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Thomas Mann

Der Tod in Venedig

Reclam Lektüreschlüssel
LEKTÜRESCHLÜSSEL FÜR SCHÜLER

Thomas Mann
Der Tod in Venedig
Von Hans-Georg Schede

Philipp Reclam jun. Stuttgart


Alle Rechte vorbehalten
© 2005, 2006 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2006
RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene
Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
ISBN 978-3-15-950135-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015358-1
www.reclam.de
Inhalt

1. Erstinformation zum Werk 5


2. Inhalt 9
3. Personen 23
4. Werkaufbau 40
5. Wort- und Sacherläuterungen 44
6. Interpretation 51
7. Autor und Zeit 73
8. Rezeption 89
9. Checkliste 91
10. Lektüretipps /Filmempfehlungen 94
1. Erstinformation zum Werk

Im Mai 1911 machte Thomas Mann mit seiner Frau Katia


und seinem älteren Bruder, dem Autor Heinrich Mann, Ur-
laub in Venedig. Thomas Mann war 35 Jahre
alt, hatte zwei Romane, etwa zwei Dutzend Thomas Mann
Erzählungen und ein Theaterstück geschrie- in den Jahren
ben und galt bereits als einer der wichtigsten vor 1911
deutschsprachigen Schriftsteller seiner Zeit.
Nachdem er durch seinen ersten Roman, Buddenbrooks
(1901), berühmt geworden war, ging sein Ehrgeiz in den
Folgejahren dahin, ein Werk zu schreiben, das seiner Vor-
stellung von Größe, Würde und Repräsentativität ent-
sprach. Auf der Suche nach einem bedeutenden Stoff plante
und verwarf er einen Roman über Friedrich den Großen.
Er machte Notizen zu einer großen Abhandlung Geist und
Kunst, die wie andere Projekte dieser Zeit aber ungeschrie-
ben blieb. Diese nicht verwirklichten Werke schrieb er dann
im Tod in Venedig Gustav von Aschenbach zu. Manns
außergewöhnliches Stilgefühl, sein Anspruch auf Perfek-
tion, machte die Entstehung eines jeden neuen Werks zu
einer nervenaufreibenden Geduldsprobe. Auch der paro-
distische Roman Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull
wurde damals nicht fertig, blieb lange liegen und erschien
erst 1954, ein Jahr vor Thomas Manns Tod.
Das ist, in knappen Umrissen, die Situation, in der Thomas
Mann 1911 nach Italien reiste. Dort, in Venedig, fand er den
Stoff, den er sofort aufzugreifen und künstlerisch zu gestal-
ten entschlossen war und aus dem unverhofft seine berühm-
teste Erzählung wurde: ein meisterliches Werk und gleich-
zeitig eine kritische Hinterfragung eben dieser Meisterlich-
6 1. ERSTINFORMATION ZUM WERK

keit. Eine besondere Brisanz des Textes liegt darin, dass


Thomas Mann in dieser Novelle, die gewissermaßen seinen
Anspruch formulierte, dereinst zu den Klassikern der deut-
schen Literaturgeschichte zu zählen, erstmals fast unver-
stellt das Urmotiv seines Schreibens behandelte: die un-
terdrückte, sehnsüchtige und zugleich ängstliche, Liebe zu
schönen jungen Männern. Ängstlich war
Homosexualität diese Liebe, weil Homosexualität zur Zeit
Thomas Manns nicht nur strafrechtlich ver-
folgt wurde, sondern auch gesellschaftlich außerordentlich
kompromittierend war. Die betonte Meisterlichkeit der No-
velle in Form und Sprache dient insofern wohl auch dem
Zweck, das Verpönte unangreifbar zu machen, dem in viel-
fältiger Hinsicht Bekenntnishaften des Textes das Persönli-
che zu nehmen und vielmehr das Exemplarische, allgemein
Gültige der geschilderten Ereignisse und inneren Konflikte
zu betonen.
Was hatte Thomas Mann auf seiner Reise erlebt? Zu-
nächst war er mit Katia und Heinrich nach
Urlaub in der Insel Brioni vor Istrien gereist. Dort ge-
Venedig fiel es ihnen aber nicht, und so reisten sie am
26. Mai zu Schiff von Pola aus weiter nach
Venedig, wo sie sich im Hôtel des Bains (»Bäder-Hotel«)
auf dem Lido einquartierten, das dem Ehepaar Mann schon
von früheren Aufenthalten her vertraut war. In dem Ho-
tel wurde Thomas Mann gleich am ersten
Wladyslaw Tag auf den vierzehnjährigen polnischen
Baron Moes Knaben Wladyslaw Baron Moes aufmerk-
sam, der ihn sofort in seinen Bann zog. Ba-
ron Moes hat viel später, ein Jahrzehnt nach Thomas Manns
Tod, bestätigt, dass Mann ihn in der Novelle genau por-
trätiert habe.
1. ERSTINFORMATION ZUM WERK 7

Als weitere Augenzeugin versicherte Katia Mann in ihren


1974 veröffentlichten, auf Interviews beruhenden Unge-
schriebenen Memoiren, dass die polnische Familie »genau so
aussah, wie mein Mann sie geschildert hat: mit den etwas
steif und streng gekleideten Mädchen und dem sehr rei-
zenden, bildhübschen, etwa dreizehnjährigen Knaben, der
mit einem Matrosenanzug, einem offenen Kragen und einer
netten Masche gekleidet war, und meinem Mann sehr in
die Augen stach. Er hatte sofort ein Faible für diesen Jun-
gen, er gefiel ihm über die Maßen, und er hat ihn auch
immer am Strand mit seinen Kameraden beobachtet. Er ist
ihm nicht durch ganz Venedig nachgestiegen, das nicht,
aber der Junge hat ihn fasziniert, und er dachte öfters an
ihn« (S. 71).
Auch »Jaschu«, der polnische Spielgefährte Tadzios in
der Novelle, ist keine Erfindung Thomas Manns. Er hieß
Janek Fudakowski und war mit Wladyslaw, wie dieser spä-
ter berichtete, eng befreundet, »wenn ich auch seine rohe
Art nicht leiden konnte. Seine Griffe, die er beim Raufen
benutzte, waren kaum kameradschaftlich« (nach: Peter de
Mendelssohn, S. 1426). Auch dies hat Thomas Mann offen-
bar am Strand beobachtet und in der Schlussszene seiner
Novelle verwendet (vgl. 86).
Selbst die überstürzte Abreise Gustav von Aschenbachs
am Ende des dritten Kapitels beruht auf tatsächlichen Er-
lebnissen. Wie die Hauptfigur der Novelle litten Thomas,
Katia und Heinrich Mann in den ersten Tagen ihres Aufent-
haltes unter dem drückenden Wetter. Der Himmel war be-
deckt, von der Stadt her breitete sich der faulige Geruch der
Lagune aus. Heinrich Mann drängte auf erneute Abreise
in die Berge, wo die Luft gesünder sein würde. Man brach
nach Como auf. Doch dann ging Heinrichs Koffer verloren
8 1. ERSTINFORMATION ZUM WERK

und die drei Reisenden kehrten unverzüglich nach Venedig


zurück, wo sie bis zum 2. Juni blieben.
Noch weitere Elemente der Erzählung gehen auf Erlebtes
zurück. Thomas Mann versicherte in seinem 1930 entstan-
denen Lebensabriß gar, dass »im Tod in Venedig nichts er-
funden« sei. »Der Wanderer am Münchener Nordfriedhof,
das düstere Polesaner Schiff, der greise Geck, der verdäch-
tige Gondolier, Tadzio und die Seinen, die durch Gepäck-
verwechslung mißglückte Abreise, die Cholera, der ehrliche
Clerc im Reisebureau, der bösartige Bänkelsänger oder
was sonst anzuführen wäre – alles war gegeben, war eigent-
lich nur einzustellen und erwies dabei aufs verwunderlichste
seine kompositionelle Deutungsfähigkeit« (GW XI, S. 124).
Obgleich »alles gegeben« und »eigentlich nur einzustel-
len« war, arbeitete Thomas Mann nach seiner gewohnten
skrupulösen Weise ein Jahr lang, von Juli
Entstehung der 1911 bis Juli 1912, an der Novelle. Brieflich
Novelle bezeichnete er das im Entstehen begriffene
Werk wiederholt als »unmögliche Concep-
tion«, wohl im Hinblick auf das zentrale Thema der Kna-
benliebe und die damit verbundene Gefahr der Preisgabe
seiner eigenen Gefühlswelt.
Festzuhalten ist, dass in den Tod in Venedig viel Persön-
liches von Thomas Mann eingeflossen ist: persönliche
Erlebnisse wie persönliche Gefühle. Doch das ist ledig-
lich das Material. Die fertige Novelle ist weit mehr als die
Schilderung eines Reiseerlebnisses. Sie ist ein ungewöhn-
lich komplex durchgestaltetes Kunstwerk und zugleich
eine tiefgründige Positionsbestimmung des Künstlers in
der (damaligen) Gesellschaft.
2. Inhalt

Erstes Kapitel

Die Hauptfigur der Novelle ist der Schriftsteller Gustav von


Aschenbach. Das erste Kapitel (7–12) handelt von seinem
plötzlichen Entschluss, für drei oder vier Wochen nach Ita-
lien zu reisen.
Nervlich überreizt von den Mühen seines schriftstelle-
rischen Tagespensums unternimmt Aschenbach an einem
Nachmittag im Mai eines nicht näher bestimmten Jahres zu
Anfang des 20. Jahrhunderts einen ausgedehnten Spazier-
gang durch seine Wahlheimatstadt München, um innerlich
wieder zur Ruhe zu kommen (7). Das Gegenteil geschieht:
Am Nördlichen Friedhof an einer menschenleeren Hal-
testelle auf die Tram, die Straßenbahn, wartend, hat er
eine Begegnung, die ihn vollends aus dem Gleichgewicht
bringt (7f.).
Vor der Aussegnungshalle nimmt Aschenbach eine Ge-
stalt wahr, deren fremdartiges Aussehen,
Gesichtszüge und herrische, wilde Haltung Der Fremde
ihn in seinen Bann ziehen. Seine eingehende
Musterung des Fremden erwidert dieser mit einem derart
kriegerischen Blick, dass Aschenbach sich unangenehm be-
rührt abwendet (8f.). Der verstörende Blickkontakt wirkt in
inneren Bildern fort, die sich unmittelbar darauf in Aschen-
bachs Bewusstsein drängen. Sie zeigen ihm eine Dschungel-
landschaft mit üppig und unübersichtlich wuchernder Vege-
tation, fremdartigen Vögeln und einem im Bambusdickicht
lauernden Tiger. Aschenbach, der die Unruhe, in die ihn die
Begegnung mit dem Fremden versetzt hat, sofort als Reise-
10 2. INHALT

lust gedeutet hat, ist zugleich fasziniert und verängstigt (9f.).


Er versucht, sich über diese überraschende, seiner gewohn-
ten Lebensweise durchaus fern liegende Reiselust Rechen-
schaft abzulegen und erkennt darin das Bedürfnis, auf eini-
ge Zeit der Mühsal seiner künstlerischen Arbeit zu entflie-
hen. Zwar liebt er den Dienst an der Kunst, wie er seine
Tätigkeit versteht, aber er empfindet ihn auch als Bürde. Da-
von überzeugt, dass künstlerische Kontrolle und Souverä-
nität nur mittels einer gezügelten Empfindung zu erreichen
sind, scheint ihm aber diese gezügelte Empfindung den Ge-
nuss an der eigenen Leistung zu verderben. Zwar wird sein
Werk von der Nation geehrt, aber er selbst hat keine Freu-
de mehr daran. Kurz, er entdeckt, dass er dem eigenen Tun
zwiespältiger gegenübersteht, als ihm das bis vor kurzem
klar war. Insofern erscheint es ihm nur vernünftig, die au-
genblickliche produktive Hemmung zu akzeptieren und
sich durch eine Reise auf andere Gedanken bringen zu las-
sen, um diese kleine Krise seines Selbstverständnisses als
Künstler auf undramatische Weise zu überwinden (11f.).

Zweites Kapitel

Im zweiten Kapitel (13–20) informiert der Erzähler über


Aschenbachs Vorfahren (13), seine persönli-
Aschenbachs che Entwicklung und körperliche Konstitu-
Persönlichkeit tion (13–15), den Charakter und die Wirkung
seiner schriftstellerischen Werke (15–17), sei-
ne Entwicklung als Künstler (17–19) und zuletzt seine bür-
gerliche Existenz sowie seine äußere Erscheinung (19f.).
Aschenbach ist in Schlesien geboren und entstammt vä-
terlicherseits einer Familie von Offizieren, Richtern und
2. INHALT 11

höheren Verwaltungsbeamten, die sich durch asketische


Pflichterfüllung in ihren den Staatsinteressen dienenden
Ämtern auszeichneten. Seine Mutter hingegen war die
Tochter eines böhmischen Kapellmeisters. Diese gegensätz-
lichen Erbteile bilden die Grundlage seiner Persönlichkeit
und seines Künstlertums.
Noch in jungen Jahren erobert er sich mit seinem Werk,
das sowohl das breite Publikum wie die Kenner anspricht,
eine Stellung in der literarischen Welt. Aufgrund seiner
schwachen Konstitution vom Besuch einer öffentlichen
Schule ausgeschlossen, ohne Kameradschaft und ohne ju-
gendliche Unbekümmertheit aufgewachsen, hat er sich be-
reits früh eine zuchtvolle Lebensweise auferlegt, um den
Ansprüchen, die sein Talent an ihn stellt, gerecht zu werden.
Sein Lieblingswort ist »Durchhalten« (14).
Dieses »Durchhalten« kennzeichnet auch sein Werk, das
als ein Trotzdem dasteht, als ein Sieg des Willens und der Be-
gabung über die allgegenwärtige Überforderung. Sinnbild-
lich für diese Haltung und damit auch sinnbildlich für
Aschenbachs in seinen Werken bevorzugten Heldentypus
steht der Heilige Sebastian, der noch angesichts seiner Qua-
len Anmut und Würde bewahrt. Dieser Heroismus der
Schwäche, wie er vom Erzähler bezeichnet wird, verbindet
Aschenbach mit seinen Lesern, den durch die gesellschaft-
lichen Verhältnisse der modernen Welt Überbürdeten und
Überanstrengten, und bewirkt untergründig die Anteil-
nahme, die sie seinem Werk entgegenbringen, weil sie sich in
ihm, bewusst oder unbewusst, wiedererkennen.
Aschenbachs Entwicklung als Künstler
läuft auf eine gewollte Meisterlichkeit und Aschenbachs
Klassizität zu. Begonnen hat er, scharfsinni- Künstlertum
ger Psychologe, ironischer Meister der Ent-
12 2. INHALT

larvung, unverkennbar – auch wenn es nicht ausdrücklich


gesagt wird – als Schüler Friedrich Nietzsches, indem er
konventionelle Wahrheiten und jede scheinbare moralische
Eindeutigkeit verwarf. Jenseits von Gut und Böse aber ent-
steht die Sympathie mit dem Abgrund. Gegen den scharfen
Reiz solcher Erkenntnis bald abgestumpft, fasst Aschen-
bach in der Mitte seiner Entwicklung den, wie es heißt, tie-
fen Entschluss »des Meister gewordenen Mannes, das Wis-
sen zu leugnen, es abzulehnen, erhobenen Hauptes darüber
hinwegzugehen« (17). Er ekelt sich vor der Pose des alles
Durchschauenden und löst dafür das »Wunder der wieder-
geborenen Unbefangenheit« ein, wie er es selbst nennt (18).
Diese neue Haltung kommt in der Würde, Reinheit, Ein-
fachheit seiner von nun an geschaffenen Werke zum Aus-
druck. Ob diese »sittliche Vereinfältigung der Welt und der
Seele« (18) nicht aber, indem sie die psychologische Er-
kenntnis (und damit auch Selbsterkenntnis) unterdrückt,
ihrerseits zwiespältig ist und den Keim des Unsittlichen in
sich trägt – das stellt der Erzähler als Frage in den Raum,
die vorerst unbeantwortet bleibt. Effekt und Erfolg von
Aschenbachs Haltung auf der Ebene der öffentlichen An-
erkennung ist, dass seine Werke Eingang in die Schul-
lesebücher finden und er zum 50. Geburtstag von einem
deutschen Fürsten den persönlichen Adel verliehen be-
kommt.
Aschenbach war verheiratet und hat eine ihrerseits bereits
verheiratete Tochter. Seine Frau starb schon früh nach weni-
gen glücklichen Ehejahren. Äußerlich ist Aschenbach etwas
weniger als mittelgroß, bartlos und beinahe zierlich von Ge-
stalt, gegen die sein bedeutender Kopf fast zu groß wirkt.
Seine Gesichtszüge sind asketisch und durchgeistigt, von
inneren künstlerischen Erlebnissen geprägt. Er trägt eine
2. INHALT 13

Brille. Besonders bemerkenswert ist der im Ruhezustand oft


schlaffe, dann aber wieder schmale und angespannte Mund.
Hier findet sich der innere Zwiespalt wieder, der für die
gesamte Persönlichkeit Aschenbachs als charakteristisch er-
scheint.

Drittes Kapitel

Das dritte Kapitel (20–49) erzählt Aschenbachs Italienreise


bis zu dem Zeitpunkt, als er seinen inneren Widerstand
gegen die Gefühle, die seine Urlaubsbegegnung mit dem
Knaben Tadzio in ihm auslöst, aufgibt.
Etwa zwei Wochen nach dem im ersten Kapitel geschil-
derten Erlebnis, zwischen Mitte und Ende Mai, bricht
Aschenbach nach Italien auf. Er plant, vier Wochen wegzu-
bleiben (20).
Zunächst reist er über Triest nach der Adria-Insel Pola,
wo ihm aber das schlechte Wetter, die übrige
Hotelgesellschaft und das Fehlen eines Sand- Aufenthalt
strands das Gefühl geben, noch nicht am in Pola
gewünschten Ort zu sein. Dann wird ihm
klar, dass das märchenhaft Fremde, nach dem es ihn ver-
langte, ohne dass er eine Fernreise auf sich zu nehmen ge-
willt war, natürlich in Venedig zu finden wäre, und so schifft
er sich nach anderthalb Wochen von Pola nach Venedig
ein (20f.).
Die Überfahrt, auf einem veralteten und düsteren Schiff,
ist seltsam. Auf Deck macht besonders ei-
ne Gruppe junger einheimischer Handels- Überfahrt nach
gehilfen durch lautes Benehmen auf sich Venedig
aufmerksam. Zu seinem Erschrecken erkennt
14 2. INHALT

Aschenbach, dass derjenige der Gruppe, der sich dabei be-


sonders hervortut, eigentlich ein geschminkter und als Jüng-
ling verkleideter Greis ist (22f.). Aschenbach hat mehr und
mehr die Empfindung einer ins Träumerische hinüberspie-
lenden Entstellung der Wirklichkeit (23f., 25). Zu seiner
Enttäuschung wird er von der Stadt seiner Sehnsucht nicht,
wie bei früheren Aufenthalten, mit strahlendem Wetter will-
kommen geheißen. Der Himmel bleibt trüb (24). Während
der Einfahrt in den Hafen hat der falsche Jüngling, in-
zwischen betrunken und äußerlich derangiert, noch einen
abstoßenden Auftritt: Er albert herum und leckt sich auf
in Aschenbachs Augen obszöne Weise mit der Zunge die
Mundwinkel (25). Als die Passagiere das Schiff verlassen,
wendet sich der Alte in zudringlicher Weise direkt an
Aschenbach, der dessen geschmacklosen und anstößigen
Vertraulichkeiten minutenlang ausgesetzt ist (26).
Aschenbach möchte mit einer Gondel zur Station jener
kleinen Dampfer gebracht werden, die zwischen der Stadt
und dem Lido, wo er wohnen wird, verkehren. Der Gondo-
lier, dem er sich anvertraut, ein schmächtiger Mensch mit
brutalen Gesichtszügen, rudert ihn jedoch direkt zum Lido.
Aschenbach, den die erschlaffende Bequemlichkeit seines
Polstersitzes in einen Bann der Trägheit versetzt hat, protes-
tiert halbherzig, kann sich aber nicht durchsetzen, zumal
er dem zutreffenden Einwand des Gondoliers, dass der Va-
poretto kein Gepäck befördere, nichts als seine ursprüng-
liche Absicht entgegensetzen kann (27–29). Am Quai ange-
kommen, macht sich der Gondolier aus dem Staub, bevor
Aschenbach Geld gewechselt hat, um ihn zu bezahlen. Es
stellt sich heraus, dass Aschenbachs Gondolier keine Kon-
zession besitzt. Andere Gondolieri haben die illegale Fahrt
telefonisch gemeldet (30).
2. INHALT 15

Im Bäder-Hotel wird Aschenbach von dem beflissenen


Manager empfangen und auf sein Zimmer geführt, von dem
aus Strand und Meer zu überblicken sind. Der Erzähler
schaltet sich ein und teilt resümierend mit, dass die Erleb-
nisse der Anreise Aschenbachs Gemüt nachhaltig beun-
ruhigten und dass überhaupt ein einsam-stummer Mensch
Gefahr laufe, sich auf unverhältnismäßige und verkehrte
Weise in seine Erlebnisse zu vertiefen (31).
Zur Abendmahlzeit erscheint Aschenbach etwas verfrüht
in der Halle. Eine Zeitung in der Hand, betrachtet er die an-
deren Gäste. Vier polnische Geschwister, unter der Obhut
einer Gouvernante, fallen ihm auf. Die drei Schwestern,
wohl zwischen fünfzehn und siebzehn Jahre alt, sind klös-
terlich schlicht und ungefällig gekleidet, ihre Mienen, mit
den Worten des Erzählers, nonnenhaft leer; ganz anders
der etwas jüngere, vielleicht vierzehnjährige
Knabe, der Aschenbach zu seinem Erstaunen Tadzio
vollkommen schön erscheint und in dessen
reicher Kleidung und lässig eleganter Haltung seine Vorzug-
stellung unter den Geschwistern zum Ausdruck kommt
(32f.). Drinnen im Speisesaal beginnt die Mahlzeit. Doch
erst nachdem die Mutter, eine vornehme Erscheinung, die
Halle betreten hat, macht sich die Familie auf den Weg dort-
hin. Aschenbach blickt der Gruppe nach, in Anschauung
versunken, wie es heißt. Als sich der Knabe auf der Schwel-
le zum Speisesaal noch einmal umsieht, begegnen sich erst-
mals ihre Blicke (34).
Während des Essens träumt Aschenbach der Begegnung
nach, indem er den empfangenen Eindruck gewohnheits-
mäßig in eine Kunstbetrachtung über Schönheit mün-
den lässt, die ihm aber hinterher schal und unnütz er-
scheint (35).
16 2. INHALT

Am nächsten Morgen ist das Wetter unverändert bedeckt.


