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Wahrnehmen, Erkennen und Wissen

bei Aristoteles

von Christian Colmer


1. Einleitung

Wahrnehmen, Erkennen und Wissens: für diese Begriffe haben wir eindeutige
Zuordnungen, beispielsweise vermittelt durch die Biologie, die Kognitionswissenschaften
oder die Wissenschaftstheorie. Interessanter Weise bietet das antike Denken Modelle für
unseren „Erkenntnisapparat“, die sich von gängigen Auffassungen stark unterscheiden –
aber argumentativ gut abgesichert sind. Ein Blick zurück scheint also viel versprechend
zu sein, um neue Perspektiven auf moderne Vorstellungen von Wahrnehmen, Erkennen
und Wissen einnehmen zu können. Am Beispiel der so genannten Seelenlehre von
Aristoteles wird dies im Folgenden versucht.

Wie sich in dieser Arbeit zeigen wird, ist es ein kleiner Schritt von den
erkenntnistheoretischen Aussagen des Denkers auf die Grundzüge seiner
Wissenschaftskonzeption. Hierzu ist es notwendig, ein klar umrissenes Bild von der
Wahrnehmung zu gewinnen, da sich in ihr bereits zu einem großen Teil
Erkenntnisleistung vollzieht. Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie
werden im Folgenden in einer Kette gegliedert und aufeinander aufbauend betrachtet.

Es wird damit begonnen, die Eigenschaften der Seele (Anima) zu Untersuchen. Mit ihr
sind die Bedingungen der Erkenntnis, unsere Erkenntnisfähigkeit, vorgegeben. Sie sei
„nun aber dieses (Prinzip), wodurch wir primär leben, wahrnehmen und denken.“1 Neben
dem Texte ‚De Anima’, anhand dessen im Besonderen die Wahrnehmung und das
Denken besprochen wird, interessiert hier das Schlusskapitel der ‚Zweiten Analytik.
KOSMAN nimmt die aristotelische Bestimmung mit der Frage auf: „how do we know
principles qua principels [...]“ und erweitert: „how can we test to see wether principles in
fact are principles?“2 Es ist also zu überlegen, welcher Voraussetzungen es bedarf, um
etwas zur Kenntnis zu bringen, und aufgrund welcher Prinzipien etwas seine

1
an. II 2, 414 a 23ff. Abkürzungs- und Literaturverzeichnis für diese Arbeit siehe S. f.
2
Kosman, L.A. : Understanding, Explanation and insight in the Posterior Analytics, in: Lee, H. D. P.;
Mourelatos, M.; Rorty, R. (Hg.): Exergesis and Argument (Festschrift für Velastos, G.), Phronesis Suppl.,
Vol. 1, S. 374-392. Zitiert nach Detel, Halbbd. 2, S. 842.

2
Bestimmtheit erhält. Problematisch daran ist, die Prinzipien ihrerseits als
erkenntnistheoretische Marksteine zu fundieren.3

Unsere Fähigkeit zu Erkenntnis entspringt verschiedenen Vermögen der Seele.4 Das


wissenschaftliche Verstehen ist deshalb nicht ohne die Seele zu denken. Dennoch: „Das
Prinzip, wodurch wir leben und wahrnehmen wird auf zweifache Weise benannt, wie
auch das Prinzip, wodurch wir etwas wissenschaftlich verstehen: Wir nennen es einerseits
die Wissenschaft, andererseits auch die Seele, denn durch jede von beiden, so sagen wir,
verstehen wir wissenschaftlich.“5 Neben der Seele, durch die unter anderem
wissenschaftliches Verstehen ermöglicht wird, scheint es zudem ein Prinzip der
wissenschaftlichen Erkenntnis zu geben, das nur der Wissenschaft allein vorbehalten ist.

Dass für das letztere das Deduktionsverfahren, allgemeiner gesagt, die Lehre vom
richtigen Schluss, zentral ist, muss in dieser Arbeit nicht erläutert werden. Für das
Verständnis der aristotelischen Erkenntnistheorie und die Einsicht in die Struktur des
Wissenserwerbs ist die Nachzeichnung eines induktiv zustande kommenden All-
gemeinen von Belang. Um dem nachzugehen, wird das Eingangskapitel der ‚Physik’
herangezogen. Hier wird ein Forschungsweg beschrieben, der sich aus der Annahme
ergibt, dass die Tätigkeit der Sinneswahrnehmung eine Erkenntnisleistung darstellt, die
zwar nicht soweit reicht, die „Grundbausteine und die Grundsätze“6 zu erkennen, aber
bereits einheitliche Eindrücke.

3
Es muss erwähnt sein, dass mir für das Verständnis des Textes ‚De Anima’ die Lektüre der Arbeit
„Rezeptivität und Spontanität der Wahrnehmung bei Aristoteles“ von Wolfgang BERNARD, für das
Verständnis der ‚Analytica Posteriora’ die Erläuterungen des Übersetzers der Schrift, Wolfgang DETEL,
sehr hilfreich waren.
4
Siehe dazu an. III 9 und im Besonderen zum Erkenntnisvermögen der Wahrnehmung an. II 3.
5
an. II 2, 414 a 5 ff.
6
phy. I 1, 184 a 22.

3
2. Über die Erkentnisfähigkeit der Seele

Alles Lebendige, was nicht Pflanze ist und nicht dem Menschen aufgrund höherer Ver-
mögen der Seele übergeordnet ist, nennt Aristoteles Lebewesen. Somit sind Lebewesen
Tiere und Menschen, „[w]obei ‚Lebewesen’ (der Oberbegriff für ‚Tier’ und
‚Mensch’ ist, während ‚das Lebendige’ (auch die Pflanzen miteinschließt.“7
Dem Menschen übergeordnet ist das Göttliche. Die Seele der Lebewesen ist durch zwei
Vermögen gekennzeichnet: „durch das unterscheidungsfähige, das eine Leistung des
vernünftigen Nachdenkens und der Wahrnehmung ist, und dadurch, daß es die räumlich
Bewegung ausübt.“8
Letztere jedoch nur in einer bestimmten Hinsicht, denn „[a]kzidentiell bewegt zu werden,
wie wir sagten, und (so) sich selbst zu bewegen, ist (ihr) möglich, z.B. daß sie im Körper
bewegt wird, in dem sie sich befindet, und der (Körper) von ihr bewegt wird. Auf andere
Weise jedoch kann sie räumlich nicht bewegt werden“9, etwas Drittes räumlich bewegen
oder sich räumlich bewegen.
Im Umkehrschluss müsste das Lebewesen durch die äußerlich sichtbaren Tätigkeiten
der Seele zu erkennen sein. Die Eigenbewegung, geäußert über den Körper, und das
(seelische) Bewegtwerden einerseits, als auch vernünftiges Nachdenken und das Wahr-
nehmen könnten als dessen Hauptmerkmale bezeichnet werden. Wie anders, wenn nicht
über die Beobachtung bestimmter Erscheinungen, sollte man zu ersten substanziellen
Überlegungen zu der Seele gelangen können?10 Eine weitere Überlegung schließt sich
hier an: In sofern es die Seele ist, wie oben gesagt, durch die wir primär wahrnehmen,
denken und leben, so muss die Bewegung der Seele, da sie von dem Vermögen zu
Unterscheiden getrennt betrachtet wird, wohl mehr ein Zeichen für die Lebendigkeit eines
Lebewesens sein.
Als „Prinzip der Lebewesen“11, gleichsam als ein solches könne die Seele Aristoteles
zu Folge betrachtet werden, trage die „Erkenntnis von ihr […] auch für die Wahrheit im

