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Kriminologische Grundlagentexte

Daniela Klimke • Aldo Legnaro (Hrsg.)

Kriminologische
Grundlagentexte
Herausgeber
Daniela Klimke
Aldo Legnaro
ISIP – Institut für Sicherheits- und
Präventionsforschung
Hamburg, Deutschland

Wir haben uns bemüht, für alle Primärtexte die entsprechenden Rechte zu ermitteln.
Sollten dennoch Ansprüche offen sein, bitten wir um Benachrichtigung.

ISBN 978-3-658-06503-4 ISBN 978-3-658-06504-1 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-06504-1

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Lektorat: Cori A. Mackrodt, Stefanie Loyal

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Inhalt

Einleitung .............................................................. 1

Zur Einführung

Howard S. Becker (1967): Auf wessen Seite stehen wir ? .................... 7

Die sozialen Funktionen der Kriminalität

Émile Durkheim (1895/1968): Kriminalität als normales Phänomen ........ 25

Heinrich Popitz (1968): Über die Präventivwirkung


des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

Nils Christie (2004/2005): Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft ? .... 47

Die gesellschaftliche Herstellung sozialer Probleme

Joseph R. Gusfield (1967 – 1968): Moralische Passage.


Der symbolische Prozess der öffentlichen Kennzeichnung von Devianz .... 67

Stanley Cohen (1972): Zur Soziologie von Moralpaniken ................... 89


VI Inhalt

Die Etikettierung zum Abweichler

Fritz Sack (1968): Neue Perspektiven in der Kriminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Edwin Lemert (1967/1975): Der Begriff der sekundären Devianz . . . . . . . . . . . 125

Harold Garfinkel (1956/1974): Bedingungen


für den Erfolg von Degradierungszeremonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Erving Goffman (1963/2010): Stigma.


Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Ökonomie von Kriminalität und Strafe

Georg Rusche (1933/1980): Arbeitsmarkt und Strafvollzug.


Gedanken zur Soziologie der Strafjustiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171

Robert Reiner (2010): Politische Ökonomie,


Kriminalität und Strafrechtspflege: ein Plädoyer
für eine sozialdemokratische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Heinz Steinert (2008): ‚Soziale Ausschließung‘:


Produktionsweisen und Begriffs-Konjunkturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Loïc Wacquant (2004/2009): Bestrafen der Armen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Sozialstruktur und Kriminalität

Robert K. Merton (1957/1968): Sozialstruktur und Anomie . . . . . . . . . . . . . . . . 245

Albert K. Cohen (1957): Kriminelle Subkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

William F. Whyte (1943/1981): Die Street Corner Society.


Die Sozialstruktur eines Italienerviertels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Inhalt VII

Erweiterte Verbrechensdimensionen

Edwin Sutherland (1940/1968): White-collar Kriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Herbert Jäger (1989): Makrokriminalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft

Michel Foucault (1975/1977): Überwachen und Strafen.


Die Geburt des Gefängnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Gilles Deleuze (1990/1993): Postskriptum


über die Kontrollgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

David Garland (2001/2008): Kultur der Kontrolle.


Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart . . . . . . . . . . 353
Albert Kircidel Cohen

Kriminelle Subkulturen, in: Peter Heintz/René König (Hg.), Soziologie der Jugend-
kriminalität. Sonderheft 2 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho-
logie, Köln-Opladen 1957, S. 103 – 117, Westdeutscher Verlag

Übersetzung: S. und P. Heintz

Albert K. Cohen (1918 – 2014) hat mit seinem Buch „Delinquent Boys. The Culture of the
Gang“ (1956; deutsche Fassung: „Kriminelle Jugend. Zur Soziologie jugendlichen Ban-
denwesens“, Reinbek 1961) erstmals eine Konzeption von Subkultur in eine kriminolo-
gische Analyse überführt. Sein Ansatz unterscheidet sich dabei insoweit von der Ano-
mie-Konzeption Mertons (siehe den Text in diesem Band), als kriminelle Handlungen
nicht notwendig einen instrumentellen Charakter aufweisen, sondern auch eine symbo-
lische Funktion besitzen können und um ihrer selbst willen begangen werden. Der hier
leicht gekürzt abgedruckte Aufsatz fasst die wesentlichen Thesen und Argumentations-
linien des Buches zusammen. Cohen nutzt den Terminus Subkultur zur Beschreibung
kleinerer Gruppen, deren Mitglieder sich persönlich kennen und sich durch gruppen-
spezifische Normen von der Umwelt (vor allem der der Erwachsenen) abgrenzen. Das
führt weg von psychologisierenden Ansätzen und soziologisiert auf diese Weise die Fra-
gestellung – darin liegt Verdienst und Bedeutung dieses Buches. Cohen löst sich dabei
zwar nicht vom damals geläufigen ätiologischen Paradigma, also der Herleitung abwei-
chender Verhaltensformen von sozialen Konstellationen, doch implizit – und gegen den
Strich gelesen – belegt er durch die Betonung der Dominanz mittelschichtspezifischer
Normen die Essenz des Etikettierungs-Ansatzes: Diese Normen setzen den Standard,
nach dem Delinquenz definiert wird. Wenngleich die Argumentation sich inzwischen
stellenweise eher historisch liest, stellenweise auch so, als sei sie von einem heutigen
Kulturkritiker verfasst worden, so ist doch der analytische Ansatz nach wie vor relevant,
und trotz aller Veränderungen sowohl gesellschaftlicher Kultur wie jugendlicher Sub-
kulturen sind seine Beschreibungen weiterhin von Belang.

