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Sachlichkeit
Festschrift
zum achtzigsten Geburtstag von
Helmuth Plessner
Herausgegeben von
Günter Dux und Thomas Luckmann
Gesamtherstellung von
Vorwort
Diese Festschrift ist Helmuth Plessner aus Anlaß seines achtzigsten Geburtstages ge-
widmet. Ihre Beiträge sind nicht nur der Thematik, sondern ebenso im Denkansatz und
in der Logik ihrer Aussagen so verschieden, daß der Versuch, sie unter eine gemeinsame
Überschrift zu bringen, fehlschlagen müßte.
Der Titel der Festschrift ist gleichwohl nicht ohne Grund gewählt. Er zielt auf eine Pro-
blematik, die besonders geeignet ist, das Werk Plessners und seine Bedeutung zu er-
schließen. Im Begriff der Sachlichkeit verdichtet sich der vor allem in den anthropolo-
gischen Arbeiten unternommene Versuch, einer erkenntnistheoretischen Problematik
Herr zu werden, die schon den Zugang zur menschlichen Lebenswelt nicht zu finden
weiß und den Begriff der Wahrheit zunichte zu machen droht. Auch in der Sozialphilo-
sophie verfolgt Plessner das Ziel, durch eine auf das Prinzip der Unergründlichkeit ge-
stellte Sachlichkeit Grund zu legen für eine Theorie der Gesellschaft, insbesondere des
Politischen in ihr.
Nicht wenige der hier veröffentlichten Beiträge sind dieser Problematik verpflichtet
und lassen darin den Einfluß der Plessnerschen Arbeiten erkennen.
Die Herausgeber danken der Werner-Reimers-Stiftung und ihrem Vorstand Herrn Pro-
fessor Konrad Müller sowie dem niedersächsischen Kultusminister für die finanzielle
Förderung des Druckes der Festschrift. Ihr Dank gilt gleicherweise Herrn Dr. Middel-
hauve und dem Westdeutschen Verlag, die den Herausgebern ebenfalls großzügig
entgegengekommen sind.
Inhalt
Teil2: Soziologie
R. F. Beerling, Leiden
Unheilige Dreifaltigkeit: Macht, Aggression, Gewalt 253
Der Mensch widerspricht sich; sein nackter Leib ist ihm bald ein Unfertiges, das er zu-
richtet, bald ein Unvollkommenes, das er ergänzt.
Ein Beispiel für Zurichtung (Manipulation): Herodot (VII, 208/209) beschreibt die
Vorbereitungen der spartanischen Krieger vor der Schlacht bei Thermopylai: »Nun sah
er (sc. der persische Kundschafter), wie einige turnten, andere sich das Haar kämmten.«
Der Grieche Demaratos erklän später dem verwunderten Xerxes: »Diese Leute wollen
uns hier im Engpaß eine Schlacht liefern, und darauf bereiten sie sich vor; denn es ist
Sitte bei ihnen, wenn sie ihr Leben aufs Spiel setzen wollen, sich das Haupt zu
schmüd!:en ... «
Ergänzung oder Integration: -nur von diesem Noch-Nicht, vom ergänzenden Addi-
tiv und vom ergänzenden Menschen wird im Folgenden gehandelt: In seinem Aufsatz
»über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« schildert Kleist, wie
Mirabeau am 23. Juli 1789 in der Sitzung der Assemblee Nationale den königlichen
Zeremonienmeister abfertigt. Der Dichter, der nicht Geschichte schreiben will, imagi-
niert die Geste, mit wehher der Tribun den unglücklidten Marquis de Dreux-Breze
vernichtete: »Vielleicht daß es ... zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein
zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung
der Dinge bewirkte.«
Der Aufsatz entstand in den Jahren 1805/06. Kleist hatte damals auf die militärische
Laufbahn verzichtet und konnte sich bekannt machen mit dem fragwürdigsten Element
zeitgenössischer bürgerlicher Adjustierung, mit der vollkommen-unvollkommenen Bat-
tistkrause. War diese, infolge einer unvermeidlichen, dennoch »falschen« Bewegung des
Arms über die Hand gefallen, mußte sie mit einem Rud!: zurüd!:geworfen werden.
Was Kleists Abbreviatur nur erraten läßt, stellt Rilke deutlich vor: Malte Laurids
Brigge zerrt aus den Wandschränken im Giebel von Ulsgaard Kostüme hervor und pro-
biert neugierig an, was ihm paßt. »Kaum hatte ich einen dieser Anzüge angelegt, mußte
ich mir eingestehen, daß er mich in seine Macht bekam; daß er mir meine Bewegungen,
meinen Gesichtsausdruck, ja sogar meine Einfälle vorschrieb; meine Hand, über die die
Spitzenmanschette fiel und wieder fiel, war durchaus nicht meine gewöhnliche Hand;
sie bewegte sich wie ein Akteur ... Diese Verstellungen gingen indessen nie so weit, daß
10 Franz Pariser
ich mich mir selber entfremdet fühlte; im Gegenteil, je vielfältiger ich mich abwandelte,
desto überzeugter wurde ich von mir selbst.« 1
Gemäß ihrer inneren Form stimmt die Manschette nicht zu den Bewegungen des Men-
schen, sie erzeugt Unruhe.
Objektdenken
Ein FallA:
Am ersten Sonntag im Mai versammelt sich die Landsgemeinde des Schweizer Kantons
Glarus zur Gesetzgebung. Wenn die Mitglieder des gewählten Landrates dann geschlos-
sen vom Rathaus zum Ort des Staatsaktes ziehen, drü<kt sich ständische Ordnung, In-
tention und Gesinnung der Fraktionen durch das Kippmoment eines Kulturobjekts aus:
die großbürgerlichen Liberalen zeigen einen Zylinder, der bereits bei einer Kopfnei-
gung von 20 Grad entgleiten muß; die Mittelstandsdemokraten dirigieren sich mit
Rü<ksicht auf die steife Halbkugel einer Melone, die eine Bewegungsamplitude bis zu
45 Grad zuläßt; der weiche Schlapphut der Demokraten erlaubt gefahrlose Rumpfbeu-
ge bis 90 Grad a.
Es erweist sich: ohne daß logisch-tedmisches Kalkül angewandt wurde, ist hier ein Sy-
stem entstanden, in dem gestaffelte Amplituden zu verhindernder Bewegungsexkurse
den Graden gesellschaftlicher Förmlichkeit entsprechen.
Daß eine durdt den Gegenstand gestiftete Möglidtkeit der Glissade und die ihr ent-
gegenwirkende Willkürhaltung des Subjekts die innere Form eines anverleibten Gebil-
des bestimmt, daß deshalb dem »hinfälligen« Hut ein höherer demonstrativer Wert zu-
kommt als einer Kopftracht im Gleidtgewicht, - darüber hat sielt Hermann Lotze Ge-
danken gemadtt. »Jede Kopfbede<kung«, so bemerkt er, »repräsentiert in der Senkredt-
ten, die durch ihren Schwerpunkt geht, die ... (sc. auf der Fingerspitze balancierte)
Stange; ihr Wert für das Gefühl steigt mit ihrer Höhe und zum Teil mit ihrer Form,
dann nämlich, wenn die letztere eine Massenverteilung zur Folge hat, welche den
Schwerpunkt bemerklidt nach oben rüdtt und zugleidt bei dem Abweichen von der
senkrechten Ridttung eine kräftige Neigung nach einer Seite bewirkt, die durdt eine
balancierende Anstrengung der Muskeln überwunden werden muß.« 4
EinFallE:
London, April 1956. Zwei Polizisten standen als Angeklagte vor Ridtter und Jury
einer Kammer des High Court of Justice; bei ihrer Runde durch die leeren Straßen von
Widerspruch und Selbstgestaltung 11
Kensington hatten sie an einem Sonntag morgen zwei harmlose Spaziergänger fest-
genommen, weil sie >>plimsols« trugen 5 •
Plimsols, Segeltuchschuhe, passen sich der wechselnden Gehunterlage vorzüglich an; sie
werden ohne Schaden in der Längs- wie in der Querachse beliebig durchgebogen, erlau-
ben also große Bewegungsexkurse. In der Verhandlung durften demnach diese Tuch-
schuhe als Werkzeuge krimineller Tätigkeit gekennzeichnet werden. Es stand zudem
nach Aussage des einvernommenen Sachverständigen fest, daß jemand, der sich am
Sonntag morgen in Plimsols öffentlich zeigt, zum mindesten den Anstand gröblich ver-
letzt; die Situation, d. h. die Zeit: wenige Stunden, bevor ehrliche Leute die Kirche
besuchen- und der Ort: die Straße eines vornehm ruhigen Wohnviertels- forderten die
Disziplin des schwarzen Halbschuhs.
Opponierende Gefügeeigenart und die Unnachgiebigkeit der Lederkonstruktion geben
dem Halbschuh den Charakter eines Schmerzgerätes. Diesem Gebilde fehlt der Bezug
auf die Gliederung von Fußwurzel, Mittelfuß und Zehen; in ihm sind die Wülste und
Ballen der Muskulatur, die Vorwölbung des Knöchels eingeebnet. Zugleich wirkt das
unvollkommene Fußfutteral auch als Sperrvorrichtung, - die Möglichkeit eines »ne
fiat<< stellt sich her: das Leder wird durch Politur zum Konvexspiegel; die gewölb-
ten Flächen strahlen je nach ihrer Stellung zur Lichtquelle die einfallende Hellig-
keit bald von der Spitze, bald von den Flanken zurück. Da das Reflexvermögen leicht
gestört wird, weiß sich der Träger der idealischen Glanzlichter durch glanzvernichtende
Gegenwelt bedroht; er hemmt sich!
Eine Definition, die auch außerhalb des angesprochenen sakralen Bereichs gilt, kenn-
zeichnet das Ich-Sein in einem Hemmschuh. Durandus, Bischof von Mende, der im
Rationale Divinorum Officiorum die liturgische Symbolik deutet, erklärt auch den
Sinn der kostbaren »solea«, die ein Priester in pontificalibus trägt: >>Per ... calciamen-
tum prohibitio pedum congrue intellegitur.« (lib. III, c. VIII).
Sprachlicher Leichtsinn ordnet ebenso den glänzenden Halbschuh in die Reihe von
Varianten der Fußtracht, wie er den kippenden Zylinder in die Kategorie Kopftracht
weist. Doch verglichen mit dem Plimsol, der den Weg überwindet, verglichen mit dem
Schlapphut, der dem Wetter widersteht, ist Halbschuh ebenso wie Zylinder ein aliud;
ihr Widerstand ist anderer Art, richtet sich nicht schützend gegen Unbill von draußen,
sondern nach innen, gegen den Menschen selbst. Die Vorrichtungen »prohibitio pedum«,
»prohibitio colli<< lenken ein Tun, bei dem der Mensch sich selbst widersteht, sind
Geräte der Introversion, der Innerlichkeit.
der Zustände untersucht werden soll, dann greift der Grundsatz der Zweckmäßigkeit,
das Gesetz des geringsten Energieaufwands ins Leere. Mit anderen Worten: »la loi de la
moindre quantite d'action« ist zu ersetzen durch ein entgegengesetzes Prinzip des
jeweils mehr als geringsten Aufwands, einen »negativen Maupertuis<< 6,
Was wertgemäß in der Phase des Unnötigen, muß in der Phase des Notwendigen, unter
den Bedingungen zweckhaften Handelns, wertwidrig sein. Eine Stelle in der >>Psycho-
machia<< des Prudentius, die mehr ist als ein bloßes Kuriosum für den antiquarischen
Realienkatalog, illustriert diese phasenbedingte Gegensätzlichkeit der Normen: der
fünfte Kampfgang im Streit der Tugenden mit den Lastern endet damit, daß der Friede
erscheint; die Feinde fliehen, die Verteidiger, die sich geschürzt hatten, lösen die Span-
gen und lassen das Gewand wieder bis auf die Füße hinunterfallen. Nun mäßigt beson-
derer Anstand den raschen Schritt - »... temperat ... rapidum privata modestia gres-
sum<< (v. 635).
Wenn die Männer vor dem Kampf das Störmoment des Gewandes neutralisierten, dann
handelten sie gemäß der Forderung zweckbestimmter Vernunft. Wenn sie im Übergang
zum Stadium mitmenschlicher Intention die physische Behinderung wieder einrichteten,
bestimmte der Anstand ihr Tun. - Ein praktischer Gesichtspunkt verlangte Beseitigung,
ein gesellschaftlicher forderte Wiederherstellung des Störmoments.
Widerstand
Der lebendig bewegte Mensch begegnet dem Additiv bald als einer Barriere, bald als
einer Last von oben, bald als einem Zug von hinten; er wendet sich gegen Additive, die
als Ringkonstruktionen seinen Hals, seinen Rumpf, Arm oder Fuß umschließen.
Die technisch einfachste Sperrvorrichtung, die den durch ein Additiv Ergänzten
zwingt, seinem Leib zu widerstehen, ist ein Fußfutteral, dem man die Eigenschaft eines
Hemmschuhs gibt.
Im Jahr 1365 erließen Karl V. von Frankreich und Papst Urban V. eine Ordonnanz, in
der das Tragen von Schnabelschuhen verboten wurde. Die Chronik des Guillaume de
Nangis kommentiert diesen Erlaß; zum Paragraphen 14 der Verordnung, der von den
>>Poulenas«, den polnischen geschnabelten Schuhen, handelt, sagt er: König Karl ließ
diese Anordnung verkünden, >>quia res erat valde turpis et quasi contra procreationem
naturalium membrorum circa pedes, quinimo abusus naturae videbatur.<< 8
>>Schöpfungswidrig« war in der Tat dieser Leibeswiderstand, dessen hethitisch-syrisches
Vorbild die Kreuzfahrer im Heiligen Lande bewundert hatten. Wer in diesen zur Weg-
achse schräg ausgerichteten, wippenden, extrem überlängerten Gebilden einherschritt,
der mußte bemerken, daß nicht allein die Spurbreite, die Frequenz seiner Schritte um-
gestimmt, daß der natürliche Rhythmus der Schwing- und Stützphasen verändert
wurde- er erfuhr auch ein anderes: er erinnerte sich seines vergessenen Leibes.
Die widervernünftige Fußtracht, die den >>Adjustierten« wunderliche Lust stiftete, be-
gabte die europäische Zivilisation mit einem kollektiven Delirium, das fast zwei Jahr-
hunderte andauerte. Da sid1 Handwerker und Kleinbürger mit dem billigen Zeug
billige Selbstverwirklichung verschafften, zugleich aber die großen Herren die neue
lustbringende Widervernunft für sich allein beanspruchten, mußte jene Verfügung von
König und Papst erlassen werden, die den kleinen Mann vor dem >>abusus naturae«
schützte.
Dem Außenstehenden ist die Unstimmigkeit der polnischen Erfindung offensichtlich;
dem Zeitgenossen blieb die Dissonanz verborgen, weil der Energieaufwand, den das
Störgerät erforderte, mit gesellschaftlicher Geltung belohnt wurde.
An Mahnungen, Warnungen, trivialen oder weltbedeutenden, hatte es nicht gefehlt. In
den >>poulaines« konnte man schlecht tanzen; sie waren schuld daran, daß es auf dem
Tanzboden zu Mord und Totschlag kam, - ein königlicher Straferlaß aus dem Jahr
1392 bezeugt Ursache und Wirkung 9 • In den »poulaines« konnte man auch nicht
kämpfen; das bestätigt >>La Chronique du Religieux de St. Denis« im Bericht über einen
Vorgang des Jahres 1396: Christliche Ritter trugen, als sie mit den Ungarn gegen die
Türken bei Nikopolis in die Schlacht rückten, Schnabelschuhe - das Störgerät vernich-
tete ihre Leibestüchtigkeit; sie wurden niedergemetzelt 10 •
Widerspruch
Die Dissonanz von Person und Welt ist immer dann gewährleistet, wenn in der zusam-
mengesetzten Bildung Vorrichtungen fehlen, welche die Teile des bimorphen Ganzen
zusammenhalten. Die Person beugt dann dem Fallen des Hinfälligen, dem Pendeln des
14 Pranz Pariser
Pendelnden (vgl. Abbildung 1), dem Entgleiten des Gleitenden vor, indem sie sich gegen
sich selbst wendet. In Leibesbezirken, die ihrem Willen zugänglich sind, dirigiert sie ihre
Bewegungen so, daß entstaltende Schwerkraftwirkungen nicht ausgeglöst werden; die
Person verbietet sich Mitbewegungen, unterbricht gleitend gekoppelte Bewegungsvoll-
züge und versucht, auch Ausdrucksbewegungen zu beherrschen.
Selbst dann, wenn solche Vorrichtungen nicht vorhanden sind, wenn es also nicht eines
gegen die Entzweiung gerichteten Energieaufwandes bedarf, stachelt die Dissonanz der
Schwerkraftwirkungen zu kontrollierender Tätigkeit an; die Person wird dann Ver-
schiebungen in der Anordnung der Stoffmassen, Störungen dominanter Formen, deut-
licher Symmetrien oder prägnanter Winkel und die Entblößung tabuierter Leibes-
zonen verhindern wollen.
Wie gesellschaftlich suggerierte Selbsttätigkeit den Hunger des Muskelsinns befriedigt,
wie eine herausexperimentierte Selbstbetonung zu dynamisch wirksamen Formen
drängt, das illustrieren zwei Daten der Kulturgeschichte:
Skelettfunde aus Gräbern bei Syrakus bezeugen für die Verhältnisse des fünften und
vierten Jahrhunderts v. Chr., daß Knaben ihre Chlamys mit einer Spange über der
Schulter befestigten, daß aber die Jünglinge, die das Alter für das Gymnasium erreicht
hatten, ihre Chlamys ungesichert auf den Schultern balancierten 11 •
Haarpuder war in der ersten Phase der Entwicklung ein kosmetisches Mehl, das fest
haftete; mit der Zeit entwickelte sich aber der »poudre ablanc« zum »poudre afrimas«
(Rauhreifpuder), bei dem der Staub so lose auflag, daß er bei der kleinsten Bewegung
des Kopfes flüchtig wurde 12.
Im Widerspruch zum Leib, in beherrschten Bewegungen des Oberkörpers, des Kopfes
mußte die Person die ungesicherte Chlamys, den ungesicherten Haarstaub balancieren.
Wachend über sich und ihre Bewegungen nimmt sie sich wahr und weiß sich wahrge-
nommen in der Gemeinschaft und spürt dies leibhaft.
Der Widerspruch im Subjekt (und mithin sein Selbstbewußtsein) wächst, wenn dieses
in Konflikt mit der Realität gerät: die der Entzweiung (Beispiel Chlamys), der Ent-
staltung (Beispiel Haarpuder) vorbeugenden Handlungen sind Sekundärakte, solche,
die also gleichzeitig mit den eigentlichen Zweck- oder Primärhandlungen verlaufen.
Die Spannung zwischen den beiden Handlungssystemen äußert sich in folgenden
Verhältnissen:
Im allgemeinen beeinflußt die Primärhandlung den Ablauf der Sekundärakte; haupt-
zeitliche Tätigkeit stört die Sekundäraufgabe - wer ein Orchester dirigiert, besorgt oft
nicht die Ordnung seines Fracks (Karajan -).
Eine Sekundär- oder Sonntagshandlung kann aber auch eine hauptzeitliche Tätigkeit
stören: wer für die Krause sorgt, kann nicht Weizen hauen. Giulio Alberoni, der
Minister Philipps V., besaß Weltklugheit und Beobachtungsgabe: ihm kam die Einsicht,
daß die gestärkte Halskrause, collare sinuosum, an der spanischen Mißwirtschaft mit-
schuldig war. In einem Brief an den Vater der Königin bemerkt er: »Diese majestätische
Zierde ..., die den geringsten Bewegungen Gemessenheit verleiht, mußte die Geschäfte
des spanischen Landes nachhaltig beeinflussen; der Kärrner hat ebenso wie der erste
Grande die Sorge, daß der Kragen sich nicht zerdrücke, und der Hidalgo zieht ein paar
Zwiebeln, die er einsammelt, ohne den Halskragen abzulegen, den tausend Maß Wei-
Widerspruch und Selbstgestaltung 15
zen vor, die er nur ernten kann, wenn er sich für ein halbes Jahr von der majestätischen
Zierde trennt.« 13
Die dritte Variante im Verhältnis von Primär- und Sekundärhandlung kommt im
unentschiedenen Konflikt der beiden Momente zum Ausdruck: aus der Dissonanz von
spontanem Ausdruck des Redners und der fast idealen Negativität der Toga ergaben
sich Kombinationen immer wieder aufbrechender Widersprüche, durch welche die
togabedingte Oratio zum Kunstwerk konsequenter Kontrapunktik gesteigert wird.
über dieses >>punctum contra punctum<< unterrichtet Quintilian im 11. Buch der Insti-
tutio Oratoria. Er erteilt hier dem Redner Befehle, Warnungen, Verbote, welche die
eigentümliche, dem Togatus durch die Toga gestiftete Spannung deutlich machen. Die
forensische Handlung, die Rede vor dem Prätor, verlangt den Ausdruck; dieser ver-
wirklicht sich in der Ausdrucksbewegung. Aber da die an einen bestimmten Spannungs-
verlauf gebundene Ausdrucksbewegung die Ordnung des dauernd flüchtigen und doch
bis in jede Einzelheit festgelegten Faltenwurfs sprengt, muß der Togatus in objek-
tivierender Einstellung zum eigenen Leib, entscheiden, ob er sich im Vortrag die form-
widrige Äußerung seines Gefühls erlaubt, oder ob er das Gefühl gleichsam nicht gesche-
hen lassen und auf den Hörer durch den Ausdruck des unterdrückten Ausdrucks wirken
will.
Wie sich der Togatus durch den abstrahierenden, die Deutlichkeit des Gliedbaus auf-
hebenden Stil der Gewandung phänomenal verändert, so erfährt er auch eine seelisch-
körperliche Umstimmung; er erwirbt durch die Toga die Verfügung über die Möglich-
keiten seines Leibes in solchem Maße, daß das zwangsläufige Geschehen der Bewegun-
gen fast aufhört und die Handlung in völlig beherrschten Bewegungen verwirklicht
wird.
Beherrschte Bewegung
In seiner Typologie der Bewegungen handelt Buytendijk auch von den willkürlichen
oder frei beherrschten Bewegungen.
Als willkürliche Handlungen bezeichnet Buytendijk solche, bei denen man den Willens-
entschluß und die willkürliche Anstrengung, nicht aber die Ausführung, bewußt erlebt;
die willkürliche Bewegung ist in diesem Sinne Verkörperung eines Willensaktes, eine
äußerlich oder innerlich befohlene Tat. >>Die alltägliche Erfahrung und Experimente
über Widerstände, Störungen, Nebenaufgaben usw. lehren uns ..., daß auch während
der Ausführung die willkürliche Bewegung noch an das Subjekt gebunden ist.<< 14
Beispiel einer solchen subjektbedürftigen Bewegung ist das Schreiten einer Person, die
im Dunkeln über einen umgepflügten Acker geht; sie führt dann eine Handlung aus,
deren Teile unabhängig voneinander verlaufen, denn jeder Schritt wird nun zu einer
selbständigen Bewegung, - Rilke nennt sie eine >>gleichsam übertrieben buchstabierte
Bewegung<<. 15
Ein introspektiv erworbenes Wissen ergänzt diese Merkmalsbestimmung 16: ein Spa-
ziergänger bemerkt auf glatter Straße einen Widerstand - das Sohlenleder hat sich von
der Spitze seines rechten Schuhs abgelöst und bildet, wenn er sein Bein hebt, einen Win-
kel gegen den Fuß. Um nicht zu fallen, zieht er das Bein in der Schwingphase energisch
16 Franz Pariser
gegen den Rumpf, bringt es im Obergang zum Stemmen senkrecht nieder und setzt den
durchgebeugten Fuß dabei zuerst mit dem Hacken auf den Boden. Es ergeben sidt als
Erfolg des konstruktiven, bewußt durch Wille und Nachdenken gelenkten Lernens Be-
wegungskombinationen, die er früher nidtt vollzogen hatte.
Sein Weg führt den Selbstbeobachter zu einer Reihe von Stufen; er betritt sie nicht; er
setzt vielmehr das Spiel mit den Möglidtkeiten seines Leibes fort und wandert weiter.
Schließlich entfernt er die bedrohliche Abspaltung aber dodt vom Stiefel. Nun über-
kommt ihn ein Mißvergnügen; sein zielunabhängiges Verhalten, bei dem die Oberwin-
dung der Wegstrecke nur Vorwand gewesen war, hatte das Bewußtsein energischer
Subjektivität hervorgerufen; mit der Beseitigung des Lederstückes verebbt diese köst-
liche presence du moi.
Die hier beobadttete, einer idealen Gehweise offensichtlich widersprechende Fortbewe-
gungsart hat typischen Charakter: weil die Pendelbewegung der Beine abgebremst
wird, ist der Akt in seinen natürlichen Komponenten, den Schritten und ihren End-
punkten, auffällig gegliedert, durch Pausen überdeutlidt betont. So sdtöpfungswidrig
gebraudtte wohl der sonst barfüßige Sokrates seine Gehwerkzeuge, als er sidt in San-
dalen zu Agathon begab; so künstlich hinkten die christlidten Ritter in ihren Schnabel-
sdtuhen, und ebenso unnatürlich wandelte in zeremonialisierten »Drecksdtuhen« Fried-
rich III. zur Begegnung mit der Infantin von Portugal. (Pinturicdtio zeigt den Vor-
gang im Fresko der Libreria, vgl. Abbildung 2.)
Mit dem Hinweis auf die dynamisdte Besonderheit des Lederstückes ist das Beispiel-
hafte dieses Vorgangs ersdtöpft: dem Umgang mit der abgeplatzten Sohle fehlt die ge-
sellsdtaftliche Sanktion - aber gerade deshalb ist das Geschehen hermeneutisdt von Be-
deutung. »... weldte Kräfte der Organismus entwickelt«, sdtreibt Viktor von Weiz-
säcker, »das ist immer nur dadurdt zu erfahren gewesen, daß man ihn »stört«, »reizt«,
»erregt« und seine »Spontaneität« war immer zugleim seine »Irritabilität« 17.
Das Prinzip der Dissonanz, das hier biologisdt gedeutet wird, erklärt es, daß sidt
Zweckgeräte, die ihre Zweckhaftigkeit verloren, also als anverleibte Zeuge nur noch
stören können, zu dynamisdt wirksamen Additiven entwickeln: der Galanterie-Degen
ohne Klinge, die Sporen ohne Pferd, die Wetter-Kapuze im Ratssaal exemplifizieren
diesen FunktionswandeL Audt die abgeplatzte Sohle hätte ein vorzüglidtes Status-
Symbol ergeben.
Erlebte Bewegung
»Die Allgegenwart der Seele im Leib ist ... dem Verstand ebenso unfaßlich wie die All-
gegenwart Gottes«, - so kommentiert Kuno Fischer eine Bemerkung Hegels, welche
vom Wirken der Psyche auf körperliche Vorgänge handelt 18,
Im vierten Buch der Aeneis (v. 518) wird ein Vorgang geschildert, der falsch gedeutet
wäre, wollte man ihn als nur seelischen oder nur körperlidten kennzeichnen: die ver-
zweifelte Dido, die ihr Selbstopfer vorbereitet, umschreitet hinkend den Altar; sie ist,
wie Jason nach dem Durchwaten des Anauros, »monosandalos«.
Während der normal Gehende keine deutlichen Sinneseindrücke von den gleichzeitig
Erzbischof Stigant -
Detail: Tapisserie de Bayeux. 186?
2
Zeremonialisierte Dreck-
schuhe. Detail: Siena,
Libreria - Pinturicchio:
Friednch III. begegnet der
Infantin von Portugal.
3 Ein Mensch geht in die City. (Time- 1967).
Widerspruch und Selbstgestaltung 17
eintretenden Lagen des Rumpfes und der Glieder erhält, überfordert hier das zum Stör-
gerät gesteigerte Kulturobjekt die körperliche Anlage derart, daß kinästhetische Erre-
gungen merklich werden. Die den Geh-Werkzeugen aufgezwungene motorisch-senso-
rische Asymmetrie, das Nacheinander unnatürlich abgebrochener, teilhafter Bewe-
gungsvollzüge bleibt der Person als objektiver Sachverhalt zwar verborgen; aber dieser
pervertierte Ortswechsel erzeugt im Selbstbewußtsein unmittelbare Gewißheit, - Bewe-
gung wird erlebt, begleitet vom Gefühl deutlicher Subjektivität.
Auch ein Zuschauer würde solch modifizierten Geh-Akt nicht als Summe von Bewegun-
gen wahrnehmen; er würde ihn verstehen als Geste, als Ausdruck. Die übliche Bewe-
gungsgestalt der unteren Extremitäten ist eben mit einem hohen Grad von Sicherheit
vorauszusagen; so wirkt sich der modifizierte Geh-Akt als Abweichung aus.