Aschenbach ist verstimmt und denkt an neuerliche Abreise.
Einem solchen Entschluss entgegen steht sein vor sich selbst
noch uneingestandenes tiefes Interesse an dem polnischen
Knaben. Mit dem Frühstück hält er sich so lange auf, bis die-
ser, der lange geschlafen hat, den Saal betritt (36). Später, am
Strand, im Anblick des Meeres, beschließt er zu bleiben. Das
Meer liebt er als Sinnbild des Maßlosen, des Nichts und
damit gleichermaßen auch des Vollkommenen, während er
als Künstler sich dem Vollkommenen auf entgegengesetz-
tem Wege, durch die Form, die Gestaltung, annähern muss
(38).
Ausgiebig beobachtet er den Knaben beim Spiel mit sei-
nen Kameraden, beim Baden und beim anschließenden Ru-
hen (38–41). Angelegentlich beschäftigt er sich damit, aus
den Rufen am Strand seinen Namen zu erschließen, und
kommt zu dem Ergebnis, dass dieser Tadzio lauten müsse.
Zurück auf seinem Hotelzimmer, unterwirft er sich vor
dem Spiegel einer kritischen Musterung. Als er sich zum
Lunch begibt, kommt es im überfüllten Lift zu einer er-
neuten Begegnung mit Tadzio. Aus der Nähe beobachtet
Aschenbach den schlechten Zustand der Zähne des Knaben.
Dieses Anzeichen von Morbidität erfüllt ihn mit einem Ge-
fühl der Genugtuung und Beruhigung (42).
Am Nachmittag macht Aschenbach einen Ausflug nach
Venedig, auf dem er seine Entschlüsse vom Vormittag gänz-
lich und fast panikartig revidiert. Entnervt vom Scirocco,
dem landestypischen Föhnwind, von dem er sich zugleich
erregt und erschlafft fühlt, glaubt er einsehen
Fluchtversuch zu müssen, dass er dem Klima Venedigs nicht
gewachsen ist und abreisen muss (43). Als er
am nächsten Morgen erwacht, reut ihn die voreilige Ent-
2. INHALT 17

scheidung bereits. Aber da er seine Pläne schon bekannt ge-


geben und die Rechnung bezahlt hat, kann er nicht mehr
zurück (44). Beim Frühstück verharrt er lange, in der unein-
gestandenen Hoffnung, Tadzio noch einmal zu sehen. Den
Portier, der nervös zum Aufbruch drängt, weist er grob zu-
recht. Tatsächlich wird ihm sein Wunsch erfüllt und Tadzio
tritt ein, als er sich endlich, bereits resigniert, von seinem
Sitz erhebt (45).
Auf der sich anschließenden Fahrt zum Bahnhof durch-
leidet Aschenbach alle Qualen der Reue. Spät, aber noch
rechtzeitig, erreicht er die Station. Da kommt ihm ein Zufall
zu Hilfe. Sein Koffer ist, wie sich herausstellt, in die falsche
Richtung aufgegeben worden. Der für den Fehler verant-
wortliche Hotelangestellte ist sehr betreten. Aschenbach,
die Situation nutzend, erklärt, ohne seinen Koffer nicht ab-
reisen zu wollen und in dieser Lage vorläufig im Hotel woh-
nen zu bleiben. Unter Wahrung der angemessenen Haltung
ärgerlicher Resignation lässt er sich ins Hotel zurückfahren,
innerlich beglückt von dem komisch-traumartigen, beschä-
menden Abenteuer, wie der Erzähler den Zwischenfall cha-
rakterisiert (47). Im Hotel bekommt er ein neues Zimmer,
das jedoch dem vorherigen ganz ähnlich ist (48).
Dann sitzt Aschenbach im Lehnstuhl am offenen Fenster,
zufrieden und doch auch befremdet über das Schwanken
seiner Wünsche, ruhend und träumend, als Tadzio vom
Meer her kommend zum Hotel zurückkehrt. Seine Erschüt-
terung beim Anblick des Knaben macht es ihm unmöglich,
seine wahren Gefühle länger zu verleugnen. Insgeheim war
er auf die nun eingestandenen Empfindungen natürlich
vorbereitet; und so versucht er sie auch nicht abzuwehren,
sondern heißt sie erwartungsvoll willkommen (48f.).
18 2. INHALT

Viertes Kapitel

Im vierten Kapitel schildert der Erzähler, der nun die chro-


nologische Erzählweise des dritten Kapitels aufgibt, zusam-
menfassend Aschenbachs immer intensivere Passion für
Tadzio.
Auch nachdem der Schriftsteller zwei Tage nach seinem
überstürzten Aufbruch sein Gepäck zurückerhalten hat, ist
von erneuter Abreise nicht länger die Rede. Ein Wetterum-
schwung hat endlich die ersehnten klaren Sonnentage ge-
bracht, die zu Beginn des Kapitels in antikisierender Rede-
weise gefeiert werden. Der gehobene Stil der Passage deutet
bereits Aschenbachs innere Gehobenheit, seine euphorische
Stimmung an (49).
Aschenbach genießt, gegen alle Gewohnheit, sein mü-
ßiges Leben am Strand. Er ist ganz der Be-
Hingabe und obachtung Tadzios hingegeben, zu welcher
Selbstbetrug sich täglich vielfältige Möglichkeiten ergeben
(50f.). Vor allem aber sieht er ihn vormittags
am Strand. Bald kennt er jede Linie und Pose von Tadzios
Körper (52). Immer noch versucht er seine Leidenschaft für
den Knaben in Bezüge zu stellen, die ihr scheinbare Würde
und geistige Überlegenheit verleihen. Er meint in Tadzio das
Schöne selbst zu erblicken, die menschliche Verkörperung
eines geistigen Ideals (53). Er träumt vom Athen der Antike,
wo in gefälliger Landschaft ein Älterer, Hässlicher einen
Jungen und Schönen in vertrautem Gespräch belehrt: Er
träumt von Sokrates und Phaidros, wie sie von Plato ge-
schildert werden (54). Angeregt durch diese Phantasie eines
geistigen Austausches, regen sich in Aschenbach noch ein-
mal seine produktiven Kräfte. Am Strand, Tadzio immer
vor Augen, verfasst er über ein zufälliges Thema einen klei-
2. INHALT 19

nen Aufsatz von großer stilistischer Vollkommenheit (55).


Der Erzähler lässt durchblicken, dass die makellose kleine
Schrift das Produkt einer Ausschweifung, eines gewisser-
maßen ins Geistige verschobenen Geschlechtsverkehrs ist
und dass die Welt glücklicherweise von den Ursprün-
gen der Kunstwerke, die sie bewundere, keine Kenntnis
habe (55f.).
Am nächsten Morgen ergibt sich für Aschenbach die
Möglichkeit, auf beiläufige Art die Bekanntschaft Tadzios
zu machen und so seine ungesund übersteigerte Neigung für
den Knaben wieder in alltägliche, normale Bahnen zu len-
ken. Er bringt es, hämmernden Herzens, nicht über sich und
scheut im Grunde auch, wie der Erzähler anmerkt, die mit
einem solchen Schritt notwendig einhergehende Ernüch-
terung (56). So verfolgt er seine mit antikem Bildungsgut
und mythologischen Vorbildern überhöhte Schwärmerei
weiter (58f.). Allmählich nimmt er dabei wahr, dass auch
Tadzio auf ihn aufmerksam wird (59f.). Als Aschenbach
ihm eines Abends unvermutet begegnet und in seiner Mie-
ne, derart unvorbereitet, seine Gefühle für
Tadzio preisgibt, lächelt dieser zurück, mit Eingeständnis
dem selbstbezogenen Lächeln des Narziss. der Liebe
Erschüttert flüchtet sich Aschenbach auf eine
Bank und gesteht sich nun auch in Worten ein, was er längst
weiß: »Ich liebe dich!« (61).

Fünftes Kapitel

Das fünfte Kapitel handelt davon, wie sich die


Cholera in Venedig ausbreitet, wie Aschen- Cholera-Gefahr
bach sich durch seine Leidenschaft entwür-
20 2. INHALT

digt und wie er schließlich, am Tag der Abreise der polni-


schen Familie, an der Seuche stirbt.
Etwa drei Wochen sind seit Aschenbachs missglückter
Abreise vergangen (vgl. 61), als er wahrzunehmen beginnt,
dass in Venedig etwas nicht stimmt. Die Abreise der
deutschsprachigen Gäste mitten in der Hochsaison, der süß-
liche Geruch nach Desinfektion in der Stadt und weitere
Anzeichen, zu denen auch die übereifrig abwiegelnden Aus-
künfte der Einheimischen gehören, überzeugen ihn da-
von, dass Venedig von einer Seuche heimgesucht wird, ohne
dass er über diese Vermutung letzte Gewissheit erlangen
kann. Erregt wünscht er sich, dass die Wahrheit unterdrückt
bleibt: aus Angst, die polnische Familie könnte abreisen,
welcher Gedanke ihn zu der entsetzlichen Einsicht kommen
lässt, dass er in diesem Falle nicht wüsste, wie er weiterleben
solle; zugleich aber auch aus der unbestimmten Hoffnung
heraus, dass die offiziell geförderte Atmosphäre der Ver-
leugnung und Heuchelei seiner eigenen verbotenen Leiden-
schaft vorteilhaft sein werde (63).
Dieser Leidenschaft gibt sich Aschenbach mittlerweile
ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Schick-
Im Bann des lichkeit hin. Er überlässt die Begegnungen
Dämons mit Tadzio nicht mehr dem Zufall, sondern
verfolgt ihn regelrecht, etwa beim Besuch der
Messe in San Marco, auf Spaziergängen oder Gondelfahrten
durch Venedig (63–65). Er scheut sich nicht, spät abends
vor dem Zimmer des Jungen Halt zu machen und seine Stirn
minutenlang an die Angel der Tür zu lehnen (66). Mitunter
regt sich, beim Gedanken an seine sittenstrengen Vorfahren,
sein Ehrgefühl. Doch findet er Ausflüchte, die seine wür-
delose Hingegebenheit verklären (66f.).
Dem geheim gehaltenen Zustand der Stadt, an dem er
2. INHALT 21

komplizenhaft Anteil nimmt, versucht er weiter auf den


Grund zu kommen; so auch anlässlich der abendlichen
Musikvorführung einer vierköpfigen Gruppe von Straßen-
musikanten im Vorgarten des Hotels (68–74). Nach Beendi-
gung der Darbietungen fragt Aschenbach den Anführer der
Gruppe, einen ausgemergelten, verwegen aussehenden Gi-
tarristen, warum Venedig desinfiziert werde (71). Doch der
äußerlich abstoßende Spaßvogel leugnet jede Gefahr. Nach
einer Zugabe mit frechem Lachrefrain streckt er den Hotel-
gästen, als letzten hämischen Gruß, die Zunge heraus (73f.).
Am nächsten Tag erlangt Aschenbach durch einen auf-
richtigen englischen Angestellten eines Reisebüros endlich
Gewissheit über die tatsächliche Lage (76–78). Die indische
Cholera ist im Mittelmeerraum und seit Mitte Mai auch
in Venedig aufgetaucht. Die Krankheit grassiert in einer
besonders gefährlichen Form, der so genannten trockenen
Cholera, die nach ihrem Ausbruch binnen weniger Stunden
zu einem qualvollen Erstickungstod führt. Aus Sorge um
den Tourismus wird die Wahrheit unterdrückt. Schon grei-
fen als eine Folge dieser Politik der Vertuschung Krimina-
lität und Prostitution um sich. Der Engländer rät Aschen-
bach eindringlich abzureisen, bevor die Stadt demnächst
unter Quarantäne gestellt werde (77).
Den Gedanken, die polnische Familie zu warnen und
durch eine solche reinigende Handlung auch selbst wie-
der zu sich zu kommen, verwirft Aschenbach
rasch (77f.). In der folgenden Nacht hat Moralische
er einen furchtbaren Traum, in dem er Teil Zerrüttung
einer reißenden orgiastischen Meute wird
und aus dem er moralisch zerrüttet erwacht (78–80).
Die befremdeten Blicke der Menschen scheut er nun
nicht mehr. Ohnehin verlassen immer mehr Touristen die
22 2. INHALT

Stadt, denn die Wahrheit sickert allmählich durch (80).


Doch Tadzio und die Seinen bleiben. Im verblendeten Be-
mühen, dem Jungen zu gefallen, lässt Aschenbach sich vom
Coiffeur des Hotels kosmetisch verjüngen (81f.).
Inzwischen hat wiederum das Wetter gewechselt. Lau-
warmer Sturm, vom Fäulnisgeruch der Stadt erfüllt, ist auf-
gekommen (82). Auf einem seiner Gänge durch Venedig, bei
denen er Tadzio nachstellt, verliert Aschenbach die polni-
sche Familie aus den Augen. Entnervt, erschöpft, von Durst
gequält, kauft er vor einem Gemüseladen einige überreife
Erdbeeren (83). Unversehens gelangt er auf den kleinen
Platz, wo er vor Wochen den schließlich aufgegebenen Ent-
schluss gefasst hatte abzureisen. Dort lässt er sich nieder.
Halb bewusstlos verbindet er seine persönliche Gesunken-
heit mit einer Betrachtung des Künstlertums im Allgemei-
nen. Die Sehnsucht des Künstlers gelte der Schönheit, wel-
che ihn aber gleichzeitig zur Sinnlichkeit verführe und da-
mit ein Irrweg sei. Daher könne der Dichter weder würdig
noch weise sein und diene nicht zum Vorbild (84f.).
Einige Tage darauf erfährt Aschenbach, dass die polnische
Familie noch am selben Tag abreisen wird. Seit dem Morgen
wird Aschenbach von Schwindelanfällen und Angstzustän-
den heimgesucht. Er begibt sich zum mittlerweile entvöl-
kerten Strand, wo er noch einmal Tadzio beobachtet, der ins
Meer hinausgeht und sich von einer Sandbank aus nach ihm
umwendet (87).
Wenig später findet man Aschenbach in
Aschenbachs seinem Liegestuhl am Strand. Noch am sel-
Tod ben Tag melden die Zeitungen den Tod des
berühmten und geachteten Dichters, des Er-
ziehers der Jugend.
3. Personen

Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig weist eine


wirkliche Figur auf: den Schriftsteller Gus-
tav von Aschenbach. Außer ihm macht nur Personen-
Tadzio eine Entwicklung durch, wobei er konstellation
sich jedoch bezeichnenderweise ganz pas-
siv verhält. Keine Widersacher stellen sich Aschenbach
entgegen, keine mit eigenen Interessen ausgestatteten Figu-
ren kreuzen seinen Weg und nehmen Einfluss auf die Hand-
lung. Der Anblick Tadzios, des schönen Knaben, verhilft
lediglich einer inneren Tendenz Aschenbachs zum Durch-
bruch, in der sich Selbstbefreiung und Selbstzerstörung auf
tragische Weise verbinden und die schon vor der Begegnung
mit dem Jungen in Aschenbach wirksam ist. Der Wanderer
am Nördlichen Friedhof von München, der Gondolier und
der Gitarrist sind durch ihre äußere Erscheinung und ihr
Verhalten als Todesboten gekennzeichnet, so wie auch Tad-
zio auf der letzten Seite der Novelle als bleicher und lieb-
licher »Psychagog«, als Geleiter der Seele ins Totenreich, be-
zeichnet wird. Der falsche Jüngling auf dem Schiff nach
Venedig nimmt Aschenbachs spätere Liebesverfallenheit
und Entwürdigung allegorisch vorweg. Die anderen Figu-
ren, der schmeichelnde Hotelmanager, die Mutter und die
Schwestern Tadzios sowie deren Gouvernante, Tadzios Ka-
merad »Jaschu«, der loyale englische Angestellte im Reise-
büro oder der Coiffeur des Hotels, markieren den Hin-
tergrund und Zusammenhang, vor dem sich Aschenbachs
Schicksal vollendet. Eigenes Gewicht haben sie nicht.
Dieses weitgehende Fehlen eigenständiger Figuren ne-
ben Aschenbach signalisiert dreierlei: Die dramatische
24 3. PERSONEN

Entwicklung, die dieser durchläuft, ist nicht auf neue


äußere Erfahrungen zurückzuführen, sondern Resultat
und Konsequenz schon früher angelegter innerseelischer
Konflikte. Zudem macht sich im Fehlen wirklicher an-
derer Figuren die träumerische Entstellung der Welt be-
merkbar, die Aschenbach zu erkennen glaubt (vgl. insbe-
sondere die Erzählerkommentare Seite 23 und 25). Und
schließlich zeigt sich, dass die Perspektive, unter der in
der Novelle die Ereignisse in den Blick geraten, die
Aschenbachs ist, des Einsamen, ganz mit sich Befassten.
Zwar schaltet sich der Erzähler wiederholt mit kritischen
Kommentaren ein oder verleiht seiner Schilderung eine
ironische Färbung. Was er jedoch schildert, ist das, was
Aschenbach wahrnimmt.

Gustav von Aschenbach. Da die Handlung der Novelle in


ihren wesentlichen Zügen mit der Entwicklung der Haupt-
figur zusammenfällt, wird auf die ausführliche, die inneren
Vorgänge einschließende Inhaltsangabe verwiesen. Hier sol-
len die Hintergründe des Zusammenbruchs von Aschen-
bachs Persönlichkeit, sein Hang zur Selbsttäuschung sowie
die historischen Vorbilder, die der Figur Aschenbachs einge-
schrieben sind, erörtert werden.

1. Im ersten Kapitel der Novelle verspürt Aschenbach


den aus dem Rahmen seiner gewohnten Existenz fallen-
den und für ihn irritierenden Wunsch, der selbst auferleg-
ten Disziplin seiner schriftstellerischen Arbeit zu entflie-
hen und zu verreisen. Das zweite Kapitel hingegen bietet
ein Porträt seines Charakters, seines Werks und seiner
Entwicklung bis zum Zeitpunkt, an dem die Erzählung
eingesetzt hat (vgl. Inhaltsangabe, 10–13). Das erste Ka-
3. PERSONEN 25

pitel behandelt demnach einen inneren Konflikt, dessen


Schwere erst auf dem Hintergrund des Charakterbildes,
das im zweiten Kapitel entworfen wird, voll erkennbar
ist.
Die zentrale Frage, mit der die Glaubwür- Die Glaubwürdig-
digkeit der im Tod in Venedig geschilder- keit von
ten inneren und äußeren Handlung steht Aschenbachs
und fällt, lautet: Wie kann es dazu kom- Zusammenbruch
men, dass ein so disziplinierter Mensch
wie Aschenbach sich derart dem Verfall hingeben kann,
wie es in der Novelle erzählt wird?
Glaubhaft wird dieser phantastische Umschwung durch
den ausführlichen Hinweis darauf, dass Aschenbach sein
Leben bis zur Reise nach Italien ganz in den Dienst seines
literarischen Werks gestellt hat, dass er aus künstlerischer
Ungenügsamkeit »das Gefühl gezügelt und erkältet« (12),
also wichtige Anteile seiner Persönlichkeit jahrzehntelang
unterdrückt hat. Diese unterdrückten Gefühle haben sich,
wie man landläufig sagt, lange aufgestaut, bis endlich der
Damm brach. Das Bild des Dammbruchs ist überhaupt gut
geeignet, Aschenbachs Schicksal zu veranschaulichen. Die
verheerende Art und Weise, in der sich das unterdrückte
Gefühls- und Triebleben Aschenbachs schließlich Bahn
bricht, lässt sich der reißenden, mörderischen Gewalt des
Wassers, das den Damm zum Bersten bringt, vergleichen.
Aschenbachs Traum von der orgiastischen Meute ist nur ein
anderer Ausdruck derselben Erfahrung, dass sich die eigene
Persönlichkeit unter dem Andrang einer unwiderstehlichen
Gewalt auflöst: »Aber mit ihnen, in ihnen war der Träu-
mende nun und dem fremden Gotte gehörig. Ja, sie waren
er selbst, als sie reißend und mordend sich auf die Tiere
hinwarfen und dampfende Fetzen verschlangen, als […]
26 3. PERSONEN

grenzenlose Vermischung begann, dem Gotte zum Opfer.


Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Untergan-
ges« (80).
Aschenbachs Unfähigkeit, diesem Dammbruch etwas
entgegenzusetzen, steht somit nicht im Widerspruch zu
seiner fast ein ganzes Leben lang erprobten Diszipli-
nierung seiner selbst, sondern wurzelt gerade in dieser
Selbstdisziplin. Nur mit ihrer Hilfe konnte Aschenbach
so lange gegen seine unbewussten Bedürfnisse handeln,
die nun derart heftig durchbrechen. In Rechnung zu stel-
len ist ferner, dass die Unterdrückung tief sitzender Wün-
sche über eine so lange Zeit hinweg eine äußerste, wenn
auch unbemerkte, Anstrengung bedeutet. Aschenbachs
Erschöpfung, sein Bedürfnis nach einer »so ungewohnten
als süßen Lässigkeit« (27), wie sie besonders während der
Überfahrt in der Gondel zum Lido vermerkt, aber auch
sonst allenthalben deutlich wird, ist die Folge einer sol-
chen jahrelangen Überforderung.
In der Novelle gibt es dafür ein wiederkehrendes Bild:
das der zunächst fest geschlossenen (vgl. 14) und schließlich
geöffneten, zu einer »bereitwillig willkommen heißende[n],
gelassen aufnehmende[n] Gebärde« nach oben gewendeten
Hände (49). Steht Aschenbachs Traum für seine Machtlosig-
keit gegenüber dem Ansturm seines Trieblebens, so steht die
endlich geöffnete Hand für den Wunsch, seinen Gefühlen
nicht länger Gewalt anzutun und die in der Faust symbo-
lisierte Abgeschlossenheit seiner Existenz aufzugeben (vgl.
zu diesem Motiv auch die Worterläuterung zu 14,15).

