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Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 5.

Februar 2021
Philosophisches Seminar
Proseminar: Das ‚Fremde‛ als Thema der Philosophie
Dozent: Herr Dr. Andreas Scheib
Referent: Jon Goiri-Dittrich
Wintersemester 2020/21

Das Antlitz des Anderen als Aufforderung an mich

Fragestellung:
Was meint Levinas, wenn er behauptet, dass das Antlitz des Anderen eine
Aufforderung an mich ist?

These:
Wenn das Antlitz zu mir spricht, dann hat seine Rede die Form eines Anrufs
und eines Befehls. Das Antlitz drückt sich in einer Weise aus, die mich dazu
auffordert und sogar verpflichtet ihm zu antworten.

Gliederung:
1. Erste Definition des Antlitzes und Klärung anderer wichtiger Begriffe
2. Eigenschaften des Antlitzes
2.1. Das Antlitz ist jenseits des Phänomens und der Thematisierung
2.2 Das Antlitz drückt sich selbst aus
2.3 Das Antlitz als erstes Intelligibles und Quelle des Sinnes
3. Die Rede des Antlitzes und die Unterweisung
4. Das erste Intelligible als Anruf und ›signifikante Anordnung‹
5. Asymmetrie des Interpersonalen, Erhabenheit des Anderen und
Verantwortung
1. Erste Definition des Antlitzes und Klärung anderer wichtiger
Begriffe
Erste Definition Lévinas:
„Die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in
mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz.“1

Andere Begriffe Lévinas fürs bessere Verständnis:


Das Selbe:
Mit diesem Begriff bezieht sich Lévinas auf das Sein, die Wirklichkeit als
Ganzheit, die Identität, das Subjekt, das Ich. Diese bildeten in den
unterschiedlichen Epochen der abendländischen Philosophie den jeweiligen
Bezugspunkt für das Verständnis der ganzen Wirklichkeit.

Totalität:
Die Totalität „steht für das griechische Streben nach einem Sich-Schließen des
Seins zu einem im Denken selbstgenügsamen Ganzen“2. Die Totalität entzieht
den Dingen die Exteriorität. Ihre Exteriorität wird nur als vorläufige Exteriorität
gedacht, die potenziell in die Totalität einverleibt werden kann.

Exteriorität:
Die Exteriorität ist alles was sich jenseits des Denkens des Selben, jenseits der
Totalität ereignet. Der Bruch der Totalität geschieht durch die Exteriorität,
durch die Transzendenz im Antlitz des Anderen, durch das Eindringen des
Unendlichen.3

Unendlichkeit/Idee des Unendlichen:


Die Unendlichkeit ist das absolut Andere, das jenseits der Totalität liegt und
sich somit dem Denkvermögen des Selben und dessen Macht entzieht.4 Der
Begriff hat bei Descartes dritter Meditation seinen Ursprung.
Die Idee des Unendlichen wird von ihrem ideatum (also der Unendlichkeit
selbst) überflutet, sowie die Idee des Anderen im Selben vom wirklich
existierenden Anderen transzendiert wird.

1 Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München
52014, S. 63.
2 Stegmaier, Werner: Emmanuel Levinas zur Einführung. Hamburg 2009, S. 33.
3 Vgl. Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München
52014, S. 25.
4 Vgl. Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München
52014, S. 26-29.
Der Andere:
Der Andere ist das was das Sein oder die Totalität sprengt und transzendiert. Er
lässt sich nicht thematisieren und kann somit unmöglich in die Totalität
einverleibt werden. Der Andere ist die Unendlichkeit, welche das Sein
überflutet. Die Beziehung des Selben zum Anderen ist eine Beziehung zur
Unendlichkeit.

Subjektivität als Gastlichkeit:


Die Unendlichkeit des Anderen lässt sich nur in der Beziehung zum Anderen als
etwas stets Äußeres empfangen. Subjektivität als etwas was den Anderen
empfängt erweist sich also als Gastlichkeit. “In der Gastlichkeit erfüllt sich die
Idee des Unendlichen.”5

2. Eigenschaften des Antlitzes


2.1. Das Antlitz ist jenseits des Phänomens und der Thematisierung
Das Antlitz des Anderen existiert nicht in der Weise eines sinnlich Gegebenen,
denn er (der Andere) „zerstört und überflutet […] das plastische Bild, das er mir
hinterläßt, überschreitet er die Idee, die nach meinem Maß und nach dem Maß
ihres ideatum ist – die adäquate Idee“ 6.

