Gibt es eine
kulturelle Identität?
Nomos
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Yves Bizeul | Dennis Bastian Rudolf [Hrsg.]
Gibt es eine
kulturelle Identität?
Nomos
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1. Auflage 2020
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte,
auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Für Yves Bizeul
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Nachruf und Widmung
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Nachruf und Widmung
Der Tod von Yves Bizeul im August 2019 hat unser Institut und unseren
Lehrstuhl unerwartet getroffen und zutiefst erschüttert. Wir mussten von
einem verdienstvollen Kollegen, einem kreativen Geist und einem hochge-
schätzten Freund Abschied nehmen, der uns und das Institut seit seiner
Berufung an den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte
1995 nachhaltig geprägt und sich immer als fairer Spieler erwiesen hat.
In seiner wissenschaftlichen Laufbahn widmete sich Yves Bizeul vor al-
lem dem Verhältnis von Glaube und Politik, dem politischen Mythos und
der politischen Symbolik, der offenen und geschlossenen Gesellschaft so-
wie Fragen kollektiver Identität. Unsere Tagung „Gibt es eine kulturelle
Identität?“, die im Rahmen der Jahrestagung des Arbeitskreises „Politik
und Kultur“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft vom
12.-14. Juli 2018 in Rostock stattfand und welche die Grundlage für diesen
Sammelband bildet, brachte alle diese Themen zusammen und miteinan-
der ins Gespräch. Dennoch scheint uns diese Tagung gerade rückblickend
für mehr als das reine akademische Wirken unseres Professors zu stehen.
Denn Yves Bizeul wandelte selbst Zeit seines Lebens zwischen den Welten
und Gesellschaften, ihren mythischen Erzählungen und kulturellen Identi-
täten. Und Nichts könnte diesen Umstand wohl besser beschreiben als
eine kleine Anekdote, die er bereits 2009 in einer Gastkolumne des Rosto-
cker Stadt- und Kulturmagazins 0381 zu berichten hatte.
Dort lässt ihn ein Besuch bei seinem Stammfriseur, „einem echten
Mecklenburger“, darüber reflektieren, dass er selbst ein Entwurzelter sei,
„eine Mischung aus Schwabe und (Süd-)Bretone, geboren in Paris, lange in
Metz gelebt“, der - nach Stationen in Nancy, Tübingen, Strasbourg, Frei-
burg und Frankfurt am Main - nun doch endlich in Rostock heimisch ge-
worden ist. Seine mit Sicherheit schelmische Feststellung, dass er selbst
mittlerweile ja ein echter Rostocker sei, wollte sein Gegenüber indes so je-
doch nicht gelten lassen. „Die Frage stellt sich, ab wie vielen Jahren bzw.
Generationen man hier als ebenbürtig betrachtet wird?“. Auch wenn aus
dieser Formulierung durchaus eine gewisse Betroffenheit herauszuhören
ist, wirklich übel genommen hat Yves Bizeul ihm die Zurückweisung
wohl kaum. Vielmehr erkannte er darin eine grundlegende Gemeinsam-
keit zwischen den Mentalitäten der mecklenburgischen „Großstadt“ und
der französischen Provinz am Ende der Welt (dem Finistère): „Das Meer
scheint eher den Horizont zu verschließen als zu erweitern“. Diese Feststel-
lung war für ihn allerdings nie ein Grund zur Resignation. Ganz im Ge-
genteil: Für Yves Bizeul lag die Aufgabe des Hochschullehrers und des ci-
toyen nie allein in der Vermittlung von Wissen an den akademischen
Nachwuchs, sondern eben in der gesamtgesellschaftlichen Herausforde-
rung, „im Anregen zum kritischen Denken“ und „im Werben für die offe-
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Nachruf und Widmung
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Inhalt
„You can check out, but you can never leave.“ – Identitätsräume
zwischen Entgrenzung und Begrenzung 99
Olaf Jann
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Inhalt
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Einführung und Beschreibung der Beiträge
Der vorliegende Tagungsband1 Gibt es eine kulturelle Identität? geht auf die
gleichnamige Jahrestagung des DVPW-Arbeitskreises „Politik und Kultur“
zurück, die vom 12. bis zum 14. Juli 2018 an der Universität Rostock statt-
fand und vom hiesigen Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideenge-
schichte organisiert wurde. Der Titel des Sammelbands ist zwar als offene
Frage formuliert, die Veranstaltung jedoch sollte angesichts der weltweiten
Ausbreitung des Rechtspopulismus sowie illiberaler und antipluralisti-
scher Tendenzen die Gelegenheit geben, sich normativ und kritisch mit
diesem aktuellen Thema zu beschäftigen.
Der Begriff kollektive bzw. kulturelle Identität hat heute Hochkonjunk-
tur und wird von Politikern immer wieder zu Wahlkampfzwecken instru-
mentalisiert. So wurde in Frankreich unter Staatspräsident Nicolas Sarkozy
ein Ministère de l’Immigration et de l’Identité nationale (Ministerium für Im-
migration und nationale Identität) geschaffen. Sarkozy wollte 2009 durch
Anordnung von Oben eine breite Debatte zur nationalen Identität im ge-
samten französischen Territorium ins Leben rufen. Zu diesem Zweck gab
er den Präfekten in den einzelnen Départements die Anweisung, die Dis-
kussion zu lancieren und zu begleiten. Aufgrund der Weigerung der meis-
ten der angesehensten französischen Sozialwissenschaftler und Intellektu-
ellen, sich an dieser parteipolitischen Aktion zu beteiligen, ist Sarkozys
Idee allerdings gescheitert.
Heute trägt die rechtsextreme Identitäre Bewegung das Wort Identität in
ihrem Namen und nach eigener Aussage steht die AfD-Fraktion im Thü-
ringer Landtag für eine „Alternative zu dem Angriff auf unsere Identität,
unsere Kultur und unsere freiheitliche Lebensform“. Zugleich wurden in
der Bundesrepublik mehrere Heimatministerien gegründet. Donald
Trump bezeugt in den USA mit dem Motto America first seinen Willen, die
US-nationale Identität zu stärken. In Indien tobt derzeit ein Kampf um die
indische Identität, die zum Teil auf dem Rücken der dort lebenden Musli-
1 Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Valerian Thielicke für die kollegiale Un-
terstützung in den zurückliegenden Monaten und seine gewissenhafte Mitarbeit
am Lektorat des Sammelbandes.
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Einführung und Beschreibung der Beiträge
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Yves Bizeul und Dennis Bastian Rudolf
gang beinhaltet eine Vielzahl sozialer und kultureller Abläufe, die sich in
vielschichtigen und langwierigen Prozessen auswirken.
In den modernen Nationen werden historische Fakten und Mythen in
gewaltigen Narrativen zusammengehalten. Sie haben in jeder Nation eine
spezifische Gestalt und werden in einer bestimmten Art und Weise gedeu-
tet. Damit strebt man an, der eigenen Gruppe ein positives Selbstbild zu
vermitteln. Idenitätsnarrative schützen zudem bis zu einem bestimmten
Grad vor auseinandergehenden Einzelinteressen innerhalb einer Nation
und tragen dazu bei, Vielfältigkeit in eine Einheit zu verwandeln. Sie wird
zur Homogenisierung eigentlich heterogener sozialer Zusammenhänge
herangezogen.
Die Schließung der Wir-Identität nach Außen geschieht aber in unter-
schiedlicher Weise. Zum Beispiel mittels einer erfundenen gemeinsamen
Abstammung – zur Gesellschaft gehören dann nur diejenigen, die das rich-
tige „Blut“ vorweisen können bzw. das gleiche Kollektivgedächtnis teilen.
Die Identität kann aber auch durch den Rekurs auf eine gemeinsame Ideo-
logie bzw. auf ein gemeinsames politisches Bekenntnis bzw. belief system
erzeugt werden.
Hier haben wir erste Gründe für die defizitäre Auseinandersetzung mit
dem Fremden in der geschlossenen Gesellschaft. Dass der Umgang mit
dem „Fremden“ immer auch etwas über den Umgang mit sich selbst sagt,
zeigt sich im Falle der geschlossenen Gesellschaft in aller Deutlichkeit. In
ihr wird nicht nur die vermeintliche Fremdheit des „Fremden“ hervorge-
hoben und dieser als zersetzender oder zumindest als störender Fremdkör-
per betrachtet, darüber hinaus raubt eine solche Gesellschaft den Einzel-
nen ihre Autonomie und ihr Selbstwertgefühl. Sie schürt bei den Bürgern
(Untertanen) einen meist von den Einzelnen nicht wahrgenommenen
Selbsthass, der sich jederzeit gegenüber Fremden in Form von Gewalt äu-
ßern kann. So entsteht – vergleichbar mit einem erhitzten Schnellkochtopf
– ein Sammelbecken an Gewaltbereitschaft.
Die Auswüchse dieser gespeicherten Gewalt werden in der geschlosse-
nen Gesellschaft bewusst zum Zweck der Herrschaftssicherung eingesetzt.
In dieser Hinsicht ist es letztendlich irrelevant, ob die Gewalt durch das
System verherrlicht oder ob im Gegenteil offiziell für den Frieden gewor-
ben – dennoch zugleich militärisch hochgerüstet – wird. Selbst im letztge-
nannten Fall bleibt der Speicher an Gewaltbereitschaft immer gut gefüllt.
Außerdem trägt jenes durch das System erzeugte autoritäre Umfeld dazu
bei, in der Bevölkerung ein Klima der Aggressivität, der Verdächtigung
und des Misstrauens zu verbreiten.
Die kollektive Identitätskonstruktion fördert außerdem oft die Entste-
hung und die Verbreitung von Negativ-Stereotypen. Allerdings muss Ab-
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Einführung und Beschreibung der Beiträge
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Einführung und Beschreibung der Beiträge
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Einführung und Beschreibung der Beiträge
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Teil I: Theoretische Deutungen
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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber
unentbehrliches Konzept
Yves Bizeul
„Identifikation ist […] immer die Widerkehr eines Bildes der Identität,
welches das Kennzeichen der Spaltung innerhalb des Anderen Ortes/
Ortes des Anderen (Other place) trägt, von dem es herkommt.“
(Homi K. Bhabha)
1. Einleitung
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ler nicht von Identität, sondern eher von Identifikation sprechen. Identifi-
kation setzt keine substantielle Konsistenz voraus, sondern einen stets
durch Veränderungen gekennzeichneten psychischen bzw. psychosozialen
Prozess, aus dem die (trügerische und wissenschaftlich untragbare) Vor-
stellung einer dauerhaften Identität entsteht. Peter Wagner (1998) assozi-
iert „kollektive Identität“ mit den Gefahren des „Fest-Schreibens“ sowie
des „Still-Stellens“ und für Zygmunt Bauman kann sie „nur als ein Prob-
lem existieren“ (1997, S. 134). Während Jacques Derrida (1992) die Identi-
tät dekonstruieren will und von einem Problem bzw. „Ärger“ (trouble) der
Identität spricht, sieht Jean-Luc Nancy (2010) in ihr keine dauerhafte und
lokalisierbare Erscheinung, sondern den Gegenstand von Sehnsüchten
und eine ständige Erfindung. Auch wenn man den Begriff „Identität“
nicht gänzlich dekonstruieren will, ist es in den Sozialwissenschaften mitt-
lerweile üblich den Konstruktionscharakter der kulturellen Identität in
den Vordergrund zu stellen (Giesen 1999, S. 11ff.; vgl. u. a. Eisenstadt
1991; Straub 1998a, 1998b; Gergen 1998).
Es stellt sich indes die Frage, ob die Forderung nach einer Dekonstrukti-
on des Identitätsdiskurses in den Sozialwissenschaften und in einer Welt,
in der der Diskurs zur kollektiven Identität und ihrer Bedeutung für Na-
tionen und vor allem Minderheiten eine immer größere Rolle spielt, wirk-
lich sinnvoll und hilfreich ist. Jürgen Straub konstatiert in Anlehnung an
Jan Assmann, dass die Wir-Identität ein kommunikatives Konstrukt dar-
stellt (1998b, S. 102ff.). Obschon das Wort „Identifikation“ im Fall eines
Kollektivs dem Begriff der Identität vorzuziehen sei, hält es Jean-Luc Nan-
cy für wenig sinnvoll, „Identität“ aus dem sozialwissenschaftlichen Diskurs
ausklammern zu wollen (2004, S. 106). Walter Reese-Schäfer (1999, S. 7)
stellt indes fest, dass die kollektive Identität, obwohl sich der Begriff in den
Sozialwissenschaften erst spät, nämlich in den 1960 bzw. 1970er Jahren
etablieren konnte, mittlerweile als fait social, als „sozialer Tatbestand“ im
Sinne Émile Durkheims (1980, S. 114), betrachtet werden muss. Identität
bestimmt die Handlungen zahlreicher Einzelner und kann schon aus die-
sem Grund nicht so einfach von der Wissenschaft ignoriert werden.
Freilich gilt die Betrachtung Denis de Rougemonts, der Nationalist sei
ein Mensch, der von der existentiellen Angst erfasst werde, eine magische
Kraft zu verlieren (1970, S. 133), ebenfalls für die kulturelle Identität allge-
mein. Die „magische Kraft“, die aus der Zugehörigkeit zu einer „imaginä-
ren Gemeinschaft“ wie der Nation, der Ethnie oder einer kulturellen Min-
derheit entspringt, ist aber realer als es auf dem ersten Blick erscheinen
mag, zumal das soziale Imaginäre nach Danielle Juteau-Lee (1983) stets
eine performative Wirkung hat. Mit anderen Worten: Im Ideellen gibt es
immer einen realen Bestandteil. So kann das Mitglied einer nur gedachten
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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept
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1 Nicholas Woltertorff versteht unter belief system folgendes: „Consider the totality
of a person’s beliefs at a given time – not the totality of judgments she is making at
that time but the totality of beliefs she holds at that time. Such a totality is not just
a collection. It’s structured, organized; it’s a system. It’s structured in various di-
mensions, one such dimension being this: A given person’s beliefs differ from each
other with respect to their depth of ingression, of entrenchment, in the totality of
that person’s beliefs […]. There’s a depth-of-ingression continuum in each person’s
system of beliefs, with beliefs from the system strung all along that continuum. A
belief’s degree of ingression within a given person’s belief system is determined by
a certain relation which that belief bears to other beliefs of that person […]“ (2001,
S. 235).
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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept
2 Bekanntlich definierte Talcott Parsons die Kultur als „system of meaning“ (1973,
S. 34).
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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept
Ästhetische
Dogmen
Kategorien
Werte
Metastablität
Kollektiv- Gemeinsames
Mythen Individualisation- Utopien
gedächtnis Projekt
Operatoren, z.B.
Name, wir, usw.
(Selbst-)
Rituale Anamnese Territorium Institutionen Substitutionen
Sprache
Größe und
Körperliche Hexis,
Stärke der
Verkörperung
Gruppe
Klanische
Strukturen
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Wie vorher erwähnt, findet erst ab den 1970er Jahren in den Sozialwissen-
schaften eine intensive Beschäftigung mit dem Thema „kulturelle Identi-
tät“ statt (vgl. Gleason 1983). Vor allem Minderheitsmitglieder, die lange
diskriminiert wurden oder sich so fühlen, haben sich damals für das
Gleichberechtigungsprinzip und für kulturelle und kollektive Rechte stark
gemacht, wobei Minderheitenrechte nicht in allen Fällen mit kollektiven
Rechten gleichzusetzen sind (vgl. Kymlicka 1999). Dass die kulturelle
Identität in Demokratien zu einem der Hauptgegenstände der Forschung
wurde, ist keineswegs verwunderlich, zumal in solchen politischen Syste-
men, so Tocqueville, das Ziel der Gleichheit vorherrscht, was die Privilegi-
en und Diskriminierungen aller Art – auch zwischen Gemeinschaften –
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3 Die „kollektive Identität des Typs 1“ hingegen sucht nach „der Sicherung und des
Schutzes der ethischen, kulturellen Überzeugungen und Praktiken innerhalb des
Verbunds oder Horizontes einer kulturellen Lebensform“ (ebd., S. 308).
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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept
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schmelzen. Eine „dünne“ Ideologie reicht aus, denn diese Parteien kämp-
fen nicht für, sondern „gegen“ etwas: In erster Linie sind sie gegen ein
ominöses Establishment bzw. eine korrupte Elite, die das sogenannte
„wahre Volk“ als vorgestellte Einheit angeblich nicht repräsentiere, da es
abgekoppelt von diesem handeln würde. Die Konfliktlinie verläuft hier
nicht primär horizontal auf einer Rechts-Links-Achse, sondern vertikal auf
einer Oben-Unten-Achse.
Oft wird der Eindruck vermittelt, die kulturelle Identität sei zementiert
und unveränderbar. Dies hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass mit
Hilfe von Ursprungsmythen die Nation als schon immer dagewesen, die
Ethnie als ursprünglich und die damit verbundenen Annahme- bzw. Ex-
klusionsrituale (z. B. der Erwerb einer Staatsbürgerschaft) fälschlicherweise
als ein für alle Mal gegeben dargestellt wurden (Citron 2000, S. 50ff.). Da-
bei ist jede kulturelle Identität in Bezug auf das Werden und das „Sich-Ver-
wandeln“ prinzipiell offen, vorausgesetzt, man schottet sie nicht durch
eine einheitliche Ideologie oder mittels des Mythos künstlich ab.
Gilbert Simondon (1964, 1989) hat den Begriff „Metastabilität“ (métas-
tabilité) vorgeschlagen, um damit die potentielle Energie zu bezeichnen,
die nach der Vollendung der Individuation jedes Gegenstandes, also nach
der Ontogenese, noch vorhanden ist. Selbst in einem Kristall ist eine derar-
tige Energie vorhanden. Unter bestimmten Umständen kann sie eine radi-
kale Veränderung seiner Struktur bewirken – in diesem Fall wird von
„Umkristallisation“ gesprochen. Selbstverständlich ist „Metastabilität“ in
komplexeren Systemen – insbesondere in menschlichen Institutionen und
Gemeinschaften – stärker vorhanden als in Naturgegenständen. Sie steigert
sich mit dem Lernprozess und ist in der Lage, die gesellschaftliche bzw. ge-
meinschaftliche Identität radikal umzuformen, ohne die Gemeinschaft ins
Chaos der Instabilität und der Anarchie zu stürzen. Die den homöostati-
schen Prozess fördernden Selbstsubstitutionen der Systemtheorie reichen
nicht aus, um über die fortdauernde Individuation und Identitätsbildung
der Systeme, auch über unerwartete Veränderungen der Systeme hinaus,
Rechenschaft abzulegen. Dies lässt sich besser mit dem Konzept der „Me-
tastabilität“ erklären.
Eine hohe „Metastabilität“ erklärt die mögliche Devianzkraft und die
potentiellen Erfolgschancen einer Gemeinschaft leichter als ihre Größe.
Steve Rytina und David L. Morgan (1982) haben auf die Bedeutung der re-
lativen und absoluten Dimension einer Gruppe, des Prozentsatzes der
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6. Fazit
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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept
4 Vgl. den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
von 1966, die Wiener Erklärung – Vienna Declaration and Programme of Action von
2001 sowie die Allgemeine Erklärung der UNESCO zur kulturellen Vielfalt von
2001. Frankreich hat 1999 die Europäische Charta der Regional- oder Minderhei-
tensprachen des Europarats von 1992 unterschrieben. Der Senat hat sich am
27. Oktober 2015 jedoch geweigert, den Text zu ratifizieren.
5 „Die französische Regierung erklärt, gestützt auf Artikel 2 der Verfassung der Fran-
zösischen Republik [Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und
soziale Republik. Sie gewährleistet die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz oh-
ne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion. Sie achtet jeden Glauben], daß
für eine Anwendung des Artikels 27 auf die Republik kein Anlass besteht“ (Bun-
desgesetzblatt, Teil. II, Nr. 43 vom 23.12.1982, S. 1085).
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Yves Bizeul
rien céder à leur délire“ (1996, S. 173), den Wert der Identitäten anzuer-
kennen, ohne sich in ihrem Wahnsinn zu verlieren (Bedorf 2010, S. 110).
Es handelt sich in den spätmodernen Gesellschaften dabei stets um eine
hybride kulturelle Identität, die aus der Verschmelzung und Aufhebung
verschiedener kulturellen Codes besteht (Said 2001, S. 53f.; vgl. Bronfen et
al. 1997). In ihr findet ein Prozess des kulturellen métissage statt (vgl. La-
plantine/Nouss 1997, 2001; Gruzinski 1999; Kandé 1999; Gagnon/Giguère
2012).6
Laut Patrice Meyer-Bisch gleicht das Konzept der Identität einem Kno-
tenpunkt, der vier dialektisch in Verbindung stehende Oppositionen ver-
bindet (2000, S. 283ff.): die Dialektik des Universalen und des Partikularen
(im Bereich der Ontologie), die des Einen und der Vielheit (im Bereich der
Logik), die des Ergebnisses und des Prozesses (im Bereich des Psychosozia-
len) sowie die des Einzelnen und der Gemeinschaft (im Bereich der An-
thropologie). Dies nicht wahrnehmen zu wollen, führt laut Meyer-Bisch zu
einem höchstproblematischen Verständnis der kulturellen Identität, die
nur in einer radikalen Kritik dieses Begriffs enden kann.
Jullien liegt dennoch falsch, wenn er ohne Einschränkung den Weg der
radikalen Kritik nimmt. Treffender ist es, mit Thomas Bedorf, in Anleh-
nung an Nancy von einer Nicht-Identität der Identität zu sprechen und so-
mit den prozesshaften Charakter jeder Identität und die Differenz, die sie
stets beinhaltet, zu betonen (2010, S. 111). Bedorf stellt wie Jullien auch
die Frage nach der Relevanz und der Legitimität des Konzepts der Identi-
tät. Er bemerkt: „Wenn die Festlegung auf Identitätsverbürgendes unaus-
weichlich Gefahr läuft, in die fundamentalistische Sackgasse zu geraten,
liegt es nahe, die Identität als politische Option ganz über Bord zu werfen
und sie aus den politischen Konflikten endgültig zu verbannen“ (ebd.,
S. 195). Seine Position zu diesem Thema differiert jedoch von der Julliens.
Die These, die er vertritt, lautet: „Prozesse reziproken Anerkennens [die-
nen] der Stärkung des sozialen Bandes […], auf das keine Gesellschaft ver-
zichten kann“. Das Soziale wird hier als das „Zwischen einer Kommunika-
tion“ und nicht als das Erzeugnis von Subjekten verstanden (ebd., S. 201).
Im Prozess des Anerkennens, so Bedorf, „stehen (provisorische) Identitäten
anderen (provisorischen) Identitäten gegenüber, ohne daß es für die Bevor-
zugung einer von ihnen Gründe gäbe“ (ebd., S. 194). Er betont die Tatsa-
6 Allerdings steht heutzutage in Frankreich der Begriff métissage unter dem Ver-
dacht, eine geschlossene Identität zu fördern, da er die Möglichkeit einer culture
non métissée (einer nicht vermischten Kultur) voraussetzt (vgl. Amselle 1990; To-
umson 1998). Außerdem gibt es, so Nancy, weder eine „reine Mischung“ noch
eine „unberührte Reinheit“ (1996, S. 181).
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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept
che, dass Identitäten trotz des Faktums, dass sie Chimären sind, politisier-
bar bleiben, um bestimmte gesellschaftliche Ziele zu erreichen – so die Be-
nutzung der Parole „Wir sind ein Volk“ im Dienst der Vereinigung der
beiden Teile Deutschlands oder den „strategischen Essentialismus“ einer
Gayatri Spivaks, die darauf hinweist, dass der Kampf für die Unabhängig-
keit früher kolonisierter Völker im Namen imaginierter (National-)Identi-
täten geführt wurde (ebd., S. 218, 221).
Bedorf ist allerdings der Auffassung: „Auf die Festlegung einer persona-
len oder kollektiven Identität […] kann [die soziale Kommunikation] ver-
zichten“ (ebd., S. 224). Abgesehen von der Tatsache, dass der Verlust der
personalen Identität bei den Einzelnen meist zu schwerwiegenden psychi-
schen Störungen führt (Straub 1998, S. 86ff.), braucht ein Kollektiv eine
narrative Identität, um dank einer ständigen Synthesis des Heterogenen
längere Zeit bestehen zu können. Eine solche kollektive bzw. kulturelle
Identität kann sehr wohl offen sein und die kritische Distanz eines Teils
der Gruppenmitglieder aushalten. Die gemeinsame Arbeit an der Identität
ist aber das, was Einzelne dauerhaft zur Solidarität bewegen kann. Die
mangelnde Identifikation mit der EU erklärt, warum eine Umverteilung fi-
nanzieller Mittel nach dem Beispiel des deutschen Finanzausgleichs auf
dieser Ebene heute noch kaum vorstellbar ist (Kaina 2009, S. 39ff.). Mehr
als eine gemeinsame Sprache sind für eine gelungene Kommunikation
und ein erfolgreiches gemeinsames Handeln gemeinsame Codes, Verhal-
tensweisen und ähnliche Wertehierarchien vonnöten. Dies kann man
„Leitkultur“ nennen, wenn man mit Bassam Tibi (2001) darunter keine
ethnisch-nationale Kultur, sondern einen demokratischen, laizistischen so-
wie an der zivilisatorischen Identität Europas orientierten Grundwertekon-
sens zwischen Europäern und Migranten versteht.
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Literatur
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Zwischen Offen- und Geschlossenheit. Politische
Implikationen einer praxeologischen kulturellen Identität
Jörn Knobloch
1. Einleitung
1 Wir nutzen zuerst beide Begriffe synonym, d. h. wir gehen davon aus, dass die
Konstitution der kulturellen Identität nur kollektiv erfolgen kann (Delitz 2018,
S. 29). Jedoch ist nicht jede kollektive Identität auch kulturell erzeugt, was noch
deutlich wird, wenn wir später Kultur eingehender definieren.
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Jörn Knobloch
2 Jullien warnt insbesondere vor den Folgen der identitären Verschiebung: “Man
muss ermessen, welche – politischen – Gefahren es mit sich bringt, wenn man die
Vielfalt der Kulturen in Begriffen von Unterschiedlichkeit und Identität betrach-
tet, sich bewusstmachen, welche negativen Folgen das nicht nur für das Denken,
sondern auch für die Geschichte haben kann“ (2017, S. 49).
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Zwischen Offen- und Geschlossenheit
wir uns fragen, warum sie früher legitim war und jetzt zum Gegenstand
politischer Konfrontationen wird. Im Beitrag wird daher zuerst die histo-
rische und aktuelle Legitimität der kollektiven Identität in der liberalen
Demokratie analysiert. Dabei zeigt sich, dass der Liberalismus politisch
mehrmals versucht hat, die kollektive Identität normativ in Zweifel zu zie-
hen, ohne sie jedoch vollkommen delegitimieren zu können. Die Lehren
aus diesen Versuchen werden im zweiten Teil zu spezifischen Anforderun-
gen an die kollektive Identität in einer Ordnung der kollektiven Selbstre-
gierung verarbeitet. Im Anschluss wird ein Ansatz der kulturellen Identität
mit der Theorie sozialer Praktiken entwickelt, der die vorher formulierten
Anforderungen erfüllt, nämlich in der liberalen Demokratie zwischen Of-
fenheit und Schließung zu vermitteln.
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Zwischen Offen- und Geschlossenheit
3 Seubert verweist auf die einflussreiche Flugschrift von Abbé Sièyes. Darin wird die
Nation als etwas verstanden, was bereits da ist, generiert durch die Zivilgesellschaft
und die materiellen Beziehungen des dritten Standes (Seubert 2013, S. 24).
