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Aristoteles und aristotelische Substanzen

Der Begriff der Substanz ist in der Philosophiegeschichte eng mit


dem Namen des Aristoteles verkniipft; wann immer in der onto­
logischen Diskussion die Annahme von Einzelsubstanzen ins Spiel
kommt, wird auf ,aristotelische Substanzen< hingewiesen; darun­
ter versteht man zumeist konkrete, mittelgrofle Einzeldinge, die
als Trager von wechselnden Eigenschaften dienen und iiber einen
langeren Zeitraum hinweg ihre Identitat behaupten ki:innen; <lurch
den Ausdruck ,Substanz, wird dabei zugleich die Behauptung an­
gedeutet, class es sich dabei nicht um irgendwelche, sondern um
die grundlegenden Entitaten handelt, so class diese nicht von an­
dersartigen Entitaten, sondern alle anderen Entitaten von diesen
abhangig sind.
Tatsachlich finden wir bei Aristoteles eine Theorie, die als Hin­
tergrund for diese Art von Substanzbegriff dienen kann: Aristote­
les vertritt die Auffassung, class Einzeldinge ,Subjekte< oder ,Sub­
strate< (griech.: hypokeimenon) sowohl for Eigenschaften als auch
for Arten sind: das bedeutet zum einen, class Eigenschaften immer
nur an einem bestimmten Trager vorkommen ki:innen (wie z. B.
die Eigenschaft der Kahlki:ipfigkeit immer einen Trager braucht,
der diese Eigenschaft aufweist), und zum anderen, class man nur
solche allgemeine Arten annehmen wird, die <lurch irgendwelche
Einzeldinge tatsachlich exemplifiziert werden. Diese individuellen
Substrate bezeichnet Aristoteles auch mit dem griechischen Begriff
,ousia,, welcher dann in den lateinischen Ubersetzungen der Aris­
totelischen Werke als ,substantia, wiedergegeben wurde; und dar­
aus wiederum wurde der deutsche Ausdruck ,Substanz< bzw. der
englische Ausdruck ,substance< usw. gebildet. Auf diese Weise lasst
sich unser Begriff der Substanz zwar mehr oder weniger direkt auf
Aristoteles zuriickfohren, es ist aber keineswegs so, class der als
,Substanz, iibersetzte griechische Ausdruck ,ousia, einfach das Ein­
zelding bezeichnen wiirde; tatsachlich ist die Begriffsgeschichte von
146 Christof Rapp Aristoteles und aristotelische Substanzen 147

>ousia< etwas komplizierter, und man handelt sich schnell Probleme usw.) und dementsprechend unterschiedliche Entitäten als >ousia<
ein, wenn man diese nicht zur Kenntnis nimmt: identifizieren.
Platon führt den Begriff in dieser Bedeutung in die Philowphie
ein. Wenn er die unvergänglichen Formen oder Ideen als >ousia< be-
1. Substanz (ousia): ein kurzer Ausflug in die Begriffsgeschichte zeichnet dann stellt er sie damit den vergänglichen Gegenständen
der Sinn~nwelt gegenüber, welche immer im >~erden_< begri~fen u~_d
Vor Aristoteles war der Begriff als philosophischer Terminus vor al- daher (für Platon) nicht wirklich oder eigentlich '.seiend< s~nd: F_ur
lem bei Platon und dessen Nachfolgern in der Akademie gebräuch- ihn sind die Ideen das wirklich und eigentlich Seiende, weil sie 1m
lich. Zwar gibt es auch eine vor-philosophische Verwendung des Unterschied zu den konkreten Dingen erstens nicht vergänglich und
Wortes >ousia<, das so viel wie >Besitztum, Vermögen< bezeichnet, zweitens im vollen Sinn erkennbar sind. In einer weiteren Verwen-
jedoch ist diese Gebrauchsweise für die philosophische Begriffs- dung von >ousia< kann Platon damit aber auc~ dasj~nige _bezei~h-
bildung kaum von Belang. Die philosophische Aneignung des nen was an einem konkreten Gegenstand das e1gentl1ch Seiende 1st,
Ausdrucks >ousia< hat vielmehr damit zu tun, dass das Wort >Ousia< nä~lich das bleibende Wesen eines Gegenstandes im Unterschied zu
sprachgeschichtlich mit dem Partizip zu >einai<, dem griechischen vorübergehenden oder nebensächlichen Merkmalen. Platon~ N ac~-
Wort für >sein, existieren, wirklich sein, wahr sein< verwandt ist. folger in der Akademie, Speusipp und Xenokrates, waren sich k~1-
Auch Aristoteles scheint sich dieses Ursprungs noch sehr wohl be- neswegs einig, welche Entitäten die Auszeichnung als >ousia< ~erd1e-
wusst zu sein, wenn er einmal schreibt, dass die Frage, was die ousia nen. Vor allem war umstritten, ob das Allgemeine oder das Emzelne
sei, letztlich nichts anderes meine, als die alte Frage, was das Sei- als ousia bezeichnet werden soll. Außerdem unterschieden Platons
ende bzw. Sein (on) sei (Metaphysik VII. r, ro28b2ff.). Die Frage, Nachfolger verschiedene Seinsbereiche, (z.B. Zahlen--:- ma~hemati-
was das Seiende ist, klingt aus Sicht der modernen Ontologie ange- sche Größen- Seelen- Körper), die jeweils als >ousza<, 1m Smne von
nehm vertraut, jedoch dürfte die Affinität zu Quines Frage, was es >verschiedene Arten von ousia< bezeichnet werden.
gibt, eher irreführend sein: Aristoteles verweist hier auf die frühen Diese Begriffsgeschichte schlägt sich auch in Aristoteles' Y_er-
griechischen Philosophen, und die haben eigentlich nicht danach wendungen des Ausdrucks >ousia< nieder: (r) Wenn e: zu _Begmn
gefragt, was es alles gibt. Die meisten von ihnen haben - abgesehen des XII. Buches der Metaphysik feststellt, es gebe drei ousiai: ers-
von Parmenides und seinen Anhängern - noch nicht einmal den tens die sinnlich wahrnehmbare, vergängliche ousia, zweitens die
Seins-Begriff ausdrücklich thematisiert. Was Aristoteles mit dem wahrnehmbare, aber ewige ousia sowie drittens die unveränderl~-
Hinweis auf die alte Frage nach dem Seienden bzw. Sein meint, che ewige ousia (XII. r, ro69a3off.), dann erinnert das stark an die
dürfte daher sein, dass diese alten Denker zu bestimmen versuch- Unterscheidung verschiedener Seinsbereiche, wie sie zuvor schon
ten, was das eigentlich Seiende oder das vorrangig Seiende ist. Die von den Nachfolgern Platons durch den Begriff der ousia gekenn-
milesischen Philosophen z.B. hielten die vielen Dinge der entwi- zeichnet worden sind. (2) In der Schrift Kategorien bezeichnet Aris-
ckelten Welt für Manifestationen eines einzigen Urstoffes, so dass toteles (2.a) die Einzeldinge, wie z.B. einen bestimmten Me~sche_n
der betreffende Stoff für einen milesischen Philosophen das eigent- oder ein bestimmtes Pferd als >erste ousia<; dies ist klarerweise die
lich Seiende ist. Für einen Atomisten hingegen sind die mittelgro- Verwendungsweise, auf die sich der spätere Begriff ~er >Substan~en<
ßen Gegenstände nur Aggregate, die aus Atomen zusammengesetzt stützt wie er auch noch in der modernen Ontologie benutzt w1rd.
