Sie sind auf Seite 1von 14

DAS PROBLEM DER PRINZIPIENFORSCHUNG

UND DIE ARISTOTELISCHE PHYSIK*)


von Wolfgang Wieland, Heidelberg

Die Physik ist unter den Hauptwerken des Aristoteles das weitaus un-
bekannteste. Die philologische und philosophiegeschichtliche Forschung
beschäftigt sich wohl sehr intensiv mit den Aristotelischen Schriften zur
Logik, zur Psychologie, zur Politik, vor allem auch zu Metaphysik und
Ethik. Die Physik ist dagegen heute noch fast terra incognita. Das beruht
schwerlich auf einem Zufall, sondern es wirkt hier eine unbedacht über-
nommene Haltung des 19. Jahrhunderts nach.
Sehr instruktiv ist in dieser Hinsicht das Kapitel „Weltanschauung und
Wissenschaft" aus dem Schlußteil von Jaegers Aristotelesbuch1). Jaeger
versucht hier, die Ergebnisse seiner Einzelanalysen unter einem zusammen-
fassenden Gesichtspunkt darzustellen, indem er die Philosophie des Ari-
stoteles als Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung interpretiert. Nun
ist es für Jaeger charakteristisch, daß er2 die Physik zu den nicht „im
engeren Sinne philosophischen Arbeiten" ) zählt. Diese in der Kapitel-
überschrift „Weltanschauung und Wissenschaft" zum Ausdruck kommende
Unterscheidung zwischen einer als Ausdruck einer Weltanschauung ver-
standenen Philosophie auf der einen Seite und der in diesem Sinne aller-
dings nicht zur Philosophie gehörenden Naturforschung auf der anderen
Seite ist ein Reflexionsprodukt des 19. Jahrhunderts und war erst in einer
Situation möglich, in der die Philosophie ihren Anspruch, eine umfassende
Theorie der Wirklichkeit zu liefern, zugunsten der sich immer mehr in die
Breite entwickelnden Naturwissenschaften aufgegeben hatte und ihre
Hauptaufgabe in der Beschäftigung mit den Entwürfen sah, mittels derer
der Mensch diese Wirklichkeit auf sein Ich zurückbezog. Nun kann,man
kaum bestreiten, daß sich manches von dem, was in der Geschichte als"
Arostotelismus aufgetreten ist, zwanglos unter jenem „weltanschaulichen"
Aspekt interpretieren läßt. Doch das gilt nicht im gleichen Sinne für
Aristoteles selbst: gerade seine Physik ist, wie mir scheint, die schönste
Bestätigung dafür, daß das Anliegen seines Philosophierens verfehlt wird,
wenn man es aus dem Gegensatz von Weltanschauung vund Wissenschaft
zu begreifen versudit. Die Physik ist bei Aristoteles so wenig naturwis-
*) Überarbeiteter Text eines auf der Hamburger Aristotelestagung des Engereu
Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutsdüand am 28.10.
1959 gehaltenen Vertrages. *
*) W. Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung.
2. Aufl., Berlin 1955; vgl. S. 402 ff.
*) Jaeger, op. cit. S. 308.

206
sensdiaftliche Einzelforschung wie die Metaphysik bloß Ausdruck einer
Weltanschauung ist. Die Unterscheidung von Metaphysik und Physik ist
selbst überhaupt keine Voraussetzung, sondern ein Ergebnis der Reflexion
auf die Prinzipien der Dinge, die Aristoteles durchführt. Es ist jedoch vor-
erst keineswegs selbstverständlich, was Aristoteles überhaupt unter einem
Prinzip verstanden wissen wollte, und nach welchem Leitfaden die Prin-
zipienforsdiung vorgeht. Gerade die Physik scheint mir zur Lösung dieses
Problems einen nicht zu unterschätzenden Beitrag liefern zu können, da
hier wesentliche Motive des Aristotelischen Denkens sichtbar werden, die
in anderen Aristotelesschriften eine mehr untergründige Wirkung aus-
üben und an einigen Stellen zu einer Revision der geläufigen Auffassung
von der theoretischen Philosophie des Aristoteles zwingen.
Aristoteles hat selbst in den zweiten Analytiken .als Erster eine detail-
lierte Wissensdiaftstheorie und Methodenlehre entwickelt, und es ist leicht
zu verstehen, daß man schon sehr frühzeitig glaubte, die hier exponierte
Methodik auch in den Lehrschriften ihres Urhebers wiederfinden zu kön-
nen. Die griechischen Kommentatoren bieten hierfür eine Fülle von Bei-
spielen. Der beginnenden Neuzeit gilt Aristoteles als der Ahnherr einer
Tradition, die alle philosophischen Probleme auf deduktivem Wege, näm-
lich mittels der syllogistischen Methode durch Ableitung aus einigen
wenigen, intuitiv einsichtigen Prinzipien lösen will. In diesem Sinne wird
der Aristotelismus vor allem von Galilei und Descartes bekämpft.
Die Ansicht, daß Aristoteles in .seinen philosophischen Werken die
syllogistische Methodik „anwendet11, um so zu einem großartigen, in sich
konsistenten System zu gelangen, ist auch heute noch herrschend — un-
geachtet der Tatsache, daß es bis heute noch nicht gelungen ist, aus den
Aristotelischen Schriften eine nennenswerte Anzahl von im Sinne der Syllo-
gistik folgerichtigen Schlüssen herauszupräparieren; ungeachtet auch der
vielen Widersprüche, die sich bei Aristoteles finden und die es schon von
sich her schwer machen, die Aristotelische Philosophie als deduktives
„System" zu betrachten. Ein soldies System will aber Aristoteles gar nicht
geben, und wenn man durchaus die Methodenlehre der Analytiken mit
seinen übrigen Hauptschriften in Zusammenhang bringen will, so müßte
man sagen, daß es in ihnen allen einzig und allein um diejenigen Prä-
missen und Grundbegriffe geht, die in jedem deduktiven System bereits
vorausgesetzt sind. Es bedarf aber eines langen und mühevollen Weges,
um zu diesen Prinzipien zu gelangen, und Aristoteles beruft sich niemals
— wie die Mehrzahl seiner Nachfolger — auf die bloße und unmittelbare
Intuition zur Legitimierung seiner Prinzipienlehre. Die Lehre von der
intuitiven Erkenntnis „evidenter" Prinzipien ist der Sache nach ein ge-
naues Korrelat zur Auffassung vom streng syllogistischen Aufbau der
Wissenschaft. Doch das eine ist so wenig genuin aristotelisch wie das
andere. Welchen Weg begeht nun aber Aristoteles in concreto, um zu
seinen Prinzipien zu gelangen?
II
Aristoteles, der so viel über Methodenprobleme nachgedacht hat, hat
auf die in seinen eigenen philosophischen Schriften angewendete „Me-
thode" nicht ausdrücklich reflektiert. Ihm blieb ebenso wia jedem anderen

