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Yves Bizeul | Dennis Bastian Rudolf [Hrsg.

Gibt es eine
kulturelle Identität?

Nomos
https://doi.org/10.5771/9783845297934
Generiert durch Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, am 25.06.2021, 22:39:19.
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Yves Bizeul | Dennis Bastian Rudolf [Hrsg.]

Gibt es eine
kulturelle Identität?

Nomos

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8487-5618-6 (Print)


ISBN 978-3-8452-9793-4 (ePDF)

1. Auflage 2020
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2020. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte,
auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Für Yves Bizeul

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Nachruf und Widmung

„Die Universität ist ein Spiel. Sie müssen mitspielen!“


Yves Bizeul (* 23. Februar 1956 in Paris; † 8. August 2019 in Rostock)

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Nachruf und Widmung

Der Tod von Yves Bizeul im August 2019 hat unser Institut und unseren
Lehrstuhl unerwartet getroffen und zutiefst erschüttert. Wir mussten von
einem verdienstvollen Kollegen, einem kreativen Geist und einem hochge-
schätzten Freund Abschied nehmen, der uns und das Institut seit seiner
Berufung an den Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte
1995 nachhaltig geprägt und sich immer als fairer Spieler erwiesen hat.
In seiner wissenschaftlichen Laufbahn widmete sich Yves Bizeul vor al-
lem dem Verhältnis von Glaube und Politik, dem politischen Mythos und
der politischen Symbolik, der offenen und geschlossenen Gesellschaft so-
wie Fragen kollektiver Identität. Unsere Tagung „Gibt es eine kulturelle
Identität?“, die im Rahmen der Jahrestagung des Arbeitskreises „Politik
und Kultur“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft vom
12.-14. Juli 2018 in Rostock stattfand und welche die Grundlage für diesen
Sammelband bildet, brachte alle diese Themen zusammen und miteinan-
der ins Gespräch. Dennoch scheint uns diese Tagung gerade rückblickend
für mehr als das reine akademische Wirken unseres Professors zu stehen.
Denn Yves Bizeul wandelte selbst Zeit seines Lebens zwischen den Welten
und Gesellschaften, ihren mythischen Erzählungen und kulturellen Identi-
täten. Und Nichts könnte diesen Umstand wohl besser beschreiben als
eine kleine Anekdote, die er bereits 2009 in einer Gastkolumne des Rosto-
cker Stadt- und Kulturmagazins 0381 zu berichten hatte.
Dort lässt ihn ein Besuch bei seinem Stammfriseur, „einem echten
Mecklenburger“, darüber reflektieren, dass er selbst ein Entwurzelter sei,
„eine Mischung aus Schwabe und (Süd-)Bretone, geboren in Paris, lange in
Metz gelebt“, der - nach Stationen in Nancy, Tübingen, Strasbourg, Frei-
burg und Frankfurt am Main - nun doch endlich in Rostock heimisch ge-
worden ist. Seine mit Sicherheit schelmische Feststellung, dass er selbst
mittlerweile ja ein echter Rostocker sei, wollte sein Gegenüber indes so je-
doch nicht gelten lassen. „Die Frage stellt sich, ab wie vielen Jahren bzw.
Generationen man hier als ebenbürtig betrachtet wird?“. Auch wenn aus
dieser Formulierung durchaus eine gewisse Betroffenheit herauszuhören
ist, wirklich übel genommen hat Yves Bizeul ihm die Zurückweisung
wohl kaum. Vielmehr erkannte er darin eine grundlegende Gemeinsam-
keit zwischen den Mentalitäten der mecklenburgischen „Großstadt“ und
der französischen Provinz am Ende der Welt (dem Finistère): „Das Meer
scheint eher den Horizont zu verschließen als zu erweitern“. Diese Feststel-
lung war für ihn allerdings nie ein Grund zur Resignation. Ganz im Ge-
genteil: Für Yves Bizeul lag die Aufgabe des Hochschullehrers und des ci-
toyen nie allein in der Vermittlung von Wissen an den akademischen
Nachwuchs, sondern eben in der gesamtgesellschaftlichen Herausforde-
rung, „im Anregen zum kritischen Denken“ und „im Werben für die offe-

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Nachruf und Widmung

ne Gesellschaft und für den damit verbundenen Kosmopolitismus“. Kein


Zufall war es daher auch, dass wir mit François Jullien und seinem Essay
„Es gibt keine kulturelle Identität!“, einen Autor zum Stichwortgeber un-
serer Tagung gemacht hatten, der die Vorstellung und das Vorhandensein
einer statischen und essentialistischen kollektiven bzw. kulturellen Identi-
tät prinzipiell zurückweist. Gemeinsam mit Yves Bizeul waren und sind
wir daher auf der Suche nach den dynamischen und transformativen As-
pekten, die es uns – gerade in Zeiten des Rechtspopulismus, des aufkei-
menden Nationalismus sowie neuer kultureller und identitärer Konfliktli-
nien – erlauben, aufeinander zuzugehen.
Damit das Meer den Horizont erweitern kann, sind wir alle dazu aufge-
rufen, uns nicht zu verschließen und im Bestehenden und Bekannten ein-
zukapseln, sondern für das Neue, das Unbekannte und das Fremde stets of-
fen zu bleiben. Genau aus diesem Grund ist der vorliegende Sammelband
Yves Bizeul gewidmet, der uns als Professor, Lehrer, Mentor, Förderer, Hu-
morist und Mensch am Rostocker Institut für Politik- und Verwaltungs-
wissenschaften begleitet und unseren akademischen wie privaten Alltag
bereichert hat. In großer Achtung und Dankbarkeit werden wir ihm stets
ein ehrenvolles Andenken bewahren.
Gute Reise, bon vent, Yves Bizeul!

Dennis Bastian Rudolf, Ludmila Lutz-Auras und Valerian Thielicke

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Inhalt

Einführung und Beschreibung der Beiträge 13


Yves Bizeul und Dennis Bastian Rudolf

Teil I: Theoretische Deutungen

Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches


Konzept 25
Yves Bizeul

Zwischen Offen- und Geschlossenheit. Politische Implikationen


einer praxeologischen kulturellen Identität 51
Jörn Knobloch

Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung 77


Hauke Behrendt

„You can check out, but you can never leave.“ – Identitätsräume
zwischen Entgrenzung und Begrenzung 99
Olaf Jann

Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle


Selbstbestimmung 125
Ruwen Fritsche

Teil II: Empirische Konstruktionen

Pathologische Potenziale kultureller Identitäten: Eine Gefährdung


der Demokratie? 151
Simon Bein

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Inhalt

Narrative Identität und kulturelle Differenz – Eine


erzähltheoretische Perspektive auf Konstruktionen des Anderen 177
Nina Elena Eggers

(Un-)umstrittene Denkmäler als Ressourcen kultureller Identität im


Spannungsverhältnis des Gemeinsamen und Gleichartigen 203
Dennis Bastian Rudolf

Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen 231


Ayla Güler Saied

Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen? – Ein


politischer Kampfbegriff in Polen und Tunesien 259
Dawid Mohr und Valerian Thielicke

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Einführung und Beschreibung der Beiträge

Yves Bizeul und Dennis Bastian Rudolf

Der vorliegende Tagungsband1 Gibt es eine kulturelle Identität? geht auf die
gleichnamige Jahrestagung des DVPW-Arbeitskreises „Politik und Kultur“
zurück, die vom 12. bis zum 14. Juli 2018 an der Universität Rostock statt-
fand und vom hiesigen Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideenge-
schichte organisiert wurde. Der Titel des Sammelbands ist zwar als offene
Frage formuliert, die Veranstaltung jedoch sollte angesichts der weltweiten
Ausbreitung des Rechtspopulismus sowie illiberaler und antipluralisti-
scher Tendenzen die Gelegenheit geben, sich normativ und kritisch mit
diesem aktuellen Thema zu beschäftigen.
Der Begriff kollektive bzw. kulturelle Identität hat heute Hochkonjunk-
tur und wird von Politikern immer wieder zu Wahlkampfzwecken instru-
mentalisiert. So wurde in Frankreich unter Staatspräsident Nicolas Sarkozy
ein Ministère de l’Immigration et de l’Identité nationale (Ministerium für Im-
migration und nationale Identität) geschaffen. Sarkozy wollte 2009 durch
Anordnung von Oben eine breite Debatte zur nationalen Identität im ge-
samten französischen Territorium ins Leben rufen. Zu diesem Zweck gab
er den Präfekten in den einzelnen Départements die Anweisung, die Dis-
kussion zu lancieren und zu begleiten. Aufgrund der Weigerung der meis-
ten der angesehensten französischen Sozialwissenschaftler und Intellektu-
ellen, sich an dieser parteipolitischen Aktion zu beteiligen, ist Sarkozys
Idee allerdings gescheitert.
Heute trägt die rechtsextreme Identitäre Bewegung das Wort Identität in
ihrem Namen und nach eigener Aussage steht die AfD-Fraktion im Thü-
ringer Landtag für eine „Alternative zu dem Angriff auf unsere Identität,
unsere Kultur und unsere freiheitliche Lebensform“. Zugleich wurden in
der Bundesrepublik mehrere Heimatministerien gegründet. Donald
Trump bezeugt in den USA mit dem Motto America first seinen Willen, die
US-nationale Identität zu stärken. In Indien tobt derzeit ein Kampf um die
indische Identität, die zum Teil auf dem Rücken der dort lebenden Musli-

1 Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Valerian Thielicke für die kollegiale Un-
terstützung in den zurückliegenden Monaten und seine gewissenhafte Mitarbeit
am Lektorat des Sammelbandes.

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me ausgetragen wird. In China werden Museumsbauten errichtet, die zur


regionalen Selbstfindung und zur Bewahrung des Kulturerbes beitragen
sollen.
Überhaupt sind Erinnerungsorte (lieux de mémoire) en vogue und ihre
Zahl vermehrt sich in rasanter Geschwindigkeit. Zum kollektiven bzw.
kulturellen Gedächtnis verfügen wir mittlerweile über eine sehr umfang-
reiche und spannende wissenschaftliche Literatur. Fühlte man sich Anfang
der 1980er Jahre noch ziemlich einsam, wenn man sich mit Themen der
Identität und des kollektiven Gedächtnisses beschäftigte, hat sich dieser
Umstand in der Zwischenzeit von Grund auf geändert. Mittlerweile
spricht Thomas Meyer sogar von einem „Identitäts-Wahn“ und Amartya
Sen von einer „Identitätsfalle“.
Dabei ist der Begriff „Identität“ prinzipiell schwer zu fassen. Pascal
Bruckner stellte am 11. Juni 2018 in der NZZ fest: „Von all den schillern-
den Begriffen des politischen Vokabulars ist keiner mit mehr Sinn und
Unsinn befrachtet als jener der ‚Identität‘. Das Wort bedeutet alles – und
das Gegenteil davon; es spricht von Einkapselung und Öffnung, von Tradi-
tion und Moderne, von Kultur und Folklore. Und es wird von der äußers-
ten Linken mit ebenso viel Verve beansprucht wie von der extremen Rech-
ten“. Trotz, oder besser aufgrund seiner Unschärfe, ist der Identitätsbegriff
heute à la mode. In den 1970er Jahren stand noch der Klassenkampf im
Vordergrund der intellektuellen und medialen Debatten, heute ist in der
breiten Öffentlichkeit vor allem von Identitätsbildung, -pflege, -politik
und von „Heimat“ die Rede.
Mit Hilfe eines Identitätsnarrativs kann man Unterschiedliches bewir-
ken: Es lassen sich sowohl Gemeinschaftsgefühle erzeugen und Menschen
enger zusammenbinden als auch zu Pogromen bzw. blutigen internationa-
len Konflikten und Bürgerkriegen anstiften oder Geflüchtete im Mittel-
meer ertränken. Als „Meta-Erzählung“ kann es benutzt werden, um Min-
derheiten gegen Diskriminierungen zu mobilisieren, aber auch, um sie zu
unterdrücken und das Nationale zu betonen. Die US-amerikanische Philo-
sophin und feministische Theoretikerin Judith Butler empfiehlt aus die-
sem Grund, das Wort Identität nicht weiter zu benutzen, auch dann nicht,
wenn man für die Rechte von Minderheiten eintritt.
Diese Forderung zeigt, dass sich die Einschätzung der Identität im Laufe
der Zeit erheblich gewandelt hat. In den 1970er Jahren erschien sie bei
Erikson als Merkmal von Reife, bei Habermas sogar als höchste Stufe der
zivilisatorischen Entwicklung in Analogie von Onto- und Phylogenese.
Heute ist dieser Begriff hingegen in intellektuellen Kreisen weitgehend in
Misskredit geraten. Identität wird nicht selten verdächtigt, unzulässig We-
senheiten festzulegen. Im Kern handele es sich um ein konservatives, nost-

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Einführung und Beschreibung der Beiträge

algisches Konzept, das etwas festzuhalten versuche, was längst verlorenge-


gangen sei. Dieser Verlust wird als ein existentielles Verhängnis beschrie-
ben. Identitätspolitik wird zusammen mit dem früher in Westdeutschland,
den USA, Kanada, Australien und England hochgehaltenen Begriff des
„Multikulturalismus“ kritisch hinterfragt. In der Bundesrepublik waren
früher negative Töne zum Thema Identität vor allem bei Autoren der Kri-
tischen Theorie wahrnehmbar. Heute kommen die Kritiken aus unter-
schiedlichen wissenschaftlichen Richtungen. So behauptet Thomas Be-
dorf, es gebe die Identität schlichtweg nicht. Was es seiner Auffassung
nach gibt, sind „Stiftungsereignisse kollektiver Identität“, die zu bestimm-
ten Zwecken fingiert werden.
Wie man sieht, existiert derzeit eine Kluft zwischen Theorie und sozia-
ler bzw. politischer Praxis bezüglich der kulturellen Identität. Die Einwän-
de von Wissenschaftlern und Intellektuellen gegen dieses Konzept schei-
nen einen breiten Teil der Bevölkerung und zahlreiche Politiker jedoch
nicht besonders zu interessieren und noch weniger zu beeindrucken. Iden-
tität bietet für viele Staatsbürger und Wähler einen sicheren Hafen in einer
Zeit, in der sich die Einzelnen mehr oder weniger allein bewähren müs-
sen. Die Öffnung zur Welt bzw. die Globalisierung erscheint weniger als
in der Vergangenheit ein Grund zur Hoffnung denn zur Furcht zu sein
und ist zum Synonym gewaltiger Anstrengungen und allzu schneller
Transformationsprozesse geworden.
Dem Begriff der Identität kann sich ohnehin kaum mit den bewährten
Messmethoden der Sozialwissenschaften angenähert werden. In der ein-
schlägigen Literatur zum Thema findet man unterschiedliche Versuche
Identität zu konzeptualisieren und zu operationalisieren. Sie sind aller-
dings meist an das spezifische Erkenntnisinteresse der Forscherinnen und
Forscher angepasst und auf die Anschlussfähigkeit in der eigenen Fachdis-
ziplin hin ausgerichtet. Es lassen sich mit Viktoria Kaina mindestens drei
Identitätsvorstellungen unterscheiden: Identität kann etwas sein, das Kol-
lektive oder Individuen haben. Sie kann aber auch als das verstanden wer-
den, was Gemeinschaften oder Personen sind oder als etwas, was Men-
schen tun, d. h. zu einem bestimmten Handeln animiert.
Derzeitige Forschungen konzentrieren sich, beeinflusst vom konstrukti-
vistischen Ansatz, auf die Art der Konstruktion der kollektiven Identität
und damit auf die Frage, ob diese ein offenes oder geschlossenes System
darstellt. Identität impliziert stets neben der Wahrnehmung der eigenen
Eigenart auch die Behauptung einer Verschiedenartigkeit und Andersheit.
Sie bedarf, so Fredrik Barth, Grenzziehungen, die sich selektiv vorgenom-
mener Merkmale bedienen. Die Identitätskonstruktion entsteht nicht aus
dem Nichts. Sie baut auf scheinbar objektiven Merkmalen auf. Dieser Vor-

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Yves Bizeul und Dennis Bastian Rudolf

gang beinhaltet eine Vielzahl sozialer und kultureller Abläufe, die sich in
vielschichtigen und langwierigen Prozessen auswirken.
In den modernen Nationen werden historische Fakten und Mythen in
gewaltigen Narrativen zusammengehalten. Sie haben in jeder Nation eine
spezifische Gestalt und werden in einer bestimmten Art und Weise gedeu-
tet. Damit strebt man an, der eigenen Gruppe ein positives Selbstbild zu
vermitteln. Idenitätsnarrative schützen zudem bis zu einem bestimmten
Grad vor auseinandergehenden Einzelinteressen innerhalb einer Nation
und tragen dazu bei, Vielfältigkeit in eine Einheit zu verwandeln. Sie wird
zur Homogenisierung eigentlich heterogener sozialer Zusammenhänge
herangezogen.
Die Schließung der Wir-Identität nach Außen geschieht aber in unter-
schiedlicher Weise. Zum Beispiel mittels einer erfundenen gemeinsamen
Abstammung – zur Gesellschaft gehören dann nur diejenigen, die das rich-
tige „Blut“ vorweisen können bzw. das gleiche Kollektivgedächtnis teilen.
Die Identität kann aber auch durch den Rekurs auf eine gemeinsame Ideo-
logie bzw. auf ein gemeinsames politisches Bekenntnis bzw. belief system
erzeugt werden.
Hier haben wir erste Gründe für die defizitäre Auseinandersetzung mit
dem Fremden in der geschlossenen Gesellschaft. Dass der Umgang mit
dem „Fremden“ immer auch etwas über den Umgang mit sich selbst sagt,
zeigt sich im Falle der geschlossenen Gesellschaft in aller Deutlichkeit. In
ihr wird nicht nur die vermeintliche Fremdheit des „Fremden“ hervorge-
hoben und dieser als zersetzender oder zumindest als störender Fremdkör-
per betrachtet, darüber hinaus raubt eine solche Gesellschaft den Einzel-
nen ihre Autonomie und ihr Selbstwertgefühl. Sie schürt bei den Bürgern
(Untertanen) einen meist von den Einzelnen nicht wahrgenommenen
Selbsthass, der sich jederzeit gegenüber Fremden in Form von Gewalt äu-
ßern kann. So entsteht – vergleichbar mit einem erhitzten Schnellkochtopf
– ein Sammelbecken an Gewaltbereitschaft.
Die Auswüchse dieser gespeicherten Gewalt werden in der geschlosse-
nen Gesellschaft bewusst zum Zweck der Herrschaftssicherung eingesetzt.
In dieser Hinsicht ist es letztendlich irrelevant, ob die Gewalt durch das
System verherrlicht oder ob im Gegenteil offiziell für den Frieden gewor-
ben – dennoch zugleich militärisch hochgerüstet – wird. Selbst im letztge-
nannten Fall bleibt der Speicher an Gewaltbereitschaft immer gut gefüllt.
Außerdem trägt jenes durch das System erzeugte autoritäre Umfeld dazu
bei, in der Bevölkerung ein Klima der Aggressivität, der Verdächtigung
und des Misstrauens zu verbreiten.
Die kollektive Identitätskonstruktion fördert außerdem oft die Entste-
hung und die Verbreitung von Negativ-Stereotypen. Allerdings muss Ab-

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Einführung und Beschreibung der Beiträge

grenzung nicht notwendig mit Ausgrenzung einhergehen, denn kollektive


Identität ist das Ergebnis von nicht-festgelegten Kommunikationsprozes-
sen. Während der Tagung wurde schnell klar, dass in heutigen Gesellschaf-
ten und Diskursen die Trennlinie zwischen geschlossener und offener
Identität aufgrund der Verbreitung des Populismus zum derzeit wohl
wichtigsten Cleavage in der Politik geworden ist und weitgehend den
Platz der früheren Konfliktlinie zwischen Links und Rechts übernommen
hat. Zumindest wird sie teilweise durch den neuen Cleavage überdeckt.
Auch wenn die oppositionellen Politiker bei den letzten Europawahlen in
Frankreich Emmanuel Macrons Gegenüberstellung seiner Bewegung La
République en Marche und der Bewegung Marine Le Pens Le Rassemblement
National als Opposition zwischen Weltoffenheit und Nationalismus bzw.
Universalismus und Partikularismus als reine politische Strategie, die das
Ziel verfolgte, eine Einheitsfront gegen die Rechtspopulisten zu gründen,
verstanden haben, ist dieser Gegensatz in der heutigen Politiklandschaft –
und dies gilt nicht nur in Frankreich – bestimmend geworden.

Um diesen Fragen und Problemen nachzugehen, gliedert sich der Sam-


melband in zwei Teile, von denen sich ersterer dem Konzept der kulturel-
len Identität, in Form von theoretischen Deutungen, aus politikwissen-
schaftlicher, soziologischer sowie (rechts-)philosophischer Perspektive an-
nähert. Der zweite Teil widmet sich in der Folge empirischen Konstruktio-
nen kultureller Identitäten im Kontext von Demokratie, Narrationen,
Denkmälern, Rap und politischen Diskursen.
In einem einführenden Beitrag plädiert Yves Bizeul in Reaktion auf
François Julliens Vorschlag, den Begriff der kulturellen Identität durch
kulturelle Ressourcen zu ersetzen, dafür, das Konzept der kulturellen Iden-
tität in den Sozialwissenschaften in nicht-essentialistischer Form zu erhal-
ten. Einerseits deshalb, weil es in den meisten Gesellschaften in den All-
tagssprachgebrauch übergegangen und Anstoßpunkt vieler Debatten ge-
worden ist. Unabhängig davon, ob diese konstruktiv oder destruktiv ge-
führt worden sind, dürfe man sich dem Begriff an sich daher nicht mehr
verschließen. Zudem könnten andererseits durch die Aufgabe des Begriffs
viele Aspekte des Phänomens nicht mehr erfasst werden. So wird eine
Konzeption der kulturellen Identität vorgeschlagen, die ihre narrativen,
prozessualen, kollektiven wie individuellen Aspekte miteinfasst, um dem
statischen Konzept der kulturellen Identität einen dynamischen Charakter
zu verleihen. In Anbetracht des Rechts auf (kulturelle) Selbstbestimmung
werden daneben verschiedene Strategien der Minder- und Mehrheiten in
Bezug auf ihre kulturelle Identität und ihre Stellung in einer Gesellschaft

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Yves Bizeul und Dennis Bastian Rudolf

beleuchtet. Die kulturelle Identität bleibe demnach zwar ein umstrittenes,


aber dennoch ein unentbehrliches Konzept.
Jörn Knobloch teilt die Einschätzung, dass die kulturelle Identität derzeit
in Verruf geraten ist, plädiert in seinem Beitrag jedoch ebenfalls dafür,
dass die politische Theorie nicht auf den Begriff verzichten kann. Aus ihm
ergibt sich nach wie vor ein Selbstverständnis, welches als notwendig er-
achtet wird, um die Prämissen der gemeinsamen Orientierung zu legiti-
mieren. Da Identitäten aber keinesfalls als starr oder statisch angesehen
werden dürfen, entwickelt sein Beitrag ein praxistheoretisches Konzept
kollektiver Identität, welches die kulturelle Dimension der Identität in der
raumzeitlichen Einübung geteilter Regelsysteme verortet. Ein solches Kon-
zept trägt nicht nur dem Umstand Rechnung, dass Identitäten stets kon-
struiert sind, sondern erweist sich zudem auch als offen genug, um die
Neu- und Umbildung von Identitäten durch interkulturelle Kontakte oder
Migration zu reflektieren. Sie lässt aber auch Abgrenzungen zu, die für die
Herausbildung eines kollektiv geteilten normativen Systems notwendig
sind. Auf diese Wiese kann die kulturelle Identität politisch rehabilitiert
werden und sich den einseitigen Politisierungen der Gegenwart entziehen.
Eine praxistheoretische Deutung kultureller Identität entwickelt Hauke
Behrendt in seinem Beitrag anhand von drei zentralen Thesen. Er geht ers-
tens davon aus, dass sich kulturelle Identität stets nur aus geteilten Über-
zeugungen und Deutungsschemata, praktischem Vollzugswissen sowie ge-
meinsamen Werten und Normen konstituieren kann. Erst auf dieser
Grundlage können sich gegenständliche Artefakte, bedeutungstragende
Symbole und habitualisiertes Verhalten manifestieren. Die sich daraus er-
gebenden kulturellen Symbol- und Bedeutungssysteme sind jedoch zwei-
tens immer Gegenstand interpersonaler Konflikte und Aushandlungspro-
zesse, in denen die bestehende Ordnung herausgefordert und ihre sozialen
Regeln infrage gestellt werden. Kulturelle Identität kann daher nie ruhig-
gestellt werden, sondern befindet sich in einem dauerhaften und dynami-
schen Aushandlungsprozess von Wert- und Interessenskonflikten. Drittens
muss zudem berücksichtigt werden, dass eine solche eigene kulturelle
Identität für die Angehörigen einer Praxisgemeinschaft jedoch opak sein
kann, weshalb ein konvergierendes Wir-Bewusstsein nicht mit der tatsäch-
lichen Identität einer kulturellen Lebensform verwechselt werden darf.
Olaf Jann betont in seinem Beitrag die machtpolitische Dimension sym-
bolischer Kulturkämpfe, die sich auf die strukturbildende Relevanz kultu-
reller Identitäten auswirkt. Als historisch entstandene kollektive Deutungs-
systeme, die wesensmäßig partikular sind und als Ort der Differenz fungie-
ren, deklarieren soziale Gruppen über kulturelle Identitäten die Diskrimi-
nierung ihrer jeweils eigenen Lebensweise. In der damit verbundenen

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Einführung und Beschreibung der Beiträge

Identifikation positiver sowie der politischen Aufladung askriptiver Merk-


male, sieht der Autor einerseits eine neotribalistische, andererseits eine in-
dividualistische Antwort auf Entfremdungserfahrungen sowie auf den Zer-
fall von sozialen bzw. nationalen Zusammenhängen und Anerkennungs-
strukturen in konkurrenzorientierten und wettbewerbsbasierten Gesell-
schaften. Der Wunsch nach Bestätigung, Beachtung und Anerkennung,
aber eben auch die Angst vor Ablehnung, Vernachlässigung und Zurück-
weisung muss dahingehend jedoch als psychosoziales Grundbedürfnis an-
gesehen werden, dass entscheidend für die personale Identitätsbildung des
Subjekts ist.
Im Zuge einer rechtsphilosophischen Auseinandersetzung stellt Ruwen
Fritsche seiner Deutung kultureller Identität als kulturelle Selbstbestim-
mung zwei Problemdiagnosen voraus. Er kritisiert zum einen die teilweise
anzutreffenden unklaren Ableitungen normativer Forderungen aus den
Begriffsanalysen kultureller Identität und problematisiert zum anderen die
Positionen liberaler politischer Theorien bezüglich der Legitimierung akti-
ver Kulturpolitik, die nicht dazu in der Lage sind, das Phänomen kulturel-
ler Identität ausreichend zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund dieser
Problemanzeigen werden mit Ronald Dworkin und Will Kymlicka zwei
Autoren untersucht, über die sich kulturelle Identität in die normative po-
litische Theorie einbinden lässt: Dworkin, im Sinne eines liberalen Egalita-
rismus, der kulturelle Identität als Grundlage des Liberalismus versteht
und Kymlicka, der die besondere Stellung der kulturellen Identität im kul-
turellen Liberalismus (Multikulturalismus sowie liberaler Nationalismus)
hervorhebt. Der abschließende Vorschlag lautet, dass liberale normative
politische Theorien kulturelle Identität als selbstbestimmte positive Identi-
fikation von Individuen mit einer Kultur verstehen sollten.
Für Simon Bein birgt die Frage der gegenwärtigen Polarisierung kultu-
reller Identitätskonflikte ein prinzipielles Gefahrenpotential für die Stabili-
tät westlicher Demokratien. Basierend auf der Annahme, dass der Bedeu-
tungszuwachs und die Pluralisierung kollektiver Identitäten den gesamtge-
sellschaftlichen Zusammenhalt in vielen demokratischen Gesellschaften
ins Wanken bringt, entwirft der Beitrag zunächst eine theoretische Heuris-
tik demokratischer Identität, um das Paradox liberaler Demokratien zwi-
schen kollektiver Verbundenheit und kultureller Freiheit idealtypisch auf-
zulösen. Drei zentrale Aspekte müssen für diesen Identitätstypus gegeben
sein, um von einer demokratischen Form kollektiver Identität sprechen zu
können. Dazu zählen die Anerkennung des demokratischen Gemeinwe-
sens und die Anerkennung zwischen den Subjekten sowie die aktive politi-
sche und zivilgesellschaftliche Partizipation. Gerade in der Betrachtung
kultureller, regionaler und religiöser Identitätsformen zeigt sich jedoch,

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welch pathologisches Potenzial diese für die demokratische Identität zu


entwickeln vermögen.
Aus einer erzähltheoretischen Perspektive widmet sich Nina Elena Eggers
den Konstruktionen des Anderen über eine narrative Identität und kultu-
relle Differenzen. Menschen entwerfen sich und Andere, indem sie Ge-
schichten erzählen, wobei der eigentliche Akt des Erzählens nicht nur der
Erschließung von Wirklichkeit dient, sondern ebenso das Selbst- und
Fremdverstehen bedingt. Ihre Relevanz für die Subjektkonstitution haben
Erzählungen demnach auch in spät- bzw. postmodernen Gesellschaften
nach dem vermeintlichen „Ende der großen Erzählungen“ (Jean-François
Lyotard) nicht verloren. Dass Identitäten heute jedoch generell fragmen-
tierter und dynamischer geworden sind, zeigt sich gegenwärtig in öffentli-
chen Diskursen mitunter durch eine starke Rückbesinnung auf geschlosse-
ne Identitätsnarrative und zunehmende Versuche der Festschreibung kul-
tureller Differenzen. Vor diesem Hintergrund lotet der Beitrag das Potenti-
al des Konzeptes der narrativen Identität für die Analyse von (kulturellen)
Kollektividentitäten aus und veranschaulicht am Beispiel des aktuellen
Fluchtdiskurses und des Narratives der „fremden Männlichkeit“, wie sich
gegenwärtige Kulturalisierungen und Fremdheitskonstruktionen durch
einen erzähltheoretischen Zugang verstehen lassen.
Dennis Bastian Rudolf nähert sich der Frage nach einer kulturellen Iden-
tität über die Identifikation mit Denkmälern im öffentlichen Raum an. Als
materialisierte Formen und damit als sichtbarer Ausdruck der Veräußerli-
chung einer politischen Kultur stehen sie in enger Verbindung mit der äs-
thetischen Ausstattung und der symbolischen Reproduktion politischer
Gemeinschaften, die – über inszenierte und ritualisierte Repräsentationen
– kollektive Selbstbilder und geteilte Erfahrungsräume entwerfen müssen.
Gerade vor dem Hintergrund gegenwärtiger Kultur- und Deutungsmacht-
kämpfe sowie neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien lässt sich beobachten,
inwieweit auch Denkmäler im Zuge einer damit verbundenen Isolierung
und Fixierung kultureller Identitäten polarisieren. Der Beitrag schlägt da-
her in Anlehnung an François Jullien vor, die Fruchtbarkeit von öffentli-
chen Denkmälern als kulturelle Ressource für die Entfaltung des kulturell
Geteilten und Gemeinsamen ins Zentrum zu stellen, um die Begrenzung
des eigenen Ichs, der eignen Kultur, zu erkennen und zu überwinden.
Mit dynamisch kulturellen Identitätsinszenierung im Kontext des Dia-
spora-Rap setzt sich Ayla Güler Saied in ihrem Beitrag auseinander. Auf
Grundlage von Rap-Lyrics und empirischen Interviewdaten werden kultu-
relle Selbst- und Fremdrepräsentationspraktiken sowie performative Insze-
nierungen und zentrale Rap-Stilmittel – wie signifying, dissen und boasten –
analysiert. Es wird argumentiert, dass diese geradezu prädestiniert sind, um

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Einführung und Beschreibung der Beiträge

dem zunehmend nach rechts rückenden hegemonialen Diskurs – zu beob-


achten im Zuge einer gegenwärtigen Re-Nationalisierung westlicher Staa-
ten – machtvolle Gegen-Narrative entgegenzusetzen. Kritisch wird diesbe-
züglich diskutiert, dass in Teilen der Rap-Szene selbst gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit in Form von Misogynie, Rassismus und Antisemi-
tismus reproduziert wird. Für die Autorin ergeben sich dadurch grundle-
gende Fragen: Wie kann performativ inszenierten kulturellen Identitäten
im Rap – der in erster Linie Bestandteil einer Partykultur ist – nachgegan-
gen werden? Wie werden Widersprüche und Spannungen erzeugt und wie
werden diese kodiert bzw. dekodiert? Welche Rolle nehmen in diesem
Kontext (trans-)kulturelle Dynamiken im Rap-Business ein und welchen
gesamtgesellschaftlichen Stellenwert hat Rap seit den 1990ern als erinne-
rungskulturelles Archiv bei der empowernden Verarbeitung rassistischer
Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland?
Inwiefern der Begriff der kulturellen Identität im Diskurs um die Selbst-
thematisierungen und Rechtfertigungen der eigenen Identität als Kampf-
begriff verwendet wird, diskutieren Dawid Mohr und Valerian Thielicke an
den Länderbeispielen Polen und Tunesien. Mithilfe einer Analyse der je-
weiligen Diskurse nähert sich der Beitrag der Frage an, warum überhaupt
auf den Begriff der kulturellen Identität rekurriert und worum dabei ge-
stritten wird. Diesbezüglich identifizieren die Autoren in beiden Ländern
grundsätzliche Gemeinsamkeiten in der Form und Funktionalisierung
einer Erzählung kultureller Identität. Diese dient sowohl in Polen als auch
in Tunesien der Legitimation des eigenen politischen Projekts und der De-
legitimation des politischen Gegners. Dabei lassen sich in beiden Fällen
Entwürfe eines Goldenes Zeitalter bzw. eines Postulats des Erhalts des Sta-
tus Quo finden.

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Teil I: Theoretische Deutungen

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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber
unentbehrliches Konzept

Yves Bizeul

„Identifikation ist […] immer die Widerkehr eines Bildes der Identität,
welches das Kennzeichen der Spaltung innerhalb des Anderen Ortes/
Ortes des Anderen (Other place) trägt, von dem es herkommt.“
(Homi K. Bhabha)

1. Einleitung

Der französische Philosoph, Hellenist und Sinologe François Jullien (2017)


plädiert in einem kürzlich erschienenen Essay dafür, den Begriff „kulturel-
le Identität“ aus dem Vokabular der Sozialwissenschaften zu verbannen.
Seiner Auffassung nach wird mit „Identität“ im Alltag und in der Politik
allzu oft eine statische Substanz assoziiert, zumal dieses Konzept zu den
Sprachuniversalien der westlichen philosophischen Tradition gehört. Julli-
en schlägt aus diesem Grund vor, „kulturelle Identität“ durch „kulturelle
Ressourcen“ zu ersetzen. Da sich in der reflexiven Spätmoderne jegliche
Ontologie weitgehend verflüchtigt habe, sollte man heute nicht weiter von
der Essenz, sondern von einem dynamischen Bild der Kulturen ausgehen,
die nicht voneinander isoliert seien und sich nicht durch Differenzen – vor
allem nicht aufgrund eines angeblichen „Rechts auf Differenz“ – vonein-
ander unterschieden, sondern nur durch Abstände (écarts) getrennt seien,
aus denen fruchtbare Spannungen zwischen den unterschiedlichen Kultur-
ressourcen weltweit entstünden.
Jullien ist weder der einzige noch der erste, der das Konstrukt „kulturel-
le Identität“ als substanzloses bzw. gefährliches Artefakt betrachtet. Theo-
dor W. Adorno hat recht früh – bevor sich „Identität“ als ein Mode- und
Kernbegriff der Psychologie und der Sozialwissenschaften etablieren konn-
te – eine Theorie des Nicht-Identischen vertreten (1951; vgl. Schmucker
1977). Für Claude Lévi-Strauss war „Identität“ nur ein nützliches „a priori
Prinzip“, eine Art „virtueller Fokus“ ohne reale Existenz (Lévi-Strauss/
Benoist 1980, S. 264). Viele Denker, darunter Rogers Brubaker und Frede-
rick Cooper (2000), sind der Auffassung, man sollte als Sozialwissenschaft-

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Yves Bizeul

ler nicht von Identität, sondern eher von Identifikation sprechen. Identifi-
kation setzt keine substantielle Konsistenz voraus, sondern einen stets
durch Veränderungen gekennzeichneten psychischen bzw. psychosozialen
Prozess, aus dem die (trügerische und wissenschaftlich untragbare) Vor-
stellung einer dauerhaften Identität entsteht. Peter Wagner (1998) assozi-
iert „kollektive Identität“ mit den Gefahren des „Fest-Schreibens“ sowie
des „Still-Stellens“ und für Zygmunt Bauman kann sie „nur als ein Prob-
lem existieren“ (1997, S. 134). Während Jacques Derrida (1992) die Identi-
tät dekonstruieren will und von einem Problem bzw. „Ärger“ (trouble) der
Identität spricht, sieht Jean-Luc Nancy (2010) in ihr keine dauerhafte und
lokalisierbare Erscheinung, sondern den Gegenstand von Sehnsüchten
und eine ständige Erfindung. Auch wenn man den Begriff „Identität“
nicht gänzlich dekonstruieren will, ist es in den Sozialwissenschaften mitt-
lerweile üblich den Konstruktionscharakter der kulturellen Identität in
den Vordergrund zu stellen (Giesen 1999, S. 11ff.; vgl. u. a. Eisenstadt
1991; Straub 1998a, 1998b; Gergen 1998).
Es stellt sich indes die Frage, ob die Forderung nach einer Dekonstrukti-
on des Identitätsdiskurses in den Sozialwissenschaften und in einer Welt,
in der der Diskurs zur kollektiven Identität und ihrer Bedeutung für Na-
tionen und vor allem Minderheiten eine immer größere Rolle spielt, wirk-
lich sinnvoll und hilfreich ist. Jürgen Straub konstatiert in Anlehnung an
Jan Assmann, dass die Wir-Identität ein kommunikatives Konstrukt dar-
stellt (1998b, S. 102ff.). Obschon das Wort „Identifikation“ im Fall eines
Kollektivs dem Begriff der Identität vorzuziehen sei, hält es Jean-Luc Nan-
cy für wenig sinnvoll, „Identität“ aus dem sozialwissenschaftlichen Diskurs
ausklammern zu wollen (2004, S. 106). Walter Reese-Schäfer (1999, S. 7)
stellt indes fest, dass die kollektive Identität, obwohl sich der Begriff in den
Sozialwissenschaften erst spät, nämlich in den 1960 bzw. 1970er Jahren
etablieren konnte, mittlerweile als fait social, als „sozialer Tatbestand“ im
Sinne Émile Durkheims (1980, S. 114), betrachtet werden muss. Identität
bestimmt die Handlungen zahlreicher Einzelner und kann schon aus die-
sem Grund nicht so einfach von der Wissenschaft ignoriert werden.
Freilich gilt die Betrachtung Denis de Rougemonts, der Nationalist sei
ein Mensch, der von der existentiellen Angst erfasst werde, eine magische
Kraft zu verlieren (1970, S. 133), ebenfalls für die kulturelle Identität allge-
mein. Die „magische Kraft“, die aus der Zugehörigkeit zu einer „imaginä-
ren Gemeinschaft“ wie der Nation, der Ethnie oder einer kulturellen Min-
derheit entspringt, ist aber realer als es auf dem ersten Blick erscheinen
mag, zumal das soziale Imaginäre nach Danielle Juteau-Lee (1983) stets
eine performative Wirkung hat. Mit anderen Worten: Im Ideellen gibt es
immer einen realen Bestandteil. So kann das Mitglied einer nur gedachten

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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept

Gemeinschaft von Netzwerken profitieren, um seinen eigenen sozialen


Status zu verbessern. Außerdem wird sein Selbstwertgefühl gestärkt, wenn
es davon überzeugt ist, es gehöre zu einer besonderen bzw. besseren Ge-
meinschaft – und dies selbst dann, wenn seine Referenzgruppe durch die
Mehrheit gar nicht als solche gesehen wird oder sogar als Pariagruppe gilt.
Nach einem Definitionsversuch der kulturellen Identität werde ich mich
mit den Parametern der Identität bzw. mit den identity markers beschäfti-
gen und dann auf die identitären Strategien eingehen. Im letzten Teil die-
ses Aufsatzes werde ich die Bedeutung der produktiven Devianz für die
kulturelle Identität betonen.

2. Was ist kulturelle Identität?

Erst der für die Moderne charakteristische Prozess der Ausdifferenzierung


hat eine Selbstwahrnehmung möglich gemacht und die Beschäftigung mit
der Ich- und Wir-Identität in Gang gesetzt (vgl. Abrams/Hogg 1990; Tur-
ner 1991; David/Turner 1996). Davor war die Identität so selbstverständ-
lich, dass sie nicht einmal thematisiert werden musste (Straub 1998b,
S. 89f.; vgl. hierzu auch Taylor 1994). Die Frage nach der persönlichen und
kollektiven Identität ist auch bei der Suche nach einem Fluchtweg aus den
Unsicherheiten der Moderne und danach noch mehr der „verflüssigten
Moderne“ (Zygmunt Bauman) entstanden. Die Philosophie des Subjektes
ist im Westen aus einem langen Denkprozess entstanden (vgl. Boulnois,
2007; de Libera 2007–2014), auch wenn die Reflexion über die Subjektivi-
tät viel älter war (Kobusch 2017, S. 315). Aber erst noch viel später, Ende
der 1950er Jahre, sind in den USA wichtige Studien zur persönlichen Iden-
tität – infolge der Entwicklung der Psychologie und des Individualisie-
rungsprozesses – entstanden. Ende der 1960er Jahre kam es ebenfalls in
Nordamerika – angesichts der Bürgerrechtsbewegung und der Identitäts-
politik verschiedener Minderheiten – zu einer intensiven politischen und
sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit den kollektiven und kulturel-
len Identitäten.
In Abgrenzung von einer essentialistischen Auffassung von Identität
wurde auf die Bedeutung imaginärer Grenzziehungen zwischen der in-
group und den out-groups bei der Entstehung von kollektiven Identitäten
hingewiesen (vgl. Barth 1969). Zugleich hat George Herbert Mead (1968)
schon früh die Bedeutung von intersubjektiven Prozessen bei der Kon-
struktion von Identitäten aufgezeigt. Kulturelle Identitäten entstehen aus
einer Verdichtung des sozialen Netzes. Die Maschen werden enger mitein-
ander verflochten und die Kommunikation zwischen den Einzelnen

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Yves Bizeul

kommt aufgrund gemeinsamer Codes müheloser zustande. In jeder Ge-


meinschaft findet man Kristallisationspunkte geteilter Referenzen, Einstel-
lungen, Empfindungen, Überzeugungen, Vorstellungen, Mythen und Uto-
pien, die allesamt Grundlage eines gemeinsamen „Imaginären“ und ge-
meinsamer belief systems 1 sind. Nach Cornelius Castoriadis bezieht sich da-
her jede Gesellschaft – und dies gilt auch für Gemeinschaften – auf ein Sys-
tem imaginärer „Bedeutungen“. Er vertritt die Auffassung, dass sich „das
gesellschaftliche Leben als Ganzes nicht bloß als funktionales System oder
als gleichgeschaltete Reihe von Vorrichtungen im Dienste der gesellschaft-
lichen Bedürfnisbefriedigung verstehen läßt“ (Castoriadis 1990, S. 233).
Durch die Auswahl und gemeinsame Hervorhebung bestimmter „Be-
deutungen“ im Rahmen von Narrativen sowie durch die Zurückweisung
anderer entsteht das, was John M. Levine und E. Tory Higgins (2001) als
„geteilte Wirklichkeit“ (shared reality) bezeichnen, ein System gemeinsa-
mer Bezüge zur Realität und die Voraussetzung für eine intensive Binnen-
interaktion. Die Mitglieder einer als Interaktionssystem zu betrachtenden
Gemeinschaft fühlen sich durch untereinander verknüpfte Erwartungen,
Interessen, symbolische Bezugsbilder bzw. -figuren und Werte sowie durch
geteilte geschichtliche Narrationen und Praxis miteinander verbunden,
möglicherweise sogar quasi-verwandt. Die „geteilte Wirklichkeit“ ist das
Ergebnis der für die Gruppe spezifischen belief systems, die sich zwar mit
der Zeit ändern können, die allerdings den Mitgliedern der Gruppe gut
vertraut sind. Lange gleichgebliebene beliefs weisen, so Philip E. Converse,
ein höheres Maß an Stabilität auf als die kurzlebigen und sind aus diesem
Grund von größerer Bedeutung und Zentralität für die jeweiligen belief
systems (2006, S. 4). Es ist möglich, das geteilte Imaginäre als Kultur zu be-
zeichnen, wenn man darunter mit Bertrand Badie (1993, S. 15) und Clif-

1 Nicholas Woltertorff versteht unter belief system folgendes: „Consider the totality
of a person’s beliefs at a given time – not the totality of judgments she is making at
that time but the totality of beliefs she holds at that time. Such a totality is not just
a collection. It’s structured, organized; it’s a system. It’s structured in various di-
mensions, one such dimension being this: A given person’s beliefs differ from each
other with respect to their depth of ingression, of entrenchment, in the totality of
that person’s beliefs […]. There’s a depth-of-ingression continuum in each person’s
system of beliefs, with beliefs from the system strung all along that continuum. A
belief’s degree of ingression within a given person’s belief system is determined by
a certain relation which that belief bears to other beliefs of that person […]“ (2001,
S. 235).

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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept

ford Geertz (1973, S. 5) einen Vorrat geteilter Verständnis- und Deutungs-


strukturen versteht.2
Die „geteilte Wirklichkeit“ ist dichter als das von Jürgen Habermas an-
gesprochene „Kollektivbewusstsein“ (1985, S. 88f.), das durch die Teilnah-
me an wert- und normbildenden Kommunikationsprozessen innerhalb
der Lebenswelt erzeugt wird (Habermas 1974, S. 66ff.). Habermas versteht
unter Lebenswelt ein „Netz kommunikativ vermittelter Kooperationen“
bzw. einen „kontextbildenden Hintergrund von Verständigungsprozessen“
(ebd., S. 304). Er kritisiert an Niklas Luhmanns Identitätstheorie, dass sie
die Bedeutung der Intersubjektivität der von den modernen sozialen Ak-
teuren bewohnten Lebenswelt für die Bildung der kollektiven Identität be-
wusst außer Acht lasse (ebd., S. 59ff.). Während Luhmann seine Analyse
auf das System begrenzt, bemüht sich Habermas durch die gleichzeitige
Berücksichtigung des Systems und der im Prozess des kommunikativen
Handelns reproduzierten symbolisch-strukturierten Lebenswelt über die
Systemtheorie hinaus aufzuzeigen, dass der Interaktion von Ego und Alter
innerhalb der Lebenswelt eine besondere Funktion in der Entstehung und
Neugestaltung der Identität zukommt. In ihr taucht „die Reproduktion
und Innovation von kulturellem Wissen“ sowie „die Erzeugung und Erhal-
tung von Solidarität“ auf. Dieser interaktive Prozess profitiert von den kul-
turellen Überlieferungen und von der sozialen Integration, die Habermas
grundlegend von der Systemintegration zu unterscheiden vermag (1988,
S. 95ff.). Er begrüßt die Tatsache, dass die moderne Identität nicht länger
etwas ist, was man erhält und behält, und wertet sie auf. Sie ist zwar ein
Konstrukt, das die Integration von unterschiedlichen Menschen und Inter-
essen ermöglicht, das sich aber auf dem Prinzip des Konsenses aufbaut und
eine klare politische (republikanische) Dimension in sich trägt. Die moder-
ne Nation dürfe nicht als Abstammungs- bzw. kulturelle Gemeinschaft ge-
dacht werden, sondern als eine Assoziation von Freien und Gleichen. Die
kollektive Identität beruht hier auf einer universalistischen, nicht auf einer
primordialen oder traditionalistischen Codierung (Giesen 1999, S. 24ff.):
Der Konsens, der herrschen sollte, ist nicht primär ein Konsens über be-
stimmte Werte oder Normen als solche, sondern über ein Verfahren, hier
über das Verfahren der demokratischen Meinungsbildung und Entschei-
dungsfindung. Die moderne „Staatsbürgerschaft“ ist keine „Staatsangehö-
rigkeit“, sondern ein Staatsbürgerstatus, der an das Prinzip der Freiwillig-
keit gebunden ist. Die demokratische, republikanische Staatsbürgerschaft

2 Bekanntlich definierte Talcott Parsons die Kultur als „system of meaning“ (1973,
S. 34).

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braucht dementsprechend nicht in der kulturellen Identität eines Volkes


verwurzelt zu sein. Habermas hierzu: „Unangesehen der Vielfalt verschie-
dener kultureller Lebensformen, verlangt sie aber die Sozialisation aller
Staatsbürger in einer gemeinsamen politischen Kultur“ (1988, S. 643; eig.
Herv.). Jede und jeder solle dreifache Anerkennung finden: Sie bzw. er
sollte in ihrer/seiner Integrität als unvertretbare/r Einzelne/r, als Angehöri-
ge/r einer ethnischen oder kulturellen Gruppe und als Bürger, d. h. als
Mitglied des politischen Gemeinwesens, gleichen Schutz und gleiche Ach-
tung finden können.

3. Ein Modell kultureller Identität

Das Habermas’sche „Kollektivbewusstsein“ resultiert in erster Linie aus


Deliberationen und aus dem Austausch rationaler Argumente. Neben die-
ser diskursiven, rationalen Ebene sollte aber auch eine weitere Dimension
von Interaktionen nicht unberücksichtigt bleiben: Kollektive Identität ent-
steht auch durch leidenschaftliche Hinwendung und erzeugt starke Emo-
tionen. Diese setzen große Erzählungen voraus. Folgerichtig stellt Paul
Ricœur (1987) in Anlehnung an Alasdair MacIntyre (1995) fest, dass die
kulturelle Identität in erster Linie die Gestalt einer sog. identité narrative
annimmt. Ricœur versteht die „narrative Identität“, die dem Einzelnen ei-
gen ist aber zugleich eine kollektive Dimension hat, im Sinne einer reflexi-
ven „ipse-Identität“ als Selbstheit und nicht als eine substantielle, unabän-
derliche „idem-Identität“ bzw. Gleichheit. Erst auf dem Hintergrund der
Anerkennung des Anderen durch das Selbst und des Selbst durch den An-
deren kann man sich selbst erkennen. Für Ricœur (1996) ist das Selbst im-
mer auch ein Anderer. Vom Anderen ergeht eine ethische Anforderung an
das Selbst, die auch einem verantwortungsvollen Umgang mit der Gabe
sowie mit den eigenen persönlichen Gaben voraussetzt. Die Angst vor ih-
nen ist die Angst vor uns selbst. Das heißt, wir müssen uns erst mit uns
selbst und unserem eigenen Unbewussten beschäftigen, bevor wir „dem
Fremden“ begegnen können (vgl. Kristeva 1990). Die Spiegelungen bei der
Entstehung und der Stabilisierung von Identitäten spielen nicht ohne
Grund eine zentrale Rolle im symbolischen Interaktionismus eines An-
selm Strauss (1973) und vor allem eines Erving Goffman (1967).
Im folgenden Schema werden wichtige Parameter der kulturellen Iden-
tität hervorgehoben, angeordnet und auf ihre gegenseitigen Abhängigkei-
ten hingewiesen (Bizeul 1993, S. 42ff.). Es handelt sich dabei um Bauteile
ähnlicher Elemente, die von „Identitätsunternehmern“ bzw. „Identitätsma-

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nagern“ angewandt werden, um eine kollektive Identität zu konstruieren


(s. Abb. 1).

Kognitive, ethische, ästhetische Bereiche Sozialer


Projektionen und Adaptionen
Beziehung zur
Status und
Materielle und institutionelle Parameter Rolle
„out group“
Projektionen in der Vergangenheit
Wichtigste gegenseitige Abhängigkeiten Ideologien Normen
Diachronie / Synchronie
Gruppenidentität in der Gegenwart

Ästhetische
Dogmen
Kategorien

Werte
Metastablität

Kollektiv- Gemeinsames
Mythen Individualisation- Utopien
gedächtnis Projekt
Operatoren, z.B.
Name, wir, usw.
(Selbst-)
Rituale Anamnese Territorium Institutionen Substitutionen

Sprache
Größe und
Körperliche Hexis,
Stärke der
Verkörperung
Gruppe
Klanische
Strukturen

Abbildung 1: Parameter der kollektiven Identität (nach Bizeul 1993, S. 54).


Auf der Zeitachse (die durchgestrichene Linie in der Mitte des Schemas)
sind die identity markers, die für eine Verbindung mit der Vergangenheit
und für eine Zuwendung auf die Zukunft sorgen, vermerkt. Durch die
Anamnese will man Kohärenz zwischen der Vergangenheit, der Gegen-
wart und der Zukunft schaffen. Sie erlaubt, frühere Ereignisse als etwas
immer noch Aktuelles und zukünftig noch weiter Wirkendes zu betrach-
ten. Dadurch entsteht das Empfinden einer zeitlichen Kontinuität. Der
hermeneutische Bezug zur eigenen Vergangenheit ist von entscheidender
Bedeutung für die Identität. Neben den Mythen und weiteren Großerzäh-
lungen sind auch Riten und Festakte feste Bestandteile eines kollektiven
Gedächtnisses und einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Es handelt sich
dabei um Sprechhandlungen, die sowohl eine illokutionäre als auch eine
institutionell perlokutionäre Kraft haben: Die illokutionäre Kraft des Ritu-
als oder des Festaktes sorgt dafür, dass die Gruppenmitglieder untereinan-
der in einem gemeinsamen „wir“ eingeschlossen werden. Die institutionell
perlokutionäre Kraft dient der symbolischen Macht der Institutionen, die
solche Veranstaltungen organisieren (vgl. Isambert 1979).

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Zu den Erzählungen von für die Gruppe besonders wichtigen vergange-


nen Ereignissen gehören meist Gründungsmythen. Sie kristallisieren in
sich die bedeutendsten Normen, Glauben und Ideologien der Gruppe, die
sich durch die Erzählung dieser mythischen Narrative leichter vermitteln
lassen. Durch die Narration vergangener Ereignisse können aber auch Wi-
derstand und radikaler Neuanfang (Tabula rasa, vgl. Bizeul/Wodianka
2018) erzählt werden, die neue Perspektiven für die Zukunft eröffnen. Sie
ermöglicht dann einen Lernprozess, der zu einer Abweichung von frag-
würdigen Normen und zum Anstieg der Devianzpotentialität der Gemein-
schaft führt. Dies wird selbstverständlich auch durch die Erzählung von
Utopien und durch die Formulierung eines gemeinsamen (politischen)
Projekts erreicht. Meistens werden die Mythen oder die Utopien – je nach-
dem ob man vorwärts in die Zukunft oder rückwärts in die Vergangenheit
schaut – zu Hauptparametern der kulturellen Identität.
Die narrative Identität basiert auf der Unterscheidung zwischen in-group
und out-group. Zur Identitätsbildung müssen – wie schon vorher erwähnt –
stets Grenzen gezogen werden. Sie können mehr oder weniger durchlässig
sein. Zu den Interaktionen zwischen den Gruppenmitgliedern tragen wei-
tere identity markers bei: der Name der Gruppe, eventuell ihre Sprache,
ihre Mundart oder ihre besondere Aussprache, ihr Territorium, ihre „Ver-
körperung“ durch einzelne Angehörige oder durch ihre Institutionen, die
„körperliche Hexis“ (Gestik, Körperhaltung; Bourdieu 1982, S. 740) ihrer
Mitglieder, ihre Größe und ihre materiellen bzw. menschlichen Ressour-
cen. Sie bilden das Gerüst der Identität und sind besonders wichtig, um
die Gruppe im Raum zu orten. Es gibt keine Identität, die nicht irgendwie
lokalisierbar wäre.

4. Gleichberechtigungsprinzip und identitäre Strategien

Wie vorher erwähnt, findet erst ab den 1970er Jahren in den Sozialwissen-
schaften eine intensive Beschäftigung mit dem Thema „kulturelle Identi-
tät“ statt (vgl. Gleason 1983). Vor allem Minderheitsmitglieder, die lange
diskriminiert wurden oder sich so fühlen, haben sich damals für das
Gleichberechtigungsprinzip und für kulturelle und kollektive Rechte stark
gemacht, wobei Minderheitenrechte nicht in allen Fällen mit kollektiven
Rechten gleichzusetzen sind (vgl. Kymlicka 1999). Dass die kulturelle
Identität in Demokratien zu einem der Hauptgegenstände der Forschung
wurde, ist keineswegs verwunderlich, zumal in solchen politischen Syste-
men, so Tocqueville, das Ziel der Gleichheit vorherrscht, was die Privilegi-
en und Diskriminierungen aller Art – auch zwischen Gemeinschaften –

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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept

zwangsläufig unerträglich werden lässt (Tocqueville [1835] 1987, S. 9ff.).


Für manche sollte das Gleichheitsprinzip nur oder zumindest in erster Li-
nie für Gemeinschaftsmitglieder bzw. Staatsbürger gelten (vgl. Schnapper
1991, 1994). Andere jedoch setzen sich für die Gleichbehandlung aller kul-
turellen Gemeinschaften ein und wollen sie auch mit Hilfe einer „positi-
ven Diskriminierung“, die dem Prinzip der individuellen Gleichheit zuwi-
derläuft, durchsetzen (vgl. Taylor 1997). Weitere wiederum wollen beides,
die Ebene des Einzelnen und die des Kollektiven berücksichtigen und be-
vorzugen einen sogenannten „liberalen Multikulturalismus“ (Will Kymli-
cka).
Unabhängig davon, für welche dieser Positionen man steht, sollten laut
Will Kymlicka bzw. Patrice Meyer-Bisch die kulturellen und kollektiven
Rechte immer fester Bestandteil der allgemein gehaltenen Menschenrechte
sein (Kymlicka 1995, S. 4; Meyer-Bisch 2000, S. 276ff.; Emcke 2010,
S. 308ff.). Man kann Matthias Kaufmann nur zustimmen, wenn er betont,
eine Republik vertrage – und benötige – jene Gruppenrechte für Minder-
heiten, „die es den Angehörigen der betroffenen Gruppe erleichtern, sich
am gesellschaftlichen und politischen Leben der Republik zu beteiligen,
indem sie ihnen das Gefühl der persönlichen, aber evtl. auch der kulturel-
len Sicherheit vermittelt. Andererseits sollten sie nicht derart strukturiert
sein, dass politisch ehrgeizige Vertreter der Minorität sie als Waffe zur
Spaltung der Gesellschaft benutzen können“ (2004, S. 57).
Heutzutage wird angesichts der Verbreitung des Fundamentalismus
und des Rechtspopulismus die Kritik an einer Überhöhung des Rechts auf
Differenz und der kulturellen Identität – Stichwort „Identitätswahn“ (vgl.
Meyer 2002) – lauter. Julliens Ablehnung der kulturellen Identität ist vor
diesem Hintergrund zu verstehen. Sie ist vor allem unter Gruppenmitglie-
dern verbreitet, die in der Vergangenheit gegen ihren Willen mit einer
Identität abgestempelt wurden, die sie nicht beanspruchen mochten oder
nicht beanspruchen konnten, weil die Mehrheit die identitären Merkmale
ihrer Gemeinschaft als Stigmata betrachtet. Hiermit ist die Identität des
gelben Sterns bzw. die Identität der Stigmatisierten- bzw. Pariagruppen ge-
meint. Für ausgegrenzte Minderheitsangehörige kann sich die eigene kul-
turelle Identität als Bürde und diejenige der vorherrschenden Mehrheit als
Bedrohung erweisen. Nicht selten wird sogar eine negativ konnotierte
Identität von den Gemeinschaftsmitgliedern internalisiert und reprodu-
ziert (vgl. Bernstein 1972). Caroline Emcke spricht in diesem Fall von
einer „kollektiven Identität des Typs 2“ (2010, S. 321). Die Gruppenmit-
glieder „wollen nicht als das anerkannt werden ‚was sie sind‘, denn das ‚was
sie sind‘ ist ein ambivalentes Produkt aus Aneignung verletzender Be-
schreibungen und Bewertungen und dem Aufbegehren gegen eine fremde,

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Yves Bizeul

demütigende Identität und Lebenssituation“ (ebd.).3 Die Anerkennung


der „verletzten Identität“ sollte dann nach Emcke die Form der Anerken-
nung früherer Diskriminierungen annehmen (ebd.).
Doch auch die Ablehnung des Rechts auf Differenz und des damit ver-
bundenen, von Charles Taylor (1997) befürworteten, Rechts auf kulturelle
Anerkennung sowie die Ausklammerung der Frage nach der kulturellen
Identität ist keineswegs unproblematisch. Eine solche Politik kann zu
einer öden Eintönigkeit der Lebenswelt führen, die nur noch Menschen
bzw. Staatsbürger ohne Eigenschaften hervorbringt. Sie kann aber auch,
wie in Frankreich, dafür benutzt werden, um durch die Hintertür eine ver-
schwiegene oder sogar tabuisierte kulturalistische Leitkultur aufrechtzuer-
halten (vgl. Bizeul 2004). Sogar eine überzeugte Verfechterin des französi-
schen republikanischen Integrationskonzepts wie Dominique Schnapper
muss zugeben: „Es ist wohl wahr, dass [in Frankreich] das Gleichheitsprin-
zip selbst in der Vergangenheit zu sehr die Züge einer Identitätspolitik hat-
te“ (2000, S. 269; Übers. Yves Bizeul). Die Minoritäten haben dabei viel zu
verlieren, an erster Stelle ihre Existenz selbst. Es mag sein, dass sich in
einer Zeit der Diskriminierung bzw. der Verfolgung eine Minderheit frei-
willig bereit erklärt, ihre Spezifizität aufzuopfern – jedenfalls, wenn dies
für sie noch möglich ist (den Juden im Dritten Reich war es verwehrt). Auf
längere Sicht wird die Opferung der eigenen Identität jedoch meist als Ver-
lust wahrgenommen.
Oft erzeugt eine mangelnde Anerkennung diskriminierter Gruppen be-
sondere identitäre Strategien. In der französischsprachigen wissenschaftli-
chen Literatur der 1990er Jahre findet man mehrere Typologien derartiger
Strategien, die von Gruppenmitgliedern verfolgt werden (vgl. hierzu Ta-
boada-Leonetti 1990; Camilleri et al. 1990; Maleweska-Peyre 1990; de Gau-
lejac/Taboada-Leonetti 1994; Manço 2001; Gutnik 2002; Amin 2012). Sie
dienen dazu, das Selbstbild der Einzelnen zu stabilisieren und das Bild der
Anderen auf sich und seine Gemeinschaft zu beeinflussen. Solche Strategi-
en haben zugleich eine ontologische und eine pragmatische Dimension.
Isabel Taboada-Leonetti unterscheidet zwischen neun Idealtypen derarti-
ger Strategien (1989, S. 100ff.):
• Die Strategie der passiven Internalisierung der eigenen kulturellen
Identität samt all ihrer Attribute – darunter auch der möglichen
Stigmata.

3 Die „kollektive Identität des Typs 1“ hingegen sucht nach „der Sicherung und des
Schutzes der ethischen, kulturellen Überzeugungen und Praktiken innerhalb des
Verbunds oder Horizontes einer kulturellen Lebensform“ (ebd., S. 308).

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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept

• Das Überbieten von identitätskonformen Verhaltensweisen. Die


Stigmata der eigenen Gemeinschaft werden dann stolz hochgehal-
ten und betont.
• Die Umgehung der Identitätsfrage. Die ursprüngliche Identität
wird in der Öffentlichkeit verschwiegen, jedoch in der Privatsphäre
weiterhin gepflegt.
• Die semantische Umdeutung mancher Wörter. Dadurch versucht
man Stigmata in Embleme zu verwandeln (vgl. Goffman 1967; Ca-
milleri et al. 2015). So ist aus dem oft negativ konnotierten Begriff
„arabe“ das in den französischen Problemtrabantenstädten positiv
bewertete Wort „beur“ entstanden. Stigmata, darunter auch kultu-
relle Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen oder die Tatsache, dass
man früher verfolgt bzw. diskriminiert wurde, werden für die ehe-
malig Diskriminierten zu Erkennungs- und Totemzeichen in ihrem
Kampf gegen das Norm- und Wertesystem der bestimmenden
Mehrheit. Davon erhofft man sich, entweder der gegenwärtigen Be-
nachteiligung ein Ende zu setzen oder eine drohende gesellschaftli-
che Unsichtbarkeit durch völlige Assimilation abzuwenden.
• Die Instrumentalisierung der kulturellen Identität. Diese wird her-
vorgehoben, um bestimmte Privilegien zu erwerben. Zu diesem
Zweck spielen pressure groups eine wichtige Rolle, in großem Maß
etwa in den USA.
• Die identitäre Neugestaltung. Die persönlichen und kulturellen
Identitäten werden an das neue gesellschaftliche Umfeld angepasst
und verändern sich entsprechend. Dadurch entstehen Mischkultu-
ren.
• Die Assimilation durch inneren Kulturwandel bis hin zur Verleug-
nung der eigenen kulturellen Identität.
• Die absichtliche Nichtwahrnehmung kultureller Differenzen und
rassistischer Verhaltensmuster.
• Das politische Engagement innerhalb von sozialen Bewegungen.
In einer alternativen Typologie wird zwischen
• Angriff-,
• Abwehr-,
• Umgehungs-
• und Befreiungsschlagstrategien
unterschieden (de Gaulejac/Taboada-Leonetti 1994, S. 189ff.).
Vor allem die drei letzten Typen wurden in der Literatur zum Thema
untersucht. Durch Abwehrstrategien versucht man die Internalisierung

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von Vorurteilen zu vermeiden. Zu den Umgehungsstrategien gehören das


ins Lächerliche ziehen fremder Wertesysteme, die Umkehrung aller Werte,
die Überbetonung fremder Werte und Normen und die Betonung der ei-
genen Rechte als Staatsbürger (ebd.). Zu den Befreiungsschlagstrategien
gehören die Aggressivität, der Wille zum sozialen Aufstieg und die Auf-
wertung der eigenen Wertesysteme (ebd., S. 199ff.). Weiterhin werden „in-
terne Strategien“ (Verdrängung, Umkehrung usw.), die darauf zielen, das
Leiden der Einzelnen zu reduzieren, von „externen Strategien“, die eine
Änderung der sozialen Verhältnisse hervorbringen wollen, und von
„Mischstrategien“, die sowohl eine Akkulturation als auch ein Erhalten
von Differenzen anstreben, unterschieden (Maleweska-Peyre 1990,
S. 122ff.).
Politikwissenschaftliche Studien haben auf kollektive Strategien auf-
merksam gemacht (Hanf 1989, 1994, S. 14f.). Es geht dann nicht mehr um
individuelle Strategien, sondern um Strategien von Gruppenmitgliedern,
die aus den jeweiligen Machtverhältnissen entstehen. Große dominante
Minoritäten sowie kleine dominierte Minderheiten neigen dazu – wenn
die Machtkonstellation dies zulässt –, eine Strategie der kulturellen Assimi-
lation zu bevorzugen. Sie setzen sich meist für ein universalistisch-republi-
kanisches Konzept der Integration ein, das die Frage nach der kulturellen
Identität im gemeinsamen öffentlichen Raum weitgehend ausblendet. Die
ersteren wollen hierdurch das gemeinschaftliche Zugehörigkeitsgefühl der
Mehrheit kleinhalten und so eine mögliche Stärkung der dominierten
Mehrheit vermeiden. Das war z. B. im Südafrika der Apartheid der Fall.
Die Mitglieder von kleinen (früher) dominierten Minderheiten verspre-
chen sich von einer Strategie der freiwilligen Integration bzw. Assimilati-
on mehr Chancengleichheit in der Gesamtgesellschaft – so z. B. die protes-
tantische und die jüdische Minderheit in Frankreich. Die meisten in der
Vergangenheit verfolgten kulturellen Gemeinschaften entscheiden sich al-
lerdings für eine Doppelstrategie: eine Strategie der Eingliederung der Ein-
zelnen im öffentlichen Raum einerseits und eine Strategie der Pflege kul-
turell-identitärer Merkmale in der Privatsphäre andererseits. Demgegen-
über stellen vorherrschende Mehrheiten meist ihre Kollektividentität zur
Schau, da sie dadurch nicht gefährdet sind und das Selbstwertgefühl ihrer
Anhänger steigern können. Dies ist auch der Fall bei großen, nicht vor-
herrschenden Minoritäten, die oft eine multikulturelle Strategie nutzen,
um an Gewicht und Einfluss zu gewinnen.
Allerdings lassen sich identitäre Abwehrstrategien dieser Art nicht im-
mer klar von Angriffsstrategien trennen. Obwohl sie anfangs defensiver
Natur sind, will die Minorität letztendlich neue Machtverhältnisse durch-
setzen, die diesmal ihr zugutekommen sollen. Selten wird bloß auf Gleich-

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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept

berechtigung und Gleichgewicht zwischen den verschiedenen kulturellen


Gemeinschaften abgezielt. Gerade aus diesem Grund kann nur ein aus sich
selbst entstehender oder durch das Gesetz festgelegter Kräfteausgleich zu
einer dauerhaften, einigermaßen gerechten Machtteilung zwischen den
Gemeinschaften führen.
Nicht selten wird innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft, die für
mehr soziale Anerkennung eintritt, jede innergemeinschaftliche Abwei-
chung von der Norm als ein unerträglicher, weil die eigene Position ab-
schwächender Störfaktor empfunden. Es wird von allen Gemeinschafts-
mitgliedern erwartet, dass sie die gemeinsamen Embleme und Symbole
der Gruppe als wertvoll anerkennen und pflegen. Unmittelbar nach Ende
des Kalten Krieges haben die Nationalitätenbewegungen in der Sowjet-
union und in Jugoslawien in einem Abwehrgestus gegen die Herrschaft
einer Großmacht, die sich geweigert hatte ihre selbstbestimmte Existenzbe-
rechtigung anzuerkennen, das Recht auf Anerkennung und Differenz für
sich eingefordert. Dieses Recht wurde allerdings den Minoritäten, die sich
bemühten, die oft künstlich neu festgelegten nationalen Grenzen infrage
zu stellen, nicht gewährt. Einige unter diesen Minderheiten haben wiede-
rum selbst interne Minoritäten unterdrückt, die sich absondern wollten, so
z. B. beim Konflikt um die autonome Region Nagornyj-Karabach.
Auf die kulturelle Identität kann man sich also beziehen, um sowohl
eine kulturbewahrende Abwehr- als auch eine kulturzerstörende Angriffs-
strategie zu verfolgen. Sie ist jedoch nicht nur eine Waffe, die im Rahmen
von Strategien innerhalb eines besonderen sozialen Feldes eingesetzt wird.
Die Vorstellung der Kollektividentität dient in erster Linie dazu, Zusam-
menschluss, Sinn, Orientierung und Sicherheit durch Identifikation mit
Heldentaten aus der Vergangenheit und charismatischen Bezugsfiguren so-
wie durch Gründungsmythen, gemeinsame Wertesysteme und Utopien zu
erzeugen. Solche Strategien sind nicht vordergründig gegen andere Grup-
pen bzw. Gemeinschaften gerichtet. Sie erfüllen in erster Linie eine inter-
ne Funktion und sorgen für eine gelungene Eingliederung und Sozialisati-
on der Gruppenmitglieder, indem sie innergemeinschaftliche Bindungen
festigen.
Außerdem hat sich mittlerweile in zahlreichen Ländern der Welt der
Unterschied zwischen Anhängern einer offenen und einer geschlossenen
Identität zur Hauptkonfliktlinie der Politik entwickelt (vgl. Bizeul et al.
2019). Aus diesem neuen Cleavage sind auch die heutigen rechtspopulisti-
schen Parteien bzw. Bewegungen entstanden. Es handelt sich um „Anti-
Parteien-Parteien“, die im Unterschied zu rechtsextremen Bewegungen
meist keine ausgeklügelte, sondern eine „dünne Ideologie“ (Michael Free-
den) vorweisen, die mit alten Ideologien wie dem Konservatismus ver-

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schmelzen. Eine „dünne“ Ideologie reicht aus, denn diese Parteien kämp-
fen nicht für, sondern „gegen“ etwas: In erster Linie sind sie gegen ein
ominöses Establishment bzw. eine korrupte Elite, die das sogenannte
„wahre Volk“ als vorgestellte Einheit angeblich nicht repräsentiere, da es
abgekoppelt von diesem handeln würde. Die Konfliktlinie verläuft hier
nicht primär horizontal auf einer Rechts-Links-Achse, sondern vertikal auf
einer Oben-Unten-Achse.

5. Metastabilität und kulturelle Identität

Oft wird der Eindruck vermittelt, die kulturelle Identität sei zementiert
und unveränderbar. Dies hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass mit
Hilfe von Ursprungsmythen die Nation als schon immer dagewesen, die
Ethnie als ursprünglich und die damit verbundenen Annahme- bzw. Ex-
klusionsrituale (z. B. der Erwerb einer Staatsbürgerschaft) fälschlicherweise
als ein für alle Mal gegeben dargestellt wurden (Citron 2000, S. 50ff.). Da-
bei ist jede kulturelle Identität in Bezug auf das Werden und das „Sich-Ver-
wandeln“ prinzipiell offen, vorausgesetzt, man schottet sie nicht durch
eine einheitliche Ideologie oder mittels des Mythos künstlich ab.
Gilbert Simondon (1964, 1989) hat den Begriff „Metastabilität“ (métas-
tabilité) vorgeschlagen, um damit die potentielle Energie zu bezeichnen,
die nach der Vollendung der Individuation jedes Gegenstandes, also nach
der Ontogenese, noch vorhanden ist. Selbst in einem Kristall ist eine derar-
tige Energie vorhanden. Unter bestimmten Umständen kann sie eine radi-
kale Veränderung seiner Struktur bewirken – in diesem Fall wird von
„Umkristallisation“ gesprochen. Selbstverständlich ist „Metastabilität“ in
komplexeren Systemen – insbesondere in menschlichen Institutionen und
Gemeinschaften – stärker vorhanden als in Naturgegenständen. Sie steigert
sich mit dem Lernprozess und ist in der Lage, die gesellschaftliche bzw. ge-
meinschaftliche Identität radikal umzuformen, ohne die Gemeinschaft ins
Chaos der Instabilität und der Anarchie zu stürzen. Die den homöostati-
schen Prozess fördernden Selbstsubstitutionen der Systemtheorie reichen
nicht aus, um über die fortdauernde Individuation und Identitätsbildung
der Systeme, auch über unerwartete Veränderungen der Systeme hinaus,
Rechenschaft abzulegen. Dies lässt sich besser mit dem Konzept der „Me-
tastabilität“ erklären.
Eine hohe „Metastabilität“ erklärt die mögliche Devianzkraft und die
potentiellen Erfolgschancen einer Gemeinschaft leichter als ihre Größe.
Steve Rytina und David L. Morgan (1982) haben auf die Bedeutung der re-
lativen und absoluten Dimension einer Gruppe, des Prozentsatzes der

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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept

Kontakte ihrer Teilnehmer und des Absonderungsgrades der Gruppe so-


wohl für ihr Zusammengehörigkeitsgefühl als auch für die Fähigkeit, sich
in der gesellschaftlichen Umwelt problemlos zurecht zu finden, hingewie-
sen. Kleine Minderheiten können demnach leichter als größere Gruppen
eine hohe interne Kohäsion mit einem breiteren Kontaktfeld zur out-group
kombinieren. Hubert M. Blalock (1982) und Stanley Lieberson (1980) sind
ebenfalls der Meinung, dass der numerische Parameter den bedeutendsten
Faktor des Erfolges – oder Misserfolges – einer bestimmten Gruppe in der
Gesellschaft bildet: Mitglieder großer Minoritäten haben es viel schwerer
als die kleineren Gruppen, die wenigen freien beruflichen und Marktlü-
cken auszunutzen, um dadurch in der sozialen Hierarchie emporzusteigen.
Der Parameter der Größe der Gruppen hat den Vorteil, eine rein struktu-
relle Größe zu sein: Wenn man die Durchsetzungspotentialität einer Grup-
pe in direkter Verbindung zu ihrer Dimension sieht, vermeidet man jedes
Werturteil kultureller Art. Die Größe einer Gruppe allein ist jedoch nicht
ausreichend, um zu erklären, warum es sich um eine „aktive Minderheit“
handelt oder nicht.
Die trotz enormer Unterschiede in ihrer Größe vergleichbare – jedoch
nicht ähnliche – Gestaltungs-, Leistungs- und Devianzkraft des deutschen
und des französischen Protestantismus widerlegt – zumindest teilweise –
jene Theorien, die den Grad der „Metastabilität“ auf die Größe einer Grup-
pe allein zurückführen (Bizeul 1993, S. 221ff.). Die Existenz einer hohen
bzw. niedrigen „Metastabilität“ hängt vor allem von den dominanten belief
systems einer Gruppe bzw. Gemeinschaft ab. Die hohe potentielle Energie
der Protestanten ist die Folge eines protestantischen Negationsprinzips,
das aufgrund einer langen Geschichte der Verfolgung und des Widerstands
gegen politische Mächte meist im calvinistischen Milieu besonders ausge-
prägt war. Unter dem „Negationsprinzip“ verstand Paul Tillich (1931,
1962) ein „kritisches und gestaltendes Prinzip“, das jeder Verabsolutierung
des Endlichen und Bedingten entschieden entgegentritt. Es bewirkt nicht
nur eine Kritik an der (hierarchisch aufgebauten) Kirche als Macht- und
Unterdrückungssystem, sondern auch an jeglichem menschlichen System,
das zwar einen unbedingten absoluten Wert beansprucht, aber seiner Na-
tur nach immer bloß etwas Bedingtes sein kann.
Auf diesen Grundlagen hat sich im Laufe der Zeit ein protestantisches
Ethos entwickelt, das auf zwei Metaprinzipien beruht: der Eigenverantwor-
tung und der Betonung des sozialen Engagements. Die beiden genannten
Metaprinzipien sind im Protestantismus gleichermaßen bestimmend. Der
französische Religionssoziologe und Historiker Jean Baubérot (1982)
spricht aus diesem Grund vom „Sozialindividualismus“ der Protestanten.
Er betont deren gleichzeitige Vorliebe für das autonome Denken und Han-

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Yves Bizeul

deln und für einen ausgeprägten Gemeinsinn. Schon die Reformatoren


hätten die Schwerpunkte auf die religiöse Gewissensfreiheit (trotz ihrer In-
toleranz gegenüber den sog. „Schwärmern“ und Andersdenkenden) und
zugleich auch auf die Diakonie gelegt. Die besondere Gestaltungs- und De-
vianzkraft der französischen Calvinisten hängt zwar zum Teil mit ihrem
Minderheitsstatus zusammen, macht aber nicht begreiflich, wieso in der
deutschen protestantischen Mehrheit ebenfalls ein starkes Gestaltungspo-
tential und eine relativ große Disposition zur Devianz zu finden sind. Die
Dimension einer Gemeinschaft sollte nur als ein wichtiger Faktor unter
anderen strukturellen und vor allem soziokulturellen Parametern angese-
hen werden.

6. Fazit

Trotz heutigem „Identitätswahn“ und dem Erstarken fundamentalistischer


Gruppen muss die Hervorhebung der kulturellen Identität keineswegs not-
wendigerweise zum Clash of Civilizations (Samuel Huntington) bzw. zur
Verbreitung des Werterelativismus führen, wie Alain Finkielkraut (1989)
behauptet. Die meisten Gemeinschaftsmitglieder sind bereit, mit anderen
Gruppen friedlich zusammenzuleben und zugleich den Wert der allgemei-
nen Menschenrechte zu erkennen. Allerdings sollten nicht ihre jeweiligen
Bezugsgruppen soziale Anerkennung erhalten, sondern stets die Einzel-
nen, da sie allein eine Würde haben und somit Gegenstand der Menschen-
rechte sein können: Die Einzelnen sollen das Grundrecht erhalten, sich
freiwillig mit einer bzw. mehreren Gemeinschaft(en) zu identifizieren
(Meyer-Bisch 2000, S. 276ff.).
Freilich wird heute nach den individuellen und den sozialen Menschen-
rechten immer häufiger auch auf die Existenz kultureller Menschenrechte
hingewiesen, die respektiert werden sollen (vgl. Bielefeldt 1998). Wie Hei-
ner Bielefeldt feststellt, bilden allerdings „[n]icht die konkrete Gestalt
einer historisch geronnenen Kultur, sondern allein die freiheitlichen Vor-
aussetzungen für die Wahrung – das heißt aber auch: für Entwicklung und
Veränderung – kultureller Identität […] den Schutzbereich kultureller
Menschenrechte“ (1998, S. 173). Artikel 27 des Internationalen Pakts über
Bürgerliche und Politische Rechte von 1966 betont entsprechend das
Recht der Angehörigen einer Gruppe, „ihr eigenes kulturelles Leben zu
pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer

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Die kulturelle Identität, ein umstrittenes, aber unentbehrliches Konzept

eigenen Sprache zu bedienen“ (ebd., S. 174).4 Frankreich hat in der Be-


kanntmachung über den Geltungsbereich des Internationalen Pakts über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 23. Dezember 1982 zu
diesem Artikel mit der Begründung, es gäbe in der Republik keine Min-
derheiten,5 Vorbehalte formuliert und sich in diesem Zusammenhang so-
mit selbst ins Abseits gestellt. Bielefeldt betont zurecht die Relevanz der
Minderheitenrechte in den modernen multikulturellen Gesellschaften „als
Alternative zu Zwangshomogenisierung und politischem Separatismus“
(ebd., S. 174).
Das Recht auf Selbstbestimmung ist kein Grundrecht neben anderen.
Es handelt sich um das Metaprinzip aller Grundrechte überhaupt. Nicht
ein unmögliches Herausreißen des Einzelnen aus sozialen Bindungen
wollte man ursprünglich mit den Menschenrechten bewirken, sondern die
Infragestellung menschenunwürdiger Traditionen und die Verhinderung
jeglicher Zwangszugehörigkeit. Ein mündiges Individuum soll die Mög-
lichkeit haben, selbstbestimmt über die Zugehörigkeit zu der bzw. zu den
Gemeinschaften seiner Wahl zu entscheiden. Hierfür ist allerdings erfor-
derlich, dass das Bestehen dieser Gemeinschaften abgesichert wird und
dass Minderheitsmitglieder keine Diskriminierung erfahren.
Wichtig ist allerdings, dass die kulturelle Identität nicht als geschlosse-
nes, sondern als offenes System konzipiert wird. Jean-Luc Nancy stellt fest,
dass eine Identität, die in der Lage wäre, sich selbst zu identifizieren, irrsin-
nig wäre, zumal die Aneignung einer Identität keine Inbesitznahme sei
(2010, S. 68f.). Die Identität eigne sich das „Eine“ immer wieder aufs Neue
an, doch jedes Mal sei diese Aneignung eine exappropriation (Jacques Derri-
da), also eine Aneignung, die nicht in eine totalitäre Schließung des Selbst
in sich selbst münde, sondern stets das Nichtstabile und Unabschließbare
in sich trage (ebd.). Es gilt, so Nancy, „de faire droit aux identités – sans

4 Vgl. den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
von 1966, die Wiener Erklärung – Vienna Declaration and Programme of Action von
2001 sowie die Allgemeine Erklärung der UNESCO zur kulturellen Vielfalt von
2001. Frankreich hat 1999 die Europäische Charta der Regional- oder Minderhei-
tensprachen des Europarats von 1992 unterschrieben. Der Senat hat sich am
27. Oktober 2015 jedoch geweigert, den Text zu ratifizieren.
5 „Die französische Regierung erklärt, gestützt auf Artikel 2 der Verfassung der Fran-
zösischen Republik [Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und
soziale Republik. Sie gewährleistet die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz oh-
ne Unterschied der Herkunft, Rasse oder Religion. Sie achtet jeden Glauben], daß
für eine Anwendung des Artikels 27 auf die Republik kein Anlass besteht“ (Bun-
desgesetzblatt, Teil. II, Nr. 43 vom 23.12.1982, S. 1085).