Europäische Tradition hat das dem natürlichen Akt nur entfernt ähnliche Schreiten in
Zeremonie und Ritus bewahrt. Hier darf nicht nur auf die Echtemacher Springprozes-
sion, jenes gegen die Epilepsie eingesetzte Heilverfahren, verwiesen werden. Zu erin-
nern ist auch an eine pathetische Leibesübung, die, durch ein energisches Vor und ein
gewaltsames Zurück unmittelbar verständlich, vom Zuschauer erlebt und nachvoll-
zogen wird: jedes Regiment der englischen Infanterie führt als Trauermarsch eine solche
Ortsbewegung durch, die dem Maupertuis'schen Prinzip vom physischen Minimum
noch aufdringlicher widerspricht als die Turbulenzen der Luxemburger Therapie. Das
im energischen Schwingen vorgesetzte Bein wird nicht am Punkt des jeweils größten
Abstands niedergesetzt, sondern derart zurückgezogen, daß es nur wenig vom Fuß des
Stützbeins entfernt den Boden berührt. Diese Muskelbestätigung, die der Überwindung
der Wegstrecke demonstrativ widerspricht, ist äußerst suggestiv. Wie der Ausführende
die beherrschte Bewegung als Ausdruck einer Intention erlebt, so versetzt sich der
Wahrnehmende in die Intentionalität, die ein solcher Akt ausdrückt 19.
Der Widerspruch gegen die Natur erfaßt auch andere Leibesfunktionen, zwingt vor
allem den Bewegungen des Arms Alterationen auf. Montaigne, der nicht müde wird,
seine privaten Gefühle zu registrieren, bemerkt: »De tout temps j'ai appris de charger
ma main, et a cheval et a pied, d'une baguette ou d'un baron, jusques a y ehereher de
l'tHegance et de m'en sejourner, d'une COntenance affectee.« 20 Merklichkeit der Mus-
kelspannung, gefühlte Bewegung, mitmenschlicher Bezug und seelische Umstimmung
sind hier als Elemente aufgefaßt.
Ein in der Zeitschrift TIME (1967) veröffentlichtes Bild zeigt vor dem Hintergrund
der London-Brücke einen City-Herrn in vollständiger Berufsausrüstung; er ist auf
dem Weg in die Stadt, er trägt - selbstsicher dahinschreitend - zum steifen Hut, zur
Aktenmappe, zur Zeitung in der Manteltasche den wie eine Angriffswaffe energisch
vorgestreckten Regenschirm. Seine Haltung drückt Aggression aus - auch hier Merk-
lichkeit der Muskelspannung, Ausdruck, Geste (vgl. Abbildung 3).
EgoSum
>>Je me trouve en autrui, comme je trouve Ia conscience de la vie dans Ia conscience de
la mort .... je suis depuis l'origine ce melange de vie et de mort, de solitude et de com-
munication ... «
18 Franz Pariser
aber nicht vergessen werden, daß das Kunstwerk der Selbstgestaltung nicht notwendig
des anormalen Bewegungsverhaltens bedarf.
Ein Bericht, der die fatale Stunde des Jahres 44 v. Chr. vielleicht eigenwillig deutet,
mag anzeigen, daß der sterbende Caesar, in Gefahr, nur noch Objekt zu sein, durch eine
gestalthaftbedingte Bewegung seine Subjektivität bewahrt.
Als Sekretär von Hadrian hatte Sueton Zugang zu den Geheimakten; es ist daher
durchaus denkbar, daß er hier, im Bericht eines Augenzeugen, eine Einzelheit erfuhr,
die anderen Historiographen, auch dem Cassius Dio, unbekannt blieb. Im Absatz 82
der Vita Divi Julii erzählt er: Caesar verhüllt sein Haupt mit der Toga und zieht, um
den Unterkörper zu bedecken und so mit Anstand zu fallen, mit der linken Hand die
große Falte bis zu den Knöcheln hinunter.
Die Toga gewährt dem Sterbenden diese Geste. Ein Wort des Thomas von Aquino mel-
det sich: »ex hoc enim ipso quod percipit se agere, percipit se esse.« 24
Beschrieben wurde in den Absätzen dieser Notiz Form und Gefüge von Leibesadditiven
und das von ihnen mitbestimmte Handeln der Person. Der Begriff der Selbsttätigkeit
erfaßt das Eigentümliche der so gekennzeichneten Akte.
Schiller begreift Selbsttätigkeit als das Tun des Menschen, bei dem er sich selbst wider-
steht: »Der zivilisierte Mensch« erwirbt »eine Fertigkeit, den bloß leidenden Zustand
seiner Seele durch einen Akt der Selbsttätigkeit zu unterbrechen« 25 • In Grimms deut-
schem Wörterbuch lautet die Begriffsbestimmung: »jede Einwirkung des Lebendigen
auf sich selbst«, wobei aber das Moment der Freiwilligkeit dieses Handeins betont wird.
Klages deutet voluntaristisch: »Erst indem die entzweiten Seiten der Lebenseinheit
aneinander sich messen, tritt das Gefühl selbsttätiger Anspannung auf ... « 2&
Ob Selbsttätigkeit auch die Einwirkung auf den eigenen Körper begreift, wird in diesen
Definitionen nicht eindeutig bestimmt. Maine de Biran hingegen beantwortet diese
Frage. Er verweist, wenn er von Selbsttätigkeit, vom »acte reflexif« handelt, explizite
auf körperliches Geschehen, auf Muskelsinnerfahrungen, auf wahrgenommene Selbst-
bewegung. Die Merklichkeit einer muskulären Anstrengung ist ihm notwendiger Erleb-
nisbestand teil der Selbsttätigkeit. Er schreibt zum Beispiel: »Le sentiment de la force
moi, qui produit le mouvement, et l'effet senti de contraction musculaire, sont bien
deux elements constitutifs de la perception d'effort volontaire; mais le premier de ces
elements est si necessairement uni al'autre dans la meme perception compU!te, qu'il ne
peut en ~tre separe ... Le fait primitif du sens intime n'est autre que celui d'un effort
voulu, inseparable d'une resistance organique OU d'une Sensation musculaire dont le
moi est cause.« 27
Biran fand seine Erkenntnisse in angespannter Selbstbeobachtung, aber der Sonderfall
einer suggerierten Selbsttätigkeit, das Besondere eines reflexiven Aktes, den eine Sache
und eine Idee, Leibesadditiv und Kulturkonformität mitbestimmen, blieb seinem For-
schen entzogen; deshalb wurde auch die bipolare Intention der Person in der »aus-
gezeichneten Situation« 28 nicht Gegenstand seines Denkens.
20 Fran:z Pariser
In der manipulierten Selbsttätigkeit drü<kt sich die Person aus. Zusätzlicher Energie-
aufwand und eine Intention, sich zu jemandem oder zu einer Situation in Beziehung zu
bringen, sind die dominanten Elemente des Komplexes.
Auguste Flach bemerkt: »Körperliches und Seelisches stehen in innigem Zusammen-
hang, so daß eines zum andern gehörig empfunden wird, daß das Körperliche als Aus-
druck des Seelischen erlebt und dadurch seinem Ausdruckssinn nach erkannt wird.« 29
In der Intention, eine Beziehung zu erfahren, liegt die eigentliche affektive Haltung,
die zu jedem Einzelfall manipulierter ausdrückender Selbsttätigkeit hinzuzudenken
ist.
Die Differenz von ausführender und ausdrückender, von zweckhafter und zwe<klos
sinnhafter Tätigkeit- dies Geheimnis hält man in der Hand, wenn man mit einem Blei-
stift hantiert: der Aufmerksame wird beobachten, daß er von der zwe<khaften Position
der Finger beim Schreiben am Schaft des winzigen Stabes heruntergleitet, wenn er
zum Zeigen übergeht und so, im Sinne der Teste von Lotze, ein Kippmoment erzeugt.
Zusätzlichen Energieaufwand muß er aufbringe~, damit das Gerät ihm nicht entfällt;
dies Plus bleibt allerdings unter der Schwelle kinaestetischer Wahrnehmung.
Durch die Anordnung des Griffesam Szepter ist die Wahrnehmung dieses Kippmomen-
tes mechanisch sichergestellt; am kaiserlichen Szepter, einem Hauptstück der Habsbur-
gischen Regalia, ist das Verhältnis vom Griff zum Schaft eins zu vier. Das Kippmoment
wird hier verstärkt durch den schweren goldenen Blätterschmuck an der Spitze des Sta-
bes. Mit diesem Additiv fühlt der Machthaber den Bezug zu den Mad:1tlosen in seinem
Arm als emphatisch betonte Intention.
Die Gebilde, welche im Experimentieren mit dem Realmodell: Nicht-Nackt hervorge-
trieben werden, haben einen Doppelcharakter: sie erweisen sich als Substrate von Pre-
stige- und Status-Symbolen, durch die und mit denen die Person ihr wir verwirklicht;
sie sind aber auch Werkzeuge der manipulierten Selbsttätigkeit. Diese Janus-Konstitu-
tion der Additive erklärt es, daß sich die Person in der wirklichen wie in der vorgestell-
ten Wir-Situation erstens wahrgenommen weiß, und daß sie zweitens gleichzeitig die
eigene Bewegung wahrnimmt. Hier verschränken sich also Wir-Gewißheit und Ich-Ge-
wißheit, Sozialisation und Individuation.
Fällig ist nun die Erörterung der Methode, die es erlaubte, das Leibesadditiv in seinem
Zusammenhang zu erkennen.
Das addendum corpori erweist sich als hermeneutisch fragwürdig, als sträflich isoliert,
wenn es im Bild oder im Glaskasten als ein Kulturkuriosum den Schaulustigen vorge-
führt wird. Sein So-Sein als sichtbares Objekt ist manifest - sein So-Sein für das eine
Subjekt, von dem es als Nicht-Sichtbares wahrgenommen wird, bleibt verborgen.
Erst in dem Akt, welcher der Sache Sinn beilegt, konnte dieses Unsichtbare gedeutet
werden; in energischer Wendung gegen die Sachidolatrie wurde das Subjekt eingeführt,
das auf die kinaesthetische Besonderheit des Additivs reagiert. Der Mikrokosmos eines
Menschen und die Erlebnisse, die nur ihm zugehören, wurden nun Gegenstand der Deu-
tung.
Widerspruch und Selbstgestaltung 21
Dabei kam ins Blickfeld der in der Same wirkende Widersprudi und das Spannungssy-
stem, in dem sidi eben dieser Widersprudi verwirklidit. Die Momente der Repulsion
und Retardierung, des vollkommen Unvollkommenen erwiesen sidi als Glieder solwer
Figuration; hermeneutisdi bedeutender als die objektiven Faktoren waren die subjekt-
haften: die ne fiat-Vorstellung, die zusätzlime Anstrengung, die manipulierte Selbst-
tätigkeit.
Die Methode, die aus der Same einen Prozeß ableitet, fördert die Einsicht in die »Öko-
nomie des Unsichtbaren« 31. Das Subjekt, das sidi gegen Leistungen und Funktionen des
eigenen Organismus wendet, erweist sidi als der immer widersprediende Mensdi, der
Mensdi, der sich durdi Widerspruch gestaltet.
Es war Aufgabe dieser Vorschule, den Sinn der Zeuge, die diesen Widersprudi stiften,
zu deuten. Was anfangs absurd, vernunftwidrig zu sein smien, darf diese Vorschule
übervernünftig nennen.
Anmerkungen
1 Rilke, Werke (Auswahl in zwei Bänden) 1959 (Insel-Verlag), Bd. II, 84.
2 Vgl. Henri de Lubac S. ]., La Recontre de »Superadditum« et ,.supernaturale« dans la th~o
logie m~di~vale (Revue du Moyen-Age latin, tome I, 1945, pp. 27).
3 Die Vorgänge der Glarner Landsgemeinde nach persönlicher Mitteilung von Herrn Jacob
Streiff.
4 Hermann Latze, Mikrokosmos, Leipzig 3 1878, Bd. 2, S. 210.
5 Times vom 13., 14., 17. April1956 (Verhandlungen vor dem High Court of Justice).
6 ferome Fee, Maupertuis and the principle of Least Action (in: The Scientific Monthly,
vol. 52, pp. 496-503, June 1941).
7 Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Berlin 1812, Bd. I, Nr. 70 (Der Okerlo).
8 Chronique Latine de Guillaume de Nangis de 1113 a 1300 avec les continuations de cette
chronique de 1300 a1368, Paris 1843, t. II, p. 367/68.
9 Lettre de remission: Par le Roy a la Relation du Conseil. Donne a Parisau moys de Janvier
l'an de gd.ce 1392 (Archives Nationales JJ 144 folio 37).
10 Chronique du Religieux de St. Denis, t. II, p. 496/504 seq. (Collection de Documents in~dits
sur l'Histoire de France, Paris 1840).
11 H. L. Lorimer, Homer and the Monuments, London 1950, p. 341.
12 An act for granting to His Majesty a Duty on Certificates issued for using Hair Powder,
April1795, Larousse, Grand Dictionnaire Universei du XIXe s. article »Poudre«.
13 Vgl. Herman Weiss, Kostümkunde. Geschichte der Tracht und des Gerätes, Stuttgart 1872,
Bd. 2, S. 545.
14 Frederik ]. ]. Buytendijk, Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung als
Verbindung und Gegenüberstellung von physiologischer und psychologischer Betrachtungs-
weise, Berlin 1956, S. 75.
15 R. M. Rilke, op. cit., p. 58.
16 /sar Pre, Psychologie vestimentaire (in: Neue Schweizer Rundschau, 1949 p. 86).
17 Viktor v. Weizsäcker, Der Gestaltkreis; Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen,
Lpz. 1940, S. 110.
18 Kuno Fischer, Geschichte der Neueren Philosophie: Hegel I, 558.
19 vgl. den Film» The Tunes of Glory«, mit Alec Guinnes.
22 Franz Pariser
Alle philosophische Anthropologie muß sich früher oder später mit dem Begriff und
Problem des Bewußtseins befassen. Hierzu nötigt sie nicht nur ihre Geschichte, in der
spätestens seit dem Cartesianismus das Bewußtsein die maßgebende Rolle gespielt und
als fundamentales Kennzeichen des menschlichen Seins gegolten hat; hierzu nötigt sie
vielmehr auch die unveräußerliche Eigentümlichkeit ihres Gegenstandes selbst. Auch im
modernen anthropologischen Denken, mag es sich von der Tradition des Idealismus
noch so eindeutig absetzen und mögen die Ansätze untereinander noch so disparat
sein, bleibt diese Thematik zentral; denn das Bewußtsein bildet auf jeden Fall ein ent-
scheidendes Konsti tuens des mit der menschlichen Natur ursprünglich gesetzten Ver-
hältnisses des Menschen zur Welt und zu sich selbst. Mit beonderer Betonung muß sich
das Problem zumal da stellen, wo die Relevanz der philosophischen Anthropologie als
Grundlage der Psychologie in Frage steht und wo es gilt, ihre Prinzipien in deren Spra-
che zu übersetzen und in ihrem Bereich nutzbar zu machen.
In H. Plessners Anthropologie, die wie keine andere vom biologischen Ansatz her die
»Natur« des Menschen und die menschliche Geistigkeit und >>Kultur<< in ihrer
originären Verknüpfung sichtbar zu machen und diese Verschränkung als System ein-
heitlicher Art zu erwahren vermag, begegnet der Begriff des Bewußtseins - gemäß dem
Grundprinzip einer >>Steigerung<< in der allgemeinen Struktur des Lebendigen über-
haupt- in einer charakteristischen Doppelrolle: Einerseits wird ihm die Monopolstel-
lung, die er im Rahmen des cartesianischen Erbes und des transzendentalen Idealismus
für die Wesensbestimmung des Menschen innegehabt hatte, unmißverständlich abge-
sprochen; es gibt Bewußtsein schon auf vormenschlicher Ebene des Lebens. So heißt
es in den >>Stufen<< 1 : >>Bewußtsein ist ... nicht notwendig die in der Identifikation
des Ichs mit sich selbst gestiftete Bezugsform des Subjekts zur Gegenwelt, wie sie dem
Menschen wesentlich ist. Bewußtsein braucht nicht Selbstbewußtsein zu sein<< (S. 67).
Wie Bewußtsein möglich ist ohne Selbstbewußtsein, so ist es auch möglich ohne gegen-
ständliche Welt, nämlich als bloßes >>Merkbewußtsein<< (S. 244) oder >>Bewußtsein des
Aktionsfeldes« (S. 252), das den zentral organisierten Tieren zukommt, auf deren
Stufe, wie Plessner sagt, >>das Sein ins Bewußtsein sozusagen umschlägt<< (S. 243). Zwar
fehlt auch bei höheren Tieren »auf der Seite des Subjekts wie auf der des Feldes die
Abgehobenheit von dem selbst nicht mehr Inhalt werdenden Grund des Bewußtseins<<
(S. 271) und werden von ihnen die >>Dinge<< nur als >>Korrelate<< ihrer Motorik erlebt
(S. 272, vgl. auch S. 275), ihr Bewußtsein ist >>Unvermögen zu sachlicher Einstellung<<
(S. 273); aber es ist immerhin >>Einblick in eine bestimmte Struktur oder Situation des
24 Wilhelm Keller
umgebenden Feldes«.- Im gleichen Sinn ist in »Lachen und Weinen<< 2 zu lesen: »Das
alte Schema, welches die Bewußtheit dem Menschen vorbehalten wollte und den
Tieren nur die Bewußtlosigkeit, den Automatismus der Reflexe zugestand, ist falsch
und hatte in einer zu engen Fassung des Bewußtseins seinen Ursprung<< (S. 141).
Andererseits aber erhält dann doch beim Menschen das Bewußtsein, ineins mit seiner da
nun besonderen Form, wieder eine ganz prinzipielle Bedeutung zurück. So heißt es
gleich anschließend an die eben zitierte Bemerkung: >>Bewußtes Verhalten im Sinne
eines motivierten, durch Stellungnahme hindurchgegangenen Handeins zeigt freilich
nur der Mensch<<; und an anderer Stelle: »Nur dem Menschen ist seine körperliche
Situation gegenständlich und zuständlich bewußt, eine beständige Hemmung aber auch
ein beständiger Anreiz, sie zu überwinden (S. 46). Einzig die eigentümliche, nämlich re-
flexive Struktur seines Bewußtseins ermöglicht dem Menschen (durch die Vermittlung
~einer Leiblichkeit) das Haben einer gegenständlichen Welt im Sinn von objektiver
Transzendenz und potentieller Sachlichkeit und auch von »Herrschaft über sie«. Die
»Positionalität<<, die beim Tier gegeben ist als eigenständiges rückbezügliches Leben in
und mittels seiner Leiblichkeit in seiner Umwelt, wird beim Menschen zur »exzentri-
schen Positionalität<<, als Steigerungsform »gedoppelter Reflexivität<<. Die »positionale
Mitte<< wird ihrerseits hintergangen oder überstiegen: Das Zentrum ist sich selbst ge-
geben. Wenn es Positionalität nur im Vollzug gibt (Stufen S. 240), so muß das von der
gesteigerten beim Menschen in patentiertem Maße gelten. Sie wird- unter Bezugnahme
auf Fichte - als ein »Sich-selber-setzen<< charakterisiert; dieses »allein konstiuiert das
Lebenssubjekt als Ich oder die exzentrische Positionalität« (Stufen S. 325). Auf Schritt
und Tritt verfolgt den Menschen »die Ansichtigkeit seiner selbst als latente Möglichkeit
in seinem ganzen Verhalten<< 3 • In den »Stufen<< wird die Bestimmung der »Sphäre des
Menschen« wie folgt eingeleitet: »Die volle Reflexibilität ist dem lebendigen Körper
auf der tierischen Stufe verwehrt ..., sein Leben aus der Mitte bildet zwar den Halt
seiner Existenz, steht aber nicht in Beziehung zu ihm, ist ihm nicht gegeben. Hier ist
also noch die Möglichkeit einer (weiteren) Realisierung offen. Die These lautet dahin,
daß sie dem Menschen vorbehalten bleibt. -Welche Bedingungen müssen erfüllt sein,
damit einem lebendigen Ding das Zentrum seiner Positionalität, in dem es aufgehend
lebt, Kraft dessen es erlebt und wirkt, gegeben ist? ... Gegeben sein heißt, Einem gege-
ben sein. Wem aber kann dasjenige noch gegeben sein, dem alles gegeben ist, wenn nimt
sich selber?<< - Dieses Sich-selber-gegeben-sein setzt eine Art Distanz voraus; aber so-
gleich wird hinzugefügt, daß diese »innere DistanZ<<, die auch jede äußere erst möglich
macht, also die über alle bloße organische Zentriertheit hinausführende und die Geistig-
keit des Menschen konstituierende Exzentrizität und doppelte Reflexivität nicht etwa
eine ontische Verdoppelung ist: »So darf ... die Selbstgegebenheit des Subjekts nicht
mit einer (in sich widersinnigen) Vermannigfaltigung des Subjektkerns begründet wer-
den<< (Stufen S. 289).
Damit aber kommt dem Menschen ein Bewußtsein zu, das nunmehr doch zum minde-
sten im Sinne der neuen Stufe des Lebens, die er einnimmt, etwas Eigenes und
strukturell Neues ist. Die Zeugnisse hierfür ließen sich aus Plessner's Anthropologie
trotzihres zu aller Bewußtseinsphilosophie geradezu gegensätzlichen Ausgangspunktes
vielfältig vermehren. Hier müssen die eben aufgeführten Belege genügen.
Auf dem Rückweg zum Bewußtsein 25
Sie führen aber, wie wir meinen, sogleich noch weiter. Sie beinhalten, genauer besehen,
die Möglichkeit einer Interpretation von Plessner's aufgrund einer phänomenologi-
schen Analyse der Körperlichkeit umschriebenen, aber so schwer durch eine eindeutige
Definition faßbaren Begriffs der »exzentrischen Positionalität<<: sie läßt sich, in die
Dimension und Sprache einer phänomenologischen Psychologie übertragen, als »Selbst-
sein« verstehen. Eine Vorform von Selbstsein wird ja schon der Pflanze zugeschrieben,
wenn von ihr gesagt wird, dieses »Ding« gehe nicht in seinen Eigenschaften auf, »son-
dern sei noch etwas für sich, weil es lebe: kein bloßes Ding, sondern »ein Wesen«, das
ein »Fürsichsein<< repräsentiere (Stufen S. 131). Vermehrt aber eignet dies den Tieren
als eigenen Verhaltensträgern in ihrer zentral gesteuerten Leiblichkeit. Und im Men-
schen hätte das Selbstsein seine höchste Form erreicht. Die spezifisch menschliche >>Ein-
körperung« wäre der besondere leibliche Ausdruck davon, und ebenso wäre die Vielfalt
aller anderen Phänomene, die das menschliche Dasein in seiner Besonderheit kennzeich-
nen, in diesem »Selbstsein« begründet. »Der Mensch als das lebendige Ding, das in die
Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hin-
aus ... Er erlebt das unmittelbare Anheben seiner Aktionen, die Impulsivität seiner
Regungen und Bewegungen, das radikale Urheberturn seines lebendigen Daseins, das
Stehen zwischen Aktion und Aktion, die Wahl ebenso wie die Hingerissenheit im
Affekt und im Trieb, er weiß sich frei und trotz dieser »Freiheit<< in eine Existenz ge--
bannt, die ihn hemmt und mit der er kämpfen muß.« (Stufen, S. 2191)
Der Begriff des menschlichen »Selbstseins«, den wir damit hier - wie auch an anderer
Stelle- als »anthropologischen Grundbegriff« in Anspruch nehmen, muß freilich, wenn
er mit dem der exzentrischen Positionalität zur Deckung kommen soll, von allen idea-
listischen Beiklängen befreit und bereinigt werden, und ebenso von der radikalisieren-
den und ethisierenden Einengung, die er in der Existenzphilosophie erhalten hat, zu
welcher sich Plessner, seinem Grundansatz gemäß, nicht eben in zustimmendem Sinne
äußern kann. Der Begriff entbehrt jener umfassenden Tragfähigkeit, die wir ihm zu-
schreiben, wenn er nicht gerade auch die natürliche Gebundenheit und Bedingtheit des
Menschen einbeschließt, und wenn er anders verstanden wird denn als Selbstsein auf
dem Grund und in den Grenzen eben derselben. Nur unter dieser Voraussetzung, unter
ihr dann aber auch notwendig, wird er zu einem ontologischen Fundamentalprinzip
philosophischer Anthropologie. Wenn er, so verstanden, mit der »exzentrischen Positio-
nalität« nicht in Einklang zu bringen wäre, so müßten wir eingestehen, diese selber
falsch verstanden zu haben.
Philosophische Anthropologie hat immer eine doppelte Aufgabe: sie muß ein einheit-
liches Grundprinzip namhaft machen, aus dem die Eigentümlichkeit des menschlichen
Seins im Ganzen ersichtlich wird, und aus eben diesem Prinzip die besonderen Phäno-
mene, die in einem gegenseitigen Verbund das reale Gefüge des menschlichen Daseins
darstellen, verständlich machen. Bei diesen besonderen Phänomenen handelt es sich
um die Fülle der einzelnen Funktionen, die sich voneinander abgrenzen lassen und
unter je besonderen Begriffen auftreten. Jenes fundamentale Prinzip dagegen muß in
Bestimmungen bestehen, die formal und allgemein sind und generell von allen Manife-
stationen des spezifisch menschlichen Lebens gelten. Dieses aber, das spezifisch mensch-
liche Leben, ist in seiner Realität identisch mit dem konkreten menschlichen Erleben und
26 Wilhelm Keller
Verhalten; und genau dieses bildet den Gegenstand der phänomenologischen Psycholo-
die, d. h. jener Psychologie, die sich als ErheBung des Psychischen versteht, das wirklich
als Phänomen ausweisbar ist.
Als anthropologisches Grundprinzip formaler Art im eben dargelegten Sinn und damit
zugleich als allgemeines Prinzip des menschlichen Erlebens und Verhaltens überhaupt
wurde vorhin der Begriff des Selbstseins in Anspruch genommen. Mit ihm verbindet
sich die Frage des Bewußtseins. Damit ist die Aufgabe gestellt, zu zeigen, inwiefern
ciiesen beiden Begriffen in der Tat sowohl Geltung im Sinn der eben geforderten All-
gemeingültigkeit wie erhellende Bestimmungskraft für die ganze Breite der phänome-
nal ausweisbaren menschlich-seelischen Realität zukommt.
II
Wir beginnen mit dem Begriff des >>Selbstseins<<: Was kann er des näheren und in einem
an der psychischen Realität legitimierbaren Sinne bedeuten? Wir suchen den Begriff
zunächst durch einige Hinweise plastisch zu machen. Er besagt, daß jenes Seiende, das
in der Weise des Selbstseins ist- eben der Mensch- sein Sein als das seine vollzieht. Er
selbst zeitigt sich, in dem er so >>da<< ist; er selbst tätigt das Erleben und Verhalten, als
das er existiert. Die minimale Form, gleichsam als unterste Grenze, besteht darin, daß er
in dem Da-sein, das ihm gegeben, in das er >>geworfen« ist, selbst >>dabei« ist, daß er es-
wenn auch nur erleidend- selber durchhält. Die höchste und vollste Form aber ist gege-
ben, wo er in Selbstbestimmung handelt, wo das Erleben und Verhaltenichhaft ist, im
Sinne des Freud'schen Postulats:» Wo Es ist, soll Ich werden«- und wo dann alles, was
darin als Zustand oder Vorgang eine Rolle spielt, als Element und Voraussetzung im
Dienste dieses eigentlichen Selbstseins steht. Auf anschauliche Weise wird das Besondere
dieser menschlichen Seinsweise im ganzen in der Aussage formuliert, der Mensch habe
das Leben, das er hat, »gleichsam noch ein zweites Mal<<: Er hat es, indem er es in eins
auch selbst ist. Er existiert nicht in der Weise eines bloßen Vorhandenen, sondern
als eigenes Verhältnis zum Sein: zu seinem eigenen Sein, das er gerade so erst selbst rea-
lisiert, wie zum Sein des Seienden >>außer ihm«, mit dem er zu tun hat, indem er es
selbst als Sein versteht, erlebt und erfaßt. Der Mensch ist so eine reale Wirklichkeit in
der Welt als gleichzeitiges Haben dieser Welt und Haben seiner selbst; und er ist dies
nur als sein eigener Seinsvollzug. Gewiß ist sein Dasein bedingt und bestimmt nach den
Gesetzen der Welt, in der es ist: Es ist bedingt und bestimmt gemäß den Voraussetzun-
gen möglichen Lebens (also naturhafter Kreatürlichkeit) überhaupt und sodann durch
die spezifische Form, die diese Kreatürlichkeit in einem Lebewesen seiner Art annimmt.
