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Christoph Menke

Leben ohne Zweck1


In dem Kapitel in seinem Buch „The Royal Remains“, das den Titel „Toward the
Science of the Flesh“ trägt, erinnert Eric Santner an Freuds Traum, der „für [ihn:
Freud] nichts weniger als die Geburt der Psychoanalyse bezeichnet“ (Santner 2011,
65). Freud schreibt:

Eine große Halle – viele Gäste, die wir empfangen. – Unter ihnen Irma, die ich sofort beiseite
nehme, um gleichsam ihren Brief zu beantworten, ihr Vorwürfe zu machen, daß sie die „Lö-
sung“ noch nicht akzeptiert. Ich sage ihr: Wenn du noch Schmerzen hast, so ist es wirklich nur
deine Schuld. – Sie antwortet: Wenn du wüßtest, was ich für Schmerzen jetzt habe im Hals,
Magen und Leib, es schnürt mich zusammen. – Ich erschrecke und sehe sie an. Sie sieht bleich
und gedunsen aus; ich denke, am Ende übersehe ich doch etwa Organisches. Ich nehme sie
zum Fenster und schaue ihr in den Hals. Dabei zeigt sie etwas Sträuben wie die Frauen, die ein
künstliches Gebiß tragen. Ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. – Der Mund geht dann
auch gut auf, und ich finde rechts einen großen weißen Fleck, und anderwärts sehe ich an
merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausge-
dehnte weiße Schorfe (Freud 1942, 111 f).

Wenn es dieser Traum ist, der den Beginn der Psychoanalyse markiert, dann ist sie
damit, so Santners Deutung, als diejenige „Wissenschaft“ bestimmt, die ihren An-
fang und Grund in einer eigentümlichen Erfahrung des Körpers, also des Natürli-
chen hat: Die Psychoanalyse ist „the ‚science‘ that is called on the scene by the
hysteric‘s body, one that manifests a strange excess of life that both belongs and
does not belong to the body in question“ (Santner 2011, 65). Nach Santners Deutung
ist die Psychoanalyse die Erfahrung – und das Denken dieser Erfahrung – des „Ex-
zesses des Lebens“, der Lebendigkeit als Exzess. Dieser Exzess besteht im Hinaus-
gehen über den Körper in seiner organischen Struktur und Einheit. Die Psychoana-
lyse ist der Versuch eines Denkens der exzessiven Lebendigkeit des Körpers (wir
werden gleich sehen, dass dies nicht ihr Privileg ist).
In seinem Kommentar zu Freuds Traumszene bezeichnet Lacan den Körper in
seiner exzessiven Lebendigkeit als „Fleisch“. Lacan schreibt:

Es gibt da eine schreckliche Entdeckung, die des Fleisches, das man niemals sieht, den Grund
der Dinge, die Kehrseite des Gesichts, des Antlitzes, die Sekreta par excellence, das Fleisch, aus
dem alles hervorgeht, aus der tiefsten Tiefe selbst des Geheimnisses, das Fleisch, insofern es
leidend ist, insofern es unförmig ist, insofern seine Form durch sich selbst etwas ist, das Angst
hervorruft. Vision der Angst, Identifikation der Angst, letzte Offenbarung des Du bist dies – Du
bist dies, was am weitesten entfernt ist von dir, dies, welches das Unförmigste ist. Angesichts die-
ser Offenbarung vom Typ Mene, Tekel, Upharsin gelangt Freud auf den Gipfel seines Begeh-

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1 Überarbeitete deutsche Fassung von Menke 2014.
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rens, zu sehen, zu wissen, das sich bis dahin im Dialog des Ego mit dem Objekt ausdrückte
(Lacan 1991, 199 f).

