und für Tiere gut ist, nicht das-
selbe ist, so wie auch nicht dasselbe für sie gesund ist. Dass für Tiere etwas
anderes gesund ist als für Menschen, bringt schon Heraklits Diktum zum
Ausdruck, Meerwasser sei für Fische trinkbar und gesund, für Menschen
dagegen untrinkbar und verderblich (DK 22 B 61). Ob es im Bereich der
Weisheit keine relationalen Begriffe gibt, fragt sich Aristoteles nicht, so wie
er sich auch nicht daran stößt, dass ‚weiß‘ eine Qualität bezeichnet, die sinn-
liche Wahrnehmung voraussetzt.
(2.1) 1141a26–28 „Daher werden auch unter den Tieren manche als klug
bezeichnet“: Aristoteles’ Bewertung der Fähigkeiten von Tieren schwankt
mitunter. So schreibt er manchen Tieren zwar Erfahrung zu, der jedoch die
Vernunft (dianoia) fehlt (Met. A 1, 980a27–b27; Anal. post. II 19, 99b34–
100a3). In den biologischen Schriften billigt Aristoteles gewissen Tierar-
ten jedoch eine Art von Einsicht und Klugheit zu (vgl. HA I 1, 488b15 f.;
IX 1, 608a15–17 et pass.; GA I 23, 731a30–33; III 2, 753a11–15). Von einer
vorausschauenden Fähigkeit (pronoêtikê) der Tiere ist sonst aber nicht die
Rede, und rationale Fähigkeiten werden ihnen rundheraus abgesprochen;
vielmehr werden ihre Fähigkeiten auf Wahrnehmungen beschränkt (De an.
III 11; vgl. dazu Sorabji 1995). Daher sind sie grundsätzlich des Beratens
und Entscheidens und damit des Handelns nicht fähig.
(3) 1141a28–b2 „Offensichtlich ist aber auch, dass Weisheit und politische
Wissenschaft nicht dasselbe sein können“: Gegen ihre Gleichsetzung wen-
det Aristoteles, in Anlehnung an das vorangegangene Argument, ein, dass
es sonst viele Arten von Weisheit geben müsse, weil das Wohl von Men-
schen und Tieren nicht dasselbe ist, so wie das auch für die allen gemeinsame
Medizin gelten müsste, wenn es sie gäbe. Er geht hier offensichtlich davon
aus, dass unter Weisheit etwas Einheitliches und Umfassendes zu verste-
hen ist, sieht aber davon ab, dass sie per se nicht auf Veränderliches bezogen
ist.
(3.1) 1141a33 f. „Wenn man sagt, dass der Mensch doch das Beste unter
den übrigen Lebewesen ist“: Der Mensch ist für Aristoteles die Krone der
Schöpfung, solange damit die Lebewesen auf Erden gemeint sind. Diese
Vorzugsstellung hat der Mensch aufgrund der hierarchischen Struktur der
Seele: Die höheren Funktionen setzen jeweils die niedrigeren voraus, die
Vernunft die Sinne und das Bewegungsvermögen und diese wiederum das
vegetative Vermögen (EN I 13, 1102a32–b13; De an. II 3). An anderer Stelle
Buch VI, Kapitel 8 681
erklärt Aristoteles zudem, dass von Natur aus die Pflanzen der Tiere wegen
und die Tiere der Menschen wegen existieren (Pol. I 8, 1256b15–22).
(3.2) 1141b1 f. „am deutlichsten (phanerôtata) aber diejenigen, aus denen der
Kosmos besteht“: Die ‚deutlichsten‘ Dinge sind die Gestirne, da sie leuch-
ten. Sie sind insofern besser als die Menschen, als sie in ewiger und − wie
es damals schien − unveränderlicher Bewegung sind. Zudem sind sie auch
geistig tätig: Im Bestreben, die Aktivität des Unbewegten Bewegers nachzu-
ahmen, durchlaufen sie (zusammengesetzte) Kreisbahnen und stellen daher
auch in dieser Hinsicht die höchste Klasse des Lebendigen dar. Auch geistige
Tätigkeiten rechnet Aristoteles zu den Lebensfunktionen, daher sind auch
die Gestirne Lebewesen (vgl. Phys. VIII 6–10; Met. Λ 6–9; zur Problematik
der ersten Ursache vgl. Charles/Frede 2000).
(4) 1141b2–8 „Aus dem Gesagten ist offensichtlich, dass die Weisheit so-
wohl Wissenschaft wie auch intuitive Erkenntnis der ihrer Natur nach er-
habensten Dinge (timiôtata) ist“: Diese Beschränkung der theoretischen Tä-
tigkeit auf die höchsten Gegenstände des Wissens erweckt den Eindruck, als
sei die irdische bewegte und belebte Natur, der Aristoteles doch sonst so viel
Aufmerksamkeit schenkt, kein würdiger Gegenstand der theôria. Von einer
‚mutwilligen‘ Einseitigkeit zeugt auch die Verwendung des herkömmlichen
Klischees von der Nutzlosigkeit der Philosophie und ihrer Repräsentanten
wie Anaxagoras und Thales. Die Geschichte vom ‚Brunnenfall‘ des Stern-
guckers Thales hat sich anscheinend großer Beliebtheit erfreut (vgl. dazu
Platon, Tht. 174a–b). Anaxagoras wird nicht nur in Platons Apologie (26d)
als abgehobener Naturphilosoph gekennzeichnet, der die Dinge „über und
unter der Erde studiert“, sondern auch Aristoteles beschreibt ihn als einen
Philosophen, der das Studium von Dingen empfohlen hat, welche den Men-
schen zwar als staunenswert, schwierig und göttlich erscheinen, aber doch
als nutzlos (EE I 4, 1215b6–8; 5, 1216a10–14; EN X 9, 1179a13–16). Auch
Aristoteles teilt einen gewissen Stolz auf die Nutzlosigkeit der Philosophie
bzw. der Wissenschaft von den ersten Prinzipien: Alle anderen Wissensarten
sind notwendiger, aber keine ist besser (Met. A 2, 983a10 f.).
zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen liegt auch der Differenzie-
rung zwischen politischer Wissenschaft und Klugheit zugrunde; so ist die
leitende Disziplin die Gesetzgebung; zur Politik gehören aber auch die aufs
Einzelne gehende Beratung und Entscheidung.
(1) 1141b8–14: Der erste Abschnitt ist eine Rekapitulation der Bestimmun-
gen über den Gegenstandsbereich und die Funktion der Klugheit als solcher.
(2) 1141b14–23: Zur Klugheit gehört nicht nur die Kenntnis des Allgemei-
nen, sondern auch die des Einzelnen. (3) 1141b23–33: Die politische Wissen-
schaft umfasst als leitende Disziplin sowohl die Gesetzgebung wie auch die
praktische politische Tätigkeit.
(1) 1141b8–14 „Die Klugheit bezieht sich aber auf die menschlichen Güter
(ta anthrôpina) und auf solche, über die man beraten kann“: Von der Weis-
heit als der Wissenschaft, die sich um die menschlichen Güter (anthrôpina
agatha) nicht kümmert, kehrt Aristoteles zur Klugheit als der eben darauf
bezogenen Kompetenz zurück, die dem Beraten bzw. dem guten Beraten
(eu bouleuesthai) gilt. Wenn dieser Punkt so oft wiederholt wird und dazu
auch die Gegenstände des Beratens erneut charakterisiert werden, dürfte das
der Tatsache geschuldet sein, dass die Klugheit und das höchste menschliche
Gut das eigentliche Thema dieses Buches sind, zu deren Erhellung Aristo-
teles sowohl Ähnlichkeiten wie auch Unterschiede zu anderen geistigen Fä-
higkeiten herausarbeitet. Ihrer Definition entsprechend gilt die Klugheit der
Beratung über das durch Handeln zu erreichende Gut.
(1.1) 1141b12–14 „Schlechthin wohlberaten (haplôs euboulos)“: Wenn hier
der schlechthin Wohlberatene ausgezeichnet wird, der durch Überlegung
(logismos) das Beste (tou aristou) anstrebt, so hebt Aristoteles damit hervor,
dass es im Bereich des Praktischen ein höchstes Gut gibt, eben das höchste
menschliche Gut. Ihm gilt vor allem die Tätigkeit des Meisterwissenschaft-
lers (architektôn), wie Aristoteles nicht nur in EN I 1 betont hat, sondern
auch anschließend wiederholt (vgl. I 10, 1099b9–32).
(2) 1141b14–23 „Auch befasst sich die Klugheit nicht nur mit dem Allge-
meinen (tôn katholou monon), sondern muss auch das Einzelne (ta kath’
hekasta) erkennen“: Diese Passage hebt zwar die Bedeutung des Einzelnen
hervor, einer partikularistischen Interpretation redet sie dennoch nicht das
Wort. Sie bestätigt vielmehr, dass für das Handeln beide Kompetenzen er-
forderlich sind. Nur in bestimmten konkreten Fällen ist allgemeines Wissen
verzichtbar. Die grundsätzliche Bedeutung des Wissens vom Allgemeinen
manifestiert sich auch darin, dass Klugheit im Großen wie im Kleinen die-
selbe Fähigkeit ist und Staatskunst und Gesetzgebung einschließt.
Buch VI, Kapitel 8 683
(2.1) 1141b18–21 „Wenn jemand z.B. zwar weiß, dass leichtes Fleisch gut
verdaulich (eupepta) und gesund ist“: Es fällt auf, dass Aristoteles kon-
krete Beispiele aus Ethik und Politik meidet, sondern auf die Medizin bzw.
auf die Diätetik ausweicht. Diese, zunächst kurios anmutende Tatsache er-
schwert unser Verständnis seiner Handlungstheorie, denn so bleibt die
Frage offen, welche Art von allgemeinen Sätzen (‚Regeln‘) er für die Ethik
im Auge hat. Seine Abstinenz in dieser Hinsicht dürfte aber darauf beru-
hen, dass allgemeingültige Sätze medizinischer Art weniger leicht zu Wi-
derspruch herausfordern als entsprechende Sätze im Bereich der Moral, wie
etwa das allgemeine Verbot zu lügen oder zu töten. Nur in der Erörterung
der Freundschaft finden sich Beispiele für moralisch Gebotenes und Verbo-
tenes (vgl. IX 2, 1164b30–1165a7).
(2.2) 1141b20 „dass das Fleisch von Geflügel leicht und gesund ist“: Wie
schon zur Übersetzung angemerkt, ist die von Bywater aus Trendelenburg
übernommene Athetese nicht zwingend. Wer nur das Allgemeine weiß,
kennt nur den Obersatz eines praktischen Syllogismus: ‚Leichtes Fleisch ist
gut verdaulich und gesund‘. Das Wissen desjenigen, der nur der Erfahrung
folgt, wird nicht näher spezifiziert. Es könnte dem Untersatz gelten, dass
Geflügel leicht ist, oder der Konklusion, dass Geflügel gesund ist. In je-
dem Fall kennt der Betreffende den Obersatz und damit auch den Grund
nicht, d.h. dass leichtes Fleisch deswegen gesund ist, weil es gut verdaulich
ist (vgl. die syllogistische Darstellung bei G/J, die mit Ross 1924, 305 unter
Verweis auf Parallelstellen am überlieferten Text festhalten). Der Zusatz von
‚gut verdaulich‘ stellt insofern eine Komplikation dar, als sich so kein einfa-
cher Syllogismus aus drei Termen konstruieren lässt; denn mit dem Zusatz
erhält man den Schluss:
Leichtes Fleisch ist gut verdaulich und gesund.
Geflügel ist leichtes Fleisch.
Geflügel ist gesund.
Dass Aristoteles sich in der Praxis selten um die formale Korrektheit seiner
Beispiele kümmert, ist jedoch auch in den Analytica posteriora zu beobach-
ten.
(2.3) 1141b22 f. „Auch hier sollte es jedoch eine leitende Art geben (archi-
tektonikê)“: Zu ergänzen ist phronêsis. Mit dieser Bemerkung will Aristo-
teles anscheinend einerseits seine Folgerung abschwächen, dass das Wissen
des Einzelnen wichtiger ist als das Wissen des Allgemeinen, andererseits
auch zum nächsten Punkt überleiten, nämlich zur politischen Wissenschaft.
Angesichts der Tatsache, dass die phronêsis grundsätzlich auf das Bestim-
men der Mittel des Handelns beschränkt zu sein scheint, fragt man sich,
wie sie zugleich für das Wissen des Allgemeinen verantwortlich sein soll.
Denn dazu gehört nicht nur das Wissen von den jeweils zu erstrebenden
684 Kommentar
Zielen im Bereich der einzelnen Tugenden, sondern auch vom guten Leben
überhaupt und dem, worin es besteht, das vor allem der Gesetzgeber haben
muss. Ein Gegenstück zur intuitiven Vernunft (nous) im Bereich des theore-
tischen Wissens, der die ersten Prinzipien erfasst, erwähnt Aristoteles nicht
und tut das auch später nicht, sondern schreibt der phronêsis nur die noeti-
sche Erfassung der konkreten Handlungsumstände zu (9, 1142a20–30; 12,
1143a35–b5). Die Betonung der ‚Arbeitsteilung‘ zwischen Charaktertugend
und Klugheit und die Zuweisung der Bestimmung des Ziels an die Cha-
raktertugend (bes. 13, 1144a6–11; 1145a2–6) erleichtert die Antwort auf die
Frage nach den allgemeinen Prinzipien des guten Lebens nicht. Denn selbst
wenn es eine höhere Ebene praktischer Überlegungen gibt, welche die Le-
bensentscheidungen im Allgemeinen betreffen (wie etwa von Herakles am
Scheideweg), bleibt die Frage offen, welches Vermögen für die Festlegung
dieses ‚Allgemeinen‘ verantwortlich ist. Hier klafft also eine Lücke in der
Bestimmung der praktischen Vermögen. Sie ließe sich auch durch die Einbe-
ziehung des Wunsches nicht schließen, der früher als das für die Festlegung
der Ziele zuständige Vermögen bestimmt worden ist (III 6), der in Buch
VI aber nicht erwähnt wird. Denn der Wunsch legt zwar einzelne Hand-
lungsziele fest, nicht aber die Ziele des Lebens als solche. Es bleibt also of-
fen, wie es zur Bestimmung des skopos im Leben kommt, eine Aufgabe, die
anfangs nicht nur dem Meisterwissenschaftler, sondern auch dem Einzel-
nen zugeschrieben wurde (I 1, 1094a18–b11). Dass es ein solches Vermögen
gibt, setzt Aristoteles auch hier voraus, wenn er die ‚Meisterwissenschaft‘
(1141b25) in diese Erörterung mit einbezieht und der phronêsis auch das Er-
kennen des für einen selbst Guten zuweist (9, 1141b34). Sie kann daher nicht
auf das Kalkulieren von Mitteln und Wegen für bestimmte Ziele beschränkt
sein, sondern muss sich auf die Konstituenten des guten Lebens der Ge-
meinschaft beziehen. Da Aristoteles den Fokus in der Analyse zumeist auf
einzelne Handlungen legt, deren Ziel durch den Charakter bestimmt wird,
kommt die Frage nach übergeordneten Zielen und Prinzipien, die doch nicht
nur Sache des Charakters sein können, aber nur selten in den Blick. Kritiker
fragen sich grundsätzlich, warum Aristoteles so schweigsam bezüglich der
Konzeption des guten Lebens als solcher ist, also bezüglich des ‚grand end
view‘, wie es die englischen Kommentatoren nennen. Es ist ein Problem, das
Kommentatoren seit Thomas von Aquin beschäftigt, auf das der Text aber
keine klare Antwort bietet (dazu G/J II 2, 577; Cooper 1975, 76–88; Broadie
1991, 198–212; Bostock 2000, 82–99; Natali 2014, 199 f.).
(3) 1141b23–33 „Politische Wissenschaft und Klugheit sind nun zwar die-
selbe Disposition, ihr Sein ist aber nicht dasselbe (to … einai ou t’auton)“:
Bisher ist zum Unterschied zwischen politischer Wissenschaft und Klug-
heit nichts weiter gesagt worden. Am Anfang von EN I ist die politische
Buch VI, Kapitel 8 685
ner weiteren Begründung fähig, was zuletzt in der Beratung kommt, also das
Einzelne. Es wird vielmehr durch eine Art Wahrnehmung erfasst. Intuitive
Vernunft und diese Art der Wahrnehmung haben eine analoge Funktion,
weil sie ihren Gegenstand unmittelbar erfassen. Dass Aristoteles sich, an-
gesichts der zuvor konstatierten Verschiedenheit von praktischer und the-
oretischer Vernunft, auch die Feststellung von Gemeinsamkeiten angelegen
sein lässt, dürfte dem Bemühen geschuldet sein, Analogien zwischen beiden
rationalen Seelenvermögen herauszustellen.
(1) 1141b33–1142a11 „Zu wissen, was für einen selbst gut ist, wäre nun eine
Art von Verstehen (gnôseôs)“: Eustratios plädiert dafür, mit einigen Hand-
schriften phronêseôs statt des neutralen gnôseôs zu lesen (334,4 ff.; so auch
G/J II 2, 500 f.), weil es um das Verhältnis zweier Arten von Klugheit geht,
über die Uneinigkeit herrscht. Das liegt deswegen nah, weil Aristoteles zu-
vor der selbstbezogenen phronêsis die verschiedenen politischen Funktionen
gegenübergestellt hat. Diese Gegenüberstellung wird hier mit dem Verweis
darauf fortgesetzt, dass man üblicherweise den auf das Eigenwohl Bedach-
ten für klug hält, die Politiker dagegen als vielgeschäftig (polypragmones)
abqualifiziert. Dieser Ausdruck hat den moralisch neutralen Sinn von ‚sich
vieler Dinge annehmen‘ und hebt auf die Vernachlässigung des Eigenen ab
(ähnlich Sokrates in Platon, Apol. 31c und Tht. 184d–e). Nicht gemeint ist
Platons Bestimmung der Ungerechtigkeit als ‚Vieltuerei‘ in dem Sinn, dass
der Betreffende sich in die Belange anderer einmischt, ohne dafür qualifi-
ziert zu sein (Resp. IV 433a–434c; 443b–444b).
(1.1) 1141b34 „sie unterscheidet sich aber erheblich von den anderen Ar-
ten (echei diaphoran)“: Die Meinung der Kommentatoren geht auseinan-
der, ob ein Unterschied oder eine Kontroverse gemeint ist. Im Prinzip ist
beides möglich. Da anschließend der Begrenzung der Klugheit auf das Ei-
genwohl gegenüber auf die Notwendigkeit der Verwaltung des Hauses und
des Staates verwiesen wird, dürfte jedoch keine philosophische Kontroverse
gemeint sein.
(1.2) 1142a2 „Deswegen sagt Euripides“: Das Zitat stammt aus dem verlo-
renen Philoktetes (Frg. 787 f. Nauck). Sprecher ist Odysseus, der darüber
sinniert, wie viel einfacher es für ihn gewesen wäre, wenn er keine weiteren
Mühen um des großen Ganzen willen auf sich genommen hätte, denn eben-
dies hat ihn in die Lage gebracht, Philoktetes durch Lug und Trug nach Troja
zu bringen. Dass Aristoteles der ironische Unterton der Verse willkommen
688 Kommentar
ist, bestätigt auch seine nachfolgende Erklärung, dass Klugheit sich nicht al-
lein auf die Wahrnehmung der eigenen Interessen beschränken lässt, weil das
Eigenwohl eine kompetente Verwaltung des Hauswesens (oikonomia) und
des Staats voraussetzt und damit auch den Einsatz für die Politik.
(2) 1142a11–20 „Eine Bestätigung für das Gesagte liegt auch darin, dass man
sich zwar schon in der Jugend als weise“: Mit ‚dem Gesagten‘ bezieht sich
Aristoteles darauf zurück, dass zur Klugheit neben dem Wissen vom Allge-
meinen auch das vom Einzelnen gehört (8, 1141b14–22). Junge haben nicht
die für den Umgang mit dem Einzelfall nötige Erfahrung, die man erst mit
der Zeit erwirbt. Es geht dabei um die Parameter des Handelns, wie man
soll, wann man soll etc. Auf die Bedeutung der Erfahrung hat Aristoteles be-
reits zu Anfang in der allgemeinen Charakterisierung der Ethik hingewiesen
und damit auch begründet, dass seine Vorlesung für ein jugendliches Publi-
kum nicht geeignet ist (I 1, 1094b27–1095a13).
(2.1) 1142a16–20 „Man könnte sich überdies auch fragen, warum ein Kind
sich zwar als Mathematiker, nicht aber als Weiser (sophos) … hervortun
kann“: Diese Passage ist aus zwei Gründen interessant. Sie betreffen zum ei-
nen Aristoteles’ Auffassung von Mathematik, zum anderen sein Verständnis
von Naturwissenschaft. Mit ‚Kind‘ meint Aristoteles keine kleinen und na-
türlich auch nicht alle Kinder. Vielmehr bezieht er sich auf die Beobachtung,
dass sich mathematische Begabungen früh und ohne Erfahrung manifestie-
ren, wie etwa im Fall von Theaitetos oder Eudoxos (aus der Neuzeit ist be-
sonders die Entdeckung der Summenformel durch den neunjährigen Gauß
bekannt). Aristoteles hat sich auf dem Gebiet der Mathematik anscheinend
nicht betätigt, behandelt sie aber in seiner Wissenschaftslehre als Vorbild für
Wissenschaft überhaupt.
(2.1.1) 1142a17 f. „nicht aber als Weiser (sophos) oder als Naturwissenschaft-
ler (physikos)“: Von der Naturwissenschaft war zuvor nicht die Rede, son-
dern Aristoteles hat zuvor so gesprochen, als bestehe die Weisheit in der
intuitiven Erfassung der Prinzipien und in der Deduktion der Folgerun-
gen. Nur nebenbei hat er darauf hingewiesen, dass die Induktion der Weg
zu den Prinzipien ist (3, 1139b27–31). Auch hat er nicht eigens erwähnt,
dass es dafür Zeit und Erfahrung braucht. An einer näheren Untersuchung
ist er aber sicher deswegen nicht interessiert, weil er sonst auf den Unter-
schied zwischen der Mathematik, der paradigmatischen Wissenschaft, und
den Naturwissenschaften eingehen müsste. Daher begnügt er sich mit dem
Verweis, dass die Gegenstände der Mathematik durch Abstraktion erfasst
werden, d.h. unmittelbar einsichtig sind, während die Naturwissenschaften
Erfahrung erfordern, d.h. den Weg vom ‚uns Bekannteren‘ zum ‚schlecht-
hin Bekannteren‘ (I 2, 1095a30–b4). Dieser Weg erfordert insofern Zeit und
Erfahrung, als er ein Prozess des Reflektierens über das den Einzelfällen Ge-
Buch VI, Kapitel 9 689
meinsame ist. Wie Aristoteles die Astronomie und die Metaphysik einord-
nen will, lässt er offen. In der Astronomie dürfte es um die Notwendigkeit
langjähriger Beobachtungen gehen, während die Metaphysik den Weg vom
Alltagsverständnis zu allgemeinen Begriffen wie etwa Substanz oder Eigen-
schaft geht. Von metaphysischer Erfahrung spricht Aristoteles zwar nicht,
wohl aber von der langen Zeit, die die Entwicklung dieser Wissenschaft in
der Geschichte der Menschheit in Anspruch genommen hat (Met. A 1). Ein-
fache Abstraktionen, so gibt er hier zu verstehen, gibt es auf diesem Gebiet
nicht.
(2.2) 1142a18 f. „dass die Gegenstände jener Wissenschaften durch Abs-
traktion (di’ aphaireseôs) … gewonnen werden“: Anders als Platon schreibt
Aristoteles Zahlen und geometrischen Größen keine unabhängige Existenz
zu. Vielmehr sind Quantitäten und quantitative Verhältnisse nur an Sub-
stanzen zu finden. Was aber heißt es, dass man sie durch Abstraktion ge-
winnt? Was wird hier wovon ‚abstrahiert‘? Mathematik beruht insofern auf
Abstraktion, als sie nur die quantitativen Verhältnisse als solche betrachtet,
ohne Berücksichtigung der Dinge, an denen man sie findet (vgl. Phys. II 2,
193b31–35 et pass.). Daher ist, wie Aristoteles es hier ausdrückt, das We-
sen (1142a20: to ti estin) mathematischer Gegenstände unmittelbar einsich-
tig, und es gibt keinen Unterschied zwischen dem ‚uns Bekannteren‘ und
dem ‚schlechthin Bekannten‘. Hat man z.B. verstanden, was Winkel, Ge-
raden und Parallelen sind, genügt ein Beweis dafür, dass die Winkelsumme
des Dreiecks gleich zwei rechten ist, und es bedarf keiner Bestätigung durch
Erfahrung. Bei philosophischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen
muss man dagegen die Anwendung und die weiteren Zusammenhänge ken-
nen, wenn Erklärungen und Begründungen keine leeren Worte sein sollen.
Da es dafür eine Art Erfahrung und Zeit braucht, haben Kinder darüber
noch keine festen Überzeugungen. Sie können zwar die Worte nachsagen,
verstehen aber ihren Sinn noch nicht.
(3) 1142a20–30 „Ferner: Fehler bei der Beratung beziehen sich entweder auf
das Allgemeine oder auf das Einzelne“: Hier wird die Frage nach der Bedeu-
tung des allgemeinen und des partikularen Wissens für die Klugheit wieder
aufgenommen (8, 1141b14–22). Wie das Beispiel vom schweren Wasser nahe
legt, stellt die Tatsache, dass es auch Fehler das Allgemeine betreffend gibt,
eine Gemeinsamkeit mit den Wissenschaften dar. Während es den Wissen-
schaften aber um dieses Allgemeine zu tun ist, geht es der Klugheit um das
Handeln im Einzelnen, so dass sie jeweils die richtige Beurteilung des kon-
kreten Falls voraussetzt.
(3.1) 1142a22 f. „dass alles schwere Wasser schlecht ist“: Das Beispiel
stammt – wie auch das vom leichten Fleisch – aus der Medizin (anders Dirl-
meier 1956, 459). Hippokrates geht in De ventis VII–VIII ausführlich auf
690 Kommentar
die Qualitäten von leichterem und schwererem Wasser und ihren Einfluss
auf die Gesundheit ein (vgl. VII 47: „Sie (die Gewässer) müssen glänzend,
wohlriechend und leicht (koupha) sein.“).
(3.2) 1142a24 „Sie bezieht sich nämlich, wie gesagt, auf das letzte Einzelne
(eschaton)“: Das ‚letzte‘ bezieht sich auf den letzten Schritt in der Beratung,
der unmittelbar zur Handlung führt (vgl. III 5, 1112b16–24). Im Fall des
schweren Wassers ist es die Einsicht, dass dieses Wasser hier schwer und
daher nicht trinkbar ist, so dass man beschließt, nicht davon zu trinken. Ob
man es sieht, schmeckt oder riecht, in jedem Fall beruht diese Einsicht auf
Wahrnehmung.
(3.3) 1142a25–30 „Die Klugheit ist somit das Gegenstück (antikeitai) zur
intuitiven Vernunft (nous)“: In gewisser Weise sind beide einander diametral
entgegengesetzt, weil die Vernunfteinsicht die ersten Prinzipien erfasst, die
Klugheit dagegen das letzte Glied in der Beratungskette. Gemeinsam ist ih-
nen jedoch, dass beide einer weiteren Begründung bzw. Überlegung weder
bedürftig noch auch fähig sind. Findet die Wissenschaft ihr Ziel in der Auf-
findung der ersten Prinzipien, d.h. in der Definition ihrer Grundbegriffe, so
ist es bei der Klugheit die Bestimmung des letzten Gliedes der Beratung, das
zum Handeln führt.
(3.3.1) 1142a26–30 „was nicht Gegenstand von Wissen, sondern von Wahr-
nehmung ist“: Dass das Erfassen des letzten Schrittes in der Beratung auf
einer Art von Wahrnehmung beruht, ist bereits in III 5, 1112b34–1113a2
angedeutet worden: Ob man Brot vor sich hat und ob es gut gebacken ist,
ist nicht mehr Sache von Beratung, sondern von Wahrnehmung. Das scheint
aber der Bemerkung in 2, 1139a18–20 zu widersprechen, dass Wahrnehmung
nicht der Ursprung einer Handlung sein kann, weil auch Tiere sie haben, die
des Handelns nicht fähig sind. Aristoteles verwendet Wahrnehmung jedoch
in einem engeren und in einem weiteren Sinn. So ist manchmal bloße, un-
mittelbare Sinneswahrnehmung gemeint, manchmal Wahrnehmung in ei-
nem erweiterten Sinn. Bei der Erörterung der Charaktertugenden weist er
auf die Schwierigkeit hin, im Einzelfall die Parameter des Handelns genau
zu bestimmen, etwa wie und unter welchen Umständen und wie lange man
zornig sein soll, weil es auch Sache der Wahrnehmung sei – denn das Ur-
teil (krisis) beruhe auf der Wahrnehmung (II 9, 1109b14–23; ähnlich IV 12,
1126b2–4). Um diese Wahrnehmung die konkrete Situation betreffend geht
es auch hier. Das zeigt die Erklärung, dass nicht diejenige Art von Wahrneh-
mung gemeint ist, die nur die spezifischen Wahrnehmungsqualitäten (idia)
erfasst, wie etwa beim Sehen die Farben (vgl. De an. II 6, 418a11–17), son-
dern diejenige Art, mit der man etwa in der Geometrie feststellt, dass das
letzte Element der Analyse ein Dreieck ist. Gemeint sein könnte einerseits
die ‚allgemeine Wahrnehmung‘, dass die erste geschlossene Figur das Drei-
eck ist, oder aber, dass die Analyse einer bestimmten Figur ergibt, dass ihr
Buch VI, Kapitel 9 691
letztes Element ein Dreieck ist. Für letztere Annahme spricht etwa das Bei-
spiel von Anal. post. I 1, 71a19–21, man wisse zwar, dass jedes Dreieck die
Winkelsumme von zwei rechten Winkeln hat, sehe aber erst bei einer Kons-
truktion, dass die Figur über dem Halbkreis ein Dreieck ist. Ein solches ‚Se-
hen‘ ist keine Wahrnehmung im spezifischen Sinn, es beruht aber auf Wahr-
nehmung, so dass von einem ‚Sehen von etwas als etwas‘ zu sprechen ist.
Dem liegt ein kognitiver Akt zugrunde, dessen Tiere nicht fähig sind. Ent-
sprechend ist auch das Erfassen der konkreten Handlungsumstände durch
die phronêsis kein ‚Sehen‘ im wörtlichen Sinn, sondern ein Sehen von etwas
als etwas.
Später wird Aristoteles statt der phronêsis eine Form des nous für das
Erfassen des Einzelnen in Anspruch nehmen und mit der Wahrnehmung
verbinden (in Kap. 12, 1143a35–b5). Es gibt also ähnliche Schwankungen
im Gebrauch von nous wie in dem von aisthêsis; denn in diesem Kapitel
wird der nous auf das Erfassen der ersten Prinzipien in der Wissenschaft be-
grenzt und als Gegenstück zur Wahrnehmung gekennzeichnet. Nur wenig
später erhält der nous dagegen beide Funktionen, d.h. neben der Erfassung
der ersten Prinzipien auch die der konkreten Handlungsumstände. Es muss
eine offene Frage bleiben, ob Aristoteles dies übersehen oder sich darüber
absichtlich hinweggesetzt hat. Dass er auch hier kein Beispiel aus der mora-
lischen Praxis anführt, sondern auf die Geometrie zurückgreift, dürfte dar-
auf zurückzuführen sein, dass sich die Spezifizierung der konkreten Hand-
lungsumstände nur schwer in einem Satz zusammenfassen lässt. Denn zum
richtigen ‚Sehen‘ einer konkreten Handlungssituation gehört auch die Ein-
schätzung ihrer normativen Bedingungen (wie man soll, wem gegenüber, in
welchem Maß etc.).
(3.3.2) 1142a29 f. „Sie ist jedoch eher Wahrnehmung als Klugheit, aber von
anderer Art als die Sinneswahrnehmung“: Da es widersinnig erscheint, vom
Erfassen des letzten Schrittes zu sagen, es sei weniger eine Sache der Klug-
heit als der Wahrnehmung, da doch die Klugheit ausdrücklich auf das Ein-
zelne bezogen sein soll, schlagen manche Kommentatoren (nach Bekker)
vor, statt ê phronêsis – hê phronêsis zu lesen: „Diese Klugheit ist vielmehr
Wahrnehmung.“ Damit handelt man sich jedoch das Problem der Unklar-
heit ein, welcher anderen Art diese phronêsis gegenübergestellt werden soll.
Auch der Vorschlag, den Nachsatz als ganzen auf die Mathematik zu bezie-
hen, ist nicht befriedigend, denn dann fragt sich, in welcher Weise Aristote-
les die Klugheit hier überhaupt einbezieht.
692 Kommentar
(2) 1142b16–26 „Die Wohlberatenheit ist aber eine Richtigkeit (orthotês) des
Beratens. Daher muss man als erstes untersuchen, was diese Richtigkeit ist
und worauf sie sich bezieht“: Wie zur Übersetzung angemerkt, lässt sich der
Text halten, wenn man in Zeile 16 boulê (= ‚Rat‘) durch orthotês (= ‚Rich-
tigkeit‘) ersetzt, denn daran knüpft der Verweis auf die Mehrdeutigkeit von
Richtigkeit im nächsten Satz an: Auch Schlechte können insofern richtig mit
sich zurate gehen, als dass sie das gewünschte – schlechte – Ziel erreichen.
Von Wohlberatenheit kann aber nur dann die Rede sein, wenn das Ziel gut
ist.
(2.1) 1142b18 f. „Denn auch der Zügellose (akolastos) und überhaupt der
Schlechte wird aus seiner Überlegung beziehen, was er sich zu suchen vor-
nimmt“: Wie zur Übersetzung angemerkt, wird hier nach dem Vorschlag
von Grant statt ‚der Unbeherrschte‘ (akratês) ‚der Zügellose‘ (akolastos) ge-
lesen. Denn der Unbeherrschte stellt weder Überlegungen an noch erreicht
er, was er sich vornimmt. Vielmehr tut er – unter dem Einfluss von Begier-
den − das Gegenteil dessen, was er eigentlich will, so dass ihm keine Rich-
694 Kommentar
(3) 1142b26–33 „Ferner kann der eine das Richtige erreichen, indem er eine
lange Zeit, der andere, indem er schnell mit sich zurate geht“: Obwohl sich
Aristoteles zunächst zur Unterscheidung von Wohlberatenheit und Ge-
schicktheit im Schätzen auf das Sprichwort berufen hat, man solle sich mit
der Beratung Zeit lassen, aber schnell handeln (1142b2–5), lehnt er hier ab,
in der Länge der Zeit per se ein Gütezeichen der Beratung zu sehen. Darin
Buch VI, Kapitel 11 695
liegt jedoch keine Inkonsistenz: Nicht die Länge der Zeit als solche ist das
Kriterium von Richtigkeit, sondern ob die Beratung den Zweck bestimmt,
zu dem man etwas tun soll, die Weise und den Zeitpunkt, zu dem man soll
etc.
(3.1) 1142b28–31 „Ferner kann man überhaupt (haplôs) wohlberaten sein
oder nur für ein bestimmtes Ziel“: Wohlberatenheit überhaupt gilt dem gu-
ten Leben als solchem; sie ist eine tugendhafte Disposition. Für die Wohlbe-
ratenheit bei einem ganz bestimmten Zweck gilt das nicht; Aristoteles trägt
hier dem üblichen, weiter gefassten Sprachgebrauch Rechnung, so wie er das
manchmal auch für die Klugheit tut (vgl. 5, 1140a25–31).
(3.2) 1142b32 f. „dann dürfte die Wohlberatenheit die Richtigkeit hinsicht-
lich des für das Ziel Nützlichen sein, dessen wahres Erfassen (alêthês hy-
polêpsis) Sache der Klugheit ist“: Die Übersetzung lässt hier bewusst den
Bezug des ‚dessen‘ (hou) offen. Grammatisch gesehen legt sich die Deutung
nah, dass Aristoteles die Wohlberatenheit auf das Finden der Mittel, die
Klugheit auf das wahre Erfassen des Ziels bezieht. Das widerspricht jedoch
der Beschränkung der Klugheit auf die Beratung und der Zuweisung der
Zielbestimmung an die Charaktertugenden, die sich schon verschiedentlich
angedeutet hat (III 6; VI 2, 1139a22–b5). Daher wird hier der Deutung der
Vorzug gegeben, wonach sowohl die Wohlberatenheit wie auch die Klugheit
dem für das Ziel Nützlichen gelten (to sympheron pros to telos), so dass ‚des-
sen‘ auf den ganzen Ausdruck und nicht allein auf das Ziel bezogen wird.
G/J II 2, 518 f. und andere Interpreten seit Grant und Stewart weisen zwar
zu Recht darauf hin, dass grammatikalisch die andere Lesart näher liegt, weil
hou unmittelbar auf telos folgt. Aristoteles hält sich aber nicht streng an die
Regel, dass Relativpronomen auf das letzte vorangehende Nomen zu bezie-
hen sind. Wie sich in Kap. 13 bestätigen wird, setzt die Klugheit zwar gute
Ziele voraus, ihre Erfassung gehört aber nicht zu ihren Aufgaben, sondern
ist Sache der Charaktertugend. Vielmehr legt die Klugheit sich auf das fest,
was die Beratung sucht.
häufig ‚Verzeihung‘ bedeutet. Er gibt ihm insofern eine eigene Nuance, als
er ihn auch auf die Billigkeit im rechtlichen Sinn bezieht.
(2) 1143a11–18 „Verständigkeit ist aber weder das Haben noch das Erwer-
ben von Klugheit“: Wenn Aristoteles der Verständigkeit jede Beteiligung am
Vorliegen und an der Entstehung von Klugheit abspricht, so will er der An-
nahme entgegentreten, sie sei die Basis der Klugheit. Daher bestreitet er, dass
die Verständigkeit überhaupt als eine aktive Fähigkeit anzusehen ist, und
präsentiert sie stattdessen als eine Form reflexiven Verstehens.
(2.1) 1143a12 f. „Sondern so wie man das Lernen (manthanein) ein Verste-
hen (synienai) nennt, wenn man die Wissenschaft gebraucht“: Die Zweideu-
tigkeit des griechischen Verbs manthanein, das zugleich ‚Lernen‘ und ‚Ver-
stehen‘ bedeuten kann, lässt sich mit ‚Begreifen‘ wiedergeben. Das zu synesis
gehörige Verb verwendet Aristoteles hier auch für wissenschaftliches Ver-
stehen im Allgemeinen. Die eigentliche Bedeutung von Verständigkeit soll
aber auf den Bereich der Klugheit beschränkt sein und im richtigen (‚schö-
nen‘) Urteil über andere bestehen, also in einem Mit-Vollziehen dessen, was
andere über ihr Handeln sagen. Dass Aristoteles auf diesen Punkt so viel
Mühe verwendet, muss darauf beruhen, dass er in die Ethik auch die Fähig-
keit zu einem kritischen Mit- und Nachvollzug einbeziehen will.
(1) 1143a25–35: Alle der Klugheit verwandten Dispositionen sind mit dem
Einzelnen und Letzten befasst. (2) 1143a35–b5: Die Erfassung der letzten
Begriffe ist Sache der intuitiven Vernunft. (3) 1143b6–17: Die praktischen
Fähigkeiten sind zwar von Natur aus angelegt, sie bedürfen jedoch noch der
Ausbildung durch Erfahrung.
(1) 1143a25–35 „Alle diese Dispositionen treffen aus gutem Grund am sel-
ben Punkt zusammen“: Die Begründung, die Aristoteles für die Gemein-
samkeit sämtlicher der Klugheit verwandter Dispositionen abgibt, ist nicht,
dass man sie denselben Personen zuschreibt, sondern dass diese Dispositi-
onen sämtlich das Letzte (eschaton) im Sinne des Einzelnen (ta kath’ he-
kaston) zum Gegenstand haben. Auf diesen Punkt ist schon verschiedentlich
hingewiesen worden: Entscheidungen gelten dem, was konkret zu tun ist.
Daher sind sie mit dem ‚Letzten‘ und ‚Einzelnen‘ befasst, bei dem die Be-
ratung ihr Ende findet (vgl. III 5, 1112b18–24; VI 8, 1141b27 f.; 9, 1142a23–
30). Dieses Einzelne betrifft auch die normativen Parameter (was man soll,
wie man es soll, wann man soll). Mit allgemeinen richtigen Ansichten ist es
Buch VI, Kapitel 12 699
nicht getan; hinzukommen muss die Einsicht, dass die konkreten Umstände
gegeben sind, die entsprechendes Handeln erfordern.
(1.1) 1143a31 f. „Das Billige (epieikês) ist nämlich allen Guten einem ande-
ren gegenüber gemeinsam (en tôi pros allon)“: Die Billigkeit ist nicht nur als
ein Korrektiv, sondern auch als das Bessere gegenüber der Gerechtigkeit ge-
kennzeichnet worden (V 14). In diesem Sinn repräsentiert die Billigkeit hier
die Tugenden in ihrer Gesamtheit im Verhältnis zu anderen Menschen.
(1.2) 1143a32–35 „Alles, was zum Handeln (prakta) gehört, betrifft aber
Einzelnes und Letztes“: Wie alle Verbalsubstantive ist prakton mehrdeutig.
Es kann sich auf das unmittelbar Auszuführende beschränken (e.g. was jetzt
zu tun ist) wie auch die weiteren Handlungsumstände einschließen (die Pa-
rameter des Handelns). Da Aristoteles hier jedoch auf ‚alles‘ abhebt, ist an-
zunehmen, dass Letztere gemeint sind. Über die konkrete Bestimmung der
Handlungsumstände ist bisher nur wenig und nur sehr Allgemeines gesagt
worden: Bei ihnen findet jeweils die Beratung ihr Ende, weil der Betref-
fende in seiner gegenwärtigen Situation angekommen ist. Wie zu Kap. 9 an-
gemerkt, sind die angeführten Beispiele deswegen wenig informativ, weil sie
zumeist aus der Medizin stammen und daher keine moralischen Entschei-
dungen betreffen (III 5, 1113a1 f.: „ob dieses hier Brot ist oder ob es so ge-
backen worden ist, wie es soll“). Auch zur Erläuterung der ‚Wahrnehmung‘,
die zur Klugheit gehört, führt Aristoteles nur einen Vergleich mit der Ma-
thematik an (9, 1142a27–30: „dass das letzte Element in der mathematischen
Analyse ein Dreieck ist“).
(2) 1143a35–b5 „Auch die intuitive Vernunft (nous) bezieht sich auf das
Letzte in beiden Richtungen“: Dieser Abschnitt hat Kommentatoren seit
der Antike beschäftigt, weil so dem nous zwei ganz verschiedene Funkti-
onen zugeschrieben werden (vgl. die Übersicht bei G/J II 2, 537 f.). Zur
theoretischen Prinzipienerkenntnis soll noch eine praktische Funktion tre-
ten, die dem Letzten, Einzelnen bei den Handlungsumständen gilt. Diese
Verwendung von nous kommt deswegen unerwartet, weil der nous zuvor
auf die Funktion der Prinzipienerkenntnis beschränkt und der Wahrneh-
mung entgegengesetzt worden ist (9, 1142a25). Hier überträgt Aristoteles
dem nous kommentarlos selbst die Funktion dieses Wahrnehmens. Als ein-
zige Rechtfertigung für diese Doppelfunktion des nous wird angeführt, dass
es auf beiden Seiten keinen logos gibt, also keine weitere Begründung oder
Rechtfertigung. Das erklärt aber noch nicht, warum der nous hier auch für
das Erfassen des Einzelnen zuständig sein soll. Nun spricht Aristoteles hier
von horoi, d.h. von Termen, und setzt zudem eine syllogistische Form des
praktischen Denkens voraus, wie auch die Rede von der ‚zweiten Prämisse‘
bestätigt. Sein besonderes Interesse ist daher hier: Auch der Unterbegriff
muss von der Vernunft erfasst werden. Aus dem ‚Sehen von etwas als etwas‘
700 Kommentar
wird das Verstehen desselben. Das Kurzschließen von Vernunft und Wahr-
nehmung wird dadurch nahegelegt, dass es hier um Letztes geht. Der nous
ist jedoch keine Wahrnehmung, sondern betrifft etwas Wahrgenommenes.
(2.1) 1143b2 „bei praktischen (en tais praktikais) Schlüssen“: Das Nomen
fehlt zwar, es ist aber nach b1 apodeixesi zu ergänzen. Dass es auch im Be-
reich der praktischen Rationalität Schlüsse gibt, ist schon verschiedentlich
angedeutet worden (vgl. bes. 10, 1142b22–26; vgl. auch 13, 1144a31 f.: syllo-
gismoi tôn praktôn). Nun sprechen Aristoteles’ Analysen des Beratens und
Entscheidens dagegen, dass er ihnen eine syllogistische Form unterstellt,
denn sie bestehen in Kalkulationen der für ein bestimmtes Ziel erforderli-
chen Mittel und Wege. Daher wollen viele Interpreten nur von Syllogismen
in einem erweiterten Sinn sprechen. Vermutlich geht Aristoteles hier aber
davon aus, dass sich diese Überlegungen nach ihrem Abschluss in syllogis-
tischer Form zusammenfassen lassen, so wie er das in seiner Wissenschafts-
lehre auch für die Ergebnisse der Forschung (nicht für das Vorgehen beim
Forschen selbst) anzunehmen scheint.
(2.2) 1143b4 f. „Denn in ihnen liegt der Ausgangspunkt (archê) den Zweck
betreffend (tou hou heneka); aus dem Einzelnen ergibt sich nämlich das All-
gemeine“: Diese Erklärung ist noch komprimierter formuliert als die vo-
rige. Das ‚Letzte und Kontingente‘ betrifft den Inhalt der zweiten Prämisse
(z.B. ‚dieses hier ist Brot‘). Der betreffende Gegenstand bzw. Sachverhalt
ist insofern auf den Zweck bezogen, als das Handeln, das auf die Prämisse
folgt, ebendiesem Zweck dient. Mit archê ist daher der Ausgangspunkt ge-
meint. Das löst allerdings noch nicht das Problem, inwiefern das Einzelne
zum Allgemeinen hinführen soll. Wenn hier keine Korruptele vorliegt, muss
gemeint sein, dass der Handelnde weiß, dass er ein Mittel von der Art vor
sich hat, das zum gewünschten Ziel führt. B/R, 379 schlagen vor, es gehe
um ein „filling out the general aim so as to convert it into a decision“. Dies
‚Ausfüllen‘ wäre jedoch Sache der Beratung, nicht Sache des Erfassens von
Einzelnem. Wie es scheint, vermischen sich in diesem gedrängt formulier-
ten Abschnitt Überlegungen über die Bedingungen des konkreten Handelns
mit Überlegungen über die syllogistische Darstellung praktischen Denkens
und über die zugrunde liegenden methodischen Grundsätze. Dass der nous
eine wichtige Funktion beim Handeln hat, ist in gewisser Weise bereits bei
der Bestimmung der Entscheidung angeklungen (2, 1139b4 f.). Denn dort
erwähnt Aristoteles, Ursprung der Entscheidung sei einerseits das Streben,
andererseits die auf den Zweck gerichtete Überlegung, und schließt daraus,
eine Entscheidung könne es daher nicht ohne Vernunft (nous) und Den-
ken (dianoia) geben. Dabei ist freilich offengeblieben, ob ‚Vernunft‘ in dem
ganz allgemeinen Sinn gemeint ist, der sich auch sonst in EN findet, oder
ob die spezielle ‚noetische‘ Funktion antizipiert wird, die hier angenommen
wird. Von einem nous praktikos spricht Aristoteles explizit in De an. III 10,
Buch VI, Kapitel 12 701
433a16. Dieser Ausdruck, der sich sonst bei ihm nicht findet, hat in der spä-
teren peripatetischen Literatur Verbreitung gefunden und wird dort generell
dem nous theôrêtikos gegenüber gestellt. Die Textbasis dafür ist bei Aristo-
teles aber sehr schmal.
Die Position, dass Wahrnehmung im wörtlichen Sinn gemeint ist, wird
vor allem von Moss 2011 vertreten. Sie gesteht zwar gewisse Schwierigkeiten
angesichts der Tatsache ein, dass die Ziele moralischen Handelns komplex
sind. So geht es beim Zorn um das ‚Begehren nach Vergeltung für eine He-
rabsetzung seiner selbst oder eines Angehörigen, durch jemanden, dem das
nicht zusteht‘ (vgl. Rhet. II 2, 1378a31–33). Moss hält aber dafür, dass sich
konkrete Situationen dieser Art durch die Wahrnehmung erfassen lassen,
wie etwa das Wahrnehmen der Gestik oder des Tonfalls der Herablassung.
Dazu beruft sie sich darauf, dass Aristoteles die Einschätzung konkreter Si-
tuationen der Wahrnehmung zuschreibt (vgl. II 9, 1109b23; III 5, 1113a1;
IV 11, 1126b4; VI 9, 1142a27–30; 12, 1143b5). Gegen diese Erklärung ist je-
doch grundsätzlich einzuwenden, dass die Wahrnehmung als solche für die
Deutung der moralisch signifikanten Faktoren nicht ausreicht. Zwar kann
man eine Geste oder einen Tonfall als herabsetzend wahrnehmen; diese
Wahrnehmung beruht aber darauf, dass man Beleidigungen und die relevan-
ten Faktoren kennt und sie als solche identifizieren kann. Die betreffenden
Feststellungen sind jedoch nicht allein Sache von Wahrnehmung, denn dazu
wären auch Kinder und Tiere fähig, sondern sie erfordern Urteilskraft. Zu
bestreiten, dass die fraglichen Feststellungen Sache der Wahrnehmung sind,
heißt jedoch nicht, ihr jede Beteiligung abzusprechen und vor allem heißt es
nicht, das Handeln zu einer Sache des Intellekts allein zu machen.
(3) 1143b6–17 „Daher meint man auch, dass diese Dinge naturgegeben
sind“: Gemeint sind sämtliche Fähigkeiten vom Verständnis bis zur Ver-
nunft. Auch die Fähigkeit zur Weisheit ist eine Naturanlage, sie bedarf aber
noch der Ausbildung durch Lernen. Entsprechendes gilt auch für die Klug-
heit. Wenn Aristoteles so spricht, als seien Verständigkeit, Verständnis und
Vernunft von Anfang an gegeben, so muss er meinen, dass sie auf keine be-
stimmte Form des Trainings angewiesen sind, sondern dass sie gewisserma-
ßen wachgerufen werden.
(3.1) 1143b9–11 „Daher ist die intuitive Vernunft zugleich Anfang und
Ende“: Wie schon zur Übersetzung angemerkt, athetieren Susemihl und
Bywater diesen Satz, weil er den Zusammenhang unterbricht. Zwar ließe
sich der Satz als zusammenfassende Darstellung der doppelten Funktion des
nous in Zeile 1143b4 f. einfügen, wie Rassow vorschlägt und viele Interpre-
ten annehmen. Auch dort fügt sich dieser Satz aber nicht nahtlos ein, beson-
ders in Hinblick auf den nachfolgenden Satz. Es dürfte sich vielmehr um die
Randglosse eines Interpreten handeln, der sich die Doppelfunktion des nous
702 Kommentar
vergegenwärtigt, die ein Schreiber später ihrer Wichtigkeit wegen mit in den
Text aufgenommen hat.
(3.2) 1143b11–14 „Man soll daher die unbewiesenen Aussagen und Mei-
nungen von Erfahrenen, Älteren oder Klugen nicht weniger beachten als
ihre Beweise“: Diese Ermahnung soll dem Eindruck entgegenwirken, man
müsse für alle Lebenslagen Beweise vorbringen. Daher hebt Aristoteles ei-
gens hervor, dass die Erfahrung für das Erfassen des Einzelnen und Letz-
ten entscheidende Bedeutung hat und dass Ältere, Erfahrene und Kluge ein
‚Auge‘ (1143b14: omma) dafür haben. Die Redewendung von einem ‚Auge
der Seele‘ wird im nächsten Kapitel noch einmal aufgenommen (1144a30),
sonst verwendet Aristoteles diese Metapher nicht (vgl. aber die Rede von ei-
ner gewissen angeborenen Sehfähigkeit, opsis, III 7, 1114b5–12).
(3.3) 1143b14–17 „Was also die Klugheit (phronêsis) und die Weisheit (so-
phia) sind … ist damit gesagt“: Diese Schlussbemerkung ist deswegen be-
merkenswert, weil sie eigentlich den Abschluss der Fragestellung des ganzen
Buches markiert. Das legt die Annahme nahe, dass das nachfolgende Kapitel
ursprünglich nicht zum Textbestand gehört hat, sondern eine Art Zusatz ist.
Ob Aristoteles diesen Zusatz als Ergänzung verfasst oder ein Textstück aus
der EE verwendet hat, das er seiner Wichtigkeit wegen als eine Art Anhang
bestehen lassen wollte, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Eine weitere
Zusammenfassung findet sich am Ende von Kap. 13 jedenfalls nicht. Auch
dem Charakter nach unterscheidet sich dieser Appendix deutlich von der
bisherigen expositorischen Darstellung, denn er geht von aporetischen Fra-
gestellungen aus.
der beiden intellektuellen Tugenden für das Leben heraus, sondern auch die
wechselseitige Abhängigkeit von Klugheit und Charaktertugend. Letzterer
Frage gilt Aristoteles’ eigentliches Augenmerk, denn sie bietet die Gelegen-
heit dazu, die Grundlagen der eigenen Theorie zu verdeutlichen, indem er
einerseits die Arbeitsteilung zwischen Klugheit und Charaktertugend, an-
dererseits ihre wechselseitige Abhängigkeit herausstellt: Die Charaktertu-
gend macht das Ziel richtig, während die Klugheit für die Mittel und Wege
zu seiner Verwirklichung sorgt. Ohne die Charaktertugend wäre die Klug-
heit keine Tugend, sondern bloße Geschicklichkeit, so wie umgekehrt die
Charaktertugend ohne Klugheit keine Charaktertugend, sondern nur eine
natürliche gute Anlage wäre. Die Trennung von moralischer Tugend und
Klugheit erweist sich so als Kunstgriff. Aus ihrer Untrennbarkeit ergeben
sich auch Antworten auf Fragen, die nicht im Katalog der Aporien aufge-
führt sind. Dazu gehört sowohl die ‚sokratische Herausforderung‘, alle Tu-
genden seien Formen von Wissen, wie auch die Frage, ob sich die Charak-
tertugenden voneinander trennen lassen.
(1) 1143b18–35: Es geht um vier Aporien: (i) Welchen Nutzen hat die Weis-
heit, wenn sie nicht auf Werdendes bezogen ist? (ii) Welchen Nutzen hat die
Klugheit, wenn Charaktertugenden Dispositionen sind? (iii) Wenn Klug-
heit um des Gutwerdens willen nützlich ist, ist sie weder denen nützlich,
die sie haben, noch denen, die sie nicht haben? (iv) Steht die Klugheit über
der Weisheit? (2) 1143b35–1144a11: Vorläufige Lösungen zu (i) und (ii).
(3) 1144a11–b1: Erklärung zu (ii): Das Verhältnis von Klugheit und Cha-
raktertugend: Klugheit ohne Charaktertugend ist bloße Geschicklichkeit.
(4) 1144b1–17: Weitere Erklärung zu Aporie (ii/iii): Charakterdispositionen
ohne Klugheit können schädlich sein. (5) 1144b17–32: Exkurs zur ‚Sokrati-
schen Frage‘. (6) 1144b32–1145a2: Exkurs zur Frage nach der Trennbarkeit
der verschiedenen Charaktertugenden. (7) 1145a2–6: Ergänzung zur Klug-
heit (ii/iii). (8) 1145a6–11: Antwort auf Aporie (iv).
(1) 1143b18–35 „Jemand könnte aber in Bezug auf Klugheit und Weisheit
das Problem aufwerfen, wozu sie eigentlich nütze sind“: Ob die Aporien ei-
ner Kontroverse entstammen oder Aristoteles’ eigene Erfindungen sind, ist
ungewiss. In jedem Fall hat Aristoteles die Fragestellungen seinen eigenen
Bedürfnissen angepasst, denn sie setzen nicht nur seine Unterscheidung von
Weisheit und Klugheit voraus, sondern auch seine Konzeption der Charak-
tertugend. Der Katalog der Aporien bietet den Anlass zu abschließenden
Klarstellungen. Das gilt auch für die sokratische Frage, die nicht Teil dieses
Katalogs ist.
(1.1) 1143b19 f. „Denn die Weisheit wird keines der Dinge betrachten, die
den Menschen glücklich machen“: Aporie (i), die Frage nach dem Nutzen
704 Kommentar
der Weisheit (sophia), wird nur kurz angesprochen. Denn dass sie nicht
dem Bereich des Werdens gilt und keinen praktischen Nutzen hat, ist all-
gemein eingestanden und macht sogar ihre besondere Würde mit aus (vgl.
7, 1141b2–8: achrêstos). In welcher Weise ihr Besitz dennoch ein Gut für die
Menschen darstellt, wird im Folgenden deutlich.
(1.2) 1143b20–28 „Die Klugheit hat zwar ebendies zum Gegenstand“: Apo-
rie (ii) ist zunächst nicht einfach zu verstehen. Wenn Aristoteles sagt, dass
das Wissen, was gut, gerecht etc. ist, uns nicht handlungsfähiger macht, geht
er anscheinend davon aus, dass auch das Wissen als solches nur eine Dispo-
sition ist. Für sich genommen führt es daher noch nicht zum Handeln, so
wie auch Kenntnisse der Medizin und Gymnastik das nicht von sich aus tun.
(1.3) 1143b28–33 „Wenn jemand hingegen nicht dafür klug zu nennen ist,
sondern weil er gut wird (ginesthai)“: Aporie (iii) wird als echtes Dilemma
präsentiert: Die Klugheit wäre weder denen nützlich, die sie besitzen, noch
denen, die sie nicht besitzen. Das Gutwerden wäre für diejenigen nicht mehr
nützlich, die es bereits sind. Dass das Gutwerden auch für diejenigen nicht
nützlich ist, die die Klugheit nicht besitzen, wird nur kurz damit begründet,
dass es keinen Unterschied macht, ob man selbst klug ist oder den Anwei-
sungen anderer folgt. Eine explizite Antwort auf diese Aporie (iii) schenkt
sich Aristoteles; er hält es wohl für offensichtlich, dass niemand die Mög-
lichkeit des Befolgens der Anweisungen anderer als befriedigende Alterna-
tive ansehen würde. Ob Aristoteles sich auf ein bekanntes Sophisma bezieht,
muss eine offene Frage bleiben.
(1.4) 1143b33–35 „wenn die Klugheit, obwohl sie unter der Weisheit steht,
ihr dennoch überlegen (kyriôtera) wäre“: Aporie (iv) gilt nicht der Nützlich-
keit der Klugheit, sondern der Bedeutung der Annahme, dass sie Anordnun-
gen für das ganze Leben trifft und daher auch Autorität über die Weisheit
ausübt. Die Lösung für diese Frage folgt am Schluss des Kapitels.
(2) 1143b35–1144a11 „Über diese Fragen müssen wir also sprechen“: In die-
ser Erwiderung werden Aporie (i) und (ii) zunächst gemeinsam behandelt.
Als erstes wird klargestellt, warum im Fall dieser Tugenden schon der Be-
sitz als solcher gut ist: Weisheit und Klugheit stellen jeweils den Bestzustand
eines der beiden rationalen Seelenteile dar und sind als solche gut für ihren
Besitzer. Überdies ‚tun‘ sie durchaus etwas, wenn auch nicht im Sinne eines
Herstellens, wie in der Medizin, sondern bereits ihre Anwesenheit bedeutet
ihr Tätigsein, so wie sich die Anwesenheit der Gesundheit wohltätig aus-
wirkt. Aristoteles spielt hier also mit zwei Bedeutungen des Wortes poiein:
‚etwas tun‘ vs. ‚etwas herstellen‘.
(2.1) 1144a5 f. „Da sie ein Teil der Tugend als Ganzer ist, macht sie uns da-
durch glücklich, dass wir sie haben (tôi echesthai) und tätig sind (tôi energ-
ein)“: Damit wird die glücklich machende Wirkung der Weisheit begründet.
Buch VI, Kapitel 13 705
Von der Tugend als einem Ganzen mit Teilen ist sonst nur im Zusammen-
hang mit der Gerechtigkeit die Rede (V 3, 1130a8–10). Da Aristoteles aber
von Teilen der Seele spricht, mit einer je eigenen Tugend, gehört zur Tugend
des Menschen als ganzer auch die Weisheit als ein Teil. Von der Tugend gilt
nun per se, dass ihr Besitz gut ist; zudem gehört dazu auch das Aktivsein.
Die Anwesenheit der Weisheit bedeutet, jedenfalls im Wachzustand, ihr Tä-
tigsein; damit ist Aporie (i) für die Weisheit und implizit auch für die Klug-
heit beantwortet.
Wie zur Übersetzung angemerkt, erscheint der überlieferte Text hier
deswegen problematisch, weil die Wirkweise der Weisheit einmal im Passiv
(‚durch Besessenwerden‘) und einmal im Aktiv (‚durch Tätigsein‘) ausge-
drückt wird, wobei im zweiten Fall unklar ist, ob die Weisheit oder ihr Be-
sitzer aktiv ist. Diese Konstruktion soll aber zum Ausdruck bringen, dass
der Besitz von Weisheit eo ipso ein aktiver Zustand ist. Die Möglichkeit des
Untätigseins, der Apraxie (I 3, 1095b31–33), gibt es im Fall der Weisheit
ebenso wenig wie auch im Fall der Gesundheit: Wenn sie da ist, ist sie auch
aktiv. Dass die Tugenden ein Analogon zur Gesundheit der Seele darstellen,
betont Aristoteles zwar nirgends, seine häufigen Vergleiche mit der Medizin
legen dies jedoch nah.
(2.2) 1144a6–9 „Unsere Funktion (ergon) wird aber auch der Klugheit und
der Charaktertugend entsprechend erfüllt“: Hier wendet sich Aristoteles
Aporie (ii) zu, also dem Zusammenwirken von Klugheit und Charakter-
disposition. Dem Ergon-Argument zufolge besteht das Glück in der ‚Tä-
tigkeit der Seele gemäß der Tugend‘. Wenn die Klugheit anwesend ist, dann
betätigt sie sich im Sinn der Charaktertugenden. Die Charaktertugenden al-
lein können zwar auch bloß potentiell vorhanden sein, im Verein mit der
Klugheit sind sie aber notwendigerweise aktiv. Dass es bei der praktischen
Tugend eine ‚Arbeitsteilung‘ zwischen Streben und rationaler Überlegung
gibt, ist der Erörterung von Beratung, Entscheidung und Wunsch in Buch
III ebenso zu entnehmen wie der Erörterung der Kooperation von prakti-
schem Denken und Streben in VI 2 (bes. 1139a31–36). Erst hier stellt Aris-
toteles aber unmissverständlich klar, dass die Charaktertugend für die Fest-
legung des Ziels verantwortlich ist, die Klugheit dagegen für die Ausführung
all dessen, was zum Erreichen des Ziels führt (so auch EE II 10, 1227a5–18;
11, 1227b22–36). Das heißt aber nicht, wie oft angenommen wird, dass die
Klugheit nur für die Ausarbeitung der Mittel und Wege zuständig ist. Viel-
mehr ist die Klugheit für die Verbindung von Mittel und Ziel zuständig.
(2.3) 1144a9–11 „Beim vierten Teil der Seele, dem vegetativen (threptikon),
gibt es dagegen keine Tugend dieser Art“: Wie schon zu I 13 angemerkt, gibt
es Unterschiede in der Zählweise der Seelenteile. Dass hier von vier Seelen-
teilen die Rede ist, beruht darauf, dass Aristoteles das theoretische und das
praktische Vermögen als zwei verschiedene rationale Seelenteile behandelt
706 Kommentar
(vgl. 12, 1143b16 f.), während er sie in I 13 zusammen als den rationalen Teil
behandelt hat. Der dritte Seelenteil ist hier der auf die praktische Vernunft
hörende, an sich nicht-rationale Teil der Charaktertugenden, der vierte ist
das vegetative Vermögen. Bei der Bestimmung von ‚Teilen‘ der Seele rich-
tet sich Aristoteles offensichtlich nach den Aspekten, die gerade im Vorder-
grund stehen. Da es ihm hier um die Abgrenzung der Tätigkeiten des the-
oretischen und des praktischen Vermögens geht, schreibt er ihnen je einen
eigenen Seelenteil zu. Das vegetative Vermögen hat zwar eine eigene Tugend,
die in der Erfüllung sämtlicher Funktionen besteht (vgl. I 13, 1102b3). Es hat
aber nicht die Fähigkeit, selbst über sein Tun oder Nichtstun zu bestimmen.
(3) 1144a11–b1 „Zur Lösung des Problems, dass man der Klugheit wegen
um nichts geeigneter ist“: Aristoteles nimmt als Antwort auf Aporie (ii) die
Frage auf, wie die Kooperation der Klugheit mit den Charaktertugenden
funktioniert. Dazu greift er insofern weiter zurück, als er den früher erörter-
ten Unterschied zwischen gerechtem oder schönem Handeln und dem Tun
von etwas, was nur de facto gerecht oder schön ist, wieder aufnimmt. Diese
Unterscheidung wurde in II 3 zur Lösung des Paradoxons eingeführt, dass
man, um tugendhaft handeln zu können, die Charaktertugenden bereits be-
sitzen muss. Dazu hat Aristoteles hervorgehoben, dass man Richtiges auch
widerwillig, zufällig oder unter der Anleitung von anderen tun kann. Tu-
gendhaftes Handeln setzt dagegen voraus, dass man nicht nur etwas tut, was
der Tugend gemäß ist, sondern dass man es aufgrund der Tugend tut. Nur
dann ist die Entscheidung richtig. Und ebendies, so wiederholt Aristoteles
hier noch einmal, ist Sache der Charaktertugend, während dasjenige, was
man um ihretwillen ausführt, nicht Sache der Charaktertugend, sondern ei-
nes anderen Vermögens ist. Dass dieses andere Vermögen die Klugheit ist,
ergibt sich aus der weiteren Unterscheidung zwischen den rationalen Fähig-
keiten von Klugheit, Geschicklichkeit und Gerissenheit.
(3.1) 1144a23–b1 „Es gibt ein Vermögen, das man Geschicklichkeit (dein-
otês) nennt“: Von Geschicklichkeit war bisher nicht die Rede: Sie wird als
neutrale Fähigkeit präsentiert, für jedes Ziel die geeigneten Mittel zu finden.
Dient diese Fähigkeit einem schönen Ziel, dann ist sie Klugheit; dient sie
einem schlechten Ziel, dann ist sie Gerissenheit (panourgia). Eine neutrale
Verwendung der Geschicklichkeit kann es in ethischen Belangen aber nicht
geben; denn jede Handlung dient entweder einem guten oder einem schlech-
ten Ziel. Die von Lorenz 2009, 201–207 vorgeschlagene Lösung, dass der Er-
werb der Tugend gemeint und ‚Geschicklichkeit‘ ein noch nicht von der Tu-
gend geformtes praktisches Vermögen ist, ist deswegen unwahrscheinlich,
weil Aristoteles Kindern und Heranwachsenden wohl kaum eine derartige
Fähigkeit zuschreiben würde. Vielmehr dürfte Aristoteles diesem Ausdruck,
Buch VI, Kapitel 13 707
(3.5) 1144a31–34 „Denn die Schlüsse über das, was zu tun ist (syllogismoi tôn
praktôn)“: Wie in 12, 1143b2–4 spricht Aristoteles auch hier scheinbar von
‚Schlüssen‘. Ebendeshalb schreibt man ihm einen ‚praktischen Syllogismus‘
zu. Während an der ersten Stelle aber nur die Rede davon war, dass der nous
die zweite Prämisse erfasst, wird hier die Form des Arguments näher spezi-
fiziert. Es geht aber nicht um Deduktionen nach dem Schema von Anal. pr.
I 1, 24b18–22, sondern um eine Art hypothetischen Berechnens, wie es Aris-
toteles in Phys. II 9 beschreibt: Wenn etwas eine Säge sein soll, dann muss
sie aus Eisen bestehen. Analog setzt das Erreichen eines bestimmten Ziels
notwendig die Erfüllung bestimmter Bedingungen voraus (vgl. auch EE
II 10, 1227a5–18). Dieses Ziel wird durch den Charakter festgelegt; Sache
der Klugheit ist es, die dazu passenden Mittel zu finden. Syllogismos hat hier
also die auch sonst gebräuchliche Bedeutung von ‚Berechnung‘: Es geht um
die Kalkulation dessen, was zu tun ist, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Ein ‚Syllogismus‘ im Sinn der aristotelischen Syllogistik ist nicht gemeint.
(3.6) 1144a34–b1 „Von diesem Anfangspunkt hat aber nur der Gute den
richtigen Eindruck (phainetai)“: Der Sache nach stimmt diese Erklärung
zwar mit der überein, die Aristoteles früher gegeben hat (III 6, 1113a29–33;
7, 1114a31–b25). Dort wird jedoch der Wunsch (boulêsis) als das für den
Eindruck zuständige Vermögen bezeichnet, der das Ziel festlegt (1113a29–
31). In Buch VI vermeidet Aristoteles diese Identifizierung anscheinend ab-
sichtlich, denn vom Wunsch ist gar nicht die Rede. Diese Auslassung hat für
die Theorie wichtige Folgen: Wenn die Charaktertugenden und Laster für
die Zielsetzung verantwortlich sind, dann wird nicht deutlich, ob und wo-
durch die Ziele rational bestimmt werden. Aristoteles scheint eine solche
Bestimmung aber vorauszusetzen, weil er die Anfangspunkte als ‚praktisch‘
bezeichnet (1144a35 f.: peri tas praktikas archas).
(4) 1144b1–17 „Wir müssen daher auch die Charaktertugend noch einmal
untersuchen“: Ein dem Unterschied zwischen Klugheit und Geschicklich-
keit analoges Verhältnis wird nun auch auf Seiten der Charaktertugend kon-
statiert, indem ihr eine ‚natürliche Tugend‘ gegenübergestellt wird. Der
Sache nach ist klar, worin diese Analogie besteht: Wie die Klugheit ohne
Charaktertugend keine Klugheit ist, sondern bloße Geschicklichkeit, so ist
auch die gute Charakterdisposition ohne Klugheit keine Charaktertugend,
sondern bloß eine ‚natürliche Tugend‘ (1144b3: physikê aretê). Von natür-
lichen Tugenden war bisher nicht die Rede. Die Charaktertugenden sind
vielmehr ausdrücklich als Produkte der richtigen Erziehung durch Gewöh-
nung bestimmt worden. Die Einführung natürlicher Tugenden stellt daher
eine wichtige Ergänzung zur Konzeption der Charaktertugend dar, denn
anfangs, d.h. II 1, 1103a18–26, ist die physis als Ursache der Tugend expli-
zit ausgeschlossen worden: Von Natur aus haben wir nur die Fähigkeit, die
Buch VI, Kapitel 13 709
Mensch seiner Ansicht nach prinzipiell gut veranlagt ist, sondern er dürfte
deshalb auf gute Anlagen rekurrieren, weil es ihm um das Komplementär-
verhältnis zwischen Charaktertugenden und Klugheit zu tun ist. Daher be-
gnügt er sich mit der Erklärung, dass natürliche gute Anlagen ohne Anlei-
tung durch die Klugheit schädlich sein können, so wie ‚Klugheit‘ ohne das
richtige Ziel keine Klugheit ist.
(4.3) 1144b12–17 „Wenn aber die Vernunft (nous) dazukommt“: ‚Vernunft‘
wird hier in der allgemeinen Bedeutung des rationalen Vermögens verwen-
det; sie stellt sich in einem gewissen Alter bei einer entsprechenden Erzie-
hung von selbst ein. Sie macht aus der Disposition, die zunächst der Tugend
nur ähnlich ist, die Tugend im eigentlichen Sinn. Mit der Feststellung, dass es
sowohl auf Seiten der rationalen Fähigkeiten wie auch auf der der Charak-
tereigenschaften zwei Arten gibt: Geschicklichkeit und Klugheit, natürliche
und eigentliche Charaktertugend, wobei letztere die Klugheit voraussetzt,
so wie die Klugheit die Charaktertugend voraussetzt, hat Aristoteles impli-
zit auch die Behauptung von Aporie (iii) widerlegt, man komme auch ohne
Klugheit aus, weil man den Anweisungen anderer folgen kann (1144a30–33).
Vielmehr gehört zum Erwachsenwerden auch die Fähigkeit, Entscheidun-
gen selbst zu treffen.
(5) 1144b17–32 „Daher sagen manche, sämtliche Tugenden seien Arten von
Klugheit“: Der Hauptvertreter dieser Theorie ist Sokrates. Manche seiner
Anhänger scheinen sich ihm darin angeschlossen zu haben, wie etwa An-
tisthenes. Aristoteles hält dagegen: Sokrates ist zwar im Irrtum, wenn er
die Tugenden als Arten von Wissen ansieht, hat aber insofern recht, als die
Klugheit notwendigerweise zur Tugend gehört. Die Verwendung des Plu-
rals (1144b18: phronêseis) zeigt an, dass Aristoteles damit nicht die Klug-
heit in seinem speziellen Sinn meint, sondern die allgemeine Verwendung
von phronêsis voraussetzt, die Platon synonym mit sophia und epistêmê ge-
braucht.
(5.1) 1144b18 f. „und deshalb hat Sokrates teils das Richtige gesucht, teils
auch verfehlt“: Gemeint ist zweifellos die Rückführung sämtlicher Tugen-
den auf Wissen, für die Platon Sokrates im Protagoras Beweise liefern lässt
(Prot. 329b–333e; 349a–360d). Da Aristoteles seine Kritik auf Sokrates be-
schränkt und auf ihn ohne Artikel und im Imperfekt verweist, muss er diese
Theorie als solche dem historischen Sokrates zuschreiben. Zu dieser Frage
ist auf ‚Fitzgeralds Canon‘ (Fitzgerald 1850, 163 f.) zu verweisen: ‚Sokra-
tes‘ ohne Artikel bezieht sich auf den historischen Sokrates, ‚der Sokrates‘
dagegen auf die Dialogfigur Platons. Diesen Kanon hat zwar A. E. Taylor
(1911, 41–89) heftig kritisiert, Ross (1924, xxxix–xli) hat ihn aber mit guten
Gründen rehabilitiert. Aristoteles’ Behandlung von Sokrates spricht dafür,
dass man ihn auch Jahrzehnte nach seinem Tod noch als eine Autorität ei-
Buch VI, Kapitel 13 711
genen Schlags anerkannt und bestimmte Doktrinen als echt sokratisch an-
gesehen hat. So schreibt Aristoteles auch die ‚Ironie‘ dem historischen So-
krates zu (IV 13, 1127b22–26) wie auch die Ablehnung der Existenz von
Unbeherrschtheit (VII 3, 1145b23–27 et pass.), während er die Position, dass
Tapferkeit Wissen ist, anscheinend Platons Laches entnommen hat (III 11,
1116b4 f.).
(5.2) 1144b21–25 „Ein Anzeichen dafür ist, dass auch heute alle bei der De-
finition der Tugend … noch hinzufügen, dass sie der richtigen Überlegung
entspricht (kata ton orthon logon)“: Diese ‚allgemeine Meinung‘ dürfte sich
aber auf Aristoteles’ Schule beschränken. Das lässt sich nicht nur aus der
Verwendung der ‚wir‘-Form in der weiteren Gegenüberstellung dieser Auf-
fassung und der sokratischen Position (1144b28–30) schließen, sondern
auch daraus, dass mit den ‚Tugenden‘ hier die Charaktertugenden gemeint
sind. Für Sokrates sind die Tugenden ein Wissen – d.h. sie sind selbst ein lo-
gos (1144b28 f.), während dieser logos für Aristoteles nur das notwendige
Komplement zur Charaktertugend darstellt.
(5.3) 1144b25–28 „Man muss aber noch ein wenig darüber hinausgehen“:
Aristoteles fügt noch eine Richtigstellung die Definition der Charaktertu-
gend betreffend hinzu: Sie ist nicht nur eine Disposition, die ‚der richtigen
Überlegung entspricht‘ (kata ton orthon logon), sondern sie ist ‚mit der rich-
tigen Überlegung‘ (meta tou orthou logou). Damit ist also eine besonders
enge Verbindung zwischen Disposition und Überlegung gemeint. Der Tu-
gendhafte folgt nicht bloß der richtigen Überlegung – etwa indem er den
Anweisungen anderer folgt (1143b30 f.) –, sondern er stellt sie selbst an;
denn wie Aristoteles noch präzisierend hinzufügt, sind die richtige Überle-
gung über diese Dinge und die Klugheit dasselbe (1144b27 f.). Vermutlich
gilt diese Präzisierung zugleich auch der offiziellen Definition der Charak-
tertugend in II 6, 1107a1, in der von dieser Disposition nur gesagt wird, sie
sei durch eine Überlegung bestimmt, so wie sie der Kluge bestimmen würde:
Dieses Verhältnis wird hier genauer gefasst, indem die richtige Überlegung
mit der Klugheit gleichgesetzt wird. Etwas ganz Neues stellt diese Präzisie-
rung in diesem Buch allerding nicht dar. Denn die ‚richtige Überlegung‘ ge-
hört nicht nur zur Bestimmung der Klugheit (2, 1139a23 et pass.), sondern
auch zu der von Kunst (4, 1140a10 et pass.), und dabei alternieren die For-
mulierungen von ‚gemäß der richtigen/wahren Überlegung‘ und ‚mit der
richtigen/wahren‘ Überlegung. In jedem Fall dürfte Aristoteles in Hinblick
auf den orthos logos hervorheben wollen, dass dieser logos keine fixe Größe
ist, sondern seine Ermittlung jeweils dem Klugen überlassen ist. Allgemein
gültige Kriterien für sämtliche möglichen Fälle, oder einen feststehenden ge-
nauen Maßstab (horos), wie in VI 1 anvisiert, kann es dafür nicht geben.
Damit ist keiner partikularistischen Interpretation der aristotelischen Ethik
das Wort geredet; denn was der Sache nach richtig ist, richtet sich nicht nach
712 Kommentar
den Überlegungen des Klugen, sondern der Kluge findet das Richtige durch
seine Überlegungen heraus. Daher muss diese Richtigkeit auch von anderen
beurteilt werden können. Daraus erklärt sich auch die Tatsache, dass ‚die
richtige Überlegung‘ durchweg als etwas Unpersönliches behandelt wird.
(6) 1144b32–1145a2 „Auf diese Weise ließe sich zudem auch das Argument
widerlegen, … dass sich die Tugenden voneinander trennen lassen“: Dieses
Problem ist im Aporienkatalog am Anfang des Kapitels nicht enthalten. Wie
der Irrealis in dieser Periode nahelegt, ‚jemand könnte dafür in dialektischer
Weise argumentieren‘ (1144b33: dialechtheiê), will Aristoteles hier nicht die
‚große Frage‘ der Einheit der Tugenden en passant erledigen, sondern nur
auf eine Möglichkeit eingehen, die sich aus der Annahme natürlicher Tu-
genden ergibt. Das Argument ist nämlich insofern dialektisch, als es von der
plausiblen Annahme ausgeht, der Mensch sei nicht für alle Tugenden von
Natur aus in höchstem Maß begabt (1144b34: euphyestatos), so dass sich die
einzelnen Tugenden zu unterschiedlichen Zeiten einstellen und somit auch
voneinander getrennt existieren können. Diesen Einwand gibt Aristoteles
für die natürlichen Tugenden zu, lehnt ihn jedoch für die Tugenden im ei-
gentlichen Sinn ab, aufgrund deren man die Menschen als schlechthin gut
bezeichnet: Klugheit liegt nur dann vor, wenn sämtliche Charaktertugenden
vorhanden sind.
Was aber garantiert, dass sämtliche Charaktertugenden vorliegen? Denn
sie bedingen einander nicht gegenseitig, sondern werden jeweils durch Ge-
wöhnung, d.h. durch entsprechendes Handeln erworben. So hat Aristoteles
in II 7 weder von einer Einheit noch von der Vollständigkeit der Charakter-
tugenden gesprochen. Zwar deutet er hin und wieder an, dass er seine Liste
für vollständig hält, einen Beweis hat er dafür aber ebenso wenig geführt wie
dafür, dass der Gute sämtliche Tugenden besitzen muss. So könnte man sich
z.B. fragen, ob die Unterhaltsamkeit wirklich unverzichtbar ist und wie es
mit der Tapferkeit vor dem Feind bestellt ist. Jemand, der – wie Aristote-
les selbst – nie Wehrdienst geleistet und im Krieg gewesen ist, hat gar keine
Gelegenheit, diese Disposition durch Gewöhnung auszubilden und im
Handeln anzuwenden. Entsprechendes gilt für die Großzügigkeit und die
Hochgesinntheit: Nur Reiche und gesellschaftlich Hochstehende können
diese Tugenden überhaupt erwerben. Da die Charaktertugenden sehr un-
terschiedlichen Zielen gelten, besteht kein innerer Zusammenhang zwischen
ihnen, sieht man von der universalen Gerechtigkeit ab. Wenn Aristoteles
dennoch das Gesamt der Charaktertugenden und der Klugheit voraussetzt,
so dürfte er damit meinen, gut sei der Mensch erst dann, wenn er sämtliche
für seine Lebensumstände erforderliche Charaktertugenden zusammen mit
der Klugheit entwickelt hat. Einzelne Personen können aber nicht nur mehr
oder weniger vollkommen sein, sondern auch die eine Tugend in höherem,
Buch VI, Kapitel 13 713
die andere in geringerem Maß besitzen. Es ist daher auch kein Widerspruch,
wenn Aristoteles ‚den Guten‘ zwar wie eine gegebene Größe behandelt, aber
auch zugibt, dass wahrhaft gute Menschen selten sind.
(7) 1145a2–6 „Zudem ist offensichtlich, dass man die Klugheit selbst dann
bräuchte“: Mit diesem Nachtrag nimmt Aristoteles nochmals auf die Frage
nach dem ‚Nutzen‘ der Klugheit als solcher Bezug, also auf Aporie (ii). In
seiner Antwort wiederholt er aber nur das bereits zuvor Gesagte (1144a1–
11): Als Tugend eines Seelenteils wäre die Klugheit selbst dann nützlich,
wenn sie (per impossibile) nicht zum Handeln führte. Sie ist das Komple-
ment der Charaktertugend und eine Vollkommenheit der Seele.
(8) 1145a6–11 „Gleichwohl hat die Klugheit keine Autorität (kyria) über die
Weisheit (sophia)“: Hier wird kurz Aporie (iv) aufgenommen (1143b33–35).
Die Erwiderung besteht in der Klarstellung, dass die Fürsorge, welche die
Klugheit für die Existenz der Weisheit ausübt, indem sie entsprechende An-
ordnungen trifft, nicht bedeutet, dass sie über die Weisheit herrscht. Der
höhere Rang der Weisheit ist bereits in Kap. 7 begründet worden: Die Weis-
heit gilt den besten Dingen im Kosmos, die Klugheit nur dem menschlichen
Wohl. Es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Anordnungen an
jemanden und Anordnungen für etwas. Nur im ersten Fall wäre ein ‚Herr-
schaftsverhältnis‘ gegeben.
Es ist hier daran zu erinnern, dass Aristoteles es zu den Aufgaben der po-
litischen Wissenschaft rechnet, für Bildung und Wissen der Bürger zu sor-
gen (I 1, 1094a28–b7). Dass dazu auch die Philosophie gehört, sagt er dort
zwar nicht expressis verbis. In seinem Entwurf eines idealen Staates in der
Politik spielt dieser Gedanke aber eine wichtige Rolle. Es ist die Aufgabe des
Staatsmannes, für das gute Leben zu sorgen und dazu gehört nicht allein die
Ausbildung der praktischen Fähigkeiten, sondern auch die Möglichkeit, sich
theoretische Fähigkeiten anzueignen, sofern daran Interesse besteht. Denn
da die Philosophie ein wesentlicher Teil des guten Lebens darstellt, gehört
zur guten Erziehung auch die Philosophie (Pol. VII, bes. Kap. 15, 1334a11–
40). Dies deutet Aristoteles hier mit der Bemerkung an, es sei Sache des
Politikers, dafür zu sorgen, dass es die Weisheit (sophia) gibt.
Unbeherrschtheit und Beherrschtheit.
Der Begriff der Lust
Buch VII
Allgemeine Vorbemerkungen
Dieses Buch besteht aus zwei selbständigen Traktaten. Der erste gilt den Be-
griffen von Unbeherrschtheit, Beherrschtheit und Verwandtem, der zweite
dem Begriff der Lust. Diese Traktate sind vermutlich auch deswegen zusam-
mengefügt worden, weil sie zusammen eine Buchrolle füllten. Ihre Zusam-
menfügung und Stellung innerhalb des Werks ist aber kein bloßer Zufall,
denn die beiden Teile enthalten wichtige Ergänzungen zur Konzeption der
Charaktertugend und zum Begriff von Lust und Schmerz.
Der erste Traktat (Kap. 1–11) holt weit aus. Die Charaktertugenden
und Laster werden gewissermaßen von außen umrahmt und von innen er-
gänzt. Die ‚obere Umrahmung‘ bildet die übermenschliche, göttliche Tu-
gend, die ‚untere Umrahmung‘ die untermenschliche Schlechtigkeit der
tierischen Rohheit. Eine Art ‚Innenbereich‘ zwischen Tugend und Laster
bilden Beherrschtheit (enkrateia) und Unbeherrschtheit (akrasia), weil die
Beherrschtheit eine weniger gute Disposition ist als die Tugend, die Unbe-
herrschtheit eine weniger schlechte als das Laster.
Der Löwenanteil der Untersuchung gilt diesen beiden ‚innnenliegen-
den‘ Dispositionen; die übermenschliche Tugend wird nur anfangs erwähnt,
die tierische Rohheit in einer Art Appendix zur Unbeherrschtheit behan-
delt. Auch die Beherrschtheit erfährt aber weit weniger Aufmerksamkeit.
Im Zentrum steht vielmehr die Unbeherrschtheit. Der Unbeherrschte wird
als ein Mensch charakterisiert, der zwar die richtige Überzeugung hat, von
ihr aber unter dem Einfluss starker Begierden abweicht. Damit ist ein wich-
tiges Problem angesprochen, das heute üblicherweise unter dem Stichwort
‚Willensschwäche‘ diskutiert wird. Zwar ist es eine Alltagserfahrung, dass
Menschen unter dem Einfluss von Affekten wie Begierde oder Zorn nicht
tun, was sie für richtig halten. Dass Philosophen darin eine Herausforde-
rung sehen, die über Jahrhunderte für Diskussion sorgt, verdankt sich Sok-
rates. Denn Sokrates hat grundsätzlich bestritten, dass Menschen wider bes-
seres Wissen handeln. Der Ausgangspunkt dieser Debatte ist offensichtlich
Buch VII, Allgemeine Vorbemerkungen 715
Kritik an der Lust-Kritik ist aber kein weiteres Beispiel für ein endoxisches
Vorgehen, wie viele Interpreten meinen. Denn die anti-hedonistischen Ar-
gumente werden nicht etwa mit Hilfe von Aporien überprüft, gerechtfertigt
oder richtiggestellt, sondern sie werden sämtlich zurückgewiesen (Kap. 13).
Da Aristoteles den Schwerpunkt auf die Kritik legt, lässt er seine eigene
Vorstellung unkommentiert, dass Lust in ungehinderter natürlicher Tätig-
keit besteht. Er lässt auch nicht erkennen, ob dies für alle Arten von Lust
gilt (Kap. 14), sondern beschränkt sich darauf, die schlechte Reputation der
Lust auf eine Überbewertung bestimmter körperlicher Lüste zurückzufüh-
ren (Kap. 15). Eine umfassende Erklärung der Natur von Schmerz oder Un-
lust gibt er nicht.
Wie diese Charakteristik zeigt, ist das kurze Textstück nur das Fragment
einer Abhandlung über die Lust (‚Version A‘). Buch X (Kap. 1–5) enthält
eine weitere Abhandlung (‚Version B‘), die zwar Ähnlichkeiten mit der ers-
ten Abhandlung aufweist, auf sie aber keinen Bezug nimmt. Auch die Be-
handlung der Lust in Version B geht von einer Kritik an andersartigen Vor-
stellungen aus. Sie nimmt aber die prohedonistische Position des Eudoxos
als Ausgangspunkt, fasst die Kritik an der Position der Antihedonisten kür-
zer und erläutert die eigenen Vorstellungen ausführlicher (vgl. die Synopse
bei Gosling/Taylor 1982, 199–204 und den Vergleich bei Harte 2014). Ver-
sion B scheint eine Neubearbeitung der Thematik zu sein, die Version A
ersetzen sollte. Dass antike Herausgeber diese Doppelfassung einfach über-
sehen haben, ist unwahrscheinlich. Vielmehr dürften sie sich angesichts der
Unterschiede in der Behandlung der Lust entschlossen haben, beide Ab-
handlungen an ihrem Platz zu belassen, so wie sie sich auch sonst mit ord-
nenden Eingriffen zurückgehalten haben.
(1) 1145a15–22 „Danach müssen wir erklären, indem wir einen anderen An-
fang machen, dass es den Charakter betreffend drei Arten von Dispositionen
gibt“: Der ‚andere Anfang‘ (allê archê) bedeutet nicht die Abkehr vom Vo-
rangegangenen, sondern eine deutliche Ausweitung des Spektrums von Tu-
gend und Schlechtigkeit. Denn hier werden bisher nicht berücksichtigte Ar-
ten von Dispositionen einbezogen. Zur Tugend tritt die ‚göttliche Tugend‘
als eine Art ‚Übermaß‘ hinzu. Die Schlechtigkeit wird entsprechend durch
die ‚tierische Rohheit‘ ergänzt. Unbeherrschtheit und Beherrschtheit liegen
zwischen Übermaß und Mangel. Die Behandlung dieser weiteren Formen
hat Aristoteles absichtlich an den Schluss der Erörterung der Charaktertu-
genden gestellt; denn so kann er klarstellen, dass er Unbeherrschtheit und
Beherrschtheit in einem engeren Sinn als dem umgangssprachlich weiten
Sinn verwendet, der keine klaren Grenzen zwischen Unbeherrschtheit und
Zügellosigkeit, zwischen Beherrschtheit und Besonnenheit macht. Denn
Unbeherrschtheit wird vielfach mit Charakterschwäche und Schlechtigkeit
überhaupt gleichgesetzt, Beherrschtheit mit Charakterstärke und Tugend.
