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MYRIAM BIENENSTOCK (PARIS)

Zu Hegels erstem Begriff des Geistes (1803/04):


Herdersche Einflüsse
oder Aristotelisches Erbe?*

In seinen Vorlesungen von 1803/04 über die Philosophie des Geistes ent­
wickelt Hegel ein Argument, das den Zweck hat zu zeigen, daß die tra­
ditionelle Kontroverse zwischen Idealisten und Realisten sinnlos, sogar
„lächerlich" sei.1 Um zu verstehen, wie die Empfindung - aber auch die
Erkenntnis im allgemeinen - möglich ist, so schreibt er, muß man den
„Standpunkt des Gegensatzes" verlassen, „wo sich der sog. Realismus
und der sog. Idealismus bilden". Dieser Standpunkt, den Flegel auch
den „Standpunkt des gemeinen Bewußtseyns" nennt, setzt einen Ge­
gensatz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen „der Seite der Thätig­
keit" und der „Seite der Passivität des Bewußtseyns" voraus. Ein solcher
Standpunkt beruht aber auf einem fehlerhaften Verständnis des Bewußt­
seins. Denn - so schreibt Hegel 1803/04 - das Bewußtsein ist eher „der
Begriff des Geistes" (GW6.266). Das Bewußtsein ist „Wesen", d. h. „Mit­
te"; und, als „Mitte", „die Bewegung selbst", welche die Empfindung ver-
anläßt (GW6.291; vgl. 272- 276). Um zu klären, wie die Empfindung,
aber auch die Bildung der Begriffe möglich ist, ist es also notwendig, den
Begriff des Bewußtseins neu zu verarbeiten: es gilt zu verstehen, daß das
Bewußtsein nichts anderes als „Geist" oder, genauer gesagt, „Begriff des
Geistes" ist.
Schon früher - während der ersten Jahre seines Aufenthaltes in
Jena - hatte Hegel den Gegensatz Idealismus/Realismus abgelehnt. In
der Differenz-Schrift sowie in Glauben und Wissen hatte er bereits das

• Diesen Artikel konnte ich während eines Forschungsaufenthaltes am Hegel-Archiv der


Ruhr-Universität Bochum vorbereiten. Den Mitarbeitern des Hegel-Archivs und seinem Lei­
ter, Herrn Professor Dr. Otto Pöggeler, danke ich für vielfältige Unterstützung. – Herrn
Dr. Norbert Waszek bin ich für die aufmerksame Prüfung der deutschen Fassung meines
Manuskriptes besonders dankbar. An dieser Stelle möchte ich mich ebenfalls bei der Hein
rich-Hertz-Stiftung (Düsseldorf) bedanken, die meinen Aufenthalt durch ein Stipendium ge­
fördert hat.
1 Hegel: Gesammelte Werke. Bd 6. Hrsg, von K. Düsing und H. Kimmerle. Hamburg 1975.
290 -294. Dieser Band wird im folgenden zitiert: GW 6.
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Identitätsprinzip vertreten2, aber noch nicht erklärt, warum oder in wel­


cher Weise dieses Prinzip die Empfindung ermöglicht. In diesem Sinne
sind die beiden genannten Abhandlungen kritische Aufsätze: in ihnen
stellt Hegel das Problem klar, zu dem er eine Lösung sucht. Diese Lö­
sung hat er aber noch nicht gefunden. Eine solche gibt er erst 1803/04 an,
in seinen ersten Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Erst dort
eignet er sich den Begriff „Geist" an, der zum Hauptbegriff seines späte­
ren Systems werden sollte. Allerdings gibt er von diesem Begriff ver­
schiedene Definitionen, die sich schwer vereinbaren lassen. Die Termi­
nologie, die er in diesen Jahren benutzt, ist noch unbestimmt. Die Vorle­
sungen von 1803/04 sind in der Tat nicht mehr als erste Entwürfe einer
Philosophie des Geistes, die uns übrigens nur fragmentarisch überliefert
wurden, ohne daß man immer entscheiden kann, ob Hegel selbst sie
unterbrochen hat, oder ob ihre Fortsetzung verloren gegangen ist3 Trotz
dieser Mängel kann man aber wohl doch behaupten, daß sie bereits den
ersten Ansatzpunkt von Hegels Philosophie des Geistes enthalten: in
diesen Vorlesungen gründet Hegel, zum ersten Mal, seine Philosophie
des Geistes auf eine originelle Konzeption des Bewußtseins. Das Dilem­
ma Idealismus/Realismus sowie das Erkenntnisproblem im allgemeinen
glaubt er mittels dieser Auffassung lösen zu können - als hätte er ge­
dacht, daß eine geeignete Antwort auf das Erkenntnisproblem erst dann
möglich sein würde, wenn die geläufige Auffassung des Erkenntnissub­
jekts, d. h. des „Bewußtseins", einmal in Frage gestellt würde.
Der Zweck dieses Aufsatzes ist, Ursprünge und Bedeutung von He­
gels Begriff des Bewußtseins in den Entwürfen von 1803/04 zu untersu­
chen. Mit Recht hat die neuere Hegel-Forschung betont, daß Hegels Ein­
führung dieses Begriffs in seine Philosophie einen Wendepunkt in seiner
Entwicklung bezeichnet. Die zentrale Rolle, die Hegel ab 1803/04 dem
Bewußtsein einräumt, wurde auch als Zeichen einer ersten Distanzie­
rung von Schelling und einer Annäherung an Fichte interpretiert.4 Es
gibt aber keinen Zweifel, daß Hegel nicht einfach zu Fichte zurückkehrt:
auch wenn er, wie Fichte, über das Bewußtsein Rechenschaft geben will,
hält er es für nötig, eine solche Aufgabe im Rahmen des Schellingschen

2 Vgl. z, B. Hegel: Gesammelte Werke. Bd 4. Hrsg, von H. Buchner und O Pöggeler. Ham­
burg 1968. 40 f, 333 f, 388- 396. (Zitiert GW 4.)
1 Vgl. hier „Editorischer Bericht". In: GW 6- 340.
4 Vgl, H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Bonn 1970. 2. erw. Aufl.
1982 256 -262. Vgl. auch R. P. Horstmann: Hegels vorphänonenologische Entwürfe zu einer Philosophie
der Subjektivität in Beziehung auf die Kritik an den Prinzipien der Reflexionsphilosophie. Diss.
Heidelberg 1968. 47 ff, 103.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 29

Programms einer „Geschichte des Selbstbewußtseyns"5, einer „Naturlehre un­


seres Geistes"6 auszuführen. Die Diskussion über Realismus und Idealis­
mus selbst, die er durch seinen Begriff des Bewußtseins, bzw. des Gei­
stes, abschließen will, zeigt, daß er Fichtes eigene Konzeption 1803/04
genau so ablehnt wie 1801/02: Fichtes „Bewußtseinsphilosophie" ist of­
fensichtlich der Gegenstand seiner Kritik, wenn er den Idealismus, „der
das Subject, das thätige des Gegensatzes, als ein Glied des Gegensatzes
nimmt, und dasselbe als Bestimmtheit seyend, doch von der Bestimmt­
heit, von einer Äusserlichkeit für dasselbe befreyen will", als „vollkom­
men lächerlich" verurteilt (GW6.293).
Die damalige Diskussion des Dilemmas Idealismus/Realismus ist es
aber, die uns den Kontext zeigt, in welchem die Bedeutung von Hegels
neuem, originellen Begriff des Bewußtseins geklärt werden kann. Das
merkwürdigste und sicherlich bedeutsame Kennzeichen dieser Diskus­
sion ist, daß Hegel sie 1803/04 im Zusammenhang mit einer Erörterung
der Sprache entwickelt. Die Vermutung liegt nahe, daß seine damaligen
Überlegungen zum Problem der Sprache eine wichtige Rolle in der Ent­
wicklung seiner Philosophie des Geistes, bzw. des Bewußtseins, gespielt
haben. Obwohl diese Hypothese schwer überprüfbar ist, zeigen doch
die Fragmente von 1803/04, daß Hegel in seinem neu erarbeiteten „Be­
griff" des Geistes, bzw. des Bewußtseins, eine Lösung des damals häufig
erörterten Problems der Sprache sah; eine Feststellung, die uns erlauben
wird, die Bedeutung jenes Begriffes klarer zu machen. In dieser Hinsicht
ist es zunächst bemerkenswert, daß Hegel in seinen ersten Fragmenten
zur Philosophie des Geistes die Sprache zweimal erörtert: einmal im An­
schluß an das Bewußtsein, das „Wesen" des Geistes, ein zweites Mal als
Sprache eines Volkes. Der zweite Kontext ist besonders lehrreich - so­
wohl in Hinsicht auf Hegels Quellen als auch für die Bedeutung seines
Denkens: es ist höchstwahrscheinlich, daß Hegel hier an Herder denkt,
der in vielen einflußreichen Schriften betont hatte, daß Verstand und
Vernunft - wie die Sprache selbst - nur in einem Volk Wirklichkeit ha­
ben. Darf man aber nicht auch vermuten, daß Herders Versuche, den
„Ursprung" der Sprache zu klären, seine Annahme einer „wirkenden
Kraft", Energie oder energeia, die die Sprach Fähigkeit des Menschen klä­

5 Vgl. F. W, J. Schelling: Abhandlungen zur Erläuterung des Idealismus der Wissenschaftslehre


(1796/97). In: Sämmtliche Werke. Stuttgart 1856-1861. Abi. 1, Bd. 1 382. Vgl. auch
F. W. J. Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800). In: Sämmttliche Werke. Abt. 1,
Bd3. 331.
6 Vgl. F. W. J. Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur. Ais Einleitung In: Sämmtliche
Werke. Abt. I. Bd2. 39.
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ren könnte, im selben Diskussionszusammenhang stehen wie Hegels ei­


gene Reflexion über das Verhältnis der Sprache zum „Geist" des Men­
schen, zu seinem „Bewußtsein"? Inwiefern ist Hegel auch in seiner Kon­
zeption des Bewußtseins als „Begriff" des Geistes, und des Geistes
selbst, Herder verpflichtet?
Der aristotelische Begriff energeia wurde in jener Zeit viel gebraucht,
um das Wesen der Sprache zu klären: ein Gebrauch, der allerdings von
Herder verbreitet worden war. Das setzt natürlich nicht voraus, daß die­
jenigen, die den Begriff benutzten, sich unmittelbar auf ARISTOTELES be­
rufen haben. Im allgemeinen war das sicherlich nicht der Fall.7 Mit He­
gel aber ist die Situation ganz anders: es ist schon lange bekannt, daß er
es seit seinen Studienjahren am Tübinger Stift für äußerst wichtig hielt,
Aristoteles selbst und zwar im ursprünglichen Text, ohne Übersetzung
zu lesen.8 Karl-Heinz Ilting hat sogar überzeugend gezeigt, daß die ari-
STOTElische Politik für Hegels Naturrer/ifs-Aufsatz sowie für sein System
der Sittlichkeit (1802/03), d. h. für Schriften, die unmittelbar vor den Frag­
menten von 1803/04 verfaßt wurden, von sehr großer Bedeutung waren.9
Es leuchtet ein, daß diejenigen Sätze aus den ersten Jenaer Systementwür­
fen, in welchen Hegel behauptet, daß „Barbaren nicht zu sagen wissen,
was sie meynen" und daß „nur in einem Volke" die Sprache vorhanden
ist (GW4.318), den Einfluß Herders, aber ebensosehr oder vielleicht an
erster Stelle der ARISTOTELischen Politik verraten: desjenigen Passus näm­
lich10, in welchem Aristoteles sagt, der Mensch sei ein politisches Wesen
— nur in einer polis menschlich — da er gerade den logos besitzt. Die
Hauptfrage aber, die man in diesem Zusammenhang stellen muß, ist, ob
Hegel nicht auch bereits in dieser Zeit (1803/04) De Anima gelesen und
benutzt hat: läßt er sich damals von der Erklärung des Wahrnehmungs
prozesses in De Anima, und auch von dem Unterschied, den Aristoteles
in diesem Buch zwischen Wissen als actu und Wissen als potentia macht,
beeinflussen? Ein solcher Einfluß würde offensichtlich seine damalige

