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in: Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung. Bd. 6. Die Soziologie und der Mensch.

Opla-
den 1995 (Westdeutscher Verlag), 125-141

Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum

I
Das Wort „Individuum“ gehört zu unserem alltäglich geläufigen Sprachschatz. Jeder weiß, was damit
gemeint ist, und man notiert kaum noch, daß es sich um ein Fremdwort handelt. Gemeint ist der
Mensch als Einzelperson, also etwas, was einem täglich begegnet und rasch erkennbar ist. Oft handelt
es sich bei den Individuen um gute Bekannte, sehr oft um Unbekannte, aber nie wird ein Zweifel an
ihrer Individualität aktuell. Noch nie haben wir jemanden gefragt, ob er ein Individuum sei; und selbst
wenn wir vom Mailänder Dom auf den Domplatz herunterblicken und sie wimmeln sehen: kein Zwei-
fel, es sind alles Individuen.
Merkwürdig ist allerdings, daß wir, um dies festzustellen, ein Fremdwort brauchen. Gab es, als
unsere Sprache sich formte, noch keine Individuen? Oder hatte man nicht das Bedürfnis, mit der Indi-
vidualität der Einzelperson etwas anzufangen oder aus ihrer Individualität irgendwelche Rückschlüsse
zu ziehen? Daß Menschen immer schon nach Gestalt und Wesen je für sich existieren, also die Merk-
male der Individualität im heutigen Sinne erfüllt haben, wird niemand bezweifeln. Wenn die Men-
schen aber immer schon Individuen gewesen sind: warum hat man das dann nicht gleich gesagt? Wie-
so ist das Wort dafür dann relativ spät und offensichtlich als Kunstwort in die Sprache eingeführt wor-
den? Wieso mußte man irgendwann einmal das, was damit gemeint ist, kommunikationsfähig
machen?
Unter dieser Fragestellung lohnt zunächst ein Rückblick auf die Wort- und Begriffsgeschichte
von „Individuum, Individualität"1. Wir lassen die ältere Geschichte dabei außer acht. Bis ins 17. Jahr-
hundert war es noch selbstverständlich gewesen, daß unter Individuum dem Wortsinn entsprechend et-
was verstanden wird, was getrennt von anderem für sich existiert und unteilbar ist2.

-- 125 --

1
Vgl. für einen Überblick die Beiträge s.v. Individuum, Individualität im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4,
Basel 1976, Sp. 300-323.
2
„L'individu est proprement un sujet séparé de tout autre et qui ne se peut diviser sans reste destruit“, heißt es im korrekt
scholastischen Sinne noch bei Francois de Caillieres, La logique des amans ou l'amour logicien, Paris 1668, S. 118.
Diese Kennzeichnung: daß etwas nicht zerlegt werden kann, ohne daß es dadurch in seinem Wesen
zerstört wird, trifft auf vielerlei Gegenstände zu, zum Beispiel auch auf Blumenvasen. Der Mensch
wurde deshalb als ein Fall von Individualität unter vielen anderen angesehen. Speziell seine Individua-
lität war durch die Einfachheit und Unteilbarkeit seiner Seele garantiert. Daran hing das Dogma von
der Unsterblichkeit der Seele, aber auch die Rechenschaftspflicht im Jüngsten Gericht. Daran wieder-
um hing die Reichweite des religiösen „Gesetzes“, und daran wiederum das binäre Schema von Liebe
und Furcht Gottes, von Himmel und Hölle. Offenbar stimmte die rein formale Behandlung des Be-
griffs mit einer noch unbe-zweifelten religiösen Weltsetzung zusammen, und über diesen Zusam-
menhang konnte eine philosophisch-theologische Dogmatik aufklären3.
Diese Fassung der Begriffsintention schloß es aus, da es ja um etwas Einfaches ging, bei der
Bestimmung der Individualität auf eine Angabe der Merkmale der Individuen zurückzugreifen. Dazu
war der Begriffssinn zu allgemein angesetzt. Erst recht konnte man nicht auf den Gedanken kommen,
die besonderen oder gar einzigartigen Merkmalskonstellationen für ausschlaggebend zu halten, die ein
Individuum im Vergleich zu anderen auszeichnen. Vielmehr war Individualität als Wesensnatur vor-
ausgesetzt. Wenn es um die Angabe der besonderen Merkmale eines Individuums ging, griff man des-
halb nicht auf seine Individualität, sondern auf seine Beziehungen zu anderen zurück, auf eine soziale
Konstellation: auf seine Familie und die Schichtlage seiner Familie, auf geographische Be-
stimmungen, auf Nationalität, auf court oder country, cour oder ville oder ähnliche Unterscheidungen,
auf Gefolgschaftszusammenhänge, Solidaritäten, Berufe. Auch heute ist dies als Charakterisierung
(und sogar als Selbstcharakterisierung) nicht ungewöhnlich; man lese nur Heiratsanzeigen in den vor-
nehmeren Blättern. Aber die Theorie hat inzwischen andere Denkvorschriften gesetzt: Wenn wir ein
Individuum in seiner Individualität charakterisieren wollen, charakterisieren wir es nicht durch seine
Beziehungen zu anderen, sondern durch seine Beziehung zu sich selbst und, da dies tautologisch ist,
durch seine auf Grund dieser Selbstbeziehung erworbenen Eigenschaften.
Auch diese Bestimmung des Menschen durch Selbstreferenz oder durch das Vermögen zur
Selbstreferenz hat Tradition - eine Tradition, die freilich nicht unter dem Begriffstitel „Individuum“
gelaufen ist, sondern eher institutionellen und praktischen Zusammenhängen entstammt. So hat die