Das Antlitz bzw. der Andere befindet sich jenseits des Phänomens, denn „der
Andere ist Prinzip des Phänomens“7. Der Andere „liefert das Zeichen und gibt
es“8, er bietet mir die Welt als Thema an.9 Er selbst als Gesprächspartner kann
aber nicht thematisiert werden, weil er nicht aus seinen Zeichen deduziert
werden.10 „Die Ableitung ist eine Denkweise, die auf schon gegebene Objekte
angewandt wird.“11

2.2 Das Antlitz drückt sich selbst aus


Das Antlitz manifestiert sich durch sich selbst im Ausdruck.

5 Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München
52014, S. 28-29.
6 Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München
52014, S. 63.
7 Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München
52014, S. 129.
8 Ibid., S. 129.
9 Vgl. Ibid., S. 128-129.
10 Vgl. Ibid., S. 129.
11 Ibid., S. 129.
Die Manifestation des Antlitzes ist „jenseits der Form“12, weil der Ausdruck
lebendig ist. Indem der Andere sich ausdrückt, „zerstört [er] in jedem
Augenblick die Form, unter der er sich darbietet“13.
Der Ausdruck des Anderen ist keine Selbstdarstellung, keine Enthüllung oder
Thematisierung seines/ihres Seins.
Was drückt dann das Antlitz aus?
„Der primäre Inhalt des Ausdrucks ist dieser Ausdruck selbst.“14
Der Ausdruck hat die Form einer Begrüßung, eines Anrufs, eines Imperativs.

2.3 Das Antlitz als erstes Intelligibles und Quelle des Sinnes
Das Antlitz fungiert als erstes Intelligibles, weil es durch seine Manifestation in
der Form des Ausdrucks Bedeutung überhaupt schafft.15 Das Antlitz führt in die
Bedeutung ein und durch es gewinnen die restlichen Dinge auch einen Sinn.16
Diese erste Bedeutung ist aber nicht eine Gegebenheit, keine ideale Wesenheit
und keine Beziehung, die sich der intellektuellen Anschauung bietet.17
Bedeutung oder Bedeuten ist vielmehr ein Ereignis, das sich in der
unmittelbaren Anwesenheit und der „Gegenwart der Exteriorität“18 (des
Anderen) abspielt.19 „Dieses Ereignis geht nicht in eine Anschauung ein.“20

3. Die Rede des Antlitzes und die Unterweisung


Die Rede ist die Manifestation des Antlitzes in der Form des Ausdrucks und der
Ansprache des anderen Menschen.21
Die Rede ist nicht nur eine „Modifikation der thematisierenden Erkenntnis“22,
„der Anschauung (oder des Denkens)“23 sondern die ursprüngliche ›ethische
Beziehung‹ mit dem anderen Menschen.24
„Die Rede ist das Ereignis von Sinn“.25

12 Ibid., S. 87.
13 Ibid., S. 87.
14 Ibid., S. 64.
15 Vgl. Lévinas, Emmanuel: Signature. In: Difficile Liberté. Paris 1976, S. 185
16 Vgl. Ibid., S. 185.
17 Vgl. Ibid., S. 88.
18 Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München
52014, S. 88.
19 Vgl. Ibid., S. 88.
20 Ibid., S. 88.
21 Vgl. Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München
52014, S. 63, 64, 87.
22
Ibid., S. 64.
23
Ibid., S. 88.
24 Vgl. Ibid., S. 64.
25 Ibid., S. 88.
Die „empfangene Rede“ ist eine ›Unterweisung‹.26
Die Rede des Anderen ist als Unterweisung aufzufassen, weil ich „vom Anderen
über die Aufnahmefähigkeit des Ich hinaus empfange[]“27. Unterwiesen werden
heisst die ›Unendlichkeit‹ des Anderen empfangen, den Anderen in der
›Erhabenheit‹ seiner ›Meisterschaft‹ erkennen.28

4. Das erste Intelligible als Anruf und ›signifikante Anordnung‹


Das erste Intelligible hat nicht die Form einer wahren oder falschen
Proposition, sondern die eines Anrufs, einer „signifikanten Anordnung“29.
Der ersten Bedeutung kann man nicht neutral gegenüberstehen. Sie erfordert
eine Antwort von mir. Die Modi (Vokativ, Imperativ), die das Antlitz gebraucht
um mich anzusprechen, erlauben mir es nicht, dem Anderen eine Antwort zu
verweigern.