7 Vgl. hier L. Weisgerber: Zum Energeia-Begriff in Humboldts Sprachbetrachtung. In: Wirkendes


Wort. 4 (1953-54), 374 -376. Vgl. auch E. Heintet: Sprachphilosophie. In: Deutsche Philologie im
Aufriss, Bd 1. Berlin, Bielefeld 1952. 454-498.
8 Hegel „pflegte zu sagen, daß andern das Studium des Aristoteles leichter gemacht wor
den sei als ihm; er habe es sich sauer werden lassen, habe aus der unleserlichen Baseler
Ausgabe, ohne lateinische Übersetzung, sich den tiefen Sinn des Aristoteles herauslesen
müssen" (Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hrsg, von G. Nicolin. Hamburg 1970.
Anm. zu Nr 9, 566).
9 K. H. Ilting: Hegels Auseinandersetzung mit der aristotelischen Politik. In: Philosophisches
Jahrbuch. 71 (1963/64), 38 -58.
» Aristoteles: Politik. I. 2. 1253 a 10 f.
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Konzeption des Bewußtseins, bzw. des Geistes, in ein ganz neues Licht
rücken.
Freilich gibt es aus jener Zeit keine direkten Belege für Hegels Lektüre
von De Anima11, aber es läßt sich zeigen, daß manche Formulierungen
der Geistesphilosophie von 1803/04, insbesondere diejenigen, die den
Wahrnehmungsprozeß erklären, deutlich an Aristoteles' eigene Sätze in
De Anima erinnern.12 Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß die Be­
griffe des Geistes und des Bewußtseins als „Wesen", die Hegel 1803/04
entwickelt, Aristoteles' eigener Konzeption des Nous entsprechen: jene
Begriffe sind in der Tat genauso nah — oder eher genauso weit ent­
fernt — von Aristoteles' Konzeption, wie die Auffassung, die Hegel in
seinen späteren Werken Aristoteles beimessen wird.13 Dieser letzte
Punkt macht aber eine genauere Untersuchung der Hypothese eines
Einflusses von De Anima auf Hegels damalige Konzeption des Bewußt­
seins unentbehrlich. Ließe es sich tatsächlich beweisen, daß Hegel in
den Fragmenten über die Philosophie des Geistes von 1803/04 dieselben
Ideen entwickelt, die er De Anima viel später — in seinen Vorlesungen über
die Geschichte der Philosophie — zuschreiben wird, dann gilt es, sich für
eine der zwei folgenden Thesen zu entscheiden: entweder hat er schon
1803/04 De Anima gelesen und die philosophische Tragweite dieses Tex­
tes entdeckt, oder er hat seine reife Konzeption des subjektiven Geistes
aus anderen Quellen entwickelt, in völliger Unabhängigkeit von Aristo­
teles. Er hätte dann entdeckt - oder vielmehr zu entdecken geglaubt -

11 Hegels Übersetzung aus Dr Anima (vgl. hier Eiw Übersetzung Hegels zu De Anima Hl,
4-5. Mitgeteilt und erläutert von W. Kem. In: Hegel-Studien 1 (1961], 49-88), läßt sich
nicht sicher datieren; sie könnte auch aus einer späteren Zeit stammen. Gablers Bericht
(1832), Hegel habe „schon vor 26 Jahren (also um 1806) das Tiefste und Beste an der Quelle
selbst |d.h an Aristoteles selbst] geschöpft" (vgl. H. Kimmerle: Dokumente zu Hegels fenaer
Dozententdtigkeit (1801/1807). In: Hegel-Studien. 4 [1967], 65 ff), genügt auch nicht, um zu
bestimmen, in welchen Jahren Hegel De Anima gelesen hat.
12 Die Hypothese eines Einflusses von De Anima auf Hegels Schriften von 1803/04 hatte
schon Theodor Haering aufgeslellt in seinem fluch: Hegel. Sein Wollen und sein Werk. Leip­
zig, Berlin 1929—1938. Bd 2. 446. Für Haering wäre dieser Einfluß höchstwahrscheinlich nur
indirekt gewesen.
13 Über das Verhältnis von Hegels späterer, reifer Philosophie des subjektiven Geistes zu
De Anima vgl. auch, zusätzlich zur oben zitierten Abhandlung von W. Kern, dessen Aufsatz
Die Aristotelesdeutung Hegels. Die Aufhebung des aristotelischen „Nous" in Hegels „Geist".
In: Philosophisches Jahrbuch. 78 (1971), 237-259. Vgl. auch F. G. Weiss: Hegels Critique of
Aristotle's Philosophy of Mind. Den Haag 1969; und neuerdings K. Düsing: Hegel und die
Geschichte der Philosophie. Darmstadt 1983. 129-132; H. Seidl: Bemerkungen zu G. W. F. Hegels
Interpretation von Aristoteles .De Anima' III 4-5 und Metaphysica' XII 7 u. 9. In: Perspektiven
der Philosophie. 12 (1986), 209- 236; R. Wiehl: Hegels Transformation der aristotelischen Wahr-
nehmungslehre. In: Hegel-Studien. 23 (1988), 95-138; G. Picht: Aristoteles' „De Anima". Stutt­
gart 1987.
32 Miriam Bienenstock

daß Aristoteles seine eigenen spekulativen Ideen schon entwickelt hat­


te. Seine spätere Berufung auf Aristoteles müßte dann als rein rheto­
risch gelten: man könnte in ihr keinen substantiellen Einfluß von Aristo­
teles auf die Entwicklung seiner eigenen Philosophie erkennen.
Das Problem Idealismus/Realismus, das Jacobi kritisch gegen Kants
transzendentalen Idealismus gewandt hatte, wurde in Hegels Zeit häu­
fig behandelt: sowohl Reinhold als auch Fichte und Schelling haben ihre
philosophischen Positionen am Leitfaden dieses Problems erörtert. Um
Hegels eigene Behandlung des Problems zu erhellen, muß man aber sei­
ne Auseinandersetzung mit dem sogenannten „Pantheismusstreit", im
Rahmen dessen Jacobi seinen Angriff auf Kant entwickelte, berücksichti­
gen. Da diese Auseinandersetzung schon gut dokumentiert und vielfach
untersucht worden ist, werde ich mich im ersten Teil dieses Aufsatzes
darauf beschränken, diejenigen Punkte zu erwähnen, die zum Verständ­
nis von Hegels Diskussion der Jahre 1803/04 notwendig sind; insbeson­
dere die Position, die er Herder gegenüber einnimmt. Das wird ver­
ständlich machen, warum er gerade zu jener Zeit die Diskussion des
Gegensatzes Idealismus/Realismus im Rahmen einer Erörterung der
Sprache entwickelt; eine Frage, der ich mich im zweiten Teil dieses Auf­
satzes zu wenden werde. Schließlich ist zu prüfen, ob und inwiefern die
Fragmente von 1803/04 einen Einfluß von De Anima verraten: durch diese
Prüfung soll die Originalität seiner damaligen Konzeption des Bewußt­
seins hervorgehoben werden.

I.

Wir wissen, daß Hegel Jacobis Briefe über die Lehre des Spinozas (1785.
Zweite Auflage 1789) schon im Tübinger Stift gelesen hat.14 Ebenso ist es
bekannt, daß er Herder, insbesondere Herders Gott (1787. Zweite Aufla­
ge, 1800) studierte und rezensierte.15 Der „Pantheismusstreit", der sich
aus diesen Schriften entwickelte, war ihm daher aus den unmittelbaren
Quellen bekannt. Man darf aber wohl vermuten, daß Hegels Gespräche
mit Hölderlin16 und dem Freundeskreis um Hölderlin17 ihn in Frankfurt

14* Vgl. Karl Rosenkranz: Hegels Leben. Berlin 1844. Nachdr. Darmstadt 1977. 40.
15 Diese Rezension ist heute verschollen: vgl. GW4. 517.
16 Vgi D Henrich: Hegel und Hölderlin. in: Ders.: Hegel im Kontext. Frankfurt a. M. 1967.
9-40
17 Vgl. H. Hegel: Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Ein Beitrag zur Ent­
stehungsgeschichte der idealistischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1971; Homburg vor der
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(1797-1800) dazu führten, seine eigene Position in jenem Streit neu zu


klären. Um seine Behandlung des Dilemmas Idealismus/Realismus in
den Jahren 1803/04 zu verstehen, müssen wir zuerst die Position rekon­
struieren, die er in seinen Jenaer kritischen Schriften, insbesondere in
Glauben und Wissen (1802), ein nimmt.
Aus dem problematischen Status des „Dings an sich" im Kan tischen
System hatte Jacobi gefolgert, daß Kants transzendentaler Idealismus
zwischen einem „dogmatischen Idealismus" und einem „dogmatischen
Realismus" schwankt, ohne imstande zu sein, die Objektivität unserer
Vorstellungen zu begründen.18 In Glauben und Wissen übernimmt Hegel
diesen in seiner Zeit häufig wiederholten Angriff auf Kam. Er folgt aber
Jacobis Schlußfolgerungen nicht: er tadelt den seiner Ansicht nach über­
schwenglichen Subjektivismus dieses Autors und behauptet, daß ein
vernünftiges Wissen erreichbar ist - sowohl von Erscheinungen als
auch von Gott, vom Absoluten. Eben weil Kant, wie Jacobi, die Möglich­
keit eines Erkennens von Gott, vom Absoluten, geleugnet hat, so
schreibt Hegel in Glauben und Wissen, hat er die Objektivität unseres phä­
nomenalen Wissens nicht begründen können. Nach unserem Autor ge­
hören also Kant und Jacobi, trotz ihrer scheinbaren Entgegensetzung, zu
derselben philosophischen Bildung - zu einer Bildung, deren Anfänge
bei den „Ur- und Grundempirikern" Home und Locke zu suchen ist
(GW 4.375 f): schon Locke, schreibt Hegel, hatte „die Philosophie in em­
pirische Psychologie verwandelt, und zum ersten und höchsten Stand-
punct den Standpunct eines Subjects und die schlechthin Seyende End
lichkeit erhoben" (GW4.322). Kant ist ihm gefolgt, indem er die „endli­
che Erkenntniß für die einzig mögliche erklärt" und sich als Zweck
„nicht das Erkennen des Absoluten, sondern das Erkennen dieser Sub
jectivität oder eine Kritik der Erkenntnißvermögen" gesetzt hat
(GW4.326). Jacobi aber verfährt nicht anders: für ihn, wie für Kant, ist
der höchste Standpunkt der empirische Standpunkt eines endlichen,
menschlichen Subjekts. Das ist aber der Grund, der ihn zur Spekulation,
d. h. zur Philosophie im eigentlichen Sinn des Wortes, unfähig macht:
„es ist schon etwas", schreibt Hegel, „wovor alle Speculation erschrickt,