-- 126 --

3
Daß diese religiös-dogmatische Anschlußfähigkeit von Ideengut zugleich ein Festlegen und Einfrieren der entsprechenden
Begriffe bedeuten konnte, ist oft und an vielen Begriffen gezeigt worden. Vgl. etwa Rainer Specht, Innovation und Folgelast:
Beispiele aus der neueren Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1972.
Klostertheologie seit dem 12. Jahrhundert, vor allem auf Grund von Anregungen durch Abaelard
(1079-1142), in Glaubensfragen und in ethischen Fragen Konsens des Menschen mit sich selbst gefor-
dert. Das hatte Konsequenzen, besonders für die Beichtpraxis, die ein Verhalten nur als beicht- und
bußbedürftig ansehen konnte, wenn es mit innerer Zustimmung abgelaufen war. Bald darauf wurde
auch in der Strafrechtslehre, vor allem in Italien, der moderne Schuldbegriff entwickelt. Zugleich wur-
de auf ein, wie immer zu erwirkendes, Geständnis als Beweismittel Wert gelegt. In der Semantik von
Vernunft und Denken waren selbstreferentielle Figuren schon in der Antike in Gebrauch gewesen. Sie
wurden im Hochmittelalter rezipiert und eher noch ausgedehnt auf alle mentalen Prozesse einschließ-
lich Wollen und Empfinden. Erst mit Descartes (1596-1650) kam diese Entwicklung zu einem Ab-
schluß, der zugleich ein Neubeginn war4. Sie wurde aber nicht unter dem Titel „Individuum“, sondern
unter dem Titel „Subjekt“ formuliert und dem in neuartiger Weise extranatural begriffenen Be-
wußtsein (mens) zugewiesen.
Wir sind heute an diese Begrifflichkeit gewöhnt. Man muß sich daher erst vor Augen führen,
wie unwahrscheinlich, wie extravagant, wie unbequem sie zunächst geklungen haben muß. Muß man
wirklich erst mit sich selbst ins Reine kommen, bevor man in der Welt handelt? Wer kann das verlan-
gen und wo kommt so etwas überhaupt vor? So gesehen ist es kein Wunder, daß dieser Gedanke in
hochspezialisierten Kontexten geboren wurde, nämlich in organisierten Sozialsystemen wie Kloster
und Gericht (die als Organisationen damals Ausnahme waren), im Bereich professioneller Praxis und
im Bereich von abweichendem Verhalten, und zwar als Kriterium der Einschränkung der Reaktion auf
(und der Verantwortlichkeit für) Fehlverhalten.
Erst allmählich macht sich dieser Grundgedanke von seinen sozialen Kontexten unabhängig
und wird mit Hilfe der Philosophie zu einer allgemeinen Theorie hochstilisiert. Im 18. Jahrhundert gibt
es bereits viele Anzeichen für ein neuartiges Individualitätsverständnis5. Erst um 1800 verschmelzen
aber Subjektivität und Individualität. Der Mensch wird als ein Wesen bestimmt, das sich selbst indivi-
dualisiert: als selbstbezügliches Subjekt, das sich selbsttätig so viel Welt als möglich aneignet und sich
dadurch selbst bestimmt. Schiller, von Humboldt und viele ihrer Zeitgenossen fordern, der Mensch
habe sich so zu bilden, daß er in der Lage sei, „soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er
nur kann, mit sich zu

-- 127 --

4
Speziell zu dieser Wende: Joseph de Finance S.J., Cogito Cartesien et Reflexion Thomiste, Archives de Philosophie 18
(1946), S. 137-321.
5
So vor allem in der von tradierten Themen sich ablösenden, für die Darstellung individueller Welt- und Lebenserfahrung
freigesetzten literarischen Gattung des Romans. Vgl. dazu Ian Watt, The Rise of the Novel: Studies in Defoe, Richardson and
Fielding, London 1957.
Verbinden“6. Diese Selbststeigerung wurde als das Allgemeine im Menschen identifiziert, als die Auf-
gabe, „sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ich zugleich zu sein“7.
Selbst Kater Murr fand sich zunächst durch diese „geistige Tiefe“ fasziniert, durchlebte jenen „Zu-
stand, der, auf seltsame Weise mein Ich meinem Ich entfremdend, doch mein eigentliches Ich zu sein
schien“, fraß dann aber gleichwohl den Heringskopf, den er eigentlich für wohltätige Zwecke verwen-
den wollte8. Entfremdung, Praxis, Heringskopf - Kater Murr konnte nicht wissen, was Marx alsbald
daraus machen würde.
Seitdem ist es mit dem „homme universel“, mit dem Menschen im Menschen, mit dem Allge-
meinen als Kriterium bergab gegangen - in der Philosophie und vor allem in der Literatur9. War es ein
zu kühner Gedanke gewesen, ausgerechnet das Individuelle als das Allgemeine anzusetzen (da
schließlich jeder, was immer er sonst ist, ein Individuum ist), um daraufhin das Allgemeine im Indivi-
duum wiederzufinden? Es war jedenfalls eine spezifisch deutsche Reaktion auf die französische Revo-
lution gewesen, die nicht einmal europäische, geschweige denn weltweite Anerkennung gefunden hat-
te10. Vorherrschend reagiert das 19. Jahrhundert denn auch durch Ideologie-Kritik. Dafür wird in den
20er Jahren das Wort „Individualismus“ erfunden11. Auf „Individualismus“ reagiert dann wieder die
neu geschaffene Disziplin der „Soziologie“ - und zwar mit dem Versuch, eine bloße ideologische und
politische Konfrontation von „Individualismus“ und „Sozialismus“ zu überwinden.

-- 128 --

6
Wilhelm von Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, zit. nach Werke, 2. Aufl., Bd. 1, Darmstadt 1969, S. 234-240
(235).
7
Novalis, Blütenstaub 28, zit. nach Schriften, Bd. 2, Jena 1907, S. 117.
8
So berichtet in: Lebensansichten des Katers Murr, zit. nach E.T.A. Hoffmanns Werke, Teil 9, Berlin-Leipzig o.J., S. 58.
9
Es fehlt nicht an Bemühungen, diesen Prozeß aufzuhaken oder gar umzukehren, um „Selbstverwirklichung“ nicht ins Belie-
bige auslaufen zu lassen. Vgl. neuestens Michael Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit: Zur Kritik des gegen-
wärtigen Bewußtseins, Berlin 1982.
10
Siehe hierzu etwa Louis Dumont, Religion, Politics and Society in the Individualistic Universe, Proceedings of the Royal
Anthropological Institute 1970, S. 31-41.
11
Zur Wort- und Begriffsgeschichte: Richard Koebner, Zur Begriffsbildung der Kulturgeschichte II: Zur Geschichte des Be-
griffs „Individualismus“, Historische Zeitschrift 149 (1934), S. 253-293; Stephen Lukes, Individualism, Oxford 1973. Bald
darauf reagiert man mit der Erfindung von „Sozialismus“, zunächst eingeführt als genauer Gegenbegriff. Vgl. dazu Gabriel
Deville, Origine des mots „socialisme“ et „socialiste“ et certains autres, La Revolution Franchise 54 (1906), S. 385-401. Bei-
de Wortbildungen bezeichnen also politische und intellektuelle Trends in der öffentlichen Meinung; sie erfolgen reaktiv, und
sie reagieren im weiteren Verlauf dann wechselseitig aufeinander.
II.

