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Einleitung

Die Griechen kannten für das, was wir mit dem Begriff Leben
ausdrücken, kein Einzelwort, Sie gebrauchten zwei Begriffe, die
morphologisch und semantisch verschieden sind, auch wenn
man sie auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen kann: zök
meinte die einfache Tatsache des Lebens, die allen Lebewesen
gemein ist (Tieren, Menschen und Göttern), bios dagegen be-
zeichnete die Form oder Art und Weise des Lebens, die einem
einzelnen oder einer Gruppe eigen ist. Wenn Platon im Philebos
drei Lebensarten anführt und Aristoteles in der Nikomachi-
schen Ethik das kontemplative Leben des Philosophen (bios
theöretikh) vom Leben der Lust und des Vergnügens (bios apo-
Zatastikch) und vom politischen Leben (bios politikbs) unter-
scheidet, hätten sie niemals den Begriff z& gebrauchen können
(dem bezeichnenderweise im Griechischen die Pluralform
fehlt); und zwar aus dem einfachen Grund, weil es beiden in kei-
ner Weise um das natürliche Leben, sondern um ein qualifizier-
tes Leben, um eine besondere Lebensweise zu tun war. Aristo-
teles kann sehr wohl von einer z& ariste kai aidios, einem
höheren und ewigen Leben sprechen (Met. 1072 b, 28), aber nur,
um die nicht banale Tatsache herauszustreichen, daß auch Gott
ein Lebewesen ist (so wie er sich im selben Kontext des Begriffs
zöf bedient, um in ebensowenig trivialer Weise den Akt des
Denkens zu bestimmen); von einer zö; Politik6 der Athener
Bürger zu sprechen hätte jedoch keinen Sinn ergeben. Nicht daß
der Antike die Idee nicht vertraut gewesen wäre, daß das natür-
liche Leben, die einfache zök als solche, an sich ein Gut sei; Ari-
stoteles druckt dieses Bewußtsein in einem Abschnitt der Politik
sogar mit unübertrefflicher Klarheit aus. Nachdem er daran er-
innert hat, daß der Zweck des Gemeinwesens sei, dem Guten ge-
mäß zu leben, sagt er:
»Und das [dem Guten gemäß zu leben] ist nun besonders das Ziel, so-
wohl für alle in Gemeinschaft als auch voneinander getrennt. Sie kom-
men aber auch bloß um des Lebens willen zusammen, und sie verfügen
zusammen über eine politische Gemeinschaft. Vielleicht liegt nämlich
schon ein Teil des Guten im Leben allein an sich [KatA t0 z&r aut&
m&.zon]. Wenn die Beschwerlichkeiten des Lebens nicht zu sehr über-

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handnehmen [X?ata t&z bion], so ist es klar, daß viele Menschen in ih- verwandelt: »Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblie-
rem Verlangen nach Leben [.&] reichlich Not ertragen, als gäbe es in ben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer
diesem ein gewisses Glücksgefühl [ez&merkz: schöner Tag] und eine politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier,
natürliche Annehmlichkeit.« (Pol. I 278 b, 23 - 30)
in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.«
In der antiken Welt ist das einfache natürliche Leben jedoch aus (Foucault 1, S. 171)
der polis im eigentlichen Sinn ausgeschlossen und als rein repro- Foucault zufolge liegt die »>biologische Modernitätsschwellet
duktives Leben strikt auf den Bereich des c&os eingeschränkt einer Gesellschaft« dort, wo die Gattung und das Individuum
(1 2 5 2 a, 26- 3 2). Am Anfang seiner Politik verwendet Aristoteles als einfacher lebender Körper zum Einsatz ihrer politischen
alle Sorgfalt darauf, den oikonsmos (Kopf eines häuslichen Un- Strategie werden. Im Brennpunkt seiner Vorlesungen am
ternehmens) und den despotes (Familienoberhaupt), die sich um Collège de France steh von 1 9 7 7 an der Übergang vom »Territo-
die Fortpflanzung und Erhaltung des Lebens kümmern, vom rialstaat« zum »Bevölkerungsstaat<< und damit die schwindel-
Politiker zu unterscheiden, und verspottet diejenigen, die glau- erregend wachsende Bedeutung des biologischen Lebens und
ben, es handle sich um einen quantitativen Unterschied und der Volksgesundheit für die souveräne Macht, die sich zuneh-
nicht um einen Unterschied in der Art. Und wo er den Zweck mend in eine »Regierung der Menschen« verwandelt (Foucault
der Gemeinschaft bestimmt - eine Stelle (125 2 b, 30), die für die 2, S. 719). Daraus ergibt sich eine gewisse Animalisierung des
abendländische Tradition kanonisch bleiben sollte -, tut er dies Menschen, die durch die ausgeklügeltsten politischen Techni-
gerade, indem er die einfache Tatsache des Lebens (t6 z&z) gegen ken ins Werk gesetzt wird. Gleichzeitig mit der Ausbreitung der
das politisch qualifizierte Leben abgrenzt (lt0 ez? &n): ginomthb Möglichkeiten der Human- und Sozialwissenschaften entsteht
m&n oh to6 ze’n hhaeken, oha de tozG eG z&z, »enstandenum des nun auch die Möglichkeit, das Leben sowohl zu schützen wie
Lebens willen, aber bestehend um des guten Lebens willen« (in auch seinen Holocaust zu autorisieren. Von dieser Seite her be-
der lateinischen Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke, die trachtet wären insbesondere die Entwicklung und der Triumph
sowohl Thomas von Aquin wie Marsilius von Padua vor sich des Kapitalismus ohne die disziplinarische Kontrolle nicht
hatten: facta quidem igitur vivendi gratia, existens autem gratia möglich gewesen, welche die neue Biomacht ausgeübt hat; mit-
bene vivendi). tels einer Reihe geeigneter Technologien schuf sie gewisserma-
Es stimmt, daß an einer sehr berühmten Stelle desselben Wer- ßen die »gelehrigen Körper«, deren sie bedurfte.
kes der Mensch als politikon $on definiert wird (1253 a, 4); hier Auf der anderen Seite hat Hannah Arendt in The Human
aber (abgesehen davon, daß in der attischen Prosa das Verb Conditionl bereits Ende der fünfziger Jahre (also fast zwanzig
bi&ai kaum im Präsens gebraucht wird) ist »politisch« nicht ein Jahre vor Der Wille zum Wissen) den Prozeß analysiert, der den
Attribut des Lebewesens als solches, sondern eine spezifische homo laborans und mit ihm das biologische Leben zunehmend
Differenz zur Bestimmung der Gattung &on. (Im übrigen wird ins Zentrum der politischen Bühne der Moderne rückt. Sogar
unmittelbar danach die menschliche Politik von derjenigen der die Veränderung und den Niedergang des öffentlichen Raumes
anderen Lebewesen unterschieden, weil sie durch einen sprach- hat Hannah Arendt auf diesen Vorrang des natürlichen Lebens
gebundenen Zusatz an Politizität auf einer Gemeinschaft von vor dem politischen Handeln zurückgeführt. Daß ihre For-
Gutem und Bösem, Gerechtem und Ungerechtem und nicht schungen praktisch ohne Nachfolge geblieben sind und Fou-
einfach nur von Lust- und Schmerzvollem gegründet ist). cault sein biopolitisches Feld ohne Bezug auf sie hat eröffnen
Auf diese Bestimmung bezieht sich Michel Foucault, wenn er können, zeugt von den Schwierigkeiten und den Widerständen,
am Schluß von Der Wille zum Wissen den Prozeß zusammen- die das Denken in diesem Bereich zu gewärtigen hatte. Und ge-
faßt, aufgrund dessen man auf der Schwelle zur Moderne das na-
1 Deutsche Ausgabe unter dem Titel Vita activa oder Vom tätigen Leben;
türliche Leben in die Mechanismen und Kalküle der Staats- der auch im Original genannte Titel der amerikanischen Ausgabe (1959)
macht einzubeziehen beginnt und sich die Politik in Biopolitik entspricht dem referierten Inhalt thematisch besser.

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rade diesen Schwierigkeiten ist wahrscheinlich sowohl die son- Eine der konstantesten Ausrichtungen von Foucaults Arbeit ist
derbare Tatsache geschuldet, daß Hannah Arendt in The Hu- die entschiedene Abkehr von den traditionellen Zugangsweisen
man Condition keinerlei Anschlüsse an die tiefgehenden Analy- zum Machtproblem, weg von den juridisch-institutionellen
sen herstellt, die sie zuvor der totalitären Macht gewidmet hat Modellen (die Definition der Souveränität, die Theorie des Staa-
(und in denen jegliche biopolitische Perspektive fehlt), als auch tes) in Richtung einer vorbehaltlosen Analyse der konkreten
der ebenfalls merkwürdige Umstand, daß Foucault seine Unter- Weisen, in denen die Macht selbst den Körper der Subjekte und
suchungen nie auf das Feld schlechthin der modernen Biopolitik ihre Lebensformen durchdringt. In den letzten Jahren, wie das
verlegt hat: das Konzentrationslager und die Struktur der gro- etwa ein an der Universität von Vermont gehaltenes Seminar
ßen totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts. zeigt, scheint diese Analyse zwei gesonderte Forschungsrich-
Der Tod hat Foucault daran gehindert, alle Implikationen des tungen einzuschlagen: auf der einen Seite das Studium der poli-
Konzepts der Biopolitik zu entfalten und die Richtung anzuzei- tischen Techniken (wie die Polizeiwissenschaft), mit denen der
gen, in der er die Untersuchung vertieft hätte. Doch das Eintre- Staat die Sorge um das natürliche Leben der Individuen über-
ten der z& in die Sphäre der polis, die Politisierung des nackten nimmt und in sich integriert; auf der anderen Seite das Studium
Lebens als solches bildet auf jeden Fall das entscheidende Ereig- der Technologien des Selbst, mittels deren sich der Subjektivie-
nis der Moderne und markiert eine radikale Transformation der rungsprozeß vollzieht, der die Individuen dazu bringt, sich an
klassischen politisch-philosophischen Kategorien. Es ist sogar die eigene Identität und zugleich an eine äußere Kontrollmacht
wahrscheinlich, daß es, wenn die Politik heute eine fortwäh- zu binden. Es ist offensichtlich, daß diese beiden Linien (sie fol-
rende Finsternis zu durchqueren scheint, genau daran liegt, daß gen übrigens zwei seit Beginn von Foucaults Arbeit vorhande-
sie versäumt hat, es mit diesem Gründungsereignis der Moderne nen Tendenzen) sich an mehreren Punkten verknoten und auf
aufzunehmen. Die »Rätsel« (Furet, S. 7), die unser Jahrhundert ein gemeinsames Zentrum verweisen. In einer seiner letzten
dem historischen Verstehen aufgegeben hat und die ihre Aktua- Schriften stellt Foucault fest, daß der moderne westliche Staat
lität behaupten (der Nazismus ist davon bloß das beunruhi- in einem bislang unerreichten Maß subjektive Techniken der
gendste), wird man nur auf dem Boden - demjenigen der Bio- Individualisierung und objektive Prozeduren der Totalisierung
politik - lösen können, auf dem sie gewachsen sind. Nur in integriert hat; er spricht von einem eigentlichen »politischen
einem biopolitischen Horizont wird man entscheiden können, double bind, das die gleichzeitige Individualisierung und Totali-
ob die Kategorien, auf deren Opposition sich die moderne Poli- sierung der modernen Machtstrukturen bildet« (Foucault 3,
tik gegründet hat (rechts/links, privat/öffentlich, Absolutis- s. 229 - 232).
mus/Demokratie etc.), die nun aber immer mehr verschwim- Der Punkt, in dem diese beiden Aspekte konvergieren, ist in
men und heute in eine eigentliche Zone der Ununterscheidbar- seinen Forschungen dennoch seltsam unbeleuchtet geblieben,
keit geraten, endgültig aufzugeben sind oder ob sie womöglich so daß man bemerkt hat, er habe sich einer einheitlichen Theorie
die Bedeutung wiedergewinnen können, die sie gerade in jenem der Macht konsequent verweigert. Doch wenn Foucault den
Horizont zeitweilig verloren haben. Und nur eine Reflexion, die traditionellen Zugang zum Machtproblem von juridischen
ausgehend von Foucaults und Walter Benjamins Ansätzen die (»was legitimiert die Macht?«) oder institutionellen (»was ist der
Beziehung zwischen nacktem Leben und Politik thematisch be- Staat?«) Modellen her ablehnt und vorschlägt, sich »von der
fragt - eine Beziehung, die im geheimen auch die scheinbar am theoretischen Privilegierung des Gesetzes und der Souveräni-
weitesten entfernten Ideologien regiert -, wird das Politische tät« zu lösen (Foucault I, S. I I 1) und eine Analytik der Macht
aus seiner Verborgenheit heraus- und das Denken zu seiner aufzubauen, deren Modell und Code nicht mehr das Recht ist,
praktischen Aufgabe zurückführen. wo im Körper der Macht befindet sich dann jene Zone der Un-
unterscheidbarkeit (oder wenigstens der Schnittpunkt), in der
sich die Techniken der Individualisierung und die Prozeduren
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der Totalisierung berühren? Gibt es, allgemeiner gesagt, ein ein- tion der polis in der Opposition von leben (z&) und gut leben
heitliches Zentrum, in dem das »double bind« seinen Ort hat? (eG Ah) mit erneuter Aufmerksamkeit betrachten. Tatsächlich
Daß es in der Genese der Macht einen subjektiven Aspekt gibt, vollzieht die Opposition im selben Zug eine Einbeziehung des
war bereits im Begriff der servitude volontaire von La Boétie ersten in das zweite, des nackten Lebens in das politisch qualifi-
implizit enthalten; doch welches ist der Punkt, in dem die frei- zierte Leben. In der aristotelischen Definition gilt es nicht nur,
willige Knechtschaft der einzelnen mit der objektiven Macht wie das bis anhin geschehen ist, den Sinn, die Modi und die mög-
kommuniziert? Ist es möglich, daß man sich in einem so ent- lichen Einteilungen des »guten Lebens« als telos des Politischen
scheidenden Bereich mit psychologischen Erklärungen begnügt zu untersuchen; vielmehr ist es notwendig, sich zu fragen,
wie jener (gewiß nicht reizlosen), die eine Parallele zwischen äu- warum die abendländische Politik sich vor allem über eine Aus-
ßeren und inneren Neurosen zieht? Und ist es angesichts von schließung (die im selben Zug eine Einbeziehung ist) des nack-
Phänomenen wie der Medien-Spektakel-Macht, die heute über- ten Lebens begründet. Welcher Art ist die Beziehung von Poli-
all den politischen Raum verwandelt, überhaupt noch legitim tik und Leben, wenn das Leben sich als das darbietet, was durch
oder auch nur möglich, subjektive Technologien und politische eine Ausschließung eingeschlossen werden muß?
Techniken auseinanderzuhalten? Die Struktur der Ausnahme, die wir im ersten Teil dieses Bu-
Obwohl eine solche Ausrichtung in Foucaults Forschungen ches nachgezeichnet haben, scheint in dieser Perspektive kon-
logisch impliziert zu sein scheint, bleibt sie ein blinder Fleck im substantiell mit der abendländischen Politik zu sein. Foucaults
Gesichtsfeld des Forschers oder eine Art Fluchtpunkt, der sich Feststellung, der Mensch sei Aristoteles zufolge »ein lebendes
unendlich entzieht, auf den die verschiedenen Perspektivlinien Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist«, m u ß konse-
seiner Untersuchungen (und allgemeiner die ganze abendländi- quent integriert werden, und zwar in dem Sinn, daß gerade die
sche Reflexion über die Macht) zulaufen, ohne ihn je erreichen Bedeutung dieses »auch« problematisch ist. Die eigentümliche
zu können. Formel »Enstanden um des Lebens willen, aber bestehend um
Die vorliegende Untersuchung betrifft genau diesen verbor- des guten Lebens willen« kann nicht nur als Einbeziehung der
genen Kreuzpunkt zwischen dem juridisch-institutionellen Zeugung (ginomhz~) in das Sein (ousa), sondern auch als eine
Modell und dem biopolitischen Modell der Macht. Und was sie einschließende Ausschließung (eine exceptio) der zök aus der
als eine der wahrscheinlichen Folgerungen hat festhalten müs- polis gelesen werden, beinah als ob die Politik der Ort wäre, an
sen, besteht genau darin, daß die beiden Analysen nicht getrennt dem sich das Leben in gutes Leben verwandeln muß, und als ob
werden können und daß die Einbeziehung des nackten Lebens das, was politisiert werden muß, immer schon das nackte Leben
in den politischen Bereich den ursprünglichen - wenn auch ver- wäre. Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Poli-
borgenen - Kern der souveränen Macht bildet. Man kann sogar tik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschlie-
sagen, daß die Produktion eines biopolitischen Körpers die ur- ßung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet.
sprüngliche Leistung der souveränen Macht ist. In diesem Sinn Es ist also kein Zufall, wenn ein Abschnitt der Politik den
ist die Biopolitik mindestens so alt wie die souveräne Aus- eigentlichen Ort der polis im übergang von der Stimme zur
nahme. Indem der moderne Staat das biologische Leben ins Sprache ansiedelt. Das Band zwischen nacktem Leben und Po-
Zentrum seines Kalküls ruckt, bringt er bloß das geheime Band litik ist dasselbe, das auch die metaphysische Definition des
wieder ans Licht, das die Macht an das nackte Leben bindet, und Menschen als »Lebewesen, das über die Sprache verfügt« in der
knüpft auf diese Weise (gemäß einer hartnäckigen Entsprechung Verbindung zwischenphone’ und Logos sucht:
zwischen Modernem und Archaischem, die man in den ver-
»über die Sprache aber verfügt allein von den Lebewesen der Mensch.
schiedensten Bereichen antrifft) an das Unvordenkliche der ar-
Die Stimme nun bedeutet schon ein Anzeichen von Leid und Freud,
cana imperii an. daher steht sie auch den anderen Lebewesen zu Gebote; ihre Natur ist
Wenn das zutrifft, dann muß man die aristotelische Defini- nämlich bis dahin gelangt, daß sie über Wahrnehmung von Leid und
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Freud verfügen und das den anderen auch anzeigen können, Doch die eingeschlossen wird, liefert also den Schlüssel, dank dessen nicht
Sprache ist da, um das Nützliche und das Schädliche klarzulegen und nur die heiligen Texte der Souveränität, sondern allgemeiner
in der Folge davon das Gerechte und das Ungerechte. Denn das ist im
noch die Kodices der politischen Macht selbst ihre arcana ent-
Gegensatz zu den anderen Lebewesen den Menschen eigentümlich,
daß nur sie allein über die Wahrnehmung des Guten und des Schlech-
hüllen. Aber zugleich stellt uns diese vielleicht älteste Bedeu-
ten, des Gerechten und des Ungerechten und anderer solcher Begriffe tung des Begriffs sacer vor das Rätsel einer Figur des Heiligen
verfügen. Und die Gemeinschaft mit diesen Begriffen schafft Haus diesseits oder jenseits des Religiösen, die das erste Paradigma des
und Staat.« (1253a, 10-18) politischen Raumes im Abendland bildet. Die Foucaultsche
These muß mithin berichtigt oder wenigstens ergänzt werden:
Die Frage: »In welcher Weise verfügt das Lebewesen über die Was die moderne Politik auszeichnet, ist nicht so sehr die an sich
Sprache?« entspricht genau der Frage: »In welcher Weise be- uralte Einschließung der zö: in die polis noch einfach die Tatsa-
wohnt das nackte Leben die polis?« Das Lebewesen verfügt über che, daß das Leben als solches zu einem vorrangigen Gegen-
den logos, indem es in ihm die eigene Stimme aufhebt und be- stand der Berechnungen und Voraussicht der staatlichen Macht
wahrt, so wie es die polis bewohnt, indem es das eigene nackte wird; entscheidend ist vielmehr, daß das nackte Leben, ur-
Leben in ihr ausgenommen sein läßt. Die Politik erweist sich sprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt
demnach als im eigentlichen Sinn fundamentale Struktur der mit dem Prozeß, durch den die Ausnahme überall zur Regel
abendländischen Metaphysik, insofern sie die Schwelle besetzt, wird, immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt
auf der sich die Verbindung zwischen Lebewesen und Sprache und auf diesem Weg Ausschluß und Einschluß, Außen und In-
vollzieht. Die »Politisierung« des nackten Lebens ist die Aufgabe nen, zök und bios, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler
schiechthin der Metaphysik, in der über die Menschheit und den Ununterscheidbarkeit geraten. Der Ausnahmezustand, in dem
lebenden Menschen entschieden wird; und wenn die Moderne das nackte Leben zugleich von der Ordnung ausgeschlossen
diese Aufgabe annimmt, tut sie nichts anderes, als der wesent- und von ihr erfaßt wurde, schuf gerade in seiner Abgetrennt-
lichen Struktur der metaphysischen Tradition ihre Treue zu be- heit das verborgene Fundament, auf dem das ganze politische
kunden. Das fundamentale Kategorienpaar der abendländischen System ruhte. Wenn seine Grenzen bis ins Unbestimmte ver-
Politik ist nicht jene Freund/Feind-Unterscheidung, sondern schwimmen, dann setzt sich das nackte Leben, das ihn be-
diejenige von nacktem Leben/politischer Existenz, zök/bios, wohnte, im Staat frei und wird zum Subjekt und Objekt der
Ausschluß/Einschluß. Politik gibt es deshalb, weil der Mensch Konflikte der politischen Ordnung, dem einzigen Ort sowohl
das Lebewesen ist, das in der Sprache das nackte Leben von sich der Organisation der staatlichen Macht als auch der Emanzipa-
abtrennt und sich entgegensetzt und zugleich in einer einschlie- tion von ihr. Es scheint ganz so, als ob im Gleichschritt mit dem
ßenden Ausschließung die Beziehung zu ihm aufrechterhält. Prozeß der Disziplinierung, durch den die Staatsmacht den
Menschen als Lebewesen zu seinem eigenen spezifischen Ob-
Der Protagonist dieses Buches ist das nackte Leben, das heißt jekt erhebt, ein weiterer Prozeß in Gang gekommen wäre, der
das Leben des homo sacer, der getötet werden kann, aber nicht im großen und ganzen mit der Geburt der modernen Demokra-
geopfert werden darf, und dessen bedeutende Funktion in der tie zusammenfällt, in der sich der Mensch als Lebewesen nicht
modernen Politik wir zu erweisen beabsichtigen. Eine obskure mehr als Objekt, sondern als Subjekt der politischen Macht prä-
Figur des archaischen römischen Rechts, in der das menschliche sentiert. Diese Prozesse, die einander in vielem entgegengesetzt
Leben einzig in der Form ihrer Ausschließung in die Ordnung’ sind und (wenigstens scheinbar) in hartem Konflikt stehen,
stimmen jedoch in der Tatsache überein, daß in beiden das
I »Ordinamento« meint im Unterschied zu »ordine« (auch »Befehl«) die
»politisch-rechtliche Ordnung «, wie der Begriff in dem von Carl Schmitt nackte Leben des Staatsbürgers, der neue biopolitische Körper
geprägten Zusammenhang in der Folge gebraucht wird; zur Verdeut- der Menschheit auf dem Spiel steht.
lichung steht hier bisweilen »Rechtsordnung«. Demnach kennzeichnet sich die moderne Demokratie gegen-
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über der antiken dadurch, daß sie von Anfang an als eine Einfor- sche These (übrigens ebensowenig wie Leo Strauss’ These von
derung und Freisetzung der z& erscheint, daß sie unablässig einer geheimen Konvergenz zwischen Liberalismus und Kom-
versucht, das nackte Leben selbst in Lebensform zu verwandeln munismus, was ihr Endziel angeht), die der Ausräumung und
und sozusagen den bios der zö6 zu finden. Daher rührt auch die Einebnung der enormen Unterschiede, die ihre Geschichte und
spezifische Aporie, die darin besteht, die Freiheit und Glückse- ihre Gegnerschaft kennzeichnen, Vorschub leisten soll. Trotz-
ligkeit der Menschen am selben Ort - dem »nackten Leben« - dem muß auf der historisch-philosophischen Ebene, die ihr
ins Spiel bringen zu wollen, der doch ihre Verknechtung be- eigen ist, an der These entschieden festgehalten werden; denn sie
zeichnete. Hinter dem langen antagonistischen Prozeß, der zur allein erlaubt es, uns angesichts der neuen Realitäten und der un-
Anerkennung der Menschenrechte und der formalen Freiheiten vorhergesehenen Konvergenzen dieses Jahrtausendendes zu
fuhrt, steht noch einmal der Körper des homo sacer [uomo orientieren und das Feld für jene neue Politik frei zu machen, die
sacro] mit seinem souveränen Doppel, seinem nicht opferbaren, im wesentlichen noch zu erfinden bleibt.
jedoch tötbaren Leben. Diese Aporie ins Bewußtsein zu heben, Indem Aristoteles im oben zitierten Abschnitt den »schönen
bedeutet nicht, die Errungenschaften und Anstrengungen der Tag« (euh<merta) des einfachen Lebens den »Beschwerlich-
Demokratie zu entwerten, sondern ein für allemal verstehen zu keiten« des politischen bios entgegensetzte, gab er der Aporie,
wollen, warum sie in dem Moment, da sie endgültig über ihre die der abendländischen Politik zugrunde liegt, ihre vielleicht
Gegner zu triumphieren und den Gipfel erreicht zu haben schönste Ausformulierung. Die vierundzwanzig Jahrhunderte,
schien, sich wider alles Erwarten als unfähig erwies, jene zök vor die seither verflossen sind, haben keine anderen als vorläufige
einem nie dagewesenen Ruin zu bewahren, zu deren Befreiung und unwirksame Lösungen gebracht. Es ist der Politik in der
und Glückseligkeit sie alle ihre Kräfte aufgeboten hatte. Der Ausführung des metaphysischen Auftrags, der sie zunehmend
Niedergang der modernen Demokratie und ihre zunehmende die Form einer Biopolitik hat annehmen lassen, nicht gelungen,
Konvergenz mit den totalitären Staaten in den postdemokrati- die Verbindung herzustellen, die den Bruch zwischen zö; und
schen Spektakel-Gesellschaften (was sich bereits mit Alexis de bios, zwischen Stimme und Sprache hätte überwinden sollen.
Tocqueville abzeichnet und in den Analysen Guy Debords klar Das nackte Leben bleibt in diesem Bruch in der Form der Aus-
zutage tritt) finden ihre Wurzel vielleicht in dieser Aporie, die nahme eingefaßt, das heißt als etwas, das nur durch eine Aus-
den Beginn der Demokratie markiert und sie zu einer geheimen schließung eingeschlossen wird. Wie ist es möglich, die »natürli-
Komplizenschaft mit ihrem erbittertsten Feind zwingt. Unsere che Annehmlichkeit« der zök zu »politisieren«? Und vor allem:
Politik kennt heute keinen anderen Wert (und folglich keinen Bedarf die zö6 wirklich der Politisierung, oder ist das Politische
anderen Unwert) als das Leben, und solange die Widerspruche, etwa bereits als ihr wertvollster Kern in ihr enthalten? Die Bio-
die sich daraus ergeben, nicht gelöst sind, werden Nazismus und politik des modernen Totalitarismus auf der einen, die Massen-
Faschismus, welche die Entscheidung über das nackte Leben gesellschaft des Konsums und des Hedonismus auf der anderen
zum höchsten politischen Kriterium erhoben haben, bedrohlich Seite geben gewiß, jede auf ihre Art, eine Antwort auf diese Fra-
aktuell bleiben. Der Zeugenschaft von Robert Antelme zufolge gen. Doch solange keine völlig neue - das heißt nicht mehr auf
bestand die Lektion, welche die Konzentrationslager ihren In- die exceptio des nackten Lebens gegründete - Politik da ist, wird
sassen beigebracht hatten, darin: »Sobald das eigentliche jede Theorie und jede Praxis in einer Sackgasse steckenbleiben,
Menschsein in Frage gestellt wird, stellt sich ein fast biologischer und der *schöne Tag« des Lebens wird das politische Bürger-
Anspruch auf Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung ein.« recht nur über Blut und Tod erlangen oder in der vollkommenen
(Antelme, S. IO) Sinnlosigkeit, zu der es die Spektakel-Gesellschaft verdammt.
Die These von einer innersten Solidarität zwischen Demo-
kratie und Totaliarismus (die wir hier, wenn auch mit aller Vor- Carl Schmitts Definition der Souveränität (»Souverän ist, wer
sicht, aufstellen müssen) ist offensichtlich keine historiographi- über den Ausnahmezustand entscheidet«; Schmitt 1, S. 13) ist,
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noch bevor man begriffen hätte, wovon sie wirklich handelt, zu Erster Teil
einem Gemeinplatz geworden. Es ist nicht weniger als der
Grenzbegriff der Staats- und Rechtslehre, die in ihm (da jeder Logik der Souveränität
Grenzbegriff die Grenze zwischen zwei Begriffen ist) an die
Sphäre des Lebens anstößt und sich mit ihr vermischt. Solange
der Horizont der Staatlichkeit den weitesten Kreis des Gemein-
schaftslebens bildete und die politischen, religiösen, juridischen
und ökonomischen Lehren, die ihn stützten, noch Bestand hat-
ten, konnte diese »äußerste Sphäre« (ebd.) nicht wirklich ans
Licht kommen. Das Problem der Souveränität war damals dar-
auf beschränkt, zu bestimmen, wer innerhalb der Ordnung mit
gewissen Machtbefugnissen ausgestattet wurde, ohne daß die
Schwelle der Ordnung selbst je in Frage gestellt wurde. Heute,
da die großen staatlichen Strukturen in einen Prozeß der Auflö-
sung geraten sind und der Notstand, wie das Benjamin voraus-
ahnte, zur Regel geworden ist, wird es Zeit, das Problem der
Grenzen und der originären Struktur der Staatlichkeit erneut
und in einer neuen Perspektive aufzuwerfen. Denn die Unzu-
länglichkeit der anarchistischen und marxistischen Kritik des
Staates bestand genau darin, diese Struktur nicht einmal erahnt
und deshalb das arcanum imperii voreilig beiseite geschoben zu
haben, wie wenn es außerhalb der Simulakren und der Ideo-
logien, die ihm zur Rechtfertigung beigestellt wurden, keinen
Bestand hätte. Der Kampf gegen einen Feind, dessen Struktur
einem unbekannt bleibt, endet früher oder später damit, daß
man sich mit ihm identifiziert. Und die Theorie des Staates (und
besonders des Ausnahmezustandes, das heißt die Diktatur des
Proletariats als Übergangsphase zu einer staatslosen Gesell-
schaft) ist gerade die Klippe, an der die Revolutionen unseres
Jahrhunderts gescheitert sind.
Dieses Buch, das anfänglich als Antwort auf die blutige My-
stifikation einer neuen globalen Ordnung konzipiert worden
war, mußte sich indes Problemen stellen - zuvorderst der Hei-
ligkeit des Lebens -, mit denen es nicht gerechnet hatte. Aber im
Verlauf der Untersuchung ist klar geworden, daß in einem der-
artigen Bereich keiner der Begriffe, welche die Humanwissen-
schaften (von der Jurisprudenz bis zur Anthropologie) zu defi-
nieren glaubten oder als evident voraussetzten, als verbürgt
anzunehmen ist und daß viele dieser Begriffe -in der Dringlich-
keit der Katastrophe - einer rückhaltlosen Revision bedurften.
I. Das Paradox der Souveränität

I. I. Das Paradox der Souveränität druckt sich so aus: »Der Sou-


verän steht zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsord-
nung.« Wenn derjenige souverän ist, dem die Rechtsordnung die
Macht zuerkennt, den Ausnahmezustand auszurufen und auf
diese Weise die geltende Ordnung aufzuheben, dann »steht« er
in der Tat »außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und
gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung,
ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann« (Schmitt 1,
S. 14). Die Präzisierung »zugleich« ist mitnichten trivial: Der
Souverän, der die legale Macht innehat, die Geltung des Rechts
aufzuheben, setzt sich legal außerhalb des Rechts. Das bedeutet,
daß das Paradox auch so formuliert werden kann: »Das Recht ist
außerhalb seiner selbst«, oder: »Ich, der Souverän, der ich
außerhalb des Rechts stehe, erkläre, daß es kein Außerhalb des
Rechts gibt.«
Es lohnt sich, über die dem Paradox implizite Topologie
nachzudenken, denn erst wenn seine Struktur einmal begriffen
ist, wird klar, in welchem Maß die Souveränität die Grenze (im
doppelten Sinn von Ende und Anfang) der Rechtsordnung be-
zeichnet. Schmitt stellt diese Struktur als die Struktur der Aus-
nahme dar:
»Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare;sie entzieht sich der ge-
nerellen Fassung, aber gleichzeitig offenbart sie ein spezifisch-juristi-
sches Formelement, die Dezision, in absoluter Reinheit. In seiner ab-
soluten Reinheit ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die
Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können.
Jede generelle Norm verlangt eine normale Gestaltung der Lebensver-
hältnisse, auf welche sie tatbestandsmäßig Anwendung finden soll und
die sie ihrer normativen Regelung unterwirft. Die Norm braucht ein
homogenes Medium. Diese faktische Normalität ist nicht bloß eine
>äußere Voraussetzung<, die der Jurist ignorieren kann; sie gehört viel-
mehr zu ihrer immanenten Geltung. Es gibt keine Ordnung, die auf ein
Chaos anwendbar wäre. Die Ordnung muß hergestellt sein, damit die
Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muß eine normale Situation geschaf-
fen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entschei-
det, ob dieser normale Zustand tatsächlich herrscht. Alles Recht ist Si-
tuationsrecht<. Der Souverän schafft und garantiert die Situation als

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Ganzes in ihrer Totalität. Er hat das Monopol dieser letzten Entschei- Bereich der Rechtswissenschaften keine Theorie der Ausnahme,
dung. Darin liegt das Wesen der staatlichen Souveränität, die also rich- welche dieser einen solch hohen Rang zuspricht. Denn was
tigerweise nicht als Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, sondern als
Schmitt zufolge mit der souveränen Ausnahme in Frage steht, ist
Entscheidungsmonopol juristisch zu definieren ist, wobei das Wort
>Entscheidung< in dem noch weiter zu entwickelnden allgemeinen die Bedingung der Möglichkeit selbst der Gültigkeit der Rechts-
Sinne gebraucht wird. Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der norm und mit ihr der Sinn der Staatsautorität. Durch den Aus-
staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung nahmezustand »schafft und garantiert« der Souverän »die Situa-
von der Rechtsnorm, und (um es paradox zu formulieren) die Autori- tion«, deren das Recht für seine eigene Geltung bedarf. Doch was
tät beweist, daß sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben ist das für eine »Situation«? Welches ist ihre Struktur, wenn sie
braucht. bloß in der Aufhebung der Norm besteht?
[. . .] Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Nor-
male beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur K Vicos Opposition zwischen positivem Recht (ius theticum) und
die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. [. . .] Ein Ausnahme drückt die besondere Stellung der Ausnahme gut aus. Sie ist
protestantischer Theologe, der bewiesen hat, welcher vitalen Interes- ein Element im Recht, das über das positive Recht in Form seiner Auf-
sen die theologische Reflexion auch im 19. Jahrhundert fähig sein hebung hinausgeht. Sie verhält sich zum positiven Recht, wie sich die ne-
kann, hat es gesagt: ›Die Ausnahme erklärt das Allgemeine und sich gative zur positiven Theologie verhält. Während diese Gott bestimmte
selbst. Und wenn man das Allgemeine richtig studieren will, braucht Eigenschaften prädiziert, negiert und suspendiert die negative (oder my-
man sich nur nach einer wirklichen Ausnahme umzusehen. Sie legt stische) Theologie mit ihrem »weder . , . noch . . .« die Attribution jeg-
alles viel deutlicher an den Tag als das Allgemeine selbst. Auf die Länge licher Prädikate. Letztere befindet sich dennoch nicht außerhalb der
wird man des ewigen Geredes vom Allgemeinen überdrüssig; es gibt Theologie, sondern funktioniert bei näherem Hinsehen wie das Prinzip,
Ausnahmen. Kann man sie nicht erklären, so kann man auch das All- das die Möglichkeit von etwas wie Theologie im allgemeinen begründet.
gemeine nicht erklären. Gewöhnlich merkt man die Schwierigkeit Nur deshalb, weil die Göttlichkeit negativ als das vorausgesetzt worden
nicht, weil man das Allgemeine nicht einmal mit Leidenschaft, sondern ist, was außerhalb jedes möglichen Prädikats Bestand hat, kann sie Sub-
mit einer bequemen Oberflächlichkeit denkt. Die Ausnahme dagegen jekt einer Prädikation werden. Und analog dazu kann das positive Recht
denkt das Allgemeine mit energischer Leidenschaft.<« (Schmitt 1, den Normalfall nur deshalb als Bereich seiner eigenen Gültigkeit bestim-
s. 19-21) men, weil die Gültigkeit des positiven Rechts im Ausnahmezustand sus-
pendiert ist.
Es ist kein Zufall, daß Schmitt für seine Definition der Aus-
nahme sich auf das Werk eines Theologen beruft (der niemand 1.2. Die Ausnahme ist eine Art der Ausschließung. Sie ist ein
anderes ist als Sören Kierkegaard). Zwar hatte Giambattista Vico Einzelfall, der aus der generellen Norm ausgeschlossen ist.
die Vorrangigkeit der Ausnahme in nicht allzu unähnlicher Doch was die Ausnahme eigentlich kennzeichnet, ist der Um-
Weise als »letzte Konfiguration der Fakten« bestimmt (»Indi- stand, daß das, was ausgeschlossen wird, deswegen nicht völlig
dem iurisprudentia non censetur, qui beata memoria ius theti- ohne Beziehung zur Norm ist; sie bleibt im Gegenteil mit ihr in
cum sive summum et generale regularum tenet; sed qui acri iudi- der Form der Aufhebung verbunden. Die Norm wendet sich auf
cio videt in causis ultimas factorum peristases seu circumstantias, die Ausnahme an, indem sie sich von ihr abwendet, sich von ihr
quae aequitatem sive exceptionem, quibus lege universali exi- zurückzieht. Der Ausnahmezustand ist also nicht das der Ord-
mantur, promereant«; 1 De antiquissima, Kap. II); doch gibt es im nung vorausgehende Chaos, sondern die Situation, die aus ihrer
Aufhebung hervorgeht. In diesem Sinn ist die Ausnahme wirk-
I »Daher wird die Rechtswissenschaft nicht von dem betrieben, der mittels lich, der Etymologie gemäß, herausgenommen (excaptum < ex-
eines gesegneten Gedächtnisses das positive Recht oder die allgemeinen
Regeln des Gesetzes meistert, sondern eher von einem, der mit scharfem capere) und nicht einfach nur ausgeschlossen.
Urteil die Fälle betrachtet und die letzten Sachverhalte oder Umstände Daß die juridisch-politische Ordnung die Struktur einer Ein-
der Tatsachen zuerkennt, die Billigkeit oder eine Ausnahme von der allge- schließung dessen hat, was zugleich ausgeschlossen wird, ist oft
meinen Regel verdienen.* bemerkt worden, Die »Souveränität«, so schreiben Gilles De-
26 27
leuze und Felix Guattari, »herrscht nur über das, was sie verin- lererst um die Schaffung und Bestimmung des Raumes selbst, in
nerlichen [. . .] kann« (Deleuze und Guattari, S. 494); und im Zu- dem die juridisch-politische Ordnung überhaupt gelten kann.
sammenhang mit der »großen Gefangenschaft« (le grand Sie ist in diesem Sinn die fundamentale »Ortung«,l die sich nicht
renfermement), die Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft be- darauf beschränkt, zwischen dem, was außen, und dem, was in-
schrieben hat, spricht Maurice Blanchot vom Versuch der Ge- nen ist, zwischen normaler Situation und Chaos zu unterschei-
sellschaft, das »Außen einzuschließen« (enfermer le dehors), das den; sie zieht dazwischen eine Schwelle (den Ausnahmezu-
heißt eine »Innerlichkeit der Erwartung oder der Ausnahme« stand), von der aus Innen und Außen in jene komplexen
einzurichten. Erfährt das System eine Überschreitung, dann topologischen Beziehungen treten, welche‘ die Gültigkeit der
verinnerlicht es das, was es überschreitet, mittels eines Verbots; Rechtsordnung ermöglichen.
auf diese Weise »bezeichnet es sich als außerhalb seiner selbst« Die »Ordnung des Raumes «, in der für Schmitt der souveräne
(Blanchot, S. 292). Die Ausnahme, welche die Struktur der Sou- »Nomos« besteht, ist jedoch nicht nur »Landnahme«,2 Festle-
veränität definiert, ist jedoch noch komplexer. Hier wird das, gung einer juridischen »Ordnung« und einer territorialen »Or-
was draußen ist, nicht einfach mittels eines Verbots oder einer tung«,3 sondern vor allem »Einnahme des Außen«, Ausnahme.4
Internierung eingeschlossen, sondern indem die Gültigkeit der
Ordnung aufgehoben wird, das heißt indem zugelassen wird, K Da es »keine Ordnung [gibt], die auf ein Chaos anwendbar
daß sich die 0 r d nung von der Ausnahme zurückzieht, sie ver- wäre«, muß dieses zuerst durch Schaffung einer Zone der Ununterschie-
denheit zwischen Innen und Außen, Chaos und normaler Situation, das
läßt.1 Es ist nicht die Ausnahme, die sich der Regel entzieht, es
heißt des Ausnahmezustandes, eingeschlossen werden. Denn eine Norm
ist die Regel, die, indem sie sich aufhebt, der Ausnahme statt- muß, um sich auf etwas beziehen zu können, das voraussetzen, was au-
gibt; und die Regel setzt sich als Regel, indem sie mit der Aus- ßerhalb der Beziehung ist (das Beziehungslose), und trotzdem auf diese
nahme in Beziehung bleibt. Die besondere »Kraft« des Gesetzes Weise eine Beziehung damit herstellen. Die Ausnahmebeziehung führt so
rührt von dieser Fähigkeit her, mit einem Außen in Beziehung einfach die originäre formale Struktur der Rechtsbeziehung vor. Die sou-
zu bleiben. Die äußerste Form der Beziehung, die etwas einzig veräne Entscheidung über die Ausnahme ist in diesem Sinn die originäre
durch seine Ausschließung einschließt, nennen wir Ausnahme- politisch-juridische Struktur, von der aus das, was in der Ordnung einge-
schlossen und das, was aus ihr ausgeschlossen ist, erst seine Bedeutung
Beziehung.
gewinnt. In seiner archetypischen Form ist der Ausnahmezustand das
Das Besondere der Situation, die im Ausnahmezustand ge-
Prinzip jeglicher juridischen Lokalisierung; denn nur in ihm öffnet sich
schaffen wird, besteht nun darin, daß sie weder als faktische der Raum, in dem die Festlegung einer gewissen Ordnung und eines be-
noch als rechtliche Situation bestimmt werden kann, sondern stimmten Territoriums erstmals möglich wird. Als solcher ist er aber we-
dazwischen eine paradoxe Schwelle der Ununterschiedenheit sentlich unlokalisierbar (auch wenn ihm von Mal zu Mal definierte raum-
errichtet. Faktisch ist sie deshalb nicht, weil sie nur durch die zeitliche Grenzen zugewiesen werden können).
5
Aufhebung der Norm geschaffen wird; aber aus demselben Der Nexus von Ortung und Ordnung,6 der den »Nomos der Erde«
Grund ist sie ebensowenig ein juristischer Tatbestand, auch konstituiert (Schmitt 2, S. 48), ist mithin noch komplexer, als ihn Schmitt
wenn sie die Möglichkeit der Geltung des Rechts eröffnet. Dies beschreibt; es wohnt ihm eine fundamentale Doppeldeutigkeit inne, eine
ist der letzte Sinn des Paradoxes, das Schmitt formuliert, wenn nicht zu lokalisierende Zone der Ununterschiedenheit oder der Aus-
nahme, die als Prinzip der unendlichen Verschiebung letzten Endes gegen
er schreibt, daß die souveräne Entscheidung, »um Recht zu
schaffen, nicht Recht zu haben braucht«. Denn bei der souverä- 1 Im Original deutsch beigefügt.
nen Ausnahme geht es nicht so sehr darum, eine Überschreitung 2 Im Original deutsch hinter »presa della terra« beigefügt.
zu kontrollieren oder zu neutralisieren, als vielmehr und zual- 3 Im Original deutsch hinter (ordine) »guridico« und »territoriale« beige-
fügt.
4 Im Original deutsch hinter »›presa del fuori<, eccezione« beigefügt.
I Zur Übersetzung von »abbandonare« (verlassen) und Begriffsfeld vgl. 5 Im Original deutsch hinter »localizzazione« beigefügt.
hier und später die grundsätzliche Anmerkung am Ende des Bandes. 6 Im Original deutsch hinter »ordinamento« beigefügt.

28 29
ihn selbst agiert. Eine der Thesen dieser Untersuchung ist die, daß gerade aussetzung der juridischen Referenz in der Form ihrer Aufhe-
der Ausnahmezustand als fundamentale politische Struktur in unserer bung. In jeder Norm, die etwas gebietet oder verbietet (zum
Zeit immer mehr in den Vordergrund rückt und letztlich zur Regel zu
Beispiel in der Norm, die den Mord verbietet) ist als vorausge-
werden droht. Als man in unserer Zeit versucht hat, diesem Unlokalisier-
setzte Ausnahme die reine und unsanktionierbare Figur des Tat-
baren eine dauerhafte sichtbare Lokalisierung zu verleihen, kam das
Konzentrationslager heraus. Das Lager, und nicht das Gefängnis, ist der bestandes eingeschrieben, der im Normalfall die Normübertre-
Raum, der dieser originären Struktur des Nomos entspricht. Das zeigt tung erfüllt (wie, im nämlichen Beispiel, die Tötung eines
unter anderem die Tatsache, daß das Strafvollzugsrecht nicht außerhalb Menschen nicht als natürliche Gewalt, sondern als souveräne
der normalen Rechtsordnung liegt, sondern bloß einen besonderen Be- Gewalt im Ausnahmezustand).
reich des Strafrechts bildet, während die juristische Konstellation, unter
K Hegel war der erste, der diese voraussetzende Struktur der Spra-
der das Lager steht, das Kriegsrecht und der Belagerungszustand ist, wie
che bis ins Innerste verstanden hat; aufgrund dieser Struktur ist die Spra-
wir noch sehen werden. Deshalb ist es nicht möglich, die Analyse des La-
che zugleich außerhalb und innerhalb ihrer selbst, und das Unmittelbare
gers in jene Bahnen einzuschreiben, die Foucault von Wahnsinn und Ge-
(das Nichtsprachliche) stellt sich als nichts anderes als eine Voraussetzung
sellschaft bis überwachen und Strafen gezogen hat. Das Lager als absolu-
der Sprache heraus. »Das vollkommene Element«, schreibt Hegel in der
ter Ausnahmeraum ist topologisch verschieden von einem einfachen
Phänomenologie des Geistes, »worin die Innerlichkeit ebenso äußerlich
Haftraum. Und in diesem Ausnahmeraum zerreißt der Nexus zwischen
als die Äußerlichkeit innerlich ist, ist [.. .] die Sprache« (Hegel, S. 528f.).
Ortung und Ordnung, der die Krise des alten »Nomos der Erde« geprägt
Wie nur die souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand den
hat, endgültig.
Raum gibt, in dem die Grenzen zwischen dem Innen und dem Außen ge-
zogen und bestimmte Normen bestimmten Gebieten zugewiesen werden
1.3. Die Gültigkeit einer Rechtsnorm stimmt nicht mit ihrer
können, so teilt nur die Sprache als reine Potenz der Bezeichnung, indem
Anwendung auf den einzelnen Fall, etwa in einem Prozeß oder sie sich aus jedem konkreten Redevollzug zurückzieht, das Sprachliche
im Vollzug, überein; im Gegenteil muß die Norm, gerade weil vom Nichtsprachlichen und erlaubt, den bezeichnenden Reden Bereiche
sie allgemein ist, unabhängig vom Einzelfall gelten. Hier zeigt zu öffnen, in denen bestimmten Worten bestimmte Bedeutungen ent-
die Sphäre des Rechts ihre Wesensnähe zu jener der Sprache. So sprechen. Die Sprache ist der Souverän, der in einem permanenten Aus-
wie ein Wort im tatsächlichen Vollzug der Rede die Macht, einen nahmezustand erklärt, daß es kein Außerhalb der Sprache gibt, daß Spra-
Ausschnitt der Wirklichkeit zu bezeichnen, nur insofern er- che stets jenseits ihrer selbst ist. Die eigentümliche Struktur des Rechts
langt, als es auch, wenn es selbst nicht bezeichnet, Bedeutung hat hat ihr Fundament in dieser voraussetzenden Struktur der menschlichen
(das heißt als langue im Unterschied zu parole, als Wort in sei- Sprache. Sie formuliert das Band der einschließenden Ausschließung,
dem ein Ding aufgrund der Tatsache, in der Sprache zu sein, genannt zu
nem schieren lexikalischen Bestand, unabhängig von seinem
werden, unterworfen ist. Sprechen ist in diesem Sinn immer ius dicere.
konkreten Einsatz in der Rede), so kann auch eine Norm sich
nur deshalb auf einen Einzelfall beziehen, weil sie in der souve- 1.4, Aus dieser Perspektive steht die Ausnahme in einer sym-
ränen Ausnahme als reine Potenz gilt, in der Aufhebung jegli- metrischen Position zum Beispiel und bildet ein System mit
chen aktuellen Bezugs. Und so wie die Sprache das Nicht- ihm. Ausnahme und Beispiel sind die beiden Modi, mittels de-
sprachliche als dasjenige voraussetzt, mit dem sie in virtueller ren eine Menge die eigene Kohärenz herzustellen und zu erhal-
Beziehung bleiben muß (in Form einer langue, oder genauer ten sucht. Doch während die Ausnahme, wie wir gesehen haben,
eines grammatikalischen Spiels, einer Rede, deren aktuelle Be- eine einschließende Ausschließung ist (also dazu dient, das ein-
zeichnung unbestimmt in der Schwebe gehalten wird), um es zuschließen, was ausgestoßen wird), funktioniert das Beispiel
dann im Vollzug der Rede bezeichnen zu können, so setzt das als ausschließende Einschließung. Man nehme den Fall des
Gesetz das Nichtrechtliche (zum Beispiel die schiere Gewalt als grammatikalischen Exempels (Milner, S. 176): Das Paradox be-
Naturzustand) als das voraus, womit sie im Ausnahmezustand steht hier darin, daß eine einzelne Aussage, die sich in nichts von
potentiell verbunden bleibt. Die souveräne Ausnahme (als Zone den anderen Fällen ihrer Art unterscheidet, von diesen gerade
der Ununterschiedenheit zwischen Natur und Recht) ist die Vor- insofern isoliert wird, als es zu ihnen gehört. Wenn man als Bei-
30 31
spiel eines performativen Sprechakts das Syntagma » I c h liebe quaedem exclusio, quae opponi actioni solet ad excludendum id, quod in
dich« ausspricht, kann es einerseits nicht wie in einem normalen intentionem condemnationemve deductum est«‘). In diesem Sinn ist die
Kontext verstanden werden, andererseits aber muß es wie eine exceptio nicht vollständig außerhalb der Rechts, sondern manifestiert
reale Aussage behandelt werden, um als Beispiel fungieren zu einen Widerstreit zwischen zwei juristischen Erfordernissen, der im rö-
können. Was das Exempel zeigt, ist seine Zugehörigkeit zu einer mischen Recht auf die Gegenüberstellung zwischen ius civile und ius ho-
norarium verweist, das heißt das vom Prätor eingeführte Recht mit dem
Klasse, aber genau darum fällt es im selben Moment, da es diese
Zweck, die exzessive Allgemeinheit der zivilrechtlichen Normen zu mä-
zur Schau stellt, als exemplarischer Fall aus ihr heraus (im Fall ßigen.
eines linguistischen Syntagmas zeigt es das eigene Bedeuten und Der technische Ausdruck verleiht der exceptio den Charakter einer ne-
hebt auf diese Weise die Bedeutung auf). Wenn man nun fragt, gativen Bedingungsklausel, welche die Prozeßformel zwischen die inten-
ob die Regel auf das Beispiel angewandt wird, so ist die Antwort tio und die condemnatio einfügt und mittels deren die Verurteilung des
nicht einfach, denn man wendet die Regel nur auf das Beispiel als Beklagten von der Nichtexistenz der von ihm zur Verteidigung vorge-
Normalfall an, und eben nicht als Beispiel. Das Beispiel ist aus brachten Tatsache abhängt (zum Beispiel: si in ea re nihil malo A. Agerii
dem Normalfall nicht deshalb ausgeschlossen, weil es nicht da- factum rit neque fiat,2 das heißt, wenn es keinen Vorsatz gab). Auf diese
zugehörte, sondern weil es seine Zugehörigkeit zur Schau stellt. Weise ist der Ausnahmefall aus der Anwendung des ius civile ausge-
schlossen, ohne daß allerdings die Zugehörigkeit des Sachverhaltes zum
Es ist tatsächlich paradeigma im etymologischen Wortsinn, das,
normativen Tatbestand in Frage gestellt wäre. Die souveräne Ausnahme
was »sich daneben zeigt<<; eine Klasse kann alles beinhalten, nur geht darüber hinaus: Sie verschiebt den Widerstreit zwischen zwei juristi-
nicht das eigene Paradigma. schen Erfordernissen in ein Grenzverhältnis zwischen dem, was inner-
Der Mechanismus der Ausnahme ist anders. Während das halb, und dem, was außerhalb des Rechts ist.
Beispiel von der Menge insofern ausgeschlossen wird, als es da- Es mag unangemessen erscheinen, die Struktur der souveränen Macht
zugehört, ist die Ausnahme gerade deswegen in den Normalfall angesichts der Grausamkeit ihrer faktischen Implikationen mittels
eingeschlossen, weil sie nicht dazugehört. Und so wie die Zuge- zweier harmloser grammatikalischer Kategorien zu definieren. Dennoch
hörigkeit zu einer Klasse nur durch ein Beispiel erwiesen wer- gibt es einen Fall, in dem der Entscheidungscharakter des linguistischen
den kann, das heißt außerhalb der Klasse, so kann die Nichtzu- Beispiels und seine Grenzverschmelzung mit der Ausnahme eine offen-
kundige Implikation mit der Macht über Leben und Tod aufweisen. Es
gehörigkeit nur in ihrem Innern erwiesen werden, das heißt mit
handelt sich um die Episode im Buch der Richter 12,6, in der die Gileadi-
einer Ausnahme. In jedem Fall (das zeigt der Disput zwischen ter die flüchtenden Ephraimiter, die sich über den Jordan in Sicherheit zu
Anomalisten und Analogisten unter den antiken Grammati- bringen versuchen, dadurch erkennen, daß sie von ihnen verlangen, das
kern) sind Ausnahme und Beispiel korrelierte Begriffe, die letzt- Wort »Schibbolet« zu sagen, das die Ephraimiter aber als *Sibbolet* aus-
lich ununterscheidbar werden und jedesmal ins Spiel kommen, sprechen (»Dicebant ei Galaaditae: numquid Ephrataeus es? Quo di-
wenn es darum geht, den Sinn selbst der Zugehörigkeit der ein- cente: non sum, interrogabant eum: dic ergo Scibbolet, quod interpreta-
zelnen, den Sinn ihrer Gemeinschaftsbildung zu definieren. So tur spica. Qui respondebat: sibbolet, eadem littera spicam exprimere non
komplex gestaltet sich, in jedem logischen wie in jedem sozialen valens. Statimque apprehensum ingulabant in ipso Jordanis transitu«). Im
System, das Verhältnis zwischen dem Drinnen und dem Drau- Schibbolet vermischen sich Beispiel und Ausnahme: Es ist eine beispiel-
hafte Ausnahme oder ein Beispiel, das als Ausnahme gilt. (Es wundert da-
ßen, zwischen Fremdheit und Vertrautheit.
her nicht, daß man im Ausnahmezustand gerne auf exemplarische Strafen
K Die exceptio des römischen Prozeßrechts gibt diese besondere zurückgreift.)
Struktur der Ausnahme gut zu erkennen. Sie ist ein Verteidigungsinstru-
ment des Beklagten, das bei einem Urteil die Schlüssigkeit der vom Klä-
I »Ausnahme heißt eigentlich gewissermaßen eine Ausschließung, die ge-
ger geltend gemachten Gründe neutralisieren kann, falls die normale An- wöhnlich einer Klage entgegengehalten wird, um das auszuschließen, was
wendung des ius civile sich als ungerechtfertigt herausstellen sollte. Die Gegenstand der klägerischen Forderung und der Verurteilung ist.«
Römer sahen darin eine Form der gegen die Anwendung des ius civile ge- 2 *Wenn in dieser Angelegenheit in Folge von Arglist des Aulus Agerius
richteten Ausschließung (Dig. 44,1,t, Ulp. 74: »Exceptio dicta est quasi weder etwas geschehen ist noch geschieht«.
33
I . 5. In der Mengenlehre unterscheidet man zwischen Zugehö- fügt in Badious Schema eine vierte Figur ein, eine Schwelle der
rigkeit und Einschließung. Eine Einschließung liegt vor, wenn Ununterschiedenheit zwischen Exkreszenz (Repräsentation
ein Glied in dem Sinn Teil einer Menge ist, daß alle ihre Glieder ohne Präsentation) und Singularität (Präsentation ohne Reprä-
Teil der Menge sind (man sagt dann, daß b eine Untermenge von sentation), eine Art von paradoxer Einschließung der Zugehö-
a ist, und schreibt: b C a). Aber ein Glied kann auch zu einer rigkeit selbst. Sie ist dasjenige, was nicht in das Ganze einge-
Menge gehören, ohne in sie eingeschlossen zu sein (die Zugehö- schlossen werden kann, zu dem sie gehört, und nicht zu der
rigkeit als Grundbegriff der Mengenlehre, lautet: b E a), oder Menge gehören kann, in die sie schon immer eingeschlossen ist.
umgekehrt eingeschlossen sein, ohne dazuzugehören. Alain Ba- Was in dieser Grenzfigur hervortritt, ist die radikale Krise jegli-
diou hat diese Unterscheidung entwickelt, um sie in politische cher Möglichkeit, deutlich zwischen Zugehörigkeit und Ein-
Begriffe zu übersetzen. Er läßt die Zugehörigkeit der Präsenta- schließung, zwischen dem, was draußen, und dem, was drinnen
tion und die Einschließung der Repräsentation (Re-Präsenta- ist, zwischen Ausnahme und Norm zu unterscheiden.
tion) entsprechen. So kann man sagen, daß ein Glied zu einer Si-
tuation dazugehört, wenn es als ein Glied präsentiert und N Badious Denken ist so gesehen ein rigoroses Denken der Aus-
gezählt wird (in politischen Begriffen sind das die einzelnen In- nahme. Tatsächlich entspricht seine zentrale Kategorie, das Ereignis, auch
dividuen, insofern sie zu einer Gesellschaft gehören). Daß ein der Struktur der Ausnahme. Er bestimmt das Ereignis als Element einer
Glied in eine Situation eingeschlossen ist, sagt man hingegen, Situation derart, daß seine Zugehörigkeit zu ihr in der Perspektive der Si-
tuation selbst Unentscheidbar ist. Darum erscheint dem Staat das Ereignis
wenn es in der Metastruktur (dem Staat) repräsentiert wird, in
zwangsläufig als Exkreszenz. Darüber hinaus kennzeichnet das Verhält-
der die Struktur der Situation ihrerseits als ein Glied gezählt nis zwischen Zugehörigkeit und Einschließung nach Badiou eine funda-
wird (das sind die Individuen, insofern sie vom Staat in Klassen mentale Inadäquatheit, aufgrund deren die Einschließung die Zugehörig-
neu gefaßt werden, zum Beispiel als ,Wähler«). Badiou definiert keit immer überschreitet (Theorem des Überschreitungspunktes). Die
ein Glied dann als normal, wenn es zugleich präsentiert und re- Ausnahme drückt gerade diese Unmöglichkeit eines Systems aus, die
präsentiert wird (das heißt dazugehört und eingeschlossen ist), Einschließung mit der Zugehörigkeit in Übereinstimmung zu bringen,
als Exkreszenz’ dagegen ein Glied, das repräsentiert, aber nicht alle ihre Teile auf eine Einheit zu reduzieren.
präsentiert wird (also in eine Situation eingeschlossen ist, jedoch Unter dem Blickwinkel der Sprache kann man die Einschließung der
nicht dazugehört), als singulär schließlich ein Glied, das präsen- Bedeutung und die Zugehörigkeit der Denotation zuordnen. Dem Theo-
rem des Überschreitungspunktes entspricht dann die Tatsache, daß ein
tiert, aber nicht repräsentiert wird (das dazugehört, ohne einge-
Wort immer mehr Bedeutung birgt, als es im Akt der Denotation be-
schlossen zu sein) (Badiou, S. 95 -1 I r ). zeichnen kann, daß es über die Denotation hinaus einen uneinholbaren
Was wird aus der souveränen Ausnahme in diesem Schema? Überschuß an Bedeutung gibt. Genau um diesen Überschuß geht es in
Auf den ersten Blick könnte man denken, daß sie im dritten Fall Claude Lévi-Strauss’ Theorie von der konstitutiven Überschreitung des
enthalten ist und somit eine Form der Zugehörigkeit ohne Ein- Signifikanten gegenüber dem Signifikat (,Zwischen beiden besteht im-
schließung darstellt. Und so verhält es sich bestimmt aus Badious mer eine Inadäquatheit, die nur für den göttlichen Verstand auflösbar ist
Sicht. Aber die Eigentümlichkeit des souveränen Anspruchs be- und die daraus resultiert, daß es einen Überfluß von Signifikanten gibt im
steht eben darin, daß er sich auf die Ausnahme anwendet, indem Verhältnis zu den Signifikaten, welche es besetzen kann<; Lévi-Strauss,
er sich von ihr abwendet, daß er das einschließt, was außerhalb S. 39) und in l?mile Benvenistes Lehre von der irreduziblen Opposition
zwischen Semiotischem und Semantischem. Unser gegenwärtiges Den-
seiner liegt. Die souveräne Ausnahme ist mithin die Figur, in der
ken sieht sich in allen Bereichen mit der Struktur der Ausnahme konfron-
die Singularität als solche repräsentiert ist, das heißt, insofern sie tiert. Die Behauptung der Souveränität der Sprache bestünde dann im
unrepräsentierbar ist. Was auf keinen Fall eingeschlossen wer- Versuch, die Bedeutung mit der Denotation zur Deckung zu bringen, da-
den kann, wird in der Form der Ausnahme eingeschlossen. Sie zwischen eine Zone der Ununterschiedenheit einzurichten, in der die
Sprache mit ihren denotata in Beziehung bleibt, indem sie sie verläßt [ab-
I Auswuchs, Wucherung; vor allem medizinisch gebraucht. bandonandoli], indem sie sich von ihnen in eine reine kzngue (den lingui-

