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John Sellars

Téchnê perì tòn bíon


Zur stoischen Konzeption von Kunst und Leben*

Für viele moderne Philosophen ist die paradigmatische Definition von Philosophie nach wie
vor diejenige, die John Locke auf den ersten Seiten seines Essay Concerning Human Under-
standing gibt: Es müsse dem philosophischen »Ehrgeiz genügen, wenn man als Hilfsarbeiter
beschäftigt wird, um den Baugrund etwas aufzuräumen und einen Teil des Schuttes zu besei-
tigen, der den Weg zur Erkenntnis versperrt«.1 Der Philosoph – ein Hilfsarbeiter des Natur-
wissenschaftlers – ist demnach in erster Linie mit dem Wissenserwerb befaßt, damit, ein ra-
tionales Verständnis dessen zu erlangen, wie die Welt funktioniert. Dies ist jedoch eine spezi-
fisch moderne Auffassung von Philosophie. In der Antike galt die Philosophie, ungeachtet
ihrer engen Beziehung zur (Natur-)Wissenschaft bei Aristoteles, in der Regel als weit mehr
denn bloße Erlangung von Wissen: Sie war Erlangung von Weisheit; und Weisheit hielt man
deshalb der Erlangung für wert, weil ihr Besitz geeignet war, die gesamte Lebensführung des
Individuums zu verändern.2
Dieser Gedanke vom lebensverändernden Potential der Philosophie ist nicht auf die Antike
beschränkt. Auch eine ganze Reihe moderner Philosophen hat sich die Vorstellung zu eigen
gemacht, daß Philosophie sich möglicherweise vor allem im individuellen Verhalten aus-
drücke.3 Bei Nietzsche etwa ist dies ein immer wiederkehrender Gedanke, der besonders deut-
lich in seiner Betrachtung über Schopenhauer als Erzieher hervortritt: »Ich mache mir aus
einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben. […] Aber das
Beispiel muss durch das sichtbare Leben und nicht bloss durch Bücher gegeben werden, also
dergestalt, wie die Philosophen Griechenlands lehrten, durch Miene, Haltung, Kleidung, Spei-
se, Sitte mehr als durch Sprechen oder gar Schreiben.«4 Für Nietzsche muß der wahre Philo-
soph eine gesamte Lebensweise verkörpern, statt lediglich die abstrakte Vorstellung reinen
Wissenserwerbs bzw. »reiner Wissenschaft«5 im Visier zu haben. Der Philosoph ist ein
Künstler, sein Leben ein Kunstwerk.6 In jüngerer Zeit hat auch Michel Foucault angeregt,
Philosophie als eine Tätigkeit zu betrachten, die darauf gerichtet ist, das Leben zum Kunst-
werk zu machen: »Mir fällt auf, daß Kunst in unserer Gesellschaft zu etwas geworden ist, das
nur Gegenstände, nicht aber Individuen oder das Leben betrifft. Daß Kunst etwas Gesondertes

* Das in diesem Beitrag verwendete Material stützt sich auf Forschungsergebnisse, die erstmals in John Sellars,
The Art of Living. The Stoics on the Nature and Function of Philosophy, Aldershot 2003, veröffentlicht worden
sind.
1 John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 1981, S. 11.
2 Vgl. hierzu die Arbeiten Pierre Hadots, insbesondere Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzi-
tien der Weisheit, Frankfurt/M. 2003; Wege zur Weisheit oder was lehrt uns die antike Philosophie?, Berlin
1999.
3 Für einen ersten Überblick zum Thema vgl. James Miller, »From Socrates to Foucault: The Problem of the
Philosophical Life«, in: New Formations 25 (1995), S. 48-56.
4 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen III: Schopenhauer als Erzieher, in: ders., Kritische Studien-
ausgabe [KSA], Bd. 1, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1988, S. 350.
5 Ebd., S. 351.
6 Hierzu vgl. insbesondere folgende Äußerungen aus dem derselben Periode entstammenden Nachlaß Nietz-
sches: »Das Product des Philosophen ist sein Leben (zuerst, vor seinen Werken). Das ist sein Kunstwerk.« (KSA,
Bd. 7, S. 712); »Nur soweit einer der Philosophie nachleben kann, soll er Philosophie haben […].« (ebd., S.
738); »[…] und so lange die Philosophen nicht den Muth gewinnen, eine ganz veränderte Lebensordnung zu
suchen und durch ihr Beispiel aufzuzeigen, ist es nichts mit ihnen« (ebd., S. 752).
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ist, das von Experten, nämlich Künstlern gemacht wird. Aber könnte nicht das Leben eines
jeden ein Kunstwerk werden? Warum sollte die Lampe oder das Haus ein Kunstgegenstand
sein, nicht aber unser Leben?«7
Moderne Philosophen, die wie Nietzsche und Foucault der Idee aufgeschlossen gegenüber-
standen, daß Philosophie das Leben verändern kann, haben ihre Vorbilder häufig in der Anti-
ke gesucht. Die Aussage freilich, daß Philosophie im Altertum als eine Lebensform aufgefaßt
worden sei, ist ein schierer Gemeinplatz. In der Antike ein Philosoph zu sein – sei es Platoni-
ker, Stoiker, Epikureer, Kyniker oder Neuplatoniker –, bedeutete in der Tat, daß man sein
Leben auf eine spezifisch philosophische Weise führte. Jedoch sagt diese Feststellung für sich
genommen wenig darüber aus, wie das Verhältnis zwischen der Philosophie und der Lebens-
führung eines Individuums zu denken sei. Foucault, der sich mit dieser Frage besonders ein-
gehend beschäftigt hat, ist zu dem Schluß gekommen, daß Philosophie in der Antike oft als
Lebenskunst verstanden worden sei, als eine ›téchnê toû bíou‹.8 Genaugenommen taucht zwar
der Ausdruck in dieser Form in der antiken Literatur nicht auf; doch gibt es Hinweise auf eine
›téchnê perì tòn bíon‹, eine Kunst also in bezug auf das Leben. Nahezu alle antiken Okkurren-
zen des Ausdrucks stammen aus stoischen Zusammenhängen, und die Stoiker waren es auch,
welche die Auffassung von der Philosophie als Lebenskunst entwickelten.9 So umschreibt der
Stoiker Epiktet die Philosophie folgendermaßen: Die »Philosophie verheißt überhaupt nicht,
dem Menschen irgendwelche äußeren Beziehungen zu verschaffen. Täte sie das, würde sie
etwas unternehmen, was außerhalb der ihr eigentümlichen Materie liegt. Denn wie das Mate-
rial des Zimmermanns das Holz, das des Bildhauers das Erz ist, so ist der Gegenstand der
Lebenskunst [tês perì bion téchnês] das Leben jedes einzelnen Menschen selber«.10
Epiktet stellt hier seine als Lebenskunst konzipierte Philosophie als eine auf die Veränderung
der eigenen Lebensführung gerichtete Tätigkeit vor. Die Aufgabe der Philosophie besteht für
ihn in der Verhaltensänderung, und jede Entwicklung in genuin philosophischem Verstande
wird sich seines Erachtens in den Handlungen des betreffenden Individuums niederschlagen.
Diese Vorstellung von einer Kunst (téchnê) der Verhaltensänderung hat eindeutig gewisse
Gemeinsamkeiten mit jener des Sokrates in der platonischen Apologie und in den frühen pla-
tonischen Dialogen, wo die Kenntnis menschlicher Vortrefflichkeit (aretê) wiederholt der
Kenntnis einer Kunst oder Fertigkeit gleichgesetzt wird.
Ein üblicher Einwand gegen die Charakterisierung der Philosophie als einer Lebenskunst be-
sagt, daß insofern sie die Bedeutung des rationalen Verstandes herunterspiele, eine philoso-
phische Lebensform von anderen, im Altertum gleichfalls verbreiteten – etwa religiösen –
Lebensformen ununterscheidbar werde.11 Was indes eine philosophische Lebensform von
einer religiösen unterscheidet, ist gerade die Tatsache, daß sie auf rationalem Verstehen bzw.
dem Streben danach gründet und nicht etwa auf mystischer Einsicht oder Treue zu einem Sy-