Der Körper als Fleisch ist der Grund, der Grund aller Form und damit Organisation,
aber dieser Grund ist selbst formlos. Das Fleisch ist der Grund als die wesentliche
Unbestimmtheit des Körpers, der lebt; die wesentliche Unbestimmtheit des Körpers,
dessen Sein einfach oder nur darin besteht zu leben: „Es ist die Libido als reiner
Lebensinstinkt, das heißt als Instinkt des unsterblichen Lebens, des Lebens, das
seinerseits keines Organs bedarf, des vereinfachten, unzerstörbaren Lebens“ (Lacan
1987, 207). Was Lacan „Fleisch“ nennt, ist eine Figur des Lebens – des Lebens aber
in einer spezifischen Weise: des Lebens, das, weil es nur (oder nur weil es) organ–
und formlos ist, weil es nicht organisiert ist und in keiner Form verläuft, das Medi-
um einer radikalen Unbestimmtheit ist – der Sitz eines „Nichtungsvermögens“ (La-
can).
Ich verstehe dies als den Versuch, einen Gedanken zu fassen, der in seiner Kon-
sequenz die gesamte philosophische Tradition, sei sie nun metaphysisch oder anti-
metaphysisch (empiristisch, materialistisch, analytisch, usw.), auf den Kopf oder
auf die Füße stellt – sie radikal verkehrt. Dieser Gedanke besagt, dass der Körper,
die Sinnlichkeit, die Natur des Menschen die Kraft der Unendlichkeit oder die Un-
endlichkeit der Kraft hat. Der Mensch ist durch seinen Körper, in seiner Sinnlichkeit
– seinem Begehren und seiner Lust –, also in und durch seine Natur, unendlich. Im
ewigen Hin und Her der Philosophie zwischen Idealismus und Materialismus, Meta-
physik und Anti-Metaphysik ist die eine, von allen Seiten geteilte Annahme diese:
dass der Körper der Name der Bestimmtheit, Begrenztheit, Endlichkeit ist. Es ist
zwischen Idealismus und Materialismus, Metaphysik und Anti-Metaphysik zutiefst
und für immer umstritten, ob der Mensch ein Vermögen des Geistes hat, das, als
Vermögen der Ideen, das Vermögen der Unendlichkeit ist; ob, anders gesagt, das
Vermögen zu denken das Vermögen der Negativität ist – das Vermögen der Freiheit,
über jede Bestimmung, auch noch die der eigenen, selbstgesetzten Begriffe und
Regeln, hinauszudenken. Aber einig sind sich beide Seiten darin, dass Unendlich-
keit oder Negativität, wenn überhaupt, nur dem Denken, dem Geist zukommt und
dass darin, wenn überhaupt, sein Privileg gegenüber der Sinnlichkeit oder dem
Körper des Menschen besteht. Denn der Körper des Menschen, damit seine Sinn-
lichkeit ist bis zuletzt regiert durch Instinkte und Bedürfnisse; der Körper und die
Sinnlichkeit sind das Feld der Bestimmtheit, der Positivität, der Endlichkeit. Das
„Fleisch“, Lacans Metapher des organ- oder formlosen Lebens, durchbricht dieses
Hin und Her zwischen Idealismus und Materialismus, Metaphysik und Anti-
Metaphysik, indem es ihren – einzigen, aber fundamentalen – Punkt der Überein-
stimmung attackiert: indem es, noch einmal, das Prädikat oder die Kraft der Unbe-
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stimmtheit, der Negativität, der Unendlichkeit dem menschlichen Körper, als leben-
digem, zuschreibt.2
Das kann man sagen (oder zitieren) – aber wie kann man es begreifen und den-
ken? Wie kann aus der psychoanalytischen Metapher für das Leben, „Fleisch“, ein
Begriff werden, und kann das Leben – dieses Leben: das Leben als formloses –
überhaupt begriffen und gedacht werden? Die Frage ist also eine doppelte:
(1) Was ist damit gemeint, dass der menschliche Körper der Sitz der Unbe-
stimmtheit, das Medium der Negativität ist und dass dies sein unsterbliches, weil
organloses Leben ausmacht? Und welche Form der Bewegung wird der menschli-
chen Sinnlichkeit damit zugesprochen?
(2) Wie ist es zu verstehen, dass der so bestimmte Körper zugleich der Gegensatz
und der Grund des menschlichen Geistes ist? Und wie ist es weiterhin zu verstehen,
dass der menschliche Geist den Körper in seiner Negativität als den ihm entgegen-
gesetzten Grund begreift? Wie kann also der Geist, dessen Grund sein Gegensatz ist,
sich selbst begreifen?