34 35
stischen »Ausnahmezustand«) zurückzieht. Das tut die Dekonstruktion, heißt als Ausnahmefall. Dieser ist keine Bestrafung der ersten
wenn sie die Unentscheidbarkeiten in der unendlichen Überschreitung Handlung, sondern vollzieht die Einschließung in die Rechts-
über jede effektive Möglichkeit des Signifikats stellt. ordnung, setzt die Gewalt als ursprüngliche Rechtshandlung
(permittit enim lexparem vindictam;’ Festus 496, I 5).
I .6. Deshalb nimmt die Souveränität bei Schmitt die Form einer Die Chiffre dieser Hereinnahme des Lebens ins Recht ist
Entscheidung über die Ausnahme an. Die Entscheidung ist hier nicht die Sanktion (die keineswegs ein ausschließliches Merkmal
nicht Ausdruck des Willens eines Subjekts, das allen anderen der Rechtsnorm ist), sondern die Schuld (nicht in dem techni-
hierarchisch übergeordnet ist, sondern stellt die Einschreibung schen Sinn, die sie als Begriff im Strafrecht hat, sondern im ur-
der Äußerlichkeit in den Körper des nomos dar, die ihn beseelt sprünglichen Sinn eines In-der-Schuld-Seins: in culpa esse); das
und ihm Sinn verleiht. Der Souverän entscheidet nicht über das bedeutet eben, durch eine Ausschließung eingeschlossen zu
Zulässige und das Unzulässige, sondern über die ursprüngliche werden, mit etwas in Beziehung zu stehen, wovon man ausge-
Einbeziehung des Lebewesens in die Sphäre des Rechts oder, schlossen ist oder das man nicht vollständig annehmen kann.
mit Schmitts Worten, in die »normale Gestaltung der Lebens- Die Schuld bezieht sich nicht auf die Überschreitung, das beißt
verhältnisse«, deren das Gesetz bedarf. Die Entscheidung be- auf die Bestimmung des Zulässigen oder Unzulässigen, sondern
trifft weder eine quaestio iuris noch eine quaestiofacti, sondern a u f die reine Geltung des Gesetzes, a u f den einfachen Umstand,
die Beziehung selbst zwischen Rechtlichem und Faktischem. Es daß sich das Gesetz auf etwas bezieht. Dies ist auch der letzte
geht hier nicht nur, wie Schmitt zu meinen scheint, um den Ein- Grund der - jeder Moral fremden - juridischen Maxime, daß
fall des »wirklichen Lebens«, das in der Ausnahme »die Kruste Unwissenheit nicht vor Strafe schützt. Diese Unmöglichkeit zu
einer in Wiederholung erstarrten Mechanik« »durchbricht« entscheiden, ob die Schuld die Norm begründet oder die Norm
(Schmitt I, S, 21), sondern um etwas, das die innerste Natur des die Schuld setzt, wirft ein klares Licht auf die Ununterscheid-
Gesetzes betrifft. Das Recht besitzt normativen Charakter, es ist barkeit zwischen Außen und Innen, Leben und Recht, welche
nicht deswegen »Norm« (im eigentlichen Sinn von »Winkel- die souveräne Entscheidung über die Ausnahme kennzeichnet.
maß«), weil es befiehlt oder vorschreibt, sondern insofern es vor Die »souveräne« Struktur des Gesetzes, seine eigentümliche
allem den Bereich der eigenen Referenz im wirklichen Leben und ursprüngliche »Kraft«, hat die Form des Ausnahmezustan-
schaffen und diese Referenz normalisieren muß. Die originäre des, in dem Faktum und Recht ununterscheidbar sind (und den-
Struktur der Norm ist aus diesem Grund - insofern sie also die noch darüber entschieden werden muß). Das Leben, das auf
Bedingungen der Referenz festlegt und zugleich voraussetzt - diese Weise ob-ligat gemacht, ins Recht einbezogen ist, kann
stets folgenden Typs: »Wenn (realer Sachverhalt, e. g.: si mem- dies letztlich nur durch die Voraussetzung seiner einschließen- .
brum rupsit), dann (juristische Konsequenz, e.g.: talio esto)«;’ den Ausschließung, nur in der exceptio sein. Es gibt da eine
hier wird ein Faktum durch seine Ausschließung in die Rechts- Grenzfigur des Lebens, eine Schwelle, wo sich das Leben zu-
ordnung eingeschlossen, und die Überschreitung scheint dem gleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung befindet,
zulässigen Fall vorauszugehen und ihn zu bestimmen. Wenn das und diese Schwelle ist der Ort der Souveränität.
Recht ursprünglich die Form einer lex talionis (talio geht viel- Deshalb muß die Behauptung, daß »die Regel [. . .] überhaupt
leicht auf talis zurück: »die Sache als solche«) hat, dann bedeutet nur von der Ausnahme« »lebt«, buchstäblich genommen wer-
das, daß die Rechtsordnung nicht einfach mit der Sanktion einer den. Das Recht lebt von nichts anderem als dem Leben, das es
Überschreitung steht, sondern sich eher mittels der Wiederho- durch die einschließende Ausschließung der exceptio in sich hin-
lung derselben Handlung ohne jede Sanktion konstituiert, das einzunehmen vermag: Es nährt sich davon und ist ohne es toter
Buchstabe. In diesem Sinn hat das Recht »kein Dasein für sich,
I Si membrum rupsit, ni cum eo pacit, talio esto: »Wenn er einem ein Glied
bricht und sich nicht mit ihm vergleicht, soll ihm das gleiche geschehen«
(Duod. tab. ap. Fest.). I »Denn das Gesetz erlaubt gleichwertige Rache.«

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sein Wesen vielmehr ist das Leben der Menschen selbst« (Savi- I .7. Wenn die Ausnahme die Struktur der Souveränität ist, dann

gny). Die souveräne Entscheidung zieht und erneuert von Mal ist die Souveränität weder ein ausschließlich politischer noch ein
zu Mal diese Schwelle der Ununterschiedenheit zwischen Au- ausschließlich juridischer Begriff, weder eine dem Gesetz äußer-
ßen und Innen, Ausschließung und Einschließung, nomos und liche Potenz (Schmitt) noch die höchste Norm der Rechtsord-
physis, wo das Leben in ursprünglicher Weise im’ Recht ausge- nung (Hans Kelsen): Sie ist die originäre Struktur, in der sich das
nommen wird. Ihre Entscheidung ist die Position eines Unent- Gesetz auf das Leben bezieht und es durch die eigene Aufhe-
scheidbaren. bung in sich einschließt. Diese Potenz (im eigentlichen Sinn der
aristotelischen dynamis, die immer auch dynamis rn$ energein
)J Es ist kein Zufall, daß die erste Arbeit Schmitts ganz der Defini- ist, die Potenz, nicht zum Akt überzugehen) des Gesetzes, sich
tion des rechtlichen Begriffs der Schuld gewidmet ist. Was an dieser Stu- im eigenen Entzug zu unterhalten, sich in der Abwendung an-
die sofort auffällt, ist die Entschiedenheit, mit welcher der Verfasser jede
zuwenden, nennen wir, einem Hinweis von Jean-Luc Nancy
technisch-formale Definition des Schuldbegriffs ablehnt, um ihn dage-
gen mit Ausdrucken zu charakterisieren, die auf den ersten Blick eher
folgend, Bann (das alte germanische Wort bezeichnet sowohl
moralisch als juridisch erscheinen. Denn die Schuld ist (entgegen dem al- den Ausschluß aus der Gemeinschaft als auch den Befehl und
ten rechtlichen Sprichwort, das ironisch behauptet, es gebe »keine das Banner des Souveräns). Die Ausnahmebeziehung ist eine
Schuld ohne Norm«) vornehmlich ein »Vorgang des Innenlebens*, das Beziehung des Banns. Tatsächlich ist der Verbannte ja nicht ein-
heißt etwas wesentlich »Innersubjektives« (Schmitt 3, S. I 8 - 28); man fach außerhalb des Gesetzes gestellt und von diesem unbeachtet
kann es als wahren »bösen Willen« qualifizieren, der »in der den Zwek- gelassen, sondern von ihm verlassen [abbundonato], das heißt
ken des Rechtes nicht entsprechenden Zwecksetzung« besteht (ebd., ausgestellt und ausgesetzt auf der Schwelle, wo Leben und
S. 92). Recht, Außen und Innen verschwimmen. Von ihm läßt sich in
Es läßt sich nicht sagen, ob Benjamin diesen Text kannte, als er Schick-
einem buchstäblichen Sinn nicht sagen, ob er außerhalb oder in-
sal und Charakter und Zur Kritik der Gewalt schrieb; unbestreitbar ist
jedoch, d a ß seine Definition der Schuld als ursprünglicher Rechtsbegriff, nerhalb der Ordnung ist (aus diesem Grund bedeuten im Italie-
der ungebührlich auf die ethisch-religiöse Sphäre übertragen wurde, mit nischen »in bando, a bandono« ursprünglich »der Gnade über-
Schmitts Auffassung genau übereinstimmt - auch wenn sie entschlossen lassen, ausgeliefert« [alla merci di] sowie »aus freien Stücken,
eine andere Richtung einschlägt. Denn Benjamin geht es gerade darum, freiwillig« [a proprio talento], und »bandito« meint sowohl
die Stufe der dämonischen Existenz, deren Residuum das Recht ist, zu »ausgeschlossen, verbannt« als auch »für alle offen, frei«, etwa in
überwinden und den Menschen von der Schuld zu befreien (was nichts den Wendungen »mensa bandita«, »öffentlicher, reich gedeckter
anderes als die Einschreibung des natürlichen Lebens in die Ordnung des Tisch«, und »a redina bandita« «, »mit losgelassenen Zügeln«).
Rechts und des Schicksals ist). Dagegen steht im Mittelpunkt von Deshalb kann auch das Paradox der Souveränität die Form an-
Schmitts Einforderung des rechtlichen Charakters und der zentralen Be-
nehmen: »Es gibt kein Außerhalb des Gesetzes«. Die originäre
deutung der Schuld nicht die Freiheit des ethischen Menschen, sondern
lediglich die zügelnde Kraft einer souveränen Macht (kat~chon), welche
Beziehung des Gesetzes mit dem Leben ist nicht die Anwen-
die Herrschaft des Antichristen bestenfalls hinauszögern kann. dung, sondern die Verlassenheit[l’Abbandono]. Die unüberbiet-
Eine analoge Konvergenz liegt bezüglich des Charakters vor. Schmitt bare Potenz des nomos, seine originäre »Gesetzeskraft«, besteht
unterscheidet wie Benjamin klar zwischen Schuld und Charakter (der darin, daß er das Leben in seinem Bann hält, indem er es verläßt.
»Begriff der Strafschuld«, schreibt er, »hat es also mit einem operari, Diese Struktur des Banns gilt es hier zu verstehen, um sie gege-
nicht mit einem esse zu tun«; ebd., S. 46). Bei Benjamin stellt sich aber ge- benenfalls erneut in Frage zu stellen.
rade dieses Element (der Charakter als das, was sich jedem bewußten
Willen entzieht) als das Prinzip vor, das den Menschen von der Schuld zu
erlösen und seine natürliche Unschuld zu erweisen vermag. K Der Bann ist eine Beziehungsform. Doch um was für eine Bezie-
hung handelt es sich eigentlich, wenn sie keinen positiven Inhalt hat und
sich die Glieder gegenseitig auszuschließen (und zugleich einzuschlie-
I Hervorhebung durch den Übersetzer. ßen) scheinen? Welche Gesetzesform druckt sich darin aus? Der Bann ist

38 39
die reine Form des Sich-auf-etwas-Beziehens im allgemeinen, das heißt 2. Nomos basileus
die einfache Setzung einer Beziehung mit dem Beziehungslosen. In die-
sem Sinn ist sie mit der Grenzform der Beziehung identisch. Eine Kritik
des Banns muß also notwendigerweise die Beziehungsform selbst zum
Problem erheben und fragen, ob das Politische nicht vielleicht jenseits der 2.1. Der Grundsatz, nach dem die Souveränität zum Gesetz ge-
Beziehung, das heißt nicht mehr in der Form eines Verhältnisses gedacht
hört und der von unserer heutigen Auffassung von Demokratie
werden kann.
und Rechtsstaat nicht zu trennen zu sein scheint, räumt das Pa-
radox der Souveränität keineswegs aus, sondern treibt es im Ge-
genteil auf die Spitze. Seit der ältesten überlieferten Formulie-
rung dieses Grundsatzes, dem Fragment. 169 von Pindar, ist die
Souveränität des Gesetzes in einer derart dunklen und doppel-
deutigen Dimension angesiedelt, daß man diesbezüglich mit
gutem Grund von einem »Rätsel« gesprochen hat (Ehrenberg,
S. 1 19). Hier also der Text des Fragments in der Rekonstruktion
Boeckhs:
Nomos ho phztön basileh
tbnat& te kai athatitön
Ölgei dikaih th biaihzton
hypertitai cbeivi. tekmairomai
hgoisin H%ak&os. 1

Das Rätsel besteht nicht so sehr darin, d& mehrere Interpreta-


tionen des Fragments möglich sind; entscheidend ist vielmehr,
daß der Dichter - daran läßt der Bezug auf Herakles’ Diebstahl
keinen Zweifel - die Souveränität des n&zos durch eine Recht-
fertigung der Gewalt bestimmt. Die Bedeutung des Fragments
klärt, sich also nur, wenn man begreift, daß es in seinem Zentrum
eine skandalöse Zusammenfügung jener beiden antithetischen
Prinzipien schlechthin birgt, welche für die Griechen Biu und
D&c, Gewalt und Gerechtigkeit, sind. Nomos ist die Macht, die
»mit höchster Hand« die paradoxe Vereinigung der beiden Ge-
genkräfte bewerkstelligt (wenn man in diesem Sinn unter »Rät-
sel« die aristotelische Definition von ainigma als »Verbindung
von Gegensätzen« versteht, so enthält das Fragment wirklich
ein Rätsel).

I »Nomos, der König aller / Sterblichen wie Unsterblichen, / lenkt, Recht


setzend, das Gewaltsamste / mit höchster Hand. Ich beweise es / durch
Herakles’ Taten.« Der Text ist umstritten.
Wenn man im Fragment 24 von Solon k?rdtei n6mou lesen x I n F r i e d r i c h Hölderlins kommentierter Übertragung von Pin-
muf3 (wie das die meisten Forscher tun), dann wurde die spezi- dars Fragmenten (von Friedrich Beißner auf 1803 datiert) lautet das be-
fische »Kraft« des Gesetzes bereits im sechsten Jahrhundert ge- sagte Fragment wie folgt (Hölderlin hatte aller Wahrscheinlichkeit nach
einen im Sinne von Platons Gorgias, 484 b, 1- IO, emendierten Text vorlie-
nau in der »Verknüpfung« von Gewalt und Gerechtigkeit er-
gen: biaiön t6 dikaiataton, »das Gerechteste erzwingend« oder: »dem Ge-
kannt (krd’tei / nomou b& te kai diken synharmhas: i »durch rechtesten Gewalt antuend«):
Kraft des n&nos habe ich Gewalt und Recht verknüpft«; aber
auch wenn man homou statt n6mou liest, bleibt der zentrale Ge- DAS HÖCHSTE

danke derselbe, wenn Solon von seiner Handlung als Gesetzge- Das Gesetz,
ber spricht; vgl. Romilly, S. I 5). Auch ein Abschnitt von He- Von allen der König, Sterblichen und
siods Werke und Tage2 - diesen mochte Pindar im Sinn gehabt Unsterblichen; das führt eben
haben - weist dem n&zos eine entscheidende Stellung im Ver- Darum gewaltig
Das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand.
hältnis von Gewalt und Recht zu:
Schmitt kritisiert Hölderlins Interpretation des Fragments im Namen
Perses, du aber laß dir davon das Herz nun bewegen: seiner Theorie von der konstitutiven Superiorität des n6mos über das Ge-
Höre du jetzt auf das Recht [d&?s ep&oue] und schlag die Gewalt aus setz (im Sinne einer konventionellen Setzung). »Aber auch Hölderlin«,
dem Sinn dir [l&s d’ep;hheo]! schreibt er, »verwirrt seine Deutung der Pindar-Stelle (Hellingrath V 277)
Denn ein solches Gesetz [&mos] erteilt den Menschen Kronion dadurch, daß er das Wort Nomos im Deutschen mit >Gesetz< wiedergibt
[Zeus]: und auf den Irrweg dieses Unglückswortes lenkt, obwohl er weiß, daß
Fische zwar sollten und wildes Getier und gefiederte Vögel das Gesetz die strenge Mittelbarkeit ist. Der Nomos im ursprünglichen
fressen einer den andern, weil unter ihnen kein Recht ist. Sinne aber ist grade die volle Unmittelbarkeit einer nicht durch Gesetze
Aber den Menschen gab er das Recht [di&] bei weitem als bestes vermittelten Rechtskraft; er ist ein konstituierendes geschichtliches Er-
Gut. (v. 274- 280) eignis, ein Akt der Legitimität, der die Legalität des bloßen Gesetzes
überhaupt erst sinnvoll macht.« (Schmitt 2, S. 42)
Bei Hesiod ist der n6mos immerhin die Macht, die Gewalt und Schmitt mißversteht hier die Absicht des Dichters völlig, die gerade ge-
Recht. tierische und menschliche Welt trennt, und bei Solon gen jedes unmittelbare Prinzip gerichtet ist. In seinem Kommentar be-
birgt die »Verknüpfung« von 2%~ und Dike weder Ambiguität stimmt Hölderlin den n&nos (den er vom Recht abgrenzt) als »strenge
Mittelbarkeit«: »Das Unmittelbare, streng genommen«, so schreibt er,
noch Ironie. Bei Pindar aber - und das ist der Knoten, den er
»ist für die Sterblichen unmöglich, wie für die Unsterblichen; der Gott
dem politischen Denken des Abendlandes als Erbe hinterläßt muß verschiedene Welten unterscheiden, seiner Natur gemäß, weil
und der ihn gewissermaßen zum ersten großen Denker der Sou- himmlische Güte, ihret selber wegen, heilig seyn muß, unvermischet. Der
veränität macht - ist der souveräne nomos dasjenige Prinzip, das Mensch, als Erkennendes, muß auch verschiedene Welten unterscheiden,
Recht und Gewalt, indem es sie verbindet, in die Ununterscheid- weil Erkentniß nur durch Entgegensezung möglich ist.« (Hölderlin,
barkeit drängt. In diesem Sinn enthält Pindars Fragment über S. 285) Wenn Hölderlin (wie Schmitt) einerseits im nomos basileh ein
den nomos basileus das verborgene Paradigma, das alle folgen- Prinzip sieht, das höher steht als das einfache Recht, präzisiert er anderer-
den Definitionen der Souveränität lenkt: Der Souverän ist der seits sorgfältig, daß der Ausdruck »König« sich hier nicht auf eine »höch-
Punkt der Ununterschiedenheit zwischen Gewalt und Recht, ste Macht« bezieht, sondern auf den »höchsten Erkenntnißgrund« (ebd.).
Mit einer für seine letzten Übersetzungen so charakteristischen Korrek-
die Schwelle, auf der Gewalt in Recht und Recht in Gewalt über-
tur verschiebt Hölderlin ein politisch-juridisches Problem (die Souverä-
geht. nität des Gesetzes als Ununterscheidbarkeit von Recht und Gewalt) in
die Sphäre der Erkenntnistheorie (die Mittelbarkeit als Macht der Unter-
scheidung). Ursprünglicher und stärker als das Recht ist nicht (wie bei
1 Der Text ist umstritten. Schmitt) der n&zos als souveränes Prinzip, sondern die Mittelbarkeit,
2 Vers 274 - 280. welche die Erkenntnis begründet.

42 43
.

2.2. In diesem Licht mu13 Platons Zitat im Gorgias (484 b, I-IO) hochweiser Pindar, möchte ich denn doch behaupten, daß dies gewif3
gelesen werden, wo VergeiSlichkeit vorgeschützt, der Pindar- kaum gegen die Natur, sondern vielmehr der Natur gemäß ist, ich
Text jedoch bewußt verändert wird: meine die Herrschaft des Gesetzes, die ihrer Natur nach über Freiwil-
lige und nicht mit Gewalt ausgeübt wird.< (Legg. @ob-c)
»Auch Pindaros scheint mir das, was ich meine, anzudeuten in dem
Liede, worin er sagt:
In beiden Fällen ist das, was Platon interessiert, nicht so sehr die
Das Gesetz, König aller,
der Sterblichen und Unsterblichen«,
Opposition von phjsis und nomos, die im Brennpunkt der so-
phistischen Debatte stand (Stier, S. 245 f.), sondern vielmehr die
und dann geht es bei Platon so weiter: Koinzidenz von Gewalt und Recht, welche die Souveränität
konstituiert. Im zitierten Abschnitt der Nomoi wird die Macht
*führt mit übermächtigster Hand, des Gesetzes als naturgemäß (kath p@sin) und als wesentlich
Gewalt antuend dem Gerechtestenldas Gerechteste erzwingende. nicht gewaltsam bestimmt, denn was Platon am Herzen liegt, ist
die Neutralisierung der Opposition, die sowohl für die Sophi-
Nur eine akute coniunctiwitisprofessoria hat die Philologen dazu sten wie (auf andere Weise) bei Pindar die »souveräne« Ver-
bringen können (insbesondere den Herausgeber der mittler- wechslung und Vermischung von Bia und Dike rechtfertigte.
weile überholten kritischen Oxforder Platon-Ausgabe), das Die ganze Behandlung des Verhältnisses von physis und no-
biaZn t6 &azötaton der am besten autorisierten Handschriften mos im zehnten Buch der Nomoi ist darauf ausgerichtet, die so-
nach dem Buchstaben des Pindar-Textes (dikaih tZ, biaibtaton) phistische Konstruktion der Opposition ebenso wie die Be-
zu emendieren. Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf hat zu hauptung von der Vorgängigkeit der Natur gegenüber dem
Recht bemerkt (Wilamowitz, S. 95 - 97), daß biaiön im Griechi- Gesetz zu demontieren. Platon neutralisiert beides mit der Be-
schen zu selten vorkommt, als daß man es mit einem Zupsus me- hauptung, daß die Seele und alles, »was mit der Seele verwandt
moriae erklären könnte (und noch weniger mit einem Zapsus ist« (Intellekt, thhz~ und nomos), ursprünglicher sei als die
calami), und der Sinn des platonischen Wortspiels ist auch völlig Körper und die Elemente, »die sie nicht richtig mit dem Namen
klar: Die »Rechtfertigung der Gewalt/das Gerechteste erzwin- der Natur bezeichnen« (Legg. 892c- b). Wenn er sagt (und mit
gen« ist hier im selben Maß ein »dem Gerechtesten Gewalt an- ihm alle Vertreter dessen, was Leo Strauss das »klassische Na-
tun«; darin und in nichts anderem besteht die »Souveränität« des turrechts nennt), daß »das Gesetz über die Menschen herrschen
nhzos, von dem Pindar spricht. soll und nicht die Menschen über das Gesetz«, so möchte er
Eine analoge Absicht lenkt sowohl das implizite Zitat, das nicht die Souveränität des Gesetzes über die Natur behaupten,
Platon im Protagoras Hippias in den Mund legt (»Ihr versam- sondern lediglich sein »natürliches«, das heißt nicht gewaltsa-
melten Männer seid alle Verwandte und Befreundete und Mit- mes Wesen. Während bei Platon also das »Naturgesetz« hervor-
bürger von Natur, nicht durch das Gesetz [n&zos]. Denn das tritt, um die Gegenüberstellung von ph$is und nhnos außer
Ähnliche ist dem Ähnlichen von Natur verwandt, das Gesetz Kraft zu setzen und die souveräne Vermischung von Gewalt und
aber, welches ein Tyrann [tyrannos nicht basileh] der Menschen Recht auszuschließen, dient die Opposition den Sophisten just
ist, erzwingt vieles gegen die Natur«) als auch das explizite Zitat zur Begründung des Souveränitätsprinzips, zur Vereinigung
der Nomoi: von Bz2 und Dike.
»[Das Axiom, wonach der Stärkere herrscht,] ist unter allen Lebewe-
sen am weitesten verbreitet und auch der Natur gemäß, wie einmal 2.3. Der Sinn dieser Entgegensetzung selbst, die sich in der
Pindar aus Theben gesagt hat. Das gewichtigste Axiom aber dürfte, politischen Kultur des Abendlandes so hartnäckig halten sollte,
scheint es, das sechste sein, das verlangt, da!3 der Unwissende Folge lei- muß hier in einer neuen Weise erwogen werden. Die sophisti-
stet, der Verständige aber führt und herrscht. Und in diesem Fall, mein sche Polemik gegen den no’mos und zugunsten der Natur (die
44 45
sich im Verlauf des vierten Jahrhunderts immer mehr erhitzt) über den Ausnahmezustand macht. Was er hier um jeden Preis
kann man als notwendige Prämisse für die Opposition von Na- sichern will, ist die Vorrangigkeit des souveränen nbmos als kon-
turzustand und commonwealth betrachten, die Hobbes seiner stitutives Ereignis des Rechts gegenüber jeder positivistischen
Konzeption der Souveränität zugrunde legt. Wenn für die So- Konzeption des Gesetzes als einfache Setzung und Überein-
phisten die Vorgängigkeit derp&is letztendlich die Macht des kunft. Deswegen muß Schmitt, auch wenn vom »Nomos als
Stärkeren rechtfertigt, ist es für Hobbes gerade diese Identität Herrscher« die Rede ist, die Wesensnähe von nbmos und Aus-
von Naturzustand und Gewalt (homo homini Lupus), der die ab- nahmezustand im dunkeln lassen. Eine aufmerksamere Lektüre
solute Macht des Souveräns rechtfertigt. In beiden Fällen, auch stellt diese Nähe jedoch klar heraus: Wenig später, im Kapitel
wenn in scheinbar entgegengesetztem Sinn, bildet die Antino- über die »ersten globalen Linien«, zeigt Schmitt nämlich, wie
mie physis/nomos die Voraussetzung, die das Souveränitätsprin- der Nexus von Ortung und Ordnung, in dem der Nomos der
zip, die Ununterscheidbarkeit von Recht und Gewalt legitimiert Erde besteht, immer eine aus dem Recht ausgeschlossene Zone
(beim starken Mann der Sophisten wie bei Hobbes’ Souverän). impliziert; sie bildet einen »freien, d. h. rechtsleeren Raum«, in
Wichtig ist zu bemerken, daß bei Hobbes der Naturzustand in dem die souveräne Macht die vom nomos als Ortung festgeleg-
der Person des Souveräns überlebt, der als einziger sein natürli- ten Grenzen nicht mehr kennt. In der klassischen Epoche des
ches ius contra omnes bewahrt. Die Souveränität stellt sich somit Jus Publicum Europaeum entspricht diese Zone der Neuen
wie eine Einverleibung des Naturzustandes der Gesellschaft dar Welt, die mit dem Naturzustand identifiziert wird (John Locke:
oder, wenn man will, wie ein Schwelle der Ununterschiedenheit »In the beginning all the world was America«). Schmitt bringt
zwischen Natur und Kultur, zwischen Gewalt und Gesetz, und diese Zone beyond the line selbst mit dem Ausnahmezustand
genau in dieser Ununterscheidbarkeit liegt das Spezifische der zusammen, dem »in offensichtlich analoger Weise die Vorstel-
souveränen Gewalt. Deshalb befindet sich der Naturzustand lung eines ausgegrenzten, freien und leeren Raumes zu Grunde«
nicht wirklich außerhalb des &mos, sondern enthält ihn virtu- »liegt«, verstanden als »ein zeitlich und räumlich bestimmter
ell, Er ist (sicher in der Neuzeit, aber wahrscheinlich schon zur Bereich der Suspendierung allen Rechts«.
Zeit der Sophistik) das In-Potenz-Sein des Rechts, seine Selbst-
»Zeitlich ist es durch Verkündung des Kriegsrechts am Anfang und
voraussetzung als »natürliches Recht«. Im übrigen war sich durch einen Indemnitätsakt am Schluß von dem Zeitraum der norma-
Hobbes, wie Strauss hervorhebt, völlig bewußt, daf3 der Natur- len Rechtsordnung abgegrenzt; räumlich durch eine genaue Angabe
zustand nicht unbedingt als reale Epoche angesehen werden des Geltungsbezirks; innerhalb dieses örtlichen und zeitlichen Be-
muß, sondern eher als ein dem Staat innewohnendes Prinzip, reichs kann alles geschehen, was nach Lage der Sache faktisch notwen-
das sich in dem Moment offenbart, in dem man ihn betrachtet, dig erscheint. Es gibt für diesen Vorgang ein anschauliches antikes
»wie wenn er aufgelöst wäre« (»ut tanquam dissoluta conside- Symbol, auf das auch Montesquieu hingewiesen hat: die Statue der
retur, id est, ut qualis sit natura humana [. . .] recte intelligatur«; Freiheit oder die der Gerechtigkeit wird für eine bestimmte Zeit ver-
Hobbes 1, S. 79f.). Die Äußerlichkeit - das Naturrecht und das hüllt.« (Schmitt 2, S. 66f.)
Prinzip der Erhaltung des eigenen Lebens - ist in Wahrheit der In seiner Souveränität ist der nomos notwendig sowohl mit dem
innerste Kern des politischen Systems; dieses lebt von ihm in Naturzustand als auch mit dem Ausnahmezustand verknüpft.
demselben Sinn, in dem nach Schmitt die Regel von der Aus- Der letztere (samt der notwendigen Ununterscheidbarkeit zwi-
nahme lebt. schen Bia und Dike) ist ihm nicht einfach äußerlich; obwohl klar
abgegrenzt, ist er vielmehr als in jedem Sinn fundamentales Mo-
2.4. Von hier aus gesehen wundert es nicht, daI3 Schmitt seine ment darin einbezogen. Der Ordnung-Ortung-Nexus enthält
Theorie von der Ursprünglichkeit des »Nomos der Erde« ge- also in seinem Innern immer schon den eigenen virtuellen Bruch
rade auf das Pindar-Fragment gründet und dennoch keine An- in der Form einer »Suspendierung allen Rechts«. Was dann ein-
spielung auf seine These von der Souveränität als Entscheidung tritt (an dem Punkt, wo man die Gesellschaft tanquam dissoluta
46 47
betrachtet), ist in Tat und Wahrheit nicht der Naturzustand (als
früheres Stadium, in das die Menschen zurückfielen), sondern
der Ausnahmezustand. Naturzustand und Ausnahmezustand
sind lediglich die zwei Seiten des einen topologischen Prozesses,
wo das, was als Außen vorausgesetzt worden ist (der Naturzu-
stand), nun im Innern (als Ausnahmezustand) wiedererscheint, Fig. I Fig. 2 Fig. 3
wie bei einem Möbius-Band oder einer Leidener Flasche; und
die souveräne Macht ist genau diese Unmöglichkeit, Außen und In dieser Perspektive muß das, was sich in Ex-Jugoslawien abspielt, und
Innen, Natur und Ausnahme,phjsis und nomos auseinanderzu- ganz allgemein die Auflösung der traditionellen staatlichen Organismen
halten. Der Ausnahmezustand ist demnach nicht so sehr eine in Osteuropa nicht als eine Wiederkehr des Kampfes aller gegen alle im
Naturzustand betrachtet werden, der das Vorspiel zu neuen sozialen Ver-
raumzeitliche Aufhebung als vielmehr eine komplexe topologi-
trägen und neuen nationalstaatlichen Ortungen wäre; vielmehr ist es das
sche Figur, in der nicht nur Ausnahme und Regel, sondern auch Zutagetreten des Ausnahmezustandes als permanente Struktur der juri-
Naturzustand und Recht, das Draußen und das Drinnen inein- disch-politischen Ent-Ortung und Verschiebung. Es handelt sich also
ander übergehen. Genau auf diese topologische Zone der Unun- nicht um einen Rückfall der politischen Organisation in überwundene
terscheidbarkeit, die dem Auge der Gerechtigkeit verborgen Formen, sondern um vorwarnende Ereignisse, die wie blutige Boten den
bleiben sollte, müssen wir hingegen den Blick zu heften versu- neuen nomos der Erde ankündigen, der (wenn das Prinzip, auf dem er
chen. Der Prozeß (den Schmitt minutiös beschrieben hat und gründet, nicht erneut in Frage gestellt wird) dazu tendiert, sich über den
den wir heute noch erleben), der - seit dem Ersten Weltkrieg in ganzen Planeten auszubreiten.
klar erkennbarer Weise - den konstitutiven Nexus zwischen
Ortung und Ordnung des antiken nomos zersetzt und das ganze
System der gegenseitigen Abgrenzungen und der Regeln des
Jus Publicum Europaeum ruiniert, hat in der souveränen Aus-
nahme sein verborgenes Fundament. Es ist das, was geschehen
ist und weiterhin vor unseren Augen geschieht: Der »rechtsleere
Raum« des Ausnahmezustandes (wo das Gesetz in der Figur -
und etymologisch heißt das in der Fiktion - seiner Auflösung in
Kraft ist und daher all das geschehen konnte, was der Souverän
faktisch für notwendig hielt) hat seine raumzeitlichen Grenzen
durchbrochen und, indem er sich über sie hinaus ergießt, droht
er nunmehr überall mit der normalen Ordnung zusammenzu-
fallen, in der von neuem alles möglich wird.

K Wollte man das Verhältnis zwischen Naturzustand und Rechts-


zustand, so wie es sich im Ausnahmezustand gestaltet, schematisch dar-
stellen, so könnte man sich zwei Kreise vorstellen, die anfangs voneinan-
der getrennt erscheinen (Fig. I), dann aber im Ausnahmezustand zeigen,
daß in Wirklichkeit der eine sich im Innern des anderen befindet (Fig. 2).
Wenn die Ausnahme dazu tendiert, zur Regel zu werden, fallen die bei-
den Kreise absolut ununterscheidbar zusammen (Fig. 3):

48
3. Potenz1 und Recht weise außerhalb jeglicher konstituierten Gewalt hält, stimmt
man heute (ganz nach der allgemeinen zeitgenössischen Ten-
denz, alles mittels Normen zu regeln) zunehmend in der Auffas-
sung überein, die konstituierende Gewalt auf die in der Verfas-
3. I . Das Paradox der Souveränität zeigt sich wohl nirgendwo in sung vorgesehene Revisionsbefugnis zu beschränken und die
so klarem Licht wie beim Problem der konstituierenden Gewalt Gewalt, der die Verfassung entsprungen ist, als vorrechtlich
und ihrem Verhältnis zur konstituierten Gewalt.2 Theorie wie oder rein faktisch beiseite zu schieben.
positive Gesetzgebung haben bei der Formulierung und der Mit Worten, die seitdem nichts von ihrer Aktualität einge-
Wahrung dieser Unterscheidung in ihrer ganzen Tragweite stets büßt haben, hat Benjamin diese Tendenz bereits kurz nach dem
Schwierigkeiten bekundet. In einem politikwissenschaftlichen Ersten Weltkrieg kritisiert, indem er das Verhältnis zwischen
Traktat liest man darüber folgendes: konstituierender Gewalt und konstituierter Gewalt als dasje-
nige zwischen rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt
»Die Erklärung dafür legt Wert darauf, daß man die konstituierende
[violenza] darlegt:
Gewalt und die konstituierte Gewalt auf verschiedenen Ebenen ansie-
deln muß, will man der Unterscheidung [. . .] ihren wirklichen Sinn »Schwindet das Bewußtsein von der latenten Anwesenheit der Gewalt
verleihen. Konstituierte Gewalten existierten nur im Staat; sie sind von in einem Rechtsinstitut, so verfällt es. Dafür bilden in dieser Zeit die
einer vorgängigen statutarischen Ordnung nicht zu trennen und be- Parlamente ein Beispiel. Sie bieten das bekannte jammervolle Schau-
dürfen des staatlichen Rahmens, dem ihr Vorhandensein Realität ver- spiel, weil sie sich der revolutionären Kräfte, denen sie ihr Dasein
leiht. Die konstituierende Gewalt befindet sich dagegen außerhalb des verdanken, nicht bewußt geblieben sind. [. . .] Ihnen fehlt der Sinn für
Staates; sie schuldet ihm nichts und existiert ohne ihn, sie ist die die rechtsetzende Gewalt, die in ihnen repräsentiert ist; kein Wunder,
Quelle, die dadurch, daß man aus ihrem Fluß schöpft, niemals ausge- daß sie zu Beschlüssen, welche dieser Gewalt würdig wären, nicht
schöpft wird.« (Burdeau, S. 183f.) gelangen, sondern im Kompromiß eine vermeintlich gewaltlose Be-
handlungsweise politischer Angelegenheiten pflegen.« (Benjamin 1,
Daher rührt die Unmöglichkeit, die Beziehung zwischen den s. 1gof.)
beiden Gewalten harmonisch einzurichten. Sie macht sich nicht
nur besonders bemerkbar, wenn es darum geht, die rechtliche Aber die andere Auffassung (jene der demokratisch-revolutio-
Natur der Diktatur oder des Ausnahmezustandes zu verstehen, nären Tradition), welche die konstituierende Gewalt gegenüber
sondern auch, wenn der Verfassungstext selbst, wie das oft der jeder konstituierten Gewalt in ihrer souveränen Transzendenz
Fall ist, die Revisionsbefugnis vorsieht. Gegen die Auffassung bewahren will, läuft ebenfalls Gefahr, in dem Paradox gefangen
vom originären und irreduziblen Wesen der konstituierenden zu bleiben, das wir hier zu beschreiben versuchen. Denn wenn
Gewalt, die in keiner Weise von einer bestimmten Rechtsord- die konstituierende Gewalt als Gewalt, die das Recht setzt, ge-
nung bedingt und gebeugt werden kann und sich notwendiger- wiß edler ist als die rechtserhaltende Gewalt, so gibt es in ihr
selbst doch nichts, wodurch sie ihre Verschiedenheit legitimie-
I Italienisch »potenza« und »atto« werden, auch wenn sich inzwischen ren kann, sie unterhält sogar ein zweideutiges und unauflösbares
deutsche Begriffe, etwa »Vermögen« und »Verwirklichung«, eingebürgert Verhältnis zur konstituierten Gewalt.
haben, in der Folge meistens mit »Potenz« und »Akt« wiedergegeben, in In dieser Perspektive ist die berühmte These von Emmanuel
einigen Fällen, die angemerkt werden, mit »Fähigkeit« oder »Vermögen«
(bzw. »un-/vermögend« für »im-/potente«). Joseph Sieyes, daß die Verfassung (constitution) vor allem eine
2 Für konstituierende Gewalt steht im deutschen juristischen Sprachge- konstituierende Gewalt voraussetzt, nicht einfach eine Binsen-
brauch gewöhnlich verfassunggebende Gewalt, während für die konstitu- wahrheit, sie muß eher in dem Sinn verstanden werden, daß die
ierte Gewalt meistens die Verfassung selbst steht; um der Klarheit und um Konstitution sich selbst als konstituierende Gewalt voraussetzt,
der Besonderheit der Argumentation willen wird die Unterscheidung
zwischen »potere costituente« und »potere costituito« auch terminolo- und druckt in dieser Form das Paradox der Souveränität am
gisch beibehalten. prägnantesten aus. So wie sich die souveräne Macht als Natur-

50 51
zustand voraussetzt, der auf diese Weise mit dem Rechtszustand trotzkistischen Begriff der »permanenten Revolutionen« oder
in der Bann-Beziehung verbunden bleibt, so teilt sich die souve- den maoistischen der »ununterbrochenen Revolution* bekannt
räne Macht in eine konstituierende und eine konstituierte Ge- geworden. Auch die Macht der Räte (die als stabile zu konzipie-
walt und bleibt mit beiden in Verbindung, indem sie sich am ren nichts hindert, selbst wenn die revolutionären konstituier-
Punkt ihrer Ununterschiedenheit aufhält. Sieyes selbst war sich ten Gewalten dann in Wirklichkeit alles getan haben, sie zu eli-
dieser Implikation so weit bewußt, daß er die (mit der Nation minieren) kann aus dieser Perspektive als ein Fortleben der
identifizierte) konstituierende Gewalt in einen Naturzustand konstituierenden Gewalt in der konstituierten betrachtet wer-
außerhalb des sozialen Bandes verlegt hat: »Man muß die Natio- den. Doch selbst die beiden großen Liquidatoren spontaner
nen der Erde«, so schreibt er, »als Individuen ohne gesellschaft- Räte in unserer Zeit, die leninistische und die nazistische Partei,
liche Bindung [, . .] im Naturzustand betrachten« (Sieyes 1, präsentieren sich in bestimmter Weise als Bewahrer einer kon-
S.82).
stituierenden Instanz neben der konstituierten Gewalt. Die cha-
rakteristische »duale« Struktur der großen totalitären Staaten
3.2. Hannah Arendt, die diesen Abschnitt in ihrem Buch über unseres Jahrhunderts (der Sowjetunion und Nazi-Deutsch-
die Revolution zitiert, beschreibt, wie in den Revolutionsvor- lands), die den Historikern des öffentlichen Rechts so zu schaf-
gängen das Bedürfnis nach einer Souveränitätsinstanz auf- fen gemacht hat, weil dort die Staatspartei das Duplikat der
tauchte, die als absolutes Prinzip den legislativen Akt der kon- staatlichen Organisation ist, erscheint von da aus gesehen wie
stituierenden Gewalt zu begründen imstande war. Und sie zeigt eine interessante, wenn auch paradoxe technisch-juridische Lö-
deutlich, wie dieses (auch in der Idee vom »Höchsten Wesen« sung des Problems der Bewahrung der konstituierenden Ge-
bei Robespierre vorhandene) Bedürfnis letztlich in einen Teu- walt. Es ist jedoch ebenso gewiß, daß sich diese Gewalt in beiden
felskreis mündete. Doch was Robespierre brauchte, so schreibt Fallen als Ausdruck einer souveränen Macht darstellt oder sich
sie, jedenfalls nicht so leicht von dieser trennen läßt. Die Analogie
zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland ist um so trif-
»war gar kein Höchstes Wesen [. . .] - ein Begriff, der nicht von ihm tiger, als in beiden Fällen die Frage »wo?« in dem Moment we-
stammt -, sondern vielmehr, wie er selbst es nannte, einen Unsterb- sentlich wird, wo weder die konstituierenden Instanzen noch
lichen Gesetzgeber< und das, was er in einem anderen Kontext auch als der Souverän ganz innerhalb oder ganz außerhalb der konstitu-
einen ,ständigen Appell an die Gerechtigkeit< bezeichnete. Er bedufte, ierten Ordnung situiert werden können.
in den Begriffen der Französischen Revolution gesprochen, einer im-
mer gegenwärtigen transzendenten Quelle der Autorität jenseits des K Schmitt betrachtet die konstituierende Gewalt als einen »politi-
politischen Raumes, die nicht mit dem Allgemeinwillen der Nation schen Willen, dessen Macht oder Autorität imstande ist, die konkrete Ge-
oder der Revolution zusammenfiel; so sollte eine ,absolute Souveräni- samtentscheidung i&ber Art und Form der eigenen politischen Existenz zu
tät< - Blackstones ,despotische Gewalt< -der Nation Souveränität ver- treffen. [. . .] Die Entscheidungen [dieses Willens] als solche sind von den
leihen und eine absolute Immortalität der Republik, wenn nicht die auf ihrer Grundlage normierten verfassungsgesetzlichen Normierungen
Unsterblichkeit, so doch wenigstens eine gewisse Dauerhaftigkeit und qualitativ verschieden.« »Neben und über der Verfassung bleibt dieser
Stabilität [. . .].« (Arendt 1, S. 185) Wille erhalte+ er ist nicht auf die Ebene der Rechtsnormen zurückführ-
bar und theoretisch von der souveränen Macht verschieden (Schmitt 4,
Das fundamentale Problem besteht hier nicht so sehr darin, eine S. 75 -77). Aber wenn die konstituierende Gewalt, wie das bereits (so
konstituierende Gewalt zu konzipieren, die sich nie in der kon- Schmitt selbst) seit Sieyes geschieht, mit dem konstituierenden Willendes
stituierten Gewalt erschöpft (was nicht leicht ist, aber immerhin Volkes oder der Nation zusammenfällt, dann ist das Kriterium, das sie
theoretisch möglich); sehr viel schwieriger ist es, die konstituie- von der Volks- oder nationalen Souveränität zu unterscheiden erlaubt,
rende Gewalt klar von der souveränen Macht zu unterscheiden. unklar, und das konstituierende Subjekt und das souveräne Subjekt be-
Gewiß fehlt es in unserer Zeit nicht an Versuchen, die Erhaltung ginnen verwechselbar zu werden. Schmitt kritisiert den liberalen Ver-
such, »die gesamte Ausübung aller staatlichen Gewalt restlos in geschrie-
der konstituierenden Gewalt zu denken, und sie sind durch den
benen Gesetzen erfassen und umgrenzen zu können«, und behauptet stellt. Das Problem der konstituierenden Gewalt wird somit zum Pro-
dagegen die Souveränität der Verfassung oder der fundamentalen charte: blem der »Konstitution der Potenz« (ebd., S. 38 3), und die ungelöste Dia-
Die für die Verfassungsrevision zuständigen Instanzen »werden infolge lektik von konstituierender und konstituierter Gewalt macht einer neuen
dieser Zuständigkeit nicht etwa souverän [. . .]. Sie werden ebensowenig Form der Beziehung zwischen Potenz und Akt Platz, was nicht weniger
Subjekt oder Träger der verfassunggebenden Gewalt«, und das unver- erfordert, als die ontologischen Kategorien der Modalität in ihrer Ge-
meidliche Ergebnis ist dann die Produktion »apokrypher Souveränitäts- samtheit neu zu denken. Auf diese Weise verschiebt sich das Problem von
akte« (Schmitt 4, S. 107f.). Konstituierende Gewalt und souveräne Macht der politischen Philosophie zur Prima Philosophia (oder, wenn man so
überschreiten unter diesem Blickwinkel beide die Ebene der Rechtsnorm will, die Politik wird wieder in ihren ontologische Rang gehoben). Nur
(sogar diejenige der fundamentalen Norm), doch die Symmetrie dieser eine völlig neue Konjugation von Möglichkeit und Wirklichkeit, von Zu-
Überschreitung zeugt auch von einer bis zur Deckungsgleichheit rei- fall und Notwendigkeit und der anderen pathe t& Cantos, wird den Kno-
chenden Nähe. ten zu zerschneiden vermögen, den Souveränität und konstituierende
Toni Negri hat in einem jüngeren Buch zu zeigen versucht, daß die Gewalt aneinander bindet; und nur wenn es gelingt, die Beziehung von
konstituierende Gewalt (definiert als »Praxis eines konstitutiven Akts, in Potenz und Akt anders zu denken, ja sogar jenseits von ihr zu denken,
Freiheit erneuert und in der Fortführung einer freien Praxis organisiert«) wird es auch möglich sein, eine konstituierende Gewalt zu denken, die
sich auf keinerlei Form der konstituierten Ordnung reduzieren läßt; zu- vom souveränen Bann gänzlich losgelöst ist. Solange nicht eine neue und
gleich bestreitet er, daß sie auf das Souveränitätsprinzip zurückzuführen kohärente Ontologie der Potenz (jenseits der Schritte, die Spinoza, Schel-
ist. »Die Wahrheit der konstituierenden Gewalt«, so schreibt er, »ist nicht ling, Nietzsche und Heidegger in diese Richtung unternommen haben)
diejenige, die (auf welche Weise auch immer) ihr von der Idee der Souve- die auf dem Primat des Akts und seiner Beziehung zur Potenz gegründete
ränität her zugeschrieben werden kann. Sie ist es deshalb nicht, weil sie Ontologie ersetzt hat, bleibt eine politische Theorie, die sich den Aporien
nicht nur (ganz offensichtlich) keine Emanation der konstituierten Ge- der Souveränität entziehen könnte, undenkbar.
walt ist, sondern auch nicht die Institution der konstituierten Gewalt: Sie
ist der Akt der Wahl, die punktuelle Bestimmung, die einen Horizont er- 3.3. Die Beziehung zwischen konstituierender Gewalt und
öffnet, das radikale Dispositiv von etwas, das noch nicht existiert und konstituierter Gewalt ist ebenso komplex wie jene, die Aristote-
dessen Existenzbedingungen dafür sorgen, daß der schöpferische Akt in les zwischen Potenz und Akt, zwischen L&ZLZ~~S und enérgeia
der Schöpfung nicht seine Eigenheit verliert. Wenn die konstituierende herstellt, und letztendlich hängt sie (wie vielleicht jedes echte
Gewalt den konstituierenden Prozeß in Gang setzt, ist und bleibt jegliche
Verständnis des Souveränitätsproblems) davon ab, wie man die
Bestimmung frei. Die Souveränität dagegen tritt als Festlegung der kon-
stituierenden Gewalt auf, folglich als ihr Ende, als Erschöpfung der Frei-
Existenz und die Autonomie der Potenz denkt. Bei Aristoteles
heit, deren Träger die konstituierende Gewalt ist.« (Negri, S. 3 I) Das Pro- geht einerseits die Potenz dem Akt voraus und bedingt ihn, an-
blem der Unterscheidung von konstituierender Gewalt und souveräner dererseits scheint sie ihm aber wesentlich untergeordnet zu blei-
Macht ist sicher wesentlich; aber der Umstand, daß die konstituierende ben. Gegen die Megariker, die (wie heute diejenigen Politiker,
Gewalt zum einen weder aus der konstituierten Ordnung emaniert noch welche die ganze konstituierende Gewalt auf die konstituierte
sich auf ihre Einsetzung beschränkt und zum anderen freie Praxis sein Gewalt reduzieren wollen) behaupten, die Potenz existiere nur
soll, sagt noch nichts über ihre Verschiedenheit von der souveränen im Akt (energ& mhon dynasthai), befleißigt sich Aristoteles je-
Macht aus. Wenn unsere Analyse der ursprünglichen Struktur der Souve- desmal, die Autonomie der Potenz hervorzuheben, so die für
ränität als Bann und Verlassenheit [bando e abbandono] zutrifft, dann
ihn evidente Tatsache, daß der Kitharaspieler seine Fähigkeit zu
kommen diese Merkmale tatsächlich auch der Souveränität zu, und Negri
kann nirgendwo in seiner breitangelegten Analyse der historischen Phä-
spielen behält, auch wenn er nicht spielt, und der Baumeister
nomenologie der konstituierenden Gewalt das Kriterium finden, das die seine Fähigkeit zu bauen, auch wenn er nicht baut. Was er im
konstituierende Gewalt von der souveränen Macht zu scheiden erlaubte. Buch Theta der Metaphysik zu denken versucht, ist mit anderen
Das Interesse von Negris Buch gilt aber eher der zum Schluß eröffne- Worten nicht die Potenz als reine logische Möglichkeit, sondern
ten Perspektive, die zeigt, wie die konstituierende Gewalt, wird sie erst in es sind die effektiven Modi ihrer Existenz. Deswegen - das
ihrer Radikalität gedacht, aufhört, ein politischer Begriff im engeren Sinn heißt, weil sie sich nicht jedesmal unmittelbar in der Handlung
zu sein, und sich zwangsläufig als eine Kategorie der Ontologie heraus- verflüchtigt, sondern einen eigenen Bestand hat - m u ß die
Potenz auch nicht zum Akt übergehen können; sie muß konsti- menen Potenz auch am vollkommensten ausdrückt, beschreibt
tutiv auch Potenz nicht zu (tun oder sein) sein oder, wie Aristo- er den übergang zum Akt (anhand der tt+chnai und der mensch-
teles sagt, adynamia. Aristoteles äußert dieses Prinzip, das in lichen Fertigkeiten, die auch im Zentrum des Buchs Theta der
gewisser Weise die Angel ist, um die sich die ganze dynamis- Metaphysik stehen) nicht als Veränderung oder Zerstörung der
Theorie dreht, mit Entschiedenheit in einer lapidaren Formel: Potenz im Akt, sondern als eine Selbstbewahrung der Potenz
»Jedes Vermögen [potenza] ist auch ein Unvermögen [impo- und »Gabe ihrer selbst an sich selbst«:
tenza] desselben und in bezug auf dasselbe« (to& autou kai kat2
th ah pha djnamis adynamia; Met. Io&a, 3of.). Oder sogar »Auch das Erleiden ist nicht von einfacher Bedeutung, sondern in der
noch deutlicher: »Was vermögend [potente] ist, kann sowohl einen Bedeutung ist es der Untergang durch das Entgegengesetzte, in
sein als auch nicht sein, dasselbe ist also vermögend zu sein und der anderen ist es eher die Bewahrung [s&?ria, Rettung] dessen, was in
nicht zu sein« (th dynatbn endechetai kai einai kai mi etnai; Met. Potenz ist, durch das, was im Akt ist und sich ebenso verhält [. . .]; denn
das, was die Wissenschaft [in Potenz] besitzt, wird ein Betrachtendes
Iojob, I O ) .
im Akt, was entweder keine Veränderung ist (da es ja eine Gabe an sich
Die Potenz, die existiert, ist genau diejenige, die nicht zum selbst und an den Akt ist (oder eine andere Gattung von Verände-
Akt übergehen kann (Avicenna, der darin der Absicht von Ari- rung.« (De an. 4r7b, 2-16)
stoteles treu ist, nennt sie »vollkommene Potenz« und führt als
Beispiel die Figur eines Schreibers an, der momentan nicht Während er das authentische Wesen der Potenz beschrieb, hat
schreibt). Sie erhält die Beziehung mit dem Akt in Form ihrer Aristoteles in Wirklichkeit der abendländischen Philosophie das
Aufhebung aufrecht, sie vermag [puO] den Akt, indem sie ver- Paradigma der Souveränität gestiftet. Denn der Struktur der
mag, ihn nicht zu verwirklichen, sie vermag die eigene Impotenz Potenz, die genau über ihr Nicht-sein-Können, mit dem Akt in
souverän. Aber wie ist in dieser Perspektive der Übergang zum Beziehung bleibt, entspricht jene des souveränen Banns, der sich
Akt zu denken? Wenn jede Potenz zu (sein oder tun) ursprüng- auf die Ausnahme anwendet, indem er sich abwendet. Die
lich auch Potenz nicht zu (sein oder tun) ist, wie wird dann die Potenz (in ihrem doppelten Aspekt von Potenz zu und Potenz
Verwirklichung eines Akts möglich sein? nicht zu) ist die Weise, auf die sich das Sein souverän gründet,
Aristoteles’ Antwort ist in einer Definition enthalten, die eine das heißt ohne daß ihm etwas vorausgeht oder es bestimmt (su-
der scharfsinnigsten Leistungen seines philosophischen Genies periorem non recognoscens), außer das eigene Nicht-sein-Kön-
darstellt und als solche auch oft mißverstanden worden ist: nen. Und souverän ist jener Akt, der sich einfach dadurch ver-
*Vermögend ist das, für das nichts Unvermögendes eintreten wirklicht, daß er die eigene Potenz, nicht zu sein, wegnimmt,
wird, wenn die Verwirklichung dessen, wovon man sagt, daß es sich sein läßt, sich sich selbst hingibt.
über Vermögen verfüge, eintritt.« (Met. 1047 a, 24- 26) Die letz- Daher rührt die konstitutive Ambivalenz der aristotelischen
ten drei Worte der Definition (oudbz btai adýnaton) bedeuten Theorie der dynamis/energeia: Wenn einem Leser, der das Buch
nicht das, was die gewöhnliche Lesart meint: »es wird nichts Theta der Metaphysik mit einem von den Vorurteilen der Tradi-
Unmögliches geben« (das heißt: möglich ist das, was nicht un- tion befreiten Blick liest, nie klar wird, ob der Primat nun tat-
möglich ist); vielmehr bekräftigen sie die Bedingung, unter der sächlich dem Akt oder nicht doch der Potenz zukommt, so ge-
sich die Potenz, die ebenso sein wie nicht sein kann, verwirkli- schieht das nicht aufgrund einer Unentschiedenheit oder,
chen kann. Das Vermögende kann erst dann zum Akt überge- schlimmer noch, eines Widerspruchs im Denken des Philoso-
hen, wenn es die Potenz, nicht zu sein (seine adynamia), ablegt. phen, sondern weil Potenz und Akt nur die beiden Aspekte des
Dieses Ablegen der Impotenz bedeutet nicht ihre Zerstörung, Prozesses der souveränen Selbstbegründung des Seins sind. Die
sondern im Gegenteil ihre Erfüllung; die Potenz wendet sich auf Souveränität ist immer doppelt, weil das Sein sich selbst aufhebt,
sich selbst zurück, um sich sich selbst zu geben. In einem Ab- indem es als Potenz mit sich selbst in der Beziehung des Banns
schnitt von De anima, wo Aristoteles das Wesen der vollkom- [bando] (oder der Verlassenheit [abbandono]) verbunden bleibt,
57
um sich dann als absoluter Akt zu verwirklichen (der mithin mehr die ontologische Wurzel jeglicher politischen Macht (Potenz und
nichts weiter voraussetzt als die eigene Potenz). Die reine Akt sind für Aristoteles vor allem Kategorien der Ontologie, zwei Modi,
j>in denen das Sein gesagt wird«).
Potenz und der reine Akt sind letztlich nicht auseinanderzuhal-
Es gibt im modernen Denken wenige, dafür bedeutsame Versuche, das
ten, und genau diese Zone der Ununterscheidbarkeit ist der Sou- Sein jenseits des Souveränitätsprinzips zu denken. So denkt Schelling in
verän (in Aristoteles’ Metaphysik entspricht das dem »Denken seiner Philosophie der Offenbarung ein absolut Seiendes, das keinerlei
des Denkens«, das heißt einem Denken, dessen Denkakt nur im Potenz voraussetzt und nie per transitum de potentia ad actum existiert.
Denken der eigenen Potenz zu denken besteht; Met. 1074 b, I 5 - Beim späten Nietzsche steht die Ewige Wiederkunft des Gleichen für die
34). Unmöglichkeit, zwischen Potenz und Akt, so wie der Amor fati für die
Deswegen ist es so schwierig, eine »Konstitution der Potenz« Unmöglichkeit, zwischen Kontingenz und Notwendigkeit zu unter-
zu denken, die völlig losgelöst wäre vom Souveränitätsprinzip, scheiden. Ebenso scheint in Heideggers Verlassenheit [abbandono] und
und eine konstituierende Gewalt, die den Bann, der sie an die im Ereignis’ das Sein aller Souveränität ledig zu sein. Georges Bataille, der
gleichwohl ein Denker der Souveränität bleibt, hat in der négativité sans
konstituierte Gewalt bindet, endgültig gebrochen hätte. Es ge-
emploi2 und im d&euvrement3 eine Grenzdimension erreicht, in der die
nügt nämlich nicht, daß die konstituierende Gewalt sich nie in »Potenz nicht ZU« nicht mehr unter die Struktur des souveränen Banns
der konstituierten Gewalt erschöpft; auch die souveräne Macht fällt. Der stärkste Einwand gegen das Prinzip der Souveränität steckt in
kann als solche in der Unbestimmtheit verharren, ohne je zum Herman Melvilles Bartleby, dem Schreiber, der mit seinem »ich möchte
Akt überzugehen (der Provokateur ist genau derjenige, der ver- lieber nicht<c4 jeder Entscheidungsmöglichkeit zwischen Potenz z u und
sucht, sie zur Umsetzung in die Tat zu zwingen). Statt dessen Potenz nicht zu widersteht. Diese Figuren treiben die Aporie der Souve-
müßte die Existenz der Potenz ohne jede Beziehung zum Im- ränität an die Grenze, doch gelingt es ihnen dennoch nicht, sich vollends
Akt-Sein gedacht werden, nicht einmal in der extremen Form aus ihrem Bann zu lösen. Sie zeigen, daß die Auflösung des Banns wie
des Banns oder der Potenz, und der Akt nicht mehr als Erfül- jene des gordischen Knotens nicht so sehr der Lösung einer logischen
oder mathematischen Aufgabe gleicht, sondern vielmehr der eines Rät-
lung und Manifestation der Potenz, nicht einmal in Form der
sels. Hier zeigt die metaphysische Aporie ihr politisches Wesen.
Gabe seiner Selbst und des Seinlassens. Das aber würde nicht
weniger bedeuten, als die Ontologie und die Politik jenseits aller
Figuren der Beziehung zu denken, selbst jenseits jener Grenzbe-
ziehung, die der souveräne Bann ist; doch gerade das ist es, wozu
heute viele um keinen Preis bereit sind.
K Es ist bereits bemerkt worden, daß jeder Definition der Souverä-
nität ein Gewaltprinzip [principio di potenza] inhärent ist. In diesem Sinn
hat Gerard Mairet dargelegt, dal3 der souveräne Staat sich auf einer »Ideo-
logie der Gewalt« gründet; sie besteht darin, »die zwei Elemente einer je-
den Macht, das Prinzip der Gewalt und die Form ihrer Ausübung, auf
eine Einheit zurückzuführen« (Mairet, S. 75). Der zentrale Gedanke ist
hier der, daß die Gewalt schon vor ihrer Ausübung existiert und daß der
Gehorsam den Institutionen, die ihn bedingen, vorausgeht. Daß diese
Ideologie in Wahrheit einen mythologischen Charakter hat, sagt der Ver- I Im Original deutsch.
2 So in der französischen Quelle; Agamben übersetzt »negatività senza im-
fasser selbst.: »Es handelt sich um einen eigentlichen Mythos, dessen Ge- piego«; etwa »Negativität ohne Verwendung« oder »ohne Anstellung«;
heimnisse wir bis heute noch nicht durchdrungen haben, der aber wo- die schwierig zu übersetzende französische Originalwendung steht hier
möglich das Geheimnis jeder Macht birgt.« Es ist die Struktur dieses auch in Entsprechung zum nachfolgenden >>d&ceuvrement*.
Arkanums, die wir mit der Bann-Beziehung als Beziehung der Verlassen- 3 Französisch im Original; »Untätigkeit, Müßiggang«; auch im Sinn von
heit [abbandono] und der »Potenz nicht zu« ans Licht bringen wollten. »Werklosigkeit« als Modus des Seins, der kein Werk hervorbringt.
Doch was uns hier entgegentritt, ist weniger ein Mythologem als viel- 4 Im amerikanischen Original: »I would prefer not to.«
4. Rechtsform dies ist genau die Spitze und die Wurzel jedes Gesetzes. Wenn
der Geistliche im Prozeß das Wesen des Gerichts auf die Formel
bringt: »Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dich auf,
wenn du kommst, und es entläßt dich, wenn du gehst«, dann ist
4.1. In der Legende Vor dem Gesetz hat Franz Kafka die Struk- es die ursprüngliche Struktur des nomos, die er mit diesen Wor-
tur des souveränen Banns in einem beispielhaften Abriß darge- ten ausspricht.
stellt. tc In analoger Weise hält auch die Sprache den Menschen in ihrem
Nichts - und bestimmt nicht das Verbot des Türhüters - hin- Bann, weil er als Sprechender immer schon in sie eingetreten ist, ohne sich
dert den Mann vom Lande daran, durch die Tür des Gesetzes dessen bewußt werden zu können. Alles was man der Sprache voraus-
einzutreten, außer dem Umstand, daß diese Türe schon immer schickt (in Form von etwas Nichtsprachlichem, Unaussprechlichem
offensteht und das Gesetz nichts vorschreibt. Auf diesen Punkt etc.), ist nichts weiter als etwas von der Sprache Vorausgesetztes, das mit
haben zwei jüngere Interpretationen der Legende von Jacques der Sprache gerade dadurch die Beziehung aufrechterhält, daß es daraus
Derrida und von Massimo Cacciari, wenn auch in unterschied- ausgeschlossen wird. Stephane Mallarme hat diese selbstvoraussetzende
Natur der Sprache mit einer hegelianischen Formel ausgedrückt, wenn er
licher Weise, nachdrücklich hingewiesen. Das Gesetz »hütet
schreibt, daß »das Wort’ ein Prinzip ist, das sich durch die Negation jeg-
sich, ohne sich zu hüten, gehütet von einem Türhüter, der nichts lichen Prinzips vollzieht «. Als reine Form der Beziehung setzt die Spra-
hütet, die offenbleibende Tür öffnet sich auf nichts« (Derrida 1, che (wie der souveräne Bann) immer schon sich selbst in der Figur von et-
S. 3 56). Und Cacciari unterstreicht noch entschiedener, daß die was Beziehungslosem voraus, und es ist nicht möglich, mit etwas in
Macht des Gesetzes’ genau in der Unmöglichkeit liegt, in das Beziehung zu treten, noch aus etwas auszutreten, das zur Form selbst der
bereits Offene einzutreten, an den Ort zu gelangen, an dem man Beziehung gehört. Das bedeutet nicht, daß dem sprechenden Menschen
bereits ist: »Wie können wir zu >öffnen< hoffen, wenn die Tür das Nichtsprachliche verschlossen bliebe, er vermag es nur nie in Form
schon offensteht? Wie können wir hoffen, ins Offene einzutre- einer nichtbezogenen oder unaussprechlichen Voraussetzung zu errei-
ten? Das Offene ist der Ort, wo man ist, wo die Dinge gegeben chen, sondern vielmehr nur in der Sprache selbst (Benjamin zufolge kann
nur die »kristallreine Elimination des Unsagbaren in der Sprache« »auf
sind, man kann da nicht eintreten [. . .] Wir können nur dort ein-
das dem Wort versagte« hinführen [Benjamin 2, S. 127]).
treten, wo wir öffnen können. Das Schon-Offene macht un-
beweglich [. . .]. Der M ann vom Lande kann deshalb nicht ein-
4.2. Doch erschöpft diese Interpretation die Kafkasche Inten-
treten, weil es ontologisch unmöglich ist, ins schon Offene
tion wirklich? In einem Brief an Benjamin vom 20. September
einzutreten.« (Cacciari, S. 69)
1934 definiert Gershom Scholem die in Kafkas Prozeß beschrie-
Aus dieser Perspektive betrachtet offenbart Kafkas Legende
bene Beziehung mit dem Gesetz als »Nichts der Offenbarung«;
die reine Form des Gesetzes, in der es sich gerade an dem Punkt
unter diesem Ausdruck versteht er »einen Stand, [. . .] in dem sie
am stärksten erweist, wo es nichts mehr vorschreibt, das heißt
zwar noch sich behauptet, indem sie gilt, aber nicht bedeutet.
reiner Bann ist. Der Mann vom Lande ist der Potenz des Geset-
Wo der Reichtum der Bedeutung wegfällt und das Erschei-
zes ausgeliefert, weil es nichts von ihm fordert, ihm nichts ande-
nende, wie auf einen Nullpunkt eigenen Gehalts reduziert, den-
res auferlegt als das eigene Offensein. Nach dem Schema der
noch nicht verschwindet (und die Offenbarung ist etwas Er-
souveränen Ausnahme wendet sich das Gesetz auf ihn an, indem
scheinendes), da tritt sein Nichts hervor.« (Benjamin und
es sich abwendet, es hält ihn in seinem Bann, indem es ihn, au-
Scholem, S. 175) Ein Gesetz unter solchen Bedingungen ist
ßerhalb seiner selbst, verläßt [abbandonandolo]. Die offene Tür,
Scholem zufolge nicht einfach abwesend, vielmehr erscheint es
die nur für ihn bestimmt ist, schließt ihn ein, indem sie ihn aus-
in Form seiner »Unvollziehbarkeit«. »Nicht so sehr Schüler, de-
schließt, und schließt ihn aus, indem sie ihn einschließt. Und
nen die Schrift abhanden gekommen ist«, hält er seinem Freund
I Mit Majuskel (»Legge«). I Im französischen Original »Verbe«.