207
gro en und urspr nglichen Denker das Gesetz des eigenen Denkens ver-
borgen, Offenbar ist jede Methodenreflexion mit einem Verzicht auf ein
unmittelbares Interesse an den Sachen selbst, die mit dieser Methode er-
kannt werden sollen, verbunden und umgekehrt. Die Methoden, die Ari-
stoteles -ausf hrlich beschrieben und begr ndet hat, wendet er nicht auf
sachliche Inhalte an, und wenn er eine auf die Sache gerichtete Unter-
suchung durchf hrt, so hat er kein ausdr ckliches Wissen von deren
Methode. Es gibt nur einige wenige Stellen, an denen sich Aristoteles ber
den Weg der Prinzipienforschung u ert, und auch hier beschr nkt er sich
auf Andeutungen.
Das erste Kapitel des ersten Physikbuches geh rt zu jenen wenigen
Texten, in denen sich Aristoteles von seinem eigenen Weg kurz Rechen-
schaft zu geben versucht. Aristoteles sagt hier, nachdem er klargestellt hat,
da jede wirkliche Erkenntnis einer Sache immer eine Erkenntnis aus
Prinzipien ist:
πέφυκε δε εκ των γνωριμωτέρον ήμϊν ή οδός καΐ σαφέστερων επί τα σαφέστερα τη
φύσει και γνωριμώτερα · ου γαρ ταύτα ήμΐν τε γνώριμα καΐ απλώς, διόπερ ανάγκη τον
τρόπον τούτον προάγειν εκ των ασαφέστερων μεν τη φύσει ήμιν δε σαφέστερων επί τα
σαφέστερα τη φύσει καΐ γνωριμώτερα (184 a 16 ff.).
Dies ist eine Unterscheidung, die Aristoteles auch sonst h ufig anwendet.
Was bedeutet sie f r die Prinzipienforschung?
Wir gehen immer von demjenigen, was uns bekannter ist, aus, um zu
dem zu gelangen, das „an sich" oder der Natur nach bekannter ist. Das-
jenige, was von Natur aus bekannter ist, ist uns das Unbekanntere. Im
Zusammenhang mit der Prinzipienforschung besagt dies: Wir gehen aus
von der Sache, die uns schon bekannt ist, die wir aber aus ihren Prin-
zipien erkennen wollen. Nach den Prinzipien ist gefragt; sie sind das von
Natur aus Deutlichere, das uns aber zun chst noch verborgen ist. Bei der
Unterscheidung von γνωριμωτέρον ήμΐν und τη φύσει handelt es sich keines-
wegs um die Unterscheidung einer subjektiven von einer objektiven
Sph re oder einer Seinsordnung von einer Erkenntnisordnung: in den
beiden F llen handelt es sich vielmehr nur um verschiedene Wissens-
formen, d.h. Weisen des Bekanntseins einer Sache, aber nicht um eine
Gegen berstellung von Wissen und Gewu tem oder um einen ontologi-
schen Dualismus. berhaupt hat jene Unterscheidung keine Bedeutung,
die ber den jeweiligen konkreten Problemzusammenhang hinausweisen
w rde.
Man kann sich dieses Verh ltnis am besten am Beispiel der Argumen-
tationsstruktur klarmachen: argumentiert man zugunsten einer bestimmten
These, so hat man zwei verschiedene Weisen von Bekanntheit. Die zu-
n chst aufgestellte These ist dasjenige, was f r uns bekannter ist; die
Argumente jedoch, mit denen ich sie plausibel zu machen suche, m ssen
ebenfalls bekannt und plausibel sein, aber doch in einer anderen Weise
als die These selbst. Ganz hnlich ist es hier bei der Prinzipienforschung:
dasjenige, was uns zun chst bekannt ist, wird als solches durch etwas
anderes begr ndet — nicht umgekehrt. Gerade deshalb wird dem Begr n-
denden — den Prinzipien — ein noch h herer Grad von Bekanntheit, wenn
auch anderer Art, zugesprochen.

208
Was an dem Erkenntnisweg vom uns Bekannteren zu dem von Natur
aus Bekannteren, den Aristoteles hier skizziert, besonders auff llt, ist die
Tatsache, da es gerade kein Weg vom Nichtwissen zum Wissen ist, son-
dern eine Bewegung innerhalb verschiedener Wissensformen. Das bedeutet
aber, da keine Erkenntnis schlechthin von vorne anfangen kann, auch die
Prinzipienforschung nicht. Jede Einsicht mu vielmehr immer schon an et-
was Bekanntes ankn pfen k nnen, d. h. jede Erkenntnis setzt etwas voraus,
hinter das sie nicht zur ckfragen kann. Wir nennen dies mit einem Aus-
druck unserer Tage das Vorverst ndnis. In einem ganz hnlichen Sinne hei t
es zu Beginn der zweiten Analytiken: πασά διδασκαλία καΐ πάσα μάϋησις
διανοητική εκ προϋπαρχούσης γίνεται γνώσεως (An. post. A 1, 71 a.l). Und in
der ber hmten Platonkritik Met. A 9 ist das Faktum eines bei jeder Er-
kenntnis schon vorausgesetzten und niemals zu berspringenden Vor-
wissens ein wichtiges Argument gegen die Platonische Konzeption einer
Universalwissenschaft (992 b 29 ff.). Wissen und Einsicht ist nach Aristo-
teles gerade im Gegenteil nur in dieser seiner Beschr nkung m glich. Nach
einem „an sich" Bekannteren zu fragen hat erst auf dieser Grundlage Sinn.
Man kann sich nun fragen, wie die merkw rdige und vielleicht sogar
etwas irref hrende Bezeichnung des „an sich" oder „von Natur aus" Be-
kannteren eigentlich zustande kommt. Eine wichtige Rolle d rfte in diesem
Zusammenhang der αργός λόγος der Spphistik spielen, der aus der Tat-
sache, da man das, wonach man fragt, immer schon gewisserma en ken-
nen mu , den Schlu zieht, da es gar kein wirkliches Erkennen geben
kann. Platons Anamnesislehre war ein erster Versuch einer Entgegnung
auf diese Lehre. Aristoteles lehnt zwar Platons Anamnesislehre als nur
mythische Erkl rung ab, aber er bleibt in der Tat Platon darin verpflichtet,
da er den Erkenntnisproze als einen Weg innerhalb des Wissens, wenn
auch als Weg von einem latenten und unausdr cklichen zu einem aus-
dr cklichen Wissen auffa t — und damit dem sophistischen Argument in-
sofern relative Berechtigung zuerkennt, als er selbst, wie auch Platon, auf
die Auffassung des Erkennens als eines Weges vom puren Nichtwissen
zum vollen Wissen verzichtet.
Immerhin, die Schwierigkeit der Prinzipienforschung wird durch den
Euphemismus des „von Natur aus" Bekannteren zun chst einmal verdeckt.
Und das ist um so weniger ein Zufall, als es sich hier um ein urspr ng-
lich protreptiscfaes Motiv handelt. Die Unterscheidung der beiden Bekannt-
heitsweisen wird bereits im Aristotelischen Protreptikos vorbereitet (vgl.
Frg. 5 ROSS). Es ist eine feste Regel der Protreptik, nach der sie das jenige,
wozu sie ermahnt, als leicht erreichbar hinstellt; diese Regel ist jedenfalls
befolgt, wenn man den Gegenstand der schwierigsten philosophischen Un-
tersuchungen als das von Natur aus Bekannteste ausgibt. Gut pa t in
diesen Zusammenhang auch das der Protreptik noch sehr nahestehende
Kapitel Met α l, wo Aristoteles gerade aus dem Faktum des Vorverst nd-
nisses („jeder wei irgend etwas ber die Natur der Dinge zu sagen41,
vgl. 993 b l ff.) die Leichtigkeit der Wahrheitsforsdmng begr ndet.
Das „von Natur aus11 Bekanntere, zu dem die Prinzipienforschung
schlie lich hinf hrt, umfa t nun aber oft sehr triviale und einfache Dinge
— insofern scheint die angebliche Leichtigkeit von der Wanrheitsforsdiung

