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Aristoteles und Hegel

Anton Friedrich Koch

Die Entwicklung des deutschen Idealismus „kommt in Hegel auf


ähnliche Weise zum Abschluss, wie die der sokratischen Schulen in
Aristoteles zum Abschluss gekommen war“.1 Diesem Urteil Eduard
Zellers werde ich mich zwar nicht rückhaltlos, aber in vertrauter Ari-
stotelischer Relativierung anschließen: Einesteils – to men – ist dem so,
andernteils – to de – jedoch nicht; und für die Hinsicht, in welcher dem
nicht so ist, weist eine Hegel-Kritik Zellers selbst den Weg. Hegel, so
schreibt Zeller in seiner Geschichte der deutschen Philosophie,
verwickelt sich […] in den Widerspruch, daß der absolute Geist selbst als
Weltgeist einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen wird, daß er
während des unendlichen Zeitraums, welcher der Entstehung des Men-
schengeschlechts vorangieng, in keinem endlichen Bewußtsein das Dasein
gewonnen hätte, dessen er doch nicht entbehren kann, und zum vollen
Bewußtsein von sich selbst erst gelangt wäre, seit der Standpunkt des ab-
soluten Wissens entdeckt ist.2
Eine Kritik dieses Tenors hätte Aristoteles nicht treffen können; denn
Aristoteles kennt keinen absoluten Geist. Einen göttlichen Geist zwar
kennt er, der von der kosmischen Bewegung, die er verursacht, losgelöst
ist; aber dieser ist nicht auf das „Menschengeschlecht“ angewiesen, um
„das Dasein“ zu gewinnen oder „zum vollen Bewußtsein von sich
selbst“ zu gelangen. Ferner hält Aristoteles nicht viel von Evolutions-
theorien, sondern lehrt, dass jener Gott und der Kosmos samt allen
natürlichen Arten immer existieren.
Ist also die Entwicklung des deutschen Idealismus nur äußerlich und
chronologisch in Hegel so zum Abschluss gekommen wie die der so-
kratischen Schulen in Aristoteles, oder lässt sich Zellers Diktum auch
systematisch rechtfertigen? Ich möchte im folgenden eine partielle
systematische Rechtfertigung versuchen und zugleich Hegel gegen den
zitierten Vorwurf der Inkonsistenz in Schutz nehmen.

1 Zeller (1875), 624.


2 Zeller (1875), 649.
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Zu diesem Zweck wird, um eine Ausgangsbasis zu gewinnen, im


ersten und im zweiten Teil des Vortrags Aristoteles’ bzw. Hegels Re-
aktion auf die eleatische Problematik der Ausdifferenzierung des Sei-
enden skizziert. Im dritten Teil soll dann Zellers Inkonsistenzverdacht
und im letzten Teil seine These behandelt werden, dass in Hegel und in
Aristoteles philosophische Entwicklungen auf ähnliche Weise zum
Abschluss kommen.

I. Aristoteles über die Vielfalt der Seinsweisen


Unter den Arten und Gattungen des Seienden scheint die allumfassende
Gattung es selber, das Seiende, sein zu müssen. Doch diese Annahme
führt in eine Aporie. Nehmen wir an, Gelb sei eine Farbgattung. Wie
wird sie ausdifferenziert? Nicht durch Gelb selber, versteht sich, son-
dern durch Nichtgelbes: durch Rot in Richtung Orange, durch Grün
in Richtung Zitrone. So muss also auch das Seiende durch Nichtsei-
endes ausdifferenziert werden. Doch während wir widerspruchsfrei
annehmen dürfen, dass es Grünes und Rotes gibt, ist die Behauptung,
Nichtseiendes sei (Nicht-der-Fall-Seiendes sei der Fall oder Nicht-
existierendes existiere), widerspruchsvoll. Folglich ist die Ausdifferen-
zierung des Seienden unmöglich. Soweit die Aporie.
Aristoteles kann bereits auf zwei monumentale Lösungsvorschläge
zurückblicken, doch er tut es ablehnend. Parmenides hatte gefolgert,
dass allein das undifferenzierte, homogene Seiende real ist, hatte also die
Phänomene der Vielheit und des Werdens preisgegeben und die Aporie
zur Lösung erklärt. Platon wollte demgegenüber die Phänomene retten,
und zwar mittels einer Nichtstandardmethode der Ausdifferenzierung
von Gattungen. Im Sophistes legt er dar, dass das Seiende verschiedene
Züge hat, einerseits ruhig und andererseits bewegt ist, was voraussetzt,
dass neben ihm weitere höchste Gattungen, insbesondere Ruhe und
Bewegung, existieren, an denen es, das Seiende, teilhat. Und da das
Seiende etwas anderes als Ruhe und Bewegung, aber mit sich selbst
identisch ist, müssen ferner die Gattungen des Anderen und des Selben
als seiend angenommen werden. Um also sein zu können, was es ist,
Seiendes, muss das Seiende mindestens an diesen vier anderen Gat-
tungen teilhaben. Das ist aber nur möglich, wenn diese Gattungen ih-
rerseits sind. Also muss das Seiende ihnen – der Ruhe, der Bewegung,
dem Anderen und dem Selben – im Gegenzug Anteil an sich, dem
Seienden, gewähren. Durch dieses do ut des auf höchster Ideenebene
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konstituiert sich ein relatives Nichtseiendes, nämlich ein Nicht-das-