(1.1) 1145a17 „tierische Rohheit“: Die Übersetzung von thêriotês mit ‚tieri-
scher Rohheit‘ wird gewählt, weil ‚Bestialität‘ zu krass ist, während ‚Bruta-
lität‘ absichtliche Grausamkeit und Gewalt insinuiert. Diesen Terminus, den
Aristoteles anscheinend selbst geprägt hat, verwendet er in seinen biologi-
schen Schriften nicht, so wie er überhaupt den Tieren keine untermenschli-
che Schlechtigkeit zuschreibt. Vielmehr versteht er unter tierischer Rohheit
abnorme und krankhafte Veranlagungen bei Menschen; denn Tugenden und
Laster jeglicher Art gibt es nur im Bereich des Menschlichen (vgl. Natali
2009a).
(1.2) 1145a19 „übermenschliche Tugend (hyper hêmas aretê)“: Auf die
‚übermenschliche Tugend‘ kommt Aristoteles später nicht wieder zurück;
Buch VII, Kapitel 1 721
sie stellt nur den Gegenbegriff zur tierischen Rohheit dar. Sie kennzeich-
net heroische Ausnahmegestalten: Priamos will mit diesen Worten Achilleus
zur Herausgabe seines toten Sohnes Hektor bewegen (Homer, Ilias XXIV,
258 f.). Da man im Griechischen Dinge, die Menschenmaß überschreiten,
gern als ‚göttlich‘ bezeichnet hat, sind solche Annäherungen an den Bereich
des Göttlichen weniger ungewöhnlich als im Deutschen.
(2) 1145a22–35 „Wenn also, wie man sagt, durch das Übermaß der Tugend
aus Menschen Götter werden“: Die ‚Vergöttlichung‘ bestimmter Sterblicher
ist Teil der griechischen Mythologie, wie etwa der Herakles-Sage. Mit sol-
chen Rekursen auf traditionelle Vorstellungen verbindet Aristoteles aber zu-
meist besondere Absichten. Eine Apotheose von Menschen hat er nicht im
Sinn, sondern nur einen Vergleich der ungewöhnlich hohen Tugend mit ih-
rem Gegenteil, der tierischen Rohheit.
(2.1) 1145a27–35 „Wie aber ein göttlicher Mann selten ist“: Weder der göttli-
che Philosoph ist hier gemeint, noch auch der ‚große Mann‘, den Aristoteles
in der Politik verschiedentlich erwähnt. Denn ersterer übertrifft die anderen
an Weisheit, nicht an Tugend, letzterer an politischer Klugheit, insbesondere
die Gesetzgebung betreffend, so dass ihm freiwillig die Herrschaft zu über-
lassen ist (Pol. III 13, 1284a3–17 et pass.). Der ‚göttliche Mann‘ zeichnet sich
vielmehr durch ein ungewöhnlich hohes Maß an Charaktertugenden aus.
(2.2) 1145a28 f. „so pflegen die Spartaner in ihrer Mundart jemanden einen
‚göttlichen Mann‘ (seios anêr) zu nennen, den sie sehr bewundern“: In den
Aristoteles-Handschriften ist keine Lesart mit ‚s‘ statt ‚th‘ überliefert; viel-
mehr erwähnt sie der anonyme Kommentator (409,14: houtos anêr seios es-
tin, êtoi theios). Ohne sie ist aber der Verweis auf die spartanische Mundart
unverständlich, die für ein Lispeln spricht. Dass ‚göttlich‘ im Attischen als
Epitheton nur ironisch gebraucht wurde, wie Burnet 1900, 200 meint, ist
deswegen zweifelhaft, weil Platon es öfters ernsthaft gebraucht. Besonders
einprägsam ist seine Einführung des Eleatischen Fremden als ‚göttlichen
Mann‘ (Soph. 216b: theios anêr).
(2.3) 1145a29–35 „so ist auch der tierisch Rohe (thêriôdês) unter den Men-
schen selten“: Die tierische Rohheit wird im Folgenden als abnorme Dis-
position spezifiziert. Dabei werden zwei Arten von Abartigkeit unterschie-
den: zum einen die Lebensweisen bestimmter Barbarenvölker, zum anderen
die Verhaltensweisen von Kranken und Wahnsinnigen, die auch unter den
Griechen vorkommen. Anders als die ‚göttliche Tugend‘ werden beide Ar-
ten später ausführlicher erörtert (6, 1149a7–20; 7, 1149b27–1150a8).
(2.3.1) 1145a32 f. „Zudem gebrauchen wir es als Schimpfwort (epidysphê-
moumen)“: Im Unterschied zum Abstraktum thêriotês finden sich für das
Adjektiv thêriôdês viele Belegstellen, auch vor Aristoteles, zur Kennzeich-
nung wilder, brutaler Menschen und ihres Verhaltens. Aristoteles kritisiert
722 Kommentar
z.B. die Erziehungsmethoden der Spartaner, weil sie ihre Kinder brutalisie-
ren, ihnen wahre Tapferkeit aber nicht vermitteln (Pol. VIII 4, 1338b12–30).
(3) 1145a35–b2 „Wir müssen nun aber die Unbeherrschtheit (akrasia) und
die Weichlichkeit (malakia) und Schlaffheit (tryphê) erörtern, ebenso wie
die Beherrschtheit (enkrateia) und die Standhaftigkeit (karteria)“: Wie
Aristoteles später deutlich macht, sind Unbeherrschtheit und Beherrscht-
heit auf die Lust bezogen, Weichlichkeit und Standhaftigkeit auf den
Schmerz (8, 1150a32–b5).
(3.1) 1145a35 f. „die Unbeherrschtheit und die Weichlichkeit und Schlaff-
heit“: Der griechische Text enthält nur eine einfache Aufzählung dieser drei
negativen Eigenschaften. Da ihnen aber nur zwei positive gegenüberstehen,
muss mit Schlaffheit eine Unterart der Weichlichkeit gemeint sein. Im ge-
wöhnlichen Sprachgebrauch bezeichnet tryphê Luxus und Verwöhntheit
überhaupt (vgl. Platon, Gorg. 525a et pass.). Aristoteles wird sie als die Unfä-
higkeit kennzeichnen, irgendwelche Unlustgefühle zu ertragen (8, 1150b1–
5; vgl. III 10, 1116a14 f.).
(3.2) 1145a36–b2 „die eine sei dieselbe Disposition wie die Tugend, die an-
dere wie die Schlechtigkeit“: Der Satz ist nachlässig konstruiert: Beherrscht-
heit und Unbeherrschtheit etc. sind zwar nicht Tugend oder Schlechtigkeit
im strikten Sinn, bilden aber auch keine eigene Gattung (genos), sondern
sind abgeschwächte Formen beider Arten. Beherrschtheit und Standhaftig-
keit sind weniger gut als die Besonnenheit, Unbeherrschtheit und Weich-
lichkeit weniger schlecht als die Zügellosigkeit. Bei der Zuschreibung einer
eigenen Gattung schwankt Aristoteles gelegentlich (9, 1150b35 f.).
(4) 1145b2–7 „Wir müssen jedoch, wie auch in anderen Fällen, feststellen,
was als wahr erscheint (phainomena), und, indem wir zuerst die Schwierig-
keiten durchgehen (diaporêsantas), möglichst sämtliche anerkannten Mei-
nungen (panta ta endoxa) über diese Arten von Dispositionen bestätigen“:
Mit dieser kurzen Bemerkung zur Methodik führt Aristoteles die ‚endoxi-
sche‘ Methode ein. Ihre Bedeutung wird unter Fachleuten kontrovers disku-
tiert. Wie in der Allgemeinen Einleitung (§ 5) näher ausgeführt, sehen viele
Interpreten in dieser Stelle das Paradebeispiel für Aristoteles’ Methodik zur
Erarbeitung von Grundbegriffen und Grundprinzipien schlechthin, nicht
nur in der Ethik, sondern auch in anderen Bereichen seiner Philosophie.
(4.1) 1145b3 „wie auch in anderen Fällen (epi tôn allôn)“: Interpreten, wel-
che die Behandlung von Endoxa als die Methode schlechthin ansehen, über-
setzen epi tôn allôn mit ‚die übrigen Fälle‘ oder sogar ‚alle übrigen Fälle‘.
Dagegen ist aber grundsätzlich einzuwenden, dass Aristoteles diesen Aus-
druck oft in dem vagen Sinn von ‚sonst‘ verwendet (vgl. II 2, 1103b35; VI 1,
Buch VII, Kapitel 1 723
1138b21 f.; 8, 1141b17 f.: en tois allois; An. post. I 12, 77a41; Cat. 5, 3a6; Pol.
I 1, 1252a18–23).
(4.2) 1145b3 „feststellen, was der Fall zu sein scheint (tithentas ta phaino-
mena)“: Die Übersetzung bringt die prägnante und daher gern zitierten For-
mulierung nicht zum Ausdruck (‚die Phänomene feststellen‘, vgl. Met. Λ
8, 1073b36; 1074a1: ta phainomena apodôsein = ‚die Phänomene erklären‘).
Da es hier um Meinungen geht, wäre die Übersetzung von phainomena mit
‚Phänomene‘ aber irreführend, denn damit meint Aristoteles sonst auch Tat-
sachen, Beobachtungen oder bloße Erscheinungen. Eine genaue Parallele
zu dieser Stelle findet sich nicht (eine nahe Verbindung zwischen ‚Phäno-
menen‘ und ‚anerkannten Meinungen‘ wird aber z.B. in Cael. III 4, 303a22
hergestellt: Die Theorie der Atomisten hebt die anerkannten Meinungen
ebenso auf wie das, was der Wahrnehmung erscheint).
(4.3) 1145b4 „indem wir zuerst Schwierigkeiten durchgehen (diaporêsan-
tas)“: Den Katalog von Schwierigkeiten stellt Aristoteles zwar selbst auf
(Kap. 3), berücksichtigt dabei aber offensichtlich neben eigenen Einwänden
auch bekannte Fragen und Standpunkte.
(4.4) 1145b4–7 „möglichst sämtliche anerkannten Meinungen (panta ta en-
doxa) über diese Arten von Dispositionen rechtfertigen“: Zu den Endoxa
merkt Aristoteles in der Topik an (I 1, 100b26–101a1) an, dass sie weder of-
fensichtlich wahr sind, wie die Prämissen wissenschaftlicher Demonstratio-
nen, noch auch offensichtlich falsch, wie die Prämissen eristischer Schlüsse.
Wenn Aristoteles hier so spricht, als ließen sich sämtliche anerkannten Mei-
nungen rechtfertigen, oder doch „die meisten und wichtigsten“, so ist zu
beachten, dass die aufgezählten Endoxa z.T. einander widersprechende Mei-
nungen enthalten und die meisten gewisse Modifikationen erfahren. Das
passt wiederum gut zu der Erklärung aus Top. I 2, 101a33–36, man müsse an
den Meinungen der Mehrheit ‚zurechtrücken‘ (metabibazein), was an ihnen
nicht richtig erscheint. Diese aufwendige Überprüfungsmethode hält Aris-
toteles hier offensichtlich deswegen für angebracht, weil sie ihm die Gele-
genheit gibt, die Besonderheit von Unbeherrschtheit und Beherrschtheit ge-
genüber Tugend und Laster genauer herauszuarbeiten.
(4.5) 1145b7 „dann wäre ein hinreichender Nachweis erbracht (dedeigme-
non hikanôs)“: Die vorsichtige Ausdrucksweise zeigt, dass Aristoteles we-
der Anspruch auf Vollständigkeit der Endoxa und Aporien noch auf die lo-
gische Stringenz seiner Antworten erheben will, sondern nur eine Klärung
der Begriffe von Unbeherrschtheit, Beherrschtheit und ihrer Supplementbe-
griffe Weichlichkeit und Standhaftigkeit beabsichtigt.
724 Kommentar
Endoxon (5) 1145b17–19: Klugheit und Unbeherrschtheit sieht man teils als
inkompatibel, teils als kompatibel an.
(1) 1145b8–10 „Man meint nun von Beherrschtheit (enkrateia) und Stand-
haftigkeit (karteria), sie gehörten zu den guten und lobenswerten … Din-
gen“: Endoxon (1) wird zwar nirgends explizit bestritten. Es wird aber deut-
lich, dass die Beherrschtheit nicht uneingeschränkt gut sein kann, weil der
Beherrschte starken Begierden ausgesetzt ist. Entsprechendes gilt auch für
den Standhaften im Verhältnis zum Schmerz. Auch das negative Urteil über
die Unbeherrschtheit wird später noch modifiziert: Der Unbeherrschte ist
nur ‚halbschlecht‘ (11, 1152a17).
Buch VII, Kapitel 2 725
(2) 1145b10–12 „Man meint, derselbe Mensch sei beherrscht (enkratês) und
disponiert, bei seiner Überzeugung zu bleiben (emmenetikos tôi logismôi)“:
Adjektive mit der Endung ‚-ikos‘ werden von Aristoteles vielfach zur Kenn-
zeichnung von Dispositionen verwendet. Dieses Endoxon wird im Folgen-
den nicht in Frage gestellt oder modifiziert.
(3) 1145b12–14 „Auch handelt der Unbeherrschte, der weiß, dass schlecht
ist, was er tut, aufgrund eines Affekts (pathos)“: Diese Bestimmung ent-
hält eine Art Definition der Unbeherrschtheit, die später das Wissen be-
treffend noch näher untersucht, als solche aber nicht in Frage gestellt wird
(bes. Kap. 5). Entscheidend ist für Aristoteles, dass der Unbeherrschte wis-
sentlich etwas Falsches tut und dabei den Begierden nachgibt, während der
Beherrschte von den Begierden zwar gleichfalls affiziert wird, ihnen aber
nicht nachgibt. Die Art des Wissens und der Begierden sind Gegenstand der
weiteren Untersuchung.
(4) 1145b14–17 „Man meint, der Besonnene (sôphrôn) sei beherrscht (en-
kratês) und standhaft (karterikos)“: Dieses Endoxon enthält eine Zusam-
menfassung über das Verhältnis von Besonnenheit zu Selbstbeherrschung
einerseits und über das Verhältnis von Zügellosigkeit zu Unbeherrschtheit
andererseits. Unstimmigkeit herrscht darüber, ob man auch das Umgekehrte
sagen kann, betrifft also die Konvertierbarkeit der Begriffe. Die eine Par-
tei hält die Begriffe für synonym, sieht also keinen Unterschied zwischen
Besonnenheit und Beherrschtheit, die andere Partei meint das nicht, son-
dern sieht in der Beherrschtheit die schwächere Haltung, so dass man nicht
in jedem Fall den Beherrschten besonnen nennt. Wenn dasselbe Verhältnis
zwischen Zügellosigkeit und Unbeherrschtheit bestehen soll, dann muss ge-
meint sein, dass die einen keinen Unterschied zwischen diesen Dispositio-
nen machen, während die anderen den Unbeherrschten nicht in jeder Hin-
sicht für zügellos halten. Aristoteles selbst stimmt keiner dieser Parteien zu;
denn Besonnenheit und Beherrschtheit sind verschiedene Dispositionen, so
dass man den Besonnenen nicht beherrscht nennen darf, und Entsprechen-
des gilt für den Zügellosen und den Unbeherrschten (Kap. 13).
(4.1) 1145b14 f. „Man meint, der Besonnene (sôphrôn) sei beherrscht (en-
kratês) und standhaft (karterikos)“: Wie bereits zu Kap. 1 angemerkt, macht
der gewöhnliche Sprachgebrauch oft keinen Unterschied zwischen ‚beson-
nen‘, ‚beherrscht‘ oder ‚standhaft‘. Platon behandelt die Besonnenheit (sô-
phrosynê) manchmal in einer Weise, die eine Übersetzung mit ‚Beherrscht-
heit‘ erfordert. So lässt er etwa das ‚Herrschen über sich selbst‘ als Tugend
empfehlen (Gorg. 491d; Resp. IV 431a–d; zur Vielzahl der Bedeutungen
von sôphrosynê im Charmides vgl. den Kommentar zur Besonnenheit in
III 13).
726 Kommentar
(5) 1145b17–19 „Vom Klugen (phronimos) sagt man manchmal (hote men),
dass er nicht unbeherrscht sein kann“: Auch hier werden zwei einander wi-
dersprechende Positionen vorgestellt. Anders als zuvor geht es hier aber um
den Klugen und nicht um den Besonnenen.
(5.1) 1145b18 f. „manchmal sagt man aber auch von einigen (enioi) Men-
schen, die klug (phronimoi) und geschickt (deinoi) sind, sie seien unbe-
herrscht“: Das ‚und‘ muss hier explikativ gemeint sein. Denn wie Aristote-
les dazu später anmerkt, sehen die Menschen oft den Unterschied zwischen
Klugheit und Geschicklichkeit ihrer Nähe wegen nicht (11, 1152a6–24).
Weil sie nicht wissen, dass die Klugheit den Besitz der Charaktertugenden
voraussetzt, halten sie Klugheit nicht für unvereinbar mit Unbeherrschtheit
(Kap. 11).
Aporie (3) 1146a16–21: An welcher Art von Meinung hält der Beherrschte
fest?
Aporie (4) 1146a21–31: Wie ist mit dem sophistischen Argument umzuge-
hen, dass Unverstand gepaart mit Unbeherrschtheit Tugend ist?
Aporie (5) 1146a31–b2: Ist die Disposition, die auf falschen Überzeugun-
gen beruht, leichter heilbar als die affektbestimmte Disposition des Unbe-
herrschten?
(1) 1145b21–1146a9 „Man könnte nun eine Schwierigkeit darin sehen, wie
jemand, der richtig urteilt (hypolambanôn orthôs), sich unbeherrscht verhal-
ten kann“: Dazu werden im Folgenden verschiedene Arten richtigen Urtei-
lens überprüft, nämlich Wissen, Meinung und Klugheit. Als erstes wird das
Wissen untersucht und Sokrates als dessen Protagonist vorgestellt. Aporie 1
nimmt damit Bezug auf Endoxon 3, dass der Unbeherrschte weiß, dass sein
Handeln schlecht ist.
(1.1) 1145b23 f. „Denn wie Sokrates gemeint hat, wäre es erstaunlich
(deinon), wenn bei jemandem zwar Wissen vorhanden wäre, etwas ande-
res aber seiner Herr würde und es herumzerrte wie einen Sklaven (kratein
kai perihelkein autên hôsper andrapodon)“: Die sokratische Position aus
Platons Protagoras (352b–c) wird beinah wörtlich zitiert: „Sie denken vom
Wissen wie von einem Sklaven, der von allen anderen herumgezerrt wird“
(vgl. dazu Taylor 1976, 170–200; Manuwald 1999, 378–383; 393–401). Diese
sokratische Position vertritt Platon nur im Protagoras; sonst macht er nicht
Unwissenheit, sondern Konflikte zwischen den verschiedenen Seelentei-
len für die Unbeherrschtheit verantwortlich (Resp. IV 439e–440b: die Ge-
schichte des Leontios; vgl. auch Phdr. 246a–e; 253c–254e; Soph. 252c; Tim.
86d; Leg. I 636c). Da Sokrates hier ohne Artikel und seine Meinung im
Imperfekt angeführt werden, ist nach ‚Fitzgerald’s Canon‘ der historische
Sokrates gemeint (vgl. dazu die Anmerkungen zu VI 13, 1144b28–32; vgl.
auch EE VIII 1, 1248b34–36 und das ‚sokratische Prinzip‘ (to Sôkratikon),
nichts sei stärker als die Klugheit (phronêsis). Nach Xenophon hat Sokra-
tes nicht zwischen Weisheit (sophia) und Besonnenheit (sôphrosynê) unter-
schieden, sondern hat ‚weise‘, ‚besonnen‘ und ‚beherrscht‘ (enkratês) wie
Synonyme behandelt, den Unbeherrschten (akratês) mit dem Unweisen
(asophos) gleichgesetzt (Memorabilien III 9, 4 f.). An anderer Stelle lässt Xe-
nophon Sokrates allerdings auch die Ansicht vertreten, der Mensch könne
der Sklave seiner Lüste werden (Memorabilien I 5, 1–5; II 1, 5; IV 5–11:
728 Kommentar
Meinung nur eine schwache Kraft ist, wird von Aristoteles als reductio ad
absurdum dieser Annahme behandelt. Die Einführung dieses Gedankens
mit alla mên (1145b36) und die Tatsache, dass Aristoteles nicht mehr die in-
direkte Rede benützt, spricht dafür, dass er die Folgerung teilt.
(1.4) 1146a4–9 „Ist es also (ara) die Klugheit (phronêsis), die Widerstand
leistet?“: Das ‚also‘ in der Frage verlangt nach weiterer Aufklärung. Das
Wissen wird hier durch die ebenfalls ‚starke‘ Klugheit ersetzt. Auch diese
Möglichkeit, die auch in Endoxon 5 angesprochen ist, wird zurückgewiesen:
Der Kluge ist vielmehr in besonderer Weise zum Handeln disponiert (prak-
tikos), weil er über die Kenntnisse aller für das Handeln relevanten einzelnen
Umstände verfügt (vgl. III 5, 1112b19–24 et pass.), so dass Unwissen ausge-
schlossen ist. Zudem hat der phronimos sämtliche Tugenden, ist also starken
und schlechten Begierden gar nicht ausgesetzt (11, 1152a6–15).
(2) 1146a9–16 „Ferner: Wenn der Beherrschte sich dadurch auszeichnet, dass
er starke und schlechte Begierden hat“: Hier wird keine weitere Schwierig-
keit vorgestellt, sondern Endoxon 4 kritisiert: Es besteht keine Äquivalenz
zwischen Besonnenheit und Beherrschtheit und auch kein Implikationsver-
hältnis, weil der Besonnene weder schlechten noch heftigen Begierden un-
terliegt (vgl. III 13, 1117b24 f.; 14, 1119a16–20).
(2.1) 1146a12–16 „die der Beherrschte doch haben muss“: Der Text ist hier
sehr komprimiert formuliert. Die Sachlage ist aber klar: Eine reductio soll
zeigen, dass die Begierden des Beherrschten heftig und schlecht sein müs-
sen, weil die Beherrschtheit andernfalls nichts Gutes sein kann. (i) Wä-
ren die Begierden gut, so wäre es schlecht, ihnen zu widerstehen; vielmehr
müsste man ihnen nachgeben. (ii) Wären die Begierden schwach, aber nicht
schlecht, dann läge im Widerstand gegen sie nichts Positives. (iii) Wären die
Begierden zwar schlecht, aber schwach, dann wäre der Widerstand keine
besondere Leistung. Somit ist klar, dass Beherrschtheit im Widerstand ge-
gen starke und schlechte Begierden besteht und mit der Besonnenheit
nicht gleichzusetzen ist. Aristoteles sagt zwar nicht expressis verbis, dass
die Beherrschtheit nicht, wie in Endoxon 1 vorgesehen, zu den uneinge-
schränkt guten und lobenswerten Dingen gehört, legt diese Folgerung aber
nah.
(3) 1146a16–21 „Ferner: Wenn die Beherrschtheit einen bei jeder Meinung
bleiben lässt, dann ist sie schlecht, wenn sie es bei einer falschen tut“: Dieser
kurze Paragraph zeigt die Ergänzungsbedürftigkeit von Endoxon 1 und 2,
die nichts darüber sagen, dass Beherrschtheit allein im Festhalten an richti-
gen Überzeugungen besteht. Anders als in Aporie 2 geht es hier nicht um die
Art der Affekte, sondern um die Überzeugung: Beherrschtheit kann nicht
im Festhalten an jeder Art von Meinung bestehen, da diese auch falsch sein
730 Kommentar
(4) 1146a21–31 „Ferner stellt die Beweisführung der Sophisten eine Schwie-
rigkeit dar“: Dieses Argument geht insofern über Aporie 3 hinaus, als es
behauptet, dass unbeherrschtes Verhalten gepaart mit Unwissenheit eine
Tugend ist; denn der Betreffende tut aus Begierde etwas, das er selbst für
schlecht hält, was aber in Wahrheit gut ist. − Es ist klar, dass das Zusammen-
treffen zweier einander ausgleichender Fehler nicht als Tugend bezeichnet
werden kann. Es mag daher verwundern, dass Aristoteles auch nur vorgibt,
in dieser sophistischen Argumentation eine ‚erhebliche Schwierigkeit und
ein ernsthaftes Hemmnis für das Denken‘ zu sehen, weil es angeblich den
Widerspruch nicht aufzulösen vermag. Die Auflösung des Paradoxons ist
aber deswegen nicht ganz leicht, weil Bedingungen mit aufzunehmen sind,
die bisher in den allgemein abgefassten Endoxa 1 und 2 über Beherrschtheit
und Unbeherrschtheit fehlen: dass die allgemeinen Überzeugungen nicht de
facto falsch sein dürfen und die schlechten Begierden keiner Sache gelten
dürfen, die de facto gut ist. Ob ein Sophist tatsächlich gerade dieses Argu-
ment vorgebracht hat oder ob Aristoteles es in Analogie zu anderen sophis-
tischen Argumenten konstruiert hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Apo-
rie 4 wird als einzige später nicht wieder aufgenommen.
(5) 1146a31–b2 „Ferner: Wer aus Überzeugung handelt (tôi pepeisthai) und
das Lustvolle aus eigener Entscheidung verfolgt, den könnte man für besser
halten“: Diese Aporie über die angeblich leichtere Heilbarkeit des Überzeu-
gungstäters setzt einen rein rationalen Hedonisten ohne Begierden voraus.
Da diese Annahme aber nicht explizit gemacht wird, halten manche Kom-
mentatoren Aporie 5 für ein ‚zweites Sophisma‘ (Stewart 1892, II 136 f.).
Dagegen spricht allerdings, dass Aristoteles nicht darauf hinweist, dass es
sich um ein Paradoxon handelt, sondern auf Aporie 5 in 9, 1150b29–36 zu-
Buch VII, Kapitel 3 731
rückkommt und die Gründe dafür nennt, warum der Zügellose nicht heil-
bar ist.
(5.1) 1146a34 f. „Wenn einen das Wasser würgt, was soll man dann noch
trinken?“: Die eingängige Sprichwort-Frage wird außer in Aristoteles-
Kommentaren auch sonst verschiedentlich zitiert, so etwa bei Galen, De dif-
ferentiis pulsuum IV, 8 577.14; Niketas Choniates, Historia Alex. III, 1 453.7;
Appendix Proverbiorum IV, 34.
(5.2) 1146a35–b2 „Nun tut er aber trotz seiner Überzeugung dennoch etwas
anderes“: Die Schwierigkeiten, die Bywater mit anderen Herausgebern zu
einer Textänderung veranlasst haben, ergeben sich daraus, dass die extrem
verkürzte Ausdrucksweise das Verständnis der Folgerung erschwert, ‚wie es
wäre, wenn ...‘. Der Sache nach will Aristoteles Folgendes sagen: Wenn man
den Unbeherrschten davon überzeugen müsste, solches Handeln zu unter-
lassen, dann wäre er heilbar. Da er aber schon die richtige Überzeugung hat,
dass er es unterlassen soll, und dennoch etwas anderes tut, ist er nicht heilbar
(so auch B/R, 129 Anm. 29). Das Problem des Unbeherrschten liegt nicht
in der Art seiner Überzeugungen, sondern in seiner Unfähigkeit, sich von
ihnen leiten zu lassen.
(1) 1146b6–8 „Die Schwierigkeiten (aporiai), die sich ergeben, sind etwa von
dieser Art“: Aristoteles deutet an, dass er für den Katalog von Aporien kei-
nen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Seine knappen Anweisungen zum
Umgang mit den Aporien werden von manchen Herausgebern als Abschluss
Buch VII, Kapitel 4 733
des Aporienkapitels behandelt, wie etwa von Bywater, während andere sie –
nach Bekker − als Anfang des Folgenden verstehen. Wichtiger als die Frage
der Zugehörigkeit dieses Übergangssatzes ist die Bedeutung der Alterna-
tive im Umgang mit Aporien. Es könnte zunächst irritieren, dass Aristoteles
ohne Begründung sagt, die Aporien müsse man entweder auflösen (anhai-
rein = ‚aufheben‘) oder beiseitelassen (kataleipein). Tatsächlich ist die ein-
zige Schwierigkeit, die im Folgenden beiseitegelassen wird, die sophistische
Aporie 4. Aristoteles scheint seinen Zuhörern und Lesern zuzutrauen, sich
von dieser ‚Fessel für den Geist‘ selbst zu befreien (3, 1146a21–27).
(2) 1146b8–14 „Als erstes muss man nun prüfen, ob Unbeherrschte mit Wis-
sen handeln oder nicht, und wie sie es wissen“: Diese Frage bezieht sich auf
Endoxon 3 und Aporie 1, denn der Versuch, das Wissen durch Meinung
oder durch Klugheit zu ersetzen, hat sich als nicht haltbar erwiesen. Die
Frage nach der Art des Wissens wird im folgenden Kapitel eingehend erör-
tert.
(2.1) 1146b9–11 „auf welche Art von Dingen man die Unbeherrschten
und die Beherrschten beziehen soll“: Aristoteles geht davon aus, dass Lust
und Schmerz Gegenstand von Beherrschtheit und Unbeherrschtheit sind
und fragt nur nach ihren Arten. Dies ist in Aporie 5 (1146a31 f.) vorausge-
setzt; vom Schmerz ist dort aber nicht die Rede. Diese Frage ist das Thema
von Kap. 6, das eine Differenzierung der Lust vornimmt und Beherrscht-
heit und Unbeherrschtheit auf bestimmte physische Arten von Lust be-
schränkt.
(2.2) 1146b11–13 „ob der Beherrschte und der Standhafte ein und derselbe
ist oder ob sie voneinander verschieden sind“: Der Unterschied zwischen
dem Beherrschten und dem Standhaften ist in Endoxon 4 angesprochen, in
den Aporien aber nicht thematisiert worden. Diese Frage wird in Kap. 8 nä-
her untersucht: Standhaftigkeit gilt physischem Schmerz, ist also nicht auf
denselben Gegenstand bezogen wie die Beherrschtheit.
(2.2.1) 1146b13 f. „die zu dieser Untersuchung gehören (hosa syngenê tes
theôrias esti tautês)“: Theôria hat hier den unspezifischen Sinn von Unter-
suchung, nicht den von ‚Theorie‘; vielmehr wird es synonym zu skepsis ver-
wendet.
ergibt sich indirekt aus der Erklärung, dass dies auch für den Zügellosen und
den Unbeherrschten gilt (3.2).
(3.1) 1146b18 f. „Ferner: Beziehen sich Unbeherrschtheit und Beherrscht-
heit auf alles oder nicht?“: Wie zur Übersetzung angemerkt, ist diese Frage
vermutlich aus einer Glosse in den Text geraten, in der sich ein Leser verge-
genwärtigt hat, was mit ‚worauf‘ gemeint ist (so Rassow, Susemihl und G/J
II 2, 601). Eine genauere Analyse dieser Textstelle liefern Pickavé/Whiting
2008, 328 f.; sie stellt die Einheit und Kohärenz der Argumentation von
Kap. 4 und 5 heraus.
(3.2) 1146b19–24 „Der schlechthin Unbeherrschte ist dies nämlich nicht in
Bezug auf alles, sondern in Bezug auf dasselbe wie der Zügellose“: Unbe-
herrschtheit schlechthin bezieht sich nur auf denselben Gegenstand wie die
Zügellosigkeit, d.h. auf die körperliche Lust. In ihrer Haltung unterscheiden
sie sich, weil der Zügellose meint, jede derartige Lust verfolgen zu sollen,
während der Unbeherrschte das zwar nicht meint, aber doch so handelt. Auf
den Beherrschten gehen diese Ausführungen nicht ein.
(3.2.1) 1146b23 f. „der Unbeherrschte meint (ouk oietai) zwar, dass er das
nicht soll“: Zur Inversion, d.h. dass ‚meint nicht, dass‘ im Sinn von ‚meint,
dass nicht‘ zu verstehen ist, vgl. die Ausführungen zum Begriff der ‚Litotes‘,
d.h. der Abmilderung der Negation, bei Kühner/Gerth 180 f. Anm. 3.
sen des Allgemeinen und dem Wissen des Einzelnen meint, die der Unbe-
herrschte miteinander verknüpft bzw. nicht verknüpft. Die Argumentfi-
guren sind nicht dahingehend zu verstehen, dass Menschen in Syllogismen
denken oder dass Entscheidungen nur auf zwei Prämissen beruhen, einer
allgemeinen und einer besonderen; vielmehr beschränkt sich Aristoteles in
der Darstellung auf ein Minimum.
Kontrovers ist insbesondere, an welchem Punkt der Analyse die Unbe-
herrschtheit überhaupt einbezogen wird. Denn zunächst ist nur allgemein
vom Gebrauchen und Nichtgebrauchen von Wissen die Rede, des Wissens
vom Allgemeinen wie vom Einzelnen. Erst in einem weiteren Schritt wird
diejenige Art des Nichtwissens eingeführt, die Aristoteles für die Unbe-
herrschtheit verantwortlich macht: Ursache ist der Einfluss der Affekte im
konkreten Fall. Kontrovers ist auch, inwiefern dieser Einfluss das Allge-
meine und das Einzelne betrifft. Zwar spricht alles dafür, dass der Unbe-
herrschte das Wissen vom Allgemeinen hat und nur durch starke Begierden
an der Anwendung seines Wissens in concreto gehindert wird. Der Vergleich
des Unbeherrschten mit Betrunkenen, Wahnsinnigen oder Schlafenden lässt
jedoch daran zweifeln, dass dieser Zustand nur eine Beschränkung des Wis-
sens vom Einzelnen und nicht auch vom Allgemeinen mit sich bringt. Auch
die Beispiele, die im Lauf der weiteren Erörterung eingeführt werden, ver-
mitteln darüber kein eindeutiges Bild. Zwar veranschaulichen die ersten Bei-
spiele, dass das Nichtwissen das Einzelne betrifft (‚ob dieses Ding hier von
dieser Art ist‘). Es ist aber zumindest fragwürdig, in welchem Sinn man vom
Vorhandensein allgemeinen Wissens sprechen kann, wenn der Betroffene
darüber nicht verfügen kann. Das gilt auch für die Lösung des ‚sokratischen
Paradoxons‘ am Ende des Kapitels.
Anlass für Dissens ist besonders die Rekonstruktion der Form der prak-
tischen Syllogismen. Zwar ist die Mehrheit der Kommentatoren der Auf-
fassung, dass das Unwissen der ‚letzten Prämisse‘ gilt, d.h. dem Untersatz.
In den letzten Jahren ist diese Rekonstruktion aber infrage gestellt worden.
Übersetzt man nämlich im letzten Abschnitt protasis nicht mit ‚Prämisse‘,
sondern mit ‚Aussage‘, dann kann auch die Schlussfolgerung gemeint sein,
die der Betreffende unter dem Einfluss der Begierde nicht zieht. Für beide
Seiten lassen sich gute Gründe finden.
(1) 1146b24–31: Die Unterscheidung zwischen Meinung und Wissen ist für
die Erklärung der Unbeherrschtheit irrelevant. (2) 1146b31–35: Von grund-
sätzlicher Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen dem bloßen ‚Ha-
ben‘ und dem ‚Gebrauchen‘ von Wissen. (3) 1146b35–1147a10: Diese Un-
terscheidung wird auf die allgemeinen und die partikularen Prämissen in
den Überlegungen des Handelnden bezogen. (4) 1147a10–24: Der Zustand
des Unbeherrschten ist vergleichbar mit dem von Schlafenden, Berauschten
736 Kommentar
(1) 1146b24–31 „Was nun die These angeht, dass man sich der wahren
Meinung, aber nicht dem Wissen gegenüber unbeherrscht verhält“: Dass
die Unterscheidung zwischen Meinen und Wissen zur Klärung der Un-
beherrschtheit nichts beiträgt, ist bereits in Aporie 1 begründet worden
(3, 1145b31–1146a4). Zur weiteren Rechtfertigung verweist Aristoteles da-
rauf, dass Menschen oft ihre Meinungen für Wissen halten und völlig von
ihnen überzeugt sind. Psychologisch gesehen ist eine schlecht fundierte
Meinung nicht weniger wirksam als wohlbegründetes Wissen. Für diesen
Nachtrag zu Aporie 1 hat Aristoteles noch einen besonderen Grund: Im
Folgenden wechselt er nämlich selbst zwischen Wissen und Meinen hin und
her (1147a25 ff.: doxa) und trägt damit dem Umstand Rechnung, dass Hand-
lungen auf Vorstellungen über Allgemeines wie auch über Einzelnes beru-
hen. Letztere Vorstellungen sind aber kein Wissen im eigentlichen Sinn, weil
sie Veränderlichem gelten und auf Wahrnehmung beruhen.
(1.1) 1146b30 f. „Das macht Heraklit deutlich (dêloi)“: Diese Bemerkung
wird oft so verstanden, als sei Heraklit selbst das Beispiel eines Menschen,
der sich statt durch Wissen durch Meinungen mit starker Überzeugung aus-
zeichnet (so unter Berufung auf MM II 6, 1201b7–9 Grant 1866, II 202; Dirl-
meier 1956, 480; B/R, 389; Charles 2009, 44 Anm. 6 et al.). Zwar behandelt
Aristoteles die Meinungen der Vorsokratiker oft als verbesserungsbedürf-
tig. In Heraklit einen Paradefall für jemanden zu sehen, der (allzu) viel Ver-
trauen in seine eigene Meinung hat, ist aber deshalb zweifelhaft, weil Aris-
toteles ihn sonst mit großem Respekt behandelt und auch wiederholt auf
seine psychologische Beobachtungen zur Erklärung unbeherrschten Verhal-
tens rekurriert (vgl. II 2, 1105a7–10; EE II 7, 1223b17–25). Vielmehr liegt es
nah, an Heraklits bekannte Kernsprüche zu denken: Menschen maßen sich
eigene Einsichten an, unter Verkennung des allgemeinen Vernunftprinzips
(logos) (DK 22 Frg. B 2: hôs idian echontes phronêsin; B 17: „Solches verste-
hen viele nicht, auch wenn sie darauf stoßen, noch erkennen sie es, wenn sie
es lernen, bilden es sich aber ein (heautois dokeousi; vgl. auch B 56; B 70).
(2) 1146b31–35 „Da wir von Wissen (epistasthai) aber auf zwei Weisen re-
den“: Als erstes verweist Aristoteles auf den Unterschied zwischen dem
bloßen Besitz (ktêsis) und dem Gebrauch (chrêsis) von Wissen. Dieser Un-
terschied ist bereits in EN I 9, 1098b32–1099a2 die Tugend betreffend zur
Sprache gekommen, unter Hervorhebung des generellen Unterschieds zwi-
Buch VII, Kapitel 5 737
anzuschließen, je nachdem, ob der Untersatz sich auf das Subjekt oder auf
das Prädikat bezieht:
(1) Für jeden Menschen ist trockene Nahrung gut.
(2a) Ich bin ein Mensch.
(2b) Diese Nahrung ist trocken.
Auf die Folgerungen, die daraus zu ziehen sind, geht Aristoteles nicht ein,
sondern begnügt sich mit der Bemerkung, ‚ob dies da von dieser Art ist‘,
wisse der Betreffende nicht. Mit dieser Möglichkeit können beide Unter-
sätze gemeint sein, nämlich (2a), dass man ein Mensch ist, wie (2b), dass
diese Nahrung trocken (d.h. nicht fett) ist. (2a) ist zunächst deswegen wenig
plausibel, weil jeder weiß, dass er ein Mensch ist. Ein besseres Beispiel ließe
sich aber leicht finden: Für jeden Gelbsüchtigen ist trockene Nahrung gut.
Beides, dass man selbst gelbsüchtig ist und dass trockene Nahrung dafür
gut ist, kann einem unbekannt sein oder man weiß beides zwar im Prinzip,
beachtet es aber nicht. Auf die Unbeherrschtheit rekurriert Aristoteles an
dieser Stelle nicht, sondern lässt die Gründe für den Nicht-Gebrauch der
partikularen Prämisse noch offen.
(4) 1147a10–24 „Ferner gibt es bei den Menschen auch noch eine andere Art
(allon tropon) des Habens von Wissen als die eben genannten“: Die Rede
von einer anderen Art des Habens ist einer der Gründe für die Annahme ei-
ner zweiten Redaktion auf Seiten mancher Kommentatoren. Denn prima fa-
cie liegt hier gar keine andere Art vor, sondern es werden wiederum Gründe
für das Nicht-Haben des Wissens von Einzelnem angegeben. Ein Unter-
schied liegt aber darin, dass hier der Unbeherrschte und seine besondere Art
des Nichtwissens bzw. Nichtgebrauchens einbezogen werden. Der Unbe-
herrschte wird nämlich durch besondere Gründe am Gebrauch seines Wis-
sens gehindert.
(4.1) 1147a13 f. „so wie etwa Schlafende, Wahnsinnige oder Betrunkene“:
Der Schlaf wird in EN als ein Zustand behandelt, in dem die rationalen
Seelenfunktionen untätig sind (vgl. I 3, 1095b32 f.; 13, 1102b3–12). Be-
trunkene werden den Fällen von unwissentlich Handelnden zugerechnet
(III 2, 1110b24–27). Wahnsinnige können in Unkenntnis sämtlicher Um-
stände sein (2, 1111a7). Wenn Aristoteles den Unterschied zwischen diesen
Fällen ignoriert, so vermutlich, weil es ihm nur um die Stärke des Einflus-
ses der Affekte auf den Unbeherrschten geht. Während der Unbeherrschte
unter dem Einfluss der Begierden steht, kann er von seinem Wissen, auch
was das Einzelne angeht, ebenso wenig Gebrauch machen wie Betrunkene,
Schlafende oder Wahnsinnige.
(4.2) 1147a14–18 „In einer solchen Verfassung befinden sich nun aber dieje-
nigen, die unter dem Einfluss der Affekte stehen (en tois pathesi ontes)“: Als
Buch VII, Kapitel 5 739
Beispiele solcher Affekte werden Zorn, sexuelle Begierde und andere Zu-
stände dieser Art genannt, die auch den Körper affizieren und manche sogar
zum Wahnsinn treiben.
(4.3) 1147a18–24 „Dass sie Reden von sich geben, die vom Wissen herrüh-
ren, ist kein Zeichen für das Gegenteil“: Der Vergleich mit Schlafenden, Be-
rauschten und Wahnsinnigen soll zeigen, dass Unbeherrschte in der Lage
sind, ihre – im Prinzip − richtigen Überzeugungen zu bekunden, während
sie unter dem Einfluss ihrer Affekte stehen. Es geht aber nicht um einfaches
Nichtwissen oder Übersehen. Vielmehr zeigt der Vergleich mit dem Hersa-
gen von Versen durch Betrunkene oder Schlafende, mit der Reproduktion
von Beweisen durch Neulinge und mit den Rezitationen durch Schauspieler,
dass der Unbeherrschte nicht in völliger Unkenntnis der Umstände handelt,
sondern sie nicht richtig realisiert. So kann ein Unbeherrschter sich sagen,
dass er hier die Frau seines Nachbarn vor sich hat, und dennoch unter dem
Einfluss seiner starken Begierde seinem allgemeinen wie auch seinem kon-
kreten Wissen zuwider handeln.
(4.3.1) 1147a20 „Verse des Empedokles“: Empedokles aus Akragas in Si-
zilien (ca. 490–430 v. Chr.) war einer der einflussreichsten vorsokratischen
Denker, um dessen Leben sich früh Legenden gebildet haben. Er war zu-
gleich Arzt, Dichter, Politiker und Redner. Dass er, wie andere frühgriechi-
sche Philosophen, seine Lehre in Hexametern verfasst hat, war nicht allein
den dichterischen Möglichkeiten geschuldet, sondern diente auch der Ver-
breitung und dem Erhalt seiner Lehre.
(4.3.2) 1147a21–24 „und auch diejenigen, die gerade anfangen, etwas zu ler-
nen, fügen zwar schon die Wörter zusammen, haben aber noch kein Wis-
sen davon“: Anfänger können das Gelernte zwar nachsagen, es fehlt ihnen
aber am Verständnis für den Zusammenhang. Daher muss das Gesagte dem
Sinn nach noch ‚zusammenwachsen‘ (symphyênai), wenn vom Gebrauch
des Wissens die Rede sein soll. Ähnlich gelagert ist der Fall von Schauspie-
lern, die einen Text rezitieren. Sie kennen natürlich ihren Text, müssen beim
Rezitieren aber das Gesagte weder wirklich verstehen noch auch für wahr
halten.
(5) 1147a24–b9 „Ferner könnte man die Ursache ihrer Natur nach (physi-
kôs) auch so betrachten (epiblepein)“: Die Alternative, ob eine Frage logikôs
oder physikôs zu behandeln ist, bedeutet zumeist, ob das Problem aufgrund
allgemeiner, abstrakter Überlegungen oder aber aufgrund der Natur der Sa-
che behandelt wird. Eine ‚naturwissenschaftliche‘ Betrachtung muss nicht
gemeint sein, wie manche Übersetzer voraussetzen. Die Erklärung der Phy-
siologen wäre von ganz anderer Art, wie sich später zeigt (1147b8 f.). Viel-
mehr wird hier die Ursache für das Handeln des Unbeherrschten durch eine
genauere Beschreibung ihrer Natur erfasst.
740 Kommentar
(5.1) 1147a25 f. „Die eine Meinung (doxa) betrifft das Allgemeine (katho-
lou), die andere das Einzelne (ta kath’ hekasta), worüber bereits die Sinnes-
wahrnehmung (aisthêsis) bestimmt“: Die Bedeutung der Wahrnehmung für
das Erfassen des Einzelnen ist schon früher verschiedentlich hervorgehoben
worden (vgl. II 9, 1109b22 f.; III 5, 1112b34 f.; bes. VI 12, 1143a35–b14 zur
‚noetischen‘ Rolle der Wahrnehmung). Beim Erfassen des Einzelnen hat die
Wahrnehmung eine besondere ‚Autorität‘ (kyria), weil sie es ist, die fest-
stellt, dass z.B. die vorliegende Nahrung süß ist.
(5.2) 1147a26–31 „Wird aus beiden (sc. Meinungen) eine, dann bejaht (pha-
nai) die Seele im einen Fall notwendig die Schlussfolgerung, im anderen,
wenn es um ein Tun geht (en tais poiêtikais), wird man sofort tätig (prattein
euthys)“: Aristoteles geht davon aus, dass das Verstehen von zwei passenden
Prämissen sie zu ‚einer‘ werden lässt, d.h. dass man gar nicht umhin kann,
aus ihnen den fraglichen Schluss zu ziehen. Das Ziehen eines Schlusses ist
daher kein zusätzlicher geistiger Akt über das Verstehen der beiden Prä-
missen hinaus. Der Unterschied zwischen der theoretischen und der prak-
tischen Folgerung liegt darin, dass die Seele im ersteren Fall die Folgerung
ausspricht (phanai), im praktischen Kontext dagegen sofort handelt (euthys
prattei; zur Bedeutung von ‚sofort‘ siehe 5.3). Das bedeutet nicht, dass die
Seele nicht gleichwohl auch in praktischen Dingen ‚bejaht‘, was zu tun ist,
sondern nur, dass es für die praktische Umsetzung keines weiteren psychi-
schen Akts und keiner weiteren psychischen Kraft bedarf. Mit en tais poiêti-
kais (1147a28) sind hier nicht Herstellungsprozesse, sondern das Tun über-
haupt gemeint (ähnlich EE II 11, 1227b29 f.).
(5.3) 1147a29–31 „Wenn man z.B. von allem Süßen probieren soll und dieses
Süße hier ein solches Einzelnes ist“: Aristoteles führt zunächst den Normal-
fall eines praktischen Syllogismus vor, der – wiederum mit Hilfe eines medi-
zinischen Beispiels – veranschaulichen soll, dass die Aktualisierung der all-
gemeinen und der partikularen Prämisse unmittelbar das Handeln zur Folge
hat. An der Tatsache, dass sein Beispiel keinen formal gültigen Schluss ent-
hält, sondern eine allgemeine ‚Sollens-Prämisse‘ zusammen mit einer durch
Wahrnehmung festgestellten Tatsache eine Handlung zur Konklusion hat,
scheint sich Aristoteles nicht zu stören, denn er hebt dies eigens hervor:
(1) Von allem Süßen soll man probieren.
(2) Dies hier ist etwas Süßes.
C: Man probiert es.
Mit der Formel „der dazu in der Lage ist und durch nichts daran gehindert“
kennzeichnet Aristoteles auch sonst ceteris paribus Bedingungen. Ob mit
der Bedingung ‚sofort‘ (euthys) die Möglichkeit der Ausführung von Ent-
scheidungen zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen werden soll, ist
fraglich. Der Eindruck, dass die Handlung jeweils unmittelbar auf die Ent-
Buch VII, Kapitel 5 741
scheidung folgt, beruht darauf, dass Aristoteles in seiner Analyse die kon-
krete Situation in den Mittelpunkt stellt, zu der die erfolgreiche Berechnung
von Mitteln und Wegen geführt hat (vgl. III 5, 1112b11–24). Das schließt
aber Entscheidungen nicht aus, etwas Bestimmtes zu einem späteren Zeit-
punkt zu tun. Für dieses Tun bedarf es dann keiner neuen Entscheidung –
ebendies dürfte mit ‚sofort‘ mitgemeint sein.
(5.4) 1147a31–35 „Wenn der Handelnde zwar die allgemeine Meinung hat,
die es verbietet, Süßes zu probieren, aber auch noch die andere Meinung hat,
dass alles Süße lustvoll ist“: Diese Darstellung stellt insofern ein Novum dar,
als es nicht allein der Affekt ist, der als Ursache für das Nichtbefolgen der
eigenen Überzeugung verantwortlich gemacht wird bzw. für das Tun von
dem, was ihr zuwider ist. Vielmehr wird eine ‚zweite Meinung‘ ins Spiel ge-
bracht, die gleichfalls allgemeiner Art ist.
(I) (1) Alles Süße ist zu meiden (II) (1) Alles Süße ist lustvoll.
(2) Dieses hier ist süß
[Dieses ist zu meiden] Dieses wird probiert.
Hier treten also zwei allgemeine Prämissen miteinander in Konkurrenz; es
könnte daher scheinen, als werde die erste allgemeine Prämisse durch die
zweite unwirksam gemacht, so dass das Unwissen die allgemeine und nicht
die partikulare Prämisse betrifft. Ebendies bestreitet Aristoteles aber mit
dem Verweis, dass die ‚zweite (allgemeine) Meinung‘ nicht formal gesehen in
Gegensatz zur ersten steht und auch keine Anweisungen zum Handeln gibt.
Vielmehr ist diese zweite allgemeine Meinung nur die Ursache dafür, dass
die richtige Handlung nicht ausgeführt wird, weil sie die Begierde weckt,
die ihrerseits den Körper in Bewegung setzt. Dass überhaupt eine zweite
allgemeine Meinung in die Erklärung aufgenommen wird, soll erklären, dass
auch die Begierde eine allgemeine Ursache hat. Der Mensch wird nicht nur
durch einen bestimmten Eindruck von seinem Vorsatz abgelenkt, sondern
er ist grundsätzlich für Eindrücke dieser Art empfänglich, weil die Unbe-
herrschtheit die Disposition ist, sich von Derartigem verleiten zu lassen. Der
Akratiker wird so von dem, was er eigentlich tun soll, abgelenkt, trifft aber
diesbezüglich keine Entscheidung, sondern die Begierde ‚bewegt seine Kör-
perteile‘. In der Tat hat Aristoteles anfangs das Verhalten des Akratikers mit
dem eines Gelähmten verglichen, dessen Körperteile ihn nach links gehen
lassen, obwohl er nach rechts gehen will (I 13, 1102b16–25). Dass er unter
diesem Einfluss nicht anders handeln kann, heißt nicht, dass er nicht weiß,
was er tut, wie der Vergleich mit Trunkenen, Schlafenden oder Wahnsinni-
gen nahelegen könnte. Vielmehr ist er im kritischen Moment nicht in der
Weise ‚bei sich‘, dass sein allgemeines Wissen, Süßes sei zu meiden, zum Zug
kommt.
742 Kommentar
(5.4.1) 1147a33 f. „und gerade die Begierde vorhanden ist (tychêi d’ epithy-
mia enousa)“: Das Vorhandensein der Begierde wird nicht dem Zufall zuge-
schrieben; gemeint ist vielmehr, dass sie nicht ständig aktiv ist. Denn sonst
müsste der Akratiker jedem Anblick von Süßem nachgeben und wäre vom
Zügellosen nicht zu unterscheiden. Seine Überzeugung, nicht so handeln
zu sollen, wäre dann überhaupt unwirksam. Als Standard für die Beurtei-
lung von Beherrschtheit und Unbeherrschtheit dient, wie später noch ausge-
führt wird, das Verhalten der meisten Menschen: Der Beherrschte ist fähig,
den Begierden in höherem Maß zu widerstehen als die meisten, der Unbe-
herrschte in geringerem (8, 1150a10–15; 11, 1152a25–27).
Wie schon in den Vorbemerkungen erwähnt, geht Aristoteles auf den
Aspekt eines Konflikts zwischen den beteiligten Seelenvermögen nur in
Nebenbemerkungen ein; vielmehr konzentriert er sich weitgehend auf die
Frage von Wissen und Nichtwissen. Daher wird der Aspekt des ‚Widerste-
hens‘ auch nur gelegentlich angesprochen und die Frage nicht weiter ver-
folgt, ob es in der Seele des Akratikers zu einem Konflikt zwischen Vernunft
bzw. rationalem Wunsch und nicht-rationaler Begierde kommt, in dem die
Vernunft den Kürzeren zieht. Ein Hinweis auf einen Konflikt könnte nun in
dem Verweis auf eine Anordnung der Seele liegen (1147a34: legei): „dies ist
zu meiden“; sie wird aber nicht durch eine Gegenanordnung konterkariert,
sondern nur durch die Begierde, die jeden Teil in Bewegung versetzen kann.
Von einem Widerstand ist daher nicht die Rede.
(5.5) 1147a35–b3 „So ergibt sich, dass man sich zwar in gewisser Weise (pôs)
aufgrund von Überlegung und Meinung unbeherrscht verhält“: Gemeint
sein muss die Überlegung, alles Süße sei lustvoll und dieses hier sei süß. Zwi-
schen dieser und der – eigentlich vorhandenen − Überzeugung, alles Süße
sei zu meiden, besteht kein logischer Gegensatz. Daher ist dieser Gegensatz
nur ein ‚akzidenteller‘ (kata symbebêkos). Nun fragt sich, wie viel an Wis-
sen bzw. an Meinung Aristoteles hier voraussetzt, d.h. ob das ‚Wissen‘ auf
das Allgemeine beschränkt bleibt oder auch die zweite Prämisse mit ein-
schließt. Gegen letztere Annahme spricht die frühere Festlegung, dass das
Verstehen des Ober- und des Untersatzes notwendig dazu führt, dass diese
‚zu einem werden‘ (1147a25 f.), so dass umgehend gehandelt wird. Wie die
Verwendung von to symperanthen (1147a27 = ‚das Geschlossene‘, sonst nur
in 3, 1146a26) zeigt, unterscheidet Aristoteles hier nicht sorgfältig zwischen
Sätzen, Gedanken und den sich daraus ergebenden Handlungen. Daraus,
dass der Akratiker nicht den richtigen Schluss zieht, dieses Süße sei zu mei-
den, lässt sich nicht ableiten, dass er den Untersatz des Syllogismus nicht
kennt – das würde 1146a32 f. widersprechen –, sondern nur, dass er von der
zweiten Prämisse keinen Gebrauch qua zweiter Prämisse macht. Denn der
Unbeherrschte ‚weiß‘ zwar sehr wohl, dass das vor ihm Liegende süß ist,
sonst würde er es ja nicht essen. Er verbindet ihn aber nicht mit dem richti-
Buch VII, Kapitel 5 743
gen Prinzip, sondern nimmt das ihm vorliegende Süße nur als Objekt seiner
Begierde wahr.
(5.6) 1147b3–5 „Daher und aus diesem Grund sind auch die Tiere nicht un-
beherrscht“: Tiere haben kein Wissen vom Allgemeinen, das sie beachten
oder nicht beachten können. Das gilt auch für diejenigen Arten, denen Aris-
toteles Lernfähigkeit und Erfahrung zuschreibt (Anal. post. II 19, 99b36–
100a3).
(5.7) 1147b6–9 „Wie sich die Unwissenheit auflöst und der Unbeherrschte
sein Wissen zurückgewinnt“: Welche Art von Erklärung Aristoteles den
physiologoi zuschreibt, lässt sich etwa dem kleinen Traktat Über Schlafen
und Erwachen entnehmen (vgl. De somn. 3, 456b18–33): Die Ausdünstun-
gen der Nahrung führen zu einem Schwerwerden des Kopfes, das Schlaf in-
duziert; der umgekehrte Prozess führt zum Erwachen, 458a10–26; zur Trun-
kenheit vgl. Rhet. II 12, 1389a18: Sie ist Hitze des Blutes unter dem Einfluss
von Wein. Ernüchterung setzt also die entsprechende Abkühlung voraus.
(6) 1147b9–19 „Weil aber die letzte Prämisse (teleutaia protasis) zugleich
eine Meinung über Wahrnehmbares (doxa aisthêtou) ist und auch die Hand-
lungen bestimmt (kyria tôn praxeôn)“: Die meisten Kommentatoren gehen
davon aus, dass sich ‚die letzte Prämisse‘ auf den Untersatz des Syllogismus
bezieht, also ‚dies ist süß‘, und nicht auf die Folgerung. Denn wie oben an-
gemerkt, ist in praktischen Zusammenhängen die Folgerung das Handeln.
Nun verwendet Aristoteles den Ausdruck ‚letzte Prämisse‘ sonst nicht, son-
dern bezeichnet den Untersatz fast durchweg als ‚die andere Prämisse‘ (he-
tera). Daher gehen manche Interpreten davon aus, dass hier nicht die zweite
Prämisse gemeint ist, sondern die Folgerung, die den Syllogismus abschließt
(vgl. Charles 2009). Denn protasis wird außerhalb der logischen Schriften
gelegentlich auch in der allgemeinen Bedeutung von ‚Aussage‘ verwendet
(vgl. Rhet. I 2, 1358a18; Top. I 14, 105b20). Da die zweite Prämisse Sache
der Wahrnehmung sein soll (‚dies hier ist süß‘), liegt die Annahme nah, dass
der Unbeherrschte sie zwar in gewisser Weise erfasst, aber nicht die entspre-
chende Schlussfolgerung zieht.
Diese Interpretation stützt sich überdies auf die Unterscheidung zwi-
schen zwei Arten von Akrasie, die in Kap. 8 eingeführt wird, nämlich zwi-
schen ‚Voreiligkeit‘ (propeteia) und ‚Schwäche‘ (astheneia): Voreilige Akra-
tikern gehen erst gar nicht mit sich zu Rate; schwache Akratiker tun dies
zwar, bleiben aber unter dem Einfluss des Affekts nicht bei dem, was sie
beraten haben. Die Rede von Beratung setzt voraus, dass Akratiker dieses
Typs zwar mehr als eine Prämisse vor sich haben, aber nicht die Folgerun-
gen aus ihren Überlegungen ziehen, die nach Aussage dieses Kapitels in der
Handlung besteht.
744 Kommentar
ist. Der Anblick ruft vielmehr eine so heftige Begierde hervor, dass die Fest-
stellung, dass dies süß ist, nicht die Aktualisierung des Obersatzes bewirkt,
d.h. dass Süßes zu meiden ist, sondern nur dem Gebrabbel eines Weinseli-
gen gleicht. Das gilt übrigens auch für den voreiligen und den schwachen
Akratiker: Keiner von beiden realisiert die zweite Prämisse (8, 1150b19–28;
9, 1151a1–6).
(6.1) 1147b13–19 „Und weil die letzte Prämisse (eschatos horos) nicht allge-
mein ist und auch nicht in der gleichen Weise wie die allgemeine Prämisse
als Gegenstand von Wissen (epistêmonikon) gilt“: Hier ist statt von protasis
von horos die Rede und statt von teleutaios von eschatos. In der Syllogistik
bezeichnet Aristoteles mit horos die drei Terme der Prämissen (vgl. Anal. pr.
I 1, 24a3 et pass.). Er behandelt die Terme aber manchmal auch so, als reprä-
sentierten sie die Prämissen als Ganze (I 24, 41b22–31 et pass., vgl. Bonitz,
Ind. Ar. sv. horos: 530a40–46). Der ‚letzte‘ Begriff kennzeichnet daher gele-
gentlich auch die zweite Prämisse; denn eschaton wird – im Unterschied zu
teleutaion – in den Analytiken häufig gebraucht. Dafür, dass dies auch für
diese Stelle gilt, spricht der Zusatz, der letzte horos sei nicht allgemein und
nicht in gleicher Weise ‚wissbar‘. Zwar ist auch die Konklusion nicht allge-
mein und nicht wissbar; das beruht aber darauf, dass die zweite Prämisse es
nicht ist.
(6.2) 1147b14–17 „scheint sich auch das zu ergeben, worauf Sokrates hin-
auswollte (ezêtei)“: Interpreten, die sich daran stoßen, dass Aristoteles So-
krates Recht zu geben scheint, übersehen, dass Aristoteles ihm keineswegs
rundheraus zustimmt, sondern nur etwas Richtiges an seinem Anliegen dia-
gnostiziert. Denn Aristoteles stimmt weder Sokrates’ Folgerung zu, dass es
Unbeherrschtheit gar nicht gibt, noch auch seiner Rechtfertigung, dass an-
dernfalls das Wissen herumgezerrt würde wie ein Sklave. Am Wissen vom
Allgemeinen ändert die Begierde nichts. Wenn der Unbeherrschte wieder zu
sich kommt, ist er weiterhin davon überzeugt, dass Süßigkeiten zu meiden
sind, und daher wird von ihm später auch gesagt, dass er zur Reue neigt und
sein Zustand heilbar ist (9, 1150b30–32).
Dies ist nicht der Ort für eine Erörterung der sokratischen Konzeption
des Wissens. Da Sokrates im Wissen die stärkste Kraft sieht, würde er einem
Menschen, der so leicht abzulenken ist, kein wirkliches Wissen zusprechen.
Es liegen also divergierende Annahmen über die Natur des Wissens im ei-
gentlichen Sinn vor. Wie Aristoteles in De anima III 11, 434a16–21 zur Er-
klärung von Akrasie anmerkt, liegt im Wissen vom Allgemeinen eher etwas
Ruhendes (êremousa mallon); Bewegungsursache sei vielmehr die Meinung
über das Einzelne (kinei). Eine solche Differenzierung ist aber nicht in So-
krates’ Sinn.
(6.2.1) 1147b16 „Denn der Affekt beherrscht (perigignetai to pathos) nicht
das, was als Wissen im eigentlichen Sinn erscheint“: Wie zur Übersetzung
746 Kommentar
angemerkt, ist hier die Emendation von Stewart übernommen worden (ou
gar tês kyriôs epistêmês dokousês perigignetai to pathos). Denn die überlie-
ferte Wendung (ou gar tês kyriôs epistêmês dokousês parousês ist nicht nur
äußerst ungeschickt, sondern parousês müsste sich auf tês aisthêtikês im
Nachsatz beziehen: ‚wenn das Wahrnehmungswissen anwesend ist‘. In-
frage steht aber nicht, welches Wissen anwesend ist, das eigentliche Wis-
sen oder das Wahrnehmungswissen, sondern ob der Affekt das eigentliche
Wissen oder das Wahrnehmungswissen beherrscht (so auch G/J II 2, 617;
B/R, 393 f.). Die von Charles 2009, 63 f. vorgeschlagene Textumstellung löst
das Problem nicht, sondern beseitigt nur die sprachliche Ungeschicklichkeit
(vgl. dazu auch Bostock 2000 und die ausführlichen Überlegungen von Price
2011, 107–110).
Grundsätzlich lässt sich gegen Aristoteles’ Lösung für das Problem,
nicht das Wissen vom Allgemeinen, sondern nur das Wissen vom Einzel-
nen werde unter dem Einfluss der Begierden beeinträchtigt, einwenden, dass
ein Herrscher, auf den man nicht hört, kein Herrscher ist, jedenfalls zu der
Zeit nicht, zu dem niemand auf ihn hört. Denn es ist problematisch, dass
das Wissen des Allgemeinen aktual und nicht bloß potentiell vorhanden
sein soll, wenn man es nicht anwendet, obwohl es die Lage der Dinge erfor-
dert.
(1) 1147b20–23: Zur Diskussion steht der Unterschied zwischen der Un-
beherrschtheit als solcher und Unbeherrschtheit in einer bestimmten Hin-
sicht. (2) 1147b23–1148a22: Grundlegend für die Differenzierung der
Unbeherrschtheit ist die Unterscheidung zwischen notwendigen, d.h. kör-
perlichen, und nicht-notwendigen Arten von Lust (Version A). (3) 1148a22–
b14: Grundlegend für die Differenzierung der Unbeherrschtheit ist die Un-
748 Kommentar
(2) 1147b23–1148a22 „Von den Dingen, die Lust erregen, sind die einen not-
wendig, die anderen sind zwar für sich genommen wählenswert“: Version A
geht von der Unterscheidung zwischen notwendigen und nicht-notwendi-
gen Begierden aus. Notwendig sind Hunger, Durst und Sexualität, weil sie
dem Lebensnotwendigen gelten. Sie werden hier nicht weiter erörtert; der
Verweis darauf, dass sie die Gegenstände von Zügellosigkeit und Besonnen-
heit sind, soll deutlich machen, dass das Erforderliche bereits gesagt wor-
den ist. Denn III 13 (wie auch EE III 2, 1230b21–1231a26) enthält eine ein-
gehende Begründung dafür, dass Besonnenheit und Zügellosigkeit nur der
Lust an Essen, Trinken und Sexualität gelten; dort wird auch erwähnt, dass
sie als ‚sklavisch und tierisch‘ erscheinen, weil sie Tieren und Menschen ge-
meinsam sind und nur auf dem Tastsinn beruhen (1118a25 f.).
(2.1) 1147b29–31 „Die anderen sind nicht notwendig, aber um ihrer selbst
willen wählenswert“: Sie gelten z.B. Sieg, Ehre und Reichtum: Ehre und
Reichtum sind zwar anfangs als Lebensziele kritisiert worden, weil sie keine
höchsten Güter sind (I 3), sie sind aber Gegenstand verschiedener Tugen-
den – von Freigebigkeit, Großzügigkeit, Hochgesinntheit und Ehrliebe −
und als solche wählenswert. Eine solchen Zielen geltende Unbeherrschtheit
ist dies nur aufgrund einer Ähnlichkeit, Analogie oder in einem erweiterten
Sinn. Nun fragt sich, warum Aristoteles diese Arten von Unbeherrschtheit
nicht den betreffenden Tugenden zuweist; denn recht verstanden liegt die
Disposition dessen, der für Ehre übermäßig empfänglich ist und daher sei-
nen richtigen Grundsätzen zuwider handelt, ‚zwischen‘ dem gesunden Ehr-
geiz und der Ehrsucht. Ist Aristoteles diese Tatsache entgangen? Da er sich
darüber nicht äußert, muss man es bei der Vermutung belassen, dass er die
Unbeherrschtheit hier wie ein einheitliches Phänomen behandeln will, weil
Buch VII, Kapitel 6 749
(3) 1148a22–b14 „Da aber von den Arten von Begierde und Lust die einen
in die Klasse des Schönen und Guten gehören“: Version B hat offensichtlich
keine Kenntnis davon, dass ihr eine konkurrierende Version vorangegangen
ist. Nicht einmal das sonst übliche ‚ferner‘ (eti) wird als Verbindung verwen-
det. Anders als Version A geht Version B nicht vom Notwendigen, sondern
vom Schönen und Guten aus und nimmt eine Dreiteilung vor: (i) von Na-
tur aus Wählenswertes, (ii) dessen Gegenteil (enantia), d.h. von Natur aus
nicht Wählenswertes oder zu Vermeidendes, und (iii) ‚dazwischen Liegen-
des‘ (metaxy). Eine Dreiteilung dieser Art findet sich sonst weder in der EN
noch in der EE. Denn I 8, 1099a11–15 wird nur zwischen dem von Natur
aus Lustvollen und seinem Gegenteil unterschieden; von einem ‚Zwischen‘
ist dort nicht die Rede. Auch in der Abhandlung über die Lust ist nur von
schönen und schändlichen Arten die Rede. Das ‚Zwischen‘ scheint eine Ad-
Buch VII, Kapitel 6 751
auf diese Funktion, während die prädikative Verwendung ‚ist schlecht‘ dem
Menschen als solchem gilt.
(4) 1148b15–1149a20 „Da nun einiges von Natur aus lustvoll ist, und zwar
das eine ganz allgemein, das andere je nach Art von Tieren und Menschen“:
Die Untersuchung der ‚tierischen Rohheit‘ (thêriotês) geht von der Unter-
scheidung zwischen natürlicher und unnatürlicher Art von Lust aus. Aris-
toteles will die unnatürlichen Lüste betreffend jedoch keine Gemeinsam-
keit von Mensch und Tier behaupten, sondern eine klare Trennung zwischen
menschlicher Verrohung oder Abartigkeit und der Verfassung von Tieren
vornehmen (dazu Bodéüs 1997). Die tierische Rohheit ist vielmehr eine Dis-
position von Menschen, die teils auf Krankheit, teils auf Wahnsinn, teils aber
auch auf krankhafte Zustände zurückgeführt wird. Diesen Begriff verwen-
det Aristoteles nur in der Ethik; in den biologischen Schriften verwendet er
das Adjektiv ‚tierisch‘ (thêriôdês) nur ganz selten. Hingegen kritisiert er an
der Erziehung der Spartaner, dass sie die Kinder brutalisiert (Pol. VIII 4).
Dass Tiere nicht der Inbegriff von Rohheit sind, wird auch im Folgenden
deutlich, wenn Aristoteles hervorhebt, dass es Zügellosigkeit bei Tieren
nur in einem übertragenen Sinn und in bestimmten Ausnahmefällen gibt
(7, 1149b31–1150a1).
Wenn Aristoteles auch Fälle von unheilbarer Abartigkeit in ungewöhn-
licher Ausführlichkeit beschreibt, so scheint ihm daran gelegen zu sein, den
Unterschied zwischen beherrschbaren und unbeherrschbaren Dispositio-
nen herauszustellen (zu dieser Problematik und möglichen Erklärungen der
einzelnen Arten vgl. Natali 2009a, 108–113).
(4.1) 1148b17–34 „teils aufgrund von Verletzung (pêrôsis), teils durch Ge-
wöhnung (ĕthos), teils aufgrund einer schlechten Naturanlage (mochthêra
physis)“: Das ‚Natürliche‘ wird zwar gewöhnlich in dem normativen Sinn
von guten Anlagen und Verhaltensweisen verstanden; es gibt aber auch Ex-
emplare, die von der Natur schlecht ausgestattet sind. In seinen biologischen
Schriften subsumiert Aristoteles unter ‚Verletzung‘ (vgl. pêrôsis und Ver-
wandtes) physiologische Beeinträchtigungen aller Art. In De anima fügt er
dem Prinzip, dass die Natur nichts umsonst tut und nichts unvollendet lässt,
hinzu „es sei denn im Fall von Verstümmelungen und Unvollständigkeiten“
(III 9, 432b21–26: pêrôma, ateles).
(4.1.1) 1148b20–24 „wie die jener Frau“: Dem anonymen Kommentar zu-
folge (427,38–40) hieß die Frau Lamia, lebte am Schwarzen Meer und hatte
alle ihre eigenen Kinder verloren. Als Hörensagen kennzeichnet Aristoteles
dagegen die Geschichte über die Gewohnheiten der ‚Verwilderten‘ (apêgriô-
menoi) am Schwarzen Meer, die nicht nur Gefallen an rohem Fleisch, son-
dern auch an dem von Menschen haben und dabei auch die eigenen Kinder
nicht schonen (Herodot, Historien IV 18 berichtet von einem wilden No-
Buch VII, Kapitel 6 753
(1) 1149a21–24 „Es ist also klar, dass Unbeherrschtheit und Beherrscht-
heit denselben Dingen gelten, auf die sich auch die Zügellosigkeit und die
Besonnenheit beziehen“: Diese Zusammenfassung der Unterscheidung
zwischen Unbeherrschtheit im eigentlichen und im erweiterten Sinn hebt
nochmals hervor, dass letztere Arten nur in einem übertragenen Sinn als Un-
beherrschtheit zu verstehen sind. Die Unbeherrschtheit als solche gilt nur
756 Kommentar
(2) 1149a24–b23 „Wir wollen aber auch bedenken, dass die Unbeherrscht-
heit im Zorn (thymos) weniger schändlich ist als die aus Begierde (epithy-
mia)“: Auch die Unbeherrschtheit im Zorn ist natürlich nichts Gutes. Dafür,
dass sie weniger schlecht ist als die Unbeherrschtheit aus Begierde, werden
vier Gründe angeführt. In der Bewertung bedient sich Aristoteles der sog.
‚paulinischen Prädikation‘, wie man nach Paulus, Römerbrief X II 9, 1 („Die
Liebe heuchelt nicht“) das Stilmittel bezeichnet, abstrakte Begriffe wie ak-
tive Subjekte zu behandeln. Es sind natürlich nicht Zorn und Begierde, son-
dern der Zornige und der Begierige, deren Verhalten Aristoteles hier ver-
gleicht und bewertet.
(2.1) 1149a24–b3 „Der Zorn scheint nämlich in gewisser Weise auf die Über-
legung (logos) zu hören“: Was ist damit gemeint? Der Zorn ist insofern ein
vernunftbestimmter Affekt, als der Betreffende versteht, dass er beleidigt
worden ist. Der Tugendhafte, Ausgeglichene, versteht dies in der richtigen
Weise und verhält sich entsprechend. Der Unbeherrschte wird zwar durch
die Feststellung bestimmt, dass er beleidigt worden ist; weitere Überle-
gungen stellt er aber nicht an, sondern schreitet sofort zur Vergeltung, ob-
wohl er im Prinzip die richtigen Vorstellungen darüber hat, wem gegen-
über, worüber, wie sehr, wie lange usw. man zornig sein soll (vgl. IV 11,
1126a9 f.). Der Unbeherrschte reagiert auch schon auf die bloße Vorstel-
lung (1149a32: phantasia) einer Beleidigung hin so, als habe er den Schluss
gezogen (1149a33: hôsper syllogisamenos), er müsse dagegen vorgehen. Der
Unbeherrschte diagnostiziert also weder den vorliegenden Fall genau, noch
geht er mit sich zurate, wie darauf zu reagieren ist, sondern stürmt sofort los,
wie der hübsche Vergleich mit den übereiligen Dienern und Hunden zeigt.
Daher kommt es entweder zu gar keinem oder zu einem unvollständigen
‚Auftrag‘ durch die Vernunft (1149a31: epitagma), wie mit der Beleidigung
umzugehen ist. Dass der Zornige dennoch ‚in gewisser Weise der Überle-
gung unterliegt‘, beruht darauf, dass er den Fall als Beleidigung erfasst hat.
(2.1.1) 1149a34–b2 „Die Begierde aber, wenn der Verstand (logos) oder die
Wahrnehmung auch nur sagt, etwas sei lustvoll, drängt zum Genuss (apo-
lausis)“: Verschiedene Herausgeber wollen logos athetieren, weil damit der
Buch VII, Kapitel 7 757
Unterschied zwischen Zorn und Begierde vermindert wird. Für die Beibe-
haltung spricht aber, dass auch der Gedanke an abwesendes Lustvolles eine
Begierde auslösen kann.
(2.2) 1149b4–13 „Ferner gilt Nachsicht eher denen, die ihren natürlichen
Bestrebungen (physikai orexeis) folgen“: Zunächst würde man meinen, dass
körperliche Begierden natürliche Bestrebungen par excellence sind. Hier
geht es jedoch nicht um die Begierde als solche, sondern um ihr Übermaß,
das über das Natürliche hinausgeht. Die Neigung zum Übermaß im Zorn ist
manchen Menschen angeboren, wie Aristoteles ungewöhnlich ausführlich
mit komischen Beispielen illustriert.
(2.2.1) 1149b8–13 „So sagte jemand, der seinen Vater schlug, zu seiner Ver-
teidigung“: Grundsätzlich galt die Misshandlung des eigenen Vaters als ein
rechtsrelevanter Verstoß gegen die Achtung gegenüber den Eltern (vgl. Ru-
schenbusch 1968, 22–27: Misshandlung der Eltern, kakôsis goneôn). In dem
vorliegenden Fall wird für Nachsicht plädiert, weil das Übermaß des Zor-
nes in manchen Familien auf Erbanlage beruht. Der Autor von MM II 6,
1202a22–29 stellt die Anekdote als einen Gerichtsfall dar, in dem der Ange-
klagte freigesprochen wurde (so auch Aspasios 128,23–28 und der anonyme
Kommentator 431,16–25). Nun entbehrt aber die Schilderung dieser Aus-
fälle von Zornigen, einschließlich des Schleifens bis zur Haustür, nicht einer
gewiss beabsichtigten Komik. Auch der Dialog, den Aristoteles wiedergibt,
könnte einer Komödie entstammen, einschließlich des Hinweises auf das
zukünftige Verhalten des kleinen Sohns. Erbanlagen stellen auch im Fall von
‚Weichlichen‘ mildernde Umstände dar (8, 1150b12–16). Von Erbanlagen ist
zwar sonst nicht die Rede; Aristoteles dürfte sie aber mit zu den Neigungen
zählen, die man von Natur aus hat (II 8 + 9).
(2.3) 1149b13–20 „Ferner sind hinterhältigere (epibouloteroi) Menschen
ungerechter“: Die hinterhältige Vorgehensweise von Menschen, die insbe-
sondere sexuellen Begierden unterliegen, passt prima facie schlecht zum
nicht-rationalen Charakter der Begierde, die schon durch den Anblick des
begehrten Objekts ausgelöst wird. Denn Hinterhältigkeit erfordert planvol-
les Verhalten. Wenn Aristoteles hier nicht unversehens vom Unbeherrsch-
ten zum Zügellosen übergegangen ist, könnte er das Verhalten eines Un-
beherrschten beschreiben, der unter Missachtung seiner Prinzipien der
sexuellen Begierde bereits nachgegeben hat. Nicht in allen Fällen beschränkt
sich das Handeln auf das bloße Ergreifen von Süßigkeiten; hinterhältiges
Vorgehen kann vielmehr auch nach dem Ausschalten der richtigen Über-
zeugung einsetzen.
(2.3.1) 1149b15–18 „wie die Dichter Aphrodite ‚die ränkespinnende Tochter
Zyperns‘ nennen“: Zu den Attributen der Aphrodite vgl. Theognis 2, 1386;
Sappho, Frg. 1.2; Simonides, Frg. 36.1.9; Anonymus PMG 31.1.1; Orphische
Hymnen 55.3. Zum Zaubergürtel vgl. Homer, Ilias XIV, 214–221: Dort leiht
758 Kommentar
sich Hera den Zaubergürtel der Aphrodite, um Zeus damit für sich zurück-
zugewinnen.
(2.4) 1149b20–23 „Ferner tut niemand Mutwilliges (hybrizei)“: Hyb-
ris bzw. hybrizein wird in der EN in unterschiedlichen Weisen verwen-
det (III 9,1115a22 f.: Übergriffe gegenüber jemandes Ehefrau oder Kinder;
IV 8, 1124a29 f.: arrogantes Verhalten von Reichen; V 3, 1129b21 f.: Ehe-
bruch und anderer Missbrauch; VII 5, 1148b30: Missbrauch von Kindern;
7, 1149a32: Beleidigung). Da das Ziel des Arguments eine bewertende Ge-
genüberstellung der Unbeherrschtheit im Zorn und der Unbeherrschtheit
aus Begierde darstellt, ist aber anzunehmen, dass mit hybrizein nicht arro-
gantes oder übermütiges Verhalten im Allgemeinen, sondern grobe Beleidi-
gung und sexuell übergriffiges Handeln gemeint ist. Da hier von Ungerech-
tigkeit die Rede ist, muss es sich um Rechtsverletzungen handeln, die im Fall
des schlechthin Unbeherrschten gravierender sind, der seiner Lust gefolgt
ist, als im Fall des Zornigen, der jemanden geschlagen hat.
(3) 1149b23–1150a1 „Es ist also klar, dass die Unbeherrschtheit aus Begierde
schändlicher ist als die im Zorn“: Auf diese Bewertung folgt noch eine ab-
schließende Klarstellung, dass nur diejenigen körperlichen Begierden Ge-
genstand von Unbeherrschtheit im eigentlichen Sinn sind, auf die sich auch
Besonnenheit und Zügellosigkeit beziehen, also die körperliche Lust.
(3.1) 1149b26–31 „Bei diesen muss man aber die Unterschiede berücksich-
tigen“: Statt zwei Arten von Lust und Begierde werden hier drei Arten un-
terschieden: (i) natürliche und menschliche, (ii) tierische, (iii) auf Krankheit
oder Verletzung beruhende.
(3.1.1) 1149b27–31 „Wie nämlich anfangs gesagt“: Mit diesem Anfang ist
nicht die detaillierte Unterscheidung in 6, 1148b15–19 gemeint, sondern die
Einführung von Unbeherrschtheit und Beherrschtheit als Nebenformen
von Zügellosigkeit und Besonnenheit in VII 1.
(3.2) 1149b31–1150a1 „Daher nennen wir auch die Tiere weder besonnen
noch zügellos“: Dass es bei den Tieren weder Tugenden noch Laster gibt,
gehört zu den Grundannahmen der aristotelischen Konzeption der Tugend.
Bei Tieren kann von Zügellosigkeit daher nur in dem Sinn die Rede sein,
dass bestimmte Tiere bzw. Tierarten die anderen „durch Angriffslust (hyb-
ris), Bösartigkeit (sinamôria) und Gefräßigkeit (pamphagon einai) übertref-
fen“. In seinen biologischen Schriften vergleicht Aristoteles zwar manch-
mal die unterschiedlichen Charaktereigenschaften verschiedener Tierarten,
die hier genannten Merkmale greift er dort aber nicht auf. Sinamôria be-
deutet eigentlich Zerstörungswut (vgl. Herodot, Historien V 92, 21); Tieren
schreibt Aristoteles solche Tendenzen sonst nicht zu. Der Ausdruck pam-
phagos taucht in den biologischen Schriften nur zur Bezeichnung von Alles-
fressern auf, nicht von Gefräßigkeit (vgl. HA I 1, 488a15; VIII 2, 590b10 et
Buch VII, Kapitel 7 759
pass.). Die Erklärung, dass solche Tiere die Grenzen des Natürlichen über-
schreiten, weil sie weder Vorsatz noch Überlegung haben, ist merkwürdig,
denn diese Fähigkeiten haben Tiere von Natur aus nicht. Es könnte aber
gemeint sein, dass dieses Fehlen sich bei besonders aggressiven Tieren so
auswirkt, dass die Grenze des für Tiere Natürlichen überschritten erscheint.
(4) 1150a1–8 „Tierische Rohheit ist zwar ein geringeres Übel als die Schlech-
tigkeit (elatton kakias), sie ist aber furchterregender“: Während die tieri-
sche Rohheit zuvor nur als eine Disposition von Menschen gekennzeichnet
worden ist, wird hier ein Vergleich zwischen der Rohheit von Tieren und
der Schlechtigkeit von Menschen angestellt (6, 1148b15–1149a19; dazu Na-
tali 2009a, 122–125). Dieser Vergleich besteht in einer skizzenhaften Auf-
zählung, so dass der Zusammenhang und die Einzelheiten schwer zu ver-
stehen sind (Cook Wilson 1879: „the last passage is apparently a bungler’s
work“). Der Vergleich besteht, zusammengefasst und mit Ergänzungen, aus
folgenden Schritten: (i) Die Rohheit von Tieren ist zwar weniger schlecht als
die Schlechtigkeit von Menschen, dafür aber furchterregender, weil bei ih-
nen der bessere Teil erst gar nicht vorhanden ist, während er bei Menschen
verdorben ist. Dieser ‚bessere Teil‘ ist offensichtlich die Vernunft. Dass die
Tiere furchterregender sind, könnte an ihrer unmittelbaren Aggressivität lie-
gen, während schlechte Menschen ansprechbar sind. (ii) Dieser Vergleich ist
ähnlich ungleich wie der zwischen Schlechtigkeit von Unbeseeltem (apsy-
chon) und Beseeltem (empsychon): Dem Unbeseelten fehlt nämlich ein be-
stimmtes Prinzip. (iii) Weniger schädlich ist dasjenige, was kein Prinzip der
Bewegung in sich hat; daher ist Unbeseeltes weniger schädlich. (iv) Auch
der Verstand ist ein solches Prinzip: Was keinen Verstand hat, ist weniger
schädlich. (v) Der Vergleich ist ähnlich wie der zwischen der Ungerechtig-
keit und dem ungerechten Menschen: In einer Weise ist die Ungerechtig-
keit, in anderer der Ungerechte schlechter. Der Ungerechte hat ein Prinzip
der Bewegung in sich, richtet also aktiv Schaden an; die Ungerechtigkeit
hat dieses Prinzip zwar nicht, sie ist aber per se eine schlechte Disposition,
die von vielen geteilt wird. (vi) Ein schlechter Mensch wird unendlich viel
mehr Schlechtes tun als ein Tier. Mit Letzterem muss ein Vergleich gemeint
sein, wie ihn Aristoteles in der Politik anstellt: Der ungerechte Mensch ist
seiner Intelligenz wegen das gefährlichste aller Lebewesen, zumal wenn sie
mit Waffenbesitz einhergeht: „Ohne Tugend ist der Mensch das ruchloseste
und wildeste Lebewesen und in Bezug auf Geschlechts- und Fresslust das
schlimmste von allen.“ (Pol. I 2, 1253a35–37).
760 Kommentar
(1) 1150a9–16 „Was Lust und Schmerz durch den Tast- und den Ge-
schmackssinn angeht“: An dieser Stelle werden, der Ankündigung im 1. Ka-
pitel entsprechend, auch die Standhaftigkeit (karteria) und die Weichlich-
keit (malakia) im Umgang mit Schmerz einander gegenübergestellt. Welche
Art von Schmerz gemeint ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Denn an
die Einschränkung auf Tast- und Geschmackssinn scheint Aristoteles sich
hier nicht zu halten, sondern die Weichlichkeit neben körperlichem Schmerz
auch auf Unlust jeder Art zu beziehen.
(1.1) 1150a11–15 „kann jemand so disponiert sein, dass er denen unterliegt,
welche die Mehrheit (hoi polloi) beherrscht“: Hier wird insofern eine wich-
tige Ergänzung geliefert, als ein Kriterium für die Unterscheidung von Be-
herrschtheit und Unbeherrschtheit eingeführt wird. Da es hier keine ‚rich-
Buch VII, Kapitel 8 761
tige Mitte‘ gibt, liefert die Mehrheit den Maßstab dafür. Von der Mehrheit
wird vorausgesetzt, dass sie sowohl beherrschtes wie auch unbeherrschtes
Verhalten an den Tag legt, so dass es eine Art von Durchschnitt gibt, nach
dem man sich bei der Unterscheidung dieser Dispositionen richten kann
(darauf wird auch in der Schlusszusammenfassung in 11, 1152a25–27 hin-
gewiesen). Entsprechendes soll auch für Standhaftigkeit und Weichlichkeit
gegenüber dem Schmerz gelten. Die Art von Schmerzen, die als zumutbar
gelten, wie auch ihr Ausmaß werden nirgends näher erläutert, wie Aristo-
teles überhaupt den Schmerz nie näher untersucht, sondern wie selbstver-
ständlich als Komplement zur Lust behandelt.
(2) 1150a16–32 „Da aber manche Arten von Lust notwendig sind, andere
nicht, und dies bis zu einem gewissen Punkt“: Hier werden stichpunktartig
die Charakteristiken der Zügellosigkeit aufgezählt: Sie sucht Lust im Über-
maß um ihrer selbst willen und tut dies mit Vorsatz. Bedauern kennt der
Zügellose nicht und ist daher unheilbar (Aporie 5). Der Mangel der Emp-
findungslosigkeit (anaisthêsia) wird nur gestreift; von Heilbarkeit ist nicht
die Rede.
(2.1) 1150a23–25 „Ähnlich verhält es sich mit dem, der den körperlichen
Schmerzen (sômatikai lypai) ausweicht, nicht, weil er ihnen unterliegt, son-
dern mit Vorsatz“: Dies ist die einzige Stelle, an der angedeutet wird, dass
es auch den Umgang mit Schmerz betreffend eine feste Disposition gibt. Es
werden aber weder die Art der Schmerzen näher spezifiziert noch auch das
Verhalten des Betreffenden, d.h. in welcher Weise er notwendige Schmerzen
grundsätzlich meidet.
(2.2) 1150a25–32 „Von denen, die ohne Vorsatz handeln, treibt den einen
die Lust, den anderen das Vermeiden von Schmerz, der von der Begierde
herrührt (tên apo tês epithymias)“: Die Unbeherrschten handeln nicht mit
Vorsatz, sondern gehen unter dem Einfluss der Begierde von ihrer richti-
gen Meinung ab. Dasselbe gilt für die Weichlichen im Umgang mit dem
Schmerz. Dass der Schmerz von der Begierde herkommen soll, spricht zwar
dafür, dass es dem Weichlichen um das Entbehren von Essen, Trinken und
Sexualität geht. Zuvor hat Aristoteles aber den Schmerz als „Hunger, Durst,
Hitze und Kälte“ und alles, „was den Tastsinn und den Geschmack betrifft“
(6, 1148a8 f.) gekennzeichnet. Nicht gemeint ist jedenfalls der Frustrations-
schmerz über eine entgangene Lust, auf den Aristoteles bei der Bestimmung
von Besonnenheit und Zügellosigkeit verwiesen hat (III 13, 1118b28–33). Er
wollte damit offensichtlich vermeiden, der Besonnenheit zwei voneinander
unabhängige Affekte zuzuschreiben, d.h. neben der körperlichen Lust auch
den körperlichen Schmerz, da sie unterschiedliche Dispositionen erfordern
würden. Er sieht für den Umgang mit Schmerz aber auch keine eigenstän-
dige Tugend vor, wie er das in EE II 3 tut, wo er der Tugend der Standhaf-
762 Kommentar
tigkeit (karteria) das Übermaß der Verhärtung (kakopatheia) und die Ver-
weichlichung (trypherotês) gegenüberstellt (1221a9; 28–31).
(2.3) 1150a27–31 „Jeder dürfte es aber für schlechter halten, wenn jemand
ganz ohne oder nur aufgrund einer schwachen Begierde etwas Schändliches
tut“: Wie viele Übersetzer durch Parenthese kennzeichnen, stellt diese Er-
läuterung des Unterschiedes zwischen der Zügellosigkeit ganz ohne oder
aufgrund einer schwachen Begierde und der Unbeherrschtheit als solcher
hier eine störende Unterbrechung der Gegenüberstellung des Unbeherrsch-
ten und des Weichlichen dar. Dieser Einschub ist eine, nur leicht abgewan-
delte Dublette des Textstücks von 6, 1148a17–22. Er ist hier auch deswegen
deplatziert, weil er das Verhalten mit oder ohne Zorn einbezieht. Es scheint
sich um eine Randglosse zu handeln, die an zwei verschiedenen Stellen zum
Stichwort ‚heftige Begierde‘ in den Text aufgenommen wurde (vgl. Bobo-
nich 2009, 141–144).
