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HEINRICH MEIER

Politische Philosophie und die


Herausforderung der Offenbarungsreligion
HEINRICH MEIER

Politische Philosophie
und die Herausforderung der
Offenbarungsreligion

Verlag C.H.Beck
1. Auflage. 2013
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2013
Umschlaggestaltung: Anzinger Wüschner Rasp, München
Umschlagabbildungen (von links nach rechts): Niccolò
Machiavelli, Foto: The Bridgeman Art Library; Leo Strauss,
Foto: Heinrich Meier; Sokrates, Foto: akg-images/Bible
Land Pictures; Jean-Jacques Rousseau,
Foto: The Bridgeman Art Library
ISBN Buch 978 3 406 65474 9
ISBN eBook 978 3 406 65475 6

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INHALT

Vorwort
Seite 7

Warum Politische Philosophie?


Seite 11

II

Die Erneuerung der Philosophie


und die Herausforderung der Offenbarungsreligion
Zur Intention von Leo Strauss’
Thoughts on Machiavelli
Seite 39

III

Das Recht der Politik


und die Erkenntnis des Philosophen
Zur Intention von Jean-Jacques Rousseaus
Du contrat social
Seite 149

Namenverzeichnis
Seite 235
VORWORT

Das vorliegende Buch unternimmt den Versuch, die Politische Philoso-


phie als philosophischen Begriff zu bestimmen und ihn Aug’ in Aug’
mit der Herausforderung der Offenbarungsreligion zu bewähren. Es
folgt der Einsicht, daß die Philosophie ihr Recht und ihre Notwendig-
keit in der Auseinandersetzung mit dem mächtigsten Einspruch erwei-
sen muß, der gegen die Philosophie erhoben werden kann, und es be-
hauptet, daß diese Auseinandersetzung das Officium der Politischen
Philosophie sei. Sowenig die Philosophie als eine akademische Diszi-
plin oder als eine Provinz im Reich der Kultur begriffen wird, so wenig
wird die Politische Philosophie als eine spezielle Abteilung oder als ein
Feld im Garten der Philosophie verstanden. Sie ist vielmehr eine beson-
dere Wendung, eine Änderung der Blick- und Fragerichtung, die für die
Philosophie einen Unterschied im Ganzen begründet. Denn die Philo-
sophie vermag einzig in der Besinnung auf ihre Voraussetzungen und in
der Begegnung mit ihrer anspruchsvollsten Alternative zur Vollendung
ihrer Reflexivität zu gelangen. Der erste Teil des Buches faßt den Begriff
der Politischen Philosophie im Sinne einer vierfachen Bestimmung ihrer
Sache: nach ihrem Gegenstand, den politischen oder den menschlichen
Dingen; als einen Modus der Philosophie oder im Hinblick auf die poli-
tische Verteidigung des philosophischen Lebens; in Rücksicht auf die
rationale Begründung der philosophischen Lebensweise; und endlich,
die anderen drei Bestimmungen zusammenschließend, als Ort der
Selbsterkenntnis des Philosophen. Die vier Momente sind so miteinan-
der verschränkt, daß sie ein gegliedertes und in sich bewegtes Ganzes
konstituieren, das geschichtlich vielfältig ist und gleichwohl seine in-
nere Einheit wahrt. Im zweiten und im dritten Teil wird der Begriff in
der Auslegung zweier Meisterwerke der Politischen Philosophie exem-
plarisch entfaltet.
Im Zentrum steht eine eingehende Untersuchung des komplexesten
und kontroversesten Buches von Leo Strauss, Thoughts on Machiavelli.
Strauss, der den Begriff «Politische Philosophie» in die philosophische

–7–
Diskussion einführte, verknüpft in seinem umfangreichsten Werk das
Problem Sokrates, das den Anfang der Politischen Philosophie bezeich-
net, mit dem Problem Machiavelli, das den Beginn der modernen Politi-
schen Philosophie benennt. Zwischen Sokrates und Machiavelli steht
die theologische und die politische Herausforderung der Offenba-
rungsreligion, über die Strauss mit Thoughts on Machiavelli den er-
staunlichsten Traktat vorgelegt hat.
Der dritte Teil enthält eine neue Deutung von Jean-Jacques Rous-
seaus Du contrat social. Durch die genaue Erklärung des Arguments
und des Aufbaus der Schrift wird gezeigt, daß Rousseaus berühmte-
stes Werk nicht angemessen verstanden werden kann, solange es nicht
als kohärente politisch-philosophische Antwort auf die Konzeption
der Theokratie in allen ihren Erscheinungsformen verstanden wird.
Kein anderes Buch eines Philosophen der Moderne erreicht die Klar-
heit, mit der Du contrat social das Recht und die Grenzen der Politik
bestimmt.
Warum Politische Philosophie? geht auf die Antrittsvorlesung zu-
rück, die ich am 16. Februar 2000 in der Großen Aula der Ludwig-
Maximilians-Universität München hielt. Sie erschien 2000 und 2001 in
zwei Auflagen als selbständige Schrift und wurde in fünf Sprachen
übersetzt. Auf deutsch ist der Titel seit langem vergriffen. Die beiden
Kapitel, die den programmatischen Entwurf aus dem Jahr 2000 sub-
stantiieren, wurden eigens für dieses Buch geschrieben. Die Erneue-
rung der Philosophie und die Herausforderung der Offenbarungsreli-
gion arbeitete ich in zwei Seminaren aus, die ich im Sommer 2010 an
der Ludwig-Maximilians-Universität München und im Frühjahr 2011
am Committee on Social Thought der University of Chicago über
Thoughts on Machiavelli unterrichtete. Das Recht der Politik und die
Erkenntnis des Philosophen wurde durch ein Seminar über den Con-
trat social im Frühjahr 2012 in Chicago vorbereitet. Teile der Ab-
schnitte I und II machte ich im September, Oktober und Dezember
2012 in öffentlichen Vorträgen an der Universität Halle, der Universi-
tät Zürich und der Freien Universität Berlin bekannt. Der Contrat
social beschäftigt mich seit 1974. Ich widmete ihm im Winter 2000/2001
und im Sommer 2006 zwei meiner Rousseau-Seminare in München,
und lange davor war er Gegenstand eines Seminars, das ich im Sommer
1980 auf Einladung von Wilhelm Hennis gemeinsam mit ihm an der
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. veranstaltete. Thoughts on

–8–
Machiavelli begleitet mich seit der ersten Lektüre im Oktober 1977. Es
ist eines der Bücher, die den Leser Tag und Nacht fordern und
belohnen.

Chicago, den 8. April 2013 H. M.

Notiz zur Zitierweise


Die Abkürzungen S. für Seite und Anm. für Anmerkung bleiben Quer-
verweisen innerhalb des vorliegenden Buches vorbehalten. Aus ande-
ren Publikationen wird unter Verwendung der Abkürzungen p. und n.
zitiert.

–9–
I
Warum Politische Philosophie?
***

Wir alle kennen das Bild des Philosophen, das Aristophanes in den
Wolken für Philosophen und Nichtphilosophen gezeichnet hat. Der
Philosoph, der uns in der berühmtesten und denkwürdigsten Komö-
die vor Augen geführt wird, lebt, von einem glühenden Wissensdurst
erfüllt, ganz der Forschung. Bei der Wahl seiner Gegenstände läßt er
sich weder von patriotischen Beweggründen oder gesellschaftlichen
Interessen leiten noch durch die Unterscheidungen von Gut und Böse,
Schön und Häßlich, Nützlich und Schädlich bestimmen. Religiöse
Verbote schrecken ihn sowenig wie die Macht der Mehrheit oder der
Spott der Unverständigen. Im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit
stehen Fragen der Natur- und der Sprachphilosophie, insbesondere der
Kosmologie, der Biologie und der Logik. Durch die Schärfe seiner
Geisteskraft, die Intransigenz seiner Wissenschaftlichkeit, die Überle-
genheit seiner Redegewalt zieht er Schüler in seinen Bann und gewinnt
er Mitarbeiter, die ihn bei seinen zoologischen Experimenten, astrono-
mischen und meteorologischen Beobachtungen oder geometrischen
Messungen unterstützen. Seine Selbstbeherrschung und Ausdauer las-
sen ihn alle Entbehrungen bestehen, die die Durchführung seiner
wissenschaftlichen Vorhaben mit sich bringt. Dagegen mangelt es ihm
an Besonnenheit. Frömmigkeit und Gerechtigkeit zählen nicht zu den
Eigenschaften, denen sich sein Ruf verdankt. Autorität und Tradition
bedeuten ihm nichts. Auf Altehr würdiges nimmt er bei seinen Neue-
rungen ebensowenig Rücksicht, wie er bei seiner Lehrtätigkeit die
vitalen Bedürfnisse der Gesellschaft in Rechnung stellt, an deren Rand
er sich mit seinen Freunden und Schülern eingerichtet hat. Die For-
schungsstätte, in der er seinen Studien nachgeht, wird im wesentlichen
durch freiwillige Zuwendungen von außen unterhalten und schuldet
ihre Existenz im übrigen ihrer weitgehenden Abgeschiedenheit und
Unauffälligkeit. Sie gleicht einer Blase, die mit ihrer Umgebung nur
durch einen bescheidenen Luftaustausch verbunden ist. Die Vorsichts-
maßnahmen der Schule sind jedoch so unzureichend und die Zugangs-

– 13 –
beschränkungen werden derart leichtfertig gehandhabt, daß Außenste-
hende, wenn sie dies bloß begehren, ohne nähere Prüfung ihrer Eignung
Aufnahme finden und so zu Zeugen der schockierendsten Feststellun-
gen und Argumente werden können. Etwa wenn der Philosoph einem
Neophyten in beinahe ebenso vielen Worten eröffnet, daß der höchste
Gott, der im Gemeinwesen verehrt wird, nicht nur nicht existiert, son-
dern auch nicht verdient, verehrt zu werden, und mithin kein Gott ist.1
Das Bild des vorsokratischen Philosophen in den Wolken, das ich
knapp umrissen habe, steht mit Grund am Beginn meines Versuchs, eine
Antwort auf die Frage zu geben, was Politische Philosophie ist und zu
welchem Ende sie not tut. Denn die vorsokratische Philosophie geht
der Wendung zur Politischen Philosophie nicht allein historisch voran,
sie liegt ihr zugleich der Sache nach voraus. Den Wolken fällt in Rück-
sicht auf jene Wende eine Schlüsselrolle zu, einerlei, ob der Philosoph,
mit dessen Namen sie aufs engste verknüpft ist und der in der Komödie
des Aristophanes den vorsokratischen Philosophen verkörpert, einer-
lei, ob Sokrates sie in fortgeschrittenerem Alter selbst vollzog oder ob
die Wendung vom vorsokratischen Sokrates zum Sokrates der Politi-
schen Philosophie von Platon und Xenophon ins Werk gesetzt wurde.
Im einen wie im anderen Fall wird man die katalytische Wirkung, die
das Stück auf einen Prozeß von weltgeschichtlicher Bedeutung ausübte,
hoch veranschlagen dürfen.2 Ich denke dabei nicht in erster Linie an die
Verurteilung des Sokrates durch das Volk von Athen im Jahre 399, ob-
wohl dieses Ereignis entscheidend zur unverwechselbaren Signatur der
Politischen Philosophie beigetragen hat und obwohl Aristophanes in
seiner Komödie die beiden späteren Anklagepunkte beinahe buchstäb-
lich vorwegnimmt: Sokrates glaube nicht an die Götter, an die die Polis
glaubt, er habe statt ihrer neue Gottheiten eingeführt, und er verderbe
die Jugend.3 Wo der Historiker vor allem den Tod des Sokrates im Sinn
haben mag, kommt es dem Philosophen zu, an die Geburt der Politi-
schen Philosophie zu denken. Und hier gebührt dem Dichter der Wol-
ken der Ruhm des Geburtshelfers.

1 Cf. Aristophanes: Die Wolken 367.


2 Siehe dazu Leo Strauss: Socrates and Aristophanes. New York 1966, p. 314.
3 Xenophon: Memorabilia I, 1.1; Apologie des Sokrates vor dem Gerichtshof 10;
Platon: Apologie des Sokrates 24b–c; Euthyphron 2c–3b; Diogenes Laertius: Leben
berühmter Philosophen II, 40.

– 14 –
Die Kritik, der das Stück den vorsokratischen Sokrates aussetzt, ist
nicht die Kritik eines Feindes. Wenn die Komödie die beiden Anklage-
punkte des Volksgerichtsverfahrens vorwegnimmt, so geschieht dies
mit dem bezeichnenden Unterschied, daß Aristophanes sich zum einen
unter die neuen Gottheiten seines Sokrates, unter die Wolken, einreiht,
um ihnen die eigene Stimme zu leihen, ja um sich an ihre Spitze zu
stellen,4 und daß der Jüngling, den der Sokrates der Wolken «verdirbt»,
zum anderen vor aller Augen von seinem Vater verdorben und Sokrates
in verderbter Absicht zugeführt wird, ehe er unter den gefährlichen
Einfluß philosophischer Lehren gerät. Der Gang der Handlung der Ko-
mödie – vom Haupt der Schule, das in luftigen Höhen schwebt und sich
dort seinen naturphilosophischen Betrachtungen hingibt, bis zur Zer-
störung der ganzen «Denkerei» durch einen einfältigen Bürger, der, von
moralischer Entrüstung getrieben, mit tatkräftiger Unterstützung eines
Sklaven und unter dem Beifall eines Gottes, Sokrates und seinen Ge-
fährten das Dach über dem Kopf anzündet – enthält eine unübersehbare
Warnung. Es ist die Warnung eines Freundes, und Aristophanes läßt sie
Sokrates beizeiten zukommen. Ob die Sorge um den Freund oder ob
andere Gesichtspunkte und Motive für den Dichter bestimmend waren,
braucht uns an dieser Stelle nicht weiter zu beschäftigen.5
Für die Sache der Politischen Philosophie sind vier Punkte der Kritik,
die Aristophanes auf seine Weise am jungen Sokrates übt,6 von besonde-
rem Gewicht. Das erste, woran es dem vorsokratischen Philosophen
gebricht, ist Selbsterkenntnis. Es fehlt ihm nicht nur die Einsicht in das,
was gut für ihn ist, oder das Sokratische daimonion, das ihn abhielte,
sich auf Menschen und Dinge einzulassen, die nicht gut für ihn sind.
Ihm mangelt vor allem ein deutliches Bewußtsein, in welchem Maße er
und seine Freunde von dem Gemeinwesen abhängig sind, in dessen
Mauern sie leben, und welche Auswirkungen die philosophische For-
schung und Lehre für die Grundlagen dieses Gemeinwesens hat oder
haben kann, für die Kraft seiner Gesetze und Institutionen, für den Be-
stand der Familie, für die politischen Meinungen und religiösen
Überzeugungen seiner Bürger. Mit dem ersten Kritikpunkt eng verbun-
den ist zweitens das offenbare Unvermögen des Philosophen, die philo-

4 Aristophanes: Die Wolken (Parabasis) 518–626.


5 Cf. Platon: Philebos 48a–50a und Strauss: Socrates and Aristophanes, p. 5–6.
6 Cf. Platon: Zweiter Brief 314c.

– 15 –
sophische Lebensweise überzeugend zu begründen, und drittens die
beinahe ebenso bedenkliche Unfähigkeit, sie wirksam zu verteidigen. In
allen drei Rücksichten – was die Selbsterkenntnis, die Begründung der
eigenen Aktivität und den Schutz nach außen anbetrifft – beansprucht
der Dichter für sich eine Position der Überlegenheit, da er die Meinun-
gen der Bürger mit seinen Mitteln zu steuern, die politisch-theologische
Wirklichkeit, in der der Philosoph sich zu behaupten hat, selbst zu for-
men weiß. Seine überlegene Gestaltungsmacht gründet zuletzt, und da-
mit sind wir beim vierten Punkt angelangt, in einem überlegenen Ver-
ständnis der politika sowie in einer besseren Kenntnis der menschlichen
Natur. Anders als Sokrates und seinen Schülern, die sich in der Zurückge-
zogenheit ihres Phrontisterions dem Studium der physiologia widmen,
steht Aristophanes und den übrigen Wolken, die sich in seiner Komödie
an die Öffentlichkeit wenden, zu Weisen und Nichtweisen sprechen,
die Verschiedenheit der menschlichen Naturen, der geistigen Fähigkei-
ten und der seelischen Bedürfnisse vor Augen. Dem Aristophanischen
Sokrates kommt das Wort «Seele» nicht über die Lippen.7
Die vier Punkte der Kritik des Aristophanes führen uns auf geradem
Wege zu der vierfachen Bestimmung der Politischen Philosophie, mit
der wir uns im folgenden befassen wollen, oder zu der vierfachen Ant-
wort auf die Frage, weshalb die Philosophie die Wendung zur Politi-
schen Philosophie vollziehen muß. Die vier Momente, in die sich die
Antwort auseinanderlegen läßt, betreffen erstens den Gegenstand der
Politischen Philosophie, zweitens die politische Verteidigung des philo-
sophischen Lebens, drittens seine rationale Begründung und viertens
die Politische Philosophie als Ort der Selbsterkenntnis des Philoso-
phen. Die vier Momente sind, wie wir sehen werden, so miteinander
verschränkt, daß sie ein gegliedertes und in sich bewegtes Ganzes erge-
ben. Ebendas macht den Rang der Kritik aus, die Aristophanes in der
nach dem Urteil des Dichters selbst weisesten seiner Komödien vorge-
tragen hat,8 daß sie Eine Antwort verlangt: Sie fordert eine philosophi-
sche Grundlegung heraus. Dies hebt sie noch über die eindringlichste

7 «… he replaces soul by air.» Strauss: Socrates and Aristophanes, p. 31. Auf Strauss’
großes Alterswerk, den bedeutendsten philosophischen Kommentar nicht nur zu
den Wolken, sondern zum Œuvre von Aristophanes insgesamt, sei hier noch einmal
mit Nachdruck hingewiesen.
8 Aristophanes: Die Wolken 522.

– 16 –
Auseinandersetzung der Moderne mit jenem «einen Wendepunkt und
Wirbel der sogenannten Weltgeschichte»9 hinaus und unterscheidet sie
von allen übrigen Versuchen, den Prozeß des Sokrates neu anzustrengen,
die sich nach mehr als zwei Jahrtausenden von ihr inspirieren lassen.
Nietzsches Kritik des «theoretischen Menschen», die Aristophanische
Motive aufnimmt, um sie gegen den Platonischen Sokrates zu kehren,
ist Teil von Nietzsches eigener Politischer Philosophie. Sie setzt die
philosophische Grundlegung, von der wir hier sprechen, sachlich voraus
und bewegt sich nicht nur geschichtlich in deren Bahn.10 Die politische
Attacke eines Sorel hinwiederum, die Sokrates als Bürger von Athen ins
Visier nimmt und sich für den Philosophen nur soweit interessiert, wie
dieser als öffentliche Person Wirksamkeit erlangt, mag sich auf den kon-
servativen Geist berufen, aus dem die Kritik des Aristophanes geboren
sei.11 Sie reicht indes nicht von ferne an die Kraft einer Kritik heran, die,
obwohl oder gerade weil sie den Geist der Freundschaft atmet, eine
denkbar grundsätzliche Besinnung zu befördern vermag und schließ-
lich zu einer Wende zwingt, welche einen Unterschied im Ganzen be-
gründet.
Einen Unterschied im Ganzen begründet die Wendung zur Politi-
schen Philosophie, insofern die Philosophie einzig in der Politischen
Philosophie zur Vollendung ihrer Reflexivität gelangen kann. Die Poli-
tische Philosophie, die hier in Rede steht, ist ein besonderer Teil und
Modus der Philosophie, und wir sprechen von ihr in ständiger Rück-
sicht auf die Bedeutung, die sie für die Philosophie tout court besitzt. Die

9 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, KGW III 1, p. 96.


10 Cf. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Vorrede, Aph. 28, 30, 40, 61, 190, 191.
11 Georges Sorel: Le procès de Socrate. Examen critique des thèses socratiques.
Paris 1889. «L’État transformé en Église, la force publique mise à la disposition des
sectes, tel était l’idéal des Socratiques. Avec une pareille organisation, tout, dans les
cités, tendrait vers le bien, tel que le comprendraient les chefs. ‹La fraternité ou la
mort!› hurlaient les hallucinés de  93» (p. 9). «Comme tous les sophistes, il [sc.
Socrate] travaillait à ruiner les vieilles mœurs. La nouvelle génération trouvait
ridicules toutes les œuvres qui avaient été tant admirées par les anciens. Les
conservateurs, aussi bien Anytus qu’ Aristophane, pensaient que l’on ne pouvait
former des générations héroïques que par la vieille méthode, en nourrissant la
jeunesse des poèmes héroïques. Après les grands désastres de la guerre, tous les
hommes sensés devaient partager cette manière de voir. Il fallait restaurer ou périr»
(p. 235).

– 17 –
vierfache Bestimmung der Sache, die uns beschäftigt, berührt die heute
gemeinhin anzutreffende Verwendung des Begriffs, die sich unter-
schiedslos auf politische Theorien aller Art erstreckt, nur tangential. Sie
hat erst recht nichts zu schaffen mit dem inflationären Gebrauch der
Bezeichnung «politische Philosophie» für beliebige politische Meinun-
gen, Programme und Bekenntnisse, wie er in jüngster Zeit zu beobach-
ten ist. Seit dem Ende der ideologisch gefestigten Zweiteilung der Welt
und dem Niedergang der bis dahin dominierenden politischen Uto-
pien hat die Berufung auf «politische Philosophien» Konjunktur. Aber
auch dort, wo über grundsätzliche Fragen der Politischen Theorie
nachgedacht oder mit großem Ernst über die Fundamente der Res pu-
blica gesprochen wird, haben wir es deshalb noch nicht mit Politischer
Philosophie zu tun. Weder die kompetente theoretische Annäherung
an die politischen Fragen und Probleme noch der Ernst im Umgang
mit ihnen ist, für sich genommen, ein Ausweis Politischer Philosophie.
Sie ist mit einer «philosophie engagée» sowenig gleichzusetzen wie mit
einer «public philosophy» oder mit einer «Philosophie der bestehen-
den Ordnung». Weder in der politischen Sinnstiftung, in öffentlicher
Erhebung und Erbauung, noch in der Erziehung der Bürger zur Sitt-
lichkeit oder in der praktischen Anleitung zum politischen Handeln
kommt sie – wie hoch oder gering ihr Beitrag in dergleichen Angelegen-
heiten im übrigen zu veranschlagen sei – zu ihrer eigensten Aufgabe.
Diese Aufgabe, die sie vor allen anderen auszeichnet, die Aufgabe, die
ihr als Philosophie und für den Philosophen eignet, ist es, die wir bei
unserem Versuch einer Antwort auf die Frage Warum Politische Philo-
sophie? im Auge haben.
Gegenstand der Politischen Philosophie sind die politischen Dinge:
die Grundlagen des Gemeinwesens, Pflichten und Rechte seiner Glie-
der, Zwecke und Mittel ihres Handelns, Krieg und Frieden im Innern
und im Verhältnis zu anderen Gemeinwesen. Obschon die Politische
Philosophie, was ihre Materie anbelangt, lediglich einen Teil der Philo-
sophie ausmacht, hat sie keineswegs einen eng begrenzten Ausschnitt
der menschlichen Lebenswirklichkeit zu ihrem Gegenstand. Wir treffen
in ihm auch nicht etwa auf ein autonomes Lebensgebiet, dem eine Mehr-
zahl autonomer Lebensgebiete oder «Kulturprovinzen» gleichrangig
zur Seite stünden. Die zentralen Fragen der Politischen Philosophie, die
Fragen nach der besten politischen Ordnung, nach dem rechten Leben,
nach der gerechten Herrschaft, nach dem notwendigen Gewicht von

– 18 –
Autorität, Wissen und Gewalt, lassen sich nur in Verbindung mit jenen
anderen Fragen nach der Natur des Menschen, nach seinem Platz zwi-
schen Tier und Gott, nach den Fähigkeiten des menschlichen Geistes,
den Vermögen der menschlichen Seele und den Bedürfnissen des
menschlichen Körpers angemessen stellen. Gegenstand der Politischen
Philosophie sind mithin die menschlichen Dinge im umfassenden Sinne,
und die Fragen der Politischen Philosophie gehen alle zurück auf eine
Frage, die sich dem Menschen als Menschen stellt: auf die Frage nach
dem Richtigen. Wenn er sie im Ernst beantworten will, wenn er für sich
selbst Klarheit zu gewinnen sucht, sieht er sich widerstreitenden An-
sprüchen gegenüber. Er steht unter dem Gesetz des Gemeinwesens,
dem Gebot Gottes oder der Menschen, er stößt auf Antworten, die mit
der Forderung nach Gehorsam oder dem Willen zur Durchsetzung vor-
gebracht werden. Die Frage nach dem Richtigen stellt sich dem Men-
schen, mit anderen Worten, in der Sphäre des Politischen. Damit ist so-
wohl der Rang des Politischen bezeichnet als auch seine Dringlichkeit
für die Philosophie benannt.
Wie ist es angesichts der Dringlichkeit des Politischen zu erklären,
daß Philosophen die Auseinandersetzung mit den politischen Dingen
jemals geringschätzen oder vernachlässigen konnten? Ich beschränke
mich auf drei knappe Hinweise zu einer möglichen Antwort: Ebenjene
einander widerstreitenden politischen und theologischen Ansprüche,
die den Philosophen veranlassen, die nomoi auf ein ihnen Voraus- oder
Zugrundeliegendes hin zu befragen, und die ihn so zur Entdeckung der
physis führen, veranlassen ihn, der eigenen Natur zu folgen; die Einsicht
in den konventionellen Charakter der politischen Einrichtungen be-
stärkt ihn in der Richtigkeit seiner Lebensweise, die durch seine Nei-
gungen bestimmt wird. Seine Wißbegierde und sein Denken sind auf
das Ganze gerichtet; den politischen Dingen scheint darin zunächst
keine herausragende Bedeutung zuzukommen; die Betrachtung des
Unwandelbaren, das Nachdenken über die ersten Prinzipien oder auch
das Hören auf das Zuspiel des Seins scheinen, im Gegenteil, weit höher
einzuschätzen zu sein als die Beschäftigung mit dem Politischen oder
dem Nichts-als-Menschlichen in all seiner Hinfälligkeit, Irrationalität
und Unsicherheit. Und kann das philosophische Verständnis der politi-
schen Dinge nicht auch in dem Sinne als nachrangig angesehen werden,
daß ihm die Erkenntnis der allgemeinsten Prinzipien oder Naturgesetze
vorauszugehen hat, die es erst erlaubt, die Schattenwelt der Meinungen

– 19 –
hinter sich zu lassen und das Politische in das Reich des Wissens zu
heben und einzuordnen?
Auf solche und ähnliche Überlegungen, aus denen erhellt, in wel-
chem Verstande die Philosophie der Politischen Philosophie voraus-
liegt, lautet unsere Erwiderung: Die politische Wendung der Philoso-
phie verdankt sich nicht zuletzt der Einsicht, daß die Erwartungen an
die Philosophie und die Wertschätzungen der Philosophen selbst einer
Prüfung unterzogen werden müssen, die nur auf dem Wege der Aus-
einandersetzung mit den politischen Dingen durchgeführt werden
kann. Die Vorstellungen vom Erhabenen, Edlen, Schönen oder Vor-
nehmen, die sich mit der Philosophie verbinden, sind ebenso auf ihre
Abhängigkeit von den politischen, moralischen und religiösen Mei-
nungen innerhalb des Gemeinwesens zu befragen, über die die Philo-
sophen hinauszugelangen suchen, wie der Wunsch nach Hingabe an
die Wahrheit oder der Wille zur Gewißheit, die auf je verschiedene
Weise in der Gefahr stehen, einem neuen Dogmatismus oder einer
Selbstvergessenheit der Philosophie Vorschub zu leisten. Was für die
Philosophie am naheliegendsten ist, bedarf ihrer kritischsten Unter-
suchung. Das gilt auch für den vorsokratischen Glauben, das Politische
sei von den ersten Prinzipien her zwingend aufzuschließen oder die
Meinungen, Konventionen, Institutionen der Polis könnten auf der
Grundlage einer vorgängigen Erkenntnis des wahrhaft Seienden re-
konstruiert werden, eine Position, die Platon im Höhlengleichnis der
Politeia in Erinnerung ruft, um sie, in kritischer Absicht, bis zu ihrer
äußersten Konsequenz, dem Philosophen-Könige-Postulat, zu verfol-
gen. Es gilt nicht weniger für die Aussicht auf einen bios theoretikos,
der in der glückseligen Kontemplation der edlen und erhabensten
Dinge sein vollkommenes Genüge finde, abermals eine vorsokratische
Vision, der Aristoteles im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik ein
Denkmal gesetzt hat.12 Es gilt, kurz gesagt, für ein Weisheits-Ideal, das
ein allgemeines Prinzipienwissen von der Selbsterkenntnis des Philo-
sophen dissoziiert13 oder eine vorgeblich reine Erkenntnis von jener

12 Aristoteles: Nikomachische Ethik X, 6–9 (insbesondere 1177a12–28, b19–26,


1178b7–23); cf. VI, 7 (1141a16–20, 1141b1–8) und I, 3 (1095b19, 1096a4); ferner
Protreptikos, Ed. Ingemar Düring, B 29, 50, 86.
13 Das Selbstmißverständnis, das darin zum Ausdruck kommt, daß dieses
Weisheitsideal dem philosophischen Leben als Leitstern dienen soll, hat Seth

– 20 –
Erkenntnis trennt, die aus Leiden erwächst14 und durch Freude beflü-
gelt wird.
Kehren wir zu unserem Argument zurück. Wenn die zentralen Fra-
gen der Politischen Philosophie Bezug haben auf die Frage nach dem
Richtigen und diese Frage sich dem Philosophen in der Sphäre des Poli-
tischen stellt, so heißt das für die Politische Philosophie, daß sie dem
Risiko des Politischen nicht zu entgehen vermag. Aus der Beschäfti-
gung mit ihrem Gegenstand ergibt sich die Notwendigkeit politischer
Vorsicht ebenso, wie sich Möglichkeiten politischer Einwirkung eröff-
nen. Anders gesagt: Ihr Objekt bedingt ihren Modus. Von Anfang an
war die Politische Philosophie daher immer auch Politische Philoso-
phie, politisches Handeln von Philosophen, und zwar, durch die Um-
stände veranlaßt, vorrangig politisches Handeln im Dienste der Philo-
sophie: Schutz und Verteidigung des philosophischen Lebens oder Akt
einer Politik der Freundschaft, die die Interessen der zukünftigen Phi-
losophen mit einbegreift. Des Schutzes aber bedarf die Philosophie,
wie wir gesehen haben, nicht erst in dem Augenblick, in dem sie die
Frage nach dem Richtigen öffentlich zu ihrem Thema macht und in die
nähere Untersuchung der politischen Dinge eintritt. Als Lebensweise
ist die Philosophie an ihr selbst eine Antwort auf die Frage nach dem
Richtigen. Sie kennt Freundschaft und Feindschaft. Sie bleibt deshalb
grundsätzlich – ob sie sich darüber Rechenschaft ablegt oder nicht –
der politischen Verteidigung bedürftig.
Es ist ein Irrtum anzunehmen, die Entdeckung der Natur habe sich
jemals in «politischer Unschuld» vollziehen können. Und es ist nicht
weniger ein Irrtum – auch wenn er uns in neuerer Zeit bei Philosophen
begegnet – zu glauben, mit einem Zurückgehen hinter die Politische
Philosophie, einem Rückgang auf das vorsokratische Denken der phy-
sis, ließe sich die Rückkehr zu einem «ursprünglichen Einklang» ver-
binden, von dem die Politische Philosophie sich und uns entfernt
habe – als wäre die Kritik der nomoi mit jenem Denken nicht gleichen
Ursprungs.15 Die Wolken des Aristophanes und die wenige Jahre vor

Benardete prägnant benannt: «Wisdom is an idol of the cave.» Socrates’ Second


Sailing. On Plato’s «Republic». Chicago 1989, p. 179, cf. p. 178 und 192.
14 Cf. Aischylos: Agamemnon 178; Prometheus 585–586.
15 Siehe dazu meinen Epilog: Eine theologische oder eine philosophische Politik der
Freundschaft?, in: Carl Schmitt, Leo Strauss und «Der Begriff des Politischen». Zu

– 21 –
deren Uraufführung gegen Anaxagoras angestrengte Anklage der Gott-
losigkeit, die den ionischen Naturphilosophen aus Athen vertrieb, ge-
nügen, um uns daran zu erinnern, daß das Studium der physiologia
zuzeiten eine hochpolitische Angelegenheit sein kann. Die Hinwen-
dung zu den politika ist eine Konsequenz aus der prekären Lage, in der
sich die Philosophie natürlicherweise befindet. Sie ermöglicht es, die
Philosophie vor dem Forum des Gemeinwesens politisch zu verteidi-
gen und in eins damit dessen politisch-moralisch-religiöses Gesetz der
philosophischen Befragung zu unterwerfen, um so auf einen Wandel
zum Besseren hinzuwirken. Welcher Erfolg der Politischen Philoso-
phie in beiden Hinsichten beschieden war, zeigen das Ansehen, das
Platon, Xenophon und Aristoteles der Philosophie in der griechischen
Polis oder das Cicero ihr in Rom zu erwerben wußten, das Fortbeste-
hen der philosophischen Lebensweise, das Alfarabi, Avicenna und
Averroes in der Welt des Islam oder Maimonides im Judentum zu
sichern verstanden, und der Schutz des Staates, den die politischen Phi-
losophen der Moderne, allen voran Machiavelli, Bacon, Hobbes und
Spinoza, für die Freiheit des Philosophierens zu erkämpfen vermoch-
ten. Allein die Tatsache, daß die Schriften der genannten Philosophen
in ihrer großen Mehrzahl auf uns gekommen sind, während wir uns im
Falle der Vorsokratiker mit spärlichen Fragmenten begnügen müssen,
spricht eine beredte Sprache.
Die Politische Philosophie, die im Sinne einer Politik der Freundschaft
die politischen Voraussetzungen der philosophischen Lebensweise
generationenübergreifend zu gewährleisten sucht, muß der Zuträglich-
keit der Philosophie für das Gemeinwesen nicht weniger Beachtung
schenken als ihrem aktuellen, unmittelbaren Schutz. Die eine Zielset-
zung vermag dabei auf längere Sicht mit der anderen in Konflikt zu ge-
raten. So wie die historische Errungenschaft institutionalisierter Garan-
tien gegen politische oder religiöse Verfolgung die Philosophie in einer
trügerischen Sicherheit wiegen und sie  – nicht nur zu ihrem eigenen
Schaden  – über die prinzipielle Spannung hinwegtäuschen kann, die
zwischen ihr und dem Gemeinwesen besteht. Die philosophische Politik
der Freundschaft erfordert daher eine Reflexion der Notwendigkeiten
der Philosophie einerseits und der Notwendigkeiten des gut verfaßten

einem Dialog unter Abwesenden. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart–Weimar 1998,


dritte Auflage 2013, p. 179–180.

– 22 –
politischen Gemeinwesens andererseits. Eine solche Reflexion wird sie
davor bewahren, die politische Verteidigung zu einer bloßen Apologetik
der Philosophie verkommen zu lassen oder aber die Philosophie an einen
politischen Status quo zu binden, sie in den Dienst eines geschichtlichen
Augenblicks, eines religiösen Auftrags oder eines nationalen Aufbruchs
zu stellen, mit einem Wort: sie zu irgend jemandes Magd zu machen. Was
für das philosophische Leben gut ist, muß nicht gut sein für das Gemein-
wesen, und was für die Philosophie taugt, taugt deshalb noch lange nicht
für die Politik. Das philosophische Leben hat seine raison d’être darin,
daß es auf rückhaltloses Fragen gegründet ist und daß es sich bei keiner
Antwort beruhigt, die ihre Beglaubigung einer Autorität schuldet. Das
Lebenselement der Gesellschaft sind dagegen die Meinungen und der
Glaube; sie bezieht ihre Kraft daraus, daß ihre Grundprinzipien für wahr
gehalten, ihre Normen fraglos befolgt, ihre Tabus selbstverständlich ge-
achtet, ihre Institutionen von breitem Vertrauen getragen werden. Sie
verlangt statt Zweifel und Suspension des Urteils entschlossenes Han-
deln und den beherzten Einsatz, wenn nicht den Enthusiasmus der Bür-
ger für das gemeinsame Gute, das indes ein besonderes und partielles
bleibt. Das wohlgeordnete Gemeinwesen ist auf Identifikation, auf Hin-
gabe und Einstimmung gebaut, während der philosophische eros nir-
gendwo anders als «in seiner Heimatlosigkeit vollständig daheim» ist.16
Die Aufforderung, gefährlich zu leben, ist als Maxime für das Selbstden-
ken des Philosophen so angemessen, wie ihre Übertragung auf die Politik
fatal sein muß;17 und umgekehrt gilt, daß die Maxime der Mitte und des
Maßes, die für die politische Praxis und für die Gesellschaft insgesamt
ihre gute Berechtigung besitzt, wenn die Philosophie sie sich zu eigen
machte, der philosophischen mania die Flügel beschneiden müßte, bevor
diese ihren Aufschwung in der Theorie überhaupt begonnen hätte. Eine
ähnliche Diskrepanz ergibt sich im Hinblick auf die Erkenntnischancen,
die die Ausnahme im Unterschied zur Regel für die Philosophie bereit-
hält, wohingegen die Gefahren einer Orientierung am Ausnahmefall für
die Politik offenkundig sind. Von Phasen der institutionellen Auflösung
oder Epochen des gesellschaftlichen Niedergangs ganz zu schweigen. Die
großen politischen Philosophen haben die unaufhebbare Spannung, die

16 Seth Benardete: On Plato’s «Symposium» – Über Platons «Symposion». Mün-


chen 1994, dritte, durchgesehene Auflage 2012, p. 77.
17 Cf. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 283.

– 23 –
zwischen der Philosophie und dem Gemeinwesen besteht, von Platon
bis Rousseau darin zum Ausdruck gebracht, daß sie den besten Zustand
für die Gattung oder die Gesellschaft und den besten und glücklichsten
Zustand für den Einzelnen oder für das philosophische Leben verschie-
denen Zeitaltern oder unterschiedlichen Stadien der Menschheitsent-
wicklung zugeordnet haben.18
Die Philosophie bedarf der Politischen Philosophie nicht nur im
Hinblick auf ihre politische Verteidigung, sondern vor allem mit Rück-
sicht auf ihre rationale Begründung. Die Politische Philosophie nimmt
die theologisch-politischen Ansprüche auf, denen sich das philosophi-
sche Leben konfrontiert sieht. Sie rückt diejenige Lebensweise ins Zen-
trum ihrer Aufmerksamkeit, an der die eigene Antwort auf die Frage
nach dem Richtigen zuschanden werden könnte. Sie wendet sich den
Geboten und Verboten zu, die die Philosophie nötigen, ihr Recht mit
Gründen zu behaupten – wenn anders sie nicht auf die Spitze einer blo-
ßen Dezision oder auf einen Akt des Glaubens gestellt bleiben soll.
Denn die Philosophie vermag ihr Recht und ihre Wahrheit nur zu be-
gründen, wenn sie die Meinungen und Einwände in die philosophische
Untersuchung mit einbezieht, die unter Berufung auf eine menschliche
oder übermenschliche Autorität gegen die Philosophie erhoben werden
oder gegen sie erhoben werden können. Daß die Philosophie in diesem
Verstande politisch werden muß, um eine philosophisch tragfähige
Grundlage zu erhalten, ist die entscheidende Einsicht, die in der Sokra-
tischen Wende beschlossen liegt.19 Die rationale Begründung des philo-
sophischen Lebens ist weder auf dem Wege theoretischer Setzungen
und Deduktionen zu erreichen, noch kann sie vom Gelingen systemati-
scher Anstrengungen abhängig gemacht werden, deren Abschluß und
Erfolg einer ungewissen Zukunft vorbehalten sind. Die Philosophie
muß ihre Rationalität elenktisch, in der Auseinandersetzung mit den
mächtigsten Antagonisten und mit der anspruchsvollsten Alternative
unter Beweis stellen. Und sie muß diese Auseinandersetzung in der Ge-
genwart führen. Eine Auseinandersetzung, die für das philosophische

18 Cf. Platon: Politikos 271d–273a, 274b–d; Nomoi 713a–e; Jean-Jacques Rousseau:


Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes. Kritische
Edition. Paderborn 1984, sechste Auflage 2008, p. 166, 192–194, 256, 264–270, 342.
19 Cf. Platon: Phaidon 96a–100b, Xenophon: Memorabilia I, 1.11–16 und Marcus
Tullius Cicero: Tusculanae Disputationes V, 10.

– 24 –
Leben in der buchstäblichen Bedeutung des Wortes grundlegend ist,
vermag ebensowenig vertagt zu werden, wie sie sich delegieren läßt.
Dies ist der Zusammenhang, in dem die Kritik der Politischen Theo-
logie ihr besonderes Interesse für die Philosophie gewinnt. Denn die
Politische Theologie beruft sich bei ihrer Einrede gegen die Philosophie
auf keine geringere Autorität als den allmächtigen Gott. Die Politische
Theologie hat wie die Politische Philosophie die politischen Dinge zu
ihrem Gegenstand. Beide stimmen darin überein, daß der Streit über das
Richtige, der in der Sphäre des Politischen entbrennt, der wichtigste
Streit und daß die Frage Wie soll ich leben? die erste Frage für den Men-
schen ist. Beide zeichnen sich dadurch aus, daß sie reflexive, auf Selbst-
verständigung angelegte Konzeptionen sind, die sich, wenngleich aus
sehr verschiedenen Gründen, Rechenschaft über sich selbst abverlan-
gen: das Denken und Handeln des Philosophen wie des offenbarungs-
gläubigen Theoretikers werden daher jeweils zum Herzstück der Politi-
schen Philosophie und der Politischen Theologie. Im Unterschied zur
Politischen Philosophie nimmt die Politische Theologie jedoch für sich
in Anspruch, eine politische Theorie oder politische Lehre vorzutragen,
die in letzter Instanz auf göttlicher Offenbarung beruht. Während die
Politische Theologie rückhaltlos auf die Antwort des Glaubens baut
und in der Wahrheit der Offenbarung, an deren Auslegung und Anwen-
dung sie sich versucht, ihre Sicherheit zu finden hofft, stellt die Politi-
sche Philosophie die Frage nach dem Richtigen – mit dem Platonischen
Sokrates zu reden – ganz und gar auf den Boden «menschlicher Weis-
heit»,20 im Bestreben, sie hier so grundsätzlich und umfassend zur Ent-
faltung zu bringen, wie der Mensch das aus eigenen Kräften vermag. Die
Politische Theologie, die sich aus dem Gehorsam des Glaubens21 ver-

20 Platon: Apologie des Sokrates 20d–e; cf. Leo Strauss: Persecution and the Art of
Writing. Glencoe, Ill. 1952, p. 107.
21 Calvin kommentiert die Paulinische Wendung in Römer I, 5 folgendermaßen:
«Unde colligimus, Dei imperio contumaciter resistere, ac pervertere totum eius
ordinem, qui Euangelii praedicationem irreverenter et contemptim respuunt, cuius
finis est nos in obsequium Dei cogere. Hic quoque observanda est fidei natura, quae
nomine obedientiae ideo insignitur, quod Dominus per Euangelium nos vocat: nos
vocanti, per fidem respondemus. Sicuti contra, omnis adversus Deum contumaciae
caput, est infidelitas.» Commentarius in Epistolam Pauli ad Romanos. Ed. T. H. L.
Parker. Leiden 1981, p. 16. «Folglich widerstehen alle, die die Predigt des Evangeliums
unehrerbietig und verächtlich zurückweisen, dem klaren Befehl Gottes und

– 25 –
steht und sich als Theorie in den Dienst der souveränen Autorität stellen
will, sieht sich zum geschichtlichen Handeln, zur politischen Entschei-
dung und zur Verneinung eines Lebens verpflichtet, das einzig der
natürlichen Vernunft zu folgen sucht und der Erkenntnis den Primat

verkehren seine ganze Ordnung; denn der Zweck des Evangeliums ist es, uns zum
Gehorsam gegen Gott zu treiben. Beachtlich, wie Paulus an dieser Stelle das Wesen
des Glaubens beschreibt: er bezeichnet ihn als ‹Gehorsam›, weil uns Gott durch das
Evangelium ruft, damit wir durch den Glauben dem Rufenden antworten.
Umgekehrt ist Unglaube der Inbegriff aller ungehorsamen Auflehnung gegen
Gott.» (Übers. Haarbeck, Ed. Otto Weber. Neukirchen 1960, p. 21.) – Erik Peterson
hat das Gebot des Gehorsams als positiven Rechtsanspruch Gottes vorgetragen,
der den Menschen im Evangelium jure divino treffe und «sich in Dogma und
Sakrament hinein» fortsetze («Das Evangelium ist ja keine frohe Botschaft, die sich
‹an alle› richtet  – wie unterschiede es sich da noch von dem kommunistischen
Manifest? – sondern es ist ein positiver Rechtsanspruch Gottes, der aus dem Leibe
Christi heraus einen jeden von uns konkret trifft, und zwar jure divino trifft»), um
den Gehorsam des Glaubens so im Dogma der Kirche zu objektivieren. («Erst
durch das Dogma aber wird es auch sichtbar, daß zur Offenbarung der Gehorsam
gehört. Denn in dem Gehorsam, den das Dogma fordert, vollendet sich der
Gehorsam gegen Christus.») Daß er sich damit von den Problemen zu entlasten
vermochte, die das Gebot des Gehorsams für das geschichtliche Handeln im
allgemeinen und für das geschichtliche Handeln des politischen Theologen im
besonderen aufwirft, darf allerdings bezweifelt werden. Die Frage des Subjekti-
vismus und des Selbstbetrugs, die dem Gehorsam des Glaubens wie ein Schatten
folgt und die einige der bedeutendsten politischen Theologen des Christentums im
Widerstreit von Gnade und Gerechtigkeit zu fassen und für sich zu bezähmen
suchten, diese Problematik wird durch den Verweis an das Dogma, das «alles
menschliche Wissen subalterniert hat», und die Zuflucht zu einer intermediären
Autorität nur verdeckt oder verlagert, aber nicht aufgelöst. (Erik Peterson: Was ist
Theologie? Bonn 1925, p. 20, 23–24, 25; cf. p. 8, 16 [Theologische Traktate. Ed.
Barbara Nichtweiß. Würzburg 1994, p. 13–14, 16; cf. p. 4–5, 11]. Die Konsequenz,
die Peterson aus der Unterordnung der Theologie unter das kirchliche Dogma für
die Theologie zieht, sei hier wenigstens erwähnt: «Es gibt keine Theologie bei
Juden und Heiden, es gibt Theologie nur im Christentum und nur unter der
Voraussetzung, daß das fleischgewordene Wort von Gott geredet hat. Mögen Juden
auch Exegese treiben und Heiden Mythologie und Metaphysik, Theologie im
echten Sinne gibt es erst seitdem der Menschgewordene von Gott geredet hat»
p. 18–19 [12]. Soweit ich sehe, hat dieser prononcierte, politisch unterscheidende
Theologie-Begriff Petersons bei den Autoren, die sich auf die berühmte Schlußthese
seines politisch-theologischen Traktats Der Monotheismus als politisches Problem.
Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im Imperium Romanum
[Leipzig 1935, p. 99] berufen, bisher keine Beachtung gefunden.)

– 26 –
einräumt. In der Politischen Theologie trifft die Philosophie auf eine
anspruchsvolle Alternative. Sie hat allen Anlaß, sich eingehend mit einer
Position auseinanderzusetzen, die ihr nicht nur politisch gefährlich
werden kann, sondern die sie prinzipiell in Frage stellt.22
Die Einsicht, daß eine rationale Begründung der philosophischen
Lebensweise nicht anders denn in der Auseinandersetzung mit der
anspruchsvollsten Alternative oder auf dem Wege einer radikalen Kritik
gelingen kann, bleibt auch für jene Versuche philosophischer Selbstbefra-
gung bestimmend, die über eine Prüfung im Lichte der theologischen
und politischen Gegenpositionen hinausgehen, um die Philosophie vor
dem Tribunal der Natur herauszufordern. Wir können sie als Antwort
auf einen geschichtlichen Entwicklungsgang begreifen, in dem die Philo-
sophie – nicht zuletzt als Folge ihrer politischen Wendung – so viel Pre-
stige erwarb und sich in einem solchen Ausmaße für gesellschaftliche
Zwecke einsetzte oder heranziehen ließ, daß sie zu einer Art höherer
Selbstverständlichkeit herabsank. Der historische Erfolg der philosophi-
schen Lehrtätigkeit und Einflußnahme auf die Politik führte außerdem
dazu, daß philosophische Doktrinen und Konzepte die vorherrschenden
Weltanschauungen zunehmend imprägnierten und ihre Spuren tief in die
theologisch-politischen Gegenpositionen eingruben. Die Verschärfung
der Selbstkritik ist eine der Strategien, die der Philosophie zu Gebote ste-
hen, um ihrer gesellschaftlichen Bezähmung ebenso entgegenzuwirken
wie ihrer Versteinerung in der Tradition. Wenn Nietzsche gegen die Vor-
eingenommenheiten der humanistischen Überlieferung zugunsten der
Philosophie «den Menschen in die Natur zurückübersetzen» und zum
«ewigen Grundtext homo natura» vordringen wollte23 oder wenn Rous-
seau sich anschickte, von der längst zur allgemeinen Meinung ge-

22 Vergleiche dazu Heideggers Aussage, «daß der Glaube in seinem innersten Kern
als eine spezifische Existenzmöglichkeit gegenüber der wesenhaft zur Philosophie
gehörigen und faktisch höchst veränderlichen Existenzform der Todfeind bleibt. So
schlechthin, daß die Philosophie gar nicht erst unternimmt, jenen Todfeind in
irgendeiner Weise bekämpfen zu wollen!» Der Schluß, den Heidegger 1927/28 aus
dem «existenziellen Gegensatz zwischen Gläubigkeit und freier Selbstübernahme
des ganzen Daseins» zieht, erhellt schlaglichtartig die vorsokratische Grundstellung
seiner Philosophie. Martin Heidegger: Phänomenologie und Theologie. Frankfurt/
Main 1970, p. 32; GA 9, p. 66.
23 Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Aph. 230; cf. Aph. 259 und Die fröhliche
Wissenschaft, Aph. 109 sowie Nachgelassene Fragmente, KGW VIII 1, p. 130.

– 27 –
ronnenen Vorstellung des animal rationale bis auf den ersten, solitären,
tierischen Naturzustand des Menschen zurückzugehen, so haben wir es
nicht mit selbstvergessenen Spekulationen naturphilosophischer Pro-
venienz, sondern mit authentischen Stücken ihrer Politischen Philoso-
phie zu tun, die der Selbstbefragung, Selbstkritik und Selbstverständi-
gung zugehören, von der hier die Rede ist. Rousseau, der die radikalste
Infragestellung der Philosophie im Horizont der Natur erreichte,
wußte wie kaum ein anderer, daß er eine exzentrische Position einneh-
men mußte, wenn er dahin gelangen wollte, als Philosoph ganz bei sich
zu sein.24
Wenn wir zu Beginn unserer Erörterung der vier Bestimmungen der
Politischen Philosophie sagten, die Politische Philosophie sei ein beson-
derer Teil und Modus der Philosophie, um sie von Politischen Theorien
unterschiedlichster Art und Herkunft abzugrenzen, so können wir die
Aussage jetzt präzisieren: Die Politische Philosophie ist der Teil der
Philosophie, in dem das Ganze der Philosophie in Frage steht. Denn die
drei Bestimmungen, die wir bisher besprochen haben, sind in der vier-
ten, der Politischen Philosophie als Ort der Selbsterkenntnis des Philo-
sophen, gewissermaßen in eins zusammengeschlossen. Um seiner
Selbsterkenntnis willen muß der Philosoph die politischen Dinge zum
Gegenstand seiner Forschung und Betrachtung machen. Und aus der
Erkenntnis der prinzipiell prekären politischen Lage, in der sich die
Philosophie befindet, resultiert die zwiefache Aufgabe der politischen
Verteidigung und der rationalen Begründung des philosophischen Le-
bens, die ihrerseits in beiden Verzweigungen die Selbsterkenntnis des
Philosophen zu befördern geeignet ist. Die Selbsterkenntnis des Philo-
sophen erweist sich mithin als die übergreifende Bestimmung, die die
anderen drei verbindet und in ihrem Verhältnis zueinander ordnet. Da-
neben hat die vierte Bestimmung jedoch ihre eigene Funktion und Be-
deutung.
Dies gilt zunächst im Hinblick auf das philosophische Leben selbst,
dessen innere Einheit und konkrete Gestalt an die Erkenntnis seines be-
sonderen Charakters, seiner Grenzen und seiner Voraussetzungen ge-
bunden sind. Wenn es wahr ist, daß die Menschen natürlicherweise zum

24 Siehe meinen Einführenden Essay über die Rhetorik und die Intention des
Werkes zur Kritischen Edition des Discours sur l’inégalité, p. LVIII–LXVIII,
LXXVI–LXXVII.

– 28 –
Philosophieren veranlaßt werden und die Philosophie im beharrlichen
Bemühen, das Ganze fragend zu erschließen, lediglich das zu ihrem Beruf
macht, was aus den Notwendigkeiten der menschlichen Lebensführung
und des menschlichen In-der-Welt-Seins erwächst, so ist nicht weniger
wahr, daß das philosophische Leben auf einer Diskontinuität, auf einer
bewußten Trennung und damit auf einer Wahl beruht, die dieses Leben
von Grund auf bestimmt und die in ihm gegen alle Widerstände festge-
halten wird. Das Bewußtsein der Differenz bleibt ihm daher nicht
äußerlich. Die Erfahrung der Ablösung und des Aufbruchs, die an sei-
nem Beginn steht und eine Zäsur setzt, mögen wir uns am Bild eines
Seefahrers vergegenwärtigen, der sich auf das offene Meer begibt, ohne
zu wissen, ob er jemals wieder festen Boden unter den Füßen haben
wird. Solche und verwandte Erfahrungen, die die Philosophie von einer
Disziplin unterscheiden, die die Verhandlung wissenschaftlicher Pro-
bleme grundsätzlich einem einhegbaren Bezirk der Lebenswirklichkeit
vorbehalten kann, werden in der Politischen Philosophie thematisch, da
in ihr die Wahl, die für die philosophische Lebensweise konstitutiv ist,
und der autoritative Einspruch, gegen den sie sich behaupten muß, zum
zentralen Thema werden.25 Die Einsicht, wie viel die Philosophie als
besondere und bewußte Lebensweise jenem Einspruch zu verdanken
hat, ist nicht der geringste Ertrag an Selbsterkenntnis, den die Politische
Philosophie bereithält.
Ort der Selbsterkenntnis ist die Politische Philosophie darüber hin-
aus in dem Sinne, daß sie den Philosophen nötigt, seine Meinungen,
Überzeugungen und Vorurteile in Dingen der Politik, Moral und Re-
ligion einer genauen Prüfung zu unterwerfen, und ihn so in den Stand
setzt, Distanz zu gewinnen zu dem, was ihm nach seiner Herkunft,
aufgrund seiner Neigungen oder angesichts der vermeintlichen Selbst-
verständlichkeiten seiner Zeit am nächsten liegt. Für den einzelnen
Philosophen gilt dabei um nichts weniger als für die Philosophie im
allgemeinen, daß das Naheliegendste der kritischsten Untersuchung
bedarf. Wenn er sich als Philosoph mit den politischen Dingen aus-

25 Ein großer Theologe hat den Einspruch des Offenbarungsglaubens 1933 in den
Satz gefaßt: «Der Glaube kann die Wahl der philosophischen Existenz nur als einen
Akt der sich selbst begründenden Freiheit des Menschen beurteilen, der seine
Gebundenheit an Gott verleugnet.» Rudolf Bultmann: Theologische Enzyklopädie.
Tübingen 1984, p. 89.

– 29 –
einandersetzt, wird er seine «persönliche Meinung» nicht von der
rückhaltlosen Befragung aussparen. Alles spricht dafür, daß er im
Gegenteil die Wahrheit der Platonischen Politeia bezeugen wird, der
zufolge der Aufstieg der Philosophie bei den politischen Meinungen,
die für den Einzelnen verpflichtend oder bindend sind, seinen Anfang
nimmt und sich als Einsicht in deren Natur oder in deren Grenzen
vollzieht. Die Erfahrung der Trennung und des Aufbruchs, die wir in
das archetypische Bild des Seefahrers gefaßt haben, erhält für den poli-
tischen Philosophen ihre individuelle Ausprägung im Abschiedneh-
men von den nationalistischen Hoffnungen oder den sozialistischen
Träumen seiner Jugend, in der Loslösung von den Ressentiments, die
die Familie oder die Klasse kultivierte, der er entstammt, im Abrücken
von dem Glauben, die Gewalt der Obrigkeit sei eine gottgegebene
Einrichtung oder im liberalen Verfassungsstaat habe die Menschheits-
geschichte ihr Ziel erreicht, und dergleichen mehr. Welches Gewicht
der Politischen Philosophie in Rücksicht auf diesen vierten Sinnge-
halt beizumessen ist, wird augenfällig, wenn man Philosophen näher
betrachtet, die die Wendung zur Politischen Philosophie nicht voll-
zogen haben – die somit in einem präzisen Verstande «Vorsokratiker»
geblieben sind. Heidegger wäre hier zu nennen.26 Die Tagebücher

26 Aufschlußreicher als die vielerörterten Irrtümer und Illusionen, die mit dem
ebenso plötzlichen wie kurzlebigen «Aufbruch» in der Sphäre des Politischen
einhergingen, als Heidegger sich im «geschichtlichen Augenblick» des Jahres 1933
berufen glaubte, politisch handeln zu sollen und «den Führer führen» zu können,
sind die ins Metaphysische gesteigerten Erwartungen an die Politik, die jenem
Handeln zugrunde lagen, und die gläubige Aufladung seiner Philosophie, die sich
nach dem Scheitern der politischen Hoffnungen in der Gegenwart auf ein Ereignis
hin ausrichtete, das den alles entscheidenden Umschwung in der Zukunft ins Werk
setzen würde. (Cf. Beiträge zur Philosophie. Frankfurt/Main 1989, GA 65, p. 11–13,
28, 369–370, 399–400, 411, 412–414.) Die Abwesenheit der Politischen Philosophie
kommt dort besonders deutlich an den Tag, wo Heidegger eine politische Absicht
zu verfolgen scheint und über politische Dinge spricht oder sich einer politischen
Sprache bedient. Siehe dazu das Abendgespräch in einem Kriegsgefangenenlager in
Rußland zwischen einem Jüngeren und einem Älteren, das Heidegger auf den
8. Mai 1945 datiert («Am Tage, da die Welt ihren Sieg feierte und noch nicht
erkannte, daß sie seit Jahrhunderten schon die Besiegte ihres eigenen Aufstandes
ist»), in: Feldweg-Gespräche (1944/45). Frankfurt/Main 1995, GA 77; beachte
einerseits p. 208–209, 215–216, 235–236, 242, 240 und andererseits p. 216–217, 224–
225, 227, 231, 233–234, 237, 244, 240.

– 30 –
von Wittgenstein und Frege bieten gleichfalls einiges Anschauungs-
material.27
Die Wendung zur Politischen Philosophie ist in ihrem Kern eine
Rückwendung und Rückbeziehung der Philosophie auf sich selbst. Die
politische Kritik, die der Philosophie die eigene Fragwürdigkeit entge-
genhält, bewirkt eine Umkehr der ursprünglichen, ersten und nahelie-
gendsten Fragerichtung. Der Widerstand, auf den der Philosoph stößt,
wenn er sich von seinem eros leiten läßt, der Einspruch, mit dem er sich
auseinandersetzen muß, wenn er seiner Natur folgt, bewahrt ihn davor,
sich im fragenden Ausgriff auf die Welt selbst aus dem Auge zu verlie-
ren. Die Antwort, die die Sokratisch-Platonisch-Xenophontische
Wende in Gestalt der Politischen Philosophie auf die Kritik des Ari-
stophanes gibt, bindet die Frage der Philosophie an die Frage nach dem
Guten, die Erkenntnis an die Selbsterkenntnis des Philosophen zurück.
Deshalb vollzieht sich der Platonische Versuch, das Ganze vermittels
der Was ist?-Frage zu artikulieren, im Horizont der Frage Wozu ist es
gut? Die Verbindung beider Fragen stellt den Zusammenhang von phi-
losophischer Forschung und philosophischem Leben im einzelnen her
und bringt die Reflexivität der Philosophie am konkreten Gegenstand
zum Ausdruck,28 wobei die wichtigsten Anwendungen der Was ist?-

27 Ludwig Wittgenstein: Geheime Tagebücher 1914–1916. Wien–Berlin 1991,


p. 21 (12.9.14), 49–50, 70, 71, 72 (27.5.16). Denkbewegungen. Tagebücher 1930–
1932, 1936–1937. Innsbruck 1997, Bd. I, p. 39–40 (65), 43 (75), 51 (95), 54 (102), 75
(160–161), 78 (167), 80 (174), 91 (204), 96 (217–218), 99 (225–226), 101–102 (232–
233). Cf. Vermischte Bemerkungen, in: Werkausgabe. Frankfurt/Main 1989, Bd. 8,
p. 495–496 und 497. – Das «Politische Tagebuch» Freges zeigt uns einen Autor, der
am Ende seines Lebens Hoffnungen, Meinungen und Ressentiments in politicis
zum Ausdruck bringt, die wir bei einem Zeitgenossen seiner Herkunft, Bildung
und sozialen Zugehörigkeit mit einiger Wahrscheinlichkeit so oder so ähnlich
hätten voraussagen können – solange wir, mit anderen Worten, unberücksichtigt
ließen, daß wir es mit einem Philosophen zu tun haben. Gottlob Frege: [Tagebuch]
in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 42, H. 6, 1994, p. 1067–1098; siehe
insbesondere p. 1075, 1078 (3.4.1924), 1080, 1081–1082, 1083 (13.4.1924), 1087
(22.4.1924), 1088–1089, 1091, 1092 (30.4.1924), 1094–1095, 1096–1097. Der letzte
Satz des Tagebuchs lautet: «Ein Leben Jesu, wie es mir vorschwebt, müßte, meine
ich, eine Religion stiftende Wirkung haben, ohne daß das als Absicht hervorträte»
(p. 1098).
28 Seth Benardete weist in seinem Kommentar zu Platons Politikos auf den funda-
mentalen Charakter dieser Reflexivität hin, wenn er schreibt: «Socrates refuses to

– 31 –
Frage die zentralen Gegenstände der Politischen Philosophie be-
treffen.29 Die Verbindung bewährt sich nicht weniger am Begriff der
Politischen Philosophie selbst, und es ist daher kein Zufall, daß unsere
vierfache Bestimmung auf beide Fragen antwortet: Was ist Politische
Philosophie? und Wozu ist sie gut? Sie trägt damit der Sache der Politi-
schen Philosophie Rechnung, für die die übergreifende Bestimmung
der Selbsterkenntnis des Philosophen von konstitutiver Bedeutung ist.
Insofern kann man die Grundstruktur der Politischen Philosophie als
platonisch bezeichnen.30
Die Sache der Politischen Philosophie, die durch die vier skizzierten
Sinngehalte bestimmt wird, erweist sich in der je besonderen Form, in
der sie uns begegnet, als ein in sich bewegtes und bewegliches Ganzes. In
sich bewegt ist sie, da die vier Momente ineinandergreifen und aufeinan-
derwirken. Von einem beweglichen Ganzen können wir sprechen, da das
Gewicht der einzelnen Momente in der jeweiligen Politischen Philoso-
phie variabel ist und deren Ausrichtung im Ganzen demzufolge erhebli-
che Unterschiede zeigt. Die Dynamik, die das Viereck Auseinanderset-
zung mit den politischen Dingen, politische Verteidigung und rationale
Begründung der Philosophie, Selbsterkenntnis bzw. Selbstbefragung des
Philosophen in sich birgt, tritt hinter der Statik der festgefügten und zu-
meist kunstreich verfugten Präsentation der Politischen Philosophie so
weit zurück, daß sie nur allzuleicht aus dem Blick gerät. Als Interpreten
können wir ihr einzig dadurch gerecht zu werden versuchen, daß wir,
von der Ebene der doktrinalen Präsentation ausgehend, zur Intention

separate the way of understanding from what is understood, so that the question
‹What is it?› is always accompanied by the question ‹What good is it?›» The Being
of the Beautiful. Plato’s «Theaetetus», «Sophist», and «Statesman». Chicago 1984,
III, p. 69; cf. Socrates’ Second Sailing, p. 44, 163.
29 Cf. Eine theologische oder eine philosophische Politik der Freundschaft?, p. 170,
179–180, 189; Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer
Theologie und Politischer Philosophie. Stuttgart–Weimar 1994, vierte Auflage 2012,
p. 84–86, 138–140, 299–300 und Das theologisch-politische Problem. Zum Thema
von Leo Strauss. Stuttgart–Weimar 2003, p. 45–47.
30 Daß alle Politische Philosophie im hier präzisierten Verstande platonisch
genannt werden kann, mag Leo Strauss dazu bewogen haben, dem letzten von ihm
konzipierten Buch, das fünfzehn Studien enthält, von denen sich lediglich zwei
unmittelbar mit Platon befassen, den Titel Studies in Platonic Political Philosophy
zu geben.

– 32 –
des Autors zurückfragen, um uns selbst auf die Denkbewegung einzu-
lassen, die sich innerhalb jenes Vierecks vollzog und immer aufs neue
vollzieht.
In der Gewichtung der einzelnen Momente finden die individuellen
Fähigkeiten und Erfahrungen des Philosophen ebenso ihren Nieder-
schlag, wie seine Diagnose der Gegenwart, seine Beurteilung der Lage
der Philosophie und seine Stellung zur philosophischen Tradition in ihr
zur Geltung kommen. So wird etwa in Zeiten massiver politischer Ver-
folgung nicht die rationale Begründung, sondern vernünftigerweise die
politische Verteidigung der Philosophie im Vordergrund der Lehre ste-
hen. Die politische Verteidigung ihrerseits wird sich mit Rücksicht auf
ein – sei es in der Gegenwart wirkliches, sei es in der Zukunft mögli-
ches – wohlgeordnetes Gemeinwesen einer Rhetorik bedienen, die sich
deutlich von der Rhetorik unterscheidet, welche ihr im Hinblick auf
eine im Niedergang begriffene und im hohen Maße kritikwürdige
Gesellschaft angebracht erscheinen mag. Sie wird angesichts mächtiger
Feinde oder starker Vorbehalte gegen die Philosophie anders ausfallen
als dort, wo die Berufung auf die Philosophie zur Mode geworden ist.
Während die Verteidigung im einen Fall den heilsamen politischen Ein-
fluß und den großen gesellschaftlichen Nutzen der Philosophie heraus-
stellen oder wenigstens deren Kompatibilität und Unbedenklichkeit
behaupten wird, wird sie im anderen Fall eher die Gegensätze hervorhe-
ben, die grundsätzlichen Unterscheidungen herausarbeiten und die Be-
gründungsbedürftigkeit der Philosophie betonen, um sie vor Verein-
nahmung, Konturlosigkeit und Verflachung zu schützen.
Entsprechend groß ist die phänomenale Vielgestaltigkeit, deren wir
in der mehr als zweitausendjährigen Geschichte der Politischen Philo-
sophie seit der Sokratischen Wende ansichtig werden. Bei Aristoteles
treffen wir auf den ersten Versuch, den politischen Dingen von seiten
der Philosophie ein selbständiges Wissensgebiet zuzuordnen. Platons
Grundlegung der Politischen Philosophie voraus- und sich zugleich
von ihm absetzend, gliedert er eine lehr- und lernbare Politische Wis-
senschaft aus, die für die Bürger handhabbar ist und mit der er der Philo-
sophie zukünftige Staatsmänner zu Verbündeten gewinnen kann, wobei
die strikte Überordnung des philosophischen Lebens gegenüber dem
politischen Leben zum integralen Bestandteil der politisch-philosophi-
schen Lehre erhoben und gewissermaßen für die Überlieferung positi-
viert wird. Von diesem eminenten Akt einer Politik der Freundschaft

– 33 –
gehen wir mit historischen Siebenmeilenstiefeln zu Machiavellis Unter-
fangen über, die libertas philosophandi auf dem Wege einer radikalen
Politisierung der Philosophie wiederzugewinnen. Auch er versucht,
sich mit einer Praktischen Wissenschaft Verbündete zu erwerben. Die
von ihm angestrebte Allianz mit dem Souverän, dem Fürsten oder dem
Volk, soll über die wirksame Trennung von Politik und Theologie den
Schutz der Philosophie dauerhaft gewährleisten. Die Präsentation sei-
ner Politischen Philosophie ordnet er so konsequent den Erfordernis-
sen der geistigen Kriegsführung unter, daß er in seiner Lehre nicht nur
alle Begriffe, Konzepte und Theoreme der philosophischen Tradition
verwirft oder vermeidet, die dem Widersacher einen Ansatzpunkt bie-
ten oder die zur Verweichlichung der zukünftigen Philosophen beitra-
gen könnten, sondern daß er sogar davon absieht, das Worumwillen des
ganzen Unternehmens, das philosophische Leben selbst, ausdrücklich
zum Thema zu machen. Es wäre indes ein Irrtum, aus der Konzen-
tration auf die Erkenntnis der politischen Dinge und deren politische
Darstellung den Schluß zu ziehen, für die Politische Philosophie
Machiavellis seien die beiden anderen Bestimmungen der Sache ohne
Bedeutung. Ähnliches gilt für die Politischen Philosophien, mit denen
Alfarabi und Maimonides sechs bzw. vier Jahrhunderte vor Machiavelli
auf die Herausforderung der Offenbarungsreligion antworteten. Sie
tragen der veränderten Lage der Philosophie Rechnung, indem sie die
Fundamente des Offenbarungsglaubens in den Vordergrund rücken.
Anknüpfend an die Platonische Politische Philosophie, begreifen sie
das göttliche Gesetz, die Vorsehung und den Propheten als Gegenstände
der Politik. Wenn Alfarabi und Maimonides sich im Hinblick auf die
Gründung der «vollkommenen Stadt» als Gründer und Gesetzgeber die
philosophische Begründung des Gesetzes angelegen sein lassen, verfol-
gen auch sie keineswegs ausschließlich politische Zwecke. Denn die
philosophische Begründung des Gesetzes ist für sie der Ort, an dem sich
die Frage nach dem Recht der philosophischen Lebensweise in aller
Schärfe stellt und an dem mithin die rationale Begründung der Philoso-
phie in Rede steht.
Eine tiefgreifend veränderte Lage ergibt sich für die Philosophie aus
dem historischen Wandel, den das von Machiavelli und seinen Nach-
folgern inaugurierte Bündnis mit dem politischen Souverän zur plan-
mäßigen Eroberung der Natur und zur rationalen Neuordnung der
Gesellschaft bewirkte. Was mit der Emanzipation der Politik von der

– 34 –
Theologie begann, mündet nach der erfolgreichen Freisetzung einer
Welt zunehmender Zweckrationalität und wachsender Prosperität in
einen Zustand, in dem die Forderungen der Politik mit der gleichen
Fraglosigkeit zurückgewiesen werden wie die der Religion. Im Gefolge
eines Unternehmens, das der Befestigung von Frieden und Sicherheit
dienen sollte, kommen der Philosophie die anspruchsvollen Alterna-
tiven abhanden, die zur ernsten Auseinandersetzung nötigen. Ihre Kon-
turen verschwimmen im Vielerlei der bloßen Privatsachen, in dem alles
mit allem kompatibel erscheint. Für die Politische Philosophie stellt
sich daher die Frage, ob der philosophischen Überschreitung, dem phi-
losophischen Aufstieg unter solchen Bedingungen nicht mehr denn je
eine Gegen-Gründung vorauszugehen habe, deren Urheber der Philo-
soph selbst ist, eine Gründung, die den Rang des Politischen neu zum
Bewußtsein bringt, die die Würde des politischen Lebens sichtbar macht
und die die Geeignetsten, indem sie deren Ungenügen an den bestehen-
den Verhältnissen eine andere Richtung gibt, zur Philosophie hinführt.
In diesem Sinne haben etwa Rousseau, Hegel und Nietzsche im 18. und
19. Jahrhundert mit politischen Gegenentwürfen auf einen Prozeß ge-
antwortet, der nach ihrer Diagnose auf die Heraufkunft des «Bour-
geois» oder des «letzten Menschen» zulief, auf das Dominantwerden
einer Existenz, welche sich gegen alle Ansprüche, die aufs Ganze gehen,
verschließt. Im 20. Jahrhundert versucht Strauss, die politischen und
philosophischen Folgen früherer Gegenentwürfe berücksichtigend, die
geschichtlichen Gründungen und die querelles célèbres der Politischen
Philosophie zu «wiederholen», d. h. ihre fundamentalen Prinzipien und
die in ihnen geronnenen Denkerfahrungen so zu exponieren, daß sie in
der Gegenwart neue Aktualität gewinnen und die Aufmerksamkeit
wieder auf die Frage nach dem Einen, was not tut, lenken. Sie war im
Bereichs- und Provinzdenken der vorherrschenden «Kulturphiloso-
phie» so sehr «relativiert» worden, daß diese schließlich auch die Ant-
wort auf die Frage schuldig bleiben mußte: Warum Philosophie?
Sowenig die Philosophie eine Provinz im Reich der Kultur bezeichnet,
sondern ihrem natürlichen Sinne nach eine Lebensweise ist, so wenig
bezeichnet die Politische Philosophie ein Feld im Garten der Philoso-
phie. Sie ist, wie wir gesehen haben, vielmehr eine besondere Wendung,
eine Änderung der Blick- und Fragerichtung, die für die Philosophie
einen Unterschied im Ganzen begründet. Die Politische Philosophie
macht das philosophische Leben in dem Maße reicher und tiefer, in dem

– 35 –
der Zuwachs an Selbsterkenntnis das Leben reicher und tiefer zu ma-
chen vermag. Und sie taucht es insgesamt in ein anderes Licht. Wir kön-
nen uns dies an einer der berühmtesten Beschreibungen philosophischer
Selbstgenügsamkeit und philosophischen Glücks vergegenwärtigen, die
uns ein politischer Philosoph hinterlassen hat. Ich spreche von der Cin-
quième promenade in Rousseaus Les rêveries du Promeneur Solitaire.
Auf den ersten Blick scheint der Philosoph, der seinen «einsamen Träu-
mereien» nachgeht, während er sich in einem Kahn ausgestreckt vom
Wasser treiben läßt, am Gestade des Bieler Sees das Hin und Her der
Wellen betrachtet und am Ufer eines schönen Flusses oder eines Baches
ziellosem Geplätscher lauscht, nicht weniger weit von jedem Gedanken
an eine Politische Philosophie entfernt zu sein als der vorsokratische
Sokrates des Aristophanes hoch droben in seinem Hängekorb. Auch
wenn wir uns daran erinnern, daß im Falle von Platons und Xenophons
Sokrates der Bürger von Athen den Philosophen keineswegs absorbiert,
daß der neue Sokrates sein Studium der Natur nicht aufgibt und daß
Xenophon uns bei passender Gelegenheit einen Sokrates zu Gesicht
bringt, der alleine tanzt und sich selbst genug ist,31 auch wenn wir alles
das berücksichtigen, nimmt sich der Kontrast zwischen dem Bürger
von Genf, der zur Tugend aufruft und den Weg zu einem wohlgeordne-
ten Gemeinwesen weist, und dem Philosophen, dem wir in der Einsam-
keit seiner müßigen Spaziergänge begegnen, zunächst staunenswert
groß aus. Hat der législateur Rousseau in der Ausarbeitung seiner
Politischen Theorie wie der Verfassungsentwürfe für Republiken seiner
Zeit, um die man ihn bat, alles dazu getan, das politische Leben zu
erhöhen, so schildert der promeneur Jean-Jacques die Wonnen einer
privaten, zurückgezogenen, solitären Existenz, und er preist das Ver-
gnügen, das es ihm bereitet hätte, sich bis ans Ende seiner Tage botani-
sierend mit der Niederschrift einer Flora petrinsularis zu befassen. Das
vollkommene Glück, zu dem er in seinen «rêveries solitaires» gelangte,
beschreibt Rousseau als Zustand anhaltender, erfüllter, zeitloser Gegen-
wart, in dem die Seele eine hinlänglich feste Grundlage findet, auf die sie
sich ganz stützen und auf der sie ihr ganzes Sein sammeln kann. «Was
genießt man in einer solchen Situation?» fragt Rousseau. «Nichts, das
einem äußerlich ist, nichts außer sich selbst und seiner eigenen Existenz,

31 Xenophon: Symposion II, 19.

– 36 –
solange dieser Zustand dauert, genügt man sich selbst, wie Gott.»32 Im
selben Atemzug aber setzt Rousseau hinzu, daß dieser Zustand den
«meisten Menschen» nicht nur «wenig» bekannt sei, sondern daß er «in
der gegenwärtigen Verfassung der Dinge» für sie «nicht einmal gut
wäre», da er ihnen das «tätige Leben» verleidete. Rousseau hingegen
bietet er «Entschädigungen» für die Verfolgung, die er erlitt und die ihn
an abgeschiedene Orte wie die St. Petersinsel verschlug. So wie Rousseau
sich bei der Beschäftigung mit den politischen Dingen selbst im Auge
behält,33 so läßt er, wenn er auf sein höchstes Glück hinweist, keinen
Moment unbesonnen die politischen Bezüge außer acht. Und welche
Bedeutung die Philosophie für Rousseaus «bonheur suffisant, parfait et
plein» hat, worin seine Seele ihre «hinlänglich feste Grundlage» findet,
wird sich niemandem erschließen, der bei der poetischen Präsentation
der Cinquième promenade stehenbleibt und sich nicht aufmacht, das
Argument im einzelnen zu verfolgen, das Rousseau auf seinen Spazier-
gängen davor und danach entfaltet. Denn die Rêveries, über denen
Rousseau gestorben ist, erweisen sich bei genauerem Hinsehen als ein
Meisterwerk Politischer Philosophie. Die Verteidigung der Philoso-
phie, die Auseinandersetzung mit der anspruchsvollsten Alternative
und die Selbsterkenntnis des Philosophen sind in ihm in besonderer
Weise, Philosophen und Nichtphilosophen bezaubernd, zu einer Ein-
heit verbunden. Seines Ranges sind nur wenige.

32 Rousseau: Les rêveries du Promeneur Solitaire V, OCP I, p. 1043, 1045, 1046–


1047. Dazu jetzt eingehend: Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen
zu Rousseaus «Rêveries» in zwei Büchern. München 2011, insbes. Erstes Buch,
Kapitel IV.
33 Siehe das abschließende Kapitel von Du contrat social (IV, 9; OCP III, p. 470),
das Hilail Gildin trefflich kommentiert hat: Rousseau’s «Social Contract». The
Design of the Argument. Chicago 1983, p. 190–191. Das erste Wort des Contrat
social ist Je, das letzte moi.

– 37 –
II
Die Erneuerung der Philosophie
und die Herausforderung der Offenbarungsreligion
Zur Intention von Leo Strauss’
Thoughts on Machiavelli
Zwei so grundverschiedene Menschen,
wie Plato und Aristoteles, kamen in
dem überein, was das höchste Glück
ausmache, nicht nur für sie oder für
Menschen, sondern an sich, selbst für
Götter der letzten Seligkeiten: Sie fanden
es im Erkennen … Ähnlich urteilten
Descartes und Spinoza.

