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In seinen Vorlesungen von 1803/04 über die Philosophie des Geistes ent
wickelt Hegel ein Argument, das den Zweck hat zu zeigen, daß die tra
ditionelle Kontroverse zwischen Idealisten und Realisten sinnlos, sogar
„lächerlich" sei.1 Um zu verstehen, wie die Empfindung - aber auch die
Erkenntnis im allgemeinen - möglich ist, so schreibt er, muß man den
„Standpunkt des Gegensatzes" verlassen, „wo sich der sog. Realismus
und der sog. Idealismus bilden". Dieser Standpunkt, den Flegel auch
den „Standpunkt des gemeinen Bewußtseyns" nennt, setzt einen Ge
gensatz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen „der Seite der Thätig
keit" und der „Seite der Passivität des Bewußtseyns" voraus. Ein solcher
Standpunkt beruht aber auf einem fehlerhaften Verständnis des Bewußt
seins. Denn - so schreibt Hegel 1803/04 - das Bewußtsein ist eher „der
Begriff des Geistes" (GW6.266). Das Bewußtsein ist „Wesen", d. h. „Mit
te"; und, als „Mitte", „die Bewegung selbst", welche die Empfindung ver-
anläßt (GW6.291; vgl. 272- 276). Um zu klären, wie die Empfindung,
aber auch die Bildung der Begriffe möglich ist, ist es also notwendig, den
Begriff des Bewußtseins neu zu verarbeiten: es gilt zu verstehen, daß das
Bewußtsein nichts anderes als „Geist" oder, genauer gesagt, „Begriff des
Geistes" ist.
Schon früher - während der ersten Jahre seines Aufenthaltes in
Jena - hatte Hegel den Gegensatz Idealismus/Realismus abgelehnt. In
der Differenz-Schrift sowie in Glauben und Wissen hatte er bereits das
2 Vgl. z, B. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4. Hrsg, von H. Buchner und O Pöggeler. Ham
burg 1968. 40 f, 333 f, 388- 396. (Zitiert GW 4.)
1 Vgl. hier „Editorischer Bericht". In: GW 6- 340.
4 Vgl, H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Bonn 1970. 2. erw. Aufl.
1982 256 -262. Vgl. auch R. P. Horstmann: Hegels vorphänonenologische Entwürfe zu einer Philosophie
der Subjektivität in Beziehung auf die Kritik an den Prinzipien der Reflexionsphilosophie. Diss.
Heidelberg 1968. 47 ff, 103.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 29
Konzeption des Bewußtseins, bzw. des Geistes, in ein ganz neues Licht
rücken.
Freilich gibt es aus jener Zeit keine direkten Belege für Hegels Lektüre
von De Anima11, aber es läßt sich zeigen, daß manche Formulierungen
der Geistesphilosophie von 1803/04, insbesondere diejenigen, die den
Wahrnehmungsprozeß erklären, deutlich an Aristoteles' eigene Sätze in
De Anima erinnern.12 Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß die Be
griffe des Geistes und des Bewußtseins als „Wesen", die Hegel 1803/04
entwickelt, Aristoteles' eigener Konzeption des Nous entsprechen: jene
Begriffe sind in der Tat genauso nah — oder eher genauso weit ent
fernt — von Aristoteles' Konzeption, wie die Auffassung, die Hegel in
seinen späteren Werken Aristoteles beimessen wird.13 Dieser letzte
Punkt macht aber eine genauere Untersuchung der Hypothese eines
Einflusses von De Anima auf Hegels damalige Konzeption des Bewußt
seins unentbehrlich. Ließe es sich tatsächlich beweisen, daß Hegel in
den Fragmenten über die Philosophie des Geistes von 1803/04 dieselben
Ideen entwickelt, die er De Anima viel später — in seinen Vorlesungen über
die Geschichte der Philosophie — zuschreiben wird, dann gilt es, sich für
eine der zwei folgenden Thesen zu entscheiden: entweder hat er schon
1803/04 De Anima gelesen und die philosophische Tragweite dieses Tex
tes entdeckt, oder er hat seine reife Konzeption des subjektiven Geistes
aus anderen Quellen entwickelt, in völliger Unabhängigkeit von Aristo
teles. Er hätte dann entdeckt - oder vielmehr zu entdecken geglaubt -
11 Hegels Übersetzung aus Dr Anima (vgl. hier Eiw Übersetzung Hegels zu De Anima Hl,
4-5. Mitgeteilt und erläutert von W. Kem. In: Hegel-Studien 1 (1961], 49-88), läßt sich
nicht sicher datieren; sie könnte auch aus einer späteren Zeit stammen. Gablers Bericht
(1832), Hegel habe „schon vor 26 Jahren (also um 1806) das Tiefste und Beste an der Quelle
selbst |d.h an Aristoteles selbst] geschöpft" (vgl. H. Kimmerle: Dokumente zu Hegels fenaer
Dozententdtigkeit (1801/1807). In: Hegel-Studien. 4 [1967], 65 ff), genügt auch nicht, um zu
bestimmen, in welchen Jahren Hegel De Anima gelesen hat.