2. Das dritte und vierte Kapitel handeln von zwei ver-


schiedenen Stadien der Selbsttäuschung Aschenbachs
hinsichtlich seiner eigentlichen Gefühle Tadzio gegen-
3. PERSONEN 27

über. Im dritten Kapitel möchte er nicht wahrhaben, dass


ihm Tadzio überhaupt ein tiefes persönliches Interesse
einflößt. Im vierten Kapitel glaubt er sich
mithilfe einer antikisierenden Camouflage Aschenbachs
in ein intimeres Verhältnis zu Tadzio hin- Selbsttäuschung
einträumen zu dürfen, ohne seine morali-
sche Integrität, seine Würde und Überlegenheit, zu ver-
lieren. Natürlich stellt sich das eine wie das andere als
Illusion heraus, worauf der Erzähler zunächst mittelbar
und diskret, dann zunehmend offen hinweist.
Auffällig ist, wie im dritten Kapitel Aschenbachs unwill-
kürliche Empfindungen beim Anblick Tadzios und seine
vom Bewusstsein gelenkten Reaktionen auseinander fallen.
»Sonderbar ergriffen« ist Aschenbach schon nach der ersten
Begegnung mit dem Knaben (34). Bei der zweiten Gelegen-
heit erschrickt er »über die wahrhaft gottähnliche Schönheit
des Menschenkindes« (36); bei der dritten ist er »erheitert
und erschüttert zugleich, das heißt: beglückt« (39). Erheite-
rung ist die Gefühlshaltung, mit der Aschenbach seine wah-
re Erschütterung vor sich zu verbergen sucht. Er begegnet
Tadzio anfangs verschiedentlich mit einem amüsierten Lä-
cheln (vgl. 36 und 40). In einem solchen Lächeln drückt sich
Anteilnahme, eine gewisse Komplizenschaft, aber eben auch
Überlegenheit aus. Dieses Lächeln wahrt genau die Balance
zwischen Intimität und Abstand, die Aschenbach gegen-
über Tadzio finden möchte. Der Erzähler greift diesen
Wunsch Aschenbachs auf, wenn er von »väterliche[r] Huld«
und »gerührte[r] Hinneigung« spricht, die Aschenbach für
Tadzio zu empfinden meint (41). Der Erzähler sorgt jedoch
andererseits auch schon frühzeitig dafür, dass Aschenbach
nur sich selbst, nicht aber den Lesern der Novelle etwas vor-
machen kann. So heißt es im Anschluss an Aschenbachs
28 3. PERSONEN

zweite Begegnung mit Tadzio: »Gut, gut! dachte Aschen-


bach mit jener fachmännisch kühlen Billigung, in welche
Künstler zuweilen einem Meisterwerk gegenüber ihr Ent-
zücken, ihre Hingerissenheit kleiden« (37). Dass die an-
geblich fachmännisch kühle Billigung nur eine Pose ist,
die die eigentliche Hingerissenheit verdecken soll, wird hier
deutlich ausgesprochen. So entlarvt der Erzählerkommentar
Aschenbachs anfängliche Tendenz, Tadzio wie ein Kunst-
werk zu taxieren (vgl. 35, 36, 39), als Rationalisierung seiner
tiefen persönlichen Ergriffenheit.
Noch im überstürzten Entschluss, aus Venedig abzurei-
sen, wiederholt sich das Muster. Aschenbach schiebt seine
»Seelennot«, in der er sich »ganz zerrissen« fühlt (46), auf
die scheinbare Einsicht, der »geliebte[n] Stadt« Venedig mit
ihrem schädlichen Klima physisch nicht gewachsen zu sein.
In Wahrheit aber kann er, wie die Szene beim Frühstück ge-
zeigt hat (44f.), nicht von Tadzio lassen. Wenig später ist er
unverhofft wieder zurück am eigentlichen Ort seiner Wün-
sche, innerlich jubelnd, aber doch auch »kopfschüttelnd un-
zufrieden über seinen Wankelmut, seine Unkenntnis der ei-
genen Wünsche« (48).
Im vierten Kapitel gibt Aschenbach unbedenklich seiner
Leidenschaft für Tadzio nach. »Bald kannte der Betrach-
tende jede Linie und Pose dieses so gehobenen, so frei
sich darstellenden Körpers, begrüßte freudig jede schon
vertraute Schönheit aufs neue und fand der Bewunde-
rung, der zarten Sinneslust kein Ende« (52). Er phanta-
siert sich in ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zu Tadzio hin-
ein, das die von Platon geschilderte Beziehung zwischen
Sokrates und Phaidros zum Vorbild hat (53f.). Er will die
Leidenschaft, aber er will auch seine Würde bewahren. Im
Hochgefühl der Sonnentage am Strand möchte er sich ein-
3. PERSONEN 29

reden, dass er beim Anblick Tadzios »das Schöne selbst« be-


greife (53). Doch der Erzähler weist eine solche Deutung
deutlich und ironisch zurück, spricht im Gegenteil von
»aufschwärmendem Entzücken« und stellt fest: »Das war
der Rausch; und unbedenklich, ja gierig hieß der alternde
Künstler ihn willkommen« (53). »Aschenbach«, heißt es
wenig später, »war zur Selbstkritik nicht mehr aufgelegt«
(56). Diese Unwilligkeit zur Selbstkritik ist die fatale Spät-
folge seines »Ekels gegen den unanständigen Psychologis-
mus der Zeit« (17f.), von dem bei der Schilderung seiner
künstlerischen Entwicklung im zweiten Kapitel die Re-
de war. So entschieden er sich seinerzeit von »jeder Sym-
pathie mit dem Abgrund« losgesagt hat (18), so blind ist
er dem Abgrund nun ausgeliefert. Aschenbachs Selbstver-
ständnis als Schöpfer von Werken »adelige[r] Reinheit« (18)
versperrt ihm einen unvoreingenommenen Blick auf sich
selbst. Also übernimmt es der Erzähler, Kritik zu üben, und
entlarvt Aschenbachs Phantasie einer platonischen Liebe
zu Tadzio, indem er sarkastisch Aschenbachs Rationali-
sierungen seiner Triebwünsche betont: »Sein Geist kreißte«
(53). Und später: »Er wünschte plötzlich, zu schreiben. […]
an diesem Punkte der Krisis war die Erregung des Heim-
gesuchten auf Produktion gerichtet. […] Und zwar ging
sein Verlangen dahin, in Tadzios Gegenwart zu arbeiten,
beim Schreiben den Wuchs des Knaben zum Muster zu
nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers folgen zu
lassen […]. Nie hatte er die Lust des Wortes süßer empfun-
den, nie so gewußt, daß Eros im Worte sei […]. Sonder-
bare Stunden! Sonderbar entnervende Mühe! Seltsam
zeugender Verkehr des Geistes mit einem Körper! Als
Aschenbach seine Arbeit verwahrte und vom Strande auf-
brach, fühlte er sich erschöpft, ja zerrüttet, und ihm war,
30 3. PERSONEN

als ob sein Gewissen wie nach einer Ausschweifung Klage


führe« (55f.).
Dass Aschenbachs Verhältnis zu Tadzio weit entfernt
ist von der unbefangenen Intimität einer platonischen
Lehrer-Schüler-Beziehung, zeigt sein Unvermögen, mit
Tadzio wirkliche Bekanntschaft zu machen (56, 59). So
steigert er sich immer mehr in seine Leidenschaft für
den aus der Entfernung angeschwärmten Knaben hinein,
um schließlich, ohne Rücksicht auf Würde und Ansehen,
ganz in ihr sein Heil zu suchen. Diesen endgültigen Nie-
dergang schildert das fünfte Kapitel. Man kann auch
sagen: Aschenbach sucht in der Liebe zu Tadzio nicht
sein Heil, sondern in Wahrheit den Tod, denn dass es für
diese Liebe keine irdische Hoffnung gibt, steht fest.

3. Das erbarmungswürdig-abstoßende Schauspiel einer spä-


ten, hoffnungslosen Leidenschaft, das Aschenbach im Tod
in Venedig bietet, geht nicht nur auf Thomas Manns Er-
lebnisse in Venedig und damit verknüpfte Gedankenspiele
zurück, sondern auf einen ganz ähnlichen,
Johann Wolfgang unausgeführten Plan zu einer Novelle über
von Goethe den alten Goethe: »Ich war von dem Wun-
sche ausgegangen«, so Thomas Mann 1940
in einem Vortrag an der Universität Princeton, »Goethe’s
Spätliebe zu Ulrike von Levetzow zum Gegenstand meiner
Erzählung zu machen, die Entwürdigung eines hochgestie-
genen Geistes durch die Leidenschaft für ein reizendes, un-
schuldiges Stück Leben darzustellen – jene schwere Krise
Goethe’s, der wir seine herrliche Karlsbader [eigentlich: Ma-
rienbader] Elegie verdanken, diesen Aufschrei aus tiefstem
Verstört- und Hingerissensein, das für ihn fast zum Unter-
gang geworden wäre und jedenfalls ein Tod vor dem Tode
3. PERSONEN 31

gewesen ist. – Damals hatte ich es nicht gewagt, die Gestalt


Goethe’s zu beschwören, ich traute mir die Kräfte nicht zu
und kam davon ab. Ich schuf mir einen modernen Hel-
den […]« (On Myself, GW XIII, S. 148).
Dieser moderne Held ist in manchen äußerlichen Zügen
ein Porträt des großen Dirigenten und Komponisten Gus-
tav Mahler (1860–1911). In einem Brief vom 25. März 1921
an Wolfgang Born, der neun farbige Lithografien zum Tod
in Venedig geschaffen hatte, schreibt Thomas Mann: »In
die Konzeption meiner Erzählung spielte, Frühsommer
1911, die Nachricht vom Tode Gustav Mah-
lers hinein, dessen Bekanntschaft ich vordem Gustav Mahler
in München hatte machen dürfen und dessen
verzehrend intensive Persönlichkeit den stärksten Eindruck
auf mich gemacht hatte. Auf der Insel Brioni, wo ich mich
zur Zeit seines Abscheidens aufhielt, verfolgte ich in der
Wiener Presse die in fürstlichem Stile gehaltenen Bulletins
[Meldungen] über seine letzten Stunden, und indem sich
später diese Erschütterungen mit den Eindrücken und Ideen
vermischten, aus denen die Novelle hervorging, gab ich mei-
nem orgiastischer Auflösung verfallenen Helden nicht nur
den Vornamen des großen Musikers, sondern verlieh ihm
auch, bei der Beschreibung seines Äußeren, die Maske Mah-
lers« (Vorwort zu einer Bildermappe, GW XI, S. 583f.).
Geht Aschenbachs Vorname auf Gustav Mahler zurück,
so klingt sein Nachname an den Namen des 1910 verstor-
benen Landschaftsmalers Andreas Achen-
bach (1815–1910) an, dessen Bilder unter Achenbach,
anderem in der Münchner Neuen Pinakothek Wagner,
hingen und Thomas Mann von daher sicher Nietzsche, Platen
bekannt waren. Dass aus Achenbach Aschen-
bach wurde, kann als Vorausdeutung auf die Todesverfal-
32 3. PERSONEN

lenheit der Novellenfigur gedeutet werden. Das »von« zwi-


schen Vor- und Nachname, der Aschenbach zu seinem
fünfzigsten Geburtstag von einem deutschen Fürsten ver-
liehene persönliche Adelstitel (19), erinnert wiederum an
Goethe, der vom Großherzog von Sachsen-Weimar geadelt
worden war.
Weitere Künstler, die für Thomas Manns persönlichen
Bildungsgang eine herausragende Rolle spielen und als
entfernte Paten für die Figur Aschenbachs in Frage kom-
men, sind Richard Wagner (1813–83), Friedrich Nietzsche
(1844–1900) und August Graf von Platen (1796–1835).
Der Komponist Richard Wagner starb 1883 in Venedig.
1911 erschien posthum die erste Ausgabe seiner Autobio-
grafie Mein Leben, in der ausführlich seine Lebenskrise
während der Jahre 1857 und 1858 geschildert ist, zu welcher
Zeit sich Wagner in Venedig aufhielt. Darüber hinaus be-
zeugt Thomas Manns während des Aufenthalts in Venedig
entstandener kurzer Aufsatz Über die Kunst Richard Wag-
ners, das Pendant zu Aschenbachs »kleine[r] Abhandlung«
(55), die Zugehörigkeit Wagners zum Entstehungszusam-
menhang der Novelle.
Bei Friedrich Nietzsche, dem Philosophen und Kultur-
kritiker, fand Thomas Mann die Zerrüttung eines heraus-
ragenden Geistes vorgebildet, wie er sie viel später in weit
engerer Anlehnung an die Biografie Nietzsches in seinem
ebenfalls stark autobiografisch geprägten Roman Doktor
Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Le-
verkühn, erzählt von einem Freunde (1947) gestaltet hat.
Nietzsches Zusammenbruch ereignete sich 1889 in Turin.
Der künstlerische und menschliche Zwiespalt Aschen-
bachs, wie er im Tod in Venedig geschildert wird, ist nach
dem Konzept des Apollinischen und Dionysischen struk-
3. PERSONEN 33

turiert, das Nietzsche in seiner ästhetischen Frühschrift


Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872)
entwickelte (vgl. Interpretation, S. 65f.).
Der homoerotisch veranlagte Dichter August von Platen
schließlich hielt sich 1824 in Venedig auf und veröffentlich-
te 1825 seine Sonette aus Venedig. Das Gedicht Tristan
beginnt mit den Versen: »Wer die Schönheit angeschaut
mit Augen, / Ist dem Tode schon anheimgegeben«. Thomas
Mann hat diese Verse in seinem Werk wiederholt zitiert. Als
Aschenbach bei der Einfahrt in den Hafen von Venedig »des
schwermütig-enthusiastischen Dichters« gedenkt, ist un-
verkennbar August von Platen gemeint. Aschenbach wie-
derholt im Stillen einige Verse des Dichters und fragt sich
dann vorausahnend, »ob eine neue Begeisterung und Ver-
wirrung, ein spätes Abenteuer des Gefühles dem fahrenden
Müßiggänger vielleicht noch vorbehalten sein könnte« (24).
Platen verkörpert modellhaft die Ausweglosigkeit der Lie-
be, auch der bekämpften Liebe. Der Dichter starb früh,
äußerlich »an einer undeutlich typhösen Krankheit«, in
Wahrheit aber an »Gefühlsüberlastung und -abschnürung«,
wie es Thomas Mann in seinem 1930 geschriebenen Aufsatz
über Platen formuliert hat (August von Platen, GW IX,
S. 281).

Tadzio. Der Knabe Tadzio ist das Idol, an dem sich


Aschenbachs späte Leidenschaft entzün-
det. Tadzio wird in der Novelle so geschil- Tadzio als Idol
dert, wie Aschenbach ihn wahrnimmt:
überlagert mit Projektionen des Liebenden. Seine eigene
(wohl auch noch nicht sehr stark ausgebildete) Persön-
lichkeit bleibt undeutlich. Sie spielt für den Verlauf der
Novelle kaum eine Rolle.
34 3. PERSONEN

Tadzios Gesicht ist »bleich und anmutig verschlossen«,


von honigfarbenen Locken umrahmt (32). Durch seine
Kleidung wirkt er auf Aschenbach reich und verwöhnt (33).
Er tritt wohlerzogen und durch Anmut zugleich lässig auf
(33, 36). Er wirkt stolz und zart (36, 38).
Seine Zähne allerdings sind »etwas zackig«, »ohne den
Schmelz der Gesundheit und von eigentümlich spröder
Durchsichtigkeit« (42). Diese »nicht recht erfreulich[en]«
Zähne deuten, wie so häufig im Frühwerk von Thomas
Mann, auf Kränklichkeit und die Wahrscheinlichkeit eines
frühen Todes. Übergroße Verfeinerung, geistige wie körper-
liche, schlägt in Degeneration und Todesverfallenheit um.
Tadzios Schönheit ist infolgedessen nicht von der banalen
Unkompliziertheit, die für den Künstler ästhetisch reizlos
bleiben muss. Entsprechend konstatiert Aschenbach diesen
körperlichen Makel unwillkürlich mit einem Gefühl der Be-
friedigung. Ähnlich wie der hygienische Zustand und sittli-
che Verfall Venedigs verheißt Tadzios scheinbare Kränklich-
keit die Möglichkeit einer rauschhaften Annäherung an das
Objekt der Sehnsucht im Zeichen des Todes. Tatsächlich
stirbt Aschenbach im fiebrigen Glauben, von Tadzio in den
Bezirk des Todes hinübergeleitet zu werden (87). Verblen-
dung und Erfüllung liegen hier, wie im ganzen Verlauf von
Aschenbachs Leidenschaft, dicht beieinander.
Aschenbach und Tadzio kennen sich »mit den Augen«
(59). Tadzio wirft Aschenbach, nach dessen Empfinden, for-
schende und sprechende Blicke zu (vgl. 34, 45, 61, 64, 69,
82f., 87). Doch nie sprechen sie ein Wort miteinander. Das
hat mit der gewöhnlichen Angst des Liebenden zu tun, sich
dem Objekt seiner Liebe zu nähern (56), vor allem aber
mit dem Wunsch Aschenbachs, Tadzio weiterhin als Idol
zu verehren. »Denn«, so kommentiert der Erzähler, »der
3. PERSONEN 35

Mensch liebt und ehrt den Menschen, solange er ihn nicht


zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein Erzeugnis
mangelhafter Erkenntnis« (59).
Diese schweigende Bewunderung scheint Tadzio nicht
unberührt zu lassen. Als Aschenbach ihn zum ersten Mal
bemerkt, vergleicht er ihn unwillkürlich mit dem Dornaus-
zieher, einer berühmten antiken Statue eines anmutigen
Knaben (33). Das »ein ganz wenig verzerrte« Lächeln aber,
mit dem er Aschenbach drei Wochen später
zum einsamen Geständnis seiner Liebe er- Tadzio als Narziss
schüttert, ist »das Lächeln des Narziß« (61).
Tadzio macht unter dem Eindruck der beobachtenden
Blicke, mit denen ihn Aschenbach verfolgt, offenbar eine
Entwicklung durch, die einer Schilderung Heinrich von
Kleists aus dessen Aufsatz Über das Marionettentheater
(1810) nachgebildet zu sein scheint. Dort heißt es:
»Ich badete mich, erzählte ich, vor etwa drei Jahren, mit
einem jungen Mann, über dessen Bildung [äußere Erschei-
nung] damals eine wunderbare Anmut verbreitet war. Er
mochte ohngefähr in seinem sechszehnten Jahre stehn, und
nur ganz von fern ließen sich [… ] die ersten Spuren von Ei-
telkeit erblicken. Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in
Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus
dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt […]. Ein
Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den
Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spie-
gel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch
eine Entdeckung er gemacht habe. In der Tat hatte ich, in
eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um
die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei
es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich
lachte und erwiderte – er sähe wohl Geister! Er errötete, und
36 3. PERSONEN

hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch


der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, miß-
glückte. Er hob verwirrt den Fuß zum dritten und vierten,
er hob ihn wohl noch zehnmal: umsonst! er war außerstand,
dieselbe Bewegung wieder hervorzubringen […]. Von die-
sem Tage, gleichsam von diesem Augenblick an, ging eine
unbegreifliche Veränderung mit dem jungen Menschen vor.
Er fing an, tagelang vor dem Spiegel zu stehen; und immer
ein Reiz nach dem anderen verließ ihn« (Heinrich von
Kleist, Werke in einem Band, hrsg. von Helmut Sembdner,
München 1966, S. 805f.).
Der von Kleist geschilderte Jüngling büßt beim Versuch,
eine unwillkürliche, vollkommen anmutige Geste bewusst
zu wiederholen, seine Grazie ein. Tadzio beginnt sich unter
dem Eindruck der auf ihn gerichteten Aufmerksamkeit
Aschenbachs selbst zum Objekt seines Interesses zu wer-
den. Beide Fälle beschreiben die Ausbildung einer so ge-
nannten narzisstischen Persönlichkeitsstörung, der zwang-
haften Selbstbezogenheit eines Menschen. Auch Narziss
ist, wie die anderen Figuren, mit denen Aschenbach Tadzio
identifiziert, eine Figur aus der griechischen Mythologie:
Weil der schöne Sohn des Flussgottes Kephistos die Liebe
der Bergnymphe Echo verschmäht hat, lässt ihn die Göttin
der Liebe, Aphrodite, sein eigenes Spiegelbild in einer Quel-
le erblicken und sich in dieses Bild verlieben. Seine Liebes-
qualen enden erst, als er in eine Narzisse verwandelt wird.
Der Mann, der Tadzio beobachtet, ist sein Spiegel, der ihn
sich seiner eigenen Schönheit und Anmut voll bewusst wer-
den lässt. Weil der Mann nicht seine Bekanntschaft macht,
weil er dem Jungen persönlich auch gleichgültig bleiben
muss, begegnet Tadzio in den Blicken des Mannes immer
nur sich selbst. Bald beginnt er diese bewundernden Blicke
3. PERSONEN 37

bewusst zu suchen, die ihn seiner Schönheit versichern und


gleichzeitig unmerklich isolieren. Aschenbachs Verhalten
führt dazu, dass Tadzio in eine Liebesbeziehung zu sich
selbst gerät. Die Verzerrtheit des narzisstischen Lächelns,
mit dem Tadzio Aschenbach schließlich anblickt, steht für
die Verkehrtheit dieser selbstbezogenen Liebe, dafür, dass
Tadzio seine Unbefangenheit sich selbst gegenüber einge-
büßt hat.

Die Todesboten. Der Tod ist im ganzen Verlauf der No-


velle gegenwärtig. Er begegnet Aschenbach in verschiede-
nen Gestalten, die gewissermaßen als Wächter an seinem
Weg Sorge dafür tragen, dass sich sein Schicksal erfüllt.
Thomas Mann hat es so eingerichtet, dass sich in der
äußeren Erscheinung dieser Gestalten (des Wanderers am
Friedhof, des Gondoliers und des Straßensängers) ver-
schiedene bildliche Überlieferungen, wie der Tod dem
Menschen entgegentritt, überlagern. Das Mittelalter por-
trätierte den Tod als Skelett mit Totenschädel. Auf antiken
Grabmälern wird Thanatos, der Tod, als Bruder des Schlafes
dargestellt, der sich mit gekreuzten Beinen auf eine um-
gekehrte Fackel stützt (vgl. Gotthold Ephraim Lessings
Abhandlung Wie die Alten den Tod gebildet, 1769). Der an-
tike Gott Hermes wiederum, der in vielerlei Gestalt im
literarischen Werk Thomas Manns gegenwärtig ist, hat ne-
ben anderen Aufgaben auch die des »Seelengeleiters«, des
Schlaf- und Traumgottes inne (Hermes psychopompos).
Die gängigen Attribute des Götterboten sind sein geflügel-
ter Hut, sein Heroldsstab und der Reisebeutel. Zu den an-
tiken Todesvorstellungen gehört ferner Charon, der Fähr-
mann, der die Verstorbenen über den Todesfluss Styx über-
setzt zum Hades, dem Reich des Todes.
38 3. PERSONEN

Die Rothaarigkeit der drei Figuren könnte zudem auf


Satan, den Teufel, deuten, der sich nach christlicher Vorstel-
lung der Seelen der Menschen zu bemächtigen versucht, was
in der Literatur vor allem im Faust-Stoff gestaltet ist. Ein-
deutiger sind die Attribute, die auf Dionysos weisen: fremd-
ländisches Gepräge, kühne und herrische Haltung, der
Thyrsos-Stab und der Efeukranz (vgl. die Basthüte der Fi-
guren). Dionysos ist in der griechischen Mythologie der
Gott des Rausches, der Entgrenzung. Im Liebesrausch löst
sich Aschenbachs zuvor fest gefügte Iden-
Rausch und Tod tität auf. Dieser Selbstverlust führt ihn in
den Untergang. Insofern kündet auch Dio-
nysos von Aschenbachs Tod.
Die nachstehende Tabelle verdeutlicht, wie die drei To-
desboten einander gleichen und welche ikonographischen
Traditionen in der Darstellung des Todes sie verkörpern:

Ikonographie Der Wanderer Der Gondolier Der Straßen-


des Todes am Friedhof (8f.) (28f.) sänger und
Gitarrist (70f.)