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Zwischen Offen- und Geschlossenheit
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Jörn Knobloch
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Zwischen Offen- und Geschlossenheit
nalisierung der kulturellen Identität durch die Idee der Offenheit verstan-
den werden können.
Mit der Idee von Offenheit gerät die kulturelle Identität unter Druck, weil
politisch ein Widerspruch zwischen beiden aufgebaut wird. Dessen ant-
agonistischer Kern liegt in der Annahme, dass die kollektive Identität mit
ihrer Geschlossenheit ein Hindernis für die Freiheit einer offenen Identi-
tätsbildung des Einzelnen darstellt. Das illiberale Moment liegt hierbei im
antizipierten Homogenitätsdruck, da „Zugehörigkeiten und Affinitäten“
(Niethammer 2000, S. 631) nicht frei gewählt werden können. Stattdessen
muss das liberale Subjekt die Freiheit haben, beides selber auszuwählen
und sich damit, notfalls auch gegen die kollektiv geteilte Version der kul-
turellen Identität zu stellen. Die individuelle Identität wird so zu einer
Kompetenz, um bei der gleichzeitigen „Offenheit und Verborgenheit des
individuellen Innenlebens“ eine subjektive „Anpassung und Kompromiss-
bildung“ vorzunehmen (ebd.). Diese bilden vielfältige und vor allem fried-
liche „Lösungen“ heraus, welche Konflikte entschärfen und ausbalancieren
können, ganz im Unterschied zu kollektiven Identitäten (ebd.). Letztere
werden im Konflikt gezwungen sich zu manifestieren, wodurch unver-
meidliche Relationen zu Letztbegründungen hergestellt werden, die zur
Eskalation beitragen und durch ihre Unlösbarkeit Gewaltdynamiken indu-
zieren (ebd.). Dadurch wird alles Kollektive automatisch verdächtig. Ent-
weder schickt sich die kollektive Identität an, bestimmte Konstellationen
zu essenzialisieren bzw. zu ontologisieren, was zu einer Hierarchisierung
und Vereinheitlichung mit potenziell negativen Konsequenzen für Min-
derheiten führt (Delitz 2018, S. 48), oder die traditionell meist nationalkul-
turell bestimmte kollektive Identität determiniert einen methodologischen
Nationalismus, der unter den Bedingungen der Globalisierung umstritten
ist (ebd., S. 50). Schließlich kann die kollektive Identifizierung neben einer
rationalen und selbstkritischen Weise auch irrational und emotional be-
trieben werden (ebd., S. 51). Normativ ließe sich aber nur die Erste positi-
vieren, da sie eine postnationale und kritische Beziehung zur kollektiven
Identität fordert (ebd.). Hingegen zielt die irrationale und emotionale kol-
lektive Identität auf Fixierung und Abschließung. Beides konterkariert un-
mittelbar das Prinzip der Offenheit.
In Bezug auf die kulturelle Identität lässt sich konstatieren, dass sie aus
liberaler Perspektive als normativ ambivalent und analytisch ungerechtfer-
tigt erscheint. Indem das Prinzip der Offenheit in der liberalen Gesell-
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Zwischen Offen- und Geschlossenheit
4. Politische Grenzziehungen
Für die weitere Betrachtung stellt sich die Frage, wie auf die Identitäts-
und die ihr zugrundeliegende Kulturkrise seitens der Politischen Theorie
reagiert werden soll. Zur Beantwortung will ich unterhalb der Konstrukti-
on von kulturellen Identitäten bei der Differenz von Offenheit und Schlie-
ßung ansetzen und damit bei den durch die Kultur als Ordnungsbegriff
bereitgestellten Konstruktionsprinzipien. Natürlich könnte man auch ver-
suchen, in der Krise mit einem rein politischen Begriff zu vermitteln. Da-
durch würden die kollektiven Identitäten politisiert werden und das heißt
für unsere Gesellschaft eine Demokratisierung von Identitäten (Möllers
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Jörn Knobloch
2008, S. 50). Zunächst mag die Idee attraktiv sein. Im Augenblick, da die
Kultur keine stabilen Erwartungen für die Identitätskonstruktionen bereit-
stellt, sind allein politische, d. h. demokratische Identitäten zu rechtferti-
gen. Die Bildung kollektiver Identitäten wird in die Hände legitimierender
Verfahren (vgl. Luhmann 1993) gelegt. Eine verführerische Option, die je-
doch ignoriert, dass Politik nicht nur funktionell zu verstehen ist. Die Ver-
fahrenslegitimität basiert nicht auf vorsozialer Rationalität, sondern auf be-
stimmten kollektiven Erfahrungen und den daraus abgeleiteten Konven-
tionen. In der Annahme auf die problematische Kultur verzichten zu kön-
nen, kehrt die Kultur in Form der Akzeptanz einer bestimmten Rationali-
tät wieder zurück. Ohne Kultur ist die politische Dimension der Identitä-
ten nicht zu erklären, auch wenn sich die politische Sinnstiftung nicht
vollends in der Kultur auflöst. Das Politische symbolisiert eine, eng mit
der Kultur als Form des kollektiv geteilten Wissens verbundene Art der
Kontingenzunterbrechung. Zwar geht das Politische ordnungsstiftend der
Kultur voraus, indem es einen konkreten Zustand sozialer Organisation
definiert (Knobloch 2016a, S. 84f.), doch findet in der Praxis die Produkti-
on der Ordnung unter Bedingungen ständiger Irritationen statt, auf die
Menschen reagieren müssen. Das entsprechende ‘Versuch-und-Irrtum’-Ver-
fahren bildet den Kern der sozialen Produktion von Ordnung und wird als
kultureller Wissensvorrat symbolisiert. Die Kultur integriert die prakti-
schen Erfahrungen der Menschen bei der Schaffung von Ordnung und
kommuniziert diese an die politische Ordnungsidee zurück.
Durch die politische Perspektive auf die Kultur wird die Einheit der Dif-
ferenz von Offenheit/Geschlossenheit in Form politisch legitimer Grenzzie-
hungen einer Ordnung in den Blick genommen. Mit diesem Verständnis
des Politischen lassen sich drei Aussagen über die Ambivalenz von Offen-
heit/Geschlossenheit treffen:4
1. Fixierung: Die Politische Ordnung bringt die unterschiedlichen Ebenen
des Politischen zusammen und integriert sie in eine normativ begrün-
dete Systematik (Göhler 1978, S. 157). In der Ordnung wird die ur-
sprüngliche Frage nach der Grundlage politischer Gemeinschaft so be-
antwortet (Williams 2005, S. 3), dass der Modus Vivendi einer politi-
schen Gesellschaft möglich wird. Das Ordnungsproblem geht der Pra-
xis, in welcher sich auch die neuzeitliche Subjektivität manifestiert, ge-
nerell voraus (Bubner 1996, S. 171), weil erst die Ordnung einen ver-
4 Ich referiere hier einen Teil meiner Überlegungen zur politischen Konstruktion
der Kultur und zur praxeologischen Theorie des Politischen (Knobloch 2016a,
2016b).
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Zwischen Offen- und Geschlossenheit
Die Kultur ist das Ergebnis normativer Annahmen. Wenn diese wie im
Fall kollektiver Selbstregierung den offenen Prozesscharakter einer Ord-
nung betonen, muss überlegt werden, welches Konzept von Kultur die
operative Logik am besten transportiert. Es geht nicht um die Frage, wel-
che normative Leitidee von Kultur die normativen Ansprüche der Politi-
schen Ordnung besser vertritt, sondern mit welchem kulturellen Ordnungs-
begriff die Konstitution der Gesellschaft auf der Basis kollektiver Selbstre-
gierung verstanden werden kann. Sieht sich zum Beispiel eine Gesellschaft
als klar definierte Schicksalsgemeinschaft, in der die Kollektivität essenziell
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Jörn Knobloch
und nicht Politisch ist, die ihr Heil in der Vollendung ihrer Mission be-
greift, d. h. keine offene Zukunft kennt, und für die Kulturkontakte nur
zur Bestätigung ihrer eigenen Einzigartigkeit dienen, dann ist die Anwen-
dung eines statischen und stark differenzierenden Kulturbegriffs zur Ord-
nung der Wirklichkeit, wie von Herder oder Hegel, für sie legitim (vgl.
Borgards 2010). Gilt indes die Idee einer kollektiven Selbstregierung, dann
ist dieses Kulturkonzept nicht nur illegitim, sondern konzeptuell ungeeig-
net. Ich will zeigen, dass für diese Ordnungen ein praxeologisches Kultur-
konzept am sinnvollsten ist. Die Praxeologie versteht Kultur als soziale
Praktiken und kann demzufolge zwischen Prozess und Struktur, also zwi-
schen Offenheit und Geschlossenheit vermitteln (vgl. Reckwitz 2000;
Schmidt 2012). Hinter einer praxistheoretischen Perspektive steht die An-
nahme, dass die „Regelmäßigkeit von Verhaltensweisen, die Geordnetheit
sozialen Geschehens und die Strukturiertheit sozialer Beziehungen, alle
diese Grundmerkmale des Sozialen werden in und durch soziale Praktiken
hervorgebracht“ (Schmidt 2012, S. 10). Praktiken setzen sich aus routini-
sierten Bewegungen und Aktivitäten des Körpers zusammen (Reckwitz
2003, S. 290). In dem Maße, wie Menschen in einer Praktik partizipieren,
lernen sie ihren Körper auf eine spezifische Art und Weise zu bewegen.
Das Hauptaugenmerk liegt auf den sozialisierten Körpern, in denen spezi-
fische „Kompetenz- und Aktivitätsmodi“ zur Anwendung kommen, „ihre
praktischen, stummen, vorsprachlichen Könnens- und Erkennensformen
sowie auf die im Zusammenspiel von Körpern beobachtbaren Koordinati-
ons-, Orientierungs- und Abstimmungsfähigkeiten“ (Schmidt 2012, S. 59).
Soziale Praktiken haben ihre Zeit. Sie werden durch die Menschen voll-
zogen, wodurch ein Vorher und ein Nachher entsteht. Praktiken schaffen
„ein zeitliches Kontinuum, die Teilnehmerinnen befinden sich in einem
Strom sich entfaltender Aktivitäten“ (ebd., S. 52). Da Praktiken zeitlich
vollzogen werden, öffnet sich auch immer ein Möglichkeitsraum für Un-
gewissheit und es entsteht die Möglichkeit potentieller Sinnverschiebun-
gen (Reckwitz 2003, S. 295). Geschieht dies, wird die Routine einer Praktik
hinterfragt und möglicherweise verändert. Neben der Bedeutung der Er-
fahrungen spielt ebenso die Chance der Routineunterbrechung von Prakti-
ken eine wichtige Rolle bei der Beurteilung von Stabilität und Instabilität
von sozialer Ordnung.
Für die Identitätskonstruktion hat dies folgende Konsequenzen: Da der
in der Praktik involvierte Akteur einerseits abhängig von den kollektiven
Wissensbeständen ist, die er durch die Praktiken als Instruktionswissen er-
lernt, diese aber andererseits subjektiv interpretieren kann, ergibt sich ein
Wechselspiel. Die Praxistheorie betont, in Abgrenzung zu einer rein objek-
tiven oder rein subjektiven Perspektive, den Zusammenhang zwischen der
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Zwischen Offen- und Geschlossenheit
druck zu verleihen“ (Giddens 1995, S. 36). Kollektive Identität ist die ge-
meinsame raumzeitliche Einübung von Fähigkeiten, innerhalb kollektiv ge-
teilter Wissensordnungen. Diese bilden die kulturelle Dimension der Iden-
tität.
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Zwischen Offen- und Geschlossenheit
strengungen und den Willen, dieses Wissen zu erlernen, wird eine Person
nicht Teil der Ordnung. Dementsprechend drückt die Selbstidentifikation
der Menschen (Identität) in den sozialen Praktiken sowohl die Abgren-
zung von anderen Praxisgemeinschaften als auch die strukturelle Offenheit
gegenüber anderen aus.
Politisch heißt dies, dass die für die Konstitution einer liberalen Bürger-
schaft notwendige gegenseitige Anerkennung und Erfahrung von Gleich-
heit in sozialen Beziehungen (Seubert 2013, S. 33) das Ergebnis einer Re-
gelbefolgungspraxis (vgl. Schönrich 2004) ist. Diese soziale Praxis wird
praktisch gelebt und sanktioniert, sie hat eine Geschichte und lässt sich
nicht in einem universalen Vakuum quasi ahistorisch herstellen. Der Er-
folg der Regelbefolgungspraxis basiert auf einer „Regelbefolgungsgemein-
schaft“ (ebd., S. 91), die ihre Grenzen als Ergebnis sozialer Praktiken ihrer
sozialen Praxis voraussetzt. Diese Grenzen sind aber offen, weil potentiell
jeder in dieser Praxis partizipieren kann. Diese Offenheit als Freiheit zur
Partizipation ist jedoch mit körperlicher Anstrengung verbunden. Man
kann an existenten Praktiken partizipieren, sich ihr praktisches Wissen an-
eignen und die Vorteile einer Regelgemeinschaft im Sinne eines gegensei-
tigen Schutzes vor Willkür genießen (vgl. Pettit 1997). Das schließt aber
eine orts- und zeitlose politische Gemeinschaft aus. Die praxeologische
kulturelle Identität ist gleichzeitig offen und geschlossen. Sie ist offen ge-
nug, um die stetige Neu- und Umbildung von Identitäten durch interkul-
turelle Kontakte oder Migration zu verarbeiten. Sie lässt aber auch Abgren-
zungen zu, die für die Herausbildung eines kollektiv geteilten normativen
Systems notwendig sind. Solcherart kann sie die Identität politisch rehabi-
litieren und den einseitigen Politisierungen der Gegenwart entziehen. Ihre
Integration von Offenheit/Abgeschlossenheit in einer körperlich anstren-
genden, wissensbasierten sozialen Praxis macht sie zur Grundlage eines
kulturell sensiblen Republikanismus der Gegenwart (vgl. Seubert 2013).
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Literatur
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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung
Hauke Behrendt
Gibt es eine kulturelle Identität? Das ist die erkenntnisleitende Frage der
folgenden Überlegungen. Sie stellt sich nicht zuletzt mit Blick auf aktuelle
soziologische Gegenwartsdiagnosen, die für das frühe 21. Jahrhundert
einen Aufschwung partikularer „Neogemeinschaften“ (Reckwitz 2017,
S. 394) beschreiben, in denen sich als Reaktion auf eine krisengebeutelte
Globalisierung spezifische Ausformungen eines überwunden geglaubten
Kulturessenzialismus niederschlagen. Ob ethnisch, religiös oder politisch
begründet, gehen diese mit einer Politisierung des Kulturellen in Form
von antagonistischen Identitätspolitiken und teils feindseligen Abgrenzun-
gen gegenüber Fremdgruppen einher (ebd., S. 394ff.). So bedrohen sozio-
kulturelle Konflikte heute selbst in Gesellschaften mit langen demokrati-
schen Traditionen in Europa und Nordamerika den sozialen Frieden und
den Zusammenhalt – gut zu beobachten etwa an nationalchauvinistischen
Abschottungsbestrebungen à la „America First“ oder gruppenbezogenem
Hass und Ressentiments gegenüber Menschen mit Migrations- und Fluch-
terfahrungen im Allgemeinen und Muslimen im Speziellen. Vor diesem
Hintergrund finden sich akademische Versuche, den Begriff der kulturel-
len Identität zu dekonstruieren, um den beschriebenen Tendenzen kultu-
reller Schließung mit philosophischen Mitteln entgegenzutreten (vgl. Julli-
en 2017). Allerdings tragen auch individuelle Marginalisierungs- und Miss-
achtungserfahrungen, die entlang klassischer Konfliktlinien, wie der ge-
sellschaftlichen Ausgrenzung und Diskriminierung aufgrund von gender,
class oder race, verlaufen, nicht zur Auflösung dieser Kategorien bei, son-
dern werden ihrerseits zu kollektiven Identitätsbildungen verdichtet (vgl.
Heyes 2018). Dahinter steht der Versuch, negative Fremdzuschreibungen
seitens der sogenannten Mehrheitsgesellschaft als nicht-binär, nicht-bür-
gerlich oder nicht-weiß zu neutralisieren oder gar ins Positive zu wenden,
indem man im Kollektiv dagegen aufbegehrt. Ein Phänomen, das trotz al-
ler Ambivalenzen als Ausdruck eines politischen Kampfes um kulturelle
Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe gedeutet werden muss (El-
Mafaalani 2018, S. 102ff.; vgl. dazu grundsätzlich auch Honneth 1992). In
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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung
„Kultur ist konstitutiv. Das Kulturelle ist der Modus einer jeden kollekti-
ven Existenz. [...] Kollektive sind kulturelle Identitäten“ (Delitz 2018,
S. 29f.; eig. Herv.). Delitz’ Feststellung ist zweifellos richtig. Identität, und
zwar nicht nur die von Kollektiven, sondern auch von Personen, ist kultu-
rell erzeugt. Allerdings ist diese Bestimmung viel zu allgemein. Der Begriff
der kulturellen Identität bleibt klärungsbedürftig. Mindestens zwei Punkte
spielen hier eine entscheidende Rolle.
a) Der internalistische Fehlschluss: Einer einflussreichen Sichtweise zufol-
ge ist unter „kultureller Identität“ das reflexive Selbstverständnis einer
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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung
1 Der Fall liegt freilich anders, wenn wir mit Gilbert (1989) nicht das reflexive
Selbstverständnis, sondern geteilte normative Festlegungen (joint commitments)
der Gruppenmitglieder als soziale Konstruktionsbedingung des Kollektivs anse-
hen, denn diese besitzen von Haus aus die richtige Passensrichtung (vgl. Stahl
2014). Doch auch in diesem Fall wird die oben formulierte These des Internalis-
mus aufgegeben, wonach das Wir-Bewusstsein der Angehörigen eines Kollektivs
identitätsstiftend sei.
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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung
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Hauke Behrendt
vidualität“ ist ein relationaler Begriff, der mit logischer Notwendigkeit ein
anderes erfordert. Dieses Phänomen ist es, das die oben genannten Auto-
ren eigentlich im Blick haben, wenn sie von einem konstitutiven Außen
jeder Identitätskonstruktion sprechen. Nun ist die Rede von „numerischer
Individualität“ insofern irreführend, als die raumzeitliche Unverwechsel-
barkeit einer konkreten Entität schon durch den Begriff der numerischen
Identität vollständig abgedeckt ist. Anders für die qualitative Seite: Hier
können Identität und Individualität auseinandertreten. Wer seine qualita-
tive Individualität behaupten will, muss dafür sorgen, dass sich alles ande-
re von ihm unterscheidet. An der These, wonach Abgrenzungen zu ande-
ren Kollektiven für jede kulturelle Identitätskonstruktion logisch notwen-
dig sei, kann also nur für ihre numerische Identität festgehalten werden,
sprich: für die raumzeitliche (Re-)Identifikation konkreter Entitäten. Aus
der Diskussion des internalistischen Fehlschlusses wissen wir allerdings be-
reits, dass der Begriff der kulturellen Identität die numerische Seite des
Identitätsbegriffs nicht meinen kann, sondern auf die speziellen Qualitäten
eines Kollektivs gerichtet ist. Wir wollen mit diesem Begriff die konstituti-
ven Merkmale einer bestimmten Kultur herausstreichen. Das heißt: „Kul-
turelle Identität“ bezeichnet die notwenigen Eigenschaften, die Kollektive
nicht verlieren dürfen, um ein bestimmtes Kollektiv von der und der Art
zu sein. Es sind diese identitätsstiftenden Qualitäten, die das Wir-Bewusst-
sein von Mitgliedern zum Gegenstand hat. Wie sich gezeigt hat, heben die-
se Qualitäten jedoch gerade nicht zwingend auf Einzigartigkeit ab, son-
dern sind grundsätzlich teilbar. Kulturelle Identität konstituiert sich aus
Merkmalen, die prinzipiell zur selben Zeit von beliebig vielen Trägern an
beliebig vielen Orten instanziiert werden können. Anders ausgedrückt: Ob
etwas eine bestimmte kulturelle Identität besitzt, hängt von den tatsäch-
lich besessenen Eigenschaften ab und nicht, ob daneben noch etwas ande-
res von ihm verschiedenes existiert. Der Begriff der kulturellen Identität
setzt die Existenz von und die Abgrenzung zu fremden Kulturen somit
nicht logisch voraus. Gegen Lévi-Strauss und Konsorten können wir fest-
halten: Eine Kultur muss (in qualitativer Hinsicht) nicht einzigartig sein,
um sie selbst zu sein. Und umgekehrt: Auch eine universelle Kultur mit
globalem Geltungsanspruch besitzt eine eindeutige Identität. Ob wir es
mit einer alle Menschen umfassenden homogenen Kultur, einem Nebenei-
nander unterschiedlicher Kulturen, oder verschiedenen sich überlagern-
den Formen kultureller Existenz zu tun haben, ist eine empirische, keine
begriffliche Frage.
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sich am Leitfaden der mit ihnen gesetzten Aufgaben und Ziele in einer
Weise individuieren und analysieren lassen, die es ermöglicht, sozial insti-
tutionalisierte Handlungsbereiche schematisch voneinander abzugrenzen.
So kann für moderne Verfassungsstaaten etwas holzschnittartig und in
groben Zügen etwa zwischen einer politisch-administrativen Handlungs-
sphäre und den zugehörigen Staatsbürgerrollen (als Rechtsautoren und
-adressaten), der Ökonomie mit ihren Wirtschaftsbürgerrollen (zum Bei-
spiel als Beschäftigte und Konsumenten) sowie der Sphäre privater, zivilge-
sellschaftlicher Assoziationen wie der Familie mit Eltern- und Kinderrol-
len oder Verbänden und Organisationen mit speziellen Mitgliederrollen
unterschieden werden (Habermas 1987, S. 471ff.). Welches spezielle En-
semble sozialer Praktiken dabei eine konkrete Gesellschaft im Einzelnen
ausmacht, variiert je nach historischen Rahmenbedingungen. Auch die
Spannweite einzelner Praxisarrangements unterschiedet sich abhängig von
den sachlichen Konditionen des jeweiligen Kontextes. Dass viele Praxis-
strukturen soziale Lebenszusammenhänge gesellschaftstranszendierend
überlagern, ist kaum zu leugnen, wenn man nur an weltumspannende
Märkte oder transnationale Sportveranstaltungen denkt. Um die Tatsache
der prinzipiellen Unabgeschlossenheit kulturell überformter Strukturen
menschlicher Koexistenz auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen, ist es
sinnvoll, dem häufig territorial abgeschlossen verstandenen Gesellschafts-
begriff hier das offenere, hybride Konzept der kulturellen Lebensform an
die Seite zu stellen. Ein Mensch kann dementsprechend „mehreren Le-
bensformen gleichzeitig angehören“, aber es ist eben auch möglich, dass
„eine Gruppe von Menschen gleichzeitig in derselben und in unterschied-
lichen Lebensformen lebt“ (Jaeggi 2014, S. 91).
Nach der hier vorgeschlagenen praxistheoretischen Deutung kultureller
Identität geht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen Lebens-
form im Kern somit nicht auf eine gemeinsame historische Entwicklung
oder ein gemeinsam bewohntes Territorium zurück. Die Einheit der Mit-
glieder wurzelt vielmehr im kulturell überlieferten Selbst- und Weltver-
hältnis der im Kontext sozial etablierter Praktiken aufeinander bezogenen
Akteure, wie es Theodore Schatzki auf den Punkt bringt:
„A ‚we’, consequently, is an open-ended collection of people who be-
have mutually intelligibly. [...S]ince intelligibility comes in degrees,
the boundaries of a we are unstable, shifting, and contingent. [...] Be-
ing one of us, consequently, can be redefined as participating in our
practices, where ‚we’ are the people who participate in a particular set
of [...] practices.“ (1996, S. 116)
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4. Fazit
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Literatur
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„You can check out, but you can never leave.“1 –
Identitätsräume zwischen Entgrenzung und Begrenzung
Olaf Jann
„Wir sind alle mehr oder weniger fest in einer bestimmten Lebenswei-
se verwurzelt, mit jedem Recht, diese zu schützen. […] Die Sehnsucht
nach authentischem Gemeinschaftsleben oder den Schutz der eigenen
Lebensweise per se als Rassismus zu verdammen, ist der übliche Fehler
der Liberalen und Linken.“
(Slavoj Žižek)
Gegenwartsgesellschaften charakterisieren sich durch starke ökonomische
Disparitäten, heterogene weltanschauliche Milieus sowie fragmentierte in-
dividualisierte Biographien. Auch wenn inklusiv-divers gestaltete soziale
Verhältnisse normativ gewünscht sind, beruhen gerade posttraditionale,
globalisierte Gesellschaften auf dem Prinzip der Differenzierung, Teilung
und Hierarchie, d. h. sie sind, als System strukturierter Ungleichheit, so-
wohl horizontal differenziert als auch vertikal stark geschichtet. Aktuell
treten Desintegrationsprozesse in ökonomischer, politischer und kulturel-
ler Hinsicht noch einmal besonders akzentuiert hervor, da die, von man-
chem zwar als nostalgisch empfundenen, Kohäsionskräfte des National-
staates dramatisch reduziert worden sind. Entgrenzung ist zur bestimmen-
den Fließrichtung der Epoche geworden. Vor dem Hintergrund einer Glo-
balisierung 4.0 aus Digitalisierung, Klimawandel und Migration sowie
einer inszenierten hypermoralischen postliberalen Zeitenwende werden
die Bürger mit immer neuen psychosozialen Bewältigungsproblemen kon-
frontiert. Da dies ein gesteigertes Maß an Ambiguitätstoleranz und Resili-
enz erfordert, wächst zugleich das Bedürfnis nach Stabilität, Sicherheit
oder zumindest kontrollierten Veränderungen. Auf diese Weise entfaltet
sich ein Potenzial von Konfliktdynamiken das mehrdimensional geschich-
tet ist und sich im Kontext postnationaler Konstellationen, kultureller Li-
beralisierungen sowie ökonomischer Globalisierungen vollzieht. Hier las-
1 Der hier bezeichnete „Hotel-California-Effekt“ ist einer Liedzeile der Eagles ent-
lehnt. Für das ausgezeichnete Lektorat und ihre Unterstützung danke ich ganz
herzlich Janine Wetzel.
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sen sich drei Konfliktlinien feststellen: eine sozioökonomische, die auf Fra-
gen gravierender materieller Disparitäten zielt, eine soziokulturelle, wel-
che differente Identitätskonstruktionen für wertvoll hält sowie eine herr-
schaftskritische, welche die Kluft zwischen den Bürgern und den politi-
schen Eliten im Sinne einer Repräsentationslücke in den Fokus rückt.
Als zentrale Konfliktlinie postindustrieller Gesellschaften deutet sich
eine starke gesellschaftliche Kontroverse an, die im Spannungsfeld von
Entgrenzung versus Begrenzung angesiedelt ist und in deren Kern Aus-
handlungen über Identitätsräume soziokultureller Sicherheit stattfinden.