Die um 1900 wirkende Soziologengeneration fand auf die damit gestellten Fragen eine Antwort, die
ihr für die weitere Entwicklung des Fachs den Status von Gründungsvätern oder Klassikern sicherte.
Sie ist vor allem durch Durkheim ausformuliert worden12.
Die klassische Theorie ist von zwei Prämissen her gearbeitet, die in ihr nicht reflektiert wer-
den, aber ihre Konturen und Begriffsentscheidungen bestimmen. Sie reagiert als soziologische Theorie
nicht auf Individuen, sondern auf „Individualismus“. Ihr Startsignal ist ideologisch vorpräpariert. Daß
der politisch inspirierte „Individualismus“ als eine Idee oder Ideologie die Individualität des Einzelnen
verschüttet und insofern eher ein gut getarnter Kollektivismus ist, hatte man bereits unmittelbar nach
der Erfindung jenes Begriffs erkannt; aber das allein hatte nicht ausgereicht, um die Kontraststellung
von Individuum und Gesellschaft zu überwinden13. Erst Durkheim nutzt die Differenz von Individua-
lismus und Individuum, um die Kontrastierung von Individuum und Gesellschaft zu sprengen. Ferner
argumentiert die Soziologie gern mit einer im 19. Jahrhundert entwickelten Umkehrsophistik; mit ei-
nem „Schluß von dem Ideal auf den, der es nötig hat“. Auch darin bleibt sie von Mentalitäten abhän-
gig, die sich im 19. Jahrhundert ausgebildet hatten - vor allem von der semantischen Technik, Erkennt-
nis über „inkongruente Perspektiven“ zu entwickeln und als Entlarvung angesehener Formen des Den-
kens zu präsentieren14. In diesem Sinn kehrt Durkheim die übliche und gewissermaßen natürliche Ver-
sion des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft um, und diese Merkwürdigkeit überbietet
nochmals die an sich schon gewagte Konstruktion des sich selbst konstituierenden Individuums: Nicht
die Individuen begründen die Gesellschaft, indem sie sich zum Zusammenleben entschließen und
einen entsprechenden Vertrag schließen, sondern die Gesellschaft begründet die Individuen, indem sie
es ihnen ermöglicht, sich

-- 129 --

12
Ein Vergleich des Durkheimschen Theorienangebotes mit dem von Max Weber oder dem von Georg Simmel ist sehr
schwierig und kann hier nicht einmal andeutungsweise skizziert werden. Eine hinreichend differenzierte Darstellung findet
man bei Roland Robertson, Aspects of Identity and Authority in Sociological Theory, in: Roland Robertson/ Burkart Holzner
(Hg.), Identity and Authority, Oxford 1980, S. 218-265. Die Unterschiede haben ihre Wurzeln nicht zuletzt in den Unter-
schieden der deutschen (geistesphilosophischen) und der westeuropäischen (eher utilitaristischen) Semantik von Subjektivität
und Individualität, die von Soziologen gemeinsam abgewiesen, aber eben unterschiedlich abgewiesen werden mußte.
13
Siehe hierzu Alexandre Vinet, Individualite, Individualisme, Semeur 13.4.1836, zit. nach ders., Philosophie morale et
sociale, Bd. 1, Lausanne-Paris 1913, S. 319-335. Vinets Ausweg ist eine religiöse Kritik politischer Institutionen.
14
Vgl. dazu Kenneth Burke, Permanence and Change, New York 1935.
als Individuen zu behandeln, Verträge zu schließen, sich wechselseitig zu binden, verantwortlich zu
machen, zu sanktionieren15.
Dies bedeutet insbesondere - und den Theoriegewinn kann man dann erkennen, welche Aussa-
gen nun angeschlossen werden können -, daß zwischen Individuum und Gesellschaft kein Summen-
konstanzverhältnis unterstellt werden darf, in dem sich dann Individualismus und Sozialismus um die
Anteile streiten können. Es gilt nicht länger, daß die Individuen Freiheiten und Rechte nur auf Kosten
der Gesellschaft fordern können und umgekehrt jede Ordnung auf Kosten der Individuen geht. Viel-
mehr lassen sich Steigerungsverhältnisse denken, bei denen mehr individuelle Freiheit und Selbstver-
wirklichung und zugleich mehr gesellschaftliche Ordnung möglich werden. Durkheim denkt an den
starken, durchsetzungsfähigen, Freiheiten garantierenden Staat. Steigerung auf beiden Seiten scheint
sich sogar wechselseitig zu ermöglichen. Damit steht die Soziologie aber vor der Frage, unter welchen
Bedingungen ein solcher Steigerungszusammenhang gilt. Sie setzt die für sie typische Problemstel-
lungs- und Forschungstechnik ein, indem sie nach der Konditionierung von Zusammenhängen zwi-
schen Variablen fragt.
Die Antwort wird mit dem Konzept der gesellschaftlichen Differenzierung gegeben (bei Durk-
heim noch: Teilung der sozialen Arbeit). Begriff und Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung
rücken dadurch ins Zentrum der soziologischen Theorieentwicklung und legen hier viel Problembe-
wußtsein des 19. Jahrhunderts und empirische Forschungsmöglichkeiten gleichsam als Mitgift ab.
Man geht davon aus, daß die Gesellschaft im Laufe ihrer historischen Entwicklung komplexer werde
und daß dies in zunehmender Differenzierung Ausdruck finde. Dafür gibt es in der Tat reiche Belege,
besonders in der vom Hochmittelalter kontinuierlich in die Neuzeit übergehenden Entwicklung Euro-
pas. Die Trennung von Familienleben und ökonomischer Produktion im Zusammenhang mit Industria-
lisierung; die Trennung von politischer Lenkung und ökonomischer Kapitalbildung im Zusammen-
hang mit der Demokratisierung des politischen Systems; die Trennung von Religionspflege und Erzie-
hung im Zusammenhang mit dem Aufbau kommunaler und staatlicher Schulsysteme und der Verzicht
auf eine religiöse Legitimation politischer Systeme beim Übergang auf eine demokratische Selbstlegi-
timation - das sind nur einige besonders markante und folgenreiche Beispiele. Aus solchen gesell-
schaftlichen Systemdifferenzierungen hat sich nach und nach ein höheres Maß an Rol-

-- 130 --

15
Der grundlegende Text ist: Emile Durkheim, De la division du travail, Paris 1893, dt. Übers. Über die Teilung der sozialen
Arbeit, Frankfurt 1977. Vgl. auch aus dem Nachlaß: Emile Durkheim, Leçons de Sociologe: Physique des moeurs et du droit,
Paris 1950, insb. S. 68ff. Für die ideenpolitische Situation siehe auch: Emile Durkheim, L'individualisme et les intellectuels,
Revue Bleue, Série 4, 10 (1898). S. 7-13.
lendifferenzierung ergeben und zugleich eine allmähliche Auflösung der schichtmäßigen Festlegung
von Rollen. Der Einzelne kann seine „Identität“ (so formuliert man seit dem 18. Jahrhundert16) nicht
mehr aus der Angabe seines Geburtstandes gewinnen, er muß sie erwerben 17. Nicht zufällig sind es
„Utilitaristen“, die so formulieren. Das geschieht nach neueren soziologischen Vorstellungen teils im
Kombinieren verschiedener Rollen, die nur im Individuum in einer bestimmten Konstellation zusam-
mentreffen, teils in der Form von Lebenskarrieren, in denen Rollen zugänglich werden je nach dem,
welche man zuvor innegehabt hat. Die Umsetzung der gesellschaftlichen Systemdifferenzierung in ein
sachlich und zeitlich je einmaliges Rollenmanagement - das ist der Mechanismus, der nach so-
ziologischer Vorstellung die Individualisierung der Personen erzwingt. Auch sozialgeschichtliche For-
schungen stützen die These, daß erst im 18. Jahrhundert die Individualitätsperzeption modernes For-
mat gewinnt18.
Diese gut gesicherte sozialstrukturelle Analyse ermöglicht eine wissenssoziologische Behand-
lung der Semantik von „Individuum/Individualität/ Individualismus“. Man sieht von der Gesell-
schaftsstruktur her schon, wie das Individuum aufgefordert ist, sich als Individuum zu verstehen und
sein Rollenmanagement und seine Karriere selbst zu verantworten. Wir werden noch fragen müssen,
ob damit nicht zu viel verlangt ist. Zunächst aber fasziniert der theoretische Ertrag: Man kann so die in
sich unwahrscheinliche, merkwürdige, riskierte Semantik der Individualität erklären. Durch die Kom-
plexierung der Gesellschaftsstruktur und durch die sachliche und zeitliche Differenzierung der Rollen
ist der Punkt gesetzt, an dem das Individuum erscheinen muß19; vielleicht muß man sogar sagen:

-- 131 --

16
Für einen Überblick vgl. Jean A. Perkins, The Concept of the Seif in the French Enlightenment, Genf 1969.
17
„Une acquisition“, heißt es bei Helvetius (zit. bei Perkins, a.a.O., S. 66). Nicht zufällig sind es „Utilitaristen“, die so formu-
lieren. Daneben gibt es die genau umgekehrte These, die mit Geniekult und Ähnlichem einhergeht: „Born Originals, how co-
mes it to pass that we die copies“ (Edward Young, Conjectures on Original Composition, zuerst 1759, zit. nach The Comple-
te Works, London 1854, Nachdruck Hildesheim 1968, Bd. II, S. 547-586), - später auch in deutscher und französischer Lite-
ratur oft zitiert und mit zivilisationskritischen Überlegungen, teils rousseauistischer, teils religiöser Typik verknüpft.
18
Hierfür nur einen Hinweis: die früher häufige Mehrfachverwendung desselben Namens für Geschwister. Vgl. Lawrence
Stone, The Family, Sex and Marriage in England 1500-1800, London 1977, S. 70, 408ff.
19
Daß für diesen Auftritt längst vorher geprobt worden ist, ist eine auch sonst verbreitete Erscheinung in der Ideenevolution:
„Ideas tend to surface before corresponding actualities become widespread“ (so Sidney Ditzion, Marriage, Morals and Sex in
America: A History of Ideas, 2. Aufl., New York 1969, S. 428).
für sich selbst zum Problem, werden muß20. Die allgemeinste Anforderung an den Menschen ist: eine
solche Sozialordnung aushalten zu können (und nicht, wie früher: in der Natur zu überleben). Dafür
muß der Mensch individualisiert werden, damit er der jeweiligen Konstellation, in der er sich findet,
ihren Reibungen, Konflikten, wechselnden Anforderungen und Anschlußmöglichkeiten gerecht wer-
den kann; er muß eine Identität finden und deklarieren, damit sein Verhalten in dieser nur für ihn gel-
tenden Konstellation an Hand seiner individuellen Person für andere wieder erwartbar gemacht wer-
den kann.

III.

Nimmt man diesen Erklärungsansatz ernst, gewinnt er vor allem in seiner wissenssoziologischen An-
wendung eine größere Tragweite, als man gemeinhin sieht. Die soziologische Umkehrung betrifft
nicht nur das Begründungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft; sie muß sich dann auch in den
Werten und Ideologien der Individualität spiegeln. Die Wunschliste der Individualität: Selbstbestim-
mung, Autonomie, Emanzipation, Selbstverwirklichung, rückt dann in ein anderes Licht. Sie wird den
Individuen so vorgelegt, als ob sie deren eigene, deren innerste Hoffnungen enthielte. Geht man vom
sozialstrukturellen Wandel aus, sieht man dagegen, daß das Individuum sich immer schon in einer Po-
sition findet, in der es Individuum zu sein hat. Die Notwendigkeit der Selbstbestimmung fällt dem
Einzelnen als Korrelat einer gesellschaftlichen Entwicklung zu. Er wird in die Autonomie entlassen
wie die Bauern mit den preußischen Reformen: ob er will oder nicht. Und selbst wenn er fragen wür-
de: wie soll ich damit fertig werden, würde man ihn auf den kulturellen Imperativ verweisen, der da
sagt: das mußt Du selbst wissen. Traum und Trauma der Freiheit gehen unversehens ineinander über.
Kein Wunder, daß man nachher die Gesellschaft anklagt, sie habe nicht genügend vorgesorgt. So ließe
sich, aber das geht weit über die klassische Soziologie hinaus, gut erklären, daß der Einzelne auf
Grund der gesellschaftlichen Entwicklung eine hohe, unstrukturierte Reflexionslast zugewiesen be-
kommt. An der Ideengeschichte von „Individuum/Subjekt“ hatten wir das schon abgelesen. Er muß
das Allgemeinste, was jeder ist, für sich respezifizieren. Er muß selbst bestimmen, wer er ist. Er muß
anderen eine auf seine individuelle, einzigartige Person bezogene Erwartbarkeit garantieren; er darf al-
so nicht so sein wie die anderen. Seine Individualität ist nichts anderes als diese Notwendigkeit der
personalen Respezifikation.

-- 132 --

20 Vgl. dazu Jan Hendrik van den Berg, Divided Existence and Complex Society: An Historical Approach, Pittsburgh 1974.
Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts gestartete Semantik der Individualität hat diese Befreiung zur
Selbstbestimmung mitvollzogen und bedenkenlos gefeiert. Sie hat sich guten Gewissens bemüht, das,
was schon passiert war, herbeizuführen und auf die weniger Privilegierten auszudehnen - vor allem
durch Erziehung. Die Glückserwartung war so stark, daß sie Traditionen geformt hat, die immer wie-
der aufleben - so gerade in den letzten beiden Jahrzehnten wieder eine politische Soziologie und Päd-
agogik der Emanzipation. Die noch nicht realisierten Freiheitsversprechungen der bürgerlichen Revo-
lution werden immer wieder eingeklagt, ohne daß man fragt, wie das Individuum mit der Reflexions-
last der Selbstbestimmung zurechtkommt. Traum, Trauma, Traumatik der Emanzipation bleiben uns
so erhalten, da ja auch die gesellschaftliche Differenzierung erhalten bleibt, der sie sich verdanken.
Nur fehlt immer noch die Einsicht in eben diesen Zusammenhang.
Dabei sind gegenteilige Erfahrungen genau registriert und liegen leicht zugänglich vor, vor al-
lem im Roman und in der Autobiographie21. Schon die Zeitgenossen des Deutschen Idealismus wissen,
wie man's tatsächlich macht: Man copiert andere! In sich selbst findet man nicht den Gegenhalt, den
man brauchte, um sich selbst bestimmen zu können. Über Unnennbares, Unformulierbares, über die
Inkommunikabilität der Icherfahrung hatte schon das 18. Jahrhundert viel zu sagen; jetzt kommt die
Erfahrung der Bodenlosigkeit der Reflexion hinzu. Die Reflexion gibt nur Kontingenz, gibt nur die
Möglichkeit, anders zu sein, stimuliert Wünsche, Reue, Zweifel, Lüge, Resignation. Und wenn die Er-
fahrung des Anderssein-Könnens die letzte Selbsterfahrung, ja vielleicht die Bedingung der Möglich-
keit von Bewußtheit überhaupt ist, heißt das dann nicht immer: ein anderer sein zu können wie ein an-
derer?
Der homme-copie22 wird zur literarischen Figur, der dandy wird ge-