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rien céder à leur délire“ (1996, S. 173), den Wert der Identitäten anzuer-
kennen, ohne sich in ihrem Wahnsinn zu verlieren (Bedorf 2010, S. 110).
Es handelt sich in den spätmodernen Gesellschaften dabei stets um eine
hybride kulturelle Identität, die aus der Verschmelzung und Aufhebung
verschiedener kulturellen Codes besteht (Said 2001, S. 53f.; vgl. Bronfen et
al. 1997). In ihr findet ein Prozess des kulturellen métissage statt (vgl. La-
plantine/Nouss 1997, 2001; Gruzinski 1999; Kandé 1999; Gagnon/Giguère
2012).6
Laut Patrice Meyer-Bisch gleicht das Konzept der Identität einem Kno-
tenpunkt, der vier dialektisch in Verbindung stehende Oppositionen ver-
bindet (2000, S. 283ff.): die Dialektik des Universalen und des Partikularen
(im Bereich der Ontologie), die des Einen und der Vielheit (im Bereich der
Logik), die des Ergebnisses und des Prozesses (im Bereich des Psychosozia-
len) sowie die des Einzelnen und der Gemeinschaft (im Bereich der An-
thropologie). Dies nicht wahrnehmen zu wollen, führt laut Meyer-Bisch zu
einem höchstproblematischen Verständnis der kulturellen Identität, die
nur in einer radikalen Kritik dieses Begriffs enden kann.
Jullien liegt dennoch falsch, wenn er ohne Einschränkung den Weg der
radikalen Kritik nimmt. Treffender ist es, mit Thomas Bedorf, in Anleh-
nung an Nancy von einer Nicht-Identität der Identität zu sprechen und so-
mit den prozesshaften Charakter jeder Identität und die Differenz, die sie
stets beinhaltet, zu betonen (2010, S. 111). Bedorf stellt wie Jullien auch
die Frage nach der Relevanz und der Legitimität des Konzepts der Identi-
tät. Er bemerkt: „Wenn die Festlegung auf Identitätsverbürgendes unaus-
weichlich Gefahr läuft, in die fundamentalistische Sackgasse zu geraten,
liegt es nahe, die Identität als politische Option ganz über Bord zu werfen
und sie aus den politischen Konflikten endgültig zu verbannen“ (ebd.,
S. 195). Seine Position zu diesem Thema differiert jedoch von der Julliens.
Die These, die er vertritt, lautet: „Prozesse reziproken Anerkennens [die-
nen] der Stärkung des sozialen Bandes […], auf das keine Gesellschaft ver-
zichten kann“. Das Soziale wird hier als das „Zwischen einer Kommunika-
tion“ und nicht als das Erzeugnis von Subjekten verstanden (ebd., S. 201).
Im Prozess des Anerkennens, so Bedorf, „stehen (provisorische) Identitäten
anderen (provisorischen) Identitäten gegenüber, ohne daß es für die Bevor-
zugung einer von ihnen Gründe gäbe“ (ebd., S. 194). Er betont die Tatsa-

6 Allerdings steht heutzutage in Frankreich der Begriff métissage unter dem Ver-
dacht, eine geschlossene Identität zu fördern, da er die Möglichkeit einer culture
non métissée (einer nicht vermischten Kultur) voraussetzt (vgl. Amselle 1990; To-
umson 1998). Außerdem gibt es, so Nancy, weder eine „reine Mischung“ noch
eine „unberührte Reinheit“ (1996, S. 181).

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che, dass Identitäten trotz des Faktums, dass sie Chimären sind, politisier-
bar bleiben, um bestimmte gesellschaftliche Ziele zu erreichen – so die Be-
nutzung der Parole „Wir sind ein Volk“ im Dienst der Vereinigung der
beiden Teile Deutschlands oder den „strategischen Essentialismus“ einer
Gayatri Spivaks, die darauf hinweist, dass der Kampf für die Unabhängig-
keit früher kolonisierter Völker im Namen imaginierter (National-)Identi-
täten geführt wurde (ebd., S. 218, 221).
Bedorf ist allerdings der Auffassung: „Auf die Festlegung einer persona-
len oder kollektiven Identität […] kann [die soziale Kommunikation] ver-
zichten“ (ebd., S. 224). Abgesehen von der Tatsache, dass der Verlust der
personalen Identität bei den Einzelnen meist zu schwerwiegenden psychi-
schen Störungen führt (Straub 1998, S. 86ff.), braucht ein Kollektiv eine
narrative Identität, um dank einer ständigen Synthesis des Heterogenen
längere Zeit bestehen zu können. Eine solche kollektive bzw. kulturelle
Identität kann sehr wohl offen sein und die kritische Distanz eines Teils
der Gruppenmitglieder aushalten. Die gemeinsame Arbeit an der Identität
ist aber das, was Einzelne dauerhaft zur Solidarität bewegen kann. Die
mangelnde Identifikation mit der EU erklärt, warum eine Umverteilung fi-
nanzieller Mittel nach dem Beispiel des deutschen Finanzausgleichs auf
dieser Ebene heute noch kaum vorstellbar ist (Kaina 2009, S. 39ff.). Mehr
als eine gemeinsame Sprache sind für eine gelungene Kommunikation
und ein erfolgreiches gemeinsames Handeln gemeinsame Codes, Verhal-
tensweisen und ähnliche Wertehierarchien vonnöten. Dies kann man
„Leitkultur“ nennen, wenn man mit Bassam Tibi (2001) darunter keine
ethnisch-nationale Kultur, sondern einen demokratischen, laizistischen so-
wie an der zivilisatorischen Identität Europas orientierten Grundwertekon-
sens zwischen Europäern und Migranten versteht.

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Zwischen Offen- und Geschlossenheit. Politische
Implikationen einer praxeologischen kulturellen Identität

Jörn Knobloch

1. Einleitung

Die kulturelle oder kollektive Identität ist wissenschaftlich in Verruf gera-


ten, seitdem sie in der Gegenwart politisch heftig umstritten ist.1 Insbeson-
dere zwei identitätspolitische Bewegungen stehen sich derzeit gegenüber:
So will die linksliberale Identitätspolitik die Anerkennung rein subjektiver
Identitäten ohne Rücksicht auf kulturelle Formen durch weitreichende
Verrechtlichungen fixieren (vgl. Calhoun 1995; Fraser/Honneth 2003).
Gleichzeitig sehen Teile der Bevölkerung ihre kulturelle Identität bedroht
und verlangen einen staatlichen Schutz, gerade weil diese Identität das
Selbstverständnis der Nationalstaaten geprägt hat (vgl. Eatwell/Goodwin
2018). Im Extremen formuliert die Neue Rechte mit der Identitären Bewe-
gung diese kulturelle Identität zu einem nationalistischen Projekt um (Ca-
mus 2017). Politisch ringen hier unterschiedliche, aber exklusive normati-
ve Leitideen von Identität miteinander: Eine lässt nur individuelle Varian-
ten der Identität gelten; die andere beharrt auf der Distinktionskraft rein
kollektiver Identitäten. Beide aber stellen die Legitimität des jeweils ande-
ren Identitätsverständnisses grundsätzlich in Frage. Und als würde das die
kulturelle Identität nicht schon genug desavouieren, wird das Konzept
noch durch den wissenschaftlichen cultural turn relativiert (vgl. Bachmann-
Medick 2009). Kultur avanciert zwar zum entscheidenden Strukturmo-
ment jeder Gesellschaft, doch diese Kultur ist sozial konstruiert. Damit ist
auch jede kollektiv erzeugte Distinktion wie die Identität kulturell kon-
struiert und folglich zufällig. Identitäre Distinktionen verlieren ihren stati-
schen Charakter und somit als ontologische Entitäten an Bedeutung (vgl.
Hirschauer 2014). Als derart politisch umkämpfter, dekonstruierter Ord-

1 Wir nutzen zuerst beide Begriffe synonym, d. h. wir gehen davon aus, dass die
Konstitution der kulturellen Identität nur kollektiv erfolgen kann (Delitz 2018,
S. 29). Jedoch ist nicht jede kollektive Identität auch kulturell erzeugt, was noch
deutlich wird, wenn wir später Kultur eingehender definieren.

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Jörn Knobloch

nungsbegriff ohne Essenz lädt die kulturelle Identität nicht sonderlich zu


einer wissenschaftlichen Reflexion ihrer normativen Rechtfertigung ein.
Im Gegenteil ist eine umstrittene kulturelle Identität für die politikwis-
senschaftliche Aufklärung unattraktiv, da sie als Objekt nicht neutral, son-
dern „gefährlich“ ist (Delitz 2018, S. 46). Sie setzt eine Positionierung vor-
aus, ansonsten macht man sich schon damit verdächtig, dass einem die
kulturelle Identität überhaupt beachtenswert erscheint. Eine unvoreinge-
nommene Untersuchung kultureller Identität wird somit erschwert. Indes
ist es eine erkenntnistheoretische Herausforderung, die kontingent kon-
struierten Identitäten so zu fixieren, dass Erkenntnisse produziert werden
können. Warum dann also nicht gleich auf den Begriff verzichten, wie es
Lutz Niethammer (2000) und jüngst François Jullien (2017) gefordert ha-
ben? Niethammer sieht in ihr ein Plastikwort und Jullien lehnt eine fixe
kulturelle Identität grundsätzlich ab. Kultur ist für ihn so einzigartig wie
vielfältig und sie lässt sich nicht auf eine historische Einheitsidentität zu-
rückführen (Jullien 2017, S. 46). Das Kulturelle ist immer in Bewegung,
verändert sich, folglich „ist es unmöglich, kulturelle Charakteristika zu fi-
xieren oder von der Identität einer Kultur zu sprechen“ (ebd., S. 47). Eine
solche Zurückweisung der kulturellen Identität schützt nicht nur vor den
erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten ihrer Konzeptualisierung, son-
dern umgeht auch die Notwendigkeit einer politischen Positionierung. Si-
cherlich ist das eine einfache Lösung des Problems, vollends überzeugen
kann sie jedoch nicht. Mag Julliens Dekonstruktion der kollektiven Identi-
tät mit dem Ziel ihrer Auflösung (Delitz 2018, S. 33) normativ gut begrün-
det sein, so kann er die empirische Relevanz der Identitätsfrage nicht ne-
gieren.2 Auch wenn die kollektiv erzeugte kulturelle Identität an Legitimi-
tät insbesondere für die normative Politische Theorie verliert, drängt sie
sich jeder Wirklichkeitswissenschaft in Form existierender Identitätskon-
flikte empirisch wieder auf. Dem muss sich auch die Politische Theorie
stellen!
Um die Frage des Bandes nach der Wirklichkeit der kulturellen Identi-
tät aus der Perspektive der Politischen Theorie beantworten zu können,
muss sie angepasst werden. Für eine konstruktive Politische Theorie geht
es um die Aufklärung normativer Sachverhalte mit dem Ziel einer empiri-
schen Theorie der Normativität (Knobloch 2016a, S. 284). Folglich müssen

2 Jullien warnt insbesondere vor den Folgen der identitären Verschiebung: “Man
muss ermessen, welche – politischen – Gefahren es mit sich bringt, wenn man die
Vielfalt der Kulturen in Begriffen von Unterschiedlichkeit und Identität betrach-
tet, sich bewusstmachen, welche negativen Folgen das nicht nur für das Denken,
sondern auch für die Geschichte haben kann“ (2017, S. 49).

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Zwischen Offen- und Geschlossenheit

wir uns fragen, warum sie früher legitim war und jetzt zum Gegenstand
politischer Konfrontationen wird. Im Beitrag wird daher zuerst die histo-
rische und aktuelle Legitimität der kollektiven Identität in der liberalen
Demokratie analysiert. Dabei zeigt sich, dass der Liberalismus politisch
mehrmals versucht hat, die kollektive Identität normativ in Zweifel zu zie-
hen, ohne sie jedoch vollkommen delegitimieren zu können. Die Lehren
aus diesen Versuchen werden im zweiten Teil zu spezifischen Anforderun-
gen an die kollektive Identität in einer Ordnung der kollektiven Selbstre-
gierung verarbeitet. Im Anschluss wird ein Ansatz der kulturellen Identität
mit der Theorie sozialer Praktiken entwickelt, der die vorher formulierten
Anforderungen erfüllt, nämlich in der liberalen Demokratie zwischen Of-
fenheit und Schließung zu vermitteln.

2. Geschlossenheit und Offenheit kultureller Identität

Die politische Aufladung der kulturellen Identität erfolgt in der Entfal-


tung des Begriffs entlang der Differenzierung von normativer Leitidee und
Ordnungsbegriff. Hinter normativen Leitideen stehen begrifflich grundle-
gende Ziele, Werte und Prinzipien politischer Ordnungen, die dazu die-
nen, kritisch über die Legitimation solcher Ordnungen zu reflektieren
(Göhler et al. 2009, S. 375). Hingegen sind Ordnungsbegriffe fundierende
Strukturierungen, die empirische Zugriffe ordnen können (ebd.). Identität
allein ist eine Leitidee und kein Ordnungsbegriff (Knobloch 2019, S. 241).
Sie kann in unterschiedlichen Kontexten gebraucht werden, bietet jedoch
keine grundlegende Strukturierung an. Erst die Verknüpfung mit dem
Kollektiv erlaubt ihre Anwendung als Ordnungsbegriff, wobei die kollekti-
ve Identität nicht irgendein Ordnungskonzept ist, sondern direkt auf die
Gesellschaft abzielt. Jeder „Imagination kollektiver Identität geht es um
die Imagination von Gesellschaft“, demzufolge bestimmt die kollektive
Identität den „Charakter des Sozialen“ (Delitz 2018, S. 23). Hierfür unter-
bricht die kollektive Identität die Kontingenz sozialer Strukturbildungen
und fixiert sie dreifach (ebd., S. 24f.):
1. Die Fixierung in der Zeit, indem eine Geschichte erzählt wird, mit der
die Existenz der Identitäten über einen bestimmten Zeitraum hinweg
stabil gehalten werden soll.
2. Die Fixierung der Einheit der Mitglieder, welche sich miteinander
selbst vereinheitlichen und damit von anderen unterscheidbar machen.
3. Die Fixierung des Grundes der Identität, um die Kontingenz der eige-
nen Existenz zu negieren.

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Jörn Knobloch

Bei kulturell definierten kollektiven Identitäten erfolgen die Fixierungen


über symbolische Manifestationen, wobei die Kultur konstitutiv für alle
soziale Koexistenzen ist (Delitz 2018, S. 29). Die Kultur macht die „Ge-
meinsamkeit des Einzelnen“ sichtbar und formt ein Kollektiv, indem sie:
• erstens durch Geschichte eine temporale Identität erzeugt, die über wis-
senschaftliche Texte, Legenden, Denkmälern, Museen und auch Archi-
tektur eine historische Kontinuität suggeriert;
• zweitens durch die Symbolisierung von einem Wert, einem Dritten, mit
dem die Mitglieder sich identifizieren können, eine Einheit fixiert; wo-
zu Fahnen, Hymnen, Rituale, Totems kurz alles gehört, mit dem sich
die Gemeinsamkeit ausdrücken lässt; und
• drittens eine Entstehungsgeschichte erzählt, die den Schöpfungsakt des
Kollektivs transzendiert (ebd., S. 30ff.).
Insofern ist die kulturelle nicht von der kollektiven Identität abzulösen,
weder konzeptuell noch analytisch. „Wer kulturelle Identitäten erforscht,
erforscht Imaginationen kollektiver Identität oder Gesellschaft“ (ebd.,
S. 33). Ihre starke Verbindung erklärt sich aus der Geschichte der europä-
ischen Nationalstaaten, in denen sich eine eigentümliche Konvergenz poli-
tischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Praktiken herausgebildet
hat (Wagner 1995, S. 267). Durch diese Übereinstimmung verschmolz die
Idee der kollektiven Selbstregierung mit der Idee des Kollektivs zu einer
politischen Identität. Doch weder erfand der Nationalstaat die politische
Identität, die auf die Antike und ihre Bürgerschaft zurückgeht, noch die
kulturelle Identität, die sich zeitlich vor dem Nationalstaat manifestierte.
Stattdessen adaptierte er die existierenden Kollektive und verschränkte sie
mit politisch erzeugten Identitäten. „Der Nationalstaat knüpft meist an ein
bereits vorhandenes Nationalgefühl an, instrumentalisiert es dann aber für
eine Politik der Nationsbildung“ (Osterhammel 2009, S. 583). Hierzu er-
zeugte er standardisierte, homogene und staatlich geschützte soziale Ver-
hältnisse, die eine durch Schrift, Formalisierung und Kommunikation ver-
mittelte Kultur teilten und diese auch nachfragten (Gellner 1995, S. 86).
Die Kulturen, welche durch den Nationalstaat mit den politischen Identi-
täten in Einklang gebracht werden, können somit nicht ohne diesen ge-
dacht werden, denn es sind seine „Erfindungen“ bzw. werden sie durch
den Nationalstaat „bis zur Unkenntlichkeit modifiziert“ (ebd., S. 87): „Da-
her gibt es nicht nur Nationen auf der Suche nach einem eigenen Natio-
nalstaat, sondern umgekehrt auch Nationalstaaten auf der Suche nach der
perfekten Nation, mit der sie sich im Idealfall zur Deckung bringen könn-
ten“ (Osterhammel 2009, S. 583).

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Eine öffentliche Diskussion über den künstlichen Charakter dieser Ver-


schränkung gab es aber nicht. Entweder wurde angenommen, dass die po-
litisch vorgenommene Abschließung die natürlich vorhandenen Abgren-
zungen der kulturellen Identität aktualisiert. In dieser natürlichen Perspek-
tive wird die Entwicklung der kollektiven Identität organisch verstanden,
d. h. ein Kollektiv entwickelt gleichsam natürlich eine Kultur, welche
ihren Ausdruck auch in der politischen Identität findet. Seubert nennt die-
se Perspektive im Anschluss an Canovan die romantische Version der Kol-
lektivgenese (Seubert 2013, S. 24). Man kann sie aber auch als „objektiv-
kulturelle“ Idee der Nation bezeichnen (Schulze 1994, S. 171). Während
hierbei die politische Abschließung nur die kulturelle Kollektivbildung zu
vollenden scheint, kann die Genese der politischen Identität des National-
staates auch im Hinblick auf ihre Künstlichkeit verstanden werden. Diese
rückt den politischen und damit konstruktiven Charakter der Ausbildung
subjektiver Identitäten in den Fokus. Als „subjektiv-politische National-
idee“ (ebd.) folgt sie einer „Römischen“ Tradition, die jedoch den kon-
struktivistischen Charakter kollektiver Identitätsbildung auch nicht soweit
radikalisiert, dass sie die Künstlichkeit der Kultur annehmen muss (Seu-
bert 2013, S. 24).3 Letzteres stellt die Politik vor unlösbare Probleme, denn
wenn die Kollektivgenese rein politisch verstanden wird, kann sie auch
nicht vorpolitisch limitiert werden und ist damit praktisch unbegrenzt
(ebd.). Eine ungehinderte Erweiterung im Sinne eines universalistischen
Existenzanspruchs wird aber erst zum Programm politischer Bewegungen,
die durch die Krise der Nationalstaaten entstehen.
Doch unabhängig davon, ob die Verschränkung der Identitäten als poli-
tische Vollendung einer faktisch, natürlich bzw. historisch vorhandenen
Konvergenz oder als politisches Projekt verstanden wird, sie hat zu einer
Geschlossenheit der politischen Gemeinschaften nach Außen und einer ten-
denziellen Vereinheitlichung im Inneren beigetragen. Kulturell konstitu-
ierte kollektive Identitäten verbanden sich mit nationalstaatlich organisier-
ten Abgrenzungen zu anderen Gesellschaften. Damit wurde das Funda-
ment für ein zunächst unstrittiges Konzept essenzieller kultureller Identi-
täten gelegt. „Unter derartigen Bedingungen kann es nur eine geringe
Möglichkeit der Wahl sozialer Identitäten geben, selbst wenn ein Bewusst-
sein davon vorherrscht, dass Identitäten nicht zugeschrieben, sondern
‚nur‘ sozial determiniert sind“ (Wagner 1995, S. 267f.). Gleichzeitig erlaub-

3 Seubert verweist auf die einflussreiche Flugschrift von Abbé Sièyes. Darin wird die
Nation als etwas verstanden, was bereits da ist, generiert durch die Zivilgesellschaft
und die materiellen Beziehungen des dritten Standes (Seubert 2013, S. 24).

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te dieses Arrangement eine normative Aufwertung kultureller Differenzie-


rungen, da die Übereinstimmung kultureller und politischer Identitätszu-
schreibungen die Mitgliedschaft in Gruppen sowohl definierte als auch le-
gitimierte. Die folgenreiche Verknüpfung kultureller und politischer Iden-
titäten schuf wirksame materielle Identifikationsleistungen, wie den Staats-
bürgerstatus oder die Sicherung von Statuspositionen, erlaubte aber auch
Hierarchisierungen, die den Umgang mit Minderheiten oder anderen Kul-
turen abwerten konnten.
Der Erfolg dieser Verbindung gebar zugleich den Zweifel an ihrer Not-
wendigkeit und Legitimität, denn die Nationalstaaten boten den Men-
schen ein neues Maß an persönlicher Entfaltung. Aus diesen individuellen
Freiheitserfahrungen und dem durch sie induzierten radikalen sozialen
Wandel entwickelten sich zwei Versuche zur Relativierung der politischen,
traditionell durch den Nationalstaat geschützten Idee der kulturellen Iden-
tität:
• Mit der „Verwandlung der Welt“ (vgl. Osterhammel 2009) entwickelte
sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Mittel- und Westeuropa eine
neue individualistische Kultur, welche die Autonomie des Einzelnen
schützt, die Möglichkeit zur „Selbsterkundung“ einräumt und die Idee
des guten Lebens mit der persönlichen Entscheidung verknüpft (Taylor
1994, S. 539f.). Die aufstrebenden Eliten als Träger dieser individualisti-
schen Kultur teilen zwar nicht alle politischen Ziele miteinander, den-
noch lassen sie sich als Protagonisten eines neuen europäischen Libera-
lismus und seines Rufes nach persönlicher Freiheit verstehen (Schulze
1994, S. 165; vgl. Bell 2014). Dieser diffuse europäische Liberalismus
versprach zugleich eine neue Art der gemeinschaftlichen Sinngebung.
Seine Idee des Rechts „des Einzelnen auf Freiheit und Glückseligkeit“
avancierte zur neuen „säkularen Devise des europäischen Liberalismus“
(Schulze 1994, S. 165). Die liberale Theorie integrierte diesen Ansatz in
ein gesellschaftliches Modell, welches die Konkurrenz und die offene
Auseinandersetzung zu notwendigen Bedingungen der Produktion der
besten und damit legitimsten politischen wie auch sozialen Lösungen
erklärte (Wagner 1995, S. 101). Spezifische kollektive Identitäten
brauchte es dafür nicht mehr. Die rechtlich gesicherte freie Entfaltung
des einzelnen Menschen genügt, um ihn für politische Belange zu mo-
tivieren, wobei er seine Interessen in den Mittelpunkt stellt. Der Libera-
lismus wollte deshalb die kollektiven Identitäten überflüssig machen,
weil „Demokratie, Effizienz und Wahrheit“ allein durch die subjektive
Freiheit des Einzelnen umgesetzt werden könnten (ebd.). Hierzu orien-
tierte er sich an einem vorindustriellen Gesellschaftsbild selbstständiger

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Zwischen Offen- und Geschlossenheit

Kleinproduzenten (Winkler 1979, S. 14f.) und transzendierte es zu


einer „Utopie“ der „klassenlosen Bürgergesellschaft“ (Gall 1975,
S. 334). Diese liberale Utopie stieß jedoch an ihre Grenzen, weil der Li-
beralismus sein Ideal nicht umzusetzen vermochte. Mit der Wirtschafts-
krise ab 1870 verlor die Utopie einer kollektivlosen, weil klassenlosen
Gesellschaft an Überzeugungskraft. Stattdessen verarbeitete die Arbei-
terbewegung ihren katastrophalen sozialen Status mit der Bildung
einer neuen kollektiven Identität der Arbeiter, indem sie sich unterein-
ander sowie mit anderen gesellschaftlichen Gruppen verglich. Fortan
kämpften sie für ihre „soziale Identität“, die als kollektiv geteilter „so-
zialer Ort“ der Betroffenen fungierte (Wagner 1995, S. 100). Somit zer-
brach die liberale Utopie daran, dass sie sich wirtschaftlich durchsetzen
konnte und eine starre „bürgerliche Klassengesellschaft“ (Gall 1975,
S. 334) erzeugte, in der die soziale Frage sich derart verschärfte, dass die
betroffenen Gruppen eigene Ansätze entwickeln mussten. Damit schei-
terte auch der Anspruch der Träger des Liberalismus und seiner indivi-
dualistischen Identität, die gesamte Gesellschaft zu vertreten, weil nicht
alle der „Fiktion“ des „allgemeinen Standes“ folgen wollten und sich ei-
gene kollektive Identitäten schufen (Winkler 1979, S. 16f.).
• Die durch das Schlagwort Globalisierung symbolisierte Veränderung
fordert die Grundlage für die Konstitution kollektiver Identitäten nach-
haltig heraus. Durch die gestiegenen Möglichkeiten der Kommunikati-
on und Mobilität interagieren Gesellschaften bzw. Kulturen auf einem
Niveau, welches ihre immer weitergehende Verflechtung nach sich
zieht. Eine Be-, Ein- oder Abgrenzung von Identitäten ist nicht mehr
realistisch. Umfassende Ordnungsbegriffe wie Weltkultur (vgl. Lech-
ner/Boli 2005) oder „Weltgesellschaft“ (Luhmann 2000, S. 428) reflek-
tieren diesen global erweiterten Ordnungsrahmen. Damit wird der Ein-
fluss traditioneller Bezugsgrößen für die Konstruktion kollektiver Iden-
titäten, etwa die einer nationalen Kultur, minimiert, weil sich die Kon-
vergenz politischer, sozialer und kultureller Praktiken der neuen gesell-
schaftlichen Offenheit beugen muss. Demzufolge wird von der Wir-
kungslosigkeit überkommener Grenzen für die Reichweite und die
funktionale Interdependenz von sozialen Praktiken ausgegangen. Un-
strittig für wirtschaftliche Kontexte, deren historische Interdependenz
in der Annales-Schule längst nachgewiesen wurde, gewann die Neube-
wertung der grenzüberschreitenden Verknüpfungen der anderen sozia-
len Praktiken erst nach dem Ende des Kalten Krieges an Dynamik.
Konzepte wie die Hybridität (vgl. Pieterse 1995) bzw. Transdifferenz
(vgl. Allolio-Näcke et al. 2005), suchen die Verbindung der einzelnen
Gesellschaften oder Kulturen über die nationalstaatlich definierten

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Grenzen hinweg für die kulturellen Praktiken konzeptuell aufzufan-


gen. Und obwohl diese Neubewertung der Grenzen auch ein Stück
weit normativen Erwartungen entsprach, gelang es diesen Ansätzen die
Normalität der gegenseitigen Offenheit von Kulturen historisch und
konzeptuell zu begründen und die kulturelle Abgeschlossenheit der
modernen Nationalstaaten als Sonderfall, wenn nicht gar als „Illusion“
(Osterhammel 2009, S. 905), zu rekonstruieren. Die hier proklamierte
Offenheit operiert aber, anders als beim ersten Versuch, auf der Ebene
der Ordnungsbegriffe. Ohne funktionierende gegenseitige Ab-
schließung sozialer Praktiken verändert sich die Bedingung kollektiver
Identitäten radikal, denn sie wird mehr oder weniger kollektiv unmög-
lich. Die Offenheit der Kulturen legt die Kompetenz zur Organisation
der Identität exklusiv in die Hände des Individuums. Sollte aber die
Kultur das Ergebnis subjektiver Selektionen sein, ist auch die kulturelle
Identität nur das Ergebnis individueller Entscheidungen. Kollektive
Identitäten können nur als Folge des gleichen Geschmacks konzeptua-
lisiert werden, da die Kultur einer Person einer subjektiven Bastelarbeit
entspringt (vgl. Reckwitz 2017). Kultur wird zu einem subjektiven Pro-
dukt, einem Selbstverwirklichungsmodell, bestehend aus der individu-
ellen Kombination unterschiedlicher Praktiken und Artefakte. „Subjek-
tive Persönlichkeitsentfaltungen und der Markt kultureller Güter ste-
hen einer Homogenisierung von Gemeinschaften, die hybride Kombi-
nierbarkeit der Kultur der Voraussetzung einer strikten Ingroup-Out-
group-Differenz gegenüber“ (ebd., S. 420f.).
Der erste Versuch zur Relativierung der kulturellen Identität bezweifelte
normativ deren Sinn und brachte die Leitidee des Individuums gegen kol-
lektive Vereinnahmungen in Stellung. Demgegenüber zweifelt der zweite
Versuch schon an der kulturellen Identität als Ordnungsbegriff an sich.
Die liberale Utopie erhob die individuelle über die kollektive Identität,
wodurch die Legitimität der letzteren generell in Frage gestellt wurde.
Wenn überhaupt eine kollektive Identität möglich sein soll, dann nur in-
soweit, wie sie die individuelle nicht einschränkt. Folglich muss die kollek-
tive Identität gegenüber den individuellen absolut offen sein, d. h. die kol-
lektive ist mit der individuellen Identität gleichzusetzen. Infolgedessen
lässt sich konzeptuell darauf auch verzichten. Ebenso verzichtbar wird die
kollektive Identität, wenn sie innerhalb einer radikal individualisierten
Kultur gedacht wird. Eine exklusiv individualisierte Kultur kann jenseits
zufälliger, nur aus dem individuellen Geschmack ableitbarer Ähnlichkei-
ten keine Gemeinsamkeiten definieren. Hier wird deutlich, dass, obwohl
historisch und konzeptuell getrennt, beide Anläufe als Versuch zur Margi-

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nalisierung der kulturellen Identität durch die Idee der Offenheit verstan-
den werden können.

3. Identitätskrise und der Antagonismus von Offen- und Geschlossenheit

Mit der Idee von Offenheit gerät die kulturelle Identität unter Druck, weil
politisch ein Widerspruch zwischen beiden aufgebaut wird. Dessen ant-
agonistischer Kern liegt in der Annahme, dass die kollektive Identität mit
ihrer Geschlossenheit ein Hindernis für die Freiheit einer offenen Identi-
tätsbildung des Einzelnen darstellt. Das illiberale Moment liegt hierbei im
antizipierten Homogenitätsdruck, da „Zugehörigkeiten und Affinitäten“
(Niethammer 2000, S. 631) nicht frei gewählt werden können. Stattdessen
muss das liberale Subjekt die Freiheit haben, beides selber auszuwählen
und sich damit, notfalls auch gegen die kollektiv geteilte Version der kul-
turellen Identität zu stellen. Die individuelle Identität wird so zu einer
Kompetenz, um bei der gleichzeitigen „Offenheit und Verborgenheit des
individuellen Innenlebens“ eine subjektive „Anpassung und Kompromiss-
bildung“ vorzunehmen (ebd.). Diese bilden vielfältige und vor allem fried-
liche „Lösungen“ heraus, welche Konflikte entschärfen und ausbalancieren
können, ganz im Unterschied zu kollektiven Identitäten (ebd.). Letztere
werden im Konflikt gezwungen sich zu manifestieren, wodurch unver-
meidliche Relationen zu Letztbegründungen hergestellt werden, die zur
Eskalation beitragen und durch ihre Unlösbarkeit Gewaltdynamiken indu-
zieren (ebd.). Dadurch wird alles Kollektive automatisch verdächtig. Ent-
weder schickt sich die kollektive Identität an, bestimmte Konstellationen
zu essenzialisieren bzw. zu ontologisieren, was zu einer Hierarchisierung
und Vereinheitlichung mit potenziell negativen Konsequenzen für Min-
derheiten führt (Delitz 2018, S. 48), oder die traditionell meist nationalkul-
turell bestimmte kollektive Identität determiniert einen methodologischen
Nationalismus, der unter den Bedingungen der Globalisierung umstritten
ist (ebd., S. 50). Schließlich kann die kollektive Identifizierung neben einer
rationalen und selbstkritischen Weise auch irrational und emotional be-
trieben werden (ebd., S. 51). Normativ ließe sich aber nur die Erste positi-
vieren, da sie eine postnationale und kritische Beziehung zur kollektiven
Identität fordert (ebd.). Hingegen zielt die irrationale und emotionale kol-
lektive Identität auf Fixierung und Abschließung. Beides konterkariert un-
mittelbar das Prinzip der Offenheit.
In Bezug auf die kulturelle Identität lässt sich konstatieren, dass sie aus
liberaler Perspektive als normativ ambivalent und analytisch ungerechtfer-
tigt erscheint. Indem das Prinzip der Offenheit in der liberalen Gesell-

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schaft „die kritischen Fähigkeiten der Menschen in Freiheit setzt“ (Popper


1992, S. 3), avanciert es zu einem Eigenwert an sich. Daraus lassen sich al-
lein individuelle Identitäten normativ ableiten. Zudem verweigert sich die
Identitätsbildung in einer kulturell nur offen vorstellbaren Weltgesell-
schaft (oder Weltkultur) jeder kollektiven Referenz. Dementsprechend
spiegelt der Antagonismus von Offenheit und Geschlossenheit die Konkur-
renz von individueller und kultureller Identität wider. Mit dieser Differenz
lassen sich nun die oben skizzierten politischen Auseinandersetzungen
besser verstehen.
Der Ausgangspunkt zur Einordnung der identitären Konflikte ist die
derzeit steigende Nachfrage nach individuellen wie auch kollektiven Iden-
titäten (Fukuyama 2018, S. 163ff.; Delitz 2018, S. 52f.; Zielonka 2018,
S. 29ff.). Gleichzeitig herrscht Streit über die Legitimität von Identitäten.
Demensprechend lässt sich von einer „Identitätskrise“ (Delitz 2018, S. 51)
sprechen: Man sucht nach Orientierung in einer Zeit des radikalen sozia-
len Wandels. In einer tiefgreifend sich verändernden Welt muss man sich
neu positionieren und dafür bieten sich Identitäten an, denn sie haben frü-
her bereits Halt gegeben. Identitäten halfen bei der Konstruktion neuer
Kollektive, um in den durch die Modernisierung entzauberten Gesellschaf-
ten ein notwendiges Maß an Stabilität und Solidität zu gewährleisten
(Wagner 1995, S. 102). Durch Abgrenzung ermöglichte die Identität kol-
lektive Handlungsfähigkeit, die für die soziale und politische Emanzipati-
on marginalisierter Gruppen notwendig wurde. Es handelte sich mit Wag-
ner, um einen Prozess der „Wiederverwurzelung […] durch das aktive,
kreative Engagement der betroffenen Menschen […] durch die Ausbil-
dung oder Aneignung von Identitätsoptionen unter Verwendung des ko-
gnitiven kulturellen Materials“ (Wagner 1995, S. 99). So boten Identitäten
Orientierung in den Unsicherheiten der Modernisierung. Schließlich wur-
de durch die Offenheit gar ein neues Konzept von Identität entwickelt und
dem traditionellen gegenübergestellt. Beide, die Offenheit und Geschlos-
senheit betonenden Identitätskonzepte sind immer noch verfügbar und
stehen sich gegenüber, weil bisher keines nachhaltig delegitimiert werden
konnte. Nun jedoch geraten beide in Bedrängnis, weil der gegenwärtige
Wandel ihre Grundlagen verändert. Die Identitätskrise resultiert hier aus
einem Dilemma auf der Ebene ihrer Konstitution, denn Identitätskonzepte,
wenn sie nur exklusiv das Prinzip der Abschließung oder der Offenheit
verfolgen, werden von einer Entwicklung fortgerissen, auf die sie eigent-
lich eine Antwort sein sollen. Von kulturellen Identitäten wird erwartet,
dass sie mit einer essenziellen Definition zum Schutz vor der Globalisie-
rung durch Geschlossenheit beitragen. Indes funktioniert die Ab-
schließung nicht, weil die kulturelle Offenheit eine essenzielle Konstrukti-

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on kultureller Gemeinsamkeiten unmöglich macht. Die traditionelle kul-


turelle Identität steht auf verlorenem Posten, wie auch die individuelle
Identität. Letztere operiert mit dem Versprechen einer offenen subjektiven
Identitätsbildung als Selbstverwirklichungsmodell in einer „Gesellschaft
der Singularitäten“ (vgl. Reckwitz 2017). Genau dieses Modell steht aber
vielen durch soziale Ungleichheiten gar nicht zur Verfügung (vgl. Kop-
petsch 2017). Die neoliberale Globalisierung hat das Glücksversprechen
reiner Offenheit ihrerseits ad absurdum geführt. Demzufolge können bei-
de exklusive Identitätskonzepte ihrerseits nicht auf die Veränderungen re-
agieren und die Identitätskrise lösen. Stattdessen prallen sie mit uneinlös-
baren Versprechen aufeinander. Mir scheint, dass die Härte des gegenwär-
tigen identitären Konfliktes hier ihre Ursache hat. Weil beide Identitäts-
konzepte mit unrealistisch exklusiven Annahmen operieren, produzieren
sie systematisch Enttäuschungen, die, da die Revision des eigenen Identi-
tätskonzeptes nicht angedacht wird, nur über die totale Delegitimation der
jeweils anderen Identität verarbeitet werden.
Letztlich führt die Verwobenheit von Identitätskrise und dem Dilemma
traditioneller Identitätskonzepte zu einem tiefergehenden Problem:
„Wenn sich die Kategorien und Kriterien der Selbstdefinition dramatisch
ändern oder unsicher werden und verloren gehen, kann von einer Identi-
tätskrise gesprochen werden, die zu einer kulturellen Krise wird, wenn
ihre Ursachen im Verlust der Referenzpunkte für die Identitätsbildung in
der Gesellschaft liegen“ (Rosa 1996, S. 70). Die Kultur kann kein bestimm-
tes Identitätskonzept legitimieren, weil sie als Ordnungsbegriff die Ambi-
valenz von Offenheit/Abschließung nicht eindeutig löst. Stattdessen repro-
duziert die Kultur diese durch die umstrittene Differenz von essenziell-kol-
lektivem und flexibel-individualistischem Kulturverständnis (Reckwitz
2017, S. 429f.).

4. Politische Grenzziehungen

Für die weitere Betrachtung stellt sich die Frage, wie auf die Identitäts-
und die ihr zugrundeliegende Kulturkrise seitens der Politischen Theorie
reagiert werden soll. Zur Beantwortung will ich unterhalb der Konstrukti-
on von kulturellen Identitäten bei der Differenz von Offenheit und Schlie-
ßung ansetzen und damit bei den durch die Kultur als Ordnungsbegriff
bereitgestellten Konstruktionsprinzipien. Natürlich könnte man auch ver-
suchen, in der Krise mit einem rein politischen Begriff zu vermitteln. Da-
durch würden die kollektiven Identitäten politisiert werden und das heißt
für unsere Gesellschaft eine Demokratisierung von Identitäten (Möllers

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2008, S. 50). Zunächst mag die Idee attraktiv sein. Im Augenblick, da die
Kultur keine stabilen Erwartungen für die Identitätskonstruktionen bereit-
stellt, sind allein politische, d. h. demokratische Identitäten zu rechtferti-
gen. Die Bildung kollektiver Identitäten wird in die Hände legitimierender
Verfahren (vgl. Luhmann 1993) gelegt. Eine verführerische Option, die je-
doch ignoriert, dass Politik nicht nur funktionell zu verstehen ist. Die Ver-
fahrenslegitimität basiert nicht auf vorsozialer Rationalität, sondern auf be-
stimmten kollektiven Erfahrungen und den daraus abgeleiteten Konven-
tionen. In der Annahme auf die problematische Kultur verzichten zu kön-
nen, kehrt die Kultur in Form der Akzeptanz einer bestimmten Rationali-
tät wieder zurück. Ohne Kultur ist die politische Dimension der Identitä-
ten nicht zu erklären, auch wenn sich die politische Sinnstiftung nicht
vollends in der Kultur auflöst. Das Politische symbolisiert eine, eng mit
der Kultur als Form des kollektiv geteilten Wissens verbundene Art der
Kontingenzunterbrechung. Zwar geht das Politische ordnungsstiftend der
Kultur voraus, indem es einen konkreten Zustand sozialer Organisation
definiert (Knobloch 2016a, S. 84f.), doch findet in der Praxis die Produkti-
on der Ordnung unter Bedingungen ständiger Irritationen statt, auf die
Menschen reagieren müssen. Das entsprechende ‘Versuch-und-Irrtum’-Ver-
fahren bildet den Kern der sozialen Produktion von Ordnung und wird als
kultureller Wissensvorrat symbolisiert. Die Kultur integriert die prakti-
schen Erfahrungen der Menschen bei der Schaffung von Ordnung und
kommuniziert diese an die politische Ordnungsidee zurück.
Durch die politische Perspektive auf die Kultur wird die Einheit der Dif-
ferenz von Offenheit/Geschlossenheit in Form politisch legitimer Grenzzie-
hungen einer Ordnung in den Blick genommen. Mit diesem Verständnis
des Politischen lassen sich drei Aussagen über die Ambivalenz von Offen-
heit/Geschlossenheit treffen:4
1. Fixierung: Die Politische Ordnung bringt die unterschiedlichen Ebenen
des Politischen zusammen und integriert sie in eine normativ begrün-
dete Systematik (Göhler 1978, S. 157). In der Ordnung wird die ur-
sprüngliche Frage nach der Grundlage politischer Gemeinschaft so be-
antwortet (Williams 2005, S. 3), dass der Modus Vivendi einer politi-
schen Gesellschaft möglich wird. Das Ordnungsproblem geht der Pra-
xis, in welcher sich auch die neuzeitliche Subjektivität manifestiert, ge-
nerell voraus (Bubner 1996, S. 171), weil erst die Ordnung einen ver-

4 Ich referiere hier einen Teil meiner Überlegungen zur politischen Konstruktion
der Kultur und zur praxeologischen Theorie des Politischen (Knobloch 2016a,
2016b).

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lässlichen Rahmen bereitstellt, in dem individuelles und kollektives


Handeln ermöglicht wird. Ordnung fixiert damit ihre Grenze als ein
Orientierungssystem, welches die nicht-notwendige Form der sozialen
Existenz zu einer ganz und gar notwendigen Form umdeutet. Indes
wirkt diese Fixierung nicht statisch, denn im Ordnungsbegriff sind zu-
gleich zwei Grenzrelativierungen eingebaut.
2. Offenheit: Ordnung ist das Ergebnis menschlichen Handelns bzw. kol-
lektiver Interaktionen. Als solche künstlich sozial hergestellte Relation
von legitimen Regeln handelt es sich um einen raumzeitlichen Ord-
nungstyp (Waldenfels 1987, S. 18). Menschliches Leben ist zeitlich und
räumlich beschränkt, folglich ist die durch das Politische gestiftete Ord-
nung durch Erfahrung bestimmt. Normativität kommt hierbei durch
die dieser Ordnung zugrundeliegenden Interaktionen ins Spiel, die ih-
rerseits offen und nicht-teleologisch sind, denn das politische Handeln
unterliegt einer eigenständigen Rationalität. Diese Rationalität des Po-
litischen, die exemplarisch von Hannah Arendt begründet wurde, wen-
det sich gegen die „Verabsolutierung des Prozessbegriffs“ in der Neu-
zeit und bezieht sich auf die Offenheit des politischen Handelns
(Arendt [1958] 2002, S. 249, 383).
3. Unbestimmte Ordnung: In konservativen Interpretationen tritt Ordnung
exklusiv als eindeutig bestimmbarer und stabiler Status auf, wodurch
sich das Bestehende legitimieren lässt (Anter 2007, S. 65ff.). Demgegen-
über kommt Ordnung aber nicht nur als Status vor, sondern auch als
Modus und Prozess, welche wiederum häufig im Zwielicht stehen
(Waldenfels 1987, S. 18f.). Die Suche nach Ordnung bleibt damit ge-
nauso wie ihre Umsetzung und Begründung potentiell unabgeschlos-
sen, wodurch Ordnung ausschließlich graduell wird (Anter 2007,
S. 56f.). Zudem entfaltet sich ein Spannungsfeld zwischen Ordnung als
„normatives Orientierungswissen“ (Nida-Rümelin 2009, S. 180) und
der sozial institutionalisierten Ordnung, an der sich die Menschen ab-
arbeiten müssen. Die Suche nach dem Wissen über die Ordnung und
die „Kristallisation dieses Wissens in artikulierten Regeln“, produzieren
eine Differenz von der „Ordnung als Projekt“ und „der Ordnung als
Realisation“ (Voegelin 2012, S. 71).
Politische Ordnung fixiert Grenzen, aber die Grenzziehung kann immer
nur vorläufig Geltung beanspruchen und ist zudem durch ein gewisses
Maß an Unschärfe bestimmt. Folglich verweigert sich diese Grundkonstel-
lation einem Essenzialismus. Doch kann die Ordnung des Politischen auch
nicht als Fiktion dekonstruiert werden. Sie arbeitet mit starken Annah-
men, die der Praxis vorangehen, um Handeln zu ermöglichen. Die Gleich-

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zeitigkeit einer fixierten (scharfen) und offenen (unscharfen) Ordnung


wird durch die dreifache Form von Ordnung erklärbar. Ordnung existiert
simultan als Status, Modus und Prozess und so lange sie im Vollzug oder
Gegenstand eines Herstellungsprozesses ist, sind ihre Grenzen vorläufig,
offen und unscharf. Vergewissert sich die Ordnung aber ihrer selbst, dann
konstituiert sie sich als Status und kann mit der Annahme operieren, dass
sie über fixe und sogar essenzielle Grenzen verfügt. Hieran knüpft sie für
ihren Vollzug an und arbeitet dann weiter als offenes und unscharfes Re-
gelsystem.
Aus dieser Struktur ergeben sich für eine Politische Ordnung, die sich
der Idee der kollektiven Selbstregierung verpflichtet hat, folgende Konsequen-
zen:
1. Das Kollektiv geht seiner politischen Praxis voraus. Damit eine politi-
sche Koexistenz Handlungsfähigkeit erlangt, braucht es ein fixes Ver-
ständnis ihrer selbst. Diese Fixierung muss minimalistisch in zweifa-
cher Hinsicht verstanden werden. Zum einen in Bezug auf die Absicht
gemeinsam zu regieren. Das Kollektiv bezieht sich dabei allein auf die
gegenseitige Anerkennung der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft,
„mit der sie gemeinsam entscheiden wollen“ (Möllers 2008, S. 48).
Zum anderen in Bezug auf die Verbindlichkeit der geteilten Regeln, in-
dem die Mitglieder kollektiv versichern, den kollektiven Regeln zu fol-
gen, wozu sie in „konstituierenden Beziehungen“ (Simons 2005, S. 213)
miteinander stehen. Beide minimalen Fixierungen des Kollektivs ver-
knüpfen sich im Begriff der Multitudo, der sowohl eine republikanische
Betonung der Verbindlichkeiten wie auch eine demokratietheoretische
Interpretation als kollektive Handlungsmacht erlaubt (Llanque 2011,
S. 21; Saar 2013, S. 332).5
2. Dank des raumzeitlichen Charakters der Politischen Ordnung besitzt
das Kollektiv und seine Abgrenzung nur eingeschränkte Geltung. Es-
senzielle Ansprüche der Geltung kollektiver Grenzen müssen ihre Ver-
gänglichkeit verarbeiten, wie die universalistischen ihre Ortsgebunden-
heit. Gegenüber Hierarchisierungen bildet sich so ein systematischer

5 Eine weitere minimalistische Variante kollektiver Abgrenzungen beschreibt Fritz


W. Scharpf. Seiner Ansicht nach bedarf es einer Begründung der Akzeptanz von
Mehrheitsentscheidungen, was bei theoretischer Ablehnung eines homogenen
Volkswillens schwierig wird. Stattdessen sind den Menschen innerhalb ihrer Rol-
lenwahrnehmung als Bürger solidarische Präferenzen zu unterstellen, was einen
„Gemeinsamkeitsglauben“ verlangt. Um dies aber überhaupt feststellen zu kön-
nen, braucht es eine ‘Wir-Identität’, die Ergebnis historischer Erfahrungen, religiö-
ser, kultureller oder ideologischer Überzeugungsarbeit ist (vgl. Scharpf 1997).

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Zweifel. Fixierungen kollektiver Zugehörigkeiten erfolgen exklusiv


über gelungene Interaktionsgeschichten, deren positive Erfahrung zur
Quelle der Legitimität der Ordnung, hier der kollektiven Selbstregie-
rung, wird. Da das den Interaktionen zugrundeliegende politische
Handeln gemäß der politischen Rationalität offen ist, sind auch die das
Kollektiv bestimmenden Grenzziehungen nur offen zu denken.
3. Durch die Unbestimmbarkeit der Ordnung ist eine scharfe Abgren-
zung eines Kollektivs unmöglich. Im Gegensatz zur Illusion formaler
Fixierungen, bei der die Mitgliedschaft genau bestimmt werden kann,
sind die Grenzen des Kollektivs in der Wirklichkeit variabel. Der Voll-
zug kollektiver Selbstregierung weicht notwendigerweise von festen
Grenzziehungen ab, da letztere nur im fiktiven Stillstand einer Ord-
nung möglich sind. Entgegen eines Leerlaufs vollzieht, verändert und
erneuert sich die Politische Ordnung ständig, da das Wissen immer gra-
duell verfügbar ist bzw. Irritationen, Interpretationen und Abweichun-
gen von Regelwissen im sozialen Kontext immer vorkommen. Für die
erfolgreiche Reproduktion von kollektiv geteiltem Regelwissen ist ein
praktisches, häufig implizites Wissen notwendig. Damit lassen sich
aber Regeln häufig nicht eindeutig artikulieren. Dementsprechend sind
viele Regeln nicht eindeutig bestimmbar und mit dieser Unschärfe der
Einheit des Kollektivs kann die kollektive Selbstregierung gut leben.
Ausgehend von dieser Klärung kann nun die Verbindung mit der Kultur
hergestellt werden. Eine kollektiv hervorgebrachte, das Kollektive symboli-
sierende Kultur hat die Aufgabe, trotz ihrer Offenheit und ihrer Unschärfe
stetig die Einheit ihrer Differenz herauszustellen. Eine Kultur, die das leis-
tet, stellt auch flexible Prinzipien für die Konstruktion kollektiver Identitä-
ten bereit.

5. Die praxeologische Konstruktion kultureller Identität

Die Kultur ist das Ergebnis normativer Annahmen. Wenn diese wie im
Fall kollektiver Selbstregierung den offenen Prozesscharakter einer Ord-
nung betonen, muss überlegt werden, welches Konzept von Kultur die
operative Logik am besten transportiert. Es geht nicht um die Frage, wel-
che normative Leitidee von Kultur die normativen Ansprüche der Politi-
schen Ordnung besser vertritt, sondern mit welchem kulturellen Ordnungs-
begriff die Konstitution der Gesellschaft auf der Basis kollektiver Selbstre-
gierung verstanden werden kann. Sieht sich zum Beispiel eine Gesellschaft
als klar definierte Schicksalsgemeinschaft, in der die Kollektivität essenziell

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und nicht Politisch ist, die ihr Heil in der Vollendung ihrer Mission be-
greift, d. h. keine offene Zukunft kennt, und für die Kulturkontakte nur
zur Bestätigung ihrer eigenen Einzigartigkeit dienen, dann ist die Anwen-
dung eines statischen und stark differenzierenden Kulturbegriffs zur Ord-
nung der Wirklichkeit, wie von Herder oder Hegel, für sie legitim (vgl.
Borgards 2010). Gilt indes die Idee einer kollektiven Selbstregierung, dann
ist dieses Kulturkonzept nicht nur illegitim, sondern konzeptuell ungeeig-
net. Ich will zeigen, dass für diese Ordnungen ein praxeologisches Kultur-
konzept am sinnvollsten ist. Die Praxeologie versteht Kultur als soziale
Praktiken und kann demzufolge zwischen Prozess und Struktur, also zwi-
schen Offenheit und Geschlossenheit vermitteln (vgl. Reckwitz 2000;
Schmidt 2012). Hinter einer praxistheoretischen Perspektive steht die An-
nahme, dass die „Regelmäßigkeit von Verhaltensweisen, die Geordnetheit
sozialen Geschehens und die Strukturiertheit sozialer Beziehungen, alle
diese Grundmerkmale des Sozialen werden in und durch soziale Praktiken
hervorgebracht“ (Schmidt 2012, S. 10). Praktiken setzen sich aus routini-
sierten Bewegungen und Aktivitäten des Körpers zusammen (Reckwitz
2003, S. 290). In dem Maße, wie Menschen in einer Praktik partizipieren,
lernen sie ihren Körper auf eine spezifische Art und Weise zu bewegen.
Das Hauptaugenmerk liegt auf den sozialisierten Körpern, in denen spezi-
fische „Kompetenz- und Aktivitätsmodi“ zur Anwendung kommen, „ihre
praktischen, stummen, vorsprachlichen Könnens- und Erkennensformen
sowie auf die im Zusammenspiel von Körpern beobachtbaren Koordinati-
ons-, Orientierungs- und Abstimmungsfähigkeiten“ (Schmidt 2012, S. 59).
Soziale Praktiken haben ihre Zeit. Sie werden durch die Menschen voll-
zogen, wodurch ein Vorher und ein Nachher entsteht. Praktiken schaffen
„ein zeitliches Kontinuum, die Teilnehmerinnen befinden sich in einem
Strom sich entfaltender Aktivitäten“ (ebd., S. 52). Da Praktiken zeitlich
vollzogen werden, öffnet sich auch immer ein Möglichkeitsraum für Un-
gewissheit und es entsteht die Möglichkeit potentieller Sinnverschiebun-
gen (Reckwitz 2003, S. 295). Geschieht dies, wird die Routine einer Praktik
hinterfragt und möglicherweise verändert. Neben der Bedeutung der Er-
fahrungen spielt ebenso die Chance der Routineunterbrechung von Prakti-
ken eine wichtige Rolle bei der Beurteilung von Stabilität und Instabilität
von sozialer Ordnung.
Für die Identitätskonstruktion hat dies folgende Konsequenzen: Da der
in der Praktik involvierte Akteur einerseits abhängig von den kollektiven
Wissensbeständen ist, die er durch die Praktiken als Instruktionswissen er-
lernt, diese aber andererseits subjektiv interpretieren kann, ergibt sich ein
Wechselspiel. Die Praxistheorie betont, in Abgrenzung zu einer rein objek-
tiven oder rein subjektiven Perspektive, den Zusammenhang zwischen der

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kollektiven Wissensordnung und der subjektiven Sinnzuschreibung. Der


Akteur steht in einem hermeneutischen Verhältnis zur Welt, da er sie stän-
dig interpretieren muss, indem er Sinn zuschreibt, welcher den Status
einer ‘Als-Struktur’ erhält (Reckwitz 2000, S. 566). Diese Struktur stiftet
„Seinsgewissheit“ im Kontext „voraussagbarer Routinen“, in denen der Ak-
teur jedoch seine Autonomie hinsichtlich seiner „Körperkontrolle“ behält
(Giddens 1995, S. 101). Somit bekommt die subjektive Sinnzuschreibung
eine handlungskonstitutive Bedeutung, wenn auch das Subjekt gleichzei-
tig dezentriert wird (Reckwitz 2000, S. 568). Das Subjekt ist nicht auto-
nom, denn die subjektiven Sinnzuschreibungen werden durch kollektive
Sinnmuster determiniert, welche vorstellbar sind als „komplex miteinan-
der verknüpfte Systeme kultureller Schemata […], die allgemeine Muster
vorgeben, wie konkrete Phänomene potentiell interpretierbar sind“ (ebd.,
S. 567). Kollektive Sinnmuster sind deshalb keine eigenständigen Phäno-
mene und können nicht analytisch separiert werden, da sie ausschließlich
in den subjektiven, situativen Sinnzuschreibungen existieren, die wiede-
rum nur in Verarbeitung der kollektiven Sinnmuster bestehen (ebd.,
S. 570). Sie sind in den sozialen Praktiken miteinander verbunden.
Beides gehört zusammen: Der kompetente Akteur, der seine Welt sinn-
haft gestaltet, indem er die Dinge interpretiert und der soziale Kontext, in
dessen Rahmen er seine Umwelt aufklären kann. Dieser Rahmen, in Ge-
stalt kollektiver Wissensordnungen, gibt dem Akteur eine Fülle von Mög-
lichkeiten vor, mit denen er seine Welt ordnet und so tätig wird. Das Wis-
sen wird damit nicht mehr „primär als Bestand in den ‘Köpfen’ oder als
abstrakter gesellschaftlicher Wissensvorrat, über den Individuen oder Kol-
lektive verfügen, sondern als Prozess einer permanenten Produktion, Fixie-
rung und Transformation von Zeichen und Bedeutungen“ (Keller 2011,
S. 60) neu konzeptualisiert. Wissen muss produktiv immer neu aktualisiert
werden, wobei es sich verändert und hinterfragt werden kann. Das Wissen
als mentale Dimension der Praktiken ist von der Praxis der Praktiker ab-
hängig. Erst über dieses ‘Tätig werden’ der Praktiker dringt das mentale
Wissen an die Öffentlichkeit.
Praxistheoretisch ist die Identität ein Prozess der Selbstidentifikation ein-
gebettet in eine kollektive Wissensordnung. Dieses Wissen wird in den
Praktiken geschaffen und durch die gemeinsame Teilnahme an diesen kol-
lektiv weitergetragen bzw. verbindlich. Da das kollektiv geteilte Wissen
durch die Praktiken zeitlich bestimmt ist, differenziert es sich in dem Ma-
ße, wie sich soziale Praktiken in den verschiedenen historischen Abschnit-
ten unterscheiden lassen. Zudem lassen sich Praktiken entlang der unter-
schiedlichen Trägergruppen (Kulturen, Klassen, gesellschaftlichen Grup-
pen) und der verschiedenen sozialen Sektoren (sozialen Felder) trennen.

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Wissensordnungen sind geschichtlich, ihre Determinante ist die Erfahrung


der Akteure, die diese wieder in die Praktik einfließen lassen. Zudem sind
Wissensordnungen interkulturell variabel, weil sie die Existenz unter-
schiedlicher Wissensgemeinschaften ausdrücken (Reckwitz 2000, S. 574).
Statt von einem universalistisch verfügbaren Wissen auszugehen, drückt
die Kultur eine raumzeitlich abhängige Ordnungserfahrung aus. Folglich
kann es nicht die Einheitsidentität geben.
Vor diesem kulturellen Hintergrund lässt sich die Identitätskonstrukti-
on als Ergebnis der eigenen Bedeutungszuschreibung besser verstehen. Die
eigene Identität existiert nur auf Grundlage der Wissensordnung (den kul-
turellen Schemata) des Akteurs, womit sich die vorsinnhafte, letztendliche
Gestalt des Selbst auflöst (Reckwitz 2000, S. 577). Die Identität bleibt vom
kulturellen Umfeld, in dem eine Person lebt und an dessen Wissensord-
nungen sie teilhat, abhängig. Die Selbstinterpretation stellt den Mittel-
punkt des persönlichen allgemeinen Weltverstehens dar, die auch seine in-
dividuellen Wünsche, Emotionen determiniert, ganz einfach deshalb, weil
sie vorgibt, was natürlich ist. Damit nimmt die Selbstidentifikation einen
zentralen Stellenwert innerhalb der gesamten Wissensordnungen ein und
hat praxistheoretisch eine enorme Bedeutung: „Die Bereitschaft und Fähig-
keit der Akteure, bestimmte Praktiken zu vollziehen, hängt im Kern davon
ab, welche Bedeutung sie der eigenen Person zuschreiben, welche persona-
le Identität sie damit besitzen und inwiefern mögliche Praktiken mit dem
Selbstverständnis vereinbar wären“ (ebd.).
Die Identität ist keinesfalls als Übernahme vorselektierter Möglichkei-
ten oder als bloßes Auswählen aus bestehenden Identitätsangeboten miss-
zuverstehen, denn das dafür nötige Wissen ist nicht statisch. Die Praxis-
theorie holt das Wissen aus einer intellektualistischen Verkürzung heraus
und dehnt es auf ein praktisches „knowing how“ aus (ebd., S. 578). Prakti-
sches Wissen ist methodisches Handlungswissen, welches Schemata für
eine kompetente Teilnahme an Praktiken liefert, wozu neben dem ‘Wissen
wie’ auch motivationales Wissen gehört. Dieses Wissen existiert nicht sepa-
rat von den übrigen Wissensordnungen, sondern bildet ein besonders rou-
tinisiertes bzw. automatisiertes Wissen, welches zudem nur innerhalb der
gesamten Sinnordnungen angewendet werden kann (Giddens 1995,
S. 393). Ein Akteur braucht die gesamten Wissensordnungen, denn einzel-
ne Praktiken haben nur dann Sinn, wenn die Welt des Akteurs grundsätz-
lich geordnet ist und er die möglichen Kontexte kennt (die meist unbe-
wusst mitgedacht werden). „Dieses praktische Bewusstsein (practical con-
sciousness) umfasst all das, was Handelnde stillschweigend darüber wissen,
wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu verfahren ist, ohne
dass sie in der Lage sein müssten, alldem einen direkten diskursiven Aus-

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Zwischen Offen- und Geschlossenheit

druck zu verleihen“ (Giddens 1995, S. 36). Kollektive Identität ist die ge-
meinsame raumzeitliche Einübung von Fähigkeiten, innerhalb kollektiv ge-
teilter Wissensordnungen. Diese bilden die kulturelle Dimension der Iden-
tität.

6. Politische Implikationen des praxeologischen Identitätskonzepts

Im letzten Schritt wird das praxeologisch begründete Identitätskonzept


mit den normativen Anforderungen von (1.) Fixierung, (2.) Offenheit und
(3.) Unbestimmtheit der Politischen Ordnung konfrontiert:
1. Die kollektive Selbstregierung ist eine Ordnung im Kollektivmodus. Ihr
Regelungsmodus setzt an der kollektiven Konstruktion und Identifika-
tion von Regelwissen an. „Participating in a practice incurs a commit-
ment to following its governing rules“ (Millar 2004, S. 85). Damit ist sie
voraussetzungsreich, denn sie bedarf einer konstituierenden Ganzheit,
also einer politischen Koexistenz, in der Menschen integrierende Bezie-
hungen entwickelt haben. Erst diese Beziehungen erlauben eine kollek-
tive Praxis gemeinsamer Regelidentifikation, -befolgung und -sanktion.
In dieser werden die Fähigkeiten der situativen Dekontextualisierung
von Regeln und Identifizierung ihrer Befolgung zu einem kollektiv
wirksamen praktischen Wissen. Ordnung wird hier als Zustand ver-
standen, in dem die ‘Idee der kollektiven Selbstregierung’ kollektiv um-
gesetzt wird. Die Regelung dieses Zustandes setzt die Konstitution des
Kollektivs als ein Ganzes voraus, welches für die Politik verfügbar ist.
In dieser Hinsicht wird die kollektivierte Ordnung in Gestalt des Gan-
zen zum Gegenstand der Praxis. Das Volk als Träger dieser Ordnung ist
nicht nur symbolisch zu verstehen, sondern muss als reales Moment
politischer Praxis präsent sein.
2. Die Politische Ordnung regelt den Zusammenhang des kollektiven Zu-
sammenlebens, indem sie als Teil einer kollektiv geteilten Wissensord-
nung diesen Zustand für alle in den Praktiken involvierten Menschen
präsentiert und zur Verfügung stellt. Als sanktioniertes Erfahrungswis-
sen ist sie das Ergebnis der Praktiken und somit der Prozess der Ord-
nung. Damit fixiert sie eine Zugehörigkeit, denn nicht jeder Mensch
auf der Welt kann in allen sozialen Praktiken partizipieren. Gleichzei-
tig schließt die raumzeitliche Konstitution und Anwendung des Wis-
sens eine homogene Weltkultur systematisch aus, weil ein universales
und einheitlich verfügbares Weltwissen unwahrscheinlich ist. Demge-
genüber sind Praktiken potentiell offen. Es gibt keine vorgegebenen

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Schranken, die eine Partizipation in Praktiken natürlich ausschließen.


Selbst da, wo Menschen versuchen ihre spezifischen Praktiken zu
schützen, etwa durch den Ausschluss von Öffentlichkeit oder der Sank-
tionierung ihrer Ausführung, können sie doch immer kreativ imitiert,
adaptiert oder simuliert werden. In dieser Hinsicht sind Praktiken of-
fen, sie müssen aber erlernt werden. Offenheit ist mit einem Mindest-
maß an körperlicher Anstrengung verbunden.
3. Entgegen einer häufig durch Symbole vermittelten Illusion einer fixier-
baren kollektiven Einheit, die in Begriffen wie Nation oder Volk essen-
zialisiert werden können, ist das zugrundeliegende praktisch bestimm-
te Kollektiv durch eine Vielzahl nicht fixierter, informaler, impliziter
Regeln und Konventionen miteinander verbunden. Während formali-
sierte Strukturen der Praxis durch Kodifizierung oder Formulierung
auferlegte Regeln sind, werden implizite Regelungen im praktischen
Wissen der Praxis durch die Praxis auferlegt (Ortmann 2010, S. 114f.):
Regelungen konstituieren Praktiken, die routiniert reproduziert wer-
den und damit wieder Regeln konstituieren. Zwar ist die Wirksamkeit
der informalen, impliziten Regeln und Konventionen unbestritten,
doch lassen sie sich nur ungenau beobachten und beschreiben. Somit
können sie nicht zum Gegenstand diskursiver Praktiken werden oder
sie entziehen sich der Öffentlichkeit. Jeder Versuch einer scharfen Ab-
grenzung der relevanten Regeln und ihrer Träger endet folglich an der
Unschärfe nicht formulierbaren und nicht öffentlich beobachtbaren
praktischen Regelwissens.
Die praktisch erzeugte Identität ist eine legitime kulturelle Identität. Sie
vollzieht konstruktiv die normativen Anforderungen der Politischen Ord-
nung der kollektiven Selbstregierung. Doch sie geht über die funktional
gedachte, demokratische kollektive Identität von Möllers hinaus. Möllers
Idee einer exklusiv politischen Identität liefert sich dem oben angesproche-
nen Dilemma einer Demokratie, die unfähig ist, ihre eigenen Grenzen de-
mokratisch festzulegen, aus. Das praxeologische Konzept hingegen ver-
knüpft die Manifestation der Grenzen an das kulturelle Wissen der Gesell-
schaft, in der ihre Erfahrungen mit der praktischen Umsetzung Politischer
Ordnung in den sozialen Praktiken verfügbar sind, aber eben nur in den
Praktiken! Das Dilemma stetig revidierbarer Grenzen wird aufgelöst, weil
die Offenheit und Geschlossenheit zwei Seiten einer sozialen Praxis sind,
die nicht einseitig reduziert werden kann. In den Praktiken wird die Duali-
tät von Struktur und Prozess miteinander vermittelt. Erst muss die durch
Praktiken vermittelte Ordnung praktisch durch Partizipation in den Prak-
tiken als Aneignung praktischen Wissens verstanden werden. Ohne An-

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strengungen und den Willen, dieses Wissen zu erlernen, wird eine Person
nicht Teil der Ordnung. Dementsprechend drückt die Selbstidentifikation
der Menschen (Identität) in den sozialen Praktiken sowohl die Abgren-
zung von anderen Praxisgemeinschaften als auch die strukturelle Offenheit
gegenüber anderen aus.
Politisch heißt dies, dass die für die Konstitution einer liberalen Bürger-
schaft notwendige gegenseitige Anerkennung und Erfahrung von Gleich-
heit in sozialen Beziehungen (Seubert 2013, S. 33) das Ergebnis einer Re-
gelbefolgungspraxis (vgl. Schönrich 2004) ist. Diese soziale Praxis wird
praktisch gelebt und sanktioniert, sie hat eine Geschichte und lässt sich
nicht in einem universalen Vakuum quasi ahistorisch herstellen. Der Er-
folg der Regelbefolgungspraxis basiert auf einer „Regelbefolgungsgemein-
schaft“ (ebd., S. 91), die ihre Grenzen als Ergebnis sozialer Praktiken ihrer
sozialen Praxis voraussetzt. Diese Grenzen sind aber offen, weil potentiell
jeder in dieser Praxis partizipieren kann. Diese Offenheit als Freiheit zur
Partizipation ist jedoch mit körperlicher Anstrengung verbunden. Man
kann an existenten Praktiken partizipieren, sich ihr praktisches Wissen an-
eignen und die Vorteile einer Regelgemeinschaft im Sinne eines gegensei-
tigen Schutzes vor Willkür genießen (vgl. Pettit 1997). Das schließt aber
eine orts- und zeitlose politische Gemeinschaft aus. Die praxeologische
kulturelle Identität ist gleichzeitig offen und geschlossen. Sie ist offen ge-
nug, um die stetige Neu- und Umbildung von Identitäten durch interkul-
turelle Kontakte oder Migration zu verarbeiten. Sie lässt aber auch Abgren-
zungen zu, die für die Herausbildung eines kollektiv geteilten normativen
Systems notwendig sind. Solcherart kann sie die Identität politisch rehabi-
litieren und den einseitigen Politisierungen der Gegenwart entziehen. Ihre
Integration von Offenheit/Abgeschlossenheit in einer körperlich anstren-
genden, wissensbasierten sozialen Praxis macht sie zur Grundlage eines
kulturell sensiblen Republikanismus der Gegenwart (vgl. Seubert 2013).

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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung

Hauke Behrendt

1. Thema und Zielsetzung

Gibt es eine kulturelle Identität? Das ist die erkenntnisleitende Frage der
folgenden Überlegungen. Sie stellt sich nicht zuletzt mit Blick auf aktuelle
soziologische Gegenwartsdiagnosen, die für das frühe 21. Jahrhundert
einen Aufschwung partikularer „Neogemeinschaften“ (Reckwitz 2017,
S. 394) beschreiben, in denen sich als Reaktion auf eine krisengebeutelte
Globalisierung spezifische Ausformungen eines überwunden geglaubten
Kulturessenzialismus niederschlagen. Ob ethnisch, religiös oder politisch
begründet, gehen diese mit einer Politisierung des Kulturellen in Form
von antagonistischen Identitätspolitiken und teils feindseligen Abgrenzun-
gen gegenüber Fremdgruppen einher (ebd., S. 394ff.). So bedrohen sozio-
kulturelle Konflikte heute selbst in Gesellschaften mit langen demokrati-
schen Traditionen in Europa und Nordamerika den sozialen Frieden und
den Zusammenhalt – gut zu beobachten etwa an nationalchauvinistischen
Abschottungsbestrebungen à la „America First“ oder gruppenbezogenem
Hass und Ressentiments gegenüber Menschen mit Migrations- und Fluch-
terfahrungen im Allgemeinen und Muslimen im Speziellen. Vor diesem
Hintergrund finden sich akademische Versuche, den Begriff der kulturel-
len Identität zu dekonstruieren, um den beschriebenen Tendenzen kultu-
reller Schließung mit philosophischen Mitteln entgegenzutreten (vgl. Julli-
en 2017). Allerdings tragen auch individuelle Marginalisierungs- und Miss-
achtungserfahrungen, die entlang klassischer Konfliktlinien, wie der ge-
sellschaftlichen Ausgrenzung und Diskriminierung aufgrund von gender,
class oder race, verlaufen, nicht zur Auflösung dieser Kategorien bei, son-
dern werden ihrerseits zu kollektiven Identitätsbildungen verdichtet (vgl.
Heyes 2018). Dahinter steht der Versuch, negative Fremdzuschreibungen
seitens der sogenannten Mehrheitsgesellschaft als nicht-binär, nicht-bür-
gerlich oder nicht-weiß zu neutralisieren oder gar ins Positive zu wenden,
indem man im Kollektiv dagegen aufbegehrt. Ein Phänomen, das trotz al-
ler Ambivalenzen als Ausdruck eines politischen Kampfes um kulturelle
Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe gedeutet werden muss (El-
Mafaalani 2018, S. 102ff.; vgl. dazu grundsätzlich auch Honneth 1992). In

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Hauke Behrendt

diesem Spannungsfeld sozialer Auf- und Abwertungen durch kulturelle


Selbst- und Fremdzuschreibungen ist die Frage der kulturellen Identität
vornehmlich eine politische – der Begriff der kulturellen Identität ein
Kampfbegriff, und zwar unabhängig davon, ob er beschworen wird, um
Ausgrenzung, Diskriminierung oder Marginalisierung zu rechtfertigen,
oder, umgekehrt, von unterdrückten Minderheiten im Kampf gegen un-
verdiente Privilegien hegemonialer Gruppen beansprucht wird.
Bei aller Aktualität wäre es jedoch verfehlt, das Thema nur unter zeitdia-
gnostischen Gesichtspunkten zu betrachten, wie Heike Delitz (2018, S. 23;
Herv. im Orig.) zu Recht betont: „Über die Aktualitätsbezüge hinaus ist
die Frage kollektiver Identität auch und nicht zuletzt: ein Grundthema so-
ziologischer Theorie oder Allgemeiner Soziologie.“ So werden hier – im-
plizit wie explizit – grundlegende sozialtheoretische Fragen nach den Be-
dingungen und Dynamiken des Sozialen thematisch, die zwar auf eine lan-
ge Tradition zurückblicken können, sich aber bis heute unverändert stel-
len. Doch obwohl die Sozial- und Kulturwissenschaften den Begriff der
kollektiven Identität vielfach als zentrale Kategorie voraussetzen, ist er
nicht gründlich analysiert. „Vielmehr handelt es sich um eine gleichsam
übergreifende, abstrakter gefasste Kategorie, deren analytische Reichweite
sich einerseits auf enger definierbare Konzepte wie Gruppenidentität, kul-
turelle oder regionale Identität und andererseits auf historisch spezifische
Typen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung wie Sippen, Stäm-
me, Völker, Nationen oder ethnische Minderheiten wie auch auf sozial-
strukturelle Begriffe wie Stände oder Klassen und ebenso auf Parteien oder
politische Bewegungen erstreckt“ (Sterbling 2015, S. 581). Somit wäre zu
erörtern, ob sich die Idee kultureller Identität in einer Weise kohärent aus-
formulieren lässt, die das Gemeinsame dieser disparaten Phänomene auf
den Begriff bringt.
Ich werde eine spezifische sozialphilosophische Deutung kultureller
Identität entwickeln, wonach die kollektive Aneignung und soziale Wei-
tergabe der symbolischen Strukturen einer intersubjektiv geteilten Praxis-
formation die kulturelle Identität einer partikularen Praxisgemeinschaft
ausmacht. „Kulturelle Identität“ bezeichnet somit nicht einen bestimmten
Teil, nämlich den kulturellen, in der personalen Identität eines Subjekts,
sondern bestimmt die Einheit und das Wesen einer überindividuellen, so-
zial geteilten Lebensform. Konkret werde ich für folgende drei Thesen ar-
gumentieren:
1. Sozialontologische These: Die kulturelle Identität einer Praxisgemein-
schaft konstituiert sich aus geteilten Überzeugungen und Deutungssche-
mata, praktischem Vollzugswissen sowie gemeinsamen Werten und

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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung

Normen und manifestiert sich in gegenständlichen Artefakten, bedeu-


tungstragenden Symbolen und habitualisiertem Verhalten.
2. Machttheoretische These: Die kulturellen Symbol- und Bedeutungssyste-
me einer Praxisgemeinschaft sind Gegenstand interpersonaler Konflik-
te und Aushandlungsprozesse, in denen die bestehende Ordnung her-
ausgefordert und ihre sozialen Regeln infrage gestellt werden. Eine
dauerhafte Aushandlung von Wert- und Interessenskonflikten und die
Auseinandersetzung um eine andere Ordnung sind so zentraler Be-
standteil kultureller Identität.
3. Ideologiekritische These: Die eigene kulturelle Identität kann für die ein-
zelnen Mitglieder einer Praxisgemeinschaft opak sein. Ein konvergie-
rendes Wir-Bewusstsein darf nicht mit der tatsächlichen Identität einer
kulturellen Lebensform verwechselt werden.
Ich beantworte die eingangs formulierte Forschungsfrage also folgender-
maßen: Kulturelle Identität ist keine Fiktion (dazu die kurze Diskussion
bei Delitz 2018, S. 26ff.), sondern eine soziale Tatsache, die einer sozialen
Formation jedoch keinesfalls (metaphysisch) notwendig oder (episte-
misch) a priori zugesprochen wird. Das Kulturelle wird hier also nicht es-
sentialistisch im Sinne eines metaphysischen Essentialismus verstanden und
auf „natürliche Arten“ verengt (vgl. dazu grundsätzlich Putnam 1975;
Kripke 1980; Ellis 2001), sondern vor dem Hintergrund eines praxistheore-
tischen Konstruktivismus als sozial (re-)produziert, veränderlich und um-
kämpft angesehen.
Um diese Position systematisch zu entwickeln und zu begründen, wer-
de ich zunächst einige begriffliche Vorklärungen treffen (Abschnitt 2) und
mich anschließend einer praxistheoretischen Deutung kultureller Identität
zuwenden (Abschnitt 3).

2. Der Begriff der kulturellen Identität

„Kultur ist konstitutiv. Das Kulturelle ist der Modus einer jeden kollekti-
ven Existenz. [...] Kollektive sind kulturelle Identitäten“ (Delitz 2018,
S. 29f.; eig. Herv.). Delitz’ Feststellung ist zweifellos richtig. Identität, und
zwar nicht nur die von Kollektiven, sondern auch von Personen, ist kultu-
rell erzeugt. Allerdings ist diese Bestimmung viel zu allgemein. Der Begriff
der kulturellen Identität bleibt klärungsbedürftig. Mindestens zwei Punkte
spielen hier eine entscheidende Rolle.
a) Der internalistische Fehlschluss: Einer einflussreichen Sichtweise zufol-
ge ist unter „kultureller Identität“ das reflexive Selbstverständnis einer

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Hauke Behrendt

Gruppe, das konvergierende Wir-Bewusstsein der einzelnen Mitglieder zu


verstehen. Besonders klar formulieren diese These etwa Delitz: „Ein Wir-
Bewusstsein ist das, was kollektive Identität prinzipiell meint“ (2018,
S. 21), sowie Udo Tietz: „Dabei steht der Begriff der ‚Identität’ in diesem
Zusammenhang für die ‚Fähigkeit eines Kollektivs’, sich auf der Grundla-
ge eines reflektierten Selbstverständnisses als dasjenige zu identifizieren,
das man sein will“ (2002, S. 207). Beide Formulierungen drücken eine
Deutung kultureller Identität aus, die ich als Internalismus bezeichne, weil
hier allein das Selbstverhältnis der Kollektivmitglieder ausschlaggebend
ist. Nun möchte ich weder leugnen, dass die Identifikation mit der eige-
nen Gruppe eine Komponente kultureller Identität sein kann, noch, dass
ihr für die soziale Integration eine Kernfunktion zukommt. Die internalis-
tische These, wonach die kulturelle Identität einer Gruppe vollständig aus
dem Wir-Bewusstsein der Angehörigen entspringt, muss jedoch aus zwei
Gründen zurückgewiesen werden:
1) Wir sehen uns mit dem offensichtlichen Dilemma konfrontiert, dass
das Selbstverhältnis der Gruppe konstitutiv für ihre Identität sein soll, da-
bei aber diese Identität zugleich bereits voraussetzt. Denn ein Selbstver-
ständnis vom eigenen Kollektiv lässt sich nur entwickeln, wenn vorgängig
ein Kollektiv existiert, dem man angehören und mit dem man sich identi-
fizieren kann. Wenn nun aber das Selbstbild der Gruppenmitglieder erst
die Gruppe erzeugen soll, so wird diese Position unplausibel zirkulär. Die
Möglichkeit für Angehörige eines Kollektivs, „Wir“ zu sich zu sagen, setzt
die Identität des Kollektivs schon voraus, die es per definitionem erst stif-
ten soll. Werden aber Explanans und Explanandum in dieser Weise zirku-
lär aufeinander bezogen, liefert das Wir-Bewusstsein der Mitglieder keine
zufriedenstellende Erklärung für die kulturelle Identität der Gruppe, weil
es in genetischer Hinsicht immer schon zu spät kommt.
2) Eine internalistische Sichtweise kann prinzipiell keine überzeugende
Bestimmung kultureller Identität liefern, weil sie begrifflich widersprüch-
lich ist. Wir-Bewusstsein ist ein bestimmter intentionaler Zustand von der
Art einer Überzeugung. Überzeugungen sind auf ein bestimmtes Objekt
gerichtet, das sie (richtig) repräsentieren (sollen). Das formale Ziel von
Überzeugungen ist es also, zur Welt zu passen. Es entspricht ihrer „Pas-
sensrichtung“, sich nach den Dingen zu richten, die sie abbilden. An ih-
nen festzuhalten, obwohl sie mit den Tatsachen nicht übereinstimmen, wi-
derspräche ihrer Funktion. Das heißt: Stimmen der Gehalt einer Überzeu-
gung und ihr intentionales Objekt nicht überein, muss die Überzeugung
entsprechend angepasst werden und nicht etwa die Welt (vgl. Anscombe
1957; Searle 1983). Daraus folgt zum einen, dass das formale Objekt eines
Wir-Bewusstseins ein außerhalb diesem liegendes Kollektiv ist, das nicht

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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung

mit dem mentalen Zustand verwechselt werden darf, der es repräsentiert.