Der Begriff der Entgrenzung bezieht sich dabei sowohl auf die sozialräum-
lichen Aspekte der Transnationalisierung von Kapital, Arbeit und Men-
schen als auch auf die soziokulturellen Transformationen, bei denen bis-
her geltende soziale, kulturelle und normative Bezüge erodieren. Der Ent-
grenzungskonflikt wird zwischen nationalstaatlich orientierten (konserva-
tive Identitätsorientierung) und eurozentrisch-kosmopolitischen (romanti-
zistische Alteritätsorientierung) Milieus auf der Suche nach ihren je eige-
nen ideologischen und moralischen „Identitätsgehäusen“ (Keupp 1994,
S. 341) antagonistisch ausgetragen und ist zugleich Teil der soziomorali-
schen Selbstdarstellung. Es handelt sich um zwei Resonanz- und Identitäts-
räume, welche die Ambivalenzen einer von Konflikten und Brüchen be-
hafteten Alltagswelt sowie ihren damit verbundenen psychosozialen Be-
wältigungsproblemen, anhand ihrer differenten Sozialmilieus, Lebens-
und Wertewelten, in ihrer Eigenlogik abbildet.2 Die neu erwachte öffentli-
che Debatte um kulturelle Identitäten sollte daher als eine Fortsetzung der
Populismuskontroverse angesehen werden und macht noch einmal deut-
lich, dass diese – auch in der Wissenschaft – sehr ideologisch aufgeladene
Debatte lediglich einen sozialstrukturellen Konflikt verdeckt hat, welcher
wiederum anhand einer soziokulturellen Demarkationslinie nachgezeich-
net werden kann.
2 Der Milieubegriff wird hier für eine soziale Gruppe verwendet, die aufgrund ge-
meinsamer intersubjektiver Beziehungen, kultureller, biografischer und sozial-
räumlicher Bindungsstrukturen einen Komplex moralischer Regeln bilden, welche
sich wiederum im sozialen Umgang niederschlagen und zu Traditionslinien der
Mentalität, d. h. umfassender des Habitus, also der körperlichen wie mentalen, in-
neren wie äußeren Haltung eines Menschen verfestigen (Vester et al. 2001, S. 16,
187). Auf diese Weise kristallisieren sich gegenwärtig zehn differente Untermilieus
innerhalb der sozial gehobenen Milieus, der Milieus der Mitte sowie der Milieus
der unteren Mitte/Unterschicht heraus. Hier durchschneidet die ideologische Lo-
gik der Lager die vertikalen Stufen und führt auf diese Weise zu Koalitionen zwi-
schen verschiedenen Milieus, die von den unteren bis zu den oberen Milieus rei-
chen (vgl. Sinus 2017).
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populär gemacht hatten. Träger dieser Entwicklung war damals eine urbane Mo-
dernisierungselite des Bildungsbürgertums. Analog dazu wird heute die Konstruk-
tion postnationaler Identität wieder entschieden von einer urbanen Elite betrie-
ben.
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4 Entfremdung ist basal „als ein gestörtes Verhältnis zwischen individuellen und kol-
lektiven Subjekten und ihrem sozialen Umfeld“ zu definieren. Als ein Zustand des
eigenen Fremdseins in einer bestimmten Umgebung oder das Gefühl, es mit frem-
den Menschen, Einrichtungen, Gegenständen zu tun zu haben. Entfremdung von
einem Menschen, einem sozialen Umfeld, einer Institution, einer Tätigkeit oder
vom eigenen Ich (Zima 2014, S. 114).
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Identität ist, wie Assmann zutreffend schreibt, „eine Sache des Bewusst-
seins, d. h. des Reflexivwerdens eines unbewussten Selbstbildes“ (Assmann
2002, S. 130). Sozialpsychologisch betrachtet kann der Prozess der Selbstin-
terpretation oder Selbstdefinition als eine kognitive und emotionale Klä-
rung angesehen werden, „mittels dessen ein Mensch sein eigenes Verhal-
ten und Erleben sowie die Reaktionen seiner Umwelt ihm gegenüber in
einen Sinnzusammenhang bringt“ (Simon/Mummendey 1997, S. 16).
Selbstinterpretationen begründen hier Identität und fungieren als Orien-
tierungsraster für Denken, Verhalten sowie Erleben. Dies gilt sowohl für
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das Feld individueller wie auch für das Feld kollektiver Identität. Assmann
nimmt hier eine Dreiteilung vor, indem er die Ich-Identität noch einmal
in eine individuelle und eine personale gliedert. Individuelle Identität soll
„das im Bewusstsein des Einzelnen aufgebaute und durchgehaltene Bild
[…] seines Eigenseins, seiner Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit“
(Assmann 2002, S. 131) sein, manifestiert in der Kontingenz seines Lebens,
seines Daseins und seiner Grundbedürfnisse, gerahmt von einem Komplex
aus Autonomie, Anerkennung, Zugehörigkeit, Partizipation, materieller
und physischer Sicherheit. Personale Identität zeigt das Individuum sozial
kontextualisiert in den spezifischen Konstellationen des Sozialgefüges, sei-
ner Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen und bezieht daher vor allem
auch soziale Anerkennungsprozesse der materiellen, kulturellen, berufli-
chen und politischen Teilhabe mit ein. Im Prozess von Interaktion und
Kommunikation werden Bedeutungen ausgehandelt, mit dem eigenen
Selbstbild verknüpft und die Reaktionen der sozialen Umwelt in einen
Sinnzusammenhang der Selbstrechtfertigung gebracht. Die inhaltliche
Ausprägung der Identität wird im Kontext dieser Interaktionen, Kommu-
nikationen und Körpererfahrungen vor dem Hintergrund der eigenen Bio-
graphie gebildet und unterliegt dabei einer zeitlichen wie räumlichen Di-
mension, die sich aus Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart
speist, aber ebenso in die Zukunft gerichtet wird.
Reflexive Identität steht damit auch für die Haltung, die ich zu mir
selbst und anderen einnehme, wenn ich in Kontakt mit meiner Umwelt
trete. Dabei werden Menschen nicht allein von anderen Individuen, von
Herkunft, Geschichte, Literatur, Musik, sondern auch von territorialen
Merkmalen geformt, von den Häusern, in denen sie leben und den Stra-
ßen, durch die sie gehen, von Mikro- und Makroarchitekturen, von Räu-
men, Gebäuden, Brücken, Plätzen, Bergen, Flüssen, Küsten, Wäldern, Or-
ten und Nicht-Orten, die ihrerseits mit Erinnerungen imprägniert sind
und auf diese Weise die Identität der Menschen kognitiv und emotional
mitformen. Identitäten beruhen damit auf einer (auch explizit sprachli-
chen) Verortung und Ortung und schließen eine Bezugnahme auf das Le-
bensumfeld, den Raum gemeinsamer Teilhabe ein. Sie basieren zudem auf
einer „inneren Konversation, in die Verbalität, Gefühle, habituelle Tätig-
keiten und körpersprachliche Aktivitäten eingebunden sind“ (Liebsch
2002, S. 74). Die in unser Gedächtnis aufgenommenen sozial geprägten
Formen des Wahrnehmens, Denkens, Sehens, Hörens, Fühlens, Sprechens,
Riechens, Schmeckens und Schweigens erfährt der Mensch körperlich, er
bewahrt und speichert diese Erfahrungen als „eine Art Erinnerungsspur“
(Liebsch 2002, S. 77) von Bedeutungsschichten, die im Körper aufgehoben
bleiben, ohne dass die Tast-, Hör-, Geruchs- und Geschmacksbilder zwin-
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gend reflektiert oder interpretiert werden müssen, aber dennoch eine Art
biographische persistente Grundstruktur des Habitus bilden. Dieser ist ne-
ben einer kognitiven, sensorischen und motorischen, damit auch eine nor-
mative Dimension eingeschrieben. Die Existenzbedingungen und Erfah-
rungen des Individuums, die Bewegungen, die Redeweisen, der Gang, die
Körperhaltung oder die körperliche Aneignung des Raumes, sind bis in
das „Innerste des Geschmacks, der Sympathien und Antipathien, der Phan-
tasmen und Phobien“ (Bourdieu 1994, S. 137) in den Körper eingelassen
und präreflexiv davon geleitet. Der Habitus operiert damit als eine Verbin-
dung intensiver emotionaler Energien mit bestimmten Ereignissen, Perso-
nen, Situationen oder Orten wie eine Annäherungs- oder Vermeidungs-
strategie vorbewussten Handelns.
Auf diese Weise existiert eine Verbindung zwischen den kollektiven
Wissensvorräten der Subjekte, den Interpretationsschemata sowie ihren so-
zialen Praktiken. Da den Individuen somit sozialisationsbedingte zeit- und
milieuspezifische Sinnmuster zur Verfügung stehen, auf deren Grundlage
Akteure die soziale Welt interpretieren, ist darin ein tendenziell gleichge-
richtetes Verständnis der sozialen Umwelt angelegt, das wiederum typi-
sche Verhaltensmuster und gleichförmige Praktiken hervorbringt. Wahr-
nehmungsdeterminierende kognitiv-emotive, handlungs- oder interperso-
nelle Sinnattraktoren entstammen hier gespeicherten biographischen, mo-
tivationalen und sozialen Einflüssen. Auf diese Weise sichert die Somatisie-
rung sozialer Verhältnisse legitimierte soziokulturelle Deutungs- und
Handlungsschemata, die zu einer Art „Kollektivbewusstsein“ (Bourdieu
2000, S. 145) führen.
Sowohl die Individuation, als auch die Sozialisation sind somit „kultu-
rell determiniert“ (Assmann 2002, S. 132), da sie in kulturell abhängigen
Bahnen verlaufen und „durch Sprache und Vorstellungswelt, Werte und
Normen einer Kultur und Epoche in spezifischer Weise geformt und be-
stimmt sind. […] Identität, auch Ich-Identität, ist immer ein gesellschaftli-
ches Konstrukt und als solches, immer kulturelle Identität“ (ebd.). Daher
gilt es zu betonen, dass Identität dem Individuum nie frei verfügbar ist,
sondern sich in besonderer Weise in der Anerkennung, Ignoranz oder
Missachtung anderer widerspiegelt. Dies wird dann deutlich, wenn die In-
kongruenz zwischen dem Selbstbild und der Spiegelung durch den signifi-
kanten Anderen aufscheint, so dass eine fundamentale Abhängigkeit des
Selbst von seiner Umwelt erfahren wird. Die Akteure der Gesellschaft wei-
sen uns Plätze zu, sprechen hierarchische Urteile über uns aus, denen wir
uns kaum entziehen können. Dabei bleibt das Individuum in eine „Viel-
zahl von disparaten Beziehungen, Orientierungen und Einstellungen ver-
strickt“ sowie mit „heterogenen Situationen, Begegnungen, Gruppierun-
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Kollektive Identität
Während sich die individuelle Identität bei Assmann auf einen leiblichen
Körper bezieht, ist der Sozialkörper haptisch nicht greifbar, wird er eine
imaginäre Größe, welche aber deshalb nicht weniger der Lebenswirklich-
keit angehört. Auch das kollektive Imaginäre ist eine Realität. Gründet
personale Identität in der Selbstinterpretation als singuläres, einzigartiges
Individuum, so erweitert eine soziale Identität die personale Selbstinter-
pretation insofern die Mitglieder der eigenen Gruppe in die Selbstinterpre-
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katorische Besetzung aus, die auf eine spezifische Kultur in einer bestimm-
ten Epoche bezogen bleibt. Dies impliziert auch eine Wertperspektive, die
etwas darüber aussagt, was eine Gesellschaft für erstrebenswert hält und
wohin sie sich entwickeln will (ebd., S. 16).
Der Annahme kollektiver kultureller Charakteristiken liegt die Existenz
von ähnlich empfundenen Denkstrukturen oder gemeinsamen Denkkate-
gorien einer Epoche zugrunde. Insofern eine Gruppe von Menschen zu
einer bestimmten Zeit kollektive Strukturen des Wahrnehmens, Denkens
und Handelns hervorbringt, stehen Identität, Habitus und Mentalität hier
als vermittelnde Prozesse zwischen der Gesellschaft, deren Normen, Wer-
ten und Strukturen, sind aber zugleich an das jeweilige Individuum ge-
bunden, in denen sich diese prädisponierten Muster und Typisierungen re-
flektieren. Auf diese Weise werden die eigenen Tätigkeiten, Verhaltenswei-
sen und Einstellungen sowie das soziale Miteinander reflektiert. So ist im
Konzept des Habitus die Annahme enthalten, dass ein grundlegender Zu-
sammenhang zwischen den sozialstrukturellen Herkunftsbeziehungen und
den individuellen psychosozialen Haltungen besteht, dass gesellschaftliche
Zustände sich bis in den Körper hinein inkorporieren und die Grenzen
der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungs- sowie damit auch die Erwar-
tungsschemata der Individuen formen.
Wie der Habitus den Dispositionsrahmen der Akteure absteckt, so gene-
rieren Mentalitäten die kulturellen Selbstverständlichkeiten, mit denen
Menschen einer Situation begegnen und diese damit wiederum gestalten.
Die Dialektik von objektiven Gegebenheiten und kollektiv-subjektiven
Vorstellungen begreift mentale Phänomene als soziale Phänomene, da
„das Soziale im kollektiven Mentalen: in den kognitiven Schemata der Ak-
teure, die sich als übersubjektive Codes darstellen“ (Reckwitz 2000, S. 319)
aufzufinden ist. Dinzelsbacher definiert Mentalität denn auch „als das En-
semble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für ein
bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist“ (Dinzelbacher
1993, S. XXI). Generell kann Mentalität als eine Disposition, die zur Re-
produktion gewohnter Denkweisen in relativer Konstanz befähigt und als
ein Komplex beständiger Grundüberzeugungen angesehen werden, wel-
cher allgemeine Gültigkeit für eine Epoche beanspruchen kann. Diese gel-
ten als „Strukturen relativ großer Beständigkeit“ (Rieks 1990, S. 74), die al-
len „gewöhnlichen Leuten eigen sind“ (Hutton 1987, S. 146). „Die Menta-
litätengeschichte ist die Geschichte der Langsamkeit in der Geschichte“
schreibt Le Goff, das „was Cäsar mit dem letzten Soldaten seiner Legionen,
Ludwig der Heilige mit den Bauern seiner Ländereien, Christoph Colum-
bus mit den Matrosen seiner Caravellen gemein hat“ (Le Goff 1987,
S. 21f.).
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ve Identität damit eine „Chiffre“ für das was Individuen in ihrer eigenen
Selbstbeschreibung miteinander verbindet (Straub 1999, S. 104). Die Ge-
samtheit dieser Prozesse können – in Anlehnung an Elwert – als Wir-Grup-
pen-Prozesse bezeichnet werden (Elwert 1989, S. 440). Die Wir-Gruppen
Konstruktion ist ein System, das ein Zusammengehörigkeitsgefühl begrün-
det, sich als moralische Instanz konstituiert und Teilhabe an der Macht an-
strebt. Die Weltsicht bildet hier den „historischen Rahmen“ (Luckmann
2016, S. 31), in dem Individuen zeit- und epochenabhängig ihre Identität
ausbilden. Der Verlust „stabiler Lebenswelten unter den Bedingungen be-
schleunigter Modernisierung“ (Assmann 1998, S. 387) und kapitalistischer
Landnahmen führt zwar zu einem „Gewinn an effektivem Lebensraum“,
der aber für viele Menschen zu unübersichtlich und entgrenzt bleibt, um
Orientierung bieten zu können und de facto einen Schwund „an kontrol-
liertem Lebensraum“ (ebd., S. 388) zur Folge hat. Daher ist der Bezug auf
eine kollektive Identität zugleich ein Stabilisierungsversuch angesichts be-
schleunigter Transformationsprozesse.
Die Fragen personaler und sozialer Identität sind daher zugleich eng
mit einer Perspektive nach der Ausgestaltung der Gesellschaft verknüpft,
da es bei der Frage kultureller Identität um die spezifischen Grundlagen
der Alltagsproduktion und um die Fähigkeit geht, die soziale Verfassung
einer Gesellschaft dominant zu beeinflussen. Die symbolische Ordnung
kultureller Wir-Identität fungiert nicht nur als eine subpolitische Legitima-
tionsordnung, deren Wertsetzungen „den Lebensraum einer Gesellschaft,
einer Zeit, einer Region in seiner Sinnhaftigkeit strukturieren und die den
in ihr Lebenden die Möglichkeit der Orientierung ihres Lebens geben“
(Angehrn 2014, S. 16), bei dem heterogene Interessen und vielfältige Kon-
flikte der pluralistischen Gesellschaft in kollektive Identitätskonzepte
transformiert werden, sondern es handelt sich um eine kulturelle und da-
mit auch politische Konfliktlinie. Die politische Aufladung von askripti-
ven Merkmalen ist eine zugleich neotribalistische, aber auch individualisti-
sche und moderne Antwort auf Entfremdungserfahrungen sowie auf den
Zerfall von nationalen Zusammenhängen und Anerkennungsstrukturen
in konkurrenzorientierten und wettbewerbsbasierten Gesellschaften, in de-
nen Rivalität und das am Anderen orientierte Begehren der Individuen all-
täglich und global geworden sind.
Es ist daher nicht erstaunlich, dass eine forcierte Identitätspolitik den
politischen Raum bereits seit längerer Zeit transformiert hat, ist diese doch
das vorherrschende Thema des veröffentlichten Diskurses, der auf Themen
des kulturellen Rassismus und der Mikroaggression fokussiert ist und sub-
jektivistische Verletzungen, Beleidigungen und Kränkungen als politische
Strategie hat dominant werden lassen. Nicht mehr ökonomische Ungleich-
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Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle
Selbstbestimmung
Ruwen Fritsche
Dass es ein Phänomen personaler Identifikation mit der Kultur einer Ge-
meinschaft gibt, scheint unbestritten. Wie ein so umrissenes Phänomen er-
klärt und verstanden werden kann, ist Gegenstand einer regen wissen-
schaftlichen Debatte. Lässt sich bereits allein aus der Darstellung des Phä-
nomens eine normative Forderung bezogen auf den staatlichen Umgang
mit kultureller Identität gewinnen? Aus Sicht einer normativen politischen
Theorie kann dies nicht ohne die Bestimmung von Legitimitätskriterien
staatlichen Handelns geschehen. Bei der Beantwortung der Frage nach
dem Verständnis des Begriffs der kulturellen Identität vermischt sich die
Frage nach der Erfassung des Phänomens teilweise mit wertenden Thesen,
was kulturelle Identität eigentlich sein soll oder was genau unter der Kul-
tur zu verstehen sei, mit welcher sich identifiziert werden soll. So schlägt
beispielsweise François Jullien vor, die Konzepte der kulturellen Identität
und des kulturellen Wertes durch das Konzept der Kultur als Ressource zu
ersetzen (2017, S. 35ff., 45ff., 65). Dabei setzt er sich für eine „Vielfalt“ von
kulturellen Ressourcen, wie z. B. Sprachen, ein (ebd., S. 55).1 Die Intuition
scheint zu sein, dass über die Rechtfertigung von normativen Thesen in
Bezug auf kulturelle Identität nicht mehr gestritten werden muss, wenn
erst einmal geklärt ist, was Kultur und kulturelle Identität „wirklich“ be-
deuten.
Ich möchte im folgenden Beitrag zwei theoretische Ansätze darstellen
und untersuchen, mit welchen in den 1980er und 1990er Jahren versucht
wurde, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob und wie sich die Identifi-
1 Für Jullien scheint klar zu sein, welche Ressourcen zu diesem Kreis der wünschens-
werten Vielfalt gehören sollen und welche nicht. So stehe Harry Potter für die Ver-
breitung einer Einheitssprache und somit für eine Enteignung der Ressourcen des
Denkens (Jullien 2017, S. 55). Die Lektüre Molières und Rimbauds sowie die „Ele-
ganz“, die man in Frankreich „einst an den Tag legte“ sollen hingegen als gemein-
same Ressourcen „aller Franzosen“ aktiviert werden (ebd., S. 57, 63).
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Zunächst soll kurz der wesentliche Hintergrund der Entwicklung des Li-
beralismus im 20. Jahrhundert bezogen auf die Legitimation staatlicher
Kulturpolitik dargelegt werden. Die „Renaissance der [normativen] politi-
schen Philosophie“ in der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurde maßgeblich
von John Rawls‘ Werk A Theory of Justice von 1971 angestoßen (Kersting
2008, S. 19; eig. Anm.). Die in diesem Werk sehr umfangreich ausgearbei-
tete Theorie der Gerechtigkeit ist vielen als egalitärer Liberalismus mit, aus
US-amerikanischer Sichtweise, weitreichenden sozialpolitischen Forderun-
gen bekannt. Dass Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit kulturpolitischem
Handeln des Staates hohe Legitimationsanforderungen auferlegt hat, dürf-
te weniger bekannt sein. Der Staat soll nach Rawls Kulturinstitutionen nur
dann durch Steuergelder fördern dürfen, wenn diese Institutionen „[…]
unmittelbar oder mittelbar gesellschaftliche Verhältnisse fördern, die die
gleichen Freiheiten sichern und die langfristigen Interessen der am wenigs-
ten Bevorzugten fördern“ (ebd., S. 367). Bürger*innen seien jedoch frei,
sich unter gewissen Bedingungen selbst für beliebige Gründe, also auch
für Kulturförderung, Steuern aufzuerlegen. Dies soll nach Rawls über die
sogenannte Austauschabteilung möglich sein. Diese bediene sich des
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Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle Selbstbestimmung
3 In seinen späteren Werken revidiert Rawls seine Haltung zur Legitimität von Kul-
turförderung und erlaubt eine umfangreichere, perfektionistisch begründete und
steuerfinanzierte Kulturförderung durch den Beschluss einer demokratischen
Mehrheit unter der Voraussetzung der Wahrung der Verfassungsprinzipien
(2014b, S. 236).
4 In verschiedener Form wird diese Kritik in den 1980er Jahren von Theoretikern
formuliert, welche später unter dem Begriff „Kommunitaristen“ zusammengefasst
wurden (vgl. Sandel 1983; Taylor 2001; MacIntyre 2007). Die zusammenfassende
Bezeichnung dieser Kritiker als „Kommunitaristen“ sollte allerdings nicht darüber
hinwegtäuschen, dass diese sich in der Kritik und den dahinterstehenden Annah-
men teils stark unterscheiden (Mulhall/Swift 2003, S. 37ff.).
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5 Liberalism, Community and Culture ist eine revidierte Fassung der Dissertation
Kymlickas. Ein Prüfer der Dissertation war Ronald Dworkin.
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Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle Selbstbestimmung
gen auf die Annahme objektiver Werte. So führt er aus: “Liberalism can-
not be based on skepticism. Its constitutive morality provides that human
beings must be treated as equals by their government, not because there is
no right and wrong in political morality, but because that is what is
right“ (ebd., S. 203). Erst auf Grundlage des zweiten Prinzips der Gleich-
heit, also einer grundsätzlich gleichen Ressourcenverteilung, wirke sich die
daran anschließende Entscheidung eines besonders ressourcenfordernden
Geschmacks nicht zuungunsten anderer aus (ebd., S. 193). Besondere Be-
dürfnisse, welche nicht auf eigene Entscheidungen zurückgehen, wie z. B.
angeborene Behinderungen, müssen nach Dworkin schon bei der Ressour-
cenverteilung korrigierend berücksichtigt werden (ebd., S. 193, 195). Die
Geschmacksunterschiede führten dann, ausgehend von der Ressourcen-
gleichheit, zu einer Ungleichverteilung der Ressourcen, welche von Dwor-
kin als Übernahme der Verantwortung für eigene freie Entscheidungen ge-
deutet wird (ebd., S. 195). Bürger*innenrechte sollten schließlich – gleich
Trümpfen in den Händen von Individuen – als der Mehrheit und dem po-
litischen Prozess gänzlich entzogene Entscheidungskompetenzen verstan-
den werden. Dworkin begründet diese Rechte mit der dadurch gesicherten
weitgehenden Verhinderung der Einwirkung externer Präferenzen (exter-
nal preferences), wie sie insbesondere der Utilitarismus vorsähe. Externe
Präferenzen bezögen sich darauf, was andere Personen tun oder haben
(Dworkin 1984, S. 14, 382ff.; 1985, S. 196f.).
3.2 Kulturelle Identität und der Wert der Struktur von Kultur
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daran, dass Personen, die sich nicht an den Kosten beteiligen würden,
nicht von den positiven Effekten der Kultur ausgeschlossen werden könn-
ten und so weiter von der Kultur profitieren würden (ebd., S. 223). Die At-
traktivität der Annahme, dass Kultur ein öffentliches Gut sein könnte,
liegt, insbesondere für eine liberale Rechtfertigung von Kulturpolitik, auf
der Hand. Der Staat entspräche nach diesen Annahmen lediglich den sub-
jektiven Präferenzen der Bürger*innen und würde ihnen das gewünschte
Gut zu den Kosten zur Verfügung stellen, die die Bürger*innen kollektiv
tatsächlich dafür zahlen würden (ebd.). Es müsste also keine Präferenz nor-
mativ objektiviert werden. Gegen die Annahme, Kultur als öffentliches
Gut anzusehen, führt Dworkin an:
„That argument [Kultur, welche als öffentliches Gut einen Wert für
die ganze Gesellschaft hat] cannot work without some way to identify,
or at least make reasonable judgments about, what people – in the
present or future – want by way of culture; and culture is too funda-
mental, too basic to our schemes of value, to make questions of that
kind intelligible. Our problem is not one of discovery but of sense.“
(ebd., S. 228; eig. Anm.)
Er illustriert dies abstrakte Argument anhand des Wertes von öffentlichen
Parks:
„Suppose we ask, for example, whether our community would rather
have the present richness and diversity of its general culture or more
and better public parks. We have no way of approaching this question
intelligently. The value public parks have for us and the ways in which
we find value in them depend greatly on our culture. Parks would
have very different meaning and value for us if we had no cultural tra-
dition of romantic landscape […]. So the choice just offered is spuri-
ous: we would be assuming our present culture in valuing something
we could only have, by hypothesis, by giving that culture up.“ (ebd.,
S. 228)
Das dargestellte Argument beruht auf der These, dass der Wert von Kultur-
formen prinzipiell nicht kulturunabhängig bestimmt werden kann. In die-
sem Sinne ist Kultur als der Bewertung und bewussten Erfahrung der Kul-
tur notwendig vorgelagert und diese daher bedingend anzusehen. Die Bril-
le der Kultur, durch die wir die Welt nach Dworkins Metapher betrachten,
ist also eher als sozial-kulturelle Linse zu verstehen, welche gerade nicht
wie eine Brille abgenommen werden kann, um den „wirklichen“ Wert von
etwas zu bestimmen.
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tät von Kultur genauer bedeuten soll. Eine solche Komplexität zeige sich
zum einen in unterschiedlichen Werten, welche eine Kultur besitzt – soge-
nannten Wertedimensionen (dimensions of value) – zum anderen finde die
Komplexität Ausdruck in der Innovationsfähigkeit einer Kultur, neue Di-
mensionen herauszuarbeiten und zu verfeinern (develop or elaborate new di-
mensions) (ebd., S. 231). Es lässt sich festhalten, dass Dworkin also einen
objektiv positiven Wert der Struktur von Kultur annimmt, welcher aller-
dings nur erkannt werden könne, wenn eine gewisse Komplexität der Kul-
tur schon gegeben sei.
3.3 Kritik
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sei, die Freiheit zu haben, die Überzeugungen vom guten Leben zu hinter-
fragen (Kymlicka 1989, S. 10ff.; 2003, S. 81).7 Personen müssten daher ein
Bewusstsein dafür bekommen, verschiedene Ansichten über das gute Le-
ben zu untersuchen, sowie die Fähigkeit besitzen, diese Ansichten kritisch
zu hinterfragen (Kymlicka 2003, S. 81).
Wie bei Dworkin auch, geht es bei Kymlicka häufig um spezifische The-
menfelder, insbesondere die Rechte nationaler Minderheiten. Die im Kon-
text der Untersuchung entscheidenden Argumente sind aber explizit Teil
eines weiter angelegten Projektes, mit welchem Kymlicka den Schutz der
kulturellen Identität von Gemeinschaften allgemein begründen möchte.
