Individualität — dies Wort wird, nicht nur in der Sprache der Philosophie,
mit gespaltener Zunge gesprochen.
Bestimmt, zwischen der Allgemeinheit des in ihm Ausgesagten und
der Spezifität des mit ihm Gemeinten zu vermitteln, redet der Begriff der
Individualität bereits einer Gemeinsamkeit das Wort, in deren Sphäre der
Anspruch der Individualität verhallt. Der Begriff der Individualität ist —
auch wo er deren Substanz in der Vermittlung zu ergreifen versucht — Verrat
an der Individualität. Er verrät sie, indem er ihren Anspruch auf unmittelbare
Singularität an die Macht der allgemeinen und allgemeinverständlichen Spra-
che und ihrer Verwendung preisgibt, und er verrät sie zugleich in der Weise,
daß er eben dadurch vielleicht auch ihre spezifische Struktur — im Verhältnis
zu sich und im Verhältnis zur Allgemeinheit — anzeigt. Diese Zweideutigkeit
des Begriffs der Individualität hat ihre Spuren in allen Systemen hinterlassen,
die seiner Bestimmung gewidmet waren. Wenn — um in diese Geschichte an
einem relativ beliebigen Punkt einzutreten — Leibniz darauf insistiert, daß
jedes Individuum durch sein ganzes Wesen individuiert sei (omne Individuum
sua tota Entitate individuatur1) und daß es deshalb ein Unendliches an Bestim-
mungen umfasse, die der Unendlichkeit des Universums korrespondieren,
aber jeder endlichen Erkenntnis entgleiten, so charakterisiert er seine Indivi-
dualität als Repräsentation einer Totalität, von der sie doch zugleich auch
unterschieden sein soll. Einer vollständigen Erkenntnis des Individuellen ist
nach Leibniz nur ein Wesen fähig, das die Totalität notwendiger Bestimmun-
gen in sich versammelt und deshalb den Bedingungen ihrer Repräsentation
nicht unterworfen ist. Das Individuum ist also monadische Einheit einer
Unendlichkeit von Bestimmungen, die nur durch ein einerseits unendliches
Erkenntnisvermögen — das Gottes — erfaßt werden kann. Endliche Indivi-
duen sind zu ihrer Erkenntnis als Individuen unfähig. Individualität ist bei
Leibniz von der Universalität Gottes, der Repräsentationscharakter ihrer
1
G. W. Leibniz — Philosophische Schriften; ed. Gerhardt; Bd. 4, p. 18.
2
Der vollständige Satz lautet: Cum entia singularia existant, evidens esty Ens singulare, sive
Individuum esse illud, quod omnimode determinatum est. (Christian Wolff — Gesammelte Werke,
II. Abt. Bd. 5: Philosophia prima sive Ontologia (§ 227), Frankfurt 1736; p. 188).
Für Nietzsche ist das Individuelle historisch zunächst eine Form vergange-
ner Größe, die beim Versuch ihrer erkennenden Vergegenwärtigpng oder
ihrer geschichtlichen Wiederholung gerade um ihre Individualität verkürzt
werden muß.. In der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und
Nachteil der Historie für das Leben, die die Bedingungen nicht nur der Ge-
schichtsschreibung, sondern der Geschichte selber und des Geschichte-Ma-
chens an die Wirksamkeit authentischer Individualität knüpft, schreibt er:
Wieviel des Verschiedenen muß, wenn sie jene kräftigende Wirkung tun soll, dabei
übersehen, wie gewaltsam muß die Individualität des Vergangenen in eine allgemeine
Form hineingezwängt und an allen scharfen Ecken und Linien zugunsten der Überein-
stimmung ^erbrochen werden \ Im Grunde ja könnte das, was einmal möglich war, sich
nur dann %um zweiten Male als möglich einstellen, wenn die Pythagoreer recht hätten,
%u glauben, daß bei gleicher Konstellation der himmlischen Körper auch auf Erden das
3
J. W. Goethe — Gedenkausgabe seiner Schriften; ed. Beutler; Bd. 18; p. 533.
gleiche, und %war bis aufs einzelne und kleine, sich wiederholen müsse [.. .]4 Die
Bedingungen der Vergegenwärtigung des Individuellen — so ließe sich dieser
Passus kommentieren — sind die Bedingungen der Verallgemeinerung und
das heißt: der Entindividualisierung, der Vergewaltigung und Zerstörung
des Individuellen und sogar der Möglichkeit des Individuellen durch ein
universelles Gesetz. Wo immer das Individuelle wiederholt wird, ist es das
Individuelle schon nicht mehr, das es einmal gewesen sein soll. Die Individu-
alität, deren Bilder die Vergangenheit bereithält, ist bloß eine mythische
Figur, die als Stereotyp durch wechselnde Zeiten gereicht werden kann und
ihnen den Glanz dauernder Größe verleiht. Die Individualität des historischen
Ideals, die bestimmt ist, in der Gegenwart Impulse des Lebens auszuteilen,
muß vermöge ihres idealtypischen Charakters zum Totengräber des Lebendi-
gen werden. In ihr ist nicht das Individuelle, sondern nur seine starre, typische
und typisierende Form erfaßt. Individuell wäre aber gerade das, was in
keinem Typus, keiner Form, keiner Gestalt und keiner kodifizierbaren Bedeu-
tung aufgeht.
Was von der Form der Vergegenwärtigung zerstört wird, vermag auch
eine Gegenwart nicht zu bieten, die unter dem Gesetz der Wiederholung
steht: Das Individuum hat sich ins Innerliche zurückgezogen: außen merkt man nichts
mehr davon; wobei man syveifeln darf, ob es überhaupt Ursachen ohne Wirkungen geben
könne. Oder sollte als Wächter des großen geschichtlichen Welt-Harems ein Geschlecht
von Eunuchen nötig sein ? Denen steht freilich die reine Objektivität schön %u Gesichte.