12 Die Hypothese eines Einflusses von De Anima auf Hegels Schriften von 1803/04 hatte
schon Theodor Haering aufgeslellt in seinem fluch: Hegel. Sein Wollen und sein Werk. Leip
zig, Berlin 1929—1938. Bd 2. 446. Für Haering wäre dieser Einfluß höchstwahrscheinlich nur
indirekt gewesen.
13 Über das Verhältnis von Hegels späterer, reifer Philosophie des subjektiven Geistes zu
De Anima vgl. auch, zusätzlich zur oben zitierten Abhandlung von W. Kern, dessen Aufsatz
Die Aristotelesdeutung Hegels. Die Aufhebung des aristotelischen „Nous" in Hegels „Geist".
In: Philosophisches Jahrbuch. 78 (1971), 237-259. Vgl. auch F. G. Weiss: Hegels Critique of
Aristotle's Philosophy of Mind. Den Haag 1969; und neuerdings K. Düsing: Hegel und die
Geschichte der Philosophie. Darmstadt 1983. 129-132; H. Seidl: Bemerkungen zu G. W. F. Hegels
Interpretation von Aristoteles .De Anima' III 4-5 und Metaphysica' XII 7 u. 9. In: Perspektiven
der Philosophie. 12 (1986), 209- 236; R. Wiehl: Hegels Transformation der aristotelischen Wahr-
nehmungslehre. In: Hegel-Studien. 23 (1988), 95-138; G. Picht: Aristoteles' „De Anima". Stutt
gart 1987.
32 Miriam Bienenstock
I.
Wir wissen, daß Hegel Jacobis Briefe über die Lehre des Spinozas (1785.
Zweite Auflage 1789) schon im Tübinger Stift gelesen hat.14 Ebenso ist es
bekannt, daß er Herder, insbesondere Herders Gott (1787. Zweite Aufla
ge, 1800) studierte und rezensierte.15 Der „Pantheismusstreit", der sich
aus diesen Schriften entwickelte, war ihm daher aus den unmittelbaren
Quellen bekannt. Man darf aber wohl vermuten, daß Hegels Gespräche
mit Hölderlin16 und dem Freundeskreis um Hölderlin17 ihn in Frankfurt
14* Vgl. Karl Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844. Nachdr. Darmstadt 1977. 40.
15 Diese Rezension ist heute verschollen: vgl. GW4. 517.
16 Vgi D Henrich: Hegel und Hölderlin. in: Ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1967.
9-40
17 Vgl. H. Hegel: Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Ein Beitrag zur Ent
stehungsgeschichte der idealistischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1971; Homburg vor der
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 33
Höhe bi der deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin.