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entgegen, »als Schüler, die sie nicht enträtseln können, sind jene dentale Objekt. Das transzendentale Objekt ist nämlich kein
Studenten, von denen Du am Ende sprichst.« (Ebd., S. I 58) reales Objekt, sondern »bloß eine Vorstellung der Verhältnisse«,
Geltung ohne Bedeutung:* Es gibt keine bessere Definition die nur das Im-Verhältnis-Sein des Denkens zu einem absolut
des Banns, mit dem unsere Zeit nicht zu Rande kommt, als diese unbestimmten Gedanken ausdrückt (Kant 3, S. 671).
Formel, mit der Scholem den Status des Gesetzes in Kafkas Ro- Aber was ist eine solche »Gesetzesform«? Und wie vor allem
man erfaßt. Welches ist denn die Struktur des souveränen Banns, soll man sich ihr gegenüber verhalten, wenn doch der Wille hier
wenn nicht die eines Gesetzes, das gilt, aber nicht bedeutet? von keinem besonderen Gehalt bestimmt ist? Welches ist mithin
Überall auf der Erde leben die Menschen heute im Bann eines die der Gesetzesform entsprechende Lebensform? Wird derge-
Gesetzes und einer Tradition, die sich einzig als »Nullpunkt« ih- stalt das moralische Gesetz nicht zu einem »unerforschlichen
res Gehalts erhalten und die die Menschen in eine reine Bezie- Vermögen« (Kant 1, S. 162) ? »Achtung« nennt Kant die Verfas-
hung der Verlassenheit [abbandono] einschließen. Alle Gesell- sung dessen, der unter einem Gesetz zu leben hat, das gilt, ohne
schaften und alle Kulturen (gleichviel ob demokratisch oder zu bedeuten, das heißt, ohne ein bestimmtes Ziel vorzuschrei-
totalitär, konservativ oder progressiv) sind heute in eine Krise ben oder zu verbieten: »Die Triebfeder, welche der Mensch vor-
der Legitimität geraten, in der das Gesetz (damit ist hier der her haben kann, ehe ihm ein Ziel (Zweck) vorgesteckt wird,
ganze Text der Tradition unter seinem regulativen Aspekt ge- kann doch offenbar nichts anderes sein als das Gesetz selbst,
meint, sei das nun die jüdische Thora oder die islamische Scha- durch die Achtung, die es (unbestimmt, welche Zwecke man ha-
ria, das christliche Dogma oder der profane nomos) als reines ben und durch dessen Befolgung erreichen mag) einflößt. Denn
»Nichts der Offenbarung« gilt. Doch das ist gerade die ur- das Gesetz in Ansehung des Formalen der Willkür ist ja das ein-
sprüngliche Struktur der souveränen Beziehung, und in dieser zige, was übrig bleibt, wann ich die Materie der Willkür [. . .] aus
Perspektive ist der Nihilismus, in dem wir leben, nichts anderes dem Spiel gelassen habe.« (Kant 4, S. I 1)
als das Auftauchen dieser Beziehung als solcher. Es ist erstaunlich, wie Kant damit fast zwei Jahrhunderte im
voraus und unter dem Titel eines erhabenen »moralischen Ge-
4.3. Die reine Form des Gesetzes als »Geltung ohne Bedeu- fühls« (Kant I, S. 195) eine Verfassung beschrieben hat, die vom
tung<< erscheint in der Moderne das erste Mal bei Immanuel Ersten Weltkrieg an in der Massengesellschaft und in den großen
Kant. Was er in der Kritik der praktischen Vernunft »bloße totalitären Staaten vertraut sein wird. Denn das Leben unter ei-
Form des Gesetzes« nennt (Kant I, S. I 38), ist in der Tat ein auf nem Gesetz, das gilt, ohne zu bedeuten, gleicht dem Leben im
den Nullpunkt seines Gehalts reduziertes Gesetz, das gleich- Ausnahmezustand, in dem die unschuldigste Geste und die
wohl als solches gilt. »Nun bleibt von einem Gesetze«, so Kant, kleinste Vergeßlichkeit die extremsten Konsequenzen haben
»wenn man alle Materie, d. i. jeden Gegenstand des Willens (als können. Und es ist genau ein Leben dieser Art, wie es Kafka be-
Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig, als die schreibt, in dem das Gesetz um so durchdringender ist, je mehr
bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung.« (Ebd., S. 13 5 f.). es ihm an jeglichem Gehalt mangelt, und ein zerstreutes Klopfen
Ein reiner Wille, der also nur mittels einer solchen Form des Ge- an ein Tor unkontrollierbare Prozesse in Gang setzen kann. So
setzes bestimmt, ist »weder frei noch unfrei« (Kant 2, S. 3 32), ge- wie für Kant der rein formale Charakter des moralischen Geset-
nau wie derjenige von Kafkas Mann vom Lande. zes den allgemeinen Anspruch begründet, so gilt im Kafkaschen
Die Grenze, aber zugleich auch der Reichtum der Kantschen Dorf die leere Potenz des Gesetzes dermaßen, daß sie vom Le-
Ethik liegt gerade darin, die Form des Gesetzes als leeres Prinzip ben ununterscheidbar wird. Die Existenz und selbst der Körper
gelten zu lassen, Dieser Geltung ohne Bedeutung in der Sphäre von Josef K. fallen am Ende mit dem Prozeß zusammen, sie sind
der Ethik entspricht in der Sphäre der Erkenntnis das transzen- der Prozeß. Das erkennt Benjamin klar, wenn er gegen Scholems
Vorstellung einer Geltung ohne Bedeutung einwendet, daß ein
I Im Original deutsch beigefügt. Gesetz, das seinen Gehalt verloren habe, als solches zu existie-
62 63
ren aufhöre und sich nicht mehr vom Leben unterscheide: »Ob daß eine solche Geltung, wie die Tür des Gesetzes in Kafkas Parabel, ab-
sie [die Schrift] den Schülern abhanden gekommen ist oder ob solut unüberwindbar ist. Doch gerade über den Sinn dieser Geltung (und
sie sie nicht enträtseln können, kommt darum auf das gleiche den Ausnahmezustand, den sie eröffnet) gehen die Meinungen auseinan-
hinaus, weil die Schrift ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben der. Unsere Zeit steht in der Tat vor der Sprache wie in der Parabel der
Mann vom Lande vor der Tür des Gesetzes.’ Das Denken riskiert hier,
nicht Schrift ist sondern Leben. Leben wie es im Dorf am
sich zu unendlichen und unlösbaren Verhandlungen mit dem Türhüter
Schloßberg geführt wird.« (Benjamin und Scholem, S. 167) Um verdammt zu sehen oder, schlimmer noch, zuletzt selbst den Posten des
so entschlossener entgegnet wiederum Scholem (der nicht Türhüters einzunehmen, der, ohne das Eintreten wirklich zu verhindern,
merkt, daß sein Freund den Unterschied sehr genau erfaßt hat), das Nichts bewacht, auf das sich die Tür öffnet. Die Mahnung des Evan-
er könne die »Meinung, daß es eines sei, ob die ,Schrift< den geliums, die Origenes in bezug auf die Auslegung der Schrift zitiert, lau-
Schülern abhanden gekommen ist oder ob sie sie nicht enträtseln tet: ,Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, [. . .] die ihr das Himmel-
können, [. . .] gar nicht teilen« und sehe »darin mit den größten reich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein, und die hinein
Irrtum, der Dir begegnen konnte. Eben die Differenz dieser bei- wollen, laßt ihr nicht hineingehen.« Sie müßte wie folgt reformuliert wer-
den Stände ist es, die ich mit meiner Äußerung vom Nichts der den: »Wehe euch, die ihr nicht in die Tür des Gesetzes eintreten wolltet
und auch nicht erlaubtet, daß sie geschlossen würde.«
Offenbarung treffen will.« (Ebd., S. 175)
Wenn unseren vorangehenden Analysen zufolge der wesent- 4.4. Aus dieser Perspektive muß sowohl die eigenartige »Um-
liche Zug des Ausnahmezustandes in der Unmöglichkeit liegt, kehr« gelesen werden, die Benjamin in seinem Kafka-Essay der
das Gesetz vom Leben zu unterscheiden - das heißt. in dem Le- Geltung ohne Bedeutung entgegensetzt, wie auch die rätselhafte
ben, wie es im Dorf am Schloßberg geführt wird -, dann stehen Anspielung auf einen »wirklichen« Ausnahmezustand in der
sich hier zwei verschiedene Interpretationen dieses Zustandes achten These über den Begriff der Geschichte. Einer Thora, zu
gegenüber: auf der einen Seite diejenige Scholems, die darin eine welcher der Schlüssel verlorengegangen ist und die deshalb vom
Geltung ohne Bedeutung sieht, eine Erhaltung der reinen Form Leben ununterscheidbar zu werden droht, läßt Benjamin ein
des Gesetzes jenseits seines Gehaltes; auf der anderen Seite Ben- Leben entsprechen, das sich vollständig in Schrift auflöst: »In
jamins Sichtweise, für die der zur Regel gewordene Ausnahme- dem Versuch der Verwandlung des Lebens in Schrift sehe ich
zustand anzeigt, daß das Gesetz dabei ist, sich aufzuzehren und den Sinn der >Umkehr<, auf welche zahlreiche Gleichnisse Kaf-
mit dem Leben, das es regulieren sollte, zu verschwimmen. kas [. . .] hindrängen.« (Benjamin und Scholem, S. 167) In einer
Einem unvollkommenen Nihilismus, der das Nichts in Form analogen Bewegung setzt die achte These dem Ausnahmezu-
einer Geltung ohne Bedeutung unbestimmt bestehen läßt, steht stand, in dem wir leben, einen »wirklichen«2 Ausnahmezustand
Benjamins messianischer Nihilismus gegenüber, der auch das entgegen, den herbeizuführen uns auferlegt sei: »Die Tradition
Nichts für nichtig erklärt und die Form des Gesetzes jenseits ih- der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der >Ausnahmezu-
res Gehaltes nicht gelten läßt. stand<, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Be-
Wie auch immer es um die genaue Bedeutung dieser beiden griff von Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird
Auffassungen und ihr Zutreffen auf die Interpretation von Kaf- uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Aus-
kas Text stehen mag, sicher ist, daß heute jede Forschung über nahmezustandes vor Augen stehen.« (Benjamin 3, S. 697)
das Verhältnis zwischen Leben und Recht auf sie zurückkom- Wir haben gesehen, inwiefern das Gesetz, das reine Gesetzes-
men und sich mit ihnen auseinandersetzen muß. form, schiere Geltung ohne Bedeutung geworden ist, mit dem
K Die Erfahrung der Geltung ohne Bedeutung liegt einer nicht un-
Leben zusammenzufallen droht. Doch insofern das Gesetz im
erheblichen Strömung des zeitgenössischen Denkens zugrunde. Das Ver- virtuellen Ausnahmezustand sich noch als bloße Form erhält,
dienst der Dekonstruktion besteht heute nämlich genau darin, daß sie den
ganzen Text der Tradition als Geltung ohne Bedeutung auffaßt, die im I Mit Majuskel (“Legge«).

wesentlichen auf der Unentscheidbarkeit beruht, und auch gezeigt hat, 2 Im Original deutsch beigefügt.

64 65
läßt es vor sich das nackte Leben bestehen (das Leben von Josef seine Ankunft, im Judentum wie im Christentum oder im schi-
K. oder wie es im Dorf am Schloßberg geführt wird). Im wirk- itischen Islam, die Erfüllung und die vollständige Aufzehrung
lichen Ausnahmezustand tritt dem Gesetz, das sich im Unbe- des Gesetzes bedeutet. Im Monotheismus ist der Messianismus
stimmten des Leben verliert, jedoch ein Leben entgegen, das mithin nicht einfach eine Kategorie der religiösen Erfahrung un-
sich in einer symmetrischen, aber umgekehrten Bewegung voll- ter anderen, sondern die Grenzvorstellung dieser Erfahrung,
ständig in Gesetz verwandelt. Der Undurchdringbarkeit einer der Punkt, an dem sie sich selbst überwindet und als Gesetz in
Schrift, die unentzifferbar geworden ist und sich als Leben dar- Frage stellt (daher die messianischen Aporien des Gesetzes, von
bietet, antwortet die absolute Intelligibilität eines in Schrift auf- denen sowohl der Römerbrief des Paulus als auch die Sabbathia-
gelösten Lebens. Erst an diesem Punkt heben die beiden Glieder, nische Lehre zeugen, der zufolge die Erfüllung der Thora ihre
welche die Bann-Beziehung unterschied und zusammenhielt Überschreitung ist). Doch wenn das wahr ist, was soll dann ein
(das nackte Leben und die Gesetzesform), einander auf und tre- Messias tun, der sich wie der Mann vom Lande vor einem Ge-
ten in eine neue Dimension ein. setz im Zustand der Geltung ohne Bedeutung befindet? Er kann
gewiß nicht ein Gesetz erfüllen, das schon im Zustand der unbe-
4.5. Es ist bezeichnend, daß die meisten Interpreten die Le- stimmten Aufhebung ist, und noch weniger es einfach durch ein
gende letztendlich als Lehrfabel einer Niederlage lesen, eines anderes ersetzen (die Erfüllung eines Gesetzes ist nicht ein neues
nicht wiedergutzurnachenden Scheiterns des Mannes vom Gesetz).
Lande vor der unmöglichen Aufgabe, die das Gesetz ihm aufer- Eine Miniatur in einer Handschrift des I 5. Jahrhunderts mit
legte. Mit Recht kann man aber fragen, ob Kafkas Text nicht Haggadoth über »Den der kommt« zeigt die Ankunft des Mes-
auch eine andere Leseweise erlaubt. Die Interpreten scheinen sias in Jerusalem. Der Messias erscheint zu Pferd (in anderen Il-
nämlich die Worte zu vergessen, mit denen die Geschichte en- lustrationen ist das Reittier ein Esel) vor dem weit aufgesperrten
det: »Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Tor der Heiligen Stadt, hinter dem ein Fenster eine Gestalt zu se-
Eingang war nur für dich bestimmt, Ich gehe jetzt und schließe hen gibt, die ein Torwächter sein könnte. Vor dem Messias steht
ihn.« Wenn es wahr ist, daß, wie wir gesehen haben, gerade das aufrecht ein Junge einen Schritt vor dem Tor und zeigt darauf.
Offenstehen die unbezwingbare Macht des Gesetzes, seine spe- Wer immer diese Gestalt auch sei (es könnte sich um den Pro-
zifische »Kraft<< bildet, dann können wir uns auch vorstellen, pheten Elia handeln), es ist jedenfalls möglich, sie zum Vergleich
daß das ganze Verhalten des Mannes vom Lande nichts anderes neben Kafkas Mann vom Lande zu stellen. Ihre Aufgabe scheint
ist als eine komplizierte und geduldige Strategie, die Schließung darin zu bestehen, den Eintritt des Messias vorzubereiten und
zu erreichen, um die Geltung zu unterbrechen. Und am Ende zu erleichtern - eine paradoxe Aufgabe, wo doch das Tor weit
gelingt dem Mann vom Lande sein Vorhaben ja tatsächlich, er offensteht. Wenn man jene Strategie, welche die Potenz des Ge-
erreicht, daß die Tür des Gesetzes (die schließlich »nur für ihn« setzes dazu zwingt, sich in einen Akt umzusetzen, Provokation
offengestanden hat) geschlossen wird -wenn vielleicht auch um nennt, dann ist diese eine paradoxe Form der Provokation, die
den Preis des Lebens (doch die Geschichte sagt nicht, ob er einzige, die einem Gesetz, das gilt, ohne zu bedeuten, und einer
wirklich tot ist, es heißt lediglich, daß er »schon am Ende« ist). Tür, die einen nicht eintreten läßt, weil sie zu weit offensteht, an-
Kurt Weinberg hat in seiner Interpretation vorgeschlagen, gemessen ist. Die messianische Aufgabe des Mannes vom Lande
im schüchternen, aber hartnäckigen Mann vom Lande eine (und des Jungen, der in der Miniatur vor dem Tor steht) könnte
»verhinderte« christliche »Messiasfigur« zu sehen (Weinberg, genau darin bestehen, den virtuellen Ausnahmezustand wirk-
S. I 32). Der Vorschlag kann nur dann angenommen werden, lich werden zu lassen, den Türhüter zum Schließen der Tür des
wenn man nicht vergißt, daß der Messias die Figur ist, durch Gesetzes zu zwingen (das Tor von Jerusalem). Denn der Messias
welche die großen monotheistischen Religionen versucht ha- wird erst eintreten können, nachdem man das Tor geschlossen
ben, mit dem Problem des Gesetzes fertig zu werden, und daß hat, das heißt, nachdem die Geltung ohne Bedeutung aufgehört
66 67
haben wird. Das ist der Sinn des rätselhaften Satzes in Kafkas gien zu Odysseus’ List auf, mit dem Gesang der Sirenen fertig zu werden.
Oktavheften: »Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht So wie das Gesetz in der Parabel unüberwindbar ist, weil es nichts vor-
mehr nötig sein wird, er wird erst einen Tag nach seiner Ankunft schreibt, so ist auch hier die schrecklichste Waffe der Sirenen nicht der
Gesang, sondern das Schweigen (es »ist zwar nicht geschehen, aber viel-
kommen, er wird nicht am letzten Tag kommen, sondern am al-
leicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ih-
lerletzten.« Der letzte Sinn der Legende ist nicht, wie Derrida rem Schweigen gewiß nicht«); und der geradezu übermenschliche Ver-
schreibt, »ein Ereignis, das erreicht, sich nicht zu ereignen« (»un stand von Odysseus besteht genau darin, bemerkt zu haben, daß die
événement qui arrive à ne pas arriver«; «; Derrida 1, S. 3 59). Ganz Sirenen schweigen, und ihnen seine Komödie *nur gewissermaßen als
im Gegenteil, die Geschichte berichtet, daß tatsächlich etwas ge- Schild entgegengehalten« zu haben, genauso wie der Mann vom Lande
schehen ist, was nicht zu geschehen scheint; und die messiani- gegenüber dem Hüter des Gesetzes. Und wie die »Tore Indiens« in Der
schen A p o r i e n d e s M a n n e s v o m L a n d e d r ü c k e n g e n a u d i e ueue Advokat kann auch die Tür des Gesetzes als Symbol jener mythi-
Schwierigkeiten aus, auf die unsere Zeit beim Versuch, mit dem schen Kräfte betrachtet werden, mit denen der Mensch wie das Pferd Bu-
souveränen Bann fertig zu werden, trifft. cephalus um jeden Preis fertig werden muß.

N Eines der Paradoxe des Ausnahmezustandes besteht darin, daß 4.6.Jean-Luc Nancy ist der Philosoph, der die Erfahrung des
in ihm die Überschreitung des Gesetzes und seine Ausübung nicht unter- Gesetzes,’ welche die Geltung ohne Bedeutung mit sich bringt,
schieden werden können, so daß das, was der Norm entspricht und das, am strengsten gedacht hat. In einem extrem dichten Text be-
was sie verletzt, in ihm restlos zusammenfallen (wer während einer Aus- stimmt er deren ontologische Struktur als Verlassenheit [abban-
gangssperre spazierengeht, überschreitet das Gesetz nicht mehr als der dono] und versucht konsequenterweise nicht nur unsere Zeit,
Soldat, der ihn gegebenenfalls, in Ausübung des Gesetzes, tötet). Das ist sondern die ganze abendländische Geschichte als »Epoche der
exakt die Situation, die in der jüdischen Tradition (und eigentlich in jeder Verlassenheit« zu denken. Die von ihm beschriebene Struktur
genuinen messianischen Tradition) bei der Ankunft des Messias eintritt.
bleibt dennoch innerhalb der Gesetzesform, und die Verlassen-
Die erste Konsequenz dieser Ankunft ist die Erfüllung und Aufzehrung
des Gesetzes (den Kabbalisten zufolge jenes Gesetzes der Thora von Be-
heit wird als überlassensein [abbandono] an den souveränen
ria, das heißt des Gesetzes, das von der Erschaffung des Menschen bis in Bann [Gando] gedacht, ohne daß sich ein Weg darüber hinaus
die Tage des Messias gilt). Diese Erfüllung bedeutet jedoch nicht, daß das auftäte:
alte Gesetz einfach durch ein neues ersetzt wird, das dem vorangehenden
homolog ist, aber einfach andere Vorschriften und andere Verbote enthält »Verlassen [abandonner] bedeutet, einer [. . .] souveränen Macht zu
(die Thora von Azilut, das ursprüngliche Gesetz, das nach den Kabbali- überlassen, anzuvertrauen oder auszuliefern, ihrem Bann, das heißt
sten der Messias wiederherstellen muß, enthält keine Vorschriften und ihrer Ausrufung, ihrer Einberufung und ihrem Urteil zu überlassen,
Untersagungen, sondern lediglich eine ungeordnete Ansammlung von anzuvertrauen oder auszuliefern. Man verläßt stets in bezug auf ein
Briefen). Hier ist vielmehr gemeint, daß die Erfüllung der Thora nun mit Gesetz. Die Beraubung des verlassenen Seins mißt sich an der gren-
der Überschreitung zusammenfällt. Das ist es, was die radikalen messia- zenlosen Strenge des Gesetzes, dem es sich ausgesetzt findet. Die
nischen Bewegungen ohne Umschweife behaupten, wie diejenige von Verlassenheit ist nicht eine Vorladung, vor diesem oder jenem Ge-
Sabbathai Zwi (dessen Motto lautete: »Die Erfüllung der Thora ist ihre richtsherrn zu erscheinen. Es ist ein Zwang, absolut unter dem Ge-
Überschreitung*). setz zu erscheinen, dem Gesetz als solchem und in seiner Totalität.
Vom politisch-juridischen Standpunkt aus betrachtet ist der Messianis- Desgleichen - es ist die gleiche Sache - heißt verbannt sein nicht, un-
mus folglich eine Theorie des Ausnahmezustandes; nur wird ihn eben ter einer bestimmten Gesetzesdisposition zu laufen, sondern unter
nicht die geltende Autorität ausrufen, sondern der Messias, der ihre dem Gesetz schlechthin. Dem Absoluten des Gesetzes ausgeliefert,
Macht subvertiert. ist der Verbannte außerhalb jeder Rechtssprechung gelassen. [. . .] Die
Verlassenheit kann nicht umhin, das Gesetz zu achten.* (Nancy,
K Eine besondere Eigenschaft der Kafkaschen Allegorien liegt s. 149f.)
darin, d a ß gerade ihr Ausgang die Möglichkeit birgt, die Bedeutung völlig
umzukehren. Die Hartnäckigkeit des Mannes vom Lande weist Analo- I Mit Majuskel (»Lege«).

68 69
Was unsere Zeit dem Denken aufgibt, kann nicht allein in der Wenn das Sein in diesem Sinn nichts anderes als das Im-Bann-
Erkenntnis der äußersten und unüberwindbaren Form des Ge- Sein des Seienden [l’essere a bandono dell’ente] ist, dann zeigt
setzes als Geltung ohne Bedeutung bestehen. Jedes Denken, das sich das Paradox der ontologischen Struktur der Souveränität
sich darauf beschränkt, wiederholt b l o ß die ontologische Struk- hier unverhüllt. Die Beziehung der Verlassenheit muß nun neu
tur, die wir als Paradox der Souveränität (oder als souveränen gedacht werden. Die Beziehung als Geltung ohne Bedeutung,
Bann) definiert haben. Die Souveränität ist nämlich genau dieses das heißt als überlassensein an und Verlassensein von einem
»Gesetz jenseits des Gesetzes, dem wir überlassen sind«, das Gesetz, das nichts außer sich selbst vorschreibt, zu lesen, bedeu-
heißt die sich selbst voraussetzende Macht des nomos, und nur, tet, innerhalb des Nihilismus zu verharren und nicht bis zur äu-
wenn es gelingt, das Sein der Verlassenheit jenseits jeder Idee ßersten Erfahrung der Verlassenheit vorzustoßen. Nur dort, wo
von Gesetz (auch in der leeren Form einer Geltung ohne Bedeu- sie sich von jeder Idee des Gesetzes oder des Geschicks loslöst
tung) zu denken, werden wir aus dem Paradox der Souveränität (die Kantsche Gesetzesform und die Geltung ohne Bedeutung
hinaustreten in Richtung einer von jeglichem Bann losgelösten einbegriffen), wird die Verlassenheit auch wirklich als solche er-
Politik. Eine reine Gesetzesform ist lediglich die leere Form der fahren. Deswegen muß man sich der Idee öffnen, daß die Bezie-
Beziehung; doch die leere Form der Beziehung ist kein Gesetz hung der Verlassenheit gar keine Beziehung ist, daß das Zusam-
mehr, sondern eine Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen mensein des Seins und des Seienden nicht die Form einer Be-
Gesetz und Leben, ein Ausnahmezustand. ziehung hat. Das heißt nicht, daß jetzt jedes für sich selbst her-
Das Problem ist hier dasselbe wie dasjenige, das sich Heideg- umtreibt; vielmehr bestehen sie nun miteinander ohne Bezie-
ger in den Beiträgen z u r Philosophie unter der Rubrik der Seins- hung. Dies erfordert aber nicht weniger als den Versuch, das
verlassenheit’ vornimmt, das heißt nicht weniger als das Pro- politisch-sozialefactum nicht mehr in Form einer Beziehung zu
blem der Einheit/Differenz von Sein und Seiendem im Zeitalter denken.
der Erfüllung der Metaphysik. Das Problem, das mit dieser Ver-
X Alexandre Kojèves Thesen vom Ende der Geschichte und der
lassenheit ansteht, ist nicht, daß etwas (das Sein) etwas anderes daraus folgenden Einrichtung eines homogenen Universalstaates bieten
(das Seiende) gehen läßt, entläßt. Im Gegenteil: Das Sein ist hier viele Analogien mit der epochalen Situation, die wir mit der Geltung
nichts anderes als die Seinsverlassenheit und das Sich-selbst- ohne Bedeutung umschrieben haben (das erklärt die derzeitigen Versu-
überlassen-sein des Seienden, das Sein ist nichts anderes als der che, Kojève liberal-kapitalistisch zu aktualisieren). Was ist ein Staat, der
Bann des Seienden: die Geschichte überlebt, eine staatliche Souveränität, die sich über das Er-
»Was ist wovon verlassen? Das Seiende von dem ihm und nur ihm zu- reichen des historischen Telos hinaus erhält, wenn nicht ein Gesetz, das
gehörigen Seyn. Das Seiende erscheint dann so, es erscheint sich als gilt, ohne zu bedeuten.? Eine Erfüllung der Geschichte, in der die leere
Gegenstand und Vorhandenes, als ob Seyn nicht weste.« (Heidegger I, Form der Souveränität fortbesteht, ist ebenso unmöglich zu denken wie
S.115)
die Auslöschung des Staates ohne Erfüllung seiner historischen Formen,
»Dann zeigt sich: daß das Sein das Seiende verläßt, besagt: das Seyn denn die leere Form des Staates neigt dazu, epochale Inhalte zu erzeugen,
werbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden. Und das Seyn wird die ihrerseits einer unmöglich gewordene Staatsform zustreben (das ge-
selbst wesentlich als dieses Sichentziehende Verbergen bestimmt.« schieht in der Ex-Sowjetunion und in Ex-Jugoslawien).
(Ebd., S. I I I) Auf der Höhe der Aufgabe würde sich heute nur ein Denken bewegen,
»Seinsverlassenheit: daß das Seyn das Seiende verläßt, dieses ihm selbst das zugleich das Ende des Staates und das Ende der Geschichte zu denken
sich überläßt und es so zum Gegenstand der Machenschaft werden und das eine gegen das andere zu mobilisieren vermöchte.
läßt. Dies alles ist nicht einfach >Verfall‹, sondern ist die Geschichte des In diese Richtung scheint sich auch - wiewohl in ungenügender Wei-
Seyns selbst [. . .].cc (Ebd., S. I I 1) se - der späte Heidegger mit der Idee eines Ereignisses als einer letzten
Aneignung’ zu bewegen. Was angeeignet wird, ist das Sein selbst, das
I Im Original deutsch und anschließend mit »abbandono dell’ente da parte I »Ereignis« im Original deutsch beigefügt, um auf die Heideggersche Ab-
dell’essere« (Verlassenheit des Seienden durch das Sein) übersetzt. leitung der Aneignung vom Ereignis hinzuweisen

70 71
heißt das Prinzip, das bisher das Seiende in seinen verschiedenen Epo- piego]’ Form der Negativität. Die einzige kohärente Auffassung von
chen und historischen Gestalten bestimmt hat. Das bedeutet, daß mit d&wvrement wäre die einer unbestimmten Existenz der Potenz, die
dem Ereignis’ (wie mit Hegels Absolutem in der Lesart von Kojève) die sich nicht (wie die individuelle Tätigkeit oder die kollektive Handlung,
»Seinsgeschichte zu Ende« ist (Heidegger 2, S. 44), und folglich findet die die als Summe der individuellen Tätigkeiten begriffen wird) in einem
Beziehung zwischen Sein und Seiendem ihre »Absolution«. Deshalb transitus de potentia in actum erschöpft.
kann Heidegger schreiben, daß er im Ereignis »das Sein ohne Rücksicht
auf das Seiende« zu denken versuche, was nichts anderes meint als den
Versuch, die ontologische Differenz nicht mehr als Beziehung, Sein und
Seiendes jenseits jedes möglichen Verhältnisses zu denken.
Das ist die Perspektive, in der die Debatte zwischen Bataille und Ko-
jève betrachtet werden muß, in der genau die Figur der Souveränität im
Zeitalter der Erfüllung der Menschheitsgeschichte auf dem Spiel steht.
Hier sind mehrere Szenarien möglich. In der Vorbemerkung zur zweiten
Auflage seiner Introduction a l a lecture de Hegel von 1947 nimmt Kojève
Abstand von der in der ersten Auflage vorgebrachten These, wonach das
Ende der Geschichte einfach mit dem Rückschreiten des Menschen zum ,
Tier, mit seinem Verschwinden als Mensch im eigentlichen Sinn zusam-
menfällt (das heißt als Subjekt der negierenden Tätigkeit). Auf einer
Japan-Reise im Jahr 1959 hat er die Möglichkeit einer posthistorischen
Kultur behauptet, in der die Menschen, obwohl sie die negierende Tätig-
keit im engen Sinn aufgegeben hätten, fortfahren würden, die Formen
von ihren Inhalten zu trennen, nicht um letztere aktiv zu verändern, son-
dern um eine Art von »Snobismus im Reinzustand« zu pflegen (die Tee-
zeremonien etc.). In seiner Rezension der Romane von Raymond
Queneau sieht er andererseits in den Personen von Dimanche de vie und
besonders im voyou d&a?uvre 2 die Figur des zufriedenen Weisen am
Ende der Geschichte verwirklicht (Kojève, S. 391). Hegels zufriedenem,
selbstbewußtem Weisen und dem voyou dthuvr6 (den Kojève abschät-
zig homo quenellensis genannt hat) setzt Bataille seinerseits die Figur der
im Augenblick aufgezehrten Souveränität entgegen (»la seule innocence
possible, celle de l’instant«3), die mit den »Formen, in denen der Mensch
sich sich selbst gibt: [. . .] dem Lachen, der Erotik, dem Kampf, der Ver-
ausgabung«, zusammenfällt.
Das Thema des dhwurement als Figur der Fülle des Menschen am
Ende der Geschichte, das zum ersten Mal in Kojèves Rezension von
Queneau auftaucht, ist von Blanchot und Nancy wiederaufgenommen
worden; letzterer hat es ins Zentrum seines Buches La Communaute
dksczuvr6e gestellt. Hier hängt alles davon ab, was man unter d&zuvre-
ment versteht. Es kann weder die einfache Absenz des Werks [opera/ceu-
vre] sein noch (wie bei Bataille) eine souveräne und untätige [senza im-

1 Im Original deutsch.
2 »Untätiger Stro1ch.« I »Ohne Einsatz« oder Bohne Anstellung«; siehe auch oben Anm. 2 auf
3 »Die einzig mögliche Unschuld, die des Augenblicks«. S. 59.

72
Schwelle setzenden und rechtserhaltenden Gewalt einnehmen wurden.
Die Wurzel der Doppeldeutigkeit der göttlichen Gewalt muß
Die vorbehaltlose Bloßlegung der irreduziblen Verknüpfung vielleicht gerade in diesem Mangel gesucht werden. Denn ganz
von Gewalt [violenza] und Recht macht Benjamins Kritik der offensichtlich wirkt die im Ausnahmezustand ausgeübte Ge-
Gewalt zur - heute noch immer unerreichten - notwendigen walt weder rechtserhaltend noch einfach rechtsetzend, sondern
Vorbedingung jeder Untersuchung über die Souveränität. In sie erhält das Recht, indem sie es aufhebt, und setzt es, indem sie
Benjamins Analyse stellt sich diese Verknüpfung zunächst als sich davon ausnimmt. In diesem Sinn läßt sich die souveräne Ge-
ein »dialektisches Auf und Ab« zwischen rechtsetzender Ge- walt ebensowenig wie die göttliche Gewalt ganz auf eine jener
walt und rechtserhaltender Gewalt [violenza] dar. Daher die beiden Formen reduzieren, deren Dialektik der Essay zu defi-
Notwendigkeit einer dritten Figur, welche dieses zirkuläre Auf nieren beabsichtigt. Doch bedeutet das wiederum nicht, daß die
und Ab zwischen diesen beiden Formen der Gewalt sprengt: souveräne Gewalt mit der göttlichen Gewalt verwechselt wer-
den darf. Die Definition der göttlichen Gewalt fallt sogar leich-
»Dessen Schwankungsgesetz beruht darauf, daß jede rechtserhaltende ter, wenn man sie in Beziehung zum Ausnahmezustand setzt.
Gewalt in ihrer Dauer die rechtsetzende, welche in ihr repräsentiert Denn die souveräne Gewalt öffnet eine Zone der Ununter-
ist, durch die Unterdrückung der feindlichen Gegengewalten indirekt scheidbarkeit zwischen Gesetz und Natur, Außen und Innen,
selbst schwächt. [. . .] Dies währt so lange, bis entweder neue Gewalten Gewalt und Recht; trotzdem ist der Souverän genau derjenige,
oder die früher unterdrückten über die bisher rechtsetzende Gewalt der die Möglichkeit offenhält, zwischen ihnen zu entscheiden,
und damit ein neues Recht zu neuem Verfall begründen. Auf die
und zwar im selben Maß, wie er sie vermischt. Solange der Aus-
Durchbrechung dieses Umlaufs im Banne der mythischen Rechtsfor-
nahmezustand sich vom Normalfall unterscheidet, wird die
men, auf der Entsetzung des Rechts samt den Gewalten, auf die es an-
gewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begründet Dialektik zwischen rechtsetzender und rechtserhaltender Ge-
sich ein neues geschichtliches Zeitalter.* (Benjamin 1, S. 202) walt nicht wirklich aufgebrochen, und die souveräne Entschei-
dung erscheint sogar bloß als Medium, in dem sich der über-
Die Definition dieser dritten Figur, die Benjamin die göttliche gang vom einen zum anderen vollzieht (in diesem Sinn kann
Gewalt nennt, ist das zentrale Problem jeder Interpretation des man sagen, daß die souveräne Gewalt das Recht setzt, da sie die
Essays. Denn Benjamin liefert kein positives Bestimmungskri- Zulässigkeit einer sonst unzulässigen Handlung behauptet, und
terium und verneint sogar, daß es auch nur möglich sei, sie im es zugleich erhält, da der Inhalt des neuen Rechts nur in der Be-
konkreten Fall zu erkennen. Gewiß ist nur, daß sie das Recht wahrung des alten besteht). Auf jeden Fall bleibt die Verbindung
weder setzt noch erhält, sondern entsetzt. Deswegen ist sie auch zwischen Gewalt und Recht auch in ihrer Ununterscheidbarkeit
den gefährlichsten Mißverständnissen ausgeliefert (davon zeu- erhalten.
gen die Skrupel, mit denen Derrida in seiner Interpretation des Die Gewalt, die Benjamin als göttliche bestimmt, ist indes in
Essays vor ihr warnt, indem er sie, mit bemerkenswerter Ver- einer Zone angesiedelt, wo es nicht mehr möglich ist, zwischen
kennung, der nazistischen »Endlösung« annähert; Derrida 2, Ausnahme und Regel zu unterscheiden. Sie steht zur souverä-
s. 120-125). nen Gewalt in derselben Beziehung wie in der achten These der
Als Benjamin 1920 an Kritik der Gewalt arbeitete, kannte er wirkliche Ausnahmezustand zum virtuellen. Deswegen (das
aller Wahrscheinlichkeit nach Schmitts Politische Theologie heißt insofern sie nicht eine Art von Gewalt unter anderen ist,
nicht, deren Definition der Souveränität er fünf Jahre später in sondern nur die Auflösung der Verknüpfung von Gewalt und
seinem Buch über das barocke Trauerspiel zitierte. Deshalb Recht) kann Benjamin sagen, daß die göttliche Gewalt das Recht
kommen die souveräne Gewalt und der Ausnahmezustand, wel- weder setzt noch erhält, sondern entsetzt. Sie offenbart die Ver-
che die Politische Theologie begründet, in der Kritik nicht vor, knüpfung zwischen den beiden Gewalten - und um so mehr
und es ist nicht leicht zu sagen, welche Stellung diese zur recht- zwischen Gewalt und Recht - als einzigen realen Inhalt des

74 75
Rechts. »Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung«, schen der Heiligkeit des Lebens und der Macht des Rechts eine
schreibt Benjamin am einzigen Punkt, an dem sich der Essay so geheime Komplizenschaft gäbe. »Dem Ursprung des Dogmas
etwas wie einer Definition der souveränen Gewalt nähert, »ist von der Heiligkeit des Lebens nachzuforschen möchte sich ver-
nämlich zwiefach in dem Sinne, daß die Rechtsetzung zwar das- lohnen. Vielleicht, ja wahrscheinlich ist es jung, als die letzte
jenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Verirrung der geschwächten abendländischen Tradition, den
Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Heiligen, den sie verlor, im kosmologisch Undurchdringlichen
Bezweckten als Recht aber die Gewalt nicht abdankt, sondern zu suchen.« (Benjamin 1, S. 202)
sie nun erst im strengsten Sinne und zwar unmittelbar zur recht- Genau an diesem Ursprung werden wir mit unserer Untersu-
setzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und chung beginnen. Das Prinzip der Heiligkeit des Lebens ist uns
unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen so vertraut geworden, daß wir zu vergessen scheinen, daß das
Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt.« (Ben- alte Griechenland, dem wir den Großteil unserer ethisch-politi-
jamin 1, S. 198f.) Es ist darum kein Zufall, wenn sich Benjamin, schen Konzepte verdanken, nicht nur dieses Prinzip nicht
anstatt die göttliche Gewalt zu definieren, in einer scheinbar kannte, sondern auch kein Wort, um die ganze Komplexität der
brüsken Bewegung dem Träger der Verknüpfung von Gewalt semantischen Sphäre auszudrücken, die wir mit dem einzigen
und Recht zuwendet, den er »bloßes Leben« nennt. Die Analyse Wort »Leben« bezeichnen. Die Opposition von z& und bios,
dieser Figur, deren entscheidende Funktion in der Ökonomie von z&r und ez2 zZn (das heißt von Leben im allgemeinen und der
des Essays bislang ungedacht geblieben ist, stellt eine wesent- qualifizierten, den Menschen eigenen Lebensart), die doch so
liche Verknüpfung zwischen dem bloßen Leben und der recht- entscheidend ist für die Anfänge der abendländischen Politik,
lichen Gewalt her. Nicht nur ist die »Herrschaft des Rechtes enthält nichts, was an ein Vorrecht oder eine Heiligkeit des Le-
über den Lebendigen« dem bloßen Leben koextensiv und hört bens als solchen denken ließe; das homerische Griechisch ver-
mit diesem auf, sondern auch die »Auslösung der Rechtsge- fugt nicht einmal über ein Wort für den lebenden Körper. Das
walt«, was in gewissem Sinn das Ziel des Essays ist, »geht [. . .] Wort &za, das in späteren Epochen zu einem guten Aquivalent
auf die Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens zurück, für unseren »Körper« wird, bedeutet ursprünglich bloß »Kada-
welche den Lebenden unschuldig und unglücklich der Sühne ver«, wie wenn das Leben an sich, das sich für die Griechen in
überantwortet, die seine Verschuldung >sühnt< - und auch wohl eine Vielzahl von Aspekten und Elementen auflöst, erst nach
den Schuldigen entsühnt, nicht aber von einer Schuld, sondern dem Tod eine Einheit darstellte. Im übrigen wurde in Gesell-
vom Recht.«* (Benjamin 1, S. 199f.) schaften, die wie das alte Griechenland Opfer feierten und gele-
Auf den folgenden Seiten werden wir versuchen, diese Hin- gentlich auch Menschenleben darbrachten, das Leben an sich
weise zu entwickeln und die Beziehung zu analysieren, die die- nicht als heilig betrachtet; heilig wurde es nur mittels einer Reihe
ses bloße oder nackte Leben und die souveräne Macht aneinan- von Ritualen, deren Zweck gerade darin bestand, es aus seinem
der bindet. Benjamin zufolge trägt das Prinzip der Heiligkeit des profanen Kontext herauszulösen. Damit das Opfer heilig wird,
Lebens, das unsere Zeit dem menschlichen Leben und sogar muß es, wie Benveniste erklärt, »aus der Welt der Lebenden aus-
dem tierischen Leben überhaupt zuschreibt, zur Klärung dieser geschlossen werden und [. . .] die Schwelle überschreiten, die die
Beziehung wie auch zu jedem Versuch, die Herrschaft des beiden Welten trennt: dies ist der Zweck der Tötung« (Benveni-
Rechts über das Lebende in Frage zu stellen, nichts bei. Für ihn ste, s. 441).
ist es verdächtig, daß das, was hier heiliggesprochen wird, genau Wenn das zutrifft, wann und auf welche Weise ist dann ein
das ist, was dem mythischen Denken nach »der gezeichnete Trä- menschliches Leben zum ersten Mal für sich selbst als heilig be-
ger der Verschuldung ist: das bloße Leben«, wie wenn es zwi- trachtet worden? Bislang haben wir uns mit dem Aufzeigen der
logischen und topologischen Struktur der Souveränität beschäf-
I Im Original »sühnt« und -entsühnt« deutsch beigefügt. tigt; was aber wird von ihr ausgenommen und zugleich in sie

76 77
hineingenommen, wer ist der Träger des souveränen Banns? Zweiter Teil
Benjamin wie Schmitt weisen das Leben (das »bloße Leben« bei
Benjamin, bei Schmitt das »wirkliche Leben«, das »die Kruste Homo sacer
einer in Wiederholung erstarrten Mechanik« »durchbricht«) als
Element aus, das in der Ausnahme mit dem Souverän in engster
Beziehung steht. Und diese Beziehung gilt es nun zu klären.
I. Homo sacer

I . I . Der Traktat Über die Bedeutung der Wörter von Sextus

Pompeius Festus bewahrt uns unter dem Lemma sacer mons das
Gedächtnis einer Figur des archaischen römischen Rechts, in
der sich die Heiligkeit zum ersten Mal mit einem menschlichen
Leben als solchem verbunden findet. Der Definition des Hei-
ligen Berges, den die Plebs im Augenblick ihrer Sezession Jupi-
ter weihte, fügt Festus unmittelbar an:
At homo sacer is est, quem populus iudicavit ob maleficium; neque fas
est eum immolari, sed qui occidit, parricidi non damnatur; nam lege
tribunicia prima cavetur »si quis eum, qui eo plebei scito sacer sit, oc-
ciderit, parricida ne sit«. Ex quo quivis homo malus atque improbus
sacer appellari solet.1 (De sign. verb.)

Der Sinn dieser rätselhaften Figur, in der manche »die frühste


Strafe des römischen Strafrechts« (Bennett, S. 5) sehen wollten,
ist viel diskutiert worden; doch ihre Interpretation wird da-
durch kompliziert, daß sie auf den ersten Blick widersprüch-
liche Züge trägt. Schon Harold Bennett bemerkte 1930 in einer
Studie, daß die Definition von Festus »die Sache selbst, die das
Wort impliziert, zu negieren scheint« (ebd., S. 7); während sie
die Heiligkeit einer Person verkündet, autorisiert sie (oder ge-
nauer: sie erklärt für nicht strafbar) deren Tötung (welcher Ety-
mologie des Begriffs parricidium man auch immer folgt, dieser
bezeichnet ursprünglich einen Mord an einem freien Mann).
Der Widerspruch wird noch durch den Umstand verstärkt, daß
derjenige, den jeder straflos töten konnte, nicht durch die vom
Ritus vorgegebenen Formen zu Tode gebracht werden durfte
(neque fas est eum immolari; immolari bezeichnet das Bestreuen
des Opfers mit der mola salsa vor der Tötung).