209
auf den ersten Blick zu Redit behauptet zu werden. Doch es handelt sich
hier meist um Dinge, die uns zu selbstverst ndlich sind, als da wir uns
ber sie in der Regel berhaupt Rechenschaft geben w rden. ber die-
jenigen unserer Voraussetzungen, die uns am selbstverst ndlichsten sind,
wissen wir ausdr cklich zun chst und zumeist gar nichts. Auch hier wieder
bietet die Diskussionspraxis das anschaulichste Beispiel: Die Gr nde f r
eine These m ssen einleuchtender sein als diese These selbst. Der Gegner
soll jedoch von diesen Gr nden vorher noch kein reflektiertes Wissen
haben..
Wie ist nun aber der Ausgangspunkt des Erkennens, das f r uns Be-
kanntere beschaffen? Aristoteles formuliert: %<w δ* ήμΐν το πρώτον δήλα καΐ
σαφή τα συγκεχυμένα μάλλον · ύστερον δ' εκ τούτων γίνεται γνώριμα τα στοιχεία και
αϊ άρχαΐ διαιροΰσι ταύτα. (184 a 21-23). Wir m ssen von einem „Zusammen-
gegossenen" und Undifferenzierten ausgehen; zur Erkenntnis gelangen
wir nicht, indem wir dieses undifferenzierte Vorwissen blo bersteigen,
sondern dadurch, da wir es in seine Momente und Bestandteile auf-
gliedern. Aristoteles bezeichnet diesen Ausgangspunkt auch als καθόλου
(184 a 23), von dem aus man zu den Momenten, den καθ' Εκαστα zu gehen
habe, καθόλου bezeichnet hier nat rlich kein Allgemeines im Sinne einer
Gattung, 'sondern ein Allgemeines im Sinne des Unbestimmten, das noch
nicht in seine Momente differenziert ist. Die beiden Aristotelischen Bei-
spiele zeigen das deutlich. Aristoteles nennt zuerst den Kreis, von dem
wir, wenn wir ber ihn eine beliebige Aussage machen, schon immer eine
gewisse Kenntnis haben. Aber erst wenn wir seine Definition angeben und
ihn damit in seine logischen Bestandteile zergliedern, haben wir ein aus-
dr ckliches Wissen von dem, was wir meinen, wenn wir von einem Kreis
sprechen. In der gew hnlichen Aussage nehmen wir die W rter immer nur
in einem ungef hren und undifferenzierten Verst ndnis auf. Die wissen-
schaftliche Erkenntnis will nur dasjenige, weis unreflektiert sdion immer
vorliegt, in die Ausdr cklichkeit heben. — Das zweite — brigens ur-
spr nglich protreptische (vgl. 11Frg. 17 ROSS) — Beispiel nennt die Kinder,
die zuerst alle M nner „Vater und edle Frauen „Mutter" nennen und erst
sp ter diese zun chst noch unbestimmten Vorstellungen zu differenzieren
lernen. —
Man kann diese Methode der Prinzipienerkenntnis eine induktive Me-
thode nennen — wenn man sich bewu t bleibt, da Induktion nicht nur ein
Ansammeln und Abstrahieren von Einzelfakten bedeutet. Die Induktion
kann vielmehr von einem einzelnen Beispiel ausgehen, an dem sie die
Allgemeinheitsibestimmungen abliest. Doch der Unterschied zwischen All-
gemeinem und Einzelnem ist .selbst bereits ein Produkt der Reflexion,
Jenes Unbestimmt-Allgemeine, von dem die Piinzipienuntersuchung aus-
geht, von dem die Erkenntnis ausgehen mu , tr gt noch beide M glich-
keiten in sich8). Die Begrifflichkeit von δύναμις und ενέργεια bietet — ahn-
*) Eine interessante Parallele hierzu ist das καθόλου in der Dichtung. F r Ari-
stoteles ist die Dichtung deswegen philosophischer als die Historie, weil sie im
Gegensatz zu dieser mehr auf das Allgemeine geht, vgl. Poet. 9, 1451 a 20. Dieses
καθόλου ist ebenfalls ean sch nes Beispiel f r eine Allgemeinheit, die nicht nur Gat-
tungsallgemeinheit ist. Denn die Dichtung stellt ja zun chst enmal ganz indivi-
duelle F lle, oft sogar von h chst extremer Natur dar. Da es individuelle Be-

210
,lich wie in manchen anderen Fällen — auch hier die eleganteste Lösung:
Die Erkenntnis bezieht 'sich zwar der Möglichkeit nach ( ) immer auf
etwas Allgemeines, der Wirklichkeit nach ( ) ist sie aber immer
auf etwas Konkretes und Bestimmtes bezogen (Met. M 10, 1087 a 15 ff.).