Friedrich Nietzsche: Morgenröthe


***

Thoughts on Machiavelli nimmt im Œuvre von Leo Strauss eine Sonder-


stellung ein. Es ist das einzige Buch, für das Strauss einen Titel wählt,
mit dem er auf sich, auf seine eigene Aktivität und, insofern das Denken
die zentrale Aktivität im Leben des Philosophen bezeichnet, auf das
Zentrum seines Lebens verweist. Zugleich ist es das Buch, in dem Strauss
sich am eingehendsten mit der Offenbarungsreligion auseinandersetzt.
Wiederum gibt der Titel wichtige Hinweise. Er lädt zum Vergleich mit
dem berühmtesten Titel ein, der Gedanken eines Autors angekündigt
hatte. Sie betrafen die Religion. Strauss stellt uns indes weder Thoughts
on Religion in Aussicht, noch läßt er es bei Thoughts ohne weitere An-
gabe bewenden. Er wird seine Gedanken über die Religion mitteilen,
indem er über Machiavelli spricht. Er wird seine Auseinandersetzung
mit der Offenbarungsreligion im Gewand einer Auslegung des Denkens
vortragen, das das Leben eines Früheren bestimmte. Dabei wird er
genötigt sein, als Kommentator und als Kritiker einem Übelbeleu-
mundeten seine Stimme zu leihen.1 In Thoughts on Machiavelli haben
wir anders als in Pascals Pensées nicht ein Konvolut disparater Notate
vor uns, sondern einen durch Kommentar und Kritik gesicherten und
mit größter Sorgfalt geschriebenen theologisch-politischen Traktat.
Strauss tritt in Thoughts on Machiavelli wie in beinahe allen seinen

1 Unter den Kunstgriffen, deren sich ein Meister in der Kunst des sorgfältigen
Schreibens bedient, führt Strauss im ersten Kapitel an: «An author may reveal his
intention by the titles of his books.» Eine Aussage, die für Machiavelli offenkundig
nicht einschlägig ist, da Strauss fortfährt: «The titles of Machiavelli’s two books [Il
Principe und Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio] are most unrevealing in this
respect.» Anders steht es mit dem Buch, in dem der Autor diesen  – neben
ungezählten anderen – selbstbezüglichen Hinweis gibt. Thoughts on Machiavelli.
Glencoe, Ill. 1958; zweite Auflage, Seattle und London 1969 (die letzte von Strauss
durchgesehene Auflage, in der einige Druckfehler und Versehen korrigiert wurden,
ist seitenidentisch mit der Erstausgabe), I, 27 (37). Ich zitiere nach Kapitel (I, II, III,
IV bzw. Preface, Introduction) und Absatz; Seitenzahlen stehen in Klammern.

– 41 –
Schriften in der Persona des traditionellen Interpreten auf. Doch schon
die erste Erwähnung Machiavellis außerhalb des Titels macht deutlich,
daß hier ein Philosoph spricht und daß seine Interpretation einen ganz
und gar nichttraditionellen Machiavelli ins Auge faßt. Strauss bekundet
im Vorwort, dem Veranstalter der Vorlesungsreihe an der University of
Chicago vom Herbst 1953, aus der das Buch hervorging, dankbar zu
sein «for giving me the opportunity to present my observations and
reflections on the problem of Machiavelli».2 Strauss setzt in Thoughts
on Machiavelli das Problem des Machiavelli auf die philosophische
Agenda, auf die ein Menschenalter zuvor Nietzsche in Götzen-Däm-
merung das Problem des Sokrates gesetzt hatte. Indem er Machiavelli
zu einem Problem erklärt, zeichnet er ihn aus, wie er in seinen Schriften
sonst nur Sokrates auszeichnet.3 Er erhebt ihn zu einer geschichtlichen
Schlüsselfigur, die angemessen zu verstehen eine Aufgabe von philoso-
phischer Bedeutung ist. Tatsächlich läßt er sich in Thoughts on Machia-
velli auf das Denken von Machiavelli ein, wie keiner, der vor ihm über
Machiavelli schrieb, sich auf dessen Denken einließ. Und er spricht von
ihm, wie noch nie von Machiavelli gesprochen worden war. Strauss
nimmt Machiavelli als Philosophen ernst. Das begründet den Ausnah-
mecharakter seines Buches unter allen Büchern über Machiavelli. Und
Strauss ist der erste Philosoph, der Machiavelli nicht nur als Philoso-
phen liest, sondern der Machiavelli als Philosophen bezeichnet.4 Darin
liegt eine Neuerung, die, wie niemand besser wußte als Strauss, über
sein eigenes Œuvre hinaus Gewicht hat.

2 Preface, 2 (5). – Im Vorwort zu Natural Right and History (Chicago 1953) lautete
die entsprechende Stelle des im übrigen exakt wortgleichen Dankes an denselben
Veranstalter: «for inducing me to present coherently my observations on the
problem of natural right» (p. VIII). Niemand brauchte Strauss zu veranlassen, seine
«Beobachtungen und Reflexionen zum Problem des Machiavelli» vorzulegen. Die
reflections stehen ein für die thoughts im Titel des Buches. Strauss’ Gedanken über
die Religion haben Eingang gefunden in seine Reflexionen zu Machiavelli und
kommen in ihnen zum Ausdruck.  – Daß ein unkonventioneller Autor ein
konventionelles Genre, sei es eine Widmung, sei es den Dank an einen Veranstalter,
für seine Zwecke zu nutzen weiß, auch darauf macht Strauss den Leser im ersten
Kapitel aufmerksam: «… if not everyone, certainly an uncommon man is free to
invest a common practice with an uncommon significance» I, 8 (20).
3 Socrates and Aristophanes. New York 1966, p. 6.
4 Introduction, 2 (10); III, 30 (127); III, 59 (173); IV, 84 (294).

– 42 –
Thoughts on Machiavelli ist das Werk eines Neuerers. Es ist Teil von
Strauss’ Unternehmen der Erneuerung der Philosophie. Es ist, genauer
gesagt, einer der exponiertesten Teile dieses Unternehmens, dem
Strauss bevorzugt das Ansehen einer Wiederbelebung der philosophi-
schen Tradition gegeben hat. Nicht von ungefähr stimmen seine An-
hänger und seine Gegner zumeist in der Meinung überein, es sei Strauss
um die Rückkehr zur «Lehre der Alten» zu tun gewesen oder um die
Wiederherstellung einer Position, für die er selbst den Ausdruck classi-
cal political philosophy prägte. Aber die Wiederbelebung einer Tra-
dition durch einen Philosophen schließt notwendig eine Kritik der
Tradition ein, die solcher Wiederbelebung bedarf. Was er im einzelnen
wiederherstellt und was er beiseite läßt, gehorcht seiner Einsicht. Die
Abweichungen in der Präsentation und die konzeptionellen Neuerun-
gen, die er vornimmt, verdanken sich dem Urteil, zu dem er in Rück-
sicht auf die historische Situation der Philosophie gelangt. Bei einem
erklärten Fürsprecher der Tradition geraten die Abweichungen und
Neuerungen leicht aus dem Blick. Im Falle von Strauss gilt das selbst
für die Innovationen, ohne die sein Unternehmen gar nicht zu denken
wäre. Ich erwähne drei Aspekte, die Strauss während der 1940er Jahre
in rascher Folge herausstellt und die für alles weitere von erheblicher
Bedeutung sein werden. (1) Als erster Philosoph gibt Strauss eine kohä-
rente Darstellung der Kunst des sorgfältigen Schreibens, deren sich die
Philosophen der Vergangenheit bedienten, und eine philosophische
Begründung der exoterisch-esoterischen Präsentation, die seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts zusehends in Vergessenheit geraten war.5 (2)
Kein Philosoph vor Strauss hat mit ähnlichem Nachdruck betont, daß
die Philosophie als Lebensweise zu begreifen ist, und wenige haben das

5 Persecution and the Art of Writing, Social Research, 8:4 (November 1941), p. 488–
504. (Strauss schrieb den Text in der Zeit vom 10.–25. November 1940. Er geht auf
Vorträge zurück, die Strauss im Oktober und Dezember 1939 sowie im Februar,
März und April 1940 gehalten hatte.) Veränderter Wiederabdruck in Persecution
and the Art of Writing. Glencoe, Ill. 1952, p. 22–37. Die früheste Veröffentlichung,
in der Strauss die Unterscheidung von esoterischer und exoterischer Mitteilung
zum Gegenstand einer Fallstudie machte und den Zusammenhang von art of
writing und persecution erläuterte, war Xenophons Verfassung der Lakedämonier
gewidmet: The Spirit of Sparta or the Taste of Xenophon, Social Research, 6:4
(November 1939), p. 502–536 (geschrieben in der Zeit vom 14. Januar–7.  April
1939); siehe insbes. p. 528–532 und 534–535.

– 43 –
philosophische Leben so scharf gefaßt und es gegen erbauliche Ver-
harmlosungen oder fromme Vereinnahmungen abgegrenzt, wie Strauss
das in ebendem Essay tut, in dem er den Begriff zum erstenmal zur
Geltung bringt.6 (3) In engstem Zusammenhang mit dem Begriff des
philosophischen Lebens steht der Begriff der Politischen Philosophie,
der in der Tradition beinahe nicht anzutreffen war und den Strauss zum
veritablen Leitbegriff seines Œuvre macht. Abermals nimmt der Essay,
in dem Strauss den Begriff einführt, die schärfste, die philosophisch an-
spruchsvollste und die alle nichtphilosophischen Aneignungen am
deutlichsten abweisende Bestimmung vor. Die notwendige Verschrän-
kung der beiden Begriffe zeigt Strauss an, wenn er den ersten Teil des
Aufsatzes in der Aussage kulminieren läßt, daß der höchste Gegen-
stand der Politischen Philosophie das philosophische Leben ist, und
wenn er der Politischen Philosophie im zweiten Teil die Aufgabe der
politischen Verteidigung und der rationalen Begründung der Philoso-
phie, mithin die Beantwortung der Frage Warum Philosophie? über-
trägt.7 Alle drei Neuerungen, das Prominentmachen der exoterisch-

6 The Law of Reason in the «Kuzari», Proceedings of the American Academy for
Jewish Research, 13 (1943), p. 47–96 (geschrieben «December 1941–August 1942 –
with many long interruptions»), wiederabgedruckt in Persecution and the Art of
Writing, p. 95–141. Strauss verwendet den Begriff the philosophic life darin sechsmal:
Abs. 11, 20, 24 note 77, 29, 43 (zweimal), p. 106, 117, 121, 126, 138. Schon in The
Spirit of Sparta or the Taste of Xenophon hatte Strauss dreimal – noch ohne den
Gebrauch des bestimmten Artikels  – von philosophic life gesprochen (Abs. 34,
p. 531–532). Aber erst in The Law of Reason, einem seiner intransigentesten und am
radikalsten ansetzenden Essays, führt er das philosophische Leben als philo-
sophischen Begriff im anspruchsvollen Sinn ein und bringt er die Charakteri-
sierung, die der Aufsatz von 1939 in drei Annäherungen umrissen hatte  – das
philosophische Leben sei fundamentally different from political life, es sei of
necessity private, und es impliziere the denial of the gods of the city –, durch präzise
Bestimmungen zur Entfaltung. Zu Strauss’ Versuch, einem dogmatischen
Mißbrauch des Begriffs in der Zukunft vorzubauen und der Verwirrung mit einer
Lebensweise beizeiten entgegenzuwirken, der der Status einer anderen oder neuen
Religion beigelegt wird, beachte p. 117.
7 On Classical Political Philosophy, Social Research, 12:1 (Februar 1945), p. 98–117,
veränderter Wiederabdruck in What Is Political Philosophy? And Other Studies.
Glencoe, Ill. 1959, p. 78–94. Der erste Teil des Aufsatzes, Absätze 2–31 der
endgültigen Fassung, entwickelt den Begriff der Politischen Philosophie aus einer
Hermeneutik des politischen Lebens und versucht, das Erfordernis der Politischen
Philosophie aus der Perspektive des Bürgers darzutun. Der zweite Teil, Absätze

– 44 –
esoterischen Unterscheidung, das Inszentrumrücken des philosophi-
schen Lebens und die Einführung des Begriffs Politische Philosophie,
tragen der geschichtlichen Lage der Philosophie Rechnung. Strauss
antwortet auf die Herausforderung des Historismus, der die Philoso-
phie mit der Zeitgebundenheit ihrer Lehren in eins setzt und die philo-
sophische Aktivität in den doktrinalen Gehalten aufgehen läßt, denen
sie vorausliegt. Er begegnet der Gefahr des Dezisionismus und des
Irrationalismus, die in die Philosophie Einzug gehalten haben und
leugnen oder verkennen, daß die Philosophie ihr Recht und ihre Not-
wendigkeit begründen muß, wenn sie sich selbst genügen will. Er tritt
der Kleinmütigkeit der Kulturphilosophie entgegen, die das menschli-
che Leben in eine Mehrzahl autonomer Gebiete parzelliert und der
Philosophie ein engumgrenztes Feld im Reich der schiedlich-friedlich
miteinander koexistierenden Kulturprovinzen zuweist. Strauss demon-
striert die Fruchtbarkeit seiner Neuerungen in einer langen Reihe ein-
dringlicher Untersuchungen, in denen er die Geschichte der Philoso-
phie und deren nicht erledigte Streitsachen von Heidegger bis zu den
Vorsokratikern einer Revision unterzieht. Insbesondere aber exem-
plifiziert er sie an drei Autoren, die er durch seine Interpretation aller-
erst für die Philosophie gewinnt oder in die Geschichte der Philoso-
phie zurückholt, an je einem Philosophen des Mittelalters, der Antike
und der Moderne: Zunächst an Maimonides,8 den Strauss in seinem
Erstlingsbuch noch nicht als Philosophen erkannt hatte.9 Dann an

32–36, zeigt die Notwendigkeit der Wendung zur Politischen Philosophie aus
Gründen der Philosophie und entfaltet den Begriff aus der Perspektive des
Philosophen.
8 The Literary Character of the «Guide for the Perplexed», in: Salo Wittmayer
Baron (Ed.): Essays on Maimonides. New York 1941, p. 37–91, wiederabgedruckt in
Persecution and the Art of Writing, p. 38–94. Der Essay wurde von Strauss 1938
ausgearbeitet. Vorangegangen waren mehrere vorbereitende Studien  – darunter
Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vorläufer.
Berlin 1935, und Quelques remarques sur la science politique de Maïmonide et de
Fârâbî von 1936 –, die in Bd. 2 der Gesammelten Schriften. Stuttgart–Weimar 1997,
zusammengetragen sind.
9 Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Unter-
suchungen zu Spinozas Theologisch-politischem Traktat. Berlin 1930, wiederab-
gedruckt in Bd. 1 der Gesammelten Schriften. Stuttgart–Weimar 1996, p. 208, 238,
254. Cf. Vorwort des Herausgebers in Gesammelte Schriften, Bd. 2, p. XXII–XXV.

– 45 –
Xenophon,10 den seit dem 18. Jahrhundert kaum mehr jemand als Phi-
losophen wahrnahm. Und endlich an Machiavelli.
Die Aufmerksamkeit auf Philosophen zu lenken, die als Philosophen
zuvor nicht begriffen wurden oder die in der Tradition lange ein Schat-
tendasein fristeten, ist ein probater Zug für einen Philosophen, um die
Stoßrichtung seines Unternehmens der Erneuerung der Philosophie an-
zuzeigen und dessen Konturen plastisch hervortreten zu lassen. Um-
gekehrt erhalten die derart herausgestellten Philosophen ein solches
Gewicht für das Unternehmen selbst, daß die Frage, inwiefern sie des-
sen grundlegenden Bestimmungen entsprechen, zu einer mehr als nur
historischen Frage wird. Wenn Strauss Machiavelli einen Philosophen
nennt, stellt er Anforderungen an Machiavellis Denken, an Machiavellis
Selbstverständnis und an Machiavellis eigenes Unternehmen, deren
Einlösung ein zentraler Gegenstand seines Buches sein muß. Wie ver-
hält sich Machiavellis Unternehmen zur politischen Verteidigung und
zur rationalen Begründung der Philosophie? Welchen Status hat das
philosophische Leben im Denken Machiavellis? Wie steht es um Ma-
chiavellis Kunst des sorgfältigen Schreibens? Die Fragen, zu denen das
Œuvre von Strauss Anlaß gibt, weisen den Weg zur Intention, die
Strauss bestimmte, das Problem des Machiavelli auf die philosophische
Agenda zu setzen. Und der Zugang zu einem angemessenen Verständ-
nis des Problems führt über die Intention von Thoughts on Machiavelli.

10 The Spirit of Sparta or the Taste of Xenophon von 1939 und On Tyranny. An
Interpretation of Xenophon’s «Hiero». New York 1948. Es handelt sich jeweils um
den ersten Aufsatz und um das erste Buch von Strauss zum Werk eines Philosophen
der Antike überhaupt.

– 46 –
I

Die Antwort auf die Frage nach der Kunst des sorgfältigen Schrei-
bens scheint im Falle Machiavellis auf der Hand zu liegen. Welcher
Leser von Thoughts on Machiavelli könnte übersehen, daß Strauss
Machiavelli als Meister in der Kunst des Schreibens vorstellt? Aber zu
welchem Zweck Machiavelli diese Kunst aufbot, liegt keineswegs auf
der Hand. Stand sie ganz im Dienst von Machiavellis «spiritual
warfare»?11 Erschöpfte sie sich in einer politischen List und einer
strategisch ausgerichteten Praxis zur planmäßigen Eroberung und
schließlichen Umschaffung der Welt? Oder sind auch der Principe
und die Discorsi «written speeches caused by love»?12 Anders gefragt:
Wer ist jener vorzügliche Adressat von Machiavellis Büchern, den
Strauss mit the young umschreibt und durch die einheitliche Benen-
nung als Einen auszugeben scheint? Denn während die Philosophen,
die sich vor und nach Machiavelli der Kunst des sorgfältigen Schrei-
bens bedienen, mit ihrer esoterischen Mitteilung Einen Adressaten,
«die Jungen» im Sinne der potentiellen Philosophen, zu erreichen
suchen, stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, daß der vermeint-
lich Eine Adressat Machiavellis tatsächlich zwei Adressaten umfaßt.13
Machiavellis exoterisch-esoterische Präsentation richtet sich dem-
nach nicht an zwei, einen exoterischen und einen esoterischen, son-
dern wenigstens an drei unterschiedliche Adressaten. Der zweifache
Adressat von Machiavellis esoterischer Ansprache mag der Grund
sein, weshalb Strauss in Thoughts on Machiavelli, in dem die Kunst
des Schreibens eine größere Rolle spielt als in irgendeinem seiner an-
deren Bücher, nirgendwo von der exoterisch-esoterischen Unterschei-

11 Cf. I, 24 (35); III, 14 (102); III, 36 (138); III, 58 (171–172); IV, 43 (231); IV, 84 (293);
IV, 87 (298–299).
12 Persecution and the Art of Writing, p. 36.
13 I, 37 (53); III, 16 (105); III, 29 (126–127); III, 56 (168–169) und siehe III, 56 (170);
beachte I, 35 (50); II, 20 (77); II, 24 (81–82); IV, 81 (290) und siehe IV, 45 (233).

– 47 –
dung spricht.14 Die ostentative Vermeidung der traditionellen Rede
von exoterisch und esoterisch weist auf Machiavellis Abweichung von
der traditionellen Praxis des sorgfältigen Schreibens hin, die Strauss an
keiner Stelle ausdrücklich macht, eine Ambiguität, die für das Ver-
ständnis von Thoughts on Machiavelli indes von denkbar weitreichen-
der Bedeutung ist.
Das Nichtausdrücklichmachen des zweifachen Adressaten, der sich
in the young verbirgt, ist um so bemerkenswerter, als Strauss twofold-
ness zum Schlüsselwort seiner Auslegung Machiavellis und zum Struk-
turprinzip der Anlage seines theologisch-politischen Traktats macht.
Das Inundauseinander von Zweiheit und Zweiteilung, von Dualität
und Doppelung, bestimmt den Aufbau und die Ausrichtung des gan-
zen Buches. Angefangen bei der Dualität von Machiavellis thought und
teaching, die von der Einleitung an sorgsam unterschieden werden;15
über die programmatische Exposition des zweifachen Charakters von
Machiavellis teaching in Kapitel I; die Doppelung von Machiavellis
intention in den beiden zentralen Kapiteln II und III; und die zweifache
Verhandlung von Machiavellis teaching, die die Überschriften der Kapi-
tel I und IV anzeigen; bis zur Dualität von Strauss’ thought und teach-
ing, die für Thoughts on Machiavelli konstitutiv ist und sich in dem
Spannungsbogen entfaltet, den der Titel und der Schluß des Buches
markieren. Das erste Kapitel, das ausdrücklich mit der zweifachen Prä-

14 «The silence of a wise man is always meaningful. It cannot be explained by


forgetfulness» I, 18 (30). In einer der Überschriften, mit denen Strauss die Absätze
des Buches im Manuskript für sich versah, scheint «exoteric» auf (II, 18: «exoteric
character of the particular counsel in ch. 24 [of the Prince]»), in einer anderen ist
von «esotericism» die Rede (IV, 1: «Captatio benevolentiae for myself and for M. –
esotericism and philosophy»). Eine Anmerkung zu Kapitel I verweist den Leser an
Persecution and the Art of Writing (note 50, p. 304).
15 Machiavellis thought kommt in der Einleitung siebenmal, Machiavellis teaching
viermal vor: Introduction, 4 (10–11); 8 (12); 9 (13); 10 (14); 7 (12); 9 (13); 12 (14). Der
Aufstieg des ersten Teils der Einleitung (Abs. 1–9) führt von «the old-fashioned and
simple opinion according to which Machiavelli was a teacher of evil» (Abs. 1, erster
Satz) zum Ausblick auf das, was nach Strauss’ Urteil «is truly admirable in
Machiavelli: the intrepidity of his thought, the grandeur of his vision, and the
graceful subtlety of his speech», und im selben Atemzug zur Bezeichnung des Ziels,
das Strauss mit seiner Auslegung ins Auge faßt: «Not the contempt for the simple
opinion, nor the disregard of it, but the considerate ascent from it leads to the core
of Machiavelli’s thought» (Abs. 9, meine Hervorhebung).

– 48 –
sentation von Machiavellis Lehre befaßt und Machiavellis Kunst des
Schreibens gewidmet ist, besteht aus zwei Teilen. Während der zweite
Teil eine Antwort auf die hermeneutische Frage gibt, wie Machiavelli zu
lesen sei, und in der Erläuterung von zehn Kunstgriffen kulminiert, die
der Leser des Principe und der Discorsi zu beachten hat – Kunstgriffe,
die auch in Thoughts on Machiavelli zur Anwendung kommen –,16 er-
weist der erste Teil die hermeneutische als die eigentlich philosophische
Frage. Er exemplifiziert am Problem, das die «Oberfläche» von Machia-
vellis Œuvre birgt, die Reichweite des Satzes, mit dem der erste Teil der
Einleitung schließt: «The problem inherent in the surface of things, and
only in the surface of things, is the heart of things.»17 Strauss beginnt bei
einem Problem, das so offen zutage liegt, daß es keinem Interpreten Ma-
chiavellis verborgen bleiben konnte, bei dem schwierigen Verhältnis
von Principe und Discorsi. Im Unterschied zu den meisten Interpreten,
die die Frage, wie die beiden Bücher miteinander übereinzubringen
seien, durch historische Konstruktionen oder durch eine Hierarchisie-
rung, die auf Machiavellis politische Überzeugung abstellt, aufzulösen
suchen, verschärft Strauss das Problem der zweifachen Präsentation,
indem er als erster das Argument aufbietet, Machiavelli habe in den
Widmungsbriefen beider Bücher geltend gemacht, daß jedes von ihnen
alles enthalte, was der Autor weiß. Wenn Machiavelli sowohl für den
Principe als auch für die Discorsi einen umfassenden Anspruch erhebt,
nötigt die «Oberfläche» des einen wie des anderen Werkes den Leser,
die Frage nach der Intention zu stellen, die beiden zugrunde liegt und in
keinem von beiden aufgeht. Wenn die Frage nach der Intention, die
Machiavelli bewog, seine Lehre in zweifacher Gestalt zu präsentieren,

16 Der erste Teil von Kapitel I umfaßt die Absätze 1–16, der zweite die Absätze
17–37. Zu den Kunstgriffen, auf die Strauss aufmerksam macht, cf. Anm. 1, 14, 25,
29, 65, 74, 110, 146, 150.
17 Introduction, 9 (13); beachte IV, 47 (237). Der sachliche Zusammenhang
zwischen dem ersten Sinngehalt des Satzes – den Leser darauf hinzuweisen, daß die
Natur der Dinge in den Meinungen über die Dinge artikuliert und nicht anders denn
im Ausgang von dem, was für uns zuerst ist, zugänglich wird – und der Anwendung
auf den literarischen Charakter philosophischer Werke besteht darin, daß die Kunst
des sorgfältigen Schreibens es dem Leser ermöglicht, in der Auseinandersetzung mit
dem philosophischen Werk als einem artikulierten Ganzen ebendie Erfahrungen im
Denken, Verstehen und Erkennen zu machen, die für die Auseinandersetzung mit
dem Ganzen maßgebend sind, das keiner Absicht gehorcht.

– 49 –
aber im Ernst gestellt wird, rückt Machiavellis Denken ins Zentrum.
Strauss’ Wahl des Ausgangspunkts steht im Dienst seiner Annäherung
an das, «was in Machiavelli wahrhaft bewundernswert ist». Dasselbe
gilt umgekehrt für die Absage an die geläufige Praxis, Machiavellis Sicht
mit der Perspektive des Principe oder der Discorsi gleichzusetzen. Die
voreilige Identifizierung Machiavellis mit einer der beiden Perspekti-
ven – seit geraumer Zeit zumeist mit der der «republikanischen» Dis-
corsi – reduziert den Florentiner auf einen politischen Parteigänger oder
Doktrinär.18 Die inadäquate Hermeneutik verwehrt den Zugang zum
Philosophen Machiavelli, den Strauss’ Insistieren auf dem zweifachen
Charakter seiner Lehre von Anfang an im Blick hat.
Aus dem Befund von Kapitel I «The Twofold Character of Machia-
velli’s Teaching»19 ergibt sich der Aufbau von Thoughts on Machiavelli.
Da Machiavelli seine Lehre nicht als ein Ganzes, sondern in Teilen vor-
legte, die, jeder für sich, ein Ganzes zu sein beanspruchen, kann Machia-
vellis Lehre nur vermöge einer eingehenden Untersuchung dieser Teile
erreicht werden, die Machiavellis Kunst des Schreibens als Werke mit je
eigener Zwecksetzung und besonderer «Oberfläche» hervorbrachte.
Die eingehende Untersuchung verlangt den Rückgang auf die Intention
des Autors als das organisierende Prinzip, das das Werk zu einem selb-
ständigen Ganzen macht. Entsprechend lauten die Überschriften der
Kapitel II und III «Machiavelli’s Intention: The Prince» und «Machia-
velli’s Intention: The Discourses». Erst das zweifache Eingehen auf die
Intention, die den Principe, und auf die Intention, die die Discorsi be-
stimmt, erlaubt es Strauss, zu der Intention vorzudringen, die beiden
Werken zugrunde liegt. Erst der Nachweis, daß er Machiavellis zwei-
facher Lehre in der Auslegung von Principe und Discorsi gerecht zu
werden weiß, gibt Strauss die Befugnis, d. h. die notwendigen Mittel,
um in Kapitel  IV «Machiavelli’s Teaching» vorzulegen und damit zu
tun, was Machiavelli selbst nicht tat. Machiavellis Lehre entsteht in

18 «We are compelled to raise the question as to whether Machiavelli’s perspective


is identical with that of the Prince or with that of the Discourses or whether it is
different from both perspectives. Under no circumstances are we permitted dog-
matically to assume, as most contemporary students do, that Machiavelli’s point of
view is identical with that of the Discourses as distinguished from that of the Prince»
I, 16 (29), meine Hervorhebung.
19 Strauss hatte im Manuskript zunächst vom «dual character» gesprochen und
dann dual durch twofold ersetzt.

– 50 –
Strauss’ Denken, das vom Problem der Oberfläche zum Kern der Lehre
fortschreitet. In gegenläufiger Richtung, von der Lehre zur Intention
und von der Intention zur Lehre, trifft die Denkbewegung von Strauss
auf die Denkbewegung von Machiavelli.20 Strauss denkt Machiavelli,
indem er sein Denken den Erfordernissen aussetzt, denen es genügen
muß, wenn es der Sache entsprechen soll, auf die Machiavellis Intention
gerichtet ist. Die gemeinsame Sache des Denkens ist der Ermögli-
chungsgrund für Strauss’ Präsentation von Machiavellis Lehre. Aber es
ist Strauss, der Machiavellis Lehre präsentiert, und er läßt sich dabei
ebenso von seiner Intention bestimmen, wie Machiavelli sich bei der
zweifachen Präsentation von der seinigen bestimmen ließ. Nachdem
Strauss in den Kapiteln II und III Machiavellis Plan erörtert hat, dem
der Principe und die Discorsi jeweils folgen, folgt er in Kapitel IV seinem
eigenen Plan. Die Darstellung und Einordnung, die das mit Abstand
längste Kapitel des Buches von «Machiavelli’s Teaching» gibt, gehorcht
den Zwecken von Strauss’ Thoughts.
Der zweifache Charakter von Machiavellis Lehre erschöpft sich nicht
in der zweifachen Präsentation von Principe und Discorsi. Anders als
Machiavellis Aussagen in den Widmungsbriefen oder Strauss’ Erklä-
rungen in Kapitel I nahelegen, ist nicht einmal klar, ob die beiden Bü-
cher ausreichen, um Machiavellis Lehre im ganzen zu konstruieren. Mit
den Eröffnungsworten von Kapitel I «Machiavelli presented his politi-
cal teaching in two books» macht Strauss subtil auf die Frage aufmerk-

20 Zu den philosophischen Implikationen von Strauss’ Hermeneutik siehe Die


Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philosophie und die Intention
des Philosophen. Stuttgart–Weimar 1996, p. 41–43. Thoughts on Machiavelli ist das
einzige Buch von Strauss, das die Intention eines Philosophen ausdrücklich zum
Gegenstand eines Kapitels macht, und es tut dies zweifach. Strauss verwendet den
Ausdruck movement of thought bzw. movement of fundamental thought dreimal:
IV, 30 (213); IV, 36 (223); IV, 75 (278). Er hatte ihn bereits in seinem Aufsatz On the
Basis of Hobbes’s Political Philosophy gebraucht, der in weiteren Rücksichten
wichtige Gemeinsamkeiten mit Thoughts on Machiavelli aufweist. Der Aufsatz
wurde zunächst in französischer Übersetzung in Critique (Paris) 83, April 1954,
p. 338–362, veröffentlicht. Das englische Original erschien 1959, mit einer be-
deutenden Ergänzung in note 2, in What Is Political Philosophy?, p. 170–196.
Strauss unterscheidet sorgsam zwischen Hobbes’ thought und Hobbes’ teaching,
siehe p. 170, 173, 174, 177, 181, 182, 189, 190, 196, insbesondere den ersten und den
letzten Absatz des Aufsatzes, und er spricht vom «movement of Hobbes’s thought»
(p. 173, frz. p. 340).

– 51 –
sam. Denn obschon Strauss im Fortgang seiner Interpretation keinen
Zweifel daran läßt, daß Principe und Discorsi weit mehr als Machiavellis
politische Lehre im engeren Sinn, d. h. mehr als seine Lehre zu Gegen-
ständen der Politik, Religion und Moral präsentieren,21 mögen die
suprapolitischen Konturen der Lehre von Principe und Discorsi zumin-
dest deutlicher hervortreten, sofern zusätzliche Werke in den Blick
kommen. Strauss beantwortet die Frage stillschweigend, indem er in
Kapitel  IV nicht nur wiederholt andere Schriften und selbst Briefe
Machiavellis heranzieht, sondern La vita di Castruccio Castracani da
Lucca und La Mandragola eigene Absätze widmet, die wichtige Schar-
niere in der Entwicklung seines philosophischen Arguments bilden.22
Die Zweiheit von Principe und Discorsi dient Strauss als konstruktives
Minimum, um vor Augen zu führen, daß die Einheit von Machiavellis
Lehre nicht gegeben ist, sondern gedacht werden muß. Die Aufgabe, die
Einheit zu denken, stellt sich für den Leser in dem Maße als vielfältiger
und herausfordernder dar, in dem er sich auf das hermeneutische Un-
terfangen von Thoughts on Machiavelli einläßt. Denn Strauss zeigt in
den Kapiteln II und III, daß Principe und Discorsi ihrerseits durch eine
innere Zweiheit bestimmt werden, so daß der zweifache Charakter von
Machiavellis Lehre, der sich zuerst in der Zweiheit der Bücher mani-
festiert, in jedem von ihnen eine Wiederholung findet und eine Ver-
schärfung erfährt. Im Falle des Principe ergibt sich das Erfordernis, die
Einheit zu denken, aus dem zweifachen Auftritt als treatise mit einem
theoretischen Wahrheitsanspruch und als tract for the times mit einer
praktischen Zielsetzung. Abermals bei einem Problem seinen Ausgang
nehmend, das die «Oberfläche» bereithält, gewinnt Strauss aus der
Rhetorik des 26. Kapitels, Machiavellis berühmtem «Aufruf, sich Ita-
liens zu bemächtigen und es von den Barbaren zu befreien», die ent-
scheidenden Gesichtspunkte, um das Zusammenspiel von treatise und
tract for the times aufzuschließen. Er arbeitet die doppelte Funktion

21 «It is certainly imprudent to assume that his knowledge of the things of the
world is limited to things political and military in the narrow sense. It is more
prudent to assume that his knowledge, and hence his teaching in either the Prince or
the Discourses, is all-comprehensive.» «… we have learned from Socrates that the
political things, or the human things, are the key to the understanding of all things.»
I, 6 (19); cf. I, 35 (51) und I, 37 (53).
22 IV, 37 (223–225) und IV, 79 (284–285).

– 52 –
heraus, die das abschließende Kapitel des Principe erfüllt, einerseits die
allgemeinen Lehren der vorangegangenen 25 Kapitel in den Augen der
Leser als durch den besonderen Zweck begründet oder gerechtfertigt
erscheinen zu lassen und andererseits den Leser dazu zu bringen, im
Hinblick auf das prätendierte praktische Ziel die theoretischen Aufstel-
lungen zu verknüpfen, sie experimentell anzuwenden und sie so gleich-
sam in Bewegung zu versetzen, um selbst die Folgerungen zu ziehen
und die Weiterungen zu betrachten, die der Autor unausgesprochen
läßt.23 Im Falle der Discorsi, deren Titel sich explizit auf die ersten zehn
Bücher und deren Gliederung in 142 Kapitel sich implizit auf das Ge-
samtwerk des Titus Livius bezieht, das in 142 Bücher gegliedert war,
ergibt sich das Erfordernis, die Einheit der Lehre zu denken, aus dem
Gebrauch, den Machiavelli von seiner «Bibel» oder «Antibibel» macht.
Wie die Discorsi Livius ins Spiel bringen, was sie aufnehmen und was sie
mit Schweigen übergehen, in welcher Weise Machiavelli den Plan seines
Buches anzeigt, indem er sich auf Livius beruft, Livius folgt oder von
Livius abweicht, wie Machiavelli den Historiker Roms seinem Unter-
nehmen der Erneuerung dienstbar macht, indem er ihn als Sprachrohr
benutzt oder sich in offener Kritik von ihm absetzt, das alles sind Fra-
gen, die den Leser an Ab urbe condita als ein zweites Buch oder eine Art
ausgelagerten bzw. eingeschlossenen Text der Discorsi verweisen.24
Doch auch mit der doppelten Zweiteilung oder zweimaligen Doppe-
lung von Principe und Discorsi sind wir dem zweifachen Charakter von
Machiavellis Lehre noch nicht auf den Grund gegangen. Wir erreichen
diesen Grund erst auf der Ebene der zweifachen Diskussion und der

23 «… both the explicit general teaching and the explicit particular counsel
conveyed by the Prince are more traditional or less revolutionary than both the
complete general teaching and the complete particular counsel. The two pairs of
opposites which are characteristic of the Prince, namely, its being both a treatise
and a tract for the times and its having both a traditional exterior and a revolutionary
center, are nicely interwoven. The Prince is altogether, as Machiavelli indicates at
the beginning of the second chapter, a fine web. The subtlety of the web contrasts
with the shocking frankness of speech which he sometimes employs or affects» II,
13 (69).
24 «The peculiar charm and the peculiar remoteness of the Discourses are due to
the fact that a part of their teaching is transmitted not only between their lines, but
as it were between the covers of the Discourses and those of Livy’s History» III, 26
(121).

– 53 –
zweifachen Aussage, die beiden Büchern gemeinsam ist und die einen
zweifachen Adressaten hat. Wir erreichen ihn, mit anderen Worten,
erst, wenn wir uns auf dem Boden bewegen, den die Kunst des sorgfäl-
tigen Schreibens lange vor Machiavelli erfolgreich bestellte. Tatsächlich
stimmt alles, was Strauss zum Thema twofold discussion und first and
second statements bei Machiavelli sagt, nahtlos mit dem überein, was er
in seinen Schriften zuvor an Werken von Philosophen des Mittelalters
und der Antike gezeigt hatte. Die wiederholte Erörterung der gleichen
oder eng verwandter Gegenstände und die Aufeinanderfolge erster und
zweiter Aussagen, Urteile, Feststellungen in derselben Sache sind be-
währte Mittel, um unterschiedlichen Adressaten Unterschiedliches zu
verstehen zu geben. Die Adressaten unterscheiden sich nach Maßgabe
ihres Vermögens, den Unterschied, der in der Wiederholung beschlos-
sen liegt, zu begreifen und die Abfolge von erster und zweiter Feststel-
lung in ein vertieftes Verständnis der Sache zu übersetzen, die in Rede
steht. Für Machiavellis Kunst bedeutet dies, daß die Adressaten sich
aktiv unterscheiden kraft ihrer Fähigkeit, den «zweifachen Charakter»
der Lehre selbst zu denken. Kapitel I von Thoughts on Machiavelli
schlägt den Bogen von Machiavellis zweifacher Präsentation seiner poli-
tischen Lehre in Principe und Discorsi zum zweifachen Adressaten, an
dem die Präsentation seiner Lehre ausgerichtet ist und den Strauss in the
«young» readers and the «old» sondert. Sobald wir verstanden haben,
daß die zweifache Präsentation und die Sequenz von first and second
statements dem wahren Adressaten die Anstrengung des Selbstdenkens
abverlangen und die Erfahrung des Fortschritts im eigenen Verstehen
ermöglichen soll, verstehen wir den Fortschritt, der dadurch angezeigt
wird, daß Strauss das Verhältnis von Principe und Discorsi im ersten
Absatz des Kapitels obscure nennt, wohingegen er es im letzten als enig-
matic charakterisiert.25
Wenn der zweifache Charakter der Lehre seinen tiefsten Grund in
der Unterscheidung der Adressaten hat, bleibt es dem wahren Adressa-
ten vorbehalten, die Lehre im ganzen zu überschauen und zu verstehen.
Dafür muß er die höchste Perspektive einnehmen, aus der sich der
Autor verstehen kann. Sind «die Jungen», die Machiavelli zu Zwecken
der «geistigen Kriegsführung» zu gewinnen sucht, dazu in der Lage?

25 I, 1 (15); I, 4 (17); I, 37 (53). – «… the surface of a book as intended by its author,


belongs as much to the book as does its substance» I, 12 (24).

– 54 –
Gewiß nicht, soweit es sich um die Soldaten und Offiziere handelt, die
in Machiavellis Armee dereinst dienen und mit Eifer kämpfen sollen.
Doch wie steht es mit den zukünftigen Feldherren, die sich Machiavellis
Unternehmen aus Einsicht zu eigen machen, um es zum Erfolg zu füh-
ren? Offenbar hängt die Antwort davon ab, welche Bedeutung sie dem
von Machiavelli inaugurierten Feldzug und ihrer eigenen Aufgabe darin
beimessen. Die Frage nach dem vorzüglichen Adressaten von Machia-
vellis teaching ist aufs engste verbunden mit der Frage nach dem Status,
der Machiavellis enterprise in Machiavellis thought zukommt. Sollte das
Unternehmen einer politischen Neugründung, der Entdeckung und
Durchsetzung von modi e ordini nuovi, einer durchgreifenden Verände-
rung der Welt, der höchste Gesichtspunkt für Machiavelli sein, sollte
Machiavelli sich wesentlich als principe nuovo verstehen, so scheinen
Philosophen-Krieger, Philosophen-Fürsten, Philosophen-Werkmei-
ster, mithin eine neue Art von Philosophen der vorzügliche Adressat
seiner Lehre zu sein. Ebendies ist der Schluß, den zu ziehen Thoughts
on Machiavelli die Leser einlädt. In seinen exponiertesten Passagen
zeichnet das Buch das Bild eines Unternehmens, das vom absoluten Pri-
mat der Praxis regiert wird und die Instrumentalisierung der Philoso-
phie zur Umgestaltung der menschlichen Lebensverhältnisse entschlos-
sen vorantreibt, das dem unbedingten Willen zur Herrschaft gehorcht,
das auf Propaganda als entscheidende Waffe im Kampf gegen die Macht
des Christentums setzt und die Einrichtung einer stabilen Ordnung auf
einem soliden Fundament, gegründet in nüchternem Wissen, zum wah-
ren Ziel hat. Wie die Geschichte der Rezeption zeigt, runden manche
Leser dieses Bild ab, indem sie sich die für einen Philosophen erstaunliche
Bereitschaft zum Dienen – denn wer herrschen will, muß dienen – mit der
Hoffnung des Gründers auf unsterblichen Ruhm erklären. Andere über-
zeugen sich von der Stimmigkeit des Bildes, indem sie Machiavellis Be-
ginnen auf die Leidenschaft des «anti-theological ire» zurückführen
wollen, ein Wort von Strauss aufgreifend, das zwar nicht in Thoughts on
Machiavelli vorkommt, jedoch über eine solche Suggestivkraft verfügt,
daß es dem berühmten «teacher of evil» des Eröffnungssatzes von
Thoughts on Machiavelli den Rang als meistzitiertes Wort von Strauss
zu Machiavelli streitig macht.26 Da Strauss Machiavelli zum Begründer

26 In seinem Aufsatz What Is Political Philosophy? aus dem Jahr 1955 verwandte
Strauss 13 Absätze auf eine exoterische Verhandlung von Machiavellis Lehre. In ihr

– 55 –
der modernen Politischen Philosophie erhob, haben wir allen Grund,
seine Verhandlung von Machiavellis enterprise genauer zu betrachten.
Strauss gibt eine zweifache Präsentation, plakativ die eine, subtil die
andere. Die plakative mündet in eine große historische Erzählung.
Die subtile weist zurück auf Machiavellis philosophische Reflexion.
Die erste Präsentation stellt den revolutionären Charakter von Machia-
vellis Unternehmen heraus, wie er nie zuvor herausgestellt worden war.
Die zweite rückt Machiavelli in die fundamentale Kontinuität ein, die ihn
mit den Philosophen vor und nach ihm verbindet. Für seine spektaku-
läre Präsentation macht Strauss ingeniösen Gebrauch von einer Bemer-
kung Machiavellis, die bis dahin in keiner Interpretation eine nennens-
werte Rolle gespielt hatte. Sie eröffnet das 35. Kapitel des dritten Buches
der Discorsi und lautet in Strauss’ Übersetzung: «How dangerous a
thing it is to make oneself the head of a new thing which concerns many
people, and how difficult it is to manage it and to bring it to its consum-
mation and, after it has been brought to its consummation, to maintain
it, would be too long and too exalted a matter to discuss; I reserve it
therefore for a more convenient place.» Strauss führt den Satz nicht we-
niger als dreimal in voller Länge an, was in Thoughts on Machiavelli
ohne Gegenstück ist und die Bedeutung unterstreicht, die Machiavellis
Bemerkung für Strauss’ Präsentation hat.27 Bei der dritten Wiedergabe
bringt Strauss die Verschränkung von Machiavellis Unternehmen mit

findet sich das Wort vom anti-theological ire, das, von dem Vorbehalt bzw. der
Einschränkung der ursprünglichen Aussage gelöst, Karriere machen sollte: «I
would then suggest that the narrowing of the horizon which Machiavelli was the
first to effect, was caused, or at least facilitated, by anti-theological ire – a passion
we can understand but of which we cannot approve.» What Is Political Philosophy?,
p. 44, meine Hervorhebung. Der 13.  Satz des Absatzes, an dessen Ende das
geflügelte Wort steht, lautet: «He seems to have diagnosed the great evils of religious
persecution as a necessary consequence of the Christian principle, and ultimately of
the Biblical principle» p. 44, meine Hervorhebung. In Thoughts on Machiavelli
macht Strauss sich anheischig, diese Diagnose im einzelnen zu entwickeln und zu
erhärten.
27 Die drei vollständigen Wiedergaben des Satzes finden sich in I, 6 (19), I, 15 (28)
und III, 16 (105), wobei Strauss in der letzten Fassung die Formulierung der ersten
beiden Wiedergaben «would be too large and too exalted a matter to discuss», die
sich aus dem Kontext von Kapitel I erklärt, durch «would be too long and too
exalted a matter to discuss» ersetzt, die er im unmittelbaren Anschluß dreimal
wiederholt, mit einer (anderen) Variation des Wortlauts.

– 56 –
dem vorzüglichen Adressaten zur Sprache: «the matter too long and too
exalted to discuss is his own enterprise insofar as it depends upon the
cooperation of ‹the young.›» An gleicher Stelle gibt er eine Antwort auf
die Frage nach dem geeigneten Ort für die Erörterung des Unterneh-
mens. «We believe him on his word that he will not ‹discuss that long
and exalted matter.› But is there no mean between discussion and com-
plete silence? Is there no ‹place› other than the lines of a book? Is a series
of intimations not ‹a convenient place› for transmitting ‹a matter too
long and too exalted to discuss›?» Im unmittelbaren Anschluß an die
Evokation des Adressaten «the young» werden wir für das nähere Stu-
dium von Machiavellis Andeutungen an drei Orte verwiesen. Zunächst
hören wir: «In a word, we believe that the last section of the Discourses
deals obliquely with Machiavelli’s enterprise: he selects from Livy
VII–X such stories as properly understood throw light on his strategy
and tactics.» Dann erfahren wir, «that the last sections of the First and
Second Books have the same theme as the last section of the Third
Book.» Die letzten Abschnitte der drei Bücher der Discorsi haben
Machiavellis Unternehmen zum Gegenstand. Während der letzte Ab-
schnitt von Buch III mit der dreimal zitierten Bemerkung beginnt und
15 Kapitel umfaßt (III, 35–49), bestehen die letzten Abschnitte von Buch
I und Buch II, wie sich bald herausstellt, nur aus jeweils einem einzigen
Kapitel (I, 60 und II, 33). Strauss’ Rede von the last sections mag deshalb,
ungeachtet ihrer buchstäblichen Richtigkeit, verwundern. Sie erweist
sich indes als hilfreich, wenn wir den Plan von Thoughts on Machiavelli
zu verstehen suchen. Denn Strauss verhandelt den Gegenstand tatsäch-
lich in den letzten Abschnitten der drei Kapitel seines Buches, die auf
das Kapitel zur Kunst des Schreibens folgen, in II, 25–26, III, 55–59 und
IV, 82–87. Strauss’ last sections zeichnen das wirkungsmächtige Bild von
Machiavelli, dem neuen Fürsten, der seine Herrschaft postum antritt,
dem modernen Moses, der einen neuen Dekalog bei sich trägt, dem
unbewaffneten Propheten, der eine neue Strategie geistiger Kriegsfüh-
rung ersinnt und eine neue, zuvor für ausgeschlossen gehaltene Allianz
mit dem Volk schmiedet. Sie beschreiben Machiavellis «enormous ven-
ture» spektakulär als «a war of the Anti-Christ or the Devil who recruits
his army while fighting or through fighting against the army led by God
or Christ.» Und sie legen Machiavellis «action» am Ende «a stupendous
contraction of the horizon», das Absehen vom Suprapolitischen, die
Ausblendung der Philosophie, zur Last. Im Zentrum der 13 Absätze,

– 57 –
die Strauss auf die einprägsame Präsentation verwendet, steht die histo-
rische Verortung von Machiavellis «enterprise», der Bruch und der Be-
ginn, den Machiavelli als anderer «Wendepunkt und Wirbel der soge-
nannten Weltgeschichte» markiert: «Machiavelli is the first philosopher
who believes that the coincidence of philosophy and political power can
be brought about by propaganda which wins over ever larger multi-
tudes to the new modes and orders and thus transforms the thought of
one or a few into the opinion of the public and therewith into public
power. Machiavelli breaks with the Great Tradition and initiates the
Enlightenment. We shall have to consider whether that Enlightenment
deserves its name or whether its true name is Obfuscation.» Was sollten
wir über einen Philosophen denken, der sich in seinem Handeln von
dem Glauben bestimmen ließe, das Zusammenfallen von Philosophie
und politischer Gewalt sei auf dem Wege der Propaganda oder der Auf-
klärung zu erreichen? Der die schließliche Harmonie von Philosophie
und Politik auch nur für erstrebenswert hielte, die nicht anders denn als
Aufhebung der Philosophie in Politik vorstellbar wäre? Der sich zum
wahren Adressaten seiner Lehre Philosophen wählte, die dazu taugen,
Krieger, Fürsten, Werkmeister zu sein, und es sein wollen? Nicht zu
reden von «jenen jungen Männern oder potentiellen Fürsten oder den
Verschwörern im engeren Sinn», auf die er für die praktische Umset-
zung seines Vorhabens darüber hinaus angewiesen wäre.28
Strauss schickt den drei letzten Abschnitten zu Machiavellis Unter-
nehmen, mit denen er die Leser am Ende der drei Kapitel jeweils ent-
läßt, drei Absätze unmittelbar voraus (II, 24, III, 54 und IV, 81), die den
Leser in die Lage versetzen, Machiavelli als Philosophen im anspruchs-
vollen Verstande wahrzunehmen, und die ihn in die subtile Präsentation
des Unternehmens einbeziehen, welche in ihnen aufscheint bzw. zum
Höhepunkt gelangt. Im ersten der drei Absätze kulminiert Strauss’
Auslegung der Intention, die dem Principe zugrunde liegt. Im dritten
findet, alle Linien der Interpretation zusammenführend, die Exposition
von Machiavellis Denken ihren krönenden Abschluß. Der zweite be-

28 III, 16 (105–106). II, 25–26 (83–84); III, 55 (168); 56 (170); 57 (171–172); 59 (173);
IV, 85 (295). – «One is tempted to describe Machiavelli’s relation to the young as a
potential conspiracy. That chapter of the Discourses which is by far the most
extensive is devoted to the subject of the conspiracies, i. e., of more or less violent
changes of modes and orders» III, 56 (168), meine Hervorhebung.

– 58 –
trifft die Haltung des Philosophen gegenüber der höchsten Autorität.
Er wird an der Stelle erörtert werden, die die Sache gebietet. II, 24 be-
ginnt in beinahe so vielen Worten mit der Erklärung eines Primats der
Theorie für Machiavelli.29 Mit ihr ist eine neue Einordnung, d. h. eine
Relativierung von Machiavellis Verhandlung der Praxis verbunden, die
nach Strauss’ bisherigen Aussagen zur Lehre des Principe30 für die mei-
sten Leser eine Überraschung sein muß: «once one grasps the intransi-
gent character of Machiavelli’s theoretical concern, one is no longer
compelled to burden him with the full responsibility for that practical
recklessness which he frequently recommends.» Das Urteil über das
Unterfangen des Autors hängt entscheidend vom Verständnis seiner In-
tention und folglich von der Antwort auf die Frage nach seinen Adres-
saten ab: «The ruthless counsels given throughout the Prince are
addressed less to princes, who would hardly need them, than to ‹the
young› who are concerned with understanding the nature of society.
Those true addressees of the Prince have been brought up in teachings
which, in the light of Machiavelli’s wholly new teaching, reveal them-
selves to be much too confident of human goodness, if not of the good-
ness of creation, and hence too gentle or effeminate.» Machiavelli verfolgt
mit seinen rücksichtslosen Ratschlägen zuallererst einen pädagogischen
Zweck. Sie dienen der Abhärtung, der Ernüchterung, der Stärkung der
wahren Adressaten. Sie werden in Rücksicht auf die ausgesprochen, die
die Natur der Gesellschaft verstehen wollen. Sie sind an die gerichtet,

29 Im vorangehenden Absatz sagt Strauss, Aussagen der Einleitung wiederauf-


nehmend, über Machiavelli: «The core of his being was his thought about man,
about the condition of man and about human affairs» II, 23 (80), meine Her-
vorhebung; cf. Introduction, 4 (10–11); 9 (13). Die Absätze II, 23 und 24 bilden eine
klassische digression.
30 Inter multa alia: «… the immoral policies recommended throughout the Prince
are not justified on grounds of the common good, but exclusively on grounds of the
self-interest of the prince, of his selfish concern with his own well-being, security
and glory. The final appeal to patriotism supplies Machiavelli with an excuse for
having recommended immoral courses of action. In the light of this fact, his
character may very well appear to be even blacker than even his worst enemies have
thought. At the same time however, we are not forced to leave the matter with the
remark that the last chapter of the Prince is a piece of mere rhetoric, i. e., that he was
not capable of thinking clearly and writing with consummate skill» II, 22 (80); cf.
Introduction, 1 (9). Beachte zum letzten Satz der angeführten Stelle Introduction,
9 (13) sowie Anm. 15.

– 59 –
die in den Stand gesetzt werden sollen, die Wahrheit zu erkennen. Um
die Tragweite von Strauss’ Antwort auf die Frage des Adressaten in II,
24 absehen zu können, müssen wir in Kapitel II vier Absätze zurückge-
hen. Denn bei Strauss’ Aussage über «‹the young› who are concerned
with understanding» handelt es sich um ein «second statement», das sei-
nen genauen Sinn erst enthüllt, wenn man es mit dem «first statement»
zusammensieht, mit dem es verglichen sein will. In II, 20 betont Strauss,
daß der Autor des Principe sowohl in der Kapazität des «potentiellen
Ratgebers eines Fürsten» als auch in der eines «Lehrers der politischen
Weisheit» oder eines Theoretikers spricht, der «die Wahrheit über die
Natur der Fürsten» lehrt. Strauss erläutert die beiden Kapazitäten an
einem rhetorischen Detail des Principe, das ihn geradewegs zur Bestim-
mung der Adressaten der Schrift führt: «He indicates his dual capacity
and the corresponding duality of his addressees by his use of the second
person of the personal pronoun: he uses ‹Thou› when addressing the
prince, and even the man who conspires against the prince, i. e., when
addressing men of action, while he uses ‹You› when addressing those
whose interest is primarily theoretical, either simply or for the time
being. The latter kind of addressees of the Prince are identical with the
addressees of the Discourses, ‹the young.›» II, 20 ist die einzige Stelle in
Thoughts on Machiavelli, die dem Leser mitteilt, was für das Verständ-
nis des Buches grundlegend ist: der vorzügliche Adressat des Principe
und der Discorsi muß als ein zweifacher gedacht werden. «The young»,
diejenigen, die ein primär theoretisches Interesse haben, sind zu unter-
scheiden in die, für die dies simply gilt, und in die, für die es nur for the
time being zutrifft, als Vorbereitung auf etwas, das ihnen wichtiger er-
scheint denn die theoretische Erkenntnis an ihr selbst. Den einen kommt
es darauf an, die Welt zu verstehen, den anderen, sie zu verändern.
Machiavellis Lehre hat demnach einen konventionellen Adressaten, der
sich teilt in «Fürsten» oder «Männer des Handelns», die der Beratung
zugänglich sind, und in das Volk, das über «die Natur der Fürsten»
unterrichtet wird. Und sie hat einen vorzüglichen Adressaten, der sich
verzweigt in zukünftige Philosophen und in spätere Philosophen-Für-
sten. Die ersteren wollen «potentielle Fürsten» oder «Staatsmänner» im
Sokratischen Sinn sein, die über das Wissen der Fürsten verfügen, ohne
daß sie deshalb deren Platz einzunehmen gedenken, es sei denn, sie wer-
den dazu gezwungen, oder sie tun es spielerisch, d. h. mit einem ernsten
Vorbehalt. Bei den letzteren verhält es sich umgekehrt. Sie wollen aktu-

– 60 –
elle oder postume Fürsten werden um der praktischen Zwecke willen,
mit deren Verwirklichung sich ihr Ernst recht eigentlich verbindet.
Wenn Strauss in II, 24 die «wahren Adressaten» als «die Jungen» be-
stimmt, denen es darum geht, die Natur der Gesellschaft zu verstehen,
wiederholt er die Qualifizierung, die er vier Absätze zuvor gebrauchte,
nicht. Daß er damit eine Bestimmung des wahren Adressaten vornimmt
und nicht etwa auf den gemeinsamen Nenner der beiden Varietäten des
vorzüglichen Adressaten ausweicht oder auf eine transitorische Über-
einstimmung beider zurückgeht, erhellt daraus, daß er diejenigen, «who
are concerned with understanding the nature of society», ausdrücklich
mit «the intransigent character of Machiavelli’s theoretical concern»
koordiniert. Außerdem wird es durch einen erstaunlichen, um nicht zu
sagen schockierenden, Kommentar unterstrichen, mit dem Strauss im
selben Absatz den pädagogischen Zweck des Principe versieht: «Not
only some of the most comforting, but precisely some of the most
outrageous statements of the Prince are not meant seriously but serve a
merely pedagogic function: as soon as one understands them, one sees
that they are amusing and meant to amuse.» Nur der erste der beiden
vorzüglichen Adressaten, nur die zukünftigen Philosophen in der Sere-
nität ihrer Kontemplation werden am Ende die unerhörtesten und
schockierendsten Aussagen als «amusing and meant to amuse» verste-
hen können.31
Unsere Auslegung von Strauss’ esoterischer Antwort auf die Frage
nach dem wahren Adressaten von Machiavellis Lehre und in eins damit
nach dem philosophischen Status von Machiavellis Unternehmen findet
eine zusätzliche und eine abschließende Bestätigung in der Betrachtung
der beiden Stellen, an denen der vorzügliche Adressat in Thoughts on
Machiavelli zum ersten und zum letzten Mal erwähnt wird. Strauss
führt «the young» in einem Absatz ein, in dem er den Gebrauch verhüll-
ter Blasphemien als Kunstgriff von Machiavellis Rhetorik erörtert (I, 35).

31 II, 20, (77) und 24 (81–82). Beachte IV, 45 (233); 68 (265); 78 (282–284). Strauss
hat die Worte either simply or for the time being in der Aussage von II, 20 erst später
in das Manuskript eingefügt. Sie fehlen auch, wie der gleichfalls später eingefügte
letzte Satz von II, 20, in der Vorabveröffentlichung von Kapitel II in The American
Political Science Review, 51:1 (March 1957), p. 13–40, hier p. 33. Als der Aufsatz
erschien, hatte Strauss die Arbeit am Buch noch nicht abgeschlossen. Am Ende des
Manuskripts notierte Strauss: «Finis – Laus Deo. December, 9, 1957.»

– 61 –
Im Absatz davor hat Strauss die «enorme Blasphemie» enthüllt, die
Machiavelli unter Verwendung eines Verses aus dem Magnificat in Dis-
corsi I, 26 deponierte, und gezeigt, daß Machiavelli «leads us to the con-
clusion, nay, says in effect, that God is a tyrant» (I, 34), ein Befund, der
uns noch beschäftigen wird. In I, 35 erfahren wir, daß die verrätselte
Blasphemie in Discorsi I, 26, die durch Strauss’ berühmte Interpretation
des Kapitels beinahe allgemeine Bekanntheit erlangte,32 «is, so to speak,
only the spearhead of a large column», und wir erhalten eine Erklärung,
was der Autor mit dem wiederholt eingesetzten Kunstgriff bezweckt:
«By concealing his blasphemy, Machiavelli compels the reader to think
the blasphemy by himself and thus to become Machiavelli’s accom-
plice.» Der Leser, den Machiavelli zu seinem Komplizen zu machen,
den er zum «Wandern im Verbotenen» zu verlocken, den er in sein Den-
ken einzubeziehen versucht, ist nicht der Leser im allgemeinen. Es ist
der Leser, der selbst zu denken versteht, was der Autor ihm zu denken
gibt, und von dem der Autor mit Grund annehmen kann, daß er dabei
Erfahrungen machen wird, die mit seinen eigenen Erfahrungen im Den-
ken eng verwandt sind. «Machiavelli is anxious to establish this kind of
intimacy if only with a certain kind of reader whom he calls the ‹young.›
Concealment as practiced by Machiavelli is an instrument of subtle cor-
ruption or seduction. He fascinates his reader by confronting him with
riddles. Thereafter the fascination with problem-solving makes the read-
er oblivious to all higher duties if not all duties.» Der Leser, der so zum
Denken verführt wird, daß er über der Faszination durch die Probleme,
mit deren Lösung er befaßt ist, alle höheren Pflichten vergißt, ist
schwerlich ausersehen, in Machiavellis Armee zu dienen, in welchem
Rang es auch sei. Wir haben keinen Anlaß, die Eignung des wahren
Adressaten von Machiavellis Büchern zu der in einem kriegerischen

32 In der exoterischen Präsentation von Machiavellis Lehre, die Strauss 1955 gab,
hatte er erklärt: «Machiavelli’s originality in this field [sc. the critique of religion,
chiefly of Biblical religion] is limited to the fact that he was a great master of
blasphemy. The charm and gracefulness of his blasphemies will however be less
strongly felt by us than their shocking character. Let us then keep them under the
veil under which he has hidden them. I hasten to his critique of morality which is
identical with his critique of classical political philosophy.» What Is Political
Philosophy?, p. 41, meine Hervorhebung. Zu den rhetorischen Mitteln, die Strauss
hier verwendet, cf. Natural Right and History, p. 76 und On the Basis of Hobbes’s
Political Philosophy, p. 189.

– 62 –
Unternehmen gebotenen Unterordnung und Hingabe höher zu veran-
schlagen als etwa die jener Jungen, die durch die Gespräche mit Sokrates
korrumpiert worden waren.33
Zum letzten Mal werden the young in IV, 81 erwähnt, im letzten der
drei Absätze, die Strauss seinen drei «letzten Abschnitten» zu Machia-
vellis Unternehmen vorausgehen läßt. Am Ende einer eindringlichen
Auslegung von Machiavellis Selbstverständnis am Leitfaden seiner
Konzeption des guten Lebens oder des Lebens gemäß der Natur als
einem Alternieren zwischen gravity und levity stellt Strauss dem Leser
den Philosophen in der Gestalt des «most excellent man» vor Augen,
der sich über die Ebene erhebt, «on which the political good and the
erotic good supplement each other while conflicting with each other»,
und der, im Unterschied zu dem durch die Pole Krieg und Liebe be-
stimmten «most excellent captain, or soldier of war or love», durch Er-
kenntnis «full satisfaction and immunity to the power of chance» zu
erreichen vermag. Nach dieser Charakterisierung, die Machiavelli der
Sache nach eine auf Erkenntnis gegründete Selbstgenügsamkeit und
Serenität im Einklang mit der philosophischen Tradition zuspricht,
wendet Strauss im letzten Schritt seiner Interpretation Machiavellis
Konzeption eines Alternierens zwischen gravity und levity auf das Le-
ben des Philosophen an. Das ist der Ort, an dem der wahre Adressat
zum letzten Mal ins Spiel kommt. «If it remains true that even on the
highest level the alternation between gravity and levity is according to
nature, one must say that whereas gravity belongs with the knowledge
of the truth, levity comes into play in the communication of the truth.
The same man who is the teacher of founders or princes and who discov-
ers the true character of ‹the world› communicates this truth to the
young.» Der Ernst des Philosophen gilt der Erkenntnis der Wahrheit.
Die Mitteilung der Wahrheit an den wahren Adressaten scheint für ihn
dagegen etwas Unernstes zu sein. Wie aber ist seine Tätigkeit als Lehrer
der «Gründer oder der Fürsten» einzuordnen, die ausdrücklich von
«den Jungen» unterschieden werden? Wie steht es mit Machiavellis
Unternehmen in Rücksicht auf die Pole gravity und levity? Strauss fährt

33 I, 34 (48–49) und I, 35 (49–50). – «It goes without saying that the man who, from
the point of view of the established order, necessarily appears as a corrupter may in
truth be the first discoverer of those modes and orders which are simply in
accordance with nature» III, 56 (169).

– 63 –
fort: «In the former capacity», d. h. als Lehrer der «Männer des Han-
delns», «he is half-man half-beast or alternates between humanity and
inhumanity. In the latter capacity», als Autor, der dem wahren Adressa-
ten die Wahrheit zugänglich macht, «he alternates between gravity and
levity.» Die überraschende Wiederkehr des Wechsels zwischen gravity
und levity innerhalb dessen, was zunächst als der levity-Strang in den
Blick kam, hat zwei bemerkenswerte Implikationen. Zum einen macht
Strauss augenfällig, daß er sich über die Einordnung des politischen
Unternehmens anhand der Gesichtspunkte von gravity und levity aus-
schweigt. Die Formulierung, die er statt dessen wählt, «half-man half-
beast», mag dem Leser in Erinnerung rufen, daß Strauss in einer wich-
tigen Erörterung des «most excellent man» argumentiert hatte, der
Denker, der als politischer Lehrer im Sinne Machiavellis höchste Wirk-
samkeit entfalten wolle, müsse sich der für ihn erniedrigendsten aller
Dienstbarkeiten unterziehen, sofern er sich zu ebendieser Dienstbarkeit
nicht aus levity verstehe, als einem Unterfangen, das er sich gestattet,
ohne daß es den Kern seiner Existenz berührt.34 Zum anderen berichtigt
die Wiederholung der Bifurkation gravity-levity den Eindruck der er-
sten Aussage zur «communication of the truth». Nicht sosehr die Mit-
teilung der Wahrheit an den wahren Adressaten ist etwas Unernstes.
Unernst ist der Modus der Mitteilung. Die Wahrheit wird dem wahren
Adressaten indirekt mitgeteilt, in einem Gewand, das sie zeigt, indem es
sie verbirgt. Zur indirekten Art und Weise von Machiavellis Mitteilung
kann etwa die Lehre gehören, die dem Gründer oder dem Fürsten direkt
mitgeteilt wird. Strauss setzt hinzu: «For in the latter capacity he is the
bringer of a light which illumines things that cannot be illumined by
the sun. The unity of knowledge and communication of knowledge can
also be compared to the combination of man and horse, although not
to a centaur.» Im letzten Satz von IV, 81 erweist sich die Wahrheit des
Alternierens zwischen zwei Polen als das Zusammenwirken zweier
Potenzen. Der Wechsel von gravity und levity wird auf der höchsten
Ebene in eine Einheit aufgehoben. Die indirekte Mitteilung erlaubt es
dem Autor, das Licht, das er bei sich trägt, so zu hüten, daß es einzig
dem Leser aufgeht, für den es bestimmt ist. Der Philosoph spricht zu
seinen Adressaten, ohne daß er ausspricht, was auszusprechen sich ihm
verbietet. Eingedenk der Wahrheit, die Strauss im ersten Absatz von

34 IV, 51 (244).

– 64 –
Kapitel IV dem Argument enigmatisch gefaßt voranstellt, das in Ab-
satz 81 an sein Ziel gelangt, «that what ought not to be said cannot be
said».35 Indem Strauss den Autor des Principe und der Discorsi am Ende
mit der Metapher des Reiters auf einem Pferd auszeichnet, stellt er ihn
ohne Abstrich in die Tradition der Philosophen, die sich der exoterisch-
esoterischen Kunst des Schreibens bedienen. Er bekräftigt sein Urteil,
daß Machiavelli als der Erbe, «the by no means unworthy heir», jener
«supreme art of writing» zu betrachten sei, «which that tradition mani-
fested at its peaks».36 Denn Strauss hatte die Metapher  1957 in How
Fārābi Read Plato’s «Laws» eingeführt und sie auf Werke von Farabi und
Platon gemünzt, um deren twofoldness zu charakterisieren.37 Machia-
velli, der einem der beiden vorzüglichen Adressaten seiner Lehre, den
wahren Philosophen der Zukunft, die Aufgabe seines Unternehmens im
ganzen zu bedenken gibt, reiht sich ein unter die großen Erneuerer der
Philosophie.

35 IV, 1 (174). Beachte dazu Strauss’ Verhandlung der Tugend des Philosophen in
IV, 54 (246–247): «Virtue in the highest sense, ‹extraordinary virtue,› grandeur of
mind and will, the pre-moral or trans-moral quality which distinguishes the great
men from the rest of mankind, is a gift of nature. Such virtue, which is not chosen,
compels a man to set himself high goals, and since such virtue is inseparable from
the highest prudence, to set himself the wisest goal possible in the circumstances …
In the case of men of extraordinary virtue or prudence, ‹Is› and ‹Ought› coincide:
they cannot do what they ought not to do and they must do what they ought to do;
in their case the dictates of prudence have compulsory power.»
36 III, 26 (120).
37 «Just as Plato before him, Fārābi does not permit himself the seeming generosity
of trying to help all men toward knowledge but employs a kind of secretiveness
which is mitigated or enhanced by unexpected and unbelievable frankness.
Accordingly his resolution is two-fold: his summary of the Laws is meant ‹to be a
help to him who desires to know [the Laws] and to be sufficient to him who cannot
bear the toil of study and of meditation› (4, 20–21). Those who desire to know the
Laws form a different class from those who cannot bear the toil of study and of
meditation … One can articulate the two-foldness of works of this kind by
comparing them to men on horseback: to seeming wholes which consist of a
discerning and slow ruler and a fast and less discerning subject, and which are well
fitted for unexpected attack as well as for flight.» How Fārābi Read Plato’s «Laws»,
in: What Is Political Philosophy?, p. 137–138. – Zur Kontrastierung des Reiters auf
einem Pferd mit einem Kentaur ließ Strauss sich offenbar durch Xenophons
Kyrupädie IV, 3, 17–21 anregen.

– 65 –
II

Im Zentrum des Interesses von Thoughts on Machiavelli steht die Aus-


einandersetzung mit der Offenbarungsreligion. Das Interesse ist ein
zweifaches. Es betrifft zunächst die historische Antwort auf die verän-
derte politische Lage, die die Herrschaft der Offenbarungsreligion
schuf. Vor allem aber gilt es der philosophischen Antwort auf die Her-
ausforderung, die der Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligion
bedeutet. Das primär historische Interesse verbindet Machiavelli mit
Farabi, dem ersten Neubegründer der Politischen Philosophie nach
dem Auftreten der Offenbarungsreligionen.38 Das originär philoso-
phische Interesse verbindet Machiavelli nicht weniger mit Platon, denn
es ist nicht vom historischen Auf- oder Abtreten der Offenbarungsre-
ligionen abhängig. Der Glaube an einen allmächtigen Gott als Schöpfer
der Welt, Herrscher und Richter der Menschen, der den Kern der
Offenbarungsreligion ausmacht, stellt einen Einspruch gegen die Phi-
losophie dar, der eine Antwort verlangt. Er begleitet die Philosophie
ungeachtet der Siege oder der Niederlagen, die seine historischen Ver-
körperungen errungen haben oder erleiden werden, als eine beständige
Möglichkeit. Strauss läßt keinen Zweifel, daß sein besonderes Augen-
merk auf die philosophische Antwort gerichtet ist, wenn er von der
christlichen Religion und dem christlichen Gott, denen sich Machia-
velli als politisch Handelnder gegenübersah, beharrlich auf die «bibli-
sche Religion» und den «biblischen Gott» zurückgeht und wenn er die
christliche Offenbarung durch die Offenbarung tout court ersetzt.
Der Lehrer der «potentiellen Fürsten» mag eine geistige Kriegsfüh-

38 Siehe Quelques remarques sur la science politique de Maïmonide et de Fârâbî


(geschrieben in der Zeit von August–Oktober 1935), Gesammelte Schriften, Bd. 2,
p. 129–130 und 156–158; Farabi’s «Plato» (geschrieben in der Zeit vom 12. November
1943–29. März 1944), in: Louis Ginzberg Jubilee Volume. New York 1945, p. 378,
382–384; Persecution and the Art of Writing, p. 15–18 und 21; How Fārābi Read
Plato’s «Laws», p. 144, 152–154.

– 66 –
rung konzipiert haben, in der eine Armee unter antichristlichem
Banner auf eine Armee unter christlichem Banner trifft. Dem Denker
attestiert Strauss in aller Form, daß er «den Wahrheitsanspruch der
Offenbarungsreligion ernst nimmt, indem er die Frage ihrer Wahr-
heit als alles entscheidend ansieht».39 Hätte Strauss sich nicht in der
Lage gesehen, von Machiavelli zu sagen, die Frage der Wahrheit der
Offenbarungsreligion sei für ihn all-important – ein Ausdruck, den
er nicht eben häufig verwendet40 –, hätte er Machiavelli nicht in den
Rang eines politischen Philosophen erhoben, geschweige das Pro-
blem Machiavelli in eine Konstellation mit dem Problem Sokrates ge-
bracht. Strauss’ Unterfangen, Machiavelli als Philosophen zu denken
und seine Lehre im ganzen zu präsentieren, setzt voraus, daß Machia-
velli im Horizont unabdingbarer Notwendigkeiten und höchster
Anforderungen ausgelegt werden kann, denen er genügen muß.
Strauss’ Zugriff kommt nirgendwo sinnfälliger zum Ausdruck als an
dem Ort, an dem er in Kapitel III «das zentrale Thema» der Discorsi
einführt: «The characteristic theme of the Prince is the prince in the
most exalted sense, the bringer of new modes and orders or the found-
er. The characteristic theme of the Discourses is the people as the
maintainer of established modes and orders, or as the repository of
morality and religion. If it is true, as I believe it is, that the Bible sets
forth the demands of morality and religion in their purest and most

39 I, 35 (51). Strauss sagt an gleicher Stelle über Machiavellis Unglaube: «… if, as


Machiavelli assumes, Biblical religion is not true, if it is of human and not of
heavenly origin, if it consists of poetic fables, it becomes inevitable that one should
attempt to understand it in merely human terms. At first glance, this attempt can be
made in two different ways: one may try to understand Biblical religion by starting
from the phenomena of human love or by starting from political phenomena. The
first approach was taken by Boccaccio in his Decameròn, the second approach was
taken by Machiavelli.» (Meine Hervorhebung.) Vergleiche dazu die spätere
Aussage: «It is hardly necessary to add that Machiavelli’s explanation in merely
human terms of the root of Biblical belief presupposes his denial, his destructive
analysis of the phenomenon known to us as the conscience» III, 42, (148–149),
meine Hervorhebung.
40 Fünf Jahre später beendet Strauss The City and Man (Chicago 1964, p. 241) mit
dem Satz: «Only by beginning at this point [sc. the understanding of the divine
inherent in the prephilosophic city] will we be open to the full impact of the all-
important question which is coeval with philosophy although the philosophers do
not frequently pronounce it – the question quid sit deus.»

– 67 –
intransigent form, the central theme of the Discourses must be the
analysis of the Bible.»41
Angesichts der Emphase, mit der Strauss auf die Bibel Bezug nimmt,
wenn die Forderungen der Moral und der Religion zur Erörterung an-
stehen, überrascht es nicht, daß seine Darstellung von «Machiavellis
Lehre» in ihren wichtigsten Stücken ausdrücklich oder unausdrücklich
«die biblische Lehre» bzw. «die Lehre der Bibel» zum Gegenstand hat.42
Denn das Kapitel «Machiavelli’s Teaching» scheint in zwei gleich große,
symmetrisch angeordnete Teile zu zerfallen, IV, 1–42 und 46–87, die,
einer Unterscheidung von Strauss zufolge, «Machiavelli’s teaching re-
garding religion and his teaching regarding morality» gewidmet sind.
Nach der Proklamation des vorangegangenen Kapitels sollte «die Bibel»
mithin das zentrale Thema von Kapitel IV sein. Wir haben Grund, eine
Verhandlung des biblischen Gottes und des biblischen Gebots zu er-
warten. Die Proklamation in III, 32 macht uns zugleich darauf aufmerk-
sam, daß die Reihenfolge von Religion und Moral, die die Sequenz
Moral–Religion aus der Erörterung der Discorsi umkehrt, einer Erklä-
rung bedarf. Einen weniger subtilen Hinweis auf die eigene Aktivität,
die die Frage nach seiner Intention und seinem Plan aufwirft, gibt
Strauss am Ende der ersten Hälfte des Kapitels, wenn er zu den Absät-
zen 1–42, einen naheliegenden Einwand der gemeinen Leser vorweg-
nehmend, ausdrücklich feststellt: «We have devoted what at first glance
seems to be a disproportionately large space to Machiavelli’s thought
concerning religion. This impression is due to a common misunderstand-
ing of the intention, not only of Machiavelli but also of a whole series of
political thinkers who succeeded him.» Strauss unterstreicht die Ab-
weichung der eigenen Raumdispositionen, indem er kurz danach hin-
zusetzt, daß bei Machiavelli «the explicit discussion of religion occupies

41 III, 32 (133). Zum ersten Teil der zusammenfassenden Aussage über Principe
und Discorsi beachte Strauss’ Leseanleitung: «In reading Machiavelli’s statements
about the prince or a prince, one must always consider what they would mean if
they were applied to God» IV, 17, note 54 (332).
42 In der ersten Hälfte von «Machiavelli’s Teaching» verwendet Strauss die
kontrastierenden Gegenbegriffe «the Biblical teaching» neunmal: IV, 3 (176), IV, 12
(186, 187, 189) (viermal), IV, 16 (197) (zweimal), IV, 22 (203) (zweimal); «the teaching
of the Bible» dreimal: IV, 3 (176); und «the characteristic teachings of revelation»
einmal: IV, 2 (175).