Darüber hinaus ist dieses Dasein bedingt und bestimmt durch die besonderen Um-
stände, unter denen sich die Bildung der seelischen Personalität vollzieht, in erster Linie
durch die soziale und kulturelle Struktur, der es angehört, und innerhalb derer allein
es wird, was es wird, und ist, was es ist. Aber wie sehr auf diese Weise dem Menschen
sein Sein jeweils schon gegeben ist, wie sehr er es angetreten hat oder es ihm zugewach-
sen ist, so daß es als dauernde Bindung und Bedingung seiner konkreten Existenz in
ihm wirkt und er so lebt, wie ihm hierdurch zu leben ermöglicht ist - so gilt doch
Auf dem Rückweg zum Bewußtsein 27
ineins hiermit, daß er eben dieses so bestimmte Leben dennoch als eigenes lebt. Als das,
was es ist und sein muß, führt dennoch er es aus. Es ist sein eigener Vollzug.- Das Para-
dox, das hierin liegt, ist zunächst einmal hinzunehmen.
Sogar mein leibliches Sein, so weit ich selbst es erlebe, bin ich selbst. Das Verhältnis, das
in den Worten »mein Leib<< seinen Ausdruck findet, ist nicht ein bloßes Possessivver-
hältnis, wie etwa wenn ich sage: mein Kleid, mein Haus, mein Geld. Dies ist ein Besit-
zen; das Verhältnis zu meinem Leib aber ist ein Verhältnis des Seins: Ich bin in einem
ganz bestimmten Sinn selbst »meinen Leib«. Soweit nämlich, als ich seiner unmittelbar
inne bin, insoweit bin ich selbst mein leibliches Dasein. Meine leibliche Gestalt, meine
leiblichen Erlebniszustände und Bedürfnisse sind meine eigenen von mir gelebten Eigen-
schaften, Zustände und Bedürfnisse.
Auch meine sinnlichen Erregungen sind nicht bloß ablaufende Geschehnisse, sondern Er-
lebnisse; und zwar nicht so, daß ich sie nur als in mir geschehend antreffe, auf sie stoße,
sondern so, daß I eh in ihnen »wese«. So sind sie ineins meine eigene Ereignung.
Wenn dies aber schon von meinen leiblichen Zuständen und sinnlichen Erregungen gilt,
dann gilt es erst recht von allem sogenannten seelischen und geistigen Sein. Obwohl
auch dieses durch und durch bedingt ist- physisch durch seine somatischen Bedingungen,
psychogenetisch und sozial durch die individuellen Bedingungen der jeweiligen Lebens-
geschichte - so ist es doch mein eigenes Sein in einem überpossessiven, aktiven Sinn. -
Wieder sind da Mißverständnisse abzuwehren: So, wie >>Akt« nicht einfach >>Tätigkeit«
heißt- da es ja auch passive und pathische Akte gibt- wie Akt wohl aber »Eigenvoll-
zug« bedeutet (Eigenvollzug des Erlebensund des Verhaltens), so darf die hier betonte
.>>Aktivität« nicht mit Selbsthervorbringung in einem absoluten Sinn, auch nicht mit
absoluter Eigenbestimmung gleichgesetzt werden, sondern meint nur den durchgängi-
gen Sachverhalt, daß es sich allenthalben um Erlebnisse und Zustände menschlichen
Daseins im Sinn eines menschlichen Subjektes handelt, und daß dies nicht ein anonymes,
sachartiges Geschehen sei, sondern, daß es sich handle um Phänomene, in denen, ja als
die dieses Dasein sich selbst zeitigt. Es sind meine Erlebnisse oder Verhaltensweisen, die
ich habe, die ich bin; oder Deine, die Du hast, die Du bist; Es sind Erlebnisweisen und
Verhaltensformen, in denen wir unser Dasein selber vollziehen. Das gilt nicht nur von
den betonten Strebens-und Wollensakten, nicht nur von der aufmerksamen Beobach-
tung, dem geziehen Denken, dem gegenständlich gerichteten Fühlen wie Liebe und
Haß, sondern es gilt auch von den bloßen Zuständen und Befindlichkeiten, sofern sie
Erlebnis sind. Es gilt auch von den vermeintlich passiven Erlebnissen, auch vom Erlei-
den. Auch es ist noch >>Selbstvollzug«, da ich es ja eben leide und lebe. Dabei ist noch-
mals zu betonen, daß all dieses Selbstsein stets bedingt ist, nämlich fundiert oder getra-
gen von nicht-akthaftem Sein und Geschehen im Menschen, vor allem von der mensch-
lichen Leiblichkeit. Aber das Seelische als solches ist dabei doch gerade etwas anderes als
dieses Bedingende. Das Seelische, der erlebte Zustand, übersteigt als Erleben und Ver-
halten all das, was bloß Bedingung für es ist und bloße Trägerfunktion für es hat.
Daß auch das scheinbar bloß Zuständliche - die Befindlichkeiten - Selbstsein ist und
Aktcharakter hat, das ist im Einzelnen nachzuweisen. Dieser Nachweis erscheint
am schwierigsten bei den leibbedingten und unmittelbar leibbezogenen Zuständen und
Gefühlen. Dazu gehören Schmerz, Müdigkeit, Wohligkeit, Lagegefühl, Gefühl der
28 Wilhelm Keller
Kälte oder Wärme, sexuelle Spannung, Hunger, Durst usw. Sie sind etwas anderes als
die ihnen »zugrundeliegenden« bloßen Leibvorgänge oder Leibzustände selbst. Sie sind
auch etwas anderes als die zugehörigen Prozesse: Sie selber sind ja seelische Zustände,
Erlebnisse, und das eben heißt: Selbstvollzug.
Müdigkeit - als erlebter Zustand - ist nicht bloße Überbeanspruchung oder Über-
lastung meiner Muskeln, sondern es ist meine Müdigkeit: ich bin müde; ich befindemich
so, erlebe mich so. - Hunger ist nicht eine Leere meines Magens oder ein ungedeck-
ter Zustand von Zellkomplexen oder ein niedriger Blutzuckerspiegel, sondern es ist
mein Hunger: ich hungere. Schon bei diesen vitalen Befindlichkeiten ist evident, daß da
je ich selbst als Dasein so gestimmt bin, so da bin, in diesem Erlebnis lebe. Diese Zu-
ständlichkeiten sind also durchaus schon selbsthaft. D. h.: sie sind, insoweit erlebt, auch
selbst-vollzogen und damit durch Aktcharakter ausgezeichnet. Dieser eignet durchaus
schon diesen Erlebniszuständen als solchen, und nicht etwa erst einem Bemerken, das
noch zum Zustand selber hinzukäme. Denn gälte dies letztere, so würde der Zustand ja
nur durch ein solches Bemerken nachträglich von mir erfaßt und zwar gleichsam als
Objekt; er wäre ein bloßer Vorgang oder Status in mir, der auch unbemerkt verlaufen
könnte und mir dann weder etwas täte noch gäbe. Das Aktmoment kommt aber nicht
als ein vom Zustand gesondertes Bewußtsein erst zusätzlich zu diesem hinzu, sondern
der Zustand selbst ist Erleben. Die Zustände, um die es sich handelt (Müdigkeit, Hun-
ger, Durst, Schmerz usw.), sind nicht etwas nur von mir vorfindliches »Fremdes« an
mir, nichts was bloß Objekt ist, auch nicht Objekt einer Reflexion; sondern sie sind
meine Befindlichkeit in einem unmittelbaren Innesein meiner: ich selbst befinde mich so,
mir ist so zumute. D. h.: Ich selbst bin, lebend mich erlebend, so da. Daß Zustand und
Zustandsinnesein hier eins sind, meint ja gerade der Ausdruck »Befindlichkeit« selber;
er besagt, daß ich mich selber so befinde und finde, will sagen: meiner so inne bin. Es ist
mir wohl oder warm, nur, sofern eben mir wohl und warm ist. Der Zustand besteht
hier nicht außerhalb seines Erlebtseins, als ein bloß vorhandener leiblicher Umstand.
Einen solchen würde ich nicht erleben- er wäre nur äußerlich feststell bar.
Ich bin müde, indem ich es bin und zugleich mich so fühle. Gewiß ist es auch möglich,
daß - umgekehrt - ein physiologischer Ermüdungszustand objektiv bestehen kann und
ich selbst keine Müdigkeit verspüre (zum Beispiel, wenn ich ganz fest auf ein Ziel ein-
gestellt bin oder wenn mich ein neuer Ansporn antreibt, oder eine Sache mich ganz
gefangen nimmt). Auch von Hunger oder Schmerz, der eigentlich da wäre, kann ich
unter solchen Umständen nichts verspüren. Aber das ist keine Widerlegung, sondern
gerade eine Bestätigung des dargelegten Sachverhalts. Denn dann sind zwar entspre-
chende Leibzustände vorhanden, nicht aber das, was wir entsprechende Befindlich-
keiten und entsprechendes Leibgefühl nennen. Ich erlebe mich da ja dann gerade nicht
müde oder hungrig, und als Person bin ich es effektiv nicht, mag mein Leib es noch so
sehr sein.
Gleiches gilt auch von allen anderen leibbezogenen Befindlichkeiten, die wir nannten.
Auch Lagegefühl, Frieren, sexuelle Erregung sind nicht bloße Leibzustände, die von mir
nur in einer darauf gerichteten Kundnahme erfahren würden, sondern ich selbst bin
diese Zustände und bin in ihnen; sie sind mein Eigensein, das ich selbst als solches erlebe,
wenn auch unter Umständen völlig unwillentlich.
Auf dem Rückweg zum Bewußtsein 29
Was von den leibbezogenen Befindlichkeiten gilt, muß- wie schon gesagt- umsomehr
von den rein seelischen Befindlichkeiten, Zuständen und den pathischen Erlebnissen
gelten: Von den Stimmungen, den Affekten, den Gefühlszuständen im engeren Sinn,
wie seelischem Wohlbehagen, Euphorie, Dysphorie, Langeweile, Trauer, Freude,
Angst. Undgenauso verhält es sich auch mit dem scheinbar rein pathischen und rezep-
tiven Erleben, wie Ahnung, Intuition, Einfall, und ebenso mit allem, was meine sinn-
liche Wahrnehmung gleichsam überfällt oder mich im lnnewerden meiner selbst über-
rascht. Was mir da unerwartet gegeben ist, nehme ich wahr, im Sinne unmittelbaren
Eindrucks; gleichwohl ist das nicht im naiven Sinn des Wortes ein bloßer »Eindruck«,
der da in mich hinein erfolgen würde, sondern es ist wiederum Erlebnis, das in seiner
»Rezeptivität« zugleich mein Vollzug, mein Empfangen und entsprechendes Verstehen,
Aufnehmen und Sinndeuten ist. Auch hier und ebenso in den soeben genannten Stim-
mungen, Affekten, reinen Gefühlszuständen besteht wiederum die zuvor genannte Si-
tuation: ich selbst bin gereizt, habe Angst, ich bin selber die Freude, die Begeisterung,
ich bin beklommen, trauere, ich langweile mich. Wieder ist da nicht ein an sich seiender
Zustand oder Ablauf in mir, so etwa, daß sich z. B. eine Niedergeschlagenheit oder eine
Trauer, quasi für sich, lähmend in mir ausdehnte oder eine Freude in mir alles in Erre-
gung brächte und ich dies nur in einem sekundären Akt in mir vorfände: Nicht so sind
mir die pathischen Erlebnisse und Zustände zu eigen. Vielmehr erleide ich selbst den
Zustand als meinen, ich »habe« ihn- er ist ich selbst im jeweiligen Augenblick; ich bin
so da; ich bin er; er ist- als mir gegebener mich heimsuchend- doch eben von mir selbst
erlebend vollzogen. Wäre da nur ein objektiver Zustand oder Vorgang und dazu
hinzukommend eine bloße Kundnahme, die allein Erlebnischarakter hätte, so hätten
diese Befindlichkeiten gar nicht jene Eigenqualitäten, die sie doch haben: Ich würde das
alles nicht selbst leben, sondern es nur als etwas Fremdes in mir Vorhandenes wahrneh-
men. Statt meines so gearteten Eigenseins wäre dann nur eine innere Wahrnehmung da,
keine Befindlichkeit; nicht erlebte und durchlitte ich meine Trauer, sondern empfände
sie höchstens als eine feststellbare Belastung meines Daseins in mir vor. Nicht wäre ich
selbst erregt, unruhig, gespannt, beeindruckt, gereizt, deprimiert, angstgehetzt, über-
rascht oder erleichtert; nimt wäre der Smmerz mein eigenes Sdlmerzen; die Trauer
mein eigenes Trauern, die Freude mein eigenes Jubeln -wenn nimt eben im freudig
wäre, wenn nimt eben ich den Schmerz, die Trauer durchlitte und so selber »vollzöge«.
Nichts hindert dabei, daß sich solchen pathischen Erlebnissen oder Zuständen doch aum
nachträglich und zusätzlich noch ein Aufmerken oder gar eine ausdrückliche Aufmerk-
samkeit hinzugesellt: ein Betramten, Feststellen, Beobachten. Aber dies ist dann etwas
anderes gegenüber dem primären Zustand, der selber schon Erlebnischarakter hat: Es ist
etwas anderes als die Selbsthaftigkeit des ursprünglichen Erlebnisses. Aum dieses Neue
der darauf gerichteten Aufmerksamkeit hat wieder Vollzugscharakter, aber es ist deut-
lich ein versmiedener Erlebnisvorgang oder Akt. Denn es ist dann gerade nicht mehr der
Schmerz selbst, nicht mehr die Erregung oder die Trauer als solche, sondern jetzt habe
ich ein kognitives Erlebnis: im bin jetzt gewährend-erkennend ausgerichtet auf jenes
primäre Erleben mit seiner eigenen Erlebnishaftigkeit. Völlig unabhängig von solchem
ausdrücklich reflexivem Bewußtsein ist das Leid, der Schmerz, die Erregung schon in
sich selbst Erlebniszustand und damit selber schon Selbstsein und Akt.
30 Wilhelm Keller
Aus alledem ergibt sim eindeutig: nimt nur das aktive gezielte Erleben und Verhalten,
von dem es selbstverständlim smeint, sondern aum das zuständlime, pathisme, rezep-
tive Erleben - und zwar sowohl das unmittelbar leibbestimmte wie das rein see-
lisme - ist ein eigener Vollzug meiner in mir selbst, wenngleim ein mir abgenötigter.
Auch diese Zustände und Erregungen werden von mir selber gelebt - anders wären sie
eben nidtt die »meinen« in jenem eigentümlimen Sinn, der das smeinbare possessive
Verhältnis weit übersdtreitet und vielmehr eine Identität bedeutet: Mein Erlebnis bin
je im selbst als der jetzt so Daseiende, so Erlebende, so sidt Verhaltende und gleidtzeitig
seiner selbst so Inneseiende.
Allein, wenn sidt auf diese Weise das Redtt zu erhärten sdteint, den Eigenvollzug als
Kennzeidten alles Seelisdten aufzufassen, so läuft nun dodt von anderer Seite auch ein
bestimmtes Bedenken mädttig dagegen auf. Nidtt länger läßt sidt der Einwand zurück-
halten, das bisher Gesagte gelte zwar gewiß für das aktuale Seelische, das wir im »be-
wußten« Verhalten, den faktisdien Erlebnisvollzügen und manifesten Erlebniszustän-
den vor uns haben; aber dem gegenüber sei auch an Seelisdtes zu denken, das eine Wirk-
lichkeit anderer Art sei und gar nicht in der Faktizität von Erlebnissen und Verhaltun-
gen besteht. Hieße es nicht seelische Realitäten unterschlagen, wenn man die Phäno-
mene der Entwicklung des Reifens, des Alterns übersähe oder wenn man die wichtige
Rolle zwar nidtt der Reflexe - denn der biologistisdt reduktive Charakter der Reflex-
theorie ist allzu offensimtlich - aber der mannigfaltigen Automatismen überginge?
Und ließe man nidtt gar hödtst Entscheidendes außer Amt, wenn man all das über-
ginge, was wir das Dispositionelle nennen: Begabungen, Fähigkeiten, Bereitschaften
zuin so und so Erleben und Tun, ferner das je besondere Können eines Menschen, die
vorgeprägten Formen und festgelegten Ausrichtungen, Gewohnheiten, Einstellungen,
Haltungen, in denen sich der Einzelne immer wieder bewegt; kurz alle jene Schematis-
men, die unser alltäglimes Verhalten laufend bestimmen und die man heute unter den
Begriff seelismer »Strukturen« zu subsummieren pflegt?
Was wir eben nannten, hat einerseits den Charakter von Verlaufsmäßigem, andererseits
von »Faktoren«, die im Sinn von innerseelisdJ.,. Vorhandenem« ihren Einfluß ausüben;
und in bezugauf dies beides sdtient nundomvon »Selbstsein« und Tätigung des Da-
seins nimt mehr die Rede sein zu können. Wenn alle diese Dinge audJ. seelisches Sein
sind, wie steht es dann um den oben postulierten formal allgemeinen Charakter des
postulierten Prinzips?
Eine genauere Betramtung lehrt, daß dieses aum hier seine Bedeutung nimt verliert.
Vorausgesetzt bleibt, was smon betont wurde, nämlich daß das »Selbstsein« als »Selbst-
vollzug« nidtt mit einer »Selbstsetzung« gleidtzustellen ist und nidtt als absolutes, von
Bedingungen freies Produzieren mißverstanden werden darf. Dann aber gilt dieser
Charakter des Seelischen auchangesichtsder eben erwähnten »Elemente« und »Fakto-
ren«. Denn wiederum besteht hier die seelische Realität ja im faktischen Erleben und
Verhalten, das da nun im Sinn der Möglidlkeiten erfolgt, die ihm durdt Entwicklung,
Reifung und Erfahrung zuwadtsen, und das dies in jenen Formen und Rimtungen
nicht mehr tut, zu denen es im Altern oder im Zerfall die entspredtenden Fähigkei-
ten verliert. Auch die Automatismen sind Elemente des Eigenverhaltens des Menschen.
Und ohne Zweifel reagiert, erlebt und verhält sich jeweils er selbst aktuell im Sinne sei-
Auf dem Rückweg zum Bewußtsein 31
Austrag kommt, wie denn ja audt die »Seele« selbst weder ein Gefäß, nodt ein Bau-
werk, nodt ein Apparat ist, sondern in »Funktionellem«, in Erlebniszuständen und
Aktvollzügen besteht.
Gegen diese Feststellungen wäre ein Einwand von der Psydtodiagnostik her denkbar:
Was sidt an Fähigkeiten, Begabungen, Tendenzen, Triebstrukturen in der Exploration
feststellen lasse, müsse, eben weil feststellbar, dodt eine bestimmte Existenz und Dauer
haben; das alles würde mit den Methoden der Diagnostik ja »angetroffen«. Aber das ist
unsdtarf gedadtt. Denn was findet die Diagnostik wirklidt vor? Sie gibt dem Proban-
den durdt das Testmaterial die Möglidtkeit, sidt entspredtend zu verhalten, zu äußern,
so und so zu wählen, dieses oder jenes zu leisten, eine Gegebenheit so und so zu deuten:
Also kommt die zu ergründende Größe audt da wiederum nur in den zugehörigen kon-
kreten Akten zum Ausdruck. Das gilt sowohl für die projektiven, wie für die Lei-
stungstests. Das audt da nicht selber »Antreffbare«, sondern sich wieder nur in realen
seelisd:J.en Vollzügen »Äußernde« kann darum aud:J. nid:J.t als eine eigene Wirklid:J.keit
geltend gemacht werden, die dem Vollzugsd:J.arakter der seelischen Realität wider-
spräche.
Was für die positiven Begabungen und Fähigkeiten gilt, gilt auch von den negativen
Tendenzen und von den Behinderungen, Mängeln, Lücken, Blockierungen des Daseins,
den verborgenen Fixierungen, unbewußten Bindungen, Hemmungen, »Komplexen«
und ebenso vom »Verdrängten« und seiner Wirksamkeit. Auch hier ist zu sagen, daß
das nidtt Fesseln, Knoten, Klemmen in mir sind, die etwas verunmöglid:J.en oder fehllei-
ten; es handelt sich weder um latente Substanzen in der Psyd:J.e noch um eigenständige
Vorgänge oder Kräfte, die roboterhaft in ihr wirkten. Aud:J. das hat keine eigene Real-
existenz. Dasselbe gilt von Animus und Anima, vom »Schatten« und von den Arche-
typen, von denen seit C. G. Jung die Rede ist. Sie sind nid:tt Geisterwesen, die da im
Kellergewölbe der Seele rumoren: Es sind nid:tt vorhandene Wesenheiten. Und endlid:J.
darf man audt das, was heute die Psyd:J.ologie mit dem in ihr so beliebten wie inadä-
quaten Ausdruck als Med:J.anismen bezeid:J.net und aufzählt, nicht hypostasieren und zu
Wesenheiten mad:J.en, die in der Person ihr quasi apparatives »Eigenleben« haben. Sie
sind nur in dem Sinne wirklid:J., daß sid:J. das Individuum selbst in der betreffenden
Weise verhält, daß es seine Situation oder die Welt in der fraglid:J.en Art erlebt und im
entspred:J.enden Sinn darauf reagiert; und audt hier ist das so bedingte aktuelle Verhal-
ten als solches jedes Mal wieder vom Dasein selber vollzogen. Es mag dann ein
gestörtes, gehemmtes, fehlorientiertes Verhalten sein, gleid:J.wohl ist es dod:J. eben sein
Verhalten: der Mensch selbst lebt da nun eben so und nid:J.t anders; nicht aber sd:J.nurrt
da ein Mechanismus in ihm ab wie eine Feder, nicht klinkt eine Hemmung ein und be-
wirkt dann diese oder jene Einstellung oder diese oder jene Modifikation der Hand-
lung. Nid:J.t werden in ihm durch Neigungen oder Bindungen Weid:J.en gestellt; und
audt ein Zwang handelt nidtt selber in ihm; sondern immer ist es so, daß er da erlebt
und sid:J. verhält gemäß den Möglichkeiten oder Notwendigkeiten, in die er durd:J. jene
Dispositionen oder Hemmungen seiner Aktivität oder Reaktivität versetzt ist.
Auf dem Rückweg zum Bewußtsein 33
III
Mit den letzten Bemerkungen sind wir auf ein Gebiet gelangt, von dem aus sich erneut
ein starker Widerstand gegen die These vom »Selbstsein« als Wesensstruktur alles real
Seelischen zu ergeben scheint. Es ist - der Ausdruck ist bereits gefallen - das Unbe-
wußte. Diese Thematik erfordert eine eigene Betrachtung, und damit tritt endlich auch
die des Bewußtseins ins Zentrum unseres »Blickfeldes«.
Es ist heute, wo man dem »Unbewußten« das Unwahrscheinlichste zumutet, von beson-
derer Dringlichkeit, diesen »Begriff« mit Vorbehalten zu versehen. Er bietet zur Kritik
in der Tat Anlaß genug. So, wie er sich allgemein eingebürgert hat, ist er nicht nur zu
einem vagen Begriff geworden, der das Verschiedenste umfaßt und schon darum als
Begriff fragwürdig ist. Man kann ihn darüber hinaus sogar als ein asylum ignorantiae
bezeichnen: Was man nicht weiter aufhellen kann, wird dem Unbewußten zugeschoben.
Aber nicht genug hiermit: er ist, in theoretisch psychologischer Sicht gesehen, sogar von
Anfang an schief angesetzt; denn er ist letztlich den Folgen eines unklar gefaßten Be-
griffs vom Bewußtsein zu verdanken. Davon wird noch zu sprechen sein. Kein Wunder,
daß sich in der modernen Psychologie die Tendenz abzeichnet, sowohl den Begriff des
Bewußten wie den des Unbewußten auszumerzen und mit reinen Verhaltensbegriffen
auskommen zu wollen. Nur vollzöge man den Verzicht auf den Begriff des Bewußt-
seins um den Preis, daß man damit zugleich ein entscheidendes Spezifikum des
»Menschlichen« aufgäbe. Und das hätte so weittragende Folgen, daß umgekehrt
jeder noch so bescheidene Beitrag zur Klärung dieser ganzen Problematik, der zugleich
damit auch der Erhaltung des Menschlichen in der Psychologie zugute kommen dürfte,
von Nutzen sein kann.
Eine solche Klärung hat bei der Vieldeutigkeit und Vagheit des inkriminierten Begriffs
des Unbewußten anzusetzen. Dessen schillernder Charakter zeigt sich in der Mannig-
faltigkeit dessen, was man unter ihn subsummiert. Er umfaßt (1.) Dinge, die man sich
als verborgene Bestände in der Seele zu denken hätte, als da sind: Vorstellungen, Erin-
nerungen, das Verdrängte, aber auch Archetypen, kollektive Schemata des Denkensund
der Weltdeutung- sodann (2.) Dinge, die nicht nach »Beständen« aussehen, sondern
dynamischen Charakter haben: Kräfte, Tendenzen, Begehrungen, Neigungen,
Antriebe, Triebe- ferner {3.) angeborene Dispositionen, aber auch erworbene, die das
Verhalten in ganz bestimmter Weise steuern, wie Gewohnheiten, Fixierungen, Hem-
mungen, Komplexe; wir sprachen eben davon- und weiter (4.) Tätigkeiten oder Wir-
kungen des sogenannten Ich und Über-Ich, die da im verborgenen bestimmte Verhal-
tensweisen unterdrücken oder kanalisieren und umformen - dazu aber auch (5.) die
sogenannten Mechanismen, wie Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Kompen-
sation, Projektion, Introjektion, Ungeschehen-machen, Skotomisierung, Isolierung,
Verkehrung ins Gegenteil, Wendung gegen die eigene Person; kurz alle jene Abwehr-
mechanismen, die die Tiefenpsychologie aufgedeckt hat- und endlich (6.) sogar auch
noch Erlebnisse im vollen Sinn, wie es die Rede vom unbewußten Hasse, unbewußten
Wünschen und Gedanken usw. bezeugt. Dies alles zusammen bildet eine Mannigfaltig-
keit, die in der Tat nur gegen alle Logik in einem Begriff umfaßt sein könnte.
Dazu kommt jedoch weiter, daß all dies unter dem Titel von »unbewußtem See-
34 Wilhelm Keller
Ganzheit der Person im ganzen. Das führt zu einer Maschinenpsychologie, die das
Wesentliche des Menschlich-Seelischen, seinen Charakter als Selbtsein, übersieht;
oder zu einer Art alchemistischer Psychologie, die wie die Alchemie vor der Begründung
der wissenschaftlichen Chemie mit okkulten Qualitäten und magischen Größen ope-
riert. Eine Psychologie, welche das menschlich Seelische gemäß seinem Wesen zu fassen
sucht, nämlich als die Realität, als die es wirklich erscheint, muß sim beidem entgegen-
stellen.
Wo sich die Tiefenpsymologie fortsmrittlich zeigt, da ist es für sie heute zum mindesten
in der Praxis schon selbstverständlich geworden, daß der Begriff des Unbewußten höch-
stens den Wert eines abkürzenden Verständigungsmittels hat, daß man ihm aber nimt
eine selbständige Wirklidikeit substituieren kann und daß man für das wahre Ver-
ständnis des konkreten Verhaltens einer Person -gerade weil es sim um eine Person
handelt- sogar besser auf ihn verzichtet. Gleichwohl würde eine unbedachte .Verab-
schiedung insofern übers Ziel hinaussdiießen, als sie aum den legitimen Sinn verspielen
würde, der im Kern des revisionsbedürftigen Begriffes immerhin steckt. Darum muß
sim auf jeden Fall die Theorie- aber in einem kritisdien Sinn - weiterhin um ihn küm-
mern. Einen Beitrag hierzu soll unser nächster Smritt leisten.
Wenn man sich dem Gestrüpp der bisher angedeuteten Paradoxien und Aporien ent-
windet und gleichsam von außen auf sie blickt, dann entdeckt man, daß der schiefe
Begriff von einem Unbewußten als seelischer Erlebnisrealität seinen Ursprung- wie
schon angedeutet - einem gleimfalls smief in die Psychologie hineingeratenen Begriff
des Bewußtseins verdankt. Von diesem aus, unter dem Eindruck seines Widerspruchs zu
den Phänomen, wurde jener Wemseibalg mit fast zwingender Notwendigkeit gebil-
det. Darum hat auch die theoretische Klärung des Problems bei dem Begriff des Be-
wußten und des Bewußtseins anzusetzen.
Dieser Begriff ist ursprünglim ein Begriff der Erkenntnistheorie. Aus ihr hat ihn die
neuzeitliche Psymologie übernommen. Als »bewußt« bezeichnet die erkenntnistheo-
retische Tradition zunämst den Erlebnisgegenstand: Er ist »bewußt« im intentionalen
Sinn. Er ist, in der Sprache sowohl des Cartesianismus wie auch Husserls, das »cogita-
tum« des »cogito«. Damit ist im weitesten Sinnall das gemeint, womit ein Ich zu tun
hat: was es wahrnehmend, vorstellend, denkend, fühlend »vermeint« oder wollend
erstrebt.- Es ist mit einem Wort das jeweilige Bezugsobjekt des Erlebensund Verhal-
tens, sei es einfach oder komplex, sei es materiell, immateriell oder auch selbst wieder
ein seelisches »Datum«. Es ist das, was von einem Bewußtseinerfaßt oder ihm gegeben
und worauf das Bewußtsein selber in seiner jeweiligen Modalität »geriditet« ist. Ober-
flüssig zu betonen, daß was die Erkenntnistheorie allgemein und abstrakt erörtert,
psymologisch ein wirkliches Erleben betreffen muß, d. h. ein reales Verhalten meines
(oder deines oder seines) Daseins, denn nur in einem realen Erleben ist ja das Erlebte
wirklich erlebt.