Seiende-Seiendes, mittels dessen sich die Ausdifferenzierung des Sei-
enden denken und der Seinsmonismus vermeiden lässt.
Auch Aristoteles will die Phänomene retten; aber er verwirft die
Platonische Lösung, weil er, wie auch Zeller wieder und wieder betont,
Gattungen nicht als substantiell anerkennt. Substantiell sind ihm nur die
untersten Ideen, die der Arten, also die eidÞ oder Wesensformen in den
Einzeldingen.3 Gattungen sind ihm potentiell und passiv: intelligible
Materie, der Stoff, aus dem die Formen sind. Ein Gattungsallgemeines
kann nicht aktual auftreten, weil ihm unverträgliche Bestimmungen
zukämen. Das Pferd, der Mensch, die Schlange sind Lebewesen; das
Pferd hat wesentlich vier, der Mensch zwei, die Schlange keine Beine.
Wie viele Beine also hätte das Lebewesen als aktuales Allgemeines?
Sowohl keines als auch zwei als auch vier? Oder weder noch? – Für die
verschiedenen Individuen einer Art stellen sich derlei aporetische Fra-
gen nicht, weil die individuellen Unterschiede akzidentell sind. Der
Mensch als solcher tritt in jedem einzelnen Menschen aktual auf, das
Lebewesen nicht, es bleibt intelligible Materie. Art- und Gattungsall-
gemeinheit sind demnach radikal verschieden, und Allgemeinheit im
eigentlichen Sinn ist nur die Gattungsallgemeinheit. Dies vor Augen,
kann man fragen – und die Frage wird in der Literatur zu Metaphysik,
Buch Z kontrovers diskutiert –, ob Aristoteles das eidos überhaupt noch
als etwas Allgemeines gelten lässt oder ob er nur individuelle Formen
annimmt. Mit einem Hegelschen Theorieangebot aus der Logik des
Fürsichseins ließe sich die Kontroverse vielleicht entschärfen. Man
müsste demnach sagen, dass die eine Form der Art sich zu vielen indi-
viduellen Formen repelliert und die vielen individuellen Formen sich
wieder zu der einen Artform attrahieren, und dies nicht etwa nur ab-
strakt logisch wie das Eins und die Vielen in der Logik des Fürsichseins,
sondern konkret biologisch durch Zeugung, Geburt und Tod im Le-
bensprozess der Spezies. Aber mit Hegelschen Theorieangeboten tut die
Aristotelesforschung sich schwer.
Doch wie reagiert nun Aristoteles auf Elea? Bekanntermaßen mit
der Generalformel, dass das Seiende keine Gattung ist, sondern auf
vielfache Weise, aber auch nicht homonym, sondern in Beziehung auf
eine einzige physis, die ousia, ausgesagt wird. Das Vereinigende all
dessen, was wir seiend nennen, ist also weder ein gemeinsames Merkmal
noch bloß unser kontingenter Sprachgebrauch, sondern ein gemeinsa-