sind, so dass die Atomaggregate nur vordergründig Bestand haben Aber ~uch bei dieser Verwendung ist festzuhalten, dass Aristoteles
und daher auch nur vordergründig sind, während die Atome das den Ausdruck >ousia< nicht einfach als Synonym für Einzeldinge
eigentlich Beständige und somit das eigentlich Seiende sind. Wenn benutzt sondern vielmehr zeigt, dass es sich bei den Einzeldingen
>ousia< daher etwa soviel wie >das eigentlich Seiende< bedeutet, dann in eine~ bestimmten Sinn um das eigentlich oder vorrangig Sei-
werden verschiedene Philosophen unterschiedliche Kriterien für die ende handelt - aus dem einfachen Grund, dass diese Einzeldinge,
Unterscheidung von >eigentlich< und >nicht-eigentlich< Seiendem wie oben schon gezeigt, als Subjekte oder Substrate für alles andere
ausarbeiten (z.B. beständig-sein, unabhängig-sein, erkennbar-sein, dienen, während sie selbst keiner anderen Entitäten bedürfen, an
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denen sie vorkommen würden. Im Anschluss an diese Feststellung
2. Substanz: zwei verschiedene Forschungsprojekte
gibt es bei Aristoteles tatsächlich eine relativ häufige Redeweise,
bei welcher er der Kürze halber mit >ousiai, einfach auf solche Ein-
Unser Abstecher in die Begriffsgeschichte hat gezeigt, dass durch
zeldinge Bezug nimmt, von denen er in Kategorien gezeigt hatte,
Aristoteles mindestens zwei ganz unterschiedliche Fragestellungen
dass sie die ersten Subjekte oder Substrate sind. (2.b) Zugleich aber
unter dem Begriff der Substanz zusammengebracht wurden. Zu-
sagt Aristoteles in derselben Schrift auch, dass die Arten und Gat-
nächst und ursprünglich war da die Frage nach dem eigentlich oder
tungen >zweite ousia, seien, weil sie aussagen, was eine erste ousia
vorrangig Seienden. Diese Frage wird in der heutigen Ontologie
ist, sowie die Art >Mensch, und die Gattung ,Lebewesen< aussagen,
bevorzugt unter dem Titel der >ontologischen Priorität< behandelt
was eine erste ousia, z.B. Sokrates, ist. Während es unter den ersten
(nennen wir sie deshalb die ,P-Frage<). Es handelt sich um ein eigen-
ousiai oder Substanzen keine Abstufungen an ,Substantialität< gibt,
ständiges philosophisches Forschungsprojekt, das unterschiedliche
sagt Aristoteles bei den Arten und Gattungen, dass erstere in hö-
Entitäten oder Kategorien von Entitäten im Hinblick auf mögliche
herem Maße >ousia, seien als letztere, weil sie dem Einzelnen, der
Abhängigkeiten vergleicht; der Zusammenhang dieses Projekts mit
ersten Substanz, näher stünden. (2.c) Schließlich sei noch auf eine
dem Begriff der Substanz besteht einfach darin, dass man diejeni-
dritte Verwendung von >ousia, im Rahmen der Schrift Kategorien
gen Entitäten, die sich letztendlich als grundlegend oder unab~än-
hingewiesen: Ziel dieser Schrift ist es zu zeigen, dass alles, was ist,
gig erwiesen haben werden, als ,die Substanz< 01er als ,substan~iell<
letztlich in eine von insgesamt zehn obersten Gattungen des Seien-
oder als ,die eigentliche Substanz der Welt, bezeichnen kann. Dieses
den fällt bzw. einer von zehn Aussageweisen oder Kategorien ent-
Projekt, die P-Frage, hat zunächst überhaupt. noc~ nichts mit d~r
spricht; Aristoteles unterscheidet die Kategorien der Qualität, der
Frage nach den Einzelsubstanzen zu tun. Weil Aristoteles aber m
Quantität, des Orts, der Zeit usw.; und eine dieser zehn Kategorien der Schrift Kategorien und der daran anknüpfenden Wortverwen-
ist eben die Kategorie der ousia, und in diese fallen sowohl erste als
dung bestimmte Einzeldinge, wie einen ei~zelnen Mensche:1 oder
auch zweite ousiai; >ousia, ist in diesem Zusammenhang also einfach ein einzelnes Pferd, als ,Substanzen< bezeichnete, um damit aus-
die Bezeichnung für eine der Kategorien.
zudrücken, dass nach seiner Auffassung diesen die gesuchte onto-
(3) In den Büchern VII und VIII (= ZH bzw. Zeta, Eta) der logische Priorität zukommt, ging der Begriff der Substanz auf die
Metaphysik untersucht Aristoteles explizit die Frage, was die ousia derart ausgezeichneten Einzelsubstanzen selbst über; deshalb wurde
ist, und kommt zu dem Ergebnis, dass die Form (griech.: eidos) die fortan auch eine zweite, ganz andere Fragestellung mit dem Begriff
erste ousia sei. Damit ist klarerweise die Behauptung verbunden,
der Substanz verknüpft, nämlich die Frage, wie sich solche Einzel-
dass in einem bestimmten Sinn nicht das Einzelding, wie in Kate- substanzen oder Individuen von anderen Entitäten unterscheiden.
gorien, sondern eben diese Form das eigentlich oder vorrangig Sei-
Auch das ist eine interessante Frage, aber sie definiert ein eigenes
ende ist. Zugleich ist wichtig, dass Aristoteles in dieser Abhandlung
philosophisches Forschungsprogramm, das mit der zuvor definier-
eine zweistellige Verwendung des ousia-Begriffs im Sinne von ,X ist
ten P-Frage an sich noch nichts zu tun hat.
ousia-von Y, einführt, was im Zusammenhang mit der These, dass
Sachliche Überschneidungen zwischen beiden Fragestellungen
Form die ousia ist, ohne weiteres einleuchtet, weil für Aristoteles die
ergeben sich allenfalls auf folgende Weise: Nicht weni~e Philoso-
Form immer die Form von einer Sache ist. Eine solche zweistellige
phen (zu dieser Gruppe würde auch der Autor der Sch~ift !(atego-
Verwendung des ousia-Begriffs kennen wir auch schon von Platon,
rien gehören), nehmen an, dass sich Einzelsubstanzen (em emzelner
der damit das >Wesen von einer Sache, bzw. das, >was eine Sache we-
Mensch, ein einzelnes Pferd, ein Reisehaartrockner) von anderen
sentlich ist< oder >Was das Sein einer Sache ausmacht< bezeichnet hat.
Entitäten genau durch ihre Unabhängigkeit oder Selbstständig~eit
Ob diese Parallele für den ousia-Begriff in Aristoteles' Metaphysik unterscheiden; wenn dieselben Philosophen der Auffassung smd,
relevant ist oder nicht, ist allerdings schon eine Frage der Interpre- dass sich ontologische Priorität ebenfalls nur durch das Merkmal
tation, auf die wir später noch zu sprechen kommen.
der Selbstständigkeit bestimmen lässt, dann werden sie durch die
Auszeichnung der Einzelsubstanzen als selbstständig zugleich die
ontologisch prioritären Entitäten gefunden zu haben meinen. Ob-
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wohl auch diese Art von Vermischung der beiden Fragestellungen x von y genau dann in dem gesuchten Sinn abhängig ist, wenn x
nicht unüblich ist (schon die Anwendung des Ausdrucks ,Substanz, nicht existieren kann, ohne dass y existiert, dann zeigt sich, dass
auf Einzeldinge dürfte in den meisten Fällen nicht ganz absichtslos jede zusammengesetzte Substanz von ihren Teilen abhängig sein
sein), scheint es wichtig, die beiden Projekte klar auseinanderzuhal- wird, weil sie ohne diese nicht existieren kann. Weil dieses Ergeb-
ten, schon weil die Einwände, die man gegen beide Projekte erheben nis der ursprünglichen Intuition widerspricht, dass es einen Sinn
könnte, ganz unterschiedlicher Natur sind: von Unabhängigkeit gibt, durch den die Substanzen von anderen
Die P-Frage ergibt sich für die Ontologin, nachdem sie unter- Entitäten unterschieden sind, wird die an Einzelsubstanzen interes-
schiedliche Entitäten oder Kategorien bestimmt und gegeneinander sierte Ontologin sich darum bemühen, den maßgeblichen Sinn von
abgegrenzt hat, und betrifft das Verhältnis von Entitätstypen oder Abhängigkeit so einzuschränken, dass die Einzelsubstanzen nicht
Kategorien; die Frage nach den Einzelsubstanzen hingegen ist ein länger von ihren Teilen abhängig sind. Und auf dieselbe Weise wird
Beitrag zur Bestimmung einer einzelnen ontologischen Kategorie sie bei jedem weiteren Einwand den Abhängigkeitsbegriff solange
oder eines zu umreißenden Typs von Entität. Wer eine Behauptung präzisieren, bis ein Begriff von Unabhängigkeit gefunden ist, der auf
über ontologische Priorität angreifen möchte, argumentiert, dass die ursprünglich ins Auge gefassten Einzelsubstanzen (oder auf die
die Kriterien dafür, was es heißt, ontologisch prioritär zu sein, nicht traditionell als ,Substanz< bezeichneten Dinge) und nur auf diese zu-
angemessen bestimmt wurden oder dass diese Kriterien falsch ange- trifft. Dies ist ein legitimes Verfahren zur Beschreibung einer onto-
wandt wurden. Wer hingegen eine Behauptung über Einzelsubstan- logischen Kategorie oder auch zur Rechtfertigung des traditionell
zen angreifen will, kann argumentieren, dass es sich dabei entgegen bekannten, aber nicht immer hinreichend begründeten Begriffs der
dem ersten Eindruck gar nicht um eine homogene Gruppierung Substanz; jedoch handelt es sich dabei um ein Projekt, das natürlich
handelt oder dass, falls die Unabhängigkeit als gemeinsames Merk- von der unbefangenen Suche nach einer grundlegenden oder prio-
~al d:r Einzelsubstanzen behauptet wurde, die Einzeldinge gar ritären Entität grundsätzlich verschieden ist.