Nun schließt eben dieses Verhältnis aber zugleich ein, daß dabei nicht nur das Gegebene
oder Vermeinte erlebt, sondern aum dessen »Gegebensein« oder» Vermeintsein« seiner-
seits miterlebt sein muß. Anders wäre es selber ja nicht als das entsprechend Gegebene
oder Vermeinte »präsent«. Das »Diesda«, das im erlebe oder intendiere, ist mir nicht
nur als Beschaffenheit gegenwärtig, sondern ineins als dieses »Gegebene« für mim, als
36 Wilhelm Keller
das es ja ers<:neint: z. B. als gegenüberstehend oder gedacht oder gewollt usw. Nun heißt
dies aber, daß im jeweiligen Erleben auf eigentümliche Weise ein Wissen um sein Ver-
hältnis zum Gegenstand und seines Gegenstandes zu ihm mitenthalten ist; und dies
wiederum bedeutet, daß im Erleben des Gegenstandes - im jeweiligen Bewußtsein von
ihm - auch ein Bewußtsein von diesem Erleben selbst impliziert ist. Ich bin mir bei
währendem Erleben auf eigentümlich mitschwingende Weise auch dessen selber inne.
Nur indem ich im Erleben der Sache mir zugleich so auch meines Erlebensund damit
ineins meiner selbst mitbewußt bin, hat das Erlebte seinerseits ein Da und Dort, sein
Jetzt und Dann, was ja immer relative Beziehungen zu mir und auf mich sind 4 •
Ist an diesem Sachverhalt zu zweifeln? Bedenken wir, daß uns in einem Erleben, das
sich abspielte, ohne daß wir »dabei« wären und »darum wüßten«, überhaupt nichts
gegenwärtig sein und in welcher Weise auch immer »gegeben« sein könnte, weil wir
dann davon ja eben nichts »spürten«; womit aber dieses vermeintliche Erleben selbst
überhaupt kein Erleben wäre. Da wäre weder Erleben noch erlebter Gegenstand. Auch
könnte mein Erleben dann ja ebensogut das eines andern sein.
Nun gibt es freilich Phänomene, die dem doch zu widersprechen scheinen: Es gibt z. B.
den Fall, wo einem plötzlich, aber doch erst im unmittelbaren Nachhinein, bewußt
wird: Da war doch soeben dies oder jenes; die Turmuhr hat geschlagen; ich habe es nicht
»bewußt« gehört und erfasse es erst jetzt, wobei ich aber sogar um die Zahl der gefalle-
nen Schläge weiß. Oder ich bin an einer Plakatsäule, an einem Schaufenster vorbeige-
gangen und weiß erst danach plötzlich: da stand doch dies oder jenes.- Das scheint zu-
nächst zu besagen, da hätte ich doch, und sogar prägnant, gehört oder gesehen, ohne
darum zu wissen. Es gebe mithin doch sehr wohl ein faktisches Erleben ohne jenes impli-
zite lnnesein. Aber genau betrachtet beweisen diese Vorkommnisse just das Gegenteil
von dem, was man dergestalt daraus erschließen will. Denn in dem Augenblick; wo ich
angeblich hörte oder sah ohne darum zu wissen, da hörte ich die Schläge, da sah ich das
Gedruckte oder Ausgestellte in Wahrheit ja gerade nicht; vielmehr wird mir erst jetzt,
indem ich »darauf« komme und dabei nun auch selbst bei meinem Erleben bin, der In-
halt, der erlebte Gegenstand selbst gegenwärtig. Ich erlebe ihn realiter gerade erst im
Nachhinein: fetzt höre ich, daß und was es geschlagen hat, oder erfasse ich anschaulich,
was da stand. Es ist mir zwar nun schon mit dem Signum zeitlicher Vergangenheit gege-
ben, aber doch so, daß ich es jetzt erfasse, jetzt, wo ich aber auch des Erlebens selbst -
und zwar eben dieses jetzigen- in jenem impliziten Sinne inne bin.
Der Sachverhalt, den wir erörtern, gilt auch für den Traum. Auch in ihm erleben wir
Welt, Gegenstände, Situationen- und erleben sie nur in einem gleichzeitigen Wissen um
uns und unser Erleben. Das Traumbewußtsein und Traumerleben ist unter diesem
Gesichtspunkt vom Wacherleben und Wachbewußtsein prinzipiell nicht verschieden. Zu
untersuchen bliebe die Frage, ob nicht gerade auch unser Unterscheidungsvermögen zwi-
schen Traum und »Wirklichkeit« mit dem impliziten Wissen um das jeweilige Traum-
oder Wacherleben in ihrem strukturellen Unterschied zusammenhängt.
Damit ergibt sich nun im Hinblick auf die Bedeutung der Begriffe »bewußt« und
»Bewußtsein« ein weiteres: als »bewußt« (im Sinne von mir bewußt) ist nicht nur der
Gegenstand, das Erlebte zu bezeichnen, sondern »bewußt« kann und muß ineins auch
das Erleben selbst genannt werden; daß heißt: das Erleben ist nicht nur Bewußtsein von
Auf dem Rückweg zum Bewußtsein 37
... (in der Vielfalt der Modi, in denen das möglich ist: wahrnehmend, denkend,
fühlend, strebend, wollend usw.), sondern es ist auch »selbstbewußt<<.
Und nun ist es offensichtlich entscheidend, wie diese rückbezügliche Bewußtheit ihrer-
seits verstanden wird. Faßt man sie schnellfertig und unbedacht nach dem Muster des
Objektbewußtseins, dann ergibt sich die übersetzte Pauschalidee, die dem Begriff des
Bewußtseins kurzschlüssig unterstellt, er involviere eine schlechthin gleichartige Be-
wußtheit des Erleheus inbezug auf sich selbst wie inbezug auf seinen jeweiligen Gegen-
stand. Genau dies war historisch der Ausgangspunkt des ebenso pauschalen und schnell-
fertigen Begriffs des Unbewußten, von dem vorher die Rede war. Denn dieser Vor-
aussetzung widersprachen ja eben die Phänomene, insbesondere die >>der Tiefenpsycho-
logie«. Das forderte eine Revision des Prinzips des Bewußtseins als Kriterium des
menschlich Seelischen überhaupt heraus. Aber statt im Sinne einer Bereinigung des
schief angesetzten Leitbcgriffs vollzog man diese Revision durch die wiederum kurz-
schlüssige Gegensetzung eben jenes »Unbewußten«, dem nun jene Widersprüche anhaf-
ten, von denen wir zuvor sprachen.
Welches andere Bild ergibt sich im ganzen, wenn man dem wahren Charakter des mit
allem faktischen Erleben und Verhalten mitgesetzten impliziten Selbstwissens die
gebührende Aufmerksamkeit schenkt? Es zeigt sich dann, daß diese immanent reflexive
Bewußtheit gerade nicht von gleicher Art ist wie das jeweilige gegenständliche Bewußt-
sein des »Objektes«. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß dem Erleben in
seinem lnnesein nicht seine Beschaffenheit, nicht sein >>Was« sondern nur sein >>Daß«
als so und so Erleben, also nur seine Tatsächlichkeit und jeweilige Modalität bewußt
ist. Hörend >>weiß« ich zugleich um mein Hören, denkend um mein Denken usw.
Und nun kehren wir, mit dem Ertrag dieses Exkurses, der in die >>Analytik« des Be-
wußtseins vorstieß, zum Problem des Unbewußten zurück. Zweierlei scheint sich dar-
aus für dieses zu ergeben:
2. Aus dem Befund, den unser Exkurs erzielte, ergibt sich bei weiterer Betrachtung,
daß schon der recht verstandene Begriff des Bewußtseins als solcher »Unbewußtes« vor-
aussetzt und einsdlließt, und zwar in seiner eigenen Artikulation und in einer durch
ihn selbst definierten Form. Der Nachweis dieses Sachverhaltes fügt zu der zunächst
bloß negativen Rüds.weisung jener widersprüchlichen Verdoppelung des Psychischen,
die mit der »Idee« eines selbständigen Unbewußten vollzogen aber von der seelischen
Realität aus unhaltbar ist, die positive Lösung des Problems hinzu. Sie besteht in der
Einholung des Unbewußten in den Begriff des Bewußtseins selbst und in seiner ent-
sprechenden sinngerechten Definition.
Wir greifen zurüds. auf die vorherige Feststellung, daß das Bewußtsein, das dem
menschlichen Erleben und Verhalten »wesentlich« ist (Plessner), in intentionaler Aus-
richtung stets auf das »Sosein« des jeweils Gegebenen oder Erstrebten bezogen ist und
in gleichzeitiger reflexiver Ausrichtung, das heißt als implizites Wissen um das jewei-
lige Erleben und Verhalten selbst (aber nur in seinem [modalen] »Daß« und nicht
auch in seinem »Was«, nicht auch hinsichtlich seines Aufbaus) mitgegenwärtig hat.
Dann aber ist das dem aktualen Leben und Verhalten immanente Selbstwissen in
bestimmtem Sinne begrenzt: Ich weiß darin jeweils nur, daß ich jetzt erlebe, daß ich
diesen Gegenstand in seiner gegebenen Fülle »habe«, daß ich das Gefühlte fühle, das
Gewollte will; aber ich kenne und erkenne nicht zugleich den Aufbau, die Teilmomente,
den Verlauf, kurz die innere Bestimmtheit und Artikulation dieses jeweiligen Erlebens.
Und zwar schon aus dem Grunde, weil das implizite Bewußtsein, wäre es selber voll
erfassend, sogleich ein »gegenständliches« würde; es wäre ein Erleben, das nun mein
Erleben zum Objekt hätte, und es würde als seinerseits volles Erleben selbst wieder ein
implizites Innesein einschließen müssen. Es wäre identisch mit einem ausdrüds.li<h
reflektierenden Seihster kennen. Erst ein solches hätte- und hat prinzipiell wenigstens-
die Möglichkeit, das jeweilige Erleben oder Verhalten auch in seiner Washeit und inne-
ren Struktur zu erfassen. Aber das ist etwas anderes als jenes Selbstwissen um mein
Erleben, das unmittelbar im gegenstandsbezogenen Vollzug desselben mitgegeben ist.
Ausdrüds.lich reflektierendes Selbsterkennen, das auf das erfaßbare Sosein des eigenen
Erlebens geht, hat aber bezeichnenderweise eine innere Distanz zu dessen unmittel-
barem Jetzt. Es kann frühestens in unmittelbarer Nachfolge stattfinden. Erst da kann
ich beschreibend sagen: »Ehen habe im dies erlebt und war in der und der Stimmung«,
und wie das war und wie es kam. Aber das ist nicht das implizite Innesein im aktualen
Zustande des Erlebens, welches vielmehr mit diesem selbst eine zeitliche und struktu-
relle Einheit bildet.
Und nun ist es gerade dieser besondere Charakter des unittelbaren Selbstinneseins, der
in unserem Zusammenhang entscheidende Bedeutung erhält. Wir mußten ihm soeben,
weil es ein Bewußtsein des »Das« aber nicht auch des »Was« des jeweiligen Erlebens ist,
eine bestimmte Begrenztheit zusprechen. Aber diese ist nicht eine »privatio« sondern
eine in ihm selbst einbesdllossene Unerschlossenheit. Es »enthält« in genau dem, was es
weiß, zugleich Nichtgewußtes. Dies aber bedeutet nidm weniger, als daß der richtig
gedachte Begriff des Bewußtseins in seiner inneren Artikulation Nicht-Bewußtes impli-
ziert; und zwar wesentlich und grundsätzlich: Nicht-bewußt ist der eigene Aufbau, die
eigene Motivation, die eigene Struktur des Erlebens, um dessen Realität ich im jewei-
Auf dem Rückweg zum Bewußtsein 39
ligenVollzugstets gleichzeitig weiß. Bewußt ist mir aktuell das, was ich gegenständlich
erlebe; und zwar in der Weise, wie es mir da erscheint. Bewußt ist mir die Tatsache, daß
ich es erlebe, also die Realität meines Erlebens und auch sein Modus (daß ich höre,
zweifle, erinnere, will usw.). Aber nicht bewußt ist, wie dieses Erleben »selber« erfolgt
und »geschieht«, aus was es besteht und worauf es sich aufbaut.
Wahrnehmend nehme ich - darum wissend - Gestalten wahr; aber von den gestal-
tenden Faktoren ist mir in meinem Wahrnehmen selber nichts bewußt. Denkend voll-
ziehe ich den Sinn eines Gedankens, aber davon, wie ich das anstelle, ist mir- darüber
hinaus, daß ich weiß, daß und warum ich es tue - unmittelbar nichts bewußt. Fühlend
fühle ich das Gefühlte und weiß um mein Fühlen, weiß damit auch um Motive aber
nicht auch um seinen ursächlichen, strukturellen und »materialen« Aufbau. Und genau
so beim Streben und Wollen.- Nun sagen wir zwar oft auch: »Ich weiß genau, was ich
weiß, genau, was ich wünsche, fühle; er weiß genau, was er will« usw. Aber der Aus-
druck selbst sagt es schon: Das bezieht sich auf das »Was«, das heißt auf die mehr oder
wenige komplexe gegenständliche Seite, aber nicht auf die eigene Textur dieses Erlebens
oder Verhaltens. »Er weiß, was er tut« heißt: er weiß worum es geht, was er verfolgt,
auf welchen Wegen er es tut und mit welchen Risiken; er weiß also, was da im Felde des
Gewollten, Gemeinten, Erlebten relevant ist, aber nicht, wie er es anstellt zu denken, zu
streben, zu schätzen, zu wollen; er erfaßt nicht auch den Aufbau der von ihm vollzoge-
nen Aktwirklichkeiten.
Nun muß die Tatsache, daß das im kritisch gedachten Begriff des Bewußtseins selbst
mitimplizierte Nichtwissen sich auf das »Wie« des betreffenden realen Erlebens und
Verhaltens bezieht, in ihrer ganzen Reichweite gesehen werden: Nichtbewußt bleibt
alles, was an ursächlichen Faktoren und »inneren« Voraussetzungen an den jeweils be-
wußten Vollzügen beteiligt und darin wirksam ist und sie hinsichtlich ihrer aktualen
(bewußten) Ausrichtungen, gegenständlichen Gehalten, Abzielungen, Strebungen,
Daten fundiert. Dieses »Fundierende« - die moderne Psychologie schließt es
weitgehend in ihren Pauschalbegriff der »Motivation« ein, obwohl es mit den im
Bewußtseinsfeld entspringenden, erlebten Motiven nicht zu tun hat - kommt im Erle-
ben und Verhalten selber nicht zum Bewußtsein. Es gehört weder zu seiner gegenständ-
lichen Sphäre, noch wird es implizit »erfaßt«. Und nun bedarf es keines ausführlichen
Hinweises, daß hierunter auch alles das fällt, was die Tiefenpsychologie anvisiert und
was sie in ihrem Begriff des Unbewußten als selbständiges psychisches Geschehen hypo-
stasiert. Es ließe sich im einzelnen zeigen, daß all das, was da unter dem widersprüch-
lichen Titel »unbewußter Inhalte«, »Vorgänge«, »Mechanismen« oder »Haltungen«
sowohl dem alltäglichen Leben und Verhalten wie den Fehlleistungen, dem Traum, den
Phänomenen der Neurose aber auch der Hypnose usw. unterstellt wird, der eben vor-
gezeichneten anderen Interpretation zugänglich ist und dann realitätsgemäß als inhä-
rierende Determinanten des an sich bewußten Erlebens und Verhaltens erscheint. Die
Durchführung dieses Nachweises würde indessen den Rahmen dieser Abhandlung über-
schreiten. Ihr muß es genügen, im Sinn des vorher formulierten Anspruchs gezeigt zu
haben, wie in der Tat der Begriff des Bewußtseins, bei kritischer Ausgliederung seiner
Implikate, selber schon »Unbewußtes« einschließt, und zwar in einer Form, die durch
seine eigene Struktur definiert ist. Sie hat damit den Einspruch, der schon vom Begriff
40 Wilhelm Keller
und Wesen der Wirklidl.keit des mensdl.lidl. Seelisdl.en aus gegen dessen widersprüdl.lidl.e
Verdoppelung zu erheben war aber als bloße Zurüds.weisung dodl. erst negativ blieb,
durch die positive Lösung ergänzt und überbaut, die sich als Rüds.holung und wesens-
gemäße Einordnung des Unbewußten in den sinngerechten Begriff des Bewußtseins
darstellt.
Der Nachweis der strukturellen Implikation von Unbewußtsein im wesensgererot arti-
kulierten Begriff des Bewußtseins, das dem »Mensdten wesentlidt ist«, ineins mit der
neuen Bestimmung die diesem Implikat damit zuteil wird, kommt zunächst dem Ziel
zugute, um deswillendie Überlegung angestellt wurde: Es ging um die Erwahrung des
Selbstseins als Prinzip alles menschlidten Erlebens und Verhaltens. Diese Erwahrung
ihrerseits aber darf sidt selbst als Beitrag zu der Erhärtung des fundamental anthro-
pologischen Prinzips der »exzentrisdten Positionalität« verstehen.
Anmerkungen
Die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen wir leben, sollte man sich nicht als einen
Formenkomplex vorstellen, für den das menschliche Dasein natürlicherweise als Stoff
funktioniert und der sich denn auch dazu verhielte wie die Aktualität zur Potentialität.
Bei der Berufswahl zum Beispiel und bei der Art und Weise, wie wir die damit zusam-
menhängenden Probleme institutionalisieren, zeigt es sich, daß den meisten, wollen sie
das Ziel ihrer Wahl erreichen, eine andere als die natürliche Vermittlung vonnöten ist,
daß sie auf ein Doppelverhältnis angewiesen sind und zwar, einerseits, sich mit sich
selber in ein reflexives Verhältnis zu setzen, andererseits, mit einem anderen, der die
Rolle des Berufsberates übernimmt, im Einvernehmen zu sein.
Aber auch dann, wenn wir Glück hatten, wenn unser Beruf, wenn unsere Freunde,
wenn Frau und Kinder und noch vieles mehr den Erwartungen entsprechen, stehen
wir doch noch in einer sich so aufdrängenden Alternativität, daß es uns bisweilen
dünkt, wir ständen außerhalb des eigenen Daseins. Es hätte alles ganz entscheidend an-
ders kommen können, nicht besser oder schlechter, aber in jeder Hinsicht anders. Ich
wollte Theologe werden, habe mich aber, aus damaligem Mangel an Gott, der Mathe-
matik und der Philosophie gewidmet. >>Natürlich« habe ich nun dadurch einen anderen
Beruf, bin in ein anderes Netzwerk gesellschaftlicher Beziehungen aufgenommen, ver-
füge über andere »Möglichkeiten<< usw. Man kann solche virtuellen Unterschiede nicht
als nebensächlich abtun. Die eine Hyle stellt die Potentionalität zu essentiell verschiede-
nen Formen dar, wir sind wesentlich eine unbestimmte Heterogenität. Daß der Theo-
loge und der Mathematiker beide Mensch genannt werden, verbürgt, wie berechtigt der
Name auch sein mag, nicht mehr, als daß beiden die essentiell verschiedenen Formen des
Mensch-Seins gegenseitig zugänglich sind; der Vermittlung durch eine gemeinschaft-
liche, beide verschiedene Typen umfassende allgemeine Form bedarf es dabei nicht.
>>Kennen<< ist aber nicht >>Erkennen<<.
Das Motto >>Der richtige Mann an die richtige Stelle<< stellt nicht den Kern der Berufs-
wahl dar. Es handelt sich ja nicht um ein zufälliges, individuell-psychologisches
Problem, das von Leuten, die über eine größere Erfahrung und einen besseren Weitblick
verfügen, zu lösen wäre.
Zwar gibt es den richtigen Beruf, der dem Sinn des Lebens entspricht, aber das kon-
krete Individuum, das diesen Beruf sucht, hat ihn noch nicht gefunden. Vor dieser
Aufgabe stehen wir da als Psychologagologen.
Wenn wir erwägen, wie der Sinn eines bestimmten Arbeitsplatzes auf die Frage nach
dem Sinn des Ganzen hinweist, erkennen wir besser, daß Mensch und Beruf sich nicht so
42 Errit van der Velde
zueinander verhalten, wie vorhin dargestellt wurde. (Der Ausdruck »das Ganze« ist im
Zusammenhang mit dem, was hier gesagt wurde, fragwürdig, ebenso wie andere Aus-
drücke verwandten Inhalts, etwa: Systemganzes, usw.) Auch das Große Ganze kenn-
zeichnet sich dunh eine Unbestimmtheit, die wir in unserem Denken und Handeln, mit
Ideologien, Utopien, Philosophien, in der Politik, in unserer Lebensauffassung oder
indem wir von diesem allen bewußt Abstand nehmen - auch das kann eine anstren-
gende reflexive Arbeit bedeuten - in etwa zu bestimmen versuchen, übrigens, ohne aus
der Frage heraus zu kommen.
Deshalb sollte man den Wortschatz, mit dem die übrigens längst fälligen Emanzipa-
tionsströmungen ihr Verlangen nach einer besseren und menschenwürdigeren Gesell-
schaft zum Ausdruck bringen, kritisch pril1en. Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung,
Selbstwerdung und das Plädieren für solche Gesellschaftsformen, die derartige Indivi-
duationsprozesse möglich machen müßten, verdecken leicht den besonderen Charakter
jenes Prozesses, durch den der Mensch zur Person wird.
Die Forderung, die wir an allgemeine Bedingungen stellen, geht davon aus, daß für nie-
manden eine endgültige Form von vornherein feststeht; gegen den totalisierenden und
totalitären Charakter solcher Bedingungen würden wir unverzüglich Einspruch erhe-
ben. Das will gewiß nicht sagen, jeder könne alles oder niemand könne etwas werden.
Die »Formen«- wir bleiben einstweilen bei diesem Wort- sollen sich durch eine gewisse
Beschränkung kennzeichnen. Andererseits verfügt jeder konkret einzelne Mensch über
Anlagen, die gewisse Zielsetzungen mehr als andere ermöglichen. Es ist aber im Hin-
blick auf unsere Selbst-Identifikation sehr fraglich, ob man (und wenn schon, auf
welche Weise) dieser Veranlagungen mehr als den anderen folgen soll. Diese Unsicher-
heit läßt sich nicht dadurch beseitigen, daß man sich auf die »Natürlichkeit« derselben
beruft.
Ich könnte tüchtiger Einbrecher sein; ich verfüge über ein natürliches Talent, erfin-
derische Einbrüche zu ersinnen und werde also Schriftsteller. Das leuchtet jedem als ein
vernünftiges Stückehen Soziallogik ein. Die Soziallogik impliziert, daß ich meine Iden-
tität als Einbrecher finden kann, indem ich als Schriftsteller zu dieser Betätigung in
einem exzentrischen Verhältnis stehe. Aber ebenso gut oder genauso schlecht kann ich
als Detektiv oder als Polizist der exzentrische Ausdruck des Verbrechens sein. Ich kann
aber auch davon absehen, mir im Fernsehen einen Film mit Jason King ansehen, um
mich im übrigen hinter meiner Forschungsarbeit zu verstecken, vielleicht sogar, um als
Forscher auf eine noch weit erfinderischere Weise in die Realität einzubrechen.
Unsere Selbst-Identifikation, verstanden als der konkret-individuelle Prozeß, durch
den wir werden, der wir sind (wie vage klingt das, aber mehr läßt sich in diesem
Zusammenhang nicht sagen), paßt nicht in das Bild, in dem aus der Eichel eine Eiche
wird, paßt nicht in das Schema Stoff-Form, Potentialität-Aktualität. Selbstverständ-
lich entwickelten auch wir uns aus einer befruchteten Zelle zu einem fast unbehaarten
aufrechtgehenden Wesen. Ja, und hier stehen wir nun trotz beträchtlichen Schädel-
inhaltes sprachlos da.
Wie sehr empfinden wir, daß wir außerhalb des eigenen Ich stehen, gerade dann, wenn
wir unser Wesen biologisch, soziologisch und psychologisch möglichst genau zu begrei-
fen versuchen, ganz und gar durchschaubar und ganz und gar befremdet durch unser
Anthropologie und Unendlichkeit 43
durchschaubares Wesen. Es ist, als säßen wir in der Biologiestunde, wo das Skelett eines
Menschen äußerst befremdend und mit unsäglich leerem Blick durch uns hindurchzu-
sehen schien, als wollte es sagen: tat tuam asi.
Plessners Anthropologie setzt unter anderem bewußt diese unvermeidliche Fremdheit
und Heterogenität des Menschen. In ihr bleibt der Mensch etwas unergründlich
Konkretes und ermöglicht uns, diese Unergründlichkeit auf der Höhe des Wissens und
des Handeins zu verstehen. Folglich können wir sie als eine konkrete Unergründlichkeit
bezeichnen. Was bei Ludwig Wittgenstein am Schluß eines Tractatus in der Form des
Unsagbaren und des Undenkbaren das Ende philosophischer Sprache und philoso-
phischen Denkens impliziert, steht bei Plessner als Erkenntnis im Mittelpunkt und
bringt Ordnung in das Gegenständliche. Bei ihm ist es zum Prinzip geworden, auch in
der Sprache.
Der Schlüsselbegriff >>Exzentrizität« kann nicht als eine Kategorie gelten, die ein all-
gemeines Wesen »Mensch« typisiert, wie etwa >>säugen<< und >>Tier<< in >>Säugetier<<. Er
typisiert den Menschen in seinem Verhältnis zu derartigen Allgemeinheiten; faßt ihn als
Person, hält den Blick frei für die Heterogenität des Menschen und betrachtet diese als
für ihn essentiell.
Bezüglich der Exzentrizitätsanthropologie, mögen hier einige Bemerkungen am Rande
erlaubt sein, wobei wir den Menschen als das Wesen der unendlichen und unbestimmten
Möglichkeiten betrachten.
1. Allgemein, Theologie-Anthropologie
Ganz allgemein gesagt, stoßen wir, dieser Richtung folgend, auf eine Wende des philo-
sophischen Denkens, die unter Hinweis auf Ludwig Feuerbach als der Übergang von
der Theologie zur Anthropologie bezeichnet wird, und zwar im Sinne einer
Gleichsetzung: Theologie = Anthropologie. Man könnte z. Bsp. Plessners Aufsatz
>>Homo Absconditus<< so deuten. Dennoch will mir scheinen, daß Plessner mehr Gegen-
sätzliches nebeneinander beibehält, als die Auffassung Feuerbachs beinhaltet. >>Athe-
ismus ist leichter gesagt als getan<< 1 •
Jemand, der um das Verborgene in sich selbst weiß, wird behutsamer an die Frage nach
Gott herantreten.
Unsere Randbemerkungen sind in dieser Hinsicht doppeldeutig. Es ist durchaus mög-
lich, daß auf dem Boden einer gediegenen Anthropologie eine Theologie entstehen
kann, wenn wir auch die Bemerkung kaum zurückhalten können:
»Theismus ist leichter gesagt als getan<<.
2. Mathematik, Theologie-Anthropologie
In vielen (und sehr guten) mathematischen Schriften über das Unendliche finden sich
Wendungen folgenden Inhalts: Der Mensch ist ein endliches Wesen, aber er weiß um die
Unendlichkeit.
Im Hintergrund derartiger Behauptungen läßt sim ein theologisches Paradigma vermu-
44 Errit van der Velde
ten (es dürfte übrigens smwerfallen, diese Vermutung mit einem Beweis im strikten
Sinne zu unterbauen): Gott ist unendlich, der Mensm ist endlich, aber aufgrund einer
durm Offenbarung gewonnenen Erkenntnis ist er sim der Unendlichkeit Gottes be-
wußt.
Was aber erkennt dann der Mensch und was ist das Charakteristikum seiner Erkennt-
nis? Ist es das der Endlimkeit? Wenn jedoch die Endlimkeit in einem so integral massi-
ven Sinne ein Merkmal des Menschen ist, wie kann dann sein Wissen das Gegenteil
seiner Endlimkeit erreichen. Ist dom auch dieses Wissen wiederum endlim.
Es ist merkwürdig, daß eminente Mathematiker, die sim auch für die Theologie interes-
sieren, dieses theologisme Paradigma fallen lassen, wenn sie an der Mathematik des
Unendlimen (der Mengenlehre) arbeiten.
Sie prädizieren eine Unendlichkeit auch des Mensmen. Wir denken hier besonders an G.
Cantorund H. Weyl, zwei Mathematiker, die sim übrigens in Samen der Mathematik
diametral gegenüberstehen, gerade in bezug auf die Unendlimkeit.