7
Bernard, S. 37.
8
an. III 9, 432 a 22.
9
an. I 4, 408 a 30 ff. Klammern gesetzt vom Übersetzer.
10
„ … denn früher dem Begriffe nach sind die Tätigkeiten und Handlungen als die Vermögen.“ (an. II 4,
415 a 26).
11
an. I 1, 402 a 7.

4
ganzen viel bei.“12 Auch wir wollen der Wahrheit näher kommen, im Einzelnen der
Wahrheit der Erkenntnis. Was ist dazu bei der Seele zu beachten?

Aristoteles spricht in mehrfacher Hinsicht von Vermögen der Seele der Lebewesen.
Neben den beiden grundlegenden Vermögen zu Unterscheiden und im genannten Sinne
beweglich zu sein, nennt er weitere Vermögen der Seele, die auf den verschiedenen
Stufen des Lebendigen eingeordnet werden. Auch alle im Folgenden genannten
Vermögen kommen der Seele der Lebewesen zu.13 In wieweit sie ebenso in anderem Le-
bendigen als dem Anthropos wieder zu finden sind, wird hier nur am Rande besprochen.
Zuerst wird von Aristoteles jenes Vermögen angeführt, wodurch ein Lebewesen sich zu
ernähren und fortzupflanzen befähigt ist.14 An zweiter Stelle folgt die Befähigung wahr-
zunehmen, darauf die zu denken. Hinzu kommt das Vermögen, etwas zu erstreben. Für
die Untersuchung des von Aristoteles verwendeten Begriffs der Erkenntnis sind vor allem
die Wahrnehmung und das Denken wichtig. Das Denken wird weiter unten im Mittel-
punkt stehen. Hier nun sollen die Eigenheiten15 der Wahrnehmung besprochen werden.

2.1 Die Wahrnehmung des Idion

Sowohl DETEL als auch BERNARD unterscheiden eigentliche Wahrnehmung von akzi-
denteller Wahrnehmung.16 BERNARD zu Folge erfasst die eigentliche Wahrnehmung ein
oder mehrere wahrnehmbare Idia unmittelbar. Dieses sind wahrnehmbare Elemente,17 und
nicht mit äußeren Einzeldingen gleichzusetzen.18 DETEL spricht nur von eigentlicher
Wahrnehmung, wenn einer der fünf Sinne ein wahrnehmbares Objekt unmittelbar er-
fasst.19 Zu den Idia bzw. den wahrnehmbaren Objekten zählen Farben, Töne, Druck, etc.

12
an. I 1, 402 a 5-7.
13
Vgl. dazu an. II 3.
14
Siehe dazu an II 4, 415 a 25-415 b 10.
15
Von ‚Eigenheiten’ der Wahrnehmung spricht auch BERNARD, in Bernard, S. 83. Hier wird der Begriff
ganz gleich verwendet.
16
Für DETEL siehe Detel, Halbband 1, S. 234. Seine Ergebnisse stehen in Zusammenhang mit dem
Schlusskapitel der Zweiten Analytiken ( rekurrieren jedoch dafür auf Über die Seele, II 6). Für BERNARD
siehe Bernard, S. 81. Er untersucht dort ebenfalls an. II 6.
17
Siehe Bernard, S. 85 und S. 113 ff.
18
Siehe Bernard, S. 86.
19
Detel, Halbbd. 1, S. 234.

5
Für die Wahrnehmung eines Idion gilt, dass ein wahrnehmbares Eidos durch einen
spontanen Akt wahrgenommen wird.20 Beim Hören etwa löst die Wahrnehmung die Be-
stimmtheit, das, was An-sich wahrgenommen wird, aus einem bestimmten Reiz heraus.
Da die Luftschwingung, über die ein Ton von einer Geräuschquelle an das Ohr gelangt,
ebenso von einem anderen Sinnesorgan als dem Ohre perzipiert werden kann, z. B. der
Haut, der Ton aber nur über das Ohr wahrgenommen wird, so ist es die Leistung des Be-
stimmten Sinnes, des seelischen Wahrnehmungsvermögens zu hören, aus dem Syntheton
Luftschwingung das wahrnehmbare Eidos, beispielsweise den Ton ‚C’, herauszulösen.21
Dieser analytisch vor sich gehende22 Teil der Wahrnehmung kann keiner Täuschung un-
terliegen, da sich die Wahrnehmung und das Wahrgenommene entsprechen; beides ist
aktual.23 Der Interpretation BENARDs zu Folge ist die „Wahrnehmung des Idion ein
spontaner Akt, eine analytische Tätigkeit, bei der die Wahrnehmung aus einem Syntheton
das wahrnehmbare Eidos herauslöst und aktual zu diesem wird“.24 Es sei etwas intelli-

