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Buchbesprechungen
Wetter, Gustav G., D e r d i a l e k t i - keit geschichtlicher Betrachtung, ohne die
s c h e M a t e r i a l i s m u s . Seine Ge- ein volles Verständnis des sowjetphiloso-
schichte und sein System in der Sowjet- phischen Systems nicht möglich wäre.
union. Freiburg, Verlag Herder, 1952, Verf. zeigt, daß Marxens dial. Materialis-
Großoktav, XII und 648 S. Leinwand mus noch ziemlich verschieden ist von
28,— DM. dem, der in der Sowjetunion offiziell ver-
Das Werk ist nicht eine Übersetzung treten wird, der weit mehr an Engels an-
des auf Grund von Vorlesungen am knüpft. Die bei Bochenski nur flüchtig
Päpstlichen Orientalischen Institut in Rom skizzierten revolutionären Bewegungen in
verfaßten Buches „II materialismo dialet- Rußland, der Ursprung des russischen
tico sovietico", Turin 1948, sondern eine Marxismus, dessen Blütezeit in die Jahre
durch das Erscheinen vieler neuer Arbei- 1890—1900 fällt, und die philosophischen
ten der Sowjetphilosophen wie auch durch Richtungen im russischen Marxismus vor
folgenreiche Wandlungen innerhalb der der Revolution werden ausführlich darge-
Sowjetphilosophie notwendig gewordene stellt, die in einem fatalistischen Deter-
grundlegende Neubearbeitung des Stof- minismus gipfelnden, von Marx selbst
fes. So klar und überzeugend der Ge- nicht gebilligten Übersteigerungen der
genstand auch in dem kleinen Werk von Marxschen Lehre durch die russischen in-
Bochehski „Der sowjetrussische dialekti- transigenten Marxisten gebührend her-
sche Materialismus", Bern 1950, darge- ausgestellt; der von Lenin hochgeschätzte
stellt ist, konnte Wetter doch dank einem Plechanov, dem heute freilich manche Ab-
weitgespannten Rahmen eine bisher nicht weichung von der reinen Lehre vorge-
gebotene umfassende, dokumentarische worfen wird, stand an der Spitze dieser
breit unterbaute Darlegung der philoso- Gruppe.
phischen „Lehrmeinung" des Bolschewis- Wenn auch die auf dem messianischen
mus geben, die den vom Verf. angestreb- Element des Marxismus beruhende Form,
ten Zweck, ausreichendes Material für die die schließlich in der russischen Wirklich-
geistige Auseinandersetzung mit dem keit den Sieg davongetragen hat, An-
Bolschewismus vorzulegen, in der Tat er- klänge an die slavophile Lehre von der
füllt. „ganzheitlichen Erkenntnis" zeigt, der
ganzheitlichen Natur des russischen Vol-
Ein historischer Teil handelt, ausge- kes entspricht, so ist doch, wie Verf. aus-
hend von den philosophischen Wurzeln führt, der Persönlichkeit Lenins die Ver-
des Marxismus, von den philosophiege- wirklichung jener Ideologie zuzuschrei-
schichtlichen und geschichtlichen Voraus- ben, Lenins, der in vielen Punkten die of-
setzungen des dial. Materialismus und fizielle Philosophie der Sowjetunion be-
gibt eine Übersicht der philosophischen stimmt, in dem der vom Westen übernom-
Entwicklung in der Sowjetunion bis 1931 mene Marxismus mit der russischen re-
einerseits, nach diesem Jahr andererseits volutionären Tradition eines Tkatschev u.
einschließlich der Linguistikbriefe Stalins a. verschmilzt. Eigene Kap. sind der Dar-
vom Sommer 1950. legung des Lehrgehalts der beiden dann
Bereits die „materialistische Umkeh- unterbundenen Richtungen gewidmet, des
rung" der Hegeischen Dialektik durch heute als Rechts ab weichung getadelten
Feuerbach, vor allem aber dessen er- Mechanizismus (Bucharin) und des der
kenntnistheoretische Prinzipien, seine For- Linksabweichung bezichtigten menschewi-
derung einer Verbindung von Theorie sierenden Idealismus (Deborin, Trozkij).
und Praxis und seine Anschauung, daß Einen entscheidenden Wendepunkt in
die Wahrheit nur von einem Philosophen der Geschichte der Sowjetphilosophie
gefunden werden kann, der in organi- brachte der Beginn des Jahres 1931 mit
scher Verbindung mit der Gemeinschaft, der Verurteilung beider Richtungen durch
der „Masse" lebt, weisen unmittelbar auf das Zentralkomitee der bolschewistischen
den dial. Materialismus Leninscher Fas- Partei. Seitdem vollzieht sich die philoso-
sung hin und erweisen die Notwendig- phische Arbeit ausschließlich in den auto-
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ritär festgelegten Bahnen. Diskussionen „Materialismus" entscheidend wurde. Je-
dienen nur noch dazu, Abirrungen einzel- der Gegner des Idealismus als erkennt-
ner Autoren von der „Generallinie" auf- nistheoretischen Systems wird infolge die-
zudecken. Nach dem zweiten Weltkrieg ser Konfussion als Anhänger des Mate-
erlebte der philosophische Bereich einen rialismus bezeichnet. Lenins Unterschei-
Aufschwung im Sinn der Parteimäßigkeit dung eines philosophischen Begriffs der
der Philosophie, die jetzt neue Züge Materie vom naturwissenschaftlichen er-
trägt. Das zum erstenmal nach 12 Jahren weist sich als brauchbar, doch zeigt jener
im Sommer 1950 erfolgte persönliche Ein- philosophische Begriff wesentliche Män-
greifen Stalins mit seinen sprachwissen- gel, namentlich eine unklare, verwirrende
schaftlichen Artikeln rührte an die Grund- Behandlung des Substanzproblems.