Die gesuchte Identität kann nicht die Repräsentation selbst meinen, son-
dern muss von dieser unterschieden werden. Zum anderen folgt aus dem
Gesagten, dass kulturelle Identität grundsätzlich richtig oder falsch reprä-
sentiert werden kann. Wir-Bewusstsein und Identität fallen nicht automa-
tisch zusammen, sondern ersteres muss sich nach letzterem richten. Nach
der internalistischen Sichtweise wäre Identität auf rätselhafte Weise selbst-
bestätigend – ein Wir-Bewusstsein wäre gegen jede Fehlidentifikation im-
munisiert. Dies wiederspricht nicht nur unserer alltäglichen Erfahrung.
Die damit verbundene Umkehrung der Passensrichtung stellt auch einen
begrifflichen Widerspruch innerhalb der internalistischen Ausgangsthese
dar, weil behauptet wird, dass etwas, das von der Art einer Überzeugung,
sprich: realitätsabbildend, ist, nämlich das Wir-Bewusstsein, sei realitätser-
zeugend, nämlich konstitutiv für die kulturelle Identität. Der Internalismus
lässt sich auch nicht dadurch retten, dass man kulturelle Identitäten als fik-
tive Entitäten konzipiert (Delitz 2018, S. 26ff.). Denn auch für fiktive Din-
ge gilt, dass sie nicht durch mentale Bezugnahme erzeugt werden, sondern
es einer vorgängigen Fiktion bedarf, auf die man sich dann repräsentatio-
nal richtig oder falsch beziehen kann (vgl. Kripke 2013). Doch selbst,
wenn „Wir-Bewusstsein“ gegen den normalen Sprachgebrauch nicht auf
das reflexive Selbstverständnis der Gruppenmitglieder rekurriert, sondern
einen fiktionalen Schöpfungsakt meint, wird so bestenfalls eine fiktive
Realität erzeugt (Luckner/Ostritsch 2018, S. 38ff.). Davon unberührt bleibt
die Frage, welche reale Identität ein konkretes Kollektiv besitzt, völlig of-
fen.1
Beide Einwände verdeutlichen, dass wir zwischen der kulturellen Identi-
tät eines Kollektivs und der Repräsentation dieser Identität unterscheiden
müssen, wobei ersteres das grundlegendere Phänomen ist, da es auch ohne
das zweite bestehen kann, nicht aber umgekehrt. Mit dem Ausdruck „wir“
drückt der jeweilige Sprecher folglich seine Zugehörigkeit zu einem parti-
kularen Kollektiv aus, dessen Identität sich von verschiedenen Beobach-
tern anhand bestimmter Gesichtspunkte, nämlich über seine Eigenschaf-

1 Der Fall liegt freilich anders, wenn wir mit Gilbert (1989) nicht das reflexive
Selbstverständnis, sondern geteilte normative Festlegungen (joint commitments)
der Gruppenmitglieder als soziale Konstruktionsbedingung des Kollektivs anse-
hen, denn diese besitzen von Haus aus die richtige Passensrichtung (vgl. Stahl
2014). Doch auch in diesem Fall wird die oben formulierte These des Internalis-
mus aufgegeben, wonach das Wir-Bewusstsein der Angehörigen eines Kollektivs
identitätsstiftend sei.

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ten, feststellen lässt. Die Identität einer kulturellen Lebensform zu bestim-


men, heißt, ihre konstitutiven Eigenschaften zu bestimmen.
b) Die Verwechslung von kultureller Identität und Individualität: Damit
komme ich zum zweiten klärungsbedürftigen Punkt. Neben dem interna-
listischen Fehlschluss gibt es in der Debatte einen weiteren folgenschwe-
ren Denkfehler, der im Zusammenhang mit dem Begriff der kulturellen
Identität häufig auftaucht – die Verwechslung von Identität und Individua-
lität. Die allgemeine These hinter diesem Fehlschluss lautet: Die Erzeu-
gung einer jeden kulturellen Identität hat die Abgrenzung zu einem nicht-
identischen, zu einem Fremden zur Voraussetzung. Claude Lévi-Strauss et-
wa spricht von dem „Bedürfnis jeder Kultur, in Gegensatz zu den sie um-
gebenden anderen Kulturen zu treten, sich von ihnen zu unterscheiden,
mit einem Wort: sie selbst zu sein“ (2008, S. 14). Anders ausgedrückt: Iden-
tität ist ohne Alterität nicht zu haben – es gibt immer ein „konstitutives
Außen“ (Derrida 1983, S. 536f.; Laclau 1990, S. 10ff.). Diesen Gedanken
fasst Stuart Hall folgendermaßen zusammen:
„Throughout their careers, identities can function as points of identifi-
cation and attachment only because of their capacity to exclude, to
leave out, to render ‘outside’, abjected. Every identity has at its ‘mar-
gin’, an excess, something more. The unity, the internal homogeneity,
which the term identity treats as foundational is not a natural, but a
constructed form of closure, every identity naming as its necessary,
even if silenced and unspoken other, that which it ‘lacks’“ (1996, S. 5;
Herv. im Orig.).
Noch deutlicher wird Chantal Mouffe, wenn sie davon spricht, dass kultu-
relle Identität „nur bestehen kann, wenn auch ein ‚Sie’ [die Anderen] um-
rissen wird“ (2007, S. 24). Kulturelle Identität wäre daher notwendig auf
die Erzeugung einer antagonistischen Freund/Gegner-Differenz angewie-
sen (vgl. Mouffe 2008).
Es gilt zu beachten, dass hier nicht die unstrittige These vertreten wird,
dass jede eindeutige Bestimmung einer Sache durch Angabe von charakte-
ristischen Wesensmerkmalen unausgesprochen immer auch angibt, welche
Bestimmungen ihr jeweils nicht zukommen. Die obigen Zitate lassen kei-
nen Zweifel daran, dass diese logische Wahrheit nicht gemeint ist, sondern
vielmehr die der Entwicklungspsychologie entlehnte Annahme von not-
wendig verschiedenen, andersartigen, konstitutiv aufeinander bezogenen
Kulturen im Mittelpunkt steht, deren Identitäten sich wechselseitig bedin-
gen. Ich möchte nicht grundsätzlich infrage stellen, dass sich die beschrie-
benen Formen der Grenzziehung im Zusammenhang mit Identitätskon-
struktionen empirisch oft genug nachweisen lassen. Mir geht es vielmehr

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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung

darum, den behaupteten begrifflichen Zusammenhang von „Identität“ und


„Alterität“ zurückzuweisen. Der Begriff der kulturellen Identität, so meine
Gegenthese, legt uns nicht darauf fest, Abgrenzungen von anderen Kollek-
tiven als „logisch notwendig“ (Delitz 2018, S. 89) anzusehen.
Dafür müssen wir in einem ersten Schritt zwischen 1) numerischer
und 2) qualitativer Identität unterscheiden (Tietz 2002, S. 215ff.). Ein einfa-
ches Beispiel kann diesen Unterschied illustrieren: Als mein Sohn ein altes
Foto in die Hände bekam, auf dem ich mit ein paar Freunden posiere,
fragte er, wer von den abgebildeten Personen ich sei. Meine Frau warf ein,
dass es sie ebenfalls interessiere, wer ich damals gewesen sei. Beide Fragen
zielen auf meine Identität, jedoch jeweils in einem anderen Sinn. Während
ich die Frage meines Sohnes zufriedenstellend damit beantwortet hätte,
dass ich ihm zeigte, wo ich auf dem Foto zu finden sei, wäre meiner Frau
mit dieser Antwort nicht geholfen. Umgekehrt: Hätte ich die beiden über
meine damalige Persönlichkeit aufgeklärt, hätte dies meinem Sohn nicht
ermöglicht, mein Konterfei zu identifizieren. Wir können sagen: Mein
Sohn interessierte sich für meine numerische Identität, das heißt, für die
Identifikation eines bestimmten Einzeldings (in diesem Fall: mich) durch
Kennzeichnung der Raum-Zeit-Stelle. Meine Frau wollte hingegen wissen,
was für ein Mensch ist damals war, nicht welcher von allen. Sie war an
meiner qualitativen Identität interessiert, die nicht schon durch die richti-
ge Referenz erschöpfend bestimmt ist, sondern erst durch die Angabe der
wesentlichen Eigenschaften, die mich (zum damaligen Zeitpunkt) aus-
zeichneten. Zur Verdeutlichung dieser Unterscheidung hier noch ein wei-
teres Beispiel: Mein Bruder freute sich, weil er das Rasierwasser wiederge-
funden hatte, das unser Vater immer benutzt hatte. Auch dieser Satz ist
ambig, denn er lässt je nach gemeinter Identitätsart zwei Lesarten zu: Mein
Bruder könnte 1) die selbe Flasche mit Rasierwasser gefunden haben (nu-
merische Identität) oder aber 2) ein Rasierwasser der gleichen Art (qualitati-
ve Identität). Wir müssen uns klarmachen, dass beide Formen der Identität
nicht aufeinander reduziert werden können.
An dieser Stelle sticht noch ein weiterer Unterschied ins Auge: Wäh-
rend jede numerische Identität ihre eigene (raumzeitliche) Individualität
besitzt, gilt dies für qualitative Identitäten nicht. Ein konkretes Einzelding
individuieren zu können, bedeutet nicht, dass es auch qualitativ einzigartig
sein muss. Ich kann feststellen, dass ich dieses Sandkorn im Auge hatte und
nicht etwa jenes, ohne dass qualitative Unterschiede zwischen beiden be-
stünden. Anders gewendet: Zwei Entitäten können niemals numerisch,
sehr wohl aber qualitativ identisch sein (vgl. Black 1952). Daraus können
wir die Schlussfolgerung ziehen, dass die Begriffe der Identität und der In-
dividualität nur auf der qualitativen Ebene sinnvoll zu trennen sind. „Indi-

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vidualität“ ist ein relationaler Begriff, der mit logischer Notwendigkeit ein
anderes erfordert. Dieses Phänomen ist es, das die oben genannten Auto-
ren eigentlich im Blick haben, wenn sie von einem konstitutiven Außen
jeder Identitätskonstruktion sprechen. Nun ist die Rede von „numerischer
Individualität“ insofern irreführend, als die raumzeitliche Unverwechsel-
barkeit einer konkreten Entität schon durch den Begriff der numerischen
Identität vollständig abgedeckt ist. Anders für die qualitative Seite: Hier
können Identität und Individualität auseinandertreten. Wer seine qualita-
tive Individualität behaupten will, muss dafür sorgen, dass sich alles ande-
re von ihm unterscheidet. An der These, wonach Abgrenzungen zu ande-
ren Kollektiven für jede kulturelle Identitätskonstruktion logisch notwen-
dig sei, kann also nur für ihre numerische Identität festgehalten werden,
sprich: für die raumzeitliche (Re-)Identifikation konkreter Entitäten. Aus
der Diskussion des internalistischen Fehlschlusses wissen wir allerdings be-
reits, dass der Begriff der kulturellen Identität die numerische Seite des
Identitätsbegriffs nicht meinen kann, sondern auf die speziellen Qualitäten
eines Kollektivs gerichtet ist. Wir wollen mit diesem Begriff die konstituti-
ven Merkmale einer bestimmten Kultur herausstreichen. Das heißt: „Kul-
turelle Identität“ bezeichnet die notwenigen Eigenschaften, die Kollektive
nicht verlieren dürfen, um ein bestimmtes Kollektiv von der und der Art
zu sein. Es sind diese identitätsstiftenden Qualitäten, die das Wir-Bewusst-
sein von Mitgliedern zum Gegenstand hat. Wie sich gezeigt hat, heben die-
se Qualitäten jedoch gerade nicht zwingend auf Einzigartigkeit ab, son-
dern sind grundsätzlich teilbar. Kulturelle Identität konstituiert sich aus
Merkmalen, die prinzipiell zur selben Zeit von beliebig vielen Trägern an
beliebig vielen Orten instanziiert werden können. Anders ausgedrückt: Ob
etwas eine bestimmte kulturelle Identität besitzt, hängt von den tatsäch-
lich besessenen Eigenschaften ab und nicht, ob daneben noch etwas ande-
res von ihm verschiedenes existiert. Der Begriff der kulturellen Identität
setzt die Existenz von und die Abgrenzung zu fremden Kulturen somit
nicht logisch voraus. Gegen Lévi-Strauss und Konsorten können wir fest-
halten: Eine Kultur muss (in qualitativer Hinsicht) nicht einzigartig sein,
um sie selbst zu sein. Und umgekehrt: Auch eine universelle Kultur mit
globalem Geltungsanspruch besitzt eine eindeutige Identität. Ob wir es
mit einer alle Menschen umfassenden homogenen Kultur, einem Nebenei-
nander unterschiedlicher Kulturen, oder verschiedenen sich überlagern-
den Formen kultureller Existenz zu tun haben, ist eine empirische, keine
begriffliche Frage.

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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung

3. Ein praxistheoretisches Verständnis kultureller Identität

Die begrifflichen Vorklärungen des letzten Abschnitts haben den Weg zu


einem inhaltlich-substanziellen Verständnis kultureller Identität vorberei-
tet. Kulturelle Identitäten, so werde ich im Folgenden argumentieren, sind
anhand der konstitutiven Merkmale partikularer Praxisgemeinschaften zu
analysieren. Sie konstituieren sich aus den geteilten Überzeugungen und
Deutungsschemata, dem praktischen Vollzugswissen sowie den sozial eta-
blierten Werten und Normen der Praxisteilnehmer. Ebenso manifestieren
sie sich in gegenständlichen Artefakten, bedeutungstragenden Symbolen
und habitualisiertem Verhalten im Kontext sozialer Praxis. Dies ist meine
erste, sozialontologische These. Soziale Praktiken sind ihr zufolge die zen-
tralen Einheiten des Sozialen. Sie stellen den primären Bezugsrahmen dar,
der das Selbst- und Weltverhältnis ihrer Teilnehmer intern strukturiert so-
wie extern dazu dienen kann, dieses zu erklären. Die sozialen Verhältnisse,
in denen sich das gemeinsame Leben selbstständiger Individuen koopera-
tiv erhält und entfaltet, sind demnach als komplexe Zusammenhänge in
sich verschachtelter Praktiken zu begreifen. Damit sich eine einheitliche
Kultur sozial reproduziert, müssen ihre symbolischen Strukturen von den
Mitgliedern der Praxisgemeinschaft kollektiv angeeignet und intersubjek-
tiv weitergegeben werden. Dies bedeutet nicht, dass sich alle Angehörigen
des Kollektivs mit der bestehenden Ordnung affektiv identifizieren müss-
ten. Die Aspekte der Aneignung und Weitergabe betreffen vielmehr das
Maß, in dem die Mitglieder eines konkreten Praxiszusammenhangs mit
den kulturellen Elementen ihrer Umwelt vertraut sind und sich an ihnen
orientieren. Kulturelle Zugehörigkeit bleibt dabei ein häufig von zahlrei-
chen Ambivalenzen geprägtes Phänomen, wobei Betroffene im Extremfall
sogar gänzlich aus dem Prozess der Identitätsformation ausgeschlossen
und bis zur Unkenntlichkeit marginalisiert werden können (Emcke 2000,
Kap. 4.2). Aus Sicht einer Praxistheorie, wie sie hier vertreten wird, um-
fasst der Kulturbegriff immer Praxisgemeinschaften in ihrer Gesamtheit,
weshalb sich auch von einem weiten Begriff des Kulturellen sprechen lässt
(Reckwitz 2017, S. 76f.). „Kulturelle Identität“ bezeichnet somit, um eine
vielzitierte Wendung von Edward B. Tyler aufzugreifen, „that complex
whole which includes knowledge, belief, art, law, morals, custom, and any
other capabilities and habits acquired by man as a member of soci-
ety“ (1871, S. 1).
Die meist arbeitsteilig organisierten kulturellen Praxisgemeinschaften
besitzen je nach Komplexitätsgrad eine eigene Tiefenstruktur. Wo sich die
Leistungen ihrer Praktiken „praktisch-funktional aufeinander beziehen
und ineinandergreifen“ (Jaeggi 2014, S. 107), bilden sie lose Einheiten, die

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sich am Leitfaden der mit ihnen gesetzten Aufgaben und Ziele in einer
Weise individuieren und analysieren lassen, die es ermöglicht, sozial insti-
tutionalisierte Handlungsbereiche schematisch voneinander abzugrenzen.
So kann für moderne Verfassungsstaaten etwas holzschnittartig und in
groben Zügen etwa zwischen einer politisch-administrativen Handlungs-
sphäre und den zugehörigen Staatsbürgerrollen (als Rechtsautoren und
-adressaten), der Ökonomie mit ihren Wirtschaftsbürgerrollen (zum Bei-
spiel als Beschäftigte und Konsumenten) sowie der Sphäre privater, zivilge-
sellschaftlicher Assoziationen wie der Familie mit Eltern- und Kinderrol-
len oder Verbänden und Organisationen mit speziellen Mitgliederrollen
unterschieden werden (Habermas 1987, S. 471ff.). Welches spezielle En-
semble sozialer Praktiken dabei eine konkrete Gesellschaft im Einzelnen
ausmacht, variiert je nach historischen Rahmenbedingungen. Auch die
Spannweite einzelner Praxisarrangements unterschiedet sich abhängig von
den sachlichen Konditionen des jeweiligen Kontextes. Dass viele Praxis-
strukturen soziale Lebenszusammenhänge gesellschaftstranszendierend
überlagern, ist kaum zu leugnen, wenn man nur an weltumspannende
Märkte oder transnationale Sportveranstaltungen denkt. Um die Tatsache
der prinzipiellen Unabgeschlossenheit kulturell überformter Strukturen
menschlicher Koexistenz auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen, ist es
sinnvoll, dem häufig territorial abgeschlossen verstandenen Gesellschafts-
begriff hier das offenere, hybride Konzept der kulturellen Lebensform an
die Seite zu stellen. Ein Mensch kann dementsprechend „mehreren Le-
bensformen gleichzeitig angehören“, aber es ist eben auch möglich, dass
„eine Gruppe von Menschen gleichzeitig in derselben und in unterschied-
lichen Lebensformen lebt“ (Jaeggi 2014, S. 91).
Nach der hier vorgeschlagenen praxistheoretischen Deutung kultureller
Identität geht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen Lebens-
form im Kern somit nicht auf eine gemeinsame historische Entwicklung
oder ein gemeinsam bewohntes Territorium zurück. Die Einheit der Mit-
glieder wurzelt vielmehr im kulturell überlieferten Selbst- und Weltver-
hältnis der im Kontext sozial etablierter Praktiken aufeinander bezogenen
Akteure, wie es Theodore Schatzki auf den Punkt bringt:
„A ‚we’, consequently, is an open-ended collection of people who be-
have mutually intelligibly. [...S]ince intelligibility comes in degrees,
the boundaries of a we are unstable, shifting, and contingent. [...] Be-
ing one of us, consequently, can be redefined as participating in our
practices, where ‚we’ are the people who participate in a particular set
of [...] practices.“ (1996, S. 116)

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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung

Kulturelle Identitäten sind somit höchstens in einem abgeleiteten Sinne


durch Mitgliedschaften, wie Staatszugehörigkeit, Konfession usw., formell
geregelt. Das Maß, in dem eine Person effektiv an einer kulturellen Le-
bensform teilhat, hängt nach der hier vorgeschlagenen Analyse vielmehr
originär davon ab, wie stark sie in die sie umgebenden Praxisformationen
einbezogen ist. Die in ihnen verankerten Rollenerwartungen strukturieren
Situationen dem jeweiligen Kontext entsprechend in zeitlicher, sachlicher
und sozialer Hinsicht und weisen die Teilnehmer damit zugleich als Mit-
glieder sozialer Gruppen aus (Luhmann 1964, Kap. 4).
Kulturelle Zugehörigkeit stellt sich somit immer als Partizipationsmög-
lichkeit an intersubjektiv geteilten Praktiken dar. „Was die Angehörigen
einer [kulturellen] Lebensform teilen, sind Konventionen der kognitiven,
affektiven und normativen Orientierung“ (Seel 1993, S. 246), wie es dazu
bei Martin Seel heißt. Im Wirkungsbereich einer Praxis darf das Denken,
Handeln und Empfinden der an ihr teilhabenden Personen mithin nicht
als vollkommen eigenständig und ungebunden aufgefasst werden. Das Ge-
flecht der einschlägigen Verhaltens- und Beziehungsmuster kann in signifi-
kanter Hinsicht gerade nicht unabhängig von den zugehörigen Praxisnor-
men verstanden werden. Vielmehr muss es sich in den verschiedenen da-
für vorgesehenen Kontexten für eine bestimmte Praxisform, deren Ord-
nungsrahmen es angehört, als typisch erweisen. Praktiken, in die ein Ein-
zelner sozial eingebunden ist, besitzen für ihn folglich immer gewisse Mo-
mente, die sich ihm als hinzunehmendes, unhintergehbar Gegebenes dar-
stellen. Ob sein Verhalten als Vollzug einer speziellen Rollenhandlung
zählt, hängt so in vielen Fällen nicht alleine von der gelungenen Aus-
übung bestimmter Tätigkeitsweisen ab, sondern von ihrer intersubjektiven
Geltung im Kontext einer entsprechenden Praxisgemeinschaft. Das heißt:
Praktiken stellen überindividuelle Bedingungen gelingender Interaktion
dar, deren faktisch bestehende Strukturen bestimmte Handlungsmuster
nahelegen oder sogar erst ermöglichen. Ein beliebiger Akteur wird im
Rahmen einer Praxis in weiten Teilen genauso handeln wie alle anderen
an seiner Stelle. Dasselbe Handlungsmuster könnte grundsätzlich von je-
dem Teilnehmer in derselben Position ausgeführt werden. Die für die Leis-
tung einer bestimmten Praxis charakteristischen Strukturen erhalten sich
so typischerweise auch über den Wechsel der an ihnen zeitweise beteilig-
ten Akteure hinaus. Dies schließt die intersubjektive „Weitergabe und An-
eignung symbolischer Elemente ebenso ein wie die Erhaltung oder Repro-
duktion von Artefakten, die als Gebrauchsgegenstände und Symbolträger
dienen“ (Peters 1993, S. 77f.). An ihnen orientiert sich das durchschnittli-
che Verhalten einer Gruppe von Menschen und wird dadurch zu einem
gewissen Grad erklär- und berechenbar.

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Dem reibungslosen Funktionieren der meisten Praktiken liegen beson-


dere gegenständliche Hilfsmittel und materielle Rahmenbedingungen zu-
grunde. Institutionen wie Geld als generalisierte Zahlungsmittel sind bei-
spielsweise unerlässliche Instrumente moderner Ökonomie. Es stellt sogar
einen „Knoten in einem ganzen Netzwerk von Praktiken, den Praktiken
des Besitzens, Kaufens, Verkaufens, Verdienens, für Dienstleistungen Be-
zahlens, Schulden Abzahlens usf.“ (Searle 2011, S. 61) dar. Hinzu kommen
diverse kulturelle Artefakte, die sich gegenständlich in Raum und Zeit ma-
nifestieren und generationsübergreifend weitergeben lassen. Man denke
hier etwa an die zahlreichen Werkzeuge und eigens hergerichteten Arbeits-
stätten, die in der Regel ihrerseits Produkte sozialer Praktiken sind. Mit ih-
nen lassen sich auch hochgradig komplexe Tätigkeiten planen und arbeits-
teilig ausführen. Es ist daher nicht übertrieben, wenn soziale Praktiken
hier insgesamt „als Paradigma für den Anspruch gelten, sich geordnet und
gemeinschaftlich, d. h. methodisch, kooperativ und gut organisiert auf die
erkannten Lebenslagen einzustellen“ (Gerhardt 2007, S. 203).
Damit komme ich zu meiner zweiten, machttheoretischen These. So las-
sen sich Praxisgemeinschaften auch als „normative Ordnungen“ menschli-
cher Aktivität begreifen (Parsons 1975, S. 21ff.; Forst/Günther 2011). Sie
sind auf Dauer gestellte Gebilde, die der gewaltfreien Interaktion ihrer
Mitglieder zugleich ermöglichend vorausgehen, wie von dieser konstitu-
iert und (re-)produziert werden. Die aneinander angrenzenden und mit-
einander verzahnten Praxisgefüge einer normativen Ordnung können aus
diesem Grund als etwas aufgefasst werden, „das sich im zeitlichen Quer-
schnitt als das Insgesamt von verhaltensrelevanten Strukturen erkennen
lässt“ (Gerhardt 2007, S. 191). In der Definition sozialer Rollen und ihrer
Funktionen sedimentiert sich ein historisches Begründungsniveau der mit
ihnen zugewiesenen Positionen und Ziele. Mit jeder sozial eingelebten
Praxis verbindet sich damit zumindest der Anspruch, den mit ihr gesetzten
Handlungsrahmen legitim zu regeln. Praxisgemeinschaften sind in diesem
Sinne immer „Rechtfertigungsordnungen“, die alle in ihren Geltungsbe-
reich fallende Personen einbeziehen (Forst/Günther 2011, S. 11f.; Forst
2015). Denn der Aufbau der sozialen Welt ist kein Naturereignis, kein un-
abänderliches Faktum, nicht das Resultat einer höheren Macht, das wir
zwar beklagen oder begrüßen, nicht aber verändern könnten. Praktiken
sind von Menschen gemacht und müssen sich eo ipso auch gegenüber je-
dem Einzelnen (den sie betreffen) rechtfertigen lassen. John Rawls bringt
diesen Gesichtspunkt so zum Ausdruck:
„Hier gehen wir davon aus, daß die politische und soziale Kooperation
rasch zusammenbräche, wenn alle oder auch nur viele Personen stets

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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung

in rein strategischer oder spieltheoretischer Manier eigennützig oder


im Interesse ihrer Gruppe handelten. In einem demokratischen Staats-
wesen beruht die stabile soziale Kooperation darauf, daß die meisten
Bürger die politische Ordnung als legitim – oder zumindest als nicht
ernstlich illegitim – akzeptieren und sich daher bereitwillig an sie hal-
ten.“ (2006, S. 196)
Praktiken lassen sich daher, in loser Anlehnung an Habermas’ Lebenswelt-
konzept, als „Raum symbolisch verkörperter Gründe“ (2012) betrachten.
Bei jeder Praxis handelt es sich um einen systematischen Zusammenhang
normierter Handlungsmuster, die mittels sozialer Rollen relativ stabile Er-
wartungsstrukturen zwischen den Akteuren etablieren, um damit eine ge-
wisse Erwartungssicherheit herzustellen. Dazu heißt es schon bei Dahren-
dorf: „Soziale Rollen sind Bündel von Erwartungen, die sich in einer gege-
benen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen“
(1958, S. 33). Erst darin konstituiert sich eine auf Dauer gestellte soziale
Praxis in Abgrenzung zu einmaligen, spontanen Interaktionen oder zufäl-
lig wiederholtem konvergierenden Verhalten. In einer sozialen Rolle bün-
deln sich also normative Verhaltenserwartungen, die sich aus dem ihr zu-
fallenden Status – der „deontischen Macht“, wie Searle (2011, S. 109) sagt,
– ergeben, sowie allgemeine Erwartungen hinsichtlich bestimmter Einstel-
lungen und Ziele, die sich den Rolleninhabern typischerweise zuschreiben
lassen. Er schreibt: „Deontische Macht ist dazu da, Beziehungen zwischen
Leuten zu regeln. In dieser Kategorie weisen wir Rechte, Verantwortlich-
keiten, Verpflichtungen, Pflichten, Privilegien, Berechtigungen, Strafen,
Ermächtigungen, Erlaubnisse und andere derartige deontische Phänomene
zu“ (ebd.). Solche normativen Rollenerwartungen können nun wiederum
in dem Maße als sozial generalisiert gelten, als zwischen den Mitgliedern
eines Praxiszusammenhangs hinreichende Einigkeit über die jeweiligen
Rollenbilder besteht. Soziale Rollen sind, anders ausgedrückt, strukturierte
Sets normativer Verhaltenserwartungen, die von ihren Trägern internali-
siert, das heißt, in das eigene Überzeugungssystem übernommen und in
einem sozialen Interaktionsgefüge als allgemeine Verhaltensnormen insti-
tutionalisiert sind. Rollenträger lassen sich daher als Exponenten der von
ihnen ausgeübten Praxis begreifen. Ihre erbrachten Leistungen sind in die-
sem Sinn für einen bestimmten Typus von Aktivität repräsentativ (Ger-
hardt 2007, S. 211).
Folglich zeichnen sich soziale Rollen dadurch aus, dass sie „Verhaltens-
erwartungen von einer einzelnen Handlung auf einen größeren, in sich
verbundenen sinnvollen und stimmigen Sachzusammenhang“ (Joas 1978,
S. 55) ausweiten. Erst indem die Interaktion zwischen Praxisteilnehmern

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von diesen selbst so verstanden wird, dass die einschlägigen Verhaltenser-


wartungen nicht nur zum gegebenen Zeitpunkt zwischen ihnen gelten,
sondern in vergleichbaren Situationen grundsätzlich (zumindest prinzipi-
ell) die Beziehungen zwischen allen Interaktionspartnern überhaupt regu-
lieren, erhalten sie für die Teilnehmer den Sinn einer allgemeinen und ge-
nerellen Rollenerwartung. Axel Honneth fasst diesen Punkt so zusammen:
„Indem das Subjekt lernt, die normativen Erwartungen einer immer
größeren Anzahl von Interaktionspartnern in sich soweit zu verallge-
meinern, daß es zur Vorstellung sozialer Handlungsnormen gelangt,
erwirbt es die abstrakte Fähigkeit, an den normativ geregelten Interak-
tionen seiner Umwelt teilnehmen zu können; denn jene verinnerlich-
ten Normen sagen ihm sowohl, welche Erwartungen es an alle ande-
ren legitimerweise richten darf, als auch, welche Verpflichtungen es
ihnen gegenüber berechtigterweise zu erfüllen hat.“ (1992, S. 125)
Praxisteilnehmer müssen sich also zum einen aktiv mit ihren Rollen iden-
tifizieren und die ihnen nahegebrachten Rollenerwartungen internalisie-
ren. Nur so werden ihre Rollen als Teil der eigenen Persönlichkeit wahrge-
nommen und damit handlungsleitend. Zum anderen gilt es, die normati-
ven Status anderer Interaktionspartner zu berücksichtigen. Auch sie müs-
sen in die Situationsdeutung einbezogen werden. Darüber hinaus ist eine
passive Komponente bedeutsam: Der eigene normative Status muss eben-
falls von den relevanten Interaktionspartnern anerkannt und praktisch be-
stätigt werden. Sprich: Alle Praxisteilnehmer müssen sich mit den eigenen
Rollen identifizieren sowie die ihrer Interaktionspartner anerkennen. Jedes
Mitglied der Praxisgemeinschaft muss sein Verhalten an den geltenden
Normen orientieren und wissen, dass alle anderen dies auch tun. Und die-
se Tatsache selbst muss wiederum öffentlich bekannt sein. Eine in diesem
Sinne als legitim angesehene Ordnung verleiht ihr in den Augen der Ange-
hörigen einen Status rechtmäßiger Autorität und sichert so die erforderli-
che (Massen-)Loyalität gegenüber den sozialen Normen sowie wechselseiti-
ge Solidarität zwischen den Mitgliedern. Legitimität, Loyalität und Solida-
rität erweisen sich so als die drei zentralen Säulen, die eine normativ inte-
grierte Sozialordnung auszeichnen.
Kulturelle Lebensformen sind allerdings nicht nur normativ verfasst,
sondern auch sinnhaft aufgebaut. Neben habitualisierten Verhaltensmus-
tern umfassen kulturelle Praxisgemeinschaften stets auch symbolische
Komponenten, die in bedeutungstragenden Artefakten, Gebärden, Lauten
und deren mentalen Repräsentationen zum Tragen kommen. „Alle sozia-
len Praktiken enthalten solche impliziten Wissensordnungen, welche die
Phänomene der Welt auf eine bestimmte Art und Weise klassifizieren und

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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung

ihnen damit eine spezifische Bedeutung zuschreiben. Sie regulieren, wie


die Welt repräsentiert wird, und welche Praxis in ihr möglich, zwingend
und sinnvoll erscheint“ (Reckwitz 2017, S. 77). Praktiken beruhen also auf
und (re-)produzieren im Vollzug symbolische Strukturen gemeinsamen
Wissens zwischen ihren Mitgliedern. Sie speisen sich aus und stiften sym-
bolisch-sinnhafte(n) Dimensionen einer wechselseitig geteilten Kultur.
Ausschlaggebend ist hier, dass die ihr zugehörigen Interaktionen der Teil-
nehmer nur in einem intersubjektiv konstituierten Sinn- und Verständnis-
zusammenhang Bedeutung erhalten. Diese stellen damit sowohl Medium
als auch Gegenstand der Auseinandersetzung um die richtige Deutung
symbolträchtiger Situationen dar. Dabei stabilisieren sich geteilte Sinnho-
rizonte und Deutungsschemata, die in Lernprozessen angeeignet oder ver-
ändert werden können (vgl. Goffman 1974; Tomasello 2009; Habermas
2012). Nicht nur die sozialen Normen im eigentlichen Sinn, sondern auch
die Symbol- und Bedeutungssysteme sozialer Praxis können zum Gegen-
stand interpersonaler Auseinandersetzungen werden. Kulturelle Zugehö-
rigkeit ist folglich keine harmonische, konfliktfreie Angelegenheit, son-
dern kann gleich auf mehreren Ebenen als Quelle persönlicher Zugeständ-
nisse und Strapazen empfunden werden. Dieser Sachverhalt stellt häufig
einen Anlass für soziale Konflikte und Aushandlungsprozesse dar, in de-
nen die bestehende symbolische Ordnung herausgefordert und ihre sozia-
len Regeln infrage gestellt werden. Eine dauerhafte Aushandlung von
Wert- und Interessenskonflikten und die Auseinandersetzung um eine an-
dere Ordnung sind in dieser Hinsicht feste Bestandteile gelebter Praxis.
Sozialer Wandel betrifft im Regelfall einzelne Praxisformen, erfasst aber
auch die kulturelle Identität ganzer Praxisgemeinschaften. Dabei können
sich Lebensformen von innen heraus erneuern oder von einer neuen Le-
bensform abgelöst werden. Eine schwierige und hier nicht abschließend zu
beantwortende Frage betrifft die temporale Identität des Kulturellen: Un-
ter welchen Bedingungen sind wir berechtigt, von einer sozialen Formati-
on zu behaupten, dass sie trotz gewisser Veränderung noch immer dieselbe
ist? Meine Vermutung ist, dass dies nur prozedural zu beantworten ist. Die
Grundidee ist diese: In einem konstitutionell verfassten demokratischen
Gemeinwesen ist es Aufgabe der politischen Praxis auf eine sich verändern-
de Meinungs- und Willensbildung der Bevölkerung zu reagieren. Diese in
einem weiten Sinne politische Praxis kann allgemein bestimmt werden als
öffentlicher Gegenstand der kollektiven Organisation und Gestaltung
einer als gemeinsam begriffenen Lebenswelt. Sie kreist um Fragen, wie das
gemeinsame Zusammenleben zu gestalten ist und das kollektive Handeln
ausgerichtet werden soll. Von diesem weiten tagespolitischen Feld können
wir einen politischen Kernbereich unterscheiden. Dieser umfasst alle grund-

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legenden Fragen darüber, wie die „Grundstruktur der Gesellschaft“ be-


schaffen sein soll, das heißt, nach welchen Grundsätzen grundlegende po-
litische, soziale und wirtschaftliche Institutionen einzurichten sind (Rawls
1975, Abschn. 2). Demnach lassen sich zwei Ebenen unterscheiden und
aufeinander beziehen: Einmal die konstitutionelle Ebene der Grundstruk-
tur als institutioneller Rahmen der sozialen Kooperation und legitimer po-
litischer Machtausübung und zweitens die Ebene konkreter Gesetze und
Statute, die auf dieser Grundlage beschlossen werden. Die Konstitution
einer politischen Ordnung (erste Ebene) bestimmt, nach welchen Richtli-
nien und Verfahren der politisch-rechtliche Prozess (zweite Ebene) zu ge-
stalten ist. Wir können nun sagen, dass sich die Identität eines politischen
Gemeinwesens durch Veränderungen, die auf der zweiten, tagespoliti-
schen Ebene getroffen werden, nicht auflöst, solange sie auf demselben
konstitutionellen Rahmen beruht. Dieser Rahmen gibt die Grenzen an, in
denen Veränderungen die eigene Identität nicht gefährden. Diese Einsicht
lässt sich in gewisser Hinsicht auf das Kulturelle übertagen: Praktiken sind
regelhaft aufgebaut. Ihre Regeln schreiben vor, wie man sich in einer be-
stimmten Situation richtig verhält. Mehr noch: Indem sie festlegen, wie et-
was typischerweise getan wird, artikulieren Praxisregeln einen kritischen
Maßstab, nach dem sich Handlungsvollzüge als bestimmte Tätigkeitsfor-
men identifizieren lassen. Auf der einen Seite ist es für die Existenz einer
sozialen Praxis sozialontologisch konstitutiv, dass die strukturgebenden
Regeln vorhanden sind, mit denen die typischen Formen der Aktivitäten
bestimmt werden. Auf der anderen Seite stellen dieselben Regeln für die
Teilnehmer der durch sie konstituierten Praxis Standards dar, deren allge-
meine Beachtung wechselseitig eingefordert werden kann. Sie sind für
eine Praxis in dieser Hinsicht also zugleich ontologisch konstitutiv und
normativ regulativ. Durch normative Statuszuweisungen erzeugen diesel-
ben Regelsysteme eine soziale Wirklichkeit, auf die alle Betroffenen ange-
messen reagieren müssen, indem sie ihr Verhalten an ihnen orientieren.
Diese konstitutiven Regeln erzeugen so spezielle soziale Tatsachen und Be-
ziehungen. Sie stellen die Organisationsprinzipien sozialer Praxis dar, in
denen sich die eigentümliche Funktionslogik der infrage stehenden Aktivi-
tät niederschlägt. Gehen wir nun wiederum davon aus, dass die im Rah-
men einer Praxis vollzogenen Tätigkeiten aufs engste mit spezifischen
Werten und Zielen verknüpft sind, ohne die man die Bedeutung der be-
treffenden Praxisform nur unzureichend verstünde, hätten wir es nach die-
sem Vorschlag trotz gewisser Veränderungen solange mit denselben Prak-
tiken zu tun, wie ihre ursprünglichen Verstehens- und Gelingensbedin-
gungen weiter gelten. Sozialer Wandel wäre in diesem speziellen Fall dann
als eine schrittweise Aktualisierung derselben Praxisform zu verstehen.

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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung

Wie sich gezeigt hat, umfassen kulturelle Identitäten je nach konkretem


Kontext einen gewissen Bestand an geteilten Überzeugungen und Deu-
tungsschemata, praktischem Vollzugswissen sowie gemeinsamen Werten
und Normen. Die kollektive Aneignung und generationsübergreifende
Weitergabe dieser symbolischen Strukturen und ihrer Manifestationen si-
chert die kulturelle Identität einer partikularen Praxisgemeinschaft. Wie
ich nun abschließend plausibilisieren möchte, kann die eigene kulturelle
Identität für die einzelnen Mitglieder allerdings opak sein. Ein homogenes
Wir-Bewusstsein darf nicht mit der tatsächlichen Identität einer kulturel-
len Lebensform verwechselt werden. Dies ist meine dritte, ideologiekriti-
sche These. So findet sich in modernen Gesellschaften typischerweise nicht
nur ein neben- und miteinander verschiedener lokaler (Sub-)Kulturen (Ap-
piah 1994, S. 114ff.; Rawls 1998, V2, § 2). Durch funktionale Differenzie-
rung und Arbeitsteilung steigert sich auch die interne kulturelle Diversifi-
kation innerhalb einer Kultur, was sich etwa in der „Herausbildung kultu-
reller Handlungssysteme [zeigt], die auf bestimmte symbolische Praktiken
spezialisiert sind (Wissenschaft, Kunst, Religion)“ (Peters 1993, S. 126).
Während sich so auf der einen Seite die kulturellen Ressourcen in verschie-
dene Sinndimensionen und Wertsphären ausdifferenzieren, sinkt auf der
anderen Seite „der relative Anteil an diesem Symbolvorrat, über den die
einzelnen Gesellschaftsmitglieder verfügen“ (ebd.). In Großkollektiven wie
modernen Nationalstaaten dürfte es daher ausgesprochen unwahrschein-
lich sein, dass jemand jemals mit der Gesamtheit aller Kulturgüter der ei-
genen Gesellschaft vertraut ist. „Even in the simplest cultures the content
is too rich for any one mind to be able to apprehend the whole of it“ (Lin-
ton 1936, S. 271). Erschwerend kommt hinzu, dass das überlieferte, in kul-
turelle Artefakte eingeschriebene und öffentlich artikulierte Selbstver-
ständnis eines partikularen Kollektivs seine tatsächliche Identität keines-
falls richtig erfassen muss. Vielmehr sind zahlreiche Diskrepanzen und In-
konsistenzen zwischen „Behauptungen und Fakten, akzeptierten Normen
und Praktiken, zwischen Schein und Wirklichkeit oder zwischen An-
spruch und Verwirklichung“ (Jaeggi 2014, S. 265) denkbar, die für die Teil-
nehmer selbst nur schwer zu durchschauen sind. Freilich gibt es vielfältige
Mechanismen der kulturellen Selbstthematisierung, wie religiöse Riten,
Monumente und Feiertage, Nationalfarben und -hymnen. Doch wir dür-
fen uns nicht darüber täuschen, dass Kultur auch in diesen Fällen niemals
als Ganzes thematisch wird, sondern als „Horizont des geteilten und sym-
bolisch gespeicherten Hintergrundwissens“ (Habermas 2012, S. 71) in kon-
kreten Situationen ausschließlich ausschnitthaft in den Vordergrund
rückt. Obwohl kulturelle Identität ihre soziale Geltung in letzter Konse-
quenz den normativen Einstellungen und kollektiven Haltungen ihrer

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Mitglieder verdankt, tritt sie dem Einzelnen generell als überpersönliche


Struktur entgegen, zu der er sich in ein Verhältnis setzen muss. Als stabile,
aber wandelbare Konfigurationen intersubjektiver Beziehungen sind kul-
turelle Lebensformen „zugleich gegeben und gemacht“ (Jaeggi 2014,
S. 120; Herv. entf.). Sie ermöglichen und begrenzen gleichermaßen eine
Welt sozialer Interaktion, deren intersubjektiven Beziehungen sie als kon-
textbildenden Horizont konstitutiv zugrunde liegen. Von der Vorstellung,
dass eine Praxisgemeinschaft ihren Angehörigen in einer Weise transpa-
rent sein kann, wie es für ein holistisches Selbstverständnis ihrer kulturel-
len Identität erforderlich wäre, wird man sich allerdings wohl verabschie-
den müssen.

4. Fazit

Auf den zurückliegenden Seiten wurde eine praxistheoretische Deutung


kultureller Identität entwickelt, die in den symbolischen Strukturen einer
Praxisgemeinschaft ihre relevante Bezugsgröße festmacht. Die kulturellen
Symbol- und Bedeutungssysteme einer Praxisgemeinschaft sind potenziel-
ler Gegenstand interpersonaler Konflikte und Aushandlungsprozesse, was
ihre kulturelle Identität zersetzen kann, wenn ihre zentralen Werte und
Ziele ersetzt werden. Die eigene kulturelle Identität kann dabei für die
Mitglieder einer Praxisgemeinschaft opak sein. Ein homogenes Wir-Be-
wusstsein darf nicht mit der tatsächlichen Identität einer kulturellen Le-
bensform verwechselt werden.

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Kulturelle Identität – Eine praxistheoretische Deutung

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„You can check out, but you can never leave.“1 –
Identitätsräume zwischen Entgrenzung und Begrenzung

Olaf Jann

„Wir sind alle mehr oder weniger fest in einer bestimmten Lebenswei-
se verwurzelt, mit jedem Recht, diese zu schützen. […] Die Sehnsucht
nach authentischem Gemeinschaftsleben oder den Schutz der eigenen
Lebensweise per se als Rassismus zu verdammen, ist der übliche Fehler
der Liberalen und Linken.“
(Slavoj Žižek)
Gegenwartsgesellschaften charakterisieren sich durch starke ökonomische
Disparitäten, heterogene weltanschauliche Milieus sowie fragmentierte in-
dividualisierte Biographien. Auch wenn inklusiv-divers gestaltete soziale
Verhältnisse normativ gewünscht sind, beruhen gerade posttraditionale,
globalisierte Gesellschaften auf dem Prinzip der Differenzierung, Teilung
und Hierarchie, d. h. sie sind, als System strukturierter Ungleichheit, so-
wohl horizontal differenziert als auch vertikal stark geschichtet. Aktuell
treten Desintegrationsprozesse in ökonomischer, politischer und kulturel-
ler Hinsicht noch einmal besonders akzentuiert hervor, da die, von man-
chem zwar als nostalgisch empfundenen, Kohäsionskräfte des National-
staates dramatisch reduziert worden sind. Entgrenzung ist zur bestimmen-
den Fließrichtung der Epoche geworden. Vor dem Hintergrund einer Glo-
balisierung 4.0 aus Digitalisierung, Klimawandel und Migration sowie
einer inszenierten hypermoralischen postliberalen Zeitenwende werden
die Bürger mit immer neuen psychosozialen Bewältigungsproblemen kon-
frontiert. Da dies ein gesteigertes Maß an Ambiguitätstoleranz und Resili-
enz erfordert, wächst zugleich das Bedürfnis nach Stabilität, Sicherheit
oder zumindest kontrollierten Veränderungen. Auf diese Weise entfaltet
sich ein Potenzial von Konfliktdynamiken das mehrdimensional geschich-
tet ist und sich im Kontext postnationaler Konstellationen, kultureller Li-
beralisierungen sowie ökonomischer Globalisierungen vollzieht. Hier las-

1 Der hier bezeichnete „Hotel-California-Effekt“ ist einer Liedzeile der Eagles ent-
lehnt. Für das ausgezeichnete Lektorat und ihre Unterstützung danke ich ganz
herzlich Janine Wetzel.

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Olaf Jann

sen sich drei Konfliktlinien feststellen: eine sozioökonomische, die auf Fra-
gen gravierender materieller Disparitäten zielt, eine soziokulturelle, wel-
che differente Identitätskonstruktionen für wertvoll hält sowie eine herr-
schaftskritische, welche die Kluft zwischen den Bürgern und den politi-
schen Eliten im Sinne einer Repräsentationslücke in den Fokus rückt.
Als zentrale Konfliktlinie postindustrieller Gesellschaften deutet sich
eine starke gesellschaftliche Kontroverse an, die im Spannungsfeld von
Entgrenzung versus Begrenzung angesiedelt ist und in deren Kern Aus-
handlungen über Identitätsräume soziokultureller Sicherheit stattfinden.
Der Begriff der Entgrenzung bezieht sich dabei sowohl auf die sozialräum-
lichen Aspekte der Transnationalisierung von Kapital, Arbeit und Men-
schen als auch auf die soziokulturellen Transformationen, bei denen bis-
her geltende soziale, kulturelle und normative Bezüge erodieren. Der Ent-
grenzungskonflikt wird zwischen nationalstaatlich orientierten (konserva-
tive Identitätsorientierung) und eurozentrisch-kosmopolitischen (romanti-
zistische Alteritätsorientierung) Milieus auf der Suche nach ihren je eige-
nen ideologischen und moralischen „Identitätsgehäusen“ (Keupp 1994,
S. 341) antagonistisch ausgetragen und ist zugleich Teil der soziomorali-
schen Selbstdarstellung. Es handelt sich um zwei Resonanz- und Identitäts-
räume, welche die Ambivalenzen einer von Konflikten und Brüchen be-
hafteten Alltagswelt sowie ihren damit verbundenen psychosozialen Be-
wältigungsproblemen, anhand ihrer differenten Sozialmilieus, Lebens-
und Wertewelten, in ihrer Eigenlogik abbildet.2 Die neu erwachte öffentli-
che Debatte um kulturelle Identitäten sollte daher als eine Fortsetzung der
Populismuskontroverse angesehen werden und macht noch einmal deut-
lich, dass diese – auch in der Wissenschaft – sehr ideologisch aufgeladene
Debatte lediglich einen sozialstrukturellen Konflikt verdeckt hat, welcher
wiederum anhand einer soziokulturellen Demarkationslinie nachgezeich-
net werden kann.

2 Der Milieubegriff wird hier für eine soziale Gruppe verwendet, die aufgrund ge-
meinsamer intersubjektiver Beziehungen, kultureller, biografischer und sozial-
räumlicher Bindungsstrukturen einen Komplex moralischer Regeln bilden, welche
sich wiederum im sozialen Umgang niederschlagen und zu Traditionslinien der
Mentalität, d. h. umfassender des Habitus, also der körperlichen wie mentalen, in-
neren wie äußeren Haltung eines Menschen verfestigen (Vester et al. 2001, S. 16,
187). Auf diese Weise kristallisieren sich gegenwärtig zehn differente Untermilieus
innerhalb der sozial gehobenen Milieus, der Milieus der Mitte sowie der Milieus
der unteren Mitte/Unterschicht heraus. Hier durchschneidet die ideologische Lo-
gik der Lager die vertikalen Stufen und führt auf diese Weise zu Koalitionen zwi-
schen verschiedenen Milieus, die von den unteren bis zu den oberen Milieus rei-
chen (vgl. Sinus 2017).

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„You can check out, but you can never leave.“

Machtpolitische Kulturkämpfe um hegemoniale Geländegewinne

Modernisierungstheoretisch stehen sich lediglich zwei legitime gesell-


schaftliche Entwicklungspfade sowie ihre differenten geopolitischen Iden-
titätskonzepte in einem Konflikt um die soziale Deutungshoheit gegen-
über. Dieser Konflikt wird geprägt von spezifischen Milieus und Träger-
gruppen, die sich dadurch auszeichnen einen transnationalen Kollektivwil-
len ohne Rückholoption oder einen defensiv angelegten nationalen Kol-
lektivwillen organisieren zu wollen. Beide Zielvorstellungen sind keines-
wegs, wie gerne suggeriert, in ein gut-und-böse Raster einzuordnen, beide
Deutungen stellen den Versuch dar den Verlust ungewisser Zukunft auf je
unterschiedliche Weise wiederherzustellen und beide Pfade haben Vor-
und Nachteile hinsichtlich ihrer Konsequenzen für unterschiedliche Be-
völkerungsteile.
Ich möchte daher die völlig zutreffenden Diagnosen einer sich vertie-
fenden Asymmetrie innerhalb von Gesellschaften (vgl. Merkel 2016, 2017;
Reckwitz 2016; Koppetsch 2017; Kraemer 2018) dahingehend pointieren,
die explizit machtpolitische Dimension jener differenten Identitätskonzep-
te zu betonen, welche jüngst auch von Koppetsch hervorgehoben worden
ist (Koppetsch 2018, 2019). Zugleich verweise ich damit auf die struktur-
bildende Relevanz kultureller Identitäten, als historisch entstandene kol-
lektive Deutungssysteme, die wesensmäßig partikular sind und als Ort der
Differenz fungieren. Kollektivvorstellungen verweisen hier auf ein „System
übersubjektiver kultureller Schemata, die im Mentalen des Einzelnen wir-
ken“, aber immer „von den jeweils existierenden Wissenscodes“ (Reckwitz
2000, S. 325, 267) der Zeit abhängig sind und sich innerhalb eines epo-
chentypischen Sinnmusters (mental habit) oder einer Diskursformation als
eine relativ stabile psychische Disposition kollektiver Vorstellungen aus-
prägen. Wissenscodes und Formationsregeln legen hier stets „ein kulturel-
les Schema des Denk- und Sagbaren“ (ebd., S. 275) fest.
Da Herrschaft nicht allein auf direktem oder indirekt manipulativen
Zwang beruht, sondern auch und vor allem auf gemeinsamen kulturellen
Weltdeutungen, Wertorientierungen und Praktiken, ist das kulturelle Ka-
pital das entscheidende Differenz- und Distanzkriterium zwischen gesell-
schaftlichen Gruppen, um die Identität, Attraktivität und symbolische
Überlegenheit der eigenen Gruppe zu sichern und über die Verteilung re-
levanter Ressourcen zu entscheiden (Bienfait 2006, S. 111ff.). Kulturelle
Identitäten können – im Sinne von Bourdieu – als gruppenspezifisches Ka-
pital angesehen werden, „dem Distinktions- und Reproduktionsstrategien
zugrunde liegen, die ihrerseits zur Erzeugung und Aufrechterhaltung der
sozialen Ordnung beitragen“ (Bienfait 2006, S. 117). Die Neubewertung

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Olaf Jann

des symbolischen Kapitals stellt dann eine gesellschaftspolitische Rich-


tungsentscheidung dar, um die dominante Gruppe in die Lage zu verset-
zen, ihre eigenen Werte als Priorität für den Alltag der Menschen zu defi-
nieren, damit die kulturelle Reproduktion, die Verfasstheit des Staates und
zugleich ein kognitives, ästhetisches sowie evaluatives Muster der legiti-
men Weltdeutung für die Gesamtgesellschaft festzulegen. „Zum ökonomi-
schen Klassenkampf tritt der symbolische Kulturkampf hinzu; es wird
nicht nur um die Verteilung von materiellen Gütern gestritten, sondern es
herrscht auch ein Kampf um die richtigen Werte, legitime Standards und
vorteilhafte Lebensstile“ (Müller 1986, S. 170).
Der Konflikt zur Durchsetzung kollektiver Normativität stellt sich als
ein (ideologischer) Nullsummenkonflikt dar, bei dem es um ein Positions-
gut geht, welches grundsätzlich knapp ist und allein denjenigen Gruppen
nutzt, die darüber verfügen (Esser 1996, S. 70ff.). Ausgangspunkt ist hier
die Analyse von Gramsci über die Erweiterung des Staates in die Zivilge-
sellschaft hinein. Demzufolge bedarf es einer Veränderung der psychi-
schen Dispositionen der Individuen, um eine Transformation der ökono-
mischen, politischen und sozialen Verhältnisse effektiv durchsetzen zu
können. Nach Gramsci kommen gesellschaftliche Transformationen dann
zustande, wenn es gelingt in einem neuen „historischen Block“ nicht nur
die Mehrheit der Bevölkerung an sich zu binden, sondern auch neue Krite-
rien gesellschaftlicher Rationalität mittels Recht, Schulen, Universitäten
und Medien zu etablieren oder einen bestimmten Typus von Gesellschaft
zum Verschwinden zu bringen sowie veränderte Verhaltensweisen durch
Gebote der selbstoptimierenden Anpassungsbereitschaft an die gewünsch-
ten gesellschaftlichen Bedingungen zu schaffen. Dies geschieht durch all-
tägliche Praxiserfahrungen und unbewusste oder affektive Besetzungen.
Akteure in Medien, Schulen und Wissenschaft (welche ihre eigene hege-
moniale ideologische Verfasstheit gerne ausblenden oder nicht sehen wol-
len) sind hier wesentliche Multiplikatoren, die implizit oder explizit den
Alltagsverstand der Menschen sozialisieren, indem sie Normen, Werte und
Weltauffassungen verkünden und auf diese Weise an der Hegemoniepro-
duktion maßgeblich mitwirken: „Hegemonie bezeichnet demnach eine Si-
tuation, in der eine Gruppe oder Klasse ihre Herrschaft gesamtgesellschaft-
lich organisiert und in den politischen, ideologischen und kulturellen
Überbauten den Konsens zu den ihren Machtpositionen sichernden Ver-
hältnissen organisiert“ (Opratko 2012, S. 42).
Kulturelle Hegemonien verarbeiten partikulare Subjektpositionen, aber
sie präsentieren diese über rhetorische Strategien als einen universell ver-
bindlichen Horizont, der bestimmte Identitäten und kulturelle Deutungs-
muster als erstrebenswert und attraktiv vermitteln soll. Im hegemonialen

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„You can check out, but you can never leave.“

Modell herrscht dabei ein Gleichgewicht zwischen Gewalt und Konsens,


wenn eine gesellschaftliche Gruppe nicht nur eine dominante Stellung
übernimmt und über die rivalisierenden Gruppen herrscht, sondern auch
die ihnen verbündeten Gruppen führt, sich eine Vormachtstellung (supre-
mazia) einer sozialen Gruppe auf zweierlei Weise zeigt: als disziplinierende
Herrschaft und als intellektuelle sowie moralische Führung (Priester 1981,
S. 55ff., Kebir 1991, S. 48ff, Opratko 2012, S. 36ff., Gramsci 1996, § 24, 44,
81, 88). Eine strukturbildende Wirkung ergibt sich besonders dann, wenn
diese Zustimmung mit der Kontrolle zivilgesellschaftlicher Schlüsselposi-
tionen einhergeht. Auf diese Weise gelingt eine, spezifischen kulturellen
Denkmustern folgende, weitgehend störungsfrei gehaltene, Anpassungs-
aufklärung und „Durchstaatlichung des sozialen Lebens“ (Bienfait 2006,
S. 118), „indem Individuen einem gesellschaftskonstitutiven Netz sozialer
Regeln dadurch unterworfen werden, dass sie dieses durch wiederholte
Formen der disziplinierten Einübung in ihrem psychophysischen Habitus
vollständig zu übernehmen lernen“ (Honneth 2001, S. 20). Die Praxis so-
zialer Macht (aktuell paradigmatisch nicht allein am Sozialkreditsystem in
China zu besichtigen), besteht dann „in der mikrophysischen Aufzwin-
gung einer Lebensform, die durch ein ganzes Netz von sozialen Regeln be-
stimmt ist, durch die wir zur Entwicklung einer bestimmten Selbstbezie-
hung, einer bestimmten Art der Herrschaftsbereitschaft und einer be-
stimmten Form des Sozialkontaktes angehalten werden“ (Honneth 2001,
S. 21).

Milieus der Entgrenzung

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist von „lateralen Ethnien“ (Assmann


2002, S. 150) eine diskursive Konstruktion transnationaler Entgrenzung
und kosmopolitischer Lebensformen zu einem dominanten Leitprinzip
ikonisiert worden.3 Das Bündnis expandierender Hyperkultur zwischen
kulturellem und ökonomischem Liberalismus ist signifikant und findet

3 Während eine repräsentative Elitekultur graduell alle Schichten der Bevölkerung


durchdringt, ist die exklusive Elitekultur einer Aristokratie bzw. einer hier kosmo-
politischen Elite in den unteren Schichten nur schwach oder gar nicht ausgeprägt
(Assmann 2002, S. 150). Auch die Konstruktion nationaler Identität im 19. Jahr-
hundert ist von Intellektuellen betrieben worden und ein Elitenprojekt gewesen.
Der durchschnittliche Bürger verortete sich damals wie heute regional, in der eige-
nen Stadt oder im eigenen Landkreis. Eine Orientierung am Nationalstaat erfolgte
erst, nachdem die politischen und kulturellen Eliten die Idee nationaler Identität

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Olaf Jann

sich vor allem in den urbanen, linksakademischen, juvenilen und transfor-


matorischen Milieus posttraditionaler Vergesellschaftungen mit hoher he-
donistisch-materialistischer Wertorientierung, sodass ein habituell ver-
wandter, transnationaler Block von Interessen und kollektiven Identitäten
sozialer Kräfte entsteht, die über nationale Grenzen hinweg relativ kon-
form orientiert sind. Diese Milieus verfügen über die entsprechenden Ka-
pitalressourcen: ausreichendes ökonomisches Kapital, global einsetzbares
kulturelles Kapital, global verwertbare Qualifikationen und Bildungsab-
schlüsse sowie transnational sprachliches Kapital und sind daher in der
Lage die Anforderungen einer entgrenzten Globale einzuholen, wenn sie
nicht sogar davon in besonderem Maße profitieren.
Die transnationale identitäre Sinnmatrix speist sich aus ursprünglich ro-
mantischen Subjektivierungsmustern der Selbstentfaltung und postmate-
rialistischen Wertvorstellungen. Hier stellen Diversität, Entgrenzung, Be-
schleunigung, Flexibilität, Permissivität, Selbstüberbietung (auch morali-
sche) und Kosmopolitismus die expressiven Leitsemantiken und autoritä-
ren Sittenmandate mit nahezu religiöser Aufladung im Kontext individuel-
ler Selbstverwirklichung dar. Ausgestattet mit einem hypermoralisch auf-
geladenen Über-Ich fordern Kosmopoliten deshalb eine rigorose Globali-
sierung normativer Ordnungen mit unbeschränkt offenen Grenzen für
Menschen, Waren und Dienstleistungen, einen kulturellen Relativismus
sowie die Verlagerung bisher nationalstaatlicher Souveränitätsrechte auf
supranationale Organisationen. Interessant ist, dass die Permissivität und
hedonistisch-materialistische Selbstentfaltung des kosmopolitischen Mi-
lieus aber widersprüchlich gebrochen ist und sowohl mit einem starken
Hang zu einem teils obsessiven, sozialdisziplinierenden Öko- und Klima-
nationalismus korreliert, als auch eine politisch korrekte, gesinnungsethi-
sche Gefühlskultur und messianische Empörungsbewirtschaftung voran-
treibt. Eine Globalisierung des postromantischen Bewusstseins stellt hier
den symbolischen Referenzrahmen dar. Kosmopolitismus wird mit Huma-
nismus gleichgesetzt, was dazu führt, dass jede Infragestellung des „heili-
gen Kosmos“ (Luckmann 1996, S. 31) zur Stigmatisierung, Pathologisie-
rung und Exkommunizierung Andersdenkender aus der Affektgemein-
schaft der „informellen Notstandskoalition“ (Merkel 2017, S. 22) führen
kann.

populär gemacht hatten. Träger dieser Entwicklung war damals eine urbane Mo-
dernisierungselite des Bildungsbürgertums. Analog dazu wird heute die Konstruk-
tion postnationaler Identität wieder entschieden von einer urbanen Elite betrie-
ben.

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„You can check out, but you can never leave.“

Auch wenn die Lebensstilmuster von Kosmopoliten – zumindest ideo-


logisch – weltanschaulich und emotional rigide durchgeformt sind, so sind
sie doch keineswegs inklusiv, heterogen und universalistisch. Im Gegen-
teil, wie Koppetsch zutreffend feststellt, denn gerade die kosmopolitische
Kultur ist, mit ihrem körper- und gesundheitsbewussten, auf Selbstver-
wirklichung, Selbstoptimierung und Wissensaneignung orientierten spezi-
fischen Lebensstil investiver Statusarbeit, nahezu vollständig homogen.
Die Exklusion geschieht hier über ein Grenzregime ökonomischer Fakto-
ren, wie Immobilienpreise, Mieten, ein selektives Bildungssystem oder ex-
klusive Freizeiteinrichtungen, um Konflikte mit anderen Lebenswelten
und ihren harten Realitäten vermeiden zu können (vgl. Koppetsch 2017b).
Nationalstaatliche Grenzen werden zwar negiert, sozialräumliche Grenzen
dagegen gerne zementiert und zugleich sozial-verkehrsberuhigte akademi-
sche Sicherheitszonen geschaffen, die vor Kontrollverlusten in den Quar-
tieren der eigenen Lebenswelt schützen sollen.
Dies führt dazu, dass Bevölkerungsteile, die sich nicht diesen Transfor-
mationen verpflichtet fühlen, politisch marginalisiert und „gesellschaftlich
obdachlos“ (Dubiel 1986, S. 47) werden. Es entstehen symbolische Räume
politischer Vergessenheit, da milieuspezifische Verhaltensdispositionen
(flexibel, kosmopolitisch, divers, mobil, selbstoptimierend) symbolisch
verallgemeinert und institutionell aufgewertet werden, während traditio-
nell-moderne Lebensformen mit moralischen Kosten belegt sind. Damit
sind nicht nur innergesellschaftliche Auf- und Abwertungen von ökono-
mischen, sozialen und kulturellen Kapitalien verbunden, wie dies Kraemer
überzeugend dargelegt hat (Kraemer 2018, S. 292), sondern eine multiple
Entgrenzungsdynamik evoziert hier zudem einen Entfremdungsdiskurs,
welcher wiederum einen individuellen und kollektiven „Kampf um Aner-
kennung“ (Honneth 2003) identitätspolitisch forciert.4
Die damit verbundene Alltagserfahrung, dass bisherige Werte, Verhal-
tensmaßstäbe, Lebensstile und Arbeitsweisen nicht mehr zu gelten schei-
nen, führt mancherorts zu einem anomisch geprägten Krisenphänomen
der Störung sozialer Ordnungen und subjektiv vielfach zu einem dystopi-
schen Gefühl relativer Deprivation, also einem individuell empfundenen
Grad von Benachteiligung, der sich aus einer Diskrepanz zwischen den Er-

4 Entfremdung ist basal „als ein gestörtes Verhältnis zwischen individuellen und kol-
lektiven Subjekten und ihrem sozialen Umfeld“ zu definieren. Als ein Zustand des
eigenen Fremdseins in einer bestimmten Umgebung oder das Gefühl, es mit frem-
den Menschen, Einrichtungen, Gegenständen zu tun zu haben. Entfremdung von
einem Menschen, einem sozialen Umfeld, einer Institution, einer Tätigkeit oder
vom eigenen Ich (Zima 2014, S. 114).

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Olaf Jann

wartungen an das eigene Leben und der tatsächlichen sozioökonomischen


Situation ergibt. Dies kann zu Wut, Enttäuschungs- und Erschöpfungsde-
pressionen, aber auch Scham aufgrund eines chronischen Missverhältnis-
ses zwischen Aufwand, Erwartung und Gratifikation führen. Relative De-
privation ist damit ein Zustand subjektiv empfundener Benachteiligung
und Demütigung, sowohl gemessen an den eigenen Hoffnungen als auch
im Vergleich mit anderen Personen. Aus der Gemengelage relativer Depri-
vation, tiefgreifender Verunsicherung und sozialer Konkurrenzsituationen
um Arbeitsplätze, Wohnraum und Status können dann universale Phäno-
mene wie Ethnozentrismus und Xenophobie ihre politische Brisanz erst
dann entfalten, wenn Bedrohungs- und Konkurrenzerfahrungen zur Kon-
trastverschärfung unter strukturellen Stressbedingungen führen. Wie Ted
Gurr feststellt sind Tendenzen einer Bestrebungsdeprivation besonders in
Zeiten anzutreffen, in denen ein Gemeinwesen ökonomische, soziale und
ideologische Transformation durchlebt, die sozialen Beziehungen, Aner-
kennungsstrukturen und traditionellen Normen an Wert verlieren (Gurr
1972, S. 31ff.; Reddig 2007, S. 291ff.; Fuchs 2018, S. 8).
Dubiel spricht denn auch von „kollektiven Kränkungserfahrungen“
(Dubiel 1986, S. 47) und Koppetsch hat das damit verbundene Gefühl der
Anomie zutreffend so diagnostiziert: „es ist das Gefühl, der Entfremdung
von herrschenden Normen und Strukturen. Es ist das Gefühl, dass Verhal-
tensmaßstäbe, die für die eigene Identität und Stellung in der Gesellschaft
und die gesellschaftliche Wertschätzung bisher relevant waren, nicht mehr
gelten“ (Koppetsch 2017a). Da, wie Bourdieu diagnostiziert hat, „die verlo-
rene Welt“ in den Bedürfnissen und Erwartungen der Menschen aber wei-
terhin präsent bleibt, verlieren diese die Sicherheiten ihres Identitäts-
raums, „ihr Koordinatensystem und ihre alltäglichen Plausibilitätsstruktu-
ren“ (Schultheis 2007, S. 102). Das Vertrauen in die Kontinuität der eige-
nen Identität als eine sinnhaft empfundene Bindung schwindet, weil das
Subjekt kognitiv und emotional nicht mehr in Übereinstimmung mit sich
und seinen Erwartungen leben kann.

Identitätsräume soziokultureller Sicherheit

Strijbis und Teney kommen in transnational vergleichenden Studien nun


zu dem Befund, dass die Gesamtbevölkerungen in der Regel nationalstaat-
lich orientiert sind (Strijbis/Teney 2016, S. 26; Merkel 2017, S. 14) und ge-
wachsene lokale Kommunikationsgemeinschaften hier als sinnstiftende
Orientierungshilfen und Orte der Selbstbestimmung begriffen werden.
Dafür bedient man sich historisch-kultureller Narrationen. Eine „Volksva-

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riante konservativen Denkstils“ (Priester 2007, S. 18) vertritt in der Regel


Werte der Bewahrung, der Homöostase und Begrenzung, sodass gesell-
schaftliche Dynamisierungsimperative und Landnahmen eher skeptisch re-
flektiert werden. Diese Einstellungen verweben sich mit einer Präferenz
für subsidiäre Machtzentren und direktdemokratische Verfahren, die in
überschaubaren geographischen und politischen Einheiten grundsätzlich
eine höhere demokratische Qualität aufweisen können, da partizipative
Demokratie immer auf soziale Räume gesellschaftlicher Integration, auf
gemeinsame Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaf-
ten kollektiver Identitäten (Kielmansegg 2003, S. 58) angewiesen bleibt.
In diesem Zusammenhang spielt das Konzept der Nation, aufgrund sei-
ner soziokulturellen Schutzraumfunktion, eine wesentliche Rolle als poli-
tisch wirksame Identitätsform des Gemeinsamkeitsglaubens und stellt eine
moderne Antwort auf die globalisierte Kontingenzgesellschaft dar. Natio-
nen sind historisch gewachsene Erfahrungs- und Verständigungsgemein-
schaften gemeinsamer Sprache, die, wenn auch konstruiert, deshalb nicht
jederzeit dekonstruiert werden können, da sie von emotionalen Bindun-
gen gestützt werden. In einem gewissen Ausmaß bleiben Gesellschaften
daher immer auch auf eine kollektive Identitätsbildung angewiesen, da
Wertegemeinschaften Basisfunktionen für die Organisation gesellschaftli-
cher Steuerungsprozesse hinsichtlich des Systemvertrauens, des sozialen
Vertrauens und der Gemeinwohlorientierung erfüllen. Geteilte Werthori-
zonte erhöhen die Erwartungssicherheit zwischen sozialen Interaktions-
partnern sowie die kooperative Nutzung und Verwaltung von Kollektivgü-
tern, was wiederum die Solidar- und Gemeinwohlbeziehungen der Gesell-
schaft stärkt (Rosa et al. 2010, S. 93ff.). Da sich eine Nation – nach Kocka –
in soziokultureller Hinsicht dadurch auszeichnet, dass die meisten Bürger
über alle Schichtgrenzen hinweg das Bewusstsein haben in einer gewissen
Weise zusammenzugehören, aber auch zusammen gehören zu wollen und
sich auf diese Weise von den Mitgliedern anderer Nationen absetzen, gilt
ein Staatsvolk, als Kultur- und Solidargemeinschaft, auch nicht als beliebig
austauschbar, wird eine gewisse Kontinuität und Homogenität sowie eine
präferenzbasierte Differenzierung für die Wahrung des sozialen Zusam-
menhalts als förderlich angesehen. Dazu gehört ein hohes Maß an Binnen-
kommunikation gemeinsamer Sprache sowie als ähnlich empfundene
Bräuche, Erinnerungen und Normen (Kocka 1995, S. 29). Nationale Iden-
tität, die sich aus einem Nationalgefühl und einem Nationalbewusstsein
speist und als reflektierte Identifikation mit einem Gemeinwesen zeigt, er-
laubt hier Unterschiede zwischen Gesellschaften zu pointieren und bietet
andererseits die Möglichkeit alle Subjekte innerhalb einer Gesellschaft zu
inkludieren (Kneidinger 2013, S. 51). Grenzziehungen bleiben damit

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grundsätzlich immer inklusiv und exklusiv zugleich. In diesem Sinne ist,


nach Giesen, nationale Identität immer auf kulturelle Identität angewie-
sen, indem sie auf historisch sich wandelnde Kulturfragen reagiert (Giesen
1991, 13ff.).
Kulturelle Identität ist wiederum an ein kollektives (kognitiv-emotiona-
les) Gedächtnis in dem Sinne gekoppelt, dass zwar nur ein Individuum
über ein Gedächtnis verfügt, sich dieses aber erst aufgrund von Sozialisati-
on, Kommunikation und Interaktion bildet und damit in gewissem Maße
kollektiv ausprägt. Es ist, wie Assmann sagt, „identitätskonkret“ (Assmann
2002, S. 39), d. h. die „Raum- und Zeitbegriffe des kollektiven Gedächtnis-
ses stehen mit den Kommunikationsformen der entsprechenden Gruppe
in einem Lebenszusammenhang, der affektiv und wertbesetzt ist. Sie er-
scheinen darin als Heimat und Lebensgeschichte, voller Sinn und Bedeu-
tung für das Selbstbild“ (Assmann 2002, S. 39). In Erinnerungsfiguren
drückt sich die Haltung der je spezifischen Gruppe aus, reproduziert sich
ihre Vergangenheit und definiert sich ihre „Wesensart“ (ebd., S. 40). Kol-
lektive Identität entwickelt sich bei Menschen, die sich selbst als ähnlich
wahrnehmen und zugleich von anderen in dieser spezifischen Weise iden-
tifiziert werden (Leggewie, 1994, S. 46ff.). Auf diese Weise kann durch
Selbst- und Fremdzuschreibung auch die Nationalität Teil der sozialen
Identität werden. Eigenart und Dauer (also ein Bewusstsein der Identität
durch die Zeit sowie die Differenz nach außen) sind die Akzente jeder so-
zialen Gruppe als Erinnerungsgemeinschaft. Die Identifikation findet da-
bei sowohl auf der kognitiven wie der affektiv-emotionalen Ebene statt, sie
wird ebenso aus argumentativen Gründen auf die aktuellen, als auch hi-
storischen Leistungen und Errungenschaften eines Landes und seiner Insti-
tutionen bezogen, wie auf ein soziokulturelles Geflecht aus Werten und
Normen in dem man lebt und arbeitet.

Identität als soziokulturelles Dispositiv

Identität ist, wie Assmann zutreffend schreibt, „eine Sache des Bewusst-
seins, d. h. des Reflexivwerdens eines unbewussten Selbstbildes“ (Assmann
2002, S. 130). Sozialpsychologisch betrachtet kann der Prozess der Selbstin-
terpretation oder Selbstdefinition als eine kognitive und emotionale Klä-
rung angesehen werden, „mittels dessen ein Mensch sein eigenes Verhal-
ten und Erleben sowie die Reaktionen seiner Umwelt ihm gegenüber in
einen Sinnzusammenhang bringt“ (Simon/Mummendey 1997, S. 16).
Selbstinterpretationen begründen hier Identität und fungieren als Orien-
tierungsraster für Denken, Verhalten sowie Erleben. Dies gilt sowohl für

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das Feld individueller wie auch für das Feld kollektiver Identität. Assmann
nimmt hier eine Dreiteilung vor, indem er die Ich-Identität noch einmal
in eine individuelle und eine personale gliedert. Individuelle Identität soll
„das im Bewusstsein des Einzelnen aufgebaute und durchgehaltene Bild
[…] seines Eigenseins, seiner Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit“
(Assmann 2002, S. 131) sein, manifestiert in der Kontingenz seines Lebens,
seines Daseins und seiner Grundbedürfnisse, gerahmt von einem Komplex
aus Autonomie, Anerkennung, Zugehörigkeit, Partizipation, materieller
und physischer Sicherheit. Personale Identität zeigt das Individuum sozial
kontextualisiert in den spezifischen Konstellationen des Sozialgefüges, sei-
ner Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen und bezieht daher vor allem
auch soziale Anerkennungsprozesse der materiellen, kulturellen, berufli-
chen und politischen Teilhabe mit ein. Im Prozess von Interaktion und
Kommunikation werden Bedeutungen ausgehandelt, mit dem eigenen
Selbstbild verknüpft und die Reaktionen der sozialen Umwelt in einen
Sinnzusammenhang der Selbstrechtfertigung gebracht. Die inhaltliche
Ausprägung der Identität wird im Kontext dieser Interaktionen, Kommu-
nikationen und Körpererfahrungen vor dem Hintergrund der eigenen Bio-
graphie gebildet und unterliegt dabei einer zeitlichen wie räumlichen Di-
mension, die sich aus Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart
speist, aber ebenso in die Zukunft gerichtet wird.
Reflexive Identität steht damit auch für die Haltung, die ich zu mir
selbst und anderen einnehme, wenn ich in Kontakt mit meiner Umwelt
trete. Dabei werden Menschen nicht allein von anderen Individuen, von
Herkunft, Geschichte, Literatur, Musik, sondern auch von territorialen
Merkmalen geformt, von den Häusern, in denen sie leben und den Stra-
ßen, durch die sie gehen, von Mikro- und Makroarchitekturen, von Räu-
men, Gebäuden, Brücken, Plätzen, Bergen, Flüssen, Küsten, Wäldern, Or-
ten und Nicht-Orten, die ihrerseits mit Erinnerungen imprägniert sind
und auf diese Weise die Identität der Menschen kognitiv und emotional
mitformen. Identitäten beruhen damit auf einer (auch explizit sprachli-
chen) Verortung und Ortung und schließen eine Bezugnahme auf das Le-
bensumfeld, den Raum gemeinsamer Teilhabe ein. Sie basieren zudem auf
einer „inneren Konversation, in die Verbalität, Gefühle, habituelle Tätig-
keiten und körpersprachliche Aktivitäten eingebunden sind“ (Liebsch
2002, S. 74). Die in unser Gedächtnis aufgenommenen sozial geprägten
Formen des Wahrnehmens, Denkens, Sehens, Hörens, Fühlens, Sprechens,
Riechens, Schmeckens und Schweigens erfährt der Mensch körperlich, er
bewahrt und speichert diese Erfahrungen als „eine Art Erinnerungsspur“
(Liebsch 2002, S. 77) von Bedeutungsschichten, die im Körper aufgehoben
bleiben, ohne dass die Tast-, Hör-, Geruchs- und Geschmacksbilder zwin-

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gend reflektiert oder interpretiert werden müssen, aber dennoch eine Art
biographische persistente Grundstruktur des Habitus bilden. Dieser ist ne-
ben einer kognitiven, sensorischen und motorischen, damit auch eine nor-
mative Dimension eingeschrieben. Die Existenzbedingungen und Erfah-
rungen des Individuums, die Bewegungen, die Redeweisen, der Gang, die
Körperhaltung oder die körperliche Aneignung des Raumes, sind bis in
das „Innerste des Geschmacks, der Sympathien und Antipathien, der Phan-
tasmen und Phobien“ (Bourdieu 1994, S. 137) in den Körper eingelassen
und präreflexiv davon geleitet. Der Habitus operiert damit als eine Verbin-
dung intensiver emotionaler Energien mit bestimmten Ereignissen, Perso-
nen, Situationen oder Orten wie eine Annäherungs- oder Vermeidungs-
strategie vorbewussten Handelns.
Auf diese Weise existiert eine Verbindung zwischen den kollektiven
Wissensvorräten der Subjekte, den Interpretationsschemata sowie ihren so-
zialen Praktiken. Da den Individuen somit sozialisationsbedingte zeit- und
milieuspezifische Sinnmuster zur Verfügung stehen, auf deren Grundlage
Akteure die soziale Welt interpretieren, ist darin ein tendenziell gleichge-
richtetes Verständnis der sozialen Umwelt angelegt, das wiederum typi-
sche Verhaltensmuster und gleichförmige Praktiken hervorbringt. Wahr-
nehmungsdeterminierende kognitiv-emotive, handlungs- oder interperso-
nelle Sinnattraktoren entstammen hier gespeicherten biographischen, mo-
tivationalen und sozialen Einflüssen. Auf diese Weise sichert die Somatisie-
rung sozialer Verhältnisse legitimierte soziokulturelle Deutungs- und
Handlungsschemata, die zu einer Art „Kollektivbewusstsein“ (Bourdieu
2000, S. 145) führen.
Sowohl die Individuation, als auch die Sozialisation sind somit „kultu-
rell determiniert“ (Assmann 2002, S. 132), da sie in kulturell abhängigen
Bahnen verlaufen und „durch Sprache und Vorstellungswelt, Werte und
Normen einer Kultur und Epoche in spezifischer Weise geformt und be-
stimmt sind. […] Identität, auch Ich-Identität, ist immer ein gesellschaftli-
ches Konstrukt und als solches, immer kulturelle Identität“ (ebd.). Daher
gilt es zu betonen, dass Identität dem Individuum nie frei verfügbar ist,
sondern sich in besonderer Weise in der Anerkennung, Ignoranz oder
Missachtung anderer widerspiegelt. Dies wird dann deutlich, wenn die In-
kongruenz zwischen dem Selbstbild und der Spiegelung durch den signifi-
kanten Anderen aufscheint, so dass eine fundamentale Abhängigkeit des
Selbst von seiner Umwelt erfahren wird. Die Akteure der Gesellschaft wei-
sen uns Plätze zu, sprechen hierarchische Urteile über uns aus, denen wir
uns kaum entziehen können. Dabei bleibt das Individuum in eine „Viel-
zahl von disparaten Beziehungen, Orientierungen und Einstellungen ver-
strickt“ sowie mit „heterogenen Situationen, Begegnungen, Gruppierun-

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gen, Milieus und Teilkulturen konfrontiert“ (Hitzler/Honer 1994, S. 308),


so dass die These von den „Bastelexistenzen“ (vgl. Hitzler/Honer 1994), der
„Patchwork-Identität“ (vgl. Keupp 1994) oder der „kompositorischen Sin-
gularität“ (vgl. Reckwitz 2018) sicher zutreffend ist. Doing identity ist da-
mit als eine permanente Praxis von Zuschreibungen, Darstellungen und
Wahrnehmungen zu verstehen, die sich lebensgeschichtlich niederschla-
gen und in einem Itenerar der Biographie prozessual identitätswirksam
werden. Der Versuch eine narrative Identität authentischer Sinneinheiten
zu modulieren gelingt dabei oftmals lediglich noch szenisch, simulativ
und fraktal und ist eher mit einer individuellen Profilbildung im Sinne ei-
nes marketingtechnischen „definiere deinen Style“ zu vergleichen, der
ökonomischen Prinzipien einer „hyperkompetitiven“ (Reckwitz 2018)
Konkurrenz um Anerkennung, Erfolg und Ruhm folgt. Im Kontext dyna-
misierter Transformations- und Beschleunigungsprozesse bietet die Enttra-
ditionalisierung und Pluralität der Lebensformen, die Entgrenzung und
der transitorische Charakter von Identitäten damit zwar einerseits Mög-
lichkeiten offener Identitätsprojekte und „kultureller Interferenzen“
(Reckwitz 2001, S. 188ff.), diese bleiben aber auf soziale und materielle
Ressourcen bezogen und erzeugen ebenso psychische Belastungen und
evozieren existentielle Unsicherheiten. Dies schlägt sich dann wiederum in
einem allgemeinen Bedürfnis nach Verlangsamung, Vereinfachung und Si-
cherheit von Welt- und Beziehungsstrukturen nieder (Ladisich-Raine/Pern-
ter 2012, S. 338).
Subjekte befinden sich dabei immer auf einem Identitätspfad, in einem
je sozialen Raum gesellschaftlicher Kontingenz- und Differenzerfahrun-
gen, und sind – mit Taylor – als selbstinterpretierende Wesen nahezu ge-
zwungen sich, ihre Wirklichkeit und ihr Umfeld implizit oder explizit zu
deuten, zu rekonstruieren und sich damit evaluativ zu positionieren. Nach
Taylor sind diese Prozesse – in Abhängigkeit des Individuums von seiner
Sprache und Kultur, von dem historischen und kulturellen Hintergrund
der jeweiligen Gemeinschaft – von starken Wertungen (second order desi-
res), d. h. qualitativen Unterscheidungen wie gut oder schlecht, schön oder
hässlich, sympathisch oder unsympathisch, gerecht oder ungerecht geleitet
und zugleich kognitiv, als auch affektiv aufgeladen, da sie auf evaluativen
Sinnsystemen des soziokulturell Erstrebenswerten oder des besser Ver-
meidbaren basieren und die Individuen – ähnlich wie bei Bourdieu – mit
einem „praktischen Sinn“ ausstatten (Reckwitz 2000, S. 505). In diesem
Sinne wird menschliches Handeln angetrieben von sogenannten Lebens-
gütern, Prinzipien und Idealen, die wiederum durch Hypergüter, welche
Leitwerte für die Orientierung besitzen, in eine spezifische Rangordnung
gebracht werden (Taylor 1996, S. 52ff; Rosa 1998, S. 117ff.). Diese stellen

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einen Referenzpunkt für qualitative Differenzierungen dar und überneh-


men eine Leitfunktion für die persönliche Lebensführung. Merkmal jegli-
cher Identität ist also eine gewisse Reflexivwerdung, welche im Falle der
Ich-Identitäten allerdings einen zwangsläufigen Charakter aufweist, so dass
Assmann hier – aufgrund der Einbindung des Menschen in eine soziokul-
turelle Formation – von einer „anthropologischen Reflexivität“ (Assmann
2002, S. 135) spricht. Zugleich wird durch diese Praktiken ein „öffentli-
cher Raum von Bedeutungen“ (Reckwitz 2000, S. 518) geschaffen, der für
die Genese kollektiver Identität konstitutiv ist und als dezentrale gesell-
schaftliche Praxis ihre Wirkung auf der Mikroebene alltäglicher Lebens-
welten entfaltet. Auf diese Weise verdichten sich die Praktiken zu einer re-
lativ kohärenten Formation in der Art eines strategischen Dispositivs (Fou-
cault 1978, S. 112) differenter biographischer und politischer Prozesse, wel-
che eine je eigene Dynamik und Entwicklungsgeschichte aufweisen. Tay-
lor begreift historischen Wandel demzufolge als Wandel des kollektiven
Selbstverständnisses, welcher durch eine grundlegend veränderte Defini-
tion der moralischen „Quellen des Selbst“, aus denen sich die individuel-
len und kollektiven Identitäten speisen, gekennzeichnet ist (Rosa 1998,
S. 329). Mit Foucault könnte man von einem Dispositiv sprechen, resul-
tiert dieses doch aus der Verbindung von Wissen, Macht, Subjektivierun-
gen und kann als räumliches Netz, als strategische Formation oder als poli-
tisches Kräfteverhältnis und Machtgeflecht zwischen heterogenen diskursi-
ven und nichtdiskursiven Elementen angesehen werden (Diskurse, Institu-
tionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidun-
gen, Gesetze, Maßnahmen der Verwaltung, wissenschaftliche Aussagen;
Gesagtes sowie Ungesagtes). Das Dispositiv ist dabei aber immer „in ein
Spiel der Macht eingeschrieben“ sowie einer Strategie untergeordnet, zu-
gleich aber auch an „Grenzen des Wissens gebunden“, die sowohl daraus
hervorgehen, diese aber ebenso bedingen (Foucault 1978, S. 123, S. 119ff.;
Deleuze 1991, S. 153ff.).