D. Klimke, A. Legnaro (Hrsg.), Kriminologische Grundlagentexte,


DOI 10.1007/978­3­658­06504­1_16, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
270 Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen

Weiterführende Literatur:

Brake, Mike (1981): Soziologie der jugendlichen Subkulturen. Eine Einführung, Frankfurt-New
York.
Cohen, Albert K./Short, James F. jr. (1968): Zur Erforschung delinquenter Subkulturen, in: Sack,
Fritz/König, René (Hg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt/M.: 372 – 394.
Miller, Walter B. (1968): Die Kultur der Unterschicht als ein Entstehungsmilieu für Bandendelin-
quenz, in: Sack, Fritz/König, René (Hg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt/M.: 339 – 359.
Sack, Fritz (1971): Die Idee der Subkultur: Eine Berührung zwischen Anthropologie und Soziolo-
gie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 23: 261 – 282.
Sutherland, Edwin H. (1968): Die Theorie der differentiellen Kontakte, in: Sack, Fritz/König, René
(Hg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt/M.: 393 – 399.

Kriminelle Subkulturen

Jugendkriminalität besteht zur Hauptsache in der Teilnahme an kriminellen Sub-


kulturen, die ihrerseits von der weiteren sozialen Struktur abhängig sind. Die Er-
läuterung dieser beiden Thesen soll Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein.1
[…]

Theorie der Subkulturen

Als ersten Schritt wollen wir deshalb versuchen, eine vorläufige allgemeine Theorie
der Subkulturen zu entwickeln. Wir gehen dabei von der These aus, daß alles Han-
deln das Ergebnis von andauernden Bemühungen ist, Probleme der Anpassung
zu lösen. Diese Probleme sind natürlich immer eine Funktion eines bestimmten
Nebeneinanders von Persönlichkeiten mit deren Zielen, Werten, Temperamenten
und Denkformen einerseits und Situationen, die aus anderen Akteuren mit de-
ren Zielen, Werten und so weiter, sowie aus der nicht-menschlichen Umwelt be-
stehen, andererseits. Vom Bezugsrahmen oder Gesichtspunkt einer bestimmten
Persönlichkeit her gesehen sind einer gegebenen Situation eigen: Drohung und
Versprechen, Schranken und Möglichkeiten, Enttäuschung und Befriedigung. An-
passungsprobleme sind also Funktionen von begrenzten sozialen Feldern und

1 Die meisten in diesem Artikel enthaltenen Gedankengänge finden sich ausführlicher in dem
Buch des Verfassers: Delinquent Boys: The Culture of the Gang, Glencoe Ill., The Free Press,
1955. Der am letzten Teil dieser Arbeit erscheinende Versuch, die Kriminalität in der Mittel-
klasse zu erklären, ist noch nicht veröffentlicht worden.
Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen 271

hängen in gleicher Weise von den Persönlichkeits- und von den Situationskom-
ponenten solcher Felder ab, denn sie wandeln sich mit jeder Änderung irgend-
einer dieser Komponenten. Diese Persönlichkeits- und Situationskomponenten
sind ihrerseits nicht nach dem Zufallsprinzip über das weitere soziale System ver-
teilt, sondern sie sind vielmehr ein Ergebnis der Struktur und Artikulation die-
ses weiteren Systems; d. h., die Subsysteme der Rekrutierung, der Rollenzuteilung,
der Sozialisierung, der Macht, der Kommunikation, des Eigentums und so weiter
bewirken zusammen eine charakteristische Verteilung von Persönlichkeiten und
Situationen und damit von entsprechenden Anpassungsproblemen. Ein Teil der
Aufgabe, irgendeine Handlungsweise als Zug eines weiteren sozialen Systems zu
erklären, besteht in der Erklärung der Mechanismen, mit deren Hilfe die Struk-
tur des weiteren Systems die Anpassungsprobleme schafft, die für die Positionen
kennzeichnend sind, in denen die betreffende Handlungsweise vorkommt.
Der Nachweis vom Vorhandensein von Anpassungsproblemen und deren Er-
klärung genügen an sich noch nicht, um zu verstehen, weshalb die Menschen so
handeln, wie sie es in Wirklichkeit tun; noch weniger läßt sich dadurch delinquen-
tes, kriminelles oder irgendeine andere Art von „abweichendem“ Verhalten erklä-
ren. Verhalten hat im allgemeinen problemlösenden Charakter. Wenn jemand ein
Anpassungsproblem hat, dann bedeutet dies, daß er sich in einem Spannungszu-
stand befindet und den Drang verspürt, etwas zu tun. In der Tat sind die meisten
Dinge, die wir tun, die meisten Lösungen, die wir angesichts unserer Anpassungs-
probleme ausprobieren, völlig legal, „normal“ und entsprechen den Erwartun-
gen. Die „Geeignetheit“ oder „Angemessenheit“ einer Lösung ist natürlich bis zu
einem gewissen Grade immer eine Funktion des Problems selbst. Immerhin gibt
es für die meisten Anpassungsprobleme eine ganze Reihe von denkbaren Lösun-
gen, von denen einige „normal“, andere abweichend sind. Wir haben das Verhal-
ten nur dann erklärt, wenn es uns gelingt, die Wahl der Lösung zu erklären. Ein
wichtiger Teil jeder Theorie des sozialen Handelns besteht deshalb notwendiger-
weise in einer Klassifizierung der Lösungsarten für Anpassungsprobleme und der
Determinanten, welche die Wahl der Lösung bestimmen.
Wir wollen uns hier auf einige wenige Überlegungen beschränken, die für die
Entwicklung einer Theorie der Subkulturen relevant erscheinen. Zu den wichtigs-
ten Determinanten der Wahl zwischen verschiedenen Alternativen des Handelns
gehören die „Bezugsgruppen“. Dieser Ausdruck wird in zwei verschiedenen Be-
deutungen gebraucht, die hier beide wichtig sind.
Er wird erstens zur Bezeichnung jener Gruppen, im Grenzfall Individuen, ver-
wendet, deren Sicht wir annehmen und zu unserer eigenen machen, oder – an-
ders ausgedrückt – deren Normen und Standards für uns die Kriterien der Gül-
tigkeit und Richtigkeit unserer eigenen Urteile und Handlungen darstellen. Wenn
jemand sich zu einem Handeln entschließt, das von den Erwartungen der Bezugs-
272 Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen

gruppe abweicht, entstehen Anpassungsprobleme, denn dadurch bekommt er das


Gefühl der Unsicherheit, der Schuld und Ambivalenz.
Der Ausdruck Bezugsgruppe wird zweitens für jene Gruppen verwendet, bei
denen wir befriedigende menschliche Beziehungen, das heißt Anerkennung, Sta-
tus, Liebe und Popularität suchen. Allerdings mögen solche sozialen Beziehun-
gen eine Belohnung für die Übereinstimmung unseres Verhaltens mit den Erwar-
tungen, die in diesen Gruppen institutionalisiert sind, darstellen; Lösungen, die
von diesen Erwartungen abweichen, führen zu Entfremdung und Isolierung und
schaffen wahrscheinlich mehr Probleme, als daß sie solche lösen. Die Bezugsgrup-
pen im einen und anderen Sinne haben die Tendenz, sich zu überschneiden, je-
doch brauchen sie nicht identisch zu sein. Divergierende Erwartungen seitens der
Bezugsgruppen (in beiden Bedeutungen) gehören zu den Faktoren, die das Pro-
blem der Wahl einer Lösung stark komplizieren.
Diese beiden Funktionen der Bezugsgruppen entsprechen zwei Gründen, die
uns erklären, weshalb die Menschen für ihre Anpassungsprobleme Lösungen su-
chen, die mit den Erwartungen anderer vereinbar sind, und zwar nicht mit den
Erwartungen irgendwelcher Personen, sondern eben mit denen signifikanter Per-
sonen, das heißt der Bezugsgruppen. Diese Vereinbarkeit kann auf drei verschie-
dene Arten erreicht werden.
1. Man wählt eine Lösung, die mit den Erwartungen der üblichen Bezugsgrup-
pe vereinbar ist. In gut integrierten sozialen Systemen gibt es für die meisten all-
täglichen Probleme des Lebens Lösungen, die insofern angemessen sind, als sie
nicht nur die Spannung des Handelnden vermindern, sondern auch institutio-
nalisiert sind, das heißt von einem gemeinsamen Wertesystem getragen werden.
Allerdings gibt es wahrscheinlich keine Gesellschaft, in der institutionalisierte,
gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweisen für alle Anpassungsprobleme ange-
messene Lösungen bieten. Konformität erfordert deshalb oft, daß der Handeln-
de „mit seinem Problem lebt“ und ein gewisses Maß an Frustration oder Konflikt
erträgt, wenn auch diese Spannungen durch verschiedene Anpassungsmecha-
nismen etwas gemildert werden mögen, wie etwa durch Herabsetzung des An-
spruchsniveaus, durch Rationalisierung und so weiter.
2. Wenn die in den eigenen Bezugsgruppen institutionalisierten Lösungen
nicht angemessen sind, kann man sich anderen Bezugsgruppen zuwenden, de-
ren Kultur angemessenere Lösungen vorsieht. In allen großen sozialen Systemen
besteht ein andauernder sozialer Metabolismus, ein andauernder Austausch von
Mitgliedern zwischen irgendwelchen Gruppen, ein Vorgang, der durch die Suche
nach einem kulturellen Milieu in Gang gehalten wird, das die Lösung der eigenen
Anpassungsprobleme erleichtert.
3. Eine weitere Möglichkeit tritt dann in Erscheinung, wenn es für eine Anzahl
von Personen mit ähnlichen Anpassungsproblemen keine angemessenen institu-
Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen 273