Hrsg, von C. Jamme und O. Pöggeler. Stuttgart 1981; C. fannne: „Ein ungelehrtes Ruch". Die
philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797- 18(10. Bonn
1983
F, H Jacobi: Ueber den transzendentalen Idealismus. „Beyläge" zu David Hume über den
Glauben, oder Idealismus und Realismus (1787). In; Werke. Hrsg, von F. Roth und F. Köpp
pen. Leipzig 1812-25, Bd 2 289-310
34 Mvriam Bienenstock
zeichnet, ändert nichts an der Sache: er glaubt daß er aus dem ersten
Grundsatz - wie „aus einem immanenten Princip, als eine thätige Ema
nation, oder Selbstproduktion des Princips" — zwei andere Sätze dedu
zieren, und daß er damit das empirische Bewußtsein aus dem transzen
dentalen konstruieren können wird (GW 4.35). Das ist aber unmöglich
und widersprüchlich: wie vermag man, fragt Hegel, „aus der Einheit die
Mannichfaltigkeit, aus reiner Identität die Zweyheit abzuleiten"
(GW4.36)? Um die Mannigfaltigkeit der realen, objektiven Welt zu erklä
ren, muß Fichte doch einen „Anstoß" postulieren, der die Intelligenz
bedingen würde; ein Postulat, das zeigt, daß er zur REiNHOLDschen „Tat
sache des Bewußtseins" und, mit ihr, sowohl zur „reflexiven" Entgegen
setzung Subjekt/Objekt als auch zur These einer äußeren, kausalen Be
dingung der Intelligenz durch die Natur zurückgekehrt ist (vgl.
GW4.42f). Das Problem der Rolle, die man dem „Ding an sich" im
Erkenntnisprozeß geben sollte, hat Fichte also nicht gelöst. Er schwankt
vielmehr, wie Reinhold, und wie Kant selbst, zwischen einem „dogma
tischen Idealismus" und einem „dogmatischen Realismus". Sein Idealis
mus, betont Hegel noch in Glauben und Wissen, ist ein Formalismus, für
welchen „die reine leere Thätigkeit, das reinfreye Handeln, das Erste
und einzig Gewisse" ist (GW4.390), und der deswegen die empirische
Realität der objektiven Welt nicht erklären kann. Diese Realität der Welt,
nicht nur ihre Idealität, hätte Fichte aber erklären müssen, um über den
Erkenntnisprozeß — und in ihm insbesondere die Empfindung — Re
chenschaft zu geben (GW 4.388 f).
Hölderlin hatte schon 1795 behauptet, daß Fichtes „absolutes Ich" als
höchstes Prinzip der Philosophie ungeeignet sei: ein solches Prinzip
würde es nicht erlauben, die Natur des Bewußtseins selbst zu verstehen.
Das FICHTEsche „Ich bin Ich" hatte auch Hölderlin als Beispiel eines Be
griffs der „Ur-Theilung" interpretiert, in dem er eine ursprüngliche Tei
lung, oder Trennung, von einem „Seyn" in Subjekt und Objekt erkänn
te.25 Die Konzeption des Urteils, die Hegel in Glauben und Wissen Kant
beimißt, ist offensichtlich dieser Interpretation Hölderlins verpflichtet:
Kants synthetische Urteile a priori, schreibt Hegel, „sind möglich durch
Differenz des Fichteschen und Hegelscheu Systems in der Differenzschrift Bonn 1965), daß er
sowohl in seiner Kritik Fichtes als auch in der Ausarbeitung seines eigenen philosophischen
Systems von Reinhold abhängig war Vgl. hier H. Braun: Differenzen. Bemerkungen zu einem
Buch von Helmut Girndt. In: Hegel-Studien. 4 (1967), 288—299.
25 Vgl. den Brief an Hegel vom 26. 1 1795 In: Briefe wn und an Hegel. Bd 1. Hamburg
1961. 19 f. Vgl. auch F. Hölderlin: Urtheil und Seyn. In: Sämtliche Werkt. Hrsg, von F. Beißner
Bd 4. Stuttgart 196). 216 f. Vgl. auch die oben zitierte Literatur (Anm. 16 u. 17).
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 37
26 Über Hegels Umdeutung von Kants Konzeption der synthetischen a priori Urteile, vgl.
I Görland: Die Kantkritik des jungen Hegels. Frankfurt 1966; und vor allem K. Düsing: Das Pro
blemder Subjektivität in Hegels Logik Bonn 1976. 2. Aufl. 1984. 109-120.
27' Vgl. K. Düsing: Spekulation und Reflexion. Zur Zusammenarbeit Schellings und Hegels in
Jena. In: Hegel-Studien. 5 (1969), 95—128, insb. 107 (über das Titnaios-Zitatj.