Kollektive Identität

Während sich die individuelle Identität bei Assmann auf einen leiblichen
Körper bezieht, ist der Sozialkörper haptisch nicht greifbar, wird er eine
imaginäre Größe, welche aber deshalb nicht weniger der Lebenswirklich-
keit angehört. Auch das kollektive Imaginäre ist eine Realität. Gründet
personale Identität in der Selbstinterpretation als singuläres, einzigartiges
Individuum, so erweitert eine soziale Identität die personale Selbstinter-
pretation insofern die Mitglieder der eigenen Gruppe in die Selbstinterpre-

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tation aufgenommen werden. Werden diese Selbstbeschreibungen mit Zu-


gehörigkeiten zu einer Gruppe verknüpft, was implizit bis zu einem gewis-
sen Grad immer geschieht, erweitert sich die personale Identität sozialpsy-
chologisch zu einer kollektiven oder auch partizipativen Identität. Diese
wird also de-personalisiert. Die soziale Identität gründet dann in einer
Selbstinterpretation als relativ austauschbares Gruppenmitglied im kollek-
tiven Selbst, das einer Gemeinschaft einen für den Akteur relevanten Sinn
zuschreibt und auf Vorstellungen gemeinsamer Herkunft bzw. Verwandt-
schaft oder soziokultureller Gemeinsamkeiten fußt. Spezifische Merkmale
von Primärgruppen sind hier ein starkes Wir-Gefühl, eine hohe Identifika-
tion mit der Gruppe, Emotionalität, Vertrauen sowie Solidarbewusstsein,
welche ansonsten nur bei einer face-to-face Kommunikation anzutreffen
sind (Simon/Mummendey, S. 20).
Eine kollektive kulturelle Identität ist nach Assmann folgerichtig eine
„reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit“ (Assmann 2002,
S. 134). „Kulturelle Identität ist […] die reflexiv gewordene Teilhabe an
bzw. das Bekenntnis zu einer Kultur“ (ebd.). Vergangenheit und Gegen-
wart bleiben dabei immer kulturspezifische Wirklichkeit, mithin eine
Theorie des kollektiven Gedächtnisses auf den Selektionsprozess von Erin-
nerungsfiguren verweist, die an Kommunikationsgemeinschaften (von der
Familie bis zur Nation) gebunden sind. Dieser Bezug auf eine konkrete
Gemeinschaft in Raum und Zeit schafft Kristallisationspunkte der Erinne-
rung und Identitätsbildung von Gemeinschaften, die den Menschen „an-
haften“, so dass auch der Gruppenbezug nicht einfach übertragbar, son-
dern raum-, zeit- und „identitätskonkret“ im Sinne eines affektiv besetzten
Wertzusammenhangs der Lebensgeschichte „voller Sinn und Bedeutung“
(ebd., S. 39) für das je eigene Selbstbild ist. Eigenart und Differenz in Kon-
tinuität werden dabei rekonstruktiv hergestellt, wobei Kulturen und kol-
lektive Gedächtnisse dabei, trotz Fragmentierungen, Überlappungen, Ab-
weichungen, historischen Ungleichzeitigkeiten oder Sezessionen, zumeist
partikular bleiben.
Während das kommunikative Gedächtnis sozial vermittelt und grup-
penbezogen bleibt und auf der Alltagskommunikation beruht, also nur
einen beschränkten Zeithorizont und ein Maß an Beliebigkeit aufweist, ist
das kulturelle Gedächtnis alltagstranszendent. Das kulturelle Gedächtnis
speist sich aus Texten, Riten, Denkmälern, Institutionen, Erinnerungsfigu-
ren, die „im Fluss der Alltagskommunikation“ Zeitinseln bilden. „Im kul-
turellen Gedächtnis weiten sich solche Zeitinseln zu einem Erinnerungs-
raum retrospektiver Besonnenheit“ (Assmann 1988, S. 12). Das kulturelle
Gedächtnis bewahrt damit den Wissensvorrat einer spezifischen Gruppe in
ihrer „Einheit und Eigenart“ und zeichnet sich durch eine positive identifi-

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katorische Besetzung aus, die auf eine spezifische Kultur in einer bestimm-
ten Epoche bezogen bleibt. Dies impliziert auch eine Wertperspektive, die
etwas darüber aussagt, was eine Gesellschaft für erstrebenswert hält und
wohin sie sich entwickeln will (ebd., S. 16).
Der Annahme kollektiver kultureller Charakteristiken liegt die Existenz
von ähnlich empfundenen Denkstrukturen oder gemeinsamen Denkkate-
gorien einer Epoche zugrunde. Insofern eine Gruppe von Menschen zu
einer bestimmten Zeit kollektive Strukturen des Wahrnehmens, Denkens
und Handelns hervorbringt, stehen Identität, Habitus und Mentalität hier
als vermittelnde Prozesse zwischen der Gesellschaft, deren Normen, Wer-
ten und Strukturen, sind aber zugleich an das jeweilige Individuum ge-
bunden, in denen sich diese prädisponierten Muster und Typisierungen re-
flektieren. Auf diese Weise werden die eigenen Tätigkeiten, Verhaltenswei-
sen und Einstellungen sowie das soziale Miteinander reflektiert. So ist im
Konzept des Habitus die Annahme enthalten, dass ein grundlegender Zu-
sammenhang zwischen den sozialstrukturellen Herkunftsbeziehungen und
den individuellen psychosozialen Haltungen besteht, dass gesellschaftliche
Zustände sich bis in den Körper hinein inkorporieren und die Grenzen
der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungs- sowie damit auch die Erwar-
tungsschemata der Individuen formen.
Wie der Habitus den Dispositionsrahmen der Akteure absteckt, so gene-
rieren Mentalitäten die kulturellen Selbstverständlichkeiten, mit denen
Menschen einer Situation begegnen und diese damit wiederum gestalten.
Die Dialektik von objektiven Gegebenheiten und kollektiv-subjektiven
Vorstellungen begreift mentale Phänomene als soziale Phänomene, da
„das Soziale im kollektiven Mentalen: in den kognitiven Schemata der Ak-
teure, die sich als übersubjektive Codes darstellen“ (Reckwitz 2000, S. 319)
aufzufinden ist. Dinzelsbacher definiert Mentalität denn auch „als das En-
semble der Weisen und Inhalte des Denkens und Empfindens, das für ein
bestimmtes Kollektiv in einer bestimmten Zeit prägend ist“ (Dinzelbacher
1993, S. XXI). Generell kann Mentalität als eine Disposition, die zur Re-
produktion gewohnter Denkweisen in relativer Konstanz befähigt und als
ein Komplex beständiger Grundüberzeugungen angesehen werden, wel-
cher allgemeine Gültigkeit für eine Epoche beanspruchen kann. Diese gel-
ten als „Strukturen relativ großer Beständigkeit“ (Rieks 1990, S. 74), die al-
len „gewöhnlichen Leuten eigen sind“ (Hutton 1987, S. 146). „Die Menta-
litätengeschichte ist die Geschichte der Langsamkeit in der Geschichte“
schreibt Le Goff, das „was Cäsar mit dem letzten Soldaten seiner Legionen,
Ludwig der Heilige mit den Bauern seiner Ländereien, Christoph Colum-
bus mit den Matrosen seiner Caravellen gemein hat“ (Le Goff 1987,
S. 21f.).

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Mit dem Verweis auf soziokulturelle Konstruktionen rückt auch Bach


im Kontext der Arbeiten von Pareto die strukturbildende Relevanz von
Kollektivvorstellungen in den Fokus und positioniert die Begrifflichkeit
der Residuen damit in der Nähe von Durkheims Theorie kollektiver Re-
präsentationen und Bourdieus genetischem Strukturalismus, wenn er da-
von spricht, dass die Residuen eine bestimmte Sinnebene kollektiver Re-
präsentationen abbilden. Diese bringen menschliche Gefühlslagen zum
Ausdruck, stehen zwar in Beziehung zu den anthropologischen sowie psy-
chischen Voraussetzungen sozialen Handelns, sind aber nicht mit ihnen
deckungsgleich, sondern indizieren eine „Tiefenschicht symbolischer Sinn-
systeme“ (Bach 2004, S. 223), deren handlungsprägende Impulse dem refle-
xiven Bewusstsein vorgelagert sind. Mithin verweisen sie auf kulturelle Ma-
nifestationen, in denen „phylogenetische Informationen sozusagen gespei-
chert“ (Bach 2003, S. 227) sind. Den Residuen als affektregulierte und dem
Bewusstsein der Handelnden nur begrenzt reflexiv verfügbare Deutungs-
muster wird damit eine überindividuelle und normative Geltungskraft zu-
geschrieben, die einer verpflichtenden Handlungsrelevanz für die sozialen
Akteure gleichkommt und damit auf gesellschaftliche Strukturen funda-
mental prägend wirkt (Bach 2004, S. 240ff.). Diese Aufgabe erfüllen bei
Pareto die Derivationen. Derivationen gehen aus den Residuen hervor und
können Mythen, Traditionen, politische Ideologien oder grundsätzlich
Ideen sein. Sie stellen Interpretationen des sozialen Handelns dar, die von
den sozialen Akteuren ihren Handlungen übergestülpt werden (Eisermann
1987, S. 184).
Bilden die Residuen eine relative Konstante des sozialen Handelns, so
unterliegen die Derivationen dem schnelleren Wandel des Zeitgeistes und
nehmen die Merkmale eines je spezifischen Gesellschaftsbildes an. Nach
Pareto sind die Derivationen als die Veranlagung der Menschen zu begrei-
fen, ihren nicht-logischen Handlungen nachträglich einen logischen Sinn
zu geben, diese Handlungen zu rechtfertigen und den handelnden Subjek-
ten in ihrer Alltagspraxis, Gewissheit und Sekurität zu suggerieren, also
letztlich Sinn zu stiften (Bach 2004, S. 228ff.). Analytisch stellen Derivatio-
nen psychologische Begründungen dar. Die symbolische Ordnung fun-
giert in diesem Sinne als eine „subpolitische Legitimationsordnung“, de-
ren „symbolische Sinnsetzungen gewissermaßen rituelle Machtsetzungen“
(Kraemer 1994, S. 181) sind. Die Gefühle sorgen für eine motivationale
Verwurzelung im Hinblick auf eine bestimmte Art zu denken und zu han-
deln, die Derivationen als pseudologische Appelle an die Gefühle verlei-
hen diesen eine soziopolitisch anerkannte Legitimation und haben da-
rüber hinaus die Funktion, die wenig veränderlichen Gefühlsstrukturen
durch die zeitabhängigen Derivationen an veränderte historische Bedin-

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gungen zu binden, also anschlussfähig zu halten und symbolisch und iko-


nisch zu verdichten. Die Bereitschaft zur Anerkennung ist den Individuen
zwar nicht, wie beim Habitus von Bourdieu, körperlich durch sozialisatori-
sche Lern- und Konditionierungsprozesse eingeschrieben, sondern beruht
darauf, dass kontingente diskursive Begründungen (Derivationen) an weit-
gehend invariante präreflexive Deutungsmuster (Residuen) strategisch ge-
koppelt werden. Die Geltung der Zugehörigkeit zu einer Geschichte, zu
einem Überlieferungszusammenhang oder zu einem soziokulturellen
Raum schließt (jenseits aller individuellen dekonstruktivistischen Möglich-
keiten) somit aus, dass dieser willkürlich veränderbar ist. Hingegen ver-
bleibt immer ein Rest an Unverfügbarkeit, bleibt die alltägliche Praxis der
Wahrnehmungen, Handlungen und Wertungen immer kontextgebunden:
„You can check out any time you like, but you can never leave.“

Identitätspolitik ist Machtpolitik

Auch wenn kulturelle Identitäten als individuell ausgeprägte, aber sozial


kontextualisierte, narrative und affektive Erinnerungskonstruktionen ima-
giniert werden, wird allein durch alltägliche Praktiken und wechselseitige
Zuschreibungen ein soziokultureller Raum von Bedeutungen des kollekti-
ven Selbstverständnisses geschaffen, der auf evaluativen Sinnsystemen des
Erstrebenswerten oder des besser Vermeidbaren basiert und die Individuen
mit einem „praktischen Sinn“ ausstattet. Ich-Identität und Wir-Identität
beinhalten immer wertende Gefühle, die Zustimmung oder Ablehnung
graduell kommentieren. Auf diese Weise wird festgelegt wer ich bin und
wer ich nicht bin, zu wem ich gehöre und zu wem ich nicht gehören
möchte oder darf. Die angenommene oder intuitiv erfasste Ähnlichkeit
oder Verschiedenheit zwischen der eigenen Person und anderen Menschen
hat dabei einen wesentlichen Einfluss darauf, ob wir uns diesem Menschen
gegenüber freundlich oder abweisend verhalten oder welches Maß an Ver-
trauen wir dieser Person entgegenbringen (Simon/Mummendey, S. 11).
Darüber hinaus dient dies der Reduktion von Komplexität aufgrund von
Kategorisierungen und Stereotypisierungen, um soziale Interaktionen effi-
zient bewältigen zu können sowie Alltagsrisiken zu minimieren. Dies be-
inhaltet immer ein grundsätzliches Element von Exklusion sowie ein indi-
viduelles Recht auf Differenz und Distanz.
Kollektive Identitäten beruhen darauf, dass sich Individuen mit einer
Gruppe, ihren Normen, Werten, Institutionen, Traditionen, Orientierun-
gen, Hoffnungen und Lebensweisen identifizieren und diese für wertvoll
in Relation zu anderen Gruppen ansehen. Wie Straub feststellt ist kollekti-

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ve Identität damit eine „Chiffre“ für das was Individuen in ihrer eigenen
Selbstbeschreibung miteinander verbindet (Straub 1999, S. 104). Die Ge-
samtheit dieser Prozesse können – in Anlehnung an Elwert – als Wir-Grup-
pen-Prozesse bezeichnet werden (Elwert 1989, S. 440). Die Wir-Gruppen
Konstruktion ist ein System, das ein Zusammengehörigkeitsgefühl begrün-
det, sich als moralische Instanz konstituiert und Teilhabe an der Macht an-
strebt. Die Weltsicht bildet hier den „historischen Rahmen“ (Luckmann
2016, S. 31), in dem Individuen zeit- und epochenabhängig ihre Identität
ausbilden. Der Verlust „stabiler Lebenswelten unter den Bedingungen be-
schleunigter Modernisierung“ (Assmann 1998, S. 387) und kapitalistischer
Landnahmen führt zwar zu einem „Gewinn an effektivem Lebensraum“,
der aber für viele Menschen zu unübersichtlich und entgrenzt bleibt, um
Orientierung bieten zu können und de facto einen Schwund „an kontrol-
liertem Lebensraum“ (ebd., S. 388) zur Folge hat. Daher ist der Bezug auf
eine kollektive Identität zugleich ein Stabilisierungsversuch angesichts be-
schleunigter Transformationsprozesse.
Die Fragen personaler und sozialer Identität sind daher zugleich eng
mit einer Perspektive nach der Ausgestaltung der Gesellschaft verknüpft,
da es bei der Frage kultureller Identität um die spezifischen Grundlagen
der Alltagsproduktion und um die Fähigkeit geht, die soziale Verfassung
einer Gesellschaft dominant zu beeinflussen. Die symbolische Ordnung
kultureller Wir-Identität fungiert nicht nur als eine subpolitische Legitima-
tionsordnung, deren Wertsetzungen „den Lebensraum einer Gesellschaft,
einer Zeit, einer Region in seiner Sinnhaftigkeit strukturieren und die den
in ihr Lebenden die Möglichkeit der Orientierung ihres Lebens geben“
(Angehrn 2014, S. 16), bei dem heterogene Interessen und vielfältige Kon-
flikte der pluralistischen Gesellschaft in kollektive Identitätskonzepte
transformiert werden, sondern es handelt sich um eine kulturelle und da-
mit auch politische Konfliktlinie. Die politische Aufladung von askripti-
ven Merkmalen ist eine zugleich neotribalistische, aber auch individualisti-
sche und moderne Antwort auf Entfremdungserfahrungen sowie auf den
Zerfall von nationalen Zusammenhängen und Anerkennungsstrukturen
in konkurrenzorientierten und wettbewerbsbasierten Gesellschaften, in de-
nen Rivalität und das am Anderen orientierte Begehren der Individuen all-
täglich und global geworden sind.
Es ist daher nicht erstaunlich, dass eine forcierte Identitätspolitik den
politischen Raum bereits seit längerer Zeit transformiert hat, ist diese doch
das vorherrschende Thema des veröffentlichten Diskurses, der auf Themen
des kulturellen Rassismus und der Mikroaggression fokussiert ist und sub-
jektivistische Verletzungen, Beleidigungen und Kränkungen als politische
Strategie hat dominant werden lassen. Nicht mehr ökonomische Ungleich-

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Olaf Jann

heiten stehen seit langem im Fokus, sondern es dominieren kulturelle und


identitätspolitische Forderungen. Slavoj Žižek hat diese Tendenz bereits
seit langem problematisiert: „In unserer postpolitischen Epoche der Kultu-
ralisierung des Politischen kann man seine Beschwerden nur noch auf der
Ebene kultureller beziehungsweise ethnischer Forderungen vorbringen,
ausgebeutete Arbeiter werden zu Immigranten, deren Andersheit unter-
drückt wird“ (Žižek 2009, S. 142). Kollektive Identität kann hier politisch
genutzt und mit einem Opferdiskurs kurzgeschlossen werden. Gruppen
deklarieren die eigene Lebensweise oder Kultur als diskriminiert, um da-
raus eine moralische Dividende zu erzielen, die dann wiederum in symbo-
lische, materielle und vor allem machtpolitische Gewinne getauscht wer-
den kann.

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Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle
Selbstbestimmung

Ruwen Fritsche

1. Was kulturelle Identität ist und was sie sein sollte

Dass es ein Phänomen personaler Identifikation mit der Kultur einer Ge-
meinschaft gibt, scheint unbestritten. Wie ein so umrissenes Phänomen er-
klärt und verstanden werden kann, ist Gegenstand einer regen wissen-
schaftlichen Debatte. Lässt sich bereits allein aus der Darstellung des Phä-
nomens eine normative Forderung bezogen auf den staatlichen Umgang
mit kultureller Identität gewinnen? Aus Sicht einer normativen politischen
Theorie kann dies nicht ohne die Bestimmung von Legitimitätskriterien
staatlichen Handelns geschehen. Bei der Beantwortung der Frage nach
dem Verständnis des Begriffs der kulturellen Identität vermischt sich die
Frage nach der Erfassung des Phänomens teilweise mit wertenden Thesen,
was kulturelle Identität eigentlich sein soll oder was genau unter der Kul-
tur zu verstehen sei, mit welcher sich identifiziert werden soll. So schlägt
beispielsweise François Jullien vor, die Konzepte der kulturellen Identität
und des kulturellen Wertes durch das Konzept der Kultur als Ressource zu
ersetzen (2017, S. 35ff., 45ff., 65). Dabei setzt er sich für eine „Vielfalt“ von
kulturellen Ressourcen, wie z. B. Sprachen, ein (ebd., S. 55).1 Die Intuition
scheint zu sein, dass über die Rechtfertigung von normativen Thesen in
Bezug auf kulturelle Identität nicht mehr gestritten werden muss, wenn
erst einmal geklärt ist, was Kultur und kulturelle Identität „wirklich“ be-
deuten.
Ich möchte im folgenden Beitrag zwei theoretische Ansätze darstellen
und untersuchen, mit welchen in den 1980er und 1990er Jahren versucht
wurde, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob und wie sich die Identifi-

1 Für Jullien scheint klar zu sein, welche Ressourcen zu diesem Kreis der wünschens-
werten Vielfalt gehören sollen und welche nicht. So stehe Harry Potter für die Ver-
breitung einer Einheitssprache und somit für eine Enteignung der Ressourcen des
Denkens (Jullien 2017, S. 55). Die Lektüre Molières und Rimbauds sowie die „Ele-
ganz“, die man in Frankreich „einst an den Tag legte“ sollen hingegen als gemein-
same Ressourcen „aller Franzosen“ aktiviert werden (ebd., S. 57, 63).

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Ruwen Fritsche

kation mit einer kulturellen Gemeinschaft in liberale politische Theorien


einfügt und ob eine solche Identifikation gar als Grundlage der individuel-
len Autonomie im Sinne des Liberalismus anzunehmen sei.2 Die Darle-
gung und Diskussion der zwei Theorien wird einen Einblick in die grund-
sätzlichen Schwierigkeiten der Legitimation von politischen Maßnahmen
in Bezug auf kulturelle Identität unter Annahme eines liberalen Staatsver-
ständnisses geben und zudem aufzeigen können, warum die beiden vorge-
stellten Theorien nicht vollständig überzeugen können. Schließlich soll
ein normatives Verständnis von kultureller Identität als kultureller Selbst-
bestimmung, genauer, als selbstbestimmte positive Identifikation von Indi-
viduen mit einer Kultur, vorgeschlagen werden. Dieses normative Ver-
ständnis soll das Phänomen kultureller Identität in die Perspektive libera-
ler normativer politischer Theorien einbetten und so Probleme der vorge-
stellten Ansätze vermeiden.

2. Rawls als Ausgangspunkt kulturpolitischer Selbstbeschränkung des


Liberalismus

Zunächst soll kurz der wesentliche Hintergrund der Entwicklung des Li-
beralismus im 20. Jahrhundert bezogen auf die Legitimation staatlicher
Kulturpolitik dargelegt werden. Die „Renaissance der [normativen] politi-
schen Philosophie“ in der zweiten Hälfte des 20. Jh. wurde maßgeblich
von John Rawls‘ Werk A Theory of Justice von 1971 angestoßen (Kersting
2008, S. 19; eig. Anm.). Die in diesem Werk sehr umfangreich ausgearbei-
tete Theorie der Gerechtigkeit ist vielen als egalitärer Liberalismus mit, aus
US-amerikanischer Sichtweise, weitreichenden sozialpolitischen Forderun-
gen bekannt. Dass Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit kulturpolitischem
Handeln des Staates hohe Legitimationsanforderungen auferlegt hat, dürf-
te weniger bekannt sein. Der Staat soll nach Rawls Kulturinstitutionen nur
dann durch Steuergelder fördern dürfen, wenn diese Institutionen „[…]
unmittelbar oder mittelbar gesellschaftliche Verhältnisse fördern, die die
gleichen Freiheiten sichern und die langfristigen Interessen der am wenigs-
ten Bevorzugten fördern“ (ebd., S. 367). Bürger*innen seien jedoch frei,
sich unter gewissen Bedingungen selbst für beliebige Gründe, also auch
für Kulturförderung, Steuern aufzuerlegen. Dies soll nach Rawls über die
sogenannte Austauschabteilung möglich sein. Diese bediene sich des

2 Die Begriffe „Liberalismus“, „liberale Theorien“ und „liberale politische Theorien“


meinen im Folgenden liberale normative politische Theorien.

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Zwangsapparats des Staates, allein um Isolations- und Gewissheitsproble-


me zu lösen. Allerdings erfordert dies nach Rawls nahezu Einmütigkeit
der Steuerzahler*innen über die Kostendeckung durch die Verteilung der
Kosten auf die verschiedenen Arten der Steuerzahler*innen sowie einen er-
wiesenen Vorteil für alle Zahlenden (Rawls 2014a, S. 316ff.). Der zentrale
Grund für die hohen Hürden aktiver Kulturpolitik ist nach Rawls, dass
Kulturpolitik zu unverdienter Ungleichverteilung von Ressourcen zwi-
schen den Anhängern der verschiedenen Vorstellungen des guten Lebens
führen würde (ebd., S. 362).3 In Reaktion auf Rawls‘ A Theory of Justice
folgten eine ganze Reihe an elaborierten Kritiken. Insbesondere wurde be-
mängelt, dass Rawls‘ Theorie die Gemeinschaftsgebundenheit bei der zu-
grunde gelegten Personenkonzeption, theoretisch wie auch normativ,
nicht genügend berücksichtige.4 Im Nachgang dieser Kritik versuchten
Vertreter liberaler politischer Theorien Gemeinschaftsbezogenheit in Ver-
bindung mit Kultur stärker in ihren liberalen Theorien aufzunehmen. Die
zwei Theorien, welche im Folgenden genauer untersucht werden sollen,
stellen solche Versuche dar.
Der erste Vertreter, dessen Argumentation nachfolgend untersucht wer-
den soll, ist der Rechts- und Moralphilosoph Ronald Dworkin, welcher
1984 in einem Vortrag auf einer Konferenz zum Thema der öffentlichen
Förderung von Kunst im Metropolitan Museum of Art in New York ver-
suchte staatliche Kulturförderung in seine liberale politische Theorie zu in-
tegrieren. Der Titel des 1985 als Aufsatz publizierten Vortrags trägt den
entsprechenden Titel: Can a Liberal State Support Art? Dworkin vertritt in
dem Aufsatz u. a. die These, dass Kultur schon den Wert bedinge, welchen
wir unseren Handlungen beimessen würden. An diese zentrale These
Dworkins schließt die zweite Theorie an, welche im Folgenden untersucht
werden soll – so versucht der kanadische Politikwissenschaftler und Philo-
soph Will Kymlicka in seinem Werk Liberalism, Community and Culture
den Wert der Mitgliedschaft in kulturellen Gemeinschaften in das Gedan-

3 In seinen späteren Werken revidiert Rawls seine Haltung zur Legitimität von Kul-
turförderung und erlaubt eine umfangreichere, perfektionistisch begründete und
steuerfinanzierte Kulturförderung durch den Beschluss einer demokratischen
Mehrheit unter der Voraussetzung der Wahrung der Verfassungsprinzipien
(2014b, S. 236).
4 In verschiedener Form wird diese Kritik in den 1980er Jahren von Theoretikern
formuliert, welche später unter dem Begriff „Kommunitaristen“ zusammengefasst
wurden (vgl. Sandel 1983; Taylor 2001; MacIntyre 2007). Die zusammenfassende
Bezeichnung dieser Kritiker als „Kommunitaristen“ sollte allerdings nicht darüber
hinwegtäuschen, dass diese sich in der Kritik und den dahinterstehenden Annah-
men teils stark unterscheiden (Mulhall/Swift 2003, S. 37ff.).

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kengerüst seiner liberalen politischen Theorie einzubauen (1989, S. 1).5


Obwohl Ausgangslage und Agenda von Dworkin und Kymlicka vergleich-
bar sind, leiten sie, wie im Folgenden gezeigt wird, aus der Einsicht, dass
Kultur Optionen unseres Handelns bereitstelle und deren Bedeutung und
Wert bedinge, schließlich ganz unterschiedliche Forderungen ab.

3. Kulturelle Identität als Grundlage des Liberalismus nach Ronald Dworkin

3.1 Liberalismus nach Ronald Dworkin

Dworkins Vorstellung davon, was den Liberalismus ausmacht, stellt er im


Wesentlichen in seinem Essay Liberalism dar, welcher 1978 veröffentlicht
wurde. Allerdings ist zu beachten, dass sich seine Auffassung, insbesondere
bezüglich des Verhältnisses von Moral und Ethik, in den 1988 gehaltenen
Tanner Lectures deutlich wandelt (Dworkin 1990, S. 3ff., 2000, S. 237ff.,
S. 211ff., 2012, S. 323ff.). Diese spätere Entwicklung soll im Rahmen der
vorliegenden Untersuchung außer Betracht bleiben. Für Dworkin kann Li-
beralismus nur durch ein liberales Gleichheitsverständnis richtig erfasst
werden (1985, S. 183). Das erste Prinzip der Gleichheit besagt nach Dwor-
kin, dass der Staat alle Personen, für die er verantwortlich ist, gleich be-
rücksichtigen und ihnen den gleichen Respekt entgegenbringen müsse –
dieses Prinzip sei charakteristisch für alle modernen normativen politi-
schen Theorien (ebd., S. 190f.). Das zweite Prinzip der Gleichheit, welches
dem ersten untergeordnet sei und aus diesem abgeleitet würde, fordere die
gleiche Verteilung bezüglich bestimmter Ressourcen unter den Personen,
für die der Staat verantwortlich sei (ebd., S. 190). Für Dworkin besteht das
spezifische Kriterium des Liberalismus jedoch nicht in einer besonderen
Abwägung zwischen Freiheit und Gleichheit. Vielmehr liegt das spezifi-
sche Kriterium des Liberalismus in Dworkins frühem Werk in der Neutra-
lität des Staates, d. h. der weitestgehenden Enthaltung des Staates in Fra-
gen des gelungenen Lebens (questions of the good life) (ebd., S. 191f.). Die
Neutralität leitet sich für ihn direkt aus dem ersten Prinzip der Gleichheit
ab. Da die Menschen verschiedene Auffassungen über ein gelungenes Le-
ben vertreten würden, wäre eine Parteinahme des Staates in diesen Fragen
eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung (ebd., S. 191). Die Neutrali-
tät begründet Dworkin aber nicht mit einer Form des Skeptizismus bezo-

5 Liberalism, Community and Culture ist eine revidierte Fassung der Dissertation
Kymlickas. Ein Prüfer der Dissertation war Ronald Dworkin.

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gen auf die Annahme objektiver Werte. So führt er aus: “Liberalism can-
not be based on skepticism. Its constitutive morality provides that human
beings must be treated as equals by their government, not because there is
no right and wrong in political morality, but because that is what is
right“ (ebd., S. 203). Erst auf Grundlage des zweiten Prinzips der Gleich-
heit, also einer grundsätzlich gleichen Ressourcenverteilung, wirke sich die
daran anschließende Entscheidung eines besonders ressourcenfordernden
Geschmacks nicht zuungunsten anderer aus (ebd., S. 193). Besondere Be-
dürfnisse, welche nicht auf eigene Entscheidungen zurückgehen, wie z. B.
angeborene Behinderungen, müssen nach Dworkin schon bei der Ressour-
cenverteilung korrigierend berücksichtigt werden (ebd., S. 193, 195). Die
Geschmacksunterschiede führten dann, ausgehend von der Ressourcen-
gleichheit, zu einer Ungleichverteilung der Ressourcen, welche von Dwor-
kin als Übernahme der Verantwortung für eigene freie Entscheidungen ge-
deutet wird (ebd., S. 195). Bürger*innenrechte sollten schließlich – gleich
Trümpfen in den Händen von Individuen – als der Mehrheit und dem po-
litischen Prozess gänzlich entzogene Entscheidungskompetenzen verstan-
den werden. Dworkin begründet diese Rechte mit der dadurch gesicherten
weitgehenden Verhinderung der Einwirkung externer Präferenzen (exter-
nal preferences), wie sie insbesondere der Utilitarismus vorsähe. Externe
Präferenzen bezögen sich darauf, was andere Personen tun oder haben
(Dworkin 1984, S. 14, 382ff.; 1985, S. 196f.).

3.2 Kulturelle Identität und der Wert der Struktur von Kultur

Dworkin veranschaulicht seine zentrale These der Abhängigkeit des Wer-


tes der Erfahrung von der Kultur mit folgender Metapher: „[…] our intel-
lectual environment provides the spectacles through which we identify ex-
periences as valuable“ (1985, S. 228). In Dworkins Aufsatz folgt dem ge-
nannten Zitat zunächst das zentrale (wenn auch nicht abschließende) Ar-
gument gegen die Annahme von Kultur als einem öffentlichen Gut
(ebd.).6 Nach Dworkin würde die Annahme, dass Kultur ein öffentliches
Gut sei, bedeuten, dass der Vorteil, welchen die Kultur allen Bürger*innen
bringen würde, nicht durch den Markt erreicht werden könne. Dies läge

6 „This is the final blow to efforts to construct a public-good argument on the


spillover effects of high culture“. Kymlicka scheint hingegen Kultur als öffentliches
Gut anzusehen (1989, S. 148, 199). Wichtig ist zudem, dass sich Dworkin in dem
Essay auf Kultur in einem weiten Sinne bezieht – also nicht begrenzt durch einen
Bezug zu einer, wie auch immer geformten, Gemeinschaft.

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daran, dass Personen, die sich nicht an den Kosten beteiligen würden,
nicht von den positiven Effekten der Kultur ausgeschlossen werden könn-
ten und so weiter von der Kultur profitieren würden (ebd., S. 223). Die At-
traktivität der Annahme, dass Kultur ein öffentliches Gut sein könnte,
liegt, insbesondere für eine liberale Rechtfertigung von Kulturpolitik, auf
der Hand. Der Staat entspräche nach diesen Annahmen lediglich den sub-
jektiven Präferenzen der Bürger*innen und würde ihnen das gewünschte
Gut zu den Kosten zur Verfügung stellen, die die Bürger*innen kollektiv
tatsächlich dafür zahlen würden (ebd.). Es müsste also keine Präferenz nor-
mativ objektiviert werden. Gegen die Annahme, Kultur als öffentliches
Gut anzusehen, führt Dworkin an:
„That argument [Kultur, welche als öffentliches Gut einen Wert für
die ganze Gesellschaft hat] cannot work without some way to identify,
or at least make reasonable judgments about, what people – in the
present or future – want by way of culture; and culture is too funda-
mental, too basic to our schemes of value, to make questions of that
kind intelligible. Our problem is not one of discovery but of sense.“
(ebd., S. 228; eig. Anm.)
Er illustriert dies abstrakte Argument anhand des Wertes von öffentlichen
Parks:
„Suppose we ask, for example, whether our community would rather
have the present richness and diversity of its general culture or more
and better public parks. We have no way of approaching this question
intelligently. The value public parks have for us and the ways in which
we find value in them depend greatly on our culture. Parks would
have very different meaning and value for us if we had no cultural tra-
dition of romantic landscape […]. So the choice just offered is spuri-
ous: we would be assuming our present culture in valuing something
we could only have, by hypothesis, by giving that culture up.“ (ebd.,
S. 228)
Das dargestellte Argument beruht auf der These, dass der Wert von Kultur-
formen prinzipiell nicht kulturunabhängig bestimmt werden kann. In die-
sem Sinne ist Kultur als der Bewertung und bewussten Erfahrung der Kul-
tur notwendig vorgelagert und diese daher bedingend anzusehen. Die Bril-
le der Kultur, durch die wir die Welt nach Dworkins Metapher betrachten,
ist also eher als sozial-kulturelle Linse zu verstehen, welche gerade nicht
wie eine Brille abgenommen werden kann, um den „wirklichen“ Wert von
etwas zu bestimmen.

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Aus dieser Fundamentalkritik an der kulturunabhängigen Erkenntnis-


möglichkeit des Wertes von Kultur folgert Dworkin jedoch nicht, dass
normative Aussagen darüber, wie Kultur sein soll, überhaupt nicht mög-
lich seien. Vielmehr stellt er einen objektiven Wert der Struktur von Kul-
tur vor:
„We should try to define a rich cultural structure, one that multiplies
distinct possibilities or opportunities of value, and count ourselves
trustees for protecting the richness of our culture for those who will
live their lives in it after us. We cannot say that in so doing we will
give them more pleasure, or provide a world they will prefer as against
alternative worlds we could otherwise create. […] We can, however,
insist – how can we deny this? – that it is better for people to have
complexity and depth in the forms of life open to them […].“ (ebd.,
S. 229)
Dworkin verbindet in dem Essay zwei, auf den ersten Blick schwer zu ver-
einbarende Thesen – zum einen die These, dass kulturunabhängige Er-
kenntnis des Wertes von Kultur nicht möglich sei und zum anderen die
Auffassung, doch objektiv sagen zu können, dass eine Kultur als besser an-
zusehen sei, welche vielfältig und komplex ist. Bezogen auf den Wert von
Sprache wird diese Spannung besonders deutlich. Er beginnt mit der Fest-
stellung, dass kulturunabhängige Erkenntnis des Wertes von Sprachen,
welche „reich an Möglichkeiten“ der Ausdrucksweise seien, nicht möglich
sei:
„It barely makes sense to say that people in later generations would
prefer not to have had their language diminished in some particular
way, by losing some particular structural opportunity. They would
lack the vocabulary in which to express – that is to say, have – that re-
gret. Nor does it make much more sense to say that they would prefer
to have a language richer in opportunities than they now have. No one
can want opportunities who has no idea what these are opportunities
of.“ (ebd., S. 231)
Erwartet der Leser nach dieser Passage eine skeptische Enthaltsamkeit oder
die Betonung kultureller Bedingtheit bezüglich seines Urteils über den
Wert von Sprachen, so wird er mit folgenden Zeilen überrascht, welche
der soeben genannten Passage direkt folgen: „Nevertheless, it is perfectly
sensible to say that they would be worse off were their language to lack op-
portunities that ours offers. Of course, in saying this, we claim to know
what is in their interest, what would make their lives better“ (ebd., S. 231).
Zweimal wird Dworkin konkreter, was die von ihm geforderte Komplexi-

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tät von Kultur genauer bedeuten soll. Eine solche Komplexität zeige sich
zum einen in unterschiedlichen Werten, welche eine Kultur besitzt – soge-
nannten Wertedimensionen (dimensions of value) – zum anderen finde die
Komplexität Ausdruck in der Innovationsfähigkeit einer Kultur, neue Di-
mensionen herauszuarbeiten und zu verfeinern (develop or elaborate new di-
mensions) (ebd., S. 231). Es lässt sich festhalten, dass Dworkin also einen
objektiv positiven Wert der Struktur von Kultur annimmt, welcher aller-
dings nur erkannt werden könne, wenn eine gewisse Komplexität der Kul-
tur schon gegeben sei.

3.3 Kritik

Dworkins Skepsis bzgl. der kulturunabhängigen Erkenntnismöglichkeit


des Wertes der Kultur wirkt zunächst schwer vereinbar mit seinen objekti-
ven Bewertungen der Struktur der Kultur und der daraus abgeleiteten Le-
gitimation staatlicher Kulturförderung.
Dworkins Position wird verständlich, wenn man sich zum einen seine
Ansicht über die Wahrheitsfähigkeit wertender Aussagen und zum ande-
ren seine später explizierte Moralepistemologie (also die Frage, was eine
gute Argumentation in moralischen Fragen ausmacht) vergegenwärtigt.
Grundsätzlich müsse nach Dworkin die Wahrheitsfähigkeit wertender
Aussagen angenommen werden, da es keine überzeugende Alternative zu
der „gewöhnlichen Sichtweise“ gebe, d. h. der Annahme, dass es auf wer-
tende Fragen wahre und falsche Antworten gibt (Dworkin 2012, S. 53ff.).
Sich auf metaethische Fragestellungen zu beschränken sei nicht überzeu-
gend, da Metaethik selbst substanzielle moralische Fragen behandle und
auch die ernst zu nehmenden skeptischen Positionen über die Wahrheits-
fähigkeit würden tatsächlich selbst von wenigstens einigen moralischen
Wahrheiten ausgehen müssen (ebd., S. 48ff., 75ff., 154ff.). So erklärt sich
seine Annahme eines objektiven Wertes der Struktur der Kultur. Zudem
handeln Personen nach Dworkin dann verantwortungsvoll, wenn sie wer-
tende Aussagen nach gewissen Maßstäben begründen. So sollen Vorurtei-
le, emotionale Reaktionen, falsche und unplausible Tatsachen sowie das
Berufen auf die Meinung anderer nicht als moralische Argumente gelten
(Dworkin 1984, S. 404ff.). Im Lichte dieser Annahmen über die Wahrheits-
fähigkeit und Moralepistemologie, könnte eine Person in einer im Dwor-
kinschen Sinne unterkomplexen Kultur verantwortungsvoll der Überzeu-
gung sein, dass es keiner Kulturförderung bedürfe, da sie die komplexen
Strukturen einer Kultur nicht kennen würde (und nicht kennen können
müsste), welche ihr die Erkenntnis des Wertes der Struktur der Kultur er-

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Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle Selbstbestimmung

möglichen würden. Allerdings bliebe die Annahme, dass es keiner Kultur-


förderung bedürfe, unter Berücksichtigung des Wissens um die (potenzi-
ell) komplexe Struktur der Kultur, im Dworkinschen Sinne objektiv
falsch. Dasselbe gilt wiederum für Dworkins eigene wertende Annahme
bezüglich der Kultur (angenommen sie entspräche der heutigen Kenntnis
der Wissenschaft) im Lichte fortschreitender Erkenntnisse über die Wir-
kung komplexer Kultur. Sollte sich also herausstellen, dass komplexe Kul-
tur nicht neue Wertedimensionen herausarbeitet, wäre Dworkins Annah-
me objektiv falsch (wenn auch zur Zeit ihrer Formulierung im Jahr 1984
ggf. verantwortungsvoll begründet).
Allerdings bleibt Dworkins Grundannahme, dass komplexe Kultur rei-
cher sei an Wertedimensionen und Innovationsfähigkeit, auf der Behaup-
tungsebene stehen. Auch bleibt offen, wofür die zusätzlichen Wertedimen-
sionen und die gesteigerte Innovationsfähigkeit innerhalb seiner liberalen
politischen Theorie genau gut sein sollen. In Dworkins eigenem Sinne
einer kohärenten Begründung (2012, S. 187ff.) wäre es wünschenswert,
dass die Forderung nach mehr Komplexität der Kultur eine genauere
Rückbindung an Dworkins Prämissen seiner liberalen Theorie erfahren
hätte. Genau diesem Unterfangen stellt sich vier Jahre nach Dworkins Auf-
satz zur Kunstförderung, 1989 – mit einer differenzierteren Argumentati-
on, einer anderen Agenda und einem von Dworkin überraschend abwei-
chenden Ergebnis – Will Kymlicka.

4. Kulturelle Identität als Grundlage des Liberalismus nach Will Kymlicka

4.1 Liberalismus nach Will Kymlicka

Die Grundprinzipien der Freiheit versteht Kymlicka als solche fundamen-


taler individueller Freiheit (2003, S. 75). Dem Liberalismus liege die An-
nahme zugrunde, dass Menschen ein fundamentales Interesse (essential in-
terest) hätten, ein gelungenes Leben zu führen (leading a good life) (Kymli-
cka 1989, S. 10). Im Sinne des Liberalismus, und hier übernimmt er expli-
zit die Liberalismuskonzeption von Dworkin (vgl. 1983), gebe es zwei Vor-
aussetzungen, ein gelungenes Leben im Sinne des genannten fundamenta-
len Interesses zu führen (Kymlicka 2003, S. 81). Die erste Voraussetzung
sei, sein Leben in Übereinstimmung mit der inneren Überzeugung des gu-
ten Lebens führen zu können. Aus dieser Voraussetzung ergebe sich die
Forderung nach den Freiheiten und Ressourcen, welche nötig seien, ge-
mäß der eigenen Vorstellung des guten Lebens zu leben, ohne Angst vor
Diskriminierung oder Strafe haben zu müssen. Die zweite Voraussetzung

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sei, die Freiheit zu haben, die Überzeugungen vom guten Leben zu hinter-
fragen (Kymlicka 1989, S. 10ff.; 2003, S. 81).7 Personen müssten daher ein
Bewusstsein dafür bekommen, verschiedene Ansichten über das gute Le-
ben zu untersuchen, sowie die Fähigkeit besitzen, diese Ansichten kritisch
zu hinterfragen (Kymlicka 2003, S. 81).
Wie bei Dworkin auch, geht es bei Kymlicka häufig um spezifische The-
menfelder, insbesondere die Rechte nationaler Minderheiten. Die im Kon-
text der Untersuchung entscheidenden Argumente sind aber explizit Teil
eines weiter angelegten Projektes, mit welchem Kymlicka den Schutz der
kulturellen Identität von Gemeinschaften allgemein begründen möchte.
Kymlicka vertritt in diesem Sinne die These, dass liberal-demokratische
Staaten nicht nur die Individualrechte der Bürger*innen schützen sollten,
sondern auch verschiedene gruppenspezifische Rechte gewähren und poli-
tische Maßnahmen ergreifen müssten, welche die jeweiligen Identitäten
der ethnokulturellen Gruppen anerkennen und auf deren Bedürfnisse ein-
gehen. Die genannten Forderungen sind für Kymlicka das wesentliche
Merkmal eines liberalen Kulturalismus (liberal culturalism) (2001, S. 42).
Liberaler Nationalismus (liberal nationalism) und liberaler Multikulturalis-
mus (liberal multiculturalism) sind nach Kymlicka Formen des liberalen
Kulturalismus (ebd., S. 42).
Bevor die Argumentation im Detail dargestellt wird, scheint es sinnvoll,
zentrale Begriffe des Arguments darzustellen. Durchgehend sieht Kymli-
cka als spezifische Kriterien der Kultur eine gemeinsame Sprache und eine
gemeinsame Geschichte an. Bezieht sich eine so verstandene Kultur auf
eine (intergenerationelle) Gruppe von Menschen bezeichnet Kymlicka dies

7 Kymlicka (2003) sieht sich hier in der Tradition Mills ([1861] 1977), Dworkins
(1983) und Rawls (1994b). Rawls bezieht die Forderung nach der Wahlmöglich-
keit zwischen verschiedenen Konzeptionen des gelungenen Lebens und der Mög-
lichkeit des Hinterfragens der entsprechenden Vorstellungen in seiner liberalen
Gerechtigkeitstheorie allein auf die Konzeption der „öffentlichen Identität“ der
moralischen Person in Bezug auf die öffentliche Gerechtigkeitskonzeption einer
wohlgeordneten Gesellschaft (1994b, S. 121). Kymlicka begibt sich hingegen be-
wusst nicht auf diese abstraktere Ebene der Moraltheorie, auf welcher Rawls die
Kriterien einer moralischen Person zu bestimmen versucht. Kymlicka bezweifelt,
dass ein solches abstraktes Unterfangen, wie das Bestimmen des Begriffs der mora-
lischen Person, sinnvoll sei für seine Agenda der Begründung von gruppendiffe-
renzierten Minderheitenrechten. Seine Fragestellung ordnet er hingegen auf einer
Zwischenebene (mid-level analysis) ein, welche zwischen angewandter normativer
politischer Theorie und abstrakteren Fragestellungen liege (2001, S. 9).

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mit dem Begriff der kulturellen Gemeinschaft (cultural community).8 Dabei


ist zu beachten, dass Kymlicka nicht von klar definierbaren Grenzen der
Kulturen ausgeht: „Cultures do not have fixed centres or precise bounda-
ries“ (2003, S. 83). Er verbindet den Begriff einer Kultur (a culture) teilwei-
se mit der Voraussetzung eines festen Territoriums und mehr oder weniger
vollständiger Repräsentation der Kultur in den staatlichen Institutionen
(ebd., S. 18, 103). Dies ist im Kontext seiner weiteren Ausführungen nicht
einleuchtend. So haben die von Kymlicka eingeführten kulturellen Ge-
meinschaften (cultural communities), insbesondere in Form der von ihm
dargestellten Immigrant*innen, gerade nicht notwendigerweise ein ihnen
spezifisch zugewiesenes Territorium und auch in der Regel keinerlei eige-
ne Institutionen (ebd., S. 14). Die Merkmale des Territoriums und der ei-
genen Institutionen sind daher nicht als notwendige Eigenschaften kultu-
reller Gemeinschaften anzusehen.
Eine zentrale Differenzierung der kulturellen Gemeinschaften für
Kymlickas Forderung von gruppendifferenzierten Minderheitenrechten ist
die Unterteilung in nationale Minderheiten (national minorities) einerseits
und Immigrant*innen (immigrants) andererseits (ebd., S. 10f.). Die Einglie-
derung von nationalen Minderheiten und die Immigration seien „[…] the
two most common sources of cultural diversity in modern states“ (ebd.,
S. 24).9 Nationale Minderheiten seien demnach „previously self-governing,
territorially concentrated [cultural communities]“ (ebd., S. 10; eig. Anm.)
und in einen größeren Staat eingegliedert.10 Immigrant*innen zeichneten
sich hingegen dadurch aus, dass sie aufgrund der Migration kein Heimat-
territorium (homeland) in dem Staat haben, in den sie immigriert sind. Die
Unterscheidung zwischen Immigrant*innen und nationalen Minderheiten
schlage sich, nach Kymlicka, auch in einem unterschiedlichen Verhältnis
zur dominierenden Mehrheitskultur nieder. Während sich Immigrant*in-
nen in der Regel institutionell integrieren wollten und sich primär gegen
Diskriminierung der Ausübung ihrer Kultur wendeten, strebten nationale
Minderheiten nach einer stärkeren Form der Selbstbestimmung. Ein ähnli-
cher Unterschied sei auch bzgl. der Forderung nach Parallelgesellschaften

8 Der Begriff der kulturellen Gemeinschaft ist abzugrenzen von dem, 1995, in dem
Werk Multicultural Citizenship eingeführten Begriff der Gesellschaftskulturen (so-
cietal cultures) (Kymlicka 2003, S. 76f.).
9 Kymlicka äußert sich auch zu besonderen Fallkonstellationen, wie z. B. Flüchtlin-
gen (2003, S. 98).
10 Leicht zu verwechseln ist „[the] membership of a cultural minority“ mit der da-
von zu unterscheidenden „national membership“. Letztere verwendet Kymlicka
irreführenderweise synonym für den Begriff citizenship (2003, S. 23f.).

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festzustellen (ebd., S. 15). So gelte für Immigrant*innen, dass sich ihre kul-
turelle Besonderheit eher in der Familie und freiwilligen Verbänden mani-
festiert und eine institutionelle Integration (institutional integration) daher
nicht dieser Form der kulturellen Gemeinschaft widersprechen würde
(ebd., S. 14).11
Das Konzept der kulturellen Identität spielt in Kymlickas politischer
Theorie eine zentrale Rolle. In dem Werk Liberalism, Community and Cul-
ture von 1989 wird kulturelle Identität als Phänomen beschrieben, welches
sich in den Vorteilen (benefits) manifestiert, welche aus der Mitgliedschaft
in einer kulturellen Gemeinschaft (cultural membership) folgen würden so-
wie in den Kosten (harms), welche mit einer unfreiwilligen Assimilierung
einhergingen (1989, S. 176).12 Im Kontext seiner Theorie bedeutet kulturel-
le Identität so die Identifikation von einzelnen Menschen mit einer kultu-
rellen Gemeinschaft.

4.2 Kulturelle Identität als Entscheidungskontext der individuellen Freiheit

Kulturelle Gemeinschaft hängt nach Kymlicka in zweifacher Weise mit


dem Liberalismus zusammen. Zum einen stelle die kulturelle Gemein-
schaft die verschiedenen Optionen zur Verfügung, welche Voraussetzun-
gen der Entscheidungsfreiheit über die Vorstellungen des guten Lebens
seien (2003, S. 83). Zum anderen sei auch die Bedeutung der verschiede-
nen Optionen abhängig von der Gemeinschaftskultur (ebd.). Die zentrale
These stellt er wie folgt dar:
„[…] freedom involves making choices amongst various options, and
our societal culture not only provides these options, but also makes
them meaningful to us. People make choices about the social practices
around them, based on their beliefs about the value of these practices
[…]. And to have a belief about the value of a practice is, in the first
instance, a matter of understanding the meanings attached to it by our
culture.“ (ebd.)

11 Kymlicka nennt die negativen Forderungen der Immigrant*innen gegen Diskri-


minierung polyethnische Rechte (polyethnic rights) (2003, S. 30ff.). Nationale Min-
derheiten wie auch Gruppen von Immigrant*innen haben nach Kymlicka ein zu-
nehmendes Interesse an speziellen Repräsentationsrechten (ebd., S. 27ff.).
12 Teilweise verwendet Kymlicka den Begriff der kulturellen Identität auch syno-
nym mit dem Begriff der kulturellen Mitgliedschaft und sieht beide als Vorausset-
zungen der Selbstachtung (self-respect) an (1989, S. 192f.).

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Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle Selbstbestimmung

Dabei könnte unklar sein, ob Kymlicka den Zusammenhang zwischen


Kultur und Freiheit in Multicultural Citizenship allein auf die Gesellschafts-
kultur bezieht und nicht auf kulturelle Gemeinschaften generell. Für
einen Bezug allein auf die Gesellschaftskultur würde sprechen, dass im ge-
nannten Werk das Argument explizit anhand der Gesellschaftskultur dar-
gelegt wird. Er weitet aber schließlich die Forderung nach dem Zugang zu
einer Gesellschaftskultur auf den Zugang zu kultureller Struktur (cultural
structure) und Kultur generell aus. So Kymlicka: „I have tried to show that
people's capacity to make meaningful choices depends on access to a cul-
tural structure. But why do the members of a national minority need ac-
cess to their own culture?“ (ebd., S. 84). Auch die Überschrift des Ab-
schnitts 5.4 The Value of Cultural Membership und der Verweis auf Cultural
Membership in der Zusammenfassung von Kapitel 5 sprechen für einen
weite(re)n Anwendungsbereich der These (ebd., S. 84, 105f.). Schließlich
möchte Kymlicka auch für die Rechte von Immigrant*innen argumentie-
ren, bei denen eine Gesellschaftskultur fehlt (ebd., S. 95ff.). Die These soll-
te daher so gelesen werden, dass sie sich grundsätzlich auf alle kulturellen
Gemeinschaften und deren Mitglieder bezieht.
Das Verständnis des Entstehungsprozesses der Bedeutung von sozialer
Praxis, welche durch die kulturelle Gemeinschaft bedingt sei, beschreibt
Kymlicka wie folgt: „Whether or not a course of action has any significan-
ce for us depends on whether, and how, our language renders vivid to us
the point of that activity. And the way in which language renders vivid
these activities is shaped by our history, our 'traditions and conven-
tions'“ (ebd.). Die durch diesen Prozess entstandenen Bedeutungen sowie
deren Wurzel in Geschichte, Tradition und Konvention nennt Kymlicka
kulturelle Narrative (cultural narratives) (ebd., S. 95ff.). Als Forderung aus
dem dargelegten Zusammenhang formuliert Kymlicka:
„For meaningful individual choice to be possible, individuals need not
only access to information, the capacity to reflectively evaluate it, and
freedom of expression and association. They also need access to a soci-
etal culture. Group-differentiated measures that secure and promote
this access may, therefore, have a legitimate role to play in a liberal the-
ory of justice.“ (ebd., S. 84)
Die dargestellte Argumentation Kymlickas lässt sich wie folgt zusammen-
fassen: Die erste Prämisse des Argumentes ist die normative Affirmation
des Liberalismus, verstanden als Freiheit der eigenen Vorstellung des gu-
ten Lebens entsprechend zu handeln sowie die Freiheit eine alternative
Vorstellung des guten Lebens zu wählen und danach zu leben. Als zweite
Prämisse kommt die Erkenntnis hinzu, dass eine kulturelle Gemeinschaft,

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verstanden als eine (intergenerationelle) Gruppe von Menschen, welche


eine gemeinsame Sprache und Geschichte teilen, Grundlage der alternati-
ven Möglichkeiten des guten Lebens sowie deren Bedeutung und Wert sei.
Aus den zwei genannten Prämissen folge schließlich die Forderung nach
Zugang zu sowie Sicherung und Förderung von kulturellen Gemeinschaf-
ten.
Negativ formuliert bedeutet dies also, dass ohne eine kulturelle Gemein-
schaft, welche alternative Optionen eines gelungenen Lebens anbiete und
den Wert kritischer Reflexion der Vorstellungen des guten Lebens vermitt-
le, keine richtige Wahl des gelungenen Lebens stattfinden könne und
Menschen so nicht ihre selbst gewählte Vorstellung vom gelungenen Le-
ben verfolgten. Unter solchen Bedingungen kann zwar einer Vorstellung
des gelungenen Lebens nachgegangen werden, die erste Voraussetzung des
Liberalismus wäre damit erfüllt – die zweite Voraussetzung, also die kriti-
sche Reflexion von verschiedenen Möglichkeiten des gelungenen Lebens,
allerdings nicht. Die Forderung des Liberalismus, dass jeder seinem funda-
mentalen Interesse an der Verfolgung seiner Vorstellung vom gelungenen
Leben nachkommen könne, würde daher nicht eingelöst werden. Schließt
man sich dieser Argumentation an, ist es also gerade der Liberalismus, wel-
cher am Erhalt einer kulturellen Gemeinschaft, welche verschiedene Arten
des guten Lebens anbietet, ein grundlegendes Interesse haben muss.
Es handelt sich bei dem dargelegten Argument um ein grundlegendes
Argument des liberalen Kulturalismus, welches sowohl in der Form des li-
beralen Nationalismus, wie auch in der Form des liberalen Multikultura-
lismus eine entscheidende Rolle spielt.13 Gegen die dargestellte Argumen-
tation Kymlickas wurden verschiedene Kritikpunkte angeführt, welche im
Folgenden dargestellt werden sollen.

13 Eine ähnliche Argumentation bezogen auf den (liberalen) Nationalismus vertre-


ten Yael Tamir und David Miller (Tamir 1993, S. 33, 36; Miller 1995, S. 86, 146f.).
Bezogen allein auf den liberalen Multikulturalismus vertritt eine solche Argu-
mentation Joseph Raz (1996, S. 176ff.).

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4.3 Kritik

4.3.1 Eine kulturelle Gemeinschaft als einzig notwendige Quelle der


Möglichkeiten und Bedeutungen des guten Lebens

Jeremy Waldron kritisiert in einem 1992 veröffentlichten Aufsatz


Kymlickas Theorie, wie dieser sie in Liberalism, Community and Culture
(1989) dargestellt hat. Die Bedeutung sozialer Praxis sei nicht allein auf
eine Kultur zurückzuführen:
„From the fact that each option must have a cultural meaning, it does
not follow that there must be one cultural framework in which each
available option is assigned a meaning. Meaningful options may come
to us as items or fragments from a variety of cultural sources. […] His
[Kymlickas] argument shows that people need cultural materials; it
does not show that what people need is ‘a rich and secure cultural
structure.’ It shows the importance of access to a variety of stories and
roles; but it does not, as he claims, show the importance of something
called membership in a culture.“ (Waldron 1992, S. 783f.; eig. Anm.)
Waldron nennt die im Zitat genannte Version des Selbst, welche durch
verschiedene kulturelle Quellen der Identität gekennzeichnet sei, „kosmo-
politisches Selbst“. „He [the cosmopolitan] is a creature of modernity, con-
scious of living in a mixed-up world and having a mixed-up self“ (ebd.,
S. 754; eig. Anm.). Sollte man, so Waldron, trotzdem eine einzige cultural
matrix annehmen wollen, würde dies eine Ausdehnung des Begriffs zur
Folge haben, welche zur sozialwissenschaftlichen Bedeutungslosigkeit des
Begriffs führe: „[…] we would trivialize the individuation of cultures
beyond any sociological interest“ (ebd., S. 785).
Diesen Kritikpunkt nimmt Kymlicka in Multicultural Citizenship (2003)
auf und entgegnet, dass die durch Waldron gepriesene Vielfalt der kultu-
rellen Quellen gerade Ausdruck der diversen Gesellschaftskultur sei, wel-
che z. B. die anglofone Gesellschaft der Vereinigten Staaten charakterisiere
(2003, S. 85). Zu beachten ist, dass Kymlicka in Liberalism, Community and
Culture (1989) noch nicht den Begriff der Gesellschaftskultur verwendet.
Eine wichtige Unterscheidung, auf welche Kymlicka in dieser Diskussion
verweist, ist die Unterscheidung zwischen Existenz und Charakter einer
Kultur (1989, S. 169; 2003, S. 104). So soll die geschützte Kultur nicht defi-
niert werden durch die jeweils aktuell bestehenden Normen (den gegen-
wärtigen Charakter), sondern durch: „[…] the existence of a viable com-
munity of individuals with a shared heritage (language, history, etc.)“
(ebd., S. 168).

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Geht man richtigerweise davon aus, dass sich Kymlickas Freiheitsargu-


ment auf kulturelle Gemeinschaften allgemein bezieht, ist der Hinweis auf
die Diversität anglofoner Gesellschaftskultur als Hinweis auf mögliche Di-
versität kultureller Gemeinschaften generell zu lesen. Dieses Argument ba-
siert wiederum auf der Plausibilität der Unterscheidung von Existenz und
Charakter einer Kultur. Verliert eine Kultur durch die Aufnahme von Ele-
menten, welche ihren Ursprung in anderen Kulturen haben, ihre Existenz
als spezifische kulturelle Gemeinschaft? Es fällt schwer, sich eine kulturelle
Gemeinschaft vorzustellen, bei der die Existenz kategorisch von einer so
verstandenen „Reinheit“ ihres kulturellen Charakters abhinge.14 So wenig
überzeugend eine solche Vorstellung ist,15 bleibt Waldrons Kritik, wie im
Folgenden dargelegt wird, in abgeschwächter Form formuliert, bestehen.
Es stellt sich nämlich weiterhin die Frage, ob es ausgeschlossen ist, dass
durch graduelle Veränderung des Kulturcharakters der Punkt erreicht wer-
den kann, an dem von einer veränderten Existenz dieser Gemeinschafts-
kultur gesprochen werden müsste? Die Frage wäre also, ob von einer konti-
nuierlichen Existenz der Gesellschaftskulturen einer Nation über einen
langen Zeitraum ausgegangen werden kann oder ob die Gesellschaftskul-
tur z. B. im Deutschland des 19. Jh. eine fundamental andere war, als die
im Deutschland des 21. Jh., selbst wenn beide Gesellschaften eine gemein-
same Geschichte vor dem 19. Jh. haben bzw. annehmen und eine gemein-
same Sprache gesprochen wird.
Diese Kritik weist auf die zentrale Frage, wie die Kriterien überhaupt
bestimmt werden sollen, welche kulturelle Gemeinschaften konstituieren.
In der Darstellung und der Diskussion des nächsten Kritikpunktes soll ver-
sucht werden aufzuzeigen, dass die Frage nach der objektiven Gemeinsam-
keit der Werte, der Geschichte und selbst der Sprache irreführend ist und
welche Implikationen die Annahme hat, dass allein die Selbstwahrneh-
mung einer kulturellen Gemeinschaft ausschlaggebend für die Konstituie-
rung einer kulturellen Gemeinschaft sein kann.

14 Selbst Lord Devlin geht, entgegen der Wiedergabe durch Kymlicka (1989, S. 169),
nicht von einem solchen Verständnis der Existenz kultureller Gemeinschaften aus
(Devlin 1965, S. 13 Fn. 1).
15 So auch: Baker (2004, S. 11), ohne Berücksichtigung von Kymlickas Begriffsent-
wicklung von kultureller Gemeinschaft (1989) zu Gesellschaftskultur (2003).

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4.3.2 Konstruktion der kulturellen Gemeinschaften

Ein grundsätzlicheres Problem der Identität von Gemeinschaftskulturen


betrifft nicht nur die Werte, sondern auch das mit den Werten verknüpfte
Kriterium der Geschichte einer kulturellen Gemeinschaft sowie die Spra-
che. Das Problem der Kriterien einer kulturellen Gemeinschaft lässt sich
formulieren als eines der Interpretationshoheit darüber, was als die ge-
meinsame Geschichte (und Sprache) einer Gemeinschaftskultur angenom-
men wird. Die Geschichte einer kulturellen Gemeinschaft beruht nicht auf
paläontologischen Untersuchungen eines Gesellschaftskulturskelettes,
durch welche mit naturwissenschaftlicher Methodik das Verwandtschafts-
verhältnis zur gegenwärtigen Gesellschaftskultur festgestellt werden kann.
Ein solches Verständnis der Geschichte einer kulturellen Gemeinschaft wä-
re auch nicht in Kymlickas Sinne – die Folge wäre schließlich, dass einer
nationalen Minderheit ihr Status als kulturelle Gemeinschaft mit den ent-
sprechenden Forderungen nicht zuerkannt werden könnte, weil ihre ge-
schichtliche Selbstdarstellung nicht einer ‘objektiveren Geschichte’ der
Minderheit entspräche. Ausschlaggebend muss daher das Selbstverständnis
der kulturellen Gemeinschaft sein. Dies heißt bei kulturellen Gemein-
schaften in der Konsequenz eine mehr oder weniger konstruierte Ge-
schichte. Da Kymlicka den Kulturbegriff mit dem der Nation gleichsetzt
(2003, S. 18), kann hier auf entsprechende Forschung zur Konstruktion der
Nation verwiesen werden. So formuliert bereits Ernest Renan 1882: „Es
macht jedoch das Wesen einer Nation aus, daß alle Individuen vieles mit-
einander gemein haben, und auch, daß sie viele Dinge vergessen haben“
(1995, S. 45f.). Ähnlich bemerkt Ernest Gellner: „Nationalism is not the
awakening of nations to self-consciousness: it invents nations where they
do not exist […]“ (1965, S. 168).16 Es ist auch zu beachten, dass für Kymli-
cka Nicht-Objektivität nicht heißt, dass die Identität mit einer kulturellen
Gemeinschaft beliebig formbar wäre (2003, S. 184ff.). Er geht davon aus,
dass nationale Identität „als solche“ nicht so wandelbar sei, wie ihre ge-
schichtliche Grundlage: „[…] it is important not to confuse the heroes,
history, or present-day characteristics of a national identity with the under-
lying national identity itself“ (ebd., S. 185).
Ein Problem für Kymlicka wird die Einsicht in die Konstruktion der
Geschichte einer kulturellen Gemeinschaft dann, wenn er meint die Exis-
tenz, welche von der Annahme einer gemeinsamen Geschichte abhängt,

16 Umfassend findet man diese These auch bei Benedict Anderson (2006) ausgear-
beitet.

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ganz von Veränderungen des Charakters der kulturellen Gemeinschaft, al-


so den tatsächlich geltenden moralischen Normen einer Gesellschaft, ab-
schirmen zu können. Kymlicka richtet sich dabei gegen die These, welche
er Lord Devlin zuschreibt (s. dazu Hinweis in Fn. 14), dass die englische
Gesellschaft durch die Anerkennung der Homosexualität ende (Kymlicka
1989, S. 169). Tatsächlich scheint es jedoch so zu sein, dass diese Annahme
nur durch die Gesellschaft selbst getroffen wird und allein diese tatsächli-
che Zustimmung der kulturellen Gemeinschaft zu einer Kontinuitätsan-
nahme der gemeinschaftlichen Geschichte empirisch festgestellt werden
kann. In diesem Sinne ließe sich eine durch Gemeinschaftsmitglieder ver-
tretene These, dass es objektiv feststellbare Existenzbedingungen für Kultu-
ren gebe, als eine These verstehen, welche durch ihren postuliert deskripti-
ven und tatsächlich präskriptiven Charakter einer Wette auf ihre tatsächli-
che Annahme durch die kulturelle Gemeinschaft gleicht.
Damit relativiert sich die Perspektive der Kritik an Devlin. Nimmt man
an, dass dieser die These tatsächlich so proklamiert hätte, wie Kymlicka be-
hauptet, so wäre dies zu der Zeit, in welcher Devlin diese These verfasste,
weder als wahr noch als falsch zu beurteilen. Die Kontinuitätsannahme
der englischen Gesellschaft zu der eigenen Geschichte könnte so nur an
ihrer jeweiligen Geschichtskonstruktion zu einer bestimmten, der Liberali-
sierung der Sexualmoral nachfolgenden Zeit, gemessen werden. Was wür-
de Kymlicka zu einer englischen Gesellschaft oder einem Teil dieser Ge-
sellschaft sagen, welche(r) behaupte nicht in geschichtlicher Kontinuität
zu der Gesellschaft zu stehen, welche Homosexualität nicht anerkannt hat.
Dieses Beispiel kann aus heutiger Sicht konstruiert wirken – es sei jedoch
geschichtlich an den amerikanischen Bürgerkrieg oder die Annahme einer
möglichen Kontinuität oder Diskontinuität der Gesellschaftskultur
Deutschlands während und nach der NS-Zeit zur sogenannten „Stunde
Null“ erinnert (Görtemaker 2004, S. 159ff.). Mit dem Anliegen der libera-
len Selbstbestimmung kultureller Gemeinschaften scheint es allein verein-
bar, das Selbstverständnis der kulturellen Gemeinschaft grundsätzlich an-
zuerkennen. Sieht man so in der Frage nach der Existenz einer kulturellen
Gemeinschaft die Frage nach dem Selbstverständnis kultureller Gemein-
schaften, besteht kein Problem mehr mit der von Waldron kritisierten Ver-
nachlässigung verschiedener kultureller Quellen dieses Selbstverständnis-
ses.
Auch wenn Waldrons Kritik durch die Erkenntnis der Konstruktion
kultureller Gemeinschaften nicht mehr überzeugt, tun sich Fragen an an-
derer Stelle auf. So stellt sich die Frage, wessen subjektive Perspektive für
das Selbstverständnis als kulturelle Gemeinschaft und die daraus abzulei-
tenden normativen Forderungen entscheidend sein soll – die des einzelnen

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Mitglieds, die einer relativen oder absoluten Mehrheit oder einer sonst wie
dominierenden Teilgruppe?
Werden Individualfreiheiten als legitimierender Ausgangspunkt für
Kollektivfreiheiten verstanden, spricht dies, in Kymlickas Theorie, für eine
entscheidend individuelle Perspektive: “Individual and collective rights
cannot compete for the same moral space, in liberal theory, since the value
of the collective derives from its contribution to the value of individual
lives“ (Kymlicka 1989, S. 140). Wird die Einsicht in die Konstruktion der
Gemeinschaft mit dem normativ individualistischen Ausgangspunkt der
Freiheiten verbunden, bedeutet dies, dass die Relevanz der vermeintlichen
„Existenz“ einer kulturellen Gemeinschaft auf die individuelle Annahme
einer solchen zusammenschrumpft. Geschützt würde so die individuell
(imaginierte) Mitgliedschaft in einer (imaginierten) kulturellen Gemein-
schaft. Was aber wird dann geschützt, wenn kulturelle Mitgliedschaft zu
einem großen Teil individuelle Konstruktion bedeutet?

4.3.3 Der Wert der (imaginierten) Mitgliedschaft in der (imaginierten)


kulturellen Gemeinschaft

Die Frage, was der Wert der kulturellen Gemeinschaft bei Kymlicka genau
ist, ist nicht leicht zu beantworten. Zum einen postuliert er, wie oben dar-
gelegt, dass die kulturelle Gemeinschaft Grundlage für die Entscheidungs-
freiheit in dem von ihm vertretenen Liberalismus sei. Diese These be-
schreibt jedoch nicht den Wert der Verbindung zu einer speziellen Kultur,
sondern den Wert der Beziehung zu irgendeiner Kultur allgemein (s. o. die
Kritik von Waldron). Da es aber unmöglich oder zumindest unrealistisch
erscheint, dass man sich aus dem Weltbild jeglicher Kultur löst, bewegt
man sich praktisch immer mit einer, wie Kymlicka mit Verweis auf Dwor-
kin meint, kulturellen Brille oder sozial-kulturellen Linse durch die Welt
(2003, S. 83). Diese grundlegende Beziehung zu (irgend)einer Kultur wird
aber nicht negativ dadurch tangiert, dass Menschen zur Assimilation ge-
zwungen werden. Baker verweist in diesem Zusammenhang auch auf illi-
berale Gesellschaften, welche durch Kastensysteme ebenfalls Optionen
und Bedeutungen durch Kultur bedingen würden (2004, S. 17f.). Allein
aus der Kulturbedingtheit den Schluss ziehen zu wollen, diese Kultur staat-
lich zu fördern scheint aus der Perspektive einer liberalen politischen
Theorie jedenfalls wenig überzeugend. Kymlickas Darlegung zur Kulturbe-
dingtheit ist daher als deskriptive Theorie zum Verständnis von Kultur
überhaupt zu verstehen, aus der aber an sich keine qualifizierte normative
Aussage über Schutz und Förderung einer Kultur gewonnen werden kann.

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Kymlicka wendet sich jedoch auch gegen die negativen Folgen einer Po-
litik, welche zu einem kulturellen Identitätsproblem für Mitglieder einer
kulturellen Gemeinschaft führen könne und sich so möglicherweise in
psychischen und/oder physischen Krankheiten manifestiere. Wichtig ist,
dass im Lichte der zuvor gewonnen Einsicht der Konstruktion der (Mit-
gliedschaft in einer) kulturellen Gemeinschaft, genau genommen nur vor
einer als fremdbestimmt wahrgenommenen Veränderung geschützt wer-
den soll. Die Einsicht in die Imagination kultureller Gemeinschaften be-
deutet, dass eine Veränderung der Selbstwahrnehmung kultureller Ge-
meinschaften ein zu erwartendes Phänomen ist, welches bezüglich der Be-
wertung durch die kulturelle Gemeinschaft positiv, negativ, neutral oder
überhaupt nicht bewusst wahrgenommen werden kann. Den Wert, den li-
berale politische Theorien, wie die Kymlickas, also schützen sollten, ist die
selbstbestimmte positive Identifikation von Individuen mit einer Kultur –
oder kurz: kulturelle Selbstbestimmung. Was aber hat die Erkenntnis die-
ses Wertes nun für Folgen für den daraus zu folgernden Schutzmechanis-
mus?

5. Kulturelle Identität als kulturelle Selbstbestimmung

Ich nehme an, dass kulturelle Identität als Phänomen von liberalen norma-
tiven politischen Theorien im Kern als selbstbestimmte positive Identifika-
tion von Individuen mit einer Kultur zu verstehen ist. Dies eröffnet insbe-
sondere dann Verständnismöglichkeiten, wenn es um die Frage der Legiti-
mität von kulturpolitischen Handlungen geht, welche die kulturelle Iden-
tität von Individuen tangieren.
Die oben diskutierten Argumente und Forderungen von Dworkin und
Kymlicka sollen im Folgenden kurz im Lichte des Verständnisses der kul-
turellen Identität als kulturelle Selbstbestimmung bewertet werden. Es
wird sich zeigen, dass die Konflikte so auf grundlegende Streitstände des
Liberalismus verweisen. Dies kann zum einen entmutigend wirken, da die
Konfliktfelder der Freiheit und des Liberalismus seit jeher umstritten sind
und uns die kulturelle Selbstbestimmung so auf altbekannte Debatten der
normativen politischen Theorie verweist. Positiv gefasst halte ich es hinge-
gen für hilfreich, einige der klassischen Streitfelder des Liberalismus für
die Konflikte um kulturelle Identität fruchtbar machen zu können. So
lässt sich gewinnbringend auf die Erkenntnisse dieser langgeführten De-
batten zurückgreifen. Schließlich ist, soweit sich liberale politische Theori-
en Fragen der kulturellen Identität widmen, das Betreten dieser klassi-
schen Problemfelder unausweichlich – kulturelle Identität nicht als kultu-

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Freiheit durch Kultur? Kulturelle Identität als kulturelle Selbstbestimmung

relle Selbstbestimmung aufzufassen bedeutet schließlich nicht, dass Indivi-


duen durch entsprechendes politisches Handeln in ihrer (kulturellen)
Selbstbestimmung nicht mehr betroffen wären.
Dworkins Forderung nach einer vielfältigen Struktur der Kultur scheint
auf den ersten Blick nicht vereinbar mit dem dargelegten Verständnis der
kulturellen Selbstbestimmung. Diese Unvereinbarkeit ist unumgänglich,
soweit die Forderung, so wie Dworkin sie formuliert, auf Ebene der kriti-
schen Reflexion, auf den objektiven Wert der vielfältigen Struktur ver-
weist, welcher losgelöst von den Annahmen der Individuen bestimmt wer-
den soll. Allerdings kann das Ergebnis, die Forderung nach einer vielfälti-
gen Struktur der Kultur auch unter der Annahme der kulturellen Selbstbe-
stimmung gerechtfertigt erscheinen – allerdings über andere Argumentati-
onswege.
Eine Möglichkeit wäre, und dies käme Dworkins Argumentation am
nächsten, dass es zur Herausbildung der Autonomie einer Person einer ge-
wissen Vielfalt in der Struktur der Kultur, in welcher das Individuum her-
anwächst, bedürfe. Es soll hier nicht eingehender untersucht werden, in-
wieweit Dworkins Forderung nach der vielfältigen Struktur der Kultur
durch die Ermöglichung der Bildung der Autonomie von Personen ge-
stützt werden kann. Es ist jedoch zu vermuten, dass eine Kulturförderung,
wie sie Dworkin vorschwebt, wenn überhaupt, nur in veränderter Form
gerechtfertigt werden könnte. Es bliebe zu zeigen, dass Oper und Theater
zur Entwicklung der Autonomie von Personen beitragen.
Eine vielfältige Struktur der Kultur kann auch als Forderung einer Ge-
meinschaft und somit als legitimer Ausdruck kollektiver Selbstbestim-
mung gefördert und erhalten werden. Auch die unkritische Annahme
durch Mitglieder der kulturellen Gemeinschaften, dass die strukturelle
Vielfalt der Kultur einer „strukturärmeren“ Kultur überlegen sei, scheint
solange unproblematisch, wie nicht andere Personen dadurch in ihrer
(kulturellen) Selbstbestimmung betroffen sind.
In diesem Kontext wären auch klassische Probleme des Liberalismus zu
diskutieren, welche nicht Gegenstand dieses Textes waren. So die Span-
nung zwischen kollektiver Selbstbestimmung der kulturellen Gemein-
schaften nach außen auf der einen und inneren Selbstbestimmung der
Mitglieder einer Gemeinschaft auf der anderen Seite – also das Problem so-
genannter illiberaler kultureller Gemeinschaften.
Aus der Annahme, dass kulturelle Identität als selbstbestimmte positive
Identifikation von Individuen mit einer Kultur zu verstehen ist, folgt, wie
oben schon gezeigt werden konnte, nicht zwingend die Forderung nach
Förderung und Erhaltung kultureller Gemeinschaften. Dies liegt an der
durch die individuelle Selbstbestimmung verdrängten These einer objekti-

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ven Bestimmung der Existenz einer kulturellen Gemeinschaft. Allein die


Selbstbestimmung ist es, welche Grundlage für Förderung und Unterstüt-
zung sein könnte. Das Ergebnis ähnelt den Forderungen Kymlickas. So
bliebe es bei dem unterschiedlichen Umfang staatlicher Ansprüche natio-
naler Minderheiten auf der einen und Immigrant*innen auf der anderen
Seite, welcher bei Letzteren, soweit das Verlassen der Kulturgemeinschaft
selbstbestimmt erfolgte, entsprechend zu reduzieren wäre. Allerdings er-
scheint die gesamte Theorie, aufbauend auf individueller Selbstbestim-
mung, kohärenter, da Spannungen bei dem Versuch, Existenz und Cha-
rakter der Kultur zu unterscheiden, wegfallen. Auch kann so, wie oben ge-
zeigt wurde, erklärt werden, warum kultureller Wandel per se kein Prob-
lem für das Verständnis kultureller Gemeinschaften darstellt.