20
Siehe Bernard, S.86.
21
Siehe zu dem Beispiel Bernard, S. 175 und zum Begriff der ‚Energeia’, der hier durch ‚Leistung’ ersetzt
wurde Bernard, S.179. Die Diskussion über die Rolle der Organe bei der Wahrnehmung soll hier außen vor
bleiben. Siehe dazu Bernard S. 90. Außerdem ders. S. 109, wo durch das Aufweisen materieller und
immaterieller Aspekte bei der Wahrnehmung eine in dieser Hinsicht „Doppelnatur der Wahrnehmung“
ausgemacht wird. Als Gegenbeispiel zu BERNARD und DETEL sei dennoch Folgende von BYNUM
stammende, mir als stärkste Abweichung von der hier gefolgten Interpretation bekannte Herangehensweise
skizziert.
Eine Überbetonung des Gegenstandes der Wahrnehmung bei einhergehender, rigoroser Trennung des
Wahrgenommenen von der Wahrnehmung:
„Aristotle assumes that the objects of perception are external things in the world“. (S. 93)
BYNUM teilt den Wahrnehmungssinnen zwar eine spezifische Aufgabe zu, - so ist nach seiner Lesart der
Sehsinn u.a. für die Farbe zuständig und so fort, die Fähigkeit und die Tätigkeit der Sinne lässt er allerdings
weitestgehend unberücktsichtigt.
„[The object of perception] has a spezific microstructure which gives it certain causal powers – sensibel
qualities – which act upon the sense-organs of animals.” (S. 95)
BYNUM muss unterstellt werden, dass er die “sensible qualities” Kraft der Vernunft der Dinge bei
Aristoteles verorten möchte. Wie ist es anders zu verstehen, wenn die Sinnesorgane zum Objekt und
lediglich zu einem solchen werden, auf die die „objects of perception“ einwirken? Keine Erwähnung des
Erfassens des idion Aistehton, also der Wahrnehmung des Eigentümlichen oder des maßhaften
Herauslösens des Eidos aus dem Syntheton qua Energeia.
Bynum, Terrell Ward: A new look at Aristotle’s theorie of perception. In: Durrant, Michael (Hrsg.): De
anima in focus, London und New York 1993, S. 90-109.
22
Alternativ kann statt ,vor sich gehen’ auch ‚funktionieren’ oder ‚geschehen’ gelesen werden.
23
Dazu Bernard, S. 93 als auch Bernard, S. 179. Dort: „Das Hypokaimenon ist das wahrnehmbare Eidos.“
Hypokaimenon ist auch hier ein inneres Objekt.
24
Bernard, S. 181. Da sich Wahrnehmung und Wahrgenommenes bei der eigentlichen Wahrnehmung
entsprechen, kann Bernard, wie in diesem Zitat erfolgt, von dem Seelenvermögen „Wahrnehmung des
Idion“ sprechen. Selbiges gilt weiter unten für die Koina. Um in dieser Arbeit eine Quelle der Irritation zu
vermeiden, ist diese Bezeichnung nur in dem Zitat zugelassen.

6
gibles, „als es selbst in der körperlichen Welt nicht Antreffbares ist, und nur durch die
spontane Erkenntnisleistung der Wahrnehmung“25 aktualisiert würde.

2.2 Die Wahrnehmung der Koina

Werden mehrere wahrnehmbare Idia zusammen und zugleich wahrgenommen, so spricht


DETEL von „überprüfender Wahrnehmung), die sich auf Qualitäten
richtet, die sich nicht spezifischen Objekten zuordnen lassen und in gewisser Weise von
allen Sinnen wahrgenommen werden können, wie z.B. Bewegung, Ruhe, Anzahl oder
Gestalt“,26 die sich ihrerseits aus unterschiedlichen Idia zusammensetzten. BERNARD
ordnet diese Koina der eigentlichen Wahrnehmung zu, da bei ihrer Erfassung jede
Seelentätigkeit, die nicht im engeren Sinne zur Wahrnehmung gehört, ausgeschlossen
bleibt. Zwar könne nicht von unmittelbarem Erfassen gesprochen werden, so doch von
der „Synthesis von unmittelbar Erfaßtem (nämlich der Idia), wobei sich diese Synthesis in
der Dimension der Wahrnehmung selbst bewegt, also nicht ins Bewußtsein erhobene
apprehendierte Einheiten verbindet.“27 Im Unterschied zu den Idia ist das Erkennen der
Koina ein synthetischer Vorgang, insofern mehrere Idia „durch Synthesis der aus der
Affektion der Organe unmittelbar unterscheidend erfassten Idia“28 gemeinsam und
zugleich wahrgenommen werden, was einer spontanen Wahrnehmung der Koina ent-
spricht. Da Aristoteles zu Folge der Irrtum immer in der Verbindung liegt,29 birgt die
Synthese Täuschungsgefahr.

2.3 Die reine Wahrnehmung in Verbindung mit höheren Vermögen

Wie die eigentliche und die ‚überprüfende Wahrnehmung’ (DETEL), so ist auch die nach
BERNARD dritte Art des Wahrnehmens auf das Erkennen innerer Objekte gerichtet.30
25
Bernard, S. 181.
26
Detel, Halbbd. 1, S. 234. Detel bezieht sich hierbei auf an. III 1, 425 a 27. Vgl. dazu Detel, Halbbd. 1,
S. 243.
27
Bernard, S. 130, Klammersetzung von BERNARD. Siehe dazu auch Bernard, S. 109 und an. II 4.
28
Bernard, S. 85.
29
Vgl. an. III 9, 430 b 1-2.
30
Bernard, S. 86 und Bernard, S. 177.

7
Und ebenso, wie die beiden anderen Arten der Wahrnehmung auf bestimmte Weise etwas
der Art nach bestimmtes wahrnehmen können, so auch die akzidentielle Wahrnehmung.
Bei ihr liegt eine weitere Art des synthetischen Wahrnehmens vor. Idia, Koina und Er-
kenntnisse, die sich aus höheren Vermögen als jenen der Wahrnehmung ergeben,
ermöglichen gemeinsam das Wahrnehmen von Akzidentiellem.31 Da nicht ausschließlich
Vermögen an diesem Vorgang beteiligt sind, die zu einer unmittelbaren Wahrnehmung
der Idia führen, ist die akzidentielle Wahrnehmung kein reiner Wahrnehmungsvorgang.32
Hier kommt zu dem Vermögen zu unterscheiden33 das erkennende Wahrnehmen hinzu.
Die „Wahrnehmung steckt als eine Komponente unter anderen in der komplexen
Erkenntnistätigkeit, die Aristoteles als akzidentelle Wahrnehmung bezeichnet.“34 So
vergegenwärtigen wir einen Gegenstand, den wir schon einmal gesehen haben, durch un-
ser Gedächtnis, auch wenn wir von diesem lediglich ihm akzidentiell zukommendes
wahrnehmen können. Die akzidentielle Wahrnehmung versucht durch die Herstellung
von Verbindungen auf die Identität des Wahrgenommenen zu schließen, d.h. einen
Gegenstand über bestimmte Merkmale als einen Bestimmten zu identifizieren.35 Bei ihr
besteht die Gefahr, das Wahrgenommene mit zuvor Wahrgenommenem zu ver-
wechseln.36 Wenn ich beispielsweise weiß, das Klaus weiß trägt und aus der Entfernung
etwas Weißes erkenne, kann ich mich darin täuschen, gerade ihn vor mir zu haben,
mitunter, weil Klaus nicht der einzige sein muss, der in dieser Farbe gekleidet ist.
Aristoteles kennt noch zwei weitere Formen des Erkennens durch die akzidentelle Wahr-
nehmung, auf deren Anführung hier verzichtet werden kann.37

2.4. Erkennen durch ein rein geistiges Vermögen: der Nous

Von der Wahrnehmung der Koina, als auch von der akzidentellen Wahrnehmung bleibt
festzuhalten, dass sie auf „höchst komplexen Synthesis“38 beruhen. Aber im „Bewußtsein

31
Dazu Bernard, S. 85 und Bernard, S.176.
32
Siehe Bernard, S. 82.
33
Vgl. Bernard, S. 79.
34
Bernard, S. 82.
35
Dazu Bernard, S. 177.
36
Siehe dazu auch met. VI 4, 1027 b 36 ff.
37
Siehe dazu Detel, Halbbd. 1, S. 242.
38
Bernard, S. 132.