38 Myriam Bienenstock
und was, obgleich nicht selbst darstellbar, doch seiner Wirkungsart nach
durch physikalische Gesetze bestimmbar ist. Allein wie ein Geist phy
sisch wirken könne, davon haben wir auch nicht den geringsten Begriff;
also kann ein geistiges Princip nicht Lebenskraft heißen, ein Ausdruck,
wodurch man immer noch wenigstens die Hoffnung andeutet, jenes
Princip nach physikalischen Gesetzen wirken zu lassen."
Den problematischen Charakter der Begriffe Kraft und Lebenskraft hebt
auch Hegel hervor, als er in Glauben und Wissen Herders Erwiderung auf
Jacobis Briefe über die Lehre des Spinozas kritisiert. Er zitiert einen Passus
aus Herders Gott, in dem Herder in seiner Auffassung den „Mittel
punkt" des Spinozistischen Systems darstellen würde. „Ich wüßte nicht",
hatte Herder geschrieben, „unter welches Hauptwort die wirklichen und
wirksamen Tätigkeiten, der Gedanke der Geisterwelt und die Bewegung
der Körperwelt, beide sich so ungezwungen fassen ließen als unter den
Begriff von Kraft, Macht, Organ. Mit dem Wort: organische Kräfte bezeich
net man das Innen und Außen, das Geistige und Körperhafte zugleich.
Es ist indessen auch nur Ausdruck; denn wir verstehen nicht, was Kraft ist,
wollen auch das Wort Körper damit nicht erklärt haben."2930 In diesem Pas
sus, den Herder der zweiten Auflage seines Gott hinzugefügt hatte, fin
det Hegel den Beweis, daß Herders Philosophieren sich am Ende vom
JACOBischen nicht unterscheidet. Herder selbst - dies sollte man im Ge
dächtnis bewahren - wollte zeigen, daß Jacobi Unrecht hatte, als er die
Unvereinbarkeit des Erkennens und des Glaubens behauptete. Er hatte
in Spinoza einen „Begeisterten fürs Daseyn Gottes"31’ sehen wollen, der
verstanden hätte, daß „alles voneinander und zuletzt alles von Gott ab
hängt, der auf diese Weise die höchste, einzige Substanz ist." Daraus
könnte man nach Herder folgern, daß eine Demonstration Gottes mög
lich sei - eine Demonstration, die in jedem Urteil, jedem Satz unserer
Sprache enthalten sei: „Zwischen jedem Subjekt und Prädikat stehet ein
Ist oder Ist nicht [und] dies Ist, diese Formel der Gleichung und Ueber
einstimmung verschiedner Begriffe, das bloße Zeichen = ist meine De
monstration von Gott." Es ist zweifellos, daß Hegel mit der Intention
Herders grundsätzlich einverstanden war. Eben wegen dieser Überein
stimmung ist aber die Kritik, die er gegen Herder richtet, besonders
scharf: für ihn hat Herder es versäumt, die Möglichkeit eines Wissens
von Gott, vom Unendlichen, zu beweisen. Gesteht nicht Herder selbst,
19 /. G. Herder: Gott. In: Sämmtliche Werke. Hrsg, von B. Suphan. Bd 16. 452. Zitiert von
Hegel in G W 4. 362 f.
30 Gott. Zweite Auflage. In: Sämmtliche Werke. Bd 16. 439; zum folgenden vgl. ebd. 440,
516 f.
40 Myriam Bicncnstock
11.
11 Vgl. H. C. Lucas: Hegel et IVditimi de Spinoza par Paulus. In: Cahiers Spinoza. 4 (1983),
127-138.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 41
Namen Herders ins Gedächtnis; und es gibt keinen Zweifel darüber, daß
Hegel die berühmten Überlegungen dieses Autors über die Beziehungen
zwischen Sprache und Vernunft rezipiert hatte, auch wenn er diesen
Autor damals nicht zitiert. Um seine eigene Behandlung des Problems
der Sprache zu bewerten, ist es also erforderlich, zuerst Herders Formu
lierung dieses Problems zu erwähnen.