7 Michel Foucault, »Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbeiten«, in: Hubert L. Drey-
fus/Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, aus dem Amerikanischen
von Claus Rath und Ulrich Raulff, 2. Aufl., Weinheim 1994, S. 265-292, hier S. 273 f.
8 Vgl. Michel Foucault, Die Sorge um sich, übers. v. Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/M. 1989, S. 60-
62; vgl. auch Alexander Nehamas, Die Kunst zu leben. Sokratische Reflexionen von Platon bis Foucault, übers.
v. Michael Haupt, Hamburg 2000.
9 Der Ausdruck ›téchnê perì tòn bíon‹ taucht wörtlich oder in Varianten insgesamt 41mal in der antiken Literatur
auf, davon allein 34mal in Sextus Empiricus’ ausgedehnter Polemik gegen die Stoa. Von den restlichen sieben
Vorkommen stehen vier in direktem Zusammenhang mit den Stoikern, während drei unterminologischer Art
sind; vgl. die Datenbank des Thesaurus Linguae Graecae.
10 Epiktet, Dissertationes 1.15.2 (Capelle).
11 Vgl. z.B. Martha Nussbaum, The Therapy of Desire: Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton
1994, S. 353 f. (gegen Foucault und Hadot).
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stem nicht weiter in Frage gestellter Überzeugungen. Der Lebenskunstbegriff wird genau da-
durch ein spezifisch philosophischer, daß der rationale Verstand, die Analyse oder das Argu-
ment (lógos) eine grundlegende Rolle in ihm spielt. Der rationale Verstand ist zwar nicht kon-
stitutiv, bleibt aber eine notwendige Bedingung. Konstitutiv ist hingegen die den Philosophen
charakterisierende rationale Lebensführung, seine Handlungsweise und sein Verhalten, die
ihrerseits natürlich Ausdruck seines rationalen Verstandes sind.
Im folgenden wird es hauptsächlich darum gehen, eine Konzeption von Philosophie zu um-
reißen, innerhalb deren der lógos einen notwendigen, aber nicht den einzigen konstitutiven
Bestandteil bildet. Dazu werde ich diejenigen antiken Philosophen heranziehen, welche die
Philosophie explizit in dieser Weise verstanden haben – die Stoiker. Zentral für ihre Auffas-
sung von Philosophie ist die Bedeutung von philosophischer Übung oder Schulung (askêsis)
und die Rolle, die der askêsis zusammen mit dem rationalen Denken in dem Begriff einer
téchnê oder Kunst zukommt. Durch die Rekonstruktion dieser Konzeption von Philosophie
wird zweierlei möglich: Erstens wird man sich ihren Vertretern mit einem angemessenen Ver-
ständnis ihrer impliziten Annahmen über das, was sie als ihr philosophisches Unternehmen
ansahen, nähern können – eine wesentliche Voraussetzung zur Vermeidung anachronistischer
Urteile. Und zweitens, so ist zu hoffen, wird damit auch ein Beitrag zu der allgemeineren De-
batte über die Art der Beziehung zwischen Philosophie und Lebensführung und über Wesen
und Aufgabe der Philosophie als solcher geleistet.

I. Der Begriff ›Lebenskunst‹

In den griechischen Quellen ist der Ausdruck ›téchnê perì tòn bíon‹ – in dieser Form oder in
Varianten – am stärksten in den Werken des Sextus Empiricus vertreten, der das Konzept in
einiger Ausführlichkeit erörtert und verschiedene Einwände dagegen erhebt. Wie er berichtet,
sagen die Stoiker »geradewegs, die Einsicht, als Wissenschaft von Gutem, Schlechtem und
dem, was keines von beidem ist, sei die Kunst des Lebens. Nur die, welche sie sich angeeig-
net haben, erweisen sich als gut, nur sie als reich, nur sie als weise. Denn wer Wertvolles be-
sitzt, ist reich, die Vortrefflichkeit ist wertvoll, und nur der Weise besitzt sie«.12
Außer bei Sextus Empiricus finden sich in den griechischen Quellen noch sieben andere Ok-
kurrenzen, von denen vier eindeutig stoischer Provenienz sind. Davon sind wiederum drei
hier von einschlägigem Interesse. Der erste Beleg stammt von Epiktet und ist weiter oben
bereits angeführt worden; vergegenwärtigen wir uns nochmals seinen Wortlaut: Die »Philo-
sophie verheißt überhaupt nicht, dem Menschen irgendwelche äußeren Beziehungen zu ver-
schaffen. Täte sie das, würde sie etwas unternehmen, was außerhalb der ihr eigentümlichen
Materie liegt. Denn wie das Material des Zimmermanns das Holz, das des Bildhauers das Erz
ist, so ist der Gegenstand der Lebenskunst [tês perì bion téchnês] das Leben jedes einzelnen
Menschen selber«.13
Wichtig ist hier nicht nur der Gedanke, daß der Gegenstand der Lebenskunst das Leben (bíos)
eines jeden Menschen sei, wichtig ist auch, daß dieses Leben als etwas dem Menschen Nicht-
Äußerliches verstanden wird. Die Lebensführung des Menschen ist mit anderen Worten das,
was Epiktet an anderer Stelle kennzeichnet als etwas, das in unserer Macht steht, das »unsere
Sache« ist und als solche eine der wenigen Angelegenheiten überhaupt, die einen intrinsi-

12 Sextus Empiricus, Adversus Mathematicos 11.170 (Flückiger). Eine eingehende Erörterung von Sextus Empi-
ricus’ Einwänden gegen die stoische Auffassung von Lebenskunst findet sich bei Sellars, The Art of Living,
a.a.O., Kap. 4.
13 Epiktet, Dissertationes 1.15.2 (Capelle).
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schen Gegenstand unseres Interesses bilden sollten. Diese Aufmerksamkeit auf das, was dem
Individuum innerlich oder ein intrinsisches Anliegen ist, zeigt sich auch in dem zweiten Be-
leg. In seinem bei Stobaeus erhaltenen Abriß der stoischen Ethik teilt der Doxograph Arius
Didymus mit, daß die Stoiker unter menschlicher Vortrefflichkeit oder aretê die auf die Ge-
samtheit des Lebens bezogene Kunst verstanden hätten.14 Die aretê war dabei für sie ein in-
nerseelischer Zustand, eine seelische Disposition. Den dritten Beleg liefert der Geograph
Strabon, ein Stoiker und Weggefährte des Poseidonios, der sowohl Geographie als auch Phi-
losophie als Lebenskunst und Glück auszeichnet.15
Zusammengenommen lassen diese Bemerkungen erkennen, daß die Lebenskunst einerseits
mit dem innerseelischen Zustand der aretê identifiziert und andererseits auf das eigene bíos
bezogen wird, welches seinerseits als etwas in einem gewissen Sinne Inneres oder dem Indi-
viduum intrinsisch Zugehöriges gekennzeichnet wird. Außerdem geht es der Lebenskunst in
irgendeiner Weise um das Wohlergehen oder die Glückseligkeit (eudaimonía) des Menschen.
In gewisser Hinsicht kann also die Lebenskunst als selbstreflexiv gelten, indem sie den wirk-
mächtigen sokratischen Gedanken der Selbstsorge wiederaufnimmt.16

II. Eine Kunst in bezug auf die Seele

Eine Kunst des Lebens ist also zugleich eine Kunst der Sorge für die eigene Seele. Die Vor-
stellung einer Kunst der Fürsorge für die Seele, die in Analogie steht zur Medizin als Kunst
der Fürsorge für den Leib, ist von zahlreichen Stoikern entfaltet worden, besonders aber von
Chrysipp. Seine Verwendung dieser Analogie ist uns in zwei ausführlichen Berichten, bei
Cicero und bei Galen, überliefert. Indem wir diese nun nacheinander betrachten, wird es mög-
lich, ein Grundverständnis der Verwendung und Ausarbeitung dieser Analogie bei den Stoi-
kern zu gewinnen.
Die erste der beiden Darstellungen findet sich in Ciceros Gesprächen in Tusculum.17 Cicero
setzt damit ein, daß er, in Anlehnung an den Sokrates des Gorgias, zwischen Leib und Seele
unterscheidet und die These aufstellt, daß in derselben Weise, wie es Krankheit und Gesund-
heit des Leibes gibt, auch der Seele Krankheit und Gesundheit zukämen. Ebenfalls wie Sokra-
tes meint Cicero, daß die Krankheiten der Seele in vieler Hinsicht gefährlicher seien als die
des Leibes. Gleichwohl sei dem Gedanken einer der Heilkunst für den Leib analogen Seelen-
heilkunst (animi medicina) im allgemeinen wenig Beachtung geschenkt worden. Und doch
existiert eine solche Kunst nach Ansicht Ciceros: Es ist die Philosophie. Die Hauptaufgabe
des Philosophen besteht demnach darin, die Krankheiten der Seele (animi morbum) zu behan-
deln. Anders als der Arzt wird der Philosoph jedoch nicht die anderen Menschen behandeln,
sondern seine Aufmerksamkeit sich selbst zuwenden. Der Philosoph ist also jemand, der sich
mit den Krankheiten seiner eigenen Seele befaßt.18
Nach dieser allgemeinen Einführung in das, was er als Wesen und Aufgabe der Philosophie
ansieht, wendet sich Cicero den Einzelheiten der stoischen Analogie zwischen den Krankhei-
ten des Leibes und der Seele zu. Er weist zunächst auf die stoische These hin, daß kein Un-
verständiger von solchen Krankheiten frei sei. Nur der Weise ist frei von den Krankheiten der
Seele, da nur er die Philosophie als die Kunst der Behandlung dieser Krankheiten erlernt hat.