Die Prinzipienforschung des ersten Physikbuches führt das im Ein-


leitungskapitel skizzierte Programm durch. In der Tat unternimmt Aristo-
teles in diesem Zusammenhang nichts anderes als eine Untersuchung des-
sen, was wir schon immer vorausgesetzt haben, wenn wir von natürlichen
Dingen und Geschehnissen sprechen. Dieses Vorverständnis hat zwei ver-
schiedene Quellen: zunächst gehört alles dasjenige dazu, was über den in
Frage stehenden Gegenstand schon von anderen gesagt worden ist; dann
aber gehören dazu auch diejenigen Strukturen, die wir schon dadurch
übernehmen, daß wir in einer bestimmten Sprache reden.
Von hier (aus wird deutlich, warum in der Aristotelischen Philosophie der
Bericht über die Lehren der Vorgänger und die Auseinandersetzung mit
ihnen »einen so breiten Raum einnimmt. Diese Kritik ist nicht nur von pro-
pädeutischem oder, historischem Interesse, sondern sie gehört schon zur
sachlichen Untersuchung selbst. Für Aristoteles sind die Vorgänger nicht
nur Gegenstand der Forschung, sondern' zugleich auch Partner einer Aus-
einandersetzung. Nun ist es bezeichnend, daß Aristoteles seine Vorgänger
gerade nicht mit einer eigenen bereits ausgebildeten philosophischen Posi-
tion konfrontiert. Den Maßstab für ihre Beurteilung bildet einzig und allein
ihr eigener Anspruch. Geprüft wird bei dem jeweiligen Vorgänger, ob
seine Lehre das -erreicht, was sie von sich aus zu erreichen beansprucht.
Hier läßt sich bereits eine hinsichtlich des Prinzipienproblems wichtige Be-
obachtung machen: den Vorgängern wird nämlich, wenn sie kritisiert wer-
den, in der Regel nicht vorgeworfen, daß sie falsche Prinzipien angenom-
men hätten, sondern nur, daß sie von ihren Prinzipien keinen, bzw. keinen
angemessenen, Gebrauch machen. Das bedeutet aber, daß sich ein Prinzip
allein danach beurteilen läßt, was es faktisch leistet, wenn man mit ihm einen
Sachverhalt zu begründen versucht. In eine ähnliche Richtung zielt der
Vorwurf, der gegen einige Vorgänger erhoben wird, sie hätten selbst
nicht eigentlich gewußt, was sie sagten (vgl. z.B. Met. A4, 985a 16, K5,
1062 a 35). Daran wird die Eigenart der Stellung, die Aristoteles der philo-
sophischen Tradition gegenüber hat, deutlich: er will dasjenige in die Aus-
drücklichkeit heben, was in der Tradition schon latent vorhanden und
wirksam ist. So stellt er den Prinzipien, die seine Vorgänger angenommen
haben, nicht einfach neue und andere Prinzipien entgegen, sondern er
fragt im Blick auf die Lehren der Vorgänger nach dem Sinn, in dem man
überhaupt von Prinzipien sprechen kann.
Die Lehren der Vorgänger sind die eine Grundlage der Aristotelischen
Prinzipienforschung, die Analyse der Sprachfunktionen die andere. Gerade
gebnisse sind, hat die Historie mit der Poesie gemeinsam. Was die Poesie
gegenüber der Historie auszeichnet, ist allein die Tatsache, daß sie die indivi-
duellen Begebnisse von vornherein zugleich als Repräsentationen, allgemeingül-
tiger Wahrheiten auffaßt.

211
in unserer allt glichen Sprache ben tzen wir ja immer schon eine F lle von
kategorialen Strukturen. Auch sie geh ren zu dem Vorverst ndnis, das
man in jeder sad ialtigen Untersuchung voraussetzen mu . Die Aufgabe
der Prinzipienforschung ist es nun, dieses unausdr ckliche Wissen um die
sprachlichen Strukturen, die uns zun chst immer viel zu selbstverst ndlich
sind, als da wir von ihnen ein gegenst ndliches Wissen haben k nnten,
in die Ausdr cklichkeit zu heben und begrifflich zu fixieren. Aristoteles
f hrt im ersten Physikbudi in dem zentralen 7. Kapitel diese Untersuchung
durch, nachdem die Pr fung der Lehren der Vorl ufer abgeschlossen ist.
Man ist zun chst geneigt, zu vermuten, Aristoteles lese hier gewisse sach-
liche Strukturen an entsprechenden sprachlichen Strukturen ab. Doch es ist
zun chst berraschend, wenn man feststellt, da ein solches Entsprechungs-
gef ge zwischen sprachlicher und sachlicher Sph re bei Aristoteles gar
nicht vorliegt. In der ganzen Untersuchung verl t er niemals den Bereich
der Analyse sprachlicher Ausdrucksformen*). Man mag das als edn un-
kritisches Vorgehen verurteilen, aber man mu doch daran denken, da 5es
f r Aristoteles einen sprachfreien Sachbereich berhaupt nicht gibt ), i
W re es anders, so lie e sich kaum erkl ren, da Aristoteles (wie auch ]
Platon) keiner im engeren Sinn erkeiuitnistheoretischen Fundierung seiner U
Philosophie bedarf: Nicht -die Frage nach der M glichkeit der Wahrheit,
sondern die Frage nach der M glichkeit des Irrtums steht f r Aristoteles
wie f r Platon im Mittelpunkt des Interesses.
Die Untersuchung der Prinzipien der bewegten Welt in Phys. A 7 geht
nun so vor sich, da Aristoteles die verschiedenen Weisen, in denen man
vom Werden spricht6), nebeneinanderstellt und vergleicht. Es sind nur
ganz wenige Beispiele, die die Untersuchung benutzt: Man kann sagen, -ein
Nichtgebildeter werde ein Gebildeter; ein nichtgebildeter Mensch werde
ein gebildeter Mensch; ein Mensch werde gebildet. Au erdem kann man
sagen, aus einem Nichtgebildeten (Menschen) werde ein Gebildeter
(Mensch), aber nicht, aus einem Menschen werde ein Gebildeter; umge-
kehrt kann man sagen, aus Erz werde eine Statue; aber nicht, das Erz
werde -eine Statue. Wir haben also zwei Formen, in denen wir vom Wer-
den sprechen: etwas wird etwas anderes, und: etwas wird aus etwas
anderem. Dazu kommt noch eine dritte Form; in ihr sprechen wir von
einem Werden schlechthin, d. h. ohne n here Bestimmung (γίγνεσθαι απλώς
im Deutschen »am besten mit „entstehen" wiederzugeben): es entsteht ein
Mensch, es entsteht eine Statue. Was sich bei der vergleichenden Analyse
dieser Sprachstrukturen, der wir hier nicht in den Einzelheiten nachgehen
4
) Vgl. hierzu auch die vor allem im Methodischen wegweisende Arbeit von
C. Arpe, Das τί ην είναι bei Aristoteles, Hamburg 1938, wo der Verfasser S. 54
als den Sinn der Aristotelischen Philosophie herausstellt: „dar ber denken, wie
die Dinge sein k nnten, um sie dann sein zu lassen, wie wir sie uns denken".
*) Man kann dies an dem st ndig wiederkehrenden λέγομεν sehen, mit dessen
Analyse Aristoteles die inhaltlichen Untersuchungen gerne beginnt. Dieser Bereich
des λόγος ist dem Bereich des είναι nicht etwa entgegengesetzt: είναι und
λέγεσθαι sind weitgehend Wechselbegriffe; auch mit dem είναι ist eine sprachliche
Struktur ausgesprochen, wie neben vielen anderen besonders deutlich die Stellen
Phys.
e
A 3, 186 a 28 ff.; E 5f 229 a 16 ff. zeigen.
) Vgl. 190 a 14:... εάν τις επίβλεψη ώσπερ λέγομεν»