Der mittel- »Mäßig hochge- »eher schmächtig »Schmächtig


alterliche Tod wachsen, mager« von Leibesbe- gebaut und auch
(Skelett) schaffenheit« von Antlitz
mager und aus-
gemergelt«
Der mittelalter- »bartlos« »bartlose[n]
liche Tod »auffallend Züge[n]«
(Totenschädel) stumpfnäsig«; »bleiches,
»kurz auf- »kurz aufgewor- stumpfnäsiges
geworfene[n] fene[n] Nase« Gesicht«
Nase«
der Teufel/Satan rothaarig »Wulst
seines roten
Haars«
3. PERSONEN 39

Dionysos (»der »durchaus nicht »durchaus nicht »schien nicht


fremde Gott«, bajuwarischen italienischen venezianischen
vgl. 78) Schlages«; »Ge- Schlages« Schlages«
präge des Fremd-
ländischen«
Hermes psycho- »Basthut« »formlosen »unter der
pompos / »Gurtanzug« Strohhut« Krempe«
Dionysos »Rucksack« »gelbe[n] Schär-
»Stock«, »auf pe gegürtet«
dessen Krücke
er, bei
Thanatos; der gekreuzten
Tod als Bruder Füßen, die Hüfte
des Schlafs lehnte«

Der mittelalter- hagerer Hals, »sein hagerer


liche Tod an welchem »der Hals mit auffal-
(Skelett und Adamsapfel stark lend groß und
Totenschädel) und nackt« nackt wirkendem
hervortritt Adamsapfel«
Dionysos zwischen den »ein Mann von »die beiden
Augen »zwei ungefälliger, ja Furchen […], die
senkrechte, ener- brutaler Physio- trotzig, herrisch,
gische Furchen« gnomie« fast wild
Der mittelalter- »mit farblosen, »rötlichen zwischen seinen
liche Tod rotbewimperten Brauen« rötlichen Brauen
(Totenschädel) Augen« standen«
der Teufel/Satan

Dionysos seine Haltung »die schroffe, »halb Zuhälter,


hat »etwas her- überhebliche […] halb Komödiant,
risch Überschau- Art des brutal und
endes, Kühnes Menschen« verwegen,
oder selbst gefährlich und
Wildes« unterhaltend«
Der mittelalter- »seine Lippen »vor Anstren-
liche Tod schienen zu gung die Lippen
(Totenschädel) kurz«, »völlig zurück und
von den Zähnen entblößte seine
zurückgezogen« weißen Zähne«
4. Werkaufbau

Carl Busse, der eine der interessantesten zeitgenössischen


Besprechungen des Tod in Venedig verfasst hat (gekürzt
nachgedruckt in: Bahr, Erläuterungen und Dokumente,
S. 145–147), monierte »die Proportionen der
Proportionen des Novelle«, die ihm »nicht ganz glücklich« er-
Textes schienen: »Thomas Mann braucht ein volles
Drittel des Buches, ehe mit der Einführung
des schönen Knaben die eigentliche novellistische Hand-
lung beginnt. Das ist bei dieser enggeschlossenen Kunst-
form meiner Ansicht nach ein Mangel. Die ersten Kapitel
erforderten eine stärkere Konzentration; sie haben etwas
Schwerfälliges und Gewundenes. Aber dann steigt die No-
velle prachtvoll an, um einen nicht mehr loszulassen.«
Busse trifft hier insofern einen wahren Punkt, als insbe-
sondere das zweite Kapitel aus dem Rahmen fällt. Zwar ist
es im Ganzen notwendig, damit der Leser Aschenbachs dra-
matische Wandlung auf der Folie seines bisherigen Lebens
und Schaffens recht begreift. Dennoch enthält es, als dichte-
risch kaschiertes Selbstbekenntnis Thomas Manns, manche
Einzelheiten, die über die erforderliche Charakterisierung
Aschenbachs hinausgehen und die zudem aufgrund ihrer
autobiografischen Verschlüsselung dem ohne entsprechen-
des Hintergrundwissen ausgestatteten Leser etwas dunkel
bleiben. Ein Beispiel sind die auf Seite 16, 16–28 beschriebe-
nen Figuren aus Werken Aschenbachs. Sie treten einem erst
plastisch vor Augen, wenn man in ihnen zentrale Figuren
aus Thomas Manns eigenem Frühwerk wiedererkennt.
Noch in anderer Hinsicht unterscheidet sich das zweite
Kapitel von den anderen vier Kapiteln der Novelle.
4. WERKAUFBAU 41

Die erzählte Zeit kommt hier zum Stillstand (auch wenn


die Vorgeschichte Aschenbachs natürlich
ebenfalls eine zeitliche Dimension hat). Erzählzeit und
Dieser Umstand trägt dazu bei, dass die Ge- erzählte Zeit
duld des Lesers strapaziert wird und das
Kapitel noch umfangreicher erscheinen mag, als es letztlich
ist. Der subjektive Eindruck einer sehr ausführlichen Infor-
mation wird ferner durch die Komplexität der hier darge-
stellten geistigen Entwicklung verstärkt. Das zweite Kapitel
ist schwierig, teilweise nicht voraussetzungslos zu verstehen
und gibt »viel zu denken«. So ist man erleichtert, wenn zu
Anfang des dritten Kapitels der Faden der Erzählung wieder
aufgenommen wird.
Die Beobachtung, dass die Erzählung im zweiten Kapitel
gewissermaßen stillsteht, kann man zum Anlass nehmen,
einen kurzen Blick auf die zeitliche Organisation der No-
velle zu werfen. Die Erzählung beginnt an einem Nach-
mittag Anfang Mai eines nicht näher bestimmten Jahrs
zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das erste Kapitel schil-
dert auf sechs Seiten im Wesentlichen die Begegnung mit
dem Fremden am Nördlichen Friedhof in München, die
kaum mehr als einige Minuten in Anspruch nimmt. Es
wirkt wie ein Prolog: Eine äußerlich unscheinbare Situa-
tion wirft ein Schlaglicht auf das weitere, eigentliche Ge-
schehen. In dieser Hinsicht ähnelt die Szene der aus-
drücklich als »Vorspiel« bezeichneten Anfangssituation
des Romans Königliche Hoheit (1909), des letzten größe-
ren Werks Thomas Manns vor dem Tod in Venedig. Sie ist
jedoch zugleich mehr als ein Prolog, weil sie die Hand-
lung ins Rollen bringt.
Das zweite Kapitel umfasst siebeneinhalb Seiten. Zwi-
schen dem ersten und dritten Kapitel vergehen »etwa
42 4. WERKAUFBAU

zwei Wochen« (20), welche Frist dem Leser gewisserma-


ßen durch seine Beschäftigung mit Aschenbachs bishe-
rigem Leben im zweiten Kapitel spürbar wird. Die erste
Seite des dritten Kapitels fasst Aschenbachs Reise nach
Italien und seinen anderthalbwöchigen Aufenthalt in
Pola zusammen. Die restlichen achtzehn Seiten schildern
Aschenbachs Meerfahrt nach Venedig (fünfeinhalb Sei-
ten) und die ersten knapp zwei Tage seines Aufenthaltes.
Es ist die Zeit, in der sich sein Schicksal entscheidet.
Anschließend beschleunigt sich das Erzähltempo wieder.
Die zwölf Seiten des vierten Kapitels berichten zusam-
menfassend von Aschenbachs Existenz während der fol-
genden drei Wochen (vgl. S. 61). Genaue Zeitangaben gibt
es nicht.
Im 26 Seiten langen Schlusskapitel geht Aschenbach je-
des Gefühl für die Zeit verloren, und auch der Leser wird
im Unklaren darüber gelassen, wie viel Zeit verstreicht, bis
Aschenbach der Cholera und seiner Leidenschaft erliegt.
Zu Beginn des Kapitels sind, seit jenem Nachmittag in Mün-
chen, etwa sieben Wochen vergangen. Aschenbach wird al-
so in der zweiten Hälfte des Juni auf die Veränderungen auf-
merksam, die in Venedig aufgrund der Cholera vor sich ge-
hen. An Aschenbachs Todestag herrscht eine Atmosphäre
von »Herbstlichkeit, Überlebtheit« (85). Dies ist offenkun-
dig symbolisch gemeint. Dennoch drängt sich auch der Ein-
druck auf, dass der Sommer bereits vorbei ist.
Diese zeitlichen Verhältnisse korrespondieren natürlich
der inneren Gliederung der Handlung. Entscheidende
Phasen werden erzählerisch verlangsamt, andere gerafft.
Die Analyse der Erzählzeit bestätigt unzweifelhaft, dass
das dritte Kapitel (neben dem Prolog) der Höhepunkt der
Novelle ist.
4. WERKAUFBAU 43

Dieser Befund stützt die in der Deutungsgeschichte des


Tod in Venedig mehrfach geäußerte Auffassung, dass
der Text annähernd nach dem Muster der
klassischen fünfaktigen Tragödie gebaut Nähe zur
sei: mit ihrer Exposition zu Beginn (der Tragödienform
plötzliche Fluchtdrang und die ausführli-
che Vorstellung der Hauptfigur), der ansteigenden Hand-
lung (Aschenbachs Reise nach Italien und Ankunft in
Venedig sowie seine Betörung durch Tadzio) bis zum
Höhe- und Wendepunkt im dritten Akt (die missglückte
Abreise), mit der sich anschließenden abfallenden Hand-
lung, die durch ein retardierendes Moment im vierten
Akt gestaut werden kann (Aschenbachs trügerische
Euphorie während der Schönwetterphase des vierten
Kapitels), dann aber unaufhaltsam auf die Katastrophe
zuläuft (die Ausbreitung der Cholera, die Entwürdigung
Aschenbachs sowie sein Tod). Wenn diese Übereinstim-
mung (die ohnehin durch eine gewisse Strukturverwandt-
schaft zwischen Tragödie und Novelle nahe liegt) von Tho-
mas Mann bewusst gestaltet worden ist, so vermutlich in
ähnlich halbparodistischer Absicht, in der auch die Meis-
terhaltung der Werke Aschenbachs in der betonten Meister-
lichkeit des Erzähltons der Novelle zugleich imitiert und
parodiert ist.
Zum Aufbau des Textes gehört auch das Geflecht der leit-
motivischen und mythologischen Beziehungen, das die
Novelle durchzieht. Diese Beziehungen werden in den
Kapiteln 3 (Personen) und vor allem 6 (Interpretation) die-
ses Lektüreschlüssels näher beleuchtet.
5. Wort- und Sacherläuterungen

7,6 eine so gefahrdrohende Miene: Anspielung auf eine der


politischen Krisen zwischen den europäischen Mäch-
ten im Vorfeld des Ersten Weltkriegs.
7,13 »motus animi continuus«: »beständige Schwingung
des Geistes«. Das Zitat stammt nicht von Cicero. Tho-
mas Mann fand es in einem Brief Gustave Flauberts an
Louise Colet vom 15. Juli 1853.
8,10 griechischen Kreuzen: Kreuzen mit gleich langen
Quer- und Längsbalken.
hieratischen Schildereien: bildlichen Darstellungen reli-
giöser Symbole.
8,13 Schriftworte: Die beiden Zitate entstammen der rö-
misch-katholischen Totenmesse.
8,18f. Portikus: Säulenvorhalle eines Gebäudes.
8,19 die beiden apokalyptischen Tiere: Sie sind Symbole
des Antichristen, vgl. Die Offenbarung des Johannes
(13,1–18).
9,18 inquisitiv: forschend, bohrend.
11,24f. Laßheit: veralteter Ausdruck, der das Schlaffwer-
den der Körper- und Geisteskräfte bezeichnet.
13,2 Epopöe: älterer Ausdruck für Epos.
13,13 Raisonnement: hier: philosophische Abhandlung.
14,15 Faust … geöffnete Hand: vgl. Goethes Brief an Zel-
ter vom 24. August 1823 über seine Erlebnisse während
der Kur in Marienbad, als er sich, im Alter von über sieb-
zig Jahren, in ein junges Mädchen verliebte und dieses
heiraten wollte: »Die ungeheure Gewalt der Musik auf
mich in diesen Tagen! […] ja sogar die öffentlichen Ex-
hibitionen des hiesigen Jägerkorps falten mich ausein-
5. WORT- UND SACHERLÄUTERUNGEN 45

ander, wie man eine geballte Faust freundlich flach


läßt.« Thomas Mann hatte ursprünglich den Plan verfolgt,
eine Novelle über Goethes Marienbader Passion zu
schreiben.
15,30–33 Aschenbach hatte es einmal an wenig sicht-
barer Stelle unmittelbar ausgesprochen, daß beinahe
alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem dastehe:
vgl. Thomas Manns kleinen Aufsatz Über den Alkohol
von 1906: »Denn wie beinahe alles Große, was dasteht, als
ein Trotzdem dasteht« (GW XI, S. 718).
16,14 die Sebastian-Gestalt: christlicher Märtyrer, der Le-
gende nach ein römischer Offizier unter Kaiser Diokle-
tian, der aufgrund seines Glaubens hingerichtet wurde.
Das Bild des schönen gefesselten, von Pfeilen durchbohr-
ten Jünglings ist ein verbreitetes Motiv der christlichen
Kunst. Sebastian gilt zugleich als Pestheiliger. In seiner
Nobelpreisrede von 1929 bezeichnet ihn Thomas Mann
als seinen »Lieblingsheiligen« (GW XI, 410).
16,17f. die elegante Selbstbeherrschung …: Thomas
Mann beschreibt hier die Hauptfiguren eigener Werke:
Thomas Buddenbrook; Lorenzo de’ Medici und Girola-
mo Savonarola aus dem Drama Fiorenza, Klaus Heinrich
aus Königliche Hoheit und Felix Krull aus den Bekennt-
nissen des Hochstaplers Felix Krull.
16,32f. die am Rande der Erschöpfung arbeiten: vgl. Tho-
mas Manns briefliche Äußerung gegenüber Heinrich
Mann über Hugo von Hofmannsthal vom 7. Dezember
1908: »Es ist merkwürdig wie gerade die Besten Alle am
Rande der Erschöpfung arbeiten.«
18,4 Velleität: kraftloser Wunsch.
18,11f. »Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit«:
Zitat aus dem Drama Fiorenza (GW VIII, S. 1060). Die
46 5. WORT- UND SACHERLÄUTERUNGEN

Formulierung geht ursprünglich auf Friedrich Nietzsches


Polemik Nietzsche contra Wagner zurück.
18,36f. libertinischen: liederlichen, ohne sittlichen Halt.
19,1 Puppenstande entwächst: In einem Aufsatz Thomas
Manns über den romantischen Dichter Adelbert von
Chamisso aus dem Jahre 1911 heißt es, Chamisso habe
sich beeilt, »dem problematischen Puppenstande zu ent-
wachsen […], wird als Meister verehrt. Nur ewige Bo-
hemiens finden das langweilig. Man kann nicht immer
interessant bleiben. Man geht an seiner Interessantheit
zugrunde oder man wird ein Meister« (GW IX, S. 57).
19,29 sein Kopf: Als Vorbild für Aschenbachs äußere Er-
scheinung diente Thomas Mann eine Zeitungsfotografie
von Gustav Mahler, die sich als Teil der Arbeitsnotizen
zur Novelle erhalten hat.
20,2f. physiognomische Durchbildung: Veränderung der
Gesichtszüge.
20,6 Repliken: Antworten, Gegenreden.
20,24 Pola: seinerzeit Hauptkriegshafen Österreich-Un-
garns, an der Westküste der Halbinsel Istrien gelegen und
wegen seiner römischen Altertümer ein beliebtes Tou-
ristenziel.
22,25 Portefeuilles: älterer Ausdruck für Aktenmappe.
22,30 Panama: geflochtener Hut mit breiter Krempe.
22,35 Karmesin: roter Farbstoff.
23,2 Fliege am Kinn: stutzerhafter kleiner Bart.
24,11 Kollation: leichte Zwischenmahlzeit.
24,15 pokulierten: zechten, sich betranken.
24,35 die Bäderinsel: der Lido bei Venedig, wo Aschenbach
Quartier nehmen wird.
24,36 Port: Hafen.
25,9 Asti: italienischer Schaumwein.
5. WORT- UND SACHERLÄUTERUNGEN 47

25,10 Bersaglieri: Infanteristen des italienischen Heeres.


25,34 des Palastes: des Dogenpalastes.
25,36 des Märchentempels: der Markuskirche.
26,20 Abschiedshonneurs: Ehrenbezeigungen.
26,22f. Au revoir, excusez und bonjour: (frz.) auf Wie-
dersehen, Verzeihung und Guten Tag!
27,16 Scirocco: trockener warmer, dem Föhn vergleichba-
rer Wind in den Mittelmeerländern.
28,23 Vaporetto: kleines Dampfschiff.
29,28 Aides: altertümliche Form für Hades, das Totenreich
der griechischen Mythologie.
30,4 Munizipalbeamte: städtische Beamte.
30,22 das Bäder-Hotel: Gemeint ist das nach wie vor exi-
stierende »Grand-Hotel de Bains«.
32,12 Bonnen: Kindermädchen.
33,7 Dornauszieher: antike Statuette eines anmutig sitzen-
den Knaben, der sich einen Dorn aus der Sohle des linken
Fußes entfernt.
36,7 Phäake: Dem müßiggängerischen Volk der Phä-
aken begegnet Odysseus auf seiner Heimfahrt nach
Ithaka.
36,11 »Oft … Ruhe«: Odyssee, VIII, 249.
36,35 Eros: griechischer Gott des Liebesverlangens.
parischen: von der griechischen Insel Paros.
37,23 Capannen: Strandhütten.
40,6 rote Masche: veralteter, im Österreichischen geläu-
figer Ausdruck für eine krawattenartige »Schleife«.
40,23–25 »Dir aber rat ich, Kritobulos … Genesung«:
Zitat aus den Memorabilien des Sokrates von Xenophon
(1. Buch, 3. Kapitel). Sokrates rät Kritobulos, der den
Sohn des Alkibiades geküsst hat, zu der Reise, um die
»Wunde« des Kusses verheilen zu lassen.
48 5. WORT- UND SACHERLÄUTERUNGEN

40,25 vollreife Erdbeeren: Symbol erotischer Verheißung.


Durch den Genuss überreifer Erdbeeren infiziert sich
Aschenbach schließlich mit der Cholera (83,17f.).
41,32 der die Schönheit hat: vgl. Platon, Phaidros 251E.
42,6 Nobilitierung: Verleihung des Adels.
45,32 Piazetta: (ital.) der kleine Platz.
45,34f. Rialto: die Rialto-Brücke.
46,27 Unterdessen nähert: Hier wie an anderen Stellen
fällt der Erzähler ins Präsens, um die unmittelbare Dra-
matik der Situation zu verdeutlichen.
47,4 Bagage: Gepäck.
47,16 Suade: Redeschwall.
48,7 automobiler Omnibus: Omnibusse waren seinerzeit
noch überwiegend Pferdewagen.
48,16f. »Pas de chance, monsieur«: (frz.) »Kein Glück,
mein Herr«.
49,19 Pontos: das Mittelmeer.
50,29ff. Dann schien es ihm wohl …: abgewandeltes Zitat
aus der Odyssee (IV, 563–568).
53,20ff. Stand nicht geschrieben …: Die Passage para-
phrasiert Plutarch, Erotikos 765A.
53,36 Sonnenglast: Sonnenglanz, übermäßige Sonnenein-
strahlung.
54,1–36 reizendes Bild …: vgl. Platon, Phaidros 230B und
Symposion (Gastmahl), 180A.
54,4 Acheloos: Flussgott in der griechischen Mythologie.
54,28 Semele: sterbliche Geliebte des Zeus.
55,6–8 Zwar liebt Eros … geschaffen: vgl. Plutarch, Ero-
tikos 757A.
55,20 den troischen Hirten: Ganymed.
57,4–8 »Bestürzt … drückt …«: Zitat aus Plutarch, Ero-
tikos 762F.
5. WORT- UND SACHERLÄUTERUNGEN 49

58,2 Eos: Göttin der Morgenröte in der griechischen My-


thologie.
58,6f. Kleitos … Kephalos … Orion: von Eos geraubte
und verführte Jünglinge in der griechischen Mythologie.
58,8 Rosenstreuen: Eos trägt den Beinamen »die Rosen-
fingrige«.
58,10 Amoretten: geflügelte Kindergestalten, die Eros be-
gleiten.
58,16 des Bruders heilige Renner: die Pferde vor dem Wa-
gen des Sonnengottes Helios.
58,32f. Rosse Poseidons … Stiere: mythologische Bilder
für unterschiedlichen Wellengang. Poseidon ist der Mee-
resgott in der griechischen Mythologie.
58,33 dem Bläulichgelockten: stehendes Attribut des Po-
seidon in der Odyssee.
59,5 Hyakinthos: Figur der griechischen Mythologie; ein
sterblicher Jüngling, der von den Göttern Apoll und Ze-
phyr zugleich geliebt wird.
59,8 Kithara: Saiteninstrument aus der Zeit der griechi-
schen Antike.
61,4 Narziß: Figur der griechischen Mythologie; Jüngling,
der sich in sein Spiegelbild verliebt.
61,30 Frequenz: Frequentierung, Gästezahl.
62,9 Manie: Über die umgangssprachliche Verwendung
hinaus bezeichnet das Wort in der griechischen Antike
einen »Zustand der Überwältigung des selbstbewußten
Geistes, der Besessenheit durch fremde Gewalten«, wie
Thomas Mann in einer Arbeitsnotiz festhielt.
62,16 offizinellen: arzneilichen.
62,22 Erkrankungen des gastrischen Systems: Magen-
Darm-Erkrankungen.
65,27f. die Kunst … buhlerisch einlullen: Anspielung auf
50 5. WORT- UND SACHERLÄUTERUNGEN