tionalisierten Lösungen gibt und wenn ihnen keine alternativen Bezugsgruppen


zur Verfügung stehen, die angemessenere und von der Kultur gestützte Lösun-
gen bieten würden. Wenn die Umstände Zusammenschluß und Kommunikation
begünstigen, dann erscheint es wahrscheinlich, daß solche Personen zueinander
hinstreben, daß sie die Ähnlichkeit ihrer Anpassungsprobleme wahrnehmen und
Bande .der Sympathie und Solidarität schließen. Im Verlauf der Interaktion zwi-
schen ihnen tragen sie – suchend und tastend und indem sie kontinuierlich die
Reaktionen der Partner auf ihre eigenen kleinen Neuschöpfungen beachten – zum
Aufbau neuer Normen und Erwartungen bei. Das Endergebnis einer derartigen
Interaktion besteht in einer neuen, gemeinsam geschaffenen Subkultur, die auf die
gemeinsamen Bedürfnisse, Probleme und Situationen der Teilnehmer an einem
neuen Subsystem zugeschnitten ist. Obgleich sich diese dritte Möglichkeit analy-
tisch von der zweiten unterscheidet, steht sie doch in enger Beziehung zu ihr, denn
der Fortbestand einer Subkultur, die in dieser Weise neu gebildet wurde, kann auf
den Zustrom unzufriedener Mitglieder anderer Gruppen angewiesen sein.
Die bloße Aufzählung der Möglichkeiten bedeutet natürlich noch keine Spe-
zifizierung der Bedingungen, unter denen die eine oder andere eintritt. Eine wei-
tere Aufgabe der Theorie von der subkulturellen Differenzierung würde darin
bestehen, die gesellschaftlichen Bedingungen, vor allem diejenigen der Kommu-
nikation und Macht, zu beschreiben, welche die eine oder andere Möglichkeit be-
günstigen.

Die delinquente Subkultur der Arbeiterklasse

Im Vorangegangenen haben wir eine gedrängte Skizze unseres Bezugsrahmens ge-


geben. Wir werden nun versuchen, unter Anwendung dieses Bezugsrahmens das
Kulturmuster der Delinquenz, so wie es wenigstens in der Vergangenheit für die
USA zutraf, zu erklären.
Daß der größte Teil delinquenten Verhaltens in den USA zu Lasten von Grup-
pen geht und von einer gemeinsamen Subkultur getragen wird, kann als ein gut
erhärtetes Ergebnis der soziologischen Forschung betrachtet werden. Jede Erklä-
rung dieser Subkultur muß erstens die Frage nach ihrer Verteilung und zweitens
die nach ihrem Inhalt beantworten.
Was die Verteilung anbelangt, so ist die Delinquenz in den USA zweifellos
zu einem überwältigenden Teil eine solche der Männer. Ferner gibt es zahlreiche
Anzeichen dafür, daß sie vor allem in der Arbeiterbevölkerung konzentriert ist
(wenn sich das auch heute zu ändern scheint).
Der Inhalt der Delinquenz kann kurz durch drei Merkmale gekennzeichnet
werden:
274 Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen

1. Er ist nicht utilitaristisch, das heißt delinquente Handlungen werden nicht


des Gewinnes oder Profits wegen begangen. Allgemeiner ausgedrückt, werden sie
nicht deshalb unternommen, weil sie als ein erfahrungsgemäß angemessenes Mit-
tel zur Erreichung eines bestimmten Zieles betrachtet werden. Dem Denken in
Mittel und Zweck erscheinen sie als sinnlos. Gestohlene Gegenstände sind dem
Dieb nicht immer von Nutzen. Selbst wenn sie potentiell nützlich sind, werden sie
oft weggegeben oder sogar weggeworfen. Und noch viel weniger stellen die ande-
ren Formen der Delinquenz, zum Beispiel die Zerstörung und Beschädigung von
Eigentum und alles, was man als „Vandalismus“ bezeichnet, utilitaristische Ver-
haltensweisen dar.
2. Das delinquente Verhalten ist böswillig. Das heißt, es ist offensichtlich darauf
berechnet, andere, vor allem angesehene Personen zu belästigen, zu ärgern und
zu reizen. Der Delinquent selbst beschreibt sein Verhalten oft als „ganz gewöhn-
liche Gemeinheit“.
3. Das delinquente Verhalten ist negativistisch, das heißt, es scheint seinen
Charakter als „Vergnügen“ oder „Spaß“ aus der Tatsache herzuleiten, daß es ver-
boten ist. Was der Delinquent tut, ist – an seinen eigenen Normen gemessen –
nicht einfach richtig, sondern es ist richtig, weil es nach konventionellen Standards
unrecht ist. Es wird durch die Verneinung der herrschenden konventionellen Kul-
tur definiert.
Wir vermuten, daß ein solches Verhalten eine Form der Reaktion auf gewis-
se Statusprobleme darstellt, die sich aus der Rolle des männlichen Arbeiters er-
geben. Wir beziehen uns dabei nicht auf die Diskriminierungen, unter der Kin-
der wegen des sozialen Status ihrer Eltern, mit denen sie identifiziert werden, zu
leiden haben. Wir denken eher an den niedrigen Status, den sie einnehmen, weil
sie nicht in der Lage sind, sich zu benehmen und sich in Übereinstimmung mit
den Normen einer Gesellschaft zu verhalten, die von der Mittelklasse dominiert
wird. Diese Normen betonen die individuelle Verantwortung, den Erwerb von Fä-
higkeiten mit akademischem oder ökonomischem Wert, Manieren und Höflich-
keit, die „konstruktive“ Verwendung der Muße, Selbstdisziplin und Hemmung
der Spontaneität, die Fähigkeit, unmittelbare Befriedigungen im Interesse eines
weitgesteckten Ziels auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Dies sind die
Normen der Personen, die etwas zu sagen haben, das heißt der Lehrer, Sozialar-
beiter, Pfarrer, Arbeitgeber, Pfadfinderführer und so weiter. Sie stellen einen wich-
tigen Aspekt der Umwelt dar, in der sich der Arbeiterjunge bewegt und an die er
sich anzupassen hat.
Gleichzeitig ist es in den USA möglich, gewisse allgemeine Aussagen über die
dort herrschenden Klassenunterschiede in bezug auf die Sozialisierung zu ma-
chen, wenn man auch nicht vergessen darf, daß solche Verallgemeinerungen nur
in einem groben statistischen Sinne gültig sind. (In der Tat ist unsere Unterschei-
Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen 275