Scheint es doch fast, als wäre es die Aufgabe, die Geschichte %u bewachen, daß nichts
aus ihr herauskomme als eben Geschichten, aber ja kein Geschehen ! (1239). .Das
Individuum hat unter dem Druck repräsentativer Typen der Individualität,
die ihm aus der Vergangenheit überkommen sind, seine Fähigkeit eingebüßt,
sich von der geschichtlichen Welt, auf die es sich erkennend und handelnd
bezieht, wirksam zu unterscheiden: es ist denjenigen Typen gleichgeworden,
an denen er zum Zeugen seiner — historischen, sexuellen, semantischen —
Differenz werden müßte; es ist Gleiches unter Gleichen, und um das, was an
ihm individuell, also ungleich war, beschnitten, kastriert, ein Eunuch unter
Frauen. Im Reich der Gleichheit aber — ob es nun die historische Gleichheit
zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die epistemologische zwischen Den-
kendem und Gedachtem, die juristische Gleichheit unter den Bürgern einer
Gesellschaft oder die physiologische zwischen den Geschlechtern und Altern
sei —, im Reich der Gleichheit gibt es keine Geschichte, weil Geschichte,
4
Hier wie im folgenden werden Nietzsches "Texte — von wenigen Ausnahmen abgesehen —
nach der Ausgabe seiner Werke in drei Bänden^ ed. Schlechta, München 1966, zitiert. Die
Fundstellen werden in der Regel im laufenden Text notiert; dabei bedeuten die römischen
Ziffern die Band-, die arabischen die Seitenzahl der zitierten Ausgabe. Hier: (I 222).
Wesen, daß ich kein animal, sondern höchstens ein cogital bin. Schenkt mir erst
Leben [...] — so ruft jeder einzelne [...] Wer wird ihnen dieses Leben schenken? —
Kein Gott und kein Mensch: nur ihre eigne Jugend (I 280—281).
Keine dem Einzelnen transzendente Macht, weder ein anderer Mensch,
noch eine dem Menschen überlegene Instanz, aber auch nicht dieser einzelne
Mensch selbst ist die Quelle geschichtlichen Lebens, sondern nur das, was
an ihm selber als ,Jugend* über die Grenzen seiner historischen Bestimmtheit
in eine noch offene Zukunft hinausweist. Der Satz, mit dem sich freie
Individualität Existenz zuspricht — nicht ihr Sein ausspricht oder konstatiert,
denn substantielles Sein ist ihr nicht gegeben —, lautet nicht mehr cogito, ergo
sum, und auch nicht einfach performativ ego sum* sondern ero sum. Im Hinblick
auf meine Totalitätsunbestimmtheit und meine konstitutiv unabschließbare
Zukünftigkeit spreche ich mir Sein zu. Erst meine Zukünftigkeit schenkt
mir Leben. Dieses Leben ist niemals ein in deskriptiver Rede erfaßbares
Vorhandenes, es ist niemals schon da und als schon Daseiendes ausgesagt,
sondern immer und in alle Zukunft erst Kommendes und von der Sprache
nur Angekündigtes. Die Rede von ihm ist nicht Prädikation, sondern Prä—
dikation im Sinne der Voraus-sage und des Versprechens, des Vor-sprechens5.
Derart vor-sprechend spreche ich mir Sein zu. Sein — Individualität — ist
in meiner Rede nie feststellend ausgesagt, sondern als Anspruch und unter
dem Vorbehalt meiner Zukünftigkeit — also nie hinreichend und nie in
generalisierbarer Vollständigkeit — angekündigt. Wenn das Leben geschicht-
licher Allgemeinheiten unter Gesetzen steht — und Nietzsches zweite Un^eit-
gemäße Betrachtung versucht einige dieser Gesetze zu beschreiben —, dann ist
die Zukünftigkeit dieses Lebens und die ihr entsprechende Form seines nie
hinreichenden Versprechens das Gesetz dieser Gesetze.
Gegen diesen Gedanken von der Zukünftigkeit des Lebens, das die
Sprache freier Individualität eröffnet, mag man nun den Einwand geltend
machen, daß es keine Sprache geben kann, die ohne konventionelle Bedeu-
tungsregeln auskommen könnte. Nietzsche hat den Konventionalismus von
Sprach- und Lebensformen nicht nur nie bestritten, sondern einen großen
5
Wenn diese Formulierungen an Heideggers Privilegierung der Zukunft als des Bereichs
eigentlichen Seinkönnens erinnern, so deshalb, weil Heideggers Überlegungen zum Teil auf
die Nietzsches zurückgreifen: seinen Dank hat Heidegger in einer beeindruckenden kurzen
Analyse von Nietzsches Geschichtsaufsatz in Sein und Zeit (§ 76) abgestattet, ihm aber später
seine Schuld schlecht entgolten, indem er Nietzsches Leistungen beim Gewinn einer neuen
Einschätzung der Zukünftigkeit des Daseins in seinen Nietzsche-Vorlesungen keiner Erwäh-
nung mehr würdigte.
Zum Problem des Versprechens und der vorlaufenden Rede cf. W. H. — Das Versprechen
der Auslegung — Überlegungen ^um hermeneutischen Imperativ bei Kant und Nietzsche. In: Spiegel
und Gleichnis, Festschrift für Jacob Taubes, ed. N, Bolz/W. Hübener; Würzburg 1984;
pp. 252-273.
6
Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 2, Kap. 41; ed. A. Hübscher, Wiesbaden 1949, p. 563.