(2.4) 1150a31 f. „Von den genannten Dispositionen ist die eine eher eine Art
von Weichlichkeit (malakia), die andere von Unbeherrschtheit (akrasia)“:
Wie zur Übersetzung angemerkt, wird nach Spengels Vorschlag in 1150a32
‚Zügellosigkeit‘ durch ‚Unbeherrschtheit‘ ersetzt; denn in diesem Abschnitt
geht es um einen Vergleich zwischen Menschen, die ohne Vorsatz der Lust
oder dem Schmerz nachgeben. Die Korruptele ist vermutlich entstanden,
weil ein Kopist den Nachsatz an die Parenthese angeglichen hat.
(3) 1150a32–b5 „Der Beherrschte ist nun das Gegenteil des Unbeherrsch-
ten, der Standhafte das des Weichlichen“: Der Vergleich fällt zu Ungunsten
der Standhaftigkeit aus, weil sie angeblich bloß ‚widersteht‘ (antechein) und
nicht ‚beherrscht‘ (kratein), ein Verhältnis, das zusätzlich als bloßes Nicht-
unterliegen (mê hêttasthai) im Unterschied zum Siegen (nikan) gekenn-
zeichnet wird. Diese Beurteilung ist wenig plausibel; denn dem Schmerz zu
widerstehen und nicht zu unterliegen heißt, ihn beherrschen. Zudem sollte
man meinen, dass das Standhalten starken Schmerzen gegenüber besser ist
als die Beherrschung von Lust. Zwar könnte Aristoteles davon ausgehen,
dass überwundene Lust verschwindet, während das beim Schmerz nicht so
ist; dieses Verschwinden würde aber nicht auf der Stärke der Disposition
beruhen, sondern auf den physischen Gegebenheiten. Auch die Lösung,
dass Aristoteles hier nicht an rein körperliche Schmerzen denkt, sondern
einen Vergleich zwischen dem Beherrschen der vorhandenen Begierden und
dem Ertragen unerfüllbarer und daher schmerzhafter Begierden anstellt
(vgl. G/J II 2, 641; Bobonich 2009, 149–154), macht diese Beurteilung nicht
plausibel. Denn es bleibt unklar, worin ein ‚Unterliegen‘ im Fall von Schmer-
zen über unerfüllte Begierden bestehen sollte, bzw. wie er sich vom Unter-
liegen den Begierden gegenüber unterscheiden soll.
Buch VII, Kapitel 8 763
(3.1) 1150b2–5 „ist weichlich (malakos) und schlaff (tryphôn)“: Hier nimmt
Aristoteles neben der Weichlichkeit noch die anfangs genannte Unterart der
Schlaffheit auf (1, 1145a35 f.), in der er die Unfähigkeit sieht, auch nur die
geringsten Mühen auf sich zu nehmen, wie die komischen Beispiele vom
Schleifenlassen des Mantels und des wehleidigen Gebarens eines eingebil-
deten Kranken zeigen. Da es um den Umgang mit Mühen gehen soll, ist
hier tryphôn mit ‚schlaff‘ übersetzt worden. Tryphê gilt zwar meist einem
Leben in Luxus, in Rhet. II 6, 1383b35–1384a4 wird aber allgemein die man-
gelnde Fähigkeit von Älteren, Mühen auf sich zu nehmen, auf Bequemlich-
keit, sowie bei Wohlhabenden auf Weichlichkeit zurückgeführt. Gekenn-
zeichnet wird so das Verhalten eines derart Verwöhnten, dass ihm jeder
Anflug von Anstrengung zu viel ist. Dabei geht es aber nur um ein Ertra-
gen von Unlust und nicht von Schmerzen, die aus unerfüllten Begierden er-
wachsen.
(4) 1150b5–16 „Ähnlich verhält es sich auch bei Beherrschtheit und Un-
beherrschtheit“: Zu ergänzen ist hier ‚ähnlich wie bei Standhaftigkeit und
Weichlichkeit‘; denn Aristoteles plädiert im Folgenden für Verständnis oder
Nachsicht, wenn jemand unter besonderen Umständen, und nicht aufgrund
seiner Disposition übermäßigen Schmerz- und Lustempfindungen unter-
liegt. Die eben erst etablierte Unterscheidung zwischen ‚beherrschen‘ und
‚widerstehen‘ gibt er offensichtlich auf, denn er spricht in beiden Fällen von
‚widerstehen‘ (antiteinein) und ‚aushalten‘ (antechein). Die dazu angeführ-
ten Beispielsfälle lassen erkennen, dass physische und psychische Schmerzen
gemeint sind, die das Maß des Erträglichen überschreiten.
(4.1) 1150b8–10 „wie Philoktetes bei Theodektes“: Von Theodektes, ei-
nem Tragödiendichter des 4. Jh., sind keine Stücke erhalten. Dem anony-
men Kommentator zufolge (436, 33–36) hat Philoktetes zunächst zwar
lange dem Schmerz widerstanden, schließlich aber gebeten, man möge ihm
die verletzte Hand abschlagen. Im Fall des Kerkyon in der Tragödie Alope
des Karkinos geht es nicht um körperlichen Schmerz, sondern um Scham:
Kerkyon begeht Selbstmord aus Scham über die Verführung seiner Tochter
Alope durch Poseidon (473, 2–6).
(4.2) 1150b10–12 „oder wie solche, die sich das Lachen zu verbeißen su-
chen, aber plötzlich losplatzen“: Gemeint ist unwiderstehliche Lachlust,
nicht körperliche Begierde. Über einen Xenophantos weiß auch der ano-
nyme Kommentator nichts Näheres, sondern meint – unplausibler Weise –
er sei beim Luftanhalten gestorben (473, 10–12). Laut Seneca (De ira 2, 2)
war Xenophantos ein Musiker am Hof Alexanders des Großen; bei welcher
Gelegenheit er sich das Lachen nicht verbeißen konnte und welche Folgen
das hatte, ist unbekannt (zur Unbeherrschtheit dem Lachen gegenüber vgl.
Lukian, Pseudologista 7).
764 Kommentar
(4.3) 1150b14–16 „ohne eine Veranlagung in der Familie oder eine Krank-
heit, so wie bei den Königen der Skythen die Weichlichkeit in der Fami-
lie liegt“: Wie zuvor bei den Zornigen, macht Aristoteles auch bei der Be-
urteilung des Mangels an Widerstandskraft eine Ausnahme, wenn sie auf
krankhafter oder angeborener Veranlagung beruht. Wie sich diese Familien-
eigenschaft der Skythenkönige manifestiert hat, ist unklar, da sonst keine
derartigen Berichte erhalten sind. Herodot, Historien I 105 und Hippokra-
tes, De ventis 20–22 erwähnen zwar eine gewisse körperliche Schwäche in
der natürlichen Konstitution der Skythen; Herodot führt sie auf einen Fre-
vel, Hippokrates auf das Reiten zurück; von einer Beschränkung auf die Kö-
nigsfamilie ist aber nicht die Rede.
(4.3.1) 1150b15 f. „oder so wie das weibliche sich vom männlichen Ge-
schlecht unterscheidet“: Anscheinend hält Aristoteles es für ausgemacht,
dass das weibliche Geschlecht für Schmerzen anfälliger ist als das männliche
(vgl. auch die Schilderung weiblicher Tränenseligkeit in IX 11, 1171b6–12).
Zwar würdigt er die Tatsache, dass die Geburten von Frauen ertragen wer-
den (IX 7, 1168a21–26), schreibt Frauen aber generell einen minderen Grad
an Tugenden zu (Pol. III 4, 1277b16–32).
(4.4) 1150b16–19 „Für zügellos hält man auch den Vergnügungssüchti-
gen (paidiôdês), er ist aber weichlich“: Beim Vergnügen geht es nicht um
Schmerz, wohl aber um passives Unterhaltenwerden. Denn da das Vergnü-
gen hier als eine ‚Entspannung‘ (anapausis) verstanden wird, sind nicht die
Spaßmacher von IV 14 gemeint, sondern Menschen, die sich unterhalten las-
sen. Dass das Vergnügen kein Ziel, sondern nur der Erholung wegen Teil des
Lebens ist, wird X 6, 1176b9–1177a1 näher begründet.
den (7, 1149a25–32: tacheis). Dieser Vergleich passt aber besser zum Zorn
als zur Begierde.
(5.1) 1150b22 „Manche verhalten sich aber wie Menschen, die sich im Vor-
aus haben kitzeln lassen (progargalisthentes)“: Wie zur Übersetzung ange-
merkt, wird die in nahezu allen Handschriften und bei Aspasios erhaltene
Passivform beibehalten. Man kann sich nämlich selbst gar nicht kitzeln und
damit dem Kitzeleffekt durch andere vorbauen (auf das Phänomen der Kitz-
ligkeit geht Aristoteles in PA III 10, 673a2–10 ein und führt es auf die Dünn-
heit und Erhitzbarkeit der menschlichen Haut zurück; dass der Mensch sich
nicht selbst kitzeln kann, wird in Pseudo-Aristoteles, Problemata XXXV
6, 965a11–15 erwähnt). Nun hängt letztlich an der genauen Deutung die-
ses Beispiels nicht viel, denn es geht Aristoteles darum, dass man sich gegen
unbeherrschtes Verhalten wappnen kann, indem man sich die betreffende
Erfahrung im Voraus ausmalt und damit die Vernunft rechtzeitig auf den
Plan ruft. So wird in MM II 6, 1203a30–b11 als Präventivmaßnahme vorge-
schlagen, man solle sich mit der Vorstellung von einer schönen Frau gegen
eine entsprechende Versuchung wappnen. Auch den Zorn betreffend ist es
plausibel, dass die Antizipation einer Beleidigung die Vernunft wachruft, so
dass danach die Wirkung des Eindrucks einer tatsächlichen Kränkung we-
niger stark ist.
(5.2) 1150b25–28 „Unbeherrscht in der voreiligen Art von Unbeherrschtheit
sind vor allem die impulsiven (oxeis) und erregbaren (melancholikoi) Men-
schen“: Anders als ‚Melancholie‘ im Deutschen, mit der man Schwermut
oder Trübsal assoziiert, bezeichnet ‚Schwarzgalligkeit‘ im Griechischen die
besondere Erregbarkeit. Das gilt auch für die hippokratischen Schriften (vgl.
van der Eijk 2005, 139–168). Der Autor der Problemata widmet ihnen ein
langes Kapitel (XXX 1; vgl. Flashar 1966). Auf das erregbare Temperament
der Akratiker weist Aristoteles in seiner Schlusszusammenfassung noch-
mals hin (11, 1152a27–33). Auch diese Unterscheidung in Hinblick auf das
Temperament passt offensichtlich am besten zur Unbeherrschtheit im Zorn.
Denn in der Kennzeichnung des Zorns und seiner Unterarten ist zwischen
Jähzornigen (oxeis) und Cholerikern (akrocholoi) unterschieden worden (IV
11, 1126a13–19). Zu den Akratikern im eigentlichen Sinn, die mit Schlafen-
den, Betrunkenen oder Wahnsinnigen verglichen worden sind, passt diese
Kennzeichnung dagegen weniger gut.
(5.2.1) 1150b27 f. „Die einen warten ihrer Übereiltheit (tachytês), die ande-
ren ihrer Heftigkeit (sphodrotês) wegen nicht auf die Vernunft (ouk aname-
nousin ton logon)“: Hier scheint eine Beratung gar nicht stattzufinden.
(5.2.2) 1150b28 „weil sie dazu neigen, ihren Eindrücken (phantasia) zu fol-
gen“: Die Übersetzung von phantasia ist deswegen problematisch, weil Aris-
toteles diesem Begriff notorisch viel auflädt; denn das, was einem scheint
(phainetai), kann ein sinnlicher, aber auch ein intellektueller Eindruck oder
766 Kommentar
eine Kombination aus beidem sein. So ist fraglich, ob für den Zorn schon
allein der Anblick einer herabsetzenden Geste oder das Hören eines ent-
sprechenden Tonfalls ausreicht, um als ‚Eindruck‘ von einer Beleidigung
zu gelten (so Moss 2012, 100–133; dazu Vasiliou 2014), oder ob damit ein
propositionaler Eindruck gemeint sein muss: X hat mich beleidigt, obwohl
er dazu keine Veranlassung hatte. Die Wahrnehmung allein genügt sicher
nicht, sonst gäbe es das Phänomen der Beleidigung auch bei Tieren.
(1) 1150b29–36 „Der Zügellose kennt, wie gesagt, kein Bedauern (ou meta-
melêtikos), sondern bleibt bei seinem Vorsatz“: Auf dieses Kriterium verweist
bereits 8, 1150a21 f. Metameleia ist zuerst zur Unterscheidung unfreiwilliger
und nicht-freiwilliger Handlungen angeführt worden (III 2, 1110b18–24).
Die Begründung, dass der Zügellose von der Richtigkeit seiner Handlungs-
weise überzeugt ist, nimmt Bezug auf Aporie 5 aus Kap. 3, die behauptet,
dass der Zügellose deswegen heilbar ist, weil er nur seine Überzeugung än-
dern muss, während dem Unbeherrschten auf diese Weise nicht zu helfen ist,
weil er schon die richtige Überzeugung hat. Dass es sich mit der Heilbar-
keit gerade umgekehrt verhält, soll der Vergleich mit den beiden Krankheiten
zeigen. Während die Zügellosigkeit einer chronischen Krankheit ähnlich ist,
Buch VII, Kapitel 9 767
(2) 1151a1–10 „Von den Unbeherrschten sind diejenigen, die leicht außer
sich geraten (ekstatikoi), besser als diejenigen, die zwar die Überzeugung
(logos) haben, aber nicht dabei bleiben“: Gemeint sind die allzu Schnel-
768 Kommentar
thesis als Synonym für archê in EE II 10, 1227a8; 11, 1227b29 f. Das tertium
comparationis zwischen dem Mathematiker und dem Zügellosen ist, dass in
beiden Fällen die ersten Prinzipien auf zuvor Festgelegtem beruhen.
(3.2) 1151a17–19 „Weder dort noch hier ist aber die Überlegung (logos)
der Lehrer (didaskalikos) der Prinzipien“: Aristoteles bezieht sich hier auf
seine Zweiteilung des intellektuellen Vermögens von VI 6 in das ‚noetische‘
Vermögen der Einsicht in die Prinzipien und die ‚dianoetische‘ Fähigkeit,
Folgerungen aus den Prinzipien zu deduzieren. Da erste Prinzipien keiner
weiteren Begründung fähig sind, gibt es sie betreffend keine Belehrung (lo-
gos didaskalikos), sondern sie werden durch intellektuelle Intuition erfasst
(VI 6, 1141a3–7). Analoges gilt es auch für die Prinzipien des Handelns,
mit der Besonderheit, dass das jeweils fragliche Gute durch die Charakter-
tugenden bestimmt wird (VI 12, 1143a33–b5). Der Zügellose ist durch Be-
lehrung nicht zu beeinflussen: Seine Grundannahmen, worauf es im Leben
ankommt, sind auch in seinem Charakter verankert; daher kann eine ‚Um-
stimmung‘ durch rationale Gründe nichts ausrichten.
(3.2.1) 1151a18 f. „Vielmehr ist es die Tugend, ob die natürliche (physikê)
oder die durch Gewöhnung (ethistikê) erworbene“: Auf die Existenz na-
türlicher tugendhafter Dispositionen ist schon mehrfach verwiesen worden
(vgl. III 7, 1114b3–21; VI 13, 1144b1–17; 1144b32–1145a2), jedoch immer
mit der Maßgabe, dass es sich dabei nicht um Tugend im eigentlichen Sinn
handelt. Wenn Aristoteles diese Möglichkeit hier dennoch kommentarlos
anführt, so will er vermutlich auch der Tatsache Rechnung tragen, dass das
Temperament einen Unterschied macht. Auf die Notwendigkeit, die natür-
lichen Prädispositionen bei der Erziehung zu berücksichtigen, ist bereits in
II 9, 1109b2–7 hingewiesen worden.
(3.2.2) 1151a19 „richtiges Meinen (orthodoxein)“: Dieses Verb ist anschei-
nend Aristoteles’ eigene Prägung; weitere Zeugnisse stammen erst aus der
Spätantike.
(4) 1151a20–28 „Es kommt nun vor, dass jemand eines Affekts wegen der
richtigen Überzeugung entgegen außer sich gerät (ekstatikos)“: Wie zu
1151a1 angemerkt, kann dieser Ausdruck sowohl die Tendenz zum Abge-
hen von Prinzipien wie auch die Erregbarkeit bezeichnen. Vielleicht spielt
Aristoteles hier bewusst mit der Doppeldeutigkeit, denn der Affekt lässt
den Betroffenen tatsächlich momentan ‚außer sich‘ geraten, so dass er gegen
seine Überzeugung handelt. Das gilt auch für den schwachen Akratiker, der
schon einem schwachen Affekt folgt.
(4.1) 1151a26 f. „Mit seinem Gegenstück (enantios) verhält es sich anders: Er
bleibt bei seiner Überzeugung und gerät jedenfalls nicht durch einen Affekt
außer sich“: Der Zügellose lässt sich von der Maxime, jeder Lust folgen zu
sollen, auch nicht durch einen Affekt abbringen.
770 Kommentar
(1) 1151a29–b4 „Ist nun beherrscht, wer bei jeder beliebigen Überzeugung
(hopoiosoun logos) (…) bleibt?“: Hier wird die Frage von Aporie 3 beant-
wortet, ob einen die Beherrschtheit bei jeder (pasa) Meinung bleiben lässt,
oder nur bei der richtigen (3, 1146a16–21). Nun ist die Beherrschtheit bisher
nicht näher untersucht worden, und dies wird hier auch nicht nachgeholt.
Vielmehr besteht die Antwort in einer formalen Unterscheidung, die zu-
dem unnötig umständlich formuliert ist: Von ‚jeder Überzeugung‘ kann nur
in einem akzidentellen Sinn die Rede sein; nur das Richtige ist Gegenstand
von Beherrschtheit und Unbeherrschtheit. Diese Unterscheidung hat daher
unter den Kommentatoren für einige Irritation gesorgt (Grant 1866, II 228:
„perfectly irrelevant“; B/R, 398: „the literal meaning contributing nothing“;
dazu Broadie 2009, 166 f.). Einen solch ‚beharrlichen‘ Menschentypen gibt
es aber durchaus. Daher gibt es Anlass für die Präzisierung, dass Beharrlich-
keit nicht jeder Überzeugung gelten kann.
(1.1) 1151a32 „wer nicht bei Überzeugungen bleibt, die nicht falsch sind,
und beim richtigen Vorsatz“: Die Überlieferung in den Handschriften ist
Buch VII, Kapitel 10 771
(2) 1151b4–17 „Es gibt aber auch Menschen, die bei ihrer Meinung zu blei-
ben geneigt sind und die man starrsinnig (ischyrognômones) nennt“: Aus
der klassischen Zeit finden sich für diesen Ausdruck (eig. ‚Leute mit star-
ken Meinungen‘) sonst keine Belege, und die meisten späteren stammen aus
der aristotelischen Tradition. Da sich Aristoteles aber auf den herrschen-
den Sprachgebrauch beruft (‚man nennt‘), scheint es sich um einen gängigen
Ausdruck zu handeln. In jedem Fall verwendet Aristoteles diesen Ausdruck
in dem pejorativen Sinn, dass solche Leute durch nichts von ihren Meinun-
gen abzubringen sind. Gemeint ist aber nicht Rechthaberei oder Prinzipien-
reiterei im Allgemeinen, sondern moralischer Starrsinn. Das zeigt zum einen
die Analogie zu anderen Tugenden und Lastern: Der Starrsinnige verhält
sich zum Beherrschten wie der Tollkühne zum Tapferen. Zum anderen zeigt
das die Betonung, der Starrsinnige halte gegen alle Vernunftgründe an seinen
Begierden und an der Lust fest (vgl. Broadie 2009, 167 f.). Vom Zügellosen
unterscheidet er sich darin, dass der Zügellose zwar davon ausgeht, dass jede
Lust zu suchen ist, dies im Einzelfall aber nicht tun wird, wenn er meint,
dass sie für ihn nicht gut ist. Der Starrsinnige hält dagegen unterschiedslos
an jedem Vorsatz fest.
(2.1) 1151b12–17 „Starrsinnig sind aber sowohl die Eigensinnigen (idiognô-
mones) wie auch die Unbelehrbaren (amatheis) und die Sturen (agroikoi)“:
Hier erweitert Aristoteles die Starrsinnigkeit zur generischen Bezeichnung
von Leuten, die für Vernunftgründe ganz allgemein nicht zugänglich sind.
Es geht hier aber nicht mehr um Begierde und körperliche Lust, sondern
um die Freude an der Durchsetzung der eigenen Meinung in der Öffentlich-
keit – und um den Schmerz darüber, wenn die eigene Meinung unterliegt.
Jeder einzelne Bürger hatte das Recht, etwas zur Abstimmung (psêphisma)
vorzulegen. Die Ablehnung eines solchen Antrags wurde aber oft als per-
sönliche Niederlage empfunden.
(2.1.2) 1151b16 f. „Daher sind sie dem Unbeherrschten ähnlicher als dem
Beherrschten“: Die Ähnlichkeit muss darin liegen, dass der Unbeherrschte
es bedauert, an seiner Überzeugung nicht festgehalten zu haben. Es ist aber
ein ganz anderes Bedauern als das des Starrsinnigen darüber, dass sich seine
Meinung nicht durchgesetzt hat.
(3) 1151b17–22 „Es gibt aber auch Menschen, die nicht aus Unbeherrscht-
heit von ihren Meinungen abgehen wie Neoptolemos“: Auf das Bei-
spiel des Neoptolomos, der seinen Vorsatz, Philoktetes durch eine Lüge
772 Kommentar
(1) 1151b23–32: Die Beherrschtheit ist eine Art Mitte zwischen Über-
maß und Mangel der Lust gegenüber. (2) 1151b32–1152a6: Die Gleichset-
zung von Besonnenheit und Beherrschtheit, von Zügellosigkeit und Un-
beherrschtheit, ist einer Ähnlichkeit geschuldet. (3) 1152a6–14: Nicht die
Klugheit, sondern nur die Geschicklichkeit ist mit Unbeherrschtheit ver-
träglich. (4) 1152a14–36: Es folgt eine abschließende Bewertung von Unbe-
herrschtheit und Beherrschtheit.
(1) 1151b23–32 „Da es aber auch Menschen gibt, die geneigt sind, sich weni-
ger an körperlichen Dingen zu erfreuen, als man soll“: Der Gedanke an eine
Art von Beherrschtheit und Unbeherrschtheit den Mangel an Lust betref-
fend ist zuvor nicht angesprochen worden. Aristoteles lässt sich offensicht-
lich von dem Gedanken an analoge Verhältnisse zur Besonnenheit als Mitte
zwischen Zügellosigkeit und Empfindungslosigkeit (anaisthêsia) leiten. Die
Konstruktion einer analogen Triade mit der Beherrschtheit als Mitte stößt
jedoch auf die Schwierigkeit, dass der Beherrschte nicht Lust im richtigen
Maß empfindet, sondern nur dem Übermaß an Lust widersteht. Es müsste
daher auf Seiten derer, die zu wenig Lust empfinden, einen Beherrschten ei-
gener Art geben, der seiner Lustlosigkeit aus Überzeugung widersteht, und
einen Unbeherrschten, der ihr gegen seine Überzeugung nachgibt. In die-
ser Vorstellung liegt nicht nur eine gewisse Komik, sondern Aristoteles hat
daran offensichtlich nicht gedacht. Vielleicht hat er selbst bemerkt, dass das
triadische Schema besser nicht überstrapaziert werden sollte.
(2) 1151b32–1152a6 „Da man aber vielen Dingen aufgrund einer Ähnlich-
keit ihre Bezeichnung gibt, ist man auch aufgrund ihrer Ähnlichkeit dazu
gekommen von der Beherrschtheit des Besonnenen zu sprechen“: Aristote-
les nimmt hier die Erklärung von Endoxon 4 (2, 1145b14–16) auf, wonach
manche Menschen Beherrschtheit und Besonnenheit, Unbeherrschtheit und
Zügellosigkeit nicht nur für kompatibel halten, sondern keinen Unterschied
zwischen ihnen machen. Die Falschheit dieser Annahme ergibt sich schon
aus der langen Erklärung der Natur von Beherrschtheit und Unbeherrscht-
heit. Hier wird nur eine psychologische Erklärung nachgeliefert, wie es zu
diesem Irrtum kommt: Die Handlungsweisen sind dieselben, die Dispositi-
onen jedoch verschieden. Während der Zügellose seine Verhaltensweise für
richtig hält, tut der Unbeherrschte das nicht. Und während der Besonnene
keine übermäßigen Begierden hat, hält der Beherrschte sie nur im Zaum.
(3) 1152a6–14 „Auch kann ein und derselbe Mensch nicht zugleich klug
(phronimos) und unbeherrscht sein“: Hier wird der Irrtum von Endoxon 5
aufgeklärt, gewisse kluge Menschen seien unbeherrscht (2, 1145b18). Der
Sache nach hat dem bereits Aporie 1 mit dem Argument widersprochen,
774 Kommentar
dass es nicht die Klugheit sein kann, die von der Lust überwältigt wird, weil
Klugheit sämtliche Tugenden voraussetzt (1146a4–9). Die lange Erörterung
von Beherrschtheit und Unbeherrschtheit hat aber weder auf die Klugheit
noch auf den Klugen rekurriert, sondern auf Wissen und auf die richtige
bzw. wahre Meinung. Das Stichwort ‚Klugheit‘ wird also erst hier wieder
aufgenommen.
(3.1) 1152a10 „Den Geschickten (deinos) hindert aber nichts daran, unbe-
herrscht zu sein“: Auf den Geschickten weist Endoxon 5 hin, als Erklärung
für die Annahme, dass der Kluge unbeherrscht sein kann. Zur Geschicklich-
keit ist in VI 13, 1144a23–29 angemerkt worden, sie bestehe in der Fähigkeit,
die richtigen Mittel zum jeweiligen Ziel zu finden, gleich, um welches Ziel
es sich handelt. Der Geschickte kann seine Fähigkeit für ein gutes wie auch
für ein schlechtes Ziel einsetzen, da er in dieser Hinsicht nicht durch seinen
Charakter festgelegt ist: Ist das Ziel gut, so ist die Geschicklichkeit löblich,
ist sie schlecht, ist sie schurkisch (panourgia). Wenn Aristoteles auch für den
Geschickten von Unbeherrschtheit spricht, so muss er die Möglichkeit mei-
nen, dass ein Geschickter zwar die richtige Überzeugung hat, von der Be-
gierde jedoch abgehalten wird, ihr zu folgen.
(3.2) 1152a12 f. „wie wir am Anfang dieser Untersuchung (en tois prôtois
logois) gesagt haben“: Gemeint ist vermutlich das Ergebnis der Argumenta-
tion von Buch VI, dass es keine Klugheit ohne Charaktertugend gibt. Aris-
toteles geht also von der Zusammengehörigkeit dieser beiden Bücher aus,
ungeachtet seiner Versicherung in VII 1, man müsse einen ‚anderen Anfang‘
machen.
(4) 1152a14–36 „Der Unbeherrschte verhält sich aber auch nicht so wie je-
mand, der Wissen hat und es beachtet“: In einer Art Peroratio werden hier
die wesentlichen Resultate der Untersuchung über Unbeherrschtheit und
Beherrschtheit zusammengefasst. Sie fügt dem bisher Gesagten nichts we-
sentlich Neues hinzu, hebt aber einige der zuvor getroffenen Bestimmungen
besonders hervor und setzt dabei auch bestimmte Akzente. Dazu gehört
die Betonung, dass der Unbeherrschte freiwillig handelt, weil er in gewis-
ser Weise weiß, was er tut. Nur hier wird die Frage der Freiwilligkeit unbe-
herrschten Verhaltens überhaupt angesprochen, die durch das Nicht-Wissen
infrage gestellt sein könnte (vgl. dazu EE II 8, 1224b8–1225a1). Nicht alles,
was man freiwillig tut, tut man aber mit Vorsatz (prohairesis).
(4.1) 1152a17 „Er ist also nur ‚halbschlecht‘ (hêmiponêros)“: Das Urteil über
die Unbeherrschtheit schwankt im Lauf der Untersuchung; sie wird manch-
mal als eine Schlechtigkeit (Endoxon 1 et pass.), manchmal auch nur als
Schlechtigkeit ‚in gewisser Weise‘ bezeichnet. Für die Disposition der Un-
beherrschtheit ist der Ausdruck ‚halbschlecht‘ besonders passend, weil zwar
das Verhalten schlecht, die Überzeugung aber gut ist. Sonst kennzeichnet
Buch VII, Kapitel 11 775
Aristoteles nur einen Tyrannen als ‚halbschlecht‘, der wie ein König herrscht
(Pol. V 11, 1315b9 f.). Der Ausdruck erinnert an Platons Widerlegung der
Möglichkeit einer ‚vollkommenen Ungerechtigkeit‘ mit dem Argument, nur
ein ‚Halbschlechter‘ sei überhaupt fähig, in einer Gemeinschaft mit anderen
zu leben (Resp. I 352c: hêmimochthêros). Dass keine Hinterhältigkeit vor-
liegt, hat Aristoteles zuvor zwar für den Unbeherrschten im Zorn behaup-
tet, damit aber gerade den Unterschied zum Unbeherrschten im eigentlichen
Sinn markiert, dem es um die Lust zu tun ist und der darum allerlei Ränke-
spiele betreibt (7, 1149b13–15; vgl. auch G/J II 2, 253 und B/R, 399; Tiele-
mann 2009, 179).
(4.2) 1152a18 f, „Der Unbeherrschte der einen Art ist nicht geneigt, bei
dem zu bleiben, was er beraten hat, der andere, der Erregbare (melancholi-
kos), ist erst gar nicht dazu geneigt, mit sich zurate zu gehen“: Wie zu die-
ser Unterscheidung in 8, 1150b19–28 angemerkt, passt diese Kennzeichnung
des schwachen Akratikers nicht zur allgemeinen Bestimmung der Unbe-
herrschtheit in Kap. 5, wonach der Akratiker die konkreten Handlungsum-
stände nicht wahrnimmt. Dem schwachen Akratiker wird unterstellt, dass
er alles überlegt und eine Entscheidung trifft, sie aber aus Schwäche nicht
umsetzt.
(4.3) 1152a19–23 „so wie Anaxandrides gespottet hat“: Anaxandrides war
ein Komödiendichter des 4. Jh. aus Rhodos, den Aristoteles verschiedent-
lich lobend in der Rhetorik zitiert (III 10, 1411a18–20 et pass.). Welche Stadt
er meint, ist unklar. Der Sache nach zielt der Spottvers auf dasselbe wie der
Vers des Demodokos über die Milesier, deren Handlungen nicht in Überein-
stimmung mit ihrer Klugheit stehen. Der Unbeherrschte hat sozusagen die
richtigen Gesetze, wendet sie aber nicht an, während der Zügellose schlechte
Gesetze hat und sie anwendet.
(4.4) 1152a25–27 „Unbeherrschtheit und Beherrschtheit beziehen sich auf
das, was über die Disposition der Mehrheit hinausgeht“: Dass die ‚Mehr-
heit‘ das Maß zur Bestimmung von Beherrschtheit und Unbeherrschtheit
darstellt, wurde bereits 8, 1150a9–16 vermerkt. Hier präzisiert Aristoteles
diese Bestimmung noch: Die Beherrschten haben ein besseres Vermögen, an
ihren Grundsätzen festzuhalten, als es die meisten können (tês tôn pleistôn
dynameôs). Aristoteles geht also nicht davon, dass der Beherrschte nie von
seinen Vorsätzen abgeht, noch auch, dass der Unbeherrschte dies immer tut.
Der Beherrschte tut es aber nur unter Bedingungen, die das Beharrungsver-
mögen der meisten übersteigen; ein Beispiel ist etwa die ununterdrückbare
Lachlust, von der in 8, 1150b10–12 die Rede war, und Analoges gilt für das
Aushalten von Schmerzen auf Seiten des Standhaften wie etwa im Beispiel
des Philoktetes.
(4.5) 1152a27–36 „Die Unbeherrschtheit der Erregbaren (melancholikoi) ist
leichter heilbar“: Ein Vergleich zwischen den Erregbaren und denjenigen,
776 Kommentar
die unter dem Einfluss der Lust nicht an ihren Entscheidungen festhalten,
ist schon verschiedentlich angestellt worden. So werden den Erregbaren in
8, 1150b25–28 mildernde Umstände zugebilligt, weil eilfertige und erreg-
bare Menschen auf die Vernunft nicht warten, sondern sich unmittelbar von
ihren Eindrücken lenken lassen. Dass Erregbare leichter heilbar sein sollen
als Schwache, ist aber nicht unmittelbar einsichtig. Denn sie gehören zu den
von Natur aus Unbeherrschten, die weniger leicht heilbar sein dürften als
diejenigen, die ihren Charakter der Gewohnheit verdanken.
Die ‚Heilbarkeit‘ stellt zwar in der Ethik ein wichtiges Kriterium in
der Beurteilung der Charakterdispositionen überhaupt dar, über therapeu-
tische Methoden äußert sich Aristoteles jedoch nicht. Gemeint sein müs-
sen Präventiv-Strategien gegen voreiliges Verhalten von der Art, wie sie in
8, 1150b22–25 erwähnt werden, wie etwa das rechtzeitige Nachdenken (‚bis
zehn zählen‘) oder die Vorwegnahme der entsprechenden Eindrücke. In
der Diskussion der Lust wird Aristoteles die melancholikoi allerdings der
Heftigkeit ihrer Begierden wegen als ‚immer heilungsbedürftig‘ bezeichnen
(15, 1154b11–15). Die ‚Schwachen‘, die sich an ihre Überlegungen nicht hal-
ten, müssten andere Maßnahmen ergreifen.
(4.5.1) 1152a29–33 „Leichter heilbar sind überdies die durch Gewohnheit
(di’ ethismou) als die von Natur (physikoi) aus Unbeherrschten“: Wie schon
früher bemerkt, gibt es Unterschiede im Erwerb der Tugenden, die einerseits
von den natürlichen Anlagen, andererseits von den Gewohnheiten abhän-
gen. Letzteres betrifft das bessere oder schlechtere Üben des Kitharaspielers
und des Baumeisters (II 1, 1103b14–26).
(4.5.2) 1152a30–33 „Auch die Gewohnheit ist aber deswegen schwer zu än-
dern, weil sie der Natur ähnlich ist, wie auch Euenos sagt“: Euenos von Pa-
ros war der Sophist und Dichter, den Sokrates aufgefordert hat, ihm − als
ein echter Philosoph − so bald wie möglich in den Tod zu folgen (Phd. 60d–
61c). Aristoteles zieht auch sonst manchmal Sentenzen des Euenos heran
(Met. Δ 5, 1015a28 f.; EE II 7, 1223a31 f.; Rhet. I 11, 1370a10 f.)
(4.5.3) 1152a33 „die endlich wird den Menschen zur Natur (teleutôsan phy-
sin)“: Auf dieses Zitat wird oft zur Rechtfertigung dafür verwiesen, dass
Aristoteles in der Charaktertugend die ‚zweite Natur‘ sieht, die der Mensch
zwar nur durch Gewöhnung erwirbt, die dann aber die Vollendung seiner
Natur ausmacht.
Buch VII, Kapitel 12 777
(1) 1152b1–8 „Lust und Schmerz zu untersuchen, ist die Aufgabe desjeni-
gen, der sich mit politischer Philosophie befasst (tou tên politikên philoso-
phountos)“: Für die ‚politische‘ Bedeutung einer näheren Untersuchung von
Lust und Schmerz führt Aristoteles drei Gründe an: (i) Die Frage ist relevant
für die Bestimmung des Ziels. (ii) Tugend und Schlechtigkeit des Charakters
beziehen sich auf Lust und Schmerz. (iii) Man nimmt gemeinhin einen engen
Zusammenhang zwischen Lust und Glück an. Keiner dieser Punkte wird je-
doch im Folgenden in der Weise behandelt, wie es diese Einleitung erwarten
lässt, sondern die versprochene Aufklärung lässt sich nur indirekt aus Aris-
toteles’ Widerlegungen der anti-hedonistischen Positionen erschließen. Da
wir aus Aspasios (151,18–27) schließen können, dass Version A der Lustab-
handlung auch Teil der von ihm Eudemos zugeschriebenen Ethik war, liegt
nah, dass die Kontroverse aus der EE stammt, aber noch eine Überarbei-
tung erfahren sollte. Die Einleitung dürfte Aristoteles eigens für die geplante
Überarbeitung verfasst haben, die dann aber erst in Buch X 1–5 folgt.
778 Kommentar
(2) 1152b8–12 „Die einen meinen nun, keine Lust sei gut“: Hier wird der
Katalog der drei anti-hedonistischen Positionen vorgestellt, in abnehmender
Gegnerschaft zur Lust:
Buch VII, Kapitel 12 779
1. Keine Lust ist ein Gut, weil das Gute und die Lust nicht dasselbe sind.
2. Manche Arten von Lust sind gut, die meisten sind aber schlecht.
3. Selbst wenn alle Arten von Lust gut sind, kann die Lust nicht das
höchste Gut sein.
Die logische Ordnung der Präsentation (keine – manche – alle) lässt ver-
muten, dass Aristoteles weniger an konkreten Positionen interessiert ist als
vielmehr an einer systematischen Behandlung (so auch G/J II 2, 785). In ge-
wisser Weise spiegeln alle drei Positionen Standpunkte wider, die Platon im
Philebos zur Sprache bringt, freilich nicht in einer solchen Anordnung und
nicht als Argumentationsziel. Es ist ohnehin unwahrscheinlich, dass Aris-
toteles den Text des Philebos vor sich hatte; sonst hätte er für die Partei der
strikten Lustgegner nicht behauptet, für sie sei die Lust nicht einmal akzi-
dentell ein Gut (1152b9). Vielmehr hebt Platon ausdrücklich hervor, dass die
Lust zwar nicht als solche, wohl aber unter bestimmten Bedingungen gut
ist, so wie das auch für Hitze und Kälte und alles dieser Art gilt (32d). Als
ein ‚Werden‘ ist die Lust immer dann gut, wenn sie zu einem guten Ziel hin-
führt. Da im Verlauf des Philebos teils mehr, teils weniger konziliante Äuße-
rungen über die Lust und ihren Wert fallen, eignet sich dieser Dialog aber als
Fundgrube für unterschiedliche Beurteilungen der Lust.
Als ausgesprochener Lustfeind wird oft Antisthenes, der Anhänger des
Sokrates und Vorgänger der Kyniker, genannt. Ob Aristoteles ihn mit ein-
bezieht, ist unklar. Vieles spricht dafür, dass Aristoteles eine Kontroverse
innerhalb der Akademie aufgenommen und in Auseinandersetzung mit ihr
auch seine eigene Position entwickelt hat. Namentlich nennt er nur Speusip-
pos, den Neffen und Nachfolger Platons (14, 1153b, 4–7), der anscheinend
Position (1) vertreten hat. Andere Mitglieder der Akademie dürften als Be-
fürworter der gemäßigteren Positionen aufgetreten sein.
(3) 1152b12–23 „Dass die Lust überhaupt kein Gut ist, begründet man da-
mit“: Die nachfolgenden Rechtfertigungen für die drei lustkritischen Posi-
tionen sind unterschiedlich ausführlich. Der Löwenanteil fällt dabei auf die
erste Position, also auf die Gründe für eine grundsätzliche Ablehnung der
Lust. Die kritischen Einwände gelten der Natur der Lust (1.1 und 1.2), sie
berufen sich dazu auf Kriterien, die entweder ausschließen, dass Lust etwas
Gutes ist, oder ein Indiz dafür liefern (1.3–1.7).
Es folgt eine Aufzählung, die der Übersicht wegen wie folgt zusammen-
zufassen ist:
1. Keine Lust ist ein Gut.
1.1: Jede Lust ist ein wahrnehmbares Werden.
1.2: Kein Werden ist ein Ziel.
1.3: Der Besonnene meidet die Lust.
780 Kommentar
gen die Lust gewendet haben, war Platon nicht die einzige Quelle solcher
Ratschläge (dazu G/J II 2, 789).
(3.1.3) 1152b15 f. „sucht der Kluge (phronimos) das Schmerzlose, nicht das
Lustvolle“: Diese Maxime stammt nicht aus dem Philebos; denn dort gibt
Platon der reinen Lust den Vorzug vor der Schmerzlosigkeit und kritisiert
ausdrücklich die Auffassung ‚der Griesgrämigen‘ (dyschereis), die die Lust
mit Schmerzlosigkeit gleichsetzen (44b–d). Als schlecht lehnt Platon nur die
extremen, krankhaften Formen der Lust ab.
(3.1.4) 1152b16–18 „ist jede Art von Lust dem Denken (phronein) hinder-
lich“: Dieser Einwand erinnert an die Kritik an den heftigen Arten von Lust
in Phd. 66c (so auch Dirlmeier 1956, 498 gegen Burnet et al.): Sinnenlust und
Furcht hindern den Menschen am Denken. Auch der Philebos erwähnt die-
sen Punkt, allerdings nur bezüglich der Liebeslust (Phlb. 65c–d). Eine prin-
zipiell negative Einstellung zur Lust kann sich aber auf Platons Kennzeich-
nung des gottgleichen Lebens berufen, das in Denken und Vernunft besteht
und weder Lust noch Schmerz enthält (Phlb. 32e–33c).
(3.1.5) 1152b18 f. „ist keine Kunst (technê) mit der Lust befasst“: Die Be-
gründung erinnert an das berühmte Argument bei Platon, Rhetorik und an-
dere Disziplinen wie das Kochen seien keine Kunst, sondern nur auf Routine
und Erfahrung beruhende Schmeicheleien, die Lust erregen (Gorg. 462a–
465d). Wie B/R, 400 vermerken, gibt Aristoteles diesem Argument aber eine
eigentümliche Wendung. Das Argument im Gorgias besagt, dass die Rheto-
rik keine Kunst ist, weil sie nur auf scheinbar Gutes abzielt; denn Kunst gilt
dem wahrhaft Guten. Das antihedonistische Argument beruft sich dagegen
darauf, dass es keine Kunst gibt, welche Lust zum Ziel hat: (i): Jedes Gut ist
das Produkt einer Kunst; (ii): Lust ist kein Produkt einer technê, (iii) also ist
die Lust kein Gut. Wie Aristoteles dieses Argument auffasst, wird noch aus
seiner Erwiderung in Kap. 13 deutlich werden.
(3.1.6) 1152b19 f. „suchen auch Kinder und Tiere die Lust“: Dies dürfte ein
Gemeinplatz sein. Platon verwirft zwar in Gorg. 464d–e das Urteil von Kin-
dern und Tieren und behandelt in Phlb. 21c; 67b diejenigen Lüste als anima-
lisch, um die es dem Lustfreund Philebos besonders zu tun ist; eine Kombi-
nation von Kindern und Tieren erwähnt er aber nicht.
(3.2) 1152b20–22 „Dass nicht jede Lust gut ist, begründet man damit, dass es
schimpfliche und schändliche, wie auch, dass es schädliche Arten gibt“: Als
Rechtfertigung von Position (2) ‚manche sind gut, die meisten aber schlecht‘
(1152b10f.) führt Aristoteles zwei Bewertungen der Lust an, eine moralische
und eine utilitaristische. Er macht aber nicht deutlich, ob diese Partei davon
ausgeht, dass die Lust ein Werden ist. Es könnte sich daher auch um einen
ganz allgemeinen Einwand gegen die Lust handeln.
(3.3) 1152b22 f. „Dass die Lust nicht das höchste Gut ist, begründet man
damit, dass sie kein Ziel (telos), sondern ein Werden (genesis) ist“: Die Be-
782 Kommentar
gründung für die dritte Position, als ein Werden könne die Lust nicht das
höchste Gut sein, wiederholt de facto die Rechtfertigung für 1.1. G/J II 2,
785 f. meinen daher, Aristoteles habe sie womöglich nur der Symmetrie we-
gen eingeführt („une fausse-fenêtre“). Sie entspricht aber dem Duktus des
Philebos, dessen Schlussbewertung die reine Lust zwar als einzige als ein
Gut einstuft, ihr aber nur den 5. Rang zubilligt (66c). Die platonische Auf-
fassung, die Lust sei ein Werden, hat anscheinend Anhänger gefunden, die
dafür argumentiert haben, als ein Werden sei die Lust zwar kein Ziel, aber
dennoch ein Gut.
(1) 1152b25–33: Gegen 1 – keine Lust ist ein Gut. (2) 1152b33–1153a7: Gegen
1.1 – die Lust ist ein wahrnehmbares Werden. (3) 1153a7–17: Gegen 1.1 und
3 – die Lust als ein Werden kann nicht das höchste Gut sein. (4) 1153a17–20:
Gegen 2.2 – es gibt schädliche Arten von Lust. (5) 1153a20–23: Gegen 1.4;
1.5 – die Lust ist dem Denken hinderlich. (6) 1153a23–27: Gegen 1.6 – keine
Lust ist das Produkt einer Kunst. (7) 1153a27–35: Gegen 1.7; 1.3; 1.4 – Kin-
der und Tiere suchen die Lust, Besonnene und Kluge meiden sie oder suchen
Schmerzlosigkeit.
Buch VII, Kapitel 13 783
(1) 1152b25–33 „Warum sich aus diesen Argumenten nicht ergibt, dass die
Lust kein Gut ist“: Im Folgenden werden sämtliche anti-hedonistischen Ar-
gumente zurückgewiesen, allerdings nicht in derselben Reihenfolge und in
unterschiedlichem Umfang. Das Schwergewicht fällt auf Position 1: Keine
Lust ist ein Gut.
(1.1) 1152b26–33 „Da man von ‚gut‘ in zwei Bedeutungen spricht, zum ei-
nen von ‚gut an sich‘ (haplôs), zum anderen von ‚gut für jemanden‘ (tini)“:
Diese Unterscheidung gilt nicht nur für Dinge und ihre Dispositionen, son-
dern auch für Veränderungen (kinêseis) und Werdeprozesse (geneseis). Ein
Beispiel gibt Aristoteles dafür zwar nicht, es ist aber nicht schwer zu se-
hen, was er im Auge hat: Ist ein bestimmtes Heilmittel für einen bestimmten
Kranken gut, so ist es auch der entsprechende Heilungsprozess. Damit ak-
zeptiert Aristoteles nicht, dass die Lust eine Art Wiederherstellung ist, son-
dern rechtfertigt nur, dass auch hier von ‚gut‘ in einem qualifizierten Sinn zu
sprechen ist.
(1.1.1) 1152b31: „aber nicht immer (aei d’ ou)“: Wie zur Übersetzung an-
gemerkt, wird hier nicht mit Bywater nach Aspasios ‚an sich‘ (haplôs) ein-
gefügt, sondern mit Susemihl nach Rassow ‚immer‘ (aei) ergänzt. Denn da
hier von vornherein nur relativ Gutes gemeint ist, also nur das ‚für einen Be-
stimmten Wählbare‘, ist eine zeitliche Modifikation vorzuziehen.
(1.2) 1152b31–33 „Wieder andere sind dagegen überhaupt keine Arten von
Lust, sondern scheinen es nur zu sein“: Im Gegensatz zu Platon bestrei-
tet Aristoteles hier, dass therapeutische Vorgänge bei der Heilung akuter
Schmerzen überhaupt als Lust anzusehen sind. Wenn er von ‚Schein‘ spricht,
so muss er annehmen, dass Kranke das Gefühl der Linderung und Befreiung
von Schmerz fälschlich für Lust halten. Wie sich im Folgenden zeigt, nimmt
er das aber nicht für sämtliche Arten von Befreiungen an, sondern meint, in
manchen Fällen sei die Lust nur anderer Art als bei Gesunden.
meinen, ist nicht plausibel. Erstens war die platonische Theorie nicht popu-
lär; zweitens will Aristoteles seinen Rhetorik-Studenten nicht populäre Mei-
nungen über die Affekte vermitteln, sondern erklären, was die Affekte sind
und wie man sie bei den Zuhörern erzeugen oder beschwichtigen kann. Ob
Aristoteles in EN VII auf eine Erklärung von Lust und Schmerz der Affekte
bewusst verzichtet, muss offenbleiben. Es dürfte ihm aber klar gewesen sein,
dass seine eigene Konzeption der Lust als ‚ungehinderte Tätigkeit‘ zwar für
Handlungen, nicht aber für Affekte gilt (zu den ‚gemischten Gefühlen‘ in
der Rhetorik vgl. Frede 1996). Lust- und schmerzvolle Affekte spielen zwar
in der Erörterung der Charaktertugenden in Buch II eine wichtige Rolle,
später werden sie aber nur noch selten erwähnt (vgl. Kosman 1980).
(2.1) 1152b35 f. „Bei den Begierden ist die Tätigkeit aber die der übrigen
Disposition und Natur (tês hypoloipou hexeôs kai physeôs)“: Aristoteles will
hier erklären, dass die Lust nicht in der Wiederauffüllung besteht, sondern
in der Aktivität dessen, was vom Füllen und Leeren nicht affiziert wird und
daher zur ‚übrigen‘, d.h. ‚übrig gebliebenen‘, d.h. nicht affizierten Dispo-
sition gehört (vgl. 15, 1154b18 f.: ‚gesund gebliebenen‘). Man genießt also
die Tätigkeit des Essens, aber nicht das ‚Gefülltwerden‘. Zur Rechtfertigung
verweist Aristoteles auf Aktivitäten, die nicht mit Schmerz und Begierde
verbunden sind, wie die Lust am Nachdenken, sowie auf die Tatsache, dass
einem nach der ‚Wiederherstellung‘ nicht dieselben Dinge angenehm sind,
die man während der Wiederherstellung als lustvoll empfindet, wie Bitteres
und Scharfes. Daraus erhellt zwar, dass die Arten der Lust von Kranken und
Gesunden verschieden sind, aber nicht, dass nur die Aktivität des von der
Krankheit nicht affizierten Teils lustvoll ist.
(2.2) 1153a1 f. „wie etwa die Lust am Nachdenken (theôrein), weil es der
eigenen Natur dabei an nichts mangelt (endeês)“: Dieses Beispiel ist nicht
geeignet zur Erklärung der Lust an der Erfüllung von Begierden. Denn das
reine Denken ist für Aristoteles der Inbegriff der vollkommenen Tätigkeit,
der weder ein Mangel noch ein Veränderungsprozess zugrunde liegt. Dieses
Beispiel erklärt also nicht, was es mit natürlichen Kompensationen für einen
Mangel auf sich hat, die man als lustvoll empfindet.
(3) 1153a7–17 „Es muss nicht notwendig etwas anderes, Besseres, geben als
die Lust, wie diejenigen meinen, die sagen, das Ziel (telos) sei besser als das
Werden (genesis)“: Diese Erwiderung bezieht sich auf Punkt 3, dass die Lust
als ein Werden nicht das höchste Gut sein kann. Aristoteles bestreitet hier
nicht, dass die Lust auch ein Werden betreffen kann, sondern nur, dass jede
Lust ein Werden ist, mit der Begründung, manche Arten von Lust seien Tä-
tigkeiten (energeiai). Gleichwohl korrigiert er kurzerhand die platonisch
inspirierte Kennzeichnung der Lust als eines ‚wahrnehmbaren Werdens‘,
indem er ‚Werden‘ durch ‚Tätigkeit‘ ersetzt und ‚wahrnehmbar‘ durch ‚un-
Buch VII, Kapitel 13 785
gehindert‘. Dass diese revidierte Formel seine eigene Konzeption der Lust
repräsentiert, sagt Aristoteles zwar nicht ausdrücklich, er beruft sich aber
darauf im Folgenden (14, 1153b11–19). Die Lust ist daher ein Modus des
Tätigseins und kein davon unabhängiges Phänomen.
(3.1) 1153a13 „die Lust sei ein wahrnehmbares Werden (aisthêtê genesis)“:
Beide Elemente finden sich in Platons Philebos. Platon erklärt dort zunächst,
dass Lust eine ‚wahrnehmbare Erschütterung‘ ist, die auch die Seele erfasst
(Phlb. 33d–34a). In seiner zusammenfassenden Darstellung (Phlb. 53c–55a)
bezeichnet er die Lust als ein Werden (genesis), das grundsätzlich weniger
wertvoll ist als das daraus resultierende Sein (ousia). Nun kennt Platon den
Begriff der energeia nicht, sondern bezeichnet die Tätigkeiten der Seele ge-
nerell als kinêseis (Phdr. 245c; Tim. 34a; 38a et pass.). Mit vollkommener Tä-
tigkeit verbindet Platon die Lust jedoch nicht, denn er bestreitet ausdrück-
lich, dass die Götter Lust empfinden (Phlb. 33b–c). Von der ungeheuren
Lust der Philosophen am ‚Anfüllen mit wahrhaft Seiendem‘ (Resp. IX 586e–
587e) ist im Philebos nicht mehr die Rede.
(3.2) 1153a15 „ungehindert (anempodiston)“: Zu den notwendigen Bedin-
gungen ungehinderten Tätigseins gehören körperliches und geistiges Wohl-
befinden wie auch die äußeren Güter. Denn ohne sie kann man nicht oder
nicht in der richtigen Weise tätig sein, wie das folgende Kapitel bestätigt
(14, 1153b17–19). Auch die Qualität der Gegenstände, auf die sich die Akti-
vität bezieht, ist wichtig. So wird in Version B als Bedingung genannt, dass
die Sinne im besten Zustand und auf die schönsten Gegenstände ausgerich-
tet sein müssen (X 4, 1174b14–20).
In Hinblick auf die Natürlichkeit und die Ungehindertheit des Tätig
seins bleiben Fragen offen, die es zweifelhaft erscheinen lassen, ob diese Tä-
tigkeiten nur einem sehr begrenzten Bereich angehören, ein Problem, für
das auch EN X 1–5 keine klare Lösung bietet: (i) Wie viel Mühe beim Tä-
tigsein verträgt sich mit Ungehindertheit? (ii) Wie sind schlechte Arten von
Lust zu erklären, d.h. solche, die mit schlechtem Handeln einhergehen, aber
dennoch Lust bereiten? Wenn sie nicht natürlich sind, warum sind sie den-
noch lustvoll? (iii) Wie sind die besonders heftigen körperlichen Arten von
Lust zu beurteilen, die als Gegenmittel gegen Schmerz eingesetzt werden?
(iv) Gelten lustvolle Prozesse (kinêseis) und Aktivitäten, die zu einem Ziel
hinführen, grundsätzlich nicht als ungehinderte bzw. als natürliche Tätig-
keiten? (v) Wie steht es mit zwar schönen, aber mühevollen Handlungen?
(3.3) 1153a15–17 „Manche halten allerdings die Lust für ein Werden, als sei
es das Gute im eigentlichen Sinn (kyriôs agathon)“: Wer diese ‚Freunde des
Werdens‘ sind, ist unklar. So werden etwa die Kyrenaiker als Kandidaten
genannt (vgl. Stewart 1892, II 242). Soweit wir wissen, haben die Kyrenai-
ker aber die Lust als ‚sanfte Bewegung‘ (leia kinêsis) vom Schmerz als ‚rauer
Bewegung‘ (tracheia) unterschieden (Diogenes Laertius, II 86–89: ‚Aris-
786 Kommentar
tippos‘). Von genesis ist in den Testimonien über die Kyrenaiker jedenfalls
nicht die Rede. Vielmehr dürften Mitglieder der Akademie bestimmte For-
men des Werdens als gut im eigentlichen Sinn angesehen haben, etwa unter
dem Einfluss von Platons Lehre vom ewigen Werden der sichtbaren Welt
(Tim. 27e–28d). In dieser Welt, so könnte die Begründung besagen, ist ein
harmonisches Werden das Beste, was es gibt; dazu gehört folglich auch die
Lust.
(4) 1153a17–20 „Dass die Lust schlecht sein soll, weil manches, was lustvoll
ist, zu Krankheiten führt“: Es fällt auf, dass Aristoteles in seiner Erwiderung
auf den Kritikpunkt 2.2 nur die schädlichen Arten anführt, die Krankhei-
ten zur Folge haben. Daher kann er sich mit dem Hinweis begnügen, dass
u.U. sämtliche Aktivitäten derartige Folgen haben können, einschließlich
so vorzüglicher Tätigkeiten wie das Nachdenken (theôrein). Die Möglich-
keit schlechter, d.h. schändlicher Arten von Lust streift er nur kurz, obwohl
ebendiese Arten von Lust Gegenstände von Unbeherrschtheit und Zügello-
sigkeit sind.
(5) 1153a20–23 „Weder die Klugheit noch sonst irgendeine Disposition wird
aber durch die Lust behindert“: Die Antwort auf Kritikpunkt 1.4 und 1.5,
der Kluge meide die Lust, weil sie am Denken hindert, beruft sich darauf,
dass zu jeder Aktivität eine ihr eigentümliche Lust gehört, so dass nicht die
Lust als solche hinderlich ist, sondern nur ‚fremde‘ (allotriai) Arten, die an-
deren Tätigkeiten gelten. Die jeder Tätigkeit eigene Lust intensiviert viel-
mehr diese Tätigkeit noch. Auf den Unterschied zwischen ‚eigenen‘ und
‚fremden‘ Arten von Lust, auf deren Intensivierung und Störbarkeit, geht
Aristoteles in X 5, 1175b13–24 ausführlicher ein.
(6) 1153a23–27 „Dass keine Art von Lust das Produkt (ergon) einer Kunst
(technê) ist“: Über den Urheber von Kritikpunkt 1.6 ist nichts bekannt. Die
Annahme, dass alles von Menschen gemachte Gute, wenn es kein Zufalls-
produkt ist, auf einer Kunst bzw. auf Wissen beruht, hat insofern einen pla-
tonischen Hintergrund, als Platon für alles Gute ein Expertenwissen voraus-
setzt, das er oft technê nennt. Die Lust als solche ist aber kein Gegenstand
eines Expertenwissens.
Der Sinn von Aristoteles’ Erwiderung ist prima facie schwer zu verste-
hen. Stewart 1892, II 243 et al. schlagen nach MM II 10, 1208b1 vor, dass die
‚Kunst‘ nur eine Fähigkeit ist, aber nicht schon die dazugehörige Tätigkeit
ist. Das ist aber nicht nur an sich wenig plausibel, sondern erklärt auch nicht,
was mit der Bemerkung gemeint ist, keine Tätigkeit sei Sache einer Kunst.
Gemeint sein muss vielmehr, dass die Kunst zwar Produkte (erga) hervor-
bringt, aber keine Tätigkeiten, während die Lust in einer Tätigkeit besteht
Buch VII, Kapitel 14 787
und kein Produkt ist. Produkte einer Kunst bieten zwar die Möglichkeit,
Lust aus ihnen zu beziehen, weil Betrachter, Hörer oder Leser sich daran
freuen können (ähnlich B/R, 402: die Produkte von Künsten sind aber nur
die ‚Ressourcen‘ für entsprechende Tätigkeiten). Auch kann die Ausübung
einer Kunst selbst eine Lust sein, wie das Malen, Musizieren oder Dichten;
auch sie ist aber nicht das eigentliche Produkt dieser Kunst, sondern das
Kunstwerk selbst.
(7) 1153a27–35 „Dass der Besonnene die Lust meidet und der Kluge das
schmerzlose Leben sucht“: Mit den weiteren Einwänden macht Aristoteles
kurzen Prozess (1.7; 1.3; 1.4): Die Lust, welche Kluge und Besonnene mei-
den, während Kinder und Tiere sie suchen, ist die körperliche Lust und mit
Begierden und Schmerzen verbunden. Aristoteles’ Erwiderung wendet sich
gegen eine globale Ablehnung der Lust, die keinen Unterschied zwischen
guten und schlechten Arten macht. Wenn er hier zunächst so spricht, als
seien körperliche Arten von Lust per se schlecht und mit Schmerz verbun-
den, so meint er damit nur ihr Übermaß, wie der Zusatz in 1153a33 klar-
stellt. Denn das Begehren nach Nahrung und Sexualität als solches ist Ge-
genstand der Besonnenheit und nicht notwendig mit Schmerz verbunden.
(7.1) 1153a28 „das schmerzlose Leben (alypos bios)“: Wenn Aristoteles hier
die Schmerzlosigkeit (alypia) als Ziel des Besonnenen deklariert, so meint
er damit nur das Freisein von denjenigen Schmerzen, die mit dem Übermaß
körperlicher Lüste verbunden sind. Ansonsten meidet er diesen Begriff, den
Platons Neffe Speusippos anscheinend als das Ideal des guten Lebens pro-
pagiert hat (14, 1153b4–7).
(7.2) 1153a35 „zumal es für ihn eigene Arten von Lust gibt“: Damit dürfte
nicht die körperliche Lust gemeint sein, die der Besonnene wie auch der Zü-
gellose genießt, sondern die Lust am besonnenen Handeln, von der bereits
früher die Rede war (vgl. II 2, 1104b3–8 und III 14, 1119a11–20).
ist aber für alle gut. Auch sind nicht nur die ‚schönen‘ Arten von Lust gut;
denn auch die körperliche Lust ist nicht als solche schlecht, sondern nur ihr
Übermaß.
(1) 1153b1–7: Wenn der Schmerz schlecht ist, ist die Lust, als sein Gegen-
teil, ein Gut. (2) 1153b7–25: Es ist nicht auszuschließen, dass eine bestimmte
Art Lust das höchste Gut ist. (3) 1153b25–1154a1: Lust ist für alle Lebe-
wesen ein natürliches Gut. (4) 1154a1–7: Die Lust ist nichts Indifferentes.
(5) 1154a8–21: Körperliche Lust ist nur im Übermaß, Schmerz hingegen in
jeder Form schlecht.
(1) 1153b1–7 „Man ist sich aber auch darin einig, dass der Schmerz (lypê)
schlecht (kakon) und zu meiden (pheukton) ist“: Inspirationsquelle dürfte
hier nicht nur die communis opinio, sondern auch die Theorie des Eudoxos
sein, der zur Verteidigung seiner Auffassung, die Lust sei von Natur aus das
Gute, auch das Argument ‚aus dem Gegenteil‘ herangezogen hat, dass der
Schmerz von Natur aus schlecht ist (X 1–2). Wenn das für manche Arten
nicht gilt, dann geht es um heilsame Schmerzen und Mühen; auch sie sind
aber insofern schlecht, als sie für anderes hinderlich sind. Eine Erklärung der
Natur des Schmerzes wird nicht gegeben; so bleibt auch offen, ob Aristote-
les ihm eine einheitliche Natur unterstellt.
(1.1) 1153b3 f. „Das Gegenteil (to enantion) dessen, was zu meiden ist,
insofern es zu meiden und schlecht ist, ist jedoch gut“: Der ‚Schluss aus
dem Gegenteil‘, den Aristoteles hier als Beweis dafür bemüht, dass die
Lust ein Gut ist, wenn der Schmerz schlecht ist, ist sorgfältig formuliert.
Er hebt hervor, dass dieser Schluss nur gilt, insofern etwas zu meiden und
schlecht ist; diese Klausel schließt also diejenigen Arten von Schmerz aus,
die – wie bei der Heilung − einem guten Zweck dienen, wie auch die Müh-
sal, die mit tugendhaften Handlungen verbunden ist, wie etwa im Fall des
Tapferen. Den Schluss aus dem Gegenteil kennt man aus Platons Phaidon
(70d–72a). Ein solcher Schluss ist aber nur gültig, wenn es kein Mittleres
bzw. Neutrales zwischen den Gegensätzen gibt. Bei positiven Gegentei-
len gilt das Prinzip nicht immer: Wenn Hitze schädlich ist, ist Kälte nicht
automatisch gut; wenn Süßes zu vermeiden ist, ist nicht eo ipso Bitteres
zu suchen, und Lebendiges muss nicht aus Totem kommen. Da Aristote-
les auf diese Einschränkung des Umkehrschlusses später selbst hinweist
(1154a11–13) und im folgenden Absatz von der Existenz schlechter Ar-
ten von Lust ausgeht, dürfte er dem Schluss aus dem Gegenteil zwar eine
gewisse Plausibilität, aber keine Stringenz unterstellen, obwohl er ihn als
rhetorisches Mittel empfiehlt (Rhet. I 6, 1362b30–33). Dies ist wohl auch
einer der Gründe für seine zurückhaltende Beurteilung dieser Argumenta-
tion, die er auch in X 2, 1172b15 f. ohne namentliche Zuschreibung erörtert
Buch VII, Kapitel 14 789
(zu diesem Schluss, seinem Ursprung und seiner Bedeutung vgl. Rapp 2009,
209–215).
(1.2) 1153b4 f. „Denn so wie Speusippos das Argument zu widerlegen ver-
sucht hat (elyen)“: Die imperfektische Verbform wird als Hinweis gedeu-
tet (Philippson 1925, 449; Krämer 1971, 208 f. Anm. 94), dass Aristoteles
sich auf eine Debatte in der Akademie mit Speusippos und Eudoxos als den
wichtigsten Kontrahenten bezieht, die beide ‚Schlüsse aus dem Gegenteil‘
gezogen haben. Speusippos hat nicht nur in metaphysischen, sondern auch
in ethischen Fragen von Platon abweichende Auffassungen vertreten (vgl.
L. Tarán 1981, Kap. 4; sein Schriftenverzeichnis bei Diogenes Laertius IV
4–5 enthält ein Werk ‚Über die Lust‘). Das Verhältnis zwischen Lust und
Schmerz und ihre Bewertung betreffend scheint Speusippos sich auf ein be-
sonderes Gegensatzverhältnis berufen zu haben: ‚Größeres‘ und ‚Kleineres‘
stehen nicht nur im Gegensatz zueinander, sondern auch zu Gleichgroßem
(ison) bzw. zu Mittlerem. Wenn dieses Mittlere das Gute ist, dann kann es –
im Prinzip − zwei schlechte Gegensätze haben, eine Annahme, die auch
Aristoteles’ Konzeption der Tugend als Mitte zwischen zwei Schlechtigkei-
ten zugrunde liegt. Ein solches Mittleres hat Speusippos anscheinend in der
Lust- und Schmerzfreiheit gesehen.
Auch spätere antike Zeugnisse sprechen dafür, dass Speusippos eine ‚tri-
polare‘ Konzeption vertrat, indem er dem guten Zustand der ‚Beschwer-
delosigkeit‘ (aochlêsia) und Schmerzlosigkeit (alypia) als Gegensatz sowohl
die Lust wie auch den Schmerz gegenüberstellte (Clemens v. Alexandria,
Stromata II 22, 133, Frg. 77 Tarán). Die Annahme, Speusippos verfolge mit
diesem Argument lediglich eine dialektische Intention, ist daher nicht plau-
sibel. Vielmehr dürfte Aristoteles ihn mit einem jener ‚Klugen‘ meinen, die
zugleich das Freisein von Schmerz und von Lust empfehlen (12, 1152b15–
18). Speusippos kann daher auch nicht der ‚Lusthasser‘ aus Platons Philebos
(44a–e) sein, der die Lust mit Schmerzfreiheit bzw. mit der Befreiung von
Schmerz gleichsetzt, denn das ist eine ‚bipolare‘ und keine ‚tripolare‘ Kon-
zeption von Lust und Schmerz (vgl. Frede 1997, 268–271).
(1.3) 1153b6 „dem Gleichgroßen (ison)“: Diese Kennzeichnung scheint aus
der Geometrie zu stammen und sich auf Mittelwerte zu beziehen. In dieser
Weise erklärt Aristoteles an einer Stelle auch die Tugend als etwas ‚Gleich-
großes‘ gegenüber Übermaß und Mangel (Cat. 11, 13b37–14a6).
(1.4) 1153b6 f. „Denn er würde doch nicht behaupten (phaiê), die Lust sei
für sich genommen etwas Schlechtes (hoper kakon ti)“: Der Einwand ge-
gen Speusippos’ Position ist deswegen problematisch, weil dieser Lust und
Schmerz als Störungen des seelischen Gleichgewichts und als schlecht be-
zeichnet hat (vgl. Tarán: 1981, 438–443). Angesichts der Konstruktion im
Irrealis schlagen manche Interpreten daher vor, dass Aristoteles sich nicht
auf Speusippos bezieht, sondern vielmehr ‚man würde nicht sagen‘ meint.
790 Kommentar
Das setzt aber voraus, dass man im Text ‚jemand‘ (tis) ergänzt. Bleibt man
beim überlieferten Text, dann kann man ihn so lesen, dass selbst Speusip-
pos die Lust nicht als ‚ihrem Wesen nach‘ schlecht bezeichnen würde (hoper
kakon; zu diesem starken Sinn von hoper vgl. etwa Cat. 5, 3b36 et pass.).
Denn Speusippos könnte in der Lust zwar eine Störung, aber keine wesen-
hafte Schlechtigkeit gesehen haben (dazu Warren 2009, 265–273).
(2) 1153b7–25 „Wenn aber manche Arten von Lust schlecht sind, schließt
das nicht aus“: Die Widerlegung von Position 3 in Kap. 12 hat zwei Teile:
(i) Zunächst soll die schwächere Behauptung gerechtfertigt werden, dass
eine bestimmte Art von Lust selbst dann das höchste Gut sein kann, wenn
manche Arten schlecht sind (1157b7–9). (ii) Es folgt die stärkere Behaup-
tung, wonach eine bestimmte Art von Lust vielleicht sogar notwendig das
höchste Gut ist (1157b9–12). In beiden Fällen drückt sich Aristoteles vor-
sichtig aus, so dass schwer zu sagen ist, für wie tragfähig er die Argumente
hält. (i) Die schwächere Behauptung betreffend räumt Aristoteles zunächst
die Möglichkeit schlechter Arten von Lust ein. Vielleicht bezieht er sich auf
die Tätigkeiten ‚banausischer Disziplinen‘. (ii) Dass eine Lust notwendig das
höchste Gut ist, wird mit der Bestimmung der Lust als ‚ungehinderter Tä-
tigkeit‘ (energeia anempodistos) begründet. Diese Konzeption der Lust ist
nun zweifellos Aristoteles’ eigene (13, 1153a12–15); denn zu den Bedingun-
gen ‚ungehindert‘ und ‚gemäß der natürlichen Disposition‘ wird hier noch
hinzugefügt, dass es sich um eine vollkommene Tätigkeit handelt, in der das
Glück überhaupt besteht.
(2.1) 1153b12–17 „Folglich wäre das höchste Gut eine bestimmte Art von
Lust“: Diese scheinbare Gleichsetzung des Glücks mit einer bestimmten Art
von Lust hat viele Interpreten beunruhigt, weil Aristoteles sich damit doch
als Hedonist zu entpuppen scheint. Es würde nämlich bedeuten, dass man
salva veritate ebenso gut davon sprechen könnte, dass man alles um einer (be-
stimmten Art von) Lust wie um des Glücks willen tut (vgl. die Diskussion
dieser ‚Shocking Thesis‘ und der Bemühung verschiedener Interpreten um
Schadensbegrenzung bei Rapp 2009, 218–220). Der Kommentator Aspasios
war von dieser These so schockiert, dass er geneigt war, sie Eudemos zuzu-
schreiben (vgl. 151, 18–27; zu Aspasios vgl. Frede 2019, 89–91). Man darf aber
nicht übersehen, dass Aristoteles’ Plädoyer dafür, dass das höchste Gut eine
bestimmte Lust ist, auch der dialektischen Situation geschuldet ist. Die Kont-
roverse gilt der Frage, ob die Lust ein Gut oder sogar das höchste Gut ist, und
nicht der Frage, was die Lust ist und welche ihrer Arten gut sind. Dass Aristo-
teles das Glück nicht schlicht mit einer Lust identifiziert, erhellt daraus, dass
er die Lust, wie gesagt, nicht nur für kein unabhängiges Phänomen hält, son-
dern meint, dass sie immer auf etwas Bestimmtes bezogen ist, wie hier auf die
natürliche ungehinderte Tätigkeit, und durch diesen Bezug spezifiziert wird:
Buch VII, Kapitel 14 791
Die Lust gehört zur Tätigkeit, nicht umgekehrt die Tätigkeit zur Lust. Eine
bestimmte Art von Lust ist nur dann das höchste Gut, wenn die betreffende
Tätigkeit die wählenswerteste ist. Weil die Lust zu einer solchen Tätigkeit ge-
hört, ‚flicht man sie auch in das Glück ein‘ und hält das gute Leben für lust-
voll. Die Behauptung, ‚alle‘ seien der Meinung, dass das Glück und die Lust
eng miteinander verflochten sind (emplekousin), bezieht die Lustgegner nicht
ein, sondern stützt sich auf die communis opinio.
(2.1.1) 1153b13 f. „selbst wenn die meisten Arten schlecht sein sollten, viel-
leicht sogar für sich genommen“: Wie bereits angemerkt, geht Aristoteles
auf die Natur schlechter Arten von Lust nicht näher ein. So erklärt er nicht,
dass es teils um unnatürliche Tätigkeiten geht, teils um Tätigkeiten, die sich
auf Schlechtes beziehen, wie etwa die Lust des Zügellosen, des Feigen, des
Geizhalses oder des Ungerechten.
(2.2) 1153b17–19 „Daher braucht der Glückliche auch zusätzlich die körper-
lichen Güter, die äußeren Güter und den Glückszufall (tychê)“: Dass außer
der tugendhaften Verfassung auch äußere Güter zum Handeln erforderlich
sind, wurde bereits in Buch I 9, 1099a31–b8 festgestellt (zur Unterscheidung
von seelischen, körperlichen und äußeren Gütern vgl. I 8, 1098b12–16). Das
Fehlen körperlicher Güter, wie etwa von Gesundheit oder auch von gutem
Aussehen, kann z.B. tapferes Handeln oder eine Tätigkeit in der Politik be-
hindern oder sogar verhindern. Auch äußere Güter wie Reichtum, Herkunft
und Einfluss sind für die Ausführung vieler Tätigkeiten erforderlich und
nicht allein für freigebiges und großzügiges Handeln.
(2.3) 1153b19–25 „Wer aber behauptet, ein Mensch, der aufs Rad geflochten
wird oder in großes Unglück gerät, sei glücklich, sofern er nur gut ist“: Die
Überzeugung, der Weise sei auch unter der Folter glücklich, wird manch-
mal auf Sokrates zurückgeführt. Bei Platon ist dergleichen aber nicht zu fin-
den. Denn auch Sokrates’ Überzeugung, einem guten Menschen könne man
nichts Schlechtes antun, weil man seine Seele nicht verschlechtern kann, be-
sagt nichts über dessen Glück (Apol. 30c–d). Sokrates bestreitet auch nicht,
dass das Unrechtleiden etwas Schlechtes ist, sondern hält es nur für bes-
ser als Unrechttun (Gorg. 469b–c). Anscheinend haben aber die Kyniker
im Anschluss an Antisthenes die Überzeugung vertreten, ein Weiser könne
selbst unter der Folter glücklich sein, und sich dazu auf Sokrates als Vorbild
berufen, insbesondere aufgrund seiner Gelassenheit im Angesicht des Todes
(Diogenes Laertius VI 11 f.). Auch Diogenes von Sinope scheint sich durch
derartige Äußerungen hervorgetan zu haben (Diogenes Laertius VI 54, 2:
„ein rasender Sokrates“). Aristoteles scheint hier jedenfalls Leute im Auge
zu haben, die sich in provokanten Paradoxien gefallen (vgl. I 3, 1096a2: nie-
mand würde die Auffassung vertreten, man sei trotz größter Unglücksfälle
glücklich, ‚es sei denn, um seine These um jeden Preis zu verteidigen‘; vgl.
auch Top. I 11, 104b19–22). Bezeugt ist die Äußerung über einen aufs Rad
792 Kommentar
(3) 1153b25–1154a1 „Auch ist die Tatsache, dass alle, Tiere und Menschen,
die Lust verfolgen, ein Zeichen (sêmeion) dafür, dass sie in gewisser Weise
das höchste Gut ist“: Dass sich Aristoteles diesem Verdikt anschließt, das
in Version B Eudoxos zugeschrieben wird (X 2, 1172b18–20), könnte ver-
wundern, weil Aristoteles Kinder und Tiere als Kriterien sonst ausschließt
(13, 1153a29–35). Hier geht es aber nur darum, dass das Streben nach Lust
als solches natürlich ist; daher sind Kinder und Tiere ein Zeichen dafür, dass
die Lust ‚in gewisser Weise‘ (pôs) das höchste natürliche Gut ist.
(3.1) 1153b27 f. „Kein Ruf (phêmê) wird jemals ganz vergehen“: Anders als
Aristoteles insinuiert, spricht Hesiod (Werke und Tage 760–764) nicht vom
guten Ruf oder gar vom ewigen Ruhm, den die vox populi bewahrt, sondern
von der Persistenz übler Nachrede (phêmê bedeutet also Gerücht).
(3.2) 1153b29–32 „Weil aber nicht ein und dieselbe Natur und Disposition
die beste ist“: Während zuvor von Mensch und Tier die Rede war (1153b25:
panta), geht es hier nur um Menschen (b30: pantes). Obwohl Aristoteles
sonst im Prinzip einen Bestzustand annimmt, scheint er hier auch unter-
schiedliche Veranlagungen zu berücksichtigen. Vor allem aber geht er von
Unterschieden darin aus, was Menschen für das Beste halten, so dass sie un-
terschiedliche Arten von Lust suchen. Die Vermutung, dass die Menschen
in Wahrheit etwas anderes suchen, als sie meinen und behaupten, soll zeigen,
Buch VII, Kapitel 14 793
dass Menschen, entgegen ihren falschen Meinungen, doch das für sie Gute
in gewisser Weise kennen und suchen (zu den verschiedenen Möglichkeiten
vgl. Rapp 2009, 227 f.).
(3.2.1) 1153b32 „Denn alles (panta) hat von Natur aus etwas Göttliches
(theion ti)“: Über die Tragweite und Bedeutung dieser Begründung wird viel
gerätselt. Da ‚alles‘ hier im Neutrum Plural steht, dürfte Aristoteles sämtli-
che Lebewesen einschließen und unter dem ‚von Natur aus Göttlichen‘ das
Streben aller Lebewesen nach derjenigen Tätigkeit verstehen, die ihrem telos
entspricht. In der Erörterung der Freundschaft wird schon das Leben selbst
als für sich genommen gut und angenehm bezeichnet (IX 9, 1170a13–22).
Version B versichert zudem, dass selbst niedrige (phauloi) Wesen nach einem
Gut streben, das besser ist, als es ihrer Konstitution eigentlich entspricht (X
2, 1173a4 f.). In De an. II 4, 415a25–b7 vermerkt Aristoteles zudem, gött-
lich sei das Bestreben aller Lebewesen, durch Fortpflanzung ihre Spezies zu
verewigen. Die Schönheit und Bewunderungswürdigkeit der Struktur und
der Organisation aller Lebewesen hebt Aristoteles auch in der berühmten
Empfehlung des Studiums der Biologie hervor, in der er sich auf Heraklits
Ausspruch beruft, alles sei voll von Göttern (PA I 5).
(3.3) 1153b33–1154a1 „Das Anrecht auf den Namen ‚Lust‘ haben aber die
körperlichen Lüste für sich gepachtet“: Das ‚Monopol‘ der körperlichen
Lüste im allgemeinen Bewusstsein wird im Folgenden noch näher erklärt
und ist das Thema des letzten Kapitels. An dieser Stelle will Aristoteles nur
erklären, warum man das ‚Göttlichere‘, das in dieser Suche liegt, nicht ver-
steht, wenn man sie mit der jeweiligen Sinnenlust identifiziert.
(4) 1154a1–7 „Es ist aber auch offensichtlich, dass der Glückliche, wenn die
Lust und die Tätigkeit kein Gut sind (ei mê hedonê agathon), nicht mit Lust
leben wird“: Ob diese reductio ad absurdum der Annahme, die Lust sei kein
Gut, Aristoteles’ eigene Konstruktion ist oder von Eudoxos stammt, ist schwer
zu sagen. Auf formale Gültigkeit scheint es nicht anzukommen, wie die ellipti-
sche Formulierungen zeigen, die bestimmte Ergänzungen voraussetzen.
These: Wenn die Lust nicht gut ist, wird der Glückliche nicht mit Lust leben.
Begründung:
(i) Wenn die Lust kein Gut ist, gehört sie nicht zum Glück.
(ii) Der Gute kann dann ebenso mit Schmerzen wie mit Lust leben.
[(iii) Begründung für (ii): Die Lust ist weder gut noch schlecht; der Schmerz
weder schlecht noch gut.]
(iv) Folgerung aus (i, ii, iii): <Die Lust ist nicht zu suchen>, der Schmerz
nicht zu meiden.
[(v) Der Gute sucht aber Gutes. Darin besteht das Glück.]
Folgerung aus (iv) und (v): Der Gute wird nicht mit Lust leben.
794 Kommentar
(5) 1154a8–21 „Was die körperlichen (sômatikai) Arten von Lust angeht“:
Eine undifferenzierte Kritik an der körperlichen Lust wird hier zurück-
gewiesen. Etwas wirklich Neues enthalten diese Überlegungen aber nicht,
sondern greifen vielmehr bereits genannte Kriterien auf, um diesbezüglich
Irrtümer zurückzuweisen. So wäre es zu einfach, nur die ‚schönen‘ Arten
von Lust anzuerkennen und die körperlichen, die auch der Zügellose ge-
nießt, grundsätzlich als schlecht einzustufen. Für die körperlichen Arten der
Lust gilt, dass sie nicht nur notwendig, sondern auch gut sind, sofern man
nicht ihr Übermaß sucht.
(5.1) 1154a13–15 „Bei Dispositionen (hexis) und Vorgängen (kinêsis), bei
denen es kein Übermaß dem Besseren gegenüber gibt, gibt es auch keines
bei der Lust“: Aristoteles verwendet hier den Ausdruck kinêsis (eig. ‚Be-
wegung‘) statt energeia (‚Tätigkeit‘). Wenn diese Verwendung kein bloßes
Versehen ist, dann ist sie ein Anzeichen dafür, dass Aristoteles auch Argu-
mente anderer Diskussionsteilnehmer aufgenommen hat. Denn da Platon
nicht nur Werden, sondern auch kinêsis und ähnliche Ausdrücke verwendet
(Phlb. 34a), dürfte er in der Diskussion üblich gewesen sein.
(5.2) 1154a18–21 „Mit dem Schmerz verhält es sich entgegengesetzt (enan-
tiôs)“: Von ‚Gegensatz‘ ist nur in gewisser Hinsicht zu sprechen. Sucht man
bei der Lust nur bestimmte Arten, so meidet man jede Art von Schmerz.
Zwischen Lust und Schmerz besteht auch insofern kein symmetrisches Ver-
hältnis, als man bei der Lust nur das Übermaß, den Schmerz dagegen über-
haupt meidet.
(1) 1154a22–26: Die Gründe für den Irrtum über den Wert der körperlichen
Lust bestätigt ihre richtige Bewertung. (2) 1154a26–b2: Körperliche Lust im
Übermaß wird als Gegenmittel gegen starken Schmerz gesucht. (3) 1154b2–
20: Körperliche Lust im Übermaß wird aufgrund bestimmter Veranlagun-
gen gesucht. (4) 1154b20–31: Die Vielfalt und Unbeständigkeit menschlicher
Lust steht im Gegensatz zur Einfachheit der göttlichen Lust.
(1) 1154a22–26 „Da man aber nicht nur die Wahrheit sagen, sondern auch
die Ursache für den Irrtum angeben soll“: Die Notwendigkeit einer Über-
prüfung im Hinblick auf Falsches ist schon zu Anfang erwähnt worden (I 8,
1098b9–12). Manche Interpreten sehen in dieser Klarstellung die Erfüllung
des Versprechens in EE I 5, 1216a29–37, für die körperlichen Lüste festzu-
stellen, welchen Beitrag sie neben den ‚schönen‘ Arten von Lust zum Glück
leisten. Das ist aber nicht das Argumentationsziel dieses Kapitels. Vielmehr
soll erklärt werden, aus welchen Gründen bestimmte Menschen nicht die
schönen Arten der Lust, sondern diejenigen Arten bevorzugen, bei denen
es ein Übermaß gibt.
(2) 1154a26–b2 „Erstens erscheinen sie so, weil sie den Schmerz vertreiben“:
Dass bestimmte Arten von Lust therapeutischen Zwecken dienen, ist bereits
13, 1152b30–35 festgestellt worden, mit dem Zusatz, dass es sich nur schein-
bar um Lust handelt. Diese Behauptung wird hier nicht wieder aufgenom-
men, sondern der körperlichen Lust zweierlei Wirkung zugeschrieben: Sie
dient als Heilmittel und als Kontrastmittel gegen den Schmerz. Daher sucht
man sie im Übermaß.
(2.1) 1154a31–b2 „Die Lust erscheint also, wie gesagt, aus zwei Gründen als
nicht gut“: (i) Die Lust ist die Tätigkeit einer schlechten Natur. (ii) Heilun-
gen sind Kompensationen für einen Mangel; diese Art von Lust ist daher nur
akzidenteller Weise gut. Manche Kommentatoren halten diesen Abschnitt
für eine in den Text eingedrungene Randbemerkung (Susemihl nach Rassow
et al.). Sie tut deswegen nichts zur Sache, weil es in keinem der beiden Fälle
um Heilung durch heftige Lust geht. Denn (i) spricht nicht von Krankheit,
sondern von einer schlechten Natur, die entweder von Geburt an vorhanden
ist oder auf Gewohnheit beruht. Im Fall von (ii) geht es um den Ausgleich
für eine mangelhafte Natur. Dass Haben (echein) besser ist als Werden (gig-
796 Kommentar
nesthai), spiegelt die platonische Konzeption der Lust wider: Der Besitz der
gesunden Natur ist ihrer Wiederherstellung vorzuziehen.
(3) 1154b2–15 „Ferner: Körperliche Lüste werden, weil sie heftig sind, von
solchen Menschen gesucht, die sich an anderen Arten nicht freuen können“:
In der Folge wird eine Reihe von Menschentypen gekennzeichnet, die auf-
grund unterschiedlicher Veranlagungen auf körperliche Arten von Lust
besonders angewiesen sind. Auf das Phänomen der Empfindungslosigkeit
(anaisthêsia), d.h. dass manche Menschen weniger körperliche Lust emp-
finden als sie sollten, ist Aristoteles zur Erklärung des Mangels im Bereich
der Besonnenheit eingegangen. Er hält solche Menschen aber für selten,
weil Lust an Essen, Trinken und Sexualität zur menschlichen Natur gehört
(III 14, 1119a5–11). Hier wird insofern ein besonderes Phänomen angespro-
chen, als Menschen, die sich von Natur aus an nichts erfreuen können, in
sich selbst ein Bedürfnis nach besonders heftiger körperlicher Lust erzeugen
(‚gewisse Durstgefühle‘). Über das ‚Wie‘ sagt Aristoteles nichts, sondern er-
klärt nur, dass daran nichts auszusetzen ist, solange diese Bedürfnisse nicht
schädlich sind.
(3.1) 1154b6–9 „Für viele ist nämlich von Natur aus unangenehm (lypêron),
was weder Lust noch Schmerz enthält (to mêdeteron)“: Dass es natürliche
Tätigkeiten gibt, die weder schmerz- noch lustvoll sind, ist bisher nicht er-
wähnt worden. Davon gibt es aber eine große Zahl, denn wir tun vieles, was
uns weder angenehm noch unangenehm ist. Auf diese neutralen Tätigkeiten
kommt Aristoteles nur deswegen zu sprechen, weil manche Menschen sie
nicht als neutral, sondern als beschwerlich bzw. schmerzlich empfinden und
daher die Lust als eine Art von Ausgleich suchen.
(3.1.1) 1154b7–9 „das Lebewesen müht sich ständig (aei ponei to zôon)“:
Aristoteles spricht zumeist so, als sei für Lebewesen alles Natürliche ‚mü-
helos‘ und daher angenehm. Von Mühe (ponos) spricht er sonst nur, wo es
um besondere Anstrengungen und Beschwerlichkeiten geht, wie bei sport-
lichem Training oder bei tapferem Handeln (I 4, 1096a34; II 2, 1104a32;
III 12, 1117b5). In Met. Θ 8, 1050b24–28 bezeichnet er aber alle Aktivitäten
als mühevoll (epiponoi), die Kraft erfordern. Mühelosigkeit zeichnet einzig
das Denken des Unbewegten Bewegers aus (Λ 9, 1074b28–30).
(3.1.2) 1154b7–9 „wie auch die Naturforscher (physiologoi) bezeugen“: Zum
Text: Sämtliche Handschriften enthalten physikoi logoi, d.h. ‚Erklärungen
über die Natur‘. Bywater hat physiologoi aus Aspasios übernommen. Viel
hängt daran nicht, denn Aristoteles bezeichnet zwar die Vorsokratiker oft
als physiologoi, an einer Stelle spricht er aber auch von Demokrits physikoi
logoi (GC I 2, 316a13). Als Gewährsmann verweist Aspasios auf Anaxa-
goras (156,14–16), eine Zuschreibung, die sich auch bei Theophrast findet
(De sensibus 17,2; 29,1; dazu Curd 2007, 228 f. (Frg. A 92); Aubry 2009,
Buch VII, Kapitel 15 797
ein ‚übriges‘ oder ‚gesund gebliebenes Vermögen‘ daher nicht. Wie diese
Schwierigkeit zeigt, hat das Bemühen um eine einheitliche Gattung, die alle
Arten von Lust umfasst, seinen Preis. Es ist daher signifikant, dass Aristo-
teles in Version B weder die Erklärung der Lust an Wiederherstellung auf-
grund eines gesund gebliebenen Elements noch auch die Unterscheidung
zwischen akzidenteller und eigentlicher Lust wieder aufnimmt.
(4) 1154b20–34 „Ein und dasselbe ist aber nicht immer lustvoll, weil unsere
Natur nicht einfach ist“: Zu dieser Erklärung für die Unbeständigkeit des
Menschen in Bezug auf die Lust gibt es bei Aristoteles keine Parallele. Denn er
macht hier dafür einen Antagonismus zwischen zwei Elementen im mensch-
lichen Organismus verantwortlich: Das eine Element ist für den Erhalt, das
andere für die Zerstörung des Menschen verantwortlich, so dass die Tätigkeit
des einen die Reaktion des anderen hervorruft – mit Lust und Schmerz, wäh-
rend ihr Gleichgewicht neutral ist. In seinen naturwissenschaftlichen Schrif-
ten erläutert Aristoteles zwar die elementaren Faktoren, auf deren Wechsel-
wirkung das natürliche Gleichgewicht beruht und dessen Störung Krankheit
und Tod bedeutet (vgl. De long. 5, De iuv. 23–27). Von Lust und Schmerz ist
dort aber nicht die Rede, denn die meisten dieser Vorgänge sind nicht wahr-
nehmbar. Gegen den Vorschlag, dass es um den Gegensatz zwischen dem
vernünftigen und dem vernunftlosen Teil der Seele geht, derart, dass die Tä-
tigkeit des einen den Schmerz des anderen verursacht, ist einzuwenden, dass
ganz unklar ist, welches Gleichgewicht es zwischen ihnen geben sollte (vgl.