– 68 –
much less space than the explicit discussion of morality.»43 Keinem
Leser kann schließlich verborgen bleiben, wie weit sich Strauss von
Machiavellis Zurückhaltung in der Verhandlung des zentralen Themas
entfernt: Während Machiavelli die Bibel bzw. das Alte Testament in
den Discorsi und im Principe nur jeweils ein einziges Mal namentlich
erwähnt (Discorsi III, 30, Principe XIII), ist sie in Thoughts on Machia-
velli über weite Strecken gleichsam allgegenwärtig. Allein im letzten
Absatz der Einleitung von Kapitel IV, in dem Strauss konzediert, daß
das gemeine Unverständnis für Machiavellis Auseinandersetzung mit
der Offenbarungsreligion «is justified to some extent by his reticences»,
wird die Bibel zehnmal aufgerufen. Strauss bringt Machiavelli zum
Sprechen, wo dieser schweigt. Er steht ihm mit Argumenten bei, wo
Machiavelli sich mit Andeutungen begnügt. Allerdings gilt für den
Autor von Thoughts on Machiavelli, was Strauss über Farabi gesagt hat:
Er macht sich die spezifische Immunität des Kommentators oder des
Historikers zunutze, um in einem historischen Werk auszusprechen,
was er über einen ernsten Gegenstand denkt.44 Unter der Überschrift
«Machiavelli’s Teaching» präsentiert der Kommentator und Historiker
Strauss im ersten Teil von Kapitel IV «Machiavelli’s thought concerning
religion». Und er tut dies erklärtermaßen im Rückgang auf Machiavellis
intention.
Der Plan, dem der Philosoph Strauss in Kapitel IV folgt, ist mit der
Aufteilung in zwei der Religion und der Moral gewidmete Hälften in-
des unzureichend beschrieben. Auch das zentrale Thema bedarf einer
genaueren Bestimmung. Die 87 Absätze des Kapitels sind in 11 Ab-
schnitte gegliedert. Der 11. Abschnitt (IV, 82–87), der sich wie die letz-
ten Abschnitte der Kapitel II und III mit Machiavellis politischem
Unternehmen befaßt, resümiert die Kritik, die Strauss an Machiavellis
Lehre in Rücksicht auf deren weltgeschichtliche Folgen übt. Der Schluß
ist neben der Eröffnung des Buches der exoterischste Teil von Thoughts
on Machiavelli. Er trägt vornehmlich zur Verdunkelung des suprapoli-
tischen Gehalts von Machiavellis Denken bei, den die 10 vorangegange-
nen Abschnitte ans Licht gehoben und modelliert haben. Denn das
wahre, das alle anderen Themen verbindende, durchdringende und
übergreifende Thema der Absätze 1–81 ist der Philosoph: seine Natur

43 IV, 43 (231) und IV, 44 (231–232).


44 Farabi’s «Plato», p. 375.

– 69 –
und seine Tugend, seine Selbstbehauptung und seine Selbstverständi-
gung im Horizont der Aufgaben und der Ansprüche von Politik, Reli-
gion, Moral. Anfang und Ende der 10 Abschnitte treffen sich in der
Kennzeichnung der Schlüsselrolle, die der adäquaten Hermeneutik bei
der Wiedergewinnung des Verständnisses zufällt, «what philosophy
originally meant» (IV, 1). Der erste Absatz ordnet die Discorsi und den
Principe unter jene Bücher ein, die «their full meaning as intended by
the author» nicht freigeben, «unless one ponders over them ‹day and
night› for a long time» (IV, 1), und der letzte ist der einzige Absatz in
Kapitel IV, der den Adressaten beim Namen nennt, für den philosophi-
sche Bücher dieser Art geschrieben sind (IV, 81). Zu Beginn des 6. Ab-
schnitts (IV, 43–45), im ersten Absatz einer Zwischenbetrachtung, die
die Brücke zwischen den beiden «Hälften» bildet, lenkt Strauss die Auf-
merksamkeit des Lesers wie im ersten Absatz des 1. Abschnitts und im
letzten Absatz des 10. Abschnitts auf die Form der Mitteilung, die sorg-
fältig zu beachten hat, wer die Intention des Philosophen verstehen will.
Es ist hier, im Zentrum des hermeneutischen Dreischritts von Kapi-
tel  IV und im Zusammenhang der Aufklärung eines weitverbreiteten
Unverständnisses für die Intention «not only of Machiavelli but also of
a whole series of political thinkers who succeeded him», daß Strauss mit
Nachdruck «the art of allusive and elusive writing» in Erinnerung
bringt.45 Synchron mit der Trias zur philosophischen Kunst des Schrei-
bens in den Abschnitten 1, 6 und 10 artikuliert Strauss das Thema des
Kapitels durch die prägnante Ausweisung des philosophischen Autors,
die er in ebendiesen Abschnitten vornimmt. Der einleitende Abschnitt
(IV, 1–3) stellt Machiavelli als einen der «Weisen der Welt» vor, gegen
die Savonarola in der Nachfolge des Apostels Paulus Front gemacht
hatte. Er schlägt ihn den «Averroisten» zu, «die nicht nur die Mythen

45 «We no longer understand that in spite of great disagreements among those


thinkers, they were united by the fact that they all fought one and the same power –
the kingdom of darkness, as Hobbes called it; that fight was more important to
them than any merely political issue. This will become clearer to us the more we
learn again to understand those thinkers as they understood themselves and the
more familiar we become with the art of allusive and elusive writing which all of
them employ, although to different degrees. The series of those thinkers will then
come to sight as a line of warriors who occasionally interrupt their fight against
their common enemy to engage in a more or less heated but never hostile disputation
among themselves» IV, 43 (231).

– 70 –
der Heiden, sondern vor allem die Offenbarung und die charakteristi-
schen Lehren der Offenbarung zurückweisen». Er verlängert die Linie
von Machiavelli nach rückwärts zu den «Falāsifa», den Philosophen,
an deren Anfang Farabi steht (IV,  2).46 Im Brücken-Abschnitt tritt
Machiavelli dann als Begründer der modernen Politischen Philosophie
in Erscheinung (IV, 43). Und im 10. Abschnitt (IV, 69–81), der von der
Philosophie als dem Streben nach dem Gemeinsamen Guten im präzisen
Verstande und vom Leben gemäß der Natur handelt, wird Machiavelli
schließlich als Philosoph sichtbar, den kein historischer Index bestimmt,
keine Verlängerung nach rückwärts oder nach vorwärts erfaßt.
Sobald wir erkennen, daß der Philosoph das wahre Thema von Kapi-
tel IV ist, können wir die Frage beantworten, weshalb Strauss die Rei-
henfolge von Moral und Religion darin umkehrt. Während es einen
guten Sinn hat, bei der politischen Analyse des Volkes als Bewahrer der
Sitten, der Meinungen und der Ordnungen der Moral im Hinblick auf
das Bedürfnis wie auf die Wirkung den Vorrang vor der Religion
einzuräumen,47 rückt für die philosophische Selbstverständigung die
Religion an die erste Stelle, da die Forderungen der Moral die Wahrheit
der Religion voraussetzen, ohne deren Hauptbegriff und Mitte sie
ihren verpflichtenden Charakter einbüßen.48 In einer Präsentation von
Machiavellis Denken, die die Selbstverständigung des Philosophen zu
ihrem Thema macht, gebührt der Religion zudem der Vorrang, da die
Philosophie sich einzig durch den Wahrheitsanspruch der Religion
ernsthaft herausgefordert sieht.49 Auf Machiavellis Behandlung der
Religion in unmittelbar politischer Rücksicht verwendet Strauss den
5. Abschnitt (IV, 38–42), welcher der letzte und der, nach der Einlei-
tung, kürzeste Abschnitt der ersten Hälfte ist. Damit zeigt er an, wel-
ches Gewicht der Religion als soziologischem Phänomen in einer Dar-
stellung von Machiavellis Lehre zukäme, die auf deren Gehalt und

46 Als Überschrift für den mittleren Absatz der Einleitung von Kapitel IV notierte
Strauss: «M. not a ‹pagan› but a savio del mondo, i. e. a faylasûf [in Arabisch
geschrieben].»
47 Cf. The Law of Reason in the «Kuzari», Abs. 13, 34, 45, p. 109, 130, 140.
48 Cf. The Law of Reason in the «Kuzari», Abs. 12, 19, 24, 25, 28, 44, p. 106–108,
115, 121, 122, 124–126, 139. Beachte Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung.
Streifzüge eines Unzeitgemässen 5, KGW VI, 3, p. 107–108.
49 Siehe Reason and Revelation, in: Heinrich Meier: Leo Strauss and the
Theologico-Political Problem. Cambridge 2006, p. 149.

– 71 –
Reichweite als «politische Theorie» im konventionellen Sinn abstellte.
Die fünf Absätze in Thoughts IV, 38–42, die klar umgrenzt der berühm-
ten Fünfergruppe zur Religion in Discorsi I, 11–15 korrespondieren,
reichten aus, um die Lehre vom Nutzen und Nachteil der Religion für
die Politik zu umreißen.
Eine andere Verteilung der Gewichte ergibt sich, wenn die Konfron-
tation des Philosophen mit der Offenbarungsreligion in Rede steht. Sie
ist zunächst Gegenstand der elf Absätze, die auf die Einleitung von Ka-
pitel IV folgen. Ans Ende des 2. Abschnitts (IV, 14) stellt Strauss eine
substantielle Charakterisierung des Philosophen, die die Perspektive
bezeichnet, in der die vorausgehende Verhandlung der Religion gelesen
werden muß: als von Anfang an auf den Philosophen bezogen, an ihm
Maß nehmend und auf die Bedingungen seiner Existenz achtend. Der
2. Abschnitt (IV, 4–14) beginnt mit dem Christentum. Mit der Macht,
die, sowohl was die Politik als auch was die Philosophie betrifft, die
historische Lage der Neueren entscheidend prägt («the moderns are pri-
marily the Christians») und die für sie in beiden Hinsichten das
Haupthindernis bedeutet, das die Rückkehr zu den Tugenden der Alten
verwehrt («the decisive reason for the failure to imitate the ancients prop-
erly is precisely Christianity»). Den Auftakt bildet eine Erörterung,
die, von der Peripherie her das Zentrum ins Auge fassend oder von
außen nach innen vorstoßend, bei der Wirkung des Christentums auf
die Welt ansetzt, um sich dem zu nähern, was Strauss dreimal «the es-
sence of Christianity» nennt.50 Machiavellis Diagnose der Wirkung des
Christentums auf die Welt läßt sich auf die Formel bringen, daß es sie
schwach gemacht bzw. in ihrer Schwäche erhalten habe. Strauss legt drei
Ringe konzentrisch an: Die Welt, das Volk, der Mensch ist unter der
Herrschaft des Christentums wesentlich «unbewaffnet». Das christ-
liche Verbot oder der Rat, dem Übel nicht entgegenzutreten, ist contra
naturam und muß deshalb desaströse Konsequenzen zeitigen.51 Das

50 IV, 4–6 (176–180). Strauss zieht in den drei Absätzen nacheinander Discorsi I,
Proemio; II, 2 und III, 1 heran, Stellen, von denen er sagt, es handle sich um «the
three passages explicitly dealing with the essence of Christianity» (176). Das Wesen
des Christentums ist eine Kennzeichnung, die Strauss in die Erörterung einführt.
51 «… Machiavelli shows that the neglect of law enforcement, of human punish-
ment, leads to the consequence that either the evils will be eventually corrected
with non-legal violence or else that society will perish … Non-resistance to evil
would secure for ever the undisturbed rule of evil men. Resistance to evil is natural

– 72 –
Christentum hat die Wertschätzung für «die Ehre der Welt» nachhaltig
unterminiert, die das Handeln vieler stärkte und den Einsatz der Bürger
für das Gemeinwesen unterstützte. Es hatte freilich die Wahrheit auf
seiner Seite, als es den Glauben zerstörte, daß die Ehre das höchste Gut
sei. Der innerste Ring gibt Strauss Gelegenheit, in aller Deutlichkeit
festzustellen, daß Machiavelli «is undoubtedly concerned with teaching
the truth and the true way», und in diesem Zusammenhang, in direkter
Konfrontation mit der Wahrheit des Christentums, «the strongest state-
ment regarding truth which he ever makes» anzuführen: «It is truer than
every other truth that where men are not soldiers this is due to a fault of
the prince.» Strauss kommentiert die Sentenz aus Discorsi I, 21 in der
arithmetischen Mitte seiner Erörterung des Wesens des Christentums:
«That most perfect truth upholds the demand for the strength of the
world. Hence if Christianity has led the world into weakness, it cannot
be true. There is essential harmony between truth and worldly strength:
‹all those modes and those opinions deviating from the truth arise from
the weakness of him who is lord.›» Strauss läßt unerwähnt, daß Machia-
velli sich in seiner Kritik des Christentums eines Ad-hominem-Argu-
ments bedient, da er das Christus-Wort aus der Bergpredigt An ihren
Früchten sollt ihr sie erkennen als allgemein bekannt voraussetzen kann.
Aber er attestiert Machiavelli jetzt nicht nur, sich des Wahrheitsan-
spruchs des Christentums bewußt zu sein, sondern uns mit der aus-
drücklichen Bezugnahme auf die Wahrheit des Christentums  – die
Wahrheit, was den Ruhm der Welt als vermeintlich höchstes Gut be-
trifft – außerdem zu erkennen zu geben, «that he has come to grips with
that claim». Die Frucht, an der Machiavelli abliest, daß das Christentum
«nicht wahr sein kann», scheint daraus zu erwachsen, daß das Christen-
tum «humility, abjectness and contempt for things human» als das
höchste Gut ansieht. Der Grund, in dem die gegenwärtige Schwäche der
Welt wurzelt, ist damit indes noch nicht erreicht. Um ihn zu erreichen
und den Kern des Christentums freizulegen, geht Strauss einen Schritt
weiter als Machiavelli. Er spricht aus, was auszusprechen Machiavelli
sich versagt. Zuerst richtet er das Augenmerk des Lesers darauf, daß
Machiavelli seine Aussage, die Religion der Alten habe «worldly honor»
als das höchste Gut angesehen, durch eine zweite Aussage überholt,

to man as well as to any other living being. The counsel against resisting evil can
therefore lead only to evasion of that counsel» IV, 6 (180).

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wonach die Religion der Alten «greatness of mind, strength of the body
and all other things which are apt to make men very strong» als das
höchste Gut betrachtete. Danach verbindet er mit dieser Ersetzung, die
die Religion der Alten in den Dienst der Stärkung des Menschen stellt
und ihre Wahrheit in die Entfaltung seiner geistigen und körperlichen
Vermögen legt, eine analoge Operation mit konträrem Resultat, die von
Machiavelli angeregt wird: «He thus suggests a corresponding improve-
ment of his statement concerning the highest good as understood by
Christianity: the highest good is God who assumed humility and weak-
ness and thus consecrated humility and weakness.»52
Die «Schwäche der modernen Welt», für die Machiavelli das Chri-
stentum verantwortlich macht, ist weit davon entfernt, sich in einer
Dekadenz-Diagnose zu erschöpfen. Sie muß, wie Strauss in den drei
Absätzen über das Wesen des Christentums und im 2. Abschnitt insge-
samt zeigt, als Ausdruck einer grundsätzlichen Alternative begriffen
werden. Als Haupthindernis für die Erneuerung der Tugenden der Al-
ten erweist sich das Christentum deshalb nicht allein in Rücksicht auf
die Faktizität der gegenwärtigen Umstände, sondern zuallererst kraft
seiner Lehre vom höchsten Gut und der damit einhergehenden Herab-
setzung jener Tugenden, wo nicht Verneinung ihres Tugendcharakters.
Kein geschichtlicher Niedergang an ihm selbst, sondern die Zentralstel-
lung der christlichen humilitas verwehrt, um ein Beispiel zu geben, das
mehr als ein Beispiel ist, den Zugang zur klassischen magnanimitas.
Strauss stellt den zugrundeliegenden Konflikt scharf heraus, indem er
Machiavellis Erwiderung auf das unum est necessarium des Glaubens in
die Antwort «gute Waffen» faßt. In einer Fußnote, die er der «stärksten
Aussage» Machiavellis zur Wahrheit hinzufügt, nennt Strauss seine Sen-
tenz «good arms are the one thing needful», die im Text von Thoughts
on Machiavelli einmal davor und einmal danach aufscheint, «die antibi-
blische Wahrheit par excellence».53 Es liegt auf der Hand, daß die «guten
Waffen» sich sowenig bloß auf die Politik oder die Kriegsführung unter
Bedingungen des christlichen Äons beziehen, wie etwa die Unterschei-
dung der Stärke und Schwäche der Welt unter Bedingungen des Alter-
tums bloß auf die politische Freiheit der Republiken des Okzidents und

52 IV, 5 (178–179). Siehe Matthäus VII, 16 und 20. Beachte Anm. 41 und 48.
53 IV, 5, note 10 (330); II, 24 (82); IV, 30 (212); cf. IV, 13 (189) und IV, 18 (199). Siehe
Lukas X, 42.

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die despotische Servilität der Monarchien des Orients anzuwenden
wäre. Strauss’ Argument bewegt sich auf mehr als einer Ebene. Die ent-
scheidende Ebene haben wir erreicht, wenn seine Aussagen und Be-
stimmungen auf die Philosophie und das Leben des Philosophen An-
wendung finden. Auf ihr bedeutet das Eine, was not tut, Einsicht,
gegründet auf den freien Gebrauch der eigenen Vernunft, an der Spitze
der Tugenden, die ein selbstgenügsames Leben ermöglichen, und «gute
Waffen» sind insonderheit gute Gründe, um dieses Leben zu verteidi-
gen. Ein Leben, das sich aus dem Gehorsam des Glaubens verstehen
will, verneint das philosophische Leben in dessen raison d’être. Auch
und gerade dort, wo es der Kontemplation zum Ruhm der höchsten
Autorität Raum gibt, kann es nicht umhin, zur zentralen Aktivität des
Philosophen als einer durch keinen Gehorsam im voraus gebundenen
Aktivität nein zu sagen. Was schließlich die Demut betrifft, die Strauss
bei der Bezeichnung des Kerns des Christentums der Schwäche unmit-
telbar vorangehen läßt, so ist sie nach christlichem Verständnis wesent-
lich Gehorsam und die vollendete Verneinung des philosophischen Sat-
zes, daß Tugend Wissen sei. Sie ist Tugend in dem Maße, in dem sie sich
nicht als Tugend weiß. Denn wüßte sie sich als Tugend, wäre sie nicht
frei von Stolz und könnte sie nicht als die höchste christliche Tugend
gelten.54 Im 13. Absatz, der dem abschließenden Absatz des 2.  Ab-
schnitts über die «most excellent men» unmittelbar vorangeht, über-
setzt Strauss die antibiblische Wahrheit par excellence so: «According to
Machiavelli, man will not reach his highest stature if he himself does not
demand the highest from himself without relying on support from
powers outside of him, and if he cannot find his satisfaction in his
achievement as his own achievement. Not trust in God and self-denial

54 Martin Luther nennt die Demut «die aller hochste tugend». Er sagt von ihr:
«Got erkennet alleyn die demut/richtet auch vnnd offenbart sie alleyn/das der
mensch nymmer weniger von d’ demut weiß/denn ebenn wenn er recht demutig
ist.» Und er erläutert: «Rechte demut weyß nymmer das sie demutig ist/denn wo
sie es wißte/ßo wurd sie hohmutig von dem ansehen der selben schonen tugent/
ßondernn sie hafftet mit hertz/mut/vnd allen sinnen/an den geringen dingen/die
hat sie on vnterlaß ynn yhren augen.» Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt.
Ed. Otto Clemen II, p. 148, 150; Weimarer Ausgabe VII, p. 560, 562. Beachte zu
dieser Bestimmung der Demut als «allerhöchste Tugend» die Kritik, die Luther zu
Beginn der Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516 an der Tugend des Sokrates
übt.

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but self-reliance and self-love is the root of human strength and great-
ness.» Und weiter: «Consciousness of excellence on the part of excellent
men must take the place of consciousness of guilt or sin.»55
Doch kehren wir zum Gang des Arguments im 2. Abschnitt zurück.
Der erste Teil (IV, 4–8) ist der Herausforderung der Offenbarungsreli-
gion in der historischen Gestalt des Christentums gewidmet. Die Bibel,
die biblische Religion, der biblische Gott, das biblische Gebot oder die
biblische Moral werden in ihm nicht erwähnt. Allerdings legt bereits die
erste Anmerkung dem Leser nahe, eine frühere Stelle in Thoughts on
Machiavelli zu konsultieren. An ihr ist von den «Biblical demands for
humility and charity» die Rede, die Machiavelli den Nachweis abver-
langen, daß es sich bei der Tugend der Alten, die er den Neueren anemp-
fiehlt, um «echte Tugend» handelt. Strauss läßt den Leser nicht darüber
im unklaren, was ein solcher Nachweis für den Philosophen impliziert:
«To prove that ancient virtue can be imitated and ought to be imitated is
tantamount to refuting the claims of Biblical religion.» Die Zurückwei-
sung der Forderungen der biblischen Moral verlangt die Widerlegung
der Ansprüche der biblischen Religion, d. h. die Entkräftung ihres An-
spruchs auf Wahrheit und auf Gehorsam.56 Wir sind somit darauf vor-
bereitet, daß Strauss zügig vom Christentum zur biblischen Religion
fortschreiten wird. Der Übergang von der partikularen historischen
Manifestation zum fundamentalen Prinzip erfolgt im Zentrum des
2.  Abschnitts. Mit ihm geht einher, daß Strauss nicht länger von der
«Schwäche der modernen Welt» spricht, vielmehr die «Schwäche der
Welt» ins Auge faßt. Der Übergang wird durch das letzte Wort des ach-
ten Absatzes, Jerusalem, markiert, das nicht nur das Christentum mit
dem Judentum verbindet und beide entzweit, sondern für die Offen-
barungsreligion schlechthin steht.57 Der Übergang vom Wesen des

55 IV, 13 (189–190). Kurz zuvor formuliert Strauss im selben Absatz die biblische
Gegenposition: «one ought to put one’s trust less in flesh and blood, in men’s will,
and ultimately in one’s own arms, virtue and prudence than in prayer and in God. If
one were to follow the Bible, one could not count Moses among those new princes
who acquired their power by their own arms and their own virtue. One would have
to say that he deserves admiration ‹only with regard to that grace which made him
worthy to speak with God›» (189).
56 IV, 4, note 5 (329); III, 3 (86). Cf. I, 35 (51) und siehe IV, 5, note 10 (329–330).
57 IV, 8 (182). Strauss nennt Jerusalem nur noch einmal im Text, und zwar im
nächsten Absatz in der Fügung «the temple in Jerusalem», wobei er etwas sagt, das

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Christentums (IV, 5) zur Mitte der biblischen Religion (IV, 12) beginnt
mit einem kurzgefaßten Rückblick auf die Herkunft (IV, 9) und endet
mit einer knappen Skizze zum Sieg des Christentums (IV, 11). Im Zen-
trum steht eine scharfe Kritik der «wesentlich tyrannischen» Herr-
schaft, die für die «biblische Politie» charakteristisch ist (IV, 10). Der
politische Ansatz, den Strauss, ausgehend von Machiavelli, zur Analyse
der Entstehung und Entwicklung der Offenbarungsreligion in IV, 9–11
umreißt, läßt uns an die kritischen bzw. genealogischen Untersuchun-
gen in Spinozas Tractatus theologico-politicus und Nietzsches Antichrist
denken,58 von Hobbes, Rousseau oder Wellhausen nicht zu reden. Die
Übereinstimmung in den wichtigsten Punkten spricht weniger für den
Erfolg eines konspirativen Unternehmens als für die Sachhaltigkeit der
Analyse.59 «Christianity stems from the servile East … It stems more
particularly from a weak Eastern nation which had a very defective
polity.» Anders als für die Bürger der Römischen Republik, die ihre
Freiheit gestützt auf gute Waffen und gute Gesetze in inneren Kämpfen
errangen und in siegreichen Kriegen behaupteten, anders als für das
römische Volk, das aus der politischen Teilhabe das Selbstbewußtsein
gewann, um die öffentliche Sache zu seiner Sache zu machen und sich
mit dem Vaterland zu identifizieren, war für das jüdische Volk das Land
der Väter aufgrund der langen Zeit der Unterdrückung oder des Exils
ein Gegenstand der Sehnsucht und nicht ein Raum gelebter Freiheit und
erfahrener Selbstbestimmung. Die Sehnsucht nach dem Gelobten Land
wird im Christentum in die Sehnsucht nach dem himmlischen Vater-

Machiavelli, wie er hinzusetzt, sich zu sagen enthielt: IV, 9 (183). Machiavelli


erwähnt Jerusalem einmal in Discorsi II, 32.
58 Aus dem Tractatus theologico-politicus, der in Thoughts on Machiavelli nicht
erwähnt wird, inkorporiert Strauss in IV, 18 (199) ein modifiziertes Zitat («nam
nulla divinae justitiae vestigia reperiuntur, nisi ubi justi regnant»), das er 14 Jahre
später in seinem letzten Aufsatz über Machiavelli als Spinoza-Wort ausweisen
wird. Niccolo Machiavelli, in: Leo Strauss and Joseph Cropsey (Eds.): History of
Political Philosophy. Second Edition, Chicago 1972, p. 274. Cf. Spinoza: Tractatus
theologico-politicus XIX, Ed. Carl Gebhardt, p. 231, 30–31. – Der Antichrist ist eines
von zwei Büchern Nietzsches, die Strauss ausdrücklich erwähnt und heranzieht:
IV, 17, note 52 (332). Nietzsche führt die Begriffe des Krieges und der Propaganda
des Christentums bzw. der christlichen Propaganda im Zentrum des Traktats ein,
der im Gewande einer Schrift zum Zweck antichristlicher Propaganda die Frage
verhandelt, was ein Philosoph ist. Der Antichrist 31, KGW VI, 3, p. 199–200.
59 Cf. III, 52 (163–164); III, 58 (171); IV, 43 (231).

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land verwandelt und in den Dualismus von himmlischem und irdischem
Vaterland übersetzt: «the true Christian is an exile on earth who lives in
faith and hope and who arouses these passions in others.»60 In der ge-
schichtlichen Wirklichkeit bedeutet der Glaube an den Dualismus von
himmlischem und irdischem Vaterland die Verankerung des dominie-
renden Einflusses der transpolitischen Religion auf die Politik und die
Sicherung der direkten oder indirekten Herrschaft der Geistlichen im
Gemeinwesen. Die Priesterherrschaft ist das wichtigste politische Erbe
der «biblischen Politie», das in der Respublica Christiana fortwirkt und
das sie nicht nur aus historisch kontingenten Gründen an ihre Herkunft
bindet. Die Kritik an der Herrschaft der Priester, die ihre Autorität
auf die höchste Autorität der Offenbarungsreligion zurückführen, eint
Machiavelli mit allen politischen Philosophen, die nach ihm kommen.
«The chief reason why Machiavelli opposed the direct or indirect rule of
priests was that he regarded it as essentially tyrannical and even, in prin-
ciple, more tyrannical than any other regime. Commands which are
alleged to be derived from divine authority or given by virtue of divine
authority are in no way subject to approval by the citizen body however
wise and virtuous.» Aus Strauss’ Präsentation von Machiavellis Kritik
der Politischen Theologie erhellt der prägnante politische Sinn der
«antibiblischen Wahrheit», daß gute Waffen das Eine sind, was not tut.61
Strauss steht nicht an, in der arithmetischen Mitte seiner Erörterung
von Machiavellis prinzipieller Opposition gegen das tyrannischste Re-
gime die «klassische Tradition» der Philosophie ins Spiel zu bringen:
«In his judgment on the rule or supremacy of priests Machiavelli merely
follows the classical tradition. Plato’s rule of philosophers is meant to
replace the Egyptian rule of priests.» Strauss bescheinigt Machiavelli, in
einer Frage von größter politischer Tragweite mit Platon und dem im
unmittelbaren Anschluß genannten Aristoteles eines Sinnes zu sein. Die

60 IV, 9 (182–183).
61 Strauss schreibt am Ende von IV, 10 (185): «If a government is based on divine
authority, resistance is in principle impossible; the rulers have nothing to fear. On
the other hand, if a government is based on arms and if the citizen body is armed
and virtuous, misgovernment can easily be prevented.» In der ersten Hälfte des
Absatzes hatte er erklärt: «If the fundamental alternative is that of rule of priests or
rule of armed men, then we understand why Machiavelli suggested that the truth
‹where men are not soldiers, this is due to a fault of the prince› is the greatest truth»
IV, 10 (184).

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Kritik an der Herrschaft der Priester eint Machiavelli auch mit allen
politischen Philosophen, die ihm vorausgingen. Der Auftritt von Platon
und Aristoteles – es ist der erste in Kapitel IV – unmittelbar vor Strauss’
Erläuterung der Faktoren, die zum historischen Sieg des Christentums
beitrugen, erinnert den Leser aber vor allem daran, daß die Tradition,
die Strauss für gewöhnlich mit dem Titel «classical political philoso-
phy» auszeichnet, den beispiellosen Aufschwung der Priesterherrschaft,
mit dem Machiavelli sich konfrontiert sah, nicht zu verhindern wußte
und Machiavelli mithin guten Grund gehabt haben mag, die «klassische
Tradition» einer Revision zu unterziehen und von ihr abzuweichen, um
sie zu erneuern. Tatsächlich deutet Strauss in seiner Genealogie an, daß
die klassische Philosophie den Triumph des Christentums nicht nur
nicht verhindert, sondern, ohne es zu beabsichtigen, zu ihm beigetragen
hat. Er unterzieht sich der Aufgabe, an Machiavellis Stelle zu erklären,
wie das Christentum, das die Welt schwach machte, zur eigenen Macht-
entfaltung gelangte: «We must try to show how he could have account-
ed on the basis of his principles for the victory of Christianity.» Die Er-
klärung, die er in Absatz IV, 11, einem der kürzesten und einem der
wenigen Absätze ohne jede Anmerkung, gibt, nennt Strauss im Manu-
skript, für sich notiert, schlicht: «Rational account of victory of Chris-
tianity.» Nötigt die Schwäche der Welt zum Rückgang auf Jerusalem, so
verlangt der Aufstieg des Christentums zur Macht den Rückblick auf
Rom. Es war das Römische Reich, das dem Christentum den Boden
bereitete, politisch, moralisch, strategisch. «Rome had destroyed free-
dom and the spirit of freedom in the only part of the world in which
freedom ever existed. Rome itself had become corrupt. The Romans
had lost their political virtue. Roman men and especially Roman wom-
en became fascinated by foreign cults.» Das Kaiserreich erweiterte
die Ausgangsbedingungen des «servilen Ostens» im kosmopolitischen
Maßstab. «Christianity originated among people who completely lack-
ed political power and therefore could afford to have a simple belief in
morality. The severe morality preached and practiced by the early Chris-
tians created respect and awe especially in those subjects of the Roman
empire who equally lacked political power.» Die Predigt der religiösen
Demut richtete die politisch Gedemütigten auf und erhob die Knechte
über ihre Herren. Die Sicherheit des Glaubens widerstand und speiste
sich aus der Unsicherheit der Ordnung. Aus der Schwäche der Welt
erwuchs die Stärke des Christentums. «It thus was enabled to inherit

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the Roman empire and whatever remained of the classical arts and
sciences. In this shape it confronted and over-awed the young and vigor-
ous if rude nations which conquered the Roman empire.» Das Erbe der
Alten, die Künste, die Wissenschaften und die von Strauss diskret
ausgesparte Philosophie in ihrer Mitte, gab dem Christentum das Wis-
sen und die Bildung, um seine Mission in alle Himmelsrichtungen zu
tragen, die Waffen und die Instrumente, um seine Herrschaft für das
nächste Jahrtausend aufzurichten.62
Strauss läßt der Skizze zum geschichtlichen Sieg, den das Christen-
tum errang, eine pointierte Charakterisierung der Herrschaft folgen, die
es zur Zeit Machiavellis ausübte. Er stellt die «fromme Grausamkeit»
als das Merkmal heraus, in dem die Neueren sich den Alten als überle-
gen erwiesen, und zieht als zeitgenössisches Exempel, in dem dieses
Merkmal seinen Ausdruck fand, die Vertreibung der Marranen durch
König Ferdinand den Katholischen heran.63 Machiavellis Kritik der
«frommen Grausamkeit» dient Strauss in einem Absatz, der mit Machia-
velli beginnt und mit God endet, als Ausgangspunkt, um zu «einer tiefe-
ren Schicht von Machiavellis Argument» vorzustoßen. Er geht in IV, 12
von der politischen Praxis auf das religiöse Prinzip, von der «frommen
Grausamkeit» auf die «biblische Lehre» und schließlich auf den «bibli-
schen Befehl» zurück – dem vierfachen Auftritt von pious cruelty ent-
spricht die viermalige Erwähnung von Biblical teaching und das vierfache
Aufbieten von Biblical command –, die die «fromme Grausamkeit» «als
eine Pflicht», d. h. als gottgefällig, erscheinen lassen und dem Gläubigen

62 IV, 11 (185–186), meine Hervorhebung. Beachte III, 24 (118).


63 Im 52. Absatz von What Is Political Philosophy?, an dessen Ende das Wort vom
«anti-theological ire» fällt, hatte Strauss 1955 gleichfalls die neue Qualität der
«frommen Grausamkeit» herausgestellt: «Moral virtue had been transfigured into
Christian charity. Through this, man’s responsibility to his fellow men and for his
fellow men, his fellow creatures, had been infinitely increased. Concern with the
salvation of men’s immortal souls seemed to permit, nay, to require courses of
action which would have appeared to the classics, and which did appear to
Machiavelli, to be inhuman and cruel: Machiavelli speaks of the pious cruelty of
Ferdinand of Aragon, and by implication of the inquisition, in expelling the
Marannos from Spain. Machiavelli was the only non-Jew of his age who expressed
this view. He seems to have diagnosed the great evils of religious persecution as a
necessary consequence of the Christian principle, and ultimately of the Biblical
principle» (p. 43–44).

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im Eifer seines Handelns ein gutes Gewissen geben. «According to the
Biblical teaching, love of the neighbor is inseparable from love of God
whom one is commanded to love with all his heart, with all his soul, and
with all his might.» Strauss hatte den Zusammenhang zwischen dem
Gehorsam des Glaubens gegenüber dem «jealous God of the Bible who
demands zealous love» und den politischen Auswüchsen von «pious
cruelty or pitiless persecution» schon in seiner Erörterung der Discorsi
in Kapitel III beleuchtet.64 Doch der Kern der Auseinandersetzung
kommt erst in Kapitel IV zur Sprache, in dem der Philosoph das Thema
ist und die raison d’être seiner Existenz in Rede steht. Die tiefste Schicht
des Arguments wird freigelegt, wenn Strauss im 26. Satz von IV, 12 über
Machiavelli zu sich und zu uns sagt: «We must try to understand what
he meant by indicating that the Biblical God is a tyrant.»65 Die Formu-
lierung, die Strauss wählt, ist ersichtlich parallel zur Aufgabenstellung
des vorangegangenen Absatzes: «We must try to show how he could
have accounted on the basis of his principles for the victory of Christi-
anity.» Abermals unterzieht Strauss sich bereitwillig der Aufgabe, für
Machiavelli zu sprechen und an dessen Statt aufzuklären, was der Auf-
klärung bedarf. In beiden Fällen geht es um ein rational account bzw. ein
reasoning,66 eine Darstellung und eine Begründung, die der Vernunft
genügt. In IV, 11 betraf sie ein Ereignis von erheblicher politischer Be-
deutung; in IV, 12 betrifft sie ein Urteil von größter politischer und phi-
losophischer Tragweite. Strauss gibt die Begründung, die Machiavelli
uns vorenthält, in den 13 Sätzen, die sich an den 26. Satz anschließen.
Am Anfang steht der Befehl, der die Offenbarung ist, die Autorität, die

64 III, 48 (157). Siehe außerdem III, 39 (143), III, 51 (160) und III, 54 (167). Francis
Bacon hat in der Nachfolge Machiavellis den Unterschied zwischen den heidnischen
Göttern und dem biblischen Gott und mithin zwischen den Alten und den Neueren
in De sapientia veterum XVIII, Diomedes sive zelus, konzise bezeichnet: «dii
ethnici zelotypia, quod est Dei veri attributum, non tangerentur» (Ed. Spedding,
Ellis, Heath, Bd. 6, p. 658).
65 In der Anmerkung, die Strauss dem 26. Satz hinzufügt, note 33 (331), verweist
er den Leser an die Auslegung von Discorsi I, 26, die er in Kapitel I, 34 (49) exponiert
hat (siehe oben S. 62 und Anm. 32). – Zahlen spielen in IV, 12 eine auffällige Rolle:
Beim Biblical God im 26. Satz handelt es sich um die sechste von insgesamt elf
Verwendungen von Bible und Biblical und um die einzige von Biblical God. Tyrant
ist das 17. Wort des 26. Satzes. God kommt im Absatz siebzehnmal vor.
66 Beachte IV, 21 (202).

– 81 –
Gehorsam nicht nur im Handeln, sondern zuallererst im Glauben ver-
langt und die die Gedanken, die sich nicht befehlen lassen, zur Sünde,
den Ungehorsam, der das Denken ist, zum Verbrechen macht. Der Auf-
takt zeigt, daß Strauss’ Begründung die zentrale Aktivität des Philoso-
phen und mithin den notwendigen Konflikt mit seiner Natur ins Auge
faßt. «The Biblical command is revealed; its acceptance is based not on
reason but on authority; authority will not be accepted in the long run
by many people if it cannot use compulsion ‹in order to keep firm those
who already believe and in order to make the unbelievers believe›; for
not only actions but beliefs are demanded. To demand belief is to stamp
as criminal or sinful thoughts of a certain kind which man cannot help
thinking precisely because of the unevident character of what man is
commanded to believe; it means to induce men to confess with their
tongues what they do not believe in their hearts; it is destructive of
generosity.»67 Die Freigebigkeit, auf die sich der biblische Befehl zerstö-
rerisch auswirkt, ist unschwer als die Bereitwilligkeit des Philosophen
zur Mitteilung der Wahrheit auszumachen. Ihre Erwähnung bekräftigt,
daß die Aussagen in Strauss’ Argumentation ihren vollen Sinn erst dann
enthüllen, wenn sie auf den Philosophen bezogen werden. Daß die Aus-
sagen im höchsten Maße für den Philosophen gelten, gibt der Argumen-
tation ihre besondere Stringenz und ihre Immunität gegen historische
Kontingenzen aller Art, da sie in der Selbsterkenntnis des Philosophen
gründet. So weiß der Philosoph zu erklären, was für den Gehorsam des
Glaubens ein Glaubenssatz bleibt, der auf einem zutiefst verstörenden

67 IV, 12, 27–28 (188). Das Zitat, das Strauss im ersten der 13 Sätze verwendet, ist
das einzige Zitat von Machiavelli (Principe VI), der in der Begründung nicht
namentlich erwähnt wird. Vier der ersten sechs Sätze, die Sätze 1, 3, 4 und 6,
beginnen gleichlautend: «The Biblical command …»  – Cf. Thomas Hobbes:
Leviathan IV, ch. 46: «There is another error … which they never learned of
Aristotle, nor Cicero, nor any other of the heathen, to extend the power of the law,
which is the rule of actions only, to the very thoughts and consciences of men, by
examination, and inquisition of what they hold, notwithstanding the conformity of
their speech and actions. By which, men are either punished for answering the truth
of their thoughts, or constrained to answer an untruth for fear of punishment.»
«… to force him to accuse himself of opinions, when his actions are not by law
forbidden, is against the law of nature; and especially in them, who teach, that a man
shall be damned to eternal and extreme torments, if he die in a false opinion
concerning an article of the Christian faith» (Ed. Michael Oakeshott, p. 448).

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Mysterium beruht: daß und weshalb der Mensch vor dem Gebot des
biblischen Gottes ungehorsam werden muß. «The Biblical command
cannot be fulfilled: all men are sinners; the universality of this proposi-
tion proves that all men are necessarily sinners; this necessity must de-
rive from a disproportion between the command and man’s nature or
original constitution.» Ungeachtet des Mißverhältnisses zwischen dem
biblischen Befehl und der Natur, in dem die Rebellion gegen den Gott
der Offenbarung ihren Grund hat, und unbeschadet der biblischen
Lehre, daß der Ungehorsam gegen und die Entfremdung von Gott für
sich genommen das absolute Elend sei, ist der Gehorsam des Glaubens
genötigt, darauf zu bestehen, daß die Rebellion zusätzlich als ein Ver-
brechen bestraft werde. Aber ein Verbrechen gegen den Heiligen Gott
verlangt eine ewige, eine unendliche Strafe. «The God of Love is neces-
sarily an angry God who ‹revengeth and is furious› and ‹reserveth wrath
for his enemies,› a consuming fire, who has created Hell before he
created man, and the fire of Hell is reflected in the fire with which the
enemies of God are burned at the stake by faithful men.»68 Im eifrigen
Gott ist die Mitte der biblischen Religion erreicht. Mit dem Auftritt der
Hölle, die er im letzten seiner 13 Sätze einführt, macht Strauss, von Ma-
chiavelli abweichend,69 die Verbindung zwischen der biblischen Lehre
und der frommen Grausamkeit augenfällig. Der politisch-theologi-
sche Zusammenhang, der vom Widerschein des Feuers erhellt wird, in
dem die Feinde Gottes auf dem Scheiterhaufen verbrennen, den ihnen
ihre Verfolger bereiten, ist der spektakuläre Schlußpunkt von Strauss’
Begründung. Er ist indes nicht ihr wichtigster Aspekt. Als ungleich
wichtiger erweist sich ihr Ertrag für das philosophische Argument der
Natürlichen Theologie.
Das Argument der Natürlichen Theologie wird in Thoughts on
Machiavelli nicht im Zusammenhang entwickelt, sondern in Stücken
vorgestellt, die der Leser, der es verstehen will, selbst zusammenfügen
muß. Damit bleibt das Argument sein Werk. Strauss bedient sich eines

68 IV, 12, 30 und 39 (188), Sätze 4 und 13 in Strauss’ Begründung. Das Zitat in Satz
13, das zweite und letzte, das Strauss in seiner Argumentation verwendet, entstammt
Nahum I, 2. In Luthers Übersetzung lautet der Vers vollständig: «Der Herr ist ein
eifriger Gott und ein Rächer, ja, ein Rächer ist der Herr und zornig, der Herr ist ein
Rächer wider seine Widersacher und der es seinen Feinden nicht vergessen wird.»
69 «… he never mentions hell» I, 19 (31).

– 83 –
Kunstgriffs seiner Vorgänger Farabi und Machiavelli, wenn er Aussagen
und Hinweise so aufteilt und verstreut, daß sie ihre eigentümliche Kraft
nicht eher entfalten, als bis sie in ihrer Zusammengehörigkeit erkannt
und bedacht sind.70 Dem entscheidenden Attribut der Natürlichen
Theologie, der Weisheit, begegnet der Leser von Strauss’ 13 Sätzen des-
halb nicht in IV, 12. Er muß sich bis zum Ende des 13. Absatzes gedul-
den. Dort nimmt Strauss zum ersten Mal auf die Weisheit Bezug, in statu
negationis. Vorausgegangen war in Kapitel IV einzig, im zweiten Absatz,
der dreifache Hinweis auf die «Weisen der Welt», die «die Offenbarung
und die charakteristischen Lehren der Offenbarung» zurückweisen. Im
zweitletzten Satz von IV, 13 lesen wir also: «… a punishment for sin
which compels men to sin still more … does not appear to be wise.» Ein
Urteil, das offenkundig für den Kern des Konflikts einschlägig ist, den
Strauss im vorausgegangenen Absatz verhandelt hat. Der letzte Satz
unterstreicht den Rückbezug, indem er einen Kardinalpunkt der Be-
gründung der 13 Sätze rekapituliert: «It is then ultimately the nature of
man and of man’s situation which accounts for the necessity to sin.»71
Die Natürliche Theologie der Philosophen hat ihren Gegenstand in der
Frage τί ἐστι θεόϛ, die mit der Philosophie gleichen Ursprungs ist. Ihr
fällt das Nachdenken über die Attribute, die Erörterung der Bestim-
mungen, der Ausweis der Kriterien zu, nach denen die Frage Was ist ein
Gott? fragt. Sie bezeichnet ein Unterfangen der Reflexion und der Kri-
tik.72 Ein Tyrann, der nicht weise ist, genügt dem Maßstab der Natür-

70 Siehe I, 34 (48–49) zu Discorsi I, 25 in fine und 26 sowie Principe XXVI.


71 IV, 13 (192). Der 17. Satz lautet bereits: «Man is by nature compelled to sin.» In
IV, 13 kommt nature neunmal, God viermal vor.
72 Die Natürliche Theologie ist nicht zu verwechseln mit der Natürlichen Religion,
bei der es sich um eine Lehre handelt, die Philosophen vortragen, um dem Bedürfnis
des Glaubens zu geben, was die Vernunft ihm geben kann. Die Natürliche Religion
hat ihre raison d’être mithin im Glauben der Adressaten der Lehre, die Natürliche
Theologie dagegen in der Selbstverständigung der Philosophen. Zur Unterscheidung
von Natürlicher Theologie und Natürlicher Religion siehe das zweite Buch meiner
Schrift Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus
«Rêveries» in zwei Büchern. München 2011, insbes. p. 295–296, 300, 305, 327–335,
339–343, 348–349, 362–363, 371, 406–410, 438. – Zur Frage Was ist ein Gott?, ihrer
Geschichte und ihrer Sache, cf. Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unter-
scheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie. Stuttgart–Weimar 1994,
p. 138–141 und (Dritte Auflage, 2009) p. 299–300 sowie Das theologisch-politische
Problem. Zum Thema von Leo Strauss. Stuttgart–Weimar 2003, p. 45–47.

– 84 –
lichen Theologie nicht. Aufgrund seines Mangels an Weisheit bleibt ihm
die Anerkennung der Philosophen versagt.73 Und wofern er als Tyrann
verstanden wird, verliert er darüber hinaus den Rückhalt des Glaubens.
Denn in der Begründung der 13 Sätze kreuzen sich zwei Linien der
Argumentation: das Argument der Natürlichen Theologie, das seinen
Fluchtpunkt im Attribut der Weisheit hat, und ein Ad-hominem-Ar-
gument, das die Attribute ins Auge faßt, die der Offenbarungsglaube
proklamiert. Vorbereitet wird das Treffen der beiden Argumente im
zentralen Absatz der vier Kapitel von Thoughts on Machiavelli. Strauss
verleiht an jenem Ort Machiavellis thought über das Verhältnis Aus-
druck, in dem die biblischen Schriftsteller zum biblischen Gott stehen:
«The Biblical writers present themselves as historians, as human beings
who report what God said and did, while in fact they make God say and
do what in their opinion a most perfect being would say and do; the
ground of what presents itself as the experience of the Biblical writers is
their notion of a most perfect being; that notion is so compelling that the
‹Ought› comes to sight as ‹Is›; this connection is articulated by the onto-
logical proof; there is no way which leads from ‹the things of the world›
to the Biblical God; the only proof which commands respect, although
it is not a genuine proof, is the ontological proof.»74 Der ontologische
«Beweis» ist achtunggebietend, weil und insofern er von der Vollkom-
menheit Gottes seinen Ausgang nimmt und eine Erörterung der alles
entscheidenden Frage anhand der Kriterien erlaubt, die durch die Be-
stimmung der Vollkommenheit gefordert sind. Die Prüfung der Attri-
bute, die einem Wesen zugesprochen werden müssen, das im höchsten
Verstande als vollkommen soll gelten können, steht im Zentrum der
Auseinandersetzung des Philosophen mit dem Gehorsamsanspruch des
Offenbarungsglaubens.75 Sie verbindet das Argument der Natürlichen
Theologie mit dem Ad-hominem-Argument der Philosophischen Dia-
lektik, wobei jene die Attribute der Weisheit, der Selbstgenügsamkeit,
der Güte herausstellt und diese auf die Attribute eingeht, die der Glaube

73 Beachte Socrates and Aristophanes, p. 33.


74 III, 42 (148). Zur Fortsetzung der Stelle siehe Anm. 39. – III, 42 ist der 105. der
209 Absätze der Kapitel I–IV (37+26+59+87).
75 Zu den Konsequenzen, die sich ergeben, wenn dem «vollkommensten Wesen»
das Attribut der Existenz abgesprochen wird, obschon es kein echtes Attribut ist,
siehe Socrates and Aristophanes, p. 143 und beachte Reason and Revelation, p. 163.

– 85 –
einem vollkommenen Wesen beilegt, insonderheit seine Gerechtigkeit,
seine Liebe, seinen Eifer.76 Deshalb lenkt Strauss unsere Aufmerksam-
keit auf den Nerv von Machiavellis Argument, wenn er in IV, 12 beide
Ansätze zusammenführt, um sie in Einem Begriff zu verschränken, und
uns auffordert: «we must try to understand what he meant by indicating
that the Biblical God is a tyrant.»77 Die einzigen Wesen, von denen

76 Cf. I, 35 (50–51) einerseits, III, 45 (152) andererseits und siehe Anm. 64.
77 Man hat Machiavellis fundamentale Kritik des biblischen Gottes, die Strauss als
erster namhaft machte, in ein Kompliment für den christlichen Gott umzudeuten
versucht. Diesem irregeleiteten Versuch liegt die Meinung zugrunde, «Tyrann» sei
für Machiavelli ein Ausdruck der Wertschätzung, Machiavelli habe die Umgestal-
tung der Welt künftigen Tyrannen zugedacht und sich selbst als Tyrannen
imaginiert, der vermittels seiner Lehre eine Herrschaft aufrichtete, die zu seinem
Ruhm die Jahrhunderte überdauerte. Machiavellis Auseinandersetzung mit dem
Christentum erscheint nach dieser Meinung als ein wesentlich historischer Kon-
flikt, in dem ein Wille zur Macht einem anderen Willen zur Macht entgegentritt, ein
Tyrann sich mit einem anderen Tyrannen mißt, eine neue Ordnung mit einer alten
Ordnung im Streit liegt. Die Meinung setzt voraus, daß Machiavelli den principe
nuovo für den höchsten Typus hielt, daß er sich vom Primat der Praxis bestimmen
ließ, daß er kein Philosoph war. Ganz anders Strauss. Er enthüllt die «ungeheure
Blasphemie» in Discorsi I, 26 nicht, um die Leser mit einer spektakulären Enthüllung
zu beeindrucken, sondern um Zug um Zug sichtbar zu machen, daß Machiavelli in
seiner Auseinandersetzung mit der Offenbarungsreligion über ein Argument
verfügt, das deren Anspruch ernst nimmt und ihn mit Gründen zurückweist. Für
Strauss geht es darum, Machiavelli als Philosophen zu denken. Deshalb spricht er
im 26. Satz von IV, 12 auch vom biblischen und nicht vom christlichen Gott, ganz
ebenso wie in Discorsi I, 26 unbestreitbar der biblische Gott in Rede steht. – In
seiner letzten Veröffentlichung zu Hobbes gibt Strauss Hinweise auf das Argument
der Natürlichen Theologie, die im Licht des 2. Abschnitts von Kapitel IV sehr viel
deutlicher werden. Ein Jahr nach der ausführlichen Behandlung und historischen
Einordnung der Politischen Philosophie von Hobbes in Natural Right and History
setzt Strauss 1954 neu an, um sich deren Grundlage zuzuwenden. Der zentrale Teil
von On the Basis of Hobbes’s Political Philosophy – er umfaßt die Absätze 16–21
(p.  182–189), die in der französischen Erstveröffentlichung zusätzlich als dritter
von fünf Abschnitten des Textes gekennzeichnet sind – ist Hobbes’ Auseinander-
setzung mit der Offenbarungsreligion gewidmet. In der Mitte des Abschnitts
deutet Strauss zwei mögliche Ansätze von Hobbes an. Zunächst (Abs. 18, p. 186)
behandelt er den Versuch, auf die philosophische Frage eine politische Antwort zu
geben, d. h. das Christentum im Zusammenwirken von politischer Souveränität
und Aufklärung zu besiegen, die Religion durch die Umgestaltung der menschlichen
Lebensverhältnisse im Ganzen auszuzehren und die Herausforderung des Offen-

– 86 –
Strauss in Thoughts on Machiavelli sagen wird, daß für sie Sein und Sol-
len zusammenfallen, sind «men of extraordinary virtue or prudence».
Vermöge der außerordentlichen Tugend, die in ihrer Natur begründet
ist, gilt für sie: «they cannot do what they ought not to do and they must
do what they ought to do; in their case the dictates of prudence have
compulsory power.» Die höchste Klugheit aber besteht darin, «sich das
weiseste Ziel zu setzen», das unter den gegebenen Umständen möglich
ist. Die höchste Klugheit bewährt sich, mit anderen Worten, in der
festen Ausrichtung an der Weisheit. Es kann kein Zweifel daran sein,
daß Strauss’ Rede von der Koinzidenz von «Is» und «Ought», die durch
die höchste Klugheit bewirkt wird, die Philosophen im Blick hat. In
vollkommener Übereinstimmung mit dem zugrundeliegenden Argu-
ment markieren die Philosophen auch den Schlußpunkt des so wichti-
gen 2. Abschnitts von Kapitel IV. Den «most excellent men» wird in IV,
14 bescheinigt, daß sie sich von den Launen des Schicksals nicht er-
schüttern lassen; daß sie vermöge ihrer Kenntnis der Welt, ihres Wissens
der Natur, ihrer Einsicht in die Notwendigkeit ihr Leben mit Gleich-
mut führen, ohne Hoffnung und ohne Furcht oder Zittern; daß sie Be-
dauern empfinden mögen, aber kein Bedürfnis nach Reue oder nach
Erlösung verspüren. «Imitating nature, they will be filled with both grav-
ity and levity but they will be free from fanaticism. They will not ex-
pect to find perfection or immortality anywhere except in works of art.»

barungsglaubens schließlich historisch zu erledigen. Der frühe Strauss hatte in


Rücksicht auf ein solches Unternehmen, das theologisch-politische Problem zu
lösen bzw. zu umgehen, einmal von einer «wahrhaft Napoleonischen Strategie»
gesprochen (Philosophie und Gesetz, p. 21). Danach (Abs. 19–20) wendet er den
Blick um in Richtung der Natürlichen Theologie, deren Argument er ostentativ
ausspart. («According to Hobbes …, if ‹the things› do not supply a sufficient reason
for assent, the understanding, if awake, necessarily doubts, and this doubt is not
subject to the will …» «Hobbes argues against the possibility of revelation also in
this way…» «Hobbes attempts to refute revealed religion more specifically by
attempting to prove that the content of the Biblical revelation is against reason. We
mention here only what he indicates in regard to the relation between the Biblical
teaching and ‹the morality of natural reason›», p. 187, meine Hervorhebung.) Die
Ergänzung, die Strauss 1959, nach der Veröffentlichung von Thoughts on Machia-
velli, in note 2 des Aufsatzes vornimmt (siehe Anm. 20) und auf deren Bedeutung er
später zweimal, 1964 im deutschen Vorwort zu Hobbes’ politische Wissenschaft und
1971 im «Preface to the 7th impression» von Natural Right and History, mit
Nachdruck hinweist, gehört ebenfalls in den Umkreis der Natürlichen Theologie.

– 87 –
In dieser bemerkenswerten Charakterisierung, die auf die abschlie-
ßende Verhandlung des «most excellent man» in IV, 81, am Ende des
10. Abschnitts, vorausweist, dürfen wir das Unterfangen der Vervoll-
kommnung der eigenen Natur vermittels der Kunst, insbesondere der
Kunst des Schreibens, dem gravity-Pol und die Erwartung des unsterb-
lichen Ruhms, der aus den Werken dieser Kunst erwächst oder nicht
erwächst, dem levity-Pol zuordnen. Der letzte Satz des Abschnitts
weist unverkennbar zurück auf die Kritik der christlichen Tugend der
Demut oder des vollendeten Gehorsams: «They will regard as the virtue
opposite to pride or arrogance, not humility, but humanity or gener-
osity.»78
Nachdem Strauss sich im 2. Abschnitt auf das Zentrum und den
Zusammenhang der philosophischen Auseinandersetzung mit der bibli-
schen Lehre konzentriert hat, wendet er sich im 3. (IV, 15–25) Machia-
vellis Kritik einzelner Doktrinen zu, vom Gewissen (IV, 15) über die
Vorsehung (IV, 16–19) und die Unsterblichkeit der Seele (IV, 19) bis zur
Erschaffenheit der Welt aus dem Nichts (IV, 20), woran er eine Erörte-
rung der Reichweite dieser Kritik anschließt (IV, 21–25). Die Eröffnung
von IV, 15, in der Strauss zum erstenmal in Kapitel IV ausdrücklich auf
Machiavellis Lehre Bezug nimmt, wirft die Frage auf, weshalb Strauss
den Durchgang durch die Doktrinen beim Gewissen beginnt und nicht
etwa bei der Vorsehung, die das Ganze regiere, oder bei der Schöpfung,
die aller Dinge Anfang sei: «This is the place to survey Machiavelli’s
teaching regarding the conscience.» Warum ist der Auftakt des neuen
Abschnitts der richtige Ort, das Gewissen zum Thema zu machen? Die
naheliegende Antwort scheint zu sein, daß Machiavellis Erklärung des
Offenbarungsglaubens, wie Strauss in der Mitte der vier Kapitel fest-
hielt, «his destructive analysis of the phenomenon known to us as the
conscience» voraussetzt. Tatsächlich gibt Strauss in IV, 15 einschlägige
Hinweise zur Analyse. So zur anthropologischen Funktion des guten
Gewissens, das dem moralischen Menschen die Möglichkeit eröffnet,
Zufriedenheit oder Bewunderung für sich selbst zu empfinden. Oder
zur Klugheit im schlechten Gewissen des Christen, der sich einem Zeu-
gen mit uneingeschränktem Zugang zu seinem Innersten und einem
Richter von unwiderstehlicher Strafgewalt ausgesetzt glaubt. Schließ-

78 IV, 54 (246–247); cf. IV, 1 (174). IV, 14 (192–193); zum letzten Satz von IV, 14 cf.
den 26. Satz von IV, 5 (179) und den zweiten der 13 Sätze in IV, 12 (188).

– 88 –
lich zu Machiavellis Verneinung der kognitiven Bedeutung, die den
Äußerungen des Gewissens von den Neueren beigelegt wird. Nicht
weniger wahr ist indes, daß Strauss grundsätzliche Fragen stellt, daß er
in drei Anläufen einzukreisen sucht, «was Machiavelli über den Status
des Gewissens dachte», um uns zu bescheiden: «To answer these ques-
tions, one would have to summarize Machiavelli’s analysis of morality.»79
Machiavellis «destructive analysis» des Gewissens kann, mit anderen
Worten, nicht angemessen verhandelt werden, ohne seine Analyse der
Moral insgesamt heranzuziehen, die von ihr nicht zu trennen ist, die
Strauss aber der zweiten Hälfte des Kapitels vorbehält. Die Versiche-
rung der Eröffnung «Dies ist der Ort …» macht uns im Licht dessen,
was folgt, darauf aufmerksam, daß Strauss einen besonderen Grund hat,
das Gewissen schon jetzt, im unmittelbaren Anschluß an das Argument
des 2. Abschnitts, aufzurufen. Die Logik der Sequenz wird erkennbar,
wenn wir in IV, 15 lesen: «The conscience of a man is the witness within
him; this witness is in many cases the only witness to what he does and,
so to speak, in all cases the only witness to what he believes.» Es ist der
Streitfall des Glaubens und Unglaubens, der das Gewissen aufs engste
mit dem Gedankengang des vorangegangenen Abschnitts verbindet.
Näherhin ist es die Frage, ob der Ungehorsam des Denkens auf eigene
Gefahr den Einspruch des Gewissens zu fürchten habe. Oder ob das
Gewissen der Philosophie als einer beharrlichen Wiederholung des
Sündenfalls widerrate. Die Antwort ergibt sich in direkter Anwendung
von Strauss’ Begründung der 13 Sätze auf das Gewissen und setzt an ihr
selbst keine umwegige Analyse der Moral insgesamt voraus. «If man is
compelled to sin», d. h., wenn er durch die Notwendigkeit, die in der
Natur der Sache begründet und einsichtig ist, dazu gezwungen wird,
«there is no reason why he should have a bad conscience for sinning.»
Damit, daß Strauss das Gewissen an die Spitze seines Durchgangs durch
die christlichen und biblischen Doktrinen des 3. Abschnitts stellt, zeigt

79 «We are led to wonder what Machiavelli thought about the status of the con-
science: Does it belong to man’s natural constitution or to the natural constitution
of men of a certain type or is it the work of society, if not of societies of a certain
kind? With a view to what does the conscience decide on what a man ought to do?
What is the relevance of a man’s condemnation by his conscience? To answer these
questions, one would have to summarize Machiavelli’s analysis of morality. At
present we note …» IV, 15 (194).

– 89 –
er an, daß er, beim Innersten beginnend und beim Äußersten endend,
vom Nächsten zum Fernsten fortschreitend, der Perspektive des Philo-
sophen folgt. Der leitende Gesichtspunkt, bei dem ich es hier bewenden
lassen muß, sind die Einreden, die das philosophische Leben zu gewär-
tigen hat, die Sanktionen, denen es unterliegen kann, die Hindernisse,
an denen es zu scheitern droht.
Die Kritik, die Strauss an Machiavellis Lehre zu den im dritten Ab-
schnitt erörterten Gegenständen übt, bewegt sich auf drei Ebenen. (1) In
Rücksicht auf Machiavellis Leugnung der Schöpfung und Unterstüt-
zung der Ewigkeit der Welt vermerkt Strauss, daß beinahe alle einschlä-
gigen Aussagen Machiavellis nur Urteile oder nur Schlüsse zum Aus-
druck bringen, nicht aber die Begründung mitteilen, die zu ihnen führt
und auf der sie beruhen. Machiavelli spart in der Präsentation wichtiger
Stücke seiner Lehre die zugrundeliegenden Argumente aus. Er verbirgt
mithin ihren philosophischen Charakter. So wie er überhaupt nach
Kräften die Philosophie abblendet, den Philosophen verdunkelt und
das philosophische Leben verhüllt. Die Vorzüge und Nachteile dieser
Strategie werden uns noch näher beschäftigen. Im vorliegenden Fall
geht Strauss allerdings einen Schritt weiter. Er stellt heraus, daß Machia-
velli uns, ohne sie namentlich zu erwähnen, an die Averroisten verweist,
um die eigene Position einesteils kenntlich zu machen, um zu deren Be-
gründung andernteils auf die Lehren der Averroisten als eine Art dispo-
nibles Supplement seiner Präsentation zurückgreifen zu können. Das
gelte nicht nur für die Leugnung der Schöpfung, sondern desgleichen
für die Leugnung der Providenz und die Leugnung der Unsterblichkeit
der Seele. «The fundamental tenets of Averroism were as well known to
intelligent men of Machiavelli’s age as the fundamental tenets of, say,
Marxism are in the present age. We must turn to the books of the ‹Aver-
roists› in order to complete Machiavelli’s intimations and to fill the gaps
between the seemingly unconnected denials without which his political
teaching as a whole would be baseless.»80 Strauss’ pointierter Kommen-

80 IV, 21 (202–203). Strauss nimmt drei der sechs Aussagen, die er in IV, 2 (175)
unter Berufung auf Savonarola formuliert hatte, um die «Weisen der Welt» bzw. die
falāsifa oder die «Averroisten» zu charakterisieren, in IV, 21 auf und bestimmt sie
als Ansichten der Averroisten, wobei er diese Ansichten mit eigenen Erklärungen
oder Übersetzungen versieht: «Machiavelli draws our attention to ‹those philos-
ophers› who taught that the world is eternal, or, in other words, that there is no

– 90 –
tar verankert Machiavelli gleichsam im Vorbeigehen fest in der philoso-
phischen Tradition, wohlwissend, daß sich mancher Leser in seiner Mei-
nung bestärkt finden wird, bei Machiavelli handele es sich um einen
derivativen Denker. Strauss’ Zuspitzung wird produktiv, wenn sie uns
veranlaßt, «die Lücken zwischen den scheinbar unverbundenen Leug-
nungen» selbst zu schließen. Sie führt in die Irre, wenn sie den Glauben
nährt, Machiavellis Gedankengebäude setze die Doktrinen der Averro-
isten voraus und entbehre ohne diese der philosophischen Grundlage.81
Strauss wendet sich anschließend denn auch nicht den Büchern der
Averroisten zu, um sich jener Grundlage zu vergewissern. Dagegen
hatte er im 2. Abschnitt ad oculos demonstriert, wie das reasoning zu
entfalten ist, das Machiavelli in der Tat nicht entbehren kann. (2) Im
Zentrum von Strauss’ kritischer Befragung steht der Vorhalt des Dog-
matismus oder einer Evidenzforderung, die auf einer Petitio principii
beruhe. Strauss formuliert ihn, nachdem er Machiavelli die Position zu-
geschrieben hat, daß es keine Evidenz gebe, die die biblische Lehre
stütze. Und er formuliert ihn so: «He may be said to exclude dogmati-
cally all evidence which is not ultimately derived from phenomena that
are at all times open to everyone’s inspection in broad daylight.» Trifft
zu, was über Machiavelli gesagt wird? Einer Überprüfung, die von
jedermann zu jeder Zeit im hellen Tageslicht durchgeführt werden
kann, entzögen sich die geschichtlichen Ursprünge der Offenbarungs-
religionen. Ebenso die Äußerungen des Gewissens. Desgleichen die
Wunder und Zeichen, von denen die Überlieferung berichtet. Strauss
erinnert im unmittelbaren Anschluß an Machiavellis Anstrengung, die
historischen Anfänge und die Entwicklung der Offenbarungsreligion
durch das Studium der römischen Geschichte zu erhellen. Die Einsich-

efficient cause of the world. Savonarola mentions contemporary ‹worldly wise› men
who assert that God is not the efficient but the final cause of the world as well as
that there is only one soul in all men, i. e., that there is no immortality of individual
souls. The men who held these views were the Averroists» (202, meine Hervor-
hebung). Sind die drei Aussagen, die Strauss nicht wiederholt, keine spezifischen
Ansichten der Averroisten, sondern Gemeingut der Philosophen?
81 Strauss hatte zuvor zu erkennen gegeben, daß Machiavelli nicht einmal die
«averroistische» Doktrin von der Ewigkeit der «Welt» voraussetzen muß, sondern
sehr wohl mit Lukrez auf die Ewigkeit der «Materie» rekurrieren kann. Siehe IV, 20
(201) und cf. IV, 36 (222). Beachte Strauss’ Erklärung der Lehre von der Ewigkeit
der Welt in Anm. 80.

– 91 –
ten, die sich auf diesem Wege gewinnen lassen, mögen nicht hinreichend
sein, um den Streit über die in Rede stehenden Phänomene zu beenden.
Aber das Unterfangen der Discorsi bezeugt nicht ihre dogmatische Ver-
neinung. Ähnliches läßt sich von einer Wunderkritik sagen, die Wun-
derbehauptungen anderer Zeiten und anderer Orte vergleichend heran-
zieht, Wunder, die von den Offenbarungsreligionen zurückgewiesen
werden. Wer an das größte aller Wunder, an die Schöpfung aus dem
Nichts, glaubt, hat keinen Grund, irgendein Wunder als unmöglich zu
verwerfen. Zu Machiavellis Haltung gegenüber den Anweisungen des
Gewissens lautet das letzte Wort von Strauss in unserem Zusammen-
hang: «we become inclined to believe that, according to Machiavelli,
every articulation of the dictate of the conscience needs a support differ-
ent from the conscience itself. In accordance with this, traditional theol-
ogy had a proper regard for the objective evidence concerning the be-
ginnings of revealed religion.»82 (3) Zu Beginn von IV, 16 spricht Strauss
zweimal von «the inadequacy of Machiavelli’s argument», ohne mitzu-
teilen, worin die Unangemessenheit besteht. Der Schluß des Absatzes
über das Gewissen, der unmittelbar vorausgeht, lautet: «For the time
being we suggest that Machiavelli tried to replace the conscience, or re-
ligion, by a kind of prudence which is frequently indistinguishable from
mere calculation of worldly gain: ‹the true way› consists, not in obeying
God’s invariable law, but in acting according to the times.» In IV, 16
wird «the inadequacy of Machiavelli’s argument» nicht näher be-
stimmt.83 Am Ende des 3. Abschnitts, in IV, 25, fügt Strauss jedoch eine
konzise Stellungnahme ein, die für jeden Versuch, die Religion durch

82 IV, 22 (203–204); cf. IV, 23–24 (204–207). Zu einem anderen Versuch, den
Ursprung der Offenbarungsreligion zu erklären, siehe Zur Genealogie des Offen-
barungsglaubens, in: Das theologisch-politische Problem, p. 49–70.
83 In IV, 16 kontrastiert Strauss Machiavellis Positionen beinahe durchweg mit
denen der neueren Theologie, ein Vergleich, der zugunsten Machiavellis ausfällt.
Im Zentrum steht die folgende Gegenüberstellung: «Recent theology tends to solve
the difficulty inherent in the relation between omnipotence and omniscience on the
one hand and human freedom on the other by reducing providence to God’s
enabling man to work out his destiny without any further divine intervention
except God’s waiting for man’s response to his call. Machiavelli’s indications
regarding providence are concerned with that notion of providence according to
which God literally governs the world as a just king governs his kingdom.» IV, 16
(197), meine Hervorhebung. Siehe S. 84-85.

– 92 –
eine bloße Kalkulation des in der Welt zu erreichenden Gewinns zu er-
setzen, von erheblicher Tragweite ist: «Biblical religion is characterized
by dissatisfaction with the present, by the conviction that the present,
the world, is a valley of misery and sin, by longing for perfect purity,
hence by such a noble scorn for the world and its ways as to pagans was
bound to appear as hatred for the human race, and by a hope which
derives from the promise or certainty of ultimate victory.»84 Sollte sich
die Unangemessenheit von Machiavellis Argument daran erweisen, daß
es der Macht des Bedürfnisses nach Sicherheit, nach einer Sicherheit, an
der alle Sicherheit der Welt zuschanden wird, und der Tiefe des Verlan-
gens nach Reinheit, nach einer moralischen Ordnung von unbedingter
Gültigkeit, nicht genügend Rechnung trägt? Ein Bedürfnis und ein Ver-
langen, denen die biblische Religion entspricht und die ihre Erfüllung
finden im Glauben an den Heiligen Gott?
Die Lehre von Gott ist Gegenstand des 4. Abschnitts (IV, 26–37).
Strauss verhandelt in ihm Machiavellis Theologie oder Quasitheologie
in ständiger Rücksicht auf die philosophische Tradition und vor allem
auf Aristoteles, mit dem es im ersten und im letzten Absatz zur direkten
Begegnung kommt. Der 26. Absatz von Kapitel IV, der nicht nur
Machiavelli und Aristoteles zusammenführt, in dem vielmehr der Gott
der Bibel auf den Gott der Philosophen trifft, kann mit Grund als der
Höhepunkt von Thoughts on Machiavelli betrachtet werden. Zugleich
ist er, von jeder Anmerkung freigehalten, einer der enigmatischsten Ab-
sätze des Buches. Der Auftakt des 4. Abschnitts rückt die Haltungen
der Demut, der Menschlichkeit und der Großmut in den Vordergrund.
Er nimmt sich damit ähnlich deplaziert aus, wie der Auftakt des 3. Ab-
schnitts sich deplaziert ausnahm. Denn wie jener scheint er eine Diskus-
sion zu beginnen, die der zweiten Hälfte des Kapitels, der Erörterung
der Moral, zugehört. Allerdings machte Strauss in IV, 15 mit der Versi-
cherung «This is the place …» eigens auf die «Deplaziertheit» aufmerk-
sam, deren Wahrnehmung den Zugang zur tatsächlichen Agenda eröff-
nete, während er jetzt voraussetzt, daß der Leser gewarnt ist und auf
den besonderen Ort achtet, um die Frage nach dem entscheidenden Ge-
sichtspunkt zu stellen. «The peculiar difficulty to which Machiavelli’s
criticism of the Bible is exposed is concentrated in his attempt to replace
humility by humanity.» Woran bemißt sich die eigentümliche Schwie-

84 IV, 15 (196); IV, 16 (196–197); IV, 25 (207).

– 93 –
rigkeit, von der im ersten Satz die Rede ist? Nimmt Strauss am politi-
schen Zweck von Machiavellis Kritik Maß? Hat er die Auswirkungen
für die Philosophie im Auge? Stellt er auf die Moralität der versuchten
Ersetzung ab? Strauss fährt fort: «He rejects humility because he be-
lieves that it lowers the stature of man. But humanity as he understands
it implies the desire to prevent man from transcending humanity or to
lower man’s goal.» Die drei Sätze belegen keine Inkohärenz, gemessen am
politischen Zweck, den Menschen als Bürger zu erhöhen, seine Selbst-
achtung, sein Selbstvertrauen, seine Selbständigkeit zu stärken, und zu-
gleich der «frommen Grausamkeit» entgegenzutreten, dem Fanatismus
zu wehren, die Ernüchterung zu befördern. Aber erschöpft sich die Sta-
tur des Menschen in der Statur des Bürgers oder des Fürsten? Und ge-
bietet das Vorhaben, die Politik zu humanisieren, den Menschen auf die
Humanität, eine moralische Haltung, festzulegen, über die es für ihn
kein Hinaus geben darf? Hätte die Demut der Menschlichkeit am Ende
ebendies voraus, daß sie den Menschen über sich hinausweist? So daß
Machiavellis Lehre mit dem Versuch, die eine Haltung durch die andere
zu ersetzen, der Abschottung gegen das Seltenste, der Selbstbeschei-
dung mit dem Allgemeintauglichen, der Beschränkung vor den höch-
sten Möglichkeiten Vorschub leistete? In einer scharfen Wendung, die,
obschon sie durch die früheren Hinweise auf die «Averroisten» nicht
unvorbereitet kommt, an dieser Stelle und in ihrem Wortlaut zum Stau-
nen Anlaß gibt, assimiliert der vierte Satz Machiavellis Bibelkritik der
Bibelkritik in der Lehre des Aristoteles: «As for the other elements of
his criticism of the Bible, it would be useless to deny that they were
implicit in the teaching of Aristotle and developed by those intransigent
Aristotelians who knew the Bible.» Die letzten vier Sätze erläutern die
Übereinstimmungen und den Unterschied in der Bibelkritik von Ari-
stoteles und Machiavelli, auf die die ersten vier Sätze den Blick gerichtet
haben: «Aristotle tacitly denies cognitive value to what is nowadays
called religious experience. There is no place for piety in his ethics.»
Strauss spricht aus, was sowohl Aristoteles als auch Machiavelli unaus-
gesprochen ließen, ihre Leugnung der kognitiven Bedeutung des Ge-
wissens und des Rufes, den der Glaube darin zu vernehmen meint. Und
Leser, die nach der ersten Hälfte von IV, 26 gemutmaßt haben sollten, es
sei Strauss um eine wie auch immer geartete Abschwächung der Kritik
oder um eine Verteidigung der Demut zu tun, sehen sich einem Aristo-
teles gegenüber, der nur als ein bestimmterer Kritiker der höchsten

– 94 –
christlichen Tugend aufgeboten wird: «According to him, humility is a
vice. On the other hand, he identifies the virtue opposed to humility not
as humanity but as magnanimity.» Das Ende, das zum Beginn zurück-
kehrt, birgt das Rätsel, das den Absatz aufschließt: Was ist der Sinn der
Rede von der Großmut? Die Kontrastierung von Machiavelli, der die
Demut durch die Menschlichkeit zu ersetzen bemüht sei, und Aristote-
les, der die Tugend der Großmut gegen das Laster der Demut in Stellung
bringt, scheint uns auf einen Unterschied in der Morallehre zu verwei-
sen. Da die Übereinstimmung in der Einordnung der Demut nach-
drücklich betont wird, ist der Unterschied offenbar in der Bewertung
der Großmut zu suchen. Strauss hat bis dahin indes nicht zu erkennen
gegeben, daß Machiavelli es an der Wertschätzung für die Großmut feh-
len ließe oder daß er gar deren Tugendcharakter verneinte. Ganz im Ge-
genteil hat er den «most excellent men» zuvor in beinahe ebenso vielen
Worten megalopsychia oder magnanimitas, nämlich «a proper estimate
of their worth» beziehungsweise das Bewußtsein ihrer Exzellenz zuge-
sprochen. Und was in unserem Zusammenhang nicht weniger ein-
schlägig ist, die Opposition zur «Demut und Schwäche», die er im Zen-
trum seiner Erörterung des Wesens des Christentums herausstellte,
wäre unschwer als «Großmut und Stärke» auf den Begriff zu bringen.85
Die Rede von der Großmut in IV, 26 muß deshalb einen spezifischeren
Sinn haben. Sie handelt nicht von der Großmut oder Großgesinntheit
im allgemeinen, sondern bezieht sich höchst präzise auf die Lehre von
Gott. Das letzte Wort des Absatzes zielt auf dessen Zentrum. Denn wir
haben den fünften der neun Sätze ausgespart: «The Aristotelian God
cannot be called just; he does not rule by commanding but only by
being the end; his rule consists in knowing, in his knowing himself.» Im
Zentrum von IV, 26 antwortet der aristotelische Gott auf den bibli-
schen Gott des 26. Satzes von IV, 12. Das Zentrum des Zentrums, die
Mitte des dreigliedrigen Satzes, enthält dabei, kurzgefaßt, den Kern der
philosophischen Alternative zur biblischen Lehre und deren Kern, die
Gegenstand der 13 Sätze waren. Die Großmut des Aristoteles erweist
sich in einer Lehre von Gott, die die Philosophie nicht verbirgt, son-
dern die auf das philosophische Leben hindeutet. In eins damit setzt
Aristoteles grundlegende Einsichten der Natürlichen Theologie in eine
tradierbare Doktrin um, die die Kapazität behält, dem Philosophen als

85 IV, 14 (192); IV, 13 (190); IV, 5 (179).

– 95 –
Medium der Selbstreflexion, der Selbstauslegung und der Selbstkritik
zu dienen.
Machiavellis Lehre von Gott, oder genauer: die Doktrin, die er im
eigenen Namen präsentiert, ist im Unterschied zur Doktrin des Aristo-
teles nicht Ausfluß von Großgesinntheit, sondern von Menschlich-
keit.86 Der Philosoph erkennt sich in seiner Doktrin von den göttlichen
Dingen nicht zu, was ihm zukommt. Er läßt sich von philanthropischen
Rücksichtnahmen, politischen Zwecken, strategischen Erwägungen be-
stimmen. Das gilt sowohl für den Außenbezirk, die himmlischen Zei-
chen, die in Discorsi I, 56 herangezogen werden, als auch für die Zita-
delle der Doktrin, Fortuna, die in Discorsi II, 29 und in Principe XXV
ihre großen Auftritte hat. Die Bezugnahme auf «himmlische Zeichen»,
die die Menschen vor Unglücksfällen von öffentlicher Bedeutung war-
nen und die Machiavelli unter Hinweis auf einen ungenannten Philoso-
phen mit intelligenten Wesen in der Luft als möglichen Urhebern in
Verbindung bringt, wird von Strauss im übergreifenden Zusammen-
hang der Opposition Machiavellis gegen den Glauben an die Existenz
und die Strafgewalt zorniger Götter betrachtet. Die Deutung, wonach
die «himmlischen Zeichen» auf Intelligenzen zurückgehen, die Mitleid
für die Menschen zur Ankündigung eines nahenden Mißgeschicks be-
wegt und die nicht etwa als Boten eines drohenden Gerichts auftreten,
ist das Exempel einer heilsamen Doktrin: Sie ruft die Menschen nicht
zur Buße, sondern zur Wachsamkeit auf und kann so dazu beitragen,
die Menschen nicht schwach, sondern stark zu machen. Die Erklärung
des Philosophen, die Machiavelli mitteilt, ohne sie zu beglaubigen, be-
findet sich darüber hinaus, wie Strauss betont, «in völliger Übereinstim-
mung mit der Intention seines ganzen Werkes», einer Intention, «die
durch sein Schweigen in beiden Büchern, was den Teufel und die Höl-
le betrifft, hinreichend offenbart» werde oder vielmehr durch sein
Schweigen, was göttliche Strafen anbelangt. Da Strauss kurz zuvor in

86 An Absatz IV, 26  – zu dem er sich als Überschrift notierte: «Practically the
whole criticism of revelation is Aristotelian – only the opposite of humility is not
humanity but magnanimity» – schließt Strauss im ersten Satz des folgenden Ab-
satzes so an: «In order to bring out more clearly the difference between Machiavelli
and Aristotle, we must consider Machiavelli’s doctrine regarding God and his
attributes» IV, 27 (208). Und später spricht er ausdrücklich von «Aristotle’s doctrine
of God», die in höchst unterschiedlichen Weisen verstanden worden sei: IV, 36
(221–222). Jeweils meine Hervorhebung.

