Neurath, Otto. (1931). Physikalismus. In: Scientia: Rivista di Scienza.
Vol. 50. pp. 297-303.
PHY8IKALI8MUS
Der « Wiener K reis» (Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Phi
lipp Frank, Hans Hahn, Herbert Feigl, Fritz Waismann, Kurt Gödel, Otto Neurath u. a.) arbeiten einen « logischen E m pi rismus » aus. Im Anschluss an Mach und Poincarä, vor allem aber im Anschluss an Russell und Wittgenstein, wird die Gesamt heit der Wissenschaften einheitlich behandelt. Carnaps « Lo gischer Aufbau der W elt» zeigt, in welcher Richtung sich die weitere systematische Arbeit bewegen wird. Wittgensteins « Tractatus Logico-Philosophicus» klärte unter anderem die Stellung der Logik und Mathematik: neben die sinnmehrenden Aussagen treten die « Tautologien », die uns zeigen, welche Um formungen innerhalb der Sprache möglich sind. Die Sprache der Wissenschaft schaltet durch ihre Syntax von vornherein alles sinnleere aus. Wurde zunächst vom « Wiener Kreis » fast ausschliesslich « Physik » im engeren Sinne analyisert, so werden nummehr in wachsendem Umfang Psychologie, Biologie, Soziologie in die Erörterungen einbezogen. Die Aufgabe dieser Richtung ist die Einheitsswissenschaft und sonst nichts. Dieser radikale Stand punkt soll im Folgenden, als Konsequenz der bisherigen E n t wicklungsrichtung in Umrissen für die gekennzeichnet werden, welche das Grundsätzliche dieser Bestrebungen kennen. Alle Mitglieder des«Wiener Kreises » sind sich darüber einig, dass es eine « P hilosophie» mit besonderen Sätzen nicht gibt. Manche wollen aber noch die Erörterungen über die begriff lichen Grundlagen der Wissenschaften von dem Betrieb der Wis senschaften absondern und als «Philosophieren» weiter belas sen. Nähere Ueberlegungen zeigen, dass selbst diese Abtren nung undurchführbar ist und dass der Betrieb der Einheit*- wissensohaft die Begriffsbestimmung mit umfasst. Vol. L 2* 298 u SC1ENTIA 9t
Wittgenstein und andere, 'welche nur die wissenschaftli
chen Anssagen als « legitime» zulassen, kennen dennoch auch «nichtlegitime» Formulierungen als vorbereitende «Erläuterungen » die man später innerhalb der reinen Wissenschaft nicht mehr verwenden darf; im Rahmen dieser Erläuterungen wird auch der Versuch gemacht mit Hilfe gewissennassen vorsprachlicher Mittel die wissenschaftliche Sprache aufzubauen. Hier findet sich auch der Versuch die Sprache der Wirklichkeit gegenüber zustellen; an der Wirklichkeit zu überprüfen, ob die Sprache verwendbar sei. Manches davon lässt sich in die legitime Sprache der Wissenschaft übertragen, soweit man z. B . worauf wir später hinweisen, an die Stelle der Wirklichkeit die Gesamtheit der son stigen Aussagen setzt mit der eine neue Aussage konfrontiert wird. Aber vieles von dem, was Wittgenstein und andere von den Erläuterungen und über die Konfrontierung der Sprache mit der Wirklichkeit sagen, kann nicht aufrechterhalten werden, wenn man die Einheitswissenschaft von A nfang an au f der w is senschaftlichen Sprache auftbaut} die selbst ein physikalisches Gebilde ist, über dessen Struktur, als physikalische Aneinander reihung (Ornament) man mit den Mitteln eben derselben Spra che widerspruchslos sprechen kann. Versuchen wir nun, die innerhalb der W issenschaften vom «Wiener Kreis» gestellten Forderungen konsequent durchzu führen und sie au f alles anzuwenden, w as w ir sprachlich form u lieren . Wir beginnen mit der wissenschaftlichen Sprache, als einem physikalischen Gebilde. « V oraussagen» sind das am und auf aller Wissenschaft. Von Beobachtungsaussagen wird ausgegangen, die von vornherein Zeit-und Raummass enthalten, und sei es auch nur in unvoll kommener Weise. Immer liegen räumlich-zeitliche Formulierun gen vor, hinter die wir überhaupt nicht zurückgehen können, ohne sinnleeres zu sagen. « Sagen » selbst ist räumlich-zeitliche Aneinanderreihung. Mit Hilfe der Beobachtungsaussagen formulieren wir die Gesetze9 die im Sinne Schlicks nicht als eigentliche Aussagen auf zufassen sind, sondern als Anweisungen, um zu Voraussagen, über Einzelabläufe zu kommen, die man wieder durch Beobach tungsaussagen überprüfen kann. Es lässt sich die Lehre von der Sprache durchaus mit der Lehre von den physikalischen Vorgängen verbinden, man bleibt immer im gleichen Gebiet. Man kann innerhalb des geschlos senen Sprachgebietes bleibend alles ausdrücken. PHYSIKALISMUS 299