Höhe bi der deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin.
Hrsg, von C. Jamme und O. Pöggeler. Stuttgart 1981; C. fannne: „Ein ungelehrtes Ruch". Die
philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797- 18(10. Bonn
1983
F, H Jacobi: Ueber den transzendentalen Idealismus. „Beyläge" zu David Hume über den
Glauben, oder Idealismus und Realismus (1787). In; Werke. Hrsg, von F. Roth und F. Köpp
pen. Leipzig 1812-25, Bd 2 289-310
34 Mvriam Bienenstock

nemlich das Absolutseyn eines menschlichen Bewußtseyns und eines


empfindenden Dings, und eines empfundenen Dings und ihrer Gemein­
schaft, geradezu aus dem gemeinsten Empirismus heraus, vorausge­
setzt: ... schon mit der unanalysirten absoluten Annahme eines empfin­
denden Dings, und eines Dings, das empfunden wird, ist alle Philoso­
phie aus dem Feld geschlagen" (GW4.349 f).
Das Ziel dieser Kritik ist offensichtlich: an erster Stelle handelt es sich
dabei um Reinholds Tatsachenphilososophie - diejenige Systematisierung
der Philosophie Kants, die Karl Leonhard Reinhold in seinen ersten
Schriften, und insbesondere in seinem Versuch einer neuen Theorie des
menschlichen Vorstellungsvermögens, als Antwort auf das Dilemma Idealis-
mus/Realismus entwickelt hatte. Reinhold hatte behauptet, daß das Kan-
Tische „Ding an sich" nicht „erkennbar", weil es nicht „vorstellbar" ist -
während alle unsere intellektuelle Aktivität doch auf einem zentralen
Vermögen beruht: dem Vorstellungsvermögen.19 Der Ausgangspunkt
und die Grundlage alles Philosophierens, hatte Reinhold geschrieben, ist
eine unmittelbar evidente aber unbeweisbare Tatsache, die „Tatsache
des Bewußtseins": „daß die Vorstellung im Bewußtsein durch das Sub­
jekt vom Objekt und Subjekt unterschieden und auf beide bezogen wer­
de".20 Statt das Bewußtsein traditionell als eine „Substanz", die das gan­
ze Leben der Seele enthalten würde, zu bestimmen, hatte er es also ein­
fach durch zwei Handlungen - unterscheiden und beziehen - gekenn­
zeichnet. Es ist klar, daß Reinhold sich hier von Kant beeinflussen ließ.
Inwiefern und in welchem Sinn seine Auffassung Kants transzendenta­
lem Idealismus treu blieb, wie er es behauptete21, ist aber zweifelhaft.
Obwohl eine Antwort auf diese bis heute umstrittene Frage22 für die
Intention dieses Aufsatzes nicht erforderlich ist, ist es doch besonders
bemerkenswert daß Reinhold in der Beschreibung der Methode, durch
welche er zur „Tatsache des Bewußtseins" gelangen wollte - nämlich
der „Reflexion" - sehr nah an Locke heranrückte: es ist sicherlich kein
Zufall, daß er für jedes Buch seiner Theorie des menschlichen Vorstellungs­
vermögens ein Motto aus Locke gewählt hat. Die Vermutung liegt nahe,

’* Vgl. K. L. Reinhold: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens.


Prag, Jena 1789. 254 f.
20 Vgl. K. L. Reinhold: Uber das Fundament des philosophischen Wissens. Jena 1791. 78.
21 VgL Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Vorrede. 58 -68.
22 Über diese Frage siehe aber E. Cosstrer: Des Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wis­
senschaft der neueren Zeil. 2. Auft. Berlin 1923. Bd 3. 33-58. A4. Si’Wiwg: Studien zur Geschichte
der Transzendentalphilosophie. Bd 1: Karl Leonhard Reinholds Elementarphilosophie in ihrem philoso
phiegeschichlichen Zusammenhang. Lund 1938; und Philosophie aus einem Prinzip. K. L. Rein­
hold. Hrsg, von R. Lauth. Bonn 1974.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 35

daß seine Rekonstruktion von Kants transzendentalem Idealismus He­


gels eigene KANT-Rezeption sehr beeinflußt hat: Reinholds Einfluß er­
laubt zu klären, warum Hegel in Glauben und Wissen Kant einfach auf
Locke zurückführt und ihm ein rein deskriptives, psychologisches Ver­
fahren zuschreibt, das zum Hauptzweck hat, den Inhalt unseres Be­
wußtseins zu beschreiben.23 Das Hauptziel der Angriffe in Hegels kriti­
schen Schriften isl zweifellos Reinholds Tatsachen- oder Reflexionsphiloso­
phie: was Hegel in diesen Schriften Kant und Jacobi vorwirft, ist, daß sie
letzten Endes nichts anderes als Tatsachenphilosophien sind, die Reinholds
„Tatsache des Bewußtseins" als unmittelbare Voraussetzung ihres Den­
kens annehmen.
Wegen derselben Voraussetzung tadelt Hegel auch Fichte. Wie be­
kannt, hatte Fichte geleugnet, daß Reinholds Systematisierung des Kan
tianismus den problematischen Status des „Dings an sich" klären könne,
und tatsächlich einen Ausweg aus dem Dilemma Idealismus/Realismus
biete. Fichte hatte Reinholds Forderung, die Philosophie auf ein einzig­
es, höchstes Prinzip zu gründen, nicht in Frage gestellt. Er hatte aber
behauptet, daß dieses Prinzip die REiNHOLDsche „Tatsache des Bewußt­
seins" nicht sein könne. In der ersten Fassung seiner Wissenschaftslehre
(1794) hatte er versucht, es eher als „Tathandlung" zu charakterisieren.
Für Hegel, wie in seinen kritischen Schriften deutlich, ist aber dieser
Versuch gescheitert. In seiner Differenz-Schrift versichert Hegel zwar,
daß es unrichtig sei, den Primat der praktischen Vernunft bei Fichte ein­
fach als Zeichen seiner Hinwendung zum Subjektivismus zu interpretie­
ren; gegen diese Interpretation, die von Reinhold vertreten wurde, be­
tont er, daß Fichte das Objektive nicht leugnet, sondern „das Subjektive
und Objektive auf gleichen Rang der Realität und Gewißheit setzt"
(GW4.41 f) — oder, in anderen Worten, daß Fichte das echte Prinzip der
Spekulation erkannt hat: das Ich=Ich, d. h. das reine Denken seiner
selbst, die Identität des Subjekts und des Objekts. Für Hegel ist aber
Fichte diesem Prinzip letzten Endes untreu geworden; und dies, eben
weil er Reinhold noch gefolgt ist: Fichte, schreibt Hegel, hat Reinholds
„Wahn" übernommen, ein System in einem einzigen Grundsatz auszu­
drücken.24 Daß er diesen Satz als Handlung und nicht als Tatsache be­

23 GW 4. 331 f Es ist bemerkenswert, daß Hegel in seiner Lnzyklopädie der philosophischen


Wissenschaften (1830) die Kantische Philosophie ausdrücklich auf Reinholds „Theorie des Bew
ußtseins,unter dem Namen Vorstellungsvermögen", zurückführt (§415, Zusatz. In; Wer
ke. Theorie Werkausgabe. Bd 10. 202).
24 GW' 4. 24. Das Studium der radikalen Kritik, die Hegel in der Differenz-Schrift an Rein­
hold übt, genügt schon, um zu zeigen, wie falsch es wäre, mit H. Girndt zu postulieren (Die
36 Myriam Biencksiock

zeichnet, ändert nichts an der Sache: er glaubt daß er aus dem ersten
Grundsatz - wie „aus einem immanenten Princip, als eine thätige Ema­
nation, oder Selbstproduktion des Princips" — zwei andere Sätze dedu­
zieren, und daß er damit das empirische Bewußtsein aus dem transzen­
dentalen konstruieren können wird (GW 4.35). Das ist aber unmöglich
und widersprüchlich: wie vermag man, fragt Hegel, „aus der Einheit die
Mannichfaltigkeit, aus reiner Identität die Zweyheit abzuleiten"
(GW4.36)? Um die Mannigfaltigkeit der realen, objektiven Welt zu erklä­
ren, muß Fichte doch einen „Anstoß" postulieren, der die Intelligenz
bedingen würde; ein Postulat, das zeigt, daß er zur REiNHOLDschen „Tat­
sache des Bewußtseins" und, mit ihr, sowohl zur „reflexiven" Entgegen­
setzung Subjekt/Objekt als auch zur These einer äußeren, kausalen Be­
dingung der Intelligenz durch die Natur zurückgekehrt ist (vgl.
GW4.42f). Das Problem der Rolle, die man dem „Ding an sich" im
Erkenntnisprozeß geben sollte, hat Fichte also nicht gelöst. Er schwankt
vielmehr, wie Reinhold, und wie Kant selbst, zwischen einem „dogma­
tischen Idealismus" und einem „dogmatischen Realismus". Sein Idealis­
mus, betont Hegel noch in Glauben und Wissen, ist ein Formalismus, für
welchen „die reine leere Thätigkeit, das reinfreye Handeln, das Erste
und einzig Gewisse" ist (GW4.390), und der deswegen die empirische
Realität der objektiven Welt nicht erklären kann. Diese Realität der Welt,
nicht nur ihre Idealität, hätte Fichte aber erklären müssen, um über den
Erkenntnisprozeß — und in ihm insbesondere die Empfindung — Re­
chenschaft zu geben (GW 4.388 f).
Hölderlin hatte schon 1795 behauptet, daß Fichtes „absolutes Ich" als
höchstes Prinzip der Philosophie ungeeignet sei: ein solches Prinzip
würde es nicht erlauben, die Natur des Bewußtseins selbst zu verstehen.
Das FICHTEsche „Ich bin Ich" hatte auch Hölderlin als Beispiel eines Be­
griffs der „Ur-Theilung" interpretiert, in dem er eine ursprüngliche Tei­
lung, oder Trennung, von einem „Seyn" in Subjekt und Objekt erkänn­
te.25 Die Konzeption des Urteils, die Hegel in Glauben und Wissen Kant
beimißt, ist offensichtlich dieser Interpretation Hölderlins verpflichtet:
Kants synthetische Urteile a priori, schreibt Hegel, „sind möglich durch