Was aber soll man hier unter Unendlimkeit verstehen? Bei Weyl muß man das Wort in
striktem Sinne fassen, wie es z. Bsp. für die endlose Reihe der natürlichen Zahlen gilt 1,
2, 3, 4, ... usw. Eine letzte Zahl gibt es nimt. In »Die Stufen des Unendlimen« sagt
Weyl über diese Form der Unendlichkeit:
»Das Unendlime ist dem Geiste, der Ansmauung zugänglim in Form des ins Unendlime
offenen Feldes von Möglichkeiten, (nam Art der immer weiter fortsetzbaren Zahlen-
reihe;)« und er fügt hinzu: »aber das vollendet, das aktual Unendliche als ein geschlos-
senes Reim absoluter (d. h. unabhängig vom denkenden menschlichen Subjekt) Existenz
kann ihm nimt gegeben sein.« 2
In diesem Zusammenhang ist es wimtig, hinzuzufügen, was Weyl im weiteren Verlauf
seiner Arbeit sagt: »Die These von der schlechthinigen Endlichkeit des Menschen lehnen
wir ab; sowohl in der atheistismenForm der verstockten Endlichkeit, wie auch in der
theistischen Form, wo sie der gewaltsamen Dramatik von Zerknirschung, Offenbarung
und Gnade als Basis dient; sondern Geist ist Freiheit in der Gebundenheit des Daseins,
er ist offen gegen das Unendliche. Gott als das vollendet Unendlime kann ihm freilim
nimt gegeben sein und nicht gegeben werden; Gott kann weder in den Menschen durch
Offenbarung einbredlen, noch kann der Mensm durch mystisme Smau zu ihm durm-
bredlen.« 3
Weyllehnt also die Endlimkeit des Mensmen ab, wobei er aber einen Gedankengang
beibehält, den wir, wenn wir zu Recht soeben von einem theologischen Paradigma
spramen, ein Antiparadigma nennen könnten, an dem sim merkwürdigerweise genau
dasselbe Problem offenbart, das wir aum dort anprangerten: wie bin ich dessen so
sicher, daß eine Wirklimkeit, die mir in keiner Weise gegeben sein kann, mir in keiner
Weise gegeben sein kann?
Weyl kann mit dem sogenannten Aktual-Unendlimen (mit dem Begriff »aktual«
werden wir uns weiter unten nom befassen) mathematism nimts anfangen. Das ist bei
G. Cantor anders. Er sagt: »So widersprumsvoll es daher wäre, von einer größten Zahl
der Klasse (I) ' zu reden, hat es dom andererseits nimts Anstößiges, sim eine neue Zahl,
wir wollen sie oo nennen, zu denken, welche der Ausdruck dafür sein soll, daß der ganze
Inbegriff (I) in seiner natürlimen Sukzession dem Gesetze nam gegeben sei s.
Anthropologie und Unendlichkeit 45
Hier haben wir die Meinungsverschiedenheiten der Mathematiker in bezug auf die
Unendlichkeit in nuce vor uns. Was ist der Stellenwert des oo? Dürfen wir schreiben
1, 2, 3, ... oo, oder müssen wir uns mit 1, 2, 3, ... n, ... begnügen? Cantor geht nach oo
weiter und schreibt oo + 1, oo + 2, ... ; er nennt 1, 2, 3, ... n, ... die erste Zahlenklasse
und die Zahlen, die er durch oo, oo + 1, ... erhält, die zweite Zahlenklasse, die der trans-
finiten Ordnungszahlen. >>Was ich behaupte und durch diese Arbeit, wie auch durch
meine früheren Versuche bewiesen zu haben glaube, ist, daß es nach dem Endlichen ein
Transfinitum (welches man auch Suprafinitum nennen könnte), d. i. eine unbegrenzte
Stufenleiter von bestimmten Modis gibt, die ihrer Natur nach nicht endlich, sondern
unendlich sind, welche aber ebenso wie das Endliche durch bestimmte, wohldefinierte
und voneinander unterscheidbare Zahlen determiniert werden können.« 6
Es ist nicht unsere Absicht, den Leser mit technischen Einzelheiten zu belästigen. Wir
möchten nur darauf hinweisen, daß Cantor mathematisch einen Schritt (und später
unendlich viele Schritte) weiter geht als Weyl und auf das Transfinite hinweist, das das
Merkmal des Menschengeistes ist und der damit übereinstimmenden Realität. »Zeigt es
sich aber, daß der Verstand auch in bestimmtem Sinne unendliche, d. i. überendliche
Zahlen definieren und voneinander unterscheiden kann, so muß entweder den Worten
»endlicher Verstand<< eine erweiterte Bedeutung gegeben werden, wonach alsdann jener
Schluß aus ihnen nicht mehr gezogen werden kann; oder es muß auch dem menschlichen
Verstand das Prädikat »unendlich<< in gewissen Rücksichten zugestanden werden, was
meines Erachtens das einzig Richtige ist.<< 7
Das Aktual-Unendliche, das nach Weyl nicht in den Bereich der Mathematik paßt, das
aber nach seiner Auffassung theologisch interpretiert werden kann, betrachtet Cantor
als zur Mathematik gehörend, wo es anthropologisch interpretiert wird.
Aber auch für Cantor gibt es eine Form der Unendlichkeit, die nicht in den Bereich der
Mathematik paßt, und diese Form erklärt er dann als eine theologische. Es handelt sich
dabei um jene Unendlichkeit, für die der Satz gilt »Omnis determinatio est negatio«. So
verschieden auch die Lehren dieser Schriftsteller sind, in der Beurteilung des Endlichen
und Unendlichen stimmen sie an jenen Stellen im wesentlichen darin überein, daß zu
dem Begriffe einer Zahl die Endlichkeit derselben gehöre, und daß andererseits das
wahre Unendliche oder Absolute, welches Gott ist, keinerlei Determination gestattet.
Was den letzteren Punkt anbelangt, so stimme ich, wie es nicht anders sein kann, den-
selben völlig bei, denn der Satz: »omnis determinatio est negatio<< steht für mich ganz
außer Frage; ... << s
Ehe wir uns nun näher mit dieser Auffassung befassen, möchten wir erst die verspro-
chene Erläuterung des Begriffs »aktual-potential« anbieten. Am prägnantesten hat
sich als erster L. Wittgenstein dazu geäußert 9• Nehmen wir beispielsweise die Reihe der
natürlichen Zahlen im striktesten Sinne des Wortes, dann findet sich dazu kein Ab-
schluß, es fehlt die Möglichkeit, diese Reihe zu vollenden. Der Ausdruck »aktual<< ist
hier sinnleer. Aber auch wenn man annimmt, daß der Unendlichkeit des göttlichen Ver-
standes dieser Abschluß wohl gelänge, ändert das nichts und erhellt es nichts, weil wir
nicht erkennen, was dann stattfinden würde.
Das Problem, das sich unter den Begriffen »unendlich<< und »aktual<< einstellte, kleidet
sich nun in die Begriffe »unendlich<< und »göttlicher Verstand«. Das heißt also, daß der
46 Errit van der Velde
Begriff »aktual« ohne Sinn bleibt und der Zusatz »für uns<< (»den Menschen«) ist über-
flüssig. Wenn aber der Begriff »aktual« keinen Sinn hat, sollte man doch die Frage
stellen, welcher Sinn dem auf diesen Begriff hinweisenden Wort »potential« eignet.
Daraus geht sofort hervor, daß der Begriff »potential« seinen Sinn nicht diesem Zu-
sammenhang entnehmen kann. Folglich müssen wir mit uns selbst darüber ins reine
kommen, was wir meinen, wenn wir vom »Potential-Unendlichen« sprechen. Wittgen-
stein beantwortet diese Frage, indem er darauf hinweist, daß wir den Begriff »unend-
lich« (und mit diesem Begriff müssen wir anfangen) adverbial verwenden: Zählen ist
eine Operation, die unendlich lange fortgesetzt werden kann; die in diesem Sinne un-
endlich möglich ist; »unendlich« wird adverbial verwendet beim Adjektiv »möglich«
und nur so gibt es eine unendliche Möglichkeit und (selbstverständlich) nicht die mög-
liche Unendlichkeit. Diese Lösung ist nicht ganz neu. Der Begriff »das synkategorema-
tische Unendliche« gehört zu den herkömmlichen Begriffen der Philosophen. Wittgen-
stein jedoch zieht radikalere Konsequenzen und wir sind mit ihm einverstanden. Es sei
vorausgesetzt, daß der Begriff »unendlich« ein primitiver Begriff ist, den man nicht aus
anderen Begriffen herleiten kann; ferner, daß er andere Begriffe qualifiziert. In der
herkömmlichen Auffassung gehen die Begriffe »Potentialität-Aktualität« voran, sowie
die damit verbundene Ontologie, die uns dazu zwingt, alles, was wir als irgendwie exi-
stent betrachten, mit dem Begriffspaar »potential-aktual« zu bestimmen.
Bei unseren Betrachtungen lassen wir diese Ontologie fallen. Wir finden Möglichkeiten
vor der Art 1, 2, 3, usw.... und das stellt sich als eine unendliche Möglichkeit heraus.
Das Verb »können« ist heterogen, man kann es nach verschiedenen Seiten hin bestim-
men, die sich nicht voneinander herleiten lassen. Das schließt allerdings Beziehungen
(z. Bsp. nach der Art der Wittgensteinschen Verwandtschaftsbeziehungen) und Analo-
gien (die traditionelle Analogie-Auffassung mit einbezogen) natürlich nicht aus, doch
damit können wir uns jetzt (leider) nicht befassen.
Hinsichtlich der Unendlichkeit bleibt uns also die Erkenntnis, daß es eine unendliche
Möglichkeit bestimmter Prozesse gibt, unter ihnen die spezifisch mathematischen.
Weil es für die durch Unendlichkeit qualifizierte Möglichkeit einen Abschluß nicht gibt,
kann man nicht sagen, es gebe eine Totalität der mit dieser unendlichen Möglichkeit zu
erzeugenden Größen. »Totalität« und »Unendlichkeit« sind zwei Begriffe, die, im
striktesten Sinne genommen, in keinem reziproken Prädikatsverhältnis stehen können.
Emmanuel Levina's Werk» Totalite et Infini« ist der philosophische Ausdruck der Kon-
sequenz dieser Auffassung. Dieser Standpunkt aber steht den philosophischen Auffas-
sungen von Hilbert gegenüber, der sich auf Kant berufend, sagt: »Die Rolle, die dem
Unendlichen bleibt (und zwar außerhalb der Mathematik) ist vielmehr lediglich die
einer Idee- wenn man, nach den Worten Kants unter einer Idee einen Vernunftbegriff
versteht, der alle Erfahrung übersteigt und durch den das Konkrete im Sinne der
Totalität ergänzt wird ... « 1° (H. Weyl schließt sich, was die Zielsetzung der Totalisie-
rung betrifft, im wesentlichen hierbei an, sei es auch mit kritischer Bewertung des Wort-
gebrauchs 11 •
Wir, als Mathematiker, wollen eine Zwischenstellung einnehmen. Die Reihe 1, 2, 3,
... n, ... kann sich am Ende als unbestimmbar herausstellen (siehe weiter unten), wir
befinden uns in der Mathematik immer wenigstens einen Schritt vor dem Ende. Es ist
Anthropologie und Unendlichkeit 47
Stellenwert des ro und der zweiten Zahlenklasse sind die Mathematiker geteilter Mei-
nung. Dort, wo es in der Mathematik lebendig wird, begänne aum die Möglimkeit
einer mathematismen Erklärung des Lebendigen. In die angenommene Möglichkeit tritt
dadurm, daß Cohen zu der Kontinuumhypothese Cantors den Unabhängigkeitsbeweis
liefert, eine besondere Wendung ein. Vom mathematismen Standpunkt aus teilen sim
bei dieser Hypothese die Wege der Mathematik. Wir können uns im vorliegenden
Zusammenhang damit nimt näher befassen; ebensowenig können wir also Plessners
Deduktion der Lebenskategorien, wie er sie in seinen »Stufen« darbietet, damit verglei-
men. Wir haben der Forsmung einen möglichen Weg gezeigt, nimt mehr, aber auch
nicht weniger.
Die Vermutung Cantors, man könne sim zum tieferen Verständnis des organischen und
des psymismen Lebens an seine transfinite Mathematik wenden, besmränkt sim auf das
Leben des einzelnen Individuums. In diesem Abschnitt setzen wir dieses menschlime
Individuum als das Wesen, das über eine unendlime Möglichkeit verfügt; diese unend-
lime Möglimkeit gilt für uns rein anthropologisch und wir lassen theologisme Paradig-
men, solange es angeht, außer Betracht.
Wie könnten wir uns nun eine Gemeinsmaft derartiger Individuen vorstellen? Ver-
stehen wir die emanzipatorischen Forderungen, die wir stellen, rimtig, dann wollen wir
eine Gesellschaftsstruktur ohne totalitären Charakter. Das Problem, vor das uns eine
solche Gesellschaftsstruktur stellt, kann man als die Frage nam der unendlichen Mög-
limkeit unendlimer Möglimkeiten verstehen, wenn wir auch im Rahmen dieser Arbeit
nicht untersumen können, wohin das führt. Unsere Erwartung, es könne zu einem
Ergebnis führen, mömten wir mit einigen Bemerkungen erläutern. Der Blick für das
Verhältnis Person-Gesellsmaft kann wesentlich geschärft werden, wenn wir die
Begriffe »Element« und »Totalität« fallen lassen 1 4 und es durch an der Unendlichkeit
gemessenen Begriffe» Teil« und »Ganzes« charakterisieren.
Wir wiesen bereits darauf hin, daß wir dann im strikten Sinne des Wortes nicht von
einem Ganzen oder von einer Totalität sprechen können (so präzise aber wollen wjr
denken, wenn es sim um Menschen handelt). Genauer gesagt, bei unseren Bezeichnun-
gen handelt es sim um die Relation von unterschiedlichen, jedoch miteinander verbun-
denen unendlichen Möglichkeiten.
Benutzen wir nun die unendlime Möglichkeit der Reihe der Ordnungszahlen als eine
Metapher, dann läßt sich diese als diejenige eines gesellschaftlimen Zusammenhangs
verstehen und wir können die unendlime Möglimkeit von z. Bsp. p · n als die unend-
liche Möglimkeit der einzelnen Person innerhalb dieses gesellsmaftlimen Zusammen-
hangs betrachten, und zwar so: (p ist eine beliebige Ordnungszahl)
p.l, p.2, p.3, ... p.n, ... usw.
I I I I
1 2 3 ... n ... usw.
Jedes Element der Reihe p · n ist aum Element der Reihen. Der Mathematiker drückt
das so aus: die beiden unendlichen Möglimkeiten sind gleichmächtig. Das normale
Verhältnis zwischen dem Teil und dem Ganzen (ein Teil ist kleiner als das Ganze und
das Ganze ist mehr als die Summe der Teile) gilt dann nimt mehr. Die Forderungen, die
.Anthropologie und Unendlichkeit 49
Habermas stellt 15, sind dann erfüllt, wir aber haben darüber hinaus noch etwas
gewonnen. In unserer Metapher stellt die gesellschaftliche Wirklichkeit die unendliche
Möglichkeit der Personen dar, die von jedem einzelnen vollwertig reflektiert 16 wird,
wobei der Unterschied zwischen Person und gesellschaftlicher Wirklichkeit voll und
ganz erhalten bleibt.
Die Metapher genügt der Forderung, die man, anthropologisch gesehen, aufgrund der
exzentrischen Struktur des Menschen stellen muß. Eine gut durchdachte Unendlichkeits-
auffassung könnte uns von den Problemen befreien, die wir unter den Namen >>Ge-
stalt«, »Ganzheit«, »Totalität« usw. mit uns herumschleppen und sie würde uns ein
Modellliefern für die Art des Verhältnisses zwischen Person und Kollektiv, wie es uns
als Ideal vor Augen steht. Das Kollektiv soll keine Diktatur über die Person ausüben;
es soll keine verträumten Spinnereien über den Vorrang der Person als solche geben,
sondern ein Verhältnis, in dem die Gleichmächtigkeit beider im Gleichgewicht ruht, und
das den reflexiven Charakter des persönlichen und des gesellschaftlichen Lebens dar-
stellen kann, während ferner die exzentrische Position der Person auch im Modell
zurü<:kzufinden ist.
Das soeben Beschriebene ist nur ein Spiel, weil es sich zuträgt, noch ehe ro erreicht ist,
und weil unsere Metapher eine Erkenntnisordnung der Mathematik mit einer Existenz-
ordnung von Person und Gesellschaft in eins setzt. Der Reingewinn kann einstweilen
nur darin bestehen, daß wir in bezugauf den Menschen und in bezugauf die Gesell-
schaft von Totalitätsbegriffen absehen, sowie darin, daß wir erkennen, daß sich die
Begriffe der Unendlichkeit, besser noch, der unendlichen Möglichkeit, einem artiku-
lierten Denken fügen; daß das Unendliche nicht jenes Dunkel ist, in dem alle Katzen
grau sind.
Für die Mathematik gilt, daß sie als Lehre von den spezifisch unendlichen Möglichkei-
ten ein Ausdru<:k der exzentrischen Position des Menschen ist, der sich seiner Unendlich-
keit bewußt ist und, indem er diese artikuliert, die Mathematik ins Leben ruft.
Die Form dieser Relation zur Unendlichkeit, die uns am wenigsten in Ruhe läßt, dürfte
in den Unvollständigkeitssätzen zu finden sein. Wenn wir die Arithmetik vollständig
bestimmen wollen und zwar so, daß alle arithmetischen Sätze von einer endlichen
Anzahl untereinander konstistenter Axiome durch eine endliche Anzahl formal
fixierter Ableitungsregeln formal abgeleitet werden können, dann kann man den Be-
weis erbringen, daß es wenigstens einen Satz S gibt, den wir intuitiv als wahr erken-
nen, der aber formal nicht abgeleitet werden kann. Das läßt sich wieder ins Lot brin-
gen, denn, indem man ein geeignetes Axiom hinzufügt, kann S wieder abgeleitet wer-
den. Es tritt dann allerdings ein S1 auf usw ....
In konkreten Fällen geraten wir also nie in Verlegenheit. Gleichzeitig aber erweist es
sich bei jedem konkreten, endlichen Zugriff ein für allemal (denn das ist die Struktur
des Beweises), daß uns etwas entgangen ist. Wir erkennen, wie die Totalisation miß-
lingt. Die Unbestimmtheit des mathematischen Systems ist in allen konkreten Fällen
bestimmbar, sie stellt sich aber als Unbestimmbarkeit heraus.
Der Aufbau dieser Erkenntnis der Unbestimmbarkeit mag die Brü<:ke sein zu einigen
Randbemerkungen zu demjenigen Unendlichkeitsbegriff, der nach Cantor von der
Mathematik nicht übernommen werden darf, - was uns als richtig erscheint -, weil er
50 Errit van der Velde
sich ausschließlich auf Gott beziehen könnte -, und das erscheint uns als unrichtig.
Kehren wir also auf unsere Bahn der Unendlichkeit, der Theologie und der
Anthropologie zurück mit der Überschrift:
Der Mensch, den wir als das exzentrische Wesen stellten, ist der Mensch, der seine
unendlichen und unbestimmten Möglichkeiten begreift, so daß er seine Unbestimmtheit
gleichzeitig sowohl als Bestimmbarkeit, als auch als Unbestimmbarkeit erkennt. Die
Mathematik lieferte uns nur ein einstweiliges Modell für den Stand des Menschen in
bezug auf seine Möglichkeiten. Der Begriff unendliche und unbestimmte Möglichkeit
gilt jedoch für ein weit größeres Gebiet, vielleicht sogar für eine neue unbestimmte
Möglichkeit, ihn anzuwenden. In der Musik treffen wir in bezug auf das Phänomen
Ton und auf die Art und Weise, wie der Mensch dessen heterogensten Realisationen
erfaßt, die unendliche Möglichkeit menschlicher Ausdrucksweise an. Wir wollen diese
Heterogenität etwas eingehender betrachten. Der exzentrisch lebende Mensch versteht,
was nicht aus ihm selber hervorgegangen ist, das Heterogene, das Unerwartete, und das
wollen wir besonders auf die Beziehungen zwischen Menschen im Sinne einer Ethik
anwenden. Soll eine Formel für unsere noch folgenden Behauptungen schon jetzt aufge-
stellt werden, dann lautet diese: Die Unendlichkeitsethi'k von Emmanuel Levinas ist
eine Ethik, in der der Mensch sich seiner Heteronomie autonom bewußt ist, und diese
Ethik kann als eine äußerste Konsequenz (das Apogäum) der Exzentrizitätsanthro-
pologie erklärt werden.
In unseren Betrachtungen steht der absolute Unendlichkeits-Begriff im Mittelpunkt.
Wir gaben ihn wieder in der Cantorianischen Formulierung: »omnis determinatio est
negatio«.
Es handelt sich natürlich nicht um einen Begriff, eher um ein Wort, mit dem wir zu
erkennen geben, daß jeder Versuch, die mit diesem Wort gemeinte Wirklichkeit in einen
Begriff zu fassen, diese Wirklichkeit leugnet. In diesem massiven Sinne (jeder Versuch
des Verstehens erleidet Schiffbruch) ist es ein unbrauchbares Wort, dem die Problematik
anhaftet, die derjenigen verwandt ist, die wir im vorigen Abschnitt in bezug auf H.
Weyls Formulierung des Aktualunendlichen aufzeigten. Die Funktion, die E. Levinas
diesem Ausdruck zuweist, ist durchaus eine andere. Wir konnten bereits bemerken, daß
der Ausdruck »Infini« im Handeln wie im Denken jeglicher Art der Totalisierung ent-
gegengesetzt ist. In bezug auf den Menschen bedeutet das, daß jede endgültige Antwort
auf die Frage, was der Mensch schließlich ist oder sein soll, abgewiesen wird. Hier wird
»Unendlichkeit« also im striktesten Sinne des Wortes verstanden. Die »Idee de l'infini«
aber stellt nach Levinas' Auffassung zwischen mir und dem anderen eine Beziehung
her, in der der andere heterogen ist und bleibt. Wir wollen versuchen, das in etwa zu
verdeutlichen. Erst sei aber noch kurz darauf hingewiesen, daß das Wort, so gesehen,
verstanden werden kann als die Vollendung dessen, was im vorigen Abschnitt dargelegt
wurde. Die Unbestimmbarkeit einer unendlichen, menschlichen Möglichkeit (in der
Mathematik) trat nicht als ein Absolutum auf, das ohne weiteres hingenommen werden
Anthropologie und Unendlichkeit 51
mußte, sondern mit Bezug auf die Unbestimmtheit und Bestimmbarkeit; die
Unbestimmbarkeit offenbart sich auf der Höhe menschlichen Könnens und Verstehens.
Wenn Levinas seinen absoluten Unendlichkeitsbegriff einführt, schließt er sich den
metaphysischen Meditationes des Descartes an. Hierin zeigt sich bereits, darauf sei bei-
läufig hingewiesen, eine gewisse Übereinstimmung zwischen Plessner und Levinas. Die
Reichweite Plessners ist größer als die des Descartes, nicht so sehr dadurch, daß er etwas
gegen diesen (auf demselben Felde) anführt, sondern dadurch, daß er die Denkmöglich-
keiten des Descartes versteht und durchschaubar macht in einer umfassenderen philoso-
phismen Theorie.
Auf eine ganz andere, in dieser Hinsicht jedom vergleichbaren und deshalb analogen
Weise treibt Levinas die Philosophie des Descartes im Wesentlimen voran. Das selbst-
bewußte cogito stößt bei Descartes in ihm selbst auf die Id6e de l'infini; es gelingt ihm
nimt, sim selber als den Ursprung dieser Idee zu erklären und er gerät mittels dieser
Idee deshalb außer sim selber. Wir übergehen die Verwicklungen, die sich in diesem
Punkte in bezug auf Descartes ergeben, nämlich, die für ihn selbstverständliche End-
limkeit des Menschen und, genauso selbstverständlich, die aussmließliche Unendlimkeit
Gottes. Wir sind dazu imstande, weil das cogito, den Forderungen des zweiten Ab-
schnitts entspremend, doch wohl der Ort der »idee de l'infini« ist; es ist auf der Höhe
dessen, was es, unwiderruflich, selbst nicht ist.
Diese Unendlichkeitsdynamik bringt Plessner am Schluß seiner »Stufen« sehr prägnant
zum Ausdruck: »Nur für den Glauben gibt es die »gute« kreishafte Unendlimkeit, die
Rückkehr der Dinge aus ihrem absoluten Anderssein. Der Geist aber weist Mensm und
Dinge von sich fort und über sim hinaus. Sein Zeichen ist die Gerade endloser Unend-
limkeit«. Das impliziert, daß aum der andere Artgenosse, mit dem im aufgrund des
Konstitutivums »Wir« im Ein-Verständnis stehe oder stehen kann, für mich sein abso-
lutes Anderssein beibehält. Nimt als ein von allem los-gelöstes Absolutum, im Gegen-
teil, durch die unendlime Möglichkeit, andere zu verstehen, die für mich begründet liegt
in meiner exzentrismen Daseinsposition, und durch die für mim als geistiges Wesen
darin enthaltene Möglichkeit, aus mir selbst herauszugehen, existiert für den anderen
Artgenossen die Möglimkeit, sim mir als der absolut andere in bezug auf mich zu offen-
baren. Gerade auf Grund dieser Relation und derer Aufremterhaltung kann er sich von
mir absolvieren. Und unter Menschen nennen wir »Geist« die Möglichkeit, uns in
diesem Verhältnis zu bewähren, dem anderen sein Anderssein nicht zu entziehen, ihn
nimt zu verquicken mit demjenigen, was im geistig bereits erworben habe, oder mit
demjenigen, was im erstrebt habe oder erstrebe. Die Möglichkeit, die sich an ihm offen-
barende konstitutive »Heimatlosigkeit« als das zu erkennen, was sie ist. So läßt sim
der absolute Unendlichkeitsbegriff unter Menschen einigermaßen anwenden: »Omnis
determinatio est negatio« gilt hier in diesem Sinne, daß jede endgültige Bestimmung des
anderen dessen Anderssein negieren würde. Daraus geht hervor, daß wir die »deter-
minatio« qualifizieren müssen, um der Formel eine ethism-anthropologische Relevanz
zu verleihen. Von hier aus könnte eine diesbezügliche theologisme Betrachtung ihren
Anfang nehmen.
In den Untersuchungen Levinas' stellt dieses Verhältnis zu dem anderen Artgenossen
die Quintessenz der Ethik dar. Die Ethik wird dadurch bestimmt. Das impliziert eine
52 Errit van der Velde
des Unendlichen und Verborgenen in uns. Umgekehrt bedarf die Forschung unaufhör-
lich der die Exzentrizität erklärenden Deutung. Und das ganz gewiß, wenn sie sich im
Rahmen politischer Zielsetzungen bewegt. Nur zu leicht kann sie dem Bedürfnis nach
Selbst-Identifizierung einen Scheininhalt unterschieben, dazu beitragen, daß sie Selbst-
verwirklichung in den Bann ihrer eigenen Festsetzungen und der Festsetzungen des
Entfaltungsprozesses gerät. Solange der Mensch sich nicht in ein Verhältnis zu diesen
Allgemeinheiten und zu sich selbst zu setzen vermag, genügt es nicht, allen bessere Ver-
sorgungen und bessere Einrichtungen zu geben. Die Angst vor allem, was innerhalb der
eigenen gelockerten Lebensformen spontan an Heterogenität hervorbricht (die Hippies)
(die Typen) ist ein Menetekel für diese Gefährdung.
Gleichzeitig geht aus dergleichen Fakten hervor, daß sich in einem Zustand der poli-
tischen Freiheit die heterogensten Lebensweisen spontan an Menschen verwirklichen.
Vielleicht erschreckt es den Bürgermeister von Amsterdam ein wenig, aber es fällt
durchaus in den Bereich des Möglichen, daß eines Tages junge Amsterdamer mit einem
Penisköcher durch den Vondeipark spazieren werden.
Eine Eschatologie, die ein Definitivum anbietet, lehnen wir ab. Man kann aber auch die
Eschatologie im Zeichen der Unendlichkeit konzipieren. Wenn die Kußersten, die wir in
der Eschatologie erkennen, die absolut anderen sind, dann entspringt unsere Daseins-
freude und die Freude an irgendwelcher Zielsetzung nicht dem Umstande, daß wir
schließlich heimgekehrt sind oder heimkehren, (gerade diesem Umstande nicht), sondern
dem Schritt über die Schwelle, der Entäußerung des Besitzes, dem Oberschreiten der
Landesgrenze, alles Handlungen, in denen das Ich sich identifiziert und begreift als
unterwegs zu etwas anderem. Dann ist es endgültig ausgeschlossen, die Selbstidentifi-
kation in das Schema Potentialität-Aktualität einzuordnen, wie dieses Begriffspaar ja
auch in der Mathematik in bezug auf eine im strikten Sinne erfaßte Unendlichkeit sinn-
leer ist.