Aubry 2009, 256–259). In Version B begründet Aristoteles die menschliche
Unbeständigkeit einerseits durch die allgemeine Ermüdbarkeit der mensch-
lichen Natur, andererseits durch die Ablenkbarkeit durch andere Arten von
Tätigkeiten (X 4, 1175a3–10). Auf fundamentale, gegenläufige Elemente in
der menschlichen Natur rekurriert er dort nicht.
(4.1) 1154b24–28 „Doch wenn etwas eine einfache Natur hat“: Dass in der
Vielfalt von Tätigkeiten ein Negativum zu sehen ist, erklärt sich aus dem
Vergleich mit Gott, dessen einfaches Wesen sich in beständiger und lust-
voller Aktivität manifestiert. Dieser Gott ist der sog. ‚Unbewegte Beweger‘
des Universums, dessen Aktivität nur im ‚Denken des Denkens‘ besteht. Sie
unterliegt keiner Veränderung, so dass auch die zur Tätigkeit gehörige Lust
immer dieselbe bleibt (Met. Λ 7, 1072b15–19). Auf die Problematik dieser
ersten kosmologischen Ursache ist hier nicht näher einzugehen. Wenn dem
Gott ‚Unbewegtheit‘ zugeschrieben wird (1154b27: akinêsia), so liegt diese
in der Unveränderlichkeit seines Denkens, nicht in Untätigkeit, und ent-
sprechend ist auch die Bemerkung zu verstehen, die Lust liege ‚mehr in der
Ruhe‘ (mallon en êremia). Denn Ruhe im eigentlichen Sinn kann es nur bei
Dingen geben, die auch der Bewegung und Veränderung fähig sind. Gott ist
dagegen reine Tätigkeit (energeia).
Buch VII, Kapitel 15 799
(4.2) 1154b28–31 „Wenn aber, wie der Dichter sagt‚ ‚Veränderung bei al-
lem süß ist‘ (metabolê pantôn glyky), so aufgrund einer Schlechtigkeit“: Die
Handschriften zu EN überliefern zwar einhellig ‚das Süßeste‘ (= glykyta-
ton); Bywater, Susemihl et al. ziehen aber den bei Euripides überlieferten
Wortlaut vor (Orestes 234), der auch in EE VII 1, 1235a16 und in Rhet. I
11, 1371a28 zitiert wird. Eine so weitreichende Bedeutung hat die Sentenz
bei Euripides freilich nicht; denn Elektra versichert nur, dass dem kranken
Orest eine Veränderung seiner Lage angenehm ist. Aristoteles will dagegen
grundsätzlich begründen, dass das Bedürfnis nach Veränderung auf einer
gewissen Schlechtigkeit (ponêria) beruht, um so die Überlegenheit einer ein-
fachen Natur wie der des Gottes zu bekräftigen. Dass ponêria hier nicht wie
zuvor (1154b7) Beschwerlichkeit bedeutet, zeigt das abschließende Urteil,
eine veränderliche Natur sei nicht gut (epieikês).
Diese Bewertung der Veränderlichkeit gilt nicht nur dem Menschen,
sondern der Natur überhaupt. In der Vorstellung, dass sich das Beste im
Universum durch Einfachheit und Unveränderlichkeit auszeichnet, ist sich
Aristoteles mit Platon einig. Wo es vieles gibt, ist eines besser als das andere.
Und das Beste verändert sich nicht, weil jede Veränderung zwangsläufig eine
Verschlechterung bedeutet.
(4.3) 1154b32–34 „Beherrschtheit und Unbeherrschtheit, Lust und Schmerz
betreffend“: Die Schlussworte fassen, auf sehr allgemeine Weise, den Inhalt
des gesamten Buchs VII zusammen. Einen Beweis für die ursprüngliche
Einheit dieses Buchs liefern sie nicht; denn sie könnten auch die Zutat ei-
nes Herausgebers sein. Dafür spricht neben ihrem summarischen Charakter
auch die Tatsache, dass der Anfang von Buch VIII eine eigene Einleitungs-
formel enthält.
Kommentar
Freundschaft
Buch VIII
‚Freundschaft‘ (philia) hat also eine sehr viel weitere Bedeutung als der
Ausdruck im Deutschen, der Familienverhältnisse, erotische Bindungen
oder geschäftliche Beziehungen ausschließt, sondern ein individuell gepräg-
tes persönliches Verhältnis voraussetzt. Auch bestimmte Vorbedingungen,
wie Aristoteles sie für die Freundschaft im eigentlichen Sinn herausstellt,
verbindet man heutzutage nicht per se mit Freundschaft, weil man Fragen
nach Verpflichtungen der persönlichen Entscheidung überlässt. Andere so-
ziale Beziehungen kennzeichnet man als Freundschaften nur in einem qua-
lifizierten Sinn, wie etwa Geschäftsfreunde, Parteifreunde oder Sports-
freunde, und schließt mit diesen Kennzeichnungen gerade aus, dass es sich
um persönliche Freundschaften handelt.
Dass Aristoteles diese wichtige Thematik erst so spät aufgreift, obwohl
er in der Freundschaft ein der Tugend zumindest verwandtes Phänomen
sieht, dürfte der Absicht geschuldet sein, zuerst die Bestimmung der Tugen-
den abzuschließen, da diese nicht nur die Grundlage seiner Ethikkonzep-
tion sind, sondern der Besitz der Tugenden eine der Voraussetzungen der
Freundschaft ist. Die Abhandlung über die Freundschaft bildet daher den
Abschluss der Untersuchung der Tugenden.
Wie ein kurzer Überblick über die Erörterung der Freundschaft in der
EN zeigt, folgt diese keinem leicht nachvollziehbaren Plan. Sie enthält, grob
gesprochen, fünf Teile. Der erste Teil (VIII 1–10) gibt eine Vorzeichnung
der Bedingungen von Freundschaften und ihrer drei Arten: Tugendfreund-
schaft, Lustfreundschaft und Nutzenfreundschaft. Dem folgt im zweiten
Teil (VIII 11–14) eine Untersuchung der Formen der Freundschaft in politi-
schen Gemeinschaften und in der Familie. Der dritte Teil (VIII 15/16–IX 3)
geht auf Probleme in ungleichen Freundschaften und auf Prinzipien für
ihre Lösung ein. Der vierte Teil (IX 4–9) behandelt die Freundschaft zu sich
selbst als Grundbedingung von Freundschaft überhaupt. Der fünfte Teil
(IX 10–12) erörtert ergänzende Fragen zur Bedeutung der Freundschaft für
das gute Leben im Allgemeinen.
Das Einführungskapitel thematisiert die Bedeutung der Freundschaft für
das gute Leben überhaupt, ihre Notwendigkeit, ihre natürliche Basis und ihre
politische Bedeutung; es liefert damit Stichworte für die weitere Behandlung.
Wichtige Stichworte liefert auch der Verweis auf die Kontroverse darüber, ob
die Freundschaft auf dem Prinzip ‚Gleich und Gleich gesellt sich gern‘ oder
aber auf dem Prinzip ‚Gegensätze ziehen einander an‘ beruht. Auf die Bedin-
gung von Gleichheit und den Umgang mit Ungleichheit kommt Aristoteles
verschiedentlich zurück. Denn einerseits sind bestimmte freundschaftliche
Verhältnisse per se Freundschaften zwischen Ungleichen, wie etwa die zwi-
schen Eltern und Kindern, zwischen Regierenden und Regierten, anderer-
seits ist es eine wichtige Frage, welche Art von Gleichheit im Geben und
Nehmen herrschen soll und wie viel Ungleichheit Freundschaften vertragen.
Buch VIII, Allgemeine Vorbemerkungen zu Buch VIII und IX 803
Von einer stringenten Abfolge der verschiedenen Kapitel kann nur be-
schränkt die Rede sein. Der Text hat offensichtlich keine abschließende Re-
vision erfahren, wie verschiedene Wiederholungen, Rückgriffe und auch ein-
zelne Unstimmigkeiten zeigen. Eine sinnvolle Einteilung in Kapitel und eine
allgemeine Kennzeichnung ihres Inhalts ist daher nicht immer leicht, was
sich in Buch VIII auch in den stark voneinander abweichenden Kapitelein-
teilungen zwischen den beiden Traditionen manifestiert. Diesen Einschrän-
kungen zum Trotz, die offensichtlich auch der Materialfülle geschuldet sind,
ist die Untersuchung über die Freundschaft von zentraler Bedeutung für die
Ethik des Aristoteles. Denn für die Beurteilung der aristotelischen Konzep-
tion des guten Lebens und seiner Qualität lässt sich ein Gesamtbild erst auf-
grund seiner Analyse der zwischenmenschlichen Beziehungen konstruieren,
ein Bild, das zuvor in den Erörterungen der einzelnen Tugenden, einschließ-
lich der Gerechtigkeit, nur rudimentär zum Ausdruck gekommen ist. Erst
in Buch VIII und IX erschließt sich, auf welcher Vielfalt zwischenmenschli-
cher Beziehungen die eudaimonia beruht.
Aristoteles’ Behandlung der Freundschaft enthält eine Besonderheit,
deren Bedeutung sich beim kapitelweisen Durcharbeiten nicht unmittel-
bar erschließt. Freundschaft beruht für ihn wesentlich auf der Beziehung
zum eigenen Selbst, wie er in den für diese Fragen zentralen Kapiteln IX 4;
8 + 9 darlegt. Die Freundschaft zu anderen setzt nämlich die Freundschaft
zu sich selbst voraus, so dass ein Freund zugleich auch ‚ein anderes Selbst‘
darstellt, in dem man sich und seine Gedanken erkennt. Diese These ist au-
ßergewöhnlich, weil Aristoteles sie nicht nur als erster aufgestellt hat, son-
dern damit auch in der Antike allein geblieben ist. Das mag einerseits auf
der Isoliertheit dieser Stelle und der Tatsache beruhen, dass die EN später
nur wenig Berücksichtigung gefunden hat; denn der Kommentar von As-
pasios bricht am Ende von Buch VIII ab. Die Summe der peripatetischen
Ethik bei Stobaeus enthält zwar einen kurzen Abschnitt über die Freund-
schaft (2.7.22 W) und erwähnt auch die Freundschaft zu sich selbst als eine
Art Grundlage; vom Freund als einem ‚anderen Selbst‘ ist jedoch nicht die
Rede. Verantwortlich für die Vernachlässigung dieser Konzeption mag auch
das Unbehagen gewesen sein, sich für die ‚Selbstliebe‘ stark zu machen und
dazu die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Selbstliebe zu pro-
pagieren. Den Gedanken an eine sinnvolle Art der Selbstliebe hat erst der
englische Philosoph und Theologe Bischof Joseph Butler im 18. Jh. aufge-
nommen, anscheinend aber ohne Kenntnis des aristotelischen Vorbilds.
Wenn die Erklärung der eigentlichen Freundschaft als die zu einem ‚an-
deren Selbst‘ spezifiziert wird und die Freundschaft überhaupt auf das Ver-
hältnis zurückgeführt wird, das man zu sich selbst hat, so scheint dies den
oft gegen Aristoteles erhobenen Vorwurf der Egozentrizität seiner Ethik zu
bestätigen. Dabei ist jedoch der Grund für die prinzipielle Ego-zentriert-
804 Kommentar
heit seiner Ethik im Auge zu behalten. Die Erklärung, dass jeder sein Leben
selbst zu führen hat, nimmt sich zunächst wie eine Trivialität aus. Nicht tri-
vial ist jedoch die Einsicht, dass man selbst entscheiden muss, ob das eigene
Leben sinnvoll ist. Auch der uneigennützigste Mensch muss seine Hand-
lungen nicht nur als sinnvoll ansehen, sondern sie auch als die eigenen aner-
kennen und ausführen. Nicht trivial ist zudem, dass jemand, dem an seinem
eigenen Leben nichts liegt und der mit sich selbst in Unfrieden lebt, kein gu-
ter Freund sein kann. Einsichten dieser Art scheinen Aristoteles veranlasst
zu haben, die Frage nach dem ‚Wer‘ des moralisch richtig Handelnden in die
Erörterung der Freundschaft mit aufzunehmen, weil das eigene Selbst nicht
nur das Verhältnis zu anderen prägt, sondern auch durch dieses Verhältnis
geprägt wird. Das gilt auch für Menschen, die nach Aristoteles das beste Le-
ben führen können, die Philosophen. Auch sie, so zeigt sich am Ende der
Erörterung der Freundschaft, sind auf Gemeinschaft angewiesen: Ihr Glück
besteht im ‚Zusammenphilosophieren‘ (symphilosophein).
Wie leicht zu sehen ist, verbleiben auch die Kennzeichnungen des Ver-
hältnisses zu sich selbst und zu anderen auf der Ebene des Allgemeinen,
Unpersönlichen. Kritiker wenden daher ein (vgl. Vlastos 21981), dass Aris-
toteles – darin Platon ähnlich − der Einmaligkeit des Individuellen nicht
Rechnung trägt, durch die sich persönliche Beziehungen auszeichnen. Dazu
nur in Kürze: Individualität lässt sich grundsätzlich nicht allgemein fassen.
Was besondere Freunde zu besonderen macht, kann daher nicht Gegen-
stand philosophischer Ausführungen sein. Gleichwohl ist zu betonen, dass
auch persönliche Freundschaften auf allgemeinen, rational nachvollziehba-
ren Gründen beruhen müssen, auf der wechselseitigen Wertschätzung, wenn
die Freundschaft auf Dauer bestehen und keiner bloßen Laune geschuldet
sein soll. Zwar gehört zu einer Freundschaft immer auch ein Kern, der sich
nicht rational erfassen lässt und dazu beiträgt, dass man gerade diesem ei-
nen Menschen den Vorzug vor anderen, im Prinzip ebenso würdigen Men-
schen gibt. Wie Aristoteles’ Verweis auf die Notwendigkeit von persönli-
cher Vertrautheit zeigt, ist ihm das aber durchaus bewusst; denn damit ist
nicht nur die Bewährung einer Freundschaft gemeint, sondern auch die Tat-
sache, dass Freundschaft etwas Gewachsenes ist, so dass Freunde sich nicht
ohne Weiteres ersetzen lassen (zur Bewertung der aristotelischen Konzep-
tion der Freundschaft vgl. Price 1989; Nehamas 2010; zur Apologie rationa-
ler Gründe für die Freundschaft vgl. Whiting 1991).
Die beiden Bücher über die Freundschaft haben in den letzten Jahrzehn-
ten viel Aufmerksamkeit erfahren, die sich in mehreren Monographien und
zahlreichen Aufsätzen niedergeschlagen hat. Interpreten, die sich in erster
Linie auf den Begriff der Charaktertugend konzentrieren, übersehen aber
auch heute vielfach noch, dass die Erörterung der verschiedenen Arten von
Freundschaft wichtige Ergänzungen zur aristotelischen Konzeption des gu-
Buch VIII, Kapitel 1 805
ten Lebens überhaupt liefert, weil sie Aufschluss über die Bedingungen und
die Bedeutung verschiedenartiger zwischenmenschlicher Beziehungen gibt.
(1) 1155a3–5: Die Freundschaft ist entweder eine Tugend oder etwas der
Tugend Verwandtes. (2) 1155a5–16: Auch für das Leben des Einzelnen ist
Freundschaft notwendig. (3) 1155a16–22: Freundschaft gehört zur Natur des
Menschen. (4) 1155a22–28: Freundschaft ist wichtig für den Zusammenhalt
des Staates. (5) 1155a28–31: Freundschaft gehört zu den schönen Dingen.
(1) 1155a3–5 „Im Anschluss daran sollte eine Untersuchung der Freund-
schaft folgen“: Der Anschluss bezieht sich nicht auf den Inhalt des vorigen
Buches, d.h. auf die Erörterung von Beherrschtheit und Unbeherrschtheit
oder auf die der Lust, sondern auf die Erörterung der Tugenden in ihrer Ge-
samtheit. Eine grundsätzliche Verwandtschaft zwischen Freundschaft und
Tugend wird damit begründet, dass die Freundschaft entweder selbst eine
Tugend oder doch mit ihr verbunden ist. Über diese Alternative wird im
Folgenden aber keine explizite Entscheidung getroffen. Das liegt zum einen
daran, dass es drei Arten von Freundschaft gibt, die sich in unterschiedlicher
Weise auf Tugend bzw. Tugenden beziehen. Zum anderen liegt es daran, dass
Freundschaft ganz unterschiedliche zwischenmenschliche Beziehungen um-
fasst und Handlungsweisen aller Art in Anspruch nimmt, die in den Bereich
verschiedener Charaktertugenden fallen. Aristoteles macht daher keinen
Versuch, die Freundschaft als eine mittlere Disposition zwischen einem Zu-
viel und einem Zuwenig darzustellen (vgl. den kaum ernst gemeinten Hin-
806 Kommentar
weis auf eine ‚Mitte‘ in 10, 1159b19–24); denn sie beruht auf keiner einheitli-
chen Disposition zum Handeln und auf keinem einheitlichen Affekt.
(2) 1155a5–16 „Niemand würde nämlich ein Leben ohne Freunde wählen,
selbst wenn er alle übrigen Güter hätte“: Die Rechtfertigung der Notwen-
digkeit von Freundschaft nimmt verschiedene Gesichtspunkte auf, die be-
reits früher kurz zur Sprache gekommen sind (I 9, 1099a31–b6). Freunde
sind einerseits notwendig, weil sie Gelegenheit zur Anwendung der Tugen-
den geben, andererseits, weil sie einem selbst Schutz und Hilfe in allen Le-
benslagen und Lebensaltern bieten. Letzterer Aspekt ist in der Erörterung
der Charaktertugenden nur andeutungsweise zur Sprache gekommen, weil
sie auf die Perspektive des Handelnden beschränkt bleibt.
(2.1) 1155a7–9 „Denn wozu würde ihnen solcher Wohlstand nützen,
wenn man ihnen die Gelegenheit zum Erweisen von Wohltaten (euergesia)
nähme?“: Von Reichen und Mächtigen erwartet man nicht nur einen ent-
sprechenden Lebensstil, sondern auch die Bereitschaft zu Wohltaten ande-
ren gegenüber. Die Tugendhaften unter den Vermögenden und Mächtigen
sind daher auf die Gelegenheit angewiesen, ihrer Freigebigkeit und Großzü-
gigkeit entsprechend tätig zu sein (vgl. IV 1, 1119b25–27; IV 4 + 5).
(2.1.1) 1155a8 f. „die vor allem den Freunden gegenüber am meisten Lob
verdienen“: Aus heutiger Sicht erscheint bedenklich, dass Wohltaten gerade
Freunden gegenüber am meisten Lob verdienen sollen. Es ist jedoch zu be-
rücksichtigen, dass zu den Freunden nicht nur persönliche Freunde, son-
dern auch die Mitbürger überhaupt gehören, und dass richtiges Wohltun
sich nach der Würdigkeit und der Bedürftigkeit der Personen richtet (ähn-
lich auch Pakaluk 1998, 47). ‚Wohltaten‘ sind daher nicht mit der Wohltätig-
keit im heutigen Sinn gleichzusetzen, da sie auf persönlicher Basis beruhen
und nicht nur Armen oder allgemein Bedürftigen zugutekommen.
(2.2) 1155a9–16 „Und wie ließe sich der Wohlstand ohne Freunde bewah-
ren?“: Freunde sind nicht nur die Gelegenheit zur Anwendung der eigenen
Tugend, sondern auch Helfer in allen Lebenslagen und in allen Lebensal-
tern. Diese Hilfe hat ganz verschiedene Gesichter: sie dient einerseits der
Sicherung des Vermögens und dem Schutz vor Anfeindungen, andererseits
der Unterstützung im Alter und der moralischen Erziehung in der Jugend.
(2.2.1) 1155a15 „‚Wenn zwei zusammen gehen‘ (syn te dy’ erchomenô)“: Die
beliebte Redewendung stammt von Homer (Ilias X, 224): Diomedes fordert
dort die Unterstützung durch einen Kameraden bei seiner Erkundung des
trojanischen Heeres: Zu zweit ist man handlungsfähiger und weniger anfäl-
lig für Irrtümer (vgl. Platon, Prot. 348d; Symp. 174d; Aristoteles, Pol. III 16,
1287b14).
Buch VIII, Kapitel 1 807
(3) 1155a16–22 „Auch von Natur aus (physei) scheint die Freundschaft so-
wohl dem Erzeuger (gennêsanti) gegenüber dem Erzeugten (gegennême-
non) eingepflanzt“: Dass Freundschaft auch auf natürlichen Bindungen be-
ruht, wird einerseits mit Berufung auf die Beziehung zwischen Eltern und
Kindern begründet, andererseits durch eine grundsätzliche Affinität zur ei-
genen Spezies. Schon früher ist zum Ausdruck gekommen, dass die Bezie-
hungen innerhalb der Familie, besonders die zwischen Eltern und Kindern,
besonders eng sind (I 9, 1099b3–7 et pass.). Auch in der weiteren Diskussion
der Freundschaft spielen die Eltern eine zentrale Rolle (VIII 8, 1158b11 f.;
9,1159a28–33; 12, 1160b24–27; 13, 1161a15–22; 14). Dazu sei darauf hin-
gewiesen, dass philos ursprünglich kein affektives Verhältnis, sondern das
‚Eigene‘ bezeichnete. Der Gram zernagt nicht das ‚liebe Herz‘, sondern das
eigene Herz (Homer, Ilias I, 491 et pass.; vgl. G/J II 2, 655–657). Hier betont
Aristoteles die Natürlichkeit der Freundschaft von Eltern zu Kindern, die es
nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei den Tieren gibt. Bei den Vö-
geln lässt sich diese Art der Fürsorge besonders leicht beobachten.
(3.1) 1155a19–22 „der gleichen Art (ethnos)“: Ethnos kann größere und klei-
nere Einheiten bezeichnen, etwa ein Volk, einen Stamm oder auch eine be-
stimmte Gruppe. Die Erklärung, dass Menschen auf Reisen jeden Menschen
als verwandt behandeln, spricht aber dafür, dass hier die Spezies Mensch
gemeint sein muss. Wenn ‚Menschenfreundliche‘ (philanthrôpos) gelobt
werden, so ist damit nicht ‚Philanthropie‘ im heutigen Sinne gemeint, son-
dern die positive affektive Einstellung zu anderen Menschen überhaupt (vgl.
G/J II 2, 661–663; anders Whiting 2006, 290 f.). Von einer universellen
Freundschaft zur Menschheit ist des Weiteren aber nicht mehr die Rede;
vielmehr ist die Grenze der Polis zugleich die Grenze der Freundschaft.
(4.1) 1155a28 „Auch scheint unter dem Gerechten das Freundschaftliche das
Gerechteste (tôn diakaiôn to malista (sc. dikaion) philikon) zu sein“: Ver-
schiedene Kommentatoren sehen eine Ergänzung durch epieikês oder po-
litikon als notwendig an (vgl. Stewart 1892 II, 267). Da es Aristoteles hier
aber um den Gesichtspunkt zu tun ist, dass die Freundschaft per se für Ge-
rechtigkeit zwischen den Beteiligten sorgt, so dass es zu Rechtsstreitigkeiten
gar nicht erst kommt, ist weder ein Verweis auf die Billigkeit noch auf die
politische Dimension des Rechts angezeigt. Das hohe Lob, mit dem Aristo-
teles die Gerechtigkeit als ‚höchste der Tugenden einem anderen gegenüber‘
bedacht hat, die an Schönheit noch den Morgen- und Abendstern übertrifft
(V 3, 1129b25–35), wird durch das Lob der Freundschaft nicht in Frage ge-
stellt.
(5) 1155a28–31 „Freundschaft ist aber nicht nur notwendig, sondern auch
schön (kalon)“: Zur Rechtfertigung beruft sich Aristoteles zunächst nur auf
die allgemein geteilte Praxis, Freundesliebende (philophiloi) zu loben. Das
von ihm anscheinend eigens geprägte Adjektiv gibt zu verstehen, dass da-
mit eine Disposition gemeint ist, die noch näher zu spezifizieren ist. Vor-
erst rechnet Aristoteles hierzu auch die Polyphilie, d.h. den Besitz vie-
ler Freunde, eine Auffassung, die er aber später noch einschränken wird
(IX 10). Ferner hebt Aristoteles auf die Auffassung ab, dass gute Menschen
zugleich auch Freunde sind. Für welche Arten der Freundschaft dies gilt,
wird sich bei der Bestimmung der höchsten Form von Freundschaft zeigen
(VIII 4 + 5; IX 12). Ob Aristoteles damit auch Bezug auf die provokante
These aus Platons Lysis nimmt, dass wirklich Gute keine Freunde brauchen,
sondern sich selbst genug sind, lässt sich für diese Stelle weder ausschließen
noch bestätigen.
(1) 1155a32–b8 „Über die Freundschaft wird aber nicht wenig gestritten
(diamphisbêteitai … ouk oliga)“: Diese Kontroverse kann Aristoteles als be-
kannt voraussetzen. Unter den Vorsokratikern herrschte nämlich Uneinig-
keit darüber, ob im Kosmos das Prinzip ‚Gleich zu Gleich‘ oder ‚Ungleich
zu Ungleich‘ herrscht, und Platons Dialog Lysis, die erste uns erhaltene phi-
losophische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Freundschaft, geht
von ebendieser Alternative aus. Auf diesen Dialog verweist Aristoteles zwar
nicht explizit, zählt aber offensichtlich auf die Vertrautheit seiner Hörer mit
dieser aporetischen Behandlung der Freundschaft.
(1.1) 1155a34–b1 „Gleiche zu Gleichen (ton homoion … hôs ton homoion)“:
Das Zitat stammt von Homer (Odyssee XVII, 218: „wie der Gott immer den
Gleichen zum Gleichen führt“). Dieser Vers enthält aber eine ironische Be-
schimpfung: wie sich doch Bettler zu Bettler bzw. Landstreicher zu Land-
streicher gesellt.
(1.1.1) 1155a34 f. „Dohle zu Dohle (koloion poti koloion)“: Die Herkunft
dieses Zitats ist unbekannt; der Verwendung der Präposition poti statt para
wegen muss es sich um einen dorischen Autor handeln. Bei Platon findet
sich das Beispiel nicht. Aristoteles zitiert es aber wiederholt, nicht nur an der
analogen Stelle in EE VII 1, 1235a8, sondern auch in Rhet. I 11, 1371b17: al-
lerdings mit para statt poti. Da die Maxime an das Sprichwort „Eine Krähe
hackt der anderen kein Auge aus“ erinnert, findet sich oft ‚Krähe‘ in Über-
setzungen (vgl. HA II 17, 509a1).
(1.1.2) 1155a35–b1 „Andere behaupten dagegen, all diese verhielten sich zu-
einander ‚wie die Töpfer‘“: Die Gegenmeinung bezieht sich auf Verse aus
Hesiod: „Es grollt der Töpfer dem Töpfer, der Zimmermann dem Zimmer-
mann, es beneidet der Bettler den Bettler, der Sänger den Sänger“ (Werke
und Tage, 25 f.) – zur Erklärung von Feindschaften zwischen Vertretern des-
selben Standes (vgl. Platon, Ly. 215c). Hesiod meint allerdings den förderli-
chen Wettbewerb, nicht Feindschaft oder gar Hass.
(1.2) 1155b1–8 „Man pflegt in ebendiesen Fragen auch auf Höheres (anôte-
ron) und eher die Natur Betreffendes (physikôteron) zurückzugreifen“: Als
‚Höheres‘ bezeichnet Aristoteles manchmal allgemeinere Prinzipien; phy-
sikon verwendet er oft in Gegensatz zu logikon, d.h. er unterscheidet eine
naturwissenschaftliche von einer rein begrifflichen Überlegung. Dieser Ge-
gensatz dürfte hier aber nicht gemeint sein, sondern die Natur im Allgemei-
810 Kommentar
nen, die über menschliche Verhältnisse hinausgeht. Die Belege, vor allem die
hochpoetischen Verse des Euripides, werden mit einem ironischen Unterton
vorgetragen. Denn an der entsprechenden Stelle in EE VII 1, 1235a4–30 re-
feriert Aristoteles die beiden Positionen ausführlicher und bringt seine Kri-
tik daran deutlich zum Ausdruck: Manche nehmen Prinzipien ‚von außen‘
(exôthen perilambanontes) hinzu und greifen dabei allzu weit aus (epi pleon
legontes).
(1.2.1) 1155b2–4 „So sagt Euripides“: Die Tragödie ist nicht erhalten. Diese
Verse, die das Prinzip der Anziehung von Gegensätzen veranschaulichen
sollen, charakterisieren das Wirken der Aphrodite (Tragicorum Graecorum
Fragmenta, Frg. 898 Nauck).
(1.2.2) 1155b4–6 „und Heraklit sagt, dass das Widerstrebende (antixoun)
zusammengeht“: Heraklits Auffassung wird hier mit drei Kurzzitaten bzw.
Paraphrasen belegt, die veranschaulichen, dass alles Werden und alle harmo-
nischen Verhältnisse auf einem Widerstreit zwischen Gegensätzlichem beru-
hen (vgl. dazu DK I 22 Frg. B 8; 51; 54; 80).
(1.2.3) 1155b6–8 „Das Gegenteil davon sagt mit anderen wiederum Empe-
dokles“: Empedokles wird auch sonst als der Vertreter dieser Position ge-
nannt; es fragt sich allerdings, wer die anderen sein könnten. Für Empedo-
kles beruht alles auf zwei einander entgegengesetzten kosmischen Kräften:
auf der Liebe (Aphroditê/Philia/Philotês), die für Zusammenhalt, Harmonie
und Einheit sorgt, und auf dem Streit (Neikos), der zu Auflösung, Dissens
und Vielheit führt. In der kosmischen Phase der Liebe bzw. Freundschaft
werden alle Unterschiede aufgehoben, kommt Gleiches zu Gleichem; in der
Phase des Streits kehren die Unterschiede zurück (vgl. DK 31 Frg. B 21; 22;
26; 62; 90).
(2) 1155b8–16 „Soweit sich diese Fragen auf die Natur beziehen“: Die Frage
nach der Wirkmächtigkeit von Gleichem und Ungleichem in der Natur soll
nicht weiter verfolgt werden, weil sie über die Gründe für die Freundschaft
unter den Menschen keinen Aufschluss gibt. Freundschaften zwischen
Menschen beruhen weder allgemein auf dem Prinzip von Gleichheit noch
auf dem von Ungleichheit. Vielmehr ist eine differenziertere Behandlung der
Freundschaft angezeigt, die auch den Charaktertypus (êthê) und die zuge-
hörigen Affekte (pathê) einbezieht. Dass es dabei auch um Gleichheit geht,
deutet die Frage an, ob schlechte Menschen, also in dieser Hinsicht gleiche,
überhaupt Freunde sein können (vgl. VIII 5, 1157a16–20 et pass.). Die Kern-
frage ist jedoch, ob es eine oder mehrere Arten von Freundschaften gibt; sie
stellt im Folgenden das eigentliche Thema dar.
(2.1) 1155b13–16 „Diejenigen, die nur eine Art annehmen, weil Freund-
schaft das Mehr und das Weniger zulässt“: Auf das Prinzip, wonach Dinge,
die sich durch ‚Mehr und Weniger‘ unterscheiden, d.h. eine Art von Grad-
Buch VIII, Kapitel 2 811
allem mit Verweis auf den Sprachgebrauch, weil Aristoteles statt des üb-
lichen Ausdrucks für ‚über‘, peri, das viel seltenere hyper verwendet (zur
Frage der Relevanz dieses Kriteriums vgl. Pakaluk 1992, 112–117). Aspasios
sieht darin einen Verweis auf ‚Ausgefallenes in der Nikomachischen Ethik‘
(161, 9 f.). Ein Beleg dafür, dass damit die ‚Mittleren Bücher‘ in toto gemeint
sind, ist das jedoch nicht, wie manche Interpreten meinen, die in Aspasios
einen Zeugen dafür sehen, dass die drei mittleren Bücher gar nicht Teil der
EN waren, sondern der EE angehörten. Denn Aspasios behandelt Buch VII
als einen Teil der EN, während er die EE für das Werk des Eudemos hält.
Vielmehr meint Aspasios mit ‚in der EN Ausgefallenem‘ versehentlich nicht
Behandeltes (zu Aspasios’ Verwendung von ‚ausgefallen‘, ‚ausgelassen‘ vgl.
64, 30, dazu Frede 2019, 89–91).
Pakaluk 1992 bemüht sich um den Nachweis, dass der Verweis auf früher
Erörtertes sich auf die Kritik an Platons Idee des Guten in I 4 zurückbezieht.
Als Einwand führt Aristoteles dort an, dass eine Idee nicht dadurch, dass sie
ewig ist, ein höheres Gut ist (mallon agathon) als ihre Teilhaber. Er scheint
also trotz ihrer Verschiedenheit von einem Gradunterschied auszugehen.
Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass es zwar viele Stellen gibt, an de-
nen Aristoteles kategorial verschiedene Dinge als besser oder schlechter, als
näher und weiter entfernt bezeichnet, den Terminus technicus ‚das Mehr und
das Weniger‘ aber nicht verwendet, weil er damit nicht Rangunterschiede,
sondern nur ganz bestimmte Fälle kennzeichnet (vgl. auch die Erörterung
der Unbegrenztheit der Lust, weil sie das Mehr und das Weniger annehmen
kann, in EN X 2, 1173a15–28). Eine grundsätzliche Diskussion der Frage hat
es in der EN zuvor nicht gegeben.
(3) 1155b17–27 „Vielleicht werden sich diese Fragen klären, wenn wir erst
einmal erfasst haben, was das Liebenswerte (philêton) ist“: Aristoteles geht
von einer Differenzierung der Gegenstände der Freundschaft aus, um die
dazugehörigen Dispositionen und Affekte zu bestimmen. Dieses Verfahren
entspricht generell seiner Vorgehensweise bei der Bestimmung der verschie-
denen psychischen Vermögen in De anima, die jeweils von der Art des Ge-
genstands ausgehen, weil sich das Vermögen nach dem Gegenstand richtet
(vgl. auch Pakaluk 1998, 56 f.). Das Verbaladjektiv philêton kann sowohl die
Möglichkeit (‚liebenswert‘) wie auch die Wirklichkeit (‚geliebt‘) ausdrücken,
kann aber auch eine gewisse Notwendigkeit (‚zu Liebendes‘) zum Ausdruck
bringen.
Da zur Freundschaft Verhältnisse ganz unterschiedlicher Art gehören,
muss die undifferenzierte Übersetzung mit ‚liebenswert‘ irritieren, so wie
auch die von philein mit ‚lieben‘ und philêsis mit ‚Liebe‘, weil diese Aus-
drücke im Deutschen starke affektive Beziehungen nahelegen, die etwa im
Fall der Nutzenfreundschaft gar nicht gegeben sind. Den Ausdruck philê-
Buch VIII, Kapitel 2 813
sis hat Aristoteles aber anscheinend eigens zur Bezeichnung für die affek-
tive Einstellung bei der Freundschaft geprägt. Er trägt damit auch der Tat-
sache Rechnung, dass er philia zur Kennzeichnung der Freundlichkeit im
täglichen Umgang verwendet, nämlich derjenigen sozialen Tugend, die
man jedem Menschen gegenüber an den Tag legen soll und die keine af-
fektive Komponente enthält (II 7, 1108a26–30; IV 12). Zur wechselseitigen
Freundschaft soll jedoch auch ein affektives freundschaftliches Gefühl für
den anderen gehören. Dies gilt für alle drei Arten von Freundschaft, für die
Nutzenfreundschaft, die Lustfreundschaft und für die Tugendfreundschaft
(1156a5). Diesen Aspekt hat Aristoteles anscheinend bei der Verfassung von
Buch II und IV, d.h. bei der Erörterung der ‚Freundlichkeit‘, noch nicht im
Auge gehabt. Dafür dass philêsis eine späte Zutat ist, spricht auch die Tatsa-
che, dass der Ausdruck in der Erörterung der Freundschaft in EE VII nicht
vorkommt. Außer an der Parallelstelle in MM II 14 wird philêsis auch sonst
nirgends verwendet.
Im Folgenden werden zwar manchmal schwächere Ausdrücke wie sterg-
ein (1156a15; 1157a28 et pass.) oder agapan (1165a13; 1165b5 et pass.) ge-
braucht. Eine systematische Unterscheidung macht Aristoteles aber nicht.
Daher ist es untunlich, in der Übersetzung zu variieren. ‚Liebe‘ und ‚lie-
benswert‘ gelten nicht nur intensiven oder gar erotischen Beziehungen. Für
Letztere verwendet Aristoteles zumeist eran bzw. erôtikos.
(3.1) 1155b18–21 „das (Liebenswerte) liegt aber in dem, was gut, lustvoll
oder nützlich ist“. Auf diesen Dreierkatalog hat sich Aristoteles bereits frü-
her berufen (II 2, 1104b29–32) und die nämliche Abstufung vorgenommen,
auf die er auch hier abhebt. Nur das Gute und Lustvolle stellen letzte Ziele
(telê) dar, während das Nützliche das Mittel (di’ hou) zum Erreichen von et-
was Gutem oder von etwas Lustvollem ist.
(3.2) 1155b21–25 „Lieben die Menschen nun das Gute (t’agathon) oder das
für sie selbst Gute (hautois agathon)?“: Auf diese Alternative ist bereits am
Anfang der Diskussion der Gerechtigkeit hingewiesen worden, mit der
Maßgabe, die Menschen sollten darum beten, dass das an sich Gute auch
für sie gut ist – aber jeweils das für sie selbst Gute wählen (V 1, 1129b1–6).
Das Gebet soll bewirken, dass man selbst wahrhaft gut wird. Der Zusatz,
dass man jeweils das für sich selbst Gute wählt, redet keinem relativistischen
Standpunkt das Wort, sondern trägt der Tatsache Rechnung, dass jeder das,
was für ihn gut ist, aus der gegebenen Situation heraus beurteilt – so wie sie
ihm erscheint.
(3.3) 1155b25–27 „Der Einzelne liebt aber nicht das tatsächlich für ihn Gute
(to on hautôi agathon)“: Wenn Aristoteles nicht weiter auf den Unterschied
zwischen Schein und Sein eingeht, so tut er das, weil dem Einzelnen nicht
nur dasjenige als liebenswert erscheint, was er für sich für gut hält, sondern
ebendies auch den Ausschlag für das Bestehen einer Freundschaft gibt.
814 Kommentar
(4) 1155b27–1156a5 „Wenn es also drei Dinge gibt, aufgrund deren (di’ ha)
Menschen etwas lieben, bezeichnet man die Liebe (philêsis) zu unbeseel-
ten Dingen (apsycha) dennoch nicht als Freundschaft“: Die Frage nach ei-
ner Freundschaft zu Unbelebtem nimmt Aristoteles aus zwei Gründen auf.
Zum einen geht es um die Vieldeutigkeit von philos im Griechischen, das
sowohl in einem aktiven Sinn verstanden werden kann (‚jemandem zugetan
sein‘) wie auch in einem passiven (‚was einem lieb ist‘). Diese Ambiguität
macht sich Platon in seiner aporetischen Behandlung der Freundschaft im
Lysis zunutze (212d–e). Da Aristoteles verschiedentlich auf Vorlieben zur
Kennzeichnung von Menschentypen hingewiesen und dabei auch Wein und
Pferde genannt hat (I 9, 1099a7–16: philotoioutos), ist ihm an der Verdeut-
lichung gelegen, dass solche Beziehungen nicht gemeint sind. Zum anderen
ist ihm an der Klarstellung gelegen, dass auch Menschen gegenüber nur dann
von Freundschaft die Rede sein kann, wenn die Beziehung auf Gegenseitig-
keit beruht.
(4.1) 1155b28–31 „Denn dabei gibt es weder Gegenliebe (antiphilêsis) noch
den Wunsch (boulêsis) von Gutem für das Gegenüber (ekeinôi agathou)“:
Hier werden zwei wichtige Bedingungen für die Freundschaft eingeführt,
die offenbar allen drei Formen gelten: Es muss (i) Gegenliebe und (ii) ein
entsprechendes Wünschen von Gutem für den anderen geben. Der Wunsch
gilt hier nicht dem eigenen Gut, sondern dem des anderen, wird also syno-
nym mit Wohlwollen (eunoia) verwendet, einer Disposition, die später noch
eigens behandelt wird (IX 5).
(4.2) 1155b31 „dem Freund um seinetwillen die guten Dinge wünschen
(boulesthai t’agatha)“: Da diese Bedingungen allen drei Formen der Freund-
schaft gelten, geht es um Güter verschiedener Art. In Nutzenfreundschaften
geht es um äußere Güter, neben Geld natürlich auch um Macht und Einfluss.
Die ‚Lustfreundschaft‘ ist nicht allein auf körperliche Genüsse beschränkt,
wie man angesichts verschiedener Verweise auf Liebhaber und ihre Gelieb-
ten meinen könnte, sondern schließt auch sportliche und kulturelle Genüsse
verschiedenster Art ein (vgl. IX 12). Die Zuordnung zu einer der drei Arten
von Freundschaft bedeutet keine Beschränkung auf nur eine Art von Gut.
So sind Tugendfreunde einander auch nützlich und angenehm, und Lust-
freunde sind einander auch nützlich. Nur bei der reinen Nutzenfreundschaft
qua Nutzenfreundschaft spielen andere Güter keine Rolle; das schließt aber
nicht aus, dass die betreffenden Menschen einander für moralisch gut oder
angenehm halten.
(4.2.1) 1155b31 „ um seinetwillen (ekeinou heneka) die guten Dinge“: Diese
Bedingung gilt anscheinend für alle drei Arten von Freundschaft, und
diese Klausel findet sich auch an anderer Stelle (9, 1159a10; IX 4, 1166a4;
8, 1168b3). Da im Folgenden aber verschiedentlich betont wird, dass Lust-
und Nutzenfreundschaft auf den eigenen Nutzen bzw. auf die eigene Lust
Buch VIII, Kapitel 2 815
hêdonên) oder die Lust des Lebens wegen (dia to zên)?“ (X 5, 1175a18 f.)
Und Entsprechendes gilt umgekehrt auch für die Verwendung von heneka
(5, 1157a25–28) und charis (11, 1160a11 f.), die den ‚Grund‘ bezeichnen.
(4.3) 1155b34–1156a5 „Oder muss man noch hinzufügen: wenn es ihnen
nicht verborgen bleibt (mê lanthanousan)?“ Hier wird noch als dritte Bedin-
gung für die Freundschaft eingeführt, dass das Wohlwollen dem anderen be-
kannt sein muss. Denn in der Tat kann es beidseitiges Wohlwollen zwischen
Menschen geben, die voneinander nur wissen, dass sie gut, angenehm oder
nützlich sind, nicht aber, dass der andere ihnen wohlgesinnt ist. Erst wenn
beiden diese Einstellung bekannt ist, besteht eine Freundschaft. Ob Aris-
toteles im Gesamt der Bestimmungen: ‚Gegenseitiges Wohlwollen um des
anderen willen, das ihnen nicht verborgen ist‘, eine Definition der Freund-
schaft oder nur eine Gemeinsamkeit sieht, ist umstritten; denn die Tugend-
freundschaft ist die Freundschaft im eigentlichen Sinn, während die beiden
anderen Arten Freundschaften sekundärer Art sind.
Die Wechselseitigkeit und das Wissen betreffend macht Aristoteles spä-
ter eine Ausnahme: In der Mutterliebe sieht er nicht nur überhaupt eine
besonders enge und intensive Freundschaftsbeziehung, sondern er schreibt
Müttern eine philia auch in dem Fall zu, in dem sie ihre Kinder zur Adop-
tion gegeben haben, so dass die Kinder sie nicht kennen und ihnen daher
nicht wohlgesinnt sein können (9, 1159a27–33). Unter besonderen Umstän-
den sind Wechselseitigkeit und Wissen also verzichtbar.
(1) 1156a6–10: Die drei Kriterien gelten für alle Formen der Freundschaft.
(2) 1156a10–24: Der Lust- und Nutzenfreund ist Freund nur in einem akzi-
dentellen Sinn. (3) 1156a24–31: Nutzenfreundschaften sind typisch für das
Alter. (4) 1156a31–b6: Lustfreundschaften sind typisch für die Jugend.
(1) 1156a6–10 „Diese Gründe sind jedoch von verschiedener Art“: Die Zu-
sammenfassung betont noch einmal, dass die drei Arten von Freundschaften
alle drei Kriterien erfüllen müssen, d.h. auch die der ‚Gegenliebe‘ (antiphilê-
Buch VIII, Kapitel 3 817
sis) und des Wissens darum. Der Begriff des Wohlwollens (eunoia) wird hier
zwar nicht wieder aufgenommen, die Rede ist aber, wie schon zuvor, von
‚einander Gutes wünschen‘ (boulesthai t’agatha). Dieses ‚Gute‘ ist bei jedem
der drei Arten verschieden, und Entsprechendes gilt auch für das Wünschen:
Es gilt dem anderen in der Hinsicht, in der man einander liebt (schätzt, zu-
geneigt/freundlich gesonnen ist).
(2) 1156a10–24 „Diejenigen, die einander des Nutzens wegen lieben, lieben
einander nicht als solche (kath’ hautous), sondern insofern (hêi) sie vonein-
ander etwas Gutes erhalten“: Zur Verdeutlichung von ‚als solche‘ eignet sich
im Deutschen der Begriff ‚als Person‘. Da es diesen Begriff im Griechischen
nicht gibt, verwendet Aristoteles mehrere dem Sinne nach übereinstimmen-
den Wendungen: ‚als solche‘ (1156a11: kath’ hautous), ‚weil sie diese Ei-
genschaften haben‘ oder ‚weil sie Menschen dieser Art sind‘ (1156a12 f.: tôi
poious tinas einai), ‚insofern er ist, wer er ist‘ (1156a17 f.: hêi estin hosper
estin). Wo es nur um den gegenseitigen Nutzen oder die Annehmlichkeit
geht, wünscht man dem anderen nur in dieser Hinsicht Gutes. Man fragt
sich natürlich, was ‚lieben‘ bedeuten soll, wenn man den anderen nur eines
Nutzens oder einer Lust wegen und nicht seiner persönlichen Eigenschaften
wegen schätzt. Aristoteles setzt anscheinend voraus, dass von Freundschaft
nur dann die Rede sein kann, wenn die Beziehung von einer gewissen Dauer
ist, denn nur dann kann überhaupt von gegenseitiger Wertschätzung und
Wohlwollen die Rede sein. Ebendies gilt auch heute für Sportsfreunde oder
Geschäftsfreunde.
(2.1) 1156a12–14 „denn man schätzt die Unterhaltsamen nicht ihrer Eigen-
schaften wegen, sondern weil sie einem angenehm (hêdeis) sind“: Das Ad-
jektiv wird meist mit ‚angenehm‘ übersetzt, weil man ‚lustvoll‘ nicht auf
Personen bezieht. Wenn hier von Freundschaft die Rede ist, die der Lust gilt,
ist damit nicht allein die körperliche Lust von Essen, Trinken und Sexualität
gemeint. Vielmehr gehört dazu auch, wie das hier angeführte Beispiel zeigt,
die Annehmlichkeit, die ein unterhaltsamer Mensch mit sich bringt. Die Un-
terhaltsamkeit gehört zwar zu den Tugenden (vgl. IV 14, bes. 1128a9–12),
solange man aber nur an der Unterhaltsamkeit interessiert ist und den Cha-
rakter des anderen nicht kennt, gilt diese Freundschaft nicht der Tugend.
(2.2) 1156a16 „und nicht insofern der, den sie lieben, ein Mensch dieser Art
ist, (ouch hêi ho philoumenos)“: Susemihl ergänzt hier mit Bonitz die aus-
führlichere Bedingung aus Zeile 18: ‚insofern er derjenige ist, der er ist‘ (‚hêi
estin, hoper estin‘) (so auch G/J II 2, 673). Derartige komprimierte Formu-
lierungen sind bei Aristoteles nicht selten (so Stewart 1892 ad loc.; Burnet
1900 ad loc.; Irwin 21999, 275 f.).
(2.3) 1156a16 f. „Diese Freundschaften sind also nur akzidentell (kata sym-
bebêkos)“: Gemeint ist nicht, dass diese Art der Beziehung keine wirkliche
818 Kommentar
beschränkt war, war man andernorts in Rechtsfragen wie auch den persön-
lichen Schutz betreffend auf einen Vertreter angewiesen (vgl. 14, 1161b16:
Gastfreundschaft beruht auf Vereinbarung). Die Gastfreundschaft war da-
her in erster Linie eine Versicherung auf Gegenseitigkeit. Sie konnte natür-
lich weit darüber hinausgehen, wie Aristoteles andeutet, wenn er dem Groß-
zügigen die Einhaltung hoher Standards bei Empfang und Verabschiedung
von Gastfreunden unterstellt (IV 5, 1123a2–4; vgl. IX 10, 1170b20–22).
(4) 1156a31–b6 „Die Freundschaft unter den Jungen scheint dagegen der
Lust wegen zu bestehen“: Die Jungen leben ihren Affekten nach (kata pa-
thos) und für die Gegenwart; daher wechseln ihre Freundschaften schnell.
Auch in der Diskussion der Lust hat Aristoteles hervorgehoben, dass sie in
der Jugend besonders intensiv ist und daher für die Charakterbildung ein
Risiko darstellt (VII 15, 1154b9–15).
(4.1) 1156b1 f. „Außerdem neigen die Jungen der erotischen Liebe zu (erôti-
koi)“: Auch erotische Beziehungen hält Aristoteles für unbeständig. Auf die
Sexualität ist er kurz in der Erörterung der Besonnenheit unter dem Stich-
wort ‚natürliche Begierden‘ eingegangen und hat dabei betont, dass sie sich
bei den meisten Menschen im Bereich des richtigen Maßes hält und dass
diese Bedürfnisse zur Jugend und zur Blütezeit gehören (III 13, 1118b8–16).
Der traditionellen Beziehung zwischen älteren und ganz jungen Männern
steht er mit Zurückhaltung gegenüber (vgl. VIII 5, 1157a6–10; 10, 1159b16–
19; IX 1, 1164a2–13)
(4.2) 1156b5 „Auch wünschen sie ihre Tage zusammen zu verbringen (syn-
hêmereuein) und zusammen zu leben (syzên)“: Mit ‚Zusammenleben‘ ist
weder das Leben in einer Hausgemeinschaft (das wäre eine synoikia) noch
das Intimleben gemeint, sondern das Teilen der wichtigsten Interessen des
Lebens (IX 9, 1170b11–14). Das ‚Zusammenleben‘ wird sich als ein wesent-
liches Element der eigentlichen Freundschaft erweisen (IX 9).
gend kommen kann, ist zwar nicht näher erläutert worden. Aristoteles geht
jedoch von der Annahme aus, dass der gute Charakter auch im Erwachse-
nenalter weiterhin auf Übung angewiesen ist (X 10, 1180a1–5).
(1.3) 1156b14–16 „Ebenso sind sie einander aber auch angenehm“: Die Un-
terscheidung zwischen dem ‚überhaupt Angenehmen‘ und dem ‚füreinander
Angenehmen‘, die zunächst müßig erscheinen könnte, dient der Hervor-
hebung, dass Gute gerade an den schönen Handlungen des Freundes ihre
Freude haben; denn für jeden Menschen ist diejenige Betätigung angenehm,
die der eigenen Natur entspricht (vgl. VII 13, 1153a14 f.; 14, 1153b9–14;
X 4).
(2) 1156b17–24 „Eine Freundschaft dieser Art ist also aus gutem Grund be-
ständig“: Beständigkeit gibt es nur beim Guten und der zu seinem Handeln
gehörigen Lust, während das Nützliche und das aus anderen Gründen An-
genehme wechseln. Die Guten tun immer Gutes und in diesem Sinne Ange-
nehmes und sind daher auch für einander immer gut und angenehm.
(2.1) 1156b20 f. „beruht auf einer gewissen Ähnlichkeit (kath’ homoiotêta
tina)“: Die verschiedenen Arten von Freundschaft sind nicht als gleichbe-
rechtigte Spezies einer Gattung zu verstehen, sondern die Freundschaft zwi-
schen den Guten ist die primäre und eigentliche Form der Freundschaft,
während die beiden anderen Formen dies nur in einem qualifizierten Sinn
sind. Dieses Verhältnis zwischen den drei Arten wird im nächsten Kapitel
näher erläutert.
(2.2) 1156b22 „denn sie sind in dieser Weise (tautêi) gleich (homoioi) wie
auch in Bezug auf das Übrige“: Bywater markiert hier eine Korruptele; an-
scheinend sieht er keine der beiden überlieferten Versionen als haltbar an.
Die Lesart mit homoioi ergibt aber dann einen Sinn, wenn man das nachfol-
gende ta loipa als Accusativus Graecus versteht, eine zwar unelegante, aber
grammatisch mögliche Konstruktion. Mit ‚das Übrige‘ sind das Nützliche
und das Angenehme gemeint, im Hinblick auf welche die Guten ebenfalls
gleich sind.
(3.1) 1156b25 f. „Ferner bedarf es dazu der Zeit und der Vertrautheit (syn-
êtheia)“: Es wird oft in Frage gestellt, ob Aristoteles (wie auch Platon) bei
Liebe und Freundschaft das Unwiederholbare und Einzigartige des In-
dividuums übersieht, mit allen Vorzügen und Schwächen, wenn er in der
Vertrautheit nur die Garantie dafür sieht, dass der Betreffende sämtliche
Tugenden besitzt (vgl. Vlastos 21981; Nehamas 2010). Denn so könnte es
scheinen, als sei für Aristoteles im Prinzip jeder beliebige Gute als Freund
geeignet, derart dass sich Freundschaften zwischen Guten den kontingen-
ten Umständen verdanken, dass sich gerade diese bestimmten Menschen ge-
troffen haben (vgl. Whiting 1991). Die Frage des ‚Persönlichen‘ im heuti-
gen Sinn spricht Aristoteles in der Tat nicht an, und er kennt auch keinen
solchen Ausdruck. Er dürfte die Behandlung von Persönlichem aber nicht
als Aufgabe der Philosophie angesehen haben, eben weil sich über Indivi-
duelles nichts Allgemeingültiges sagen lässt (einschließlich der Schätzbar-
keit liebenswerter Schwächen). Damit erklärt sich auch, dass Aristoteles sich
mit allgemeinen Kennzeichnungen der Freundschaften begnügt und dies in
durchweg nüchternem Ton tut, der trotz der häufigen Verwendung von ‚lie-
ben‘ nicht auf Sentimente rekurriert. Dass Aristoteles über das Persönliche
nicht spricht, heißt natürlich nicht, dass er es ausschließt. Es dürfte z.B. hin-
ter der Bemerkung stecken, dass aus unbeständigen Beziehungen durch Ver-
trautheit beständige Freundschaften werden können, wenn die Betreffen-
den einander liebgewonnen und sich dem Charakter nach angeglichen haben
(5, 1157a10–12).
(3.2) 1156b27 f. „bevor man nicht zusammen das sprichwörtliche Quantum
Salz verzehrt hat“: In EE VII 2, 1238a2 gibt Aristoteles die Menge als ein
medimnos (ein ‚Scheffel‘) Salz an, was eine erhebliche Menge ist.
(3.3) 1156b29–32 „die sich zueinander schnell auf freundschaftliche Art ver-
halten (ta philika poiountes)“: Aristoteles hebt hier darauf ab, dass solches
Verhalten nicht mit dem Bestehen einer echten Freundschaft zu verwechseln
ist. Damit aus dem Wunsch nach Freundschaft eine wirkliche Freundschaft
wird, müssen beide einander kennen und wissen, dass sie in der richtigen
Weise liebenswert sind.
(1) 1156b33–1157a3: Für alle Arten von Freundschaft gilt, dass eine be-
stimmte Gleichheit gegeben sein muss. (2) 1157a3–16: Ungleichheiten be-
deuten Unbeständigkeit. (3) 1157a16–25: Lust- und Nutzenfreundschaften
gibt es auch zwischen Schlechten. (4) 1157a25–36: Die sekundären Ar-
ten sind Freundschaften aufgrund einer Ähnlichkeit zur vollkommenen
Freundschaft.
(1) 1156b33–1157a3 „Diese Art von Freundschaft ist also sowohl der Dauer
nach wie auch in allem Übrigen vollkommen“: Ein wichtiger Aspekt der
Vollkommenheit ist, dass Gleiche voneinander Gleiches erhalten. Analoge
Verhältnisse gibt es bei der Lust- und Nutzenfreundschaft. Eine Bestätigung
liegt darin, dass auch die Guten einander angenehm und nützlich sind. Wie
das Verhältnis zu verstehen ist, das auf ‚Ähnlichkeit‘ beruht, wird am Ende
des Kapitels näher erläutert.
(zur Homosexualität vgl. Dover 1978). Die Reden über den Eros in Pla-
tons Phaidros 230e–234c; 237a–241d vermitteln ein gutes Bild von dieser
Ungleichheit. Aristoteles beurteilt diese Beziehung aber nicht nur negativ,
wie seine Beobachtung zeigt, dass aus der Beziehung eine echte Freund-
schaft werden kann, wenn sich durch die Vertrautheit ihre Basis verändert:
Anstelle des Angenehmen und Nützlichen tritt die gegenseitige Wertschät-
zung des Charakters. Er betont zwar nicht ausdrücklich, dass dies nur zwi-
schen Guten möglich ist, sondern verweist lediglich auf die Bedingung der
Ähnlichkeit. Da er aber für die Guten hervorgehoben hat, dass sie einander
um ihrer selbst willen lieben, und im nächsten Abschnitt bekräftigt, dass
Schlechte miteinander nur des Vorteils wegen befreundet sind, muss er von
hinreichend Guten ausgehen, weil nur zwischen diesen die Wertschätzung
von Dauer sein kann (anders Pakaluk 1998, 79 f.). Voraussetzung ist, dass
auch weniger gute Charaktere einander schätzen und wechselseitig zu ihrer
Besserung beitragen können (vgl. IX 12, 1172a10–14).
(2.1) 1157a12–16 „Diejenigen, die bei einer Liebesbeziehung nicht Lust,
sondern Nutzen austauschen“: In diesem Fall ist von einer durch Gewöh-
nung entstandenen gegenseitigen Wertschätzung nicht die Rede, sondern
wie alle Nutzenfreundschaften lösen sich diese Beziehungen auf, wenn der
Nutzen entfällt, weil er der einzige Zweck dieser Freundschaft war.
(3) 1157a16–25 „Der Lust oder des Nutzens wegen können sogar Schlechte
miteinander befreundet sein“: Bei den nachrangigen Freundschaften spielt
der gute Charakter keine Rolle, wenn sie einzig der Lust oder dem Nutzen
gelten. Dass auch ‚weder Gute noch Schlechte‘ mit einbezogen werden, ist
ein Echo auf die aporetische Behandlung der Freundschaft in Platons Lysis.
Denn dort wird ein vorgeblich sämtliche Möglichkeiten erschöpfender Be-
weis für die Unmöglichkeit der Freundschaft geliefert, derart, dass weder
die Guten noch die Schlechten noch auch die weder Guten noch Schlechten
Freunde sein können (Ly. 216c–218c). Auf dieses Trilemma geht Aristoteles
nicht weiter ein, wie er auch sonst die Diskussion im Lysis (der Titel wird
nie genannt) eher als ‚Materiallager‘ zu verwenden scheint. Wiederholte An-
spielungen im Text sprechen aber dafür, dass Aristoteles auch die Vertraut-
heit seiner Hörer mit diesem Dialog voraussetzt.
Über die Fähigkeit der Schlechten zur Freundschaft jeder Art vertritt
Aristoteles unterschiedliche Meinungen. Hier beschränkt sich die Freund-
schaft unter Schlechten nur auf das Nützliche. Später wird angedeutet,
dass sie auch dem Charakter gelten kann, weil Schlechte ihre Freude an der
Schlechtigkeit des anderen haben (10, 1159b7–12). Schließlich wird aber aus-
geschlossen, dass Schlechte auch nur der Freundschaft mit sich selbst fähig
sind, weil sie an sich selbst nichts Liebenswertes und daher auch nichts Gu-
tes an ihrem Leben finden (IX 4, 1166b2–29).
Buch VIII, Kapitel 5 825
(3.1) 1157a20–25 „Auch ist nur die Freundschaft zwischen Guten vor Ver-
leumdungen sicher“: Verleumdungen spielten in der kleinen Polis zwangs-
läufig eine wichtige Rolle, wie etwa Sokrates’ Erklärung über seine ‚alten
Verleumder‘ in der Apologie zeigt (18d; 19a et pass.).
(3.2) 1157a24 f. „Nichts hindert aber daran, dass Derartiges auch bei den üb-
rigen Arten von Freundschaft vorkommt“: Die meisten Interpreten gehen
davon aus, dass Aristoteles sagen will, Freunde der anderen Arten hindere
nichts daran, einander Unrecht zu tun. Da Aristoteles es mit der Kennzeich-
nung von Rückverweisen durch ‚Derartiges‘ (ta toiauta) nicht eben genau
nimmt, ist das durchaus möglich. Es ist aber eher anzunehmen, dass er dem
Eindruck entgegentreten will, Freunde der anderen Art neigten grundsätz-
lich dazu, einander zu verleumden und Unrecht zu tun (vgl. Whiting 2006,
282 f.).
(4) 1157a25–36 „Weil die Menschen auch diejenigen Freunde nennen, die es
des Nutzens wegen sind“: Am üblichen, großzügigen Sprachgebrauch die
Freundschaft betreffend, will Aristoteles nichts ändern. Denn auch Staaten
sprechen von ‚Freundschaft‘, wo es um den gegenseitigen Nutzen geht, wie
etwa bei Kriegsbündnissen. Auf andere Gründe für Freundschaften zwi-
schen Staaten geht Aristoteles nicht ein; in der Politik setzt er jedoch voraus,
dass es Staatsmännern grundsätzlich darum zu tun sein sollte, mit den Nach-
barstaaten in Frieden zu leben (VII 14).
(4.1) 1157a30–32 „Freundschaft im primären (prôtôs) und eigentlichen Sinn
(kyriôs) ist die zwischen Guten, insofern sie gut sind. Die übrigen Arten sind
Freundschaften gemäß einer Ähnlichkeit (kath’ homoiotêta)“: Hier wird be-
kräftigt, dass die verschiedenen Arten von Freundschaft keine gleichberech-
tigten Spezies einer Gattung sind. Der Ausdruck eidos hat hier nicht den engen
Sinn von Spezies, sondern wird in einem weiteren Sinn von ‚Art‘ verwandt,
für den sich auch sonst Belege finden (vgl. Bonitz, Ind. Ar. 218b13–28).
Auch in anderen Fällen führt Aristoteles primäre und sekundäre Formen
auf eine ‚Ähnlichkeit‘ zurück. So erklärt er zur engen Begrenzung der Tap-
ferkeit auf die Gefahr im Krieg, es gebe auch noch Tapferkeit in einem er-
weiterten Sinn und man spreche dann von Tapferkeit ‚in einem übertragenen
Sinn‘ (kata metaphoran) und ‚aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit‘ (kath’
homoiotêta) (III 9, 1115a14–24). Eine besonders wichtige Rolle spielt diese
Unterscheidung in der Erklärung der Nebenformen der Unbeherrschtheit,
d.h. all derjenigen Formen, die nicht auf Begierde nach physischer Lust
beruhen, wie die Unbeherrschtheit im Zorn oder Unbeherrschtheit der
Ehre, dem Reichtum und der Familie zuliebe (vgl. VII 6, 1147b31–1148a4;
1148b6–14 et pass.)
An der analogen Stelle in der EE (VII 2, 1236a15–32) erklärt Aristoteles
dieses Verhältnis als Beziehung zu einem gemeinsamen Zentralbegriff (pros
826 Kommentar
hen). Diese Beziehung bezeichnet man seit Owen 1960 als ‚focal meaning‘.
Sie spielt in der Metaphysik eine wichtige Rolle, weil sich das Sein der Sub-
stanz als grundlegend für alles andere erweist: Qualitäten, Quantitäten usw.
setzen jeweils die Existenz einer Substanz voraus und werden mit Bezug auf
sie ‚seiend‘ genannt. An der dafür zentralen Stelle (Met. Γ 2, 1003a33–b10)
erklärt Aristoteles so die Bedeutung von ‚seiend‘ in den verschiedenen Ka-
tegorien und erläutert das Verhältnis am Beispiel von ‚gesund‘: Gesundheit
ist der zentrale Begriff, nach dem gesunde Farbe, gesundes Essen und der
gesunde Mensch benannt sind und von denen sie ontologisch abhängen. Ge-
sund hat jeweils eine unterschiedliche Bedeutung: die Farbe zeigt Gesund-
heit an, das Essen führt zur Gesundheit, der Mensch hat die Eigenschaft
der Gesundheit. Die Definition des Zentralbegriffs liegt allen abgeleiteten
Fällen zugrunde; von Gesundheit ist immer im selben Sinn die Rede. Wenn
Aristoteles in der EN kein solches Verhältnis für die Freundschaft annimmt,
so muss er sich davon überzeugt haben, dass die Freundschaft im primären
Sinn nicht der allen Arten gemeinsame Zentralbegriff ist, wie im Fall von
‚Substanz‘ oder ‚Gesundheit‘. Vielmehr ist allen nur der Kern gemeinsam:
‚gegenseitiges Wohlwollen und Wünschen von Gutem, das ihnen nicht ver-
borgen ist‘ (2, 1156a2–5). Zudem besteht weder eine logische noch eine on-
tologische Abhängigkeit der sekundären Arten von Freundschaft von der
primären Art: Nutzen- und Lustfreundschaften setzen weder die Existenz
noch die Definition der Tugendfreundschaft voraus.
(4.2) 1157a33–36 „Diese beiden Arten von Freundschaft verbinden sich aber
kaum miteinander (synaptousin)“: Aristoteles bestreitet nicht, dass es un-
gleiche Freundschaften gibt, derart, dass Lust gegen Nutzen ausgetauscht
wird, wie im Fall des Liebhabers und des Geliebten. Es dürfte aber selten
vorkommen, dass Leute, die einer Lust wegen Freunde sind, zugleich dauer-
haft auch des Nutzens wegen Freunde sind, weil es keine sachliche Verbin-
dung zwischen Lust und Nutzen gibt. Hingegen gilt für die vollkommene
Freundschaft, dass die Freunde einander auch angenehm und nützlich sind
(s.o. 1157a1–3).
(1) 1157b1–5: Schlechte sind nur der Lust- oder der Nutzenfreundschaft fä-
hig. (2) 1157b5–13: Freundschaft setzt Tätigsein voraus. (3) 1157b13–17: Be-
stimmte Menschen sind für das Zusammenleben ungeeignet. (4) 1157b17–
24: Wo es kein Zusammenleben gibt, gibt es kein vollkommenes Glück.
(1) 1157b1–5 „Da die Freundschaft in diese Arten aufgeteilt ist“: Bei schlech-
ten Menschen beschränkt sich die Freundschaft auf die Lust und das Nützli-
che. Dass Schlechte mit sich selbst und miteinander im Reinen sein können,
weil sie ihre eigene Lebensweise und die von solchen Freunden für richtig
halten, zieht Aristoteles nicht in Betracht. Er teilt vielmehr Platons Meinung
über die Unbeständigkeit von Schlechten (Ly. 214). Nur die Guten können
einander überhaupt als Personen schätzen; von allen anderen gilt dies nur in-
sofern, als sie den Guten ähnlich sind. Damit soll anscheinend der Tatsache
Rechnung getragen werden, dass es echte Freundschaften zwischen Men-
schen gibt, die den Tugendstandard zwar nicht ganz erfüllen, ihm jedoch
hinreichend nahekommen.
(2) 1157b5–13 „Wie man nun die Tugenden betreffend die einen in Bezug
auf die Disposition (kath’ hexin), die anderen in Bezug auf die Tätigkeit
(kat’ energeian) gut nennt“: Da die Freundschaft eine der Tugend verwandte
Disposition ist, stellt sich die Frage nach dem entsprechenden Tätigsein. Bei
den übrigen Tugenden ergibt sich das Tätigsein jeweils aus der Situation he-
raus; die Freundschaft ist dagegen eine Art Dauerzustand und nicht auf be-
stimmte Gelegenheiten beschränkt. Daher wird das ‚Zusammenleben‘ (sy-
zên) als die Tätigkeit der Freundschaft ausgezeichnet. Wie zuvor angemerkt,
ist damit keine Hausgemeinschaft gemeint, sondern das Teilen der für das
Leben wesentlichen Tätigkeiten. Wie die vielleicht nicht ganz ernst gemeinte
Schlusszusammenfassung am Ende von Buch IX zeigt, können diese Be-
schäftigungen von ganz unterschiedlicher Art sein: Manche verbringen ihre
Zeit mit gemeinsamem Trinken, mit Würfelspiel, mit Jagen oder auch mit
gemeinsamem Philosophieren (12, 1172a1–8). Weil die Freundschaft ge-
meinsames Tätigsein voraussetzt, bringt eine lange Trennung das Ende der
Freundschaft mit sich.
(2.1) 1157b13 „Der Mangel an Gespräch (aprosêgoria) hat schon viele
Freundschaften aufgelöst“: Für dieses Sprichwort findet sich kein weiterer
Beleg. Das kann natürlich dem Zufall der Überlieferung geschuldet sein; es
findet sich aber auch kein Beleg für den Ausdruck aprosêgoria (‚Ansprach-
losigkeit‘).
(4) 1157b17–24 „Menschen, die einander zwar zugetan sind, aber nicht zu-
sammen leben (syzên)“: Solche Menschen erfüllen zwar alle Bedingungen
der Freundschaft, d.h. sie halten einander für gut, wünschen einander Gutes
und wissen es voneinander (2, 1155b32–1156a5). Sind sie dennoch nicht zu-
sammen tätig, gleichen sie Leuten, die einander nur wohlwollen. Das Wohl-
wollen als eigenständige Disposition wird später auch als ‚untätige Freund-
schaft‘ bezeichnet (IX 5, 1167a11) – sie ist eine distanziertere Haltung als die
wirkliche Freundschaft.
(4.1) 1157b23 f. „eben das … aber scheint die Freundschaft zwischen Ge-
fährten (hetairikê) auszuzeichnen“: Die Bandbreite von Beziehungen, die
mit hetairos und verwandten Ausdrücken bezeichnet werden, ist groß. So
lässt Platon seinen Sokrates Dialogpartner ganz unterschiedlicher Art (wohl
auch in einem ironischen Sinn) mit diesem Epitheton belegen, von Polos,
einem Sophisten (Gorg. 469b), einem bloßem Bekannten (Euthphr. 5c), bis
hin zu Kriton (Cri. 54d), seinem lebenslangen Freund. Aristoteles verwendet
diese Bezeichnung sowohl in EE wie auch in EN nur zur Bezeichnung na-
her Freundschaften, ähnlich wie der zwischen Brüdern (11, 1159b31–35; 13,
1161a25–27 et pass.) Auch später kennzeichnet Aristoteles die Freundschaft,
die der Person des anderen gilt, als hetairikê philia; sie muss daher auf einen
ganz engen Freundschaftskreis beschränkt bleiben (IX 10, 1171a13–20).
(3) 1158a10–27 „Man kann aber nicht vielen ein Freund im Sinn der voll-
kommenen Freundschaft sein“: Hier wird die anfangs angeführte Meinung
korrigiert, dass der Besitz vieler Freunde, ‚Polyphilie‘, zu den schönen Din-
gen gehört und daher ein Kennzeichen der Freundschaft ist (1, 1155a28–30).
Als Grund wird nur die Tatsache genannt, dass der Affekt, die Freundes-
liebe, nur wenigen gelten kann und in dieser Hinsicht vergleichbar mit Ver-
liebtheit ist, die nur einem gelten kann, weil Liebe ein Übermaß ist (vgl.
IX 10, 1171a8–13). Dass es bei Affekten eine Art ökonomisches Prinzip gibt,
erklärt zwar nicht, warum man einer Person den Vorzug vor einer ande-
ren gibt, wohl aber, warum eine Freundschaft nicht all denjenigen gegen-
über möglich ist, für die man Wohlwollen hegt. Später hebt Aristoteles her-
vor, dass sich das Zusammenleben grundsätzlich nur auf wenige beschränkt,
weil das entsprechende Tätigsein auf wenige konzentriert sein muss
(IX 10).
(3.1) 1158a13 f. „dass viele demselben zugleich sehr gefallen (areskein)“: Das
Verb ist an sich nicht affektgeladen, sondern kann auch mit ‚zusagen‘ über-
setzt werden; gemeint ist also, dass einem nicht viele Menschen zugleich an-
genehm sind, wie auch nicht viele zugleich gut sind.
(3.2) 1158a13–21 „Wohl aber kann man vielen des Nutzens und der Lust
wegen angenehm sein“: Da sich der Affekt hier nicht auf den ganzen Men-
schen bezieht, sondern nur auf den Nutzen oder die Lust, die er anderen
bringt, ist es möglich, dass er vielen gefällt. Beim Nutzen kann es sich aber
Buch VIII, Kapitel 7 831
(4) 1158a27–36 „Machthaber (hoi en tais exousiais) scheinen aber von ihren
Freunden jeweils gesondert (dihêrêmenois) Gebrauch zu machen“: Macht-
haber und Reiche stellt Aristoteles oft in einem negativen Licht dar. So hat er
sie gleich zu Anfang als schlechte Vorbilder gekennzeichnet, weil sie ein rein
körperlichen Genüssen hingegebenes Leben führen (I 3, 1095b19–22). Hier
wird Machthabern hingegen unterstellt, dass sie nützliche von angenehmen
Freunden getrennt halten: der einen bedienen sie sich, weil sie unterhaltsam
sind (eutrapeloi, vgl. 3, 1156a12–14), der anderen, weil sie geschickt (deinoi)
darin sind, ihre Befehle auszuführen. Da Geschicklichkeit und Unterhalt-
samkeit nur akzidentell zusammentreffen (3, 1156a33–36), sind Menschen
selten, die beides vereinen. Wie die Rede von ‚geschickt‘ andeutet, sind
832 Kommentar
(1) 1158b1–11 „Die genannten Arten der Freundschaft beruhen auf Gleich-
heit (isotês).“ In seinem Resümee hebt Aristoteles hervor, dass im Prinzip
alle drei Formen der Freundschaft auf einer Art von Gleichheit beruhen,
weist aber mit Nachdruck nochmals darauf hin, dass diese Bedingung im
vollen Sinn nur von der Tugendfreundschaft erfüllt wird. Die Guten sind
einander in jeder Hinsicht gleich und wünschen einander Gutes von eben-
Buch VIII, Kapitel 8 833
(2) 1158b11–28 „Eine andere Art von Freundschaft ist aber diejenige, die
auf Überlegenheit (kath’ hyperochên) beruht“: Während die Bestimmung
des guten Lebens und der Tugend von der prinzipiellen Gleichheit der Men-
schen ausging, wie im Ergon-Argument ausgeführt (I 6), wird hier eine prin-
zipielle Ungleichheit der Funktion nach vorausgesetzt. Von Überlegenheit
ist bisher nur gelegentlich im Hinblick auf eine der Tugenden die Rede ge-
wesen. Hier werden aber statt geistiger oder charakterlicher Unterschiede
der Beteiligten funktionale Unterschiede in Familie und Gemeinschaft ins
Zentrum gestellt, also gewissermaßen Unterschiede ex officio. Diese stellen
objektive Unterschiede in der Würdigkeit (1158b27: axia) dar, die es auszu-
gleichen gilt.
(2.1) 1158b12–14 „wie die Freundschaft des Vaters zum Sohn und überhaupt
die des Älteren zum Jüngeren, des Mannes zur Frau“: Wenn in der Erörte-
rung ungleicher Freundschaften die Verhältnisse innerhalb der Familie an
vorderster Stelle stehen, so liegt das daran, dass die Hausgemeinschaft nicht
nur strikt hierarchisch geordnet war, sondern auch das Zentrum des sozialen
Netzwerks bildete. Dass Mann und Frau, Eltern und Kinder unterschiedli-
che Funktionen in der Hausgemeinschaft haben und daher auch eine unter-
schiedliche Würdigkeit, kann Aristoteles als allgemein akzeptierte Tatsache
behandeln, wie auch, dass der Altersunterschied ein Überlegenheitsverhält-
nis darstellt. Er setzt jedoch auch die naturgegebene Überlegenheit in geis-
tiger und charakterlicher Hinsicht voraus, die idealiter in der Haus- wie in
der politischen Gemeinschaft besteht, und die er im ersten Buch der Politik
näher spezifiziert.
(2.2) 1158b13 f. „jedes Herrschenden (archôn) zum Beherrschten“: Die-
ser Unterschied gilt auch für die Demokratie, denn jeder Amtsinhaber ist
ein ‚Herrschender‘, und jeder, dem er Anordnungen erteilen darf, ein ‚Be-
herrschter‘. So bezeichnet Aristoteles in der Politik jedes Amt als archê
und jeden Amtsinhaber als archôn und schließt darin ausdrücklich die Mit-
gliedschaft in der Volksversammlung und an Geschworenengerichten ein
(Pol. III 1, 1275a22–33). Die verschiedenen Herrschaftsformen und die
Frage der Gleichheit werden im Folgenden näher bestimmt (Kap. 12 + 13).
834 Kommentar
(2.3) 1158b17 f. „Denn wie Tugend (aretê) und Funktion (ergon) bei je-
dem verschieden sind“: Gemeint sind nicht persönliche Eigenschaften, son-
dern solche, die allgemein für die betreffende Art der Funktion vorausge-
setzt werden. Ein Vater ist seinem Sohn darin überlegen, dass er bestimmte
Leistungen erbringt, wie etwa die Sorge um das Vermögen, die Leitung
des Hauswesens und die Erziehung der Kinder (vgl. 13, 1161a15–17; 14,
1162a4–7; IX 2, 1165a21–27). Dass Mann und Frau unterschiedliche Auf-
gaben haben und jeder das Seine zum gemeinsamen Hauswesen beizutragen
hat, kommt im Folgenden noch mehrfach zur Sprache (12, 1160b33–1161a3;
14, 1162a16–29).
In der Frage des Liebens innerhalb der Familie nimmt Aristoteles an ver-
schiedenen Stellen unterschiedliche Positionen ein. So hat er zunächst die
Liebe der Eltern zu den Kindern als die größere bezeichnet und dieses Ver-
hältnis auch anderen Lebewesen unterstellt (1, 1155a17–20). Dies gilt insbe-
sondere für die Mutterliebe, wie verschiedentlich betont (9, 1159a29–33 et
pass.). Dort geht es aber um die von Natur aus gegebene Liebe, die erklärt,
warum Eltern ihren Kindern gegenüber mehr Zugehörigkeit empfinden als
umgekehrt (14, 1161b18–27). Hier dagegen geht es um die Schätzung, die
den Leistungen gilt, die innerhalb der Familie erbracht werden. Die allge-
meinen Beziehungen unter Verwandten werden in Kap. 13 + 14 erörtert.
(2.4) 1158b23–25 „Bei allen Freundschaften, die auf Überlegenheit beru-
hen, muss aber auch das Lieben (philêsis) diesem Verhältnis entsprechen“:
Die Forderung, dass ein proportionaler Ausgleich durch ein höheres Maß
an Liebe von Seiten des Unterlegenen zu leisten ist, klingt für moderne Oh-
ren zunächst befremdlich, wenn man sich an Kants Erklärung erinnert, dass
Liebe als Neigung (‚pathologische Liebe‘) nicht geboten werden kann, wohl
aber als ‚praktische Liebe‘ im Sinn von Wohltun (Grundlegung, 399). Zu
letzterem hat der Sohn gegenüber dem Vater aber erst spät Gelegenheit (vgl.
Pakaluk 1998, 93). Zur Erklärung, warum Aristoteles gleichwohl auf die ‚pa-
thologische Liebe‘ zählt, ist daran zu erinnern, dass die Affekte, die zu den
Charaktertugenden gehören, durch Gewöhnung von klein auf erworben
werden. Was für Furcht und Zorn gilt, gilt auch für die Liebe; entsprechende
Dispositionen stellen sich innerhalb der Familie durch den täglichen Umgang
ein. Da Aristoteles von der Richtigkeit dieser Verhältnisse ausgeht, kann er
auch die entsprechende affektive Einstellung innerhalb der Familie voraus-
setzen. Dazu ist daran zu erinnern, dass ‚Lieben‘ auch Schätzen, Zuneigung,
Ehren oder Achten bedeutet. Die Forderung nach einem Ausgleich letzterer
Art ist daher weniger seltsam als die Forderung nach mehr Liebe. Dasselbe
gilt natürlich auch für Herrschende und Ältere in der Gemeinschaft, denen
man Zuneigung, Achtung und Hochschätzung entgegenbringt.
(2.5) 1158b25 f. „So wird etwa der Bessere mehr geliebt als er selbst liebt,
wie auch der Nützlichere“: Hier deutet sich an, dass die Unterscheidung
Buch VIII, Kapitel 9 835
(1) 1158b29–1159a12: Ist bei der Gerechtigkeit die Gleichheit der Würdig-
keit nach wichtiger als die der Quantität nach, so ist es bei der Freundschaft
umgekehrt. (2) 1159a12–33: Die meisten ziehen das Geliebtwerden dem Lie-
ben vor.
der Dienst (therapeia) der Menschen den Göttern bringen, und welchen
Austausch kann es zwischen ihnen geben (13a–15a)? Ein allzu Überlege-
ner ist kein Freund mehr; auch Liebe und Dankbarkeit stellen dann keinen
Ausgleich dar, der die Rede von einer Freundschaft rechtfertigt, denn jede
Freundschaft beruht auf einer Gegenseitigkeit, die eine Gleichheit herstellt.
(1.2) 1159a3–5 „Eine genaue Grenze (akribês horismos), bis zu der man
befreundet sein kann“: Bei Freundschaften zwischen Ungleichen ist zwar
manches verzichtbar; es ist aber klar, dass sich dieser Verzicht nicht beliebig
fortsetzen lässt. Wenn Aristoteles dazu den Abstand zwischen Mensch und
Gott als Paradebeispiel anführt, das jedem einleuchten muss, so richtet er
sich dabei offensichtlich nach den traditionellen Vorstellungen, die von ei-
nem persönlichen Umgang zwischen Göttern und Menschen ausgehen. Von
seiner eigenen Konzeption von Gott als der ersten, rein geistigen Ursache
des Kosmos sieht er dabei ab.
(1.3) 1159a5–12 „Daher sieht man auch eine Schwierigkeit darin (aporei-
tai)“: Es ist gut möglich, dass Aristoteles sich auf ein bekanntes Dilemma
bezieht, denn es hat den Charakter scholastischer Problemstellungen: Wenn
man den Freunden das Beste wünschen soll, das Beste aber ist, ein Gott zu
sein, dann sollte man den Freunden wünschen, ein Gott zu werden. Das
Problem ist aber, dass sie dann keine Freunde mehr und damit auch kein Gut
für einen selbst mehr sind. Also kann man ihnen das Beste nicht wünschen.
Die Lösung dieses Dilemmas scheint Aristoteles darin zu sehen, dass man
einem Freund, als einem Freund, das Gute um seiner selbst willen wünscht –
und eben dazu muss dieser Freund derjenige bleiben, der er ist. Denn wenn
er kein Mensch mehr ist, gibt es den Betreffenden nicht mehr. Ein solcher
Wunsch ist also inkonsistent.
(1.3.1) 1159a7 „wie etwa Götter zu sein“: Zu den mythologischen Vorstel-
lungen gehörte auch die einer Entrückung von Sterblichen zu den Göttern
(zum religiösen Hintergrund vgl. G/J II 2, 691). An die ‚Vergöttlichung‘
Alexanders des Großen (vgl. Dirlmeier 1956, 520 f.) dürfte Aristoteles nicht
denken, weil sowohl seine Ethik wie auch die Politik, auf die kleine Polis
und auf ein Leben in Frieden zugeschnitten sind. Dem Gedanken an Erobe-
rungen und Weltreiche gibt Aristoteles dagegen keinen Raum.
(1.3.2) 1159a11 f. „Aber vielleicht auch wieder nicht alle“: Dieser Nachsatz
dürfte aus einer Randbemerkung eines Schreibers in den Text geraten sein,
der den dialektischen Charakter des Dilemmas nicht verstanden hat und da-
her gewisse prudentielle Einschränkungen für angezeigt hält, was das Wün-
schen von Gutem angeht.
(2) 1159a12–33 „Die Meisten wünschen aber, wie es scheint, aus Ehrsucht
(philotimia) eher geliebt zu werden als zu lieben“: Wenn es einen Zusam-
menhang zwischen den beiden Teilen des Kapitels gibt, so ist es einer ex
Buch VIII, Kapitel 9 837
contrario: Die meisten Menschen sind nicht am aktiven Aspekt der Freund-
schaft, sondern nur an ihrem passiven, dem Geliebtwerden, interessiert, und
dies auch nur um der Ehre willen, die darin liegt.
(2.1) 1159a14–21 „Daher sind den meisten auch die Schmeichler lieb (phi-
lokolakes)“: Hier geht es um das Bestreben nach Überlegenheit; denn
Schmeichler sind Freunde, die jedenfalls vorgeben, sie seien einem unterle-
gen. Auf Schmeichler ist Aristoteles auch in der Erörterung der Unterhalt-
samkeit eingegangen und hat dabei zwischen solchen unterschieden, die dies
nur aus Liebedienerei tun, und solchen, die sich daraus einen materiellen
Vorteil versprechen (II 7, 1108a29 f.; IV 12, 1127a8–10).
(2.2) 1159a17–24 „Sie scheinen die Ehre aber nicht um ihrer selbst willen zu
wählen, sondern nur akzidentell (kata symbebêkos)“: Dass Ehre kein letztes
Ziel ist, ist bereits in der kurzen Vorzeichnung des höchsten Guts in I 3 da-
mit begründet worden, dass man immer für etwas und von jemandem geehrt
wird. Diese Gesichtspunkte werden hier wieder aufgenommen. Ehre wird
deswegen nur ‚akzidentell‘ begehrt, weil die Betreffenden aus zwei Gründen
auf anderes als auf Ehrungen selbst aus sind: Die einen, die Meisten, suchen
sie aus Opportunismus, die anderen um der Selbstbestätigung willen. Den
Opportunisten geht es um Ehre von Seiten Reicher und Mächtiger (1159a19:
tôn en tais exousiais), weil sie damit die Aussicht auf zukünftige Wohltaten
verbinden. Die anderen suchen die Bestätigung des eigenen Werts von Seiten
Guter und Kluger. Letzteres ist in Aristoteles’ Augen zwar ein besseres Mo-
tiv für das Streben nach Ehre, wie sich auch der Bemerkung in I 3 entneh-
men lässt, sie seien Menschen von feinerer Art. Gleichwohl liegt in diesem
Streben nach Ehre eine Schwäche, denn der wahrhaft Gute braucht keine
solche Bestätigung (so auch G/J II 2, 694): Der vollkommen Gute wie z.B.
der Hochgesinnte sieht in Ehrungen nur die natürliche Konsequenz seiner
Taten. Aus all diesen Gründen ist geliebt zu werden besser, als geehrt zu
werden, denn es gilt einem selbst.
(2.3) 1159a27–33 „Die Freundschaft liegt aber anscheinend mehr im Lieben
als im Geliebtwerden“: Geliebt zu werden ist zwar wichtig für die Freund-
schaft, weil darin der Ausgleich liegt. Das eigentliche Moment liegt aber im
Lieben (und Wiederlieben), weil darin das zur Freundschaft gehörige Tätig-
sein besteht, anderen nicht nur Gutes zu wünschen, sondern es auch zu tun.
Denn eben darin liegt das Element des ‚Tätigseins‘, das die Freundschaft
mit anderen Tugenden gemeinsam hat, während das Geliebtwerden nur das
passive Element darstellt (vgl. MM II 11, 1210b6–11). Als Beispiel für den
aktiven Aspekt des Liebens verweist Aristoteles auf die Mütter, die schon
allein an dieser Liebe ihre Freude haben, ohne damit einen weiteren Zweck
zu verbinden.
(2.3.1) 1159a28–33 „Manche überlassen ja sogar ihre Kinder anderen zur
Aufzucht“: Adoptionen von jüngeren Kindern aus anderen Familien zur Si-
838 Kommentar
(1) 1159a33–b2: Das Lieben ist die Tugend von Freunden. (2) 1159b2–12:
Gleichheit und Ähnlichkeit bestehen vor allem zwischen Guten; zwischen
Schlechten gibt es keine Gleichheit. (3) 1159b12–19: Auf Gegensätzen beru-
hen Nutzen- und Lustfreundschaft. (4) 1159b19–24: Nachtrag zur Attrak-
tion zwischen Gegensätzlichem.
(1) 1159a33–b2 „Wenn die Freundschaft aber eher im Lieben (philein) be-
steht und wir diejenigen loben, die ihre Freunde lieben (philophiloi)“: Aris-
toteles bestimmt hier zwar nicht rundheraus die Freundschaft als eine Tu-
Buch VIII, Kapitel 10 839
gend, gewissermaßen als Replik auf die Alternative vom Anfang des Buches,
wonach Freundschaft eine Art von Tugend oder doch mit ihr verbunden ist
(1155a1 f.); er erklärt aber, worin diese Verbindung besteht. Die prägnante
Kennzeichnung dieser Menschen als philophiloi deutet an, dass bei ihnen
eine Disposition vorliegt, die sich in entsprechendem Tätigsein äußert, wie
es sich für eine Tugend gehört. Freundesliebe besteht nicht nur in wech-
selseitigem Wohlwollen und im Wissen darum, sondern im entsprechenden
Verhalten. Dass diese Einstellung auf Tugend beruht, ist im Fall von Tugend-
freundschaft eine Selbstverständlichkeit. Auch bei der Lust- und Nutzen-
freundschaft gibt es aber ein aktives Tätigsein, das den Standards bestimm-
ter Tugenden genügt, wie etwa der Freigebigkeit, der Ausgeglichenheit, der
Unterhaltsamkeit und Freundlichkeit und vor allem der Gerechtigkeit. Dies
gilt, mutatis mutandis, auch für Freundschaften zwischen Ungleichen, wenn
dabei ein der Würdigkeit (axia) entsprechender Ausgleich stattfindet (vgl.
Pakaluk 1998, 105 f.).
sind. Ob die Freude, die sie an der Schlechtigkeit des anderen haben, der
Tatsache gilt, dass der andere genauso schlecht ist wie sie selbst, oder ob sie
an gemeinsamen schlechten Taten Freude haben, bleibt offen; vermutlich ist
beides gemeint. Der ‚glückliche Schurke‘ ist für Aristoteles aber ebenso ein
Selbstwiderspruch, wie er das für Platon ist.