8
findet man von diesen komplizierten Vorgängen gewöhnlich (außer ihrem Ergebnis, dem
‚Sinnesdatum’) nichts vor, man macht sie sich kaum bewußt.“39 Die Grundlagen dieser
Vorgänge sind bei der akzidentellen Wahrnehmung beispielsweise das Erinnerungs- oder
das Lernvermögen. Sie werden im Vergleich zu den reinen Wahrnehmungsvermögen als
etwas Höheres bewertet,40 dürfen jedoch nicht von den Wahrnehmungsvorgängen isoliert
betrachtet werden, da sie bei diesen potenziell und im Falle ihres Tätigseins unmittelbar
spontan aktiv sind. Von dem Komplex des weitestgehend nicht vergegenwärtigten
Wahrnehmens muss die Erkenntnistätigkeit des  zum Zwecke ihrer Darstellung ab-
gegrenzt werden. Dabei sei im Auge behalten, dass der Nous in der aristotelischen
Seelenlehre auf bestimmte Weise zu den Wahrnehmungsvermögen zu zählen ist. In
Interpretation von De Anima III 4, 429 a 24-b 9 macht BERNARD dazu Folgendes
deutlich:

„Der Nous beurteilt und unterscheidet […] die eigentliche, intelligible Be-
stimmtheit (und nicht nur die wahrnehmbare), und diese wird nicht aus der
Einwirkung eines äußeren Syntheton auf die Organe (das ja selbst auch ein
Syntheton ist) erkannt, sonder rein geistig. Während also die Wahrnehmung das
Intelligible, das sie erkennt, aus einem Affiziertwerden der Organe erfaßt und
deshalb gewissermaßen eine körperliche, erleidende Seite und eine geistige, er-
kennende Seite hat, ist der Nous in jeder Hinsicht von körperlichem Erleiden
frei.“41

Die Seelentätigkeit des Nous ermöglicht das wesensmäßige Erfassen dessen, was sich der
Wahrnehmung aufgrund ihrer Verbundenheit mit dem Wahrgenommenen entzieht. Es ist
die Sache des Nous, und nicht die einer der beschriebenen Formen der Wahrnehmung,
über das Wahrgenommene und schließlich auch über das Wahrnehmbare, zu disponieren.
Mit Einschränkung ist deshalb die Wahrnehmung eine Voraussetzung für die Tätigkeit
des Denkvermögens, insofern dem Intellekt ohne die Wahrnehmung der Gegenstand der
Bestimmtheit im Sinne etwas ‚außerhalb (und noch nicht innerhalb) des Denkens
befindlichen’ nicht zur Verfügung stünde. Dennoch ist das Denkvermögen ein rein gei-
39
Bernard, S. 132. Klammern gesetzt von BERNARD.
40
Siehe auch dazu Detel, Halbbd. 1, S. 242.
41
Bernard, S. 185. Runde Klammern gesetzt von BERNARD.

9
stiges, unkörperliches: das Erkennen der Bestimmtheit ist, so oben bereits erwähnt, ein
Akt des Beurteilens und Unterscheidens von Intelligiblem. Dieses Vermögen bedarf
keines äußeren Anstoßes und muss daher aus sich selbst heraus tätig sein.42

Die wichtigste Fähigkeit des Nous ist das Denken des Ungeteilten.43 Dabei geht er
„diskursiv denkend und vermutend“44 vor, womit eine Voraussetzung für das
Unterscheiden dessen, was der Wahrnehmung nach ungeschieden bleiben muss, gegeben
ist. Im Unterschied zur Wahrnehmung, die lediglich zu jeder wahrnehmbaren Be-
stimmtheit werden kann, ist das Herausragende des Nous, aktual zu jeder Bestimmtheit
werden zu können,45 indem er, vergleichbar mit der reinen Wahrnehmung, in einem
spontanen Akt der Aktualisierung unterscheidend tätig ist; jenes Eine eigenständig und
aus eigenem Antrieb heraus zu bestimmen sucht.46
Somit ist der Nous potentiell ansatzlos analytisch tätig.47 Aktuales Erkennen ist
jedoch ebenso aufbauend auf bereits gemachte Erkenntnis möglich, beispielsweise im
Lernprozess. Für Neues als auch auf einer Erfahrungsstufe gilt deshalb, dass die Tätigkeit
des Nous ausgehend von der bloßen Möglichkeit seines Tätigseins zu einem Vermögen
für eine Bestimmte Art der geistigen Erkenntnis werden kann.48 Diese Denkfigur findet
sich ebenfalls im Eingangskapitel der Physik und im Schlusskapitel der Zweiten Analytik
wieder.

Im aristotelischen Sinne, dass nämlich die Erkenntnis von etwas Bestimmten dem Wissen
um dieses Bestimmte vorausgeht,49 muss die hier vorgetragene Verwendung des Be-
griffes ‚Denken’, gekoppelt mit dem griechischen , von der neuzeitlichen
Verwendung des Begriffes getrennt betrachtet werden. DETEL als auch BERNARD
42
Vgl. dazu Bernard, S. 186.
43
Vgl. dazu an. III 6, 430 a 26-28 als auch Bernard, S. 188 und an. post. 99 b 35.
44
Bernard, S. 183.
45
Vgl. Bernard, S. 183.
46
Siehe dazu Bernard, S. 181.
47
SCHMITZ sieht in der „Gestalt des Potentiellen“ (S. 392) eine von Aristoteles vorgenommene
Weiterführung der platonischen Prinzipienlehre, insofern das zweite Prinzip (Schmitz), also das
nichtseiende Seiende im Gegensatz zum seienden Einen als potenziell Seiendes in die Kategorien von
Aristoteles Eingang fand. Siehe Schmitz, Hermann: Die Ideenlehre des Aristoteles, Bd. 2: Platon und
Aristoteles, Bonn 1985.
48
Siehe dazu Bernard, S. 184-186 und Bernard, S. 239.
49
Wie dies zu verstehen ist, zeigt THOMAS auf außerordentliche elegante Weise: „[I]t must be said that the
things which define are in themselves known to us before that which is defined, but we know the thing
which is defined before we know that these are the things which define it.” (Thomas, L. I, 1. I, 10.)