Differenz des Fichteschen und Hegelscheu Systems in der Differenzschrift Bonn 1965), daß er
sowohl in seiner Kritik Fichtes als auch in der Ausarbeitung seines eigenen philosophischen
Systems von Reinhold abhängig war Vgl. hier H. Braun: Differenzen. Bemerkungen zu einem
Buch von Helmut Girndt. In: Hegel-Studien. 4 (1967), 288—299.
25 Vgl. den Brief an Hegel vom 26. 1 1795 In: Briefe wn und an Hegel. Bd 1. Hamburg
1961. 19 f. Vgl. auch F. Hölderlin: Urtheil und Seyn. In: Sämtliche Werkt. Hrsg, von F. Beißner
Bd 4. Stuttgart 196). 216 f. Vgl. auch die oben zitierte Literatur (Anm. 16 u. 17).
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 37

die ursprüngliche absolute Identität von ungleichartigem, aus welcher


als dem Unbedingten sie selbst als in die Form eines Urtheils getrennt
erscheinendes Subject und Prädicat, Besonderes und Allgemeines erst
sich sondert. Das Vernünftige oder, wie Kant sich ausdrückt, das Aprio­
rische dieses Urtheils, die absolute Identität, als Mittelbegriff, stellt sich
aber im Urtheil nicht, sondern im Schluß dar; im Urtheil ist sie nur die
Copula: ist, ein Bewußtloses; und das Urtheil selbst ist nur die überwie­
gende Erscheinung der Differenz." (GW 4.328 f) Was Hegel hier in Kants
Behandlung der synthetischen Urteile a priori wiederzufinden glaubt, ist
also das Problem der „Ur-theilung" des Seins, das schon Hölderlin for­
muliert hatte; ein Problem, das man nach seiner Auffassung nicht lösen
kann, solange man sich auf das Urteil begrenzt, d. h. auf eine Form, die
im Bewußtsein erscheint. Es wird kaum nötig sein zu erwähnen, daß
Hegel hier das Problem des Idealismus und Realismus ganz anders dar­
stellt, als es sich für Kant gestellt hatte: was für ihn mit diesem Problem
in Frage steht, ist nichts anderes als das pantheistische Problem des Ver­
hältnisses vom Eins zum Mannigfaltigen, vom Unendlichen zum Endli­
chen.26
Für die Behandlung dieses Problems beruft sich Hegel aber nicht auf
Hölderlin. Er bevorzugt es stattdessen, Platos Timaios zu zitieren; und
dies in dem Teil der Differenz-Schrift, der Schellings philosophische Kon­
zeption darstellt (GW4.65 Anm.). Diese Konzeption will er sich aneig­
nen. Schon jenes PLATO-Zitat — das nicht von Schelling kommt, das
Schelling in späteren Schriften eher von Hegel aufnahm — beweist aber,
daß Hegel nicht nur unter Schellings Einfluß steht. Die enge Zusam­
menarbeit der zwei Freunde in jenen Jahren macht es zwar besonders
schwer zu klären, welche Ideen jeder Autor im Kritischen Journal der Phi­
losophie zur Veröffentlichung brachte.27 Es kann aber keinen Zweifel dar­
über geben, daß Hegel Schellings philosophisches Programm einer „Ge­
schichte des Selbstbewußtseins" teilte - oder teilen wollte. Für beide
Philosophen sollte eine solche Lehre das Ergebnis sowohl der Transzen­
dental- als auch der Naturphilosophie sein. Sie sollte zeigen, daß die
reflexive Methode der Transzendentalphilosophie auf demselben Prinzip
beruht, das auch die Methode der Naturphilosophie begründet: das
Prinzip der Identität zwischen Subjekt und Objekt. Erst die korrekte

26 Über Hegels Umdeutung von Kants Konzeption der synthetischen a priori Urteile, vgl.
I Görland: Die Kantkritik des jungen Hegels. Frankfurt 1966; und vor allem K. Düsing: Das Pro
blemder Subjektivität in Hegels Logik Bonn 1976. 2. Aufl. 1984. 109-120.
27' Vgl. K. Düsing: Spekulation und Reflexion. Zur Zusammenarbeit Schellings und Hegels in
Jena. In: Hegel-Studien. 5 (1969), 95—128, insb. 107 (über das Titnaios-Zitatj.
38 Myriam Bienenstock

Identifizierung dieses Prinzips würde es erlauben, das Problem Idealis-


mus/Realismus zu lösen und die Natur der Empfindung, sowie des Er­
kenntnisprozesses, zu bestimmen. Schon in der Einleitung zur ersten
Fassung seiner Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) hatte aber Schel­
ling die Schwierigkeiten eines solchen Programms klar dargcstellt: zwar
kann die Naturlehre über die mechanischen Bewegungen der Körper au­
ßer uns, die den sogenannten „Naturlauf" ausmachen, Rechenschaft ge­
ben. Sie scheint aber nicht imstande zu sein zu klären, wie dieser Natur­
lauf „für uns wirklich geworden |ist], wie jenes System und jener Zusam­
menhang der Erscheinungen den Weg zu unserem Geiste gefunden,
und wie sie in unserer Vorstellung die Nothwendigkeit erlangt haben,
mit welcher sie zu denken wir schlechthin genöthigt sind".28 Auf der
anderen Seite ist es uns wohl möglich, „durch unmittelbare Erfahrung"
zu verstehen, wie eine Vorstellung von unserem eigenen Sein und Le­
ben in uns komme: durch eine Reflexion über unsere eigene Tätigkeit —
eine Tätigkeit, die wir einer von unserem Körper völlig unterschiedenen
„Seele" beimessen. Eine solche Reflexion kann aber den Schluß nicht
rechtfertigen, daß etwas außer uns, d. h. außer unserer Seele, sei oder
lebe. Zu diesem Zweck müßte man das Verhältnis zwischen Seele und
Körper, Geist und Materie verstehen: erklären, wie Geist auf Materie,
Materie auf Geist wirken kann. Schelling ist sich des problematischen
Charakters einer solchen Erklärung völlig bewußt. Er betont, daß die
Naturwissenschaft, die sich in dieser Erklärung des Begriffes „Kraft"
oder „Lebenskraft" bedient, genauso unbefriedigend ist wie die tran­
szendentale Philosophie, die zum Begriff „Geist" greift: die Naturwis­
senschaften, die den Streit entgegengesetzter Kräfte in der Natur erklä­
ren wollen, müssen notwendig „ein Drittes" voraussetzen, das den Na­
turlauf im allgemeinen erhalten würde. Dieses Dritte muß aber höher als
eine Kraft sein. Da der Begriff Kraft „das Letzte" ist, „worauf ... alle
unsere physikalischen Erklärungen zurückkommen müssen", muß aber
jenes Dritte auch außerhalb der Grenzen der empirischen Naturfor­
schung liegen. Nun „wissen wir aber nichts Höheres, für das Kräfte
überhaupt da seyn könnten, als den Geist; denn nur der Geist vermag
Kräfte und Gleichgewicht oder Streit von Kräften sich vorzustellen. Al­
lein wollten wir nun die Lebenskraft als geistiges Prinzip begreifen, so
heben wir damit jenen Begriff völlig auf. Denn Kraft heißt, was wir we­
nigstens als Princip an die Spitze der Naturwissenschaft stellen können

28 F. W. J. Schelling: Sämmtliche Werke. Abt. 1, Bd 2. 29 f; zum folgenden vgl. ebd. 51 f,


49 f.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 39

und was, obgleich nicht selbst darstellbar, doch seiner Wirkungsart nach
durch physikalische Gesetze bestimmbar ist. Allein wie ein Geist phy­
sisch wirken könne, davon haben wir auch nicht den geringsten Begriff;
also kann ein geistiges Princip nicht Lebenskraft heißen, ein Ausdruck,
wodurch man immer noch wenigstens die Hoffnung andeutet, jenes
Princip nach physikalischen Gesetzen wirken zu lassen."
Den problematischen Charakter der Begriffe Kraft und Lebenskraft hebt
auch Hegel hervor, als er in Glauben und Wissen Herders Erwiderung auf
Jacobis Briefe über die Lehre des Spinozas kritisiert. Er zitiert einen Passus
aus Herders Gott, in dem Herder in seiner Auffassung den „Mittel­
punkt" des Spinozistischen Systems darstellen würde. „Ich wüßte nicht",
hatte Herder geschrieben, „unter welches Hauptwort die wirklichen und
wirksamen Tätigkeiten, der Gedanke der Geisterwelt und die Bewegung
der Körperwelt, beide sich so ungezwungen fassen ließen als unter den
Begriff von Kraft, Macht, Organ. Mit dem Wort: organische Kräfte bezeich­
net man das Innen und Außen, das Geistige und Körperhafte zugleich.
Es ist indessen auch nur Ausdruck; denn wir verstehen nicht, was Kraft ist,
wollen auch das Wort Körper damit nicht erklärt haben."2930 In diesem Pas­
sus, den Herder der zweiten Auflage seines Gott hinzugefügt hatte, fin­
det Hegel den Beweis, daß Herders Philosophieren sich am Ende vom
JACOBischen nicht unterscheidet. Herder selbst - dies sollte man im Ge­
dächtnis bewahren - wollte zeigen, daß Jacobi Unrecht hatte, als er die
Unvereinbarkeit des Erkennens und des Glaubens behauptete. Er hatte
in Spinoza einen „Begeisterten fürs Daseyn Gottes"31’ sehen wollen, der
verstanden hätte, daß „alles voneinander und zuletzt alles von Gott ab­
hängt, der auf diese Weise die höchste, einzige Substanz ist." Daraus
könnte man nach Herder folgern, daß eine Demonstration Gottes mög­
lich sei - eine Demonstration, die in jedem Urteil, jedem Satz unserer
Sprache enthalten sei: „Zwischen jedem Subjekt und Prädikat stehet ein
Ist oder Ist nicht [und] dies Ist, diese Formel der Gleichung und Ueber­
einstimmung verschiedner Begriffe, das bloße Zeichen = ist meine De­
monstration von Gott." Es ist zweifellos, daß Hegel mit der Intention
Herders grundsätzlich einverstanden war. Eben wegen dieser Überein­
stimmung ist aber die Kritik, die er gegen Herder richtet, besonders
scharf: für ihn hat Herder es versäumt, die Möglichkeit eines Wissens
von Gott, vom Unendlichen, zu beweisen. Gesteht nicht Herder selbst,

19 /. G. Herder: Gott. In: Sämmtliche Werke. Hrsg, von B. Suphan. Bd 16. 452. Zitiert von
Hegel in G W 4. 362 f.
30 Gott. Zweite Auflage. In: Sämmtliche Werke. Bd 16. 439; zum folgenden vgl. ebd. 440,
516 f.
40 Myriam Bicncnstock

daß der Begriff einer Urkraft, durch welchen er Spinozas Hauptbegriff


ausdrücken will, uns unverständlich und eigentlich kein Begriff ist?
Nach Hegel ist dieser Begriff nichts mehr als ein „Reflexionsbegriff"
(GW4.362), der also die Endlichkeiten der Reflexions- oder Bewußtseins­
philosophie nicht überschreiten kann.
Es ist aber fraglich, ob Hegel in jenen Jahren selbst den Begriff erarbei­
tet hat, der ihm zufolge ein Erkennen des Unendlichen und damit die
Lösung des Erkenn In isproblems ermöglichen würde. Eindeutig ist, daß
er in Spinoza, dessen Schriften er schon sehr früh und ohne Herders
Vermittlung las31, keine solche Lösung findet: nach der Differenz-Schrift
ist Spinozas Begriff der Substanz kein Begriff im eigentlichen Sinn des
Wortes, eher eine „Antinomie", in welcher „die Entgegengesetzten in
einen Widerspruch vereinigt sind" (CW4.24). Kann aber die Antinomie
zu mehr führen, als zur „wahren, durch Reflexion möglichen Offenbah
rung des Unbegreiflichen in Begriffen" (GW 4.86)? Höchstens könnte sie
zu einem Skeptizismus führen, dessen echte Gestalt Hegel im Platoni
schen Parmenides wiederzufinden glaubt (GW4.208f). Eher als Spinoza
scheint Plato der Autor zu sein, zu welchem Hegel sich wendet, um
eine Lösung des Erkenntnisproblems zu finden: Platos dunkler Satz, im
Timaios, über „das wahrhaft schöne Band", das „sich selbst und die ver
bundnen Eins macht", scheint ihm den Weg zu zeigen, auf welchen sich
Schelling selbst begeben sollte, um seine Suche nach einem Begriff, der
den Streit entgegengesetzter Kräfte in der Natur erklären würde, zu be
friedigen. Hegels Hinweis auf Plato in der Differenz-Schrift genügt aber
nicht, um zu behaupten, daß er in den Jahren 1801/02 einen solchen
Begriff und, mit ihm, eine Lösung des Erkenntnisproblems und des Di­
lemmas Idealismus/Realismus schon gefunden hat. Eine solche Lösung
stellt er erst 1803/04 ausdrücklich dar, in seinen Vorlesungen über die
Philosophie des Geistes. Diese Lösung soll im Folgenden geprüft wer­
den.