Kymlicka vertritt in diesem Sinne die These, dass liberal-demokratische
Staaten nicht nur die Individualrechte der Bürger*innen schützen sollten,
sondern auch verschiedene gruppenspezifische Rechte gewähren und poli-
tische Maßnahmen ergreifen müssten, welche die jeweiligen Identitäten
der ethnokulturellen Gruppen anerkennen und auf deren Bedürfnisse ein-
gehen. Die genannten Forderungen sind für Kymlicka das wesentliche
Merkmal eines liberalen Kulturalismus (liberal culturalism) (2001, S. 42).
Liberaler Nationalismus (liberal nationalism) und liberaler Multikulturalis-
mus (liberal multiculturalism) sind nach Kymlicka Formen des liberalen
Kulturalismus (ebd., S. 42).
Bevor die Argumentation im Detail dargestellt wird, scheint es sinnvoll,
zentrale Begriffe des Arguments darzustellen. Durchgehend sieht Kymli-
cka als spezifische Kriterien der Kultur eine gemeinsame Sprache und eine
gemeinsame Geschichte an. Bezieht sich eine so verstandene Kultur auf
eine (intergenerationelle) Gruppe von Menschen bezeichnet Kymlicka dies
7 Kymlicka (2003) sieht sich hier in der Tradition Mills ([1861] 1977), Dworkins
(1983) und Rawls (1994b). Rawls bezieht die Forderung nach der Wahlmöglich-
keit zwischen verschiedenen Konzeptionen des gelungenen Lebens und der Mög-
lichkeit des Hinterfragens der entsprechenden Vorstellungen in seiner liberalen
Gerechtigkeitstheorie allein auf die Konzeption der „öffentlichen Identität“ der
moralischen Person in Bezug auf die öffentliche Gerechtigkeitskonzeption einer
wohlgeordneten Gesellschaft (1994b, S. 121). Kymlicka begibt sich hingegen be-
wusst nicht auf diese abstraktere Ebene der Moraltheorie, auf welcher Rawls die
Kriterien einer moralischen Person zu bestimmen versucht. Kymlicka bezweifelt,
dass ein solches abstraktes Unterfangen, wie das Bestimmen des Begriffs der mora-
lischen Person, sinnvoll sei für seine Agenda der Begründung von gruppendiffe-
renzierten Minderheitenrechten. Seine Fragestellung ordnet er hingegen auf einer
Zwischenebene (mid-level analysis) ein, welche zwischen angewandter normativer
politischer Theorie und abstrakteren Fragestellungen liege (2001, S. 9).
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8 Der Begriff der kulturellen Gemeinschaft ist abzugrenzen von dem, 1995, in dem
Werk Multicultural Citizenship eingeführten Begriff der Gesellschaftskulturen (so-
cietal cultures) (Kymlicka 2003, S. 76f.).
9 Kymlicka äußert sich auch zu besonderen Fallkonstellationen, wie z. B. Flüchtlin-
gen (2003, S. 98).
10 Leicht zu verwechseln ist „[the] membership of a cultural minority“ mit der da-
von zu unterscheidenden „national membership“. Letztere verwendet Kymlicka
irreführenderweise synonym für den Begriff citizenship (2003, S. 23f.).
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festzustellen (ebd., S. 15). So gelte für Immigrant*innen, dass sich ihre kul-
turelle Besonderheit eher in der Familie und freiwilligen Verbänden mani-
festiert und eine institutionelle Integration (institutional integration) daher
nicht dieser Form der kulturellen Gemeinschaft widersprechen würde
(ebd., S. 14).11
Das Konzept der kulturellen Identität spielt in Kymlickas politischer
Theorie eine zentrale Rolle. In dem Werk Liberalism, Community and Cul-
ture von 1989 wird kulturelle Identität als Phänomen beschrieben, welches
sich in den Vorteilen (benefits) manifestiert, welche aus der Mitgliedschaft
in einer kulturellen Gemeinschaft (cultural membership) folgen würden so-
wie in den Kosten (harms), welche mit einer unfreiwilligen Assimilierung
einhergingen (1989, S. 176).12 Im Kontext seiner Theorie bedeutet kulturel-
le Identität so die Identifikation von einzelnen Menschen mit einer kultu-
rellen Gemeinschaft.
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4.3 Kritik
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14 Selbst Lord Devlin geht, entgegen der Wiedergabe durch Kymlicka (1989, S. 169),
nicht von einem solchen Verständnis der Existenz kultureller Gemeinschaften aus
(Devlin 1965, S. 13 Fn. 1).
15 So auch: Baker (2004, S. 11), ohne Berücksichtigung von Kymlickas Begriffsent-
wicklung von kultureller Gemeinschaft (1989) zu Gesellschaftskultur (2003).
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16 Umfassend findet man diese These auch bei Benedict Anderson (2006) ausgear-
beitet.
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Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle Selbstbestimmung
Mitglieds, die einer relativen oder absoluten Mehrheit oder einer sonst wie
dominierenden Teilgruppe?
Werden Individualfreiheiten als legitimierender Ausgangspunkt für
Kollektivfreiheiten verstanden, spricht dies, in Kymlickas Theorie, für eine
entscheidend individuelle Perspektive: “Individual and collective rights
cannot compete for the same moral space, in liberal theory, since the value
of the collective derives from its contribution to the value of individual
lives“ (Kymlicka 1989, S. 140). Wird die Einsicht in die Konstruktion der
Gemeinschaft mit dem normativ individualistischen Ausgangspunkt der
Freiheiten verbunden, bedeutet dies, dass die Relevanz der vermeintlichen
„Existenz“ einer kulturellen Gemeinschaft auf die individuelle Annahme
einer solchen zusammenschrumpft. Geschützt würde so die individuell
(imaginierte) Mitgliedschaft in einer (imaginierten) kulturellen Gemein-
schaft. Was aber wird dann geschützt, wenn kulturelle Mitgliedschaft zu
einem großen Teil individuelle Konstruktion bedeutet?
Die Frage, was der Wert der kulturellen Gemeinschaft bei Kymlicka genau
ist, ist nicht leicht zu beantworten. Zum einen postuliert er, wie oben dar-
gelegt, dass die kulturelle Gemeinschaft Grundlage für die Entscheidungs-
freiheit in dem von ihm vertretenen Liberalismus sei. Diese These be-
schreibt jedoch nicht den Wert der Verbindung zu einer speziellen Kultur,
sondern den Wert der Beziehung zu irgendeiner Kultur allgemein (s. o. die
Kritik von Waldron). Da es aber unmöglich oder zumindest unrealistisch
erscheint, dass man sich aus dem Weltbild jeglicher Kultur löst, bewegt
man sich praktisch immer mit einer, wie Kymlicka mit Verweis auf Dwor-
kin meint, kulturellen Brille oder sozial-kulturellen Linse durch die Welt
(2003, S. 83). Diese grundlegende Beziehung zu (irgend)einer Kultur wird
aber nicht negativ dadurch tangiert, dass Menschen zur Assimilation ge-
zwungen werden. Baker verweist in diesem Zusammenhang auch auf illi-
berale Gesellschaften, welche durch Kastensysteme ebenfalls Optionen
und Bedeutungen durch Kultur bedingen würden (2004, S. 17f.). Allein
aus der Kulturbedingtheit den Schluss ziehen zu wollen, diese Kultur staat-
lich zu fördern scheint aus der Perspektive einer liberalen politischen
Theorie jedenfalls wenig überzeugend. Kymlickas Darlegung zur Kulturbe-
dingtheit ist daher als deskriptive Theorie zum Verständnis von Kultur
überhaupt zu verstehen, aus der aber an sich keine qualifizierte normative
Aussage über Schutz und Förderung einer Kultur gewonnen werden kann.
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Ruwen Fritsche
Kymlicka wendet sich jedoch auch gegen die negativen Folgen einer Po-
litik, welche zu einem kulturellen Identitätsproblem für Mitglieder einer
kulturellen Gemeinschaft führen könne und sich so möglicherweise in
psychischen und/oder physischen Krankheiten manifestiere. Wichtig ist,
dass im Lichte der zuvor gewonnen Einsicht der Konstruktion der (Mit-
gliedschaft in einer) kulturellen Gemeinschaft, genau genommen nur vor
einer als fremdbestimmt wahrgenommenen Veränderung geschützt wer-
den soll. Die Einsicht in die Imagination kultureller Gemeinschaften be-
deutet, dass eine Veränderung der Selbstwahrnehmung kultureller Ge-
meinschaften ein zu erwartendes Phänomen ist, welches bezüglich der Be-
wertung durch die kulturelle Gemeinschaft positiv, negativ, neutral oder
überhaupt nicht bewusst wahrgenommen werden kann. Den Wert, den li-
berale politische Theorien, wie die Kymlickas, also schützen sollten, ist die
selbstbestimmte positive Identifikation von Individuen mit einer Kultur –
oder kurz: kulturelle Selbstbestimmung. Was aber hat die Erkenntnis die-
ses Wertes nun für Folgen für den daraus zu folgernden Schutzmechanis-
mus?
Ich nehme an, dass kulturelle Identität als Phänomen von liberalen norma-
tiven politischen Theorien im Kern als selbstbestimmte positive Identifika-
tion von Individuen mit einer Kultur zu verstehen ist. Dies eröffnet insbe-
sondere dann Verständnismöglichkeiten, wenn es um die Frage der Legiti-
mität von kulturpolitischen Handlungen geht, welche die kulturelle Iden-
tität von Individuen tangieren.
Die oben diskutierten Argumente und Forderungen von Dworkin und
Kymlicka sollen im Folgenden kurz im Lichte des Verständnisses der kul-
turellen Identität als kulturelle Selbstbestimmung bewertet werden. Es
wird sich zeigen, dass die Konflikte so auf grundlegende Streitstände des
Liberalismus verweisen. Dies kann zum einen entmutigend wirken, da die
Konfliktfelder der Freiheit und des Liberalismus seit jeher umstritten sind
und uns die kulturelle Selbstbestimmung so auf altbekannte Debatten der
normativen politischen Theorie verweist. Positiv gefasst halte ich es hinge-
gen für hilfreich, einige der klassischen Streitfelder des Liberalismus für
die Konflikte um kulturelle Identität fruchtbar machen zu können. So
lässt sich gewinnbringend auf die Erkenntnisse dieser langgeführten De-
batten zurückgreifen. Schließlich ist, soweit sich liberale politische Theori-
en Fragen der kulturellen Identität widmen, das Betreten dieser klassi-
schen Problemfelder unausweichlich – kulturelle Identität nicht als kultu-
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Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle Selbstbestimmung
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6. Fazit
Das Postulat der Existenz einer kulturellen Identität alleine reicht nicht,
um aus ihr, im Rahmen liberaler politischer Theorien, normative Schlüsse
zu ziehen. Wird dies getan, werden die tragenden normativen Prämissen
verschwiegen. Andererseits hat die Bestimmung des Phänomens der kultu-
rellen Identität wegen der starken Verbundenheit mit politischen Hand-
lungen, welche kulturelle Identität betreffen, starke Implikationen für jede
normative politische Theorie. Es kann dabei, wie gezeigt wurde, auf elabo-
rierte Versuche, kulturelle Identität in die normative politische Theorie
einzubinden, zurückgegriffen werden. Allerdings wird das facettenreiche
Phänomen der kulturellen Identität auf der einen und die Implikationen
für grundlegende Prämissen liberaler Demokratien auf der anderen Seite
besser verständlich, wenn kulturelle Identität, im Rahmen liberaler norma-
tiver politischer Theorien, als selbstbestimmte positive Identifikation von
Individuen mit einer Kultur verstanden wird.
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Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle Selbstbestimmung
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Teil II: Empirische Konstruktionen
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Pathologische Potenziale kultureller Identitäten: Eine
Gefährdung der Demokratie?
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menhalt entsteht? Im folgenden Abschnitt soll also nun der Versuch unter-
nommen werden, ein funktionales, demokratisches Identitätsprofil zu ent-
werfen, das weder in einer pathologisch unterentwickelten Form des Wer-
terelativismus noch im pathologisch überentwickelten Gegenpart des Wer-
temonismus mündet (Sebaldt 2015, S. 110ff.).
Die demokratische Identität stellt eine produktive Beziehung zu den
kulturellen Teilidentitäten dar, weil erst ihre umfassende Verwirklichung
auch die Freiheit und Gleichheit zur Ausübung und Anerkennung der kul-
turellen Identitäten garantieren kann, insofern diese mit den demokrati-
schen Grundprinzipien vereinbar sind. Als produktiv kann dieses Verhält-
nis dann verstanden werden, wenn der Widerspruch des Empfindens kol-
lektiver Besonderheit der eigenen Gruppe einerseits und universalistischer
Prinzipien der Demokratie andererseits zwar die Demokratie als das ge-
meinsame bindende Element überordnet, aber dadurch auch die Vielfalt
als zweite Dimension anerkennt und schützt. Thomas Meyer konzipiert
dazu ein Drei-Ebenen-Modell der kulturellen Sphäre, das ähnlich zu der
hier formulierten Logik des produktiven Widerspruchs kultureller Identi-
täten und demokratischer Identität funktioniert: erstens „metaphysische
Sinngebungen und Heilserwartungen“ (ways of believing), zweitens indivi-
duelle und kollektive „Lebensweise und Alltagskultur“ (ways of life) sowie
drittens „soziale und politische Grundwerte des Zusammenlebens“ (ways
of living together) (2002, S. 201). Die demokratische Identität einer rechts-
staatlichen Demokratie besteht dann aus der gemeinsamen Definition de-
mokratischer Grundwerte auf der dritten Ebene, unter der Maxime, dass
auf den ersten beiden Ebenen – also den jeweils spezifischen kulturellen
Identitäten – größtmögliche Freiheit gewährt werden kann. In einer eige-
nen Weiterentwicklung dieses Drei-Ebenen-Modells werden nun drei Di-
mensionen demokratischer Identität vorgeschlagen, die die Basis gesamtge-
sellschaftlicher Stabilität und Integration in Demokratien darstellen (s.
Abb. 1): Anerkennung des Gemeinwesens, Anerkennung des Anderen so-
wie die Bereitschaft zur Teilhabe.
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Pathologische Potenziale kultureller Identitäten: Eine Gefährdung der Demokratie?
Systems zum Ausdruck gebracht (2008, S. 48). Übertragen auf die kollekti-
ve Ebene sieht Möllers demokratische Identität als Eigenschaft eines Kol-
lektivs darin, dass dieses sich gemeinsam dazu bekennt demokratische Ent-
scheidungen zu treffen. Eine „Verabsolutierung kollektiver Identitäten“
(Möllers 2008, S. 51) und die Überhöhung von Kulturen stehe dieser de-
mokratischen Identität jedoch im Wege, da die Allgemeingültigkeit der
demokratisch beschlossenen Regeln des Zusammenlebens untergraben
wird. Möllers beschreibt demokratische Identität somit in erster Linie aus
einem prozeduralen Blickwinkel der Anerkennung demokratischer Spiel-
regeln und deutet zumindest an, dass Kulturen und kollektive Identitäten
im Spannungsverhältnis dazu stehen können.
Auf der Suche nach demokratischer Identität kommt Felix Heidenreich
hingegen zu dem Schluss, dass die Gefahren des Identitätsbegriffs nur
durch ein „vokatives Wir“ (2014, S. 31) umgangen werden können und
Identität ein ‘Wir’ begründen kann, das nicht abgeschlossen ist: „Es muss
gestützt und geschützt werden durch ein empathisches Wir-Sagen und da-
bei stets im Blick behalten, was dies für diejenigen bedeutet, die damit
nicht gemeint sind“ (ebd.). Damit betont Heidenreich die Notwendigkeit
kollektiver Identitäten, sich ständig über Rituale, Symbole, Bräuche und
Traditionen ihrer selbst zu vergewissern und besonders in Demokratien
mit einem ständigen Sprechen und Diskutieren ein Narrativ über das eige-
ne Wir zu erzeugen. Der frühere deutsche Bundespräsident Joachim
Gauck hat dieses Wir-Gefühl als „Loyalität von Verschiedenen gegenüber
dem Gemeinwesen“ (2018) bezeichnet. Demokratische Identität kann bis-
her also als ein gemeinsames Anerkennen demokratischer Entscheidungs-
regeln sowie ein wie auch immer geartetes Wir-Gefühl im Sinne der Ver-
bundenheit gegenüber dem politischen Gemeinwesen beschrieben wer-
den. Russell Dalton nennt die Identifikation mit der politischen Gemein-
schaft „the most fundamental of political identities […]“, weil „a strong
emotional attachment to the nation presumably provides a reservoir of dif-
fuse support that can maintain a political system through temporary peri-
ods of political stress“ (1999, S. 72).
Damit scheint das Sujet demokratischer Identität eng mit dem Gegen-
stand der klassischen politischen Kulturforschung in Verbindung zu ste-
hen. Die wichtigste Antwort auf die Frage, unter welchen sozial-kulturel-
len Bedingungen politische Systeme sich als stabil erweisen, lieferten Ga-
briel Almond und Sidney Verba (1963, 1980), wonach die civic culture als
Mischform politischer Kultur den funktional stabilsten gesellschaftlichen
Untergrund für ein demokratisches System bietet. Das Kernelement der ci-
vic culture stellt eine Kombination aus aktiver Einmischung und Partizipa-
tion am Gemeinwesen und dem gleichzeitigen Bewusstsein für das Private,
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Pathologische Potenziale kultureller Identitäten: Eine Gefährdung der Demokratie?
[…] den Prozeduren der liberalen Demokratie“ (Müller 2010, S. 10). Aber
wie Jürgen Habermas richtig anmerkt, könne eine staatsbürgerliche Soli-
darität nur dann hergestellt werden, wenn die sich aus der Verfassung er-
gebenden Prinzipien der Gerechtigkeit in den Wertorientierungen der Ge-
sellschaftsmitglieder verankert sind (2006, S. 25).
Ein Konzept demokratischer Identität muss deshalb über den Kontext
der klassischen politischen Kulturforschung, also die Einstellungen gegen-
über dem politischen System und seinen Institutionen, hinausgehen und
die veränderten Bedingungen für die Anerkennung zwischen den einzel-
nen Gesellschaftsmitgliedern berücksichtigen. Somit ist auch die Verwen-
dung des Identitätsbegriffes zu rechtfertigen: Demokratische Identität
mündet mit Sicherheit in einer demokratischen politischen Kultur, die
sich durch eine aktive Unterstützung des politischen Systems ausdrückt,
legt aber weiterhin das Augenmerk auf die dem Identitätsbegriff eigene Be-
ziehung zwischen dem ‘Wir’ und dem ‘Anderen’. Und diese Beziehung
wird in erster Linie über kulturelle Aspekte definiert, sprich über partiku-
lare Teilidentitäten, die sich nicht auf das demokratische Kollektiv bezie-
hen. Die Anerkennung des Anderen umfasst somit die zweite Ebene de-
mokratischer Identität.
Francis Fukuyama (1992, S. 17ff.) hat bereits dargestellt, dass in den li-
beralen, westlichen Demokratien der „Kampf um Anerkennung“ zu einem
zentralen Bedürfnis und treibender Kraft der Geschichte geworden ist.
Emanuel Richter betrachtet die Kategorie der Anerkennung sogar als für
die Demokratie zwingend notwendige Form sozialer Integration (2008,
S. 45). Gleiche und umfassende Anerkennung als grundlegender normati-
ver Wert wird in modernen Gesellschaften besonders durch Verteilungs-
kämpfe, also auch Anerkennungskämpfe, herausgefordert. In der demo-
kratischen Öffentlichkeit besteht der Kampf um Anerkennung vor allem
darin, die eigenen Bedürfnisse mit denjenigen anderer in Beziehung zu set-
zen und zu vergleichen. Eine verfehlte Anerkennung kann in Gesellschaf-
ten durch ungleiche Verteilung von Gütern oder Chancen, aber auch
durch gesellschaftliche Ausgrenzung, Stigmatisierung oder Verweigerung
des Zugangs in die Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Wertschätzung
und Vertrauen gegenüber den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft sind
dafür erforderliche Werte des Zusammenlebens in demokratischen Gesell-
schaften (vgl. Inglehart 1999; Offe 1999; Warren 1999). Aber auch die be-
sondere Anerkennung kultureller Vielfalt und Diversität ist zu überprüfen.
Multikulturalität ist zur Realität in den westlichen Demokratien und Fra-
gen der Anerkennung von und des Umgangs mit kultureller, ethnischer
und religiöser Diversität zur Bewährungsprobe freiheitlicher Gesellschafts-
ordnungen geworden (vgl. Benhabib 1996; McDonald 1991; Pickel/Pickel
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Demokratische
Identität
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Neben den beschriebenen Extremen einer kulturellen Identität, die auf die
Nation als kulturelle oder ethnische Gemeinschaft abzielt, kann auch die
Region als Dimension kultureller Identität pathologische Züge aufweisen:
Ein Mangel an regionaler Identität führt einerseits zu regionaler Entgren-
zung der Demokratie, die als politischer Entscheidungsmechanismus be-
sonders auf den untersten Ebenen des politischen Systems erfahrbar wird.
Andererseits ist ein Übermaß an regionaler Identität ebenfalls für den Zu-
sammenhalt der Gesellschaft gefährlich, wenn sich daraus sezessionistische
und separatistische Bestrebungen ableiten – deren Destabilisierungspoten-
zial hier ohne eine Bewertung von Legitimität oder Illegitimität der politi-
schen Ziele angenommen wird – und die bestehenden Grenzen der Demo-
kratie in Frage gestellt werden. Die regionale Entgrenzung, oder anders
ausgedrückt, das Fehlen jeglicher regionalen Verwurzelung kann aus meh-
reren Gesichtspunkten für die demokratische Identität problematisch sein:
Die lokale und regionale Ebene ist der Ort, an dem Bürgerinnen und Bür-
ger Politik und Demokratie konkret erfahren können (vgl. Mühler/Opp
2006; Castells 2017). Ein gesundes Maß an regionaler Identität stärkt die
Partizipationsbereitschaft in politischer und zivilgesellschaftlicher Hin-
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Lebensrealität unterscheiden kann und sich dies durch die kulturelle Glo-
balisierung und Zuwanderung aus anderen religiösen und soziokulturel-
len Kreisen vermutlich noch verstärkt, sieht Sebaldt diesen Zivilrepublika-
nismus eher als „Lebenslüge […], denn das seither zur republikanischen
Staatsdoktrin gehörende Kernelement der ‘Laïcité’ will eben nicht recht zu
der Tatsache passen, dass die große Mehrheit der Franzosen katholisch ge-
blieben ist“ (2015, S. 114). Seyla Benhabib zeigt deshalb auf, dass ein star-
res Festhalten an dieser weltanschaulichen Neutralität auch rückwärtsge-
richtete Effekte erzielen kann und in einer funktionierenden, modernen
Demokratie kosmopolitische Normen – wie in diesem Fall die Religions-
freiheit – neu ausgehandelt und angepasst werden müssen (vgl. 2008). Die
Kopftuchdebatte zeige diesen Gegensatz zwischen der staatlichen Laizität
und dem Recht auf individuelle Glaubensausübung besonders gut: Jedoch
habe sich durch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und das Einmi-
schen von Migrantinnen und Migranten die Bedeutung des Kopftuches
vom religiösen Symbol (und deshalb gegen die Laicitè verstoßend) hin
zum Symbol der eigenen, persönlichen Identität verschoben. Letztendlich
war der Kopftuchstreit der Beginn einer notwendigen Debatte um das
„französische republikanische Selbstverständnis der Linken wie der Rech-
ten“ sowie um „die Stellung von Liberalismus, Republikanismus und Mul-
tikulturalismus sowie deren Beziehung untereinander“ (Benhabib 2008,
S. 50).
Im Gegensatz dazu steht das andere Extrem, ein überzogener religiöser
Identitätsbezug, ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zur Entstehung
einer gesamtgesellschaftlich verbreiteten demokratischen Identität.
Thomas Meyer hat den Begriff des „Identitätswahns“ (2002, S. 13) zur Be-
schreibung der fundamentalistischen Konstruktion und Beschwörung
einer reinen kulturellen, in diesem Fall religiös begründeten Identität mit
dem Ziel der Legitimation sozialer und politischer Interessen und Macht-
bestrebungen, eingeführt. Nicht nur ist damit eine Abwertung und restrik-
tive Abgrenzung vom nichtreligiösen Teil der Gesellschaft einhergehend,
sondern auch die fehlende Anerkennung der Demokratie und der grundle-
genden demokratischen Spielregeln kann daraus resultieren (vgl. Liedhe-
gener 2016). Oliver Hidalgo präzisiert dieses Spannungsverhältnis wie
folgt: „Damit sich die Religion mit dem demokratischen Rechtsstaat ver-
trägt, hat sie […] Pluralitäten und Individualitäten (und selbstredend auch
die demokratisch legitimierten und organisierten Transmissionsriemen der
politischen Machteinweisung) zu respektieren. […] Sie darf sich nicht zur
allumfassenden kollektiven Identität aufschwingen, sondern muss die Au-
tonomie der anderen gesellschaftlichen Sphären anerkennen“ (2016,
S. 169). In dieser Richtung alarmieren nicht nur religiös-fundamentalisti-
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sche Strömungen aus dem Islam, sondern auch die Zunahme protestanti-
scher Freikirchen in den USA oder der Anstieg religiöser Sektenmitglieder
auch in der Bundesrepublik Deutschland (Meyer 2011, S. 52).
5. Fazit
Dieser Beitrag hatte nicht nur zum Ziel, eine (bejahende) Antwort auf die
Frage zu geben, ob es kulturelle Identität gibt, sondern weiterführend das
Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Dimensionen kultureller
Identität und einem funktionalen Identitätsmaß demokratischer Gesell-
schaften zu erarbeiten. Dies erscheint insbesondere aufgrund der Spal-
tungstendenzen in den Gesellschaften zahlreicher westlicher, aber auch
nicht-westlicher Demokratien relevant, spielen doch kulturelle Argumente
in den dazugehörigen Diskursen eine zentrale Rolle.
Aufbauend auf zentralen Überlegungen der politischen Kulturfor-
schung und unter Ergänzung durch theoretische Fragmente aus der Identi-
tätsdebatte wurde eine Form demokratischer Identität als idealtypischer
Maßstab festgelegt. Eine integrative gesellschaftliche Identität beinhaltet
positive Identifikation mit dem nationalen Gemeinwesen und der Demo-
kratie als Regierungsform. Darüber hinaus zeichnet sie sich durch generali-
siertes Vertrauen, die Offenheit gegenüber Diversität und ein agonistisches
Politikverständnis aus sowie schlussendlich auch durch eine partizipatori-
sche Komponente, die über die Grenzen des eigenen Identitätsmilieus hin-
ausgeht. Unter der Annahme dieses Idealtypus demokratischer Identität als
funktionale Mitte zeigt sich, dass sowohl links als auch rechts dieser Mitte
pathologische Extremformen kultureller Identität die demokratische Iden-
tität gefährden können: ein überzogener kultureller Relativismus ebenso
wie eine Überhöhung hegemonialer Leitidentität, eine völlige Loslösung
von der regionalen Identifikationsebene genauso wie eine in den Separatis-
mus abgleitende Extremform regionaler Identität und schlussendlich, auch
eine völlige Abwesenheit religiös-weltanschaulicher Konsensfindung eben-
so wie die fundamentalistische Form religiösen Identitätswahns. Der Ver-
such, die funktionale Mitte eines gesunden Identitätsmaßes zu definieren,
ist natürlich nicht ohne Probleme, wenn nicht gar unmöglich und hängt
letztendlich auch von dem zugrundeliegenden normativen Demokratie-
modell ab. Aus Sicht der republikanisch-kommunitaristisch geprägten De-
mokratietradition steht jedoch außer Frage, dass eine stabile demokrati-
sche Gemeinschaft einen gewissen Grad an Gemeinsinn benötigt. Der Ide-
altypus demokratischer Identität formuliert dann, unter Einhaltung dieses
gemeinsamen Nenners, durchaus auch die Freiheiten eigene Identitätsdi-
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Publikationen/LW_Studie_2017_Unbehagen_an_der_Vielfalt.pdf, 3.7.2018.