10
weisen auf die bewusstseinsphilosophischen Einflüsse hin, die zu einer Be-
deutungsverschiebung mit cartesischer Tendenz geführt haben.50 In der aristotelischen
Erkenntnistheorie ist die Tätigkeit des Nous weder die Sache eines reinen Bewusstseins
(so etwas hat Aristoteles nicht bestimmt), obgleich sie rein geistig ist, noch hat sie eine
Verbindung zu dem heutigen Verständnis von der Wahrnehmung, das lediglich die Wahr-
nehmungsorgane, einschließlich des Gehirns, in den Blick nimmt. So kann die
Formulierung gelten, dass wir mit dem Nous in bestimmter Weise geistig wahrnehmen.

3. Das Erlangen eines ersten Allgemeinen

Hiernach, und auch weil die Wahrnehmung eine rezeptive und eine spontane Seite be-
sitzt, braucht es nicht wundernehmen, wenn DETEL mit Bezug zu einer Textstelle in der
Nikomachischen Ethik51 und einer weiteren in der Metaphysik52 für Aristoteles sagt: „In
einige Fällen können wir sogar Prinzipien durch Wahrnehmung auffinden.“53 DETEL hat
hierbei ein induktives Verfahren des Wissenserwerbes im Auge, das unbedingt abläuft
und bereits in der Verfasstheit der menschlichen Seele wurzelt. Ein Erkenntnisprozess,
der auf diese Weise unwillkürlich Faktisches ans Licht bringt, entzieht sich jeder
Überprüfbarkeit.54 Deshalb ist einer induktiv gewonnenen Erkenntnis, obgleich sie etwas
Allgemeines ist, der Anspruch auf Allgemeingültigkeit verwehrt:

„Es ist aber ein Prinzip keine Voraussetzung (hypothesis) und kein Postulat
(aitema), wenn es durch sich selbst notwendig wahr ist und notwendig wahr er-
scheint. Denn einen Beweis für ein solches Prinzip gibt es nicht im Sinne eines
äußeren Grundes, sondern nur im Sinne eines Grundes in der Seele, da es hier
ebenso wenig in dem ersten Sinne einen Schluß gibt. Denn gegen den äußeren

50
Für Detel siehe Halbbd. 2, S. 239. Bernard widmet diesem Thema ein eigenes Kapitel.
51
EN I 7, 1098 b 3-4.
52
met. VI 1, 1025 b 12.
53
Detel, Halbbd. 2, S. 244.
54
„…denn auf sie [die Wahrnehmung; Colmer] treffen die Kategorien ‚Wahrheit’ und ‚Falschheit’ nicht
zu.“ Detel, Halbbd. 1, S. 235.

11
Grund kann man immer einen Einwand erheben, aber nicht immer gegen den
inneren Grund.“55

Das Allgemeine zu besitzen ist möglich, wenn es notwendig wahr erscheint. Erst
durch das Auffinden von weniger Bekanntem als des bereits induktiv Gewonnenen
wird das das Allgemeine zu einem Prinzip (Voraussetzung) verfestigt56. Hiermit
wiederum kann das weniger Bekannte demonstriert, also in einen größeren
Zusammenhang gestellt werden.57 Dabei wird die Abhängigkeit des Allgemeinen von
den Einzelheiten die es stützen, deutlich. Um diese Bindung zu unterstreichen betont
DETEL in Interpretation der Zweiten Analytik I 2, 72 a 25-32, dass

„eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür, daß x in höherem Grade


bekannt ist als y, die Einsicht ist, daß y durch x demonstriert werden kann; daß x
also in höherem Grade bekannt ist als y, läßt sich gerade nicht in jenem […]
Sinne verstehen, daß die Kenntnis des Prinzips x zunächst unabhängig von sei-
ner Beziehung zu y endgültig zu sichern ist.“58

Zur Abhängigkeit ‚x von y’ bedarf es notwendiger Weise auch die umgekehrte


Beziehung, indem x als Grundlage für das Erkennen von y bereits vorhanden sein muss.
Hiermit bewegen wir uns in der Kernproblematik des letzten Kapitels der Zweiten
Analytik. Es braucht einen Anfangshabitus, damit Erkenntnis im Sinne von Lernen
vorangehen kann.59 Deshalb ist es unangebracht, die Prinzipien bei einem Neugeborenen
in aller Ausprägung zu erwarten, obgleich sie – eben prinzipiell – angelegt sind. Denn
dies führte dazu, dass die Erkenntnis gewisser wäre als die spätere Beweisführung.60
Dagegen spricht jede Erfahrung, in sofern man über „gesicherte Erkenntnis“ spricht.
Doch die an das Eidos gebundene Erkenntnis ist davon ebenso wenig betroffen wie die
durch den Nous erzielte. „Notwendig müssen wir somit bereits irgendein Vermögen

55
an. post. I 10, 76 b 23 f. Klammern gesetzt vom Übersetzer.
56
‚Prinzip’ im Sinne von met. V 1, 1013 a 14.
57
Siehe dazu Detel, Halbbd. 1, S. 297.
58
Detel, Halbbd. 1, S. 302.
59
Siehe an. post. II 19, 99 b 29.
60
Siehe an. post. II 19, 99 b 27.

12
haben, aber kein solches, daß an Gewißheit über den gedachten stände.“61 Dieses ist eine
„angeborene Urteilskraft“62 bzw. „angeborenes Unterscheidungsvermögen“63.

Bei allen zum Lernen befähigten Wesen „stellt sich ein Beharren und Bleiben des
sinnlichen Wahrnehmungsbildes ein“64, das auch bei neuen Wahrnehmungen bleiben und
erinnert werden kann. Letzteres, wenn es mit weiteren Eindrücken eine vorstellbare
Einheit (Begriff) bildet.65 Viele der Erinnerungen bilden wiederum e i n e Erfahrung,66 die
auch als ein Allgemeines betrachtet werden kann, das sich in der Seele abgesetzt hat.67
In diesem „Einen a u ß e r den vielen, das als Eines zugleich in allen ist“,68 liegt, „wo es
sich um das Seiende handelt“,69 das Wesen70 der Wissenschaft; die Kehre von der
Induktion in den deduktiven Rückschritt auf das rationalisierte Eine. Aristoteles
verdeutlicht, wie wir zu einem ersten Prinzip gelangen:

„Wenn eine der individuellen Erscheinungen, die sich nach der Art nicht mehr
unterscheiden, zum stehen gekommen ist, so ist ein erstes Allgemeines in der
Seele erreicht – denn man nimmt das Einzelne wahr, aber die Wahrnehmung
geht auf ein allgemeines Objekt; sie geht z. B. auf den Menschen, nicht auf den
Menschen Kallias –. Dann kommt es wieder bei diesen zum Stehen, bis sich das
Unteilbare und Allgemeine einstellt, z. B. bei einem Sinnenwesen von der und
der Art, bis das Sinnenwesen erreicht ist, bei dem es dann ebenso weiter geht.
Man sieht also, daß wir die ersten Prinzipien durch Induktion kennen lernen
müssen. Denn so bildet auch die Wahrnehmung uns das Allgemeine ein.“71