Die ›signifikante Anordnung‹:


Der ursprüngliche Ausdruck, das erste Wort des Antlitzes entspricht dem
fünften Gebot, nämlich „Du wirst keinen Mord begehen“ oder „Du sollst nicht
töten“.
Wie ist das zu verstehen?
Das Antlitz übt einen ›ethischen Widerstand‹ auf mein „Vermögen zu können“30
aus. Es drückt die ethische Unmöglichkeit der Versuchung des Mordes aus.31
Aber lässt sich das Antlitz nicht töten?
Wenn ich den Anderen töte, töte ich nur mir sinnlich Gegebenes, nicht den
transzendenten Antlitz des Anderen, denn dieses überschreitet die sinnliche
Sphäre meiner Erfahrung.32

5. Asymmetrie des Interpersonalen, Erhabenheit des Anderen und


Verantwortung

26 Vgl. Ibid., S. 64.


27 Ibid., S. 64.
28 Vgl. Ibid., S. 64, 247, 248.
29 Lévinas, Emmanuel: Ethik und Unendliches. 4., überarbeitete Aufl. Wien 2008, S. 73.
30 Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. München
52014, S. 283.
31 Vgl. Ibid., S. 286.
32 Vgl. Ibid., S. 284.
Wenn ich in einer verantwortlichen Beziehung zum Anderen stehe, dann setze
ich mich „gleichzeitig als mehr und als weniger denn das Seiende, das sich im
Antlitz präsentiert“33.
„Weniger, denn das Antlitz ruft mich zu meinen Verpflichtungen und urteil über
mich.“34
„Mehr, denn meine Stellung als Ich besteht darin, dieser wesentlichen Not des
Anderen begegnen zu können, Hilfsquellen zu finden.“35
Der Andere ist mir nicht durch eine größere Macht erhaben, sondern ganz im
Gegenteil. Die Figuren „de[s] Fremde[n], [der] Witwe und de[s] Waise[n]“36
sind mir erhaben, weil ihre Not, Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit eine
Aufforderung und eine Verpflichung an mich stellen.37

Fazit:
Das Antlitz ist bei Levinas das ›erste Intelligible‹, aus dem überhaupt
Bedeutung entspringt. Die ursprüngliche Bedeutung entsteht in der Beziehung
zwischen mich und dem Antlitz des Anderen. Dieses Bedeuten hat aber nicht die
Form einer wahren oder falschen Darstellung, sondern die des Anrufs und der
›signifikanten Anordnung‹. Wenn das Antlitz sich ausdrückt, dann verwendet
es die Sprache in ihrer vokativen und imperativen Funktion. Der Andere spricht
mich also in einer Weise an, die mir bereits durch ihre Form dazu zwingt, ihm
eine Antwort zu geben. Der Andere ruft mich in seiner Not zur Verantwortung
auf. Das Antlitz übt ferner einen ›ethischen Widerstand‹ auf mein Vermögen.
Dieser Widerstand kommt in dem Gebot „Du sollst nicht töten“zum Ausdruck.

Bibliographie:
Primärliteratur:
Lévinas, Emmanuel: Das Antlitz & Die Verantwortung für den Anderen. In:
Ethik und Unendliches. 4., überarbeitete Aufl. Wien 2008, S. 63-78.
Lévinas, Emmanuel: Signature. In: Difficile Liberté. Paris 1976.
Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität.
München 52014.

Sekundärliteratur:
Stegmaier, Werner: Emmanuel Levinas zur Einführung. Hamburg 2009.

33 Ibid., S. 311.
34 Ibid., S. 311.
35 Ibid., S. 311.
36 Ibid., S. 311-312.
37 Vgl. Ibid., S. 311-312.

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