14 Vgl. Arius Didymus apud Stobaeus, Anthologium 2.7.5b10.


15 Vgl. Strabon, Geographica 1.1.1.
16 Vgl. z.B. Platon, Alkibiades I 127e, sowie die Erörterung bei Sellars, The Art of Living, a.a.O., Kap. 2.
17 Vgl. Cicero, Tusculanae Disputationes 3.1-21 und 4.9-33.
18 Vgl. ebd., 3.1-6.
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Weisheit wird daher schlicht als Gesundheit der Seele (animi sanitas) bestimmt. Dieser Zu-
stand kann nur durch Unterwerfung unter die philosophische Kur erreicht werden.19
Cicero weist darauf hin, daß die Stoiker und allen voran Chrysipp der Analyse und Definition
der verschiedenen seelischen Störungen viel Platz eingeräumt hätten. Bei diesen Störungen
handelt es sich um Gemütsbewegungen (perturbationes, morbi), und zwar vor allem um Zorn,
Begierde, Kummer, Mitleid und Neid, von denen es heißt, daß sie einander sämtlich implizie-
ren oder voraussetzen. Die stoische Analyse isoliert vier Haupttypen dieser Gemütsbewegun-
gen, je nachdem, ob diese durch den Glauben an etwas entweder Gutes oder Schlechtes, ent-
weder Gegenwärtiges oder für die Zukunft Erwartetes hervorgebracht werden. Die Aufgabe
der Philosophie besteht nun darin, zur Überwindung dieser unerwünschten seelischen Zustän-
de beizutragen; denn nur durch ihre Überwindung vermag der Mensch sich dem Ideal des
Weisen zu nähern. Der Schlüssel dazu, so Cicero, liegt darin, die Ursprünge der seelischen
Störungen aufzuspüren, so wie etwa auch ein Arzt bei der Diagnose der Krankheiten des Lei-
bes vorgehen mag. Erst dann wird es möglich, jene Krankheiten der Seele zu überwinden.
Erneut vermerkt Cicero, daß insbesondere Chrysipp beträchtliche Sorgfalt auf die Entfaltung
dieser Analogie verwandt habe. Indem Cicero seine stoisch inspirierte Untersuchung weiter-
treibt, gelangt er zu der Auffassung, daß die Ursprünge der seelischen Störungen in den Mei-
nungen oder Überzeugungen eines Menschen zu finden seien. Die Gefühlsbewegungen sind
demnach lediglich Symptome einer seelischen Störung; die ihnen zugrundeliegenden Ursa-
chen sind die Überzeugungen. Die Aufgabe der Philosophie – die ihrerseits auf die Pflege der
Weisheit, verstanden als seelische Gesundheit (animi sanitas), gerichtet ist – besteht in der
Behandlung der Meinungen oder Überzeugungen, welche die seelischen Störungen verursa-
chen.20
Ciceros Darstellung läßt sich ergänzen durch diejenige Galens, der im Fünften Buch seiner
Schrift De Placitis Hippocratis et Platonis eine Auseinandersetzung zwischen Chrysipp und
Poseidonios über bestimmte Einzelfragen der Analogie zwischen Krankheiten des Leibes und
Krankheiten der Seele erörtert.21 Laut Galen stimmten die beiden Männer darin überein, daß
derlei Störungen in der Seele »der besseren Art von Menschen« – eine Anspielung vermutlich
auf den Weisen – nicht vorkämen. Uneins waren die Disputanten jedoch nach Galens Bericht
in bezug auf die Vorgänge in den Seelen der unverständigen Mehrheit. Nach Chrysipp setzt
man deren Seelen am besten zu einem Leib in Analogie, der die Veranlagung hat, aufgrund
einer kleinen und zufälligen Ursache zu erkranken. Diese Analogie zieht aber Poseidonios in
Zweifel, indem er zu bedenken gibt, daß es falsch wäre, eine kranke Seele mit einem gesun-
den Leib zu vergleichen, der nicht gegenwärtig krank, sondern lediglich anfällig für Krankheit
ist. Galen führt die Analogie dann im weiteren mit seinen eigenen Worten aus: »Die Seelen
der tugenhaften Männer sollten mit den Leibern, die gegen Krankheit unempfänglich sind,
verglichen werden, […] die Seelen jener, die Fortschritte machen, mit den Leibern von robu-
ster Konstitution, die Seelen der Menschen im Zwischenzustand mit den Leibern, die gesund,
doch nicht robust sind, die Seelen der großen Menge der gewöhnlichen Männer mit den Lei-
bern, die durch eine geringfügige Ursache erkranken, und die Seelen derjenigen, die zornig
oder aufgebracht sind oder in sonst einem erregten Zustande sich befinden, mit Leibern, die
tatsächlich erkrankt sind«.22
Galen hebt hervor, daß die Analogie zwischen körperlicher und seelischer Gesundheit von
besonderer Bedeutung für die Stoiker war, weshalb auch die Frage, wie diese Entsprechung

19 Vgl. ebd., 3.7-13.


20 Vgl. ebd., 3.19-25.
21 Vgl. Galen, De Placitis Hippocratis et Platonis 5.1-2.
22 Ebd., 5.2.9 (aus dem Englischen übers. von K. Grünepütt).
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genau zu denken sei, ihr Interesse – sowie gelegentliche Kontroversen – auf sich gezogen
habe. Der Grund für diese Aufmerksamkeit ist nicht schwer zu erraten, da, wie wir schon bei
Cicero gesehen haben, die stoische Definition der Philosophie als dasjenige, was sich der Ge-
sundheit der Seele widmet, von dieser Analogie abhängt. Galen, dem dieser Zusammenhang
wohl bewußt ist, führt folgenden Satz von Chrysipp an: »Es ist nicht wahr, daß es zwar eine
Kunst gibt, welche Medizin genannt wird und sich um den erkrankten Leib bekümmert, aber
keine Kunst, die sich um die erkrankte Seele bemüht, oder daß die letztere der ersteren in der
Theorie und Behandlung der Einzelfälle etwa unterlegen wäre.«23 Diese letztere Kunst ist für
Chrysipp die Philosophie, und der Philosoph ist der »Seelenarzt«.24
Im Lichte dieser beiden Darstellungen von Wesen und Aufgabe der Philosophie, die sich bei-
de auf die Autorität Chrysipps berufen, zeigt sich, daß die Stoiker die Aufgabe des Philoso-
phen in der Förderung der seelischen Gesundheit erblickten, darin, »sich zu sorgen um die
Seele«, wie Sokrates gesagt hätte. Zwei Punkte verdienen dabei Beachtung. Der erste ist die
Aussage, daß der Philosoph niemand anderen behandeln kann, sondern sich auf sich selbst
konzentrieren muß, d.h. auf die Krankheiten seiner eigenen Seele. Der zweite Punkt besteht in
der Feststellung, daß die diesen Krankheiten zugrundeliegende Ursache die Überzeugungen
oder Meinungen des Menschen sind. Unser gegenwärtiges Interesse gilt jedoch der Analogie
zwischen der Kunst, die sich um die Seele sorgt, und der Kunst, die sich um den Leib sorgt,
der Medizin also. Die einschlägigen Passagen suggerieren, daß die Stoiker besonderen Wert
auf diese medizinische Analogie gelegt haben, wonach die Philosophie in derselben bzw. in
entsprechender Weise die Kunst der Sorge um die Seele ist, wie die Medizin die Kunst der
Sorge um den Leib ist, eine Kunst, die Cicero treffend die »Sokratische Medizin« nennt (So-
cratica medicina).25 In vieler Hinsicht scheint diese Analogie auch stimmig zu sein. Die Me-
dizin ist eine Kunst, zu der ein komplexes theoretisches Wissen gehört, die aber gleichwohl
eindeutig auf ein praktisches Ziel hin orientiert ist. Damit scheint sie ein ideales Modell für
eine Philosophie abzugeben, die sowohl eine komplexe Theorie (lógos) einschließt als auch
praktisches Üben (askêsis), welches auf die Veränderung des Lebens gerichtet ist; denn eben-
dies ist es, was die Medizin im Hinblick auf den Leib anstrebt.

III. Stoische Definitionen der téchnê

Um die zwischen Philosophie und Medizin hergestellte Analogie besser zu verstehen, ist es
notwendig, das Wesen der Heilkunst und ihre mögliche Verschiedenheit von anderen Künsten
genauer zu betrachten. Zuvor wird es jedoch nützlich sein, einige allgemeinere Ansätze der
Stoiker zur Definition von téchnê ins Auge zu fassen.
Laut Olympiodor faßt Zenon die téchnê als »ein System aus Erkenntnissen, die zu einem be-
stimmten, im Leben förderlichen Ziel zusammen ausgeübt werden«.26 Unter »System von
Erkenntnissen« können wir uns einen systematisch geordneten Wissenskorpus vorstellen, der
aus Einzelerkenntnissen besteht, die ihrerseits Zustimmungen zu »adäquaten Eindrücken«
darstellen und als Momente gesicherten empirischen Wissens zu verstehen sind. Diese Er-
kenntnisse werden »zusammen ausgeübt«, d.h. durch Übung oder Schulung in ein System
gebracht, so wie beispielsweise ein Schüler all die von ihm erlernten Prinzipien erst in ihrer
praktischen Anwendung in ein wirkliches Wissenssystem bringt. Gerichtet ist dieses Wis-