Zum Ende des Kapitels II 19 wird betont und mit einer längeren Begründung vor-
getragen, dass der Nous die notwendige Voraussetzung für die Prinzipien ist und diese
61
an. post. II 19, 99 b 33.
62
So übersetzt ROLFES die Textstelle an. post. II 19, 99 b 35. Ebenso DETEL.
63
an. post. II 19, 99 b 35, nach der Übersetzung von BERNARD.
64
an. post. II 19, 99 b 36.
65
an. post. II 19, 100 a 3.
66
an. post. II 19, 100 a 5.
67
an. post. II 19, 100 a 6.
68
an. post. II 19, 100 a 7.
69
an. post. II 19, 100 a 9.
70
Als das Wesen der Wissenschaft ist an dieser Stelle ihre konstitutive Ausrichtung (Zweck) als das ihr
innewohnende Prinzip zu Verstehen. Siehe dazu met. V 1, 1013 a 20.
71
an. post. II 19, 100 a 17-100 b 5.

13
keines Beweises bedürfen. Der Nous muss als gesicherter gelten muss als die Prinzipien,
da er die Fähigkeit hat, diese zu erkennen.

4. Der Erwerb von Kenntnis in der Wissenschaft

In der aristotelischen Wissenschaftskonzeption steht im Vordergrund, dass vom


Komplexen (Ganzheit) zum Einfachen (Einzelheit) die Forschungsrichtung vorgegeben
ist.72 Dies impliziert die methodologisch Annahme, dass am Beginn jeder Art von Wis-
senschaft von den einzelnen Eindrücken ausgehend bereits ein gewisser Begriff von dem
Untersuchungsgegenstand gewonnen wurde.73 Alles was bisher zur Seele und ihrem Ver-
mögen, Kenntnisse zu gewinne, gesagt wurde, hat konkreten Bezug zu der aristotelische
Vorstellung vom Vorgehen der Wissenschaften. Am besten Einzusehen ist dies in dem
ersten Abschnitt der Physik. Hier beschreibt Aristoteles, warum bei der Wissenschaft von
der Natur zunächst über die Grundsätze Bestimmungen getroffen werden müssen, und
wie es möglich ist, zu diesen zu gelangen. Ausgangspunkt für ihn ist die Annahme, dass
ein Gegenstand dann erkannt ist, wenn wir seine „ersten Ursachen zur Kenntnis gebracht
haben und seine ersten Anfänge […] bis hin zu den Grundbausteinen.“74

Da eine Ganzheit, wenn sie nicht schon als etwas Einfaches bestimmt ist, weiter
vereinfacht werden kann, ist das Ganze immer auch potenziell teilbar. Was heißt das für
die Wissenschaft? Man stelle sich vor, dass der Umstand der Teilbarkeit Einblick gewährt
in das zuvor Vermengte. Dann liegt es nahe, die Ganzheit nach ihrer Zusammensetzung
zu befragen. Die Erkenntnisweise der Seele, genauer, das Vorgehen des Nous, berge, so
Aristoteles, das Prinzip der Kunst und der Wissenschaft.75 Ist es so, dass dies den Kern
der Wissenschaft darstellt: ihr Antrieb die Einsicht in Teilbares bzw. die Sicht auf nicht
mehr Teilbares ist; ihr Gegenstand das Ganze ist, sie sich aber auf die Ganzheit richtet,
um das Einzige, das Elementare zu finden?

72
Siehe phy. I 1, 184 a 22 und met. I 2, 983 a 13-24.
73
Vgl. dazu Detel, Halbbd. 2, S. 248.
74
phy. I 1, 184 a 13-15.
75
an. post. II 19, 100 a 5-14.

14
Die Problematik liegt dabei tiefer als die Frage nach dem Warum oder Wohin der
Forschungsrichtung von vorn herein vermuten lässt. Wie oben beschrieben, ist bei Aris-
toteles der Beginn eines wissenschaftlichen Prozess bereits bei der Sinneswahrnehmung
angesiedelt, so dass eine erkenntnistheoretische Unklarheit unmittelbar mit dem
Forschungsobjekt verwoben ist. Deshalb besteht die Forderung nach wissenschaftlicher
Redlichkeit, zuerst die Wahrnehmung als Problem aufzufassen und zu behandeln, bevor
das Verständnis in der Wissenschaft genauer betrachtet wird. Denn aus ihr bilden sich die
Prinzipien im Sinne eines ersten Allgemeinen. Welche Stellung die Prinzipien
einnehmen, problematisiert THOMAS folgender Maßen: „In all sciences of which there
are principles or causes or elements, understanding and science proceed from a
knowledge [procedit ex cognitione] of the principles, causes and elements. But the
science which is about nature has principles, elements and causes.”76 Zum einen erfolgt
Verstehen und Wissen aus der Kenntnis bestimmter Prinzipien heraus. Zum anderen
muss jeder Wissenserwerb von der Natur bereits Prinzipien haben, um etwas als etwas
Bestimmtes zu erkennen. Aber es ist, ähnlich scheinbar paradox wie beim ersten
Allgemeinen, zugleich die Aufgabe der Wissenschaft, Prinzipien zu finden.
Erschwerend kommt die Feststellung hinzu, dass sich die Sinnesorgane selbst nicht
täuschen, was bedeutet, dass die Wahrnehmung keine physiologischen Probleme auf-
wirft, sondern die Erkenntnis bei Aristoteles lediglich auf theoretischer Ebene in Frage
gestellt sein kann: durch die fehleranfällige Synthese, in soweit sie reflexiv begleitet wird,
und durch die Konklusion.

Wie ist also die Bestimmung von Prinzipien möglich, wenn Unklarheit über den
Untersuchungsgegenstand herrscht? Es erfordert eine zweifache Differenzierung des
Erkenntnisproblems vom Forschungsobjekt:

a) Zuerst mit Hinsicht auf den Untersuchungsgegenstand selbst, mit dessen


Erkennbarkeit seine Untersuchbarkeit in Frage steht, und
b) mit dem Gegenstand der Untersuchung als einer ausstehenden Prinzipienbestimmung.