So werden immer Aussagen m it Aussagen verglichen, nicht
etwa mit einer « Wirklichkeit», m it«Dingen » wie es bisher auch der Wiener Kreis tat. Dieses Vorstadium hat gewisse ideali stische, gewisse realistische Elemente aufgewiesen, die völlig ausgeschaltet werden können, wenn man zur reinen Einheits wissenschaft übergeht. Die « Induktion », die zu Gesetzen führt, beruht auf « Ent schluss », sie ist nicht ableitbar. Die Versuche die « Induktion » logisch zu begründen, müssen daher scheitern. Wenn eine Aussage gemacht wird, wird sie mit der Gesamtheit der vor handenen Aussagen konfrontiert. Wenn sie mit ihnen überein stimmt, wird sie ihnen angeschlossen, wenn sie nicht überein stimmt, wird sie als « unwahr » bezeichnet und fallen gelassen, oder aber der bisherige Aussagenkomplex der Wissenschaft abgeändert, so dass die neue Aussage eingegliedert werden kann; zu letzterem entschliesst man sich meist schwer. Einen anderen « W ahrheitsbegriff *» kann es fü r die W issenschaft nicht geben. Die Gesetze aller Wissenschaften muss man unter Um ständen miteinander verbinden können, um eine bestimmte Voraussage machen zu können. Ob ein bestimmtes Haus abbrennen wird, kann man nur wissen, wenn man das Verhalten der Baubestandteile, das Verhalten der Menschengruppen, die vieleicht zum Löschen herbeieilen mit in Rechnung stellen kann. Die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen bilden zu sammen die « E inkeitsw issensckaft». Der Aufbau der Einheits wissenschaft mit all ihren Gesetzen ist Aufgabe wissenschaftli cher Arbeit. Eine Voraussage können wir durch Beobachtungsaussagen nur dann kontrollieren, wenn wir angeben, wo und wann die vorausgesagte Veränderung eintritt. Es ist dabei grundsätz lich gleichgiltig, wie das im einzelnen durch Aussagen be stimmt wird. Wichtig ist, dass alle Aussagen, Bestimmun gen in Bezug auf räumlich-zeitliche Ordnung enthalten, die Ord nung, welche wir aus der Physik kennen. Dieser Standpunkt soll daher (vergleiche Neurath, «Empirische Soziologie»), der Standpunkt des « P hysikalism u s» heissen. Die Einheitswis senschaft umfasst nur physikalististiche Formulierungen. Das Schicksal der Physik im engeren Sinne, wird so das Schicksal aller Wissenschaften, soweit Aussagen über kleinste Teile in Frage kommen. Für den « Physikalismus » ist wesentlich, dass 300 u SCIBNTIA 99
eine Art der Ordnung allen Gesetzen zugrunde liegt, ob es
sich nun um geologische, chemische oder soziologische Gesetze handelt. Der « Wiener K reis» strebt mit besonderem Nachdruck, im Anschluss an die Logistiker, an Wittgenstein und andere, durch die « Syntax » den Kähmen der « Einheitswissenschaft» festzulegen, alles « Sinnleere», das heisst alle Metaphysik schon durch die sprachliche Formulierung auszuschalten. Es ist ein Mangel der Sprache, wenn sie etwa einen « Nachbar ohne Nach bar »sprachlich zulässt, einen« Befehl ohne Befehlsgeber» (« K a tegorischer Im perativ»). Die Mängel der Syntax lassen den Stand der wissenschaftlichen Forschung erkennen. Eine ein wandfreie Syntax ist Grundlage einer einwandfreien Einheits wissenschaft. Die Sprache ist für die Wissenschaft wesentlich, innerhalb der Sprache spielen sich alle Umformungen der Wis senschaft ab, nicht durch Gegenüberstellung der Sprache und einer « W e lt», einer Gesamtheit