(2.2) 1159b10–12 „Freunde, die einander nützlich und angenehm sind“: Da
hier eine Gleichheit der Interessen besteht, sind diese Freundschaften be-
ständiger als die zwischen Schlechten. Ihre Dauer hängt aber von der Dauer
des Nutzens bzw. der Lust ab (vgl. 3, 1156a10–24; 5, 1157a3–16). Nur un-
ter dieser Bedingung kann also von Beständigkeit die Rede sein. Inwiefern
beruhen die sekundären Formen der Freundschaft auf Tugend? Sie tun das,
wenn die Partner zur Erwiderung des jeweiligen Guten um des anderen wil-
len bereit und darin auch beständig sind, solange diese Beziehung besteht.
Denn zwischen Nutzenfreundschaft und Gerechtigkeit besteht ein enger
Zusammenhang, wie Aristoteles anfangs betont hat (1, 1155a22–28) und im
Folgenden noch näher begründen wird (Kap. 11). Das Gemeinwohl und der
Zusammenhalt des Staates hängen davon ab, dass die Bürger von sich aus das
für den wechselseitigen Nutzen erforderliche Wohlwollen walten lassen, so
dass Zwangsmaßnahmen nicht notwendig sind. Da die Freundschaft unter
Bürgern eine Nutzenfreundschaft ist, setzt sie als Bereitschaft zum fairen
Umgang miteinander eine Art von Tugend voraus. Entsprechendes gilt auch
für die Lustfreundschaft.
dern wenn der eine schön, der andere hässlich ist, kann keine Gleichheit den
Anspruch auf Gegenliebe betreffend bestehen.
(4) 1159b19–24 „Vielleicht strebt Gegensätzliches aber gar nicht nach Ge-
gensätzlichem als solchem, sondern nur akzidentell“: Diese Überlegungen
sind ein Relikt aus den längeren Ausführungen von EE VII 5, 1239b23–
1240a4. Dort wird dargelegt, dass nicht nur Gegensätze einander nützlich
sein können, sondern dass das Streben nach Gegensätzlichem deswegen gut
ist, weil es in Wahrheit dem Mittleren (meson) gilt. Auch die Beispiele für ein
entsprechendes kosmisches Ausgleichsprinzip stammen aus der EE. Dort
wird auch die wechselseitige Anziehungskraft von Menschen mit entgegen-
gesetzten Temperamenten mit einbezogen, wie etwa die zwischen Unter-
haltsamen und Steifen, zwischen Jähzornigen und Ausgeglichenen, die so
‚das Mittlere‘ erreichen. Wenn Aristoteles hier auf derartige Überlegungen
nicht ganz verzichtet, so vermutlich weil er zuvor eine allgemeine Affinität
zwischen Ungleichem bzw. Gegensätzlichem in der Natur zwar skizziert,
aber nicht weiter erörtert hat (2, 1155b1–8). Er tut diese Überlegungen je-
doch schnell mit der Bemerkung ab, dass die Rechtfertigung einer derartigen
Theorie des ‚Mittleren‘ allzu weit abführen würde.
(1) 1159b25–35: Jede Freundschaft ist eine Gemeinschaft mit einer eigenen
Form von Gerechtigkeit. (2) 1159b35–1160a8: Was jeweils gerecht und un-
gerecht ist, hängt von der Nähe der Freundschaftsbeziehung ab. (3) 1160a8–
14: Was in Gemeinschaften gerecht ist, richtet sich nach dem Nutzen der
Gemeinschaft. (4) 1160a14–30: Alle Arten von Gemeinschaften gleichen der
politischen Gemeinschaft oder sind Teile von ihr.
Letzteres gilt auch heute noch für Verbrechen innerhalb der Familie. Wenn
diese Symmetrie dennoch nicht mehr so zutage liegt, so beruht das nicht nur
auf der Forderung nach Unparteilichkeit, sondern auch darauf, dass es keine
allgemein akzeptierten Maßstäbe für die Beziehungen innerhalb der Familie
oder auch für die zwischen Freunden gibt, weil man solche Fragen als Pri-
vatangelegenheiten betrachtet und sie damit einer moralischen Beurteilung
entzieht. Aristoteles teilt diesbezüglich jedoch die grundsätzlich anderen
Vorstellungen seiner Zeit.
(4) 1160a14–30 „Die übrigen Gemeinschaften streben nun nach dem Nut-
zen einer bestimmten Art“: Dies gilt für die oben bereits genannten Schiffs-
gemeinschaften, die durch Handel einen Gewinn erzielen wollen, wie auch
für ein Kriegsheer (systratiôtai), das auf Beute, Sieg oder die Übernahme
einer ganzen Stadt aus ist. In Hinblick auf diesen gemeinsamen Nutzen be-
stimmt sich ihre Gleichheit und auch das, was in einer solchen Vereinigung
als gerecht gilt.
(4.1) 1160a17 f. „die Übernahme der Stadt erstreben“: Dass nicht die Erobe-
rung und Plünderung einer Stadt, sondern die Wiedergewinnung der Stadt
durch Exilierte gemeint ist, wird in der Literatur manchmal unter Verweis
auf die Vertreibung der 30 Tyrannen aus Athen vorgeschlagen. Das ist zwar
möglich, aber doch ein Sonderfall. Aristoteles beschönigt die Gewalttätig-
keit von Kriegen und ihrer Ziele nicht, ist aber der Meinung, dass sie eigent-
Buch VIII, Kapitel 11 845
lich nur dem Frieden dienen sollten (X 7, 1177b4–12; Pol. VII 14). Kriegs-
teilnehmer haben aber jeweils ihre eigenen Ziele, und dazu gehört auch die
Eroberung und Plünderung einer Stadt.
(4.2) 1160a18 „Entsprechendes gilt auch für Mitglieder einer Phyle oder ei-
nes Demos“: Ursprünglich bezeichnete die phylê den Stamm oder ‚Clan‘,
dêmos die Einwohner des Bezirks. In Athen wurden durch die Reform des
Kleisthenes (508/7) die alten Stammesgemeinschaften mit ihren Loyalitäten
aufgelöst. Die neue Einteilung Attikas in 10 Phylen mit 139 Demen hatte
im Prinzip nur noch organisatorische Bedeutung, denn die Demen waren
die Wohnbezirke. Interessengemeinschaften waren diese aber insofern, als
die 10 Phylen jährlich gemeinsam ihre Vertreter für den Rat und die Ma-
gistratsämter wählten, sowie einen der 10 Strategen; auch die Auslosungen
von Schöffen war nach Demen geordnet. Daher entwickelte sich auch ein
Zusammengehörigkeitsgefühl, so dass man einander eine gewisse Loyalität
entgegenbrachte. Eine so enge Interessengemeinschaft wie die alten Stam-
meseinheiten waren die Demen jedoch nicht (vgl. Welwei 22011).
(4.3) 1160a19 f. „Sie alle scheinen jedoch der politischen Gemeinschaft
untergeordnet zu sein“: Die ursprünglich an dieser Stelle stehenden zwei
Zeilen sind in der Übersetzung nach Bywaters Vorschlag in Zeile 23 hin-
ter ‚bion‘ gestellt worden. Denn so fügt sich zusammen, was zusammen ge-
hört: Es wird versichert, dass die Teilorganisationen im Staat zwar einem
bestimmten Nutzen dienen, dem Staat aber untergeordnet sind, weil er
nicht nur auf einen begrenzten Nutzen aus ist, sondern für das ganze Le-
ben sorgt. Die Erörterung des Nutzens von Gemeinschaften ist damit abge-
schlossen.
(4.4) 1160a19 f. „Gewisse Gemeinschaften entstehen aber anscheinend auch
des Vergnügens (hêdonê) wegen, wie etwa die von Kult- (thiasôtai) oder
Bankettgenossen (eranistai)“: Hier handelt es sich um private Vereine. Da
es aber auch dafür staatliche Regelungen gab, sind auch sie Teile der staat-
lichen Gemeinschaft und dienen dem Gemeinwohl in einem weiteren Sinn
(Pakaluk 1998, 116 f.) Dass religiöse Zeremonien dem Vergnügen und der
Erholung dienen, nimmt sich für uns zunächst befremdlich aus; sie waren je-
doch öffentliche Feste, bei denen auch gesungen und getanzt und das Opfer-
fleisch als Festmahl verspeist wurde. Daher kennzeichnet Aristoteles diese
Gemeinschaften als Lustfreundschaften.
(4.4.1) 1160a19 f. „Kult- und Bankettgenossen“: Ein Thiasos war ein Kult-
verein mit einem offiziellen Status, der einer bestimmten Gottheit gewidmet
war, wie etwa Dionysos (vgl. dazu Der Neue Pauly 12/1, 403). Ob Platons
Akademie den Status eines Thiasos hatte, war lang ein umstrittenes Thema.
Ein Eranos war eine Vereinigung von Menschen, die in bestimmten Zeitab-
ständen gemeinsame Festessen veranstalteten, zu der jedes Mitglied einen
bestimmten Betrag beizusteuern hatte (vgl. Der Neue Pauly 4, 409). Auf das
846 Kommentar
(1) 1160a31–b22 „Es gibt aber drei Arten von Staatsverfassungen (politeiai)
und ebenso viele Abarten (parekbaseis), die gewissermaßen ihre Verfallsfor-
men (phthorai) sind“: Die Liste und Reihung von drei richtigen und drei
verfehlten Verfassungen hat ihr Vorbild in Platons Politikos (Plt. 291c–292a;
Buch VIII, Kapitel 12 847
basileus erhalten, das zwar wichtige Funktionen behielt, nach der Reform
des Kleisthenes aber wie fast alle anderen Ämter nur noch durch das Los
vergeben wurde. Die wichtigste Funktion dieses Titular-Königs waren die
Oberaufsicht über die Gerichtsbarkeit in religiösen Fällen und der Vorsitz in
Mordprozessen (vgl. Platon, Euthphr. 2a; Plt. 290e–291a; Aristoteles, Staat
der Athener 3).
(1.4) 1160b12–16 „Die Aristokratie wird zur Oligarchie“: Auf die Aristo-
kratie geht Aristoteles nicht weiter ein, sondern beschränkt sich auf eine
kurze Charakterisierung der Oligarchie als deren schlechter Abart, weil ihr
Nutzen nur den Reichen zugutekommt. Denn Ehren, öffentliche Gelder
und Ämter werden dann nur innerhalb eines kleinen Kreises von Reichen
verteilt.
(1.5) 1160b16–22 „Die Timokratie wird zur Demokratie, denn diese beiden
Verfassungen grenzen aneinander“: In der Politik kennzeichnet Aristoteles
die Politie als eine Mischverfassung aus Oligarchie und Demokratie und be-
wertet sie als die unter den üblichen Umständen beste Verfassung, weil die
Mittelklasse herrscht und die Extreme beider Formen vermieden werden
(bes. Pol. IV 8 + 9; 11). Aus diesem Grund nennt er sie eine Herrschaft
der Mehrheit. In der radikalen Demokratie sieht Aristoteles deswegen eine
schlechte Regierungsform, weil sie eine Herrschaft zugunsten der Armen ist
und sämtliche Ämter durch das Los verteilt werden. Die relative Harmlo-
sigkeit der Demokratie begründet er mit ihrer Nähe zur Politie; aus diesem
Grund beurteilt er sie auch als die am wenigsten schlechte unter den Abarten
(ähnlich Platon, Plt. 302d–303b).
ter der Götter und Menschen“ − das Standard-Epitheton des Zeus, Ilias I,
544; IV, 68 et pass.).
(2.1.1) 1160b27–32 „Bei den Persern ist die Herrschaft des Vaters dage-
gen tyrannisch (tyrannikê)“: Andernorts sagt Aristoteles, ‚die Barbaren‘
behandelten ihre Frauen wie Sklaven, weil sie selbst von Natur aus keine
Herrscherqualitäten haben und daher keinen Unterschied sehen (Pol. I 2,
1252b5–9). Ob Aristoteles Informationen über die Familienstruktur bei den
Persern hatte oder nur von deren Herrschaftsform ausging, ist unsicher. Pla-
ton spricht von der extremen Form der Monarchie bei den Persern, nimmt
davon aber die Herrschaft des Kyros und des Dareios aus (Leg. III 693d–
695e).
(2.1.2) 1160b29–32 „Tyrannisch ist auch die Herrschaft des Herrn über die
Sklaven, denn sie dient dem Nutzen des Herrn“: Die despotische Behand-
lung der Sklaven wird einmal mehr als ‚richtig‘ verteidigt; auf diesen Punkt
geht Aristoteles im folgenden Kapitel noch näher ein (13, 1161a32–b10).
(2.2) 1160b32–1161a3 „Die Verfassung bei Mann und Frau ist offenbar aris-
tokratisch (aristokratikê)“: In der Politik bezeichnet Aristoteles das Ver-
hältnis als ‚politisch‘, weil auch die Frau frei geboren ist (I 12, 1259b1).
Auch dort hält er aber eine Dauerherrschaft des Mannes aufgrund seiner
natürlichen Überlegenheit für gerechtfertigt, die er auf den natürlichen Un-
terschied der praktischen Vernunft bei Mann und Frau zurückführt (13,
1259b28–1260a24). In der Politik findet sich die Hauswirtschaft betreffend
der Hinweis, der Mann erwerbe den Besitz, die Frau bewahre ihn; sie ist also
für die Vorratswirtschaft zuständig (III 4, 1277b24 f.).
(2.2.1) 1160b34–1161a2 „was zu bestimmen Sache der Frau ist“: Gewisse
Dinge, die hier nicht näher spezifiziert werden, fallen in den Zuständigkeits-
bereich der Frau – und wenn der Mann sich da einmischt, entartet die häus-
liche Aristokratie in Oligarchie. Die Rede von einer Ein-Mann-Oligarchie
ist zwar seltsam, es geht aber nur darum, dass der Mann sich wie in einer oli-
garchischen Herrschaft sämtliche Befugnisse selbst zuteilt; ein Haustyrann
ist er nur den Sklaven gegenüber.
(2.2.2) 1161a1–3 „Gelegentlich herrschen aber die Frauen, wenn sie Er-
binnen sind (epiklêroi)“: Es kommt dann zu einer Oligarchie der Frau. −
Eine Erbin wurde ein Mädchen nur, wenn es in der weiteren Familie kei-
nen männlichen Erben gab. Ob Erbinnen dann über ihr Vermögen verfügen
konnten, ist unklar, weil Erbtöchter zum Erhalt des Hauses meistens inner-
halb der Familie verheiratet wurden und das Vermögen damit automatisch
in den Besitz des Mannes überging (vgl. MacDowell 1978, 95–98; Just 1989,
95–104). Dass Aristoteles sich gleichwohl auf ein bekanntes Phänomen be-
zieht, bestätigt Aristophanes, der in den Wolken den alten Strepsiades darü-
ber klagen lässt, dass seine Frau nicht nur über ihr Vermögen verfügt, son-
dern auch in der Erziehung des verschwenderischen Sohnes die Oberhand
850 Kommentar
hat (vgl. auch Menander, Frg. 55.1). Selbst wenn die Komödie sich grobe
Verzerrungen erlaubt hat, müssen diesen Karikaturen doch allgemeine Er-
fahrungen zugrunde liegen.
(2.3) 1161a3–9 „Das Verhältnis zwischen Brüdern gleicht dem in der Timo-
kratie“: Unterschiede, was das Vermögen angeht, sind hier nicht gemeint,
denn die gibt es zwischen Brüdern nicht. Sie sind sozusagen alle in der glei-
chen Vermögensklasse und einander gleichgestellt, solange kein allzu großer
Altersunterschied besteht. Ist der Altersabstand zwischen den Brüdern sehr
groß, schulden die Jüngeren den Älteren größeren Respekt.
(2.4) 1161a6–9 „Demokratie (dêmokratia) findet sich am ehesten in Haus-
halten, in denen es keinen Herrn gibt“: Unter Demokratie versteht Aristo-
teles die radikale Demokratie (manchmal nennt er sie auch ‚extreme Demo-
kratie‘), in der nicht nur alle Ämter per Los vergeben, sondern sämtliche
Beschlüsse von der Volksversammlung, ohne eine Vorberatung durch den
Rat, gefasst werden. Wie seine Beschreibung hier zeigt, unterstellt Aristo-
teles ihr anarchische Verhältnisse, die an Platons Kennzeichnung erinnern
(Resp. VIII 557b–558c). Sonst ist sein Urteil über die Demokratie differen-
zierter. In Pol. IV 4 unterscheidet er vier Formen und bezeichnet als die
schlechteste die Form, in der sämtliche Ämter per Los verteilt werden und
Bürger aller Klassen dafür qualifiziert sind.
(2.4.1) 1161a7 „Haushalt (oikêsis)“: Aristoteles verwendet dieses Wort sonst
nicht zur Bezeichnung der Hausgemeinschaft (oikos, oikia), sondern be-
zeichnet damit Tierbehausungen (vgl. HA VI 18, 572a1 et pass.) oder An-
siedlungen (Pol. III 1, 1275a8; VII 11, 1330b21). Er will vermutlich andeu-
ten, dass ein derartiger Haushalt keine echte Hausgemeinschaft ist.
genüber aber doch ein Anteil am Recht eingeräumt. Da sich Aristoteles auf
allgemeine Charakterisierungen der Parallelen zwischen politischen Ver-
fassungen und Familienverhältnissen beschränkt, geht er über funktionale
Kennzeichnungen nicht hinaus. Die Frage der persönlichen Beziehungen ist
Gegenstand von Kap. 14.
man doch nur indirekt Leben, Aufzucht und Erziehung verdankt, scheint als
natürlicher Übergang zur Rechtfertigung der Königsherrschaft zu dienen, da
Aristoteles die Königsherrschaft auf die des Stammesvaters zurückführt (vgl.
Pol. I 2, 1252b19–22; 12, 1259b10–17). Es soll plausibel werden, dass hier ein
allgemeines Überlegenheitsverhältnis besteht, das den Betreffenden eine be-
sondere Würdigkeit (1161a22: axia) verleiht, die es auf Seiten des Beherrsch-
ten durch Ehren auszugleichen gilt. Zwar hat Aristoteles zuvor bestritten,
dass es die Möglichkeit einer Freundschaft zu allzu Überlegenen wie einem
König gegenüber gibt (9, 1158b36–1159a3). Er dürfte dabei aber zwischen
persönlicher und politischer Freundschaft unterscheiden wollen. Gemeint
sind hier nur die Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft, d.h. der Aus-
tausch zwischen den Wohltaten, die ein König kraft seines Amtes ausübt,
und den Ehrungen, die ihm dafür von der Gemeinschaft erwiesen werden.
(1.3) 1161a22–25 „Die Freundschaft des Mannes zur Frau ist dieselbe wie
die Freundschaft in der Aristokratie“: Auf Wohltaten des Mannes geht Aris-
toteles nicht ein, sondern nur auf die Notwendigkeit, ihm aufgrund seiner
Überlegenheit an Tugend mehr ‚an Gutem‘ zuzuweisen; das dürfte hei-
ßen, dass ihm nicht nur die Entscheidungsbefugnis über alle Dinge in der
Hausgemeinschaft zusteht, die nicht Sache der Frau sind (vgl. 12, 1160b32–
1161a3), sondern dass ihm auch die entsprechende Ehre zu erweisen ist (vgl.
14, 1162a16–29).
(1.4) 1161a25–30 „Die Freundschaft unter Brüdern ist der zwischen Gefähr-
ten (hetairikê) ähnlich“: Zur bereits erwähnten Gleichheit von Brüdern (vgl.
11, 1159b32; 12, 1161a3–6; von Schwestern ist, wie von Töchtern, nie die
Rede) fügt Aristoteles hier außer der gleichen Stellung in Familie und Al-
tersgruppe noch die Gleichheit in Hinblick auf die Affekte (homopatheis)
und auf den Charakter (homoêtheis) hinzu, ein Punkt, der in 14, 1162a9–16
wieder aufgenommen wird und mit der Vertrautheit von klein auf und der
gemeinsamen Erziehung begründet wird. Daher besteht zwischen Brüdern
eine timokratische Verfassung, d.h. sie sind gleichberechtigt wie die Bürger
dieser Verfassung. Älteste Söhne hatten keine Privilegien, solange der Vater
lebte, sondern alle Söhne waren rechtlich gleichgestellt; nach dem Tod des
Vaters wurde der älteste Sohn allerdings der Hausherr.
(2) 1161a30–b10 „In den abartigen Formen von Verfassungen gibt es so wie
Gerechtes auch Freundschaft nur in geringem Maß“: Von den Abarten wird
nur die Tyrannis aufgenommen, bis auf die kurze Schlussbemerkung über
die Gleichheit in der Demokratie (1161b9 f.). Wenn Aristoteles für die Ty-
rannis gar keine oder nur wenig Freundschaft vorsieht, so meint er damit das
Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten. Zwischen ihnen gibt es
nichts Gemeinsames (koinon), weil der Tyrann nichts oder nur sehr wenig
zum Gemeinwohl beiträgt.
Buch VIII, Kapitel 13 853
(1) 1161b11–16 „Jede Freundschaft besteht nun zwar, wie gesagt, in einer
Art von Gemeinschaft (koinônia)“: Während bisher die Betonung auf der
Tatsache lag, dass allen freundschaftlichen Beziehungen eine Gemeinschaft
zugrunde liegt, wird in dieser Hinsicht eine Differenzierung getroffen, wel-
che die Besonderheit von verwandtschaftlichen Beziehungen rechtfertigt.
Denn während die übrigen Beziehungen den Charakter von Vereinigun-
gen (koinônikai) haben und auf Übereinkunft beruhen, bestehen verwandt-
schaftliche Beziehungen von Natur aus. Diese Feststellung widerspricht
nicht der Natürlichkeit der Staatenbildung und anderer Vereinigungen als
solcher. Ihre Form beruht jedoch auf Vereinbarungen und Konventionen.
Das gilt nicht nur für die von Aristoteles angeführten besonderen Gemein-
schaften mit einem bestimmten Zweck (11, 1160a14–18), sondern auch für
die Staaten selbst. Zwar geht nicht jeder Bürger einen Vertrag ein, es be-
steht aber eine allgemeine Übereinstimmung über den Zweck der Vereini-
gung und das zu erwartende Verhalten der Mitglieder (zur ‚Vertragstheorie‘
vgl. Platon, Cri. 50c–52d). In die Familie wird man dagegen hineingeboren,
und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Familienangehörigen
werden durch die Art und den Grad der Verwandtschaft geprägt.
(3) 1161b27–1162a4 „Eltern lieben also ihre Kinder wie sich selbst; ihre Ab-
kömmlinge sind nämlich gewissermaßen ‚andere Selbste‘ (heteroi autoi)“:
Die Herkunft von den Eltern begründet, wie Aristoteles hier insinuiert,
eine Art Identitätsbeziehung zu ihnen, denn er behandelt ein Kind als ein
von den Eltern abgetrenntes ‚anderes Selbst‘ – so wie er später den engs-
ten Freund als ein ‚anderes Selbst‘ kennzeichnen wird (IX 4, 1166a31 f.:
allos autos; Anmerkungen zu dieser ungewöhnlichen Ausdrucksweise siehe
dort). Dass Aristoteles die Freundschaft unter Familienangehörigen prin-
zipiell auf diese Selbstliebe zurückführt, zeigt, dass für ihn diese Beziehun-
gen elementarer sind als Tugend-, Lust- und Nutzenfreundschaften, weil sie
von Anfang an mit zum Leben gehören. Aus diesem Grund wird auch für
die natürliche Bindung zwischen weiteren Verwandten eine Art ‚Teilidenti-
tät‘ in Anspruch genommen. So führt Aristoteles die Liebe unter Brüdern
auf die ‚Selbigkeit‘ (1161b31: tautotês) ihrer Abstammung zurück, die dieser
ungewöhnliche Ausdruck unterstreichen soll (vgl. Met. Δ 9, 1018a7: die Sel-
bigkeit ist die Einheit des Seins von Mehreren). Auch der Bruderliebe wird
daher eine von Natur aus bestehende Teilidentität unterstellt. Dass dies auch
der allgemeinen Vorstellung entspricht, wird mit der Gebräuchlichkeit von
Redeweisen wie der vom ‚selben Blut‘ (haima; homaimos vgl. Sophokles,
Antigone 476 et pass.) und ‚denselben Wurzeln‘ (rhiza: vgl. Euripides, Ion
1576) begründet.
(3.1) 1161b33–1162a4 „Es trägt aber auch viel zur Freundschaft bei, dass
sie zusammen aufgewachsen und gleichen Alters sind“: Zur Verwandtschaft
kommen als weitere natürliche Ursache der Zusammengehörigkeit noch das
gemeinsame Aufwachsen und das gleiche Alter sowie die Vertrautheit dazu,
die zwischen Brüdern eine Gefährten ähnliche Freundschaft entstehen lässt.
(3.1.1) 1162a1–4 „Auch die Zusammengehörigkeit zwischen Vettern und
anderen Verwandten“: In der griechischen Gesellschaft war neben der
Hausgemeinschaft (oikos) auch die weitere Verwandtschaft, die syngeneis,
von großer Wichtigkeit. Darum betont Aristoteles, dass dieses Band auf der
gemeinsamen Abstammung beruht und umso enger ist, je näher der Ver-
wandtschaftsgrad zu den gemeinsamen Vorfahren ist.
Buch VIII, Kapitel 14 857
(4) 1162a4–16 „Die Freundschaft der Kinder zu den Eltern und die der
Menschen zu den Göttern bezieht sich auf diese als etwas Gutes und Über-
legenes“: Damit will Aristoteles klarstellen, dass durch die natürlichen Be-
ziehungen die übrigen Kriterien der Freundschaft nicht außer Kraft gesetzt
sind. Die Kinder lieben ihre Eltern der Wohltaten wegen, denn sie verdan-
ken ihnen ihr Sein, ihre Aufzucht und Erziehung. Auch diese Freundschaft
beruht daher sowohl auf Nützlichem wie auch auf Angenehmem. Dass hier
auch die Götter mit einbezogen werden, dürfte nicht nur dem Bemühen ge-
schuldet sein, auch die Verbindung zu den Göttern als natürlich zu erklä-
ren, sondern die Überlegenheit der Eltern noch zu erhöhen. An der Paral-
lelstelle in EE VII 10, 1242a32–35 vergleicht Aristoteles das Verhältnis des
Vaters zum Sohn mit dem von Gott zu den Menschen, ein Vergleich, den er
hier wohl auch deshalb nicht übernimmt, weil Menschen zu den Göttern in
kein persönliches Freundschaftsverhältnis treten können (vgl. 9, 1158b35–
1159a5).
(4.1) 1162a9–16 „Zur brüderlichen Freundschaft gehört alles, was die
Freundschaft zwischen Gefährten auszeichnet“: Dieser Nachtrag soll of-
fensichtlich zeigen, dass brüderliche Freundschaft nicht allein derselben
Abstammung, sondern auch der Gleichheit des Charakters geschuldet ist,
vor allem wenn der Charakter gut ist und auf der Gleichheit der Erziehung
und der Lebensumstände beruht. Auch das Element der Tugend wird hier
also angesprochen. Dass die gleiche Abstammung ein gutes Verhältnis noch
nicht garantiert, soll wohl auch der Verweis auf die ‚Bewährung‘ (dokima-
sia) deutlich machen, zu der die lange Zeit des gemeinsamen Lebens Gele-
genheit gibt.
(5) 1162a16–33 „Die Freundschaft zwischen Mann und Frau scheint von
Natur aus zu bestehen“: Da das Verhältnis von Mann und Frau nicht auf der
gemeinsamen Abstammung, sondern auf einer Übereinkunft beruht, hebt
Aristoteles die Tatsache hervor, dass die Paarbildung (syndyastikon) als sol-
che von Natur aus der Polis-Bildung (politikon) vorausgeht. Die Ehe wird
auch in der Politik als die natürliche Urzelle menschlicher Gemeinschaft
dargestellt, weil sie die Hausgemeinschaft (oikia) bildet und für die Kinder-
erzeugung notwendig ist (Pol. I 2, 1252b18–30). Damit wird nicht etwa die
Priorität der Polis als des teleologisch vorgezeichneten Ganzen in Hinblick
auf das gute Leben in Frage gestellt, sondern nur gezeigt, dass die Ehe nicht
allein − wie bei den übrigen Lebewesen − die Basis des Lebens ist, weil sie
für die Nachkommenschaft notwendig ist, sondern auch von grundsätzli-
cher Bedeutung für die Lebensführung ist.
(5.1) 1162a22–25 „Die Aufgaben sind nämlich von vornherein aufgeteilt; die
des Mannes sind andere als die der Frau“: Hier wird nicht der Unterschied
in der Bedeutung der Aufgaben, sondern ihre Komplementarität hervor-
858 Kommentar
gehoben. Denn statt wie zuvor auf das aristokratische Verhältnis zwischen
Mann und Frau zu verweisen, hebt Aristoteles hier hervor, dass sie einan-
der ergänzen und die Produkte ihrer Arbeit zu beider Autarkie beitragen
(1162a23: eparkousin). Auch dient diese Gemeinschaft nicht nur dem ge-
meinsamen Nutzen, sondern bringt auch Annehmlichkeiten mit sich. Auch
die Ehe ist daher eine Nutzen- und eine Lustfreundschaft.
(5.2) 1162a25–27 „Diese Freundschaft kann aber auch der Tugend wegen (di’
aretên) bestehen, wenn beide gut sind“: In der Anerkennung, dass auch die
Ehe auf Tugendfreundschaft beruhen kann, liegt das Positivste, was Aristo-
teles je über die Frau sagt. Zwar hat er seine Auffassung von der Überlegen-
heit des Mannes nicht aufgegeben. Dennoch ist es bemerkenswert, dass er
die Tugend auf beiden Seiten als eine mögliche Basis für die Ehe ansieht, so
dass die Freundschaft zwischen Mann und Frau auch in dieser Hinsicht der
vollkommenen Freundschaft gleichkommt, weil beide ihre Freude an der
Tugend des anderen haben. Aristoteles war übrigens kein Frauenfeind. Das
zeigt die testamentarische Fürsorge für seine Tochter und seine zweite Frau,
vor allem aber die Anordnung seiner Bestattung neben seiner ersten Frau
Pythias: „so wie sie es verfügt hat“ (Diogenes Laertius V 11–16).
(5.3) 1162a27–29 „Ein Band (syndesmos) zwischen ihnen sind bekanntlich
die Kinder“: Ehen waren im klassischen Griechenland leicht auflösbar. Kin-
derlosigkeit machte dies – auch von Seiten der Frau – noch einfacher, weil
davon auch der Erhalt des Hauses abhing (vgl. MacDowell 1978, 88 f.). Aris-
toteles geht es jedoch nicht um die Rechtsfrage, sondern um die Feststel-
lung, dass ein gemeinsames Gut (koinon agathon), welches die Kinder für
Ehepaare darstellen, die Freundschaft zwischen ihnen nicht nur festigt, son-
dern die natürliche Basis der Ehe ist.
(5.4) 1162a29–33 „Zu fragen, wie der Mann mit der Frau und ganz allge-
mein der Freund mit dem Freund leben soll“: Die Frage nach der Weise des
Zusammenlebens wird hier nur mit dem Verweis beantwortet, sie müsse ge-
recht sein, d.h. also dem Charakter der Freundschaft, der Gleichheit und der
Ungleichheit zwischen den Freunden entsprechen. Damit bringt Aristoteles
nicht nur die Erörterung der unterschiedlichen Beziehungen innerhalb der
Familie zu einem Abschluss, sondern auch die von individuellen Freund-
schaften überhaupt, bei denen nähere und entferntere Verhältnisse auch in
dieser Hinsicht differenzierte Handlungsweisen verlangen. Als Illustration
eines solchen ‚Gefälles‘ führt er den Unterschied zwischen einem Freund
und einem Fremden (othneios), einem Gefährten (hetairos) und einem Mit-
schüler (symphoitêtês) an, die sich in unterschiedlichen Umgangsweisen äu-
ßern.
Buch VIII, Kapitel 15 859
(1) 1162a34–b4: Bei allen drei Arten von Freundschaft besteht die Möglich-
keit von Gleichheit und Ungleichheit zwischen den Partnern. (2) 1162b5–
21: Zu Konflikten kommt es in erster Linie unter Nutzenfreunden.
(3) 1162b21–31: Bei Nutzenfreundschaften ist zwischen dem Austausch auf
gesetzlicher Basis und dem auf der Basis des allgemein Üblichen zu unter-
scheiden. (4) 1162b31–1163a9: Zu Konflikten kommt es, wenn jemand einen
Nutzenfreund wie einen Tugendfreund behandelt. (5) 1163a9–23: Maßstab
für den Ausgleich ist bei Nutzenfreundschaften der Nutzen des Empfän-
gers, bei Tugendfreundschaft die Absicht des Handelnden.
(1) 1162a34–b4 „Da es aber drei Arten von Freundschaft gibt, wie am An-
fang gesagt, und bei jeder die einen aufgrund von Gleichheit (isotês), die an-
860 Kommentar
des Besitzes mit dem Erwerb von Reichtum und sehen bei Letzterem keine
natürlichen Grenzen, weil sie nicht verstehen, dass der Reichtum nur instru-
mentalen Charakter hat und nicht Selbstzweck ist (Pol. I 9).
(3) 1162b21–31 „Wie nun das Gerechte von zweifacher Natur ist, das eine
ungeschrieben (agraphon), das andere gesetzlich (kata nomon)“: Bei dieser
Zweiteilung des Gerechten geht es nicht um geschriebene und ungeschrie-
bene Gesetze, etwa solche, die nur in einer bestimmten Gemeinschaft, und
solche, die überall gelten, auf die Aristoteles in der Rhetorik hinweist (I 13,
1273b4–24). Vielmehr geht es darum, ob ein Austausch auf bestimmten ge-
setzlichen Regelungen oder dem allgemein Üblichen beruht.
(3.1) 1162b22 f. „so beruht auch die Nutzenfreundschaft teils auf der Basis
des allgemein Üblichen (êthikê), teils auf gesetzlicher (nomikê) Basis“: Mit
gesetzlich geregeltem Austausch sind Geschäftsbeziehungen gemeint (vgl.
V 5, 1131a1–5: Verkauf, Kauf, Darlehen, Bürgschaft, Nutzungsrecht, Hin-
terlegung, Vermietung). Die Bezeichnung des Gegenteils „êthikê“ gilt hier
nicht dem ‚Ethischen‘ im eigentlichen Sinn, sondern dem allgemein Übli-
chen, den mores (zur Wortbedeutung vgl. EN II 1, 1103a14–26). Denn wie
die weiteren Erläuterungen zeigen, handelt es sich hier ebenfalls um ge-
schäftliche Transaktionen, die aber nicht auf einklagbaren Abmachungen,
sondern auf Treu und Glauben beruhen. Der Gegensatz ist daher nicht der
zwischen ‚gesetzlich‘ und ‚charakterlich‘, so als verlasse man sich auf den
Charakter des anderen, sondern bezieht sich vielmehr auf die guten Sitten,
wonach Abmachungen einzuhalten sind.
(3.2) 1162b25–31 „Die Freundschaftsbeziehung, die auf dem Gesetz basiert
(nomikê), geht von festen Abmachungen (epi rhêtois) aus“: Die Vereinba-
rungen müssen zwar nicht schriftlich fixiert, aber genau spezifiziert sein.
Aristoteles bezeichnet sie als rein geschäftlich (agoraios: ‚händlerisch‘) und
unterscheidet von ihr noch eine freiere Art (eleutheriôtera). Der Unterschied
zwischen beiden Arten liegt aber nur darin, dass die reine Geschäftsbezie-
hung im sofortigen Austausch von Gütern gegen Bezahlung besteht (‚von
Hand zu Hand‘), während die freiere Art einen Zahlungsaufschub bzw.
Kredit vorsieht. Für beide Arten von Austausch sind im Prinzip Gerichte
zuständig, auch wenn dies mancherorts für liberalere Geschäftsbeziehun-
gen nicht gilt (vgl. Platon, Leg. XI 915d–e). In beiden Fällen kommt es zu
Vorwürfen, wenn das Geschäft nicht zu dem erwarteten Abschluss kommt.
weil es für die Erwiderung keine rechtliche, wohl aber eine allgemein ak-
zeptierte Verpflichtung gibt. Als ‚Nehmer‘ darf man sich nicht auf den Ein-
druck verlassen, es werde einem etwas geschenkt, sondern sollte davon aus-
gehen, dass es sich um ein Geschäft handelt.
(4.1) 1163a1–9 „Wer kann, soll daher das, was er erhalten hat, in gleichem
Wert zurückerstatten“: Im Fall eines Missverständnisses wird dem Neh-
mer empfohlen, der fälschlich von einem Geschenk ausgegangen ist, sich
gar nicht erst durch Vorwürfe und Anklagen zur Rückerstattung nötigen zu
lassen, weil so der Eindruck entsteht, er habe den Geber durch die Annahme
gegen dessen Willen zu einem Freund machen wollen.
(4.1.1) 1163a2 „und dies freiwillig tun“: Das in den meisten Handschrif-
ten enthaltene ‚freiwillig‘ (hekonti), das Bywater unter Berufung auf dessen
Fehlen in Kb und bei Aspasios athetiert, lässt sich in Hinblick auf den Duk-
tus der nachfolgenden Ausführungen rechtfertigen (so auch Stewart 1892,
II 329).
(4.2) 1163a3–5 „wie jemand, der anfangs einen Fehler gemacht (dihamar-
tanonta en têi archêi) und etwas Gutes von jemandem angenommen hat“:
Der Fehler am Anfang liegt darin, dass der Betreffende bei der Annahme
nicht bedacht hat, dass der Geber kein wirklicher Freund ist, sondern auf
Rückerstattung rechnet. Dieser Fehler lässt sich dadurch korrigieren, dass
man so tut, als habe man das auch selbst von vornherein beabsichtigt. Daher
verspricht man, dies nach Kräften zu leisten, wenn man dazu nicht sofort in
der Lage ist. Wie Aristoteles hier andeutet, ist bei der Annahme von Wohl-
taten immer dann besondere Vorsicht geboten, wenn die Art der Beziehung
unklar ist.
(5) 1163a9–23 „Strittig ist auch, ob der Nutzen des Empfängers das Maß
sein soll (metrein)“: Wenn es um den Nutzen geht, besteht beim Geber die
Tendenz, den Wert der eigenen Leistung als möglichst groß, beim Nehmer,
ihn als möglichst gering darzustellen, wie Aristoteles unter Anführung sol-
cher Verkleinerungs- und Vergrößerungsgründe deutlich macht, welche den
Lebens- und Handlungsumständen der Geber gelten (diese Frage wird in
IX 1 erneut aufgenommen und detailliert behandelt). Derartige Bewertungs-
gründe schiebt Aristoteles mit dem Vorschlag beiseite, bei Nutzenfreund-
schaften müsse der Nutzen des Empfängers das Maß sein. Denn um dieses
Nutzens willen hat der Empfänger um Hilfe gebeten, und auf die Erwi-
derung ebendieses Nutzens hat der Geber gezählt. Dass der Nehmer eher
mehr als das Gegebene zurückerstatten sollte, weil es ‚schöner‘ (kallion) ist,
rückt diese Handlungsweise in den Bereich der Tugenden.
(5.1) 1163a21–23 „Bei der Tugendfreundschaft gibt es keine Vorwürfe“:
Die Guten sind nicht auf die Vergrößerung des eigenen Nutzens bedacht,
sondern wetteifern miteinander um das Erweisen von Wohltaten, so dass
Buch VIII, Kapitel 16 863
der Überlegene keinen Grund zur Beschwerde hat, sondern sich über die
Gelegenheit sogar freut (1162b6–13). Als Maß für die Erwiderung schlägt
Aristoteles weder den Nutzen des Empfängers noch den Aufwand des Ge-
bers vor, sondern dessen Absicht (prohairesis). Denn bei der Erwiderung
sollte der Nehmer sich nach der guten Absicht des Gebers, ihm zu helfen,
und nicht nach seinem tatsächlichen Nutzen richten, der u.U. gering sein
mag.
(2) 1163b5–12 „So verhält es sich offenbar auch in Angelegenheiten des Staa-
tes“: Als gemeinschaftliche Güter, mit denen man Bürger dafür belohnt, dass
sie zum Gemeinwohl beitragen, gelten einerseits Ehrungen, andererseits öf-
fentliche Geldmittel (vgl. V 5, 1130b30–33; 6). Einen finanziellen Verlust
konnte z.B. die Ausübung bestimmter Ämter mit sich bringen, die der
Großzügige auf sich nimmt (vgl. IV 4 + 5), aber auch die gewissenhafte Aus-
übung öffentlicher Ämter. Einen Gewinn hatten all diejenigen, denen dafür
öffentliche Mittel zugewiesen werden. Für Unmut sorgt es, wenn eine Seite
beides bekommt, also sowohl finanzielle Mittel wie auch Ehrungen. Daher
sollte man Menschen für Verdienste entweder durch Ehrungen auszeichnen
oder mit Geld entschädigen.
(2.1) 1163b11 „wer für Geschenke empfänglich (dôrodokos) ist“: Dieser
Ausdruck (wie auch dem dazugehörigen Verb, dôrodokein) kennzeichnet
Buch VIII, Kapitel 16 865
(3) 1163b12–18 „In dieser Weise muss man also mit Ungleichen umgehen“:
Das Prinzip des Ausgleichs wird hier auf das ‚Mögliche‘ beschränkt, selbst
wenn damit der Würdigkeit nicht Genüge getan wird. Damit soll beson-
deren Überlegenheitsverhältnissen Rechnung getragen werden, bei de-
nen von einem Ausgleich nicht die Rede sein kann, wie etwa dem Verhält-
nis zu den Göttern und zu den Eltern: Hier kann es nur eine Erwiderung
‚nach Kräften‘ geben (eis dynamin), denn wie bereits früher erklärt, gibt
es keinen wirklichen Ausgleich für die Wohltaten von Göttern und Eltern
(14, 1162a4–9; IX 2, 1165a24).
(4) 1163b18–28 „Daher sollte man meinen, dass es zwar einem Sohn nicht
freisteht, sich von seinem Vater loszusagen (apeipasthai), wohl aber einem
Vater von seinem Sohn“: Über die rechtlichen Möglichkeiten wie auch die
damals übliche Praxis besteht wenig Klarheit. Die apokêryxis (‚Verkün-
dung‘) galt in der klassischen Zeit der Bestreitung der Vaterschaft; eine da-
von unabhängige Form der Enterbung gab es nicht (vgl. MacDowell 1978).
Wenn sich Aristoteles an den tatsächlichen Rechtsverhältnissen orientiert,
dann muss er eine Form der Lossagung meinen, die keinen legalen Status
hat, sondern nur eine moralische Verurteilung bedeutet, mit der man der
Umgebung mitteilt, dass der eigene Sohn nicht mehr zur Hausgemeinschaft
gehört.
Ein Sohn konnte sich zwar nicht von seinem Vater lossagen, wohl aber
von der Verpflichtung freistellen lassen, den Vater im Alter zu unterstützen,
wenn dieser ihn keinen Beruf hatte lernen lassen oder ihn zur Prostitution
gezwungen hatte (MacDowell 1978, 92). Auch konnte der Sohn den Vater
gerichtlich entmündigen lassen, wenn dieser das Vermögen nicht mehr ver-
walten konnte. Dafür musste aber Wahnsinn oder die Verschwendung des
Familienvermögens nachgewiesen werden. Letzteres hat Aristoteles sicher
nicht im Auge; denn er behandelt die Beziehung zwischen Vater und Sohn
so, als seien beide geschäftsfähig: Der Vater ist gewissermaßen Gläubiger,
der Sohn der Schuldner. Da der Sohn nicht in der Lage ist, die ihm durch
seine bloße Existenz, durch Aufzucht und Erziehung erwiesenen Wohltaten
zurückzuerstatten, kann es kein wie auch immer begründetes Recht geben,
sich vom eigenen Vater loszusagen.
(4.1) 1163b23–26 „passt es nicht zur menschlichen Natur, Unterstützung
(epikouria) zurückzuweisen“: Unter normalen Umständen widersprach
eine Lossagung dem Interesse des Vaters, denn Eltern hatten ein einklag-
866 Kommentar
bares Recht auf Unterstützung im Alter, eine Verpflichtung, die mit einer
Lossagung hinfällig würde. Ein schlechter Sohn hat natürlich kein solches
Interesse, sondern versucht, sich seinen Verpflichtungen ganz oder so weit
wie möglich zu entziehen.
(4.2) 1163b26–28 „Denn die meisten Menschen wünschen zwar Wohltaten
zu erhalten“: Diese Sentenz betrifft nicht mehr den Sohn, sondern die Ein-
stellung der Menschheit als solcher. Da die Diskussion ungleicher Freund-
schaften und ihrer Probleme in Buch IX fortgesetzt wird, könnte die Be-
merkung dem Herausgeber geschuldet sein, der damit kennzeichnen wollte,
dass das Buchende zugleich das Ende dieses Diskussionspunkts ist (so
G/J II 2, 718; B/R, 417).
Freundschaft – Fortsetzung
Buch IX
den verschiedenen Verfassungen die Rede (VIII 10–14). Hier geht es aber
um geschäftliche Beziehungen zwischen Bürgern. Sie werden grundsätzlich
als ungleich eingestuft, weil der Wert ihrer Produkte sich in der Analyse
der Tauschgerechtigkeit als inkompatibel erwiesen hat (8, 1133b10–28). Wie
dort erklärt, wird die Proportion durch den Bedarf festgelegt, nicht durch
den Wert der Arbeit. Das Geld dient als Mittel, die ungleichen Produkte
kompatibel zu machen.
(2) 1164a2–22 „In der erotischen Freundschaft (erôtikê) erhebt der Liebhaber
manchmal den Vorwurf“: Der Fall von Liebhaber und Geliebtem ist schon
früher als Beispiel für eine ungleichartige und unbeständige Freundschaft
angeführt worden, weil sie ungleichartigen Gütern gilt, nämlich der Lust
auf der einen Seite, Geschenken und Gefälligkeiten auf der anderen (VIII 5,
1157a5–10; vgl. auch 10, 1159b15–19 zur Lächerlichkeit unberechtigter An-
sprüche). Zu Streitigkeiten kommt es, wenn der Liebhaber Anspruch auf
Gegenliebe erhebt oder die versprochenen Gefälligkeiten und Geschenke
nicht liefert. Ohnehin ist eine derartige Freundschaft nicht beständig, weil
sie nicht der Person, sondern unbeständigen Dingen wie Schönheit und Ge-
fälligkeiten gilt, so dass sie sich leicht auflöst. Wie in VIII 5, 1157a10–12
dazu ausgeführt, kann ein solches Verhältnis nur dann zu einer beständigen
Freundschaft werden, wenn beide den Charakter des anderen zu schätzen
lernen, so dass die Lustfreundschaft zu einer Tugendfreundschaft wird.
(2.1) 1164a13–22 „Freunde streiten aber, wenn sie etwas anderes erhalten
als das, was sie begehren“: Diese Feststellung wird durch die komische Ge-
schichte eines um seinen Lohn geprellten Kitharöden illustriert, d.h. eines
Musikers, der seinen Gesang mit der Kithara begleitet. Der Auftraggeber
behauptet, ihm doch ‚Lust mit Lust‘ vergolten und damit einen hinreichen-
den Lohn gezahlt zu haben. Die Geschichte dürfte einer Anekdotensamm-
lung entstammen, denn EE VII 10, 1243b23–28 erzählt sie unter dem Titel:
‚Der König und der Sänger‘. Danach bestand das ‚Honorar‘ allerdings nicht
in der Lust am eigenen Gesang, sondern in der Vorfreude auf die Bezah-
lung. Plutarch schreibt diese Geschichte Dionysios dem Tyrannen zu, der
dem Sänger zudem ein ungeheuer hohes Honorar versprochen haben soll
(Moralia, 333 f.).
(3) 1164a22–33 „Wer von beiden soll nun aber den Wert festsetzen – wer zu-
erst gibt (proiemenos) oder wer zuerst annimmt (prolabôn)?“: Die allgemeine
Frage, ob der Geber oder der Empfänger den Wert einer Leistung festlegen
sollte, ist in VIII 15, 1163a9–23 zugunsten des Nutzens des Empfängers ent-
schieden worden. Wie die Ausdrucksweise mit pro- nahelegt, hat ein Aus-
tausch bereits stattgefunden, ohne dass zuvor ein Preis ausgemacht worden
ist. Vielmehr hat der eine etwas angeboten, der andere ist darauf eingegangen.
Buch IX, Kapitel 1 869
(3.1) 1164a24 „Das habe, sagt man, auch Protagoras getan“: Dass Protago-
ras eigentümliche Honorierungsmodalitäten hatte, sagt auch Platon in dem
nach dem berühmten Sophisten benannten Dialog (Prot. 328b–c), dort aller-
dings mit dem Zusatz, Protagoras habe zwar einen gewissen Betrag gefor-
dert, es dem Schüler aber überlassen, weniger zu bezahlen, nachdem er in
einem Tempel eidlich bekundet hatte, wie viel ihm der geleistete Unterricht
tatsächlich wert war. Da Protagoras mit diesem Verfahren sehr reich gewor-
den sein soll, scheinen sich viele gescheut zu haben, öffentlich als Knauser
aufzutreten. Andere Lehrer bestehen dagegen von vornherein auf einem fes-
ten Honorar, wie Aristoteles mit dem Zitat aus Hesiod andeutet (vgl. Werke
und Tage 370: „einem befreundeten Mann (philôi) werde der versprochene
Lohn zuteil“).
(3.2) 1164a27–33 „Diejenigen aber, die das Geld im Voraus annehmen und
dann nichts von dem tun, was sie zugesagt haben“: Andere Sophisten schei-
nen auf Vorausbezahlung bestanden zu haben, ohne ihre vollmundigen Ver-
sprechen einzulösen. Ob man sich nur über sie beklagen, sondern sie auch
anklagen konnte, ist unsicher. Mit enklêmata können sowohl bloße Vor-
würfe gemeint sein, wie auch zivilrechtliche Klagen (LSJ sv. II). Aristote-
les schätzt zwar die Sophisten ebenso wenig wie sein Lehrer Platon, hält
sie aber eher für unfähig als für politisch gefährlich, wie auch sein Urteil
über ihre Unfähigkeit als Lehrer der politischen Wissenschaft bestätigt
(X 10, 1180b35 f.; 1181a12–23). Er zielt wohl eher auf Isokrates als auf die
alten Sophisten ab.
(4) 1164a33–b6 „Wo über die Leistung keine Abmachungen bestehen“: Un-
ter Tugendhaften kann es zu Vorwürfen bei ‚Vorleistungen‘ ohne Abma-
chung nicht kommen, weil jeder ohnehin das Richtige tun wird. Der Wert
des Gegebenen bestimmt sich, wie auch sonst unter Tugendhaften, durch
die Absicht des Handelnden. Falls dies nicht nur eine Wiederholung ist (vgl.
VIII 15, 1163a21–23), könnte sich Aristoteles auf Lehrer beziehen, die, an-
ders als die Sophisten, andere deswegen etwas lehren, weil es ‚schön‘ ist.
Für diese Annahme spricht jedenfalls, dass er die Philosophie als Beispiel
für eine Leistung anführt, für die es gar keine angemessene Gegenleistung
geben kann.
(4.1) 1164b2 f. „Und so sollte man sich offenbar auch denen gegenüber ver-
halten, die einem die Philosophie vermittelt haben (tois philosophias ko-
inônêsasin)“: Dies ist die einzige Stelle, an der Aristoteles das Augenmerk
seiner Leser auf die grundsätzlichen Verdienste von Philosophielehrern und
damit auch auf seine eigenen lenkt. Die Worte sind offenbar sorgfältig ge-
wählt. Denn die Rede ist nicht, wie bei Protagoras, von ‚Lehre‘, sondern
von ‚Gemeinschaft‘. Auch eine Philosophenschule ist nämlich eine Gemein-
schaft (koinônia). Dazu ist daran zu erinnern, dass Aristoteles in seiner Vor-
870 Kommentar
lesung über Ethik nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch seine Hö-
rer gut zu machen verspricht (II 2, 1103b26–30). Er hat anscheinend, so wie
Platon, für den Unterricht kein Geld genommen (vgl. Lynch 1972; Natali
2013). Ehren bezeugte man nicht allein durch ehrerbietiges Verhalten, son-
dern auch in Form von Preisgedichten oder von Weihegeschenken in Hei-
ligtümern.
(5) 1164b6–21 „Wo das Geben jedoch nicht von dieser Art ist, sondern auf
Gegenleistung aus ist (epi tini)“: Auch in diesem Fall gibt es keine vorhe-
rigen Vereinbarungen, wohl aber das Verständnis, dass es sich um ein quid
pro quo handelt. Aristoteles nimmt hier also die Frage wieder auf, die er
zwar oben bereits angesprochen (1164a22 f.), aber noch nicht allgemein be-
antwortet hat. Dass er sich hier um allgemeine Lösungen bemüht, bedeutet
nicht, dass er menschlichen Beziehungen gegenüber grundsätzlich pessimis-
tisch eingestellt ist (Pakaluk 1998, 154), sondern ist nur der Tatsache ge-
schuldet, dass hier die Frage des fairen wechselseitigen Austauschs in Frage
steht, ein Aspekt, der in der Analyse der Charaktertugenden sonst nicht
zum Tragen kommt.
(5.1) 1164b12–16 „Auch bei Käufen geht man offensichtlich so vor“: Die
Annahme ist, dass der Kauf bereits abgeschlossen wurde, ohne dass zuvor
ein Preis festgesetzt wurde. Findet der Verkäufer den ihm gebotenen Preis
zu niedrig, kann er mancherorts nicht vor Gericht gehen, weil der Kauf auf
Vertrauensbasis beruht und solche Abmachungen entsprechend abzuschlie-
ßen sind (zu derartigen Geschäften vgl. auch VIII 15, 1162b29–31).
(5.2) 1164b16–21 „Meistens wird nämlich eine Sache, von denen, die sie be-
sitzen, und denen, die sie haben wollen, nicht gleich hoch eingeschätzt“:
Derartige psychologische Überlegungen finden sich bei Aristoteles ver-
schiedentlich (vgl. VIII 15, 1163a12–16). Da jeder das Eigene für besonders
wertvoll hält, ist der Geber versucht, den Wert der Sache besonders hoch an-
zusetzen. Der Empfänger hat umgekehrt die Tendenz, ihren Wert möglichst
niedrig einzuschätzen. Zwar besteht Aristoteles weiterhin darauf, dass es der
Bedarf des Empfängers ist, der den Wert festsetzt, empfiehlt aber, wiederum
aus psychologischen Gründen, dass diese Festlegung vor dem Austausch zu
geschehen hat, weil die Wertschätzung auf Seiten des Empfängers vor der
Besitznahme eine andere sein könnte als hinterher.
Buch IX, Kapitel 2 871
(1) 1164b22–30 „Eine Schwierigkeit (aporia) liegt aber auch in Fragen wie
der, ob man alles dem Vater zukommen lassen und ihm in allen Stücken
gehorchen soll“: Der Vater wird bei Aristoteles vielfach als höchste Auto-
rität nächst den Göttern behandelt. Dass seine Autorität nicht unbegrenzt
ist, zeigt die rhetorisch gemeinte Frage (die an den platonischen Sokrates
erinnert), ob man nicht im Krankheitsfall den Arzt und im Kriegsfall den
kompetenten Feldherrn (dem Vater gegenüber) vorziehen soll. Vor ernst-
hafte Schwierigkeiten stellen aber Entscheidungen wie die, ob man eher ei-
nem Freund oder einem Guten helfen soll, eher eine Wohltat erwidern oder
einem Gefährten einen Gefallen tun soll. Dass einfache Regeln nicht grei-
fen, zeigt der Verweis auf die unterschiedlichen Kriterien, die es zu berück-
872 Kommentar
sichtigen gilt: einerseits die Größe (megethos) und Kleinheit (mikrotês) einer
Handlung, andererseits ihre Schönheit (kalon) und Notwendigkeit (anan-
kaion). Größe und Kleinheit könnten sich auf das Ausmaß der Verpflich-
tung, d.h. auf die Nähe des Verhältnisses beziehen, aber auch auf die Be-
deutung der Handlungen als solcher. Jedenfalls betreffen sie Konflikte, die
sorgfältige Abwägungen erfordern. Die sonst bei Aristoteles in der Sekun-
därliteratur oft vermissten moralischen Konflikte haben also durchaus ih-
ren Platz. Ihre Erörterung im Zusammenhang mit der Freundschaft liegt
deswegen nah, weil hier nicht nur wechselseitige Beziehungen im Zentrum
stehen, sondern auch Unterschiede zwischen Personen berücksichtigt wer-
den, während die allgemeinen Kennzeichnungen von Tugenden und Lastern
Unterschiede zwischen Personen nicht berücksichtigen.
(2) 1164b30–1165a14 „Dass man nicht alles ein und derselben Person ge-
ben soll“: Bei seiner Erwiderung auf die Aporien beruft sich Aristoteles zu-
nächst auf Offensichtliches: Natürlich soll man niemanden – auch den Vater
nicht – alles bestimmen lassen. Dessen Befehlsgewalt findet ihre Grenzen
am Fachwissen. Ferner hat die Erwiderung einer Wohltat Priorität vor einer
Gefälligkeit für einen Gefährten, die Rückzahlung eines Darlehens vor ei-
nem Geschenk an einen Freund. Dass es auch Ausnahmen von solchen Re-
geln gibt, begründet Aristoteles mit Verweis auf eine Reihe von Dilemmas,
die er für einschlägig hält.
(2.1) 1164b34–1165a2 „Muss man etwa jemanden, der einen von Räubern
losgekauft hat, auch seinerseits loskaufen“: Das Freikaufen von Menschen
aus den Händen von Piraten oder Räubern war eine wichtige Pflicht, ebenso
wie auch die, den Freikäufern ihr Geld zurückzuerstatten. Bei Unterlassung
konnte man in Athen sogar dem Freikäufer als Sklave zugesprochen werden
(vgl. MacDowell 1978, 79 f.). Aristoteles konstruiert dazu verschiedene wei-
tere Probleme. (i) Wie ist grundsätzlich schlechten Menschen gegenüber zu
verfahren? (ii) Ist die Summe auch dann zurückzuerstatten, wenn der Los-
käufer nicht in Gefangenschaft ist, während der eigene Vater freizukaufen
ist? Zu (i) äußert sich Aristoteles nicht näher, (ii) sieht er als evident an: Den
Vater loszukaufen ist sogar noch wichtiger, als sich selbst freizukaufen.
(2.2) 1165a2–7 „Zwar ist, wie gesagt, im Allgemeinen (katholou) zurückzu-
erstatten, was man schuldet“: Wie diese Beispiele zeigen, geht Aristoteles
von allgemeinen Regeln aus, deren Nichtanwendung jeweils zu begründen
ist. Kriterien sind: die Würdigkeit der jeweils betroffenen Person, die Art
der Verpflichtung, die Schönheit oder die Notwendigkeit der Handlung.
(2.3) 1165a7–14 „Auch muss man manchmal jemandem, der einem ein Dar-
lehen gegeben hat, nicht seinerseits ein Darlehen geben“: Die Ausnahme
wird damit begründet, dass bei einem Schlechten keine Aussicht besteht,
das Darlehen zurückzubekommen, während der Schlechte dagegen alle
Buch IX, Kapitel 2 873
(3) 1165a14–36 „Dass man nicht allen dasselbe zurückgeben und auch nicht
alles dem Vater geben soll, so wie man auch dem Zeus nicht alles opfert,
ist offensichtlich“: Es folgt ein Verweis auf einen allgemein akzeptierten
Verhaltenscode, wonach unterschiedliche Freundschaftsverhältnisse unter-
schiedliches Verhalten erfordern. Etwas wirklich Neues im Vergleich zu den
Ausführungen über das Verhalten zu Familien und Freunden in Buch VIII
bringt dieser Abschnitt nicht, sondern betont lediglich, dass unterschiedli-
che Maßstäbe anzulegen sind, die einerseits der Nähe der Beziehungen, an-
dererseits dem Lebensalter des Betroffenen anzupassen sind.
(3.1) 1165a21–27 „Man sollte aber meinen, dass man vor allem den Lebens-
unterhalt der Eltern sicherstellen muss“: Die gesetzliche Verpflichtung, die
Eltern im Alter zu versorgen (gêrotrophia), hatte besonderes Gewicht. Weil
die Eltern die ‚Ursache des eigenen Seins‘ sind, sollten sie auch besondere
Ehren erfahren, wenn auch nicht die Art von Ehren, die den Göttern, einem
Weisen oder einem Feldherrn gebührt.
(3.2) 1165a25 „dem Vater nicht dieselbe Ehre wie der Mutter“: Dass die
Mutter weniger zu ehren ist als der Vater, wird in EE VII 11, 1244a13 f. er-
wähnt; über die Form der Ehrungen erfahren wir jedoch auch dort nichts.
Vermutlich hält sie sich im Rahmen der Anweisungen, die Aristoteles auch
für den Umgang mit Älteren und mit Verwandten gibt. Der Regelkanon, auf
den er sich dazu beruft, berührt teils äußerliche Umgangsformen, wie die
Ehrenbezeugungen gegenüber dem Alter, teils auch die innere Einstellung –
wie die Offenheit gegenüber Gefährten und Brüdern. In jedem Fall richtet
874 Kommentar
sich die Art der Verpflichtung nach der Nähe der Beziehung und betrifft so-
wohl Entscheidungen über Nützliches wie auch über Gutes.
(3.3) 1165a34 „Bei Menschen von der gleichen Art (homogenôn) fällt der
Vergleich leichter“: Da Aristoteles hier von Menschen aus ganz verschiede-
nen Gruppen spricht, Verwandten, Mitgliedern derselben Phyle oder Mit-
bürgern im Allgemeinen, dürfte nur gemeint sein, dass Differenzierungen
zwischen Menschen, die derselben Gruppe angehören, einfacher sind als
zwischen anderen Menschen.
(1) 1165a36–b12: Unproblematisch ist die Auflösung von Nutzen- und Lust-
freundschaften, wenn ihre Voraussetzung nicht mehr gegeben ist und keine
Täuschung vorliegt. (2) 1165b13–22: Bei Veränderungen des Charakters zum
Schlechten sind heilbare von unheilbaren Fällen zu trennen. (3) 1165b23–36:
Bei starker Verbesserung auf der einen Seite ist eine Freundschaft zwar nicht
mehr möglich, eine gewisse Anerkennung der alten Freundschaft aber ge-
boten.
(1) 1165a36–b12 „Als eine schwierige Frage erweist sich auch, ob man
Freundschaften mit Menschen, die nicht dieselben bleiben (diamenontes),
auflösen soll oder nicht“: Dass die Freundschaft auf der Beständigkeit der
Partner beruht, die äußeren wie die inneren Verhältnisse betreffend, ist schon
verschiedentlich erwähnt worden. Im Fall von Freundschaften, die nur dem
Nutzen oder der Lust gelten, ist mit Beständigkeit nicht zu rechnen, weil die
Betreffenden nur akzidentell Freunde sind und die Freundschaft nicht der
Person des anderen gilt (VIII 3, 1156a10–24: eudyalytoi). Solche Freund-
Buch IX, Kapitel 3 875
(2) 1165b13–22 „Wenn man sich aber mit jemandem als einem Guten an-
gefreundet hat, dieser sich jedoch zum Schlechten verändert hat“: Von der
Möglichkeit einer Veränderung des Charakters zum Schlechten hin war bis-
her nicht die Rede, sondern nur von der Schwierigkeit, einen einmal erwor-
benen schlechten Charakter zu verbessern (III 7, 1114a11–21). Hier ist zum
876 Kommentar
ersten Mal von der Möglichkeit einer deutlichen Verschlechterung die Rede.
Die Fortsetzung einer solchen Freundschaft ist auch deswegen problema-
tisch, weil damit zu rechnen ist, dass man sich dem schlechten Menschen
angleicht (vgl. VIII 2, 1155a32–35).
(2.1) 1165b17–22 „Muss man diese Freundschaft also sofort (euthys) auflö-
sen? Das ‚sofort‘ ist nicht zeitlich gemeint, sondern bedeutet, ‚ohne weiteres‘,
d.h. wenn es keine Chance auf Besserung gibt. In der Analyse der Charak-
tertugenden ist mehrfach zwischen heilbaren (iatos) und unheilbaren (ania-
tos) Arten von Schlechtigkeit unterschieden worden. So ist die Verschwen-
dungssucht leichter heilbar als der Geiz (IV 3, 1121a20–25; 1121b12–15),
und der Akratiker erweist sich, dem ersten Anschein entgegen, schließlich
doch dem Zügellosen gegenüber als leichter heilbar (VII 3, 1146a31–b2; 8,
1150a21 f. et pass.). Dies dürfte auch für die anderen Arten von Schlechtig-
keit gelten, solange die Betreffenden ihnen noch nicht ganz verfallen sind.
Welcher Art die Unterstützung sein kann, die zur Heilung führt, wird nir-
gends näher spezifiziert. Die Bemerkung, die Hilfe solle eher dem Charakter
als dem Besitz des Freundes zugutekommen, legt nah, dass Ermahnungen,
Belobigungen sowie die Anleitung zu entsprechendem Tun und gemeinsa-
mes Handeln gemeint sind.
(3) 1165b23–36 „Wenn aber der eine derselbe bleibt, während der andere
besser wird und ihn an Tugend weit übertrifft“: Die Tugenden und Las-
ter werden zwar zumeist wie etwas Statisches behandelt; an einer Stelle hat
Aristoteles aber betont, dass der Abstand zwischen Freunden nicht zu groß
werden darf, weil es sonst fraglich wird, ob die Freundschaft weiter bestehen
bleiben kann (VIII 9, 1158b29–1159a12). Wie hier hinzugefügt wird, werden
Menschen bei einem allzu großen Abstand weder Erfüllung durch die glei-
chen Tätigkeiten finden (areskomenoi) noch die gleichen Erfahrungen als
lust- und schmerzvoll empfinden, so dass es kein beide Seiten zufriedenstel-
lendes Zusammenleben (syzên) mehr gibt (vgl. dazu VIII 6, 1157b19–24).
(3.1) 1165b31–36 „Soll man sich nun einem solchen Menschen gegenüber
nicht anders verhalten, als man es täte, wenn dieser nie ein Freund gewesen
wäre?“: Statt einer völligen Auflösung der Freundschaft empfiehlt Aristo-
teles, man solle in Erinnerung an die frühere Freundschaft doch einen Un-
terschied zwischen einem Fremden und einem früheren Freund machen
und diesem weiter gewisse Gefälligkeiten erweisen, solang keine übergroße
Schlechtigkeit im Spiel ist. Solche Nebenbemerkungen lassen erkennen, dass
Aristoteles humanes Verhalten ein Anliegen ist.
Buch IX, Kapitel 4 877
(1) 1166a1–10 „Die Merkmale der Freundschaft (ta philika) den Nächsten
gegenüber (tous pelas), durch die man auch die Arten der Freundschaften
bestimmt“: Die These, dass die Charakteristiken des Freundschaftlichen
auf den Beziehungen zu einem selbst beruhen, wird zunächst unverbind-
lich präsentiert (eoiken – ‚es scheint‘). Eine Bestätigung dieser These sieht
Aristoteles darin, dass sämtliche Merkmale der Freundschaft auch das Ver-
hältnis zu einem selbst kennzeichnen. Die Annahme, dass man nur das, was
man sich selbst gegenüber empfindet, auch anderen gegenüber empfinden
kann, wird zwar nicht explizit gemacht, die Annahme einer ‚Ausdehnung‘
der Freundschaft zu sich selbst auf andere wird aber in 8, 1168b5 f. bestä-
tigt. Eine Rechtfertigung des Katalogs der Merkmale der Freundschaft gibt
Aristoteles nicht, sondern er setzt dafür allgemeines Einverständnis voraus
(1166a3: ‚man bestimmt‘). Der Katalog enthält: (i) das Wünschen und Tun
des Guten oder vermeintlich Guten (VIII 2, 1155b31); (ii) das Wünschen,
der Freund möge existieren und leben (9, 1159a31 f.); (iii) den Wunsch, Zeit
zusammen zu verbringen (6, 1157b19–22); (iv) das Bevorzugen derselben
Dinge (7, 1157b26 f.); (v) das Teilen von Freude und Leid (6, 1157b23 f.).
(1.1) 1166a5 f. „so wie Mütter es ihren Kindern oder auch Freunde es einan-
der nach einem Zerwürfnis wünschen“: Die beiden Beispiele sollen zeigen,
dass es echte Freundschaft auch ohne Gegenseitigkeit geben kann. Das gilt
für Mütter, die ihre Kinder auch dann lieben und ihnen Gutes wünschen,
wenn diese sie gar nicht kennen (VIII 9, 1159a27–33). Der Fall der zerstritte-
nen Freunde (1166a6: proskekroukotes) ist insofern ähnlich gelagert, als auch
diese dem anderen weiterhin Gutes wünschen, obwohl sie keinen Umgang
miteinander mehr haben.
(2) 1166a10–29 „Jedes dieser Merkmale kommt aber dem Guten im Verhält-
nis zu sich selbst zu“: Während der Katalog der Merkmale zunächst eine
lose Aufzählung enthält (einige, andere …), soll der zweite Abschnitt Punkt
für Punkt zeigen, inwiefern sämtliche dieser Merkmale der Freundschaft auf
das Verhältnis des Guten zu sich selbst zutreffen. Es geht also um die Be-
stimmung von Dispositionen, die ein solches Selbstverhältnis auszeichnen.
Bisher ist der Besitz der Tugenden nur im Hinblick auf ihren Gegenstand
und die betreffenden Handlungen bestimmt worden, sieht man von gele-
Buch IX, Kapitel 4 879
gentlichen Hinweisen auf die Lust am eigenen Handeln bzw. auf Reue oder
Bedauern über schlechtes Handeln ab. Wie sich hier zeigt, gehört zur Tu-
gend aber auch die Übereinstimmung mit sich selbst, d.h. das Bewusstsein
und die Wertschätzung der Tugend.
(2.1) 1166a12 f. „Die Tugend und der Gute scheinen aber, wie gesagt, für al-
les das Maß (metron) zu sein“: Der Verweis bezieht sich auf III 6, 1113a25–
33: Maß (metron) und Richtschnur (kanôn) in allen Fällen ist der Gute. Der
Gute ist fähig, im Hinblick auf jede Charaktertugend das Schöne und Ange-
nehme zu erkennen. Er ist das Maß, so wie der Gesunde das Maß dafür ist,
was für den Körper gesund ist.
(2.2) 1166a13–15 „Der Gute stimmt nämlich mit sich selbst überein (ho-
mognômonei) und strebt mit ganzer Seele nach denselben Dingen“: Diese
Übereinstimmung im Denken mit sich selbst führt dazu, dass die Entschei-
dungen, die der Betreffende trifft, in sich konsistent sind, weil es keine Un-
stimmigkeiten innerhalb seiner Seele gibt. Zudem wird auch alles so ausge-
führt, wie es der Gute für sich selbst wünscht. Gefragt ist also keine bloß
passive Harmonie innerhalb der Seele, sondern die Übereinstimmung be-
trifft auch die Gründe für das Handeln. Jedes Denken ist daher zugleich ein
reflektierendes Denken.
(2.3) 1166a16–19 „Er tut das um seiner selbst willen, nämlich seinem den-
kenden Teil zuliebe; denn dieser scheint das Wesen (hoper) eines jeden zu
sein“: Hoper estin heißt wörtlich, ‚das, was etwas ist‘, also das Wesen (vgl.
Cat. 5, 3b36). Dass Menschen sich durch die Fähigkeiten zum Denken von
den Tieren unterscheiden, gehört zu den Grundvoraussetzungen der Ethik.
Dass das Denken auch das Wesen des Einzelnen ausmacht, ist zuvor nicht
zur Sprache gekommen, weil der Einzelne qua Einzelner nicht Gegenstand
der Untersuchung war. Eine Freundschaft setzt nun aber zwei unabhängige
Instanzen voraus. Diese gilt es daher auch beim Selbst auszumachen. Da der
nicht-rationale, affektive Teil nicht als eine dieser beiden Instanzen infrage
kommt (pace Pakaluk 1998, 170 f.), dürfte mit ‚Er‘ die Person als ganze ge-
meint sein, die sich die Belange der Vernunft besonders angelegen sein lässt.
(2.4) 1166a17–20 „Auch wünscht er, zu leben (zên) und erhalten zu blei-
ben (sôzesthai)“: Dass das ‚Sein‘ (to einai) ein Gut ist, wird verschiedentlich
in der Diskussion der Freundschaft hervorgehoben. So sind die Eltern die
größten Wohltäter, weil man ihnen das Sein verdankt (VIII 13, 1161a16 f.;
IX 2, 1165a23). Wenn der Gute das Sein in erster Linie demjenigen Teil
wünscht, mit dem er denkt, so besteht eben darin der entscheidende Unter-
schied zu allen anderen Lebewesen, die zwar auch an ihrem Leben hängen,
weil schon das Leben als solches ein Gut ist, einen denkenden Teil aber nicht
haben (9, 1170a25–b19).
880 Kommentar
(3) 1166a20–29 „Niemand würde aber wählen, ein anderer zu werden und
als jenes Gewordene (ekeino to genomenon) alles zu haben“: Zur Bestäti-
gung dafür, dass für jeden das eigene Selbst der unverzichtbare Bezugspunkt
ist, wird angeführt, dass niemand irgendein Gut zu dem Preis eintauschen
würde, nicht mehr er selbst zu sein. Das Ungewohnte an dieser These und
die komprimierte Abfassung des Arguments haben offensichtlich zu Ab-
weichungen in der Überlieferung geführt, wie der Apparat bei Susemihl
zeigt (der freilich mit Ramsauer die ganze Passage als Interpolation athe-
tiert). Bywaters Athetese von ekeino to genomenon glättet zwar den Text,
nimmt ihm aber auch die besondere Nuance, dass jenes hypothetische ‚Ge-
wordene‘ dann dasjenige wäre, was das Gute hätte. Sämtliche Versionen sind
sich aber darin einig, dass für jeden das eigene Sein ein Gut ist und dass nie-
mand sich alles Gute um den Preis wünschen würde, nicht mehr er selbst zu
sein. Deutet man den Verweis auf Gott als Parenthese, dann ist damit nur er-
klärt, dass mit ‚alles‘ die Güter gemeint sind, die Gott besitzt. Lässt man die
Parenthese weg, dann ist es Gott, der das Gute hat, aber derjenige bleibt, der
er ist. Die Bemerkung über Gott ist aber am besten als ein Einschub zu ver-
stehen, denn die nachfolgende Feststellung, dass jeder Mensch in erster Li-
nie sein denkendes Element ist, schließt nicht an sie an (vgl. die ausführliche
Darstellung der verschiedenen Möglichkeiten bei Stewart 1892, II 357–361).
Aristoteles geht es nicht nur um die psychologische Überlegung, dass
Menschen vor einer Identitätsaufgabe zurückschrecken, was immer der
Lohn dafür sein mag, sondern auch um das begriffliche Problem, dass ein
solcher Wunsch für das eigene Selbst inkohärent ist: Wird man ein anderer,
so gibt es dieses Selbst nicht mehr, dem der Wunsch gilt. Dass die Identität
bei allem Wünschen gewahrt sein muss, hat Aristoteles zuvor schon für ei-
nen Freund postuliert: Einem Freund soll man das höchste Gut nicht wün-
schen, d.h. ein Gott zu werden; vielmehr, soll er der bleiben, der er ist, näm-
lich der Mensch, der ein Freund sein kann (VIII 9, 1159a5–12).
(3.1) 1166a22 f. „Jeder dürfte aber ebendas sein, was denkt (to nooun), oder
doch in erster Linie (malista)“: Der Erklärung für den Wunsch, derselbe zu
bleiben, fügt dieser Nachsatz nichts Neues hinzu. Er bekräftigt nur noch-
mals, dass das Selbst des Guten in erster Linie das rationale Selbst ist. Auf
diesen Punkt kommt Aristoteles nicht nur mehrfach zurück, sondern er ver-
wendet dabei auch unterschiedliche Ausdrücke für das Denkvermögen (to
dianoêtikon, hôi phronei, to nooun). Damit soll eine Differenzierung inner-
halb des rationalen Vermögens vermieden werden, d.h. eine Unterscheidung
zwischen praktischem und theoretischem Vermögen: Als Mensch ist man
immer beides zugleich; es ist der beste Teil.
(3.2) 1166a23–27 „Auch seine Zeit will ein solcher Mensch mit sich selbst
verbringen“: Dass keine Privilegierung des theoretischen Seelenteils gemeint
ist, bestätigen die weiteren Ausführungen zum Wert des Lebens mit sich
Buch IX, Kapitel 4 881
selbst. Denn neben die Verfügung über den Reichtum an Stoff zum Nach-
denken (1166a26: theôrêmatôn d’ euporei) tritt auch die Freude am eigenen
Handeln, und zwar in zwei Zeitdimensionen: Man erfreut sich an der Erin-
nerung an vergangene ebenso wie an der Hoffnung auf zukünftige Hand-
lungen (praxeis).
(3.3) 1166a27–29 „Ferner teilt er Freude und Leid im höchsten Maß mit sich
selbst“: Über die Trivialität hinaus, dass man stets seine eigenen Empfindun-
gen teilt, geht es auch um die Kontinuität, Kohärenz und Richtigkeit dieser
Empfindungen; denn nur wer sich selbst gleich bleibt, unterliegt diesbezüg-
lich keinen Schwankungen, billigt also jederzeit seine Gefühle über Vergan-
genes und hat daher auch nichts zu bereuen.
(4) 1166a29–b2 „Da der Gute also im Verhältnis zu sich selbst all diese Ein-
stellungen hat“: Da Freunde weder Duplikate noch Projektionen des eige-
nen Selbst sein sollen, ist es Aristoteles darum zu tun, dass man aufgrund
der Einstellung, die man zu sich selbst hat, Entsprechendes auch bei einem
Freund verstehen und sich darüber austauschen kann. Dass es sich um ein
wechselseitiges Verhältnis handelt, wird aus der Versicherung deutlich, auch
Freunde seien solche, die ‚diese Einstellungen haben‘ (1166a32 f.).
(4.1) 1166a31 f. „denn der Freund ist ein anderes Selbst (allos autos)“: Aris-
toteles tut hier etwas Revolutionäres, sowohl die Sprache wie auch die Sache
betreffend. Zuerst zur Sprache: Einen Ausdruck ‚das Selbst‘ in dem heute
verwendeten Sinn gibt es im Griechischen nicht; autos wird sonst als adjekti-
visches Pronomen entweder reflexiv zur Emphase wie etwa ‚er selbst‘ (ipse)
(z.B.: ‚der König selbst‘) oder in der Bedeutung von ‚derselbe‘ (idem) (z.B.:
‚derselbe König‘) verwendet. Auch der Trick, mit Hilfe des Artikels ein
Abstraktum zu erzeugen, funktioniert hier nicht: To auto würde nicht ‚das
Selbst‘ bedeuten, sondern ‚dasselbe‘. Den Ausdruck ‚ein anderes Selbst‘ hat
Aristoteles anscheinend eigens geprägt, denn so hat er bereits das Verhältnis
der Eltern zu ihren Kindern gekennzeichnet: Sie lieben sie wie andere Selbste
(VIII 14, 1161b28 f.). An der in dieser Hinsicht ausführlicheren Parallelstelle
in EE beruft sich Aristoteles dazu auf ein Sprichwort: „ein anderer Herakles,
ein anderes Selbst (allos Hêraklês, allos autos)“ (VII 12, 1245a30). Und MM
II 15, 1213a10–13 führt dazu aus: „Man schaut den Freund an, wer er ist und
von welcher Art, und denkt, dass er wie ein anderes Ich ist (toioutos hoios
heteros einai egô); man macht ihn zum Freund, so wie das Sprichwort sagt:
Er ist ein anderer Herakles, ich bin ein anderer (solcher) Freund – allos philos
egô.“ Spätere Belegstellen sprechen allerdings dafür, dass das Sprichwort nur
gelautet hat: „Dieser ist ein anderer Herakles“ (allos houtos Hêraklês); denn
Plutarch, Theseus 29, 3 kennzeichnet so Theseus als Mitstreiter von Jason
und Meleager; gemeint ist ein anderer, aber ähnlich starker Mann wie Hera-
882 Kommentar
kles. Den Ausdruck ‚ein anderes Selbst‘ hat anscheinend erst Aristoteles ge-
prägt.
Mit der Konstruktion von allos autos schafft Aristotles also eine Art
Oxymoron (‚ein anderer man-selbst‘). Diese prägnante Redewendung
scheint in der Antike übrigens keine Nachahmer gefunden zu haben. Auch
das lateinische ipse wird nur reflexiv oder emphatisch, aber nicht absolut ge-
braucht – für alter ipse findet sich im klassischen Latein kein Beleg; erst die
lateinischen Aristoteles-Übersetzer des Mittelalters haben ihn eingeführt.
Der Ausdruck ‚das Selbst‘ hat jedoch erst in der Neuzeit in all denjenigen
Sprachen Verbreitung gefunden, in denen eine solche Konstruktion möglich
ist. So kennt etwa das Französische nur ‚lui-même‘; ‚le même‘ bedeutet ‚der-
selbe‘. Zum Begriff des ‚Selbst‘, seiner Entwicklung und seiner Bedeutung
vgl. die Ausführungen von Stern-Gillet 1995, Kap.1.
Auch der Sache nach ist die Vorstellung, ein Freund sei ein anderes Selbst,
revolutionär, d.h. dass man dasselbe Verhältnis zu ihm wie zu sich selbst hat.
Auf die Frage, wie das zu verstehen ist, kommt Aristoteles aber erst später
zurück (Kap. 9). Vorerst bleibt er bei der Freundschaft mit sich selbst.
(4.2) 1166a33–b2 „Ob es aber eine Freundschaft mit sich selbst gibt oder
nicht, mag für den Augenblick dahingestellt bleiben“: Hier stellt Aristote-
les nicht etwa alles in Frage, was er zuvor sorgsam aufgebaut hat, sondern
weist nur darauf hin, dass die Rede von der Freundschaft mit sich selbst
cum grano salis zu verstehen ist. Denn Freundschaft als solche ist eine Re-
lation zwischen mindestens zwei Personen. In einem erweiterten Sinn kann
man aber von einer Freundschaft zwischen sich selbst und ‚seinem besten
Teil‘ sprechen. Es scheint Aristoteles in erster Linie auf die Isomorphie der
Verhältnisse anzukommen, die es rechtfertigt, einen Freund als ein ‚anderes
Selbst‘ zu kennzeichnen, an dessen Wohlergehen man ebenso interessiert ist
wie am eigenen.
(4.2.1) 1166a35 „als man zwei oder mehr ist“: Der Text ist unsicher. Nach
der hier vorausgesetzten Interpunktion und Konstruktion ist die Rede von
zwei oder mehr Seelenteilen (so auch EE VII 6, 1240a20; MM II 11, 1211a33–
35). Die Vorsicht in der Ausdrucksweise erklärt sich daraus, dass Aristoteles
keine Abtrennbarkeit dieser Seelenteile vorsieht und sich manchmal über-
haupt reserviert äußert, was die Rede von ‚Teilen‘ der Seele angeht (De an.
III 9, 432a22–b7). Er sieht in den betreffenden Vermögen aber hinreichend
differenzierte Instanzen, derart, dass der rationale Seelenteil dem nicht-ra-
tionalen Teil ‚Anweisungen‘ geben und letzterer auf ersteren hören oder
sich ihm widersetzen kann (I 13, 1102b13–1103a3). Von einem gegenseitigen
Wohlwollen etc. der beiden Vermögen kann natürlich nicht die Rede sein (in
EE VII 6, 1240a8–22 wird diese Frage als Problem erörtert).
Die alternative Lesart (Grant 1866, 290; Stewart 1892, II 362) geht da-
von aus, dass von ‚zwei oder mehr Merkmalen der Freundschaft‘ die Rede
Buch IX, Kapitel 4 883
ist und Aristoteles sagen will, dass es für die Annahme der Existenz einer
Freundschaft zu sich selbst spricht, wenn zwei oder mehr der genannten
Merkmale zutreffen. Da Aristoteles sich aber um die Verteidigung seines
ganzen Arsenals von Merkmalen bemüht, wäre es merkwürdig, dass er sich
mit ‚zwei und mehr‘ Merkmalen begnügen sollte.
(4.2.2) 1166b1 f. „dass man das Übermaß der Freundschaft mit der zu sich
selbst zu vergleichen pflegt“: Diese prima facie unklare Bemerkung wird
verständlich, wenn man philia mit ‚Liebe‘ statt mit Freundschaft übersetzt.
Übermäßige Liebe wird oft mit Selbstliebe verglichen. Auch im Deutschen
spricht man davon, dass man einen anderen mehr liebt als sich selbst oder
ebenso sehr liebt wie sich selbst. Die Frage nach der Freundschaft zu sich
selbst im Sinne von Selbst- oder Eigenliebe wird in Kap. 8 noch eingehend
erörtert.
(5) 1166b2–11 „Die genannten Merkmale gibt es, wie es scheint, aber auch
bei der Mehrzahl der Menschen (tois pollois)“: Hier betont Aristoteles, dass
die Möglichkeit einer Freundschaft mit sich selbst nicht auf die Guten be-
schränkt ist, sondern allen Menschen offensteht, die ‚mit sich zufrieden sind
und sich für gut halten‘. Es ist eine der seltenen Stellen, an denen er deut-
lich macht, dass das Gros der Menschheit kein Leben in Unzufriedenheit
und Unfrieden mit sich selbst führt, sondern zumeist mit sich zufrieden ist.
Auf Seiten der ‚Schlechten‘ werden drei Arten unterschieden: die gemäßigt
Schlechten, die mit sich zufrieden sind, ferner diejenigen Schlechten, die mit
sich uneins sind, und die Grundschlechten, die so mit sich zerfallen sind,
dass sie ihrem Leben ein Ende machen wollen. Die Kuriosität einer solchen
Abstufung unter den Schlechten erklärt sich vermutlich auch daraus, dass
ganz Schlechte, die ihrem Leben selbst ein Ende setzen, selten sind.
(5.1) 1166b6–11 „Auch Schlechte haben sie aber kaum (schedon)“: Dass
auch die (bloß) Schlechten zwar zumeist nicht die Merkmale der Freund-
schaft mit sich selbst aufweisen, aber dennoch ein Unterschied zwischen ih-
nen und den Grundschlechten besteht, lässt sich der Tatsache entnehmen,
dass die gemäßigt Schlechten mit den Unbeherrschten, wenn nicht gleich-
gesetzt, so doch verglichen werden: Wie diese haben sie richtige Vorstellun-
gen über das, was gut für sie ist, handeln aber nicht entsprechend, sondern
lassen sich teils durch die Lust, teils aber auch durch andere Motive wie
durch Feigheit oder Trägheit davon abbringen. Sie verhalten sich daher ähn-
lich wie die Akratiker. Dass sie Akratiker sind (G/J II 2, 733–735 et al.), ist
aber deswegen unwahrscheinlich, weil die Akratiker nicht ‚mit sich selbst
uneins‘ (diapherontai) sind, „indem sie zwar das eine begehren, das andere
aber wünschen“. Bei Akratikern stehen Vernunft und Begierde deswegen
nicht in einem direkten Konflikt, weil die Vernunft zur fraglichen Zeit ‚in-
operabel‘ ist. Bei den Schlechten gibt es dagegen Konflikte, derart dass die
884 Kommentar
(6) 1166b11–29 „Wer aber viele Untaten begangen hat und seiner Verrucht-
heit wegen verhasst ist, flieht sogar das Leben“: Hier trägt Aristoteles ver-
schiedene Gründe zusammen, die zeigen sollen, dass ganz Schlechte ein un-
glückliches Leben führen müssen, weil sie an sich selbst gar keinen Gefallen
finden. Sie erfüllen keines der Kriterien der Freundschaft mit sich selbst. Die
These, dass Schurken ihrem Leben selbst ein Ende setzen, wird hier zusätz-
lich damit begründet, dass sie vor dem Hass der Umwelt fliehen, weil sie
wissen, wie man sie und ihre Taten beurteilt. Sie leben daher auch in Angst
vor dem Hass der anderen. Für wie wahrscheinlich Aristoteles es hält, dass
das Laster seine eigene Strafe mit sich bringt so wie die Tugend ihren eigenen
Lohn, ist unklar. Auch in EE verweist er aber auf die angebliche Selbsttö-
tung der ganz Schlechten (VII 6, 1240b27). Aristoteles geht also noch weiter
als Platon, der die ganz Schlechten mit den Tyrannen gleichsetzt und ih-
nen zwar ein elendes Leben als Sklaven ihrer Lüste und in Angst vor ande-
ren Menschen zuschreibt, Selbstmord aber nicht unterstellt (Resp. IX 587a–
588a). In den Nomoi werden die ‚Unheilbaren‘ allerdings dazu aufgefordert,
sich das Leben zu nehmen (IX 854c).
(6.1) 1166b13–17 „Auch suchen die ganz Schlechten andere“: Schlechte su-
chen ihrer eigenen Gesellschaft zu entfliehen, um sich von der Erinnerung
an- und der Erwartung von weiteren Untaten abzulenken. Wenn Aristoteles
annimmt, dass auch die ganz Schlechten nicht gern an ihre Greueltaten er-
innert werden, so setzt er voraus, dass auch sie nicht außerhalb des Bereichs
des Menschlichen stehen, sondern die normalen Maßstäbe im Prinzip ken-
nen und in gewisser Weise auch anerkennen.
(6.2) 1166b17–27 „Weil sie auch nichts Liebenswertes (philêton) an sich
haben, empfinden sie keine Freundschaft zu sich selbst“: Hier werden ei-
nige der Merkmale der Freundschaft zu sich selbst aufgeführt, die der ganz
Schlechte nicht erfüllt: Anders als die Guten tun sie nicht alles ihrem bes-
ten Teil zuliebe, dem Denken, sondern ihren Begierden. Da auch Schlechte
einen rationalen Seelenteil haben, wissen sie das und können daher weder
Freude noch Leid mit sich selbst teilen.
(6.2.1) 1166b19–25 „weil ihre Seele in Aufruhr ist (stasiazei)“: Die Rede vom
Aufruhr in der Seele und ihrer Zerrissenheit, die das Leben nicht lohnt, er-
innert deutlich an Platon (Resp. IV 442a–445b; vgl. G/J II 1, 735; Dirlmeier
1956, 546 et al.). Da Aristoteles früher nicht auf die Frage eingegangen ist,
ob Schlechte – auf ihre Weise – ein in sich stimmiges und erfolgreiches Le-
ben führen können, kommt diese Anleihe bei Platon zunächst überraschend.