3 Vgl. Zeller (1862), 633.


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mer Bezugspunkt, der in ausgezeichneter Weise seiend zu nennen ist,


eben die Substanz. In Metaphysik, Buch Z 1 lehrt Aristoteles sogar, dass,
wer nach dem Seienden fragt, ohne Verlust an Allgemeinheit fragen
kann, was die Substanz sei, so als gäbe es das außersubstantielle Seiende
gar nicht. Das zeigt, dass er die Platonische Lektion aus dem „Sophistes“
durchaus zu beherzigen weiß und sie zu eigenen Zwecken variieren
kann: Es gibt Seiende, die seiend nicht an sich, sondern nur in Bezie-
hung auf ein anderes sind, welches an sich seiend ist. Bei Platon war dies
die Gattung des Seienden, bei Aristoteles ist es die Substanz. Bei Platon
freilich war das Seiende auch seinerseits angewiesen auf jede andere
höchste Gattung; bei Aristoteles ist die Substanz angewiesen nur auf
Akzidentalität überhaupt, nicht aber auf dieses oder jenes bestimmte
Akzidens.
Die Weisen des Seins werden von Aristoteles in ihrer unhinter-
gehbaren Vielfalt aufgezählt (Metaphysik, Buch D 7), an verschiedenen
Stellen der Metaphysik einzeln untersucht und insgesamt auf die Sub-
stanz bezogen (Metaphysik, Buch C 2). Zu nennen sind 1) das akzi-
dentelle Sein: ein einförmiges Zukommen von Akzidentien, das Me-
taphysik, Buch E 2 als wissenschaftlich unergiebig beiseite gesetzt wird,
2) das An-sich-Sein der Substanz, dessen Entfaltung in eine plus neun
Kategorien den Akzidentien neun kategoriale Sollstellen darbietet, an
denen sie der Substanz zufallen können, 3) das veritative Sein, dessen
grundlegende, vorpropositionale Form im Schlusskapitel von Met. H
behandelt und dessen nachgeordnete, propositionale Form Metaphysik,
Buch E 4 ebenso beiseite gesetzt wird wie das akzidentelle Sein, und 4)
zu guter Letzt das Möglichsein und das Wirklichsein, die den Gegen-
stand von Metaphysik, Buch H 1 – 9 bilden. Alle diese Seinsweisen
bleiben an die Substanz gebunden, so dass die These von Metaphysik,
Buch Z 1 durchgehalten werden kann, die Frage nach dem Seienden sei
durch die Betrachtung der Substanz zu beantworten.
Zwei Resultate dieser Betrachtung seien abschließend festgehalten.
Erstens gibt es nach Metaphysik, Buch K 1 von den Substanzen drei
Sorten: a) die wahrnehmbaren, vergänglichen, irdischen Dinge, b) die
wahrnehmbaren, unvergänglichen, bewegten Himmelskörper und c)
die nicht wahrnehmbaren, immateriellen, unbewegten Beweger der
Himmelskörper und der Sphären, an ihrer Spitze der erwähnte Gott, der
reine, möglichkeitsfreie Wirklichkeit ist. Zweitens ist nach Metaphysik,
Buch Z weder die Materie noch das aus Materie und Form bestehende
konkrete Ding, sondern die Form die primäre Substanz. Trivialerweise
gilt dies für die immateriellen Substanzen; es soll aber auch für die
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sublunaren Substanzen gelten, die das Thema des Z bilden und die nur
existieren können, indem sie sich in Materie vervielfältigen und durch
diese multiple Selbstklonierung in den erwähnten Artprozess eintreten,
in dem sie, die individuellen Formen, selbst von endlicher Dauer und
nur die Arten ewig sind. – Soweit in allergröbsten Zügen das Grund-
gerüst der Aristotelischen Metaphysik.