76
Thomas, L. I, 1. I, 5. Der in Klammern gesetzte Text gibt den lateinischen Originaltext wieder.

15
zu a)
Aristoteles gibt an, dass für jeden, der Wissenschaft betreibt, zwangsläufig „der Weg von
dem uns Bekannteren und Klareren hin zu dem in Wirklichkeit [der Natur nach;77 - C.C.]
Klareren und Bekannteren“78 führen muss. Dabei meint er nicht „known by nature as if
nature knew these things, but because they are better known in themselves and according
to their proper nature [its being as the certain knowledge; C.C.].“79 Da der Mensch
unumgänglich mittels seiner Wahrnehmung immer erst komplexes Ganzes als Teil der
Welt für wahrnimmt, ist er genötigt, vom empirisch Gegebenen auszugehen. Dieses stellt
sich immer als ein erstes Allgemeines dar. Von dem für uns anfangs im wahrsten Sinne
des Wortes einsehbareren führt der Weg zu dem, was zuerst nicht einsehbar ist, also für
uns verborgen. Letzteres aber birgt das eigentliche Wesen der Natur, weshalb dessen
gedankliche Erfassung das Ziel ist.

Dabei kann dem Ganzen in zweifacher Hinsicht eine besondere Rolle beigemessen
werden: Einmal als kategoriale Bestimmung von Einheit, zum anderen als potenziell
funktionaler(!) Bestandteil der Wissenschaft. Da Aristoteles angibt, dass „Ganzheit [...]
aber doch so ein Ganzes [bedeute, weil die] allgemeine Ganzheit [viele] Einzelmomente
als ihre Teile“80 umfasse, ist zum einen Ganzheit klar definiert als die Fassung alles
Partikularen. Hinzu kommt gleichwohl, dass der Erkenntnisstand des Untersuchenden un-
mittelbar an das als konkret-gegeben Aufgefasste gebunden ist. Denn alles, was sich dem
Untersuchenden als Ganzes präsentiert, muss er für wahr nehmen und das, was sich nicht
als Ganzes zeigt, liegt ihm ohne Kontext, nicht in wahrheitsfähiger Weise vor, nämlich
konfus. Dies weist auf die Eigenschaft von Ganzheit, sich für den Untersuchenden als
konkretes Vereinzeltes darzustellen, womit ein Teil der wissenschaftlich relevanten
Funktionalität von Ganzheit offensichtlich wird.81 Ein Ganzes für sich genommen kann
also immer als erkannt gelten, da es ansonsten nicht als solches, sondern anders vorläge.
Außerdem ist das, was man als wahrhaft erkennt, eine Ganzheit. Dabei scheint ein
allgemeines Prinzip alle Teile einer Ganzheit in sich zu vereinen, zu einer Einheit zu ma-

77
Vgl. dazu an. post. I 2, 72 a 1-5. Auf die inhaltliche Unterscheidung dieser Stelle mit phy. I 1,
184 a 16 wird in dieser Arbeit nicht Rücksicht genommen. Siehe dazu Thomas, L. I, 1. I, 8.
78
phy. 184 a 16.
79
Thomas, L. I, 1. I, 7.
80
phy. I 1, 184 a 23.
81
Siehe dazu auch Aristoteles’ eigene Beispiele in phy. I 1, 184 a 26-184 b 5.

16
chen. Schließlich haben wir eine gewisse Vorstellung von dem schlichtweg Allgemeinen,
wir fassen es begrifflich.

zu b)
Im Anschluss an die von den Sinnen geleistete Arbeit ist es der Verstand, der eine
Analysis vollzieht, und so das uns komplex, aber gleichzeitig auch confus-vermengt
Entgegentretende in seine „ Grundbausteine und [...] Grund-Sätze“82 zerlegt. Wie aber
unterscheidet man etwas, das als Ganzes vorliegt von Einzelnem bzw. von dem, was als
Teilweises im Sinne von unterer Einheit bezeichnet werden muss?
Aristoteles klärt im ersten Buch der Physik darüber auf, dass die Anfangsgründe
gegensätzlich sein müssen,83 um für sich als einzelne Gründe stehen zu können, es ihrer
also mehre gibt und sie verschiedener Art sein müssen. Daraus folgt, dass sie nicht
auseinander herleitbar sein können.84 Insofern die Wahrnehmung am Anfang des
Erkenntnisprozesses steht, muss der je-weils erste Eindruck von etwas (im Sinne von „…
das: es ist“) als abgeschlossene Einheit angesehen werden, wobei hier die gesamten
Wahrnehmungsvermögen tätig sind. Sie richten sich auf das Einzelne.85 Dadurch erhalten
wir eine Art Ganzes, das der Qualität nach der Sinneswahrnehmung bekannter ist.86

Weiterhin ist aber die Erkenntnistätigkeit des Nous zu der Erkenntnistätigkeit der Seele
hinzuzudenken. Auch der Nous bringt durch sein besonders Vermögen ein von der Wahr-
nehmung zu unterscheidendes Erkennbares hervor. Dieses ist ebenfalls eine Art
Anfangsgrund. Der Nous richtet sich auf das Allgemeine und sucht, dieses begrifflich zu
umfassen.87 Dadurch erhalten wir eine Art Ganzes, das der Qualität nach dem Intellekt
bekannter ist und in zeitlicher Hinsicht des der Sinneswahrnehmung bekannteren nach-
gestellt ist.88

Wie oben bereits in der Untersuchung des letzten Kapitels der Zweiten Analytik
dargestellt, ist das Vermögen zu unterscheiden grundlegend dafür, dass wir die ersten
82
phy. I 1, 184 a 22.
83
phy. I 5.
84
Siehe direkt dazu Topik VI, 142 a 3. Des weiteren Topik VI, 141 b 3 ff.
85
phy. I 5, 189 a 5-8.
86
Vgl. Thomas, L. I, 1. I, 9.
87
phy. I 5, 189 a 5-8.
88
Vgl. Thomas, L. I, 1. I, 9.

17
Prinzipien erkennen. Wir sahen, „daß wir die ersten Prinzipien durch Induktion kennen
lernen müssen. Denn so bildet auch die Wahrnehmung uns das Allgemeine ein.“89 An
dem Punkt, an dem nicht mehr unterschieden werden kann, ist das erste Allgemeine
erreicht. Dies ist demgemäß zu verstehen, als dass ein Begriff keine begrifflichen Kate-
gorien über der seinigen besitzt, er also Oberbegriff ist. Aber wirkliches Wissen von dem
Untersuchungsgegnstand haben wir erst, wenn wir ihn auseinander nehmen und auf seine
ersten Gründe zurückverfolgen. In sofern kennen wir etwas, von dem wir lediglich einen
Begriff haben, in vermengter und unklarer Weise. Dies aber ist die Voraussetzung dafür,
jenes, was im Allgemeinen potentiell, als sein Kern angelegt ist, überhaupt erkennen zu
können.90

5. Zusammenfassung

Die Wahrnehmung eines Idion, also einer Farbe, eines Tones oder von Druck, ist ein
spontaner Akt, der analytisch und deshalb täuschungsfrei vor sich geht. Wahrnehmung
und Wahrgenommenes entsprechen sich. Es ist etwas intelligibles, also unkörperliches,
was ansatzlos aktualisiert wird: das wahrnehmbare Eidos. Dieses aber lässt sich einem
wahrnehmbaren Objekt zurechnen. Die Entsprechung von Wahrnehmung und Wahr-
genommenen ist auf die maßhaft Bestimmtheit des Eidos zurückzuführen,91 die aktual auf
beides zutrifft.