Schon in seiner Abhandlung Uber den Ursprung der Sprache (1772) hatte
sich Herder nicht damit begnügt, den engen Zusammenhang zwischen
Sprache und Vernunft zu betonen. Er hatte auch den „Zirkel" klar her
ausgestellt, in welchen wir uns bis heute verwickeln, wenn wir den „Ur
sprung" der Sprache klären wollen: obwohl es unleugbar ist, daß die
Sprache dem Menschen nicht angeboren ist, eher vom Menschen erwor
ben oder erlernt wird, scheint es doch, daß man sie immer voraussetzen
muß, um zu erklären, wie sie entstehen kann. Die Art, in der Kinder die
Sprache erwerben, ist in dieser Hinsicht besonders lehrreich: auch wenn
Eltern ihren Kindern den Gegenstand oder den Sachverhalt, dem ein
bestimmtes Wort in ihrer Sprache entspricht, ausdrücklich mit dem Fin
ger zeigen, scheinen die Kinder die Fähigkeit immer schon zu haben,
dieses Wort schöpferisch zu benutzen, jedes Mal in einem anderen
grammatischen Kontext. Sollte man nicht aus dieser merkwürdigen Fest
stellung folgern, daß Kinder die Sprachfähigkeit immer schon besitzen,
wenn auch nur in potentia? Es ist auf jeden Fall bemerkenswert, daß Her
der in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache genau zu jener
Feststellung greift, um die These eines göttlichen Ursprungs der Sprache
zu widerlegen.32 Er behauptet, daß es ebenso falsch wäre, die Sprachfä
higkeit der Menschen auf Gott zu beziehen, als sie auf natürliche,
schlicht animalische Tendenzen reduzieren zu wollen. Nach ihm sollte
man die Sprache auf eine spezifisch menschliche Fähigkeit - die „Beson
nenheit" - beziehen. Die Bedeutung, die Herder diesem Terminus gibt,
ist aber sehr problematisch. Die Tatsache, daß er die Besonnenheit eher
auf den Menschen als auf Gott bezog, hat manche seiner Interpreten
dazu geführt, sein sprach philosophisches Denken als eine Erweiterung
und Anwendung der kritischen Methode Kants auf die Sprache zu be
trachten.33 Diese Interpretation, die Herder selbst seinen Lesern nahele
gen wollte, ist aber sicherlich verfehlt: in der Metakritik zur Kritik der rei-
34 /. G. Herder: Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft.
Erster Theil. 1799. In; Sämmtliche Werke. Bd 21. 62 f; das folgende ebd. sowie 66 f.
55 Vgl. hier A. Reckermann: Sprache und Metaphysik. Zur Kritik der sprachlichen Vernunft
bet Herder und Humboldt. München 1979.
36 Vgl. hier z B. A. Koyré: La philosophie de Jacob Böhme. 3. Aufl, Paris 1979, insbes. 275,
Anm. 8.
37 Vgl. G. W. F. Hegel: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Leipzig 1913. 430 ff.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 43
Schon in Frankfurt, in seinem Manuskript über den „Geist des Christentums und sein
Schicksal", hatte Hegel den Anfang des /ofainnes-Evangeliums benutzt, um die Bedeutung der
„Reflexionssprache" zu klären, in welcher unsere Urteile formuliert sind (vgl. Werke: Theorie
Werkausgabe Bd 1. 373 ff). Wie das Zeugnis von Rosenkranz zeigt, führt er in seiner Jenaer
Periode dieselbe Meditation fort: nach Rosenkranz liebte es Hegel in jener Zeit, „das Erschaf
fen des Universums als Aussprechen des absoluten Wortes und das Zurückgehen des Univer
sums in sich als Vernehmen desselben darzustellen, so daß Natur und Geschichte zu dem als
Anderssein selbst verschwindenden Medium zwischen dem Sprechen und Vernehmen wur-
den."(K. Rosenkranz: Hegels Leben. Nachdr. Darmstadt 1977. 193.)