23 Ebd., 5.2.22 (aus dem Englischen übers. von K. Grünepütt).


24 Ebd., 5.2.23.
25 Cicero, Tusculanae Disputationes 4.24.
26 Olympiodorus, Commentaria in Platonis Gorgiam 12.1.
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sensganze auf ein »förderliches Ziel« oder einen »guten Endzweck«, eine Formulierung, die
an Sokrates’ Unterscheidung zwischen den Künsten, die das jeweils Gute bzw. Beste anstre-
ben, einerseits und auf bloßer Übung beruhenden Talenten, die das kurzfristig Angenehme zu
treffen suchen, andererseits in Platons Dialog Gorgias erinnert.27 Schließlich ist das von der
téchnê anvisierte Ziel ein »im Leben« förderliches, ein Aspekt, der vor allem das praktische
Wesen der Kunst unterstreichen soll.
Nichts an dieser Definition ist unmittelbar kontrovers. Eine Kunst ist ein systematisch geglie-
derter Wissenszusammenhang, der auf empirisch gewonnenen Prinzipien beruht, zugleich
aber auch Übung oder Schulung voraussetzt und ein bestimmtes praktisches Ziel hat. Vermut-
lich ist jede stoische Konzeption einer mit der Gesundheit der Seele befaßten Kunst mit dieser
Definition vereinbar. Wie wir bereits festgestellt haben, wird jene Kunst mit menschlicher
Vortrefflichkeit und Weisheit gleichgesetzt. Menschliche Vortrefflichkeit oder Weisheit ist
demnach eine Kunst, ein Wissenssystem, welches auf die Förderung der seelischen Gesund-
heit zielt. Es gibt jedoch einen wichtigen Gesichtspunkt, den diese Definition ausklammert,
und das ist die Beziehung zwischen der Ausübung dieser Kunst und dem Ziel, auf das sie be-
zogen ist. Im Grunde geht es um die Frage, ob das Bewandertsein in einer Kunst für sich al-
lein eine hinreichende Bedingung der Erlangung dessen ist, worauf die Kunst sich richtet.
Wenn also das Ziel (télos) der Lebenskunst die Förderung des Wohlergehens (eudaimonía) ist
– bürgt dann das Bewandertsein in dieser Kunst für Wohlergehen? Zur Erörterung dieser Fra-
ge mag es hilfreich sein, zunächst einige Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten der
téchnê einzuführen.
Hier ließe sich nun eine Vielzahl von Differenzierungen aufzählen, doch werde ich mich auf
drei Arten von Kunst oder Fertigkeit konzentrieren: die produktive (poiêtikê), die performati-
ve (praktikê) und die stochastische (stochastikê). Eine produktive Kunst ist eine, die ein Pro-
dukt hervorbringt; zum Beispiel die Schuhmacherei. In ihrem Fall ist das Produkt vom Her-
stellungsprozeß deutlich unterschieden. Das Ziel der Schuhmacherei besteht in der Herstel-
lung von Schuhen, d.h. das Ziel dieser Art von Kunst kann mit ihrem Endprodukt in eins ge-
setzt werden. Der kundige – der in seinem Métier ›bewanderte‹ – Schuhmacher ist leicht an
seiner Fähigkeit zu erkennen, gute Schuhe herzustellen. Bei der performativen Kunst hinge-
gen fällt das Ziel der Kunst mit ihrer Ausübung zusammen. Ein Beispiel hierfür wäre das
Tanzen. Es strebt kein Ziel jenseits seines eigenen Vollzugs an, und die Handlungen, die die-
sen Vollzug ausmachen, sind sein ›Produkt‹. Ob jemand im Besitze dieser Art von Fertigkeit
sei, läßt sich ganz einfach an seiner Fähigkeit ausmachen, sie gut auszuüben. Eine stochasti-
sche Kunst wiederum bringt kein materiell distinktes Produkt hervor, sondern setzt sich ein
von ihrer Ausübung selbst eindeutig unterscheidbares Ziel. Beispiele für diese Art von Kunst
sind etwa Medizin und Schiffahrt. Ihr Ziel – im Falle der Medizin die Gesundheit – ist kein
gesondertes materielles Produkt. Außerdem ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß das Be-
wandertsein in dieser Art von Kunst nicht unbedingt dazu ausreicht, das Eintreten des ge-
wünschten Ergebnisses zu gewährleisten. Wenn es einem, der sich Schuhmacher nennt, nicht
gelingt, ein gutes Paar Schuhe herzustellen, so ist die Schlußfolgerung vernünftig, daß der
Betreffende die Kunst der Schuhmacherei in Wirklichkeit gar nicht beherrsche. Mißlingt es
jedoch dem Arzt, seinen Patienten zu heilen, dann nimmt man nicht ohne weiteres an, daß
seine Leistung schlecht gewesen sei. Obwohl mit anderen Worten der eine stochastische
Kunst Ausübende ein auf ihrem Gebiete Kundiger sein mag, garantiert sein Kundigsein nicht
per se die Erlangung des Zieles dieser Kunst (in unserem Beispiel also der Gesundheit des
Patienten). Das liegt an der Bedeutung externer Faktoren, die außerhalb der Verfügungsge-
walt des Ausübenden liegen. Vielmehr wird, wer eine stochastische Kunst betreibt, nur »größ-

27 Vgl. Platon, Gorgias 464b-465a (Schleiermacher).


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tenteils« erfolgreich sein.28


Die Vermutung liegt nahe, daß die mit der seelischen Gesundheit befaßte Kunst von den drei
genannten Arten von téchnê der stochastischen am nächsten kommt; jedenfalls scheint dies
aus ihrer Analogisierung mit der Medizin – die, wie wir gesehen haben, sehr ernst genommen
wurde – hervorzugehen. Mißlicherweise ist der stochastische Typus der komplexeste unter
den dreien. Das Ziel einer produktiven Kunst ist das materielle Produkt, welches hergestellt
wird, derweil das Ziel einer performativen Kunst in der Tätigkeit oder Ausübung der Kunst
selbst liegt. Ein guter Schuhmacher ist jemand, der gute Schuhe herstellt; ein guter Tänzer
der, der eine gute Vorstellung gibt. In beiden Fällen läßt sich das glückliche Erreichen des
Ziels mit Bezug auf das Werk, das érgon, beurteilen, es sei dieses nun das Produkt oder die
Ausübung der Kunst selbst. Bei der stochastischen Kunst liegen die Dinge jedoch anders. Ein
ausgezeichneter Arzt mag die Heilkunst fehlerlos ausüben und gleichwohl aufgrund externer
Faktoren, die sich seinem Einfluß entziehen, nicht all seinen Patienten helfen können. Es er-
gibt sich also das Paradox eines Kundigen, der das Ziel der von ihm ausgeübten Kunst nicht
zwangsläufig erreicht. Und wenn wir für die um die seelische Gesundheit bemühte Kunst die
medizinische Analogie akzeptieren, dann steht diese Kunst – die Lebenskunst also –, in dem
Maße, in dem sie der Medizin gleicht, vor demselben Paradox.
Zur Überwindung dieses Problems schlägt der Stoiker Antipatros – der die Lebenskunst ex-
pressis verbis als eine stochastische begreift – vor, für diese Art von téchnê das Ziel nicht als
ein bestimmtes, erwünschtes Ergebnis zu fassen, sondern eher als die korrekte Ausübung der
Kunst selbst, als ein Tun dessen, was immer in der Macht des Ausübenden steht, um das ge-
wünschte Ergebnis zu erlangen.29 Der Vorzug dieser Formulierung liegt darin, daß sie das
Ziel einer stochastischen Kunst in einer Weise faßt, daß es – genauso wie bei den produktiven
und den performativen Künsten – zum Bewertungsmaßstab für die Fähigkeiten des die Kunst
Ausübenden werden kann. So ist dann ein guter Arzt nicht einfachhin der, der die Gesundheit
seiner Patienten wiederherstellt, sondern jener, der alles in seiner Macht Stehende unter-
nimmt, um die Gesundheit der Patienten wiederherzustellen. In ähnlicher Weise ist ein guter
Bogenschütze nicht unbedingt der, der sein Ziel stets trifft, sondern jener, der alles in seiner
Macht Stehende tut, um das Ziel zu treffen. Das eigentliche Ziel ist, soweit es den Bogen-
schützen angeht, gut zu schießen; ob er dabei auch die Zielscheibe trifft, hängt von einer Rei-
he externer Faktoren ab, über die er nicht gebietet. Auch die Heilung der Patienten durch den
Arzt hängt nicht ausschließlich von dessen Können ab, sondern ebenso von verschiedenen
äußeren Faktoren. Es ist die Bedeutung dieser äußeren Faktoren – und nicht irgendeine Unbe-
stimmtheit im Hinblick auf den Gegenstand oder die Tätigkeit –, die bei den stochastischen
Künsten zu der Unterscheidung von Ziel (télos) und Aufgabe oder Werk (érgon) führt.
Damit haben wir jetzt zwei verschiedene Konzeptionen stochastischer Kunst. In der ersteren
galt das Zugeständnis, daß ein Kundiger das Ziel seiner Kunst gelegentlich verfehlen wird:
Der Arzt wird seine Patienten nicht ausnahmslos heilen. In der zweiten, auf Antipatros zu-
rückgehenden Konzeption wird das Ziel der Kunst neu definiert als ›sich alle Mühe geben‹
oder ›alles in der eigenen Macht Stehende tun‹ zwecks Erreichung des gewünschten Resultats.
Das Ziel der Medizin wäre es dann nicht mehr, die Gesundheit wiederherzustellen, sondern
›sich alle Mühe zu geben‹, die Gesundheit wiederherzustellen. Bei Alexander von Aphrodisi-
as nun werden beide Konzeptionen erörtert und verworfen.30 Das Problem der ersteren hatten