Richard Wagner, der 1858 in Venedig den zweiten Akt


von Tristan und Isolde beendete und 1883 dort starb.
66,5–10 wie es … zu werden: vgl. Plutarch, Erotikos 759B.
66,35–67,9 als sei der Eros … noch Lob dafür: vgl. Plu-
tarch, Erotikos 761A.
67,26 welschen: romanischen, meist abschätzig gemeint.
68,25 quinkelierende: zwitschernde.
68,29 falsettierenden: mit der Kopfstimme singenden.
68,33 Bariton-Buffo: männlicher Sänger in mittlerer
Stimmlage, das komische Fach bedienend.
69,7 Granatapfelsaft: Todessymbol innerhalb der griechi-
schen Mythologie (Persephone).
71,7 Karbolgeruchs: Karbol bzw. Phenol war seinerzeit ein
gängiges Desinfektionsmittel.
74,17 Clerk: Angestellter.
74,36 mephitischen Odem: üblen Gestank.
75,16 Vibrionen: Erreger, Bakterien.
75,33f. Tenazität: Hartnäckigkeit.
76,10 Ospedale civico: (ital.) Bürgerhospital.
82,16 Windgeister: in Analogie zu den Harpyien in der
griechischen Mythologie vogelartige Wesen, die Speisen
verderben wie die Choleraerreger die Erdbeeren, durch
die Aschenbach sich anstecken wird.
84,7ff. »Denn die Schönheit, Phaidros …«: Die Passage
übernimmt Motive aus Platons Phaidros 250D.
85,35f. photographischer Apparat … dreibeinigen Sta-
tiv: möglicherweise Anspielung auf den Dreifuß des Ora-
kels von Delphi, das von Priesterinnen des Apoll gehütet
wurde; dieses apollinische Orakel ist nun verwaist, nach-
dem sich Aschenbach dem Dionysos zugewandt hat.
87,20 Psychagog: Beiname des Hermes: Seelengeleiter ins
Totenreich.
6. Interpretation

Der Tod in Venedig ist ein stark autobiografisch gepräg-


tes Werk. Das zeigen die Entstehungsgeschichte (vgl.
oben S. 5–8), Thomas Manns Selbstaussagen zu der No-
velle und zahlreiche, schon für die Zeitgenossen durch-
sichtige und in den ersten Rezensionen vermerkte Be-
züge, die Thomas Mann zwischen seinem eigenen Leben
und Werk und dem Gustav von Aschenbachs herstellt.
Das zweite Kapitel, das Aschenbach zusammenfassend
charakterisiert, kann ohne große Abstriche als Selbstaus-
kunft Thomas Manns gelesen werden.
Die nähere Untersuchung dieser engen autobiografi-
schen Bezüge bildet die Voraussetzung für ein vertief-
tes Verständnis der Novelle und geschieht hier in drei
Schritten:
Im ersten Schritt zeigt sich, wie Thomas Mann in einer
psychoanalytischen Schrift Sigmund Freuds das Deu-
tungsmuster für seine eigenen Urlaubserlebnisse findet.
Im zweiten Schritt wird deutlich, dass Thomas Mann sich
im Tod in Venedig mit seinem eigenen Versuch einer
künstlerischen Umorientierung auf die »Neuklassik« hin
kritisch auseinander setzt, die damals innerhalb des Lite-
raturbetriebs propagiert wurde.
Im dritten Schritt wird erläutert, warum Thomas Mann
im Tod in Venedig erstmals in seinem Werk explizit auf
antike Philosophie und Mythologie zurückgreift. Sie
wird als künstlerisches Mittel zur Instrumentierung der
Tiefenschicht des Erzählten eingesetzt und tritt in dieser
Hinsicht die Nachfolge der einfacheren, an Richard Wag-
ners Musik geschulten Technik des Leitmotivs an. Sie
52 6. INTERPRETATION

dient ferner der festlichen Erhöhung des Erlebnisses und


der Erzählung und bietet gleichzeitig die durch Nietz-
sches psychologische Entlarvungskunst vermittelte Mög-
lichkeit, mit überlegener Ironie und gleichzeitig auf
diskrete Weise die Selbsttäuschung Aschenbachs, des-
sen durchsichtige Rationalisierung seines Triebwunsches,
zu illustrieren.

1. Autobiografisches Motiv und Zeitströmung 1:


Psychoanalyse
Dass Thomas Mann sein heikles Urlaubserlebnis – die Be-
rückung durch den polnischen Knaben, deren Gefühls-
intensität sich durch seine seit dem Jugendalter bestehen-
den, nie ausgelebten homoerotischen Neigungen erklärt –
schriftstellerisch gestalten konnte, verdankt er mit hoher
Wahrscheinlichkeit der Lektüre von Sig-
Wilhelm Jensens mund Freuds 1907 erschienener Schrift Der
Gradiva-Novelle Wahn und die Träume in W. Jensens »Gra-
diva«. Manfred Dierks hat das überzeugend
nachgewiesen.
Thomas Mann selbst hat nur einmal an entlegener Stelle,
1925 in einem Interview mit der italienischen Zeitung La
Stampa, auf diesen Umstand hingewiesen. In dem Gespräch
äußert Thomas Mann, dass »mindestens eine« seiner Arbei-
ten, »die Novelle Der Tod in Venedig, unter
Thomas Manns dem unmittelbaren Einfluss Freuds entstan-
Freud-Lektüre den« sei (nach Dierks 1990, S. 242). Dieser
»unmittelbare Einfluss« muss von Freuds
Gradiva-Analyse herrühren, die Thomas Mann vermutlich
1911 gelesen hat.
Wilhelm Jensen, der, 1837 geboren, wie Thomas Mann in
6. INTERPRETATION 53

Lübeck zur Schule gegangen war und seit 1888 in München


gelebt hatte, starb im November 1911. Seine 1903 veröffent-
lichte Novelle Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück
handelt von einem jungen, nur für die Wissenschaft leben-
den Archäologen, der sich in eine auf einem antiken Re-
lief dargestellte Frau verliebt und als Folge davon in eine
unüberwindliche Arbeitshemmung gerät. Getrieben von
einem unklaren Verlangen reist er nach Italien und dort
schließlich nach Pompeji, das er bereits zu Hause im Traum
gesehen hat. In Pompeji meint er die Gradiva zu entdecken
und damit gefunden zu haben, was ihn unbewusst in die
Ruinen der im Jahre 79 nach Christus von einem Aschen-
regen verschütteten Stadt getrieben hatte. Er folgt der Er-
scheinung, macht ihre Bekanntschaft, verliebt sich in sie.
Am Ende stellt sich heraus, dass es sich bei der Frau, in der
er die Gradiva zu erkennen geglaubt hat, um seine Kinder-
liebe handelt, die er vergessen hatte und die ihn, indem sie
anfangs die Rolle der Gradiva spielt, behutsam aus seiner
wahnhaften Fixierung auf ein Kunstwerk löst.
Freud hat diese Novelle nach den psychoanalytischen Re-
geln seines frühen Hauptwerks, der Traumdeutung von
1900, interpretiert. Unter der Hand gibt er dabei eine Ein-
führung in wesentliche Bereiche seiner Theorie: die Trieb-
lehre mit ihrer Einsicht in den Mechanismus der Verdrän-
gung und der Wiederkehr des Verdrängten; sowie die
Traumarbeit, in der der Unterschied zwischen manifestem
und latentem Trauminhalt (einerseits das, was man träumt,
andererseits das, was damit zum Ausdruck gebracht bzw.
verarbeitet werden soll) und daneben die Traumentstellung
(wie und warum das, was der Traum wirklich meint, umge-
formt wird) eine besondere Rolle spielen. Kernpunkt von
Freuds Deutung der Gradiva-Novelle ist der Hinweis dar-
54 6. INTERPRETATION

auf, dass Hanold, der junge Archäologe, seine erotischen


Gefühle, die seit seiner Kindheit an seine erste frühe Liebe
gebunden sind, verdrängt hat und dass »die Erweckung der
verdrängten Erotik gerade aus dem Kreise der zur Verdrän-
gung dienenden Mittel erfolgt« (Freud, Gradiva, S. 48). Die
Verdrängung und die Wiederkehr des Verdrängten ist für
Freud durch den entscheidenden Schauplatz der Novelle,
die beim Ausbruch des Vesuvs verschüttete antike Stadt
Pompeji, dichterisch überzeugend symbolisiert.
Sowohl Elemente der Gradiva-Novelle wie auch Aspek-
te ihrer Deutung durch Freud haben Thomas Mann bei der
Komposition seiner Novelle geholfen. Das belegen zahlrei-
che fast wörtliche Anleihen aus der Novelle bzw. aus Freuds
Nacherzählung. Hier können nur einige besonders interes-
sante Parallelen angeführt werden:
Wie Jensens Hanold leidet Aschenbach zu Beginn der
Handlung unter einer Arbeitshemmung. Beide fühlen sich
»überreizt«, werden ihrer Wissenschaft bzw. Kunst »nicht
[mehr] froh« und stellen sich die Frage, ob sich nun die »ge-
knechtete Empfindung« (Thomas Mann) bzw. die »unter-
drückte seelische Regung« (Sigmund Freud über Gradiva)
rächt, indem sie sich weigert, die »Hemmung« (Freud wie
Mann) zu durchbrechen. In dieser seelischen Not erzeu-
gen die »Einbildungskraft« Aschenbachs bzw. die »Vorstel-
lungskraft« Hanolds (Freud) eine Vision, einen Tagtraum,
der das Ziel ihrer unbewussten Sehnsüchte zur Anschauung
bringt (Mann: »schuf sich ein Beispiel für alle Wunder und
Schrecken«, 10; Freud: »erschuf ihm, unter Beihilfe seiner
Altertumskenntnisse, den Anblick«).
Die Botschaft dieser Visionen bleibt beiden Protagonisten
jedoch zunächst verborgen. Sie empfinden »ein jugendlich
durstiges Verlangen in die Ferne«, »Sehnsucht ins Ferne und
6. INTERPRETATION 55

Neue« (Mann) bzw. »Verlangen in die sonnige Weite […]


Sehnsucht nach der Freiheit, der Ferne« (Jensen). Freud
spricht mit Blick auf Hanold von einem »Fluchtversuch«
und Thomas Mann überlässt seiner Hauptfigur diese Ein-
sicht als Selbsterkenntnis: »Fluchtdrang war sie [die An-
fechtung], daß er es sich eingestand« (11). Beide Protago-
nisten geben diesem Fluchtdrang nach. Aschenbach reist
mit dem »Nachtzug«, Hanold gar mit dem »Nachtschnell-
zug«.
Erstaunlicherweise ist sogar der auf Thomas Manns eige-
ne Reiseerlebnisse zurückgehende Umstand, dass der Rei-
sende den Ort seiner Bestimmung zunächst verfehlt, in der
Gradiva-Novelle vorgebildet. Freuds Deutung dieses Um-
wegs dient Thomas Mann als Modell für die kompositionel-
le Funktion der Episode: Beide Protagonisten werden sich
darüber klar, dass sie ein, wenn auch ihnen noch unbekann-
tes, Ziel ansteuern. (Bei Thomas Mann ist von »Bewußtsein
gewinnen« und Aschenbachs »Zug seines Innern« die Rede,
während Freud mit Blick auf Hanold von »Bewußtwerden«
und einem »Antrieb in seinem Innern« spricht.)
Auf seiner Reise durch Italien begegnen Hanold immer
wieder Hochzeitsreisende, die er, in unbewusster Abwehr
der in ihm arbeitenden »Liebessehnsucht« (Freud), höh-
nisch summarisch als »August und Grete« apostrophiert.
Diese Figurenreihe und ihre Deutung durch Freud mögen
Thomas Mann auf die Idee gebracht haben, aus den merk-
würdigen Gestalten im Tod in Venedig, denen er nach eige-
ner Auskunft vor und auf seiner Reise selbst begegnet ist
(dem Wanderer am Friedhof, dem falschen Jüngling auf dem
Schiff, dem Gondolier, dem Straßensänger), eine Figurenrei-
he mit vergleichbarer Funktion innerhalb der Novelle zu
machen. Allen vieren gemeinsam ist ihre Aggressivität, ihre
56 6. INTERPRETATION

Tendenz, Aschenbach nahe zu treten und seinen Willen zu


lähmen. Sie verkörpern aus solcher Perspektive den Trieb-
anspruch, das Andrängen des sexuellen Verlangens (der
stark ausgebildete Adamsapfel, der bei der Beschreibung der
Figuren jeweils besonders hervorgehoben wird, ist im
Volksglauben von alters her ein Merkmal starker Sexualität),
und, da es sich um ein unmögliches Begehren handelt, in
letzter Konsequenz den Tod.
So wie in der Gradiva-Novelle die Archäologie, der sich
Hanold in Kompensation seines verdrängten Liebes-
lebens restlos hingegeben hat, zum Auslöser seiner Kri-
se wird, so verfällt Aschenbach Tadzio aufgrund seines
übersteigerten Schönheitssinns, der Entsprechung seines
Verlangens nach Einfachheit und Klassizität, welche ihn
von der psychologischen Hellsicht, der Einsicht in die
Abgründigkeit des eigenen Seelenlebens, in seine verbote-
nen Wünsche, befreien sollte. Während diese Lösung ei-
ner Verdrängung jedoch in der Gradiva-Novelle Ha-
nolds Rettung aus seiner Isolation bewirkt, führt sie
Aschenbach in die Ausweglosigkeit, in die Entwürdi-
gung, in den Tod.
In autobiografischer Hinsicht ist damit der verborgenen
Sehnsucht, homoerotische Gefühle auszuleben, der Bo-
den entzogen. Diese Sehnsucht darf sich nicht erfüllen.
Sie fließt in die Produktion und äußert sich in Werken,
die immer neu von ihr erzählen und sie damit bewahren,
ohne dies offen preiszugeben.
6. INTERPRETATION 57

2. Autobiografisches Motiv und Zeitströmung 2:


Neuklassik

Thomas Mann hat seine Werke und, umfassender, seine geis-


tige Existenz in zahlreichen Selbstaussagen kommentiert,
um so der Beurteilung seines Künstlertums durch Dritte
den Weg zu weisen. Durchgängig ist dabei die Tendenz, sich
zugleich als Einzelgänger und als Repräsentanten zu schil-
dern. Als Einzelgänger behauptet er, »nie modisch« gewesen
zu sein, nie einer gerade einflussreichen literarischen »Schu-
le« angehört zu haben (so in der Rede Meine Zeit aus dem
Jahre 1950). Als Repräsentant nimmt er für sich in An-
spruch, dennoch und in besonderer Weise den geistigen
Nerv seiner Zeit zu treffen. Für diese Selbstcharakterisie-
rung Thomas Manns hat Hans Rudolf Vaget die paradoxe
Formel »einzelgängerische Repräsentativität« gefunden.
Auch Aschenbachs Künstlertum im Tod in Venedig ist
wesentlich durch diese beiden Merkmale bestimmt. Früh
einem breiten Publikum bekannt, hat er nur wenig später
gelernt, »von seinem Schreibtische aus zu repräsentieren«
(13). Auch der geheime Grund seines Repräsentantentums
wird erklärt. Er liegt im Heroismus der Schwäche, der ihn
mit seiner Leserschaft verbindet (15–17). Sein Einzelgänger-
tum dagegen ist in den Bedingungen seines Heranwachsens
angelegt (vgl. 14) und spricht darüber hinaus aus allem, was
der Leser über ihn erfährt.
Auch Aschenbachs Abwendung vom »unanständigen
Psychologismus der Zeit« (17f.), seine geis-
tige »Wiedergeburt«, die seinen Werken ein Thomas Manns
»gewolltes Gepräge der Meisterlichkeit und Annäherung an
Klassizität« verleiht (18), erscheint als sein die »Neuklassik«
persönlicher, gegen die Tendenzen der Zeit
58 6. INTERPRETATION

gefasster Entschluss. Jedoch zeigt sich, dass Aschenbach


auch in diesem Punkt künstlerische Positionen Thomas
Manns vertritt, die sich dieser unter dem Einfluss der theo-
retischen Diskussion um eine neue Klassizität angeeignet
hat. Ohne die Debatte um die Neuklassik, die etwa in
die Jahre zwischen 1905 und 1912 fiel, wäre der Tod in
Venedig in entscheidenden Zügen ein anderes Werk ge-
worden.
Eine Neuklassik wurde erstmals 1905 von Paul Ernst in
einer Aufsatzsammlung mit dem programmatischen Titel
Der Weg zur Form propagiert. Kernforderungen waren die
Abkehr von der neuromantischen Psychologie und die
Rückkehr zur Tradition, zu formaler Strenge und asketi-
scher Gesinnung. Insgesamt zielte das Programm auf eine
ethische Erneuerung, die Leo Greiner, ein Bekannter Paul
Ernsts, auf die Formel brachte: »Sittlichkeit erzeugt Form,
Form wieder Sittlichkeit.« Der Tod in Venedig greift diese
Gleichung auf, erweist sie allerdings durch seinen Hand-
lungsverlauf als Illusion. »Aber Form und Unbefangenheit,
Phaidros«, muss sich Aschenbach schließlich eingestehen,
»führen zum Rausch und zur Begierde […], führen zum
Abgrund, zum Abgrund auch sie« (85).
Warum übernahm Thomas Mann überhaupt Positionen
der Neuklassik in seine Novelle, um sie dort zu widerlegen?
Der Grund ist, dass er nach seiner Eheschließung 1905, in
einer Phase der künstlerischen Neuorientierung, ernsthaft
mit diesen Positionen gespielt hatte, um seinem Schaffen
neuen Halt zu geben. Das zeigen unter anderem die Ar-
beitsnotizen zu der geplanten großen Abhandlung Geist
und Kunst, einem von mehreren ungeschriebenen Wer-
ken, die Thomas Mann im Tod in Venedig Gustav von
Aschenbach zuschreibt (13).
6. INTERPRETATION 59

Was Thomas Manns künstlerische Neuorientierung an-


geht, so stehen die Jahre vor 1911 im Zeichen einer kri-
tischen Auseinandersetzung mit Richard Wagner, dem
Leitstern der ersten Schaffenszeit, und einer
Annäherung an das künstlerische und per- Orientierung
sönliche Vorbild Goethes. Das wichtigste an Goethe
Dokument der Wagner-Krise ist eben der
kleine Aufsatz Auseinandersetzung mit Richard Wagner,
der während des Venedig-Aufenthaltes am Strand entstan-
den war und der in der Novelle, umgedeutet in »jene
anderthalb Seiten erlesener Prosa« Aschenbachs, eine so
zentrale wie, aufgrund seiner Entstehungsbedingungen,
zweifelhafte Rolle spielt (55). In Thomas Manns Aufsatz
heißt es:
»Denke ich aber an das Meisterwerk des zwanzigsten
Jahrhunderts, so schwebt mir etwas vor, was sich von dem
Wagner’schen sehr wesentlich und, wie ich glaube, vorteil-
haft unterscheidet, – irgend etwas ausnehmend Logisches,
Formvolles und Klares, etwas zugleich Strenges und Hei-
teres, von nicht geringerer Willensspannung als jenes, aber
kühlerer, vornehmerer und selbst gesunderer Geistigkeit,
etwas, das seine Größe nicht im Barock-Kolossalischen und
seine Schönheit nicht im Rausche sucht, – eine neue Klas-
sizität, dünkt mich, muß kommen« (GW X, S. 842).
Vorbild für diese neue, sich von der »Neuklassik« un-
terscheidende Klassizität ist Goethe, dessen Roman Die
Wahlverwandtschaften Thomas Mann während der Ar-
beit am Tod in Venedig fünf Mal gelesen haben will, weil
er dort ein »Gleichgewicht von Sinnlichkeit und Sittlich-
keit […] ideal vollendet« vorgefunden habe, das er selbst
für den Tod in Venedig angestrebt hat (Brief an Carl Maria
Weber vom 4. Juli 1920).
60 6. INTERPRETATION

Das Studium von Goethes Faust II, der umfassendsten


Neubelebung des griechischen Mythos in der deutschen Li-
teratur, regte Thomas Mann darüber hinaus dazu an, im Tod
in Venedig antike Philosophie und Mythologie zu verarbei-
ten, um dem Text dadurch einen weiteren Verweisungszu-
sammenhang und eine aufs allgemein Menschliche zielende
Bedeutungsebene hinzuzufügen: Aschenbachs Schicksal ist
damit mehr als nur ein individueller Fall. Es wird zum
Gleichnis der menschlichen Existenz, insofern Aschenbach,
der seine Erlebnisse in den antiken Erzählungen von Göt-
tern und Sterblichen wiederzuerkennen meint, in vorge-
zeichneten Bahnen wandelt, einem Muster folgt. Diese Vor-
stellung bildet die Grundlage für Thomas Manns Mythos-
Konzeption und ist in der »Klassischen Walpurgisnacht« in
Faust II formuliert, wo Thomas Mann sich in seiner Aus-
gabe folgende Verse unterstrichen hat: »Wie oft schon wie-
derholt’ sich’s! wird sich immerfort / Ins Ewige wieder-
holen … […]« (V. 7012f.).
Neben dieser Mythos-Konzeption fand Thomas Mann
im Faust II auch seine später oft verwendete »Lieblingsgott-
heit« Hermes (vgl. Thomas Manns Brief an Karl Kerényi
vom 24. März 1934), und zwar in seiner Funktion als
Psychagog zum Totenreich, in der er im Tod in Venedig ein-
geführt ist: »Alles deckte sich schon / Rings mit Nebel um-
her. / […] Schwebt nicht etwa gar / Hermes voran? Blinkt
nicht der goldne Stab / Heischend, gebietend uns wieder
zurück / Zu dem unerfreulichen […] / […] ewig leeren
Hades?« (V. 9110-21). Die Parallelen zum Schlussbild der
Novelle sind greifbar.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Im Zuge der Aus-
einandersetzung mit der Neuklassik löste sich Thomas
Mann aus dem künstlerischen Einfluss Richard Wagners
6. INTERPRETATION 61

(der ihn dennoch niemals zu faszinieren aufhörte) und


begann sich an Goethe zu orientieren. Goethe vermittel-
te ein Ideal künstlerischer Ausgeglichenheit (Die Wahl-
verwandtschaften) und eine Möglichkeit, das Wagner’-
sche Leitmotiv durch die Konzeption des Mythos als
Wiederholung zeitloser Menschheitserfahrungen abzulö-
sen und dem Erzählten damit auf neue, heiter-strenge
Weise Gewicht zu verleihen. Die Neuklassik selbst hatte
ausgedient und blieb, in ihrer zweifelhaften Einseitigkeit
bloßgestellt, am Wege.