von « Dingen », deren Manig- faltigkeit die Sprache abbilden soll. Das versuchen wäre Me taphysik. D ie eine w issenschaftliebe Sprache kann über steh selbst sprechen, ein T eil der Sprache über den anderen; hinter die Sprache kann man nicht zurück. Das entspricht auch durchaus der « behavioristischen» Grundhaltung der « Einheitswissenschaft». Das Sprechdenken, als physikalischer Vorgang ist der Ausgangspunkt aller Wissen schaft. Man kann zwar sprechen über das Verhalten eines Nichtsprechenden, man kann aber nicht durch vorsprachliche Mittel über einen Vorsprachlichen Zustand sprechen. Das erscheint für uns sofort als etwas Sinnleeres. Beim Versuch ein Konstitutionssystem zu schaffen, hat Carnap, der bisher die Arbeiten des Wiener Kreises wohl am weitesten in der Richtung des Empirismus vorwärts geführt hat, zwei Sprachen unterschieden, eine «monologisierende)» (phä nomenale ») Sprache und eine « intersubjektive », («physikali sche »). E r sucht die physikalische aus der phänomenalen ab zuleiten. Meiner Ansicht nach lässt sich aber zeigen, dass diese Teilung nicht durchführbar ist, dass vielmehr nur eine Sprache von vornherein in F rage kommt, nämlich die physikalische. Man kann von Kindesbeinen an die physikalische Sprache lernen. Wenn jemand eine Voraussage macht, die er selbst kontrollieren will, muss er mit Aenderungen seines Sinnesystems rechnen, muss er Uhren und Masstäbe anwenden, kurzum, auch der iso PHYSIKALISM U8 301
liert gedachte Mensch bedient sich bereits der « intersensualen »
und «intersubjektiven » Sprache. Der Voraussagende von Ge stern und der Kontrollierende von Heute sind gewissennassen zwei Personen. Die Worte « blau » oder « h a rt» oder « kreischend » werden dann eben nur physikalisch verwendet. Sie deuten entweder an, dass ein Mensch unter bestimmten Bedingungen bestimmtes Verhalten zeigt, dass er Worte spricht oder NervenVerände rungen aufweist («Feldaussagen ») so wie etwa ein Probekörper in der Nähe einer irgendwie geladenen Kugel, oder sie deuten an, dass irgendwo eine bestimmte Schwingung gegeben ist. Wenn jemand sagt: « Ich sehe blau », so wird diese Aussage als « Wir klichkeitsaussage » eingeordnet, wenn man auch ausserhalb des Menschen räumlich-zeitliche Veränderungen durch diese Aus sage als gegeben ansieht, oder als « Halluzinationsaussage» wenn nur bestimmte Veränderungen innerhalb des menschlichen Körpers angenommen werden, die bestimmte Wahrnehmungs bereiche des Gehirns betreffen, gleichgiltig, wie man sie im ein zelnen abgrenzt. Schliesslich kann man auch von einer « Lüge » sprechen, wenn nämlich nur das Sprechzentrum und die Wort bildung an dieser Aussage beteiligt sind. Immer aber handelt es sich um physikalistische Aussagen. Auch die Aussagen selbst treten als 'physikalistische Elemente in anderen Aussagen auf. Eine Gegenüberstellung von « Aus sagen » und anderen Gebilden ist, wie schon erwähnt, sinnleer. Wenn jemand sagt,« Ich sehe blau »so bauen wir damit Aussagen über seine Augennervenveränderungon, über seine Gehirnver änderungen auf, aber auch, wenn er sagt: «Ich fühle Zorn ». Die Aussagen über «Organempfindungen» die dabei neben Aus sagen über sonstiges Verhalten eine wesentliche Rolle spielen, werden dann zum Aufbau des physikalistischen Aussagensy stems mit herangezogen. Der « Behaviorism us » im weitesten Sinne (um alle physikalistischen Aussagen über menschli ches Verhalten zusammenzufassen) bedient sich der Aussagen über Organempfindnungen genau so wie der Aussagen über Sin nesempfindungen. Das ist eine Erweiterung z. B. gegenüber ('arnaps Ausführungen, der bisher die «Aussagen über Gefühle (Zorn usw.)» nur als Aussagen behavioristisch verwertete. Der Satz « Ich fühle Zorn» ist nur unbestimmter, als der Satz, « Ich sehe blau », aber ebenso als «Wirklichkeitsaussage » verwertbar. Die « E inheiisw i*senschaft» auf dem Boden des « P hysika- 302 u 6CZENTIA 99