Es gibt keine fertige Form für die Entfaltung des Menschen oder eines Menschen. Schon
der menschliche Embryo durchläuft nicht ontogenetisch die Stadien der phylogene-
tischen Evolution, sondern deren embryonale Stadien. Er durchläuft Möglichkeiten und
ist dazu bereits Distanz. Ab ovo und per essentiam ist der Mensch, wo er nach der Form
greift, jeglicher Form bereits bar. Und dieser Umstand durchtränkt seine ganze Wirk-
lichkeit, sowohl dort, wo der Mensch freudenvoll, außer sich selbst seine Identität preis-
gibt, als auch dort, wo er, nackt und entrechtet, die Macht seines Artgenossen erdulden
muß.
Eine solche Macht strebt nach Endgültigem, nadt sdtließlidter Bestimmung, nach der
Form der Formen. Dem stellen wir eine Eschatologie der Unendlichkeit gegenüber: die
Möglidtkeit der Möglichkeiten.
Die Ksthesiologie des Geistes, die Plessner in bezug auf die Sinne erarbeitet hat, kann
sehr wahrscheinlich zu einer Eschatologie des Geistes in bezug auf das Verhältnis des
Menschen zu seinem anderen Artgenossen erweitert werden: Freiheit, Friede, Freude
und noch so vieles mehr, nach dem es uns unendlich verlangt.
Diese unendliche Möglichkeit ins Licht der absoluten Unendlichkeit zu stellen, bedeutet
vor allem eine Ablehnung jeglicher totalisierenden Vollendung. Am Schlusse von Pless-
ners »Stufen« leuchtet ein Schimmer von diesem ganz anderen Wege zu möglicher
54 Errit van der Velde
Freude auf. Plessner gibt uns mit einer mathematischen Metapher das Zeichen, diesen
Weg zu betreten, und deshalb mag es gestattet sein, diesen Schluß ans vorläufige Ende
unserer Erwägungen zu setzen:
Der Geist aber weist Menschen und Dinge von sich fort und über sich hinaus. Sein
Zeichen ist die Gerade endloser Unendlichkeit. Sein Element ist die Zukunft. Er zerstört
den Weltkreis und tut uns wie der Christus des Mareion die selige Fremde auf.
Anmerkungen
1 Stufen, S. 34. 6.
2 H. Weyl, Die Stufen des Unendlidten, Jena, 1931, S. 19.
3 ebend.
4 Es handelt sidt hier um die natürlidte Zahlenreihe.
5 G. Cantor, Gesammelte Abhandlungen, Hildesheim, 1962, S. 195 ..
6 Ges. Abh. S.176.
7 ebend.
8 G. Cantor, Ges. Abh., Hildesheim, 1962, S. 175/176.
9 Ludwig Wittgenstein, Philosophisdte Bemerkungen, S. 304-314.
10 D. Hilbert, über das Unendlidte, Math. Annalen 95. 1926, S. 190.
11 H. Weyl, Die Stufen des Unendlidten, Jena, 1931, S.16.
12 s. 103 f.
13 G. Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 400, S. 177.
14 Wie z. Bsp. ]. Habermas in den Spuren von Th. Adorno in: Zur Logik der Sozialwissen-
schaften, S. 9 u. f.
15 ebend.
16 Für R. Dedekind war das der Anlaß, die unendlichen »Mengen« reflexiv zu nennen.
17 Totalite et Infini, S. 187 f.
18 Daß die Einbeziehung der Unendlidtkeitsethik nicht an den Haaren herbeigezogen ist, stellt
sidt heraus, wenn man Plessners Aufsatz »Unmensdtlidtkeit« liest. Diesseits der Utopie,
s. 221 f.
Anthropologische Differenz und menschliche Identität
Tendenzen gegenwärtiger Anthropologiel
Dietmar Kamper (Marburg)
"Wie die Einmündung des Sehnerven den Sehakt ermög-
licht, aber selber für einfallendes Licht unempfindlich ist,
so die anthropologische Differenz als Bedingung der
Möglichkeit (>transzendental und konkret<) jeder Anthro-
pologie mit Einschluß der philosophischen.«
Helmuth Plessner in einem Brief an den Verfasser
Erst dunh die Aneignung dieses Einwandes, der also sowohl die Methode als auch den
Gegenstand der Anthropologie betrifft, wäre Anthropologie dann- nun ihrerseits kri-
tisch geworden - eher wirksamer Faktor eines neuen als unwirksames Moment eines
überlebten menschlichen Selbstverständnisses. Die Berücksichtigung der »anthropolo-
gischen Differenz« ist gleichsam die conditio sine qua non für die Genese menschlicher
Identität, während die bloße Identifikation, sofern sie auf Menschen Anwendung fin-
det, sachlich und methodisch nur Indifferenz hinterläßt.
Längst vor der schließliehen Spaltung in eine naturwissenschaftliche und eine philoso-
phische gab es eine einheitliche Anthropologie, die mit dem wirtschaftlichen Aufstieg
des Bürgertums untrennbar verbunden war und das neue Selbstverständnis artikulieren
half. Der Bürger verstand sich als der Mensch 2 • Dementsprechend ging es darum, einen
Allgemeinbegriff dieses Verständnisses abzuheben gegen traditionelle Auffassun-
gen, die durchweg theologisch zentriert waren. Durch die Explikation des Begriffs eines
»allgemeinen Menschen« sollte Theologie als Ordnungsmacht des Feudalismus unnötig
werden. Das artikulierte Selbstverständnis der Bourgeoisie als Wissenschaft von dem
Menschen trug deshalb deutlich politische Züge.
Die revolutionäre Philosophie im Zeitalter der Aufklärung war im Kern
Anthropologie, Wissenschaft von den menschlichen Möglichkeiten unter dem Thema:
Was ist der Mensch? Es ist im nachhinein klar geworden, daß in die anthropologische
Erkenntnis dessen, was ist, »selbstverständliche« Bestimmungen eingeflossen sind, die
keineswegs aus irgendeiner »Natur des Menschen«, sondern aus der revolutionären
Praxis des aufsteigenden Bürgertums stammten: so etwa die pure Selbstbehauptung
eines solipsistisch gedachten Individuums gegenüber der außermenschlichen Natur und
anderen Individuen. Der »Kampf ums Dasein«, durch die Form frühkapitalistischen
Wirtschaftens unbedingt erforderlich, nahm Konturen eines »Naturgesetzes« ans.
Doch mit der Verfallsgestalt des bürgerlichen Selbstverständnisses, die als »homo clau-
sus« (Elias) 4 beschrieben werden kann, enthüllte sich der Resultatcharakter der
»menschlichen Natur«. Der in sich verschlossene und von aller Welt isolierte Mensch ist
ebenso eine verhängnisvolle Realität wie eine anthropologische Kategorie und in dieser
doppelten Version die äußerste Konsequenz einer geschichtlichen Entscheidung.
Die »transzendentale« Verwurzelung anthropologischer Theorie in einer bestimmten
historischen Gesellschaftspraxis dient der gegenwärtigen Anthropologie-Kritik zum
Leitfaden 5 • Gerade die These von der ungeschichtlichen Natur eines immergleichen
Menschenwesens hat präzise auszumachende geschichtliche Ursachen. Es ist jedoch für
die Sozialgeschichte des anthropologischen Fragens nicht unerheblich, daß die Anthro-
pologie selbst es war, die zur Erschütterung der Grundthese massiv beigetragen hat.
Schon in ihrer frühesten wissenschaftlichen Gestalt, als Kuriositätensammlung fremder
Kulturerscheinungen, setzte sie experimentierend ihre Auffassung vom Menschen immer
wieder aufs Spiel. Nicht zuletzt die kulturanthropologischen Resultate der amerika-
nischen »anthropology« haben dann jenen Relativismus e heraufgeführt, der die naive
Anthropologische Differenz und menschliche Identität 57
Selbstsicherheit des bürgertimen Menschen vollends auflöste. Seitdem ist es nimt mehr
ohne methodologisme Konsequenzen möglidt, von dem Mensdten wissensmaftlim zu
reden. Der in der bürgerlimen Revolution mitintendierte Allgemeinbegriff einer »Con-
ditio humana« ist an der Wirklimkeit des zwanzigsten Jahrhunderts endgültig gesmei-
tert.
Gegenwärtig hat sim die Wissensmaft vom Menschen aufgespalten in eine dem
Erkenntnisideal der Naturwissensdtaft verpflimtete restaurative Anthropologie und
eine der revolutionären Geschichtsphilosophie verbundene Anthropologie-Kritik. Beide
rekurrieren, obwohl sie in entgegengesetzte Rimtungen auseinandergehen, auf dasselbe
Problem: auf das Elend des bürgerlichen Individuums 7, das, in eine Desorientierung
ohnegleichen verwickelt, sich selbst und seine Situation nicht mehr zu begreifen vermag.
Dieses gebrochene, bzw. versmüttete Selbstverständnis dient der residualen bürger-
lichen Anthropologie als Legitimationsbasis einer permanenten »Wiederherstellung von
Mensdlenbildern«, während es für die Anthropologie-Kritik zum Anstoß einer Refle-
xion auf die historisdten Quellen der verdeckten Reflexivität wurde. Folgerichtig sumt
sich erstere bei einer naturwissenschaftlichen Verhaltenswissenschaft, der »vergleimen-
den Ethologie« zu orientieren s, wohingegen letztere, indem sie an die große praktische
Philosophie der Kant, Hege! und Marx anknüpft, den dialektischen Zwängen nach-
denkt, die zum Maßgeblimwerden der Verhaltenswissenschaften für mensdtlimes Han-
deln geführt haben könnten o.
Das in diesen Divergenzen auftaumende Problem scheint also mit »Natur« und
»Geschichte« nimt unzutreffend umsmrieben zu sein. Dennoch trifft die Konstellation
von Anthropologie und Anthropologie-Kritik im Streit um die redtte Auffassung vom
Menschen nimt den Kern der Same. Weder ist die Frage, die der Anthropologie
zugrundeliegt, noch die Kritik an der Antwort, welche die Anthropologie gibt, von der
Hand zu weisen. Das Problem des Menschen kann durch eine unzulängliche Behand-
lung nur dringlicher werden. Eine Kritik an Anthropologie hätte genau diese durch
Anthropologie erhöhte Dringlichkeit des Problems zum Vorwurf. In Rücksicht auf das
Schicksal der gegenwärtigen Menschheit besteht zwischen »Natur« und »Geschichte«
keineswegs eine entsmeidbare Alternative 10• Nur deshalb kann Anthropologie-Kritik
überhaupt für humanwissenschaftliche Theorien relevant werden.
Wer oder was der Mensch sei, bemißt sim sowohl nach natürlimen Gegebenheiten als
aum nach geschichtlichen Entscheidungen, wobei allerdings die Gestalt des »Sowohl ...
als aum« historism geprägt ist. Das bedeutet einerseits das Verwickeltsein der Anthro-
pologie in das gesellsmaftlime Selbstverständnis einer Epoche, andererseits aber auch,
daß Anthropologie-Kritik selbst erst historism ermöglimt wird, wenn das epochale
Selbstverständnis im Schwinden begriffen ist. Die erforderliche, eine bloß naturwüch-
sige Alternative transzendierende Konfrontation beider hätte darauf zu drängen, daß
die geschimtlichen Grundlagen der Humanwissenschaften in die methodologische
Selbstreflexion dieser Wissenschaften aufgenommen werden. Die Frage nach dem Men-
sdten wäre so zu erweitern, daß das historisme Faktum Anthropologie für die Anthro-
pologie selbst ins Gewimt fällt. Anthropologie als Kritik müßte ihren Gegenstand und
sim selbst in der differenzierten Auffassung vom Mensmen, die sie vertritt, als konsti-
tutiv unterbringen können 11 •
58 Dietmar Kamper
An dieser Aufgabe laboriert die Anthropologie-Kritik seit Jahrzehnten, ohne daß sie
und mit ihr die Humanwissenschaften den entscheidenden Schritt voran hätten tun
können. Wissenschaftliche Objektivität und philosophische Reflexion scheinen nach wie
vor keinen gemeinsamen Nenner zu dulden, obwohl auf eine solche Vermittlung von
»Natur« und »Geschichte« alles ankäme. Ein Hauptmoment der Schwierigkeit, die sich
bei der Oberwindung der angedeuteten »Denkhürde« ergibt, bleibt neben der
Reflexionslosigkeit objektivistischer Humanwissenschaften der wiederholte Rüdtfall in
Unduldsamkeit und Dogmatismus, wie er in der Wissenschaftsgeschichte der hier zu
referierenden Anthropologie-Kritik konstatiert werden muß.
Kritik vom »Standpunkt der Geschichte« kann durchaus unversehens regredieren und
den offenen Horizont ihres Anspruchs verlassen, um sich im geschlossenen Kreis einer
»Pseudo-Natur« in Sicherheit zu bringen 12 • Aus dieser Regression auf das Niveau des
Kritisierten, vor der niemand sicher zu sein scheint, ergeben sich dann erneut dieselben
Widersprüche, die ursprünglich den Anstoß zur Kritik der Anthropologie gaben. Was
nämlich in einer ungeschichtlichen Erörterung von Geschichte und menschlicher Natur
jederzeit verstellt wird, das ist die historische Qualität der Erörterung selbst. Indem
man sie endlich zur Kenntnis nimmt, könnte die humanwissenschaftliche Reflexion die
für sie bestimmende Gestalt menschlicher Reflexivität in ihre Erörterungen einholen
und den Kreislauf von falscher Theorie und schlechter Praxis durchbrechen 13.
auch das >>transzendentale Ego<< 15, das als Grund der Wissenschaften angenommen
wird, stehen einer Welt gegenüber, die durch Denken dingfest gemacht werden kann
und soll.
Den damit konstatierten Zusammenhang von denkendem Ich und gedachtem Gegen-
stand, der eine umwandelbare Voraussetzung jeglichen Denkens zu sein beansprucht,
muß eine >>kritische Anthropologie« strukturgenetisch auflösen. Weder ist die transzen-
dentale Subjektivität ein a-historischer Horizont objektiver wissenschaftlicher Erkennt-
nisse noch das konkrete Individuum ein fix- und fertiger Knotenpunkt egozentrischer
Bedürfnisse. Eine präzise Analyse der Strukturgenese, in der die »res cogitans« auf der
einen, das >>individuelle Ich« auf der anderen Seite zustande kommt, ergibt vielmehr,
daß die bürgerliche Anthropologie des theoretischen und praktischen Solipsismus eine
entscheidende Dimension unterschlägt: die der gesellschaftlichen Produktion und
Reproduktion, wie sie sich in Sozialisation und Erziehung manifestiert 16 •
Es ist das historische Verdienst der »kritischen Theorie« der Gesellschaft, diesen
Grundgedanken des jungen Marx so weiterentwickelt zu haben 17, daß er sowohl die
wissenschaftstheoretische Diskussion, wie sie sich an Transzendentalphilosophie, Posi-
tivismus und Phänomenologie anschloß, als auch die Selbsterfahrungen des spätbürger-
lichen Individuums, wie sie durch Freuds Entdeckungen einer bloßen Oberflächen-
Dimension des Bewußtseins artikuliert wurden, subsumieren konnte. Marxismus und
Psychoanalyse, radikale historische Ent-täuschungen über das, was der Mensch sei,
wurden von der >>kritischen Theorie« synoptisch derart vermittelt, daß die geschicht-
liche Tiefen-Dimension des transzendental und konkret aspektierten menschlichen
Weltverhältnisses seitdem nur noch um den Preis methodologischer Naivität übergan-
gen werden kann.
Wenn aber das sich unmittelbar dünkende Individuum als Resultat langfristiger gesell-
schaftlicher Prozesse und die vermeintlich sichere Grundlage objektiver Erkenntnisse als
kompliziertes Produkt historischer Entscheidungen durchsichtig werden, dann bekom-
men Erziehungswissenschaft und Sozialisationstheorie im Kontext der Humanwissen-
schaften einen prinzipiell anderen Status. Bisher, besonders in den Entwürfen einer
»Gesamtanthropologie«, waren sie auf dem großen Plan der Einheitswissenschaft
Gegenstandsbereiche unter anderen, sollten sie als soziologische bzw. pädagogische
Anthropologie 18 beitragen zu einer schlüssigen Theorie des »ganzen Menschen«. Im
Horizont einer »kritischen Anthropologie« dagegen müßten sie zu erforschen trachten,
wie eine Gesellschaft im heranwachsenden Menschen die ihr entsprechende Soziologie,
Psychologie, Anthropologie vermittelt, wie sie die affirmative Einstellung zu ihrer Be-
festigung, bzw. die kritische Kompetenz zu ihrer Veränderung produziert.
Eine Analyse der Struktur und Genese des Individuums und seines Ich-Sagens ist also
kein beliebiger Ausflug der Methodologie ins Konkrete, erst recht kein Rückfall objek-
tiver Gesellschaftserkenntnis in überholte Subjektivismen, sondern eine stringente Kon-
sequenz aus der sozialgeschichtlichen Grundthese, daß die materiellen Bedingungen,
unter denen eine Gesellschaft produziert und sich selbst reproduziert, nicht nur die
reflexive Verfassung des vergesellschafteten Menschen, sondern auch die entsprechende
Anthropologie bestimme. Wie oben angedeutet, bestehen diese Verfassung in einer prin-
zipiellen Isolation, bzw. in einer tendenziellen Reflexionslosigkeit und jene Anthropo-
60 Dietmar Kamper
logie in einer undifferenzierten Apologie des isolierten Individuums, das seine Welt
denkend bewältigt. Die bürgerliche Gesellschaft hat mithin eine im Grunde a-soziale
Auffassung vom Menschen hervorgebracht, die von ihren Mitgliedern weitgehend
akzeptiert und von ihren protagonistischen Theoretikern weitgehend ausgesprochen
wurde.
Monadologie, Individualismus, Einsamkeit sind Stichworte einer Selbstinterpretation,
die, bis auf den heutigen Tag verbindlich, in ihren Folgen für Humantheorie und
menschliche Praxis noch nicht abzusehen ist 19. Alle spätbürgerlichen Versuche, sich einer
neuen Gemeinsamkeit zu versichern, sei es religiös, politisch oder kulturell, sind bisher
drastisch fehlgeschlagen. Am Ende hat sich die durchaus als Verhängnis erfahrene Iso-
lation um so schlimmer wiederhergestellt. Sie reicht weiter, als die herrschenden Sozio-
logien strukturalistischer und systemtheoretischer Art vermuten lassen, insofern sie in
deren Begrifflichkeit symptomatisch zum Ausdruck kommt, ohne daß sie inhaltlich
überhaupt zum Problem wird 20• Das gilt auch für den erfolgreichen und neuerdings
umstrittenen Rollenbegriff 21 , der das isolierte Subjekt nachträglich noch einmal und
zwar ebenso theoretisch wie praktisch in ein Gefängnis äußerer Bestimmungen ein-
sperrt.
Selbst die mehr oder weniger bestimmte Negation der Isoliertheit durch antibürgerliche
Verkehrsformen, sei es in der »neuen Solidarität« sozialistischer Gesellschaften, sei es in
der Lebensweise der revolutionierenden Jugend, scheint die Realität des abstrakten In-
dividuums in anderer Gestalt noch einmal hervorzubringen.
Solche Realität kann nämlich durch eine bloß gewollte Praxis geschichtlich nicht über-
sprungen werden, es sei denn, man verwandelt Realität selbst in Wahn. Da sie auf die
politische Entscheidung der Bourgeoisie zurückgeht, die Welt nach Gedanken zu errich-
ten, kann sie nur durch ein Denken überwunden werden, das zum Moment einer Praxis
geworden ist. Ehe Reflexion diese Qualität jedoch zu erringen vermag, bedarf sie einer
tiefgreifenden Revolutionierung. Wo immer der von der bürgerlichen Gesellschaft pro-
duzierte »Geist« sich durchhält, bleibt alles beim alten. Bei einer Oberwindung der Rea-
lität des isolierten Menschen handelt es sich um das pädagogische Problem einer Trans-
formation der menschlichen Erkenntnis, die keineswegs über die Köpfe der Betroffenen
hinweg gelingen kann. Es erscheint seltsam paradox, daß die in gewisser Hinsicht »spät-
bürgerlichen« Ansätze der Anthropologiekritik, also etwa die »kritische Theorie« der
Frankfurter Schule und die »Existenzial-Ontologie« Martin Heideggers, dieses Pro-
blem, insofern sie vom »entfremdeten, versachlichten, mystifizierten Individuum«
(Sartre) 22 ausgehen, ernster nehmen als die »marxistische« Kritik an Anthropologie 23,
die durch Vorarbeit von Marx und Engels den Schlüssel zum Begreifen der gegenwärti-
gen Situation des Menschen zwar besitzt, ihn aber kaum wirklich benutzt. Die Furcht
vor Verstößen gegen eine antibürgerliche Orthodoxie scheint so groß zu sein, daß man
mit der bürgerlichen Philosophie auf keinen Fall dasselbe Problem teilen möchte.
Trotzdem liegt genau hier, in der postulierten Erkenntnistransformation, die bislang
unbegriffene gesellschaftspolitische Relevanz einer »kritischen Anthropologie«.
Anthropologische Differenz und menschliche Identität 61
Im Hinblick auf das, was im Kontext des vorliegenden Beitrages programmatisch »an-
thropologische Differenz« heißt, kann das Problem einer solchen Transformation kla-
rer werden. Schon in den frühesten Entwürfen einer Lehre vom Menschen zu Kants 24
und Blumenbachs 25 Zeiten ste<kt die Dichotomie von »Natur« und »Geschichte«. Im-
merhin dauert sie bis zur Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, bis man beginnt, diese
Parallelität zweier Anthropologien, einer »physiologischen« und einer »pragmati-
schen«, in einem systematischen Kontext zu stellen. Die Erneuerung der Anthropologie
durch Plessner und Scheler folgt einer solchen Perspektive, noch unentschieden, welche
Seite als fundamentale anzusehen sei. Bei Gehlen schließlich ist die Entscheidung gefal-
len. Leitender Gesichtspunkt bleibt hier die Priorität der »Natur«. Was die Natur aus
dem Menschen macht, ist verdeckte oder offene Vorschrift für das, was der Mensch aus
sich selbst machen soll. Der Resultatcharakter der menschlichen Natürlichkeit tritt nicht
mehr in den Blick. Kultur, Gesellschaft, Politik usf. erscheinen als zusätzliche Bestim-
mungen. Daß sie im Gegenteil das Medium der »natürlichen« Entwicklung des Men-
schen darstellen, bleibt außer Betracht. Weil die bürgerliche Anthropologie das Indivi-
duum als ihr Prinzip unterstellt, schirmt sie sich selbst gegen eine geschichtliche Relati-
vierungab.
Andererseits gibt es eine einheitliche Anthropologie-Kritik, also eine Kritik vom Stand-
punkt der Geschichte oder eine pragmatische Anthropologie, bislang nicht. Sie wäre erst
aus bruchstückhaften Ansätzen der Hegeischen Geschichtsphilosophie, der marxistischen
Kritik der politischen Ökonomie, der »kritischen Theorie« der Gesellschaft und der
Lebensweltlehren phänomenologischer bzw. fundamental-ontologischer Herkunft zu
erarbeiten. Zentralproblem bliebe theoretisch und praktisch die Bestimmung des Ver-
hältnisses von Geschichte und menschlicher Natur- unter der Prävalenz der Geschichte.
Der Durchführung eines solchen Unternehmens - soviel ist schon klar geworden -
begegnet etwas Bemerkenswertes: nicht nur ist der Mensch der Gegenwart der gesell-
schaftlichen Tendenz nach a-kulturell, a-sozial und a-politisch, auch die Theorie, in der
er sich ausspricht, trägt Züge einer totalen Indifferenz.
Die Kritik begegnet der Kritiklosigkeit der gegenwärtig über Menschen herrschenden
Theorien. »Geschichte« ist darin systematisch zu »Natur« depraviert worden und sperrt
sich nun ihrerseits gegen Reflexion. Die Frage nach dem Menschen verlor ihre Fragwür-
digkeit. Die Dichotomie der Anthropologien geriet ins Schwinden und hat einer »Ein-
heitswissenschaft« Platz gemacht, die sich in zahllose Disziplinen aufzulösen beginnt
und unaufhaltsam »anthropofugal« (Lorenz Krüger) entwickelt. Damit korrespondiert
die Kehrseite eines lebenspraktischen Individualismus, der durch eine bloß gewollte
Unterscheidung pure Unterschiedslosigkeit hinterlassen hat. Diese objektive Indifferenz
wird permanent genährt durch das illusionäre Versprechen der Wahl zwischen indivi-
duellen Dingen 26, wie es in der Werbung der »Massenkommunikationsmittel« vor-
herrscht. Die »Einmaligkeit« des Menschen ist zum Instrument einer Strategie gewor-
den, welche die menschliche Identität massenweise in Wahn verwandeln muß, um dem
Gesellschaftssystem, dem sie dient, immer neue Möglichkeiten der Produktionsverwer-
62 Dietmar Kamper
tung ersdtließen zu können. Das mensdtlidte Individuum hat seine Unteilbarkeit daher
ebenso eingebüßt, wie die »unified science« ihre Einheit.
In solchen Sätzen mag sich andeutungsweise die äußerste anthropologische Konsequenz
der geschidttlichen Epoche artikulieren, die unter dem Namen der Bourgeoisie begann
und sidt gegenwärtig ansdtic:kt, die letzten unbekannten Völker der Erde materiell wie
ideell ihrem globalen Verwertungssystem einzuverleiben 27. Es dürfte kaum strittig sein,
daß diese Konsequenz im Verhältnis zur ursprünglidten Intention nur als widersprüch-
lidt bezeidtnet werden kann. Die Zurüc:kführung der Welt auf den Mensdten, emanzi-
patorisdtes Programm des aufstrebenden Bürgertums, führte zum abstrakten Indivi-
duum, das nun seine Individualität an die Mechanismen seiner Befreiung verliert. Es
gibt kein Leitwort der bürgerlichen Revolutionierung der traditionsgebundenen Gesell-
sdtaft, das sidt nicht in sein Gegenteil verkehrt hätte. »Freiheit«; »Gleidtheit«, »Brüder-
lichkeit« können angesichts der massiven Un-menschlidtkeit auf allen Gebieten gesell-
smaftlichen »Lebens« nur noch als Worthülsen angesehen werden. Aber die Leere der
Worte ist eine der Fundamente, weil die bürgerlime Gesellsmaft auf der Vertragsfähig-
keit potentiell vernünftiger und sprachmämtiger Individuen beruht. Deshalb gibt es
schließlim keinen Rüc:kgriff mehr auf vor-vernünftige oder vor-spradtlime Regelungen
des Umgangs, die von Dauer wären 28 •
Der erste welthistorisme Versuch, die mensmliche Wirklimkeit auf mensmliche Gedan-
ken zu bauen, smeint gründlim mißlungen zu sein. Vermutlim hilft dagegen nur ein
einziges Mittel: eine radikalere Fassung der gründenden Gedanken, eine Kritik des bür-
gerlimen Denkens von pädagogischer Relevanz. Dieser Rückgang zu den Grundlagen
der gegenwärtigen Welt ist unvermeidlich. Eine unhistorisdte Interpretation der Krise
des Mensmen müßte zwangsläufig zu einem Symptom derselben geraten. Deshalb ist
ein erneuter Aufriß der doppelten Anthropologie (nach »Natur« und »Gesdlidlte«),
der »anthropologischen Differenz«, wie er im Anfang der Epoche vorkommt, erforder-
lich.
Schon die Kennzeichnung des paradoxen Resultates einer bürgerlimen Weltordnung als
»Indifferenz« rekurriert auf eine zwar verdeckte, nimt aber ausgelösmte Maßgeblim-
keit dieser Differenz. Jeglime Kritik als »Untersdteidung« greift, auch ohne es zu wis-
sen, darauf zurück. Zwar richtet sim der Weltlauf nicht nach Wille und Vorstellung des
einsamen Subjekts, doch selbst um eine soldie Einsimt in irgendeine Tat umzusetzen,
bedarf es denkender Individuen. Reflexion ist auch im Zustand verdeckter Reflexivität
des Menschen nimt unmöglim. Sie beginnt mit seiner Konstatierung. Um sie jedoch
nicht erneut zu verspielen, sind die Sackgassen des anthropologischen Denkens klar zu
markieren: direkte Konstatierung, Objektivierung und Katalogisierung; rücksidttslose
Identifikation, Abstraktion und Definition; blindes Vorstellen, Nadtstellen und Her-
stellen.
Ein Aufriß der Differenz besteht im begrifflimen Nachweis eines mit Blick auf den
Menschen begrifflich nicht Faßbaren. Dazu bedarf es einerneuen »Ethik« der Erkennt-
nis, welche die katastrophalen Konsequenzen des bürgerlichen Denkens auf den Begriff
zu bringen und pädagogism frudttbar zu mamen versteht. Anthropologisch bedeutet
das die Umpolung der Differenz, konkret für die Lebenspraxis des einzelnen Individu-
ums und transzendental für die Forsmungspraxis der Humanwissenschaften. Plessners
Anthropologische Differenz und menschliche Identität 63
schafts- und Sozialgeschichte, daß die historische Selbstreflexion des Menschen, die for-
mal als Bedingung aller Humanwissenschaften angesehen werden kann, durch eine le-
diglich vorstellende, identifizierende und konstatierende Humanwissenschaft vernichtet
und aufgelöst wird, daß also eine Wendung der Wissenschaft gegen ihren eigenen
Ermöglichungsgrund durchaus im Bereich des Möglichen liegt 33 • Die Wisseenschaft
kann, wie am Fall der Anthropologie sichtbar wird, über eine Vernichtung ihrer eigenen
Bedingung sich selbst auflösen, überflüssig machen, unwichtig werden.