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Pathologische Potenziale kultureller Identitäten: Eine Gefährdung der Demokratie?
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Pathologische Potenziale kultureller Identitäten: Eine Gefährdung der Demokratie?
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Narrative Identität und kulturelle Differenz – Eine
erzähltheoretische Perspektive auf Konstruktionen des
Anderen
1. Einleitung
Sowohl der Begriff der kulturellen Identität als auch der Begriff des Narra-
tivs haben derzeit in der politischen und medialen Debatte Konjunktur.
Gerade im aktuellen Einwanderungsdiskurs wird wieder vermehrt auf eine
vermeintliche kulturelle Identität Deutschlands rekurriert. Dabei wird mit-
unter das längst totgesagte Konzept der Leitkultur erneut bemüht oder be-
hauptet, es ginge – so Sigmar Gabriel im Spiegel-Interview – nun wieder
im Kern „um eine kulturelle Haltung und um Fragen nach Identität“
(Spiegel 2017). Forderungen nach einer restriktiven Migrations- und Asyl-
gesetzgebung werden nicht zuletzt mit Bezug auf vorgeblich unüberwind-
bare kulturelle Differenzen begründet. Kulturelle Identität wird hier indes
meist als ebenso statisches wie homogenes Konzept gedacht. Auf der ande-
ren Seite taucht jüngst immer wieder die Forderung nach neuen Erzählun-
gen auf. Etwa ist häufig zu hören, dass Europa ein neues Narrativ bräuch-
te, um die Europäische Union (EU) aus ihrer Identitätskrise zu führen.
Ebenso scheint mittlerweile breit anerkannt, dass die moderne Metaerzäh-
lung der liberalen Demokratie in eine Krise geraten ist. Es wirkt mitunter,
als könne man neue Erzählungen schlicht erfinden und dann strategisch
einsetzen, um dem erstarkenden Rechtspopulismus die Stirn zu bieten.
Tatsächlich stellt sich die Entstehung von Identitätsnarrativen aber als ein
komplexer diskursiver Prozess dar, in dem Erinnerungen aufgerufen, Er-
fahrungen zur Sprache gebracht und Texte, Handlungen und Erzählungen
(re-)interpretiert werden.
Insbesondere die zentral durch den Philosophen Paul Ricœur geprägte
neuere Erzählforschung schreibt Erzählungen einen epistemologischen
und ontologischen Status zu (vgl. u.a. Ricœur 1988, 1989, 1991a; Somers
1994; Bal 2002; Müller-Funk 2002). Geschichten sind demnach weder als
bloße Repräsentationen von Wirklichkeit noch als strategisch intendierte
Handlungen zu verstehen, sondern als grundlegender Modus der Sinnpro-
duktion, durch den vergangene Ereignisse mit den Erwartungen zukünfti-
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Narrative Identität und kulturelle Differenz
Roland Barthes (1988, S. 102) hat die Erzählung als universelles Phänomen
herausgestellt und ihren transhistorischen und transkulturellen Charakter
betont. Erzählen kann insofern auch als anthropologische Konstante
menschlichen Lebens angesehen werden, als sich vielfältige Formen der
Vergemeinschaftung auf gemeinsam geteilte Geschichten beziehen (Ber-
gem 2014, S. 33). Menschen sind, wie Wilhelm Schapp bereits 1953 festge-
stellt hat, stets „in Geschichten verstrickt“ (vgl. [1953] 2004). Dabei sind
Erzählungen sinnstiftend, nicht aufgrund ihrer Inhalte, sondern aufgrund
ihrer strukturellen Konstellation: Sie schlagen eine lineare Ordnung des
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3 Ursprünglich hat der Begriff der Erzählung vor allem in der Literaturwissenschaft
und dort insbesondere in der strukturalistischen Narratologie eine breite Ausarbei-
tung erfahren. Erst in den 1990er Jahren wurde er vermehrt transdisziplinär – zu-
nächst in der Geschichtswissenschaft und der Wissenschaftstheorie, dann auch in
der Kulturwissenschaft, Psychologie und Philosophie – aufgegriffen (Nünning/
Nünning 2002, S. 5; Koschorke 2012, S. 19; Biegoń/Nullmeier 2014, S. 39). Die So-
zialwissenschaften sind hier hingegen nach wie vor zögerlich.
4 Seine umfassende Erzähltheorie entwickelt Ricœur zunächst in seinem dreibändi-
gen Werk Zeit und Erzählung (1988, 1989, 1991a). Später widmet er sich in seinen
Werken Das Selbst als ein Anderer (1996) und Die lebendige Metapher (2004) explizit
dem Konzept der narrativen Identität.
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Narrative Identität und kulturelle Differenz
5 Im Anschluss an Aristoteles Definition des Ganzen als etwas, das Anfang, Mitte
und Ende besitzt, rekonstruiert Ricœur die Fabel (griechisch: Mythos) als „Modell
der Konsonanz“ (Müller-Funk 2002, S. 73). Die Fabel, verstanden als „Zusammen-
setzung der Handlungen“ betont die Konsonanz, welche durch drei Merkmale ge-
kennzeichnet ist: „Vollständigkeit, Totalität, entsprechenden Umfang“ (Ricœur
1988, S. 66). Die Dissonanz des Lebens, bestehend aus kontingenten Ereignissen,
unerwarteten Umbrüchen oder Veränderungen, wird durch das der Erzählung in-
härente Streben nach Einheitlichkeit aber niemals vollständig aufgelöst, sondern
nur aufgehoben. Diese innere Dialektik der dichterischen Komposition erfasst
Ricœur mit dem Modell der Erzählung als „dissonanter Konsonanz“ (ebd.,
S. 71ff.).
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6 Genau in dieser Aneignung zeigt sich für Ricœur die Verschränkung des Eigenen
im Anderen. Dazu heißt es bei ihm: „Sich eine Figur durch Identifikation aneig-
nen bedeutet, sich selbst dem Spiel imaginativer Variationen unterwerfen, die so
zu imaginativen Variationen des Selbst werden. Durch dieses Spiel bestätigt sich
das berühmte Wort von Rimbaud (das mehr als einen Sinn hat!): Ich ist ein ande-
rer“ (2005, S. 222f.; Herv. im Orig.).
7 Eine ähnliche Betonung des Aspektes der Veränderung findet sich auch bei
François Jullien (2017, S. 47), der das Kulturelle als Spannung des Vielfältigen be-
greift, das ununterbrochen mutiert und sich verwandelt. Anders als Ricœur ver-
wirft Jullien das Begriffspaar Identität/Differenz und plädiert für ein Konzept des
„Zwischen“ (ebd., S. 40ff.), welches jedoch letztlich ebenso wie das Ricœur’sche
Konzept narrativer Identität darauf verweist, dass ein Rückzug auf die eigene Iden-
tität deshalb nicht möglich ist, weil das Eigene stets vom Anderen abhängig bleibt.
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Narrative Identität und kulturelle Differenz
8 Ricœur unterscheidet hier noch zwischen fiktiven Geschichten und solchen, die
an historische Ereignisse anknüpfen und in diesem Sinne ‘wahr’ sind. Diese starke
Trennung ist sicherlich so nicht haltbar.
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lich und veränderbar. In den Vordergrund rücken durch das Konzept der
narrativen Identität die Kontexte, in denen sich Subjekte bewegen. Denn
Subjektivierung vollzieht sich immer vor dem Hintergrund der Formbe-
stände des Narrativen in einem kulturspezifischen Raum (Müller-Funk
2002, S. 14). Die vorhandenen Erzählbestände von Kulturen fungieren im
Sinne eines „kollektiven Gedächtnisses“ (Halbwachs 1967), auf das sich die
Subjekte affirmativ oder auch subversiv beziehen. So eröffnet der Rezepti-
onsakt Subjekten zugleich die Möglichkeit zur Neugestaltung, zur „Eröff-
nung neuer Welten“, welche die Grenzen der gegebenen Welt überschrei-
ten (Ricœur 1991b, S. 490).
Ricœurs Konzept der narrativen Identität ist zunächst auf die Ebene des
Individuums und der personalen Identität ausgelegt. Im dritten Band von
Zeit und Erzählung konstatiert er, dass sich kollektive Identität in gleicher
Weise narrativ konstituiert und zwar als „Zuweisung einer spezifischen
Identität an ein Individuum oder eine Gemeinschaft“ (Ricœur 1991,
S. 397; Herv. im Orig.), führt diesen Gedanken aber nicht weiter aus. Die
hier vorgenommene Gleichsetzung von Individuum und Gemeinschaft
und die damit einhergehende Definition der Gemeinschaft als Makrosub-
jekt ist jedoch problematisch, insofern die systematische Bezugsinstanz der
Affizierung durch die Gesamtheit des wirkungsgeschichtlichen Zusam-
menhangs und der kulturellen Symbolik (und damit auch der Erzählun-
gen) stets nur das singuläre Dasein, also das Selbst im Ricœur’schen Sinne
sein kann (Scharfenberg 2011, S. 347f.). Hier ist entsprechend zwischen
der Zuweisung von Identität und der Übernahme von Identität zu unter-
scheiden. Während die Fremdbestimmung, etwa „das französische Volk“
durchaus auf kollektiver Ebene erfolgen kann, ist die selbstreferentielle
Übernahme der Identität, also die Applikation auf das Selbst- und Weltver-
ständnis notwendig individuell angelegt. So können einzelne Personen
Narrationen über ein Kollektiv hervorbringen und verändern, die Aneig-
nung dieser kollektiven Identität verbleibt aber beim Individuum. Kollek-
tive Identität ist entsprechend begrifflich, wie Wolfgang Bergem darlegt
„als Metaphorisierung personaler Identität“ (2016, S. 126) zu verstehen. Sie
drückt sich darin aus, dass Personen in Bezug auf bestimmte Aspekte mit
anderen Personen übereinstimmen und diese Identität auch über den
Wechsel von Gruppenmitgliedern hinweg relativ konstant bleiben kann
(ebd., S. 127). Gerade diese subjektive Dimension von Identität verdeut-
licht den Konflikt der Interpretationen, insofern das Subjekt immer zwi-
schen konkurrierenden Subjektivierungsweisen wählen kann und muss.
Die Stärke einer narrativen Perspektive liegt darin, dass sie das Wechsel-
spiel zwischen Subjektivität und kultureller Basis des Verstehens in den
Blick nimmt und damit die Dinge jenseits des Subjekts – Objektivitäten
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Narrative Identität und kulturelle Differenz
kennen sind wie in der Moderne, wird Kultur zu einem noch stärker um-
kämpften Feld der Auseinandersetzung. Auch die Bindekraft großer Kol-
lektividentitäten wie Nation oder Klasse hat in diesem Zuge merkbar
nachgelassen. Stattdessen gewinnen individuelle und kollektive Selbstinter-
pretationen vor dem Hintergrund prinzipieller Kontingenz des Selbstverste-
hens an Bedeutung (Reckwitz 2008, S. 59).
Ricœur hat unseren Blick bereits auf die individuelle Ebene der Sinn-
produktion gelenkt und eine Perspektive eröffnet, die es ermöglicht Identi-
tät in ihrer Instabilität und Veränderlichkeit zu denken, die gerade durch
die beständige (Re-)Interpretation von im Repertoire von Kulturen vor-
handenen Geschichten entsteht. Diese Deutungshorizonte, vor dem Hin-
tergrund derer sich Subjekte als Individuen oder Kollektivmitglieder inter-
pretieren, sind, wie auch Reckwitz (2008, S. 60ff.) darlegt, keineswegs uni-
versell, sondern stets historisch und kulturell spezifisch. Zugleich müssen
wir davon ausgehen, dass verschiedene Sinnhorizonte und kulturelle Tra-
ditionen gleichzeitig im Subjekt und in den Kollektiven wirksam werden
und sich auf nicht berechenbare Weise miteinander kombinieren (ebd.,
S. 82). Das Subjekt ist dann zugleich Träger unterschiedlicher kultureller
Codes. Diese Situation lässt sich mit Homi K. Bhabha (2012) als „kulturel-
le Hybridität“ beschreiben. Anhand der kolonialen Verhältnisse zeigt Bh-
abha, dass Hybridisierung nicht einfach die Assimilation an eine andere
Kultur meint, sondern vielmehr die konflikthaften und machtvollen An-
eignungsprozesse von Identität beschreibt, die durch das Überlappen von
Sinnhorizonten entstehen:
„Dadurch werden die Symbole der Autorität hybridisiert und etwas Ei-
genes daraus gemacht. Hybridisierung heißt für mich nicht einfach
Vermischen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeu-
tungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit
gefährdet sind.“ (Bhabha 2007)
Diese Prozesse können aber ebenso zu Verunsicherungen und verstärkten
Authentizitätsbehauptungen führen. Entsprechende Identitätskonflikte
werden vor dem Hintergrund der Verschränkung von Kulturen durch Pro-
zesse der Globalisierung und der Migration zunehmend sichtbar. Dem
Versuch, dabei Sinngrenzen und Kollektivgrenzen in Deckung zu bringen
Fragmentierung von Identitäten in dieser Epoche nochmals verstärkt hat. Auf der
anderen Seite ist zu beachten, dass auch die postmoderne Proklamation vom „En-
de der großen Erzählungen“ (vgl. Lyotard 1986) in sich selbst ein Narrativ dar-
stellt, das seinerseits nach Übersichtlichkeit strebt (Bizeul 2018, S. 17).
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und damit eine homogene Kultur zu behaupten wohnt jedoch stets eine
Tendenz zur Totalisierung und zu gefährlichen Ausschlüssen inne. Auf
diese Gefahr weisen insbesondere poststrukturalistische und postkoloniale
Autor*innen hin. So zeigen etwa Ernesto Laclau und Chantal Mouffe
(2006), dass Identitäten aufgrund der Kontingenz des Sinnverstehens
grundsätzlich als prekär und unabgeschlossen zu denken sind und verdeut-
lichen die Totalisierungsgefahr, die sich durch Versuche identitärer Schlie-
ßung ergeben. Und Stuart Hall (1994, S. 195f.) schlägt in diesem Sinne
vor, anstatt von Identitäten besser von Identifizierung als Prozess zu spre-
chen.
Ricœurs zentrales Argument, dass wir uns stets in einem Zustand der
Differenz zu uns selbst befinden, also unsere Identität gerade durch die ir-
reduzible Verschränkung des Eigenen im Anderen niemals objektivierbar,
sondern immer aufgeschoben ist, lässt sich vor allem mit Bezug auf Derri-
da noch einmal verstärken. Bei Derrida heißt es: „Es gibt keine Kultur und
keine kulturelle Differenz ohne diese Differenz mit sich selbst“ (Derrida
1992, S. 12). In Prozessen der Selbstthematisierung verbleibt nach Derrida
daher stets etwas Ausgeschlossenes, ein fiktives Anderes von dessen Be-
zeichnung Subjekte in ihrer Existenz zugleich abhängig sind (vgl. Derrida
2004). Erzähltheoretisch reformuliert bedeutet dies, dass Identitätsnarrati-
ve stets eine klare Ordnung vorschlagen, in der Identität sich gerade durch
den negativen Bezug auf etwas entwirft, das nicht-gleich ist, auf ein fiktives
Bild des Anderen, der wir Angst haben zu sein oder zu werden (Müller-
Funk 2012, S. 11). Kollektive erzählen also Geschichten über ‘Fremde’, um
sich ihrer eigenen Identität zu vergewissern und greifen dazu auf im narra-
tiven Repertoire bestehende kollektive Selbsterzählungen wie etwa natio-
nale Mythen zurück, die auch als latent vorhandene wirksam sind:
„So enthält die Erzählung über das andere Land einen narrativen
Komplex der eigenen Kultur, der eben nicht direkt angesprochen zu
werden braucht. [...] Nicht die Delegitimierung des Fremden, sondern
die Legitimierung und Verstärkung der eigenen kulturellen Selbstver-
ständlichkeitsdebatte steht zur Disposition.“ (ebd., S. 159)
Die innere Ambivalenz von Kulturen bringt dabei zwei widersprüchliche
Tendenzen hervor: Zum einen wird in kollektiven Selbsterzählungen kul-
turelle Differenz immer wieder manifestiert. Zum anderen scheint in der
notwendigen Wiederholung, im ständigen Wieder-Erzählen, auch immer
die Instabilität hegemonialer Narrative auf. Und genau an diesen „Rissen“
der Narrative werden alternative Identitätserzählungen möglich.
Bhabha (2000) verdeutlicht dieses Wechselspiel am Beispiel des kolonia-
len Subjekts. Im Anschluss an Derrida zeigt er die Gefahren der Deutungs-
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11 Gerade zu Beginn der so genannten ‘Flüchtlingskrise’ im Jahr 2015 war der me-
diale Diskurs stark durch Empathie geprägt. Porträtierungen von Flüchtlings-
schicksalen und die Darstellung der Seenotunglücke im Mittelmeer dominierten
die Berichterstattung. In diese Zeit fallen auch die emotional aufgeladene Bericht-
erstattung zur Begegnung von Kanzlerin Merkel und dem Flüchtlingsmädchen
Reem Sahwil und zu dem Foto des syrischen Flüchtlingsjungen Aylan, der an der
türkischen Küste ertrunken war. Vgl. zu den verschiedenen Phasen in der Medi-
enberichterstattung Hemmelmann und Wegner (2017).
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Narrative Identität und kulturelle Differenz
Sex-Attacken von Migranten: Sind wir noch tolerant oder schon blind?“
schwarze, schmutzig abfärbende Hände auf einem nackten weißen Frauen-
körper zeigte (Focus 2016) oder auch an eine graphische Darstellung auf
der Titelseite der Süddeutschen Zeitung, die eine schwarze Faust zeigte,
welche zwischen weiße Frauenbeine stößt und dazu einen Psychologen
mit den Worten „Viele junge Muslime können nicht entspannt dem ande-
ren Geschlecht begegnen. Das sind jedes Mal hochsexualisierte Situatio-
nen“ zitierte (Süddeutsche Zeitung 2016).12 Ebenso steht Alice Schwarzers
Kommentierung der Übergriffe für die Emma exemplarisch für ein sich
neu- bzw. reetablierendes Narrativ der kulturellen Fremdheit junger musli-
mischer Männer. So spricht sie davon, dass „das arabische Telefon genü-
ge“, damit sich nordafrikanische Männer zusammengefunden hätten, „um
Frauen zu klatschen“ und stellt die Ereignisse der Silvesternacht in unmit-
telbaren Zusammenhang mit Islamismus (Schwarzer 2016, S. 7). Trotz un-
geklärter Faktenlage wurde die Schuld für die Übergriffe im medialen Dis-
kurs größtenteils unmittelbar ‘den Flüchtlingen’ zugeschrieben und die
zuvor etablierte ‘Willkommenskultur’ als Fehler gebrandmarkt.
Nähert man sich dem Fluchtdiskurs aus einer narrativtheoretischen Per-
spektive, wie ich sie hier vorgeschlagen habe, so bietet sich die Möglich-
keit, ein differenziertes Bild dieser Diskursentwicklung zu zeichnen.
Durch eine erzähltheoretische Analyse von Kollektividentitäten lassen sich
sowohl die durch narrative Diskurse produzierten Aussagesysteme (Narra-
tionen), als auch die spezifischen Praktiken der Äußerung als Sprechakte
(Narrative) in den Blick nehmen. Insbesondere drei Aspekte können damit
herausgestellt werden: Erstens kann das Nebeneinander konkurrierender
Erzählungen sichtbar gemacht und die jeweiligen Narrative als selektive
Verdichtungen von Ereignissen zu spezifischen Sinnkonstruktionen de-
konstruiert werden. So wird die Gefahr offenbar, die in dem Versuch liegt,
eine Erzählung zur einzig wahren erheben zu wollen. Die Narrativanalyse
fokussiert dabei den Aspekt der Zeitlichkeit. Sie geht davon aus, dass zu-
nächst nicht unmittelbar in Zusammenhang stehende Ereignisse in der Er-
zählung durch die zeitliche Anordnung innerhalb eines Handlungsstrangs
mit Anfang und Ende kausal verknüpft werden. Diese Verknüpfung er-
scheint als natürlich, sie blendet die Kontingenz der Geschehnisse vorüber-
12 Bei den beiden angeführten Beispielen handelt es sich um Bilder, also Visualisie-
rungen der Geschehnisse. Gleichwohl können diese hier als Texte verstanden wer-
den, insofern sie ebenso Teil eines Sprechaktes sind, der den Prozess von Textpro-
duktion, Rezeption und Rückbindung an die lebensweltliche Praxis umfasst. Vgl.
hierzu auch Bals Ausführungen zu Bildern als Erzählungen und zum Sehen als
Form der Rezeption (Bal 2002, S. 120, S. 23f.).
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gehend aus. Zugleich steht hinter der durch die Erzählung hervorgebrach-
te Eindeutigkeit jedoch stets eine „dissonante Konsonanz“ im
Ricœur’schen Sinne, was bedeutet, dass andere Erzählungen immer mög-
lich sind. Der Versuch der Naturalisierung einer bestimmten Gesellschafts-
ordnung durch die Ausblendung anderer möglicher Identitätserzählungen
hingegen impliziert immer eine Gefahr der Ausgrenzung. Identität ist so
gesehen ein Ergebnis machtvoller Interpretationskämpfe und kann zu-
gleich als Produkt von „Überschneidungen und Verästelungen kultureller
Praktiken“ (Gadinger et al. 2014a, S. 69) verstanden werden. Es wird deut-
lich, dass gerade nach Schließung strebende Narrative, die kulturelle Diffe-
renzen zu naturalisieren versuchen, als ausschließende Praktiken in den
Blick genommen und dekonstruiert werden müssen.
Zweitens richtet sich mit dem Narrativansatz der Fokus auf die Rezepti-
on von Erzählungen und es werden vor allem die Aneignungspraktiken in
den Blick genommen. Neben den subjektiven Gestaltungsspielräumen, die
sich in der kreativen Praxis des Wieder-Erzählens auftun, kann damit vor
allem auch die historische Kontinuität von kollektiven Identitätserzählun-
gen herausgearbeitet werden. So lässt sich zeigen, dass neu entstehende
Narrative immer an den bestehenden Fundus von Narrationen anknüpfen
und diesen variieren, womit sie sich stets innerhalb von kulturellen Kon-
texten verorten. Auf diese Weise wird ebenso deutlich, dass die eigentlich
mächtigen Narrative die latenten Narrative sind, welche als eine Art com-
mon sense Kulturen zugrunde liegen (Müller-Funk 2002, S. 145ff.). Das
Narrativ vom ‘muslimischen Anderen’ erscheint so nicht als neu, sondern
vielmehr als eine Variation bereits existierender Erzählungen ‘fremder
Männlichkeit’.
Drittes dient die kulturelle Abwertung ‘Fremder’ aus dieser Perspektive
nicht allein der Delegitimierung des ‘Fremden’, sondern ist inhärenter Teil
von Selbstthematisierungsprozessen und dient hier zunächst der Legiti-
mierung und Verstärkung der eigenen kulturellen Selbstverständlichkeits-
debatte (Müller-Funk 2002, S. 159).13 Damit sind Prozesse der Kulturalisie-
rung von Identität auch als Effekt des Brüchigwerdens von Narrativen und
der Verunsicherungen angesichts der Instabilität großer kollektiver Identi-
täten zu deuten.
Bezogen auf die Fluchtdebatte treten hiermit neue Aspekte in den Vor-
dergrund. Zunächst einmal stellt das Narrativ des ‘gefährlichen muslimi-
schen Mannes’ eine Synthese heterogener Ereignisse dar, welche zu einem
13 Diese Beobachtung ändert selbstverständlich nichts daran, dass Stigmata und Aus-
grenzungen die Folgen eben jener Prozesse der Identitätskonstruktion sind.
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14 Said bezieht sich mit seiner Orientalismusthese hauptsächlich (aber nicht aus-
schließlich) auf ein britisches und französisches Projekt (Said 2009, S. 12). Damit
unterschätzt er jedoch, wie Ozan Keskinkılıç (2018, S. 201) anhand verschiedener
Studien verdeutlicht, die vielfältigen Formen deutscher Orientalismen und deren
Nachwirken in gegenwärtigen Diskursen.
15 Jüngst haben María do Mar Castro Varela und Paul Mecheril (2016, S. 11) noch
einmal darauf hingewiesen, dass Sexualität in Rassendiskursen immer eine beson-
dere Rolle spielt und den Status ‘der Anderen’ als nicht-zivilisiert untermauert.
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5. Schluss
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Narrative Identität und kulturelle Differenz
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Narrative Identität und kulturelle Differenz
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(Un-)umstrittene Denkmäler als Ressourcen kultureller
Identität im Spannungsverhältnis des Gemeinsamen und
Gleichartigen
1. Einleitung
Das 100. Jubiläum der Weimarer Republik bot im Jahr 2018 Anlass für
zahlreiche Gedenkveranstaltungen. In Form von Festakten, Ausstellungen,
Filmreihen, Podcasts, reenactments, Ringvorlesungen und wissenschaftli-
chen Symposien wurde der ersten parlamentarischen Demokratie in
Deutschland jedoch nicht nur auf vielfältige Weise gedacht, sondern deren
erinnerungskulturelle Relevanz als Wendepunkt der deutschen Geschichte
und als Meilenstein demokratischer Entwicklung neu diskutiert. Um Das
Wagnis der Demokratie (Dreier/Waldhoff 2018) angemessen zu würdigen
und das „Erinnern in Frontstellung“ (Zänker 2019) endlich aufzubrechen,
wurden vermeintlich überkommene Deutungen, welche in der Vergan-
genheit vor allem die verfassungsmäßigen Schwächen der jungen Demo-
kratie in den Mittelpunkt stellten, einer grundlegenden Revision unterzo-
gen. Davon zeugte im Zuge der Feierlichkeiten nicht zuletzt die Grund-
steinlegung für das Haus der Weimarer Republik – Forum für Demokratie,
welches zukünftig weniger die negativen Aspekte des Scheiterns als viel-
mehr die positiven Aspekte der Demokratieentstehung und -entwicklung
in politische und geschichtliche Bildungsangebote einbinden soll. Eng ver-
bunden mit der Demokratisierung Deutschlands ist aber nicht nur die
Ausrufung der deutschen Republik durch Philipp Scheidemann bzw. der
freien sozialistischen Republik Deutschlands durch Karl Liebknecht, son-
dern bereits der Niedergang des deutschen Kaiserreichs in Folge der No-
vemberrevolution 1918. Besonders präsent ist in diesem Kontext bis heute
der Kieler Matrosenaufstand. Es mag daher auch kaum verwundern, dass
diesem „Ereignis von nationalgeschichtlicher Bedeutung“ in der öffentli-
chen Wahrnehmung kaum weniger prominent begegnet wird und es von
Seiten der Stadt Kiel – unter dem Slogan „Demokratie erkämpfen. Demo-
kratie leben“ – gar als ein alternativer „Geburtsort der deutschen Demokra-
tie“ gefeiert wurde (Stadt Kiel 2018).
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Dennis Bastian Rudolf
1 Vgl. dazu die von Jörn Knobloch, Jan Christoph Suntrup und Odila Triebel orga-
nisierte Frühjahrstagung des DVPW-Arbeitskreises „Politik und Kultur“ mit dem
Thema Die neuen Kulturkämpfe, die vom 27. und 28. März 2019 an der Universität
Potsdam stattfand.