Denn die Erörterung von Tugenden und Lastern in Buch II hat den An-
schein erweckt, als halte der Schlechte – aufgrund seiner Disposition und
Buch IX, Kapitel 4 885
seiner Prinzipien – seine Lebensweise für richtig. Auch der Hinweis auf
die ‚Geschicklichkeit‘ (deinotês) und ‚Gerissenheit‘ (panourgia) in VI 13,
1144a22–28 lässt sich als ein Anzeichen für ein erfolgreiches Leben deuten.
Allerdings lassen sich nicht sämtliche Laster miteinander vereinbaren. So
widersprechen einander z.B. die Ziele von Geizigen, Ehrsüchtigen, Waghal-
sigen oder Zügellosen.
(6.2.2) 1166b24 f. „Schlechte Menschen sind nämlich voller Reue (metame-
leias gemousin)“: Diese Erklärung widerspricht der früheren Erklärung: der
Zügellose kenne, anders als der Akratiker, keine Reue (ametamelêtos), weil
er an seinen Prinzipien festhält und daher unheilbar ist, während der Akra-
tiker reuevoll und heilbar ist (VII 8, 1150a16–24; 9, 1150b29–35). Dass nun
der ganz Schlechte voller Reue sein soll, erscheint daher vielen Interpreten
wie ein Bruch in Aristoteles’ Moralphilosophie. Es ist jedoch darauf zu ver-
weisen, dass metameleia im Griechischen nicht notwendig moralische Kon-
notationen hat, sondern auch das Bedauern über unliebsame Konsequen-
zen bedeuten kann (dazu Stern-Gillet 1995, 86–89). An sich meint z.B. der
Zügellose weiterhin, dass er jeder Lust nachgehen sollte; er leidet aber an
den Konsequenzen solchen Verhaltens und daher bedauert er die jeweiligen
Ausschweifungen
Erklärungen dieser Art beantworten aber nicht die Frage, ob diese Dar-
stellung des Schlechten als eines chaotisch-unglücklichen Individuums und
nicht als eines überlegt-schurkischer Menschen mit den allgemeinen Prin-
zipien der aristotelischen Ethik vereinbar ist. Denn bei seiner Gegenüber-
stellung von Tugenden und Lastern ist Aristoteles zunächst davon ausge-
gangen, dass der Lasterhafte an Schlechtem ebenso seine Freude hat wie der
Tugendhafte an Gutem (II 2). Aufgrund seiner Dispositionen sollte er von
der Richtigkeit seiner schlechten Prinzipien eigentlich genauso überzeugt
sein wie der Gute von seinen guten und an den entsprechenden Handlungen
auch seine Freude haben (ähnlich Pakaluk 1998, 177).
Will man nicht annehmen, dass es nur dem Systemzwang geschuldet ist,
den Schlechten im Hinblick auf die Freundschaft in allen Stücken als das
Gegenteil des Guten darzustellen, bietet sich folgende Erklärung an: Ob-
wohl Aristoteles den Schlechten zunächst als das Gegenstück zum Guten
präsentiert hat, heißt das nicht, dass er anfangs davon ausgegangen ist, dass
das Leben des Schlechten spiegelverkehrt genauso erfolgreich sein kann wie
das Leben des Guten. Vielmehr legt das Ergon-Argument nahe, dass das
Leben des Schlechten auch für diesen selbst nicht erfolgreich und zufrie-
denstellend sein kann, weil es unmöglich ist, systematisch schlechte Ziele zu
verfolgen. Denn eine ‚schlechte‘ Vernunft kann für Aristoteles nur Unver-
nunft sein. Ein schlechter Baumeister baut schlechte Häuser, ein schlechter
Kitharaspieler macht schlechte Musik, und selbst wenn die Betreffenden das
anfangs nicht merken und daher eine Weile Gefallen an ihren Tätigkeiten
886 Kommentar
finden, kann das nicht von Dauer sein, sondern muss zu Unzufriedenheit
mit sich selbst führen. Daher ist ein Mensch, der systematisch falsche Ziele
im Leben anvisiert, kein glücklicher Mensch, wenn er seine rationale Fä-
higkeit, seine Geschicklichkeit, nur zur Umgehung des allgemein als rich-
tig Anerkannten einsetzen kann. Das grundsätzlich Bedenkliche am Porträt
des Schlechten besteht aber weiter. Denn alle Erfahrung spricht gegen die
Annahme, dass die großen Kriminellen und Tyrannen der Weltgeschichte
sämtlich unter ihren Machenschaften gelitten haben und leiden. Aristote-
les könnte freilich nur sagen wollen, dass für den Schlechten ein kohären-
tes Leben in einer wohlgeordneten Polis auf die Dauer nicht möglich ist,
sondern allenfalls in einer schlechten. Da der Schlechte weiß, dass er sich
verhasst macht, wenn er gegen Recht und Gesetz verstößt, muss er in einer
guten Gemeinschaft ständig Kompromisse eingehen bzw. hin- und herlavie-
ren zwischen dem, was er selbst wünscht und was andere von ihm erwarten
bzw. wogegen sie sich wehren. Erfolgreich kann unter solchen Umständen
eigentlich nur jemand sein, der ‚halbschlecht‘ ist, wie Sokrates gegen Thra-
symachos argumentiert (Resp. I 352c: hêmimochthêros). Aristoteles sieht of-
fensichtlich in der Schlechtigkeit eine Pervertierung all dessen, worauf es
im menschlichen Leben eigentlich ankommt, und kann sich dazu auf sei-
nen Grundsatz berufen, dass es im Leben ein in sich stimmiges Ziel (sko-
pos) geben muss. Aristoteles müsste also voraussetzen, dass auch der ganz
Schlechte eigentlich ein Leben in der Gemeinschaft und nicht das eines zu
Gemeinschaft ganz Unfähigen (apolis) wünscht, der schlechter ist als jedes
Tier, wie er in Pol. I 2, 1253a2–37 ausführt.
Für den weiteren Kontext ist aber signifikant, dass das Wohlwollen hier
nicht dem Nutzen oder der Lust gilt, sondern nur etwas Gutem.
(2) 1167a3–10 „Das Wohlwollen scheint also ein Anfang der Freundschaft
zu sein“: Aus Wohlwollen kann, muss aber keine Freundschaft werden, so
wie auch aus der Freude am Aussehen eines Menschen Verliebtheit entste-
hen kann, aber nicht muss (zur Bedeutung des Sehens für das Lieben vgl.
IX 12, 1171b29–32). Verliebtheit beruht auf zwei zusätzlichen Faktoren:
auf der Sehnsucht (pothein) nach dem Betreffenden in dessen Abwesenheit
(vgl. Platon, Crat. 420a) und auf dem Begehren (epithymein). Auch bei der
Freundschaft kommen zum Wohlwollen zwei weitere Faktoren hinzu: das
gemeinsame Tätigsein (symprattein) und die Bereitschaft, für den anderen
Beschwerliches auf sich zu nehmen (ochleisthai).
teles diese Unstimmigkeit nicht bemerkt zu haben, vielleicht auch, weil die
‚untätige‘ Freundschaft per se nicht auf Austausch aus ist.
(3.2) 1167a18–21 „Überhaupt entsteht Wohlwollen aufgrund einer gewissen
Tugend (aretê) und Anständigkeit (epieikeia)“:Wenn man jemandem, den
man nicht persönlich kennt und von dem man sich nichts verspricht, Gutes
wünscht, dann beruht dies auf der Anerkennung einer besonderen Leistung
oder einer bewundernswürdigen Eigenschaft.
muss durch Handeln (prakta) Erreichbarem gelten. (ii) Sie muss Dinge von
Bedeutung (megethos) betreffen, also keine Nebensächlichkeiten. (iii) Das
Resultat muss beiden Seiten oder allen zugutekommen. Damit ist nicht ge-
meint, dass alle dasselbe bekommen (hyparchein), sondern nur, dass die
Maßnahmen alle Beteiligten zufriedenstellen. Mit der Beschränkung der
Eintracht auf den Bereich des Praktischen, insbesondere des Politischen,
folgt Aristoteles dem allgemeinen Sprachgebrauch (ähnlich Pakaluk 1998,
181).
(1.3) 1167a30–32 „wenn es allen richtig erscheint, Ämter durch Wahl zu be-
setzen“: Die wichtigste Form der Eintracht gilt der Verfassung, wie Aristo-
teles mit dem Stichwort ‚Ämter durch Wahl besetzen‘ andeutet. Durch die
persönliche Wahl unterschieden sich Aristokratie und Oligarchie von der
radikalen Demokratie, in der fast alle Ämter durch das Los verteilt wurden.
(1.3.1) 1167a32 „Pittakos herrschen zu lassen, als er das auch selbst
wünschte“: Pittakos von Mytilene (ca. 650–570 v. Chr.) war einer der Sieben
Weisen. Er wurde zum Alleinherrscher gewählt, weil man ihm die Schieds-
richterschaft in Auseinandersetzungen zwischen Volk und Aristokratie zu-
traute (aisymnêtês, vgl. dazu Politik III 14, 1285a29–b1). Er hat dieses Amt
nach zehn Jahren von sich aus, gegen den Willen der Bürger, niedergelegt,
worauf die Streitigkeiten wieder aufgeflammt sein sollen.
(1.4) 1167a32–b4 „Wenn aber jede Seite die Herrschaft nur für sich selbst
wünscht“: Eintracht besteht nicht schon dann, wenn zwei insofern dasselbe
wollen, als jeder das betreffende Gute für sich selbst will.
(1.4.1) 1167a33 „wie die Brüder in den Phönizierinnen“: Diese Tragödie des
Euripides handelt vom Kampf der Söhne des Ödipus, Eteokles und Poly-
neikes, um die Macht in Theben. Beide Brüder hatten denselben Gedanken:
Jeder von beiden meinte, er selbst sei zur Herrschaft berechtigt.
(1.5) 1167a35 f. „das Volk (dêmos) wie auch die Guten (epieikeis)“: Im Allge-
meinen verwendet Aristoteles in EN epieikês als Synonym zu agathos oder
spoudaios im moralischen Sinn; in der Politik kennzeichnet er damit manch-
mal Mitglieder der Oberklasse, im Unterschied zum Volk. Hier geht es um
die Eintracht aller Bürger in der Frage, dass die Besten (aristoi) herrschen
sollen. Aristoteles war kein Freund der Demokratie, vor allem weil er die
Besetzung von Ämtern durch das Los nicht billigte. Er geht davon aus, dass
die persönliche Wahl im Sinne aller sein muss, wenn die Besten regieren sol-
len.
(1.6) 1167b2–4 „Die Eintracht erweist sich folglich als eine politische
Freundschaft“: Von homonoia ist allgemein in politischen Fragen die Rede.
Sie gilt dem Gemeinwohl, d.h. also dem, was allen nützt, und ist daher die
Grundbedingung der Freundschaft zwischen den Bürgern.
Buch IX, Kapitel 7 891
(2) 1167b4–16 „Eintracht dieser Art besteht aber zwischen den Guten (epi-
eikeis)“: Eintracht besteht nicht nur in der Übereinstimmung über ganz be-
stimmte Maßnahmen, sondern über das, was allgemein für die Gemeinschaft
gerecht und nützlich ist. Daher setzt Eintracht auch Beständigkeit voraus.
(2.1) 1167b6 f. „und fluten nicht hin und her wie der Euripos“: Obwohl eu-
ripos die allgemeine Bezeichnung für Meerengen ist, dürfte Aristoteles den
berühmten Euripos meinen, d.h. die Meerenge zwischen der Insel Euböa
und dem griechischen Festland. Außer den regelmäßigen Gezeitenwechseln
gibt es dort nämlich auch noch ganz irreguläre Strömungen. Da Aristote-
les in seinem letzten Lebensjahr auf seinem Landgut bei Chalkis lebte, liegt
nah, dass er sich auf den Euripos bezieht. Denn Meerengen (euripos) oder
den Euripos erwähnt er sonst äußerst selten (HA IX 37, 621b14; Meteor.
II 8, 366a23). Es gibt auch keine Belege dafür, dass dieser Ausdruck allge-
mein als Metapher für Meinungsschwankungen verwendet wurde.
(2.2) 1167b9–16 „Die Schlechten können dagegen nicht einträchtig sein“:
Dass schlechte Menschen nicht zur Freundschaft fähig sind, weil sie unbe-
ständig und in sich zerrissen sind, ist schon verschiedentlich zum Ausdruck
gekommen (bes. 4, 1166b2–29). Hier beruft sich Aristoteles allerdings nicht
auf die innere Zerrissenheit der ganz Schlechten, sondern scheint nur ‚nor-
mal Schlechte‘ im Auge zu haben, die darauf aus sind, vom Gemeingut ei-
nen zu großen, von gemeinsamen Lasten dagegen einen zu kleinen Anteil
zu erhalten.
(2.3) 1167b12–16 „Während jeder das Vorteilhafte für sich selbst wünscht,
beobachtet er seinen Nachbarn scharf (ton pelas exetazei)“: Diese Menschen
machen sich zu Advokaten des Gemeinwohls in dem Sinn, dass sie scharf
darüber wachen, dass sich die anderen an Recht und Gesetz halten. Da sie
das aber aus eigensüchtigen Gründen tun, führt das zu Zwietracht unter den
Bürgern, weil jeder die anderen zur Wahrung der Standards von Gerechtig-
keit zwingen will, die er selbst nicht einzuhalten bereit ist. Solche Betrach-
tungen über die politische Wirklichkeit sind bei Aristoteles selten, weil er
sich im Allgemeinen auf gute Verhältnisse beschränkt.
mehr Liebe entgegenbringen als die Betroffenen ihren Wohltätern. Wie sich
zeigt, geht es aber um mehr als um dieses Paradoxon.
Die gängige Erklärung, dass bei Wohltätigkeit ein Verhältnis wie zwi-
schen Gläubigern und Schuldnern herrscht, ersetzt Aristoteles durch eine
andere, bessere Erklärung, die zugleich deutlich macht, warum er hier den
Begriff der Wohltätigkeit ins Spiel bringt: In den Augen des Wohltäters ist
der Empfänger sein ‚Werk‘ (ergon), für das er die Liebe eines Schöpfers hegt,
während das ‚Werk‘, selbst wenn es lebendig sein sollte, keine solchen Ge-
fühle für seinen Schöpfer hegt. Im Werk manifestieren sich vielmehr Sein
und Wirken des Schöpfers. Wohltätigkeit beschränkt sich nicht allein auf die
materielle Unterstützung, sondern repräsentiert jede Art von Förderung.
Die Wohltat ist das ‚Werk‘ dessen, der sie getan hat, und in allen Fällen ist
das Tun besser als das Empfangen, so wie auch das Lieben besser ist als ge-
liebt zu werden. Zum ergon des Menschen gehören daher unter den Werken
der Tugenden auch die Werke der Freundschaft.
(1) 1167b17–28: Das Phänomen, dass Wohltäter ihre Empfänger mehr lieben
als diese sie, wird gemeinhin darin gesehen, dass hier ein Verhältnis wie zwi-
schen Gläubiger und Schuldner besteht. (2) 1167b28–1168a9: Eine bessere
Erklärung ist, dass Wohltäter im Empfänger ihr Werk sehen. (3) 1168a9–27:
Ganz allgemein ist das Tätigsein schön, das Empfangen dagegen bloß nütz-
lich, so wie Tun überhaupt besser ist als Leiden.
det. Die Künste haben bereits in der Einführung des Ergon-Arguments als
Analogie gedient (vgl. I 6, 1097b25–30 et pass.). Wenn Aristoteles an dieser
Stelle besonders die Dichter hervorhebt, die ihre Dichtungen über die Ma-
ßen lieben (vgl. IV 1, 1120b13 f.), so ist ihm nicht daran gelegen, die Ei-
telkeit der Dichter zu tadeln, sondern vielmehr, die Möglichkeit intensiver
Liebe zum eigenen Werk plausibel zu machen, die nicht allen Produkten
gegenüber gleich stark ist. Denn den Dichtern ist es in besonderem Maß um
die Vollkommenheit und Wirkung ihrer Werke zu tun (vgl. Platon, Symp.
209a–e).
(2.1.1) 1167b34 f. „als das Werk ihn lieben würde, wenn es beseelt wäre“:
Wenn Aristoteles hier nicht auf lebendige Produkte rekurriert, obwohl er
doch zuvor erwähnt hat, dass Eltern ihre Kinder mehr lieben als diese sie
(VIII 14, 1161b17–29), so vermutlich, weil er die Universalität des Prinzips
betonen will, das für jedes menschliche Tun gilt. Eine Anspielung auf Pyg-
malion kann darin nicht liegen, denn allem Anschein nach verdankt sich die
Geschichte dieses Bildhauers, der sich in sein Werk verliebt, das Aphrodite
zum Leben erweckt, erst dem Erfindungsgeist Ovids (Metamorphosen X).
(2.2) 1168a5–9 „Der Grund dafür ist, dass für alle ihr Sein wählens- und lie-
benswert ist, wir aber durch Tätigsein sind, indem wir leben und handeln“:
Die Intention der Argumentation, dass für alle Menschen das Sein im Tätig-
sein besteht, ist zwar insgesamt klar, die Einzelheiten sind aber umstritten,
wie insbesondere die Unstimmigkeiten über den Text von a6–8 zeigen. Der
Unterschied in der Deutung beruht darin, ob man (i) energeia im Sinn von
Aktualität/Wirklichkeit und den Dativ als den des Aspektes versteht oder
aber (ii) energeia durchweg im Sinn von Aktivsein/Tätigsein versteht und
von einem instrumentalen Dativ ausgeht (‚aufgrund des Aktivseins‘). In der
Übersetzung wird (i) vorausgesetzt:
(1) Für uns alle ist das Sein wählens- und schätzenswert.
(2) Wir sind, insofern wir in Aktualität sind, nämlich sofern wir leben und
handeln.
[(3) Implizite Prämisse: Das Herstellen eines Werkes ist die Aktualität des
Herstellers.]
(4) Das Werk ist in gewisser Weise die Aktualität des Herstellers.
Folgerung: Man liebt sein Werk als sein eigenes Sein.
Geht man hingegen von (ii) aus, erhält man anstelle von (2) (2)*:
(2)* Wir sind durch unser Aktivsein, insofern wir leben und handeln.
und anstelle von (4) (4)*:
(4)* Durch seine Aktivität ist der Hersteller in gewisser Weise sein Werk.
Buch IX, Kapitel 7 895
Der Grammatik und der Sache nach ist beides möglich (vgl. das Plädoyer
für (ii) bei G/J II 2, 742), und dem Sinn nach ergibt sich in beiden Fällen die
Folgerung, dass man selbst dasjenige ist, was man tut. Für die erste Version,
der sich die Mehrzahl der Kommentatoren anschließt, spricht vor allem die
Tatsache, dass die Schlussfolgerung die Aktualität/Wirklichkeit des Werkes
und seines Schöpfers und nicht nur das Aktivsein des Handelnden hervor-
hebt: ‚denn was er seinem Vermögen (dynamei) nach ist, das zeigt sein Werk
in Wirklichkeit (energeiâi)‘.
Von ‚Produkten‘ tugendhafter Handlungen war bisher nicht die Rede;
vielmehr hat die Betonung stets darauf gelegen, dass die Handlungen ihr Ziel
in sich tragen und gerade nicht auf ein Produkt aus sind, wie der Baumeister
auf ein Haus, in welchem der eigentliche Wert seines Tuns liegt. Zudem kann
es verwundern, dass Menschen hier wie Objekte des Herstellens behandelt
werden. Dabei ist aber im Auge zu behalten, was Aristoteles erklären will:
Es geht ihm nicht um die Höherbewertung des Produkts gegenüber dem
Tätigsein, sondern nur um eine Erklärung, warum der Täter einer guten Tat
ein größeres und nachhaltigeres Interesse an der Wirkung seines Tuns hat als
der Empfänger. Wer also einem Freund wieder auf die Füße geholfen hat,
empfindet darüber Freude und sieht den Freund daher besonders gern, wäh-
rend der Empfänger dieses Gefühl nicht oder nur für kurze Zeit hat. Das gilt
nicht nur für das Wohltun im materiellen Sinn, sondern für sämtliche guten
Handlungen anderen gegenüber.
(2.2.1) 1168a8 f. „denn was jemand der Möglichkeit (dynamei) nach ist, das
zeigt sein Werk in Wirklichkeit (energeiai)“: Die Doppeldeutigkeit von ener-
geia als Aktivität/Tätigkeit und Aktualität/Wirklichkeit ist Gegenstand der
Untersuchung von Metaphysik Θ (vgl. vor allem 8, 1050a23–b2). Auf diese
Unterscheidung rekurriert Aristoteles in EN sonst nicht weiter, setzt aber
die Vertrautheit mit der Terminologie voraus. Der Begriff der entelecheia,
der sonst oft zur Kennzeichnung von Aktualität verwendet wird, kommt in
der EN nicht vor.
(3) 1168a9–27 „Zugleich ist für den Wohltäter aber auch schön, was seine
Handlung bewirkt“: Dass das ‚Schöne‘ an tugendhaften Handlungen auch in
ihrer Wirkung, also im ‚Werk‘ liegt, ist ein Aspekt, der sonst nur selten ange-
sprochen worden ist. Anscheinend will Aristoteles den Eindruck vermeiden,
dass die Konsequenz, d.h. der Erfolg, und nicht die Absicht das Wesentliche
am Handeln ist. Dieser Eindruck wird hier also in gewisser Weise dahinge-
hend korrigiert, dass auch die Wirkung Teil des schönen Handelns ist.
(3.1) 1168a11 „Für den Empfänger liegt dagegen im Geber nichts Schönes
(kalon)“: Hier wird nicht in Abrede gestellt, dass der Empfänger die Hand-
lung des anderen als schön zu schätzen weiß. Vielmehr geht es darum, dass
für ihn selbst in der Tat des anderen nicht Schönes liegt, sondern nur etwas
896 Kommentar
Nützliches. Daher kann er an ihr auch nur so viel Freude haben, wie jeder
Mensch sie an der schönen Handlung eines anderen hat.
(3.2) 1168a13–19 „Angenehm ist nämlich bei Gegenwärtigem das Tätigsein,
bei Zukünftigem die Erwartung, bei Vergangenem die Erinnerung“: Dass
Lust eng mit Handeln verbunden ist, wurde bereits anfangs (I 9, 1099a7–16)
ausgeführt und in den Lustabhandlungen näher erklärt (VII 13 + 14: Lust als
ungehinderte natürliche Tätigkeit; X 3 + 4: Lust als Vollendung der Tätig-
keit). Die Lust am Tätigsein ist nicht auf die Gegenwart beschränkt, sondern
gilt für alle Zeitdimensionen: Die Gegenwart betreffend gilt sie dem Tätig-
sein, die Zukunft betreffend der Erwartung von Schönem, die Vergangen-
heit betreffend der Erinnerung an schöne Handlungen (vgl. 4, 1166a24–6).
Ebendiese Erinnerung ist für den ‚Täter‘ etwas Bleibendes, die er mit dem
Empfänger assoziiert. Für den Empfänger ist der Nutzen dagegen vergäng-
lich und daher nur kurzzeitig erfreulich.
(3.2.1) 1168a18 f. „während es sich bei der Erwartung umgekehrt zu ver-
halten scheint“: Die Erwartung von Nützlichem ist angenehmer als die von
Schönem. Falls das keine Ergänzung durch einen pedantischen Schreiber ist
(so G/J II 2, 744), dürfte lediglich gemeint sein, dass die Vorfreude auf der
Seite von Nutznießern generell größer ist als bei denjenigen, die etwas Schö-
nes zu tun beabsichtigen, weil Letztere mit der Planung und nicht nur mit
der Antizipation des schönen Resultats befasst sind.
(3.3) 1168a19–21 „Auch gleicht das Lieben (philêsis) dem Tun (poiêsis), das
Geliebtwerden dem Leiden (paschein)“: Auf die affektive Komponente hat
die Diskussion des Paradoxons und ihre Lösung bisher nicht rekurriert.
Dieser Bezug wird hier durch die Erklärung hergestellt, dass das Lieben die
Bedingungen der Freundschaft in höherem Grad erfüllt als das Geliebtwer-
den. Lieben ist zwar ein Affekt und kein ‚Tun‘ im strengen Sinn, so wie auch
das Geliebtwerden kein ‚Leiden‘ ist. Da das Lieben aber ein aktives Streben
ist, ist auch in dieser Hinsicht der ‚Täter‘ besser als der Empfänger, der nur
der (passive) Gegenstand der Liebe des anderen ist.
(3.3.1) 1168a21–27 „Ferner lieben alle mehr, was sie mit Mühe zustande ge-
bracht haben (epiponôs genomena)“: Wofür man sich angestrengt hat, das
liegt einem mehr am Herzen, als was einem bloß zufällt, wie auch der Un-
terschied in der Liebe zu selbst erworbenem Reichtum im Unterschied zu
ererbtem zeigt (vgl. IV 2, 1120b11–14). Als Beispiel dient hier die Tatsache,
dass die Mütter ihre Kinder mehr lieben, weil sie die Mühen der Geburt er-
tragen haben. Auf die besondere Intensität der Mutterliebe hat Aristoteles
wiederholt hingewiesen. Wenn er es als ein weiteres Merkmal der Mutter-
liebe bezeichnet, dass sie wissen, dass die Kinder ihre eigenen sind, so dürfte
er nicht auf zweifelhafte Vaterschaften anspielen, sondern nur die Tatsache
betonen wollen, dass die Mütter bei der Geburt ihr Produkt sehen und in
diesem, sehr konkreten Sinn wissen, dass sie es selbst hervorgebracht haben.
Buch IX, Kapitel 8 897
ein Teil davon zu beurteilen ist. Das gilt auch im Verhältnis zu Freunden. In
welcher Weise sie in das eigene Leben einbezogen sind, ist daher eine Frage,
die Aristoteles sich besonders angelegen sein lässt und in der Folge weiter
untersucht.
(1) 1168a28–35 „Man fragt sich aber auch (aporeitai), ob man sich selbst oder
einen anderen am meisten lieben soll“: Ob die Fragestellung Gegenstand ei-
ner Kontroverse war oder Aristoteles’ eigenes Konstrukt ist, muss offen-
bleiben. Zunächst beruft er sich jedenfalls auf die allgemeine Überzeugung,
dass Selbstliebe negativ zu beurteilen ist. Ein Nomen philautia (= ‚Selbst-
oder Eigenliebe‘) verwendet er nicht (Belege dafür stammen erst aus viel
späterer Zeit), sondern nur das wohl selbstgeprägte Adjektiv philautos als
Bezeichnung für den Selbstliebenden. Sonst findet man umschreibende Aus-
drucksweisen wie philein heauton oder philia heautou. So verweist Platon
in den Nomoi darauf, dass die Freundschaft zu sich selbst etwas Natürli-
ches ist (V 731e1 f.: philos hautôi pas anthrôpos physei), hält aber die über-
triebene Liebe zu sich selbst für die Wurzel allen Übels (e3–5: tên sphodra
heautou philian; zur Selbstliebe bei Platon vgl. Irwin 2010, bes. 101–105). Im
Allgemeinen scheint man aber in der Selbstliebe, unter welcher Kennzeich-
nung auch immer, eine negative Eigenschaft gesehen zu haben (vgl. Pol. II
5, 1263b1–5). Aristoteles’ Abgrenzung einer guten von einer schlechten Art
von Selbstliebe stellt also ein Novum dar.
(2.1) 1168b6–10 „Auch alle Sprichwörter stimmen damit überein“: Die an-
geführten Zitate besagen natürlich nicht, dass der Gute sein eigener bester
Freund ist, sondern zeugen nur von der besonderen Nähe und Einigkeit
von Freunden. Es ist Aristoteles’ besondere Pointe, dass beides auf das Ver-
hältnis zu sich selbst am meisten zutrifft. Die Sprichwörter sind z.T. bereits
zuvor genannt worden (‚Freunden ist alles gemeinsam‘: VIII 7, 1157b36 et
pass.; ‚Freundschaft ist Gleichheit‘: VIII 10, 1159b7. Von ‚einer Seele‘ spricht
Euripides, Orestes 1045 f.; ‚das Knie ist einem näher als das Schienbein‘, fin-
det sich bei Theokrit, Idylle 16, 18).
(3) 1168b10–28 „Man fragt sich daher mit Recht, welchem dieser beiden
Standpunkte man sich anschließen soll“: Die so konstruierten Standpunkte
sollen je für sich einer eingehenderen Analyse unterzogen werden. So soll
sich nicht nur erweisen, welcher Standpunkt mehr für sich hat, sondern
auch, ob es wirklich zwei Arten von Selbstliebe gibt.
(3.1) 1168b15–24 „Diejenigen, die daraus einen Vorwurf machen, nennen
solche Menschen selbstliebend (philautoi), die für sich selbst zu viel an Geld,
Ehre und körperlicher Lust beanspruchen“: Die schlechte Art von Selbst-
liebe kennzeichnet Menschen, die ein Übermaß an körperlichen und mate-
riellen Gütern begehren und durch ihren vernunftlosen Seelenteil (alogon)
beherrscht werden. Dass diese Güter umkämpft sind, liegt daran, dass ihr
Besitz im Übermaß notwendig auf Kosten anderer geht. Weil diese Verfas-
sung charakteristisch für die Mehrzahl der Menschen ist, bezieht man üb-
licherweise die Selbstliebe auf schlechte Menschen. Während Aristoteles
nicht bestreitet, dass es diese schlechte Selbstliebe gibt und dass die Bezeich-
nung üblicherweise so verwendet wird, will er für einen andersartigen, posi-
tiven Sinn von Selbstliebe plädieren.
(3.2) 1168b25–28 „Wäre dagegen jemand stets bemüht, selbst am meisten
von allen an Gerechtem zu tun, an Besonnenem und Tugendhaftem von
jeder Art“: Wenn hier die Sprache des Wettbewerbs vorherrscht, so liegt
das daran, dass Aristoteles zeigen will, dass auch der Gute auf eine Art von
Übermaß aus ist. Nur betrifft es keine Güter, die man sich auf Kosten an-
derer aneignet; denn gerechtes und besonnenes Tun ist nichts, was man je-
mandem anderen wegnimmt, sondern was prinzipiell jedem offensteht. Wie
damit umzugehen ist, dass zu bestimmten Gelegenheiten nur einer handeln
kann, wird im Folgenden eigens angesprochen.
(3.2.1) 1168b27 „stets für sich selbst (heautôi) dem Schönen den Vorzug zu
geben“: Die Ausdrucksweise ‚für sich‘ wirkt zunächst unnatürlich, gestelzt
und selbstsüchtig. Denn wer sagt: „Ich tue das für mich“, sagt damit wo-
möglich: „Ich stehe gut da“. Aristoteles legt die Betonung aber nicht darauf,
dass diese Güter die eigenen sind, sondern nur, dass man ihr Urheber ist.
Die Überlegung, dass das Gute in dieser Weise auch einem selbst zugute-
900 Kommentar
In diesem Sinn lässt sich behaupten, man schätze dieses Element am höchs-
ten. Was gut am Menschen ist, ist auch gut für den Menschen und wird
von ihm auch so verstanden. Die Ausführlichkeit der Rechtfertigung dieses
Aspekts zeugt davon, dass Aristoteles sich der Schwierigkeit bewusst ist,
diesen besonderen Begriff der Selbstliebe plausibel zu machen. Denn dieser
Begriff ist ebenso ungewohnt wie die Tatsache, dass überhaupt von einem
‚Selbst‘ die Rede ist und dieses mit der Vernunft identifiziert wird.
(4.3) 1169a6–11 „Die Menschen aber, die sich in besonderem Maß um die
schönen Handlungen bemühen, werden von allen anerkannt und mit Lob
bedacht“: Wenn Aristoteles hier von ‚allen‘ spricht, so muss er damit ‚alle
Kompetenten‘ meinen. Nur so erklärt sich, warum er manchmal ‚den Meis-
ten‘ alles Schlechte zutraut, andererseits auch wieder das Urteil ‚aller‘ zu-
gunsten der richtigen Auffassung in Anspruch nimmt. Jedenfalls rechnet er
hier anscheinend damit, dass alle einsehen werden, dass sowohl die Gemein-
schaft wie auch der Einzelne davon am meisten profitieren, wenn die An-
strengungen den besten Handlungen und damit der Tugend gelten.
(4.4) 1169a11–18 „Der Gute soll daher selbstliebend sein“: Als Konsequenz
ergibt sich, dass die Selbstliebe des Guten für alle nützlich, die des Schlech-
ten dagegen schädlich ist. Dass der Schlechte ein schlechtes Leben führt,
ergibt sich, wie schon früher festgestellt, aus der Konzeption des guten Le-
bens als eines Lebens, das die besten Fähigkeiten des Menschen aktiviert und
daher in sich konsistent ist. Letzteres wird dem Schlechten grundsätzlich
abgesprochen, weil seine Selbstliebe nicht dem gilt, was den Menschen zum
Menschen macht (vgl. IX 4, 1166b5–29).
(5) 1169a18–b2 „Es ist aber auch wahr, dass der Gute vieles um der Freunde
und des Vaterlandes willen tut“: Hier soll der Eindruck korrigiert werden,
dass die Handlungen des Selbstliebenden nur ihm selbst gelten. Vielmehr ge-
hört zur Selbstliebe eine doppelte Zielsetzung: Der Gute opfert, wenn nötig,
nicht nur Hab und Gut, sondern auch das eigene Leben für Freunde und Va-
terland. Sein Gewinn besteht nur in der Tatsache, dass dieses Tun schön ist.
Wenn der Gedanke uns zunächst befremdet, in solchen Fällen vom ‚Wählen
eines hohen Guts‘ zu sprechen, so weil man sich gewöhnlich nicht fragt, ob
man ‚für sich‘ etwas Schönes tut, wenn man z. B. einen Ertrinkenden rettet.
Eine kompetitive ‚Buchführung‘ wie sie der Text nahelegt, welche auf der
einen Seite ein ‚Haben‘ von Gut, Geld, Ehre verbucht, auf der anderen Seite
ein ‚Haben‘ von Schönem, wirkt künstlich. Tatsächlich geht es Aristoteles
aber nur um die Kennzeichnung desjenigen Guts, welches die Handlung der
Menschen bestimmt und das er in diesem Fall begehrt. Daher ist diese Art
von Selbstliebe mit der Selbstlosigkeit der Handlung durchaus vereinbar.
Denn Selbstlosigkeit im Sinn von Selbstaufopferung setzt keine Selbstver-
gessenheit voraus, wie manche Kritiker meinen, wenn sie in der Selbstzu-
902 Kommentar
schreibung guter Handlungen bei Aristoteles ein Indiz für die Inkohärenz
seiner Position sehen (vgl. Annas 1989).
(5.1) 1169a19 „das Vaterland“: Da sich bei Aristoteles der Ausdruck ‚Va-
terland‘ (patris) außer in Der Staat der Athener nur an einer zweifelhaften
Stelle in Rhet. I 9, 1366b37 findet und hier zudem die persönliche Freund-
schaft in Rede steht, sehen manche Kommentatoren den Tod fürs Vaterland
als spätere Interpolation an (dazu G/J II 2, 748–50). Aristoteles dürfte sich
aber angesichts der Tatsache, dass man ‚für andere in den Tod gehen‘ (hyper-
apothnêskein) mit dem Tod im Krieg assoziiert, zu diesem Zusatz veranlasst
gesehen haben, weil hier vom Verhalten der Bürger im Staat die Rede ist. Zur
Bürgerfreundschaft gehört auch die Bereitschaft, für das Wohl der Gemein-
schaft mit dem eigenen Leben einzustehen (vgl. III 11, 1116b17–20).
(5.2) 1169a22–26 „Denn er wird es vorziehen, eine kurze Zeit in intensiver
Freude als eine lange Zeit in geringer Freude zu verbringen“: Dieser rheto-
rische Überschwang scheint zunächst mit der früheren Erklärung schwer in
Einklang zu bringen, dass für den Tapferen das Opfer seines eigenen Lebens
durchaus schmerzvoll ist, weil ihm so ein besonders gutes Leben entgeht
(III 12, 1117b7–16). Zudem hat Aristoteles früher ein hinreichend langes
Leben als Bedingung des Glücks genannt. Dies dürfte aber darauf beru-
hen, dass es zunächst bei der Kennzeichnung der Charaktertugenden um
die Möglichkeit geht, möglichst viel an Schönem zu tun; dazu ist ein hinrei-
chend langes Leben erforderlich. In der Beschreibung des Hochgesinnten,
des megalopsychos, ist jedoch hervorgehoben worden, dass er ein kurzes,
aber intensives Leben vorzieht, welches besonders hohen Zielen gilt (IV 8,
1124b6–9; 24–26). Wenn Aristoteles hier von ‚einem Jahr‘ spricht, so muss
er damit das Leben desjenigen meinen, der in der Blüte seiner Jahre steht.
Eine Befürwortung von Selbstlosigkeit oder Selbstvergessenheit liegt in
dieser Empfehlung nicht, weil das Motiv nicht im Verzicht als solchem, son-
dern im Vorzug des Schönen um seiner selbst willen liegt (so auch Irwin
1999, 296 f.). In diesem Fall ist die tugendhafte Handlung tatsächlich ihr
eigener Lohn, denn die Belohnung besteht in nichts anderem als in dem Be-
wusstsein, das bestmögliche Leben zu leben. Es geht hier also nicht darum,
dass es besser ist, etwas für andere zu tun als für sich selbst, sondern dass ein
Handeln, das anderen zugutekommt, das Beste ist, das man unter bestimm-
ten Umständen wählen kann (zur doppelten Motivation guter Handlungen
und der Problematik, ob sie wirklich einem selbst ‚am meisten zugutekom-
men‘, vgl. auch Pakaluk 1998, 195–202). Dass man sich für einen anderen
aufopfert, bedeutet zwar in einer Hinsicht, dass man nicht an sich selbst
denkt, in einer anderen Hinsicht tut man das aber durchaus: Man bejaht die
Tat für sich selbst. Eine völlige Selbstvergessenheit ist kein Charakteristi-
kum des Tugendhaften im aristotelischen Sinn. Er würde auch das Leben
einer Mutter Teresa als ein Leben ansehen, das auf Selbstliebe beruht, sofern
Buch IX, Kapitel 9 903
sie weiß, was sie tut, und dieses Leben für sich als ‚schön‘, d.h. als richtig
ansieht.
(5.3) 1169a32–35 „Auch beim Handeln kann er dem Freund den Vortritt
lassen“: Hier will Aristoteles offensichtlich dem Eindruck entgegenwirken,
dass die gute Selbstliebe auf ein Monopol an schönen Handlungen aus ist
und nur dem eigenen moralischen Wohlergehen dient (1168b25: „selbst am
meisten von allen zu tun“). Vielmehr kann auch das Überlassen einer guten
Handlung an einen Freund besonders schön sein, weil man dadurch die Ur-
sache dafür ist, dass der Freund etwas Schönes tun kann. Die abschließende
Bemerkung, man teile sich selbst damit mehr vom Schönen zu, heißt nicht,
dass man mehr Schönes tut als der Freund, sondern vielmehr, dass der Ver-
zicht zugunsten des Freundes schöner ist als die eigene Ausführung der Tat.
(1) 1169b3–8: These: Die Autarkie des vollkommen Glücklichen schließt ei-
nen Bedarf an Freunden aus. (2) 1169b8–22: Gegenthese: Freunde sind not-
wendig für das Tätigsein wie auch für das Zusammenleben. (3) 1169b22–
28: Glückliche brauchen Freunde weder des Nutzens noch der Lust wegen.
(4) 1169b28–1170a13: An Freunden lässt sich das eigene Tätigsein besser
erkennen und wird dadurch kontinuierlicher. (5) 1170a13–25: Das We-
sen des Menschen besteht insbesondere in Wahrnehmung und Denken.
(6) 1170a25–b8: Das Wahrnehmen und Denken ist bei einem Freund leichter
fassbar. (7) 1170b8–19: Das Zusammenleben besteht im Teilhaben an Wor-
ten und Gedanken.
(1) 1169b3–8 „Man streitet sich aber auch über den Glücklichen, ob er
Freunde brauchen wird oder nicht“: Wenn hier nicht der Gute, sondern der
Glückliche das Thema ist, so wird damit auf die Bedingungen der Autar-
kie Bezug genommen, die anfangs als Merkmal der eudaimonia eingeführt
worden sind (I 5, 1097b6–14). Die Position (‚man sagt‘), die bestreitet, dass
es Freundschaft zwischen Guten geben kann, lässt Platon seinen Sokrates
im Lysis vertreten (215a–b). Die Nützlichkeit stellt dort einen wesentlichen
Gesichtspunkt in der Frage dieses Bedarfs dar: Gute Menschen, insofern sie
gut sind, sind sich selbst genug (hikanoi) und haben keinen Bedarf (chreia)
an anderen. Es ist durchaus möglich, dass sich darüber eine Kontroverse
in der Akademie entsponnen hat, wie auch über die Frage, was der Philo-
soph überhaupt braucht. Aristoteles ist jedenfalls an der Klarstellung gele-
gen, dass Autarkie nicht mit gänzlicher Wunschlosigkeit gleichzusetzen ist
und dass der Bedarf, den Gute an Freunden haben, mit Selbstgenügsamkeit
vereinbar ist (das Problem der Doppeldeutigkeit von ‚autarkeia‘ im Sinn
von ‚Genug haben‘ und ‚sich selbst genügen‘ manifestiert sich in der Erör-
terung des theoretischen Lebens X 7, 1177a27–b4; vgl. dazu den Artikel von
Brown 2014).
(1.1) 1169b7 f. „Wenn die Gottheit Gutes tut, wozu bedarf es da der
Freunde“: Das Zitat findet sich bei Euripides als Teil einer Bitte um Hilfe
Buch IX, Kapitel 9 905
(Orestes 665 f.): „In Nöten vor allem soll der Freund dem Freunde helfen.
Wenn die Gottheit Gutes tut, wozu bedarf es da der Freunde?“
(2) 1169b8–22 „Es erscheint jedoch unsinnig, dem Glücklichen zwar sämt-
liche Güter zuzuteilen, Freunde aber nicht zu geben“: Die Widerlegung be-
steht in einer Aufzählung von Argumenten unterschiedlicher Art, die z.T.
Aristoteles’ eigene Position widerspiegeln, teils auch Gemeinplätze sind.
(2.1) 1169b9 f. „was doch als das größte der äußeren Güter (tôn ektos aga-
thôn) gilt“: Freunde sind einerseits als integrale Bestandteile des glückli-
chen Lebens eingeführt (I 5, 1097b8–11), andererseits zu den äußeren Gü-
tern gezählt worden, weil man sich der Freunde auch als Mittel bedient
(I 9, 1099a31–b2). An dieser Stelle wird zunächst der Aspekt von Freun-
den als ‚äußeren Gütern‘ angesprochen, die in Buch VIII aufgeführt worden
sind: Freunde braucht man im Glück, um wohltätig zu sein, weil man das
am besten Freunden gegenüber tut (VIII 1, 1155a7–9). Freunde braucht man
auch als Zuflucht in Unglücksfällen (ibid. 1155a10–12; vgl. IX 11).
(2.2) 1169b16–19 „den vollkommen Glücklichen zum Einsiedler (monôtês)
zu machen“: Dass der Mensch kein Einsiedler, sondern ein in Gemeinschaft
lebendes Wesen (politikon), das auf Zusammenleben (syzên) mit Freunden,
Familie und Mitbürgern hin angelegt ist, gehört zu den Voraussetzungen
des Glücks, die das autarke Leben ausmachen (vgl. I 5, 1097b6–14; VIII 6,
1157b20–22).
(2.3) 1169b20–22 „die Zeit mit Freunden und Guten zu verbringen statt mit
Fremden (othneioi) und Beliebigen (tychontes)“: Hier wird nicht etwa ‚der
Fremde‘ als solcher diskriminiert, sondern es geht darum, dass Freunde sich
bereits bewährt haben (vgl. VIII 4, 1156b25–29; IX 5, 1166b34; 1167a9 f.).
Daher ist es besser, seine Zeit mit ihnen zu verbringen als mit Menschen, die
die man nur zufällig trifft und von denen man nicht weiß, wes Geistes Kind
sie sind.
(3) 1169b22–28 „Was meinen aber die Vertreter der ersten Ansicht und in-
wiefern treffen sie damit etwas Wahres“: Der Partei derjenigen, die meinen,
dass der Glückliche keine Freunde braucht, die angeblich die Mehrheit dar-
stellen, unterstellt Aristoteles, dass sie sich nur an der Nutzenfreundschaft
orientieren. Sie haben insofern recht, als der Glückliche aufgrund seiner Au-
tarkie per definitionem über alles Lebensnotwendige verfügt und daher kei-
nen Bedarf an Nutzenfreunden hat.
(3.1) 1169b25–28 „Auch Freunde um der Lust willen wird er nicht oder
doch nur wenige brauchen“: Wenn behauptet wird, das Leben des Glück-
lichen enthalte als solches Lust, aber bestritten wird, dass der Glückliche
einer ‚von außen zugefügten Lust‘ bedarf (26: epeisakton; vgl. I 8, 1099a16:
perihapton), so ist an die Unterscheidung zwischen derjenigen Art von Lust
906 Kommentar
zu denken, die guten Handlungen als solchen eigen ist, und der Art, die nur
dem Zeitvertreib dient. Daran hat der Glückliche keinen oder nur ganz we-
nig Bedarf. Das ‚Wenige‘ dürfte sich daraus ergeben, dass körperliche Lust
in Maßen zur Besonnenheit gehört und auch die Unterhaltsamkeit eine Tu-
gend ist (vgl. 10, 1170b28 f. „wie die Würze im Essen“).
(4) 1169b28–1170a13 „Das ist aber wohl nicht richtig“: Die Richtigstellung
des Missverständnisses, der Glückliche brauche keine Freunde, gibt Aristo-
teles Gelegenheit zu einer neuartigen Begründung für den Bedarf an Freun-
den. Dass diese Freunde zu den seelischen und nicht zu den äußeren Gütern
gehören, wird zwar nicht explizit gesagt, lässt sich aber dem Duktus der
nachfolgenden komplizierten Argumentationskette entnehmen. Sie legt dar,
dass der Glückliche Freunde braucht, weil das Glück im Handeln besteht
und für den Guten das eigene Tätigsein gut und angenehm ist. Da er das gute
Handeln bei einem Freund besser erkennen kann als bei sich selbst, braucht
er dazu Freunde.
(4.1) 1169b30–1170a4 „Wenn das Glücklichsein aber im Lebendig- und Tä-
tigsein besteht, die Tätigkeit des Guten aber als solche gut und angenehm
ist“: Zunächst wird daran erinnert, dass das Glück eine Tätigkeit (energeia:
I 6, 1098a7–15) ist, die ‚geschieht‘ (gignesthai), und nicht im Besitz besteht,
der vorhanden ist (hyparchei). Damit ist natürlich kein ‚Werden‘ gemeint,
sondern nur das Prozesshafte des Tätigseins. Welche Art von ‚Geschehen‘
gemeint ist und welche Rolle ein Freund dabei spielt, zeigt die lange Satzpe-
riode, die aus einer Reihe von Bedingungssätzen besteht und mit der Kon-
klusion endet, dass der Glückliche gute Freunde braucht, weil ihre Tätigkei-
ten das eigene Handeln widerspiegeln:
(i) Das Glücklichsein besteht im Lebendig- und Tätigsein.
(ii) Die Tätigkeit des Guten ist an sich gut und angenehm.
(iii) Zum Angenehmen gehört auch das einem Eigene (oikeion).
(iv) Man kann seine Nächsten besser als sich selbst und ihre Handlungen
besser als die eigenen betrachten (theôrein).
(v) Den Guten sind die Handlungen tugendhafter Freunde angenehm.
(vi) (Sie sind einem eigen und zugleich gut).
(vii) Konklusion: Der Glückliche hat Bedarf an solchen Freunden, da (nach
ii; iii und iv) für ihn das Betrachten guter und ihm eigener Handlungen an-
genehm ist.
An dieser Argumentation bedürfen vor allem Schritt (iii) und (iv) weiterer
Erläuterungen.
Zu (iii): Was ist mit dem ‚Eigenen‘ (oikeion) gemeint und welche Be-
deutung hat es für das Argument? Das Eigene ist etwas, das von Natur aus
Buch IX, Kapitel 9 907
zum eigenen Selbst gehört. Auch die Handlungen eines Freundes sind ei-
nem ‚eigen‘ – und daher ist es angenehm, sie zu betrachten. Nun ist aber zu
fragen, warum nicht die Betrachtung jedes guten Menschen dieselbe Wir-
kung haben sollte. Wie in VIII 4 ausgeführt, setzt die Tugendfreundschaft
die Bewährung des Charakters durch längere Vertrautheit voraus. Erst dann
gehört ein solcher Freund zum eigenen Leben. Die heute übliche abstrakte
Betrachtungsweise in der Ethik, die von der Gleichheit aller Menschen aus-
geht und annimmt, dass jeder für jeden eintreten kann, liegt einer Ethik des
guten Lebens fern, weil es ihr um diejenigen Bedingungen geht, auf denen
ein solches Leben beruht. Zwar kann sich ein Guter im Prinzip mit jedem
Guten anfreunden; das Leben teilen kann er aber nur mit wenigen, wie sich
noch zeigen wird (Kap. 10), und daher sind ebendiese ihm ‚eigen‘.
Zu (iv): Was heißt es, seine Nächsten und ihre Handlungen zu betrach-
ten (theôrein), und warum sollte man diese besser betrachten können als
die eigenen? ‚Betrachten‘ bedeutet nicht notwendig ‚theoretisches Überle-
gen‘, sondern auch ‚studieren‘, ‚beobachten‘ oder ‚anschauen‘ im wörtlichen
Sinn. Für die Behauptung, man könne die Handlung des anderen besser be-
obachten als die eigene, dürfte Aristoteles zwei Gründe haben. Zum einen
kann man während des eigenen Beratens und Entscheidens insofern keine
Betrachtungen darüber anstellen, als die Motive und praktischen Überle-
gungen nicht zugleich Gegenstand eines distanzierten Betrachtens sein kön-
nen. Bei einem nahen Freund lassen sie sich dagegen in allen Einzelheiten
verfolgen, wenn man nicht nur seinen Charakter kennt, sondern auch an
seinen Überlegungen teilhaben kann. Zum anderen dürfte die Frage der Ob-
jektivität gemeint sein. Die Möglichkeit von Selbsttäuschung und Vorein-
genommenheit in eigener Sache erwähnt Aristoteles zwar an dieser Stelle
nicht, auf diesen Gesichtspunkt weist aber der Autor der MM nachdrück-
lich hin (II 15, 1213a10–26). Dort wird die Metapher vom anderen als ei-
nem ‚Spiegel des Selbst‘ verwendet und hervorgehoben, dass man Fehler an
anderen oft besser als an sich selbst erkennt, weil man den eigenen Bestre-
bungen gegenüber blind ist. Der andere ist gewissermaßen ein ‚anderes Ich‘
(allos egô).
Das Gelingen dieser Spiegelung im anderen hängt natürlich davon ab, wie
transparent ein anderer sein kann, so dass sich seine Absichten und Über-
legungen tatsächlich hinreichend genau betrachten lassen (s.u. 1170b10–12).
Da der Verfasser der MM sonst nicht durch große philosophische Eigen-
ständigkeit glänzt, wenn er über die Texte von EE und EN hinausgeht, ist
anzunehmen, dass Aristoteles im mündlichen Unterricht die Spiegel-Meta-
pher verwendet und den Freund als eine Quelle der Selbsterkenntnis und
der Selbstkritik bezeichnet hat (dazu vgl. Cooper 1999, 340–345). In EN
IX wird dieser Gedanke einer Selbstkorrektur durch andere nur in der Ab-
schlussdiskussion kurz angedeutet (12, 1172a10–14): Man formt den eigenen
908 Kommentar
(5) 1170a13–25 „Betrachtet man die Sache noch mehr von der menschlichen
Natur her (physikôteron episkopousin)“: Eine naturwissenschaftliche Unter-
suchung wird hier, wie auch an anderen Stellen, an denen von der mensch-
lichen Natur die Rede ist (VII 5, 1147a24; IX 7, 1167b28 f.), nicht ange-
stellt. Zwar wird auf die Definition von ‚Leben‘ verwiesen und das für das
menschliche Leben Charakteristische von dem bei den übrigen Tieren un-
terschieden; nicht jede Untersuchung dessen, was zur Natur einer Sache ge-
hört, hat aber naturwissenschaftlichen Charakter. Anders als in De anima
wird hier keine hylomorphische Bestimmung der für den Menschen kenn-
zeichnenden Fähigkeiten und ihrer Objekte vorgenommen. Vielmehr dient
diese Überlegung allein der Begründung dafür, dass ein Leben in Erfüllung
der für den Menschen typischen Funktion gerade für den Tugendhaften gut
und angenehm ist. Der genaue Sinn dieser Erklärung der menschlichen Na-
tur ist nicht ganz einfach zu verfolgen, weil sie zwei Teile hat, die auf un-
terschiedliche Faktoren abheben. Im ersten Teil (5) wird erklärt, dass Leben
als solches für den Menschen im Wahrnehmen und Denken besteht und et-
was ‚Begrenztes‘ sein muss, wenn es gut sein soll, während ‚Unbegrenztes‘
schlecht ist. Im zweiten Teil (6) wird ausgeführt, dass das gute Leben nicht
nur in Wahrnehmung und Denken besteht, sondern auch in reflektiertem
Buch IX, Kapitel 9 909
Wahrnehmen und Denken, und dass dabei einem Freund eine wichtige Rolle
zukommt. Die Erklärungen dazu sind im Einzelnen auch deswegen schwer
nachzuvollziehen, weil der Text hier wiederum aus einer Reihe von Konditi-
onalsätzen besteht, in die noch Nebenbemerkungen eingeflochten sind, wie
die zahlreichen Parenthesen zeigen.
(5.1) 1170a16–25 „Nun definiert man ‚Leben‘ (zên) bei den Tieren durch
die Fähigkeit der Wahrnehmung“: Dieser Abschnitt enthält eine Erklärung
dafür, dass zu leben schon allein gut und angenehm ist, weil es in der Betäti-
gung der jeweils charakteristischen Fähigkeit besteht. Diese ist bei den Tie-
ren die Wahrnehmung, bei den Menschen Wahrnehmung oder Denken (zur
‚natürlichen Süße‘ des bloßen Lebens auch angesichts von Widrigkeiten vgl.
Pol. III 6, 1278b25–30).
(5.1.1) 1170a17„der Wahrnehmung oder des Denkens“: Manche Herausge-
ber emendieren nach Michael von Ephesos den Text zu ‚Wahrnehmen und
Denken‘, weil dem Menschen doch beides zukommt. Da im Folgenden aber
wahlweise teils auf Wahrnehmung, teils auf Denken rekurriert wird, ist auch
mit Rücksicht auf 1170a19, das vagere ‚oder‘ zu halten.
(5.2) 1170a20–25 „Es (sc. das Leben) zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass
es etwas klar Begrenztes (hôrismenon) ist, das Begrenzte gehört aber zur
Natur des Guten“: Mit Begrenztem meint Aristoteles in sich Geschlossenes,
Wohlstrukturiertes, Einheitliches. Diese Eigenschaften fehlen dem Unbe-
grenzten. Er knüpft damit an die pythagoreische Tradition und Terminolo-
gie der Kennzeichnung von Gutem und Schlechtem an, auf die er sich auch
früher gelegentlich berufen hat. Die Pythagoreer sind von Aufstellungen
(‚Systoichien‘) positiver und negativer Begriffspaare ausgegangen: begrenzt
– unbegrenzt, gerade – ungerade, eines – vieles, gut – schlecht etc. Auf diese
tabellarische Anordnung in Gegensätzen hat Aristoteles in seiner Kritik an
Platons Idee des Guten verwiesen (I 4, 1096b5–8) und sich darauf auch zur
Begründung dafür berufen, dass man Richtiges nur auf eine Weise, Falsches
dagegen auf unbegrenzt viele Weisen tun kann (II 5, 1106b28–33). Wenn er
hier auf Begrenztheit und Unbegrenztheit rekurriert, ohne diesen Hinter-
grund zu erhellen, so vermutlich nicht nur, weil er von der Vertrautheit sei-
ner Hörer mit dieser Terminologie ausgeht, sondern weil zuvor mehrfach
von Beständigkeit und Unbeständigkeit des Lebens die Rede war, von der
Inkonsistenz im Leben des Schlechten im Unterschied zur Stetigkeit und
der inneren Stimmigkeit im Leben des Guten (vgl. IX 4, 1166a10–b25).
(5.2.1) 1170a24 f. „Den Schmerz (lypê) betreffend wird dies im Folgenden
noch deutlicher werden“: Dieses Versprechen erfüllt Aristoteles nicht, wie
er auch sonst nicht weiter auf die Natur des Schmerzes eingeht. Daher wird
nicht deutlich, ob er einen Unterschied zwischen der Unlust an Handlungen
sieht, die man widerwillig und gegen die eigene Natur ausführt, und kör-
perlichen Schmerzen oder unangenehmen Affekten wie Furcht oder Scham.
910 Kommentar
(6) 1170a25–b8 „Wenn aber zu leben selbst (to zên auto) gut und angenehm
ist“: Dieser lange und auch sprachlich komplex formulierte zweite Teil der
Erklärung zur menschlichen Natur geht zunächst davon aus, dass schon al-
lein zu leben als solches gut und angenehm ist, dies aber insbesondere für die
Guten gilt. Leben heißt aber nicht nur wahrzunehmen und zu denken, son-
dern zugleich auch, wahrzunehmen, dass man wahrnimmt und denkt, und
in diese Wahrnehmung soll auch der Freund einbezogen sein. Der Haupt-
teil des Arguments (a25–b8) besteht aus einer einzigen Satzperiode, die eine
Reihe von Bedingungssätzen bzw. Partizipialkonstruktionen umfasst (die
einzelnen Argumente sind nur durch das wiederholte de gekennzeichnet,
in der Übersetzung der Deutlichkeit halber jeweils durch ‚wenn‘ ergänzt).
Eine Zwischenbilanz zieht Aristoteles nicht, sondern die Apodosis folgt erst
in Zeile b7 f. Der Übersichtlichkeit wegen haben Herausgeber Nebengedan-
ken zudem in Parenthese gesetzt. Anstoß zu dieser Kaskade von Argumen-
ten ist anscheinend EE VII 12, 1244b21–1245a26, die Aristoteles hier zwar
verkürzt wiedergibt, aber zugleich um das Element des ‚Wahrnehmens von
Wahrnehmung und Denken‘ erweitert hat. Auf die Schlüssigkeit der Ar-
gumentation, die andere Interpreten in fünf Syllogismen zusammengefasst
haben, ist hier nicht einzugehen, wohl aber ist ein Überblick zu geben (vgl.
dazu Burnet 1900; G/J II 2, 755–762; Ross bietet eine Rekonstruktion der
Argumentation in elf Syllogismen, vgl. seine Anm. zur Übersetzung):
(6.1) 1170a25 f. „Wenn aber zu leben selbst gut und angenehm ist“;
(6.2) 1170a29 „wenn ferner wer sieht, wahrnimmt, dass er sieht“;
(6.3) 1170a32 f. „wenn aber dass wir wahrnehmen oder denken heißt, dass
wir sind“;
(6.4) 1170b1 „wenn Wahrnehmen, dass man lebt, zu den schlechthin ange-
nehmen Dingen gehört“;
(6.5) 1170b3 „wenn das Leben aber wählenswert ist, und zwar am meisten
für die Guten“;
(6.6) 1170b5 f. „wenn der Gute sich aber zum Freund wie zu sich selbst
verhält“;
(6.7) 1170b7 f., Konklusion: „dann ist für jeden Menschen, so wie es wäh-
lenswert ist, dass er selbst ist, ebenso wählenswert oder doch beinahe, dass
auch der Freund ist.“
Dazu im Einzelnen:
(6.1) 1170a25 f. „Wenn aber zu leben selbst gut und angenehm ist“: Damit
wiederholt Aristoteles nur, was er bereits in Zeile 19 f. gesagt und dann da-
hingehend modifiziert hat, dass diese Bedingung nur für das gute Leben gilt.
Hier wird versichert, dass zwar alle zu leben begehren, am meisten aber die
Guten, da ihre Lebensweise (bios) im höchsten Grad wählenswert ist und ihr
Leben (zôê) daher das glücklichste ist.
Buch IX, Kapitel 9 911
(6.2) 1170a29 „wenn ferner wer sieht, wahrnimmt, dass er sieht“: Mit dem
Wahrnehmen (aisthanesthai) des Wahrnehmens und Denkens spricht Aris-
toteles ein psychologisches Prinzip an, von dem bisher nicht die Rede war.
Im ersten Argument (4) war lediglich von einem ‚Betrachten‘ (theôrein) des
anderen die Rede, das einem erlaubt, gute Handlungen bei einem Freund
besser zu erfassen als bei sich selbst. Auf die Art dieses Betrachtens ist
Aristoteles nicht weiter eingegangen. Hier rekurriert er darauf, dass zu al-
len psychischen Funktionen wie Wahrnehmung, Denken und Tun auch die
Wahrnehmung (aisthanesthai) gehört, dass wir wahrnehmen, denken und
überhaupt tätig sind. Um welche Art von Wahrnehmung handelt es sich?
Mit der Verwendung von ‚Wahrnehmung‘ trägt Aristoteles anscheinend der
Tatsache Rechnung, dass das Griechische keinen Terminus für ‚Bewusstsein‘
kennt. Die Frage nach der Reflexivität seelischer Vorgänge hat aber bereits
Platon im Charmides im Zusammenhang mit dem Problem der Selbster-
kenntnis angesprochen (Charm. 164d ff.), allerdings mit aporetischem Aus-
gang (167b–168a). Aristoteles verweist in De anima III 2, 425b12–25 auf
die Notwendigkeit dessen, was wir als ‚präreflexives Bewusstsein‘ bezeich-
nen würden, welches jeden Akt des Wahrnehmens betrifft (‚Wahrnehmen,
dass wir wahrnehmen‘). Aristoteles macht dort auch kenntlich, dass damit
keine schlichte Sinneswahrnehmung gemeint ist, indem er die ungewöhn-
liche Formulierung von ‚Wahrnehmen, dass‘, ‚Sehen, dass‘ gebraucht, statt
des sonst üblichen transitiven ‚etwas wahrnehmen‘, ‚etwas sehen‘. Auch das
Denken erwähnt er dort (2, 426b22; 427a1), ohne jedoch auf diese Kombi-
nation näher einzugehen. Die Fähigkeit zur Synthese wird dem ‚allgemeinen
Wahrnehmungsvermögen‘ zugeschrieben (so auch De somn. 2, 455a15–22:
koinê dynamis; zu dieser Thematik vgl. Kahn 1966; Kosman 1975).
Wenn Aristoteles hier ‚Wahrnehmung‘ auch auf das Denken und Tun,
wie etwa auf das Gehen, ausdehnt, so ist nicht reflektiertes Denken gemeint,
also das Denken über das Denken und Handeln, sondern das reflexive ‚Ge-
wahrsein‘ oder ‚Bewusstsein‘ intentionaler Akte. Gerade von diesem Ge-
wahrsein nimmt Aristoteles an, dass es das menschliche ‚Sein‘ ausmacht. Le-
ben ist für Menschen ein bewusstes Sein.
(6.3) 1170a32 f. „wenn aber dass wir wahrnehmen oder denken heißt, dass
wir sind“: Die Voraussetzung ist in 1170a16–19 gemacht worden.
(6.4) 1170b1 „wenn Wahrnehmen, dass man lebt, zu den schlechthin ange-
nehmen Dingen gehört“: Diese Bedingung wiederholt das in 1170a19–22;
1125a25–29 Gesagte.
(6.5) 1170b3 „wenn das Leben aber wählenswert ist, und zwar am meisten
für die Guten“: Da ein solches Selbst-Bewusstsein des Wahrnehmens und
Denkens allen Menschen gemeinsam ist, ist zunächst verwunderlich, dass
Aristoteles den Guten diesbezüglich eine privilegierte Stellung einräumt.
Denn dass ein Guter generell besser wahrnimmt und denkt als ein Schlech-
912 Kommentar
ter, ist nicht unmittelbar plausibel. Vielmehr sollten im Prinzip alle Men-
schen zu Wahrnehmungen und zum Denken befähigt und dessen auch ge-
wahr sein. Die Begründung, für die Guten sei ihr Sein in besonderer Weise
gut und angenehm, geht also über die Annahme hinaus, dass schon allein das
Bewusstsein des eigenen Wahrnehmens und Denkens für den Menschen von
Natur aus gut ist (1170b1–3: physei agathon). Das scheint auch Aristoteles
aufgefallen zu sein, so dass er noch die Klauseln einfügt, es sei angenehm,
das Gute in sich selbst wahrzunehmen (b2 f.), und der Gute nehme zugleich
‚mit wahr‘ (b4 f.: synaisthanesthai), dass das Wahrgenommene etwas an sich
Gutes ist. Gemeint ist also nicht die Natürlichkeit des Tätigseins für sich
genommen, sondern der wahrgenommene Gehalt, der beim Guten gut und
daher angenehm ist.
Dieses ‚mit wahrnehmen‘ im Sinn von ‚zugleich wahrnehmen‘ hat aber
nicht nur einen anderen Sinn als später in Zeile b10, wo es um das Mitwahr-
nehmen des Freundes geht, sondern es verdirbt diesem eigentlichen Mit-
wahrnehmen des anderen gewissermaßen den Auftritt. Das Kompositum
syn-aisthanesthai ist vor Aristoteles nicht belegt; bei Aristoteles ist es selten
und hat auch später nur wenig Verwendung gefunden. Es ist möglich, dass
Aristoteles die Parenthese erst später hinzugefügt, und daher nicht bemerkt
hat, dass er ‚Mitwahrnehmen‘ hier in anderer Weise verwendet als zuvor.
NB: ‚Synästhesie‘ im Sinn des Wahrnehmens spezifischer Sinnesqualitäten
durch einen anderen Sinn wie etwa das Hören, Riechen oder Schmecken von
Farben ist eine Entdeckung der Neuzeit.
(6.6) 1170b5 f. „wenn der Gute sich aber zum Freund wie zu sich selbst
verhält“: Das Verhalten dem Freund gegenüber muss darin bestehen, dass
das Wahrnehmen des Wahrnehmens und des Denkens auch den Freund mit
umfasst, d.h. man ist gewahr/bewusst, dass auch der Freund gut ist, weil er
ein anderes Selbst ist. Worauf dieses ‚Gewahrsein‘ beruht, wird aber erst im
folgenden Abschnitt (7) erklärt.
(6.7) 1170b7 f. „dann ist für jeden Menschen, so wie es wählenswert ist, dass
er selbst ist, ebenso wählenswert oder doch beinahe (paraplêsiôs), dass auch
der Freund ist“: Die Apodosis fasst zusammen, was Aristoteles für erwiesen
hält. Eine Abschwächung ist mit paraplêsiôs das Sein des Freundes betref-
fend nur insofern gegeben, als der Freund als der andere und nicht als man
selbst wählenswert ist. Der springende Punkt an dieser komplizierten Ar-
gumentation für ein ‚Gewahrsein‘ oder ‚Bewusstsein‘ seiner selbst und des
anderen besteht für Aristoteles anscheinend darin, dass man von sich selbst
und von dem anderen ein umfassendes Bild haben kann. So nimmt man mit
wahr, wie der andere handelt, warum er handelt, d.h. dass auch er es um des
Guten willen tut.
Buch IX, Kapitel 9 913
(7) 1170b8–19 „Das Sein hat sich aber als wählenswert erwiesen, weil man
sich selbst als gut wahrnimmt und eine solche Wahrnehmung als solche an-
genehm ist“: Der Schlussteil fasst insofern die Argumentation des ganzen
Kapitels zusammen, als er erklärt, was damit gemeint ist, dass das Wahrneh-
men des eigenen Seins auch das Sein des Freundes mit umfasst.
(7.1) 1170b10–12 „Daher muss man zugleich auch vom Freund mit wahr-
nehmen (synaisthanesthai), dass er ist; und das sollte sich beim Zusammen-
leben und beim Mitteilen von Worten und Gedanken ergeben“: Erst diese
Erklärung über das Mitwahrnehmen macht deutlich, dass Aristoteles we-
der an ein empathisches ‚Mitsehen‘ noch an Gedankenlesen oder Gedan-
kenübertragung denkt, sondern an die ganz normale verbale Kommunika-
tion. Dass der andere ohne eine derartige Kommunikation transparent sein
sollte, wäre nicht nur eine höchst problematische Annahme, wie Kritiker
zu Recht einwenden (Hardie 1968, 331 f.); vielmehr beruht die ‚Mitwahr-
nehmung‘ des anderen schlicht auf der Kommunikation durch Mitteilung
von Worten (logoi) und Gedanken (dianoia). Das hyperbolisch klingende
‚Mitwahrnehmen‘ des anderen findet somit eine ganz schlichte Erklärung.
Es ist die sprachlichen Kommunikation, die einem vermittelt, was der an-
dere wahrnimmt und denkt; durch sie erfährt man, dass der Freund ähnlich
tugendhaft ist wie man selbst. Damit erklärt sich auch, warum das ‚Zusam-
menleben‘ bei den Menschen einen anderen Sinn hat als bei den Tieren, bei
denen die Gemeinschaft sich darauf beschränkt, am gleichen Ort zu grasen.
Von einem Zusammenleben, syzên, von Tieren spricht Aristoteles auch in
seinen biologischen Schriften nicht; dieser Ausdruck kennzeichnet nur das
gemeinschaftliche Leben von Menschen. Zur Bedeutung der sprachlichen
Kommunikation für das menschliche Zusammenleben im Unterschied zur
Kommunikation zwischen den Tieren vgl. Pol. I 2, 1253a9–18.
Wenn die sprachliche Kommunikation aber der springende Punkt ist, so
könnte man sich fragen, warum Aristoteles zu ihrer Begründung eine schein-
bar atemlos vorgetragene, lange Satzperiode gebraucht, die schon allein da-
durch den Eindruck erweckt, hier sei eine mysteriöse ‚Kernverschmelzung‘
mit dem anderen gemeint. Dass das menschliche Leben und damit auch das
Glück eine Art Austausch von Bewusstseinsinhalten voraussetzt, war eine
Einsicht, die Aristoteles anscheinend erst bei der Überlegung über die Be-
dingungen der Freundschaft gekommen ist. Dafür spricht, dass zwar auch in
der EE von einem Mitwahrnehmen (synaisthanesthai) und Mitdenken (syn-
gnôrizein) zwischen Freunden die Rede ist (VII 12, 1244b21–1245a26), aber
nicht deutlich wird, dass dieses Gewahrsein des anderen zum guten Leben
als solchem gehört.
(7.2) 1170b17–19 „Was aber für den Glücklichen wählenswert ist, das muss
er auch haben“: Dieses ‚muss‘ kennzeichnet nur die Tatsache, dass ihm sonst
etwas Wesentliches fehlt. Damit ist die Frage vom Anfang des Kapitels be-
914 Kommentar
antwortet, ob der Glückliche Freunde braucht oder nicht. Von allen am An-
fang aufgezählten Gründen für die Notwendigkeit von Freunden erweist
sich das ‚Zusammenleben‘ als der wichtigste, weil es in der Kommunikation
mit dem Freund besteht. Zwar ist auch die Selbstwahrnehmung bzw. das
Selbst-Bewusstsein als solches eine Quelle der Freude am Leben, gleichwohl
sieht Aristoteles im ‚Mitwahrnehmen‘ des anderen eine noch wichtigere
Komponente des guten Lebens, weil man nach (4.1) das Gute am anderen
besser wahrnehmen kann als an sich selbst, so dass man einen objektiveren
Eindruck darüber gewinnt, was am eigenen Verhalten gut ist.
Mit dem Nachweis des Bedarfs an Freunden ist die Diskussion der Natur
der eigentlichen Freundschaft abgeschlossen, denn in den weiteren Kapiteln
geht es teils um Detailfragen, wie etwa um die Frage der Anzahl von Freun-
den, ob man sie mehr in Glücks- oder Unglücksfällen braucht, teils um eine
allgemeine Zusammenfassung der Bedeutung der verschiedenen Arten von
Freundschaft für das Leben.
(1) 1170b20–29 „Soll man sich aber möglichst viele Menschen zu Freunden
machen“: Die ‚Polyphilie‘ ist zwar zu Anfang der Erörterung der Freund-
schaft zusammen mit der ‚Philophilie‘ als positives Charakteristikum des
guten Lebens gekennzeichnet worden (VIII 1, 1155a28–31), schon die For-
Buch IX, Kapitel 10 915
mulierung der Fragestellung hier legt aber nah, dass es für alle drei Arten
von Freundschaften eine ‚Mitte‘ zwischen Freundlosigkeit und einem Über-
maß an Freunden geben muss.
(1.1) 1170b21 f. „Weder Gastfreund von vielen noch von keinem“: Dieser
gute Rat stammt von Hesiod (Werke und Tage 715). Gastfreundschaften
konnten für den Gastgeber mit umfangreichen Verpflichtungen verbunden
sein, wie etwa der zum Rechtsbeistand; zu Bewirtung und Gastgeschen-
ken (vgl. VIII 3, 1156a30 f. und die Anmerkungen dazu). Grundsätzlich ist
die Zahl der Nutzenfreundschaften niedrig zu halten, weil die Erwiderung
von allzu vielen Gefälligkeiten gar nicht möglich ist. Damit widerspricht
Aristoteles allerdings seiner früheren Erklärung, solche Erwiderungen seien
‚leicht‘ (VIII 7, 1158a16–18). Auch die Zahl von Lustfreunden soll begrenzt
sein, weil man davon nur so viel braucht, wie erforderlich ist, um das Leben
angenehm zu machen; auch dafür reichen wenige aus.
(2) 1170b29–1171a13 „Sollen nun aber die guten Freunde möglichst zahl-
reich sein?“: Aristoteles begnügt sich hier nicht mit der Erklärung, Gute
seien ohnehin selten, sondern beruft sich, wie bei der Zahl der Bürger einer
Stadt, auf das Kriterium der Machbarkeit: Die Zahl der Freunde muss sich
danach richten, mit wie vielen man sein Leben teilen kann.
(2.1) 1170b31–33 „Denn so wie aus zehn Menschen noch keine Stadt entste-
hen könnte, so sind zehnmal zehntausend keine Stadt (polis) mehr“: Diese
Stelle ist deswegen besonders wichtig, weil Aristoteles sonst keine Anga-
ben über die ideale Zahl der Bürger einer Polis macht. Dass die griechi-
schen Stadtstaaten für moderne Vorstellungen sehr klein waren, ist bekannt,
wenngleich genaue Zahlen umstritten sind. Bei der von Aristoteles angesetz-
ten maximalen Obergrenze ist ungewiss, welche Anzahl gemeint ist, weil
er nur von ‚Menschen‘ (anthrôpoi) spricht. Falls damit sämtliche Einwoh-
ner gemeint sind, einschließlich Frauen, Kindern, Alten, Fremden und Skla-
ven, dann hätte Athen in seiner besten Zeit diese Grenze weit überschritten
(ca. 180.000 Einwohner). Falls er nur die männlichen Vollbürger (politai)
meint, dann wäre die Zahl für seine Zeit sehr groß. In jedem Fall wendet
Aristoteles sich auch sonst gegen die herrschende Ansicht, ein Staat müsse
möglichst volkreich sein (polyanthrôpos) (Pol. VII 4, 1326a5–25). Zur Größe
einer Polis führt er überdies aus, dass eine allzu kleine Stadt nicht autark,
eine allzu große nur schwer oder gar nicht regierbar ist, weil die Ordnung
sich nicht aufrechterhalten lässt (VII 4, 1326a25–b25). Als Kriterium für die
Funktionsfähigkeit einer Stadt gilt ihm, dass die Bürger zur Handhabung
des Rechts und zur Aufteilung und Ausübung von Ämtern einander kennen
und vertrauen müssen (ibid. 1326b12–18).
(2.2) 1170b33–1171a13 „Auch die Menge von Freunden ist also begrenzt“:
An der Begrenzung ist vor allem aufschlussreich, dass Aristoteles die Freund-
916 Kommentar
schaften zwischen Guten prinzipiell auf mehrere ausdehnt und als Grenze
das Maximum von Menschen angibt, mit denen man das Leben zusammen
verbringen (syzên) kann, d.h. unter die man sich in dem Sinn ‚aufteilen kann,
dass man mit jedem ‚Worte und Gedanken‘ teilt (9, 1170b10–14).
(2.2.1) 1171a6–8 „Auch fällt es schwer, mit vielen persönlich (oikeiôs) Freude
und Leid zu teilen“: Wie das Adverb (‚eigen‘), hier mit ‚persönlich‘ über-
setzt, anzeigt, geht es um ein echtes Eingehen auf die Freude und auf das
Leid von Freunden (4, 1166a7 f.; b18–25), das kaum gleichzeitig möglich ist.
(2.2.2) 1171a10–13 „denn es dürfte sich als unmöglich erweisen, mit vielen
intensiv (sphodra) befreundet zu sein“: Auf die Frage der Intensität freund-
schaftlicher Gefühle (philêsis), wie auch auf diese Gefühle als solche, geht
Aristoteles nur selten ein. Dass Freundschaft eine Intensität des Gefühls und
der Aufmerksamkeit mit sich bringt, zeigt der Vergleich mit der erotischen
Liebe: Man kann nicht zugleich in mehrere verliebt sein, weil Liebe wie ein
Übermaß der Freundschaft ist (vgl. VIII 7, 1158a11–13). Freundschaft un-
ter Guten ist zwar kein solches Übermaß, sie ist aber doch so intensiv, dass
sie nur zu wenigen möglich ist. Es kann daher nur einige wenige ‚andere
Selbste‘ geben.
fordert zudem, wie früher ausgeführt, Zeit und Vertrautheit mit dem Cha-
rakter des anderen (VIII 4, 1156b24–32 et pass.).
(1) 1171a21–34 „Braucht man Freunde nun eher in Glücks- (eutychia) oder
in Unglücksfällen (dystychia)?“: Dass man das Glück (eudaimonia) und die
äußeren Glücksumstände (eutychia) nicht miteinander verwechseln darf, hat
Aristoteles schon früh hervorgehoben (vgl. I 9, 1099b6–8), wie auch, dass
kleinere Unglücksfälle das Glück nicht wirklich beeinträchtigen können,
während große dies zwar tun, den Tugendhaften aber nicht völlig unglück-
lich machen können (11, 1100b22–1101a8). Wie die in beiden Ausdrücken
enthaltene Wurzel tychê anzeigt, sind dem Zufall geschuldete positive und
negative Lebensumstände gemeint, also etwa Krankheit, Armut, Verlust von
Ansehen oder der Tod von nahen Angehörigen und Freunden. In solchen
Fällen besteht grundsätzlich Bedarf an Freunden, weil man in Unglücks-
fällen materielle wie psychologische Hilfe braucht, in Glücksfällen dagegen
solche Freunde, die nicht nur das eigene Leben teilen (1171a23: symbioun,
ein Ausdruck, den Aristoteles nur selten verwendet), sondern denen man
Wohltaten erweisen kann.
(1.1) 1171a30–34 „Daher könnte man sich fragen, ob die Freunde gewisser-
maßen an der Last mittragen“: Die Frage gilt zunächst der Interpretation
der Redewendung vom ‚Teilen‘ des Unglücks. Die Annahme, dass geteiltes
918 Kommentar
Leid halbes Leid ist, will Aristoteles zwar nicht in einem wörtlichen Sinn be-
jahen, d.h. dass Freunde buchstäblich etwas von der Last übernehmen (vgl.
dazu Xenophon, Memorabilia II 7, 1), wohl aber sieht er in der Freude über
ihre Anwesenheit und im Gedanken an ihre Anteilnahme am Schmerz (sy-
nalgein) einen Faktor, der einen das Leid leichter ertragen lässt. Auf weitere
Feinheiten will er sich aber nicht einlassen.
(2) 1171a34–b12 „Die Anwesenheit von Freunden scheint aber eine Mi-
schung aus verschiedenen Dingen zu sein“: Dass die Anwesenheit von
Freunden eine ‚gemischte Angelegenheit‘ ist, beruht darauf, dass der An-
blick von Freunden zwar angenehm und ihre Worte tröstlich sind, man sich
jedoch scheut, Freunde mit dem eigenen Unglück zu belasten und somit
Ursache des Kummers für andere zu werden. Zudem verweist er darauf,
dass es Grenzen der Trauer und daher auch des Mitleidens geben muss. So
unterstellt er dem ‚mannhaften Charakter‘, dass er es nicht erträgt, Freunde
an seinem Unglück teilnehmen zu lassen und Mitwehklagende (1171b9: syn-
thrênoi) nicht um sich haben will.
(2.1) 1171b7 f. „und wenn er nicht übermäßig unempfindlich für Schmerz
(alypia) ist“: Der Text ist umstritten, denn es ist zunächst schwer einzusehen,
warum von Menschen, die Kummer haben, eigens hervorgehoben wird, dass
sie nicht übermäßig unempfindlich für Schmerz sein sollen. Wenn der Satz
nicht an die falsche Stelle geraten ist (vgl. Bywaters Apparat), muss gemeint
sein, dass ihr eigener Kummer sie nicht unempfänglich für den Schmerz an-
derer gemacht hat und sie es deshalb nicht ertragen, ihre Freunde mitleiden
zu sehen.
(2.2) 1171b10 „Schwache Frauen (gynaia) und Männer dieser Art“: Das Di-
minutiv (‚Frauchen‘), das Aristoteles sonst nirgends verwendet, zeigt an,
dass nicht alle Frauen zum Wehklagen neigen. Aristoteles ist hier anschei-
nend in der Erfindung passender Termini für das Mitwehklagen und Mit-
jammern besonders kreativ, jedenfalls gibt es für die meisten dieser Bezeich-
nungen sonst keine Belege in klassischer Zeit.
(3) 1171b12–19 „In Glücksfällen macht die Anwesenheit von Freunden das
Zusammensein erfreulich“: Hier geht es um gemeinsames Tätigsein, das
durch Glückszufälle möglich wird, sowie um die Wahrnehmung, dass sich
die Freunde darüber freuen. Daher soll man sie in solchen Fällen herbeiru-
fen. In Unglücksfällen soll man sie dagegen nur herbeirufen, wenn sie ohne
große Mühen für sich selbst Hilfe leisten können. Gemeint sind offensicht-
lich materielle Hilfeleistung und Beistand, nicht das Teilen des Kummers.
(3.1) 1171b18 „Genug, dass ich unglücklich bin“: Der anonyme Kommen-
tar (207, 22) und Michael von Ephesos (525, 7–9) sagen zwar, dass das Zitat
aus einer Tragödie stammt, nennen aber weder den Dichter noch den Na-
Buch IX, Kapitel 12 919
men des Stücks. Bei Sophokles, König Ödipus 1061 findet sich: halis nosous’
egô – „ich bin krank genug“, bei Euripides, Orestes 240: halis echô tou dy-
stychein – „Ich habe schon genug Unglück“ (vgl. dazu G/J II 2, 764–768).
(1) 1171b29–1172a1 „Verhält es sich nun also nicht so: Wie es Verliebten am
liebsten ist, einander zu sehen“: Verliebte wollen einander sehen, weil dieses
wechselseitige Sehen die Liebe zueinander erhält. Die Analogie mit Verlieb-
ten soll bestätigen, dass Freundschaftsverhältnisse dem Sein des Freundes
ebenso wie auch dem eigenen Sein gelten. Diese Erklärung gilt also nicht nur
für die elitären Freundschaften zwischen Guten, wie man nach Kap. 9 mei-
nen könnte, sondern für das Zusammenleben aller Menschen. In der Wahr-
nehmung des Seins des Freundes ist zugleich auch die des eigenen Seins ent-
halten. Und so wie einem das eigene Leben lieb und teuer ist, so ist es auch
das Leben des Freundes.
(2) 1172a1–8 „Was auch immer für einen jeden das Sein bedeutet oder wes-
wegen jeder zu leben wünscht“: Wie sich hier zeigt, geht es nicht um das
bloße Bewusstsein des eigenen Lebens, d.h. um die reine Tatsache, dass man
lebt, sondern um den jeweiligen Lebensinhalt, um das ‚Weswegen‘ man zu
leben wünscht, d.h. um die bevorzugte Tätigkeit. Die Wahrnehmung des
gemeinsamen Tätigseins ist eine Art von Bestätigung des Werts des eigenen
Tuns.
(2.1) 1172a3 f. „Daher trinken (sympinein) die einen zusammen, andere wür-
feln zusammen (synkybeuein)“: Es kommt einigermaßen überraschend, dass
die meisten der aufgezählten gemeinsamen Tätigkeiten von – für Aristote-
les – sehr niedrigem Niveau sind. Das gilt auch für den gemeinsamen Sport
und die Jagd, also die üblichen Beschäftigungen der nicht auf Arbeit ange-
wiesenen Oberklasse. Zwar beschränkt sich das ‚gemeinsame Trinken‘ ver-
mutlich nicht auf das Bechern, wie Platons Symposion zeigt, sondern schließt
auch anspruchsvollere Unterhaltung mit ein; die Aufzählung der verschie-
denen Tätigkeiten scheint aber bewusst schlicht gehalten, weil Aristoteles
abschließend deutlich machen will, dass seine Analyse des Zusammenlebens
für Freundschaften aller Art gilt, die man um ihrer selbst willen sucht. Die
Nutzenfreundschaft ist dagegen keine Basis für ein Zusammenleben dieser
Art, weil der Nutzen, anders als Vergnügen und tugendhaftes Handeln, kein
letztes Ziel ist.
Buch IX, Kapitel 12 921
Buch X
Allgemeine Vorbemerkungen
Dieses Buch besteht aus drei heterogenen Teilen. Die Kapitel 1–5 enthalten
Version B der Lustabhandlung; Kapitel 6–9 eine Erörterung verschiedener
Formen des Glücks, der eudaimonia. Den Abschluss macht Kapitel 10 mit
der Erörterung der Erziehung der Bürger, insbesondere der Gesetzgeber. Es
stellt zugleich den Übergang zur Politik her.
Die erneute Erörterung der Lust in X 1–5 (Version B) ist anscheinend das
Resultat einer Neubearbeitung von VII 12–15 (Version A). Obwohl auch hier
sowohl pro- wie auch anti-hedonistische Positionen zu Wort kommen, liegt
der Schwerpunkt auf Aristoteles’ eigener Konzeption der Lust, zu der er in
Version A nur beiläufig Andeutungen gemacht hat (einen erhellenden Ver-
gleich der beiden Versionen bietet Harte 2014). Der Anfang von Version B
ist allerdings ähnlich gestaltet wie der von Version A: Er hebt zuerst die Be-
deutung von Lust und Schmerz für die Ethik hervor und geht anschließend
auf unterschiedliche Bewertungen der Lust ein. Ausgangspunkt ist aber kein
systematisch gegliederter Katalog anti-hedonistischer Argumente, sondern
eine Gegenüberstellung der Auffassungen, die Lust sei das Gute und die Lust
sei schlecht; beide werden anschließend einer eingehenden kritischen Prü-
fung unterzogen (Kap. 2). Obwohl auch Einwände gegen den pro-hedonisti-
schen Standpunkt vorgebracht werden, wendet sich das Gros der Einwände
gegen die Rechtfertigung anti-hedonistischer Argumente. Dazu gehört auch
die auf Platon zurückgehende Auffassung, die Lust sei eine Art von Verän-
derung, ein Werden oder ein Ausgleich für einen Mangel.
Auf diesen kritischen Überblick folgt eine Bestimmung des Wesens der
Lust. Zunächst wird die Lust als etwas ihrer Form nach zu jedem Zeitpunkt
Vollkommenes dargestellt, im Unterschied zu unvollkommenen Vorgängen
(Kap. 3). Anders als in Version A, wird die Lust nicht einfach mit ungehin-
dertem natürlichem Tätigsein gleichgesetzt, sondern als ein integraler Be-
standteil und ‚Krönung‘ vollkommener Tätigkeiten bestimmt (Kap. 4). Die
Lust ist somit kein eigenständiges psychisches Phänomen, wie etwa Wahr-
Buch X, Allgemeine Vorbemerkungen 923
höchste Gut als eine Art ‚Organisationsprinzip‘ fungiert, derart, dass sich
daran ein Netzwerk aus Zielen, Handlungen und Projekten praktischer Art
anschließt, die auch um ihrer selbst willen erstrebt werden. Wie das kontem-
plative Leben Ansatzpunkt für ein derartiges Netzwerk sein soll, vermag sie
aber nicht plausibel zu machen. Denn wie sich aus der Konzentration auf
das unveränderliche Ewige das Bedürfnis ergeben soll, sich auch am Ge-
meinschaftsleben zu beteiligen („because it expresses our human nature“,
62), lässt sich deswegen nicht erklären, weil Aristoteles gar nicht sagt, dass
die theôria auch der menschlichen Natur gilt oder den Menschen als zôon
politikon auszeichnet. Es ist auch nicht plausibel, dass die ‚Angleichung an
Gott‘ eine Art lebensbestimmende mimêsis sein soll, die auf einer Ähnlich-
keit zwischen theoretischer und praktischer Vernunft beruht. Von mimêsis
ist in EN X überhaupt nicht die Rede, und eine Angleichung (1178b27: ho-
moiôma) wird nur der theoretischen Vernunft an den göttlichen nous zuge-
billigt, nicht aber der praktischen an die theoretische Vernunft. Für Kants
Postulat einer ‚gemeinsamen Wurzel‘ der theoretischen und der praktischen
Vernunft gibt es bei Aristoteles keine Anzeichen.
Während manche Interpreten in dieser Zweiteilung schlechtweg einen
Bruch in der aristotelischen Konzeption des guten Lebens sehen (Ackrill
1997, 199: ‚broken-backed theory‘; Hardie 1965; Bostock 2000), haben an-
dere Interpreten diesen Textabschnitt als ein Relikt aus einer früheren Phase
des aristotelischen Denkens zu erklären versucht.
Wie in der Einleitung vorgeschlagen (§ 6), bietet sich als Quelle eine
Schrift aus Aristoteles’ Frühzeit an, von der wir in der Politik (VII 2 + 3)
erfahren. Denn bei der Suche nach der besten Staatsform geht Aristoteles
dort zunächst auf die Frage ein, ob das Leben von Bürgern in Gemeinschaft
besser ist als das Leben eines Philosophen, der wie ein Fremder (xenikos)
von der Gemeinschaft abgesondert lebt (2, 1324a13–19). Es spricht viel da-
für, dass er sich auch damit auf eine Kontroverse innerhalb der Akademie
bezieht, welche die Rolle zum Gegenstand hatte, die der Philosoph in der
Polis einnimmt. Zu dieser Kontroverse dürfte Aristoteles einen eigenen, di-
alektisch zugespitzten Beitrag geleistet haben, auf den er in Politik VII und
in EN X zurückgreift. In der Politik lässt er die Frage nach der Priorität des
Praktischen und des Theoretischen zunächst offen, sondern wendet sich der
Erörterung der besten Staatsform zu. Es ist jedoch signifikant, dass er dort
anschließend die ‚Muße‘ (scholê) als Kennzeichen des Lebens der politisch
aktiven Bürger behandelt (VII 14 + 15), die er den Politikern in EN X 7
ausdrücklich abspricht. Da in der Ethik von Muße sonst nirgends die Rede
ist, dürfte dieser Begriff derselben Quelle entstammen, nämlich der Kontro-
verse, auf die Aristoteles auch in Politik VII zurückgreift.