-- 133 --

21
Aus einer Vielzahl literaturwissenschaftlicher Behandlungen vgl. etwa Rene Girard, Mensonge romantique et vérité roma-
nesque, Paris 1961; Henry Peyre, Literature and Sincerity, New Haven 1963; Lionel Trilling, Sincerity and Authenticity,
Cambridge Mass. 1972.
22
Die Formulierung stammt von Stendhal. Vgl. De l'amour (1822), zit. nach der Ausgabe Paris 1959, S. 276. Sie ist zu ver-
stehen vor dem Hintergrund der Differenz von „originaler“ Imitation der Natur und bloßem Copieren von Autoren, die Ed-
ward Young in einem viel beachteten Essay formuliert hatte (Conjectures on Original Composition, 1759, a.a.O.). Diese Dif-
ferenz, die ihrerseits ein Interesse an Individualität durchblicken läßt, soll das Individuum sozusagen vom Copieren abhalten
und ihm ein originales Verhältnis zur Natur (nicht zuletzt: seiner eigenen) nahelegen. Auch bei Stendhal hat der „homme-co-
pie“ daher noch nicht die ausweglose existentielle Radikalität späterer Romane. Die Beobachtung, daß Menschen eine bloß
angelesene Existenz führen, ist sehr viel älter und mindestens seit Cervantes' Don Quijote verfügbar; aber sie gilt zunächst als
vermeidbar. Countess Dowager of Carlisle warnt zum Beispiel die jungen
schaffen, die vom Schneider bezogene Seinsgeltung, das uniformierte Nichts, die auf Lebenslügen ge-
baute Existenz - all das wird doppelgesichtig dargestellt: einerseits als verächtliche Entgleisung und
andererseits als Lebensnotwendigkeit. Und der Roman ist genau dafür die Form, die von diesem unbe-
quemen Wissen befreit.
Daneben hält der Roman des 19. Jahrhunderts (aber die Figuren sind fast alle schon im 18.
Jahrhundert erfunden worden) Fluchtwege offen: den Weg in die „freie Liebe“ und den Untergang,
den Weg in die Gosse, den Weg ins Verbrechen und den Weg in den Erfolg, den man haben kann,
wenn man das Spiel durchschaut und mitspielt. Auch dies sind Reflexionsfiguren und zugleich Aus-
wege aus der Reflexion. Sich in der Gewalt zu behaupten heißt zugleich: sich Reflexion zu ersparen.
Für Jean Genet z.B. ist der Ort dafür, das Gefängnis, zugleich der Ort der Erlösung.
Es ist unverzeihlich: Die Soziologie hat eine ganze Welt nicht gesehen. Ihr ist dann auch mit
eifrigem Lesen und Kommentieren der Klassiker nicht zu helfen. Unbestritten bleibt der Erkenntnisge-
winn. Er läßt sich heute, abgeschliffen durch häufige Wiederholung und Reformulierung, festhalten
als Einsicht in den Zusammenhang von Differenzierung, Generalisierung und Individualisierung23.
Dabei kommt Individualität aber nur als Variable in Betracht. Ein spezifisch soziologischer Begriff
des Individuums ist nicht entwickelt worden24. Sicher hat dabei die Befürchtung eine Rolle gespielt, in
den Kompetenzbereich der Psychologie eingreifen zu müssen, wenn man Forschungen über das Indi-
viduum selbst aufnimmt25. Gerade weil eine reich dokumentierte psychologische Forschung existiert,
rechnet man damit, nur noch Psychisches zu sehen, wenn man die Innenbeleuchtung des Individuums
einschaltet. Sicher ist hier Vorsicht am Platze. Vorsicht kann aber auch Lernbereitschaft heißen, und
vor allem darf sie nicht

-- 134 --

Damen: „An excessive love of romance will make you expect to lead the life of one” (Thoughts in the Form of Maxims Ad-
dressed to Young Ladies on Their First Establishment in the World, London 1789, S. 102). Erst wenn Selbstbestimmung
durch Reflexion zum Individualitätsprogramm und zur Lebensvorschrift geworden ist, kann man die Erfahrung machen, daß
man dann eine copierte Existenz führen muß.
23
Oder etwas ausführlicher: strukturelle Differenzierung, symbolische Generalisierung und individuelle Respezifikation nach
universalistischen Kriterien. Vgl. etwa Talcott Parsons, Durkheim's Contribution to the Theory of Integration of Social Sys-
tems, in: ders., Sociological Theory and Modern Society, New York 1967, S. 3-34.
24
Weder in der International Encyclopedia of the Social Sciences (1968) noch im Lexikon zur Soziologie (2. Aufl. 1978) fin-
det sich ein Eintrag unter diesem Stichwort. Im Lexikon zur Soziologie nur „Individuation“ als Gegenbegriff zu „So-
zialisation“.
25
Zu den Problemen und den Forschungsdefiziten, die aus dieser Grenzziehung für beide Seiten resultieren, vgl. Ray Hol-
land, Seif and Social Context, New York 1977.
dazu führen, auf theoretisch abstrahierte Begrifflichkeit vorschnell zu verzichten.

IV.