„ , -sich" gebend (und eine Bedeutung seines Daseins als „Verirrung"); [...] Es rächt
sich, daß von der Wissenschaft das Individuum nicht begriffen war: es ist das gan^e
bisherige Leben in einer Linie und nicht dessen Resultat (III 545). Das
Individuum ist mithin nicht bloß Ausscherung aus dem Kreis der Totalität
und nicht nur Abirrumg vom Weg des Willens in das'Nichts seines Seins;
das Individuum ist auch nicht das Resultat des Gattungsprozesses — als
solches wäre es unselbständig bloßes Exemplar dieser Gattung —, es ist der
gesamte Lebensprozeß selbst: jedes Einzelwesen [isf] eben der gan^e Prozeß in
gerader Linie [...], so hat das Einzelwesen eine ungeheuer große Bedeutung
(III 558). Diese historisierte Leibnizsche These, das Einzelwesen sei der ganze
Prozeß und seiner internen Universalität stünde nichts Fremdes entgegen,
wird gleichsam konterkarriert durch die nähere Bestimmung, diese ungeheuer
.große Bedeutung komme dem Individuum erst als einem autonomiefähigen
Wesen zu: erst als sich selbst neue Ziele stellend, erst also indem es (in) seine
eigene Zukunft sich entwirft, seine Freiheit von Konventionen, Sitten und
Moralen als seine Freiheit %u seinem eigenen künftigen Selbst bewährt, wird
das Individuum zum ungeheuer bedeutsamen Einzelwesen, in dem sich der
ganze Prozeß seines Werdens unter dem Zeichen seiner Zukünftigkeit dar-
stellt. Nur auf sich als sein noch ausstehendes künftiges Selbst bezogen, ist
es ein einziges Ganzes und einzig: frei von jeder ihm vorgegebenen Totalität.
Eine andere Aufzeichnung, die im engsten gedanklichen Zusammenhang
mit der eben zitierten steht, weist in die gleiche Richtung: Die überschüssige
Kraft in der Geistigkeit, sich selbst neue Ziele stellend; durchaus nicht bloß als
befehlend und führend für die niedere Welt oder für die Erhaltung des Organismus, des
„Individuums". — Wir sind mehr als das Individuum: wir sind die gan^e Kette noch,
mit den Aufgaben aller Zukünfte der Kette (III 561). Den Akzent auf die neuen
Ziele verstärkt die folgende Eintragung, die die Kategorie des Novum mit
großer Emphase für die Theorie der Auslegung reklamiert: Das Individuum
ist etwas gan^ Neues und Neuschaffendes, etwas Absolutes, alle Handlungen
gan^ sein Eigen. — Die Werte für seine Handlungen entnimmt der einzelne ^ulet^t
doch sich selber: weil er auch die überlieferten Worte sich gan^ individuell deuten
muß. Die Auslegung der Formel ist mindestens persönlich, wenn er auch keine
Formel schafft: als Ausleger ist er immer noch schaffend (III 913). Der innova-
tive Charakter des Individuellen verdankt sich aber einem spezifischen Zug
jener Kraft, die Werte und neue Wort-Deutungen setzt —, einem Zug, der
über den engen Kreis der literarischen Hermeneutik hinaus für die Struktur
sowohl der überlieferten Formeln und Handlungstypen wie auch der Indivi-
dualität selbst in jedem Sinn entscheidend ist. Diese Kraft ist nämlich keine
der Erhaltung des Organismus oder des Prozesses, der in ihm resultiert: in
diesem Falle wäre sie bloße Funktion dessen, was ihr voranging; sie ist auch
keine Kraft der ^?/£j/-Erhaltung: in diesem Falle würde sie nur bewahren,
7
Zur Bewegung des Doppelgängers bei Nietzsche cf. W. H. — pleroma — ^u Genese und
Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel^ in: G. W. F. Hegel „Der Geist des Christen-
—: darin sieht Nietzsche das Glück seines Daseins und seine Einzigkeit
vielleicht (II 1070). Die Spaltung und Verdoppelung des Zugs, der den Typus
formte, erst sie und nicht dessen Einheit macht die Einzigkeit eines Daseins
aus. Erst in ihrer Dualität trägt sich die Individualität aus; erst das Dividuum
ist das Individuum8 — vielleicht: und dieses vielleicht bezeichnet jenseits aller
empirischen Ungewißheit die Unmöglichkeit einer unzweideutig exakten
Erkenntnis eines Wesens, dessen Einzigkeit in seiner Spaltung liegt.
Gibt die Formulierung, etwas werde „überlebt", noch der Hoffnung Raum,
das Überlebende sei im Unterschied zum Überlebten unverbraucht und kraft-
voll, es sei ihm entgegengesetzt wie das Leben dem Tod und ihre Trennungsli-
nie verlaufe ebenso distinkt wie diejenige, die den Typus prägt, so belehrt
schon die Wendung vom verhängnisvollen Zugleich von Frühling und Herbst in
der Epoche der Individualität darüber, daß es ein Überleben nur vermöge
seiner Allianz, seiner Mesalliance mit dem Verfall gibt. Individuell ist das
Inkommensurable, sofern es der Ort der Verbindung zwischen unverträg-
lichen Größen ist. In ihm überlebt keine unausgeschöpfte, unermüdete posi-
tive Kraft, sondern die noch unausgeschöpfte, noch unermüdete Verderbnis. Das
Individuum ist nicht nur Frühling und Herbst zugleich; es ist der Frühling
des Herbstes. War der Typus der Ort der Kraft, des Lebens, des Seins, das
sich als Sein in den Grenzen seiner Form darstellte und erhalten sollte, so
entbindet die überschüssige Kraft und das Überleben des Individuums das, was
die Form des Seins als des sich selbst erhaltenden gesellschaftlichen Lebens
sprengt: seine Endlichkeit. Das Sein, das sich im Individuum „überlebt", ist der
Endlichkeit überlassen. Das Individuum, das „Überleben"r, überlebt nicht.9
Nietzsche nimmt das Problem und das Wort vom Überleben — auf diese
Weise seinen für den Text determinierenden Rand unterstreichend — am
Ende seines Aphorismus wieder auf und schreibt über diejenigen^ die unter
den Bedingungen eines allgemeinen Niedergangs der in Individuen aufgelö-
sten Gesellschaft allein noch überdauern: Die Mittelmäßigen allein haben Aus-
sicht, sich fortzusetzen, sich fortzupflanzen — sie sind die Menschen der Zukunft, die
tums", Schriften 1796—1800; ed. W. Hamacher, Berlin 1978; pp. 306—318. Zum gleichen
Problem: Jacques Derrida — Nietzsches Otobiograpbie oder Politik des Eigennamens^ in: Fugen
— Deutsch-französisches Jahrbuch für Text-Analytik, ed. M. Frank, F. Kittler, S. Weber;
Ölten 1980; pp. 64—98. Das französische Original wurde unter dem Titel Otobiograpbie de
Nietzschey Paris 1984, veröffentlicht.