– 96 –
Rücksicht auf Machiavellis Erörterung der römischen Religion in Dis-
corsi I, 11–15 festhielt, daß die Furcht vor dem Zorn Gottes «sehr nütz-
lich sein kann», erhebt sich die Frage, weshalb Machiavelli dem Glau-
ben an zornige Götter so beharrlich opponiert, daß Strauss in dieser
Opposition die Intention von Machiavellis ganzem Werk mit zu sehen
vermag. Drei Gründe seien benannt, ein politischer, ein pädagogischer
und ein philosophischer: Der Glaube an göttliche Strafen gibt den
Interpreten und Repräsentanten einer transpolitischen Religion eine
scharfe Waffe in die Hand, deren sie sich zur Aufrechterhaltung des
«tyrannischsten aller Regime» bedienen oder die sie nach Maßgabe
einer «auswärtigen Macht» gegen die politische Autorität des Gemein-
wesens einsetzen können.87 Die Entwöhnung der «Jungen» von den
verweichlichenden Wirkungen der Lehren, in denen sie aufgewachsen
sind, betrifft nicht nur die Fürsorge, sondern desgleichen die Strafge-
walt, die diese Lehren der Providenz zuschreiben.88 Zornige Götter
genügen endlich nicht den Kriterien der Natürlichen Theologie.89
Die Doktrin der Fortuna wird von Strauss in drei Schritten in drei auf-
einanderfolgenden Absätzen (IV, 31–33) entfaltet. Fortuna nimmt dabei
in drei höchst verschiedenen Manifestationen Gestalt an, die offensichtlich
für drei unterschiedliche Adressaten bestimmt sind. Machiavellis drei-
facher Doktrin entspricht Strauss’ dreimalige Rede von dessen «Quasi-
theologie». Am Anfang wird Fortuna als ein wollendes und denkendes
Wesen vorgestellt, das einzige absichtsvoll handelnde übermenschliche
Wesen, dessen Existenz Machiavelli in den Discorsi behauptet, sich der
Autorität des Livius beugend oder sie für seine Zwecke in Anspruch neh-
mend. Die erste Figur von Fortuna tritt an die Stelle des biblischen Got-
tes. Sie erwählt und verwirft nach ihrem unergründlichen Ratschluß. Al-
lerdings ist ihre Reichweite auf die Welt der Menschen beschränkt. Sie ist,
mit anderen Worten, nicht allmächtig. Fortuna I soll ohne Ansehen der
Vernunft die Hoffnung beflügeln oder jedenfalls mehr Hoffnung wecken

87 Cf. III, 20 (111); III, 21 (112–113); III, 24 (117–119); IV, 10 (184–185); IV, 41 (229–
230).
88 Cf. II, 24 (81–82) und IV, 15–20.
89 Siehe oben S. 83–88. – IV, 27 (208); IV, 29 (209–211). Der Schluß von IV, 29 wirft
zusätzliches Licht auf den politischen Ansatz der genealogischen Rekonstruktion
in IV, 9–11 (182–186): «Weakness is not only the effect but the very cause of the
belief in angry gods.»

– 97 –
als Furcht. Sie hat das Volk zum Adressaten. In der Mitte erscheint For-
tuna als der Feind der Menschen, deren Vorhaben ihr abgerungen, deren
Interessen gegen sie behauptet werden müssen. Wenn sie nicht länger als
ein übermenschliches Wesen angesehen wird, kann sie im Kampf besiegt
werden. Die zweite Figur von Fortuna bezieht ihre Macht aus dem Man-
gel an Tugend, Klugheit und vernünftigen Institutionen auf seiten ihrer
Kontrahenten. Fortuna II ist bestimmt, wie der Glaube an himmlische
Intelligenzen, die die Menschen wohlmeinend warnen, zur Wachsamkeit,
zur Tugend und zur Aufbietung aller Fähigkeiten anzuspornen, wenn-
gleich sich der doktrinale Ansatz gegenläufig ausnimmt. Sie hat die poli-
tisch Handelnden, insonderheit die Vornehmen zum Adressaten und ver-
körpert die Wahrheit der Maxime: Gute Waffen sind das Eine, was not
tut. Am Ende erweist sich Fortuna als Zufall, von dem der Erfolg oder
Mißerfolg eines Unternehmens abhängt. Die dritte Figur von Fortuna
hat ihre Wirksamkeit in der Übereinstimmung oder Nichtübereinstim-
mung der Fähigkeiten eines Individuums und seiner Zeit. Sie steht, an ihr
selbst Ausdruck natürlicher Notwendigkeit, ein für die Differenz von
Natur und historischer Praxis. Fortuna III vermag die Einsicht in die Un-
verfügbarkeit der eigenen Natur und die Begrenztheit aller praktischen
Gestaltungsmacht zu befördern. Sie hat die Wenigen zum Adressaten, die
durch die Erkenntnis «der Welt» zur «schließlichen Überlegenheit über
jede Furcht und jede Hoffnung» oder zur Ataraxia gelangen können.90
Der Adressat der dritten und letzten Manifestation der Fortuna ist unter-
bestimmt. Er kann die zukünftigen Fürsten ebenso in sich aufnehmen
wie die Philosophen der Zukunft. Die Doktrin, die die Rolle des Zufalls
würdigt, entspricht der inneren Freiheit, die sich herausragende Einzelne
sowohl im politischen Leben als auch im philosophischen Leben zu be-
wahren wissen. Strauss deutet die Überschneidung an, die mit der grund-
legenden Ambiguität des Adressaten von Machiavellis Lehre zusammen-
geht, wenn er in seiner Explikation nur von «excellent men» und nicht
von «most excellent men» spricht: «Excellent men will rise above chance.
Chance will have no power over them, over their minds. While their for-
tune varies, they will always remain the same. The dignity of man con-
sists, not in conquering chance, but in independence.» Die Unabhängig-
keit mag dem Fürsten und dem Philosophen bis zu einem gewissen
Grade gemeinsam sein. Die Selbstgenügsamkeit, die in der Betrachtung

90 Cf. IV, 33 (218) in Verbindung mit I, 6 (17–19).

– 98 –
und der Erkenntnis seiner selbst gründet, unterscheidet den Philosophen.
In Machiavellis Doktrin von Fortuna, in der Dreiheit «Gott», «Feind»,
«Zufall», hat der Gott der Philosophen keinen Ort. Deshalb handelt es
sich um eine «Quasitheologie». Die dreifache Doktrin gibt den Men-
schen eine abgestufte Orientierung für ihr Handeln und ihre Haltung an-
gesichts des Grundcharakters ihrer Existenz, der Preisgegebenheit. Und
sie dient dem Schutz der Philosophen. Aber sie bietet den Philosophen
nur eine beschränkte Möglichkeit der Selbstverständigung. Diese Minde-
rung hat Strauss im Auge, wenn er den Leser auf die Ersetzung von mag-
nanimity durch humanity hinweist. In einem durchaus verwandten Sinn,
mit derselben Intention, obschon weniger enigmatisch vorgetragen, wird
er am Ende seines Lebens eine andere Ersetzung herausstellen und seinen
eindringlichen Essay über Nietzsche mit dem von ihm deutsch gefaßten
Wort beschließen: Die vornehme Natur ersetzt die göttliche Natur.91
Strauss’ Verhandlung der Lehre von Gott gibt uns Gelegenheit zu drei
Beobachtungen, die die Auseinandersetzung mit der Offenbarungsreli-
gion unmittelbar betreffen. (1) Machiavellis Doktrin der Fortuna ist
nicht nur in praktischer Absicht entscheidend auf den Gott der Offen-
barungsreligion bezogen, insofern sie den Menschen in seiner Preis-
gegebenheit zur Besinnung auf die eigene Kraft und Stärke aufruft. Sie
sucht zugleich der Versicherung der Unergründlichkeit Rechnung zu
tragen, indem sie sie aufnimmt und den Deus absconditus in die Drei-
heit Gott-Feind-Zufall übersetzt, um in theoretischer Absicht die Im-
plikationen der Versicherung des Gegenübers sichtbar zu machen,
soweit ihm die Berufung auf die Unergründlichkeit nicht allein dazu
dient, die Auseinandersetzung über seine Aufstellungen abzubrechen.
Die dreifache Doktrin bezeugte demnach, daß Machiavelli auf den Ein-
wand antwortete, dem sein Ad-hominem-Argument zur Gerechtigkeit
Gottes von seiten «denkender Gläubiger» immer schon begegnete, die
erkennbare Ungerechtigkeit, d. h. die Abweichung von der moralischen

91 Note on the Plan of Nietzsche’s «Beyond Good and Evil», in: Studies in Platonic
Political Philosophy. Chicago 1983, p. 191 (der Aufsatz wurde in der Zeit vom
18. März 1972–2. Februar 1973 geschrieben). – IV, 29 (211); IV, 31–33 (213–218). Die
Trias von Gott, Feind, Zufall in Machiavellis Doktrin der Fortuna ist in IV, 35 (220–
221) anhand von Principe XXV noch einmal Gegenstand der Erörterung. Dabei
wird Fortuna II ausdrücklich als zornig bestimmt: «Fortuna is the enemy of man.
Fortuna exercises her power only when she is angry, when the times are turbulent
or difficult» (221).

– 99 –
Ordnung der Welt, sei «ein wesentlicher Teil des Mysteriums der provi-
dentiellen Ordnung».92 (2) Machiavelli folgt mit der Proklamation der
Gottheit Fortuna seiner «Bibel» Ab urbe condita. Er beugt sich im ersten
Schritt der Autorität des Livius. Im zweiten wendet er sich gegen sie.
Und im dritten löst er sich von ihr, um einzig der Vernunft zu folgen.
Dies ist der Ort, daran zu erinnern, daß Strauss in Kapitel III eingehend
untersucht hat, wie Machiavelli das Werk des Livius und dessen Gegen-
stand, die Römer des Altertums, als Modell verwendet, um in corpore
vili das Erfordernis und die Möglichkeiten der Bibelkritik vor Augen zu
führen. Ein Aspekt, dem für Strauss’ Auslegung der Discorsi außer-
ordentliche Bedeutung zukommt. Ich beschränke mich auf den wichtig-
sten Punkt, die Befreiung vom Prinzip der Autorität, und belasse es bei
knappen Hinweisen zu zwei Stellen, die geeignet sind, Strauss’ Position
zum theologisch-politischen Problem zu beleuchten. In III, 50 bemerkt
Strauss zu Machiavellis Infragestellung der höchsten Autorität: «He ac-
quired the right to question that authority by first surrendering to it
without any reserve.» Um das Recht zu erwerben, die höchste Autorität
in Frage zu stellen, die einen unbedingten Gehorsamsanspruch gegen
ihn erhebt oder in deren Namen ein solcher Gehorsamsanspruch gegen
ihn erhoben wird, muß der Philosoph sich «der höchsten Autorität»
rückhaltlos unterwerfen, d. h., er muß ihren Anspruch radikal ernst neh-
men und ihm selbst Geltung verleihen. Er muß der Autorität vermöge
seiner Vernunft mit Gründen beistehen. Er muß die besten Gründe auf-
bieten, um über das Prinzip der Autorität hinauszugelangen. Die zwei-
fache, die politische und die theologische Gestalt, in der der Anspruch
der höchsten Autorität den Philosophen zu treffen und herauszufor-
dern vermag, bezeichnet Strauss, wenn er kurz danach von jenen Auto-
ritäten spricht, «denen ein Denker als Denker unterworfen sein könnte»,
um sie für den Machiavelli der Discorsi als «die Autorität der Römer
und die Autorität Moses’» zu identifizieren. In III, 54 erklärt Strauss
zunächst, um dem Leser ein zureichendes Verständnis von «Machiavelli’s
thought» zu eröffnen, was das Prinzip der Autorität impliziert und was
folglich mit der Befreiung von diesem Prinzip in Rede steht: «The prin-
ciple of authority finds its primary expression in the equating of the
good and the ancestral. This equation implies the assumption of abso-
lutely superior or perfect beginnings, of a golden age or of a Paradise.

92 Cf. IV, 16 (197) und IV, 31 (214–215).

– 100 –
The ground or origin of the perfect beginning is the supremacy of the
Good or of Love, or, as we might also say, the rule of Providence. The
origin of evil is a fall. Progress is return, betterment is restoration.» Da-
nach stellt er fest, seine Aussage zur Kritik der höchsten Autorität in III,
50 erläuternd, daß das von ihm soeben umrissene «comprehensive theo-
cosmological scheme» präziser und enger gefaßt werden muß, «in order
to become salutary». Das Schema muß auf die konkrete Autorität her-
untergebrochen werden, die Anspruch auf Geltung erheben kann. Im
Falle Machiavellis also auf die Autorität der Römer und die vermeint-
liche Rückkehr zu ihnen oder auf die Autorität Moses’ bzw. auf die
Autorität des Livius: «Bowing to the principle of authority is sterile if it
is not followed by surrender to authority itself, i. e., to this or that
authority. If this step is not taken one will remain enmeshed in the reli-
gious longing or the religiosity so characteristic of our centuries, and
will not be liberated by religion proper.»93 (3) Machiavellis Doktrin der
Fortuna ist eine Doktrin der Ent-Täuschung. Ihrer inneren, dreifachen
Artikulation zufolge und nicht minder im Hinblick auf ihre Antworten.
Sie enttäuscht das Verlangen nach Reinheit, da sie den Glauben an die
moralische Weltordnung zurückweist. Sie enttäuscht das Bedürfnis
nach Sicherheit, da sie sowohl den Glauben an eine Absicht, die Ur-
sprung des Ganzen ist, es regiert und für alle seine Teile Sorge trägt, als
auch den Glauben an ein Ziel verwirft, auf das hin das Ganze ausgerich-
tet ist und in dem es seinen Halt findet. In eins damit enttäuscht sie die
Hoffnung, den Zufall kontrollieren zu können, die sich mit dem Glau-
ben an Götter verbindet,94 aber auch mit einer durchgängigen Intelligi-
bilität der Welt. Die fundamentale Denkbewegung, die Strauss in IV, 36

93 III, 50 (158) und III, 54 (165–166). Beachte dazu Strauss’ Diskussion der von ihm
so genannten «Tacitean subsection» der Discorsi (III, 19–23) in III, 51–53, die für die
Überwindung des Prinzips der Autorität einschlägig ist und das Argument
entfaltet, das den beiden Stellen in III, 50 und III, 54 zugrunde liegt.
94 Men are «anxious to foresee what is unforeseeable either in itself or for them.
For this purpose they as it were postulate beings of superhuman perfection which
can predict to them the future; once they believe that there are gods who can predict
to them their future good and evil, they readily believe that those gods cause their
good and evil. They thus arrive at making foreseeable the unforeseeable and at
transforming the simply unintended into something intended.» IV, 34 (219); cf. An
Untitled Lecture on Plato’s «Euthyphron», Interpretation, 24:1 (Fall 1996), p. 18.
(Der Vortrag wurde Anfang der 1950er Jahre geschrieben.)

– 101 –
abschließend konstatiert, von Gott über Fortuna zum Zufall verstanden
als eine nichtteleologische Notwendigkeit, läßt keinen Zweifel daran,
daß Machiavelli die Doktrinen der Averroisten oder der Aristoteliker
nicht als Grundlage seines Denkgebäudes voraussetzt.95
Mit Aristoteles beginnt und mit Aristoteles endet der Abschnitt über
die Lehre von Gott. Steht der Auftakt in IV, 26 für Strauss’ «gravity», so
veranschaulicht der Schluß in IV, 37 Strauss’ «levity». Strauss macht La
vita di Castruccio Castracani da Lucca zum Gegenstand einer virtuosen
Interpretation, die die von ihm aus Il Principe und den Discorsi gewon-
nene Lehre Machiavellis bestätigt.96 Im Mittelpunkt der Auslegung ste-
hen die 34 Aussprüche, die Machiavelli dem Helden seiner Biographie
in den Mund legt. 31 von ihnen führt Strauss auf Aussprüche von Philo-
sophen zurück, die Diogenes Laertius überliefert. Strauss’ Analyse
schält in der Anordnung der Sentenzen einen Kern heraus, den ein Wort
des Aristoteles, umgeben von jeweils zwei Äußerungen Bions, eines
Schülers von Theodoros und von Theophrast, zur Linken und zur Rech-
ten, bildet (Nrn. 17–21). Der Fünfergruppe treten wiederum 11  Aus-
sprüche von Aristipp, einem Schüler des Sokrates, und 15 Aussprüche
des Diogenes von Sinope zur Seite. Die Gewichtung von Aristipp und
Diogenes, die «eine extreme Mißachtung der Konvention im Gegensatz
zur Natur» teilten, und die prominente Plazierung von Bion, der «so
schamlos war, sich als Atheist zu betragen», zieht Strauss als «ironi-
schen, aber nicht irreführenden Ausdruck von Machiavellis innerstem
Denken» heran. Er schließt: «That expression is not misleading since it
points to a thought at the core of which Aristotle is kept in bounds or
overwhelmed by Bion and the periphery of which consists of a shock-
ing moral teaching.» Strauss trifft alle Vorkehrungen, um niemanden
zu schockieren und gleichwohl zum Ausdruck zu bringen, daß uns im
innersten Kern von Machiavellis Denken Aristoteles begegnet. Ein Ari-
stoteles zugeschriebener kurzer Wortwechsel, der auf keine aristoteli-
sche Doktrin Bezug nimmt, sondern einzig die Überlegenheit des Phi-
losophen widerspiegelt, genügt Strauss, um unseren Blick noch einmal
auf die wichtigste Gemeinsamkeit zu lenken, die das Denken von Ma-
chiavelli mit dem Denken von Aristoteles verbindet. Wir haben Grund,

95 IV, 34 (218–220) und IV, 36 (221–223).


96 Der erste Satz lautet: «Machiavelli has indicated his fundamental thought also in
his Life of Castruccio Castracani» IV, 37 (223), meine Hervorhebung.

– 102 –
den Fluchtpunkt dieser Gemeinsamkeit als den Gott der Philosophen
zu bestimmen.97
Der Philosoph behauptet seine Präsenz selbst in dem vergleichsweise
kurzen Abschnitt, der die Religion in unmittelbar politischer Rücksicht
behandelt und die erste Hälfte von Kapitel IV beschließt. Im Zentrum
von IV, 38–42 ruft Strauss das politische Interesse in Erinnerung, das die
Philosophen an der Durchsetzung und Bewahrung der Libertas philo-
sophandi haben, indem er auf Machiavellis Lob der «goldenen Zeit»
unter den römischen Kaisern von Nerva bis Marc Aurel zurückkommt,
in der «vollkommene Meinungsfreiheit» herrschte. Strauss hatte das
hyperbolische Lob der nichtchristlichen Kaiser, das die Restriktionen
ausblendet, auf denen jedes Regime bestehen muß, bereits in I, 22 her-
angezogen, um darzulegen, welch große Bedeutung Machiavelli der
«Gedanken- oder Diskussionsfreiheit» beimaß und wie Machiavelli den
Leser auf die Seltenheit dieser Freiheit hinweist, die in seiner Zeit nicht
anzutreffen war. In IV, 40 wiederholt er die Präzisierung der allgemei-
nen «Meinungsfreiheit» zu der den Philosophen im besonderen ange-
henden «Gedanken- oder Diskussionsfreiheit» nicht. Statt dessen nennt
er, wenn er von den «fünf guten Kaisern» spricht, Marc Aurel jetzt einen
Philosophen.98 Nicht nur hält er den Philosophen damit explizit in der
Fünfergruppe von IV, 38–42 präsent, sondern er bringt näherhin die
Frage, die in ihrem Zentrum aufgeworfen wird, ob in einem politischen
Gemeinwesen die Furcht vor Gott durch die Furcht vor einem tugend-
haften Fürsten ersetzt werden könne, implizit in Konjunktion mit der
Frage nach der Weisheit und der Menschlichkeit des Philosophen, der es
sich zur Aufgabe macht, Fürst oder Lehrer künftiger Fürsten zu wer-
den, um eine genuin politische Herrschaft aufzurichten.99 Die Frage, ob
die Furcht vor Gott sich durch die Furcht vor einem Fürsten ohne poli-
tischen Schaden ersetzen lasse, wird weder durch den Verweis auf den
Philosophenkaiser Marc Aurel noch durch den Vorblick auf den «auf-

97 IV, 37 (223–225).
98 Strauss verwendet philosopher innerhalb des 5. Abschnitts nur dieses eine Mal in
IV, 40 (227). Beachte die Abfolge «Marcus Aurelius», «the philosophic Marcus
Aurelius», «the philosopher Marcus Aurelius» in I, 22 (33); III, 52 (163); IV, 40 (227).
99 IV, 40 markiert das letzte Glied einer argumentativen Reihe, die über den Dreh-
und Angelpunkt IV, 26 zurückreicht zu IV, 12. Die Trias IV, 12, 26, 40 ist durch
Intervalle von jeweils 13 Absätzen getrennt und verbunden.

– 103 –
geklärten Despotismus» eines Friedrich des Großen beantwortet. Weder
der römische Philosoph aus Machiavellis «goldener Zeit» noch der
preußische König, der einen Antimachiavel verfaßt hatte, bevor er den
Thron bestieg, herrschte über ein Volk, in dem die Gottesfurcht und die
Frömmigkeit keine Rolle spielten. Beide waren im übrigen zunächst
Fürsten kraft des Glaubens an die Legitimität ihrer Einsetzung.100 Um
so mehr steht die Antwort auf die weiterreichende Frage aus, ob die
Religion politisch verzichtbar sei. Und dies gilt erst recht für die Frage,
die den beiden anderen zugrunde liegt, ob die Politik über die Mittel
gebiete, um die Religion zu überwinden. Die Religion und ihre politi-
sche Bedeutung erschöpfen sich nicht in der Gottesfurcht. Der Furcht
vor Gott, die ihrerseits auf eine tiefer wurzelnde Furcht zurückgeht,
treten eine Verehrung und Hingabe zur Seite, die, nicht weniger tief ver-
wurzelt, auf etwas Höheres und Edleres gerichtet sind, als es der Ein-
zelne zu sein vermag, auf ein unbedingt Gültiges und Beständiges.101
Machiavelli trägt dem offenbar Rechnung, wenn er die Religion im Falle
der Republik für unentbehrlich erklärt. Die Republik verlangt den
Glauben an das in ihr zu verwirklichende Gemeinsame Gute. Ihr Wohl
ist auf den Einsatz der Bürger gegründet und auf das Ansehen der Re-
präsentanten der politischen Klasse angewiesen, Ruhm und Ehre im
Dienst an der Republik zu erwerben. Wenn Machiavelli im Falle des
Fürstentums dafürhält, die Furcht vor Gott könne durch die Furcht vor
einem Fürsten von herausragender Tugend ersetzt werden, so stellt er
den Fürsten zugleich eindringlich vor Augen, wie wichtig es für sie ist,
daß sie den Anschein wahren, religiös zu sein. Oder sollte der Rat an die
politisch Handelnden, den religiösen Schein aufrechtzuerhalten, ein
vorläufiger sein und nur so lange gelten, wie die Religion noch Macht
hat über die Menschen? Mit anderen Worten, glaubte Machiavelli, un-
beschadet der Versicherung ihrer Unentbehrlichkeit in Republiken und
ungeachtet des Diktums von ihrer periodischen Erneuerung, die zwei-
oder dreimal in 5000 oder 6000 Jahren erfolge (Discorsi II, 5), daß die
Religion überwunden werden könnte? Und war er der Ansicht, daß sie

100 Cf. III, 52 (163) und beachte III, 32 (133).


101 Strauss hat die beiden Wurzeln in die Formeln Timor fecit deos und Amor fecit
deos gefaßt. Siehe seine Verhandlung der Frage Was ist ein Gott? im Brief an Seth
Benardete vom 22. Januar 1965, die in Das theologisch-politische Problem, p. 81
ungekürzt wiedergegeben ist. Cf. dazu IV, 25 (207) und S. 92–93.

– 104 –
überwunden werden sollte? Strauss nähert sich diesen Fragen indirekt.
Er rührt an sie, wenn er die Frage nach dem Nutzen der Religion ab-
schließend für «das Volk» einerseits, für «die Großen» andererseits be-
handelt.102 «The people, in contradistinction to the great, make very
modest demands on their rulers; they merely desire that their lives, their
small properties and the honor of their women be respected. Yet as
human beings they are necessarily dissatisfied with what they possess
more or less securely. Being by nature compelled to crave a satisfaction
which is impossible, they will be fundamentally in a situation no less
desperate than that in which the Samnites were» – die ihre Zuflucht in
der Religion suchten – «when they longed for independence after hav-
ing suffered many disastrous defeats. The great no less crave a satisfac-
tion which is impossible, but wealth, pre-eminence and glory give many
comforts of which the many are necessarily deprived.» Schwände die
Macht, die die Religion über das Volk hat, wenn das Volk aus seiner
«verzweifelten» Lage befreit würde und politisch erstarkte? Und weist
die erste der drei Annehmlichkeiten, mit denen die Großen sich zu trö-
sten wissen, während sie «den Vielen notwendig entzogen sind», den
Weg, um die Macht der Religion ganz zu brechen? Wie, wenn der Reich-
tum – in einem gewissen Sinne auch der Ruhm103 – den Vielen gar nicht
vorenthalten bleiben muß? Wenn es gelänge, «die Naturschranke», nach
einer Verheißung aus dem 19. Jahrhundert, immer weiter zum «Zurück-
weichen» zu bringen, eine Gesellschaft des Überflusses zu schaffen, ein
Reich allseitiger Freiheit heraufzuführen? Gesetzt, der imaginierte Pro-
zeß würde erfolgreich vorangetrieben; er fände seinen Niederschlag in
einer nie dagewesenen Ausweitung von Produktion und Konsum,
Kommerz und Partizipation; begründete er die Erwartung, die Religion
werde, ausgehungert und entkräftet, schließlich absterben? Einem sol-
chen Glauben stünde Strauss’ Hinweis auf die Sehnsucht nach einer Be-
friedigung entgegen, die unmöglich ist, eine Sehnsucht, die sowohl «das

102 Im ersten Satz von IV, 42 fragt Strauss, «whether Machiavelli was convinced
that religion fulfills an important function.» Er fragt weiter, «whether according to
him religion is more than a necessary consequence or product of the mind of ‹the
vulgar› – an enormous rock which cannot be removed or split, which is useless and
with which one must reckon.» Er fährt fort: «This doubt however goes too far.
Since according to Machiavelli the locus of religion is the multitude, one must
consider his opinion of the multitude or the people» (230).
103 Cf. III, 30 (130).

– 105 –
Volk» als auch «die Großen» betrifft, da die Unerfüllbarkeit in der Con-
ditio humana beschlossen liegt.104 Doch kehren wir von den histori-
schen Ausschweifungen der Phantasie zu Machiavellis nüchterner Dia-
gnose zurück. Strauss kommt in seiner kontrastierenden Betrachtung
zu dem Ergebnis: «Society would be in a state of perpetual unrest, or
else in a state of constant and ubiquitous repression, if men were not
made incorrupt by religion, i. e. if they were not both appeased by reli-
gious hopes and frightened by religious fears.»105 Für die politische
Weisheit steht deshalb nicht die Überwindung, sondern die Hegung der
Religion auf dem Programm. Der Versuch, die transpolitische Religion
in eine bürgerliche Religion umzuformen, oder die Offenbarungsreli-
gionen durch eine Natürliche Religion zu bezähmen, in jedem Fall die
herrschende Religion der politischen Herrschaft zu unterwerfen. Die
Absicht, dem Primat der Politik über die Religion zur Durchsetzung zu
verhelfen, hat Machiavelli mit seinen Nachfolgern und mit seinen be-
deutendsten Vorgängern gemeinsam.

104 Sollte die theoretische Vernunft mit der Aussicht auf eine geschichtliche Über-
windung der Religion die Erwartung einer endgültigen Widerlegung des Wahrheits-
anspruchs des Offenbarungsglaubens verbinden, so wäre die Erwartung erkennbar
irregeleitet, d. h. unabhängig vom Ausgang des historischen Experiments unbe-
gründet. Der prinzipielle Einspruch gegen das Recht und die Notwendigkeit der
Philosophie im Namen des allmächtigen Gottes der Offenbarungsreligionen bedarf
einer Antwort der Philosophie selbst dann, wenn er historisch verstummte, wenn
er in der Gegenwart nur mehr undeutlich oder gar nicht vorgetragen wird. Siehe
Anm. 77.
105 IV, 42 (230), meine Hervorhebung.

– 106 –
III

Die Erneuerung der Philosophie ist der Grund, um dessentwillen


Strauss das Problem des Machiavelli in nächster Nähe zum Problem
des Sokrates auf die philosophische Agenda setzt. Zugleich ist sie der
Vereinigungspunkt, in dem sich die beiden Probleme treffen. Die Er-
neuerung, die eine lange Überlieferung mit dem Namen «Sokrates»
verbindet, verteidigte die Philosophie gegen politisch-theologische
Angriffe und führte sie in die politischen Gemeinwesen ein, indem sie
dem philosophischen Leben die höchste Tugend zusprach, ihm das
Ansehen des Gottgefälligen, wo nicht des Göttlichen verlieh und es
den Bürgern als verehrungswürdig erscheinen ließ. Die Erneuerung,
die auf Machiavelli zurückgeht, schützte das philosophische Leben,
indem sie es nach Kräften verbarg und strategische Allianzen schmie-
dete oder anbahnte, um dessen mächtigsten Feind zu bezwingen. Statt
zum Philosophieren aufzurufen und die Philosophie zu preisen, er-
weckte sie den Eindruck, die Philosophie stehe im Dienst politisch-
humanitärer Zwecke und beziehe ihre Rechtfertigung aus dem ge-
sellschaftlichen Nutzen. Man kann das Problem Sokrates und das
Problem Machiavelli kurzgefaßt auf die beiden gegenstrebigen For-
meln bringen, daß die wesentlich private Philosophie zu einer öffent-
lichen Macht wird, die vermöge ihres universellen Anspruchs und
ihrer subversiven Wirkung die politischen Gemeinwesen sprengt und
sie schließlich einer feindlichen Übernahme ausliefert, und daß die
Wiederherstellung der Politik nur um den Preis der Verdunkelung der
Philosophie gelingt. Die Formeln drücken in erster Näherung aus,
daß das Problem Sokrates ein integraler Bestandteil des Problems war,
dem sich Machiavelli gegenübersah. Denn Machiavellis Problem
bleibt unzureichend bestimmt, solange man einzig die veränderte
Lage ins Auge faßt, die die Herrschaft der Offenbarungsreligion
schuf. Der Einbruch der Offenbarungsreligionen ist das massivste
Faktum, das Machiavelli historisch von Sokrates trennt. Doch die
Sokratische Wende zur Politischen Philosophie, die Platon und Xeno-

– 107 –
phon ins Werk setzten,106 begründete eine Tradition, die bei allen Me-
tamorphosen, die sie durchlief, nicht unerheblich zu Machiavellis ver-
änderter Lage beitrug. So indem sie, jenseits der herangezogenen
Rückwirkungen auf die politische Tektonik, Begriffe und Doktrinen
bereithielt, die das Christentum als Waffen und Instrumente zu ge-
brauchen verstand, um seine Herrschaft aufzurichten und über die
Jahrhunderte zu festigen. Machiavelli antwortet darauf, wenn er etwa
die Rede von Seele und Unsterblichkeit, von Kontemplation oder
Summum bonum ostentativ vermeidet. Die philosophische Tradition
bedurfte einer kritischen Revision, sowohl hinsichtlich der politi-
schen Konsequenzen als auch in Rücksicht auf die philosophischen
Schlüsse, die aus dem Umgang mit ihren Lehren und der Erfahrung
ihrer Weiterungen zu ziehen waren. Zuallererst galt dies für den ari-
stotelischen Strang der Tradition. Mit seiner eingängigen Unterschei-
dung eigenständiger Bereiche des Handelns und Wissens und einem so
extensiven wie elaborierten Lehrgebäude, das sich vom philosophi-
schen Leben allem Anschein nach unschwer ablösen ließ, erwies er sich
in besonderem Maße als historisch anschlußfähig. Die Aristotelische
Präsentation des Bios theoretikos, die dem philosophischen Leben ein
unpolitisches, im präzisen Verstande vorsokratisches Aussehen gab,
war von den Lehrern der Kirche der christlichen Vita contemplativa
assimiliert worden. In ihr und in den Klöstern, die zu ihrer Hegung
eingerichtet wurden, sollte das theoretische Leben seine Erfüllung und
Vollendung finden. In einer solchen Lage sprachen gute Gründe dafür,
das philosophische Leben zu verbergen und es der Verwirrung mit
einem Leben zu entziehen, das auf Gehorsam gegründet ist und Fröm-
migkeit atmet. Die Ermahnung zur Vita activa und die Herabsetzung
der Vita contemplativa dienen demselben Zweck. Der Zugang zum

106 Strauss bringt diesen Aspekt des Problems des Sokrates zum Ausdruck, wenn
er in What Is Political Philosophy? von Sokrates sagt: «Classical political philo-
sophy … was originated by Socrates», während er zu Machiavelli feststellt: «The
founder of modern political philosophy is Machiavelli» (p. 38 und 40, meine Her-
vorhebung). Cf. die beiden Eröffnungen von Socrates and Aristophanes (p. 3) und
Xenophon’s Socratic Discourse (Ithaca 1970, p. 83): «Our Great Tradition includes
political philosophy and thus seems to vouch for its possibility and necessity.
According to the same tradition, political philosophy was founded by Socrates.»
«The Great Tradition of political philosophy was originated by Socrates.» (Meine
Hervorhebung.) Beachte Socrates and Aristophanes, p. 314.

– 108 –
philosophischen Leben wird erschwert. Alle sollen von ihm abgelenkt
und ferngehalten werden. Mit Ausnahme der philosophischen Naturen.
Thoughts on Machiavelli demonstriert ad oculos, daß das Problem
Machiavelli außergewöhnliche Anforderungen stellt, aber den Aufstieg
zur Philosophie nicht unmöglich macht. Strauss’ «Beobachtungen und
Reflexionen» geben den Blick frei auf einen Philosophen, der der Er-
kenntnis unbedingten Vorrang einräumt, den die Lust des Denkens im
Innersten bewegt, der das Gemeinsame Gute in nichts anderem sieht
denn in der Wahrheit. Der Primat des Erkennens und Begreifens kommt
in einer gleichsam «unmenschlichen Distanz oder Neutralität» des Rat-
gebers der Politik zum Ausdruck, einer Unmenschlichkeit, die die große
Mehrzahl seiner Leser verstören muß. Die besondere Zuwendung des
Autors gilt jenen Lesern unter den Jungen, die das «primär theoretische
Interesse» nicht nur «vorläufig» mit ihm teilen und von denen er deshalb
erwarten kann, daß sie verstehen werden, was dem gravity- und was dem
levity-Pol in seinem Leben zugehört. Sie werden richtig einzuschätzen
wissen, welche Bedeutung das «Unternehmen», das seinen Ruhm be-
gründen wird, für sein Denken und für seine Lehre hat, d. h., welchem
Zweck es dient, bevor und nachdem es geschichtlich verwirklicht wor-
den ist.107 Die knapp rekapitulierte Sicht des Philosophen bezeichnet die
höchste Perspektive, in die das Problem Machiavelli einrückt. Sie erlaubt,
die Herausforderung, auf die Machiavellis Neuerungen antworten, und
die Herausforderung, zu der seine Neuerungen für die Nachgeborenen
werden, unter Einem Gesichtspunkt zu betrachten. Entsprechend hat
die Kritik, die Strauss am Gründer der modernen Politischen Philoso-
phie übt, beharrlich die Auswirkungen für die Philosophie im Auge. Die
breit rezipierten und allgemein applizierten Merkworte der Straussschen
Doktrin zu «Ancients and Moderns» von «the narrowing of the hori-
zon» bis zu «the lowering of the standards» zielen durchweg auf die Phi-
losophie: auf ihre Ausblendung, die Verminderung ihres Ranges, die Ver-
kürzung ihrer Reichweite, die Aufgabe ihres Anspruchs. Dasselbe gilt,
wie wir gesehen haben, für die Ersetzung der Großgesinntheit durch die
Menschlichkeit. Hier bleibt nachzutragen, daß Strauss’ Betrachtung
jener Ersetzung in einem noch nicht beleuchteten Zusammenhang steht
mit der Orientierung am Subhumanen, die er für Machiavelli und die

107 IV, 69 (266); IV, 73 (274); IV, 78 (282–284). Introduction, 9 (13); I, 35 (50); II, 20
(77); II, 23 (80); II, 24 (81–82). Siehe die Auslegung auf S. 54–65.

– 109 –
Modernen als kennzeichnend hervorhebt. Der Zusammenhang ist in
Thoughts on Machiavelli untergründig, für die Verhandlung des Pro-
blems Machiavelli indes bedeutsam. Er führt uns von IV, 26 zurück zu II,
21, wo Strauss Machiavellis Bezugnahme auf den Kentaur Chiron in
Principe XVIII auslegt. Der Kentaur, den die Alten als Gott vorstellten
und auf den sie als einen Lehrer von Fürsten hinwiesen, wird von Ma-
chiavelli zu einem Wesen profaniert, das halb Tier, halb Mensch ist und
das er den Fürsten zur Nachahmung empfiehlt. Die Verwandlung Chi-
rons und den Rat an den neuen Fürsten, die Naturen des Fuchses und des
Löwen zu gebrauchen, nutzt Strauss zu einer denkbar grundsätzlichen
Stellungnahme: «The imitation of the beast takes the place of the imita-
tion of God. We may note here that Machiavelli is our most important
witness to the truth that humanism is not enough. Since man must under-
stand himself in the light of the whole or of the origin of the whole which
is not human, or since man is the being that must try to transcend human-
ity, he must transcend humanity in the direction of the subhuman if he
does not transcend it in the direction of the superhuman. Tertium, i. e.,
humanism, non datur.» Die Ersetzung von magnanimity durch human-
ity, die die Lehre des Philosophen von Gott betrifft, bedeutete mithin in
letzter Analyse die Ersetzung der Orientierung am Superhumanen durch
die Orientierung am Subhumanen. Strauss läßt dem Satz vom ausge-
schlossenen Dritten des Humanismus einen dreifachen Ausblick folgen:
«We may look forward from Machiavelli to Swift whose greatest work
culminates in the recommendation that men should imitate the horses, to
Rousseau who demanded the return to the state of nature, a subhuman
state, and to Nietzsche who suggested that Truth is not God but a
woman.» Die drei Beispiele sind, jedes für sich, offenkundig erklärungs-
bedürftig, da Swift in der berühmten «Querelle» nach Strauss’ Urteil ge-
rade nicht den Parteigängern der Modernen zuzurechnen ist und da die
Metapher des «Weibes» nicht exakt Nietzsches Orientierung am Sub-
humanen belegt, von Rousseaus geforderter Rückkehr zum Naturzu-
stand gar nicht zu reden.108 Die drei Autoren treffen sich darin, daß die

108 Zu Strauss’ Urteil über Swift cf. neben note 51 (309), die er der Aussage im Text
hinzufügt, The Political Philosophy of Hobbes. Its Basis and Its Genesis. Chicago
1952, Preface to the American Edition, p. XIX, Natural Right and History, p. 252,
What Is Political Philosophy?, p.  25 sowie die Briefe an Gerhard Krüger vom
25. Dezember 1935 (nicht abgeschickt) und an Karl Löwith vom 15. August 1946 in

– 110 –
Ausrichtung und die Verankerung ihrer Lehre durch die Herausforde-
rung des Christentums geprägt sind. Von der Verankerung kann man
sagen, daß sie tiefer ansetze, von der Ausrichtung, daß sie subphiloso-
phisch sei. Strauss fährt fort: «As for Machiavelli, one may say with at
least equal right that he replaces the imitation of the God-Man Christ by
the imitation of the Beast-Man Chiron.»109 Als verità effettuale der Er-
setzung Gottes durch das Tier erweist sich die Ablösung der Nachfolge
Christi durch die Nachfolge «Chirons». Machiavelli kann unter der
Maske eines neuen Chiron auftreten. Die Verkündigung Christi, der
Weg, die Wahrheit und das Leben für alle zu sein, die Menschenantlitz
tragen, verlegt ihm die Rückkehr zum göttlichen Philosophen.
Verdunkelung ist das Signum des Problems Machiavelli. Die Verdun-
kelung der Philosophie, die Machiavellis Neuerungen zur Folge haben,
und die Verdunkelung des Philosophen Machiavelli, die es schwermacht,
den Kern seines Seins ins Auge zu fassen. Damit stimmt zusammen, daß
Strauss die zentrale Charakterisierung von Machiavellis Unternehmen
im Begriff Obfuscation kulminieren läßt, das letzte Wort, das seiner
Präsentation von Machiavellis Lehre unmittelbar vorausgeht. Obfusca-
tion versammelt und bündelt die plakativste Kritik in Thoughts on
Machiavelli.110 Aus der höchsten Perspektive betrachtet, die das Buch

Bd. 3 der Gesammelten Schriften. Stuttgart–Weimar 2001, p. 450, 641. Im Falle von
Rousseau und Nietzsche, denen Strauss keine erläuternden Anmerkungen hinzu-
setzt, mögen die beiden Hinweise genügen, daß Strauss in Persecution and the Art
of Writing (Erstveröffentlichung von 1941, p.  503, note 21) den Naturzustand
Rousseaus in einem Atemzug mit der Physik des Aristoteles philosophisch auf-
bietet und daß Nietzsches letztes Wort, wie Strauss weiß, die Berufung auf den
Gott Dionysos war, den er an gleichem Ort einen Philosophen nannte.
109 II, 21 (78), im letzten Satz meine Hervorhebung. Cf. IV, 86 (296–297).
110 III, 59 (173); siehe S. 58. Die plakativste Kritik des Buches im letzten Abschnitt
von Kapitel III wird durch die vehementeste Kritik des Buches im letzten Abschnitt
von Kapitel IV aufgenommen und überboten: «… as our presentation could not
help showing, one is entitled to say that philosophy and its status is obfuscated not
only in Machiavelli’s teaching but in his thought as well. That moral virtue is a
qualified requirement of society is infinitely clearer to him than that it is a require-
ment of philosophy or of the life of the mind. As a consequence he is unable to give
a clear account of his own doing. What is greatest in him cannot be properly
appreciated on the basis of his own narrow view of the nature of man» IV, 85 (294),
meine Hervorhebung. Zwischen den beiden Abschnitten zur Kritik von Machia-
vellis Unternehmen liegen die Absätze IV, 1–81, die es dem Leser erlauben, zu

– 111 –
aufzeigt, vermag die Verdunkelung der Philosophie nichtsdestoweniger
als Ausdruck von Vorsicht und Zurückhaltung verstanden zu wer-
den.111 Der Unmäßigkeit von Machiavellis Unternehmen läßt sich eine
tiefer anzusetzende Mäßigung ablesen. Die Kühnheit des Politikers ver-
weist auf die Besonnenheit des Philosophen, der in der von ihm initiier-
ten Aufklärung den praktischen Nutzen der Theorie betont, die gesell-
schaftliche Verträglichkeit vorgibt und den philanthropischen Gewinn
herausstreicht. Schockierendes kann der Beschwichtigung, Provozie-
rendes der Ablenkung dienen. Politische Kühnheit und philosophische
Besonnenheit können gleichermaßen zur Verdunkelung beitragen. Daß
Strauss, der nicht in dem Ruf steht, Machiavellis Rede Besonnenheit
zuzubilligen, ihr in der wichtigsten Rücksicht, der Verdunkelung der
Philosophie, gleichwohl Besonnenheit zuerkennen sollte, nimmt sich
weniger paradox aus, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß er die Beson-
nenheit an anderem Ort durchaus mit Verdunkelung zu verbinden weiß
und «obfuscation» dabei als «acceptance of the political perspective»
durch den Philosophen bestimmt. Die ausdrückliche Zuordnung findet
sich freilich nicht in Thoughts on Machiavelli, und sie wird nicht an
einem Modernen erläutert. Strauss führt sie in der Auslegung Platons
ein, und als Beispiel dient ihm die Wirkung, die die Rede über das
Weintrinken in den Nomoi auf den Athenischen Fremden hat.112

einem eigenen Urteil zu kommen, ob das, was «man zu sagen berechtigt ist», für
den Philosophen zutrifft oder nicht und insonderheit ob man im Licht der
Auslegung, die Strauss in den 81 Absätzen von Machiavellis Denken gibt, sagen
muß, daß Machiavelli nicht in der Lage oder daß er nicht willens ist, eine klare
Darstellung seines Tuns und Lassens zu geben. Strauss beginnt den nächsten Absatz
mit einem Beispiel dafür, daß das, was «man zu sagen berechtigt ist», besser gesagt
und mithin der Wahrheit angenähert werden könnte: «Instead of saying that the
status of philosophy becomes obscured in Machiavelli’s thought, it is perhaps better
to say that in his thought the meaning of philosophy is undergoing a change» IV, 86
(295), meine Hervorhebung. Siehe S. 58–65.
111 «Machiavelli is justly notorious or famous for the extraordinary boldness with
which he attacked generally accepted opinions. He has received less than justice for
the remarkable restraint which he exercised at the same time. This is not to deny
that that restraint was, in a way, imposed upon him» I, 22 (32).
112 «If the philosopher is to give political guidance, he must return to the cave:
from the light of the sun to the world of shadows; his perception must be dimmed;
his mind must undergo an obfuscation. The vicarious enjoyment of wine through a
conversation about wine, which enlarges the horizon of the law-bred old citizens,

– 112 –
Strauss’ Unternehmen der Erneuerung antwortet sowohl auf die Tra-
dition, die Machiavelli begründete, als auch auf die Tradition, die sich
von Sokrates herleitet und auf die Machiavelli antwortete. Es stellt die
Wirkungen und Weiterungen beider Traditionen in Rechnung, bedenkt
die Vorzüge und die Nachteile der Verdunkelung wie der Nobilitierung,
wenn es die Philosophie in einer nicht gekannten Weise exponiert.
Nachdem im Gefolge der ineinander verschränkten Traditionen in Ver-
gessenheit geraten war, «what philosophy originally meant», rückt es
das philosophische Leben ins Zentrum, das es von den Übermalungen
der Tradition zu befreien und gegen die Verwirrung mit Nichtzugehöri-
gem oder Nichtverträglichem zu feien sucht. Das Unternehmen gibt
dem Philosophen eine neue Sichtbarkeit, indem es den Begriff wieder
zu einem Begriff der Unterscheidung macht und ihm in exemplarischen
Auseinandersetzungen, sei es mit Machiavelli, sei es mit Sokrates, zu
konkreter Anschaulichkeit verhilft. Angesichts des herrschenden Vor-
urteils, daß eine Rückkehr zu den Alten verwehrt und ihre Philosophie
obsolet sei, macht es sich anheischig, nicht nur zu zeigen, daß die Rück-
kehr im Wichtigsten möglich ist, sondern darüber hinaus das entgegen-
gesetzte Vorurteil zu wecken, daß eine Rückkehr zu den Alten und vor
allem zum Denken Platons not tut.113 Aber die Rückkehr, die Strauss ins

limits the horizon of the philosopher. But this obfuscation, this acceptance of the
political perspective, this adoption of the language of political man, this achievement
of harmony between the excellence of man and the excellence of the citizen, or
between wisdom and law-abidingness is, it seems, the most noble exercise of the
virtue of moderation: wine-drinking educates to moderation. For moderation is not
a virtue of thought: Plato likens philosophy to madness, the very opposite of
sobriety or moderation; thought must be not moderate, but fearless, not to say
shameless. But moderation is a virtue controlling the philosopher’s speech.» What Is
Political Philosophy?, p. 32, meine Hervorhebung. Die Passage gehört zum zweiten
und bei weitem wichtigsten Teil des dreiteiligen Aufsatzes. Cf. Anm. 110.
113 In einem verwandten Sinn hatte der junge Strauss auf seinem Weg zu einem
angemessenen Verständnis dessen, «was die Philosophie ursprünglich bedeutete»,
ein Vorurteil zugunsten von Maimonides aufzubieten versucht und zu Beginn von
Philosophie und Gesetz erklärt: «Maimunis Rationalismus ist das wahrhaft
natürliche Vorbild, der vor jeglicher Verfälschung sorgfältig zu hütende Maßstab,
damit der Stein des Anstoßes, an dem der moderne Rationalismus zuschanden
wird. Ein Vorurteil für diese Auffassung Maimunis zu erwecken, einen Verdacht
vielmehr gegen das mächtige gegensätzliche Vorurteil zu erregen, ist der Zweck der
vorliegenden Schrift» (p. 9, meine Hervorhebung).

– 113 –
Werk setzt, nimmt die Kritik, die seine Vorgänger vortrugen, in sich
auf, und es ist ein höchst nichttraditioneller Platon, in dessen Umkreis
Strauss tritt. Der Leitbegriff der Politischen Philosophie, unter dem die
Erneuerung steht, bewährt sich endlich darin, daß er mit dem Wissen
um das Erfordernis der politischen Verteidigung und des Schutzes der
Philosophie das Bewußtsein für die Rückwirkungen jeder öffentlichen
Präsentation auf die Philosophie schärft. Strauss hatte vor Thoughts on
Machiavelli in seinem Dialog mit Alexandre Kojève auf das Problem
aufmerksam gemacht, das in dem «überwältigenden Erfolg» beschlos-
sen liegt, der Platons Verteidigung der Philosophie vor dem Tribunal
der Polis mit einem Nachhall bis in die Gegenwart beschieden war. Im
Hinblick auf die religiösen und moralischen Anpassungen, zu denen
sich Platon, Cicero, Farabi und Maimonides verstanden, um der Philo-
sophie in den Gemeinwesen bzw. Religionen, in denen sie lebten, Ach-
tung zu verschaffen, konstatiert Strauss: «Contrary to what Kojève
seems to suggest, the political action of the philosophers on behalf of
philosophy has achieved full success.» Dann fügt er hinzu: «One some-
times wonders whether it has not been too successful.»114 Zu erfolgreich
mag die Verteidigung der Philosophie genannt werden, wenn ihre poli-
tische Dissemination als Maßstab dient. Als zu erfolgreich muß die
Akkommodation beurteilt werden, wofern sie der Philosophie den Sta-
chel der Widerständigkeit raubt, sie in einen Zustand der Fraglosigkeit
versetzt und sie der Vereinnahmung durch das ausliefert, was ihr feind
ist. Thoughts on Machiavelli nähert sich dem Problem der doppelten
Tradition mit einer Doppelstrategie. Einerseits wird die Tradition der
Neueren einer expliziten Kritik unterzogen, für die die Konstruktion
der «Klassischen Politischen Philosophie» die kontrastierende Folie lie-
fert, während die Tradition der Alten lediglich eine implizite Kritik er-
fährt, auf die die Verschmelzung der philosophischen und der antiphilo-
sophischen Tradition zur «Großen Tradition» hinweist.115 Andererseits

114 Restatement on Xenophon’s «Hiero», in: What Is Political Philosophy?, p. 126–


127. (Geschrieben 1950 und zuerst veröffentlicht in: De la tyrannie. Paris 1954,
p. 333.) Zur wichtigsten Anpassung beachte den Hinweis «Plutarch, Nicias ch. 23»,
den Strauss der Erwähnung von Platons «resounding success» in Klammern folgen
läßt.
115 Der junge Strauss hatte von der «widersinnigen Verflechtung einer Νόμοϛ-
Tradition mit einer philosophischen Tradition» gesprochen, «einer Tradition des
Gehorsams mit einer ‹Tradition› des Fragens, das als tradiertes ja kein Fragen

– 114 –
verlangt der Rückgang auf den Philosophen Machiavelli, den die philo-
sophische Destruktion der modernen Tradition gebietet, eine einge-
hende Auslegung seines Denkens, die nicht umhinkann, die Gemein-
samkeiten mit den Philosophen des Mittelalters und des Altertums an
den Tag zu bringen. Allein der Aufweis, wie viel Machiavelli von seinen
Vorgängern übernahm bzw. wie wenig diese ihm im Wissen und Ver-
ständnis der entscheidenden Dinge nachstanden, muß die Alten in
neuem Licht erscheinen lassen.116 So wirkt Thoughts on Machiavelli der
Versteinerung der Philosophie in der Tradition der Neueren und der
Alten zumal entgegen. Der Einsicht in das Problem der Tradition, das
im «Problem Sokrates» und im «Problem Machiavelli» aufscheint, kor-
respondiert auf der doktrinalen Ebene die Zurückweisung der Vorstel-
lung einer Vortrefflichkeit, die frei wäre von jedem Mangel, oder des
Begriffs eines «vollkommensten Wesens», das nicht Ursache sein könnte
von Übeln.117
Nachdem Strauss die erste Hälfte von Kapitel  IV auf «Machiavelli’s
thought concerning religion» verwandt hat, erörtert er in der zweiten
Hälfte «his teaching concerning morality and politics».118 Anders als die
Proklamation in III, 32 vermuten lassen mochte, steht dabei nicht länger
die Auseinandersetzung mit der biblischen Lehre im Vordergrund. Die
besondere Aufmerksamkeit gilt vielmehr der philosophischen Tradi-
tion und vor allem der aristotelischen Lehre zur Politik und Moral.
Strauss stellt die Weichen im 6. Abschnitt (IV, 43–45), wenn er den An-
spruch Machiavellis, daß seine Lehre «neu» sei, in Erinnerung ruft, um,

mehr ist». Brief an Gerhard Krüger vom 17. November 1932, Gesammelte Schriften,
Bd. 3, p. 406. Zu Strauss’ Rede von «the Great Tradition» siehe II, 6 (59–60); III, 26
(120); III, 55 (167); III, 59 (173). Die «Große Tradition» wird dissoziiert in IV, 50
(241–242); cf. III, 54 (167). Die explizite Kritik der modernen Tradition erreicht
ihren Höhepunkt im 11. Abschnitt von Kapitel IV (IV, 82–87). Zur impliziten
Kritik der «Klassischen Politischen Philosophie» cf. IV, 84 (293) und IV, 87 (298–
299) in Verbindung mit IV, 10–11 (185–186). Siehe S. 78–80.
116 Inter multa alia: IV, 26 (208) und IV, 85 (295).
117 Cf. IV, 51 (244).
118 IV, 43 (231) und IV, 45 (232), meine Hervorhebung. Thought und intention
kommen in IV, 43 dreimal bzw. einmal vor. Teaching bleibt unerwähnt. In IV, 45
kommt teaching dreizehnmal vor (die höchste Dichte von teaching in einem Absatz);
thought und intention bleiben unerwähnt; dagegen hat classical political philosophy
einen dreifachen Auftritt, zu dem noch je einmal traditional political philosophy und
political philosophy of the classics hinzukommen.

– 115 –
den Anspruch einschränkend und ihn verschärfend, festzuhalten, daß
Machiavellis Lehre nur in Rücksicht auf die Moral und die Politik, nicht
aber auf die Religion als «ganz neu» betrachtet werden könne: «In his
teaching concerning morality and politics Machiavelli challenges not
only the religious teaching but the whole philosophic tradition as well.»
Mit einem Schlag steht die ganze philosophische Tradition in Frage.
Strauss beeilt sich zu präzisieren, daß Machiavellis Anspruch schon
durch die Kühnheit, mit der er seine Lehre vorträgt, «ganz gerechtfer-
tigt» sei, d. h. selbst dann, wenn die Lehre seinen Vorgängern bekannt
war und sie deren Positionen in Teilen oder im Ganzen zustimmten:
«that boldness as considered boldness would presuppose a wholly new
estimate of what can be publicly proposed, hence a wholly new estimate
of the public and hence a wholly new estimate of man.» Da Strauss im
Zentrum des Brücken-Abschnitts, der die beiden Hälften von Kapitel
IV zusammenschließt, kurz zuvor erklärt hat, Machiavelli sei «weniger
zurückhaltend hinsichtlich der Moral als hinsichtlich der Religion»,
dürfen wir annehmen, daß die «ganz neue Einschätzung des Menschen»
sich in überschaubaren Grenzen bewegt. Die geringere Zurückhaltung,
die Machiavelli sich in Dingen der Moral im Unterschied zur Religion
auferlegt, mag mit der Erwartung einhergehen, daß es der Öffentlich-
keit nicht schwerfallen wird, seine Lehre moralisch aufzunehmen und
seinem Unternehmen insgesamt eine moralische Absicht zuzusprechen.
Die größere Kühnheit, die den Nichtphilosophen mehr zumutet, als die
Tradition ihnen zumutete, wird abgefedert durch die Betonung des
praktischen Nutzens der Lehre, die es ihnen erlaubt, ihre eigenen
Zwecke in ihr wiederzufinden oder mit ihr zu verbinden. Am Ende be-
zeugt Machiavellis Rhetorik seine Einschätzung, das moralische Be-
dürfnis werde sich unbeschadet der von ihm vorgetragenen Kritik in
der Öffentlichkeit Bahn brechen.119 Dem Anspruch Machiavellis auf
Neuigkeit kontrastiert Strauss zu Beginn der zweiten Hälfte den An-
spruch der «klassischen» Politischen Philosophie auf fundamentale

119 IV, 44–45 (232–234). Cf. The Political Philosophy of Hobbes, Preface to the
American Edition, p. XX.  – Beachte zur Einschätzung des Verhältnisses von
Religion und Moral, die sich aus der biblischen Lehre ergibt: «The integration of
morality into religion or the subordination of morality to religion leads to the
consequence that morality appears to be less comprehensive and hence less fun-
damental than religion» IV, 44 (232). Siehe S. 71.

– 116 –
Übereinstimmung mit dem, «was allgemein über die Güte, d. h. über die
moralische Tugend, gesagt wird». Die Entwicklung des Arguments in
den Abschnitten 7–10 wird die beiden Ansprüche, von denen es seinen
Ausgang nimmt, in der Hauptsache als irreführend erweisen. Dabei gibt
Machiavellis Anspruch Strauss die Gelegenheit, das Verständnis der
philosophischen Tradition zu berichtigen, und der Anspruch der «klas-
sischen» Politischen Philosophie setzt ihn in den Stand, die biblische
Moral auch dort zu verhandeln, wo sie nicht namentlich erwähnt wird.
Die Abschnitte 7–10 der zweiten Hälfte verdienten eine nicht weniger
eingehende Betrachtung als die Abschnitte 2–5 der ersten, zu denen sie
in einem Verhältnis vielfältiger Entsprechung stehen. Wir konzentrie-
ren uns auf die Gesichtspunkte, die für die Selbstverständigung des Phi-
losophen von besonderer Bedeutung sind.
Die Verhandlung von Güte und Tugend, der der 7. Abschnitt (IV,
46–51) gewidmet ist, wird durch Machiavellis Übereinstimmung mit
der Sokratischen Gleichung «Tugend ist Wissen» dominiert, auf die
Strauss bereits in der Einleitung von Thoughts on Machiavelli voraus-
weist, wenn er «die Machiavelli zugeschriebenen Worte» von Marlowe
anführt: «I hold there is no sin but ignorance.»120 Die Übereinstimmung
mit der sokratischen Tradition, die Strauss sichtbar macht, betrifft indes
nicht nur das Ende, die Erkenntnis, in der die Tugend gründet, und
näherhin die Einsicht, die den rechten Gebrauch der moralischen Tu-
genden und Laster regiert, sondern desgleichen den Anfang der Unter-
suchung, den Ausgang, den sie von den Endoxa nimmt, das Ansetzen an
der «Oberfläche» der Meinungen, und das Fortschreiten zu den Wider-
sprüchen, die den Meinungen über die «Güte» innewohnen und die in
den Logoi, den Lobreden auf die einschlägigen Handlungen, zutage
treten.121 Den mittleren und umfangreichsten Teil des Abschnitts ver-
wendet Strauss auf Machiavellis komplexe Auseinandersetzung mit
dem gemeinen Verständnis der moralischen Tugend, das seinen «klassi-

120 Introduction, 9 (13). In Natural Right and History hatte Strauss Marlowe so
zitiert: «I … hold there is no sin but ignorance.» und dann hinzugesetzt: «This is
almost a definition of the philosopher» (p. 177). Das Zitat lautet, mit der von Strauss
zunächst gekennzeichneten Auslassung, vollständig: «I count religion but a childish
toy, / And hold there is no sin but ignorance.» Christopher Marlowe: The Jew of
Malta. Prologue of Machiavel, 14–15, meine Hervorhebung.
121 IV, 47 (236–237); cf. Anm. 17.

– 117 –
schen Ausdruck» in der Aufstellung des Aristoteles fand, daß die Tu-
gend das Mittlere oder die Mitte zwischen zwei einander entgegenge-
setzten fehlerhaften Extremen oder Lastern sei. Strauss zeigt, wie Ma-
chiavelli einerseits an das Lob der Mitte anzuknüpfen vermag; so hat es
einen guten Sinn, die politische Freiheit mit dem gemeinen Menschen-
verstand als ein Mittleres zwischen Tyrannei und Zügellosigkeit zu be-
stimmen. Wie Machiavelli andererseits beim herrschenden Glauben
und dessen Verachtung für den Mittelweg der Lauen ansetzen kann, die
dem alles entscheidenden Entweder-Oder zu entgehen suchen, wenn er
gegen la via del mezzo Partei ergreift. Damit trifft er den Fall, auf den
für den Philosophen alles ankommt: Es gibt kein Mittleres zwischen
dem Gehorsam und dem Ungehorsam des Denkens. Machiavellis Zu-
rückweisung der Doktrin von der Tugend als der rechten Mitte zwi-
schen zwei Lastern stellt uns Strauss am Beispiel des Gleichmuts vor
Augen, wobei er nicht nur Machiavellis Zurückweisung, sondern zu-
gleich den Sinn von Aristoteles’ Lehre erläutert. Der Gleichmut des
vortrefflichen oder großen Mannes habe nur ein Laster, das Laster der
Schwachen, zum Gegenüber, das sich in zwei Fehlhaltungen manife-
stiere, in Anmaßung auf der einen, Demut auf der anderen Seite. «What
he means to convey can be stated as follows. The two opposite defects
are merely two aspects of one and the same vice which comes to sight in
opposite forms in opposite circumstances; one does not understand
either defect if one does not see in each the co-presence of the other. The
virtue in question on the other hand comes to sight as one and the same
in all situations; it is stable and unchanging, for it is based on ‹knowl-
egde of the world.›»122 Weitere Stationen der Auseinandersetzung mit
der Lehre vom Mittelweg, die den Philosophen direkt angehen, sind der
Aufweis, daß Gerechtigkeit als stabile Mitte zwischen Selbstverleug-
nung und Ungerechtigkeit unmöglich ist, ein Befund, der die Frage der
Gerechtigkeit gegen sich selbst, oder was der Philosoph sich in Rück-
sicht auf das eigene Gute schulde, in den Vordergrund rückt; und schließ-
lich die Ausrichtung des Lebens an der Natur, die ein Alternieren zwi-
schen Polen verlangt, da die Natur selbst vielfältig und wechselhaft ist.
«The true way consists therefore in the alternation between virtue and
vice: between gravity (or full devotion to great things) and levity …» Das
Alternieren im Einklang mit der Natur besteht jedoch keineswegs «in

122 IV, 48 (237–238). Beachte IV, 14 (193).

– 118 –
being pushed or pulled now in one direction and then in the opposite
direction; it consists in choosing virtue or vice with a view to what is
appropriate ‹for whom, toward whom, when and where.›» Das Leben
gemäß der Natur, das dem Wandel der Herausforderungen und dem
Wechsel der Gelegenheiten Rechnung trägt, gewinnt seine Stetigkeit aus
der Orientierung am eigenen Guten. Das Alternieren wird deshalb für
unterschiedliche Naturen unterschiedlich ausfallen. Der gravity-Pol und
der levity-Pol sind, wie wir sahen, im Fall eines Philosophen notwendig
anders bestimmt als im Fall eines Fürsten. Aber im einen wie im anderen
Fall wird die Einsicht bzw. die Klugheit oder das, was Aristoteles als die
dianoetischen Tugenden von den moralischen Tugenden absetzte, die
Führung übernehmen: «That alternation is a movement guided by pru-
dence and sustained by strength of mind, will or temper. Prudence and
that strength are then always required: whereas in the case of the moral
virtues it suffices for the prince to possess the appearance of them, in the
case of prudence and strength of mind or will he needs the substance. In
other words, prudence (judgment) and strength of mind, will or temper
are the only generally recognized virtues which truly possess the gen-
erally recognized character of virtue in general: they are themselves
always salutary. Whereas the moral virtues and vices (e. g. religion and
cruelty) can be well and badly used because their use must be regulated
by prudence, prudence cannot be badly or imprudently used.»123
Das Leben gemäß der Natur setzt die Absage des Philosophen an die
Idole voraus, die der Sehnsucht nach vollkommener Reinheit entspre-
chen. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Natur ist unverträglich mit
der Vorstellung eines Guten ohne Beimischung, ohne Begrenzung,
ohne Beeinträchtigung. Machiavellis Absage kommt im letzten Absatz

123 IV, 50 (240–242). Strauss fährt unmittelbar fort: «We must emphasize the fact,
which Machiavelli has deliberately obscured by his usage, that his doctrine of
‹virtue› preserves the relevance, the truth, the reality of the generally recognized
opposition between (moral) virtue and (moral) vice. This fact affords perhaps the
strongest proof of both the diabolical character and the sobriety of his thought.
This is not to deny but rather to affirm that in his doctrine of ‹virtue› the opposition
between moral virtue and moral vice becomes subordinate to the opposition
between another kind of excellence and worthlessness. Machiavelli expresses the
difference between moral virtue and certain other kinds of excellence most simply
by distinguishing between goodness (i. e. moral virtue) and virtue or by denying to
moral virtue the name of virtue» IV, 50 (242). Cf. Introduction, 9 (13).

– 119 –
des 7. Abschnitts zur Sprache, der wie der letzte Absatz des 2. Abschnitts
die «most excellent men» zum Gegenstand hat. Strauss konzentriert sich
auf die Idole oder Wünschbarkeiten, die vorzüglich die Philosophen und
die Philosophie betreffen: die Lehren vom besten Regime, vom voll-
kommenen Glück, das jedes Übel ausschließe, und vom universalen
Menschen. Machiavellis Einspruch gegen die Tradition und seine Kon-
klusion, daß mit jeder Art oder jedem Grad von Vortrefflichkeit ein
besonderer Mangel oder ein spezifisches Übel einhergehe, erläutert
Strauss an einer Figur, die als Machiavellis Gegenstück zum Philoso-
phen-König gelten kann und mit der Machiavelli sich, wenn wir der
prominentesten Lesart von Thoughts on Machiavelli folgen wollen,
identifizierte: «The excellence of a man who is the teacher of both prin-
ces and peoples, of the thinker who has discovered the modes and orders
which are in accordance with nature, can be said to be the highest ex-
cellence of which man is capable. Yet this highest freedom cannot be-
come effective if the thinker does not undergo what to him must be the
most degrading of all servitudes. Or if, prompted by levity, he would
derive enjoyment from undergoing that servitude, he would lose the
respect of his fellow men.» Wenn Machiavelli als Denker die höchste
Freiheit genießt, aber den Ertrag und die Erfahrung dieser Freiheit nicht
anders denn im Gewand der Knechtschaft mitzuteilen vermag; wenn er
sich zum Lehrer von Fürsten und Völkern macht, um zu seinesgleichen
zu sprechen; wenn er sich lachend herbeiläßt, «den Narren zu spielen»;124
wenn ihm am Ende nicht am Ruhm der Welt, sondern am Urteil derer
gelegen ist, die ihn zu verstehen suchen, wie er sich selbst versteht, dann
ändert das nichts an Machiavellis Verständnis der Vortrefflichkeit im
allgemeinen. Es ändert sich nur das Verständnis seiner Vortrefflichkeit
im besonderen.125
Die höchste Vortrefflichkeit tritt in der Koinzidenz von «Sein» und
«Sollen» zutage. Für die, die über «außergewöhnliche Tugend oder
Klugheit» verfügen, gilt: «Sie können nicht tun, was sie nicht tun sollen,
und sie müssen tun, was sie tun sollen.» Das Gebot der Klugheit hat für
sie zwingende Kraft. Das Sollen, das die höchste Klugheit oder Einsicht
gebietet, ist freilich kein Reines Sollen oder Allgemeines Gesetz. Es be-
mißt sich am «weisesten Ziel», das unter den obwaltenden Umständen

124 III, 55 (168).


125 IV, 51 (242–244). Beachte III, 54 (165–167) und IV, 25 (207). Siehe S. 63–65.

– 120 –
möglich ist. Es setzt das Wissen und das Urteil voraus, was die Notwen-
digkeit im besten Fall erlaubt und im gegebenen Fall erfordert. Die
höchste Vortrefflichkeit, die an der Weisheit ausgerichtet ist, wird von
der höchsten Einsicht bestimmt. Sie umfaßt nicht nur die Einsicht in
jene Notwendigkeit, die allem Wissen zugrunde liegt, sondern auch die
Einsicht in die Notwendigkeit, die zur Tugend befähigt, die Einsicht in
die eigene Natur, die in ihrer Besonderheit nicht verfügbar ist. Strauss
betont nachdrücklich, daß «grandeur of mind and will», die prämorali-
sche oder transmoralische Qualität, die die «great men» vom Rest der
Menschheit unterscheidet, ein Geschenk der Natur sei. Dabei schließen
die «great men» offenbar die «excellent men» ein, von denen andernorts
die Rede ist, oder sie stehen für diese ein.126 Was Strauss von Machiavel-
lis «Tugend im höchsten Sinn» sagt, läßt sich erst recht von der höchsten
Tugend sagen, und was für die Vortrefflichen zutrifft, trifft für die Vor-
trefflichsten um so mehr zu. Auf dem Höhepunkt des 8. Abschnitts (IV,
52–60), der Freiheit und Notwendigkeit untersucht, gibt Strauss einen
Hinweis zum letzten Grund der Unterscheidung von Philosophen und
Nichtphilosophen. Strauss wird sich auf diesen letzten Grund beziehen,
wenn er am Ende des Buches in gemeinsamer Frontstellung mit Machia-
velli gegen die idealistische Behauptung einer radikalen Freiheit oder
eines Archimedischen Punktes außerhalb alles Gegebenen «the natural
basis of the radical distinction between philosophers and non-philoso-
phers» zur Geltung bringt.127 Der 8. Abschnitt, der, so wie der ihm kor-
respondierende 3. Abschnitt beim Gewissen begann, beim Liberum
arbitrium beginnt, hält ausdrücklich fest, daß die besondere Natur eines
Menschen, weit davon entfernt, durch dessen Wahl oder freien Willen
bestimmt zu werden, diesen Menschen, seine Wahl oder seinen «freien
Willen» bestimmt. Wenn Machiavelli davon spricht, daß «wir uns nicht
ändern können», weiß er, daß die Eigenschaften, die unsere je besondere
Natur ausmachen, zum Teil ererbt, zum Teil das Ergebnis von Erzie-
hung sind oder daß die Natur durch die Gewohnheit modifiziert wird.
«Still, innate qualities are of decisive importance.»128 In den drei Absät-
zen, die dem Höhepunkt unmittelbar folgen (IV, 55–57), kommt das

126 Siehe IV, 33 (218) und S. 98–99, außerdem IV, 70 (269). Cf. die Rede von «great
men» und die Charakterisierung von Goethe als «great man» in IV, 1 (174).
127 IV, 86 (297–298). Beachte die letzten beiden Sätze des Buches (IV, 87).
128 IV, 54 (246–247).

– 121 –
Attribut weise nicht vor. Sie befassen sich mit den Menschen im allge-
meinen, die durch äußere oder von außen auferlegte Notwendigkeit,
durch Furcht und Hunger, durch die Schrecken der Natur und den
Zwang der Gesetze, zu gerechtem Handeln, gutem Wirken, fleißigem
Arbeiten veranlaßt werden können. Eine prominente Rolle spielt der
Antagonismus von Todesfurcht und Ehrgeiz bzw. Eitelkeit, den Hobbes
als Ansatzpunkt für die von ihm entworfene Ordnung wählt. Die Weis-
heit kehrt zurück, nachdem Strauss sich den «tugendhaften Gründern»
zugewandt hat, die aus innerer Notwendigkeit handeln, sei es, daß sie
von «ihrem natürlichen Verlangen nach dem Gemeinsamen Guten» an-
getrieben werden, sei es, daß sie sich von der Aussicht leiten lassen, ihr
Glück im «Ruhm der Welt» zu finden, den ihnen ihr Werk eintragen
wird. Mit den Gründern, die sich und anderen im Großen und auf lange
Sicht Zwecke zu setzen vermögen, tritt die Wahl wieder in den Vorder-
grund. Die «weise oder ehrenvolle Wahl», die «das Vorrecht der Klugen
und Starken ist», zeigt einen höheren Grad der Handlungsfreiheit an,
ohne daß wir deshalb das Reich der Notwendigkeit verließen.129 Denn
für die richtige Wahl und die schließliche Vollendung des Werks, an das
sich die Großen, «vom Ehrgeiz oder der Liebe zum Ruhm beseelt»,
wagen, bleibt die Einsicht unabdingbar. «Only men of supreme virtue
or prudence are compelled by their desire for glory to operate in the
most perfect manner. What they recognize as wise or honorable acts on
them with the same compulsory power with which only fear of great,
manifest and imminent evils acts on most men.» Wie die überlappende
Rede von «great men» und «excellent men» macht uns die in IV, 58–59
zweimal gebrauchte Formulierung «wise or honorable» darauf auf-
merksam, daß Strauss zwei Formen bzw. Typen zugleich verhandelt,

129 «Necessity and choice are related to each other as the low and the high.»
«… since there is no perfect good, to choose means at best to choose a good mixed
with evil. To choose means therefore in all important cases to take a risk and to trust
in one’s power to keep under control the evil which goes with the good chosen. The
weak lack that trust …» «While the desire for glory in its highest form acts with
compulsory power, it can be identified with choice or freedom for the following
reasons. The compulsion stemming from the desire for glory cannot be imposed on
a man as can be the compulsion stemming from fear; the former compulsion arises
entirely from within. The man driven by the desire for glory is guided by a pleasing
prospect rather than compelled by a harsh present …» IV, 58 (250–251) und IV, 59
(251).

– 122 –
die nicht das gleiche sind und vom Leser unterschieden werden müssen.
Was dem Vortrefflichen als ehrenvoll erscheint, mag sehr wohl im Streit
liegen mit dem, was der Vortrefflichste als weise erkennt. Wer die Ehre
in den Rang einer «Notwendigkeit» erhebt, von der er sich bestimmen
läßt, verstrickt sich in eine tiefgreifende Abhängigkeit. Das ist mit zu
bedenken, wenn Strauss fortfährt: «The necessities, with a view to
which men of supreme prudence as such necessarily act, are not so much
present as foreseen necessities.» Wenn er präzisierend die Notwendig-
keiten, die als solche gewußt werden, von falschen Meinungen, vom
Glauben oder Aberglauben, absetzt;130 und wenn er schließlich festhält,
daß für Machiavelli nicht der Erfolg, sondern die Weisheit eines Unter-
nehmens Lob und Bewunderung verdient. Nicht der geringste Teil der
Weisheit eines Unternehmens besteht in der Anerkenntnis der Notwen-
digkeit des Zufalls.131
Die Kritik der Moral im Licht der Politik des Gemeinsamen Guten ist
das Thema des 9. Abschnitts (IV, 61–68). Es handelt sich um den dritten
Abschnitt in Folge, den Strauss auf die Analyse der moralischen Tugend
verwendet, und um den dritten und letzten, der Aristoteles in beinahe
gleichlautenden Worten zum Ausgangspunkt macht.132 Unter dem Ein-

130 «The two kinds of necessity which make men of the two kinds operate well are
naked necessities, necessities known as such … Only the known necessity compels
men to make the supreme effort, not to trust in Fortuna but to try to subjugate her.
If men do not know the necessity in question or are under the spell of false opinions
denying it, that necessity is counteracted by the compulsory power of ignorance or
false opinion; this composite necessity – a wrong kind of ‹middle course› – prevents
them from operating well» IV, 59 (252). Beachte III, 25 (120).
131 IV, 60 (253).
132 «The common understanding of virtue had found its classic expression in
Aristotle’s assertion that virtue, being the opposite of vice, is the middle or mean
between two faulty extremes (a too little and a too much) which are opposed to
each other» IV, 48 (237). «The common understanding of goodness had found its
classic expression in Aristotle’s assertion that virtue is the habit of choosing well
and that choosing well or ill as well as the habits of choosing well or ill (the virtues
or vices) are voluntary: man is responsible for having become and for becoming
virtuous or vicious» IV, 52 (244). «The common understanding of goodness had
found its classic expression in Aristotle’s assertions that virtuous activity is the core
of happiness for both individuals and societies, that virtue or the perfection of
human nature preserves society, and that political society exists for the sake of the
good life, i. e., of the virtuous activity of its members. In order to fulfill its natural

– 123 –
druck der Eröffnung, die die moralisch-politische Doktrin von Aristo-
teles in einprägsamer Schlichtheit ausstellt, sind wir versucht, das Pro-
blem der Politik und des Menschen im Grundsatz für gelöst zu halten.
Die menschliche Natur, die Tugend und das beste Regime scheinen so
harmonisch zusammenzuwirken, daß nichts auf einen Konflikt zwi-
schen der Gesellschaft und dem Individuum oder auf eine notwendige
Dissonanz zwischen dem Gemeinwesen und dem Philosophen hindeu-
tet. Der schöne Schein beruht vor allem darauf, daß der Eröffnungs-
satz von «Tugend» und von «tugendhafter Aktivität» spricht, ohne die
Tugenden der Moral und die Tugenden des Denkens zu unterscheiden.
Die Korrektur läßt nicht lange auf sich warten, denn wir erfahren einige
Sätze danach: «the best regime strictly understood exists very rarely, if it
has ever existed, although it is of its essence to be possible». Der Beginn
des Abschnitts setzt den Ton für das, was folgt: Machiavellis Kritik gilt
der exoterischen Lehre des Aristoteles, sie trifft das «gemeine Verständ-
nis», das jene Lehre aufnimmt und anspricht. Dies gibt Strauss die Mög-
lichkeit, die Kritik des gemeinen Verständnisses in vollem Umfang zu
ihrem Recht kommen und die Übereinstimmung mit Aristoteles gleich-
wohl sichtbar werden zu lassen. So vermerkt er im unmittelbaren An-
schluß an den klassischen Beginn, daß Machiavelli «die Tatsache der
menschlichen Schlechtigkeit» gegen «die Klassiker» betont, um seiner-
seits zu betonen: «Aristotle teaches as clearly as Machiavelli himself that
most men are bad as well as that all men desire wealth and honor».133
Die Kritik, die der 9. Abschnitt entfaltet, hält dem «klassischen Vertre-
ter der moralischen Tugend, d. h. der höchsten Art derjenigen Tugend,
die nicht Wissen ist»,134 entgegen, daß der Zweck der bürgerlichen Ge-
sellschaft nicht in der Tugend oder in der moralischen Güte, sondern im
Guten des je besonderen Gemeinwesens besteht. Als die Wahrheit der
moralischen Tugend zeigt sie die republikanische Tugend, die sich in
den Dienst des Gemeinsamen Guten stellt. Diese wie jene versteht sich
wesentlich aus der Pflicht oder aus der Unterordnung unter ein Höhe-
res, das der Unterordnung wert und der Hingabe würdig erscheint. Bei
näherer Betrachtung erweist sich der Zweck, dem die Tugend dient, als

function in the best way, the city must have a certain order, a certain regime: the
best regime» IV, 61 (253–254).
133 IV, 61 (254), jeweils meine Hervorhebung.
134 IV, 64 (258), meine Hervorhebung. Cf. The City and Man, p. 26–29.