212
-wollen, am Ende ergibt, ist nichts .anderes als die bekannte Prinzipien-
dreiheit von ύλη, μορφή (bzw. είδος) und στέρησις mit der sich alle Beispiele
interpretieren lassen7).
Wie sehr die ganze Prinzipienlehre der Physik den Gegebenheiten der
nat rlichen Sprache verpflichtet bleibt, zeigt sich auch darin, da sie am
Problem des Werdens von konkreten Dingen orientiert bleibt; sie ist nur
unter der Voraussetzung verst ndlich, da es immer ein Ding ist, das
(oder aus dem) ein anderes Ding wird. Die Annahme eines Substrates, das
sich dadurch ver ndert, da an ihm nur die Bestimmungen wechseln, mag
in manchen F llen eine n tzliche Abstraktion sein. Sie ist aber nicht aristo-
telisch, und das in der Sprache liegende Vorverst ndnis, das immer ein
Werden von Dingen im Auge hat, kann durch diese Abstraktion nicht gut
expliziert werden8).
. , IV
Was folgt aus dem Gesagten f r das Wesen der Aristotelischen Prin-
zipien, und was ist berhaupt der Sinn der Prinzipienforschung? Die Prin-
zipienforschung hat zun chst einmal nicht den Sinn, zu einer Position zu
f hren, von der aus sich alles Konkrete einfach ableiten lie e. So sicher
es ist, da jede wirkliche Erkenntnis einer Sache Erkenntnis aus Prin-
zipien ist, so sicher ist es auch, da die allgemeine Prinzipienforschung,
wie sie beispielsweise im ersten Physikbuch durchgef hrt wird, noch nicht
ausreicht, wenn man von einer bestimmten Sache wissenschaftliche Er-
kenntnis, d. h. Erkenntnis aus Prinzipien erlangen will. Dies h ngt damit
zusammen, da die Prinzipien, wie es Aristoteles im Binleitungskapitel
von de anima einmal begr ndet, nicht berall dieselben sind; der Weg zu
ihnen sei in jedem Fall immer wieder aufs neue zu suchen (402 a 13 f.).
Im zweiten Kapitel des ersten Physikbuches formuliert Aristoteles ein-
mal im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit dem eleatischen Mo-
nismus den Grundsatz, da jedes Prinzip notwendigerweise ein Prinzip
von etwas ist: η ϊ«ρ αρχή τινός ή τινών (185 a 4). Dies bedeutet, da die
Prinzipien f r Aristoteles niemals etwas Selbst ndiges sind, sondern als
solche immer schon auf das Prinzipiierte verweisen, dessen Momente sie
darstellen. Die Platonkritik, die sidi durch das gesamte Werk des Aristo-
teles zieht, beruht zu einem guten Teil auf dem Gedanken, da die Ideen
7
) Hierbei ist es lehrreich zu sehen, wie der Begriff δλη erst allm hlich im
Laufe dieser Untersuchung zum philosophischen Fachterminus gepr gt wird; zu-
n chst ist ύλη nur ein besonders n tzliches Beispiel f r eines der Prinzipien, die
Aristoteles
8
beschreiben will.
) Die sprachliche Grundlage der Prinzipienanalyse macht auch verst ndlich,
warum Aristoteles die Bereiche von φύσις und τέχνη gegenseitig auseinander er-
kl ren kann: Da sich die τέχνη am Leitfaden der φύσις erkl ren l t, folgt nicht
aus irgendwelchen geheimnisvollen und verborgenen Eigenschaften der Natur,
sondern zun chst einmal nur aus der Tatsache, da die Sprache, wenn sie vom
Werden von Dingen redet, grunds tzlich keinen Unterschied zwischen dem Werden
von Artefakten — die f r die nat rliche Einstellung im Vordergrund stehen —
und dem Werden nat rlicher Dinge macht Das vielverhandelte und oft ange-
feindete Teleologieprinzip der Aristotelischen Physik verliert unter diesem Aspekt
den Hintersinn, den man blicherweise mit ihm verbindet. In der Naturphilosophie
hat das Teleologieprinzip bei Aristoteles kaum einen gr eren Anwendungs-
bereich als bei Kant.