Die Wahrnehmung der Koina entsteht aus der Synthese der wahrgenommenen Idia. Be-
wegung, Ruhe, Anzahl oder Gestalt sind nicht unbedingt täuschungsfrei festzustellen, da
im Ziehen von Verbindungen die Gefahr des Irrtums liegt. Die Koina werden von
mehreren Sinnen erfasst.

Auch die akzidentelle Wahrnehmung läuft synthetisch ab. Idia, Koina und Erkenntnisse
höherer Vermögen als die der Wahrnehmung werden bei ihr verbunden. Sie zielt darauf,

89
an. post. II 19, 100 b 4.
90
Vgl. Thomas, L. I, 1. I, 7.
91
Siehe dazu Bernard, S. 93 und Bernard, S. 175.

18
die Identität des Wahrgenommenen zu erfassen. Wie die Wahrnehmung der Idia und der
Koina hat die akzidentelle Wahrnehmung innere Objekte zum Gegenstand.

Im Unterschied zu den oben aufgeführten Wahrnehmungsvermögen ist der Nous rein


geistig tätig. Für seine Aufgabe spielen die Sinnesorgane keine Rolle. Wie im letzten Ka-
pitel der Zweiten Analytik klar herausgestellt ist, besteht diese im Unterscheiden. Auf das
begriffliche Allgemeine zielend ist seine wichtigste Fähigkeit, das ungeteilte zu denken.
Seine Tätigkeit eröffnet potentiell, zu lernen. Die Prozesshaftigkeit des Lernens findet
sich als Denkfigur in den Abhandlungen ‚Über die Seele’, ‚Physik’ und in der ‚Zweiten
Analytik’ wieder.

Was Aristoteles unter Erkenntnis versteht, ist hinreichend mit der Darlegung seiner
Seelenlehre in Hinblick auf das Wahrnehmungs- und Denkvermögen erklärt. Daran muss
sich die aristotelische Konzeption von Wissenschaft notwendig orientieren: Ein erstes
Allgemeines von einer Sache zu haben ist das Resultat von induktiv gewonnener
Erkenntnis. Die Grundlage dafür ist das Seelenvermögen der Urteilskraft, das durch die
Tätigkeit des Nous zum Tragen kommt. In einem Prozess der Erkenntnis, der mit dem
Lernen gleichgesetzt werden kann, entsteht über Erinnerungen eine Erfahrung, die
wiederum in ihrer Bedeutung mit weiteren Erinnerungen in Bezug stehen kann. Die Er-
fahrung lässt gegebenen Falls in Bezug auf die Erinnerungen Deutung zu. Das
Allgemeine steht also zu den Einzelheiten in einem wechselseitigen Verhältnis. Der
Erkenntnisweg ist vom vermengten Eindruck durch die Sinne zur eindeutigen Erfahrung
vorgegeben. Und da die Erkenntnis nicht von Geburt an vorhanden ist, dagegen jedoch
die Seelenvermögen, durch die wir Erkenntnis hervorbringen, so ist in dem vorgegebenen
Verlauf des Erkenntnisgewinns das Prinzip der Wissenschaft zu sehen.

Zu bedenken ist dazu, dass etwas in zweifacher Hinsicht bekannt und klar sein kann. Zum
einen der Sinneswahrnehmung nach; ein dem Intellekt nach weniger durchdrungener
Untersuchungsgegenstand. Zum anderen nach dem Intellekt; ein für die
Sinneswahrnehmung unsichtbarer Untersuchungsgegenstand. Da unsere Erkenntnis von
der Sinneswahrnehmung ihren Ausgang nimmt und weil das dem Intellekt nach klare und
bekannte auch der Natur nach offensichtlich ist, führt der vorgegebene Weg einer wissen-

19
schaftlichen Untersuchung von der generalisierten Einheit zu dem eindeutigen, also für
sich stehenden Einen.

20
6. Literatur und Abkürzungen

In das Literaturverzeichnis ist nur die in dieser Arbeit zitierte Literatur aufgenommen.

Abkürzungen im Primärliteratur, Übersetzungen


Anmerkungsapparat

an. ………………………………….. Aristoteles, Über die Seele, übersetzt


von Theiler, Willy, bearbeitet von Seidl,
Horst, Hamburg 1995.

phy. …………………………………. Aristoteles, Physik, übersetzt von Zekl,


Hans Günter, Hamburg 1995.

anal. post. …………………………... Aristoteles, Lehre vom Beweis oder


Zweite Analytik, übersetzt und mit An-
merkungen versehen von Rolfes, Eugen,
Nachdr. von 1922, Hamburg 1990.

met. …………………………………. Aristoteles, Metaphysik, griechisch-


deutsch, Neubearbeitung der Über-
setzung von Bonitz, Hermann (o. J.),
hrsg. von Seidl, Horst, Halbbd. 1,
Hamburg 1989.

met. ………………………………… Aristoteles, Metaphysik, griechisch-


deutsch, Neubearbeitung der
Übersetzung von Bonitz, Hermann (o.
J.), hrsg. von Seidl, Horst, Halbbd. 2,
Hamburg 1991.

EN …. Aristoteles, Nikomachische
Ethik

Topik …. Aristoteles, Topik

21
Abkürzungen im Sekundärliteratur
Anmerkungsapparat

Bynum, Terrell Ward: A new look at


Aristotle’s theorie of perception. In:
Durrant, Michael (Hg.): De anima in
focus, London und New York 1993, S.
90-109.

Bernard ……………………………... Bernard, Wolfgang: Rezeptivität und


Spontanität der Wahrnehmung bei
Aristoteles, Bonn 1988.

Detel, Halbbd. 1 …………………….. Flashar, Helmut (Hg.): Aristoteles:


Werke in deutscher Übersetzung, Bd 3,
Teil 2, Analytica Posteriora, übersetzt
und erläutert von Detel, Wolfgang,
Halbbd. 1, Berlin 1993.

Detel, Halbb. 2 ……………………... Flashar, Helmut (Hg): Aristoteles:


Werke in deutscher Übersetzung, Bd 3,
Teil 2, Analytica Posteriora, übersetzt
und erläutert von Detel, Wolfgang,
Halbbd. 2, Berlin 1993.

Schmitz, Hemann: Die Ideenlehre des


Aristoteles, Bd. 2: Platon und Aris-
toteles, Bonn 1985.

Thomas ……………………………... St. Thomas Aquinas: Commentary on


Aristole’s Physics, Translation and
Introduction by John P. Rowan,
published by Yale University Press (o.
O.) 1999.

22

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