II. Hegels Metaphysikkritik


Bei aller Wertschätzung für Aristoteles lehnt Hegel jegliches Klassifi-
zieren in der Philosophie ab: Die interne Vielfalt des Seins darf nicht
quasiempirisch vorgefunden, sondern muss systematisch in einer mini-
malistischen Theorie entwickelt werden. Minimalistisch ist die Theorie
– die Wissenschaft der Logik – bezüglich ihrer Voraussetzungen: Sie soll
voraussetzungsloses, reines Denken sein. Dass es eine solche Extrem-
theorie geben könne, ist seinerseits eine ungewöhnlich starke Arbeits-
hypothese, die es erlaubt, gehaltvolle Anforderungen zu formulieren,
durch die die gesuchte Theorie individuiert wird. Ihr erstes Theorem
muss etwas zum Inhalt haben, was schlechterdings nicht bestritten
werden kann, weil es in jedem Bestreitungsversuch und überhaupt in
jeder Aussage mitausgesagt wird, also das allgemeine, undifferenzierte
Der-Fall-Sein selber. Ein Seitenblick auf Wittgensteins Abhandlung
mag zur Erläuterung dienen. Wittgenstein verwirft nicht nur wie Hegel
alles logisch-philosophische Klassifizieren (Logisch-philosophische Ab-
handlung, 5.453), sondern nimmt auch „das, was alle Sätze, ihrer Natur
nach, miteinander gemein haben“, als „die Eine logische Konstante“ in
den Blick, die nicht nur „das Wesen des Satzes“, sondern zugleich „das
Wesen der Welt“ sei (Logisch-philosophische Abhandlung, 5.47 ff.). Hegel
nennt diese eine – oder bei ihm vielmehr erste – logische Konstante das
reine Sein.
Indem er mit dem reinen Sein einsetzt, lässt Hegel die Logik elea-
tisch beginnen; aber er will sie nicht eleatisch enden lassen, sondern wie
Platon und Aristoteles die Phänomene retten. Zu diesem Zweck wählt
er indessen eine Strategie, die so aussichtslos scheinen mag wie der
Versuch eines Lichttechnikers, Gelb mit Gelb auszudifferenzieren. Das
reine Sein selber nämlich fungiert in der Hegelschen Logik als Prinzip
seiner Ausdifferenzierung, sofern es von Hegel zugleich als selbstwi-
dersprüchliche Negativität gefasst wird (es gibt eben, wie sich zeigt,
nichts festes Gemeinsames, das in allen Aussagen mitausgesagt würde.)
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Die Negativität aber war bekanntlich schon für Parmenides die Quelle
der Pluralität und Prozessualität, also des Kosmos. Freilich blieb sie bei
Parmenides streng vom Sein getrennt und konnte nur im Modus des
Scheins bestehen. Hegel hingegen sieht Sein und Negativität im reinen
Sein innig amalgamiert. Die Inkonsistenz gehört insofern zum Wesen
des Satzes und zum Wesen der Welt, zum Denken und zum Sein. Aber
Denken und Sein sind vom Widerspruch nicht statisch geprägt, sondern
vielmehr getrieben; denn Hegel hält am Nichtwiderspruchsprinzip fest.
Angesichts der Faktizität des Widerspruchs besitzt es allerdings den
Status eines bloß regulativen Prinzips, einer Norm, die das inkonsistente
Denken und Sein des Anfangs in einen Prozess der Selbstkorrektur
zwingt, der die Evolution des logischen Raumes hin zur Wider-
spruchsfreiheit bildet, die in der Wissenschaft der Logik nachgezeichnet
und dadurch vollendet wird.
Auch hier übrigens trägt Zeller Kritik vor: Wenn Hegel den Wi-
derspruch als „die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit“ und die
Bewegung als den „daseiende(n) Widerspruch“ auffasse, so verwechsle
er „den Widerspruch mit dem Gegensatz“.4 Doch die Antinomie des
Lügners belehrt uns, dass die Negation-ihrer-selbst, dass somit der reine
Widerspruch zum Wesen des Denkens gehört und dass der Satz vom zu
vermeidenden Widerspruch nicht selbstverständlich, sondern eine he-
roische Absichtserklärung der Vernunft ist. Man kann Hegel allenfalls
vorwerfen, dass er die Macht der Vernunft, nicht dass er die Macht des
Widerspruchs überschätzt.
Den verschiedenen Entwicklungsstufen des logischen Raumes, um
zu dessen Evolution zurückzukehren, entsprechen verschiedene kate-
goriale Konzeptionen des Realen, die im Lauf der Philosophiege-
schichte in konkurrierenden metaphysischen Theorien ausgearbeitet
worden sind. Aber nicht wir Philosophen sind die Urheber einseitiger,
inkonsistenter Theoriebildung, sondern das Reale selber ergeht sich in
schlechter Metaphysik und spielt sie uns zu, wenn wir philosophieren.
In einer bestimmten Phase seiner logischen Evolution besteht das Reale
zum Beispiel aus Dingen mit Eigenschaften, näher fürs erste aus baren
Partikularien, an die sich allgemeine Eigenschaften heften, dann aber,
nach dem Scheitern der Partikularien, aus Bündeln von Universalien.
Konkurrierende metaphysische Theorien können also durchaus zu-
treffen und werden dann jeweils wahr gemacht durch eine kategoriale
Auftrittsform des Realen. Aber jede metaphysische Theorie ist in einem