213
Platons die von ihnen verlangte Begriindungsfunktion schon deshalb nicht
leisten k nnen, weil sie gar keine echten Prinzipien mehr sind, sondern
selbst wieder zu selbst ndigen Dingen hypostasiert werden; zwar zu
Dingen, die auf einer h heren Seinsstufe stehen als diejenigen, f r die sie
die Grundlage bieten sollen, aber gleichwohl doch Dinge bleiben, die ihrer-
seits selbst wieder einer Prinzipienanalyse bed rften.
Dies wird durch die Tatsache verst ndlich, da es in der Aristotelischen
Philosophie darum geht, ein gegebenes Konkretum in seine Prinzipien zu
analysieren und nicht darum, aus gegebenen Prinzipien ein Konkretum
aufzubauen. Die Prinzipien stehen am Ende, nicht am Anfang der Unter-
suchung. Der Sinn der Forschung liegt in der Aufdeckung von Voraus-
setzungen, die man zwar gemacht hat, um die man aber nicht ausdr cklich
wei , und nicht in der formalen Ableitung aus gegebenen Vorausset-
zungen9). Damit h ngt es auch zusammen, da Aristoteles eine Vielheit
von Prinzipiensystemen kennt, die unverbunden nebeneinanderstehen 10)
und nicht noch einmal auf ein gemeinsames Uberprinzip zur ckgef hrt
werden k nnen (man denke an ύλη — είδος — στέρησις; δύναμις — ενέργεια;
die Kategorieneinteilung, die Vierursachenlehre). So best tigt sich hier,
was man schon aus Aristoteles' Vorg ngerkritik ersehen kann: das eigent-
liche Kriterium f r die Berechtigung, ein bestimmtes Prinzip anzunehmen,
liegt nur darin, ob (das Prinzip die von ihm verlangte Begr ndung auch
wirklich leistet: Nur aus den Konsequenzen l t sich ersehen, ob die Vor-
aussetzungen richtig waren, wie es in der Topik (Θ 14, 163b9) hei t.
Was bedeutet es -aber dann, wenn Aristoteles betont, da die Prinzipien
nur durch sich selbst erkennbar sind? Damit'will er keiner unmittelbar-
intuitiven Prinzipienerkenntnis dias Wort reden, sondern zun chst nur ein-
mal sagen, da die Prinzipien nicht selbst wieder (wie.die Dinge, deren
Prinzipien sie sind), aus etwas anderem erkannt, werden. Es gibt kein
Prinzip der Prinzipien. Man kann wohl zu den Prinzipien hinf hren, man
kann sie aber niemals ableiten. Sie sind „evident11 h chstens in dem Sinne,
da gegen sie, wenn sie einmal entdeckt sind, kein Widerspruch mehr ge-
funden werden kann. Trotzdem ist es in der Regel ein beschwerlicher Weg,
der zu ihrer Auffindung f hrt. Sie werden durch sich selbst erkannt, weil
sie als solche schon immer auf dasjenige verweisen, dessen Prinzipien sie
sind, wie es eine sch ne Formulierung in den zweiten Analytiken nahe-
legt ").
Die allgemeine Prinzipienforschung, die die Aufgabe der Philosophie
ist, kann indes immer nur ein Repertoire von Gesichtspunkten an die Hand
e
) Dies ist f r den Bereich der formalen Logik bereits gezeigt worden von
E. Kapp: Greek Foundations of Traditional Logic. New York 1942;"
Ders.:
10
Art Syllogistik in Pauly-Wissowa REIVA (Sp. 1046-1067).
) Dies zeigt sich auch daran, da die Prinzipiensysteme miteinander kombi-
niert werden k nnen. Das eindrucksvollste Bespiel hierf r findet sich Phys. B 3
(195 a 23 ff,), wo dadurch, da f nf solcher Systeme kaschiert werden, insgesamt
64 Einteilungsgesichtspunkte
u
m glich werden.
) Wir sprechen immer dann im Hinblick auf eine Sache von Wissen, wenn
wir ihre Ursache zu kennen glauben (όταν την τ* αιτίαν οΐώμεθα γινώσκειν δι' ην το
πράγμα εστίν) ; doch dies allein gen gt nicht: man mu zugleich wissen, da es
sich um die Ursache des in Frage stehenden Gegenstandes handelt (ότι εκείνου
αίτια εστί 71 b 10 f.).