Wenn man eine Theorie hat wie die klassische Soziologie, die Individualität nur als steigerbare Quali-
tät in Betracht zieht, kommt man nicht auf die Folgeprobleme, die mehr Individualität im Individuum
auslösen. Genau dies sind aber die Probleme, die in der dafür sensiblen Literatur schon lange regis-
triert sind. Daß „Selbstverwirklichung“ über Reflexion erreicht werden könnte, wird man danach nicht
mehr unterstellen dürfen. Wenn das aber abgeschrieben werden muß, muß das Individualitätspro-
gramm neu besetzt werden. Faktisch bildet sich Individualität denn auch nicht auf der Suche nach dem
Ich des Ich in den Seeleninnenräumen. Die Reflexion stößt nicht auf Identität, sondern auf Differenz.
Das Letzte, was für sie erreichbar ist, sind Ansprüche, die sich an der Differenz von Selbstsystem und
Umwelt formieren und so die Informationsverarbeitung steuern. In der Identitätsreflexion kann das In-
dividuum sich letztlich nur noch als Differenz zu sich selbst fassen im Sinne einer Selbsterfahrung, die
sich sagt: ich bin, der ich bin, oder ebensogut: ich bin, der ich nicht bin. Als Anspruch überwindet das
Individuum diese (positive bzw. negative) Tautologie und ist so erst in der Lage, Informationen zu ge-
winnen und zu verarbeiten. Im Geltendmachen eines Anspruchs orientiert es sich an einer Differenz
zwischen dem, was momentan besteht, und dem, was sein soll, hergestellt werden soll, erreicht werden
soll; und es kann sich dann mit seinem Ansprach identifizieren. Dies darf nicht zu oberflächlich und
schon gar nicht allein im Sinne von materiellen Ansprüchen verstanden werden. In der Form von An-
sprüchen kann die Differenz von Selbstsystem und Umwelt in das System selbst eingebaut und seman-
tisch operationalisiert werden. Das Individuum ist dann nicht nur ein System für sich; es kann als Dif-
ferenz zu seiner Umwelt nicht nur von außen, sondern auch von innen beobachtet werden. In der Form
des Anspruchs wird die System/Umwelt-Differenz für das System selbst zugänglich, erfahrbar, aus-
wertbar, und das setzt keineswegs eine besondere Originalität der Ansprüche voraus. Anders als die
Reflexionsidentität erleiden Ansprüche keine Funktionsminderung, wenn sie copiert werden. Sie las-
sen sich nach Schablonen anfertigen - und führen im Resultat dann doch zu Erfahrungssequenzen und
damit zu Strukturen, die das einzelne System als Individuum auszeichnen26.

-- 135 --

26
Dies hängt damit zusammen, daß im Falle von Fremdbeobachtung Beobachter (mehr oder weniger) austauschbar sind,
nicht dagegen im Falle von „Selbstbe-
Insofern wird Individualität selbst nur als Anspruch existent, nur als Anspruch kommunizierbar. Hier-
für gibt es semantische Vorlagen und Modelle der verschiedensten Art. Eine ganz neuartige Version
ist z.B. der Anspruch, zu sein und zu werden, was einem gefällt27. Die Negativfassung dieser Form ist
der Anspruch, anerkannt zu bekommen, daß man seine Identität verloren hat bzw. nicht finden kann 28.
Wie immer ausformuliert: Der Anspruch Individuum zu sein, ist nicht jene differentia individualis der
Scholastik, nicht einfach die Festlegung der Diesheit des Individuums durch einen Unterschied zu al-
lem anderen. Er ist der Anspruch auf Ansprüche, ist ein Ansprüche generierendes Prinzip, mit dem
man Informationen gewinnen, die Welt testen und sich dabei zugleich selbst bestimmen kann.
Lassen wir die Extremformen der beliebigen Selbstberechtigung und der Selbstnegation ein-
mal beiseite, denn sie dienen nur dazu, zu verdeutlichen, um was es geht. Entscheidend ist, daß der
Bezugspunkt der Reflexion von Identität auf Differenz umgestellt werden muß; daß Reflexion also
Systeme voraussetzt, die sich selbst als Differenz von System und Umwelt beobachten und beschrei-
ben können; und daß die sozialstrukturelle und die semantische Individualisierung dieser Selbstbe-
schreibung die Form eines Anspruchs gibt. Zum modernen Selbsterfahrungsbestand gehört nun ein-
mal, daß die nach innen gerichtete Reflexion nie festen Boden gewinnt; daß alle Versuche, das Unbe-
wußte bewußt zu machen, nur neue Nebelschwaden aufsteigen lassen; daß aufrichtiger und unaufrich-
tiger Umgang mit sich selbst konvergieren; daß die Suche nach Gründen nur dahin führt, daß man sich
als copierte Existenz entdeckt. Wenn dies so ist, wird man von psychoanalytischer Aufklärung, von
sensitivity Weekends, von Selbstentlarvungs- und Problemfindungsgruppen und entsprechenden The-
rapeutiken nicht viel erwarten können. Es ist jedenfalls einfacher, sich an Ansprüche zu halten, sie als
Bereitschaftstests zu benutzen und damit Erfahrungen zu machen. Von hier aus wird auch die verbrei-
tete Klage über Sinnverlust, Sinnlosigkeit, Kulturerosion in der modernen Gesellschaft verständlich.
Damit soll natürlich nicht behauptet werden, daß

-- 136 --

obachtung“. Daher individualisiert Selbstbeobachtung quasi automatisch, wenn sie nur in Gang gebracht werden kann. Dies
Argument für systemtheoretisch begriffene „Objekte“ schlechthin bei Ranulph Glanville, The Same is Different, in: Milan
Zeleny (Hg.), Autopoiesis: A Theory of Living Organization, New York 1981, S. 252-262.
27
Vom „new right to be what one pleases” spricht Orrin Klapp, Collective Search for Identity, New York 1969, S. X.
28
„A very common malady“, meinte dazu der Arzt von Edward Chamberlayne und lehnte mit dieser Begründung den An-
spruch ab, deswegen in ein Sanatorium eingewiesen und geheilt zu werden. (T.S. Eliot, The Cocktail Party). In der Tat: Indi-
vidualität ist auch hier noch das Allgemeine und deshalb keine heilbare Krankheit.
die Angaben in den Telefonbüchern nicht mehr stimmen. Sinnlos ist die Welt, sofern sie für mich
nichts bedeutet, was ich zur Selbstfindung verwenden könnte. Dieser Anspruch aber ist neu. Früher
hätte man so nicht gefragt, so gar nicht erwartet. Sinnverlustklagen sind mithin ein Symptom für neu-
artige Anspruchshaltungen. Sie belegen, daß man sich nur noch über Ansprüche auf die Welt beziehen
kann - und daran zu scheitern fürchtet. Die Komplikationen sozialer Situationen kommen hinzu. In so-
zialen Situationen ist jeder sowohl mit eigenen als auch mit fremden Ansprüchen konfrontiert. Die
Identifikation kann dann immer noch positiv und negativ erfolgen. Man kann sich Ansprüchen anderer
entziehen. Man kann eigene Ansprüche an andere aufstellen, ausprobieren, durchzusetzen versuchen.
Jeder kann seine Ansprüche begründen, jeder mag aber auch den Anspruch haben, mit Ansprüchen an-
derer und dem Schwall ihrer Begründungen nicht konfrontiert zu werden. Man mag über Generalisier-
barkeiten und über fairness der Ansprüche diskutieren (wenn man sich vorher ausgesucht hat mit
wem) oder sich auf den Anspruch zurückziehen, keinen Ansprüchen ausgesetzt zu werden. Ob der ka-
tegorische Imperativ praktikabel und die Ansprüche deckende Vernunft vernünftig ist, mag man be-
zweifeln. Dann bleibt aber immer noch der Anspruch auf Anerkennung als Anspruchsabweisungsin-
stanz. In jedem Falle, auch in diesem der Verweigerung, bestimmt die Anspruchsindividualität sich
nicht als Identität, sondern durch Differenz.
Ein daran stabilisiertes Individuum setzt sich zwar den Wechselbädern von aggressivem
Durchsetzenwollen und Resignation aus. Es täuscht sich über Aussichten, mal über zu gute, mal über
zu schlechte, und vergrößert dadurch die Differenz, durch die es sich informiert; und es folgt mit all
dem offenbar getreulich den politischen und den ökonomischen Konjunkturen. Aber es kann sich da-
mit wenigstens von Identitätsreflexion entlasten. Ansprüche kann man haben, annehmen, verweigern,
ohne zu wissen, wer man ist. Man ist Individuum ganz einfach als der Anspruch, es zu sein. Und das
reicht aus29.
Statt in höhere Abstraktionslagen abzutreiben (was bei Themen wie Identität und Differenz
durchaus möglich und nötig wäre), kehren wir nunmehr zur Gesellschaftstheorie zurück. Wir fragen
zunächst: Was gewinnt die Soziologie, wenn sie, über ihre Klassiker hinausgehend, die Re-
flexionsprobleme der Individuen einbezieht und die bloße Steigerungsvariable der Individualität er-
setzt durch die Differenz von Identität und Differenz? Und eingeschränkter gefragt: Was gewinnt man,
wenn man zu-