rncht m der angenommenen Weise selbstständig sind, sondern von Die uneinheitliche Verwendung des Substanz- bzw. ousia-Be-
anderen Entitäten abhängen. Wer sich für die P-Frage interessiert, griffs bei Aristoteles lässt sich aufgrund dieser Unterscheidung wie
d~r hält sich im Prinzip offen, welche Art von Entität (Einzeldinge, folgt beschreiben: Die Gemeinsamkeit zwischen der Schrift Kate-
Eigenschaften, Tropen, Prozesse, Ereignisse, Tatsachen, Raumzeit- gorien und der Metaphysik besteht darin, dass Aristoteles offenbar
stellen, Gott usw.) sich letztlich als prioritär erweisen wird; dabei in beiden Schriften eine Antwort auf die P-Frage zu geben ver-
k_an1:- es sich auch herausstellen, dass sich die Identifizierung einer sucht. Nachdem er sich in den Kategorien auf die Einzeldinge als
emz1gen ontologisch prioritären Kategorie gar nicht durchführen erste ousiai festgelegt hat, liefert er in dieser Schrift außerdem einen
lässt: falls die ontologische Prioritätsrelation als Unabhängigkeits- Beitrag zur zweiten der unterschiedenen Fragestellungen, indem
beziehung verstanden wird, kann sich z.B. ergeben, dass immer nur er Merkmale zur Abgrenzung der Einzelsubstanzen von anderen
wechselseitige Abhängigkeiten bestehen, so dass wir keine Entität Entitäten ausarbeitet. Der Unterschied zwischen beiden Schriften
als schlechthin unabhängig auszeichnen können. Ganz anders bei und den damit verbundenen Positionen besteht jedoch darin, dass
der Frage nach den Einzelsubstanzen: er offenbar unterschiedliche Kriterien zur Bestimmung dieser grund-
Wenn moderne Ontologen Einzelsubstanzen untersuchen, dann legenden Entität anwendet und daher auch unterschiedliche Entitä-
nehmen sie oft die folgende Frageperspektive ein: Intuitiv scheint ten als grundlegende Entitäten auszeichnet.
es irgendwie klar, dass Einzeldinge oder zumindest eine bestimmte
Teilmenge der Einzeldinge (wie z.B. die von Aristoteles hervor-
gehobenen ersten Substanzen) verglichen mit anderen Entitäten
selbstständig oder unabhängig sind. Wenn sie dann aber aufschrei-
ben wollen, worin diese Selbständigkeit genau besteht, dann er-
weist sich diese Aufgabe als durchaus anspruchsvoll: Wenn etwa,
um nur das einfachste Beispiel zu nennen, bestimmt wird, dass
152 Christof Rapp Aristoteles und aristotelische Substanzen 153
3. Die Substanztheorie der Kategorien Was von anderem ausgesagt wird (in dem oben genannten, termi-
nologischen Sinn), ist immer allgemein oder universal; was selbst
3.1 Das ontologische Grundgerüst der Kategorien nicht mehr von anderem ausgesagt werden kann, ist individuell.
Die Art ,Mensch< wird von Sokrates ausgesagt, und die Gattung
In der Schrift Kategorien operiert Aristoteles mit zwei verschiede- ,Lebewesen< wird von der Art ,Mensch, ausgesagt. Dieses Verhält-
nen ontologischen Relationen, aus deren Kombination vier Arten nis besteht allerdings nicht nur zwischen Rubrik (ii.) und Rubrik
von Entitäten bestimmt werden. Die erste dieser Relationen ist das (i.), sondern auch zwischen Rubrik (iv.) und Rubrik (iii.): von einer
Enthalten-Sein-in, die sogenannte Inhärenz-Relation. Diese Bezie- individuellen Farbe, wie z.B. von der Farbe Grün, kann ausgesagt
hung besteht zwischen einer Eigenschaft und dem Subjekt, Substrat werden, was sie ist, nämlich eine Farbe. Umstritten ist in der For-
bzw. dem Träger, an dem diese Eigenschaft vorkommt: die Breit- schungsliteratur allerdings, ob mit den Entitäten der Rubrik (iii.)
nasigkeit ist nach dieser Festlegung, wenn Sokrates breitnasig ist, die Grünfärbung einer individuellen Substanz oder ein individueller
in Sokrates enthalten, aber Sokrates ist natürlich umgekehrt nicht Grünton gemeint ist.
in der Breitnasigkeit enthalten. Die Formulierung >enthalten sein Einen Test für den Unterschied zwischen Ausgesagt-Werden-
in< ist irreführend, weil sie zunächst an Teile denken lässt oder den von und Enthalten-Sein-in sieht Aristoteles darin, dass, wenn wir
Eindruck erweckt, als seien Eigenschaften Teile ihrer Träger. Bei- X von Y wahrheitsgemäß aussagen, dann auch die Definition von
des würde Aristoteles ablehnen: er weist explizit darauf hin, dass X wahrheitsgemäß aussagen können: Wenn ,Mensch< von Sokra-
das Enthalten-Sein-in nicht im Sinne von Teilen zu verstehen ist. tes ausgesagt werden kann, dann kann auch die Definition von
Außerdem sagt Aristoteles von dieser Relation, dass dasjenige, was ,Mensch,, z.B. ,zweibeiniges Lebewesen<, von Sokrates ausgesagt
in einem anderen enthalten ist, nicht ohne jenes existieren würde werden. Wenn hingegen X in Y enthalten ist und wir X daher von
(Cat. ra24-25). Die zweite Relation, mit der die Ontologie der Ka- Y prädizieren können, dann gilt nicht, dass wir auch die Definition
tegorien operiert, bezeichnet Aristoteles als Ausgesagt-Werden- von X wahrheitsgemäß von Y prädizieren können: Wenn die Eigen-
von; auch dieser Ausdruck ist erläuterungsbedürftig, weil wir sa- schaft ,blass< in Sokrates enthalten ist und wir daher ,ist blass< von
gen würden, dass jedes Prädikat von einem Subjekt ,ausgesagt wird<. dem Subjekt ,Sokrates< prädizieren können, dann ist es dennoch
Aristoteles meint damit aber nur eine ganz besondere Art der Prä- nicht möglich, die Definition von ,blass<, z.B. ,helle Färbung< von
dikation oder des Ausgesagt-Werdens, nämlich nur die Prädikation, Sokrates zu prädizieren.
die aussagt, was das betreffende Subjekt ist. Kombinieren wir diese Die Kategorie der Substanz insgesamt (also die Rubriken (i.) und
beiden Relationen, ergibt sich folgendes Schema: (ii.)) ist dadurch von den nicht-substantialen Entitäten unterschie-
den, dass die substantialen Entitäten nicht in anderem enthalten
ist nicht enthal- ist enthalten in sind. Das gilt ohnehin für die erste ousia, aber auch die zweite ousia,
ten 1n die Art oder Gattung, ist nicht in anderem enthalten, sondern wird
lediglich von etwas, nämlich von der ersten ousia, ausgesagt. Die
wird nicht ausgesagt (i.) erste ousia (iii.) indivi- erste ousia oder erste Substanz ist bestimmt als diejenige Entität, die
von duelle Eigen- weder von etwas ausgesagt wird noch in etwas anderem enthalten
z.B. ein einzelner
schaften ist (Cat. 2au-14), sondern vielmehr selbst das Subjekt oder Sub-
Mensch
strat für die Entitäten der übrigen Rubriken (ii.) bis (iv.) darstellt.
wird ausgesagt von (ii.) zweite ousia (iv.) allgemeine Was hingegen in etwas anderem enthalten ist, nennt Aristoteles ein
Eigenschaften Akzidenz oder eine akzidentelle Eigenschaft. Solche Eigenschaften
Arten, Gattungen:
beschreiben nach dem Aristotelischen Kategoriensystem, wie groß,
,Mensch,, ,Lebe-
wie beschaffen, wo, zu welcher Zeit und in welcher Position etwas
wesen<
ist, oder was etwas tut oder leidet. Die Relation des Enthalten-Seins-
154 Christof Rapp Aristoteles und aristotelische Substanzen 155

in, die Inhärenz-Relation besagt nun, dass alle diese Eigenschaften gischen System der Kategorien zugedacht ist, nämlich die substan-
nicht ohne ihren Träger sein könnten. tialen von den nicht-substantialen Entitäten zu unterscheiden. Auf
der anderen Seite kann man Aristoteles zugute halten, erstens dass
mit der Formulierung >X kann nicht ohne Y sein<, nicht unbedingt
J .2. Die erste Substanz als ontologisch unabhängig allein die Existenz des betreffenden Akzidenz gemeint sein muss,
und zweitens dass auch Aristoteles selbst an anderen Orten (z.B.