214
geben, die dm konkreten Fall die jeweils vorliegenden Prinzipien auf-
finden helfen. Wir nennen solche Gesichtspunkte mit einem neuzeitlichen
Ausdruck Reflexionsbegriffe12); die Aristotelische Philosophie läßt sich in
der Tat als ein solches System von Reflexionsbegriffen widerspruchsfrei
deuten. So gibt es beispielsweise bei Aristoteles weder „die" Materie,
noch „die" Form; beide Begriffe sind nur Hilfsmittel, im einzelnen Fall die
jeweils sachhaltig noch näher zu bestimmenden entsprechenden Momente
einer Sache zu unterscheiden. Die Einheit der Prinzipien ist immer nur
eine Einheit der Analogie — wie es die Kapitel 4 und 5 des zwölften
Metaphysikbudies ausführlich begründen.
Der Unterschied zwischen dem Aristotelischen Ansatz und dem seiner
Vorgänger besteht nicht so sehr in inhaltlichen Differenzen, sondern darin,
daß Aristoteles das Prinzipienproblem dadurch auf eine neue Ebene stellt,
daß er die Prinzipien nicht mehr wie selbständige Entitäten oder Wesens-
mächte, sondern wie Reflexionsbegriffe behandelt, durch die man der Auf-
gabe der konkreten Forschung im Einzelfall niemals enthoben wird. Die Prin-
zipienforsdmng ist daher nicht mehr in dem Sinne Selbstzweck, in dem sie
es noch bei den Vorgängern war. Die Konsequenz aus diesem Faktum ist
bekannt: seit Aristoteles besteht eine Aufgabentrennung zwischen Wissen-
schaft und Philosophie, die zwar aufeinander angewiesen bleiben, jedoch
gleichwohl relativ selbständig gegeneinander sind. Daß die Wissenschaft
nur die Aufgabe habe, aus den von der Philosophie gefundenen obersten
Grundsätzen logische Konsequenzen zu ziehen, ist ein Mißverständnis, das
sich in der Aristotelestradition wohl bald verbreitet hat, für das aber
schwerlich Aristoteles selbst verantwortlich gemacht werden kann.
Die Tatsache, daß Aristoteles mehrere Prinzipiensysteme nebeneinander
verwendet, ist ebenso eine Bestätigung für ihren Charakter als Reflexions-
begriffe, wie die Tatsache, daß es bei Aristoteles niemals ein, einzelnes
Prinzip gibt: Prinzipien treten bei ihm immer in der Mehrzahl, meist paar-
weise und immer in einer wechselseitigen Zuordnung auf. Sie haben somit
manches gemein mit den der rhetorisch-dialektischen Praxis: auch
diese sind nur formale Gesichtspunkte der Unterscheidung; sie sind
selbst noch keine Argumente, sondern nur Hilfsmittel, in der konkreten
Situation das treffende Argument zu finden. Die Beziehungen zwischen
der rhetorisch-dialektischen Praxis und der theoretischen Philosophie des
Aristoteles sind bislang noch unerforscht; doch gerade hier würde sich
eine Möglichkeit bieten, die entwicklungsgeschichtliche und inhaltliche
Betrachtung der Aristotelischen Philosophie in einen sachlichen Zusam-
menhang mit den biographischen Fakten zu bringen13)*.
Am deutlichsten vielleicht läßt sich das Gesagte am Begriff der Ma-
terie ( ) verdeutlichen14). Dieser Begriff kommt bei Aristoteles in ganz
12
) Reflexionsbegriffe gehen nicht auf Gegenstände selbst, sondern sind nur
Bedingungen, unter denen wir zu solchen Begriffen gelangen können. Vgl. Kant
Kr.d.r.V.
w B 316.
) Vgl. hierzu meine Aufsätze: Aristoteles als Rhetoriker und das Problem
der exoterisciien Schriften; Hermes Bd. 86 (1958), S. 323-346; Zur Problemgesdiiciite
der 14formalen Logik, Philosophische Rundschau Bd. 6 (1957), S. 70-93.
) Zu diesem Problem vgl. jetzt insbesondere die Arbeit von G. Patzig: Be-
merkungen über den Begriff der Form; Archiv für Philosophie IX (I960), S. 93-111,
bes. 102 f.
•215
verschiedenartigen Bedeutungen vor, und es ist aussichtslos, zu einer ein-
deutigen Auffassung der aristotelischen #λη zu kommen, wenn man in ihr
mehr sehen will als einen Reflexionsbegriff. Da „die" Materie keine selb-
st ndige Entit t ist, zeigt schon die Iterierbarkeit der ύλη — είδος -Rela-
tion: was in der einen Hinsicht Material einer Form ist, kann in einer,
anderen Hinsicht seinerseits wieder als Formung eines noch tiefer stehenden
Materials verstanden werden. Nun ist aber δλη nicht nur die Materie im Ge-
gensatz zur Form: auch die Gattung (γένος) wird von Aristoteles gelegentlich
als ύλη bezeichnet; diese Analogie ist m glich, weil ύλη (i.e. S.) wie auch
γένος dasselbe Korrelat haben: n mlich das είδος, das f r beide (wenn
auch in verschiedener Hinsicht) die spezifische Bestimmtheit darstellt. Die
erste bzw. letzte Materie (πρώτη bzw. εσχάτη ΰλη)? also diejenige Materie,
die selbst nicht mehr als Formung eines anderen Materials verstanden
werden darf, ist f r Aristoteles nur ein konsequent gedachter Grenzbegriff,
der in seiner Philosophie keine wesentliche Rolle spielt (um so mehr aller-
dings in der Aristotelestradition). berhaupt ist ja Aristoteles an den
„h chsten" und „letzten" Prinzipien einer Sache wenig interessiert; worum
es ihm vornehmlich geht, ist immer nur die jeweils n chste Ursache (vgl.
Met. H 4; 1044 b 1) — was unverst ndlich w re, wenn seine Prinzipien
mehr als Reflexionsbegriffe w ren.
Aristoteles kennt ferner noch eine nur gedankliche Materie (ύλη νοητή),,
die es bei den Gegenst nden der Mathematik gibt. Schlie lich kann der
Materiebegriff auch noch nach der Kategorieneinteilung differenziert wer-
den: so haben beispielsweise die Gestirne nur Ortsmaterie (ύλη τοπική)r
weil die Ortsbewegung die einzige Art der Ver nderung ist, der sie unter«
worfen sind. Unter diesen Voraussetzungen ist es auch kein Zufall, da
Aristoteles ber die Materie niemals eine Aussage macht, die ber das
hinausginge, was sich aus ihrem Charakter als Reflexionsbegriff ableiten
l t. So kommen der Materie als solcher keine anderen Eigenschaften zu
als diejenigen, die sich aus dem Faktum ergeben, da sie Materie von
etwas ist; vor allem kommt der Materie als solcher bei Aristoteles keine
wie auch immer beschaffene Kraft zu, ebensowenig ein auf die Form ge-
richtetes „Streben". Derartige Annahmen haben ihren Ursprung erst in
der hellenistischen Philosophie. Materie (ύλη) ist immer nur Material eines,
bestimmten einzelnen Dings; „die" Materie im Sinne einer Weltmaterie,
eines allgemeinen beharrenden Substrates aller Ver nderungen findet sidi
bei Aristoteles nirgends.
V
Wenn Aristoteles bei der allgemeinen Prinzipienanalyse das in der
nat rlichen Sprache liegende Vorverst ndnis analysiert, so geht es ihm
niemals um Inhaltliches, sondern immer nur um allgemeine formale und
funktionale Beziehungen. Am Wort ist Aristoteles, der nur selten Etymo-
logie treibt, kaum interessiert15); um so mehr allerdings an den syntak-
tischen Strukturen. Weil er diejenigen Sprachfunktionen analysiert, die
15
) Vernachl ssigt man die Aussagestruktur zugunsten des isolierten Wortes,,
wird die Sprache zur Fehlerquelle. Das sophistische κατ' ονόματα διώκειν beruht
auf dieser M glichkeit. Das neunte Buch der Topik (die sog. sophistischen Wider-
legungen) bietet eine F lle von Bespielen hierf r.

216
sowohl jeder wahren wie auch jeder falschen Aussage zugrunde liegen,
bleibt die Frage nach der inhaltlichen Wahrheit im Rahmen der Prinzipien-
analy.se unbeantwortet. Nun ist es f r das Verst ndnis der Aristotelischen
Philosophie sehr lehrreich, zu sehen, wie die Mehrzahl seiner Grund-
begriffe keine inhaltliche Bedeutung hat, sondern auf funktionale Ele-
mente der Sprache zur ckgeht oder zumindest durch sie definiert wird.
Die Thematisierung der Funktionalbegrifie ist eine f r Aristoteles in
hohem Ma e eigent mliche Methode.
B. Snell hat in seinem Aufsatz Die naturwissenschaftliche Begritfsbil-
dung im Griechischen16) gezeigt, wie die Abstraktionsleistung, die wesent-
lich zu jeder Wissenschaft geh rt, bei den Griechen vor allem durch die
Existenz des bestimmten Artikels in der griechischen Sprache erm glicht ist,
der es erlaubt, auch Eigenschaftsbegriffe (z. B. το αγαθόν, το δίκαιον, το θείον)
zu vergegenst ndlichen. Die philosophische Entwicklung von den An-
f ngen bis zu Platori zeigt ja auch eine immer st rkere Thematisierung
der Eigenschaftsbegriffe. Auf diesem Wege der Abstraktion (den Snell
nur bis zu Platon verfolgt hat) geht Aristoteles nun aber konsequent
einen weiteren Schritt, indem er nicht mehr nur Eigenschaftsbegriffe, son-
dern auch (was vor ihm nicht in nennenswertem Umfang geschehen war)
Funktionalbegriffe: «adverbiale, pronominale, pr positionale, konjunktionale
Bildungen thematisiert.
Das sch nste Beispiel hierf r ist -wohl der Aristotelische Ausdruck
το τί ην είναι, der die Wesensbestimmung einer Sache bezeichnet. Dieser
Ausdruck geht, wie Arpe glaubhaft gezeigt hat17), auf die Definitionsfrage
zur ck (z. B. τί ην άνθρώπφ άνθρώπω είναι; was bedeutet es f r den Men-
schen, ein Mensch zu sein?). Aristoteles kommt nun auf eine sehr einfache
Weise zu seinem Prinzipienbegriff: er nimmt die formale Struktur der
Frage unter Verzicht auf ihre nachhaltige Bestimmung und setzt davor
den Artikel.
Die Frage nach dem Prinzipienbegriff beantwortet er also nicht inhalt-
lich: an Stelle einer inhaltlichen Antwort l t er es bei der Thematisierung
der auf sie gerichteten Fragestruktur bewenden. Ganz hnlich verh lt es
sich bei den durch Thematisierung von Interrogativpronomina ent-
standenen Kategorialbegriffen το ποσόν, ποιόν, προς τι, που usw. Auch adver-
biale, konjunktionale oder pr positionale Funktionen kann Aristoteles
vergegenst ndlichen: es sei nur an die Unterscheidung von το δτι und
το διότι (vgl. An. post. B 1; 89 b 24) erinnert, an den merkw rdigen Ok-
kasionalbegriff το τόδε τι, oder an die Bestimmung des Zweckes als
το ου ?νεκα. Auch der Begriff des Prinzips selbst wird funktional erkl rt:
πασών μεν ουν κοινόν των άρχων το πρώτον είναι όθεν ή 2στιν ή γίγνεται ή γιγνώσκεται
(Met. Δ 1, 1013 a 17). Worauf es hier ankommt, ist weniger die Dreiheit
von Sein, Werden und Erkennen, sondern die Tatsache, da es eine in
allen diesen Bereichen -analoge tormale Struktur des „ersten Woher" (to
πρώτων δθεν) gibt, durch die der Prinzipienbegriff bestimmt ist. Die wich-
tige Rolle, die die πολλαχώς λεγόμενα im Denken des Aristoteles spielen,
ist gerade daraus zu verstehen, da durch die Einheit einer Formalstruktur