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29
Dies wird man bestreiten. Aber hatte nicht auch Kant sich damit begnügen müssen, sich auf die pure Faktizität des Bewußt-
seins als auf einen für das Bewußtsein interpretierbaren Sachverhalt zu berufen?
sätzlich die These einführt, daß die das Individuum und seine Selbstbestimmung leitende Differenz
über Ansprüche operationalisiert wird?
Vor allem wachsen damit die Ansprüche an das Artikulationsvermögen der Gesellschaftstheo-
rie. Will man Gesellschaft und Individuum auf diesem Theorieniveau aufeinander beziehen, kommt
man nicht mehr damit aus, die Gesellschaft durch Arbeitsteilung oder Rollendifferenzierung zu cha-
rakterisieren; und erst recht reicht es nicht, die Entwicklung der Gesellschaft als Zunahme ihrer Diffe-
renzierung zu beschreiben30. Ein Nachzeichnen der Verzahnung von Individualitätsgenese und gesell-
schaftstruktureller Evolution fordert auch der Gesellschaftstheorie eine stärker durchgearbeitete Be-
grifflichkeit ab. Wir wollen dies unter drei Stichworten wenigstens kurz andeuten. Wir nennen sie
Komplexität, Inklusion und Wohlfahrt.
Die moderne Gesellschaft ist durch Umstellung auf funktionale Differenzierung31 so komplex
geworden, daß sie in sich selbst nicht mehr als Einheit repräsentiert werden kann. Sie hat weder eine
Spitze, noch eine Mitte; sie hat nirgendwo einen Ort, an dem ihre Einheit zum Ausdruck kommen
kann. Sie artikuliert ihre Einheit weder über eine Rangordnung der Schichten, noch über eine Herr-
schaftsordnung, noch über eine Lebensform (zum Beispiel die städtisch-politische der Griechen oder
die Tugendfreundschaft der Stoiker), in der das Wesen des Menschen Gestalt gewinnt. Daran scheitern
letztlich wohl alle Versuche, in einer „kollektiven Identität“ Anhaltspunkte für individuelle Identitäts-
bildung zu gewinnen - so sehr dies von den verschiedensten Autoren immer wieder als erwünscht be-
zeichnet, ja als einzige vernünftige Möglichkeit gesehen wird32. Statt dessen bietet sich die Möglich-
keit an, die Einheit der Gesellschaft nur noch in ihrer Komplexität zu erleben. Dem entspricht die Ver-
gewisserungstechnik der Ansprüche. Sie setzt nicht voraus, daß man die Gesellschaft kennt und weiß,
was sie zu bieten hat; und sie setzt nicht voraus, daß man sich selbst kennt. Ansprüche können zum
Sondieren in unbekanntem Terrain benutzt werden, und an den Resultaten, an Erfüllungen und Enttäu-
schungen,

-- 138 --

30
Nur am Rande sei festgehalten, daß hiergegen auch überzeugende empirische Argumente vorgebracht worden sind. Vgl.
nur Charles Tilly, Clio and Minerva, in: John C. McKinney / Edward A. Tiryakian (Hg.), Theoretical Sociology: Per-specti-
ves and Developments, New York 1970, S. 433-466, sowie später Forschungen Tillys über Protoindustrialisierung und Rea-
grarisierung des Landes.
31
Hierzu ausführlicher Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 1, Frankfurt 1980, S. 9ff.; ders., The Diffe-
rentiation of Society, New York 1982, S. 229ff.
32
Dabei werden immer wieder Vermittlungen bemüht, die teils als Autorität (Herrschaft), teils als Diskurs (Kommunikation)
ausgewiesen werden. Vgl. hierzu Roland Robertson / Burkart Holzner, Identity and Authority, Oxford 1980: Jürgen Haber-
mas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: Jürgen Habermas / Dieter Henrich, Zwei Re-
den, Frankfurt 1974.
formt sich dann die Person und ihr Gesellschaftsbild. Komplexität ist für das Individuum nur die In-
formation darüber, daß ihm die Information fehlt, die nötig wäre, um das Ganze zu begreifen33. Neuere
systemtheoretische Analysen betonen, daß diese Bedingung einer unbegreiflich komplexen Umwelt
den Systemaufbau keineswegs ausschließt, man muß nur die Formen der „Morphogenese“, der Struk-
turbildung, der Selbstreproduktion darauf einstellen. Damit ist auch gesagt, daß die Formen, die als
Resultat herauskommen, durch die Art der Informationsgewinnung nicht determiniert sind. Wenn An-
sprüche als Sondierungstechnik benutzt werden, hat das sicher Auswirkungen, bedeutet aber nicht, daß
nun ein habgieriges, „anspruchsvolles“ bzw. ein resignierendes Individuum entsteht. Eine weitere Fol-
ge funktionaler Differenzierung ist: daß Individuen sich nicht mehr durch soziale Positionen definieren
können, in die hinein sie geboren sind. Sie gehören nicht mehr einem der Teilsysteme der Gesellschaft
an, sie müssen Zugang zu allen Funktionssystemen gewinnen, um anspruchsgemäß leben zu können.
Die gesellschaftliche Inklusion muß daher neu geregelt werden. Das geschieht unter Sozialnormen wie
Freiheit und Gleichheit, die die Person nicht mehr bestimmen, vielmehr gerade symbolisieren, daß
dies dem Einzelnen selbst überlassen bleibt. Seit etwa 1800 ist die Situation klar, und sie betrifft so-
wohl Betreuung durch die Funktionssysteme als auch Mitwirkung in ihnen, sowohl passive als auch
aktive Beziehungen. Jedermann ist rechtsfähig, jeder hat Anspruch auf Behandlung im Krankheitsfal-
le. Jeder muß zur Schule gehen, jeder ist durch politische Entscheidungen betroffen und entsprechend
befugt, an ihnen mitzuwirken. Jeder ist geldannahme- und geldausgabefähig und nimmt so an der
Wirtschaft teil. In all diesen Hinsichten sind Chancengleichheit und Freiheit der Auswahl unzulänglich
realisiert. Wenn darüber geklagt wird, wird aber übersehen, daß die Realisierung solcher Ansprüche
die Selbstfindung des Einzelnen nicht erleichtern, sondern erschweren würde. Mit den Werten Gleich-
heit und Freiheit ist im Grunde nur die Anspruchshaftigkeit seiner Selbstbestimmung nochmals sym-
bolisiert - und zugleich ein Funktionserfordernis der Funktionssysteme selbst als Prinzip formuliert.
Man kann vermuten, daß bei einer solchen Verzahnung von funktionaler Differenzierung und
anspruchshafter Selbstbestimmung die Strukturmuster der Gesellschaft zugleich selektiv wirken auf
das, was tatsächlich als Anspruch erfahren und realisiert oder enttäuscht wird. Die Form ist allgemein-
typisch, und auch die Kanalisierung der konkreten Ausprägung