dung zwischen „Arbeiter-“ und „Mittelklasse“ sehr grob, besonders wenn wir sie
auf das amerikanische Klassensystem anwenden, und kann sich nur aus Gründen
der Vereinfachung und Kürze rechtfertigen.) Es ist wenig wahrscheinlich, daß die
in der Arbeiterklasse angewandten Erziehungsmethoden und die in den Arbeiter-
familien gebotenen kulturellen Vorbilder junge Leute hervorbringen, welche die
Charakterstruktur und Fähigkeit besitzen, sich in Übereinstimmung mit den oben
beschriebenen Normen der Mittelklasse zu verhalten. Dies ganz im Gegensatz zu
den entsprechenden Bedingungen in den der Mittelklasse zugehörigen Familien.
Dem Arbeiterkind wird nicht im selben Maße Ehrgeiz eingeflößt wie dem Kind
aus der Mittelklasse; es wird wahrscheinlich für seine Strebsamkeit und für ähn-
liche Leistungen nicht belohnt; es erhält nicht dasselbe Training in Selbstdisziplin,
in der Beherrschung seiner Gefühle, in der Aufschiebung von Befriedigungen, im
sprachlichen Ausdruck, in Pünktlichkeit und Genauigkeit. Demgegenüber wer-
den im häuslichen Milieu der Mittelklasse dem Kinde die Tugenden dieser Klasse
systematisch, rational und planmäßig beigebracht. Kurz, das Arbeiterkind ist im
Vergleich mit dem Kind aus der Mittelklasse viel weniger gut vorbereitet, um bei
der Jagd nach Status erfolgreich zu sein, da ja der Status selbst auf Grund der Stan-
dards der amerikanischen Mittelklasse definiert wird, das heißt von jenen Per-
sonen, die viele der wichtigsten Bereiche sozialen Engagements beherrschen. Im
Wettbewerb mit dem Kind aus der Mittelklasse neigt das Arbeiterkind dazu, nach
unten zu sinken.
Es ist interessant und wirkt wie eine Ironie, daß stark empfundene Statusun-
terschiede in Wirklichkeit das Ergebnis eines ausgesprochenen „demokratischen“
Systems sind, wenn wir unter „Demokratie“ die Tatsache verstehen, daß die Men-
schen mehr nach ihren Leistungen als nach ihrem Familienstammbaum beurteilt
werden, was wahrscheinlich die am weitesten verbreitete Bedeutung des Begriffs
Demokratie in den USA darstellt. Es trifft zu, daß eine aus der Arbeiterklasse stam-
mende Person in den USA für hervorragende Leistungen leichter Anerkennung
findet als in den meisten anderen Gesellschaften. Die mit dem Status verbunde-
nen Belohnungen stehen ihm dann auch zu, sofern sie den Kriterien entsprechen,
die den Status definieren. Diese Kriterien werden in bemerkenswertem Ausmaß
unparteiisch und ohne Rücksicht auf die soziale Herkunft angewendet. Das so-
ziale System Amerikas stellt die jungen Menschen in eine Situation, die für alle
in einer sehr bedeutsamen Hinsicht die gleiche ist, nämlich in der Hinsicht, daß
alle ohne Rücksicht auf ihre Herkunft nach so ziemlich denselben Normen behan-
delt werden. Dank der Klassenunterschiede in der Sozialisierung und dank ande-
rer klassengebundener Möglichkeiten des Erwerbs der für den an diesen Normen
gemessenen Erfolg nötigen Ausrüstung erscheint es jedoch wahrscheinlich, daß
Kinder aus der Arbeiter- bzw. aus der Mittelklasse ein sehr verschiedenes Schick-
sal innerhalb des ihnen gemeinsamen Statussystems haben. Dieselben situations-
276 Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen

bedingten Umstände, die dem Kind aus der Mittelklasse Belohnung versprechen
und ihm in der Tat einen machtvollen Anreiz für sein Streben nach Erfolg geben,
mögen dem Kind aus der Arbeiterklasse Versagen, Schmach und Frustration be-
deuten. So lange das für einen erfolgreichen Wettbewerb mit den Kindern aus der
Mittelklasse nicht entsprechend ausgerüstete Arbeiterkind weiterhin die Meinun-
gen der respektablen Mittelklasse und deren Urteilskriterien anerkennt, so lange
muß es sich mit Problemen des Status und der Selbstachtung abquälen.
Wir haben festgestellt, daß es für jedes Anpassungsproblem eine Vielfalt von
möglichen Lösungen gibt. Für die Anpassungsprobleme der Arbeiterjungen, wie
wir sie beschrieben haben, bietet die delinquente Subkultur eine, wenn auch nicht
die einzige Lösung. Der mit solchen Problemen belastete Junge ist nicht allein;
viele sitzen im selben Boot. Sie leben in derselben Nachbarschaft und besuchen
die gleichen Schulen. Es ist zu erwarten, daß sich einige von ihnen zueinander
hingezogen fühlen und innerhalb einer solchen Gemeinschaft gleichgesinnter In-
dividuen eine Subkultur schaffen, die den ihnen gemeinsamen Bedürfnissen ent-
gegenkommt. Es scheint uns, daß der wichtigste Zug dieser Subkultur nur als eine
Reaktion auf das Statussystem der Respektablen verstanden werden kann. Es wird
so zu einer Tugend, die Moral der Mittelklasse zu verspotten und ihr zu trotzen.
Die Mittelklassengesellschaft wird als Bezugsgruppe zurückgewiesen. Der „gute“
Junge und die Personen, nach deren Maßstäben er als gut gilt, werden zum Ge-
genstand der Verachtung, der Lächerlichkeit und der Aggression. Kurz, die delin-
quente Subkultur übt für ihre Mitglieder eine doppelte Funktion aus: sie verleiht
jenen Status, die sonst keinen haben, und sie rechtfertigt Feindseligkeit und Ag-
gression gegen jene, derentwegen die Selbstachtung ihrer Mitglieder leidet. Da-
bei möchten wir besonders hervorheben, daß wir es hier mit einer kollektiven
Reaktion zu tun haben und nicht mit gleichen Reaktionen einer Vielzahl von In-
dividuen. Der delinquente Weg, den wir meinen, das heißt das ihm entsprechen-
de System von Tätigkeiten und von Überzeugungen, auf die sich diese Tätigkei-
ten stützen, erscheint möglich und lohnend, weil er von einer Gruppe geschaffen
und erhalten wird. Für jedes einzelne Mitglied stellt die Gesamtheit der übrigen
Mitglieder die Bezugsgruppe dar, die ihm die sozialen Kriterien der Gültigkeit
und die sozialen Belohnungen des Status verschafft. Es ist zwar nicht unmöglich,
daß ein Einzelner delinquentes Verhalten „erfindet“ und praktiziert. Jedoch leidet
ein solches Individuum unter Selbstzweifeln, Unsicherheit, Ambivalenz, Schuld,
Angst, sozialer Isolierung und Zurückweisung. Die dunkle Befriedigung, welche
es aus seinem delinquenten Verhalten zieht, muß in der Tat so stark sein, daß sie
die Kosten voll aufwiegt, die es dafür zu bezahlen hat.
Die vorangegangene Skizze ist keine ins einzelne gehende Darlegung unse-
rer Theorie, sondern sie weist lediglich auf die allerwichtigsten Glieder unseres
Gedankenganges hin. Für unseren gegenwärtigen Zweck braucht die Darstellung
Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen 277

auch nicht vollständig zu sein. Ob die Theorie Gültigkeit besitzt oder nicht, ist in
der Tat an diesem Punkt nicht so wichtig. Wichtig ist hingegen, daß in dieser Wei-
se das Problem der Jugendkriminalität auf eine wirklich soziologische Ebene ge-
stellt wird.
Wir haben uns gefragt, warum die delinquente Subkultur den Inhalt hat, den
sie offensichtlich besitzt, und weshalb sie in der Weise verteilt ist, in der sie tat-
sächlich im sozialen System auftritt. Wenn wir die Frage so stellen, dann muß eine
Antwort auf der soziologischen Ebene gegeben werden; wir müssen Auskunft dar-
über geben, was in der Struktur der amerikanischen Gesellschaft für gewisse Züge
dieser Gesellschaft verantwortlich ist. Der Zweck unserer Ausführungen besteht
darin, die Art der Logik und der Methodologie zu zeigen, die dabei im Spiele sind.
Wir sind uns bewußt, daß die vorgetragene Theorie noch sehr viel verfeinert und
verbessert werden kann, doch braucht dies unserer Ansicht nach nicht zu bedeu-
ten, daß damit der hier benutzte breitere soziologische Bezugsrahmen wieder auf-
gegeben werden muß.