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(Un-)umstrittene Denkmäler als Ressourcen kultureller Identität
Nähert man sich der Konflikthaftigkeit von Denkmälern über die politi-
sche Kultur als dem „Ensemble der für eine Gesellschaft oder ein gesell-
schaftliches Teilsegment in Relation zur ‚systematisierten Form von Herr-
schaft‘ (Pelinka 2006, S. 225) relevanten emotionalen und kognitiven Hal-
tungen und der daraus resultierenden Formen stabilisierten Verhaltens,
die sich jeweils im Spannungsfeld von politischer Norm und gesellschaftli-
cher Wirklichkeit bewegen“ (Salzborn 2009, S. 46f.) an, rückt unweigerlich
die Frage nach deren Veräußerlichung in den Fokus. Politische Weltbilder,
„welche die für eine soziale Gruppe maßgebenden Grundannahmen über
die politische Welt und damit verknüpfte operative Ideen [beinhalten], so-
weit sie sich mental und/oder habituell auskristallisiert haben“ (Rohe
1994, S. 1), dienen den Individuen im Sinne von „assumptions about the
political world“ (Elkins/Simeon 1979, S. 127), um ihnen eine spezifische
Sicht auf politische Grundprobleme zu verleihen sowie um entsprechende
Antworten und Lösungen anzubieten. Die notwendige Verankerung die-
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ser politischen Weltbilder kann sich jedoch nicht allein auf die kognitiv
gespeicherten Ideen, Werte und Maßstäbe beschränken. Karl Rohe spricht
deshalb von einem konstitutiven Doppelcharakter politischer Kultur, weil
diese stets „als Ideensystem und gleichzeitig als Zeichen- und Symbolsys-
tem gesehen werden muß“ (Rohe 1994, S. 7). Neben einer auf die kogniti-
ve und evaluative Dimension bezogenen Inhaltsseite, existiert immer eine
auf die affektive und ästhetische Dimension bezogene Ausdrucksseite, die
abseits rationaler Zustimmung auf eine notwendige emotionale Veranke-
rung abzielt und politische Kultur überhaupt erst sinnenfällig werden
lässt. Letztere ist damit stets „innerlich und äußerlich, ist objektiv und sub-
jektiv“ (Rohe 1990, S. 337) und erfordert neben der kognitiven Verinnerli-
chung immer auch die ästhetische Veräußerlichung über „visuelle Reprä-
sentationen als politisch-kulturelle Manifestationen“ (Bergem 2019,
S. 255).
Eine adäquate Analyse muss auch deshalb beide Seiten politischer Kul-
tur berücksichtigen, weil Namen, Zeichen, Gesten, Standbilder, Denkmä-
ler, Fahnen, Orte, Mythen und Rituale stets mehr sind als der bloße Aus-
druck des Inhalts. Sie besitzen nicht nur eine jeweils eigene Form und Ge-
stalt, sondern auch eine eigene Geschichte und sind gerade deshalb dazu
in der Lage, affektive Empfindungen hervorzurufen und emotionale Bin-
dungen zwischen der Bevölkerung und dem System herzustellen (Rohe
1990, S. 338). Diesbezüglich stehen vor allem die kulturellen Eigenarten
politischer Systeme im Fokus, weil unterschiedliche politische Kulturen
unterschiedlicher politischer Gefühlswelten und Ästhetiken bedürfen da-
mit politischer Inhalt und Sinn plausibel erscheinen kann (1987, S. 41).
Das Produzieren und Aktualisieren politisch-kultureller Symbole dient im
politischen Alltagsleben neben der Sinn- und Orientierungsstiftung durch
eine kollektive bzw. kulturelle Identität immer auch der Legitimation poli-
tischer Gemeinschaften, Regime und Herrschaftsträger. Offensichtlich
bleibt mit dem Verweis auf die Beziehung von politischer Kultur und sys-
tematisierter Herrschaftsform zudem ein prinzipielles Spannungsverhält-
nis, welches sich entlang vertikaler und horizontaler Analyseebenen entfal-
tet. Dieses fordert einerseits die Frage heraus, wie sich in gleichen oder
ähnlichen politischen Kulturen unterschiedliche, teilweise konfligierende,
Identitäten entwickeln können und andererseits, wie diese konstruiert wer-
den.
Mitunter vor diesem Hintergrund hat Tom Mannewitz (vgl. 2014), un-
ter Bezugnahme auf methodische, konzeptionelle und geografische Desi-
derate der deutschen Forschung nach 1990, auf bestimmte Defizite einer
regionalen politischen Kulturforschung zwischen Surveydaten und Sym-
bolanalyse hingewiesen. Als landestypische bzw. subnationale Kultur oder
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2 Dies gilt darüber hinaus natürlich auch für die Prozesse zwischen politischen Deu-
tungs- und Soziokulturen.
3 Mit dem Konzept eines kulturell gefassten Begriffs der Unverfügbarkeit bezieht
sich Vorländer auf die konstruktivistische Wendung einer „Kultur des Verhaltens
zum Unverfügbaren“ (Kambartel zit. in Lübbe 2004, S. 149), welche in der histo-
risch-kulturellen Analyse von Diskursen und Praktiken, nach dem Umgang mit für
unverfügbar gehaltenen überkomplexen Begriffen fragt. Als unverfügbar müssen
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(Un-)umstrittene Denkmäler als Ressourcen kultureller Identität
solche Sachverhalte gelten, die der politischen Ordnung bzw. der Gemeinschaft
vorausliegen und für sie geltend gemacht werden, sich ihr aber prinzipiell entzie-
hen, weil sie sich als zu abstrakt darstellen (Vorländer 2013b, S. 20).
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weil eine Logik der Differenz die Isolierung und Fixierung kultureller
Identitäten erfordert, richtet den Fokus indes auf die Transformation als
Ursprung des Kulturellen und die Abstände, welche sich zwischen einer
Vielfalt von Kulturen ergeben: „In einem Zwischen, das kein Kompromiss
ist, kein einfaches Mittelding, sondern ein In-Spannung-Versetzen [...]“
(ebd., S. 51) liegt die Fruchtbarkeit jener kultureller Ressourcen, die keine
Gruppe für sich alleine besitzen kann. Die Entfaltung des kulturell Geteil-
ten und Gemeinsamen erfordert somit die Verantwortlichkeit des Subjekts
für die Aktivierung der kulturellen Ressourcen und die existentielle Fähig-
keit, durch die Kultur „die Begrenzung seines eigenen Ichs zu überwin-
den“ (ebd., S. 63).
Mit Blick auf den Beitragstitel scheinen zwei Überlegungen Julliens zen-
tral. Erstens, dass es sich bei Denkmälern im öffentlichen Raum um eben
solche elementaren, gemeinsamen und materialisierten kulturellen Res-
sourcen handelt, die im Prozess zwischen politischer Sozio- und Deutungs-
kultur aktiviert, d. h. erkundet, ausgebeutet und ausgedeutet werden, um
die Suche nach dem Gemeinsamen im Dazwischen unterschiedlicher Deu-
tungen zu befördern. Es geht damit aber ebenso wenig um die Festlegung
einer statischen kulturellen Identität wie um die Einsozialisierung einer
bestimmten politischen Kultur zu einem Zeitpunkt X, sondern um „die
Spannung des Vielfältigen, die von der Abweichung hervorgebracht wird,
die es arbeiten und ununterbrochen mutieren lässt“ (Jullien 2018, S. 47)
und die Veränderung, nicht die Bewahrung politischer Kultur, welche mit
der fortwährenden Pflege, Aktualisierung und symbolischen Erneuerung
im Neben-, Gegen- und Miteinander von politischen (Sub-)Kulturen ein-
hergeht. Und Zweitens, dass diese kulturellen Ressourcen „unabhängig
von der Ebene der Gemeinschaftlichkeit“ (ebd., S. 16) – Stadt, Land, Nati-
on oder gar die ganze Menschheit – verteilt sind: „Nur wenn es uns ge-
lingt, ein Gemeinsames zu fördern, das keine Reduktion auf das Uniforme
darstellt, wird das Gemeinsame dieser Gemeinschaft aktiv sein, so dass wir
die Möglichkeit haben werden, dieses wirklich zu teilen“ (ebd.). Die Ver-
teilung und subjektive Verantwortlichkeit gegenüber kulturellen Ressour-
cen stellt bezüglich der Aktivierung und Verteidigung aber gleichzeitig in
Rechnung, dass diese auch stets Gefahr laufen, vernachlässigt zu werden:
„Man kann sie verlieren, sie können verwahrlosen, man kann es versäu-
men sie zu pflegen und zu unterhalten [...]. Sie können wieder brachlie-
gen“ (ebd., S. 63). Warum diese beiden Aspekte im Kontext neuer gesell-
schaftlicher Konfliktlinien gegenwärtig in besonderer Weise für die Um-
strittenheit von Denkmälern geltend gemacht werden können und inwie-
fern sich daraus ein konstruktiver bzw. destruktiver Umgang mit entspre-
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4 Popkulturell inszeniert wurde mitunter der Abriss der Berliner Statue im Film
Good Bye Lenin. Die filmische Umsetzung hat bezüglich des Aussehens wie auch
der Art des Abtransports jedoch nur wenig mit dem Original gemein. Der Granit-
statue wurde damals symbolträchtig der Kopf abgeschlagen und schließlich in
einer Sandgrube vergraben. Mittlerweile wurden die Einzelteile jedoch wieder ge-
borgen und der Kopf ist heute Teil der Dauerausstellung Enthüllt. Berlin und seine
Denkmäler im Areal der Zitadelle Spandau.
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6 Beispielshaft dafür ist die jüngere Welle an Umbenennung bzw. -widmung des Día
de la Raza in zahlreichen Ländern Südamerikas seit 2000. So etwa in Día del Respe-
to a la Diversidad Cultural (Tag des Respekts vor der kulturellen Diversität – Argen-
tinien), Día de la Descolonización (Tag der Entkolonisierung – Bolivien), Día del En-
cuentro de Dos Mundos (Tag der Begegnung der zwei Welten – Chile), Día de la In-
terculturalidad y la Plurinacionalidad (Tag der Interkulturalität und Plurinationalität
– Ecuador), Día de los Pueblos Originarios y del Diálogo Intercultural (Tag der indige-
nen Völker und des interkulturellen Dialogs – Peru) oder Día de la Resistencia
Indígena (Tag des indigenen Widerstands – Venezuela). Aber auch in den Vereinig-
ten Staaten ist, zumindest auf Bundesstaaten- und Städteebene, eine Abkehr vom
Kolumbus-Tag zugunsten eines Indigenous Peoples’ Day zu beobachten.
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rück, in welcher Kolumbus eben nicht als historische Figur Eingang fin-
det, sondern als mythisch überhöhte Persönlichkeit mit herausragenden
Qualitäten (Durchhaltevermögen, Mut, Vision, Weisheit). Diese zeigen
sich zunächst im Zuge der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt,
stellen später jedoch vor allem das pädagogische Vorbild für die Stiftung
einer gemeinsamen Identität im Prozess der Staatenbildung dar (Loock
2004, S. 53, 75). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand diese Deutung und
mit ihr die Kolumbusbegeisterung zwar ihren Höhenpunkt, sie grenzt je-
doch gleichsam „einen historisch und kulturgeschichtlich bedeutsamen
Zeitraum ab, in dem süd- und osteuropäische Einwanderer sowie nativisti-
sche Gegner der New Immigration das zunehmend diverse Gesellschafts-
bild in den USA entscheidend prägten“ (ebd., S. 49), wodurch das Kon-
fliktpotenzial amerikanischer Selbstrepräsentation über das Kolumbusbild
offenbar wurde. Im Zuge politischer, sozialer und kultureller Umwälzung
nahmen indigene, afroamerikanische und umweltpolitische Gruppen be-
wusst Abstand von einer kulturellen Aneignung und artikulierten stattdes-
sen eine prinzipielle Ablehnung bzw. Forderungen nach Kompensation:
„It should not be a complete surprise […] that Columbus – as anti-hero, if
not as hero – would figure prominently in another, late-twentieth-century
postcolonial moment, when other ethnic, racial, class, and gender subal-
terns would similarly seek liberation and the redefinition of America“
(Dennis 2002, S. 153). Für sie stellt die Ankunft Christoph Kolumbus’ in
der Neuen Welt keinen Segen und damit auch kein mythisches Grün-
dungspotential dar, sondern den Beginn von Vertreibung, Unterdrückung,
Ausbeutung und Mord.
Die grundlegende Kritik gegenüber eines italoamerikanischen Partiku-
larhelden Christoph Columbus als Symbol für eine white ethnic pride (Loock
2014, S. 21) bestimmte dementsprechend auch die Auseinandersetzung
um die New Yorker Statuen während der 90-tägigen Evaluationsphase.
Zwar kam das eingesetzte Komitee am Ende nicht zu der Einschätzung,
dass die entsprechenden Standbilder entfernt werden müssten, viel grund-
sätzlicher betonte es angesichts der sich daran entzündenden kulturellen
Konflikte jedoch die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte: „As weat-
her-beaten statues became flash points for fresh conflicts this past year, we
saw that considering what and whom we choose to honor in public spaces
is not a purely academic matter – it’s something very much alive in our pu-
blic debates“ (Mayoral Advisory Commission 2018, S. 6). Es seien dem-
nach auch vor allem grundlegende Fragen gewesen, welche die Diskussio-
nen der Kommission angeleitet hätten: Warum gibt es Statuen und Denk-
mäler für diese und nicht jene historische Figur? Warum wird überhaupt
darüber diskutiert sie abzureißen bzw. warum sie überhaupt bestehen zu
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lassen? Und warum beschäftigen wir uns gerade jetzt damit? Zumindest
auf letztere Frage gibt die Kommission eine eindeutige Antwort, welche
die eingangs formulierte These unterstreicht: „we have often focused our
collective attention on statues and monuments, especially at moments
when tensions are running high. We’re living in one of those moments“
(ebd.).
Die Kommission regte auf Grundlage einer eigens entwickelten Bewer-
tungsskala, bestehend aus den fünf Kategorien – (1) no action, (2) re-context-
ualization, (3) relocation, (4) new temporary or permanent works, (5) removal –
letztendlich nur die Verlegung einer Statue aus dem Central Park in den
Green-Wood Cemetery in Brooklyn an. Bürgermeister de Blasio folgte der
Empfehlung und begründete das weitere Vorgehen: „Reckoning with our
collective histories is a complicated undertaking with no easy solution.
Our approach will focus on adding detail and nuance to – instead of re-
moving entirely – the representations of these histories“ (2018). Die Ko-
lumbusstatuen sollen an ihren jeweiligen Orten bestehen bleiben7 und mit
Hinweisen in unmittelbarer Nähe versehen werden, die eine historische
Einordnung leisten. Des Weiteren sollen neue Statuen die Geschichte der
indigenen Bevölkerung würdigen, um sicherzustellen, dass New Yorks öf-
fentliche Plätze die Vielfalt und Werte der Stadt widerspiegeln. Eine ver-
mittelnde, aus Sicht beider Lager aber vor allem eine Kompromisslösung,
die mit Enttäuschung aufgenommen wurde.
Während die Debatte rund um die Denkmallandschaft in New York in
Form von friedlichen Demonstrationen, künstlerischen Protesten und
kommissionellen Deliberationsversuchen in ihren Ansätzen durchaus kon-
struktiv geführt wurde, muss mit einem letzten Beispiel, welches die Neu-
bewertung überhaupt erst ausgelöst hatte, auf die äußerste und fatale Kon-
sequenz verwiesen werden, mit der Konflikte um Statuen und Denkmäler
mit Blick auf ihre identitätsstiftende Rolle derzeit ausgetragen werden: die
Charlottesville riots. Auslöser der weltweit bekannt gewordenen Ereignisse
war die Umbenennung des Lee Park in Emancipation Park und die vorgese-
hene Entfernung der Reiterstatue des Generals der Konföderierten Armee
Robert E. Lee sowie die Umgestaltung des Denkmals für Thomas „Stone-
wall“ Jackson in der US-amerikanischen Stadt Charlottesville, Virginia.8
7 Im Gegensatz zu diversen anderen Städten wie Los Angeles oder St. Louis, die ent-
sprechende Denkmäler mittlerweile entfernt haben.
8 Eine generelle Tendenz hin zur Umstrittenheit von konföderierten Statuen und
Monumenten lässt sich jedoch bereits seit dem Charleston church shooting im Juni
2015 erkennen.
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9 Die Zukunft der beiden Statuen ist in der Folge der Ereignisse bis heute ungeklärt
geblieben. Während von Seiten der Stadt zunächst beschlossen wurde, die Statuen
mit schwarzen Abdeckplanen zu invisibilisieren, ordnete ein Bezirksgericht im Fe-
bruar 2018 die Freilegung an. Eine endgültige Entscheidung ist aufgrund von feh-
lender Kompetenz auf städtischer Ebene weiterhin nicht in Sicht, weshalb ähnlich
wie in New York eine Kontextualisierung und Pluralisierung in den Blick genom-
men wird.
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(2) Rechts davon bildet das zweite Relief den Warnschuss des Panzerkreu-
zers Aurora am 25. Oktober 1917 als Signal für den Sturm auf das Win-
terpalais in Sankt Petersburg und den Beginn der Großen Sozialistischen
Oktoberrevolution in Russland ab.
(3) Die dritte Abbildung zeigt die Niederschlagung des Aufstandes der
deutschen Seeflotte im Sommer 1917 in dessen Folge Max Reich-
pietsch und Albin Köbis als Rädelsführer verurteilt und hingerichtet
wurden.
(4) Auf der vierten Reliefszene werden die Ereignisse rund um den Kieler
Matrosenaufstand als Ausgangspunkt für die revolutionären Umbrü-
che des Jahres 1918 thematisiert. Diese bilden für die Gedenkstätte den
zentralen Ausgangspunkt, da die Ausbreitung der Bewegung am
6. November Rostock erreichte. Torpedoboote mit aufständischen Ma-
trosen landeten zunächst in Warnemünde und vereinigten sich später
für Versammlungen sowie Kundgebungen mit Arbeitern der nahegele-
genen Rostocker Neptunwerft am Kabutzenhof, dem Standort der Ge-
denkstätte.
(5) Das Relief endet mit der Darstellung der Ausrufung der freien sozialis-
tischen Republik Deutschlands durch Karl Liebknecht am 9. Novem-
ber 1918, vom Balkon des vierten Portals des Berliner Stadtschlosses,
mit der entsprechenden Inschrift: „UND OB WIR DANN NOCH LE-
BEN WERDEN, WENN ES ERREICHT WIRD. LEBEN WIRD UN-
SER PROGRAMM. ES WIRD DIE WELT DER ERLÖSTEN
MENSCHHEIT BEHERRSCHEN. TROTZ ALLEDEM“.
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(Un-)umstrittene Denkmäler als Ressourcen kultureller Identität
Ergänzt wurde die Denkmalanlage 1977 anlässlich des 60. Jahrestages der
Großen Sozialistischen Oktoberrevolution durch eine Monumentalplastik aus
Rotguss des Rostocker Bildhauers Wolfgang Eckardt. Die Deutung aus
dem Rostocker Museumskatalog verweist – ähnlich wie zuvor das Wandre-
lief – mit dem „auf Trümmern stürzenden“ und „aufstrebenden Men-
schen“ auf die Dynamik der Gesetzmäßigkeiten jener gesellschaftlichen
Entwicklung und materialistischen Geschichtsauffassung, die mit dem
Kampf der Arbeiterklasse und der Durchsetzung ihrer Interessen verbun-
den war: „In zwei überlebensgroßen Figuren ist der Gedanke der revolu-
tionären Bewegung, ist der Mensch als die revolutionäre, verändernde
Kraft symbolisiert“ (Rostock-Information 1987, S. 22). Anzumerken ist
weiterhin, dass Eckhart bewusst auf die Darstellung von Waffen und Uni-
formen verzichtet und sich damit gegen ursprüngliche Wünsche der SED-
Elite durchgesetzt hatte. Sein Fokus lag auf der Versinnbildlichung des re-
volutionären Gedankens und den damit einhergehenden, notwendigen
Veränderungen in der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen.
Komplettiert durch eine „ewige Flamme“ der Großen Sozialistischen Ok-
toberevolution und einen Aufmarschplatz unterhalb des Denkmalensem-
bles, diente die Gedenkstätte bis zum Zusammenbruch des DDR-Regimes
offiziell organisierten Kundgebungen der Parteiorganisationen sowie Ge-
denkveranstaltungen zur Erinnerung an die Deutsch-Sowjetische Freund-
schaft und die Novemberrevolution 1918. Im Sinne der Erfassung und Ein-
bindung jedes Individuums in das ideologische und politische System der
DDR und der Vermittlung einer kollektiven Identität, bezog die Gedenk-
stätte als ästhetischer Ausdruck der politischen Kultur der DDR und als
Versuch der Veräußerlichung einer von oben verordneten und statischen
kulturellen Identität möglichst alle Gesellschaftsteile mit ein. Peter Writ-
schan merkt in seinem Denkmalwertgutachten diesbezüglich jedoch an,
dass diese Botschaft bereits damals „nicht überall in der Bevölkerung
an[kam], im Gegenteil, sehr bald wurde die Figurengruppen ironisiert mit
Bemerkungen wie: ,Die geballte Faust zeigt in den Osten, die offene bit-
tende Hand in den Westen‘ oder ,Was hält er in der Faust? – Die letzte Tü-
te Kosta-Kaffee‘“ (2013).11
Wenn politische Kulturforschung von ihrem Kern her als Krisen- und
Transformationsforschung verstanden werden soll, muss sich – vor dem
Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung 1990 – auch für die Ge-
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(Un-)umstrittene Denkmäler als Ressourcen kultureller Identität
12 Analog dazu sind im Sinne eines kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses na-
türlich auch bestimmte Formen des Vergessens zu verstehen (Assmann 2016).
13 Andere Rostocker Denkmäler, wie etwa die Heinkel-Mauer oder das Paulinen-
heim, wurden in jüngerer Vergangenheit abgerissen, obwohl deutlich weniger
Mittel für deren Erhalt hätten aufgewendet werden müssen.
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Dennis Bastian Rudolf
lien 2018, S. 78), stellt nicht die identitäre Essenz von Gruppen ins Zen-
trum, sondern das Fruchtbare des In-Spannung-Setzens „aus von Unter-
schieden bunt gefärbten Ähnlichkeiten oder Unterschieden, die sich in
Ähnlichkeiten auflösen“ (ebd., S. 79). Gerade die prinzipielle Unumstrit-
tenheit bezüglich des Erhalts der Gedenkstätte revolutionärer Matrosen ver-
weist auf die vielfältigen Perspektiven in Politik, Verwaltung und Zivilge-
sellschaft. Diese reichen von negativen (die verpflichtende Teilnahme an
Gedenkveranstaltungen und Aufmärschen der DDR-Massenorganisatio-
nen) wie positiven (das Denkmal bildete als Erholungsraum bereits damals
den einzigen städtischen Zugang zum Wasser zwischen den Sperrgebieten
der Werft und des Stadthafens) Erfahrungen der Zeitzeugen des DDR-Re-
gimes über unterschiedliche Konzepte der städtebaulichen Entwicklung
(Schutz und Pflege des Denkmals) und den erinnerungskulturellen Um-
gang (Aufarbeitung von DDR-Kunst und -Architektur im öffentlichen
Raum) bis hin zu politischen und bürgerschaftlichen Versuchen der An-
eignung (neuer städtischer Erholungsraum, (Wahl-)Werbung oder zum
Protest). Sie verweisen aber alle auf einen Aspekt: „Das Gemeinsame ist
der Ort, an dem sich die Abweichungen/Abstände entfalten, und die Ab-
stände bringen das Gemeinsame zur Entfaltung“ (Jullien 2018, S. 80).
5. Fazit
224
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Dennis Bastian Rudolf
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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen
1. Einleitung
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Ayla Güler Saied
Rap als Element der HipHop Kultur ist weltweit Heimat und Handlungs-
raum für diverse Menschen. Dabei wirkt der Mythos HipHop als Diaspora
und Bezugsrahmen für die unterschiedlichen glokalen Ausformungen des
HipHop, in diesem Beitrag speziell des Rap. Im Zeitalter der Digitalisie-
rung haben sich diverse Transformationsprozesse ergeben, die sich auf die
Rap-Praktiken auswirken. Die Verknüpfung gesamtgesellschaftlicher sowie
politischer Diskurse in Hinsicht auf kulturelle Zugehörigkeit, ist ein sich
selbst reproduzierender Mechanismus, der sich wie ein roter Faden durch
die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zieht, wenn es um den
Umgang mit kulturell ‘Anderen’ geht. Rap-Musik in der BRD ist wie kein
anderes Feld stark geprägt von sogenannten Migrantenjugendlichen. Rap-
Geschichte ist gleichzeitig auch Migrationsgeschichte und damit einherge-
hend ein Medium für Anerkennungskämpfe. Die kulturelle Praxis des Rap
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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen
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Ayla Güler Saied
Entstehungskontext USA
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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen
eine bitch eine selbstbewusste, starke Frau ist, die sich selbstbestimmt defi-
niert und auch so handelt. Der afroamerikanische Literatur- und Kultur-
wissenschaftler Henry Louis (Skip) Gates Junior, der sich intensiv mit dem
signifying beschäftigt hat, konstatiert:
„The Afro American tradition has been figurative from its beginnings.
How could it have survived otherwise? […] Black people have always
been masters of the figurative: Saying one thing to mean another has
been basic to black survival in oppressive Western cultures.“ (1990,
S. 6)
Wie schon vor der Rap-Musik waren auch der Jazz, der Blues, der Funk
und die Soul-Musik und ebenfalls die kirchliche Gospel-Musik von Ele-
menten geprägt, die im HipHop lediglich modifiziert und als Crossover al-
ler bis dato präsenten Musikstile inszeniert wurden. Auch Elemente der
Black Power Bewegung in Form afrozentrischer Inszenierungsformen wie
beispielsweise von Public Enemy oder aber auch von Queen Latifah finden
sich im HipHop wieder. Die Rückbesinnung auf eine gemeinsame Ab-
stammungsgeschichte, die in Afrika liegt, wurde nicht erst durch Rapper
erfunden, sondern stellt lediglich eine Modifikation und Transformation
etablierter kultureller und politischer Praktiken dar. Tricia Rose hat in
Black Noise konstatiert, dass: „HipHop style is black urban renewal“ (1994,
S. 61).
Das Albumcover von By All Means Necessary aus dem Jahr 1988 von Boo-
gie Down Productions ist in Anlehnung an Malcolm X' Foto entstanden, in
dem er im Jahr 1964 bewaffnet vor einem Fenster steht. Malcolm X ist das
Sinnbild des Schwarzen Widerstands. Das Albumcover Unzensiert des Of-
fenbacher Rappers Haftbefehl aus dem Jahr 2015 schließt sich dieser Insze-
nierung an. Dort steht Rapper Haftbefehl bewaffnet vor einem Fenster.
Diese Formen der Inszenierung reihen sich ein in den Kontext der Unge-
rechtigkeit und Ungleichheit von Schwarzen Bürgern in den USA. Folgen-
de Lyrics des Songs Endangered Species (Tales from the Darkside) auf dem Al-
bum AmeriKKKa's Most Wanted aus dem Jahr 1990 von Rapper Ice Cube
feat. Chuck D von Public Enemy bringen diesen Diskurs1 deutlich zum Aus-
druck:
„Peace?! don’t make me laugh! / Every killer cop goes ignored / They
just send another nigger to morgue / A point scored. They could give a
fuck about us / They’d rather catch us with guns and white powder /
1 Dieser Diskurs ist im Kontext von Rassismus nach wie vor zentral (vgl. Alexander
2016).