28 Alexander von Aphrodisias, Commentaria in Analytica Priora 165,8-15, im Anschluß an Aristoteles, Ethica
Nicomachea 1112a30-1112b11.
29 Arius Didymus apud Stobaeus, Anthologium 2.7.6a.
30 Alexander von Aphrodisias, Quaestiones 2.16. Zur Auseinandersetzung vgl. Katerina Ierodiakonou, »Alex-
ander of Aphrodisias on Medicine as a Stochastic Art«, in: P. J. van der Eijk/H. F. J. Horstmanshoff/P. H. Schri-
jvers (Hg.), Ancient Medicine in its Socio-Cultural Context, Bd. 2, Amsterdam 1995, S. 473-485.
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wir bereits erwähnt – es besteht in der Schwierigkeit zu beurteilen, ob jemand ein auf seinem
Gebiete Kundiger sei oder nicht. Problematisch an der zweiten Konzeption ist, daß der Kun-
dige zwar stets das Ziel erreicht, wenn er sich nur ›alle Mühe gibt‹, daß aber die Vorstellung,
das Ziel der Medizin bestehe nicht in der Förderung der Gesundheit, das Ziel des Bogenschie-
ßens sei nicht das Treffen der Zielscheibe, dem Wesen dieser Künste nicht gerecht wird. Denn
auch wenn das Erreichen der Ziele bis zu einem gewissen Grade unabhängig vom Beherr-
schen der in Frage stehenden Künste ist, weil für das Zustandekommen des Ergebnisses ex-
terne Faktoren eine Rolle spielen, so bleiben diese Ziele doch um nichts weniger die eigentli-
chen Beweggründe für das Erlernen dieser Künste. Zu sagen, das Ziel der Medizin – das also,
worauf alle Handlungen bezogen werden können – bestehe in der korrekten Anwendung me-
dizinischer Technik statt in der Wiederherstellung der Gesundheit des Patienten, würde diver-
se bei der Ausübung der Heilkunst typische Handlungen nicht erklären können.
Zur Vermeidung dieser Schwierigkeiten stellt Alexander von Aphrodisias eine dritte Konzep-
tion vor, der zufolge eine stochastische Kunst die klare Unterscheidung zwischen Ziel (télos)
und Aufgabe, Tätigkeit oder Werk (érgon) erfordert. Im Falle der Medizin etwa würde das
Ziel – das, um dessentwillen man sich alle Mühe gibt – die Gesundheit bleiben, die eigentli-
che Aufgabe aber (das érgon) würde darin bestehen, sich alle Mühe zu geben, um jenes Ziel
zu erreichen. Diese Fassung ist Antipaters paradoxaler Formulierung eindeutig vorzuziehen.
Notwendig ist das Herausstellen des Unterschieds zwischen Aufgabe und Ziel laut Alexander
wegen der Bedeutung externer Faktoren bei den stochastischen Künsten. Gemäß dieser Kon-
zeption wird ein in einer stochastischen Kunst Bewanderter, nicht anders als seine Kollegen
aus den anderen Künsten, das érgon seiner Kunst stets erreichen, und dieses bietet zugleich
eine Grundlage für die Beurteilung seiner Fähigkeit. Wegen des Dazwischentretens externer
Faktoren wird er jedoch nicht zwangsläufig auch das télos seiner Kunst erreichen. So wird
dem kundigen Arzt die Wiederherstellung der Gesundheit nicht immer gelingen; doch wenn
er ein Kundiger ist, wird er sich immer alle Mühe geben, die Gesundheit wiederherzustellen
(das érgon).
Die Frage nach dem Wesen der stochastischen Künste im allgemeinen und der Medizin im
besonderen erweist sich also als recht komplex. Unser Hauptinteresse richtet sich jedoch nicht
auf das Wesen der Heilkunst als solcher, sondern auf den Status der Analogie zwischen Heil-
kunst und Lebenskunst. Diese Analogie scheint die Konzeption der Lebenskunst als stochasti-
scher Kunst zu implizieren; doch wenn man dieser Implikation folgt, sieht man sich unvermit-
telt vor ein Problem gestellt. Es heißt, das Ziel der stoischen Lebenskunst sei die Förderung
des Wohlergehens oder der Glückseligkeit (eudaimonía). Versteht man aber die Lebenskunst
als eine stochastische, dann stellt sich dieses Ziel der eudaimonía – analog dem Ziel der Ge-
sundheit im Beispiel der Heilkunst – nicht zwingend mit der korrekten Ausübung der Kunst
ein, sondern hängt zusätzlich von anderen, externen Faktoren ab. Dies kann wiederum inso-
fern nicht stimmen, als die Lebenskunst in stoischer Perspektive wiederholt als für sich allein
hinreichende Bedingung der Glückseligkeit bezeichnet wird – das unterscheidet gerade die
stoische von der peripatetischen Auffassung. Wäre sie eine stochastische Kunst, würde das In-
ihr-Bewandertsein nicht ausreichen, um die Erlangung des Ziels der eudaimonía zu garantie-
ren.
Damit bleiben uns nur zwei andere Möglichkeiten. Die erste bestünde in der Charakterisie-
rung der Lebenskunst als einer produktiven Kunst, derart, daß man sie als eine Kunst, Glück-
seligkeit hervorzubringen – welche auf diese Weise ihr ›Produkt‹ würde –, zu kennzeichnen
hätte. Die zweite Möglichkeit wäre ihre Einordnung unter die performativen Künste, wodurch
Wohlergehen bzw. Glückseligkeit mit der Ausübung der Kunst selbst identifiziert werden
müßten. Die eudaimonía wäre in jedem Fall télos und érgon der Kunst zugleich, da bei der
produktiven wie der performativen Kunst beides zusammenfällt, und ebenso würde in jedem
10

Fall das Bewandertsein in der Kunst das Erreichen ihres télos garantieren. Die Frage, die sich
uns folglich stellt, ist die, ob die Stoiker die eudaimonía als ein Produkt oder eher als eine
Tätigkeit verstanden haben. Laut Cicero haben zumindest einige Stoiker für letzteres optiert:
»Nach unserer Auffassung gleicht die Weisheit nämlich nicht der Kunst des Steuermannes
oder der des Arztes, sondern vielmehr der eben erwähnten Schauspielkunst oder der Tanz-
kunst, so daß ihr letztes Ziel, das heißt ihre vollkommene Verwirklichung, in ihr selbst liegt
und nicht irgendwo außerhalb von ihr zu suchen ist.«31
Dies legt den Schluß nahe, daß die Weisheit – welche andernorts mit der Lebenskunst identi-
fiziert und als Garantin der eudaimonía charakterisiert wird – eine performative Kunst nach
Art des Tanzens, Schauspielens oder Musizierens ist und keine stochastische Kunst wie Me-
dizin und Bogenschießen. Sie ist damit zuvörderst eine Tätigkeit, welche sich nicht auf ein
über sie selbst hinausreichendes Ziel richtet. Vielmehr ist es die Ausübung der Lebenskunst
selbst, welche die ihrerseits als Tätigkeit gedachte eudaimonía ausmacht; so wie die Befriedi-
gung, die aus den darstellenden Künsten gezogen werden kann, im Akt der Darstellung selbst
liegt.
Welchen Beitrag leistet dieser Überblick über die verschiedenen Arten von téchnê oder Kunst
zu unserem Verständnis des Konzepts der Lebenskunst? Wir sind nunmehr in der Lage zu
sagen, daß die Lebenskunst ein systematisch gegliederter Wissenskorpus ist, der auf empi-
risch gewonnenen Prinzipien gründet und durch Übung zusammengefügt wird. Sie ist auf ein
Ziel ausgerichtet, welches als seelische Gesundheit wie auch als eudaimonía beschrieben
wird, zwei Ausdrücke, die als synonym gelten dürfen. Schließlich ist dieses Ziel mit der Aus-
übung der Lebenskunst selbst identisch (statt ein distinktes, von ihr hervorgebrachtes Produkt
zu sein oder durch äußere Faktoren mitbedingt zu werden). In ihrer Einordnung als performa-
tive Kunst zeigen sich somit die Grenzen der Analogie zur Heilkunst. Nichtsdestoweniger
wird es auch verständlich, warum diese Analogie in den antiken Debatten über Wesen und
Aufgabe der Philosophie so geläufig wurde: Die Behandlung der Seele in der Philosophie
verhält sich analog zur Behandlung des Leibes in der Medizin; jedoch wie die Philosophie
dabei zu Werke geht, unterscheidet sich, zumindest in den Augen der Stoiker, auf subtile
Weise vom Vorgehen der Medizin.