Diese beiden Fragen, die das „Fleisch“ als Metapher für das Leben aufwirft
(wenn man sie im philosophischen Denken gebrauchen will), sind nicht so neu und
unvertraut, wie es scheinen mag. Es sind genau die beiden Fragen, die definieren,
was seit dem Beginn der Moderne „Ästhetik“ heißt oder worin der Beginn der Mo-
derne ästhetisch ist. Das Denken des Lebens trägt den Namen „Ästhetik“.
(1) Das Leben zu denken bildet, so Foucaults berühmte Definition, die Schwelle
zur Modernität; die Moderne beginnt als Biologie, als Rede vom, als Denken des
Lebens. Der lebendige Körper ersetzt den mechanischen Körper, „dessen Bild die
Träumer der Disziplinarvollkommenheit so lange begeistert hatte“. An seine Stelle
tritt „der natürliche Körper: ein Träger von Kräften und Sitz einer Dauer“ (Foucault
1977, 199). Leibniz‘ Bild der Monade hat festgehalten, worin die entscheidende Be-
stimmung dieses neuen Objekts, des lebendigen Körpers, besteht. Der lebendige
Körper ist derjenige, dessen Veränderungen „Tätigkeiten“ (oder Handlungen: acti-

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2 Das ist der Punkt der Übereinstimmung mit der Philosophischen Anthropologie, so wie Hans–
Peter Krüger sie in einer Serie von bedeutenden Abhandlungen rekonstruiert hat. Krüger schreibt:
„Menschliche Lebewesen gelten inzwischen als – in der Konsequenz der soziokulturellen Evolution
von Primatengehirnen – in das Sprachverhalten ausgesetzte Säuger. Sie kümmern sich an der Peri-
pherie einer Galaxie in den Darstellungsmethoden ihrer Schriftsprache um schwarze Löcher und
Antimaterie anderen Ortes und anderer Zeit, während den ihnen nächsten Verwandten, den Schim-
pansen, dieser ‚Sinn fürs Negative‘ [Plessner] fehlt, weshalb Letztere mal wieder die ‚glücklicheren
Menschen‘ heißen. Mich überzeugt nicht die übliche dualistische Fehlalternative, in der Natur
gedacht wird.“ Die Alternative dazu lautet, die Natur als das Dritte zu denken, das (und so wie wir
es) „in der Lebensführung in Anspruch“ nehmen: „Dieses Dritte läßt sich in seinen Un-Prädikaten
an Absolutheit (an Unbedingtheit, Unbestimmtheit, Unendlichkeit, kurz: Unergründlichkeit) für die
Betroffenen nicht mehr positiv, weder rational noch emotional positiv, bestimmen“ (Krüger 2009,
83).
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ons) sind, weil sie aus einem „inneren Prinzip“, einer „tätigen Kraft (force active)“
hervorgehen: „Die Tätigkeit (l’action) des inneren Prinzips, die die Veränderung
oder den Übergang von einer Perzeption zur anderen bewirkt, kann Strebung
(appetitus) genannt werden“, die „zu neuen Perzeptionen (perceptions nouvelles)“
führt (Leibniz 1965, § 15).3 Die Monade hat Appetite, sie hat Kräfte, sie ist selbsttätig
– aber ohne Selbstbewusstsein: Handeln kann die Monade auch „nicht bewußt“, ja
im „Zustand der Betäubung“ (Ebd., § 23 f). Leben ist Selbsttätigkeit, die nicht ans
Selbstbewusstsein gebunden ist. Oder: Zu leben heißt sich zu bewegen, sich, seine
Zustände, zu verändern (etwa indem man neue Wahrnehmungen macht oder seinen
Appetiten folgt), ohne davon einen Begriff zu haben. Leben ist die Bewegung der
Sinnlichkeit. Das heißt – hier – „Sinnlichkeit“: Sinnlichkeit ist nicht-bewusste
Selbsttätigkeit.