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Ayla Güler Saied
They’ll kill ten of me to get the job correct / To serve, protect, and
break a nigga’s neck […] You want to free Africa / I’ll stare at ya’ /
Cause we ain’t got it too good in America / I can’t fuck with’em over-
seas / My homeboy dies over kee’s [kilos of cocaine].“ (Ice Cube/Chuck
D 1990)
Der US-Rap nimmt in den Inszenierungen von Rap aus Deutschland eine
wichtige Stellung ein. Dies bezieht sich nicht nur auf die Entstehungszeit
des Rap, sondern ist ein bis heute aktiver Prozess – auch wenn deutsch-
sprachiger Rap sich als eigenständiges Genre etabliert hat.2
Rap in der BRD ist die erste (migrantische) Jugendkultur, die 1982 von Ju-
gendlichen in ihre Lebenswelt adaptiert wurde. Durch Filme wie Wild
Style und Beat Street, die im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden, ent-
wickelte sich eine dynamische Jugendkultur, mit der sich viele Jugendliche
identifizieren konnten. Politisch fällt die Entstehungszeit des HipHop in
die restriktive Phase der Ausländerpolitik Anfang der 1980er Jahre. So
wurde 1983 beispielsweise das Rückkehrförderungsgesetz erlassen, mit
dem Ziel, die hier lebenden Gastarbeiter und ihre Familien zur Rückkehr
in ihre ‘Heimatländer’ zu motivieren.
Dieser Diskurs ist geprägt durch den Fremdheitsdiskurs, der seit Beginn
der HipHop-Kultur die politische Begleitmusik gespielt hat. Die Anfangs-
phase des HipHop in Deutschland beschränkte sich auf die ästhetischen,
künstlerischen Ausdrucksmittel: Hierzu zählen Breakdance, Graffiti und
DJing. Rap – das verbale Ausdrucksmedium – entwickelte sich wie in den
USA auch als letztes Element. Anfangs rappten die Jugendlichen lediglich
die Songs ihrer Vorbilder aus den USA nach. Erst nach und nach schrieben
sie eigene Songs auf Englisch. Torch von Advanced Chemistry war es schließ-
lich, der das Freestyling auf Deutsch einführte. In Kapitel 1 aus dem Jahr
1993 rappt Torch:
„Ich hab’ das Freestyle-Reimen eingeführt und zwar schon vor Jahren,
von Kiel bis Biel bin ich auf jedes Jam gefahren. / So kam ich durch
2 So ist die Inszenierung im Song Aber von Eko Fresh (2018) angelehnt an das Video-
konzept des US-Rappers Joyner Lucas – I’m not racist, das im November 2017 veröf-
fentlicht wurde. An dieser Stelle kann man die Nachahmung kritisieren, m. E.
spielt die Adaption eine bedeutendere Rolle.
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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen
die ganze Welt, meist ganz ohne Geld, denn wenn Torch ein Ziel hat,
gibt es nichts, was ihn aufhält! / Weder der Staat, noch irgendeine
Braut, jedem Jamplakat folgte ich blind, denn ich hab’ HipHop ver-
traut!“ (Torch 1993)
HipHop im allgemeinen und Rap im Speziellen ist ein stark umkämpftes
Feld. So ist der Diskurs sehr stark von ethnischen Zugehörigkeits- und An-
erkennungsfragen geprägt. Diese werden im folgenden Kapitel exempla-
risch aufgriffen, um darauf aufbauend auf die aktuellen Inszenierungen im
Rap-Game eingehen zu können.
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Ayla Güler Saied
überlegen sind, von sich glauben, sie seien im Hinblick auf ihre
menschliche Qualität besser als die anderen.“ (Elias/Scotson 1990, S. 7)
Die Formen der Identitätskonstruktionen im Gangsta-Rap gingen mit
einer Etablierten-Außenseiter Figuration einher, die sehr stark an ethni-
schen Konstruktionslinien entlanglief, wie folgendes Zitat exemplarisch
verdeutlichen soll:
„Heute gehört Gangsta-Rap in den USA zu den lukrativsten Geschäfts-
feldern einer gebeutelten Plattenindustrie. In Deutschland gab es das
alles lange nicht. Deutscher HipHop kam von smarten Abiturienten
aus der Provinz, in den Texten ging es um Mädchen und um Liebe,
um Spaß und manchmal sogar um Politik. Und spätestens jetzt wird
klar, die Welt des Gangsta-Rap hat auch viel mit misslungener Integra-
tion zu tun: Außer Sido sind fast alle der Berliner Gangsta-Rapper
fremder Abstammung. Das typisch gerollte R, die harten Konsonan-
ten, so klingt Deutsch im Gangsta-Rap.“ (Oehmke 2008)
Das Zitat reiht sich in einen gesellschaftlichen und politischen Diskurs
ein. HipHop wird als deutsches Produkt von Abiturienten repräsentiert.
Abitur gilt hierbei als Zeichen der Intelligenz. Den Gangster-Rappern, die
einen Migrationshintergrund haben, wird eine gescheiterte Integration be-
scheinigt und dies wird mit ihrer vermeintlich fremden Abstammung be-
gründet. Es wird suggeriert, die Abstammung sei für die fehlende Intelli-
genz und damit die gescheiterte Integration verantwortlich. Damit wird
eine rassistische Praxis hergestellt und reproduziert. Zudem kommt in die-
sem Kontext der Bildungsdiskurs zum Ausdruck, der im Integrationsdis-
kurs mal mehr, mal weniger die Begleitmusik spielt und immer wieder zur
Konstruktion von Differenz und Exklusion beiträgt.
Der Fremdheitsdiskurs ist eines der zentralen Narrative im Rap von mi-
grantischen Künstler*innen. Insbesondere in den Anfangszeiten des Rap
spielte der Bezug zu den USA eine wichtige Rolle. Menschen mit Migrati-
onshintergrund und Schwarze Menschen waren in den 1980er und 1990er
Jahren im deutschen Fernsehen nicht präsent. Jugendliche mit Migrations-
hintergrund hatten keine Vorbilder, mit denen sie sich identifizieren
konnten. Der Fremd im eigenen Land Diskurs ist deshalb aus mehreren Per-
spektiven relevant für die Analyse. Zum einen stellt er ein historisches
Kontinuum dar, nicht nur in Bezug auf Rap, sondern auch in Bezug auf
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Ayla Güler Saied
„1981, vor 35 Jahren, wurde der Schutzbund für das Deutsche Volk
(SDV e.V.) gegründet. Grundlage war das „Heidelberger Manifest“, in
dem vor Geburtenarmut und Überfremdung gewarnt wurde. Somit
haben klare Warnungen gegen eine verhängnisvolle Politik schon eine
lange Tradition. Doch erst heute, wo es fast schon zu spät ist, beginnen
sich die Deutschen der Probleme bewußt zu werden, auf die sehende
Männer und Frauen schon seit Jahrzehnten hingewiesen haben. Inso-
fern ist heute eine neue Lage entstanden, die wieder Mut macht. Zu-
gleich ist das Ausmaß des Verrats durch die politische Klasse ungeheu-
erlich.“ (Schutzbund 2016b)
Mit dem Erstarken der AfD und des Rassismus aus der Mitte, werden ge-
sellschaftliche und politische Inklusionsentwicklungen der letzten Jahre
und Jahrzehnte in Frage gestellt. Durch die vermeintliche Flüchtlingskrise
haben rechte und rechtspopulistische Parteien wieder Auftrieb erhalten, so
dass alte Diskurse wieder aktiviert werden, die im Zusammenhang mit
Migration seit jeher tonangebend waren. Migration wird in diesem Kon-
text als Ausnahme und Störung verortet. Zudem geht es in diesen Diskur-
sen nicht um Migration im Allgemeinen, sondern dieser wird verknüpft
mit dem Religionsdiskurs und damit einhergehend mit dem Integrations-
diskurs, so dass eine doppelte Fremdheit konstruiert wird.
Sprache ist das Hauptmedium des Rap. Mit ihr und durch sie werden In-
halte transportiert. Sprache ist gleichzeitig auch die ‘Waffe’ des Rap. Im ge-
sellschaftlichen und politischen Diskurs haben die sprachlichen Fähigkei-
ten von Zugewanderten wieder verstärkt an Bedeutung gewonnen. Spra-
che dient dabei seit jeher als Differenzmerkmal im Integrationsdiskurs von
Migrant*innen. Gogolin konstatiert: „daß die Berufung auf ‘sprachliche
Reinheit’ bzw. die (einzig) richtige Sprache eine durchgängige Grundfigur
bei der ideologischen Mobilisierung der deutschen Sprache für die Nation
gewesen ist“ (1994, S. 86).
So wurde im Heidelberger Manifest die Frage aufgeworfen: „Welche Zu-
kunftshoffnung verbleibt den Hunderttausenden von Gastarbeiterkindern,
die heute sowohl in ihrer Muttersprache wie in der deutschen Sprache An-
alphabeten sind? Welche Zukunftshoffnung haben unsere eigenen Kinder,
die in Klassen mit überwiegend Ausländern ausgebildet werden?“ (Schutz-
bund 2016a).
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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen
Diese Frage ist nach wie vor zentraler Aspekt im Migrations- und Inte-
grationsdiskurs. Es findet eine Hierarchisierung von Sprachen statt. Ob-
wohl die Kultusministerkonferenz in Bezug auf den Fremdsprachenerwerb
von Schüler*innen konstatiert, dass:
„Die Vielfalt der Sprachen und Kulturen ist ein Reichtum, den es
durch geeignete Bildungsmaßnahmen zu erschließen gilt. Dem
Fremdsprachenunterricht kommt hier eine besondere Rolle zu. Er
schafft zielorientierte Kommunikationsfähigkeit und trägt dazu bei,
interkulturelle Handlungskompetenz zu entwickeln, um sich im glo-
balen Rahmen wertbasiert orientieren zu können.“ (KMK 2011, S. 2)
Die türkische und – verstärkt durch die Fluchtbewegungen der letzten Jah-
re – auch die arabische Sprache wird nach wie vor als ein Defizit in den
Bildungsbiographien von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshin-
tergrund verortet. So konstatierte die damalige Bildungsministerin Johan-
na Wanka im Jahr 2017:
„Es sollte keine Klassen geben, in denen der hohe Migrantenanteil da-
zu führt, dass die Schüler untereinander vorwiegend in ihrer Mutter-
sprache sprechen und damit eine Integration erschwert wird.“ (Focus
Online 2017)
An dieser Stelle wird deutlich, dass es keiner expliziten Benennung der ge-
meinten Migrantengruppen bedarf, da der hegemoniale Diskurs an dieser
Stelle selbsterklärend ist. Wenn von Migrantengruppen im Bildungssystem
die Rede ist, ist es klar, dass damit nicht englische oder schwedische Mi-
grantenkinder gemeint sind, sondern Migrantengruppen, die in der Öf-
fentlichkeit als defizitär wahrgenommen werden. Im Rap werden diese
Diskurse subvertiert, indem der monolinguale Habitus durch sprachliche
Praktiken außer Kraft gesetzt wird.
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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen
„Damals war das mit der Sprache auch noch nicht so programmmäßig
wie heute. Englisch konnte man nicht so gut, auf Deutsch hat sich das
irgendwie nicht so richtig angehört, und auf einmal kam der Rossi mit
einem italienischen Text, den er rappen wollte. Da dachte ich auch:
Dann kann ich das bestimmt auch auf Türkisch. So kam das nach und
nach ins Rollen. Das war eher eine Tugend, die aus der Not entstan-
den ist. Erst danach kamen die Medien und sagten: Wow, das ist aber
was Besonderes. Aber es war nie was Besonderes. Es war einfach unser
Leben […] Wir dachten, wir könnten jetzt auf Türkisch rappen, auf
Deutsch, Italienisch, Englisch, scheißegal, die Leute sind offen. Und
was kommt? Wir machen unseren eigenen Song ‚No‘, wo kein Wort
Deutsch vorkommt, wo alle zuerst gesagt haben: Toll, ihr lasst ja euren
Lyrics freien Lauf, egal in welcher Sprache. Aber Viva hat das mit der
Begründung abgelehnt, dass da keine deutschen Reime gekickt wer-
den. Das war 1994.“ (Güngör/Loh 2002, S. 178)
Es hat dahingehend eine Verschiebung stattgefunden, während die gesell-
schaftlichen und politischen Diskurse hinsichtlich Sprache und Integrati-
on noch dieselben sind, wie in den 1990er Jahren. Allein die Praxis dessen,
was Erfolg bringt, wird von den Rapper*innen kodiert und kann von den
Rezipient*innen auch dementsprechend dekodiert werden. François Julli-
en plädiert dafür:
„Die Sprache der Welt kann nur die Übersetzung sein. Die zukünftige
Welt muss eine des Zwischensprachlichen sein: nicht die einer domi-
nierenden Sprache (welcher auch immer), sondern eine der Über-
setzung, welche die Ressourcen der Sprachen aktiviert, indem sie dafür
sorgt, dass sie sich gegenseitig in den Blick nehmen. Dass sie sich ge-
genseitig und sich zugleich an die Arbeit machen, die im wechselseiti-
gen Weiterleiten besteht. Nur eine einzige Sprache zu haben wäre ge-
wiss um vieles einfacher, allerdings würde das von Anfang an eine er-
zwungene Vereinheitlichung bedeuten. Der Austausch würde erleich-
tert, es gäbe jedoch nichts mehr auszutauschen, jedenfalls nichts wirk-
lich Einzigartiges. Alles fände sich in einer Sprache geordnet, es gäbe
keine Abweichungen mehr, die etwas durcheinanderbringen könnten,
jedes Sprechen-Denken – jede Kultur – könnte dann, wie bereits ge-
sagt, nur mehr in identitärer Weise und starrköpfig auf seine ‘Unter-
schiede’ beharren.“ (2017, S. 92f.)
Auch die sprachlichen Praxen im Rap, die vom hegemonial vorgegeben
monolingualen Diskurs abweichen, stellen eine affirmative Devianz dar.
Im Folgenden werden weitere Inszenierungsformen aufgegriffen, die
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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen
• Teurer Schmuck,
• Autos,
• Geld ↔ money (englisch) ↔ para (türkisch) ↔ fluez (arabisch), lila
(500,00 Euro-Scheine, auch wenn diese abgeschafft werden sollen).
Diese materiellen Kapitalien dienen als Indikatoren für den finanziellen
Aufstieg, genauso wie die Investition in Markenkleidung, die als Kapital
inszeniert wird, wie bspw. bei der KMN Gang (Kiss my Nikes oder KriMi-
Nell). Das symbolische Kapital, das in den Inszenierungen ein Spannungs-
feld zwischen realness und credibility erzeugt, bezieht sich auf folgende „Ka-
pitalien“:
• die Gang,
• die Anzahl der „Bitches“,
• Vertrieb der Musik oder Musikvideos und Alben,
• Klicks und likes in social media Kanälen und Streamingdiensten,
• Drogengeschäfte,
• die Suggestion, Rap sei nur das Hobby und kriminelle Geschäfte das ei-
gentliche Business,
• Gefängnisaufenthalt,
• negative Berichterstattung.
Zu den performativen Inszenierungen der aktuellen Gangsta-Rap Produk-
tionen zählen insbesondere folgende Figuren und Konzepte:
• A-kulturelle und asoziale Identitätskonstruktionen, wie beispielsweise
die Figur oder das Stereotyp des Azzlack (asozialer Kanake), das von
Haftbefehl initiiert wurde und nach dem auch sein Label benannt ist.
• Das female Rap-Duo SXTN hat 2016 das Album Asozialisierungspro-
gramm released, in dem Sozialisierungsprogramme ad absurdum ge-
führt werden und auch diskursiv hergestellte Frauenbilder durch expli-
zite Lyrics entmachtet werden. In dem Song Deine Mutter (2015) wird:
„Ich ficke deine Mutter ohne Schwanz“ gerappt. Und auch der Song
Fotzen im Club steht für eine subversive Aneignung und Umdeutung
hegemonialer Deutungsmuster. Im Oktober 2018 haben SXTN ihre
Trennung bekannt gegeben, sowie dass sie als Solo-Künstlerinnen ihre
Karriere fortführen werden (Spiegel Online 2018).
• Der Pimp, Pezo (türk. Pezevenk = Zuhälter) sind neben dem Drogendea-
ler zentrale Figuren in aktuellen Songs.
• Die Begriffe Nutte, Bitch, Fotze, Kurwa (polnisch = Prostituierte); Kah-
pa (türkisch und kurdisch = Prostituierte) und Orospu (türkisch = Pro-
stituierte) finden sich in Rap-Produktionen von Schwesta Ewa, SXTN
und Lady Bitch Ray wieder.
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Ayla Güler Saied
• Der Gangsta ist nach wie vor eine zentrale Figur in den aktuellen Rap-
Produktionen.
• Hypersexuelle Männlichkeit und Gewaltphantasien sind Querschnitts-
themen, die immer wieder aufgegriffen werden, auch wenn sich der
Sound vieler Rap-Texte geändert hat – das heißt nicht mehr durch düs-
tere Beats sondern eher durch Partysound gekennzeichnet ist, wie zum
Beispiel der Song Habibo von Veysel – so sind die Inhalte, wie Drogen-
handel und finanzieller Aufstieg durch kriminelle Geschäfte dieselben
geblieben.
• Auch Dominanz über Frauen und Misogynie sind nach wie vor zentra-
le Inhalte in den Rap-Songs. Die Inszenierung von Frauen als Statistin-
nen und die damit einhergehende Reduzierung als ein Statussymbol
neben dem Auto sind prägend.
Die Rezeption der Inszenierungen wird indes selten als Rap-Spezifikum
aufgegriffen, sondern wird im Integrations- und Migrationsdiskurs veror-
tet. Obwohl Gewalt gegen Frauen ein universelles Phänomen darstellt und
laut der Weltgesundheitsorganisation das größte Gesundheitsrisiko für
Frauen ist (WHO 2013), wird im Kontext von Migration und Integration
oftmals das globale Problem ethnisiert und kulturalisiert.
Aktuell wird der Gender-Diskurs eng mit dem Flucht- und Migrations-
diskurs verknüpft. Gewalt gegen Frauen wird damit externalisiert und so-
mit einer konstruierten Gruppe zugeschrieben. Dabei wird die globale Di-
mension, die diese Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
(Zick et a. 2011) beinhaltet, nicht berücksichtigt. Laut dem BKA gab es im
Jahr 2017 149 vollendete Morde an Frauen in der BRD (Faktenfinder
2017), ein Großteil davon sind Beziehungstaten. Rommelspacher hat be-
reits in den 1990er Jahren die intersektionellen Verstrickungen und Wir-
kungen von Rassismus und Sexismus aufgegriffen und beschrieben als
„[…] Ideologien, die darauf abzielen, eine bestimmte Gruppe von Men-
schen zu diskriminieren, indem die Gruppe als homogene Einheit kon-
struiert und mit Hilfe zum Beispiel eines biologischen Merkmals stigmati-
siert wird – das eine Mal aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, das ande-
re Mal aufgrund der Hautfarbe oder ethnischen Herkunft“ (1999, S. 111).
Der Rapper Enemy inszeniert sich in seinem Song Arztlack, als devianten
Kriminellen. Im realen Leben ist er Medizinstudent. Er steht bei dem La-
bel Azzlack unter Vertrag und schafft eine Synthese zwischen einem kon-
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Hoes wär'n gern Model-Ikonen. / „Ich zeig' ihnen den Weg in die Pro-
stitution“, steht in der Anklageschrift. / Ich halt' mir die Hand vor's
Gesicht. / Beamte und Richter, die mich verurteilen, sind dieselben,
die zahlen für die Schlampen am Strich.“ (Schwesta Ewa feat. SXTN
2018)
Die Visualisierung der sexualisierten Inszenierung in dem Video knüpft an
die Inszenierungen von männlichen Rappern an. Die Inhalte indes sind es,
die den hegemonial männlich dominierten Diskurs in Frage stellen. Inso-
fern bedeuten sexualisierte und sexistische Rap-Produktionen von female
MCs eine Irritation und stellen nicht zuletzt eine subversive Praxis inner-
halb des Gangsta-Rap Genres dar.
Wirkungsmacht: Rezeption
Der Konsum der Musik erzeugt bei den Rezipienten unterschiedliche Wir-
kungen. Ethnische Mehrfachzugehörigkeiten und Selbstinszenierungen
sind im aktuellen Rap-Business eine zentrale Kategorie. Dabei sind diverse
Adaptionsmöglichkeiten relevant, welche die Konsument*innen ihrer Le-
benswelt entsprechend rezipieren. Im Kontext ethnischer Zugehörigkeit
sind im Rahmen einer empirischen Erhebung Jugendliche befragt worden,
warum sie beispielsweise bestimmte Künstler*innen hören und was für sie
ansprechend ist. Im Folgenden werden exemplarisch Interviewsequenzen
vorgestellt und analysiert. Ein 16-jähriger Jugendlicher konstatierte:
„Und dass die halt so mit der Nation, ich meine, ich bin ja auch Iraner,
und wenn ich so einen iranischen Rapper habe, dann mag ich den au-
tomatisch. Weil dann ist da so ´ne Bindung. Wir haben ja auch einen
Kurden bei uns in der Klasse, der auch viel Haftbefehl hört. Du weißt,
der ist dir ähnlich, hat wahrscheinlich eine ähnliche Herkunft wie du
und dann fühlt man sich angesprochen. Also auch, wenn nur die El-
tern (…) weil es gibt nicht unendlich viele Iraner in Deutschland.“
(Güler Saied 2017, S. 233)
Ein zwölfjähriger Schüler konstatiert zum Zeitpunkt des Interviews im
Jahr 2016 in Bezug auf den Rapper Kurdo, welcher der irakisch-kurdischen
Minderheit angehört: „Zum Beispiel Kurdo, also ich finde es schon natio-
nalistisch, dass man sich so einen Namen gibt. Aber ist ja seine Sache“
(ebd.). Im Kontext der Konferenz wurde selbiger Schüler zwei Jahre später
mit seinem Statement konfrontiert, worauf folgende Antwort gegeben
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wurde: „Ich finde gut, dass der zu seinem Land steht, er ist im Irak gebo-
ren.“
Diese kurze Interviewsequenz kann aus mehreren Perspektiven kontext-
ualisiert und analysiert werden. Zum einen steht die Identitätsentwicklung
im Kontext der Pubertät als Analysekategorie zur Verfügung, die insbeson-
dere für das zweite Zitat als Erklärungsmuster dienen kann. Stigmatisie-
rende und stereotype Erfahrungen von männlichen migrantischen Jugend-
lichen sind auf Grundlage mehrerer Studien eruiert worden (vgl. Riegel
2016). Die hierarchische Ordnung von ethnischen Zugehörigkeiten führt
zu ungleichen Machtverhältnissen. Damit einhergehend sind ungleiche
Repräsentationspraxen, da die Gruppe, die mit weniger Macht ausgestattet
ist, nicht darüber bestimmen kann, wie diskursive Wahrheit über diese
Gruppe hergestellt wird. Vor diesem Hintergrund stellt Rap eine äußerst
widerständige und subversive Form der Aneignung dar, die gleichzeitig
eine empowernde Wirkung entfalten kann.3
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aus dem Fernsehen! / Also fahr ich hin, die ganze Straße war dahin! /
Dabei handelt's sich um eines unserer Wahrzeichen! / Ich dachte so-
was passiert nicht bei uns, nicht mal in Köln, die armen Leute, man! /
Das hätte auch ich sein können! / Und dann gingen die Gerüchte los: /
Wirklich unfassbar, / angeblich war's die türkische Mafia! / Eine Wo-
che später, als sie glaubten, es waren Kurden. / Ihr seht viele Theori-
en, / die durch den Raum geworfen wurden. / Dann hieß es, der Fri-
seur sei in die Scheiße verwickelt. / Er wäre kriminell und die Polizei,
sie ermittelt. / Dass man ihn plus Familie wie Verbrecher verhörte, /
war dann vorerst das letzte, was man hörte. / Ein Benefizkonzert, E-K-
O trat da auf. / Und in Cologne nahm dann alles seinen gewohnten
Lauf! / Heute wissen wir alle, wer's gewesen ist. / Was denen, die drun-
ter litten leider aber wenig hilft! / Wir wissen, es hätte auch verhindert
werden können! / Ich dachte, so was passiert überall, doch nicht bei
uns in Köln! / Weißt du, wie es ist, du denkst, du bist bei uns zu Hause
hier? / Und wegen deinem Aussehen will dich jemand aussortieren? /
Kann nicht beschreiben, wie krass ich enttäuscht war! / Ich wusste nix
davon, ich dachte, ich wär Deutscher! / Weißt du wie es ist? Dich lässt
der Rechtsstaat im Stich! / Du hast knapp überlebt, und sie verdächti-
gen dich! / Zehn Menschen tot als die Behörde scheinbar schlief: Ir-
gendwie fies, / dass man danach was von Dönermorden liest! / Habt
ihr mal dran gedacht, wie die Familien sich gefühlt haben, / als ihre
Väter so früh starben? / Sie wollten Aufklärung, / warteten geduldig
ab. / Es gab niemanden, der sich dafür entschuldigt hat! / Diesen Men-
schen eine Stimme geben ist der Grund. / Genau deshalb bring ich die-
ses Thema auf den Punkt! / Es ist doch wunderbar, dass hier so viele
Völker wohnen. / Dat hier ist für die Keup, min kölsche Straß!“ (Eko
Fresh 2014)
Der Song war den Betroffenen des Nagelbombenanschlags 2004 auf der
Keupstraße gewidmet, der vom Nationalsozialistischen Untergrund verübt
worden war.4 Hasan Yildirim, einer der Hauptgeschädigten des Nagelbom-
benanschlags, wurde nach Veröffentlichung des Songs interviewt, um eine
Verortung und empowernde Wirkung des Lieds retrospektiv und aus sei-
ner subjektiven Perspektive kontextualisieren zu können:
„Es hatte für mich eine große Bedeutung, dass ein so populärer Musi-
ker wie Eko Fresh, der ja auch unser Kunde ist, uns in das Lied inte-
4 Zum Nagelbombenanschlag vergleiche das Interview von Ayla Güler Saied mit
Hasan Yildirim (Dostluk 2014, S. 100ff.).
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5. Resümee
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Literatur
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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen? – Ein
politischer Kampfbegriff in Polen und Tunesien
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1 Im Falle Polens handelt es sich um die Zeiten der Fremdherrschaft durch Preußen,
Österreich und Russland im Zuge der Teilungen des 18. Jahrhunderts sowie wäh-
rend des Zweiten Weltkriegs, in Tunesien um das französische Protektorat.
2 Hier sind die polnische Volksrepublik sowie das Bourguiba- und Ben-Ali-Regime
gemeint, die sich alle jeweils als Träger eines Modernisierungsprojekts verstanden.
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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?
3 Der Begriff leere Signifikanten wird hier vermieden, da sie aufgrund einer gewis-
sen Sedimentation immer einen minimalen, aber dennoch stets veränderlichen Be-
deutungsgehalt besitzen. In einem spezifischen Kontext gibt es keinen leeren Signi-
fikanten.
4 In diesem Beitrag wird Identität als Synonym für die Gesamtheit der verschiede-
nen Erzählungen, die eine Identifikationsmöglichkeit mit dem imaginierten polni-
schen bzw. tunesischen nationalen Kollektiv ermöglichen, verwendet (Mouffe
2014, S. 79).
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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?