8
In Menschliches- A>ll%umenschliches heißt es in einem anderen Sinne: In der Moral behandelt sich
der Mensch nicht als Individuum, sondern als dividuum (1491). In einem wieder anderen Sinne
schreibt Novalis: Das ächte Dividuum ist auch das ächte Individuum. (Das allgemeine Brouillon,
Nr. 952).
9
Ich werde darauf hingewiesen, daß überleben, wie es hier gelesen wird, jenem survivre gleiche,
das J. Derrida in Texten von Blanchot und Shelley gelesen hat, — ich nehme an: bis auf
eine Reihe individueller Differenzen. Man vergleiche also: Living On, in: Deconstruction &
Criticism by Harold Bloom et al., New York 1979; pp. 75—176.
sehe über die Egoismen, das heißt die Individuen und Individuen der Indivi-
duen schreibt: [...] nebeneinander und oft ineinander verwickelt und verstrickt [...]
ein ungeheures Zugrundegehn und Sich^ugrunderichten, dank den wild gegeneinander
gewendeten, gleichsam explodierenden Egoismen [...] (II 736). Im „überleben" überle-
ben die individuellen Bedeutungsmomente ihren eigenen lexikalischen Sinn
und den der konkurrierenden semantischen Tendenzen so, wie sich in den
Individuen der gesellschaftliche Typus, das Prinzip der Gesellschaftlichkeit
und des in ihm verbürgten Sinnkontinuums selbst überlebt. Bedeutung nimmt
das Wort — und in der Epoche des „Überlebens" jedes Wort — nur um den
Preis ihrer unausgesetzten Irritation durch eine andere Bedeutung und in der
Weise an, daß sie, locker wie sie ihm assoziiert ist, jederzeit von einer anderen
übermächtigt und verdrängt werden kann. Für ihre Diversität gibt es keine
andere Gemeinsamkeit als die disparate des „Überlebens". Was in der klassi-
schen Onto-Logik, die das Individuum durch die Immanenz seiner Prädikate
im Subjekt definierte, ausgeschlossen war, nämlich die Bildung von in sich
kontradiktorischen Grund-Sätzen, wird im Fall der Struktur des „Überlebens"
zu einem notwendigen Ereignis, das sich mit keinem Mittel einer semiologi-
schen Reinigung unter die Herrschaft eines semantischen oder pragmatischen
Typus zurückbringen läßt: Der Typus hat sich und ist „überlebt": Das Indivi-
duum — „überlebt" — überlebt nicht —: der semantische Überschuß und das
ebenso große semantische Defizit dieser Sätze läßt sich nur durch willkürliche
Reduktion in die Form einer klaren und distinkten Bedeutung bringen.
Nietzsche hätte ihr nicht das Attribut des Mittelmäßigen vorenthalten. Da
aber jede semantische Restriktion vom exzessiven Charakter des „Überlebens"
dependiert und ihrerseits keinen anderen Sinn als den des konservativen
Überlebens hat; und da weiterhin jede Sprache und jede andere Form des
gesellschaftlichen Lebens auf die Produktion eines — wie auch provisorischen
— Sinnkontinuums angelegt ist, das ihr weder in der Welt noch in Texten
schon gegeben ist, — ist die hyposemische Exuberanz des ,Wortes* und der
,Sache4 „Überleben" die abgründige Bedingung für jeden konventionellen
Sprachgebrauch und für jedes Leben, das sich in den Formen des gesellschaft-
lichen Austausche und der Kommunikation vollzieht. Die Indetermination,
die Überdetermination des „Überlebens" determiniert jedes Leben. Das Indivi-
duelle — „Überleben" — wäre also das Transzendental des Allgemeinen. Aber
im selben Maße, in dem es dem Allgemeinen — der Gesellschaft und des
Begriffs — den Grund seiner Möglichkeit bietet, läßt es ihn in sich zerfallen.
Das Individuelle — „überlebt" — überlebt nicht. Es gewährt weder den
Bestand, den der Typus versprach, noch die Dauer, die ironisch das Mittelmaß
verkündet. Die individuell gewordene Sprache — die des „Überlebens" —
spricht nicht mehr in der Gewißheit eines allgemeinen, kommunikablen Sinns
oder eines unablässig neue Allgemeinheiten produzierenden Typus; sie spricht,
„überlebt", indem sie versagt ... Wenn ihr „Überleben" Transzendental ist,
dann detranszendentalisierend.