40 Schriften zur Politik. 431
41 Rosenkranz bringt Exzerpte derselben Jahre, in welchen Hegel eine Auseinanderset
zung mit Böhme führt (Hegels Leben, 545–548). Über Hegels Kenntnis von Böhme in Jena
vgl. auch H. Kimmerle: Zur Entwicklung des Hegelschen Denkens in Jena. In: Hegel-Tage Urbino
1965. Hrsg. v. H.-G. Gadamer. Bonn 1969. (Hegel-Studien. Beiheft 4.) 33-47, hier 42 f; und
H. Schneider: Anfänge der Systementwicklung Hegels in Jena. In: Hegel-Studien. 10 (1975),
133-171, hier 159-164.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 45
42 Vgl GW 6, 280. In den Vorlesungsmanuskripten über die Philosophie des Geistes von
1805/06 ist diese These noch viel klarer ausgedrückt (vgl. GW 8. 188 f). Sie ist aber schon in
den Texten der Jahre 1803/04 formuliert
46 Myriam Bienenstock
*3 Die Unterscheidung, die W. Benjamin in seinem Aufsatz Über Sprache überhaupt und über
die Sprache des Menschen (In: Gesammelte Schriften. Bd 2,1. Hrsg, von R. Tiedemann und
H. Schnapphausen. Frankfurt 1977. 140 -157) zwischen „Mitteilung durch die Sprache" und
„Mitteilung in der Sprache" macht, drückt Hegels Gedanken vorzüglich aus.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 47
III.
Im Zusammenhang einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Dilem
ma Idealismus/Realismus erklärt Hegel, in welchem Sinne seine Konzep
tion des Bewußtseins als „Wesen" das Problem der Sprache lösen kann:
mit dieser Bestimmung gilt es, schreibt er, das Bewußtsein als „Einheit"
und „Mitte" des „Subjektiven" und „Objektiven" zu verstehen. Das Be
wußtsein ist aber eine solche Einheit, weil es „die Bewegung selbst" ist:
„es ist in ihm selbst die Bewegung eines thätigen gegen ein passives;
aber als die Bewegung selbst ist es das Eins in welchem der Gegensatz
nur ideell an sich ein aufgehobener ist" (GW 6.290 f). Hegel will also das
Dilemma Idealismus/Realismus mittels einer Konzeption der Bewegung
lösen: den Empfindungsprozeß erklärt er durch die Bewegung, welche
die Tätigkeit des Bewußtseins bestimmt. Mit dieser Erklärung will er,
wie schon am Anfang dieses Aufsatzes bemerkt wurde, von Fichtes Auf
fassung des Bewußtseins Abstand nehmen. Obwohl das Programm ei
ner „Geschichte des Selbstbewußtseins", das Schelling schon in den
Jahren 1796/97 entworfen hatte, Hegel zweifellos den Rahmen gibt, in
welchem er seine eigene Konzeption des Bewußtseins entwickelt, ist es
aber auch deutlich, daß er sich mit ihr von Schelling distanziert. Die
zumindest äußere Ähnlichkeit des Satzes, den wir soeben zitiert haben,
zu Aristoteles' Behauptung in De Anima (II, 5; 417 a 18), in der Empfin
dung solle man „Passivität" und „Aktivität" als „eines und desselben"44
betrachten, da die Bewegung „eine unvollkommene Tätigkeit"45 sei, ist
aber auffallend; und macht die Prüfung seines derzeitigen Verhältnisses
zu Aristoteles notwendig. Im Folgenden wird diese Prüfung als Leitfa
den eines Versuches dienen, die Bedeutung von Hegels damaligem Be
griff des Bewußtseins zu klären.
Das Studium der Art, in welcher Hegel seine Konzeption der Bewe
gung entwickelte, würde weit über die Grenzen dieses Aufsatzes führen
und kann hier nicht unternommen werden. Doch ist es wichtig zu be
merken, daß Hegel schon in seiner Dissertation von 1801 - und vielleicht
noch früher - das physikalische Problem der Bewegung mit großer Auf
merksamkeit untersuchte.46 In dieser Untersuchung spielte die Ausein
44 So übersetzt Hegel diesen Satz in der Darstellung, die er von Aristoteles' Bestimmung
der Empfindung in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gibt (Werke. Theorie
Werkausgabe. Bd 19. 205).
45 Hegels Übersetzung: ebd. 182.
* Dissertatio philosophica De Orbitis Planetarum. Jena 1801. In: Erste Druckschriften. Hrsg,
von G. Lasson. Leipzig 1928. 347-401. Über Hegels Auseinandersetzung mit Newton, ins-
48 Msriam Bienenstock
besondere während jener Jahre, vgl. H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Den
kens Hegels „System der Philosophie" in den Jahren 1800-1804. 2. erw. Aufl. Bonn 1982.