4 Zeller (1875), 642.


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tieferen Sinn unwahr, weil die Auftrittsform, die ihren Gegenstand und
Wahrmacher bildet, nicht haltbar ist, sondern sich alsbald zugunsten
eines logischen Nachfolgers auflöst, der eine konkurrierende Meta-
physik wahr macht, so lange, bis alle möglichen kategorialen oder
metaphysischen Formen aufgebraucht sind und die Evolution des lo-
gischen Raumes einen Haltepunkt erreicht hat, an dem die Spannung
zwischen Sein und Negativität nicht mehr inkonsistent, sondern voll-
kommen harmonisch sein soll. Der Haltepunkt – Hegel nennt ihn die
absolute Idee bzw. den absoluten Geist – soll indes keine weitere, nur
eben triumphale kategoriale Form bzw. metaphysische Theorie mehr
sein, sondern das dynamische Ensemble aller kategorialen Formen. Im
logischen Haltepunkt sind demnach alle Denk- und Seinsformen zu
flüssigen Momenten einer prozessualen Totalität herabgesetzt, die Hegel
mit dem organischen Prozess einer Pflanze vergleicht: Deren Formen –
Knospe, Blüte, Frucht usw. –
unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unver-
träglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Mo-
menten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht wider-
streiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche
Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.5
Hegel will also den Schatz der kategorialen Formen des Realen nicht
um eine weitere vermehren, sondern das Spiel der konkurrierenden
metaphysischen Theorien als das Wesen des Satzes und der Welt (bzw.
des Denkens und des Seins) darstellen und anerkennen.

III. Der Verdacht der Inkonsistenz

Zeller tadelt als es widerspruchsvoll, dass Hegel einen absoluten Geist


annehme, den er gleichwohl einer geschichtlichen Entwicklung un-
terworfen denke, und dies zudem so, dass der Geist erst spät, in den
Menschen, ins Dasein und noch viel später, in deren spekulativer Phi-
losophie, zum Selbstbewusstsein komme. Hegel hat diesen Einwand
antizipiert. „So widersprechend es scheinen mag“, lesen wir in der
Vorrede zur „Phänomenologie“, „daß das Absolute wesentlich als
Resultat zu begreifen sei, so stellt doch eine geringe Überlegung diesen
Schein von Widerspruch zurecht.“6 Die geringe Überlegung greift