Die Dissoziations-, Exzeß- und Rest-Struktur der Individualität zieht auch
die Zentralkategorie von Nietzsches Spätwerk in Mitleidenschaft, die des
Willens. Nietzsche weist darauf, immer noch im 262. Aphorismus von Jenseits
von Gut und Böse, mit der ihm eigenen diskreten Beiläufigkeit hin: Wieder ist
die Gefahr da, die Mutter der Moral, die große Gefahr, diesmal ins Individuum
verlegt, in den Nächsten und Freund, auf die Gasse, ins eigne Kind, ins eigne Her^,
in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille: [*..] (II 736). Wie das
Individuum, so ist auch der Wille und sogar das Eigenste des Willens in
Gefahr, sich zu verschwenden, sich zu erschöpfen und zu verderben. Weil
der Wille, der sich zur Akkumulation seiner Macht den Typus schuf, Wille
zu sich selbst, Wille zur unbedingten Autonomie des Willens nur sein konnte,
weil er selbst schon überschüssige Kraft ist, muß er auch die Organisationsform
des Typus und einer bestimmten logischen, ästhetischen und sozialen Gestalt
überschreiten und sich im Zerfall der ihn feststellenden Formen selbst „überle-
ben". Der Wille selbst ist und wird jetzt „überlebt". Er ist nicht mehr das
Zentrum autonomer Operationen, sondern, mit sich selber zerfallen, dem
tropischen Wuchern seiner monströs oder unscheinbar gewordenen Momente
ausgesetzt. Diese unausweichliche Wendung des Willens gegen sich selbst ist
für Nietzsche die Signatur der Moderne. Er hat sie am Positivismus der
Wissenschaften, in der Heraufkunft demokratischer Ideale und am Stil der
literarischen und musikalischen ,Dekadenzc beschrieben und mit der größten
sarkastischen Emphase am Zerfall organischer Gestalten in der Musik Wag-
ners, in Der Fall Wagner analysiert.
In einer Passage, die in vielem Überzeugungen des ,Dekadenz'-Theoreti-
kers Paul Bourget verarbeitet, schreibt Nietzsche: Ich halte mich diesmal nur
bei der Frage des Stils auf. — Womit kennzeichnet sich jede literarische
decadence^ Damit, daß das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird
souverän und springt aus dem Sat^ hinaus, der Sat^ greift über und verdunkelt den
Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen — das Gan%e ist
kein Ganges mehr. Aber das ist das Gleichnis für jeden Stil der decadence: jedesmal
Anarchie der Atome, Disgregation des Willens, „Freiheit des Individuums", moralisch
geredet — %a einer politischen Theorie erweitert gleiche Rechte für alle" (II 917).
So wie das Wort aus dem Satz, das Moment aus der Totalität hinausspringt,
so springt das Ganze selbst vom Ganzen ab und wird zu dessen bloßer
Suggestion. Das Ganze gibt es bloß als Schauspiel: es ist zusammengesetzt,
gerechnet, künstlich, ein Artefakt. Dagegen ist der Teil größer als das Ganze,
lebendiger, organischer und authentischer, das Gänze nur ein Teil jenes Teils,
der souverän über es geworden ist. Das Ganze zerfallt bei der stilistischen
Dekomposition nicht einfach in ein Chaos von Teilen, sondern in ein Ganzes,
Form haben können, die mehr wäre als eine juristische Fiktion, also ein
Schauspiel. Nun ist aber der Zusammenhang derer, die jeden organischen
Zusammenhang eingebüßt haben oder einzubüßen im Begriff sind, schlechter-
dings nicht anders vorstellbar als unter der Fiktion eines Zusammenhangs:
zum Beispiel unter der Fiktion des Begriffs Individuum', der ja nichts andres
behauptet als daß diese unvergleichlichen Einzelwesen alle gleichermaßen
Individuen sind. Die Ökonomie dieses Zusammenhangs, der sich in den
juristischen, moralischen und politischen Fiktionen der Gleichheit, Freiheit
und Persönlichkeit der Individuen ausspricht, und die, wie der Aphorismus
268 aus Jenseits von Gut und Böse entwickelt, eine Ökonomie des Überlebens
ist, kann so lange nicht aufhören, auch für die Disgregation des Willens
verbindlich zu sein, wie auch in ihrem Verlauf noch linguistische und darüber
hinaus überhaupt Bestimmungen der Mitteilung im Spiel sind. Die Disgrega-
tion des Willens ist keine, die der Wille selber betreibt, aber solange er ihr
noch als Wille unterliegt, ist in ihr die Vorstellung seiner Gegenständlichkeit,
seiner Einheit und möglichen Substantialität noch wirksam. Die Disgregation
nimmt noch am Schauspiel des Willens teil, und da sie unabschließbar ist,
hat ihre Teilnahme am Spiel der Vorstellungen kein Ende. Aber sie hat auch
in den Vorstellungen dieses Spiels kein Ende, ist durch sie nicht begrenzt
und nie das in ihnen Dargestellte. Statt selber ein Schauspiel des Willens zu
sein, in dem die Ideen von Gleichheit und Freiheit aufgeführt werden,
diskredierte die Disgregation es als Schauspiel. Ihre Teilnahme an seinen
Vorstellungen nimmt ihnen einen Teil: ihrer Stabilität, ihrer Konsistenz und
ihres technischen Charakters, und überantwortet ihn einer Bewegung, die
weder in den Grenzen politischer oder moralischer, noch in denen lingu-
istischer oder phänomenologischer Bestimmungen befangen ist.
Das Individuum in der Epoche der Disgregation des Willens — und diese
Epoche ist für Nietzsche die Epoche der Epochen, weil sie immer schon
begonnen hat —, das Individuum spricht, inddm es die sprachlichen Konven-
tionen verläßt, es zeigt sich, indem es sich vom Schauplatz der Allgemeinheit
zurückzieht und seine eigene Allgemeinheit in diesen Rückzug miteinbezieht.