– 124 –
eine Varietät des, sei es direkt, sei es auf Umwegen angestrebten, eigenen
Guten. Während die moralische Güte sich indes nicht immer mit dem
Gemeinsamen Guten übereinbringen läßt, unterliegt die republikani-
sche Tugend oder der Patriotismus, der auf das kollektive Eigeninter-
esse zielt, nicht derselben Einschränkung, und die Tugend, die Wissen
ist, tut dem Gemeinsamen Guten immer not. Das gilt für das Verständ-
nis der politischen Voraussetzungen, an die das moralische Handeln
gebunden ist. Es gilt für die Einsicht in die Notwendigkeit, die Regeln,
die unter gewöhnlichen Umständen Geltung beanspruchen können, in
außergewöhnlichen Fällen zu suspendieren. Und es gilt für die Klug-
heit, politische Entscheidungen so zu treffen, daß sie der konkreten
Situation angemessen sind. Denn die Ausrichtung am Gemeinsamen
Guten kann in einer extremen Situation, in der die Existenz oder die
Unabhängigkeit des Gemeinwesens auf dem Spiel steht, die Abwei-
chung von den normalen Regeln der Gerechtigkeit gebieten, ohne daß
sich die extreme Situation im einzelnen bestimmen und die Abweichung
von den Regeln im voraus regeln ließe. Wenn Strauss «Machiavelli’s
thought» zu diesem Punkt knapp zusammenfaßt, wiederholt er der
Sache nach, was er dazu in Natural Right and History anläßlich seiner
Erläuterung des Denkens von Aristoteles ausführte.135 Das Gemein-
same Gute wiederum, an dem die Gerechtigkeit Maß nimmt, stellt sich
im Verlauf der Untersuchung nur seiner Prätention nach als ein Gutes
heraus, das allen gemeinsam ist oder an dem alle gleichermaßen teilha-
ben.136 In jedem Fall verlangt es von den konstitutiven Bestandteilen der
Republik, von der regierenden Elite und dem regierten Volk, unter-
schiedliche Tugenden, Qualitäten, Haltungen, die ihrer Stellung oder
ihrer Aufgabe innerhalb des Ganzen entsprechen.137 Soweit die Repu-

135 IV, 65 (259). Natural Right and History, p. 157–163, insbes. p. 160–161. Strauss
hat den Absätzen in der Mitte des Buches nur eine einzige Referenz in einer
Fußnote beigegeben. Sie verweist den Leser an Strauss’ Aufsatz The Law of Reason
in the «Kuzari» (p. 158, n. 32).
136 «… since the common good requires that innocent individuals be sacrificed for
its sake, the common good is rather the good of the large majority, perhaps even the
good of the common people as distinguished from the good of the nobles or of the
great» IV, 66 (260).
137 «Machiavelli illustrates this difference of virtues chiefly by examples taken
from the Roman senate and the Roman plebs. The characteristic virtues of the
senate were prudence and a calculated liberality, dispensing sparingly such goods as

– 125 –
blik Philosophen in ihrer Mitte duldet, wird von ihnen insbesondere
Besonnenheit verlangt. Dazu gehört etwa die «weise Auslegung» der
moralischen Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammen-
lebens, die gemeinhin, obschon nicht in Thoughts on Machiavelli, als
Natürliches Gesetz bezeichnet werden. Machiavelli liegt es, wie Strauss
vermerkt, fern zu leugnen, daß die Ablösung «jener einfachen Verhal-
tensregeln» von «ihrem eigennützigen Zweck» und ihre Erhebung zu
einem allgemeingültigen, unwandelbaren Gesetz «weise» ist. Er hält
allerdings dafür, daß die Regeln nicht als das verstanden werden können,
was sie sind, wenn man bei ihrer «weisen» Auslegung stehenbleibt.138
Das Gemeinsame Gute der Politik wird im 10. Abschnitt (IV, 69–81)
am Leitfaden des privaten Guten der Kritik unterzogen. Der Abschnitt,
dessen dreizehnter und letzter Absatz uns den Philosophen Machiavelli
in seiner integralen Gestalt vor Augen stellt, beginnt mit einem Absatz,
der, wie zuvor der zentrale Absatz des 5. Abschnitts über die Religion,
das politische Interesse der Philosophen an der Freiheit des Philoso-
phierens in Erinnerung bringt. Damit ist das Feld markiert, in dem das
Argument voranschreitet und der Aufstieg erfolgt, der beim Anspruch
der Republik beginnt, Sachwalter des Gemeinsamen Guten zu sein. Das
Auseinandertreten von Anspruch und Wirklichkeit der Republik be-
nannte Strauss bereits im 9. Abschnitt. Das Gemeinsame Gute nimmt
sich zumeist als das Gute der großen Mehrzahl aus. Im besten Fall wird
es als das Gute fast aller, nicht jedoch wird es als das Gute aller oder als
das jedes Einzelnen konzipiert. Jetzt zeigt er die Kluft sinnfällig an der
Freiheit der Philosophen auf, der die Goldene Zeit der römischen Kai-
ser günstig war, wohingegen das Musterbild republikanischer Tugend
drei Jahrhunderte davor Sorge getragen hatte, daß Philosophen in Rom
keine Aufnahme fanden (Istorie Fiorentine V, 1). Der Kontrast zwischen
dem ruhmreichen Patrioten Cato und einem Kaiser vom Schlage Marc
Aurels verweist auf den Unterschied, den es für den Philosophen be-
deutet, ob er sich einem Fürsten gegenübersieht, der über Verstand,

had been taken from enemies; also, dignity and venerability; and finally, patience
and artfulness. The characteristic virtues of the plebs were goodness, contempt for
the seemingly or truly vile, and religion. Goodness is then at home with the people»
IV, 68 (263).
138 IV, 68 (264–265). Cf. The Law of Reason in the «Kuzari», p. 136–140; Natural
Right and History, p. 158.

– 126 –
Geistesgröße, Willensstärke verfügen mag, oder einem Regime, in dem
das Gemeinsame Gute als das Gute der weit überwiegenden Mehrheit
oder fast aller verstanden und durchgesetzt wird, in dem das letzte Wort
aber beim Volk liegt. Strauss braucht nicht die Republik in statu corrup-
tionis heranzuziehen. Er muß nicht über Auswüchse oder Abirrungen
sprechen. Er kann auch den Tod des Sokrates mit Schweigen übergehen.
Er hatte das Volk bereits im dritten Kapitel als den eigentlichen Hort
der Moral und der Religion charakterisiert. Er hatte es als die Verkörpe-
rung des Glaubens in jedem Sinne bestimmt.139 In dem Maße, in dem
das proklamierte Gemeinwohl der Republik als das partikulare Wohl
eines oder mehrerer ihrer Teile, und sei es das Wohl des gemeinen Vol-
kes, sichtbar wird, verschieben sich die Gewichte in der Bewertung der
Regime. Das Fürstentum gewinnt an Statur, wenn das Privatwohl in den
Vordergrund rückt. Sobald der Betrachter etwa nach dem Schutz vor
intermediären Gewalten, vor «Sekten» und anderen gesellschaftlichen
Mächten Ausschau hält. Seine Wahrnehmung der Fürsten verändert
sich außerdem, wenn er in den Repräsentanten der Republik «Fürsten»
erkennt, die als Corps zusammenwirken und ihre Herrschaft festigen.
Selbst für die Tyrannis läßt sich danach geltend machen, daß sie im In-
teresse der Mehrheit, wo nicht im Bündnis mit dem Volk gegen die
«Großen», ausgeübt werde. Die kritische Analyse des Gemeinsamen
Guten der Republik im Rückgang auf Fürstentum und Tyrannis dient
Machiavelli schließlich dazu, ans Licht zu heben, daß der politische Zu-
stand als solcher notwendig mit Zwang, mit der Pflicht zum Gehorsam,
mit Ungerechtigkeit verbunden ist; daß der Gesellschaft Unterdrük-
kung wesentlich ist; daß das einzig natürliche Gute das private Gute
ist.140 Die Erkenntnis des natürlichen Guten liegt Machiavellis Konzep-
tionen einer am Gemeinsamen Guten orientierten Politik zugrunde. Sie
ist seiner paradigmatischen Präsentation der Römischen Republik ab-

139 IV, 69 (266); IV, 66 (260); IV, 68 (262). Siehe III, 28 (126); III, 30 (130); III, 32
(133); cf. IV, 11 (185–186); IV, 42 (230–231); IV, 68 (263); IV, 77 (282); The City and
Man, p. 37.
140 IV, 75–76 (278–280). «Oppression, or injustice, is then coeval with political
society. Criminal tyranny is the state which is characterized by extreme oppression.
There is then in the decisive respect only a difference of degree between the best
republic and the worst tyranny. This difference of degree is of the utmost practical
importance, as no one knew better than Machiavelli. But a difference of degree is
not a difference of kind» IV, 75 (278).

– 127 –
zulesen, der zufolge das prekäre Gemeinwohl und insonderheit die poli-
tische Freiheit auf dem fortwährenden Streit und dem beweglichen
Ausgleich zwischen Patriziern und Plebs beruhte. Sie kommt nicht we-
niger in den praktischen Optionen zum Ausdruck, die er entwirft: In
einer tragfähigen Allianz der Philosophen mit den Fürsten zur Abwehr
einer Herrschaft der Priester und in der geeigneten Ansprache des Vol-
kes zur Zurüstung einer republikanischen Ordnung, die die Freiheit
und das Selbstbewußtsein der Bürger förderte und auf lange Sicht der
Philosophie zugute käme.141 Machiavellis Konzeptionen kreisen um die
Kunst, eine Brücke vom privaten Guten zum öffentlichen Guten zu
schlagen. Strafen und Belohnungen dienen der Verschränkung des einen
mit dem anderen. «Furcht vor der Regierung» und «Liebe zur Regie-
rung» sind die virtuos aufgebotenen und abgewandelten Mittel dieser
Kunst. Der Königsweg, auf den sie abstellt, setzt bei der Liebe zum
Ruhm an. «The desire for glory as the desire for eternal glory liberates
man from the concern with life and property, with goods which may
have to be sacrificed for the common good; and yet glory is a man’s own
good. It is therefore possible and even proper to present the whole polit-
ical teaching as advice addressed to individuals as to how they can
achieve the highest glory for themselves.» Die politische Indienstnahme
der Selbstliebe vermittels der Liebe zum Ruhm kann freilich nicht dar-
über hinwegtäuschen, daß die Versöhnung von privatem und gemeinsa-
mem Guten nur um den Preis des Außersichseins, der Abhängigkeit
und der Illusion erreicht wird. Auf den illusionären Charakter weist das
Verlangen nach «ewigem» Ruhm hin.142 Es bezeugt beredt die Fragilität
jeder Konstruktion, die die politische Kunst zu schaffen weiß. Auch
dann, wenn sie ihren Ausgang bei den eigennützigen Antrieben der Re-
gierenden und der Regierten nimmt und ihr Gebäude auf der «einzig
natürlichen Grundlage der Politik» errichtet.143

141 IV, 10–11 (184–185). Siehe S. 77–80. Cf. Persecution and the Art of Writing, p. 15.
142 IV, 77 (281–283); cf. IV, 25 (207), ferner IV, 13 (190) und IV, 14 (193) sowie
S. 87–88. Im letzten Satz von IV, 77 kommt das Substitut für den «ewigen Ruhm»
zur Sprache, auf das die große Mehrheit angewiesen bleibt: «Since the many can
never acquire the eternal glory which the great individuals can achieve, they must
be induced to bring the greatest sacrifices by the judiciously fostered belief in
eternity of another kind.» Siehe S. 103–106.
143 An dem Ort, an dem Strauss den Kern der «ganzen politischen Lehre»
benennt, im 77. Absatz von Kapitel IV, erinnert er den Leser daran, daß Machiavellis

– 128 –
Die Einsicht in die Grenzen des Gemeinsamen Guten der Politik und
mithin in die Natur des politischen Lebens ist die Voraussetzung für die
Annäherung an das Leben, das auf das Gemeinsame Gute im anspruchs-
vollsten Verstande, auf die Wahrheit, gerichtet ist. Die Wahrheit ist das
einzige Gut, das uneingeschränkt als Gemeinsames Gut betrachtet wer-
den kann, insofern die Teilhabe an ihm die Teilhabe aller anderen nicht
beeinträchtigt und der eigene Anteil niemandes Anteil schmälert. Daß
seine Aneignung das Gemeinsame Gut der Wahrheit nicht mindert,
heißt nicht, daß der Zugang zur Wahrheit für jeden, unter allen Umstän-
den und gleichermaßen gut wäre. Für das Gemeinsame Gute im an-
spruchsvollsten Verstande gilt, was für jedes Gute gilt: Es ist gut für
jemanden oder für etwas und deshalb nicht frei von Einschränkungen
oder von Übeln. Aus diesem Grund macht das «im strengen Sinn» Ge-
meinsame Gute die Unterscheidung von privatem und öffentlichem
Guten nicht zunichte. Ebensowenig läßt das Leben, das auf die Wahr-
heit gerichtet ist, die Bestimmungen des politischen und des unpoliti-
schen Lebens hinter sich. Kurz: das Verständnis des Gemeinsamen
Guten der Philosophie muß das Verständnis des Gemeinsamen Guten
der Politik in sich aufnehmen, das seinerseits das Verständnis der not-
wendigen Spannung zum natürlichen Guten einschließt. Um dem Leser
die Integration vor Augen zu führen, die das philosophische Leben aus-
macht, widmet Strauss La Mandragola einen eigenen Absatz, der dem
Gemeinsamen Guten der Politik ein «Supplement» zur Seite stellt. Das
Supplement, «which exists on the same level as the common good, i. e.,
on a level lower than the truth», ist das unpolitische oder solitäre Leben,
das der Gesang zu Beginn der Mandragola preist. Das unpolitische
Leben, das Strauss in Rücksicht auf die Erkenntnis der Wahrheit aus-

Politische Philosophie sich nicht in der Anleitung zu «kluger» Praxis erschöpft, daß
ihr vielmehr die politische Verteidigung und rationale Begründung der «Klugheit»
oder der Einsicht an ihr selbst obliegt: «To the extent to which Machiavelli’s two
books are meant for immediate prudent use rather than for rendering secure the
basis of prudence, their broad purpose is to show the need for reckoning with the
selfish desires of the rulers and the ruled as the only natural basis of politics, and
therefore for trusting … in one’s own virtue (if one possesses it) as the ability to
acquire for oneself the highest glory and hence to acquire for one’s state whatever
makes it strong, prosperous, and respected. The wise rulers who act with a view to
their own benefit will enlist the cooperation of the ruled …» IV, 77 (282), meine
Hervorhebung. Siehe Anm. 77.

– 129 –
drücklich auf derselben Ebene ansiedelt wie das politische Leben,144 ist,
näher besehen, ein Leben der Liebe. Die Liebe zu einer Frau tritt neben
die Sorge um den Staat bzw. den Willen zur Herrschaft. Die Polarität
von gravity und levity kehrt zurück. Aber diesmal bleibt Strauss nicht
beim Alternieren zwischen den Polen stehen: «The difference between
matters of state and matters of love corresponds to the difference be-
tween gravity and levity, between the two opposed qualities, the alter-
nation between which, or rather the union of which, constitutes the life
according to nature. The union of gravity and levity, we suspect, is
achieved, according to Machiavelli, by the quest for the truth, or for that
good than which none is more common and none is more private.»145
Machiavellis Komödie bietet Strauss die Gelegenheit zu zeigen, was
Machiavelli nicht zeigt, zu verbinden, was Machiavelli unverbunden
läßt, auszusprechen, was Machiavelli mit Schweigen übergeht. Nach der
Abschweifung zur Mandragola, der im Argument von Thoughts on
Machiavelli eine Schlüsselrolle zukommt, macht Strauss an den beiden
Büchern, in denen Machiavelli seine zweifache Lehre präsentiert, die
Gegenprobe und demonstriert, daß die Liebe zum Ruhm, die der Prin-
cipe und die Discorsi herausstellen, nicht hinreicht, um die Aktivität
angemessen zu verstehen, der die beiden Bücher ihre Existenz verdan-
ken.146 Die Anwendung von Machiavellis Doktrin auf ihn selbst ergäbe,

144 IV, 79 (284). Im unmittelbar vorangehenden Satz unterscheidet Strauss folgen-


dermaßen: «The good things of which the political common good consists or which
it protects or procures are incompatible with other good things which are even less
common than the political common good but which give a satisfaction no less
pleasing, resplendent and intense, yet more within the reach of some men than
glory.» Meine Hervorhebung.
145 IV, 79 (285), meine Hervorhebung; cf. I, 28 (40); IV, 50 (241). Siehe auch I, 35
(52); IV, 51 (244) und IV, 79, letzter Satz (285).
146 Strauss unterstreicht die Abweichung in IV, 79 von seiner Maxime, Machiavellis
Lehre ganz anhand des Principe und der Discorsi darzustellen, indem er zu Beginn
des folgenden Absatzes ebendiese Maxime ironisch gegen sich aufbietet: «Some
people will think that the obscurities which we were compelled to imitate can be
avoided if one simply disregards the Mandragola as an extraneous work which
belongs to a department wholly unconnected with the department of serious
thought, and if one limits oneself strictly to the two books each of which contains
in its way everything Machiavelli knows» IV, 80 (285–286). Der Abweichung von
IV, 79 zur Mandragola in der zweiten Hälfte von Kapitel IV entspricht die
Abweichung von IV, 37 zur Vita di Castruccio Castracani in der ersten Hälfte.

– 130 –
daß Machiavelli das eigene Gute mit dem Ruhm in eins setzte, den die
Zukunft für ihn bereithält, mit der Ehre, die ihm die Öffentlichkeit der-
einst zollen wird, oder mit der Anerkennung, die ihm sein Œuvre bei
den urteilsfähigsten Richtern eintragen muß. Machiavellis Lohn be-
stünde in Lob und nichts außerdem. Der Königsweg, der auf das Ver-
langen nach ewigem oder unsterblichem Ruhm baut, sieht ab vom Eros.
Die Abstraktion vom Eros erweist sich als die Kehrseite der Politisie-
rung des natürlichen Guten.147 Strauss zieht die Linie von den mythi-
schen Gründern über die vortrefflichsten Künstler und Schriftsteller bis
zum Entdecker der alles entscheidenden Wahrheit für den Menschen
und die Gesellschaft aus, der als Bringer der Wahrheit bezüglich der
Ordnung, die der Natur gemäß ist, den höchsten Ruhm für sich bean-
spruchen kann. Um diesen Ruhm zu ernten, muß er sich, Gründer,
Künstler, Schriftsteller und Entdecker zugleich, in den Dienst der Ord-
nung stellen, die er schaffen will. «He looks at society not theoretically
but, being the teacher of founders, in the perspective of founders. The
desire for the highest glory, which is the factual truth of the natural
desire for the common good and which animates the quest for the truth,
demands that the detachment from human things be subordinated to a
specific attachment or be replaced by that attachment.» Den Engpaß, in
den Machiavelli geriete, wenn er beim Verlangen nach dem höchsten
Ruhm als Erklärung der Wahrheitssuche stehenbliebe – bei einem Ver-
langen, das die Wahrheitssuche zunächst bestimmt und später beflügeln
mag –, verdeutlicht Strauss in einem Seitenblick auf Platons Politeia, wo
die Liebe zum Ruhm die Gründer der besten Polis dem Gemeinsamen
Guten ihrer Gründung dienstbar macht und demzufolge die Verwand-
lung der Liebe zur Tyrannis in die Liebe zur Gerechtigkeit erklären
kann.148 Aber die politische Verwandlung ist dort nur die Vorbereitung

147 «The only selfish desire which can induce men to be passionately concerned
with the well-being of remote posterity is the desire for perpetual or immortal
glory. The desire for such glory is the link between badness and goodness, since
while it is selfish in itself it cannot be satisfied except by the greatest possible service
to others. The desire for immortal glory is the highest desire since it is the necessary
accompaniment of the greatest natural virtue. It is the only desire of men of the
greatest natural virtue» IV, 80 (286). Siehe Anm. 142 und 143.
148 «By suggesting to his young companions that they should together found a
city, Socrates appeals from the petty end of the tyrant to the grand end of the
founder: the honor attending the tyrant who merely uses a city already in existence

– 131 –
zur «wahren Bekehrung», die in der Hinwendung zur Philosophie be-
steht und die durch die Einsicht in die notwendige Begrenztheit alles
Politischen bewirkt wird. Anders als bei Platon kommt bei Machiavelli
die wahre Bekehrung nicht zur Darstellung. «In Machiavelli the trans-
formation of man through the desire for glory seems to be the only con-
version; the second and higher conversion seems to have been forgotten.
This conclusion however is not compatible with Machiavelli’s clear
awareness of the delusions of glory and of the limitations of the politi-
cal. Immortal glory is impossible, and what is called immortal glory
depends on chance. Hence to see the highest good in glory means to
deny the possibility of happiness.» Daß Machiavelli vom Eros absieht
und daß er nicht für die Hinwendung zur Philosophie wirbt, bedeutet
nicht, daß er die «wahre Bekehrung» vergessen hätte. Es bedeutet, daß
der Leser des Principe und der Discorsi, der den Punkt erreicht hat, an
dem er sich mit unvereinbaren Schlüssen und Anwendungen der Lehre
konfrontiert sieht, zu der Periagoge genötigt ist, die in Machiavellis Prä-
sentation ausgespart bleibt. Unter ausdrücklichem Rückverweis auf die
Abschweifung zur Mandragola umreißt Strauss den Weg, der Machia-
velli aus dem Engpaß herausführt, in den die Ausrichtung am Ruhm
und das Absehen vom Eros münden müssen. Er wendet den Blick vom
politischen Leben zum «Supplement» des unpolitischen Lebens und
geht auf das Leben gemäß der Natur zurück, das sich für Machiavelli im
Wechsel zwischen Politik und Liebe zu vollziehen scheint. «But, as was
indicated before, he rises above the plane on which the political good
and the erotic good supplement each other while conflicting with each
other. The most excellent man, as distinguished from the most excellent
captain, or soldier of war or of love, acquires full satisfaction and immu-
nity to the power of chance through knowledge of ‹the world.›» Strauss’
Darstellung von Machiavellis Denken kulminiert, wie wir sahen, am
Ende des 10. Abschnitts in der Verbindung der Erkenntnis der Wahrheit
und der Mitteilung der Wahrheit zu einer zweipoligen Einheit. Mit der
Wahl des Bildes vom Menschen auf dem Rücken eines Pferdes zur Er-
läuterung der Einheit ruft Strauss die Tradition der Kunst des philoso-

is petty in comparison with the glory attending the founder and especially the
founder of the best city. The founder however must devote himself entirely to the
well-being of his city; he is forced to be concerned with the common good or to be
just» IV, 81 (289).

– 132 –
phischen Schreibens auf. Und mit der letztmaligen Erwähnung der
«Jungen», des wahren Adressaten, an den sich Machiavellis Kunst wen-
det, erinnert er an das Gewicht des Eros, ohne den jene Einheit und
ohne den Machiavelli nicht zu denken ist.149
Der 11. Abschnitt (IV, 82–87) ist von dem Argument, das Strauss in den
zehn vorangegangenen Abschnitten entwickelt und das in IV, 81 zum
Abschluß kommt, durch eine Zäsur getrennt, die die letzten sechs Ab-
sätze des Buches zu einer Art Epilog macht. Zugleich handelt es sich um
den letzten der drei «letzten Abschnitte», die Strauss auf die Kritik von
Machiavellis Unternehmen verwendet. Damit stimmt zusammen, daß
Strauss die wichtigsten Topoi seiner Doktrin zu «Ancients and Moderns»
auf engstem Raum versammelt. Die Kritik des Begründers der modernen
Politischen Philosophie steht deshalb im Vordergrund des Epilogs. Er
konzentriert sich nicht auf die Intention des Philosophen, sondern auf
die Aktion des Politikers. Er zeichnet ein Bild von Machiavelli, das durch
die Voraussicht der geschichtlichen Folgen geprägt wird. Er betrachtet
Machiavelli als Ausgangspunkt eines Prozesses, dessen Verlustseite für
die Philosophie Strauss am Ende von Thoughts on Machiavelli bilanziert
und für das gemeine Verständnis herausstellt. Dies alles macht den expo-
niertesten Teil zum rhetorischsten Teil des Buches. Tatsächlich ist die
Rhetorik der letzten sechs Absätze geeignet, den wichtigsten Ertrag von
Strauss’ philosophischer Untersuchung zu überdecken und deren Höhe-
punkte durch historische Verschleifungen zu entschärfen. Strauss läßt
den aufmerksamen Leser über den rhetorischen Charakter des Epilogs
nicht im unklaren. Er fügt Aussagen ein, die der von ihm zuvor mit Grün-
den vorgetragenen Auslegung erkennbar nicht entsprechen. Oder er
zeigt durch kurze Berichtigungen an, daß seine Erörterung sich von
Machiavelli weit entfernt und, sagen wir, Locke, Kant, Marx ins Auge
faßt, ohne deren Namen zu nennen.150 Im übrigen kann Strauss erwarten,

149 IV; 81 (288–290); cf. Persecution and the Art of Writing, p. 36 und Restatement
on Xenophon’s «Hiero», p.  117 (Abs. 30 in fine, Abs. 31 in princ.). Beachte zum
letzten Absatz des 10. Abschnitts S. 63–65.
150 «… for Machiavelli the pleasure deriving from honor and glory is genuine and
perhaps the highest pleasure» IV, 83 (291); cf. IV, 81 (289–290). «As regards chance
in general, it can be conquered; man is the master» IV, 83 (292); cf. IV, 33 (218); IV,
35 (221); IV, 54 (246); IV, 60 (253). «… his eventual identification of the most
excellent man with the most excellent captain» IV, 87 (299); cf. IV, 14 (192–193) und
IV, 81 (290). «To return to that manifestation of the new notion of philosophy

– 133 –
daß der Leser, der dem Argument der Absätze 1–81 mit der gebotenen
Wachheit und Nachdenklichkeit gefolgt ist, anzuwenden weiß, was er bis
dahin erfahren und verstanden hat. So wird ihn die spektakuläre Prokla-
mation von Machiavellis dreifachem «Vergessen»  – Machiavelli habe
Sokrates, er habe die Tragödie und er habe die Seele vergessen –, der er im
Epilog begegnet, nicht unvorbereitet treffen. Er wird sich erinnern, daß
Strauss in der Einleitung von Kapitel IV die Behauptung eines dreifachen
«Vergessens» Machiavellis entkräftete. Er wird prüfen, welche Gründe
Strauss’ Auslegung für die späte Proklamation beibrachte. Und er wird
schließlich untersuchen, ob es mit Machiavellis «Vergessen» des Sokrates,
der Tragödie und der Seele eine ähnliche Bewandtnis hat wie mit dessen
«Vergessen» der wahren Bekehrung zur Philosophie, das Strauss in IV, 81
exemplarisch verhandelte.151 Der Kern von Machiavellis Aktion, den die
Bilanzierung des Schlusses ins Visier nimmt, ist das Approchement an das
Volk oder, präziser gesprochen, die neue Politik gegenüber dem «demos
in the philosophic sense, i. e., the totality of the citizens who are incapable
or unwilling to defer to philosophy». Um den «mächtigsten Herrscher»
für sich gewinnen zu können, muß der Philosoph sich auf die Zwecke des
Demos einlassen und ihnen genügen. Mit der demokratischen Wende der
philosophischen Politik, die Strauss auf Machiavelli zurückführt,152 ste-

which appears clearly in Machiavelli’s books …» IV, 86 (296). «Yet in looking


forward to the extreme consequences of Machiavelli’s action, we must not forget
the fact that for Machiavelli himself …» IV, 86 (298).
151 IV, 82 (291); IV, 83 (292); IV, 84 (294); cf. IV, 2 (175); IV, 81 (289). Am wenigsten
mag der Leser des Epilogs auf den zentralen Gegenstand der Behauptung vom
dreifachen Vergessen Machiavellis vorbereitet sein (aber beachte I, 28 in fine): «In
Machiavelli we find comedies, parodies, and satires but nothing reminding of
tragedy. One half of humanity remains outside of his thought. There is no tragedy
in Machiavelli because he has no sense of the sacredness of ‹the common›» IV, 83
(292). Der Leser, der über Machiavellis «Vergessen» in diesem Punkt größere
Klarheit zu gewinnen sucht, kann mit der Frage beginnen, welcher Philosoph vor
oder nach Kant the sacredness of the common zu seiner Sache machte.
152 «Through his effort philosophy becomes salutary in the sense in which the
demos understands, or may understand, the salutary. He achieves the decisive turn
toward that notion of philosophy according to which its purpose is to relieve man’s
estate or to increase man’s power or to guide man toward the rational society, the
bond and the end of which is enlightened self-interest or the comfortable self-
preservation of each of its members. The cave becomes ‹the substance›» IV, 86
(296). Siehe IV, 84 (294) und III, 55 (168).

– 134 –
hen die Charakterisierungen «lowering of the standards» und «narrow-
ing of the horizon» in engstem Zusammenhang. Als ihre fernsten Aus-
wirkungen zeichnen sich die Befrachtung der Philosophie mit der
Funktion der Religion und die schließliche Verneinung der radikalen
Unterscheidung von Philosophen und Nichtphilosophen ab. Strauss
hatte im Zentrum von Kapitel III hervorgehoben, daß Machiavelli ge-
gen das «aristokratische Vorurteil oder die aristokratische Prämisse»
der «klassischen Philosophie» Front machte (III, 30), und er hatte kei-
nen Zweifel daran gelassen, daß Machiavelli aus politischen Gründen
für das Volk Partei ergriff (III, 31). Vorausgegangen war die Präsenta-
tion Machiavellis als eines anderen Fabius, der den siegreichen Feldzug
seiner Brüder vorbereitet, indem er sich unerkannt unter deren Feinden
bewegt, wofür er ein als unpassierbar angesehenes Territorium, den
Ciminischen Wald, durchqueren muß (III, 17). Die allegorische Selbst-
darstellung Machiavellis, die Strauss aus dem zentralen der drei «letzten
Abschnitte» der Discorsi (II, 33) zu Machiavellis Unternehmen und aus
Einzelheiten der zugrundeliegenden Geschichte des Livius (IX, 36)
gewinnt, weist darauf hin, daß die Feinde, die Toscani, des Glaubens
waren, kein «Außenstehender» würde sich jemals in den Ciminischen
Wald wagen, und daß der römische Senat den Vorstoß in das uner-
forschte Gebiet untersagte, weil er ihn für zu gefährlich hielt. Wir kön-
nen die Allegorie so lesen, daß der «Ciminische Wald» für die zu kulti-
vierende Natur steht, die der Einsatz der Wissenschaft und der Künste
erschließt; die Früchte des Vorstoßes werden dem Volk in Aussicht
gestellt, das seinerseits kultiviert, d. h. politisch geformt wird; der
«Senat» vertritt die Politische Philosophie der Alten, die der Erschlie-
ßung widerrät und die Formbarkeit des Volkes gering veranschlagt; bei
den «Toscani» aber, unter denen Machiavelli «in kühner Verkleidung»
die Möglichkeiten eines erfolgreichen Angriffs erkundet und die durch
die überraschende Allianz mit dem Volk schließlich bezwungen wer-
den, handelt es sich um die «auswärtige Macht» der transpolitischen
Religion, deren Herrschaft noch ungebrochen ist in der Respublica
Christiana.153

153 III, 17 (106–107); beachte III, 45 (153); III, 47 (153–154). Siehe zur transpolitischen
Religion III, 21 (112–113) und III, 24 (118); zur Allianz mit dem Volk III, 25 (119);
III, 28 (125–126); III, 30 (128–131); III, 31 (131); III, 55 (168); IV, 68 (263); zur Kritik
der Alten neben III, 30 (127) auch IV, 60 (253).

– 135 –
Das Christentum, die Offenbarungsreligion und die Bibel kommen
im Epilog nicht zur Sprache. Er verhandelt die Machiavellische Wende,
ohne die Herausforderung beim Namen zu nennen, auf die sie antwor-
tet. Strauss scheint den zentralen Gegenstand des Buches am Ende ver-
gessen zu haben und alle Aufmerksamkeit auf den Bruch der Neueren
mit den Alten zu richten, um die Überlegenheit und Selbstgenügsam-
keit der integren Position der Alten darzutun. Doch die Offenbarungs-
religion behauptet ihre Gegenwart in Thoughts on Machiavelli auch
dort, wo sie keine namentliche Erwähnung findet. Nicht nur muß die
neue philosophische Politik unverständlich bleiben, solange vom Feind
abgesehen wird, Aug’ in Aug’ mit dem sie konzipiert wurde, so daß der
Leser gezwungen ist, den Faden der Kapitel II und III und der ersten
Hälfte von Kapitel IV wieder aufzunehmen; den letzten Absatz des Bu-
ches eröffnet der Hinweis auf «die Notwendigkeit», die für «Machia-
velli und seine großen Nachfolger» bestimmend war; Strauss erinnert
an den «mächtigen Widersacher», dem sie sich konfrontiert sahen; und
nach einem kurzen rhetorischen Zwischenspiel wirft er, nicht weniger
rhetorisch gefaßt, die Frage auf, die die «auswärtige Macht» unabweis-
bar in die Betrachtung des Binnenverhältnisses der neueren und der
alten Philosophen einbeziehen wird: «we cannot cease wondering as to
what essential defect of classical political philosophy could possibly
have given rise to the modern venture as an enterprise that was meant to
be reasonable». Da im Hinblick auf die Vernünftigkeit des Unterneh-
mens der Neueren wie in Rücksicht auf die Gültigkeit der Lehre der
Alten der geschichtliche Wandel in Rede steht, geht Strauss auf die Hal-
tung zurück, die «the classics» zu den Erfindungen und der politischen
oder sozialen Dynamik einnahmen, die Innovationen zu entfalten ver-
mögen: «They demanded the strict moral-political supervision of in-
ventions; the good and wise city will determine which inventions are to
be made use of and which are to be suppressed.» Gesetzt, es gäbe eine
beständig gut und weise regierte Polis oder die Philosophen kontrollier-
ten den technologischen Wandel dauerhaft, scheint der Stabilität der gu-
ten und weisen Polis der klassischen Philosophen nichts im Wege zu
stehen. «Yet they were forced to make one crucial exception. They had
to admit the necessity of encouraging inventions pertaining to the art of
war. They had to bow to the necessity of defence or of resistance.»154

154 IV, 87 (298), meine Hervorhebung. Strauss fährt fort: «This means however

– 136 –
Mit der Ausnahme, die die Stabilität des besten Regimes zunichte macht,
ist Strauss bei der Notwendigkeit angelangt, mit der er den Absatz be-
gonnen hat. Bei der Notwendigkeit, die von außen kommt, die der
Krieg schafft, die der Feind ist. Manch ein Leser mag den Eindruck
gewinnen, Strauss konzediere Machiavelli einen Kritikpunkt von nach-
geordneter Bedeutung, wenn er resümierend feststellt: «The difficulty
implied in the admission that inventions pertaining to the art of war
must be encouraged is the only one which supplies a basis for Machia-
velli’s criticism of classical political philosophy.» Tatsächlich handelt es
sich um einen Angriff auf die Selbstgenügsamkeit der klassischen Lehre,
der von erheblicher Tragweite ist. Er betrifft nicht allein die Konzeption
des besten Regimes oder der guten Polis und deren Stabilität. Er gilt
insbesondere der Vernachlässigung der Außenpolitik, die für die «klas-
sische» Politische Philosophie keine Kontroverse von grundsätzlichem
Interesse in sich zu bergen schien.155 Die Situation sollte sich entschei-
dend verändern, als neben den bekannten Akteuren der Poleis und der
Imperien eine auswärtige Macht ganz anderer Art auftrat, die im Unter-
schied zu den partikularen Gemeinwesen ein universaler Anspruch auf
Suprematie und eine bis ins Innerste der Bürger reichende Forderung
nach unbedingter Loyalität kennzeichneten. Der Zusammenhang, der
zwischen der Anerkennung des «Primats der Außenpolitik» und der
neuen Lage besteht, die der geschichtliche Einbruch der Offenbarungs-
religionen für die Politik wie für die Philosophie bedeutete, war Strauss
1935 in der Auseinandersetzung mit Farabi und Averroes klargeworden.
In Thoughts on Machiavelli spielt Strauss auf die mittelalterliche Vorge-
schichte mit einer Bemerkung an, die für die meisten Leser unzugäng-
lich bleibt und den theologisch-politischen Hintergrund im dunkeln

that they had to admit that the moral-political supervision of inventions by the
good and wise city is necessarily limited by the need of adaptation to the practices
of morally inferior cities which scorn such supervision because their end is ac-
quisition or ease. They had to admit in other words that in an important respect
the good city has to take its bearings by the practice of bad cities or that the bad
impose their law on the good. Only in this point does Machiavelli’s contention that
the good cannot be good because there are so many bad ones prove to possess a
foundation» (298–299).
155 Siehe dazu den Aufsatz, in dem Strauss den Begriff «classical political
philosophy» einführt, On Classical Political Philosophy, p. 84–85. Cf. Maimonides’
Statement on Political Science (1953), in: What Is Political Philosophy?, p. 164–165.

– 137 –
läßt. Ohne die Falāsifa zu erwähnen, stellt er lakonisch fest, Machia-
vellis Lehre könne nicht «be characterized as the first political teaching
which gives its due to foreign policy or which recognizes the primacy of
foreign policy».156 Um so größeres Gewicht hat die Evokation des Fein-
des am Schluß. Der Hinweis auf den Zugzwang, der von «inventions
pertaining to the art of war» ausgeht, im letzten Absatz eines Buches, in
dem «spiritual warfare» eine prominente Rolle spielt und in dem der
Sieg der erfolgreichen Kriegspartei ausdrücklich auf eine Erfindung im
Bereich der Kriegskunst, auf den Einsatz von Propaganda, zurückge-
führt worden ist, kann schwerlich als ein Hinweis von nachgeordneter
Bedeutung gelten. Die «klassische» Politische Philosophie vermochte
den Sieg des Feindes nicht zu verhindern. Unwissentlich trug sie viel-
mehr zu ihm bei. Sie verlieh der Wissenschaft durch ihre Lehre eine
nicht gekannte Sichtbarkeit und Reputation. Sie bereitete den Boden für
den Gebrauch der Wissenschaft zu praktischen, politischen, kriegeri-
schen Zwecken, den die Theorie von sich wies, woran Strauss eigens
erinnert: «From the point of view of the classics, such use of science is
excluded by the nature of science as a theoretical pursuit.» Ihre theore-
tische Natur bewahrte die Wissenschaft nicht davor, für die tätige Um-
gestaltung der Welt in Dienst genommen zu werden. Und Machiavelli
traf auf einen Widersacher, der einen Großteil seiner Waffen aus dem
Arsenal der Philosophie der Alten bezogen hatte.157

156 IV, 84 (293). Nachdem Strauss erkannt hatte, zu welchen Abweichungen von
Platons politischer Lehre sich die platonischen politischen Philosophen des
Mittelalters durch den Einbruch der Offenbarungsreligionen genötigt sahen – von
der Neubewertung der Tapferkeit und des Krieges bis zu einer Neubestimmung
der Rolle der Rhetorik  –, fügte er in die englische Übersetzung seines Buches
Hobbes’ politische Wissenschaft einen langen Absatz über den Primat der Außen-
politik ein, der im deutschen Manuskript nicht enthalten war (The Political Philos-
ophy of Hobbes, p. 161–163). Die historischen Einzelheiten zu der Einsicht, die der
Behandlung von «primacy of foreign policy», «spiritual warfare» und «inventions
pertaining to the art of war» in Thoughts on Machiavelli zugrunde liegt, habe ich in
meinen Vorworten zu Gesammelte Schriften, Bd. 2, p. XXII–XXIII, und Gesam-
melte Schriften, Bd. 3, p. XXIII–XXIV, dokumentiert.
157 IV, 87 (299); cf. IV, 10–11 (185–186); IV, 43 (231) und Die Religionskritik des
Hobbes (1934), in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, p. 272. – «Aristotle did not conceive
of a world state because he was absolutely certain that science is essentially
theoretical and that the liberation of technology from moral and political control
would lead to disastrous consequences: the fusion of science and the arts together

– 138 –
Nach der Exposition des Bruches, nach Kritik und Gegenkritik, nach
der Entzweiung durch und über den geschichtlichen Wandel führen die
letzten sechs Sätze des Buches die Philosophen wieder zusammen. Als
Ausgangspunkt dient Strauss eine Meinung, die durch unsere histori-
sche Erfahrung unglaubhaft geworden ist, d. h. durch die historische
Erfahrung von Strauss und seinen Lesern im Unterschied zu Aristoteles
und Machiavelli. Unter den Alten gab es die Meinung, daß sich in peri-
odischen Abständen Kataklysmen ereigneten, die ganze Zivilisationen
zerstörten und die Menschen wieder zerstreuten. Sollte die politische
Kontrolle der Philosophen versagen, würde demnach die Natur dafür
Sorge tragen, daß es zu keiner exzessiven Entwicklung der Technologie
kommt und daß die Erfindungen des Menschen nicht auf Dauer gegen
ihn ausschlagen und «zu seinen Herren und zu seinen Zerstörern wer-
den». Im Licht des menschengemachten Problems von Wissenschaft
und Technik werden die Katastrophen der Natur zur Entbergung ihrer
Güte. Die Aussicht auf die Rückkehr zum Anfang nimmt sich als Wohl-
tat aus. Da Machiavelli die alte Meinung von den natürlichen Kataklys-
men «selbst zum Ausdruck bringt», kann Strauss bei ihm mit ebensoviel
Grund unterstellen, was er bei den klassischen Philosophen unterstellt.
Wenn jene darauf bauten, dem Mißbrauch der von ihnen geförderten
Techne seien durch natürliche Notwendigkeiten Grenzen gesetzt, so
mag Machiavelli erwarten, das von ihm konzipierte Unternehmen  –
und jeder zukünftige Versuch einer «Eroberung der Natur» – unterläge
schließlich denselben Notwendigkeiten. Sollten Machiavelli, Platon
oder Aristoteles geglaubt haben, daß Kataklysmen der exzessiven Ent-
wicklung der menschlichen Zerstörungsmacht steuerten, hätten sie sich
von einer Meinung leiten lassen, «which has been rendered incredible
by the experiences of the last centuries». Die Jahrhunderte vor Augen,
die ihn von Machiavellis Erneuerung der Philosophie trennen und ihn
mit ihr verbinden, spricht Strauss aus, was der Philosophie in der Ge-
genwart not tut: «It would seem that the notion of the beneficence of
nature or of the primacy of the Good must be restored by being re-
thought through a return to the fundamental experiences from which
it is derived. For while ‹philosophy must beware of wishing to be
edifying,› it is of necessity edifying.» Strauss nimmt eine dreifache Be-

with the unlimited or uncontrolled progress of technology has made universal and
perpetual tyranny a serious possibility.» Natural Right and History, p. 23.

– 139 –
wegung in den Blick. Den Aufstieg von einer Meinung über die Welt
zur inneren Notwendigkeit der Philosophie. Die Erneuerung einer
überlieferten Lehre im Rückgang auf die eigentlich philosophische Ak-
tivität, die jeder Lehre vorausliegt. Und, alle drei Bewegungen in eins
fassend, die Wendung von den geschichtlichen Lehren und Erfahrun-
gen, die die Philosophen trennen, zu den grundlegenden Erfahrungen,
die ihnen gemeinsam sind: die befreiende Kraft der Erkenntnis, der Eros
des Denkens, die Vertiefung der Reflexion, das Glück des Verstehens.
Die grundlegenden Erfahrungen, die Philosophen vom Primat des Gu-
ten sprechen lassen, haben ihren Vereinigungspunkt in dem Urteil, daß
das philosophische Leben gut sei. Das Urteil über das Leben, das ihrer
Natur gemäß ist, findet seinen beredten Ausdruck in der Kunst des
Schreibens, deren sich Philosophen seit zweieinhalbtausend Jahren be-
dienen, um verwandte Naturen zum philosophischen Leben hinzufüh-
ren. Die philosophische Kunst des Schreibens soll es dem wahren
Adressaten ermöglichen, ebenjene grundlegenden Erfahrungen in der
Auseinandersetzung mit den Schriften und Büchern zu machen, die sich
ihr verdanken. Eines dieser Bücher ist Thoughts on Machiavelli.158

158 IV, 87 (299); cf. I, 35 (50); II, 20 (77); II, 24 (81); III, 26 (120–121); IV, 14 (193);
IV, 54 (246–247); IV, 60 in fine (253); IV, 79 (285); IV, 81 (290). Siehe Farabi’s «Plato»,
p. 392–393; Natural Right and History, p. 95; What Is Political Philosophy?, p. 40
und Die Denkbewegung von Leo Strauss, p. 41–43. Beachte Niccolò Machiavelli a
Francesco Vettori, Firenze, 10 dicembre 1513, in: Opere VI Lettere. Ed. Franco
Gaeta. Mailand 1961, p. 304.  – Am 6.  Juni 1959 hielt Strauss in Chicago einen
Vortrag mit dem Titel What Is Liberal Education?, in dem er das Hegel-Zitat des
letztes Satzes von Thoughts on Machiavelli aufnimmt und die Linien weiter
auszieht (Erstveröffentlichung, Chicago 1959, p. 12; wiederabgedruckt in: Liberalism
Ancient and Modern. New York 1968, p. 8): «Philosophy, we have learned, must be
on its guard against the wish to be edifying – philosophy can only be intrinsi-
cally edifying. We cannot exert our understanding without from time to time
understanding something of importance; and this act of understanding may be
accompanied by the awareness of our understanding, by the understanding of
understanding, by noesis noeseos, and this is so high, so pure, so noble an experience
that Aristotle could ascribe it to his God. This experience is entirely independent of
whether what we understand primarily is pleasing or displeasing, fair or ugly. It
leads us to realize that all evils are in a sense necessary if there is to be understanding.»

– 140 –
EPILOG

Leo Strauss ließ Thoughts on Machiavelli 1972 einen Aufsatz folgen,


der das 1958 vorgelegte Buch in bemerkenswerter Weise erläutert. Er
ergriff die Gelegenheit, die ihm die zweite Ausgabe der History of
Political Philosophy bot, um das Machiavelli-Kapitel der ersten Aus-
gabe von 1963 durch einen eigenen Essay zu ersetzen und sich so noch
einmal monographisch zu Machiavelli zu äußern. Weder handelt es
sich bei dem Aufsatz um eine Art Kurzfassung des Buches, der der
Autor wohl kaum ein größeres Interesse hätte abgewinnen können.
Noch haben wir es mit einem Kapitel zu tun, wie es in einem Über-
blickswerk zur Geschichte der Politischen Philosophie zu erwarten
wäre. Hätte Strauss einen passenden Beitrag zu dem von ihm und
Joseph Cropsey herausgegebenen Lehrbuch schreiben wollen, hätte
ihm dies schon 1963 freigestanden. Tatsächlich erscheint der Essay, der
seinen endgültigen Bestimmungsort als dreizehntes Stück in den Stud-
ies in Platonic Political Philosophy finden sollte, aufgrund seines Zu-
griffs und seiner Schwierigkeit wenig geeignet für einen Band, über
den die Herausgeber im ersten Satz des Vorworts sagen, er sei «intended
primarily to introduce undergraduate students of political science to
political philosophy». In Niccolo Machiavelli bleibt die Politik im en-
geren Verstande von untergeordneter Bedeutung. Der Principe wird
vergleichsweise knapp behandelt. Die bei weitem größte Aufmerksam-
keit gilt den Discorsi. Von Machiavellis enterprise ist sowenig die Rede
wie von spiritual warfare, von propaganda oder von obfuscation.159

159 Von den 35 Absätzen des Essays sind 5 dem Principe, 21 den Discorsi gewidmet
(Überlappungen nicht mitgezählt), Mandragola und Castruccio Castracani erhalten
wie in Thoughts on Machiavelli jeweils einen eigenen Absatz. Die Istorie Fiorentine,
Arte della guerra und die übrigen Schriften Machiavellis finden keine Erwähnung.
Cf. die Leseempfehlungen am Ende des Kapitels und beachte die Erläuterung der
Kategorien A und B der Leseempfehlungen am Beginn der History, p. VIII.  –
Niccolo Machiavelli wurde bisher dreimal veröffentlicht: History of Political
Philosophy, Second Edition (1972), p. 271–292; Third Edition (1987), p. 296–317;

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Strauss setzt die Akzente so, daß der Eindruck, den die drei «letzten
Abschnitte» von Thoughts on Machiavelli hinterlassen, jedenfalls
nicht verstärkt wird. Er korrigiert die Rhetorik des Epilogs in wichti-
gen Rücksichten. Und die Vermutung liegt nahe, daß er die Akzent-
verschiebungen und Korrekturen im Licht der Rezeption bzw. der
Nichtrezeption vornimmt, die das Buch in den 14 Jahren seit dessen
Veröffentlichung erfahren hatte. Gewiß ist, daß Strauss in Niccolo
Machiavelli das eigentliche Thema von Thoughts on Machiavelli so
herausstellt, daß es nicht länger übersehen werden kann, und daß er
für sein längstes Buch unterstreicht, was er 1964 für alle seine Unter-
suchungen zu Protokoll gegeben hatte: das theologisch-politische
Problem ist das zentrale Thema. Nicht weniger gewiß ist, daß Strauss’
außerordentlicher Aufsatz schwierige Stellen des theologisch-politi-
schen Traktats behandelt. Insbesondere dient er als Supplement zum
besseren Verständnis des Höhepunkts in IV, 26. Ich beschränke mich
auf wenige Hinweise, die dem einen oder anderen von uns nützlich
sein mögen.
Der Aufsatz wirft gleich zu Beginn die Frage auf, was Tugend sei, eine
Frage, die Strauss andernorts als «distinctly philosophic» von den poli-
tischen Fragen der Bürger unterschieden hatte. Zwei Züge genügen
Strauss, um über Sokrates und die Ethik des Aristoteles die in IV, 26 so
prominente Tugend der magnanimity zu erreichen und sie in Überein-
stimmung mit der Ethik vom sense of shame abzusetzen, das, wie wir
bei Aristoteles lesen, «keine Tugend ist». Auf diese Weise macht Strauss
den Leser darauf aufmerksam, daß die Opposition der Tugend der mag-
nanimity und des Lasters der humility in IV, 26 sich seiner verdeutli-
chenden Darstellung verdankt. Mit dem nächsten Zug, der den Prophe-
ten Jesaja (VI, 3 und 5) aufruft, kommt Strauss bei der Erläuterung des
zentralen Satzes von IV, 26 an: «When the prophet Isaiah received his
vocation, he was overpowered by the sense of his unworthiness: ‹I am a
man of unclean lips amidst a people of unclean lips.› This amounts to an
implicit condemnation of magnanimity and an implicit vindication of
the sense of shame. The reason is given in the context: ‹holy, holy, holy
is the lord of hosts.› There is no holy god for Aristotle and the Greeks
generally. Who is right, the Greeks or the Jews, Athens or Jerusalem?»

Studies in Platonic Political Philosophy (1983), p.  210–228. Zitiert wird nach der
Erstveröffentlichung unter Angabe der Absätze.

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Bevor er Machiavelli in den Text einführt, formuliert Strauss, ein letztes
Mal in seinem Œuvre, die Alternative «Athen oder Jerusalem», die er in
Thoughts on Machiavelli wie in keinem seiner Bücher untersucht, ohne
daß sie darin ausdrücklich erwähnt würde. Ebenfalls zum letzten Mal
erinnert er daran, daß von der Antwort auf die Frage, ob die menschliche
Weisheit hinreicht, um die Alternative «Athen oder Jerusalem» mit
Gründen zu entscheiden, das Recht und die Notwendigkeit der Philoso-
phie abhängt. Beruhte die Philosophie, wenn sie solcher Gründe ent-
behrte, nicht auf einem Glaubensakt wie ihr Gegenüber? Und bedeutete
das nicht die vollständige und endgültige Niederlage von «Athen»? «For
a philosophy based on faith is no longer philosophy.»160
Angesichts der Konfrontation des Auftakts kann es nicht überra-
schen, daß von der Great Tradition in Niccolo Machiavelli nicht die
Rede ist. Strauss spricht vielmehr davon, daß das Christentum sich mit
der Übernahme der lateinischen Sprache gezwungen sah, die klassische
Literatur «to some extent» zu bewahren und mit ihr seinen «mortal
enemy» (28). Auch stellt er Machiavelli jetzt ausdrücklich gegen Augu-
stinus, der in Thoughts on Machiavelli nicht vorkommt (9). Das Chri-
stentum erhält insgesamt eine deutlich größere Sichtbarkeit. In zehn
Absätzen, erstmals im dreizehnten Absatz, nimmt Strauss explizit auf es
Bezug. Fünf Absätze sind zusammenhängend der Auseinandersetzung
mit dem Christentum gewidmet (25–29). Sie bilden den längsten Ab-
schnitt des Texts.161 Strauss wählt fünf Stücke der Discorsi aus, auf die er
kommentierend eingeht. Dabei stellt er Discorsi III, 1 ins Zentrum, das

160 Strauss fährt fort: «Perhaps it was this unresolved conflict which has prevented
Western thought from ever coming to rest. Perhaps it is this conflict which is at the
bottom of a kind of thought which is philosophic indeed but no longer Greek:
modern philosophy. It is in trying to understand modern philosophy that we come
across Machiavelli.» Niccolo Machiavelli 1. Cf. On Classical Political Philosophy,
p. 90; Preface to Spinoza’s Critique of Religion (1961), in: Liberalism Ancient and
Modern, p. 256 (zweitletzter Absatz in fine). Siehe Das theologisch-politische
Problem, p. 30–34.
161 Die Begriffe Christianity, the Christians und Christian kommen in den
Absätzen 13, 14, 19, 20, 22 fünfmal, in Strauss’ Abschnitt zum Christentum (25–29)
siebzehnmal und insgesamt zweiundzwanzigmal vor. Bible und biblical kommen
in den Absätzen 21, 22, 28 fünfmal bzw. dreimal, anti-Bible einmal in Abs. 22 und
anti-biblical einmal in Abs. 28 vor. New Testament (zweimal) bleibt Abs. 27
vorbehalten.

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Kapitel, das die einzige Erwähnung Christi durch Machiavelli in den
Discorsi und im Principe enthält.162 Anders als in Thoughts on Machia-
velli (IV, 6) übersetzt Strauss die Stelle, und zwar im 26. Absatz, der den
Tod Christi zum Gegenstand hat und die politischen Folgen der Beru-
fung auf das Vorbild der Passion in den Blick nimmt. «The Christian
command or counsel not to resist evil is based on the premise that the
beginning or principle is love. That command or counsel can only lead
to the utmost disorder or else to evasion. The premise, however, turns
into its extreme opposite.»163
Im Zentrum der Fünfergruppe zum Christentum wiederholt Strauss
seine Auslegung von Discorsi I, 26, Machiavellis Charakterisierung des
biblischen Gottes als eines Tyrannen. Diesmal schickt er eine Erwä-
gung zur Bedeutung der Zahl 26 voraus, die das einschlägige Kapitel
der Discorsi mit den 26 Kapiteln des Principe verbindet. «We have seen
that the number of chapters of the Discourses is meaningful and has
been deliberately chosen. We may thus be induced to wonder whether
the number of chapters of the Prince is not also meaningful. The Prince
consists of 26 chapters. Twenty-six is the numerical value of the sacred
name of God in Hebrew, of the Tetragrammaton. But did Machiavelli
know of this? I do not know.»164 Da Strauss bekennt, daß er nicht weiß,
ob Machiavelli der Zahlenwert des Tetragrammatons bekannt war, er-
scheint der Hinweis auf diese Bedeutung der Zahl 26, die sogleich durch
eine andere abgelöst und die in Thoughts on Machiavelli nicht heran-
gezogen wird, befremdlich. Das Befremden schwindet, wenn wir den
Aufsatz als Supplement zum Buch lesen und uns vor Augen halten, daß
Strauss den Zahlenwert des Tetragrammatons kannte, als er IV, 26

162 Strauss betont die Zentralität durch die Sequenz der Auswahl: «… a selection
of the following five chapters or quasi-chapters: I proem, II proem, II 1 [recte: III 1],
I 26 and II 5.» Niccolo Machiavelli 17. Der einmaligen Erwähnung von Christus
durch Machiavelli in Abs. 26 entspricht die einmalige Erwähnung von Jesus durch
Strauss in Abs. 27. Cf. Abs. 15.
163 Beachte die Änderung, die Strauss in seiner Übersetzung vornimmt. Cf. What
Is Political Philosophy?, p. 44, Thoughts on Machiavelli IV, 12 (186–189).
164 Niccolo Machiavelli 27. Strauss’ «I do not know», das uns zu einer Erläuterung
von IV, 26 verhilft, geht in Abs. 17 ein «I believe» voraus, das eine wichtige Aussage
in IV, 50 (242) beleuchtet, und wird von einem zweiten «I believe» in Abs. 31
gefolgt, das sich auf III, 53 (164) bezieht, einen Absatz in Thoughts on Machiavelli,
der zu den Absätzen 26 und 27 des Aufsatzes in einer gewissen Verbindung steht.

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schrieb. Strauss fährt fort: «Twenty-six equals 2 times 13. Thirteen is
now and for quite some time has been considered an unlucky number,
but in former times it was also and even primarily considered a lucky
number. So ‹twice 13› might mean both good luck and bad luck, and
hence altogether: luck, fortuna. A case can be made for the view that
Machiavelli’s theology can be expressed by the formula Deus sive for-
tuna (as distinguished from Spinoza’s Deus sive natura) – that is, that
God is fortuna as supposed to be subject to human influence (impreca-
tion).» Zur näheren Untersuchung dieser Theologie oder Quasitheolo-
gie verweist er den Leser, indem er eine Wendung aus Discorsi III, 35
aufnimmt, die er in Absatz 14 als einen Verweis des Lesers durch
Machiavelli an den Principe gedeutet hat, an Thoughts on Machiavelli,
das in Niccolo Machiavelli sowenig erwähnt wird wie der Principe in
den Discorsi: «But to establish this would require an argument ‹too long
and too exalted› for the present occasion.» Daran schließt sich die Aus-
legung der Blasphemie des 26. Kapitels der Discorsi an.165 Strauss be-
kräftigt am Ende die pädagogische Absicht, die Machiavelli verfolgt,
wenn er «his readers par excellence, whom he calls ‹the young›» dazu
veranlaßt, verbotene Gedanken zu denken. «This is an important part of
his education of the young or, to use the time-honored expression, of his
corruption of the young» (27).
Die Erläuterung von IV, 26, die mit den ersten beiden Erwähnungen
von magnanimity bzw. condemnation of magnanimity im ersten Absatz
beginnt und sich, über den Text verstreut, in vielfältigen Hinweisen und
Bezugnahmen fortsetzt,166 kommt, wie es scheint, mit der dritten und

165 «Let us therefore see whether we cannot get some help from looking at the
26th chapter of the Discourses …» Niccolo Machiavelli 27. Während sich die
Bedeutung von Machiavellis Kapitel 26 aus dem vorangehenden Kapitel 25 der
Discorsi erschließt, erschließt sich der Sinn von Strauss’ Absatz 26 aus dem nach-
folgenden Absatz 27 des Essays.
166 Neben den angeführten Stellen siehe etwa Abs. 20 und Abs. 30, der den
5. Abschnitt von Kapitel IV mit einbezieht: «The substance of what Machiavelli
says or suggests regarding religion is not original. As is indicated by his use of the
term ‹sect› for religion, he goes in the ways of Averroism, that is, of those medieval
Aristotelians who as philosophers refused to make any concessions to revealed
religion. While the substance of Machiavelli’s religious teaching is not original, his
manner of setting it forth is very ingenious. He recognizes in fact no theology but
civil theology, theology serving the state and to be used or not used by the state as

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letzten Erwähnung von magnanimity im einunddreißigsten Absatz
zum Abschluß. Vorausgegangen ist der einzige Auftritt von humility in
einer knappen Rekapitulation der Kritik, die Machiavelli an «unserer
Religion» übt (25). Strauss kommentiert die Geschichte des Camillus,
die Machiavelli in Discorsi III, 23 erzählt, vom Fall des gefeierten Ret-
ters Roms vor den Galliern, der sich durch seinen Selbstvergleich mit
einem Gott den Haß des Volkes zuzieht. Camillus ließ seinen Triumph-
wagen von vier weißen Pferden ziehen: «therefore the people said that
through pride he had wished to equal the sun-god or, as Plutarch has it,
Jupiter (Livy says: Jupiter et sol). I believe that this rather shocking act of
superbia was in Machiavelli’s eyes a sign of Camillus’ magnanimity» (31).
Was, wie Strauss glaubt, von Machiavelli als magnanimitas betrachtet
wird, sieht das Volk als strafwürdige, weil blasphemische superbia. Im
alles entscheidenden Fall ist es für Machiavelli mithin ein Gebot politi-
scher Klugheit, magnanimitas durch humanitas, Großgesinntheit durch
Menschlichkeit zu ersetzen.167
Zum Schluß justiert Strauss die frühere Präsentation des Verhältnisses
von Machiavelli zu Sokrates nach (33–35). Wir lesen jetzt, daß Machiavelli
Sokrates nicht etwa «vergessen» hat, wie im Epilog zweimal zu lesen
steht, sondern daß Sokrates von Machiavelli «unterdrückt» wird. Außer-
dem betont Strauss mit sehr viel größerem Nachdruck, als er dies im
Epilog tut, die Trennlinie, die Machiavelli mit Sokrates, Aristoteles und
Xenophon verbindet und von den Sophisten unterscheidet.168 Strauss’
letztes Wort ist die förmliche Proklamation einer gemeinsamen Front, in
der Machiavelli und Sokrates gegen die «Sophisten» stehen: «Xenophon,
the pupil of Socrates, was under no delusion about the sternness and
harshness of politics, about that ingredient of politics which transcends

circumstances suggest. He indicates that religions can be dispensed with if there is a


strong and able monarch. This implies indeed that religion is indispensable in
republics.» Meine Hervorhebung.
167 «… the central reason that Camillus became hated was … the suspicion that
out of pride he wished to become equal to a god, namely, to the sun. Yet it was less
pride or ambition than its manifestation by an overt act which made Camillus
hated» III, 53 (164). Siehe S. 95–96 und 110–111.
168 Niccolo Machiavelli 33; IV, 82 (291) und IV, 84 (292) jeweils in fine zum
«vergessenen» Sokrates. 34–35; IV, 83 (292) zur Abgrenzung von den Sophisten. –
Sokrates wird in den 35 Absätzen des Aufsatzes beinahe ebensooft beim Namen
genannt wie in den 224 Absätzen des Buches.

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speech. In this important respect Machiavelli and Socrates make a com-
mon front against the Sophists.» Wenn wir uns die Frage vorlegen,
worin das Ende des Essays mit seinem Anfang zusammengeschlossen
ist, gibt uns Strauss’ Bestimmung der «Sophisten» einen Anhaltspunkt:
«the sophists believed or tended to believe in the omnipotence of
speech».169 Es ist die einzige Erwähnung von Omnipotenz.

169 Niccolo Machiavelli 35. Cf. Genesis I; Johannes I und XVII.

– 147 –
III
Das Recht der Politik
und die Erkenntnis des Philosophen
Zur Intention von Jean-Jacques Rousseaus
Du contrat social
I

Du contrat social ist das Werk eines Philosophen, der als Bürger zu
Bürgern spricht, um das Recht und die Grenzen der Politik vor aller
Augen neu zu bestimmen. Sein Verfasser weiß, daß die philosophische
Verhandlung der Politik eine politische Schrift verlangt. Wer es unter-
nimmt, über die Politik zu schreiben, muß sich fragen lassen und sich
selbst im klaren sein, in welcher Eigenschaft, zu welchem Ende und für
wen er schreibt.1 Jean-Jacques Rousseau beantwortet die Frage «Wer
spricht?» bereits auf dem Titelblatt, wo er seinem Namen, wie bei den
politischen Schriften, die dem Contrat social vorausgingen, Citoyen de
Genève hinzufügt. In der Vorrede des ersten Buches bekräftigt er, die
Sprache der Leser seiner Zeit aufnehmend, daß er sich als citoyen und
nicht als prince oder législateur an sie wendet. Genauer gesagt, wendet
er sich als Mitglied eines Souveräns an andere, gegenwärtige oder zu-
künftige Mitglieder eines Souveräns, denen, wie ihm, aus dem Recht,
in den öffentlichen Angelegenheiten ein Votum abzugeben, die Pflicht
erwächst, sich über die Prinzipien des politischen Rechts zu unterrich-
ten. Die Selbstcharakterisierung als membre du souverain markiert

1 Die Politik wird in den beiden zentralen Sätzen der Vorrede des ersten Buches
zweimal als der Gegenstand der Schrift genannt: «On me demandera si je suis
prince ou législateur pour écrire sur la Politique? Je réponds que non, et que c’est
pour cela que j’écris sur la Politique.» Jean-Jacques Rousseau: Du contract social;
ou, Principes du droit politique. Amsterdam 1762, I, Vorrede, 2, p. 2 (351). Ich zitiere
nach Buch, Kapitel und Absatz. In Klammern stehen die Seitenzahlen der Edition
von Robert Derathé in Band III der Œuvres complètes. Paris 1959–1995, 5 Bände,
Bibliothèque de la Pléiade (= OCP), deren Wortlaut ich folge. Neben der Erstausgabe
und der postumen Ausgabe des Contrat social von Paul Moultou und Pierre-
Alexandre Du Peyrou (Collection complète des œuvres de J. J. Rousseau. Genf 1782)
habe ich die Editionen von Edmond Dreyfus-Brisac (Paris 1896), Georges
Beaulavon (Paris 1914), C. E. Vaughan (Manchester 1918), Maurice Halbwachs
(Paris 1943), Bertrand de Jouvenel (Genf 1947), Ronald Grimsley (Oxford 1972)
und Bruno Bernardi (Paris 2012) konsultiert.

– 151 –
den Übergang zur prägnanten Begrifflichkeit des Buches, der indes
unter ausdrücklicher Berufung auf den «freien Staat» erfolgt, als des-
sen Bürger der Verfasser geboren wurde. Seine Geburt versetzte ihn in
die glückliche Lage, beim Nachdenken über die bürgerliche Ordnung,
«immer neue Gründe dafür zu finden», die «Regierung» seines eigenen
Landes «zu lieben». Mit den Untersuchungen, deren Ertrag er in Du
contrat social vorlegt, genügte Rousseau seiner Pflicht als Bürger. Die
Lehre, die er vertreten wird, ist Ausweis und steht unter dem Schutz
seines Patriotismus. 2
Rousseau kann nicht als Bürger zu Bürgern über die Politik sprechen,
ohne den Blick auf deren Grundlagen zu richten. Er kann die Bürger
weder über ihre Rechte aufklären noch in ihren Pflichten unterweisen,
ohne das Prinzip offenzulegen, durch das sie zu Bürgern und als Bürger
verbunden werden. Er kann ihnen seine Lehre vom wohlgeordneten
Gemeinwesen nicht vortragen, ohne sichtbar zu machen, daß ein sol-
ches Gemeinwesen der Erkenntnis des Philosophen bedarf. Wenn
Rousseau als Anwalt eines «politischen Körpers» auftritt, der es den
Bürgern erlaubt, sich in einem «gemeinsamen Ich» wiederzufinden, er-
weist er sich als Förderer der Sache, die den Philosophen gemeinsam ist.
Du contrat social hat einen Philosophen zum Verfasser, dessen Untersu-
chungen von Anfang an auf die Erkenntnis der «Natur des politischen
Körpers» zielen, der das politische Leben in ständiger Rücksicht auf das
philosophische Leben denkt und der bei der Betrachtung der bürger-

2 Während das erste Wort des Contrat social Je und das letzte moi ist, spannt sich
der Bogen der Vorrede des ersten Buches von Je veux zu mon pays! Die Vorrede ist
der einzige Teil der Schrift, der mit einem Ausrufungszeichen endet.  – Den
Spielraum, den ihm die Bezugnahme auf die «Regierung», d. h. auf das Regie-
rungssystem seiner Vaterstadt außerhalb Genfs eröffnete, hatte Rousseau schon
1755 genutzt, als er die Dédicace à la République de Genève des Discours sur
l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes als Ort wählte, um seine
politische Theorie zum erstenmal zu umreißen und das Prinzip der Volkssouve-
ränität «dem Menschengeschlecht» zu verkünden. Siehe Discours sur l’inégalité.
Kritische Ausgabe. Paderborn 1984, 6. Auflage 2008, p. 11–12, n. 12 und p. 74; cf.
p. 10, n. 10; ferner Discours sur l’économie politique, OCP III, p. 267. Das Lob Genfs
hielt die Genfer Regierung nicht davon ab, den Contrat social zusammen mit dem
Émile am 19. Juni 1762 zu verbieten und öffentlich verbrennen zu lassen. In
Frankreich war der Émile am 11. Juni 1762 auf der Treppe des Pariser Justizpalastes
durch den Scharfrichter verbrannt worden, wohingegen der Contrat social unbe-
helligt blieb.

– 152 –
lichen Ordnung die natürliche Ordnung nie aus dem Auge verliert.3 Die
Kluft, die den Philosophen vom Bürger trennt, tritt in der Eröffnung
zutage, die Rousseau unmittelbar auf das Lob des Gemeinwesens folgen
läßt, in dem er zum Bürger geboren wurde: «L’homme est né libre, et
partout il est dans les fers.» Rousseau beginnt das erste Kapitel des er-
sten Buches mit einem Satz, dessen ganze Tragweite sich erst nach der
Lektüre aller vier Bücher und achtundvierzig Kapitel erschließt. Denn
der Traktat stellt, recht verstanden, einen einzigen Kommentar des her-
ausfordernden Beginns dar, auf den er immer wieder zurückkommt,
den er erhellt und vertieft. «Der Mensch ist frei geboren, er wird frei
geboren, und überall ist er in Ketten.» Die erste Hälfte der Sentenz kann
dank der sprachlichen Fügung, die Rousseau verwendet,4 diachronisch
und synchronisch gelesen, die verlorene Freiheit mithin der Gattung
wie dem Einzelnen zugeschrieben werden, so daß in der zweiten Hälfte
die Ketten für die Geschichte der Vergesellschaftung wie für die gesell-
schaftlichen Konventionen einstehen, die der Natur notwendig Zwang
antun. Der Auftakt handelt vom Menschen in der Gesellschaft. Er
spricht von der fundamentalen Abhängigkeit der politischen, der bür-
gerlichen, der soziablen Existenz. Er betrifft Herr und Knecht gleicher-
maßen. Die Ketten gelten auch für den Bürger, der sich glücklich schätzt,
in einem «freien Staat» zu leben. Rousseau stellt dem Bürger mit keinem
Wort in Aussicht, daß ihm die Ketten abgenommen werden könnten. Er
verspricht ihm allein und allerdings eine Antwort auf die Frage, was den
Übergang zum bürgerlichen Zustand «legitim machen kann», wodurch
die Ketten gerechtfertigt zu werden vermögen. Auf die vorangehende
Frage, wie die «Veränderung» vom Frei-geboren-Sein zum In-Ketten-
Sein zustande gekommen sei, antwortet Rousseau mit einem lakoni-
schen «Ich weiß es nicht». Es ist die erste einer Reihe von Stellen inner-
halb des Contrat social, die philosophische Fragen aufwerfen oder die
auf philosophische Fragen verweisen, um ausdrücklich zu machen, daß
von ihnen abgesehen wird. Die anthropologische Analyse und die ge-

3 I, 7, 2 (362); I, 9, 8 (367); cf. I, 6, 1 und I, 6, 5 (360); I, 6, 7 (361); I, 8, 2 (364–365). Das


erste Buch allein nimmt zwanzigmal auf nature Bezug.
4 Siehe den späteren Sprachgebrauch in I, 2, 8 (353): «Tout homme né dans
l’esclavage nait pour l’esclavage …»; in I, 4, 5 (356): «… ils naissent hommes et
libres»; und in IV, 2, 5 (440): «Décider que le fils d’une esclave nait esclave, c’est
décider qu’il ne nait pas homme.»

– 153 –
nealogische Rekonstruktion, die Rousseau sieben Jahre zuvor im Dis-
cours sur l’inégalité einem Platon oder einem Diogenes zu bedenken
gab, bleiben unerwähnt. Sie stehen außerhalb der Klammer. Das kann
den Leser Rousseaus nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Eröffnung
des Contrat social ebenjene Analyse und Rekonstruktion zur Voraus-
setzung hat. Und wenn Rousseau sich in Du contrat social die Aufgabe
stellt, den Bürgern vor Augen zu führen, wie ihre Ketten legitim ge-
macht werden können, wird er diese Aufgabe nicht erfüllen, ohne daß er
dem aufmerksamen Leser zu einem besseren Verständnis verhilft, was
es mit den Ketten selbst auf sich hat. Der Contrat social, der bestimmt
ist, das Recht der Politik darzulegen, kommt nicht umhin, in eins damit
die Grenzen der Politik aufzuzeigen.
Dem Gegenstand des ersten Buches, der Begründung des legitimen
Gemeinwesens, nähert sich Rousseau in einem bemerkenswerten Drei-
schritt, der für alles weitere die Weichen stellt. In den ersten drei Sätzen
des zweiten Absatzes des ersten Kapitels ist dreimal von droit die Rede.
Rousseau beginnt bei der Gewalt, die ein Volk zum Gehorsam zwingen,
aber nicht verbinden kann, da das Recht, das sie beansprucht, nur so
weit reicht wie die Macht, Gehorsam zu erzwingen, und das Volk sich
mit demselben Recht vom Zwang zum Gehorsam befreit, wenn es über
die dafür erforderliche Macht gebietet. Das Recht des ersten Satzes fügt
der Gewalt nichts hinzu. Es begründet keine Verpflichtung. Dagegen
macht der zweite Satz aus der Perspektive des Bürgers geltend, daß die
gesellschaftliche Ordnung «ein geheiligtes Recht» ist, «das allen ande-
ren als Grundlage dient». Der Bürger weiß um Rechte und Pflichten, er
kennt nicht nur äußeren Zwang und Gewalt. Er lebt in einem dichten
Gewebe aus Verbindlichkeiten, Zwecken und Aufgaben, die er bejaht,
an die er glaubt und die er sich zu eigen macht, einem Gewebe, das in der
Ordnung des Gemeinwesens verankert ist und aus ihr die entscheidende
Rechtfertigung erfährt. Im dritten Satz beantwortet Rousseau die Frage,
worin die gesellschaftliche Ordnung selbst ihren Rechtsgrund hat. Da
das «geheiligte Recht» nicht von der Natur herrührt, muß es «folglich
auf Übereinkünfte gegründet» sein. Das ausgeschlossene Dritte in der
Alternative natürlicher Ursprung oder menschliche Übereinkunft ist
das göttliche Gebot. Im Ausschluß der göttlichen Autorität als Quelle
des Rechts hat Rousseaus Dreischritt seinen Fluchtpunkt. Während der
erste Schritt force und droit als koextensiv behandelt, weist der dritte
Schritt die spezifische Stärke des droit sacré des zweiten Schritts als droit

– 154 –
fondé sur des conventions aus. Das Recht des zweiten Schritts wird
durch Übereinkunft als Recht begründet und durch die Zustimmung,
den Willen, den Glauben des Volkes des ersten Schritts geheiligt. Der
philosophische Schluß des dritten Schritts verschränkt die Betrachtung
der Welt der Naturereignisse, der der erste entspricht, mit der Einsicht
in das politische Leben, der sich der zweite verdankt. Aus dem Drei-
schritt resultieren zwei Aufgaben, denen sich Rousseau im ersten Buch
zu unterziehen hat, und eine Frontstellung, die für alle vier Bücher be-
stimmend ist. Zum einen muß Rousseau, wie er sogleich hinzusetzt,
klären, auf welchen Konventionen das geheiligte Recht des Gemeinwe-
sens, näher besehen, beruht. Zum anderen muß er die Frage beantworten,
was das Volk, das der erste Satz einführt und ohne dessen Zustimmung
ein durch Übereinkunft begründetes Recht nicht gedacht werden kann,
als Subjekt der Zustimmung, bindender Entscheidungen und Aussagen
konstituiert. Rousseau führt beide Aufgaben zusammen, indem er von
den Konventionen im Plural nach der Einen Konvention zurückfragt,
die das Volk als politisches Subjekt zu erschaffen und es zur Quelle allen
Rechts zu machen vermag. Der Sache nach schließt das fünfte Kapitel
«Daß man immer auf eine erste Übereinkunft zurückgehen muß» naht-
los an das erste Kapitel an. In den Kapiteln 2, 3 und 4, die das Argument
unterbrechen, setzt sich Rousseau mit Positionen auseinander, die das
legitime Gemeinwesen nicht zu begründen wissen oder mit ihm unver-
einbar sind. Im mittleren der drei Kapitel hat zum erstenmal eine pro-
minente Spielart jener Doktrin ihren Auftritt, die der Dreischritt des
ersten Kapitels stillschweigend zurückweist und Aug’ in Aug’ mit der
Rousseau die Konzeption des Contrat social entwickelt. Unter der
Überschrift «Vom Recht des Stärkeren» und mit einem beißenden
Kommentar versehen, führt er dort das Paulus-Wort aus dem Römer-
brief an, dem zufolge alle Macht von Gott kommt.5

5 «Toute puissance vient de Dieu, je l’avoüe; mais toute maladie en vient aussi.
Est-ce à dire qu’il soit défendu d’appeller le médecin? Qu’un brigand me surprenne
au coin d’un bois: non seulement il faut par force donner la bourse, mais quand je
pourrois la soustraire suis-je en conscience obligé de la donner? car enfin le pistolet
qu’il tient est aussi une puissance.» I, 3, 3 (355); cf. Paulus: Ad Romanos XIII, 1 und
Jacques-Bénigne Bossuet: Politique tirée des propres paroles de l’Ecriture sainte VI,
2 (De l’obéissance due au prince), Ed. Jacques Le Brun (Genf 1967), p. 192–193.
Calvin kommentiert das Paulus-Wort so: «Ratio cur debeamus subiecti esse
magistratibus, quod Dei ordinatione sunt constituti. quod si ita placet Domino

– 155 –
Den vierten und letzten Schritt im Begründungsgang, den Überstieg
zur Einen Konvention, unternimmt Rousseau im zentralen Kapitel des
ersten Buches, in dem er auch die zentralen Begriffe des bien public und
des corps politique einführt. Der Anwalt der Bürger erklärt, selbst wenn
er alles zugäbe, was er bis dahin widerlegt hat, selbst wenn er, mit ande-
ren Worten, die der Vernunft widersprechenden oder die dem Guten
der Bürger widerstreitenden Meinungen über die Grundlagen der Herr-
schaft einräumte, denen er in den Kapiteln 2, 3 und 4 entgegengetreten
ist, selbst dann hätten «die Begünstiger des Despotismus» noch nichts
gewonnen. Die verworfenen Lehren mögen gezeigt haben, wie ein Des-
pot sich eine Menge unterwirft, wodurch die Obrigkeit sich Gehorsam
verschafft, was das Verhältnis eines Herrn zu Sklaven ausmacht. Sie ha-
ben damit allenfalls eine aggrégation zustande gebracht, sind jedoch
nicht bis zu einer association gelangt. Auch die, die sich auf Konventio-
nen der einen oder anderen Art beriefen, sei es, daß sie die Übertragung
der Herrschaftsbefugnis an die Bedingung der Gewährleistung von
Ruhe und Sicherheit banden,6 sei es, daß sie einen Bund behaupteten,
der eine absolute Herrschaft und einen unbedingten Gehorsam sanktio-
nierte,7 sind nicht weiter gekommen. Sie haben nicht gezeigt, wie das
Volk, das einen Bund schließen soll, zum Volk wird oder was das Volk,
das Rechte übertragen muß, zum Träger dieser Rechte macht. Wenn
Rousseau alles zugäbe, was er im Interesse der Bürger zurückgewiesen
hat, befänden die Bürger sich deshalb noch immer nicht in einem Zu-
stand des Rechts, der sie verbinden könnte. Sie wären keine Bürger, da
es keinen politischen Körper gäbe. Um ein Kollektivsubjekt wider-
spruchsfrei zu begründen, das Konventionen verbindlich eingehen und
verfügen, das die öffentliche Deliberation und Wahlen regeln, das poli-

mundum gubernare, Dei ordinem invertere nititur, adeoque Deo ipsi resistit
quisquis potestatem aspernatur: quando eius (qui iuris politici author est), provi-
dentiam contemnere, bellum cum eo suscipere est.» Commentarius in Epistolam
Pauli ad Romanos. Ed. T. H. L. Parker (Leiden 1981), p. 282.
6 Cf. I, 4, 2–3 (355–356) und II, 4, 10 (375).
7 «Enfin c’est une convention vaine et contradictoire de stipuler d’une part une
autorité absolue et de l’autre une obéissance sans bornes. N’est-il pas clair qu’on
n’est engagé à rien envers celui dont on a droit de tout éxiger, et cette seule condition,
sans équivalent, sans échange n’entraîne-t-elle pas la nullité de l’acte?» I, 4, 6 (356);
beachte dazu Profession de foi du Vicaire Savoyard, Abs. 71, OCP IV, p. 589 und
Paulus: Ad Romanos IX, 11–23.