11.

Zu diesem Zweck ist es nötig, noch einmal zu Herders Schriften zurück­


zukehren: die Bedeutung, die Flegel in seiner Beschreibung des Erkennt­
nisprozesses von 1803/04 der Sprache beimißt, ruft in erster Linie den

11 Vgl. H. C. Lucas: Hegel et IVditimi de Spinoza par Paulus. In: Cahiers Spinoza. 4 (1983),
127-138.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 41

Namen Herders ins Gedächtnis; und es gibt keinen Zweifel darüber, daß
Hegel die berühmten Überlegungen dieses Autors über die Beziehungen
zwischen Sprache und Vernunft rezipiert hatte, auch wenn er diesen
Autor damals nicht zitiert. Um seine eigene Behandlung des Problems
der Sprache zu bewerten, ist es also erforderlich, zuerst Herders Formu­
lierung dieses Problems zu erwähnen.
Schon in seiner Abhandlung Uber den Ursprung der Sprache (1772) hatte
sich Herder nicht damit begnügt, den engen Zusammenhang zwischen
Sprache und Vernunft zu betonen. Er hatte auch den „Zirkel" klar her­
ausgestellt, in welchen wir uns bis heute verwickeln, wenn wir den „Ur­
sprung" der Sprache klären wollen: obwohl es unleugbar ist, daß die
Sprache dem Menschen nicht angeboren ist, eher vom Menschen erwor­
ben oder erlernt wird, scheint es doch, daß man sie immer voraussetzen
muß, um zu erklären, wie sie entstehen kann. Die Art, in der Kinder die
Sprache erwerben, ist in dieser Hinsicht besonders lehrreich: auch wenn
Eltern ihren Kindern den Gegenstand oder den Sachverhalt, dem ein
bestimmtes Wort in ihrer Sprache entspricht, ausdrücklich mit dem Fin­
ger zeigen, scheinen die Kinder die Fähigkeit immer schon zu haben,
dieses Wort schöpferisch zu benutzen, jedes Mal in einem anderen
grammatischen Kontext. Sollte man nicht aus dieser merkwürdigen Fest­
stellung folgern, daß Kinder die Sprachfähigkeit immer schon besitzen,
wenn auch nur in potentia? Es ist auf jeden Fall bemerkenswert, daß Her
der in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache genau zu jener
Feststellung greift, um die These eines göttlichen Ursprungs der Sprache
zu widerlegen.32 Er behauptet, daß es ebenso falsch wäre, die Sprachfä­
higkeit der Menschen auf Gott zu beziehen, als sie auf natürliche,
schlicht animalische Tendenzen reduzieren zu wollen. Nach ihm sollte
man die Sprache auf eine spezifisch menschliche Fähigkeit - die „Beson­
nenheit" - beziehen. Die Bedeutung, die Herder diesem Terminus gibt,
ist aber sehr problematisch. Die Tatsache, daß er die Besonnenheit eher
auf den Menschen als auf Gott bezog, hat manche seiner Interpreten
dazu geführt, sein sprach philosophisches Denken als eine Erweiterung
und Anwendung der kritischen Methode Kants auf die Sprache zu be­
trachten.33 Diese Interpretation, die Herder selbst seinen Lesern nahele­
gen wollte, ist aber sicherlich verfehlt: in der Metakritik zur Kritik der rei-

32 Vgl. J. G. Herder: Sprachphilosophische Schriften. Hrsg, von E. Heintel. Hamburg 1960


28f.. Über Herders Behandlung des „Zirkels", in welchen jeder Versuch, den Ursprung der
Sprache zu klären, uns verwickelt, vgl. auch Heintels Einleitung: „Herder und die Sprache",
insbes. XXXI f.
33 Vgl. E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Bd 1. Berlin 1923. 94 f.
42 Myrlam Bienenstock

nett Vernunft (1799) - in demjenigen Buch also, in welchem Herder sich


zum Ziel setzt, sein Verhältnis zu Kant zu klären - behauptet er, daß
das „Seyn der Grund aller Erkenntniß ist": „Seyn", schreibt er, „ist also
auch der Grundbegriff der Vernunft und ihres Abdrucks, der menschli­
chen Sprache. ... Das Seyn knüpft jedes Urtheil des Verstandes; keine
Regel der Vernunft kann ohne ein Seyn gedacht werden."34 Ferner be­
hauptet Herder, daß „dies Seyn sich durch Kraft offenbart": durch eine
„lebendige", „organische" oder „energische Kraft", die dafür verantwortlich
ist, daß die Seele „erfaßet, verstehet in Vielem ein Eins". Es ist klar, daß
diese metaphysische Auffassung einer Sprache, mittels derer sich das
„Sein" offenbaren oder aussprechen würde, mit Kants kritischer Frage­
stellung unvereinbar ist.35 Sie steht der Konzeption einer „Naturspra­
che" näher, die Jakob Böhme schon zwei Jahrhunderte früher entwickelt
hatte, die aber in jener Zeit der Frühromantik immer populärer wurde:
Böhme hatte behauptet, daß alles in der Well sich „auszusprechen"
sucht; und daß dasjenige, das sich im Verhalten, in den Handlungen des
Menschen ausspricht - und zwar, in einer ausgezeichneten Weise, in
seiner Sprache — nichts anderes ist als das „Sein" der Welt, zu welcher
der Mensch gehört. Auch wenn es nicht klar ist, ob und inwiefern Her­
der Böhme tatsächlich gelesen und studiert hat, fällt es auf, daß sich sei­
ne Konzeption der Sprache in Böhmes Metaphysik des „Aussprechens"
nahtlos einordnen läßt.36
Wie für Böhme ist auch für Herder das Bedürfnis, sich in Tönen und
lauten zu artikulieren, der Ursprung der Sprache. Als Hegel selbst, im
System der Sittlichkeit (1802), die Sprache als eine „tönende Rede" be­
schreibt, mittels welcher „das Innere", d. h. hier die „absolute Subjekti­
vität", unmittelbar heraustreten würde37, steht er zweifellos unter dem
direkten Einfluß Herders. Was sich durch die Sprache manifestieren soll,
ist aber nach Hegel nichts anderes als die „Identität" des Begriffs und
der Anschauung, der Seele und des Leibs, der Subjektivität und der Ob­
jektivität. Im System der Sittlichkeit ist das Problem der Sprache offenbar
nur ein Einzelfall der Behandlung des allgemeineren, grundsätzlicheren
Problems, das Hegel in jener Zeit mit Schelling stellt: das Problem der

34 /. G. Herder: Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft.
Erster Theil. 1799. In; Sämmtliche Werke. Bd 21. 62 f; das folgende ebd. sowie 66 f.
55 Vgl. hier A. Reckermann: Sprache und Metaphysik. Zur Kritik der sprachlichen Vernunft
bet Herder und Humboldt. München 1979.
36 Vgl. hier z B. A. Koyré: La philosophie de Jacob Böhme. 3. Aufl, Paris 1979, insbes. 275,
Anm. 8.
37 Vgl. G. W. F. Hegel: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie. Leipzig 1913. 430 ff.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 43

Konstitution einer philosophischen Wissenschaft, die die kausale, physi­


kalische Methode der Naturwissenschaften mit der Reflexion der Tran­
szendentalphilosophie vereinbaren, und dabei eine Erkenntnis des Ab­
soluten ermöglichen würde. Scheu ing ist über diesen Zusammenhang,
in welchem es gilt, das Problem der Sprache zu stellen, äußerst klar: in
den Vorlesungen, die er in Jena während jener Jahre (1802/03) über die
Philosophie der Kunst gibt, betont er - und dies in einer viel eindeutigeren
Weise, als Herder es je getan hatte - daß das Problem der Sprache kein
empirisches oder psychologisches, sondern eher ein philosophisches
Problem sei. Was der Philosoph klären sollte, schreibt er, ist nicht der
historische Ursprung der Sprache, eher „der Ursprung der Sprache in
der Idee ... und in diesem Sinn entspringt die Sprache noch immer
ebenso wie das Universum auf unbedingte Weise durch die ewige Wir­
kung des absoluten Erkenntnißakts, der aber in der vernünftigen Natur
die Möglichkeit findet, sich selbst auszusprechen."38 Die Sprache, be­
hauptet er noch im selben Passus, ist „das entsprechendste Symbol der
absoluten oder unendlichen Affirmation Gottes", und „aus diesem
Grunde hat nicht nur in den meisten Sprachen Sprache und Vernunft
(welche eben das absolute Erkennen, das Erkennende der Ideen ist) ein
und denselben Ausdruck, sondern auch in den meisten philosophischen
und religiösen Systemen, vorzüglich des Orients, ist der ewige und ab­
solute Akt der Selbstaffirmation in Gott – der Akt seines ewigen Schaf­
fens - als das sprechende Wort Gottes, der Logos, der zugleich Gott selbst
ist, bezeichnet worden." Schelling stellt also das Problem der Sprache
im Zusammenhang einer Logos-Theologie dar. Wenn er die Sprache als
Logos kennzeichnet, will er behaupten, daß sie das „Aussprechen" Got­
tes ist und zwar in einem doppelten Sinn des Wortes „Aussprechen": sie
ist Wort, d. h. verbaler oder symbolischer Ausdruck. Sie ist aber auch
schaffende Macht — die Macht selbst, durch welche die Welt geschaffen
wird. Durch seine Auffassung dieser schaffenden Macht Gottes will
Schelling das „All-Eins" Problem, das Grundproblem des Pantheismus­
streites, aber auch das Problem der Sprache lösen: verstehen, wie das
Eine sich besondert, das Unendliche endlich wird, wird uns auch erlau­
ben, zu klären, wie ein Wort einen Sachverhalt bezeichnen kann, ohne
mit ihm identisch zu sein - oder, anders gesagt, was Symbolismus ist.