Wenn dieser Prozeß — diese Sezession — indeterminiert ist, so nicht nur in
dem Sinne, daß er keine Grenze und kein Ende in einer neuen Einheit findet,
sondern auch in dem Sinne, daß ihm ein Adressat, der nicht selber dieser
Bewegung ausgesetzt wäre, fehlt. Nietzsche hat diese Überlegung ebenfalls
in losem Zusammenhang mit seinen Einwänden gegen die Musik Wagners,
insbesondere gegen ihre Totalitäts-Schauspielerei, lange vor Der Fall Wagner
schon in der Fröhlichen Wissenschaft — in ihrem 367ten Aphorismus —,
geäußert und darin seine Unterscheidung zwischen der Schauspieler-Kunst
und der scheinlosen Kunst strenger Individuierung mit dem Satz vom Tode
Gottes verknüpft. Der Aphorismus lautet: Alles, was gedacht, gedichtet, gemalt,
auch der Tod Gottes — nicht anders als dieser selbst — ist eine Erfindung^
und zwar eine Erfindung, die nicht von einem Individuum in seiner Einsam-
keit, sondern von einer Gemeinschaft in Hinblick auf ihre Einsamkeit gemacht
worden ist —: diese Erfindung haben erst wir gemacht, wir Gottlosen. Auch der
Monolog hat noch die Gemeinschaft des Wir zum Zeugen und auch die
Abwesenheit seines Adressaten, seine Unbestimmtheit, nimmt am Spiel der
Vorstellungen des Willens noch teil. Es ist aber gerade die Unbestimmtheit,
die Richtungslosigkeit des Monologs, die seine Erfindung vor allen möglichen
anderen Erfindungen im Bereich des Denkens, Redens und Handelns aus-
zeichnet: was derart indeterminiert ist, kann niemals das positive Produkt der
Einbildungs- oder Bildungskraft sein und nie als ein hie et nunc bereits
Realisiertes vorgestellt werden. Unbestimmt, bleibt es trotz der verschieden-
sten Determinationen, die es erfahren kann, in alle Zukunft offen und der
Feststellung in einer propositionalen Rede entzogen. Im Aphorismus 125
derselben Fröhlichen Wissenschafty in dem Nietzsche den tollen Menschen den
Satz Gott ist tot \ verkünden läßt, heißt es deshalb: Dies ungeheure Ereignis ist
noch unterwegs und wandert — es ist noch nicht bis %u den Ohren der Menschen
gedrungen (II 127). Daran, daß es erst noch unterwegs ist und wandert, daß es
noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen ist, ändert auch die
Rede des tollen Menschen nichts, sie bleibt unverstanden. Aber in seiner
Rede selbst ist dieses ungeheure Ereignis unterwegs und wandert und macht
sie, so dialogisch sie intendiert sein mag, zu einem Monolog, referenz- und
adressatenlos und der konstativen Erkenntnis entzogen. Der Monolog, immer
noch unterwegs und im Kommen, nie schon in toto präsent, ist nichts anderes
als die fortschreitende Indetermination in der dialogischen Struktur der
Sprache und des Verstehens. In ihm stirbt Gott. In ihm tritt das Ungeheure
in den gesicherten Raum der Sprach- und Lebenskonventionen ein und macht
ihn allmählich zum unabschließbaren Raum dieses Ereignisses der Einsamkeit.
Der Monolog der Individualität ist unterwegs.
Er ist, immer außerhalb und innerhalb der Rede zumal, immer noch nicht
— schon da. Und da er die Rede der Abgeschiedenheit von der verbindlichen
und gemeinschaftlichen Form des Logos ist, ist er das Immer Noch des Nicht
Mehr dieses Logos, er ist das Überleben der Individualität in einer ihr
fremden, maskenhaften, posthumen Gestalt. Der Monolog, der immer die
Rede vom Tod Gottes und vom Tod seiner Statthalter — des Lebens, des
Willens, des Subjekts — ist, ist posthume Rede und die Rede des posthumen
Menschen. Auch sie geht noch mit Menschen um, aber ihr Umgang ist der
von Gespenstern, die unter Menschen umgehen. Davon handelt ein anderer
Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft, der 365., mit dem Titel Der Einsiedler
spricht noch einmal: Auch wir gehn mit „Menschen" um, auch wir %iehn bescheiden
das Kleid an, in dem (als aas) man uns kennt, achtet, sucht, und begeben uns damit
— berühren die Individuen einander und stellt sich, unter dem Zeichen ihrer
Nicht-Synthesis, ihre Mitteilung ein. Die Gesellschaftlichkeit der Sprache
erfüllt sich darin, daß sie allem, was einen Bezug sucht zu dem, was sie —
sei's eine Bedeutung, sei's eine Person — meint, auf eine höfliche Weise den Stuhl
vor die Tiire setzt. Der Ort der Gesellschaft wie der des Individuums ist dieser
Abschied, in dem sie sich — voneinander und von sich selbst — zu trennen
nicht aufhören. Auf diese Weise sind sie, mit sich und anderen, in einer
Gemeinschaft, ohne sich gemein zu machen; und auf diese Weise nur gibt es
Gemeinschaft: als gesellschaftliches Umgehen der voneinander und von ihrem
gemeinsamen Medium, dem Leben, dem Tod, Abgeschiedenen.