IV. Das Verhältnis von askêsis und lógos bei Seneca

Ein wichtiger Aspekt der Zenonischen téchnê-Definition ist der Hinweis auf die Rolle, die der
Übung zukommt. Wie wir oben gesehen haben, ist eine Kunst nach Zenon ein Wissenskorpus,
dessen systematische Einheit im Wege der Übung gestiftet wird. Dies reflektiert die Sokrati-
sche Position im Gorgias, wonach die Entwicklung von Kompetenz auf dem Gebiet einer
Kunst nicht lediglich ein Verständnis der relevanten Prinzipien (lógoi), sondern auch Übung
(askêsis) voraussetzt.32 Für Zenon wie für Sokrates gehören zur téchnê also lógos und askêsis
gleichermaßen. Auch eine Reihe anderer Quellen der Alten Stoa stellt die Bedeutung der
askêsis heraus. Worin aber besteht nun genau deren Funktion im stoischen Konzept der Le-
benskunst? Aus dem bisher Gesagten sollte deutlich geworden sein, daß die Beantwortung
dieser Frage von eminenter Wichtigkeit für eine Konzeption ist, die dem Gedanken gerecht zu
werden vermag, daß Philosophie vornehmlich in der individuellen Lebensführung Ausdruck
finde.
Leider ist von den älteren Stoikern keine Quelle auf uns gekommen, die sich diesem Gegen-

31 Cicero, De finibus 3.24 (Merklin).


32 Vgl. Platon, Gorgias 507c, 514e und 527d; dazu Sellars, The Art of Living, a.a.O., Kap. 2.
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stand ausführlicher widmen würde. In zwei Briefen Senecas jedoch finden sich etliche Be-
zugnahmen auf das Konzept einer ars vitae.33 Der erste der beiden Briefe geht der Frage nach,
ob philosophische Grundsätze (decreta) allein, ohne Vorschriften (praecepta), für die Le-
benskunst genügen. Der zweite Brief fragt umgekehrt, ob praecepta ohne decreta ausreichen.
Unter decreta können wir Doktrinen, Grundsätze oder Meinungen verstehen; praecepta sind
Vorschriften, Weisungen, Anleitungen, schriftlich fixierte Regeln, Übungen oder Maximen,
die auf die individuelle Verhaltensänderung zielen. Auch wenn der praecepta-Begriff ein et-
was weiterer sein mag als jener der askêsis, trägt Senecas Erörterung unmittelbar etwas aus
für das Verhältnis von lógos und askêsis, betrifft sie doch die Frage, ob philosophische Theo-
rie oder aber praktischer Rat jeweils allein hinreichend wären, das Verhalten eines Menschen
zu verändern.
Den ersten der beiden Briefe eröffnet Seneca mit der Feststellung, daß es einerseits Anhänger
der Auffassung gebe, wonach die praecepta die einzigen Elemente von Bedeutung in der Phi-
losophie sind, die abstrakte Theorie hingegen entbehrlich, da ohne praktisches Gewicht ist,
daß andererseits aber auch die Ansicht vertreten werde, die praecepta seien von geringem
Nutzen und die decreta für sich genommen ausreichend zur Führung eines guten Lebens.
Letztere Position nahm etwa der Stoiker Ariston ein, dessen Argumenten Seneca sich sogleich
zuwendet. Nach Aristons Überlegung sind Vorschriften nutzlos für den, dem es an der erfor-
derlichen Einsicht mangelt; denn was immer dieser auch tut, seine Beschränktheit wird einen
Schatten darauf werfen. Nur der Unbeschränkte kann von Vorschriften profitieren. Doch zu-
gleich erweisen sie sich für denjenigen, der, frei von Fehlern, keiner Anleitung bedarf, als
gänzlich überflüssig: »Vorschriften einem Menschen zu machen, der weiß, ist überflüssig, der
nicht weiß, unzureichend.«34 Laut Ariston können nur die Grundsätze der Philosophie sich auf
die Lebensführung eines Menschen auswirken; Vorschriften sind hierfür ungeeignet. Zweier-
lei ist dazu anzumerken. Erstens ähnelt Aristons Haltung der intellektualistischen Auslegung
der sokratischen Position, wonach theoretische Erkenntnis allein Vortrefflichkeit (aretê) ge-
währleistet. Zweitens hält Ariston an der orthodoxen stoischen Unterscheidung zwischen dem
Weisen und dem Nicht-Weisen fest, wobei er dem letzteren Wahnsinn oder Geisteskrankheit
(insania) attestiert. Die Möglichkeit einer dritten, zwischen diesen beiden liegenden Kategorie
derjenigen, die »Fortschritte machen« (proficientes), der Philosophen also im etymologischen
Wortsinne, scheint er nicht zu erwägen.35
In seiner Erwiderung auf Ariston gesteht Seneca die zentrale Bedeutung philosophischer
Grundsätze umstandslos zu, hält aber Aristons offene Weigerung, auch den Vorschriften ei-
nen Stellenwert einzuräumen, für fragwürdig. Seiner Meinung nach stellen die praecepta kei-
ne Belehrung dar, sondern verstärken bloß eine bereits empfangene Belehrung: »Nicht lehrt
die Ermahnung, sondern macht uns aufmerksam, sondern ermuntert uns, sondern stärkt das
Gedächtnis und läßt uns nichts entfallen.«.36 Daher sind die praecepta gar nicht für den Wei-
sen gedacht, der bereits über sicheres Wissen verfügt, sondern für den »Fortschreitenden«: der
in einem gewissen Sinne ebenfalls ›weiß‹, sein Wissen jedoch noch nicht vollständig verin-
nerlicht und in Handlungen übersetzt hat. Der Aussage, daß die Vorschriften nur im Zusam-
menhang mit den ihnen zugrundeliegenden theoretischen Argumenten wirken, hält Seneca
entgegen, daß die Vorschriften der Erinnerung und Verarbeitung jener Argumente dienen.
Vergleichbar der Schulung, durch die der Handwerkslehrling geht, stellen auch die praecepta
eine Form der Schulung dar, und zwar für denjenigen, der die philosophischen decreta bereits

33 Es handelt sich um Seneca, Epistulae 94 und 95.


34 Seneca, Epistulae 94.11.
35 Zu Senecas Auffassung der Zwischenkategorie des ›Fortschreitens‹ vgl. ebd., 75.8-18.
36 Ebd., 94.25.
12

erlernt hat. Folglich bilden die praecepta eine oft nützliche Ergänzung zu den decreta, zumin-
dest für die Gruppe der »Fortschreitenden«.37
Die sich hieran ganz natürlich anschließende Frage, ob die praecepta für sich genommen aus-
reichen, die individuelle Lebensführung zu verändern, ventiliert der zweite Brief. Ariston fol-
gend, meint auch Seneca, daß Vorschriften einem gestörten Geist keine große Hilfe seien.
Mehr noch, er erklärt, daß die Vorschriften, obzwar geeignet, eine Verhaltensänderung her-
beizuführen, solches nicht allein zuwege brächten. Denn für Seneca ist die Philosophie theo-
retisch und praktisch zugleich (contemplativa et activa) und umfaßt deshalb sowohl Grund-
sätze als auch Vorschriften (decreta et praecepta).38 Zur Illustration ihrer wechselseitigen
Abhängigkeit bietet Seneca verschiedene Analogien auf, etwa die, der zufolge die decreta den
Ästen eines Baumes gleichen, die praecepta aber seinen Blättern, deren Existenz von den
Ästen abhängt, deren Stärke wiederum nur an der Entfaltung des Laubwerks ablesbar ist. In
einem ähnlichen Bild entsprechen die decreta den Baumwurzeln, die praecepta wieder den
Blättern, wobei die Wurzeln den verborgenen Nährgrund der Blätter bilden, die ihrerseits den
sichtbaren Ausdruck der Lebenskraft der ersteren vorstellen. Oder die decreta werden dem
Herzen eines Lebewesens, die praecepta hingegen den Bewegungen seiner Glieder gleichge-
setzt, und während das Herz verborgen ist und sich der Welt nur durch die Körperbewegun-
gen des Lebewesens mitteilt, hängt von ihm die Kraft der Glieder ab.39
In allen diesen Vergleichen stellen die Grundsätze das notwendige, aber verborgene Funda-
ment der Vorschriften dar, die ihrerseits den äußerlich erkennbaren Ausdruck der Grundsätze
bilden, welche ohne sie unerkannt bleiben würden. So kommt Seneca zu dem Schluß, daß
Grundsätze und Vorschriften für die Erlangung von Weisheit gleichermaßen notwendig seien.
Seine praecepta, wenn auch vielleicht gegenüber askêsis der umfassendere Begriff, sind der
Schulung eines Lehrlings verwandt, wie sie in den sokratischen Ausführungen zur téchnê im
Gorgias implizit vorgestellt wird.40 Sokrates wie Seneca vertreten die Überzeugung, daß das
Verständnis der einschlägigen Grundsätze und Prinzipien eine notwendige Bedingung für den
Kompetenzerwerb sei, doch beide anerkennen auch die Bedeutung, die der Übung und Er-
mahnung dabei zukommen kann. Und während keiner der beiden in solcher Übung je eine
allein hinreichende Bedingung sehen würde, neigen beide Autoren der These zu, daß die
Übung genau dann eine hinreichende Bedingung sein kann, wenn sie mit einem Verständnis
der jeweils einschlägigen Prinzipien einhergeht.