– 156 –
tisch handeln kann, bedarf es des Rückgangs auf eine erste, einmütige
Konvention. Erst in ihr ist «die wahre Grundlage der Gesellschaft» er-
reicht.8
Die Eine Konvention, in der die Gesellschaft ihre wahre Grundlage
hat, ist der titelgebende contrat social. In dem eminent politischen Akt,
der das Volk konstituiert und dem die Bürger ihr Bürger-Sein schulden,
liegt Rousseaus Antwort auf die Ausgangsfragen beschlossen, was die
Ketten der Gesellschaft rechtmäßig zu machen und was das geheiligte
Recht der gesellschaftlichen Ordnung zu begründen vermag. Der ge-
sellschaftliche Vertrag kann die Last, die Rousseau ihm aufbürdet, nur
tragen, insofern er auf einmütiger Zustimmung und weil er auf strenger
Notwendigkeit beruht. Im sechsten Kapitel, in dem Rousseau den con-
trat social einführt, beginnt er wie im Dreischritt des ersten Kapitels bei
der Gewalt, Stärke, Kraft, über die das Recht des Naturzustands nicht
hinausgeht. Da la force et la liberté die vorrangigen Instrumente sind,
über die das Individuum zu seiner Selbsterhaltung verfügt, genügte es
der Sorge nicht, die es sich selbst schuldet, wenn es die Verfügungs-
macht über diese Instrumente einer höheren Gewalt unterstellte, wenn
es die Einschränkungen auf sich nähme, die ihm der Rechtszustand ab-
verlangt, wenn es in die Pflichten einwilligte, die ihm die Gesellschaft
auferlegt, es sei denn, das Individuum sähe sich durch zwingenden
Grund genötigt, einer solchen Veränderung zuzustimmen, oder sie er-
schiene ihm mit Rücksicht auf sein eigenes Gutes vorteilhaft. Als histo-
rische Voraussetzung des contrat social, den er auch pacte social, pacte
fondamental oder traité social nennt, muß Rousseau nur annehmen, daß
die Vertragschließenden den Punkt erreicht haben, an dem sie nicht län-
ger im Naturzustand verharren können, da die Kräfte, über die sie als
Individuen gebieten, nicht ausreichen, um die Hindernisse ihrer Selbst-
erhaltung zu überwinden, und sie auf zusätzliche Kräfte angewiesen
sind, die ihnen einzig aus einer Vereinigung erwachsen können, aus
einer Assoziation, welche mit ihrer ganzen gemeinschaftlichen Gewalt
die Person und die Güter jedes Assoziierten verteidigt und schützt. Ob-
gleich die Bürger ihm diese Annahme unschwer zugeben werden, be-
gnügt sich Rousseau nicht damit, das Erfordernis des acte d’association
darzutun. Der Anwalt des gesellschaftlichen Vertrags spricht, als gälte
es, in einer öffentlichen Deliberation für den Vertragsschluß zu werben,

8 I, 5, 1–3 (359).

– 157 –
um eine einmütige Zustimmung zu erreichen. So stellt er seinen Zu-
hörern in Aussicht, vermittels des gesellschaftlichen Vertrags sei eine
forme d’association zu finden, «durch die jeder, indem er sich mit allen
vereinigt, gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zu-
vor». Lesern, die der Eröffnung des ersten Buches nicht die Beachtung
schenkten, die ihr gebührt, mag das Ausmaß der Pia fraus, die Rousseau
einsetzt, später im dritten Buch aufgehen. Ihr politischer Sinn wird uns
weiter beschäftigen. An dem Ort, an dem Rousseau zum erstenmal für
den Übertritt in den bürgerlichen Zustand argumentiert, dient sie ihm
dazu, diesem Zustand in den Augen der Vertragschließenden ein attrak-
tiveres Aussehen zu geben und den tiefen Einschnitt rhetorisch aufzu-
fangen, den er an gleicher Stelle durch klare Unterscheidungen und
scharfe Begriffe in seiner Notwendigkeit bestimmt. Denn der Übertritt,
von dem Rousseau im Rückblick auf die Geschichte der Gattung sagt,
daß er dem Menschengeschlecht nicht weniger als eine Änderung seiner
«Seinsweise» abverlangte, ohne die es zugrunde gegangen wäre, hat so
weitreichende Folgen, daß er nur bei genauer Einhaltung der Bestim-
mungen des contrat social bindend gemacht werden kann: Damit die
Preisgabe der liberté naturelle zugunsten einer liberté conventionelle
rechtmäßig werde, muß sie gemäß der Natur des gesellschaftlichen Ver-
trags erfolgen. Die Natur des Vertrags legt die Struktur des politischen
Körpers fest, und die mindesten Abweichungen von den Klauseln, die
sie vorschreibt, machen den Vertrag unwirksam, so daß die Glieder des
politischen Körpers nicht länger verbunden sind und in ihre natürliche
Freiheit zurückkehren. Wie weitreichend der Schritt ist, den der gesell-
schaftliche Vertrag verlangt, zeigt die Klausel an, auf die sich alle zu-
rückführen lassen. Sie lautet: «l’aliénation totale de chaque associé avec
tous ses droits à toute la communauté.»9 Daß jeder Vertragschließende
sich mit allen seinen Rechten dem Gemeinwesen übereignet, das durch
den Akt der Übereignung hervorgebracht wird, heißt nicht, daß er zu-
vor oder außerhalb des Gemeinwesens über Rechte verfügte, die von
seiner Gewalt, Stärke, Kraft verschieden wären, sondern es heißt, daß er
sich keine Rechte vorbehält und somit das Kollektivsubjekt, dessen Teil
er ist, zur alleinigen Quelle des Rechts und zur letzten Instanz der poli-

9 Rousseau fährt fort: «Car premierement, chacun se donnant tout entier, la


condition est égale pour tous, et la condition étant égale pour tous, nul n’a intérêt de
la rendre onéreuse aux autres.» I, 6, 6 (360–361); cf. II, 4, 3 (373).

– 158 –
tischen Entscheidung wird. Ohne eine aliénation sans réserve bestünde
der Naturzustand fort, oder er bräche in der Mitte der Gesellschaft wie-
der auf, da die Kernfrage der Souveränität Quis iudicabit? unbeantwor-
tet bliebe. Vermöge der aliénation totale ou sans réserve ruft der contrat
social einen politischen Körper ins Leben, dessen Glieder nur durch sich
selbst verbunden sind und der gleichwohl als Souverän handlungsfähig
ist. Die Natur des gesellschaftlichen Vertrags liefert die Regel, von der
Rousseau zu Beginn der Vorrede forderte, daß sie beides sei, legitim und
sicher.10
Die Prinzipien des politischen Rechts, die der vollständige Titel der
Schrift ankündigt, gehen ausnahmslos auf den gesellschaftlichen Ver-
trag zurück. Sie stellen, genauer gesagt, eine zusammenhängende Aus-
legung seiner Natur dar. Die Abfolge Du contract social ou Principes du
droit politique ist mithin wohlbegründet. In der ersten Fassung des
Traktats stand noch Du contract social ou Essai sur la forme de la Répu-
blique zu lesen, eine Ankündigung, die in ihrem kontrastierenden Be-
zug auf Platon und Machiavelli verwiesen hätte, mit denen Rousseau in
der Tat einen fortgesetzten, für das Verständnis der Schrift höchst be-
deutsamen Dialog führt und die die einzigen Philosophen sind, die in
ihr wiederholt zu Wort oder namentlich zur Sprache kommen, ohne
kritisiert zu werden.11 Rousseau hatte auf der Titelseite des Genfer
Manuskripts sogar erwogen, Du contrat social durch De la société civile
zu ersetzen, diese Änderung aber wieder verworfen.12 Der von Rous-

10 «Je veux chercher si dans l’ordre civil il peut y avoir quelque regle d’admini-
stration légitime et sûre, en prenant les hommes tels qu’ils sont, et les loix telles
qu’elles peuvent être: Je tâcherai d’allier toujours dans cette recherche ce que le
droit permet avec ce que l’intérêt prescrit, afin que la justice et l’utilité ne se trouvent
point divisées.» I, Vorrede, 1 (351).
11 II, 7, 2 (381); II, 8, 1 (385); III, 6, 15 (412). II, 3, 4 note (372); II, 7, 11 note (384); III,
6, 5 (409) sowie note (Ed. 1782, OCP III, p. 1480); III, 9, 4 note (420); III, 10, 3 note
(422). – Rousseau änderte den Untertitel von Essai sur la constitution de l’Etat über
Essai sur la formation du corps politique und Essai sur la formation de l’Etat in Essai
sur la forme de la République. Edmond Dreyfus-Brisac gibt in seiner Edition die
Titelseite des Manuskripts der Première version, das sich in Genf befindet, als
Faksimile wieder (neben p. 245); cf. OCP III, p. 1410.
12 Blaise Bachofen, Bruno Bernardi und Gilles Olivo schlagen in ihrer Ausgabe
Du contract social ou Essai sur la forme de la République (Manuscrit de Genève)
(Paris 2012, p. 11–12 und 31) vor, Rousseaus Redaktion des Haupttitels in den
folgenden Schritten zu lesen: (1) De la Société Civile, (2) Du Contract Social, (3) du

– 159 –
seau schließlich gewählte Titel ist nicht nur in der Sache zwingend, son-
dern auch in der Ansprache des politischen Adressaten schlagend. An-
ders als die früheren Fassungen stellt er die provozierende These der
Schrift heraus und verbindet sie mit dem Versprechen ihrer praktischen
Bedeutsamkeit. Er bezeichnet die Konvention, die die Gesellschaft
theoretisch begründet, ohne den Akzent auf das Gespräch mit den Phi-
losophen zu legen, in das die Schrift eintritt. Statt dessen rückt er die
Prinzipien des Rechts in den Vordergrund, auf die sich die Bürger beru-
fen können, wenn sie dem Vertrag zustimmen, für den der Traktat plä-
diert. Der definitive Titel unterstützt und unterstreicht Rousseaus Ent-
scheidung, bevorzugt in der Persona des Anwalts aufzutreten.13 Der

Contract Social. Ihrer Hypothese zufolge hätte Rousseau die neue Version des
Titels (2) über der Titelzeile (1) notiert, sie dann wieder verworfen und durch-
gestrichen, um sie schließlich unterhalb der Titelzeile (1) abermals zu notieren (3).
Der ursprüngliche Titel des Manuskripts wäre demnach De la société civile und
nicht Du Contract Social gewesen. Gegen diesen Vorschlag spricht indes das Schrift-
bild des Manuskripts, sowohl die Schriftgröße und die Anordnung der obersten
Zeile Du Contract Social, die der Schriftgröße und der Anordnung des ursprüng-
lichen Untertitels Essai sur la constitution de l’Etat entsprechen, als auch die
übereinstimmenden Abstände, die die beiden Zeilen zu dem ou halten, das in einer
eigenen Zeile zwischen dem Haupt- und dem Untertitel steht. Bei der von Rousseau
ursprünglich gewählten Anordnung konnte er den später erwogenen Titel De la
société civile und die endgültige Fassung nur unterhalb des Haupttitels Du Contract
Social notieren.
13 Mit der neuen Akzentuierung des Titels stimmen mehrere Änderungen im
Aufbau und in der rhetorischen Ausrichtung zusammen, die Rousseau gegenüber
der Première version vornimmt. Dazu gehört die Vorrede der definitiven Fassung,
die betont, daß der Autor als Bürger spricht. Die Kritik der «Fausses notions du
lien social», die er dem Kapitel I, 5 der Première version vorbehielt und die dort auf
die Darstellung seiner Konzeption in den Kapiteln I, 3 «Du pacte fondamental»
und I, 4 «En quoi consiste la souveraineté, et ce qui la rend inaliénable» folgt, geht
jetzt in überarbeiteter Form und auf drei Kapitel aufgeteilt (I, 2–4) der eigenen
Antwort in I, 6 und der advokatorischen Hinführung in I, 5 voraus. Vor allem aber
streicht Rousseau die lange Erörterung des Kapitels I, 2, «De la société générale du
genre humain», mit der die Première version nach dem nur wenige Zeilen
umfassenden Kapitel I, 1 «Sujet de cet ouvrage» recht eigentlich begann. Rousseau
setzte sich darin insbesondere mit Diderots Artikel Droit naturel (Encyclopédie,
Band V, 1755) auseinander, ohne diesen namentlich zu erwähnen, und die Über-
schrift des Kapitels spielte auf den Artikel II De la société générale du genre humain
naît la société civile, c’est-à-dire celle des Etats, des peuples et des nations in Buch I
von Bossuets Politique tirée des propres paroles de l’Ecriture sainte an (Ed. Jacques

– 160 –
Anwalt des politischen Körpers zeigt, was es heißt, im anspruchsvollen
Sinn ein Bürger zu sein. Der Anwalt der Bürger erklärt, wie das Recht
des Souveräns gegen alle Angriffe zu verteidigen ist, die ein höheres, sei
es historisches, sei es natürliches oder göttliches Recht in Anspruch
nehmen. Rousseau verwendet auf die Präsentation der Prinzipien des
politischen Rechts zehn aufeinanderfolgende Kapitel, beginnend mit
Kapitel I, 6 «Du pacte social» und endend mit Kapitel II, 6 «De la loi».
Der Bogen spannt sich vom Vertrag, durch den der Souverän entsteht,
zum Gesetz, durch das der Souverän seinen Willen äußert, und der Sou-
verän wird von Rousseau wesentlich als Wille bestimmt. Tatsächlich ist
vom Willen, der den Souverän auszeichnet, die Rede, bevor der Souve-
rän als eine von mehreren Korrelationen des politischen Körpers seine
erste Erwähnung findet. Rousseaus Auslegung der Natur des gesell-
schaftlichen Vertrags setzt mit der Formulierung des Vertrags selbst ein,
die den Schlüsselbegriff der Prinzipien, die volonté générale, einführt:
«Jeder von uns unterstellt seine Person und seine ganze Macht gemein-
schaftlich der höchsten Leitung des allgemeinen Willens; und wir als
Körper nehmen jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.» Die
volonté générale bildet das Scharnier der beiden Hälften der Vertrags-
formel, die, durch ein Semikolon getrennt, den grundlegenden Subjekt-
wechsel zum Ausdruck bringt, den die rückhaltlose Machtübertragung
der Kontrahenten bewirkt. Mit der Evokation der volonté générale
vollzieht sich die Verbindung der Einzelnen zu einem Wir, die Ver-
wandlung der Person in den integrierenden Bestandteil eines neuen
Ganzen. Die Vertragsformel weist die volonté générale als die zentrale
Bestimmung des politischen Körpers aus, lange bevor Rousseau die
legislative Gewalt als das Herz des Staates bezeichnet.14 Der kollektive

Le Brun, p. 11), der gleichfalls nicht erwähnt wird. Die philosophische Kritik an
Diderot, der die volonté générale auf die menschliche Gattung bezog, und an
anderen Theoretikern, die die «allgemeine Gesellschaft des Menschengeschlechts»
zum Träger natürlicher Rechte erhoben, erscheint Rousseau für die Entfaltung der
Principes du droit politique entbehrlich: Sie hätte von der direkten Ansprache der
Bürger abgelenkt. Schließlich macht Rousseau den Satz «L’homme est né libre, et
cependant partout il est dans les fers», mit dem Kapitel I, 3 «Du pacte fondamental»
begann (OCP III, p. 289), in dessen endgültiger, geschliffener Fassung zur Eröffnung
des Buches und stellt ihn so seiner politischen Lehre voran.
14 I, 6, 9 (361), beachte die Formulierung der Première version I, 3, 3 (p. 290). III,
11, 3 (424).

– 161 –
Körper, den der Vertrag hervorbringt, «besteht aus ebenso vielen Mit-
gliedern, wie die Versammlung Stimmen hat»; gleichzeitig erhält er
durch den Vertrag, wie Rousseau zu Beginn der Auslegung bekräftigt,
«seine Einheit, sein gemeinsames Ich, sein Leben und seinen Willen».
Um keinen Zweifel daran zu lassen, was er mit dem contrat social be-
gründet hat, setzt Rousseau hinzu, daß die «öffentliche Person», die aus
«der Vereinigung aller anderen» entsteht, früher den Namen Cité, d. h.
Polis oder Civitas, trug und jetzt République oder corps politique heißt.15
Den politischen Körper stellt Rousseau als komplexe Einheit von
Wechselbeziehungen und Doppelcharakterisierungen vor. Er werde von
seinen Gliedern Etat genannt, wenn er passiv, Souverain, wenn er aktiv,
Puissance, wenn er dem Vergleich mit seinesgleichen ausgesetzt ist. Er
ist, mit anderen Worten, Souverän, insofern er die höchste Autorität aus-
übt, Staat, insofern er durch die Gesetze, die er als Souverän gibt, seine
Ordnung empfängt, und eine kompakte, nach außen wie innen wirk-
same Macht, insofern er auf andere politische Körper trifft, von denen er
sich unterscheidet, mit denen er kooperiert, gegen die er sich behauptet.
Die Citoyens sind als Sujets den Gesetzen des Staates unterworfen, die
sie in corpore als Souverain verfügt haben.16 In der Doppelcharakterisie-
rung des Bürgers findet die doppelte Verpflichtung ihren Niederschlag,
die jeder Kontrahent durch den acte d’association mit sich selbst eingeht.
Als Mitglied des Souveräns ist der Kontrahent gegenüber dem Einzelnen
und als Mitglied des Staates ist er gegenüber dem Souverän verbunden.
Im Unterschied dazu bleibt der Souverän gegenüber sich selbst unver-
bunden, denn «es ist gegen die Natur des politischen Körpers, daß der
Souverän sich ein Gesetz auferlegt, das er nicht übertreten kann». Inso-
weit ist er in der Lage, in der sich der Einzelne befindet, der einen Vertrag
mit sich selbst schließt: Er kann ihn, anders als Verträge, die er mit ande-
ren eingeht, aus eigener Befugnis wieder aufheben. Daß es «keinerlei Art
von verbindlichem Grundgesetz» für den Souverän, für das Volk bei der
vertragsgemäßen Ausübung der höchsten Gewalt geben kann, «nicht
einmal den gesellschaftlichen Vertrag», folgt aus dem contrat social und
besiegelt die Gründung eines Kollektivsubjekts, das Anspruch darauf zu
erheben weiß, die alleinige Quelle des Rechts zu sein.17 Die Gründung

15 I, 6, 10 (361–362).
16 I, 6, 10 (362); cf. die präzisierte Formulierung in III, 13, 5 (427).
17 I, 7, 2 (362–363); cf. II, 12, 2 (393–394); III, 18, 9 (436).

– 162 –
des politischen Körpers ist schlechterdings nicht übereinzubringen mit
einem Zustand, in dem der Einzelne nur sich selbst gehorchte und so
frei bliebe, wie er das ohne seine politische Zugehörigkeit wäre. Wenn
der Anwalt des Vertrags betont, daß der Kontrahent eine doppelte Ver-
pflichtung mit sich selbst eingeht, so läßt der Philosoph keinen Zweifel
daran, daß der Bürger diese Verpflichtung mit sich als Souverän und als
Untertan eingegangen ist, in Funktionen, die durch den politischen
Körper definiert werden. Der Bürger steht aber nicht nur in der Wech-
selbeziehung von Souverän und Untertan. Als Teil des Souveräns trägt
er darüber hinaus, wie wir gesehen haben, die Doppelcharakterisierung,
membre, Mitglied einer Versammlung und membre, Glied eines Körpers
zu sein, einer Versammlung, die alle Bürger umfaßt und nach Stimmen
zählt, und eines Körpers, der sie in ein gemeinsames Ich einbegreift, sein
eigenes Leben führt und einen besonderen Willen hat. Während Rous-
seau die Doppelcharakterisierung des Bürgers als Souverän und Unter-
tan expliziert, unterläßt er dies bei der Doppelcharakterisierung, die in
der Zugehörigkeit zu einer Versammlung und zu einem Körper liegt. Er
hält sie durch die doppeldeutige Rede von membre vielmehr bis zu
einem gewissen Grade bedeckt oder in der Schwebe. Für das angemes-
sene Verständnis seiner Lehre der Prinzipien des politischen Rechts und
insonderheit der volonté générale ist die zweite Doppelcharakterisie-
rung des Bürgers indes von entscheidender Bedeutung. Das bezeugt in
ihrer Weise die «individualistische» Lesart, die sich auf die Zugehörig-
keit zu einer Versammlung beruft, ebenso wie die «holistische» Lesart,
die die Zugehörigkeit zu einem Körper dagegenhält. Wenn die Dop-
pelcharakterisierung nicht gedacht wird, bleiben die vielbemühten
«Paradoxe» Rousseaus unaufgelöst. Wenn sie gedacht wird, erübrigt sich
auch die Beschwörung mystischer Traditionen, um die Konzeption der
volonté générale zu erfassen.
Die Bürger sind nur in corpore, nicht als Einzelne souverän. Deshalb
steht in der einen der beiden Doppelcharakterisierungen der souverain
im Singular den sujets im Plural gegenüber. Damit der Wille des Souve-
räns sich manifestieren kann, bedarf es der Versammlung der Bürger.
Der Wille des Souveräns wird aber nur manifest, wenn die Bürger in der
Versammlung als Bürger, nicht als Privatpersonen, sondern als Glieder
des corps politique, abstimmen. Darauf weist die andere der beiden
Doppelcharakterisierungen hin. Nach den Prinzipien des politischen
Rechts ist die Volksversammlung das höchste Organ des politischen

– 163 –
Körpers. Es kann durch nichts und niemanden rechtmäßig zur Disposi-
tion gestellt werden. Der Aufgabe, die ihm der gesellschaftliche Vertrag
zuweist, vermag es jedoch nur in dem Maße gerecht zu werden, in dem
sich seine Mitglieder mit dem moi commun identifizieren, dem sie zuge-
hören, und die Sache des Ganzen, dessen Teil sie sind, als ihre Sache be-
greifen. Der Anwalt, der um die Zustimmung der real existierenden
Bürger wirbt, hebt nicht in jedem Fall die grundlegende «Veränderung»
hervor, die der Vertrag verlangt.18 Der Souverän des Contrat social setzt
den Bürger im eminenten Sinn voraus, der seinerseits eine Reihe von
politischen, institutionellen, ökonomischen Bedingungen zur Voraus-
setzung hat. Erst im Licht dieser Voraussetzung enthüllt sich der nor-
mative Sinn der berühmten Aussage des 7. Kapitels, die Sein und Sollen
des Souveräns in eins setzt: «Der Souverän ist allein dadurch, daß er ist,
immer alles, was er sein soll.» Denn der Souverän ist nur, wenn der allge-
meine Wille spricht und die Leitung hat. Das Problem des Souveräns,
daß der Wille des Bürgers und der Wille des Einzelnen nicht deckungs-
gleich sind, verhandelt Rousseau bezeichnenderweise anhand der Ver-
bindlichkeiten, die die sujets gegenüber dem souverain, im Hinblick auf
die Pflichten, die die Untertanen innerhalb des politischen Körpers zu
erfüllen haben. An der zweiten Stelle, an der Rousseau im Buch von der
volonté générale spricht, und bei der ersten Erwähnung, nachdem er
den Begriff in der Vertragsformel eingeführt hat, stellt er fest, daß «jedes
Individuum als Mensch einen besonderen Willen haben kann, der dem
allgemeinen Willen entgegengesetzt oder unähnlich ist, den es als Bür-
ger hat.» Der Bürger ist comme citoyen Träger der volonté générale, aber
er geht nicht darin auf, Glied des politischen Körpers zu sein; vielmehr
bleibt er ein selbständiges, ein physisches, ein natürliches Wesen, dessen
Interesse sehr wohl dem gemeinsamen Interesse und den Pflichten wi-
derstreiten mag, die ihm der auf Konvention gegründete corps moral et
collectif ansinnt. Wenn er die Rechte des Bürgers genießen wollte, ohne

18 Etwa wenn er sagt: «Or le Souverain n’étant formé que des particuliers qui le
composent n’a ni ne peut avoir d’intérêt contraire au leur; par conséquent la
puissance Souveraine n’a nul besoin de garant envers les sujets, parce qu’il est
impossible que le corps veuille nuire à tous ses membres, et nous verrons ci-après
qu’il ne peut nuire à aucun en particulier. Le Souverain, par cela seul qu’il est, est
toujours tout ce qu’il doit être.» I, 7, 5 (363); cf. I, 9, 6 (367); II, 1, 1 (368) und II, 3, 2
(371); beachte II, 3, 2 note (371) und IV, 1, 4–6 (438).

– 164 –
die Pflichten des Untertanen zu erfüllen, wäre das eine Ungerechtigkeit,
deren Umsichgreifen den Ruin des politischen Körpers zur Folge hätte.
Zu solcher Ungerechtigkeit – es ist das einzige Mal, daß Rousseau in
Buch I von Ungerechtigkeit spricht – kann der Einzelne sich verleiten
lassen, wenn er im Kontrast zur Evidenz seiner «absoluten und von Na-
tur aus unabhängigen Existenz» die juristische Person des Staates, «da
sie kein Mensch ist», als ein être de raison, ein allein aus Vernunft gebo-
renes, imaginäres Wesen betrachtet. Dem Problem der Untertanen,
ihrer Ungerechtigkeit oder mangelnden Rechtstreue, begegnet die Ge-
walt, Stärke, Kraft, die der Vertrag dem Staat überträgt, wodurch er ihm
zu realer Präsenz verhilft. Denn der gesellschaftliche Vertrag enthält
stillschweigend, d. h. notwendig, die Verpflichtung, «daß wer immer
sich weigert, dem allgemeinen Willen zu gehorchen, vom ganzen Kör-
per dazu gezwungen wird.» Der Anwalt fährt erläuternd fort: «was
nichts anderes bedeutet, als daß er gezwungen wird, frei zu sein.» Die
bürgerliche Freiheit beruht im Unterschied zur natürlichen Freiheit auf
Übereinkunft und auf Zwang. Daß der politische Körper den Gehor-
sam gegenüber der volonté générale nötigenfalls erzwingt, ist die Bedin-
gung der Freiheit seiner Glieder, die darin besteht, keiner anderen als
der durch den Souverän, die Versammlung der Bürger, verfügten Auto-
rität zu Gehorsam verpflichtet zu sein. Es ist außerdem die Bedingung
der Freiheit, die die Bürger untereinander genießen, «denn es ist diese
Bedingung, die, indem sie jeden Bürger dem Vaterland gibt, ihn vor aller
persönlichen Abhängigkeit bewahrt». So kann Rousseau von der Ge-
walt, die den Gehorsam oder die Unterordnung der volonté particulière
des Untertanen unter die volonté générale des Souveräns garantiert,
schließlich sagen, daß «sie allein die bürgerlichen Verbindlichkeiten
legitim macht, die ohne sie absurd, tyrannisch und den ungeheuersten
Mißbräuchen unterworfen wären». Wir sind ein weiteres Mal bei den
Ketten angelangt, mit denen das Buch beginnt.19
Mit dem Problem der Untertanen ist das Problem des Souveräns
noch nicht gelöst. Die Antwort, die die Prinzipien des politischen
Rechts für den einen Fall bereithalten, taugt offenkundig nicht für den
anderen. Die Einrichtung einer legitimen Zwangsgewalt kann der Un-
gerechtigkeit der Untertanen wehren; sie kann nicht die Gerechtigkeit
der Mitglieder des Souveräns sichern. Da der Souverän die höchste Ge-

19 I, 7, 6–8 (363–364); cf. II, 4, 8 (375); II, 5, 2 (376) und beachte II, 12, 3 (394).

– 165 –
walt innehat, gibt es keinen Garanten, der gewährleisten könnte, daß
der Bürger sich in der Volksversammlung von der volonté générale be-
stimmen läßt und ihr seine volonté particulière unterordnet. Die Sank-
tion, der der Souverän unterliegt, ist der Tod des politischen Körpers
oder die Auflösung des gesellschaftlichen Vertrags. Der Anwalt des
Vertrags verweist auf die Sicherung, die die doppelte Allgemeinheit des
Souveräns bedeutet: Da der Souverän allgemein ist, insofern er alle Bür-
ger umfaßt, und da er seinen Willen ausschließlich in allgemeinen
Gesetzen erklärt, denen alle Mitglieder des Souveräns als Untertanen
unterworfen sind, kann der Souverän keinen Bürger bevorzugen oder
benachteiligen, mehr belasten oder weniger entlasten wollen.20 Daß die
volonté générale des Bürgers und die volonté particulière des Einzelnen
nicht deckungsgleich sind, scheint demnach im Falle der Mitglieder der
Volksversammlung folgenlos zu bleiben. Es bliebe freilich nur dann fol-
genlos, wenn (1) die Gesetze nicht nur für alle gälten, sondern alle auch
im gleichen Maße beträfen oder wenn (2) der allgemeine Wille sich darin
erschöpfte, die Schnittmenge der auseinanderstrebenden besonderen
Willen zu sein. Die erste Annahme setzte voraus, daß die konventio-
nelle Gleichheit, die der Vertrag herstellt, die natürliche Ungleichheit
bedeutungslos machte, daß die Bürger sich hinsichtlich ihrer Leistungs-
fähigkeit und ihrer Bedürftigkeit nicht unterschieden oder daß Unter-
schiede etwa an Kraft oder an Genie für den politischen Körper ohne
Belang wären.21 Die zweite Annahme erlaubte es, eine Assoziation von
Einzelnen auf der Basis verallgemeinerbarer Partikularinteressen zu-
stande zu bringen, nicht aber zu einer Polis oder Republik zu kommen,
in der Bürger ein politisches Leben führen und sich in Rücksicht auf ein
von ihnen als sinnvoll bejahtes Ganzes verstehen können. Deshalb
macht Rousseau die volonté générale zum Scharnier eines Vertrags, der
Einzelne zu Bürgern verbindet, und zur zentralen Bestimmung eines
politischen Körpers, der jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen
aufnimmt. Der Philosoph gibt dem Leser zu verstehen, daß die Figur
der doppelten Allgemeinheit nicht hinreicht, um den politischen Kör-
per der Leitung der volonté générale zu unterstellen und Sein und Sol-
len des Souveräns zur Deckung zu bringen. Die doppelte Allgemeinheit

20 I, 7, 5 (363); II, 4, 5–8 (373–375); II, 6, 5 (379).


21 Cf. I, 9, 8 (367); II, 4, 10 (375); II, 5, 2 (376). Beachte II, 6, 6 (379); III, 5, 4–7
(406–407).

– 166 –
des Souveräns, daß sowohl das Subjekt des Willens als auch die Materie,
über die er entscheidet, allgemein sei, ist ein notwendiges Prinzip des
politischen Rechts. Aber damit die volonté générale sich aussprechen
kann, ist darüber hinaus erforderlich, daß die Mitglieder des Souveräns
comme citoyens abstimmen, daß sie sich die Frage vorlegen, ob ihre Ent-
scheidung «für den Staat vorteilhaft ist», daß sie ihren Willen am bien
public, am bien commun, am bien général ausrichten.22 Denn der allge-
meine Wille ist nicht nur nach Subjekt und Materie, er ist zuallererst
seinem Ziel nach allgemein: Er geht stets auf das allgemeine Gute des
politischen Körpers. Die Konzeption der volonté générale baut auf das
Interesse und auf die Gerechtigkeit des Bürgers. Sie ist der Versuch, ein
strenges Postulat des Rechts mit einer substantiellen Orientierung der
Politik zu verschränken. Daraus, daß Rousseau beide Stränge verfolgt,
erklärt sich die Abhebung der volonté générale vom empirischen Willen
der Versammlung, sein Beharren auf «Charakteristika», die es ihm er-
lauben, davon zu sprechen, daß die volonté générale in der Abstimmung
«verfehlt» wird, daß Mitglieder des Souveräns sie «umgehen» und daß
sie am Ende «verstummt», ohne daß sie jemals «vernichtet» oder «kor-
rumpiert» würde, solange der politische Körper sich im Leben erhält;
daß sie «immer feststehend, unveränderlich und rein» ist, jedoch ande-
ren Willen «untergeordnet» werden kann, die über sie «die Oberhand
gewinnen».23 Rousseaus Aussage, die volonté générale sei toujours
droite, die viel Anstoß erregt hat und es darauf anlegte, Anstoß zu erre-
gen, verweist auf keine mystische Wesenheit, der Unfehlbarkeit eignete.24

22 I, 5, 1 (359); I, 7, 7 (363); II, 1, 1 (368); II, 4, 8 (375); IV, 1, 5–6 (438).


23 IV, 1, 5–6 (438); IV, 2, 4 (440); IV, 2, 8–9 (440–441).
24 Um eine verwandte Mißdeutung aufzuklären, sei angemerkt, daß es sich bei der
volonté générale ebensowenig um eine für sich bestehende Entität handelt, die mit
einer anderen Entität, genannt volonté de tous, im Streit läge. Die volonté générale
ist in der Konzeption des Contrat social ein tragender Begriff, der den Willen des
corps politique bezeichnet. Der Wille des corps politique geht auf den bien public. Er
wird vom corps politique in dessen höchster Aktivität als souverain ausgeübt (I, 5, 1;
I, 6, 9; I, 6, 10). Zu seiner Manifestation bedarf er einer assemblée, in der er sich als
volonté du corps du peuple aussprechen kann (I, 6, 10; II, 2, 1). Seine Träger sind die
Mitglieder des Souveräns, wenn sie comme citoyens ihren Willen am bien public, am
Guten des politischen Körpers, ausrichten (I, 7, 7; IV, 1, 5; IV, 1, 6). Rousseau
verwendet den Begriff in den Überschriften zweier Kapitel: «Si la volonté générale
peut errer» (II, 3) und «Que la volonté générale est indestructible» (IV, 1). Die
volonté générale hat in der «volonté de tous» keinen Gegenbegriff. Rousseau

– 167 –
Sie rechnet auch nicht mit einer Qualität, die den Menschen als Men-
schen in den Stand setzte, das Rechte untrüglich zu treffen, sei es ver-
möge seiner Verallgemeinerungsfähigkeit, die ihm das Rechte vor-
schriebe, sei es vermöge seines Gewissens, das ihm das Rechte vorsag-
te.25 Sie hat den Sinn, die notwendige Gerichtetheit des politischen Kör-
pers auf das eigene Gute herauszustellen, das in bezug auf die Bürger ein
allgemeines, in bezug auf das Gemeinwesen selbst ein besonderes ist. Sie
folgt dem Platonischen Satz, daß jeder für sich immer das Gute will, was
nicht heißt, daß er das Gute für sich immer erkennt.26 In Rousseaus

spricht im gesamten Traktat zweimal von «volonté de tous». Einmal betont er die
Bestimmung des allgemeinen Willens, nur auf das gemeinsame Interesse gerichtet
zu sein, während der Wille aller, als einzelner, auf das Privatinteresse gerichtet und
nur die Summe der besonderen Willen sei. Soweit das gemeinsame Interesse mit
dem Privatinteresse zusammenfällt, kann der allgemeine Wille mit dem Willen aller
zusammenstimmen (II, 3, 2). An der anderen Stelle ist von der Situation die Rede, in
der das gesellschaftliche Band sich zu lockern und der Staat seine Stärke einzubüßen
beginnt, so daß Partikularinteressen an Einfluß gewinnen. Dann herrsche bei der
Abstimmung in der Volksversammlung keine Einmütigkeit mehr, und der allge-
meine Wille sei nicht mehr der Wille aller (IV, 1, 4). Cf. den Sprachgebrauch in der
Première version I, 7, 3, p. 310 und in den Lettres écrites de la montagne VI, 19, OCP
III, p. 807.
25 Rousseaus politische Konzeption der volonté générale widerspricht Diderot,
der die Menschheit zum Subjekt eines allgemeinen Willens erhoben hatte, um aus
der volonté générale de l’espèce ein Moralprinzip zu gewinnen, das den Menschen
als Menschen verpflichtete: «C’est à la volonté générale que l’individu doit
s’adresser pour savoir jusqu’où il doit être homme, citoyen, sujet, père, enfant, et
quand il lui convient de vivre ou de mourir. C’est à elle à fixer les limites de tous les
devoirs. Vous avez le droit naturel le plus sacré à tout ce qui ne vous est point
contesté par l’espèce entière. C’est elle qui vous éclairera sur la nature de vos pensées
et de vos désirs. Tout ce que vous concevrez, tout ce que vous méditerez, sera bon,
grand, élevé, sublime, s’il est de l’intérêt général et commun.» Diderot machte
geltend, «que la volonté générale est dans chaque individu un acte pur de l’enten-
dement qui raisonne dans le silence des passions sur ce que l’homme peut exiger de
son semblable, et sur ce que son semblable est en droit d’exiger de lui». Und er
nahm die Gewißheit des Prinzips der Verallgemeinerung für sich in Anspruch,
wenn er versicherte, daß «des deux volontés, l’une générale, et l’autre particulière, la
volonté générale n’erre jamais». Droit naturel VII und IX, in Denis Diderot: Œuvres
complètes (OC). Paris 1975 ff., VII, p. 28–29.
26 «Il s’ensuit de ce qui précede que la volonté générale est toujours droite et tend
toujours à l’utilité publique: mais il ne s’ensuit pas que les déliberations du peuple
aient toujours la même rectitude. On veut toujours son bien, mais on ne le voit pas

– 168 –
Aussage findet das Resultat der Hermeneutik des politischen Lebens
seinen Ausdruck, daß die Bürger als Bürger der Wille eint, den Nutzen
des Gemeinwesens zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Des-
halb kann Rousseau mit Bestimmtheit feststellen, daß die volonté géné-
rale nicht zweifelhaft ist, wenn im Augenblick höchster Gefahr die Exi-
stenz des Gemeinwesens auf dem Spiel steht. Der Ernstfall zeigt in
größter Klarheit, worauf die volonté générale geht und was ihre Maß-
gabe ist.27
Um den politischen Körper der Leitung des allgemeinen Willens zu
unterstellen, tun Bürger not, die als Untertanen den Gesetzen gehor-
chen und die als Mitglieder des Souveräns dem Gemeinwohl den Vor-
zug geben. Da der Souverän keiner Gewalt untersteht, kann die Lücke
zwischen der Forderung der volonté générale und den Ansprüchen der
volonté particulière nur dadurch geschlossen werden, daß der Bürger
sein Gutes im Guten des politischen Körpers sieht oder es im Dienst am
gemeinsamen Guten zu erreichen hofft. Was not tut, ist mithin die
Liebe, die Tugend oder der Glaube des Bürgers: Der amour de la patrie,
die Liebe zum Vaterland, die Rousseau als eine Erweiterung des amour
de soi, der Selbstliebe, begreift. Die Stärke oder Überwindung, seine
Pflicht zu erfüllen, und die Selbstbewunderung oder die Genugtuung,
die der amour-propre, die Eigenliebe, aus der Erhebung zur Tugend ge-
winnt. Die Überzeugung, Teil eines größeren Ganzen zu sein, das der
Hingabe würdig ist und von dem her sich die eigene Würdigkeit bemißt,
ein Glaube, der im amour de soi und im amour-propre seine Resonanz
hat. Um der Liebe, der Tugend und dem Glauben des Bürgers Form,
Nahrung, Halt zu geben, tun gute Gesetze, eine öffentliche Erziehung
und politische Institutionen not, die das gesellschaftliche Band festigen,
sozialen Ungleichheiten entgegenwirken, ökonomischen Verwerfun-
gen steuern und das «geheiligte Recht» der Ordnung des Gemeinwe-
sens in der Erfahrung des tätigen Lebens verankern. Da souverain und

toujours» II, 3, 1 (371). Davor argumentiert Rousseau bereits: «il ne dépend d’aucune
volonté de consentir à rien de contraire au bien de l’être qui veut» II, 1, 3 (369). Cf. II,
4, 5 (373) und II, 6, 10 (380).
27 «… en pareil cas la volonté générale n’est pas douteuse, et il est évident que la
premiere intention du peuple est que l’Etat ne périsse pas.» IV, 6, 4 (456). Es ist die
zweitletzte Stelle, an der Rousseau im Contrat social von der volonté générale
spricht.

– 169 –
sujet «identische Korrelationen» des Bürgers bezeichnen, der, auch
wenn er in unterschiedlichen Rücksichten betrachtet wird, Einer
bleibt,28 betreffen die Voraussetzungen, auf die das Problem des Souve-
räns verweist, die Untertanen nicht minder. Tatsächlich ist Rousseau
weit davon entfernt, sich mit der Garantie der Zwangsgewalt zufrieden-
zugeben, die die Prinzipien des politischen Rechts für die Lösung des
Problems der Untertanen bereithalten. Im Verfassungsentwurf für Po-
len wird er die politische Aufgabe später auf die Formel bringen, es gehe
darum, daß «das Gesetz über die Herzen der Bürger herrscht».29 Wenn
die Unterordnung der volonté particulière unter die volonté générale
beim Bürger in seiner Eigenschaft als Untertan nur durch Zwang gesi-
chert wäre, spräche wenig dafür, daß sie sich beim selben Bürger in seiner
Eigenschaft als Mitglied des Souveräns zwanglos ergäbe. Was not tut, um
den politischen Körper der Leitung des allgemeinen Willens zu unter-
stellen, ist, mit anderen Worten, ein wohlgeordnetes Gemeinwesen oder
das, was Rousseau im unmittelbaren Anschluß an seine Exposition der
Prinzipien des politischen Rechts als weise institution, Einrichtung oder
Gründung, Verfassung, aber auch Unterweisung, verhandelt. Es gehört
zur Weisheit von Rousseaus institution, daß sie es den Bürgern anheim-
stellt, ihr im Bewußtsein ihrer Freiheit zuzustimmen und, getragen vom
Stolz, nur sich selbst zu gehorchen, den Dienst an der Republik zu ihrer
Sache zu machen.

28 «… l’essence du corps politique est dans l’accord de l’obéissance et de la liberté,


et … ces mots de sujet et de souverain sont des corrélations identiques dont l’idée se
réunit sous le seul mot de Citoyen». III, 13, 5 (427).
29 «Il n’y aura jamais de bonne et solide constitution que celle où la loi régnera sur
les cœurs des citoyens. Tant que la force législative n’ira pas jusques là, les loix
seront toujours éludées.» Considérations sur le gouvernement de Pologne I, 6, OCP
III, p. 955. Cf. Projet de constitution pour la Corse, OCP III, p. 950.

– 170 –
II

Der Philosoph, der die Prinzipien des politischen Rechts aus der Natur
des gesellschaftlichen Vertrags entwickelt, demonstriert die Notwen-
digkeit seiner Erkenntnis für das legitime Gemeinwesen ad oculos. Die
Erkenntnis des Philosophen hat aber außerdem einen besonderen Ort
und einen prominenten Platzhalter im Gefüge des Contrat social selbst.
Die Fragen, die sich stellen, sobald die Bestimmung der volonté géné-
rale gedacht und auf ihre politischen Voraussetzungen hin untersucht
wird, die Fragen, woher die guten Gesetze kommen, deren es bedarf,
um die Bürger gute Gesetze geben zu lassen, wer die Erzieher erziehen,
wer die Einrichtungen einrichten wird, die die Bürger zu Bürgern im
Sinne der Prinzipien machen, wie, in summa, das wohlgeordnete Ge-
meinwesen geschaffen werden kann, das die Bedingung dafür ist, daß
die volonté générale ihr Ziel erreicht, und das doch nicht wohlgeordnet
zu sein vermag, wofern es nicht der Leitung der volonté générale un-
tersteht, alle diese Fragen münden in das siebte Kapitel des zweiten
Buches «Du Législateur». Die Weisheit betritt dort die politische
Bühne, um der Ratlosigkeit zu begegnen, vor die die Lehre der Prinzi-
pien des politischen Rechts den Leser geführt hat. Rousseau bereitet
die Wendung im zehnten und letzten Absatz des zehnten und letzten
Kapitels des Teils über die Prinzipien vor. Am Ende von Kapitel II , 6
«De la loi», in dem er das Gesetz in aller Form als den Akt des allgemei-
nen Willens definiert, kommt er noch einmal darauf zu sprechen, daß
das Volk immer das Gute für sich will. Er ruft die platonische Prämisse
der Doktrin des allgemeinen Willens in Erinnerung und steuert ohne
Umschweife auf das politische Problem par excellence zu, das darin
besteht, den Willen am Wissen des Guten auszurichten, ihn sehend zu
machen, ihm Augen einzusetzen, ihm zu dem Urteil zu verhelfen und
die Aufklärung zuteil werden zu lassen, die er in Rücksicht auf seinen
Zweck nötig hat. «Wie sollte eine blinde Menge, die oft nicht weiß, was
sie will, weil sie selten weiß, was gut für sie ist, von sich aus ein so gro-
ßes, so schwieriges Unternehmen wie ein Gesetzgebungssystem aus-

– 171 –
führen? Von sich aus will das Volk immer das Gute, aber es erkennt es
nicht immer von sich aus. Der allgemeine Wille ist immer recht, aber
das Urteil, das ihn leitet, ist nicht immer aufgeklärt. Man muß ihn die
Gegenstände so sehen lassen, wie sie sind, manchmal so, wie sie ihm
erscheinen sollen.» Der politische Körper ist darauf angewiesen, daß
sich der Verstand mit dem Willen verbindet. Er bedarf der Leitung
durch die Einsicht. «Die Einzelnen sehen das Gute, das sie verwerfen;
die Öffentlichkeit will das Gute, das sie nicht sieht. Alle bedürfen glei-
chermaßen der Führer: Die einen muß man verbinden, ihre Willen
ihrer Vernunft anzupassen; die andere muß man lehren zu erkennen,
was sie will.» Die Darstellung der Prinzipien des politischen Rechts in
den Kapiteln I, 6 – II , 6 endet mit einem unverhohlenen Plädoyer, daß
die Erkenntnis die Führung im Gemeinwesen übernehmen muß, und
sie schließt mit dem Satz: «Voilà d’où naît la nécessité d’un Légis-
lateur.»30
«Du Législateur» ist das philosophisch gewichtigste Kapitel der
Schrift. Es legt das politische Problem in sieben Probleme auseinander,
die so ineinandergreifen, daß das letzte Glied der Kette sich mit dem
ersten zusammenschließt. Die Kette im ganzen betrifft das Verhältnis
des Philosophen zur Politik.31 An die Spitze stellt Rousseau das Pro-
blem des wohltätigen oder fürsorgenden Gottes (I). Um die besten Re-
geln herauszufinden, die für die Nationen, d. h. für die verschiedenen,
jeweils besonderen politischen Gesellschaften, geeignet sind, täte une
intelligence supérieure not. Es bedürfte einer überlegenen Einsicht, die
Rousseau durch die drei folgenden Bestimmungen der menschlichen
Reichweite entrückt und als die Einsicht eines Gottes erscheinen läßt:
Einer höheren Intelligenz, (1) «die alle Leidenschaften der Menschen
sähe und keine von ihnen empfände», (2) «die in keiner Verbindung zu

30 II, 6, 10 (380). Siehe auch II, 3, 4 (372).


31 Rousseau übt im Contrat social wie in seinen anderen Schriften Zurückhaltung
bei der positiven Rede vom Philosophen und weicht statt dessen auf le sage oder le
génie aus, um Verwechslungen mit den Philosophen à la mode vorzubeugen. In II,
7, 11 (384) setzt er sich ausdrücklich von der «orgueilleuse philosophie» der
Philosophes ab. Es ist die einzige Verwendung von philosophie im Contrat social.
Jeweils einmal kommt außerdem philosophique, philosophe und philosopher vor: I,
8, 3 (365); IV, 8, 13 (463); IV, 8, 32 note (468). Siehe dazu meine Schrift Über das
Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus «Rêveries» in zwei
Büchern. München 2011, p. 123–130 mit n. 62.

– 172 –
unserer Natur stünde und sie von Grund auf kännte», (3) «deren Glück
von uns unabhängig wäre und die sich dennoch mit dem unseren be-
schäftigen wollte». Die Kriterien, die den gesuchten Gesetzgeber als
einen Gott ausweisen,32 stellen das Problem des göttlichen Gesetzge-
bers scharf heraus. Er soll zum Guten der Menschen tätig werden, ohne
daß ihn ein gemeinsames Gutes mit ihnen verbände. Um die Kluft zu
überbrücken, führt Rousseau, dem Beispiel Machiavellis folgend, den
Lohn des Ruhmes ein, ein Ruhm, der für den Gesetzgeber, wie Rous-
seau erläutert, allerdings erst weithin sichtbar erstrahlt, wenn die Ge-
setzgebung sich bereits im Niedergang befindet oder der Vergangenheit
angehört. So lautet die letzte Bestimmung zur Charakterisierung der in
Rede stehenden höheren Intelligenz: (4) «die schließlich, indem sie sich
mit dem Fortschritt der Zeiten einen weit entfernten Ruhm verschaffte,
in einem Jahrhundert arbeiten und in einem anderen genießen könnte».33
Aber wäre die Aussicht auf eine gloire éloignée für die überlegene Ein-
sicht eines Gottes oder eines Philosophen ein hinreichender Grund, um
sich auf das Werk der Gesetzgebung einzulassen?34 Wenn es für die Ein-
richtung des Volkes einer höheren Intelligenz bedürfte, ist damit das

32 Beachte III, 6, 16 (413) und cf. Über das Glück des philosophischen Lebens,
p.  91–101 und 335.  – Während Rousseau in II, 7, 1 (381) von une intelligence
supérieure im Singular spricht, geht er im letzten Satz des Absatzes zum Plural
über: «Il faudroit des Dieux pour donner des loix aux hommes.» In der Première
version hatte er dagegen den Singular beibehalten: «En un mot, il faudroit un Dieu
pour donner de bonnes loix au genre humain» II, 2, 1, p. 312–313. Der Wechsel in
den Plural Dieux in II, 7, 1 stellt die Verbindung zu den wichtigen Erwähnungen
von Dieux in I, 2, 6 (353) und IV, 8, 1 (460) her, die in der Première version ohne
Vorläufer sind.
33 Die vierte Bestimmung findet sich in der Première version noch nicht, während
die ersten drei Bestimmungen dort jeweils ihre Vorläufer haben: II, 2, 1, p. 312. –
Wenn der Korse Mathieu Buttafoco Rousseau 1764 auffordert, als Législateur
Korsika eine Verfassung zu geben, greift er, um Rousseau für die Aufgabe zu
gewinnen, drei der vier Bestimmungen wörtlich auf, die Rousseau zur Charak-
terisierung der intelligence supérieure anführt, und wendet sie, mit den angezeigten
Anpassungen, auf ihn an. Le capitaine Mathieu Buttafoco à Rousseau, 31. August
1764, Correspondance complète de Jean Jacques Rousseau. Edition critique, établie
et annotée par R. A. Leigh. Genf–Banbury–Oxford 1965–1998, 52 Bände (=CC),
CC XXI, p. 85–86.
34 Beachte Leo Strauss: The Argument and the Action of Plato’s «Laws». Chicago
1975, II, 12, p. 29 und siehe Über das Glück des philosophischen Lebens, p. 231–235.

– 173 –
Problem des Ursprungs (II) bezeichnet. Die legitime Einrichtung, die
auf dem gesellschaftlichen Vertrag beruht, setzt eine weise Gründung
voraus, deren außerordentliche Seltenheit Rousseau betont, oder eine
geschichtliche Vorbereitung, die eine Ordnung im Einklang mit den
Prinzipien des politischen Rechts allererst ermöglicht. Der «Mechani-
ker, der die Maschine erfindet», unterliegt nicht deren Prägekraft, und
die Einsicht des Gründers, der es obliegt, aus Menschen Bürger zu er-
schaffen, wird nicht durch Übereinkunft hervorgebracht.35 Die Ver-
wandlung des Einzelnen in ein Glied des politischen Körpers, die der
gesellschaftliche Vertrag zum Gegenstand hat, verlangt eine umfassen-
dere Änderung, als die Auslegung des Contrat social zunächst zu erken-
nen gibt. Das Problem der anthropologischen Transformation des Bür-
gers (III) wird von Rousseau nirgendwo deutlicher ausgesprochen als in
der Beschreibung der Aufgabe, vor die er den Législateur gestellt sieht:
«Derjenige, der es zu unternehmen wagt, ein Volk einzurichten, muß
sich imstande fühlen, sozusagen die menschliche Natur zu ändern; jedes
Individuum, das an ihm selbst ein vollkommenes und solitäres Ganzes
ist, in einen Teil eines größeren Ganzen zu verwandeln, von dem dieses
Individuum in gewisser Weise sein Leben und sein Sein erhält; die Ver-
fassung des Menschen zu verschlechtern, um sie zu verstärken; eine par-
tielle und moralische Existenz an die Stelle der physischen und unab-
hängigen Existenz zu setzen, die wir alle von der Natur erhalten haben.
Er muß dem Menschen, mit einem Wort, seine eigenen Kräfte nehmen,
um ihm welche zu geben, die ihm fremd sind und von denen er keinen
Gebrauch machen kann ohne die Unterstützung anderer.»36 Die alié-
nation totale, die Bestimmung, auf die Rousseau im Kapitel «Du pacte
social» alle anderen Bestimmungen des gesellschaftlichen Vertrags zu-
rückgeführt hat, erschöpft sich nicht im Akt der Entäußerung sämt-
licher Rechtsansprüche und Rechtsvorbehalte zugunsten des politi-
schen Körpers, sondern verweist auf das Erfordernis eines noch tieferen
Eingriffs in die Verfassung des Menschen.37 Problem III liegt Problem II

35 II, 7, 2 (381).
36 II, 7, 3 (381–382); cf. I, 6, 6 (360); II, 4, 5 (373); III, 2, 7 (401); ferner Émile ou de
l’éducation I, OCP IV, p. 248–249.
37 Bei der Formulierung «d’altérer la constitution de l’homme»in II, 7, 3 ist zu
beachten, daß Rousseau altérer in seinen Schriften durchweg im Sinne von «zum
Schlechteren verändern», «verderben» oder «entstellen», und nicht im neutralen

– 174 –
zugrunde und erklärt den Vorrang von Problem  I. Die Einrichtung
eines Volkes bedarf des wohltätigen Gesetzgebers, der über eine zurei-
chende Erkenntnis der Natur des Menschen und der Natur des politi-
schen Körpers verfügt. Eines Gründers, der sein Werk beginnt, im Wis-
sen der Notwendigkeiten, denen es unterworfen ist. Eines Weisen, der
sich keiner Illusion hingibt, die Spannung zwischen der auf Konvention
beruhenden Gesellschaft und der Natur ließe sich jemals auflösen oder
durch die Kunst des Gesetzgebers dauerhaft bezwingen.
Die Prinzipien des politischen Rechts begründen die Notwendigkeit
eines Législateur, der in diesen selbst keinen Anhalt, einer überlegenen
Einsicht, die in der legitimen Ordnung keinen konstitutionellen Ort
hat. «Der Gesetzgeber ist in jeder Hinsicht ein außerordentlicher
Mensch im Staat. Wenn er es seinem Genie nach sein muß, so ist er es
nicht weniger seiner Verwendung nach.» Denn seine Stellung bzw. seine
Tätigkeit darf weder mit der magistrature noch mit der souveraineté
verwirrt werden. Sie «konstituiert die Republik», doch sie «geht nicht in
deren Konstitution ein». Der Législateur verfügt ausdrücklich weder
über die Befugnisse des Souveräns noch über die des Magistrats, d. h.
der Regierung. Der weise Gesetzgeber ist nicht Teil der Einrichtung,
aber die Einrichtung ist nicht wohlgeordnet ohne ihn. Durch nichts
zeigt Rousseau die unaufhebbare Spannung zwischen Politik und Phi-
losophie deutlicher an als durch das Problem der extrakonstitutionellen
Stellung des Législateur (IV), als durch das Außerhalb und Oberhalb, in
dem er die Weisheit hält und beläßt. Zugleich erhellt er abermals einen
Aspekt des Problems des göttlichen Gesetzgebers (I), wenn er betont,
daß «derjenige, der über die Gesetze gebietet», nicht über die Menschen
gebieten darf, da der Gesetzgeber andernfalls der korrumpierenden
Wirkung der persönlichen Herrschaft ausgesetzt wäre und «niemals
vermeiden könnte, daß partikulare Gesichtspunkte die Heiligkeit seines
Werkes verdürben». Lykurg repräsentiert das deistische Modell. «Als
Lykurg», berichtet Rousseau, «seinem Vaterland Gesetze gab, legte er
zuerst die Königswürde nieder». Bei Plutarch steht außerdem zu lesen,
daß Lykurg die Polis verließ, die er eingerichtet hatte, um nie zurückzu-
kehren; nicht ohne zuvor den Bürgern den Eid abgenommen zu haben,

Verstande von «verändern» gebraucht. In der Première version hatte er sogar


geschrieben: «qu’il mutile en quelque sorte la constitution de l’homme pour la
renforcer» II, 2, 3, p. 313.

– 175 –
daß sie am Werk seiner Gesetzgebung ohne jede Änderung festhielten,
bis er wieder unter ihnen sei.38 Es kann freilich keine Rede davon sein,
daß der Législateur des Contrat social «über die Gesetze gebietet».
Rousseau besteht vielmehr darauf, daß «derjenige, der die Gesetze aus-
arbeitet», keinerlei droit législatif hat oder haben soll und daß «das Volk,
selbst wenn es wollte, sich dieses unübertragbaren Rechts nicht begeben
kann». Denn dem Vertrag zufolge vermag einzig die volonté générale
die Einzelnen zu verbinden, und daß eine volonté particulière mit der
volonté générale übereinstimmt, läßt sich sicher oder verpflichtend erst
feststellen, «nachdem man sie der freien Abstimmung des Volkes unter-
worfen hat.» Rousseau setzt hinzu: «Ich habe das schon gesagt, aber es
ist nicht unnütz, es zu wiederholen.» So erinnert er in der Mitte des
Kapitels «Du Législateur» noch einmal an den unverhandelbaren Kern
der Prinzipien und an das Grundproblem der Politik, daß die Einsicht
der Zustimmung des Volkes nicht entraten kann (V).39 Die Diskrepanz
zwischen der übermenschlichen Aufgabe (Probleme I, II und III) einer-
seits und der allein in seiner Weisheit begründeten, durch die Verfassung
nicht unterstützten und auf das Einverständnis der Vielen angewiese-
nen Autorität des Législateur (Probleme IV und V) andererseits40 wird
schließlich durch das Problem der Verständigung des Weisen mit den
Nichtweisen (VI) so verschärft, daß sie unüberbrückbar erscheint: «Les
sages qui veulent parler au vulgaire leur langage au lieu du sien n’en sau-
roient être entendus. Or il y a mille sortes d’idées qu’il est impossible de
traduire dans la langue du peuple.» Das Verständigungsproblem mit
dem Volk beruht einesteils auf der natürlichen Ungleichheit: «Die zu
allgemeinen Gesichtspunkte und die zu weit entfernten Gegenstände
sind gleichermaßen außerhalb seiner Fassungskraft». Andernteils ist es
geschichtlich bedingt: Die Einzelnen müßten durch die Verfassungge-
bung entscheidend geprägt, sie müßten bereits Bürger sein, um die poli-
tische Ordnung nicht nur nach Maßgabe ihrer Partikularinteressen
abzuschätzen und um die Entbehrungen, die ihnen gute Gesetze abver-
langen, bereitwillig auf sich zu nehmen (Problem III). Kurz: das Volk

38 II, 7, 4–5 (382). Plutarch: Lykurgos 29; cf. 3–5.


39 II, 7, 6–7 (382–383); cf. II, 1, 3 (368–369).
40 «Ainsi l’on trouve à la fois dans l’ouvrage de la législation deux choses qui
semblent incompatibles: une entreprise au dessus de la force humaine, et pour
l’éxécuter, une autorité qui n’est rien.» II, 7, 8, (383).

– 176 –
müßte das Werk der weisen Einrichtung sein, um die Einrichtung des
Weisen goutieren zu können (Problem II).41
Da der Législateur weder über Zwangsmittel gebietet, um seine Ein-
sicht beim Souverän durchzusetzen, noch seine Weisheit dem Volk in
der ihr gemäßen Sprache mitzuteilen vermag, da er sich bei seiner Auf-
gabe, das Volk so «einzurichten», daß die volonté générale sich aus-
spricht und zu ihrem Ziel gelangt, weder auf la force noch allein auf le
raisonnement stützen kann, steht er vor der «Notwendigkeit, daß er auf
eine Autorität anderer Ordnung zurückgreift» und sich einer Rhetorik
bedient, mit der er wenn nicht zu überzeugen, erfolgreich zu überreden
weiß. Damit sind wir beim Problem der erhebenden Rede oder der
edlen Lüge (VII) angelangt, das auf die sechs vorangegangenen Pro-
bleme antwortet. Die Notwendigkeit, der Gesetzgebung die Autorität
einer höheren, übermenschlichen Abkunft zu verleihen, «zwang die
Väter der Nationen von Alters her, auf die Intervention des Himmels
zurückzugreifen und die Götter mit ihrer eigenen Weisheit zu beehren».42
Die edle Lüge, von der Rousseau spricht, ohne sie beim Namen zu nen-
nen, betrifft nicht nur retrospektiv die göttliche Autorität, die die my-
thischen Gesetzgeber für sich in Anspruch nahmen (woraus ihre Ant-
wort auf die Probleme II, IV und VI erhellt); sie betrifft desgleichen den
Glauben, die Völker könnten den Gesetzen des Staates jemals so unter-
worfen sein, wie sie den Gesetzen der Natur unterworfen sind, und in
der Formierung des Gemeinwesens sei dieselbe Macht zu erkennen, die
in der Entwicklung des Menschen am Werk ist, Meinungen, die die Völ-
ker für wahr halten sollen, damit sie «in Freiheit gehorchen» können,
d. h. der Einsicht ihre Zustimmung nicht versagen, und «das Joch der
öffentlichen Glückseligkeit folgsam tragen» (worin die Antwort auf die

41 «Pour qu’un peuple naissant put goûter les saines maximes de la politique et
suivre les regles fondamentales de la raison d’Etat, il faudroit que l’effet put devenir
la cause, que l’esprit social qui doit être l’ouvrage de l’institution présidât à
l’institution même, et que les hommes fussent avant les loix ce qu’ils doivent devenir
par elles.» II, 7, 9 (383).
42 Die erste Verwendung von sagesse im Contrat social fällt mit der Verhandlung
der edlen Lüge, mit der Verwandlung menschlicher Weisheit in göttliche Autorität
zusammen. Rousseau führt die Berufung auf die Weisheit der Götter im zehnten
Absatz des zwölf Absätze umfassenden Kapitels ein, so wie Platon den Athenischen
Fremden die Berufung auf die kosmischen Götter im zehnten Buch der zwölf
Bücher umfassenden Nomoi einführen läßt.

– 177 –
Probleme III und V aufscheint).43 Mit dem «Joch der öffentlichen Glück-
seligkeit» hat Rousseau abermals die «Ketten» vom Beginn des ersten
Buches eingeholt. Und der Zwang, unter dem die großen Gesetzgeber
standen, ihre Weisheit zu verhüllen, indem sie sie den Göttern zuspra-
chen, führt uns zur gloire éloignée vom Anfang des Kapitels (Problem I)
zurück, deren Sinn jetzt in voller Schärfe hervortritt: die Aussicht des
weit entfernten Ruhms erfüllt sich für den grand Législateur erst in der
Einsicht, die die Weisheit in der Verhüllung seiner Weisheit erkennt. Die
höchste Anerkennung, die dem Gesetzgeber zuteil werden kann, liegt in
der Erkenntnis des Philosophen beschlossen, der das politische Problem
in seiner notwendigen Artikulation begreift, vom Problem des fürsor-
genden Gottes bis zum Problem der erhebenden Rede.
Im unmittelbaren Anschluß an die Exposition der sieben Probleme,
im elften und längsten Absatz des Kapitels, würdigt Rousseau den Ge-
setzgeber, wie ihn kein Philosoph seit Machiavelli würdigte. Da die rai-
son sublime, deren es zur Einrichtung und zur Aufrechterhaltung des
wohlgeordneten Gemeinwesens bedarf, die Fassungskraft der hommes
vulgaires übersteigt, legt der Législateur ihre Entscheidungen, die die
seinen sind, «in den Mund der Unsterblichen, um durch die göttliche
Autorität jene mitzureißen, die die menschliche Klugheit nicht zu er-
schüttern vermöchte.»44 Die erhabene Vernunft gebietet die erhebende

43 II, 7, 10 (383); beachte Projet de constitution pour la Corse, p. 950 (letztes


Fragment).
44 Rousseau fügt der Aussage eine Fußnote hinzu, die eine einschlägige Stelle aus
Discorsi I, 11 wiedergibt. Machiavelli unterstützt Rousseaus Argument (Probleme
VI und VII). Er fährt nach dem von Rousseau zitierten Satz fort: «Però gli uomini
savi che vogliono tôrre questa difficultà ricorrono a Dio. Cosí fece Ligurgo, cosí
Solone, cosí molti altri che hanno avuto il medesimo fine di loro.» Discorsi sopra la
prima deca di Tito Livio I, 11, Ed. Francesco Bausi (Opere di Niccolò Machiavelli.
Rom 2001, I/2), p. 80. – Das Kapitel II, 7 enthält drei Fußnoten. Die erste bezieht
sich auf die Gesetzgebung Lykurgs, die «das Glück der Spartiaten» bewirkte (381).
Die zweite spricht über das Verdienst, das sich Calvin als politischer Gründer im
Unterschied zum Theologen erwarb, und enthält die einzige quasiexplizite Be-
zugnahme auf das Christentum, das in II, 7 ebensowenig erwähnt wird wie Jesus:
«Quelque révolution que le tems puisse amener dans notre culte, tant que l’amour
de la patrie et de la liberté ne sera pas éteint parmi nous, jamais la mémoire de ce
grand homme ne cessera d’y être en bénédiction» (382, meine Hervorhebung).
Während Rousseau in den Fußnoten zuvor über Lykurg und Calvin spricht, läßt er
in der dritten Fußnote Machiavelli selbst sprechen.

– 178 –
Rede. Doch sie erschöpft sich nicht in ihr. Und sie erweist sich keines-
wegs in bloßer Geschicklichkeit oder Findigkeit. Sowenig die Gesetz-
gebung ein Werk der Götter ist, die die Gesetzgeber für sich sprechen
lassen, so wenig beruht ihre Dauer auf den Wundern, deren sich die
Gesetzgeber bedienen, denn «eitles Blendwerk» mag zwar ein vorüber-
gehendes Band zustande bringen, aber «nur die Weisheit macht es
dauerhaft». Der Législateur bedarf der Weisheit, sowohl um bei denen,
an die er sich wendet, Glauben zu finden als auch um eine Einrichtung
zu schaffen, die jenen Glauben rechtfertigt. «Die große Seele des Gesetz-
gebers ist das wahre Wunder, das seine Mission beweisen muß.» Das
Werk des Législateur hat seine Grundlage in der raison sublime, der sa-
gesse, der grande âme, die ihn auszeichnen, und mithin in seiner Natur:
sie ist die Wahrheit der edlen Lüge, wenn ihr Wahrheit eignen soll.45 Als
Beispiele für Gründer, die Götter mit ihrer Weisheit beehrten, zieht
Rousseau weder Minos noch Numa heran. Er verweist vielmehr auf den
ältesten und den jüngsten Propheten der drei Offenbarungsreligionen.
Denn er kommt einzig auf das Gesetz des Judentums und auf das Ge-
setz des Islams zu sprechen, die sich jeweils auf den Einen Gott des
Offenbarungsglaubens als ihren Urheber berufen und von denen Rous-
seau sagt, daß sie «noch heute die großen Männer anzeigen, die sie dik-
tiert haben». Diese Aussage, mit der er sich sehr weit vorwagt, federt
Rousseau durch eine scharfe Abgrenzung von den Philosophes ab, die
ihren Kampf gegen die Offenbarungsreligionen im Namen der Aufklä-
rung und unter dem Signum des zum Schlagwort gewordenen Traktats
De tribus impostoribus führten. Wo «die stolze Philosophie oder der
blinde Parteigeist» nur Betrüger am Werk sehe, die Glück hatten, be-
wundere le vrai politique, der wahre Staatsmann im platonischen Ver-
stande oder der wahre politische Theoretiker, das «große und mächtige
Genie», das die von den Gesetzgeber-Propheten geschaffenen, die Jahr-
hunderte überdauernden Einrichtungen beseelt und beherrscht.46

45 «Tout homme peut graver des tables de pierre, ou acheter un oracle, ou feindre
un secret commerce avec quelque divinité, ou dresser un oiseau pour lui parler à
l’oreille, ou trouver d’autres moyens grossiers d’en imposer au peuple. Celui qui ne
saura que cela pourra même assembler par hazard une troupe d’insensés, mais il ne
fondera jamais un empire, et son extravagant ouvrage périra bientôt avec lui.» II, 7,
11 (384).
46 II, 7, 11 (384). Le politique kann im Contrat social sowohl «Staatsmann» als auch
«politischer Theoretiker» bedeuten. Im Hintergrund steht die platonische Ambi-

– 179 –
Rousseau erlöst die «große Seele» des Gesetzgeber-Propheten zu
dem Ruhm, der ihr zusteht, indem er sie als den wahren Urheber des
göttlichen Gesetzes anerkennt. In eins damit gibt er unvermeidlich eine
Skizze zur politischen Genealogie der Offenbarungsreligion. Den
Schlußpunkt setzt die lakonische Zurückweisung der Meinung, «daß
die Politik und die Religion unter uns einen gemeinsamen Gegenstand
hätten», eine Meinung, für die er den Bischof William Warburton in An-
spruch nimmt. Gegen den christlichen politischen Theologen macht
Rousseau geltend, daß vielmehr «am Ursprung der Nationen» die Reli-
gion der Politik als Instrument dient. Der Politik gebührt von Anfang
an der Primat.47
Die Weisheit des Législateur bleibt für die gesamte zweite Hälfte des
zweiten Buches bestimmend. Die fünf Kapitel, die auf II, 7 folgen, han-
deln von der Notwendigkeit der Erkenntnis des Weisen für das wohlge-
ordnete Gemeinwesen, die nicht auf die Gründung beschränkt ist und
von Rousseau nicht länger am Beispiel der Gesetzgeber-Propheten er-
läutert wird. Die drei Kapitel «Du peuple» (II, 8–10) beginnen mit dem
sage instituteur und enden mit dem homme sage. Im Kapitel «Des divers
sistêmes de législation» (II, 11) behauptet der Législateur seine beherr-
schende Präsenz. Und das letzte Kapitel des Buches «Division des loix»
(II, 12) schließt mit dem grand Législateur, der dort nach seiner Evoka-
tion in II, 7 seinen zweiten, wichtigsten und letzten Auftritt hat.48 Die
drei aufeinanderfolgenden Kapitel «Vom Volk», denen im dritten Buch
die drei aufeinanderfolgenden Kapitel «Wie die souveräne Autorität
sich aufrechterhält» (III, 12–14) entsprechen, richten den Blick auf die
Materie, mit der der Législateur befaßt ist, um zu veranschaulichen,
welcher grundsätzlichen Einsichten, welcher besonderen Kenntnisse

guität des Begriffs: neben II, 7, 11 siehe II, 9, 5 (388) und II, 12, 5 (394). Doch die
Bedeutung «politischer Theoretiker» oder «politischer Autor» (zuweilen i. S. von
«politischer Ideologe») überwiegt: II, 2, 2 (369); II, 2, 2 (370); III, 6, 14 (412); III, 7, 3
(413). Von le vrai politique ist nur in II, 7, 11 die Rede.
47 II, 7, 12 (384). Cf. zum Gebrauch, den Rousseau von Warburton macht, Über
das Glück des philosophischen Lebens, p. 431–432.
48 II, 8, 1 (384); II, 10, 5 (391); cf. II, 10, 2 (389); II, 10, 4 (390). II, 11 4 (393); II 11, 5
(393). II, 12, 5 (394). Sagesse kommt im Contrat social viermal vor. Die beiden
einzigen Verwendungen, die sich auf Individuen beziehen, finden sich in II, 7, 10
und 11 (383–384) und betreffen den Législateur. Die beiden anderen beziehen sich
auf die aristokratische Institution des Senats: III, 5, 5 note (407) und III, 6, 13 (412).

– 180 –
und welcher Urteilskraft, die beide zu verbinden und anzuwenden
weiß, er für die «Einrichtung» eines Volkes bedarf. Denn eine Einrich-
tung kann nur als gut gelten, wenn sie für das besondere Volk gut ist,
dem sie zuteil werden soll. Gesetze, die an ihnen selbst gut sind, müssen
auf ein Volk treffen, «das geeignet ist, sie zu ertragen». Die Erkenntnis,
daß sich die gute Einrichtung im gegebenen Fall, wie in der großen
Mehrzahl der Fälle, nicht verwirklichen läßt, gehört ausdrücklich zur
Einsicht des Weisen und ist nicht deren geringstes Teil. Tatsächlich ist
die Betonung der Seltenheit des Gelingens das Leitmotiv von Rousseaus
Erörterung. Das erste der drei Kapitel geht auf die geschichtlichen Vor-
aussetzungen der Gesetzgebung ein, das zweite konzentriert sich auf
die Erkenntnis, die der Natur der Sache gilt, das dritte verweist auf die
natürlichen Bedingungen im engeren Sinn. In allen drei Kapiteln stellt
Rousseau die entscheidende Bedeutung der richtigen Erkenntnis her-
aus: in II, 8 betrifft sie den Entwicklungsstand eines Volkes und insbe-
sondere dessen Reife für die Gesetzgebung, in II, 9 die Bestimmung der
Größe eines Staates, in II, 10 das Verhältnis von Bevölkerung und Terri-
torium, das dem Gemeinwesen ein Maximum an Stärke und Selbstge-
nügsamkeit erlaubt.49 Außerdem zeigt Rousseau durch sein Handeln,
daß der Weise sich nicht nur auf die erhebende, sondern ebenso auf die
ermahnende Rede verstehen muß. Im Geschichtskapitel wendet er sich
an die Völker, um ihnen zu erklären, daß Revolutionen wie Krisen im
Leben der Individuen eine grundlegende Wende zum Besseren bewir-

49 II, 8, 5 (386); II, 9,5 (388); II, 10, 1–2 (388–389). – Als Beispiel für ein folgenreiches
Fehlurteil über den Entwicklungsstand eines Volkes führt Rousseau das Urteil von
Zar Peter I. an: «Il a vu que son peuple étoit barbare, il n’a point vu qu’il n’étoit pas
mûr pour la police; il l’a voulu civiliser quand il ne faloit que l’agguerrir. Il a d’abord
voulu faire des Allemands, des Anglois, quand il faloit commencer par faire des
Russes». Wenn Rousseau Peter nur «le génie imitatif» zuerkennt und ihm «le vrai
génie» abspricht, zielt seine Kritik auf Voltaire, der den Zaren als vorbildlichen
Staatsmann und Gesetzgeber dargestellt hatte. Im Vorwort seiner Histoire de
l’Empire de Russie sous Pierre le Grand nennt er ihn 1759 «peut-être de tous les
princes celui dont les faits méritent le plus d’être transmis à la postérité», und im
zweiten Teil des Werkes wird er ihn vier Jahre später als «vrai politique» bezeichnen
(II, 8). Als législateur kontrastiert er ihn 1759 mit Lykurg und Solon, um Peter I.
dafür zu rühmen, daß er es war, der durch seine Gesetze «a formé les hommes et les
femmes à la société, qui a créé la discipline militaire sur terre et sur mer, et qui a
ouvert à son pays la carrière de tous les arts». Œuvres historiques. Ed. René Pomeau.
Paris 1957, p. 532, 1687, 1688–1689.

– 181 –
ken können, und sogleich hinzuzusetzen, daß es sich indes um événe-
ments rares handele und darüber hinaus um Ereignisse, die sich im Le-
ben eines Volkes nicht wiederholen ließen. «Freie Völker, erinnert euch
dieser Maxime: Man kann die Freiheit erringen; aber man gewinnt sie
niemals zurück.» Im Zentrum der Triade steht die Mahnung, über den
Zwecken der inneren Ordnung nicht die Erfordernisse der äußeren
Sicherheit, das Gebot der Selbsterhaltung des Gemeinwesens aus dem
Auge zu verlieren. Das dritte Kapitel kulminiert endlich in einem
Tableau, das die historischen Voraussetzungen und natürlichen Bedin-
gungen einer guten Gesetzgebung so kompakt zusammenstellt, daß
die Erwartung der Leser schwerlich befeuert wird, sie befänden sich in
unmittelbarer Reichweite der Lösung des politischen Problems.50
Die letzte Orientierung für das Unterfangen des Législateur und die
eigentliche Domäne seiner Wirksamkeit kommen in den beiden ab-
schließenden Kapiteln von Buch II zur Sprache. «Wenn man unter-
sucht», beginnt Rousseau das Kapitel «Von den verschiedenen Syste-
men der Gesetzgebung», «worin genau das größte Gut aller besteht, das
der Zweck jedes Systems der Gesetzgebung sein muß, so wird man fin-
den, daß es sich auf diese zwei Hauptgegenstände zurückführen läßt:
die Freiheit und die Gleichheit. Die Freiheit, weil jede besondere Ab-
hängigkeit ebensoviel Kraft bedeutet, welche dem Körper des Staates
entzogen wird; die Gleichheit, weil die Freiheit nicht bestehen kann
ohne sie.» Der Gesetzgeber betrachtet die beiden «Hauptgegenstände»,
die alle Gesetzgebung sich vorzusetzen hat, im Hinblick auf den politi-
schen Körper als Ganzes. Er nimmt die Perspektive des Bürgers ein, der
sich als Glied dieses Körpers versteht und seine Freiheit wesentlich als
bürgerliche Freiheit, als Freiheit zum Bürgersein begreift. Nicht minder

50 II, 8, 3–4 (385); II, 9, 4 (388); II, 10, 5 (390–391): «Quel peuple est donc propre à
la législation? Celui qui, se trouvant déjà lié par quelque union d’origine, d’intérêt
ou de convention, n’a point encore porté le vrai joug des loix; celui qui n’a ni
coutumes ni superstitions bien enracinées; celui qui ne craint pas d’être accablé par
une invasion subite, qui, sans entrer dans les querelles de ses voisins, peut résister
seul à chacun d’eux, ou s’aider de l’un pour repousser l’autre; celui dont chaque
membre peut être connu de tous, et où l’on n’est point forcé de charger un homme
d’un plus grand fardeau qu’un homme ne peut porter; celui qui peut se passer des
autres peuples et dont tout autre peuple peut se passer; Celui qui n’est ni riche ni
pauvre et peut se suffire à lui-même; enfin celui qui réunit la consistance d’un ancien
peuple avec la docilité d’un peuple nouveau.»

– 182 –
politisch ist sein Interesse an der Gleichheit, das sich, näher besehen, als
die Sorge erweist, daß die Zusammenballung gesellschaftlicher Macht
und die Anhäufung wirtschaftlichen Reichtums der Autorität der Ge-
setze widerstreiten und die Souveränität des Volkes untergraben. «Kein
Bürger soll vermögend genug sein, um einen anderen kaufen zu können,
und keiner so arm, um gezwungen zu sein, sich zu verkaufen». Die Aus-
schläge sozialer und ökonomischer Ungleichheit, die extremen Abwei-
chungen von der aristotelischen Mitte, begünstigen die Tyrannis und
gefährden die politische Ordnung des Gemeinwesens.51 Die «allgemei-
nen Gegenstände jeder guten Einrichtung» müssen nach den besonde-
ren Gegebenheiten abgewandelt werden, so daß jedes Volk «un sistême
particulier d’institution» erhält. Ebenso wichtig wie der Gesichts-
punkt der Anpasssung ist dabei die Aussicht auf Auszeichnung. Jedes
Volk soll ein unverwechselbares Gepräge bekommen, das seinen Zu-
sammenhalt stärkt, und eine Aufgabe, die den Stolz der Bürger be-
gründet. Wenn der Législateur sich indes täuscht und ein Prinzip für die
Einrichtung wählt, das mit der nature des choses nicht zusammenstimmt,
wird sein Unterfangen scheitern und der Staat schließlich zerstört. Die
Anspielung auf das Wort von Horaz Naturam furca expelles tamen
usque recurret, mit der Rousseau das Kapitel beendet, verweist auf
das Maß, an dem die Kunst des Gesetzgebers sich zu bewähren hat. Wo
diese Kunst zu ihren eigensten Möglichkeiten gelangt, legt das Kapitel
«Von der Einteilung der Gesetze» offen. Rousseau fügt darin den
drei Arten von Gesetzen, die der Leser nach der Darstellung der Prin-
zipien des politischen Rechts erwarten kann, d. h. den loix politiques,
die den Souverän, die Regierung und die Ordnung des Staates betref-
fen, sowie den loix civiles und den loix criminelles, die das Zivil- und das
Strafrecht umfassen, eine vierte Art von Gesetzen hinzu, die er «die
wichtigste von allen» nennt und auf die er den längsten Absatz des Ka-
pitels verwendet. Sie «wird weder in Marmor noch in Erz gegraben,
sondern in die Herzen der Bürger» eingeschrieben und macht «die

51 «Voulez-vous donc donner à l’Etat de la consistance? rapprochez le degrés


extrêmes autant qu’il est possible: ne souffrez ni des gens opulens ni des gueux. Ces
deux états, naturellement inséparables, sont également funestes au bien commun;
de l’un sortent les fauteurs de la tirannie et de l’autre les tirans; c’est toujours entre
eux que se fait le trafic de la liberté publique; l’un l’achette et l’autre la vend.» II, 11,
2 note (392).