Der biologische Begriff des Lebens, als dessen Blaupause Leibniz‘ Monadologie
gelesen werden kann, bindet den Begriff der Selbsttätigkeit an den des Zwecks oder
der Funktion: Die Biologie, die nach Foucault die Schwelle zur Modernität bezeich-
net, versteht lebendige Vollzüge als teleologische oder funktionale. Das „innere
Prinzip“, als das Leibniz die „aktive Kraft“ der Tätigkeiten versteht, ist, biologisch
konzipiert, ihr Zweck als die Möglichkeit ihrer Wirklichkeit. Zu leben heißt biolo-
gisch konzipiert demnach, diejenigen Zwecke zu verwirklichen, die die Form oder
die Gattung dieses Lebendigen ausmachen.
Die Ästhetik dagegen denkt das Leben nicht-, ja anti-teleologisch. So beschreibt
Nietzsche in einer Nachlassnotiz, was er unter einer „außermoralischen Weltbe-
trachtung“ versteht, die nur als „eine aesthetische“ möglich ist. Denn sie ist eine
Weltbetrachtung, die ihren Grund in der „Verehrung des Genies“ hat (Nietzsche
1988b, 1[120]). Was ein Genie ist, aus dessen „Verehrung“ die ästhetische Weltbe-
trachtung, der ästhetische Lebensbegriff gewonnen wird, beschreibt Nietzsche aber
in einem despektierlichen Vergleich: „Das Genie ist wie ein blinder Seekrebs, der
fortwährend nach allen Seiten tastet und gelegentlich etwas fängt; er tastet aber
nicht, um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen“ (ebd., 1[53]).
Das ästhetische Genie bietet den Anblick einer eigentümlichen Weise des
Tätigseins. Seine Tätigkeit ist „blind“: Sie ist nicht geleitet von einer Wahrnehmung,
die den Tätigen mit Wissen darüber versorgt, welche Gegenstände er vor sich hat,
um sie „fangen“ zu können. Grundlegender noch ist sie aber gar nicht eine Tätig-
keit, der es darum geht, etwas zu fangen – etwas zu erhaschen und zu erreichen. Die
ästhetische Tätigkeit wird nicht um willen von etwas, nicht einmal – wie die Aristo-
telische Alternative lautet – um ihrer selbst willen ausgeführt. Das Genie ist tätig,
wie der Seekrebs sich bewegt, „weil seine Glieder sich tummeln müssen“: indem
seine Kräfte sich frei von Zwecken betätigen. Seine Glieder und ihre Bewegungen

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3 Zum Folgenden siehe ausführlicher Menke 2008, Kap. II und III.
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sind zwecklos: Seine Glieder sind keine Organe, seine Bewegungen daher nicht
Handlungen im genauen Sinn des Wortes. „Die wenigsten Handlungen geschehen
nach Zwecken, die meisten sind nur Thätigkeiten, Bewegungen, in denen sich eine
Kraft entladet“ (ebd., 1[127]). Eben das heißt Leben: „Alles, was lebt, bewegt sich;
diese Thätigkeit ist nicht um bestimmter Zwecke willen da, es ist eben das Leben
selber.“ (ebd., 1[70]) Leben ist nicht, wie es die Biologie denkt, Teleologie ohne
Selbstbewusstsein, sondern Ausdruck, Wirken ohne Zweck: „das zwecklose Über-
strömen der Kraft“ (ebd., 1[44]).4
Indem Nietzsche diesen nicht-teleologischen Begriff des Lebens als „ästheti-
schen“ bezeichnet, nimmt er die programmatische Bestimmung auf, nach der es in
„ästhetischen“ Vollzügen um animation (wie Burke schreibt) oder eben um „Bele-
bung“ (wie Sulzer und Kant übersetzen) geht. Das ästhetische Leben, das Leben,
wie es die Ästhetik denkt, ist Leben ohne Zweck. Genauer gesagt ist dies – „ohne
Zweck“ – eine der drei Negationen, in denen sich die ästhetische Negativität des
Lebens oder die Negativität des ästhetischen Lebens ausdrückt.5
Das ästhetische Leben ist erstens ohne Begriff oder Norm: Es weiß sich nicht
und führt sich daher nicht selbst, ist unbewusst (das Leben ist nicht Handlung). Das
ästhetische Leben ist zweitens ohne Gesetz: Es kann nicht nach einem physikali-
schen, mechanischen Gesetz erklärt werden (das Leben ist nicht kausal bestimmt).