3. Die »Idee der Heimsuchung«:


Mythisches Erzählen

1936 hat Thomas Mann in seiner Rede Freud und die Zu-
kunft, die er im Rahmen der Feierlichkeiten zu Sigmund
Freuds 80. Geburtstag in Wien hielt, erklärt, »als Erzähler
den Schritt vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-
Typischen getan« zu haben, wodurch sein zuvor »heim-
liches Verhältnis« zur Psychoanalyse nun of-
fen zu Tage getreten sei. Denn das »mythi- Psychoanalyse
sche Interesse« sei »der Psychoanalyse genau und Mythologie
so eingeboren, wie allem Dichtertum das
psychologische Interesse eingeboren ist«. Schließlich seien
die »Urgründe der Menschenseele«, die die Psychoanalyse
erforscht, nicht nur in den frühen, prägenden Erfahrungen
des Einzelnen zu suchen, sondern ebenso in denen der Gat-
tung, von denen der Mythos erzählt. Der Mythos eröffnet
für Thomas Mann demnach den »Blick für die höhere
Wahrheit, die sich im Wirklichen darstellt, das lächelnde
Wissen vom Ewigen, Immerseienden, Gültigen, vom Sche-
62 6. INTERPRETATION

ma, in dem und nach dem das vermeintlich ganz Individuel-


le lebt, nicht ahnend in dem naiven Dünkel seiner Erst- und
Einmaligkeit, wie sehr sein Leben Formel und Wiederho-
lung, ein Wandeln in tief ausgetretenen Spuren ist«.
Dieses Wandeln in Spuren verleiht dem Einzelnen, Tho-
mas Mann zufolge, eine »mythische Würde«, die »dem Un-
bewußten entstammt« und mehr ist als der »naive Dünkel«,
der auf einer vermeintlichen Einmaligkeit gründet. Man
kann wohl auch sagen: Dieses Wandeln in Spuren verleiht
dem Einzelnen eine tragische Größe, weil er ein überindivi-
duelles Schicksal erleidet, das vorgezeichnet ist und größer
als er und in das er verstrickt ist, ohne es zu durchschauen.
Entsprechend merkt Thomas Mann in seiner Rede an,
dass »der mythisch orientierte Erzähler auf die Erscheinun-
gen« einen »ironisch überlegene[n] Blick« richtet; »denn die
mythische Erkenntnis hat hier ihren Ort nur im Anschau-
enden, nicht im Angeschauten« (GW IX, S. 493f.).
In diesem Satz liegt die Erklärung für die erzählerische
Ironie im Tod in Venedig: Weil Aschenbach sein eigentliches
Schicksal nicht begreift und nicht wahrhaben
Erzählerische will, weil er es nicht überblickt, trifft ihn
Ironie die Ironie des Erzählers. Doch diese Ironie
ist nicht gehässig. Sie ist getragen von über-
legenem Verständnis für die menschliche Unfähigkeit zur
Selbsterkenntnis.
Aschenbachs Schicksal ist die Erfahrung, die Thomas
Mann in seinem Vortrag On Myself als das Grundmotiv sei-
nes künstlerischen Schaffens überhaupt bezeichnet hat:
»Auf das durchgehende, mein Gesamtwerk gewisser-
maßen zusammenhaltende Grund-Motiv aber, das die Ge-
schichte vom kleinen Herrn Friedemann zuerst anschlägt,
habe ich viele Jahrzehnte später, in dem ägyptischen Buche
6. INTERPRETATION 63

meiner Josephsgeschichte einmal hingewiesen: ›[…] es ist


die Idee der Heimsuchung, des Einbruchs trunken zer-
störender und vernichtender Mächte in ein gefaßtes und mit
allen seinen Hoffnungen auf Würde und ein bedingtes
Glück der Fassung verschworenes Leben. Das Lied vom er-
rungenen, scheinbar gesicherten Frieden und des den treuen
Kunstbau lachend hinfegenden Lebens; von Meisterschaft
und Überwältigung, vom Kommen des fremden Gottes war
im Anfang, wie es in der Mitte war. Und in einer Lebens-
späte, die sich im menschheitlich Frühen sympathisch er-
geht, finden wir uns zum Zeichen der Einheit abermals zu
jener alten Teilnahme angehalten.‹
Im Anfang, wie in der Mitte: Vom Kleinen Herrn Friede-
mann zum Tod in Venedig, der viel späteren Erzählung vom
Kommen des ›fremden Gottes‹ spannt sich der Bogen: und
was ist die Leidenschaft von Potiphars Frau für den jungen
Fremdling [Joseph] anderes als abermals der Einsturz, der
Zusammenbruch einer mühsam, aus Einsicht und Verzicht
gewonnenen hochkultivierten Haltung: die Niederlage der
Zivilisation, der heulende Triumph der unterdrückten
Triebwelt –« (GW XIII, S. 135f.).
Diese Idee der Heimsuchung, die Furcht vor ihr und zu-
gleich die Faszination, die mit ihr verbunden
ist, ist ein allgemein menschliches, eine my- Die Idee der
thisches Urerlebnis, das in einer bestimmten Heimsuchung
individuellen Ausprägung zum Grundthema
von Thomas Manns Leben und Schaffen wurde: die aus sei-
ner Sicht nicht zu verwirklichende Liebe, die homoerotische
Neigung, unterdrückt und in Sehnsucht verwandelt (im Tod
in Venedig wird die Liebe geradezu als Sehnsucht definiert,
vgl. 59), welche im Werk produktiv verarbeitet und sub-
limiert wird. Auf diesen durchgängig autobiografischen,
64 6. INTERPRETATION

verborgen bekennerischen Grundzug seines literarischen


Schaffens hat Thomas Mann bereits im Alter von 21 Jahren
in einem Brief an den Jugendfreund Otto Grautoff hinge-
wiesen:
»Seit dem ›Kleinen Herrn Friedemann‹ vermag ich plötz-
lich die diskreten Formen und Masken zu finden, in denen
ich mit meinen Erlebnissen unter die Leute gehen kann.
Während ich ehemals, wollte ich mich auch nur mir selbst
mitteilen, eines heimlichen Tagebuchs bedurfte« (Brief vom
6. April 1897).
In der Erzählung Der kleine Herr Friedemann von 1897
geht es um einen buckligen, behinderten jun-
Der kleine Herr gen Mann, der aufgrund seiner Behinderung
Friedemann von früh an »gewöhnt« ist, »für sich zu ste-
hen und die Interessen der anderen nicht zu
teilen« (GW VIII, S. 79). Er richtet sich sein Leben maßvoll
und klug ein, »ohne große Affekte, aber erfüllt von einem
stillen und zarten Glück, das er sich zu schaffen wußte«
(GW VIII, S. 82). In diesen Schonraum bricht eine sinnlich-
herrische Frau ein, Gerda von Rinnlingen, die Johannes
Friedemanns verdrängtes Triebleben erweckt und ihn in
einen »Zustand von Schwindel, Trunkenheit, Sehnsucht und
Qual« versetzt (GW VIII, S. 90). Er ist »ganz in einem ab-
wesenden, exaltierten Zustand befangen« (GW VIII, S. 93)
und erklärt ihr schließlich berauscht seine Liebe. Wie nicht
anders zu erwarten, weist sie ihn ab, woraufhin er sich er-
tränkt.
Die Parallelen zwischen dieser frühen Erzählung und
dem Tod in Venedig sind augenfällig. Thomas Manns Be-
merkung, er habe mit dem Kleinen Herrn Friedemann »die
diskreten Formen und Masken« gefunden, in denen er mit
seinen Erlebnissen, seinem Gefühlsleben, unter die Leute
6. INTERPRETATION 65

gehen könne, bezieht sich dabei natürlich weniger auf den


Umstand, dass er hier nicht direkt von sich selbst erzählt,
sondern eine literarische Figur für sich einsetzt. Das ist noch
kein sonderlicher Kunstgriff. Wichtig ist vielmehr, dass er
gewissermaßen ein Muster, ein Strukturmodell gefunden
hatte, das ihm half, sein Gefühlsleben zu sortieren und er-
zählerisch abzubilden.
Dieses Modell geht auf Friedrich Nietzsches Konzeption
des Apollinischen und des Dionysischen in
seiner philosophischen Erstlingsschrift Die Das Apollinische
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Mu- und das
sik (1872) zurück. Apoll und Dionysos sind Dionysische
griechische Gottheiten. Während Nietzsche
Apoll als Gott des »schönen Scheins« und der maßvollen
Begrenzung charakterisiert, ist Dionysos der Gott des Rau-
sches, der die Grenzen der Individualität sprengt. Aus dem
»Bruderbund« von Apoll und Dionysos geht als eine »Mit-
telwelt zwischen Schönheit und Wahrheit« die griechische
Tragödie hervor.
Nietzsche zufolge entstand der Kult des Dionysos im
asiatischen Raum; er ist der Weithergekommene, der Frem-
de, der von einem trunkenen und orgiastischen Gefolge
angekündigt und begleitet wird. Im Tod in Venedig verwei-
sen sowohl das Fremdartige der vier ›Todesboten‹, denen
Aschenbach begegnet, wie auch die Dschungel- und Tiger-
vision zu Beginn, zudem der orientalische Einschlag Ve-
nedigs, ferner die aus Indien (wo der Tiger wohnt, vgl. 75)
eingewanderte todbringende Cholera und schließlich der
Traum, aus dem Aschenbach »zerrüttet und kraftlos dem
Dämon verfallen« erwacht (80), auf Dionysos. Dionysos
verwendet Thomas Mann gewissermaßen als Chiffre für
eine seelische Befindlichkeit, die durch Ekstase, Ich-Auf-
66 6. INTERPRETATION

lösung, Kollektiverfahrung, Rausch und Sexualität gekenn-


zeichnet ist, während das Apollinische für Selbstbeherr-
schung, kontrollierte Individualität, Isolation, Gesittung,
Askese und Schamgefühl steht. Darüber hinaus gehört die
Kultur, das Geformte und Begrenzte, das künstlerische
Werk (und hier vor allem die Plastik mit ihrer klaren Kon-
tur) zum Bereich des Apoll, während die Natur, das Unge-
formte und Zerfließende sowie in künstlerischer Hinsicht
besonders die in Selbstvergessenheit oder rauschhafte Eks-
tase versetzende Musik dionysisch sind. All diese Zuschrei-
bungen spielen im Tod in Venedig, wie leicht zu erkennen
ist, eine Rolle. Nicht von ungefähr nimmt Aschenbach,
der einseitig apollinische Künstler, Tadzio zunächst als
schönes Standbild wahr. Später, als er dem Knaben bereits
verfallen ist, bemerkt er, dass an Tadzios Name der »gezo-
gene[n] u-Ruf am Ende« auffällig ist, der »etwas zugleich
Süßes und Wildes hatte« (41). Dieser u-Laut kehrt im or-
giastischen Geheul der dionysischen Meute wieder, der
sich Aschenbach in seinem furchtbaren Traum am Ende an-
schließt (78).
Psychoanalytisch lässt sich dieser »Vorgang der Überwäl-
tigung einer apollinisch geformten Existenz durch die […]
dionysischen Mächte« als »die Wiederkehr des Verdräng-
ten«, und zwar des verdrängten Trieblebens, fassen (Dierks
in: Koopmann (Hrsg.), Thomas-Mann-Handbuch, S. 290).
Von daher ist es verständlich, dass sich Thomas Mann, der
seine literarischen Stoffe des Frühwerks nach dem Nietz-
sche’schen Modell der Polarität von Apollinischem und
Dionysischem anzulegen gewohnt war, Freuds psycho-
analytisches Modell, das dieser seiner Analyse der Gra-
diva-Novelle zugrunde gelegt hatte, ohne weiteres aneignen
konnte. Es war ihm nicht grundsätzlich neu.
6. INTERPRETATION 67

Im Übrigen beschränkt sich der Einfluss Nietzsches auf


den Tod in Venedig nicht auf die beiden Kon-
stitutionstypen des Apollinischen und des Weitere
Dionysischen. Auch die »Verdächtigung der Anregungen
Haltungsmoral des asketischen Ideals als le- durch Nietzsche
bensfeindlich aus Lebensschwäche« (Dierks
1972, S. 33), die sich sowohl gegen den kleinen Herrn Frie-
demann wie gegen den gefeierten Schriftsteller Gustav von
Aschenbach hegen lässt, hat Thomas Mann von Friedrich
Nietzsche übernommen, und zwar aus dessen Buch Zur Ge-
nealogie der Moral (1887).
Und schließlich geht Aschenbachs etwas gewaltsam her-
beigezwungenes »Wunder der wiedergeborenen Unbefan-
genheit« aus Ekel »gegen den unanständigen Psychologis-
mus der Zeit« (17f.) beinahe bis in den Wortlaut auf Nietz-
sches Argumentation in seiner polemischen Streitschrift
Nietzsche contra Wagner (1889) zurück, in der der einstige
Verehrer Wagners dessen Kunst als Krankheit denunzierte,
von der er genesen zu sein behauptete.
In unserem Zusammenhang der Ausbildung eines my-
thischen Erzählens bei Thomas Mann ist aber vor allem
der erstgenannte Einfluss wichtig. Apoll und Dionysos im
Nietzsche’schen Sinne sind bereits solche zeitlosen Modelle
menschlicher Möglichkeiten und Erfahrungen, wie sie nach
Thomas Mann dem mythischen Erzählen zugrunde liegen.
Während das Apollinische und das Dionysische in den
frühen Werken jedoch lediglich als Strukturmodell verwen-
det ist, wird die mythologische Erzählschicht im Tod in Ve-
nedig erstmals explizit und damit Teil der Textoberfläche.
»Besonders ein antikisierendes Kapitel scheint mir gelun-
gen«, schreibt Thomas Mann nicht ohne Stolz am 2. April
1912 an Heinrich Mann. Gemeint ist das vierte Kapitel der
68 6. INTERPRETATION

Novelle, das eine Reihe antiker philosophischer Texte und


Mythen in einer Weise paraphrasiert, die einem Leser, der
diese Anspielungen durchschaut, ein tieferes und ironische-
res Verständnis von Aschenbachs Schicksal eröffnen.
Allen diesen Anspielungen kann hier nicht nachgegangen
werden. Sie sind vielfach komplizierter Natur und setzen
umfangreichere Erläuterungen voraus. Zudem lässt sich auf
Thomas Manns briefliche Auskunft an Paul Ammann vom
10. September 1915 verweisen, in der er versichert, das »Bil-
dungs-Griechentum« im Tod in Venedig werde überbewer-
tet, es sei lediglich »Hilfsmittel und geis-
Mythologischer tige Zuflucht des Erlebenden« gewesen (nach
Anspielungs- Dierks 1972, S. 36). So genügt es an dieser
horizont Stelle, den mythologischen Anspielungsho-
rizont der Novelle anhand zweier Beispiele
exemplarisch zu erhellen.
Aschenbachs Hochgefühl nach der verunglückten Abrei-
se verdankt sich dem unverhofften Glück, das Objekt seiner
Liebe weiter beobachten zu können. Mit diesem Hochge-
fühl stimmt zusammen, dass nun auch das Wetter umschlägt
und eine lange Reihe strahlender Sonnentage anbricht. Die
Sonne, die eingangs des vierten Kapitels in mythologischer
Umkleidung (»lenkte Tag für Tag der Gott mit den hitzigen
Wangen nackend sein gluthauchendes Viergespann durch
die Räume des Himmels«, 49) und auch direkt immer wie-
der erwähnt wird, ist jedoch mehr als ein Planet. Sie ist, nach
Auffassung der alten Ägypter, ein Liebesgott. Das teilt der
griechische Geschichtsschreiber und Philosoph Plutarch
(ca. 46–120 n. Chr.) in seiner Schrift Über die Liebe mit,
welche Aschenbach am Strand, in den Anblick Tadzios ver-
sunken, in den Sinn kommt: »Das war der Rausch; und un-
bedenklich, ja gierig hieß der alternde Künstler ihn will-
6. INTERPRETATION 69

kommen. Sein Geist kreißte, seine Bildung geriet ins Wallen,


sein Gedächtnis warf uralte, seiner Jugend überlieferte und
bis dahin niemals von eigenem Feuer belebte Gedanken auf.
Stand nicht geschrieben, daß die Sonne unsere Aufmerk-
samkeit von den intellektuellen auf die sinnlichen Dinge
wendet? Sie betäube und bezaubere, hieß es, Verstand und
Gedächtnis dergestalt, daß die Seele vor Vergnügen ihres
eigentlichen Zustandes ganz vergesse und mit staunender
Bewunderung an dem schönsten der besonnten Gegenstän-
de hängen bleibe: ja, nur mit Hilfe eines Körpers vermöge
sie dann noch zu höherer Betrachtung sich zu erheben« (53).
Mit dieser höheren Betrachtung sind die nach dem Philo-
sophen Platon so genannten Platonischen Ideen gemeint,
die ewigen und unveränderlichen Urbilder der konkreten
Erscheinungen der Welt, in deren Erkenntnis das höchste
Glück und die höchste Weisheit des Menschen liegen soll.
Aschenbach, der sich hier, und noch über die zitierte Pas-
sage hinaus, tatsächlich recht wörtlich an Plutarchs Schrift
erinnert, möchte sich demnach dazu überreden, dass ihn,
den durch die Sonne in Liebe Entflammten, die Betrachtung
Tadzios auf den Weg höherer Erkenntnis leite. Tatsächlich
unterscheidet Plutarch aber zwischen sinnlicher und geis-
tiger Liebe, zwischen gemeinem und himmlischem Eros.
Nach Plutarch liebt der vom gemeinen Eros getriebene
Mensch »den Gegenstand, der ihn entzündet, wenn er zuge-
gen ist, und sehnt sich nach ihm, wenn er abwesend ist. Bei
Tage verfolgt er ihn ohne Unterlass, des Nachts wacht er vor
dessen Tür.« Genau dies erfüllt sich mit Beginn des fünften
Kapitels. Dort heißt es über den »Betörte[n]« (64): »ihn
trieb die Manie, den polnischen Geschwistern zu folgen«
(62). Und schließlich lässt sich der berauschte Liebhaber
»auch das Befremdlichste ohne Scheu und Erröten durchge-
70 6. INTERPRETATION

hen«, als er, »spät abends von Venedig heimkehrend, im


ersten Stock des Hotels an des Schönen Zimmertür Halt ge-
macht, seine Stirn in völliger Trunkenheit an die Angel der
Tür gelehnt und sich lange von dort nicht zu trennen ver-
mocht hatte, auf die Gefahr, in einer so wahnsinnigen Lage
ertappt und betroffen zu werden« (66). Auch ohne den Be-
zug auf Plutarch ist der Sinn dieser Stelle völlig klar. Durch-
schaut man jedoch den durch Plutarchs Schrift vermittelten
Zusammenhang zwischen Aschenbachs lange gehegter Illu-
sion, auch in der Liebe zu Tadzio geistige Ziele zu verfolgen
und seine Würde wahren zu können, und dieser natürlich
nicht zufällig so arrangierten Szene vor der Tür des Ange-
beteten, so vertieft sich sowohl die Tragik wie die bittere
Komik von Aschenbachs Selbsttäuschung.
Das zweite Beispiel, an dem der mythologische Bedeu-
tungshorizont der Novelle erläutert werden soll, sind die
verschiedenen der griechischen Mythologie entnommenen
Namen, mit denen Aschenbach Tadzio belegt. Am Morgen
nach ihrer ersten Begegnung fehlt Tadzio lange beim Früh-
stück. Lächelnd nennt Aschenbach den offenbar verzärtel-
ten Jungen einen »kleine[n] Phäake[n]« und zitiert für sich
den Vers: »Oft veränderten Schmuck und warme Bäder und
Ruhe« (36). Dieser Vers entstammt der Odyssee (VIII, 249)
und bezieht sich auf das verweichlichte Volk der Phäaken,
die in einer Art von Schlaraffenland leben, wo ihnen Odys-
seus auf seiner Irrfahrt begegnet. Bemerkenswert ist jedoch
Rolf Günter Renners Hinweis darauf, dass die Phäaken
nach einer Sagenvariante ebenso als Fährmänner des Todes
galten. Durch Aschenbachs Bildungszitat ist Tadzio dem-
nach bereits zu einem frühen Zeitpunkt in seiner Doppel-
rolle als Luxusgeschöpf und Todesgeleiter (Psychagog, vgl.
das Schlussbild der Novelle) eingeführt.
6. INTERPRETATION 71

Als Aschenbach am Strand seinen kleinen Aufsatz ver-


fasst, leitet ihn der Gedanke, Tadzios »Schönheit ins
Geistige zu tragen, wie der Adler einst den
troischen Hirten zum Äther trug« (55). Der Tadzio als
troische Hirtenknabe ist Ganymed, der dem Götterliebling
Mythos zufolge als der schönste Sterbliche
von den Göttern entführt und zum Mundschenk an
der olympischen Tafel gemacht wurde. Indem Aschenbach
Tadzio mit Ganymed vergleicht, beurkundet er gleichsam
dessen unvergleichliche Schönheit und hebt sich selbst in
die Position eines Gottes, der Tadzio zu sich heraufzieht,
ihn vergöttlicht und vergeistigt.
Später am Strand sieht Aschenbach Tadzio beim Ballspiel
zu »und Hyakinthos war es, den er zu sehen glaubte, und
der sterben mußte, weil zwei Götter ihn liebten« (59). Der
Mythos berichtet, dass Hyakinthos der schöne Liebling
Apollons war, der sich nur noch mit dem Schönen abgab
und seine Götterpflichten vergaß. Eifersüchtig lenkte Ze-
phyr, der Westwind, Apollons Diskusscheibe an den Kopf
des Hyakinthos und tötete ihn auf diese Weise. Im mythi-
schen Muster ist hier die tödliche Katastrophe angekündigt,
die die Selbstvergessenheit des apollinischen Menschen, der
liebt und begehrt, nach sich zieht. Auch die Einsicht, dass
diese Selbstvergessenheit nicht nur für den Liebenden
selbst, sondern auch für sein Liebesobjekt verhängnisvoll
wird, ist bereits im Mythos ausgedrückt. Dieser Aspekt
wird noch dadurch betont, dass Tadzio am Ende des vierten
Kapitels mit der in sich selbst verliebten und in ihrer Selbst-
befangenheit lebensunfähigen mythologischen Figur des
Narziss identifiziert wird (61).
Die Instrumentierung der Erzählung durch mythologi-
sche Muster verbindet den Oberflächentext der eigentli-
72 6. INTERPRETATION

chen Handlung mit einer Vielzahl von Subtexten, die die


Erzählung kommentieren (sofern sie sich den Lesern er-
schließen bzw. von ihnen erschlossen werden) und die ihr
einen allgemeingültigen Zug verleihen. Damit geht das
mythologische Erzählen über das leitmotivische Erzählen
hinaus, das sich im Wesentlichen darauf beschränkt, die
Erzählung rhythmisch durchzugestalten und bestimmte
Figuren, Situationen oder Handlungen mit wiederkeh-
renden Motiven zu verknüpfen, so wie im Musikdrama
Richard Wagners mithilfe wiederkehrender musikali-
scher Themen unterschwellig Bezüge zwischen verschie-
denen Momenten der Handlung hergestellt oder Figuren
charakterisiert werden. Auch im Tod in Venedig gibt es
solche Leitmotive; Beispiele sind der Tiger (10, 12, 75)
oder die geballte, dann geöffnete Hand bzw. die schließ-
lich im Schoß gefalteten Hände (14, 48f., 58).
Das mythologische Erzählen unterstreicht hingegen die
Gültigkeit des Erzählmodells über den ge-
Das Allgemein- schilderten individuellen Fall hinaus – hier
menschliche des Modells der Heimsuchung: der Überwäl-
tigung Apolls durch Dionysos bzw. der Wie-
derkehr des Verdrängten.
In diesem Sinne wohnt aller Literatur eine gewisse mythi-
sche Tendenz inne. Literaturfähig sind vor allem solche
Stoffe, die die menschliche Existenz im Kern angehen:
etwa Liebe, Kampf, Entsagung, Tod. Literatur ist indivi-
duell und exemplarisch zugleich. Diesen Grundzug ver-
stärkt Thomas Mann durch das bewusste Spiel mit my-
thologischen Überlieferungen.
7. Autor und Zeit

Paul Thomas Mann wurde am 6. Juni 1875 in Lübeck gebo-


ren. Sein Vater, der Konsul Thomas Johann
Heinrich Mann (1840–91), besaß eine Getrei- Herkunft und
dehandlung und war später auch Steuersena- Geschwister
tor der Stadt Lübeck. Thomas Manns Mutter,
Julia Mann (1851–1923), entstammte der deutsch-brasilia-
nischen Kaufmannsfamilie da Silva-Bruhns. Sie war schön,
musikalisch und von exotischer Ausstrahlung.
Thomas Mann hatte vier Geschwister. Sein älterer Bru-
der Heinrich (1871–1950) wurde ein produktiver Roman-
schriftsteller, dessen zahlreiche Werke aber bis auf wenige
die Zeit nicht überdauert haben. Thomas Mann verfolgte
das Schaffen seines älteren Bruders kritisch; und auch als er
Heinrich in der Gunst des Publikums und der Kritik längst
überflügelt hatte, vermochte er lange Zeit nicht, sich aus
der Gewohnheit des ständigen Vergleichs mit dem Bruder
zu lösen.
Weniger wichtig für Thomas Mann waren die jüngeren
Geschwister: Julia (1877–1927), lebensscheu und auf Vor-
nehmheit bedacht und darin ihrem Bruder Thomas ähnlich,
heiratete einen Münchner Bankier, mit dem sie in unglück-
licher Ehe lebte. Sie wurde morphiumabhängig und beging
1927 Selbstmord. Carla (1881–1910) fühlte sich wie Hein-
rich Mann zur Theaterwelt hingezogen, ohne als Schauspie-
lerin eine wirkliche Karriere zu machen. Im Begriff, eine
Ehe einzugehen und sich aus der Bühnensphäre zu lösen,
nahm sie sich 1910, durch eine Liebes- und Erpressungsge-
schichte in die Enge getrieben, das Leben. Das Schicksal der
beiden Schwestern hat Thomas Mann in dem Spätwerk
74 7. AUTOR UND ZEIT

Doktor Faustus (1947) nur wenig fiktionalisiert geschildert.