Die Delinquenz der Mittelklasse

In der Tat liegen einige Grenzen unserer Theorie auf der Hand. So gibt sie besten-
falls eine Erklärung für einen Ausschnitt aus der gesamten Delinquenz in den USA
oder vielleicht sogar aus der subkulturellen Kriminalität überhaupt. Mit ziemli-
cher Sicherheit steht fest, daß die delinquenten Subkulturen wenigstens zum Teil
von verschiedenen sozial strukturierten Mechanismen erzeugt werden. Eine be-
sonders auffallende Begrenzung unserer Theorie liegt darin, daß sie die Delin-
quenz der Mittelklasse nicht erklärt. Die Kriminalität ist in den Vereinigten Staa-
ten seit 1948 allgemein gestiegen, wahrscheinlich aber ist die Zunahme in der
Mittelklasse unverhältnismäßig groß. In manchen Gemeinden mag kriminelles
Verhalten sogar ebenso häufig in der Mittelklasse vorkommen wie in der Arbeiter-
klasse. Jede Soziologie der Kriminalität in der amerikanischen Gesellschaft muß
sich deshalb mit der Tatsache auseinandersetzen, daß es auch in der Mittelklasse
Kriminalität gibt. Unsere jüngsten Überlegungen in dieser Richtung können viel-
leicht die Natur unseres allgemeinen Ansatzes noch weiter erhellen.
In unserer Diskussion über die Klassenunterschiede bezüglich der Delinquenz
nahmen wir implizit an, daß der aus der Mittelklasse stammende Junge von delin-
quentem Verhalten auf Grund dessen abgehalten wird, was man als „deferred gra-
tification pattern“, als das Muster der aufgeschobenen Belohnung bezeichnet hat,
das heißt auf Grund der Unterdrückung augenblicklicher hedonistischer Wün-
sche und unmittelbarer Impulse zugunsten der rationalen Verfolgung von Zie-
len auf lange Sicht. Der idealtypische Knabe aus der Mittelklasse, wie wir ihn be-
278 Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen

schrieben haben, neigt aus zwei Gründen nicht zur Delinquenz: Erstens hat er
nicht die Statusprobleme des Arbeiterjungen, für die, wie wir vermuten, die De-
linquenz eine Lösung bedeuten kann, und zweitens kann er es sich nicht leisten, an
einer delinquenten Gruppe teilzunehmen. Er kann es sich nicht leisten, weil die
delinquente Gruppe an ihre Mitglieder Forderungen stellt, die mit den Zielen und
den dahin führenden Wegen des Knaben aus der Mittelklasse unvereinbar sind.
Die Gruppe verlangt von ihren Mitgliedern Loyalität, Gegenseitigkeit, Teilen und
gegenseitige Hilfe, mit anderen Worten verlangt sie die Unterordnung der per-
sönlichen, weit gesteckten Aspirationen unter die Forderungen und das Wohler-
gehen der Gruppe. Unnötig zu sagen, daß sie auch ungeheure Anforderungen an
die Zeit der Jungen stellt. Der Mittelpunkt des delinquenten Gangs ist bekannt-
lich die Straße; er „lungert an Straßenecken herum“, „treibt sich herum“, „vergeu-
det“ und „schlägt die Zeit auf der Straße tot“, in Torwegen und an Ständen, wo Sü-
ßigkeiten verkauft werden. Die delinquenten Subkulturen geben der Kriminalität
nicht nur einen gesellschaftlichen Halt, sondern sie verschaffen ihren Mitgliedern
auch einen Lebensplan, eine Lebensweise. Und in dem Maße, in dem ein Junge
der einen oder anderen Lebensweise verpflichtet ist, kann er nicht an der ande-
ren teilnehmen.
Nun war das „deferred gratification pattern“, das Muster der aufgeschobe-
nen Belohnung für die Mittelklasse mehr als eine Tradition. Dieses Muster wur-
de nämlich von einer sozialen Struktur getragen, in der die Erreichung der Mit-
telklassenziele in hohem Maße von der Konformität mit dem genannten Muster
abhing. In einer Gesellschaft, in der noch ein verhältnismäßig großer Mangel
herrschte und die technologisch nicht so fortgeschritten war wie die heutige ame-
rikanische Gesellschaft, bestand eine starke Nachfrage nach mehr oder weniger
ungelernten Arbeitskräften sowie ein starker Druck, die jungen Burschen schon
im frühen Alter dem Arbeitsmarkt zuzuführen. Die Schulen waren nicht gezwun-
gen, Faulpelze und Unbegabte aufzunehmen, und weder die Eltern noch der Staat
waren bereit oder in der Lage, junge Leute während langer Zeit zu leiten und zu
unterstützen, es sei denn, sie erwiesen sich als besonders ehrgeizig, ernsthaft und
vielversprechend. Die Erwachsenen diktierten die Bedingungen, unter denen die
Jugendlichen in den Schulen bleiben konnten, und wer dies nicht verdiente, wur-
de mitleidlos dem Arbeitsmarkt zugeführt.
Die letzten Jahre waren demgegenüber durch eine erstaunliche Steigerung der
Produktivität gekennzeichnet, durch eine zunehmende Nachfrage nach Arbeits-
kräften für Beschäftigungen mit höherem Status, durch eine dank größerer Ein-
nahmen erhöhte Möglichkeit des Staates, neue Verantwortungen zu übernehmen,
durch einen wachsenden Druck, die Jugendlichen dem Arbeitsmarkt fernzuhal-
ten, und durch eine allgemeine Erhöhung der Familieneinkommen. Die Funktio-
nen der Schulen haben sich verändert. Es ist ihnen die Verantwortung übertragen
Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen 279