Das ästhetische Leben ist drittens ohne Zweck: Es verwirklicht in seinen Vollzügen
keine Funktion (das Leben ist nicht Selbsterhaltung). Diese dreifache Negation, die
das Leben als ästhetisches charakterisiert, besagt: Das Leben untersteht keiner ver-
nünftigen Norm, es ist aber deshalb doch nicht in dem Sinn natürlich, dass es von
einem mechanischen Gesetz oder einem biologischen Zweck bestimmt wird. (Leben
ist Natur, aber nicht im Sinne einer der beiden Naturwissenschaften.) Norm, Gesetz
und Zweck sind die drei Grundformen des Allgemeinen. Dass das Leben, ästhetisch
verstanden, ohne Norm, Gesetz und Zweck ist, heißt daher nichts anderes, als dass
Lebendiges nicht als der besondere Fall eines Allgemeinen begriffen werden kann.
Und das heißt: Das Leben ist nicht bestimmt, nicht bestimmbar ist (denn Bestimmen
heißt, etwas als das Besondere eines Allgemeinen fassen). Das Lebendige ist durch
keine Norm, kein Gesetz und keinen Zweck bestimmt, weil es nicht bestimmt ist.
Das ästhetisch Lebendige ist radikal unbestimmt.
Genauer gesagt, ist das ästhetisch Lebendige nicht unbestimmt, sondern macht
es sich unbestimmt. In den drei Negationen – das Leben ist ohne Norm, Gesetz oder
Zweck – drückt das ästhetische Denken des Lebens nicht eine andere Bestimmung
des Lebens aus, so dass man sagen könnte: Das Leben ist nicht normativ, kausal

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4 „Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die
Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. – Kurz, hier wie überall,
Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Principien!“ (Nietzsche 1988a, 27 f).
5 Zur folgenden Erläuterung der Negativität des ästhetischen Lebens siehe Völker 2011.
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oder funktional, sondern x. In den drei Negationen – das Leben ist ohne Norm, Ge-
setz oder Zweck – drückt das ästhetische Denken des Lebens nicht die Positivität,
sondern die Negativität des Lebens – die Negativität, die das Leben selbst ist – aus.
Das ästhetische Leben kann durch die drei Negationen nicht bestimmt werden,
denn es ist die nichtende Bewegung des Sichunbestimmtmachens. Darin besteht die
Kraft des Lebens: Die Kraft des Lebens ist die Kraft der Negativität oder der Unbe-
stimmtheit.
Die abstrakte Struktur der Negativität, die das ästhetische Leben bestimmt, lässt
sich an der Bewegung der Verwandlung und Überschreitung, der überschreitenden
Verwandlung und der verwandelnden Überschreitung, erläutern, die die ästheti-
sche Logik der menschlichen Sinnlichkeit ausmacht. Wenn Kraft Wirksamkeit ist,
dann besteht das Wirken der ästhetischen Kraft darin, aus Einem etwas Anderes,
Neues, hervorzubringen. Genauer gesagt, wirkt – mit einer Wendung Herders – das
„Eine ins Andre“ (Herder 1994, 338).6 Das Andere ist also dasjenige, was durchs Eine
so erwirkt wird, dass sich das Eine in das Andere verwandelt. Das Andere ist mithin
das Andere des Einen: sein Anderes, in das es sich deshalb fortbildet, weil es in ihm
bereits da ist. „Kraft“ heißt: Das Eine wie das Andere sind nur im Wirken, im Über-
gehen des Einen ins Andere, das ein „Ausdruck“ derselben Kraft ist, die bereits im
Hervorgehen des Einen wirkte. Wirken der Kraft ist Wiederholung des Wirkens:
Wiederholung des Wirkens, als Fortwirken der Kraft und damit Überschreitung
ihres bisherigen Wirkens. Das Wirken der ästhetischen Kraft besteht in jedem ein-
zelnen Moment darin, das zu überschreiten, das sie selbst hervorgebracht hat. Die
ästhetische Kraft schafft einen neuen Ausdruck, indem sie sich gegen ihren eigenen
Ausdruck wendet; sie überschreitet ihn in einen anderen. Ebenso gegenwendig wie
die Kraft, die als hervorbringende zugleich die Überschreitung des Hervorgebrach-
ten ist, ist daher dasjenige, das sie hervorbringt und in dem sie sich ausdrückt: Ist
die Kraft zugleich Quelle und Überschuss, Grund und Abgrund ihres Ausdrucks, so
ist der Ausdruck der Kraft als deren Darstellung zugleich ihre Verbergung; der Aus-
druck einer ästhetischen Kraft ist „Ausdruck als ob“. Dass sich im Wirken der ästhe-
tischen Kraft kein Allgemeines, kein Gesetz, kein Zweck, keine Norm verwirklicht,
heißt, dass sich in ihm nichts verwirklicht (oder das Nichts verwirklicht). Das be-
schreibt das Wirken der ästhetischen Kraft als bloßes Spiel: als ein Spiel von Aus-
druck und Verbergung, von Werden als Vergehen und Vergehen als Werden.