38 F. W. J. Schelling: Sämmtliche Werke. Abt. 1. Bd 5. 485 f; zum folgenden vgl 483.


44 Myriam Biimnstock

Hegels Jenaer Ausführungen über die Sprache gehören zu derselben


Problematik39: seine Charakterisierung der „tönenden Rede", im System
der Sittlichkeit, als Logos40 kann man nicht verstehen, ohne die Bedeutung
des Identitätsprinzips, das er zusammen mit Schelling annimmt, zu er­
hellen. Sein Argument von 1803/04 über die Sprache sollte man in den­
selben Zusammenhang stellen. Dieser Schluß ist wesentlich. Ein Punkt
wird hier genügen, um seine Bedeutung klar zu machen: in seinem Ar­
gument von 1803/04 erwähnt Hegel den biblischen Text der Genesis über
Adams Benennung der Tiere. Nichts ist einfacher, als in dieser Erwäh­
nung ein Beispiel zu sehen, das Hegel mehr oder weniger zufällig ge­
wählt hätte, um ein seiner Struktur und seinem Zweck nach ganz mo­
dernes Argument über die Bildung allgemeiner Begriffe aus unserer
sinnlichen Wahrnehmung zu erläutern. Eine solche Lektüre würde aber
den Sinn und die Tragweite dieses Arguments völlig verfehlen. Hinter
Hegels Erwähnung steckt Jakob Böhmes damals häufig diskutierte These
einer „adamitischen" Sprache oder „Natursprache": ob Adam den Tie­
ren einen Namen gibt, der einem von Gott selbst gewährten Wese« ent­
spricht, oder ob er eher willkürliche Bezeichnungen erfindet, die seine
freie Schöpfungsfähigkeit erweisen; ob eine Sprache also eine „Natur­
sprache", welche der Natur entspricht, oder ein willkürliches Zeichensy­
stem ist. Zwar ist es nicht klar, ob Hegel Böhmes eigene Schriften in Jena
schon gelesen hatte. Eine indirekte Kenntnis der Ideen dieses Autors
besaß er aber sicherlich.41 Als er den Satz der Genesis erwähnt, demzufol­
ge Adam den Tieren einen Namen gibt, und dadurch seine Herrschaft
über sie erweist, will er sicherlich behaupten, daß die Sprache vom Men­
schen frei erfunden und in dieser Hinsicht weit entfernt ist, der Natur
einfach zu entsprechen: in den Fragmenten von 1803/04 behauptet er39.

Schon in Frankfurt, in seinem Manuskript über den „Geist des Christentums und sein
Schicksal", hatte Hegel den Anfang des /ofainnes-Evangeliums benutzt, um die Bedeutung der
„Reflexionssprache" zu klären, in welcher unsere Urteile formuliert sind (vgl. Werke: Theorie
Werkausgabe Bd 1. 373 ff). Wie das Zeugnis von Rosenkranz zeigt, führt er in seiner Jenaer
Periode dieselbe Meditation fort: nach Rosenkranz liebte es Hegel in jener Zeit, „das Erschaf­
fen des Universums als Aussprechen des absoluten Wortes und das Zurückgehen des Univer­
sums in sich als Vernehmen desselben darzustellen, so daß Natur und Geschichte zu dem als
Anderssein selbst verschwindenden Medium zwischen dem Sprechen und Vernehmen wur-
den."(K. Rosenkranz: Hegels Leben. Nachdr. Darmstadt 1977. 193.)
40 Schriften zur Politik. 431
41 Rosenkranz bringt Exzerpte derselben Jahre, in welchen Hegel eine Auseinanderset­
zung mit Böhme führt (Hegels Leben, 545–548). Über Hegels Kenntnis von Böhme in Jena
vgl. auch H. Kimmerle: Zur Entwicklung des Hegelschen Denkens in Jena. In: Hegel-Tage Urbino
1965. Hrsg. v. H.-G. Gadamer. Bonn 1969. (Hegel-Studien. Beiheft 4.) 33-47, hier 42 f; und
H. Schneider: Anfänge der Systementwicklung Hegels in Jena. In: Hegel-Studien. 10 (1975),
133-171, hier 159-164.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 45

ausdrücklich, daß die Sprache dem Menschen — oder, genauer gesagt,


dem Bewußtsein - eine ideale Herrschaft über die Natur gibt.42 43 Im selben
Text betont er aber auch, daß Adam Namen gibt, und daß diese keine
einfachen Zeichen sind. Die Bedeutung der Namen, schreibt er, ist nicht
nur subjektiv, in der Meinung jedes Individuums, sondern auch „an
sich, bleibend" (GW6.288). Eine Sprache ist aus Namen gemacht, die ihr
eine ideale, von der subjektiven Meinung jedes Individuums unabhängi­
ge Existenz gewähren. Die Alternative ,Natursprache oder Zeichensy­
stem?' lehnt Hegel also ab, um die Sprache als erste, theoretische „Form
der Existenz des Geistes" zu bestimmen (GW6.280).
Es wäre ungenügend und grundsätzlich falsch, diese Sätze so zu inter­
pretieren, als wollte Hegel in ihnen einfach sagen, daß die Zeichen, aus
denen eine Sprache gemacht ist, keine individuelle Erfindung, eher eine
kollektive, soziale Schöpfung sind, und deswegen eine vom Individuum
unabhängige Existenz haben. Zwar betont Hegel in den Fragmenten von
1803/04, daß „die Sprache nur ah Sprache eines Volks ist" (GW 6.318). Er fügt
aber sofort hinzu, daß Verstand und Vernunft denselben Status haben:
schon dieser Zusatz zeigt, daß er etwas ganz anderes behaupten will, als
den sozialen, kollektiven Charakter der sprachlichen Zeichen. Für ihn ist
offenbar eine Sprache viel mehr als ein Instrument, das in einer gewis­
sen Gesellschaft einen eindeutigen Gebrauch der verbalen Zeichen, der
Wörter, und damit den sozialen Verkehr erlaubt: sie ist vom „Volk",
vom Leben des Volkes in demselben Sinne geprägt, in welchem Ver­
stand und Vernunft von ihm geprägt sind. Hegel schreibt, daß die Spra­
che „die ideale Existenz des Geistes" ist, „in welcher er sich ausspricht,
was er seinem Wesen [nach) und in seinem Seyn ist" (ebd.): für ihn ist
also die Sprache eher das „Aussprechen" eines Inneren als ein konven­
tionelles Zeichensystem.
Welche ist aber die Natur der Macht, der Kraft oder der „Energie", die
es dem Geist ermöglicht, sich auszusprechen? Mit Herders Antwort auf
diese Frage ist Hegel, wie wir schon gesehen haben, nicht zufrieden.
Eher wendet er sich direkt an Aristoteles: schon für diesen war die Spra­
che, als Logos, viel mehr als ein Instrument, das die Menschen entbehren
könnten. Am Anfang der Politik hatte Aristoteles behauptet, daß der
Logos den Menschen genauso wesentlich ist, als die Vernunft selbst; und
dies, weil er dasjenige ist, das ihnen erlaubt, sich über den Endzweck

42 Vgl GW 6, 280. In den Vorlesungsmanuskripten über die Philosophie des Geistes von
1805/06 ist diese These noch viel klarer ausgedrückt (vgl. GW 8. 188 f). Sie ist aber schon in
den Texten der Jahre 1803/04 formuliert
46 Myriam Bienenstock

ihres Lebens, ihr telos, zu verständigen. Als Hegel in seinen Vorlesungs­


fragmenten von 1803/04 die Sprache auf das Leben eines Volkes bezieht,
will er offenbar diese Auffassung aufgreifen: was sich in der Sprache
eines Volkes „ausspreche", sei nichts anderes als dieses telos. In wel­
chem Sinn kann aber die Konzeption, die Hegel sich in den Fragmenten
von 1803/04 von der „Thätigkeit" des Volkes macht, das Problem der
Sprache lösen?
Es ist bemerkenswert, daß Hegel in seinen Vorlesungen von 1803/04
diese Tätigkeit auf das „Bewußtsein" bezieht: als er sich zum Zweck
stellt, das Verhältnis des Individuums zur Sprache zu klären, behauptet
er, daß die Vorstellung dieses Verhältnisses als eines instrumentalen auf
einer fehlerhaften Konzeption des Bewußtseins beruht: derjenigen der
Reflexionsphilosophie. Es wäre falsch, schreibt er, zu glauben, daß die
Sprache einfach unter der Herrschaft des Individuums, zu seiner Verfü­
gung steht: „das Individuum steht als Einzelnes Vielmehr unter ihrer
Herrschaft, als sie unter der seinigen. Aber es ist hier überhaupt kein
Verhältniß der Herrschaft des Individuums, oder gegen das Individuum,
sondern das Individuum ist nur eine formale Seite des Gegensatzes, das
Wesen aber ist die Einheit von beyden Seiten, und diese Einheit ist das
Bewußtseyn" (GW6.278 f). Im Gegensatz zu aller „Reflexionsphiloso­
phie", welche die Sprache als ein Objekt bestimmt, das ein Subjekt - ein
Individuum, oder genauer gesagt ein individuelles Bewußtsein — belie­
big benutzen könnte, um seine Gedanken anderen mitzuteilen, behaup­
tet also Hegel, daß das individuelle Bewußtsein immer schon in der
Sprache ist, daß es in seinem „Wesen" selbst von der Sprache geprägt
ist.43 Diese Behauptung gründet er auf eine originelle Konzeption des
Bewußtseins - des Bewußtseins als „Wesen". Um seine Lösung des Pro­
blems der Sprache zu verstehen, ist also die Bedeutung dieser Konzep­
tion zu untersuchen - was im dritten und letzten Teil dieses Aufsatzes
versucht wird.

*3 Die Unterscheidung, die W. Benjamin in seinem Aufsatz Über Sprache überhaupt und über
die Sprache des Menschen (In: Gesammelte Schriften. Bd 2,1. Hrsg, von R. Tiedemann und
H. Schnapphausen. Frankfurt 1977. 140 -157) zwischen „Mitteilung durch die Sprache" und
„Mitteilung in der Sprache" macht, drückt Hegels Gedanken vorzüglich aus.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 47

III.
Im Zusammenhang einer erneuten Auseinandersetzung mit dem Dilem­
ma Idealismus/Realismus erklärt Hegel, in welchem Sinne seine Konzep­
tion des Bewußtseins als „Wesen" das Problem der Sprache lösen kann:
mit dieser Bestimmung gilt es, schreibt er, das Bewußtsein als „Einheit"
und „Mitte" des „Subjektiven" und „Objektiven" zu verstehen. Das Be­
wußtsein ist aber eine solche Einheit, weil es „die Bewegung selbst" ist:
„es ist in ihm selbst die Bewegung eines thätigen gegen ein passives;
aber als die Bewegung selbst ist es das Eins in welchem der Gegensatz
nur ideell an sich ein aufgehobener ist" (GW 6.290 f). Hegel will also das
Dilemma Idealismus/Realismus mittels einer Konzeption der Bewegung
lösen: den Empfindungsprozeß erklärt er durch die Bewegung, welche
die Tätigkeit des Bewußtseins bestimmt. Mit dieser Erklärung will er,
wie schon am Anfang dieses Aufsatzes bemerkt wurde, von Fichtes Auf­
fassung des Bewußtseins Abstand nehmen. Obwohl das Programm ei­
ner „Geschichte des Selbstbewußtseins", das Schelling schon in den
Jahren 1796/97 entworfen hatte, Hegel zweifellos den Rahmen gibt, in
welchem er seine eigene Konzeption des Bewußtseins entwickelt, ist es
aber auch deutlich, daß er sich mit ihr von Schelling distanziert. Die
zumindest äußere Ähnlichkeit des Satzes, den wir soeben zitiert haben,
zu Aristoteles' Behauptung in De Anima (II, 5; 417 a 18), in der Empfin­
dung solle man „Passivität" und „Aktivität" als „eines und desselben"44
betrachten, da die Bewegung „eine unvollkommene Tätigkeit"45 sei, ist
aber auffallend; und macht die Prüfung seines derzeitigen Verhältnisses
zu Aristoteles notwendig. Im Folgenden wird diese Prüfung als Leitfa­
den eines Versuches dienen, die Bedeutung von Hegels damaligem Be­
griff des Bewußtseins zu klären.
Das Studium der Art, in welcher Hegel seine Konzeption der Bewe­
gung entwickelte, würde weit über die Grenzen dieses Aufsatzes führen
und kann hier nicht unternommen werden. Doch ist es wichtig zu be­
merken, daß Hegel schon in seiner Dissertation von 1801 - und vielleicht
noch früher - das physikalische Problem der Bewegung mit großer Auf­
merksamkeit untersuchte.46 In dieser Untersuchung spielte die Ausein­