I »Sacer aber ist derjenige, den das Volk wegen eines Delikts angeklagt hat;
und es ist nicht erlaubt, ihn zu opfern; wer ihn jedoch umbringt, wird
nicht wegen Mordes verurteilt; denn im ersten tribunizischen Gesetz ist
festgelegt: >Wenn einer denjenigen umbringt, der aufgrund eines Plebis-
zits sacer ist, dann wird er nicht als Mörder betrachtet<. Daher pflegt man
einen schlechten und unreinen Menschen sacer zu nennen.«
Worin besteht also die Heiligkeit des homo sacer [uomo letzteren zwar das neque fas est eum immolari verständlich (der
sacro] ? Was bedeutet der Ausdruck sacer esto,l der mehrmals in homo sacer, so Kerenyi, kann nicht mehr Gegenstand eines sacri-
den königlichen Gesetzen vorkommt und schon in der archai- ficium, einer »Handlung, die das Geopferte zum sacer macht«,
schen Inschrift auf dem rechteckigen cippus2 des Forums auf- werden, weil er »schon den Besitz der unterirdischen Götter
taucht, wenn er zugleich das impune occidi3 und den Ausschluß [bildet]; sie nehmen ihn nicht als Geschenk, als Opfer an«; Ke-
vom Opfer formuliert? Daß dieser Ausdruck auch den Römern rényi, S. 61); man begreift jedoch überhaupt nicht, warum dann
dunkel erschien, belegt zweifelsfrei ein Abschnitt der Saturna- jeder den homo sacer umbringen kann, ohne ein Sakrileg zu be-
lien (11I7,3 - 8), wo Macrobius, nachdem er das als sacrum defi- gehen (von daher rührt die nicht schlüssige Erklärung von
niert hat, was für die Götter bestimmt ist, hinzufügt: »An die- Macrobius, wonach man die Seelen der homines sacri deshalb
sem Punkt ist es nicht fehl am Platz, von den Verhältnissen jener auf schnellstem Weg in den Himmel befördern wollte, weil sie
Menschen zu handeln, die das Gesetz zu bestimmten Göttern diis debitae’ waren).
Geweihten [sacros] erklärt, denn ich weiß wohl, daß es manchen Keine der beide Positionen vermag den beiden Merkmalen,
sonderbar erscheint [mirum videri], daß, während es ansonsten deren Juxtaposition nach Festus gerade das Spezifische des
verboten ist, heilige Dinge zu verletzen, es doch erlaubt sei, den homo sacer ausmacht, auf ökonomische Weise gleichzeitig
homo sacer zu töten.« Was immer auch das Gewicht dieser In- Recht zu verschaffen: der Straflosigkeit seiner Tötung und dem
terpretation sein mag, die Macrobius an diesem Punkt schuldig Verbot der Opferung. Im Innern dessen, was wir von der juridi-
zu sein glaubt, sicher ist, daß die Heiligkeit in seinen Augen pro- schen und religiösen Ordnung (sowohl vom ius divinum wie
blematisch genug war, um einer Erklärung zu bedürfen. vom ius humanum) wissen, scheinen die beiden Wesenszüge in
der Tat schwerlich vereinbar zu sein: Wenn der homo sacer un-
1.2. Der Perplexität der antiqui autores antwortet die Diver- rein (Fowler: tabu) oder im Besitz der Götter war, wie konnte
genz der modernen Interpretationen. Auf der einen Seite finden ihn dann jedermann umbringen, ohne sich zu beflecken oder ein
sich diejenigen (wie Theodor Mommsen, Ludwig Lange, Ha- Sakrileg zu begehen? Und wenn er andererseits wirklich Opfer
rold Bennett, James Leigh Strachan-Davidson), die in der sacra- eines archaischen sacrificium oder eines Todesurteils war,
tio das abgeschwächte und säkularisierte Residuum einer archai- warum war es dann nicht fas, ihn in vorgeschriebener Form zu
schen Phase sehen, in der das religiöse Recht und das Strafrecht Tode zu bringen? Was ist mithin das Leben des homo sacer,
noch nicht unterschieden wurden und man das Todesurteil als wenn es am Kreuzpunkt der zulässigen Tötung und der verbo-
Opfer an die Gottheit verstand; auf der anderen Seite diejenigen tenen Opferung angesiedelt ist, außerhalb des menschlichen wie
(wie Karl Kerényi und W. Warde Fowler), die darin eine arche- des göttlichen Rechts?
typische Figur des Heiligen erblicken, die Weihung für die Alles deutet darauf hin, daß wir es hier mit einem Grenzbe-
unterweltlichen Götter, analog zum Doppelsinn des ethnologi- griff der römischen Gesellschaftsordnung zu tun haben, der als
schen Tabubegriffs: erhaben und verflucht, verehrungswürdig solcher schwerlich eine befriedigende Erklärung findet, solange
und schreckenerregend. Ersteren gelingt es zwar, das impune oc- man im Innern des ius divinum und des ius humanum verbleibt;
cidi zu begründen (wie das zum Beispiel Mommsen in Begriffen aber vielleicht erlaubt er, Licht auf ihre gegenseitigen Grenzen
einer Popolaren oder stellvertetenden Vollstreckung eines To- zu werfen. Anstatt das Spezifikum des homo sacer in einer be-
desurteils tut), sie haben jedoch keine überzeugende Erklärung haupteten ursprünglichen Ambiguität des Heiligen nach dem
für das Opferverbot. Umgekehrt wird in der Perspektive der Muster des ethnologischen Tabubegriffs aufzulösen, wie das
allzu oft geschehen ist, werden wir vielmehr versuchen, die
I Er soll sacer sein.
sacratio als autonome Figur zu interpretieren; und wir werden
2 Grabsäule.
3 Straflos getötet werden. I Den Göttern geweiht/verfallen.

82 83
uns fragen, ob sie nicht zufällig Licht auf eine originäre politische 2. Die Ambivalenz des Heiligen
Struktur wirft, die sich in einer Zone befindet, die der Unter-
scheidung zwischen Heiligem und Profanem, Religiösem und
Politischem vorausliegt. Doch um uns dieser Zone anzunähern,
müssen wir zuerst ein Mißverständnis ausräumen. 2.1. Auf den Interpretationen sozialer Phänomene und ins be-
sondere des Problems vom Ursprung der Souveränität lastet
noch immer ein wissenschaftlicher Mythos, der am Ende des 19.
und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entstanden
ist und die humanwissenschaftlichen Forschungen auf einem
besonders heiklen Gebiet nachhaltig auf den Holzweg gebracht
hat. Dieses Mythologem, das wir hier vorläufig »Theorie der
Ambivalenz des Heiligen« titulieren können, bildet sich anfäng-
lich in der spätviktorianischen Anthropologie heraus und über-
trägt sich unmittelbar danach auf die französische Soziologie.
Aber sein Einfluß auf die Zeit und seine Übertragung auf die
anderen Disziplinen sind dermaßen hartnäckig gewesen, daß
es nach der Kompromittierung von Batailles Untersuchungen
über die Souveränität auch noch in jenem linguistischen Mei-
sterwerk des 20. Jahrhunderts von Benveniste, Indoeuropäische
Institutionen, gegenwärtig ist. Daß es zum ersten Mal 1889 in
den Lectures on the Religion of the Semites von William Robert-
son Smith formuliert wurde - es handelt sich um jenes Buch, das
einen so maßgeblichen Einfluß auf Sigmund Freuds Totem und
, Tabu haben wird (»man liest es«, sagte dieser, »als gleite man in
einer Gondel dahin«) -, überrascht nicht, wenn man daran
denkt, daß die Lectures zu einem Zeitpunkt erschienen sind, da
eine Gesellschaft, die jeden Bezug zu ihrer religiösen Tradition
verloren hatte, ihr eigenes Unbehagen zu beklagen begann. In
diesem Buch tritt der ethnographische Begriff erstmals aus dem
Bereich der primitiven Kulturen heraus und dringt ungehindert
ins Innere der Forschung der biblischen Religion, um mit seiner
Ambiguität die abendländische Erfahrung des Heiligen unwi-
derruflich zu prägen. In der vierten Lektion heißt es:
*Neben diesen Formen des Tabu, die genau den Regeln der Heiligkeit
entsprechen, indem sie die Unverletzlichkeit der Götterbilder und
Heiligtümer, der Priester und Häuptlinge und überhaupt aller Perso-
nen und Dinge, die zu den Göttern und ihrem Cultus in Beziehung
stehen, finden wir noch eine andere Form des Tabu, die bei den Semi-
ten ihre Parallele in den Gesetzen über die Unreinheit hat. Frauen nach
der Geburt eines Kindes, Personen, die mit einem toten Körper in Be-
,
85
rührung gekommen sind, sind für eine gewisse Zeit Tabu und von der ren, das ausschließt, indem es einschließt, impliziert die Doppel-
menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen, wie auch in der semiti- deutigkeit des letzteren.
schen Religion solche Personen als unrein gelten. Die dem Tabu unter-
worfene Person wird in solchen Fällen nicht als heilig betrachtet [. . ,]. 2.2. War die Theorie von der Ambivalenz des Heiligen erst ein-
Bei den meisten wilden Völkern scheinen die beiden eben bezeichne-
mal formuliert, breitete sie sich, ohne auf Widerstand zu stoßen,
ten Arten des Tabu nicht scharf unterschieden zu werden. Selbst in hö-
in allen Bereichen der Humanwissenschaften aus -wie wenn die
her entwickelten Völkern berühren sich vielfach die Begriffe der Hei-
ligkeit und der Unreinheit.« (Robertson Smith, S. I I 1) europäische Kultur das Phänomen zum ersten Mal entdeckt
hätte. Zehn Jahre nach den Lectures eröffnen Henri Hubert und
In einer der zweiten Ausgabe der Lectures hinzugefügten An- Marcel Mauss ihren zum Klassiker der französischen Anthro-
merkung mit der Überschrift »Heiligkeit, Unreinheit und pologie gewordenen Essai sur la nature et Ia fonction du sacrifice
Tabu« zählt Robertson Smith eine neue Reihe von Beispielen (1 899) ausgerechnet mit der Beschwörung der »Doppeldeutig-
der Doppeldeutigkeit auf (darunter das Verbot des Schweine- keit der heiligen Dinge, die R. Smith so bewundernswert ans
fleischs, das »in den höher stehenden Religionen der Semiten Licht gebracht hat« (Hubert und Mauss, S. 195). Sieben Jahre
eine schwankende Stellung zwischen dem Bereich des Heiligen später druckt der Tabubegriff im zweiten Band von Wilhelm
und Unreinen« einnimmt; ebd., S. I 14), um sodann zu behaup- Wundts Völkerpsychologie über Mythus und Religion gerade die
ten, daß es »unmöglich ist, die semitische Auffassung der Hei- ursprüngliche Ununterschiedenheit von heilig und unrein aus,
ligkeit und der Unreinheit von dem System des Tabu zu son- welche die archaischste Phase der Menschheitsgeschichte kenn-
dern« (ebd., S. I 17). zeichneten, jene Mischung von Ehrfurcht und Abscheu, die in
Bedeutsam ist, daß Robertson Smith zu den Zeugnissen die- der Formel »heilige Scheu« Karriere machen wird. Erst in einer
ses doppeldeutigen Vermögens auch den Bann zählt: späteren Phase, als die ältesten dämonischen Mächte den Göt-
tern wichen, trat Wundt zufolge auch der Gegensatz von heilig
»Ein anderer hebräischer Brauch, der hier erwähnt werden kann, ist und unrein an die Stelle der ursprüngliche Ambivalenz.
der Bann (hérem), durch den böswillige Sünder und Feinde der Ge- 1912 veröffentlicht der Onkel von Mauss, Emile Durkheim,
meinschaft und ihres Gottes der gänzlichen Vernichtung geweiht wer- Die elementaren Formen des religiösen Lebens, worin der
den. Der Bann ist eine Form der Weihung für die Gottheit: das Verbum
»Zweideutigkeit des Begriffs des Heiligen« ein ganzes Kapitel
für >bannen< wird zuweilen mit >weihen< wiedergegeben (Micha 4,13),
zuweilen bedeutet es ,geloben< (Lev. 27, 28f.). In der ältesten Zeit der gewidmet ist. Hier unterteilt er die »religiösen Kräfte« in zwei
Hebräer bezeichnet es jedoch die völlige Vernichtung, nicht nur der gegensätzliche Kategorien, die »heilbringenden« und die »un-
vom Bann betroffenen Person, sondern auch die seines Eigentums; nur heilbringenden«:
Metalle wurden, nachdem sie durch Feuer gereinigt waren, dem Schatz
des Heiligtums beigefügt (Jos. 6, 24; 7,24; 1 Sam. I 5). Auch das Vieh »Zweifellos sind die Gefühle, die die beiden erwecken, nicht identisch:
wurde nicht geopfert, sondern einfach getötet, und die gebannte Stadt Respekt ist eine Sache, Abscheu und das Grausen eine andere. Damit
durfte nicht wieder aufgebaut werden (Deut. I 3,16; Jos. 6,z6). Ein sol- aber die Gesten in beiden Fällen die gleichen sind, dürfen die ausge-
cher Bann ist ein Tabu, das durch die Furcht vor übernatürlichen Stra- druckten Gefühle ihrer Natur nach nicht verschieden sein. In der Tat
fen veranlasst ist (1 Kön. 16, 34). Die von ihm ausgehende Gefahr ist gibt es Grausen im religiösen Respekt, besonders wenn er sehr groß
ebenso wie beim Tabu übertragbar (Deut. 7, 26; Jos. 7). Wer ein ge- ist, und die Furcht, die die bösen Mächte erwecken, hat im allgemeinen
banntes Ding in sein Haus bringt, verfallt selbst dem Banne.« (Ebd., auch achtungsgebietende Züge. [. . .] Das Reine und das Unreine sind
s. IISf.) also nicht zwei getrennte Arten, sondern zwei Varianten ein und der-
selben Art, die alle heiligen Dinge umfaßt. Es gibt iwei Arten des Hei-
Die Untersuchung des - dem Tabu angeglichenen - Banns ist ligen, die heilbringenden [faste] und die unheilbringenden [nefaste].
von Anfang an maßgebend für die Genese der Lehre von der Und zwischen diesen beiden entgegengesetzten Formen gibt es nicht
Doppeldeutigkeit des Heiligen: Die Doppeldeutigkeit des erste- nur keinen Bruch; ein und dasselbe Objekt kann sich vielmehr von

86 87
sich aus in die andere verwandeln, ohne seine Natur zu verändern. Aus der Kategorie des Tabu zu verkoppeln (»sacer esto ist tatsächlich
dem Reinen kann man Unreines machen; und umgekehrt. In der Mög- ein Fluch; und der homo sacer, auf den dieser Fluch fällt, ist ein
lichkeit dieser Umwandlungen besteht die Zweideutigkeit des Heili- Ausgestoßener, ein Verbannter, tabuisiert, gefährlich. [. , .] Ur-
gen.« (Durkheim, S. 548 - 5 5 1)
sprünglich kann das Wort einfach tabu bedeutet haben, i. e. aus
dem Bereich des profanum gewiesen, ohne besonderen Bezug
Hier ist bereits jener Prozeß der, Psychologisierung von religiö- auf eine Gottheit, aber je nach den Umständen ›heilig< oder ver-
ser Erfahrung am Werk (der »Abscheu« und das »Grausen«, flucht*; Fowler, S. 1 7- 23).
worin das europäische Bildungsbürgertum sein Unbehagen ge- Huguette Fugier hat in einer gut dokumentierten Studie ge-
genüber religiösen Tatsachen verrät), der ein paar Jahre später im zeigt, auf welche Weise die Lehre von der Doppeldeutigkeit in
Umkreis der Marburger Theologie mit dem Buch von Rudolf den Bereich der Sprachwissenschaft eindringt und dort schließ-
Otto über Das Heilige (1917) seinen Abschluß fand. Hier feiern ’ lich ihre Hochburg findet (Fugier, S. 238 -240). In diesem Pro-
eine Theologie, der jeglicher Sinn für das offenbarte Wort ab- zeß spielt gerade der homo sacer eine entscheidende Rolle. Wäh-
handen gekommen ist, und eine Philosophie, die angesichts des rend die zweite Auflage des Lateinischen etymologischen
Gefühls alle Nüchternheit verlassen hat, ihre Vereinigung in Wörterbuchs (1910) von Alois Walde noch keine Spur der Am-
einer Vorstellung des Heiligen, die nunmehr eins ist mit dem bivalenzdoktrin aufweist, sanktioniert der Dictionnaire étymo-
Dunklen und Undurchdringlichen. Daß das Religiöse vollstän- logique de Ia langue latine von Alfred Ernout und Antoine
dig in die Sphäre der psychologischen Emotion falle und daß es Meillet die »doppelte Bedeutung« mit einem Verweis auf den
ganz wesentlich mit dem Schauder und der Gänsehaut zu tun homo sacer: »Sacer bezeichnet denjenigen oder dasjenige, was
habe, das ist die Trivialität, welcher der Neologismus »numi- man nicht berühren kann, ohne verunreinigt zu werden oder zu
nos« den Anstrich von Wissenschaftlichkeit verpassen soll. verunreinigen; von daher der Doppelsinn von >heilig< oder >ver-
Als Freud Totem und Tubu verfaßt, ist der Boden schon genü- flucht< (ungefähr). Ein Schuldiger, den man den unterweltlichen
gend bereitet. Dennoch tritt erst mit diesem Buch eine eigentli- Göttern weiht, ist heilig (sacer esto: vgl. gr. hagios)«.
che allgemeine Theorie der Ambivalenz ans Licht, die nicht nur
K Es ist interessant, in der Arbeit von Huguette Fugier die Ge-
auf der Anthropologie und Psychologie, sondern auch auf der schichte des Austauschs zwischen Anthropologie, Linguistik und Sozio-
Linguistik basiert. Freud hat 1910 den Aufsatz über den Gegen- logie in der Sache des Heiligen zu verfolgen. Zwischen der zweiten Auf-
sinn der Urworte des heute diskreditierten Linguisten Karl Abel lage des Wörterbuchs von Walde und der ersten Auflage desjenigen von
gelesen und in einem Artikel rezensiert, wo er ihm mit seiner Ernout und Meillet war im Pauly-Wissowa der von Richard Ganschi-
Theorie über das Fehlen des Widerspruchsprinzips in den Träu- nietz gezeichnete Lexikonartikel Sacer erschienen, der explizit auf die
men verband. Unter den Worten des Gegensinns, die Abel im Theorie der Ambivalenz von Durkheim eingeht (so wie das bereits Fow-
Anhang auflistete, findet sich auch, wie Freud nicht versäumt ler mit Robertson Smith getan hatte). Was Meillet betrifft, so erinnert
hervorzuheben, der lateinische Begriff sacer, »heilig und ver- Huguette Fugier an die engen Beziehungen, die der Linguist zu den Pari-
ser Soziologen unterhielt (besonders mit Mauss und Durkheim). Als Ro-
flucht« (Freud, S. 219). Seltsamerweise erwähnten die Anthro-
ger Caillois 1939 L’homme et le sacré veröffentlicht, kann er direkt von
pologen, die als erste die Theorie von der Ambivalenz des Hei- einer scheinbar nun gesichterten lexikalischen Gegebenheit ausgehen:
ligen entwickelten, die römische sacratio nicht. 191 1 ist jedoch »In Rom bezeichnet das Wort sacer nach der Definition von Ernout-
Fowlers Aufsatz »The Original Meaning of the Word Sacer« er- Meillet: ,Wer oder was nicht berührt werden kann, ohne verunreinigt zu
schienen, in dessen Zentrum eine Interpretation des homo sacer werden oder zu verunreinigen.<* (Caillois, S. 42).
steht, die bei den Religionswissenschaftlern sofort Widerhall
fand. Hier ist es die in der Definition von Festus implizite Dop- 2.3. Eine rätselhafte Figur des archaischen römischen Rechts,
peldeutigkeit des Heiligen, die es Fowler (eine Anregung von die in sich widersprüchliche Züge zu vereinen scheint und des-
Robert Marett aufnehmend) erlaubt, das lateinische sacer mit wegen selbst erklärungsbedürftig war, findet auf diese Weise
88 89
Widerhall in der religiösen Kategorie des Heiligen, und zwar in 3. Das heilige Leben
einem Moment, da diese selbst eine unwiderrufliche Deseman-
tisierung erfährt, die sie entgegengesetzte Bedeutungen anneh-
men läßt. Und in Verbindung mit dem ethnologischen Begriff
des Tabu wird die Doppeldeutigkeit ihrerseits herangezogen, 3.1. Die Struktur der sacratio ist sowohl nach den Quellen wie
um - in einem vollendeten Zirkel - die Figur des homo sacer zu nach der übereinstimmenden Meinung der Forscher das Resul-
erklären. Im Leben der Begriffe gibt es einen Moment, in dem sie tat der Vereinigung zweier Wesenszüge: der Straflosigkeit der
ihre unmittelbare Intelligibilität verlieren und wie jedes leere Tötung und der Ausschließung vom Opfer. Vor allem das im-
Wort sich mit widersprüchlichen Bedeutungen aufladen kön- pune occidi stellt eine Ausnahme vom ius humanum dar, inso-
nen. Bei den religiösen Phänomenen fällt dieser Moment mit der fern es die Anwendung des Numa Pompilius zugeschriebenen
Geburt der modernen Anthropologie, für die nicht zufällig dop- Gesetzes über den Mord aufhebt (si quis hominem liberum dolo
pelsinnige Begriffe wie mana, tabu und sacer im Zentrum ste- sciens morti duit, parricida esto).’ Dieselbe von Festus wiederge-
hen, am Ende des letzten Jahrhunderts zusammen. Levi-Strauss gebene Formel (qui occidit, parricidi non damnatur) bildet sogar
hat aufgezeigt, wie der Begriff mana als überschreitender Si- in gewisser Weise eine eigentliche exceptio in dem technischen
gnifikant funktioniert, der keinen anderen Sinn hat, als das Sinn, daß der vor Gericht gestellte Totschläger sich gegen die
Übermaß der signifikanten Funktion über die Signifikate zu be- Anklage auf die Heiligkeit des Opfers berufen kann. Aber auch
zeichnen (Levi-Strauss, S. 32 -41). In gewisser Weise analoge Be- das neque fas est eum immolari stellt genaugenommen eine Aus-
trachtungen könnte man über den Gebrauch und die Funktion nahme dar, diesmal jedoch vom ius divinum und von jeder Form
des Tabu und des Heiligen im Diskurs der Humanwissenschaf- der rituellen Tötung. Die ältesten uns bekannten Formen der
ten zwischen 1890 und 1940 anstellen. Es ist nicht eine angeb- Vollstreckung der Todesstrafe (die schrecklichepoena cullei, bei
liche Ambivalenz der allgemeinen religiösen Kategorie des Hei- welcher der Verurteilte, den Kopf mit einem Wolfsfell bedeckt,
ligen, die das politisch-juridische Phänomen erklären kann, auf zusammen mit Schlangen, einem Hund und einem Hahn in
das sich die älteste Bedeutung von sacer bezieht; im Gegenteil, einen Sack gesteckt und ins Wasser geworfen wurde, oder der
nur eine jeweils sorgfältige Abgrenzung der Sphären des Politi- Sturz vom Tarpeischen Felsen) sind in Wirklichkeit eher Reini-
schen und des Religiösen erlaubt es, die Geschichte ihrer Ver- gungsriten als Todesstrafen im modernen Sinn: Demnach wurde
flechtung und ihrer komplexen Beziehungen zu begreifen. Auf das neque fas est eum immolari gerade dazu dienen, die Tötung
jeden Fall aber ist es wichtig, daß die ursprüngliche juridisch- des homo sacer von den rituellen Reinigungen zu unterscheiden
politische Dimension, die der homo sacer verkörpert, nicht von und die sacratio entschieden aus dem im eigentlichen Sinn reli-
einem wissenschaftlichen Mythologem verdeckt wird, das für giösen Bereich auszuschließen.
sich nicht nur nichts erklärt, sondern selbst erklärungsbedürftig Es ist bemerkt worden, daß die consecratio üblicherweise ei-
ist. nen Gegenstand vom ius humanum ins ius divinum, vom Profa-
nen ins Heilige, übergehen läßt (Fowler, S. I S), im Fall des homo
sacer dagegen eine Person lediglich außerhalb der menschlichen
Rechtsprechung gesetzt wird, ohne in die göttliche überzuge-
hen. Das Verbot der Opferung schließt nicht nur jede Anglei-
chung zwischen dem homo sacer und einem geweihten Opfer
aus, sondern, wie Macrobius mit einem Zitat von Trebatius sagt,

I »Wenn jemand absichtlich einen freien Mann tötet, kann er als Mörder be-
trachtet werden.«

91
die Zulässigkeit der Tötung implizierte, daß die ihm zugefügte ihn einbindet. Wir müssen uns also fragen, ob die Struktur der
Gewalt kein Sakrileg war, wie das bei den res sacrae der Fall ist Souveränität und die Struktur der sacratio nicht irgendwie ver-
(cum cetera sacra violari nefas sit, hominem sacrum ius fuerit knüpft sind und sich dadurch wechselseitig beleuchten können.
occidil). Wir können sogar eine erste Hypothese dazu aufstellen: Rückt
Wenn das stimmt, dann bildet die sacratio eine doppelte Aus- man den homo sacer an seinen eigentlichen Ort jenseits des
nahme, sowohl vom ius humanum als auch vom ius diuinum, so- Strafrechts wie des Opfers, so stellt er die ursprüngliche Figur
wohl vom religiösen wie vom profanen Bereich. Die topologi- des in Bann genommenen Lebens dar und bewahrt das Gedächt-
sche Struktur, die diese doppelte Ausnahme aufweist, ist die nis der ursprünglichen Ausschließung, mittels deren sich die
eines doppelten Ausschlusses und einer doppelten Einnahme, politische Dimension konstituiert hat. Der politische Raum der
die mehr als eine einfache Analogie mit der Struktur der souve- Souveränität hätte sich demnach durch eine doppelte Ausnahme
ränen Ausnahme darstellt (daher die Stichhaltigkeit der These als Exkreszenz des Profanen im Religiösen und des Religiösen
derjenigen Forscher, die wie Giuliano Crifo die sacratio in sub- im Profanen konstituiert, die eine Zone der Ununterschieden-
stantieller Kontinuität mit dem Ausschluß aus der Gemein- heit zwischen Opfer und Mord bildet. Souverän ist die Sphäre,
schaft interpretieren; Crifo 1, S. 460-465). Denn so wie bei der in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne
souveränen Ausnahme das Gesetz sich auf den Ausnahmefall ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das beißt tötbar, aber nicht
anwendet, indem es sich abwendet und zurückzieht, so ist der Opferbar, ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.
homo sacer der Gottheit in Form des Nichtopferbaren übereig- Nun kann man auch eine erste Antwort geben auf die Frage,
net und in Form des Tötbaren in der Gemeinschaft eingeschlos- die wir uns beim Aufzeigen der formalen Struktur der Aus-
sen. Das Leben, das nicht geopfert werden kann und dennoch ge- nahme gestellt haben: Was unter den souveränen Bann fällt, ist
tötet werden darf, ist das heilige Leben. ein menschliches Leben, das getötet, aber nicht geopfert werden
kann: der homo sacer. Wenn wir nacktes oder heiliges Leben das-
3.2. Was die Verfassung des homo sacer bestimmt, ist also nicht jenige Leben nennen, das den ersten Inhalt der souveränen
so sehr die vermeintlich ursprüngliche Doppeldeutigkeit der Macht bildet, dann verfügen wir auch über eine grundlegende
Heiligkeit als vielmehr die Eigentümlichkeit der doppelten Ein- Antwort auf die Benjaminsche Frage nach dem »Ursprung des
schließung, in die er sich von der Gewalt, der er ausgesetzt ist, Dogmas von der Heiligkeit des Lebens«. Heilig, das heißt tötbar
versetzt findet. Diese Gewalt - die nicht sanktionierbare Tö- und nicht Opferbar, ist ursprünglich das Leben im souveränen
tung, die jeder ihm gegenüber verüben kann - ist weder als Op- Bann, und die Produktion des nackten Lebens ist in diesem Sinn
fer noch als Mord noch als Vollstreckung eines Urteils noch als die ursprüngliche Leistung der Souveränität. Die Heiligkeit des
Sakrileg einzustufen. Wenn sie sich den sanktionierten Formen Lebens, die man heute gegen die souveräne Macht als Men-
des menschlichen und des göttlichen Rechts entzieht, öffnet sie schenrecht in jedem fundamentalen Sinn geltend machen
eine Sphäre des menschlichen Handelns, die weder in diejenige möchte, meint ursprünglich gerade die Unterwerfung des Le-
des sacrum facere noch in die der profanen Handlungen gehört; bens unter eine Macht des Todes, seine unwiderrufliche Ausset-
und diese Sphäre müssen wir hier zu begreifen versuchen. zung in der Beziehung der Verlassenheit [abbandono].
Wir sind bereits auf einen Grenzbereich des menschlichen
Handelns gestoßen, der nur in einer Ausnahmebeziehung be- )J Die Verknüpfung zwischen der Verfassung einer politischen Ge-
walt und der sacratio belegt auch diepotestus sacrosancta, die in Rom den
steht. Dies ist der Bereich der souveränen Entscheidung, die das
plebejischen Tribunen zusteht. Die Unantastbarkeit des Tribuns gründet
Recht im Ausnahmezustand aufhebt und so das nackte Leben in allein auf der Tatsache, daß die Plebejer anläßlich der ersten Sezession ge-
schworen haben, die Vergehen an ihren Vertretern dadurch zu rächen,
I »Während es verboten ist, die übrigen heiligen Dinge ZU verletzen, ist es daß sie den Schuldigen als homo sacer betrachteten. Der Begriff lex
zulässig, den homo sacer ZU töten.« sacrata, der fälschlicherweise (die Plebiszite wurden ehedem klar von den
92 93
leges unterschieden) das bezeichnete, was eigentlich bloß eine »geschwo- wohnen würde. Wenn unsere Hypothese richtig ist, dann ist die
rene Charta< der revoltierenden Plebs war (Magdelain, S. 57), hatte ur- Heiligkeit vielmehr die ursprüngliche Form der Einbeziehung
sprünglich keinen anderen Sinn als die Bestimmung eines tötbaren Le- des nackten Lebens in die juridisch-politische Ordnung, und
bens; aber sie bildete dennoch eine politische Macht, die in gewissem Sinn das Syntagma homo sacer benennt etwas wie die ursprüngliche
ein Gegengewicht zur souveränen Macht war. Deshalb bezeichnet nichts
das Ende der alten republikanischen Verfassung so klar wie der Augen-
»politische« Beziehung, das heißt das Leben, insofern es in der
blick, in dem Augustus die potestas tribunicia übernimmt und also sacro- einschließenden Ausschließung der souveränen Ausnahme als
sanctus wird (Sacrosanctus in perpetuum ut essem, et quoad viverem tri- Bezugsgröße dient. Heilig ist das Leben nur, insofern es in der
bunicia potestas mihi tribuetur,’ heißt es in den Res gestae). souveränen Ausnahme erfaßt wird; und die Verwechslung eines
juridisch-politischen Phänomens (die nicht opferbare Tötbar-
3.3. Hier entfaltet die strukturelle Analogie zwischen souverä- keit des homo sacer) mit einem genuin religiösen Phänomen ist
ner Ausnahme und sacratio ihre volle Bedeutung. An den beiden die Wurzel der Mißverständnisse, die in unserer Zeit sowohl die
äußersten Grenzen der Ordnung stellen der Souverän und der Studien über das Heilige wie über die Souveränität geprägt ha-
homo sacer zwei symmetrische Figuren dar, die dieselbe Struk- ben. Sacer esto ist keine religiöse Fluchformel, die das Unheim-
tur haben und korreliert sind: Souverän ist derjenige, dem ge- liche,’ zugleich Erhabene und Entsetzliche, einer Sache sanktio-
genüber alle Menschen potentiell homines sacri sind, und homo nieren würde; sie ist statt dessen die ursprüngliche politische
sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souveräne Formulierung, die das souveräne Band auferlegt.
handeln. Die Vergehen, die den Quellen zufolge die sacratio nach sich
Beide sind in der Figur eines Handelns verbunden, das, indem ziehen (wie terminum exarare: Tilgung der Grenzen; Verberatio
es sich sowohl vom menschlichen Recht wie vom göttlichen parentis: Gewalt des Sohnes gegenüber den Eltern; oder der Be-
Recht, vom nomos wie von der physis ausnimmt, in einem be- trug des Patrons gegenüber einem Klienten), hätten demnach
stimmten Sinn den ersten eigentlichen politischen Raum ab- nicht den Charakter einer Normübertretung, auf welche die
steckt, der sowohl vom religiösen wie vom profanen Bereich, entsprechende Sanktion folgt; vielmehr sind sie die ursprüngli-
von der natürlichen Ordnung wie von der normalen Rechtsord- che Ausnahme, in der das menschliche Leben, das einer bedin-
nung abgegrenzt ist. gungslosen Tötbarkeit ausgesetzt ist, in die politische Ordnung
Diese Symmetrie zwischen sacratio und Souveränität wirft eingeschlossen wird. Nicht der Akt der Grenzziehung, sondern
eine neues Licht auf die Kategorie des Heiligen, dessen Doppel- ihre Tilgung oder Negierung (wie das übrigens der Gründungs-
deutigkeit nicht nur die moderne Forschung der religiösen Phä- mythos von Rom auf seine Weise, aber in aller Klarheit sagt) ist
nomenologie so hartnäckig geleitet hat, sondern auch noch die der Gründungsakt der Staates. Das Gesetz von Numa über den
jüngsten Untersuchungen über die Souveränität. Die Nähe zwi- Mord (parricida esto) bildet mit der Tötbarkeit des homo sacer
schen der Sphäre der Souveränität und der Sphäre des Heiligen, (parricidi non damnatur) ein System und kann nicht davon ab-
die mehrmals festgestellt und unterschiedlich motiviert worden gelöst werden. So komplex ist die originäre Struktur, auf der die
ist, ist nicht einfach das säkularisierte Residuum des ursprüng- souveräne Macht gründet.
lich religiösen Charakters jeder politischen Macht noch der
bloße Versuch, dieser das Prestige einer theologischen Sanktion )c Betrachten wir das Bedeutungsfeld des Begriffs sacer, das unsere
zu sichern; ebensowenig ist sie aber die Konsequenz eines »hei- Analyse aufgespannt hat: Es enthält weder eine widersprüchliche Bedeu-
tung im Sinne von Abel noch eine allgemeine Doppeldeutigkeit im Sinne
ligen«, das heißt zugleich erhabenen und verfluchten Charak-
von Durkheim; vielmehr bezeichnet es ein absolut tötbares Leben, das
ters, der dem Leben als solchem auf unerklärliche Weise inne- Objekt einer Gewalt, die sowohl die Sphäre des Rechts als auch jene des
Opfers überschreitet. Diese doppelte Entziehung öffnet zwischen dem
I »So soll ich auf ewig sakrosankt sein, und die tribunizische Macht soll mir
zugestanden werden, solange ich lebe.« I Im Original deutsch.

94 95
Profanen und dem Religiösen eine Zone der Ununterscheidbarkeit, deren 4. Vitae necisque potestas
Bedeutung wir eben zu-bestimmen versucht haben. In dieser Perspektive
lösen sich viele der scheinbaren Widerspruche des Begriffs *heilig« auf.
So nannten die Römer die Ferkel, die sie zehn Tage nach der Geburt für
Opferbar hielten, rein. Dagegen bezeugt Varro (De re rustica 114,16), daß 4. I. »Eines der charakteristischsten Privilegien der souveränen
in der Antike die opferbaren Schweine sacres genannt wurden. Weit ent- Macht war lange Zeit das Recht über Leben und Tod.« (Foucault
fernt von einem Widerspruch mit dem Opferverbot des homo sacer deu- I, S. 161) Diese Behauptung Foucaults am Ende von Der Wille
tet der Begriff hier auf eine ursprüngliche Zone der Ununterscheidbarkeit
zum Wissen klingt völlig trivial. Auf die Wendung »Recht über
hin, wo sacer einfach ein tötbares Leben meint (vor dem Opfer war das
Ferkel noch nicht »heilig« im Sinne von »den Göttern geweiht«, sondern
Leben und Tod« stoßen wir jedoch in der Rechtsgeschichte das
bloß tötbar). Wenn die römischen Dichter die Liebenden als sacri be- erste Mal in der Formel vitae necisque potestas, die in keiner
zeichnen (sacros qui ledat amantes,’ Prop. 3,6,2; quisque amore teneatur, Weise die souveräne Macht bezeichnet, sondern die bedin-
eat tutusque sacerque,zTib. 1, 2,27), dann nicht deshalb, weil sie den Göt- gungslose Gewalt des pater über die Söhne. Im römischen Recht
tern geweiht oder-verflucht waren, sondern weil sie sich von den übrigen ist vita kein juridischer Begriff, er bezeichnet wie im gewöhn-
Menschen abgesondert und in eine Sphäre jenseits des göttlichen wie des lichen lateinischen Gebrauch die einfache Tatsache zu leben
menschlichen Rechts begeben haben. Es war ursprünglich jene Sphäre, oder eine besondere Lebensweise (das Lateinische vereinigt die
die der doppelten Ausnahme entsprang, der das heilige Leben ausgesetzt Signifikate von zök und bios in einem Begriff ). Der einzige Fall,
war.
in dem das Wort vita einen spezifisch juridischen Sinn annimmt,
der es. zu einem eigentlichen terminus technicus macht, ist eben
die Wendung vitae necisque potestas. Yan Thomas hat in einer
exemplarischen Studie gezeigt, daß in dieser Formel que keinen
disjunktiven Wert hat und vita bloß ein Zusatz zu nex, der
Macht zu töten, ist (Thomas, S. 508f.). Demnach erscheint das
Leben im römischen Recht nur als Gegenstück einer Macht, die
mit dem Tod droht (genauer mit dem Tod ohne Blutvergießen,
denn das bedeutet eigentlich necare im Gegensatz zu mactare).
Diese Macht ist absolut, sie ist weder als Sanktion einer Schuld
noch als Ausdruck der allgemeinsten Macht, die dem pater als
Oberhaupt der domus (des Hauses) zukommt, gedacht: Sie ent-
springt unmittelbar und allein der Vater-Sohn-Beziehung (im
Augenblick, da der Vater den Sohn anerkennt, indem er ihn vom
Boden hochhebt, erwirbt er über ihn die Macht über Leben und
Tod); deswegen darf sie nicht mit dem Recht zu töten verwech-
selt werden, das dem Gatten oder dem Vater über die Gattin
oder die Tochter zusteht, wenn sie beim Ehebruch in flagranti
ertappt werden, und noch weniger mit der Gewalt des dominus
über seine Diener. Während letztere beiden Gewalten die häus-
liche Rechtsprechung durch das Familienoberhaupt betreffen
und so gewissermaßen im Bereich der domus bleiben, kommt
die vitae necisque potestas jedem freien männlichen Bürger bei
»Wer immer die heiligen Liebenden verletzt.«
seiner Geburt zu und scheint so das Modell der politischen
I
2 »Wer verliebt ist, soll geschützt und heilig sein.«
97
Macht im allgemeinen zu liefern. Nicht das einfache natürliche 4.2. Aus dieser Perspektive wird der Sinn des alten römischen
Leben, sondern das dem Tod awsgesetzte Leben (das nackte oder Brauchs, von dem Valerius Maximus berichtet, wonach nur der
heilige Leben) ist das ursprüngliche politische Element. noch nicht geschlechtsreife Sohn sich zwischen dem mit dem
Tatsächlich empfanden die Römer eine so wesentliche Ver- imperium ausgestatteten Magistraten und dem Liktor, der vor
wandtschaft zwischen der vitae necique potestas des Vaters und ihm hergeht, plazieren durfte. Die physische Nähe zwischen
dem imperium des Magistraten, daß die Register des ius patrium dem Magistraten und seinen Liktor-en, die ihn stets begleiten
und der souveränen Macht schließlich eng verflochten waren. und die schrecklichen Insignien der Macht tragen (die fasces for-
Das Thema des pater imperiosus, der wie Brutus oder Manlius midulosi und die saeves secures) druckt die Untrennbarkeit des
Torquatus die Eigenschaft des Vaters und das Amt des Magistra- imperiums von einer Macht über den Tod förmlich aus. Der
ten auf sich vereinigt und nicht zögert, den des Verrats schuldi- Sohn kann sich deshalb zwischen den Magistraten und den Lik-
gen Sohn dem Tode zu überantworten, spielt eine wichtige Rolle tor stellen, weil er in bezug auf den Vater bereits ursprünglich
in der Anekdotik und in der Mythologie der souveränen Macht. und unmittelbar einer Macht über Leben und Tod unterstellt ist.
Doch ebenso entscheidend ist die umgekehrte Figur, das heißt Der puer Sohn sanktioniert auf symbolischem Weg genau diese
der Vater, der seine vitae necisque potestas gegenüber einem Konsubstantialität der vitae necisque potestas zur souveränen
Sohn, der Magistrat ist, ausübt wie im Fall des Konsuls Spurius Macht.
Cassius und des Tribuns Caius Flaminius. Valerius Maximus be- An dem Punkt, wo sie zusammenzufallen scheinen, tritt der
richtet, wie letzterer, während er sich über die Macht des Senats besondere - das heißt an dieser Stelle eigentlich nicht mehr so
hinwegzusetzen versuchte, von seinem Vater von der Rostra besondere - Umstand zutage, daß jeder freie männliche Bürger
heruntergeschleift wurde, und definiert die potestas des Vaters (der als solcher am öffentlichen Leben teilnehmen kann) sich
bezeichnenderweise als imperium privatum. Yan Thomas hat unmittelbar in einer Verfassung der virtuellen Tötbarkeit befin-
aufgrund seiner Analysen dieser Episoden schreiben können, det und in bezug auf den Vater gewissermaßen sacer ist. Die Rö-
daß die patria potestas in Rom als eine Art von öffentlichem Amt mer waren sich des aporetischen Charakters dieser Macht voll-
und in gewisser Weise wie ein nirreduzibler Rest der Souveräni- kommen bewußt; sie machte eine auffallende Ausnahme
tät« (ebd., S. 528) empfunden wurde. Wenn wir schließlich in ei- gegenüber dem Prinzip des Zwölftafelgesetzes, wonach kein
ner späten Quelle lesen, daß Brutus, als er seine Söhne dem Tode Bürger ohne Urteilsspruch (indemnatus) zu Tode gebracht wer-
überantwortete, »an ihrer Stelle das römische Volk adoptierte« den durfte, und bildete gleichsam eine unbegrenzten Autorisie-
(ebd,, S. 5 3 1), so ist es ein und dieselbe Macht über den Tod, die rung zu töten (lex indemnatorum interficiendum). Und auch das
sich mittels des Bildes von der Adoption nun auf das gesamte rö- andere Merkmal, welches das heilige Leben als Ausnahme kenn-
mische Volk überträgt; so bekommt das hagiographische Epi- zeichnet, das heißt die Unmöglichkeit, in den sanktionierten
theton »Vater des Vaterlandes« (ebd., S. 53 1 f.), das zu allen Zei- Formen des Ritus zu Tode gebracht zu werden, findet sich in der
ten den mit der souveränen Macht ausgestatteten Oberhäuptern vitae necisque potestas wieder. Yan Thomas zitiert den von Cal-
vorbehalten war, wieder seine ursprüngliche, finstere Bedeu- purnius Flaccus als rhetorische Übung vorgeschlagenen Fall
tung. Die Quelle liefert uns also eine Art genealogischen My- eines Vaters, der kraft seiner potestus den Sohn dem Henker
thos der souveränen Macht: Das imperium des Magistraten ist übereignet, damit ihn dieser zu Tode bringe; der Sohn wider-
nur die Ausweitung der vitae necisque potestas des Vaters auf die setzt sich und verlangt zu Recht, daß ihm der Vater den Tod ge-
gesamte Bürgerschaft. Es könnte nicht klarer gesagt werden, ben müsse (vult manu patri interfici; ebd., S. 540). Die vitae
daß das erste Fundament der politischen Macht ein absolut töt- necisque potestas erfaßt das nackte Leben des Sohnes unmittel-
bares Leben ist, das durch seine Tötbarkeit selbst politisiert bar, und das impune occidi, das sich davon ableitet, kann in kei-
wird. ner Weise der rituellen Tötung bei der Vollstreckung eines To-
desurteils angenähert werden.

98 99
4.3. An einem bestimmten Punkt seiner Untersuchung der vi- 5. Souveräner Körper und heiliger Körper
tae necisque potestas fragt Yan Thomas: »Welches ist dieses un-
vergleichliche Band, für welches das römische Recht keinen an-
deren technischen Ausdruck zu finden vermag als den Tod?«
(Ebd., S. 5 IO) Die einzige mögliche Antwort ist die, daß das- 5. I . Als Ernst Kantorowicz Ende der fünfziger Jahre in den Ver-
jenige, wovon in diesem »unvergleichlichen Band« gehandelt einigten Staaten Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur
wird, die Einbeziehung des nackten Lebens in die juridisch- politischen Theologie des Mittelalters veröffentlichte, wurde das
politische Ordnung ist. Es verhält sich, wie wenn die männ- Buch nicht nur von Mediävisten, sondern auch und vor allem
lichen Bürger für ihre Teilnahme am politischen Leben mit einer von Historikern der Neuzeit sowie Politikwissenschaftlern und
bedingungslosen Unterwerfung unter eine Macht über den Tod Staatstheoretikern vorbehaltlos begrüßt. Es war in seiner Gat-
bezahlen müßten und das Leben nur in der doppelten Aus- tung zweifellos ein Meisterwerk, und die Vorstellung eines »my-
nahme der Tötbarkeit und der Opferbarkeit in das Gemein- stischen Körpers« und eines »politischen Körpers des Königs«,
wesen eintreten könnte. Deswegen kommt die patria potestas die es ans Licht brachte, bildete gewiß (wie Jahre später Kanto-
sowohl an der Grenze der domus wie des Staates zu liegen: Wenn rowicz’ brillantester Schüler, Ralph E. Giesey, festhielt) eine
die antike Politik der Trennung dieser beiden Sphären ent- »wichtige Etappe in der Entwicklungsgeschichte des modernen
springt, dann ist das tötbare und nicht opferbare Leben das Staates« (Giesey 1, S. 9); doch solch eine ungeteilte Gunst auf
Scharnier, das sie verbindet, und die Schwelle, auf der sie kom- einem so heiklen Gebiet verdient einige Überlegungen.
munizieren, indem sie sich ins Unbestimmte auflösen, Das hei- Kantorowicz weist im Vorwort selbst darauf hin, daß das
lige Leben, weder politischer bios noch natürliche zök, ist die Buch, das aus einer Studie über mittelalterliche Vorläufer des
Zone der Ununterscheidbarkeit, in der bios und z& sich wech- Rechtssatzes von den zwei Körpern des Königs hervorgegangen
selseitig einbeziehen und ausschließen und sich gerade dadurch war, weit über die ursprüngliche Absicht hinausging. Der Ver-
konstituieren. fasser, der Anfang der zwanziger Jahre die politischen Wechsel-
Es ist sehr richtig erkannt worden, daß der Staat nicht in einer fälle in Deutschland mit intensiver Teilnahme erlebt hatte, als er
sozialen Bindung gründet, deren Ausdruck er wäre, sondern in in den Reihendes nationalistischen Freikorps den Spartakusauf-
der Auflösung (de-liaison), die er untersagt (Badiou, S. I 25). Wir stand in Berlin und die Münchner Räterepublik bekämpfte,
können nun diese These um eine weitere Bedeutung erweitern. konnte die Anspielung auf die »politische Theologie«, unter de-
Die déliaison darf nicht als Auflösung eines bereits vorher beste- ren Fahne Schmitt 1922 seine Souveränitätslehre gestellt hatte,
henden Bandes verstanden werden (das die Form eines Pakts nicht bedacht haben. Fünfunddreigig Jahre später, nachdem der
oder Vertrags haben könnte). Vielmehr hat das Band selbst ur- Nationalsozialismus seinem Leben als assimilierter Jude einen
sprünglich die Form einer Auflösung oder einer Ausnahme, in unheilbaren Bruch zugefügt hatte, befragte er jenen »Mythus
der das, was eingebunden wird, zugleich ausgestoßen wird; und des Staates«, den er in jungen Jahren so feurig geteilt hatte, aus
das menschliche Leben politisiert sich nur durch das Überlas- einer ganz anderen Perspektive. Das Vorwort macht darauf auf-
sensein [abbandono] an eine unbedingte Macht über den Tod. merksam und bestreitet zugleich vielsagend, daß es »zu weit
Ursprünglicher als die Bindung einer positiven Norm oder eines [ginge], wollte man annehmen, der Verfasser habe sich der Er-
sozialen Pakts ist das souveräne Band, das aber in Wahrheit nur forschung der Ursprünge einiger Idole moderner politischer
eine Auflösung ist; und das, was diese Auflösung impliziert und Religionen nur aufgrund der furchtbaren Erlebnisse unserer
produziert - das nackte Leben, das im Niemandsland zwischen Zeit zugewandt, in der ganze Völker, die größten wie die klein-
dem Haus und dem Staat wohnt -, ist von der Warte der Souve- sten, den unsinnigsten Dogmen zum Opfer fielen und politische
ränität aus gesehen das ursprüngliche politische Element. Theologismen zu regelrechten Besessenheiten« wurden. Und
mit derselben beredten Bescheidenheit weist der Verfasser den
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Anspruch zurück, *das Problem des sogenannten >Mythus des VII. Kapitel beschreibt das eigentümliche Bestattungszeremo-
Staates< (Cassirer) vollständig erfaßt zu haben« (Kantorowicz, niell der französischen Könige, bei dem die effigie cerea eine
s. 22 f.). wichtige Rolle spielte und das wächserne Abbild, aufgebahrt auf
In diesem Sinn hat man das Buch nicht grundlos als einen der einem lit d’honneur, ganz wie die lebende Person des Königs be-
großen kritischen Texte unserer Zeit über den Konsens gegen- handelt wurde. Als möglichen Ursprung nennt Kantorowicz die
über dem Staat und über die Techniken der Macht lesen können. römische Kaiserapotheose; auch hier wurde, nachdem der Sou-
Wer jedoch die geduldige Analysearbeit verfolgt hat, die ausge- verän gestorben war, seine imago aus Wachs »wie ein kranker
hend von den Reports Edmund Plowdens und der makabren Mensch behandelt und lag auf einem Bett. Senatoren und Kran-
Ironie in Richard II zur Rekonstruktion der Entstehung der kenpflegerinnen standen zu beiden Seiten, Ärzte markierten
Lehre von den zwei Körpern des Königs in der mittelalterlichen Pulsfühlen und medizinische Behandlung, bis nach sieben Ta-
Jurisprudenz und Theologie gelangt, der kann sich nicht nicht gen die Figur >starb <.« (Ebd., S. 422f.) Kantorowicz zufolge
fragen, ob das Buch allein als Demystifizierung der politischen hatte das heidnische Vorbild trotz aller Ähnlichkeit das franzö-
Theologie gelesen werden kann. Tatsache ist, daß im Gegenzug sische Bestattungsritual nicht direkt beeinflußt; auf jeden Fall sei
zu der von Schmitt beschworenen politischen Theologie, die es sicher, daß das Vorhandensein des Abbildes noch einmal mit
wesentlich den absoluten Charakter der souveränen Macht ins der »nie sterbenden* legalistischen Dignität des Königs in Be-
Auge faßte, Die zwei Körper des Königs sich ausschließlich mit ziehung zu setzen sei.
dem anderen, harmloseren Aspekt beschäftigt, der nach der De- Daß die Ausklammerung des römischen Vorbilds nicht einer
finition Jean Bodins die Souveränität charakterisiert (puissance Vernachlässigung oder Unterbewertung entsprang, zeigt die Be-
absolue etpe@tueZZel), nämlich ihre ewige Natur, aufgrund de- achtung, die ihm Giesey mit der vollen Zustimmung seines Leh-
ren die königliche dignitas die physische ihres Trägers überlebt rers in seinem Buch The Royal Funeral Ceremony in Renais-
(Ze roi ne meurtjamais2). Die ,christliche politische Theologie& sance France (1960) geschenkt hat, das als eine angemessene
war hier einzig darauf ausgerichtet, durch die Analogie mit dem Ergänzung der Zwei Körper des Königs betrachtet werden kann,
mythischen Körper Christi die Kontinuität jenes corpus morale Giesey konnte nicht übergehen, daß namhafte Gelehrte wie Ju-
et politicum des Staates zu sichern, ohne den keine stabile politi- lius Schlosser und weniger bekannte wie Elias Bickermann ei-
sche Organisation denkbar ist. Und in diesem Sinn kann man sa- nen genetischen Zusammenhang zwischen der kaiserlichen
gen, daß »ungeachtet einiger Ähnlichkeit mit zusammenhanglo- consecratio der Römer und dem französischen Ritus hergestellt
sen heidnischen Begriffen [. . ,] die >zwei Körper des Königs< ein hatten; seltsamerweise setzt er sein Urteil über die Sache aus
Produkt christlichen theologischen Denkens [sind] und [. . .] (»was mich betrifft«, schreibt er, »so ziehe ich es vor, keine der
folglich einen Markstein christlicher politischer Theologie [bil- beiden Lösungen zu wählen«; Giesey 2, S. 128), um die Kanto-
den]« (ebd., S. 496). rowiczsche Interpretation der Verbindung zwischen dem Ab-
bild und dem Fortbestand der Souveränität resolut zu bekräfti-
5.2. Mit der Entschiedenheit dieser Schlußthese hebt Kantoro- gen. Es gab für diese Wahl einen offensichtlichen Grund: Wenn
wicz das Element hervor (um es gleich wieder beiseite zu schie- die Hypothese von der heidnischen Ableitung des Abbildzere-
ben), das die Genealogie der Lehre von den zwei Körpern in eine moniells zugelassen worden wäre, dann wäre Kantorowicz’
weniger beruhigende Richtung gelenkt hätte, wenn er es näm- These von der »christlichen politischen Theologie« zwangsläu-
lich mit dem zweiten und obskureren Arkanum der souveränen fig umgestürzt oder hätte zumindest noch einmal vorsichtiger
Macht in Verbindung gebracht hätte: Zu puissance absolue. Das reformuliert werden müssen. Doch es gab auch noch einen
zweiten - und heimlicheren - Grund: daß eigentlich nichts an
I *Absolute und ewige Macht«. der römischen consecratio es erlaubte, das Abbild des Kaisers
2 *Der König stirbt nie.* mit dem leuchtendsten Wesenszug der Souveränität, der ihre
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Ewigkeit ist, in Verbindung zu bringen; der makabre und gro- Puppe des Septimius Severus sieben Tage vordem im Palaste als Kran-
teske Ritus, bei dem ein Abbild zuerst wie eine lebende Person ker behandelt wurde, mit Ärztebesuchen, Gesundheitsbulletins und
behandelt und danach feierlich verbrannt wurde, weist in eine Todesfeststellung. An Deutlichkeit lassen all diese Nachrichten nichts
zu wünschen übrig. Das Wachsbild, dem Toten >in allem ähnlich<, mit
dunklere und ungewissere Zone, die wir nun zu erkunden ver- seinen Kleidern umhüllt, auf seinem Paradebett liegend - das ist der
suchen. Dort nämlich schien der politische Körper des Königs Kaiser selbst, dessen Leben durch diese oder vielleicht noch andere
sich dem tötbaren und nicht opferbaren Körper des homo sacer magische Handlungen in die Wachspuppe überführt ist.« (Bicker-
anzunähern, um beinah mit ihm zu verschmelzen. mann 1, S. 4-6)

5.3, Ein junger Antikeforscher, Elias Bickermann, veröffent- Entscheidend für das Verständnis des ganzen Rituals ist jedoch
lichte 1929 im Archiv für Religionswissenschaft eine Studie über die Funktion und das Wesen des Bildes. Hier unternimmt
die »römische Kaiserapotheose«, die in einem kurzen, aber de- Bickermann eine wertvolle Annäherung, die das Zeremoniell in
taillierten Anhang das heidnische Bildzeremoniell (funus ima- eine neue Perspektive zu rucken erlaubt:
ginarium) ausdrücklich zu den Bestattungsriten der englischen »Die Parallelen für derartigen Bilderzauber sind zahlreich und in der
und französischen Souveräne in Beziehung setzt. Kantorowicz ganzen Welt zu treffen. Hier genüge nur ein italisches Beispiel vom
und Giesey zitieren beide diese Studie; Giesey erklärt sogar Jahre 136. Ein Vierteljahrhundert vor der Bestattung des Antoninus
ohne Umschweife, daß die Lektüre des Textes am Ursprung Pius schreibt die ,Lex collegii cultorum Dianae et Antinoi< vor: quis-
seiner Arbeit gestanden hat, doch beide umgehen dennoch still- quis ex hoc collegio servus defunctus fuerit et corpus eius a domino ini-
schweigend den zentralen Punkt von Bickermanns Analyse. quo sepulturae datum non [. . ./ fuerit k . .], ei funus imaginarium jiet.’
Bei seiner sorgfältigen Rekonstruktion des Ritus der Konse- Die Satzung gebraucht dabei denselben Ausdruckfunus imaginarium,
kration aufgrund der schriftlichen Quellen und der Münzen welchen die ,Historia Augusts<, um die von Dio gesehene Bestattung
des Pertinax-Wachsbildes zu bezeichnen, verwendet. Nach der jlex
spürt Bickermann, wenn auch ohne alle Konsequenzen zu zie-
collegii< wie in allen sonstigen Parallelen dient aber das Bild, um den
hen, die spezifische Aporie auf, die in dieser Wachsbild-Bestat- fehlenden Körper zu vertreten; im Kaiserzeremoniell tritt es dagegen
tung liegt: neben ihn, verdoppelt die Leiche und ersetzt sie nicht.* (Ebd., S. sf.)
*Jeder gewöhnliche Mensch wird nur einmal begraben, wie er nur ein- Als Bickermann 1972 mehr als vierzig Jahre später auf das Pro-
mal stirbt. Der in der Antoninenzeit konsekrierte römische Kaiser blem zurückkommt, bringt er die kaiserliche Bildbestattung mit
wurde aber zweimal auf dem Scheiterhaufen verbrannt, und zwar ein-
dem Ritus in Zusammenhang, der an demjenigen vollführt wer-
mal in corpore, dann in effigie. [. . .] Die Leiche des Kaisers wird zwar
prunkhaft, aber nicht von amtswegen verbrannt und die überteste im
den muß, der sich vor einer Schlacht feierlich den Manen ge-
Mausoleum beigesetzt. Im allgemeinen pflegt die öffentliche Trauer in weiht hat und im Kampf nicht gefallen ist (Bickermann 2, S. 22).
diesem Augenblicke zu schließen [. . .]. Bei der Bestattung des Antoni- Und hier ist es, wo der Körper des Souveräns und der Körper
nus Pius wird aber alles dem üblichen Brauch entgegen ausgeführt. des homo sacer in eine Zone der Ununterscheidbarkeit gelangen,
Das iustitium [die öffentliche Trauer] beginnt hier erst nach der Beer- in der sie sich zu vermischen scheinen.
digung, und der staatliche Leichenzug setzte sich in Bewegung, als die
Leichenreste schon im Grabmal ruhten! Und zwar gilt dieses funus 5.4. Der Figur des homo sacer haben die Forscher schon seit
publicum, wie wir aus Dios und Herodians Berichten von den späteren langem die des devotus an die Seite gestellt, der sein eigenes Le-
Konsekrationen erfahren, der dem Verstorbenen nachgebildeten
ben den Göttern der Unterwelt weiht, um die Stadt vor einem
Wuchspuppe. [. . .] D ieses Scheinbild wird [. . .] als wirklicher Men-
schenkörper angesehen und behandelt. Der Augenzeuge Dio erzählt,
daß ein Sklave mit seinem Wedel Fliegen vom Gesicht der Wachs- I »Wenn ein Sklave dieses Kollegiums stirbt und von seinem ungerechten
puppe des Pertinax abwehrte. Septimius Severus gab ihr dann auf dem Herrn nicht begraben wird, so soll eine Bild-Bestattung ausgeführt wer-
Scheiterhaufen den Abschiedskuß. Herodian fügt sogar hinzu, daß die den.«