Das fünfte Geschwister war der Bruder Viktor (1890–1949).
Er blieb als Nachzügler ohne große Bedeutung für Thomas
Mann.
Thomas Mann war ein verträumtes, früh der Literatur
hingegebenes Kind, das die autoritäre Schule der wilhel-
minischen Gesellschaft verachtete und ent-
Schulzeit sprechend dort nicht reüssierte. Er blieb drei
Mal, in der achten, neunten und elften Klas-
se, sitzen und verließ das Gymnasium 1894 mit fast neun-
zehn Jahren ohne Abitur. Seine Schuleindrücke hat er im
berühmten Schulkapitel am Ende des Romans Budden-
brooks satirisch beschrieben; und 1930 antwortete er, der im
Jahr zuvor den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, auf
eine Umfrage der Zeitschrift Schule und Elternhaus unter
anderem: »Die Schulzeit war die Kinderzeit, und also bot sie
auch viel Raum für Freude. Aber die Schule war ohne Ver-
dienst daran.« Als er einen Lehrer einem anderen Schüler
habe drohen hören, er werde ihm schon die Karriere ver-
derben, da habe er gewusst, »daß die Lehrer meine Erzieher
nicht waren, sondern mittlere Beamte, und daß ich meine
Erzieher anderswo zu suchen hätte, nämlich in der Sphäre
des Geistes und der Dichtung« (GW XIII, S. 57).
1891 starb Thomas Manns Vater im Alter von nur 51 Jah-
ren. Die Getreidefirma, deren hundertjähriges Bestehen
kurz davor gefeiert worden war, wurde aufgelöst. Die Mut-
ter zog mit den jüngeren Geschwistern nach München.
Heinrich Mann arbeitete bereits als Volontär beim S. Fischer
Verlag in Berlin, der wenige Jahre zuvor gegründet worden
war und schnell zum wichtigsten deutschen Literaturverlag
wurde. Thomas Manns gesamtes Werk ist dort bis heute ver-
legt.
7. AUTOR UND ZEIT 75

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Thomas Mann blieb noch zwei Jahre in Lübeck, wo er


bei verschiedenen Lehrern wohnte. In die Schulzeit fallen
auch die ersten Schwärmereien für Mitschüler. Mit vier-
zehn Jahren verliebte sich Thomas Mann in Armin Mar-
tens, das spätere Vorbild für Hans Hansen in der Novelle
Tonio Kröger (1903). Die Verliebtheit in den älteren Willi-
ram Timpe schloss sich an, der im Roman Der Zauberberg
(1924) als Urbild der Liebe von Hans Castorp zu Clawdia
Chauchat eine bedeutende Rolle spielt. Thomas Mann
schrieb während der Schulzeit, inspiriert von Heine und
76 7. AUTOR UND ZEIT

Storm, Gedichte. Daneben verfasste er Artikel für eine


kurzlebige literarische Schülerzeitschrift Frühlingssturm.
Im Frühjahr 1894 folgte Thomas Mann der Mutter nach
München, wo er zunächst eine unbezahlte Stelle als Vo-
lontär bei einer Feuerversicherungsgesellschaft antrat, die er
jedoch im Sommer bereits wieder kündigte. Während der
Arbeit war heimlich die Erzählung Gefallen entstanden,
die von der Zeitschrift Die Gesellschaft, dem Organ der
Münchner Naturalisten um Michael Georg Conrad, ge-
druckt wurde. Auf diese Weise in die literarischen Kreise der
süddeutschen Residenzstadt eingeführt, versuchte Thomas
Mann sich als Schriftsteller zu etablieren. Ein monatlicher
Betrag aus dem Verkauf der väterlichen Firma enthob ihn
dabei der Verpflichtung, sich seinen Lebensunterhalt zu ver-
dienen.
1895 verbrachte Thomas Mann mit dem Bruder Heinrich
drei Monate in Italien und ein Jahr später, ab Oktober
1896, noch einmal eineinhalb Jahre. In dieser
Buddenbrooks Zeit entstanden Erzählungen und die Anfän-
ge des Romans Buddenbrooks. Verfall einer
Familie, der diesen anhand des Niedergangs der Lübecker
Firma der Vorfahren schildert. Wieder zurück in Mün-
chen, war Thomas Mann bis Anfang 1900 beinahe zwei Jah-
re lang als Lektor und Korrektor für den Simplicissimus, ei-
ne damals sehr bekannte satirische Zeitschrift, tätig. Im
August 1900 schickte er das umfangreiche Manuskript
der Buddenbrooks an den Verleger Samuel Fischer, der
sich nach einigem Zögern entschloss, das Buch herauszu-
bringen. Der Roman erschien im Herbst 1901 in zwei
Bänden und begründete Thomas Manns Ruhm.
In den Spätherbst des Jahres 1900 fällt die kurze Militär-
zeit Thomas Manns beim Königlich Bayerischen Infanterie-
7. AUTOR UND ZEIT 77

Leibregiment, aus der ihn ein gutmütiger Militärarzt jedoch


wegen anhaltender Sehnenscheidenentzündungen bald wie-
der entließ.
Neben Buddenbrooks besteht Thomas Manns Frühwerk
aus einer Reihe von Erzählungen, die in
unterschiedlichen Spielarten den Konflikt Das Frühwerk
zwischen Kunst und Leben gestalten.
Meist ist die Hauptfigur ein Künstler oder ein künst-
lerisch empfindender Mensch, der dem Bürgertum ent-
stammt und dessen Sehnsucht dem unkomplizierten
Glück der unkünstlerischen Leute gilt, die sich auf das
Leben verstehen, an dem er nicht teilzuhaben glaubt;
während er diese kunstfernen Menschen zugleich um
ihrer Schlichtheit willen verachtet. Die Kritik und Ironie
dieser Erzählungen gilt gleichermaßen dem »Leben« wie
dem zwischen Hochmut und sentimentaler Sehnsucht
schwankenden Künstler. Zwischen 1900 und 1905 ent-
stand zudem Thomas Manns einziges und letztlich erfolglo-
ses Drama, Fiorenza, das im Florenz der Medici spielt und
insofern an den in diesen Jahren grassierenden Renaissance-
Kult anschließt, im historischen Gewand jedoch wiederum
den Gegensatz zwischen Kunst (hier in der Spielart reli-
giöser Askese und des Willens zur Macht) und Leben (ver-
körpert durch das Herrschertum und den Besitz der schö-
nen Frau) verhandelt.
Zwischen 1900 bis 1903 war Thomas Mann in den Maler
Paul Ehrenberg verliebt, den er wegen seiner liebenswürdi-
gen Flirtnatur zugleich beneidete und gering schätzte. Paul
Ehrenberg ist das Modell für die Figur des Geigers Rudi
Schwertfeger im Doktor Faustus (1947) und hat auch auf die
eben skizzierte Thematik des Frühwerks offenkundig prä-
gend gewirkt.
78 7. AUTOR UND ZEIT

Mit dem sich abzeichnenden Ruhm beschloss Thomas


Mann, sich auch im bürgerlichen Sinne »eine Verfassung zu
geben« (Brief an Heinrich Mann vom 17. Ja-
Eheschließung nuar 1906). Die tieferen Gründe für diesen
Entschluss zur Ehe hat er später an entlege-
ner Stelle, in dem kleinen Aufsatz Die Ehe im Übergang von
1925, in ungewöhnlicher Offenheit so formuliert: »Alles,
was die Ehe ist, nämlich Dauer, Gründung, Fortzeugung,
Geschlechterfolge, Verantwortung, das ist die Homoero-
tik nicht« (GW X, S. 199). Thomas Mann warb um Katia
Pringsheim, die einzige Tochter eines reichen Mathematik-
professors, »ein Wunder, etwas unbeschreiblich Seltenes
und Kostbares, ein Geschöpf, das durch sein bloßes Dasein
die kulturelle Thätigkeit von 15 Schriftstellern und 30 Ma-
lern aufwiegt« (an Heinrich Mann am 27. Februar 1904).
Katias Brüder nannten ihn ironisch den »leberleidenden
Rittmeister«, wie Katia Mann in ihren Ungeschriebenen
Memoiren berichtete (S. 26). Das »kleine[s] Wunder an all-
seitiger harmonischer Ausbildung« (an Katia Pringsheim,
Ende August 1904) zögerte zunächst, gab aber schließlich
dem heftigen Werben nach.
In den ersten fünf Ehejahren stellten sich vier Kinder ein,
Erika (1905), Klaus (1906), Golo (1909) und Monika (1910).
Ein weiteres Geschwisterpaar folgte in den
Die sechs Kinder Jahren 1918 (Elisabeth) und 1919 (Michael).
Früh berühmt wurden die beiden ältesten
Kinder: Erika als Schauspielerin, Autorennfahrerin, Kin-
derbuchautorin, politische Kabarettistin (Die Pfeffermühle)
sowie als kompromisslose, hasserfüllte Gegnerin des Natio-
nalsozialismus. Klaus Mann wurde wie sein Vater Schrift-
steller, berühmt innerhalb der jungen Generation der Auto-
ren, die während der Weimarer Republik in die Öffentlich-
7. AUTOR UND ZEIT 79

keit traten, und war, im Gegensatz zum Vater, immer auch


für persönliche Schlagzeilen gut. Er schrieb viel und schnell,
führte eine rastlose, internationale Hotelexistenz, nahm
(wie seine Schwester Erika) Drogen, lebte seine Homo-
sexualität aus und nahm sich 1949 in Cannes das Leben.
Golo, das dritte Kind, wurde ein bekannter Historiker.
Elisabeth, das Lieblingskind des Vaters neben den ebenfalls
bevorzugten Ältesten, lebte nach dem Tod ihres viel älteren
Mannes als Meeresforscherin und Professorin in Kanada.
Michael war zuerst Bratschist (Thomas Mann spielte Vio-
line) und dann Literaturwissenschaftler. Nur Monika Mann
entwickelte keine entschiedenen Talente.
In den Jahren zwischen der Eheschließung und dem
Ersten Weltkrieg verlief die Existenz Thomas Manns äußer-
lich ruhig. Unterbrochen nur von Vortrags-
und Urlaubsreisen, arbeitete er bis 1909 an Königliche
dem Roman Königliche Hoheit. Darin ist das Hoheit
Außenseiterthema des Frühwerks in das mo-
derne Märchen eines Prinzen mit verkrüppelter Hand ver-
wandelt, der aus seiner Befangenheit, aus seiner rein reprä-
sentativen Existenz durch die Liebe zu einer bürgerlichen
Millionärstochter erlöst wird, deren Vater gleichzeitig die
zerrütteten Finanzen des kleinen Staates saniert. Die ver-
krüppelte Hand des Prinzen Klaus Heinrich spielt natürlich
auf den deutschen Kaiser Wilhelm II. an, der unter der-
selben Behinderung litt. Ansonsten ist aber wieder alles
ureigenstes Lebensmaterial, bis hin zu der wörtlichen Ver-
wendung von Passagen aus Thomas Manns Brautbrie-
fen, die er sich zu diesem Zwecke von seiner Frau entlieh.
Der wie alle Werke Thomas Manns sorgfältig stilisierte
Roman hatte bei Publikum und Kritik nur einen mäßigen
Erfolg.
80 7. AUTOR UND ZEIT

1908 baute Thomas Mann ein Haus in Bad Tölz, am Fuße


der bayerischen Alpen, wo die junge Familie in den Fol-
gejahren die Sommermonate verbrachte (vgl. Der Tod in
Venedig, 11 und 12). Ein großes Stadthaus im Münch-
ner Herzogpark (Poschingerstraße 1, heute Thomas-Mann-
Allee 10) wurde Anfang 1914 bezogen. Zwischen-
durch, 1912, erschien Der Tod in Venedig, der nach eini-
gen künstlerisch weniger ertragreichen Jahren Thomas
Manns literarischen Ruhm befestigte.
Der Erste Weltkrieg markierte das Ende des alten Euro-
pa, des bürgerlichen Zeitalters, in dem auch
Zäsur durch den Thomas Mann kulturell tief verwurzelt war.
Ersten Weltkrieg Heinrich Mann hatte sich gleich gegen den
Krieg erklärt und auf die Seite des Pazifismus
und der westlichen Zivilisation und Demokratie der Gegner
Deutschlands geschlagen. Thomas Mann hingegen, der vom
Kriegsdienst verschont blieb, führte einen jahrelangen ideo-
logischen Abwehrkampf gegen diese übergeordneten Ideen
des zukünftigen Europa und rechtfertigte Deutschlands
Haltung im Kriege und seine besondere Rolle in der Welt.
Resultat dieser großen Auseinandersetzung, die in wesent-
lichen Zügen auch eine persönliche Auseinandersetzung
mit dem älteren Bruder ist, mit dem es zu einem erbitterten
Zerwürfnis kam, ist der 600 Seiten starke Riesenessay der
Betrachtungen eines Unpolitischen. Das Buch erschien 1918,
als der Krieg verloren war und Thomas Mann sich im
Schreiben bereits von vielen der dort zunächst vertretenen
Positionen verabschiedet hatte.
In den Nachkriegsjahren versöhnte sich Thomas Mann
mit seinem Bruder, bekannte sich zur labilen Weimarer De-
mokratie und warnte früh auch öffentlich vor dem aufkom-
menden Nationalsozialismus, dessen hässlicher Charakter
7. AUTOR UND ZEIT 81

seine Wahlheimat München, das erste Sammelbecken der


Bewegung, zu verändern begann.
1924 erschien Der Zauberberg, ein Roman von tausend
Seiten, den Thomas Mann noch vor dem
Weltkrieg begonnen und dann zugunsten Der Zauberberg
der Betrachtungen zurückgestellt hatte.
Geplant als Novelle, als komisches Nachspiel und Seiten-
stück zum Tod in Venedig, geht auch dieses Werk auf
homoerotische Gefühlseindrücke aus der Jugendzeit
zurück: Hans Castorp liebt Madame Chauchat, weil sie
ihn an einen Mitschüler erinnert, der ihm seinerzeit auf
dem Schulhof einen Bleistift geliehen hat. Eben diese Ge-
fälligkeit scheint den Höhepunkt von Thomas Manns
Schülerliebe zu Williram Timpe ausgemacht zu haben.
Um den gleichen Gefallen bittet Hans Castorp Madame
Chauchat an entscheidender Stelle im Roman. Dieser au-
tobiografische Kern des großen Romans ist jedoch sorg-
fältig verhüllt. In erster Linie handelt es sich um ein Zeit-
gemälde der europäischen Gesellschaft am Ausgang der
bürgerlichen Epoche. Entsprechend steht am Ende der
Handlung der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Schau-
platz des Romans ist ein Lungensanatorium im Schweizer
Davos, das Thomas Mann während eines dreiwöchigen
Aufenthaltes bei seiner Frau Katia, die sich in den Jahren vor
dem Weltkrieg wiederholt mehrmonatigen Kuren unterzie-
hen musste, selbst in Augenschein genommen hatte. Katia
Manns Briefberichte lieferten darüber hinaus weiteres er-
zählerisches Material. In Davos erlebt Hans Castorp die
sieben Märchenjahre seiner »Verzauberung« (On Myself,
GW XIII, S. 157), eine dem tätigen Leben des Flachlands
entrückte Zeit der umfassenden, zuweilen auch absei-
tigen, Bildung und Auseinandersetzung mit den großen
82 7. AUTOR UND ZEIT

Ideen der Zeit, die ihm durch zwei ganz unterschiedliche


Mentoren, den Zivilisationsredner Settembrini und den
kommunistischen Theologen Naphta, nahe gebracht
werden. Aufgehoben wird der Einfluss der beiden Lehrer
und Redner schließlich durch die unmittelbare Persön-
lichkeitswirkung einer dritten Gestalt: des Mynheer Pee-
perkorn, auch wenn dieser, der eine Karikatur Gerhart
Hauptmanns ist, sich nur unzulänglich zu artikulieren
weiß.
1925 erschien die Erzählung Unordnung und frühes Leid,
ein kaum verhülltes Porträt der eigenen Familie und zu-
gleich ein Zeitbild der Umbrüche nach dem Ersten Welt-
krieg, der Lockerung der gesellschaftlichen Umgangsfor-
men. Die 1929 veröffentlichte Novelle Mario und der Zau-
berer, die in stofflicher Hinsicht auf einen Ferienaufenthalt
in Italien aus dem Jahr 1926 zurückgeht, erzählt gleichnis-
haft vom Aufkommen des italienischen Faschismus.
Seit 1924 beschäftigte sich Thomas Mann mit dem
Plan, die biblische Josephslegende nachzu-
Joseph und erzählen. In gewisser Hinsicht folgte er damit
seine Brüder einer Anregung Goethes, der mehr und mehr
zum persönlichen und künstlerischen Leit-
bild wurde. Dieser hatte in seiner Autobiografie Aus
meinem Leben. Dichtung und Wahrheit über die alttes-
tamentliche Geschichte geschrieben: »Höchst anmutig ist
diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und
man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen« (vgl.
On Myself, GW 13, S. 163). Das unternahm nun Thomas
Mann in vier Romanen auf über 1800 Seiten. Er vertiefte
sich in die frühe ägyptische Hochkultur und bereiste 1925
und 1930 die archäologischen Stätten Ägyptens. 1933 er-
schien der erste, die Vorgeschichte enthaltende Roman,
7. AUTOR UND ZEIT 83