44 So übersetzt Hegel diesen Satz in der Darstellung, die er von Aristoteles' Bestimmung
der Empfindung in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gibt (Werke. Theorie
Werkausgabe. Bd 19. 205).
45 Hegels Übersetzung: ebd. 182.
* Dissertatio philosophica De Orbitis Planetarum. Jena 1801. In: Erste Druckschriften. Hrsg,
von G. Lasson. Leipzig 1928. 347-401. Über Hegels Auseinandersetzung mit Newton, ins-
48 Msriam Bienenstock

andersetzung mit Newtons „mechanischer" Konzeption sicherlich eine


entscheidende Rolle: gegen Newtons Konzeption der Bewegung, welche
die Materie als bewegungslosen Stoff bestimmt, an den entgegengesetz­
te Triebkräfte herangebracht sein würden, behauptete Hegel schon in
seiner Dissertation von 1801, daß die Materie selbst eine Einheit entge­
gengesetzter Kräfte - d. h., in einem gewissen Sinne, in Bewegung –
sei.47 Welchen Einfluß ältere Quellen - insbesondere Platos Timaios —
auf die Gestaltung dieser originellen Auffassung des Verhältnisses zwi­
schen Bewegung und Materie hatten, ist problematischer.48 Es wäre aber
besonders wichtig zu klären, ob Hegel sich in dieser Hinsicht von Gior
dano Bruno - oder, genauer gesagt, von denjenigen Auszügen aus Bru
nos Schrift Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, die Jacobi in einer
„Beylage" zur zweiten Auflage seiner Briefe über die Lehre des Spinoza
zitiert hatte49 - beeinflussen ließ. Denn es ist diese Auffassung, auf die
Schelling sich in seiner damals veröffentlichten Schrift Bruno (1802)50
ausdrücklich berief, um das Verhältnis Körper/Seele zu klären und damit
das Problem Idcalismus/Realismus zu lösen; und die Zusammenarbeit
zwischen den zwei Freunden war in jenen Jahren sehr eng: die Tatsache,
daß Schei ling in einer Anmerkung zu seinem Bruno Hegels Dissertation
zustimmend erwähnt, ist hier besonders aufschlußreich.
Mittels einer Gestalt seines Gesprächs, die er „Alexander" nennt, be­
hauptete Schelling, daß Bruno eine „Lehre von den Alten" wieder zur
Geltung gebracht hat, derzufolge „die wahre Idee der Materie ... die
Einheit des göttlichen und natürlichen Princips selbst, schlechthin ein­
fach also, unwandelbar, ewig" ist. Schon Plato, schrieb er, habe sich
geirrt, indem er „unter Materie das bloße Subjekt der natürlichen und
veränderlichen Dinge" verstand. Spätere Autoren haben einen noch
schlimmeren Fehler begangen, indem sie „Materie" und „Körper" ein­
fach verwechselten. Damit haben sie eine Position eingenommen, die
das Verständnis des Verhältnisses zwischen Seele und Körper unmög­
lich macht: die Idee der Materie, betont „Alexander", „liegt nicht da, wo
sich Organisches und Unorganisches schon getrennt haben, sondern in

besondere während jener Jahre, vgl. H. Kimmerle: Das Problem der Abgeschlossenheit des Den­
kens Hegels „System der Philosophie" in den Jahren 1800-1804. 2. erw. Aufl. Bonn 1982.
137—146; H. S. Harris: Hegd's Development. Night Thoughts (Jena 1801/l802»), Oxford 1983.
74-101, 238-298; N. Waszek: The Scottish Entightenment and Hegel's Account of Civil Society".
Dordrecht, Boston, London 1988. 38-54.
47 Vgl. z. B. H. S. Harris (wie Anm. 46). 85.
« Vgl. hier H. S. Harris, 92 f
* Vgl. F. H. Jacobi Werke. Bd 4,2. 5-46.
50 F. W. J Schelling: Sämmtliche Werke. Bd 3. 110-228; zum folgenden vgl. 226, 206 f,
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 49

dem, worin sie beisammen und eines sind. Welcher Punct aber eben
deßwegen nicht mit sinnlichen Augen, sondern nur mit Augen der Ver­
nunft zu erblicken ist". Aus diesen Sätzen kann man folgern, daß die
Stellung, die Schelling über das Problem des Verhältnisses Seele/Körper
annimmt, von Platos eigener Position zu unterscheiden ist - auch
wenn Schelling sich in seinem Bruno ausdrücklich auf eine PLATonische
Inspiration beruft.51 In einer Anmerkung zu seiner Schrift betont übri­
gens Schelling, daß seine Position sich auch von Brunos Position unter­
scheidet: wo Bruno „die Seele und die Form eines Dings für identisch
erklärt, wodurch es ihm unmöglich wird, den höchsten Punkt der Indif­
ferenz zwischen Materie und Form mit durchgängiger Klarheit zu ge­
winnen", sollte man eher die Position annehmen, die „Alexander" ent­
wickelt, als er „die Seele selbst als den Einen Gegensatz in der Form
behauptet, sonach der Form unterordnet". Denn die Seele — so schreibt
Schelling im Haupttext des Bruno, - „da sie nur durch den relativen
Gegensatz mit dem Leibe, also überhaupt nicht an sich ist, erscheint nur
durch diesen Gegensatz". Sie ist zwar „von der Natur des an und für
sich Unendlichen", und als solche „ein Theil der unendlichen Möglich­
keit, die in Gott ohne Zeit wirklich ist". Sie ist aber mit dem Leibe, d. h.,
mit einem endlichen, einzelnen existirenden Ding unmittelbar ver­
knüpft: sie ist „der Begriff" dieses Dinges und, als solche, endlich und
der Dauer unterworfen. Durch diese „gedoppelte Ansicht der Seele",
will Schelling „den Ursprung des Bewußtseyns aus der Idee * des Ewigen
selbst und seiner innern Einheit abgeleitet haben, ohne einigen Ueber­
gang vom Unendlichen zum Endlichen zuzugeben oder anzunehmen".
Die Frage, ob diese Auffassung — die deutlich gegen Fichtes Konzep­
tion des Bewußtseins gerichtet ist - letzten Endes Spinozas Auffassung
des menschlichen Geistes im zweiten Teil der Ethik näher steht als Pla
tos Konzeption der Seele, braucht uns in diesem Aufsatz nicht weiter zu
beschäftigen. Zu unserem Zweck genügt es zu bemerken, daß sie sich
von Hegels eigener Auffassung in seinen Vorlesungen von 1803/04
grundsätzlich unterscheidet - auch wenn Hegel Schellings Opposition
zu Fichtes Konzeption völlig teilt: Reinholds, Kants, aber auch Fichtes
„psychologischer Idealismus" ist das Ziel von Hegels Kritik, wenn er
schreibt, daß das Bewußtsein „nicht als das bloß innere der Individuen
oder wie die Momente des Gegensatzes in den Individuen als solchen
erscheinen, als verschiedene Vermögen Neigungen und Leidenschaften

51 Vgl. das Molto des Bruno und auch z. B. Schelling: Sämmtliche Werke, Bd 3. 121, 129; zum
folgenden ebd. 226 f, 177-181, 178.
50 Myriam Bienenstock

u. s. w. die sich auf besondre Gegenstände als auf bestimmte Begriffe be­
ziehen", erkannt sein muß, sondern als „Wesen beyder" Seiten: der Sei­
te der individuellen Leidenschaften und Neigungen, und der Seite, dem
die Individuen sich entgegensetzen (GW6.271f). Nach Hegel ist aber
„das Wesen des Bewußtseyns, daß unmittelbar in einer ätherischen Identi­
tät absolute Einheit des Gegensatzes sey" (GW6.273): eine Formulie­
rung, die seine mit Schelling gemeinsame Annahme des Identitätsprin­
zips klar ausdrückt.
Schon in seiner Bestimmung der „absoluten Materie" als „Äther"52
könnte man eine Distanzierung von Schellings Konzeption der Materie
finden.53 Hegels Originalität kommt aber in der Art, in welcher er seine
Konzeption der Bewegung benutzt, klar hervor: es ist bemerkenswert,
daß er sich auf nichts anderes als auf diese Konzeption der Bewegung
beruft, um den Prozeß der Empfindung zu klären. Nach ihm ist die
Empfindung „die Bewegung überhaupt", die im Tier „sich selbst ideell"
wird: „Im organischen überhaupt", schreibt er, „in der Pflanze existirt
das ineinander gefallenscyn der beyden Bewegungen der [die] sich auf
sich selbst und die sich auf andres bezieht; und in ihrer Indifferentii
rung, indem sie eins [werden], die Bewegung überhaupt; im Thiere
fängt diese Bewegung an, sich selbst ideell zu werden und in die Mo­
mente ihres Begriffes sich zu zerlegen; sie existirt im Thiere als Zeit"
(GW6.242). Das Tier, fügt Hegel am Rande dieses aufschlußreichen Pas­
sus hinzu, „wird nicht Herr der Zeit". Erst der Mensch erwirbt diese
Herrschaft: in ihm wird die Zeit Raum. Die Struktur der Bewegung ist
aber bei beiden dieselbe - genau dieselbe eigentlich wie diejenige, die
im „absoluten Bewußtseyn" stattfindet: eine „ewige Bewegung des zu
sich selbst werden eines, in einem andern, und des sich anders werden
in sich selbst" (GW6.314). Kein Wunder also, daß die Empfindung das
Mittel oder die „Mitte" par excellence ist, die das animalische Leben zum
Bewußtsein erhebt: sie fängt im Animalischen an, in welchem sie den

M GW 6. 220, 183. Vgl. auch zwei Stellen (277 und 315), wo Hegel „das absolute Element
des Äthers" als Element des „Bewußtseyns", d. h. für ihn des „Geistes", bestimmt.
W Vgl, hier H. S. Harris (wie Anm. 46), 240 f und 240 Anmerkung 1. Vgl. auch Harris' in
gewissem Maße Überspannte Vermutung, Hegels Behauptung von 1803, „der reine durch­
sichtige Äther... in sich das Erkennen, das sich unendlich in sich gestaltet" sei (206; Harris
zitiert aus GW 5. 369), wäre eine Assimilierung des Äthers zum Aristotelischen Geist, der
nach De Anima III, 5 der Materie ähnlich ist, indem er zu allem wird. Über Hegels damalige
Konzeption der Materie, s. auch J. L. Vieillard-Baron: La nottön de matiere et le maieriaiisnte vrai
selon Hegel et Schelling ä l'eyoque d'lena. In: Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die
Zusammenarbeit mit Schelling. Hrsg, von D. Henrich und K. Düsing Bonn 1980. (Hegel-
Studien. Beiheft 20.) 197-206.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 51