V. Das Verhältnis von askêsis und lógos bei Epiktet

Im Vorstehenden habe ich versucht, eine Konzeption von Philosophie als einer auf das eigene
Leben bezogenen Kunst oder Fertigkeit zu umreißen. Wie sich gezeigt hat, kommt einer ge-
wissen Übung oder Schulung (askêsis) dabei eine wesentliche Rolle zu. Im Gorgias bei-
spielsweise unterstreicht Sokrates die Notwendigkeit, nicht nur die einer téchnê zugrundelie-
genden theoretischen Grundsätze (lógoi) zu beherrschen, sondern auch eine gewisse prakti-
sche Übung zu kultivieren. Es reicht nicht aus, daß der Schuhmacher die theoretischen Grund-
sätze des von ihm erwählten Handwerks einsieht; er muß sich auch üben, um das theoretische
Verständnis allmählich in praktische Fertigkeit zu überführen. Denn im Falle einer Kunst wie
der Schuhmacherei kann man nur dann beanspruchen, ein Kundiger zu sein, wenn man im-

37 Vgl. ebd., 94.32 und 94.50.


38 Vgl. ebd., 95.10.
39 Vgl. ebd., 95.59 und 95.64.
40 Vgl. hierzu Anm. 32.
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stande ist, die dieser Kunst eigentümlichen, mit ihrem Ziel (télos) identifizierten Werke her-
vorzubringen; hier also ein gutes Paar Schuhe.
Eine als Kunst begriffene Philosophie wird daher ebenso rationale Prinzipien wie praktisches
Üben umschließen, und ihr Ziel ist die Hervorbringung der ihr eigentümlichen Werke. Inner-
halb dieser Konzeption wirkt sich das philosophische Wissen unmittelbar auf das Leben aus,
weil das Wissen notwendig zu philosophischen Handlungen führt. Dies ist der Hauptunter-
schied zwischen einer Philosophie, die als Kunst, und einer Philosophie, die lediglich als
Entwicklung des rationalen Verstandes aufgefaßt wird, in welch letzterer keine notwendige
Verbindung zwischen Wissen und Handeln existiert. Die tiefgreifende Differenz zwischen
den beiden Philosophie-Konzeptionen liegt zweifellos in der Rolle, welche die Übung oder
Schulung in der téchnê spielt. Ähnlich dem Handwerkslehrling muß auch der philosophische
Schüler, will er seine Kunst – die Lebenskunst – beherrschen, eine gewisse Art der philoso-
phischen Schulung durchlaufen, nachdem er sich die grundlegenden Prinzipien angeeignet
hat. Erst nach erfolgreichem Abschluß auch des praktischen Teils kann er Anspruch auf Mei-
sterschaft erheben. Im stoischen Konzept der Lebenskunst erweist sich damit die askêsis als
Schlüssel zur Transformation des Philosophen in einen Weisen.
Es verdient indes hervorgehoben zu werden, daß die zentrale Bedeutung, die der askêsis in
einer als Kunst verstandenen Philosophie zukommt, keinerlei Zurückweisung oder Abwertung
philosophischer Reflexion oder Theorie impliziert. Die philosophische Übung ist vielmehr als
Ergänzung der Theorie zu sehen. Philosophie, als Kunst verstanden, schließt Theorie und Pra-
xis gleicherweise ein.
Zur Veranschaulichung der Natur dieses Verhältnisses zwischen lógos und askêsis mag es
instruktiv sein, einige Passagen aus Epiktet beizuziehen. Die erste entstammt einem Kapitel,
welches die Überschrift trägt: »Was das Gesetz des Lebens sei«. Epiktet weist hier darauf hin,
daß Philosophie nicht bloß eine Sache von Theorien oder Begriffen ist, sondern sich im Ge-
genteil vornehmlich in der individuellen Lebensführung erzeigt: »die Philosophen schulen uns
zuerst in der Theorie, in dem also, was leichter ist; und erst danach führen sie uns an die
schwierigeren Dinge heran: denn in der Theorie gibt es nichts, was sich dem widersetzen
würde, daß wir dem Gelernten folgen; im Leben aber gibt es viele Dinge, die uns hierhin und
dorthin ziehen«.41
Es ist relativ leicht, sagt Epiktet, philosophische Theoreme zu beherrschen; schwierig wird es,
wenn es gilt, die philosophischen Gedanken in Handlungen umzusetzen. Doch philosophische
Theorien, die nicht auf die Förderung der Vortrefflichkeit der Seele angewandt werden, sind
nach Epiktets Lehrer C. Musonius Rufus ebenso nutzlos wie medizinische Theorien, deren
Einsatz zur Förderung der leiblichen Gesundheit unterbleibt.42 Hinwiederum sollte uns dies
nicht zur Geringschätzung der Theorie verleiten. Im Gegenteil – Epiktet trägt seinen Gedan-
ken gerade deshalb vor, um auf die Notwendigkeit einer theoretischen Unterweisung, die al-
len einschlägigen praktischen Versuchen vorausgeht, aufmerksam zu machen. Die Theorie ist
die Vorbereitung bzw. die notwendige Bedingung des philosophischen Lebens, weshalb
Übung oder Schulung allein niemals genügen werden. Meisterschaft verlangt hier wie bei den
anderen Handwerken und Künsten sowohl Praxis als auch ein Verständnis der relevanten
theoretischen Prinzipien.
Die Unabdingbarkeit des philosophischen lógos ist Thema in einem anderen Passus bei Epik-
tet, der sich in einem Kapitel über die Notwendigkeit der Kunst des Schließens findet. Epiktet
betont hier die Notwendigkeit des Studiums der Logik, wird aber von seinem Gesprächspart-
ner – einem Schüler vielleicht – unterbrochen, der einwendet: »Ja, gewiß, […] doch dies ist

41 Epiktet, Dissertationes 1.26.3 (Schweighäuser; hieraus übers. von K. Grünepütt).


42 Vgl. C. Musonius Rufus, Reliquiae, hg. von O. Hense, Leipzig 1905), Frg. 3.
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noch weit notwendiger, [die Meinungen, Triebe, Wünsche] zu heilen und anderes von dieser
Art!«.43 Epiktet erwidert, daß man zuerst imstande sein müsse, das, was man zu heilen hoffe,
gedanklich zu erfassen und zu definieren, bevor man das praktische Vorhaben der Heilung in
Angriff nehmen könne. Er merkt an, daß dies nicht nur von den alten Stoikern wie Zenon und
Chrysipp so gesehen worden sei, sondern auch von dem sogenannten Kyniker Antisthenes.
Nach Epiktet beginnt die philosophische Unterweisung für Antisthenes – nicht anders als für
Sokrates – mit einer Klärung der Begriffe.
Der Wortwechsel zwischen Epiktet und seinem Schüler erhellt zweierlei. Erstens weist die
Haltung des Schülers darauf hin, daß in bestimmten philosophischen Kreisen in der Antike
die Übung auf Kosten der Theorie betont wurde, eine Haltung, die wahrscheinlich mit dem
Bild des Pseudo-Philosophen verbunden wurde, welcher zwar den schmutzigen Umhang und
den Bart des Philosophen zur Schau trägt, jedoch keine auf rationalen Prinzipien gründenden
philosophischen Handlungen vorzuweisen hat; der den Philosophen spielt, aber noch nicht das
dazu notwendige Verständnis entwickelt hat. Das zweite ist Epiktets eindeutiges Bekenntnis
zur philosophischen Notwendigkeit von askêsis wie lógos. Philosophische Übungen können
die Theorie nicht ersetzen, allenfalls ergänzen. Die Theorie ihrerseits – beispielsweise die
Êthikê stoicheíôsis oder Ethische Elementarlehre des Hierokles, annähernd ein Zeitgenosse
Epiktets – bleibt notwendige Bedingung und, wenigstens für Epiktet selbst, Ausgangspunkt
philosophischer Unterweisung. Doch reicht sie allein für einen echten philosophischen Pro-
greß nicht aus. Dafür braucht es lógos und askêsis.

VI. Bausteine für eine ›technische‹ Konzeption der Philosophie

Vor dem Hintergrund meiner Darstellung des stoischen Lebenskunst-Gedankens ist es nun
möglich, zusammenfassend eine Konzeption von Philosophie zu skizzieren, in der philosophi-
sche Ideen sich primär in Handlungen offenbaren und die deshalb zur Grundlage eines pro-
duktiveren Verständnisses der Beziehung von Philosophie und Lebensführung taugen könnte.
Ich werde diese Konzeption die ›technische Konzeption der Philosophie‹ nennen, wobei ich
›technisch‹ in der etymologischen Bedeutung des Wortes gebrauche. Zuvor muß jedoch auf
einen subtilen, aber wichtigen Unterschied zwischen der sokratischen und der stoischen Posi-
tion hingewiesen werden.
Für Sokrates ist die Philosophie eine Kunst, die auf die Ausbildung von Vortrefflichkeit (are-
tê) zielt und nicht mit der Vortrefflichkeit selbst gleichgesetzt werden sollte. Philosophie als
Kunst strebt nach Vortrefflichkeit und Weisheit; Sokrates versteht ihren Namen also etymo-
logisch.44 Weniger klar liegen die Verhältnisse bei den Stoikern. Nach Zenons Definition ist
jede Kunst eine Form sicheren Wissens (epistêmê). Folglich ist die Lebenskunst eine Form
sicheren Wissens, die mit Weisheit identifiziert werden kann und insoweit dem Weisen vor-
behalten bleibt. Dem etymologischen Sinne nach kann daher Philosophie für die Stoiker keine
Kunst oder Fertigkeit sein, sondern nur etwas, das eine solche Fertigkeit anstrebt oder heraus-
bildet. Andererseits haben wir gesehen, daß manche Stoiker, einschließlich Epiktets, den Be-
griff der Lebenskunst ähnlich wie Sokrates aufgefaßt haben, d.h. als mit der etymologischen
Bedeutung von ›Philosophie‹ synonym.
Diese beiden Versionen lassen sich miteinander in Einklang bringen, wenn man ein Beispiel
aus einer anderen Kunst oder Fertigkeit heranzieht. Im Falle der Schuhmacherei beispielswei-
se verhält es sich so, daß der Lehrling fraglos kein Kundiger ist, daß man aber dennoch sagen