(2) Wenn dies die Bewegung ist, die das Leben, die Sinnlichkeit, die Natur des
Menschen als ästhetische beschreibt: Was ist das Argument dafür, dass wir den
Menschen so beschreiben, sein Leben, seine Sinnlichkeit, seine Natur so begreifen
müssen; dass wir also den Gedanken ästhetischer Lebendigkeit, als Negativität,
fassen müssen?

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6 Herder beschreibt damit die ästhetische Logik der Einbildungskraft.
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Ein Argument dafür in der Tradition der philosophischen Ästhetik lautet, dass
sich nur so verständlich machen lässt, was diese Tradition als ästhetisches Vergnü-
gen oder als ästhetische Lust bezeichnet. Sie wird dann als eine Lust an der Bele-
bung der eigenen Kräfte beschreibbar. Denn die (ästhetische) Lust hat nicht die
Struktur der Befriedigung eines Bedürfnisses durch ein Objekt. Sondern sie ist Lust
am Unbefriedigten (oder am Unbefriedigtsein): an der Bewegung hinaus über jede
Erfüllung; am Unendlichen als Unbestimmten. (Tannhäusers Lust ist ein Beispiel
dafür, und auch dafür, dass diese Lust unmenschlich, unter- und übermenschlich
zugleich, ist.) Die ästhetische Lust, so versteht es die philosophische Ästhetik von
Sulzer über Nietzsche bis Deleuze, ist die Lust der Regression von den vernünftigen
Vermögen in das ästhetische Spiel der Kräfte. In der ästhetischen Erfahrung und der
Lust, die sie uns bereitet, kehren wir die Genesis der Vernunft um und kehren zu
ihrem Anfang zurück.
Dieses Argument für das ästhetische Leben ist phänomenologisch: Es sucht die
Evidenz in einer Beschreibung. Es beruht auf der Kunst der Beschreibung. Seine
Allgemeinheit ist daher exemplarisch. Oder: Die Allgemeinheit des phänomenologi-
schen Arguments, das sich der exemplarischen Beschreibung anvertraut, ist – bloße
– Gemeinsamkeit. In der (ästhetischen) Beschreibung der (ästhetischen) Lust ver-
gewissert sich eine Gemeinschaft ihrer Zusammengehörigkeit im Glauben an be-
stimmte theoretische Modelle, Überzeugungen, Erfahrungen; im Verwenden be-
stimmter Metaphern, Figuren, Ausdrücke.