-- 139 --

33
Dieser informationstheoretische, subjektive Komplexitätsbegriff wird auch in der systemtheoretischen und kybernetischen
Literatur viel verwendet. Vgl. z.B. Jean-Pierre Dupuy, Autonomie de l'homme et stabilité de la société, Economie appliquée
30 (1977), S. 85-111.
von „normalen“ Anspruchslagen kommt nicht aus dem Individuum selbst. Durch die Funktionssyste-
me und ihre Bürokratien werden laufend Schablonen geliefert, nach denen die Ansprüche gefertigt
werden34. Erst auf dieser Ebene der Konkretisierung, erst bei der Definition dessen, was denn nun ei-
gentlich „gutes Leben“ (im Sinne der aristotelischen Tradition) oder Wohlfahrt im Sinne des moder-
nen Eudämonismus (Max Weber) ist, erst hier kann eine Kritik der Gesellschaft, ihrer Institutionen,
ihrer Organisationen sinnvoll einrasten.
Es mag derzeit einen andersartigen Steigerungszusammenhang geben als den, den die klassi-
sche Theorie vor Augen hatte, nämlich eine Steigerung von Aussichten, die die Funktionssysteme er-
öffnen, und von Anspruchshaltungen der Individuen. Man muß nicht gleich an die überfüllten Waren-
häuser und an die über Reklame aufgedrängten Konsumchancen denken. Auf der gleichen Linie liegt,
daß das Gesundheitssystem wie nie zuvor Ansprüche auf Schmerzbeseitigung provoziert, befriedigt
und daran wächst35. Kein Lehrer kann sich dem Anspruch entziehen, etwas zu erklären, was der Schü-
ler nicht verstanden hat, und die Pädagogik verkündet (besonders radikal unter dem Stichwort „maste-
ry learning“ bzw. „zielerreichendes Lernen“36), daß dies unabhängig von den Bedingungen gilt, die der
Schüler mitbringt. Auch der Sinnlosigkeitsbeseitigungsanspruch findet keinen Widerspruch, sondern
wird im Feuilleton und auf Kongressen gepflegt - ganz zu schweigen von der Art, wie die Religion
durch Leugnung der Sinnlosigkeit die Defizite bewußt macht und den Anspruch als berechtigt erschei-
nen läßt. Es scheint, daß die Ausdifferenzierung spezifischer Funktionssysteme dazu führt, daß auf sie
gerichtete Ansprüche provoziert werden, die, da sie die Funktion in Anspruch nehmen, nicht abgewie-
sen werden können. Funktionsautonomie und Anspruch verzahnen sich ineinander, begründen sich
wechselseitig, steigern sich im Bezug aufeinander und gehen dabei eine Symbiose ein, der gegenüber
es keine rationalen Kriterien des richtigen Maßes mehr gibt. Maßhalteappelle müssen unter diesen
Umständen folgenlos bleiben - es sei denn, daß es gelingt, neben dem Individuum noch weitere An-
spruchsabweisungsinstanzen zu institutionalisieren.

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34 Für eine „individualistische“ Gesellschaft formuliert Alexandre Vinet bereits 1836 (a.a.O., S. 330) „que chacun ne se cul-
tive que dans le sens de la société, laquelle a besoin de ses talents, de sa fortune, de ses forces, et non pas de lui“. Umge -
schrieben auf Ansprüche, würde dies Zitat eine heute verbreitete Stimmungslage treffend wiedergeben.
35 Vgl. dazu Jean-Pierre Dupuy / Jean Robert, La trahison de l'opulence, Paris 1976.
36 Vgl. James Block, Mastery Learning: Theory and Practice, New York 1971; Benjamin S. Bloom, Individuelle Unter-
schiede in der Schulleistung: ein überholtes Problem, in: Wolfgang Edelstein / Diether Hopf (Hg.), Bedingungen des Bil-
dungsprozesses, Stuttgart 1973, S. 251-270.
Derzeit gibt es mindestens zwei Anwartschaften für diese Rolle. Die eine wird von der „Umwelt“
wahrgenommen. Die Umwelt läßt die Erfüllung aller in der Gesellschaft evozierten und reproduzierten
Ansprüche nicht mehr zu. Die andere liegt in den Interdependenzen zwischen den Funktionssystemen.
Man kann Ansprüche abweisen, wenn andere Funktionssysteme dazu zwingen. So entschuldigt der
Lehrer sich mit bürokratischen Vorschriften, der Arzt mit den Reglements der Kassen, der Politiker
mit der wirtschaftlichen Lage oder dem Recht, der Jurist wiederum mit der Politik, die immer mehr
und immer schlechtere Gesetze mache. Selbstverständlich wird unter diesen Bedingungen der Kombi-
nationsraum möglicher individueller Selbstverwirklichung und anspruchsvoller sozialer Funktionser-
füllung kleiner, als man es sich bei der Lancierung der modernen Gesellschaft vorgestellt hatte. Ob
sich auf diese Weise wenigstens langfristig gesehen sinnvolles gesellschaftliches Leben einpendeln
wird, ist nicht abzusehen. Aber vielleicht gehört auch diese Erwartung zu den Ansprüchen, die man
weder aufgeben noch voll befriedigen - aber als solche identifizieren und unter Kontrolle halten kann.

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