pfeiler der marxistischen Lehre selbst und Die Auffassung des dial. Materialismus
an die Hauptpositionen des dial. Materia- von Raum und Zeit fällt mit der der Scho-
lismus. Während die von den Sowjetphi- lastik zusammen,- Verf. weist auch an an-
losophen gerühmte „epochemachende Be- dern Stellen auf Berührungen mit ihr hin;
deutung" des Philosophen Stalin bei ge- er sieht sich zur Feststellung veranlaßt,
nauerer Prüfung in ein Nichts zerrinnt, daß die Sowjetphilosophen in der Frage
hat er den Marxschen historischen Mate- der Gültigkeit des Kausalgesetzes in be-
rialismus, Leninsche Gedanken weiterfüh- stimmten Grenzen den gleichen Kampf
rend, in drei Punkten weiterentwickelt: in führen wie die katholischen Denker. Die
der überragenden Bedeutung, die er dem mißtrauische Haltung gegenüber moder-
rückwirkenden Einfluß des Überbaus auf nen physikalischen Theorien (Quanten-
die wirtschaftliche Basis zurechnet, in der mechanik, Relativitätstheorie) lassen die
Bestimmung der treibenden Kräfte in der Furcht erkennen, die neue Physik könnte
Entwicklung der sozialistischen Gesell- etwa zur Entdeckung einer intelligiblen
schaft und in der wachsenden Bedeutung, Welt führen. Die realistische Grundhal-
die dem nationalen Faktor eingeräumt tung der Sowjetphilosophie — soweit
wird. Es hängt damit zusammen, daß in „Materialismus" als erkenntnistheoreti-
der leninistisch-stalinistischen Fassung des scher Realismus aufgefaßt wird — wird
histor. Materialismus die Rolle der Per- vom Verf. als ihr wertvollster Zug be-
sönlichkeit und überhaupt der subjektive zeichnet, als positiv auch die Auffassung
Faktor wieder stärker betont wird. der Bewegung im aristotelischen Sinn als
Der Sinn der in den Linguistikbriefen jegliche Qualitätsveränderung. Die nega-
Stalins zutage tretenden Akzentverschie- tiven Seiten der sowjetischen Naturphilo-
bungen von der Diskontinuität der sozia- sophie treten überall da zutage, wo die
len Entwicklung auf ihre Kontinuität und Sowjetphilosophie ihren „Materialismus"
zugunsten des nationalen Elements, spe- wirklich als solchen verstanden haben
ziell der russischen Sprache, wird vom will.
Verf. wohl mit Recht weniger in der Kul- In vier Kap. wird die „Dialektik" der
tivierung eines Nationalpatriotismus als sowjetischen Philosophie ausführlich be-
vielmehr in der Förderung eines Sowjet- handelt: der allgemeine Zusammenhang
patriotismus gesehen. zwischen den Erscheinungen, Evolution,
Im zweiten Teil, in dem das System der qualitative Veränderungen im Evolutions-
Sowjetphilosophie dargelegt wird, führt prozeß, Entwicklung als Kampf von Ge-
Verf. aus, daß der Begriff der Philosophie gensätzen. In der Sowjetphilosohie ist für
im sowjetischen dial. Materialismus in- „Dialektik" im wesentlichen der Sinn
haltsreicher ist als bei Engels, da neben maßgebend geblieben, den dieser Aus-
der Erkenntnistheorie auch die Ontologie druck bei Hegel hatte. Der dial. Materia-
(„materialistische Theorie" benannt) ein- lismus betrachtet die Bewegung als ein
begriffen wird. In den letzten Jahren Wesensattribut der Materie, womit der
zeichnet sich die Tendenz ab, immer mehr Begriff „Dialektik" oft geradezu die Be-
Einzeldisziplinen im System des dial. Ma- deutung von „dynamischer Betrachtungs-
terialismus auszubauen. Die Partei hat ein weise" erhält. Durch die Aufdeckung der
vitales Interesse an der Philosophie, der Entwicklungsgesetze liefert die marxisti-
„materialistischen Dialektik", denn sie sche Dialektik das Mittel zu einer wissen-
sieht in ihr das methodologische Funda- chaftlichen Voraussicht der zukünftigen
ment ihrer revolutionären Praxis. Entwicklung, was dem Bolschewismus als
ihre wichtigste Leistung erscheint.