Nach den Überlegungen von Abschnitt 2 erwarten wir, dass die in Metaphysik VII.1) eine andere Form von Abhängigkeit formu-
Auszeichnung der Einzeldinge als erste ousiai oder erste Sub- liert, nach welcher X dann von Y abhängig ist, wenn X nicht ohne
stanzen den Sinn hat, diese Entitäten als unabhängig und deshalb die Bezugnahme auf Y definiert werden kann. Mit dieser Fassung
als ontologisch grundlegend bzw. prioritär zu kennzeichnen (im des Abhängigkeitsverhältnisses kommt Aristoteles einer theoreti-
Sinne der >P-Frage<). Wenn das die Absicht ist, die Aristoteles mit schen Option recht nahe, die auch in der modernen Diskussion eine
dem ontologischen System der Kategorien verbindet, dann wäre es wichtige Rolle spielt, nämlich die Idee, dass X dann von Y in dem
wiederum plausibel, wenn er die beiden Relationen des Ausgesagt- maßgeblichen Sinn abhängig ist, wenn die Identität von X durch die
Werdens-von und des Enthalten-Seins-in als Abhängigkeitsbezie- Identität von Y bedingt ist.
hungen verstehen würde, so dass die Aussage, dass die erste ousia Auch wenn der Sinn der Inhärenzrelation aus moderner Sicht
weder von etwas ausgesagt wird noch in etwas enthalten ist, be- noch der Präzisierung bedarf, ist unbestritten, dass damit eine Art
deu:en würde, dass sich diese in beiderlei Hinsicht als unabhängig von Abhängigkeitsbeziehung eingeführt wird und dass die erste
erwiesen hat. Dass er dies tatsächlich behaupten will, wird durch Substanz u. a. deshalb als Substanz angesehen wird, weil sie sich
das folgende Zitat zumindest nahegelegt: »Somit wird alles andere mit Blick auf diese Abhängigkeitsrelation als unabhängig erweist.
entw~de~ v_on den ersten Substanzen als dem Substrat ausgesagt Aber wie verhält es sich mit der zweiten Relation, dem Ausgesagt-
oder ist m ihnen als dem Substrat. Wenn also die ersten Substan- Werden-von? Handelt es sich dabei auch um ein Abhängigkeitsver-
zen nicht existieren, ist es unmöglich, dass etwas von dem anderen hältnis? Einerseits ja, denn Aristoteles sagt klar, dass ohne die ersten
existiert.« (Cat. 2b3 ff.) Substanzen nichts anderes, also auch nicht die zweiten Substanzen,
Dass nun die Inhärenz-Relation als eine Abhängigkeitsbezie- existieren würde. Dies entspricht auch einem Verständnis von Uni-
hung eingeführt wird, ist offensichtlich: Ein Akzidenz, sagt Aris- versalien (im Sinne von allgemeinen Eigenschaften), das man tradi-
toteles nämlich, könnte nicht ohne die betreffende Substanz sein. tionellerweise Aristoteles zuspricht, nämlich dass es keine nicht-ex-
De:1kt man dabei an das Verhältnis einer individuellen Eigenschaft emplifizierten Universalien gibt, d. h. auch keine Arten, die nicht die
zu ihrem Träger, dann ist auch ohne weiteres verständlich, was da- Art aktual existierender Einzelsubstanzen sind. Andererseits sind
mit sein muss; dennoch bleibt Aristoteles bei der Bestimmung dieser die Arten und Gattungen im Range der zweiten Substanz natürlich
Abhängi_gk~itsbeziehung (,X kann nicht ohne Y sein<) relativ vage. nicht in derselben Weise abhängig wie die Akzidenzien; immerhin
Zum Beispiel kann auch kein Lebewesen, von denen Aristoteles seien es allein die zweiten Substanzen, die die ersten Substanzen,
mit besonderem Nachdruck behaupten möchte, dass sie Substanzen wie Aristoteles sagt, »offenkundig machen« (Cat. 2b30-31). Die
sind, ohne seine Eltern sein und wäre daher im Sinne der aristoteli- Formulierung wirkt ein wenig dunkel, vermutlich aber spielt sie
schen Definition ebenso abhängig wie die Akzidenzien. Oder man auf folgenden Sachverhalt an: Die ersten Substanzen sind Träger
könnte einwenden, dass, wann immer es zum Beispiel einen Men- von Eigenschaften, aber sie sind selbst keineswegs eigenschaftslos,
schen gibt, es auch die Art >Mensch< geben muss, so dass der ein- vielmehr werden sie als Exemplare bestimmter Arten eingeführt; die
zelne Mensch, die Einzelsubstanz, nicht ohne die Art ,Mensch< sein Artzugehörigkeit entscheidet darüber, was ein Ding ist und welches
kann und sich in diesem Sinne erneut als abhängig erweisen würde. seine wesentlichen Bestimmungen sind. In diesem Sinn macht erst
Aus Sicht der modernen Ontologie müsste man also einige Klärun- die Art eine erste Substanz zu einem vollständig bestimmten Einzel-
gen und Präzisierungen bei der Definition der Inhärenz einfordern ding, und nur ein solches kann als Träger verschiedener akzidentel-
damit diese Relation wirklich das leisten kann, was ihr im ontolo~ ler Eigenschaften fungieren; daher leuchtet es ein, wenn Aristoteles
156 Christo/ Rapp Aristoteles und aristotelische Substanzen 157
den ontologischen Rang von Arten und Gattungen von dem der zeichnen; bei den ersten Substanzen ist es zweifellos und wahr, dass
Akzidenzien strikt unterschieden haben will. jede ein ,bestimmtes Dies< bezeichnet; denn das angezeigte Ding
ist individuell und der Zahl nach eines.« (Cat. 3bro-r3) Was ein
,bestimmtes Dies< ist, weist für Aristoteles von sich aus eine Artbe-
J .J. Weitere Merkmale der Substanz stimmung auf, d. h. es ist erstens bestimmt und zweitens nicht nur
qualitativ, quantitativ, dem Ort nach usw., sondern als Exemplar
Das wichtigste Merkmal der Substanz ist der Theorie der Katego- einer Art bestimmt. Dies trifft für die ersten Substanzen natürlich
rien zufolge der Umstand, dass Substanz überhaupt nie in anderem zu, denn für sie ist es wesentlich, dass sie als etwas Bestimmtes von
enthalten ist, und das wiederum bedeutet, dass Substanzen im Sinne der-und-der-Art gelten, also dass sie ein bestimmter Mensch oder
der Inhärenzrelation unabhängig sind. Umgekehrt galt für die ers- ein bestimmtes Pferd usw. sind. Für die allgemeinen Prädikate selbst
ten Substanzen, dass sie es sind, wovon alle anderen Dinge abhängig bestreitet Aristoteles jedoch, dass sie ein ,bestimmtes Dieses< bzw.
sind in dem Sinn, dass sie nicht >sein, bzw. nicht >existieren, würden, tode ti seien, weswegen er auch gleich für die zweiten Substanzen
wenn es keine ersten Substanzen als Substrate gäbe(= ,Substratkri- einschränkt, dass sie nur aufgrund der sprachlichen Form ein sol-
terium,). - Aristoteles entwickelt jedoch noch weitere Merkmale ches tode ti zu sein scheinen, letztlich aber eine Beschaffenheit der
der Substanz:
Substanz zum Ausdruck bringen und daher nicht selbst ein tode
(i.) »Am meisten aber scheint es der (ersten) Substanz eigentüm- ti sind.
lich zu sein, dass sie, während sie der Zahl nach ein und dasselbe ist,
für Gegensätzliches empfänglich ist.« (Cat. 4arof.) Dies treffe auf
keine andere Entität zu; ein und dieselbe Farbe z.B. könne nicht 4. Die Substanztheorie von Metaphysik VII-VIII
weiß und schwarz sein; jedoch sei es möglich, dass ein und derselbe
Mensch bald blass und bald dunkel, bald warm und bald kalt, bald Das siebente Buche der Metaphysik(= Z) ist der Untersuchung der
gut und bald schlecht sei. Wie das Beispiel zeigt, sind natürlich auch Frage gewidmet, >was die ousia, sei. Die Erörterung dieses Buches
Substanzen nicht in der Lage, zugleich konträre Prädikate anzu- gilt allgemein als schwer verständlich, so dass sie auch höchst un-
nehmen; es steht aber nichts im Wege, dass eine erste Substanz zum terschiedliche Deutungen erfahren hat. Die Verständnisschwierig-
einen Zeitpunkt die Eigenschaft F, zu einem späteren Zeitpunkt keiten haben zunächst damit zu tun, dass Aristoteles in dieser Ab-
dagegen die Eigenschaft non-F aufweist, wobei sie aber ein und handlung weder eine geradlinige Entfaltung des Substanzbegriffs
derselbe Gegenstand bleibt. Somit behauptet Aristoteles an dieser noch eine explizite Verteidigung der Annahme von Substanzen gibt;
Stelle ausdrücklich, dass erste Substanzen sogenannte >Kontinuan- vielmehr handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit gegneri-
ten, sind, also ihre Identität durch die Zeit und den Wechsel ihrer schen Positionen, die wir zum Teil nur erschließen können: zumeist
Eigenschaften hindurch bewahren.