Die Geschichten Jaakobs. 1934 folgte Der junge Joseph,


1936 Joseph in Ägypten. Der Abschluss der Tetralogie
verzögerte sich, weil Thomas Mann einen Roman über
Goethe einschaltete, an dem er zwischen Ende 1936 und
Ende 1939 arbeitete. Lotte in Weimar erzählt die späte
Wiederbegegnung Charlotte Kestners mit Goethe, der
sich mehr als vierzig Jahre zuvor als Rechtspraktikant
beim Reichskammergericht in Wetzlar in sie verliebt und
sie durch seinen Roman Die Leiden des jungen Werther
unsterblich gemacht hatte. Nun besucht sie, begleitet von
einer skeptischen Tochter, den Geheimrat in Weimar.
Dessen Persönlichkeit wird zunächst in den Berich-
ten verschiedener Gesprächspartner Lottes aus Goethes
nächster Umgebung mehrfach gespiegelt, bevor im sie-
benten Kapitel Goethe selbst mit einem ausgedehnten
inneren Monolog in den Roman eintritt. Über dieses
Kapitel schrieb Thomas Mann an Ferdinand Lion, dass
er »die Intimität, um nicht zu sagen: die unio mystica«
mit Goethe unbeschreiblich genieße (Brief vom 15. De-
zember 1938). Zuletzt kommt es zu der Begegnung zwi-
schen Lotte und Goethe, die zunächst offiziös und ent-
täuschend verläuft, jedoch noch ein persönlicheres Nach-
spiel unter vier Augen hat.
Nach dem Goethe-Roman wurde der Joseph wieder auf-
genommen und Anfang 1943 zum Abschluss gebracht
(Joseph der Ernährer).
Diese letztgenannten Werke entstanden bereits im Exil.
Wenige Tage nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler
hatte Thomas Mann am 10. Februar 1933 in München einen
Vortrag über Leiden und Größe Richard Wagners gehalten,
den er in den darauf folgenden Tagen in Amsterdam, Brüs-
sel und Paris wiederholte. Im sich anschließenden, aufgrund
84 7. AUTOR UND ZEIT

der beunruhigenden Entwicklungen in Deutschland verlän-


gerten Urlaub in den Schweizer Bergen erreichte ihn die
Nachricht vom Protest der Richard-Wagner-Stadt München
gegen seinen den Komponisten angeblich verunglimpfen-
den Vortrag. Das Pamphlet war auch von zahlreichen Be-
kannten unterzeichnet. Das Haus der Familie Mann wurde
durchsucht, die Vermögenswerte wurden beschlagnahmt.
Zuletzt erging ein Schutzhaftbefehl. Thomas Mann pro-
testierte in Briefen an den bayerischen Reichsstatthalter und
später an den Reichsinnenminister. Gleichzeitig gelang
es mithilfe seiner ebenfalls gefährdeten Kinder, wichtige
Manuskripte, vor allem die Intimes verzeichnenden Ta-
gebücher, ins Ausland zu retten. Später folgten Teile der
Bibliothek und besonders geliebte Möbel. Vieles andere
blieb unwiederbringlich verloren. Den ersten
Im Exil Sommer des Exils verbrachte die Familie in
der französischen Provence, wo sich auch
andere aus Deutschland geflohene Schriftsteller, unter an-
derem Heinrich Mann, einfanden. Danach lebten die Manns
bis 1938 in Küsnacht bei Zürich.
Lange konnte sich Thomas Mann nicht entschließen, öf-
fentlich und unmissverständlich den Bruch mit seinem
Heimatland zu vollziehen. Eine große Rolle spielte dabei
die Loyalität gegenüber seinem Verlag, S. Fischer, der un-
ter schwierigen Bedingungen in Deutschland weiterzuexis-
tieren versuchte, sowie die Sorge, den Kontakt zu seinem
deutschsprachigen Publikum zu verlieren. Die beiden äl-
testen Kinder, Klaus und vor allem Erika, beide erbitterte
Gegner der Nationalsozialisten und von diesen ebenso
erbittert verfolgt, setzten dem Vater lange zu, bis er sich
schließlich Anfang Februar 1936 öffentlich erklärte. Im De-
zember desselben Jahres wurde er ausgebürgert, ohne da-
7. AUTOR UND ZEIT 85

durch staatenlos zu werden, weil ihm die Tschechoslowakei


im Vormonat die Staatsbürgerschaft angeboten hatte.
Im Herbst 1938 siedelte die Familie Mann in die USA
über. Vorausgegangen waren vier Amerika-
reisen, auf denen sich der Umzug vorberei- Übersiedelung
tete. Eine Verehrerin Thomas Manns, die in die USA
deutschstämmige Frau des Eigentümers der
Washington Post Agnes E. Meyer, kümmerte sich um die
Einwanderungsdokumente und verschaffte Thomas Mann
eine Stelle an der renommierten Princeton University süd-
lich von New York. Zweieinhalb Jahre später, im Frühjahr
1941, zog die Familie von der Ostküste an die Westküste
nach Pacific Palisades bei Los Angeles, wo sich zahlreiche
exilierte europäische Künstler niedergelassen hatten. Tho-
mas Mann wurde aufgrund seiner guten amerikanischen
Kontakte (er war auch mit dem Präsidenten, Franklin D.
Roosevelt, persönlich bekannt) zur wichtigsten Anlaufstel-
le der Emigranten. Er und seine Frau halfen vielen von
ihnen, durch vermittelnde Korrespondenz, Unbedenklich-
keitsbürgschaften und auch durch unmittelbare finanzielle
Unterstützung. Daneben unterstützte Thomas Mann den
Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland und
wandte sich unter anderem zwischen 1940 und 1945 in mo-
natlichen Radioansprachen der BBC an die Deutschen
(Deutsche Hörer!). Die drei ältesten Kinder, Erika, Klaus
und Golo, waren mittlerweile als Presseberichterstatter Mit-
glieder der amerikanischen Armee. Im Juni 1944 wurden
Thomas und Katia Mann amerikanische Staatsbürger. Tho-
mas Mann war 69 Jahre alt.
Von 1943 bis Anfang 1947 schrieb Thomas
Mann an dem Roman Doktor Faustus. Das Doktor Faustus
Leben des deutschen Tonsetzers Adrian
86 7. AUTOR UND ZEIT

Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Stärker ange-


lehnt an das alte Faust-Volksbuch von 1587 als an Goe-
thes Faust-Drama, schildert das Buch den Lebensweg
eines Komponisten, der sich um der Kunst willen dem
Teufel verschreibt und auf die Liebe verzichtet. Die Ab-
sonderung der Künstlerexistenz von der Sphäre des All-
gemein-Menschlichen, die das Frühwerk thematisch be-
herrschte, ist hier wieder aufgenommen, wie auch viele
autobiografische Erfahrungen der Münchner Jahre. Als
ein »rücksichtsloses Geheimwerk« hat Thomas Mann
den Roman charakterisiert. Er erschrecke zuweilen bei
dem Gedanken, »daß es zum öffentlichen Gegenstand
geworden« (Brief vom 1. April 1948 an Martin Beheim-
Schwarzbach). Und an Robert Heitz schrieb er, das Buch
»resumiert mein Leben, resumiert die Epoche, die ich er-
lebte und ist das Persönlichste, was ich je gegeben, von
einer fast wilden Direktheit« (Brief vom 18. März 1948).
Der Roman ist auch eine Auseinandersetzung mit dem
Sonderweg der Deutschen in der Welt, den Thomas Mann
während des Ersten Weltkriegs noch verteidigt hatte, den
er aber letztlich in totalitäre Herrschaft, den Wahn vom
Übermenschentum, in Krieg und Völkermord hatte mün-
den sehen. Wie Kultur ins Unmenschliche umschlagen
kann, zeigt auf bedenkliche, aber auch erschütternde Wei-
se Leverkühns Musik, wohingegen der parallel geschil-
derte Rückfall des deutschen Volks in die Barbarei nur
Abscheu erregt.
Während der Arbeit an dem Roman ging der Weltkrieg zu
Ende. 1946 musste sich Thomas Mann einer Lungenkrebs-
operation unterziehen, die er jedoch gut überstand.
Dass der Doktor Faustus sein »Bestes und Äußerstes«
bleiben würde und alles noch Folgende »nur noch Nach-
7. AUTOR UND ZEIT 87

spiel und Zeitvertreib sein« könne, stand für Thomas Mann


fest (Brief an Caroline Newton vom 13. Juni 1948). Von
Juni bis Oktober 1948 schrieb er das kleine Buch Die
Entstehung des Doktor Faustus, durch das noch einmal der
besondere Stellenwert des Romans unterstrichen wurde.
Der Werkbericht dient dem Zweck, das Verdienst des So-
zial- und Musikwissenschaftlers Theodor W. Adorno zu
würdigen, dem Thomas Mann entscheidende Anregungen
für die musiktheoretischen Teile des Buches verdankte.
Bereits Anfang 1948 hatte Thomas Mann die Arbeit an
dem kürzeren Roman Der Erwählte aufge-
nommen, der eine mittelalterliche Legende in Der Erwählte
epischer Ausführlichkeit nacherzählt. Das in
den Josephs-Romanen entwickelte erzählerische Verfahren,
das Thomas Mann selbst auf die Begriffe »Mythos plus Psy-
chologie« gebracht hat (in einem Brief an den Religions-
wissenschaftler und Mythenforscher Karl Kerényi vom
18. Februar 1941), ist hier neuerlich angewendet. Die the-
matische Verwandtschaft zum Doktor Faustus liegt in der
Frage, ob auch (oder womöglich gerade) die alle Vorstel-
lungskraft überschreitende Sünde der göttlichen Gnade teil-
haftig werden kann. Im Doktor Faustus erscheint diese
Überlegung als ebenso anmaßende wie verzweifelte Speku-
lation. Im Erwählten wird sie humoristisch bejaht. Der Ro-
man wurde Ende 1950 fertig.
In das Frühjahr desselben Jahres fällt der Tod des Bruders
Heinrich, um den es zuletzt sehr still geworden war, in der
Nachbarschaft in Los Angeles. Klaus Mann hatte sich im
Jahr zuvor in Cannes das Leben genommen. In Amerika
begann sich inzwischen der scharfe Antikommunismus
der McCarthy-Ära durchzusetzen. Auch die Familie Mann
blieb von Bespitzelungen durch das FBI und Anfeindungen
88 7. AUTOR UND ZEIT

nicht verschont. Das politische Klima wurde, insbesondere


für die Exilanten, kälter.
Thomas Mann dachte an Rückkehr nach Europa. Eine
dauernde Rückkehr nach Deutschland schloss er aus. Die
unmittelbaren Eindrücke aus dem mittlerweile geteilten
Deutschland, die er auf einer Vortragsreise aus Anlass des
Goethejahres 1949 gewann, bestärkten ihn in
Rückkehr in diesem Entschluss. 1952 kehrten die Manns
die Schweiz von einer weiteren Europareise nicht in die
USA zurück und bezogen ein Haus in Erlen-
bach bei Zürich. Anfang 1954 erfolgte dann der letzte Um-
zug nach Kilchberg am Zürichsee.
Zwischen Ende 1950 und Frühjahr 1954 vollendete Tho-
mas Mann seinen letzten Roman, die vierzig Jahre liegen
gebliebenen Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull.
Die späte Lebens- und Schaffenszeit ist geprägt von glanz-
vollen öffentlichen Ehrungen aus aller Welt und zugleich
wiederkehrenden Phasen der Niedergeschlagenheit über
das Nachlassen der produktiven Kräfte, das Fehlen eines
großen, würdigen Stoffes.
Das Ende kam überraschend. Kurz nach den Feierlichkei-
ten zum 80. Geburtstag am 6. Juni 1955 setzte während ei-
nes Urlaubs in Holland ein ziehender Schmerz im linken
Bein ein. Mit der Diagnose »Venenentzündung« blieb Tho-
mas Mann im Krankenhaus. Nach erfolgreicher Behand-
lung der Thrombose erlitt Thomas Mann am 12. August
einen schweren Kollaps. Er starb am gleichen Abend. Als
Todesursache wurde ein Riss der unteren Bauchschlagader
mit plötzlichem großen Blutverlust und Kreislaufkollaps
festgestellt. Es war ein schmerzloser Tod.
Auf dem Friedhof seines letzten Wohnorts, in Kilchberg,
wurde Thomas Mann begraben.
8. Rezeption

Schon die zeitgenössische Kritik erkannte die Bedeutung


des Tod in Venedig. Rund vierzig Rezensionen hat die For-
schung ermittelt. Nur eine Hand voll davon
ist negativ. Wegweisend für die weitere Deu- Zeitgenössische
tung des Werkes waren besonders die bei- Kritik
den Besprechungen des jungen Schriftstellers
Bruno Frank – eben jenes »Unbärtigen«, der in der Novelle
selbst, wenn auch nicht namentlich genannt, vorkommt (18)
– und Josef Hofmillers (beide auszugsweise abgedruckt in:
Bahr, Erläuterungen und Dokumente, S. 150–155).
Auch die Germanistik hat sich des Textes bald angenom-
men. Schon in der Fünfzigerjahren gehörte eine ausführ-
liche Interpretation des Tod in Venedig zum Standard-
repertoire von Handbüchern und Aufsatzsammlungen zur
Gattung der Novelle. Innerhalb der Thomas-Mann-
Forschung nimmt der Tod in Venedig, der oft als Thomas
Manns dichtester und formal vollkommenster Text be-
zeichnet wird, eine herausgehobene Stellung ein. Zu nen-
nen sind hier besonders die Bücher von Terence J. Reed
(1983) und Rolf Günter Renner (1987), die sich aus-
schließlich mit dieser Novelle befassen.
Auch in der Literatur hat die Novelle nachgewirkt. Wolf-
gang Koeppens (1906–96) Roman Der Tod in Rom (1954)
nimmt in Titel und Schlusssatz eindeutig
Bezug auf den Tod in Venedig. Max Frischs Produktive
(1911–91) Homo faber (1957), einer der er- Rezeption
folgreichsten deutschen Romane des 20. Jahr-
hunderts, weist sowohl in der Thematik wie in der Erzähl-
technik – die verbotene Liebe eines älteren Mannes zu einem
90 8. REZEPTION

jungen Menschen, hier zu der eigenen Tochter; die Verwen-


dung griechischer Mythen als anspielungsreiche Subtexte
der Erzählung; die Figur des Todesboten Professor O. – ei-
ne gewisse Verwandtschaft mit Thomas Manns Novelle auf.
Der 1944 geborene Lyriker Jürgen Theobaldy hat in seinem
Gedicht Die Erdbeeren in Venedig (1974), einer Hommage
an den amerikanischen Autor William S. Burroughs, in sa-
tirischer Absicht Motive aus der Novelle verarbeitet.
Der nordamerikanische Romanschriftsteller Philip Roth
(Jahrgang 1933) erweist dem Tod in Venedig immer wieder
seine Reverenz, vor allem in seinen im literaturwissenschaft-
lichen Milieu spielenden Romanen wie The Professor of
Desire (1977) oder The Human Stain (2001). Louis Begley,
ein weiterer 1933 (in Polen) geborener amerikanischer Ro-
mancier, erzählt in Mistler’s Exit (1998) die Geschichte eines
todkranken New Yorkers, der nach Venedig reist und unter
dem Eindruck der morbiden Schönheit der Stadt eine sexu-
elle Beziehung eingeht, in der er sich erstmals gehen lässt
und doch keine Erfüllung findet. Dass dieser Roman mit
dem Tod in Venedig verglichen worden ist, bezeugt, neben
mancher Strukturverwandtschaft beider Texte, wie präsent
Thomas Manns Novelle nach wie vor bei Kritikern und
Lesern ist.
Weltweit ist der Tod in Venedig wohl Thomas Manns
bekanntestes Werk. Dazu beigetragen ha-
Der Tod in ben auch Benjamin Brittens Oper Death in
Venedig als Oper Venice (1973) und Luchino Viscontis Verfil-
und als Film mung der Novelle (1970), die viele Details
des Textes sehr getreu umsetzt, die Handlung
darüber hinaus aber um Motive aus Thomas Manns Spät-
werk Doktor Faustus ergänzt.
9. Checkliste

Zu Kapitel 1: Erstinformation zum Werk

1. Welche Elemente der Novelle gehen auf eigene Erleb-


nisse Thomas Manns zurück?

Zu Kapitel 2: Inhalt

2. Wie erklärt Aschenbach sich seine plötzliche Reiselust?


3. Warum ist Aschenbachs »Ekel gegen den unanständigen
Psychologismus der Zeit« und sein bewusster künstle-
rischer Weg hin zu »Würde« und »Einfachheit« fragwür-
dig? Welchen Einfluss hat diese geistige Haltung Aschen-
bachs auf seine spätere moralische Zerrüttung?
4. Fassen Sie die ersten Eindrücke zusammen, die Aschen-
bach von Tadzio hat.
5. Schildern Sie, auf welche Weise im vierten und fünften
Kapitel gezeigt wird, dass Aschenbach sich mehr und
mehr gehen lässt und seine moralische Integrität einbüßt.

Zu Kapitel 3: Personen

6. Mit welchem Recht kann man davon sprechen, dass im


Tod in Venedig im Grunde nur eine Figur vorkommt?
7. Ist die Entwicklung, die Aschenbach im Verlauf der No-
velle nimmt, glaubwürdig? Wenn ja, warum?
8. Wie ist das amüsierte Lächeln zu bewerten, mit dem
Aschenbach seine Anteilnahme an Tadzio anfangs zum
Ausdruck bringt?
92 9. CHECKLISTE

9. Inwiefern und mit welchen Mitteln betrügt sich Aschen-


bach über seine wahren Empfindungen für Tadzio?
10. Welche historischen Personen können in einzelnen Zü-
gen als Vorbilder Aschenbachs gelten?
11. Welchen fatalen Einfluss hat Aschenbach auf Tadzio?
12. Welche Figuren der Novelle lassen sich aufgrund ih-
rer äußeren Merkmale überlieferten Todesvorstellungen
zuordnen?

Zu Kapitel 4: Werkaufbau

13. In welcher Hinsicht unterscheidet sich das zweite Ka-


pitel von den übrigen Kapiteln der Novelle?
14. Skizzieren Sie in einem Schaubild das wechselnde Er-
zähltempo der Novelle.
15. Zeigen Sie, inwiefern der Aufbau der Novelle dem Auf-
bau einer klassischen fünfaktigen Tragödie gleicht.

Zu Kapitel 6: Interpretation

16. Beschreiben Sie die Strukturverwandtschaft zwischen


Wilhelm Jensens Gradiva-Novelle bzw. Sigmund
Freuds psychoanalytischer Deutung der Novelle und
Thomas Manns Tod in Venedig.
17. Welche Ziele verfolgte die literarische »Neuklassik«?
18. Skizzieren Sie Thomas Manns künstlerische Beziehung
zur Neuklassik sowie seine Loslösung von deren Po-
sitionen. Wie schlägt sich diese Entwicklung im Tod in
Venedig nieder?
19. Worin besteht, Thomas Mann zufolge, die Verwandt-
schaft zwischen Psychoanalyse und Mythologie?
9. CHECKLISTE 93

20. Durch welche Haltung des Erzählers gegenüber der


Hauptfigur seiner Erzählung entsteht die erzählerische
Ironie im Tod in Venedig?
21. Was hat es mit der »Idee der Heimsuchung« auf sich, die
Thomas Mann als das »Grund-Motiv« seines Schreibens
bezeichnet hat?
22. Inwiefern half Nietzsches Modell des Apollinischen
und des Dionysischen Thomas Mann, sein eigenes Ge-
fühlsleben zu verstehen und zu gestalten?
23. Erläutern Sie den mythologischen Anspielungshorizont
der Szene, in der Aschenbach seine Stirn an die Angel
der Zimmertür Tadzios lehnt.
24. Was verraten die mythologischen Namen, die Aschen-
bach Tadzio gibt, über Aschenbachs Gefühle?
25. Inwiefern gelingt es dem mythologischen Erzählen, in
der Schilderung eines individuellen Schicksals dennoch
das Allgemeine der menschlichen Existenz zu gestalten?

Zu Kapitel 7: Autor und Zeit

26. Was wissen Sie über Thomas Manns Familie: seine El-
tern, seine Geschwister, seine Frau und seine Kinder?
27. Charakterisieren Sie Thomas Manns Frühwerk.
28. Zeichnen Sie, in groben Umrissen, Thomas Manns poli-
tische Entwicklung zwischen dem Anfang des Ersten
und dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach.
29. Charakterisieren Sie jeden der Romane Thomas Manns
mit einem Satz.
10. Lektüretipps/Filmempfehlungen

Textausgabe

Thomas Mann: Der Tod in Venedig und andere Erzählun-


gen. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 582002.
– Die Zitate aus der Novelle (mit einfacher Nennung der
Seite) beziehen sich auf diese Ausgabe.

Werkausgabe

Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden.


Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1960, 1974, 1990 (Taschen-
buchausgabe). – Diese verbreitetste und bis heute voll-
ständigste Werkausgabe wird als: GW [Band], [Seite] zi-
tiert.

Zur Biografie Thomas Manns

Thomas Mann. Eine Chronik seines Lebens. Zusammen-


gest. von Hans Bürgin und Hans-Otto Mayer. Frankfurt
a. M. 1965, 1974 (Taschenbuchausgabe).
Mendelssohn, Peter de: Der Zauberer. Das Leben des
deutschen Schriftstellers Thomas Mann. 3 Bde. Frankfurt
a. M. 1975, 1996. – Die erste große Biografie über Thomas
Mann ist Fragment geblieben. Sie reicht bis ins Jahr 1933.
Für ausdauernde Leser, die vor allem am Lebensmaterial,
weniger an der Deutung interessiert sind, stellt sie nach
wie vor eine ergiebige Lektüre dar.
10. LEKTÜRETIPPS / FILMEMPFEHLUNGEN 95

Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Das Leben als Kunst-


werk. Eine Biografie. München 1999. – Hermann Kurz-
kes Biografie ist weitaus die beste. Sie ist auch als Taschen-
buch erhältlich.

Literatur zum Tod in Venedig

Bahr, Ehrhard: Erläuterungen und Dokumente: Thomas


Mann: Der Tod in Venedig. Stuttgart 1991. (Reclams UB.
8188.)
Böschenstein, Bernhard: Der Tod in Venedig. In: Interpreta-
tionen: Thomas Mann: Romane und Erzählungen. Stutt-
gart 1993. S. 89–120.
Deuse, Werner: »Besonders ein antikisierendes Kapitel
scheint mir gelungen«: Griechisches in Der Tod in Vene-
dig. In: Gerhard Härle (Hrsg.): »Heimsuchung und süßes
Gift«. Erotik und Poetik bei Thomas Mann. Frankfurt
a. M. 1992. S. 63–86.
Dierks, Manfred: Studien zu Mythos und Psychologie bei
Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Unter-
suchungen zum Tod in Venedig, zum Zauberberg und
zur Joseph-Tetralogie. Bern/München 1972. S. 13–59 und
207–210.
– Der Wahn und die Träume im Tod in Venedig. In: Psy-
che 44 (1990) Nr. 3. S. 240–268.
Häfele, Josef / Hans Stammel: Thomas Mann: Der Tod in
Venedig. Frankfurt a. M. 1992.
Karthaus, Ulrich: Literaturwissen für Schule und Studium:
Thomas Mann. Stuttgart 1994. (Reclams UB. 15203.)
Koopmann, Helmut (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch.
Stuttgart 1990.
96 10. LEKTÜRETIPPS / FILMEMPFEHLUNGEN

Moeller, Hans-Bernhard: Thomas Manns venezianische


Götterkunde, Plastik und Zeitlosigkeit. In: Deutsche
Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geis-
tesgeschichte 40 (1966) S. 184–205.
Reed, Terence J.: Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Text,
Materialien, Kommentar mit den bisher unveröffentlich-
ten Arbeitsnotizen Thomas Manns. München 1983.
Renner, Rolf Günter: Das Ich als ästhetische Konstruktion.
Der Tod in Venedig und seine Beziehung zum Gesamt-
werk Thomas Manns. Freiburg i. Br. 1987.
Vaget, Hans Rudolf: Thomas Mann und die Neuklassik:
Der Tod in Venedig und Samuel Lublinskis Literaturauf-
fassung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft
17 (1973) S. 432– 454.
– Thomas-Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen.
München 1984.

Sigmund Freuds psychoanalytische Deutung der Gradiva-


Novelle:
Freud, Sigmund: Der Wahn und die Träume in W. Jensens
Gradiva. In: Sigmund Freud: Studienausgabe. Hrsg. von
Alexander Mitscherlich [u. a.]. Bd. 10: Bildende Kunst
und Literatur. Frankfurt a. M. 1969. 2000. S. 9–85.

Filmempfehlung

Luchino Visconti: Der Tod in Venedig (Italien 1971).

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