137—146; H. S. Harris: Hegd's Development. Night Thoughts (Jena 1801/l802»), Oxford 1983.
74-101, 238-298; N. Waszek: The Scottish Entightenment and Hegel's Account of Civil Society".
Dordrecht, Boston, London 1988. 38-54.
47 Vgl. z. B. H. S. Harris (wie Anm. 46). 85.
« Vgl. hier H. S. Harris, 92 f
* Vgl. F. H. Jacobi Werke. Bd 4,2. 5-46.
50 F. W. J Schelling: Sämmtliche Werke. Bd 3. 110-228; zum folgenden vgl. 226, 206 f,
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 49
dem, worin sie beisammen und eines sind. Welcher Punct aber eben
deßwegen nicht mit sinnlichen Augen, sondern nur mit Augen der Ver
nunft zu erblicken ist". Aus diesen Sätzen kann man folgern, daß die
Stellung, die Schelling über das Problem des Verhältnisses Seele/Körper
annimmt, von Platos eigener Position zu unterscheiden ist - auch
wenn Schelling sich in seinem Bruno ausdrücklich auf eine PLATonische
Inspiration beruft.51 In einer Anmerkung zu seiner Schrift betont übri
gens Schelling, daß seine Position sich auch von Brunos Position unter
scheidet: wo Bruno „die Seele und die Form eines Dings für identisch
erklärt, wodurch es ihm unmöglich wird, den höchsten Punkt der Indif
ferenz zwischen Materie und Form mit durchgängiger Klarheit zu ge
winnen", sollte man eher die Position annehmen, die „Alexander" ent
wickelt, als er „die Seele selbst als den Einen Gegensatz in der Form
behauptet, sonach der Form unterordnet". Denn die Seele — so schreibt
Schelling im Haupttext des Bruno, - „da sie nur durch den relativen
Gegensatz mit dem Leibe, also überhaupt nicht an sich ist, erscheint nur
durch diesen Gegensatz". Sie ist zwar „von der Natur des an und für
sich Unendlichen", und als solche „ein Theil der unendlichen Möglich
keit, die in Gott ohne Zeit wirklich ist". Sie ist aber mit dem Leibe, d. h.,
mit einem endlichen, einzelnen existirenden Ding unmittelbar ver
knüpft: sie ist „der Begriff" dieses Dinges und, als solche, endlich und
der Dauer unterworfen. Durch diese „gedoppelte Ansicht der Seele",
will Schelling „den Ursprung des Bewußtseyns aus der Idee * des Ewigen
selbst und seiner innern Einheit abgeleitet haben, ohne einigen Ueber
gang vom Unendlichen zum Endlichen zuzugeben oder anzunehmen".
Die Frage, ob diese Auffassung — die deutlich gegen Fichtes Konzep
tion des Bewußtseins gerichtet ist - letzten Endes Spinozas Auffassung
des menschlichen Geistes im zweiten Teil der Ethik näher steht als Pla
tos Konzeption der Seele, braucht uns in diesem Aufsatz nicht weiter zu
beschäftigen. Zu unserem Zweck genügt es zu bemerken, daß sie sich
von Hegels eigener Auffassung in seinen Vorlesungen von 1803/04
grundsätzlich unterscheidet - auch wenn Hegel Schellings Opposition
zu Fichtes Konzeption völlig teilt: Reinholds, Kants, aber auch Fichtes
„psychologischer Idealismus" ist das Ziel von Hegels Kritik, wenn er
schreibt, daß das Bewußtsein „nicht als das bloß innere der Individuen
oder wie die Momente des Gegensatzes in den Individuen als solchen
erscheinen, als verschiedene Vermögen Neigungen und Leidenschaften
51 Vgl. das Molto des Bruno und auch z. B. Schelling: Sämmtliche Werke, Bd 3. 121, 129; zum
folgenden ebd. 226 f, 177-181, 178.