– 183 –
wahrhafte Verfassung des Staates» aus: Rousseau spricht «von den Sit-
ten, den Gewohnheiten und vor allem von der Meinung» und sagt über
sie, daß es sich um den Teil handele, mit dem «sich der große Gesetz-
geber im Geheimen befaßt». Der Leser der späteren Verfassungsent-
würfe für Korsika und Polen kann im einzelnen verfolgen, auf welche
Institutionen der Gesetzgeber Rousseau zurückgreift, um die Lebens-
weise des Volkes zu prägen, das politische System zu stabilisieren, die
Autarkie Korsikas zu erreichen oder die Integrität Polens zu bewahren;
wie er durch ökonomische Maßnahmen, nationale Aufgaben, Feste und
Ehren, durch Belohnung und Bestrafung die öffentliche Erziehung
orchestriert, auf welchen Wegen er der politischen Klasse neue Wert-
schätzungen einzupflanzen, den amour-propre in den Dienst des Ge-
meinwesens zu stellen und den Bürgern die Identifikation mit dem moi
commun zu ermöglichen versucht. Die Verfassungsentwürfe veranschau-
lichen, womit der grand Législateur sich en secret befaßt, und sie erhellen,
weshalb das Kapitel II, 12 des Contrat social die mœurs, die coutumes und
die opinion zur wichtigsten Art von Gesetzen erklärt, obgleich sie nach
den Prinzipien des politischen Rechts ebendies nicht sind: Gesetze.52
Die Einführung der Weisheit ist gleichbedeutend mit der Ernüchte-
rung des politischen Idealismus im Contrat social. In der Ökonomie des
Werkes bilden die sechs Kapitel über l’art du Législateur das Gegenge-
wicht zu den vorangegangenen zehn Kapiteln über die principes du droit
politique. Die Rechtsprinzipien, die mit keinem historischen Index ver-
sehen sind, da sie einzig auf einer kohärenten Auslegung der Natur des
gesellschaftlichen Vertrags beruhen, werden politisch situiert und so, im
Vorgriff auf die Bewegung der Bücher III und IV, mit der geschicht-
lichen Wirklichkeit in Kontakt gebracht. Wenn die Prinzipien den revo-
lutionären Anspruch begründen, die Illegitimität der bestehenden Ord-
nung jederzeit feststellen und deren Beseitigung betreiben zu können,
so rückt die Kunst des Gesetzgebers die Unwahrscheinlichkeit des
wohlgeordneten Gemeinwesens in ein scharfes Licht.53 Die Mäßigung

52 II, 12, 5 (394). Sechs Kapitel davor, im letzten Kapitel des Prinzipienteils, hat
Rousseau das Gesetz als den Akt des allgemeinen Willens und mithin als den Akt
schlechthin der Souveränität des Volkes bestimmt: II, 6, 5 und 7 (379).
53 «Ce qui rend pénible l’ouvrage de la législation, est moins ce qu’il faut établir
que ce qu’il faut détruire; et ce qui rend le succès si rare, c’est l’impossibilité de
trouver la simplicité de la nature jointe aux besoins de la société. Toutes ces

– 184 –
des Teils II, 7 – II, 12 kommt in Rousseaus Aussage emblematisch zum
Ausdruck, daß es «in Europa noch ein Land» gebe, das für eine «Ge-
setzgebung», d. h. für eine Einrichtung im Sinne des Contrat social, ge-
eignet sei, die Insel Korsika. Sie steht am Ende der drei Kapitel «Du
peuple».54 Die Mäßigung, die aus der Betrachtung der politischen Rea-
lien resultiert, stimmt mit der Ernüchterung zusammen, für die der Ge-
setzgeber selbst steht. Denn die Gestalt des Législateur dient Rousseau
nicht sosehr dazu, das politische Problem zu lösen, als vielmehr es
offenzulegen, es zu kennzeichnen, es zu verkörpern. Der Législateur ist
kein Deus ex machina zur Behebung der Schwierigkeiten, die auftreten,
wenn die Prinzipien des Rechts implementiert werden sollen. Und der
Contrat social läßt keinen Zweifel daran, daß eine «weise Einrichtung»,
die nicht überall und jederzeit möglich ist, selbst wenn sie gelingt, von
eingeschränkter Dauer sein wird. Denn der politische Körper unterliegt
aufgrund der nicht aufhebbaren Spannung, die zwischen seiner eigenen,
konventionellen oder moralischen, Natur und der Natur seiner Glieder
besteht, Notwendigkeiten, die es ihm verwehren, sich beständig im Sein
zu erhalten.55 Der Législateur zeigt an, daß im wohlgeordneten Ge-
meinwesen die Weisheit die Führung haben muß. Aber weder leitet
Rousseau aus dem Bedürfnis des politischen Körpers eine Pflicht des
Weisen ab, seine Weisheit dem allgemeinen Willen dienstbar zu machen,
noch spricht er dem Weisen das Recht zu, den allgemeinen Willen zu
suspendieren und an die Stelle des Souveräns zu treten, um vermöge
seiner Einsicht zum allgemeinen Guten zu herrschen. Im Gegenteil be-
tont er am Ende des Teils über die Kunst des Gesetzgebers das unab-
dingbare Rechtsprinzip der Volkssouveränität in deutlicheren Worten

conditions, il est vrai, se trouvent difficilement rassemblées. Aussi voit-on peu


d’Etats bien constitués.» II, 10, 5 (391).
54 Der letzte Absatz der drei Kapitel, II, 10, 6 (391), lautet: «Il est encore en Europe
un pays capable de législation; c’est l’Isle de Corse. La valeur et la constance avec
laquelle ce brave peuple a su recouvrer et défendre sa liberté, mériteroit bien que
quelque homme sage lui apprit à la conserver. J’ai quelque pressentiment qu’un jour
cette petite Isle étonnera l’Europe.» Der Gefolgsmann des korsischen National-
helden Pasquale Paoli, der sich am 31.  August 1764 an Rousseau wendet (siehe
Anm. 33), wird sich auf Rousseaus «Eloge» beziehen und ihn auffordern, «cet
homme sage» zu sein.
55 Cf. I, 6, 6 (360); I, 7, 7 (363); I, 9, 8 (367); II, 7, 3 (381–382); III, 2, 5–7 (400–401);
III, 11, 1–3 (424).

– 185 –
als an irgendeinem anderen Ort: «ein Volk ist immer Herr darüber, seine
Gesetze zu ändern, selbst die besten; denn wenn es ihm gefällt, sich
selbst zu schaden, wer hat das Recht, es daran zu hindern?»56 Der Weise
bedarf der Zustimmung des Volkes, um seiner Einsicht Rechtskraft zu
verleihen. Unter diesem Vorbehalt steht auch das einzige Gesetz, das
Rousseau im Contrat social selbst vorschlägt, dessen Artikel er präzise
formuliert, für dessen Annahme durch den Souverän er wirbt und in
dem er den Traktat politisch kulminieren läßt: das Gesetz über ein bür-
gerliches Glaubensbekenntnis.57 Von dem anderen Philosophen, der im
Contrat social als möglicher Législateur auftritt, von Platon, berichtet
Rousseau, daß er es ablehnte, den Arkadiern und den Kyrenaiern Ge-
setze zu geben, weil er wußte, daß eine weise Einrichtung bei ihnen
nicht zu verwirklichen war: Beide Völker waren zu reich, als daß sie die
Einführung der bürgerlichen Gleichheit zugelassen hätten.58
Rousseaus Bekräftigung der Prinzipien des politischen Rechts im
philosophischsten Teil des Contrat social gibt uns Anlaß, die Frage zu
stellen, warum Rousseau im Unterschied zu allen seinen Vorgängern die
Souveränität des Volkes und die Suprematie der Weisheit oder der Ein-
sicht zu tragenden Pfeilern seiner politischen Lehre macht, wodurch er
eine Spannung aufbaut, die seine Nachfolger nur allzu rasch wieder ab-
bauen werden. Da der philosophischste augenscheinlich zugleich der
platonischste Teil des Werkes ist, liegt es nahe, einer Spur zu folgen, die
Rousseau durch ausdrückliche Bezugnahmen auf Platon legt und die in
diesem Teil beginnt. Rousseau nennt Platon dreimal beim Namen,
zweimal in Buch II, Kapitel 7 und 8, und einmal in Buch III, Kapitel 6.
Im Zentrum steht der Gesetzgeber Platon, le sage instituteur, dessen
Weisheit sich darin bewährt, daß er die Aufforderung, als Gesetzgeber
tätig zu werden, zurückweist. Der Gesetzgeber wird flankiert durch
zwei Erwähnungen des Autors Platon, die beide einem einzigen Dialog

56 II, 12, 2 (394); cf. I, 7, 2 (362); III, 18, 3 (435); III, 18, 9 (436).
57 IV, 8, 31–35 (467–469).
58 II, 8, 1 (385); cf. Plutarch: Qu’il est requis qu’un Prince soit savant in: Les œuvres
morales de Plutarque. Genf, Iacob Stoer, 1621 (Übersetzung Amyot), I, p. 425.
[Moralia 50, 779D.] Plutarch gibt eine andere, weniger prägnante und weniger
politische Auslegung, weshalb ihr Reichtum die Kyrenaier in Platons Augen un-
geeignet machte, von ihm gute Gesetze und eine Ordnung für ihren Staat zu
erhalten: «car il n’est rien si haut à la main, si farouche, ne si mal-aisé à donter et
manier, qu’un personnage qui s’est persuadé d’estre heureux.»

– 186 –
gelten, dem Politikos. Die zweite findet sich im politisch wichtigsten
Kapitel des dritten Buches, «Von der Monarchie». Rousseau bietet dort
Platons «König von Natur», den sein Wissen, seine Erkenntnis und sein
Urteil als wahren Staatsmann ausweisen, gegen die Monarchen auf, mit
denen in der geschichtlichen Wirklichkeit des Gouvernement royal zu
rechnen ist. Dabei beruft er sich auf Platons Betonung der Seltenheit des
Staatsmanns im philosophisch anspruchsvollen Sinn. Die erste Erwäh-
nung im Kapitel «Du Législateur» stellt ebenfalls die Seltenheit des
Staatsmanns heraus. Hier dient die Berufung auf den Politikos dazu, die
Ausnahmestellung des Gründers, die noch größere Seltenheit eines
grand Législateur im Vergleich zu einem grand Prince, zu unterstrei-
chen. Aber Rousseau eröffnet die Bezugnahme auf den Politikos mit
einem anderen Vergleich, der Brisanz in sich birgt. Als Platon den
Staatsmann in seinem Buch bestimmte, habe er sich derselben Schluß-
folgerung bedient, die Caligula anstellte, mit dem Unterschied, daß
Caligula sie in Rücksicht auf eine Tatsache anstellte, Platon hingegen in
Rücksicht auf ein Recht.59 Rousseau setzt voraus, daß der Leser sich an
den Ort erinnert, an dem zum erstenmal von Caligulas Schlußfolgerung
die Rede war. Tatsächlich wird im Contrat social von Caligulas raison-
nement dreimal gesprochen, ebensooft wie von Platon. Im Kapitel II, 7
treffen die beiden Reihen zusammen. Wenn wir verstehen wollen, was
Rousseau bei der ersten Erwähnung Platons sagt, müssen wir zur ersten
Erwähnung von Caligulas raisonnement zurückgehen. Im Kapitel I, 2
erklärt Rousseau, der Kaiser Caligula habe einem Bericht Philons zu-
folge argumentiert, so wie ein Hirt, un pâtre, von einer höheren Natur
sei als seine Herde, ebenso seien die Hirten der Menschen, les pasteurs
d’hommes, die deren Oberhäupter sind, von einer höheren Natur als
ihre Völker. Woraus Caligula schloß, daß entweder die Könige Götter
wären oder die Völker Tiere.60 Der Unterschied zwischen der Schluß-

59 «Le meme raisonnement que faisoit Caligula quant au fait, Platon le faisoit
quant au droit pour définir l’homme civil ou royal qu’il cherche dans son livre du
regne; mais s’il est vrai qu’un grand Prince est un homme rare, que sera-ce d’un
grand Législateur?» II, 7, 2 (381).
60 I, 2, 6–7 (353). Rousseau las Philons De legatione ad Caium [11, 76] in der
Übersetzung von Arnauld d’Andilly Relation faite par Philon de l’Ambassade dont
il estoit le chef, envoyée par les Juifs d’Alexandrie vers l’Empereur Caïus Caligula,
die d’Andilly seiner Ausgabe von Flavius Josephus’ Histoire des Juifs im Anhang
hinzugefügt hatte. Caligulas raisonnement lautet dort: «Comme ceux qui con-

– 187 –
folgerung Caligulas und dem Gedankengang Platons besteht mithin
darin, daß Caligula aus der Tatsache der Herrschaft der Könige die
nature supérieure der Könige herleitete, während Platon das Recht der
Herrschaft des Königs auf die nature supérieure des Königs gründete,
d. h. an die Voraussetzung band, daß der «König von Natur» vermöge
seiner höheren Einsicht vom Volk so verschieden wäre, wie ein Hirt von
der Herde verschieden ist, die er hütet und über die er gebietet. Die erste
Erwähnung Platons weist den Leser darauf hin, daß Rousseau unter den
Herrschaftstiteln, die er in Buch I zurückweist, bevor er den Prinzipien-
teil beginnt, einen Titel unerörtert läßt: die Herrschaft, die auf überlege-
ner Einsicht beruht.61 Um in der Sprache des ersten Buches zu reden:
von den beiden Manifestationen natürlicher Ungleichheit, die Rousseau
namentlich anführt, wird der Anspruch, der sich auf la force beruft,
nicht nur mehrfach verhandelt, sondern zum Gegenstand eines eigenen,
des zentralen Kapitels I, 3 der Erörterung; dagegen wird le génie erst im
letzten Satz von Buch I genannt, um dann im Genie des Gesetzgebers
von II, 7 wiederzukehren und seine überragende Bedeutung zu zei-
gen.62
Über die Ordnung stiftende Einsicht hätte Rousseau sagen können,
was er über die Schutz gewährende Gewalt sagt: die Übertragung einer
Herrschaftsbefugnis setzt die Konstitution eines Kollektivsubjekts als
Quelle des Rechts und folglich den gesellschaftlichen Vertrag voraus;

duisent des troupeaux de bœufs, de moutons et de chevres, ne sont ni bœufs, ni


beliers, ni boucs; mais sont des hommes d’une nature infiniment plus excellente que
celle de ces animaux: De mesme ceux qui commandent à tout ce qu’il y a de creatures
dans le monde meritent d’estre considerez comme estant beaucoup plus que des
hommes, et doivent estre tenu pour des Dieux.» Paris, Louis Roulland, 1696, Bd. 5,
p. 490.
61 Wie Rousseau mit seiner Aussage über Platon in II, 7, 2 (381) zu erkennen gibt,
wäre gegen Platon nicht der Einwand zu erheben, den Rousseau kurz vor der
Caligula-Stelle gegen Grotius erhebt: «Sa plus constante maniere de raisonner est
d’établir toujours le droit par le fait. On pourroit employer une méthode plus
conséquente, mais non pas plus favorable aux Tirans.» I, 2, 4 (353).
62 Im Contrat social kommt génie siebenmal vor. Nach der Stelle zur natürlichen
Ungleichheit («inégaux en force ou en génie») in I, 9, 8 (367) betreffen die nächsten
fünf Verwendungen direkt oder kontrastierend («génie imitatif» versus «vrai génie»)
den Législateur: II, 7, 4 (382); II, 7, 5 note (382); II, 7, 11 (384); II, 8, 5 (386). Die siebte
Verwendung gilt einem neueren Philosophen, dessen Irrtum Rousseau berichtigt:
III, 4, 6 (405).

– 188 –
kein Titel, kein Anspruch, kein Vermögen wird zu einem Recht ohne
die legitimierende Entscheidung des Souveräns. Es handelt sich indes
nicht um zwei symmetrische Fälle, so daß sich die Erörterung des einen
Anspruchs durch die des anderen erübrigte, weil der Leser die Antwort
einfach übertragen könnte. Gerade darauf macht Rousseaus Nicht-
erörterung aufmerksam. Während la force im Rechtsgefüge des politi-
schen Körpers ausdrücklich ihren Platz findet, wird le génie ein solcher
Platz ebenso ausdrücklich verweigert. Rousseau hebt die Gewalt in der
Gewalt des Souveräns auf. Die Einsicht, auf die die Prinzipien des
politischen Rechts angewiesen sind, hält er dagegen außerhalb der Ord-
nung, die durch diese Prinzipien bestimmt wird, weshalb das Werk, das
sich der intelligence supérieure des Gesetzgebers verdankt, erst durch
die Zustimmung des Souveräns Gesetzeskraft erlangt. Daß Rousseau
die Ausnahmestellung der Einsicht bewahrt und zugleich auf der
Volkssouveränität beharrt, ist der politischen Klugheit geschuldet.
Rousseau ist mit den Argumenten vertraut, die der Politikos, recht ver-
standen, bereithält. Er weiß, daß das Gebot der Erkenntnis mit den
Forderungen und Bedürfnissen des politischen Gemeinwesens nicht
kommensurabel ist; daß die Einführung der Einsicht als Herrschafts-
titel die gesellschaftliche Ordnung sprengen würde; daß die Ausnahme
sich nicht normieren läßt; daß der Weise zur Ausübung der Herrschaft
genötigt werden müßte; daß der «Staatsmann» des Philosophen mit
größter Wahrscheinlichkeit vom Sophisten nachgeahmt würde; daß
das Volk den einen nicht vom anderen zu unterscheiden vermöchte;
daß der «König von Natur» allzuleicht dem Despoten in die Hände
spielt, der sich seines Anspruchs und Ansehens zu bemächtigen sucht,
so wie sich Caligula der Allegorie aus dem Politikos bemächtigte, um
sie für seine Zwecke ins Gegenteil zu verkehren. Rousseaus politische
Klugheit erschöpft sich aber nicht in dieser gleichsam transhistori-
schen Klugheit, die ihm mit den meisten seiner Vorgänger gemeinsam
ist und die keinen von ihnen bewog, die Volkssouveränität zu dem
Rechtsprinzip zu erheben, zu dem er sie erhebt. Rousseau steht deut-
lich vor Augen, daß die Anpreisung der Philosophenherrschaft der
Priesterherrschaft, der sie vorbauen sollte, den Weg bereitete und daß
die Berufung auf die Autorität der Einsicht in der Gefahr steht, durch
die Berufung auf die Autorität einer Einsicht überboten und zunichte
gemacht zu werden, die für sich in Anspruch nimmt, höher zu sein als
alle Vernunft.

– 189 –
Rousseau entwickelt die Konzeption des Contrat social im Bewußt-
sein der Zäsur, die die Offenbarungsreligion für die Politik und die Phi-
losophie bedeutet. Die Herausforderung des Christentums im besonde-
ren bestimmt die Rhetorik und die Strategie des Traktats. Rousseau
vermeidet jeden Anschein, der die Philosophie in die Nähe der Religion
rücken könnte. Er verzichtet auch auf die öffentliche Aufforderung
zum Philosophieren. Er vertraut darauf, den Leser, der für die Philoso-
phie geeignet ist, durch die eindringliche Verhandlung der politischen
Alternative zur Philosophie hinzuführen. Die Schrift, die das politische
Leben im anspruchsvollsten Verstande vorstellt, bietet alles auf, um den
Primat der Politik gegenüber der Religion zu untermauern. Und sie för-
dert nach Kräften das Bündnis mit der stärksten politischen Macht, die
Allianz mit dem Volk, die schon andere Philosophen, allen voran Ma-
chiavelli, im Blick auf dieselbe Zäsur ins Auge gefaßt hatten. Im Kapitel
«De la Monarchie», in dem Platon zum letztenmal Erwähnung findet,
erhält Machiavelli seinen Auftritt als Lehrer der Völker, und Il Principe
wird der Aufmerksamkeit des Lesers als «das Buch der Republikaner»
empfohlen. Rousseaus Kapitel hat dabei sowenig wie Machiavellis Buch
allein den Monarchen oder den Fürsten im gewöhnlichen Sinn zum Ge-
genstand.63 Rousseau steht mit Machiavelli in einer gemeinsamen Front
gegen die Theokratie, die beide als die tyrannischste Herrschaft
betrachten,64 da sie die Untertanen bis ins Innerste zu kontrollieren

63 III, 6, 5 (409). Rousseau hat dem Satz «Le Prince de Machiavel est le livre des
républicains» für die postume Ausgabe des Traktats eine Fußnote hinzugefügt, die
die esoterische Dimension des Principe ebenso unterstreicht, wie sie auf die weiter
reichende Stoßrichtung der Opposition von Republik und Monarchie hinweist.
Die Anmerkung, die die Edition der OCP in den Apparat auslagert, hat in der
Edition von 1782 folgenden Wortlaut: «Machiavel étoit un honnête-homme et un
bon citoyen: mais attaché à la maison de Médicis, il étoit forcé dans l’oppression de
sa Patrie de déguiser son amour pour la liberté. Le choix seul de son exécrable Héros
manifeste assez son intention secrete, et l’opposition des maximes de son livre du
Prince à celle[s] de ses discours sur Tite-Live et de son histoire de Florence,
démontre que ce profond Politique n’a eu jusqu’ici que des Lecteurs superficiels ou
corrompus. La Cour de Rome a sévérement défendu son livre, je le crois bien; c’est
elle qu’il dépeint le plus clairement.» Meine Hervorhebung; beachte Leo Strauss:
Thoughts on Machiavelli. Glencoe, Ill. 1958, p. 332 note 54.
64 Oder nach einer Unterscheidung im Contrat social, die Rousseau indes weder
für den Contrat social noch für seine anderen Schriften verbindlich macht: als die
despotischste Herrschaft; siehe III, 10, 10 (423), cf. I, 2, 4 (353) und IV, 8, 28 (467).

– 190 –
sucht und der äußersten Verfolgung aussetzt. Rousseau nennt die Ge-
genposition zur Konzeption des Contrat social erst im Kapitel  IV, 8
beim Namen. Dreimal, im ersten Satz des ersten, im zweiten Satz des
zentralen und im dritten Satz des letzten Absatzes von «De la Religion
civile», begegnet uns le Gouvernement Théocratique, la Théocratie und
wiederum le Gouvernement Théocratique. Rousseau führt den Begriff
an der dritten und letzten Stelle ein, an der von Caligulas raisonnement
die Rede ist, so wie er an der ersten Caligula-Stelle die Götter in den
Contrat social eingeführt hat und mit ihnen die Allegorie vom Gott als
Hirt, der über seine Herde gebietet. Die Caligula-Stellen lassen keinen
Zweifel, daß Rousseau den Begriff in dem umfassenden Sinne von Got-
tesherrschaft verwendet, in dem er von Flavius Josephus geprägt wurde,
und daß er ihn nicht etwa auf die Priesterherrschaft einschränkt.65 Der
Contrat social ist der Gegenentwurf zur Theokratie in allen ihren Er-
scheinungsformen. Er stellt die Souveränität des Volkes gegen die Sou-
veränität Gottes. So wie mit der Republik, d. h. mit der Souveränität des
Volkes, unterschiedliche Regierungsformen verträglich sind, so kann
die Theokratie, die Berufung auf die Souveränität Gottes, zu unter-
schiedlichen Regimen führen. Der Contrat social widerspricht ihnen

65 Keiner der Editoren und Kommentatoren von Du contrat social hat, soweit ich
sehe, den Locus classicus des Begriffs Theokratie herangezogen. Georges Beaulavon
erläutert Gouvernement Théocratique in IV, 8, 1 als «Gouvernement où la puissance
appartient aux prêtres»; Maurice Halbwachs schreibt: «Gouvernement par des
personnages sacrés, ayant un caractère surnaturel, prêtres ou plutôt rois-prêtres».
Keiner hat den Faden aufgenommen, den Rousseau mit den Caligula-Stellen an die
Hand gibt. Denn im selben Band von d’Andillys Übersetzung der Histoire des
Juifs, in dem die Übersetzung von Philons Relation enthalten ist, die Rousseau
zitiert, findet sich auch d’Andillys Übersetzung von Contra Apionem II, 165, der
ersten Verwendung von theokratía in der griechischen Literatur: «Les diverses
nations qui sont dans le monde se conduisent en des manieres differentes. Les unes
embrassent la Monarchie: les autres l’Aristocratie; et les autres la Democratie. Mais
nostre divin Legislateur n’a étably aucune de ces sortes de gouvernment. Celuy
qu’il a choisi a esté une Republique à qui l’on peut donner le nom de Theocratie,
puis qu’il l’a renduë entierement dépendante de Dieu; que nous n’y regardons que
luy seul comme l’auteur de tous les biens et qui pourvoit aux besoins generalement
de tous les hommes; que nous n’avons recours qu’à luy dans nos afflictions, et que
nous sommes persuadez que non seulement toutes nos actions luy sont connuës,
mais qu’il penetre nos pensées.» Response à Appion [II, 164–166] in: Histoire des
Juifs, Bd. 5, p. 410.

– 191 –
von der Monarchie des Gottesgnadentums bis zur Hierokratie der
Priesterreligion, indem er die Gesellschaft auf eine Übereinkunft
natürlicher Wesen gründet und indem er gegen die Autorität der
Offenbarung auf dem Recht der Politik besteht. Die Intention von
Rousseaus Du contrat social bleibt unverstanden, solange der Traktat
nicht als Antwort verstanden wird auf die Herausforderung der Theo-
kratie.

– 192 –
III

Das Recht der Politik bewährt sich an ihrer historischen Konkretion.


Die Wirklichkeit, die für das politische Leben des Bürgers bestimmend
ist, erreicht Rousseau, nach der vorgreifenden Betrachtung aus der Per-
spektive des Gründers, in der zweiten Hälfte von Du contrat social. Die
Bücher III und IV, die den Blick auf die loix politiques richten oder auf
das, was gemeinhin die Verfassung des Staates genannt wird, beziehen in
den Gang des Arguments ein, wovon die Präsentation der Prinzipien
des droit politique bis dahin geflissentlich abgesehen hat: die exekutive
Gewalt, die Form der Regierung, die Organe und Befugnisse innerhalb
des corps politique, die zwar dem Souverän untergeordnet oder von ihm
abgeleitet sind, für die Artikulation der Politik deshalb aber nicht weni-
ger Gewicht haben.66 Tatsächlich hätte der Anwalt des gesellschaft-
lichen Vertrags der Aussicht, durch den Vertragsschluß ließe sich eine
Assoziation begründen, in der jeder, «indem er sich mit allen vereinigt,
gleichwohl nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie zuvor», von
vornherein alle Plausibilität genommen, wenn er seinen Zuhörern nicht
nur das Wechselverhältnis von Gesetzgebern und Gesetzesunterworfe-
nen vor Augen gestellt, sondern sogleich die Regierung als corps inter-
médiaire eingeführt hätte, deren Entscheidungen die Mitglieder der
Assoziation Gehorsam schulden. Eine Gehorsamspflicht, die sich nicht
auf die Regierung beschränkt, sofern sie den Gesetzen des Souveräns
Geltung verschafft, die sich vielmehr ausdrücklich auf die Anordnun-
gen, Maßnahmen, Verfügungen der exekutiven Gewalt insgesamt er-
streckt. Die Befugnis der Regierung, Gehorsam zu erzwingen, verwei-

66 Die Zusammengehörigkeit der beiden Bücher bringt Rousseau bereits im


Inhaltsverzeichnis zum Ausdruck, in dem er deren Gegenstände folgendermaßen
charakterisiert: «Livre III. Où il est traité des loix politiques, c’est-à-dire de la forme
du Gouvernement» und «Livre IV. Où continuant de traiter des loix politiques on
expose les moyens d’affermir la constitution de l’Etat.» (Die Edition der OCP gibt
Rousseaus Inhaltsverzeichnis nicht wieder.)

– 193 –
gert sich der Übersetzung in die «identischen Korrelationen» von Sou-
verän und Untertan, die Aspekte ein und desselben Bürgers bezeichnen.
Die Einführung der Regierung als eigenen Körper markiert einen Ein-
schnitt im Contrat social. In der ersten Hälfte des Traktats wird le gou-
vernement bzw. le magistrat als Gegenstand der Untersuchung lediglich
angekündigt und auf den besonderen Sinn, in dem Rousseau die Begriffe
verwendet, hingewiesen, ohne daß dieser Sinn erklärt würde. Über
magistrature erfährt der Leser nicht mehr, als daß sie Akt eines partiku-
laren Willens und mit partikularen Materien befaßt sei und daß dem
Législateur weder magistrature noch souveraineté zukomme.67 Rous-
seau unterstreicht den Einschnitt, den seine Verhandlung der Regierung
bedeutet, durch Besonderheiten des Beginns von Buch III. Er stellt dem
mit achtzehn Kapiteln bei weitem längsten Teil des Traktats eine Vor-
rede von einem Absatz voran, die hervorhebt, daß der «präzise Sinn»
des Begriffs gouvernement «noch nicht sehr gut erklärt», d. h. von
Rousseau in den Büchern I und II und ebenso von Rousseaus Vorgän-
gern nicht angemessen bestimmt worden ist. Die Besonderheit der Vor-
rede hat das dritte mit dem ersten Buch gemeinsam, dessen neun Kapi-
teln eine Vorrede von drei Absätzen vorangestellt ist. Sie zeichnet die
beiden Bücher des Contrat social aus, deren Konzeption und Termino-
logie  – in Rücksicht zunächst auf den Souverän, dann auf die Regie-
rung – am deutlichsten von der Tradition abweichen. Außerdem eröff-
net Rousseau Kapitel III, 1 «Von der Regierung im allgemeinen» mit der
ausdrücklichen Aufforderung zum bedachtsamen und aufmerksamen
Lesen. Eine Aufforderung, die im Contrat social ohne Parallele ist und
das letzte Glied einer dreigliedrigen Vorbereitung auf die Neuerung
darstellt, die den Leser erwartet.68 Nachdem Rousseau bekräftigt hat,
daß die gesetzgebende Gewalt einzig dem Volk zusteht und daß «alle
Akte» des Volkes als Souverän «nur Gesetze sein können», führt er die
Regierung als die Institution und die Funktion ein, die «der Verbindung

67 II, 4, 6 (374); II, 6, 9 und note (380); cf. II, 6, 6 (379). II, 2, 1 (369); II, 6, 8 (379); II,
7, 4 (382).
68 «J’averti le lecteur que ce chapitre doit être lû posément, et que je ne sais pas l’art
d’être clair pour qui ne veut pas être attentif.» III, 1, 1 (395). Dem Absatz, der das
erste Kapitel eröffnet, geht der Absatz der Vorrede und diesem wiederum der letzte
Absatz von Buch II voraus, der das Thema des folgenden Buches ankündigt (II, 12,
6), was bei keinem anderen Buch der Fall ist. Jeder der drei Absätze umfaßt einen
einzigen Satz.

– 194 –
des Staates und des Souveräns» dient und im Auftrag des Souveräns die
öffentliche Gewalt ausübt. Die erste Definition von gouvernement
bestimmt die Regierung als corps intermédiaire, als einen Mittel- und
Mittler-Körper zwischen den Untertanen und dem Souverän. «Die
Mitglieder dieses Körpers nennen sich Magistrate oder Könige, das
heißt Regenten, und der ganze Körper trägt den Namen Fürst.» Rous-
seaus provozierende Nomenklatur nimmt die geläufigen Begriffe aus
der politischen Wirklichkeit auf, um ihnen einen neuen Sinn zu geben.
Der «Fürst» bezeichnet die Gesamtheit der Regierung, die, weit ent-
fernt, souverän zu sein, «nur der Minister» des Souveräns ist. Der Fürst
handelt nach Maßgabe und untersteht der Aufsicht des Souveräns. Die
«Könige» bezeichnen die Mitglieder der Regierung, die das Volk ein-
setzt und auch wieder absetzen kann. Sie sind «einfache Beamte des
Souveräns» und «Treuhänder» der ihnen auf Zeit verliehenen Gewalt.
Die zweite Definition von gouvernement in III, 1 bestimmt die Regie-
rung «oder die höchste Verwaltung» als «die legitime Ausübung der
exekutiven Gewalt». In ihre Zuständigkeit gehören die Entscheidungen
über partikulare Gegenstände. Gouvernement nennt Rousseau mithin
sowohl den Körper als auch die Befugnis der Regierung. Im ersten Fall
gebraucht er prince oder magistrat als Synonym für gouvernement und
les magistrats, wenn von den Regierenden im einzelnen die Rede ist. Im
zweiten Fall ist das Synonym magistrature, und beide, gouvernement
wie magistrature, sind streng unterschieden von ihrem Gegenbegriff
souveraineté.69
Die Bestimmung des «präzisen Sinns» von gouvernement hat meh-
rere Implikationen, die in den Büchern III und IV zum Tragen kom-
men. (1) Die Definition der Regierung als einer spezifischen Funktion,
Befugnis oder Kapazität erlaubt eine differenziertere Betrachtung des
politischen Körpers und zuallererst des Souveräns. Denn recht eigent-
lich ist sie ein Komplement und eine Präzisierung der Lehre von der
Souveränität. Wenn der Souverän sich über eine allgemeine Materie in
allgemeiner Form erklärt, handelt es sich um einen Akt der Souveränität.
Wenn er über eine besondere Materie entscheidet oder eine besondere
Anordnung trifft, handelt es sich dagegen um einen Akt der Regierung
oder der Magistratur. Während der Souverän die Akte der Souveränität
keinem anderen Körper übertragen kann, ohne den gesellschaftlichen

69 III, 2–3 (395–396); cf. II, 6, 5 (379). III, 4–7 (396); cf. III, 2,1–4 (400).

– 195 –
Vertrag zu verletzen und den politischen Körper zur Disposition zu
stellen, kann er und muß er, wenn der politische Körper handlungsfähig
sein soll, einen eigenen Körper mit Akten der Regierung betrauen. Was
nicht heißt, daß er diesem Körper alle Akte der Regierung übertragen
müßte oder auch nur könnte. Um ein Beispiel zu geben, das mehr als ein
Beispiel ist: Die Volksversammlung, die die Form der Regierung für das
Gemeinwesen festlegt, nimmt diese Festlegung, die Gegenstand eines
«politischen Gesetzes» ist, durch einen Akt der Souveränität vor. Wenn
die gleiche Volksversammlung anschließend in einer Wahl entscheidet,
welche Personen mit der Regierung betraut werden sollen, ist eine sol-
che Entscheidung selbst ein Akt der Regierung: Die Volksversammlung
wählt die Treuhänder der exekutiven Gewalt in ihrer Kapazität als Re-
gierung.70 (2) Die Unterscheidung der Funktionen der Souveränität und
der Regierung setzt Rousseau in den Stand, die Lehre von der Souve-
ränität des Volkes mit den unterschiedlichsten Regierungsformen zu
vereinbaren und der demokratischen, der aristokratischen, der monar-
chischen oder der gemischten Regierung je nach den historischen Um-
ständen und den konkreten Gegebenheiten mit großer Flexibilität zu
begegnen. So kann er die Demokratie, in der die Regierung in den Hän-
den des ganzen Volkes oder der großen Mehrheit liegt, die Aristokratie,
in der sie von einer kleinen Zahl oder von einer Elite ausgeübt wird, und
die Monarchie, in der sie einem oder wie in Sparta zwei Königen zu-
fällt, nach den Prinzipien des politischen Rechts als legitime Formen der
Regierung ausweisen und gleichwohl ohne Abstriche darauf bestehen,
daß die Republik, in der die Souveränität den Bürgern in ihrer Gesamt-
heit vorbehalten bleibt, die einzig legitime Form des Gemeinwesens
ist.71 (3) Die Unterscheidung der Funktionen der Souveränität und der
Regierung setzt Rousseau in den Stand, die Unterordnung der Regie-
rung als Institution, Körper oder Organ gegenüber dem Souverän
scharf zu fassen und nichtsdestoweniger das Eigenrecht des corps inter-
médiaire herauszustellen. Die Unterordnung der Regierung kommt
bündig darin zum Ausdruck, daß die Einrichtung der Regierung nicht
auf einen Vertrag zwischen dem Volk und der Regierung, sondern auf

70 III, 17, 1–5 und 7 (433–434). Ebenso übt der Souverän, der sich durch Gesetz das
Recht der Begnadigung vorbehält, dieses Recht im konkreten Fall in seiner
Kapazität als Regierung aus. Cf. I, 5, 5 und 7 (377).
71 III, 3, 1–5 (402–403).

– 196 –
den Willen und die Verfügung des Souveräns zurückgeführt wird. Das
Recht der Regierung beruht auf einem Gesetz, und die Regierenden er-
halten ihr Amt aufgrund einer Entscheidung des Souveräns. Ein Regie-
rungs- oder Herrschaftsvertrag ist mit dem gesellschaftlichen Vertrag
unvereinbar, der keine Teilung der Souveränität zuläßt.72 Daß der Sou-
verän exekutive Befugnisse auf dem Wege der Kommission einem be-
sonderen Körper überträgt, stimmt mit drei Einsichten zusammen:
Zum einen bedarf der politische Körper einer effektiven Zwangsgewalt,
die die Gesetze durchsetzt und so die Grundlage der Freiheit der Bürger
sichert.73 Zum anderen tut dem Gemeinwesen eine Institution not, die
sich kontinuierlich mit den laufenden inneren und äußeren Angelegen-
heiten befaßt und die, im besten Fall, die Erfahrung und den Sachver-
stand, die Urteilskraft und die Entschlossenheit in sich versammelt, um
es zu steuern. Schließlich dient die Delegation exekutiver Zuständigkei-
ten dem Schutz der alleinigen Rechtsquelle, des Souveräns in seiner
eigensten Funktion: Der Körper, in dem sich die volonté générale über
allgemeine Materien aussprechen soll, unterliegt nicht der Gefahr, durch
beständige Entscheidungen über besondere Materien irritiert oder kor-
rumpiert zu werden. Gesetze werden nicht Befehlen assimiliert und
bleiben institutionell von Maßnahmen geschieden.74 (4) Die Definition
der Regierung als eines vermittelnden Körpers zwischen den Bürgern
als Untertanen und den Bürgern als Souverän ist der Ausgangspunkt für
eine Betrachtung der Stärke oder Schwäche der Regierung in Abhän-
gigkeit von der Konzentration oder der Expansion des Körpers: Die
Durchsetzungskraft der Regierung nimmt mit der Zahl der Regieren-
den ab, so daß sie in der «demokratischen» Regierung am schwächsten,
in der «monarchischen» am stärksten ist. Dieser Maxime, die es Rous-
seau ermöglicht, den Gemeinwesen nach der Größe des Territoriums
und der Population unterschiedliche Regierungsformen zuzuordnen –
ein großer Flächenstaat bedarf einer verdichteten Regierung, ein kleiner
Stadtstaat verträgt eine ausgedehnte Regierung  –, liegt ihrerseits eine
Analyse der Kräfte zugrunde, die innerhalb des corps intermédiaire,
oder genauer: der Willen, die in seinen Gliedern wirksam sind. Rous-
seau unterscheidet in der Person des Magistrats drei Willen, die «we-

72 III, 1, 6 (396); III, 16, 1–7 (432–433). Siehe oben S. 158–159.


73 Siehe S. 165.
74 Cf. III, 4, 1–3 (404).

– 197 –
sentlich verschieden» sind: (I) Die volonté propre de l’individu, die auf
den Vorteil des Einzelnen gerichtet ist; (II) die volonté commune des
magistrats oder volonté de corps, die sich einzig auf den Vorteil der Re-
gierung als Körper bezieht; und (III) die volonté du peuple oder volonté
souveraine, die den Regierenden als Bürger bestimmt und auf das Gute
des politischen Körpers geht. In einer «vollkommenen Gesetzgebung»
müßte der erste Wille «null», der zweite «sehr untergeordnet» und folg-
lich der dritte, die volonté générale ou souveraine, «immer herrschend
und die einzige Regel aller anderen» sein. «Gemäß der natürlichen Ord-
nung hingegen werden die verschiedenen Willen in dem Maße aktiver,
in dem sie sich konzentrieren», d. h., je mehr sie auf das Individuum als
natürliches Zentrum Bezug haben. Deshalb ist die volonté générale
«immer am schwächsten», die volonté de corps kommt an zweiter Stelle,
und die volonté particulière «hat den ersten Rang von allen inne»: «so
daß in der Regierung jedes Mitglied zuerst es selbst, dann Magistrat und
dann Bürger ist. Eine Abstufung, die derjenigen direkt entgegengesetzt
ist, die die gesellschaftliche Ordnung erfordert.» Die Diagnose des
Widerstreits der natürlichen und der gesellschaftlichen Ordnung, die
Rousseau in Rücksicht auf den corps intermédiaire der Regierung stellt,
ist offenkundig nicht nur für die Untersuchung der Regierungsformen
und deren Zuordnung zu den unterschiedlichen Gemeinwesen, son-
dern für die Betrachtung des politischen Körpers im ganzen von erheb-
licher Bedeutung.75
Besondere Aufmerksamkeit verdient Rousseaus Erklärung des zwei-
fachen Sinns von gouvernement nicht allein wegen der weitreichenden
Implikationen, die sie für die Betrachtung des politischen Körpers hat.
Besondere Aufmerksamkeit verlangt sie außerdem wegen zweier Eigen-
heiten, die in der Rhetorik des dritten Buches mit ihr verknüpft sind.
Zum einen unterzieht Rousseau die Rede der Tradition von der «besten
Regierung» einer beharrlichen Kritik. Zum anderen erläutert er seine
Lehre von den legitimen «Formen der Regierung» anhand von Regie-
rungen, die nach den Prinzipien des politischen Rechts illegitim sind.
Die Kritik an der «besten Regierung» unterstreicht Rousseaus Hinwen-
dung zur politischen Wirklichkeit und verleiht seiner Maxime Aus-
druck, daß «unterschiedliche Regierungen nicht nur für verschiedene

75 III, 2, 5–7 (400–401), meine Hervorhebung. Cf. III, 1, 17 und 20 (398,399); III,
10, 1 in princ. (421); III, 10, 9 note in fine (423).

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Völker, sondern auch für dasselbe Volk zu unterschiedlichen Zeiten gut
sein können», eine Hinwendung und eine Maxime, die ihrerseits seinem
Bestreben korrespondieren, der «Kunst des Gesetzgebers» einen mög-
lichst großen Gestaltungsraum zu sichern: Die Bestimmung der im
Licht der natürlichen Erfordernisse und der historischen Gegebenhei-
ten angemessenen Form oder Stärke der Regierung, d. h. der passenden
Konzentration oder Expansion des corps intermédiaire, wird dem Urteil
des Législateur übertragen.76 Die Kritik, die im ersten Kapitel einsetzt
und sich bis zum neunten Kapitel steigert,77 kulminiert am Ende der
ersten Hälfte von Buch III in einer ironischen Antwort auf die Frage
nach der besten Regierung und in der nicht minder ironischen Auffor-
derung, die Qualität des Regimes vermittels der Quantität der Bevölke-
rung, nach deren Zu- oder Abnahme, zu berechnen.78 Der politische
Realismus, den Rousseaus Angriffe auf die Doktrin des besten Regimes
herausstellen, darf den Leser nicht darüber hinwegtäuschen, daß der
Contrat social die normative Frage, die die Tradition als die Frage des
besten Regimes erörtert, längst beantwortet hat. Rousseau kann mit sei-
ner Lehre von den «Formen der Regierung» in Buch III so große Flexi-

76 III, 1, 9 (397). III, 2, 13 (402): «… l’art du Législateur est de savoir fixer le point
où la force et la volonté du Gouvernement, toujours en proportion réciproque, se
combinent dans le rapport le plus avantageux à l’Etat.»
77 «On a de tous tems beaucoup disputé sur la meilleure forme de Gouvernement,
sans considérer que chacune d’elles est la meilleure en certains cas, et la pire en
d’autres.» III, 3, 7 (403); cf. III, 7, 3 (413). «Quand donc on demande absolument
quel est le meilleur Gouvernement, on fait une question insoluble comme
indéterminée; ou si l’on veut, elle a autant de bonnes solutions qu’il y a de
combinaisons possibles dans les positions absolues et rélatives des peuples.» III, 9, 1
(419).
78 «Toute chose d’ailleurs égale, le Gouvernement sous lequel, sans moyens
étrangers, sans naturalisations, sans colonies les Citoyens peuplent et multiplient
davantage, est infailliblement le meilleur: celui sous lequel un peuple diminue et
dépérit est le pire. Calculateurs, c’est maintenant votre affaire; comptez, mesurez,
comparez.» III, 9, 4 (420), meine Hervorhebung.  – Den Disput über das Kenn-
zeichen einer guten Regierung zwischen «den Untertanen», die die öffentliche
Ruhe, und «den Bürgern», die die Freiheit der Einzelnen preisen, den Rousseau im
Text von III, 9 nicht entscheidet, entscheidet er, unter ausdrücklicher Berufung auf
Machiavelli, am Ende einer langen Anmerkung, die er dem Kapitel hinzufügt: «Ein
wenig Unruhe gibt den Seelen Spannkraft, und das, was die Gattung wahrhaft
gedeihen läßt, ist weniger der Friede als die Freiheit.» III, 9, 4 note (420).

– 199 –
bilität an den Tag legen, weil das Wichtigste, die Souveränität des Volkes
und der extrakonstitutionelle Ort der Weisheit, seit Buch I und Buch II
feststeht. Die Republik als einzig legitime Form des Gemeinwesens ist
in Rousseaus Untersuchung der «Regierungen» von Beginn an voraus-
gesetzt. Daß er Regierungen als Beispiele heranzieht, denen er keine
Legitimität zusprechen kann, bringt die Erörterung mit der politischen
Wirklichkeit der Leser in Kontakt. Daß er zwischen der eigenen und der
traditionellen Nomenklatur hin- und herwechselt, hat denselben kriti-
schen Sinn wie seine herausfordernde Praxis, die Bezeichnungen Rois
und Prince für die Regierenden und die Regierung zu verwenden, die
die Vorgänger für den Souverän verwandten. Rousseau schickt der Ver-
handlung der Regierung mit Grund eine Warnung voraus.
Die Aristokratie ist die Regierungsform, der Rousseau das zentrale
Kapitel seiner Erörterung der Regierungen widmet. Mit der Monarchie
hat sie gemein, daß Rousseau nur diese beiden Regierungen in eine
Konjunktion mit der Weisheit bringt. Im Falle der Aristokratie ist die
Konjunktion positiv, im Falle der Monarchie negativ. Aristokratie und
Monarchie bezeichnen die eigentlichen Pole der Auseinandersetzung.79
Rousseau unterscheidet drei Arten von Aristokratie, eine natürliche,
eine auf Wahl gegründete und eine erbliche. Bei der «natürlichen» Ari-
stokratie, von der er sagt, daß sie «nur für einfache Völker geeignet» sei,
handelt es sich nicht um eine Regierung im technischen Sinne Rous-
seaus, sondern um ein Regime, in dem die Autorität der Erfahrung bzw.
dem Alter zugebilligt, das heißt das Gute mit dem Hergebrachten
gleichgesetzt wird.80 Die erbliche Aristokratie, in der die politische Be-
fugnis mit den Gütern des Vaters auf die Kinder übergeht, ohne daß der

79 «De l’Aristocratie», ist das fünfte der neun Kapitel der ersten Hälfte von Buch
III, die sich mit der Regierung unmittelbar, und das dritte der fünf Kapitel, die sich
mit den Formen der Regierung im besonderen befassen. III, 3: «Division des
Gouvernemens»; III, 4: «De la Démocratie»; III, 5: «De l’Aristocratie»; III, 6: «De
la Monarchie»; III, 7: «Des Gouvernemens mixtes». Zur Weisheit (sagement
gouverné, les plus sages, l’extrême sagesse) siehe III, 5, 5; III, 5, 7; III, 5, 5 note (407)
und (sage, sagesse jeweils kontrastierend gebraucht) III, 6, 11 (411); III, 6, 13 (412).
80 «Les premieres sociétés se gouvernèrent aristocratiquement. Les chefs des
familles délibéroient entre eux des affaires publiques; Les jeunes gens cédoient sans
peine à l’autorité de l’expérience. Delà les noms de Prêtres, d’anciens, de sénat, de
Gérontes. Les sauvages de l’Amérique septentrionale se gouvernent encore ainsi de
nos jours, et sont très bien gouvernés.» III, 5, 2 (406).

– 200 –
Souverän gefragt wird oder eingreift, nennt Rousseau «die schlechteste»
von allen legitimen Regierungen, die auf Wahl gegründete dagegen «die
beste»: sie ist «die Aristokratie im eigentlichen Sinne». Gegenüber der
Demokratie hat die Aristokratie drei wichtige Vorzüge: (1) Die legisla-
tive und die exekutive Gewalt liegen nicht in den gleichen Händen, so
daß die Ausübung der souveränen Gewalt nicht mit den gewöhnlichen
Anordnungen und Einzelentscheidungen verwirrt wird. (2) Anders als
in der Demokratie, wo alle Bürger zu Magistraten geboren werden, ist
die Regierung in der Aristokratie auf eine kleine Zahl begrenzt, und die
Magistrate erhalten ihr Amt nur durch Wahl. (3) Die Ratsversammlun-
gen, die mit den Regierungsgeschäften befaßt sind, können leichter zu-
sammentreten, die anstehenden Angelegenheiten besser erörtert und
effizienter erledigt werden, und «das Ansehen des Staates wird im Aus-
land durch ehrwürdige Senatoren besser gewahrt als durch eine un-
bekannte oder verachtete Menge». Der zentrale Vorzug, die Wahl der
Regierenden, macht die Vergabe der öffentlichen Ämter von der öffent-
lichen Wertschätzung der Personen, ihrer Fähigkeiten und Tugenden,
abhängig und eröffnet dem Législateur die Möglichkeit, steuernd Ein-
fluß zu nehmen, da die estime publique ihrerseits von der opinion der
Bürger abhängt, mit der sich der Législateur «im Geheimen befaßt».
Wenn die Rechtschaffenheit, die Einsicht und Aufgeklärtheit, die Er-
fahrung bei der Wahl der Regierenden den Ausschlag geben, sind diese
Qualitäten «ebenso viele zusätzliche Garanten dafür, daß man weise re-
giert wird». Die lumières der magistrats in III, 5 stehen in einem mehr
als nur untergründigen Zusammenhang mit der sagesse des grand Légis-
lateur, die Rousseau zehn Kapitel zuvor in das Argument des Traktats
eingeführt hat. Die Auszeichnung der Aristokratie unter den Formen
der Regierung markiert nach der Betonung der Kunst des Gesetzgebers
die größte Annäherung von Rousseaus politischer Lehre an die der
Alten.81 Rousseau weist darauf hin, daß die Aristokratie «einige Tugen-

81 «En un mot, c’est l’ordre le meilleur et le plus naturel que les plus sages
gouvernent la multitude, quand on est sûr qu’ils la gouverneront pour son profit et
non pour le leur» III, 5, 7 (407). Vergleiche die Liste der Vorzüge, deren es auf seiten
der Regierenden bedarf, damit die Bürger «weise regiert werden», la probité, les
lumières, l’experience, in III, 5, 5 (407) mit der Liste der Eigenschaften, «die in einem
gut verfaßten Staat allen Bürgern gemeinsam sind», le bon-sens, la justice, l’intégrité,
in IV, 3, 8 (443).

– 201 –
den weniger» erfordert als die Demokratie, aber dafür andere, «die ihr
eigen sind». Als Beispiel nennt er Mäßigung bei den Reichen und Ge-
nügsamkeit bei den Armen, «denn es scheint, daß eine strenge Gleichheit
hier nicht am Platze wäre; sie wurde nicht einmal in Sparta eingehalten».
Daß die Aristokratie insonderheit den Weisen Mäßigung abverlangte,
stellt er nicht heraus.82
Die Monarchie scheint von Rousseau auf den ersten Blick als eine
Regierungsform wie alle anderen behandelt zu werden. Ihre Besonder-
heit bestünde nach der in den Kapiteln III, 1–5 verwendeten Nomen-
klatur darin, daß die juristische Person des «Fürsten» mit der natür-
lichen Person des Monarchen zusammenfällt, daß das Kollektiv der
«Könige» sich auf einen einzigen König reduziert oder daß der Körper
der Regierung als Ein physischer Körper in Erscheinung tritt. Da die
volonté de corps des prince und die volonté particulière des magistrat in
der Monarchie Eins sind, erreicht die Regierung ein Maximum an Kraft.
Wenn die volonté particulière des Monarchen, die ohne Reibungsver-
luste mit anderen Magistraten über die exekutive Gewalt gebieten kann,
außerdem die volonté du peuple dominiert, «bewegt sich alles nach
demselben Ziel». Damit aber endet die Betrachtung der Monarchie als
legitimer Regierung. Rousseau setzt sogleich hinzu, daß das Ziel, an
dem der Monarch die Maschine des Staates so effizient ausrichtet, nicht
die «öffentliche Glückseligkeit» ist. «Die Könige wollen absolut sein».
Sie wollen nicht «Könige» im Sinne von Rousseau, sie wollen nicht
«Minister» des Souveräns, sie wollen selbst der Souverän sein. Der
Monarch, der König, der Fürst, der in Kapitel III, 6 verhandelt wird,
negiert den Souverän des Contrat social. Deshalb hat der souverain im
Kapitel «De la Monarchie» keinen Ort; deshalb unterscheidet Rousseau
darin den gouvernement monarchique vom gouvernement républicain;
deshalb stellt er, von der technischen Sprache des Traktats abweichend,
die Monarchie gegen die Republik.83 Zu Beginn der Kritik des Fürsten,

82 III, 5, 4 (406); beachte III, 10, 3 note (422). III, 5, 5–6 (406–407); cf. S. 171–172
und 183–186. III, 5, 9 (407); cf. Anm. 81 und S. 172–173 sowie 188–189.
83 Hilail Gildin hat darauf hingewiesen, daß das Wort souverain, das in allen
anderen Kapiteln, in denen Rousseau die Formen der Regierung erörtert, vor-
kommt, einzig im Kapitel über die Monarchie unerwähnt bleibt: Rousseau’s «Social
Contract». The Design of the Argument. Chicago 1983, p. 114. Zur Unterscheidung
von Monarchie und Republik siehe III, 6, 5 (409); III, 6, 8 (410); III, 6, 13 (412);
beachte ferner III, 8, 6 (415); III, 8, 7–8 (416). Cf. II, 6, 9 note (380).

– 202 –
der tatsächlich in Rede steht, erklärt Rousseau, weshalb die Könige, die
unumschränkt herrschen wollen, nicht der Maxime folgen, daß die
Liebe ihrer Völker zu gewinnen, das beste Mittel zur Sicherung ihrer
Herrschaft sei: Der absolute Fürst wird sich nicht auf die Macht verlas-
sen, die ihm aus der Liebe der Untertanen erwachsen kann, da diese
Macht für ihn prekär bleibt und ihm nur bedingungsweise zufällt, d. h.,
er vermag sie nicht durch das, was bei ihm steht, zu kontrollieren oder
zu erzwingen. Im Unterschied zu der Macht, die ihm aus der Furcht der
Untertanen erwächst, da es bei ihm steht, Schrecken zu verbreiten und
sich durch Strafen Gehorsam zu verschaffen. Rousseau buchstabiert das
Argument nicht aus, das Machiavelli in einem berühmten Kapitel des
Principe vortrug. Aber er verweist den Leser nachdrücklich an «das
Buch der Republikaner». Am Ende seiner Kritik kommt er darauf zu
sprechen, daß «unseren Autoren» die Wirklichkeit der Monarchie, die
er beleuchtet hat, nicht entgangen sei, daß sie sich von ihr indes nicht in
Verlegenheit bringen ließen.84 «Das Heilmittel, sagen sie, ist, ohne Mur-
ren zu gehorchen. Gott gibt die schlechten Könige in seinem Zorn, und
man muß sie als Strafen des Himmels ertragen.» So wie Rousseau am
Ende seiner Kritik des Rechts des Stärkeren in Kapitel I, 3 das Paulus-
Wort «Alle Macht kommt von Gott» ins Spiel brachte, so ruft er jetzt
den politischen Sinn jenes Wortes, die theologische Legitimierung illegi-
timer Herrschaft, in Erinnerung. Und wie an der ersten Stelle beschränkt
er sich abermals auf eine knappe ironische Zurückweisung der theologi-
schen Position. Zu ihren prominentesten Vertretern zählte Jean Calvin.85

84 Zuvor hat Rousseau den politiques royaux entgegengehalten, daß sie dem
Fürsten alle Tugenden beilegen, die er nötig hätte, und immer unterstellen, «daß der
Fürst ist, was er sein sollte». III, 6, 14 (412); cf. I, 7, 5 (363).
85 III, 6, 16 (413); siehe S. 155 und S. 189–192 sowie Anm. 63. «… la parolle de Dieu …
nous rendra obéissans non seulement à la domination des Princes qui iustement
font leur office, et s’acquittent loyallement de leur devoir, mais à tous ceux qui sont
aucunement en prééminence, combien qu’ils ne facent rien moins que ce qui
appartient à leur estat. Car combien que nostre Seigneur testifie que le Magistrat
soit un don singulier de sa libéralité, donné pour la conservation du salut des
hommes, et qu’il ordonne aux Magistrats ce qu’ils ont à faire, néantmoins
semblablement il déclaire que quels qu’ils soyent ne comment qu’ils se gouvernent,
qu’ils n’ont la domination que de luy. Tellement que ceux qui n’ont esgard en leur
domination qu’au bien publique sont vrais miroirs et comme exemplaires de sa
bonté; d’autre part, ceux qui s’y portent iniustement et violentement sont eslevez de
luy pour punir l’iniquité du peuple. Mais les uns et les autres semblablement tiennent

– 203 –
Die Usurpation der Souveränität durch den «Fürsten» ist das über-
greifende Thema der zweiten Hälfte von Buch III. Sie wird von Rous-
seau als die beständige Gefahr gekennzeichnet, unter der der politische
Körper steht. Nicht nur die Könige wollen absolut sein. Die Regierung
wirkt in einem fort der Souveränität entgegen. Die Exekutive weitet
ihre Macht zu Lasten der Legislative aus. Und da es im politischen Kör-
per keine volonté de corps gibt, die derjenigen des Fürsten ebenbürtig
wäre, «muß es früher oder später dahin kommen, daß der Fürst schließ-
lich den Souverän unterdrückt und den gesellschaftlichen Vertrag
bricht.» Die Tendenz zur Usurpation der Souveränität ist nicht weniger
als das «inhärente und unvermeidliche Laster» oder der Grundfehler,
der «von der Geburt des politischen Körpers an ohne Ablaß» dessen
Zerstörung betreibt, «so wie das Alter und der Tod den Körper des
Menschen zerstören». Rousseau greift auf die Rede vom Alter und vom
Tod keineswegs beiläufig zurück. Er spricht nicht nur von der «natür-
lichen Neigung» der Regierung, sich zusammenzuziehen oder zu ver-
dichten, d. h., von der Demokratie zur Aristokratie und von der Aristo-
kratie zum Königtum überzugehen. Er nennt auch die Auflösung des
Staates als Folge der Usurpation der souveränen Gewalt durch die
Regierung (sei es durch den Fürsten insgesamt, sei es durch einzelne
Mitglieder) oder die «Degeneration» in Ochlokratie, Oligarchie und
Tyrannis den «natürlichen und unvermeidlichen Hang der am besten
verfaßten Regierungen». Der «Tod des politischen Körpers» erhält im
Contrat social ein eigenes Kapitel, da kein «Werk der Kunst» sich auf
Dauer gegen die Natur zu behaupten vermag und die Politik ihre an-
thropologischen Bedingungen nicht verleugnen kann. «Wenn Sparta
und Rom untergegangen sind, welcher Staat könnte dann hoffen, für
immer zu bestehen?» Die Erkenntnis der Prinzipien des politischen
Rechts setzt den Philosophen in den Stand, dem Bürger vor Augen zu
führen, was die Ketten des bürgerlichen Zustands «legitim machen»
kann. Aber mit ebendieser Erkenntnis ist die Einsicht verbunden, daß
nichts und niemand das legitime Gemeinwesen «ewig machen» wird.86

la dignité et maiesté laquelle il a donnée aux supérieurs légitimes.» Jean Calvin:


Institution de la Religion Chrestienne (1560). IV, 20, 25, Ed. Jean-Daniel Benoit
(Paris 1961), p. 530, meine Hervorhebung.
86 I, 1, 1 (351) und III, 11, 1 (424): «… ne songeons donc point à le rendre éternel.»
Cf. Thomas Hobbes: Leviathan II, 30: «… so, long time after men have begun to

– 204 –
Der Änderung der menschlichen Natur durch den Législateur, der es
unternimmt, Individuen in Bürger zu verwandeln, sind Grenzen ge-
setzt. Auch seine Kunst weiß nicht zu verhindern, daß die volonté parti-
culière «ohne Unterlaß» gegen die volonté générale agiert, und das gilt,
wie Rousseaus Untersuchung des corps intermédiaire in ständiger
Rücksicht auf den corps politique als ganzen zeigt, sowohl für die magis-
trats als auch für die citoyens bzw. die sujets. Der Grundfehler, der dem
politischen Körper inhärent ist, kann vom Législateur nicht behoben, er
kann nur in aller Schärfe kenntlich gemacht werden, damit die Bürger
unternehmen, was in ihren Kräften steht, um der Usurpation der Souve-
ränität entgegenzuwirken. Die drei Kapitel «Comment se maintient
l’autorité souveraine» (III, 12–14), die auf «De la mort du corps poli-
tique» folgen und das Gegenstück zu den drei Kapiteln «Du peuple» (II,
8–10) in der Verhandlung der Kunst des Gesetzgebers des vorangehen-
den Buches bilden, sind eine einzige Aufforderung an die Adresse der
Bürger, die souveräne Autorität zu wahren, sie entschlossen gegen jeden
Übergriff zu verteidigen und sie wachsam vor schleichender Erosion zu
schützen. Die Emphase, die Rousseau auf die Gefahr der Usurpation
der Souveränität legt, hat ihren tiefsten Grund darin, daß er in der sou-
veränen Autorität «das Prinzip des politischen Lebens» verortet. Mit
ihrer Ausübung steht und fällt das Bürgersein. In der Verteidigung und
im Schutz der Souveränität des Volkes bewähren sich die Untertanen als
Bürger. Die drei Kapitel, die von der Notwendigkeit und der Möglich-
keit der Volksversammlung (III, 12), von institutionellen Vorkehrungen
zu deren regelmäßiger Einberufung (III, 13) und von ihrem geordneten
Ablauf (III, 14) handeln, steuern geradewegs auf den Kern des politi-
schen Lebens zu.87

constitute commonwealths, imperfect, and apt to relapse into disorder, there may
principles of reason be found out, by industrious meditation, to make their
constitution, excepting by external violence, everlasting. And such are those which
I have in this discourse set forth: which whether they come not into the sight of
those that have power to make use of them, or be neglected by them, or not,
concerneth my particular interests, at this day, very little.» Ed. Michael Oakeshott
(Oxford 1946), p. 220.
87 III, 10, 1–3 (421); III, 10, 5–8 (422–423); III, 11, 1–2 (424). «Le principe de la vie
politique est dans l’autorité Souveraine. La puissance législative est le cœur de
l’Etat, la puissance exécutive en est le cerveau, qui donne le mouvement à toutes les
parties. Le cerveau peut tomber en paralysie et l’individu vivre encore. Un homme

– 205 –
So wie der politische Körper sein Zentrum in der souveränen Autori-
tät der Bürger hat, so hat das politische Leben des Bürgers seinen Kern
im Einsatz für die Republik. Die Teilhabe an der Souveränität und der
Dienst am Staat geben dem politischen Leben den Gehalt, um sich im
Horizont des politischen Körpers zu verstehen, von ihm her sich be-
stimmend und auf ihn hin sich entwerfend. Für den Bürger, der sich mit
dem moi commun identifiziert, wird die Ausrichtung am corps politique,
oder präziser gesprochen: am corps politique im Blick auf dessen beste
Möglichkeiten, zum eigentlichen Schwergewicht des Lebens. Seine
Identifikation und seine Partizipation sind zwei Seiten derselben öf-
fentlichen Sache, die ihn bewegt und erfüllt. Das politische Leben und
der politische Körper werden mithin durch zwei Gefahren bedroht.
Zum einen durch die Usurpation der höchsten Gewalt, die die Partizi-
pation zunichte macht. Zum anderen durch die Atrophie des Einsatzes
der Bürger, die die Identifikation mit der Republik zerfallen läßt. Da die
beiden Gefahren ineinander verschränkt sind, appelliert Rousseau mit
der Warnung vor der Usurpation der souveränen Autorität an den Bür-
gersinn, um im Anschluß an die Kapitel zur Wahrung der Souveränität
den Niedergang des politischen Lebens, der der Usurpation in die
Hände spielt, der Kritik zu unterwerfen. «Sobald der öffentliche Dienst
aufhört, die hauptsächliche Angelegenheit der Bürger zu sein», beginnt
Rousseau III, 15, «und sie lieber mit ihrer Börse dienen als mit ihrer
Person, ist der Staat seinem Untergang schon nahe. Muß man in den
Kampf ziehen? Sie bezahlen Truppen und bleiben daheim. Muß man in
den Rat gehen? Sie ernennen Abgeordnete und bleiben daheim. Durch
Faulheit und Geld haben sie schließlich Soldaten, die das Vaterland
knechten, und Vertreter, die es verkaufen.» Das Kapitel «Des députés
ou réprésentans» ist von Anfang an auf Provokation angelegt. Berühmt-
heit haben die Aussagen erlangt, daß die Souveränität nicht repräsen-
tiert werden kann und daß es dem Souverän künftig nur möglich sein
werde, seine Rechte zu wahren, wenn das Gemeinwesen «sehr klein»
sei.88 Die erste Aussage wiederholt indes lediglich, woran der Prinzipi-

reste imbécille et vit: mais sitôt que le cœur a cessé ses fonctions, l’animal est mort.»
III, 11, 3 (424).
88 «La Souveraineté ne peut être réprésentée, par la même raison qu’elle ne peut
être aliénée; elle consiste essenciellement dans la volonté générale, et la volonté ne se
réprésente point: elle est la même, ou elle est autre; il n’y a point de milieu. Les

– 206 –
enteil keine Unklarheit gelassen hatte: die Souveränität, die volonté
générale, ist präsentisch, oder sie ist nicht. Und bei der zweiten handelt
es sich nicht um einen Definitivartikel, sondern um die Formulierung
einer Erwartung, die einer Maxime der politischen Klugheit Geltung
verleiht.89 Die wahre Provokation des Kapitels liegt nicht in der Kritik
der Repräsentation an ihr selbst, sondern in der Kritik der Wertschät-
zungen der modernen Welt und in dem Bild des politischen Lebens, das
es vermittels dieser Kritik umreißt. Die Kritik der Abgeordneten oder
der Vertreter ist, wie die Eröffnung des Kapitels zeigt, zuallererst eine
Kritik der Bürger, die sich vertreten lassen, die ihre Rechte als Glieder
des corps politique nicht ausüben und sich von ihren Pflichten loskaufen
wollen. Sie gilt der Meinung, die Ablösung öffentlicher Aufgaben,
Dienste, Tätigkeiten sei für den Bürger gleichbedeutend mit einem Ge-
winn an Freiheit. Sie zielt auf die Ausdünnung und Minderung, die Par-
zellierung und Kupierung seiner Existenz. Emblematisch kommt Rous-
seaus Herausforderung in seinem Lob der Frondienste, die der Freiheit
weniger entgegenstünden als die Steuern, und in seinem Angriff auf die
moderne Hochschätzung von Kommerz, Geld und Finanzen zum Aus-
druck. «Das Wort Finanz ist ein Sklavenwort; in der Polis ist es unbe-
kannt. In einem wahrhaft freien Staat tun die Bürger alles mit ihren
Händen und nichts mit Geld. Weit davon entfernt, daß sie zahlten, um
sich von ihren Pflichten zu befreien, würden sie zahlen, um sie selbst zu
erfüllen.» Der Bürger im eminenten Sinne, der citoyen im Unterschied
zum bourgeois,90 macht die Sache des Gemeinwesens zu seiner Sache. Er

députés du peuple ne sont donc ni ne peuvent être ses réprésentans, ils ne sont que
ses commissaires; ils ne peuvent rien conclurre définitivement. Toute loi que le
Peuple en personne n’a pas ratifiée est nulle; ce n’est point une loi.» III, 15, 5 (429–
430), meine Hervorhebung. «Tout bien examiné, je ne vois pas qu’il soit désormais
possible au Souverain de conserver parmi nous l’exercice de ses droits si la Cité n’est
très petite.» III, 15, 12 (431).
89 Beachte den emphatischen Hinweis auf die Versammlungen des römischen
Volkes und deren eingehende Erörterung in den Kapiteln III, 12 und IV, 4 sowie
S. 184–185. In den Considérations sur le gouvernement de Pologne wird Rousseau
ein Jahrzehnt später darlegen, wie die Reform des größten Flächenstaates Europas
nach den Prinzipien des politischen Rechts zu bewerkstelligen wäre.
90 Rousseau hat die politisch-philosophische Unterscheidung von citoyen und
bourgeois im Émile eingeführt, den er parallel zum Contrat social veröffentlichte:
I, p. 249–250.

– 207 –
zieht sich aus den öffentlichen Angelegenheiten nicht zurück, sondern
sucht sie aktiv auf. Das «gemeinsame Glück» ist ein wesentlicher Teil
seines eigenen Glücks. Er findet sich selbst, er aktualisiert seinen amour
de soi und seinen amour-propre, im Einsatz für die Republik.91 Die Pro-
vokation, die in der Präsentation des politischen Lebens liegt, wird nur
noch überboten durch die Provokation, die die Infragestellung des poli-
tischen Idealismus im Rückgang auf die Natur bedeutet. Denn das Ka-
pitel kulminiert in einem dramatisch in Szene gesetzten Moment, in
dem Rousseaus philosophischer Vorbehalt gegen das politische Leben
aufscheint. Rousseau verweist auf die Griechen, bei denen das Volk
«ohne Unterlaß» auf der Agora versammelt gewesen sei, um alles, was
es zu tun hatte, selbst zu tun. Ihre Sache war die Freiheit. Doch ihre
Freiheit hatte ein günstiges Klima, d. h. Bedingungen, die sich ihrer Ge-
staltungsmacht entzogen, und sie hatte die Unfreiheit der Sklaven zur
Voraussetzung, die die Arbeit taten. Dem Beispiel der Griechen folgt
der Ausruf: «Was! Die Freiheit läßt sich nur gestützt auf die Knecht-
schaft aufrechterhalten? Vielleicht. Die beiden Extreme berühren sich.
Alles, was nicht in der Natur ist, hat seine Unzuträglichkeiten, und die
bürgerliche Gesellschaft mehr als alles übrige.» An die modernen Völ-
ker gewandt, setzt Rousseau hinzu: «Ihr habt keine Sklaven, aber ihr
seid Sklaven; ihr bezahlt ihre Freiheit mit der euren. Ihr mögt euch die-
ses Vorzugs rühmen; ich finde mehr Feigheit als Menschlichkeit
darin.»92

91 «Mieux l’Etat est constitué, plus les affaires publiques l’emportent sur les
privées dans l’esprit des Citoyens. Il y a même beaucoup moins d’affaires privées,
parce que la somme du bonheur commun fournissant une portion plus considérable
à celui de chaque individu, il lui en reste moins à chercher dans les soins
particuliers … Sitôt que quelqu’un dit des affaires de l’Etat, que m’importe? on doit
compter que l’Etat est perdu.» III, 15, 3 (429). Siehe S. 169–170 und cf. Über das
Glück des philosophischen Lebens, p. 161–163.
92 III, 15, 1 (428–429). III, 15, 2 (429); cf. zum Lob der Frondienste außerdem
Projet de constitution pour la Corse, p. 930 und 932 sowie Considérations sur le
gouvernement de Pologne XI, 5 und 10, p. 1006, 1009. III, 15, 9–10 (430–431); cf.
Lettres écrites de la montagne IX, 45, p. 881: «Les anciens Peuples ne sont plus un
modele pour les modernes; ils leur sont trop étrangers à tous égards. Vous surtout,
Génevois, gardez votre place … Vous êtes des Marchands, des Artisans, des Bour-
geois, toujours occupés de leurs intérêts privés, de leur travail, de leur trafic, de leur
gain; des gens pour qui la liberté même n’est qu’un moyen d’acquérir sans obstacle
et de posséder en sûreté.»

– 208 –
Was es mit den Sklaven aus Feigheit genauer auf sich hat und woher
der Geist der Knechtschaft bei den Neueren am Ende rührt, darauf wird
Rousseau erst im zweitletzten Kapitel des vierten Buches zu sprechen
kommen. Die Grenzen, die dem politischen Leben gesetzt sind, stellt
das dritte Buch dagegen deutlich heraus. Die Analyse des corps intermé-
diaire und das Bild des citoyen im anspruchsvollen Verstande geben den
Blick frei auf den Zwang der Konventionen, denen es unterliegt, und die
Macht der Illusionen, die ihm innewohnen. Das Buch gibt indes nicht
nur Aufschluß über die Ketten, die dem bürgerlichen Zustand nicht
abgenommen werden können, da er «nicht in der Natur ist».93 Es hält
darüber hinaus, die Erörterung der zweiten Hälfte von Buch II wieder-
aufnehmend und sie fortführend, ausdrücklich fest, daß die Ketten kei-
neswegs an jedem Ort und zu jeder Zeit «legitim gemacht» werden kön-
nen: Die politische Freiheit «ist nicht in der Reichweite aller Völker».
Der politische Körper bleibt an natürliche Bedingungen und historische
Voraussetzungen gebunden, die nicht überall anzutreffen und nicht
jederzeit ins Werk zu setzen sind. Wird dem Leser in Buch II bedeutet,
daß es in Europa gegenwärtig so gut wie kein Land gibt, das eine Ein-
richtung im Sinne des Contrat social erhalten könnte, so erfährt er in
Buch III, daß nur «sehr wenige Nationen» Gesetze haben und daß dort,
wo es Gesetze gibt, d. h., wo es gelungen ist, einen politischen Körper ins
Leben zu rufen, dieser von Geburt an den Keim des Todes in sich trägt.
Gesetze gemäß den Prinzipien des politischen Rechts gibt es einzig in
einem politischen Körper, in dem die souveräne Autorität intakt ist
oder, was ebensoviel besagt, in dem sie vom Volk ausgeübt zu werden
vermag. Denn Gesetze sind Akte der volonté générale nicht nur, inso-
fern die volonté générale sich in ihnen ausgesprochen hat, sondern inso-
fern sie sich in ihnen beständig ausspricht. Sie gelten, weil die volonté
générale sie nicht ändert oder aufhebt, obgleich sie sie ändern oder auf-

93 Der dramatische Höhepunkt von III, 15, Rousseaus Aussage über die société
civile, setzt das Lob in Perspektive, das der Anwalt des gesellschaftlichen Vertrags
in Kapitel I, 8 «De l’état civil» vorgetragen hat. Ein Lob, das so formuliert ist, daß
der Leser nur allzu bereitwillig über die entscheidende Einschränkung, an die es
geknüpft ist, hinwegsehen mag: «…que si les abus de cette nouvelle condition [sc.
l’état civil] ne le dégradoient souvent au dessous de celle [sc. la condition ou l’état de
nature] dont il est sorti, il [sc. l’homme] devroit bénir sans cesse l’instant heureux
qui l’en arracha pour jamais …» I, 8, 1 (364), meine Hervorhebung.

– 209 –
heben könnte.94 Die Usurpation der Souveränität trifft das legitime Ge-
meinwesen deshalb ins Herz. Und da Rousseau den Grundfehler des
politischen Körpers in letzter Instanz auf einen notwendigen Wider-
spruch zwischen der natürlichen Ordnung und der gesellschaftlichen
Ordnung zurückführt, steht das längste mehr als jedes andere Buch des
Contrat social unter dem Horaz-Wort, wonach die Natur schließlich
den Sieg über das Werk der Kunst davonträgt.