6. Fazit

Das Postulat der Existenz einer kulturellen Identität alleine reicht nicht,
um aus ihr, im Rahmen liberaler politischer Theorien, normative Schlüsse
zu ziehen. Wird dies getan, werden die tragenden normativen Prämissen
verschwiegen. Andererseits hat die Bestimmung des Phänomens der kultu-
rellen Identität wegen der starken Verbundenheit mit politischen Hand-
lungen, welche kulturelle Identität betreffen, starke Implikationen für jede
normative politische Theorie. Es kann dabei, wie gezeigt wurde, auf elabo-
rierte Versuche, kulturelle Identität in die normative politische Theorie
einzubinden, zurückgegriffen werden. Allerdings wird das facettenreiche
Phänomen der kulturellen Identität auf der einen und die Implikationen
für grundlegende Prämissen liberaler Demokratien auf der anderen Seite
besser verständlich, wenn kulturelle Identität, im Rahmen liberaler norma-
tiver politischer Theorien, als selbstbestimmte positive Identifikation von
Individuen mit einer Kultur verstanden wird.

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Teil II: Empirische Konstruktionen

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Pathologische Potenziale kultureller Identitäten: Eine
Gefährdung der Demokratie?

Simon Bein

1. Kulturelle Identität und Demokratie: Die Problemstellung

Gegenwärtig sind zwei Entwicklungen in den Demokratien des Westens


zu beobachten, die Anlass zur Sorge über deren innergesellschaftliche Sta-
bilität geben. Die erste Entwicklung lässt sich grob mit einer Bedeutungs-
zunahme der kulturellen Sphäre umschreiben. Einerseits wird eine Politi-
sierung der Kultur deutlich, denn kulturelle Symbole, Bräuche und Ge-
genstände werden als politische Argumente „missbraucht“ (vgl. Meyer
2002). Dieser Missbrauch hat seinen Kern in einer fundamentalen, essen-
tialistischen Darstellung kultureller Differenzen, die als unüberbrückbar
stilisiert werden und den daraus resultierenden „Kampf der Kulturen“ (vgl.
Huntington 2002) legitimieren. Andererseits erfolgt daraus auch zwangs-
läufig eine Kulturalisierung der Politik, denn die kulturelle Sphäre wird
zum Gegenstand politischer Streitfragen. Kultur erhält somit einen immer
stärker werdenden politischen Charakter. Ob als Ursache oder Mittel zum
Zweck, Kulturpolitik ist zu einem zentralen Konfliktpunkt keineswegs nur
in den westlichen Demokratien geworden; dies hat nicht nur die Debatte
über die Kruzifix-Pflicht in öffentlichen Gebäuden Bayerns – als Bekennt-
nis zur eigenen kulturellen Identität (vgl. Seeßlen 2018) – deutlich ge-
macht: Mit Beispielen aus den USA, Frankreich, Italien, Polen und vielen
weiteren Demokratien ließe sich diese Reihe beliebig damit fortführen,
was Edgar Grande und Hanspeter Kriesi als „rise of the cultural logic of
mobilization“ (2012, S. 17) beschrieben haben.
Damit ist bereits der Weg zur zweiten Entwicklung mit Gefährdungspo-
tenzial für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bereitet: die Bedeutungs-
zunahme von Identität. Der Begriff, als sozialwissenschaftliches Konzept
stark umstritten (vgl. Straub 2018), wird zum Inbegriff politischer und kul-
tureller Polarisierung. Als Abwehrreflex gegen die Globalisierung und He-
terogenisierung westlicher Gesellschaften fordern rechtsextreme und
rechtspopulistische Bewegungen und Parteien den Erhalt und ein Be-
kenntnis zur eigenen nationalen Identität (vgl. Hirschmann 2017), wird in
der europäischen Integrationsdebatte über Möglichkeiten einer transnatio-

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Simon Bein

nalen europäischen Identität gesprochen (vgl. Schmitt-Egner 1999) und


lassen postmaterielle Wertverschiebungen seit den 1970er-Jahren Forde-
rungen gesellschaftlicher Minderheiten nach Anerkennung unterdrückter
sexueller, religiöser, ethnischer oder regionaler Identitäten verstärkt auf-
kommen (vgl. Gutmann 2003; Hark 2011). Zahlreiche Autoren kennzeich-
nen diese Konflikte von Identitäten und dazugehörigen Wertvorstellungen
und Weltbildern gar als neue gesellschaftliche Trennlinien zwischen ge-
genüberstehenden Lagern von Kosmopoliten und Kommunitaristen (vgl.
Merkel 2017) oder Mehrheits- und Minderheitskulturen (vgl. Koopmans
2017). Francis Fukuyama (2018) sieht in diesem Bedeutungszuwachs von
exklusiven Identitäten unterhalb der nationalen Ebene gar die Gefahr ei-
nes Zerfalls westlicher Gesellschaften in partikulare Identitäts-Gemein-
schaften.
Die Bedeutungszunahme kultureller Argumente in Verbindung mit
identitätsbasierten Konflikten ist letztendlich als deutliche Polarisierung
des öffentlichen Diskurses zu beobachten. Beispielhaft für die deutsche Ge-
sellschaft weisen Robert Follmer et al. (2017) nach, dass der öffentliche
Diskurs mit den Erfolgen der Alternative für Deutschland (AfD) schärfer
wurde und Vorbehalte gegenüber gesellschaftlicher Vielfalt lauter gewor-
den sind. Die Studien von Andreas Zick et al. (2016) kommen darüber hi-
naus zu dem Ergebnis, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auch
in der gesellschaftlichen Mitte kein Randphänomen mehr darstellt (vgl.
auch Heitmeyer 2018). Aus demokratietheoretischer Perspektive bieten
diese Entwicklungen zahlreiche Anhaltspunkte zur kritischen Beleuch-
tung, denn das Auseinanderdriften der Gesellschaft in parallele Öffentlich-
keiten, in kulturell- und identitätsbasierte Milieus bei einer gleichzeitig
schwindenden Bereitschaft zum kompromiss- und konsensorientierten
Austausch, kann eine ernsthafte Gefahr für die Demokratien im 21. Jahr-
hundert darstellen. Die demokratietheoretische Problemstellung, die sich
aus der gestiegenen Relevanz von Kultur- und Identitätskonflikten heraus-
kristallisiert, ist der Widerspruch zwischen der Anerkennungspolitik spezi-
fischer kultureller Identitäten und der gleichzeitigen Notwendigkeit eines
demokratischen Universalismus im Sinne allgemeingültiger Prinzipien
und einer inklusiven gesamtgesellschaftlichen Identität (vgl. Lohauß
1999). Die zentrale Fragestellung des vorliegenden Beitrages versucht da-
hingehend zu klären: Besitzen kulturelle Identitäten pathologische Poten-
ziale, die eine inklusive demokratische Identität gefährden?
Die Frage, wie das Spannungsverhältnis spezifischer Dimensionen kul-
tureller Identitäten zu einer übergreifenden demokratischen Identität aus-
gestaltet ist, steht also im Mittelpunkt dieses Aufsatzes und soll mittels fol-
gender Argumentationsstruktur beantwortet werden: Zunächst ist im

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Pathologische Potenziale kultureller Identitäten: Eine Gefährdung der Demokratie?

zweiten Abschnitt mit Blick auf den demokratietheoretischen Forschungs-


stand zu erläutern, welche idealtypischen Anforderungen einer demokrati-
schen Identität bisher diskutiert werden und sodann aus einer kommunita-
ristisch geprägten Perspektive sinnvoll gebündelt werden können. Demo-
kratische Identität wird dann als „goldene Mitte“ (Sebaldt 2015, S. 23) zwi-
schen der Anerkennung des Besonderen und dem Zusammenhalt des All-
gemeinen präsentiert. Im dritten Teil wird sodann kulturelle Identität als
Prinzip der singulären Wertzuschreibung definiert. Darauf aufbauend er-
folgt im letzten Teil die Gegenüberstellung demokratischer Identität mit
denkbaren Identitäts-Extrema, die sich durch die Tendenzen der Kulturali-
sierung der Politik und Politisierung der Kultur auftun und eine Gefahr
für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellen.

2. Idealtypische Anforderungen einer demokratischen Identität

Bereits Alexis de Tocqueville hat in seiner Untersuchung über die Grund-


lagen der Demokratie in Amerika festgestellt, dass gemeinsame Ideen und
Überzeugungen für die Entstehung und den Fortbestand einer politischen
Gesellschaft essentiell sind und ohne diese der Verfall in Parallelgesell-
schaften droht: „Es ist nun leicht zu erkennen, daß es keine Gesellschaft
gibt, die ohne gleiche Überzeugungen gedeihen kann, oder, besser gesagt,
es gibt keine, die ohne sie fortdauert; denn ohne gemeinsame Ideen gibt es
kein gemeinsames Handeln, und ohne gemeinsames Handeln existieren
zwar Menschen, aber nie ein Gesellschaftskörper“ (Tocqueville [1835]
1985, S. 219). Auch in der gegenwärtigen politischen Philosophie, insbe-
sondere aus kommunitaristischer und zivilrepublikanischer Perspektive,
wurde die Erfordernis einer umfassenden demokratischen Identität betont,
die eine Gesellschaft zusammenhält und Voraussetzung für ein stabiles
Funktionieren der Demokratie ist (vgl. Taylor 2002; Habermas 2006).
Idealtypische Betrachtungen demokratischer Systeme unterscheiden
sich meist entlang der beiden zentralen Annahmen, dass entweder ‘gutes
Regieren’ und Gemeinwohlorientierung durch institutionell verankerte
Machtteilung und Pluralismus als Ergebnis individueller Freiheiten ent-
steht oder aber, dass das Kollektiv verbindende gemeinsame Wertüberzeu-
gungen und ethische Gemeinschaftsprinzipien als vorpolitische Bürgertu-
gend dem politischen Prozess vorausgehen müssen. Folgt man der zwei-
ten, aus der zivilrepublikanischen und zeitgenössischen kommunitaristi-
schen Diskussion stammenden Argumentation, muss gefragt werden: Wel-
che gemeinsamen Überzeugungen müssen denn in einer stabilen demo-
kratischen Gesellschaft vorhanden sein, damit gesellschaftlicher Zusam-

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menhalt entsteht? Im folgenden Abschnitt soll also nun der Versuch unter-
nommen werden, ein funktionales, demokratisches Identitätsprofil zu ent-
werfen, das weder in einer pathologisch unterentwickelten Form des Wer-
terelativismus noch im pathologisch überentwickelten Gegenpart des Wer-
temonismus mündet (Sebaldt 2015, S. 110ff.).
Die demokratische Identität stellt eine produktive Beziehung zu den
kulturellen Teilidentitäten dar, weil erst ihre umfassende Verwirklichung
auch die Freiheit und Gleichheit zur Ausübung und Anerkennung der kul-
turellen Identitäten garantieren kann, insofern diese mit den demokrati-
schen Grundprinzipien vereinbar sind. Als produktiv kann dieses Verhält-
nis dann verstanden werden, wenn der Widerspruch des Empfindens kol-
lektiver Besonderheit der eigenen Gruppe einerseits und universalistischer
Prinzipien der Demokratie andererseits zwar die Demokratie als das ge-
meinsame bindende Element überordnet, aber dadurch auch die Vielfalt
als zweite Dimension anerkennt und schützt. Thomas Meyer konzipiert
dazu ein Drei-Ebenen-Modell der kulturellen Sphäre, das ähnlich zu der
hier formulierten Logik des produktiven Widerspruchs kultureller Identi-
täten und demokratischer Identität funktioniert: erstens „metaphysische
Sinngebungen und Heilserwartungen“ (ways of believing), zweitens indivi-
duelle und kollektive „Lebensweise und Alltagskultur“ (ways of life) sowie
drittens „soziale und politische Grundwerte des Zusammenlebens“ (ways
of living together) (2002, S. 201). Die demokratische Identität einer rechts-
staatlichen Demokratie besteht dann aus der gemeinsamen Definition de-
mokratischer Grundwerte auf der dritten Ebene, unter der Maxime, dass
auf den ersten beiden Ebenen – also den jeweils spezifischen kulturellen
Identitäten – größtmögliche Freiheit gewährt werden kann. In einer eige-
nen Weiterentwicklung dieses Drei-Ebenen-Modells werden nun drei Di-
mensionen demokratischer Identität vorgeschlagen, die die Basis gesamtge-
sellschaftlicher Stabilität und Integration in Demokratien darstellen (s.
Abb. 1): Anerkennung des Gemeinwesens, Anerkennung des Anderen so-
wie die Bereitschaft zur Teilhabe.

2.1 Anerkennung des Gemeinwesens

Unter dem an dieser Stelle eingeführten Schlagwort der demokratischen


Identität liefert der Fundus politischer Theorie und Philosophie bisher nur
wenig Konkretes als Antwort: Auf der Ebene des Subjektes bescheinigt
Christoph Möllers einem Individuum dann den Besitz demokratischer
Identität, wenn es sich an demokratischen Entscheidungen beteiligt, denn
dadurch werde die Unterstützung und Anerkennung des demokratischen

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Systems zum Ausdruck gebracht (2008, S. 48). Übertragen auf die kollekti-
ve Ebene sieht Möllers demokratische Identität als Eigenschaft eines Kol-
lektivs darin, dass dieses sich gemeinsam dazu bekennt demokratische Ent-
scheidungen zu treffen. Eine „Verabsolutierung kollektiver Identitäten“
(Möllers 2008, S. 51) und die Überhöhung von Kulturen stehe dieser de-
mokratischen Identität jedoch im Wege, da die Allgemeingültigkeit der
demokratisch beschlossenen Regeln des Zusammenlebens untergraben
wird. Möllers beschreibt demokratische Identität somit in erster Linie aus
einem prozeduralen Blickwinkel der Anerkennung demokratischer Spiel-
regeln und deutet zumindest an, dass Kulturen und kollektive Identitäten
im Spannungsverhältnis dazu stehen können.
Auf der Suche nach demokratischer Identität kommt Felix Heidenreich
hingegen zu dem Schluss, dass die Gefahren des Identitätsbegriffs nur
durch ein „vokatives Wir“ (2014, S. 31) umgangen werden können und
Identität ein ‘Wir’ begründen kann, das nicht abgeschlossen ist: „Es muss
gestützt und geschützt werden durch ein empathisches Wir-Sagen und da-
bei stets im Blick behalten, was dies für diejenigen bedeutet, die damit
nicht gemeint sind“ (ebd.). Damit betont Heidenreich die Notwendigkeit
kollektiver Identitäten, sich ständig über Rituale, Symbole, Bräuche und
Traditionen ihrer selbst zu vergewissern und besonders in Demokratien
mit einem ständigen Sprechen und Diskutieren ein Narrativ über das eige-
ne Wir zu erzeugen. Der frühere deutsche Bundespräsident Joachim
Gauck hat dieses Wir-Gefühl als „Loyalität von Verschiedenen gegenüber
dem Gemeinwesen“ (2018) bezeichnet. Demokratische Identität kann bis-
her also als ein gemeinsames Anerkennen demokratischer Entscheidungs-
regeln sowie ein wie auch immer geartetes Wir-Gefühl im Sinne der Ver-
bundenheit gegenüber dem politischen Gemeinwesen beschrieben wer-
den. Russell Dalton nennt die Identifikation mit der politischen Gemein-
schaft „the most fundamental of political identities […]“, weil „a strong
emotional attachment to the nation presumably provides a reservoir of dif-
fuse support that can maintain a political system through temporary peri-
ods of political stress“ (1999, S. 72).
Damit scheint das Sujet demokratischer Identität eng mit dem Gegen-
stand der klassischen politischen Kulturforschung in Verbindung zu ste-
hen. Die wichtigste Antwort auf die Frage, unter welchen sozial-kulturel-
len Bedingungen politische Systeme sich als stabil erweisen, lieferten Ga-
briel Almond und Sidney Verba (1963, 1980), wonach die civic culture als
Mischform politischer Kultur den funktional stabilsten gesellschaftlichen
Untergrund für ein demokratisches System bietet. Das Kernelement der ci-
vic culture stellt eine Kombination aus aktiver Einmischung und Partizipa-
tion am Gemeinwesen und dem gleichzeitigen Bewusstsein für das Private,

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für Traditionen und Kulturen, die es zu bewahren gilt, dar (Almond/Verba


1963, S. 34). Nun sind jedoch die Ausgangsbedingungen für diese gemein-
same bürgerliche Kultur heute anders als in den von Almond und Verba
untersuchten, relativ homogenen Nachkriegsgesellschaften. Will Kymlicka
zufolge ist die Stabilität moderner Demokratien heute mehr denn je nicht
mehr nur von deren formalrechtlicher Ausgestaltung abhängig, sondern
vom Identitätssinn der Bürger und „how they view potentially competing
forms of national, regional, ethnic, or religious identities“ (1995, S. 175).
Stabile demokratische Systeme benötigen ein alle Mitglieder verbindendes
Element, welches Jürgen Habermas (1993, S. 181) als Staatsbürgerkultur
mit „ethischer Imprägnierung“ bezeichnet hat, die eine Integration aller
Mitglieder ins politische Gemeinwesen ermöglicht, indem sie neutral ge-
genüber ethnisch-kulturellen Differenzen ist. Die Anerkennung des demo-
kratischen Systems kann letztendlich über die diffuse Unterstützung der
Demokratie bestimmt werden: im Unterschied zur spezifischen Form der
Unterstützung, die evaluativ und objekt-spezifisch sowie auf den Output
politischer Autoritäten gerichtet ist, gilt die diffuse Unterstützung als Vor-
aussetzung für den Input in das politische System (Easton 1975, S. 437).
Außerdem ist die diffuse Form der Unterstützung unabhängig von kurz-
fristigen politischen Veränderungen und beinhaltet somit – wie auch das
Konzept demokratischer Identität – längerfristig stabile Wertorientierun-
gen. Neben der diffusen Unterstützung der Demokratie als Regierungs-
form ist das Vertrauen in zentrale politische Institutionen eine weitere
Form der Unterstützung, die die Anerkennung des demokratischen Ge-
meinwesens ausdrückt (Easton 1975, S. 447). Die Anerkennung der Demo-
kratie ist somit sowohl über die Identifikation mit dem nationalen Ge-
meinwesen als auch mittels diffuser Systemunterstützung und Vertrauen
in politische Institutionen erfassbar.

2.2 Anerkennung des Anderen

Die These der Stabilität demokratischer Gesellschaften, die überwiegend


durch eine civic culture geprägt sind, liefert vor allem Hinweise auf die für
eine demokratische Identität notwendigen Einstellungsmuster gegenüber
dem politischen Gemeinwesen: Demokratien halten ihre Gesellschaften
nur zusammen, wenn ein ausreichend großer Anteil die Demokratie als
Regierungsform unterstützt und die Legitimität des Regierungssystems an-
erkennt. Die im deutschen Kontext formulierte Idee des Verfassungspatrio-
tismus beschreibt jedoch nicht die Loyalität mit dem Volk oder einem be-
stimmten Kollektiv, sondern mit „den universalistischen Prinzipien und

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[…] den Prozeduren der liberalen Demokratie“ (Müller 2010, S. 10). Aber
wie Jürgen Habermas richtig anmerkt, könne eine staatsbürgerliche Soli-
darität nur dann hergestellt werden, wenn die sich aus der Verfassung er-
gebenden Prinzipien der Gerechtigkeit in den Wertorientierungen der Ge-
sellschaftsmitglieder verankert sind (2006, S. 25).
Ein Konzept demokratischer Identität muss deshalb über den Kontext
der klassischen politischen Kulturforschung, also die Einstellungen gegen-
über dem politischen System und seinen Institutionen, hinausgehen und
die veränderten Bedingungen für die Anerkennung zwischen den einzel-
nen Gesellschaftsmitgliedern berücksichtigen. Somit ist auch die Verwen-
dung des Identitätsbegriffes zu rechtfertigen: Demokratische Identität
mündet mit Sicherheit in einer demokratischen politischen Kultur, die
sich durch eine aktive Unterstützung des politischen Systems ausdrückt,
legt aber weiterhin das Augenmerk auf die dem Identitätsbegriff eigene Be-
ziehung zwischen dem ‘Wir’ und dem ‘Anderen’. Und diese Beziehung
wird in erster Linie über kulturelle Aspekte definiert, sprich über partiku-
lare Teilidentitäten, die sich nicht auf das demokratische Kollektiv bezie-
hen. Die Anerkennung des Anderen umfasst somit die zweite Ebene de-
mokratischer Identität.
Francis Fukuyama (1992, S. 17ff.) hat bereits dargestellt, dass in den li-
beralen, westlichen Demokratien der „Kampf um Anerkennung“ zu einem
zentralen Bedürfnis und treibender Kraft der Geschichte geworden ist.
Emanuel Richter betrachtet die Kategorie der Anerkennung sogar als für
die Demokratie zwingend notwendige Form sozialer Integration (2008,
S. 45). Gleiche und umfassende Anerkennung als grundlegender normati-
ver Wert wird in modernen Gesellschaften besonders durch Verteilungs-
kämpfe, also auch Anerkennungskämpfe, herausgefordert. In der demo-
kratischen Öffentlichkeit besteht der Kampf um Anerkennung vor allem
darin, die eigenen Bedürfnisse mit denjenigen anderer in Beziehung zu set-
zen und zu vergleichen. Eine verfehlte Anerkennung kann in Gesellschaf-
ten durch ungleiche Verteilung von Gütern oder Chancen, aber auch
durch gesellschaftliche Ausgrenzung, Stigmatisierung oder Verweigerung
des Zugangs in die Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Wertschätzung
und Vertrauen gegenüber den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft sind
dafür erforderliche Werte des Zusammenlebens in demokratischen Gesell-
schaften (vgl. Inglehart 1999; Offe 1999; Warren 1999). Aber auch die be-
sondere Anerkennung kultureller Vielfalt und Diversität ist zu überprüfen.
Multikulturalität ist zur Realität in den westlichen Demokratien und Fra-
gen der Anerkennung von und des Umgangs mit kultureller, ethnischer
und religiöser Diversität zur Bewährungsprobe freiheitlicher Gesellschafts-
ordnungen geworden (vgl. Benhabib 1996; McDonald 1991; Pickel/Pickel

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2018). Schließlich kommt die Anerkennung des Anderen auch in einer


agonistischen Politikform zum Ausdruck, indem damit ein Streit um poli-
tische Argumente auf einer bestimmten Position der Anerkennung als po-
litischer Gegner und nicht als Feind praktiziert wird (vgl. Barber 1994;
Mouffe 2010, 2015). Die Anerkennung des Anderen lässt sich somit über
drei konkrete Aspekte erfassbar machen: Wertschätzung und Vertrauen,
Anerkennung von Diversität sowie ein agonistisches Politikverständnis.

2.3 Bereitschaft zur Teilhabe

Die Bereitschaft zur Teilhabe stellt den dritten Bereich demokratischer


Identität dar. Charles Taylor hat auf der Suche nach der Begründung eines
„einheitsstiftenden Identifikationspols“ (2002, S. 19) demokratischer Ge-
meinschaften neben dem Wert gegenseitigen Respekts die politische Parti-
zipation als zentrale Bedingung vorgeschlagen. Die Demokratie benötige,
so Taylor, zwei Standbeine: Erstens muss eine zentrale Gewalt repräsentati-
ver Verantwortlichkeit gegeben sein, was gleichzusetzen mit einer starken
Stellung des nationalen Parlamentes und deren Abgeordneten sei. Zwei-
tens jedoch – und dies ist für das Konzept demokratischer Identität beson-
ders relevant – müssen zusätzlich vielfältige Formen direkter, vor allem po-
sitiver Partizipation vorhanden sein (Taylor 2002, S. 23ff.). Auch Benjamin
Barber definiert seine „starke Demokratie“ (1994) über das zentrale Ele-
ment der Bürgerbeteiligung. Die partizipatorische Ebene demokratischer
Identität wird dann wie folgt mittels dreier Komponenten konzeptuali-
siert, um die Bereitschaft zur Teilhabe zu erfassen: Als erstes wird ange-
nommen, dass das kognitive Bewusstsein über die eigenen Einflussmög-
lichkeiten und die bewusste Wahrnehmung des politischen Systems eine
Voraussetzung individueller Partizipation darstellt. Das entspricht der The-
se von Almond und Verba (1963, S. 89ff.), wonach ein partizipativer Bür-
ger, im Unterschied zum Bürger in einer Untertanen- oder parochialen po-
litischen Kultur, in einer civic culture über Bewusstsein und Information
über das politische System verfügen muss. Zweitens folgt daraus, dass akti-
ve Mitglieder einer demokratischen Gesellschaft auch die Fähigkeit und
Bereitschaft besitzen, ihre eigene politische Meinung zu äußern (Almond/
Verba 1963, S. 96). Der dritte Aspekt formuliert dann die Erwartung, dass
die Fähigkeit politischer Meinungsbildung und -äußerung in Kombination
mit den Werten der Identifikation, Anerkennung und Solidarität dazu
führt, dass auch konkretes Handeln im Rahmen zivilgesellschaftlicher Ak-
tivitäten stattfindet (Putnam 1994, S. 87). Vor dem Hintergrund der Viel-
falt kultureller Identitäten und der Gefahr einer Herausbildung von Paral-

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lelgesellschaften nimmt das Konzept demokratischer Identität insbesonde-


re an, dass zivilgesellschaftliche Partizipation über die möglichen Grenzen
eigener kultureller Kollektive hinausgeht und auf das gesamte Gemeinwe-
sen abzielt.

Identifikation mit Wertschätzung und Bewusstsein über eigene


nationalem Gemeinwesen Vertrauen Einflussmöglichkeiten

Diffuse Unterstützung der Multikulturalismus und Fähigkeit und Bereitschaft


Demokratie Diversität zur Meinungsäußerung

Vertrauen in zentrale Agonistische Aktives polit und zivilgesell.


politische Institutionen Konfliktlösungsmuster Engagement

Anerkennung der Anerkennung des Bereitschaft zur


Demokratie Anderen Teilhabe

Demokratische
Identität

Abbildung 1: Dimensionen demokratischer Identität (eigene Darstellung).


Diese drei Dimensionen stellen idealtypische Anforderungen an eine de-
mokratische Identität dar, und sind somit als Grundlage gesellschaftlichen
Zusammenhaltes und auch als Grundlage einer integrativen, demokratie-
verträglichen Form von Identität zu verstehen. Im Anschluss soll nun we-
niger deren tatsächliche Realisierungschance untersucht werden, sondern,
in einem ersten Schritt und vor dem Hintergrund der eingangs beschriebe-
nen Identitätskonflikte, anhand dreier Dimensionen kultureller Identität
beleuchtet werden, welche pathologischen Abweichungen von einer de-
mokratischen Identität zu beobachten sind und in welchem Maße diese
demokratiegefährdend sein können.

3. Kulturelle Identität als singuläre Wertzuschreibung

Demokratische Identität ist nun als idealtypischer Lösungsvorschlag einer


integrativen Identitätsformatierung formuliert worden, der als Maßstab
und Ausgangspunkt für eine Analyse kultureller Identitäten und deren
Spannungsverhältnis dient. Was indirekt bei den Überlegungen zur demo-
kratischen Identität schon teilweise eingearbeitet wurde, muss nun für die

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folgende Analyse endgültig geklärt werden: Was ist kulturelle Identität? Im


Folgenden soll insbesondere die kollektive Identitätsvariante der Untersu-
chungsgegenstand sein, da sich der Beitrag auf einer demokratietheoreti-
schen Makroebene und nicht im Bereich persönlicher Identitätsbildung
bewegt.
Zunächst eröffnet sich ein Gegenüber zweier Ausgangspositionen zur
Betrachtung von Identität: Eine essentialistische Grundposition beschreibt
kollektive Identitäten als „die gemeinsamen historischen Erfahrungen und
die gemeinsam genutzten Codes, die […] einen stabilen, gleichbleibenden
und dauerhaften Referenz- und Bedeutungsrahmen zur Verfügung stellen“
(Hall 1994, S. 27). Die konstruktivistische Betrachtungsweise hingegen
sieht kollektive Identitäten auch als „eine Frage des 'Werdens' […]. Wie al-
les Historische unterliegen sie ständiger Veränderung“ (Hall 1994, S. 29)
und will damit eher einen kritischen Blick auf die „Annahme der Selbst-
verständlichkeit und Natürlichkeit von Gemeinschaften“ (Giesen 1999,
S. 12) werfen. Es gehe darum zu verstehen, warum sich Individuen zu
einer bestimmten Gemeinschaft zugehörig fühlen, zu einer anderen hinge-
gen nicht. Rituale, die das Bewusstsein über gleichförmiges Verhalten der
Gruppenmitglieder sowie die Einbettung des Handelns in kulturelle Welt-
bilder vollziehen, erklären Bernhard Giesen zufolge die Konstruktion von
Gemeinschaftlichkeit und kollektiver Identität. Einem essentialistischen
Kulturverständnis wird damit explizit widersprochen: „Die antifundamen-
talistische Stoßrichtung des Konstruktivismus weist hingegen über die Un-
mittelbarkeit des Alltagsbewußtseins und die Ewigkeitsunterstellungen des
kulturellen Platonismus hinaus und interessiert sich gerade für diese sozia-
len Prozesse und institutionellen Formen, in denen Kultur hergestellt, ver-
breitet und aufgenommen wird“ (Giesen 1999, S. 20).
Beide Argumentationsstränge können für sich genommen aber die ein-
gangs geschilderte Situation in den westlichen Demokratien und deren
Gesellschaften nur unzureichend beschreiben (Emcke 2010, S. 261). Kultu-
relle Identität wird einerseits zum politischen Kampfbegriff und somit zur
Konstruktion politischer Einflussbereiche eingesetzt. Andererseits wird
aufgrund des fundamentalen Kulturargumentes die Kompromissbereit-
schaft häufig von vornherein ausgeschlossen. Tatsächlich lässt sich also ein
konstruktivistischer Diskurs mit essentialistischen Argumenten beobach-
ten. Die Analyse des Wahlsiegs Donald Trumps zum US-Präsidenten ver-
deutlicht dies exemplarisch: So wird der Sieg Trumps mit einer kulturellen
Bedrohungsempfindung der ‘Weißen’ in Zusammenhang gebracht: „As
whites increasingly sense that their status in society is falling, white racial
identity is becoming politicized. Trump’s promise to ‘make America great
again’ speaks to these anxieties by recalling a past in which white people

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dominated every aspect of politics and society“ (Knowles/Tropp 2016). Die


Rückkehr kultureller Argumente hat also, wie dieses Beispiel zeigt, auch
etwas mit ökonomischen und strukturellen Entwicklungen zu tun: kultu-
relle Identität wird dann nach Bedarf als politisches Argument eingesetzt.
Kultur und die zugehörigen kollektiven Identitäten besitzen ihren Wert
also nicht an sich, sondern durch Zuschreibungen. Diese wiederum haben
sich in den westlichen Gesellschaften verändert. Durch Migration und Ein-
wanderung, durch die ökonomischen und sozialen Folgen der Globalisie-
rung und den Bedeutungsverlust nationalstaatlicher Grenzen gewinnen
kulturell definierte Bezugsrahmen wieder an Bedeutung: Kultur wird als
feste Einheit zum Ausgangspunkt von Politik, aber in einem konstruierten
Diskurs. Andreas Reckwitz fasst diese Entwicklung der Kulturalisierung als
„Singularisierung“ (2017, S. 75) auf, welche in den westlichen Gesellschaf-
ten seit den siebziger und achtziger Jahren durch den Übergang von der
allgemeinen Logik der Moderne zur Logik der Singularitäten der Spätmo-
derne entstanden ist: „Wenn Menschen, Dinge, Orte oder Kollektive ein-
zigartig erscheinen, wird ihnen ein Wert zugeschrieben und sie erscheinen
gesellschaftlich wertvoll. Umgekehrt – und von erheblicher gesellschaftli-
cher Tragweite – gilt dann aber auch: Wenn ihnen die Einzigartigkeit ab-
gesprochen wird, sind sie wertlos. Kurzum: Die Gesellschaft der Singulari-
täten betreibt eine tiefgreifende „Kulturalisierung des Sozialen“ (2017,
S. 16f.; Herv. im Orig.). Diese Kulturalisierung des Sozialen entsteht wiede-
rum durch den Prozess der Valorisierung: „Kultur [ist] immer dort [...], wo
Wert zugeschrieben wird, wo also Prozesse der Valorisierung stattfinden“
(ebd.; Herv. im Orig.). Über Ziel und Zweck dieser Wertzuschreibung gibt
es unterschiedliche Auffassungen: So kann die Valorisierung aufgrund des
Wertes der Kultur an sich geschehen, oder als Mittel zur Erreichung politi-
scher Ziele gezielt konstruiert werden. Thomas Meyer betrachtet Kulturen
dabei als plurales Konzept und definiert diese als „soziale Diskursformatio-
nen, in denen in einem offenen Kräftefeld widerruflich entschieden wird,
was die überlieferten Weltbilder, Werte und Lebensformen für die Gegen-
wart bedeuten können“ (2002, S. 64). Kulturen sind also Räume, in denen
auf die gleichen Themen und Weltbilder zurückgegriffen wird, diese aber
durchaus unterschiedlich ausgelegt werden können. In den modernen Ge-
sellschaften lässt sich zusätzlich zu einem pluralen Verständnis verschiede-
ner Kulturen beobachten, dass sich Kulturen auch gegenseitig überlappen,
durchdringen und beeinflussen und in ihrer Pluralität nicht mehr nur ne-
beneinander, sondern als „Transkulturalität“ (Meyer 2002, S. 65) oder Zwi-
schenkulturen (vgl. Bhaba 1998) existieren.

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Daraus ergibt sich letztendlich nur die logische Schlussfolgerung, dass


kollektive Identitäten immer als kulturelle Identitäten1 zu verstehen sind:
Durch die Zuschreibung von Werten entsteht Kultur und innerhalb von
Kollektiven existiert kulturelle Identität dann, wenn diese sich über ein be-
stimmtes Narrativ selbst definieren und gegenüber anderen Kollektiven
abgrenzen. Denn kollektive Identität kann nie an sich – als losgelöst greif-
bares Element – existieren, sondern immer erst durch die Herstellung von
Zusammenhängen, Zuschreibungen und Auseinandersetzung mit einem
Gegenüber auf Basis von kultureller Valorisierung.2 Jürgen Straub über-
nimmt dieses Verständnis kollektiver Identität und präzisiert diese als
„Chiffre“ (2004, S. 300) für das verbindende Element mehrerer Personen,
wodurch ein Kollektiv überhaupt erst entstehe. Dessen Angehörige kön-
nen dann hinsichtlich bestimmter Verhaltensweisen und Selbstbeschrei-
bungen zumindest streckenweise als einheitlich gesehen werden.
Es kann nun angenommen werden, dass die „Identitätspflege“ (Sebaldt
2015, S. 153ff.) unter den bereits angedeuteten Entwicklungen und der zu-
nehmenden gesellschaftlichen Komplexität in Demokratien (vgl. Lauth/
Schlenkrich 2018) vor allem durch kulturelle Konflikte auf die Probe ge-
stellt wird. Will Kymlicka betrachtete die Antwort auf diese Herausforde-
rung bereits vor über zwanzig Jahren, mit Blick auf politische Konflikte
zwischen kulturellen Mehrheiten und Minderheiten um Sprache, regiona-
le Autonomie, kulturelle Elemente wie Feiertage, das Kopftuch oder auch
Inhalte von Lehrbüchern in Schulen, als „the greatest challenge facing de-
mocracies today“ (1995, S. 1). Wie operationalisiert man das Spannungs-
verhältnis dieser Identitäten zu den Prinzipien einer gemeinsamen politi-
schen Kultur? Von der als demokratische Identität bezeichneten funktiona-
len Mitte einer gelingenden gesellschaftlichen Kohäsion können Abwei-
chungen beobachtet werden, die – so eine weitere zentrale Annahme – so-
wohl durch eine Überfunktion bzw. ein ‘Zuviel’ an kultureller Identität als
auch eine Unterfunktion, ein ‘Zuwenig’ an kultureller Identität verursacht

1 Eine Gegenposition zur Existenz kultureller Identitäten und deutliche Kritik am


Identitätsbegriff vertritt François Jullien (2017): Das Denken in Differenzen zwi-
schen den Kulturen sei eine Sackgasse, da am Ende immer eine unterschiedliche
Identität festgeschrieben wird. Vielmehr müsse angenommen werden, dass die
Kulturen auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig entstanden, also auch gleichzeitig
vielfältig und einzigartig seien. Eine „Einheits-Identität“ (2017, S. 46) habe es nie
gegeben. Jullien plädiert für das Denken in Abständen von gemeinsamen kulturel-
len Ressourcen.
2 Zur Kritik am Begriff kollektiver Identität als inhaltsleeres „Plastikwort“ siehe aus-
führlich Niethammer (2000); zum Begriff der Identifikation als alternative, geeig-
netere Begrifflichkeit siehe Brubaker und Cooper (2000).

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werden. In einer Weiterentwicklung der zentralen Gedanken Martin Se-


baldts (vgl. 2015) zur Pathologie der Demokratie kann dann argumentiert
werden, dass das Spannungsfeld der Identitätspflege durch Werterelativis-
mus pathologisch unterentwickelt sowie durch Wertemonismus patholo-
gisch überentwickelt ist. Insbesondere der „Kulturessenzialismus“ (Reck-
witz 2017, S. 372) als fundamentalistische Überhöhung kultureller Identi-
tät ist dabei als globalisierungskritische Gegenreaktion auf den „apertis-
tisch-differenziellen Liberalismus“ (ebd., S. 371) der wettbewerbsorientier-
ten Globalisierungsbefürworter bezeichnet worden und spiegelt diese pen-
delartigen Wechselwirkungen wider. In Ergänzung zu dieser einseitigen
Abweichung gesellschaftlicher Integration stellt aber auch der Mangel
bzw. die Ausblendung kultureller Identitäten ein pathologisches Extrem
dar, denn wie kann der notwendige „ethische Gehalt“ (Habermas 1993,
S. 181) einer gemeinsamen Staatsbürgerkultur dann begründet werden?
Das soll nun mittels der drei Dimensionen Kultur, Region und Religion in
folgenden Gegenüberstellungen gezeigt werden: kultureller Relativismus
vs. kulturelle Überhöhung, regionale Entgrenzung vs. regionaler Separatis-
mus und religiös-weltanschauliche Neutralität vs. religiöser Fundamenta-
lismus.

4. Kulturelle Identitäten im Spannungsverhältnis zu demokratischer Identität?

4.1 Kultureller Relativismus vs. kulturelle Überhöhung

Sowohl ein kultureller Relativismus als auch die kulturelle Überhöhung


verhindern eine gruppenübergreifende gesellschaftliche Integration basie-
rend auf den Prinzipien demokratischer Identität (Sebaldt 2015, S. 110ff.).
Unter kulturellem Relativismus soll dabei das Fehlen einer national-kultu-
rellen Mehrheitsidentität verstanden werden, das dann in einem gleichgül-
tigen Wildwuchs kultureller Identitäten zum Ausdruck kommt, aus denen
heraus aber kein Diskurs, geschweige denn ein Konsens über national-kul-
turelle Werte, Traditionen und Normen ermöglicht wird (Heitmeyer 1997,
S. 25). Die Folge sind gesellschaftliche Desintegration und Zentrifugalkräf-
te nach dem Salad-Bowl-Prinzip. Multikulturelle, sozial heterogene Gesell-
schaften verlieren in der Folge ökonomischer und kultureller Globalisie-
rung zunehmend ihre vormals klar definierten Grenzen von Innen und
Außen, was durch die Konstruktion und Mobilisierung kollektiver Identi-
täten gezielt wiederherzustellen versucht wird (Reckwitz 2017, S. 397). Ge-
sellschaftliche Diversität und demographische Dynamiken erschweren die
Entstehung eines Bewusstseins und kollektiven Gedächtnisses innerhalb

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der politischen Gemeinschaft (vgl. Leggewie 1997; Vester 1997). Sitten


und Brauchtum fallen je nach Subkultur und partikularer kultureller Iden-
tität verschieden aus, es droht eine starke Versäulung der Gesellschaft in
parallele Wertegemeinschaften (vgl. Friedrichs 1997). Kulturelle Werte
sind demnach immer nur von relativer Bedeutung für verschiedene Gesell-
schaftsgruppen, die Begründung und Akzeptanz allgemeingültiger Kodifi-
zierungen scheint so nicht möglich zu sein: Es ist nötig, „die ethische Mit-
te einer Gesellschaft zumindest in Grundzügen zu umreißen“, denn in
einem ansonsten entstehenden „ethischen Chaos verschwinden am Ende
die klaren Konturen einer spezifischen demokratischen Identität, was in
der Folge basale politische Orientierungsprobleme zeitigt“ (Sebaldt 2015,
S. 112). Exemplarisch für die kulturrelativistische Pathologie demokrati-
scher Identität können die USA genannt werden, in denen die Verände-
rungen in der Bevölkerungszusammensetzung und somit auch den vor-
herrschenden Gewohnheiten und Sitten die Frage aufwerfen, die auch pro-
minent von Samuel Huntington gestellt wurde: „Who are we“ (2004)? Die
ethnische und kulturelle Vielfalt der amerikanischen Gesellschaft, die sich
vor allem in der subjektiv empfundenen Identitätsbedrohung der White
Anglo Saxon Protestants und der stetig wachsenden Bedeutung der katho-
lisch dominierten Kultur aus dem lateinamerikanischen Raum sowie asia-
tischen Kulturtraditionen Bahn bricht, stellt eine zentrale Herausforde-
rung für die nationale Identität der USA dar (vgl. Huntington 2004; Strat-
ton/Ang 1998; Vorländer 2001).
Das pathologische Gegenteil stellt die Überhöhung einer Kultur oder
Leitkultur dar, die eine bestimmte Form kultureller Identität in die Mitte
rückt und alle anderen Identitätsformen an den Rand drängt. Diese kultu-
relle Überhöhung wird von Reckwitz auch als soziologischer Kulturkom-
munitarismus bezeichnet (abzugrenzen vom normativen Begriff des Kom-
munitarismus), „welcher der Gemeinschaftlichkeit der eigenen Gruppe ein
Primat zuschreibt“ (2017, S. 395). Der kulturelle Wert dieser Gruppe, die
sich in das Zentrum gesellschaftlicher Wertorientierung stellt, wird so-
wohl mittels der Dimension der Nation als auch der ethnischen Dimensi-
on begründet, im Ergebnis steht allerdings bei beidem die Propagierung
kultureller Hegemonie und eine abwertende „Fremdkulturalisierung“
(Reckwitz 2017, S. 404) des Anderen. Stuart Hall bezeichnet die Existenz
einer dominanten Nationalkultur als „Struktur kultureller Macht“ (1994,
S. 205), in der kulturelle Differenzen unterdrückt werden und gesamtge-
sellschaftliche Integration nur durch Unterordnung vorgesehen ist. Die
Überhöhung der eigenen Kultur einhergehend mit einer Abwertung von
fremden kulturellen Identitäten kann als ideologische Disposition auch
bei gesellschaftlichen Minderheiten vorkommen – allerdings ohne struktu-

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relle Machtpotenziale zur Unterdrückung anderer Kulturen – und ist oft-


mals die Reaktion auf negative Fremdzuschreibungen. Unter den Bedin-
gungen gesellschaftlicher Heterogenität und multikultureller Diversifizie-
rung hat diese kulturelle Überhöhung die Folge, dass als außenstehend be-
trachtete kulturelle Identitäten und Gruppen delegitimiert werden und
keine gleichberechtigte Anerkennung zwischen den kulturellen Strömun-
gen im Land und schon gar nicht für Neudazukommende stattfindet. In
einer Art Teufelskreis kann dies wiederum die weitere Desintegration be-
fördern, kulturelle Minderheiten zur Abkehr vom Gemeinwesen bewegen
oder zu einer radikalen Identitätspolitik im Kampf für Gleichberechtigung
und Anerkennung ermutigen. Weder ein vakantes oder gar allzu lose defi-
niertes Feld der normativen Mitte einer Gesellschaft kann eine Antwort
auf die gegenwärtig zu beobachtende Bedeutungszunahme kultureller
Identitäten liefern, noch vermag das starre Festzurren einer nationalen
Leitkultur dies auf Dauer zu leisten. Beispielhaft dafür hat Hartwig Pautz
die Leitkulturdebatte in der Bundesrepublik Deutschland, die seit Ende
der 1990er Jahre geführt wird und auch vor dem Hintergrund der jüngsten
asyl- und migrationspolitischen Konflikte wieder entflammt ist, als „anti-
immigration discourse“ (2000, S. 47) gekennzeichnet.

4.2. Regionale Entgrenzung vs. regionaler Separatismus

Neben den beschriebenen Extremen einer kulturellen Identität, die auf die
Nation als kulturelle oder ethnische Gemeinschaft abzielt, kann auch die
Region als Dimension kultureller Identität pathologische Züge aufweisen:
Ein Mangel an regionaler Identität führt einerseits zu regionaler Entgren-
zung der Demokratie, die als politischer Entscheidungsmechanismus be-
sonders auf den untersten Ebenen des politischen Systems erfahrbar wird.
Andererseits ist ein Übermaß an regionaler Identität ebenfalls für den Zu-
sammenhalt der Gesellschaft gefährlich, wenn sich daraus sezessionistische
und separatistische Bestrebungen ableiten – deren Destabilisierungspoten-
zial hier ohne eine Bewertung von Legitimität oder Illegitimität der politi-
schen Ziele angenommen wird – und die bestehenden Grenzen der Demo-
kratie in Frage gestellt werden. Die regionale Entgrenzung, oder anders
ausgedrückt, das Fehlen jeglicher regionalen Verwurzelung kann aus meh-
reren Gesichtspunkten für die demokratische Identität problematisch sein:
Die lokale und regionale Ebene ist der Ort, an dem Bürgerinnen und Bür-
ger Politik und Demokratie konkret erfahren können (vgl. Mühler/Opp
2006; Castells 2017). Ein gesundes Maß an regionaler Identität stärkt die
Partizipationsbereitschaft in politischer und zivilgesellschaftlicher Hin-

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sicht, da unter anderem ein konkretes Bewusstsein über die Teilhabemög-


lichkeiten auf einer unteren Ebene vorhanden ist und vor allem dort die
Grundlagen einer starken Demokratie gelegt werden. Fehlt jegliche Identi-
fikation mit den demokratischen Strukturen auf dieser Ebene, kann auch
ein fehlendes Bewusstsein für die gesamtstaatliche Demokratie angenom-
men werden. Bettina Westle verdeutlicht dies anhand des Identitätstypus
eines Individualisten, der weder zur Region noch zur Nation und schon
gar nicht zu Europa oder einer transnationalen Einheit eine Bindung emp-
findet und für den kollektive Bindungen somit generell ohne Bedeutung
sind (2003, S. 456). Durch völlige Entwurzelung und Abwesenheit regiona-
ler Identität kann insofern auch ein negativer Effekt auf die Entstehung ei-
nes gesamtgesellschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühls angenommen
werden. So schreibt auch Charles Taylor, dass es in einer lebendigen De-
mokratie vielfältiger Möglichkeiten direkter Partizipation bedarf und be-
sonders der direkte Aktionsradius der Bürger auf lokaler Ebene von Bedeu-
tung ist: „Doch Dezentralisierung kann nicht einfach dekretiert werden
[…]. Es reicht nicht, den Staat in eine Anzahl territorialer Einheiten aufzu-
teilen […]. Solche Einheiten müssen eine Beziehung zu lebendigen Identi-
fikationsgemeinschaften haben“ (Taylor 2002, S. 25).
Auf der anderen Seite kann die Wirkung regionaler Identität auch ins
Gegenteil umschwenken, wenn ein gesundes Maß an lokaler Verwurze-
lung nicht als mit der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft kompa-
tible Identitätskonfiguration betrachtet wird, sondern konfligierend und
ausschließlich daherkommt. Nach Westle (2003, S. 456) zeichnet sich der
Typus Regionalist durch die vorhandene starke Bindung zur Region bei
gleichzeitigem Fehlen der Bindungen zur Nation und gegebenenfalls auch
Europa aus. Diese Form starker regionaler Identität kann sich ebenfalls ne-
gativ auf eine übergreifend vorhandene demokratische Identität auswir-
ken, wenn sie in separatistischen Bestrebungen und Region-Nation-Kon-
flikten mündet, die die Demokratie destabilisieren (vgl. Schmitt-Egner
1999). In Zeiten der europäischen Integration und der sich vernetzenden
Weltgesellschaft erscheint es nicht zufällig als paradox, dass die Rückbesin-
nung auf regionale Gemeinschaften ebenfalls – wie die kulturelle Globali-
sierung für das Wiedererstarken kultureller Identitäten – als Folge dieser
Entwicklungen betrachtet werden kann: „Die in Auflösung begriffenen
festgefügten sozialen Milieus verlieren ihre naturwüchsig prägende Kraft“,
urteilen Oliver Schmidtke und Carlo Ruzza (1993, S. 5), und verstehen das
Erstarken regionalistischer Proteste als Reaktion auf reflexive Prozesse im
Sinne einer Konstruktion neuer Identitätskonfigurationen und Sinnstif-
tung in Zeiten, in denen sich altbekannte Identitätsbezüge zunehmend
auflösen. Schmidtke und Ruzza (ebd., S. 8) wählten als Beispiel das Auf-

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kommen der separatistischen Lega-Partei zu Beginn der 1990er Jahre in


Italien, die unter Berufung auf eine eigene norditalienische, padanische
Identität gegen das politische System des italienischen Staates gerichtet
war. Der sich jüngst wieder zuspitzende Konflikt zwischen der Unabhän-
gigkeitsbewegung der Autonomen Region Katalonien und der spanischen
Zentralregierung sowie das erfolgreiche Brexit-Referendum im Vereinig-
ten Königreich, das zum Beispiel in Schottland im Zuge einer mehrheit-
lich pro-europäischen Ausrichtung und trotz der eigenen Unabhängig-
keitsbestrebungen abgelehnt wurde, sind weitere, aktuelle Beispiele dafür,
dass kulturelle Zugehörigkeiten in Europa wieder stärker über regionale
Identitäten definiert werden (vgl. Riedel 2018). Die Idealform demokrati-
scher Identität wird durch ein Übermaß regionaler, dann separatistischer
Identität gefährdet, indem klare Grenzen zwischen Innen und Außen, zwi-
schen der eigenen Bewegung und dem Rest gezogen werden. Aber auch
bei dieser Dimension kultureller Identität muss darauf verwiesen werden,
dass eine strikte Trennung zwischen national-kultureller, national-ethni-
scher und regionaler Identität nicht möglich ist. Im Einzelfall können re-
gionale Identitätskonflikte ebenso eine geschlossene Ethnie umfassen, wie
einen Kulturraum, der eher als Nation denn als Region zu verstehen ist.
Die hier vorgenommene Einteilung stellt eine Möglichkeit dar, kulturelle
Identitäten nach ihren Konfliktpotenzialen für den Idealtypus demokrati-
scher Identität zu unterscheiden, der in seinem Bezug klar auf die gelten-
den Grenzen der gesamtstaatlichen Demokratie gerichtet ist.

4.3. Weltanschauliche Neutralität vs. religiöser Fundamentalismus

Die dritte zu nennende Form pathologischer Abweichung einer funktiona-


len Form demokratischer Identität stellt eine überzogene religiös-weltan-
schauliche Neutralität den fundamentalistischen Formen religiöser Identi-
tät gegenüber. Eine gänzliche weltanschauliche Neutralität und ein damit
einhergehender Wertemonismus stellt, ähnlich wie im ersten Beispiel pa-
thologischer Identitätsstrukturen, eine Leerstelle in der gesellschaftlichen
Mitte dar. Wie können Werte und Normen zum Zusammenleben der Ge-
sellschaft abgeleitet werden? Besonders die Demokratien des Westens ste-
hen vor der Herausforderung, das Grundrecht der Religionsfreiheit zu ge-
währen und dennoch die Tradition des christlich-jüdischen Abendlandes
angemessen zu berücksichtigen (Sebaldt 2015, S. 192). Besonders sticht
hier das Beispiel Frankreichs hervor, denn der Republikanismus und der
staatliche Laizismus gehören dort gewissermaßen zur offiziellen Identität
des Staates (Bizeul 2012). Da sich diese offizielle Lesart deutlich von der

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Lebensrealität unterscheiden kann und sich dies durch die kulturelle Glo-
balisierung und Zuwanderung aus anderen religiösen und soziokulturel-
len Kreisen vermutlich noch verstärkt, sieht Sebaldt diesen Zivilrepublika-
nismus eher als „Lebenslüge […], denn das seither zur republikanischen
Staatsdoktrin gehörende Kernelement der ‘Laïcité’ will eben nicht recht zu
der Tatsache passen, dass die große Mehrheit der Franzosen katholisch ge-
blieben ist“ (2015, S. 114). Seyla Benhabib zeigt deshalb auf, dass ein star-
res Festhalten an dieser weltanschaulichen Neutralität auch rückwärtsge-
richtete Effekte erzielen kann und in einer funktionierenden, modernen
Demokratie kosmopolitische Normen – wie in diesem Fall die Religions-
freiheit – neu ausgehandelt und angepasst werden müssen (vgl. 2008). Die
Kopftuchdebatte zeige diesen Gegensatz zwischen der staatlichen Laizität
und dem Recht auf individuelle Glaubensausübung besonders gut: Jedoch
habe sich durch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und das Einmi-
schen von Migrantinnen und Migranten die Bedeutung des Kopftuches
vom religiösen Symbol (und deshalb gegen die Laicitè verstoßend) hin
zum Symbol der eigenen, persönlichen Identität verschoben. Letztendlich
war der Kopftuchstreit der Beginn einer notwendigen Debatte um das
„französische republikanische Selbstverständnis der Linken wie der Rech-
ten“ sowie um „die Stellung von Liberalismus, Republikanismus und Mul-
tikulturalismus sowie deren Beziehung untereinander“ (Benhabib 2008,
S. 50).
Im Gegensatz dazu steht das andere Extrem, ein überzogener religiöser
Identitätsbezug, ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zur Entstehung
einer gesamtgesellschaftlich verbreiteten demokratischen Identität.
Thomas Meyer hat den Begriff des „Identitätswahns“ (2002, S. 13) zur Be-
schreibung der fundamentalistischen Konstruktion und Beschwörung
einer reinen kulturellen, in diesem Fall religiös begründeten Identität mit
dem Ziel der Legitimation sozialer und politischer Interessen und Macht-
bestrebungen, eingeführt. Nicht nur ist damit eine Abwertung und restrik-
tive Abgrenzung vom nichtreligiösen Teil der Gesellschaft einhergehend,
sondern auch die fehlende Anerkennung der Demokratie und der grundle-
genden demokratischen Spielregeln kann daraus resultieren (vgl. Liedhe-
gener 2016). Oliver Hidalgo präzisiert dieses Spannungsverhältnis wie
folgt: „Damit sich die Religion mit dem demokratischen Rechtsstaat ver-
trägt, hat sie […] Pluralitäten und Individualitäten (und selbstredend auch
die demokratisch legitimierten und organisierten Transmissionsriemen der
politischen Machteinweisung) zu respektieren. […] Sie darf sich nicht zur
allumfassenden kollektiven Identität aufschwingen, sondern muss die Au-
tonomie der anderen gesellschaftlichen Sphären anerkennen“ (2016,
S. 169). In dieser Richtung alarmieren nicht nur religiös-fundamentalisti-

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sche Strömungen aus dem Islam, sondern auch die Zunahme protestanti-
scher Freikirchen in den USA oder der Anstieg religiöser Sektenmitglieder
auch in der Bundesrepublik Deutschland (Meyer 2011, S. 52).

5. Fazit

Dieser Beitrag hatte nicht nur zum Ziel, eine (bejahende) Antwort auf die
Frage zu geben, ob es kulturelle Identität gibt, sondern weiterführend das
Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Dimensionen kultureller
Identität und einem funktionalen Identitätsmaß demokratischer Gesell-
schaften zu erarbeiten. Dies erscheint insbesondere aufgrund der Spal-
tungstendenzen in den Gesellschaften zahlreicher westlicher, aber auch
nicht-westlicher Demokratien relevant, spielen doch kulturelle Argumente
in den dazugehörigen Diskursen eine zentrale Rolle.
Aufbauend auf zentralen Überlegungen der politischen Kulturfor-
schung und unter Ergänzung durch theoretische Fragmente aus der Identi-
tätsdebatte wurde eine Form demokratischer Identität als idealtypischer
Maßstab festgelegt. Eine integrative gesellschaftliche Identität beinhaltet
positive Identifikation mit dem nationalen Gemeinwesen und der Demo-
kratie als Regierungsform. Darüber hinaus zeichnet sie sich durch generali-
siertes Vertrauen, die Offenheit gegenüber Diversität und ein agonistisches
Politikverständnis aus sowie schlussendlich auch durch eine partizipatori-
sche Komponente, die über die Grenzen des eigenen Identitätsmilieus hin-
ausgeht. Unter der Annahme dieses Idealtypus demokratischer Identität als
funktionale Mitte zeigt sich, dass sowohl links als auch rechts dieser Mitte
pathologische Extremformen kultureller Identität die demokratische Iden-
tität gefährden können: ein überzogener kultureller Relativismus ebenso
wie eine Überhöhung hegemonialer Leitidentität, eine völlige Loslösung
von der regionalen Identifikationsebene genauso wie eine in den Separatis-
mus abgleitende Extremform regionaler Identität und schlussendlich, auch
eine völlige Abwesenheit religiös-weltanschaulicher Konsensfindung eben-
so wie die fundamentalistische Form religiösen Identitätswahns. Der Ver-
such, die funktionale Mitte eines gesunden Identitätsmaßes zu definieren,
ist natürlich nicht ohne Probleme, wenn nicht gar unmöglich und hängt
letztendlich auch von dem zugrundeliegenden normativen Demokratie-
modell ab. Aus Sicht der republikanisch-kommunitaristisch geprägten De-
mokratietradition steht jedoch außer Frage, dass eine stabile demokrati-
sche Gemeinschaft einen gewissen Grad an Gemeinsinn benötigt. Der Ide-
altypus demokratischer Identität formuliert dann, unter Einhaltung dieses
gemeinsamen Nenners, durchaus auch die Freiheiten eigene Identitätsdi-

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mensionen für sich zu beanspruchen. Jedoch soll die diametrale Gegen-


überstellung mit den sechs ausgewählten Extrema zeigen, dass auch hier
ein fließender Übergang in einen für die Demokratien gefährlichen Be-
reich nicht übersehen werden darf. Geeignete Therapievorschläge müssen
jedoch an anderer Stelle diskutiert werden und waren nicht Gegenstand
dieses induktiv-theoretischen Beitrags zum Verhältnis kultureller Identitä-
ten und Demokratie.

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Narrative Identität und kulturelle Differenz – Eine
erzähltheoretische Perspektive auf Konstruktionen des
Anderen

Nina Elena Eggers

1. Einleitung

Sowohl der Begriff der kulturellen Identität als auch der Begriff des Narra-
tivs haben derzeit in der politischen und medialen Debatte Konjunktur.
Gerade im aktuellen Einwanderungsdiskurs wird wieder vermehrt auf eine
vermeintliche kulturelle Identität Deutschlands rekurriert. Dabei wird mit-
unter das längst totgesagte Konzept der Leitkultur erneut bemüht oder be-
hauptet, es ginge – so Sigmar Gabriel im Spiegel-Interview – nun wieder
im Kern „um eine kulturelle Haltung und um Fragen nach Identität“
(Spiegel 2017). Forderungen nach einer restriktiven Migrations- und Asyl-
gesetzgebung werden nicht zuletzt mit Bezug auf vorgeblich unüberwind-
bare kulturelle Differenzen begründet. Kulturelle Identität wird hier indes
meist als ebenso statisches wie homogenes Konzept gedacht. Auf der ande-
ren Seite taucht jüngst immer wieder die Forderung nach neuen Erzählun-
gen auf. Etwa ist häufig zu hören, dass Europa ein neues Narrativ bräuch-
te, um die Europäische Union (EU) aus ihrer Identitätskrise zu führen.
Ebenso scheint mittlerweile breit anerkannt, dass die moderne Metaerzäh-
lung der liberalen Demokratie in eine Krise geraten ist. Es wirkt mitunter,
als könne man neue Erzählungen schlicht erfinden und dann strategisch
einsetzen, um dem erstarkenden Rechtspopulismus die Stirn zu bieten.
Tatsächlich stellt sich die Entstehung von Identitätsnarrativen aber als ein
komplexer diskursiver Prozess dar, in dem Erinnerungen aufgerufen, Er-
fahrungen zur Sprache gebracht und Texte, Handlungen und Erzählungen
(re-)interpretiert werden.
Insbesondere die zentral durch den Philosophen Paul Ricœur geprägte
neuere Erzählforschung schreibt Erzählungen einen epistemologischen
und ontologischen Status zu (vgl. u.a. Ricœur 1988, 1989, 1991a; Somers
1994; Bal 2002; Müller-Funk 2002). Geschichten sind demnach weder als
bloße Repräsentationen von Wirklichkeit noch als strategisch intendierte
Handlungen zu verstehen, sondern als grundlegender Modus der Sinnpro-
duktion, durch den vergangene Ereignisse mit den Erwartungen zukünfti-

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Nina Elena Eggers

ger Ereignisse in einen Zusammenhang gebracht und Identitäten neu ent-


worfen werden. Dies gilt nicht nur für individuelle, sondern gerade auch
für kollektive Identitäten: Sie entstehen narrativ durch das (Wieder-)Erzäh-
len von Geschichten. Erzählungen prägen auf diese Weise Selbst- und
Fremdwahrnehmungen gleichermaßen. Insofern kann auch die Frage
nach kultureller Identität nur aus einer erzähltheoretischen Perspektive he-
raus beantwortet werden.
Kollektive Identitätserzählungen haben sich jedoch im Übergang zur
Moderne und schließlich zur Spätmoderne strukturell verändert. Alte my-
thische Erzählungen sind vielfach von geschlossenen Erzählgebilden zu
nach vorne hin offenen Narrationen geworden (Bizeul 2009, S. 149). Die
Deutungshorizonte für Identitätskonstruktionen haben sich nicht zuletzt
vor dem Hintergrund „kultureller Hybridität“ (Bhabha 2012) vervielfältigt
und auch Dynamiken der Individualisierung führen dazu, dass Identitäten
in der heutigen Welt stärker fragmentiert und flüchtig geworden sind.
Gleichwohl lässt sich gegenwärtig auch eine verstärkte Rückbesinnung auf
geschlossene Identitätsnarrative beobachten, die ihren Ausdruck in neuen
Kulturessenzialismen findet (Reckwitz 2017, S. 394ff.). Besonders deutlich
wird diese Tendenz im aktuellen Fluchtdiskurs. Vor allem nach den Ereig-
nissen der Silvesternacht 2015/16 in Köln1, wo es zu vielfachen Übergriffen
auf Frauen im öffentlichen Raum kam, gewann eine Erzählung in der Ge-
flüchtete als ‘kulturell Fremde’ und als eine existenzielle Bedrohung für
die ‘liberale aufgeklärte Gesellschaft’ markiert wurden, gegenüber jener
von der ‘Willkommenskultur’ und der gelingenden Integration an Prä-
senz. Angesichts der damit einhergehenden Stigmata und Ausgrenzungen
entlang kultureller Zugehörigkeit gilt es diese Diskursverschiebungen kri-
tisch zu beleuchten.2 Der Beitrag fragt in diesem Sinne danach, wie sich
aus einer erzähltheoretischen Perspektive auf Kollektividentitäten heraus
die gegenwärtigen Versuche der Festschreibung kultureller Differenz ver-
stehen und analysieren lassen.
Mithilfe eines Konzeptes narrativer Identität, so die hier leitende These,
können die sich zuspitzenden Deutungskonflikte um kulturelle Identität

1 Neben Köln kam es auch in anderen Städten, etwa in Hamburg, zu ähnlichen


Übergriffen. Der Einfachheit halber wird hier vom ‘Ereignis Köln’ gesprochen.
2 Ziel ist es, Perspektiven zu entwickeln, um das im Fluchtdiskurs hegemonial ge-
wordene Narrativ vom ‘fremden muslimischen Mann’ hinterfragen und die ihm
impliziten rassistischen Muster freilegen zu können. Damit soll nicht behauptet
werden, dass sexualisierte Gewalt nicht auch von den als ‘geflüchtet’ oder ‘musli-
misch’ bezeichneten Personen ausgehen kann. Ebenso wenig soll hier die den be-
troffenen Frauen angetane sexualisierte Gewalt relativiert werden.

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Narrative Identität und kulturelle Differenz

besonders differenziert analysiert und in ihrer Ambiguität erfasst werden.


Denn ein erzähltheoretischer Ansatz erlaubt es, das Aufkommen und He-
gemonial-Werden von Narrativen aus ihrer kulturellen Einbettung und hi-
storischen Entwicklung heraus zu erklären, unterschiedliche Narrative in
ihrer Verschränkung sichtbar zu machen und die implizierten Exklusions-
mechanismen besser in den Blick zu nehmen. So kann gezeigt werden,
dass gegenwärtige Narrative nur dann erfolgreich sein können, wenn sie
an bereits im kulturell-narrativen Repertoire einer Gemeinschaft vorhan-
dene Erzählungen und Figuren anknüpfen können. Zugleich wird offen-
bar, dass gerade in Zeiten der Verunsicherung wieder verstärkt auf ver-
meintlich geschlossene, in sich homogene kulturelle Identitäten rekurriert
und die Ausschließung „kulturell Fremder“ eingefordert wird.
Um diese Thesen zu explizieren, werde ich in vier Schritten vorgehen:
Zunächst werde ich in Anlehnung an die Erzähltheorie Ricœurs ein Kon-
zept narrativer Identität vorstellen, das davon ausgeht, dass es Erzählungen
sind, die eine Politik der Identität und der Differenz konstituieren (2). In
einem zweiten Schritt werde ich den Wandel von mythischen hin zu spät-
modernen Erzählgemeinschaften diskutieren und – Bezug nehmend auf
poststrukturalistische und postkoloniale Ansätze – die These der Gleichzei-
tigkeit von fragmentarischen, offenen Identitätskonstruktionen und einer
Rückbesinnung auf geschlossene, essentialisierende Narrative erörtern (3).
Sodann möchte ich am Beispiel des rund um das ‘Ereignis Köln’ erstarkten
Narrativs vom ‘fremden muslimischen Mann’ das Potential des Konzeptes
der narrativen Identität exemplarisch veranschaulichen (4). Abschließend
werde ich argumentieren, dass der Blick vor allem auch auf die latent wirk-
samen Narrative in der Gesellschaft zu richten ist, welche es im Hinblick
auf die in ihnen fortlebenden Machtasymmetrien und durch sie reprodu-
zierten Stereotype hin zu dekonstruieren gilt (5).

2. Narrative Identität als theoretisches Konzept

Roland Barthes (1988, S. 102) hat die Erzählung als universelles Phänomen
herausgestellt und ihren transhistorischen und transkulturellen Charakter
betont. Erzählen kann insofern auch als anthropologische Konstante
menschlichen Lebens angesehen werden, als sich vielfältige Formen der
Vergemeinschaftung auf gemeinsam geteilte Geschichten beziehen (Ber-
gem 2014, S. 33). Menschen sind, wie Wilhelm Schapp bereits 1953 festge-
stellt hat, stets „in Geschichten verstrickt“ (vgl. [1953] 2004). Dabei sind
Erzählungen sinnstiftend, nicht aufgrund ihrer Inhalte, sondern aufgrund
ihrer strukturellen Konstellation: Sie schlagen eine lineare Ordnung des

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Nina Elena Eggers

Zeitlichen vor und reduzieren, abstrahieren und vereinfachen die Komple-


xität der Welt indem sie zufällige Ereignisse zu plausiblen Geschichten mit
Anfang und Ende verknüpfen (Müller-Funk 2002, S. 29).
Erzählungen sind aber nicht nur zentraler Modus der Erschließung von
Wirklichkeit, sie prägen auch personale wie kollektive Identitäten (Bergem
2014, S. 33f.). So geht die narrative Psychologie davon aus, dass Subjekte
ihr tägliches Denken, ihre Vorstellungen und ihr Handeln über das Erzäh-
len strukturieren (vgl. Mansuco 1986; Sarbin 1986). Dabei bewegen sie
sich stets in einem intersubjektiven Netz von Narrativen innerhalb dessen
sie sich verorten und das sie zugleich mitgestalten (Somers 1994, S. 618).
Entgegen der noch bei Barthes durchklingenden strukturalistischen, weit-
gehend ahistorischen Perspektive3, ist davon auszugehen, dass die Kon-
struktionsweisen des Erzählens kulturspezifisch sind und sich über Epo-
chen hinweg in ihrer Struktur verändert haben (Müller-Funk 2002, S. 53).
Entsprechend muss für die Analyse kollektiver Identitäten ein Instrumen-
tarium entwickelt werden, das für die historisch-kulturellen Kontexte des
Erzählens sensibel ist (ebd.). Dazu ist zunächst der analytische Blick weg
von der Erzählung selbst (der Narration), hin auf den performativen Akt,
also die Tätigkeit des Erzählens (das Narrativ), zu lenken.
Vor allem Ricœurs Erzähltheorie (Ricœur 1988, 1989, 1991a) bietet
einen guten Ansatzpunkt, um die notwendig intersubjektive Form von
Identitätsnarrativen einzubeziehen.4 Ricœur geht davon aus, dass im Akt
des Erzählens einerseits die Welt interpretierend zur Sprache gebracht und
mit Bedeutung versehen wird und dass andererseits „Erzählungen, wenn
sie einmal in Texten (Bildern oder Filmen) objektiviert sind, auch zum
besseren Selbstverständnis beitragen“ (Viehöver 2015, S. 212; Herv. im
Orig.). Sowohl Fremd- als auch Selbstverstehen sind, mit Ricœur gedacht,
Interpretationsprozesse, die den Umweg über Symbole, Texte und Erzäh-
lungen gehen müssen (ebd., S. 212f.). Während die an der Linguistik Fer-
dinand de Saussures orientierte strukturalistische Erzähltheorie sich auf die

3 Ursprünglich hat der Begriff der Erzählung vor allem in der Literaturwissenschaft
und dort insbesondere in der strukturalistischen Narratologie eine breite Ausarbei-
tung erfahren. Erst in den 1990er Jahren wurde er vermehrt transdisziplinär – zu-
nächst in der Geschichtswissenschaft und der Wissenschaftstheorie, dann auch in
der Kulturwissenschaft, Psychologie und Philosophie – aufgegriffen (Nünning/
Nünning 2002, S. 5; Koschorke 2012, S. 19; Biegoń/Nullmeier 2014, S. 39). Die So-
zialwissenschaften sind hier hingegen nach wie vor zögerlich.
4 Seine umfassende Erzähltheorie entwickelt Ricœur zunächst in seinem dreibändi-
gen Werk Zeit und Erzählung (1988, 1989, 1991a). Später widmet er sich in seinen
Werken Das Selbst als ein Anderer (1996) und Die lebendige Metapher (2004) explizit
dem Konzept der narrativen Identität.

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Narrative Identität und kulturelle Differenz

synchrone Tiefenstruktur von Sprache konzentriert, bringt Ricœur die dia-


chrone Dimension ins Spiel und betont, dass Menschen stets in eine Welt
„geworfen“ (Heidegger) werden, die bereits symbolisch-narrativ vorge-
formt ist (Müller-Funk 2010, S. 297). Eine tabula rasa, ein radikaler Neuan-
fang und die Bereinigung von der Vergangenheit, ist so gesehen unmög-
lich (vgl. Bizeul/Wodianka 2018). Subjekte interpretieren sich immer vor
dem Hintergrund eines bereits bestehenden narrativen Geflechts.
Die Erzählung vollzieht nun Ricœur zufolge eine „Synthesis des Hetero-
genen“ (1988, S. 106), insofern sie durch die zeitliche Anordnung von Er-
eignissen innerhalb eines Handlungsstrangs Dissonanz als Konsonanz er-
scheinen lässt.5 Zunächst disparate Ereignisse und Erfahrungen, werden
durch die chronologische Anordnung in einer Geschichte zu einem sinn-
haften Ganzen. So macht die Erzählung aus der „wilden Kontingenz“ un-
vorhersehbarer Geschehnisse eine „narrativ geregelte Kontingenz“ erzähl-
ter Ereignisse (Ricœur 1986, S. 16) und konstituiert eine symbolische Ord-
nung, die nachträglich Sinn stiftet. Das, was im Leben als ein einfacher
Zufall erschiene, ohne jegliche Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit,
trägt in der Erzählung zum Fortgang der Handlung bei (Ricœur 2005,
S. 213). Dabei werden nicht nur Ereignisse und Dinge in der Erzählung
mit Bedeutung versehen, sondern auch Charaktere und Identitäten figu-
riert und entwickelt (Viehöver 2012, S. 68). Kontingenz wird dabei durch
die Erzählung jedoch nicht aufgelöst, sondern nur in der Synthese quasi
dialektisch aufgehoben. Jede Erzählung bleibt damit eine „dissonante Kon-
sonanz“ (Ricœur 1988, S. 71ff.), die auch anders (fort-)erzählt werden
kann.
Ricœur verstehet die Erzählung im Anschluss an die aristotelische Poe-
tik und deren Fabelkomposition als Nachahmung der Handlung und kon-
zipiert sie als dreistufiges Zusammenspiel des prä-narrativen Vorverständ-
nisses von Handlungen, der narrativen Konstruktion und der neuen Konfi-
guration (Müller-Funk 2002, S. 74ff.). Er lenkt unseren Blick damit auf das

5 Im Anschluss an Aristoteles Definition des Ganzen als etwas, das Anfang, Mitte
und Ende besitzt, rekonstruiert Ricœur die Fabel (griechisch: Mythos) als „Modell
der Konsonanz“ (Müller-Funk 2002, S. 73). Die Fabel, verstanden als „Zusammen-
setzung der Handlungen“ betont die Konsonanz, welche durch drei Merkmale ge-
kennzeichnet ist: „Vollständigkeit, Totalität, entsprechenden Umfang“ (Ricœur
1988, S. 66). Die Dissonanz des Lebens, bestehend aus kontingenten Ereignissen,
unerwarteten Umbrüchen oder Veränderungen, wird durch das der Erzählung in-
härente Streben nach Einheitlichkeit aber niemals vollständig aufgelöst, sondern
nur aufgehoben. Diese innere Dialektik der dichterischen Komposition erfasst
Ricœur mit dem Modell der Erzählung als „dissonanter Konsonanz“ (ebd.,
S. 71ff.).

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Nina Elena Eggers

„Zur-Darstellung-Bringen“ der Erzählung. Im „narrativen Tun“ in seiner


zeitlichen Dimension besteht für ihn eine subjektive Möglichkeit zur Neu-
bedeutung als kreative Refiguration (Ricœur 1988, S. 127f.). Identität kon-
stituiert sich nun genau in diesem Akt der Selbstreflexion, in dem Subjekte
bestehende Erzählungen vor dem Hintergrund von Erfahrungen neu inter-
pretieren und sich als Rezipient*innen von Geschichten Erzählfiguren an-
eignen.6 Damit holt Ricœur das im Strukturalismus weitgehend ausge-
blendete Subjekt zurück in die Analyse und verschiebt den Fokus von der
Struktur auf die Veränderung.7 Sein dynamisches Konzept von Identität
misst dem Moment der Neuschöpfung große Bedeutsamkeit zu, betont
aber zugleich die Rückbindung der narrativen Identitätsbildung an das
primäre Handeln in der Lebenswelt. Entsprechend gilt es, in der Analyse
den gesamten Prozess der Textfiguration zwischen der Vorgestaltung (pré-
figuration) des praktischen Feldes und seiner Neugestaltung (refiguration)
durch die Rezeption in den Blick zu nehmen.
Der Begriff der Identität umfasst Ricœur (1996, S. 11, 141ff.) zufolge
zwei Bedeutungen: Den Aspekt des idem, der Selbigkeit und jenen der ipse,
der Selbstheit. Während ersterer sich auf das bezieht, was ‘identisch’ im ab-
strakten Sinne von äußerst ähnlich ist und bleibt, ist letzterer Ausdruck
dessen, was man selbst im Unterschied zu allem anderen ist, was ‘anders’
oder ‘fremd’ ist (Ricœur 2005, S. 209, 1996, S. 141ff.). Die Differenz zwi-
schen dem „Was bin ich?“ und dem „Wer bin ich?“ verweist darauf, dass
Identitäten einem permanenten Wandel unterworfen sind, da die ipse-
Identität ein dem Eigenen vorausgehendes Anderes impliziert und daher
bloß eine vermittelte ist. Das Andere bildet nicht etwa die Opposition des
Selbst. Das Selbst ist nach Ricœur (1996, S. 396) vielmehr insofern existen-
tiell auf Andere angewiesen, als es als Sprecher*in stets durch das an es ge-
richtete Wort beeinflusst ist:

6 Genau in dieser Aneignung zeigt sich für Ricœur die Verschränkung des Eigenen
im Anderen. Dazu heißt es bei ihm: „Sich eine Figur durch Identifikation aneig-
nen bedeutet, sich selbst dem Spiel imaginativer Variationen unterwerfen, die so
zu imaginativen Variationen des Selbst werden. Durch dieses Spiel bestätigt sich
das berühmte Wort von Rimbaud (das mehr als einen Sinn hat!): Ich ist ein ande-
rer“ (2005, S. 222f.; Herv. im Orig.).
7 Eine ähnliche Betonung des Aspektes der Veränderung findet sich auch bei
François Jullien (2017, S. 47), der das Kulturelle als Spannung des Vielfältigen be-
greift, das ununterbrochen mutiert und sich verwandelt. Anders als Ricœur ver-
wirft Jullien das Begriffspaar Identität/Differenz und plädiert für ein Konzept des
„Zwischen“ (ebd., S. 40ff.), welches jedoch letztlich ebenso wie das Ricœur’sche
Konzept narrativer Identität darauf verweist, dass ein Rückzug auf die eigene Iden-
tität deshalb nicht möglich ist, weil das Eigene stets vom Anderen abhängig bleibt.

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Narrative Identität und kulturelle Differenz

„Auf der eigentlich phänomenologischen Ebene kennzeichnen in der


Tat die vielfältigen Weisen, wie der Andere als das Selbst das eigene
Selbstverständnis berührt [affecte], genau den Unterschied zwischen
dem ego, das sich setzt, und dem Selbst, das sich nur durch diese Affek-
tionen hindurch erkennt.“ (ebd., S. 395; Herv. im Orig.)
Die Selbstbezeichnung des Subjekts ist demnach untrennbar von den Be-
zeichnungen durch Andere. Identitätsbildung vollzieht sich stets im Span-
nungsfeld von Selbst- und Fremdbeschreibungen (Kraus 1996, S. 167). Die
„Berührung“ mit dem Anderen findet auf der narrativen Ebene durch die
Übernahme der Rolle der Erzählfiguren durch den*die Leser*in statt. Iden-
tität ist also narrativ über den Handlungsplot der Erzählung vermittelt und
erwächst aus dem Abgleich von der Identität der Erzählfiguren mit den Er-
fahrungen und Erinnerungen der Person. Der Analysefokus verschiebt sich
so von der im Strukturalismus weitgehend isoliert betrachteten Narration,
als einzelner Erzählung und damit dem Ergebnis der Sinngebung, auf das
Narrativ als interpretativem Akt. Hier ist das Subjekt zugleich Rezipient
und Referent von Geschichten:
„Vom Selbst läßt sich daher sagen, daß es durch die reflexive Anwen-
dung der narrativen Konfigurationen refiguriert wird. [...] Das Subjekt
konstituiert sich in diesem Fall, wie Proust es sich wünschte, als Leser
und Schreiber zugleich seines eigenen Lebens. Wie die literarische
Analyse der Autobiographie bestätigt, wird die Geschichte eines Le-
bens unaufhörlich refiguriert durch all die wahren oder fiktiven Ge-
schichten, die ein Subjekt über sich selbst erzählt.“ (Ricœur 1991a,
S. 396)8
Das heißt, Subjekte konstituieren sich stets mit Bezügen auf ein bestehen-
des Repertoire von Erzählungen und aktualisieren dieses zeitgleich durch
die Praxis der Wiederholung in ihren Sprechakten.
Mit seiner in hohem Maße temporären Konzeption von Identität ge-
lingt Ricœur zweierlei: Er bringt die Geschichtlichkeit von Identitätskon-
struktionen wieder ins Spiel und er rückt die individuelle Ebene der Sinn-
erzeugung in den Vordergrund. Identität knüpft an bestehende Identifika-
tionsangebote an, muss aber stets reaktualisiert werden und bleibt nie
gleich. Im Gegenteil: Gerade, weil Geschichten von Menschen beständig
wiedererzählt werden müssen, um weiter zu leben, bleibt Identität beweg-

8 Ricœur unterscheidet hier noch zwischen fiktiven Geschichten und solchen, die
an historische Ereignisse anknüpfen und in diesem Sinne ‘wahr’ sind. Diese starke
Trennung ist sicherlich so nicht haltbar.