50 Myriam Bienenstock
u. s. w. die sich auf besondre Gegenstände als auf bestimmte Begriffe be
ziehen", erkannt sein muß, sondern als „Wesen beyder" Seiten: der Sei
te der individuellen Leidenschaften und Neigungen, und der Seite, dem
die Individuen sich entgegensetzen (GW6.271f). Nach Hegel ist aber
„das Wesen des Bewußtseyns, daß unmittelbar in einer ätherischen Identi
tät absolute Einheit des Gegensatzes sey" (GW6.273): eine Formulie
rung, die seine mit Schelling gemeinsame Annahme des Identitätsprin
zips klar ausdrückt.
Schon in seiner Bestimmung der „absoluten Materie" als „Äther"52
könnte man eine Distanzierung von Schellings Konzeption der Materie
finden.53 Hegels Originalität kommt aber in der Art, in welcher er seine
Konzeption der Bewegung benutzt, klar hervor: es ist bemerkenswert,
daß er sich auf nichts anderes als auf diese Konzeption der Bewegung
beruft, um den Prozeß der Empfindung zu klären. Nach ihm ist die
Empfindung „die Bewegung überhaupt", die im Tier „sich selbst ideell"
wird: „Im organischen überhaupt", schreibt er, „in der Pflanze existirt
das ineinander gefallenscyn der beyden Bewegungen der [die] sich auf
sich selbst und die sich auf andres bezieht; und in ihrer Indifferentii
rung, indem sie eins [werden], die Bewegung überhaupt; im Thiere
fängt diese Bewegung an, sich selbst ideell zu werden und in die Mo
mente ihres Begriffes sich zu zerlegen; sie existirt im Thiere als Zeit"
(GW6.242). Das Tier, fügt Hegel am Rande dieses aufschlußreichen Pas
sus hinzu, „wird nicht Herr der Zeit". Erst der Mensch erwirbt diese
Herrschaft: in ihm wird die Zeit Raum. Die Struktur der Bewegung ist
aber bei beiden dieselbe - genau dieselbe eigentlich wie diejenige, die
im „absoluten Bewußtseyn" stattfindet: eine „ewige Bewegung des zu
sich selbst werden eines, in einem andern, und des sich anders werden
in sich selbst" (GW6.314). Kein Wunder also, daß die Empfindung das
Mittel oder die „Mitte" par excellence ist, die das animalische Leben zum
Bewußtsein erhebt: sie fängt im Animalischen an, in welchem sie den
M GW 6. 220, 183. Vgl. auch zwei Stellen (277 und 315), wo Hegel „das absolute Element
des Äthers" als Element des „Bewußtseyns", d. h. für ihn des „Geistes", bestimmt.
W Vgl, hier H. S. Harris (wie Anm. 46), 240 f und 240 Anmerkung 1. Vgl. auch Harris' in
gewissem Maße Überspannte Vermutung, Hegels Behauptung von 1803, „der reine durch
sichtige Äther... in sich das Erkennen, das sich unendlich in sich gestaltet" sei (206; Harris
zitiert aus GW 5. 369), wäre eine Assimilierung des Äthers zum Aristotelischen Geist, der
nach De Anima III, 5 der Materie ähnlich ist, indem er zu allem wird. Über Hegels damalige
Konzeption der Materie, s. auch J. L. Vieillard-Baron: La nottön de matiere et le maieriaiisnte vrai
selon Hegel et Schelling ä l'eyoque d'lena. In: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die
Zusammenarbeit mit Schelling. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing Bonn 1980. (Hegel-
Studien. Beiheft 20.) 197-206.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 51
M In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Werke. Bd 19. 202 ff) wird Hegel
bekanntlich diese Seiten aus De Anima lobend erwähnen.
» De Anima II, 2: 413b 2–3.
Über das Verhältnis Materie/Bewegung bei Aristoteles und Hegel vgl. hier vor allem
G. Picht: Aristoteles’ „De Anima“. Stuttgart 1987. 296-300.
37 Vgl, hier insbesondere P. Aubenque: Hege! et Aristote. In: Hegel ei la pensfy grecque. Hrsg,
von J. D'Hondt. Paris 1974. 103-108; 114 f.
52 Mw am Bienenstock
64 Vgl. hier M. Heidegger: Hegel und die Griechen. In: Die Gegenwart der Griechen im neueren
Denken. Festschrift für H. G. Gadamer zum 60. Geburtstag. Tübingen 1960. 43—57.