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schweren Unheil zu bewahren. Livius hat uns eine lebhafte und Wo dieses Bildnis vergraben ist, dort darf ein römischer Magistrat
minutiöse Schilderung einer devotio überliefert, die sich 340 v. nicht hintreten. Wenn er aber sich selbst dem Tod weihen will, wie De-
Chr. während der Schlacht von Veseris zugetragen hat. Das rö- cius sich dem Tod geweiht hat, und wenn er dann nicht fällt, kann er
weder für sich noch für den Staat eine Kulthandlung gültig vollziehen,
mische Heer stand vor der Niederlage, als der Konsul Publius
ob er es mit einem Opfertier oder sonstwie tun möchte.« (VIII IO,
Decius Mus, der zusammen mit seinem Kollegen Titus Manlius 11-13)
Torquatus die Legionen befahl, den Pontifex um Beistand beim
Vollzug des Ritus bat: Warum bildet das Überleben eines Todgeweihten für die Ge-
»Der Pontifex forderte ihn auf, die purpurverbrämte Toga anzulegen
meinschaft eine solch heikle Angelegenheit, daß sie sich zur
und mit verhülltem Haupt, eine Hand unter der Toga zum Kinn em- Ausführung eines komplexen Rituals, dessen Sinn es gerade zu
porgestreckt, auf einem Speer stehend, den man unter seine Füße ge- verstehen gilt, gezwungen sieht? Welches ist der Status dieses le-
legt hatte, also zu sprechen: >Janus, Jupiter, Vater Mars, Quirinus, Bel- bendigen Körpers, der nicht mehr zur Welt der Lebenden zu ge-
lona, ihr Laren, ihr neu aufgenommenen Götter, ihr alteingesessenen hören scheint? Wenn der überlebende Geweihte, wie Robert
Götter, ihr Götter, die ihr die Macht habt über uns und die Feinde, und Schilling in einer exemplarischen Studie festgestellt hat, sowohl
ihr vergöttlichten Geister der Toten, euch bete und flehe ich an und aus der profanen Welt als auch aus der heiligen Welt ausge-
bitte euch inständig um die Gnade, daß ihr dem römischen Volk der schlossen wird, geschieht dies deshalb, »weil dieser Mann sacer
Quiriten Macht und Sieg verleiht und den Feinden des römischen Vol-
ist. Er könnte auf keinem Weg wieder der profanen Welt zu-
kes der Quiriten Furcht, Schrecken und Tod bringt. Wie ich es mit
meinen Worten ankündige, so weihe ich [devoweo] für den Staat des
rückgegeben werden, da dank seiner >Weihung< ja die ganze Ge-
römischen Volkes der Quiriten, für das Heer, die Legionen und die meinschaft der ira deum entrinnen konnte.« (Schilling, S. 9 56)
Hilfstruppen des römischen Volkes der Quiriten die Legionen und Aus dieser Perspektive müssen wir die Funktion der Statue be-
Hilfstruppen der Feinde mit mir den vergöttlichten Geistern der To- trachten, der wir bereits im funus imaginarium des Kaisers be-
ten und der Tellus.( [. . ,] Er [. . .] gürtete sich auf gabinische Art, gegnet sind und die den Körper des Souveräns und des Geweih-
schwang sich bewaffnet auf sein Pferd und stürzte sich mitten unter ten in einer Konstellation zu vereinigen scheint.
die Feinde, beiden Heeren sichtbar, viel hehrer als eine menschliche Wir wissen, daß das sieben Fuß hohe signum, von dem Livius
Erscheinung, wie vom Himmel gesandt als ein Sühneopfer für allen spricht, nichts anderes als der »Koloß« des Geweihten ist, das
Zorn der Götter.« (VIII 9,4-10)
heißt sein Doppel, das den Platz des fehlenden Leichnams in
Die Analogie zwischen devotus und homo sacer scheint hier einer Bestattungper imaginem einnimmt, oder genauer in stell-
nicht über den Umstand hinauszugehen, daß beide irgendwie vertretender Ausführung des nicht erfüllten Gelöbnisses. Jean-
den Göttern geweiht sind und den Göttern gehören, auch wenn Pierre Vernant und Benveniste haben die Funktion des Kolosses
(trotz des Vergleichs von Livius) nicht in der technischen Form im allgemeinen aufgezeigt: Indem er ein Doppel auf sich zieht
des Opfers. Livius erwägt jedoch eine Hypothese, die ein beson- und festhält, das sich in anormalen Umständen befindet, »er-
deres Licht auf diese Einrichtung wirft und einen engeren Ver- laubt er es, zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der
gleich der beiden Lebendes devotus und des homo sacer erlaubt: Toten wieder korrekte Verhältnisse herzustellen« (Vernant,
S. 337). Denn die erste Folge des Todes ist die Freisetzung eines
»Ich glaube noch hinzufügen zu müssen, da8 es dem Konsul und dem vagen und bedrohlichen Wesens (die lateinische larva; die psy-
Diktator sowie dem Prätor erlaubt ist, wenn er die Legionen der
che, das ez’dolon oder das phhma der Griechen), das mit dem
Feinde dem Untergang weiht, nicht unbedingt sich selbst, sondern je-
den beliebigen Bürger aus einer ausgehobenen römischen Legion dem
Aussehen des Verstorbenen dessen gewohnte Orte heimsucht
Tod zu weihen. Fällt der Mann, der dem Tod geweiht worden ist, dann und weder der Welt der Toten noch der Welt der Lebenden an-
hat die Sache offensichtlich einen richtigen Verlauf genommen; fällt er gehört. Der Zweck der Bestattungsriten besteht darin, die Ver-
nicht, dann muß man ein mindestens sieben Fuß hohes Bildnis [si- wandlung dieses unbequemen und ungewissen Wesens in einen
gnum] in der Erde vergraben und zur Sühne ein Opfertier schlachten. wohlmeinenden und mächtigen Vorfahren zu garantieren, der
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I
dann endgültig zur Totenwelt gehört und mit dem man rituell toter Lebender, er ist in Wahrheit eine larva, und der Koloß re-
definierte Verbindungen pflegt. Das Fehlen des Leichnams präsentiert genau jenes geweihte Leben, das sich virtuell bereits
(oder in manchen Fällen seine Verstümmelung) können jedoch im Augenblick des Gelöbnisses von ihm abgesondert hat.
die ordentliche Ausführung des Bestattungsritus verhindern; in
diesen Fällen kann unter bestimmten Bedingungen ein Koloß an 5.5. Wenn wir nun aus dieser Perspektive das Leben des homo
die Stelle des Leichnams treten und die Durchführung einer sacer erneut betrachten, so können wir seine Lage mit derjenigen
stellvertretenden Bestattung ermöglichen. eines überlebenden Geweihten vergleichen, für den eine Ersatz-
Was geschieht mit dem Geweihten, der überlebt hat? Wo es sühnung oder eine Stellvertretung durch einen Koloß nicht
keinen Toten gibt, kann man nicht im eigentlichen Sinn vom mehr möglich ist. Der Körper des homo sacer selbst ist in seiner
Fehlen eines Leichnams sprechen. Trotzdem besagt eine in Ky- Eigenschaft, tötbar und nicht Opferbar zu sein, das lebende
rene gefundene Inschrift, daß ein Koloß auch zu Lebzeiten des- Pfand seiner Unterwerfung unter eine Macht über den Tod;
sen, den er vertreten soll, angefertigt werden kann. Die Inschrift diese Unterwerfung ist jedoch nicht die Erfüllung des Gelöbnis-
gibt den Text des Eides wieder, den in Thera (Santorin) die Ko- ses, sondern die absolute und bedingungslose Unterwerfung.
lonisten bei ihrer Abfahrt nach Afrika und die in der Heimat Das heilige Leben ist ohne Opfermöglichkeit und jenseits jegli-
bleibenden Bürger auf die wechselseitigen Verpflichtungen zu cher Erfüllung geweiht. Es ist mithin kein Zufall, wenn Macro-
leisten hatten. Während der Eid gesprochen wurde, warf man bius in einem Text (Sat. III7,6), der den Interpreten lange dun-
aus Wachs gefertigte kolossoiins Feuer und sprach: »Der diesem kel und korrupt schien, den homo sacer mit den Statuen (Z&zes)
Schwur untreu wird, der wird sich auflösen und verschwinden, vergleicht, die samt dem Ertrag aus den Bußen, die den eidbrü-
er, sein Stamm und seine Güter.« (Ebd., 329) Der Koloß ist folg- chigen Athleten auferlegt wurden, Zeus geweiht wurden; sie
lich kein einfacher Stellvertreter des Leichnams. Im komplexen waren nichts anderes als die Kolosse derer, die den Eid gebro-
System, das in der Antike die Verbindung zwischen den Leben- chen hatten und sich durch einen Stellvertreter der göttlichen
den und den Toten regelt, stellt er analog zum Leichnam, aber Gerechtigkeit übergaben (animas L. ./ sacratorum hornintim,
unmittelbarer und allgemeiner, jenen Teil der lebenden Person quos zanas Graeci vocant).l Insofern seine Person die Elemente
dar, der dem Tod geschuldet ist und, weil er die Schwelle zwi- verkörpert, die gewöhnlich mit dem Tod verbunden sind, ist der
schen den zwei Welten unheilvoll besetzt, vom normalen Um- homo sacer sozusagen eine lebende Statue, das Doppel oder der
feld der Lebenden abgetrennt werden muß. Diese Trennung Koloß seiner selbst. Sowohl beim Körper des Geweihten als
wird gewöhnlich im Moment des Todes durch die Bestattungs- auch, und hier noch bedingungsloser, bei dem des homo sacer
riten vollzogen, welche die richtige, durch den Hinschied ge- stößt die antike Welt zum ersten Mal auf ein Leben, das, indem
störte Verbindung zwischen Lebenden und Toten wiederher- es sich in einer doppelten Ausschließung vom realen Kontext
stellen. In bestimmten Fällen ist es gleichwohl nicht der Tod, der der profanen wie der religiösen Lebensformen ausnimmt, allein
diese Ordnung stört, sondern sein Ausbleiben, und zur Wie- durch sein Eintreten in eine engste Symbiose mit dem Tod defi-
derherstellung der Ordnung ist die Fertigung des Kolosses not- niert wird, ohne aber bereits der Welt der Verstorbenen anzuge-
wendig. hören. Und in der Figur dieses »heiligen Lebens« tauchte in der
Solange dieser Ritus nicht vollzogen ist (der, wie Hendrik S. abendländischen Welt so etwas wie ein nacktes Leben auf. Ent-
Versnel gezeigt hat, nicht so sehr eine stellvertretende Bestat- scheidend ist jedoch, daß dieses heilige Leben von Beginn an
tung, sondern eine Ersatzerfüllung des Gelöbnisses ist; Versnel, einen eminent politischen Charakter besitzt und eine wesentli-
S. I 57), ist der Geweihte ein paradoxes Wesen, das zwar ein nor- che Bindung mit dem Boden offenbart, auf dem sich die souve-
males Leben weiterzuführen scheint, sich in Wirklichkeit aber räne Macht gründet.
auf einer Schwelle bewegt, die weder zur Welt der Lebenden
noch zur Welt der Toten gehört: Er ist ein lebender Toter oder I »Die Seelen der geweihten Männer, welche die Griechen zanas nannten«.

108 109
5.6. In diesem Licht müssen wir den Abbildritus in der römi- und die anderen als tötbares und nicht opferbares Leben zu kon-
schen Kaiserapotheose sehen. Wenn der Koloß im dargelegten stituieren.
Sinn stets ein todgeweihtes Leben vertritt, so bedeutet dies, daß Verglichen mit der Interpretation von Kantorowicz und Gie-
der Tod des Kaisers (obwohl sein Leichnam, dessen Überreste sey erscheint die Lehre von den zwei Körpern des Königs nun
rituell begraben werden, vorhanden ist) einen Überschuß an in einem anderen und weniger harmlosen Licht. Wenn die Ver-
heiligem Leben freisetzt, der wie im Fall des Geweihten, der bindung mit der heidnischen Kaiserkonsekration nicht mehr
überlebt hat, mittels eines Kolosses neutralisiert werden muß. ausgeklammert werden kann, dann ändert sich die Theorie
Allem Anschein nach hat also der Kaiser nicht zwei Körper in selbst von Grund auf. Der politische Körper des Königs (»den
sich, sondern zwei Leben in einem einzigen Körper, ein natür- man«, mit den Worten Plowdens »nicht sehen oder anfassen
liches Leben und ein heiliges Leben; das letztere überlebt das er- kann«, der »völlig frei von Kindheit und Alter« ist und der den
stere trotz des ordnungsgemäßen Bestattungsritus und kann sterblichen Körper, mit dem er sich verbindet, verherrlicht;
erst nach dem funus imaginarium in den Himmel aufgenommen Kantorowicz, S. 3 I - 33) stammt letztlich vom Koloß des Kaisers
und vergöttlicht werden. Was den überlebenden Geweihten, ab; und genau deswegen kann er nicht einfach (wie Kantoro-
den homo sacer und den Souverän zu einem einzigen Paradigma wicz und Giesey meinen) die Beständigkeit der souveränen
vereint, ist der Umstand, daß wir uns jedesmal vor einem nack- Macht repräsentieren, sondern vor allem den Überschuß des
ten Leben befinden, das aus seinem Kontext herausgelöst wor- heiligen Lebens des Kaisers, der durch das Bild, im Fall des rö-
den und, weil es sozusagen den Tod überlebt hat, mit der mischen Ritus, abgesondert und in den Himmel aufgenommen
menschlichen Welt unvereinbar geworden ist. Das heilige Leben oder, im Fall des englischen oder französischen Ritus, auf den
kann in keinem Fall im Gemeinwesen der Menschen wohnen: Nachfolger übertragen wird. Aber damit ändert sich der Sinn
Beim Geweihten, der überlebt hat, fungiert die Bildbestattung der Metapher vom politischen Körper, und aus dem Symbol der
als Ersatzerfüllung des Gelöbnisses, die das Individuum dem Ewigkeit der dignitas wird die Chiffre des absoluten und nicht-
normalen Leben zurückerstattet; beim Kaiser erlaubt das dop- menschlichen Wesens der Souveränität. Die Formeln le mort
pelte Begräbnis die Fixierung des heiligen Lebens, das in der saisit le ~$1 und Ze Roi ne meurt jamais müßten viel buchstäb-
Apotheose eingeholt und vergöttlicht werden muß; beim homo licher verstanden werden, als man zu denken pflegt: Beim Tod
sacer schließlich stehen wir vor einem irreduziblen Rest an Le- des Souveräns ist es das heilige Leben, auf das sich die souveräne
ben, der ausgeschlossen und dem Tod als solchem ausgesetzt Macht gründet, mit der die Person des Nachfolgers bekleidet
werden muß, ohne daß irgend ein Ritus oder ein Opfer es wieder wird. Die beiden Formeln sprechen nur in dem Maß von der
einlösen kann. Kontinuität der souveränen Macht, wie sie mittels der dunklen
In allen drei Fällen ist das Leben in gewisser Weise an eine po- Bindung an ein tötbares und nicht opferbares Leben deren Ab-
litische Funktion gebunden. Im Fall der höchsten Macht - sie solutheit ausdrücken.
ist, wie wir gesehen haben, immer vitae necisque potestas und Deshalb kann Bodin, der scharfsinnigste Theoretiker der mo-
gründet sich stets auf die Absonderung eines Lebens, das getö- dernen Souveränität, die Maxime, die nach Kantorowicz die
tet, aber nicht geopfert werden darf - verhält es sich, wie wenn Ewigkeit der politischen Macht ausdrückt, in bezug auf ihre ab-
sie aufgrund einer eigentümlichen Symmetrie die Aufnahme des solute Natur interpretieren: »Daher kommt es«, schreibt er im
heiligen Lebens in die Person selbst, welche die Macht innehat, sechsten Buch seiner Republique, »daß man hierzulande sagt,
implizierte. Und wenn es beim überlebenden Geweihten der der König stirbt nie, ein altes Sprichwort, das klar beweist, daß
verpaßte Tod ist, der dieses heilige Leben freisetzt, so ist es beim unser Königtum zu keiner Zeit ein Wahlkönigtum gewesen ist
Souverän hingegen der Tod, der diesen Überschuß offenbart; er und der König sein Zepter weder vom Papst, noch vom Erz-
scheint als solcher der höchsten Macht innezuwohnen, wie
wenn diese letztlich nichts anderes wäre als die Fähigkeit, sich I »Der Tote ergreift den Lebenden.«

110 111
bischof von Reims, noch vom Volk, sondern allein von Gott amerikanischen Verfassung zum Beispiel verlangt das impeach-
empfängt.« (Bodin, S. 436) ment ein besonderes Urteil des vom Chief justice präsidierten
Senats, das nur für »high crimes and misdemeanors« gesprochen
5.7. Wenn die Symmetrie zwischen dem Körper des Souveräns werden kann und lediglich Amtsenthebung und keine gerichtli-
und dem des homo sacer, wie wir sie bis hier aufzuzeigen ver- che Strafe nach sich zieht. In den Debatten i m Konventvon 1792
sucht haben, richtig ist, müßten wir eigentlich auch Analogien waren die Jakobiner dafür, daß der König ohne Prozeß einfach
und Entsprechungen im juridisch-politischen Status dieser nur umgebracht wurde; wohl ohne sich dessen bewußt zu sein,
scheinbar so weit voneinander entfernten Körper finden. Eine trieben sie das Prinzip der Nichtopferbarkeit des heiligen Le-
erste und unmittelbare Übereinstimmung liefert die Sanktion, bens, das jeder erschlagen kann, ohne einen Mord zu begehen,
welche die Tötung des Souveräns trifft. Wir wissen, daß die Tö- und das nicht den sanktionierten Exekutionsformen unterzogen
tung des homo sacer nicht als Mord gilt (parricidi non damna- werden kann, ins Extrem.
tur). Nun gibt es eben auch keine Rechtsordnung (auch nicht
unter denjenigen, die Mord durchweg mit der Todesstrafe ver-
gelten), in der die Tötung des Souveräns einfach als Mord rubri-
ziert würde. Sie stellt ein besonderes Delikt dar, das (nachdem
man von Augustus an den Begriff maiestas immer enger mit der
Person des Kaisers verbindet) als crimen lesae maiestatis defi-
niert wird. Von unserem Gesichtspunkt aus spielt es keine Rolle,
daß die Tötung des homo sacer für weniger und die Tötung des
Souveräns für mehr als einen Mord gehalten werden kann; wich-
tig ist, daß in beiden Fällen die Tötung nicht den Tatbestand ei-
nes Mordes erfüllt. Wenn wir noch in der Satzung Karl Alberts
von Savoyen lesen können, daß »die Person des Souveräns heilig
und unantastbar ist«, dann m u ß man noch in diesen merkwür-
digen Adjektiven den Widerhall jener Heiligkeit des tötbaren
Lebens vernehmen, das der homo sacer verkörpert.
Aber auch das zweite Merkmal, welches das Leben des homo
sacer definiert, das heißt die Unmöglichkeit, in den vom Ritus
oder vom Gesetz vorgesehenen Formen geopfert zu werden,
findet seine genaue Entsprechung im Vergleich mit der Person
des Souveräns. Michael Walzer hat dargelegt, daß in den Augen
der Zeitgenossen die Ungeheuerlichkeit des Bruchs, den die
Enthauptung Ludwig XVI. am 2 I . Januar I 793 bedeutete, nicht
so sehr darin bestand, daß ein Monarch getötet wurde, sondern
darin, d a ß er einem Prozeß unterworfen und in Vollstreckung
eines Todesurteils hingerichtet wurde (Walzer, S. 184f.). Noch
in den modernen Verfassungen überlebt eine säkularisierte Spur
der Unmöglichkeit, das Lebens des Souveräns zu opfern, und
zwar im Prinzip, wonach das Staatsoberhaupt nicht einem ge-
wöhnlichen Gerichtsverfahren unterzogen werden kann. In der
112
6. Der Bann und der Wolf italienisch lupo mannaro); so gebrauchen das Salische und das
Ripuarische Gesetz die Formel wargus sit, hoc est expulsa in
einem Sinn, der an das sacer esto erinnert, das die Tötbarkeit des
homo sacer [uomo sacro] sanktionierte, und die Gesetze Eduard
6. I. »Der ganze Zuschnitt der Sazertät weist darauf hin, daß sie des Bekenners (I I 30-1 I 3 5) definieren den Verbannten als wul-
nicht auf dem Boden eines geordneten Rechtszustandes ge- fesheud (wörtlich: Wolfskopf) und setzen ihn mit dem Werwolf
wachsen ist, sondern in die Periode des vorstaatlichen Lebens gleich (lupinum enim gerit caput a die utlagationis suae, quod ab
hinaufreicht. Sie ist ein Stück aus der Urzeit der indogermani- anglis wulfesheud vocatur).l Der Werwolf, der sich im kollekti-
schen Völker. [. . .] das altgermanische und altnordische Alther- ven Unbewußten als hybrides Monster, das, halb Mensch, halb
turn bietet uns in dem Friedlosen und Waldgänger (dem wargus, Tier, halb in der Stadt und halb in der Wildnis lebt, niederschla-
vargr, dem Wolf, auch mit religiöser Betonung: Wolf im Heilig- gen sollte, ist also ursprünglich die Figur dessen, der aus der Ge-
thum vargr i veum) den unzweifelhaften Bruder des römischen meinschaft verbannt worden ist. Daß er als Wolfsmensch und
homo sacer. [. . .] das, was man für das römische Alterthum als nicht einfach als Wolf bestimmt wird (die Wendung caput lupi-
eine Unmöglichkeit betrachtet: die Erschlagung des Geächteten num hat die Form eines rechtlichen Statuts), ist hier entschei-
ohne Urtheil und Recht, [ist] für das germanische Alterthum dend: Das Leben des Verbannten ist - wie dasjenige des homo
eine zweifellose Wirklichkeit gewesen [. . .].« (Jhering, S. 281 f.) sacer [uomo sacro] - kein Stück wilder Natur ohne jede Bezie-
Rudolf von Jhering war der erste, der mit diesen Ausführun- hung zum Recht und zum Staat; es ist die Schwelle der Ununter-
gen die Figur des homo sacer mit dem wargus, dem Wolfsmen- schiedenheit und des Übergangs zwischen ‘Tier und Mensch,
schen, und dem Friedlosen’ des altgermanischen Rechts zusam- zwischen physis und nomos, Ausschließung und Einschließung.
menbrachte. Er rückte damit die sacratio vor den Hintergrund Es ist das Leben des loup garou, des Werwolfs, der weder
der Lehre von der Friedlosigkeit,2 wie sie der Germanist Wil- Mensch noch Bestie ist, einer Kreatur, die paradoxerweise in bei-
helm Eduard Wilda um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwik- den Welten wohnt, ohne der einen oder der anderen anzugehö-
kelt hatte. Demnach gründete das altgermanische Recht auf dem ren.
Begriff des Friedens und auf der entsprechenden Ausschließung
des Übeltäters, der somit friedlos3 wurde und von jedem ohne 6.2. Nur in diesem Licht tritt der eigentliche Sinn des Hobbes-
Mord erschlagen werden konnte. Auch der mittelalterliche schen Mythologems vom Naturzustand hervor. Wie wir gese-
Bann weist ähnliche Merkmale auf: Der Verbannte konnte um- hen haben, ist der Naturzustand keine reale Epoche, die der
gebracht werden (bannire idem est quod dicere quilibet possit Gründung des Staates2 chronologisch vorausliegt, sondern ein
eum offendere;4 Cavalca, S. 42) oder wurde sogar bereits als To- ihm innewohnendes Prinzip, das sich in dem Moment offenbart,
ter betrachtet (exbannitus ad mortem de sua civitate debet ha- in dem man den Staat tanquam dissoluta (mithin als eine Art von
beri pro mortuo;5 ebd., S. so). Germanische und angelsächsische Ausnahmezustand) betrachtet, So müssen wir auch beim Ver-
Quellen unterstreichen die Grenzverfassung des Verbannten, weis auf den homo homini lupus, mittels dessen Hobbes die Sou-
wenn sie ihn als Wolfsmenschen bezeichnen (Werwolf: wargus, veränität begründet, im Wolf ein Echo des wargus und des caput
lateinisch garulphus, davon abgeleitet französisch loup garou, lupinum aus den Gesetzen von Eduard dem Bekenner zu ver-
nehmen wissen: Er ist nicht einfach fera bestia und natürliches
I Im Original deutsch. Leben, sondern vielmehr eine Zone der Ununterscheidbarkeit
2 Im Original deutsch. zwischen dem Menschlichen und dem Tierischen, Werwolf
3 Im Original deutsch.
4 »Jemanden zu verbannen heißt, daß ihm jeder Gewalt antun kann.* I »Er trägt einen Wolfskopf vom Tag seiner Ausstoßung an, was die Eng-
5 »Wer auf die Strafe des Todes aus der Stadt verbannt ist, muß wie ein Toter länder wulfesheud nennen.«
behandelt werden.« 2 Mit Majuskel (»Città«).

114 115
eben, Mensch, der sich in einen Wolf verwandelt, und Wolf, der er habe einem anderen das Recht gegeben, ihm Gewalt anzutun«
zu einem Menschen wird: Er ist ein Verbannter, homo sacer. (ebd.). Die souveräne Gewalt gründet in Wahrheit nicht auf
Hobbes’ Naturzustand ist kein vorrechtlicher, dem Recht des einem Vertrag, sie gründet in der ausschließenden Einschlie-
Staates gleichgültiger Zustand, sondern die Ausnahme und ßung des nackten Lebens in den Staat. Und so wie jenes tötbare
Schwelle, die ihn konstituiert und bewohnt; er ist nicht so sehr und nicht opferbare Leben, dessen Paradigma der homo sacer
Krieg aller gegen alle als vielmehr eine Lage, in der jeder für den bildet, in diesem Sinn die erste und unmittelbare Referenz der
anderen nacktes Leben und homo sacer ist, das heißt wargus, souveränen Macht ist, bewohnt der Werwolf, der Wolfsmensch
gerit caput lupinum. Und die Verwolfung des Menschen und des Menschen, in der Person des Souveräns dauerhaft den Staat.
Vermenschlichung des Wolfs ist in jedem Augenblick des Aus-
K Im Bisclavret, einem der schönsten Lais der Marie de France,
nahmezustands, der dissolutio civitatis, möglich. Nur diese kommen das eigentümliche Wesen des Werwolfs als Schwelle und Über-
Schwelle, die weder das einfache natürliche Leben noch das so- gang zwischen Natur und Politik, tierischer und menschlicher Welt sowie
ziale Leben ist, sondern das nackte oder heilige Leben, ist die die enge Bindung zwischen ihm und dem Souverän, mit außerordentli-
stets gegenwärtige und tätige Voraussetzung der Souveränität. cher Lebhaftigkeit zum Ausdruck. Das Lai erzählt von einem Baron, der
Im Gegensatz zu dem, was wir Modernen uns als politischen seinem König besonders nahesteht (de sun seinur esteit privez; v. 19), sich
Raum in Begriffen der Bürgerrechte, des freien Willens und des aber jede Woche, nachdem er seine Kleider unter einem Stein versteckt
Gesellschaftsvertrags vorzustellen gewohnt sind, ist vom Stand- hat, für drei Tage in einen Werwolf (bisclavret) vewandelt und im Wald
punkt der Souveränität aus gesehen allein das nackte Leben in von Beute und Raub lebt (alph esph de la gaudine / s’i vif de preie e de
ravine). Seiner Frau, die etwas ahnt, gelingt es, ihm das Bekenntnis seines
authentischer Weise politisch. Deswegen muß bei Hobbes das
geheimen Lebens zu entlocken, und er läßt sich überreden, ihr das Klei-
Fundament der souveränen Macht nicht in der freiwilligen Ab- derversteck zu verraten, obwohl er weiß, daß er, würde er die Kleider ver-
tretung des Naturrechts von seiten der Untertanen gesucht wer- lieren oder im Augenblick des Ankleidens überrascht werden, für immer
den, sondern darin, daß der Souverän sein Naturrecht bewahrt, ein Wolf bleiben müßte (km si jes eüsse perduz / e de ceo feusse upar-
gegenüber jedem alles zu tun, was sich dann als Recht zu strafen ceüz / biscfavret sereie CE tuz jurs; v. 65 -75). Mit Hilfe eines Komplizen,
darstellt. »Und dies« schreibt Hobbes, »ist der Grund des in je- der dann ihr Liebhaber wird, entwendet die Frau die Kleider aus dem
dem Staat ausgeübten Strafrechts. Denn die Untertanen gaben Versteck, und der Baron bleibt auf ewig ein Werwolf.
dem Staat dieses Recht nicht; nur durch die Aufgabe ihres Rech- Bedeutsam ist hier das bereits bei Plinius in der Sage von einem Mann
tes räumten sie ihm die Macht ein, sein eigenes Recht nach sei- aus dem Geschlecht eines Anthus (Nat. Hist. VIII 81f.) belegte Detail,
daß die Metamorphose vorübergehend ist, gebunden an die Möglichkeit,
nem Gutdünken zum Schutz aller anzuwenden. So wurde es
die menschliche Kleidung unbeobachtet abzulegen und wieder anzu-
allein ihm überlassen - nicht übertragen* -, und zwar (die ihm ziehen. Die Verwandlung in einen Werwolf entspricht exakt dem Aus-
durch das natürliche Gesetz gezogenen Grenzen ausgenom- nahmezustand, während dessen (notwendig begrenzter) Dauer das Ge-
men) so vollständig wie im reinen Zustand der Natur und des meinwesen aufgelöst ist und die Menschen in eine Zone der Ununter-
Kriegs eines jeden gegen seinen Nachbarn.« (Hobbes 2, S. 237) scheidbarkeit mit den Tieren geraten. Darüber hinaus stößt man in der
Diesem besonderen Status des ius puniendi, in dem der Na- Geschichte auf die Notwendigkeit von bestimmten Formalitäten, die den
turzustand als Herzstück des Staates überlebt, entspricht das Eintritt in die - oder den Austritt aus der - Zone der Ununterscheidbar-
Vermögen der Untertanen, wenn nicht den Gehorsam zu ver- keit zwischen dem Tierischen und dem Menschlichen markieren (das ent-
weigern, so doch der Gewalt gegen die eigene Person Wider- spricht der klaren Ausrufung des von der Norm formal unterschiedenen
Ausnahmezustandes). Auch in der zeitgenössischen Folklore wird diese
stand zu leisten, denn es »kann von niemandem angenommen
Notwendigkeit etwa von den drei Schlägen bezeugt, mit denen sich der
werden, daß er vertraglich verpflichtet sei, der Gewalt keinen Werwolf, der sich in den Menschen zurückverwandelt, an der Tür zu er-
Widerstand zu leisten, und folglich kann man auch nicht sagen, kennen geben muß, bevor sie ihm geöffnet wird: »Wenn sie das erste Mal
an die Haustür klopfen, darf die Frau nicht aufmachen. Wenn sie öffnete,
I Hervorhebungen von G. A. wurde sie den Mann noch ganz als Wolf erblicken, er wurde sie verschlin-

116 117
gen und für immer in den Wald flüchten. Wenn sie zum zweiten Male souveräne Entscheidung ihrerseits unmittelbar auf das Leben
klopfen, darf die Frau noch immer nicht aufmachen; sie würde ihren (und nicht auf den freien Willen) der Bürger, das somit das ori-
Mann bereits in einem menschlichen Körper, aber noch mit einem Wolfs- ginäre politische Element, das Urphänomen1 der Politik dar-
kopf sehen. Erst beim dritten Klopfen kann man öffnen: dann sind sie
stellt: Doch dieses Leben ist nicht einfach das natürliche repro-
schon ganz verwandelt, der Wolf ist verschwunden, und der Mensch ist
wieder zum Vorschein gekommen.« (Levi, S. roof.) duktive Leben, die zök der Griechen, auch nicht der bios als
Auch die besondere Nähe zwischen dem Werwolf und dem Souverän qualifizierte Lebensform; es ist vielmehr das nackte Leben des
belegt die Geschichte von Bisclavret: Eines Tages, so erzählt der Lai, jagt homo sacer und des wargus, Zone der Ununterschiedenheit und
der König in dem Wald, wo Bisclavret lebt, und die losgelassenen Hunde des Übergangs zwischen Mensch und Tier, zwischen Natur und
spüren den Wolfsmenschen bald auf. Sobald Bisclavret den König er- Kultur.
blickt hat, läuft er auf ihn zu, klammert sich an den Steigbügel und küßt Deshalb ist die am Ende des ersten Teils auf der logisch-for- ,
ihm die Beine und Füße, als flehte er um Gnade. Der König ist erstaunt malen Ebene aufgestellte These, daß die originäre juridisch-po-
über die Menschlichkeit des wilden Tieres (*dieses Tier hat Menschen- litische Beziehung der Bann ist, nicht nur eine These über die
verstand / [. . .] / ich werde dem Tier meinen Frieden geben / denn heute
formale Struktur der Souveränität, sondern hat substantiellen
werde ich nicht mehr jagen«; v. 154-160) und nimmt es zu sich an den
Hof, wo sie unzertrennlich werden. Es folgt die unvermeidliche Begeg- Charakter, weil das, was der Bann zusammenbindet, das nackte
nung mit der Exfrau und ihre Bestrafung. Doch wichtig ist, daß die end- Leben und die souveräne Macht sind. Sämtliche Vorstellungen
liche Zurückverwandlung Bisclavrets in einen Menschen auf dem Bett vom originären politischen Akt als Vertrag oder Übereinkunft,
des Souveräns stattfindet. der den Wechsel von der Natur zum Staat2 eindeutig und end-
Die Nähe zwischen Tyrann und Wolfsmensch trifft man auch in Pla- gültig markieren wurde, sind rückhaltlos zu verabschieden.
tons Politeia an (565d-e), wo die Verwandlung des Volksvorstehers in ei- Statt dessen gibt es hier eine weitaus komplexere Zone der Un-
nen Tyrannen mit dem arkadischen Mythos vom Lykäischen Zeus vergli- unterscheidbarkeit zwischen physis und nomos, in der das staat-
chen wird: »Welches ist also der Anfang dieser Umwandlung aus einem liche Band in der Form des Banns immer schon Nichtstaatlich-
Volksvorsteher in einen Tyrannen? Ereignet sie sich nicht offenbar dann,
keit und Pseudonatur ist und die Natur immer schon als nomos
wenn der Vorsteher angefangen hat, dasselbe zu tun, wie jener in der Fa-
bel, die von dem Arkadischen Tempel des Lykäischen Zeus erzählt wird? und Ausnahmezustand erscheint. Diese Mißdeutung des Hob-
[. . .] Daß wer menschliches Eingeweide gekostet hat, wenn dergleichen besschen Mythologems in Begriffen des Vertrags anstatt des
von anderen Opfertieren mit hineingeschnitten ist, notwendig zum Banns hat die Demokratie jedesmal, wenn es sich dem Problem
Wolfe wird. [. . .] Ist es nun nicht ebenso, wenn ein Volksvorsteher, der die der souveränen Macht zu stellen galt, zur Ohnmacht verdammt
Menge sehr lenksam findet, sich einheimischen Blutes nicht enthält [. . .], und sie zugleich konstitutiv unfähig gemacht, eine nichtstaatli-
daß dann einem solchen von da an bestimmt ist, entweder durch seine che Politik der Moderne wirklich zu denken.
Feinde unterzugehen oder ein Tyrann und also aus einem Menschen ein Doch die Beziehung des Banns und der Verlassenheit [abban-
Wolf zu werden?« dono] ist in der Tat dermaßen doppeldeutig, daß nichts schwie-
riger ist, als sich von ihr zu lösen. Der Bann ist wesentlich die
6.3. Nun ist es also an der Zeit, den Mythos von der Gründung Macht, etwas sich selbst zu überlassen, das heißt die Macht, die
des modernen Staates von Hobbes bis Rousseau noch einmal Beziehung mit einem vorausgesetzten Beziehungslosen auf-
von vorn zu lesen. Der Naturzustand ist in Wahrheit ein Aus- rechtzuerhalten, Dasjenige, was unter Bann gestellt wird, ist der
nahmezustand, in dem der Staat für einen Augenblick (der zu- eigenen Abgesondertheit überlassen und zugleich dem ausgelie-
gleich ein chronologisches Intervall und ein atemporales Mo- fert, der es verbannt und verläßt, zugleich ausgeschlossen und
ment ist) tanquam dissoluta erscheint. Die Gründung ist mithin eingeschlossen, entlassen und gleichzeitig festgesetzt. Die alte
kein ein für allemal in illo tempore geschehenes Ereignis, son-
dern bleibt im bürgerlichen Staat in Form der souveränen Ent- I Im Original deutsch.
scheidung fortwährend wirksam. Andererseits bezieht sich die 2 Mit Majuskel (*Stato*).

118 119
Diskussion in der Rechtsgeschichte zwischen denen, die das sacer und den Souverän. Nur deswegen kann der Bann sowohl
Exil als Strafe auffassen und denen, die es dagegen als Recht und das Banner der Souveränität (»Bandus [. . .], quod postea [. . .]
Schutz betrachten (schon am Ende der Republik dachte Cicero appellatus fuit [. . ,] Standardum, Guntfanonum, Italice Confa-
das Exil in Gegenüberstellung mit der Strafe: exilium enim non Zone«; Muratori, S. 442) als auch den Ausschluß aus der Gemein-
supplicium est, sedperfugiumportusque supplicii;1 Pro Caec. 34), schaft bedeuten.
hat ihre Wurzeln in dieser Doppeldeutigkeit des souveränen Diese Struktur des Banns müssen wir in den politischen Be-
Banns. Sowohl in Griechenland als auch in Rom belegen die äl- ziehungen und den öffentlichen Räumen, in denen wir auch
testen Zeugnisse, daß die »weder als Ausübung eines Rechts heute noch leben, zu erkennen lernen. Die Bannung des heiligen
noch als Strafsituation qualifizierbare« (Crifo 2, S. I I) Lage des- Lebens ist im Staat innerlicher als jede Interiorität und äußerli-
jenigen, der aufgrund eines begangenen Mordes ins Exil geht cher als alle Extraneität. Sie ist der souveräne nomos, der jede
oder seine Bürgerschaft verliert, weil er Bürger einer das ius exi- weitere Norm bedingt, die ursprüngliche Verräumlichung, die
lii genießenden civitas foederata wird, ursprünglicher ist als die jegliche Lokalisierung und Territorialisierung ermöglicht und
Opposition zwischen Recht und Strafe. lenkt. Und wenn das Leben in der Moderne immer deutlicher
Diese Zone der Ununterschiedenheit, in der das Leben des ins Zentrum der staatlichen Politik rückt (die, mit Foucaults Be-
Exilierten oder des aqua et igni interdictusz an das tötbare und griff, Biopolitik geworden ist), wenn in unserer Zeit in einem
nicht opferbare Leben des homo sacer grenzt, markiert die ori- besonderen, aber sehr realen Sinn alle Bürger als homines sacri
ginäre politische Beziehung, die ursprünglicher ist als die erscheinen, dann ist das nur deshalb möglich, weil die Bannbe-
Schmittsche Opposition zwischen Freund und Feind, Mitbür- ziehung von Anfang an die der souveränen Macht eigene Struk-
ger und Fremdem. Die Extrarietät dessen, der im souveränen tur bildete.
Bann steht, ist innerlicher und primärer als die Extraneität des
Fremden [straniero] (wenn es erlaubt ist, die von Festus aufge-
stellte Opposition zwischen dem extrarius, das heißt qui extra
focum sacramentum iusque sit, und dem extraneus,3 der ex altera
terra, quasi exterraneus ist, auf die Weise zu verwenden).
Auf diese Weise wird die bereits erwähnte semantische Dop-
peldeutigkeit verständlich, aufgrund deren im Italienischen »in
bando, a bandono« ursprünglich »der Gnade überlassen, ausge-
liefert [alla merce di]« sowie »aus freien Stücken, freiwillig
[a proprio talento, liberamente]« heißt; und »bandito« meint so-
wohl »ausgeschlossen, verbannte als auch »für alle offen, frei«,
etwa in den Wendungen »mensa bandita«, »öffentlicher, reich
gedeckter Tisch«, und »a redina bandita«, »mit losen Zügeln«.
Der Bann ist im strengen Sinn die zugleich anziehende und ab-
stoßende Kraft, welche die beiden Pole der souveränen Aus-
nahme verbindet: das nackte Leben und die Macht, den homo
I »Das Exil ist nämlich keine Strafe, sondern eine Zuflucht und ein Hafen
vor ihr.«
2 »Der dem Feuer und dem Wasser untersagte«.
3 »Der außerhalb des Herdes, des Opfers und des Rechts steht«; »der aus
einem anderen Land stammt und gleichsam ein Ausländer ist«.

120
Schwelle real oder als Farce, und man versteht, daß Benjamin (nach dem
Zeugnis Pierre Klossowskis) die Forschungen der Aciphale-
Wenn das originäre politische Element das nackte Leben ist, Gruppe mit der kategorischen Formel stigmatisieren konnte:
dann wird verständlich, wie Bataille die vollendete Figur der Vous travailler pour le fascisme.l
Souveränität in einem Leben hat suchen können, das in der ex- Nicht daß Bataille die Unzulänglichkeit des Opfers und sein
tremen Dimension des Todes, der Erotik, des Heiligen und des Wesen, das letztlich komödiantischen Charakters ist, nicht sieht
Luxus erfahrbar wird, und gleichzeitig das wesentliche Band (»beim Opfer identifiziert sich der Opfernde mit dem totge-
dieser Figur mit der souveränen Macht hat ungedacht lassen schlagenen Tier. So stirbt er, indem er sich sterben sieht, und ir-
können (die »Souveränität, von der ich rede«, schreibt er im gendwie sogar durch seinen eigenen Willen, mit der Opferwaffe
gleichnamigen, als dritte Abteilung von Der verfemte Teil ge- versöhnt. Aber es ist eine Komödie!« Bataille 2, S. 336); doch
planten Buch, »hat wenig mit jener der Staaten zu tun«; Batail- womit er nicht zu Rande kommt, ist genau (wie das die Faszina-
le 1, S. 247). Was Bataille zu denken versucht, ist ganz offensicht- tion zeigt, welche die Bilder des gemarterten Chinesenjungen
lich jenes nackte (oder heilige) Leben selbst, das in der Bannbe- auf ihn ausübten, die er in Die Tränen des Eros ausführlich kom-
ziehung die unmittelbare Referenz der Souveränität bildet; und mentiert) das nackte Leben des homo sacer, das der Begriffsap-
die Tatsache, daß er dessen Erfahrung eingeklagt hat, macht sei- parat des Opfers und des Eros nicht auszuloten vermögen.
nen Versuch trotz allem einzigartig. Indem er damit, ohne sich Es ist das Verdienst von Jean-Luc Nancy, die Doppeldeutig-
dessen bewußt zu sein, dem Impuls folgte, der in der Moderne keit von Batailles Opferdenken aufgedeckt und den Begriff ei-
das Leben als solches zum Einsatz der politischen Kämpfe ner »nicht opferbaren Existenz« mit Nachdruck und gegen jede
macht, versuchte er das nackte Leben selbst zur Figur der Sou- Opferversuchung formuliert zu haben. Doch wenn unsere Ana-
veränität zu erheben. Doch anstatt den eminent politischen (gar lyse wirklich ins Schwarze trifft und Batailles Definition der
biopolitischen) Charakter zu erkennen, schreibt er die Erfah- Souveränität durch die Überschreitung dem tötbaren Leben im
rung des nackten Lebens zum einen der Sphäre des Heiligen ein, souveränen Bann unangemessen bleibt, dann genügt der Begriff
welche die maßgebenden, von seinem Freund Caillois aufge- der »Nichtopferbarkeit« ebensowenig, um mit der Frage der
nommenen Schemen der zeitgenössischen Anthropologie als Gewalt in der modernen Biopolitik fertig zu werden. Denn der
ursprünglich doppelsinnig, rein und schmutzig, abstoßend und homo sacer ist eben nicht Opferbar und darf dennoch von jedem
faszinierend, mißdeuten, zum anderen dem Innern des Subjekts, getötet werden. Die Dimension des nackten Lebens, das die Re-
dem sie sich jedesmal in privilegierten und mysteriösen Augen- ferenz der souveränen Gewalt bildet, ist ursprünglicher als die
blicken schenkt. In beiden Fällen, beim rituellen Opfer wie beim Opposition »tötbar/nicht opferbar« und verweist auf eine Idee
individuellen Exzeß, definiert sich das souveräne Leben für ihn der Heiligkeit, die nicht mehr vollständig definierbar ist durch
durch die augenblickliche Überschreitung des Tötungsverbots. das (für Gesellschaften, die das Opfer kannten, keineswegs ob-
Auf diese Weise verwechselt Bataille unvermittelt den absolut skure) Begriffspaar »Tauglichkeit zum Opfer/Opferung nach
tötbaren und absolut nicht opferbaren politischen Körper des den rituell vorgeschriebenen Formen«. In der Moderne hat sich
homo sacer [uomo sacro], der in die Logik der Ausnahme einge- das Prinzip der Heiligkeit des Lebens vollständig von der Op-
schrieben ist, mit dem Prestige des Opferkörpers, der statt des- ferideologie emanzipiert, und in unserer Kultur setzt die Bedeu-
sen von der Logik der Überschreitung bestimmt wird. Wenn es tung des Wortes »heilig« die semantische Geschichte des homo
Batailles -wenn auch unwissentliches -Verdienst ist, den Nexus sacer und nicht die des Opfers fort (weshalb die trotzdem rich-
zwischen nacktem Leben und Souveränität ans Licht gebracht tigen Demystifikationen der Opferideologie, die heute von
zu haben, so bleibt das Leben da doch gänzlich im doppeldeuti- mehreren Seiten unternommen werden, nicht genügen können).
gen Zauberkreis des Heiligen gefangen. Auf diesem Weg war le-
diglich eine Wiederholung des souveränen Banns möglich, sei es I »Sie arbeiten für den Faschismus.«

122 123
Denn was wir heute vor unseren Augen haben, ist ein Leben, das Dritter Teil
als solches einer nie dagewesenen Gewalt ausgesetzt ist, die doch
gerade in den banalsten und profansten Formen auftritt. Unser Das Lager als biopolitisches
Zeitalter ist dasjenige, in dem ein Ausflugswochenende auf den
europäischen Autobahnen mehr Tote produziert als eine
Paradigma der Moderne
Kriegsaktion; in dieser Hinsicht von einer »Sakralität der Leit-
planke« zu sprechen, ist ganz offensichtlich bloß eine antiphra-
stische Definition (La Cecla, S. I I 5).
Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Absicht, der Ver-
nichtung der Juden mit dem Begriff »Holocaust« eine Aura des
Opfers zu verleihen, von einer unverantwortlichen historiogra-
phischen Blindheit. Unter dem Nazismus ist der Jude die privi-
legierte Negativreferenz der neuen biopolitischen Souveränität
und als solcher ein flagranter Fall von homo sacer, im Sinn eines
tötbaren und nicht opferbaren Lebens. Deswegen stellt seine
Tötung, wie wir sehen werden, weder den Vollzug eines Todes-
urteils noch eines Opfers dar, sondern die Verwirklichung einer
schieren »Tötbarkeit«, die der Bedingung des Juden als solcher
inhärent ist, Die für die Opfer selbst schwer zu akzeptierende
Wahrheit, die nicht mit Opferschleiern zu verhüllen wir gleich-
wohl den Mut haben müssen, ist, daß die Juden nicht im Verlauf
eines wahnsinnigen und gigantischen Holocaust, sondern buch-
stäblich, ganz Hitlers Ankündigung gemäß, »wie Läuse«, das
heißt als nacktes Leben vernichtet worden sind. Die Dimension,
in der die Vernichtung stattgefunden hat, ist weder die Religion
noch das Recht, sondern die Biopolitik.
Wenn es wahr ist, daß die Figur, die uns unsere Zeit vorsetzt,
die eines nicht opferbaren Lebens ist, das dennoch in einem un-
erhörten Maß tötbar geworden ist, dann betrifft uns das Leben
des homo sacer in besonderer Weise. Die Heiligkeit ist eine noch
immer präsente Fluchtlinie in der gegenwärtigen Politik; als sol-
che bewegt sie sich in zunehmend vagere und dunklere Zonen,
um schließlich mit dem biologischen Leben der Bürger selbst
zusammenzufallen. Wenn es heute keine vorbestimmbare Figur
des homo sacer [uomo sacro] mehr gibt, so vielleicht deshalb,
weil wir alle virtuell homines sacri sind.
I. Die Politisierung des Lebens

I .I. In den letzten Jahren seines Lebens, während er an der Ge-


schichte der Sexualität arbeitete und auch in diesem Bereich die
Dispositive der Macht aufdeckte, trieb Michel Foucault seine
Forschungen mit zunehmendem Nachdruck in Richtung des-
sen, was er Bio-Politik nannte, das heißt die wachsende Einbe-
ziehung des natürlichen Lebens des Menschen in die Mechanis-
men und das Kalkül der Macht. Am Schluß von Der Wille zum
Wissen faßt er, wie wir gesehen haben, den Prozeß, in dem auf
der Schwelle zum modernen Zeitalter das Leben zum Einsatz
der Politik wird, in einer exemplarischen Formel zusammen:
»Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für
Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen
Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen
Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« Trotz-
dem fuhr Foucault bis zuletzt hartnäckig fort, die ,Prozesse der
Subjektivierung« zu erforschen, die im Übergang von der alten
zur modernen Welt den einzelnen dahin bringen, das eigene
Selbst zu objektivieren und sich als Subjekt zu konstituieren, in-
dem er sich gleichzeitig an eine äußerliche Kontrollmacht bin-
det. Er verlagerte sein Arbeitsfeld nicht, wie man es auch hätte
erwarten können, auf jenes Gebiet, das als Ort der modernen
Biopolitik schlechthin gelten konnte: die Politik der großen to-
talitären Staaten des 20. Jahrhunderts. Die Forschung, die mit
der Rekonstruktion des grand renfermement in den Hospitä-
lern und in den Gefängnissen begonnen hatte, schloß nicht mit
einer Analyse des Konzentrationslagers.
Auf der anderen Seite haben die tiefgehenden Untersuchun-
gen, die Hannah Arendt in der Nachkriegszeit der Struktur der
totalitären Staaten gewidmet hat, ihre Grenzen genau im Mangel
jeglicher biopolitischen Perspektive. Hannah Arendt erkennt
die Verknüpfung zwischen der totalitären Herrschaft und jener
besonderen Lebensbedingung, die das Lager ist, ganz klar: »Das
oberste Ziel aller totalitären Regierungen«, schreibt sie 1950 in
einem sozialwissenschaftlichen Projekt zur Erforschung der
Konzentrationslager, »ist nicht nur das langfristige Streben nach
globaler Lenkung, dem freiwillig nachgegeben wird, sondern
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der nie erlaubte und sofort umgesetzte Versuch der totalen sten Lebensgebiete. So entstand im marxistischen Rußland ein Arbei-
Herrschaft über den Menschen. Die Konzentrationslager sind terstaat, ,der mehr und intensiver staatlich ist als jemals ein Staat der
die Laboratorien für das Experiment der totalen Herrschaft; absoluten Fürsten [Schmitt], im faschistischen Italien ein korporati-
denn dieses Ziel kann, da die menschliche Natur das ist, was sie ver Staat, der außer der nationalen Arbeit auch den Dopolavoro und
das gesamte geistige Leben normiert, und im nationalsozialistischen
ist, nur unter den extremen Bedingungen einer menschenge-
Deutschland ein völlig durchorganisierter Staat, der auch noch das bis-
machten Hölle erreicht werden.« (Arendt 2, S. 240) Aber es ent- her privat gewesene Leben durch Rassengesetze u. dgl. politisiert.«
geht ihr, daß der Prozeß gewissermaßen umgekehrt verläuft und (Löwith, S. 3 3)
daß es gerade die radikale Transformation der Politik in einen
Raum des nackten Lebens (das heißt in ein Lager) ist, welche die Der Berührungspunkt von Massendemokratie und totalitären
totale Herrschaft legitimiert und notwendig gemacht hat. Nur Staaten hat gleichwohl nicht (wie Löwith hier auf Schmitts Spu-
weil die Politik in unserer Zeit vollständig Biopolitik geworden ren zu denken scheint) die Form eines plötzlichen Umschlags:
ist, hat sie sich in bis anhin nicht gekanntem Maß als totalitäre Bevor der Strom der Biopolitik, der das Leben des homo sacer
Politik konstituieren können. mit sich trägt, so ungestüm ans Licht unseres Jahrhunderts tritt,
Daß es Hannah Arendt und Foucault, die das politische Pro- hat er bereits unterirdisch, aber beharrlich seinen Lauf genom-
blem unserer Zeit wohl am schärfsten gedacht haben, nicht ge- men. Es ist gleichsam, wie wenn von einem bestimmten Zeit-
lungen ist, ihre beiden Perspektiven zu kreuzen, deutet auf die punkt an jedes entscheidende politische Ereignis ein doppeltes
Schwierigkeit dieses Problems hin. Wir werden versuchen, diese Gesicht angenommen hätte: Die Räume, die Freiheiten, die
beiden Perspektiven im Fokus des Begriffs vom »nackten« oder Rechte, welche die Individuen in ihren Konflikten mit den zen-
»heiligen Leben« konvergieren zu lassen. Darin sind Politik und tralen Mächten erlangen, bahnen jedesmal zugleich eine stille,
Leben dermaßen eng verflochten, daß seine Analyse nicht leicht aber wachsende Einschreibung ihres Lebens in die staatliche
ist. Dem nackten Leben und seinen avataren der Moderne (dem Ordnung an und liefern so der souveränen Macht, von der sie
biologischen Leben, der Sexualität etc.) eignet eine Opazität, die sich eigentlich freizumachen gedachten, ein neues und noch
man unmöglich durchdringen kann, wenn man ihren politi- furchterregenderes Fundament. »Das >Recht< auf das Lebens,
schen Charakter nicht wahrnimmt; umgekehrt verliert die mo- auf den Körper, auf die Gesundheit, auf das Glück, auf die Be-
derne Politik, ist sie erst einmal symbiotisch mit dem nackten friedigung der Bedürfnisse<, schreibt Foucault, um die Bedeu-
Leben verwoben, die Intelligibilität, die für uns noch das juri- tung zu erklären, welche die Sexualität als Thema der politischen
disch-politische Gefüge der klassischen Politik zu kennzeich- Auseinandersetzungen gewonnen hat, »das >Recht< auf die Wie-
nen scheint. dergewinnung alles dessen, was man ist oder sein kann - jenseits
aller Unterdrückungen und >Entfremdungen -, dieses für das
I .2. Karl Löwith war der erste, der den fundamentalen Charak- klassische Rechtssystem so unverständliche >Recht< war die po-
ter der Politik der totalitären Staaten als »Politisierung des Le- litische Antwort auf all die neuen Machtprozeduren, die ihrer-
bens« definiert und von diesem Gesichtspunkt aus zugleich den seits auch nicht mehr auf dem traditionellen Recht der Souverä-
Berührungspunkt von Demokratie und Totalitarismus bemerkt nität beruhen.« (Foucault 1, S. 173) Die Sache ist die, daß ein und
hat: dieselbe Einforderung des nackten Lebens in den bürgerlichen
Demokratien zu einem Vorrang des Privaten gegenüber dem
»Diese Neutralisierung der politisch maßgebenden Unterschiede und
das Hinausschieben ihrer Entscheidung hat sich seit der Emanzipation Öffentlichen und der individuellen Freiheiten gegenüber den
des dritten Standes und der Ausbildung der bürgerlichen Demokratie kollektiven Pflichten führt, in den totalitären Staaten dagegen
und ihrer Weiterbildung zur industriellen Massendemokratie bis zu zum entscheidenden politischen Kriterium und zum Ort souve-
dem entscheidenden Punkt entwickelt, wo sie nun in ihr Gegenteil räner Entscheidungen schlechthin wird. Und nur weil das bio-
umschlägt: in eine totale Politisierung aller, auch der scheinbar neutral- logische Leben mit seinen Bedürfnissen überall zum politisch
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entscheidenden Faktum geworden ist, besteht überhaupt die rer Vernichtung des »lebensunwerten Lebens« oder die aktuelle
Möglichkeit, die sonst unerklärliche Geschwindigkeit zu be- Debatte um die normative Festlegung der Kriterien des Todes),
greifen, mit der in unserem Jahrhundert die parlamentarischen ihre wahre Bedeutung nur dann entfalten, wenn sie wieder in
Demokratien in totalitäre Saaten haben umstürzen und die tota- den gemeinsamen biopolitischen (oder thanatopolitischen)
litären Staaten sich beinah ohne Übergangslösung in parlamen- Zusammenhang gestellt werden, dem sie auch entstammen. In
tarische Demokratien haben umwandeln können. In beiden Fäl- dieser Perspektive wird das Lager, dieser reine, absolute und
len vollzogen sich die Umbrüche in einem Umfeld, wo die unübertroffene biopolitische Raum (insofern er einzig im Aus-
Politik sich schon seit längerem in Biopolitik verwandelt hatte nahmezustand gründet), als verborgenes Paradigma des politi-
und wo der Einsatz nunmehr bloß darin bestand, zu bestimmen, schen Raumes der Moderne erscheinen, dessen Metamorphosen
welche Organisationsform sich für die Pflege, die Kontrolle und und Maskierungen zu erkennen wir lernen müssen.
den Genuß des nackten Lebens am wirksamsten erweisen
wurde. Wenn das nackte Leben zur fundamentalen Referenz ge- 1.3. Die erste Registrierung des nackten Lebens als neues poli-
worden ist, verlieren die traditionellen politischen Unterschei- tisches Subjekt findet sich implizit schon in jenem Dokument,
dungen (wie jene zwischen rechts und links, Liberalismus und das man gemeinhin der modernen Demokratie zugrunde legt:
Totalitarismus, privat und öffentlich) ihre Klarheit und Intelli- dem writ des Habeas corpus von I 679. Welches auch immer der
gibilität und treten in eine Zone der Unbestimmtheit. Auch das Ursprung der Formel sein mag - man trifft sie bereits im
plötzliche Abdriften der herrschenden Klassen des Exkommu- 13. Jahrhundert an, als sie die physische Präsenz einer Person
nismus in den extremsten Rassismus (wie in Serbien mit den vor Gericht sicherte -, bemerkenswert ist, daß im Zentrum der
Programmen der »ethnischen Säuberung«) und die Wiederge- Habeas-Corpus-Akte weder das alte Subjekt der feudalen Bezie-
burt des Faschismus in neuen Formen in Europa haben hier ihre hungen und Freiheiten noch der künftige citoyen steht, sondern
Wurzeln. schlicht und einfach das corpus. Als I 2 I 5 Johann ohne Land mit
Tatsächlich kann man beobachten, wie sich im Gleichschritt der Magna Charta seinen Untertanen Freiheitsrechte einräumte,
mit der Durchsetzung der Biopolitik auch die Entscheidung wandte er sich an die »Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte, Grafen, Ba-
über das nackte Leben, in der die Souveränität bestand, ver- rone, Vicomtes, Vögte, Beamten und an die Gerichtsdiener«,
schiebt und über die Grenzen des Ausnahmezustands hinaus »an die Städte, Burgen und Dörfer« und allgemeiner noch »an
ausbreitet. Wenn es in jedem modernen Staat eine Linie gibt, die die freien Menschen unseres Königreichs«, daß sie »ihre alten
den Punkt bezeichnet, an dem die Entscheidung über das Leben Freiheiten und freien Bräuche« und diejenigen, die er nun be-
zur Entscheidung über den Tod und die Biopolitik somit zur sonders anerkennt, genießen sollten. Artikel 29, der die physi-
Thanatopolitik wird, dann erweist sich diese Linie heute nicht sche Freiheit der Untertanen garantieren soll, lautet: »Kein
mehr als feste Grenze, die zwei klar unterschiedene Bereiche freier Mensch [homo liber] darf; verhaftet, eingesperrt, seiner
trennt. Sie ist beweglich und verschiebt sich in immer weitere Güter beraubt noch außerhalb des Gesetzes gestoßen [urluge-
Bereiche des sozialen Lebens, wo der Souverän immer mehr tur] noch irgendwie belästigt werden; wir werden nicht die
nicht nur mit dem Juristen, sondern auch mit dem Arzt, dem Hand auf ihn halten noch halten lassen [nee super cum ibimus,
Wissenschaftler, dem Experten und dem Priester symbiotisiert. nee super eum mittimus], wenn nicht aufgrund eines rechtmäßi-
Auf den folgenden Seiten werden wir aufzuzeigen versuchen, gen Urteils von seinesgleichen und nach dem Gesetz des Lan-
daß einige der fundamentalen Ereignisse in der politischen Ge- des.« Analog dazu trägt ein alter writ, welcher der Habeas-cor-
schichte der Moderne (wie die Erklärung der Menschenrechte) pus-Akte vorausgeht und die Anwesenheit des Angeklagten
und andere, die eine unverständliche Einmischung biologisch- beim Prozeß sichern sollte, die Rubrik de homine replegiando
wissenschaftlicher Prinzipien in die politische Ordnung darzu- (oder repigliando).
stellen scheinen (wie die nationalsozialistische Eugenik mit ih- Man betrachte dagegen die Formel des writ, welche die Akte
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von 1679 verallgemeinert und in ein Gesetz verwandelt: Praeci- würdigen Oxymoron als das neue souveräne Subjekt (subiectus
pimus tibi quod Corpus X, in custodia vestra detentum, ut dici- superaneus, das was zugleich unten und am höchsten ist) präsen-
tur, una cum causa captionis et detentionis, quodcumque nomine tieren wird, kann sich als solches nur dadurch konstituieren, daß
idem X censeatur in eadem, habeas coram nobis, apud Westmin- er die souveräne Ausnahme wiederholt und in sich selbst corpus,
ster, ad subjiciendum. . .r Es gibt nichts, was den Unterschied das nackte Leben, isoliert. Wenn es stimmt, daß das Gesetz für
zwischen der antiken und mittelalterlichen Freiheit und derjeni- seine Geltung eines Körpers bedarf, wenn man in diesem Sinn
gen, die der modernen Demokratie zugrunde liegt, besser er- von einem »Verlangen des Gesetzes nach einem Körper« spre-
messen ließe als die Formel: Nicht der freie Mensch mit seinen chen kann, dann antwortet die Demokratie auf dieses Verlangen
Eigenschaften und seinen Statuten, und nicht einmal schlicht damit, daß sie das Gesetz verpflichtet, sich dieses Körpers anzu-
homo, sondern corpus ist das neue Subjekt der Politik, und die nehmen. Die Tatsache, daß die Habeas-Corpus-Formel ur-
Geburt der modernen Demokratie ist genau diese Einforderung sprünglich die Anwesenheit des Angeklagten beim Prozeß ver-
und Ausstellung dieses »Körpers«: habeas corpus ad subjicien- bürgen und folglich verhindern sollte, daß er sich dem Urteil
dum, du mußt einen Körper vorzuzeigen haben. entzieht, während sie doch in der neuen und definitiven Form
Daß von den verschiedenen gerichtlichen Verfahren zur umgekehrt den Sheriff verpflichtet, den Körper des Angeklag-
Wahrung der individuellen Freiheit ausgerechnet dieses Habeas ten vorzuführen und dessen Haft zu begründen, läßt die Ambi-
corpus die Form eines Gesetzes erhielt und damit von der Ge- valenz (oder Polarität) der Demokratie um so klarer hervortre-
schichte der abendländischen Demokratie nicht mehr abzulö- ten. Corpus ist ein doppelgesichtiges Wesen, das sowohl Träger
sen sein wurde, ist sicher zufälligen Umständen geschuldet; der Unterwerfung unter die souveräne Macht als auch der indi-
doch ebenso gewiß ist, daß auf diese Weise die im Entstehen be- viduellen Freiheit ist.
griffene europäische Demokratie nicht bios, das qualifizierte Diese neue Zentralität des *Körpers« im Bereich der poli-
Leben des Bürgers, ins Zentrum ihres Kampfes gegen den Ab- tisch-juridischen Terminologie ist mithin innerhalb des allge-
solutismus stellt, sondern zök, das nackte Leben in seiner Na- meineren Prozesses anzusiedeln, der dem corpus in der Philoso-
menlosigkeit, das als solches in den souveränen Bann genom- phie und Wissenschaft des Barock, von Descartes zu Newton
men wird (so auch noch in den modernen Formulierungen des und von Leibniz zu Spinoza, eine derart privilegierte Position
writ: the body of being takten by [. . ./ whatsoever name he may zuweist. Doch in der politischen Reflexion behält corpus auch
be called there in). dann, wenn es im Leviathan und im Contract social zur zentra-
Was da aus dem Verlies ans Licht tritt, um apud Westminster len Metapher der politischen Gemeinschaft wird, einen engen
ausgestellt zu werden, ist einmal mehr der Körper des homo sa- Bezug zum nackten Leben. Diesbezüglich lehrreich ist der Ge-
cer und einmal mehr das nackte Leben. Das ist die Stärke und brauch, den Hobbes davon macht. Wenn es richtig ist, daß De
zugleich der innerste Widerspruch der modernen Demokratie: homine im Menschen einen natürlichen und einen politischen
Sie schafft das heilige Leben nicht ab, sondern zersplittert es, Körper unterscheidet (homo enim non modo corpus naturale est,
verstreut es in jedem einzelnen Körper, um es zum Einsatz in sed etiam civitatis, id est [ut ita loquar] corporis politici pars;’
den politischen Konflikten zu machen. Und hier liegt die Wur- Hobbes 3, S. I), so ist es in De cive gerade die Tötbarkeit des
zel ihrer geheimen biopolitischen Bestimmung: Derjenige, der Körpers, die sowohl die natürliche Gleichheit der Menschen wie
sich später als Träger der Menschenrechte und mit einem merk- die Notwendigkeit des Commonwealth begründet:

I »Wir befehlen dir, daß der Körper X, der sich, wie es heißt, in eurer Ver-
wahrung befindet, hier vor uns in Westminster gezeigt wird, ebenso der
Grund der Verhaftung und der Verwahrung, wie immer sein Name darin I »Der Mensch ist nicht nur ein natürlicher Körper, sondern auch ein Kör-
lauten mag.* per des Staates, das heißt sozusagen Teil des Politischen.«

132 133
»Denn betrachtet man die erwachsenen Menschen und sieht man, wie 2. Die Menschenrechte und die Biopolitik
gebrechlich der Bau des menschlichen Körpers ist (mit dessen Verfall
auch alle Kraft, Stärke und Weisheit des Menschen vergeht), wie leicht
es selbst dem Schwächsten ist, den Stärksten zu töten: so versteht man
nicht, daß irgend jemand im Vertrauen auf seine Kraft sich anderen
2.1. In ihrem Totalitarismus-Buch hat Hannah Arendt das
von Natur überlegen dünken kann. Die einander Gleiches tun können,
sind gleich. Aber die, die das Größte vermögen, nämlich zu töten, kön- fünfte, dem Flüchtlingsproblem gewidmete Kapitel des zwei-
nen Gleiches tun.« (Hobbes I, S. 93) ten, vom Imperialismus handelnden Teils mit »Der Niedergang
des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte« über-
Die großartige Metapher des Leviathan, dessen Körper aus schrieben. Diese bemerkenswerte Formel, die das Geschick der
sämtlichen Körpern der einzelnen geformt ist, muß in diesem Menschenrechte an das des Nationalstaats bindet, scheint die
Licht gelesen werden. Es sind die absolut tötbaren Körper der Idee einer inneren und notwendigen Verknüpfung zu implizie-
Untertanen, die den neuen politischen Körper des Abendlandes ren, welche die Verfasserin jedoch unerläutert läßt. Das Para-
bilden. dox, von dem sie hier ausgeht, besteht darin, daß die Figur - der
Flüchtling -, die den Menschen der Menschenrechte schlechthin
hätte verkörpern sollen, statt dessen die radikale Krise dieser
Konzeption bezeichnet. »Der Begriff der Menschenrechte, der
auf einer angenommenen Existenz des Menschen als solchen ba-
siert, brach in dem Augenblick zusammen, als diejenigen, die
sich zum Glauben daran bekannten, zum ersten Mal mit Leuten
konfrontiert waren, die wirklich alle ihre anderen Eigenschaften
und spezifischen Beziehungen verloren hatten - außer daß sie
immer noch Menschen waren.« (Arendt 3, S. 295). Im System
des Nationalstaates erweisen sich die sogenannten heiligen und
unveräußerlichen Menschenrechte, sobald sie nicht als Rechte
eines Staatsbürgers zu handhaben sind, als bar allen Schutzes
und aller Realität. Denkt man genauer darüber nach, so ist dies
bereits in der Ambiguität des Titels der Erklärung von 1789 an-
gelegt: Declaration des droits de l’homme et du citoyen. Hier ist
unklar, ob die beiden Glieder zwei autonome Realitäten benen-
nen oder ein einheitliches System bilden, in dem das erste immer
schon im zweiten enthalten und verborgen ist; und, im letzteren
Fall, welcher Typ von Beziehung zwischen den beiden besteht.
Edmund Burkes boutade, wonach er den unveräußerlichen
Menschenrechten seine »rights of an Englishman« bei weitem
vorziehe, gewinnt aus dieser Perspektive eine ungeahnte Tiefe.
Hannah Arendts Ausführungen zur Verknüpfung von Men-
schenrechten und Nationalstaat reichen nicht über wenige,
wesentliche Punkte hinaus, und so sind ihre Hinweise nicht wei-
terverfolgt worden. In der Nachkriegszeit haben die instrumen-
telle Emphase der Menschenrechte und die Vervielfältigung der
Erklärungen und Konventionen übernationaler Organisationen essentiellement dans la nation«‘). So schließt die Nation, die ety- .
schließlich dazu geführt, daß ein wirkliches Verständnis der hi- mologisch von nascere abstammt, den Kreis, den die Geburt
storischen Bedeutung des Phänomens ausgeblieben ist. Nun ist [nascita; frz. naissance] des Menschen geöffnet hat.
es an der Zeit, damit aufzuhören, die Erklärungen der Men-
schenrechte als wohlfeile Proklamationen von ewigen metaju- 2.2. Die Erklärung der Menschenrechte muß mithin als Ort an-
ridischen Werten anzuschauen, die (in Wirklichkeit ohne viel gesehen werden, an dem sich der übergang von der königlichen
Erfolg) den Gesetzgeber zu Respekt vor ewigen ethischen Prin- Souveränität göttlichen Ursprungs zur nationalen Souveränität
zipien verpflichten sollen, um ihre reale historische Funktion vollzieht. Sie sichert die exceptio des Lebens in der neuen staat-
bei der Herausbildung des modernen Nationalstaates zu be- lichen Ordnung, die auf den Zusammenbruch des Ancien regime
trachten. Die Erklärung der Menschenrechte stellt die originäre folgt. Daß sich dadurch der »Untertan«, wie bemerkt worden ist,
Figur der Einschreibung des natürlichen Lebens in die juri- in einen »Bürger« verwandelt, bedeutet, daß die Geburt - das
disch-politische Ordnung des Nationalstaates dar. Jenes natür- heißt, das natürliche nackte Leben als solches - zum ersten Mal
liche nackte Leben, das im Ancien regime politisch belanglos (mittels einer Transformation, deren biopolitische Folgen wir
war und als kreatürliches Leben Gott gehörte und das in der an- heute erst zu ermessen beginnen) zum unmittelbaren Träger der
tiken Welt (wenigstens dem Anschein nach) als z& klar vom Souveränität wird. Das Prinzip der Nativität und das Prinzip der
politischen Leben (bios) abgegrenzt war, wird nun erstrangig in Souveränität, die im Ancien regime (wo die Geburt bloß das Vor-
der Struktur des Staates und bildet sogar das irdische Funda- handensein des sujet, des Untertans, markierte) getrennt waren,
ment der staatlichen Legitimität und der Souveränität. vereinigen sich nun unwiderruflich im Körper des »souveränen
Schon eine einfache Untersuchung des Textes der Erklärung Subjekts*, um das Fundament des neuen Nationalstaats zu bil-
von 1789 zeigt, daß es genau das natürliche nackte Leben, das den, Es ist nicht möglich, die »nationale« und biopolitische Ent-
heißt das reine Faktum der Geburt ist, das sich als Quelle und wicklung und Bestimmung des modernen Staats des 19. und
Träger des Rechts präsentiert. »Les hommes«, so lautet der erste 20. Jahrhunderts zu verstehen, wenn man vergißt, daß ihm nicht
Artikel, »naissent et demeurent libres et egaux en droits«l (die der Mensch als freies und bewußtes politisches Subjekt zu-
strengste aller Formulierungen ist unter diesem Gesichtspunkt grunde liegt, sondern vor allem sein nacktes Leben, die einfache
diejenige des Entwurfs von La Fayette: »tout homme nait avec Geburt, die als solche im Übergang vom Untertan zum Bürger
des droits inalienables et imprescriptibles+. Gleichzeitig ver- vom Prinzip der Souveränität eingesetzt wird. Die implizite Fik-
schwindet das natürliche Leben, das mit der Eröffnung der mo- tion besteht darin, daß die Nativität unmittelbar Nation wird, so
dernen Biopolitik die Basis der Rechtsordnung stiftet, gleich daß es zwischen den beiden Begriffen keinen Abstand geben
wieder in der Figur des Bürgers, in dem sich die Rechte »be- kann. Die Menschenrechte werden dem Menschen zugeschrie-
wahrt« finden (Artikel 2: »le but de toute association politique ben (oder entspringen ihm) nur in dem Maß, als er das unmittel-
est la conservation des droits naturels et imprescriptibles de barwieder verschwindende (oder vielmehr gar nie als solches ans
l’homme«3). Und weil die Erklärung das native Element ins Licht tretende) Fundament des Bürgers abgibt.
Herz der politischen Gemeinschaft selbst eingeschrieben hat, Nur wenn man diese wesentliche historische Funktion der
kann sie an diesem Punkt die Souveränität auch der »Nation« Erklärung der Menschenrechte versteht, ist es auch möglich,
zuschreiben (Artikel 3: »le principe de toute souverainete reside ihre Entwicklung und ihre Metamorphosen in unserem Jahr-
hundert zu erfassen. Wenn nach der Erschütterung der geopoli-
I »Die Menschen werden gleich an Rechten geboren und bleiben es.« tischen Ordnung in der Folge des Ersten Weltkriegs der ver-
2 »Jeder Mensch wird mit unveräußerlichen und unantastbaren Rechten ge-
b oren.« drängte Abstand zwischen Nativität und Nation als solcher
3 »Der Endzweck aller politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natür-
lichen und unantastbaren Rechte.« I »Das Prinzip der Souveränität liegt seinem Wesen nach beim Volk.«

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zutage tritt und der Nationalstaat in eine dauerhafte Krise gerät, rührt aber auch die bereits im Verlauf der Revolution einset-
tauchen mit dem Faschismus und dem Nazismus zwei im zende Vervielfältigung der normativen Anordnungen, die präzi-
eigentlichen Sinn biopolitische Bewegungen auf, die das natür- sieren sollten, welcher Mensch nun Bürger sei und welcher
liche Leben zum Ort der biopolitischen Entscheidung schlecht- nicht, und welche die Kreise des ius soli und des ius sanguinis
hin machen. Wir sind daran gewöhnt, im Syntagma »Blut und verdeutlichen und schrittweise einschränken sollten. Was bis
Boden«’ das Wesen der nationalsozialistischen Ideologie zu- dahin kein politisches Problem dargestellt hatte (die Fragen:
sammenzufassen. Als Alfred Rosenberg die Weltanschauung »Was ist ein Franzose? Was ist ein Deutscher?«), sondern bloß
seiner Partei auf eine Formel bringen will, ist es auch tatsächlich eines unter anderen Themen war, die in den philosophischen
dieses Hendiadyoin, auf das er verfällt. »Die nationalsozialisti- Anthropologien diskutiert wurden, beginnt nun, eine wesentli-
sche Weltanschauung ging aus von der Überzeugung, daß Blut che politische Frage zu werden; sie unterliegt als solche einer
und Boden das Wesentlichste des Deutschtums ausmachten, daß fortwährenden Arbeit der Redefinition, bis im Nationalsozialis-
von diesen beiden Gegebenheiten aus Kultur- und Staatspolitik mus die Antwort auf die Frage: »Wer oder was ist ein Deut-
getrieben werden müßten.« (Rosenberg, S. 242) Doch man hat scher?« (und folglich auch: »Wer oder was ist es nicht?«) unmit-
nur allzuoft vergessen, daß diese politisch so eindeutig geprägte telbar mit der höchsten politischen Aufgabe zusammenfällt.
Formel in Wahrheit einen harmlosen Rechtsursprung hat. Sie ist Faschismus und Nazismus sind vor allem eine Redefinition des
nichts weiter als der gedrängte Ausdruck der beiden Kriterien, Verhältnisses zwischen Mensch und Bürger und werden, so pa-
die seit dem römischen Recht dazu dienten, die Bürgerschaft radox das erscheinen mag, nur vor dem biopolitischen Hinter-
festzustellen (das heißt die primäre Einschreibung des Lebens in grund, den die nationale Souveränität und Menschenrechte er-
die staatliche Ordnung): ius soli (die Geburt in einem bestimm- öffnet haben, ganz verstehbar.
ten Territorium) und ius sanguinis (die Geburt von Bürgerel- Nur diese Verbindung zwischen den Menschenrechten und
tern). Diese beiden traditionellen juridischen Kriterien, die im der neuen biopolitischen Bestimmung der Souveränität erlaubt
Ancien rc5gime keine wesentliche politische Bedeutung hatten, es, das eigenartige, von den Historikern der Französischen Re-
weil sie lediglich ein Untertanenverhältnis ausdrückten, gewin- volution mehrfach bemerkte Phänomen richtig zu deuten, daß
nen schon mit der Französischen Revolution eine neue und ent- im unmittelbaren Zusammenhang mit der Erklärung der ange-
scheidende Bedeutung. Die Bürgerschaft bedeutet nun nicht borenen, unveräußerlichen und unabdingbaren Rechte die Men-
mehr einfach nur eine allgemeine Unterwerfung unter die kö- schenrechte im allgemeinen in aktive und passive unterteilt wur-
nigliche Autorität oder ein bestimmtes System von Gesetzen den. Schon Sieyes unterscheidet in seinen Pr&%naires de la
noch verkörpert sie einfach (wie Chalier meint, als er am Constitution klar, »daß die natürlichen und gesellschaftlichen
23. September 1792 im Konvent verlangt, daß die traditionelle Rechte diejenigen sind, zu deren Wahrung und Entwicklung die
Anrede monsieur oder sieur in jedem öffentlichen Akt durch die Gesellschaft gegründet worden ist, die politische Rechte dage-
des Bürgers ersetzt werde) das neue egalitäre Prinzip: Sie steht gen diejenigen, durch die sich die Gesellschaft bildet. Es ist um
für den neuen Status des Lebens als Ursprung und Fundament der Klarheit des Ausdrucks willen besser, die erste Art passive,
der Souveränität und bezeichnet somit buchstäblich, mit Lan- die zweite aktive Rechte zu nennen. [. . .] Alle Einwohner des
juinais’ Worten im Konvent, les membres du souverain. Daher Landes müssen in ihm die Rechtepassiver Bürger besitzen [. . ,];
rührt die Zentralität (und die Ambiguität) des Begriffs der »Bür- aber [. . .] nicht alle sind Aktiv-Bürger. Die Frauen, zumindest im
gerschaft« im politischen Denken der Moderne, die Rousseau jetzigen Stadium, die Kinder, die Ausländer und auch diejenigen,
zur Äußerung veranlaßt, daß »kein Autor in Frankreich [. , .] die nichts zu den öffentlichen Einrichtungen beitragen, dürfen
den wahren Sinn des Wortes >Bürger< verstandene habe; daher keinen aktiven Einfluß auf das Gemeinwesen nehmen.« (Sieyes
2, S. 2 5 1) Und Lanjuinais fährt nach der oben zitierten Wendung,
I Im Original deutsch beigefügt. welche die membres du souverain definiert, mit folgenden Wor-
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ten fort: »Demnach wurden die Kinder, die Verrückten, die Min- sen erste und einzige reale Erscheinung diesseits der Maske des
derjährigen, die Frauen, die zu Leibesstrafe oder Infamie Verur- Bürgers, die ihn ständig verdeckt. Doch genau darum ist es so
teilten [. , .] keine Bürger sein.« (Sewell, S. 105) schwierig, seine Figur politisch zu bestimmen.
Anstatt in diesen Unterscheidungen eine einfache Einschrän- Denn vom Ersten Weltkrieg an ist der Nexus Geburt-Volk
kung des demokratischen und egalitären Prinzips zu sehen, die nicht mehr imstande, seine legitimierende Funktion im Innern
in schreiendem Widerspruch mit Geist und Buchstaben der Er- des Nationalstaates auszuüben, und die beiden Glieder begin-
klärung steht, muß man vielmehr die Kohärenz der biopoliti- nen zu zeigen, daß sie sich unwiederbringlich voneinander ab-
schen Bedeutung zu erfassen wissen. Einer der wesentlichen gekoppelt haben, Die Überflutung Europas durch Flüchtlinge
Züge der modernen Biopolitik (der in unserem Jahrhundert ra- und Staatenlose (in einer kurzen Zeitspanne verlassen I 500 ooo
sen wird) ist die Notwendigkeit, im Leben laufend die Schwelle Weißrussen, 700 ooo Armenier, 500 ooo Bulgaren, I ooo ooo
neu zu ziehen, die das, was drinnen, und das, was draußen ist, Griechen und Hunderttausende Deutsche, Ungarn und Rumä-
verbindet und trennt. Wenn das unpolitische natürliche Leben, nen ihr Ursprungsland) ist zusammen mit den gleichzeitig in
das zum Fundament der Souveränität geworden ist, einmal aus vielen europäischen Staaten eingeführten Normen, welche die
den Mauern des oikos heraustritt und immer tiefer in die Stad? massenhafte Entnaturalisierung und Entnationalisierung der
vordringt, so verwandelt es sich gleichzeitig in eine Linie, die eigenen Bürger erlauben, das hervorstechendste Phänomen. Das
sich in Bewegung befindet und unablässig neu gezogen werden Beispiel gab 1915 Frankreich gegenüber den naturalisierten
muß. In der z&, welche die Erklärung politisiert hat, müssen die Bürgern »feindlicher« Herkunft; diesem folgte 1922 Belgien, wo
Verbindungen und Schwellen neu bestimmt werden, die es er- die Naturalisation von Bürgern wiederrufen wurde, die wäh-
möglichen werden, ein heiliges Leben abzusondern. Und wenn, rend des Krieges »antinationale Straftaten« begangen hatten;
wie das heute nunmehr geschehen ist, das natürliche Leben voll- 1926 erließ das faschistische Regime ein analoges Gesetz gegen
ständig in die pdis einbezogen ist, verschieben sich diese Bürger, die sich »der italienischen Staatsbürgerschaft unwürdig«
Schwellen, wie wir sehen werden, über die dunklen Grenzen, gezeigt hatten; 1933 war die Reihe an Österreich, und so ging es
die das Leben vom Tod trennen, hinaus, um einen neuen leben- weiter, bis die Nürnberger Gesetze über die »Reichsbürger«
den Toten zu bezeichnen, einen neuen homo sacer [uomo sacro]. und zum »Schutze des deutschen Blutes und der deutschen
Ehre« diese Entwicklung ins Extrem trieben, indem sie die deut-
2.3. Wenn die Flüchtlinge (deren Zahl in unserem Jahrhundert schen Staatsangehörigen in vollwertige Bürger und Bürger
nie aufgehört hat zu wachsen, bis sie schließlich einen nicht zu zweiter Klasse unterteilten und zum Prinzip erhoben, daß die
vernachlässigenden Teil der Menschheit ausmachten) in der Bürgerschaft etwas war, dessen man sich würdig erweisen
Ordnung des modernen Nationalstaates ein derart beunruhi- mußte, und die daher jederzeit in Frage gestellt werden konnte.
gendes Element darstellen, dann vor allem deshalb, weil sie die Und eine der wenigen Regeln, an die sich die Nazis im Verlauf
Kontinuität zwischen Mensch und Bürger, zwischen Nativität der »Endlösung« dauerhaft hielten, war die, daß die Juden erst
und Nationalität, Geburt und Volk, aufbrechen und damit die nach der vollständigen Entnationalisierung (also auch der Rest-
Ursprungsfiktion der modernen Souveränität in eine Krise stür- bürgerschaft, die ihnen nach den Nürnberger Gesetzen zukam)
zen. Der Flüchtling, der den Abstand zwischen Geburt und Na- in die Vernichtungslager geschickt werden konnten.
tion zur Schau stellt, bringt auf der politischen Bühne für einen Diese beiden - übrigens eng verknüpften - Phänomene zei-
Augenblick jenes nackte Leben zum Vorschein, das deren ge- gen, daß der Nexus Nativität-Nationalität, auf den die Erklä-
heime Voraussetzung ist. In diesem Sinn ist er tatsächlich, wie rung der Menschenrechte von I 789 die neue nationale Souverä-
Hannah Arendt meint, »der Mensch der Menschenrechte«, des- nität gegründet hatte, nicht mehr von selbst funktionierte und
seine Macht der Selbstregulation verloren hatte. Auf der einen
I Kitts«: im Sinn von »Gemeinwesen«, »Staat<. Seite betreiben die Nationalstaaten eine massive Neueinsetzung

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des natürlichen Lebens, indem sie in dessen Innerem ein sozusa- Grunde) ausschließlich als heiliges Leben betrachtet wird, das
gen authentisches Leben und ein nacktes Leben ohne jeden po- heißt insofern es tötbar und nicht Opferbar ist, und nur als sol-
litischen Wert unterscheiden (der Rassismus und die nazistische ches zum Objekt der Hilfe und des Schutzes wird. Die »flehen-
Eugenik werden nur verständlich, wenn man sie in diesen Kon- den Augen« des ruandischen Kindes, mit dessen Fotografie man
text zurückstellt); auf der anderen Seite werden die Menschen- Geld sammeln möchte, das man aber »jetzt schwerlich noch le-
rechte zunehmend von den Bürgerrechten, als deren Voraus- bend antreffen wird«, sind die vielleicht prägnanteste Chiffre
setzung sie allein Sinn ergaben, abgetrennt und außerhalb des des nackten Lebens in unserer Zeit, deren die humanitären Or-
Kontextes der Bürgerschaft verwendet, mit dem angeblichen ganisationen in einem exakt symmetrischen Verhältnis zur staat-
Zweck, ein nacktes Leben zu repräsentieren und zu schützen, lichen Macht bedürfen. Der vom Politischen abgetrennte Hu-
das in Wachsendern Maß an den Rändern der Nationalstaaten manitarismus kann die Absonderung des nackten Lebens, auf
anfällt, um dann wieder in einer neuen nationalen Identität re- der die Souveränität gründet, lediglich wiederholen, und das La-
kodifiziert zu werden. Die Widersprüchlichkeit dieser Prozesse ger, das heißt, der reine Raum der Ausnahme, ist das biopoliti-
gehört bestimmt zu den Gründen, die zum Scheitern der An- sche Paradigma, mit dem er nicht zu Rande kommt.
strengungen der diversen Komitees und Organisationen geführt Man muß den Begriff des Flüchtlings (und die Figur des Le-
haben, mittels deren die Staaten, der Völkerbund und später die bens, die er repräsentiert) entschlossen von dem der Menschen-
Vereinten Nationen versucht haben, dem Problem der Flücht- rechte ablösen und Hannah Arendts These ernst nehmen, wel-
linge und der Wahrung der Menschenrechte zu begegnen, vom che die Geschicke der Menschenrechte an die des National-
Bureau Nansen (1922) bis zum noch bestehenden Hohen Kom- staates bindet, so daß der Untergang und die Krise des letzteren
missariat für Flüchtlingsfragen (195 1), dessen Engagement ge- notwendig auch die ersteren obsolet werden läßt. Der Flücht-
mäß den Statuten nicht politisch, sondern nausschließlich hu- ling muß als das angesehen werden, was er ist, nämlich nicht we-
manitär und sozial« sein kann. Wesentlich ist, daß jedesmal, niger als ein Grenzbegriff, der die fundamentalen Kategorien
wenn die Flüchtlinge nicht mehr individuelle Fälle, sondern, wie des Nationalstaates, vom Nexus Nativität-Nationalität zu dem-
es mittlerweile immer häufiger geschieht, ein Massenphänomen jenigen von Mensch-Bürger, in eine radikale Krise stürzt: So
darstellen, diese Organisationen wie die einzelnen Staaten trotz wird es möglich. das Feld für eine nunmehr unaufschiebbare ka-
ihrer feierlichen Anrufungen der »heiligen und unveräußerli- tegoriale Erneuerung zu räumen, im Hinblick auf eine Politik,
chen« Menschenrechte sich nicht nur als gänzlich unfähig er- die das nackte Leben nicht mehr in der staatlichen Ordnung ab-
wiesen haben, das Problem zu lösen, sondern überhaupt in an- sondert und ausstößt, auch nicht mittels der Figur der Men-
gemessener Weise mit ihm umzugehen. schenrechte.
K Das Pamphlet Franca& encore un effort si vom voulez h-e repu-
2.4. Die Trennung zwischen Humanitärem und Politischem, blicains,’ das Sade in der Philosophie dans le boudoir den Libertin Dol-
die wir heute erleben, ist die extreme Phase der Entfernung zwi- man& lesen läßt, ist das erste und vielleicht radikalste biopolitische Ma-
schen den Menschenrechten und den Bürgerrechten. Letztlich nifest der Moderne. Just in dem Moment, da die Revolution die Geburt -
können die humanitären Organisationen, die heute mehr und das heißt das nackte Leben - zum Fundament der Souveränität und der
mehr zu den übernationalen Organen aufrücken, das mensch- Menschenrechte macht, inszeniert Sade (in seinem ganzen Werk, insbe-
liche Leben jedoch nur in der Figur des nackten Lebens oder des sondere aber in Les cent vingt joumkes de Sodome) das theatrum politi-
heiligen Lebens erfassen und unterhalten deshalb gegen ihre cum als Theater des nackten Lebens, in dem, mittels der Sexualität, das
physiologische Leben der Körper selbst sich als pures politisches Ele-
Absicht eine geheime Solidarität mit den Kräften, die sie be-
ment präsentiert. Doch in keinem anderen Werk ist die Einforderung des
kämpfen sollten. Ein Blick auf die jüngsten Werbekampagnen Politischen seines Projekts so explizit wie in diesem Pamphlet; hier wer-
zur Spendensammlung für Ruanda genügt, um sich klarzuma-
chen, daß hier das menschliche Leben (und dafür gibt es gewiß I »Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt«.

142 143
den die maisons, wo jeder Bürger jeden anderen Bürger öffentlich aufru- 3. Lebensunwertes Leben
fen und ihn zur Befriedigung seiner eigenen Begierden zwingen kann,
zum politischen Ort schlechthin. Nicht nur die Philosophie (Lefort,
S. 1 oof.), sondern auch und vor allem die Politik hat das Sieb des boudoir
passiert; mehr noch, im Projekt von Dolman& hat das boudoir die cite
vollständig ersetzt, und zwar in dem Ausmaf3, daf3 Öffentliches und Pri- 3.1. Im Jahr 1920 veröffentlichte Felix Meiner, schon damals ei-
vates, nacktes Leben und politische Existenz die Plätze tauschen. ner der Seriösesten deutschen Verleger der Geisteswissenschaf-
Die wachsende Bedeutung des Sadomasochismus in der Moderne hat ten, eine blaugraue @querte, die den Titel trug: Die Freigabe
ihre Wurzeln in diesem Tausch; denn der Sadomasochismus ist genau die- der Vernichtung lebensunwerten Lebens.l Die Autoren waren
jenige Technik der Sexualität, die das nackte Leben des Partners zutage Karl Binding, ein angesehener Strafrechtsspezialist (eine im letz-
fördert. Und nicht nur die Analogie mit der souveränen Macht wird von ten Moment hinter dem Titelblatt eingeklebte Einlage infor-
Sade bewußt gezogen (»il n’est Point d’homme«, schreibt er, »qui ne miert die Leser darüber, daß der »Geh. Rat« und »Prof. Dr. jur.
veuille &re despote quand il bande«‘), auch die Symmetrie zwischen et phil.« K. B. während des Druckes verstorben ist und diese
homo sacer und Souverän findet sich hier in der Komplizität, die den Ma-
»Abhandlung« also der letzte Akt seiner »tiefen Menschen-
sochisten an den Sadisten und das Opfer an den Henker bindet.
Die Aktualität von Sade besteht nicht darin, daß er die unpolitische liebe« gewesen sei), und Alfred Hoche, ein Professor der Medi-
Vorherrschaft der Sexualität in unserer unpolitischen Zeit angekündigt zin, der sich mit Fragen der Ethik seines Berufs beschäftigte.
hat; im Gegenteil, seine Modernität besteht in der unvergleichlichen Zur- Das Buch interessiert uns hier aus zwei Gründen. Der erste
schaustellung der absolut politischen (das heißt »biopolitischen«) Bedeu- besteht darin, daß Binding, um die Straflosigkeit des Selbstmor-
tung der Sexualität und des physiologischen Lebens selbst. Ebenso wie in des zu erklären, sich dazu veranlaßt sieht, diesen als Ausdruck
den Konzentrationslagern unseres Jahrhunderts hat der Totalitarismus einer Souveränität des lebenden Menschen über seine eigene Exi-
der Organisation des Lebens im Schloß Silling mit seiner minutiösen Re- stenz zu begreifen, Da der Selbstmord, so argumentiert er, einer-
glementierung, die keinen Aspekt des physiologischen Lebens (nicht ein- seits nicht als Delikt (wie beispielsweise die Verletzung einer
mal die obsessiv kodifizierte und ausgestellte Verdauungsfunktion) außer
Pflicht gegenüber sich selbst), andererseits aber auch nicht als ju-
acht läßt, seine Wurzeln in der Tatsache, daß hier zum ersten Mal eine
normale und kollektive (mithin politische) Organisation des mensch- ristisch indifferente Handlung begriffen werden kann, »bleibt
lichen Lebens gedacht worden ist, die einzig und allein auf dem nackten eben dem Rechte nichts übrig, als den lebenden Menschen als
Leben gründet. Souverän über sein Dasein I: . ./ zu betrachten« (Binding, S. 14).
Die Souveränität des Lebenden über sich selbst bildet, wie die
souveräne Entscheidung über den Ausnahmezustand, eine
Schwelle der Ununterscheidbarkeit zwischen Exteriorität und
Interiorität, welche die Rechtsordnung daher weder aus- noch
einschließen, weder verbieten noch erlauben kann (die »Rechts-
ordnung«, schreibt Binding, »nimmt die Handlung trotz ihrer
vielleicht empfindlichen Wirkungen auf sie selbst ruhig hin. Sie
glaubt sie dem Täter nicht verbieten zu dürfen«; ebd., S. I 3).
Von dieser besonderen Souveränität des Menschen über die
eigene Existenz leitet Binding jedoch - und das ist der zweite
und dringendere Grund unseres Interesses - die Notwendigkeit
ab, die »Vernichtung des lebensunwerten Lebens« zu autorisie-
ren. Der Umstand, daß er mit diesem beunruhigenden Aus-

I >>Es gibt keinen Mann, der nicht Despot sein will, wenn er geil ist.« I Im Original deutsch.

145
druck lediglich das Problem der Zulässigkeit der Euthanasie be- mit dem wertvollsten, vom stärksten Lebenswillen und der größten
nennt, soll nicht dazu führen, die Neuheit und die entschei- Lebenskraft erfüllten und von ihm getragenen Leben’ umgehen, und
welch Maß von oft ganz nutzlos vergeudeter Arbeitskraft, Geduld,
dende Wichtigkeit dieses Begriffs, der auf diese Weise zum er-
Vermögensaufwendung wir nur darauf verwenden, um lebensunwerte
sten Mal auf der juridischen Bühne erscheint, zu unterschätzen: Leben so lange zu erhalten, bis die Natur - oft so mitleidlos spät - sie
das »lebensunwerte Leben« (das Leben, das nicht wert ist, gelebt der letzten Möglichkeit der Fortdauer beraubt. Denkt man sich gleich-
zu werden, oder auch, gern8 der buchstäblich möglichen Be- zeitig ein Schlachtfeld bedeckt mit Tausenden toter Jugend, oder ein
deutung, zu leben), zusammen mit seinem impliziten und ver- Bergwerk, worin schlagende Wetter Hunderte fleißiger Arbeiter ver-
trauteren Korrelat, dem lebenswerten Leben. Die fundamentale schüttet haben, und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute
biopolitische Struktur der Moderne - die Entscheidung über mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben-und man ist auf
den Wert (oder den Unwert) des Lebens als solches - findet mit- das tiefste erschüttert von diesem grellen Mißklang zwischen der Op-
hin seine erste juristische Formulierung in einem gutgemeinten ferung des teuersten Gutes der Menschheit im größten Maßstabe auf
der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern
Pamphlet zugunsten der Euthanasie.
negativ zu Wertender Existenzen auf der anderen Seite.« (Ebd., S. 27)
X Es erstaunt nicht, daß der Aufsatz von Binding die Aufmerksam-
keit von Schmitt geweckt hat, der ihn in seiner Theorie des Partisanen im Der Begriff des »wertlosen« (oder »lebensunwerten«) Lebens
Kontext einer Kritik an der Einführung des Begriffs des Wertes ins Recht kommt-vor allem bei Individuen zur Anwendung, die infolge
zitiert. »Der Wertsetzer«, schreibt er, »setzt mit seinem Wert eo ipso im- von Krankheit oder Verletzung als »unrettbar Verlorene« be-
mer einen Unwert; der Sinn der Unwertsetzung ist die Vernichtung des trachtet werden müssen und die, *im vollen Verständnis ihrer
Unwertes.« Bindings Theorien vom lebensunwerten Leben stellt er die Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in
These von Heinrich Rickert an die Seite, wonach *der Bezug zur Nega- irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben.« (Ebd., S. 29)2
tion [. . .] das Kriterium dafür [ist], daß etwas zum Gebiet der Werte ge- Problematischer ist die Lage der zweiten Gruppe; sie »besteht
hört« und »die Verneinung [, , ,] der eigentlich Akt der Wertung« ist aus den unheilbar Blödsinnigen - einerlei ob die so geboren oder
(Schmitt 6, S. 80f.). Schmitt scheint hier nicht zu bemerken, wie die Logik
etwa wie die Paralytiker im letzten Stadium ihres Leidens so ge-
des Wertes, die er kritisiert, seiner Theorie der Souveränität gleicht, nach
der das wahre Leben der Regel die Ausnahme ist. worden sind«. Diese Menschen, schreibt Binding, »haben weder
den Willen zu leben, noch zu sterben. So gibt es ihrerseits keine
3.2. Der Begriff des *lebensunwerten Lebens« ist für Binding beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese
deshalb wesentlich, weil er ihm erlaubt, eine Antwort auf die ju- auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müßte. Ihr Le-
ristische Frage zu finden, die er zu stellen gedenkt: *Soll die un- ben ist absolut zwecklos, aber sie empfinden es nicht als uner-
verbotene Lebensvernichtung, wie nach heutigem Rechte - vom träg1ich.« Auch in diesem Fall erkennt Binding »weder vom
Notstand abgesehen -, auf die Selbsttötung des Menschen be- rechtlichen, noch vom sozialen, noch vom sittlichen, noch vom
schränkt bleiben, oder soll sie eine gesetzliche Erweiterung auf religiösen Standpunkt aus schlechterdings keinen Grund, die Tö-
Tötungen von Nebenmenschen erfahren?« (Ebd., S. 5) Die Lö- tung dieser Menschen, die das furchtbare Gegenbild3 echter
sung des Problems hängt in der Tat ab von der Antwort auf die Menschen bilden L . . J, freizugeben.« (Ebd., S. 3 I f.) Was das Pro-
Frage: »Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des blem der Entscheidungsgewalt über die Freigabe der Vernich-
Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Le- tung angeht, so schlägt Binding vor, daß die Initiative des An-
bensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren
hat?« IBei Agamben »wertvollstes Leben« deutsch beigefügt.
2 »Liberazione«; in Klammern folgt die sich für die deutsche Leserschaft er-
»Man braucht sie nur zu stellen«, fährt Binding fort, Bund ein beklom- übrigende Erläuterung: »Binding bedient sich des Wortes ,Erlösung<, das
menes Gefühl regt sich in jedem, der sich gewöhnt hat, den Wert des zum religiösen Vokabular gehört und unter anderem predenzionec bedeu-
einzelnen Lebens für den Lebensträger und für die Gesamtheit auszu- tet.«
schätzen. Er nimmt mit Schmerzen wahr, wie verschwenderisch wir 3 Im Original deutsch beigefügt.

146 147
trags stets vom Kranken selbst ausgehen mui3 (falls er dazu in 3.4. Während des Nürnberger Ärzteprozesses berichtete ein
der Lage ist), oder dann von einem Arzt oder einem nahen Ver- Zeuge, Dr. Fritz Mennecke, er habe bei einer vertraulichen Ver-
wandten, und daß die letzte Entscheidung bei einer staatlichen sammlung in Berlin im Februar 1940 die Doktoren Hefelmann,
Kommission liegt, bestehend aus einem Arzt, einem Psychiater Bohne und Brack mitteilen hören, daß die Reichsregierung so-
und einem Juristen. eben Vorkehrungen zur Autorisierung der »Vernichtung le-
bensunwerten Lebens«, mit besonderem Bezug auf die unheil-
3.3. Es ist nicht unsere Absicht, hier zum schwierigen ethischen baren Geisteskranken, getroffen habe. Die Information war
Problem der Euthanasie, über das noch heute die Meinungen nicht ganz richtig, denn Hitler hat es vorgezogen, seinem Eutha-
auseinandergehen und das in den Mediendebatten beträcht- nasie-Programm keine eigentliche Rechtsform zu verleihen; fest
lichen Raum beansprucht, Stellung zu beziehen; auch die Radi- steht jedoch, daß das Wiederauftauchen der von Binding ge-
kalität, mit der Binding zugunsten einer verallgemeinerten Zu- prägten Formel zur rechtlichen Einbürgerung des »Gnaden-
lässigkeit der Euthanasie Stellung bezieht, interessiert uns hier tods« (so der unter den Gesundheitsfunktionären des Regimes
nicht. Interessanter ist aus unserer Perspektive die Tatsache, daß gängige Euphemismus) mit einer entscheidenden Wende in der
die Souveränität des lebenden Menschen über sein Leben un- Biopolitik des Nationalsozialismus zusammenfällt.
mittelbar mit der Festlegung einer Schwelle zusammentrifft, Es gibt keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß die »humanitä-
jenseits deren das Leben keinen rechtlichen Wert mehr besitzt ren« Erwägungen, die Hitler und Himmler dazu brachten, so-
und daher getötet werden kann, ohne daß ein Mord begangen fort nach der Machtergreifung ein Euthanasie-Programm aus-
wird. Die neue Kategorie eines »wertlosen« oder »lebensunwer- zuarbeiten, in gutem Glauben angestellt wurden, wie ja auch
ten Lebens« entspricht exakt, wenngleich in einer wenigstens Binding und Hoche von ihrem Gesichtspunkt aus den Begriff
dem Anschein nach anderen Richtung, dem nackten Leben des des »lebensunwerten Lebens« bestimmt in gutem Glauben vor-
homo sacer und kann leicht über die von Binding vorgestellten trugen. Aus verschiedenen Gründen, darunter der zu erwar-
Grenzen hinaus erweitert werden. tende Widerstand der kirchlichen Kreise, wurde von dem Pro-
Es scheint so, als ginge jede Wertung und jede »Politisierung« gramm wenig in die Tat umgesetzt, und erst Anfang 1940
(wie sie der Souveränität des einzelnen über seine eigene Exi- beschloß Hitler, keine Verzögerung mehr zu dulden. So erfolgte
stenz letztlich implizit ist) zwangsläufig mit einer erneuten Ent- die Durchführung des »Euthanasie-Programms für unheilbare
scheidung über die Schwelle einher, jenseits deren das politisch Kranke«1 unter Bedingungen - wie der Kriegswirtschaft und
relevante Leben aufhört, um nur mehr »heiliges Leben« zu sein der Vervielfachung der Konzentrationslager für Juden und an-
und als solches straflos eliminiert werden zu können. Jede Ge- dere Unerwünschte -, die Irrtümer und Mißbräuche begünsti-
sellschaft legt diese Grenze fest, jede Gesellschaft - auch die mo- gen konnten; doch hing die Verwandlung (im Verlauf der fünf-
dernste - entscheidet darüber, welches ihre homines sacri [uo- zehn Monate, die es dauerte, bis Hitler im August 1941 wegen
mini sacri] sind. Es ist sogar möglich, daß diese Grenze, von der wachsender Proteste der Bischöfe und Familienangehöriger die
die Politisierung und die exceptio des natürlichen Lebens in der Beendigung anordnete) eines theoretisch humanitären Pro-
staatlichen Rechtsordnung abhängt, sich in der abendländischen gramms in eine Operation der Massenvernichtung keineswegs
Geschichte immer nur ausgedehnt hat und heute - im neuen nur von den Umständen ab. Der Name von Grafeneck, der
biopolitischen Horizont der Staaten mit nationaler Souveräni- Kleinstadt in Württemberg, wo eines der Hauptzentren ope-
tät - notwendigerweise durch das Innere jedes menschlichen rierte, ist mit dieser tristen Sache verbunden geblieben; aber
Lebens und jedes Bürgers geht. Das nackte Leben ist nicht mehr ähnliche Anstalten gab es auch in Hadamar (Hessen), Hartheim
an einem besonderen Ort oder in einer definierten Kategorie (bei Linz) und an anderen Orten des Reiches. Die Aussagen,
eingegrenzt, sondern bewohnt den biologischen Körper jedes
Lebewesens. I Im Original deutsch.

148 149
welche die Angeklagten und Zeugen im Nürnberger Prozeß ge- gramms völlig bewußt war, es um jeden Preis in die Tat umset-
macht haben, geben uns mit ausreichender Genauigkeit Aus- zen?
kunft über die Organisation des Programms von Grafeneck. Es bleibt keine andere Erklärung als jene, wonach es unter
Die Anstalt erhielt jeden Tag etwa siebzig Personen (im Alter dem Deckmantel eines humanitären Problems eigentlich - im
zwischen 6 und 93 Jahren), die unter den unheilbaren Geistes- Horizont der neuen biopolitischen Bestimmung des nationalso-
kranken der verschiedenen deutschen Irrenhäuser ausgewählt zialistischen Staates -um eine Einübung der souveränen Macht
wurden. Die Doktoren Schumann und Baumhardt, die für das in die Entscheidungsgewalt über das nackte Leben ging. Daß das
Programm in Grafeneck verantwortlich waren, unterzogen »lebensunwerte Leben« kein ethischer Begriff ist, der die Er-
die Kranken einer oberflächlichen Untersuchung und entschie- wartungen und legitimen Wünsche des einzelnen betrifft, liegt
den, ob sie die vom Programm verlangten Voraussetzungen klar auf der Hand; es ist vielmehr ein politischer Begriff, der die
erfüllten. Größtenteils wurden die Kranken innerhalb von extreme Metamorphose des tötbaren und nicht opferbaren Le-
24 Stunden nach der Ankunft in Grafeneck getötet; zuerst bens betrifft, das der homo sacer verkörpert und auf dem sich die
wurde ihnen eine Dosis von 2 ml Morphium-Scopolamin ver- souveräne Macht gründet. Wenn die Euthanasie sich für diese
abreicht, und dann wurden sie in eine Gaskammer gesteckt. In Verwechslung anbietet, dann deswegen, weil hier ein Mensch in
anderen Anstalten (zum Beispiel in Hadamar) brachte man sie der Situation befindet, in einem anderen Menschen die zök vom
mit einer starken Dosis Luminal, Veronal und Morphium um. bios zu trennen und so etwas wie ein nacktes, tötbares Leben ab-
Man rechnet, daß auf diese Weise etwa 60000 Personen ver- zusondern. Aber aus der Perspektive der modernen Biopolitik
nichtet worden sind. steht die Euthanasie an der Kreuzung zwischen der souveränen
Entscheidung über das tötbare Leben und der Übernahme der
3.5. Man hat versucht, die Hartnäckigkeit, mit der Hitler die Sorge um den biopolitischen Volkskörper und markiert den
Verwirklichung seines Euthanasie-Programms1 unter nicht sehr Punkt, an dem die Biopolitik zwangsläufig in Thanatopolitik
günstigen Umständen verfolgte, mit den eugenischen Prinzi- umkippt.
pien der nationalsozialistischen Biopolitik zu erklären. Doch Hier sieht man, wie der Versuch von Binding, die Euthanasie
unter einem strikt eugenischen Gesichtspunkt bestand für die in einen juridisch-politischen Begriff zu verwandeln (das »le-
Euthanasie gar keine besondere Notwendigkeit: Abgesehen da- bensunwerte Leben«), eine fundamentale Frage erfaßte. Wenn
von, daß schon die Gesetze zur *Verhütung erbkranken Nach- es dem Souverän, insofern er über den Ausnahmezustand ent-
wuchses« und zum »Schutze der Erbgesundheit des deutschen scheidet, zu allen Zeiten zukommt, darüber zu entscheiden,
Volkes« genügend Schutz boten, waren die dem Programm un- welches Leben getötet werden kann, ohne daß ein Mord began-
terworfenen unheilbaren Kranken Kinder und Alte, die ohne- gen wird, dann tendiert diese Macht im Zeitalter der Biopolitik
hin nicht in der Lage waren, sich fortzupflanzen (vom eugeni- dazu, sich vom Ausnahmezustand zu emanzipieren, um sich in
schen Gesichtspunkt aus zählt ja ganz offensichtlich nicht die die Macht über die Entscheidung zu transformieren, an wel-
Vernichtung des Phänotyps, sondern nur des genetischen Erb- chem Punkt das Leben aufhört, politisch relevant zu sein. Wenn
gutes). Darüber hinaus gibt es keinerlei Hinweise, daß das Pro- das Leben zum höchsten politischen Wert wird, dann stellt sich
gramm an wirtschaftliche Erwägungen geknüpft war; im Ge- nicht nur, wie Schmitt meint, von selbst die Frage nach dem Un-
genteil, es erforderte einen nicht unerheblichen organisatori- wert des Lebens, sondern es scheint, als stünde in dieser Ent-
schen Aufwand zu einem Zeitpunkt, da die staatliche Maschine- scheidung der letzte Bestand der souveränen Macht auf dem
rie voll vom kriegerischen Kraftakt beansprucht wurde. Warum Spiel. In der modernen Biopolitik ist derjenige souverän, der
also wollte Hitler, obwohl er sich der Unpopularität des Pro- über den Wert oder Unwert des Lebens als solches entscheidet.
Das Leben, das mit der Erklärung der Menschenrechte als sol-
I Im Original deutsch. ches zum Prinzip der Souveränität erhoben worden ist, wird
150 151
nun selbst zum Ort einer souveränen Entscheidung. Der »Füh- 4. »Politik, d. h. die Gestaltung
rer«’ repräsentiert das Leben selbst, insofern er über den eigenen des Lebens der Völker«
biopolitischen Bestand entscheidet. Darum ist auch sein Wort -
-gemäß einer den Nazijuristen teuren Theorie, auf die wir zu-
ruckkommen werden - unmittelbar Gesetz. Darum ist das Pro-
blem der Euthanasie auch ein spezifisch modernes Problem,
dessen sich der Nazismus als erster radikal biopolitischer Staat 4. I. 1942 beschloß das Institut Allemand in Paris, eine Publika-

nicht nicht annehmen konnte; und darum lassen sich gewisse tion zu verbreiten, mit dem Zweck, die französischen Freunde
scheinbar verruckte und widersprüchliche Züge des Euthana- und Verbündeten über das Wesen und die Verdienste der natio-
sie-Programms2 nur im biopolitischen Kontext, in dem es auch nalsozialistischen Politik in Sachen Gesundheit und Eugenik zu
angesiedelt ist, erklären. informieren. Das Buch, das Beiträge der maßgebenden deut-
Die Ärzte Karl Brand und Viktor Brack, die als Verantwort- schen Fachleute (wie Eugen Fischer und Otmar von Verschuer)
liche des Programms in Nürnberg zum Tod verurteilt worden und der Hauptverantwortlichen der Gesundheitspolitik des
sind, haben nach dem Urteil erklärt, daß sie sich nicht schuldig Reiches (wie Leonardo Conti und Hans Reiter) versammelt,
fühlen, weil sich das Problem der Euthanasie von neuem stellen trägt den vielsagenden Titel Etat et santé.1 Von den offiziellen
wurde. Ihre Voraussicht war unbestritten; interessanter ist je- und halboffiziellen Publikationen des Regimes ist diese viel-
doch die Frage, warum es damals, als das Programm von den leicht diejenige, in der die Politisierung (oder der politische
, Bischöfen an die Öffentlichkeit gebracht wurde, seitens der me- Wert) des biologischen Lebens und damit die Verwandlung des
dizinischen Organisationen keine Proteste gab. Nicht nur wi- gesamten politischen Horizonts am deutlichsten thematisiert
derspricht das Euthanasie-Programm dem Passus des Hippo- wird; so schreibt Reiter:
kratischen Eides: »Ich werde niemandem, auch nicht auf seine »In den Jahrhunderten, die dem unseren vorangegangen sind, wurden
Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu die großen Konflikte zwischen Völkern mehr oder minder durch die
raten«; die daran beteiligten Ärzte konnten auch, da keine ge- Notwendigkeit verursacht, die Besitztümer des Staates zu sichern -
setzlichen Vorkehrungen getroffen wurden, die Straflosigkeit wobei das Wort ›Besitztum< nicht nur die Oberfläche des Landes, son-
zusicherten, in eine heikle Rechtssituation geraten (dieser Um- dern zugleich den materiellen Inhalt meint. Bisweilen war auch die
stand gab denn auch Anlaß zu Protesten seitens der Juristen und Furcht, den Nachbarstaat territorial anwachsen zu sehen, Ursache die-
Anwälte). Tatsache ist, daß das nationalsozialistische Reich den ser Konflikte, in denen keine Rücksicht auf die Individuen genommen
wurde, die sozusagen bloß als Mittel zur Erreichung der verfolgten
Zeitpunkt markiert, an dem die gegenseitige Integration von
Ziele dienten.
Medizin und Politik, die einen der wesentlichen Züge der mo- Erst zu Beginn unseres Jahrhunderts ist man auf der Grundlage von
dernen Biopolitik darstellt, ihre vollendete Form anzunehmen Lehren, die deutlich vom Liberalismus geprägt sind, in Deutschland
beginnt. Das bedeutet, daß sich die souveräne Entscheidung darauf gekommen, auch den Wert des Menschen in Betracht zu ziehen
über das nackte Leben verschiebt; sie bewegt sich weg von und zu definieren - Definitionen, die sich damals wohlverstanden nur
streng politischen Motivationen und Bereichen und begibt sich auf die liberalen Formen und Prinzipien stützen konnten, welche die
auf ein ambivalentes Terrain, wo der Souverän und der Arzt die Ökonomie beherrschten. [. . .] Helferich hat den nationalen Reichtum
Rollen zu tauschen scheinen. in Deutschland auf ungefähr 310 Milliarden Mark geschätzt. [. . .]
Auch Zahn nimmt als Grundlage seiner Spekulation die Summe von
310 Milliarden Mark, bemerkt aber, daß es im Gegenzug zu diesem
materiellen Reichtum einen lebendigen Reichtum gebe, den er auf
1061 Milliarden Mark schätze.« (Verschuer 1, S. 3 1)
I Im Original, auch an folgenden Stellen, deutsch.
2 Im Original deutsch. 1 »Staat und Gesundheit«.
Die große Neuerung des Nationalsozialismus besteht nach Rei- zialistischen Ideologie und der Entwicklung der Sozial- und Le-
ter darin, daß es eben diese lebenden Schätze sind, die nun für die benswissenschaften jener Zeit, besonders jener der Genetik, ist
Interessen und Kalküle des Reiches erstrangig werden und die enger und komplexer, und zugleich beunruhigender. Ein Blick
Basis für eine neue Politik schaffen, die mit der Aufstellung der auf die Beiträge von Verschuer (der, so sehr es überraschen mag,
»Bilanz der lebenden Werte eines Volkes« (ebd., S. 34) beginnt auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches weiterhin
und zur Pflege des »biologischen Körpers der Nation« (ebd., Genetik und Anthropologie an der Universität Münster lehrte)
S. 5 1) schreitet: undvon Fischer (Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für An-
thropologie in Berlin) zeigt jenseits aller Zweifel, d a ß es gerade
q* . .] wirnähern uns immer mehr einer logischen Synthese der Biolo-
die genetische Forschung dieser Zeit mit der frisch entdeckten
gie und der Ökonomie an. [. . .] die Politik wird imstande sein müssen,
diese Synthese immer enger zu führen; sie steht heute noch am Anfang, Lokalisierung der Gene in den Chromosomen ist (jene »Gene«,
erlaubt jedoch bereits, die gegenseitige Abhängigkeit dieser beiden die, so Fischer, »auf den Chromosomen wie Perlen auf der
Kräfte als unabwendbare Tatsache zu erkennen.« (Ebd., S. 48) Schnur aufgereiht sind«; Verschuer 1, S. 86), die der nationalso-
zialistischen Biopolitik als konzeptuelle und strukturelle Refe-
Daher rührt die radikale Transformation der Bedeutung und der renz dient. »Die Rasse«, schreibt Fischer, »ist nicht durch die
Aufgaben der Medizin, die sich zunehmend tiefer in die Funk- Zusammenstellung dieser oder jener Eigenschaften bestimmt,
tionen und Organe des Staates integriert: die man zum Beispiel mit Hilfe einer Farbenskala messen
könnte. [. . .] Die Rasse ist Vererbung und nichts als Vererbung.«
»So wie der Ökonom und der Kaufmann für die Ökonomie der mate-
riellen Werte verantwortlich sind, so ist der Arzt für die Ökonomie der
(Ebd., S. 84) Es erstaunt folglich nicht, daß die Forschungen, auf
menschlichen Werte verantwortlich. [. . .] Es ist unerläßlich, daß der
die sich Fischer wie Verschuer beziehen, die Experimente von
Arzt an der rationalisierten menschlichen Ökonomie mitarbeitet und Thomas H. Morgan und John B. S. Haldane über die Drosophila
im Standard der Volksgesundheit die Bedingung des ökonomischen sind und allgemeiner jene Arbeiten der angelsächsischen Gene-
Ertrags erblickt [. . .]. Die Oszillationen der biologischen Substanz tik, die in ebendiesen Jahren zur Aufstellung einer ersten Karte
und der materiellen Bilanz eines Staates verlaufen im allgemeinen par- des X-Chromosoms im Menschen und zum ersten sicheren
allel.* (Ebd., S. 40f.) Nachweis von pathologischen Erbveranlagungen führten.
Das Neue daran ist indes, daß diese Begriffe nicht wie äußer-
Die Grundsätze dieser neuen Biopolitik werden von der Euge- liche (wenn auch bindende) Kriterien einer politischen Entschei-
nik diktiert, verstanden als Wissenschaft der genetischen Verer- dung gehandhabt werden; sie sind vielmehr als solche unmittel-
bung eines Volkes. Foucault hat die wachsende Bedeutung un- bar politisch. So wird der Begriff der Rasse in Übereinstimmung
tersucht, die vom 18. Jahrhundert an der Polizeiwissenschaft mit den genetischen Theorien der Zeit als »eine Gruppe von
zukommt; mit Nicolas Delamare, Johann Peter Frank und Jo- menschlichen Wesen, die eine bestimmte Kombination von ho-
hann Heinrich Gottlob von Justi macht sie sich die Sorge um die mozygoten Genen aufweisen, die anderen Gruppen fehlen«, de-
Bevölkerung in all ihren Belangen zum ausdrücklichen Ziel finiert (ebd., S. 92). Sowohl Fischer als Verschuer wissen jedoch,
(Foucault 3, S. I 59 -161).Vom Ende des 19. Jahrhunderts an lie- daß es praktisch unmöglich ist, eine nach dieser Definition reine
fert das Werk von Francis Galton den theoretischen Rahmen, in Rasse zu bestimmen (insbesondere bilden weder die Juden noch
dem die nunmehr Biopolitik gewordene Polizeiwissenschaft die Deutschen in diesem eigentlichen Sinn eine Rasse -dessen ist
ihre Wirkung entfalten soll. Es ist wichtig zu sehen, daß im Ge- sich Hitler, während er Mein Kampf schreibt, ebenso bewußt wie
gensatz zu einem verbreiteten Vorurteil der Nazismus sich nicht dann, als er die Endlösung beschließt). Das Wort »Rassismus«
einfach darauf beschränkte, die wissenschaftlichen Konzepte, (wenn man Rasse streng biologisch versteht) ist deshalb nicht die
die er brauchte, zu verwenden und für die eigenen politischen korrekteste Charakterisierung für die Biopolitik des Dritten
Zwecke zu verformen; die Beziehung zwischen der nationalso- Reiches; sie bewegt sich vielmehr in einem Horizont, wo sich die