5 Hegel (1970), 12.


6 Hegel (1970), 24.
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unter anderem auf Aristoteles zurück, der „die Natur als das zweck-
mäßige Tun“ bestimme.7 Die Form nämlich fungiert bei Aristoteles
zugleich als immanentes Telos, Zielursache, und die Zielursache mit-
unter, so im Fall des ersten Bewegers, als Wirkursache; denn, selbst
unbewegt, kann der Gott anderes nur bewegen hüs eroumenon, wie ein
Geliebtes, auf welches hin anderes sich in Bewegung setzt.
Im Hegelschen Kontext ist der Zweck kein äußeres Ziel, auf das hin
sich etwas Anderes bewegt, sondern das immanente Ziel der Evolution
des logischen und des physikalischen Raumes. Und Hegels Pointe ist es,
dass das erreichte und verwirklichte Ziel keine besondere letzte Ent-
wicklungsstufe ist, die über alle Vorgänger triumphiert und demgemäß
in einer metaphysica triumphans darzustellen wäre, sondern das Ziel ist
die Einsicht, dass alle Entwicklungsstufen unverzichtbar sind und alle
Metaphysiken ihr Wahrheitsmoment haben. Die ganze Entwicklung,
die zuvor an sich verlief, wird am Ende fðr sich und repräsentiert sich in
sich selbst.
Das aber spricht dafür, die Rede vom absoluten Geist deflationär zu
interpretieren. Er ist offenbar keine besondere, letzte, umfassende En-
tität. Er ist überhaupt keine Entität, kein Gegenstand irgendeiner re-
visionären Metaphysik. Er ist eine façon de parler, die zum Ausdruck
bringt, dass wir Menschen und unser Philosophieren kein Zufall sind,
sondern dass schon der Urknall nur stattfinden konnte und nur sein
konnte, was er war, weil eines Tages unsereins existieren und in He-
gelscher Manier philosophieren würde. Man kann diese Lehre auch so
formulieren: In jeder möglichen Welt gibt es endliche Subjekte, die
früher oder später zu philosophieren beginnen. Kühn ist diese These
zwar auch, aber nicht widerspruchsvoll, jedenfalls nicht in der von
Zeller gerügten Weise.
Diesem bliebe somit das Verdienst, durch die Diagnose eines Wi-
derspruchs in der Lehre vom absoluten Geist diese diskreditiert zu
haben, aber, anders als er glaubte, diskreditiert als Instrument der Hegel-
Interpretation. Zwar wird, dass Hegel diese Lehre vertreten habe, durch
viele seiner erläuternden und zusammenfassenden Redensarten nahe-
gelegt und ist die Standardinterpretation. Aber eine ontologisch ver-
pflichtende Rede vom absoluten Geist würde schlecht zur doktrinalen
und argumentativen Substanz von Hegels Lehre passen und ihn vor
allem, wie Zeller sah, in einen Widerspruch verwickeln. Der Gefahr
dieses Widerspruchs war Hegel sich aber wohlbewusst und auch dessen,

7 Hegel (1970), 26.


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sie gebannt zu haben. Verabschieden wir uns also von der Vorstellung,
dass Hegel revisionäre Metaphysik betreibe und dass er insbesondere
eine Metaphysik des absoluten Geistes lehre. Damit ziehen wir die
angemessene Konsequenz aus Zellers Kritik.