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lich und veränderbar. In den Vordergrund rücken durch das Konzept der
narrativen Identität die Kontexte, in denen sich Subjekte bewegen. Denn
Subjektivierung vollzieht sich immer vor dem Hintergrund der Formbe-
stände des Narrativen in einem kulturspezifischen Raum (Müller-Funk
2002, S. 14). Die vorhandenen Erzählbestände von Kulturen fungieren im
Sinne eines „kollektiven Gedächtnisses“ (Halbwachs 1967), auf das sich die
Subjekte affirmativ oder auch subversiv beziehen. So eröffnet der Rezepti-
onsakt Subjekten zugleich die Möglichkeit zur Neugestaltung, zur „Eröff-
nung neuer Welten“, welche die Grenzen der gegebenen Welt überschrei-
ten (Ricœur 1991b, S. 490).
Ricœurs Konzept der narrativen Identität ist zunächst auf die Ebene des
Individuums und der personalen Identität ausgelegt. Im dritten Band von
Zeit und Erzählung konstatiert er, dass sich kollektive Identität in gleicher
Weise narrativ konstituiert und zwar als „Zuweisung einer spezifischen
Identität an ein Individuum oder eine Gemeinschaft“ (Ricœur 1991,
S. 397; Herv. im Orig.), führt diesen Gedanken aber nicht weiter aus. Die
hier vorgenommene Gleichsetzung von Individuum und Gemeinschaft
und die damit einhergehende Definition der Gemeinschaft als Makrosub-
jekt ist jedoch problematisch, insofern die systematische Bezugsinstanz der
Affizierung durch die Gesamtheit des wirkungsgeschichtlichen Zusam-
menhangs und der kulturellen Symbolik (und damit auch der Erzählun-
gen) stets nur das singuläre Dasein, also das Selbst im Ricœur’schen Sinne
sein kann (Scharfenberg 2011, S. 347f.). Hier ist entsprechend zwischen
der Zuweisung von Identität und der Übernahme von Identität zu unter-
scheiden. Während die Fremdbestimmung, etwa „das französische Volk“
durchaus auf kollektiver Ebene erfolgen kann, ist die selbstreferentielle
Übernahme der Identität, also die Applikation auf das Selbst- und Weltver-
ständnis notwendig individuell angelegt. So können einzelne Personen
Narrationen über ein Kollektiv hervorbringen und verändern, die Aneig-
nung dieser kollektiven Identität verbleibt aber beim Individuum. Kollek-
tive Identität ist entsprechend begrifflich, wie Wolfgang Bergem darlegt
„als Metaphorisierung personaler Identität“ (2016, S. 126) zu verstehen. Sie
drückt sich darin aus, dass Personen in Bezug auf bestimmte Aspekte mit
anderen Personen übereinstimmen und diese Identität auch über den
Wechsel von Gruppenmitgliedern hinweg relativ konstant bleiben kann
(ebd., S. 127). Gerade diese subjektive Dimension von Identität verdeut-
licht den Konflikt der Interpretationen, insofern das Subjekt immer zwi-
schen konkurrierenden Subjektivierungsweisen wählen kann und muss.
Die Stärke einer narrativen Perspektive liegt darin, dass sie das Wechsel-
spiel zwischen Subjektivität und kultureller Basis des Verstehens in den
Blick nimmt und damit die Dinge jenseits des Subjekts – Objektivitäten

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Narrative Identität und kulturelle Differenz

wie Intersubjektivitäten – in die Analyse einbezieht (Bal 2002, S. 118).


Ricœurs Ansatz, der die Pragmatik des Erzählens mitdenkt, erlaubt es, Er-
zählungen zu kontextualisieren und die subjektiven Aneignungs- und Wir-
kungsweisen von Narrationen in den Vordergrund zu stellen. Mit seiner
Konzeption der Erzählung als „dissonanter Konsonanz“ macht er die Kon-
tinuitäten der Subjektkonstitution nachvollziehbar, öffnet die Narrativ-
theorie aber zugleich für eine poststrukturalistische Perspektive, welche
die prinzipielle Unabgeschlossenheit von Identität betont. Unberücksich-
tigt bleibt in Ricœurs Modell der narrativen Identität jedoch der Wandel
der Formen des Erzählens über historische Epochen hinweg. Auch ver-
nachlässigt er die Gefahr, die der kontingenzschließenden Funktion des
Narrativen eigen ist und die sich in mythischen Narrativen äußert. So
merkt auch Mieke Bal kritisch an, dass „die Erzählung [...] der Diskurs der
Affirmation und des Mythos, des Geschichtenerzählens und der Fiktion,
der Verführung und der bereitwilligen Außerkraftsetzung des Zweifels“
(Bal 2002, S. 37) ist. Nur indem die strukturelle Veränderung von Narrati-
ven in der Spätmoderne in die Analyse einbezogen wird, so möchte ich ar-
gumentieren, kann jedoch die spezifische Dynamik der zeitgleichen Frag-
mentierung von Identitäten auf der einen und des Erstarkens essentialisie-
render Identitätsnarrative auf der anderen Seite, erfasst werden. Im Folgen-
den plädiere ich daher dafür, aktuelle Identitätskonstruktionen auch vor
dem Hintergrund des Strukturwandels des Erzählens zu analysieren und
den Blick zugleich auf dessen problematische Effekte zu richten.

3. Brüchige Narrative, prekäre Identitäten und kulturelle Differenz

Narrative haben ihre Bedeutung im Hinblick auf die Sinnerzeugung und


Kontingenzbegrenzung auch in der spätmodernen Gesellschaft keinesfalls
verloren (Ricœur 1988, S. 345; vgl. Barthes 1988). Allerdings müssen wir
davon ausgehen, dass sich Erzählgemeinschaften und die Modi der Sub-
jektkonstitution im Laufe der Zeit strukturell verändert haben (vgl. Kell-
ner 1992; Kraus 2000; Müller-Funk 2002; Reckwitz 2017). Während Identi-
tät in vormodernen Zeiten relativ festgelegt und stabil war, vordefinierten
sozialen Rollen folgte und sich in einem traditionalen System von Mythen
und religiösen Vorstellungen herausgebildet hat, wird sie in der Moderne
zu einem multiplen, persönlichen und selbstreflexiven Projekt (Kellner
1992, S. 141). Sie wird offen für Wandel und Innovation, es kommt zu
einer Freisetzung der Subjektivität (vgl. Kraus 2000). Zeitgleich bleibt die
Ich-Identität aber eine relativ stabile, insofern sie stets nach einer Balance
zwischen dem Ich und den gesellschaftlichen Erwartungen sucht (Reck-

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witz 2008, S. 57). Der hier entstandene spezifische subjektphilosophische


Diskurs war damit von Beginn an eng an eine bestimmte „große Erzäh-
lung“ (vgl. Lyotard 1986) der Moderne und ihr Verständnis von Fortschritt
als Emanzipation des Subjekts und der Entbindung seines Autonomiepo-
tentials gekoppelt (Reckwitz 2010, S. 12). In der Spätmoderne wiederum
unterliegen Identitätskonstruktionen einer starken Dynamik der Indivi-
dualisierung. Die Kontexte des Erzählens vervielfältigen sich und die Iden-
titätserzählungen werden entsprechend instabil und fragmentiert.
Diesen strukturellen Veränderungen entsprechend unterscheidet
Müller-Funk (2002, S. 101f.) zwischen verschiedenen Typen von Erzählge-
meinschaften: (1) Mythische Erzählgemeinschaften zeichnen sich zwar durch
Vielfalt und Variabilität von Erzählungen aus, stellen sich aber zeitgleich
als zeit- und zukunftsabwehrend und strukturkonservativ dar. Identität
wird hier als kulturelle Zugehörigkeit, als zugeordnete und nicht-fragmen-
tierte Identität verstanden. (2) In modernen Erzählgemeinschaften wiederum
gibt es eine klare Hierarchie von Erzählungen; die nationale „mythische“
Erzählung stellt die Rahmenerzählung für die große Erzählung des Fort-
schritts und der Freiheit dar. Hier gibt es relativ starke Identitätskonstruk-
tionen, die aber als individuell erfahren werden. (3) Postmoderne Erzählge-
meinschaften wiederum sind gekennzeichnet durch ein komplexes Geflecht
von Erzählungen, durch tendenziell offene Geschichten und fragmentier-
te, multiple Identitäten sowie durch eine Flüchtigkeit des Subjekts im Hin-
blick auf die Identitätsangebote.9 Die einst gut funktionierenden Metanar-
rative mit globalem Anspruch, wie etwa jene liberale Idee des linearen
Fortschritts in den westlichen Demokratien, stellen sich gegenwärtig als
„broken narratives“ (vgl. Müller-Funk 2016) dar, welche die zentrale Funk-
tion der Narrativisierung zunehmend verfehlen.10 Weil die klaren Hierar-
chien der Narrative in der Spätmoderne nicht mehr in dem Maße zu er-

9 Müller-Funk (2002, S. 101) unterscheidet neben den genannten Formen weiter-


hin die dogmatischen Erzählgemeinschaften, die er zwischen den mythischen
und den modernen Erzählgemeinschaften einordnet. Ihr Charakteristikum ist
eine besonders starke Abgrenzung von Innen und Außen sowie ein starker Zu-
sammenhang zwischen Erzählung und der ihr zugeordneten Interpretation. Hier-
zu zählt er etwa Legenden oder Traktate.
10 Die von Müller-Funk vorgeschlagene Unterscheidung zwischen modernen und
postmodernen Erzählgemeinschaften ist dahingehend zu relativieren, dass der
Prozess der Pluralisierung von Identitäten nicht erst mit der Spätmoderne begon-
nen hat, sondern vielmehr als ein modernes Phänomen zu verstehen ist (Berger
1994, S. 95). In diesem Sinne scheint der Begriff der Spätmoderne als eine konti-
nuierliche Fortsetzung von in der Moderne begonnenen Prozessen auch treffen-
der als jener der Postmoderne. Richtig bleibt aber die Beobachtung, dass sich die

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Narrative Identität und kulturelle Differenz

kennen sind wie in der Moderne, wird Kultur zu einem noch stärker um-
kämpften Feld der Auseinandersetzung. Auch die Bindekraft großer Kol-
lektividentitäten wie Nation oder Klasse hat in diesem Zuge merkbar
nachgelassen. Stattdessen gewinnen individuelle und kollektive Selbstinter-
pretationen vor dem Hintergrund prinzipieller Kontingenz des Selbstverste-
hens an Bedeutung (Reckwitz 2008, S. 59).
Ricœur hat unseren Blick bereits auf die individuelle Ebene der Sinn-
produktion gelenkt und eine Perspektive eröffnet, die es ermöglicht Identi-
tät in ihrer Instabilität und Veränderlichkeit zu denken, die gerade durch
die beständige (Re-)Interpretation von im Repertoire von Kulturen vor-
handenen Geschichten entsteht. Diese Deutungshorizonte, vor dem Hin-
tergrund derer sich Subjekte als Individuen oder Kollektivmitglieder inter-
pretieren, sind, wie auch Reckwitz (2008, S. 60ff.) darlegt, keineswegs uni-
versell, sondern stets historisch und kulturell spezifisch. Zugleich müssen
wir davon ausgehen, dass verschiedene Sinnhorizonte und kulturelle Tra-
ditionen gleichzeitig im Subjekt und in den Kollektiven wirksam werden
und sich auf nicht berechenbare Weise miteinander kombinieren (ebd.,
S. 82). Das Subjekt ist dann zugleich Träger unterschiedlicher kultureller
Codes. Diese Situation lässt sich mit Homi K. Bhabha (2012) als „kulturel-
le Hybridität“ beschreiben. Anhand der kolonialen Verhältnisse zeigt Bh-
abha, dass Hybridisierung nicht einfach die Assimilation an eine andere
Kultur meint, sondern vielmehr die konflikthaften und machtvollen An-
eignungsprozesse von Identität beschreibt, die durch das Überlappen von
Sinnhorizonten entstehen:
„Dadurch werden die Symbole der Autorität hybridisiert und etwas Ei-
genes daraus gemacht. Hybridisierung heißt für mich nicht einfach
Vermischen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeu-
tungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit
gefährdet sind.“ (Bhabha 2007)
Diese Prozesse können aber ebenso zu Verunsicherungen und verstärkten
Authentizitätsbehauptungen führen. Entsprechende Identitätskonflikte
werden vor dem Hintergrund der Verschränkung von Kulturen durch Pro-
zesse der Globalisierung und der Migration zunehmend sichtbar. Dem
Versuch, dabei Sinngrenzen und Kollektivgrenzen in Deckung zu bringen

Fragmentierung von Identitäten in dieser Epoche nochmals verstärkt hat. Auf der
anderen Seite ist zu beachten, dass auch die postmoderne Proklamation vom „En-
de der großen Erzählungen“ (vgl. Lyotard 1986) in sich selbst ein Narrativ dar-
stellt, das seinerseits nach Übersichtlichkeit strebt (Bizeul 2018, S. 17).

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und damit eine homogene Kultur zu behaupten wohnt jedoch stets eine
Tendenz zur Totalisierung und zu gefährlichen Ausschlüssen inne. Auf
diese Gefahr weisen insbesondere poststrukturalistische und postkoloniale
Autor*innen hin. So zeigen etwa Ernesto Laclau und Chantal Mouffe
(2006), dass Identitäten aufgrund der Kontingenz des Sinnverstehens
grundsätzlich als prekär und unabgeschlossen zu denken sind und verdeut-
lichen die Totalisierungsgefahr, die sich durch Versuche identitärer Schlie-
ßung ergeben. Und Stuart Hall (1994, S. 195f.) schlägt in diesem Sinne
vor, anstatt von Identitäten besser von Identifizierung als Prozess zu spre-
chen.
Ricœurs zentrales Argument, dass wir uns stets in einem Zustand der
Differenz zu uns selbst befinden, also unsere Identität gerade durch die ir-
reduzible Verschränkung des Eigenen im Anderen niemals objektivierbar,
sondern immer aufgeschoben ist, lässt sich vor allem mit Bezug auf Derri-
da noch einmal verstärken. Bei Derrida heißt es: „Es gibt keine Kultur und
keine kulturelle Differenz ohne diese Differenz mit sich selbst“ (Derrida
1992, S. 12). In Prozessen der Selbstthematisierung verbleibt nach Derrida
daher stets etwas Ausgeschlossenes, ein fiktives Anderes von dessen Be-
zeichnung Subjekte in ihrer Existenz zugleich abhängig sind (vgl. Derrida
2004). Erzähltheoretisch reformuliert bedeutet dies, dass Identitätsnarrati-
ve stets eine klare Ordnung vorschlagen, in der Identität sich gerade durch
den negativen Bezug auf etwas entwirft, das nicht-gleich ist, auf ein fiktives
Bild des Anderen, der wir Angst haben zu sein oder zu werden (Müller-
Funk 2012, S. 11). Kollektive erzählen also Geschichten über ‘Fremde’, um
sich ihrer eigenen Identität zu vergewissern und greifen dazu auf im narra-
tiven Repertoire bestehende kollektive Selbsterzählungen wie etwa natio-
nale Mythen zurück, die auch als latent vorhandene wirksam sind:
„So enthält die Erzählung über das andere Land einen narrativen
Komplex der eigenen Kultur, der eben nicht direkt angesprochen zu
werden braucht. [...] Nicht die Delegitimierung des Fremden, sondern
die Legitimierung und Verstärkung der eigenen kulturellen Selbstver-
ständlichkeitsdebatte steht zur Disposition.“ (ebd., S. 159)
Die innere Ambivalenz von Kulturen bringt dabei zwei widersprüchliche
Tendenzen hervor: Zum einen wird in kollektiven Selbsterzählungen kul-
turelle Differenz immer wieder manifestiert. Zum anderen scheint in der
notwendigen Wiederholung, im ständigen Wieder-Erzählen, auch immer
die Instabilität hegemonialer Narrative auf. Und genau an diesen „Rissen“
der Narrative werden alternative Identitätserzählungen möglich.
Bhabha (2000) verdeutlicht dieses Wechselspiel am Beispiel des kolonia-
len Subjekts. Im Anschluss an Derrida zeigt er die Gefahren der Deutungs-

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Narrative Identität und kulturelle Differenz

hoheit auf, die etwa Kolonisator*innen gegenüber Kolonisierten behauptet


haben, betont dabei aber zugleich die Handlungsmacht, die sich gerade
durch die Hybridität von Kultur ergibt. Er argumentiert, dass Kulturen
nicht nur im Kontakt mit anderen Kulturen mit Differenz im Sinne von
Fremdheitserfahrung konfrontiert sind, sondern schon in sich selbst Diffe-
renzen und Ambiguitäten tragen. Kulturen sind nach Bhabha zwar ge-
prägt durch das Streben bzw. Begehren nach Stabilität und Vollständig-
keit, wie es sich etwa in der Nationsform ausdrückt, sie müssen aber zeit-
gleich stets in ihrer Instabilität gedacht werden, die sich in der Gleichzei-
tigkeit von inkommensurablen Geschichten (und Orten) ausdrückt (Bonz/
Struve 2011, S. 133). Kulturelle Hybridität ermöglicht so gerade auch das
Neuschreiben von Geschichten: „Die von kultureller Differenz geprägten
Signifikationen hinterfragen Formen von Identität, die wegen ihrer andau-
ernden Verwobenheit mit anderen symbolischen Systemen immer ‘unvoll-
ständig’ oder für kulturelle Übersetzung offen sind“ (Bhabha 2000, S. 242).
Auf der anderen Seite bedeutet diese prinzipielle Offenheit gerade für die
moderne Subjektvorstellung, die auf Universalität zielt, eine große Heraus-
forderung, die auch mit Spannungen einhergeht (ebd., S. 243).

4. Kollektive Selbstvergewisserung und neue Kulturessentialismen: Das Narrativ


der „fremden Männlichkeit“ im Diskurs um die Silvesternacht 2015/16

Der beschriebenen Vervielfältigung und Fragmentierung von Identitäten


und dem Zerfall der großen Metanarrative steht gegenwärtig eine Rückbe-
sinnung auf geschlossene Identitätsnarrative gegenüber, die sich etwa in
einem Erstarken nationalisierender, ethnisierender oder rechtspopulisti-
scher Erzählungen ausdrückt. Wie Reckwitz (2017, S. 372, 394ff.) darlegt,
lassen sich diese Phänomene im Kontext einer politischen Tendenz verste-
hen, die er mit dem Begriff „Kulturessentialismus“ zusammenfasst. Darun-
ter versteht er eine Strukturierungsform – man könnte ebenso von Erzähl-
form sprechen – die Kultur als Kriterium der Abgrenzung nach außen er-
scheinen lässt, sich genau gegen kulturelle Hybridität wendet und eine
Rückkehr zu den Grenzen zwischen Nationalkulturen einfordert. Zu be-
obachten ist eine starke Tendenz zur Schließung von narrativen Identitä-
ten, die sich genau dadurch vollzieht, dass sie Alterität, welche die Dyna-
mik der Identitätskonstruktion ausmacht, fixiert und eine Unterscheidung
zwischen Innen und Außen, zwischen „wir“ und „sie“ auf Dauer zu stellen
versucht. Indem Gruppen von Menschen ein bestimmter „kultureller Ha-
bitus“ zugeschrieben und als differenzielles Merkmal herausgestellt wird,

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kommt es zu einer negativen und exklusiven Fremdkulturalisierung (ebd.,


S. 405).
Mit Bhabha können wir diese Entwicklung auch als eine Reaktion auf
kulturelle Hybridisierung lesen. Auch die Deutungsmacht dominanter
Kollektive ist demnach stets von einer radikalen Angst vor dem Machtver-
lust geprägt (Castro Varela/Dhawan 2015, S. 227). So wie das Wieder-Er-
zählen der Infragestellung von Identitäten dienen kann, so sind auch hege-
moniale Identitätsnarrative auf Wiederholung im Sinne der Selbstverge-
wisserung angewiesen. Diese Tendenz scheint in der Spätmoderne ver-
stärkt, insofern identitätssichernde Lebenswelten und Milieus ihre Ver-
bindlichkeit verlieren und dem Individuum autonome Orientierungsleis-
tungen abverlangt werden, die es mitunter überfordern (Kraus 1996,
S. 161). Aus einer Verlustangst heraus kann es ebenso zu verstärkten Selbst-
thematisierungen und Rechtfertigungen der eigenen Identität kommen,
die eine verschärfte Abgrenzung zu einem ‘kulturell Anderen’ implizieren.
Dieser Mechanismus lässt sich besonders gut im aktuellen Fluchtdiskurs
wiederfinden, welcher durch antagonistische Deutungskonflikte geprägt
ist. So steht einem liberalen Narrativ der offenen Grenzen, einer solidari-
schen ‘Willkommenskultur’ und der Vision einer gelingenden Integration,
ein essentialisierendes Narrativ gegenüber, welches Geflüchtete als Bedro-
hung der demokratischen Gesellschaft beschreibt und mitunter zum
Feindbild stilisiert. Die Ereignisse der Silvesternacht 2015/16 in Köln er-
scheinen zunächst als Wendepunkt in dieser Debatte (Hark/Villa 2017,
S. 18; Dietze 2016a, 2016b). So spiegelte es vor allem der mediale Diskurs,
welcher den Fokus der Aufmerksamkeit weg von den leidtragenden
Kriegsflüchtlingen und der humanitären Haltung der Aufnahmegesell-
schaft auf junge muslimische Männer als Aggressoren und Täter lenkte.11
Die mediale Empörung richtete sich gegen „nordafrikanisch aussehende
Männer“, ihre vermeintlich unkontrollierte Sexualität und ihre frauenver-
achtende Kultur als Kollektiveigenschaft (Keskinkılıç 2017, S. 67; Hemmel-
mann/Wegner 2017, S. 6). Man erinnere sich etwa an das Focus-Titelblatt,
das nach der Silvesternacht unter dem Titel „Frauen klagen an. Nach den

11 Gerade zu Beginn der so genannten ‘Flüchtlingskrise’ im Jahr 2015 war der me-
diale Diskurs stark durch Empathie geprägt. Porträtierungen von Flüchtlings-
schicksalen und die Darstellung der Seenotunglücke im Mittelmeer dominierten
die Berichterstattung. In diese Zeit fallen auch die emotional aufgeladene Bericht-
erstattung zur Begegnung von Kanzlerin Merkel und dem Flüchtlingsmädchen
Reem Sahwil und zu dem Foto des syrischen Flüchtlingsjungen Aylan, der an der
türkischen Küste ertrunken war. Vgl. zu den verschiedenen Phasen in der Medi-
enberichterstattung Hemmelmann und Wegner (2017).

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Sex-Attacken von Migranten: Sind wir noch tolerant oder schon blind?“
schwarze, schmutzig abfärbende Hände auf einem nackten weißen Frauen-
körper zeigte (Focus 2016) oder auch an eine graphische Darstellung auf
der Titelseite der Süddeutschen Zeitung, die eine schwarze Faust zeigte,
welche zwischen weiße Frauenbeine stößt und dazu einen Psychologen
mit den Worten „Viele junge Muslime können nicht entspannt dem ande-
ren Geschlecht begegnen. Das sind jedes Mal hochsexualisierte Situatio-
nen“ zitierte (Süddeutsche Zeitung 2016).12 Ebenso steht Alice Schwarzers
Kommentierung der Übergriffe für die Emma exemplarisch für ein sich
neu- bzw. reetablierendes Narrativ der kulturellen Fremdheit junger musli-
mischer Männer. So spricht sie davon, dass „das arabische Telefon genü-
ge“, damit sich nordafrikanische Männer zusammengefunden hätten, „um
Frauen zu klatschen“ und stellt die Ereignisse der Silvesternacht in unmit-
telbaren Zusammenhang mit Islamismus (Schwarzer 2016, S. 7). Trotz un-
geklärter Faktenlage wurde die Schuld für die Übergriffe im medialen Dis-
kurs größtenteils unmittelbar ‘den Flüchtlingen’ zugeschrieben und die
zuvor etablierte ‘Willkommenskultur’ als Fehler gebrandmarkt.
Nähert man sich dem Fluchtdiskurs aus einer narrativtheoretischen Per-
spektive, wie ich sie hier vorgeschlagen habe, so bietet sich die Möglich-
keit, ein differenziertes Bild dieser Diskursentwicklung zu zeichnen.
Durch eine erzähltheoretische Analyse von Kollektividentitäten lassen sich
sowohl die durch narrative Diskurse produzierten Aussagesysteme (Narra-
tionen), als auch die spezifischen Praktiken der Äußerung als Sprechakte
(Narrative) in den Blick nehmen. Insbesondere drei Aspekte können damit
herausgestellt werden: Erstens kann das Nebeneinander konkurrierender
Erzählungen sichtbar gemacht und die jeweiligen Narrative als selektive
Verdichtungen von Ereignissen zu spezifischen Sinnkonstruktionen de-
konstruiert werden. So wird die Gefahr offenbar, die in dem Versuch liegt,
eine Erzählung zur einzig wahren erheben zu wollen. Die Narrativanalyse
fokussiert dabei den Aspekt der Zeitlichkeit. Sie geht davon aus, dass zu-
nächst nicht unmittelbar in Zusammenhang stehende Ereignisse in der Er-
zählung durch die zeitliche Anordnung innerhalb eines Handlungsstrangs
mit Anfang und Ende kausal verknüpft werden. Diese Verknüpfung er-
scheint als natürlich, sie blendet die Kontingenz der Geschehnisse vorüber-

12 Bei den beiden angeführten Beispielen handelt es sich um Bilder, also Visualisie-
rungen der Geschehnisse. Gleichwohl können diese hier als Texte verstanden wer-
den, insofern sie ebenso Teil eines Sprechaktes sind, der den Prozess von Textpro-
duktion, Rezeption und Rückbindung an die lebensweltliche Praxis umfasst. Vgl.
hierzu auch Bals Ausführungen zu Bildern als Erzählungen und zum Sehen als
Form der Rezeption (Bal 2002, S. 120, S. 23f.).

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gehend aus. Zugleich steht hinter der durch die Erzählung hervorgebrach-
te Eindeutigkeit jedoch stets eine „dissonante Konsonanz“ im
Ricœur’schen Sinne, was bedeutet, dass andere Erzählungen immer mög-
lich sind. Der Versuch der Naturalisierung einer bestimmten Gesellschafts-
ordnung durch die Ausblendung anderer möglicher Identitätserzählungen
hingegen impliziert immer eine Gefahr der Ausgrenzung. Identität ist so
gesehen ein Ergebnis machtvoller Interpretationskämpfe und kann zu-
gleich als Produkt von „Überschneidungen und Verästelungen kultureller
Praktiken“ (Gadinger et al. 2014a, S. 69) verstanden werden. Es wird deut-
lich, dass gerade nach Schließung strebende Narrative, die kulturelle Diffe-
renzen zu naturalisieren versuchen, als ausschließende Praktiken in den
Blick genommen und dekonstruiert werden müssen.
Zweitens richtet sich mit dem Narrativansatz der Fokus auf die Rezepti-
on von Erzählungen und es werden vor allem die Aneignungspraktiken in
den Blick genommen. Neben den subjektiven Gestaltungsspielräumen, die
sich in der kreativen Praxis des Wieder-Erzählens auftun, kann damit vor
allem auch die historische Kontinuität von kollektiven Identitätserzählun-
gen herausgearbeitet werden. So lässt sich zeigen, dass neu entstehende
Narrative immer an den bestehenden Fundus von Narrationen anknüpfen
und diesen variieren, womit sie sich stets innerhalb von kulturellen Kon-
texten verorten. Auf diese Weise wird ebenso deutlich, dass die eigentlich
mächtigen Narrative die latenten Narrative sind, welche als eine Art com-
mon sense Kulturen zugrunde liegen (Müller-Funk 2002, S. 145ff.). Das
Narrativ vom ‘muslimischen Anderen’ erscheint so nicht als neu, sondern
vielmehr als eine Variation bereits existierender Erzählungen ‘fremder
Männlichkeit’.
Drittes dient die kulturelle Abwertung ‘Fremder’ aus dieser Perspektive
nicht allein der Delegitimierung des ‘Fremden’, sondern ist inhärenter Teil
von Selbstthematisierungsprozessen und dient hier zunächst der Legiti-
mierung und Verstärkung der eigenen kulturellen Selbstverständlichkeits-
debatte (Müller-Funk 2002, S. 159).13 Damit sind Prozesse der Kulturalisie-
rung von Identität auch als Effekt des Brüchigwerdens von Narrativen und
der Verunsicherungen angesichts der Instabilität großer kollektiver Identi-
täten zu deuten.
Bezogen auf die Fluchtdebatte treten hiermit neue Aspekte in den Vor-
dergrund. Zunächst einmal stellt das Narrativ des ‘gefährlichen muslimi-
schen Mannes’ eine Synthese heterogener Ereignisse dar, welche zu einem

13 Diese Beobachtung ändert selbstverständlich nichts daran, dass Stigmata und Aus-
grenzungen die Folgen eben jener Prozesse der Identitätskonstruktion sind.

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neuen Sinnzusammenhang verwoben wurden. So wurde in den Erzählun-


gen um ‘Köln’ immer wieder die ‘Öffnung der Grenzen’ und die Hilfsbe-
reitschaft gegenüber Geflüchteten in einen kausalen Zusammenhang mit
den Übergriffen der Silvesternacht und mit dem Ziel der Zivilisierung
oder Zurückweisung der ‘Fremden’ zwecks des Schutzes vermeintlich be-
drohter Werte und Normen der deutschen Gesellschaft gestellt. Dabei ist
diese besonders medial nach den Übergriffen stark gewordene Erzählung
als Teil eines Geflechts konkurrierender Narrative zu verstehen. Als Fakto-
ren, die zum temporären Hegemonialwerden gerade dieser Erzählung bei-
getragen haben, können sodann mehrere gezählt werden: Zunächst kam es
zu einer ständigen Reproduktion etwa durch die massiven medialen Be-
richterstattungen zu den Vergewaltigungsfällen von Freiburg, Kandel und
Mainz, bei denen die Täter mutmaßlich Geflüchtete waren, und deren
Forttragung in den sozialen Medien. Durch das permanente Wieder-Erzäh-
len konnte die Narration an Präsenz und an entsprechender Bedeutung für
die Identitätsbildung gewinnen. Ein Narrativ etabliert sich schließlich
nicht aus einer einzelnen Geschichte, sondern gründet auf einer Vielzahl
ähnlicher Geschichten (ebd., S. 160).
Weiterhin, und das ist entscheidend, handelt es sich hier keinesfalls um
eine neue Erzählung. Vielmehr wurden verschiedene im kulturellen Re-
pertoire vorhandene Narrative reaktiviert und aktualisiert. Dabei lassen
sich im Hinblick auf das gewählte Beispiel drei Narrative als zentral her-
auslesen: Zunächst lässt sich ein uraltes deutschnationales Narrativ wieder-
erkennen. Ein solches imaginiert die Nation als weiblich, als einen von
den Fremden verletzten, geschundenen, unschuldigen und wehrlosen
Volkskörper und das Phantasma des wollüstigen Fremden ins Zentrum
rückt, der den Körper der Frau raubt und vergewaltigt (ebd., S. 230ff.).
Hier wird der bedrohlich ‘Fremde’ zugleich zum Barbaren degradiert und
moralisch verurteilt, was wiederum die Einheimischen von jeglicher un-
kontrollierten Sexualität freispricht und damit moralisch aufwertet. Dieses
Narrativ appelliert an den ‘heroischen Deutschen’, der ‘seine Frauen’ vor
ebendiesen ‘Fremden’ schützt. Diese Selbstthematisierung als Beschützer
ist in der Silvesterdebatte dahingehend modifiziert wiederzuerkennen,
dass es nunmehr um die emanzipierte, westliche Frau geht, deren liberale
Freiheiten, wie den Zugang zum öffentlichen Raum, es zu verteidigen gilt.
Die binären Exklusionseffekte bleiben hingegen dieselben.
Gleichzeitig wird zweitens diese ‘männlich-weiße’ Identität entlang des
kolonialen Narrativs geformt, das ‘den Orient’ zur Rechtfertigung des Ko-
lonialismus als kulturellen, fremden und primitiven Gegensatz eines über-
legenen, zivilisierten und rationalen Westens konstruiert (vgl. Keskinkılıç
2017). Hier zeigt sich ein dichotomer Diskurs, den Edward Said (2009) un-

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ter dem Stichwort ‘Orientalismus’ thematisiert und als hegemoniale politi-


sche Herrschaftsstrategie benannt hat.14 Darin spielt Sexualität, wie bereits
Frantz Fanon (1980) hervorgehoben hat, eine entscheidende Rolle.15 Im
Narrativ von der Hypersexualität des ‘muslimischen Mannes’ zeigt sich
eine Ambivalenz aus Bewunderung und Abwertung, die stets jedoch die
kulturelle Differenz betont. Das kolonial tradierte Orientbild wirkt auch
im heutigem antimuslimischen Rassismus nach, der insbesondere in der
Berichterstattung um die Ereignisse in Köln an Präsenz gewonnen hat.
Wie Ozan Keskinkılıç (2017, S. 61) betont, spielen hier Geschlechtervor-
stellungen, Sexualitäts- und Gewaltfantasien eine hervorgehobene Rolle.
Die artikulierte Sorge um den Schutz der ‘weißen Frau’ vor der unkontrol-
lierten Sexualität des ‘nicht-weißen Mannes’ steht in einer Kontinuität mit
tradierten Orientbildern und kolonialen Diskursen und den darin impli-
zierten Rassismen (ebd., S. 61)
Ein drittes Narrativ, das in der aktuellen Debatte reaktiviert wird, ist je-
nes der ‘Rassenschande’, das insbesondere im Nationalsozialismus starke
Verbreitung fand und bis heute elementarer Teil rechtsextremer Ideologie
ist (Lehnert 2017, S. 210; vgl. Overdieck 2010). Demnach gilt ‘das deutsche
Volk’ als absolut schützenswert und so genannte Angehörige fremder ‘Ras-
sen’ kommen als Sexualpartner nicht in Frage. Das Narrativ der ‘Rassen-
schande’ ist vor dem Konstrukt der ‘Überfremdung’ zu lesen, welches von
einer Gefährdung ‘des deutschen Volkes’ durch das Eindringen von ‘Frem-
den’ ausgeht. Wie Ulrich Overdieck darlegt, gilt „[d]er sexuelle Kontakt
zwischen einem ‘schwarzen’ Mann und einer ‘deutschen’ (d. h. ‘weißen’)
Frau [...] Rechtsextremen dabei als prototypische ‘Rassenschande’“ (2010,
S. 103). Die bedrohliche Konstruktion ‘fremder Männlichkeit’ geht dabei
einerseits mit einer Ausformulierung eines ‘deutschen männlichen Selbst’
und andererseits mit sexistischen Weiblichkeitskonstruktionen einher (vgl.
Overdieck 2010).
Hinter der Konstruktion ‘fremder Männlichkeit’ steht somit eine Selbst-
vergewisserung der westlich geprägten kulturellen Identität. Das Narrativ
vom ‘fremden Frauenschänder’ funktioniert im aktuellen Diskurs nur da-

14 Said bezieht sich mit seiner Orientalismusthese hauptsächlich (aber nicht aus-
schließlich) auf ein britisches und französisches Projekt (Said 2009, S. 12). Damit
unterschätzt er jedoch, wie Ozan Keskinkılıç (2018, S. 201) anhand verschiedener
Studien verdeutlicht, die vielfältigen Formen deutscher Orientalismen und deren
Nachwirken in gegenwärtigen Diskursen.
15 Jüngst haben María do Mar Castro Varela und Paul Mecheril (2016, S. 11) noch
einmal darauf hingewiesen, dass Sexualität in Rassendiskursen immer eine beson-
dere Rolle spielt und den Status ‘der Anderen’ als nicht-zivilisiert untermauert.

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durch, dass diesem kulturell Anderen, ein ‘weißer’, beschützender Mann


frei von jeglicher barbarischen Wollust gegenübersteht. Über den Hand-
lungsplot der massenhaften Übergriffe der ‘Fremden’ wurde und wird so
versucht, eine kulturelle Identität zu festigen, welche die kulturelle Diffe-
renz zwischen dem okzidentalen und dem orientalen Kulturkreis entlang
ihres Sexualverhaltens – das zivilisierte gegenüber dem barbarischen – or-
ganisiert. Wie Gabriele Dietze konstatiert, ist „Sexualpolitik [...] also ein
zentraler Modus okzidentaler Selbstversicherung“ (2016a, S. 12). Produkt
dieser narrativen Selbstvergewisserung ist zugleich die Konstruktion einer
männlichen muslimischen Identität als fremd und bedrohlich. Es wird al-
so mit der hier entworfenen narrativen Identität eine Ordnung vorgeschla-
gen, die sich durch ein In-Differenz-Setzen gegenüber einem Bild des An-
deren entwirft. Die Exklusionseffekte eines solchen essentialisierenden
Identitätsnarrativs, das mit einer dichotomen Gegenüberstellung
von ‘Deutschen’ und ‘Geflüchteten’ operiert und kulturelle Differenz fest-
zuschreiben sucht, manifestiert sich in einer allgemeinen Diskursverschie-
bung, in der das Feld des Sagbaren sich eindeutig nach rechts hin geöffnet
hat, sowie in konkreten politischen Diskursen um eine verschärfte Asylge-
setzgebung.

5. Schluss

Was ist mit der erzähltheoretischen Perspektive auf Identitätskonstruktio-


nen im Fluchtdiskurs gewonnen und inwiefern hilft sie uns, die Deutungs-
konflikte um kulturelle Identität im Allgemeinen zu verstehen? Hier wur-
de vorgeschlagen, Kultur als ein Geflecht von Narrativen zu verstehen,
welches jeglicher Subjektkonstitution und Identitätsbildung zugrunde
liegt. Dabei zeigte sich, dass bestimmte Selbsterzählungen entstehen, in-
dem sie Ereignisse in eine chronologische Ordnung bringen und damit
einen kausalen Zusammenhang herstellen. Sie gewinnen ihre Stabilität
über die Abgrenzung zu einem ‘kulturell Anderen’. Die Silvestervor-
kommnisse lassen sich damit als narratives Ereignis verstehen, um das her-
um Identitätsbehauptungen über kulturelle Differenz organisiert wurden.
Das essentialisierende Narrativ des ‘muslimischen Mannes’ als gewalttäti-
gen und frauenverachtenden Kriminellen konnte vor allem deshalb
schnell dominant werden, weil es an ein narratives Repertoire anknüpften
konnte, in dem die Figur des ‘fremden orientalen Mannes’ bereits vielfach
umrissen wird. So stellt Dietze fest, dass ‘Köln’ nur deshalb zum Sinnbild
der von ‘muslimischen Männern’ gegenüber ‘deutschen Frauen’ verübten
sexuellen Gewalt werden konnte, weil diese Erzählung auf eine Interpreta-

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tionsgemeinschaft traf, die ebendiese sexualpolitische Abwehrfigur bereits


verinnerlicht hat (Dietze 2016a, S. 6, 2016b, S. 96). Anders herum bedeutet
dies, dass „das Ereignis Köln keine Wirkungsmacht und keinen exemplari-
schen Wahrheitscharakter gehabt [hätte], wenn es nicht durch die schon
vorhandene Wissensordnung einer sexualpolitischen Islamkritik gefiltert
worden wäre“ (Dietze 2016b, S. 96). Zentral sind also nicht nur die mani-
festen, sondern vor allem auch die latenten Narrative. So betont Müller-
Funk (2002, S. 14), dass gerade jene Erzählungen, die bereits selbstver-
ständlich geworden sind und nur gelegentlich zelebriert zu werden brau-
chen, besonders wirksam sind.
Schließlich kann festgestellt werden, dass narrativen Identitätskonstruk-
tionen per se eine Tendenz zur Schließung inhärent ist, insofern sie stets
nach einer Synthese des Heterogenen streben und das Ziel verfolgen, Dis-
sonanz zu reduzieren. Zeitgleich bleiben sie aber aufgrund der irreduzi-
blen Verschränkung des Eigenen im Anderen und der Notwendigkeit zur
Wiederholung von Erzählungen immer unabgeschlossen und in Bewe-
gung. Das heißt, auch die sich als stabil präsentierenden Selbsterzählungen
sind in sich brüchig und instabil. Es geht vielmehr um Prozesse der Identi-
fizierung, die stets ein offenes Ende haben. Das Bedürfnis nach identitärer
Schließung wird jedoch dann besonders groß, wenn die eigene Identität in
Bedrohung gesehen wird. Hier liegt auch ein Potential für die Entstehung
neuer kulturalisierender Narrative. Die erzähltheoretische Perspektive ver-
deutlicht somit, wie wichtig die beständige Analyse und Dekonstruktion
von Identitätsnarrativen ist, um eben jene Schließungstendenzen bestän-
dig aufzuzeigen und zu hinterfragen.

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(Un-)umstrittene Denkmäler als Ressourcen kultureller
Identität im Spannungsverhältnis des Gemeinsamen und
Gleichartigen

Dennis Bastian Rudolf

1. Einleitung

Das 100. Jubiläum der Weimarer Republik bot im Jahr 2018 Anlass für
zahlreiche Gedenkveranstaltungen. In Form von Festakten, Ausstellungen,
Filmreihen, Podcasts, reenactments, Ringvorlesungen und wissenschaftli-
chen Symposien wurde der ersten parlamentarischen Demokratie in
Deutschland jedoch nicht nur auf vielfältige Weise gedacht, sondern deren
erinnerungskulturelle Relevanz als Wendepunkt der deutschen Geschichte
und als Meilenstein demokratischer Entwicklung neu diskutiert. Um Das
Wagnis der Demokratie (Dreier/Waldhoff 2018) angemessen zu würdigen
und das „Erinnern in Frontstellung“ (Zänker 2019) endlich aufzubrechen,
wurden vermeintlich überkommene Deutungen, welche in der Vergan-
genheit vor allem die verfassungsmäßigen Schwächen der jungen Demo-
kratie in den Mittelpunkt stellten, einer grundlegenden Revision unterzo-
gen. Davon zeugte im Zuge der Feierlichkeiten nicht zuletzt die Grund-
steinlegung für das Haus der Weimarer Republik – Forum für Demokratie,
welches zukünftig weniger die negativen Aspekte des Scheiterns als viel-
mehr die positiven Aspekte der Demokratieentstehung und -entwicklung
in politische und geschichtliche Bildungsangebote einbinden soll. Eng ver-
bunden mit der Demokratisierung Deutschlands ist aber nicht nur die
Ausrufung der deutschen Republik durch Philipp Scheidemann bzw. der
freien sozialistischen Republik Deutschlands durch Karl Liebknecht, son-
dern bereits der Niedergang des deutschen Kaiserreichs in Folge der No-
vemberrevolution 1918. Besonders präsent ist in diesem Kontext bis heute
der Kieler Matrosenaufstand. Es mag daher auch kaum verwundern, dass
diesem „Ereignis von nationalgeschichtlicher Bedeutung“ in der öffentli-
chen Wahrnehmung kaum weniger prominent begegnet wird und es von
Seiten der Stadt Kiel – unter dem Slogan „Demokratie erkämpfen. Demo-
kratie leben“ – gar als ein alternativer „Geburtsort der deutschen Demokra-
tie“ gefeiert wurde (Stadt Kiel 2018).

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Dennis Bastian Rudolf

Angesichts solch gewichtiger bundespolitischer Erinnerungsorte gera-


ten die damit verbundenen Ereignisse auf regionaler oder lokaler Ebene
oft ins Hintertreffen, was gerade mit Blick auf die Ausbreitung der Revolu-
tionsbewegung bedauerlich ist. Schließlich stellen die revolutionären Um-
brüche der Jahreswende 1918/19 auch hier bedeutende historische Fix-
punkte dar, die ihre latenten und manifesten Spuren in der regionalen po-
litischen Kultur des Landes bzw. der Länder hinterlassen haben. Ein Bei-
spiel, dem sich dieser Beitrag vor dem Hintergrund des Ausgreifens des
Kieler Matrosenaufstandes bzw. der Novemberrevolution auf das damalige
Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin widmen möchte, findet sich in
der Gedenkstätte revolutionärer Matrosen in Rostock. Das übergeordnete In-
teresse zielt jedoch allgemeiner auf die Beobachtung, dass sich gegenwärtig
zunehmend manifeste (Deutungsmacht-)Konflikte an Denkmälern im öf-
fentlichen Raum entzünden und es daher notwendig erscheint, sich mit
den Aspekten der vermittelnden „Identifikation mit den Objekten der
Stadt“ (Beyme 1998, S. 123) innerhalb der politischen Kultur(en) auseinan-
derzusetzen.
Im Zuge dessen wird auszuführen sein, dass sich die Frage nach der ge-
sellschaftlichen Auseinandersetzung mit Denkmälern keineswegs auf
einen Rostocker Einzelfall oder auf ein Spezifikum des deutschen Ost/
West-Vergleichs, hinsichtlich der notwendigen Aufarbeitung der DDR-
Vergangenheit, bezieht, sondern auf eine prinzipielle und weltweite Ent-
wicklung verweist, in welcher bereits bestehende wie neue Denkmäler in-
nerhalb einer bzw. zwischen politischen Kultur(en) in die öffentliche Dis-
kussion geraten. Als materialisierte Formen und damit als sichtbarer Aus-
druck einer politischen Kultur, stehen sie in enger Verbindung mit der äs-
thetischen Ausstattung und der symbolischen Reproduktion politischer
Gemeinschaften und werfen damit unmittelbar Fragen nach deren kollek-
tiven bzw. kulturellen Identitäten auf. In der Auseinandersetzung mit
Denkmälern erkennen wir, „[w]er diese anderen sind“ mit denen ‚man‘
„stets nur [...] zusammen“ (Rohe 1987, S. 40) Kultur haben kann. Gerade
diese Erkenntnis führt angesichts gegenwärtiger Kultur- und Deutungs-
machtkämpfe1 sowie neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien zwischen Hy-
perkultur und Kulturessenzialismus (Reckwitz 2017), kosmopolitischen
und kommunitaristischen Demokratien (Merkel 2017) oder offenen und

1 Vgl. dazu die von Jörn Knobloch, Jan Christoph Suntrup und Odila Triebel orga-
nisierte Frühjahrstagung des DVPW-Arbeitskreises „Politik und Kultur“ mit dem
Thema Die neuen Kulturkämpfe, die vom 27. und 28. März 2019 an der Universität
Potsdam stattfand.

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(Un-)umstrittene Denkmäler als Ressourcen kultureller Identität

geschlossenen Gesellschaften (Bizeul et al. 2019) zu einer Zerreißprobe be-


züglich der Frage, was politische Gesellschaften und Kulturen überhaupt
zusammenhält (Heitmeyer 1997; Hradil 2013; Reder 2013) und welche
Rolle kollektive bzw. kulturelle Identitäten dabei spielen (Fukuyama 2018,
2019).
Ziel des Beitrags ist es dementsprechend, vor dem Hintergrund aktuel-
ler Konflikte rund um Denkmäler im öffentlichen Raum, den gegenwärti-
gen gesellschaftlichen Konfliktlinien in Bezug auf die kulturelle Identität
nachzuspüren. Zu diesem Zweck findet zunächst eine Annäherung an das
Konzept kultureller Identität bzw. eine Anlehnung an François Julliens
Denkfigur der „kulturellen Ressource“ von Seiten der regionalen politi-
schen Kulturforschung statt (2). Anschließend wird der prinzipiellen Um-
strittenheit von Denkmälern im politisch-kulturellen Kontext, einerseits
vom Ursprung der politischen Kulturforschung als Krisen- bzw. Transfor-
mationsforschung her und andererseits mit Blick auf aktuelle Konflikte
nachgegangen (3). Die eingangs thematisierte Gedenkstätte revolutionärer
Matrosen dient in der Folge als Beispiel aus dem regionalen bzw. lokalen
Kontext, um gegenüber den offensichtlichen Konflikten die prinzipiellen
Potentiale kultureller Ressourcen im Spannungsverhältnis des Gemeinsa-
men und Gleichartigen politischer Kulturen zu thematisieren (4). Das ab-
schließende Fazit greift die angestellten Überlegungen auf (5).

2. Regionale politische Kulturforschung und falsche Vorstellungen politisch-


kultureller Homogenität bzw. Identität

Nähert man sich der Konflikthaftigkeit von Denkmälern über die politi-
sche Kultur als dem „Ensemble der für eine Gesellschaft oder ein gesell-
schaftliches Teilsegment in Relation zur ‚systematisierten Form von Herr-
schaft‘ (Pelinka 2006, S. 225) relevanten emotionalen und kognitiven Hal-
tungen und der daraus resultierenden Formen stabilisierten Verhaltens,
die sich jeweils im Spannungsfeld von politischer Norm und gesellschaftli-
cher Wirklichkeit bewegen“ (Salzborn 2009, S. 46f.) an, rückt unweigerlich
die Frage nach deren Veräußerlichung in den Fokus. Politische Weltbilder,
„welche die für eine soziale Gruppe maßgebenden Grundannahmen über
die politische Welt und damit verknüpfte operative Ideen [beinhalten], so-
weit sie sich mental und/oder habituell auskristallisiert haben“ (Rohe
1994, S. 1), dienen den Individuen im Sinne von „assumptions about the
political world“ (Elkins/Simeon 1979, S. 127), um ihnen eine spezifische
Sicht auf politische Grundprobleme zu verleihen sowie um entsprechende
Antworten und Lösungen anzubieten. Die notwendige Verankerung die-

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Dennis Bastian Rudolf

ser politischen Weltbilder kann sich jedoch nicht allein auf die kognitiv
gespeicherten Ideen, Werte und Maßstäbe beschränken. Karl Rohe spricht
deshalb von einem konstitutiven Doppelcharakter politischer Kultur, weil
diese stets „als Ideensystem und gleichzeitig als Zeichen- und Symbolsys-
tem gesehen werden muß“ (Rohe 1994, S. 7). Neben einer auf die kogniti-
ve und evaluative Dimension bezogenen Inhaltsseite, existiert immer eine
auf die affektive und ästhetische Dimension bezogene Ausdrucksseite, die
abseits rationaler Zustimmung auf eine notwendige emotionale Veranke-
rung abzielt und politische Kultur überhaupt erst sinnenfällig werden
lässt. Letztere ist damit stets „innerlich und äußerlich, ist objektiv und sub-
jektiv“ (Rohe 1990, S. 337) und erfordert neben der kognitiven Verinnerli-
chung immer auch die ästhetische Veräußerlichung über „visuelle Reprä-
sentationen als politisch-kulturelle Manifestationen“ (Bergem 2019,
S. 255).
Eine adäquate Analyse muss auch deshalb beide Seiten politischer Kul-
tur berücksichtigen, weil Namen, Zeichen, Gesten, Standbilder, Denkmä-
ler, Fahnen, Orte, Mythen und Rituale stets mehr sind als der bloße Aus-
druck des Inhalts. Sie besitzen nicht nur eine jeweils eigene Form und Ge-
stalt, sondern auch eine eigene Geschichte und sind gerade deshalb dazu
in der Lage, affektive Empfindungen hervorzurufen und emotionale Bin-
dungen zwischen der Bevölkerung und dem System herzustellen (Rohe
1990, S. 338). Diesbezüglich stehen vor allem die kulturellen Eigenarten
politischer Systeme im Fokus, weil unterschiedliche politische Kulturen
unterschiedlicher politischer Gefühlswelten und Ästhetiken bedürfen da-
mit politischer Inhalt und Sinn plausibel erscheinen kann (1987, S. 41).
Das Produzieren und Aktualisieren politisch-kultureller Symbole dient im
politischen Alltagsleben neben der Sinn- und Orientierungsstiftung durch
eine kollektive bzw. kulturelle Identität immer auch der Legitimation poli-
tischer Gemeinschaften, Regime und Herrschaftsträger. Offensichtlich
bleibt mit dem Verweis auf die Beziehung von politischer Kultur und sys-
tematisierter Herrschaftsform zudem ein prinzipielles Spannungsverhält-
nis, welches sich entlang vertikaler und horizontaler Analyseebenen entfal-
tet. Dieses fordert einerseits die Frage heraus, wie sich in gleichen oder
ähnlichen politischen Kulturen unterschiedliche, teilweise konfligierende,
Identitäten entwickeln können und andererseits, wie diese konstruiert wer-
den.
Mitunter vor diesem Hintergrund hat Tom Mannewitz (vgl. 2014), un-
ter Bezugnahme auf methodische, konzeptionelle und geografische Desi-
derate der deutschen Forschung nach 1990, auf bestimmte Defizite einer
regionalen politischen Kulturforschung zwischen Surveydaten und Sym-
bolanalyse hingewiesen. Als landestypische bzw. subnationale Kultur oder

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(Un-)umstrittene Denkmäler als Ressourcen kultureller Identität

Mentalität richtet sich der Regionalitätsbegriff demnach entweder auf un-


terschiedliche qualitative Analyseebenen des politischen Systems (Bund –
Land – Kommune) mit jeweils eigenen Gemeinschaften, Regimen und
Herrschaftsträgern oder zielt auf quantitative Differenzierungen einer na-
tionalen politischen Kultur in bestimmte regionale Typen oder Cluster ab
(Mannewitz 2017, S. 7). Diese Ableitungen erweisen sich jedoch hinsicht-
lich falscher Vorstellungen politisch-kultureller Homogenität als durchaus
problematisch bezüglich eines „methodologische[n] Nationalismus“ (Man-
newitz 2014, S. 526) bzw. Regionalismus. Dies gilt für erstere, weil sie zwar
die vertikale Differenzierung der politischen Kultur einer Gesellschaft in
Rechnung stellt, jedoch die Differenzierung zwischen Eliten- und Massen-
kultur aus dem Blick verliert (Almond/Verba 1963, S. 26f., Pye 1965, S. 16;
Hague et al. 2016, S. 205). Und für letztere, weil sie mit Hilfe strukturer-
kennender Verfahren zwar subnationale Analyseeinheiten berücksichtigt,
diese aber – im Sinne von Anti-System-Haltungen und existentiellem
Stress – wieder auf das gesamtgesellschaftliche nationale politische System
bezieht (Mannewitz 2015, S. 33ff.). Die Analyse regionaler Varianzen bie-
tet somit wiederum nur in Bezug auf die politische Performanz des Ost-
West-Gegensatzes in Deutschland eine „methodisch befriedigenden Ant-
wort“ (ebd., S. 48) an.
Dennoch fasst Mannewitz das prinzipielle Problem in der Analyse wei-
ter, wenn er ein zentrales Defizit der Forschung darin erkennt, dass bei der
Berücksichtigung und Erforschung subnationaler Heterogenität, in Form
von regionalen politischen (Sub-)Kulturen, eine deutlich erkennbare Un-
ausgewogenheit herrscht, die in Deutschland nach der Wiedervereinigung
und unabhängig von eher quantitativ-einstellungszentrierten oder qualita-
tiv-vorstellungszentrierten Zugängen zu beobachten ist. Gerade in Bezug
auf lokale Identitäten und Mentalitäten erfährt die Binnendifferenzierung
im Westen demnach zwar seit jeher eine prinzipiell „größere (wenngleich
immer noch geringe) Aufmerksamkeit als im Osten“ (Mannewitz 2014,
S. 535). Die geforderte subnationale komparative Analyse politischer Kul-
turen auf Grundlage ganzheitlicher Betrachtungen erfordert daher zu-
nächst einmal einen Blick ins Detail, wenn letztendlich eine Antwort auf
die übergeordnete Frage gefunden werden soll, warum unterschiedliche
Identitäten, Mentalitäten, Werte, Traditionsbestände und Symbole auf der
lokalen und regionalen Ebene zu ähnlichen – oder eben verschiedenen –
normativen Vorstellungen auf der regionalen wie nationalen Ebene füh-
ren. Das Problem einer falschen Vorstellung politisch-kultureller Homoge-
nität ist damit aber untrennbar mit dem „Neben-, Gegen- und Miteinander
von Subsystemen, die autonom voneinander und vom zentralen politi-

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Dennis Bastian Rudolf

schen System“ (Pelinka 2006, S. 229) existieren, verbunden.2 Diese Diffe-


renzierung erfordert sodann, wie Lucian Pye (1965, S. 16) und Robert Put-
nam (1971, S. 651) bereits im Zuge der unmittelbaren Rezeption der Civic-
Culture-Studie deutlich gemacht haben, eine grundlegende methodische
Innovation, um den Feinheiten und Eigenarten der politisch-kulturellen
Eliten- und Massenkulturen gerecht zu werden.
Zwar nimmt ein detaillierter Blick auf den Umgang mit Denkmälern
und Gedenkstätten im Kontext regionaler politischer Kultur und kulturel-
ler Identität hier nicht für sich in Anspruch, dezidierte methodische Inno-
vationen einzubringen, die helfen den wissenschaftlichen Flickenteppich,
den die sträfliche Vernachlässigung der regionalen Forschung hervorge-
bracht hat (Mannewitz 2017, S. 9), zu stopfen, die Frage nach der Rolle
von kulturellen Ressourcen im öffentlichen Raum bei der Konstruktion
von kultureller Identität sowie deren Akzeptanz oder Ablehnung inner-
halb einer oder zwischen unterschiedlichen politischen (Sub-)Kulturen,
vermag jedoch für das Ziel einer komparativ-regionalen politischen Kul-
turforschung mit Sicherheit Relevanz zu entwickeln.
Vor dem Hintergrund des von Mannewitz angesprochenen „methodo-
logische[n] Nationalismus“ (2014, S. 526) bildet das wichtigste Schema der
Selbstthematisierung des Kollektivs über eine kulturelle Identität nach wie
vor die Nation. Seit dem Formierungsprozess der europäischen National-
staaten im 19. Jahrhundert, welche nicht natürlich gewachsen sind, son-
dern stets das Ergebnis gezielter Planung und Selektion innerhalb territo-
rialer Grenzen waren, zeigt sich ein weiterhin ungebrochener Drang hin
zu Nationalstaaten als Zielgröße einer kollektiven Identität, in denen eine
unerfüllbare und schimärische Einheit (Schulze 1996, S. 82) auf Grundlage
von vermeintlich eindeutigen Merkmalszuschreibungen bzw. des Glau-
bens an eine gemeinsame, tatsächliche oder fiktive, Abstammung herbei-
geführt werden soll. Wie Eric Hobsbawm mit Verweis auf gängige Kriteri-
en wie Sprache, Kultur, Geschichte oder Herkunft anführt, handelt es sich
dabei jedoch meist um eben solche unverfügbaren Begriffe (Vorländer
2013a, S. 22),3 die selbst als „fuzzy, shifting and ambiguous, and as useless
for purposes of the traveller’s orientation as cloud-shapes are compared to

2 Dies gilt darüber hinaus natürlich auch für die Prozesse zwischen politischen Deu-
tungs- und Soziokulturen.
3 Mit dem Konzept eines kulturell gefassten Begriffs der Unverfügbarkeit bezieht
sich Vorländer auf die konstruktivistische Wendung einer „Kultur des Verhaltens
zum Unverfügbaren“ (Kambartel zit. in Lübbe 2004, S. 149), welche in der histo-
risch-kulturellen Analyse von Diskursen und Praktiken, nach dem Umgang mit für
unverfügbar gehaltenen überkomplexen Begriffen fragt. Als unverfügbar müssen

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(Un-)umstrittene Denkmäler als Ressourcen kultureller Identität

landmarks“ (Hobsbawm 1990, S. 6) erscheinen. Zudem sind die ausge-


wählten Merkmale als Erfindung einer Tradition in ihrer Sinngebung
nicht nur kontingent, sondern auch so zahlreich, dass kaum mehr sinnvoll
zwischen ethnischen, nationalen, politischen, sozialen oder historischen
Konstruktionen unterschieden werden kann (Leggewie 1994, S. 53).
Inwiefern auf nationalstaatlicher Ebene heute überhaupt noch „positiv
reflektierte Merkmale der eigenen politischen Kultur“ (Rohe 1994b,
S. 167) identifiziert werden können, die einen vermeintlichen kleinsten ge-
meinsamen Nenner für die Konstruktion einer nationalen kulturellen
Identität bieten, ist in spätmodernen Gesellschaften vor dem Hintergrund
der Auflösung von alten Sozialstrukturen und traditionellen Lebensfor-
men (Beck 1983, 1986) bzw. deren Mobilisierung, Dynamisierung und
Pluralisierung (Vester 2001; Geißler 2014) ohnehin fragwürdiger denn je.
Jürgen Habermas verweist bezüglich der Frage, „ob denn einer postkon-
ventionellen Ich-Identität eine Gruppenidentität, also der Geist einer kon-
kreten Gesellschaft überhaupt zugeordnet werden kann“ (1995, S. 96), auf
vier Stufen der sozialen Evolution und stellt fest, dass die Universalreligio-
nen der entwickelten Hochkulturen die letzten Gedankenformationen wa-
ren, die allen Gesellschaftsmitgliedern eine anerkannte und einheitsstiften-
de Interpretation im Sinne einer kollektiven Identität geben konnten. Eine
ähnliche Konstruktion, die eine komplexe und ausdifferenzierte Gesell-
schaft repräsentiert und zum einheitlichen normativen Bewusstsein aller
Gesellschaftsmitglieder integriert, hält er nicht nur für unwahrscheinlich,
sondern das Konzept „der hochkulturell ausgebildeten, um den Staat zen-
trierten [...] und zugleich festgeschriebenen Identität“ (Habermas 1995,
S. 107) schlichtweg für überholt. Dies bedeutet aber, „daß das moderne
Identitätsproblem, nämlich die Entzweiung des Ich mit der Gesellschaft
nicht gelöst werden kann“ (1995, S. 104), zumal sich das Identifikationsbe-
dürfnis ohnehin weniger in einer einzelnen übergeordneten Identität,
denn in vielfältig wandelbaren Ausdrucksformen erschöpft. Eine Beobach-
tung, die sich in der gegenwärtigen Debatte rund um gesellschaftliche
Konflikte über Identität erneut niederschlägt.
Wenn entsprechende Zugehörigkeitsmerkmale – gerade in der Spätmo-
derne – jedoch ungeeignet sind, um den ‘wahren Kern’ einer nationalen
Identität zu identifizieren, gewinnen vielmehr jene Prozesse der Identifika-
tion als kollektives Subjekt an Bedeutung (Brubaker/Cooper 2000, S. 14ff.),

solche Sachverhalte gelten, die der politischen Ordnung bzw. der Gemeinschaft
vorausliegen und für sie geltend gemacht werden, sich ihr aber prinzipiell entzie-
hen, weil sie sich als zu abstrakt darstellen (Vorländer 2013b, S. 20).

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Dennis Bastian Rudolf

welche kollektive Identität als inklusiven Sammelbegriff erscheinen lassen,


weil „alle denkbaren Faktoren Einfluss auf ein wie auch immer geartetes
»Gemeinschaftsgefühl« nehmen können“ (Münkler/Hacke 2009, S. 8). Im
Sinne einer vorgestellten Gemeinschaft, die stets in bestimmten Grenzen
existiert, hinter denen wiederum andere Nationen liegen, erfordert die
räumliche Trennung innerhalb eines modernen Nationalstaates vielmehr
ein mentales Abbild der Gemeinschaft, welches verbindende Elemente
und Bezugspunkte für ein kollektives Bewusstsein oder ein Gefühl der Zu-
gehörigkeit schafft (Anderson 1990, S. 16). Zudem dient den Individuen
nicht unbedingt die Nation an sich als Orientierungspunkt, sondern oft
ein viel grundsätzlicheres soziales Imaginäres, von dem aus sie Vorstell-
ungen über ihr Zusammenleben innerhalb einer Gemeinschaft und die da-
mit verbundenen Ideale entwerfen: „the way we imagine our society“ (Tay-
lor 2002, S. 92). Eine kommunikative und emanzipatorische Verständi-
gung über kollektive Selbstbilder, gemeinsame Ideale, Empfindungen so-
wie geteilte Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte (Münkler/Hacke
2009, S. 8f.) verweist gegenüber statischen Verständnissen von kultureller
Identität somit erneut auf die Formel von „Kultur als Praxis und Prozeß“
(Rohe 1994, S. 8), die „endlose Palette [...] symbolischer Formen“ (Legge-
wie 1994, S. 53) sowie die Notwendigkeit einer stetigen Aktualisierung
und symbolischen Erneuerung der politisch-kulturellen Inhalts- und Aus-
drucksseiten auf unterschiedlichen Analyseebenen.
François Jullien stellt daher in seinem Essay Es gibt keine kulturelle Identi-
tät die gängige Zielformel einer kulturellen Identität, die auf „Gemein-
schaftlichkeit qua Gleichartigkeit“ basiert, grundsätzlich infrage. In Ab-
grenzung zu Ableitungen des Universellen aus der Logik und des Gleich-
förmigen aus dem Ökonomischen, rückt er die politisch-kulturelle Dimen-
sion des Gemeinsamen ins Zentrum einer Kritik an den Verhältnissen der
Postmoderne, die eine Reduzierung des Ähnlichen auf das Gemeinsame
und damit eine Form der Assimilation vorantreibt: „Daher sollte man das
Gemeinsame, das nicht gleichartig ist, befördern: Allein dieses ist intensiv,
allein dieses Gemeinsame ist produktiv. Genau das fordere ich an dieser
Stelle ein, denn einzig das nicht Gleichartige ist wirkungsvoll“ (Jullien
2018, S. 16; Herv. im Orig.). Im Begriffspaar von Differenz und Identität
erkennt Jullien dementsprechend auch den grundlegenden Geburtsfehler
rund um die Debatte einer essentialistischen kulturellen Identität. Statt die
Kulturen in ihrer Verschiedenheit über bestimmte Differenzen zu be-
schreiben, solle man sich ihnen mit dem Konzept der Abstände, écarts, an-
nähern, um nicht das Trennende einer jeden Identität (ebd., S. 36), son-
dern das geteilte Kulturelle zu betonen. Der Verzicht darauf, jenes „große
X zu benennen, ohne das man vermeintlich nicht auskommt“ (ebd., S. 46),

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weil eine Logik der Differenz die Isolierung und Fixierung kultureller
Identitäten erfordert, richtet den Fokus indes auf die Transformation als
Ursprung des Kulturellen und die Abstände, welche sich zwischen einer
Vielfalt von Kulturen ergeben: „In einem Zwischen, das kein Kompromiss
ist, kein einfaches Mittelding, sondern ein In-Spannung-Versetzen [...]“
(ebd., S. 51) liegt die Fruchtbarkeit jener kultureller Ressourcen, die keine
Gruppe für sich alleine besitzen kann. Die Entfaltung des kulturell Geteil-
ten und Gemeinsamen erfordert somit die Verantwortlichkeit des Subjekts
für die Aktivierung der kulturellen Ressourcen und die existentielle Fähig-
keit, durch die Kultur „die Begrenzung seines eigenen Ichs zu überwin-
den“ (ebd., S. 63).
Mit Blick auf den Beitragstitel scheinen zwei Überlegungen Julliens zen-
tral. Erstens, dass es sich bei Denkmälern im öffentlichen Raum um eben
solche elementaren, gemeinsamen und materialisierten kulturellen Res-
sourcen handelt, die im Prozess zwischen politischer Sozio- und Deutungs-
kultur aktiviert, d. h. erkundet, ausgebeutet und ausgedeutet werden, um
die Suche nach dem Gemeinsamen im Dazwischen unterschiedlicher Deu-
tungen zu befördern. Es geht damit aber ebenso wenig um die Festlegung
einer statischen kulturellen Identität wie um die Einsozialisierung einer
bestimmten politischen Kultur zu einem Zeitpunkt X, sondern um „die
Spannung des Vielfältigen, die von der Abweichung hervorgebracht wird,
die es arbeiten und ununterbrochen mutieren lässt“ (Jullien 2018, S. 47)
und die Veränderung, nicht die Bewahrung politischer Kultur, welche mit
der fortwährenden Pflege, Aktualisierung und symbolischen Erneuerung
im Neben-, Gegen- und Miteinander von politischen (Sub-)Kulturen ein-
hergeht. Und Zweitens, dass diese kulturellen Ressourcen „unabhängig
von der Ebene der Gemeinschaftlichkeit“ (ebd., S. 16) – Stadt, Land, Nati-
on oder gar die ganze Menschheit – verteilt sind: „Nur wenn es uns ge-
lingt, ein Gemeinsames zu fördern, das keine Reduktion auf das Uniforme
darstellt, wird das Gemeinsame dieser Gemeinschaft aktiv sein, so dass wir
die Möglichkeit haben werden, dieses wirklich zu teilen“ (ebd.). Die Ver-
teilung und subjektive Verantwortlichkeit gegenüber kulturellen Ressour-
cen stellt bezüglich der Aktivierung und Verteidigung aber gleichzeitig in
Rechnung, dass diese auch stets Gefahr laufen, vernachlässigt zu werden:
„Man kann sie verlieren, sie können verwahrlosen, man kann es versäu-
men sie zu pflegen und zu unterhalten [...]. Sie können wieder brachlie-
gen“ (ebd., S. 63). Warum diese beiden Aspekte im Kontext neuer gesell-
schaftlicher Konfliktlinien gegenwärtig in besonderer Weise für die Um-
strittenheit von Denkmälern geltend gemacht werden können und inwie-
fern sich daraus ein konstruktiver bzw. destruktiver Umgang mit entspre-

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chenden Ressourcen ergibt, soll im folgenden Kapitel nachvollzogen wer-


den.

3. Öffentliche Denkmäler im Spannungsverhältnis politischer Kultur(en)

Die prinzipielle Umstrittenheit von politisch-kulturellen Denkmälern mag


zunächst wenig überraschen, wenn man politische Kulturforschung von
ihrem Ursprung her als Krisen- bzw. Transformationsforschung versteht.
Es liegt unmittelbar nahe, dass eine Reaktion erforderlich ist, wenn sich et-
was Prinzipielles im Verhältnis von politischer Kultur und politischem
System ändert. Dies betrifft Denkmäler, welche als Ausdrucksseite einer
politischen Kultur deren Inhalts- und Ideensysteme ästhetisch fassbar und
bewertbar ausdrücken müssen, um – beispielsweise in Form von kulturel-
ler Identität oder eines politischen Gemeinschaftssinns – affektive System-
bindungen über symbolisch codierte, inszenierte und ritualisierte Reprä-
sentationen sozialer Inklusion und Exklusion herzustellen, im Besonderen.
Am offensichtlichsten ist dies im Kontext von politischen Regime- bzw.
Systemwechseln, da die neuen Strukturen eine Anpassung der Kultur gera-
dezu erzwingen. Besonders eindringlich wird dies im politischen Ikono-
klasmus bzw. Iconoclash (vgl. Latour 2002), wenn mit überkommenen
Herrschaftssymbolen und -bildern eine öffentlichkeitswirksame Tabula ra-
sa (vgl. Bizeul/Wodianka 2018) vollzogen wird. Bekannte Beispiele aus der
deutschen Geschichte stellen hier neben der Sprengung des Hakenkreuzes
auf der Zeppelintribüne des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes, die De-
montagen zahlreicher Lenindenkmäler (Berlin, Dresden, Eisleben u.a.) in-
folge der deutschen Wiedervereinigung dar, welche teilweise unter Protes-
ten der Einwohner vonstattengingen.4 Ein weiterer, im Zuge des Irak-
kriegs 2003 in den Medien prominent gewordener Fall, findet sich im
Sturz der Statue Saddam Husseins auf dem Firdos-Platz in Baghdad, wel-
cher von Robert Fisk rückblickend als „the most staged photo opportunity
since Iwo Jima“ (zit. nach Hammond 2007, S. 68) umschrieben wurde.

4 Popkulturell inszeniert wurde mitunter der Abriss der Berliner Statue im Film
Good Bye Lenin. Die filmische Umsetzung hat bezüglich des Aussehens wie auch
der Art des Abtransports jedoch nur wenig mit dem Original gemein. Der Granit-
statue wurde damals symbolträchtig der Kopf abgeschlagen und schließlich in
einer Sandgrube vergraben. Mittlerweile wurden die Einzelteile jedoch wieder ge-
borgen und der Kopf ist heute Teil der Dauerausstellung Enthüllt. Berlin und seine
Denkmäler im Areal der Zitadelle Spandau.

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Gegenwärtig kann jedoch auch beobachtet werden, dass Denkmäler


nicht aufgrund von revolutionären Umbrüchen in der politischen Struk-
tur, sondern aufgrund von schleichenden Veränderungen innerhalb der
politischen Kultur strittig werden bzw., dass natürlich auch neue Denkmä-
ler nicht in einen politisch-kulturell luftleeren Raum hineingebracht wer-
den und sich dementsprechend an den Maßstäben, den Vor- und Einstel-
lungen politischer Kulturen und Subkulturen sowie den damit verbunde-
nen Konfliktlinien messen lassen müssen. Auch hier können für die Bun-
desrepublik Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit angeführt werden,
wie etwa die von Björn Höcke vorgenommene Abwertung des Denkmals
für die ermordeten Juden Europas in Berlin als „Denkmal der Schande“, die
nicht für sich alleine steht, sondern mit der Forderung nach einer „erinne-
rungspolitische[n] Wende um 180 Grad“ (Zeit Online 2017) und einer
fundamentalen Infragestellung der deutschen Erinnerungskultur verbun-
den wurde. Weiterhin sind in den vergangenen Jahren Denkmäler zur Er-
innerung an die 190- bzw. 200-jährigen Geburtstage von Friedrich Engels
in Wuppertal und Karl Marx in Trier in die Schlagzeilen geraten, wobei ei-
nerseits die historische Bewertung der Persönlichkeiten und ihres ideenge-
schichtlichen Erbes im Zentrum stand, andererseits jedoch auch die Tatsa-
che, dass es sich in beiden Fällen um Schenkungen der Volksrepublik Chi-
na handelte, die als Teil einer strategischen Außenpolitik im Verhältnis
von Propaganda und Regierungs-PR (Mavridis 2004; Köhler/Schuster
2006) kritisch hinterfragt wurden.
Dass ähnliche Auseinandersetzungen derzeit auch vermehrt in den Ver-
einigten Staaten auftreten, mag angesichts der zunehmenden politischen
Polarisierung sowie der damit zu Tage tretenden gesellschaftlichen Spal-
tung im öffentlichen Diskurs kaum verwundern (Westfall et al. 2015; Lüt-
jen 2016).5 Besonders auffällig ist hier jedoch, dass sich entsprechende
Konflikte oft an Statuen, Denkmälern und Monumenten entzündet ha-
ben, die als Symbole für die kulturelle Identität gesellschaftlicher Gruppen
seit über 100 Jahren im öffentlichen Raum bestehen, bis dato allerdings
lange Zeit nur wenig kontrovers betrachtet und diskutiert wurden. Die Ve-
hemenz des neuerlichen Konfliktaustrags variiert im Zuge der Manifesta-
tionen jedoch enorm. So haben sich die Diskussionen rund um die Viel-
zahl an Denkmälern und Statuen zu Ehren Christoph Kolumbus’ und die

5 Morris Fiorinas These eines Myth of a Polarized America, welche im Polarisierungs-


und Spaltungsdiskurs lediglich den Austrag eines Kulturkampfes auf der Elitenebe-
ne erkennt (2005), wäre vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse, Entwicklungen
und Erkenntnisse eindringlich zu widersprechen.

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damit verbundenen (National-)Feiertage – nicht nur, aber vor allem in den


USA6 – seit längerer Zeit in Form von weitestgehend friedlichen Protesten
intensiviert. Größeres mediales Aufsehen erlangten mitunter die New Yor-
ker Standbilder auf dem Columbus Circle (erb. 1892) und am Eingang des
Central Parks (erb. 1892), infolge einer von Bürgermeister Bill de Blasio
veranlassten Überprüfung aller potentieller „symbols of hate on city pro-
perty“ (2017). Im Zeitraum einer 90 Tage andauernden (Neu-)Bewertung
aller Kunstwerke auf städtischem Boden und der im Raum stehenden Ent-
fernung dieser Statuen, spitzte sich die Kontroverse in der öffentlichen
Auseinandersetzung allerdings zu. Augenscheinlich wurden die unter-
schiedlichen Deutungen der historischen Figur Christoph Kolumbus’ und
die damit einhergehenden kulturellen Ansprüche ethnischer Gruppen in
den Vereinigten Staaten.
Wie Kathleen Loock in ihrer Studie zu Kolumbus in den USA darlegt,
fanden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vor allem europäische
Einwanderer, die sich zu dieser Zeit selbst als foreigners wahrnahmen, in
ihm eine Identifikationsfigur und verankerten diskursive, historische wie
ideologische Verbindungen bezüglich ihres eigenen sowie des nationalen
Selbstbildes. Im Rahmen eines sogenannten homemaking myth dienten die
Kolumbusappropriationen im Zuge der Feiern zum 400-jährigen Jubiläum
der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus bzw. seiner Ankunft in der
neuen Welt, dem quincentenary, vor allem italienischen und jüdischen Ein-
wanderern zur Ausbildung einer italoamerikanischen bzw. jüdisch-ameri-
kanischen Gruppenidentität und ihrer Einordnung in die Nationalge-
schichte der Vereinigten Staaten (2014, S. 45ff.): „In der jungen Republik
wurde er [Kolumbus] zum Europäer, in dem alle US-Bürger ihre eigenen
Wurzeln wiederentdecken konnten“ (ebd., S. 77). Die übergeordnete Kon-
struktion eines nationalen Gründungsmythos mit Christoph Kolumbus als
Nationalhelden, an den die Herkunftsgemeinschaften anzuschließen such-
ten, verfolgt Loock bis zu William Robertsons History of America (1777) zu-

6 Beispielshaft dafür ist die jüngere Welle an Umbenennung bzw. -widmung des Día
de la Raza in zahlreichen Ländern Südamerikas seit 2000. So etwa in Día del Respe-
to a la Diversidad Cultural (Tag des Respekts vor der kulturellen Diversität – Argen-
tinien), Día de la Descolonización (Tag der Entkolonisierung – Bolivien), Día del En-
cuentro de Dos Mundos (Tag der Begegnung der zwei Welten – Chile), Día de la In-
terculturalidad y la Plurinacionalidad (Tag der Interkulturalität und Plurinationalität
– Ecuador), Día de los Pueblos Originarios y del Diálogo Intercultural (Tag der indige-
nen Völker und des interkulturellen Dialogs – Peru) oder Día de la Resistencia
Indígena (Tag des indigenen Widerstands – Venezuela). Aber auch in den Vereinig-
ten Staaten ist, zumindest auf Bundesstaaten- und Städteebene, eine Abkehr vom
Kolumbus-Tag zugunsten eines Indigenous Peoples’ Day zu beobachten.