Was aber, wenn diese Gemeinschaft, in der man die ästhetische Lust beschreibt
und hochschätzt, ein begrenzte ist? Wenn sie auf einer Kultur und Geschichte (und
Ökonomie und Politik usw.) beruht, die partikular ist? Gibt es dann noch ein stärke-
res Argument dafür, das Leben ästhetisch zu verstehen – ein stärkeres Argument für
die ästhetische Lust und das ästhetische Denken? Ein Argument, das deshalb „stär-
ker“ genannt werden kann, weil es nicht nur zum Ausdruck bringt, dass wir (wer
immer Wir ist) uns dabei auf ähnliche Phänomene und ähnliche Beschreibungen
von Phänomenen beziehen, sondern dass jeder so denken muss? Das müsste ein
Argument dafür sein, dass jeder immer schon das Leben ästhetisch denkt, ja, ein
ästhetisches Leben hat, bloß deshalb weil er – denkt. Überhaupt zu denken, genau-
er: überhaupt das Denken zu denken, heißt das Leben ästhetisch zu denken.
Ein solches Argument besagt, dass sich nur dann, wenn man das Leben der
menschlichen Seele, ihre Natur, als ästhetische beschreibt, die Entstehung der
menschlichen Vernunft verständlich machen lässt. Das philosophische Argument
für das ästhetische Leben ist also ein genealogisches Argument oder das Argument
der Genealogie. Dieses Argument richtet sich gegen zwei alternative Positionen
zugleich: Es richtet sich zum einen dagegen, das Natürliche des Menschen im Sinn
der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu konzeptualisieren, es also zuerst im mecha-
nischen, dann, seit dem 18. Jahrhundert, im biologischen Sinn zu verstehen. Der
ästhetische Begriff des Lebens enthält die These, dass das Natürliche des Menschen
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eine spezifisch menschliche Natur und daher weder Natur im mechanischen noch
im biologischen Sinn ist; die ästhetische Natur des Menschen entgeht dem wissen-
schaftlichen Erkennen des Natürlichen. Das Konzept des ästhetischen Lebens rich-
tet sich zugleich aber auch gegen diejenige Position, die sich als Alternative zum
wissenschaftlichen Naturbegriff versteht. Das ist die (neo-) aristotelische Position,
die das Natürliche des Menschen bloß als seine Anlage zur Vernunft, als seine Ver-
nunft in noch unentwickelter Gestalt, bestimmt. Während der biologische Naturbe-
griff nicht erfassen kann, dass es sich um die Natur eines Wesens handelt, das Ver-
nunft ausbildet, kann der aristotelische Naturbegriff nicht erfassen, dass es sich um
Natur und damit um das Nicht-Vernünftige handelt. Der ästhetische Begriff des
Lebens ist die Alternative zu dieser Alternative, indem er die Natur im Menschen
zugleich als das Andere des Geistes und als die Bedingung des Geistes versteht. –
Diese doppelte Anforderung lässt sich so ausbuchstabieren:
Die eine Seite ist: Weil die ästhetische Natur des Menschen das Spiel der Kraft
ist, kann sie nicht (im aristotelischen Sinn) als Anlage, gar Bestimmung des Men-
schen zur Ausbildung vernünftiger Vermögen verstanden werden. Die vernünftigen
Vermögen des Subjekts „entwickeln“ sich nicht aus seiner ästhetischen Kraft. Sie
bilden sich nur durch sozialisierende Übungen, die, von außen, mit der Macht der
Disziplin, das Spiel der Kraft unterbrechen.
Die andere Seite ist: Gerade weil die Natur des Menschen in seiner ästhetischen
Kraft besteht, kann sie auch nicht (im mechanischen oder biologischen Sinn) als das
gleichgültig Andere gegenüber seinen vernünftige Vermögen, deren Bildung ihr
Spielen durchbricht, verstanden werden. Denn in ihrem Spiel des Ausdrucks setzt
die ästhetische Kraft den Menschen einer Unbestimmtheit aus, die ihn von jedem
(physikalischen) Gesetz und (biologischen) Zweck befreit – und durch diese ästheti-
sche Befreiung zur Ausbildung vernünftiger Vermögen, also zur Subjektivität, aller-
erst befähigt. Das Spiel der Kraft, das die ästhetische Natur des Menschen ausmacht,
ermöglicht genau die übende Ausbildung vernünftiger Vermögen, die sich gegen
das Spiel der Kraft richtet.