43 Vgl. Epiktet, Dissertationes 1.17.4-12 (Schweighäuser; hieraus übers. von K. Grünepütt).


44 Vgl. Sellars, The Art of Living, a.a.O., Kap. 2.
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würde, er sei mit der Kunst des Schuhemachens auch bereits in seiner Lehrzeit befaßt. Der
Geringste unter den Lehrlingen geht der gleichen Tätigkeit nach wie der Handwerksmeister,
auch wenn nur der letztere ein Kundiger auf seinem Gebiet zu sein behaupten darf. In diesem
Sinne können wir vom philosophischen Schüler und vom stoischen Weisen im gleichen Maße
sagen, daß sie die Lebenskunst betreiben.
Zusammenfassend wird also die Philosophie in der ›technischen‹ Konzeption als eine Kunst
verstanden, die sich der Herstellung einer idealen Disposition der Seele widmet, einer Dispo-
sition, welche Vortrefflichkeit oder Weisheit genannt werden kann. Dementsprechend könnte
man sagen, daß der Gegenstand dieser Kunst die Seele (psychê) sei und ihr Ziel (télos) die
Veränderung der Seele oder auch die Sorge um die Seele. Das Werk (érgon) wäre dann eine
veränderte seelische Disposition, eben Vortrefflichkeit oder Weisheit. Diese veränderte Dis-
position wirkt qua interner Ursache notwendig auf das Verhalten des Individuums ein und
drückt sich in seinen Handlungen aus. – Eine alternative Formulierung wäre die, daß diese
Kunst eine Kunst in bezug auf das Leben (bíos) sei, das Leben daher ihren Gegenstand bilde
und die Veränderung des Lebens ihr Ziel. Das érgon dieser Kunst wären dann die das Leben
konstituierenden Handlungen (érga), wodurch ihr Status als performative Kunst hervorgeho-
ben würde, deren Werk oder Produkt in der Ausübung selbst besteht. Dieses als Tätigkeit ver-
standene Produkt kann je nachdem als ein glücklicher Fluß des Lebens (eúrhoia bíou), als
sittlich gutes Leben oder als Wohlergehen und Glückseligkeit bezeichnet werden.45 Letztlich
hängt nicht viel davon ab, für welche Formulierung man sich entscheidet, zumal die Stoiker
psychê und bíos häufig als austauschbar verwenden.
Eine weitere erwähnenswerte Besonderheit ist die private Natur einer solcherart konzipierten
Philosophie. Schon für Sokrates ist die Selbstsorge eine wesentlich private Aufgabe. Mag er
auch andere zur Selbstsorge ermahnen, so bleibt diese doch etwas, was jene anderen für sich
selbst tun müssen. Cicero macht gleichfalls deutlich, daß nach Chrysipp der Philosoph als
Seelenarzt nur sich selbst behandeln kann. Die einzigen intrinsischen Gegenstände unseres
Interesses bilden, wie Epiktet später sagen wird, die Dinge, die in unserer Macht stehen oder
»unsere Sache« sind (eph’hêmîn), nämlich Wunsch, Trieb und Meinung oder Urteil.46 Die
Vervollkommnung dieser geistigen Tätigkeiten macht menschliche Vortrefflichkeit aus, die
einzige Eigenschaft, der die Stoa einen positiven Wert beilegt. In Anbetracht all dessen könn-
te man die stoische Konzeption der Lebenskunst als eine ethische in dem Sinne bezeichnen,
daß es ihr um den menschlichen Charakter (êthos) zu tun ist, welcher seinerseits die Gewohn-
heiten des Menschen (éthos) bedingt. Sie ist jedoch keine moralische Konzeption im moder-
nen Sinne, die verschiedene Vorschriften darüber enthalten würde, wie man handeln oder was
man tun sollte, und erst recht geht es ihr nicht darum zu bestimmen, wie andere handeln soll-
ten. So mag die Lebenskunst die Grundlage einer Ethik bilden – eine Moral begründet sie
nicht.47
Wie wir außerdem gesehen haben, ist die Bedeutung, die den beiden Aspekten lógos und
askêsis zukommt, zentral für das Verständnis der Philosophie als einer Kunst. In dieser ›tech-
nischen‹ Konzeption stellt das Studium philosophischer Argumente, Theorien und Grundsätze
lediglich den ersten Teil der philosophischen Ausbildung dar. Sobald der Schüler diese Dinge
beherrscht, schließt sich eine Zeit praktischer Übung an, in der er sein Material zu verarbeiten
hat, um die seiner Kunst eigentümlichen Handlungen oder Werke hervorbringen zu können.
Obgleich der die Lebenskunst Ausübende, nicht anders als andere Künstler und Handwerker,

45 Vgl. etwa Arius Didymus apud Stobaeus, Anthologium 2.7.6e.


46 Vgl. z.B. Epiktet, Dissertationes 1.15.1-5.
47 Eine ähnliche Unterscheidung zwischen Ethik und Moral findet sich bei Michel Foucault, Der Gebrauch der
Lüste, übers. v. Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/M. 1989, S. 36-45.
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eine rationale Darstellung (lógos) seines Tuns geben kann, bleibt diese, wie zu betonen ist,
stets sekundär. Der kundige Schuhmacher weiß auf Befragung hin die seinem Tun zugrunde-
liegenden Prinzipien durchaus zu benennen; doch seine Hauptaufgabe bleibt die Herstellung
von Schuhen. Dasselbe gilt für den Philosophen, dessen Hauptaufgabe zufolge der ›techni-
schen‹ Konzeption darin besteht, philosophische Handlungen hervorzubringen, eine philoso-
phische Lebensform zu pflegen. Wie der Schuhmacher kann auch der Philosoph bei entspre-
chender Befragung die Prinzipien seiner Lebensform darlegen. Gleichwohl wird eine solche
Explikation immer sekundär sein.
Gelegentlich wird die Ansicht vertreten, das Befolgen einer besonderen Lebensform habe in
den Philosophenschulen der hellenistischen Zeit häufig schlicht bedeutet, daß man nach Prin-
zipien lebte, die innerhalb der jeweils gewählten Schule bereits entwickelt worden waren, und
habe daher vom Einzelnen kein unabhängiges Denken verlangt.48 Ich möchte hier nicht dar-
über debattieren, ob dies eine zutreffende Schilderung hellenistischer philosophischer Praxis
sei, sondern lediglich darauf hinweisen, daß die ›technische‹ Konzeption der Philosophie un-
abhängiges oder originelles Denken in keiner Weise ausschließt. Vielmehr ist innerhalb dieser
Konzeption ein Schüler der Philosophie ohne weiteres denkbar, der die Argumente und
Grundsätze seines Faches in der Absicht studiert, nicht einfach die Meinungen anderer zu
wiederholen, sondern aufgrund eigener Argumente ein eigenes System von Grundsätzen zu
errichten. Was die ›technische‹ Konzeption allerdings tatsächlich behauptet, ist dies, daß ein
gegebenes Ensemble philosophischer Grundsätze nicht selbst das Endprodukt der Philosophie
abgibt, sondern zunächst der geistigen Verarbeitung bedarf, damit es die Seele verändern und
im Handeln sichtbar werden kann. Diese aus philosophischen Prinzipien hervorgegangenen
Handlungen bilden alsdann das Endprodukt der als praktikê tèchnê oder performative Kunst
verstandenen Philosophie.
In der ›technischen‹ Konzeption ist das philosophische Wissen als ein technisches gemäß dem
Paradigma von Kunst oder Handwerk gedacht. Der Unterschied zu einer Konzeption von Phi-
losophie, in welcher Wissen als rationale Erklärung oder verstandesmäßige Analyse begriffen
wird, liegt auf der Hand. Es kommt aber darauf an, hier genau zu sein. In dem Bemühen, zwi-
schen einer primär an theoretischem Wissen und einer primär an praktischer Klugheit orien-
tierten Philosophie zu differenzieren, wird manchmal eine implizit aristotelische Unterschei-
dung zwischen epistêmê und phrónêsis gemacht.49 Während die erstere rationale Welter-
kenntnis ist, fragt letztere vor allem nach dem Wie des praktischen Handelns. Die Stoa kennt
jedoch keine begriffliche Unterscheidung zwischen Wissen und Weisheit. Daß die Philoso-
phie als etwas auf das eigene Leben Bezogene vorgestellt wird, impliziert deshalb auch keine
Zurückweisung oder Abwertung theoretischen oder wissenschaftlichen Wissens, sondern le-
diglich eine andere Konzeption solchen Wissens. Es geht daher nicht so sehr um eine Diffe-
renz zwischen Wissen und Weisheit als vielmehr um eine Differenz zwischen zwei verschie-
denen Auffassungen von Wissen. Der ersten Auffassung gemäß ist Wissen rationale Erkennt-
nis, die vor allem in Worten ausgedrückt wird: lógos. Der zweiten Ansicht nach ist Wissen
ein technisches Wissen vergleichbar jenem des Handwerkers: téchnê. Wie sich bereits gezeigt
hat, lehnt diese zweite Auffassung die erste nicht ab, sondern nimmt sie in sich auf als einen
wesentlichen Bestandteil, der durch Übung oder Schulung ergänzt wird: askêsis. Wir können
also festhalten, daß es sich bei der stoischen Lebenskunst um eine ›technische‹ Konzeption
der Philosophie handelt, worin Wissen und Weisheit, Theorie und Praxis vereinigt sind.
Aus dem Englischen von Katrin Grünepütt

48 Vgl. David Sedley, »Philosophical Allegiance in the Greco-Roman World«, in: Miriam Griffin/Jonathan
Barnes (Hg.), Philosophia Togata, Oxford 1989, S. 97-119.
49 Vgl. etwa Simon Critchley, Continental Philosophy. A Very Short Introduction, Oxford 2001, S. 1-11.

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