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rück, in welcher Kolumbus eben nicht als historische Figur Eingang fin-
det, sondern als mythisch überhöhte Persönlichkeit mit herausragenden
Qualitäten (Durchhaltevermögen, Mut, Vision, Weisheit). Diese zeigen
sich zunächst im Zuge der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt,
stellen später jedoch vor allem das pädagogische Vorbild für die Stiftung
einer gemeinsamen Identität im Prozess der Staatenbildung dar (Loock
2004, S. 53, 75). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand diese Deutung und
mit ihr die Kolumbusbegeisterung zwar ihren Höhenpunkt, sie grenzt je-
doch gleichsam „einen historisch und kulturgeschichtlich bedeutsamen
Zeitraum ab, in dem süd- und osteuropäische Einwanderer sowie nativisti-
sche Gegner der New Immigration das zunehmend diverse Gesellschafts-
bild in den USA entscheidend prägten“ (ebd., S. 49), wodurch das Kon-
fliktpotenzial amerikanischer Selbstrepräsentation über das Kolumbusbild
offenbar wurde. Im Zuge politischer, sozialer und kultureller Umwälzung
nahmen indigene, afroamerikanische und umweltpolitische Gruppen be-
wusst Abstand von einer kulturellen Aneignung und artikulierten stattdes-
sen eine prinzipielle Ablehnung bzw. Forderungen nach Kompensation:
„It should not be a complete surprise […] that Columbus – as anti-hero, if
not as hero – would figure prominently in another, late-twentieth-century
postcolonial moment, when other ethnic, racial, class, and gender subal-
terns would similarly seek liberation and the redefinition of America“
(Dennis 2002, S. 153). Für sie stellt die Ankunft Christoph Kolumbus’ in
der Neuen Welt keinen Segen und damit auch kein mythisches Grün-
dungspotential dar, sondern den Beginn von Vertreibung, Unterdrückung,
Ausbeutung und Mord.
Die grundlegende Kritik gegenüber eines italoamerikanischen Partiku-
larhelden Christoph Columbus als Symbol für eine white ethnic pride (Loock
2014, S. 21) bestimmte dementsprechend auch die Auseinandersetzung
um die New Yorker Statuen während der 90-tägigen Evaluationsphase.
Zwar kam das eingesetzte Komitee am Ende nicht zu der Einschätzung,
dass die entsprechenden Standbilder entfernt werden müssten, viel grund-
sätzlicher betonte es angesichts der sich daran entzündenden kulturellen
Konflikte jedoch die Notwendigkeit einer öffentlichen Debatte: „As weat-
her-beaten statues became flash points for fresh conflicts this past year, we
saw that considering what and whom we choose to honor in public spaces
is not a purely academic matter – it’s something very much alive in our pu-
blic debates“ (Mayoral Advisory Commission 2018, S. 6). Es seien dem-
nach auch vor allem grundlegende Fragen gewesen, welche die Diskussio-
nen der Kommission angeleitet hätten: Warum gibt es Statuen und Denk-
mäler für diese und nicht jene historische Figur? Warum wird überhaupt
darüber diskutiert sie abzureißen bzw. warum sie überhaupt bestehen zu

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lassen? Und warum beschäftigen wir uns gerade jetzt damit? Zumindest
auf letztere Frage gibt die Kommission eine eindeutige Antwort, welche
die eingangs formulierte These unterstreicht: „we have often focused our
collective attention on statues and monuments, especially at moments
when tensions are running high. We’re living in one of those moments“
(ebd.).
Die Kommission regte auf Grundlage einer eigens entwickelten Bewer-
tungsskala, bestehend aus den fünf Kategorien – (1) no action, (2) re-context-
ualization, (3) relocation, (4) new temporary or permanent works, (5) removal –
letztendlich nur die Verlegung einer Statue aus dem Central Park in den
Green-Wood Cemetery in Brooklyn an. Bürgermeister de Blasio folgte der
Empfehlung und begründete das weitere Vorgehen: „Reckoning with our
collective histories is a complicated undertaking with no easy solution.
Our approach will focus on adding detail and nuance to – instead of re-
moving entirely – the representations of these histories“ (2018). Die Ko-
lumbusstatuen sollen an ihren jeweiligen Orten bestehen bleiben7 und mit
Hinweisen in unmittelbarer Nähe versehen werden, die eine historische
Einordnung leisten. Des Weiteren sollen neue Statuen die Geschichte der
indigenen Bevölkerung würdigen, um sicherzustellen, dass New Yorks öf-
fentliche Plätze die Vielfalt und Werte der Stadt widerspiegeln. Eine ver-
mittelnde, aus Sicht beider Lager aber vor allem eine Kompromisslösung,
die mit Enttäuschung aufgenommen wurde.
Während die Debatte rund um die Denkmallandschaft in New York in
Form von friedlichen Demonstrationen, künstlerischen Protesten und
kommissionellen Deliberationsversuchen in ihren Ansätzen durchaus kon-
struktiv geführt wurde, muss mit einem letzten Beispiel, welches die Neu-
bewertung überhaupt erst ausgelöst hatte, auf die äußerste und fatale Kon-
sequenz verwiesen werden, mit der Konflikte um Statuen und Denkmäler
mit Blick auf ihre identitätsstiftende Rolle derzeit ausgetragen werden: die
Charlottesville riots. Auslöser der weltweit bekannt gewordenen Ereignisse
war die Umbenennung des Lee Park in Emancipation Park und die vorgese-
hene Entfernung der Reiterstatue des Generals der Konföderierten Armee
Robert E. Lee sowie die Umgestaltung des Denkmals für Thomas „Stone-
wall“ Jackson in der US-amerikanischen Stadt Charlottesville, Virginia.8

7 Im Gegensatz zu diversen anderen Städten wie Los Angeles oder St. Louis, die ent-
sprechende Denkmäler mittlerweile entfernt haben.
8 Eine generelle Tendenz hin zur Umstrittenheit von konföderierten Statuen und
Monumenten lässt sich jedoch bereits seit dem Charleston church shooting im Juni
2015 erkennen.

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Nachdem bereits im Mai 2017 ein Fackelmarsch unter der Forderung


„Take back Lee Park“ abgehalten wurde, organisierten Anhänger der Alt-
Right-Bewegungen Unity and Security for America und Identity Evropa im
August 2017 unter der Parole Unite the Right eine größere Kundgebung,
die sich gegen die Entfernung der Statue richtete und im Zuge dessen die
Vereinigung der amerikanischen Ultrarechten strategisch vorantreiben
wollte (vgl. Atkinson 2018). Getragen wurde die Veranstaltung dement-
sprechend von einer Vielzahl an Gruppen, unter ihnen weiße Suprematis-
ten und Nationalisten, Neo-Konföderierte, -Faschisten und -Nazis sowie
Abordnungen des Ku-Klux-Klans und von Bürgermilizen. Begleitet wurde
der Marsch von ebenso vielfältigen Symbolen der Alt-right wie konföderier-
te Kriegsflaggen und Memorabilien, Hakenkreuzbanner, Kreuzritterschil-
de, Plakaten mit antisemitischen Slogans, Valknuts u. v. m. sowie Sprech-
chören wie „You/Jews will not replace us“, „Blood and Soil“, „The South
Will Rise Again“ oder „Hail Trump“ (Peters/Besley 2017, S. 1310ff.). Das
Zusammentreffen mit der Seite des Gegenprotests, die in der historischen
Figur Robert E. Lees einen Verteidiger der Sklaverei erkennen bzw. dessen
Glorifizierung durch die oben genannten Gruppen anprangern, rund um
das Parkgelände und die folgenden, zunehmend gewalttätiger werdenden
Auseinandersetzungen veranlassten am 12. August zunächst die Stadt, spä-
ter auch den Bundesstaat, dazu, den Notstand auszurufen und die Ver-
sammlung für rechtswidrig zu erklären. Zum fatalen Höhepunkt kam es
jedoch erst wenig später, als ein Teilnehmer der Alt-right Kundgebung sein
Auto in eine Gruppe des Gegenprotests steuerte, wobei eine Frau ums Le-
ben kam und 19 weitere Menschen teilweise schwer verletzt wurden.9
Damit ist an den Ereignissen in Charlottesville besonders eindrücklich
zu erkennen wie sich gesellschaftliche Konflikte an Statuen und Denkmä-
lern auch gewaltsam entladen können, wenn diese als Projektionsflächen
kultureller Identitätsstiftung mit jeweils unterschiedlichen Deutungsange-
boten einer offenen und geschlossenen Gesellschaft versehen werden.
Während vermittelnde Positionen in ihnen historische Kulturgüter erken-
nen, die im öffentlichen Raum gerade deshalb eine Berechtigung haben,
weil sie die kritische Reflexion der eigenen Geschichte und Identität her-

9 Die Zukunft der beiden Statuen ist in der Folge der Ereignisse bis heute ungeklärt
geblieben. Während von Seiten der Stadt zunächst beschlossen wurde, die Statuen
mit schwarzen Abdeckplanen zu invisibilisieren, ordnete ein Bezirksgericht im Fe-
bruar 2018 die Freilegung an. Eine endgültige Entscheidung ist aufgrund von feh-
lender Kompetenz auf städtischer Ebene weiterhin nicht in Sicht, weshalb ähnlich
wie in New York eine Kontextualisierung und Pluralisierung in den Blick genom-
men wird.

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ausfordern, sehen andere in ihnen prinzipiell ungeeignete und gefährliche


Ausdrucksformen für die Konstruktion einer inklusiven Identität, weil
wieder andere sich diese in bewusster Weise aneignen, um exkludierende
Identitätsvorstellungen damit zu verbinden – et vice versa.10
Alle hier angeführten Fälle verweisen jedenfalls darauf, dass mit Statuen
und Denkmälern nicht nur Symbolisierungen und Prozesse der kulturel-
len Identitätsbildung verbunden sind, sondern darüber hinaus, dass diese
im Spannungsverhältnis von Deutungsmacht über politische Kultur veror-
tet werden müssen, wenn unterschiedliche Angebote bezüglich der Pflege
politisch-kultureller Bestände im Raum stehen (vgl. Rudolf 2019). Eine
entsprechende Berücksichtigung bei der Beurteilung gegenwärtiger Denk-
mäler hat auch die New Yorker Kommission unterstrichen. Neben den un-
terschiedlichen historischen Verständnissen und (unter-)privilegierten Per-
spektiven, die es jeweils hinsichtlich ihrer Inklusions- und Gerechtigkeits-
aspekte zu befragen gilt, sowie einer Komplexität der vielschichtigen Nar-
rative und Bedeutungen, fordert sie die explizite Inrechnungstellung von
Machtaspekten, die mit den Möglichkeiten der visuellen und symboli-
schen Repräsentation von politischer Kultur im öffentlichen Raum einher-
gehen (Mayoral Advisory Commission 2018, S. 10; Diehl 2016, S. 10ff.).
Dass sich die gegenwärtig zu beobachtende Polarisierung westlicher Ge-
sellschaften entlang einer neuen identitären Konfliktlinie auch in der Aus-
einandersetzung um die ästhetische Ausdrucksform ihrer politischen Kul-
tur widerspiegelt, erscheint demnach nur als konsequente, teilweise aber
ebenso gefährliche, Weiterführung des öffentlichen Diskurses. Umso über-
raschender ist es daher, wenn sich bestehende Denkmäler diesen Konflik-
ten entziehen, wie im folgenden Kapitel am Beispiel der Rostocker Ge-
denkstätte revolutionärer Matrosen verdeutlicht werden soll.

4. Die Gedenkstätte revolutionärer Matrosen in der Hansestadt Rostock

Bezüglich der Defizite in der Erforschung regionaler politischer Kulturen


erkennt Tom Mannewitz ein zentrales Problem der Vernachlässigung in

10 Es muss hier unterstrichen werden, dass in Julliens Zwischen kein Relativismus


verborgen ist, sondern er Ressourcen gerade deshalb zu verteidigen sucht, weil sie
zunehmend von zwei Seiten bedroht werden, nämlich „da, wo das Uniforme als
scheinbar Universelles missverstanden wird; und dort, wo das Gemeinsame nicht
mehr vom Universellen getragen wird und sich in sein Gegenteil verkehrt: die
Abspaltung kulturell oder auf andere Weise definierter Gemeinschaften [... in de-
nen] keine Integration mehr stattfindet“ (Jullien 2018, S. 54f.).

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der „Abhängigkeit des Forschungszweiges von den wissenschaftlichen Prä-


ferenzen Einzelner“ (2014, S. 535). Dies stellt für die Desiderate der For-
schung einerseits natürlich ein Problem dar, weil Studien – aus komparati-
ver Perspektive – unsystematisch bleiben, sichert andererseits aber gerade
die Auseinandersetzung im Detail, im Sinne einer Dechiffrierung poli-
tisch-kultureller Weltbilder, Prinzipien, Ideen, Werte, Normen und Identi-
täten. Insofern kann sich natürlich auch dieser Beitrag, der ja gerade auf
der Grundlage der DVPW Arbeitskreistagung „Politik und Kultur“ in der
Hansestadt Rostock entsteht, nicht davon freimachen und ist, – um den
Kreis zur Einleitung zu schließen – bedingt durch das Doppeljubiläum der
Stadt- und Universitätsgründung Rostocks in den Jahren 2018/19, natür-
lich von den Präferenzen des Autors geprägt. Das Thema gewinnt aber
eben nicht nur in Verbindung mit dem 100-jährigen Jubiläum der Weima-
rer Republik an Aktualität, sondern gerade aufgrund der zuvor beschriebe-
nen Entwicklungen – jedoch mit einem überraschenden Ergebnis als kon-
trastierender Fall.
Die Gedenkstätte revolutionärer Matrosen am Rostocker Stadthafen be-
steht aus einem rampenartigen Sockel, welcher einerseits ein Traditionska-
binett zur Volksmarine – Schutz der DDR zur See beinhaltete und anderer-
seits als Postament für eine neun Meter hohe Monumentalplastik dient.
Auf der Südseite des Sockels befindet sich eine 20 Meter lange Reliefwand
aus Beton, die 1970 von Reinhard Dietrich geschaffen wurde und je nach
Deutung entweder „den Kampf der Arbeiter und Matrosen während der
Novemberrevolution“ (Writschan 2013) oder „den Kampf der deutschen
Linken in den Jahren 1917–1919 gegen Imperialismus und Krieg für ein
sozialistisches Vaterland“ (Rostock-Information 1987, S. 22) darstellt. Im
Detail setzt sich das Relief von links nach rechts aus fünf Abschnitten zu-
sammen (Abb. 1), die im Kontext der Erinnerungskultur und Traditions-
bildung der DDR durchaus mit einem guten Schuss marxistischer Ge-
schichtsphilosophie versehen sind, insofern das mythische Wegerzählen
von Kontingenz, „dass das, was geschehen ist, auch geschehen musste, dass
die Ereignisse nicht zufällig, sondern notwendig vonstattengingen und
dass sie mehr sind als bloße Ereignisse“ (Münkler 2007, S. 6), in ihrem Ab-
lauf besonders deutlich wird:
(1) Die einleitende Szene führt den historischen Ursprung der Ereignisse
auf die Leidenszeit der Bevölkerung während des Ersten Weltkriegs zu-
rück. Dargestellt wird die miserable Versorgungssituation der Men-
schen, die mühsame Arbeit der Frauen auf dem Feld sowie die Kriegs-
müdigkeit der Soldaten.

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(2) Rechts davon bildet das zweite Relief den Warnschuss des Panzerkreu-
zers Aurora am 25. Oktober 1917 als Signal für den Sturm auf das Win-
terpalais in Sankt Petersburg und den Beginn der Großen Sozialistischen
Oktoberrevolution in Russland ab.
(3) Die dritte Abbildung zeigt die Niederschlagung des Aufstandes der
deutschen Seeflotte im Sommer 1917 in dessen Folge Max Reich-
pietsch und Albin Köbis als Rädelsführer verurteilt und hingerichtet
wurden.
(4) Auf der vierten Reliefszene werden die Ereignisse rund um den Kieler
Matrosenaufstand als Ausgangspunkt für die revolutionären Umbrü-
che des Jahres 1918 thematisiert. Diese bilden für die Gedenkstätte den
zentralen Ausgangspunkt, da die Ausbreitung der Bewegung am
6. November Rostock erreichte. Torpedoboote mit aufständischen Ma-
trosen landeten zunächst in Warnemünde und vereinigten sich später
für Versammlungen sowie Kundgebungen mit Arbeitern der nahegele-
genen Rostocker Neptunwerft am Kabutzenhof, dem Standort der Ge-
denkstätte.
(5) Das Relief endet mit der Darstellung der Ausrufung der freien sozialis-
tischen Republik Deutschlands durch Karl Liebknecht am 9. Novem-
ber 1918, vom Balkon des vierten Portals des Berliner Stadtschlosses,
mit der entsprechenden Inschrift: „UND OB WIR DANN NOCH LE-
BEN WERDEN, WENN ES ERREICHT WIRD. LEBEN WIRD UN-
SER PROGRAMM. ES WIRD DIE WELT DER ERLÖSTEN
MENSCHHEIT BEHERRSCHEN. TROTZ ALLEDEM“.

Abbildung 1: Gedenkstätte revolutionärer Matrosen – Wandrelief und Monu-


mentalplastik (eigene Aufnahme)

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Ergänzt wurde die Denkmalanlage 1977 anlässlich des 60. Jahrestages der
Großen Sozialistischen Oktoberrevolution durch eine Monumentalplastik aus
Rotguss des Rostocker Bildhauers Wolfgang Eckardt. Die Deutung aus
dem Rostocker Museumskatalog verweist – ähnlich wie zuvor das Wandre-
lief – mit dem „auf Trümmern stürzenden“ und „aufstrebenden Men-
schen“ auf die Dynamik der Gesetzmäßigkeiten jener gesellschaftlichen
Entwicklung und materialistischen Geschichtsauffassung, die mit dem
Kampf der Arbeiterklasse und der Durchsetzung ihrer Interessen verbun-
den war: „In zwei überlebensgroßen Figuren ist der Gedanke der revolu-
tionären Bewegung, ist der Mensch als die revolutionäre, verändernde
Kraft symbolisiert“ (Rostock-Information 1987, S. 22). Anzumerken ist
weiterhin, dass Eckhart bewusst auf die Darstellung von Waffen und Uni-
formen verzichtet und sich damit gegen ursprüngliche Wünsche der SED-
Elite durchgesetzt hatte. Sein Fokus lag auf der Versinnbildlichung des re-
volutionären Gedankens und den damit einhergehenden, notwendigen
Veränderungen in der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen.
Komplettiert durch eine „ewige Flamme“ der Großen Sozialistischen Ok-
toberevolution und einen Aufmarschplatz unterhalb des Denkmalensem-
bles, diente die Gedenkstätte bis zum Zusammenbruch des DDR-Regimes
offiziell organisierten Kundgebungen der Parteiorganisationen sowie Ge-
denkveranstaltungen zur Erinnerung an die Deutsch-Sowjetische Freund-
schaft und die Novemberrevolution 1918. Im Sinne der Erfassung und Ein-
bindung jedes Individuums in das ideologische und politische System der
DDR und der Vermittlung einer kollektiven Identität, bezog die Gedenk-
stätte als ästhetischer Ausdruck der politischen Kultur der DDR und als
Versuch der Veräußerlichung einer von oben verordneten und statischen
kulturellen Identität möglichst alle Gesellschaftsteile mit ein. Peter Writ-
schan merkt in seinem Denkmalwertgutachten diesbezüglich jedoch an,
dass diese Botschaft bereits damals „nicht überall in der Bevölkerung
an[kam], im Gegenteil, sehr bald wurde die Figurengruppen ironisiert mit
Bemerkungen wie: ,Die geballte Faust zeigt in den Osten, die offene bit-
tende Hand in den Westen‘ oder ,Was hält er in der Faust? – Die letzte Tü-
te Kosta-Kaffee‘“ (2013).11
Wenn politische Kulturforschung von ihrem Kern her als Krisen- und
Transformationsforschung verstanden werden soll, muss sich – vor dem
Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung 1990 – auch für die Ge-

11 Im Zuge von Versorgungsschwierigkeiten mit Kaffee wurde 1977 die günstigste


Kaffeesorte „Kosta“ vom Markt genommen, was letztendlich einer Preiserhöhung
gleichkam.

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denkstätte revolutionärer Matrosen die Frage nach der Aktualisierung und


symbolischen Erneuerung in besonderer Weise stellen. Zwar gab es im Ge-
gensatz zu vorherigen Beispielen des politischen Ikonoklasmus „keine Ten-
denzen, das Denkmal zu entfernen“ (Writschan 2013), weil es einerseits zu
sehr in das Rostocker Stadtbild integriert war und andererseits, weil „das
dargestellte Thema, die Novemberrevolution, auch weiterhin seinen positi-
ven Stellenwert behielt“ (ebd.). Wie mit Verweis auf die geschichtsphiloso-
phische Interpretation der Gedenkstätte unter dem DDR-Regime jedoch
ebenfalls deutlich geworden ist, stehen die historischen und damit positi-
ven Zusammenhänge im wiedervereinigten Deutschland unter prinzipiell
anderen Vorzeichen bzw. unterschiedliche Deutungen miteinander in
Konflikt.
Im Sinne der notwendigen politischen Kulturpflege geriet die Gedenk-
stätte jedoch alsbald in Vergessenheit oder um François Jullien zu para-
phrasieren: es wurde geradezu versäumt, sie zu pflegen und zu unterhal-
ten; sie verwahrloste, lag brach und lief Gefahr für immer verloren zu ge-
hen. Lediglich die aus transitorischer Sicht notwenigsten Arbeiten wurden
in Angriff genommen, indem Ende der 90er Jahre in einem „Akt des Ver-
steckens“ der ehemalige Aufmarschplatz in eine Grünfläche mit zunächst
zwei, durch spätere Nachbepflanzung drei, Baumreihen umgewandelt
wurde, hinter denen die Gedenkstätte zu großen Teilen verschwand (Abb.
2).

Abbildung 2: Gedenkstätte revolutionärer Matrosen – (nachträgliche) Bepflan-


zung als „Akt des Versteckens“ (eigene Aufnahme)

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Formen des Verbergens und der Invisibilisierung rücken jedoch immer


auch Fragen nach dem „Warum“ in den Fokus, da sowohl „das physische
Verbergen, aber auch [...] das gesellschaftlich-landschaftliche Invisibilisie-
ren“ immer auf das mentale „Verbergen des Unangenehmen und [... die]
Verschleierung von Verantwortung“ (Kühne 2012, S. 170) hindeutet.12 Für
Olaf Kühne ergibt sich aus diesen Prozessen eine paradoxe Komplexisie-
rung, da einerseits für den Einzelnen eine scheinbare Reduzierung von
Komplexität eintritt, weil er sich nicht mehr mit den Nebenfolgen behel-
ligt sieht, dies andererseits für die Gesellschaft jedoch mit einer Zunahme
von Komplexität verbunden ist, weil entstandene Strukturen des Verber-
gens dauerhaft aufrechterhalten werden müssen (ebd., S. 171f.). Entspre-
chende Folgen, erinnerungskulturell wie materiell, können auch für die
Gedenkstätte revolutionärer Matrosen nachvollzogen werden. Während sich
die Bevölkerung das Denkmal weiterhin vielfältig und oft spontan neu an-
geeignet hat, wurden die Stadt und die Bürgerschaft 2013 mit dem Sanie-
rungsbedarf des mittlerweile maroden Ensembles konfrontiert. Maßnah-
men zur unmittelbaren Gefahrenabwehr in Höhe von 150.000,00 EUR
(Hansestadt Rostock 2013) sowie zur bevorstehenden Sanierung in Höhe
von mittlerweile 4.000.000,00 EUR (Hansestadt Rostock 2018) dokumen-
tieren den städtebaulichen Aufwand zum Erhalt des „Filetstücks“ der Ros-
tocker Denkmallandschaft,13 aber auch den politisch-kulturellen Miss-
stand, der aus diesem Verstecken und Vergessen entstanden ist.
Vor diesem Hintergrund wird ebenso klar, dass mit der Sanierung des
Geländes eine erinnerungskulturelle Auseinandersetzung stattfinden muss,
welche das Ziel „dem Areal eine neue Aufenthaltsqualität zu verleihen“
(Kunstbeirat Rostock 2016a, S. 5) mit der „Vermittlung der historischen
Zusammenhänge“ (Kunstbeirat Rostock 2016b, S. 4) zusammendenken
muss. Die weitestgehend verpasste erinnerungskulturelle Aufarbeitung
kann für die Gegenwart dann jedoch geradezu als Chance verstanden wer-
den. Im Sinne Julliens können kulturelle Ressourcen eben nicht nur ver-
wahrlosen und brachliegen, sondern auch wieder neu entdeckt, aktiviert
und im positiven Sinne ausgebeutet werden. Integration als „Zugang zu
einem geteilten Gemeinsamen: dem Gemeinsamen der Sprache und der
Geschichte, der kulturellen Bezüge sowie der von Generation zu Generati-
on neu entfalteten Erfahrungsweisen, der Künste und Lebensweisen“ (Jul-

12 Analog dazu sind im Sinne eines kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses na-
türlich auch bestimmte Formen des Vergessens zu verstehen (Assmann 2016).
13 Andere Rostocker Denkmäler, wie etwa die Heinkel-Mauer oder das Paulinen-
heim, wurden in jüngerer Vergangenheit abgerissen, obwohl deutlich weniger
Mittel für deren Erhalt hätten aufgewendet werden müssen.

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lien 2018, S. 78), stellt nicht die identitäre Essenz von Gruppen ins Zen-
trum, sondern das Fruchtbare des In-Spannung-Setzens „aus von Unter-
schieden bunt gefärbten Ähnlichkeiten oder Unterschieden, die sich in
Ähnlichkeiten auflösen“ (ebd., S. 79). Gerade die prinzipielle Unumstrit-
tenheit bezüglich des Erhalts der Gedenkstätte revolutionärer Matrosen ver-
weist auf die vielfältigen Perspektiven in Politik, Verwaltung und Zivilge-
sellschaft. Diese reichen von negativen (die verpflichtende Teilnahme an
Gedenkveranstaltungen und Aufmärschen der DDR-Massenorganisatio-
nen) wie positiven (das Denkmal bildete als Erholungsraum bereits damals
den einzigen städtischen Zugang zum Wasser zwischen den Sperrgebieten
der Werft und des Stadthafens) Erfahrungen der Zeitzeugen des DDR-Re-
gimes über unterschiedliche Konzepte der städtebaulichen Entwicklung
(Schutz und Pflege des Denkmals) und den erinnerungskulturellen Um-
gang (Aufarbeitung von DDR-Kunst und -Architektur im öffentlichen
Raum) bis hin zu politischen und bürgerschaftlichen Versuchen der An-
eignung (neuer städtischer Erholungsraum, (Wahl-)Werbung oder zum
Protest). Sie verweisen aber alle auf einen Aspekt: „Das Gemeinsame ist
der Ort, an dem sich die Abweichungen/Abstände entfalten, und die Ab-
stände bringen das Gemeinsame zur Entfaltung“ (Jullien 2018, S. 80).

5. Fazit

Die eingangs aufgegriffene Debatte bezüglich der Rolle kollektiver bzw.


kultureller Identitäten innerhalb neuer gesellschaftlicher Konfliktlinien
wurde im Zuge des Beitrags über die Auseinandersetzung mit Denkmälern
im öffentlichen Raum auf regionaler bzw. lokaler Ebene thematisiert. Of-
fenkundig ist die latente Polarisierung zwischen unterschiedlichen politi-
schen (Sub-)Kulturen und deren Deutungen geworden, die sich zuneh-
mend in manifesten Konflikten niederschlägt. Die Gefahr, die von solchen
Prozessen der Polarisierung für den Zusammenhalt der politischen Ge-
meinschaft ausgeht, als dass dadurch unterschiedliche politische (Sub-)Kul-
turen und Identitäten herausgebildet werden, stellt ein prinzipielles Prob-
lem für das politische System dar. Gerade stark polarisierte Gesellschaften
werden hier mit einem Dilemma konfrontiert, weil auseinanderdriftende
politisch-kulturelle Orientierungsmuster und Gesellschaftssegmente exis-
tentiellen Stress hervorrufen, der nur auf Kosten anderer abgebaut werden
kann (Mannewitz 2015, S. 36): Die „Versäulung politisch-kultureller Kon-
fliktlinien mit geografischen/ethnischen/sprachlichen/kulturellen Gegen-
sätzen sowie das Identifikations- und Mobilisierungspotential gesellschaft-
licher Polarisierung“ (ebd.), stellt dann ein Nullsummenspiel dar, das aus

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Sicht Julliens in eben jene Isolierung und Fixierung kultureller Identitäten


mündet. Eine Absage an das wissenschaftliche Konzept der kulturellen
Identität erscheint auf dieser Grundlage aber dennoch nicht gerechtfertigt.
Gerade weil sich aus der Vielfalt der Kultur(en) kein einfacher Kompro-
miss zwischen zwei oder mehreren gesellschaftlichen Teilsegmenten her-
stellen lässt, liegt die Fruchtbarkeit in einem prozesshaften In-Spannung-
Setzen kultureller Ressourcen zwischen kulturellen Identitäten. Dies gilt
nicht nur für visuelle und symbolische Repräsentationen im Sinne von po-
litisch-kulturellen Manifestationen, sondern prinzipiell für alle Bestände
einer politischen Kultur (Begriffe, Konzepte, Ideen, Werte etc.), die als
Ressourcen kultureller Identität abstrakt oder überkomplex und damit un-
verfügbar bzw. wesensmäßig umstritten sind (vgl. Gallie 1955). Für den
Abbau der gesellschaftlichen Polarisierung, die zwischen den Gruppen auf-
grund von politisch-kulturellen Konfliktlinien entsteht, fordert Jullien da-
her aber zurecht die grundlegende Verantwortlichkeit für das Gemeinwe-
sen und die Fähigkeit der Subjekte ein, „die Begrenzung seines eigenen
Ichs zu überwinden“ (Jullien 2018, S. 63). Nur so kann es auf allen Ebenen
gelingen, eine Identifikation mit der jeweiligen politischen Gemeinschaft
hervorzurufen, die keine Reduktion auf das Uniforme darstellt, weil sie
stets offen und doch kritisch bleibt.
Wie die diskutieren Beispiele gezeigt haben, gilt dies im Kontext der
Denkmalpflege auch für die „Identifikation mit der städtischen Umwelt“
(Beyme 1998, S. 153), denn diese steht und fällt nicht zuletzt mit der „Akti-
vierung ihrer kommunikativen und konsultativen Fähigkeiten“ (1998,
S. 119), denen jedoch gerade in bereits stark polarisierten Kontexten enge
Grenzen gesetzt sind. Wo dies aber noch nicht der Fall ist, ergeben sich
Chancen für einen mit Sicherheit anspruchsvollen, weil vielfältigen, aber
produktiven Dialog.

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

Ayla Güler Saied

1. Einleitung

In diesem Beitrag werden die aktuellen und historischen Entwicklungen


des Rap vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher und politischer
Diskurse aufgegriffen und analysiert. Die Frage nach der kulturellen Iden-
tität bezieht sich auf die vom Philosophen François Jullien aufgeworfene
These Es gibt keine kulturelle Identität. Im Zuge der Re-Nationalisierung di-
verser europäischer Staaten rückt die ethnisch-kulturelle Identität wieder
verstärkt in den politischen sowie gesellschaftlichen Diskurs. Dabei wer-
den althergebrachte Konzepte essentialistischer Zuschreibungen aktiviert.
Jullien konstatiert, dass „eine Debatte, bei der es um die kulturelle ‘Identi-
tät’ geht, mit einem Geburtsfehler behaftet ist. Daher möchte ich eine kon-
zeptuelle Verschiebung vorschlagen: Anstatt die Verschiedenheit der Kul-
turen als Differenz zu beschreiben, sollten wir uns ihr mithilfe des Kon-
zepts des Abstands nähern; wir sollten sie nicht im Sinn von Identität, son-
dern im Sinn einer Ressource und der Fruchtbarkeit verstehen“ (2017,
S. 36).
Auf Grundlage von Rap-Lyrics und empirischer Interviewdaten werden
kulturelle Selbst- und Fremdrepräsentationspraktiken und performative
Inszenierungen von Rap-Identitäten analysiert und in den verzeitlichten
Bezug zu den gesellschaftlichen und politischen Dimensionen in der Bun-
desrepublik Deutschland gesetzt. Die zentralen Stilmittel des Rap – signify-
ing, dissen und boasten – sind geradezu prädestiniert, dem hegemonialen
Diskurs machtvolle (Gegen-)Narrative entgegenzusetzen. In einem damit
eröffneten third space (vgl. Bhaba 1994) treten Rapper*innen über nationa-
le Grenzen hinweg in einen Dialog und verhandeln ihre kulturelle Identi-
tät und gesellschaftliche Zugehörigkeit. Dadurch wird ein symbolisches
Gemeinschaftsgefühl erzeugt, welches als imaginierte Diaspora für das als
Anders-markierte dient. So werden seit der deutsch-deutschen Wiederverei-
nigung rassistische Ereignisse und Erlebnisse in der deutschsprachigen
Rap-Musik konserviert und ihr die Funktion eines kollektiven migranti-
schen Archivs gegeben.

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Ayla Güler Saied

Die (trans-)kulturelle Dynamik der Anpassungsfähigkeit von Rap spie-


gelt sich derzeit in aktuellen Songs wieder. So haben französische Rap-
Styles und Arabisch als Rap-Sprache derzeit starken Einfluss auf das Rap-
Business in Deutschland, was nicht zuletzt mit den neuen Migrationsbewe-
gungen zusammenhängt. Kulturelle Identität ist unweigerlich mit dem
Zugehörigkeitsdiskurs und Repräsentationspolitiken verbunden (vgl. Hall
2004). Im Kontext eines erstarkenden Rechtspopulismus und damit ein-
hergehenden Konstruktionen von kultureller Fremdheit und Zugehörig-
keit sind Narrative, die dieses nationalistische Phantasma dekonstruieren,
ein wichtiger Faktor für das Empowerment gesellschaftlich und politisch
marginalisierter Gruppen. Eine solche ‘empowernde’ Wirkung birgt die
kulturelle Praxis des Rap als lyrisches Ausdrucksmedium der HipHop-Kul-
tur. Durch die Stilmittel des Rap, schaffen Rapper*innen einen third space,
in dem sie Positionen subversiv, oft widersprüchlich verhandeln und sich
im hegemonialen Diskurs verorten. Nach Hall ist „Hegemonie eine Form
von Macht, die auf der Führung einer Gruppe in vielen Handlungsfeldern
gleichzeitig beruht, so dass ihre Vormachtstellung über breite Zustim-
mung verfügt und als natürlich und unvermeidbar erscheint“ (2004,
S. 145). Rap ist eine Widersprüchlichkeiten generierende kulturelle Prak-
tik. Als Teil der HipHop-Kultur bietet sie jedoch nach wie vor marginali-
sierten Gruppen eine Bühne, ihre gesellschaftlichen Positionen zu artiku-
lieren. Im Kontext dessen, dass der (Gangsta-)Rap-Markt in den letzten Jah-
ren einen enormen Aufschwung erlebt hat, ist der Einbezug der Produkti-
onstechniken für die Analyse gewinnbringend.

2. Diaspora Rap: Eine Geschichte der Subversion

Rap als Element der HipHop Kultur ist weltweit Heimat und Handlungs-
raum für diverse Menschen. Dabei wirkt der Mythos HipHop als Diaspora
und Bezugsrahmen für die unterschiedlichen glokalen Ausformungen des
HipHop, in diesem Beitrag speziell des Rap. Im Zeitalter der Digitalisie-
rung haben sich diverse Transformationsprozesse ergeben, die sich auf die
Rap-Praktiken auswirken. Die Verknüpfung gesamtgesellschaftlicher sowie
politischer Diskurse in Hinsicht auf kulturelle Zugehörigkeit, ist ein sich
selbst reproduzierender Mechanismus, der sich wie ein roter Faden durch
die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zieht, wenn es um den
Umgang mit kulturell ‘Anderen’ geht. Rap-Musik in der BRD ist wie kein
anderes Feld stark geprägt von sogenannten Migrantenjugendlichen. Rap-
Geschichte ist gleichzeitig auch Migrationsgeschichte und damit einherge-
hend ein Medium für Anerkennungskämpfe. Die kulturelle Praxis des Rap

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

bietet eine Bühne um zugeschriebenen kulturalistischen Identitätskon-


struktionen im hegemonialen Diskurs subversiv entgegenzutreten und die-
se ad absurdum zu führen. Ein Diskurs ist:
„[…] eine Reihe von Aussagen, die eine Sprechweise zur Verfügung
stellen, um über etwas zu sprechen – z.B. eine Art der Repräsentation
–, eine besondere Art von Wissen über einen Gegenstand. Wenn in-
nerhalb dieses Diskurses Aussagen über ein Thema getroffen werden,
ermöglicht es der Diskurs, das Thema in einer bestimmten Weise zu
konstruieren. Er begrenzt ebenfalls die anderen Weisen, wie das The-
ma konstruiert werden kann. Ein Diskurs besteht nicht nur aus einer,
sondern mehreren Aussagen, die zusammenwirken, um das zu bilden,
was der französische Theoretiker Michel Foucault eine diskursive For-
mation nennt.“ (Hall 1994, S. 150)
Der Ursprung dieser heute global verbreiteten Kultur, die als urban street
culture entstand, liegt in den 1970er Jahren in den destrukturierten Großt-
stadtghettos der USA. HipHop, der als genuin widerständige kulturelle
Praxis rezipiert wird, war anfangs jedoch eine reine Partykultur, die da-
durch politisch war, dass sie öffentlich gelebt wurde und damit eine Sub-
version gegen rassistische und soziale Ungleichheit bedeutete (vgl. Rose
1994; Kelley 1996; Finzsch 1999; Güler Saied 2012). Im Sinne der Cultural
Studies ist die zentrale Frage, wie Machtverhältnisse verschoben werden
und Aneignungspraktiken marginalisierter Gruppen Wirksamkeit erlan-
gen. Bhabha konstatiert im Kontext von eingeschränkten Handlungsräu-
men in Bezug auf Marginalisierungsprozesse:
„Wie funktioniert man als Handelnder, wenn die eigene Möglichkeit
zu handeln eingeschränkt ist, etwa weil man ausgeschlossen ist und
unterdrückt wird? Ich denke, selbst in dieser Position des Underdogs
gibt es die Möglichkeit, die auferlegten kulturellen Autoritäten umzu-
drehen, einiges davon anzunehmen, anderes abzulehnen. Dadurch
werden die Symbole der Autorität hybridisiert und etwas Eigenes da-
raus gemacht. Hybridisierung heißt für mich nicht einfach vermi-
schen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeutun-
gen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit ge-
fährdet sind.“ (2012, S. 13)
Insbesondere in den aktuellen Rap-Produktionen werden affirmative Devi-
anz und schulischer sowie beruflicher Misserfolg im formalen Bildungs-
sektor als zentrales Moment des Erfolgs im Rap zelebriert. Formelle Bil-
dungsabschlüsse werden informellen Geschäftspraktiken gegenübergestellt
und durch den Erfolg, den viele der Künstler*innen haben, unterstrichen.

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Ayla Güler Saied

Damit werden neue Handlungsräume geschaffen. Im Folgenden werden


diese Praktiken unter Einbezug subversiver Praktiken analysiert und in
einem gesamtgesellschaftlichen sowie politisch-historischen Kontext veror-
tet.

Entstehungskontext USA

Entstanden ist die HipHop-Kultur in den destrukturierten Großstadtghet-


tos Harlem und der Bronx in New York. Die Entstehungszeit wird auf das
Jahr 1974 datiert, als The Incredible Bongo Band den Hit Apache von Cliff
Richard coverten. Covern meint die Neueinspielung eines Musikstücks,
wobei dieses anders arrangiert wird. Neben Graffiti, DJing und B-boying
bzw. B-girling, stellt Rap als lyrisches Ausdrucksmedium der HipHop-Kul-
tur seit ihrer Entstehungszeit eine subversive Praxis dar. Die Entstehungs-
zeit der HipHop-Kultur fällt in jene zeitliche Periode, die als post-segregated
era bezeichnet wird. Der Civil Rights Act von 1968 wie auch der Voting
Rights Act von 1965 lagen knapp eine Dekade zurück. Das Civil Rights
Movement wie auch die Black Power Bewegung sind wichtige Bezugspunkte
für die HipHop-Kultur gewesen. Black Power ist dabei ein historisches Kon-
tinuum, das durch die Intertextualität, die HipHop-Künstler*innen unter-
einander praktizieren, aber auch durch Bezugnahme auf vorhergegangene
Schwarze Bewegungen für einen Bezugsrahmen sorgt. HipHop, der in den
1970er Jahren in den New Yorker Ghettos entstand, war nichts Neues, wie
es von den Medien dargestellt wurde, sondern ein Crossover bereits beste-
hender Stile, Traditionen und politischer Bewegungen. HipHop bewegt
sich in der Tradition der oral culture und greift als solche auf deren Stilmit-
tel zurück. Des Weiteren bedient sich der Rap rhetorischer Stilmittel afri-
kanischer beziehungsweise afroamerikanischer Kultur: dem Signifying. Das
signifyin(g) ist ein prägnantes Stilmittel im Rap: Genau das nicht zu sagen,
was eigentlich gemeint ist, also Aussagen verzerrt oder umgekehrt bezie-
hungsweise übertrieben, darzustellen, wie es beim Boasting der MCs wie-
der zu finden ist, wenn die eigenen Eigenschaften und Fähigkeiten in
übertriebenem Maße überhöht werden. Eine andere Form des signifying ist
es, Wörtern eine andere Bedeutung zuzuschreiben. Im HipHop-Kontext ist
diese Praxis an zwei Stellen explizit zum Ausdruck gekommen, die auch
zentrale Themenkomplexe in der Rap-Musik abdecken: Dies betrifft die
Umdeutung des Begriffs n****r im Kontext von Rassismus und Marginali-
sierung. Eine weitere Umdeutungspraxis ist im Kontext der Geschlechter-
beziehungen beziehungsweise -konstruktionen geschehen, als Rapperin-
nen den negativ konnotierten Begriff bitch dahingehend umdeuteten, dass

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

eine bitch eine selbstbewusste, starke Frau ist, die sich selbstbestimmt defi-
niert und auch so handelt. Der afroamerikanische Literatur- und Kultur-
wissenschaftler Henry Louis (Skip) Gates Junior, der sich intensiv mit dem
signifying beschäftigt hat, konstatiert:
„The Afro American tradition has been figurative from its beginnings.
How could it have survived otherwise? […] Black people have always
been masters of the figurative: Saying one thing to mean another has
been basic to black survival in oppressive Western cultures.“ (1990,
S. 6)
Wie schon vor der Rap-Musik waren auch der Jazz, der Blues, der Funk
und die Soul-Musik und ebenfalls die kirchliche Gospel-Musik von Ele-
menten geprägt, die im HipHop lediglich modifiziert und als Crossover al-
ler bis dato präsenten Musikstile inszeniert wurden. Auch Elemente der
Black Power Bewegung in Form afrozentrischer Inszenierungsformen wie
beispielsweise von Public Enemy oder aber auch von Queen Latifah finden
sich im HipHop wieder. Die Rückbesinnung auf eine gemeinsame Ab-
stammungsgeschichte, die in Afrika liegt, wurde nicht erst durch Rapper
erfunden, sondern stellt lediglich eine Modifikation und Transformation
etablierter kultureller und politischer Praktiken dar. Tricia Rose hat in
Black Noise konstatiert, dass: „HipHop style is black urban renewal“ (1994,
S. 61).
Das Albumcover von By All Means Necessary aus dem Jahr 1988 von Boo-
gie Down Productions ist in Anlehnung an Malcolm X' Foto entstanden, in
dem er im Jahr 1964 bewaffnet vor einem Fenster steht. Malcolm X ist das
Sinnbild des Schwarzen Widerstands. Das Albumcover Unzensiert des Of-
fenbacher Rappers Haftbefehl aus dem Jahr 2015 schließt sich dieser Insze-
nierung an. Dort steht Rapper Haftbefehl bewaffnet vor einem Fenster.
Diese Formen der Inszenierung reihen sich ein in den Kontext der Unge-
rechtigkeit und Ungleichheit von Schwarzen Bürgern in den USA. Folgen-
de Lyrics des Songs Endangered Species (Tales from the Darkside) auf dem Al-
bum AmeriKKKa's Most Wanted aus dem Jahr 1990 von Rapper Ice Cube
feat. Chuck D von Public Enemy bringen diesen Diskurs1 deutlich zum Aus-
druck:
„Peace?! don’t make me laugh! / Every killer cop goes ignored / They
just send another nigger to morgue / A point scored. They could give a
fuck about us / They’d rather catch us with guns and white powder /

1 Dieser Diskurs ist im Kontext von Rassismus nach wie vor zentral (vgl. Alexander
2016).

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Ayla Güler Saied

They’ll kill ten of me to get the job correct / To serve, protect, and
break a nigga’s neck […] You want to free Africa / I’ll stare at ya’ /
Cause we ain’t got it too good in America / I can’t fuck with’em over-
seas / My homeboy dies over kee’s [kilos of cocaine].“ (Ice Cube/Chuck
D 1990)
Der US-Rap nimmt in den Inszenierungen von Rap aus Deutschland eine
wichtige Stellung ein. Dies bezieht sich nicht nur auf die Entstehungszeit
des Rap, sondern ist ein bis heute aktiver Prozess – auch wenn deutsch-
sprachiger Rap sich als eigenständiges Genre etabliert hat.2

Rap in der Bundesrepublik Deutschland

Rap in der BRD ist die erste (migrantische) Jugendkultur, die 1982 von Ju-
gendlichen in ihre Lebenswelt adaptiert wurde. Durch Filme wie Wild
Style und Beat Street, die im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden, ent-
wickelte sich eine dynamische Jugendkultur, mit der sich viele Jugendliche
identifizieren konnten. Politisch fällt die Entstehungszeit des HipHop in
die restriktive Phase der Ausländerpolitik Anfang der 1980er Jahre. So
wurde 1983 beispielsweise das Rückkehrförderungsgesetz erlassen, mit
dem Ziel, die hier lebenden Gastarbeiter und ihre Familien zur Rückkehr
in ihre ‘Heimatländer’ zu motivieren.
Dieser Diskurs ist geprägt durch den Fremdheitsdiskurs, der seit Beginn
der HipHop-Kultur die politische Begleitmusik gespielt hat. Die Anfangs-
phase des HipHop in Deutschland beschränkte sich auf die ästhetischen,
künstlerischen Ausdrucksmittel: Hierzu zählen Breakdance, Graffiti und
DJing. Rap – das verbale Ausdrucksmedium – entwickelte sich wie in den
USA auch als letztes Element. Anfangs rappten die Jugendlichen lediglich
die Songs ihrer Vorbilder aus den USA nach. Erst nach und nach schrieben
sie eigene Songs auf Englisch. Torch von Advanced Chemistry war es schließ-
lich, der das Freestyling auf Deutsch einführte. In Kapitel 1 aus dem Jahr
1993 rappt Torch:
„Ich hab’ das Freestyle-Reimen eingeführt und zwar schon vor Jahren,
von Kiel bis Biel bin ich auf jedes Jam gefahren. / So kam ich durch

2 So ist die Inszenierung im Song Aber von Eko Fresh (2018) angelehnt an das Video-
konzept des US-Rappers Joyner Lucas – I’m not racist, das im November 2017 veröf-
fentlicht wurde. An dieser Stelle kann man die Nachahmung kritisieren, m. E.
spielt die Adaption eine bedeutendere Rolle.

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

die ganze Welt, meist ganz ohne Geld, denn wenn Torch ein Ziel hat,
gibt es nichts, was ihn aufhält! / Weder der Staat, noch irgendeine
Braut, jedem Jamplakat folgte ich blind, denn ich hab’ HipHop ver-
traut!“ (Torch 1993)
HipHop im allgemeinen und Rap im Speziellen ist ein stark umkämpftes
Feld. So ist der Diskurs sehr stark von ethnischen Zugehörigkeits- und An-
erkennungsfragen geprägt. Diese werden im folgenden Kapitel exempla-
risch aufgriffen, um darauf aufbauend auf die aktuellen Inszenierungen im
Rap-Game eingehen zu können.

Transformationsphasen der Rap Produktionen

Rap-Musik in Deutschland ist durch mehrere Transformationsphasen ge-


kennzeichnet. Die Phase der Adaption und Aneignung liegt in den 1980er
Jahren. Die zweite Phase ist in den 1990er Jahren datiert, einhergehend
mit einer Exklusion von „migrantischen“ Rappern und gleichzeitig der
Konstruktion von „Oriental HipHop“ und „Rap gegen Rassismus“, als sich
diverse Crews gegen die rassistischen Anschläge positionierten. Diese Pha-
se geht einher mit der Etablierung eines „neuen deutschen Sprechgesangs“
(Güler Saied 2012, S. 272). So konstatierte Elflein bereits relativ früh und
treffend:
„Der Begriff ‚Oriental HipHop‘ steht für ein mittlerweile erfolgreich
eingeführtes Subgenre von HipHop, das als Teilbereich von HipHop
in der BRD dessen gesamte Geschichte mitbestimmt beziehungsweise
durchzieht. Trotzdem hat bis vor kurzem niemand daran gedacht, die-
sen Teilbereich heraus zu isolieren und gesondert zu benennen.“
(1996, S. 1)
Mehrsprachige Rap-Songs erfuhren in den 1990er Jahren auf dem Main-
stream Musikmarkt eine Exklusion. Als Reaktion fand in den 2000er Jah-
ren die Gründung eigener Platten-Labels statt, wie beispielsweise Al Dente
Recordz von der Microphone Mafia, 360 Grad Records von Advanced Chemis-
try, Alles oder Nix Records von Xatar sowie Azzlacks von Haftbefehl. In der
Folge war eine finanzielle Absicherung für migrantische Rapper*innen
erst Anfang der 2000er Jahre möglich. Kontroverserweise hatten hier ins-
besondere die Gangsta-, Straßen- und Pornorapper Erfolge zu verzeichnen,
die bis heute andauern. Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung – auch
im Kontext dessen, wie Musik vertrieben wird – haben sich für Rapper*in-
nen ganz neue Möglichkeitsräume eröffnet. Die Digitalisierung hat im

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Ayla Güler Saied

Musikbusiness zu enormen Transformationsprozessen geführt. Anders als


in den 1990er Jahren ist ein Plattendeal bei einem Major-Label nicht mehr
ausschlaggebendes Kriterium für die massenmediale Verbreitung der Mu-
sik: Dadurch hat Rap sich aus einem Nischendasein befreit. Durch soziale
Plattformen wie Facebook und YouTube wird die Musik virtuell und jen-
seits nationaler Grenzen in die digitale Welt transportiert. Dies stellt einen
symbolischen Selbstermächtigungsakt dar, da er im restriktiven Umgang
mit Migration nicht vorgesehen ist und eine Entmächtigung hegemonialer
Hierarchien bedeutet. Durch den symbolischen „Grenzübertritt“ durch so-
ziale Medien wird die Musik in transnationale Kontexte transportiert.
Durch die Digitalisierung sind Möglichkeiten entstanden, die den Musik-
markt und die Produktionstechniken auf ein neues Level gehoben haben.
Rapper und Crew stehen dadurch jedoch verstärkt im Fokus der Inszenie-
rungen. Die Produzenten und Personen hinter den Videoproduktionen ge-
raten dadurch oftmals aus dem Fokus. Ben Bazzazian, Musikproduzent aus
Köln und Gewinner des hiphop.de-awards als Produzent des Jahres 2014
konstatiert diesbezüglich, dass:
„[…] Ohne so Jungs wie mich gäbe es die Musik ja überhaupt nicht.
Ich sag mal so: 80% der Rapper haben überhaupt keine Ahnung von
Musik. Die wären total aufgeschmissen, wenn da nicht so Jungs wie
ich wären, die sich die Nächte um die Ohren hauen, um deren Sachen
cool zu machen so. Gerade in Amerika ist das ganz anders. Da wissen
die Leute mehr, was der Typ an den Reglern für ’ne Rolle einnimmt.
[…] Also ich bin auf jeden Fall Fan vom Urheberrecht. Ist auch totaler
Quatsch, dass alle Leute denken, alles wär für umsonst. Wenn ich ein
Buch haben will, dann muss ich es kaufen. Genau das sehe ich mit
Musik auch. Nur weil das nicht zum Anfassen ist, oder weil das im di-
gitalen Zeitalter eine Datei ist. […] Dieses Internet-Ding hat – so gut es
auch ist – viel kaputt gemacht. Leute nehmen sich auch nicht mehr die
Zeit, um sich Sachen anzuhören. Am Tag gibt es 300 neue Songs. Das
ist auch einfach viel zu viel.“ (Interview und Transkription Güler Saied
2015)

Der Mythos Deutsch-Rap

In Deutschland wurde mit dem Erfolg deutscher Rap-Musik Anfang der


1990er Jahre gleichzeitig ein Zugehörigkeitsdiskurs entfacht, der einher-
ging mit einer ethnischen Schichtung der Protagonisten. Dies hängt damit
zusammen, dass mit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung und mit

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

den damit einhergehenden rechten (Mord-)Anschlägen auf Migrant*in-


nen, wie in Solingen oder Mölln, viele Rapper Bezug auf die politische
und gesellschaftliche Situation nahmen und allzu schnell als „multikultu-
relle Rapper“ gelabelt wurden, so dass ein „normaler“ Karriereweg retro-
spektiv unmöglich gemacht wurde. Die ethnische Herkunft hatte gerade
zu Beginn der HipHop-Kultur keine Rolle gespielt. Das verbindende Mo-
ment war die Zugehörigkeit zum HipHop. Önder Bardakci, langjähriger DJ
der Microphone Mafia konstatierte bezüglich der Kategorisierung in Multi-
kulti-Rap:
„Dieses Multikulti kann in jedem anderen Land schön sein, aber egal,
wer es erfunden hat, es ist einfach nur Scheiße. Türke, Italiener, Deut-
scher, super passt. In die Schublade rein, schön alles Benefizkonzerte
und abgespeist. Ich habe definitiv nicht mit Musik angefangen, um
den Rassismus zu bekämpfen. Unsere Texte waren sozialkritisch. Das
eine hat aber nichts mit dem anderen zu tun. Weil ich habe ja aufge-
legt, ich habe die Leute zum Tanzen gebracht, ich habe zusätzlich
auch House aufgelegt.“ (Güler Saied 2015, S. 111)
Mit dem Erfolg der Fantastischen Vier Anfang der 1990er Jahre, wurde die
Zeit davor – die auch als Blütezeit des Rap verortet werden kann – medial
als Tabula rasa repräsentiert, wie folgendes Zitat exemplarisch verdeutli-
chen soll:
„Die Hör-Spiele der fantastischen Vier sind der erste erfolgreiche deut-
sche Nachbau eines Musikstils, der in den Vereinigten Staaten und
England seit Jahren die verbale und musikalische Selbstbehauptung
schwarzer Jugendlicher ist. Smudo und Freunde hingegen sind weiß,
haben so seriöse Berufe wie Friseur gelernt oder gar ein paar Semester
studiert und stammen aus bürgerlichen Elternhäusern.“ (Spiegel 1992)
Die Rapper*innen, die fast eine Dekade vor den Fantastischen Vier die Hip-
Hop-Szenen und Netzwerke in Deutschland aufgebaut hatten, erfuhren in
der medialen Darstellung eine Marginalisierung. Dabei stammte die erste
deutschsprachige Rap-Produktion Ahmet Gündüz von der Fresh Familiee
aus Ratingen aus dem Jahr 1991. Erst mit dem Erfolg des kontroversen
Gangsta-Rap ab den 2000er Jahren fand eine Verschiebung des Diskurses
statt, der nunmehr Gangsta-Rap als Produkt devianter migrantischer Ju-
gendlicher aufgriff. In dieser Hinsicht fand eine Etablierten-Außenseiter
Figuration statt:
„Immer wieder lässt sich beobachten, dass Mitglieder von Gruppen,
die im Hinblick auf ihre Macht anderen, interdependenten Gruppen

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Ayla Güler Saied

überlegen sind, von sich glauben, sie seien im Hinblick auf ihre
menschliche Qualität besser als die anderen.“ (Elias/Scotson 1990, S. 7)
Die Formen der Identitätskonstruktionen im Gangsta-Rap gingen mit
einer Etablierten-Außenseiter Figuration einher, die sehr stark an ethni-
schen Konstruktionslinien entlanglief, wie folgendes Zitat exemplarisch
verdeutlichen soll:
„Heute gehört Gangsta-Rap in den USA zu den lukrativsten Geschäfts-
feldern einer gebeutelten Plattenindustrie. In Deutschland gab es das
alles lange nicht. Deutscher HipHop kam von smarten Abiturienten
aus der Provinz, in den Texten ging es um Mädchen und um Liebe,
um Spaß und manchmal sogar um Politik. Und spätestens jetzt wird
klar, die Welt des Gangsta-Rap hat auch viel mit misslungener Integra-
tion zu tun: Außer Sido sind fast alle der Berliner Gangsta-Rapper
fremder Abstammung. Das typisch gerollte R, die harten Konsonan-
ten, so klingt Deutsch im Gangsta-Rap.“ (Oehmke 2008)
Das Zitat reiht sich in einen gesellschaftlichen und politischen Diskurs
ein. HipHop wird als deutsches Produkt von Abiturienten repräsentiert.
Abitur gilt hierbei als Zeichen der Intelligenz. Den Gangster-Rappern, die
einen Migrationshintergrund haben, wird eine gescheiterte Integration be-
scheinigt und dies wird mit ihrer vermeintlich fremden Abstammung be-
gründet. Es wird suggeriert, die Abstammung sei für die fehlende Intelli-
genz und damit die gescheiterte Integration verantwortlich. Damit wird
eine rassistische Praxis hergestellt und reproduziert. Zudem kommt in die-
sem Kontext der Bildungsdiskurs zum Ausdruck, der im Integrationsdis-
kurs mal mehr, mal weniger die Begleitmusik spielt und immer wieder zur
Konstruktion von Differenz und Exklusion beiträgt.

3. „Fremd im eigenen Land“

Der Fremdheitsdiskurs ist eines der zentralen Narrative im Rap von mi-
grantischen Künstler*innen. Insbesondere in den Anfangszeiten des Rap
spielte der Bezug zu den USA eine wichtige Rolle. Menschen mit Migrati-
onshintergrund und Schwarze Menschen waren in den 1980er und 1990er
Jahren im deutschen Fernsehen nicht präsent. Jugendliche mit Migrations-
hintergrund hatten keine Vorbilder, mit denen sie sich identifizieren
konnten. Der Fremd im eigenen Land Diskurs ist deshalb aus mehreren Per-
spektiven relevant für die Analyse. Zum einen stellt er ein historisches
Kontinuum dar, nicht nur in Bezug auf Rap, sondern auch in Bezug auf

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das gesellschaftliche Zusammenleben und die politischen Machtverhältnis-


se. Fremd im Land lautete der Titel des Songs von Advanced Chemistry, der
1992 released wurde. Die folgenden Sequenzen aus dem Song stehen ex-
emplarisch für das Narrativ der Zugehörigkeit und der eingeforderten An-
erkennung:
„Ich bin kein Ausländer, Aussiedler, Tourist, Immigrant / sondern
deutscher Staatsbürger und komme zufällig aus diesem Land! / Wo ist
das Problem? Jeder soll gehen, wohin er mag. / Zum Skifahren in die
Schweiz, als Tourist nach Prag. / Zum Studieren nach Wien, als Au-
Pair nach Paris zieh'n. / Andere wollen ihr Land gar nicht verlassen,
doch sie müssen fliehen. / Ausländerfeindlichkeit, Komplex der Min-
derwertigkeit / Ich will schockieren und provozieren. / Meine Brüder
und Schwestern wieder neu motivieren. / Ich hab schon 'nen Plan. /
Und wenn es drauf ankommt, kämpfe ich Auge um Auge, Zahn um
Zahn. / Ich hoffe die Radiosender lassen diese Platte spielen. / Denn
ich bin kein Einzelfall, sondern einer von vielen. / Nicht anerkannt,
fremd im eigenen Land. Kein Ausländer und doch ein Fremder.“ (Ad-
vanced Chemistry 1992)
Fremd im eigenen Land hieß auch der Song von Rapper Fler aus dem Jahr
2008. In dem wurde das Fremdheitskonzept von Advanced Chemistry je-
doch umgekehrt und aus einer nationalistischen Perspektive inszeniert.
Fremd im eigenen Land geht auf Hendrik M. Broder zurück, der im Jahr
1979 gemeinsam mit Michael R. Lang das gleichnamige Buch herausgab,
das den Untertitel Juden in der Bundesrepublik trug. 1981/82 wurde dieses
Narrativ vom rechten Schutzbund des deutschen Volkes aufgegriffen. Im
Heidelberger Manifest, das von Hochschulprofessoren verfasst und verbrei-
tet wurde, wurde konstatiert: „Mit großer Sorge beobachten wir die Unter-
wanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen von
Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unse-
rer Kultur und unseres Volkstums […] Bereits jetzt sind viele Deutsche in
ihren Wohnbezirken und an ihren Arbeitsstätten Fremdlinge in der eige-
nen Heimat“ (Schutzbund 2016a).
Der Titel des Songs Fremd im eigenen Land von Advanced Chemistry war
die subversive Umkehrung eines hegemonialen und rassistischen Diskur-
ses, der im Heidelberger Manifest lediglich einen vermeintlich intellektuel-
len Anstrich erhielt. Mit dem Erstarken rechter Bewegungen in der BRD,
wie PEGIDA und auch der AfD in den letzten Jahren, die sich größtenteils
aus der Mitte der Gesellschaft formiert haben, ist der Überfremdungsdis-
kurs wieder ein dominantes Narrativ geworden. 2016 konstatierte der
Schutzbund für das Deutsche Volk auf seiner Homepage:

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Ayla Güler Saied

„1981, vor 35 Jahren, wurde der Schutzbund für das Deutsche Volk
(SDV e.V.) gegründet. Grundlage war das „Heidelberger Manifest“, in
dem vor Geburtenarmut und Überfremdung gewarnt wurde. Somit
haben klare Warnungen gegen eine verhängnisvolle Politik schon eine
lange Tradition. Doch erst heute, wo es fast schon zu spät ist, beginnen
sich die Deutschen der Probleme bewußt zu werden, auf die sehende
Männer und Frauen schon seit Jahrzehnten hingewiesen haben. Inso-
fern ist heute eine neue Lage entstanden, die wieder Mut macht. Zu-
gleich ist das Ausmaß des Verrats durch die politische Klasse ungeheu-
erlich.“ (Schutzbund 2016b)
Mit dem Erstarken der AfD und des Rassismus aus der Mitte, werden ge-
sellschaftliche und politische Inklusionsentwicklungen der letzten Jahre
und Jahrzehnte in Frage gestellt. Durch die vermeintliche Flüchtlingskrise
haben rechte und rechtspopulistische Parteien wieder Auftrieb erhalten, so
dass alte Diskurse wieder aktiviert werden, die im Zusammenhang mit
Migration seit jeher tonangebend waren. Migration wird in diesem Kon-
text als Ausnahme und Störung verortet. Zudem geht es in diesen Diskur-
sen nicht um Migration im Allgemeinen, sondern dieser wird verknüpft
mit dem Religionsdiskurs und damit einhergehend mit dem Integrations-
diskurs, so dass eine doppelte Fremdheit konstruiert wird.

Exklusionsfaktoren Sprache und ethnische Zugehörigkeit

Sprache ist das Hauptmedium des Rap. Mit ihr und durch sie werden In-
halte transportiert. Sprache ist gleichzeitig auch die ‘Waffe’ des Rap. Im ge-
sellschaftlichen und politischen Diskurs haben die sprachlichen Fähigkei-
ten von Zugewanderten wieder verstärkt an Bedeutung gewonnen. Spra-
che dient dabei seit jeher als Differenzmerkmal im Integrationsdiskurs von
Migrant*innen. Gogolin konstatiert: „daß die Berufung auf ‘sprachliche
Reinheit’ bzw. die (einzig) richtige Sprache eine durchgängige Grundfigur
bei der ideologischen Mobilisierung der deutschen Sprache für die Nation
gewesen ist“ (1994, S. 86).
So wurde im Heidelberger Manifest die Frage aufgeworfen: „Welche Zu-
kunftshoffnung verbleibt den Hunderttausenden von Gastarbeiterkindern,
die heute sowohl in ihrer Muttersprache wie in der deutschen Sprache An-
alphabeten sind? Welche Zukunftshoffnung haben unsere eigenen Kinder,
die in Klassen mit überwiegend Ausländern ausgebildet werden?“ (Schutz-
bund 2016a).

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

Diese Frage ist nach wie vor zentraler Aspekt im Migrations- und Inte-
grationsdiskurs. Es findet eine Hierarchisierung von Sprachen statt. Ob-
wohl die Kultusministerkonferenz in Bezug auf den Fremdsprachenerwerb
von Schüler*innen konstatiert, dass:
„Die Vielfalt der Sprachen und Kulturen ist ein Reichtum, den es
durch geeignete Bildungsmaßnahmen zu erschließen gilt. Dem
Fremdsprachenunterricht kommt hier eine besondere Rolle zu. Er
schafft zielorientierte Kommunikationsfähigkeit und trägt dazu bei,
interkulturelle Handlungskompetenz zu entwickeln, um sich im glo-
balen Rahmen wertbasiert orientieren zu können.“ (KMK 2011, S. 2)
Die türkische und – verstärkt durch die Fluchtbewegungen der letzten Jah-
re – auch die arabische Sprache wird nach wie vor als ein Defizit in den
Bildungsbiographien von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshin-
tergrund verortet. So konstatierte die damalige Bildungsministerin Johan-
na Wanka im Jahr 2017:
„Es sollte keine Klassen geben, in denen der hohe Migrantenanteil da-
zu führt, dass die Schüler untereinander vorwiegend in ihrer Mutter-
sprache sprechen und damit eine Integration erschwert wird.“ (Focus
Online 2017)
An dieser Stelle wird deutlich, dass es keiner expliziten Benennung der ge-
meinten Migrantengruppen bedarf, da der hegemoniale Diskurs an dieser
Stelle selbsterklärend ist. Wenn von Migrantengruppen im Bildungssystem
die Rede ist, ist es klar, dass damit nicht englische oder schwedische Mi-
grantenkinder gemeint sind, sondern Migrantengruppen, die in der Öf-
fentlichkeit als defizitär wahrgenommen werden. Im Rap werden diese
Diskurse subvertiert, indem der monolinguale Habitus durch sprachliche
Praktiken außer Kraft gesetzt wird.

Translanguaging im Rap: Subversion des monolingualen Habitus

Die Nutzung von unterschiedlichen Sprachmixes bedeutet im Kontext des


monolingualen Habitus (Gogolin 1994) eine Subversion und gleichzeitig
die Eröffnung eines third space (Bhabha 1994). Dieser wird dadurch wirk-
sam, dass hegemoniale Diskurse entmachtet werden. Dies wird am Beispiel
einer line aus dem Song Lambo Diablo GT von Nimo & Capo exemplarisch
analysiert:

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Ayla Güler Saied

„Roll' im Lambo Diablo GT / Frankfurt am Main ist nicht Miami


Vice. / Aber wir sind im 80er-Film. / Traffic mit Beyda und MDMA /
Habibi, Traffic mit jedem Scheiß, der mir Fluez bringt. / Nur damit es
Mama gut geht. / Egal, an welchen Händen Blut klebt.“ (Capo & Ni-
mo 2017)
In diesem Part, der von Nimo gerappt wird, wird die Praxis des translan-
guanging praktiziert. „Traffic mit Beyda und MDMA / Habibi, Traffic mit
jedem Scheiß, der mir Fluez bringt“ (ebd.). In der line wird jedes zweite
Wort entweder auf Englisch oder Arabisch gerappt. Beyda ist das arabische
Wort für „weiß gefärbt“ und wird als Synonym für Kokain verwendet.
MDMA ist der Grundstoff für die Herstellung von Ectasy. Habibi bedeutet
auf Arabisch „Liebling“ und traffic ist das englische Wort für Handel, in
diesem Fall ist damit der Drogenhandel gemeint. Fluez ist das umgangs-
sprachliche arabische Wort für Geld. Die Vermischung und Nutzung un-
terschiedlicher Sprachen zeigt, dass durch transnationale Räume Grenzen
und konstruierte homogene Muster subversiert werden. Translanguaging
geht dabei über code-switching hinaus. Es findet kein switch zwischen zwei
Sprachen statt. Damit wird auch das Konstrukt einer homogenen kulturel-
len beziehungsweise ethnischen Zugehörigkeit dekonstruiert:
„Translanguaging differs from the notion of code-switching in that it
refers not simply to a shift or a shuttle between two languages, but to
the speakers’ construction and use of original and complex interrelated
discursive practices that cannot be easily assigned to one or another
traditional definition of language, but that make up the speakers’ com-
plete language repertoire.“ (Garcia/Wei 2014, S. 22)
Durch translanguaging findet neben der Einforderung von Anerkennung
auch eine Umkehrung der Regeln des Codierens/Dekodierens statt: Die
MCs bestimmen die Spielregeln und geben vor, welche Wörter und Spra-
chen den Ton angeben. Die Nutzung „anderer“ Sprachen,
1) spiegelt den digitalen Zeitgeist wider
2) schafft eine Hyperform der Codierung/Dekodierung
3) eröffnet neue transnationale Handlungsräume: HipHop als Diaspora.
Anders als also in den 1990er Jahren ist die Praxis des translanguaging und
des code-switching eine Kompetenz, wenn nicht sogar ein Erfolgskriterium
im Rap-Business. Dabei wird Sprache losgelöst von ethnischer Zugehörig-
keit praktiziert. Die Interviewsequenz von Kutlu von der Microphone Mafia
verdeutlicht, wie in den 1990er Jahren auf Mehrsprachigkeit im Rap re-
agiert wurde:

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

„Damals war das mit der Sprache auch noch nicht so programmmäßig
wie heute. Englisch konnte man nicht so gut, auf Deutsch hat sich das
irgendwie nicht so richtig angehört, und auf einmal kam der Rossi mit
einem italienischen Text, den er rappen wollte. Da dachte ich auch:
Dann kann ich das bestimmt auch auf Türkisch. So kam das nach und
nach ins Rollen. Das war eher eine Tugend, die aus der Not entstan-
den ist. Erst danach kamen die Medien und sagten: Wow, das ist aber
was Besonderes. Aber es war nie was Besonderes. Es war einfach unser
Leben […] Wir dachten, wir könnten jetzt auf Türkisch rappen, auf
Deutsch, Italienisch, Englisch, scheißegal, die Leute sind offen. Und
was kommt? Wir machen unseren eigenen Song ‚No‘, wo kein Wort
Deutsch vorkommt, wo alle zuerst gesagt haben: Toll, ihr lasst ja euren
Lyrics freien Lauf, egal in welcher Sprache. Aber Viva hat das mit der
Begründung abgelehnt, dass da keine deutschen Reime gekickt wer-
den. Das war 1994.“ (Güngör/Loh 2002, S. 178)
Es hat dahingehend eine Verschiebung stattgefunden, während die gesell-
schaftlichen und politischen Diskurse hinsichtlich Sprache und Integrati-
on noch dieselben sind, wie in den 1990er Jahren. Allein die Praxis dessen,
was Erfolg bringt, wird von den Rapper*innen kodiert und kann von den
Rezipient*innen auch dementsprechend dekodiert werden. François Julli-
en plädiert dafür:
„Die Sprache der Welt kann nur die Übersetzung sein. Die zukünftige
Welt muss eine des Zwischensprachlichen sein: nicht die einer domi-
nierenden Sprache (welcher auch immer), sondern eine der Über-
setzung, welche die Ressourcen der Sprachen aktiviert, indem sie dafür
sorgt, dass sie sich gegenseitig in den Blick nehmen. Dass sie sich ge-
genseitig und sich zugleich an die Arbeit machen, die im wechselseiti-
gen Weiterleiten besteht. Nur eine einzige Sprache zu haben wäre ge-
wiss um vieles einfacher, allerdings würde das von Anfang an eine er-
zwungene Vereinheitlichung bedeuten. Der Austausch würde erleich-
tert, es gäbe jedoch nichts mehr auszutauschen, jedenfalls nichts wirk-
lich Einzigartiges. Alles fände sich in einer Sprache geordnet, es gäbe
keine Abweichungen mehr, die etwas durcheinanderbringen könnten,
jedes Sprechen-Denken – jede Kultur – könnte dann, wie bereits ge-
sagt, nur mehr in identitärer Weise und starrköpfig auf seine ‘Unter-
schiede’ beharren.“ (2017, S. 92f.)
Auch die sprachlichen Praxen im Rap, die vom hegemonial vorgegeben
monolingualen Diskurs abweichen, stellen eine affirmative Devianz dar.
Im Folgenden werden weitere Inszenierungsformen aufgegriffen, die

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Ayla Güler Saied

durch die Performance affirmativer Devianz hergestellt werden und den-


noch eine Subversion hegemonialer Diskurse bewirken.

4. Affirmative Devianz als Erfolgsmodell

Die Inszenierung affirmativer Devianz in Rap-Narrativen hat sich in den


letzten Jahren zunehmend als Erfolgsmodell etabliert und Rapper können
sich dadurch ihren Lebensunterhalt finanzieren, was in den 1990er Jahren
nicht möglich war. Sexistische, misogyne, homophobe, gewaltverherrli-
chende und zunehmend auch antisemitische Inhalte in Rap-Songs sorgen
dabei wiederkehrend für kontroverse Diskussionen (vgl. Dietrich 2016).
Deviantes Verhalten ist Teil der Gangsta- und Straßenrap-Inszenierungen.
Tricia Rose benennt diese Form der Inszenierung als hyper-gangsta-izeration
und konstatiert für den kommerziell erfolgreichen Rap in den USA, dass
dieser durch „The trinity of commercial hip hop – the black gangsta,
pimp, and ho – has been promoted and accepted to the point where it now
dominates the genre's storytelling worldview“ (Rose 2008, S. 16).
Die Überhöhung der eigenen Person und Sexualität, einhergehend mit
übertriebenen Stereotypisierungen, ist ein essentielles Werkzeug des
Gangsta-Rap. Hierbei stehen sich oftmals Kunst- und Meinungsfreiheit so-
wie die Diskriminierung, Herabwürdigung und bewusste Provokation ge-
genüber. Die Stereotypisierungen indes, die diskursiv vorgegeben ist und
hergestellt wird, wird von Künstler*innen aufgegriffen und in überhöhtem
Maße auf sich selbst und andere konstruierte Gruppen angewendet.
„Mit anderen Worten ist Stereotypisierung Teil der Aufrechterhaltung
der sozialen und symbolischen Ordnung. Sie errichtet eine symboli-
sche Grenze zwischen dem ´Normalen´ und dem ´Devianten´, dem
Normalen und dem Pathologischen, dem Akzeptablen und dem Un-
akzeptablen, dem was dazu gehört und dem, was nicht dazu gehört
oder was das Andere ist, zwischen Insidern und Outsidern, uns und Ih-
nen. Sie vereinfacht das Zusammenbinden oder Zusammenschweißen
zu einer imaginierten Gemeinschaft; und sie schickt alle Anderen, alle
diejenigen, die in irgendeiner Weise anders, unakzeptabel sind, in ein
symbolisches Exil.“ (Hall 2004, S. 144)
Statussymbole, in Form von materiellem Kapital, werden in Rap-Lyrics
und Videos genutzt, um das deviante und kriminelle Leben zu repräsentie-
ren, hierzu zählen:

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

• Teurer Schmuck,
• Autos,
• Geld ↔ money (englisch) ↔ para (türkisch) ↔ fluez (arabisch), lila
(500,00 Euro-Scheine, auch wenn diese abgeschafft werden sollen).
Diese materiellen Kapitalien dienen als Indikatoren für den finanziellen
Aufstieg, genauso wie die Investition in Markenkleidung, die als Kapital
inszeniert wird, wie bspw. bei der KMN Gang (Kiss my Nikes oder KriMi-
Nell). Das symbolische Kapital, das in den Inszenierungen ein Spannungs-
feld zwischen realness und credibility erzeugt, bezieht sich auf folgende „Ka-
pitalien“:
• die Gang,
• die Anzahl der „Bitches“,
• Vertrieb der Musik oder Musikvideos und Alben,
• Klicks und likes in social media Kanälen und Streamingdiensten,
• Drogengeschäfte,
• die Suggestion, Rap sei nur das Hobby und kriminelle Geschäfte das ei-
gentliche Business,
• Gefängnisaufenthalt,
• negative Berichterstattung.
Zu den performativen Inszenierungen der aktuellen Gangsta-Rap Produk-
tionen zählen insbesondere folgende Figuren und Konzepte:
• A-kulturelle und asoziale Identitätskonstruktionen, wie beispielsweise
die Figur oder das Stereotyp des Azzlack (asozialer Kanake), das von
Haftbefehl initiiert wurde und nach dem auch sein Label benannt ist.
• Das female Rap-Duo SXTN hat 2016 das Album Asozialisierungspro-
gramm released, in dem Sozialisierungsprogramme ad absurdum ge-
führt werden und auch diskursiv hergestellte Frauenbilder durch expli-
zite Lyrics entmachtet werden. In dem Song Deine Mutter (2015) wird:
„Ich ficke deine Mutter ohne Schwanz“ gerappt. Und auch der Song
Fotzen im Club steht für eine subversive Aneignung und Umdeutung
hegemonialer Deutungsmuster. Im Oktober 2018 haben SXTN ihre
Trennung bekannt gegeben, sowie dass sie als Solo-Künstlerinnen ihre
Karriere fortführen werden (Spiegel Online 2018).
• Der Pimp, Pezo (türk. Pezevenk = Zuhälter) sind neben dem Drogendea-
ler zentrale Figuren in aktuellen Songs.
• Die Begriffe Nutte, Bitch, Fotze, Kurwa (polnisch = Prostituierte); Kah-
pa (türkisch und kurdisch = Prostituierte) und Orospu (türkisch = Pro-
stituierte) finden sich in Rap-Produktionen von Schwesta Ewa, SXTN
und Lady Bitch Ray wieder.

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Ayla Güler Saied

• Der Gangsta ist nach wie vor eine zentrale Figur in den aktuellen Rap-
Produktionen.
• Hypersexuelle Männlichkeit und Gewaltphantasien sind Querschnitts-
themen, die immer wieder aufgegriffen werden, auch wenn sich der
Sound vieler Rap-Texte geändert hat – das heißt nicht mehr durch düs-
tere Beats sondern eher durch Partysound gekennzeichnet ist, wie zum
Beispiel der Song Habibo von Veysel – so sind die Inhalte, wie Drogen-
handel und finanzieller Aufstieg durch kriminelle Geschäfte dieselben
geblieben.
• Auch Dominanz über Frauen und Misogynie sind nach wie vor zentra-
le Inhalte in den Rap-Songs. Die Inszenierung von Frauen als Statistin-
nen und die damit einhergehende Reduzierung als ein Statussymbol
neben dem Auto sind prägend.
Die Rezeption der Inszenierungen wird indes selten als Rap-Spezifikum
aufgegriffen, sondern wird im Integrations- und Migrationsdiskurs veror-
tet. Obwohl Gewalt gegen Frauen ein universelles Phänomen darstellt und
laut der Weltgesundheitsorganisation das größte Gesundheitsrisiko für
Frauen ist (WHO 2013), wird im Kontext von Migration und Integration
oftmals das globale Problem ethnisiert und kulturalisiert.
Aktuell wird der Gender-Diskurs eng mit dem Flucht- und Migrations-
diskurs verknüpft. Gewalt gegen Frauen wird damit externalisiert und so-
mit einer konstruierten Gruppe zugeschrieben. Dabei wird die globale Di-
mension, die diese Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
(Zick et a. 2011) beinhaltet, nicht berücksichtigt. Laut dem BKA gab es im
Jahr 2017 149 vollendete Morde an Frauen in der BRD (Faktenfinder
2017), ein Großteil davon sind Beziehungstaten. Rommelspacher hat be-
reits in den 1990er Jahren die intersektionellen Verstrickungen und Wir-
kungen von Rassismus und Sexismus aufgegriffen und beschrieben als
„[…] Ideologien, die darauf abzielen, eine bestimmte Gruppe von Men-
schen zu diskriminieren, indem die Gruppe als homogene Einheit kon-
struiert und mit Hilfe zum Beispiel eines biologischen Merkmals stigmati-
siert wird – das eine Mal aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, das ande-
re Mal aufgrund der Hautfarbe oder ethnischen Herkunft“ (1999, S. 111).

(De-)Konstruktion affirmativer Devianz

Der Rapper Enemy inszeniert sich in seinem Song Arztlack, als devianten
Kriminellen. Im realen Leben ist er Medizinstudent. Er steht bei dem La-
bel Azzlack unter Vertrag und schafft eine Synthese zwischen einem kon-

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

struierten asozialen Kanaken aus der Unterschicht und einem Migranten,


der durch das Studium einen Aufstieg erreicht hat. Die Kontroversen in
dem Song werden stereotypisierend erzeugt und damit gleichzeitig auch
dekonstruiert:
„Ich frag' mich, habt ihr alle keine Augen in der Stirn? / Denn ihr re-
det so, als hätte kein Kanake ein Gehirn! / Ich sag', „Hallo, ich bin Ene-
my, studiere Medizin.“ / Sie gucken so als wär' ich aus 'ner anderen
Galaxie. / Enemy, das Schlimmste, was das Krankenhaus gesehen hat. /
Nackenklatscher reden für den schwulen Krankenpfleger. / Kranken-
schwesterinnen wollen einen Wein trinken später. / Und Patienten
wissen, wer ich bin, und fragen nach 'nem Zehner. / Ja, ich bin immer
noch Student, doch mittlerweile Großverdiener, weil ich Para mache
nebenbei mit Drogen immer wieder. / Rein ins Geschehen. / Bunker'
alles im Labor, denn ich bin Gangster von Beruf und hobbymäßig Me-
diziner. / Klaue Schlüssel für die Lagerräume, scheiß auf Sitten, / ko-
che Badesalze, dafür klau' ich mir die Mittel. / Der Kanak aus Hanno-
ver-Citys dreckigstem Viertel, steht am Morgen in der Klinik in 'nem
perlweißen Kittel! […] Arztlack, amına, wer sagt, das? / Ein Kanake aus
der Gosse keine andre Wahl hat? / Während alle sich das Maul zerrei-
ßen, lass' ich mir einen blasen, / im Patientenklo und schreie, wenn
ich komm', wie Tarzan. / Laufe voll verschlafen in die Klinik übers
Beet. / Seh' den Chefarzt und er stottert: „Guten Morgen, Majestät!“ /
Hundert Meter, ich kann seine Augenringe seh'n. / Kommt von mei-
ner neuen Formel für das Strecken seines Schnees! / An alle meine
Brüder, euer Homie ist ein Arzt. / Das heißt Jobcenter-Krankschrei-
bung für das ganze Jahr. / Nein, ich vergesse nicht, woher ich einmal
kam! / Ich bin Kurde aus den Bergen, nur mit Rolex Chronograph.“
(Enemy 2018)
Auch der Song Tabledance von Schwesta EWA feat. SXTN greift deviantes
Verhalten auf. Schwesta Ewa schafft wie auch Enemy an dieser Stelle eine
Brücke von ihrer Kunst zu ihrem Privatleben, da sie aufgrund von
Zwangsprostitution Minderjähriger angeklagt worden war. Dieser Vor-
wurf erhärtete sich nicht, wohl aber der Anklagepunkt der Steuerhinterzie-
hung sowie Gewalttätigkeiten gegen junge Prostituierte (Süddeutsche Zei-
tung 2017). So rappt sie zu Beginn des Songs:
„Im Benzer läuft „Fuck tha Police“, Sound, auf den die Kanaks schwö-
ren. / Ich mach', dass deine Mama twerkt, schick' sie auf Strich im Ga-
bana-Shirt. / Doch lass es ja nicht die Amcas hören. / Observation am
Block, wo ich wohn'. / Keiner von uns hat einen Job im Büro. / Insta-

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Hoes wär'n gern Model-Ikonen. / „Ich zeig' ihnen den Weg in die Pro-
stitution“, steht in der Anklageschrift. / Ich halt' mir die Hand vor's
Gesicht. / Beamte und Richter, die mich verurteilen, sind dieselben,
die zahlen für die Schlampen am Strich.“ (Schwesta Ewa feat. SXTN
2018)
Die Visualisierung der sexualisierten Inszenierung in dem Video knüpft an
die Inszenierungen von männlichen Rappern an. Die Inhalte indes sind es,
die den hegemonial männlich dominierten Diskurs in Frage stellen. Inso-
fern bedeuten sexualisierte und sexistische Rap-Produktionen von female
MCs eine Irritation und stellen nicht zuletzt eine subversive Praxis inner-
halb des Gangsta-Rap Genres dar.