Wie Aristoteles bei der Erörterung der Lust, sowohl in Version A wie in
Version B, auf Material zurückgreift, das aus Kontroversen in der Akademie
926 Kommentar
stammt, so tut er das auch bei der abschließenden Behandlung des Glücks.
Wenn er auf dieses Textstück zurückgegriffen hat, so dürfte das seiner Un-
zufriedenheit mit der sehr verkürzten Zusammenfassung zu dieser Frage in
EE VIII geschuldet sein. Zu einer Anpassung seines frühen Beitrags zu der
Kontroverse an den Kontext ist er in EN X 7–9 offensichtlich nicht mehr ge-
kommen. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, unnötige Verschärfungen des
Gegensatzes zwischen der theoretischen und der praktischen Lebensform
abzuschwächen. Dazu hätte es nur weniger redaktioneller Veränderungen
bedurft: Die theôria ist zwar die beste Tätigkeit, deren der Mensch fähig ist,
nur wenige eignen sich jedoch dafür; zudem ist auch der Philosoph von Na-
tur aus ein zôon politikon. Denn es ist die Gemeinschaft, die nicht nur Spra-
che, Erziehung und Bildung vermittelt, sondern es sich auch angelegen sein
lässt, für Gelegenheit zu gemeinschaftlichem Philosophieren (IX 12, 1172a5:
symphilosophein) zu sorgen.
Für die Annahme, dass Aristoteles zu einer Überarbeitung und Anpas-
sung dieses Textstücks nicht mehr gekommen ist, spricht vor allem die Tat-
sache, dass Kapitel 10 von diesem Panegyrikon auf das theoretische Leben
gar keine Notiz nimmt. Vielmehr wendet es sich unvermittelt wieder dem
eigentlichen Thema der Ethik zu, nämlich wie den Menschen die Tugend
zu vermitteln und wer für ihre Erziehung verantwortlich ist. Die Antwort
auf diese Frage wird ebendort gesucht, wo sie nach EN I 1 ihren Ort hat:
bei den Gesetzgebern und den Voraussetzungen guter Gesetzgebung. Dieses
Schlusskapitel wird von Interpreten oft vernachlässigt, weil sie der Ansicht
sind, es sei bloß als ‚Brücke‘ zur Politik gedacht. Sie übersehen dabei, dass
dieses Kapitel den ‚zweiten Pfeiler‘ des Gebäudes der EN enthält, dessen
erster Pfeiler EN I 1 darstellt, nämlich das Versprechen einer ‚Meisterwis-
senschaft des Lebens‘, die durch gute Gesetze für das gute Leben der Bürger
sorgt. Gute Gesetzgebung ist daher der ‚zweite Pfeiler‘ der Ethik. Dass es
für die Erziehung von Gesetzgebern notwendig ist, dem Studium der Ethik
das Studium der Politik folgen zu lassen, stellt daher keinen Themenwech-
sel dar. Da der Mensch ein zôon politikon ist, ein für das Leben in der Polis
bestimmtes Lebewesen, gehören die gute Ordnung der Polis und entspre-
chende Gesetze zu den unverzichtbaren Voraussetzungen des guten Lebens.
Sie sind das Thema der Politik.
für die vorliegende Untersuchung hervor und wendet sich dann gegen den
Versuch, die Lust nur aus pädagogischen Gründen als schlecht hinzustellen:
(1) 1172a19–27: Eine Untersuchung der Lust ist für Erziehung, Charakter
wie auch für die richtige Lebensführung überhaupt wichtig. (2) 1172a27–b8:
Eine ‚präventive‘ negative Bewertung der Lust muss sich als unwirksam er-
weisen.
(1) 1172a19–27 „Danach sollte wohl eine Untersuchung der Lust folgen“:
Die neue Einleitung in das Thema ‚Lust‘ stellt eine Präzisierung gegen-
über der von Version A dar. Denn VII 12, 1152b1–8 hebt nur allgemein die
Wichtigkeit von Lust und Schmerz für die Bestimmung von Tugenden und
Schlechtigkeiten sowie für die des Glücks hervor. Die gegenwärtige Fas-
sung stellt auch auf das ‚Wie‘ ab. Sie nimmt Bezug auf die Grundlegungen in
EN II 2, wonach Lust und Schmerz insofern die Mittel zur Steuerung der
Menschen durch die Erziehung sind, als die Menschen lernen, an dem Freude
zu haben, woran man es soll, wie umgekehrt auch zu hassen, was man soll.
Diese Erziehung legt zugleich den Charakter und die Vorstellungen vom
glücklichen Leben fest und veranlasst die Menschen, gute Handlungen zu
wählen, ihr Gegenteil zu meiden.
(1.1) 1172a21 „steuert (oiakizein)“: Die Rede von der ‚Steuerung‘ durch
Lust und Schmerz erinnert an das sog. ‚Marionettengleichnis‘ bei Platon
(Leg. I 644d–645c), das den Menschen von den eisernen Drähten von Lust
und Schmerz gelenkt sein lässt, die ihrerseits wieder am ‚goldenen Leit-
seil der Vernunft‘ hängen. Dass die Erziehung im Wesentlichen durch Lust
und Schmerz bewirkt wird, ist ein wesentlicher Gesichtspunkt von Platons
Nomoi.
(1.2) 1172a27 „zumal sie Anlass für eine erhebliche Kontroverse (amphis-
bêtêsis) sind“: Diese Kontroverse, die in der Akademie stattgefunden zu ha-
ben scheint, über die Natur von Lust und Schmerz und ihre Bewertung liegt
offensichtlich auch Version A zugrunde. Dort ist Aristoteles aber von einer
Konfrontation mit den verschiedenen Positionen der ‚Lustgegner‘ ausge-
gangen, d.h. mit denjenigen, welche die Lust für gar nichts Gutes, die meis-
ten Arten für schlecht oder doch nicht für das höchste Gut halten. Hier
kommen hingegen sowohl die Befürworter wie auch die Gegner der Auffas-
sung zu Wort, die Lust sei etwas Gutes/das Gute.
(2) 1172a27–b8 „Die einen sagen nämlich, die Lust sei das Gute, die anderen
dagegen, sie sei durchweg schlecht“: Hier geht Aristoteles von einer Dicho-
tomie zwischen einer uneingeschränkt pro-hedonistischen und einer unein-
geschränkt anti-hedonistischen Einstellung aus. Als Befürworter wird im
Folgenden Eudoxos vorgestellt; Protagonist der anti-hedonistischen Auf-
fassung dürfte Speusippos sein, der hier allerdings nicht mit Namen genannt
928 Kommentar
wird. Auf beide Positionen geht Aristoteles im Folgenden kritisch ein. Zu-
nächst ist es ihm jedoch um den Nachweis der Unsinnigkeit des Versuchs zu
tun, aus pädagogischen Gründen eine strikt anti-hedonistische Einstellung
zu vertreten.
(2.1) 1172a29–33 „die anderen meinen jedoch, es sei besser für unsere Le-
bensführung, die Lust als etwas Schlechtes hinzustellen, auch wenn sie es
nicht ist“: Die Verwendung der indirekten Rede spricht dafür, dass eine be-
kannte Empfehlung angesprochen wird. Mitglieder der Akademie könnten
diese ‚fromme Lüge‘ empfohlen haben.
(2.2) 1172a34 f. „Denn im Bereich der Affekte (pathos) und Handlungen
(praxis) sind Reden weniger glaubwürdig als Taten“: Junge Menschen rich-
ten sich mehr nach dem tatsächlichen Verhalten ihrer Vorbilder als nach ih-
ren Reden. Reden gegen die Lust in toto sind auch deswegen schädlich, weil
sie den Schülern nicht die notwendige Differenzierung zwischen guten und
schlechten Arten vermitteln.
(2.3) 1172b7 f. „Lasst uns nun durchgehen, was man über die Lust gesagt hat
(ta eirêmena)“: Es geht hier nicht um allgemein ‚herrschende Meinungen‘,
sondern um tatsächlich vorgebrachte Argumente. Denn der anschließende
Bericht über Eudoxos’ Position ist im historischen Imperfekt gehalten.
Aristoteles scheint sich auf eine Debatte zu beziehen, bei der er entweder
selbst zugegen war oder über die er genauere Berichte gehabt hat. Die Auf-
zählung verschiedener Meinungen legt nahe, dass Aristoteles sich auf Noti-
zen stützt. Ob Platon, zu dessen Lebzeiten sich diese und ähnliche Debatten
in der Akademie abgespielt haben müssen, sich daran beteiligt hat, entzieht
sich unserer Kenntnis (vgl. dazu Frede 2018).
letzten Abschnitt nimmt Aristoteles Argumente auf, die teils dieselben, teils
verschieden von den unter ‚Ferner‘ vorgebrachten Argumenten in VII 12,
1152b15–20 sind.
(1) 1172b9–35: Die Begründung der Gleichsetzung der Lust mit dem Guten
durch Eudoxos wird kurz vorgestellt und kritisiert. (2) 1172b35–1173a13:
Auch die gegnerische These, die Lust sei kein Gut, lässt sich nicht halten.
(3) 1173a13–b20: Ein Katalog einzelner ‚technischer‘ Einwände gegen die
Lust wird zurückgewiesen. (4) 1173b20–1174a12: Aus der Analyse weiterer
kritischer Einwände gegen die Lust ergibt sich, dass zwischen verschiedenen
Arten von Lust und ihren Ursprüngen zu unterscheiden ist.
(1) 1172b9–35 „Eudoxos war nun der Meinung, die Lust sei das Gute“: Eu-
doxos von Knidos war der bedeutendste Mathematiker und Astronomen
seiner Zeit. Über seine Lebensdaten besteht keine Gewissheit (verm. 395–
342). Das gilt auch für seine Zeit in Athen und sein Verhältnis zu Platon.
Er muss der Akademie aber zumindest nahe gestanden haben, denn er soll
mit einer Schar von Schülern aus Kyzikos nach Athen übergesiedelt sein
(Diogenes Laertius VIII 87). Auch stammt von Eudoxos das astronomi-
sche Modell des Timaios, wonach die Planetenbahnen Kombinationen von
Kreisbahnen sind (vgl. auch Aristoteles, Met. L 8, 1073b17–32). Ob Eudo-
xos seine philosophischen Vorstellungen in schriftlicher Form festgehalten
oder nur mündlich vorgetragen hat, ist unklar. Der Bericht des Aristoteles
legt aber nah, dass Eudoxos selbst bei einer bestimmten Gelegenheit seine
Auffassung über die Lust vorgetragen hat. Auch mit der platonischen Ide-
enlehre hat Eudoxos sich befasst, denn Aristoteles schreibt ihm an anderer
Stelle eine Konzeption immanenter statt transzendenter Ideen zu, die er frei-
lich als unhaltbar zurückweist (Met. A 9, 991a14–20; Lasserre 1966, D 1–2).
Eudoxos’ Theorie, die Lust sei das Gute, beruht auf mehreren Argu-
menten: (i) Das naturalistische Argument: Alle Lebewesen streben nach
Lust; wie sie ihre Nahrung finden, so finden sie auch das für sie selbst Gute.
(ii) Das ‚Argument aus dem Gegenteil‘: Wie der Schmerz zu meiden ist, so
ist die Lust zu suchen. (iii) Die Lust als Ziel: Sie wird um ihrer selbst und
nicht um etwas anderen willen gewählt. (iv) Die Lust als Ingredienz: Sie
macht alles andere noch wählbarer. Nicht alle diese Punkte werden im Fol-
genden aufgenommen, bestätigt oder kritisiert.
(1.1) 1172b10–15 „weil man sieht, dass alles nach ihr strebt“: Eudoxos hat
anscheinend vorausgesetzt, dass die Lust etwas Einheitliches ist, zu dem alle
Lebewesen eine natürliche Affinität haben. Die Formulierung der Begrün-
dung ‚wonach alles strebt‘, hat man verschiedentlich als Verweis auf Pla-
tons Philebos gedeutet (20d: Das Gute ist das Vollkommenste, hinreichend
und wird von allen begehrt, die es kennen). Gosling 1975 sieht in Eudo-
930 Kommentar
xos sogar die philosophische Autorität, die nicht nur für die Theorie der
Lust in Platons Philebos verantwortlich ist, sondern auch für die metaphysi-
schen Annahmen in diesem Dialog. Gegen solch weitreichende Folgerungen
spricht aber die Tatsache, dass Aristoteles Eudoxos offensichtlich eine allzu
schlichte, rein naturalistische Theorie der Lust unterstellt, ohne metaphysi-
sche Grundlagen oder eine Verbindung mit mathematischen Vorstellungen.
(1.1.1) 1172b10–12 „Vernünftiges (elloga) ebenso wie Vernunftloses (aloga)“:
Da der Ausdruck ellogos (ek-logos) = ‚vernünftig‘ im attischen Griechisch
sonst nicht vorkommt, nimmt man an (Bonitz, Ind. Ar. 239b10; Grant 1866
ad loc.), dass Aristoteles Eudoxos wörtlich wiedergibt, vielleicht stammt
von ihm auch die ungewöhnliche Kombination zweier Superlative ‚das am
meisten Beste‘ (to malista kratiston) und ‚das zu wählende Gute‘ (to haire-
ton to epieikes).
(1.2) 1172b18–25 „Diesen Argumenten hat man aber mehr Eudoxos’ tugend-
haften Charakters wegen als um ihrer selbst willen Glauben geschenkt“: Das
historische Imperfekt spricht dafür, dass es eine solche Diskussion in der
Akademie gegeben hat und Aristoteles vermutlich auch zugegen war. Ob-
wohl Aristoteles selbst anfangs der Maxime zugestimmt hat, das Gute sei
dasjenige, wonach alles strebt (I 1, 1094a3), kann er der globalen Gleich-
setzung der Lust mit dem Guten und der Begründung nicht zustimmen,
Vernünftiges wie Unvernünftiges strebe nach ihr und wisse sie zu finden,
so wie alles seine Nahrung findet. Aus dieser Analogie lässt sich nämlich
nicht schließen, dass die Lust das Gute ist: Eudoxos hat weder gezeigt, dass
alle Tiere ihre Nahrung suchen, weil sie ihnen Lust bereitet, noch auch, dass
es das einzige ist, was sie suchen, oder dass darin das für sie Gute besteht.
Diese Mängel scheinen auch die Teilnehmer an der Diskussion gesehen zu
haben, wie Aristoteles’ etwas gönnerhafte Erklärung über ihre Reaktion an-
zeigt (zur Beurteilung von Eudoxos’ Position im Einzelnen, ihres Einflusses
auf die Philosophen der hellenistischen Zeit und spätere Interpretationen
der Position des Eudoxos vgl. Warren 2009).
(1.2.1) 1172b18–20 „Er hielt die Sache aber für nicht weniger klar, wenn man
vom Gegenteil ausgeht“: In Version A wird Eudoxos zwar nicht nament-
lich genannt; von ihm dürfte aber das ‚Argument aus dem Gegenteil‘ stam-
men, dass der Schmerz als solcher etwas Schlechtes ist. Es ist das Argument,
das Speusippos dadurch zu widerlegen suchte, dass er Lust und Schmerz als
zwei einander entgegengesetzte Übel darstellte (14, 1153b1–5: elye). Dem
Prinzip, dass der Schmerz grundsätzlich schlecht ist, stimmt Aristoteles in
Version A zwar grundsätzlich zu (Kap. 14), nicht aber dem Schluss, dass die
Lust daher das Gute ist.
(1.2.2) 1172b20–22 „Im höchsten Grad wählenswert sei aber dasjenige, was
wir weder aufgrund von etwas anderem (di’ heteron) noch um eines ande-
ren willen (heterou charin) wählen“: Das Prinzip selbst erkennt Aristoteles
Buch X, Kapitel 2 931
an, da er sich selbst darauf zur Begründung dafür beruft, dass das Glück das
höchste Gut ist, und es dort ‚offensichtlich‘ nennt (I 1, 1094a18–22; vgl. auch
Top. III 1, 116a29–39). Warum er es im Fall der Lust nicht für ausreichend
hält, zeigt sich erst später: Lust ist nichts für sich Bestehendes, sondern sie
ist immer Lust an etwas, auf etwas oder über etwas, so dass zwischen un-
terschiedlichen Arten zu unterscheiden ist, je nach ihrem Gegenstand und
ihrem Ursprung.
(1.2.3) 1172b22 f. „denn niemand fragt, zu welchem Zweck man sich freut“:
Auch Aristoteles beruft sich manchmal auf den Sprachgebrauch oder auf all-
gemeine Verhaltensweisen, wenngleich meist nur ex negativo: Dass niemand
so spricht oder niemand etwas Bestimmtes tut, ist ein Anzeichen, dass die
Dinge sich nicht so verhalten (III 4, 1112a1 et pass.). Mehr als ein Indiz sieht
Aristoteles darin allerdings nicht. Er dürfte in dieser Frage aber Eudoxos
zustimmen, so wie er ihm darin beigepflichtet hat, dass Lust zu den besten
Dingen gehören muss, weil man sie nicht zu loben, sondern zu preisen pflegt
(I 12, 1101b27–31).
(1.2.4) 1172b23–25 „Auch mache sie jedes der übrigen guten Dinge, dem
man sie hinzufügt, noch wählenswerter“: Dass Eudoxos ein Argument vor-
gebracht haben soll, welches die Lust als ein Additiv behandelt, das somit ei-
nen ‚höheren‘ Wert anderer Dinge rechtfertigt, ist seit Spengel verschiedent-
lich bezweifelt worden, weil Eudoxos die Lust doch für das höchste Gut
hält (vgl. Stewart 1892, II 406). Das schließt aber nicht aus, dass er daneben
auch noch andere Güter anerkennt, die durch die Lust noch erhöht werden.
(1.3) 1172b26–35 „Dieses letzte Argument scheint nun zwar zu zeigen, dass
die Lust zu den Gütern gehört“: Dass Aristoteles nur auf die letzte Begrün-
dung antwortet, beruht wohl auf Bemühungen um Kürze. Additive Güter
setzen per se voraus, dass es auch noch anderes Gutes gibt. Dass das höchste
Gut prinzipiell nichts Additives sein kann, hat Aristoteles selbst für das
Glück damit begründet, dass es sonst nicht das höchste autarke Gut sein
kann (I 5, 1097b14–21). Nichts spricht aber dafür, dass Eudoxos, der vom
Guten für sämtliche Lebewesen spricht, derartige Bedingungen damit ver-
knüpft und eine Theorie vertreten hat, die eine derartige Hierarchisierung
von Gütern voraussetzt.
(1.3.1) 1172b28–31 „Mit einem Argument dieser Art widerlegt auch Platon,
dass die Lust das Gute ist“: Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen
Aristoteles sich in einer Kritik an Dritten auf Platon beruft. Da Platon im
Präsens zitiert wird, muss die Passage in Philebos 20d–22a gemeint sein, an
der Sokrates seinem Partner Protarchos die Einsicht aufnötigt, ein aus Lust
und Vernunft gemischtes Leben sei dem Leben der Lust allein vorzuziehen,
weil ein Leben ohne das Wissen, dass man Lust erfährt, erfahren wird oder
erfahren hat, für einen Menschen nicht erstrebenswert ist.
932 Kommentar
(1.3.2) 1172b34 f. „Was ist nun ein derartiges Gut, woran auch wir teilhaben
können?“: Wenn dies keine rhetorische Frage ist, die an Aristoteles’ eigene
Bestimmung des Glücks erinnern soll, muss sie als Aufforderung gemeint
sein, im Anschluss an diese Kritik an der Lust als ‚dem Guten‘ eine Lösung
zu suchen, welche die Lust als einen integralen Bestandteil des menschlichen
Lebens ausweist.
Denn außer der Möglichkeit, dass ein gutes Mittleres (die Schmerzfreiheit)
zwei Gegensätze hat, die beide schlecht und zu meiden sind, nämlich Lust
und Schmerz, scheint Speusippos auch die Möglichkeit einbezogen zu ha-
ben, dass es Gegensätze gibt, die weder gut noch schlecht sind. Das würde
die Bemerkung in 14, 1153b6 f. erklären, selbst Speusippos würde die Lust
nicht als schlecht bezeichnen. Da Aristoteles die Möglichkeit von neutralen
Gegensätzen jedoch als irrelevant für den vorliegenden Fall zurückweist,
lassen sich keine genaueren Rückschlüsse auf Speusippos’ Position ziehen
(vgl. dazu Warren 2009, 273–280).
(3) 1173a13–b20 „Doch auch wenn die Lust keine Art von Qualität ist“: Im
Folgenden geht Aristoteles einen Katalog verschiedener Einwände gegen die
Lust durch, um diese mehr oder weniger ausführlich zu entkräften. Da diese
Einwände überwiegend ‚technisch‘ formuliert sind, d.h. ein bestimmtes phi-
losophisches Vokabular verwenden und zudem hinreichende Vertrautheit
mit dem philosophischen Hintergrund voraussetzen, spiegeln sie anschei-
nend Diskussionen über die Lust innerhalb der Akademie wider, die Aristo-
teles als bekannt voraussetzt.
(3.1) 1173a13–15 „Qualität (poiotês)“: Dieser Einwand spricht dafür, dass
sich innerhalb der Akademie bereits eine Art rudimentärer Kategorienlehre
entwickelt hatte, auf die man sich in Auseinandersetzungen als gemeinsame
Basis berufen konnte, die neben ‚Wesen‘ auch ‚Qualität‘ und ‚Relation‘ ent-
hält, auf die sich Aristoteles auch in seiner Kritik an Platons Idee des Guten
bezieht (I 4, 1096a19–24; vgl. den Kommentar zu dieser Stelle). Der Ein-
wand hier beruft sich darauf, dass ‚Tugend‘ eine Qualität ist (zur Tugend
als Qualität vgl. Cat. 8, 8b25–35; EN I 10, 1099b31; III 4, 1112a2 et pass.).
Dass die Lust keine Tugend ist, bedeutet aber nicht, dass sie nichts Gutes ist,
denn auch Tätigkeiten und das Glück sind keine Qualitäten. Gutes gibt es
in sämtlichen Kategorien, nicht nur in der Kategorie der Qualität (vgl. I 4,
1096a24–27).
(3.2) 1173a15–28 „Ferner sagen sie, das Gute sei begrenzt (hôristhai), die
Lust hingegen unbegrenzt (aoriston), weil sie das Mehr und das Weniger
zulasse“: Auf die Gleichsetzung der Pythagoreer von Gutem mit Begrenz-
tem und von Schlechtem mit Unbegrenztem wurde zuvor schon verwiesen
(vgl. IX 9, 1170a19–24). Platon hat sie im Philebos zur Bestimmung der Lust
verwendet und dazu mit Hilfe des Gegensatzpaares von peras (Grenze) und
apeiron (Unbegrenztes) eine vierfache Einteilung alles Seienden eingeführt,
die neben Grenze und Unbegrenztem noch das aus beidem (harmonisch)
Gemischte und die Ursache dieser Mischung umfasst (Phlb. 23b–27c vgl.
dazu Frede 1997, 184–210). Als Kriterium für die Unbegrenztheit gilt, dass
der betreffende Gegenstand bzw. die Eigenschaft ein ‚Mehr und Weniger‘
934 Kommentar
zulässt, d.h. von sich aus kein bestimmtes Maß oder Grad hat. Zu dieser
Gattung von Seiendem gehört auch die Lust (Phlb. 27e–28a).
(3.2.1) 1173a17 „das Mehr (to mallon) und das Weniger (to hêtton)“: By-
water athetiert hier und in a25 den Artikel vor ‚Weniger‘. Er tut dies ver-
mutlich, weil Platon das Kriterium des ‚Mehr und Weniger‘ immer als Ein-
heit (to mallon (te) kai hêtton) kennzeichnet (Phlb. 24a et pass.). Aristoteles
hat dieses Kriterium in der Kategorienlehre aufgenommen, verwendet dort
aber beide Artikel, wenn das Prinzip selbst gemeint ist (vgl. Cat. 5, 3b33 f.
et pass.). Dieses Kriterium ist auch in der Erörterung der Freundschaft zur
Anwendung gekommen (VIII 2, 1155b13–16, vgl. dazu den Kommentar).
(3.2.2) 1173a17–28 „Wenn sie nun von ‚Lust erfahren‘ (hêdesthai) ausge-
hend so urteilen“: Den Gegnern wird unterstellt, dass sie in der Lust einen
Vorgang sehen, bei dem es ein Mehr und Weniger und daher keine Grenze
gibt. Dagegen wendet Aristoteles ein, dass es Grade nicht nur bei Tätigkei-
ten gibt, sondern auch bei guten Eigenschaften wie der Gerechtigkeit oder
der Tapferkeit: Ein Mensch kann mehr oder weniger tapfer und gerecht sein
als ein anderer und sich auch unterschiedlich tapfer und gerecht verhalten.
Dieser Einwand wird aber Platons Unterscheidung zwischen dem Begrenz-
ten und dem Unbegrenzten nicht gerecht. Denn Platon besteht nur darauf,
dass Gerechtigkeit und Gesundheit selbst jeweils ein bestimmtes Maß haben
und als solche kein Mehr und Weniger zulassen (Phlb. 26b). Er bestreitet
nicht, dass einzelne Menschen unterschiedlich gerecht und ungerecht sind
und sich entsprechend verhalten. Von der Lust nimmt er dagegen an, dass
sie als solche keine Grenze hat und nicht nur einzelne Vorkommnisse mehr
oder weniger lustvoll sind (Phlb. 27e–28a).
(3.2.3) 1173a22 f. „Wenn sie das aber von der Lust behaupten“: Den Geg-
nern wird vorgeworfen, dass sie ihre eigenen Unterscheidungen nicht be-
rücksichtigen, nämlich die zwischen gemischten (miktai) und ungemischte
Arten von Lust (amigeis). Platon unterscheidet in der Tat zwischen reinen
und mit Schmerz gemischten Arten von Lust, sowohl den Körper wie auch
die Seele betreffend, und nennt als Beispiele für die ungemischten Arten die
Lust an Sinneswahrnehmungen und am Lernen (Phlb. 44d–50e). Die Zu-
weisung der Lust zur Gattung des Unbegrenzten gilt aber nicht nur für die
gemischten, sondern auch für die reinen Arten der Lust, da auch sie ein Aus-
gleich für einen ‚ungefühlten Mangel‘ sind (Phlb. 50e–53c). Auch reine Ar-
ten von Lust sind daher eine Art von Werden (Phlb. 53c–55a).
(3.3) 1173a29–b4 „Wenn sie zudem das Gute als vollkommen (teleion), Ver-
änderungs- und Werdeprozesse dagegen als unvollkommen (ateleis) bestim-
men“: In diesem Punkt ist sich Aristoteles mit der gegnerischen Partei einig;
denn auch er sieht in Bewegungen und Prozessen unvollständige Aktivitäten
(Phys. III 1 + 2; Met. Θ 6, 1048b18–36). In Frage steht nur, ob die Lust als ein
Veränderungsprozess, als eine kinêsis oder genesis, anzusehen ist, wie Platon
Buch X, Kapitel 2 935
ter dem Begriff des ‚Werdens‘ zusammenfasst (Phlb. 53c–55a). Diese Vor-
stellung ist bereits in Version A kritisiert worden (VII 13, 1153a7–17, vgl.
dazu den Kommentar). Dort empfiehlt Aristoteles die Abänderung der Be-
stimmung der Lust: Sie ist kein ‚wahrnehmbares Werden‘, sondern eine ‚un-
gehinderte Tätigkeit der naturgemäßen Disposition‘. Hier unterlässt Aris-
toteles einen derartigen Generalangriff, sondern begnügt sich mit einem
bloßen Indizienbeweis gegen die Annahme, die Lust sei ein Werden: Zu je-
dem Werden gehört auch das entsprechende Vergehen. Wäre die Lust ein
Werden, so müsste der Schmerz das entsprechende Vergehen sein. Viel Wert
scheint Aristoteles auf dieses Argument mit Recht nicht zu legen. Der Lust
als ‚wahrnehmbarem Werden‘ stellt er nur den Schmerz als wahrnehmbares
Vergehen gegenüber; nicht jedes Werden oder Vergehen ist Platon zufolge
aber wahrnehmbar.
(3.5) 1173b7–13 „Auch sagen sie, der Schmerz sei ein Mangel (endeia) an
dem, was der Natur gemäß ist, die Lust eine Wiederauffüllung (anaplêrô-
sis)“: Diesen Aspekt von Platons Philebos (45b und 51b: endeia (Mangel);
31d: plêrôsis (Auffüllen)) hat Version A gar nicht aufgenommen. Platon
geht tatsächlich zunächst von Hunger, Durst und ähnlichen körperlichen
Mangelzuständen aus. Er macht jedoch sehr schnell deutlich, dass Lust und
Schmerz nicht im Auffüllen und Ausleeren des Körpers bestehen, sondern
solche physiologische Vorgänge nur insofern lust- oder schmerzvoll sind, als
sie die Seele ‚erschüttern‘ (Phlb. 33d–e: seismos). Davon nimmt Aristoteles
keine Notiz, so wie er übergeht, dass Platon auch Arten von Lust annimmt,
denen kein Schmerz vorangeht, wie der Lust am Lernen, an Wahrnehmun-
gen, an Erinnerungen und Hoffnungen (Phlb. 50e–53b).
(3.5.1) 1173b12 f. „während man leer wird (kenoumenos)“: Wie schon zur
Übersetzung angemerkt, wird hier Spengels Konjektur übernommen (zu
weiteren Konjekturversuchen vgl. den Apparat bei Susemihl). Das über-
lieferte ‚Geschnittenwerden‘ (temnomenos) ergibt keinen Sinn, denn es ist
nicht das Gegenstück zum Auffüllen. Es ist aber leicht zu sehen, wie es zu
diesem Versehen gekommen ist: Schneiden und Brennen waren Standard-
verfahren in der griechischen Medizin, auf die auch Aristoteles öfter ver-
weist (vgl. Cat. 4, 2a4; EN V 12, 1137a23–26 et pass.). Ein Schreiber, der den
Philebos nicht kannte, dürfte statt des ihm nicht geläufigen ‚Leerwerdens‘
das bekannte ‚Geschnittenwerden‘ eingesetzt haben.
(1) 1174a13–19 „Was die Lust oder welcher Art sie ist, dürfte deutlicher
werden, wenn wir die Frage von Anfang an (ap’ archês) aufnehmen“: Die
Behandlung der Lust ‚von Anfang an‘ sieht von allen bisherigen Argumen-
ten für und gegen die Lust ab. Zunächst wird aber keine Definition der Lust
gegeben, sondern nur am Beispiel des Sehens erklärt, was unter einer voll-
kommenen Tätigkeit zu verstehen ist: Sie ist zu jedem Zeitpunkt das, was
sie ist. Um zu kennzeichnen, dass vom Akt des Sehens die Rede ist, verwen-
det Aristoteles den Ausdruck horasis, den er anscheinend selbst als Nomen
zum Verb horan (= ‚sehen‘) geprägt hat. Mit opsis könnte nämlich auch das
bloße Sehvermögen gemeint sein (vgl. De an. II 1, 412b27 f. et pass.; De sens.
3, 439a12–17; Met. Θ 8, 1050a23–29). Die Besonderheit solcher Akte ist, dass
ihre Form (eidos) in jedem Augenblick vollkommen ist; sie stellen sich nicht
erst allmählich ein, und ihre Dauer macht keinen Unterschied: Was man
sieht, sieht man unmittelbar und ganz (zu dieser Konzeption vgl. Met. Θ
6, 1048b18–35; 8, 1050a34–b2). Entsprechendes soll auch für die Lust gelten.
Warum Aristoteles sich zunächst mit diesen Analogien begnügt, statt eine
Definition der Lust zu liefern, wird im folgenden Kapitel deutlich: Anders
als das Sehen ist die Lust keine eigenständige Tätigkeit oder Funktion der
Seele, sondern sie ist jeweils an Tätigkeiten in einer noch näher zu spezifi-
zierenden Weise gebunden.
(2) 1174a19–29 „Jede Veränderung (kinêsis) findet nämlich in der Zeit (en
chronôi) und eines Ziels wegen statt“: Aristoteles hat zwar die auf Platon
zurückgehende Vorstellung, die Lust sei eine Veränderung, u.a. mit der
Begründung zurückgewiesen, dass die Lust das Kriterium von Schnellig-
keit und Langsamkeit nicht erfüllt, welches Veränderungen auszeichnet
(2, 1173a29–b4). Hier nimmt er aber grundlegende Bestimmungen von Ver-
änderungen auf. Dazu gehört zum einen, dass ihre Teile oder Segmente von-
einander verschieden sind, zum anderen, dass sie erst mit ihrem Ziel vollen-
det sind.
(2.1) 1174a21 „in der ganzen oder in dieser bestimmten (toutôi) Zeit“: Der
Text ist hier wie auch im Folgenden unsicher. Es geht um die Festlegung
der Kriterien von Veränderung in der Zeit als ganzer oder innerhalb einer
bestimmten Zeit. Da es zu einem Zeitpunkt, sensu stricto, nach Aristoteles
keine Veränderung geben kann (s.u. 1174b9: ‚das Jetzt‘ – to nyn), spricht er
940 Kommentar
vage von ‚in der ganzen und in dieser bestimmten Zeit‘, d.h. innerhalb eines
bestimmten Zeitabschnittes.
(2.2) 1174a21–23 „In ihren Teilen und in dieser Zeit sind alle Bewegungen
unvollkommen“: Die von Bywater übernommene Lesart kai tôi chronôi ist
nur in Handschrift Kb enthalten; alle anderen Handschriften haben en de tois
meresi tou chronou. Da der Vergleich hier aber den Teilen der Bewegung und
nicht Teilen der Zeit gilt, könnte es sich um eine Randglosse handeln, die der
Schreiber von Kb nach dem Vorbild von Zeile 19 aufgenommen hat.
Auch von den ‚Teilen‘ der Veränderungen gilt, dass sie für sich genom-
men unvollkommen und überdies verschieden voneinander und vom Ablauf
als Ganzem sind. So sind sämtliche Tätigkeiten beim Bau eines Tempels un-
vollkommen, weil sie erst mit der Fertigstellung des Tempels ihre Vollkom-
menheit erreichen. Nun fragt man sich, warum die einzelnen Bausegmente
erst mit der Vollendung des Ganzen ihrer Form nach (1174a28: tôi eidei)
vollendet sein sollen. Die Erklärung dürfte sein, dass die einzelnen Segmente
wie das Fundament, die Säulen oder die Triglyphen (die dekorativen Teile
des Frieses) als Teile des Tempels erst mit dessen Vollendung vollendet sind.
(3) 1174a29–b5 „Entsprechendes gilt auch für das Gehen (badisis) und die
übrigen Arten von Bewegung“: Dass Aristoteles sich eingehender mit der
Ortsbewegung (phora) als einem weiteren Beispiel für die Unvollkommen-
heit von Bewegungen beschäftigt, soll zeigen, dass Unvollkommenheit nicht
auf Herstellungen beschränkt ist, bei denen klar ist, dass sie über die Tätig-
keit hinaus einem Produkt gelten, so dass diese Art von Veränderung erst
mit dessen Fertigstellung ihre Vollendung erreicht. Die Behauptung, auch
das Gehen sei eine unvollkommene Tätigkeit, könnte zunächst verwundern,
weil es sich – anders als beim Tempelbau − um eine homogene Tätigkeit han-
delt, so dass jeder Schritt als vollkommener Teil dieser Tätigkeit erscheint.
Aristoteles fragt sich aber nicht, ob man das Laufen um des Laufens willen
betreibt, sondern behandelt es als Beispiel für Fortbewegungen, die durch
ihren Anfangs- und Endpunkt bestimmt sind, durch das ‚Woher und Wo-
hin‘ (pothen – poi). Das gilt auch für jedes Teilstück der Bewegung. Das
reicht aus, um das Laufen als unvollkommene Tätigkeit zu kennzeichnen.
In Cael. IV 4, 311b33 nennt Aristoteles die Ortsbewegung sogar eine ‚gene-
sis des Woher und Wohin‘. − Dass das ‚Woher und Wohin‘ in seiner Kate-
gorienlehre keinen Platz hat, liegt daran, dass dort nur Substanzen und ihre
Eigenschaften analysiert werden, nicht aber Bewegungen und deren Bestim-
mungen.
(3.1) 1174a31 „Fliegen, Gehen, Springen“: Auf die Unterschiede zwischen
den verschieden Arten von Fortbewegung kommt es nicht weiter an; es wird
lediglich darauf hingewiesen, dass sie sämtlich insofern unvollkommen sind,
als nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Phasen jeweils dem Woher und
Buch X, Kapitel 3 941
Wohin nach verschieden sind. So ist das Durchlaufen eines ganzen Stadions
(= eine Laufstrecke von 600 Fuß, ca. 180 m) dem Ort nach verschieden von
dem seiner Teile, und die Teile sind wiederum verschieden voreinander. Die
Rede ist hier nicht vom Wettlauf (dromos), sondern nur von der Bewegung
des Laufens als solcher.
(3.2) 1174a34 „diese und jene Linie (grammê) zu durchlaufen“: Falls hier
geometrische Linien gemeint sind, so dürfte Aristoteles sagen wollen, dass
alles, was für physische Tätigkeiten des Laufens gilt, auch für die geistige Tä-
tigkeit des Durchlaufens von Linien gilt; denn jede Linie hat ihren eigenen
Ort, so dass es sich auch dabei um unterschiedliche Bewegungen handelt.
(3.3) 1174b2 f. „Genau ist über die Bewegung aber an anderer Stelle gespro-
chen worden“: Gemeint ist die Analyse der Ortsbewegung in der Physik
(III 1–3; V 1–4). Da alle Bewegungen aus Teilbewegungen bestehen, ist Ge-
genstand der Erörterung die unendliche Teilbarkeit, der alle kontinuierli-
chen Größen unterliegen (Phys. VI 1, 231b18–27). Auf eine Einbeziehung
von Veränderungen der Qualität und Größe nach verzichtet Aristoteles hier,
vermutlich weil sie nicht Gegenstand von Tätigkeiten sind, die zur Erhel-
lung der Lust etwas beitragen.
(3.4) 1174b4 „die meisten“ (hai pollai): Wenn Aristoteles bestimmte Aus-
nahmen nicht ausschließt, so vermutlich, weil er auf den Fall der Rotati-
onsbewegung nicht eingehen will, die zwar als Ganze vollkommen ist, sich
in ihren Teilen aber durch das Woher und Wohin unterscheidet. Es könnte
auch sein, dass er Fragen des Entstehens und Vergehens hier nicht aufneh-
men will, d.h. dass manche Dinge zwar in der Zeit erscheinen und wieder
verschwinden, ohne aber einem Prozess des Werdens und Vergehens zu un-
terliegen (vgl. Met. E 3, 1027a29–34).
(4) 1174b5–14 „Bei der Lust ist die Form (eidos) dagegen zu jeder beliebigen
Zeit vollkommen“: Die Betonung der ‚Form‘ soll hervorheben, dass es um
die Identität der Art nach geht, d.h. dass die Lust an etwas Bestimmtem je-
derzeit gleichartig ist und keine Entwicklung oder unterschiedliche Phasen
durchläuft. Das gilt etwa für die Lust an einem bestimmten Sinneseindruck
wie einem bestimmten Ton oder einer Farbe. In seiner Rechtfertigung der
Zeitlosigkeit der Lust geht Aristoteles jedoch über diese Annahme der Ho-
mogenität noch hinaus. Da er aber selbst vom Anfang und Ende einer Lust
gesprochen, bzw. vom schnellen ‚in Lust geraten‘ (2, 1173a34 f.), muss man
sich fragen, ob dasjenige, was einen Anfang und ein Ende hat, nicht auch
Zeit erfordert.
(4.1) 1174b9 „Was nämlich im ‚Jetzt‘ (en tôi nyn) ist, ist ein Ganzes“: Das
‚Jetzt‘ wird in der Physik nicht als ein Teil der Zeit, sondern nur als der
Grenzpunkt zwischen Früher und Später bestimmt, der keine Ausdehnung
hat (Phys. IV 10–13; bes. 10, 218a25–30). Die Zuschreibung vollkommener
942 Kommentar
Tätigkeiten zum ‚Jetzt‘ ist daher irreführend. Denn der Zeitpunkt hat nach
Aristoteles – wie der Punkt überhaupt − keine Ausdehnung und ist nicht
Teil der Zeit, so wie auch der Trennpunkt einer Linie kein Teil der Linie ist.
Dass das ‚Jetzt‘ hier in einem weiteren Sinn zu verstehen ist, der eine gewisse
Ausdehnung zulässt, scheint Aristoteles mit der Hervorhebung auszuschlie-
ßen, dass das ‚Jetzt‘ keine Teile hat. Er setzt es mit anderen Grenzbegriffen
wie dem Punkt und der Einheit gleich (1174b12 f.: stigmê, monas). Genau
genommen kann ‚im Jetzt‘ aber gar nichts stattfinden, nicht nur keine Bewe-
gung von A nach B, sondern auch keine vollkommene Tätigkeit. Wie es voll-
kommene Aktivitäten enthalten soll, ist daher unklar; vermutlich soll diese
hyperbolische Ausdrucksweise nur unterstreichen, dass das Tätigsein keine
bestimmte Zeit erfordert, sondern jederzeit vollkommen ist.
Dass vollkommene Aktivitäten zu jedem Zeitpunkt vollkommen
sind, hebt Aristoteles auch an anderer Stelle hervor. So sagt er in Met. Θ
6, 1048b33 f.: „Man sieht (hora) zugleich und hat gesehen (heôraken), man
denkt (noei) und hat gedacht (nenoêken)“ (vgl. auch De sens. 6, 446b2–5).
Dieser ‚linguistische Test‘, d.h. ob sich das Präsens zugleich mit dem Perfekt
(im Sinn des Perfektiven, nicht der Vergangenheit) verbinden lässt, unter-
scheidet vollkommene Tätigkeiten (energeiai), zu denen nichts hinzukom-
men muss, von unvollkommenen Tätigkeiten (kinêseis), für die das nicht
gilt. So kann man etwa nicht sagen, man baue ein Haus und habe ein Haus
gebaut, man gehe nach Athen und sei nach Athen gegangen. Nun wird die
Bedeutung der Stelle in Met. Θ 6 kontrovers diskutiert, denn der Text ist
nur in der späteren der beiden Handschriftentraditionen enthalten, weist
zahlreiche Korruptelen auf und passt nicht gut in den Kontext (vgl. die Be-
merkungen im Apparat bei Jaeger 1957). Manche Kommentatoren halten
ihn daher für eine spätere Ergänzung durch einen Herausgeber, der von der
Ethik ausgegangen ist (so das Ergebnis der ausführlichen Analyse des Texts
von Met. Θ 6, 1048b18–35 bei Burnyeat 2008). Falls dieser unsicher überlie-
ferte Einschub in Met. Θ 6 ein Derivat aus der Ethik ist, kann er daher nur
als Ergänzung und nicht als Kronzeuge für die Deutung der Lustkonzeption
der EN dienen.
Die ‚perfektive‘ Natur vollkommener Tätigkeiten bedeutet nicht, dass
solche Tätigkeiten keine Zeit in Anspruch nehmen. Man kann zwar sagen,
dass jemand, der ein gutes Leben führt, auch jeweils bereits ein gutes Leben
geführt hat, nicht aber, dass dieses Leben eine Tätigkeit ist, die keine Zeit er-
fordert; vielmehr gilt nur, dass für jeden Zeitpunkt gilt, zu dem man gut lebt,
dass man auch gut gelebt hat. Vielmehr fordert Aristoteles selbst für das Le-
ben und das Glück eine bestimmte Dauer (I 6, 1098a18–20), selbst wenn der
Zeitraum kurz sein mag (IV 8, 1124b6–9; IX 8, 1169a18–26).
(4.2) 1174b10 „dass manche zu Unrecht von einer Bewegung oder einem
Werden der Lust (tês hêdonês) sprechen“: Die auf Ramsauer zurückgehende
Buch X, Kapitel 3 943
Konjektur hat, im Unterschied zur überlieferten Lesart, nicht nur den Vor-
teil, dass der letzte Abschnitt nicht bloß wiederholt, dass die Lust keine Ver-
änderung und kein Werden ist, sondern begründet, dass es von ihr auch kein
Werden gibt. Damit wird auch die Erklärung in Zeile 12 verständlich, es gebe
auch keine Bewegung und kein Werden des Sehens und ähnlicher Ganzhei-
ten. So ergibt sich als allgemeines Fazit, dass es bei einer Ganzheit weder
Bewegung noch Werden gibt. Unter ‚Werden‘ versteht Aristoteles nämlich
einen wohldefinierten Prozess wie etwa das Werden eines Menschen (Met.
E 2, 1026b22–24). Nicht alles, was einen Anfang in der Zeit hat, beruht da-
her auf einem Werden, wie auch nicht alles, was in der Zeit ein Ende hat, ein
Vergehen hat. So tritt Akzidentelles zwar auf und wieder ab, es entsteht und
vergeht aber nicht, weil es nicht auf spezifischen Prozessen des Entstehens-
und Vergehens beruht.
Grundsätzlich ist zu fragen, ob die Gegnerschaft gegen die platonische
Theorie von der Lust als einem Werden Aristoteles zur Annahme einer Ge-
genposition provoziert hat, die gravierende Probleme mit sich bringt. Denn
die Bedingungen für eine ‚teillose Vollständigkeit‘ haben eine starke Be-
schränkung des Bereichs vollkommener Tätigkeiten und damit auch der
Lust zur Folge. Die Liste vollkommener Tätigkeiten fällt dann nämlich
ähnlich mager aus wie die von Platons Arten reiner Lust, die nur im Sehen
einzelner schöner Farben, im Hören einzelner natürlicher Töne, dem Ge-
nießen bestimmter Gerüche und im Lernen einfacher mathêmata besteht
(Phlb. 51b–52b). Schon das Anhören einer Melodie oder das Lesen eines
Buches durchläuft verschiedene Phasen und nimmt eine bestimmte Zeit in
Anspruch. Entsprechendes gilt auch für das Erfassen oder das Durchdenken
theoretischer Wahrheiten, selbst bei den Weisesten aller Weisen.
Gegen diese Einschränkung verweist Burnyeat mit anderen darauf
hin, dass sich die strikte Trennung von kinêsis und energeia von Met. Θ 6,
1048b34 f. im Text der EN gar nicht findet (Burnyeat 2008, 276: „a freak
performance“). Das ist zwar richtig; daraus lässt sich aber nicht schließen,
dass für Aristoteles vollkommene wie unvollkommene Tätigkeiten in glei-
cher Weise mit Lust verbunden sind. Dafür sprechen zwar die Beispiele, die
Aristoteles hier selbst verwendet, wie die Lust am Lernen, am Bauen, an
Gesprächen und am Anhören eines Musikstücks. Auch ist richtig, dass es
nicht in Aristoteles’ Interesse ist, die Lust auf einen allzu kleinen Anwen-
dungsbereich zu beschränken, so dass viele menschliche Tätigkeiten davon
gar nicht erfasst würden. Das Problem ist aber, dass er nicht darauf hinweist,
dass auch unvollkommene Tätigkeiten wie das Bauen, das Laufen etc. mit
einer Lust einhergehen, die zu jedem Zeitpunkt vollkommen ist. Zwar ist
gelegentlich von Lust an Veränderung die Rede, wie auch von mehr oder
weniger Lust (Burnyeat 2008, 269–272). Es bleibt aber unklar, wie das zu
den Vollkommenheitsbedingungen passt, die Aristoteles hier und im Fol-
944 Kommentar
genden für die Lust formuliert. Dass es aber nur der anti-platonische Elan
ist, der Aristoteles rhetorisch übers Ziel hinausschießen lässt, so dass er in
der Erklärung der Lust die vollkommenen Tätigkeiten in den Mittelpunkt
stellt und es deshalb versäumt, ausdrücklich auch unvollkommene Tätig-
keiten in seine Theorie der Lust einzubeziehen, ist zwar möglich, wie die
Verteidiger einer ‚großzügigen‘ Interpretation herausstellen (vgl. Harte 2014
mit Verweisen auf die entsprechende Literatur). Ginge es jedoch nur um die
Zurückweisung der platonischen Theorie, dann hätte der Nachweis ausge-
reicht, dass viele unvollkommene Tätigkeiten – wie etwa das Bauen eines
Hauses, das sportliche Laufen oder das Lesen eines Buchs − keine bloßen
Wiederherstellungen eines harmonischen Zustands sind, sondern auch für
sich genommen gute Tätigkeiten. Ein solcher Hinweis findet sich bei Aris-
toteles nicht nur nicht, sondern er bestreitet in toto, dass die Lust eine Ver-
änderung ist oder mit Veränderungen einhergeht.
(1) 1174b14–23 „Da jede Wahrnehmung in Bezug auf das jeweils Wahr-
nehmbare tätig ist“: Der verschachtelte Ausgangssatz legt am Beispiel der
Wahrnehmung dar, dass vollkommene Tätigkeiten die beste Verfassung des
Wahrnehmenden wie auch des betreffenden Gegenstands voraussetzen.
Wie zuvor das Sehen wird auch hier die Wahrnehmung als paradigmati-
sche Tätigkeit behandelt. Nur beiläufig fließt der Hinweis ein, dass sämtli-
che Bestimmungen in gleicher Weise auch für Urteilen und Denken gelten
(1174b21; b33–1175a1). Auf die Lust am Handeln geht Aristoteles nicht ein;
vermutlich, weil bei ihr die Vollkommenheitsbedingungen schwerer zu er-
klären wären. Sinneserfahrungen sind nicht nur allen Menschen vertraut,
sondern an ihnen lässt sich auch leicht einsichtig machen, dass die Vollkom-
menheit vor allem auf zwei Bedingungen beruht: auf dem Zustand des Ge-
genstands und auf der Verfassung des Tätigen. Denn bei Wahrnehmungen
liegt der Gegenstand außerhalb und ist unabhängig vom Wahrnehmenden
selbst; zudem hängt die Qualität der Wahrnehmung auch vom wahrnehmen-
den Organ ab. Wahrnehmungen sind die Effekte der Einwirkungen durch
Wahrnehmungsgegenstände auf das betreffende Organ (De an. II 5, 416b32–
417a20). So erzeugt z.B. die rote Farbe eines Objekts einen Roteffekt im
Auge, ein von einem Musikinstrument ausgehender Ton einen Toneffekt im
Ohr. Sind Gegenstand und Organ in der besten Verfassung, so entsteht eine
entsprechende Wahrnehmung, die zugleich lustvoll ist. Die Übertragung
dieses Modells auf das Denken ist nicht ganz einfach. Aristoteles geht zwar
in De anima scheinbar nahtlos von der Wahrnehmung zum Denken über
(II 5, 417a21–b28). Er sieht aber zum einen kein Denkorgan vor, das in
optimaler Verfassung sein könnte, zum anderen ist die Annahme opti-
maler Denk-Objekte problematisch, denn die noêmata, die man erfasst,
sollten immer dieselben sein (De an. III 8). Daher wäre es auch schwie-
rig zu erklären, wie es zu mehr oder weniger vollkommenen und daher
mehr oder weniger lustvollen Denktätigkeiten kommt. Einen Unterschied
macht allerdings die Art der Gegenstände des Denkens, wie aus EN VI
7, 1141a20–b2 zu schließen ist. So ist Unveränderliches ‚besser‘ als Verän-
derliches, und dies gilt auch für die Lust am Denken, wie sich im Folgenden
noch zeigt (5, 1176a2 f.)
Von einem Raffinement von Farb- oder Ton-Kombinationen ist nicht
die Rede. Die schönen Anblicke und Höreindrücke (1174b27 f.: horamata;
946 Kommentar
(2) 1174b23–31 „Die Lust macht nun die Tätigkeit vollkommen (teleioi)“:
War zuvor davon die Rede, dass die Lust vollkommene Tätigkeiten aus-
zeichnet (1174b16), wird hier die Lust als dasjenige dargestellt, was die Tä-
tigkeit vollkommen macht. Die Lust spielt aber keine aktive Rolle, wie das
Verb teleioun nahezulegen scheint, sondern sie ergibt sich beim Zusammen-
treffen aller Faktoren. Entscheidend ist die Art, wie die einzelnen Faktoren
zur Vollkommenheit beitragen. Der Vergleich mit dem Arzt und der Ge-
sundheit ist deswegen nicht sonderlich dazu angetan, die Verhältnisse zu er-
klären, weil der Patient zunächst nicht in vollkommener Verfassung ist: Die
Tätigkeit des Arztes muss vielmehr als Wirkursache vollkommen sein, um
die Gesundheit als die Vollkommenheit im Patienten zu bewirken. Im Fall
der Wahrnehmung wird dagegen auf allen Seiten Vollkommenheit voraus-
gesetzt: für den Gegenstand der Wahrnehmung (to aisthêton), für das Wahr-
nehmungsvermögen (aisthêsis) und für die Tätigkeit des Wahrnehmens; da-
bei stellt sich die Lust am Hören oder Sehen ein, wie die Gesundheit des
Patienten.
(2.1) 1174b30 f. „jedenfalls wenn beides vorhanden ist, sowohl was die
Wahrnehmung bewirkt (tou poiêsantos), wie auch was sie erfährt (tou pe-
ponthotos)“: Es scheint Aristoteles auf eine Klarstellung anzukommen, dass
Wahrnehmungen passive Eindrücke sind und dass Lust in solchen Eindrü-
cken bestehen kann. Dass auch diese passiven Eindrücke ‚Tätigkeiten‘ (ener-
Buch X, Kapitel 4 947
geia) der Seele sind, hebt Aristoteles andernorts eigens hervor (De an. II 5,
417a14–16) und prägt zur Kennzeichnung des ‚energetischen‘ Charakters
passiver Vorgänge auch das Kunstwort pathêsis (Phys. III 3, 202a21–b22; De
an. III 2, 425b26–426a11). Lustvoll sind also auch ‚Tätigkeiten‘ der Seele, die
in passiven Einwirkungen bestehen, wie das für die Wahrnehmungen gilt.
(3) 1174b31–1175a3 „Die Lust macht aber die Tätigkeit vollkommen (te-
leioi), nicht wie die zugehörige Disposition, sondern wie (hôs) ein hinzu-
kommendes Ziel (epiginomenon ti telos)“: Diesem Abschnitt gilt die beson-
dere Aufmerksamkeit der Kommentatoren; denn die Kennzeichnung der
Lust als ein ‚hinzukommendes Ziel‘ geht über das bisher Gesagte hinaus.
Was kommt hier wie hinzu? So prägnant dieser Zusatz aussieht, so viele Fra-
gen wirft er auf. Insbesondere ist unklar, ob das ‚wie‘ (hôs) im Sinne von ‚als‘
oder von ‚wie‘ zu verstehen ist. Gemeint sein kann eine Spezifikation der
Lust als eines zusätzlichen Ziels oder ein bloßer Vergleich, d.h. dass die Lust
sich so auswirkt, als sei sie ein zusätzliches Ziel, obwohl sie das nicht ist. Die
seit Ross übliche englische Übersetzung mit ‚supervenient‘ hat dieser Stelle
überdies eine gewisse Prominenz verliehen, denn ‚Supervenienz‘ ist Gegen-
stand intensiver Erörterungen in der gegenwärtigen Philosophie des Geistes.
Der moderne Begriff von Supervenienz setzt aber zwei verschiedene Berei-
che voraus, deren Eigenschaften einander genau entsprechen müssen, wie
etwa die Zustände des Bewusstseins und die des Gehirns. Dergleichen ist
hier nicht gemeint. Vermutlich will Aristoteles mit ‚hinzukommen‘ (epigig-
nesthai) einen gewissen Unterschied zum bloßen ‚einhergehen‘ (hepesthai)
signalisieren, von dem bisher öfter die Rede war, wenn von der Lust gesagt
wurde, sie gehe mit dem Handeln oder den Affekten einher (II 2, 1104b14 f.;
4, 1105b23). Vielmehr soll das ‚hinzukommen‘ anzeigen, dass die Lust kein
bloßes Beiprodukt, sondern ein besonderes Phänomen ist, das vollkommene
Tätigkeiten auszeichnet. Aristoteles geht allerdings nicht auf die Frage ein,
ob es auch vollkommene Tätigkeiten der beschriebenen Art gibt, die nicht
lustvoll sind. Vieles spricht aber dafür, dass er ebendies verneinen würde:
Was man auf perfekte Weise tut, weil alles zueinander passt, das tut man
auch mit Lust. Wenn das nicht unmittelbar überzeugt, so liegt das daran,
dass ein wichtiger Faktor hier nicht erwähnt wird: dass der Tätigkeit auch
ein entsprechendes Begehren zugrunde liegt.
(3.1) 1074b33 „so wie die Schönheit (hôra) bei denen, die in der Blüte ih-
rer Jahre stehen (tois akmaiois)“: Dieser Vergleich ist für Aristoteles’ Ver-
hältnisse ungewöhnlich poetisch, aber ebendeshalb auch schwer zu inter-
pretieren. So ist zunächst unklar, ob es sich bei den akmaioi um Jugendliche
handeln soll oder um Menschen am Höhepunkt des Lebens (zur akmê vgl.
EN VIII 1, 1155a11–15). Aristoteles pflegt aber sonst zwischen Jugend,
Hochblüte und Alter zu unterscheiden (vgl. dazu Rhet. II 12–14: die kör-
948 Kommentar
(4) 1175a3–10 „Warum empfindet dann aber niemand ständig Lust (syn-
echôs)?“: Angesichts der Attraktivität und scheinbaren Mühelosigkeit voll-
kommenen Tätigseins würde man erwarten, dass die dazu Befähigten stän-
dig Lust empfinden, zumal Beständigkeit bereits zuvor unter den Kriterien
besonders guter Tätigkeiten aufgeführt worden ist (I 11, 1100b15–17; IX 9,
1170a2–8). Daher sieht sich Aristoteles genötigt, einen Grund für die Un-
beständigkeit der Lust anzugeben. Er sieht ihn in der Ermüdbarkeit jedes
menschlichen Vermögens (1175a4: kamnei). Der Faktor der ‚Ermüdung‘
wird sonst auch zur Erklärung des grundsätzlichen Unterschieds zwischen
ewigen und zeitlich begrenzten Vorgängen im Universum herangezogen
(Met. Θ 8, 1050b20–34). Alle zeitlich begrenzten Aktivitäten sind mit Mühe
verbunden (epiponos). An dieser Stelle geht es aber um einen Punkt, auf den
Aristoteles sonst nicht eingeht, nämlich um den Reiz der Neuheit. Anfangs
sehen sich Denken und Wahrnehmung angesprochen (1175a7: parakeklê-
tai = ‚herbeigerufen‘), weil es etwas zu erfassen gibt. Weil diese Tätigkeit
allmählich an Spannung verliert (1175a10: parêmelêmenê = eig. ‚Nachlassen
der Stimmung‘), nimmt auch die Lust ab. Dass diese ‚Ermüdbarkeit‘ für das
reine Denken, die theôria, nicht gilt, wird im Folgenden noch Gegenstand
der Untersuchung sein (7, 1177a21–27). Auf die in Version A angesprochene
Störung durch einander entgegengesetzte Elemente in allen vergänglichen
Lebewesen rekurriert Aristoteles hier dagegen nicht (VII 14, 1154b20–25).
(5) 1175a10–17 „Man sollte aber meinen, dass alle Menschen (hapantes) nach
Lust streben, weil auch alle zu leben (zên) begehren“: Wie die Verwendung
von ‚alle‘ im Maskulin anzeigt, werden hier nicht alle Lebewesen einbezo-
gen, sondern vielmehr die Tatsache erklärt, dass die Menschen zwar grund-
sätzlich nach Lust streben, aber auf unterschiedliche Arten aus sind. Wenn
Aristoteles dazu das Stichwort ‚Leben‘ aufnimmt, so offensichtlich um Eu-
doxos’ Theorie in gewissem Umfang ihr Recht zu geben (2, 1172b10: „alles –
panta − strebt nach Lust“). Zugleich will er aber anzeigen, dass die Lust,
der dieses Streben gilt, nicht nur bei verschiedenen Lebewesen verschie-
den, sondern auch nicht bei allen Menschen dieselbe ist. Vielmehr wählt je-
der Mensch diejenige Lebensweise (zôê), die er besonders liebt, wie das die
Liebhaber von Musik oder von Erkenntnissen tun. Es sind ebendiese Tätig-
keiten, welche die Lust vollkommen macht – und damit auch das Leben als
solches. Von der Vielfalt möglicher Lebensinhalte ist sonst nur gelegentlich
die Rede (vgl. I 9, 1099a7–11), weil Aristoteles sich zumeist mit der Dicho-
tomie zwischen praktischer und theoretischer Lebensweise begnügt. Hier
wird aber deutlich, dass jeder Mensch die erforderlichen Fähigkeiten und
Neigungen für die fragliche Tätigkeit mitbringen muss, wie etwa Musiker
und Lernbegierige. Wenn Aristoteles hier vom philomathês und nicht vom
philosophos spricht, und auch nicht von theôria, so dürfte ihm daran gelegen
950 Kommentar
sein, die Gegenstände des Lernens nicht eng zu begrenzen, sondern die Viel-
falt lustvoller Tätigkeiten und Lebensweisen hervorzuheben.
(1) 1175a18–28: Bei Tätigkeiten von unterschiedlicher Art ist auch die Lust
verschieden. (2) 1175a29–b24: Die jeder Tätigkeit eigentümliche Lust be-
wirkt deren Intensivierung, während fremde Arten von Lust sich stö-
rend oder sogar zerstörend auswirken. (3) 1175b24–33: Zu den guten und
schlechten Arten von Tätigkeiten gehören gute und schlechte Arten von
Lust. (4) 1175b34–1176a3: Tätigkeiten und Lust sind nicht dasselbe, haben
aber dieselben Qualitäten. (5) 1176a3–15: Bei Tieren bestimmt die Spezies
die ihnen eigentümlichen Arten von Lust, bei Menschen der Charakter.
(6) 1176a15–29: Maßstab für das Lustvolle ist der Gute.
(1) 1175a18–28 „Ob wir aber das Leben der Lust wegen oder die Lust des
Lebens wegen wählen, sei im Augenblick dahingestellt“: Angesichts der
wiederholten Erklärung, dass die Tätigkeit die Lust bedingt und die Lust als
solche kein Ziel ist, dürfte die Antwort klar sein. Zum tätigen Leben gehört
immer auch die entsprechende Art von Lust (vgl. IX 9, 1170a13–b7). Da die
Lust nichts vom Tätigsein Abtrennbares ist, kann sie für sich genommen
kein letztes Ziel sein.
(1.1) 1175a23–28 „Das zeigt sich sowohl bei den natürlichen (physika) wie
auch bei den künstlich hergestellten Dingen (ta hypo technês)“: Es ist zwar
Buch X, Kapitel 5 951
ein hübscher Vergleich, der die Besonderheit im Fall der Lust aber eher ver-
schleiert als erhellt. Denn bei Tieren, Pflanzen und Artefakten gibt es kein
bei ihrer Vollendung hinzutretendes Gut, und dasselbe gilt auch für das
Herstellen und Handeln. Es lässt sich allenfalls sagen, dass im Fertigsein all
dieser Dinge eine neue und andersartige Qualität liegt, die ihnen zuvor noch
abgeht. Auch wenn bei einer Tätigkeit die Lust mit der Vollendung per se ge-
geben ist, lassen sich die Bedingungen der Vollkommenheit des Tätigseins –
sein Ziel und die Art und Weise seiner Ausführung − ohne Rekurs auf die
Lust spezifizieren. Die Lust ist daher in dieser Hinsicht ein Phänomen sui
generis. An dieser Analogie dürfte Aristoteles deswegen gelegen sein, weil
sie erklärt, dass es ebenso viele Arten von Lust wie Arten von Tätigkeiten
gibt (zum Problem der Spezifizierung, der Fein- oder Grobeinteilung des
Tätigseins und der dazugehörigen Lust vgl. Heinaman 2011).
(2) 1175a29–b24 „Das dürfte auch daraus deutlich werden, dass jede Art
von Lust eng der Tätigkeit zugehörig ist (synôikeiôsthai)“: Dieses Verb, das
Aristoteles außer in der Erörterung der Freundschaft nur in diesem Buch
verwendet, bedeutet ursprünglich das Zusammenleben in einem Haushalt.
Damit bereitet Aristoteles die Unterscheidung zwischen ‚eigentümlicher‘
(oikeia) und ‚fremder‘ (allotria) Lust vor: während erstere die Tätigkeit in-
tensiviert (1175a30; 36: synaugein), mindert oder verhindert letztere sie.
Dass Menschen unterschiedliche Vorlieben haben, hat Aristoteles zwar auch
schon früher betont und darauf verwiesen, dass diese Vorlieben gut oder
schlecht, natürlich oder unnatürlich sein können (vgl. I 9, 1099a7–15: phi-
lotoioutos). Neu ist aber die Beobachtung, dass die eigentümliche Lust eine
intensivierende Wirkung auf die Tätigkeit hat, derart, dass die Betreffen-
den sich eingehend auf die Details der betreffenden Kunst und Wissenschaft
einlassen und entsprechend Fortschritte machen (1175a35: epididonai). Die
intensivierende Wirkung der Lust wird später auch für die theôria hervor-
gehoben (7, 1177b20 f.)
(2.1) 1175a35 „das eigentümliche Werk (oikeion ergon)“: Das Ergon-Argu-
ment in I 6 geht von der Funktion des Menschen im Allgemeinen aus. Hier
dagegen wird die individuelle Verschiedenheit der Menschen hervorgeho-
ben, die sie an verschiedenen Tätigkeiten ihre Freude haben lässt. Die Frage
einer natürlichen Begabung als Grundbedingung für ein bestimmtes ergon
spricht Aristoteles sonst nur selten an (vgl. III 7, 1114b12: euphyia; EE VII
2, 1237a5–9 zählt sie jedoch zu den Vorbedingungen der Lust).
(2.2) 1175b1–13 „Das dürfte aber noch daraus deutlicher werden, dass Lust
aus anderen Quellen den Tätigkeiten hinderlich ist (empodioi)“: Nachdem
im letzten Kapitel die Tatsache erwähnt worden ist, dass die Lust nachlässt,
wenn Menschen ermüden (4, 1175a3–5), geht es hier um die Ablenkung
durch Lust an Dingen, an denen man mehr interessiert ist. Die verschie-
952 Kommentar
denen Vorlieben, wie die für Musik, Geometrie, Schreiben oder Rechnen,
schließen einander zwar nicht grundsätzlich aus, man kann ihnen aber nicht
gleichzeitig nachgehen. Es gibt vielmehr eine Art Verdrängungswettbe-
werb: Die lustvollere Tätigkeit mindert die weniger lustvolle und bringt sie
schließlich ganz zum Erliegen. Das Beispiel der Zuschauer im Theater, die
besonders dann zu Süßigkeiten greifen, wenn die Schauspieler schlecht sind,
zeigt umgekehrt, dass eine bestimmte Lust sich verstärkt, wenn eine andere
zu wünschen übrig lässt.
(2.3) 1175b13–24 „Da die den Tätigkeiten eigentümliche (oikeia) Lust sie
genauer, dauerhafter und besser macht, während fremde (allotria) Lust sie
verdirbt“: Dass die Lust jeweils nicht nur die Tätigkeit intensiviert, son-
dern auch sonst ihr Wesen teilt, wird durch eine Gegenüberstellung mit der
Auswirkung ‚fremder‘ Arten von Lust bestätigt. Auf diesen Unterschied hat
schon Version A als Begründung dafür rekurriert, dass nicht die Lust als sol-
che dem Denken hinderlich ist, sondern nur ‚fremde‘ Arten, d.h. die Lust an
anderen Tätigkeiten (VII 13, 1153a20–23). Eine fremde Lust wirkt sich da-
her ähnlich aus wie eine eigentümliche Unlust, weil sie die Ausführung der
betreffenden Tätigkeit verhindert. Der Unterschied zwischen ihnen besteht
darin, dass die fremde Lust zur Einstellung der betreffenden Tätigkeit führt,
während die eigentümliche Unlust die Tätigkeit von vornherein verhindert.
Menschen eignen sich bestimmte Fertigkeiten erst gar nicht an, wenn ihnen
die betreffende Tätigkeit Unlust bereitet.
(3) 1175b24–33 „Da sich nun die Tätigkeiten durch Gutsein (epieikeia) und
Schlechtigkeit (phaulotês) unterscheiden“: Die Tatsache, dass Menschen be-
stimmte Arten von Tätigkeiten eigentümlich sind, liefert Aristoteles die Er-
klärung dafür, dass Menschen auch an Schlechtem ihre Lust haben. Das ist
aber insofern problematisch, als man sich fragt, was Vollkommenheit im Fall
von Schlechtem sein soll, zumal Gutes begrenzt, Schlechtes dagegen unbe-
grenzt ist, nach dem von Aristoteles akzeptierten pythagoreischen Prinzip
(IX 9, 1170a18–25). Das Leben des Schlechten ist nicht das spiegelverkehrte
Gegenstück zum Leben des Guten: Der Schlechte ist nicht sein eigener
Freund, hat keine richtigen Freunde und auch keine Freude an seinem Le-
ben und seinen Handlungen (VIII 5 et pass.; IX 4 et pass.). Wenn Aristoteles
sich hier darüber hinwegsetzt, will er nicht nur der Tatsache gerecht wer-
den, dass Schlechte Freude an ihren Handlungen haben, sondern auch seiner
eigenen Grundannahme gerecht werden, dass Menschen sich auf gute und
schlechte Weise freuen, an guten und schlechten Dingen ihre Freude haben
können (vgl. II 2). Eine Vollkommenheit kann es bei schlechten Handlun-
gen aber nur in dem Sinn geben, dass sie dem Schlechten ganz nach Wunsch
gelingen. Problematisch sind aber nicht nur die Lüste des Schlechten, son-
dern auch die schlechten Lüste des Alltags, die man vielleicht mit schlech-
Buch X, Kapitel 5 953
ten oder gemischten Gefühlen genießt. Wenn überhaupt, dann kann nur der
bestimmte Aspekt der Tätigkeit vollkommen sein, den man genießt – als das
Tüpfelchen auf einem ganz bestimmten ‚i‘. Für derartige Differenzierungen
scheint die Definition der Lust als Vollendung einer Tätigkeit aber nicht ge-
dacht.
(3.1) 1175b25 f. „die einen zu wählen, die anderen zu vermeiden, wieder an-
dere aber keines von beiden (oudeteron) sind“: Es muss hier um moralisch
Gutes und Schlechtes gehen, also um tugend- und lasterhafte Handlungen,
so dass neutral all diejenigen Tätigkeiten sind, die etwa dem Herstellen die-
nen, oder sonstige Beschäftigungen, wie etwa dem Lesen und Schreiben, fer-
ner Tätigkeiten, mit denen sich Menschen gern ihre Zeit vertreiben, wie mit
Geschichtenerzählen, oder die Augen- und Ohrenfreuden, die nicht in den
Bereich der Besonnenheit fallen (III 13, 1117b29–1118a12). Das heißt natür-
lich nicht, dass es nicht andere Gründe gibt, sie zu wählen oder zu meiden.
(3.2) 1175b28–33 „Auch das Begehren (epithymiai) nach den schönen Din-
gen ist lobenswert“: Epithymia bezeichnet hier offensichtlich nicht die Be-
gierde nach körperlicher Lust, sondern wird synonym mit orexis verwendet
und gilt Zielen jeder Art. Wenn Aristoteles hier auf den Unterschied zwi-
schen Begehren und Lust verweist und auf ihre zeitliche Trennung, so tut er
das auch deswegen, weil man sie oft als zusammengehörig betrachtet. Das
Begehren geht aber nicht nur der Erfüllung zeitlich voraus, sondern nicht
jedes Begehren wird erfüllt. Die Vorfreude würde Aristoteles als eine Art
von Vorwegnahme erklären (IX 4, 1166a25 f.). Wenn die Lust ein Modus
des Tätigseins ist, kann es keine zeitliche und sachliche Trennung zwischen
ihnen geben.
(4) 1175b34–1176a3 „Die Lust scheint nun aber weder Denken noch auch
Wahrnehmung zu sein“: In seiner Erörterung der Lust in Kap. 4 hat Aristo-
teles selbst vor allem die Wahrnehmung als paradigmatischen Fall von voll-
kommener Tätigkeit behandelt, die durch die Lust vollkommen wird, aber
auch das Denken einbezogen (vgl. IX 9, 1170a13–b19). Daher muss ihm an
einer Klarstellung gelegen sein, dass die Lust von der betreffenden Wahr-
nehmung oder Denken zwar nicht abtrennbar, aber dennoch nicht dasselbe
ist, wie manchen scheint. Damit könnte Platon gemeint sein. Er identifiziert
die Lust zwar nicht mit Wahrnehmung, bezeichnet sie aber als eine wahr-
nehmbare Erschütterung der Seele (Phlb. 51b).
(4.1) 1175b36–1176a3 „Das Sehen ist dem Tastsinn jedoch an Reinheit
(kathareiotês) überlegen, so wie auch das Gehör und der Geruchssinn
dem Geschmacksinn“: Dass unterschiedliche Sinne ihre Gegenstände un-
terschiedlich differenziert und genau wahrnehmen, wird in De anima II 9,
421a7–26 angesprochen. Dort geht es aber um die Unterschiede in der Dif-
ferenziertheit der verschiedenen Sinne bei Menschen und Tieren. Andern-
954 Kommentar
orts begründet Aristoteles die Vorliebe für das Sehen damit, dass es mehr
Erkenntnis und Differenzierungen vermittelt als die übrigen Sinne (Met.
A 1, 980a25). Von einem Unterschied an Reinheit ist sonst nicht die Rede
(das Nomen verwendet Aristoteles überhaupt nur hier und in 7, 1177a26).
Das Reinheits-Kriterium hat seinen Ursprung offensichtlich bei Platon (vgl.
Resp. IX 583b–586a; Phlb. 51b–e): Rein ist vor allem die Lust an Farben, an
Formen und an den meisten Gerüchen und Tönen; zudem wird das Krite-
rium der Reinheit auch noch auf die Arten von Wissenschaften ausgedehnt
(55c–d et pass.). Zu Übereinstimmungen und Unterschieden in der plato-
nischen und der aristotelischen Auffassung von Lust vgl. Harte 2014, bes.
289–291).
(4.2) 1176a2 f. „die Arten von Lust, die auf das Denken bezogen sind, wie
auch die des einen Seelenteils der des anderen überlegen ist“: In diesen Rein-
heits-Wettbewerb wird auch das Denken einbezogen. Der theoretische Teil
der Seele erweist sich deswegen als überlegen, weil die praktische Vernunft
an den nicht-rationalen Teil gebunden bleibt. Auf diese Tatsache kommt
Aristoteles auch zur Rechtfertigung der besonderen Auszeichnung der Lust
an der Philosophie zurück (7, 1177a25–27).
(5) 1176a3–15 „Zu jedem Lebewesen scheint aber eine ihm eigentümliche
(oikeia) Lust zu gehören“: Zur Begründung verweist Aristoteles auf die
charakteristische Funktion (ergon), welche die jeweilige energeia bestimmt.
Welche Arten von Lust den verschiedenen Tierarten zukommen, wird nicht
näher ausgeführt. Aristoteles hatte früher behauptet, dass sich die Sinnenlust
der Tiere einzig auf das Fressen beschränkt und weder Gerüchen, Tönen
noch auch dem Anblick gilt (III 13, 1118a16–23). Ob er hier mit dem ergon
darüber hinausgehen und etwa mit Eudoxos den Tieren auch Lust an ande-
ren Tätigkeiten über Ernährung und Fortpflanzung hinaus zubilligen will,
wie etwa den Vögeln eine Lust am Fliegen, den Fischen am Schwimmen,
muss offenbleiben.
(5.1) 1176a6 f. „So sagt ja auch Heraklit: ‚Esel würden Streu (syrmata)
dem Gold vorziehen‘“: Dieser Ausspruch (DK 22 B 9) ist nur bei Aristo-
teles überliefert. Das Wort syrma bezieht sich auf ‚Hingestreutes‘, ‚Abfall‘
oder auch ‚Kehricht‘ (Michael von Ephesos, 570, 21 ergänzt dazu chortos
(= ‚Heu‘, ‚Futter‘) als Erklärung dieses ungebräuchlichen Ausdrucks). He-
raklit will damit offensichtlich drastisch die Relativität aller Werte zum Aus-
druck bringen.
(5.2) 1176a8–15 „Diese Lust ist nun bei verschiedenartigen Lebewesen ver-
schieden“: Da verschiedenartige Tiere unterschiedliche Lebensfunktionen
haben, ist auch die Lust unterschiedlich. Für die einzelnen Spezies ist plau-
sibel (eulogon), dass sie an denselben Dingen Lust haben, vermutlich, weil
sich ihre Lebensformen im Wesentlichen gleichen.
Buch X, Kapitel 5 955
(6) 1176a15–29 „In allen Fällen dieser Art scheint aber dasjenige der Fall zu
sein (einai), was dem Guten so erscheint (to phainomenon tôi spoudaiôi)“:
Hier werden offiziell die Tugend und der Gute als Maßstab für moralische
Tatbestände bezeichnet und damit auch für das, was als moralisch lust- und
schmerzvoll zu gelten hat. Es wird also, in leichter Abänderung, die be-
rühmte Maxime des Protagoras bemüht: Während Protagoras den Menschen
als solchen das Maß aller Dinge nennt (DK B 1: pantôn chrêmatôn metron
estin anthrôpos), sind bei Aristoteles die Tugend und der Gute (h’agathos),
insofern er dieser Art ist (hêi toioutos), das Maß des Guten und Schlechten.
Der Sache nach sagt Aristoteles damit nichts Neues. Denn bereits bei der
Bestimmung des ‚Wunsches‘ hatte er als wahrhaft wünschenswert dasjenige
bezeichnet, was dem Guten so erscheint (III 6, 1113a25–33: Er ist „gleich-
sam Richtschnur (kanôn) und Maß (metron)“). Auch dort bringt er den Ver-
gleich mit dem Gesunden als dem Kriterium für die Richtigkeit der Sin-
neseindrücke und erwähnt neben dem Guten auch das Lustvolle (1113a31):
„Jeder Charakterdisposition entsprechend gibt es nämlich jeweils eigene Ar-
ten von Schönem (kala) und Angenehmem (hêdea)“.
(6.1) 1176a19–24 „Wenn aber Dinge, die diesem zuwider sind, einem ande-
ren als lustvoll erscheinen“: Die Erklärung schlechter Arten von Lust stützt
sich hier nicht auf Krankheiten, sondern auf Zerstörungen (phthorai) und
Verderbnisse (lymai) der moralischen Natur des Menschen. Die Analogie
mit dem Kranken setzt voraus, dass den verdorbenen Menschen das, was sie
wünschen, gut und lustvoll erscheint. Diese Konsequenz behagt Aristoteles
aber nicht, wie der Zusatz zeigt, dass man dergleichen eigentlich nicht lust-
voll nennen soll oder ‚doch nur für diese‘. Denn von einer vollkommenen
Tätigkeit ist in diesen Fällen nicht zu sprechen.
956 Kommentar
(6.2) 1176a24–26 „Von denen aber, die gut zu sein scheinen, von welcher
und welcher Art Lust sollte man sagen, sie sei die des Menschen (tou anthrô-
pou)?“: Aristoteles führt hier eine Rangordnung der Lust ein, die sich nach
der Art der Tätigkeiten richtet. Als Lust im maßgeblichen Sinn (a28: kyriôs)
gelten diejenigen Arten, die mit den Tätigkeiten des vollkommenen (teleios)
und glückseligen (makarios) Menschen einhergehen und diese Tätigkeiten
vollkommen machen, während alle anderen niedrigeren Ranges sind.
(6.3) 1176a28 f. „die übrigen aber als zweitrangig (deuterôs) und noch
nachrangiger (pollostôs)“: Welche Arten der Lust zweitrangig oder noch
nachrangiger sind, wird nicht weiter spezifiziert. Zweitrangig dürften die
natürlichen, nicht notwendigen Arten von Lust sein, auf die sich auch be-
stimmte Charaktertugenden beziehen (VII 6, 1147b23–31; 1148a22–32; 8,
1150a16–21). Zu den ‚noch nachrangigeren‘ Arten dürften vor allem die
körperlichen Lüste gehören, die zwar lebensnotwendig und Gegenstand der
Besonnenheit sind, aber nicht das Lebensziel darstellen, wie Aristoteles zu
Anfang gegen das den vulgären Lüsten gewidmete Leben eingewandt hat
(I 3, 1095b14–22). Dass dies auch für die verschiedenen Vergnügungen gilt,
wird im nächsten Kapitel eigens begründet.
(1) 1176a30–b9 „Nachdem wir über die verschiedenen Arten von Tugen-
den, von Freundschaften und von Lust gesprochen haben, bleibt uns noch
übrig, im Umriss (typôi) das Glück durchzugehen“: Die Zusammenfassung
entspricht der Einteilung des ganzen Werkes. Da Aristoteles verschiedent-
lich versichert hat, nur einen Umriss liefern zu wollen (I 1, 1094a25 et pass.),
dürfte auch diese Überleitung von ihm stammen. Dass er auch hier den
Umriss-Charakter hervorhebt, ist nicht philosophischer Bescheidenheit ge-
schuldet, sondern spiegelt seine Absicht wider, keinen Lebensplan entwer-
fen, sondern nur die Grundlagen dafür liefern zu wollen.
(1.1) 1179a32–b9 „Wenn wir dazu jetzt das bereits Gesagte wieder aufgrei-
fen, wird unsere Darstellung kürzer und bündiger (syntomôteros) ausfal-
len“: Mit dem ‚bereits Gesagten‘ meint Aristoteles die allgemeinen Bestim-
mungen des Glücks in Buch I: Das Glück kann (i) keine bloße Disposition
(hexis) sein, weil sonst auch Schlafende (3, 1095b32–1096a2), Pflanzen
(6, 1097b33 f.) oder von den größten Unglücksfällen Betroffene (9, 1098b31–
1099a7 et pass.) als glücklich anzusehen wären. (ii) Das Glück besteht nicht
in Tätigkeiten, die notwendig sind und weiterer Ziele wegen erstrebt werden,
sondern in solchen, die man um ihrer selbst willen wählt (10, 1099b26–28).
(iii) Das Glück ist autark (5, 1097b6–21). (iv) Das Glück besteht in tugend-
haften Handlungen (kat’ aretên praxeis), die Schönem (kala) und Gutem
(spoudaia) gelten (9, 1099a7–21). Auf eine weitere Hierarchisierung der Tu-
genden deutet hier nichts hin.
(2) 1179b9–28 „Dies gilt nun aber auch für die scherzhaften Vergnügungen
(paidia), denn man wählt sie nicht um etwas anderen willen“: Paidiá ist die
Bezeichnung für Spiel, Spaß und Vergnügungen aller Art; es ist nicht zu
verwechseln mit paideia (= ‚Erziehung‘); beide Ausdrücke gehen aber auf
pais (= ‚Kind‘) zurück. Auch Vergnügungen haben ihren Platz im Leben,
weil man auch sie um ihrer selbst willen wählt. Dem hat Aristoteles insofern
schon Rechnung getragen, als er die Unterhaltsamkeit (eutrapelia), die dem
958 Kommentar
Scherz (paidia) gilt, zu den sozialen Tugenden gerechnet und als die rich-
tige Mitte zwischen Humorlosigkeit und Possenreißerei dargestellt hat (II 7,
1108a23–26; IV 14, 1128a31–b3). Hier geht es aber um den Platz des Vergnü-
gens im Leben überhaupt. Denn wie der Verweis auf möglichen finanziellen
und gesundheitlichen Ruin, auf Tyrannen und Mächtige zeigt, sind nicht
nur geistreiche Unterhaltung, sondern auch Vergnügungen körperlicher Art
gemeint, also die animalischen Arten körperlicher Lust, von der Aristoteles
früher erklärt hat, dass die Menge sie nach dem Vorbild der Mächtigen für
das gute Leben schlechthin hält (vgl. I 3, 1095b19–22). Nicht der Mächtige,
sondern der Gute soll aber den Maßstab dafür abgeben, welche Vergnügun-
gen wählenswert sind.
(2.1) 1176b19–28 „Auch darf man, weil diese Menschen, die nie reine und
eines Freien würdige Lust gekostet haben, sich in körperliche Lüste flüch-
ten …“: Der Gegensatz zwischen ‚sklavischen‘ Arten und der eines Freien
(eleutheros) würdigen Arten von Lust zeigt an, dass mit den ‚Guten‘ hier die
Tugendhaften im Allgemeinen gemeint sind, in deren Tätigkeiten das Glück
besteht.
sächlich nur um der Erholung willen suchen (zur Erholung vgl. IV 14;
VII 8, 1150b16–19), bestimmt aber den Stellenwert, der ihm eigentlich
zukommen sollte, als den eines Mittels zum Zweck weiteren Tätigseins
(vgl. VIII 7, 1158a22–27; X 4, 1175a3–10). Dass sich diese Abwertung des
Vergnügens gegen Platons Erklärung wendet, die Menschen seien nur Spiel-
zeuge der Götter und das Leben keiner ernsthaften Bemühungen wert, weil
es in Singen, Tanz und Spiel besteht (Leg. VII 803b–804a, so G/J II 2, 867–
870), ist deswegen wenig wahrscheinlich, weil Platon dort Singen und Tanz
als Teil der Bildung (paideia) behandelt.
(3.3) 1177a2–6 „Dies ist aber ein Leben ernsten Bemühens (meta spoudês)
und besteht nicht in der Vergnügung“: Aristoteles bemüht hier die Ver-
wandtschaft der Bezeichnung des Guten (spoudaios) mit spoudê (= ‚Eifer‘,
‚Ernst‘). Die Unterscheidung zwischen Ernsthaftem/Gutem und Scherzhaf-
tem/Lächerlichem/Schlechtem legt Aristoteles auch seiner Unterscheidung
von Tragödie und Komödie in der Poetik zugrunde (Kap. 4 + 5): Die Tragö-
die stellt Menschen als besser/ernsthafter, die Komödie stellt sie als schlech-
ter/lächerlicher dar, als sie in Wirklichkeit sind.
(3.4) 1177a6–11 „Auch kann jeder Beliebige körperliche Arten von Lust ge-
nießen“: Als nicht ernsthaft hat insbesondere ein Leben körperlicher Lust
zu gelten. Mit bios ist hier nur das menschliche, selbstbestimmte Leben ge-
meint, im Unterschied zur zôê, das allen Lebewesen gemein ist.
nicht dieselben wie zuvor, teils werden sie nicht in derselben Weise inter-
pretiert.
(1) 1177a12–18: Die höchste Art von Glück besteht in der Tätigkeit der
Vernunft. (2) 1177a18–b4: Diese Tätigkeit erfüllt alle Kriterien in her-
vorragendem Maße. (3) 1177b4–26: Ein weiteres Kriterium ist die Muße.
(4) 1177b26–1178a8: Die betrachtende Lebensform ist göttlich und stellt da-
her die höchste Form des Glücks dar.
(1) 1177a12–18 „Wenn das Glück aber eine Tätigkeit gemäß der Tugend ist,
dann ist zu erwarten, dass sie der höchsten Tugend gemäß ist“: Zunächst
scheint Aristoteles die praktische Vernunft im Auge zu haben, da er von
‚herrschen‘ (archein) und ‚leiten‘ (hêgeisthai) spricht. Es zeigt sich aber, dass
er die theoretische Vernunft meint, da nur sie reine Erkenntnis von Schönem
(kala) und Göttlichem (theia) hat. Ein Hinweis auf eine Hierarchie der Tu-
genden und die Möglichkeit einer höchsten Tugend sowie auf ihre besondere
Bedeutung für die Bestimmung des Glücks findet sich zwar bereits in I 6.
Dort wird jedoch als die für den Menschen typische Tätigkeit die praktische
ausgezeichnet (1098a3–7). Obwohl Aristoteles dort auf eine Zweiteilung
der intellektuellen Fähigkeiten hinweist (1098a5) und erklärt, die Betätigung
‚der besten‘ sei das Glück (a17 f.), ist damit doch das menschlichen Glück im
menschlichen Leben gemeint (anthrôpinon agathon; vgl. 11, 1100b8–11; mit
Emphase in 13, 1102a13–18). Diese Tatsache übersehen die Vertreter einer
‚exklusiven‘ Deutung des aristotelischen Glücksbegriffs, die meinen, es gehe
Aristoteles von Anfang an um eine Zweiteilung des Glücks. Von einer Pri-
vilegierung der theoretischen Intelligenz ist aber auch in I 13 nicht die Rede.
Eine Höherschätzung der theoretischen Intelligenz wird nur einmal damit
begründet, dass die Wissenschaft (epistêmê) Ewiges, Unveränderliches und
Notwendiges zum Gegenstand hat (VI 3, 1139b18–24), während Herstellen
und Handeln Veränderlichem gelten (4, 1140a1 f.): Die Weisheit, sophia, ist
nicht nur genauer, sondern ihr Gegenstand ist wertvoller, weil der Mensch
nicht der höchste Gegenstand im Universum ist, sondern die Gestirne weit
göttlicher sind (7, 1141a16–b2). Vom Glück ist dort aber nicht die Rede und
auch nicht davon, dass Protagonisten der Weisheit wie Thales und Anaxa-
goras in höherem Maße glücklich wären als andere (1141b2–7). Die Aus-
zeichnung einer ‚vollkommenen Art des Glücks‘ (1177a17: teleia eudaimo-
nia; b24; 1178b7) stellt insofern ein Novum dar, als ‚Glück‘ zuvor durchweg
als die Bezeichnung des vollkommenen Lebens gedient hat.
(1.1) 1177a18 „Sie ist, wie gesagt, eine betrachtende (theôrêtikê) Tätigkeit“:
Das Adjektiv theôrêtikos hat anscheinend erst Aristoteles geprägt; es gehört
zum Verb theôrein und dem Nomen theôria. Ursprünglich geht es bei die-
ser Wortfamilie um das Sehen oder Betrachten im wörtlichen Sinn; so ist der
Buch X, Kapitel 7 961
(2) 1177a18–b4 „Das dürfte aber sowohl mit früher Gesagten überein-
stimmen wie auch mit der Wahrheit zur Bestimmung des Mittleren“: Als
‚Wahrheitszeugen‘ bemüht Aristoteles die Kriterien zur Bestimmung des
Glücks. Die allgemeine Bestimmung des Glücks geht zwar von einer Hi-
erarchie von Zielen aus und erklärt, dass das Beste zu wählen ist, wenn
es mehrere Ziele gibt; das höchste Ziel ist aber das Glück (I 5, 1097a25–
b6). Nichts deutet dort aber darauf hin, dass das Glück in der theô-
ria besteht, denn in Buch I ist durchweg vom ‚menschlichen Glück‘ die
Rede.