5 Die Interviews sind in den Jahren 2016–2018 entstanden. Aufgrund der Daten-
schutzrichtlinien der DSGVO (Datenschutz-Grundverordnung) werden alle Perso-
nen nur mit Funktion und Datum zitiert. Eine Einhaltung des Datenschutzrechts
scheint in der Wissenschaft kein Usus zu sein. Auf Nachfrage kann über die ange-
gebenen Kontaktdaten der Autoren unter strenger Einhaltung des Datenschutzes
Zugang zu den Primärdaten gewährt werden.
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eines Beitrags muss auf eine umfassende Darstellung des Materials zuguns-
ten einer Exemplifikation in Form von Zitaten verzichtet werden.
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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?
mit der polnischen Identität wird beispielsweise auf die ‘Rettung’ Wiens
gegen die Belagerung des Osmanischen Reiches verwiesen. In diesem Zuge
wird – selbst heute noch – Polen als das Bollwerk des Christentums (An-
temurale Christianitatis) bezeichnet, was als Attest der polnischen Opferbe-
reitschaft für ihren Glauben dienen soll. Im Zuge des nation-buildings im
18. Jahrhundert verdichtete der polnische ‘Nationalpoet’ Adam Mickiewicz
den Nationalmythos im Ausdruck ‘Polen als Christus der Nationen’. Diese
Chiffre verweist nicht nur auf die Bereitschaft zu einem Martyrium für
ihren Glauben, sondern umfasst auch vermeintliche Kämpfe, die ein polni-
sches Kollektiv für andere gefochten habe (Biernat 1989, S. 237). Hiermit
wird oft ein Kampf für die Freiheit gegen eine Unterwerfung durch ihre
angenommenen Feinde gemeint. Darunter fallen in den meisten Artikula-
tionen Akteure wie das nationalsozialistische Deutschland, das Osmani-
sche Reich oder Sowjetrussland. Auch wenn diese Chiffre aktuell nicht
mehr explizit verwendet wird, so findet sie doch Eingang in der behaupte-
ten Bereitschaft der Polen zum Martyrium und ihren Feindbildern – heute
vor allem die Russländische Föderation oder Deutschland in Form der EU
(Europäische Union). Hier sei angemerkt, dass insbesondere Letzteres im
Diskurs umkämpft ist.
Die Opferbereitschaft und die Martyrien führen in vielen Identitätsbe-
schreibungen zu einem selbstattestierten Heldentum, das seinen Ausdruck
in mythisierten Ereignissen des letzten Jahrhunderts findet. Den Anfang
macht das sogenannte Wunder von der Weichsel, welches einen Wende-
punkt im polnisch-sowjetischen Krieg darstellt, wodurch die Expansion
der Sowjetunion beendet wurde. In der eigenen Wahrnehmung wird dies
als ‘Rettung Europas’ vor der ‘bolschewistischen Gefahr’ dargestellt. Dem
wird der belief hinzugefügt, dass der Warschauer Aufstand 1944 ein polni-
scher Kampf für die nationale und europäische Freiheit gewesen sei. Der
Umstand, dass die nahe Rote Armee keine Unterstützung geleistet habe,
wird als Beweis dafür erachtet, dass der Sowjetunion kein freiheitliches En-
gagement zugeschrieben werden kann, da sie den zum Freiheitskampf de-
klarierten Aufstand somit ‘verraten’ hätte. Das Ereignis wird als Bestäti-
gung gesehen, dass eine antikommunistische Einstellung – im Sinne eines
Antitotalitarismus – zur Verteidigung Polens und Europas notwendig sei.
Dies zieht sich in den sogenannten verstoßenen Soldaten, einer nationalisti-
schen Partisanenbewegung gegen die Rote Armee und die polnischen
Kommunisten, fort, welche nach der Befreiung Polens durch die Sowjet-
union von der Volksrepublik bekämpft wurden. Seinen Höhepunkt findet
der antikommunistische ‘Heldenkampf’ in der Solidarność und dem friedli-
chen Systemumsturz. Insgesamt kann man konstatieren, dass das selbstbe-
hauptete Heldentum stets mit dem Antikommunismus und einem Kampf
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In der Tat kann man auf sprachlicher Ebene feststellen, dass es diesen Mi-
schungsprozess gab.6 Im Hinblick auf die Kolonialisierung durch die Drit-
te Französische Republik wird behauptet, dass es nur eine einseitige kultu-
relle Öffnung vonseiten der Tunesier gegeben habe. Während den Franzo-
sen vorgeworfen wird, keine Anstrengungen zur eigenen Integration ge-
leistet zu haben, haben die Tunesier einige kulturelle Elemente übernom-
men. Allen voran steht eine affirmative Haltung zur weiterhin existieren-
den Zweisprachigkeit in großen Teilen der Bevölkerung, ein Phänomen,
das erst nach Ende der Kolonialzeit 1956 flächendeckend in Erscheinung
trat. Auch einige Modernisierungsschritte werden positiv bewertet. Den-
noch ist die Kolonialzeit in ihrer Bewertung sehr umstritten. Ein weiterer
interessanter Punkt ist, dass in einem Großteil des Identitätsdiskurses das
tunesische Judentum als originärer Teil der multikulturellen tunesischen
Identität definiert wird. Daneben wird in der selbstattestierten Offenheit
der Tunesier dem Land eine Brückenfunktion zwischen Europa und Afri-
ka zugeschrieben, was in seiner geographischen Lage im Mittelmeer be-
gründet liegt, das mit einer Betonung Tunesiens als mediterranem Land
einhergeht. Im Gesamten gilt dies als Ausweis seiner multikulturellen
Identität.
Neben der Multikulturalität durch die Offenheit werden der tunesi-
schen Identität seit den Phöniziern aufgrund des ésprit commerçant eine Ab-
lehnung von Gewalt und moderate Positionen zugeschrieben. Hier wird
wiederum eine lange historische Kontinuität konstruiert, die erstens mit
den fehlenden Expansionsbestrebungen der auf tunesischem Boden existie-
renden Staaten und der Fokussierung auf Handel begründet wird. Zwei-
tens wird oft auf die friedliche und zivile Unabhängigkeitsbewegung Be-
zug genommen, welche die Loslösung von Frankreich ohne kriegerische
Auseinandersetzungen erwirken konnte. Drittens gelten schließlich die Er-
eignisse im Zuge des Arabischen Frühlings als Nachweis, da trotz der großen
Spannungen im Zuge der Verfassungsgebung stets eine Verhandlungslö-
sung gesucht wurde. Hier wird auch Tunesien in vielen Artikulationen
von anderen arabischen Ländern abgrenzt, da dort die Bestrebungen nach
einem Systemwechsel in Bürgerkriegen mündeten. Unterm Strich werden
diese Momente oft zu dem belief, Tunesien habe eine Konsenskultur, zu-
sammengefasst. In diesem Zusammenhang ist es nicht überraschend, dass
bei der Nennung wichtiger Persönlichkeiten der tunesischen Geschichte
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7 Im Folgenden werden die Begriffe ‘islamistisch’ und ‘Islamisten’ als Synonyme für
Vertreter des politischen Islams verwendet. Damit ist die Partei Ennahda gemeint,
die als sein einzig relevanter Vertreter in Tunesien erachtet werden kann (Ayari
2015, S. 135ff.; vgl. Amrani 2016).
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Nach der Darstellung der jeweiligen diskursiven Felder sowie der Grund-
züge der vorhandenen Erzählungen der eigenen Identitäten wird sich nun
der vergleichenden Analyse der beliefs der jeweiligen Diskurse zugewandt –
wobei, wie in Vergleichen üblich, die intern auftretende Binnendifferenz
innerhalb der Diskurse unter aus dem Material zu extrahierenden Idealty-
pen subsumiert wird. Einführend kann festgehalten werden, dass sich in
beiden diskursiven Feldern zwei verschiedene Arten von beliefs finden las-
sen, die sich in ihrer Funktion unterscheiden. Auf der einen Seite kann
man solche ausmachen, welche die einzelnen historischen Ereignisse, Per-
sönlichkeiten oder Personenkollektive mythisieren, wodurch sie in das dis-
kursive Feld als historische Eckpfeiler der Identitätsnarration integriert
werden. Zudem fungieren sie als Begründung und Ausweis der auf der an-
deren Seite stehenden beliefs, die vor allem als deutungsoffene Signifikan-
ten der Wertevermittlung dienen. Bei diesem Verhältnis handelt es sich
nicht um ein einseitiges, sondern die Begründung verläuft reziprok. Im
Falle Polens wird beispielsweise das selbstattestierte Heldentum aus hi-
storischen Ereignissen wie der Verteidigung von Wien abgeleitet und wie-
derum historisches Handeln wie der Warschauer Aufstand mithilfe des de-
klarierten Heldentums erklärt. Dieses Verhältnis lässt sich für jedes histo-
rische Ereignis feststellen. Im Fall Tunesiens kann dies anhand des Bei-
spiels der zugeschriebenen Gewaltablehnung veranschaulicht werden. So
wird sie durch die phönizische Kultur der Antike begründet, dient aber
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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?
8 Pointiert betrachtet ist das tunesische Narrativ der Multikulturalität und Gewalt-
ablehnung der Albtraum der PiS-Erzählung von der Kampfbereitschaft des katholi-
schen Polens.
9 So war Tunesien einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkriegs in Nordafri-
ka.
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mung der kollektiven Identität einen großen Spielraum lässt. Nur sehr sel-
ten wurde eine tiefgehende Beschreibung der Identität versucht, die wiede-
rum andere oft auftauchende Elemente des Identitätsdiskurses ver-
schweigt. Beispielsweise wurde auf Nachfrage die tunesische Identität wie
folgt definiert:
„Es [Tunesien] ist ein Land mit seiner eigenen Geschichte und seinem
eigenen Weg in die moderne Welt. Daher war es auch in diesem Sinne
ein Pionier und ich hoffe, es bleibt Pionier in der Modernisierung des
Landes Tunesien. So, ich denke, das ist im Wesentlichen seine Identi-
tät.“ 10 (Regierungsberater Säkular 2018)
In diesem Zitat erkennt man wieder zentrale Punkte wie Modernisierung
und den Avantgardegedanken innerhalb der arabischen Welt. Doch selbst
durch Nachfragen konnte keine Spezifizierung, was mit der ‘Modernisie-
rung’ und der ‘Rolle als Pionier’ gemeint sei, erhalten werden. Dadurch
wird insbesondere der Begriff der Modernisierung zu einem Geheimnis
bzw. einem deutungsoffenen Signifikanten. Um eine Identifikation mit
dem Narrativ über die kollektive Identität zu ermöglichen, ist es notwen-
dig ihn durch Inhaltsleere zu erhalten. Einen anderen Lösungsversuch für
das Problem des notwendigen Scheiterns jeder Fixierung illustriert das
nachfolgende Zitat:
„Das ist überhaupt keine einfache Frage, denn selbst in unserer Gesell-
schaft gibt es keine solche Übereinstimmung in der öffentlichen Mei-
nung darüber, was die Elemente dieser Identität sind. Was meine In-
terpretation betrifft, so kommt […] mir zuerst die Verschmelzung von
Pole und Katholik in den Sinn, das bedeutet aber nicht, dass es das
Wichtigste ist.“ (Parlamentskandidatin PiS 2016)
Zentral ist hier die Einsicht, dass in einem Identitätsdiskurs nicht immer
eine hegemoniale Deutung existiert und daher die eigene Narration nicht
als allgemeingültig betrachtet werden kann. Dennoch befindet sich mit
der postulierten Einheit von Pole und Katholik die Artikulation vollkom-
men im polnischen Identitätsdiskurs, da diese ein zentraler, zugleich aber
auch umstrittener belief gegenwärtiger Debatten ist. Alle hier analysierten
Definitionsversuche der nationalen Identität bewegen sich innerhalb eines
Spektrums, das von den beiden obigen Möglichkeiten aufgespannt wird.
Unterm Strich können daher die vorliegenden Ergebnisse als empirische
Untermauerung der Arbeiten von Giesen und Seyfert aufgefasst werden.
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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?
In Bezug auf die umstrittenen beliefs lässt sich eine weitere Gemeinsam-
keit beider Diskurse feststellen: Man kann keinen Konflikt über die Exis-
tenz eines Bezugspunktes innerhalb des diskursiven Feldes feststellen, d.
h., kein genannter belief wird als Teilelement der kollektiven Identität ne-
giert. Die Konflikte entbrennen vielmehr um die Frage der Relevanz der
einzelnen beliefs innerhalb des Ganzen sowie um die zwischen ihnen ge-
knüpften Verbindungen. So wird oft in den jeweiligen Konflikten der Ge-
genseite vorgeworfen, einen Teilaspekt der gemeinsamen kulturellen Iden-
tität über- bzw. unterzubetonen. Meist wird dieser Überbetonung ein zwi-
schen vielen Aspekten selbstbehauptetes ausbalanciertes Verhältnis der Ge-
wichtungen entgegengestellt. So wird in Tunesien den Islamisten eine zu
starke Fokussierung auf den arabisch-muslimischen Aspekt der nationalen
Identität vorgeworfen. „Man ist vorsichtig gegenüber dem arabisch-musli-
mischen Fakt. Nun, Tunesien ist mehr als arabisch-muslimisch“ (Abgeord-
nete | Säkular 2018). Die Aussage, dass ‘arabisch-muslimisch’ nur ein Teil-
aspekt sei, findet sich immer wieder in den Daten. Auf der Gegenseite lässt
sich tatsächlich bei den sogenannten Islamisten der Ennahda eine Hervor-
hebung dieses Aspekts konstatieren: „Tunesien ist ein arabisches, islami-
sches und ziviles Land. So! Dieses Trio ist das grundlegende Trio der Iden-
tifikation Tunesiens“ (Kommunalpolitiker | Ennahda 2018). In Tunesien
fokussiert sich der Konflikt vor allem auf diese Fragen.
Demgegenüber gibt es in Polen mehr beliefs, die in ihrer Gewichtung
umstritten sind. Am offensichtlichsten ist es bei der Frage des Flugzeugab-
sturzes von Smolensk, welchem eine unterschiedliche Relevanz zugeschrie-
ben wird. Auf der einen Seite stehen die Anhänger der PiS, die ihm eine
zentrale Bedeutung für das heutige Polen und seine Identität beimessen:
„Es hat sich herausgestellt, dass zum Beispiel die Smolensk-Katastrophe
hier eine Bedeutung als ein solcher Durchbruchsmoment […] solcher wie-
derkehrenden Einstellungen zu diesem messianischen, in jedem Fall ro-
mantischen Strang […] hat“ (Parlamentskandidatin PiS 2016). Die Verstor-
benen gelten als eines der aktuellsten Beispiele der polnischen Martyriums-
geschichte, welche die polnische Rolle als ‘Messias’ im Sinne des Opfer-
bringens aktualisiert hat. Die andere Seite bestreitet nicht die Tragik des
Unfalls, gewichtet das Ereignis allerdings wesentlich schwächer. „Ich gehe
davon aus, dass, wenn es nicht so drastisch wäre, ich kein Problem damit
hätte, einem Präsidenten zu gedenken, der gestorben ist, nicht bei einem
Attentat, sondern in einem Unfall. Das läuft auf das Gleiche hinaus. Er ist
eines tragischen Todes gestorben“ (Regionalvorstandsmitglied KOD 2016).
Die Gegenseite negiert nicht die Rolle der Unfallopfer in einer polnischen
Geschichtsschreibung, schreibt ihnen aber keinen zentralen Status zu. Sie
werden vielmehr in eine Linie mit anderen Persönlichkeiten gestellt, derer
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Nachdem die beiden Identitätsdiskurse vor allem im Hinblick auf die auf-
tretenden beliefs analysiert wurden und bereits einige Gemeinsamkeiten
sowie Unterschiede aufgedeckt werden konnten, wird sich nun der Beant-
wortung der eingangs formulierten Forschungsfrage, warum (1), auf wel-
che Art und Weise (2) sowie zu welchem Zweck (3) überhaupt von kultu-
reller Identität gesprochen wird, zugewandt. Die zwei Fälle ähneln sich
hier auf allen drei Ebenen.
(1) Wie in der theoretischen Literatur angenommen, haben Konflikte
um die kollektive Identität in Zeiten von Krisen und Verunsicherung Kon-
junktur, welche zumindest seit geraumer Zeit im latenten Zustand für
Polen wie Tunesien festzustellen sind. Die Spannungen treten hierbei
nicht als Dauerzustand zu Tage, sondern zu verschiedenen Ereignissen
oder Debatten, welche stets in einem Streit um die kulturelle Identität
münden. Der krisenhafte Hintergrund, vor dem die Konflikte im polni-
schen Fall ausbrechen, ist die ungleiche Entwicklung und Verteilung des
Wirtschaftswachstums seit dem Ende der Volksrepublik zwischen den ur-
banen und ruralen Regionen, welche sich abgesehen von den großen Städ-
ten auch geographisch zwischen West- und Ostpolen manifestieren (Bach-
mann 2016, S. 78). Dies ist mit einer Prekarisierung in der gesamten polni-
schen Gesellschaft verbunden, welche sie oft zur Migration zwingt (Vetter
2016, S. 22f). Ein zentrales Krisenmoment der letzten Jahre war das Flug-
zeugunglück von Smolensk, bei dem das Land einen nicht unerheblichen
Anteil seiner staatlichen Elite verlor. Obwohl ein Großteil des politischen
Parteienspektrums von dem Unglück betroffen war, konnte im Umgang
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damit eine Spaltung bezüglich der Deutung der Ereignisse festgestellt wer-
den. Während die zu dem Zeitpunkt oppositionelle PiS den Flugzeugab-
sturz in eine Reihe mit dem Massaker von Katyn, bei dem 1940 ein signifi-
kanter Anteil der polnischen Elite durch den NKWD (Narodnyj kommissa-
riat wnutrennich del, Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der
UdSSR) hingerichtet wurde, stellte, werteten die anderen Parteien ihn als
Unglück, ohne das Ereignis als identitätsstiftendes Element zu gebrauchen
(Pilawski/Politt 2016, S. 105f.). Mit der Übernahme der Regierung und des
Präsidentenamtes durch die PiS 2015 ist in Polen ein bis heute andauender
Konflikt zu beobachten, der durch die Umbaupläne der PiS für das politi-
sche System eine Krise der Institutionen auslöste (Bachmann 2016,
S. 35ff.). Zwei weitere Verunsicherungen innerhalb der polnischen Gesell-
schaft wurde zum einen durch die sogenannte Migrationskrise 2015 sowie
zum anderen durch den Bürgerkrieg in der Ukraine und die damit zusam-
menhängende Annektierung der Krim durch die Russländische Föderati-
on ausgelöst.
In Tunesien sind ebenso Krisenmomente zu beobachten. Schon vor
dem Beginn der tunesischen Revolution Ende 2010 befand sich das Land
in einer wirtschaftlichen Krise, welche bis heute andauert und sich ver-
stärkt hat (Claes 2016, S. 2ff.). Dazu kommen genauso wie in Polen starke
regionale Disparitäten in Entwicklungsstand und Wirtschaftswachstum,
wobei der unterentwickelte Westen und Süden dem entwickelten Sahel,
den nordöstlichen Küstenregionen, gegenübersteht (Mattes 2016, S. 1ff.).
Zudem ist aufgrund dessen eine stete Abwanderung in andere Länder zu
konstatieren (Bartels 2014, S. 48ff.). Im Zuge der der Revolution nachfol-
genden Verfassungsgebung kam es, wie in Polen, zum Umbau des Institu-
tionensettings11, welches ebenso zu diversen krisenhaften Konflikten führ-
te. So stand das Land nach den politischen Morden an zwei beliebten lin-
ken Oppositionellen vor einer kompletten politischen Blockade, welche
durch einen Verfassungskompromiss gelöst wurde (Ayari 2015, S. 139ff.).
Die zentralen Fragen wurden dennoch nur bedingt geklärt (Bras 2016,
S. 56f.). Seit der Verabschiedung der Verfassung der Zweiten Tunesischen
Republik befindet sich das Land bis heute im Institutionsaufbau, welcher
immer wieder Anlass zu tiefen Konflikten gibt, wobei auch andere politi-
sche Fragen Spaltungspotential besitzen. Zudem sorgten Terroranschläge
wie 2015 in Bardo und Sousse sowie die hohe Anzahl an tunesischen Bür-
gern in Reihen des sogenannten Islamischen Staats (Mattes 2015, S. 56f.)
11 Wichtig anzumerken ist hierbei, dass der Umbau des institutionellen Gefüges aus
gänzlich unterschiedlichen Gründen und Motiven in den beiden Ländern erfolgt.
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12 Der Begriff Goldenes Zeitalter ist inspiriert von Karl Schlögels Terminus die gol-
dene Zeit des reprints, der eine Zeit der intensiven kollektiven Selbstthematisie-
rung aufgrund lange zurückgehaltener Erinnerungen bezeichnet (2013, S. 268).
Die Imagination und Konstruktion eines Goldenen Zeitalters stellt ein potentiel-
les Resultat einer solchen Selbstthematisierung dar.
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sowohl im polnischen als auch im tunesischen Fall in die Zeit vor den Au-
toritarismen und der Fremdbeherrschung, dessen Entwicklungen und ge-
sellschaftliche Errungenschaften13 zum Teil diskreditiert werden, verortet.
In der Konstruktion des Goldenen Zeitalters ist keine Konsequenz festzu-
stellen. Vielmehr wird eine am eigenen politischen Projekt orientierte Se-
lektion in Fragen der Ablehnung und Anerkennung verschiedener Ent-
wicklungen seit seinem vermeintlichen Ende vorgenommen – von dieser
Diskreditierung ist auch das aktuelle System nicht ausgeschlossen. Gerade
diese Willkür in der Auswahl der Versatzstücke zeigt, dass die Verwen-
dung der kulturellen Identität als politischer Kampfbegriff dient. Dabei
werfen die Vertreter des Goldenen Zeitalters dem aktuellen System vor, nur
eine Fortsetzung der Autoritarismen zu sein bzw. nicht den eigenen An-
sprüchen zu genügen. So behauptete Kaczyński: „Das alles, was sich in den
letzten paar zwanzig Jahren ereignet hat, ist etwas überaus und höchst Un-
gerechtes sowie Schädliches“ (TVN24 2016). Die Entwicklungen im Zuge
der Systemtransformationen werden als nicht ausreichend und daher ver-
fehlt stigmatisiert. Die andere Seite, die hingegen eine inkrementelle Evo-
lution des Status Quo fordert, wirft den Vertretern des Goldenen Zeitalters
vor, geschichtliche Ereignisse und Traditionen unlauter zu instrumentali-
sieren.
„Sie [die Islamisten] sind rückständige, reaktionäre Konservative, die
nicht nur die Religion, sondern auch die Tradition instrumentalisie-
ren. Es gibt aber Traditionen, die nichts mit der Religion zu tun ha-
ben, und sogar solche, die viel mehr eine Abwendung von der Religi-
on verlangen. […] Die Progressiven wollen die laufende Entwicklung
und Evolution einer Gesellschaft […]. Nur eine sich entwickelnde Ge-
sellschaft hat eine Geschichte.“ (Imam und Intellektueller | Säkular
2018)
(3) Der in diesem Zitat vorkommende Vorwurf der Instrumentalisierung
von Traditionen verweist auf die letzte zentrale Gemeinsamkeit des polni-
schen sowie tunesischen Falls. In beiden kann man beobachten, dass in
den politischen Diskursen der Verweis auf die kulturelle Identität sowohl
zur Legitimierung eigener politischer Projekte als auch zur Delegitimie-
rung des gegnerischen Projekts und seiner Vertreter verwendet wird. Im
Zuge des Anrufens der kollektiven Identität in einer Debatte wird sich
selbst die Rolle des Verteidigers des Volkes und seines wahren Vertreters
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Im Diskurs kann man feststellen, dass sich die Debatte vor allem um eine
vermeintliche Verwirklichung des arabisch-muslimischen Anteils und da-
mit verbunden einer Reislamisierung der tunesischen Identität oder um
die Fortsetzung der Tunisianité im Sinne der modernistischen Tradition in
Abgrenzung zu den anderen arabischen Ländern dreht. Ersteren wird vor-
geworfen, durch die Betonung der Religion die Errungenschaften abwi-
ckeln und die Gesellschaft reislamisieren zu wollen. Letzteren hingegen
wird eine Missachtung des Volkswillens unterstellt.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass in beiden Ländern
kulturelle Identität als Legitimierungs- und Delegitimierungsinstrument
in der Auseinandersetzung um die Gestaltung der gesellschaftlichen und
politischen Ordnung verwendet wird – kurz gesagt: sie ist ein Kampfbe-
griff. In Tunesien wie Polen findet sich eine Seite, die aufgrund wahrge-
nommener Fehlentwicklungen an einen imaginierten Zustand der Ver-
gangenheit anschließen will, der als Ausgangspunkt einer weiteren Genese
dienen solle. Auf der anderen Seite findet sich eine Gruppe, welche die bis-
herige Entwicklung affirmiert und fortsetzen will. Die Vertreter des Status
Quo konstituieren sich dabei besonders in der Auseinandersetzung mit den
Fürsprechern eines Goldenen Zeitalters, welches in ihren Konstruktionen
meist negiert wird, wodurch sie eine Abwehrhaltung einnehmen. Das Auf-
treten der Diskurse kann in beiden Fällen als Ausdruck der politischen
und gesellschaftlichen multidimensionalen Krisenlage erachtet werden.
Selbstverständlich kann keinem der Diskursakteure die hier genannte
funktionale Verwendung der kulturellen Identität als reines Mittel zum
Zweck unterstellt werden, d. h., es wird angenommen, dass die von ihnen
vorgebrachten Identitätskonzeptionen Teil ihrer belief systems sind. Da nur
die selbst getätigten Aussagen im Datenmaterial verwendet werden kön-
nen, muss dies sogar angenommen werden. Dennoch wird davon die
Funktion des Sprechens von kultureller Identität als Kampfbegriff auf Dis-
kursebene nicht eingeschränkt.
6. Fazit
Ein Vergleich zweier Länder, die auf den ersten Blick schwer miteinander
vergleichbar sind, kann gewinnbringender sein, als man anfangs denkt.
Obwohl in der eingangs idealtypischen Skizzierung der Identitätsdiskurse
in Polen und Tunesien festzustellen ist, dass die jeweiligen Narrationen
sich grundsätzlich unterscheiden, konnte dennoch aufgrund der Ähnlich-
keiten der beiden Fälle ein fruchtbarer Vergleich gezogen werden, der zen-
trale Gemeinsamkeiten aufdeckte. Einerseits konnten diverse Voraussagen
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Literatur
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Quellen
Abgeordnete | Ennahda (8.9.2018): Laïcité und Rolle des Islams in Tunesien. Aria-
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Abgeordnete | Säkular (2.10.2018): Laïcité und Rolle des Islams in Tunesien. La
Marsa.
Aktivistin und Intellektuelle | Säkular (4.9.2018): Laïcité und Rolle des Islams
in Tunesien. Berges-du-Lac.
ehemalige Abgeordnete ANC | Ennahda (3.10.2018): Laïcité und Rolle des Islams
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Imam und Intellektueller | Säkular (11.3.2018): Laïcité und Rolle des Islams in Tu-
nesien. Aix-en-Provence.
Kommunalpolitiker | Ennahda (29.9.2018): Laïcité und Rolle des Islams in Tunesi-
en. Ariana.
Parlamentskandidatin PiS (13.6.2016): Erinnerungspolitik und kollektive Identität
in Polen. Szczecin.
Regierungsberater | Säkular (18.9.2018): Laïcité und Rolle des Islams in Tunesien.
La Marsa.
Regionalvorstandsmitglied KOD (20.5.2016): Erinnerungspolitische Konflikte
in Polen. Szczecin.
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