IV. Die klassische griechische und die klassische deutsche


Philosophie

Platon und Aristoteles haben mit ihren nah verwandten und zugleich
weit divergierenden Reaktionen auf Elea die Philosophie auf den Weg
oder vielmehr auf zwei Hauptwege gebracht, zwischen denen es stets
Querverbindungen und periodische Annäherungen gab, die aber erst
Hegel endgültig in der goldenen Mitte wieder zusammenführen wollte.
Insofern kommt in ihm weniger die kurze Entwicklung des deutschen
Idealismus als die lange Entwicklung der Metaphysik zum Abschluss.
Tatsächlich hat die metaphysische Theoriebildung seither kaum
grundsätzlich Neues erbracht, ausgenommen den Versuch Russells und
vor allem Wittgensteins, im Anschluss an Frege die apriorische Semantik
in den Rang der Ersten Philosophie zu erheben. Aber die gegenwärtige
analytische Metaphysik bewegt sich mit ihren begrifflich präzise ge-
fassten Universalien- und Wahrmachertheorien doch wieder in ver-
trauten metaphysischen Fahrwassern, und im Übrigen dominiert der
philosophische Naturalismus: die pragmatisch inkonsistente Metaphysik
der Metaphysiklosigkeit. Nichts Neues also unter der Sonne, möchte
man sagen, abgesehen von wissenschaftlich fragwürdigen (aber vielleicht
zukunftsträchtigen) Bestrebungen, hinter die Metaphysik zurückzuge-
hen und einen anderen Anfang des Denkens vorzubereiten.
Über die konstitutive Bifurkation der Metaphysik, über Aristoteles’
Verhältnis zu Platon, schreibt Zeller:
[Bei Aristoteles] wird zwar die allgemeine Grundlage des platonischen
Idealismus festgehalten, aber die nähere Bestimmtheit, welche er in der
Ideenlehre erhält, wird aufgegeben: die Idee, welche Plato als jenseitige
und ausserweltliche gefasst hatte, wird als gestaltende und bewegende Kraft
in die Erscheinungswelt eingeführt […]. Die aristotelische Lehre kann
insofern gleichsehr als die Vollendung und als die Widerlegung der pla-
tonischen bezeichnet werden: sie widerlegt dieselbe in der Fassung, welche
ihr Plato gegeben hatte, aber ihren Grundgedanken führt sie noch reiner
und vollständiger, als Plato selbst, durch, denn sie legt der Form […] auch
die schöpferische Kraft bei, alle Wirklichkeit ausser sich zu erzeugen, und
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sie verfolgt diese ihre Wirksamkeit […] durch das ganze Gebiet der Er-
scheinung.8
Dazu zwei Schlussbemerkungen.
1) Hegel fasst die Idee – bei ihm ein Singularetantum – als inner-
weltliche und ist insofern Aristoteliker. Aber da er den Widerspruch als
reale Macht anerkennt, kann er zugleich mit dem Einzelnen auch, wie
Platon, das Gattungsallgemeine als substantiell und die Dialektik als die
Diskursform der Ersten Philosophie anerkennen. Über allem aber steht
bei ihm der transitorische Charakter jeder metaphysischen Theoriebil-
dung. Alles Kontraintuitive seiner Lehre dient, wie übrigens auch bei
Kant, Fichte und Schelling, zuletzt der Rechtfertigung des natürlichen,
vormetaphysischen Weltbildes, das aber (wie schon Kant lehrte) in sich
begrifflich instabil ist und unwiderstehlich zu revisionärer Metaphysik
einlädt, deren vollständiges Formenspiel Hegel erschöpfend darstellen
und ipso facto depotenzieren wollte. Insofern kann man nicht sagen,
dass Hegel den deutschen Idealismus auf ähnliche Weise abschließt wie
Aristoteles die Sokratisch-Platonische Philosophie. Hegel schließt die
Metaphysik ab, indem er Platon und Aristoteles zusammenführt; und
Kant, Fichte, Schelling stehen als nahe Alternativen zu seiner Seite.
2) Zeller charakterisiert die Aristotelische Philosophie in ihrem
Verhältnis zur Sokratisch-Platonischen als eine Vollendung, die zugleich
Widerlegung ist. Wie kann eine Vollendung zugleich widerlegen?
Zeller sagt: als kritische Vertiefung, und das trifft im gegebenen Fall
sicher zu. Aber es trifft auch zu, dass Aristoteles den Platonismus in dem
Sinne widerlegt und vollendet, dass er dessen Einseitigkeit eine ge-
genläufige Einseitigkeit zur Seite stellt. Platon fasste das Substantielle als
allgemein, Aristoteles vollendet das Spektrum der theoretischen Mög-
lichkeiten, indem er das Substantielle als individuell fasst. Ähnliches
könnte, wenn auch bei gewandeltem Theoriespektrum, für Hegel und
seine Vorgänger gelten. Ihnen konnte es nicht mehr darum zu tun sein,
der Metaphysik eine Grundalternative zu eröffnen; sondern sie arbei-
teten daran, die Metaphysik durch eine Selbstaufklärung und Selbst-
begrenzung abzuschließen, aus der zugleich eine Rechtfertigung des
natürlichen Weltbildes hervorginge, also jenes fragilen Begriffssystems,
das Peter Strawson in deskriptiver Metaphysik nur explizit machen
wollte, ohne es rechtfertigen zu können. Das Programm einer Recht-
fertigung des natürlichen Weltbildes aus einer sich selbst transparent

8 Zeller (1862), 633.


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gewordenen Metaphysik aber kann auf verschiedenem Wege durch-


geführt werden. Hegel hat die Entwicklung des deutschen Idealismus
abgeschlossen, indem er die von Kant, Fichte und Schelling beschrit-
tenen Wege um einen spektakulären vierten Weg ergänzt und so das
relevante Theoriespektrum vollendet hat.

Bibliographie
Hegel (1970): Georg Wilhelm Friedrich Hegel, „Phänomenologie des Geistes“,
in: Werke Bd. 3, Frankfurt/M.
Zeller (1875): Eduard Zeller, Geschichte der deutschen Philosophie seit Leibniz,
München.
Zeller (1862): Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen
Entwicklung. Zweiter Theil. Zweite Abtheilung. Aristoteles und die alten
Peripatetiker, Tübingen.

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