94 III, 8, 1 (414); III, 15, 8 (430); cf. II, 10, 5 (391) und II, 10, 6 (391). III, 11, 3–5
(424–425).

– 210 –
IV

Die Grenzen der Politik, die die Bücher II und III des Contrat social
transpolitisch und politisch bestimmen, nimmt Buch IV historisch in
den Blick. Zum Rückgang auf die Natur, die dem politischen Körper
vorausliegt und über ihn hinausreicht, und zur Untersuchung der Not-
wendigkeiten, die in seinem inneren Gefüge wirksam sind, tritt am
Ende des Traktats die Verhandlung der Macht hinzu, die ihm in der Ge-
schichte am meisten widerstreitet. Wie das Plädoyer für das Recht der
Politik hat auch die Betrachtung der Grenzen der Politik ihren Flucht-
punkt im Kapitel über die Religion, in dem alle wichtigen Argumenta-
tionslinien und Handlungsstränge des Contrat social zusammenlaufen.
Doch schon bevor Rousseau die Theokratie und das Christentum im
zweitletzten Kapitel zum erstenmal beim Namen nennt, ist das vierte
Buch in besonderer Weise der Geschichte zugewandt. Den Hauptteil
bilden die vier Kapitel, die sich mit den römischen Institutionen befas-
sen, mit den Komitien (IV, 4), dem Tribunat (IV, 5), der Diktatur (IV, 6)
und der Zensur (IV, 7). Daß Rousseau ihnen soviel Gewicht gibt, hat
zwei Gründe. Zum einen fällt ihnen die Aufgabe zu, die politische Ord-
nung eines vorchristlichen Gemeinwesens zur Anschauung zu bringen
und so die Darstellung der historischen Zäsur vorzubereiten, die das
Christentum bedeutet (IV, 8). Zum anderen dient die Erörterung der
Institutionen des «freiesten und mächtigsten Volkes der Erde» dazu,
dem Leser vor Augen zu führen, wie die Prinzipien des politischen
Rechts ausgelegt werden können und angewandt werden müssen, damit
ein politischer Körper sich, für einige Zeit, im Leben erhalte.95 Mit den

95 IV, 4, 2 (444). Die Kommentatoren, die die Kapitel IV, 4–7 für mehr oder
weniger vernachlässigbar halten oder meinen, Rousseau habe sie als Füllmaterial
gebraucht, um zu einem vierten Buch zu kommen, das in etwa dem Umfang der
drei vorangegangenen Bücher entspricht, verkennen die beiden wichtigen Funk-
tionen, die die vier Kapitel erfüllen. Wenn ich aus Gründen der Ökonomie dieses
Essays Rousseaus Diskussion der römischen Institutionen – wie manches andere –

– 211 –
Kapiteln IV, 4–8 schlägt Rousseau den Bogen zu den Kapiteln der zwei-
ten Hälfte von Buch II zurück, die die Kunst des Gesetzgebers zum
Thema gemacht und das Augenmerk zuerst auf die Voraussetzungen
gerichtet haben, unter denen die Prinzipien des politischen Rechts zu
verwirklichen oder aber nicht zu verwirklichen sind. Das gilt für das
vierte Buch beinahe in seiner Gesamtheit, denn auch die Kapitel IV, 1–3
befassen sich mit den historischen Bedingungen, an die die Verkörpe-
rung der Prinzipien gebunden ist, und mit den Maximen, die bei deren
Implementierung Beachtung verdienen. Das vierte knüpft an das zweite
Buch an, aber die Betonung liegt in ihm nicht länger auf dem Problem
der Gründung, sondern auf den Schwierigkeiten der Bewahrung des
legitimen Gemeinwesens, das erst mit der Einführung der Regierung in
Buch III seine Aktionsfähigkeit erreicht hat. Zwischen den Büchern II
und IV stehen die Komposition und die Dekomposition des politischen
Körpers, die Beschreibung seines Lebens und seines Todes, die Sektion
und die Diagnose der Usurpation der souveränen Gewalt als seiner be-
ständigen Gefahr. Es ist nur folgerichtig, daß die ersten Kapitel des letz-
ten Buches den Zentralbegriff des Prinzipienteils noch einmal heraus-
stellen (IV, 1–3). Rousseau verdeutlicht ex negativo, er erhellt aus dem
historischen Verlust, er unterstreicht durch die Aussicht ihres schließ-
lichen «Verstummens» die Voraussetzungen, deren es bedarf, damit die
volonté générale sich auszusprechen vermag und «alle Charakteristika»
aufweist. Jetzt, da das Bild des Gemeinwesens mit der Trias Souverain,
Législateur, Gouvernement vollständig und die Gefahr seiner Zerstö-
rung benannt ist, tritt als conditio sine qua non der legitimen Ordnung
klar hervor, daß die Bürger in der Volksversammlung comme citoyens
abstimmen und daß ihr Handeln als Glieder des corps politique am bien
publique ausgerichtet ist.96 Die Frage, wie der Wille der Bürger so am
Guten des politischen Körpers ausgerichtet werden könne, daß er an
sein Ziel gelangt, hat am Ende des Prinzipienteils den Législateur auf
den Plan gerufen (II, 6). Zu Beginn von Buch IV macht Rousseau darauf
aufmerksam, daß die Einfachheit der Verhältnisse, der Sitten und der

knapp behandle, so ist mir das große Interesse bewußt, das ihr für Rousseaus
politische Lehre im engeren Sinn zukommt: Hier steht sie neben den eingehenden
Analysen, die Rousseau zu den Gemeinwesen von Genf, Korsika und Polen
vorgelegt hat.
96 IV, 1, 4–6 (438); IV, 2, 9 (441); IV, 3, 8 (443). Siehe S. 165–169.

– 212 –
Bürger selbst bewirken mag, was unter anderen historischen Bedingun-
gen die Weisheit des Gesetzgebers ins Werk setzen muß: die Verbindung
von Wille und Urteil. Solange das «gesellschaftliche Band in den Her-
zen» intakt ist, die politischen Erfordernisse überschaubar bleiben und
«das gemeinsame Gute sich überall mit Evidenz zeigt», bedarf es «sehr
weniger Gesetze», und die Gesetzgebung erfolgt in großer Einmütig-
keit. Die simplicité steht offenbar für die sagesse ein.97 Da der Zustand
der Einfachheit aber fragil ist und die Einfachheit sich nicht selbst auf-
zuhelfen weiß, wird der Leser gut daran tun, im Lob der Einfachheit,
das das abschließende Buch des Contrat social eröffnet, den Hinweis auf
die sekundäre Einfachheit zu sehen, die in der Kunst des Gesetzgebers,
dem Wissen des Staatsmanns, der Erkenntnis des Philosophen gründet
und durch Institutionen ermöglicht, vom Glauben getragen, vermittels
Erziehung erreicht wird.
Die Maximen der politischen Klugheit, die den Prinzipien des politi-
schen Rechts im Contrat social zur Seite stehen, nehmen im vierten
Buch mehr Raum ein als in jedem davor. Im Unterschied zu den Prinzi-
pien, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen, stellen die Maximen auf
die besonderen Umstände ab. Sie haben, erfahrungsgesättigt, die kon-
krete Situation und die praktische Zweckdienlichkeit im Blick. Zum
erstenmal kommen sie zur Sprache, nachdem der Anwalt der Bürger die
Prinzipien des politischen Rechts dargelegt hat und die Weisheit in II, 7
zum Thema wird. Rousseau nennt die «gesunden Maximen der Politik»
in einem Atemzug mit den «grundlegenden Regeln der Staatsräson»,
ohne die einen oder die anderen dabei näher zu erläutern. In den Kapi-
teln zur Gesetzgebung (II, 7–12) fällt es jedoch nicht schwer zu erken-
nen, daß etwa das durch die Prinzipien begründete Recht des Volkes,
seine Gesetze jederzeit zu ändern, «selbst die besten», auf die Maxime
trifft, die Gesetze sowenig wie möglich zu ändern, damit die Gesetze
ihre Kraft nicht einbüßen. Tatsächlich exemplifiziert Rousseau den
Unterschied zwischen einem verbürgten Recht und einer politischen
Maxime im darauffolgenden Buch am prominentesten Fall einer Geset-
zesänderung: In III, 18 bekräftigt er noch einmal, daß der Souverän die
Form der Regierung, d. h. das entsprechende politische Gesetz, ändern
kann, wann immer es dem Souverän gefällt, um hinzuzufügen, daß der-
gleichen Änderungen stets gefährlich sind und daß man «an die beste-

97 IV, 1, 1–3 (436–437).

– 213 –
hende Regierung niemals rühren soll, solange sie nicht mit dem öffent-
lichen Guten unvereinbar wird; aber diese Umsicht ist eine Maxime der
Politik und keine Regel des Rechts». Der erste Adressat der Maximen
ist der potentielle Staatsmann. Für ihn breitet Rousseau in Buch IV rei-
ches Anschauungsmaterial zur Orientierung über die Institutionen
eines wohlgeordneten Gemeinwesens aus. Als wichtigstes Beispiel zieht
er für die Mitteilung seiner Gesichtspunkte wie Machiavelli die Römi-
sche Republik heran. Dem Kapitel «Des comices romains», dem ersten
zu Rom und dem, nach Absätzen, umfangreichsten Kapitel des ganzen
Traktats, schickt Rousseau die Bemerkung voraus, daß die geschicht-
liche Betrachtung, die sich anschließt, «alle Maximen», die er bezüglich
der Art und Weise aufstellen könnte, wie in der Volksversammlung die
Stimmen abzugeben und zu sammeln sind, «vielleicht sinnfälliger erklä-
ren» werde. Er überläßt es, mit anderen Worten, dem Leser, die Maxi-
men für das souveräne Organ selbst aufzustellen. Und er versäumt
nicht, eigens festzuhalten, daß die historische Erörterung der Volksver-
sammlung sich an einen lecteur judicieux wendet, so wie er zu Beginn
der theoretischen Erörterung der Regierung festgehalten hat, daß jene
einen lecteur attentif erforderte.98 Der urteilsfähige Leser wird aus der
komplexen Diskussion der Komitien nach Kurien, Zenturien und Tri-
bus ersehen, welch großen Spielraum bei der Umsetzung der Prinzipien
Rousseau der praktischen Vernunft des Staatsmanns zubilligt. Er wird
ihr insonderheit entnehmen, daß Rousseau die Legitimität der politi-
schen Ordnung nicht an das gleiche Gewicht der Stimmen, wohl aber an
die Berücksichtigung aller Bürger bei der Abstimmung in der Volksver-
sammlung bindet. Er wird das Lob der «gemischten Regierung» und
den Rat zum Ausgleich zwischen den politischen Akteuren und den
sozialen Kräften beachten. Auch das Plädoyer für die Anpassung der
Institutionen an den Zustand des politischen Körpers, etwa die Emp-
fehlung geheimer Stimmabgabe bei fortgeschrittener Korruption, wird
ihm nicht entgehen.99 Dem aufmerksamen Leser werden außerdem eine
Reihe von Punkten auffallen, die die historische Erörterung gleichsam

98 II, 7, 9 (383); III, 18, 3 (435); IV, 3, 10 (443) und III, 1, 1 (395). Cf. zu den Maximen
der Politik ferner II, 8, 4 (385); II, 9, 2 (387); II, 11, 4 (393); III, 6, 5 (409); III, 6, 13
(412); IV, 1, 1 (437); IV, 2, 4, (440); IV, 2, 11 (441); IV, 3, 7 (443); IV, 4, 2 (444); IV, 4,
10 (446); IV, 4, 36 (453).
99 IV, 4, 21 (449); IV, 4, 25 (450) und IV, 4, 32 (451–452); IV, 4, 35–36 (452–453).

– 214 –
im Vorübergehen zu bedenken gibt: Von der Rolle, die der Gewalt, dem
Krieg und dem Militär bei der Entstehung der politischen Ordnung
Roms zugesprochen wird, über den Hinweis, daß die Einrichtung des
freiesten und mächtigsten Volkes nicht nur auf einen sage instituteur,
sondern wenigstens auf zwei oder auf mehrere Gründer zurückgeht,
und die Betonung der Überlegenheit der Sitten der Alten im Vergleich
mit denen der Neueren im Zentrum des Kapitels, bis zur Herausforde-
rung der «Autorität Ciceros», der Kritik des berühmtesten Philosophen
Roms, der Rousseau zwei Kapitel später eine scharfe Kritik des Politi-
kers folgen läßt.100 Den drei Institutionen, die Rousseau im Anschluß an
die Komitien behandelt, ist gemeinsam, daß sie nicht durch die Prinzi-
pien des politischen Rechts gefordert, sondern durch die Maximen der
politischen Klugheit veranlaßt sind. Anders als Souverain und Gouver-
nement sind sie für den corps politique nicht konstitutiv, aber im Unter-
schied zum Législateur bleiben sie nicht extrakonstitutionell. Sie sind
vielmehr Teil der Einrichtung, d. h., ihre Stellung unterliegt der gesetzli-
chen Regelung durch den Souverän. Anders als die Volksversammlung
verfügen sie über keine legislativen Befugnisse, doch im Unterschied
zum Législateur erfüllen sie ihre Funktion durch Akte einer Art Magi-
stratur. Tribunat, Dictature und Censure eint, daß sie Antworten auf
das Problem geben sollen, das der Législateur verkörpert. Sie sind
ebenso viele Versuche, der Unverzichtbarkeit der Einsicht für das Ge-
meinwesen institutionell Rechnung zu tragen, die sich nicht normieren
läßt. Es handelt sich bei ihnen um zweitbeste Lösungen für Teilaspekte

100 IV, 4, 3–4 (444–445), IV, 4, 5, (445–446), IV, 4, 14 (447); IV, 4, 19 (448); IV, 4, 36
(452–453), cf. IV, 6, 10 (457–458). In der ersten Anmerkung von Kapitel IV, 4 (444)
verweist Rousseau auf die Dualität von Gewalt, Stärke, Kraft und Konvention, die
die Anfänge Roms kennzeichnet: «Le nom de Rome qu’on prétend venir de
Romulus est Grec, et signifie force; le nom de Numa est grec aussi, et signifie Loi.
Quelle apparence que les deux premiers Rois de cette ville aient porté d’avance des
noms si bien rélatifs à ce qu’ils ont fait?» (Cf. Considérations sur le gouvernement
de Pologne II, 6, p. 957–958.) Auf dieselbe Dualität von Gewalt und Konvention
macht das Motto aufmerksam, das Rousseau für den Contrat social gewählt hat,
wenn der Leser das Zitat aus der Aeneis, – foederis aequas / Dicamus leges (laßt uns
die billigen Satzungen/Gesetze eines Vertrages verkünden), bei Vergil nachschlägt
und den Kontext bedenkt, in dem die Aufforderung zum Vertragsschluß steht und
wer sie ausspricht. Aeneis XI, 321–322; cf. Roger D. Masters: The Political
Philosophy of Rousseau. Princeton 1968, p. 302.

– 215 –
der Aufgabe, die Buch II der Weisheit zugeschrieben hat. Das Tribunat
soll als unabhängige Instanz zwischen Regierung und Volk vermitteln
und auf beide mäßigend einwirken. Als oberstem Hüter der Gesetze
obliegt ihm die Wahrung der politischen Ordnung. Es hat den Auf-
trag, die Usurpation der souveränen Gewalt durch die Regierung auf-
zuhalten und den Souverän an übereilten Änderungen der Gesetze zu
hindern. Die Diktatur antwortet auf die Starrheit der Gesetze, die
Unmöglichkeit, den Ausnahmefall allgemein zu regeln, und die not-
wendigerweise begrenzte Voraussicht des Gesetzgebers, was außerge-
wöhnliche Ereignisse und Umstände betrifft. Sie dient als streng kom-
missarisches Instrument dazu, in Augenblicken der höchsten Gefahr
die öffentliche Sicherheit und die Integrität des Vaterlandes verteidi-
gen zu können. Sie hat die Befugnis, für eine kurze Frist die Gesetze
«schweigen zu lassen» und die souveräne Autorität zu suspendieren,
wenn die Abwehr einer unmittelbaren Bedrohung der Existenz des
Staates dies gebietet, da «in einem solchen Fall der allgemeine Wille
nicht zweifelhaft ist». Die Zensur soll dem jugement publique Stimme
verleihen und dieses Urteil ebendamit lenken. Sie ist bestimmt, die Sit-
ten aufrechtzuerhalten, die Gebräuche zu pflegen, die Autorität der
öffentlichen Meinung zu stärken. Sie wacht über das Lebenselement
des Gemeinwesens, über die Wertschätzungen der Bürger, die Begriffe
von Ehre, Würde und Anerkennung, die Vorstellungen vom Schönen
und Edlen.101 Die drei Institutionen bieten offenkundig einen unzu-
länglichen Ersatz für die präsentische Einsicht einer «höheren Intelli-
genz». Die Befugnisse, mit denen sie ausgestattet sind, werden von
Magistraten ausgeübt, deren Urteilsvermögen wie ihre übrigen Fähig-
keiten und Eigenschaften erheblich variieren. Um die Macht des Tri-
bunats zu begrenzen, schlägt Rousseau Intervalle vor, in denen seine
Funktion ausgesetzt wird. Im Falle der Diktatur besteht er auf einer
sehr kurz bemessenen Kommission, die niemals verlängert werden
dürfe. Und den Zensoren untersagt er ausdrücklich jeden Gebrauch
von Zwang.102 Tribunat, Dictature, Censure verweisen als die partiel-
len Substitute, als die sie konzipiert sind, an den Législateur zurück.
Tatsächlich ruft kein Kapitel den Législateur nachdrücklicher in Erin-
nerung als das Kapitel über die Zensur, das die Erörterung der römi-

101 IV, 5, 1–3 (451–454); IV, 6, 1–4 (455–456); IV, 7, 1–6 (458–459).
102 IV, 5, 7 (455); IV, 6, 10 (458); IV, 7, 7–8 (459).

– 216 –
schen Institutionen beschließt und der Untersuchung der Religion
civile unmittelbar vorausgeht.103
«De la Religion civile», das längste und nächst «Du Législateur» ela-
borierteste Kapitel des Contrat social, bringt nicht nur die Konfronta-
tion der Prinzipien des Rechts und der Maximen der Politik mit der ge-
schichtlichen Wirklichkeit zum Abschluß. Da es mit der Theokratie den
Gegenbegriff einführt, der den Sinn der Konzeption der Souveränität
des Volkes politisch profiliert und philosophisch bestimmt, enthält es
unausgesprochen die Aufforderung, den Traktat im ganzen vom Ende
her zu bedenken.104 Wäre es Rousseau einzig darum gegangen, die Reli-
gion nach den Prinzipien des politischen Rechts einzuordnen, hätten
die letzten fünf Absätze oder der dritte Abschnitt des Kapitels genügt.
Eine solche Einordnung hätte zudem schon in der zweiten Hälfte von
Buch I oder in der ersten von Buch II, in jedem Fall vor Kapitel II, 7 er-
folgen können. Kapitel IV, 8 befaßt sich indes nicht allein mit der recht-
lichen Regelung (Teil III, Absätze 31–35), sondern darüber hinaus mit
der Typologie (Teil II, Absätze 15–30) und zuallererst mit der Genealo-
gie des Verhältnisses von Politik und Religion (Teil I A, Absätze 1–7:
vor dem Christentum; Teil I B, Absätze 8–14: seit dem Christentum),
wobei in jedem der drei Abschnitte die Auseinandersetzung mit dem
Christentum im Zentrum steht, das Rousseau bis dahin nicht nament-
lich erwähnt hat. «De la Religion civile» reicht wie kein anderes Kapitel
von den Anfängen der politischen Gesellschaften bis zum Problem, das
das Christentum in der Gegenwart für den politischen Körper bedeutet.
Es stellt den gesellschaftlichen Vertrag in die weiteste historische Per-
spektive. Die neuerliche Verhandlung von Politik und Religion knüpft
an die in II, 7 umrissene politische Genealogie der Offenbarungsreli-

103 «… l’opinion publique est l’espece de loi dont le Censeur est le Ministre …»
«Redressez les opinions des hommes et leurs mœurs s’épureront d’elles mêmes. On
aime toujours ce qui est beau ou ce qu’on trouve tel, mais c’est sur ce jugement
qu’on se trompe; c’est donc ce jugement qu’il s’agit de regler. Qui juge des mœurs
juge de l’honneur, et qui juge de l’honneur prend sa loi de l’opinion.» «Les opinions
d’un peuple naissent de sa constitution; quoique la loi ne regle pas les mœurs, c’est
la législation qui les fait naitre; quand la législation s’affoiblit les mœurs dégénerent,
mais alors le jugement des Censeurs ne fera pas ce que la force des loix n’aura pas
fait.» IV, 7, 1, 3 und 4 (458–459). Beachte II, 6, 10 (380) und II, 12, 5 (394) und siehe
S. 169, 171–172, 182–184.
104 Siehe S. 188–192.

– 217 –
gion an.105 Die Eröffnung geht hinter die Offenbarungsreligion zurück
und schließt mit der ursprünglichen Berufung auf die Herrschaft der
Götter eine Lücke, die Rousseau sieben Jahre zuvor in seiner anthropo-
logischen Rekonstruktion der Menschheitsentwicklung offenließ: «Die
Menschen hatten zuerst keine anderen Könige als die Götter, noch eine
andere Regierung als die theokratische.» Die Götter, die der Discours
sur l’inégalité mit beinahe einhelligem Schweigen überging, kommen
jetzt von Beginn an in ihrer politischen Dienstbarkeit in den Blick: Die
Götter beförderten durch die von ihnen sanktionierte Ordnung die
Soziabilität der Menschen. Sie verhalfen zur Entstehung der Völker, die
sich unter ihrer Herrschaft einten, in ihr wiedererkannten und durch sie
von anderen Völkern unterschieden. Und sie versetzten Menschen in
den Stand, kraft der von ihnen hergeleiteten Autorität als Herren aufzu-
treten, Gehorsam zu verlangen und Glauben zu finden.106 Im Hinblick
auf den gesellschaftlichen Vertrag zeigen die Götter mithin ein Janusge-
sicht: Sie schaffen die historischen Voraussetzungen der Konvention,
die den politischen Körper begründet; und sie ermächtigen eine illegi-
time Herrschaft, die dem politischen Körper entgegensteht.107
Die Einheit von Politik und Religion bleibt bis zum Einbruch des
Christentums gewahrt. Da «man Gott an die Spitze jeder politischen
Gesellschaft stellte», gab es «ebenso viele Götter wie Völker». Der
Polytheismus war politisch begründet. Er entsprang der Notwendig-
keit zur Sammlung und Sonderung der politischen Gesellschaft. Die
Götter wurden von Dichtern erschaffen und durch Gesetzgeber kodi-
fiziert. Ihr Sein war koextensiv mit den Gesetzen, die es bestimmten,

105 Siehe II, 7, 10–12 (383–384) und S. 179–180. Rousseau hatte die erste Fassung
des späteren Kapitels IV, 8 in der Première version auf den Rückseiten der
Manuskriptblätter niedergeschrieben, die das Kapitel Du Législateur enthalten
(Edition Bachofen, Bernardi und Olivo, p. 93–107).
106 «Ils firent le raisonnement de Caligula, et alors ils raisonnoient juste. Il faut
une longue altération de sentimens et d’idées pour qu’on puisse se résoudre à
prendre son semblable pour maitre, et se flater qu’on s’en trouvera bien.» IV, 8, 1
(460). Cf. Émile IV, p. 646: «Toutes les conventions se passoient avec solemnité
pour les rendre plus inviolables; avant que la force fut établie les Dieux étoient les
magistrats du genre humain.»
107 Cf. Discours sur l’inégalité, Seconde partie, p.  246 und Einführender Essay,
p. XLIV–XLVII sowie Profession de foi du Vicaire Savoyard note 18, 8, p. 634 und
Über das Glück des philosophischen Lebens, p. 422.

– 218 –
indem sie ihren Kult vorschrieben. Die Einheit von Politik und Reli-
gion machte den Krieg der Völker zu einem Krieg der Götter. Er war
politisch und theologisch zugleich. Rousseau betont, daß dabei nicht
die Menschen für die Götter kämpften, vielmehr «kämpften, wie bei
Homer, die Götter für die Menschen; jeder erbat den Sieg von dem
seinen und bezahlte für ihn mit neuen Altären». Die Macht der Götter,
Etres chimériques, denen an ihnen selbst keine gemeinsame Sache eig-
nete, reichte so weit wie die Grenzen der Nationen, die sie verehrten.
«Der Gott eines Volkes hatte keinerlei Recht über die anderen Völker.
Die Götter der Heiden waren keine eifersüchtigen Götter; sie teilten
sich in die Herrschaft der Welt.» Vor dem Hintergrund dieser Be-
schreibung tritt die Neuerung hervor, die Moses’ Gesetzgebung ein-
führte. Zwar verstanden sich «selbst Moses und das hebräische Volk
manchmal» zur Vorstellung einer schiedlichen Koexistenz der Götter.
Aber der Gott Israels ist ein eifriger Gott. Moses gründete die politi-
sche Identität des Volkes auf ein religiöses Gesetz, das als das Gesetz
des Einen Gottes dem Gesetz jedes anderen Gottes widerstehen und
das Volk auch in der Niederlage, in der Gefangenschaft oder in der
Zerstreuung als Volk erhalten sollte.108 Rousseau übergeht nicht, daß
die Griechen auf ihre Weise vom Ausgangsbefund der theologisch-
politischen Kongruenz abwichen, da sie die gemeingriechischen Göt-
ter, die die politischen Differenzen der verschiedenen Poleis über-
wölbten, bei den anderen Völkern wiederzufinden beanspruchten, um
ihre Souveränität gegenüber den Barbaren zu behaupten. Und er stellt
heraus, daß die Römer sich bei der Aufrichtung ihres Imperiums mit
der Oberhoheit ihrer Götter begnügten, die Götter der besiegten Völ-
ker bestehen ließen und sie oft in den Kreis der eigenen Götter aufnah-
men. Die Ausdehnung ihrer Herrschaft hatte so zur Folge, daß eine
Vielzahl von Göttern und Kulten unter römischer Führung schließlich
im «Heidentum» zu «ein und derselben Religion» der bekannten Welt
zusammengefaßt wurde. Was den anfänglichen mit dem späten Poly-
theismus verbindet, ist der Primat der Politik.109 Die Besonderheiten

108 IV, 8, 2–6 (460–461), meine Hervorhebung. Cf. II, 7, 11 (384) und die Erörte-
rung des Gesetzgebers Moses in Considérations sur le gouvernement de Pologne II,
2–4, p. 956–957.
109 IV, 8, 3 und 6 (460, 461–462). Daß die Religion in Rom nicht nur als Instrument
der Machterweiterung nach außen, sondern ebenso als Mittel des Machterhalts

– 219 –
der Griechen und der Römer wie die Neuerung, die die Juden von beiden
scheidet, dienen Rousseau dazu, das Christentum in der Mitte des genea-
logischen Teils scharf von dem abzusetzen, was Griechen, Juden und
Römern gemeinsam war: Unter den Bedingungen des Imperium Roma-
num errichtete Jesus – dessen Name nur dieses eine Mal im Contrat social
genannt wird – ein «Geistliches Königreich» auf Erden. Die Aufrichtung
seines Reiches «bewirkte, da es das theologische vom politischen System
trennte, daß der Staat aufhörte, Einer zu sein, und verursachte die inneren
Spaltungen, die nie aufgehört haben, die christlichen Völker aufzurüh-
ren». Die «neue Idee eines Königreichs der anderen Welt» zerstörte nicht
nur die Einheit des Gemeinwesens, die die Griechen und die Römer poli-
tisch, die Juden religiös erreicht hatten. Als die Idee sich materialisierte
und die Institution, die sie verkörperte, über die erforderlichen Mittel
verfügte, «sah man jenes vorgebliche Königreich der anderen Welt unter
einem sichtbaren Oberhaupt zum gewaltsamsten Despotismus in dieser
werden». Keine Herrschaft wird im Contrat social ähnlich harsch cha-
rakterisiert wie die Herrschaft der Kirche unter ihrem Oberhaupt, dem
Stellvertreter Christi auf Erden, die ihr Recht und ihre Macht auf die
Autorität Gottes gründet.110 Die weitere Erörterung der geschichtlichen
Entwicklung steht ganz im Zeichen des Dualismus von geistlicher und
politischer Herrschaft. Aus der Doppelherrschaft resultierte «ein fort-
währender Konflikt der Gerichtsbarkeit, der in den christlichen Staaten
jede gute Politie unmöglich gemacht hat». Rousseau setzt hinzu, daß man
nie wissen konnte, ob man dem maître oder dem prêtre zum Gehorsam
verpflichtet war. In äußerster Knappheit gibt er damit den Grund an,
weshalb für die Neueren im Unterschied zu den Alten die Frage der Sou-
veränität zur zentralen politischen Frage wurde. Zugleich weist er mit
seiner präzisen Wortwahl, der Ersetzung von prince durch maître, darauf
hin, daß das Christentum eine doppelt illegitime Herrschaft ermächtigte.
Die Respublica Christiana, die er in der Typologie als eine Contradictio
in adjecto bezeichnen wird, war in ihren beiden Armen, in der Monarchie
des Gottesgnadentums wie in der Kirche des Papsttums, Teil der Despo-

nach innen diente, hat Rousseau in der Erörterung der Komitien und der Politik
des Senats vermerkt: IV, 4, 22–23 (449); cf. IV, 4, 38 (453).
110 IV, 8, 8–9 (462). Despotisme kommt im Contrat social achtmal vor. Die einzige
andere Zuordnung zu einer konkreten Institution oder Person betrifft den Kaiser
Tiberius: III, 10, 3 note (422). Von le plus violent despotisme ist nur in IV, 8, 9 die Rede.

– 220 –
tie und mit dem legitimen politischen Körper unvereinbar. Alle Versuche,
«das alte System» wiederherzustellen, d. h., der Politik im Verhältnis zur
Religion dauerhaft den Primat zu sichern, sind bisher ohne Erfolg geblie-
ben: l’esprit du christianisme a tout gagné.111 Die Könige von England
und die Zaren, die sich zu Häuptern von Nationalkirchen erklärten, ver-
mochten die entscheidende Macht des Klerus nicht zu brechen.112 Und
auch «der Philosoph Hobbes», der «das Übel und das Heilmittel richtig
gesehen und vorzuschlagen gewagt hat, die beiden Köpfe des Adlers wie-
der zu vereinen und alles auf die politische Einheit zurückzuführen»,
mußte erkennen, «daß der herrische Geist des Christentums mit seinem
System unvereinbar war und daß das Interesse des Priesters immer stär-
ker sein würde als das des Staates». Rousseau schließt den historischen
Rückblick mit einem Schiedsspruch im Streit zwischen Pierre Bayle und
William Warburton. Gegen den modernen Philosophen macht er geltend,
daß niemals ein Staat gegründet worden sei, dem nicht die Religion als
Fundament diente. Dem anglikanischen Bischof aber hält er entgegen,
daß das christliche Gesetz einer starken Verfassung des Staates am Ende
mehr schade als nütze.113 Das Christentum ist das Problem in der Politik
der Moderne.

111 IV, 8, 11 (462). Unter den, schließlich gescheiterten, Restitutionsversuchen


nennt Rousseau an erster Stelle den Mohammeds. Er ging auf Moses’ Neuerung
zurück und unternahm es, die politische Einheit durch das göttliche Gesetz, d. h.
durch das Eine, alle Lebensbereiche einschließende, Politik, Religion, Moral
umfassende Gesetz des Einen Gottes, zu begründen. Aber nach dem Beispiel des
Christentums erhob er für das Gesetz einen universalen Anspruch. Die Religion
löste sich von dem Volk, für das das Gesetz gegeben worden war, und verselbständigte
sich – «ohne notwendige Verbindung mit dem Körper des Staates» – auf dem Wege
des Aufstiegs und des Zerfalls des Imperiums.
112 «La communion et l’excommunication sont le pacte social du clergé, pacte
avec lequel il sera toujours le maitre des peuples et des Rois. Tous les prêtres qui
communiquent ensemble sont concitoyens, fussent-ils des deux bouts du monde.
Cette invention est un chef-d’œuvre en politique. Il n’y avoit rien de semblable
parmi les Prêtres payens; aussi n’ont-ils jamais fait un corps de Clergé.» IV, 8, 12
note (463). Cf. IV, 8, 34 note (469).
113 IV, 8, 13 und 14 (463–464). Siehe Anm. 47. In der Première version lautet die
Eröffnung des Kapitels über die Religion: «Sitôt que les h[ommes] vivent en société
il leur faut une Religion qui les y maintienne. Jamais peuple n’a subsisté ni ne
subsistera sans Religion et si on ne lui en donnoit point, de lui-même il s’en feroit
une ou seroit bientôt détruit» (p. 336). Cf. Anm. 105.

– 221 –
Zur Verdeutlichung des Problems führt Rousseau drei Arten von
Religion in die Erörterung ein, anhand deren er typologische Unter-
scheidungen des Verhältnisses von Politik und Religion vornimmt. Die
Religion de l’homme charakterisiert er als «ohne Tempel, ohne Altäre,
ohne Riten, auf den rein inneren Kult des höchsten Gottes und auf die
ewigen Pflichten der Moral beschränkt» und nennt sie «die reine und
einfache Religion des Evangeliums» oder «den wahren Theismus». Die
Religion du Citoyen gilt dagegen idealtypisch für «ein einziges Land,
dem sie seine Götter, seine eigenen Schutzpatrone gibt»; sie hat «ihre
Dogmen, ihre Riten, ihren äußeren Kult, der von den Gesetzen vorge-
schrieben wird, und dehnt die Pflichten und die Rechte des Menschen
nur so weit aus wie ihre Altäre». Die religion du Prêtre schließlich un-
terwirft, «bizarrer» als die beiden anderen Arten, die Menschen «wider-
sprüchlichen Pflichten», da sie ihnen «zwei Gesetzgebungen, zwei Ober-
häupter, zwei Vaterländer» gibt, und hindert sie so, daß sie «Fromme
und Bürger zugleich sein können». Der dritte Typus, für den er die Re-
ligion der Lamas, die der Japaner und «das römische Christentum» an-
führt, stuft Rousseau, «politisch betrachtet», als «so evident schlecht»
ein, daß sich der Nachweis erübrige. In Wahrheit hat er die zweite
Hälfte des genealogischen Teils bereits auf diesen Nachweis verwendet,
und das Urteil, mit dem er die Verhandlung der «Religion des Priesters»
schließt, trifft keineswegs bloß das «römische Christentum», sondern
das real existierende Christentum insgesamt oder das Christentum tout
court, das das Leben des Gehorsams des Glaubens gegen das politische
Leben stellt: «Alles, was die gesellschaftliche Einheit zerbricht, taugt
nichts. Alle Einrichtungen, die den Menschen mit ihm selbst in Wider-
spruch bringen, taugen nichts.»114 Die «Religion des Bürgers» bringt
den Menschen nicht mit ihm selbst in Widerspruch, insofern sie ihn
ganz zum Bürger macht. Sie schließt den Kult mit der Liebe zu den Ge-
setzen zusammen; sie richtet die Bereitschaft der Bürger zur Hingabe
am Vaterland aus; sie lehrt sie, den Dienst am Staat als Dienst an dessen
Schutzgott zu begreifen. Rousseau spricht von «einer Art Theokratie»,
in der es «keinen anderen Pontifex als den Fürsten» und «keine anderen
Priester als die Magistrate» geben soll, die mithin das genaue Gegenbild
der wahren Theokratie darstellt. Aber da die «Religion des Bürgers» auf
Irrtum und Lüge gegründet ist, täuscht sie die Menschen, macht sie sie

114 IV, 8, 15–17 (464).

– 222 –
abergläubisch und erschöpft sie den Kult der Gottheit in eitlem Zere-
moniell. Auf Exklusivität angelegt, läßt sie das Volk außerdem «blut-
dürstig und intolerant» werden, «so daß es nur Mord und Massaker
atmet und eine heilige Tat zu tun glaubt, wenn es tötet, wer immer seine
Götter nicht anerkennt.» Damit erweist sie sich für die Sicherheit eines
solchen Volkes als «sehr schädlich», da sie es «in einen natürlichen
Kriegszustand mit allen anderen» versetzt. Rousseau zieht alle rhetori-
schen Register, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen, daß der Weg
zurück zur Kongruenz von Politik und Theologie, zum Glauben an
Götter, die über das Wohl und Wehe der Gemeinwesen wachen, für sie
streiten und dafür von ihnen verehrt werden, verlegt ist.115 Die Götter
der Polis vermochten in ihrer Partikularität und ihrer diesseitigen Ver-
ankerung weder dem jenseitigen Gott des Christentums standzuhalten,
noch konnten sie vor seinem universalen Wahrheitsanspruch bestehen.
Sie wurden besiegt und überholt. Sie sind gestorben, weil sie nicht län-
ger glaubhaft waren. Die Religion du Citoyen ist mit ihnen untergegan-
gen. Sie war auf eine Lüge gegründet, die, als Lüge erkannt, ihre Kraft
verlor.
Die Religion de l’homme scheint eine Religion innerhalb der Grenzen
der bloßen Moral zu sein. Die Bestimmungen, mit denen Rousseau sie
einführt, könnten eine Religion naturelle erwarten lassen, wie sie der
Savoyische Vikar für den nachchristlichen Menschen vorträgt. Tatsäch-
lich verhandelt Rousseau in seiner Erörterung des ersten Typus jedoch
das Christentum noch einmal.116 So verwendet er den weitaus größten

115 Der Leser, der die Aussagen zur Typologie in IV, 8, 18–19 (464–465) mit der
Beschreibung «aller Religionen der ersten Völker» und insbesondere der Religion
der Griechen und der Religion der Römer in der Genealogie vergleicht, wird die
hyperbolische Charakterisierung der Religion du Citoyen unschwer erkennen.
Zuallererst gilt das für die spektakuläre Aussage über deren Werk der Verheerung,
die in augenfälligem Kontrast steht zur Erklärung: «Les Dieux des Payens n’étoient
point des Dieux jaloux; ils partageoient entre eux l’empire du monde», und
innerhalb der Genealogie einzig in der eingeschobenen Bemerkung über Moses
und sein Volk eine Resonanz findet: «Ils regardoient, il est vrai, comme nuls les
Dieux des Cananéens, peuples proscrits, voués à la destruction, et dont ils devoient
occuper la place». IV, 8, 4 (461); cf. IV, 8, 5 (461).
116 IV, 8, 20–30 (465–467). Der Begriff Religion naturelle wird im Contrat social
nirgendwo verwendet. Siehe zur Profession de foi du Vicaire Savoyard das zweite
Buch meiner Schrift Über das Glück des philosophischen Lebens: «Rousseau und
das Glaubensbekenntnis des Savoyischen Vikars», p. 290–438.

– 223 –
Teil des Kapitels auf die politische Kritik des Christentums, wobei er
jetzt radikal ansetzt: nicht beim «Christentum von heute», sondern bei
«dem des Evangeliums, das davon völlig verschieden» sei. Er geht auf
die «heilige, erhabene, wahrhafte Religion» zurück, in der sich «die
Menschen, Kinder desselben Gottes, alle als Brüder wiedererkennen».
Er sieht, genauer gesagt, von der Aktualität der religion du Prêtre ab, um
die Idee des «Königreichs der anderen Welt» zu betrachten, bevor sie in
den geschichtlichen Status corruptionis eingetreten ist. Das Christen-
tum unterstützt die Identifikation des Bürgers mit dem moi commun
des politischen Körpers in keiner Weise. Da es, auf das Jenseits gespannt,
«einzig mit den Dingen des Himmels beschäftigt» ist – «das Vaterland
des Christen ist nicht von dieser Welt» – und da es eine kosmopolitische
Orientierung hat, fördert es die politische Tugend par excellence nicht,
sondern wirkt ihr entgegen. Ohne besondere Beziehung zum politi-
schen Körper, der notwendig ein besonderer ist, läßt die «Religion des
Menschen» den Gesetzen «bloß die Kraft», die sie aus sich selbst bezie-
hen, d. h., sie läßt ihnen die Kraft, die dem äußeren Zwang eignet, ohne
die Gesetze im Herzen der Bürger zu verankern. «Mehr noch: weit da-
von entfernt, die Herzen der Bürger mit dem Staat zu verbinden, ent-
bindet sie sie von ihm wie von allen Erdendingen.» Emphatisch setzt
Rousseau hinzu: «Ich kenne nichts, das dem gesellschaftlichen Geist
widriger wäre.» Die christliche Religion gibt dem Gläubigen eine «tiefe
Gleichgültigkeit» gegenüber dem diesseitigen Erfolg oder Mißerfolg
seines Handelns ein und schwächt seine Vaterlandsliebe. «Wenn der
Staat blüht, wagt er kaum, die öffentliche Glückseligkeit zu genießen, er
fürchtet, auf den Ruhm seines Landes stolz zu sein; wenn der Staat ver-
fällt, segnet er die Hand Gottes, die auf seinem Volk lastet.»117 Die Kon-
frontation mit dem Christentum erreicht ihren Höhepunkt, wenn Rous-
seau die auf die Bücher I, II und III des Contrat social verteilte Kritik an
der Legitimierung illegitimer Herrschaft durch die christliche Theolo-
gie, von Paulus über Augustinus, Luther und Calvin bis zu Bossuet,
wiederholt, bündelt und bis zum Gewissen vorantreibt. Das Gewissen
des Christen, der glaubt, daß alle Macht von Gott komme, daß die Ge-
rechtigkeit der souveränen Autorität Gottes in allem walte und daß der

117 IV, 8, 21–25 (465–466). Cf. Lettres écrites de la montagne I, 65, 67, 71 und 71
note 2, p. 704–706 und beachte Considérations sur le gouvernement de Pologne I,
5–7, p. 959; III, 4, p. 961; XII, 12, p. 1019.

– 224 –
schlechte König eine Geißel Gottes sei, wird zum Hindernis für das
legitime Gemeinwesen, zum Widerpart der politischen Freiheit.118 Eine
Christliche Republik ist ein hölzernes Eisen, da das Christentum «nur
Knechtschaft und Abhängigkeit predigt». Es stützt, es fördert, es atmet
die Despotie von Anfang an.119 «Die wahren Christen sind dafür ge-
schaffen, Sklaven zu sein.»120
Auf die drei Arten der Typologie, Religion de l’homme, Religion du
Citoyen und religion du Prêtre, läßt Rousseau im abschließenden Ab-
schnitt des Kapitels die Religion civile folgen. Rousseau führt sie nicht
als vierte Art ein. Er charakterisiert sie nicht, wie er die drei Typen zu-
vor charakterisiert hat. Er gibt kein historisches Beispiel für sie an. Der
Begriff tritt nur einmal auf, im Rahmen eines Gesetzes, das der Législa-
teur Rousseau am Ende des Traktats dem Souverän vorschlägt.121 Der
Gesetzesvorschlag antwortet auf den Antagonismus von Politik und
Religion, dessen Genealogie der erste Abschnitt nachgezeichnet, und er
trägt den Problemen der drei Typen Rechnung, die der zweite Abschnitt
untersucht hat. Die Religion civile ist im Unterschied zur Religion de
l’homme unlösbar auf die Besonderheit der Republik bezogen. Anders
als die Religion du Citoyen ordnet sie dem Gemeinwesen keinen ihm
besonderen Gott zu. Im Gegensatz zur religion du Prêtre verneint sie
jeden Herrschaftsanspruch einer geistlichen Gewalt. Sie soll (1) die Su-
prematie der Politik gegenüber der Religion sichern, (2) die Moral durch
die Religion unterfangen, (3) dazu beitragen, die Gesetze in den Herzen
der Bürger zu verankern, und (4) den gesellschaftlichen Frieden und die
individuelle Freiheit in Dingen des Glaubens gewährleisten. Die Kon-
zeption der Religion civile geht von der doppelten Prämisse aus, es sei

118 IV, 8, 26 (466). Beachte I, 3, 3 (355); II, 6, 2 (378); III, 6, 16 (413) und siehe S. 155,
203. Conscience wird im Kapitel «De la Religion civile» nur dieses eine Mal im
26. Absatz gebraucht. Die einzige andere Verwendung innerhalb des Contrat social
findet sich im Kapitel «Du droit du plus fort», I, 3, 3 (335). Zu Rousseaus Position
in Rücksicht auf das Gewissen beachte Über das Glück des philosophischen Lebens,
p. 191–193, 282–283, 355–356, 429.
119 Cf. S. 190–191 mit Anm. 63.
120 IV, 8, 28 (467). Die provozierende Aussage über die vrais Chrétiens in IV, 8, 28
korrespondiert der nicht weniger provozierenden Aussage über die peuples
modernes in III, 15, 10 (431). Siehe S. 208.
121 Religion civile kommt im Contrat social außer in der Überschrift von Kapitel
IV, 8 nur im Zentrum des dritten Teils des Kapitels, in Absatz 33, vor (468).

– 225 –
für den politischen Körper von Wichtigkeit, «daß jeder Bürger eine Re-
ligion hat, die ihn seine Pflichten lieben läßt»; die Dogmen der Religion
seien für den politischen Körper und seine Glieder aber nur soweit von
Interesse, als sie «sich auf die Moral beziehen und auf die Pflichten, die
derjenige, der die Religion bekennt, gegen andere zu erfüllen gehalten
ist».122 Der politischen Konzeption der Religion civile liegt, der Sache
nach, die Unterscheidung von Bekenntnis und Glauben oder Denken
zugrunde, die Hobbes unter den Neueren prominent gemacht hat, die
den Philosophen indes zu allen Zeiten zu Gebote stand. Rousseau
spricht dem Souverän das Recht zu, durch Gesetze «ein rein bürger-
liches Glaubensbekenntnis» festzulegen, dessen Artikel «nicht eigent-
lich» als Dogmen einer Religion, vielmehr als sentimens de sociabilité,
als Ansichten, deren die Soziabilität bedarf, Verbindlichkeit beanspru-
chen, als Meinungen, «ohne die es weder möglich ist, ein guter Bürger
noch ein treuer Untertan zu sein».123 Der Souverän kann niemanden
verbinden, an die Dogmen der gesetzlichen profession de foi zu glauben,
aber er kann den, der sich nicht zu ihnen bekennt, des Landes verwei-
sen, nicht weil er ihn als «gottlos», sondern weil er ihn als «unsoziabel»
befindet. Dem, der die Dogmen öffentlich anerkannt hat und durch sein
Verhalten danach zu erkennen gibt, daß er nicht an sie glaubt, droht die
Todesstrafe: «er hat das größte Verbrechen begangen, er hat vor den Ge-
setzen gelogen.»124 Die neuen Wertschätzungen, die der Législateur in
der öffentlichen Meinung zu erreichen sucht, gehen aus den Erläuterun-
gen deutlich hervor, die er zum Recht und Erfordernis einer profession

122 «Chacun peut avoir au surplus telles opinions qu’il lui plait, sans qu’il
appartienne au Souverain d’en connoitre: Car comme il n’a point de compétence
dans l’autre monde, quel que soit le sort des sujets dans la vie à venir ce n’est pas son
affaire, pourvu qu’ils soient bons citoyens dans celle-ci.» IV, 8, 31 (468). Cf. Lettres
écrites de la montagne V, 81, p. 787: «La Religion ne peut jamais faire partie de la
Législation qu’en ce qui concerne les actions des hommes. La Loi ordonne de faire
ou de s’abstenir, mais elle ne peut ordonner de croire.»
123 Cf. S. 169–170. Das Recht, das Rousseau dem Souverän zuspricht, antwortet
auf das Recht, das die neuzeitlichen Fürsten, kraft des ius reformandi, für sich
reklamierten, das christliche Bekenntnis ihrer Untertanen festzulegen.
124 IV, 8, 32 (468). Cf. II, 5, 6–7 (377). C. E. Vaughan (p. XL) weist auf eine Aussage
hin, die Rousseau 1761 in einer Fußnote zur Nouvelle Héloïse macht: «Si j’étois
magistrat, et que la loi portât peine de mort contre les athées, je commencerois par
faire bruler comme tel quiconque en viendroit dénoncer un autre.» V, 5, OCP II,
p. 589 note.

– 226 –
de foi purement civile mitteilt. Von den Dogmen der Religion civile
selbst sagt er, daß sie «mit Präzision, ohne Erklärungen oder Kommen-
tare verkündet» werden sollen. Sie müssen außerdem «einfach» und
«gering an Zahl» sein. Rousseau beläßt es nicht bei den Direktiven, son-
dern formuliert die zehn Dogmen, die die «bürgerliche Religion» um-
faßt, unmittelbar: «Die Existenz der [1] mächtigen, [2] einsichtsvollen,
[3] wohltätigen, [4] vorhersehenden und [5] vorsehenden Gottheit, [6]
das zukünftige Leben, [7] das Glück der Gerechten, [8] die Bestrafung
der Bösen, [9] die Heiligkeit des Gesellschaftlichen Vertrags und der
Gesetze; das sind die positiven Dogmen. Was die negativen Dogmen
betrifft, so beschränke ich sie auf ein einziges, [10] die Intoleranz: sie
gehört zu den Kulten, die wir ausgeschlossen haben.»125 Offenbar dient
die erste Hälfte, die Dogmen 1–5, der zweiten Hälfte, den Dogmen
6–10, als Fundament, und in der zweiten Hälfte gehören die Dogmen
6–8 zusammen, wohingegen die Dogmen 9 und 10 jeweils einen beson-
deren Status haben. An die Spitze der Attribute der Gottheit stellt
Rousseau die Macht, in die Mitte die Wohltätigkeit und ans Ende die
Vorsehung oder Fürsorge. Die drei Pfeiler sind bestimmt, im Verein mit
der Einsicht und der Voraussicht, die das Gefüge der Attribute zu einem
Ganzen verschränken, dem Glauben des Bürgers an eine sittliche Welt-
ordnung Halt zu geben, an eine sinnerfüllte Ordnung, in der dem Bür-
ger und dem politischen Körper, als dessen Glied er sich vermöge «des
Gesellschaftlichen Vertrags und der Gesetze» verstehen kann, ein aus-
gezeichneter Ort zukommt. Die Auszeichnung wird ihm durch das
letzte Dogma der ersten Hälfte zuteil, das die Gerechtigkeit der Gott-
heit vertritt und die Brücke zur zweiten Hälfte bildet. Mit dem Glauben

125 IV, 8, 33 (468–469). Rousseau führt 1762 selbst aus, was er in der Lettre à
Voltaire vom 18. August 1756 Voltaire angesonnen hatte. Und er führt es anders aus,
nämlich in die knappen Artikel eines Gesetzes gefaßt, als er es zunächst vorschlug:
«Je voudrais donc qu’on eut dans chaque Etat un Code moral, ou une espèce de
profession de foi civile qui contint positivement les maximes sociales que chacun
seroit tenu d’admettre, et négativement les maximes fanatiques qu’on seroit tenu de
rejetter non comme impies, mais comme Séditieuses. Ainsi toute Religion qui
pourait s’accorder avec le Code serait admise, toute Religion qui ne s’y accorderait
pas serait proscrite, et chacun serait libre de n’en avoir point d’autre que le Code
même. Cet ouvrage, fait avec soin, serait, ce me semble, le livre le plus utile qui
jamais ait été composé, et peut être le seul nécessaire aux hommes. Voilà, Monsieur
un sujet digne de vous …» Abs. 34, CC IV, p. 49.

– 227 –
an eine fürsorgende Gottheit, die – sei es durch allgemeine Vorkehrun-
gen, sei es durch besondere Zuwendung – an seinem Handeln Interesse
nimmt, eröffnen die Dogmen 6–9 dem Bürger die Aussicht auf den ver-
dienten Lohn für die moralischen oder politischen Tugenden und Laster,
wenn nicht in diesem, so in einem zukünftigen Leben. Der Charakter
des zukünftigen Lebens bleibt ebenso seiner Einbildungskraft anheim-
gestellt wie die Art und die Dauer des Glücks der Gerechten und die
Bestrafung der Bösen. Weder entscheiden die Dogmen 6–8 den Streit
über die Unsterblichkeit der Seele, noch trifft Dogma 5 eine Festlegung
zugunsten der generellen oder der partikularen Providenz. Daß die
Weisheit keine Aufnahme unter die Attribute der Gottheit findet,
stimmt mit dem subphilosophischen Zuschnitt des «rein bürgerlichen
Glaubensbekenntnisses» überein. In Rücksicht auf die allesentschei-
dende Bestimmung des Gottes der Offenbarungsreligionen läßt Rous-
seau dagegen keine Unklarheit aufkommen: Indem das erste Dogma der
Divinité attestiert, puissante und nicht tout-puissante zu sein, verwehrt
es der Allmacht, die die Möglichkeit der Philosophie verneinte, den
Zugang zum gesetzlichen Credo.126
Die «Heiligkeit des Gesellschaftlichen Vertrags und der Gesetze»
verankert die Besonderheit des politischen Körpers im Glaubensbe-
kenntnis. Denn es ist der politische Körper, der durch den Akt des con-
trat social ins Leben gerufen wird, und er ist nach dem Contrat social
notwendig ein besonderer: Er erhält durch die Bürger, die sich in ihm als
seine Glieder wiedererkennen, ein «gemeinsames Ich» und durch die
Gesetze, die sie ihm geben, eine bestimmte Gestalt.127 Das neunte

126 Cf. Über das Glück des philosophischen Lebens, p. 100–101, 327–329 (zur
Verneinung der Allmacht); 171, 335, 347–349, 357–363 (zum Problem von Weisheit
und Gerechtigkeit); 87–90, 343–346 (zur Frage der Unsterblichkeit).
127 Im neunten Dogma ist Contract social groß geschrieben. An den anderen
sieben Stellen, an denen contract social im Text vorkommt, wird der Begriff klein
geschrieben und kann es keinen Zweifel geben, ob auf den Vertrag oder auf das
Buch Bezug genommen wird: I, 6, 4 (360); I, 7, 2 (362); I, 8, 2 (364); I, 9, 1 (365); II, 4,
8 (375); II, 4, 10 (375); III, 16, 2 (432). Die Bedeutung der Heiligkeit des contrat social
im neunten Dogma wird durch Rousseaus Contrat social bestimmt. Daß das Buch
eines Philosophen, das das Werk der Gesetzgebung zum Gegenstand hat, in das
Werk der Gesetzgebung eingeht, ist nicht ohne Beispiel: Nomoi VII, 811 c–e. Cf.
Seth Benardete: Plato’s «Laws». The Discovery of Being. Chicago 2000, p. 151, 209,
215.

– 228 –
Dogma ist für die Religion civile konstitutiv. Es unterscheidet sie von
der Religion naturelle. Es formuliert den eigentlich politischen Glau-
bensartikel und bringt durch die Formulierung des Artikels selbst zum
Ausdruck, daß die Religion civile den Bürger in dem Doppelaspekt er-
reichen soll, unter dem ihn der Contrat social betrachtet. Das Dogma
sanktioniert das Recht des Citoyen, das seine alleinige Quelle im gesell-
schaftlichen Vertrag hat, und es sanktioniert in eins damit  – deshalb
handelt es sich um einen und nicht um zwei Artikel – die Pflicht des
Sujet, die sich einzig nach den Gesetzen bemißt. Mit der «Heiligkeit»,
von der das neunte Dogma spricht, kehrt Rousseau zum Glauben des
Bürgers zurück, mit dem er in Buch I begann, die gesellschaftliche Ord-
nung sei «ein geheiligtes Recht, das allen anderen als Grundlage» diene.
Dazwischen liegt das ganze Argument des Contrat social, bei dessen
Entfaltung Rousseau einmal von der «Heiligkeit» des Vertrags und ein-
mal von der «Heiligkeit» des Werks des Gesetzgebers gesprochen sowie
an anderen Stellen die Macht des Souveräns, die Einrichtung des Tribu-
nats und die Macht der Gesetze «geheiligt» genannt hat.128 Nachdem er
das heilige Recht des Bürgers am Anfang des Traktats destruierte, indem
er es auf eine Konvention zurückführte und auf den Willen natürlicher
Wesen gründete, unternimmt er es am Ende des Traktats, den Glauben
an ein geheiligtes Recht durch eine Konvention zu restituieren. Denn
der Umstand, daß das neunte Dogma la sainteté du Contract social et
des Loix verkündet, vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß das
Dogma in keiner Weise aus den acht vorangegangenen Dogmen her-
geleitet wird, sondern, wie die Religion civile insgesamt, auf einem politi-
schen Akt, einer Setzung, einer Konvention beruht. Wenn die Heiligkeit
der Rechtsquelle und der Gesetze Teil des gesetzlichen Bekenntnisses
wird, ist sie Ausdruck der volonté générale. Mit anderen Worten: Nicht
die Religion civile legitimiert den contrat social, sondern der contrat social
legitimiert die Religion civile. Die Konstruktion am Ende ist eines Sinnes
mit der Destruktion am Anfang. Ihr Fundamentum in re hat «die Heilig-
keit des Gesellschaftlichen Vertrags und der Gesetze» in der Natur des
Vertrags, die der Contrat social expliziert.129

128 I, 1, 2 (352); siehe S. 154–155. I, 7, 3 (363); II, 7, 4 (382). II, 4, 9 (375); IV, 5, 3 (454);
IV, 6, 3 (456).
129 Cf. I, 7, 5 (363); II, 6, 5 (379); II, 7, 7 (383); II, 12, 2 (394); III, 18, 9 (436). Siehe
S. 162–165, 169–170, 177–178. Beachte Rousseaus Verhandlung der Heiligkeit des

– 229 –
Der besondere Status des zehnten Artikels der Religion civile wird
von Rousseau dreifach markiert. Nicht nur setzt er das Verbot der «In-
toleranz» ausdrücklich von den neun «positiven Dogmen» ab, die ihm
vorausgehen. Da er es zum einzigen «negativen Dogma» erklärt und
mit ihm endet, überträgt er ihm außerdem die Aufgabe, die kritische
Stoßrichtung des Bekenntnisses zu bezeichnen. Und schließlich läßt er
ihm allein einen erläuternden Zusatz folgen, mit dem er klarstellt, daß
das Verbot nicht die «Intoleranz» im allgemeinen betrifft, sondern
einen bestimmten «Kult» ins Auge faßt. Tatsächlich kann der letzte
Artikel der Religion civile «Erklärungen oder Kommentare» sowenig
entbehren, daß Rousseau den Rest des Kapitels auf seine Erläuterung
verwendet. Die Einordnung der «Intoleranz» unter «die Kulte, die wir
ausgeschlossen haben», verweist den Leser an die religion du Prêtre
zurück, von der Rousseau im typologischen Abschnitt gesagt hat, sie
sei «so evident schlecht», daß es «Zeitverschwendung» wäre, dies noch
nachweisen zu wollen. Die religion du Prêtre, oder genauer «das römi-
sche Christentum», ist das unmittelbare Ziel des «negativen Dogmas»
der Religion civile. Rousseau macht im Contrat social wahr, was er im
Discours sur l’inégalité ursprünglich vorgesehen hatte: Er läßt das
Buch in einem Angriff auf den Herrschaftsanspruch der geistlichen
Gewalt kulminieren.130 Das Verbot der «theologischen Intoleranz»
hat die politischen Weiterungen im Blick: «Es ist unmöglich, mit Leu-
ten in Frieden zu leben, von denen man glaubt, sie seien verdammt; sie
zu lieben hieße, Gott zu hassen, der sie bestraft; man muß sie unbe-
dingt zurückbringen oder peinigen». Die «theologische Intoleranz»
zeitigt notwendig eine «bürgerliche Wirkung». Sie führt dazu, daß
«der Souverän nicht mehr Souverän» und «die Priester die wahren

Vertrags in Les rêveries du Promeneur Solitaire VI, 9, OCP I, p. 1053–1054 und siehe
Über das Glück des philosophischen Lebens, p. 193–196.
130 Rousseau hatte die Absicht, die Kritik der geistlichen Gewalt der Priester und
der durch sie begründeten Ungleichheit («die am wenigsten vernünftige und die am
meisten gefährliche von allen») im zweitletzten Absatz des Discours vorzutragen.
In der Schlußredaktion fiel diese Kritik Rousseaus Selbstzensur zum Opfer. Die
Zeugnisse, darunter die einschlägigen Seiten einer im übrigen verlorenen Reinschrift
des Manuskripts, die Rousseau sorgsam aufbewahrte, sowie eine genaue
Rekonstruktion finden sich in meiner Edition des Discours sur l’inégalité, p. 386–
403 und XLI–XLVII. Cf. außerdem die Kritik der «Intoleranz» in der Lettre à
Voltaire, Abs. 33, CC IV, p. 49.

– 230 –
Herren sind». Die Intoleranz, gegen die der zehnte Glaubensartikel
gerichtet ist, steht ein für die tiefer wurzelnde Lehre, daß Menschen
aufgrund ihres falschen oder fehlenden Glaubens als Verdammte und,
wie Rousseau in einer Anmerkung zur Profession de foi du Vicaire
Savoyard präzisiert, als «Feinde Gottes» zu betrachten seien, eine
Feindschaft, die alle anderen Feindschaften übertrifft und die, so an sie
geglaubt wird, auf alle Feindschaften durchschlagen muß. Die Identi-
fizierung des Gläubigen mit Gottes Unterscheidung von Freund und
Feind oder mit dem, was er Gott als Feindschaft ansinnt, birgt eine
politische Sprengkraft. Deshalb gräbt Rousseau bis zu dem Glauben
zurück, der über Heil und Verdammnis entscheiden soll und die Tren-
nung in Freunde und Feinde Gottes begründet. Die Kritik der Intole-
ranz ist ein integraler Bestandteil seiner Kritik der Politischen Theolo-
gie. Das «negative Dogma» ist das einzige der zehn Dogmen, bei dem
es keinem Zweifel unterliegt, daß Rousseau ihm, unabhängig von der
Entscheidung des Souveräns über den Gesetzesvorschlag, zustimm-
te.131 In seiner Erläuterung des Intoleranz-Verbots erwähnt Rousseau
weder die «Religion des Priesters» noch das «römische Christentum»
namentlich. Statt dessen verbindet er die Lehre extra ecclesiam nulla
salus mit dem Gouvernement Théocratique, um im zweitletzten Satz
von «De la Religion civile» ein drittes und letztes Mal die Konzeption
zu evozieren, der der Contrat social mit seinen Prinzipien des politi-
schen Rechts am grundsätzlichsten widerspricht. Nach der vorberei-
tenden Bezugnahme am Beginn und der Charakterisierung durch ihr
Spiegelbild im Zentrum des Kapitels verweist die abschließende Ver-
wendung auf den Kern der Sache, die die Theokratie bezeichnet: die
Zurückführung aller Herrschaft und alles Heils auf die souveräne
Autorität des Einen Gottes, eine souveräne Autorität, die ihre bevoll-
mächtigten Repräsentanten und berufenen Interpreten in der Welt hat
und deren Gehorsamsforderung bis ins Denken des Einzelnen reicht

131 IV, 8, 34–35 (469); Profession de foi du Vicaire Savoyard note 17, p. 628.
Rousseaus Kritik der «Intoleranz» beschränkt sich nicht auf die historischen
Auswüchse des Fanatismus oder auf politische Verirrungen kirchlicher Autoritäten
wie das Massaker der Bartholomäusnacht oder die Verbrennung von Michel Servet
im Genf Calvins, die er in den späteren Verteidigungsschriften anführt. Siehe Lettre
à Christophe de Beaumont, OCP IV, p. 161; Lettres écrites de la montagne II, 53
note, p. 726; cf. III, 50 note und 89, p. 742, 752.

– 231 –
und ihn in seinem Gewissen bindet.132 Sosehr die politische und die
philosophische Intention des Contrat social im «negativen Dogma»
übereinkommen, so wenig scheinen sie in den «positiven Dogmen» der
Religion civile zusammenzufinden. Daß die Sakralisierung des poli-
tisch Besonderen, die das neunte Dogma im allgemeinen statuiert, die
Identifizierung des Bürgers mit dem «gemeinsamen Ich» befördert, ist
zweifelhaft, daß sie, für sich genommen, seine Vaterlandsliebe beflü-
gelt, kaum zu erwarten. Rousseau kann sich auch nicht darüber im
unklaren sein, daß die Dogmen 6–8 in ihrer Lakonik keine zurei-
chende Antwort geben auf die Frage, die er an den Philosophen ge-
richtet und dem Savoyischen Vikar entgegengehalten hat, was an die
Stelle des jenseitigen Gerichts der Höllenbrücke «Poul-Serrho» bei
den Persern treten solle, um den Geboten der Moral Nachdruck zu
verleihen. Der grand Législateur mag in einigen Jahrhunderten Mittel
finden, der Religion civile eine besondere Gestalt und ein wirksames
Gepräge zu geben. Rousseau selbst übt größte Zurückhaltung. Als
Stifter eines neuen Kults aufzutreten ist nicht seine Sache.133 Das be-

132 Cf. den in Anm. 65 wiedergegebenen Locus classicus des Begriffs in der
französischen Übersetzung, in der Rousseau Flavius Josephus las. Eine vorzügliche
Kritische Edition mit deutscher Übersetzung hat Folker Siegert vorgelegt: Über die
Ursprünglichkeit des Judentums (Contra Apionem). Göttingen 2008. 2 Bände. I,
p. 189. Josephus’ Theokratie-Begriff erfuhr unter den Neueren eine breite Re-
zeption von Spinoza über Vico bis Voltaire. Eine frühe Bezugnahme findet sich in
Petrus Cunaeus: De Republica Hebraeorum libri tres. Amsterdam 1666, Buch I, 1,
p. 4 (ursprünglich Leiden 1617). – Rousseau hat sich erst in der definitiven Fassung
des Kapitels «De la Religion civile» für die dreifache Präsenz der Theokratie im
ersten Satz des ersten Absatzes, im zweiten Satz des zentralen Absatzes und im
dritten Satz des letzten Absatzes entschieden. In der Première version kommen
Théocratie und gouvernement Théocratique jeweils einmal in den Absätzen 5 und
25 des 25 Absätze umfassenden Kapitels vor (p. 337, 342). Auch die dritte und letzte
Erwähnung des raisonnement de Caligula in IV, 8, 1, die den aufmerksamen Leser
zu Flavius Josephus führt, fehlt in der Première version. In ihr tritt Caligula nicht
dreimal, sondern nur ein einziges Mal auf, im zweiten Absatz des Kapitels «Du
Législateur» (p. 312).
133 Profession de foi du Vicaire Savoyard note 18, 9–12, p. 634–635. Rousseau
streicht in der endgültigen Fassung von «De la Religion civile» jeden Hinweis auf
einen öffentlich zu gestaltenden Kult. In der Première version hatte er zunächst
geschrieben: «Cette profession de foi une fois établie, qu’elle se renouvelle tous les
ans avec solennité et que cette solennité soit accompagnée d’un culte auguste et
simple dont les magistrats soient seuls les ministres et qui réchauffe dans les cœurs

– 232 –
zeugen auch die späteren Verfassungsentwürfe für Korsika und Polen.
Seine Sache ist es, das Problem aufzuzeigen. Er weist den Gesetzge-
bern der Zukunft einen Weg, den er in der Gegenwart weder gehen
kann noch gehen will. Die Gegenwart steht unter dem Vorbehalt, den
er im Émile ausspricht. Er stellt dort dem Entwurf eines Lebens, das
inmitten einer depravierten Gesellschaft mit sich selbst übereinzu-
stimmen vermag, das Urteil voran: «Die beiden Wörter Vaterland und
Bürger müssen aus den modernen Sprachen gestrichen werden.»
Rousseau fährt fort, daß er den Grund kenne, ihn aber nicht angeben
wolle, da er nicht zu seinem Gegenstand gehöre. Im Contrat social ge-
hört er zum Gegenstand und findet er sich ausgesprochen: Der Geist
des Christentums hat alles ergriffen, alles gewonnen, alles angesteckt.134
Die Artikel des «rein bürgerlichen Glaubensbekenntnisses» sind unter
diesen Bedingungen zuallererst Artikel der Abwehr.135 Aber unabhän-
gig vom politischen Erfolg oder Mißerfolg des Gesetzesvorschlags sind
sie außerdem eine letzte Bekräftigung des Befunds, von dem der Con-
trat social ausgegangen und zu dem er immer wieder zurückgekehrt ist:
Die Ketten können dem soziablen Menschen nicht abgenommen, sie
können im besten Fall legitim gemacht werden. Rousseau nennt die
Dogmen der bürgerlichen Religion nicht zufällig Ansichten der Sozia-
bilität.
Das letzte Kapitel des Traktats besteht aus einem kurzen Absatz, der
zwei Sätze umfaßt. Rousseau nimmt für sich in Anspruch, «die wahren
Prinzipien des politischen Rechts» aufgestellt zu haben. Nachdem er
den Staat auf dessen Fundament zu gründen gesucht hat, bliebe ihm
noch, ihn «durch seine äußeren Beziehungen abzustützen». Das erfor-
derte die Erörterung des Völkerrechts, des Handels, des Kriegsrechts,
der Eroberungen. Von besonderem Interesse wäre es, die Möglichkeiten

l’amour de la patrie. Voilà tout ce qu’il est permis au souverain de prescrire quant à
la religion.» Absatz 24, p. 342; cf. Absatz 8, p. 338.
134 Émile I, p. 250. IV, 8, 11 (462). Der Geist des Christentums verwehrt den Weg
zurück zur «Religion des Bürgers», zur Errichtung des wohlgeordneten Ge-
meinwesens auf einer anderen Grundlage als der der Rechtsgleichheit seiner Bür-
ger, zur Behauptung der Einsicht als Herrschaftstitel. Siehe S. 189–192, 208, 223.
135 «Maintenant qu’il n’y a plus et qu’il ne peut plus y avoir de Religion nationale
exclusive, on doit tolérer toutes celles qui tolerent les autres, autant que leurs
dogmes n’ont rien de contraire aux devoirs du Citoyen. Mais quiconque ose dire,
hors de l’Eglise point de Salut, doit être chassé de l’Etat» IV, 8, 35 (469).

– 233 –
auszuloten, die der Zusammenschluß zu Konföderationen kleinen Staa-
ten eröffnete, sich gegen Großmächte zu behaupten.136 «Aber all das
bildet einen neuen Gegenstand, der zu ausgedehnt ist für meinen kur-
zen Blick; ich hätte ihn immer auf das richten sollen, was mir näher ist.»
Nachdem Rousseau das Recht und die Grenzen der Politik verhandelt
hat, erinnert er sich in der «Conclusion» an das, was stets seine größte
Aufmerksamkeit verdient. Er verweist auf etwas von größter Wichtig-
keit, das außerhalb der Klammer steht, innerhalb deren sich die Unter-
suchung des Contrat social bewegt. Rousseaus Selbsterinnerung erfüllt
sich und wird bedacht in Les rêveries du Promeneur Solitaire.

136 Kapitel  III, 15, das für den letzten Satz der «Conclusion» von besonderer
Bedeutung ist, enthält die Ankündigung: «Je ferai voir ci-après comment on peut
réunir la puissance extérieure d’un grand Peuple avec la police aisée et le bon ordre
d’un petit Etat.» Rousseau fügt die Fußnote hinzu: «C’est ce que je m’étois proposé
de faire dans la suite de cet ouvrage, lorsqu’en traitant des rélations externes j’en
serois venu aux confédérations. Matiere toute neuve et où les principes sont encore
à établir.» III, 15, 12 und note (431); cf. III, 13, 6 (427).

– 234 –
NAMENVERZEICHNIS

Aischylos 21 Cicero, Marcus Tullius 22, 24, 82,


Alfarabi, Abu Nasr (Farabi) 22, 34, 114, 215
65–66, 69, 71, 84, 114, 137 Cropsey, Joseph 141
Amyot, Jacques 186 Cunaeus, Petrus 232
Anaxagoras 22
Andilly, Arnauld d’ 187, 191 Derathé, Robert 151
Anytus 17 Descartes, René 40
Aristippos von Kyrene 102 Diderot, Denis 160–161, 168
Aristophanes 13–17, 21, 31, 36 Diogenes Laertius 14, 102, 154
Aristoteles 20, 22, 33, 40, 78–79, 82, Diogenes von Sinope 102
93–96, 102, 108, 111, 118–119, Dionysos 111
123–125, 138–140, 142, 146 Dreyfus-Brisac, Edmond 151, 159
Augustinus, Aurelius 143, 224 Du Peyrou, Pierre-Alexandre
Averroes 22, 137 151
Avicenna 22
Fabius 135
Bachofen, Blaise 159 Ferdinand von Aragon 80
Bacon, Francis 22, 81 Frege, Gottlob 31
Bayle, Pierre 221 Friedrich der Große 104
Beaulavon, Georges 151, 191
Beaumont, Christophe de 231 Gildin, Hilail 37, 202
Benardete, Seth 21, 23, 31 104, 228 Goethe, Johann Wolfgang von 121
Bernardi, Bruno 151, 159 Grimsley, Ronald 151
Bion von Borysthenes 102 Grotius, Hugo 188
Boccaccio, Giovanni 67
Bossuet, Jacques Bénigne 155, 160, Halbwachs, Maurice 151, 191
224 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 35,
Bultmann, Rudolf 29 140
Buttafoco, Matthieu 173 Heidegger, Martin 27, 30, 45
Hobbes, Thomas 22, 51, 70, 77, 82,
Caligula, Gaius Caesar 187–189, 191, 86–87, 122, 204, 221, 226
218, 232 Homer 219
Calvin, Jean 25, 155–156, 178, Horatius, Q. Flaccus 183, 210
203–204, 224, 231
Camillus 146 Jesaja 142
Cato, Marcus Porcius, Censorius 126 Jesus Christus 26, 57, 73, 111, 144,
Chiron 110–111 178, 203, 220

– 235 –
Josephus, Flavius 187, 191, 232 Peter I. 181
Jouvenel, Bertrand de 151 Peterson, Erik 26
Philon von Alexandria 187, 191
Jupiter 146 Platon 14–15, 17, 20, 22, 24–25,
30–34, 36, 40, 65–66, 78–79,
Kant, Immanuel 133–134 107, 112–114, 131–132, 138–139,
Kojève, Alexandre 114 154, 159, 168, 177, 179, 186–188,
Krüger, Gerhard 110, 115 190
Plutarch 114, 146, 175–176, 186
Leigh, Ralph A. 173
Livius, Titus 53, 57, 97, 100–101, 135, Romulus 215
146, 190 Rousseau, Jean-Jacques 8, 24, 27–28,
Locke, John 133 35–37, 77, 110–111, 149–234
Löwith, Karl 110
Lucretius, Titus Carus 91 Savonarola, Girolamo 70, 90–91
Luther, Martin 75, 83, 224 Servet, Michel 291
Lykurg 175, 178, 181 Sokrates 8, 14–17, 24–25, 31, 33, 36,
42, 52, 60, 63, 67, 75, 102, 107–108,
Machiavelli, Niccolò 8, 22, 34, 41–42, 113, 117, 127, 131, 134, 142,
46–147, 159, 173, 178, 190, 199, 203, 146–147
214 Solon 178, 181
Maimonides, Moses 22, 34, 45, 113, Sorel, Georges 17
114 Spinoza, Benedictus de 22, 40, 77,
Marcus Aurelius 103, 126 145, 232
Marlowe, Christopher 117 Strauss, Leo 7, 8, 14–16, 25, 32, 35, 39,
Marx, Karl 133 41–147, 173, 190
Masters, Roger D. 215 Swift, Jonathan 110
Minos 179
Mohammed 221 Tacitus, P. Cornelius 101
Montesquieu, Charles de Theodoros Atheos 102
Secondat 188 Theophrastos 102
Moses 57, 76, 100–101, 191, 219, 221, Tiberius 220
223
Moultou, Paul 151 Vaughan, C. E. 151, 226
Vergilius, Publius Maro 215
Napoleon Bonaparte 87 Vettori, Francesco 140
Nerva 103 Vico, Giambattista 232
Nietzsche, Friedrich 17, 23, 27, 35, Voltaire, François Marie Arouet 181,
40, 42, 71, 77, 99, 110–111 227, 230, 232
Numa 179, 215
Warburton, William 180, 221
Olivo, Gilles 159 Wellhausen, Julius 77
Wittgenstein, Ludwig 31
Paoli, Pasquale 185
Pascal, Blaise 41 Xenophon 14, 22, 24, 31, 36, 43, 46,
Paulus 25, 26, 70, 155–156, 203, 224 65, 107, 146

– 236 –
Bücher des Autors

Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’inégalité / Diskurs über die Ungleichheit.


Kritische Edition des integralen Textes mit deutscher Übersetzung, einem Essay
über die Rhetorik und die Intention des Werkes sowie einem ausführlichen
Kommentar. Paderborn 1984. Sechste Auflage 2008, 638 Seiten.
Carl Schmitt, Leo Strauss und «Der Begriff des Politischen». Zu einem Dialog un-
ter Abwesenden. Stuttgart 1988, 141 Seiten. Erweiterte Neuausgabe. Stuttgart–
Weimar 1998, 192 Seiten. Dritte Auflage. Mit einem Nachwort. 2013, 200 Seiten.
(Französisch 1990, japanisch 1993, amerikanisch 1995, chinesisch 2002, spanisch
2008, italienisch 2011, russisch 2012.)
Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie
und Politischer Philosophie. Stuttgart–Weimar 1994, 267 Seiten, 1 Abb. Zweite
Auflage. Mit einem Nachwort. 2004, 272 Seiten, 1 Abb. Dritte Auflage. Mit
einem Rückblick: «Der Streit um die Politische Theologie». 2009, 304 Seiten,
1 Abb. Vierte Auflage 2012. (Amerikanisch 1998, erweiterte Paperback Edition
2011; chinesisch 2004, italienisch 2013, französisch 2014, japanisch 2014.)
Die Denkbewegung von Leo Strauss. Die Geschichte der Philosophie und die In-
tention des Philosophen. Stuttgart–Weimar 1996, 66 Seiten. (Chinesisch 2002,
amerikanisch 2006, französisch 2006, spanisch 2006, japanisch 2010.)
Warum Politische Philosophie? Stuttgart–Weimar 2000. Zweite Auflage 2001,
40 Seiten. (Chinesisch 2001, amerikanisch 2002, französisch 2006, spanisch 2006,
japanisch 2008.)
Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss. Stuttgart–Wei-
mar 2003, 86 Seiten. (Chinesisch 2004, französisch 2006, spanisch 2006, japanisch
2010.)
«Les rêveries du Promeneur Solitaire». Rousseau über das philosophische Leben.
München 2005, 68 Seiten. Zweite Auflage 2010, 70 Seiten. (Chinesisch 2006,
japanisch 2008, amerikanisch 2010, französisch 2010.)
Leo Strauss and the Theologico-Political Problem. Cambridge 2006. Siebte Auf-
lage 2008, 204 Seiten.
Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus «Rêve-
ries» in zwei Büchern. München 2011, 442 Seiten. (Chinesisch 2013, amerika-
nisch 2015).

– 237 –
Als Herausgeber

Leo Strauss: Gesammelte Schriften in sechs Bänden


Band 1: Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften. Stuttgart–Wei-
mar 1996. 448 Seiten. Zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage 2001, 480
Seiten. Dritte, erneut durchgesehene und erweiterte Auflage 2008, 504 Seiten.
Band 2: Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften. Stuttgart–Weimar 1997, 669
Seiten. Erster, durchgesehener Nachdruck 1998. Zweite, durchgesehene und er-
weiterte Auflage 2013, 688 Seiten.
Band 3: Hobbes’ politische Wissenschaft und zugehörige Schriften – Briefe (zu-
sammen mit Wiebke Meier). Stuttgart–Weimar 2001, 837 Seiten. Erster, durchge-
sehener Nachdruck 2003. Zweite, durchgesehene Auflage 2008, 839 Seiten.
Die Herausforderung der Evolutionsbiologie. München 1988, 294 Seiten. Zweite
Auflage 1989. Dritte Auflage 1992.
Zur Diagnose der Moderne. München 1990, 251 Seiten.
Vom Urknall zum komplexen Universum. Die Kosmologie der Gegenwart (zu-
sammen mit Gerhard Börner und Jürgen Ehlers). München 1993, 222 Seiten.
Der Mensch und sein Gehirn. Die Folgen der Evolution (zusammen mit Detlev
Ploog). München 1997, 259 Seiten. Zweite Auflage 1998.
Über die Liebe. Ein Symposion (zusammen mit Gerhard Neumann). München
2000, 352 Seiten. Zweite Auflage 2001. Dritte Auflage 2008. Vierte Auflage 2010.
Der Tod im Leben. Ein Symposion (zusammen mit Friedrich Wilhelm Graf).
München 2004, 352 Seiten. Zweite Auflage 2008. Dritte Auflage 2009.
Über das Glück. Ein Symposion. München 2008, 295 Seiten. Zweite Auflage 2010.
Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart (zusammen mit Friedrich
Wilhelm Graf). München 2013, 320 Seiten.

– 238 –
Zum Buch
Die Offenbarungsreligion fordert die Philosophie theologisch und politisch heraus. Ihr
Wahrheitsanspruch und ihre Gehorsamsforderung widerstreiten dem Recht und der Not-
wendigkeit der Philosophie, die auf freies, rückhaltloses Fragen gegründet ist. Sowenig
der Autor die Philosophie als eine akademische Disziplin begreift, so wenig versteht er die
Politische Philosophie als ein Feld im Garten der Philosophie. Sie ist vielmehr, so lautet
seine These, eine besondere Wendung, eine Änderung der Blick- und Fragerichtung, die
einen Unterschied im Ganzen macht. Denn die Philosophie bedarf zu ihrer rationalen Be-
gründung und politischen Verteidigung der Besinnung auf die Bedingungen ihrer Existenz
und der Auseinandersetzung mit ihrer anspruchsvollsten Alternative.

Heinrich Meier, einer der besten Kenner von Jean-Jacques Rousseau und Leo Strauss, en-
tfaltet den Streit, von dem dieses Buch handelt, in exemplarischen Auslegungen zweier
Meisterwerke der Politischen Philosophie: Im Dialog mit Gedanken über Machiavelli,
dem komplexesten und kontroversesten Traktat von Strauss, und in einer neuen Deutung
der berühmtesten Schrift Rousseaus, Vom gesellschaftlichen Vertrag, des modernen Gege-
nentwurfs zur Theokratie in allen ihren Erscheinungsformen.

Über den Autor


Heinrich Meier, geboren 1953, leitet die Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München
und lehrt als Honorarprofessor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität
München sowie als ständiger Gastprofessor am Committee on Social Thought der Univer-
sity of Chicago. Seine Bücher zur Begründung der Politischen Philosophie und zur Kritik
der Politischen Theologie wurden in acht Sprachen übersetzt. Bei C.H.Beck veröffentlichte
er 2011 „Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries
in zwei Büchern“.

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