Nietzsche hat, das ist zur Genüge bekannt, aber immer noch ungenügend
bedacht, dem Emblem der Maske eine ausgezeichnete Stellung in seinen
Bemerkungen zur Sprache und zur Individualität eingeräumt. An ihm läßt
sich, so sehr es sich dank seiner Unbestimmtheit kontroversen Interpretatio-
nen anbietet, beider Verhältnis zur Phänomenalität, zur Ganzheit und zur
Notwendigkeit mit besonders großer Prägnanz aufweisen. Alle genannten
problematischen Begriffe sind untereinander wiederum durch das Problem
der Bestimmung verbunden, dem Nietzsche in all seinen Dimensionen die
größte Aufmerksamkeit widmete. Die Überlegungen Nietzsches zur Sprache
gehen spätestens seit der fragmentarischen Abhandlung Über Wahrheit und
Lüge im außermoralischen Sinn davon aus, daß Sprache die Morphologisierung
einer Welt betreibt, die ohne sie ein schieres Chaos unendlich differenzierter
Eindrucksmomente wäre. Auch das Individuelle, das Nietzsche in diesem
Zusammenhang zunächst gegen die Macht des Begriffs ins Feld führt, erweist
sich im Fortgang seiner Überlegung als eine Form morphologischer, und
näher anthropomorpher Konstruktion, über deren Realitätsgehalt kein Urteil
möglich ist, weil der Titel „Realität" selber erst aus der Morphologisierung
gewonnen ist. Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff,
wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begjriffe, also
auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares
X. Denn auch unser Gegensatz^ von Individuum und Gattung ist anthropomorphisch
und entstammt nicht dem Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht %u sagen wagen, daß
er ihm nicht entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche
ebenso unerweislich wie ihr Gegenteil (III 313 — 14). Wenn selbst das Individuelle
anthropomorphisch schematisiert ist und also erst das Übersehen des Individuellen
das ,Individuelle* ergibt, dann ist individuell nur das Unzugängliche, vom
jeweils Erfaßten Unterschiedene, während dasjenige, was der Begriff Indivi-
dualität faßt, eine bloße Figur bleibt. Nietzsche hat später diese seiner Kant-
und Schopenhauer-Lektüre verdankte Überlegung auf die Selbstbeziehung
diese Hypertrophie der Form und des Bewußtseins muß aber — so läßt sich
das genealogische Argument Nietzsches auf ein strukturelles durchsichtig
machen — als Überbestimmtheit die Bestimmungen der Bewußtseins« und
Sprachgestalten immer schon mitbestimmen, also indeterminieren, ihre starren
Distinktionen in Bewegung bringen und die Opposition zwischen dem Her-
den-Merkzeichen und der bezeichnungsunfahigen Individual-Existenz, dem
Phänomenalismus des Bewußtseins und der Aphanisis seiner Gegenstände
erschüttern. Wenn die Bestimmungen der sprachlichen Zeichen nicht an dem
von ihnen Bestimmten auf ihre Angemessenheit oder Unangemessenheit
abgeschätzt werden können, wenn ihnen also ein transzendenter Bestim-
mungsgrund fehlt und ihre immanente Gesetzlichkeit unabsehbaren Wandlun-
gen unterworfen ist, dann dementiert die allgemeine Aussage, daß alle allge-
meinen Aussagen Schein sind, sich selber als Schein und mobilisiert durch
die Differenz zu sich selber in der Ökonomie allgemeiner Bestimmungen, die
auf die Restriktion der individuellen Differenz hinwirken, eine Ökonomie
anderer Art: die der verschwenderischen Verausgabung, die der Aufgabe der
Bestimmungen selbst, die der Affirmation der Differenz. Da keine Bestim-
mung in der Weise Objekt einer Bestimmung werden kann, daß ihre strenge
Korrespondenz als gewährleistet gelten kann, ist jede, so allgemein und
konsensfahig sie scheinen mag, ein unwiederholbares, singuläres Ereignis.
Seine Singularität — und die Singularität noch des Allgemeinsten — liegt
darin, daß es zur Unbestimmtheit bestimmt ist. In ihr kommt also keine
tiefere Wahrheit zum Vorschein als die, daß es einer universell gültigen
Wahrheit nicht fähig ist, weil es weder über eine transzendente, noch über
eine immanente Garantie der Angemessenheit seiner Formen verfugt. Die
Unbestimmtheit ihrer Bestimmung ist ihr einziges Gesetz, das Gesetz der
Singularität.
Die Verschwendung der Kraft und Kunst der Mitteilung^ die die Kunst
betreibt, ist eine Artikulation des Gesetzes der Unbestimmtheit, dem jede
Mitteilung und jedes Zeichen unterworfen ist. Kunst ist nie Form, Gestalt
oder Bild, ohne durch ihren morphologischen Überschuß den Bereich der
Form zu verlassen, die Gestalt zu defigurieren und den Anspruch des Bildes
auf Wiedergabe oder Erzeugung einer Wirklichkeit zu durchkreuzen. Wenn
sie die Kraft und Kunst der Mitteilung verschwendet, so durch die Teilung des
Mit, in dem sie ihre Gemeinsamkeit mit der von ihr gemeinten Sache und
den von ihr angesprochenen Adressaten hat. Der Phänomenalismus der
Zeichen öffnet sich in ihr dem Scheinlosen. Wenn noch etwas gezeigt,
dargestellt und ins Licht gesetzt wird, so ist es das Erlöschen der Phänomenali-
tät, des eidos und der Bedeutsamkeit Selbst, wie es Wagner in den Heimlichkeiten
absterbenden Lichts komponiert hat (II918). In der Kunst dementiert die
Mitteilung ihren Anspruch, im Raum der Erscheinungen und Gestalten als
10
Friedrich Nietzsche, — Gesammelte Werke (Musarion-Ausgabe), München 1922; Bd. 1;
pp. 412/13.
Den Kontingenzen des Zufalls ausgesetzt, ist das Individuum niemals zur
Gänze durch sich selbst oder durch eine von ihm beherrschte Geschichte
bestimmt, und ebensowenig wie durch sich durch einen ihm unproblematisch
zugänglichen Anderen. Der Zufall ist nicht das Andere seines Selbst, sondern
die es bestimmende, aber durch es nicht bestimmbare Unbestimmtheit, die
in keiner seiner Denk- und Lebensformen anders als entstellt, verkennbar und
abgebrochen darzustellen ist. Das Sein des durch den Zufall Indeterminieren,
Individuellen, nicht erst seine Erscheinung, ist eine Maske.