154 155
»Sorge um das Leben«, das Erbe der Polizeiwissenschaft des gemessene Interpretation des Rassismus meint) auf einer rein in-
I 8. Jahrhunderts, ins Absolute steigert, indem sie mit eigentlich strumentellen Beziehung, wie wenn die Rasse eine einfache na-
eugenischen Bestrebungen verschmilzt. In seiner Unterschei- türliche Gegebenheit wäre, die es nur zu schützen gälte. Die
dung zwischen »Politik« und »Polizei« weist von Justi ersterer Neuerung der modernen Biopolitik besteht darin, daß die biolo-
eine rein negative Aufgabe zu (die Bekämpfung der inneren und gische Gegebenheit unmittelbar politisch wird und umgekehrt.
äußeren Feinde des Staates), letzterer eine positive (die Pflege »Politik«, schreibt Verschuer, »d. h. [. . .] die Gestaltung des
und das Wachstum des Lebens der Bürger). Man kann die natio- Lebens der Völker« (Verschuer 2, S. 9). Das Leben, das mit der
nalsozialistische Biopolitik (und mit ihr einen guten Teil der mo- Erklärung der Menschenrechte zum Fundament der Souveräni-
dernen Politik auch außerhalb des Dritten Reiches) nicht ver- tät geworden ist, wird nun das Subjekt-Objekt der staatlichen
stehen, wenn man nicht sieht, daß sie das Schwinden der Politik (die sich deswegen auch zunehmend als »Polizei« ver-
Unterscheidung zwischen den beiden Gliedern impliziert: Die hält); aber erst ein Staat, der im Innersten auf dem Leben selbst
Polizei wird nun Politik, und die Sorge um das Leben fällt mit des Volkes gründet, konnte die Gestaltung und Pflege des
dem Kampf gegen den Feind zusammen. »Die nationalsozialisti- »Volkskörpers« zu seiner vorrangigen Bestimmung erheben.
sche Revolution«, liest man in der Einleitung zu Etat et sante, Daher rührt der scheinbare Widerspruch, daß eine natürliche
»appelliert an die Kräfte, welche die Ausschließung der Faktoren Gegebenheit sich unmittelbar als politische Aufgabe darzustel-
biologischer Entartung und den Erhalt der Erbgesundheit des len sucht. »Erbanlage ist wohl Schicksal«, so fährt Verschuer
Volkes fördern. Sie strebt also danach, die Gesundheit der Ge- fort, »zeigen wir uns aber als Meister dieses Schicksals, indem wir
samtheit der Bevölkerung zu stärken und jene Einflüsse zu ver- Erbanlage als uns gestellte Aufgabe ansehen, die wir zu erfüllen
nichten, die dem biologischen Erblühen der Nation schaden. Die haben. « (Ebd., S. I I) Nichts druckt das Paradox der nazisti-
in diesen Vorträgen behandelten Probleme betreffen nicht nur schen Biopolitik und die Notwendigkeit, in der sie sich befindet,
ein einzelnes Volk; sie werfen Fragen auf, die für die ganze euro- das Leben selbst einer unablässigen Mobilisierung zu unterwer-
päische Zivilisation von vitaler Bedeutung sind.« (Verschuer 1, fen, besser aus als diese Verwandlung der natürlichen Vererbung
S. 7) Einzig in dieser Perspektive nimmt die Vernichtung der Ju- als solcher in Politik. Das Fundament des Totalitarismus unseres
den, in der Polizei und Politik, eugenische und ideologische Mo- Jahrhunderts Liegt in dieser dynamischen Identität von Leben
tive, die Sorge um das Leben und der Kampf gegen den Feind und Politik, ohne die er unverstanden bleibt. Wenn der Nazis-
gänzlich ununterscheidbar werden, ihre volle Bedeutung an. mus uns immer noch als Rätsei erscheint und wenn seine Ver-
wandtschaft mit dem Stalinismus (worauf Hannah Arendt so
4.2. Ein paar Jahre zuvor hat Verschuer eine Broschüre veröf- bestanden hat) noch unerklärt bleibt, dann deshalb, weil wir es
fentlich, in der die nationalsozialistische Ideologie vielleicht ihre unterlassen haben, das Phänomen des Totalitarismus in seiner
rigoroseste biopolitische Formulierung findet. Gesamtheit im Horizont der Biopolitik zu situieren. Wenn Le-
ben und Politik, die ursprünglich voneinander getrennt und
»>Der neue Staat kann keine andere Aufgabe kennen als die sinnge- durch das Niemandsland des Ausnahmezustands miteinander
mäße Erfüllung der zur Forterhaltung des Volkes notwendigen Bedin- verbunden waren, dazu tendieren, identisch zu werden, dann
gungen.< Dieses Wort des Führers bringt zum Ausdruck, daß alle Po- wird alles Leben heilig und alle Politik Ausnahme:
litik des nationalsozialistischen Staates dem Leben des Volkes dient.
[, . ,] Wir wissen heute: Das Leben eines Volkes ist nur garantiert, wenn
rassische Eigenart und Erbgesundheit des Volkskörpers erhalten blei- 4.3. Nur in dieser Perspektive begreift man, warum die ersten
ben.« (Verschuer 2, S. 5) Gesetze, die das nationalsozialistische Regime erlassen hat,
gerade diejenigen sind, welche die Eugenik betreffen. Am
Die Verbindung, die diese Worte zwischen Politik und Leben 14. Juli 1933, wenige Wochen nach Hitlers Aufstieg zur Macht,
herstellen, beruht nicht (wie eine verbreitete, aber völlig unan- wird das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«

156 157
verabschiedet, das festlegt: »Wer erbkrank ist, kann durch chir- der bedingungslosen Annahme einer biopolitischen Aufgabe, in
urgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, der Leben und Politik identisch sind (»Politik, d. h. [. . .] die Ge-
wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit staltung des Lebens der Völker«); und nur wenn man sie in ihren
großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß seine Nachkom- »humanitären« Zusammenhang stellt, ist es möglich, ihre Un-
men an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden menschlichkeit zu ermessen.
werden.« Am 18. Oktober 193 5 folgt das »Gesetz zum Schutze Bis zu welchem Punkt das Nazireich gegenüber sämtlichen
der Erbgesundheit des deutschen Volkes«, das die eugenische Bürgern zu gehen bereit war, als sein biopolitisches Programm
Gesetzgebung auf die Ehe erweitert; es verfügt, daß eine »Ehe sein thanatopolitisches Gesicht zeigte, beweist ein von Hitler
nicht geschlossen werden [darf], / a) wenn einer der Verlobten vorgeschlagenes Projekt der letzten Kriegsjahre. Nach einer
an einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen Krankheit leidet, nationalen radiologischen Untersuchung sollte der Führer eine
die eine erhebliche Schädigung der Gesundheit des anderen Tei- Liste aller kranken Personen erhalten, insbesondere derjenigen
les oder der Nachkommen befürchten läßt, / b) wenn einer der mit Nieren- und Herzfunktionsstörungen. Auf der Grundlage
Verlobten entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft eines neuen Reichsgesundheitsgesetzes hätten die Familien die-
steht, / c) wenn einer der Verlobten, ohne entmündigt zu sein, an ser Personen nicht mehr am öffentlichen Leben teilnehmen
einer geistigen Störung leidet, die die Ehe für die Volksgemein- können und ihnen wäre die Fortpflanzung untersagt gewesen.
schaft unerwünscht erscheinen läßt, / d) wenn einer der Verlob- Was mit ihnen geschehen sollte, sollte Sache weiterer Entschei-
ten an einer Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes zur Verhütung dungen seitens des Führers sein (vgl. Arendt 3, S. 395 f.).
erbkranken Nachwuchses leidet.«
Die Bedeutung dieser Gesetze und die Geschwindigkeit, mit K Genau diese unmittelbare Einheit von Politik und Leben erlaubt
der sie erlassen wurden, versteht man nicht, wenn man sie auf es, Licht auf den Skandal der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu werfen:
den Bereich Eugenik einschränkt. Entscheidend ist, daß sie für die Beziehung zwischen Heidegger und dem Nazismus. Nur wenn man
die Nazis unmittelbar politischen Charakter hatten. Als solche sie in der Perspektive der modernen Biopolitik betrachtet (was sowohl die
Ankläger wie die Apologeten unterlassen haben), gewinnt diese Bezie-
sind sie nicht zu trennen von den Nürnberger Gesetzen, dem hung ihre eigentliche Bedeutung. Denn die große Neuerung des Heideg-
»Reichsbürgergesetz« und dem »Gesetz zum Schutze des deut- gerschen Denkens (was in Davos den aufmerksameren Beobachtern wie
schen Blutes und der deutschen Ehre«, mit denen das Regime Franz Rosenzweig und Emmanuel Lévinas nicht entging) war seine radi-
die Juden in Bürger zweiter Klasse verwandelte; verboten wurde kale Verwurzelung im Faktischen. Wie die Veröffentlichung der Vorle-
unter anderem die Eheschließung zwischen Juden und vollbe- sungen der frühen zwanziger Jahre nun gezeigt hat, stellt sich die Onto-
rechtigten Staatsangehörigen, und im übrigen wurde festgelegt, logie bei Heideggervon Anfang an als Hermeneutik des faktischen Lebens
daß auch Staatsangehörige deutschen Blutes sich der deutschen dar. Die Zirkelstruktur des Daseins,’ für das in seinen Seinsweisen sein
Ehre als würdig erweisen müssen (womit implizit über jedem Sein selbst auf dem Spiel steht, ist bloß eine Formalisierung der
die Möglichkeit der Entnationalisierung schwebte). Die Gesetze wesentlichen Erfahrung des faktischen Lebens, in der es unmöglich ist,
zwischen Leben und seiner wirklichen Situation, zwischen dem Sein und
zur Diskriminierung der Juden haben die Aufmerksamkeit der seinen Seinsweisen zu unterscheiden, und in der sämtliche Unterschei-
Forscher der Rassenpolitik des Dritten Reiches fast durchgän- dungen der traditionellen Anthropologie (wie die zwischen Geist und
gig monopolisiert; und doch ist ein volles Verständnis nur mög- Körper, Empfindung und Bewußtsein, Ich und Welt, Subjekt und Eigen-
lich, wenn man sie in den allgemeinen Zusammenhang der bio- schaft) schwinden. Die zentrale Kategorie der Faktizität ist für Heidegger
politischen Gesetzgebung und Praxis des Nationalsozialismus nicht (wie noch für Edmund Husserl) die Zufälligkeit,* aufgrund deren et-
zurückstellt. Diese lassen sich weder auf die Nürnberger Ge- was in einer bestimmten Weise und an einem bestimmten Ort ist, aber
setze noch auf die Deportation in die Konzentrationslager und
auch nicht auf die Endlösung beschränken: Diese entscheiden- I Im Original deutsch.

den Ereignisse unseres Jahrhunderts haben ihr Fundament in 2 Im Original deutsch,

158 159
auch anderswo und anders sein könnte, sondern die Verfallenheit,’ die ein heit, denen der Körper als rätselhaftes Vehikel dient, verlieren ihre Eigen-
Sein charakterisiert, das nichts anderes ist und zu sein hat als seine Seins- schaft als Probleme, die einem souveränen und freien Ich zur Lösung vor-
weisen selbst. Die Faktizität bedeutet nicht einfach nur, zufällig in einer liegen. Das Ich trägt dazu nur die Unbekannten dieser Probleme selbst
bestimmten Weise und in einer bestimmten Situation zu sein, sondern die bei. Es wird von ihnen konstituiert. [. , .] Das Wesen des Menschen liegt
entschiedene Annahme dieser Situation, in der das, was Hingabe war, in nicht mehr in seiner Freiheit, sondern in einer Art von Gebundenheit. [. . .]
Aufgabe verwandelt werden muß. Das Dasein, das Sein, das sein Da ist, An seinen Körper gekettet verweigert sich der Mensch der Macht, sich
kommt so in eine Zone der Ununterscheidbarkeit gegenüber allen tradi- selbst zu entkommen. Die Wahrheit ist für ihn nicht mehr die Anschauung
tionellen Bestimmungen des Menschen zu liegen und markiert dessen eines fremden Schauspiels - sie besteht in einem Drama, in dem der
endgültigen Untergang. Mensch selbst der Schauspieler ist. Der Mensch gibt sein Ja und sein Nein
In einem Text von 1934 (»Q uelques reflexions sur Ia philosophie de unter dem Gewicht seiner ganzen Existenz, die Tatsachen enthält, mit de-
l’Hitléisme«), der vielleicht noch heute den wertvollsten Beitrag zum nen kein Umgang mehr gefunden werden kann.« (Levinas 1, S. 205 -207)
Verständnis des Nationalsozialismus darstellt, hat Levinas als erster den Im ganzen Text, der doch in einem Augenblick geschrieben wurde, als
Akzent auf die Analogien zwischen dieser neuen ontologischen Bestim- der Beitritt seines Freiburger Lehrers zum Nazismus noch heiß war, wird
mung des Menschen und einigen Zügen der dem Hitlerismus impliziten der Name Heidegger nicht erwähnt. Hingegen läßt eine 1991, anläßlich
Philosophie gesetzt. Während sich das jüdisch-christliche und das liberale der Wiederveröffentlichung in den Cahiers de I’Herne, hinzugefügte An-
Denken durch die asketische Befreiung des Geistes aus den Fängen der merkung keinen Zweifel an der These, die ein aufmerksamer Leser gleich-
sinnlichen und historisch-sozialen Situation auszeichnen, in die er von wohl zwischen den Zeilen hätte lesen sollen, daß nämlich der Nazismus
Mal zu Mal gerät, und damit im Menschen und in seiner Welt ein vom Kör- als *elementares Übel« seine Bedingung der Möglichkeit in der abendlän-
per, der ihm irreduzibel fremd bleibt, getrenntes Reich der Vernunft un- dischen Philosophie selbst, insbesondere in der Heideggerschen Ontolo-
terscheiden, setzt nach Levinas die Philosophie des Hitlerismus (darin gie hat: »eine Möglichkeit, die sich in die Ontologie des ums Sein besorg-
dem Marxismus ähnlich) auf die bedingungs- und vorbehaltlose An- ten Seins einschreibt - des Seins, ›dem es in seinem Sein um dieses Sein
nahme der historischen, physischen und materiellen Situation, die als un- selbst geht<‘* (Levinas 2, S. I 59).
lösbare Einheit von Geist und Körper, Natur und Kultur betrachtet wird. Man kann es nicht klarer sagen, daß der Nazismus in derselben Erfah-
»Der Körper ist nicht bloß ein unglücklicher oder glücklicher Zwischen- rung der Faktizität wurzelt, von der aus das Denken Heideggers sich be-
fall, der uns mit der unerbittlichen Welt der Materie in Beziehung setzt - wegt und das er in seiner »Rektoratsrede* in die Formel gedrängt hat:
seine Adhärenz zum Ich erfolgt aus ihm selbst. Es ist eine Adhärenz, der »Das eigene Dasein wollen oder nicht wollen«. Nur durch diese ur-
man nicht entkommt, und keine Metapher wurde es schaffen, daß man sie sprüngliche Nähe wird verständlich, wie Heidegger in der Vorlesung Ein-
mit der Gegenwart eines äußeren Objekts verwechselt; nichts vermag die- führung in die Metaphysik von 193 5 diese enthüllenden Worte hat schrei-
ser Einheit den tragischen Geschmack der Endgültigkeit zu nehmen. Die- ben können: »Was heute vollends als Philosophie des Nationalsozialis-
ses Gefühl der Identität zwischen dem Ich und dem Körper [. . .] wird de- mus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser
nen, die von ihm ausgehen wollen, nie erlauben, auf dem Grund dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten
Einheit die Dualität eines freien Geistes wiederzufinden, der sich gegen Technik und des neuzeitlichen Menschen) nicht das Geringste zu tun hat,
den Körper auflehnt, an den er gekettet worden wäre. Für sie besteht im das macht seine Fischzüge in diesen trüben Gewässern der ›Werte< und der
Gegenteil das Wesen des Geistes gerade in dieser Ankettung. Ihn von den ›Ganzheiten<.« (Heidegger 3, S. I 52)
konkreten Formen zu trennen, an die er ehedem gebunden ist, bedeutet Der Irrtum des Nationalsozialismus, der seine ›innere Wahrheit< ver-
Verrat an der Ursprünglichkeit des Gefühls selbst, von dem richtigerweise raten hat, bestünde aus der Sicht Heideggers darin, die Erfahrung der
auszugehen ist. Die Wichtigkeit, welche diesem Gefühl des Körpers, mit Faktizität in einen biologischen »Wert « verwandelt zu haben (daher die
dem sich der abendländische Geist nie hat begnügen wollen, zugeschrie- Verachtung, mit der sich Heidegger mehrmals auf den Biologismus Ro-
ben wird, ist die Basis einer neuen Konzeption des Menschen. Das Biolo- senbergs bezieht). Während die eigenste Leistung von Heideggers philo-
gische samt allem, was es an Fatalität mit sich bringt, wird mehr als ein Ob- sophischem Genius darin bestand, die begrifflichen Kategorien erarbeitet
iekt des geistigen Lebens, es wird zu dessen Herz. Die mysteriösen zu haben, welche die Faktizität daran hinderten, sich als Faktum auszu-
Stimmen des Blutes, die Anrufungen der Vererbung und der Vergangen- geben, hat der Nazismus das faktische Leben in einer objektiven Rassen-

I Im Original deutsch. I Zitat im Zitat deutsch.

160 161
bestimmung eingekerkert und somit seine ursprüngliche Inspiration auf- 5. V P

5. I . Am I 5. Mai I 94 I schrieb Dr. Sigmund Rascher, der seit lan-


gem Forschungen über die Rettung in großen Höhen anstellte,
an Himmler, mit der Bitte, ob man ihm - in Anbetracht der Be-
deutung, die seinen Experimenten für das Leben der deutschen
Piloten zukomme, und des tödlichen Risikos, welche die Expe-
rimente für die VP (Versuchspersonen)’ mit sich brächten, und
da die Experimente nicht nutzbringend mit Tieren durchgeführt
werden könnten - nicht »zwei oder drei Berufsverbrecher« zur
Verfügung stellen könne, damit die Experimente fortgesetzt
werden könnten. Der Luftkrieg war mittlerweile in die Phase
der Flüge in großer Höhe getreten, und wenn die unter Druck
stehende Kabine in diesen Verhältnissen beschädigt wurde oder
der Pilot mit dem Fallschirm abspringen mußte, war das Todes-
risiko erhöht. Das Endergebnis des Briefwechsels zwischen Ra-
scher und Himmler (der vollständig erhalten ist) bestand in der
Installation einer Druckkammer in Dachau, damit die Experi-
mente an einem Ort fortgesetzt werden konnten, an dem die VP
besonders einfach zu beschaffen waren. Wir besitzen ein (mit 94
Fotografien ausgestattetes) Protokoll des Experiments, das mit
einem 37jährigen Juden als VP »in gutem Allgemeinzustand«
unter einem Druck, der einer Höhe von 12 ooo Metern ent-
spricht, angestellt worden ist: »Bei 4 Minuten*, so lesen wir,
*begann VP zu schwitzen und mit dem Kopf zu wackeln. Bei
5 Minuten traten Krämpfe auf, zwischen 6 und IO Minuten
wurde die Atmung schneller, VP bewußtlos, von I I Minuten bis
30 Minuten verlangsamte sich die Atmung bis 3 Atemzüge pro
Minute, um dann ganz aufzuhören. Zwischendurch trat stärkste
Cyanose auf, außerdem Schaum vor dem Mund.« Es folgt der
Bericht der Sektion zur Feststellung allfälliger organischer Ver-
letzungen.
Im Nürnberger Prozeß wurden die von den deutschen Ärz-
sacer, der das Gegenstück des Souveräns war, in eine Existenz, auf welche ten und Forschern in den Konzentrationslagern angestellten
die Macht keinerlei Zugriff mehr zu haben scheint. Experimente von aller Welt als eines der infamsten Kapitel in der
I Im Original deutsch.
Geschichte des nationalsozialistischen Regimes betrachtet. Ne-
2 *Da* und »Da-sein« im Original deutsch.
3 Im Original deutsch. 1 Im Original deutsch, mit nachfolgender Übersetzung.

163
ben denjenigen zur Rettung in großen Höhen wurden in chung sehr groß ist, diese Experimente einzig als sadistisch-
Dachau auch Experimente (auch diese sollten die Rettung von kriminelle Taten zu betrachten, die nichts mit wissenschaftlicher
ins Meer gefallenen Matrosen und Piloten ermöglichen) im Hin- Forschung zu tun haben. Das ist leider nicht möglich. Zunächst
blick auf die Überlebenschance in eisigem Wasser und die Trink- einmal waren einige (gewiß nicht alle) der Ärzte, welche die Ex-
barkeit von Meerwasser angestellt. Im ersten Fall hielt man die perimente angestellt hatten, in der Wissenschaft ziemlich be-
VP bis zur Bewußtlosigkeit in Wannen mit kaltem Wasser ge- kannte Forscher: Prof. Carl Clauberg zum Beispiel, der Verant-
taucht, während die Forscher sorgfältig die Schwankungen der wortliche des Sterilisationsprogramms, war unter anderem der
Körpertemperatur und die Möglichkeiten der Wiederbelebung Erfinder des nach ihm benannten »Tests« zur Wirkungsweise
untersuchten (besonders grotesk nimmt sich darunter die soge- von Progesteron, der bis vor wenigen Jahren in der Gynäkologie
nannte Wiederbelebung »durch tierische Wärme« aus, bei der noch in ständigem Gebrauch war. Die Professoren Oskar
die VP auf eine Liege zwischen zwei nackte Frauen gelegt wur- Schröder, Hermann Becker-Freyseng und Wilhelm Beiglböck,
den, auch sie jüdische Häftlinge aus den Lagern; es ist belegt, daß welche die Experimente zur Trinkbarmachung von Meerwasser
in einem Fall die VP zu sexuellem Verkehr fähig war, was den leiteten, genossen eine so gute wissenschaftliche Reputation,
Erholungsprozeß erleichterte). Die Experimente zur »Trink- daß 1948, nach dem Urteil, eine Gruppe von Wissenschaftlern
barmachung« des Meerwassers wurden dagegen an Häftlingen bei einem internationalen Kongreß eine Petition einreichte, da-
mit schwarzem Dreieck (das heißt Zigeuner - es ist richtig, ne- mit jene nicht verwechselt wurden mit anderen kriminellen
ben dem gelben Stern auch dieses Symbol des Genozids an Ärzten, die in Nürnberg verurteilt wurden. Und während des
einem wehrlosen Volk in Erinnerung zu rufen) vorgenommen. Prozesses bezeugte Franz Volhard, Professor für medizinische
Sie wurden in drei Gruppen aufgeteilt; die eine mußte sich ein- Chemie an der Universität Frankfurt und der Sympathie mit
fach des Trinkens enthalten, eine andere trank nur Meerwasser, dem Nazi-Regime unverdächtig, vor Gericht, daß vom wissen-
und die dritte Meerwasser mit »Berkazusatz«,l einer chemische schaftlichen Standpunkt aus gesehen die Vorbereitung dieser
Substanz, von der die Forscher eine Minderung der Schäden Experimente tadellos gewesen sei; eine sonderbare Aussage,
durch das Meerwasser erwarteten. wenn man bedenkt, daß im Verlauf des Experiments die VP
Ein anderer wichtiger Versuchssektor war die Einimpfung einen solchen Prostrationsgrad erreichten, daß sie zweimal ver-
von Fleckfieberbakterien und Viren der Hepatitis endemica, in suchten, Süßwasser aus einem Bodenlappen zu saugen.
der Absicht, Impfstoffe gegen diese beiden Krankheiten zu ent- Entschieden beschämender ist dann der Umstand (das geht
wickeln, die an der Front, wo die Lebensbedingungen am härte- unmißverständlich aus der wissenschaftlichen Literatur hervor,
sten waren, insbesondere die Gesundheit der Reichssoldaten be- die von der Verteidigung beigebracht und von den Sachverstän-
drohten. Massenhaft und für die Patienten äußerst schmerzhaft digen des Gerichts beglaubigt worden ist), daß in unserem Jahr-
waren die Versuche zur nichtchirurgischen Sterilisation mittels hundert Experimente mit Häftlingen und zum Tod Verurteilten
chemischer Substanzen oder Bestrahlung, die der eugenischen mehrfach und in großem Maßstab durchgeführt worden sind,
Politik des Regimes dienen sollten; eher gelegentlich stellte man besonders in den Vereinigten Staaten (in dem Land also, aus dem
Experimente zur Nierentransplantation, zu zellularen Entzün- der Großteil der Richter des Nürnberger Prozesses stammte).
dungen etc. an. So sind in den zwanziger Jahren 800 Häftlinge in den Gefäng-
nissen der Vereinigten Staaten mit dem Plasmodium der Malaria
5.2. Die Lektüre der Zeugnisse der überlebenden VP, der Zeu- infiziert worden, in der Absicht, ein Mittel gegen das Sumpffie-
genaussagen der Angeklagten und in einigen Fällen der Proto- ber zu finden. Für exemplarisch galten in der Fachliteratur über
kolle ist eine dermaßen entsetzliche Erfahrung, daß die Versu- Pellagra die Experimente, die Joseph Goldberger mit zwölf zum
Tod verurteilten US-amerikanischen Häftlingen angestellt hat,
I Im Original deutsch. denen man, sollten sie überleben, Straferlaß versprochen hatte.

164 165
Außerhalb der USA hat Richard Pearson Strong Forschungen Zustimmung« für einen in Dachau Internierten, dem man auch
über die Beri-Beri-Krankheit und über die Pestbakterien mit nur die Verbesserung seiner Lebensbedingungen vorgegaukelt
zum Tod Verurteilten in Manila durchgeführt (die Protokolle hätte, schlicht eines Sinns entbehrte und daß unter diesem Ge-
der Experimente erwähnen nicht, ob es sich um Freiwillige han- sichtspunkt die Unmenschlichkeit der Experimente in beiden
delte oder nicht). Im weiteren zitierte die Verteidigung den Fall Fällen substantiell gleich war.
des zum Tod verurteilten Keanu (Hawaii), der auf das Verspre- Es ist ebensowenig möglich, die Verschiedenheit der Zwecke
chen der Begnadigung hin mit Lepra infiziert worden ist und in in Anschlag zu bringen, um die unterschiedlichen und spezifi-
der Folge des Experiments verstorben ist. schen Verantwortlichkeiten in den fraglichen Fällen abzuwägen.
Angesichts der Deutlichkeit dieser Dokumente mußten die Als Zeugnis dafür, wie schmerzlich es war, einzugestehen, daß
Richter der Festlegung von Kriterien, aufgrund deren wissen- die Experimente der Lager nicht ohne Vorläufer in der medizi-
schaftliche Experimente mit menschlichen Versuchsobjekten nisch-wissenschaftlichen Praxis waren, kann man eine Über-
zugelassen werden konnten, endlose Diskussionen widmen. legung von Alexander Mitscherlich zitieren, dem Arzt, der zu-
Das äußerste Kriterium, in dem man allgemein übereinstimmte, sammen mit Fred Mielke 1948 den ersten Bericht des Nürn-
war die Notwendigkeit einer freiwilligen Zustimmung seitens berger Ärzteprozesses publiziert und kommentiert hat. Prof.
des Subjekts, das dem Experiment unterzogen werden sollte. Gerhard Rose, der wegen der Experimente zur Fleckfieberimp-
Tatsächlich war es in den USA die allgemeine Praxis (wie aus ei- fung angeklagt war (die zum Tod von 97 von 392 VP geführt hat-
nem im Staat Illinois verwendeten Formular hervorgeht, das den ten) verteidigte sich, indem er die analogen Experimente ins Feld
Richtern vorgelegt wurde), daß der Verurteile eine Erklärung führte, die Strong in Manila mit zum Tod Verurteilten angestellt
unterzeichnen mußte, in der es unter anderem hieß: hatte, und verglich die deutschen Soldaten, die an Fleckfieber
*Ich übernehme hiermit alle Gefahren dieser Experimente, und für
starben, mit den Pest- und Beri-Beri-Kranken, um deren Be-
meine Erben, meine persönlichen Vertreter und Bevollmächtigten ent- handlung es Strong mit seinen Forschungen zu tun war. Mit-
binde ich hiermit die Universität von Chicago [. . .] und alle Techniker scherlich, der sich auch durch die Nüchternheit seiner Kom-
und Assistenten, die an obengenannten Untersuchungen teilnehmen; mentare auszeichnet, wendet an diesem Punkt ein: »Wo Strong
ferner die Regierung der Vereinigten Staaten Amerikas des Staates Il- gegen Elend und Tod von der Art einer Naturkatastrophe zu
linois; [. . .] den Direktor des staatlichen Zuchthauses [. . .] und alle An- schützen suchte, operierten Forscher wie der Angeklagte Rose
gestellten [. . .] von aller Verantwortung. Ich verzichte folglich auf alle im Dickicht der unmenschlichen Methoden einer Diktatur für
Ansprüche und Prozesse oder Gewohnheitsrechte [equity] für alle die Aufrechterhaltung ihrer Sinn1osigkeit.« (Mitscherlich, S. I 2)
Verletzungen oder Krankheiten, tödliche oder sonstige, die durch
diese Experimente verursacht sein mögen.«
Als historisch-politisches Urteil ist diese Sichtweise richtig; es
ist hingegen klar, d a ß die ethisch-juridische Zulässigkeit der Ex-
Angesichts der offenkundigen Heuchelei solcher Dokumente perimente in keiner Weise von der Nationalität der Personen,
kann man nur perplex sein. Im Fall eines zum Tod Verurteilten für die der Impfstoff bestimmt war, noch von den Umständen,
oder eines Häftlings, der eine schwere Strafe verbüßt, von unter denen sie sich die Krankheit zugezogen hatten, abhängen
freiem Willen und Zustimmung zu sprechen, ist zumindest pro- konnte.
blematisch; und sicher ist, daß man, wären derartige von Häft- Die einzige ethisch korrekte Position wäre gewesen, die von
lingen unterzeichnete Erklärungen in den Lagern1 gefunden der Verteidigung beigebrachten Präzedenzfälle als rechtlich re-
worden, die Experimente deswegen nicht als ethisch annehmbar levant anzuerkennen und dagegenzuhalten, daß sie die Verant-
hätte betrachten müssen. Diese rechtschaffene Emphase des wortlichkeit der Angeklagten um nichts verringerten. Das hätte
freien Willens weigert sich zu sehen, daß der Begriff »freiwillige jedoch bedeutet, einen finsteren Schatten auf die gängigen Prak-
tiken der modernen medizinischen Forschung zu werfen (seit-
I Im Original deutsch. dem sind noch viel aufsehenerregendere Massenexperimente
166 167
mit ahnungslosen amerikanischen Bürgern nachgewiesen wor- 6. Politisierung des Todes
den, zum Beispiel zur Erforschung der Wirkungen nuklearer
Strahlung). Wenn es denn, theoretisch betrachtet, verständlich
ist, daß derartige Experimente bei den Forschern und Funktio-
nären im Innern eines totalitären Regimes, das sich erklärterma- 6.1. Im Jahr 1959 haben zwei französische Neurophysiologen,
ßen in einem biopolitischen Horizont bewegte, keine ethischen Pierre Mollaret und Maurice Goulon, eine kurze Studie veröf-
Probleme aufwarfen, wie war es dann möglich, daß in einem ge- fentlicht, in der sie zur bis dahin bekannten Phänomenologie des
wissen Maß ähnliche Experimente in einem demokratischen Kornas eine neue und extreme Figur hinzufügten, das sie als
Land angestellt werden konnten? coma dkpassk definierten (was man auch mit Ultrakoma überset-
Die einzige mögliche Antwort ist, daß in beiden Fällen die be- zen könnte). Neben dem klassischen Koma, das durch den Ver-
sondere Bedingung der VP entscheidend gewesen ist (zum Tod lust der relationalen Lebensfunktionen (Bewußtsein, Mobilität,
Verurteilte oder Häftlinge in einem Lager, in das einzutreten den Sensibilität, Reflexe) und durch den Fortbestand des vegetativen
endgültigen Ausschluß aus der politischen Gemeinschaft be- Lebens (Atmung, Kreislauf, Thermoregulation) charakterisiert
deutete). Genau darum, weil sie aller Rechte und aller Erwar- wird, unterschied die medizinische Literatur jener Zeit auch ein
tungen, die wir gewöhnlich mit der menschlichen Existenz ver- coma vigile (Wachkoma), in dem der Verlust der Relationsfunk-
binden, beraubt und dennoch biologisch noch am Leben sind, tionen nicht vollständig ist, und ein coma carus mit einer schwe-
halten sie sich in einer Grenzzone zwischen Leben und Tod, ren Störung der vegetativen Lebensfunktionen. »Diese drei tra-
zwischen Innen und Außen auf, wo sie nichts weiter mehr wa- ditionellen Grade des Kornas«, schreiben Mollaret und Goulon
ren als nacktes Leben. Mithin werden die zum Tod Verurteilten provokativ, »schlagen wir vor, um einen vierten zu ergänzen,
und die Lagerbewohner in gewisser Weise unbewußt den homi- denjenigen des coma depasse’ [. . .]: Koma, in dem zur totalen
nes sacri angenähert, einem Leben, das getötet werden kann, Aufhebung der relafonalen Lebensfunktionen L. .] eine ebenso
ohne daß ein Mord begangen wird. Der Zeitraum zwischen dem totale Aufhebung der vegetativen Lebensfunktionen kommt.«
Todesurteil und der Vollstreckung und das eingezäunte Gebiet (Mollaret und Goulon, S. 4)
des Lagers’ errichten eine extratemporale und extraterritoriale Die gewollt paradoxe Formulierung (ein Stadium des Leben
Schwelle, wo der menschliche Körper von seinem normalen po- jenseits des Aussetzens aller Lebensfunktionen) gibt zu verste-
litischen Status losgelöst ist und so in einem Ausnahmezustand hen, daß das Ultrakoma gänzlich die Frucht (die Autoren nen-
den extremsten Wechselfällen überlassen wird [e abbandonato]; nen es rancon, was »Lösegeld« oder den überzogenen Preis für
das Experiment kann ihn wie ein Sühneritual dem Leben zu- eine Sache bedeutet) der neuen Technologien der Reanimation
rückerstatten (Begnadigung oder Straferlaß sind, daran muß war (künstliche Beatmung, Kontrolle des Kreislaufs durch stän-
man erinnern, Manifestationen der souveränen Macht über Le- dige intravenöse Perfusion mit Noradrenalin, Techniken zur
ben und Tod) oder endgültig dem Tod übereignen, dem er be- Kontrolle der Körpertemperatur etc.). Denn das Überleben des
reits gehört. Hier interessiert uns im speziellen aber, daß im bio- Ultrakomatösen hörte mit der Unterbrechung der Reanimati-
politischen Horizont, der die Moderne kennzeichnet, der Arzt onsmaßnahmen automatisch auf: Auf das vollständige Ausblei-
und der Wissenschaftler sich in einem Niemandsland bewegen, ben von Reaktionen auf äußere Reize, welches das tiefe Koma
in das einst nur der Souverän vorstoßen konnte. definierte, folgten nun der unverzügliche kardiovaskuläre Kol-
laps und das Aufhören jeglicher Atembewegung. Wurde die
Reanimationsbehandlung trotzdem fortgesetzt, so konnte das
Überleben sich so lange hinziehen, als das nunmehr von jeder
Nervenzuleitung unabhängige Myocardium noch fähig war,
1 Im Original deutsch. sich mit einem Rhythmus und einer Energie zusammenzuzie-
169
hen, die auch für die Vaskularisation der anderen inneren Or- Harvard (Tbc Ad Hoc Committee of the Harvard Medical
gane ausreichten (in der Regel nicht länger als ein paar Tage). School) die neuen Kriterien des Todes fest und prägte jenen Be-
Aber handelte es sich tatsächlich um ein »überleben«? Was war griff des »Hirntodes« (brain death), der sich von da an in der in-
jene Zone des Lebens, die jenseits des Kornas lag? Wer oder was ternationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft zunehmend
war der Ultrakomatöse? »Vor diesen Unglücklichen«, so schrei- durchsetzte (wenn auch nicht ohne lebhafte Polemiken) und
ben die Autoren, »welche diese Zustände, die wir unter dem Be- Eingang fand in die Gesetzgebung vieler amerikanischer und
griff >coma depass& gefaßt haben, verkörpern, wenn ihr Herz europäischer Staaten. Die dunkle Zone jenseits des Kornas, die
Tag für Tag weiterschlägt, ohne daß sich das leiseste Erwachen Mollaret und Goulon unbestimmt zwischen dem Leben und
bemerkbar macht, bezwingt Hoffnungslosigkeit schließlich das dem Tod schwanken ließen, liefert nun genau das neue Todes-
Mitleid, und die Versuchung des befreienden Knopfdrucks wird kriterium (»Unser erstes Ziel ist es«, so beginnt der Harvard Re-
zum stechenden Schmerz.« (Ebd., S. 14) port, »das irreversible Koma als ein neues Kriterium des Todes
zu definieren«; S. 3 37). Hatten geeignete medizinische tests erst
6.2.Mollaret und Goulon waren sich sofort bewußt, daß die einmal den Tod des gesamten Gehirns (nicht nur des Neocortex,
Bedeutung des coma dkpasse weit über das technisch-wissen- sondern auch des brain stem) nachgewiesen, mußte der Patient
schaftliche Problem der Reanimation hinausgeht: Es stand nicht als tot betrachtet werden, auch wenn er dank der Reanimations-
weniger als die Neudefinition des Todes auf dem Spiel. Bis dahin techniken weiter atmete.
war die Diagnose des Todes dem Arzt anvertraut, der ihn
anhand von traditionellen Kriterien feststellte, die seit Jahrhun- 6.3. Es ist selbstverständlich nicht unsere Absicht, auf die
derten im wesentlichen die gleichen waren: Aufhören des Streitpunkte der wissenschaftlichen Debatte über den Hirntod
Herzschlags und Stillstand der Atmung. Das Ultrakoma verab- einzugehen, ob er ein notwendiges und hinreichendes Kriterium
schiedete gerade diese beiden uralten Kriterien zur Feststellung für die Todesfeststellung bildet oder nicht, oder ob das letzte
des Todes und machte, indem es zwischen dem Koma und dem Wort den traditionellen Kriterien überlassen werden soll. Man
Tod ein Niemandsland öffnete, die Bestimmung neuer Kriterien kann sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, daß die ganze
und Aufstellung neuer Definitionen notwendig, Wie die beiden Diskussion in unlösbare logische Widersprüche verwickelt ist
Neurophysiologen schreiben, dehnt sich das Problem aus »bis und daß der Begriff »Tod«, weit entfernt davon, exakter zu wer-
zur Diskussion der letzten Grenzen des Lebens und weiter noch den, in größter Unbestimmtheit von einem Pol zum anderen os-
bis zur Vorstellung eines Rechts auf Festlegung des Zeitpunktes zilliert und dabei einen geradezu mustergültigen Teufelskreis
des legalen Todes« (ebd. S. 4). beschreibt. Denn auf der einen Seite ersetzt der Hirntod als ein-
Die Frage wurde noch dringender und verwickelter durch die ziges rigoroses Kriterium den für ungenügend gehaltenen syste-
Tatsache, daß-aufgrund einer jener historischen Koinzidenzen, mischen oder somatischen Tod; auf der anderen Seite ist es wie-
von denen man nicht sagen kann, ob sie zufällig zustande kom- derum dieser letztere, der in mehr oder weniger bewußter Weise
men oder nicht - sich die Fortschritte der Reanimationstechni- aufgerufen ist, das entscheidende Kriterium abzugeben. So
ken, die das coma depassb zum Vorschein gebracht hatten, überrascht es, daß die Verfechter des Hirntodes gutgläubig
gleichzeitig mit der Entwicklung und Verfeinerung der Trans- schreiben können, daß der »Hirntod« »unvermeidlich in kurzer
plantationstechnologien vollzogen. Der Zustand der Ultrako- Zeit zum Tod führt« (Walton, S. 5 1) oder (wie im Bericht des fin-
matösen war die ideale Bedingung für die Organentnahme, doch nischen Gesundheitsamtes): »Diese Patienten«, an denen Hirn-
das bedeutete, daß der Zeitpunkt des Todes mit Sicherheit fest- tod diagnostiziert worden war und die mithin schon tot waren,
gelegt werden mußte, damit der Arzt, der die Transplantation »starben innerhalb eines Tages.« (Lamb, S. 56) David Lamb, ein
vornahm, nicht des Mordes angeklagt werden konnte. 1968 vorbehaltloser Fürsprecher des Hirntodes, der diese Wider-
legte der Bericht einer Sonderkommission der Universität von sprüche dennoch bemerkt hat, schreibt seinerseits, nachdem er
170 171
eine Reihe von Studien zitiert hat, die zeigen, daß der Herzstill- offensichtlich, daß Karen Quinlans Körper in Wirklichkeit in
stand wenige Tage auf die Diagnose des Hirntodes folgt: »In den eine Zone der Unbestimmtheit getreten war, in der die Wörter
meisten dieser Studien gab es kleinere Variationen bei den klini- »Leben« und »Tod« ihre Bedeutung verloren hatten und die,
schen Tests, trotzdem bewiesen sie alle die Unvermeidlichkeit wenigstens unter diesem Aspekt, dem Ausnahmezustand, in
des somatischen Todes als Folge des Hirntodes.« (Ebd., 5.63) dem das nackte Leben wohnt, nicht unähnlich ist.
Mit einer augenfälligen logischen Inkonsequenz taucht der
Herzstillstand - der eben noch als gültiges Kriterium zurückge- 6.4. Das bedeutet, daß heute (wie das die Bemerkung von Peter
wiesen worden ist -wieder auf, um die Richtigkeit des Kriteri- B. Medawar impliziert, daß »die Diskussionen über die Bedeu-
ums zu beweisen, das ihn hätte ersetzen sollen. tung der Wörter >Leben( und ›Tod< in der Biologie ein Indiz für
Dieses Schwanken des Todes in der Dunkelzone jenseits des ein Gespräch auf niederem Niveau« ist) Leben und Tod nicht
Kornas spiegelt sich auch in einer analogen Oszillation zwischen eigentlich wissenschaftliche Konzepte sind, sondern politische,
Medizin und Recht, zwischen medizinischer und legaler Ent- die als solche nur durch eine Entscheidung eine präzise Bedeu-
scheidung wider. Der Verteidiger von Andrew D. Lyons, der tung annehmen. Die »beklemmenden, aber unentwegt verscho-
1974 von einem kalifornischen Gericht angeklagt wurde, einen benen Grenzen«, von denen Mollaret und Goulon sprechen
Mann mit einem Pistolenschuf3 getötet zu haben, wandte ein, (Mollaret und Goulon, S. I 5), sind bewegliche Grenzen, weil es
daß der Grund des Todes nicht das abgefeuerte Projektil seines biopolitische Grenzen sind, und die Tatsache, daß heute ein um-
Klienten gewesen sei, sondern die Entfernung des Herzens im fassender Prozeß im Gange ist, in dem gerade die Redefinition
Zustand des Hirntodes durch den Chirurgen Norman Shum- dieser Grenzen auf dem Spiel steht, deutet darauf hin, daß die
way, der eine Transplantation vornahm. Dr. Shumway wurde Ausübung der souveränen Macht mehr denn je über diese Gren-
nicht angeklagt; doch man kann die Erklärung, mit der er das Ge- zen abläuft und erneut die medizinischen und biologischen Wis-
richt von seiner eigenen Unschuld überzeugte, nicht ohne Unbe- senschaften durchquert.
hagen lesen: »Ich sage, daß jemand, dessen Hirn tot ist, tot ist. In einem brillanten Artikel hat Willard Gaylin das Gespenst
Das ist das einzige Kriterium, das universell anwendbar wäre, von Körpern - er nennt sie neomorts’ - heraufbeschworen, die
weil das Gehirn das einzige Organ ist, das nicht transplantiert den gesetzlichen Status von Leichen haben, aber, im Hinblick
werden kann.* (Lamb, S. 75) Jeder vernünftigen Logik zufolge auf mögliche Verpflanzungen, ein paar Merkmale des Lebens
müßte das implizieren, daß, da der Herztod seit der Entdeckung bewahren könnten: »Sie wären warme, atmende, pulsierende,
der Reanimations- und Transplantationstechnologien kein gül- ausscheidende Körper« (S. 26). In einem Gegenlager ist der Kör-
tiges Kriterium mehr darstellt, hypothetisch gesehen auch der per, der im Reanimationsraum liegt, von einem Hirntod-Ver-
Hirntod von dem Tag an kein solches mehr wäre, an dem die er- fechter als faux viuant2 definiert worden, in den Eingriffe rück-
ste Hirnverpflanzung gelänge. Auf diese Weise wird der Tod zu haltlos erlaubt seien (Dagognet, S. 189).
einem Epiphänomen der Transplantationstechnologien. Der Reanimationsraum, in dem der neomort, der Ultrakoma-
Ein perfektes Beispiel für dieses Schwanken des Todes ist der töse und der faux vivant zwischen Leben und Tod schwanken,
Fall von Karen Quinlan, einem amerikanischen Mädchen, das in bildet einen Raum der Ausnahme, in dem das nackte Leben im
tiefes Koma gefallen war und während Jahren mittels künstli- Reinzustand erscheint, zum ersten Mal vollständig vom Men-
cher Beatmung und Ernährung am Leben gehalten wurde. Auf schen und seiner Technologie kontrolliert. Und weil es sich eben
Antrag der Eltern gewährte am Ende ein Gericht, die künstliche nicht um einen natürlichen Körper handelt, sondern um eine ex-
Beatmung abzuschalten, da das Mädchen als tot zu betrachten treme Inkarnation des homo sacer (man hat den Komatösen
sei. An diesem Punkt fing Karen, obwohl sie im Koma blieb,
wieder natürlich zu atmen an und »überlebte« mit künstlicher 1 Neutote.
Ernährung bis 1985, dem Jahr ihres natürlichen »Todes<<. Es ist 2 Falsche Lebende.

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auch als »Mittelwesen« zwischen Mensch und Tier bezeichnet), 7. Das Lager als nomos der Moderne
steht einmal mehr die Definition eines Lebens auf dem Spiel, das
getötet werden kann, ohne daß ein Mord begangen wird (und
das wie der homo sacer in dem Sinn »nicht opferbar« ist, daß es
ganz offensichtlich nicht durch Vollstreckung einer Todesstrafe 7. I. Was in den Lagern geschehen ist, übersteigt den rechtlichen
zu Tode gebracht werden könnte). Begriff des Verbrechens dermaßen, daß man es oft einfach un-
Es erstaunt daher nicht, daß sich unter den hitzigsten Partisa- terlassen hat, die spezifische juridisch-politische Struktur zu be-
nen des Hirntodes und der modernen Biopolitik solche finden, trachten, in der diese Ereignisse stattgefunden haben. Das Lager
die nach dem Eingreifen des Staates rufen, damit er über den Tod ist schlicht der Ort, an dem sich der höchste Grad der conditio
entscheidet und zuläßt, daß der faux vivant im Reanimations- inhumana verwirklicht hat, die es auf Erden je gegeben hat: Das
raum schrankenlos den Eingriffen preisgegeben werden kann. ist es letztlich, was für die Opfer und für die Nachfahren zählt.
»Man m u ß deshalb die Definition des Endes nach vorne ver- Wir werden hier entschlossen die umgekehrte Richtung ein-
schieben und sich nicht mehr, wie man es früher tat, passiv auf schlagen. Anstatt die Definition des Lagers aus den dort stattge-
die Totenstarre und noch weniger auf die Zeichen der Verwe- funden Ereignissen zu deduzieren, werden wir uns vielmehr
sung stützen, sondern sich allein an den Hirntod halten. [. . .] Fragen: Was ist ein Lager? Was ist das für eine juridisch-politi-
Daraus ergibt sich die Möglichkeit, Eingriffe am faux vivant sche Struktur, die solche Ereignisse möglich macht? Das wird
vorzunehmen. Nur der Staat darf und sollte das tun.« Denn: dazu führen, das Lager nicht als eine historische Tatsache und als
»Die Organe gehören der öffentlichen Gewalt (man nationali- eine Anomalie anzusehen, die (wenngleich unter Umständen
siert die Körper) (Les organismes appartiennent a la puissance immer noch anzutreffen) der Vergangenheit angehört, sondern
publique [on nationalise les corps])« (ebd., S. 189f.): Weder Ver- in gewisser Weise als verborgene Matrix, als nomos des politi-
schuer noch Reiter sind je so weit gegangen auf dem Weg der schen Raumes, in dem wir auch heute noch leben.
Politisierung des nackten Lebens; aber (ein klares Zeichen, daß Die Historiker diskutieren darüber, ob die erste Erscheinung
die Biopolitik eine neue Schwelle passiert hat) in den modernen der Lager in den campos de concentraciones zu suchen ist, welche
Demokratien ist es möglich, öffentlich zu sagen, was die nazisti- die Spanier I 896 in Kuba errichtet haben, um den Aufstand der
schen Biopolitiker nicht zu sagen wagten. kolonialen Bevölkerung niederzuschlagen, oder in den concen-
tration camps, in denen die Engländer zu Beginn des Jahrhun-
derts die Buren zusammengepfercht haben. Entscheidend ist da-
bei, daß es sich in beiden Fällen um die Ausweitung eines mit
einem Kolonialkrieg verbundenen Ausnahmezustandes auf eine
gesamte Zivilbevölkerung handelt. Die Lager gehen also nicht
aus dem gewöhnlichen Recht hervor (und noch weniger, wie
man hätte vermuten können, aus einer Verwandlung und Ent-
wicklung des Strafvollzugsrechts), sondern aus dem Ausnahme-
zustand und dem Kriegsrecht. Noch evidenter ist das für die na-
zistischen Lager, 1 deren Ursprung und Rechtssystem gut
dokumentiert ist. Es ist bekannt, daß die rechtliche Grundlage
der Internierung nicht das gemeine Recht ist, sondern die
»Schutzhaft«,* ein Rechtsinstitut preußischer Herkunft, das die
I Im Original deutsch.

2 Im Original, auch an späteren Stellen, deutsch.

175
Nazijuristen bisweilen als präventive Polizeimaßnahme klassifi- Staat« erließen, die auf unbestimmte Zeit die Artikel aufhob,
zierten, insofern es erlaubte, Individuen »in Schutz zu nehmen«, welche die persönliche Freiheit, die freie Meinungsäußerung,
unabhängig von jedem strafrechtlich relevanten Verhalten und das Versammlungsrecht, die Unverletzlichkeit der Wohnung
einzig mit dem Zweck, eine Gefährdung der Staatssicherheit zu und das Brief-, Post-, Telegraph- und Fernsprechgeheimnis be-
vermeiden. Am Ursprung der Schutzhaft steht indes das preußi- trafen, haben sie eigentlich nur eine bereits von den vorangehen-
sche Gesetz vom 4. Juni I 8 5 I über den Belagerungszustand, der den Regierungen gefestigte Praxis weiterverfolgt.
1871 auf ganz Deutschland ausgedehnt worden ist (mit Aus- Es gab gleichwohl eine wichtige Neuerung. Aus rechtlicher
nahme von Bayern) und, noch früher, das Gesetz »zum Schutz Sicht gründete der Text der Verordnung implizit auf Artikel 48
der persönlichen Freiheit« vom 12. Februar 1850; beide haben der noch geltenden Verfassung und kam ohne Zweifel einer
während des Ersten Weltkriegs und in den Unruhen, die in Ausrufung des Ausnahmezustandes gleich (»Die Artikel I 14,
Deutschland dem Abschluß des Friedensvertrags folgten, breite I I 5, I 17, I I 8, 123, I 24 und I 5 3 der Verfassung des Deutschen
Anwendung gefunden. Man tut gut daran, nicht zu vergessen, Reiches«, so lautete der erste Paragraph, »werden bis auf weite-
daß die ersten Konzentrationslager nicht das Werk des Nazire- res außer Kraft gesetzt«), er enthielt jedoch in keinem Punkt den
gimes waren, sondern der sozialdemokratischen Regierungen; Ausdruck »Ausnahmezustand«.’ De facto ist die Verordnung
und sie haben 1923, nach der Ausrufung des Ausnahmezustan- bis zum Ende des Dritten Reiches in Kraft geblieben, das in die-
des, nicht nur auf der Grundlage der Schutzhaft Tausende mili- sem Sinn treffend eine »zwölf Jahre wahrende [. . .] Bartholomä-
tanter Kommunisten interniert, sondern in Cottbus-Sielow usnacht« genannt werden kann (Drobisch und Wieland, S. 26).
auch ein »Konzentrationslager für Ausländer«’ geschaffen, das Der Ausnahmezustand ist damit nicht mehr auf eine äußere und
vor allem geflüchtete Ostjuden aufnahm und somit als erstes La- vorläufige Situation faktischer Gefahr bezogen und tendiert
ger für die Juden in unserem Jahrhundert betrachtet werden dazu, mit der Norm selbst verwechselt ZU werden. Die national-
kann (auch wenn es offensichtlich kein Vernichtungslager war). sozialistischen Juristen waren sich der Besonderheit einer sol-
Das rechtliche Fundament der Schutzhaft war die Ausrufung chen Situation so bewußt, daß sie sie mit einem paradoxen Aus-
des Belagerungs- oder des Ausnahmezustandes mit der entspre- druck als »einen gewollten Ausnahmezustand« definierten.
chenden Aufhebung derjenigen Artikel der deutschen Verfas- »Die Verordnung«, schreibt Werner Spohr, »schafft durch die
sung, welche die persönlichen Freiheiten garantierten. So lautete Außerkraftsetzung von Grundrechten einen gewollten Ausnah-
der Artikel 48 der Weimarer Verfassung denn auch: »Der mezustand zugunsten der Durchführung des nationalsozialisti-
Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffent- schen Staates.« (Ebd., S. 28)
liche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet
wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und 7.2. Dieser konstitutive Nexus zwischen Ausnahmezustand
Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit und Konzentrationslager kann für ein richtiges Verständnis der
Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zweck Natur des Lagers gar nicht überschätzt werden. Der »Schutz«
darf er vorübergehend die in den Artikeln I 14, I I 5, I 17, I I 8, der Freiheit, der bei der Schutzhaft in Frage steht, ist ironischer-
I 23, I 24 und I 5 3 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil weise Schutz gegen jene Aufhebung des Gesetzes, die den Not-
außer Kraft setzen.« Von 1919 bis I 924 haben die Weimarer Re- stand kennzeichnet. Die Neuerung besteht darin, daß nun dieses
gierungen mehrere Male den Ausnahmezustand ausgerufen, der Institut vom Ausnahmezustand, auf dem es gründete, losgelöst
sich bis zu fünf Monate hinauszog (zum Beispiel von September wird und in der normalen Situation Geltung erlangt. Das Lager
1923 bis Februar 1924). Als die Nazis die Macht ergriffen und ist der Raum, der sich öffnet, wenn der Ausnahmezustand zur
am 28. Februar 193 3 die »Verordnung zum Schutz von Volk und Regel zu werden beginnt. Im Lager erhält der Ausnahmezu-

I Im Original deutsch. I Im Original deutsch.