Schon bei Engels ist eine Vermengung Einer der wesentlichsten Punkte im dial.
der Begriffe „Materialismus" und „Rea- Materialismus ist die Auffassung der Be-
lismus" festzustellen, die für die gesamte wegung nicht als einer kreisförmigen, son-
spätere sowjetische Fassung des Begriffs dern im Sinn von Entwicklung, in der
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neue „Qualitäten" auftreten. Qualitative legenden Denkkategorien und Fragestel-
Veränderungen sind „revolutionär, stür- lungen der Sowjetphilosophie einerseits
misch, sprunghaft". In der klassenlosen und der Scholastik, ja des Thomismus an-
Sowjetgesellschaft freilich soll die Konti- dererseits fest. Auch der pseudoreligiöse
nuität gewahrt werden, wird der „Sprung" Charakter des Bolschewismus kommt hier
zum allmählichen Übergang. zur Sprache.
Stalins Linguistikbriefe haben auch im Alle diese Berührungspunkte aber lie-
vierten Grundzug der sowjetischen Dia- gen auf der Ebene des rein Formalen, sie
lektik (Entwicklung als Kampf der Ge- schwinden, sobald von der äußeren Struk-
gensätze), speziell hinsichtlich des „Wider- tur auf die inhaltliche Begründung zu-
spruchs" als einer Quelle der Bewegung, rückgegangen wird und lassen dadurch
eine Akzentverschiebung zugunsten des die radikale Unversöhnlichkeit nur um so
stabilen Faktors der Einheit gebracht. Und stärker erkennen, die zwischen Bolsche-
doch kann mit dem Verf. dieser Grund- wismus und Christentum, vor allem in
zug als das Fundament des Systems dessen katholischer Form, besteht. Das
schlechthin angesehen werden; es soll die wesentlichste Ziel, das sich die Sowjetphi-
Selbstgenügsamkeit der Welt, die keinen losophie setzt, ist der Beweis für die
„ersten Beweger" benötige, philosophisch Überflüssigkeit der Existenz Gottes. Der
gerechtfertigt werden. Gegensatz zwischen Sowjetphilosophie
Zwei Kap. über Denken und Sein (Prio- und katholischem, wie überhaupt christ-
rität des Seins, Erkennbarkeit des Seins) lichem und theistischem Denken, ist trotz
und eines über Logik beschließen den gewisser im formalen Bereich feststell-
Band, wobei Verf. einräumt, daß in der barer Anklänge gerade infolge der irgend-
wie aus dem Bereich des Willensmäßigen
Sowjetphilosophie die Frage, ob der dial. herkommenden subjektiven Grundhaltung
Materialismus die Logik, wenigstens im der Sowjetphilosophen unversöhnlich. Hier
Sinn der formalen Logik, umfaßt, umstrit- wird es deutlich, daß der dial. Materialis-
ten ist. mus nicht nur ein philosophisches System
Verf. weist darauf hin, daß die Welt- unter vielen ist, sondern „Weltanschau-
anschauung, die in diesem System ihre ung, Bekenntnisformel einer in der Ge-
konsequenteste Formulierung erhalten schichte wirkenden historischen Kraft".
hat, die oft unbewußte oder unausgespro- An dem Buch Wetters, das sich auf um-
chene Einstellung des Durchschnittsbür- fangreiches, vielfach sogar Fachleuten un-
gers von heute wiedergibt, soweit er nicht zugängliches Material stützt, vorüberzu-
noch positiv religiös und christgläubig ist. gehen, würde bedeuten, auf die Erkennt-
Wenn der sowjetische dial. Materialismus nis von Zusammenhängen zu verzichten,
auch eine Reihe von positiven Elementen die wesentliche Züge des sowjetischen
enthält, die ihn besonders vor dem me- philosophischen und darüber hinaus des
chanizistischen Vulgärmaterialismus aus- politischen Systems in neuem Licht er-
zeichnen, so besteht doch in ihm ein scheinen lassen.
Grundwiderspruch, der durch das mate-
rialistische Grunddogma — die Wirklich- München Wilhelm L e t t e n b a u e r
keit als „Materie" angesehen — das ge-
samte System vergiftet.
Die überraschende Verwandtschaft zwi-
schen der „forma mentis" des katholischen
Theologen und des Sowjetphilosophen,
die schon Berdjajev gesehen hat, sieht
Verf. sicher zu Recht darin begründet, daß
die Sowjetphilosophen ihrer Forschung
eine ausgesprochen theologische Methode
zugrunde legen, daß sie meist nicht „ex
ratione", sondern „ex auctoritate" argu-
mentieren, die katholische Theologie aber
die theologische Methode am reinsten an-
wendet. Verf. lenkt ferner in der Frage
der formalen Ähnlichkeit zwischen So-
wjetphilosophie und katholischem Denken
die Aufmerksamkeit auf eine ziemlich
weitgehende Verwandtschaft in der Pro-
blemstellung, er stellt eine auffallende
Entsprechung zwischen gewissen grund-

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