(2.1) 1177a19 f. „Diese Tätigkeit ist nämlich die beste“: Die Vernunft ist in-
sofern über die Klugheit erhaben, als sie nicht an die Affekte gebunden ist
962 Kommentar
(vgl. I 13) und mit den besten Gegenständen des Universums befasst ist, die
ewig und unveränderlich sind (VI 7, 1141a20–b3).
(2.2) 1177a21 „die kontinuierlichste (to synechestatê) Tätigkeit“: Die Konti-
nuität hat bisher nicht als wichtiges Kriterium für die Auszeichnung von Tä-
tigkeiten gedient, sondern ist nur beiläufig zur Sprache gekommen, so etwa
bei der Unterscheidung des Glücks von Glückszufällen (I 11, 1100b11–22),
als Auszeichnung gemeinsamen Tätigseins von Freunden (IX 9, 1170a4–8)
oder als Begründung der Notwendigkeit von Erholung (6, 1176b35).
(2.3) 1177a22–27 „dass dem Glück Lust beigemischt sein muss“: Die Lust ist
verschiedentlich als integraler Bestandteil des Glücks gekennzeichnet wor-
den (I 8, 1099a7–31; X 4 + 5); zudem gilt die Lust an tugendhafter Tätigkeit
als Anzeichen für den Besitz der Tugend. In seinen Ausführungen zur Lust
hat Aristoteles Wahrnehmung und Denken, einschließlich der theôria, als
lustvoll bezeichnet und angedeutet, dass die vollkommenste Lust zur voll-
kommensten Tätigkeit gehört (4, 1174a14–23). Wenn er hier darüber hin-
aus ein allgemeines Einverständnis (homologoumenôs) für die Behauptung
in Anspruch nimmt, dass die Tätigkeit der Weisheit die lustvollste ist, so
könnte er sich auf Platon beziehen, der in Resp. IX 587d–e das Leben des
Gerechten und Weisen als 729-mal lustvoller nennt als das des Tyrannen.
Von Unterschieden in der Reinheit der Lust hat Aristoteles zuvor zwar ge-
sprochen und dabei auch Unterschiede zwischen verschiedenen Sinnen und
dem Denken hervorgehoben (5, 1175b36–1176a3); von verschiedenen For-
men des Denkens und eines Unterschieds bezüglich der Lust ist dort jedoch
nicht die Rede.
(2.3.1) 1177a26 f. „es liegt nah, dass diese Tätigkeit für Wissende noch lust-
voller ist als für Suchende (zêtountôn)“: Dieser Halbsatz ist deswegen beun-
ruhigend, weil er einem statischen Wissensbegriff das Wort zu reden scheint,
das im Betrachten vorliegender Erkenntnisse besteht, während er das For-
schen als zweitranging herabstuft. Da die Vorstellung eines bloßen Betrach-
tens von bereits Gewusstem befremdlich erscheint und auch schlecht zum
dynamischen Wissenschaftler Aristoteles und seiner intensiven Forschertä-
tigkeit passen will, gibt es verschiedene Vermittlungsversuche. So könnte das
‚Suchen‘ grundsätzlich auf Lernende beschränkt sein; während das ‚Betrach-
ten‘ in reflektierendem Durchdringen komplexer Verhältnisse besteht. Zur
sophia gehört nämlich laut EN VI 6 sowohl die Einsicht in die ersten Prin-
zipien (nous) wie auch das Ziehen von Schlüssen (epistêmê). Daher könnte
Aristoteles eine Tätigkeit dieser Art nicht als ein Suchen, sondern als ein
Wissen ansehen. Dagegen will allerdings die Tatsache schlecht passen, dass
er sonst an vielen Stellen, auch in der EN, zum Suchen (zêtein) auffordert.
(2.4) 1177a27–1177b4 „Auch dürfte das, was wir Autarkie (autarkeia) nen-
nen, am meisten zur betrachtenden Tätigkeit gehören“: In I 5, 1097b6–21 ist
die Autarkie neben der Vollkommenheit (teleion) als wichtigstes Kriterium
Buch X, Kapitel 7 963
für die Bestimmung des Glücks eingeführt worden. Zur Autarkie gehören
auch Freunde, Familie und Mitbürger, weil der Glückliche kein Einsiedler
(1097b9: monôtês; 9, 1099b4), sondern vielmehr ein ‚politisches Lebewesen‘,
d.h. von Natur aus für das Leben in der Polis bestimmt ist, eine Auffas-
sung, die auch später verschiedentlich wiederholt wird. Von der Freund-
schaft wird z.B. eigens hervorgehoben, dass sie keine Einschränkung der
Autarkie bedeutet, weil Menschen von Natur aus für das Zusammenleben
bestimmt sind (IX 9, 1169b3–8, 1170a4–8). Die für das theoretische Leben
beanspruchte Art von Autarkie scheint dagegen eine Art von Selbstgenüg-
samkeit zu kennzeichnen, von der Aristoteles in Pol. I 2, 1253a27–29 erklärt,
dass nur ein göttliches Wesen ihrer fähig ist (vgl. dazu E. Brown 2014).
(2.4.1) 1177a28–34 „Die zum Leben notwendigen Dinge braucht der Weise
zwar ebenso wie der Gerechte und die Übrigen“: Hier wird es als eine Ein-
schränkung der Autarkie behandelt, dass man für tugendhaftes Handeln
auf andere Menschen angewiesen ist, weil man allein weder Gerechtes noch
Tapferes tun kann, während der Theoretiker zu seiner Tätigkeit nieman-
den braucht. Die Ausrichtung des praktischen Tätigseins auf andere und
auf das Gemeinwohl erscheint als eine Einschränkung, während es als Aus-
zeichnung des Weisen gilt, dass er weder für andere noch mit anderen tätig
sein muss. Autarkie bedeutet hier, dass der Weise für seine Betrachtungen
(theôrein) keine Mitstreiter braucht, und zwar umso weniger je weiser er ist.
Von gemeinsamem Philosophieren (IX 12, 1172a5: symphilosophein) ist hier
also gar keine Rede. Auch der hohe Wert, den Aristoteles der eigentlichen
Freundschaft insofern beimisst, als man das eigene Selbst an einem anderen
besser erkennen kann (IX 9, 1170a25–b19), scheint nicht mehr zu gelten.
Denn statt von Freunden ist nur von im Prinzip verzichtbaren Mithelfern
die Rede (1177a34: synergoi).
Die Hervorhebung einer solchen ‚splendid isolation‘ widerspricht aber
auch Erklärungen wie der, dass Gemeinschaft das Denken (noêsai) wie das
Handeln (praxai) verstärkt (VIII 1, 1155a15 f.). Zudem ignoriert Aristoteles,
dass auch Erwerb und Erhalt von Weisheit auf Gemeinschaft angewiesen
sind, der er in der Erörterung der Freundschaft einen hohen Wert zugespro-
chen hat (IX 1, 1164b2–6). Auch lässt er beiseite, dass Philosophenschulen
nicht nur eine koinônia darstellen, sondern ihrerseits eine wohlgeordnete
politische Gemeinschaft voraussetzen. Auf Letzteres verweist z.B. die Be-
merkung am Ende von Buch VI 13, 1145a6–11, dass die Politik der Weisheit
(sophia) deswegen nicht übergeordnet ist, weil sie ihr keine Weisungen gibt,
sondern nur dafür sorgt, ‚dass es sie gibt‘.
(2.4.2) 1177b1–4 „Auch scheint die Betrachtung allein um ihrer selbst wil-
len geschätzt zu werden“: Es wird zwar nicht behauptet, dass andere Tätig-
keiten nicht um ihrer selbst willen getan werden – das wäre ein eklatanter
Widerspruch zur früheren Charakterisierung tugendhafter Handlungen als
964 Kommentar
solcher –, wohl aber, dass alle anderen ‚darüber hinaus Nützlichem gelten‘.
In dieser Tatsache hat Aristoteles zuvor aber keine Einschränkung der Voll-
kommenheit der politischen Wissenschaft oder der tugendhaften Handlun-
gen überhaupt gesehen (vgl. I 1, 1094a18–22 et pass.). Die Nützlichkeit des
Schönen ist zwar nie eigens hervorgehoben, aber auch nicht ausgeschlossen
worden. Alles, was man in einer Gemeinschaft an Gutem tut, wirkt sich je-
doch auch zu ihrem Nutzen aus.
(3) 1177b4–26 „Vom Glück gilt zudem, dass es in der Muße (scholê) liegt“:
Mit der Muße wird ein ganz neues Kriterium in den Mittelpunkt der Be-
trachtung gestellt, das sonst weder in der EN noch in der EE erwähnt wird.
Mit ‚Muße‘ bezeichnet man gewöhnlich die Freiheit der Aristokratie und der
Reichen von der Notwendigkeit, für den eigenen Lebensunterhalt arbeiten
zu müssen. Muße ist aber nicht gleichbedeutend mit Müßiggang, sondern
kennzeichnet die Lebensweise der Oberklasse, die politischen, kulturellen
oder sportlichen Tätigkeiten nachgeht. So erklärt Aristoteles die Entwick-
lung der Wissenschaften in Ägypten durch die Muße der Priesterklasse:
Nach der Entdeckung von allem für die Menschheit Nützlichen konnte man
auch Nichtnützliches wie etwa Mathematik betreiben (Met. A 1, 981b17–25;
2, 982b11–24; zum Begriff der Muße bei Aristoteles vgl. Varga 2014).
Hier beruft sich Aristoteles auf den Begriff der Muße (scholê) im Unter-
schied zur Unmuße/Mühe (ascholia), um zu begründen, dass selbst die an-
gesehensten Arten praktischer Tätigkeiten, die des Staatsmanns und die des
Feldherrn, die Bedingung nicht erfüllen, nur um ihrer selbst willen betrieben
zu werden. Der Gegensatz, den Aristoteles hier umreißt, erinnert wohl nicht
zufällig an die Unterscheidung zwischen der Muße des Philosophen und
der Unmuße des Gerichtsredners in Platons Theaitetos (172c–177b). Auf die
Muße rekurriert Aristoteles auch in Politik VII in der Frage nach der besten
Lebensform. Er lässt dort jedoch keinen Zweifel daran, dass die Tätigkei-
ten von Politikern nicht nur Mühe erfordern, sondern auch Muße zulassen
(14, 1333a30–b5; 15, 1334a15–25).
(3.1) 1177b8–12 „Für die militärischen Tätigkeiten (polemikai) gilt das ganz
und gar“: Das Führen von Kriegen ist deswegen eine ‚unmußevolle‘ Tätig-
keit, weil es nicht Selbstzweck sein kann, sondern nur dem Frieden dient.
Wer den Krieg zum Selbstzweck macht, ist ein blutrünstiger Mensch, der
Freunde zu Feinden macht, weil es ihm um Mord und Totschlag geht (miai-
phonos ist bei Homer das Epitheton von Ares, dem Kriegsgott). Mit dieser
Auffassung über das Wesen des Kriegs, in der Aristoteles sich mit Platon ei-
nig ist (vgl. Leg. I 628c–e) und die er in der Politik mit Nachdruck vertritt,
dürfte er auch eine Kritik am Zeitgeist verbinden. Dass es ihm damit ernst
ist, zeigt seine, wiederum mit Platon übereinstimmende, deutliche Kritik an
Staaten wie Sparta, deren Gesetzgebung nur auf Krieg und die Unterwer-
Buch X, Kapitel 7 965
fung anderer ausgerichtet ist und die ihre Bürger nicht zu einem Leben in
Frieden erziehen (Pol. VII 14, 1333b5–1334a10). Aristoteles dürfte sich aber
nicht allein auf das inzwischen darniederliegende Sparta beziehen, sondern
auch die makedonische Eroberungspolitik im Blick haben. Es spricht für
sich, dass Aristoteles seinen früheren Schüler, Alexander den Großen, nie
erwähnt.
(3.2) 1177b12–15 „Aber auch die Tätigkeit des Politikers ist unmußevoll
(ascholos)“: Diese Behauptung widerspricht der Charakterisierung der ‚ar-
chitektonischsten‘ Disziplin, der politischen Wissenschaft (I 1, 1094a18-
b11), als der höchsten praktischen Tätigkeit, die ihr Ziel in sich enthält.
Denn die Begründung, es gehe den Politikern um Machtpositionen und Eh-
rungen, also um weitere Ziele, trifft zwar sicher für bestimmte Personen zu,
die das Gute nicht allein im Gemeinwohl, sondern in Ehre oder Macht für
sich selbst sehen (I 3, 1095b26–31). Das kann aber nicht für den Staatsmann
per se gelten, und in der Politik sieht Aristoteles eine klare Trennung zwi-
schen politischen Tätigkeiten vor, die dem Notwendigen und Nützlichen
dienen, und solchen, die dem Schönen und der Muße gelten (VII 14 + 15).
(3.2.1) 1177b14 f. „oder doch dem Glück für sich selbst und für die Bürger“:
Die weitere Begründung, die Politiker seien auf ihr eigenes Glück und das
der Bürger als etwas von der politischen Wissenschaft Verschiedenes aus,
ist mit der ursprünglichen Kennzeichnung dieser Disziplin nicht vereinbar,
die wie alle tugendhaften Handlungen ihr Ziel in sich enthält. Denn da ihr
Ziel per definitionem in der Sicherstellung des Glücks der Gemeinschaft be-
steht, liegt darin kein weiteres, über diese Disziplin hinausgehendes Ziel,
sondern ihr intrinsisches telos. Die Tätigkeit des Staatsmanns ist als solche
‚schön‘ und stellt daher sein eigenes Glück dar; sie gilt aber zugleich auch
dem Glück der Gemeinschaft, und zwar gleichfalls als das ihr eigene telos.
(3.3) 1177b16–26 „Wenn sich also einerseits unter den tugendgemäßen Tä-
tigkeiten die politische und die militärische durch Erhabenheit (kallos) und
Größe (megethos) auszeichnen“: In diesem Abschnitt rechtfertigt Aristo-
teles, dass selbst die besten praktischen Tätigkeiten unmußevoll sind und
nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch um eines (weiteren) Zieles
willen gewählt werden. Daher erfüllt angeblich einzig die Tätigkeit der Ver-
nunft als betrachtende (theôrêtikê) die Bedingungen, autark und mußevoll
zu sein; zudem wird sie durch die ihr eigene Lust noch intensiviert. Somit
besteht auch das vollkommene Glück in dieser Tätigkeit, wenn sie eine hin-
reichende Lebensspanne umfasst (vgl. I 6, 1098a18–20).
Das ist ein, gerade für die praktische Philosophie, sehr überraschen-
des Resultat, weil es die praktische Lebensweise grundsätzlich abwertet.
Denn der ‚große Mann‘, den Aristoteles in der Politik verschiedentlich er-
wähnt, ist kein Philosoph, sondern ein alle anderen überragender Gesetzge-
ber, also ein Mann der praktischen Vernunft (Pol. III 13, 1284a3–14; b27–34
966 Kommentar
et pass.). Auch der ‚göttliche Mann‘, der sich durch übermenschliche Tu-
gend auszeichnet und das Gegenteil der tierischen Rohheit darstellt (EN VII
1145a18–22), kann nicht gemeint sein, denn er zeichnet sich durch ein hero-
isches Ausmaß an Charaktertugend aus, nicht durch die Beschäftigung mit
reiner theôria.
Die Frage der Vereinbarkeit der beiden Formen des Glücks hat Interpre-
ten schon in der Antike beschäftigt. So spricht Aspasios das Problem gleich
am Anfang seines Kommentars an. Er sieht die theôria aufgrund der Erha-
benheit ihrer Gegenstände als vorrangig und wertvoller als die Politik an,
da letztere der körperlichen Natur des Menschen geschuldet ist (1, 1–2, 4).
Zugleich befürwortet er aber eine inklusive Definition der vollkommenen
Tugend (8, 16–30): Die vollkommene Tugend besteht aus sämtlichen Tugen-
den, theoretischen wie praktischen. Er spricht von einer ‚doppelten‘ (dittê)
eudaimonia, wobei die praktische ‚weniger vollkommen‘ (atelestera) ist als
die theoretische. An dieser Lösung hält er auch des Weiteren fest (8, 23–26).
Auch Simplikios (In Cat. 6, 6–15) spricht von einem ‚doppelten Ziel‘ der
Vollkommenheit, der des Charakters einerseits und der Einsicht in die erste
Ursache aller Dinge andererseits, meint aber, dass sie zusammen das voll-
kommene Glück ausmachen.
(4) 1177b26–1178a8 „Eine solche Art des Lebens wäre jedoch höher (kreit-
tôn), als es dem Menschen entspricht (ê kat’ anthrôpon)“: Mit dieser Unter-
scheidung zwischen Göttlichem (theion) und Menschlichem (anthrôpinon)
trägt Aristoteles zunächst der Tatsache Rechnung, dass der Mensch, wie er
hier sagt, eine zusammengesetzte (synthetos) Natur hat und sich daher nicht
ausschließlich mit göttlichen Dingen beschäftigen kann. Da es hier um die
Entgegensetzung von göttlicher Vernunft und der ‚menschlichen‘ Art geht,
nicht um die von Körper und Seele, betrifft die Zusammensetzung den ei-
nen der beiden vernünftigen Seelenteile von I 13, 1102b15–1103a3, wie auch
das folgende Kapitel bestätigt (8, 1178a20). Denn anders als die theoretische
Vernunft ist die praktische Vernunft an die Affekte und durch diese auch
an den Körper gebunden. Entsprechend ist auch der Unterschied zwischen
einem ‚göttlichen‘ und einem ‚menschlichen‘ Leben zu verstehen. Um eine
Integration der beiden Arten von Leben bemüht sich Aristoteles hier jedoch
nicht. Vielmehr scheint es, als wolle er vom ‚menschlichen Element‘ nur ge-
rade so viel wie nötig und keineswegs so viel wie möglich zulassen.
(4.1) 1177b31–1178a2 „Man soll aber nicht Ratgebern folgend nur Mensch-
liches denken“: In der Tragödie finden sich häufig Ratschläge zur Beschrän-
kung auf ‚Sterbliches‘, weil die Missachtung der menschlichen Begrenztheit
den Zorn der Götter herausfordern kann (vgl. z.B. Aischylos, Perser 749;
820; Sophokles, Antigone 455; Trachinierinnen 743; Euripides, Alkestis 799
et pass.; Pindar, Isthmie 5, 16; Aristoteles, Rhet. II 21, 1394b21–26). Eine
Buch X, Kapitel 7 967
die 1991, 412–419 der theôria mit einer Kuppel, die ein Bauwerk überwölbt
und erhöht, oder auch das Plädoyer für eine Annäherung des Praktischen an
das Theoretische bei Lear 22006). ‚Exklusivisten‘ begrüßen hingegen die Zu-
schreibung des göttlichen Elements an die Menschen, vor allem wenn sie –
wie etwa G/J – darunter die Betrachtung Gottes verstehen; eine Assoziation
die sich besonders leicht mit der christlichen Vorstellung einer Versenkung
in Gott vereinbaren lässt. ‚Inkompatibilitisten‘ heben dagegen mit Recht die
Tatsache hervor, dass Aristoteles’ Konzeption des guten Lebens, die der EN
zugrunde liegt, sich auf die menschliche und nicht auf die göttliche Natur
bezieht.
An einer Integration beider Standpunkte scheint Aristoteles hier nicht
gelegen, sondern vielmehr an der Betonung alternativer Lebensformen, zwi-
schen denen zu wählen ist.
(1) 1178a9–22: Die menschliche Art des Glücks beruht auf der zusammen-
gesetzten Natur des Menschen. (2) 1178a22–b7: Das Handeln ist auf andere
Menschen und äußere Güter angewiesen. (3) 1178b7–23: Die Tätigkeit der
Götter besteht nur in der Betrachtung. (4) 1178b24–32: Lebewesen haben
nur insofern Anteil am Glück, als sie des Betrachtens fähig sind.
(1) 1178a9–22 „In zweiter Linie (deuterôs) glücklich ist aber das Leben, das
der anderen Art von Tugend gemäß ist“: Diese wichtige Einschränkung ist
Buch X, Kapitel 8 969
sagt er zwar der Sache nach nichts Neues, denn er hat bereits bei der Zwei-
teilung der Tugenden in I 13 deutlich gemacht, dass Weisheit und Klugheit
voneinander verschieden sind und dass zur Klugheit auch die Beherrschung
der Begierden gehört. Von einer ‚zusammengesetzten‘ Natur spricht Aristo-
teles dort aber nicht; der Ausdruck ‚synthetos‘ findet sich auch sonst weder
in den ethischen noch in den psychologischen Schriften. Seine Verwendung
an dieser Stelle soll offensichtlich den Gegensatz zwischen der Einfachheit
der göttlichen Natur und der Komplexität der menschlichen Natur hervor-
heben. Auf diesen Unterschied hat Aristoteles, freilich ohne den Ausdruck
syntheton zu benützen, bereits in der ersten Lustabhandlung zur Erklärung
hingewiesen, warum Menschen nicht immer an denselben Dingen ihre Lust
haben, während die Lust des Gottes aufgrund seiner einfachen Natur immer
derselben Aktivität gilt (VII 15, 1154b20–31).
(2) 1178a22–b7 „Die Tugend der Vernunft (tou nou) ist aber davon getrennt
(kechôrismenê)“: Die Tugend der reinen Vernunft ist von derartigen Bin-
dungen frei. Eine grundsätzliche ‚Abtrennbarkeit‘ der Seele vom Körper
wird auch an andere Stelle – mit Vorsicht – für die Vernunft angenommen
(vgl. De an. I 1, 403a3–11; II 2, 413b24–27; III 5). Auch die menschliche
Vernunft ist freilich insofern auf den Körper angewiesen, als sie ihre Gegen-
stände aus der Sinneswahrnehmung bezieht. Dass die Vernunft ohne einen
Bezug auf sinnliche Eindrücke (phantasia, phantasmata) auskommt, wird
in De an. III 7, 431a14–17 et pass. ausgeschlossen, und Entsprechendes lässt
sich auch aus der Beschreibung in Anal. post. II 19 schließen, wie die Ver-
nunft zu ihren Inhalten kommt: Sie setzt bei der Sinneserfahrung an. Zu die-
ser Frage sei auch an Thomas v. Aquins bündige Diagnose erinnert: „Nichts
ist im Geist, was nicht zuvor in den Sinnen war“ (De veritate q.2 a.3 arg. 19:
Nihil est in intellectu quod non prius erat in sensu). Das gilt auch für den An-
blick des gestirnten Himmels über uns.
Wenn Aristoteles hier für die Unabhängigkeit der theoretischen Ver-
nunft plädiert, so scheint er die theôria auf die ‚spezielle Metaphysik‘ zu
beschränken, die allein das Göttliche und Ewige zum Gegenstand hat, im
Unterschied zur ‚allgemeinen Metaphysik‘, die dem Seienden qua Seiendem
überhaupt gilt (zur Unterscheidung vgl. Met. Γ 1; E 1 – die terminologische
Unterscheidung stammt aus dem Mittelalter). Es ist aber ganz unklar, was
der reine Geist, der Unbewegte Beweger, denkt, und daher ist es ein Myste-
rium, was der menschliche Geist denkt, wenn es ihm gelingt, „für kurze Zeit
so zu sein, wie der göttliche Geist es für alle Ewigkeit ist“ (Met. Λ 9, 1075a5–
10). Eine Lebensform, so kann man mit einiger Sicherheit sagen, sind diese
kurzen ‚überhimmlischen‘ Augenblicke nicht. Es ist also eine dialektische
Zuspitzung, wenn Aristoteles hier so spricht, als brauche der Philosoph sei-
nen Körper nur deswegen, weil er auch ein Mensch ist.
Buch X, Kapitel 8 971
(2.1) 1178a23–33 „Von dieser Tugend dürfte nun gelten, dass sie äußere
Hilfsmittel nur wenig oder doch weniger benötigt als die Charaktertugend“:
In Hinblick auf die lebensnotwendigen Güter besteht kein Unterschied zwi-
schen dem Theoretiker und dem Praktiker, weil beide auf sie angewiesen
sind. Äußere Güter aller Art sind jedoch grundsätzlich für die Anwendung
der Charaktertugenden nötig, während der Theoretiker ohne sie tätig sein
kann. Auf diese Notwendigkeit hat Aristoteles zwar bereits früher verschie-
dentlich hingewiesen (vgl. I 9, 1099a31–b8 und die Erörterung der Bedin-
gungen tugendhafter Handlungen in den Büchern III, 9–V). Hier stellt er die
Notwendigkeit von Geld, Einfluss und Gelegenheit für tugendhaftes Han-
deln jedoch als einen grundsätzlichen Nachteil dar und nicht nur als die Vor-
bedingungen eines erfüllten Lebens.
(2.2) 1178a30 f. „Wünsche (boulêseis) liegen nämlich nicht offen zutage“:
Es dürfte sich hier um eine in den Text geratene Randglosse handeln, deren
Verfasser darauf aufmerksam machen will, dass man das Fehlen von Mitteln
auch als Ausrede benützen und behaupten kann, man wünsche zu helfen,
könne dies aber fehlender Mittel wegen nicht. Vermutlich ist diese Bemer-
kung an die falsche Stelle geraten; sie wäre eher im Anschluss an die nachfol-
genden Erklärungen dafür angebracht, dass äußere Güter notwendig sind,
damit man sich als Mensch eines bestimmten Charakters erweisen kann.
(2.3) 1178b3–7 „Der Betrachtende hat hingegen jedenfalls für seine Tätig-
keit keinen Bedarf an solchen Dingen“: Die Unabhängigkeit von äußeren
Gütern aller Art verändert insofern den Begriff der Autarkie, als damit nicht
nur die Verzichtbarkeit äußerer Güter verbunden ist, sondern letztere für
den Theoretiker eher eine Behinderung darstellen. Dass es Aristoteles damit
nicht ganz ernst ist, zeigt das hôs eipein (= ‚sozusagen‘). Er will wohl kaum
sagen, dass die Tätigkeit der Vernunft durch Besitz, Schönheit etc. ernsthaft
beeinträchtigt werde.
(2.3.1) 1178b5–7 „Sofern er aber Mensch ist und mit vielen zusammenlebt
(syzêi)“: Auf diese Konzession stützen sich Inklusivisten und Kompatibilis-
ten aller Richtungen, weil sie deutlich macht, dass auch der Weise mit ande-
ren zusammenlebt, von den Charaktertugenden Gebrauch macht und daher
auch äußere Güter braucht, um wie ein Mensch zu leben (1178b7: anthrô-
peuesthai): Dieser Ausdruck ist ein hapax legomenon und vermutlich von
Aristoteles als Gegensatz zu athanatizein (= ‚sich unsterblich machen‘) ge-
prägt worden, vgl. 7, 1177b33). Es bleibt aber offen, in welchem Umfang der
Denker mit anderen umgeht und am Leben der Gemeinschaft teilnimmt, da
es für ihn doch nur Zweitrangiges darstellt.
Diese Stelle widerspricht jedoch dem Einwand, der oft gegen Aristote-
les’ Bevorzugung der theôria erhoben wird, ihre Ausübung rechtfertige die
Missachtung sämtlicher moralischer Standards. Qua Mensch hält sich der
Theoretiker an die allgemeinen Standards. Es bleibt aber ungewiss, ob er
972 Kommentar
(3) 1178b7–23 „Dass das vollkommene Glück in der Tätigkeit des Betrach-
tens besteht, dürfte auch aus Folgendem deutlich werden“: Den Beweis für
die Überlegenheit der theôria soll der Glückszustand der Götter bringen,
der in rein geistiger Aktivität besteht. Dass man den Göttern keine Hand-
lungen im Sinne der Charaktertugenden zuschreiben darf, begründet Aris-
toteles mit einer Art reductio ad risibile: Die Götter machen weder mitein-
ander Geschäfte noch haben sie Gefahren zu erdulden oder verhalten sich
besonnen – derartige Tätigkeiten wären ganz unter ihrer Würde. Da aber
zum Leben das Tätigsein gehört, ist nur das reine Denken eines Gottes wür-
dig.
Eine Berufung darauf, was der Götter würdig ist, hatte bekanntlich eine
alte Tradition. Denn Xenophanes, der wandernde Barde, hatte bereits im
6. Jh. Kritik an den anthropomorphischen Darstellungen der Götter bei Ho-
mer und Hesiod geübt. Diese haben „den Göttern alles angehängt, was nur
bei Menschen Schimpf und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einan-
der Betrügen“ (DK 21 B 11). Gegen diese Tradition wendet sich auch das
Plädoyer des Sokrates bei Platon, dass die Götter weder auf Pflege noch
auf Dienste oder Wohltaten durch die Menschen angewiesen sind und auch
keine Geschäfte mit ihnen machen (Euthphr. 12e–15a).
(3.1) 1178b12 f. „Oder auch tapfere Handlungen, indem sie Furchtbarem
gegenüber standhalten und Gefahren ertragen“: Der Text enthält hier stark
verkürzte Wendungen. Wie zur Übersetzung angemerkt, ist aber keine Lü-
cke anzunehmen. Vielmehr folgen zwei voneinander unabhängige Akkusa-
tive, von denen der erste von ‚zuschreiben‘ abhängt: Sollte man den Göttern
tapfere Handlungen zuschreiben? Der zweite Akkusativ schließt sich daran
an und kennzeichnet das Verhalten der Götter selbst: Sollte man die Götter
als Furchtbares und Gefährliches ertragend beschreiben?
(3.2) 1178b19 f.„schlafen wie Endymion“: Es gab verschiedene mythische
Traditionen über Endymion. Besonders populär war später die Sage aus
Kleinasien, die Mondgöttin Selene habe für ihren sterblichen Geliebten die
Unsterblichkeit durch ewigen Schlaf erwirkt, der ihn vor dem Verfall be-
wahren sollte. Endymion ist daher der sprichwörtliche ewige Schläfer (vgl.
Platon, Phd. 72c).
(3.3) 1178b20–23 „Folglich dürfte die Tätigkeit des Gottes − an Glückse-
ligkeit alles übertreffend − die betrachtende sein“: Die Art des Denkens
Buch X, Kapitel 8 973
des Gottes und dessen Inhalt stellt Interpreten vor erhebliche Probleme, da
Aristoteles weder hier noch an anderer Stelle darüber Auskunft gibt. Das
gilt auch für die Kapitel in Met. Λ 7–10, die der Gottheit, dem sog. Un-
bewegten Beweger, als der ersten Ursache des Universums gewidmet sind.
Zwar stellt Aristoteles klar, dass die Aktivität dieses ersten Bewegers ein Le-
ben geistiger Art ist, kontinuierlich, mühelos, und lustvoll. Da dieses Den-
ken aber nur den besten Gegenständen gelten kann, denkt der Unbewegte
Beweger sich selbst – das Denken und sein Gegenstand sind daher iden-
tisch, weil alle anderen Objekte von niedrigerem Rang sind. Ob dieses Den-
ken wirklich rein selbstbezogen (‚narzistisch‘) ist oder einen Inhalt hat und
von welcher Art dieser ist, hat die Interpreten seit der Antike beschäftigt.
Während die einen diesem Gott nur das Denken des eigenen Denkens zu-
schreiben, halten andere dafür, dass dieses Denken die Prinzipien der Welt-
ordnung umfasst (zu den verschiedenen Möglichkeiten vgl. die Beiträge zu
Charles/Frede 2000; Horn 2016. Eine gute Übersicht über die Problematik
vermittelt Kahn 1985).
(4) 1178b24–32 „Ein Anzeichen (sêmeion) dafür ist auch, dass die übrigen
Lebewesen am Glück nicht teilhaben“: Dass die Tiere der eudaimonia nicht
fähig sind, ist bisher damit begründet worden, dass sie zwar Wahrnehmung
haben, aber nicht handeln können, weil ihnen die Klugheit fehlt, so dass
sie zu Beratung und Entscheidung nicht fähig sind (I 10, 1099b32 f.; VI 2,
1139a19–27). Dasselbe gilt auch für die Kinder, solange es ihnen daran noch
fehlt (I 10, 1100a14; III 4, 1111b6–10). Hier dagegen erfüllt allein das Be-
trachten die Qualifikation zum Glück. Das schließt aber nicht nur Tiere und
Kinder, sondern auch alle Menschen aus, die der theôria nicht fähig sind,
also auch die nur praktisch Tätigen.
(4.1) 1178b26–28 „insofern es etwas dieser Tätigkeit Ähnliches (homoiôma
ti) enthält“: Manche Interpreten sehen darin eine Anspielung auf Platons
berühmte Rede von der ‚Angleichung des Philosophen an Gott‘ (Tht. 176b:
homoiôsis theôi). Daran knüpft der Vorschlag von B/R, 445 f. an, das Glück
schließe auch die praktische Intelligenz ein. Angesichts der grundsätzlichen
Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Denken ist das
aber nicht plausibel. Denn da die Götter nicht handeln, kann in dieser Hin-
sicht keine Ähnlichkeit mit ihnen bestehen. Aus diesem Grund überzeugen
auch andere Versuche nicht, Aristoteles eine ‚Annäherung‘ des menschli-
chen an das göttliche Glück zu unterstellen (vgl. Lear 22006). Hier ist ein-
zig von der Angleichung des theoretischen menschlichen Denkens an das
göttliche Denken die Rede, nicht von einer Angleichung des praktischen an
das theoretische Denken, wie Lear es vorsieht (vgl. dazu die Bedenken bei
Annas 2005).
974 Kommentar
(4.2) 1178b28–32 „Soweit also das Betrachten reicht, soweit reicht auch das
Glück“: Von Bemühungen um eine Vermittlung zwischen der besten und
der zweitbesten Form des Glücks ist hier nichts zu sehen. Denn die Grad-
unterschiede beziehen sich allein auf die theôria: Wer ihrer in höherem Maß
fähig ist, ist auch in höherem Maße glücklich. Das Glück als solches besteht
aber allein in der Betrachtung.
(1) 1178b33–1179a9: Auch der Weise ist in bescheidenem Maß auf den Be-
sitz äußerer Güter angewiesen. (2) 1179a9–22: Zeugen dafür sind weise
Männer wie Solon und Anaxagoras sowie eine Überprüfung des Lebens.
(3) 1179a22–32: Die besondere Fürsorge der Götter gilt aber dem Weisen.
(2) 1179a9–22 „Auch Solon hat wohl die Glücklichen richtig gekennzeich-
net“: Die Zeugnisse von Solon und Anaxagoras werden zu Bestätigung da-
für bemüht, dass das glückliche Leben weder Reichtum noch Macht voraus-
setzt. Aristoteles hat zwar die Sentenz des Solon, man solle sich nicht vor
seinem Ende glücklich schätzen, kritisch behandelt (I 11), hebt aber an der
solonischen Gesetzgebung besonders die Einschränkung des Grundbesitzes
als vorbildlich hervor (Pol. II 7, 1266b16 f.) wie auch die Konzeption ei-
ner Mischverfassung, die aristokratische mit demokratischen Einrichtungen
verbindet (Pol. II 12, 1273b32–1274a21; III 11, 1281b32–38). Die Klausel
„wie er meinte“ in 1179a11 f. ist sicher nicht als Vorbehalt gemeint, sondern
als Andeutung, dass Solons Ermahnung zu Bescheidenheit keinen allgemei-
nen Anklang gefunden hat.
(2.1) 1179a13–16 „Auch Anaxagoras scheint unter dem Glücklichen weder
einen Reichen noch einen Machthaber verstanden zu haben“: Anaxagoras
behandelt Aristoteles, trotz mancher Kritik an seinen naturphilosophischen
Theorien, stets mit besonderem Respekt. So erwähnt er Anaxagoras zusam-
men mit Thales als Weise, die von der Menge deswegen als ‚nicht klug‘ be-
urteilt werden, weil sie sich zwar mit erhabenen und göttlichen Dingen be-
schäftigen, das für sie Nützliche aber nicht kennen (VI 7, 1141b2–8). Zu
Anaxagoras’ Einstellung gibt Aristoteles in EE noch eine etwas ausführli-
chere Erklärung ab. Er habe ein Leben des Reichtums und der Macht ab-
gelehnt und für das Leben des Gerechten oder desjenigen plädiert, der an
göttlichem Wissen teilhat, soweit es Menschen können (I 4, 1215b6–14). Zur
‚Seltsamkeit‘ des menschlichen Idealbildes nach Anaxagoras fügt Aristoteles
dort noch dessen Erklärung hinzu, es sei besser geboren als nicht geboren zu
werden, „weil man den Himmel und die Ordnung des Alls betrachten kann“
(EE I 5, 1216a10–16).
(2.2) 1179a17–22 „Nun haben zwar auch solche Meinungen eine gewisse Be-
weiskraft“: Wenn zur Autorität dieser Weisen noch eine weitere Bewährung
kommen muss, so offensichtlich, weil hier das praktische Leben überhaupt
gemeint ist, wie der Verweis auf den Besonnenen und auf das Tun, ‚was man
soll‘, anzeigt. Die solonische Lebensweise präsentiert Aristoteles als eine Art
von Synthese des praktischen und theoretischen Lebens, die den Weisen in-
sofern einschließt, als auch er ein praktisch tätiger Mensch ist. Diese Ar-
gumente zeugen zwar von Aristoteles’ Bemühung um eine Abschwächung
des Gegensatzes zwischen dem theoretischen und dem praktischen Leben;
die Empfehlung eines quietistischen Lebens passt aber insofern nicht in den
weiteren Kontext, als sich Aristoteles an ein Publikum wendet, das an der
politischen Wissenschaft interessiert ist, die auch im folgenden abschließen-
den Kapitel wieder ins Zentrum gestellt wird.
976 Kommentar
(3) 1179a22–32 „Wer aber der Vernunft entsprechend tätig ist und ihr dient,
scheint zugleich in der besten Verfassung und den Göttern am liebsten zu
sein“: Warum Aristoteles es nicht bei der Bestätigung des ‚maßhaften‘ Le-
bens belässt und mit einer Synthese des theoretischen und praktischen Le-
bens endet, sondern gewissermaßen als Coda noch ein weiteres Argument
zugunsten des theoretischen Lebens folgen lässt, bleibt sein Geheimnis.
(3.1.) 1179a24 „den Göttern am liebsten“ (theophilestatos): Das Adjektiv
theophiles kommt bei Aristoteles nur an dieser Stelle vor, während Platon es
häufig verwendet und dem gottgeliebten Erfolg und ein glückliches Leben
zuspricht (Resp. X 612e–613b; Phlb. 40b).
(3.2) 1179a24–29 „Denn wenn es von Seiten der Götter eine gewisse Für-
sorge (epimeleia) für die menschlichen Angelegenheiten gibt“: Die Vorstel-
lung von einer göttlichen Fürsorge, zum Guten wie auch zum Schlechten,
hat eine lange Tradition (vgl. z.B. Aischylos, Agamemnon 369–372; Sopho-
kles, Trachinierinnen 821–830; Euripides, Phoenikerinnen 636; Platon, Tim.
44c; Leg. X 899d–905d). Xenophon schreibt Sokrates sogar einen Gottesbe-
weis aufgrund der göttlichen Fürsorge zu (Memorabilien I 4). Die Annahme
einer göttlichen Fürsorge passt aber schlecht zu Aristoteles’ Konzeption ei-
ner transzendenten göttlichen Vernunft, die nur sich selbst denkt und sich
um die veränderliche Welt nicht kümmert (Met. Λ 9, 1074b21–35). Manche
Kommentatoren halten dieses Argument daher für unaristotelisch und für
eine Einfügung von fremder Hand (vgl. Stewart 1892, II 457 mit Hinweis
auf Ramsauer). Andererseits greift Aristoteles auch sonst verschiedentlich
auf herkömmliche religiöse Vorstellungen zurück, und sei es nur der An-
schaulichkeit wegen. So fügt er z.B. zum Abschluss seiner Erörterung des
Unbewegten Bewegers in Met. Λ noch einen Vergleich des Verhältnisses die-
ser abstrakten Gottheit zur Welt mit dem zwischen einem Feldherrn und der
Ordnung seiner Armee hinzu (10, 1075a11–15). Damit soll anscheinend eine
Art Brücke zwischen der sehr abstrakten Konzeption des Unbewegten Be-
wegers und herkömmlichen Vorstellungen geschlagen werden.
(3.3) 1179a29–32 „Dass all dies auf den Weisen im höchsten Maß zutrifft,
ist offenkundig“: Welche Überzeugungskraft Aristoteles diesem Argument
beimisst, lässt sich schwer einschätzen. Die Erklärung, es handle sich um ein
bloßes Ad-hominem-Argument, hat ihre Schwierigkeiten. Denn Aristoteles’
Zuhörerschaft besteht nicht aus naiven Anhängern der volkstümlichen Re-
ligion, sondern war mit seiner ‚Theologie‘ vertraut. Wenn Aristoteles hier in
propria persona spricht, so mag es ihm in erster Linie um eine literarisch ver-
brämte Hervorhebung der Verwandtschaft zwischen dem göttlichem und
dem menschlichem Geist gehen, die dem dafür Begabten ein besonders gu-
tes Leben verspricht. Ob die Berufung auf die Tradition die aristotelische
Glücksvorstellung auch weniger philosophisch Geschulten schmackhaft
machen oder seine Philosophie gegen den Vorwurf der Gottlosigkeit ab-
Buch X, Kapitel 10 977
sichern soll, muss offenbleiben. Die Anklage wegen Asebie, die Aristoteles
323 im Zug der anti-makedonischen Revolte nach dem Tod Alexanders zur
Flucht aus Athen gezwungen hat, scheint nicht seinen Schriften oder seiner
Lehre, sondern nur der Tatsache gegolten zu haben, dass er dem (lang ver-
storbenen) Hermias göttliche Ehren erwiesen hat (vgl. Diogenes Laertius
V 5–9). Das spricht dafür, dass die Öffentlichkeit in Athen von Aristoteles’
Lehre als solcher wenig Notiz genommen hat.
(1) 1179a33–b4: Nicht das Wissen allein, sondern das Tun ist das eigentliche
Ziel der Ethik. (2) 1179b4–31: Worte haben in der Erziehung zur Tugend nur
eine begrenzte Wirkung. (3) 1179b31–1180a14: Voraussetzung für die Erzie-
hung der Jugend und die Lebensweise überhaupt ist eine angemessene Ge-
setzgebung. (4) 1180a14–32: Gesetze haben zwingende Kraft. (5) 1180a32–
b28: Oberstes Ziel der Erziehung ist daher der Erwerb gesetzgeberischer
Fähigkeiten. (6) 1180b28–1181a23: Die Frage nach Erziehern von Gesetz-
gebern ist ein noch ungelöstes Problem. (7) 1181a23–b12: Die Grundlagen
dazu liefern Sammlungen von Verfassungen und Gesetzen. (8) 1181b12–23:
Zu den Voraussetzungen der Gesetzgebung gehört auch die Kenntnis der
verschiedenen Staatsverfassungen und der Faktoren, die sie erhalten oder
zerstören.
(1) 1179a33–b4 „Wenn nun über diese Dinge und die Tugenden, zudem auch
über Freundschaft und Lust in Umrissen (tois typois) hinreichend gespro-
chen worden ist“: Dass sich seine Ausführungen auf Umrisse beschränken,
hat Aristoteles gleich zu Anfang bei der Einführung der ‚Meisterwissen-
schaft des Lebens‘ vermerkt (I 1, 1094a24–26) und anschließend auch ver-
schiedentlich betont (7, 1098a20–26; II 2, 1104a1 et pass.). Gleichwohl sieht
er es als sein Ziel an, nicht allein Einsichten in die Prinzipien des guten Le-
bens zu vermitteln, sondern die Menschen gut zu machen. Denn die Versi-
cherung, im Bereich des Handelns gehe es nicht um das Betrachten (theôr-
ein) und Erkennen (gignôskein), sondern um das Tun, ist kein Versuch, das
theoretische mit dem praktischen Leben in Einklang zu bringen, sondern
die Wiederaufnahme des Grundgedankens aus Buch II 2, 1103b26–1104a3.
(2.1) 1179b6 „nach Theognis“: Mit diesem Vers (Elegien 1, 432–434), den
auch Platon (Men. 95e) zitiert, beschließt Theognis seine Erklärung, die As-
klepiaden, also die Ärzte, hätten höchsten Lohn verdient, wenn sie Men-
schen überdies von ihrer Schlechtigkeit und ihren üblen Gedanken heilen
könnten.
(2.2) 1179b7–9 „Nun scheinen Worte zwar die Kraft zu haben, die gut Erzo-
genen unter den Jungen anzuleiten (protrepsasthai) und anzuspornen“: Diese
Erklärung gibt Auskunft über Aristoteles’ Einschätzung der Wirkung seiner
eigenen Worte: Sie haben einen protreptischen Wert, aber nur für zwei Ar-
ten von Menschen: für solche, die bereits die notwendige ‚freie‘ Erziehung
erfahren haben oder aber von Natur aus einen noblen Charakter mitbringen
(to êthos eugenes). Beides dürfte Aristoteles für seine Zuhörer voraussetzen
(I 1, 1094b27–1095a13). Von ‚guter Geburt‘ war bisher nur gelegentlich im
Sinne von vornehmer Abstammung die Rede (I 9, 1099b3; IV 5, 1122b31).
Hier scheint Aristoteles jedoch an Ausnahmegestalten zu denken, wie auch
das Adjektiv philokalos (= ‚Liebhaber des Schönen‘) und das Nomen kalo-
kagathia zur Bezeichnung der entsprechenden Disposition anzeigen.
(2.3) 1179b10–20 „Die Menge (hoi polloi) vermögen Worte aber nicht zum
Guten und Schönen hinzuleiten“: Der Menge unterstellt Aristoteles, dass
sie kein glückliches Leben führen kann, weil sie nur von den Affekten und
nicht von der Vernunft geleitet ist. Dem widerspricht zwar prima facie, dass
Aristoteles in der Politik der ‚Weisheit der Menge‘ u.U. ein besseres Urteil
als Experten zugesteht, weil jeder Einzelne zum Gesamturteil etwas beiträgt
(Pol. III 11; 15, 1286a24–b22, vgl. Waldron 1995). Dort geht es allerdings um
die Mehrheit (to plêthos) der Bürgerschaft realer Staaten und ihre Mitwir-
kung in öffentlichen Angelegenheiten, während in der EN die ‚Menge‘ oft
diejenigen bezeichnet, deren Affekte nicht unter der Kontrolle der phronêsis
stehen.
(2.4) 1179b20–31 „Die einen meinen nun, man werde von Natur aus gut, an-
dere, man werde es durch Gewöhnung, wieder andere, man werde es durch
Belehrung“: Die auf Platon zurückgehenden verschiedenen Erklärungen
(Men. 70a) hat Aristoteles bereits früher kommentiert (I 10, 1099b9–20;
II 1, 1103a1–26). Daher geht er auch nur auf zwei dieser Möglichkeiten ein:
den Glückszufall und die Gewöhnung. Der Glückszufall wird kurz mit der
Bemerkung abgetan, dass er nicht in unserer Hand liegt, sondern eine ‚gött-
liche Ursache‘ hat (vgl. dazu die reichlich verwickelten Darstellungen in
EE VIII 2).
(2.4.1) 1179b24–26 „vielmehr muss die Seele des Hörers (akroatês) durch
Gewöhnung vorbearbeitet sein (prodiergazesthai)“: Wie der hübsche Ver-
gleich mit der vorbearbeiteten Erde zeigt, ist die Gewöhnung nur eine Vor-
bereitung darauf, in der richtigen Weise Lust am Schönen und Abscheu vor
Schändlichem zu empfinden. Diese Metaphorik erinnert vielleicht nicht zu-
980 Kommentar
fällig an den Landmann bei Platon, der bereit ist, acht Monate auf das Reifen
der Früchte zu warten (Phdr. 276b–277a).
(2.4.2) 1179b26–29 „Denn wer seinen Affekten gemäß lebt“: Da alle Men-
schen durch die Affekte mitbestimmt werden, muss hier gemeint sein: wer
nur seinen Affekten gemäß lebt (vgl. I 1, 1095a8 f. et pass.). Bei solchen Men-
schen sind Worte nutzlos, weil sie nur durch Zwang von ihren schlechten
Absichten abzubringen sind.
(3) 1179b31–1180a14 „Von klein auf die richtige Hinleitung zur Tugend zu
erhalten, ist aber schwierig, wenn man nicht unter entsprechenden Geset-
zen aufwächst“: Hiermit ist das eigentliche Thema angesprochen. Dass die
Erziehung Sache der Gesetzgebung sein soll, gehört zu den Grundvoraus-
setzungen der EN. Denn nach I 1, 1094b5–7 hat der Staatsmann per Gesetz
anzuordnen, was die Bürger nicht nur zu lernen, sondern auch zu tun und
zu lassen haben, und eben darin liegt auch die Bewährung guter Gesetzge-
bung (vgl. II 1, 1103b2–6).
(3.1) 1180a1–5 „Es reicht aber vielleicht nicht aus, nur in der Jugend die rich-
tige Erziehung und Fürsorge zu erhalten“: Wie sich zeigt, beschränkt sich
die Aufgabe der Gesetzgeber nicht auf die Erziehung in der Jugend, sondern
hat auch die Lebensgewohnheiten der Erwachsenen zu regeln. Aristoteles
geht also nicht davon aus, dass einmal erworbene gute Charakterdispositi-
onen ein fester Besitz sind. Vielmehr müssen sie auch durch weiteres Üben
erhalten und verstärkt werden. Das übersehen Interpreten, die Aristoteles
als Protagonisten einer liberalen Demokratie in Anspruch nehmen. Denn
die Gesetze sorgen nicht allein dafür, dass die Bürger einander keinen Scha-
den zufügen, sondern regeln ihr ganzes Leben. Aristoteles begnügt sich also
nicht nach J. S. Mill mit dem Recht, ‚in Ruhe gelassen zu werden‘.
(3.2) 1180a5–14 „Daher glauben manche“: Bestimmte Vorstellungen in die-
sem Kapitel werden gewissermaßen ‚anonym‘ präsentiert (vgl. 1179b20:
‚man meint‘), so dass offenbleibt, ob Aristoteles diese Meinungen in vollem
Umfang teilt, insbesondere die hier empfohlenen ‚allopathischen‘ Zwangs-
maßnahmen durch körperliche Züchtigung, die Menschen wie Tiere unter
dem Joch behandeln. Von Strafe war zuvor nur beiläufig die Rede. So kenn-
zeichnet Aristoteles Strafe als Therapie (II 2, 1104b16–18; III 7, 1113b21–26;
vgl. EE II 1, 1220a34–37). Von der Todesstrafe spricht er nicht, sondern nur
von der Verbannung für ‚Unheilbare‘. Dass er grundsätzlich kein Freund
von Strafen ist, bestätigen auch seine Ablehnung von Rache und Vergeltung
(V 8, 1132b21–31) und seine Erklärung, das Strafen sei zwar eine ‚notwen-
dige gerechte Handlung‘, es jedoch besser wäre, wenn man sie nicht anzu-
wenden brauchte (Pol. VII 13, 1332a12–15).
Buch X, Kapitel 10 981
(4) 1180a14–32 „Wenn nun, wie gesagt, der Mensch, der gut werden soll,
richtig erzogen und gewöhnt werden … muss“: Dieser Abschnitt erklärt zu-
nächst, dass die richtige Art der Erziehung und der weiteren Lebensführung
ein entsprechendes Vernunftprinzip und eine Ordnung voraussetzen. Eben-
dies sicherzustellen, ist die Funktion von Gesetzen (ähnlich Platon, Leg. VII
804d–e). Die väterliche Autorität ist von Natur aus schwächer und hat keine
nötigende Kraft, wie dies überhaupt für die Autorität einzelner Individuen
über andere gilt, wenn sie nicht gerade Monarchen sind. Die größere Au-
torität der Gesetze beruht auf drei Gründen: (i) das Gesetz hat nötigen-
den Charakter; (ii) diese Notwendigkeit beruht auf Klugheit und Vernunft;
(iii) Beschränkungen durch das Gesetz begegnen die Menschen ihrer Un-
persönlichkeit wegen nicht mit Hass wie bei Beschränkungen durch andere
Menschen. Daher kommt Gesetzen gegenüber auch kein Gedanke an Ver-
geltung auf (zu Aristoteles’ Einschätzung der überpersönlichen Autorität
von Gesetzen vgl. Pol. III 16, 1287a28–32: Das Gesetz ist ‚Vernunft ohne
Leidenschaft‘).
(4.1) 1180a16 f. „so dass er weder unfreiwillig noch freiwillig Schlechtes
tut“: Da Unfreiwilliges nach III 1 + 2 auf Zwang oder Unwissen beruht,
kann hier mit ‚unfreiwillig‘ (akôn) nur gemeint sein, dass man nolens volens
so handelt (so auch B/R, 451).
(4.2) 1180a18 „die Wirkungsmacht (ischys) haben“: Mit ischys bezeichnet
Aristoteles zumeist die Körperkraft. Hier ist aber die Macht zur Durchset-
zung politischer und rechtlicher Regelungen gemeint, die sich auf die exe-
kutive Gewalt stützt.
(4.3) 1180a24–32 „Nur im Staat der Spartaner und in wenigen anderen hat der
Gesetzgeber bekanntlich für Erziehung und Beschäftigungen Sorge getra-
gen“: Neben Sparta nennt Aristoteles, wie Platon vor ihm, sonst auch Kreta
(I 13, 1102a10–12). Dies wird oft als Anzeichen für eine oligarchiefreundli-
che Einstellung gewertet. Das Lob für diese beiden Staaten gilt aber nur der
Tatsache, dass sie überhaupt Gesetze für die Erziehung von Kindern und für
die Lebensweise der Bürger erlassen haben. Denn wie die Analyse des Staa-
tes der Spartaner in Pol. II 9 zeigt, teilt Aristoteles Platons Vorbehalte gegen
die einseitige Konzentration auf Kriegsführung (Leg. I 624a–628e), zudem
kritisiert er auch andere Missstände, die zum Niedergang Spartas geführt ha-
ben (vgl. Pol. VII 14, 1333b6–1334a10).
(4.3.1) 1180a27–29 „und jeder lebt dort, wie er will, indem er nach Kyklo-
penart ‚Recht setzt über Frau und Kinder‘“: Im Fehlen einer öffentlichen
Erziehung durch Recht und Gesetz sieht Aristoteles eine primitive Barbarei,
wie seine Gleichsetzung der väterlichen Gewalt mit der bei den Kyklopen
nach der Beschreibung in der Odyssee zeigt (IX 114 f.). Er prangert also in
dem auf seine politischen Errungenschaften so stolzen Athen vorsintflutli-
che Zustände an, weil die Vernachlässigung der Erziehung durch die Öffent-
982 Kommentar
(5) 1180a32–b28 „Nach dem Gesagten sollte man aber meinen, dass derje-
nige das besser kann, der die Fähigkeit eines Gesetzgebers erworben hat (no-
mothetikos genomenos)“: Diese Bedingung ist von grundlegender Bedeu-
tung, weil gute Gesetze die Garantie für die richtige Lebensordnung sind.
Denn wie schon in II 1, 1103b2–5 vermerkt, muss es das Ziel jedes Gesetzge-
bers sein, den Bürgern ‚gute Gewohnheiten‘ zu vermitteln, so dass sich gute
und verfehlte Staaten eben darin unterscheiden. Im Folgenden geht Aristo-
teles deshalb auf die Bedingungen der Erziehung zum Gesetzgeber ein.
(5.1) 1180a35–b3 „Ob die Gesetze geschrieben (gegrammenoi) oder unge-
schrieben (agraphoi) sind, sollte keinen Unterschied machen“: Über Natur
und Funktion von ungeschriebenen Gesetzen besteht unter den Experten
angesichts unterschiedlicher Quellen keine Einigkeit; auch Aristoteles äu-
ßert sich an verschiedenen Stellen unterschiedlich (dazu Ostwald 1973). Aus-
führlicher geht Aristoteles auf diese Thematik in der Rhetorik ein. Zunächst
bezeichnet er die ungeschriebenen Gesetze als die der ganzen Menschheit
gemeinsamen, die geschriebenen dagegen als die in einem bestimmten Staat
geltenden Gesetze (Rhet. I 10, 1368b7–9). Diese Unterscheidung nimmt
er später wieder auf und führt dazu noch weitere Differenzierungen ein
(13, 1373b4–18, vgl. dazu Rapp 2002, II 486–493). So erklärt er von den
gemeinsamen Gesetzen, sie seien natürlich, beruhten nicht auf Konvention
und seien überzeitlich gültig, wie das Gesetz, auf das sich Antigone bei So-
phokles beruft, das die Bestattung ihres Bruders gebietet, wie auch Empedo-
kles’ Verbot der Tötung von Tieren oder Alkidamas’ Überzeugung von der
Unnatürlichkeit der Sklaverei. Ferner unterscheidet Aristoteles zwischen
zwei Arten von ungeschriebenen Gesetzen: zwischen solchen, die über die
Buch X, Kapitel 10 983
(6) 1180b28–1181a23 „Sollten wir also als nächstes untersuchen, woher und
wie jemand zum Gesetzgeber (nomothetikos) wird?“: Statt einer Antwort
präsentiert Aristoteles zunächst das ‚Paradoxon‘ über die Lehrbarkeit der
Tugend, mit dem Sokrates in Platons Dialogen die vermeintlichen Exper-
ten seiner Zeit herausgefordert hat: Die Praktiker dieser Kunst, die Poli-
tiker, können sie anderen nicht vermitteln; die selbsternannten Lehrer, die
Sophisten, praktizieren sie nicht (Men. 91a–95c; vgl. Prot. 319e–320b). Auf
die sokratisch-platonische Herausforderung verweist Aristoteles zwar nicht
expressis verbis, setzt sie aber als bekannt voraus, wie sich den verbalen An-
spielungen entnehmen lässt (vgl. dazu Kamtekar 2014).
(6.1) 1181a1–12 „Das tun vielmehr die in der Politik Tätigen (politeuome-
noi); sie scheinen dazu aber eher aufgrund einer gewissen Begabung (dy-
namis) und Erfahrung (empeiria) als aufgrund von Wissen in der Lage“:
Aristoteles schließt sich damit grundsätzlich Platons Kritik am fehlenden
Wissen der Politiker an, auch wenn er in der Wortwahl weniger ironisch ist.
So beruft er sich darauf, dass sie ihre Söhne und Freunde nicht zu Politikern
machen, wie man es doch erwarten würde, wenn sie vermittelbares Wissen
hätten. Denn da sie diese Fähigkeit an sich selbst hoch schätzen, würden sie
diese weitergeben, wenn sie es könnten. Zudem sieht Aristoteles in der Tat-
sache, dass die Politiker weder Schriften über Politik verfassen noch darüber
sprechen, sondern sich auf Reden vor Gericht und vor der Volksversamm-
Buch X, Kapitel 10 985
lung beschränken, ein Anzeichen, dass sie gar nicht meinen, derartiges Wis-
sen zu haben. Schriften über politische Fragen hat es zwar vom 5. Jh. an ge-
geben; wie man Aristoteles’ Berichten entnehmen kann, galten sie aber nicht
Fragen der Realpolitik, sondern idealen Staatsformen (Pol. II 7 + 8; VII 13).
Dass Aristoteles höhere Ansprüche an die Befähigung zum Politiker und
Gesetzgeber stellt und den status quo der Beschränkung auf bloßes Talent
und Erfahrung für nicht ausreichend hält, wird im Folgenden deutlich. Er
betrachtet es als seine eigene Aufgabe, die Voraussetzungen dafür zu schaf-
fen, dass Gesetzgebung zu einer durch Lehre vermittelbaren Disziplin wird.
Ebendies ist die Aufgabe, die er in der Politik weiter verfolgt.
(6.2) 1181a12–23 „Diejenigen unter den Sophisten, die sich als Lehrer anprei-
sen, scheinen aber allzu weit davon entfernt zu sein, Politik lehren zu kön-
nen“: Nachdem Aristoteles zunächst nur angemerkt hatte, dass kein Sophist
politisch tätig ist (1180b35 f.), spricht er ihnen auch grundsätzlich die Lehr-
befähigung ab, weil sie gar nicht wissen, was Politik ist und welche Aufgabe
sie hat. Er stützt sich auf zwei Indizien: (i) Wüssten die Sophisten, was Poli-
tik ist, würden sie diese nicht mit der Rhetorik gleichstellen oder sie ihr gar
unterordnen. (ii) Sie würden Gesetzgebung nicht für eine einfache Aufgabe
halten, die sich mit Hilfe einer Sammlung der angesehensten Gesetze lösen
lässt, unter denen man die besten heraussucht. Aristoteles’ Einwand wendet
sich nicht gegen die Sammlung von Gesetzen als solche; er hält sie sogar für
unerlässlich. Seine Kritik gilt nur dem prinzipienlosen eklektischen Verfah-
ren (vgl. Aristoteles’ Vergleich des sophistischen Unterrichts mit der Kunst,
Schuhe zu machen in Soph. el. 34, 184a1–5: Anstelle von Prinzipien dieser
Kunst liefern die Sophisten nur allerlei Arten von Schuhen). Vorausgesetzt
ist vielmehr das Wissen bzw. die Urteilskraft, welche Gesetze dem mensch-
lichen Wohl dienen und nicht nur zueinander, sondern auch zur jeweiligen
Staatsverfassung passen. Und ebendiese Urteilskraft bedarf hinreichender
Erfahrung, die den Sophisten fehlt. Ein Unerfahrener kann bestenfalls fest-
stellen, ob ein bestimmtes Werk gut gemacht ist oder nicht, wie das auch für
die Kunst gilt. Selbst herstellen kann er Kunstwerke jedoch nicht.
Aristoteles schließt sich zwar Platons Kritik an den Sophisten an, hat
aber nicht die Wanderlehrer aus der Zeit des Sokrates im Sinn, die in Platons
Dialogen auftreten, sondern vor allem die Schule des Isokrates, in der au-
ßer Rhetorik auch politische Bildung vermittelt wurde. Isokrates bezeichnet
sich selbst als Sophisten, eine Bezeichnung, die auch im 4. Jh. noch im Sinn
von ‚Kenner‘ verwendet wurde, grenzt sich aber gegen bestimmte Praktiker,
insbesondere gegen bloße Eristiker ab, also gegen Leute, denen es nur um
geschicktes Argumentieren geht (vgl. Über die Sophisten 1; Antidosis 2.2).
In seiner Antidosis bezeichnet Isokrates nicht nur die Gesetzgebung als ein-
facher als die Produkte der Rhetorik (81–83), sondern er empfiehlt in der
Tat das Zusammentragen der angesehensten Gesetze aus ganz Griechenland
986 Kommentar
(83: synagagein tous eudokimountas tôn nomôn). Obwohl Isokrates sich mit
Politik beschäftigt hat, war er nie politisch aktiv. Wie er selbst sagt, fehlte
es ihm dazu an der nötigen Stimmgewalt und an der Entschiedenheit des
Auftretens. Vielmehr sah er den Unterricht in seiner Schule als seinen Bei-
trag zur Politik und beanspruchte dafür auch die Bezeichnung ‚Philosophie‘
(Panathenaikos 9.3; Antidosis 50.6).
(7) 1181a23–b12 „Die Gesetze sind aber gleichsam die Produkte (erga) des
politischen Wissens“: Das Studium der existierenden Gesetze allein ist un-
zureichend, wenn, ähnlich wie bei Büchern über Medizin, das Anwendungs-
wissen fehlt. Zwar räumt Aristoteles ein, dass sich medizinische Schriften
nicht auf Heilmittel (therapeumata) beschränken, sondern auch Auskunft
über Heilmethoden geben und dabei unterschiedliche Zustände (hexeis)
der Patienten berücksichtigen. Mit Letzterem dürften etwa die verschiede-
nen Erscheinungsformen der Krankheiten gemeint sein, denn ein und die-
selbe Krankheit tritt u.U. in unterschiedlichen Formen auf. Vor allem die
Ärzte der knidischen Schule haben darauf besonderen Wert gelegt (vgl. dazu
G/J II 2, 910). Auch solche Detailbeschreibungen sind jedoch nur für die-
jenigen Praktiker von Nutzen, die über hinreichende Erfahrung verfügen.
Aus diesem Grund ist das Studium von Gesetzestexten nutzlos, wenn es
nicht mit dem nötigen Wissen über ihre Anwendung einhergeht, insbeson-
dere darüber, welche Gesetze zu den verschiedenen Staatsverfassungen pas-
sen.
(7.1) 1181b6–12 „Daher werden sich vielleicht auch Sammlungen von Ge-
setzen und von Staatsverfassungen für diejenigen als nützlich erweisen“:
Ob Aristoteles selbst getrennte Sammlungen von Gesetzen und von Staats-
verfassungen angelegt hat, lässt sich nicht mehr ermitteln (Cicero, De Fini-
bus V 4 schreibt Aristoteles die Übermittlung von Sitten, Institutionen und
Disziplinen, Theophrast die von Gesetzen zu). In jedem Fall bezieht sich
Aristoteles auf die von ihm veranlasste Sammlung von Beschreibungen der
158 griechischen Stadtstaaten (vgl. Diogenes Laertius V 27,1). Diese Samm-
lung ist in der Spätantike verloren gegangen; nur ein großer Teil einer einzi-
gen Schrift, ‚Der Staat der Athener‘ (Athênaiôn Politeia), ist Ende des 19. Jh.
in einem Papyrus im British Museum entdeckt worden. Obwohl auch diese
Schrift unvollständig ist und viele Experten bezweifeln, dass Aristoteles sie
selbst verfasst hat, vermittelt sie doch ein gutes Bild von der Methodik und
Gründlichkeit der von Aristoteles inspirierten Vorgehensweise (vgl. Rho-
des 21993). Denn die Schrift enthält (i) einen Überblick über die Geschichte
Athens, der sich auf die Verfassungsformen und Institutionen konzentriert,
(ii) eine Beschreibung der Verfassung und Einrichtungen der Gegenwart.
Besonders nützlich soll das Studium dieser Sammlung für diejenigen sein,
die beurteilen können, welche Gesetze zueinander und zu den jeweiligen
Buch X, Kapitel 10 987
(8) 1181b12–23 „Da unsere Vorgänger die Frage der Gesetzgebung (nomo-
thesia) unerforscht (anereunêtos) gelassen haben“: Angesichts von Platons
politischen Schriften, insbesondere aber seines monumentalen Werks No-
moi (‚Gesetze‘), fragen sich viele Interpreten nach der Berechtigung dieser
Behauptung, zumal Platons ‚Gesetze‘ Diogenes Laertius zufolge den Un-
tertitel Peri nomothesias hatten (III 60). Susemihl hat daher diesen ganzen
Abschnitt athetiert; andere halten ihn zumindest für verdächtig. Denn Aris-
toteles diskutiert Platons Nomoi, neben der Politeia, nicht nur eingehend
in Politik II 2–6, sondern er moniert überdies, dass es dort hauptsächlich
um die Gesetze und nicht um die Verfassung geht (6, 1265a1 f.). Zudem er-
örtert er dort auch die Staatsutopien anderer Autoren (II 7 + 8), bevor er
eine eigene Analyse der Verfassungen Spartas, Kretas und Karthagos liefert
(II 9–11) und schließlich auch noch auf einzelne berühmte Gesetzgeber ein-
geht (II 12). Die Frage nach dem besten Staat und seinen Gesetzen war also
kein vernachlässigtes Thema.
Wenn Aristoteles sich hier nicht zu Unrecht als Protagonisten einer
neuen Richtung darstellt, so kann sein Vorwurf nur der Tatsache gelten, dass
seine Vorgänger nicht auf die Prinzipien der Gesetzgebung im Allgemei-
nen und auf die Kriterien ihrer Tauglichkeit für die unterschiedlichen Arten
von Staatsverfassungen eingegangen sind. Das gilt auch für Platons Nomoi.
Seine Kritik gilt also der fehlenden allgemeinen Grundlagenforschung über
Gesetzgebung und ihrer Geeignetheit für die die verschiedenen Typen von
Verfassungen (vgl. G/J II 2, 912). Es besteht daher kein Grund, Aristoteles
diese Passage abzusprechen und sie einem späteren Herausgeber zuzuschrei-
ben, wie manche Gelehrte des 19. Jh. vorgeschlagen haben (vgl. Stewart 1892,
II 470–472, der sich in dieser Frage mit Susemihl und anderen einig weiß).
(8.1) 1181b14 f. „um so nach Kräften die Philosophie der menschlichen
Dinge (hê peri ta anthrôpeia philosophia) zu ihrer Vollendung zu bringen“:
Diese Kennzeichnung des eigenen Vorhabens ist schon rein sprachlich un-
gewöhnlich. Denn Aristoteles verwendet das Adjektiv anthrôpeios (Hand-
schrift Lb hat anthrôpina) nur selten (4, 1175a4, vgl. die Anmerkungen dazu;
Protreptikos 104,2). Es liegt aber nah, dass anthrôpeios als Gegenstück zu
theios (= ‚göttlich‘) gewählt ist und hervorheben soll, dass wir es hier nicht
mit göttlichen Dingen, wie in der theôria, sondern mit menschlichen Dingen
zu tun haben – und dass es sich gleichwohl um Philosophie handelt. Auch
die Konstruktion philosophia peri mit Akkusativ ist ungewöhnlich und hat
daher zu Zweifeln Anlass gegeben. Sie hat aber ihre Parallele in dem be-
rühmten Vergleich des Studiums unveränderlicher göttlicher Dinge mit dem
von Tieren und Pflanzen in PA I 5, 644b22–645a25: Die göttlichen Dinge
988 Kommentar
sind zwar weit erhabener; sie sind aber der Erkenntnis nur schwer zugäng-
lich, während die Pflanzen und Tiere leicht zugänglich sind und eine große
Reichhaltigkeit für die Forschung aufweisen, weil wir mitten unter ihnen le-
ben. Dort bezeichnet Aristoteles das Studium der göttlichen Dinge als peri
ta theia philosophia (645a4). An der Echtheit der Formulierung von 1181b14
kann also kein Zweifel bestehen.
Nun fragt sich, ob die ‚Philosophie der menschlichen Dinge‘ nur eine
andere Bezeichnung für die ‚Meisterwissenschaft‘ vom Anfang des Werks
ist, nämlich die politische Wissenschaft (I 1, 1094a27), die in der Politik
vollendet werden soll. Hier ist Vorsicht geboten, was Aristoteles’ Einschät-
zung seiner eigenen Aufgabe angeht. Die ‚architektonischste Wissenschaft‘
betrifft nämlich die Gesetze, auf der die Ordnung des Staates und die Le-
bensweise der Bürger beruhen. Das ist aber nicht die Art von Wissen, die
Aristoteles liefert und liefern will, denn er sieht sich nicht als Gesetzgeber.
Vielmehr liefert er die philosophischen Grundlagen für die Gesetzgebung.
Es ist daher kein Zufall, dass er hier nicht von der Meisterwissenschaft oder
von der politischen Wissenschaft spricht, sondern von der diesbezüglichen
‚Philosophie‘. Auch seine Hörer hat er einmal als Leute angesprochen,
die an politischer Philosophie interessiert sind (VII 12, 1152b1–3). Und in
Pol. VII 10, 1329a40 f. spricht er von Leuten, ‚die über die Verfassung phi-
losophieren‘ (tois peri politeian philosophousin). Unter ihnen mögen auch
zukünftige ‚Staats-Architekten‘ sein. Aristoteles vermittelt ihnen die phi-
losophischen Grundlagen dafür, d.h. die Prinzipien der Gesetzgebung für
die verschiedenen Formen von Verfassung. Aus der Beschränkung auf die
Grundlagen erklärt sich auch Aristoteles’ wiederholte Versicherung, nur ei-
nen Umriss (typos) liefern zu wollen; die entsprechenden Gebäude zu er-
richten, ist die Aufgabe anderer.
(8.2) 1181b15–20 „Als erstes wollen wir nun versuchen, wenn unsere Vor-
gänger im Einzelnen etwas Zutreffendes gesagt haben, dies durchzugehen“:
Das hier aufgeführte Programm wird in der Tat in der Politik durchgeführt,
wenngleich nicht in der hier anvisierten Reihenfolge. So werden die Beiträge
der Vorgänger erst in Buch II behandelt. Die Beschreibung der verschiede-
nen Staatsformen und der Faktoren, welche diese Staatsformen bewahren
und zerstören, sind in den Büchern III 7–VI zusammengestellt. Auf seine
‚Sammlungen‘ verweist Aristoteles dort zwar nicht expressis verbis, führt
aber vielfach konkrete Beispiele an und bestätigt damit die Bedeutung seiner
empirischen Forschungen für die politische Wissenschaft.
(8.3) 1181b20–22 „Wenn wir all dies untersucht haben, dann werden wir
wohl auch besser verstehen, welche Art von Verfassung die beste ist, wie
jede einzelne geordnet ist und welche Gesetze und Gebräuche sie verwen-
det“: Die beste Verfassung betreffend unterscheidet Aristoteles in der Politik
zwischen drei Arten (IV 1, 1288b21–33): (i) die beste Verfassung, die man
Buch X, Kapitel 10 989
sich nur wünschen kann (hê kat’ euchên = ‚für die man beten kann‘); (ii) die
unter den zumeist herrschenden Verhältnissen beste Verfassung; (iii) die un-
ter bestimmten Bedingungen beste Verfassung. Dieses Interesse erklärt, wa-
rum Aristoteles auch in Hinblick auf die in seinen Augen schlechteren und
verfehlten Arten von Verfassungen die für ihre Erhaltung und für ihre Zer-
störung verantwortlichen Faktoren untersucht, einschließlich der Tyrannis.
Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von ‚Bestheit‘ er-
klärt auch die Tatsache, dass Aristoteles’ Meinung über die beste Verfassung
in der Politik unterschiedlich ausfällt. So ist die beste ‚machbare‘ Verfassung
eine Mischverfassung, die demokratische mit oligarchischen Elementen
verbindet, weil so für Einheit und Zusammenhalt unter den verschiedenen
Klassen von Bürgern gesorgt ist. Aristoteles’ Entwurf seiner ‚Wunschverfas-
sung‘ ist in den Büchern VII und VIII enthalten; sie entfaltet das Bild einer
auf ‚Muße‘, d.h. einer auf Frieden und Gerechtigkeit abgestellten Staatsform
und ihrer Bedingungen. Anschließend entwirft Aristoteles dazu auch ein
detailliertes Erziehungsprogramm, das jedoch in der Mitte der Vorschrif-
ten zur musischen Erziehung im Kindesalter abbricht. Falls das Ende der
Schrift nicht in der Antike verloren gegangen ist, muss Aristoteles an ihrer
Vollendung entweder durch äußere Gründe gehindert worden sein oder den
Plan aufgegeben haben. Man kann sich des Verdachtes nicht erwehren, dass
er einerseits die Nähe seiner Vorstellungen zu Platons Kunstkritik bemerkt
hat, andererseits auch angesichts der ungeheuren Menge an Einzelheiten, die
ein konkreter Erziehungsplan erfordert hätte, zu dem Entschluss gekom-
men ist, dass ein solcher Erziehungsplan nicht Sache eines Philosophen ist.
Aus der Tatsache, dass dieser Entwurf ein Torso geblieben ist, lässt sich aber
nicht schließen, dass die uns vorliegende Politik erst nach der EN entstanden
ist. Da Aristoteles wiederholt Vorlesungen über Fragen der Ethik und Po-
litik gehalten hat, haben beide Manuskriptsammlungen ihre eigene Entste-
hungsgeschichte und dürften mehrere Revisionen erfahren haben; an diesen
Revisionen scheint Aristoteles zeit seines Lebens gearbeitet zu haben.
(8.4) 1181b23 „Mit dieser Untersuchung wollen wir nun anfangen.“: In die-
ser Schlussformel wird manchmal die Bestätigung gesehen, dass der Schluss-
teil von einem unbedarften und zugleich übereifrigen Interpolator stammt,
der nicht bemerkt hat, dass die Ethik nicht nahtlos in die Politik übergeht,
sondern dass Aristoteles dort anders und neu ansetzt (Susemihl 1887; Ste-
wart 1892, II 470–472; Dirlmeier 1956, 606). Die Überleitung will aber
nichts weiter zum Ausdruck bringen, als dass die Politik die notwendige
Ergänzung zur Ethik enthält, ohne sich damit auf den Inhalt und auf die
Abfolge der Bücher dieser Schrift festzulegen. Denn ähnliche verbindende
Formulierungen finden sich bei Aristoteles auch sonst, manchmal, auch mit-
ten im Text (vgl. EN VI 3, 1139b14; EE I 7, 1217a18 f.; Meteor. I 1, 339a9 f.).
Die Spezifizierung der Aufgaben der Politik ist nicht als ihr Inhaltsverzeich-
990 Kommentar
REGISTER
Personenregister
Achilleus 505, 543, 550, 561, 721, 730, 916 Casaubonus, Isaac 220
Agamemnon 153, 505, 550, 851 Cicero 199, 210 f., 226, 241, 335, 410, 471,
Agathon 103 f., 665, 671 792, 916, 986
Aischines 653 Clemens von Alexandria 372, 464, 789
Aischylos 57, 463 f., 649, 749, 966, 976
Albertus Magnus 256 Demodokos 129, 768, 775
Aldus Manutius 257 Demokrit 252, 796
Alexander der Große 209, 214, 763, 836, Diogenes Laertius 210–212, 338, 345, 550,
965, 977 591, 670, 686, 785, 789, 791, 829, 842,
Alexander von Aphrodisias 216 f., 254, 853, 858, 893, 921, 929, 958, 977, 986 f.
345, 612, 749, 811 Drakon 613, 686
al-Farabi 255
Alkmaion 38, 458, 636 Empedokles 121 f., 140, 252, 331, 590,
Anacharsis 188, 958 739, 744, 810, 982
Anaxagoras 107, 193, 681, 796 f., 974 f. Ephoros von Kyme 502
Anaxandrides 132, 775 Epicharm 168, 488, 893
Andronikos von Rhodos 210–212, 214, Epikur/Epikureer 253 f., 921
219 Eudemos 208 f., 211–214, 216 f., 660, 732,
Antisthenes 371, 710, 779, 791 777, 790, 812
Argyropulos, Johannes 220 f., 257, 318, Eudoxos von Knidos 19, 179, 247, 320,
504 372, 389–391, 688, 719, 788 f., 792 f.,
Aristophanes 336, 529, 533, 571 f., 849 927–932, 949, 954
Aspasios 30 (Anm. 4), 134 (Anm. 48), Euenos von Paros 132, 776
143 (Anm. 51), 212 f., 216, 218 f., 254, Euklid 613
342, 254 f., 341 f., 407, 433, 479, 542, 552, Euripides 38, 94, 109, 140, 458, 463 f.,
567 f., 757, 765, 777 f., 783, 790, 796, 803, 590, 636, 687, 799, 810, 856, 890, 899,
812, 854, 862, 966 904, 937, 966, 976
Athenaeus 335 Eustratios von Nikaia 218, 255, 687
Averroes 255
Glaukos 95, 638 f.
Bekker, Immanuel 70 (Anm. 17), 217 f., Gorgias 459
220 f., 257, 318, 334, 368, 431, 494, 551, Grosseteste, Robert 218, 220, 256
584, 596, 605, 691, 733
Bias von Priene 81, 591 Heraklit 26, 120, 140, 186, 252, 404, 418,
Brasidas 91, 628 508, 680, 736, 793, 810, 954
Bruni, Leonardo 257 Herodot 330, 336, 383 f., 506, 628, 644,
Butler, Joseph 803 693, 752, 758, 764, 958
992 Register
Hesiod 6, 330, 333, 352, 367, 613, 792, 239, 241 f., 246, 251 f., 254 f., 266, 315,
809, 847, 869, 915, 972 317, 320, 323, 325 f., 331 f., 335, 338–352,
Hippokrates 411, 689, 764, 767 356, 365–369, 371–373, 376, 378, 382,
Homer V f., 44, 51 f., 56, 95, 107, 116, 385 f., 389–391, 393–395, 398 f., 404, 412,
126, 152 f., 224, 330, 431, 441, 447, 460, 414–417, 419, 421 f., 430 f., 435, 441, 444,
478, 505, 507, 514–516, 550 561, 638 f., 447, 455–457, 459, 461 f., 466, 469, 474,
644, 678 f., 721, 751, 757, 806 f., 809, 848, 480 f. 488, 493, 497 f., 500, 502, 504 f.,
851, 948, 964, 972 513 f., 516, 521 f., 529 f., 535 f., 539, 544,
Horaz 388 547, 549, 552, 556, 560 f., 563, 568, 571,
577, 581, 583, 585, 587, 591, 599 f., 603,
Iamblichos 215 609, 613, 617, 625 f., 633, 642–645, 650,
Isokrates 493, 543, 570, 693, 707, 869, 653–655, 667, 671 f., 674–677, 681, 687,
974, 985 f. 689, 696, 707, 710 f., 715, 717 f., 721 f.,
725, 727, 775, 777, 779 f., 781, 783, 785–
Kant, Immanuel 259, 447, 452, 554, 815, 789, 791, 794, 799, 804, 808 f., 811 f.,
834, 925 814 f., 820, 822, 824, 827 f., 830 f., 835,
Karkinos 128, 763 840, 842, 845–850, 855, 861, 869 f., 884,
Kerkyon 128, 763 888 f., 893 f., 898, 900, 904, 908 f., 911,
Kleon 572 916, 920–922, 927–936, 939, 943, 953 f.,
Krösus 330, 383, 851 958 f., 962, 964, 967, 972 f., 976–981,
983 f.
Leontios 717, 727 Plutarch 210, 418, 553, 559, 868, 881, 916,
Leto 375, 751 974
Lukian 763 Porphyrios 210, 254
Luther, Martin 258 Priamos 16, 18, 116, 381, 387, 721, 958
Lykurg 393, 686 Prodikos 330
Protagoras 161, 447, 482 f., 488, 491, 869,
Melanchthon, Philipp 258 955
Michael von Ephesos 218, 255, 909, 918, Pseudo-Aristoteles 619, 765
954 Pseudo-Platon 650
Minos 393, 613 Pythagoras 331
Moerbeke, Wilhelm von 256
Rhadamanthys 87, 613
Neoptolemos 118, 131, 730, 771 f.
Nikomachos 208 f., 211 Sardanapal 6, 335 f.
Niobe 153, 751 Satyros 123, 751
Seneca 241, 471, 559, 763
Odysseus 118, 131, 431, 447, 507, 535, Simonides 62, 372, 376, 385, 530, 533,
687, 730 757, 967
Ovid 751, 894 Simplikios 966
Sokrates 51, 76, 115, 117, 122, 205, 224,
Perikles 105, 352, 542, 553, 673 253, 336 f., 341, 352, 356, 369 f., 371, 420,
Phalaris von Akragas 124 f., 753 f. 462, 481, 500, 506, 514, 518, 529, 543,
Philoktetes 118, 128, 687, 730, 763, 771, 552, 560, 566, 568, 570 f., 574, 654, 658,
775 687, 710 f., 714, 717, 727, 745, 776, 779,
Pindar 369, 502, 753, 966 791, 825, 828, 871, 886, 904, 931, 972,
Pittakos von Mytilene 168, 489, 890 976, 984 f.
Platon VI f., 5, 26, 179, 200, 204 f., 206, Solon 16, 193, 317, 330, 382 f., 572, 673,
213–215, 222, 224, 227, 229–231, 234, 686, 974 f.
Personenregister 993
Sophokles 118, 131, 376, 384, 506, 591, Thetis 69, 550
629, 707, 730, 772, 856, 919, 966, 976, 982 Thomas von Aquin 256–258, 451, 580,
Speusippos 26, 135, 345, 779, 787, 789 f., 611, 684, 970
927, 930, 932 f. Thukydides 352, 444, 553, 571, 585, 628,
Stobaeus 803 644, 707, 749, 892
Strabon 210 f., 502
Xenokrates 200, 372
Thales 107, 681, 958, 960, 975 Xenophanes 533, 972
Themistios 254 Xenophantos 128, 763
Theodektes 128, 763 Xenophon 330, 352, 470, 493, 505 f., 509,
Theognis 173, 194, 376, 590, 757, 875, 514, 550, 599, 727 f., 749, 918, 976
908, 921, 979
Theophrast 209 f., 214, 229, 253, 792, 796, Zwinger, Theodor 220 f., 318, 368, 431,
921, 986 494, 584, 605
Sachregister
(Detaillierte Verweise auf Erörterungen zentraler Begriffe sind dem Inhaltsverzeichnis zum
Kommentar S. XII–XVII zu entnehmen.)
Euthyphron Kriton
2a 848 47d–49b 462
5c 828 50c–52d 855
8b–9e 326 54d 828
12e–15a 972
13a–15a 835 f. Laches
191e 498
Gorgias 192c–193d 506
451e 369, 376 193a 502
462a–465d 781 193a–d 500
464d–e 781 194d 506
467a–468e 481 198b 497
467e 369
469b 828 Nomoi/Gesetze
469b–c 791 I 624a–628e 981
470a–481b 654 I 625a 613
473c–d 337 I 628c–e 964
474d–475e 417 I 628e–631d 394
477b–c 369 I 631b–d 369
479a–c 416 I 635b–c 414
483b 560 I 636c 727
483b–484b 587 I 637d 502
491d 725 I 643b–644b 414 f.
491e–494b 780 I 644d–645c 927
492a–496e 516 II 653a–654a 414
1014 Register
II 659d 421 87e–89a 326
III 690e 368 88a–89a 506
III 691c–d 625 91a–95c 984
III 693d–695e 849 95d 908, 921
V 731d 560 95e 979
V 731e1 f. 898 97d–98a 728
V 735d–e 416 99a 378
V 747b–c 707 99b–100b 378
VI 753e7 f. 368
VI 757a–b 599 Phaidon
VI 769a–770b 365 60d–61c 776
VII 792e2 404 61c–62c 504
VII 803b–804a 959 64d–69d 417
VII 804d–e 981 65d 544
IX 854c 884 66c 781
IX 854d–e 416 68c 780
IX 861b–864b 633 70d–72a 788
IX 863b 459 72c 972
IX 864c 600 72e–84b 344
IX 866d 456 74a–75d 342
IX 866e 461 75d 344
IX 866d–867c 457 76e 421
IX 873c 504 90d 671
IX 873c–d 653 91c 341, 568
IX 875b–876e 645 99c 343, 447
IX 875a–d 625 99e 420
X 899d–905d 976 102b–103c 344
XI 915d–e 861 102e–106a 502
XI 934e–936b 571
XII 943c–945b 505 Phaidros
XII 948c 613 230e–234c 824
237a–241d 824
Lysis 244c 536
207c 842 245c 785
212d–e 814 246a–e 727
214 827 246a–247e 230
215a–c 820 246c–d 336
215a–b 904 253c–254e 727
215c 809 274b 671
216c–218c 824 276b–277a 980
218d–219b 815
223a 521 Philebos
11a–d 391
Menon 17a–18d 474
70a 378, 979 19c 447
72b–e 544 20d 320, 352, 929
78c–e 369 20d–22a 931
78c–79a 549 21c 781
80d–e 419 22b–23a 391
87c–88e 549 23b–27c 811, 933
Stellenregister 1015
24a 934 289c 493
26b 934 290e–291a 848
26d 780 291c–292a 846
27e–28a 934 291d–e 847
31b–32a 780 293a–303d 645
31c–36c 780 296c 671
31d 936 301a–303b 846
31d–32b 783 302d–303b 848
31e–36b 516 310e 889
32e–33c 781
32d 779 Protagoras
33b–c 785 319e–320b 984
33d–e 936 320c–328a 204
33d–34a 780, 785 322c–d 441
34a 794 322e–328a 488
40b 976 325b 447
42c 516 326c–e 489
42d 783 328b–c 869
43d–44d 417 329b–333e 710
44a–e 789 339a–347c 385
44b–d 781 345d–e 462
44d–50e 934 348d 806
45b 349a–360d 710
46c 783 349e 497
47c 516 349e–351a 501, 506
47d–48d 561 350a–c 500
50e–53b 936 352b–c 715, 727
50e–53c 934 356a–357b 412
51b 780, 936, 953 358d 497
51b–e 954
51b–52b 943 Respublica/Staat/Politeia
51e–52b 780 I 330b–c 529
53c–55a 785, 934, 936 I 332c–334b 583
53c–55c 780 I 333e–334b 642
54b 780 I 335b 224
55c–d 954 I 335d 356
56d–57a 603 I 337a 568
62a–b 366 I 342a 224
62d–64a 780 I 343c 591
65c–d 781 I 345e 626
66c 782 I 352c 775, 886
67a 352 I 352d–354a 356
67b 781 II 357b–c 345
II 357b–d 350
Politikos II 361e–362a 337
259e–260 696 II 369b 352
261c 323 II 369b–c 617
281d–e 493 II 369b–372a 204
283c–285c 412 II 371b 617
287c–d 493 III 375a–376c 469
1016 Register
III 387d 352 IX 587d–e 962
III 402c 535 IX 591a–e 369
III 411d 560 X 595b–c 341
IV 424a 842 X 600a 958
IV 427e–433c 422 X 612e–613b 386, 976
IV 429a–430c 501
IV 429d–e 417 Sophistes
IV 430c 505 216b 721
IV 431a–d 725 252c 727
IV 433a–434c 687 253b 474
IV 433c 889 254c–256c 342
IV 435d–440e 469
IV 436b 469 Symposion
IV 437b–439c 469 174d 806
IV 439e–440b 727 175e 552
IV 439e–440d 717 177b 389
IV 441e–442a 655 177d 389
IV 442a–445b 884 178d 556
IV 443b–444b 687 199c 535
IV 443c–e 655 202e 516
IV 444e–445b 337 209a–e 894
IV 445c–d 430 215b 552
V 449c 842 215c–222c 570
V 466c 367
V 469b 421 Theaitetos
V 474b–480a 373 151e–152c 482
V 477a–480a 728 152e 893
VI 484c–d 348 161c 535
VI 489b 530 171d–172b 482
VI 509b 967 172c–177b 234, 934
VI 509d–511e 677 173c–175b 552
VII 517b–c 343 174a–b 681
VII 517c 331, 831 176b 973
VII 518d–519b 230 177c–178a 482
VII 519b 323 182a 342
VII 524b–531b 343 184d–e 687
VII 531d 343 206a–b 474
VII 539e–540c 234 207b 419
VIII 548a–550b 373
VIII 557b–558c 850 Timaios
VIII 560d–561a 444 27e–28d 786
VIII 563a 571 34a 785
IX 580d–581c 335 38a 785
IX 583b–586a 954 44c 976
IX 583b–587a 780 70c 497
IX 585a–586a 516 76d 493
IX 585b–587a 372 84c 412
IX 586e–587e 785 86d 727
IX 587a–588a 884