Die Maske nämliph, anders als ihr Emblem es glauben machen könnte,
ist für Nietzsche nie willkürlich gewählt und aufgesetzt von jemandem, dem
es freistünde, keine zu tragen. Die Maske — kaum anders als die Wüste —
wächst. Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst
fortwährend eine Maske, dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung
jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er gibt (II 603—04). Aber
die Maske wächst dem Individuum und jedem seiner Worte nicht nur durch
die verflachende Auslegung, die andere ihm geben, zu, die nicht fähig sind,
das Gesicht selber und die Hintergründe und Gründe der Maske ins Auge
zu fassen, sondern jedes Wort ist selbst schon eine Maske für den, der es
spricht, und für das Wort, das ihm zu sprechen versagt ist. Jede Philosophie
verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch
eine Maske (II 752). Die Maske steht vor keinem Gesicht, das nicht selbst eine
wäre, das Wort verbirgt — oder bezeichnet — keinen Sinn, der nicht selbst
eine Maske wäre, die Gründe der Maske lassen sich auf keinen letzten
zurückverfolgen, der nicht in einen Abgrund von Masken verwiese. Nietzsche
läßt noch einmal den Einsiedler sprechen: Der Einsiedler glaubt nicht daran,
daß jemals ein Philosoph — gesetzt, daß ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler
war — [...] „letzte und eigentliche" Meinungen überhaupt haben könne, ob bei ihm
nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse — [...] ein
Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder „Begründung* (II 751). Die Maske ist ein
strukturell Letztes für jede Erkenntnis und Selbsterkenntnis, für jedes Wort
und jede Mitteilung, weil alle Erkenntnis- und Darstellungsformen an der
Sicherung ihres Bestimmungsgrundes scheitern müssen. Deshalb mögen be-
stimmte philosophische, künstlerische und lebenspraktische Vorstellungsty-
pen historisch, soziologisch oder psychologisch auf bestimmte Motive redu-
zierbar sein —, unbestimmbar und irreduzibel bleibt ihr Verhältnis zur
Möglichkeit ihrer Grundlosigkeit und Unbestimmtheit. Die Maske — und
also das ganze Zeichenreich der Phänomenalität und der Bewußtseinsformen
— liegt über einem Abgrund, dessen Höhlung durch kleine Gestalt und
keinen Gedanken ausfüllbar ist. Erst vermöge der Maske kann sich die Illusion
bilden, hinter ihr sei ein Gesicht, ein seiner selbst durchaus mächtiges Subjekt
verborgen, das sich die Maske zum Schütze seiner Gründe und seiner selbst
11
Im Stil der jungen Romantiker könnte man notieren: Individuum = Anak<oluth> d. Proso-
pop<oie>.
einem Aussagen, das versagt. Individualität versagt sich. Sie ist, mit einer
Erhabenheitsformel, die Nietzsche auf den freien Geist anwendet, die Verborgne
unter den Mänteln des Lichts* und — mit einer weniger biblischen Wendung —
zugleich Nachteule und Vogelscheuche (II 607): der hegelsche Vogel des absolu-
ten Wissens und das, was ihn fernhält, Auto-Apotropäon, Prozeß des Selbst in
der Selbstdistanzierung, des Begriffs-Entzugs, der Ent-fernung. Individualität
versagt sich im differentiellen Selbstverhältnis des Sagens als das in allen
Feststellungen Ungesagte, als das also, was sich allein im Modus des Nicht,
des Nicht-Mehr oder Noch-Nicht sagt. Als ein Zukünftiges ist Individualität
immer nur versprochen. Sie ist nicht, sie kommt. Da sie indessen bestim-
mungslos, adressatenlos und folglich ohne Ziel und Richtung bleibt, kommt
sie niemals als die mir zubestimmte, mir zukommende, eigene, sondern bleibt
künftig, kommt ohne Ende — die. offene Distanz, aus der sich nie ein
substantielles Selbst ergibt. Ein Versprechen, versagt sich mir der Monolog
meiner Singularität, und anders als derart versprochener, sich versagender,
gibt es ihn nicht. Seine Zukunft ist nicht die programmierte, in die ich
mein gegenwärtiges Selbst verlängere, um es zu erhalten und als das meine
festzuhalten, sondern Zufall, der mich trifft, ohne für mich bestimmt zu sein
und ohne der meine werden zu können. Nicht ich spreche den Monolog
meiner Zukünftigkeit, sondern was in ihm, unankünftig, unbestimmt, sich
meinem Willen entzieht —: das Fatum als ein Gesetz, das sich keinem
subjektiven Setzungsakt verdankt, sondern dem Sprechen einer Instanz, einer
Distanz, einer Disgregation, die von keinem Subjekt, sei es immanent oder
transzendent, sei es bewußt oder unbewußt, kontrolliert werden kann, und das
nie hinreichend, nie als Ganzes und als Gesetz selbst, sondern nur fragmentiert
gesprochen und stückweise vernommen wird. Der einzelne ist ein Stück Fatum
von vorne und von hinten, ein Gesetz^ mehr, eine Notwendigkeit mehr für alles, was
kommt und sein wird (II 969). Wenn dies Gesetz des Einzelnen, das Gesetz
seiner Einzigkeit aber Fatum von vorne und von hinten ist, Fatum aus der
Vergangenheit und aus der Zukunft, dann ist der Einzelne erst einzeln und
ein Gesetz für alles, nachdem alle Zukunft durchlaufen und der Kreis der
Wiederkehr ewige Male geschlossen ist. Und auch dann wird es nicht das
ganze, sondern ein Stück Fatum gewesen sein, das zum Gesetz für alles wurde.
Der Einzelne ist ein Fragment von jenem Spruch des Fatums, der nur als
ganzer seine Autonomie begründen könnte: denn nur so wäre er ausschließlich
von dem bestimmt, was er selber bestimmt. So aber wird er als Fragment zu
einem Gesetz für alles, was kommt und sein wird, und für alles, was war, zu
einem fragmentarischen Gesetz dessen, was ihn selber bestimmt von vorne und
von hinten. Der Einzelne — ein Bruchstück — ist ein Gesetz für die Totalität,
die allein das Bruchstück als Bruchstück bestimmen und zum Ganzen fügen
könnte —, zu dem Ganzen auch, das er selber als Einzelner wäre. Ein Ganzes
Geschrieben im Januar 1984 für das Colloquium Reconstructing Individualism am Humanities Center
der Stanford University, auf Einladung von David Wellbery; überarbeitet im Dezember 1984.