176 ‘77
stand, der vom Wesen her eine zeitliche Aufhebung der Rechts- 7.3. Man muß den paradoxen Status des Lagers von seiner Ei-
ordnung auf der Basis einer faktischen Gefahrensituation war, genschaft als Ausnahmeraum her denken: Es ist ein Stück Land,
eine dauerhafte räumliche Einrichtung, die als solche jedoch das außerhalb der normalen Rechtsordnung gesetzt wird, des-
ständig außerhalb der normalen Ordnung bleibt. Als Himmler wegen jedoch nicht einfach Augenraum ist. Was in ihm ausge-
im März 1933, gleichzeitig mit den Feierlichkeiten zu Hitler-s schlossen wird, ist nach der etymologischen Bedeutung von ex-
Wahl zum Kanzler, beschloß, in Dachau ein »Konzentrationsla- ceptio herausgenommen (ex-capere), eingeschlossen mittels
ger für politische Gefangene« zu errichten, ist es sofort der SS seiner eigenen Ausschließung. Was aber auf diese Weise vor al-
anvertraut und mittels der Schutzhaft außerhalb der Regeln des lem in die Ordnung hineingenommen wird, ist der Ausnahme-
Strafrechts und des Strafvollzugsrechts gesetzt worden, mit de- zustand selbst. Denn insofern der Ausnahmezustand »gewollt«
nen es weder damals noch in der Folge je etwas zu tun hatte. ist, begründet er ein neues juridisch-politisches Paradigma, in
Trotz der Verbreitung von oft widersprüchlichen Rundschrei- dem die Norm von der Ausnahme ununterscheidbar wird. Das
ben, Anweisungen und Telegrammen, durch die nach der Ver- Lager, heißt das, ist die Struktur, in welcher der Ausnahmezu-
ordnung vom 28. Februar sowohl die zentralen Autoritäten des stand - die Möglichkeit der Entscheidung, auf die sich die sou-
Reiches als auch der einzelnen »Länder«’ darauf hinwirkten, die veräne Macht gründet - normal realisiert wird. Der Souverän
Anwendung der Schutzhaft in der größtmöglichen Unbe- beschränkt sich nicht mehr darauf, über die Ausnahme aufgrund
stimmtheit zu belassen, wurde ihre absolute Unabhängigkeit der Erkennung einer faktischen Situation (der Gefahr der öf-
von jeder gerichtlichen Kontrolle und jedem Bezug zur nor- fentlichen Sicherheit) zu entscheiden, wie das noch im Sinn der
malen Rechtsordnung ständig bekräftigt. Gemäß den neuen Weimarer Verfassung war: Indem er die innerste Struktur des
Auffassungen der nationalsozialistischen Juristen (darunter an Banns bloßlegt, die seine Macht kennzeichnet, stellt er nunmehr
Vorderster Front Carl Schmitt), welche die primäre und unmit- die faktische Situation als Folge der Entscheidung über die Aus-
telbare Quelle des Rechts im Befehl des Führers2 erkannten, nahme erst her. Deshalb ist im Lager genaugenommen die quae-
bedurfte die Schutzhaft im übrigen gar keines rechtlichen Fun- stio iuris überhaupt nicht mehr zu unterscheiden von der quae-
daments in den vorhandenen Institutionen und geltenden Ge- stio facti, und demnach ist jede Frage nach der Legalität oder
setzen, sondern war eine »unmittelbare Auswirkung der natio- Illegalität dessen, was dort geschieht, schlicht sinnlos. Das Lager
nalsozialistischen Revolution« (ebd., S. 27). Deshalb, das heißt, ist ein Hybrid von Recht und Faktum, in dem die beiden Glieder
weil die Lager ihren Ort in einem solchen eigentümlichen Aus- ununterscheidbar geworden sind.
nahmeraum hatten, konnte der Chef der Gestapo, Rudolf Diels, Hannah Arendt hat einmal bemerkt, daß in den Lagern das
behaupten: »Für die Entstehung der Konzentrationslager gibt es Prinzip, das die totalitäre Herrschaft trägt und das der gesunde
keinen Befehl und keine Weisung; sie wurden nicht gegründet, Menschenverstand anzuerkennen sich hartnäckig weigert, voll
sie waren eines Tages da.« (Ebd., S. 30) ans Licht kommt, nämlich das Prinzip, daß »alles möglich ist«.
Dachau und die anderen Lager, deren Einrichtung unmittel- Nur weil die Lager im hier dargelegten Sinn einen Ausnahme-
bar folgte (Sachsenhausen, Buchenwald, Lichtenberg), sind vir- raum bilden, in dem nicht nur das Gesetz gänzlich aufgehoben
tuell immer in Betrieb geblieben; was variierte, war der Bestand ist, sondern überdies Recht und Faktum sich restlos vermischen,
ihrer Bevölkerung (die sich in gewissen Perioden, vor allem zwi- ist in ihnen wirklich alles möglich. Wenn man diese besondere
schen 1935 und 1937, bevor die Deportation der Juden einsetzte, juridisch-politische Struktur der Lager nicht versteht, deren Be-
bis auf 7500 Personen verringerte): Doch das Lager als solches stimmung es ist, die Ausnahme dauerhaft zu verwirklichen,
war in Deutschland eine dauerhafte Realität geworden. bleibt das Unglaubliche, das dort geschehen ist, völlig unbe-
greifbar. Wer das Lager betrat, bewegte sich in einer Zone der
I Im Original deutsch. Ununterscheidbarkeit zwischen Außen und Innen, Ausnahme
2 Im Original, auch an späteren Stellen, deutsch. und Regel, Zulässigem und Unzulässigem, in welcher die Be-

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griffe selbst von subjektivem Recht und rechtlichem Schutz kei- Volk den Begriff der R asse, ohne den »der nationalsozialistische
nen Sinn mehr hatten; wer zudem Jude war, hatte bereits seit den Staat nicht bestehen« könnte »und sein Rechtsleben nicht denk-
Nürnberger Gesetzen sein Bürgerrecht verloren und sah sich bar« wäre, mit den »Generalklauseln und unbestimmten Begrif-
später, zum Zeitpunkt der »Endlösung«, gänzlich entnationali- fen« vergleicht, welche die deutsche und europäische Gesetz-
siert. Insofern seine Bewohner jedes politischen Status entklei- gebung des 20. Jahrhunderts immer tiefer durchdrungen hätten.
det und vollständig auf das nackte Leben reduziert worden sind, Begriffe wie »Gute Sitten«, »wichtiger Grund«, »unbillige
ist das Lager auch der absoluteste biopolitische Raum, der je in Härte«, »öffentliche Sicherheit und Ordnung«, »Gefährdung«
die Realität umgesetzt worden ist, in dem die Macht nur das »Notlage«, die nicht an eine Norm, sondern an eine Situation
reine Leben ohne jegliche Vermittlung vor sich hat. Darum ist gebunden sind und invasionsartig in die Norm eindringen, hät-
das Lager das Paradigma des politischen Raumes, und zwar ge- ten, so Schmitt, die Illusion eines Gesetzes, das a priori alle Fälle
nau in dem Punkt, wo die Politik zur Biopolitik wird und der und Situationen regle und vom Richter nur noch angewandt zu
homo sacer sich virtuell mit dem Bürger vermischt. Vor den in werden brauche, überflüssig gemacht. Unter der Wirkung dieser
den Lagern begangenen Greueltaten ist die Frage, wie es mög- Klauseln, welche die Sicherheit und Berechenbarkeit aus der
lich gewesen ist, solch entsetzliche Verbrechen an menschlichen Norm hinaustreiben, werden alle rechtlichen Begriffe unbe-
Wesen zu begehen, heuchlerisch; ehrlicher und vor allem nütz- stimmt. »So betrachtet«, schreibt Schmitt, »gibt es heute über-
licher wäre es, gewissenhaft zu untersuchen, durch welche juri- haupt nur noch unbestimmte< Rechtsbegriffe. [. . .] So steht die
dische Prozeduren und welche politischen Dispositive mensch- gesamte Gesetzesanwendung zwischen Scylla und Charybdis.
liche Wesen so vollständig ihrer Rechte und Eigenschaften Der Weg vorwärts scheint ins Uferlose zu führen und sich im-
haben beraubt werden können, bis es keine Handlung mehr gab, mer weiter vom festen Boden der Rechtssicherheit und der Ge-
die an ihnen zu vollziehen noch als Verbrechen erschienen wäre setzesgebundenheit, der doch gleichzeitig auch der Boden der
(an diesem Punkt war in der Tat alles möglich). richterlichen Unabhängigkeit ist, zu entfernen; der Weg zurück
in einen als sinnlos erkannten, geschichtlich längst überwunde-
7.4. Das nackte Leben, in das sie verwandelt worden sind, ist in- nen, formalistischen Gesetzesaberglauben kommt ebensowenig
des kein natürliches extrapolitisches Faktum, welches das Recht in Betracht.« (Schmitt 7, S. 42 -44)
nur feststellen oder anerkennen muß; es ist vielmehr im darge- Ein Begriff wie jener der nationalsozialistischen Rasse (oder,
legten Sinn eine Schwelle, auf der das Recht jedesmal ins Fakti- mit der Schmittschen Wendung, der »Artgleichheit«) funktio-
sche und das Faktum ins Rechtliche übergeht und wo die Ebe- niert wie eine Generalklausel (analog zu »Gefährdung« oder
nen dazu tendieren, ununterscheidbar zu werden. Man kann das »Gute Sitten«), der jedoch nicht auf eine äußere faktische Situa-
Spezifische des nationalsozialistischen Rassenbegriffs - samt tion verweist, sondern einen unvermittelten Zusammenfall von
der eigentümlichen Vagheit und Inkonsistenz, die ihn zugleich Faktum und Recht herbeifuhrt. Der Richter, der Funktionär
kennzeichnen -nicht verstehen, wenn man vergißt, daß der bio- oder wer immer mit diesem Begriff zu tun hat, orientiert sich
politische Körper, der das neue fundamentale politische Subjekt nicht mehr an einer Norm oder einer faktischen Situation; durch
konstituiert, weder eine quaestio facti (zum Beispiel die Identi- seine ausschließliche Bindung an die Rassengemeinschaft mit
fizierung eines bestimmten biologischen Körpers) noch eine dem deutschen Volk und dem Führer bewegt er sich in einer
quaestio iuris ist (die Identifizierung einer bestimmten Anwen- Zone, in der die Unterscheidung zwischen Leben und Politik,
dungsnorm), sondern die Setzung einer souveränen politischen zwischen Tatsächlichem und Rechtlichem buchstäblich keinen
Entscheidung, die in der absoluten Ununterschiedenheit wirkt. Sinn mehr ergibt.
Niemand hat diese besondere Natur der neuen fundamenta-
len Kategorien der Biopolitik mit größerer Klarheit ausgedruckt 7.5. Nur in dieser Perspektive zeigt die nationalsozialistische
als Schmitt, wenn er 1933 in seinem Essay Staat, Bewegung, Theorie, die das Wort des Führers als unmittelbare und in sich
180 181
vollkommene Quelle des Gesetzes nimmt, seine volle Bedeu- schen Faktum und Recht, zwischen Norm und Anwendung,
tung. Genauso wie das Wort des Führers keine faktische Situa- zwischen Ausnahme und Regel zu entscheiden, und es ist der
tion ist, die sich daraufhin in eine Norm verwandelt, so ist der Ort, wo dennoch unablässig darüber entschieden wird. Was der
Körper (in der zweifachen Ausführung des jüdischen Körpers Aufseher oder der Funktionär vor sich hat, ist kein außerrecht-
und des deutschen Körpers, des lebensunwerten und des voll- liches Faktum (ein Individuum, das biologisch der jüdischen
wertigen Lebens) keine neutrale biologische Voraussetzung, auf Rasse zugehört), auf die es das discrimen der nationalsozialisti-
welche die Norm verweist, sondern gleichzeitig Norm und Kri- schen Norm anzuwenden gilt; im Gegenteil, jede Geste, jeder
terium ihrer Anwendung: Norm, die über das Faktum entschei- Vorfall im Lager, vom gewöhnlichsten bis zum außerordentlich-
det, das über ihre Anwendung entscheidet. sten, setzt die Entscheidung über das nackte Leben ins Werk, die
Die radikale Neuheit, die diese Konzeption impliziert, ist von den deutschen biopolitischen Körper verwirklicht. Die Abson-
den Rechthistorikern nicht genügend beachtet worden. Nicht derung des jüdischen Körpers ist unmittelbar Produktion des
nur ist das dem Führer entströmende Gesetz weder als Regel eigentlichen deutschen Körpers, so wie die Anwendung der
noch als Ausnahme, weder als Recht noch als Faktum definier- Norm seine Produktion ist.
bar; mehr noch: in ihm (wie das Benjamin begriffen hat, wenn er
die Schmittsche Theorie der Souveränität auf den barocken 7.6. Wenn dies stimmt, wenn das Wesen des Lagers in der Ma-
Monarchen projiziert, bei dem die »Geste der Vollstreckung« terialisierung des Ausnahmezustandes besteht und in der daraus
konstitutiv wird und der in der Unmöglichkeit, eine Entschei- erfolgenden Schaffung eines Raumes, in dem das nackte Leben
dung zu treffen, eine Entscheidung treffen muß; Benjamin 4, und die Norm in einen Schwellenraum der Ununterschieden-
S. 249) sind Normgebung und Vollstreckung, Herstellung des heit treten, dann müssen wir annehmen, daß jedesmal, wenn
Rechts und seine Anwendung in keiner Weise mehr unter- eine solche Struktur geschaffen wird, wir uns virtuell in der Ge-
scheidbar. Der Führer ist, nach der pythagoreischen Definition genwart eines Lagers befinden, unabhängig von der Art der Ver-
des Souveräns, tatsächlich ein nhzos hnpsychon, ein lebendes brechen, die da verübt werden, und wie immer es auch genannt
Gesetz (Svenbro, S. 149). (Aus diesem Grund verliert hier die und topographisch gestaltet sei. Ein Lager ist dann sowohl das
Gewaltentrennung, die den demokratischen und liberalen Staat Stadion von Bari, in dem 1991 die italienische Polizei vorüber-
kennzeichnet, ihren Sinn, obwohl sie formal in Kraft bleibt; und gehend die illegalen Einwanderer aus Albanien zusammentrieb,
daher rührt auch die Schwierigkeit, jene Funktionäre, die wie bevor sie sie zurückgeschafft hat, als auch das Velodrome d’Hi-
Adolf Eichmann nichts anderes getan haben, als das Wort des ver, in dem die Vichy-Behörden die Juden vor der Übergabe an
Führers wie ein Gesetz auszuführen, nach normalen rechtlichen die Deutschen gesammelt haben, sowohl das »Konzentrations-
Kriterien abzuurteilen.) lager für Ausländer«r in Cottbus-Sielow, in das die Weimarer
Dies ist die letzte Bedeutung der Schmittschen These, wonach Regierung die ostjüdischen Flüchtlinge gesteckt hat, als auch die
das Prinzip der »Führung« »ein Begriff unmittelbarer Gegen- zones d’attentez in den internationalen Flughäfen Frankreichs,
wart und realer Präsenz« ist (Schmitt 7, S. 42); deswegen kann er wo die Ausländer, welche die Anerkennung des Flüchtlingssta-
ohne Widerspruch behaupten: »Es ist eine grundlegende Er- tus verlangen, zurückgehalten werden. In all diesen Fällen
kenntnis der politisch gegenwärtigen deutschen Generation, grenzt ein scheinbar harmloser Ort (zum Beispiel das Hotel
daß gerade die Entscheidung darüber ob eine Angelegenheit Arcades in Roissy) in Wirklichkeit einen Raum ab, in dem die
oder ein Sachgebiet unpolitisch ist, in spezischer Weise eine normale Ordnung de facto aufgehoben ist, in dem es nicht vom
politische Entscheidung darstellt.« (Ebd., S. 17) Die Politik ist Recht abhängt, ob mehr oder weniger Grausamkeiten begangen
nun buchstäblich die Entscheidung über das Unpolitische (das
heißt das nackte Leben). I Im Original deutsch.
Das Lager ist der Ort dieser absoluten Unmöglichkeit, zwi- 2 Wartezonen.

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werden, sondern von der Zivilität und dem ethischen Sinn der nicht mehr in die Ordnung eingeschrieben werden kann. Die
Polizei, die da vorübergehend als Souverän agiert (beispiels- zunehmende Entkoppelung von Geburt (nacktem Leben) und
weise in den vier Tagen, während deren die Ausländer bis zur ge- Nationalstaat ist das neue Faktum der Politik unserer Zeit, und
richtlichen Einschaltung in der zone d’attente aufgehalten wer- das, was wir Lager nennen, ist dieser Abstand. Einer Ordnung
den können). ohne Ortung (der Ausnahmezustand, in dem das Gesetz aufge-
hoben ist) entspricht nun eine Ortung ohne Ordnung (das Lager
7.7. Die Geburt des Lagers in unserer Zeit erscheint aus dieser als dauerhafter Ausnahmeraum). Das politische System ordnet
Sicht wie ein Ereignis, das den politischen Raum der Moderne nicht mehr Lebensformen und Rechtsnormen in einem be-
als solchen in entscheidender Weise prägt. Es taucht zu einem stimmten Raum, sondern birgt in seinem Innern eine das System
Zeitpunkt auf, da das politische System des modernen National- überschreitende entartende Verortung [localizzazione dislo-
staates, das auf dem funktionalen Nexus zwischen einer cante], von der jede Lebensform und jede Rechtsnorm virtuell
bestimmten Lokalisierung (dem Territorium) und einer be- erfaßt werden kann. Das Lager als entortende Verortung ist die
stimmten Rechtsordnung (dem Staat) gründete und von auto- verborgene Matrix der Politik, in der wir auch heute noch leben
matischen Regeln der Einschreibung des Lebens (der Nativität und die wir durch alle Metamorphosen hindurch zu erkennen
oder Nationalität) gesteuert wurde, in eine fortdauernde Krise lernen müssen, in den zones d’attente unserer Flughäfen wie in
gerät und der Staat beschließt, die Sorge um das biologische Le- manchen Peripherien unserer Städte. Es ist das vierte unablös-
ben zu einer seiner direkten Aufgaben zu machen. Wenn der bare Element, das zur alten Trinität von Staat, Nation (Geburt)
Nationalstaat mithin durch die drei Elemente Land, Ordnung, und Territorium hinzugekommen ist und sie aufgesprengt hat.
Geburt definiert wird, dann vollzieht sich der Bruch des alten In dieser Perspektive müssen wir das Wiederauftauchen der
nomos nicht in den beiden Achsen, die ihn Schmitt zufolge kon- Lager in einer in gewissem Sinn noch extremeren Form in den
stituieren (die »Ortung~1 und die »Ordnung«2), sondern an der Territorien von Ex-Jugoslawien sehen. Was dort geschieht, ist
Stelle, welche die Einschreibung des nackten Lebens in deren mitnichten, wie interessierte Beobachter zu erklären sich beeilt
Inneres bezeichnet (dem Nativen, das dadurch zum Nationalen haben, eine Redefinition des alten politischen Systems nach
wird). Etwas funktioniert nicht mehr an den traditionellen Me- neuen ethnischen und territorialen Arrangements, das heißt
chanismen, die diese Einschreibung regelten, und das Lager ist eine einfache Wiederholung der Prozesse, die zur Bildung der
der neue verborgene Regulator der Einschreibung des Lebens in europäischen Nationalstaaten geführt haben. Vielmehr handelt
die Ordnung - oder vielmehr das Zeichen der Unmöglichkeit, es sich um einen unheilbaren Bruch mit dem alten nomos und .
daß das System funktioniert, ohne sich in eine tödliche Ma- eine Verschiebung [dislocazione] der Bevölkerungen und der
schine zu verwandeln. Es ist bezeichnend, daß die Lager zusam- menschlichen Leben entlang völlig neuer Fluchtlinien. Daher
men mit den neuen Gesetzen über die Bürgerschaft und die Ent- die entscheidende Bedeutung der Lager der ethnischen Verge-
nationalisierung auftreten (nicht nur die Nürnberger Gesetze waltigung. Wenn die Nazis nie daran gedacht haben, die »End-
über die Reichsbürgerschaft, sondern auch die Gesetze zur Ent- lösung« durch Schwängerung der jüdischen Frauen in die Tat
nationalisierung der Bürger, die zwischen 1915 und 1933 von umzusetzen, dann deshalb, weil das Prinzip der Geburt, das
fast allen europäischen Staaten erlassen wurden). Der Ausnah- die Einschreibung des Lebens in die nationalstaatliche Ord-
mezustand, der im wesentlichen eine zeitliche Aufhebung der nung sicherte, noch irgendwie funktionierte. Nun tritt dieses
Rechtsordnung war, wird nun eine stabile räumliche Einrich- Prinzip in einen Prozeß der Verschiebung und der Abdrift,
tung, in der jenes nackte Leben wohnt, das in Wachsendern Maß in dem der Mechanismus in aller Deutlichkeit scheitert und in
dessen Fortgang wir nicht nur mit neuen Lagern rechnen müs-
I Im Original deutsch hinter »localizzazione« beigefügt. sen, sondern auch mit immer neuen und zunehmend delirante-
2 Im Original deutsch hinter »ordinamento« beigefügt. ren normativen Definitionen der Einschreibung des Lebens in

184 185
den Staat [Citta]. Das Lager, das sich mittlerweile fest in seinem Eine dermaßen verbreitete und beständige semantische Ambiguität
Inneren eingelassen hat, ist der neue biopolitische nomos des kann nicht zufällig sein: Sie muß eine der Natur und der Funktion des Be-
Planeten. griffs *Volk«, wie er in der abendländischen Politik vorkommt, inhärente
Amphibolie widerspiegeln. Wie wenn das, was wir Volk nennen, in Wirk-
EC Jede Interpretation der politischen Bedeutung des Wortes lichkeit kein einheitliches Subjekt wäre, sondern eine dialektische Oszil-
»Volk« muß von der bemerkenswerten Tatsache ausgehen, daß es in den lation zwischen zwei entgegengesetzten Polen: auf der einen Seite die
modernen europäischen Sprachen immer auch die Armen, Enterbten und Menge »Volk« als integraler politischer Körper, auf der anderen Seite die
Ausgeschlossenen bezeichnet. Dasselbe Wort benennt mithin sowohl das Untermenge »volk« l als fragmentarische Vielfältigkeit von bedürftigen
konstitutive politische Subjekt als auch die Klasse, die, wenn nicht recht- und ausgeschlossenen Körpern; hier eine Einschließung, die keinen Rest
lich, so doch faktisch, von der Politik ausgeschlossen ist. duldet, dort eine Ausschließung, die keine Hoffnung kennt; am einen
Das italienische popolo, das französische peuple, das spanische pueblo Ende der Gesamtstaat [stato totale] der souveränen und integrierten Bür-
2
(sowie die entsprechenden Adjektive »popolare«, »populaire«, »popu- ger, am anderen Ende die Bannmeile - Cour des Miracles’ oder Lager -
lar« und die spätlateinischen populus und popularis, von denen alle ab- der Miserablen, der Unterdruckten und Besiegten. Ein einziger und kom-
stammen) bezeichnen in der Gemeinsprache wie im politischen Wort- pakter Referent des Wortes »Volk« existiert in diesem Sinn nirgendwo:
schatz zugleich die Gesamtheit der Bürger als politischer Einheitskörper Wie viele fundamentale politische Begriffe (darin sind sie den »Urwor-
(wie bei »popolo italiano« und »giudice popolare«1) und die Angehörigen ten«4 von Abel und Freud oder den hierarchischen Beziehungen von
der unteren Klassen (wie bei homme dupeuple, »rione popolarea,2 front Louis Dumont ähnlich) ist »Volk« ein polarer Begriff, der auf eine dop-
populaire3). Auch das englischepeople, dessen Sinn weniger differenziert pelte Bewegung und eine komplexe Beziehung zwischen den beiden Ex-
ist, bewahrt noch die Bedeutung von ordinary people im Gegensatz zu tremen hindeutet. Das heißt aber auch, daß die Konstituierung der
den Reichen und Vornehmen. So heißt es in der amerikanischen Verfas- menschlichen Gattung in einem politischen Körper sich mittels einer fun-
sung ohne weitere Unterscheidung: »We people of the United States . . .u; damentalen Spaltung vollzieht und daß wir im Begriff »Volk« ohne
doch wenn Abraham Lincoln in seiner Gettisburgh-Rede ein »Govern- Schwierigkeiten die kategorialen Paare ausmachen können, die für uns
ment of the people by the people for the peopleu anruft, so setzt die Wie- die originäre politische Struktur definiert haben: nacktes Leben (volk)
derholung implizit ein Volk vom anderen Volk ab. Wie wesentlich diese und politische Existenz (Volk), Ausschließung und Einschließung, zöe’
Doppeldeutigkeit auch während der Französischen Revolution war (das und bios. Das *Volk« trägt also den fundamentalen biopolitischen Bruch
heißt genau in dem Moment, da das Prinzip der Volkssouveränität einge- immer schon in sich. Es ist das, was nicht ins Ganze, dessen Teil es ist, ein-
fordert wird), bezeugt die entscheidende Rolle, die das Mitleid für das als geschlossen werden kann und nicht zur Menge gehören kann, in die sie
ausgeschlossene Klasse verstandene Volk dabei spielte. Hannah Arendt immer schon eingeschlossen ist. Daher rühren die Widerspruche und
erinnert daran, »daß die Definition des Wortes selbst aus dem Mitleiden Aporien, zu denen es jedesmal Anlaß gibt, wenn es auf der politischen
geboren war und zum Äquivalent für Mißgeschick und Unglück wur- Bühne heraufbeschworen wird. Es ist das, was immer schon ist und sich
de - le peuple, les malheureux m’applaudissent, wie Robespierre zu sagen dennoch verwirklichen muß; es ist die reine Quelle jeder Identität, die
pflegte, oder: le peuple toujours malheureux, wie selbst Sieyes, einer der sich jedoch fortlaufend mittels der Ausschließung, der Sprache, des Blu-
weniger sentimentalen und nüchternsten Figuren der Revolution, es aus- tes, des Bodens redefinieren und reinigen muß. Oder dann, am Gegenpol,
drückte« (Arendt 1, S. 70). In einem entgegengesetzten Sinn ist schon bei ist das Volk das, was wesentlich an sich selbst mangelt und dessen Ver-
Bodin, im Kapitel über die als Demokratie oder Etatpopulaive definier- wirklichung deshalb mit der eigenen Abschaffung zusammenfällt; es ist
ten République, der Begriff ein doppelter: Dem peuple en covps4 als Träger das, was, um zu sein, sich mit seinem Gegenstück negieren muß (daher
der Souveränität steht das menu peuple5 gegenüber, das die Weisheit von auch die spezifischen Aporien der Arbeiterbewegung, die sich dem Volk
der politischen Macht auszuschließen empfiehlt. zuwendet und zugleich seine Abschaffung anstrebt). Von Mal zu Mal
blutiges Banner der Reaktion oder unsichere Insignie der Revolutionen

I Schöffe, Geschworener; wörtlich »Volksrichter«. I Zuvor mit Majuskel (*Popolo*), dann mit Minuskel (*popolo«); dasselbe
2 Stadtviertel des niederen Volkes. gilt im folgenden für die Unterscheidung von *Volk« und *volk«.
3 Volksfront. 2 Bandita; frz. banlieu.
4 Volk als Ganzes; wörtlich »inkorporiertes Volk«. 3 Stadtviertel der Bettler und Diebe, vor allem in Paris.
5 Die kleinen Leute. 4 Im Original deutsch beigefügt.

186 187
T
oder Volksfronten, birgt das Volk auf jeden Fall eine ursprünglichere Repräsentanten schlechthin und beinah das lebendige Symbol des »vol-
Spaltung als jene zwischen Freund und Feind, einen unaufhörlichen Bür- kes«, jenes nackten Lebens, das die Moderne zwangsläufig in einem In-
gerkrieg, der es radikaler teilt als jeder Konflikt, zugleich aber zusam- nern erzeugt, aber dessen Präsenz sie auf keine Weise mehr ertragen kann.
menhält und fester begründet als jede Identität. Wenn man genau hin- Und in der blanken Raserei, mit der das deutsche Volk’ als Repräsentant
sieht, dann ist sogar das, was Marx Klassenkampf nennt und, obwohl es schlechthin des integralen politischen Körpers die Juden für immer zu
substantiell unbestimmt bleibt, einen derart zentralen Platz in seinem vernichten versuchte, müssen wir die extremste Phase jenes inneren
Denken einnimmt, nichts anderes als dieser Krieg im Innern des Körpers, Kampfes sehen, der »Volk« und »volk« teilt. Mit der Endlösung (die nicht
der jedes Volk teilt und erst enden wird, wenn in der klassenlosen Gesell- zufällig auch die Zigeuner und andere Nichtintegrierbare mit einbezieht)
schaft oder im messianischen Königreich »Volk« und »volk« zusammen- versucht der Nazismus auf finstere und nutzlose Weise, die politische
fallen und es im eigentlichen Sinn kein Volk mehr gibt. Bühne des Abendlandes von diesem unerträglichen Schatten zu befreien,
Wenn es richtig ist, daß das Volk in seinem Innern notwendig den fun- um endlich das deutsche Volk2 herzustellen, als das Volk, das den ur-
damentalen biopolitischen Bruch birgt, dann kann man auch einige ent- sprünglichen biopolitischen Bruch ausgefüllt hat (deswegen wiederholen
scheidenden Seiten der Geschichte unseres Jahrhunderts neu lesen. Denn die Nazioberen so hartnäckig, daß sie mit der Ausrottung der Juden und
auch wenn der Kampf zwischen zwei »Völkern« gewiß schon immer im der Zigeuner in Wahrheit auch für die anderen europäischen Völker ar-
Gange war, so hat er in unserer Zeit doch eine letzte, einem Paroxysmus beiten).
gleichende Beschleunigung erfahren. In Rom war die innere Spaltung des Mit einer Paraphrase von Freuds Postulat zur Beziehung zwischen Es
Volkes durch die klare Trennung in populus Undplebs, die je eigene Insti- und Ich,3 könnte man sagen, daß die moderne Biopolitik vom Prinzip ge-
4
tutionen und Magistraten hatten, rechtlich sanktioniert, so wie im Mittel- leitet wird: »Wo nacktes Leben ist, soll ein Volk werden«; vorausgesetzt
alter die Unterscheidung zwischen popolo minuto und popolo grasso’ man fügt sogleich hinzu, daß dieses Prinzip auch in der umgekehrten
einer genauen Gliederung verschiedener Handwerke und Berufe ent- Formulierung gilt: »Wo ein Volks ist, wird nacktes Leben sein«. Der
sprach. Aber als von der Französischen Revolution an das »Volk« zum al- Bruch, den man durch die Vernichtung des »volkes« (dessen Symbol die
leinigen Bewahrer der Souveränität wird, verwandelt sich das »volk« in Juden sind) ausgefüllt zu haben glaubt, reproduziert sich so aufs neue und
eine beschämende und elende Präsenz, und Ausschließung erscheint zum verwandelt das gesamte deutsche Volk in heiliges, dem Tod geweihtes Le-
ersten Mal als ein in jedem Sinn untragbarer Skandal. In der Moderne sind ben und in einen biologischen Körper, der endlos gereinigt werden muß
Elend und Ausschließung nicht nur ökonomische und soziale Begriffe, (durch die Vernichtung der Geisteskranken und der Träger von Erb-
sondern eminent politische Kategorien (der ganze Ökonomismus und krankheiten). In einer davon verschiedenen, aber analogen Weise repro-
der »Sozialismus«, welche die moderne Politik zu beherrschen scheinen, duziert das demokratisch-kapitalistische Projekt, mittels Entwicklung
haben in Wirklichkeit eine politische, ja biopolitische Bedeutung). die armen Klassen zu eliminieren, nicht nur in seinem eigenen Innern das
Aus dieser Perspektive betrachtet ist unsere Zeit nichts anderes als »volk« der Ausgeschlossenen, sondern verwandelt alle Bevölkerungen
der-unerbittliche und methodische -Versuch, die Spaltung, die das Volk der Dritten Welt in nacktes Leben. Nur eine Politik, die der fundamenta-
teilt, durch die radikale Eliminierung des »voIks« der Ausgeschlossenen len biopolitischen Spaltung des Abendlandes Rechnung trägt, wird diese
zu schließen. Dieser Versuch verbindet, nach verschiedenen Modalitäten Oszillation anhalten können und dem Bürgerkrieg, der die Völker und
und Horizonten, die Rechte und die Linke, kapitalistische und sozialisti- die Staaten teilt, ein Ende setzen.
sche Länder; sie finden sich vereint im - letzten Endes vergeblichen, aber
in allen industrialisierten Ländern teilweise realisierten - Projekt, ein ei-
niges und ungeteiltes Volk herzustellen. Die Obsession der Entwicklung
ist in unserem Zeitalter deshalb so wirksam, weil sie mit dem biopoliti-
schen Projekt der Herstellung eines bruchlosen Volkes zusammenfällt.
Die Vernichtung der Juden in Nazi-Deutschland nimmt in diesem
Licht eine radikal neue Bedeutung an: Als Volk, das sich weigert, sich in
den nationalen politischen Körper zu integrieren (denn man nimmt an, 1 Im Original deutsch.
daß jede Assimilation in Wahrheit nur simuliert ist), sind die Juden die Im Original deutsch.
2
3 Im Original deutsch.
1 »Minuto« bedeutet »klein«, hier »mager« im Gegensatz zu »grasso«: 4 Mit Majuskel.
» f ett«. 5 Mit Majuskel.

188
Schwelle was ihn als politisches Tier konstituiert, sein exaktes Gegen-
stück. Im einen Fall handelt es sich darum, von den vielfältigen
Als vorläufige Schlußfolgerungen sind in dieser Untersuchung Bedeutungen des Wortes »Sein« (das nach Aristoteles »auf viele
drei Thesen aufgetaucht: Arten gesagt wird«) das reine Sein (6n hapZ&) abzusondern; im
anderen Fall geht es um die Absonderung des nackten Lebens
I . Die originäre politische Beziehung ist der Bann (der Ausnah- von der Vielfalt der konkreten Lebensformen. Das reine Sein,
mezustand als Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Außen das nackte Leben-was steckt in diesen beiden Begriffen, das so-
in Innen, Ausschließung und Einschließung). wohl die Metaphysik wie die Politik des Abendlandes in ihnen
und nur in ihnen ihr Fundament und ihren Sinn finden läßt?
2. Die fundamentale Leistung der souveränen Macht ist die
Worin besteht die Verknüpfung dieser beiden konstitutiven
Produktion des nackten Lebens als ursprüngliches politisches
Prozesse, in denen Metaphysik und Politik, wenn sie ihr eigent-
Element und als Schwelle der Verbindung zwischen Natur und
liches Element absondern, zugleich an eine undenkbare Grenze
Kultur, z& und bios.
stoßen? Denn das nackte Leben ist gewiß ebenso unbestimmt
3. Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma und undurchdringlich wie das hapl& Sein, und wie von diesem
des Abendlandes. könnte man auch wie Schelling von jenem sagen, daß der Ver-
stand es allein im Staunen zu denken vermag.
Die erste dieser Thesen stellt jede Theorie vom vertraglichen Ur- Trotzdem scheinen gerade diese leeren und unbestimmten
sprung der staatlichen Macht in Frage, zugleich auch jede Mög- Begriffe den Schlüssel zum historisch-politischen Schicksal des
lichkeit, der politischen Gemeinschaft so etwas wie eine »Zuge- Abendlandes standhaft zu hüten. Und vielleicht werden wir erst
hörigkeit« zugrunde zu legen (gleichviel ob diese völkisch, dann, wenn wir die politische Bedeutung des reinen Seins entzif-
national, religiös oder sonstwie begründet sei). Die zweite impli- fern können, mit dem nackten Leben, das für unsere Unterwer-
ziert, daß die abendländische Politik von Anfang an eine Biopo- fung unter die politische Macht steht, zu Rande kommen, so wie
litik ist, so daß sich jeder Versuch, die politischen Freiheiten auf wir umgekehrt erst dann, wenn wir die theoretischen Implika-
den Bürgerrechten zu gründen, als nichtig erweist, Schließlich tionen des nackten Lebens verstehen, das Rätsel der Ontologie
wirft die dritte These einen dunklen Schatten auf die Modelle, werden lösen können. An der Grenze des reinen Seins ange-
mit denen die Humanwissenschaften, die Soziologie, die Urba- kommen, geht die Metaphysik (das Denken) in Politik (in Wirk-
nistik und die Architektur heute den öffentlichen Raum der lichkeit) über, so wie die Politik auf der Schwelle des nackten
Staaten dieser Welt zu denken und zu organisieren versuchen, Lebens sich selbst zur Theorie hin überschreitet.
ohne sich darüber im klaren zu sein, daß in deren Zentrum (wenn
auch in verwandelter, scheinbar menschlicherer Form) immer Georges Dumézil und Karl Kerényi haben das Leben des flamen
noch das nackte Leben steht, das die Biopolitik der großen tota- Dialis, eines der höchsten Priester im alten Rom, beschrieben.
litären Staaten des 20. Jahrhunderts bestimmt hat. Die Besonderheit seines Lebens liegt darin, daß es in keinem
»Nackt«: im Syntagma »nacktes Leben« entspricht hier dem Augenblick zu unterscheiden ist von den kultischen Funktio-
griechischen Wort bapZ&, mit dem die Prima Philosophia das nen, die er erfüllt. Darum sagten die Römer, der flamen Dialis sei
reine Sein definiert, Die Absonderung der Sphäre des reinen quotidie feriatus und assiduus sacerdos,i das heißt jeden Moment
Seins, welche die fundamentale Leistung der abendländischen in einer ununterbrochenen Festlichkeit handelnd. Folglich gibt
Metaphysik bildet, bleibt tatsächlich nicht ohne Analogien zu es keine Geste und kein Detail seines Lebens, seiner Art, sich zu
der Absonderung des nackten Lebens im Bereich der abendlän- kleiden oder zu gehen, die nicht eine genaue Bedeutung haben
dischen Politik. Was auf der einen Seite den Menschen als den-
kendes Tier konstituiert, findet auf der anderen Seite in dem, 1 *Jeden Tag festlich«; *beharrlicher, beflissener, beständiger Priester*.

190 191
und in ein Netz von Vorschriften und minutiös verzeichneten muß in jedem Moment mit ihm rechnen und Wege finden, ihm
Wirkungen geknüpft sind. Zum Beweis der assiduitas seiner auszuweichen und ihn zu täuschen. In diesem Sinn, das wissen
Priesterfunktion darf sich der flamen nicht einmal im Schlaf sei- die Verbannten und Geächteten, ist kein Leben »politischer« als
ner Insignien entledigen; die abgeschnittenen Haare und Finger- das seine.
nägel müssen umgehend unter einem arbor felix (das heißt
einem Baum, der nicht den unterirdischen Göttern gehört) ver- Man betrachte nun die Person des Führers des Dritten Reiches.*
graben werden; sein Kleid darf keinen Knoten und keine ge- Er repräsentiert die Einheit und Artgleichheit des deutschen
schlossenen Ringe haben, und er darf keinen Schwur leisten; Volkes. Seine Autorität ist nicht die eines Despoten oder Dikta-
trifft er auf seinem Weg auf einen Gefangenen in Ketten, so müs- tors, die sich von außen dem Willen und der Person der Unter-
sen diese gelöst werden; er darf nicht in eine Weinlaube mit tanen aufdrückt (Schmitt, S. 41 f.); vielmehr ist seine Macht inso-
überhängenden Ranken treten; er muß sich des rohen Fleisches fern viel unbegrenzter, als er sich mit dem biopolitischen Leben
und jeglicher Art von gesäuertem Brotteig enthalten und pein- des deutschen Volkes selbst identifiziert (»Führerworte haben
lichst Bohnen, Hunde, Ziegen und Efeu meiden.. . Gesetzeskraft«,2 wie Eichmann in seinem Prozeß in Jerusalem
Es ist nicht möglich, im Leben des flamen Dialis so etwas wie zu wiederholen nicht müde wurde), und er ist »der zu seinem
ein nacktes Leben abzusondern; seine ganze z& ist bios gewor- Befehl sich bekennende Führer« (Schmitt 7, S. 679). Gewiß kann
den, die private Sphäre und die öffentlichen Funktionen stim- er auch ein Privatleben führen, aber was ihn zum Führer be-
men restlos überein. Deswegen kann Plutarch (mit einer For- stimmt, ist, daß seine Existenz als solche unmittelbar politischen
mel, die an die griechische und mittelalterliche Definition des Charakter hat. Während das Amt des Reichskanzlers eine öf-
Souveräns erinnert) von ihm sagen, er sei hösper émpsychon Ku; fentliche dignitus ist, die ihm aufgrund der von der Weimarer
hierbn agalma, eine belebte heilige Statue. Verfassung vorgesehenen Verfahren verliehen wird, ist dasjenige
Wenden wir uns nun dem Leben des homo sacer oder den in des Führers kein Amt im Sinn des traditionellen öffentlichen
vielen Belangen ähnlichen Leben des Verbannten, des Fried- Rechts mehr, sondern etwas, das unvermittelt seiner Person ent-
losen’ und des aquae et igni interdictus2 zu. Er ist aus der religiö- springt, insofern sie mit dem Leben des deutschen Volkes zu-
sen Gemeinschaft und von jedem politischen Leben ausge- sammenfällt. Der Führer ist die politische Form dieses Lebens;
schlossen: Er kann weder an den Riten seiner genr teilnehmen deshalb ist sein Wort Gesetz, deshalb fordert er vom deutschen
(wenn für infamis3 oder intestabiZis4 erklärt worden ist) noch ir- Volk nichts anderes als das, was es in Wahrheit bereits ist.
gendeine gültige Rechtshandlung vollziehen. Darüber hinaus, Die traditionelle Unterscheidung zwischen politischem und
da jeder ihn erschlagen kann, ohne einen Mord zu begehen, ist physischem Körper des Souveräns (deren Genealogie Kantoro-
seine ganze Existenz auf ein nacktes, aller Rechte entkleidetes wicz sorgfältig rekonstruiert hat) schwindet hier, und die zwei
Leben reduziert, das er nur auf der endlosen Flucht oder in der Körper drängen sich in drastischer Form ineinander. Der Führer
Zuflucht eines fremden Landes retten kann. Gleichwohl, und hat sozusagen einen integralen, weder privaten noch öffent-
gerade insofern er in jedem Augenblick einer unbedingten To- lichen Körper, dessen Leben in sich selbst im höchsten Grad
desdrohung ausgesetzt ist, befindet er sich in fortwährender politisch ist. Er ist also an einem Punkt angesiedelt, wo zök und
Verbindung mit der Macht, die ihn verbannt hat. Er ist reine bios, biologischer und politischer Körper zusammenfallen. In
z&, doch seine z& steht als solche im souveränen Bann, und er seiner Person gehen das eine und das andere unablässig ineinan-
der über.
I Im Original deutsch.
2 Der dem Feuer und dem Wasser Untersagte.
3 Ehrlos.
4 Ehrlos im Sin von »zeugenschaftsunfähig«, Nebenbedeutung: »ohne Ho- 1 Im Original deutsch.
den*. 2 Im Original deutsch.

192 193
Nun stelle man sich die extremste Figur der Lagerbewohner vor. Leben ein Forschungs- und Experimentierlabor ohne Grenzen
Primo Levi hat die Figur beschrieben, die im Jargon des Lagers zu machen. Denn er ist nur sich selbst gegenüber verantwort-
»Muselmann« genannt wurde, ein Wesen, in dem die Demüti- lich, die ethischen und rechtliche Barrieren verschwinden, und
gung, der Schrecken und die Angst jedes Bewußtsein und jede die wissenschaftliche Forschung kann frei und restlos mit der
Persönlichkeit abgeschnitten haben, bis zur totalen Apathie (da- Biographie zusammenfallen. Sein Körper ist nicht mehr privat,
her seine ironische Bezeichnung). Er war nicht nur wie seine da er in ein Labor transformiert wurde; er ist auch nicht mehr öf-
Gefährten vom politischen und sozialen Umfeld ausgeschlos- fentlich, denn nur als eigener Körper kann er die Grenzen über-
sen, dem er einst zugehörte; er war nicht nur, als jüdisches Le- treten, welche die Moral und das Gesetz dem Experimentieren
ben, das nicht lebenswert war, einem mehr oder weniger nahen setzen. Experimental life ist die Wendung, mit der Rabinow Wil-
Tod geweiht; er war überdies in keiner Weise mehr Teil der Men- sons Leben definiert. Es ist leicht zu erkennen, daß das experi-
schenwelt, nicht einmal mehr jener bedrohlichen und prekären mental life ein bios ist, der sich in einem sehr spezifischen Sinn
der Lagerbewohner, die ihn von Anfang an vergessen haben. so weit auf die eigene zö6 konzentriert hat, daß er von ihr nicht
Stumm und völlig allein ist er in eine andere Welt übergegangen, mehr zu unterscheiden ist.
ohne Gedächtnis und ohne Trauer. Für ihn gilt Hölderlins Satz,
daß »in der äußersten Gränze des Leidens [. . .] nemlich nichts Treten wir ein in den Reanimationsraum, in dem der Körper von
mehr, als die Bedingungen der Zeit oder des Raums [bestehet]«, Karen Quinlan oder derjenige des Ultrakomatösen oder des
buchstäblich. neomort liegt und darauf wartet, daß ihm die Organe entnom-
Was ist das Leben des Muselmannes? Kann man sagen, es sei men werden. Das biologische Leben, das die Maschinen durch
reine zök? Aber in ihm gibt es nichts »Natürliches« und »Ge- Luftzufuhr in die Lungen, Blut in die Arterien pumpend und
meines«, nichts Instinktives und nichts Tierisches. Mit dem Ver- durch die Regulation der Körpertemperatur erhalten, ist hier
stand sind zugleich seine Instinkte ausgelöscht worden. An- von der Lebensform, die den Namen Karen Quinlan trug, völlig
telme berichtet, daß der Lagerbewohner nicht mehr imstande abgetrennt: Es ist (oder scheint es zumindest zu sein) reine zöe.
war, zwischen dem Biß der Kälte und der Grausamkeit der SS zu Als gegen Mitte des I 7. Jahrhunderts in der Geschichte der me-
unterscheiden. Wenn wir diese Feststellung wörtlich auf ihn an- dizinischen Wissenschaften die Physiologie auf den Plan tritt,
wenden (*Kälte, SS«), können wir sagen, daß der Muselmann bestimmt sie sich im Verhältnis zur Anatomie, welche die Ent-
sich in einer absoluten Ununterscheidbarkeit von Faktum und stehung und Entwicklung der modernen Medizin beherrscht
Recht, Leben und Norm, von Natur und Politik bewegt. Gerade hat. Wenn die Anatomie (die auf der Sektion der Leiche basierte)
deswegen scheint der Aufseher ihm gegenüber bisweilen plötz- die Beschreibung der unveränderlichen Organe gewesen ist,
lich machtlos zu sein, wie wenn er für einen Augenblick zwei- dann stellt die Physiologie »eine Anatomie in Bewegung« dar;
feln würde, ob das Verhalten des Muselmannes - der nicht zwi- sie ist die Erklärung der Organfunktionen im lebenden Körper.
schen der Kälte und einem Befehl unterscheidet - nicht eine Karen Quinlans Körper ist tatsächlich bloß eine Anatomie in
unerhörte Form von Widerstand sei. Ein Leben, das danach Bewegung, eine Menge von Funktionen, deren Ziel nicht mehr
strebt, sich ganz in Gesetz zu verwandeln, steht hier vor einem das Leben eines Organismus ist. Ihr Leben wird allein durch die
Leben, das in jedem Punkt mit der Norm verschwimmt, und Wirkung der Reanimationstechniken auf der Basis einer juridi-
genau diese Ununterscheidbarkeit bedroht die lex animata des schen Entscheidung erhalten; es ist nicht mehr Leben, sondern
Lagers. ein Tod in Bewegung. Da aber, wie wir gesehen haben, Leben
und Tod jetzt nur noch biopolitische Konzepte sind, ist der
Paul Rabinow erzählt den Fall des Biologen Edward O. Wilson, Körper von Karen Quinlan, der dem Fortschritt der Medizin
der von dem Augenblick an, da er entdeckt hat, daß er an Leuk- und dem Wechsel der juridischen Entscheidungen folgend zwi-
ämie erkrankt ist, beschließt, aus seinem Körper und aus seinem schen Leben und Tod schwankt, nicht weniger ein rechtliches

194 195
Wesen als ein biologisches Wesen. Ein Recht, das behauptet, Gesetz, das den Anspruch erhebt, ganz in Leben aufzugehen,
über das Leben zu entscheiden, ist in einem Leben verkörpert, steht heute immer öfter einem zur Norm entseelten und morti-
das mit dem Tod zusammenfällt. fizierten Leben gegenüber. Jeder Versuch, den politischen Raum
des Abendlandes neu zu denken, muß von dem klaren Bewußt-
Die Auswahl dieser kurzen Serie von »Leben« mag extrem, sein ausgehen, daß wir von der klassischen Unterscheidung zwi-
wenn nicht gar einseitig provokativ erscheinen. Doch die Liste schen z& und bios, zwischen privatem Leben und politischer
hätte sich leicht mit nicht weniger extremen und dennoch nun- Existenz, zwischen dem Menschen als einfachem Lebewesen,
mehr vertrauten Fällen fortsetzen lassen. Da wäre der Körper das seinen Ort im Haus hat, und dem Menschen als politischem
der bosnischen Frau von Omarska, ein perfektes Beispiel für die Subjekt, das seinen Ort im Staat hat, nichts mehr wissen. Daher
Schwelle der Ununterschiedenheit zwischen Biologie und Poli- kann die Restauration der klassischen politischen Kategorien,
tik; oder, in einem scheinbar entgegengesetzten, aber eigentlich wie sie Leo Strauss und in einem anderen Sinn Hannah Arendt
analogen Sinn, die militärischen Interventionen aus humanitä- vorgeschlagen haben, nur eine kritische Bedeutung haben. Von
ren Gründen, bei denen kriegerische Operationen mit biologi- den Lagern gibt es keine Rückkehr zur klassischen Politik; im
schen Zielen wie Ernährung oder Seuchenbekämpfung unter- Lager sind Staat und Haus ununterscheidbar geworden, und die
nommen werden - ebenfalls ein schlagendes Beispiel der Möglichkeit, zwischen unserem biologischen Körper und unse-
Unentscheidbarkeit zwischen Politik und Biopolitik. rem politischen Körper, zwischen dem, was nicht mitteilbar und
Von diesen ungewissen und namenlosen Terrains, von diesen stumm, und dem, was mitteilbar und sagbar ist, zu unterschei-
unwegsamen Zonen der Ununterschiedenheit aus müssen die den, ist uns ein für allemal genommen. Wir sind nicht nur, mit
Mittel und Wege einer neuen Politik gedacht werden. Am Ende Foucaults Worten, Tiere, in deren Politik es um ihr Leben als
von der Wille zum Wissen, nachdem er sich von jenem Komplex Lebewesen geht, sondern umgekehrt auch Bürger, in deren na-
des Sexes und der Sexualität distanziert hat, in dem die Moderne türlichem Körper ihre Politik selbst in Frage steht.
ihr Geheimnis und ihre Befreiung zu finden glaubte, während So wenig wie der biopolitische Körper des Abendlandes ein-
sie doch nur ein Dispositiv der Macht umklammerte, deutet fach dem natürlichen Leben des &os zurückerstattet werden
Foucault, indem er von einer »anderen Ökonomie der Körper kann, so wenig kann er zugunsten eines anderen Körpers über-
und der Lüste« spricht (Foucault 1, S. 190), den möglichen Ho- wunden werden, eines technischen oder vollständig politischen
rizont einer anderen Politik an. Die Schlußfolgerungen unserer oder gloriosen Körpers, in dem eine andere Ökonomie der Lü-
Untersuchung drängen uns dazu, noch vorsichtiger zu sein: ste und der Lebensfunktionen die Verflechtung von z& und
Auch der Begriff des »Körpers << ist, wie der des Sexes und der bios ein für allemal löst. Vielmehr muß man aus dem biopoliti-
Sexualität, immer schon in ein Dispositiv eingefaßt und sogar schen Körper, aus dem nackten Leben selbst den Ort machen, an
immer schon biopolitischer Körper und nacktes Leben, und dem sich eine gänzlich in nacktes Leben umgesetzte Lebens-
nichts in diesem Körper und in der Ökonomie seiner Lüste form herausbildet und ansiedelt, ein bios, der nur seine z& ist.
scheint uns einen festen Boden und Halt gegen die Ansprüche Auch hier gilt es, auf die Analogien zu achten, welche die Politik
der souveränen Macht zu gewähren. In seiner extremen Form mit der epochalen Situation der Metaphysik aufweist. Der bios
stellt sich der biopolitische Körper des Abendlandes (diese liegt heute genauso in der z&, wie nach der Heideggerschen De-
letzte Verkörperung des Lebens des homo sacer) vielmehr als finition des Daseins’ das Wesen in der Existenz liegt.2 Schelling
Schwelle der absoluten Ununterscheidbarkeit zwischen Faktum drückte die äußerste Figur seines Denkens in der Idee eines
und Recht, Norm und biologischem Leben dar. In der Person Seins aus, das nur das rein Seiende ist. Aber auf welche Weise
des Führers geht das nackte Leben unmittelbar in Recht über, so
wie in der Person des Lagerbewohners (oder des neomort) das 1 Im Original deutsch.
Recht ins Unbestimmte des biologischen Lebens übergeht. Ein 2 Im Original »liegt« deutsch beigefügt.

196 ‘97
kann ein bios nur seine zök sein? Wie kann eine Lebensform je- Anmerkungen zur Übersetzung
nes hapl& erfassen, das zugleich die Aufgabe und das Rätsel der und zur Zitierweise
abendländischen Metaphysik bildet? Wenn wir dieses Sein, das
nur seine nackte Existenz ist, »Lebensform« [forma-di-vita] Als kommentierungsbedürftig haben sich drei Begriffskom-
nennen, Leben, das seine Form ist und untrennbar von ihr plexe erwiesen:
bleibt, dann sehen wir, wie sich ein Forschungsfeld eröffnet, das I. Trotz des eindeutigen Bezugs auf Walter Benjamins bloßes
jenseits der Forschungen liegt, die der Schnittpunkt von Poli- Leben wurde, nach Abwägung der Bedeutungsfelder und zur
tik und Philosophie, medizinisch-biologischen Wissenschaften Unterstreichung der eigenständigen Entwicklung und Prägung
und Rechtswissenschaften definiert. Doch zunächst muß man des Begriffs durch den Autor, l a nuda vita mit das nackte Leben
verfolgen, wie innerhalb der Grenzen dieser Disziplinen etwas übersetzt.
wie das nackte Leben hat gedacht werden können und auf wel- 2. In den italienischen Wörtern sacro und sacerta ist die in
che Weise sie im Verlauf ihrer historischen Entwicklung schließ- diesem Buch problematisierte Polysemie von lat. sacer: »heilig«
lich an eine Grenze gestoßen sind, über die sie nicht hinausgehen im Sinn von »geweiht« und »verflucht« (beides auch im Sinn
können, ohne eine beispiellose biopolitische Katastrophe zu ris- von »unberührbar«) noch vorhanden; in der Folge werden
kieren. »sacro« und »sacerta« konsequent mit »heilig« und »Heiligkeit«
wiedergegeben, da es im Deutschen kein in ähnlichem Maß ge-
bräuchliches Wort gibt (»Sazertät« existiert als Fachausdruck
der Ethnologie, Anthropologie, Religions- und Rechtswissen-
schaft). An den wenigen Stellen, wo anstelle des lateinischen
homo sacer (bzw. hornher sacri) italienisch »uomo sacro« (bzw.
»uomini sacri«) steht, wird auf den lateinischen Ausdruck zu-
ruckgegriffen und der italienische in Klammern hinzugefügt.
Die von Agamben untersuchte »Heiligkeit« ist weder mit der
religiösen Kategorie des Heiligen noch mit dem heute vor allem
durch Freud bekannten ursprünglichen Doppelsinn von sacer
gleichzusetzen, wie die Kapitel »Die Ambivalenz des Heiligen«
und *Das heilige Leben« aufzeigen.
3. Der (etymologische) Zusammenhang von bando (Bann)
und abbandono (Verlassen, Verlassensein, Verlassenheit; Aufge-
ben; Hingabe), den zuerst Jean-Luc Nancy fruchtbar gemacht
hat und der eine tragende Verbindung mit Heideggers »Verlas-
senheit« (frz. »abandon«; it. »abbandono«) herstellt, kennt
keine angemessene deutsche Übersetzung auf der Basis von
»Bann«. »Abbandono «, »abbandonare«, »essere abbandonato«
werden stets mit »Verlassenheit «, »Verlassensein« oder »über-
lassensein« und den entsprechenden Ableitungen übersetzt; wo
der einmal angemerkte Zusammenhang nicht unmittelbar deut-
lich ist, wird die italienische Formulierung in Klammern hinzu-
gefügt.

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