lism u s» kennt nur Aussagen mit räumlich-zeitlichen Bestim
mungen. oAequivalente A ussagen» werden physikalistisch einge baut; denn Aussagen, sind physikalistische Gebilde, geschriebene oder gesprochene Worte. Wenn einem Befehl: «Tu dies, wenn der Tisch rot i s t » die Aussage beigefügt wird: « Der Tisch ist r o t », so geschieht etwas Bestimmtes. Dasselbe geschieht, wenn etwa gesagt würde « Mensa est rubra ». Die beiden Formulierungen wären physikalistisch aequivalent. Hingegen bringen « Tau- tölogieen» kein Sinnmehrung. Dass «2 mal 2 gleich 4 is t », gilt eben immer. Die Hinzufügung dieser Bedingung zu einem Befehl oder einer Aussage ändert nichts, sie ist immer erfüllt. Im Bahmen des Physikalismus, wird die « Psychologie» zu einem System des Behaviorismus im weitesten Sinne. Auch die Soziologie muss in physikalistischer Sprache als « Sozial behaviorismus » formuliert werden. Es kann nicht von « Normen an sich » gesprochen werden, nicht von « W erten», von « We senheiten », nur von Menschen, Dingen und ihren Korrelationen. Es gibt nur eine Art von Wissenschaften, die Trennung in « Na turwissenschaften » und « Geisteswissenschaften», die ausser halb Deutschland ohnehin eine geringe Bolle spielt ist im Bah men der Einheitswissenschaft durch keine praktischen oder theoretischen Erwägungen veranlasst. Diese Treunung wird meist von metaphysicher Seite gefordert. Da es keine Philosophie mit sinnvollen Sätzen gibt, gibt es erst recht keine «Naturphilosophie» oder «Kulturphiloso phie », das sind Zweiteilungen, die aus theologischer und idea listischer Quelle stammen. Der « Physikalismus » ist durchaus monistisch und steht der idealistischen Philosophie fremd gegen über, zu der auch die Phänomenologie zählt. Verwandte Bestrebungen finden wir in Berlin (Beichenbach, Dubislav, Greiling u. a.) in Paris und in Warschau. In Berlin beschäftigt man sich weniger mit der Einheitswissenschaft, als mit gewissen Grundlagenfragen der Physik und Mathematik im engeren Sinne, während in Warschau vor allem Logik und Me talogik, sowie Grundlagenfragen der Mathematik behandelt werden. In Paris wird der « Rationalismus » von einem Kreise entschlossener Antimetaphysiker in ähnlichem Sinne gepflegt. Der Standpunkt des « Wiener Kreises » wird in Aufsätzen der Zeitschrift « Erkenntnis» vertreten, in den « Veröffentli chungen des Vereins Ernst Mach-Wien » sowie in den « Schrif ten zur wissenschaftlichen Weltauffassung» die von Schlick PHYSIKALISMUS 303
und Frank herausgegeben werden. Es veröffentlichen in dieser
Sammlung: Waismann, Carnap, Mises, Schlick, Frank. Vom Verfasser dieses Artikels erschien eine « Em pirische Soziologie», als behavioristische Soziologie im Bahmen des Physikalismus. Wenn man von der weiteren Entwicklung des « Physikalis mus » sprechen will, so kann man wohl erwarten, dass der Ver such, den Carnap im ((Logischen Aufbau der Welt» unternommen hat, wiederholt wird, um die Syntax für die Einheitswissenschaft im Sinne des hier dargestellten Physikalismus zu schaffen. Die Arbeit an der Einheitswissenschaft tritt an die Stelle aller bishe rigen Philosophie. Es steht nunmehr die « W issenschaft ohne W eltanschauung» den «Weltanschauungen »aller Art gegenüber, den « Philosophieen » aller Art. Der Physikalismus ist die Form in der unser Zeitalter Einheitswissenschaft betreibt. Was sonst an Aussagen gemacht wird, ist entweder «sinnleer» oder nur Mit tel der Emotion: «L y rik ». Für den Physikalism us wie er hier ganz streng vertreten wird, ist alles, was an Philosophie der Scholastiker, der Kantianer, der Phänomenologen vorliegt sinn leer, soweit nicht ein Teil ihrer Formulierungen in wissenschaft liche, das heisst physikalistische Aussagen übersetzt werden kann. W ien. Otto Neurath