dürfte es sich um Positionen handeln, die von Platon selbst oder
(ii.) Die Substanz lässt kein >Mehr und Minden zu: Was z.B. weiß in Platons Akademie vertreten worden sind. Eine weitere Quelle
ist, kann weißer sein als anderes, was schön ist, kann schöner sein für Auslegungskontroversen besteht darin, dass die Erörterung der
als anderes; allein die Substanz lässt keine Grade zu: Wenn eine erste ousia mit dem Buch VII bzw. Zeta noch gar nicht beendet scheint:
Substanz z.B. ein Mensch ist, dann wird er jetzt nicht mehr Mensch das darauffolgende Buch VIII(= H) gibt sich selbst als Fortsetzung
sein als später und er wird auch nicht mehr oder weniger Mensch dieser Ausführungen und stellt die sinnlich wahrnehmbaren Sub-
sein als ein anderer Mensch. (Cat. 3b33-4a9) stanzen in den Mittelpunkt - jedoch hatte auch schon Buch VII
(iii.) Den Substanzen ist nichts konträr: »Denn was könnte der von sinnlich wahrnehmbaren Substanzen gehandelt, was unmittel-
ersten Substanz konträr sein? Zum Beispiel gibt es nichts, das dem bar Anlass zu Fragen über den wirklichen Umfang von Aristote-
individuellen Menschen konträr ist, noch gibt es etwas, das dem les' Substanztraktat gibt: Ist z.B. das kürzere Buch VIII nur eine
Menschen oder dem Lebewesen konträr ist.« (Cat. 3b25-27) Ergänzung und Vertiefung zu einigen Aspekten von Buch VII oder
(iv.) »Jede Substanz scheint ein ,bestimmtes Dies, (tode ti) zu be- kommt das eigentliche, für Aristoteles wichtige Resultat der ganzen
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Abhandlung erst am Ende von Buch VIII zur Sprache? Was zum dieser Art gelten zu können. Im Falle von Lebewesen ist die Form
Ende dieses Buches hin tatsächlich an Bedeutung gewinnt, ist das die Seele (De Anima II. r); um diese Behauptung zu verstehen,
Begriffspaar >potential - aktual< - und dies wiederum ist genau das muss man sich darüber klar werden, dass Aristoteles' Begriff der
Thema, das in dem darauffolgenden Buch IX(= Theta) ausführlich Seele nichts mit der spekulativen Vorstellung von einer unsterb-
behandelt wird, was man wiederum als Hinweis darauf sehen kann lichen Seele zu tun hat. Vielmehr ist bei Aristoteles die Seele das,
(aber nicht sehen muss), dass auch dieses Buch noch irgendwie zur was es für das Lebewesen heißt, lebendig zu sein; und das Leben-
Substanzabhandlung hinzuzuzählen ist. Schließlich werden die digsein ist durch verschiedene (der jeweiligen Art entsprechende)
Auslegungskontroversen um die Thematik dieser Bücher dadurch lebenserhaltende und perzeptive Fähigkeiten sowie - bei manchen
genährt, dass Aristoteles eine ganz andere Auffassung von der ousia Lebewesen - durch die Fähigkeit zur Selbstbewegung und zum
zu vertreten scheint als in der Schrift Kategorien: jetzt bezeichnet er Denken - verbunden.
nämlich die Form und nicht das Einzelding als erste ousia. Auf der Grundlage der Unterscheidung von Form und Materie
kann Aristoteles zumindest bei allen konkreten Dingen zwischen
drei Aspekten bzw. drei Entitäten differenzieren: der Form, der
4. I Form als erste ousia Materie und dem aus beiden Zusammengesetzten - und von diesen
dreien soll der Metaphysik zufolge genau die Form das grundle-
Trotz all der genannten Auslegungskontroversen ist ein Ergebnis gend Seiende bzw. die ousia oder >erste ousia< sein. Entscheidend ist
von Metaphysik VII-VIII klar: Erste Substanz, oder besser: erste daher die Frage, warum denn nun auf einmal die Form und nicht
ousia, ist nicht das Einzelding, sondern das eidos. Der griechische (mehr) das Einzelding als ontologisch prioritär angesehen wird
Ausdruck eidos kann sowohl >Art< als auch ,Form< bedeuten. In der (im Sinne der P-Frage aus Abschnitt 2). Eine naheliegende und
Schrift Kategorien hatte Aristoteles den Begriff durchgehend im irgendwie >aristotelisch< klingende Antwort wäre die folgende: In
Sinne von ,Art< gebraucht, während in der Erörterung von Meta- der Ontologie der Kategorien wurde die ousia allein aufgrund des
physik VII und VIII >eidos< vorwiegend im Sinne von ,Form< ver- Substratkriteriums bestimmt: nur, was von keinem anderen Substrat
wendet wird. Form und Art sind für Aristoteles einerseits streng abhängig ist, sondern vielmehr selbst das Substrat für alles andere
zu unterscheiden (die Art ist nämlich ein allgemeines Prädikat, die darstellt, wurde als unabhängig Seiendes akzeptiert. Die Frage je-
Form nicht), andererseits ist es kein Zufall, dass beides mit dem sel- doch, wodurch die einzelne substrathafte Substanz zu derjenigen
ben Ausdruck bezeichnet wird, denn diejenige Form, die er bereit Sache geworden ist, die sie ist, und diejenige Artbestimmung auf-
ist, >ousia< zu nennen, ist immer die einer bestimmten Art entspre- weist, die für sie wesentlich ist, wurde in Kategorien nicht gestellt
chende Form; also: die Menschform zur Art ,Mensch<, die Schild- (oder mit dem Hinweis auf die Art als zweite Substanz zu voreilig
krötenform zur Art ,Schildkröte<, usw. oder zu oberflächlich beantwortet). Wenn daher die Metaphysik die
Zur Erläuterung des Begriffs der Form verweist Aristoteles auf Form als grundlegend Seiendes betrachtet, dann gibt sie eine Ant-
das Beispiel einer Bronzestatue, die einerseits aus einer bestimmten wort auf genau die Frage, was denn eine einzelne Substanz zu dem
Materie, der Bronze, andererseits aber aus einer spezifischen Form macht, was sie ist. Wenn z.B. eine hölzerne Liege eine Substanz ist,
entstanden ist; die Entstehung der Statue ist darauf zurückzuführen, was macht dann die Liege zu dem, was sie ist, nämlich eine Liege?
dass eine Portion Bronze eine bestimmte Formung erfahren hat. Da- Die Holzliege selbst ist bereits zusammengesetzt und daher von den
her kann man auch bei einer fertigen Statue zwischen einem forma- Konstituenten Form und Materie abhängig; die Frage muss sich da-
len und einem materialen Aspekt unterscheiden. Im Fall der Statue her zwischen der Materie - in diesem Fall das Holz - und der Form
kann man die Form mit der äußeren Gestalt derselben gleichsetzen, der Liege entscheiden. Zu einem definierbaren und reidentifizier-
jedoch handelt es sich dabei nur um ein anschauliches Beispiel dafür, baren Etwas wird die Liege aber nicht durch das Holz, sondern
dass die Form einer bestimmten Spezies immer die Art und Weise durch die Form der Liege; deshalb besteht zwischen der einzelnen
angibt, wie die Materie geformt, organisiert oder strukturiert sein hölzernen Liege und der Liegenform so etwas wie eine definitori-
muss und welche Funktion sie zu erfüllen hat, um als Gegenstand sche oder explanatorische Abhängigkeit: Die Form der Liege macht,
160 Christof Rapp Aristoteles und aristotelische Substanzen 161
dass die Einzelliege als ein bestimmtes Dieses (tode ti) definierbar er vom eidos in Kategorien sagt, es sei nur >zweite ousia<, und in der
und dadurch erst vollständig erkennbar wird, und dabei erklärt der Metaphysik, es sei ,erste ousia,, dann könnte man in der Tat den Ein-
Verweis auf die Form zugleich, wodurch die Liege zu einer so-und- druck haben, Aristoteles habe in der einen Schrift die Ontologie der
so bestimmten Sache bzw. zu einer Sache von dieser bestimmten anderen Schrift geradezu auf den Kopf gestellt. Diese Art von Pro-
Art geworden ist; was aber gar nicht so-und-so bestimmt ist bzw. blembeschreibung lud die Kommentatoren immer wieder zu gewag-
überhaupt nicht als ein Ding von einer bestimmten Art bestimm- ten Lösungsvorschlägen ein: Manche bestritten für die Kategorien
bar ist, das hat letztlich kein eigenständiges Sein und ist daher kein schlicht, dass es sich um eine Schrift des Aristoteles handeln kann.