Die eine Seite ist: Die Ausbildung vernünftiger Vermögen, des Geistes, unter-
bricht das ästhetische Spiel der Kraft von außen. Deshalb ist sie wesentlich Diszip-
lin. Die andere Seite ist: Gerade in dieser Entgegensetzung zum ästhetischen Spiel
setzt der Geist das ästhetische Spiel voraus. Es gibt keine geistige Freiheit ohne
ästhetisches Spiel. Das gilt anfänglich, denn nur ein Wesen, das, wie der Mensch,
ästhetische Kräfte hat und daher radikal unbestimmt ist, ist empfänglich für die
Ausbildung geistiger, vernünftiger Vermögen. Die ästhetische Kraft ist die rezeptive
Bedingung der geistigen Freiheit. Das gilt aber nicht nur anfänglich, sondern fort-
dauernd. Denn weil der Geist sich dem Menschen anfänglich nur von außen, durch
sozialisierende Übungen, einprägt, muss der Geist seine sozial eingeübte Gestalt
immer wieder und weiter überschreiten. Und das kann er nur durch die ästhetische
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Kraft, gegen die er sich wendet. Der Geist kommt zu Freiheit und Vernunft nur durch
das Spiel der ästhetischen Kraft:

Ich glaube, wenn Sie diese Erwägungen hier sich zueignen, dann sehen Sie [...] in die Geheim-
nisse des Freiheitsbegriffs hinein, in dem in einer sehr seltsamen Weise die äußerste Erhebung
des Ichs mit dem Abgrund des Ichs sich zusammenfindet (Adorno 2001, 299).

Konklusion
Die Apologie des ästhetischen Lebens, als Leben ohne Zweck, besagt: Ohne ästheti-
sches Leben – keine Freiheit des Geistes.
Wenn dies zutrifft, dann müssen wir noch einmal zu der Definition zurückkeh-
ren, mit der wir eingesetzt haben: zu Foucaults Definition der Modernität als der
biologischen Epoche (Foucault: die „Schwelle“ zur Modernität ist „biologisch“).
Diese Bestimmung ist richtig, wenn sie besagt, dass die Moderne das Denken des
Lebens ist: Die Moderne besteht darin, den Geist des Menschen vom Leben her zu
denken. Aber die Biologie ist nicht die einzige Weise in der Moderne, das Leben zu
denken. Die andere, ihr entgegengesetzte Weise ist die Ästhetik. Die Moderne ist der
Kampf zwischen Biologie und Ästhetik – der Kampf zwischen Biologie und Ästhetik
um das Leben. In diesem Kampf versucht die Biologie die Ästhetik in sich aufzulö-
sen. Sie behauptet die Identität von Biologie und Ästhetik. Sie will das Ästhetische
funktional, als einen Beitrag zur Reproduktion der menschlichen Gattung erklären.
Das heißt, sie will den Menschen biologisieren – auf ein Lebewesen reduzieren,
dessen Natur durch seine biologischen Zwecke definiert, also determiniert ist. Dage-
gen richtet sich die Theorie des ästhetischen Lebens. Sie versteht das ästhetische
Leben als funktionslos: als ein Spiel ohne Zweck, dem wir unsere Freiheit verdan-
ken.
Der Kampf zwischen der Biologie und der Ästhetik um das Leben ist daher ein
Kampf um die Freiheit. Die Moderne ist nicht biologisch; sie ist die Zeit und der Ort
des Kampfes darum, ob das Leben des Menschen bloß biologisch oder unauflösbar
ästhetisch ist. In dieser Frage geht es um die Möglichkeit der Freiheit. (Es geht über-
dies auch um die Möglichkeit der Gleichheit; dazu hier nichts weiter.) Nur wenn die
biologische Definition des Lebens falsch ist und es ästhetisches Leben gibt, gibt es
menschliche und daher auch politische Freiheit. Der biologische Lebensbegriff be-
gründet eine Politik der Unfreiheit (und der Ungleichheit); der ästhetische Lebens-
begriff begründet eine Politik der Freiheit (und der Gleichheit).
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Literaturverzeichnis

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Nietzsche, Friedrich (1988b): Nachgelassene Fragmente 1880-1882, in: Ders.: Kritische Studienaus-
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