Seitdem Wissenschaft überhaupt zu einer der ersten Mächte im Lebensprozeß der
Menschheit wurde, ist das eine reale Gefahr. Denn es gibt nun keinen wohlfeilen Rück-
griff mehr auf vor-wissenschaftliche Lösungen praktischer Probleme. Wissenschaft ist
längst unerläßlich, wenn auch in einer anderen Gestalt. Die genannte Gefahr kann nicht
so abgewendet werden, wie es aus purer Wissenschaftsfeindlichkeit immer wieder ver-
sucht worden ist. überhaupt müßte das Diktat einer naturwüchsigen Polarisierung der
Vernunft, das im Schatten der Aufklärung jedem Rationalismus seinen Irrationalismus,
jeder Tagansicht ihre Nachtansicht, jedem >>gesunden Menschenverstand<< seinen Wahn-
sinn blindlings zugewiesen hat 34, endlich gebrochen werden. Die lebenspraktischen
Konsequenzen, die sich aus dem Vorrangigwerden von Wissenschaft im Haushalt des
gesellschaftlichen Lebens ergeben haben, sind nur durch die Weiterentwicklung der Wis-
senschaft selbst zu verwinden.
Dazu ist es allerdings erforderlich, daß die bisherige Wissenschaftstheorie mit der An-
thropologie-Kritik in ein Verhältnis gebracht wird, das den selbstgenügsamen Kreis
»reiner« Wissenschaft ebenso sprengt wie die Schlußform materieloser Selbstreflexion.
Anzeichen für die Notwendigkeit einer solchen Wende sind gegenwärtig in fast allen
Wissenschaftszweigen nachzuweisen. Die unterschlagene gesellschaftlich-geschichtliche
Dimension drängt mit Macht ins Bewußtsein, was einige übertriebene Forderungen
der Wissenschaftskritiker erklärt, aber auch die verschiedenartigsten Rückzugsmanöver
der Apologeten. Es muß darauf geachtet werden, daß die Methodologie nicht zu einem
potenzierten Abstraktum gerät, sondern als Meta-wissenschaft 35 eine Reflexion aufs
Konkrete wieder ermöglicht. Metatheoretische Überlegungen sollen Theorie nicht noch
einmal theoretisieren, sondern das materiale Medium, in dem Theorie bestenfalls Mo-
ment ist, gründlich erörtern.
Durch die Verbindung von Wissenschaftstheorie und Anthropologiekritik wird ein Pro-
blem unabweislich gestellt, das in der bürgerlichen Wissenschaft seit langem sorgsam
ausgeklammert und gerade dadurch zu einem wichtigen geworden ist. Am Problem von
Theorie und Praxis kann die Probe aufs Exempel einer kritischen Anthropologie ge-
macht werden: Alle idealistische Humantheorie nimmt ausschließlich sich selbst zum
Maßstab und versteht Praxis als Anwendungsbereich ihrer logischen Schlüsse 36• Daß
dadurch Praxis abstrakt gerät und zur »Technik<< depraviert wird, muß vom Stand-
punkt der depravierenden Theorie aus solange als falsche Erklärung zurückgewiesen
werden, als sie ihren Momentcharakter, ihr Fundiertsein, ihre mannigfaltige Abhängig-
keit von einer grundgebenden Instanz und, nicht zuletzt, ihre widersprüchlichen Resul-
tate nicht wahrnehmen kann. Durch diese produzierte Verblendung produziert Theorie
ihrerseits einen Schein von Notwendigkeit, der immer aufs Neue durch eine Blickbe-
schränkung hinsichtlich des »rein<< Theoretischen vor der Zerstörung bewahrt wird.
Anthropologische Differenz und menschliche Identität 65
Erst dadurch, daß der Blick freigegeben wird auf Ursachen und Konsequenzen, Theorie
also selbstreflektorisch sich erweitert, kann ihre fraglose Maßstäblichkeit erschüttert
werden. Die pädagogische Transfonnation einer zur Hypertrophie tendierenden Er-
kenntnis hätte also dafür zu sorgen, daß die Humanwissensdtaft einen Horizont mit
pragmatisdtem Perspektivpunkt akzeptiert 37• Das würde nichts Geringeres als ihre
Unabschließbarkeit bedeuten. Als Moment einer Praxis kann Theorie nur »un-schlüs-
sig« sein. Historisdte Konkretisierung heißt gerade nicht, die Macht des Abstrakten
über das Gegebene auszudehnen, sondern diese Madtt um einer mensdtlichen Praxis
willen einzusdtränken.
Jene naive, der Intention nach positive und in der Wirkung indifferente Anthropologie
-eben das apostrophierte »theoretisch-praktisdte« Konglomerat- verhindert die kon-
krete Verfassung von Theorie und Praxis zugleich. Ihr Einflußbereich ist geradezu an
der Abstraktheit zu messen, die sie im Selbstverständnis und im Umgang des Menschen
hinterläßt. Wo immer abstrakte Theorie über Sozialtechnologien zur Geltung gebracht
wird, da bewegt sidi der Mensdi praktisch um eine leere Stelle und beutet sich selbst
und andere um eines begrifflichen Fetischs willen aus. Jede nicht transformierte Er-
kenntnis erliegt über kurz oder lang dieser Faszination durdi die eigenen, hypostasier-
ten Begriffe und Kategorien. Dadurdi entsteht eine erst in der bürgerlichen Gesellschaft
zur Herrschaft gelangende Realität des Abstrakten, die ihren Höhepunkt noch keines-
wegs erreicht hat. Gedachtes wird dingfest und verstellt in einer solch fremden Gestalt,
daß es sich dabei um ein von Menschen selbst Produziertes handelt. Man könnte diese
abstrakte Realität ironisdterweise die »neue Unmittelbarkeit« nennen, die allerdings
für eine raffinierte Wiederherstellung der Unmündigkeit und eine Blockade der Eman-
zipation sorgt, welche, weil sie selbst als »Emanzipation« firmiert, kaum noch durch-
schaubar ist 38•
Die Abstraktheit geht auf eine ungenügende theoretisdte Vermittlung zurück: praxis-
lose Theorie und theorielose Praxis verdanken sich in gleidler Weise einer kurzschlüs-
sigen Erkenntnis des Mensdlen. Dementgegen hat Anthropologie-Kritik durch Unter-
scheidung zu vermitteln und das Unvermittelte, respektive »Unmittelbare« als Ver-
schleierungsideologie kenntlidl zu machen. Denn die Extreme hängen, obwohl sie sich
gegenseitig auszuschließen sdteinen, eng zusammen. Theorie und Praxis sind, unter dem
gemeinsamen Vorzeichen ihrer abstrakten Verfassung, zwei Seiten desselben säkularen
Rückschlags der Mensdlheitsgeschidlte, der als unbegriffener den Betroffenen lediglich
noch die Illusion der Freiheit läßt. Mithin hat >>kritische Anthropologie« nur eine ein-
zige Aufgabe: die ebenso unvermeidliche wie verhängnisvolle Abstraktheit, die zugleich
das Problem der Anthropologie und das Problem des Menschen ausmacht, erkennend
und begreifend zu relativieren.
Die eingangs angedeutete These, daß die mensdtlidle Identität nur dann zu bewahren,
bzw. zu erneuern sei, wenn die »anthropologische Differenz« in jeder Art Umgang mit
Mensdlen - audl dem wissensdlaftlidlen - berü<ksidltigt wird, bekommt hier schärfere
Umrisse. Das Kriterium der Anthropologie-Kritik, ein theoretisch nur negativ faßbares
Konzept des Menschenmöglichen, muß praktisch so konkretisiert werden, daß die bei
aller Protestbereitsdlaft der Gegenwart kaum bestrittene Herrsdlaft des Abstrakten
gebrodten wird, und zwar durch permanenten Widerspruch gegen sicherheitsverhei-
66 Dietmar Kamper
Anmerkungen
1 Es handelt sich bei diesem Beitrag um die veränderte und erweiterte Fassung der Einleitung
zur Habilitationsschrift des Verfassers, die unter dem Titel »Geschichte und menschliche
Natur. Die Tragweite gegenwärtiger Anthropolgie-Kritik« demnächst erscheinen wird.
Anthropologische Differenz und menschliche Identität 67
2 vgl. Bernard Willms, Revolution und Protest oder Glanz und Elend des bürgerlidten
Subjekts, Stuttgart 1969.
3 vgl. Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperlidte Arbeit. Zur Theorie der gesellsdtaftlidten
Synthesis, Frankfurt/M. 1970; und C. B. Macpherson, Die politisdte Theorie des Besitzindi-
vidualismus, Frankfurt/M. 1967.
4 vgl. Norbert Elias, über den Prozeß der Zivilisation, Bern und Mündten 1969 2 •
5 vgl. Wolf Lepenies und Helmut Nolte, Kritik der Anthropologie, Mündten 1971 und Wolf
Lepenies, Soziologisdte Anthropologie, Mündten 1971.
6 vgl. Wolfgang Rudolph, Der kulturelle Relativismus, Berlin 1968.
7 vgl. Michael Landmann, Das Ende des Individuums, Stuttgart 1971.
8 vgl. Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt/M. und Bonn 1970 2•
9 vgl. /ürgen Habermas, Nadtgeahmte Substanzialität, in: Merkur 264.
10 vgl. Odo Marquardt, Zur Gesdtichte des philosophischen Begriffs •Anthropologie« seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts, in: Collegium Philosophicum, Basel-Stuttgart 1965.
11 vgl. Ulrich Sonnemann, Negative Anthropologie, Harnburg 1969.
12 vgl. Michael Theunissen, Gesellsdtaft und Gesdtidtte, Berlin 1969.
13 vgl. Hans Kilian, Das enteignete Bewußtsein, Neuwied 1971.
14 vgl. Lotbar Krappmann, Soziologisdte Dimensionen der Identität, Stuttgart 1971.
15 vgl. Edmund Busserl, Die Krisis der europäischen Wissensdtaften und die transzendentale
Phänomenologie, Den Haag 1962 2 •
16 vgl. Norbert Elias, a.a.O., und Dieter Claessens, Familie und Wertsystem, Berlin 1967 2•
17 vgl. j6hann Pall Arnason, Von Marcuse zu Marx, Prolegomena zu einer dialektisdten
Anthropologie, Neuwied u. Berlin 1971.
18 vgl. Heinrich Roth, Pädagogisdte Anthropologie, Hannover 1966 u. 1971.
19 vgl. Michael Theunissen, Der Andere, Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin
1965.
20 vgl. Norbert Elias, Was ist Soziologie?, Mündten 1970.
21 vgl. Peter Furth, Nadtträglidte Warnung vor dem Rollenbegriff, in: Das Argument 66; und
Hans Peter Dreitzel, Soziale Rolle und politisdte Emanzipation, in: Das Argument 71.
22 vgl. fean Paul Sartre, Die Kritik der dialektisdten Vernunft, Harnburg 1967.
23 vgl. Manfred Buhr, Entfremdung- Philosophisdte Anthropologie- Marx-Kritik, in DZfPh.
1966 Heft 7.
24 vgl. lmmanuel Kant, Anthropologie in pragmatisdter Hinsicht, in: Kants gesammelte Sdtrif-
ten, Berlin 1907, Bd. VII.
25 vgl. Friedrich Blumenbach, De generis humani varietate nativa, Göttingen 1795 3 •
26 vgl. Leszek Kolakowski, Cogito, historisdter Materialismus, expressive Persönlidtkeitstheo-
rien, in: ders., Traktat über die Sterblidtkeit der Vernunft, Mündten 1967.
27 vgl. Bernard Willms, a.a.O.
28 vgl. fürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen
Kompetenz, in: Habermas-Luhmann, Theorie der Gesellsdtaft oder Sozialtedtnologie,
Frankfurt/M. 1971.
29 vgl. Günter Dux, Helmuth Plessners philosophisdte Anthropologie im Prospekt, in: H.
Plessner, Philosophisdte Anthropologie, Frankfurt/M. 1970.
30 vgl. Dieter Claessens, Nova Natura, Anthropologische Grundlagen modernen Denkens,
Düsseldorf-Köln 1970.
31 vgl. Helmut Fahrenbach, Heidegger und das Problem einer •philosophisdten« Anthropolo-
gie, in: V. Klostermann (Hrsg.}, Durdtblicke, Frankfurt/M. 1970.
32 vgl. Heinrich Rombach, Die Wissensdtaft und die gesdtidttlidte Selbstbestimmung des Men-
sdten, in: Philosophisdtes Jahrbudt, 74. Jg., 1. Halbband.
33 vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966.
34 vgl. Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellsdtaft. Eine Gesdtidtte des Wahns im Zeitalter
der Vernunft, Frankfurt/M. 1969.
35 vgl. Gerard Radnitzky, Contemporary Sdtool of Metascience, Göreborg 1970 2t.
68 Dietmar Kamper
36 vgl. Hans-Georg Gadamer, Theorie, Tedmik, Praxis- die Aufgabe einer neuen Anthropolo-
gie, in: H.-G. Gadamer u. D. Vogler (Hrsg.), Neue Anthropologie, Stuttgart 1972.
37 vgl. Wolf Lepenies und Helmut Nolte, a.a.O.
38 vgl. Günter Rohrmoser, Emanzipation und Freiheit, München 1970.
Stil in der Philosophie
und das Problem einer Barockphilosophie
Gerhard Funke (Mainz)
»Die deutsche Kunstwissenschaft ist seit einiger Zeit darum bemüht, die Begriffe, die sie
für ihren historischen Aufbau und die Periodeneinteilung verwendet, einer Oberprü-
fung zu unterziehen und zu einer genaueren, sachlich begründeten Formulierung von
Stilbestimmungen zu gelangen«, so beginnt der Kunsthistoriker Werner Weisbach 1924
eine seiner Untersud:J.ungen, welche die »Stilbegriffe und Stilphänomene« zum Gegen-
stand hat. Und Helmuth Plessner als Soziologe fragt gleichzeitig, 1923, nach der Wis-
senschaft überhaupt sowie nach der Haltung, die ihr zugrunde liegen kann: »Wissen-
schaft muß nicht als Methode, jedoch stets als Disziplin auftreten, das heißt Einheit im
Fortgang ihrer Urteilsbildung zeigen. Diese Einheit im Fortgang kann in Prinzipien
begründet sein, dann läßt sich der Fortschritt begrifflich beurteilen, die Mehrung und
Vertiefung der Einsichten hat Kriterien, an denen sie zu messen ist. Oder die Einheit im
Fortgang beruht in der begrifflich zwar mitteilbaren, doch nicht dadurch zu erwerben-
den Einheit der Haltung, dann gibt es keine objektiven Kriterien und Garantien ihrer
gerechten Beurteilung, außer daß man sid:J. bemüht, sich der Haltung selbst anzupassen,
es ihr gleichzutun, den Vorbildern ihrer Durchführung ähnlich zu werden« 1•
Stil ist somit ein komplexes, kein nur kunsthistorisd:J.es und kein bloß soziologisches
Phänomen, es besitzt mit seiner kulturanthropologischen und wissenschaftstheoreti-
schen Bedeutung allgemeine philosophische Relevanz. Es stellt sich Stil bei Weisbach
»als Ausdruckssymbol für kulturelle und psychologische Gegebenheiten dar, wobei auch
religiöse, soziologisd:J.e und andere Faktoren in Betracht kommen, und es zeigt sid:J., daß
>Stil< so auf seine seelischen und formalen Elemente hin untersud:J.t und beides als
Komponenten eines Ausdruckswillens aufgefaßt wird« 2 •
Zugleim ergibt sid:J. dies: jeder »eine bestimmte Zeitspanne ausfüllende Stil ist als Indi-
vidualbegriff mit bestimmten, ihn als Sonderheit charakterisierenden Eigenschaften an-
zusehen« s. Damit ist der Ausgangspunkt eine bestimmte Einheit des Bewußtseins, und
diese Einheit wird auch für die verschiedensten kulturellen Erscheinungen des
christlichen Abendlandes d:J.arakteristisch, wo »trotz aller Verschiedenheiten von Völ-
kern, Nationen und Sitten, trotzaller Kämpfe und gegenseitigen Haßergüsse jeder ein-
zelne Stil sich des ganzen abendländischen Europa bemächtigt hat. Er hat bald da, bald
dort festen Fuß gefaßt und ist in jedem Fall durch ethnische, lokale, kulturelle Einflüsse
in seiner Erscheinungsweise bestimmt und modifiziert worden, aber gewisse wesentliche
und gemeinsame Eigenschaften haben sich allenthalben erhalten« 4•
Kurz vorher aber hat Helmuth Plessner schon die »Einheit der Sinne« untersucht und
von einer »Weltanschauung der Stile« gesprochen 5, um deren Probleme es geht. Sicher-
70 Gerhard Funke
lieh ist es verfehlt, etwa zwischen ägyptischer und griechischer Kunst oder auch
zwischen dorischem, jonischem, korinthischem Stil, zwischen dem romanischen, gotischen
und barodten nur einen Stil-, einen Form- und Geschmadtswandel sehen zu wollen, wo
diese Stilarten doch anscheinend Ausdrüdte, sicherlich jedenfalls meist unreflektierte
oder sogar unbewußte Vergegenständlichungen bestimmten Geistes und geprägter
Weltanschauungen sind 8 • Stil wird als die bestimmte, quasi-gesetzmäßig strukturierte
Art des Lebens und Leistens genommen, soweit es sich um schöpferische (auch symbo-
lische) Hervorbringungen handelt; und Stil zeigt sich grundsätzlich als Kulturstil,
wobei mit Bezug auf den Einzelnen die Frage nach seiner Teilhabe an diesem Stil ge-
stellt werden muß, soferne der (mit Nietzsche) die Einheit des Schöpferischen »in allen
Lebensäußerungen eines Volkes« darstellt 7 und der Einzelne auf die Art seiner Her-
vorbringungen hin analysiert wird. Es ist dies mindestens auch ein philosophisches Pro-
blem, und es besteht Anlaß, es bei Gelegenheit einer umfassenden Untersuchung des
Barock zu behandeln. Dies gilt es zu zeigen.
Die Frage, die zur Entscheidung steht, ist die folgende: was ist gemeint, wenn man von
der Philosophie eines bestimmten Stils, eines weltanschaulich bestimmten Kulturstils,
etwa von einer Philosophie des Barodt oder von einer barocken Philosophie spricht?
Soll damit mehr angezeigt sein als mit dem Titel »Philosophie im Zeitalter des Barock«?
Zieht man ein Lexikon zu Rate, erhält man über Barodt und Barockphilosophie etwa
folgende Auskunft: Barock, Bezeidmung des Stils der Baukunst, der Plastik und der
Malerei, der als Weiterbildung der Renaissanceformen im 17. und 18. Jahrhundert in
Europa herrschte. Von hier aus wurde der Begriff auf die Literatur des 17. Jahrhun-
derts übertragen, und schließlich wurde der gesamte Lebensstil darunter verstanden.
Unter der Philosophie des Barock versteht man die großen Systeme des Rationalismus
von Descartes, Malebranche, Leibniz 8 • Dies ist genauso aufschlußreich und genauso
problematisch wie die Erklärung, der Barock sei die Kunst der Gegenreformation und
des europäischen Absolutismus, zwar weder von der einen noch von dem anderen aus-
gelöst, doch beiden durch entscheidende Schöpfungen verbunden und auch verpflich-
tet 9 •
Beantwortet ist die Frage nach der Barodtphilosophie damit nicht. Nun ist Barock als
Stilbezeichnung aber eine der wenigen, die von einer Form ausgeht - bei Romanik,
Gotikt Renaissance, Klassizismus, Romantik, Naturalismus etc. ist dies durchaus nicht
der Fall. Die Frage nach der Barodtphilosophie erscheint somit deshalb sinnvoll gestellt,
weil es doch offenbar auch Formen des Denkens gibt. Gibt es sie jedoch, müssen sich
auch die Formen eines barocken Denkens in der Philosophie wiederfinden lassen, die es
ja mit dem Denken überhaupt zu tun hat. An die Stelle der Epochenbezeichnung
»Philosophie im Zeitalter des Barodt« träte dann die Qualifizierung der Philosophie
selbst, des Denkens selbst, der Erkenntnis selbst als barock.
und Leibniz behandelt 1°. Kuno Fischer aber unterscheidet noch in seinem »Descartes«
(1852) als große Epochen der neuen Philosophie nur Dogmatismus und Kritizismus,
führt dann aber als spezielle Epochenbezeichnungen »Renaissance«, »Reformation«
und »den Entwiddungsgang der neueren Philosophie« an 1 ~. Windelbands bekanntes
»Lehrbuch der Geschichte der Philosophie« (1891) kennt zwar eine griechische, römisch-
hellenistische, eine mittelalterliche Philosophie, kennt eine Philosophie der Renaissance
mit »humanistischer« und »naturwissenschaftlicher« Periode, aber keine Barockphiloso-
phie vor der Philosophie der Aufklärung 12• Für Dilthey wird der anderswo oft als
Barockphilosoph genannte Leibniz gerade die Philosophie der Renaissance vollenden;
der deutsche Universalphilosoph hat - wie Dilthey in »Leibniz und sein Zeitalter«
(1900 ff) ausführt 13 - die Ideen der Renaissance mit den Mitteln der Naturwissenschaft
direkt weiter zur Philosophie der Aufklärung entwickelt. Rudolf Eucken verfolgt die
»Lebensanschauungen großer Denker« (1890) nach dem Schema »Mittelalter«, »Neues
Christentum«, »Neuzeit«, und dabei werden zwischen »Renaissance« und »Idealismus«
unter dem Titel »Aufklärung« Descartes, Spinoza, Locke, Leibniz, Adam Shmith,
Hume und Rousseau untergebracht 14• Ähnlich verhält es sich in der populären Ge-
schichte der Philosophie von Ernst von Aster (1930), in der nach alt-indischer, chinesi-
scher, griechischer Philosophie die Philosophie des Mittelalters sowie die der Renaissance
und endlich die Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts mit denselben Philosophen-
namen 15 zu Wort kommt. Ebenso behandelt Kurt Schilling in seiner etwas unglücklich
nach Nationen geordneten »Geschichte der Philosophie« (1953) zwischen den Titeln
»Renaissance« und »Aufklärung« schlechtweg »die großen metaphysischen Systeme des
17. Jahrhunderts« 16 • Paralleles findet sich bei Johannes Hirschherger 17, wenn er die
»Systeme des 17. und 18. Jahrhunderts« mit »Rationalismus«, »Empirismus« und »Auf-
klärung« zur Sprache bringt, bevor er zu Kant und dem Idealismus übergeht. Des
Barock wird also nicht Erwähnung getan. Nur wo nicht Philosophiegeschichte sondern
eine Geschichte der »abendländischen Weltanschauung« gegeben wird, wie bei Hans
Meyer, kommt in der Zeit »von der Renaissance bis zum Deutschen Idealismus« bei der
Behandlung der Philosophie zwischen »Renaissance« und »Aufklärung« »Leibniz als
Barockdenker« vor 18• Was hier angedeutet ist, findet sich bereits vorher ausführlicher
(1936) in Dietrich Mahnkes Erörterung über den »Zeitgeist des Barock und seine Ver-
ewigung in Leibnizens Gedankenwelt«.
Die Philosophiegeschichtsschreibung nichtdeutseher Sprache weist dieselben Tendenzen
auf. Emile Brehiers »Histoire de Ia Philosophie« (1926/1934) geht nach den Stichwor-
ten »Autorität«, »Absolutismus«, »Atomismus«, »Gegenreformation«, »Renaissance«
einfach auf die einzelnen Personen unter je für sie bezeichnenden Kurzformeln
ein, also etwa auf Galilei, Bacon, Descartes, Pascal, Hobbes, Spinoza, Malebranche,
Leibniz, Locke, Bayle, Fontenelle, Newton, Buffier, Berkeley, Wolff, Rousseau,
Saint-Martin und Kant 19• Bertrand Russell entwickelt im dritten Buch seiner» History
of Western Philosophy« (1946) als modern die verschiedensten Strömungen »from
the Renaissance to Hume« 20; und wie bei Brehier erscheint der Terminus Barock
nicht. Die sowjetrussische »Geschichte der Philosophie« von Dynnik, Jowtschuk, Mitin
und Trachtenberg (1957) hat zwar die Ausdrücke »Renaissance« und »Aufklärung«,
wendet aber sonst Kategorien wie »Epoche der frühen bürgerlichen Revolution« in
72 Gerhard Funke
2. Ein erstes Fazit ist damit dies, daß die Philosophiegeschichtsschreibung mit einem
»barocken Denken« wenig anzufangen weiß und auch die Epochenbezeichnung »Philo-
sophie im Zeitalter des Barock« lieber durch neutrale Etikettierungen wie »Philosophie
im 17. und 18. Jahrhundert« ersetzt. Nimmt sie dennoch sachhaltige Kennzeichnungen
vor, dann hebt sie etwa die innere Verankerung in einer Metaphysik und den formalen
Hang zum System hervor.
Nun läßt sich bei einer solchen offenkundigen Unsicherheit des Vorgehens prinzipiell
die Frage stellen, nach welchen Gesichtspunkten Philosophiegeschichte überhaupt
getrieben werden kann und soll, denn um ein geschichtliches Phänomen handelt es sich
bei der in Rede stehenden Barockphilosophie doch. Darauf läßt sich nur mit einer
Grundsatzuntersuchung antworten. Nach einigen Prolegomena soll sie vier Gesichts-
punkte bringen.
Die durchschnittliche chronologische Darstellung geht von den fertig vorliegenden
philosophischen Systemen aus, die sie philosophisch-doxographisch erforscht und zeitlich
aneinanderreiht. Die Philosophiegeschichte ist hier eine kompendiöse Sammlung von
historischen Fakten 26 • Sie stellt die einmal konzipierten Lehrgebäude dar und die fort-
laufend wachsende Zahl ihrer Deutungen. Ohne anderen Leitfaden erscheint die Philo-
sophiegeschichte dann leicht als ein Arsenal von Meinungen und von »Meinungen über
Meinungen« 26 • Die chronologisch-systemgeschichtliche Auffassung läßt dem Histo-
rismus und Relativismus alle Möglichkeiten. Die uferlose Mannigfaltigkeit der Lehr-
meinungen begünstigt das Aufkommen der Ansicht, daß die Geschichte der Philo-
sophie als Geschichte einander widerstreitender Spekulationen nur etwas für die Be-
schäftigung müßiger Geister sei. Philosophiegeschichte ist dann die Geschichte weithin
unverifizierbarer Konstruktionen. Gegen diese im Grunde anspruchslose, bloß dogmen-
konservierende Philosophiegeschichtsschreibung sind vier wesentliche und wesentlich
verschiedene Gesichtspunkte geltend gemacht worden.
a) Gegenüber der doxographisch-chronologischen Philosophiegeschichte läßt sich auch
eine Systemgeschichte als Problemgeschichte treiben (August Faust). In ihr soll nach-
gewiesen werden, wie gewissen Problemen sachlicher Art eine bestimmte systembil-
dende Kraft innewohnt 27 • Die Eigenart eines historisch gegebenen Systems wird dann
nur aus der systembildenden Funktion eines als besonders relevant empfundenen Pro-
blems verständlich. Systemverstehen ergibt sich aus dem Verständnis für die konstruk-
tive Funktion eines bestimmten Zentralproblems. Ein solches kann der Möglichkeitsge-
danke z. B. abgehen oder der Begriff der Gewohnheit (Faust, Funke).
b) Der Standpunkt der reinen Problemgeschichte wird gewonnen, wenn man davon
Stil in der Philosophie 73
ausgeht, daß es eigentlich zwei Typen philosophischen Denkens gibt: das Systemden-
ken, das auf Systemkonsequenz aus ist und das Problemdenken, das der Problemkonse-
quenz nachgeht. Das erste kommt mehr logischen, das zweite sachlichen Ansprüchen
entgegen (N. Hartmann) 28 • Zu den Systemdenkern würden vor allem Plotin, Proklos,
die Scholastiker, Bruno, Spinoza, Chr. Wolff, Fichte, SeheHing und Hegel gehören- zu
den Problemdenkern wären, etwas weniger eindeutig, Platon, Aristoteles, Descartes,
Leibniz und Kant zu zählen. Philosophiegeschichte ist hier jedenfalls die Geschichte der
sachlichen Problemstellungen und der Problemlösungsversuche. An der Platonischen
Philosophie ist dann etwa nur das Philosophische, niemals aber das Platonische wichtig.