worden, die Kinder von den Straßen und vom Arbeitsmarkt fernzuhalten – und
als „Kinder“ werden mehr und mehr all diejenigen betrachtet, die noch nicht
18 oder 19 Jahre alt sind. Wer unter 16 Jahren die Schule verläßt, wird von dieser
ganz unabhängig von seiner Herkunft, seinen Fähigkeiten oder Aspirationen im-
mer mehr als ein „Versager“ angesehen. Dies bedeutet, daß die Schulen nicht mehr
wie früher in der starken Lage sind, ein hohes Leistungsniveau aufrechtzuerhalten.
Die Kinder können nicht mehr einfach hinausgeworfen werden, wenn sie einem
solchen Niveau nicht genügen. Um eine unerträgliche Überfüllung der unteren
Schulklassen zu vermeiden, müssen die Schüler regelmäßig und unabhängig von
ihren Leistungen versetzt werden. Der wichtigsten Sanktion, nämlich die Kinder
auszuschließen oder sie nicht in eine höhere Klasse zu versetzen, beraubt, müssen
die Schulen versuchen, die Schulzeit mehr zu einer angenehmen Erfahrung als zu
einer Disziplin zu gestalten. Mehr und mehr bemühen sie sich, die Kinder glück-
lich und gut angepaßt zu machen. Der Abschluß der Mittelschule ist heute für die
meisten Jugendlichen mit mäßiger Begabung viel leichter zu erreichen als in der
Vergangenheit und hängt weniger als früher von harter Arbeit und tatsächlicher
Leistung ab. Der Eintritt ins College – der am häufigsten beschrittene Weg zu den
Berufen der Mittelklasse – ist ebenfalls leichter geworden, da eine Reihe von Col-
leges für die Aufnahme kaum mehr verlangt als den Abschluß der Mittelschule;
außerdem spielen in Zeiten der Vollbeschäftigung und Prosperität die finanziellen
Schranken, die früher eine höhere Erziehung erschwert haben, kaum mehr eine
Rolle. All dies erzeugt in den Augen der Kinder, die aus der Mittelklasse stammen
und die die Ambitionen ihrer Klasse haben, ein Bild von der Welt, in der die Er-
reichung künftiger Ziele nicht so sehr davon abzuhängen scheint, was sie jetzt tun,
wie dies noch vor einer oder zwei Generationen der Fall war. Die strukturellen
Stützen des „deferred gratification pattern“, der aufgeschobenen Belohnung, sind
erheblich schwächer geworden.
In dem Maße, in dem sich dieser Wandel vollzog, verlor eine der hauptsäch-
lichsten Abschirmungen der Mittelklasse gegenüber der Jugendkriminalität an
Bedeutung. Es ist heute möglich, hinsichtlich der Ansprüche zur Mittelklasse zu
gehören und trotzdem an den „Straßenecken herumzulungern“. Die Jugend aus
der Mittelklasse wendet sich hedonistisch orientierten „Jugendkulturen“ zu. Diese
Jugendkulturen sind nicht notwendigerweise delinquent, doch sind sie im allge-
meinen durch Vergnügungssucht und durch die Emanzipation von der Kontrolle
der Erwachsenen gekennzeichnet.
Die neue Situation enthält aber auch gewisse positive Motivierungen für ein
spezifisch delinquentes Verhalten. Man darf nicht vergessen, daß sich im „altmo-
dischen“ System das traditionelle Verhalten der Mittelklasse nicht nur auf lange,
sondern auch auf kurze Sicht, und zwar hinsichtlich des Status, bezahlt mach-
te. Die Zurückstellung von Konsum und die Unterdrückung von Versuchungen
280 Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Subkulturen

zugunsten nüchterner, produktiver und „konstruktiver“ Tätigkeiten, die für den


späteren Erfolg in den Rollen männlicher Erwachsener als notwendig erachtet
wurden, stellten einen legitimen und anerkannten Weg dar, um die eigene Männ-
lichkeit und Reife zu begründen und zu rechtfertigen. Weil dies von den ande-
ren Mitgliedern der eigenen Umwelt so gedeutet und bestätigt wurde, erhöhte es
auch die Selbstachtung und das Selbstbild eines Jungen, der sich auf dem Weg be-
fand, ein Mann zu werden. Das alte Statussystem der Mittelklasse kam also einer-
seits den Anforderungen der Sozialisierung für die Erwachsenenrollen und an-
dererseits dem Bedürfnis des Kindes nach Selbstachtung entgegen. Der Anreiz,
eine Bestätigung der eigenen Männlichkeit und Reife innerhalb dieses Statussys-
tems zu suchen, ist nun aber, wie wir gesehen haben, beträchtlich zurückgegangen,
weshalb die Jugendkulturen die Aufgabe übernommen haben, Mittel und Wege zu
finden, um dasselbe in einem hedonistisch orientierten Bezugsrahmen zu bieten.
Die hohe Bewertung von Rücksichtslosigkeit, Tapferkeit und des Spiels mit der
Gefahr – dieser traditionell männlichen Symbole – stellt zum Beispiel einen Weg
dar, der zu einem ausgesprochen räuberischen und destruktiven Verhalten füh-
ren kann. Die Nachahmung und zwanghafte Übertreibung gewisser Erwachse-
nenmuster, besonders derjenigen, die mit Geschlecht und Automobilen zu tun ha-
ben, stellen einen anderen Weg dar; beide können zur Delinquenz führen.
Wir haben hier eine Reihe von sozial strukturierten Motivierungen für die Bil-
dung delinquenter Subkulturen beschrieben, von Motivierungen, die sich von der
an erster Stelle beschriebenen unterscheiden und die nicht nur das Vorhanden-
sein von Kriminalität in der Mittelklasse, sondern auch deren Zunahme verständ-
lich machen können. […]

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