selbstständig Seiendes. Folglich verdankt die Liege ihr Sein der Andere postulierten eine philosophische Entwicklung des Aristo-
Form, nämlich der Form der Liege (büßte sie diese Form ein, dann teles oder versuchten, dessen vermeintlichen Meinungsumschwung
hörte sie auf, als dasselbe Ding zu existieren - hätte sie nicht diese, in bestimmten biographisch-psychologischen Gründen festzuma-
sondern eine andere Form gehabt, dann wäre sie ein anderes Etwas chen. - Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass Aristoteles selbst die
gewesen - hätte sie gar keine Form, dann wäre sie kein selbstständig beiden Theorien keineswegs als unvereinbar angesehen hat:
Seiendes, also nichts, auf das man wie auf ein ,bestimmtes Dieses< (i.) Aristoteles bezeichnet auch in der Metaphysik Einzeldinge
(tode ti) Bezug nehmen könnte). Auch hierin drückt sich also eine ganz selbstverständlich als >ousiai, (vgl. die Bedeutung (2.a) in Ab-
ontologisch relevante Form der Abhängigkeit aus; deshalb war die schnitt r); selbst in den Büchern VII und VIII der Metaphysik ge-
Auskunft der Schrift Kategorien, dass das so-und-so bestimmte braucht er den Ausdruck ,ousia< auf diese Weise und sagt in VII. 2
Einzelding das grundlegend Seiende sei, nicht das letzte Wort für sogar, dass Körper, Lebewesen und Pflanzen die offensichtlichsten
die Suche nach einer grundlegenden Entität. Vielmehr blieb auf die- ousiai seien. Das spricht dafür, dass er zumindest selbst keinen Wi-
ser Stufe unerklärt, wodurch die Einzelsubstanz ein so-und-so be- derspruch zwischen dieser Verwendung von >ousia< und seiner Be-
stimmtes Etwas von einer bestimmten Art ist. Der Hinweis auf die hauptung, die Form sei erste ousia, sieht.
Form aber schließt diese Erklärungslücke, und daher erkennen wir, (ii.) Es ist bemerkenswert, dass die Gegenüberstellung von Form
dass die Form als die eigentlich grundlegende Entität ausgezeichnet und Materie sowohl in Aristoteles' Physik als auch in seiner Meta~
werden muss; daher soll sie die ,erste ousia, sein. physik eine Schlüsselrolle spielt, während dieses Begriffspaar in der
So oder ähnlich hätte Aristoteles begründen können, warum er Schrift Kategorien (und in anderen ,logisch-methodischen< Schrif-
die Form in der Metaphysik als >erste ousia< bezeichnet und sie da- ten des Aristoteles, dem sogenannten Organon) überhaupt nicht
mit zur grundlegenden Entität kürt. Für den Interpreten der Aris- auftaucht. Diese Divergenz kann entweder durch eine Entwicklung
totelischen Schriften stellt sich die Sache aber etwas komplizierter erklärt werden (etwa in dem Sinn, dass Aristoteles zu einem frühen
dar: Zeitpunkt dieses Begriffspaar oder seine Relevanz noch nicht ent-
deckt hatte), oder sie hat einfach mit unterschiedlichen Interessen
und Fragestellungen zu tun. - Wie auch immer, es scheint klar, dass
4.2 Vertritt Aristoteles zwei widersprüchliche Theorien sich die Frage, die in der Metaphysik letztlich zur Auszeichnung
der ousia? der Form als erster ousia führt, gar nicht stellt, solange man nicht
zwischen Form und Materie unterscheidet; schon deshalb befinden
Zunächst beschäftigt die Interpreten natürlich die Frage, warum ein sich die beiden Theorien nicht in direkter Konkurrenz.
und derselbe Philosoph zwei so unterschiedliche Theorien der ousia (iii.) Wichtig ist auch, dass, immer wenn Aristoteles von dem
tormuliert hat: Wie kann Aristoteles in Kategorien das Einzelding, eidos in der Metaphysik sagt, es sei erste ousia, das Wort >eidos< eine
m Metaphysik aber die Form als die >erste ousia< bezeichnen? Bis- andere Bedeutung als in Kategorien hat. In letzterer Schrift meint
weilen wird die Sachlage so dargestellt, als habe Aristoteles damit >eidos< eine allgemeine Art; jedoch ist es in der Metaphysik nicht
zwei geradezu konträre Positionen vertreten: eine strikte Einzel- die allgemeine Art, von der Aristoteles sagt, dass sie erste ousia sei,
dingontologie in der einen Schrift und eine fast schon ,platonisch, sondern die Form; und die Form ist vom Allgemeinen streng zu un-
zu nennende Ontologie universaler Formen in der anderen. Wenn terscheiden, da das Allgemeine nach Metaphysik VII. r 3 überhaupt
162 Christo[ Rapp Aristoteles und aristotelische Substanzen 163

keine ousia sein kann. Es wäre also falsch, das Verhältnis von Kate- in Kategorien in der ersten der beiden Bedeutungen gemeint ist,
gorien zu Metaphysik als den Übergang von einer Einzeldingonto- während die Form in Metaphysik genau in der zweiten der beiden
logie zu einer platonisierenden Universalienontologie zu beschrei- genannten Bedeutungen als ousia zu verstehen ist, nämlich insofern
ben: Die Ideen Platons (bei Platon als ,idea< oder >eidos< bezeichnet) sie in einem noch zu präzisierenden Sinn ,Grund für das Sein, von
sind Universalien und entsprechen daher bei Aristoteles am ehesten Substraten bzw. von ousiai in der ersten Bedeutung ist. Die Form
den allgemeinen Artprädikaten, nicht der Form. (Bleibt der ver- wäre demnach die ousia-von Einzelsubstanzen, und tatsächlich ist
meintliche Widerspruch, dass Aristoteles in Kategorien die allge- auffallend, dass Aristoteles in Metaphysik VII eine zweistellige Ver-
meinen Arten immerhin als >zweite ousia, bezeichnet, während er wendung von ,ousia< im Sinne von ,ousia-von< gebraucht (das ent-
in Metaphysik VII kategorisch ausschließt, dass Allgemeines über- spricht Bedeutung (3.) in Abschnitt r). - Wenn nun aber die Form
haupt ousia sein kann. Doch stellt sich auch dieser Widerspruch we- die ousia-von Einzelsubstanzen ist, dann bestünde nicht nur kein
niger drastisch dar, wenn man bedenkt, dass die allgemeinen Arten Widerspruch zu der Substanztheorie in Kategorien, vielmehr würde
und Gattungen in Kategorien nur in der Bedeutung (2.b) und (2.c), dabei gerade schon vorausgesetzt, dass Einzeldinge ousiai in einem
also nur im Sinne der Substanzkategorie (vgl. dazu Abschnitt r) als bestimmten Sinn, nämlich im Sinn von Substraten, sind.
>ousia, bezeichnet werden. Die Theorien der beiden Schriften würden sich, so betrachtet,
(iv.) Schließlich und vor allem stehen die beiden Theorien auch keineswegs widersprechen, vielmehr würden sie Antworten auf un-
deshalb nicht in direkter Konkurrenz, weil sie nach Auffassung eini- terschiedliche Fragestellungen geben bzw. die Frage nach der onto-
ger Interpreten (Code, Wedin, u. a.) gar nicht denselben Begriff von logischen Priorität aufgrund unterschiedlicher Kriterien beantwor-
ousia benutzen. In Kapitel Metaphysik V. 8 analysiert Aristoteles ten: In den Kategorien werden Einzeldinge mit Akzidenzien, Arten,
verschiedene Bedeutungen von >ousia<; dabei führt er die Varianten Gattungen usw. verglichen und aufgrund des Substratkriteriums als
auf zwei Grundbedeutungen zurück: »Alles dies (Körper, Lebewe- prioritäre Entitäten erwiesen; die Einzeldinge selbst werden aber als
sen, usw.) wird >ousia, genannt, weil es nicht von anderem als Sub- gegeben angesehen. In Metaphysik VII hingegen werden diese Ein-
strat ausgesagt wird, sondern das andere von diesem. Auf andere zelsubstanzen nicht mehr als selbstverständlich gegeben angesehen,
Weise aber (wird das >ousia, genannt), was Grund für das Sein ist, vielmehr wird danach gefragt, was der Grund für das Sein solcher
wobei es in diesen Dingen anwesend ist, die nicht von anderem als Einzelsubstanzen ist, und bei dieser Fragestellung zeigt sich, dass
Substrat ausgesagt werden, wie z.B. die Seele in dem Lebewesen.« die Form erstens gegenüber der Materie und zweitens gegenüber
(Met. ror7br3-r6) Im ersten der beiden genannten Sinne heißen dem aus Form und Materie Zusammengesetzten prioritär oder vor-
Dinge >ousia,, weil sie Substrate sind bzw. das Substratkriterium rangig ist. - Ob man dies für eine akzeptable Erklärung hält oder
(vgl. oben Abschnitt 3.3) erfüllen. Das ist der Sinn, in dem Einzel- nicht, hängt aber wesentlich davon ab, wie man den Argumentati-
dinge als >ousiai, bzw. Substanzen bezeichnet werden. Im zweiten onsverlauf der alles entscheidenden Abhandlung in Metaphysik VII
S~nn aber meint >ousia, den Grund für das Sein von solchen Dingen, rekonstruiert; und dieser ist alles andere als unumstritten:
die Substrate und damit im ersten der beiden Sinne ousia sind. Das
darauf folgende Beispiel >Seele, macht klar, dass diese Bedeutung von
>ousia, diejenige ist, in welcher auch die Form als >ousia, bezeichnet 4.3 Die Argumentation von Metaphysik VII
wird, denn die Seele ist die Form der Lebewesen. Dieselbe Gegen-
überstellung von zwei Bedeutungen von ,ousia, wiederholt Aris- Soviel ist klar: Buch VII der Metaphysik beginnt mit einer Ein-
toteles am Ende desselben Kapitels (Met. ror7b24-26) und bestä- leitung in die Problematik, welche hervorhebt, dass man von der
tigt dort, dass mit der einen Bedeutung die Substrate gemeint sind, ousia erwartet, sie sei in jeder Hinsicht gegenüber dem anderen
während er mit der anderen Bedeutung, nach welcher ousia Grund Seienden prioritär (VII. r). Es folgt eine Sammlung von Ansichten,
für das Sein von Substraten ist, vor allem die Form verbindet. die frühere Philosophen über die ousia vertreten haben (VII. 2).