17
)In: Die Entdeckung des Geistes, 3. Aufl. Hamburg 1955, S. 299-319.
J Vgl. die in Anm. 4 zitierte Arbeit.

.217
eine Mehrzahl homonymer spekulativer Begriffe zusammengehalten wird,·
so kommen beispielsweise die vier Ursachen darin überein, daß ihnen
allen die formale Fragestruktur des zugrunde liegt. .
Die Eigenart von Stil und Sprache des Aristoteles wird von hier aus
verständlich: Aristoteles kommt mit einem verhältnismäßig geringen
Wortschatz aus und verwendet nur sehr sparsam Metaphern. Sein Stil
wird sehr zu Unrecht gelegentlich als schlechtes Griechisch deklariert. Es
handelt sich hier freilich nicht um ein Griechisch der Umgangssprache oder
der gehobenen poetischen Sprache. Und doch finden sich in der Sprache
des Aristoteles keine Elemente, die nicht auch im Bereich der Umgangs-
sprache vorkommen könnten. Aristoteles entdeckt nur eine neue extreme
und kaum wiederholbare Möglichkeit, die im Griechischen schon angelegt
ist, wenn er versucht, den strukturalen Gehalt jener Umgangssprache zu
analysieren, thematisch zu machen und damit dasjenige, was bei allem
Sprechen sonst immer unausdrücklich bleibt, in die Ausdrüddichkeit zu
heben. *
VI
Unsere Deutung der Aristotelischen Prinzipienlehre als Analyse der in
Überlieferung und Sprache liegenden Voraussetzungen, die ein gleichsam
empirisches Apriori alles Erkennens darstellen und in jeder sachhaltigen
Aussage schon vorausgesetzt sind, impliziert nicht, daß die Aristotelische
Philosophie in ihrem Kern Sprachphilosophie wäre. Denn die Sprache ist bei
Aristoteles nicht .einfach ein beliebiger Gegenstand, über den ebenso wie über
andere Gegenstände Untersuchungen angestellt werden könnten. Wenn Ari-
stoteles Sprachstrukturen analysiert, dann muß er sie nicht noch in Beziehung
setzen zu ontologischen Strukturen der realen Welt. Aristoteles treibt
keine Grammatik wie die alte Stoa, weil er die Sprache als solche noch
nicht verdinglicht: eine Sprachanalyse ist unmittelbar und als solche zu-
gleich -eine Analyse 'allgemeinster gegenständlicher Strukturen, die für
konkrete Untersuchungen nur einen Leitfaden abgeben können.
Die Prinzipien haben so freilich bei Aristoteles ihren archaischen Glanz
verloren, und wer von der Philosophie eine Letztbegründung alles Wis-
sens verlangt, wird bei Aristoteles wenig Hilfe finden können: nicht des-
wegen, weil Aristoteles die Frage nach der Letztbegründung einfach
versäumt hätte, sondern weil sie unter den Voraussetzungen und bei der
Fragestellung einer der Analyse von Reflexionsbegriffen zugewandten
Prinzipienforschung (anders als beim syllogistischen System) gar nicht
auftauchen kann. Reflexionsbegriffe bedürfen keiner Letztbegründung.
Der Vorwurf der Trivialität, mit dem man die Aristotelische Philo-
sophie gerne glaubt angreifen zu können, stößt dann allerdings ins Leere.
Denn diese Trivialitäten, an denen in der Tat die Aristotelischen Lehr-
schriften so reich sind, beruhen keineswegs auf einem Zufall. Die Analyse
der Voraussetzungen alles Forschens zwingt ja gerade dazu, alle die-
jenigen Trivialitäten einmal zur Sprache zu bringen, die in jeder konkreten
Erörterung vorausgesetzt werden, deren wir uns aber in der Regel gar
nicht ausdrücklich bewußt sind. Sie erscheinen trivial, sobald sie einmal
ausgesprochen sind; doch das Auffinden von Trivialitäten ist ein recht
wenig triviales Unternehmen.

218
Es mag merkwürdig erscheinen, daß gerade der angebliche „Realist"
Aristoteles wie kaum ein anderer Denker ein Philosoph des Logos ist.
Doch zum „Realisten" wurde Aristoteles erst in der sich auf ihn berufen-
den Tradition, die seine ursprüngliche Fragerichtun/g umkehrte, damit zu-
gleich die Prinzipien, aus denen das Seiende nun „aufgebaut41 werden
sollte, zu realen, wenngleich unselbständigen Entitäten vergegenständ-
lichte und dort metaphysischen Tiefsinn zu sehen vermeinte, wo Aristo-
teles selbst nur den Inhalt der natürlichen Erfahrung auf Begriffe brachte.
Doch es scheint mir eine gerade auch im Hinblick auf die philosophischen
Fragen unserer Gegenwart dringliche Aufgabe der Forschung zu sein, den
historischen Aristoteles hinter den Vorurteilen seiner Tradition (die tiefer
reichen, als man gewöhnlich zugeben mag) wieder sichtbar zu machen.

..219

Das könnte Ihnen auch gefallen