Wirkungsmacht: Rezeption

Der Konsum der Musik erzeugt bei den Rezipienten unterschiedliche Wir-
kungen. Ethnische Mehrfachzugehörigkeiten und Selbstinszenierungen
sind im aktuellen Rap-Business eine zentrale Kategorie. Dabei sind diverse
Adaptionsmöglichkeiten relevant, welche die Konsument*innen ihrer Le-
benswelt entsprechend rezipieren. Im Kontext ethnischer Zugehörigkeit
sind im Rahmen einer empirischen Erhebung Jugendliche befragt worden,
warum sie beispielsweise bestimmte Künstler*innen hören und was für sie
ansprechend ist. Im Folgenden werden exemplarisch Interviewsequenzen
vorgestellt und analysiert. Ein 16-jähriger Jugendlicher konstatierte:
„Und dass die halt so mit der Nation, ich meine, ich bin ja auch Iraner,
und wenn ich so einen iranischen Rapper habe, dann mag ich den au-
tomatisch. Weil dann ist da so ´ne Bindung. Wir haben ja auch einen
Kurden bei uns in der Klasse, der auch viel Haftbefehl hört. Du weißt,
der ist dir ähnlich, hat wahrscheinlich eine ähnliche Herkunft wie du
und dann fühlt man sich angesprochen. Also auch, wenn nur die El-
tern (…) weil es gibt nicht unendlich viele Iraner in Deutschland.“
(Güler Saied 2017, S. 233)
Ein zwölfjähriger Schüler konstatiert zum Zeitpunkt des Interviews im
Jahr 2016 in Bezug auf den Rapper Kurdo, welcher der irakisch-kurdischen
Minderheit angehört: „Zum Beispiel Kurdo, also ich finde es schon natio-
nalistisch, dass man sich so einen Namen gibt. Aber ist ja seine Sache“
(ebd.). Im Kontext der Konferenz wurde selbiger Schüler zwei Jahre später
mit seinem Statement konfrontiert, worauf folgende Antwort gegeben

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

wurde: „Ich finde gut, dass der zu seinem Land steht, er ist im Irak gebo-
ren.“
Diese kurze Interviewsequenz kann aus mehreren Perspektiven kontext-
ualisiert und analysiert werden. Zum einen steht die Identitätsentwicklung
im Kontext der Pubertät als Analysekategorie zur Verfügung, die insbeson-
dere für das zweite Zitat als Erklärungsmuster dienen kann. Stigmatisie-
rende und stereotype Erfahrungen von männlichen migrantischen Jugend-
lichen sind auf Grundlage mehrerer Studien eruiert worden (vgl. Riegel
2016). Die hierarchische Ordnung von ethnischen Zugehörigkeiten führt
zu ungleichen Machtverhältnissen. Damit einhergehend sind ungleiche
Repräsentationspraxen, da die Gruppe, die mit weniger Macht ausgestattet
ist, nicht darüber bestimmen kann, wie diskursive Wahrheit über diese
Gruppe hergestellt wird. Vor diesem Hintergrund stellt Rap eine äußerst
widerständige und subversive Form der Aneignung dar, die gleichzeitig
eine empowernde Wirkung entfalten kann.3

Rap als Erinnerungskultur

Rap dient im Kontext der Migration und damit einhergehenden kollekti-


ven Erfahrungen als Ort der Erinnerungskultur und als kollektives Ge-
dächtnis. Es ist ein Archiv migrantischer Geschichte(n) in der Bundesrepu-
blik Deutschland. Dies möchte ich anhand des Songs Es brennt von Eko
Fresh feat. Brings exemplarisch darstellen und analysieren. Brings ist eine
Kölsch-Rock Band und besteht seit dem Jahr 1990. Eko Fresh ist Rapper
und hat neben Straßen-Rap-Songs, auch diverse battlesongs produziert.
Gleichzeitig produziert(e) er auch gesellschaftskritische Songs wie z. B.
Gastarbeiter oder Köln Kalk Ehrenmord.
Der Song Es brennt wurde 2014 veröffentlicht, 10 Jahre nachdem die Ke-
upstraße von einer Nagelbombe des Nationalsozialistischen Untergrunds ge-
troffen wurde und 22 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.
„Es war 2004 als ich davon gehört hatte! / Nagelbomben-Anschlag in
der Keupstraße. / Man, ich schwör, es hatte mich verdammt gestört. /
Eine Bombe ist geplatzt vor meinem Stammfriseur? / Vor meinen
Landsleuten? Das tat mir sehr weh, sowas kennt man eigentlich nur

3 Bei den aktuellen Rap-Produktionen, in denen ethnische Zugehörigkeit als Kapital


inszeniert wird, wäre dennoch zu erforschen, inwieweit durch den Konsum von
Rap-Musik Jugendliche in ihrer religiösen und ethnischen Selbstwahrnehmung
und Selbstverortung beeinflusst werden.

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aus dem Fernsehen! / Also fahr ich hin, die ganze Straße war dahin! /
Dabei handelt's sich um eines unserer Wahrzeichen! / Ich dachte so-
was passiert nicht bei uns, nicht mal in Köln, die armen Leute, man! /
Das hätte auch ich sein können! / Und dann gingen die Gerüchte los: /
Wirklich unfassbar, / angeblich war's die türkische Mafia! / Eine Wo-
che später, als sie glaubten, es waren Kurden. / Ihr seht viele Theori-
en, / die durch den Raum geworfen wurden. / Dann hieß es, der Fri-
seur sei in die Scheiße verwickelt. / Er wäre kriminell und die Polizei,
sie ermittelt. / Dass man ihn plus Familie wie Verbrecher verhörte, /
war dann vorerst das letzte, was man hörte. / Ein Benefizkonzert, E-K-
O trat da auf. / Und in Cologne nahm dann alles seinen gewohnten
Lauf! / Heute wissen wir alle, wer's gewesen ist. / Was denen, die drun-
ter litten leider aber wenig hilft! / Wir wissen, es hätte auch verhindert
werden können! / Ich dachte, so was passiert überall, doch nicht bei
uns in Köln! / Weißt du, wie es ist, du denkst, du bist bei uns zu Hause
hier? / Und wegen deinem Aussehen will dich jemand aussortieren? /
Kann nicht beschreiben, wie krass ich enttäuscht war! / Ich wusste nix
davon, ich dachte, ich wär Deutscher! / Weißt du wie es ist? Dich lässt
der Rechtsstaat im Stich! / Du hast knapp überlebt, und sie verdächti-
gen dich! / Zehn Menschen tot als die Behörde scheinbar schlief: Ir-
gendwie fies, / dass man danach was von Dönermorden liest! / Habt
ihr mal dran gedacht, wie die Familien sich gefühlt haben, / als ihre
Väter so früh starben? / Sie wollten Aufklärung, / warteten geduldig
ab. / Es gab niemanden, der sich dafür entschuldigt hat! / Diesen Men-
schen eine Stimme geben ist der Grund. / Genau deshalb bring ich die-
ses Thema auf den Punkt! / Es ist doch wunderbar, dass hier so viele
Völker wohnen. / Dat hier ist für die Keup, min kölsche Straß!“ (Eko
Fresh 2014)
Der Song war den Betroffenen des Nagelbombenanschlags 2004 auf der
Keupstraße gewidmet, der vom Nationalsozialistischen Untergrund verübt
worden war.4 Hasan Yildirim, einer der Hauptgeschädigten des Nagelbom-
benanschlags, wurde nach Veröffentlichung des Songs interviewt, um eine
Verortung und empowernde Wirkung des Lieds retrospektiv und aus sei-
ner subjektiven Perspektive kontextualisieren zu können:
„Es hatte für mich eine große Bedeutung, dass ein so populärer Musi-
ker wie Eko Fresh, der ja auch unser Kunde ist, uns in das Lied inte-

4 Zum Nagelbombenanschlag vergleiche das Interview von Ayla Güler Saied mit
Hasan Yildirim (Dostluk 2014, S. 100ff.).

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Diaspora Rap: Dynamisch kulturelle Identitätsinszenierungen

griert hat. Er hat einen Song über den Nagelbombenanschlag geschrie-


ben und wir kommen in dem Video als ein Teil der Geschichte vor.
Das begrüße ich, weil dadurch unser Schicksal einer breiten Öffent-
lichkeit bekannt wird und nicht in Vergessenheit gerät. Es gibt ja auch
das Buch „Von Mauerfall bis Nagelbombe“ und den Film von Andreas
Maus „Der Kuaför aus der Keupstraße“. Die Geschehnisse auch musi-
kalisch zu verarbeiten ist insofern auch sinnvoll gewesen, als dass da-
durch eine breitere Öffentlichkeit davon erfahren hat. Das ist wichtig
für uns, weil wir jahrelang mit den Geschehnissen alleine gelassen
wurden. Diese Geschichte darf nicht in Vergessenheit geraten. Der
Prozess wird bald zu Ende gehen und damit wird das Kapitel NSU ge-
schlossen werden. Aber das darf nicht passieren, diese Leute haben
zehn Menschen ermordet, hier auf der Straße durch die Bombe so viel
Leid erzeugt, mit dem wir so lange alleine gelassen wurden. Auch
wenn ich mir vom Prozess gegen Zschäpe nicht viel erwarte, bin ich
trotzdem froh, wenn sie endlich verurteilt wird, und wir endlich zur
Ruhe kommen können. Es gibt von meiner Seite auch ehrlich gesagt
nichts mehr zu dem Thema zu sagen. Ich habe alles gesagt, was zu sa-
gen ist. Jetzt ist der Rechtsstaat und die Justiz gefragt.“ (Interview und
Transkription Güler Saied 2015)
Rap als musikalisches Medium wird an dieser Stelle von Yildirim auf eine
Ebene mit anderen Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ge-
stellt, die im Kontext des NSU-Komplexes realisiert wurden. Damit erzeugt
Musik dieselbe Wirksamkeit. Auf der anderen Seite zeigt diese Verortung
auch, dass die musikalische Auseinandersetzung mit gesellschaftspoliti-
schen Themen vom Interviewpartner nicht als außergewöhnlich oder be-
sonders gewertet wird, sondern gleichberechtigt auf einer Ebene mit ande-
ren zivilgesellschaftlichen Formen der Auseinandersetzung sowie Solidari-
sierung steht und damit nicht zuletzt auch, dass Rap in Teilen als Kunst-
form gesellschaftlich akzeptiert ist. In diesem Kontext dient die musikali-
sche Aufarbeitung des Songs auch der solidarischen Selbstorganisation von
Menschen. So sind in dem ausschließlich schwarz-weißen Video diverse
Menschen zu sehen, die in die Kamera blicken und ihren Blick nicht ab-
wenden. Teils wirken die Blicke anklagend, teils wird gleichzeitig der Ein-
druck vermittelt: „Wir bleiben hier stehen, wir gehören hier hin“.

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Ayla Güler Saied

5. Resümee

Rap diversifiziert sich immer weiter aus. Trotz zahlreicher Stagnationen


hat sich die Rap-Musik in den letzten Jahren immer wieder erneuert und
dem Zeitgeist angepasst und seine Dynamik entfaltet. Dies hängt zum
einen mit der dem Rap inhärenten Dynamik der Erneuerung und Trans-
formation zusammen. Zum anderen kommt hier aber die Anpassungs-
und auch Adaptionsfähigkeit an veränderte Umstände zum Ausdruck. Um
auf die Frage zurückzukommen, ob es eine kulturelle Identität gibt: Im
Kontext des Rap findet eine Subversion gegen das homogene und statische
Kulturverständnis statt. Dadurch, dass die Künstler*innen die ihnen zuge-
schriebenen Merkmale ins maßlose übertreiben und überspitzen, schaffen
sie eine Irritation festgeschriebener Stereotypisierungen, die oftmals wider-
sprüchlich sind und an gesellschaftliche Diskurse anknüpfen. Dabei ist je-
doch nicht die ethnische Zugehörigkeit als verbindendes Moment konsti-
tutiv, sondern die kulturelle Verortung zur HipHop-Kultur. Insofern gibt
es keine homogene (ethnisch) kulturelle Identität. Kulturelle Identität
speist sich aus den unterschiedlichsten sozialen und gesellschaftlichen Ein-
flüssen. Durch diese treten Rapper*innen in einen gesellschaftlichen Dia-
log und eröffnen damit neue Räume, die durch Widersprüche, Hierarchi-
en und Subversion gekennzeichnet sind. Sie sind anschlussfähig an das
von Jullien beschriebene Konzept der Übersetzung:
„Die Übersetzung ist hingegen eine Möglichkeit, den Dia-log konkret
und schlüssig zu verwirklichen. Sie bringt das Unbequeme, das Unab-
geschlossene, das niemals Fertige zum Vorschein. Sie holt aber auch
das Effektive ans Licht: In ihrem Zwischen entsteht ein Gemeinsames
der Intelligenz, das sich von dort aus entfaltet.“ (Jullien 2017, S. 93)

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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen? – Ein
politischer Kampfbegriff in Polen und Tunesien

Dawid Mohr und Valerian Thielicke

1. Polen und Tunesien – So fern und doch näher als gedacht?

Obwohl in der Forschungsliteratur zu kollektiven Identitäten weitgehen-


der Konsens besteht, dass sie deutungsoffen sowie nie fixierbar seien
(Straub 1998, S. 99; Reese-Schäfer 1999, S. 7; Mouffe 2015, S. 27), wurde
dies anscheinend in den politischen Diskursen nicht zur Kenntnis genom-
men, wo ein signifikanter Anstieg von Versuchen, die Essenz einer Identi-
tät festzulegen, zu bemerken ist (Reckwitz 2018, S. 394ff.). Dennoch be-
schäftigt sich der Großteil der bisherigen Veröffentlichungen vor allem
mit theoretischen Fragen (vgl. Gergen 1998; Giesen 1999) oder Fallbeispie-
len (vgl. Bizeul 1993; Gostmann/Adamczyk 2007). Einen innovativen Bei-
trag leistet François Jullien (2017), der zu dem Schluss kommt, dass man
nicht von der Existenz einer geschlossenen, einheitlichen kulturellen Iden-
tität sprechen könne, weshalb er den Begriff kultureller Ressourcen als Al-
ternative zu kultureller Identität vorschlägt, um einerseits möglichen Es-
sentialisierungen vorzubeugen und andererseits ein genaueres Konzept
zum Vergleich kultureller Identitäten an die Hand zu geben. Daher steht
in diesem Beitrag die Frage im Fokus, warum überhaupt in verschiedenen
Gesellschaften von kultureller Identität gesprochen und darum gestritten
wird, wenn nicht klar ist, ob der diskutierte Gegenstand existiert. Der vor-
liegende Beitrag versucht diese Lücke zu schließen, indem er die Frage ex-
plorativ und in vergleichender Perspektive für die Fälle Tunesien und
Polen stellt.
Auf den ersten Blick wirkt ein Vergleich der beiden Länder überra-
schend, aber bei genauer Betrachtung eröffnet sich eine reichhaltige Ver-
gleichsfolie. Heute sind die zwei Staaten Demokratien im Wandel, wobei
Polen seit dem Amtsantritt der nationalkonservativen Regierung der PiS
(Prawo i Sprawiedliwość) 2015 einen signifikanten Institutionswandel
durchläuft, Tunesien hingegen den Aufbau demokratischer Institutionen
seit 2011 noch nicht abgeschlossen hat. Auch wenn es laut der Rangliste der
Pressefreiheit der Reporter ohne Grenzen in den zwei Staaten Probleme in Be-
zug auf die Freiheit der Medien gibt, ist in beiden dennoch eine kontrover-

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Dawid Mohr und Valerian Thielicke

se öffentliche Debatte festzustellen, was eine Untersuchung ermöglicht


(Reporter ohne Grenzen 2019). Zudem verweisen Polen sowie Tunesien in
ihrer Selbstzuschreibung auf eine lange Existenz ihres nationalen Kollek-
tivs. In der Tat kann man konstatieren, dass sowohl ersteres in Form des
polnischen Herzogtums als auch letzteres als osmanische Provinz ein frü-
hes Auftauchen einer Entität mit dem jeweiligen Eigennamen vorweisen
können. Beide Länder haben ebenso eine Erfahrung der Fremdherrschaft1
sowie eines autokratischen Systems2 im Namen einer Modernisierungs-
ideologie erlebt. Diese Phasen stellen zentrale Eckpunkte der aktuellen De-
batten um die kulturelle Identität dar. Schließlich lässt sich festhalten, dass
nach Zahlen des World Value Survey sowohl in Polen als auch Tunesien
keine signifikante Minderheit existiert, die sich nicht als Teil des nationa-
len Kollektivs erachtet. Dabei geben nur 0,2% in beiden Fällen an, nicht
die jeweilige Nationalität zu besitzen (vgl. WVS 2014). Da in den zwei
Ländern Debatten über die kulturelle Identität immer wieder auftreten,
bieten sie daher eine Basis für eine vergleichende Analyse.
Mit dem Flugzeugunglück von Smolensk konnte in Polen ein aufkom-
mender Konflikt über die nationale Identität beobachtet werden, welcher
2015 mit der Wahl der PiS, ihrem autoritären Staatsumbau sowie der soge-
nannten Migrationskrise intensiviert wurde. In Tunesien wurde der Streit
um die Identität des Landes in den Nachwehen des Arabischen Frühlings im
Zuge der Verfassungsgebung entfacht und fand eine erste Befriedung im
Verfassungskompromiss. Dennoch taucht die Debatte immer wieder auf,
vor allem im Kontext von Fragen bezüglich des Verhältnisses von Religion
und Staat. Die jeweiligen Identitätskonstruktionen werden in Polen insbe-
sondere unter den Begriffen Polskość bzw. polnische Identität, in Tunesien
unter Tunisianité oder tunesischer Identität, verhandelt.
Um die eingangs formulierte Frage beantworten zu können, werden im
folgenden Abschnitt zuerst zentrale Begriffe sowie das methodische Vorge-
hen erläutert. Im Anschluss daran werden die zentralen Streitpunkte und
großen Linien der jeweiligen Identitätsdiskurse idealtypisch dargestellt,
um im Folgekapitel eine Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede
der länderspezifischen Diskurse darzustellen. Mithilfe dieser Basis kann die
Beantwortung der leitenden Frage für die Fälle in Angriff genommen wer-
den, wobei sich insbesondere für den Zweck des Rekurses auf die nationa-

1 Im Falle Polens handelt es sich um die Zeiten der Fremdherrschaft durch Preußen,
Österreich und Russland im Zuge der Teilungen des 18. Jahrhunderts sowie wäh-
rend des Zweiten Weltkriegs, in Tunesien um das französische Protektorat.
2 Hier sind die polnische Volksrepublik sowie das Bourguiba- und Ben-Ali-Regime
gemeint, die sich alle jeweils als Träger eines Modernisierungsprojekts verstanden.

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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?

le bzw. kulturelle Identität konzentriert wird. Der Beitrag schließt mit


einem resümierenden Blick auf den Vergleich der zwei Fälle.

2. Konflikte um kollektive Identitäten: Von Narrationen und Grenzziehungen

Spätestens seit Benedict Andersons Werk Imagined Communities – Reflec-


tions on the Origin and Spread of Nationalism ist aus wissenschaftlicher Per-
spektive nicht mehr zu leugnen, dass nationale Identitäten Produkte eines
kollektiven Konstruktionsprozesses sind (2016, S. 6). Egal, ob es sich um
personale oder kollektive Identitäten handelt, beide Phänomene sind nur
über eine Analyse der dazugehörigen Narrative und kulturellen Kontexte
erschließbar, da die jeweiligen Erzählungen einzelne historische Ereignisse
und Phänomene zu einer scheinbar kohärenten Geschichte verbinden
(Gergen 1998, S. 197). Auf diese Weise wird eine Einheit geschaffen, bei
der die Erzählung das Bindeglied mit der Erfahrung darstellt. Beziehen
sich die jeweiligen Erzählungen auf eine Gemeinschaft, so wird eine kol-
lektive Identität konstruiert, die es dem Individuum ermöglicht, sich mit
ihr unter Einbezug seiner eigenen Erfahrungen zu identifizieren. Hierfür
bedarf es deutungsoffener Signifikanten3, die eine Identifikation der eige-
nen Erfahrung mit der kollektiven Erzählung ermöglichen (Laclau/Mouffe
1991, S. 172ff.). Auf kollektiver Ebene sind die Erzählungen diskursive Er-
zeugnisse, welche sich stets auf einen valorativen (wertsetzenden) End-
punkt hin orientieren (Gergen 1998, S. 171ff.). Dieser dient einerseits einer
Aufwertung des Individuums als Teil einer Gemeinschaft durch Erfahrung
ihrer Solidarität, andererseits der kulturellen Wertevermittlung. Da Identi-
täten nur narrativ zugänglich sind, können sie ausschließlich über sprachli-
che Erzeugnisse untersucht werden. Es gilt hierbei zu beachten, dass es im-
mer mehr als eine Erzählung zu ihrer jeweiligen kollektiven Einheit gibt,
deren Unterschiede mithin zu Konflikten führen können. Somit kann
nicht von der einen kollektiven Identität gesprochen werden. Vielmehr
handelt es sich um eine Identifikationsmöglichkeit4, die durch verschiede-

3 Der Begriff leere Signifikanten wird hier vermieden, da sie aufgrund einer gewis-
sen Sedimentation immer einen minimalen, aber dennoch stets veränderlichen Be-
deutungsgehalt besitzen. In einem spezifischen Kontext gibt es keinen leeren Signi-
fikanten.
4 In diesem Beitrag wird Identität als Synonym für die Gesamtheit der verschiede-
nen Erzählungen, die eine Identifikationsmöglichkeit mit dem imaginierten polni-
schen bzw. tunesischen nationalen Kollektiv ermöglichen, verwendet (Mouffe
2014, S. 79).

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Dawid Mohr und Valerian Thielicke

ne Artikulationen (Erzählungen) bestimmt wird (Laclau/Mouffe 2015,


S. 139).
Aufgrund ihrer diskursiven Verfasstheit ist jeder Versuch, die Narration
langfristig zu fixieren, zum Scheitern verurteilt (Giesen/Seyfert 2013,
S. 39). Das begründet sich vor allem in den deutungsoffenen Signifikan-
ten, die jeweils von verschiedenen Diskursteilnehmern unterschiedlich ge-
füllt werden können. Da sich eine Identitätsnarration in der Regel mehre-
rer solcher Signifikanten bedient, ist es wegen der narrativen Struktur un-
möglich, alle der verwendeten zu füllen. Auf diese Weise avancieren sie
(die Signifikanten) zu Geheimnissen (Giesen/Seyfert 2013, S. 41ff.). Anders
gesagt, eine Narration, die eine Füllung aller Signifikanten versucht, ver-
liert somit das Potential der Identifikation mit ihr sowie ihren erzählenden
Charakter. Im Diskurs versuchen gerade Eliten durch das Sprechen über
die gemeinsame kulturelle Identität, jene Geheimnisse kurzfristig und
scheinbar zu lüften.
In der Regel ist das Ziel einer narrativen Identitätskonstruktion die Fest-
legung der Grenzen eines zu identifizierenden Kollektivs. Dabei wird mit-
hilfe verschiedener Codes, die primordial, traditional oder universell sein
können, ein Innen und Außen des Kollektivs geschaffen (vgl. Giesen 1999)
– es entsteht ein Wir (Ingroup) und ein Sie (Outgroup) (Mouffe 2014, S. 79).
Gemeinsam mit den deutungsoffenen Signifikanten spannen die Codes,
die auch als sogenannte boundary markers (Scholz 1997, S. 145) fungieren,
ein Feld auf, in dem sich die verschiedenen Artikulationen innerhalb des
Diskurses bewegen. Während letztere die Grenzen des Kollektivs ziehen,
bestimmen erstere – gemeinsam mit den boundary markers – den valorati-
ven Endpunkt und somit die Wertevermittlung der jeweiligen Narration.
Das durch sie aufgespannte diskursive Feld ist nicht als essentialistische
Identitätsfixierung zu betrachten, sondern als kontingente Darstellung ei-
nes Ausschnitts des jeweiligen vorgefundenen Identitätsdiskurses. Inner-
halb dessen kann es zu Konflikten um beide Strukturphänomene kom-
men. Jede Artikulation stellt einen einzelnen Fixierungsversuch der Identi-
tät dar.
Vor dem Hintergrund von Codes und boundary markers wird nach
Stuart Hall angenommen, dass jede Kultur einen Diskurs aufspannt, der
die jeweilige kulturelle Identifikationsmöglichkeit erzeugt, indem er ver-
schiedene Bedeutungen der jeweiligen Kultur, die eine Identifikation mit
ihr ermöglichen, anbietet. Eine Nationalkultur und die daraus resultieren-
de nationale Identität stellen für ihn einen Sonderfall der kulturellen Iden-
tität dar (Hall 2012, S. 200ff.). Diese Annahme erleichtert den Umgang mit
konkreten Diskursen, da sie meist von einer offensichtlichen begrifflichen
Unschärfe geprägt sind. In einer Gesellschaft, in der sich keine signifikan-

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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?

ten Minderheiten artikulieren, die sich als eigenständige Kulturen begrei-


fen, kann man im öffentlichen Diskurs oft keine Differenzierung zwischen
den Begriffen kulturelle und nationale Identität feststellen. Folglich werden
die beiden Begriffe im Rahmen der vorliegenden Untersuchung synonym
verwendet. Darüber hinaus wird das untersuchte Material nicht nur um
Beiträge zur nationalen Identität, sondern auch um Polskość und Tunisiani-
té erweitert. Für ihren jeweiligen Fall stellen beide Begriffe Konzepte dar,
die als Kulminationspunkte der Identität fungieren.
Da Narrationen stets (schrift-)sprachliche Erzeugnisse sind, besteht
grundsätzlich eine schwierige Vergleichbarkeit, welche durch den metho-
dologischen Zugang und seine Operationalisierung behoben werden
muss. Hier ist das Konzept des belief systems in Anlehnung an Philip E.
Converse (vgl. 2006) hilfreich, welches eine Operationalisierung von Ideo-
logien und Weltanschauungen zur Erleichterung ihres Vergleiches und
ihrer Untersuchung bereitstellt (Brandt et al. 2019, S. 1ff.; Griffiths 2014).
Hierfür geht man von den verschiedenen beliefs, die Codes, boundary mar-
kers sowie Ordnungsvorstellungen umfassen und in den jeweiligen Narra-
tionen zu finden sind, aus. Sie sind innerhalb der (schrift-)sprachlichen Er-
zeugnisse miteinander verknüpft, wodurch sich ein belief system rekonstru-
ieren lässt. Auf diese Weise ist es möglich, belief systems auch als kollektive
Phänomene zu erfassen (Dawson 1979, S. 99ff.). Hierbei gilt es jedoch zu
beachten, dass sie als Abbilder der Realität stets Produkte der Forschenden
darstellen. In der vorliegenden Untersuchung stehen vor allem diejenigen
Artikulationsversuche im Fokus, in denen allgemein von der kollektiven
Identität gesprochen wird. Sie werden auf ihre beliefs hin untersucht, wo-
bei die einzelnen beliefs die Fixierungsversuche der Artikulationen darstel-
len. Schließlich können die zwei oben genannten diskursiven Felder aus
den gesamten jeweiligen Untersuchungsmengen aufgespannt werden. Der
Materialkorpus wurde einerseits aus selbstgeführten Eliteninterviews5 und
andererseits aus Presseerzeugnissen bzw. in Medien erschienenen Artikula-
tionen (Interviews, Stellungnahmen, Reden) gebildet. In der nachfolgen-
den Rekonstruktion und Argumentation werden exemplarische Zitate zur
Illustration angeführt. Aufgrund der allgemeinen formalen Beschränkung

5 Die Interviews sind in den Jahren 2016–2018 entstanden. Aufgrund der Daten-
schutzrichtlinien der DSGVO (Datenschutz-Grundverordnung) werden alle Perso-
nen nur mit Funktion und Datum zitiert. Eine Einhaltung des Datenschutzrechts
scheint in der Wissenschaft kein Usus zu sein. Auf Nachfrage kann über die ange-
gebenen Kontaktdaten der Autoren unter strenger Einhaltung des Datenschutzes
Zugang zu den Primärdaten gewährt werden.

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eines Beitrags muss auf eine umfassende Darstellung des Materials zuguns-
ten einer Exemplifikation in Form von Zitaten verzichtet werden.

3. Umkämpfte beliefs der nationalen Identität in Polen und Tunesien

Im Anschluss an die Darstellung der theoretischen und methodologischen


Herangehensweise kann sich nun den empirisch vorliegenden Diskursen
in Polen und Tunesien zugewandt werden. Um die Analyse nachvollzieh-
bar zu gestalten, sollen im Folgenden die jeweiligen Diskurse und das
durch sie aufgespannte diskursive Feld nachgezeichnet und so weit wie nö-
tig kontextualisiert werden. Die zwei Darstellungen sind nicht als Fixie-
rungsversuche, sondern als aus dem Untersuchungsmaterial entstandene
idealtypisierende Momentaufnahmen der beiden diskursiven Felder zu be-
trachten.

3.1 Polskość – zwischen Katholizismus und Freiheitskampf

Ein offensichtlicher Ausgangspunkt zur Darstellung der zentralen beliefs


bzw. Bezugspunkte eines Identitätsdiskurses ist schwer zu definieren. Da-
her wird im Fall Polens vom Katholizismus ausgegangen, da in einem
Großteil der Fixierungsversuche der polnischen Identität attestiert wird,
dass sie nicht ohne den Katholizismus zu denken sei. Dem Katholizismus
wird über die ganze Zeit hinweg eine einende und historisch wichtige Rol-
le zugeschrieben. Die heutige Bedeutung kann beispielsweise durch die
Feierlichkeiten im Jahr 2016 zum 1050. Jubiläum der Taufe Polens veran-
schaulicht werden, welche auf die Taufe des Fürsten Mieszko I. verweist
und als Beginn der Christianisierung erachtet wird. Bereits während der
Teilungen und Fremdherrschaft Polens vom 18. bis 20. Jahrhundert diente
der katholische Glaube durch Abgrenzung zum protestantischen Preußen
und orthodoxen zaristischen Russland als Bewahrer der polnischen Nation
und Identität (Holzer 2007, S. 131f.). Der Katholizismus fungiert folglich
in der Definition der sogenannten Polskość als Code zur nationalen Ab-
grenzung. Trotz der antiklerikalen Politik der Volksrepublik Polen be-
wahrte die katholische Kirche ihre zentrale Rolle, welche sie sogar als eine
teilweise Trägerin der Opposition ausbauen konnte. Dies fand seinen Hö-
hepunkt in der Wahl Karol Wojtyłas zum Papst Johannes Paul II., welcher
noch heute eine wichtige Anrufungsinstanz im Identitätsdiskurs darstellt.
Zur Veranschaulichung der engen Verbindung des katholischen Glaubens

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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?

mit der polnischen Identität wird beispielsweise auf die ‘Rettung’ Wiens
gegen die Belagerung des Osmanischen Reiches verwiesen. In diesem Zuge
wird – selbst heute noch – Polen als das Bollwerk des Christentums (An-
temurale Christianitatis) bezeichnet, was als Attest der polnischen Opferbe-
reitschaft für ihren Glauben dienen soll. Im Zuge des nation-buildings im
18. Jahrhundert verdichtete der polnische ‘Nationalpoet’ Adam Mickiewicz
den Nationalmythos im Ausdruck ‘Polen als Christus der Nationen’. Diese
Chiffre verweist nicht nur auf die Bereitschaft zu einem Martyrium für
ihren Glauben, sondern umfasst auch vermeintliche Kämpfe, die ein polni-
sches Kollektiv für andere gefochten habe (Biernat 1989, S. 237). Hiermit
wird oft ein Kampf für die Freiheit gegen eine Unterwerfung durch ihre
angenommenen Feinde gemeint. Darunter fallen in den meisten Artikula-
tionen Akteure wie das nationalsozialistische Deutschland, das Osmani-
sche Reich oder Sowjetrussland. Auch wenn diese Chiffre aktuell nicht
mehr explizit verwendet wird, so findet sie doch Eingang in der behaupte-
ten Bereitschaft der Polen zum Martyrium und ihren Feindbildern – heute
vor allem die Russländische Föderation oder Deutschland in Form der EU
(Europäische Union). Hier sei angemerkt, dass insbesondere Letzteres im
Diskurs umkämpft ist.
Die Opferbereitschaft und die Martyrien führen in vielen Identitätsbe-
schreibungen zu einem selbstattestierten Heldentum, das seinen Ausdruck
in mythisierten Ereignissen des letzten Jahrhunderts findet. Den Anfang
macht das sogenannte Wunder von der Weichsel, welches einen Wende-
punkt im polnisch-sowjetischen Krieg darstellt, wodurch die Expansion
der Sowjetunion beendet wurde. In der eigenen Wahrnehmung wird dies
als ‘Rettung Europas’ vor der ‘bolschewistischen Gefahr’ dargestellt. Dem
wird der belief hinzugefügt, dass der Warschauer Aufstand 1944 ein polni-
scher Kampf für die nationale und europäische Freiheit gewesen sei. Der
Umstand, dass die nahe Rote Armee keine Unterstützung geleistet habe,
wird als Beweis dafür erachtet, dass der Sowjetunion kein freiheitliches En-
gagement zugeschrieben werden kann, da sie den zum Freiheitskampf de-
klarierten Aufstand somit ‘verraten’ hätte. Das Ereignis wird als Bestäti-
gung gesehen, dass eine antikommunistische Einstellung – im Sinne eines
Antitotalitarismus – zur Verteidigung Polens und Europas notwendig sei.
Dies zieht sich in den sogenannten verstoßenen Soldaten, einer nationalisti-
schen Partisanenbewegung gegen die Rote Armee und die polnischen
Kommunisten, fort, welche nach der Befreiung Polens durch die Sowjet-
union von der Volksrepublik bekämpft wurden. Seinen Höhepunkt findet
der antikommunistische ‘Heldenkampf’ in der Solidarność und dem friedli-
chen Systemumsturz. Insgesamt kann man konstatieren, dass das selbstbe-
hauptete Heldentum stets mit dem Antikommunismus und einem Kampf

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für einen ‘westlichen’ Freiheitsbegriff eng verbunden ist. Damit verknüpft


ist der belief, dass Polen ein Teil des kulturellen Westens sei und sich stets
für ihn aufgeopfert habe. Aktuell wird diese Westanbindung einerseits als
Abgrenzung gegenüber Russland genutzt, andererseits als Begründung für
eine Westintegration in NATO (North Atlantic Treaty Organization) und
EU. Die aufgeführten beliefs sind in weiten Teilen Konsens in Polen. Papst
Johannes Paul II. dient wiederum durch seine Rolle als Kirchenoberhaupt
der katholischen Länder und Unterstützer der Solidarność als Verbindungs-
glied zwischen der Westanbindung und dem Katholizismus.
Wesentlich umstrittener in seiner Deutung ist der Runde Tisch, der 1989
zur Systemtransformation geführt hat. Einerseits wird er als ‘Rückkehr in
den Westen’ gewertet, andererseits wird ihm vor allem durch die PiS ein
Scheitern attestiert, da eine Weiterexistenz der ehemaligen Eliten im neu-
en System behauptet wird. Zentraler Bezugspunkt des beliefs ist hierbei der
Begriff Postkommunismus, der zum einen das System nach 1989 beschreibt,
andererseits als Kampfbegriff gegenüber anderen Eliten verwendet wird.
So werden gewisse Teile als Nachfolger der Nomenklatura bezeichnet bzw.
ihrer Praktiken bezichtigt. In die umkämpften beliefs fügt sich ebenfalls
der Flugzeugabsturz von Smolensk 2010 ein. Während die eine Seite ihn
als Unfall erachtet, geht die andere Seite (PiS) von einem Anschlag auf die
polnische Elite aus. So wurden Denkmäler für die ‘für das Vaterland Gefal-
lenen’ errichtet, um ‘ihrem Opfer’ zu gedenken. Daneben findet die Rolle
der katholischen Kirche heute ebenfalls ihre Kritiker und Unterstützer.
Die PiS attestiert weiterhin eine tiefe Gläubigkeit in der polnischen Bevöl-
kerung, womit sie die Anwendung katholischer Moralvorstellungen be-
gründet. Kritiker hingegen stehen für eine Loslösung davon ein, um eine
Liberalisierung der polnischen Gesellschaft zu erreichen. In Polen scheint
sich der Konflikt um die kulturelle Identität zwischen der PiS und ihren
politischen Widersachern zu konstituieren. Da die sequentielle Darstel-
lung eines diskursiven Feldes Unzulänglichkeiten birgt, dient Abbildung 1
seiner überblicksartigen Veranschaulichung.

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Abbildung 1: diskursives Feld zu Polskość (eigene Darstellung)


3.2 Tunisianité – zwischen Konsens und Multikulturalität

Wie im polnischen Identitätsdiskurs ist es im tunesischen Fall schwierig,


einen Ausgangspunkt zur Darstellung des aufgespannten diskursiven Fel-
des festzulegen. Dennoch erscheint der belief, dass die tunesische Identität
multikulturell bzw. mehrdimensional sei, als einer der zentralsten. Die
postulierte Multikulturalität, deren Ursprung im phönizischen Karthago
verortet wird, taucht bei fast allen Befragten und Artikulationen der Da-
tenmenge als Kernbelief auf. Der Gründungsakt der antiken Stadt wird oft
als Beginn der tunesischen Geschichte angeführt, wodurch dem Kollektiv
ein hohes Alter attestiert wird. Die Phönizier sollen der Grund für einen
sogenannten ésprit commercant sein, der seinen Ausdruck in einem offenen
Geist der Bevölkerung des Landes finde. Aufgrund dessen wird auch die
Besiedlungsgeschichte der Region betont. So gelten die in der Region le-
benden Berber als zweite zentrale Wurzel der Tunesier. Die über die Zeit
wechselnden Reiche und Bevölkerungsgruppen tauchen ebenso als beliefs
über die Ursprünge des tunesischen Volkes auf. Daneben werden die römi-
sche Vergangenheit genauso wie die christliche Geschichte Nordafrikas,
die Zeit des Osmanischen Reiches sowie die Arabisierung im 8. Jahrhun-
dert affirmativ in den eigenen Identitätsdiskurs aufgenommen. Trotz der
Arabisierung und Islamisierung des Landes wird stets die Wahrung einer
eigenen Identität, die heute oft als Tunisianité bezeichnet wird, festgestellt,
was jene Offenheit begründe, die zu einer Mischung im Sinne eines
Melting Pots geführt habe.
Selbst die nachfolgenden Einwanderungswellen, insbesondere Italiener
und Malteser vor der Kolonialisierung, werden in diesem Sinne begriffen.

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In der Tat kann man auf sprachlicher Ebene feststellen, dass es diesen Mi-
schungsprozess gab.6 Im Hinblick auf die Kolonialisierung durch die Drit-
te Französische Republik wird behauptet, dass es nur eine einseitige kultu-
relle Öffnung vonseiten der Tunesier gegeben habe. Während den Franzo-
sen vorgeworfen wird, keine Anstrengungen zur eigenen Integration ge-
leistet zu haben, haben die Tunesier einige kulturelle Elemente übernom-
men. Allen voran steht eine affirmative Haltung zur weiterhin existieren-
den Zweisprachigkeit in großen Teilen der Bevölkerung, ein Phänomen,
das erst nach Ende der Kolonialzeit 1956 flächendeckend in Erscheinung
trat. Auch einige Modernisierungsschritte werden positiv bewertet. Den-
noch ist die Kolonialzeit in ihrer Bewertung sehr umstritten. Ein weiterer
interessanter Punkt ist, dass in einem Großteil des Identitätsdiskurses das
tunesische Judentum als originärer Teil der multikulturellen tunesischen
Identität definiert wird. Daneben wird in der selbstattestierten Offenheit
der Tunesier dem Land eine Brückenfunktion zwischen Europa und Afri-
ka zugeschrieben, was in seiner geographischen Lage im Mittelmeer be-
gründet liegt, das mit einer Betonung Tunesiens als mediterranem Land
einhergeht. Im Gesamten gilt dies als Ausweis seiner multikulturellen
Identität.
Neben der Multikulturalität durch die Offenheit werden der tunesi-
schen Identität seit den Phöniziern aufgrund des ésprit commerçant eine Ab-
lehnung von Gewalt und moderate Positionen zugeschrieben. Hier wird
wiederum eine lange historische Kontinuität konstruiert, die erstens mit
den fehlenden Expansionsbestrebungen der auf tunesischem Boden existie-
renden Staaten und der Fokussierung auf Handel begründet wird. Zwei-
tens wird oft auf die friedliche und zivile Unabhängigkeitsbewegung Be-
zug genommen, welche die Loslösung von Frankreich ohne kriegerische
Auseinandersetzungen erwirken konnte. Drittens gelten schließlich die Er-
eignisse im Zuge des Arabischen Frühlings als Nachweis, da trotz der großen
Spannungen im Zuge der Verfassungsgebung stets eine Verhandlungslö-
sung gesucht wurde. Hier wird auch Tunesien in vielen Artikulationen
von anderen arabischen Ländern abgrenzt, da dort die Bestrebungen nach
einem Systemwechsel in Bürgerkriegen mündeten. Unterm Strich werden
diese Momente oft zu dem belief, Tunesien habe eine Konsenskultur, zu-
sammengefasst. In diesem Zusammenhang ist es nicht überraschend, dass
bei der Nennung wichtiger Persönlichkeiten der tunesischen Geschichte

6 So wird beispielsweise im tunesischen Dialekt nicht das hocharabische Wort ‫مطبــــخ‬


(Matbakh) für Küche verwendet, sondern ‫( كوجينـــة‬Kudschina – cucina), die italieni-
sche Entsprechung.

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Wissenschaftler, Denker und Politiker wie Ibn Khaldoun, Tahar Haddad


oder Habib Bourguiba genannt werden. Sie dienen oft als Personifikationen
zur Veranschaulichung der Reformorientierung und Modernisierungsge-
schichte Tunesiens. So wird das Land meist als Avantgarde innerhalb der
arabischen Welt betrachtet, was beispielsweise in seiner ersten Verfassung
1861, der ersten der arabischen Welt noch vor der Kolonialisierung, oder
dem Personenstandsrecht von 1956 begründet wird.
Wie in Polen ist die Transformationsphase ein umstrittener Punkt, der
verschieden gedeutet wird, wobei in Tunesien selbst die Bewertung der au-
toritären Regime divergiert. So ist auf der einen Seite eine grundlegende
Fortsetzung der Modernisierungspolitik des Bourguiba- und Ben-Ali-Re-
gimes erwünscht, während die andere Seite es vorzieht, an die Geschichte
vor der Kolonialisierung anzuschließen. Daneben ist die Einbettung Tune-
siens in die arabisch-muslimische Welt in Bezug auf seine Bedeutung um-
kämpft. Dabei wünscht sich die vor allem islamistisch7 geprägte Seite eine
stärkere Einbettung in die arabisch-muslimische Welt, wohingegen die vor
allem säkularen Kräfte die Besonderheit Tunesiens mit seiner eigenen Is-
laminterpretation hervorheben. Der Konflikt um die tunesische Identität
wird vor allem zwischen diesen beiden Lagern geführt. Wie im obigen pol-
nischen Fall dient Abbildung 2 der Veranschaulichung der genannten zen-
tralen Bezugspunkte und beliefs.

7 Im Folgenden werden die Begriffe ‘islamistisch’ und ‘Islamisten’ als Synonyme für
Vertreter des politischen Islams verwendet. Damit ist die Partei Ennahda gemeint,
die als sein einzig relevanter Vertreter in Tunesien erachtet werden kann (Ayari
2015, S. 135ff.; vgl. Amrani 2016).

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Abbildung 2: diskursives Feld zu Tunisianité (eigene Darstellung)


4. Kontinuitätskonstruktionen, scheiternde Fixierungsversuche und
Gewichtungsfragen

Nach der Darstellung der jeweiligen diskursiven Felder sowie der Grund-
züge der vorhandenen Erzählungen der eigenen Identitäten wird sich nun
der vergleichenden Analyse der beliefs der jeweiligen Diskurse zugewandt –
wobei, wie in Vergleichen üblich, die intern auftretende Binnendifferenz
innerhalb der Diskurse unter aus dem Material zu extrahierenden Idealty-
pen subsumiert wird. Einführend kann festgehalten werden, dass sich in
beiden diskursiven Feldern zwei verschiedene Arten von beliefs finden las-
sen, die sich in ihrer Funktion unterscheiden. Auf der einen Seite kann
man solche ausmachen, welche die einzelnen historischen Ereignisse, Per-
sönlichkeiten oder Personenkollektive mythisieren, wodurch sie in das dis-
kursive Feld als historische Eckpfeiler der Identitätsnarration integriert
werden. Zudem fungieren sie als Begründung und Ausweis der auf der an-
deren Seite stehenden beliefs, die vor allem als deutungsoffene Signifikan-
ten der Wertevermittlung dienen. Bei diesem Verhältnis handelt es sich
nicht um ein einseitiges, sondern die Begründung verläuft reziprok. Im
Falle Polens wird beispielsweise das selbstattestierte Heldentum aus hi-
storischen Ereignissen wie der Verteidigung von Wien abgeleitet und wie-
derum historisches Handeln wie der Warschauer Aufstand mithilfe des de-
klarierten Heldentums erklärt. Dieses Verhältnis lässt sich für jedes histo-
rische Ereignis feststellen. Im Fall Tunesiens kann dies anhand des Bei-
spiels der zugeschriebenen Gewaltablehnung veranschaulicht werden. So
wird sie durch die phönizische Kultur der Antike begründet, dient aber

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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?

wiederum als Begründung für die friedliche Unabhängigkeitsbewegung.


Durch das vorliegende Begründungsmuster wird darüber hinaus in beiden
Identitätsdiskursen eine historische Kontinuität konstruiert. Die jeweiligen
Wertebeliefs ziehen sich als roter Faden durch die narrativ konstruierte ge-
meinsame Geschichte, indem sie die einzelnen historischen Ereignisse ver-
binden. Auf diese Weise soll Tradition gestiftet werden, die durch die Hin-
zunahme aktueller Ereignisse entweder Innovation oder Affirmation er-
fährt. Dies lässt sich in beiden Fällen beobachten. Der Flugzeugabsturz
von Smolensk wurde in Polen durch die PiS in das Narrativ als Nachweis
des Opfertums und Martyriums eingefügt, erfuhr aber Widerstand (Mi-
chalski 2017, S. 14). Demgegenüber wurden in Tunesien die Ereignisse im
Zuge des Systemumsturzes als Ausweis der Friedfertigkeit in das eigene
Narrativ integriert. Dabei ist auch die Bewertung der Folgen deutungsof-
fen.
Das Beispiel des Kampfes gegen die jeweilige Fremdbeherrschung hilft
einen grundlegenden Unterschied der beiden diskursiven Felder zu illus-
trieren. Während die in Polen zentralen aufgerufenen Wertebeliefs wie Op-
fertum, Martyrium und Heldentum auf eine gewaltsame Geschichte des
kontinuierlichen Kampfes um nationale Selbstbehauptung verweisen,
wird im tunesischen Fall wegen der zentralen Wertebeliefs wie Multikultu-
ralität, Gewaltablehnung, Modernität und Offenheit eine nahezu gegentei-
lige Geschichte konstruiert.8 Die Narration zeichnet sich viel mehr durch
eine Ausblendung von gewaltsamen Ereignissen 9 aus. Hier sei nochmal an-
gemerkt, dass in diesem Artikel keine historischen Tatsachenbehauptun-
gen getätigt werden, sondern die Identitätskonstruktionen im Fokus ste-
hen.
Trotz der zutiefst unterschiedlichen Identitätsnarrationen lassen sich
weitere Gemeinsamkeiten in den beiden Diskursen konstatieren. Erstens
lässt sich über das gesamte Datenmaterial hinweg das von Bernhard Giesen
und Robert Seyfert prognostizierte Scheitern der Fixierungsversuche einer
kollektiven Identität beobachten. Vor allem die erhobenen Interviewdaten
mit Mitgliedern der jeweiligen Eliten sind diesbezüglich aussagekräftig, da
in der Gesprächssituation die Möglichkeit zur Vertiefung besteht. Oft gab
es entweder sehr inhaltsleere Antworten, die selbst auf Nachfragen nur
dürftig gefüllt wurden oder es wurde selbst eingeräumt, dass die Bestim-

8 Pointiert betrachtet ist das tunesische Narrativ der Multikulturalität und Gewalt-
ablehnung der Albtraum der PiS-Erzählung von der Kampfbereitschaft des katholi-
schen Polens.
9 So war Tunesien einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkriegs in Nordafri-
ka.

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mung der kollektiven Identität einen großen Spielraum lässt. Nur sehr sel-
ten wurde eine tiefgehende Beschreibung der Identität versucht, die wiede-
rum andere oft auftauchende Elemente des Identitätsdiskurses ver-
schweigt. Beispielsweise wurde auf Nachfrage die tunesische Identität wie
folgt definiert:
„Es [Tunesien] ist ein Land mit seiner eigenen Geschichte und seinem
eigenen Weg in die moderne Welt. Daher war es auch in diesem Sinne
ein Pionier und ich hoffe, es bleibt Pionier in der Modernisierung des
Landes Tunesien. So, ich denke, das ist im Wesentlichen seine Identi-
tät.“ 10 (Regierungsberater Säkular 2018)
In diesem Zitat erkennt man wieder zentrale Punkte wie Modernisierung
und den Avantgardegedanken innerhalb der arabischen Welt. Doch selbst
durch Nachfragen konnte keine Spezifizierung, was mit der ‘Modernisie-
rung’ und der ‘Rolle als Pionier’ gemeint sei, erhalten werden. Dadurch
wird insbesondere der Begriff der Modernisierung zu einem Geheimnis
bzw. einem deutungsoffenen Signifikanten. Um eine Identifikation mit
dem Narrativ über die kollektive Identität zu ermöglichen, ist es notwen-
dig ihn durch Inhaltsleere zu erhalten. Einen anderen Lösungsversuch für
das Problem des notwendigen Scheiterns jeder Fixierung illustriert das
nachfolgende Zitat:
„Das ist überhaupt keine einfache Frage, denn selbst in unserer Gesell-
schaft gibt es keine solche Übereinstimmung in der öffentlichen Mei-
nung darüber, was die Elemente dieser Identität sind. Was meine In-
terpretation betrifft, so kommt […] mir zuerst die Verschmelzung von
Pole und Katholik in den Sinn, das bedeutet aber nicht, dass es das
Wichtigste ist.“ (Parlamentskandidatin PiS 2016)
Zentral ist hier die Einsicht, dass in einem Identitätsdiskurs nicht immer
eine hegemoniale Deutung existiert und daher die eigene Narration nicht
als allgemeingültig betrachtet werden kann. Dennoch befindet sich mit
der postulierten Einheit von Pole und Katholik die Artikulation vollkom-
men im polnischen Identitätsdiskurs, da diese ein zentraler, zugleich aber
auch umstrittener belief gegenwärtiger Debatten ist. Alle hier analysierten
Definitionsversuche der nationalen Identität bewegen sich innerhalb eines
Spektrums, das von den beiden obigen Möglichkeiten aufgespannt wird.
Unterm Strich können daher die vorliegenden Ergebnisse als empirische
Untermauerung der Arbeiten von Giesen und Seyfert aufgefasst werden.

10 Alle Zitate wurden von den Autoren übersetzt.

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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?

In Bezug auf die umstrittenen beliefs lässt sich eine weitere Gemeinsam-
keit beider Diskurse feststellen: Man kann keinen Konflikt über die Exis-
tenz eines Bezugspunktes innerhalb des diskursiven Feldes feststellen, d.
h., kein genannter belief wird als Teilelement der kollektiven Identität ne-
giert. Die Konflikte entbrennen vielmehr um die Frage der Relevanz der
einzelnen beliefs innerhalb des Ganzen sowie um die zwischen ihnen ge-
knüpften Verbindungen. So wird oft in den jeweiligen Konflikten der Ge-
genseite vorgeworfen, einen Teilaspekt der gemeinsamen kulturellen Iden-
tität über- bzw. unterzubetonen. Meist wird dieser Überbetonung ein zwi-
schen vielen Aspekten selbstbehauptetes ausbalanciertes Verhältnis der Ge-
wichtungen entgegengestellt. So wird in Tunesien den Islamisten eine zu
starke Fokussierung auf den arabisch-muslimischen Aspekt der nationalen
Identität vorgeworfen. „Man ist vorsichtig gegenüber dem arabisch-musli-
mischen Fakt. Nun, Tunesien ist mehr als arabisch-muslimisch“ (Abgeord-
nete | Säkular 2018). Die Aussage, dass ‘arabisch-muslimisch’ nur ein Teil-
aspekt sei, findet sich immer wieder in den Daten. Auf der Gegenseite lässt
sich tatsächlich bei den sogenannten Islamisten der Ennahda eine Hervor-
hebung dieses Aspekts konstatieren: „Tunesien ist ein arabisches, islami-
sches und ziviles Land. So! Dieses Trio ist das grundlegende Trio der Iden-
tifikation Tunesiens“ (Kommunalpolitiker | Ennahda 2018). In Tunesien
fokussiert sich der Konflikt vor allem auf diese Fragen.
Demgegenüber gibt es in Polen mehr beliefs, die in ihrer Gewichtung
umstritten sind. Am offensichtlichsten ist es bei der Frage des Flugzeugab-
sturzes von Smolensk, welchem eine unterschiedliche Relevanz zugeschrie-
ben wird. Auf der einen Seite stehen die Anhänger der PiS, die ihm eine
zentrale Bedeutung für das heutige Polen und seine Identität beimessen:
„Es hat sich herausgestellt, dass zum Beispiel die Smolensk-Katastrophe
hier eine Bedeutung als ein solcher Durchbruchsmoment […] solcher wie-
derkehrenden Einstellungen zu diesem messianischen, in jedem Fall ro-
mantischen Strang […] hat“ (Parlamentskandidatin PiS 2016). Die Verstor-
benen gelten als eines der aktuellsten Beispiele der polnischen Martyriums-
geschichte, welche die polnische Rolle als ‘Messias’ im Sinne des Opfer-
bringens aktualisiert hat. Die andere Seite bestreitet nicht die Tragik des
Unfalls, gewichtet das Ereignis allerdings wesentlich schwächer. „Ich gehe
davon aus, dass, wenn es nicht so drastisch wäre, ich kein Problem damit
hätte, einem Präsidenten zu gedenken, der gestorben ist, nicht bei einem
Attentat, sondern in einem Unfall. Das läuft auf das Gleiche hinaus. Er ist
eines tragischen Todes gestorben“ (Regionalvorstandsmitglied KOD 2016).
Die Gegenseite negiert nicht die Rolle der Unfallopfer in einer polnischen
Geschichtsschreibung, schreibt ihnen aber keinen zentralen Status zu. Sie
werden vielmehr in eine Linie mit anderen Persönlichkeiten gestellt, derer

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es zu gedenken gelte, jedoch nur in einer Reihe von vielen. So kommt


auch oft der Vorwurf auf, dass es die PiS in der Aufarbeitung des Ereignis-
ses übertreibe, wodurch ein würdiges Gedenken verhindert werde.
Neben der Frage von Smolensk ist ebenso die aktuelle Gewichtung der
katholischen Kirche für die polnische Identität umstritten. Die PiS sieht sie
als zentralstes Element ihrer Identität, die sie als ‘Stimme der Nation’ er-
hält. Die Kirche gilt zudem für sie als Wahrer der Polskość und Garant für
die polnische ‘Freiheit’ im Sinne nationaler Souveränität (PiS 2014,
S. 10f.). Ihre Gegner leugnen die Rolle der katholischen Kirche in der Ge-
schichte Polens nicht, sehen sie allerdings aktuell als eine Hürde zur weite-
ren Modernisierung und Liberalisierung der polnischen Gesellschaft, wie
es sich beispielsweise in der Debatte um das restriktive Abtreibungsrecht
zeigt.

5. Kulturelle Identität als Kampfbegriff

Nachdem die beiden Identitätsdiskurse vor allem im Hinblick auf die auf-
tretenden beliefs analysiert wurden und bereits einige Gemeinsamkeiten
sowie Unterschiede aufgedeckt werden konnten, wird sich nun der Beant-
wortung der eingangs formulierten Forschungsfrage, warum (1), auf wel-
che Art und Weise (2) sowie zu welchem Zweck (3) überhaupt von kultu-
reller Identität gesprochen wird, zugewandt. Die zwei Fälle ähneln sich
hier auf allen drei Ebenen.
(1) Wie in der theoretischen Literatur angenommen, haben Konflikte
um die kollektive Identität in Zeiten von Krisen und Verunsicherung Kon-
junktur, welche zumindest seit geraumer Zeit im latenten Zustand für
Polen wie Tunesien festzustellen sind. Die Spannungen treten hierbei
nicht als Dauerzustand zu Tage, sondern zu verschiedenen Ereignissen
oder Debatten, welche stets in einem Streit um die kulturelle Identität
münden. Der krisenhafte Hintergrund, vor dem die Konflikte im polni-
schen Fall ausbrechen, ist die ungleiche Entwicklung und Verteilung des
Wirtschaftswachstums seit dem Ende der Volksrepublik zwischen den ur-
banen und ruralen Regionen, welche sich abgesehen von den großen Städ-
ten auch geographisch zwischen West- und Ostpolen manifestieren (Bach-
mann 2016, S. 78). Dies ist mit einer Prekarisierung in der gesamten polni-
schen Gesellschaft verbunden, welche sie oft zur Migration zwingt (Vetter
2016, S. 22f). Ein zentrales Krisenmoment der letzten Jahre war das Flug-
zeugunglück von Smolensk, bei dem das Land einen nicht unerheblichen
Anteil seiner staatlichen Elite verlor. Obwohl ein Großteil des politischen
Parteienspektrums von dem Unglück betroffen war, konnte im Umgang

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damit eine Spaltung bezüglich der Deutung der Ereignisse festgestellt wer-
den. Während die zu dem Zeitpunkt oppositionelle PiS den Flugzeugab-
sturz in eine Reihe mit dem Massaker von Katyn, bei dem 1940 ein signifi-
kanter Anteil der polnischen Elite durch den NKWD (Narodnyj kommissa-
riat wnutrennich del, Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der
UdSSR) hingerichtet wurde, stellte, werteten die anderen Parteien ihn als
Unglück, ohne das Ereignis als identitätsstiftendes Element zu gebrauchen
(Pilawski/Politt 2016, S. 105f.). Mit der Übernahme der Regierung und des
Präsidentenamtes durch die PiS 2015 ist in Polen ein bis heute andauender
Konflikt zu beobachten, der durch die Umbaupläne der PiS für das politi-
sche System eine Krise der Institutionen auslöste (Bachmann 2016,
S. 35ff.). Zwei weitere Verunsicherungen innerhalb der polnischen Gesell-
schaft wurde zum einen durch die sogenannte Migrationskrise 2015 sowie
zum anderen durch den Bürgerkrieg in der Ukraine und die damit zusam-
menhängende Annektierung der Krim durch die Russländische Föderati-
on ausgelöst.
In Tunesien sind ebenso Krisenmomente zu beobachten. Schon vor
dem Beginn der tunesischen Revolution Ende 2010 befand sich das Land
in einer wirtschaftlichen Krise, welche bis heute andauert und sich ver-
stärkt hat (Claes 2016, S. 2ff.). Dazu kommen genauso wie in Polen starke
regionale Disparitäten in Entwicklungsstand und Wirtschaftswachstum,
wobei der unterentwickelte Westen und Süden dem entwickelten Sahel,
den nordöstlichen Küstenregionen, gegenübersteht (Mattes 2016, S. 1ff.).
Zudem ist aufgrund dessen eine stete Abwanderung in andere Länder zu
konstatieren (Bartels 2014, S. 48ff.). Im Zuge der der Revolution nachfol-
genden Verfassungsgebung kam es, wie in Polen, zum Umbau des Institu-
tionensettings11, welches ebenso zu diversen krisenhaften Konflikten führ-
te. So stand das Land nach den politischen Morden an zwei beliebten lin-
ken Oppositionellen vor einer kompletten politischen Blockade, welche
durch einen Verfassungskompromiss gelöst wurde (Ayari 2015, S. 139ff.).
Die zentralen Fragen wurden dennoch nur bedingt geklärt (Bras 2016,
S. 56f.). Seit der Verabschiedung der Verfassung der Zweiten Tunesischen
Republik befindet sich das Land bis heute im Institutionsaufbau, welcher
immer wieder Anlass zu tiefen Konflikten gibt, wobei auch andere politi-
sche Fragen Spaltungspotential besitzen. Zudem sorgten Terroranschläge
wie 2015 in Bardo und Sousse sowie die hohe Anzahl an tunesischen Bür-
gern in Reihen des sogenannten Islamischen Staats (Mattes 2015, S. 56f.)

11 Wichtig anzumerken ist hierbei, dass der Umbau des institutionellen Gefüges aus
gänzlich unterschiedlichen Gründen und Motiven in den beiden Ländern erfolgt.

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für Erschütterungen innerhalb der Bevölkerung und ihrer Selbstwahrneh-


mung.
(2) In beiden Fällen ist zeitgleich ein Aufbranden der Konflikte über die
eigene kollektive Identität zu vermerken, da durch die Krisenerfahrungen
die eigene Identität infrage gestellt wird. Die in verschiedenen Maßen auf-
tretenden kollektiven negativen Erfahrungen werden oft auf vielfältige
Weise zur Reorientierung in die kollektiven Erzählungen der nationalen
Identität integriert (Straub 1998, S. 101). Dennoch beschränken sich die
Wirkungen von krisenhaften Momenten nicht nur auf die Identitätsdis-
kurse, sondern stellen die mit ihnen im Zusammenhang stehenden gesell-
schaftlichen Ordnungen auf den Prüfstand. Für die Gewährleistung eines
stabilen politischen Systems ist es von essentieller Bedeutung, dass die
mehrheitlichen Identitätsvorstellungen es nicht herausfordern. Die Narra-
tionen der kollektiven Identität müssen sowohl das Institutionengefüge als
auch seinen Output in Form von Gesetzen und Regelungen in seinen
Grundzügen als legitim bzw. als zur Gemeinschaft passend anerkennen
(Almond/Verba 1989, S. 33; Rohe 1990, S. 334ff.; Salzborn 2009, S. 46f.).
Wie in den vorliegenden Krisensituationen wird genau dies infrage ge-
stellt, was zu Spannungen innerhalb der Gesellschaften führt. Eine Anpas-
sung der gesellschaftlichen Ordnungen wird notwendig.
Im polnischen sowie tunesischen Identitätsdiskurs ist genau das zu be-
obachten. Die jeweils existierende Gesellschaftsordnung wird von mindes-
tens einem Akteur angefochten, da ihr Fehlentwicklungen vorgeworfen
werden, welche eine ‘volle Entfaltung’ der kollektiven Identitäten verhin-
dern. In diesem Zusammenhang kann man in beiden Fällen einen Kon-
flikt zwischen zwei verschiedenen Deutungen des aktuellen Gesellschafts-
zustands herausarbeiten. Während in beiden Ländern eine Seite die inkre-
mentelle Fortentwicklung des Status Quo fordert, sehnt die andere Seite
eine Rückkehr zu einem imaginierten Goldenen Zeitalter12 herbei. Die Be-
zeichnung Goldenes Zeitalter dient hierbei als Umschreibung eines imagi-
nierten historischen Zustands, an den wieder angeschlossen werden soll,
welcher aber in seiner Erwünschtheit zwischen den Konfliktparteien um-
stritten ist. So äußerte beispielsweise Jarosław Kaczyński 2015: „Vor 500 Jah-
ren hat das goldene Zeitalter angefangen. So Gott will, soll am 25. Okto-
ber das goldene Zeitalter wiederbeginnen“ (Wilgocki 2015). Dieses wird

12 Der Begriff Goldenes Zeitalter ist inspiriert von Karl Schlögels Terminus die gol-
dene Zeit des reprints, der eine Zeit der intensiven kollektiven Selbstthematisie-
rung aufgrund lange zurückgehaltener Erinnerungen bezeichnet (2013, S. 268).
Die Imagination und Konstruktion eines Goldenen Zeitalters stellt ein potentiel-
les Resultat einer solchen Selbstthematisierung dar.

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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?

sowohl im polnischen als auch im tunesischen Fall in die Zeit vor den Au-
toritarismen und der Fremdbeherrschung, dessen Entwicklungen und ge-
sellschaftliche Errungenschaften13 zum Teil diskreditiert werden, verortet.
In der Konstruktion des Goldenen Zeitalters ist keine Konsequenz festzu-
stellen. Vielmehr wird eine am eigenen politischen Projekt orientierte Se-
lektion in Fragen der Ablehnung und Anerkennung verschiedener Ent-
wicklungen seit seinem vermeintlichen Ende vorgenommen – von dieser
Diskreditierung ist auch das aktuelle System nicht ausgeschlossen. Gerade
diese Willkür in der Auswahl der Versatzstücke zeigt, dass die Verwen-
dung der kulturellen Identität als politischer Kampfbegriff dient. Dabei
werfen die Vertreter des Goldenen Zeitalters dem aktuellen System vor, nur
eine Fortsetzung der Autoritarismen zu sein bzw. nicht den eigenen An-
sprüchen zu genügen. So behauptete Kaczyński: „Das alles, was sich in den
letzten paar zwanzig Jahren ereignet hat, ist etwas überaus und höchst Un-
gerechtes sowie Schädliches“ (TVN24 2016). Die Entwicklungen im Zuge
der Systemtransformationen werden als nicht ausreichend und daher ver-
fehlt stigmatisiert. Die andere Seite, die hingegen eine inkrementelle Evo-
lution des Status Quo fordert, wirft den Vertretern des Goldenen Zeitalters
vor, geschichtliche Ereignisse und Traditionen unlauter zu instrumentali-
sieren.
„Sie [die Islamisten] sind rückständige, reaktionäre Konservative, die
nicht nur die Religion, sondern auch die Tradition instrumentalisie-
ren. Es gibt aber Traditionen, die nichts mit der Religion zu tun ha-
ben, und sogar solche, die viel mehr eine Abwendung von der Religi-
on verlangen. […] Die Progressiven wollen die laufende Entwicklung
und Evolution einer Gesellschaft […]. Nur eine sich entwickelnde Ge-
sellschaft hat eine Geschichte.“ (Imam und Intellektueller | Säkular
2018)
(3) Der in diesem Zitat vorkommende Vorwurf der Instrumentalisierung
von Traditionen verweist auf die letzte zentrale Gemeinsamkeit des polni-
schen sowie tunesischen Falls. In beiden kann man beobachten, dass in
den politischen Diskursen der Verweis auf die kulturelle Identität sowohl
zur Legitimierung eigener politischer Projekte als auch zur Delegitimie-
rung des gegnerischen Projekts und seiner Vertreter verwendet wird. Im
Zuge des Anrufens der kollektiven Identität in einer Debatte wird sich
selbst die Rolle des Verteidigers des Volkes und seines wahren Vertreters

13 Hiermit sind vor allem Fortschritte in Fragen der Geschlechtergleichstellung und


anderem gemeint.

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zugewiesen, während allen anderen, die sich nicht einreihen, vorgeworfen


wird, ‚Verrat am Volke‘ zu üben. In den jeweiligen Narrationen der natio-
nalen Identität ist durch das Aufgreifen und Verbinden der Signifikanten
und beliefs immer eine bestimmte Ordnungsvorstellung der Gesellschaft
enthalten, welche in einem diffusen Nebel verbleibt. Dies liegt in der
Nichtfixierbarkeit begründet. Die konkreten Ordnungsvorstellungen sind
viel mehr aus den policy-Forderungen abzuleiten, welche dennoch meist
mit einem Verweis auf die kollektive Identität begründet werden.
„Ich bin gegen Homosexualität und darüber hinaus auch dagegen,
dass man sie nicht bestraft. […] Das sind Ideen, die vom Ausland her
uns aufgezwungen werden, die nicht aus Tunesien kommen, und
nicht das Denken der Tunesier, den normalen tunesischen Bürger, re-
flektieren.“ (ehemalige Abgeordnete ANC | Ennahda 2018)
Mit einem Bezug auf die kulturelle Identität werden nicht nur Antworten
zu einzelnen politischen Themen legitimiert, sondern auch Fragen des in-
stitutionellen Aufbaus und des gesamten Systems. Daneben ist oft die Rol-
le der Religion im öffentlichen Leben Streitpunkt. Da ein Eingehen auf
die einzelnen Ordnungsvorstellungen den Rahmen des Beitrags sprengen
würde, soll sich nun der zweiten funktionalen Ebene des Sprechens von
kultureller Identität in einem politischen Diskurs zugewandt werden. Mit
der Legitimierung des eigenen Projekts geht automatisch die Delegitimie-
rung der politischen Position des politischen Gegners einher, die sich da-
durch auszeichnet, ihn nicht aus der nationalen Gemeinschaft als fremdes
Element auszuschließen, sondern ihn zu diskreditieren bzw. degradieren
versucht. Ihnen wird nicht abgesprochen, Teil des nationalen Kollektivs zu
sein, aber wegen ihrer politischen Projekte und Identitätsauffassungen
werden sie als irrgeleitet oder sogar als Verräter am eigenen Kollektiv stig-
matisiert. In diesem Kontext taucht sehr oft der Vorwurf auf, sie würden
sich ‘gegen das eigene Volk’ wenden. Hier sei angemerkt, dass der Vorwurf
in seiner Radikalität in der Regel insbesondere von Vertretern des Golde-
nen Zeitalters geäußert wird. Die Partei des Status Quo hingegen wirft ihrer
Gegenseite vor, ein antiquiertes Bild der eignen Identität zu besitzen und
die positive Entwicklung der Zeit nach den Diktaturen zu leugnen, welche
in die eigenen Narrationen integriert ist. Auf diese Weise wird der Gegen-
seite – ob direkt oder indirekt – ebenso eine falsche Auffassung der Identi-
tät zur Last gelegt. Pointiert formuliert kann man sagen, dass die einen zur
Essenz einer ‘wahren’ Identität zurückkehren wollen, wohingegen die an-
deren an der gegebenen ‘demokratischen’ festhalten. Betrachtet man die
Diskurse, lässt sich hier das Auftreten eines populistischen Moments fest-
halten. Keiner Seite wird abgesprochen, Teil des Grundkollektivs zu sein.

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Dennoch werden sie über die Konstruktion einer essenzialisierten politi-


schen Identität, welche sich in dem Alleinvertretungsanspruch der eige-
nen, als richtig erachteten kollektiven Identität äußert, zu einem antago-
nistischen Gegenüber transformiert (Mouffe 2015, S. 42ff.), womit sie aus
der gemeinsamen politischen Gemeinschaft zum Teil als Verräter exklu-
diert werden. Es sei darauf hingewiesen, dass die Essenzialisierung insbe-
sondere durch die Seite des Goldenen Zeitalters erfolgt. Das Exklusionsmo-
ment beruht dabei auf der Stigmatisierung der Vertreter des Status Quo als
einer vom Volk abgetrennten Elite – eine klassische Strategie des Populis-
mus (Rensmann 2006, S. 62f.).
Das einende Element der Lager in Polen ist die Selbstzuschreibung als
Antikommunisten, welche dazu führt, dass die andere Seite mit dem real-
sozialistischen Polen assoziiert wird. Das dafür verwendete zentrale Instru-
ment der PiS, dem polnischen Vertreter des Goldenen Zeitalters, ist der Vor-
wurf an die anderen Parteien, Angehörige des sogenannten Układ zu sein,
ein Kampfbegriff zur Bezeichnung eines diffusen Netzwerks aus Transfor-
mationsgewinnern und ehemaliger Nomenklatura (Bachmann 2006,
S. 224). Erst ihre Beseitigung würde ein Ende des realsozialistischen Erbes
in Polen darstellen und eine Verwirklichung der ‘wahren’ Identität Polens
ermöglichen. Dieses Ziel wird auch in aller Radikalität offen formuliert:
„Wenn die Gesellschaft uns Unterstützung gibt, dann werden zwei bis drei
Amtszeiten notwendig sein, damit wir den Postkommunismus liquidieren,
zumindest in unserem Land“ (TVP INFO 2017). Wie die PiS beziehen sich
die Vertreter des Status Quo, vor allem PO (Platforma Obywatelska) und
KOD (Komitet Obrony Demokracji), ebenso auf die Volksrepublik Polen. Sie
werfen der PiS vor, Praktiken des Realsozialismus anzuwenden, um die
existierende Demokratie in ein autoritäres System umzuwandeln.
„Es war auch zu Zeiten des Realsozialismus so, dass die Menschen sich
gegenseitig denunziert haben, […], und genau das ereignet sich heute
wieder. Wir kriegen eine Menge Emails von Menschen, die KOD un-
terstützen und mit KOD sympathisieren, aber nicht auf unsere De-
monstrationen kommen können, weil sie in solchen Institutionen ar-
beiten, in denen sie wissen, dass die Arbeitskollegin Fotos von ihnen
auf einer Kundgebung macht, dass sie zum Chef geht, und dem Chef
schließlich die Teilnahme an einer Demonstration nicht gefallen
wird.“ (Regionalvorstandsmitglied KOD 2016)
Dies führe dazu, dass die aktuelle demokratische Identität beschädigt wer-
de. Nichtsdestotrotz ist die Auffassung des, je nach politischem Lager fort-
existierenden bzw. in Form eines autoritären Rollbacks drohenden,
(Post-)Kommunismus als Gefahr für die polnische Identität und die damit

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verbundene Ordnungsvorstellung beiden gemein, auch wenn sie sich in


Ausmaß und Stoßrichtung unterscheidet.
In Tunesien ist hingegen die modernistische Tradition zwischen beiden
Lagern Konsens. Ihr Beginn wird oft von beiden Seiten im 18. Jahrhundert
bei Kheireddine14 verortet, welche sich bis heute durchzieht. Umstritten ist
vor allem der Beginn des Anknüpfpunktes. Die Ennahda ist der Akteur,
der als Träger des Projekts des Goldenen Zeitalters identifiziert werden
kann, welcher zum Teil die Reformen der Zeiten der Diktatur und Koloni-
alherrschaft als pro-westliche Abweichungen von der eigenen Identität
sieht und daher an die eigenen Reformtraditionen der Vorzeit anschließen
will bzw. jedwede Weiterentwicklung derzeit ablehnt.
„Und deswegen, wenn es sich um einen Konflikt zwischen internatio-
nalem Recht oder sogar der Verfassung mit den religiösen Regeln han-
delt, muss man sich automatisch auf das Volk beziehen, um ihn zu lö-
sen. Das Problem ist, dass die Leute, die die Gleichheit im Erbrecht
verteidigen, kein Referendum wollen, weil sie wissen, dass das Volk
die religiösen Regeln wählen wird.“ (Abgeordnete | Ennahda 2018)
Es wird also eine Weiterentwicklung der Gesellschaft im Sinne internatio-
naler Konventionen mit Verweis auf den Volkswillen und seine Identitäts-
konzeptionen abgelehnt. Man will vielmehr einen eigenen Weg in die Mo-
derne entwickeln, der sich nicht zwingend an den egalitären Menschen-
rechtsdeklarationen orientieren muss. Die andere Seite, die sich aus den
restlichen Parteien, ausgenommen der dezidiert salafistischen, zusammen-
setzt, bezieht vor allem zu dem Bourguiba- und unter Einschränkungen
zum Ben-Ali-Regime affirmativ Stellung. Ihre Reformen im Bereich des
Personenstandsrechts sowie das Verhältnis zwischen Religion und Staat
gelte es zu erhalten und weiterzuentwickeln.
„Nach der Revolution war das [politische] Feld offen, daher hat man
begonnen auf Traditionen und so zu schauen. Da entstand die Tunisia-
nité-Bewegung. Das heißt, […] es gab Menschen, die das Lebensmodell
[...] aus der Zeit Bourguibas verteidigten […]. Und Tunisianité, das ist,
ich bin gegen den Wahabismus, die Islamisierung des Landes, also […]
trage ich keinen Niqab, sondern das, was aus meiner Kultur ist. Sie [die
Islamisten] haben das vergessen, das ist, wie der Islamisierungsbewe-
gung zu zeigen, dass sie das vergessen, was sie zerstören wollen.“ (Akti-
vistin und Intellektuelle | Säkular 2018)

14 Kheireddine Pacha et-Tounsi war ein wichtiger liberaler, tunesisch-osmanischer


Reformpolitiker des 19. Jahrhunderts.

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Warum überhaupt von kultureller Identität sprechen?

Im Diskurs kann man feststellen, dass sich die Debatte vor allem um eine
vermeintliche Verwirklichung des arabisch-muslimischen Anteils und da-
mit verbunden einer Reislamisierung der tunesischen Identität oder um
die Fortsetzung der Tunisianité im Sinne der modernistischen Tradition in
Abgrenzung zu den anderen arabischen Ländern dreht. Ersteren wird vor-
geworfen, durch die Betonung der Religion die Errungenschaften abwi-
ckeln und die Gesellschaft reislamisieren zu wollen. Letzteren hingegen
wird eine Missachtung des Volkswillens unterstellt.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass in beiden Ländern
kulturelle Identität als Legitimierungs- und Delegitimierungsinstrument
in der Auseinandersetzung um die Gestaltung der gesellschaftlichen und
politischen Ordnung verwendet wird – kurz gesagt: sie ist ein Kampfbe-
griff. In Tunesien wie Polen findet sich eine Seite, die aufgrund wahrge-
nommener Fehlentwicklungen an einen imaginierten Zustand der Ver-
gangenheit anschließen will, der als Ausgangspunkt einer weiteren Genese
dienen solle. Auf der anderen Seite findet sich eine Gruppe, welche die bis-
herige Entwicklung affirmiert und fortsetzen will. Die Vertreter des Status
Quo konstituieren sich dabei besonders in der Auseinandersetzung mit den
Fürsprechern eines Goldenen Zeitalters, welches in ihren Konstruktionen
meist negiert wird, wodurch sie eine Abwehrhaltung einnehmen. Das Auf-
treten der Diskurse kann in beiden Fällen als Ausdruck der politischen
und gesellschaftlichen multidimensionalen Krisenlage erachtet werden.
Selbstverständlich kann keinem der Diskursakteure die hier genannte
funktionale Verwendung der kulturellen Identität als reines Mittel zum
Zweck unterstellt werden, d. h., es wird angenommen, dass die von ihnen
vorgebrachten Identitätskonzeptionen Teil ihrer belief systems sind. Da nur
die selbst getätigten Aussagen im Datenmaterial verwendet werden kön-
nen, muss dies sogar angenommen werden. Dennoch wird davon die
Funktion des Sprechens von kultureller Identität als Kampfbegriff auf Dis-
kursebene nicht eingeschränkt.

6. Fazit

Ein Vergleich zweier Länder, die auf den ersten Blick schwer miteinander
vergleichbar sind, kann gewinnbringender sein, als man anfangs denkt.
Obwohl in der eingangs idealtypischen Skizzierung der Identitätsdiskurse
in Polen und Tunesien festzustellen ist, dass die jeweiligen Narrationen
sich grundsätzlich unterscheiden, konnte dennoch aufgrund der Ähnlich-
keiten der beiden Fälle ein fruchtbarer Vergleich gezogen werden, der zen-
trale Gemeinsamkeiten aufdeckte. Einerseits konnten diverse Voraussagen

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der theoretischen Literatur zu kollektiver Identität bestätigt werden. Wie


im Aufsatz von Kenneth Gergen erwartet, versuchen die in den Diskursen
festgestellten Lager die Konstruktion einer Kohärenz, welche das aktuelle
Handeln aus der Vergangenheit begründen soll, wodurch verschiedene
Werte vermittelt werden. Des Weiteren kann man überall das Scheitern
der Fixierungsversuche der kulturellen Identität konstatieren. Schließlich
ergibt sich daraus, dass in Polen wie Tunesien vor allem Gewichtungsfra-
gen einzelner Bezugspunkte bzw. beliefs im Zentrum der Auseinanderset-
zungen stehen.
Nach diesem einführenden Vergleich war es möglich, die zentrale For-
schungsfrage des Beitrags, warum überhaupt von kultureller Identität ge-
sprochen wird, zu beantworten. In einem Diskurs tritt eine Debatte über
die kollektive Identität in Krisenzeiten auf, äußert sich in beiden Fällen in
einem Zusammenprall einer imaginierten historischen Essenz mit einer
Abwehrhaltung dazu, die eine Fortsetzung der Gegenwart impliziert, und
fungiert schließlich als Legitimierung des eigenen politischen Projekts als
einzig vertretbarem sowie als Delegitimierung aller anderen Projekte. Zyg-
munt Baumann lieferte eine gute Metapher, um die hier behandelten Kon-
flikte um die kulturelle Identität – in Replik auf Walter Benjamins Inter-
pretation von Paul Klees Angelus Novus – zu umschreiben (Benjamin 2011,
S. 961). Während der Engel der Geschichte sich früher dem Vergangem zu-
gewandt hatte und vom Sturm, dem Fortschritt, nach vorne getrieben wur-
de, scheint er sich heute um 180 Grad gewendet zu haben. Für ihn ist nun
der Trümmerhaufen die Zukunft, die vermieden werden soll. Aus dieser
Zukunft kommt ein furchteinflößender Sturm, der ihn in die vermeintlich
goldene Vergangenheit treibt. Sie scheint für ihre Vorkämpfer der Hort
der Freiheit zu sein (Bauman 2017, S. 9f.). Die andere Seite hingegen blickt
weiterhin in die Vergangenheit als Trümmerhaufen, aber auch als Refugi-
um, und versucht alles, den Flug abzubremsen, um von dort nicht zu
schnell in die Zukunft weggetrieben zu werden und sich zu verlieren. In
beiden Fällen lässt sich kein signifikanter Akteur finden, der den Bruch
mit der Vergangenheit zur Errichtung einer neuen (utopischen) Gesell-
schaft sucht. Ihre Zukunftsentwürfe sind weiterhin in der Vergangenheit
verhaftet – die Hoffnung auf eine bessere Zukunft scheint verloren.

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Dawid Mohr und Valerian Thielicke

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