Legt man die genannte Unterscheidung im ousia-Begriff zu- Unbestritten ist ferner, dass der Beginn des Kapitels VII. 3 für den
grunde, dann ist es nur plausibel anzunehmen, dass die erste ousia weiteren Aufbau der Abhandlung entscheidende Bedeutung hat;
164 Christo/ Rapp Aristoteles und aristotelische Substanzen 165
dort nennt Aristoteles vier Bedeutungen von ousia: » Von ,Substanz, 4.4 Unterschiedliche Deutungen von Metaphysik VII
spricht man, wenn nicht auf noch mehr Weisen, so doch hauptsäch-
lich auf vier Weisen: Denn das Was-es-heißt-dies-zu-sein (d. h. das Mehrere ältere Interpreten (beginnend mit dem 19. Jahrhundert)
Wesen) und das Allgemeine und die Gattung scheinen von einem beschreiben den Argumentationsverlauf von Metaphysik VII etwa
jeden Substanz zu sein, und (a) als viertes von diesen das Substrat so: Ausgehend von der Liste ,Wesen-Allgemeines - Gattung- Sub-
/ (b) als viertes das Substrat von diesen.« (Met. ro28b33-36) Mit strat< setzt Aristoteles die Form mit dem Wesen und die Materie
den vier Bedeutungen scheint er irgendwie das Programm für die (sowie das aus Materie und Form zusammengesetzte Konkrete) mit
weitere Abhandlung vorzugeben, denn abgesehen von der Gattung dem Substrat gleich, während die Gattung und das Allgemeine ver-
wird jede dieser Bedeutungen in den folgenden Kapiteln einer ein- worfen werden. Nachdem damit nur noch zwei Kandidaten übrig
gehenden Diskussion unterzogen; dass dabei auf die Gattung nicht geblieben sind, erfolgt eine Abwägung zwischen diesen beiden Sei-
explizit eingegangen wird, ist nicht weiter erheblich, da die Gattung ten: Einerseits können die Materie und das konkrete Einzelne für
etwas Allgemeines ist und das Allgemeine ja ausführlich behandelt sich in Anspruch nehmen, dass ihnen die volle ontologische Selbst-
wird. Bemerkenswert ist auch, dass Aristoteles hier durchgehend ständigkeit zukommt, weil sie nicht nur an anderem vorkommen;
von der ousia-von einer Sache spricht, also den zweistelligen Ge- hingegen sage Aristoteles, die Materie und das Einzelne könnten
brauch des Wortes bevorzugt (vgl. die Bedeutung (3.) in Abschnitt nicht definiert und folglich nicht im eigentlichen Sinn erkannt wer-
1); nur bei der letzten Bedeutung, dem Substrat, ist es nicht so klar, den. Andererseits ist die Form als Wesen einer Sache der eigentli-
ob Aristoteles eine ein- oder zweistellige Verwendung im Sinn hat, che Definitionsgegenstand; sie macht das Einzelne sozusagen erst
jedoch entspricht wenigstens eine der beiden möglichen Überset- erkennbar. Allerdings ist die Form nicht im vollen Sinne des Wortes
zungsvarianten (als (a) und (b) gekennzeichnet) der zweistelligen selbstständig, weil sie immer die Form eines bestimmten Gegenstan-
Verwendung ,Substrat-von<. des ist (sie ist, wie Aristoteles sagt, nur ,der Definition nach, selbst-
Nach diesen einführenden Kapiteln und Bemerkungen folgen, je ständig). An dieser Stelle neigen nun einige dieser älteren Interpre-
nach Zählung, fünf, sechs oder sieben thematische Hauptblöcke: ten dazu zu sagen, dass hier ein unauflöslicher Konflikt zwischen
Das Substrat bzw. das Zugrundeliegende (VII. 3) zwei konträren Anforderungen an die ousia sichtbar werde. Manche
Das Wesen (ti en einai) (VII. 4-6) ziehen daraus den Schluss, dass es im Bereich der sichtbaren, mate-
Entstehen und Vergehen (VII. 7-9) riellen Dinge gar keine ousia im vollen Sinn des Wortes gebe; und
Wiederaufnahme des Wesens: Definierbarkeit (VII. ro-II) dies wiederum führt bei manchen zu der Schlussfolgerung, dass nur
Einheit der Definition (VII. 12) Gott, von dem in diesem Buch der Metaphysik noch gar nicht die
Das Allgemeine (VII. 13-16) Rede ist (dafür später: nämlich in Metaphysik XII), die eigentliche
Ein neuer Start: Die ousia als Ursache (VII. 17) ousia ist, weil Gott als immaterielle Entität zugleich in vollem Maße
Zwei dieser Blöcke gehören eng zusammen, nämlich VII. 4-6 und selbstständig und in vollem Maße erkennbar sei.
VII. IO-II; daher wird von vielen Interpreten angenommen, dass Für Interpreten, die die Metaphysik mit einem systematischen
die Kapitel VII. 7-9, die das Thema des Wesens unterbrechen, ur- Interesse lesen (z.B. weil sie sich von Aristoteles Unterstützung bei
sprünglich nicht an dieser Stelle vorgesehen waren. Auch VII. 12 der Bestimmung und Verteidigung von Einzelsubstanzen im Sinne
wird von vielen als ein solcher Einschub betrachtet. Die Thematik von Abschnitt 2 erhoffen), wäre es allerdings ein enttäuschendes
des letzten Kapitels wurde in der Übersicht von Kapitel 3 nicht Ergebnis, wenn sich herausstellen sollte, dass Aristoteles tatsäch-
erwähnt, und auch Aristoteles selbst spricht von einem neuen An- lich nur Gott als echte ousia zugelassen hat. Auch exegetisch ist
satz. diese Option nicht sehr wahrscheinlich, da Aristoteles nicht gerade
selten den Ausdruck ,ousia< auf sinnlich wahrnehmbare Einzelsub-
stanzen anwendet.
Seit den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts mehrten sich
Deutungen, die mit einem solchen systematischen Interesse verbun-
166 Christof Rapp Aristoteles und aristotelische Substanzen 167

den waren. Für diese Entwicklung gab es unterschiedliche Gründe Eigenschaften von Sokrates eigentlich der Form von Sokra_tes
in der zeitgenössischen Philosophie; eine der Quellen war sicherlich zukommen, dann ist das konkrete Einzelding, Sokrates, letztlich
Strawson ( r 9 59), der die Einzeldinge und unter diesen besonders die nichts anderes als diese seine Form. Dieser Punkt blieb in der For-
Körper als grundlegende Entitäten einstufte, weil sie die paradig- schung kontrovers: Einige bestritten, dass die Form auch Substrat
matischen Satzsubjekte abgeben. Gleichzeitig lenkte Strawson die sein muss. Andere bestätigten zwar, dass die wirkliche ousia alle
Aufmerksamkeit auf die Rolle von Artprädikaten (sortals) bei der ousia-Kriterien, also auch das Substrat-Kriterium, erfüllen muss,
Reidentifizierung von Gegenständen. Dieser Beitrag des Artbegriffs bestritten aber, dass die Form Substrat der akzidentellen Eigen-
zur Identifizierung eines Einzeldings wurde verschiedentlich mit schaften ist (vgl. Wedin). . . . ..