Prozeß der Ernährung — den Hegel merkwürdigerweise auch als „Pro­


zeß der Individualität" bezeichnet. Sie bestimmt aber auch den Prozeß
der Gattung (GW6.241 ff) und bildet sich dann als System der Sinne
(GW6.243 f) - als dasjenige System also, welches das organische Leben
im allgemeinen, aber auch, letzten Endes, das theoretische Leben der
Menschen und das Erkennen ermöglichen wird.
Hegels Beschreibung des Weges, auf welchem das Bewußtsein sich
aus der Empfindung und, mit ihr, aus der tierischen Organisation er­
hebt, hat zu jenem Zeitpunkt keine Parallele, weder bei Fichte noch bei
Schelling. Eher nähert sie sich der Beschreibung, die Aristoteles in sei­
ner Schrift De Anima (II, 1-3) vom organischen Leben gibt, um seine
eigene Definition der Seele zu begründen54: schon für Aristoteles war
das Tier ein lebendes Wesen dank seinem Empfindungs- oder Wahrneh­
mungsvermögen55; einem Vermögen, das Aristoteles — wie oben er­
wähnt - durch seine Konzeption der Bewegung erklären wollte. Aus
diesem Vergleich kann man selbstverständlich nicht folgern, daß Hegels
Konzeption der Bewegung und demzufolge der Empfindung der aristotelischen
Auffassung treu geblieben ist: auch wenn Hegel mit dem Ge­
danken einer Materie, die nicht nur mit der Form unauflöslich verbun­
den wäre, sondern auch immer in Bewegung und, vielleicht, die Bewe­
gung selbst wäre, Aristoteles sehr nahesteht56, gilt es an zu erkennen,
daß seine Konzeption der Bewegung sich von der Aristotelischen grund­
sätzlich unterscheidet. Dieser Unterschied ist durch eine genauere Prü­
fung des oben zitierten Passus aus De Anima (417 a 18) klar herauszustel
len: bei Aristoteles handelt es sich in diesem Passus darum, eine gewis­
se Analogie zwischen der kinesis oder „Bewegung", die in der Empfin­
dung stattfindet, und der göttlichen energeia oder „Wirklichkeit", hervor­
zuheben. Diese Analogie ist aber nichts weiter als eine Metapher, und
sollte uns nicht hindern anzuerkennen, daß die göttliche energeia eigent­
lich keine Bewegung enthält, sondern jenseits aller Bewegung ist.57
Schreibt Hegel aber in den Fragmenten von 1803/04, das Bewußtsein als
Bewegung sei „das Eins in welchem der Gegensatz nur ideell an sich ein
aufgehobener ist", so will er nichts anderes als das Identitätsprinzip be­

M In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Werke. Bd 19. 202 ff) wird Hegel
bekanntlich diese Seiten aus De Anima lobend erwähnen.
» De Anima II, 2: 413b 2–3.
Über das Verhältnis Materie/Bewegung bei Aristoteles und Hegel vgl. hier vor allem
G. Picht: Aristoteles’ „De Anima“. Stuttgart 1987. 296-300.
37 Vgl, hier insbesondere P. Aubenque: Hege! et Aristote. In: Hegel ei la pensfy grecque. Hrsg,
von J. D'Hondt. Paris 1974. 103-108; 114 f.
52 Mw am Bienenstock

haupten: gegen die Reflexionsphilosophie, welche den Gegensatz zwi­


schen Subjekt und Objekt, Denken und Sein festhält, behauptet Hegel,
daß die Empfindung eher die „Identität" beider bekundet. Wie schon
oben erwähnt, ist für ihn die Struktur der Bewegung, die in der Empfin­
dung stattfindet, mit derjenigen der „Thätigkeit" oder „Wirklichkeit" des
Geistes identisch.
Es ist auffallend, wie nahe Hegels Explikation der Empfindung in den
Fragmenten von 1803/04 der Darstellung kommt, die er viel später, in
seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, der aristotelischen
Konzeption geben wird: in diesen Vorlesungen wird Hegel den aristotelischen,
„ganz richtigen Standpunkt der Empfindung" dem „schlechten
Idealismus, der meint, die Passivität und Spontaneität des Geistes liege
darin, ob die gegebene Bestimmtheit innere oder äußere sei", gegen­
übersetzen.58 Schon in den Jahren 1803/04 hatte er den „Standpunkt des
Gegensatzes wo sich der sog. Realismus und der sog. Idealismus bilden
und sich darüber [entzweyen] entweder ob nemlich dieß, daß etwas Far­
be ist, im Object oder im Subject in der Seite der Thätigkeit oder der Seite
der Passivität des Bewußtseyns gegründet ... seyen", einem Standpunkte
entgegengesetzt, für welchen das Bewußtsein „Wesen" wäre, d. h.
„Geist" (GW6.291 ff).
Aus dieser letzten Bezeichnung allein kann man selbstverständlich
nicht folgern, daß Hegel schon in Jena Aristoteles' Auffassung hervor
heben wollte. Die Aristotelische Definition der Seele als „Substanz, aber
Substanz nur nach dem Begriff"59, kommt aber Hegels damaliger Be­
hauptung erstaunlich nah, das Bewußtsein sei „der Begriff des Geistes"
(GW6.266) — eine Nähe, die den Leser dazu führen sollte, sich zu fra­
gen, ob Hegel nicht schon in jenen Jahren „den Sinn jener Aristotelischen
Bücher" über die Seele aufschließen wollte, um „den Begriff in die
Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen"60: wie in den zwei ersten
Teilen dieses Aufsatzes gezeigt wurde, hatte sich Hegel schon während
der ersten Jahre seines Aufenthaltes in Jena diese Aufgabe gestellt. Er
hatte die Worte „Kraft" oder „Urkraft", durch welche Zeitgenossen wie
Herder die „Energie" des Geistes ausdrücken wollten, zur Lösung des
Grundproblems der Geistesphilosophie für ungenügend erklärt. Diese
Lösung glaubt er jetzt in Aristoteles' „Begriff" oder Logos zu finden; und

81 Werk. Theorie Werkausgabe. Bd 19. 206.


w Hegels Übersetzung in den Vorlesungen: siehe Werke. Bd 19. 201. Vgl. De Anima II, 1:
412b 10.
® Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. § 378.
Zu Hegels erstem Begriff des Geistes 53

es wäre ganz verständlich, daß er dann einen unmittelbaren Zugang zu


Aristoteles' Schriften suchen würde.
Ein Vergleich zwischen der Aristotelischen Meditation über die Fähig­
keit des Logos, das „Sein" auszusprechen61, und Hegels eigener Refle­
xion über die Grenzen der menschlichen Sprache kann in diesem Auf­
satz nicht unternommen werden. Es ist aber wichtig anzumerken, daß
Hegel zweifellos an Aristoteles denkt, wenn er in seinen Manuskripten
von 1803/04 behauptet, daß die Sprache nur in einem Volke, als „Werk
eines Volks", zur „bedeutenden Sprache" wird, d. h. „zu dem was sie
an sich, ihrem Begriff nach ist" (GW6.318 f). Die Vermutung liegt nahe,
daß er sich in seiner Erörterung der menschlichen Sprachfähigkeit des
Unterschieds bedienen will, den Aristoteles in seinem Werk De Anima
zwischen einem „potentialen" Wissen (als Dynamis) und dem „wirkli­
chen" Wissen (als Energeia) entwickelt. In diesem Kontext ist es beson­
ders bemerkenswert, daß Hegel in den Jahren 1803/04 auch schreibt, der
Begriff des Bewußtseins müsse „sich realisiren" (GW6.270). Nach ihm
muß das Bewußtsein „absolutes Bewußtseyn" oder „absoluter Geist ei­
nes Volkes" werden, d. h. „das absolut allgemeine Element, der Ät­
her ... die absolute einfache lebendige, einzige Substanz", die „ebenso die
thätige Substanz seyn muß" (GW6.315): in diesem Passus kann man
schon den Ansatzpunkt seiner späteren, „spekulativen" Interpretation
von De Anima 111, 4-5 sehen, derzufolge der „passive" Nus mit der „Na­
tur", d. h. mit dem „An-sich" des Geistes, der „aktive" Nus aber mit der
„Wirklichkeit" Gottes, der sich selbst denkt, identifiziert wird.62 Da sich
in der neueren Hegel-Forschung zu dieser Interpretation schon gediege­
ne und systematische Analysen finden63, wird es hier nicht nötig sein,
im einzelnen zu zeigen, auf welchen Umdeutungen der aristotelischen
Begriffe - u. a. „Materie" und „Form", „Möglichkeit" und „Wirklich­
keit", „Bewegung" und „Tätigkeit" — diese Interpretation beruht. Zum
Schluß soll jedoch betont sein, daß es sicherlich ungenügend wäre, in
dieser Interpretation ein Beispiel der modernen „Subjektivitätsphiloso­
phie" zu sehen. Vielmehr kann unsere Hypothese, derzufolge Hegels
Rezeption von De Anima das Ergebnis seiner Jenaer Diskussion mit der
„Reflexionsphilosophie" war, ihren eigentlichen Sinn eröffnen: einer der

Siehe hier insbesondere P. Aubenque: Le probleme de l'etre chez Aristote. 94 - 250.


42 Vgl. z. B. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In: Werke. Theorie Werkausgabe.
Bd 19. 212-219.
63 Vgl. hier insbesondere K. Düsing: Hegel und die Geschichte der Philosophie; und H. Seidl:
Bemerkungen zu G. W. F Hegels Interpretation von Aristoteles' „De Anima" Hl 4.5 und ..Metaphy
sica" XII 7 u. 9 (s. Anm. 13).
54 Mvriam Bn'NENSTOCK

Hauptzwecke Hegels in jener Diskussion war, den „Subjektivismus"


und „Psychologismus" der Reflexionsphilosophie zu denunzieren. Sei­
ner Meinung nach war dieser Subjektivismus eine unvermeidbare Folge
der Konzeption des Bewußtseins, die alle Vertreter der Reflexionsphilo­
sophie teilten. Die heute geläufige Behauptung, man könne aus seiner
Aristoteles-Interpretation schließen, daß seine eigene Philosophie letz­
ten Endes nichts anderes als eine Philosophie der „absoluten Subjektivi­
tät"64, somit eine „Bewußtseinsphilosophie" sei, müßte man also noch
einmal prüfen: es könnte wohl der Fall sein, daß eine solche Interpreta­
tion auf einem viel zu weiten und undifferenzierten Begriff der „Subjek­
tivität" beruht, der es nicht erlaubt, den eigentlichen Sinn des Hegel
schen philosophischen Unternehmens zu erhellen.

64 Vgl. hier M. Heidegger: Hegel und die Griechen. In: Die Gegenwart der Griechen im neueren
Denken. Festschrift für H. G. Gadamer zum 60. Geburtstag. Tübingen 1960. 43—57.

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