der Rolle des eidos in der aristotelischen Substanztheorie verglichen Für Kontroversen sorgte die These von der Individuahtat des
(vgl. Tugendhat r 976, 470). eidos: Wenn die Form, die erste ousia sein soll, nicht zum Allge-
Wenn man aber Metapyhsik VII als Verteidigung einer attrakti- meinen gehört, ist sie dann individuell? Da bei Aristoteles_ in ~er
ven Ontologie ansieht, gilt es zunächst, die Argumentationsstruktur Metaphysik die definierbare, artspezifische Form gememt ist,
des Buches Metaphysik VII klar zu stellen: Maßgebliche Autoren unterscheidet sich das eidos von Kallias und das eidos von Sokrates
nahmen an, die Liste ,Wesen - Allgemeines - Gattung - Substrat< qualitativ sicherlich nicht. Die Frage ist daher eher, ob ~allias und
sei eine Liste von Kriterien, welche auf die drei Kandidaten Form, Sokrates über numerisch verschiedene eide verfügen. Nimmt man
Materie, Zusammengesetztes angewandt werden sollen, so dass der- Aristoteles' Forderung, dass die Substanz nicht mehreren Dingen
jenige Kandidat den Titel ,ousia, erhält, welcher am besten zu diesen gemeinsam sein kann, ernst, müsste man diese Frage beja~en. A~-
Kriterien passt; im Zuge der Diskussion zeige sich dann aber, dass dererseits muss die Substanz definierbar sein und defimerbar ist
Allgemeinheit entweder gar kein adäquater Kandidat sei, weswegen nur das Überindividuelle. Schließlich bedeutet es einen wichtigen
man ihn unter den Tisch fallen lassen könne, oder dass Aristoteles Unterschied, ob wir sagen, dass das eidos als solches individuell
- ähnlich wie in Kategorien - zwei Typen von ousia annehme, so und von anderen artgleichen eide numerisch verschieden ist, oder
dass die Allgemeinheit nur auf die sogenannte Form oder Art zu- ob wir sagen dass das eine bestimmte Materie individuierende
treffe. Eine große Unsicherheit bestand nämlich lange in der Frage, eidos (z.B. d;s eidos, das dich oder mich individuiert) fndividuell
inwieweit das eidos der Metaphysik, das gemeinhin als ,Form< und ist· dass wir im letzteren Fall von ,deinem eidos< und >memem eidos<
nicht als ,Art< übersetzt wird, nicht doch mit dem allgemeinen Art- sp~echen können, ist fast trivial, aber eben~o einl_euchten~ ist, da~s
prädikat aus Kategorien (bzw. mit den >sortals< bei Strawson) iden- durch diese Art von Individualität noch mcht die Defimerbarkeit
tifiziert werden könne. bedroht sein muss.
Forschungsbereinigend wirkte sich der Kommentar von Frede/ Zusammen mit der Frage nach der Individualität des eidos wurde
Patzig aus. Ihre Interpretation zeichnet sich durch folgende Punkte auch das Kapitel Metaphysik VII. r 3 intensiv diskutiert, weil dieses
aus: (r.) Das eidos ist die Form, nicht die Art; als solche ist es indi- Kapitel die Kritik des Aristoteles am Allgemeinen enthält. Aut_ore_n
viduell, denn das eidos ist ousia und die ousia kann nicht allgemein wie Frede/Patzig haben dieses Kapitel so verstanden, dass damit die
sein. (2.) Nach der Theorie von Metaphysik VII gibt es nur einen Allgemeinheit des eidos negiert werden soll, weil _in ei°:em früheren
Typ von ousia, nämlich die Form. Diese erfüllt alle Kriterien, die Kapitel schon festgestellt worden war, dass das eidos die erste ou_sia
die ousia erfüllen soll, nicht etwa nur das Wesenskriterium bzw. sei. Jedoch bemerkten darauf andere Interpreten zu Recht, dass sich
die Definierbarkeit. (3.) Daraus folgt, dass die Form auch Substrat diese Kritik am Allgemeinen gar nicht gegen eine falsche Interpre-
sein muss, und zwar auch für die akzidentellen Eigenschaften des tation des eidos richtet; angegriffen wird in Kapitel VII. 13 vielmehr
konkreten Dings, dessen Form sie ist. Wenn z.B. Sokrates durch (a) die Auffassung, dass allgemeine Teile der Wese~sdefi_~i~ion, w~e
die Menschform wesentlich geprägt ist, dann kommt der Form die Gattung, ousia sein könne, und (b) dass allgemei_ne ~radikate, die
,Mensch,, falls Sokrates einmal betrunken ist, auch die Eigenschaft von vielen anderen Dingen ausgesagt werden, ousia smd. Von dem
des Betrunkenseins zu. Dies klingt zunächst nur wie ein exegeti- eidos im Sinne der Form ist dabei gar nicht die Rede, denn die Form
sches Detail, hat aber erhebliche ontologische Folgen: Wenn alle wird nach Aristoteles gar nicht als Prädikat von anderen Dingen
168 Aristoteles und aristotelische Substanzen 169
Christo/ Rapp
ausgesagt: Sagt man >Mensch, von mehreren Menschen aus, dann ist Literatur
damit die Art und nicht die Form gemeint; die Form hingegen wird
nur von der Materie ausgesagt, welche sie formt oder prägt, z.B. die Bonitz, Hermann (1994), Aristoteles Metaphysik, Reinbek: Ro-
Hausform von Ziegel und Steinen oder die Menschform von einer wohlt.
Portion Fleisch und Knochen. Burnyeat, Myles (2001), A Map of Metaphysics Zeta, Pittsburgh:
Nach Burny~at, dem Autor der bislang jüngsten Monographie Mathesis Publications.
zum Thema, weist der Aufbau von Metaphysik VII die Besonder- Code, Alan (im Erscheinen), Collected Papers an Aristotle's Meta-
h_eit au~, d~ss es sich um eine nicht-lineare Abhandlung mit vier physics, Princeton University Press. . .
eigenstandigen Anläufen (VII. 3, VII. 4-6 & 10-rr, VII. 13-16, ders. (im Erscheinen), Philosophy of Aristotle, Oxford Umversity
~II. 17) handelt, die nicht aufeinander aufbauen, sondern jeweils Press.
erne~ Ge~ankengang durchführen, der ohne Voraussetzungen aus Driscoll, John (1981), Eide in Aristotle's Earlier and Later Theo-
dem Jeweils vorausgegangenen Anlauf auskommen kann.Jeder die- ries of Substance, in: D.J. O'Meara (ed.), Studies in Aristotle,
ser se_lbsrs_tän_dige~ Anläufe beginne mit einer Schwierigkeit, einer Washington: Catholic University of America Press, 129-159.
Apone, die sich emstelle, solange man auf der sogenannten ,logi- Frede, Michael/Patzig, Günther (1988), Aristoteles Metaphysik Z,
schen< Ebene argumentiert, das sei für Aristoteles eine Ebene auf 2 Bde., München: Beck.
welcher man nicht nach Gründen und Ursachen frage und mithin Jaeger, Werner (1957), Aristotelis Metaphysica, Oxford: Claren-
ohne _die _U~tersc~e_idung von Form und Materie operiere; diese don.
Apone, die sich bei Jedem der vier Anläufe einstelle, könne jeweils Reeve, C.D.C. (2000), Substantial Knowledge, Indianapolis: Ha-
durch die Einführung der Form/Materie-Unterscheidung über- ckett.
wu:1-den werden,_ so dass jeder dieser Anläufe mit dem unabhängig Ross, W. David (1953), Aristotle's Metaphysics, 2 vols., Oxford:
erzielten Ergebms ende, dass die Form erste ousia sei. Clarendon.
Neuere Publikationen (Code, Wedin, Burnyeat) betonen (wie Szlezak, Thomas A. (2003), Aristoteles Metaphysik, Berlin: Aka-
schon oben in Abschnitt 4. r. und 4.2 ausgeführt) zu Recht, dass in demie Verlag.
Metaphysik VII Form im Sinne des zweistelligen Ausdrucks >ousia- Schwarz, Franz F. (1970), Aristoteles Metaphysik, Stuttgart: Re-
v~n< als >ousia< bezeichnet wird. Während Frede/Patzig versuchten, clam.
mit ezner Art von ousia auszukommen, die zugleich Definitions- Strawson, Peter F. (1959), Individuals, London: Methuen; dt. 1972,
gegenstand und Träger akzidenteller Prädikate ist scheint es mir Ditzingen: Reclam.
d~ss die_ Form. genau deshalb ousia ist, weil sie als ;usia-von denje~ Tugendhat, Ernst (1976), Vorlesungen zur Einführung in die sprach-
mgen Emzeldmgen erwiesen wird, die als Subjekt von Akzidenzien analytische Philosophie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
dienen. Davon bleibt jedoch die Annahme von Einzelsubstanzen Wedin, Michael (2000), Aristotle's Theory of Substance, Oxford:
die als__persist~nte Träge~ wechselnder Eigenschaften dienen, völli~ Oxford University Press.
unberuhrt. Die Form wird als >erste ousia, ausgezeichnet, weil sie
erklärt, warum etwas die Art von Ding ist, die es ist; deshalb gilt
auch das Schlusskapitel von Metaphysik der Frage, inwiefern die
~or~ als ousia_,Ursache, oder ,Grund, von etwas sein kann. Jedoch
ist die Form mehr das Substrat für die Akzidenzien des betreffen-
d~n Einzeldings. Wenn die Form überhaupt Substrat ist (und es ist
mehr klar, ob Aristoteles das wirklich von jeder Art von ousia ver-
langt), dann nur deshalb, weil sie das Subjekt von definitorischen
Aussagen sein kann.

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