Das Verweilen bei den Systembauten als solchen und bei den geistesgeschichtlichen Ein-
bettungen eben dieser Systeme wird im Grunde als Abirrung von der Aufgabe des Phi-
losophiehistorikers angesehen. Je mehr die Philosophiegeschichte über die philoso-
phische Aporetik hinaus Historisches, Persönliches, Geistes- und Systemgeschichtliches
mit zur Darstellung bringt, wird sie zur >>Wissenschaft des Nichtwissenswerten«, wird
sie >>ephemeres Gebäude<<: so argumentiert der philosophische Purismus 29 •
c) Die geistesgeschichtliche Betrachtung der Philosophiegeschichte (Erich Rothacker)
muß demgegenüber gerade diese Gegenüberstellung Systemdenker-Problemdenker für
unfruchtbar halten 30.
Auch ihr kommt es in der Philosophiegeschichte auf das Sachliche, Problematische an. In
der Geschichte der Philosophie, die doch eben festhalten soll, wie es eigentlich gewesen
ist, muß sie aber sagen können, wie bestimmte Probleme als solche überhaupt entdeckt
werden könnten und aus welchen zeitbedingten Voraussetzungen sie sich lösen. Nur
eine geistesgeschichtliche Untersuchung z. B. könne dies zeigen, daß etwa Kants Pflich-
tenlehre einige Jahrhunderte früher, also ohne den Einfluß der protestantischen Um-
welt und Bildung, nicht möglich gewesen wäre. Auch sachliche Probleme und Problem-
lösungen ergeben sich also nur aus bestimmten Situationen. Wenn die Philosophie-
geschichte Geschichte sein will, hat sie diese Zusammenhänge mit zu berücksichtigen.
Der philosophische Problemdenker, d. h. also der eigentlich »aktive« Philosoph, kann
ohne historische Reminiszenzen einfach der Sache nachgehen oder nachzugehen meinen.
Dennoch unterliegt er dem Einfluß seiner historischen Situation. Der Historiker der
Philosophie hat aber auch das Zustandekommen einer Problemstellung zu berücksichti-
gen. Er versteht die >>Sachprobleme<< als >>Lebensprobleme« der betreffenden Denker 31•
d) Gegen System-, Problem- und Geistesgeschichte läßt sich die Philosophiegeschichte
endlich auch als die Geschichte fundamentaler philosophischer Intuitionen auffassen
(H. Bergson). Dann ist es ein zentraler Gedanke in jeder Philosophie, der alle anderen
durchdringt 32• Die Philosophiegeschichte hat (nach Bergson) festzustellen, wie dieser
Gedanke, der eine einfache Urintuition ist, immer wieder gegen die inkommensurablen
Ausdrucksmittel der Sprache formuliert worden ist. Sie hat zu zeigen, wie alle system-
geschichtliche, problemgeschichtliche und geistesgeschichtliche Betrachtung nebensächlich
wird, wo es doch immer nur auf die Heraushebung der jeweiligen Grundintuition an-
kommt. Bei Bergson ist die extensionslose Dauer, der subtratlose aktuale Fluß des
Lebens diese Intuition, wo alles sub specie durationis gesehen wird 33 •
Es ist offensichtlich, daß die beiden ersten der skizzierten philosophiegeschichtlichen
Auffassungen die Sachen und dieSachzusammenhänge sprechen lassen wollen, während
74 Gerhard Funke
in den beiden letztgenannten Positionen derjenige eine entscheidende Rolle spielt, der
auf diese Sachen und Sachzusammenhänge stößt, ja, der sie selbst aus sich heraus ent-
wickelt oder setzt. Sobald das Denken, sobald auch die Wissenschaft und die Philoso-
phie nun ihren jeweiligen Gegenstand nicht einfach »erfassen« und erfassend wieder-
geben wird, sondern sowie sie eine konstitutive Bedeutung erlangt, erscheinen die Er-
gebnisse dieses Denkens, des wissenschaftlichen Erarheitens und Philosophierens also als
Produktionen einer hervorbringenden Instanz. Es ist dies dort der Fall, wo jede
menschliche Leistung als Äußerung eines Inneren aufgefaßt wird. Dort wo eine be-
stimmte Lebenseinheit (sei es ein Individuum, ein Gruppensubjekt, ein Volksgeist, eine
Kulturseele) als Ausgangsbasis für bestimmte Lebensäußerungen angesetzt wird und
wo dann diese Lebenseinheit wie alles Lebendige sonst Wandlungen unterworfen ist,
scheint sich in allen Gestaltwandlungen ein synthesisverhürgender einheitlicher Stil
durchzuhalten. Ist Philosophie also eine Lebensäußerung 34, so wird sie auch die Eigen-
tümlichkeiten desjenigen Lebens aufweisen, dessen Erzeugnis sie ist, sie wird also Stil
aufweisen. Damit ergibt sich die entscheidende Frage: sind Denken und Erkennen, sind
Wissenschaft und Philosophie nun relativ zu einem bestimmten Menschentum? Diese
Frage umfaßt zwei Varianten. Die eine lautet: muß durchgängig für alle Erscheinungen
des sogenannten kulturellen Bereichs (also für Religion, Kunst, Sitte, Recht, Sozialord-
nung, Wirtschaftsform sowie eben auch für Wissenschaft und Philosophie) eine Reduk-
tion auf einen bestimmten Lebensstil vorgenommen werden 35 ? Die andere würde zum
Inhalt haben: folgt aus solcher Reduktion auf Lebensstile eine Relativierung der Wahr-
heit?
3. In dem Augenblick, wo man von »gelebten Welten« 38 ausgeht und wo das Denken,
das wissensdtaftlidt und philosophisdt betriebene Denken Lebensäußerung ist und
einen Teil der von Völkern, Gruppen und Individuen ausgezeugten Lebenshaltungen
ausmacht, wird eine hier in die Erscheinung tretende Philosophie das Gepräge eben
dieser seihen Lehenshaltung aufweisen. Anders ausgedrückt: wenn Kultur ein Gehäuse
ist, das jeweils ein bestimmtes Leben sich baut, und wenn Philosophie ein Teil des Kul-
turgehäuses ist, dann schlagen sich in ihr ebenso wie in allen den anderen Hervorbrin-
gungen der entsprechenden Kulturträger dessen Stileigentümlichkeiten nieder. Die Phi-
losophie ist dann nicht von der Sache, sondern vom Menschen her bestimmt: sie weist
dann seinen Stil auf 37• Ob sim dies so verhält, genau das ist die Frage 38,
Man kann nun zur Verdeutlichung von folgendem Befund ausgehen: »Der Mensch ist,
lange ehe er etwas im prägnanten Sinne »erkennt«, ein praktisch handelndes, um seine
Existenz besorgtes, um sein Dasein kämpfendes Wesen. Er erlebt die Mitmenschen lange
in der Freund-Feind-Funktion, ehe er ihn »psychologisch« erkennt. Er lernt erst mit
Zeug und Werkzeug umzugehen, ehe er es in der erkennenden Haltung betrachtet.
Aber nichtsdestoweniger »lebt« er nicht nur handelnd, gestaltend, praktisch sich verhal-
tend das »Wie« und »SO« seines aktiven Lebens, sondern er erlebt auch ein »Was«, ein
»Etwas«. Und wie immer dieses Etwas, dieses inhaltsvolle und beziehungsreime Gegen-
über des Bewußtseins im besonderen gestaltet sein mag, so pflegen wir, jedenfalls beim
Menschen, den Inbegriff des so als etwas Erlebten seine :.Welt« zu nennen. Der Mensch
gestaltet sein Leben, und er bearbeitet und erlebt seine» Welt« 39, Der Mensch begegnet
Stil in der Philosophie 75
eben einmal in den Ordnungen des Lebens wie Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte, Erzie-
hung und Wirtschaft; und er begegnet ebenfalls in den Weisen der Wirklichkeitsbear-
beitung wie Handwerk, Technik, Industrie; und er begegnet schließlich in den Deutun-
gen der Welt wie Sprache, Mythus, Kunst, Religion, Wissenschaft und Philosophie: 40
der Mensch, der da für den Stil verantwortlich ist.
An dieser Stelle wird die Frage nach dem »Stil in der Philosophie« kritisch 41 • Denn ent-
weder ist damit gemeint, daß beim Erfassen der jeweils vorliegenden Gegenstände
bestimmte Übereinstimmungen obwalten, die sich aus der Wahl des interessierenden
Objekts, aus der Einstellung ihm gegenüber, aus dem Bli<kwinkel ergeben. Ist dies
gemeint, dann wird dem Gegenstande selbst hierbei nichts angetan, er bleibt der, der er
ist; nur eben wird übereinstimmend mehr dies oder das von ihm relevant. Solch Phäno-
men ist im »Perspektivismus« von Leibniz bis Rotha<ker anvisiert worden, wenn die
Perspektiven auch alle auf denselben Stoff des Seienden bezogen sind. Vogelperspek-
tive und Froschperspektive geben jeweils etwas anders wieder, ohne sich zu widerspre-
chen. L. F. Clauss, Heidegger, Klages, Spengler u. a. wiederholen in schöner Überein-
stimmung etwa die These, daß dem Bauern z. B. der Wald »Gehölz« dem Förster
»Forst«, dem Jäger »Jagdrevier« oder »Gehege«, dem Wanderer »kühler Waldesschat-
ten«, dem Verfolgten »Unterschlupf«, dem Dichter »Waldesweben«, »Harzduft«, dem
Verliebten »Tandaradei« oder dergleichen sei; daß der Offizier einen Berg oder Stein-
bruch mit anderen Augen ansehen und als etwas anderes erleben wird, als ein Speku-
lant, als ein Maler, als ein Spaziergänger etc. 42 • Aber schon die Redeweise, daß es sich
hier doch um »Wald«, »Berg«, »Steinbruch« handle, macht sichtbar, daß es anscheinend
noch mehr gibt als ein Aufgehen in solchen Lebensbezügen; daß sich die theoretische
wissenschaftliche, philosophisch erfassende Weltbewältigung gerade nicht auf das Dar-
leben bestimmter Bewandtniszusammenhänge reduziert 43 •
Wenn »Stil« - im Idealfall - das einheitliche, charakteristische Gepräge aller mensch-
licher Hervorbringungen bezeichnet, dann ist hier, beim wissenschaftlichen und philo-
sophischen Erkennen, die menschliche Zutat, die solch einheitliches Gepräge tragen
kann, nicht das Erfassen selbst, verstanden als Gegenstandsproduzieren, sondern die
menschliche Zutat besteht einzig und allein in der Lenkung der lnteressenrichtung, im
Zugriff hier oder dort, in der Stellung der Probleme. Der Mensch ist also nicht verant-
wortlich für die Hervorbringung der Sachen, sondern dafür, daß er sich diesen und
nicht jenen Sachen zuwendet. Darin kann »Stil« liegen 44 • Eine »Barockphilosophie«
wird dann etwa übereinstimmend dadurch bezeichnet werden, daß in dem in Kunst
und Literatur »Barock« genannten Zeitalter auf dem Felde der Philosophie Erschei-
nungen auftreten, die das Merkmal des Konstruktiven, der Metaphysikfreudigkeit, der
rationalen Systematik tragen 45, Das Denken ist dabei ganz »objektiv«. »Relativ«, d. h.
abhängig vom jeweiligen Menschentume, ist allein der Einsatz dieses Denkens: hierfür
mögen im volitiven und emotionalen, auch im affektiven Bereich, also im sogenannten-
ten vollen konkreten Sein des Menschen Bestimmungsgründe gegeben sein. Die Er-
kenntnis wird durch sie nicht selbst relativiert, sondern sie erscheint perspektivisch;
nicht das Erkannte trägt dann das Stilgeprägte des Menschen, sondern die Auswahl des
Erkannten tut es. So aber wird zweifellos, wenn populärerweise von einem »Stil in der
Philosophie« gesprochen wird, nicht argumentiert. Vielmehr soll da das Philosophieren
76 Gerhard Funke
(qua Denken und Erkennen) selbst in seiner Form einen bestimmten Stil haben. Die
Form des Philosophierens (qua Denkensund Erkennens) ist dann aber eben nimt die
des hinnehmenden Gegenstandserfassens, sondern die von Fall zu Fall andere Gegen-
standserzeugung, und damit Ursadle von dessen Relativierung.
Wenn Dilthey drei Typen von Weltansmauungen 46 in Religion, Poesie und Metaphysik
untersmeidet und dabei den »Naturalismus« vom »Idealismus der Freiheit« und vom
»objektiven Idealismus« sondert, wenn »die letzte Wurzel der Weltansdtauung das Le-
ben« ist 47, mag der Typus der Weltauffassung nom eine perspektivisme Ansimtenwie-
dergabe zulassen. Wenn aber Spengler von einer apollinismen, faustismen, magismen
Seele sprimt 48, dann ist diese Kulturseele bei ihm verantwortlim für alle Hervorbein-
gungen in ihrem Bereim. Dann gibt es eine »faustisme Mathematik«, einen »gotismen«
Seelenraum; dann gibt es »apollinisme Naturerkenntnis« und »magisme Numina« der
arabismen Kulturseele. Kurz: nimt die Auswahl der Samen, nimt die Zuwendung zu
den Samen, nimt die Fragwürdigkeit der Samen ist faustism, apollinism oder magism
bestimmt, sondern die Samen selbst sind inhaltlim versmieden, je namdem ob sie im
faustismen, apollinismen oder magismenDenken auftaumen. Nietzsmes Wort von der
Kultur, die da »Einheit des künstlerismen Stils in allen Lebensäußerungen eines Vol-
kes« sei, ist so auf die Kulturseelen angewandt 49, erweitert zum Lebensstil, zum physio-
gnomismen Haltungsstil einer morphologismen Ganzheit. Unter solmen Auspizien
würde dann der Barockstil der Ausdruck des Barockmenschen sein; und der Barock-
mensm dämte aum barock, nimt dämte er nur Barockes. Etwas Barockes erkennen wäre
immer nodt ein objektives Erkennen: d. h. das Erkennen bliebe objektiv, und das Er-
kannte seligiert, also etwa ein seligiertes Barockes, so wie man im Barockzeitalter eben
Aussmnitte seligiert; wo man jedom von Barockphilosoph im eigentlimen Sinne der dil-
they-spenglerschen Richtung spricht, ist der Grundgedanke der, daß ein barockes Er-
kennen vorliege, dem somit gerade die hinnehmend erfassende Form sonstigen wissen-
schaftlimen Erkennens fehlen würde. Und die Frage ist, ob ein solfies barockes Er-
kennen überhaupt nom »Erkennen« genannt werden darf, wenn es nimt »objektiv«,
sondern »subjektiv« ist- subjektiv in dem Sinne einer Auszeugung gegenstandsgestal-
tender und gegenstandsaufbauender Denkformen. Denn: Barockes erkennen und ba-
rockes Erkennen stellt keine Gleichung dar oo.
Hier wird eine allgemeine Korrelation von Mensm und Welt gesetzt, oder von mensch-
lichem Sosein und Sosein der Welt, in der der Mensch jeweils lebt. Wie der Mensm nimt
nur aus Geist, Bildung und Kultur besteht, sondern primär lebt und sein Dasein
behauptet, so ist die Korrelation von Mensm und Welt nimt auf theoretische Weltan-
smauungen besmränkt, sondern betrifft jedwedes Handeln in dieser, die eine nimt nur
erlebte, sondern vielmehr eine gelebte Welt ist. Gelebt wird sie nimt nur im tätigen
Umgang mit den Samen, die man handhabt, sondern aum in der Weise, wie sie sim er-
schließt 51,
Wenn aber das Verhältnis vom Sein des Menschen und menschlichem Erkennen so ist,
dann gibt es aum eine edtte Barockphilosophie in dem Sinne, daß man nicht nur Ba-
rockes erkennen kann, sondern daß barockes Erkennen vorliegt: Aum Erkennen, aum
Philosophie ist dann stilgeprägt-so wie »bourgeoise Bildung« oder »proletarisme Wis-
Stil in der Philosophie 77
4. Stil ist nun eine weithin als selbstverständlich bekannt unterstellte Größe. Das lat.
Wort für »Griffel«, »Schreibart« hat aber mannigfache Bedeutungstransformationen
durchgemacht. Bis ins 19. Jahrhundert hinein liegt dem Stilbegriff in der Dichtung eine
Bedeutung zugrunde, die etwa folgendes besagt: Dichtung ist ein bewußt gemachtes
und mit bestimmten Mitteln aufgeputztes Stück Sprache. Die Mittel, die dabei ver-
wandt werden, sind die bekannten Figuren der klassischen Rhetorik 53• Die Untersu-
chung eines Textes auf seinen Stil hin besteht dann im Feststellen der vorkommenden
rhetorischen Figuren. Aber auch wenn die antike Reflexion über Sprache und Literatur,
über Figuren und Stil zwischen 450 v. Chr. und 600 n. Chr. geprägte Formen in Unzahl
ausgebildet hat 54, gilt für »die Begegnung zwischen Literatur und Rhetorik die Fest-
stellung, daß der Interpret der Literatur mit der literarischen Rhetorik allein nicht aus-
kommt, weder hinsichtlich der literarischen Gedanken- und Sprachformung noch erst
recht hinsichtlich der in der Literatur im weitesten Sinne gestalteten Gehalte. Der
Unterricht in der literarischen Rhetorik will als Gegengift verstanden sein, als Schutz
gegen eine allzu schnelle Aktualisierung des Kontakts mit der Individualität des Kunst-
werks und seinem individuellen Schöpfer 55 • Vieles in Kunst und Dichtung ist Stilfigur,
was zunächst als originelle Erfindung scheinen kann. Und, was hier mit Bezug auf die
Dichtung gesagt wird, gilt, mutatis mutandis, auch für andere Erzeugnisse des lebendi-
gen Geistes: vieles ist durchgehaltene Form, durchgeprägtes Stilelement, was zunächst
persönlich zu sein scheint und seinen eigenen Zauber ausübt.
Andererseits heißt es bei Goethe, »alle meine Werke sind Bruchstücke einer großen
Konfession«. Das heißt, das einzelne Werk ist je als Teil anzusehen und nur aus einer
höheren Einheit wirklich zu verstehen, die zunächst die Künstlerpersönlichkeit verbürgt
und die dann auch etwa der »Geist der Zeit« oder der »Sinn des Volkes« gewährleistet.
Buffons berühmtes Wort »le style est l'homme m~me« (1753 gesprochen) steht nicht am
Anfang dieser Auffassung, die synthetische Einheitsbegriffe als für jedes Verstehen
unerläßlich postuliert 56 • Denn handelt es sich hier um mehr als Postulate, wenn von
einem Volksgeist, einem Nationalcharakter, einem Epochenstil gesprochen wird, von
dem aus die Werke, in denen er sich jeweils niederschlägt, verstanden werden sollen;
während doch, was» Volksgeist«, »Nationalcharakter«, »Epochenstil« inhaltlich umfas-
sen, erst aus »geprägten Formen, die lebend sich entwickeln«, abgelesen werden kann.
Der berühmte »Zirkel im Verstehen«, der darin besteht, daß von einem vorausgesetzten
Wesens-, Epochen- oder Stilbegriff her eine Ordnung in die Mannigfaltigkeit vorgege-
bener Erscheinungen gebracht wird, woraufhin sich dann aus der so gelenkten Durch-
musterung dieser Erscheinungen wiederum Wesentliches für die vorausgesetzten Ord-
nungs- und Synthesisbegriffe gewinnen läßt 57, wird hier zum letzten Wort. Ein Beispiel
kann das erhellen: Wenn der Hispanist Ludwig Pfandl (in der »Geschichte der spa-
nischen Nationalliteratur in ihrer Blütezeit«, 1929) sagt, der spanische Barock »ist die
Zeit, in der die spanische Psyche in eine gewisse Obersteigerung der ihr eigenen Gegen-
sätze gerät, weil ... « 58, dann kann der Romanist E. R. Curtius (in »Europäische Litera-
tur und lateinisches Mittelalter, 1948«) dagegen fragen, »woher kennt Pfandl die spa-
78 Gerhard Funke
nisdl.e Psydl.e und ihre Gegensätze? Aus der Literatur. Die Wesensdeutung einer Natio-
nalliteratur aus einer hypostasierten Nationalpsychologie (besser »Nationalpsyche«) ist
zwar in Frankreich, Deutsdl.land, Spanien sehr beliebt, aber sie hat minimalen wissen-
sdJ.aftlidJ.en Wert«. Kurz: der Einwand bedeutet, es würde das »Wesen des spanischen
Barock« aus ... dem Wesen des spanischen Barock erklärt 59• Dieses Argument ist unwi-
derleglich.
Wenn solche Einwände gegen die umfassende Anwendung des Stilbegriffes bereits auf
dem ureigensten Felde der Literaturforschung erhoben werden eo, um wieviel mehr müs-
sen sie im Bereiche der Philosophie gelten? Dennoch hält sich weiterhin die Überzeu-
gung, daß durdl. Rückführung auf Wesens- und Stilbegriffe die wahre Wirklidl.keit am
ehesten in den Griff zu bringen ist. Der Kunstgriff ist der, von den Objektivationendes
Geistes her den Geist, und vom Geist her seine Objektivationen zu verstehen, oder die
natura naturans von der natura naturata her zu ersdl.ließen bzw. die natura naturata
aus der natura naturans abzuleiten. Für die Münchener Romanistensdl.ule (Vossler,
Spitzer) gilt dementspredl.end dies: »Syntax, ja Grammatik sind nichts als gefrorene
Stilistik«. Der italienische Neuhegelianismus (Croce) stellt deshalb fest, daß die Stilistik
Vossler, Spitzer und anderen dies verdanke, daß nicht mehr an einem Unterschied zwi-
schen Stilkritik und ästhetischer Kritik festgehalten wird. Für Damaso Alonso (in: La
poesia de San Juan de la Cruz) ist der Stil der einzige Gegenstand der literarischen Kri-
tik, und die wahre Aufgabe der Literaturgeschichte ... besteht darin, die einzelnen Stile
gesondert zu bestimmen, zu bewerten, aufeinander zu beziehen und einzureihen. Emil
Staiger endlich erklärt, »von allen Möglichkeiten literarischer Forschung ist sie (die Stil-
forschung) die am meisten autonome und dem Dichterischen am meisten treu«, was
jedoch nicht hindert, daß er selbst diesen Stilbegriff in seinen »Grundbegriffen der Poe-
tik« keineswegs klärt, sondern frischweg von »Lyrischem Stil: Erinnerung«, »Epischem
Stil: Vorstellung« und »Dramatischem Stil: Spannung« handelt 81 ,
Die Frage bleibt somit: woraus resultiert das einheitliche, charakteristisdl.e Gepräge
menschlicher Hervorbringungen? Die Linien von Herder, Hege!, Ranke, Nietzsdl.e,
Dilthey und Spengler her laufen im 20. Jahrhundert in einer lebensphilosophisch, exi-
stentialistisch, anthropologisch bestimmten Kultur- und Geschichtsphilosophie zusam-
men. Es heißt da: »Was gewahren wir, wenn wir uns z. B. das griechische Volk verge-
genwärtigen, wie es bei seinen großen Festen, etwa in Olympia zu den Wettkämpfen
versammelt war, in denen sich dort die Blüte seiner Jugend maß? Was wir sehen, ist
zunächst ein herrliches Menschentum im Ringen um den Siegerpreis seiner maß- und
zuchtvollen Vollendung. Das ist unsere erste Gegebenheit: Menschen einer bestimmten
Artung und einer bestimmten Weise, sich zu gebaren. Geformt nach einem bestimmten
Stil. Vorbildlich bei den Kämpfern, nachbildlich im Publikum. Denn es ist offenbar,
daß die agonalen Helden dieses Geschehens ein Ideal verkörpern, zu dem die anderen
aufschauen. Es sind griechische Menschen, die hier kämpfen, keine ägyptischen, keine
Neger, keine Chinesen, keine Römer, keine Germanen. Sie stehen vor uns in einem ganz
unverwechselbaren Stil. Und nicht viel anders als in Platons Ideenlehre die vielen belie-
bigen Pferde, die es gibt, ihrer Artung nach bezogen sind auf das Urbild des Pferdes,
von dem sie anschaulicherweise ihre mehr oder weniger ausgeprägte Pferdheit beziehen,
an der sie teilhaben, so haben die Massen der Zuschauer, ihrem Seinsstile nach, Teil an
Stil in der Philosophie 79
5. Barock als Stilbezeichnung ist nun, um dies zu wiederholen, die einzige, die von einer
Form ausgeht. Die spanisch-portugiesische Etymologie von Barrueca/barocco als
Kunstausdrutk aus dem Juwelierhandwerk, die so etwas wie »unregelmäßige«, »schief-
runde Perle« besagt und die in der französischen perle baroque bzw. in der deutschen
Brockenperle weiterlebt, hilft für die Bezeichnung einer Denkform nicht weiter. Mag
Winckelmann (mit den »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der
Malerei und Bildhauerkunst«, 1754/5) auf diesen Sinn von »barotk« aus sein; im philo-
sophischen Bereich inuß man vielmehr Croces Hinweis auf die scholastische unvollkom-
mene Schlußfigur »baroco« nachgehen 63.
Das »barotk« als Antibegriff der Aufklärungszeit aufgekommen ist, wie Heinz Tintel-
not in dem Aufsatz »Zur Gewinnung unserer Barotkbegriffe« deutlich macht, dies wird
allgemein angenommen - auch, daß man mit ihm so etwas wie bizarr, schwülstig, ab-
sonderlich, unvollkommen, fehlerhaft, unrein, verrenkt, verdreht, eben »barotkisch«
verbindet 84 • Aber was es mit dem unvollkommenen Syllogismus baroco auf sich habe,
muß noch geklärt werden. Eine kurze Erinnerung kann dazu verhelfen. Sie betrifft
Grundbegriffe der Logik 85.
Auszugehen ist von den mittelbaren Schlüssen. Mittelbar ist der Schluß vom Allgemei-
nen auf das Besondere. Er heißt Syllogismus. Mittelbar ist auch der Schluß vom Beson-
deren auf das Allgemeine. Er ist Induktion. Wenn nun beim Syllogismus die Urteile,
aus denen ein neues Urteil abgeleitet wird, Prämissen (propositiones praemissae) hei-
ßen, und wenn das abgeleitete Urteil Schlußsatz (conclusio) genannt wird, dann beruht
die Möglichkeit, den Schlußsatz aus den Prämissen abzuleiten, darauf, daß diese Prä-
missen einen Begriff, den sogenannten Mittelbegriff (terminus medius) gemeinsam
haben, der im Schlußsatz nicht mehr vorkommt. Diejenige Prämisse, die das Subjekt des
Schlußsatzes, den Unterbegriff (Terminus minor) enthält, wird Untersatz (propositio
minor) genannt; diejenige, die das Prädikat des Schlußsatzes, den Oberbegriff (termi-
nus maior) birgt, Obersatz (propositio maior) genannt. Alle zusammen bilden die Ele-
mente des Schlusses, elementa syllogismi.
Diese Syllogismen werden nun nach der Stellung des Mittelbegriffs in verschiedene
Schlußfiguren eingeteilt. Dabei sind vier Fälle solcher Stellung des Mittelbegriffs mög-
lich. Er ist entweder
80 Gerhard Funke
Bezeichnet man den Subjektsbegriff mit S, den Prädikatsbegriff mit P, den Mittelbe-
griff mit M, so lassen sich vier Schlußfiguren nach folgendem Schema gewinnen:
MP PM MP p M
S M SM MS MS
s p SP s p s p
Die ersten drei Figuren sind dabei aristotelisch, die letzte galenisch. Wenn es nun der
Qualität und der Quantität nach allgemein bejahende (a), partikulär bejahende (i), all-
gemein verneinende (e) und partikulär verneinende (o) Urteile gibt, lassen sich inner-
halb jeder der vier genannten Schlußfiguren bei Kombination von Quantität und Qua-
lität der Prämissen mit den Indices a, e, i, o 16 verschiedene Formen denken. Eine Tafel
kann das klarmachen. Der erste Buchstabe geht auf den Obersatz, der zweite Buchstabe
auf den Untersatz, also
aa ea ia oa
ae (ee) (ie) (oe)
a1 e1 (ii) (oi)
ao (eo) (io) (oo)
Im Ganzen sind das 64 mögliche Kombinationen der Prämissen oder Modi, von denen
sich die größere Zahl als unbrauchbar, ja als widersprüchlich erweist, so daß schließlich
nur 19 Modi übrig bleiben, und zwar von I vier, von II vier, von III sechs und von IV
fünf 66 •
Figur I hat den Mittelbegriff als Subjekt im Obersatz, als Prädikat im Untersatz. In
Figur II ist der Mittelbegriff in beiden Prämissen Prädikat. In Figur III ist der Mittel-
begriff in beiden Prämissen Subjekt. Figur IV hat den Mittelbegriff im Obersatz als
Prädikat, im Untersatz als Subjekt.
Der Modus Baroco kommt nun als vierter Modus der zweiten Figur vor. Dabei muß
der Obersatz allgemein sein und eine der beiden Prämissen ist verneinend - damit
kommt die Folge aoo, baroco, vor.
PaM: Alle wirklich sittlichen Menschen haben auch die rechte Gesinnung.
SoM: Manche, die legal handeln, haben nicht die rechte Gesinnung.
SoP: Manche, die legal handeln, sind keine wirklich sittlichen Menschen 67.
Ein Denken in solcher Form wäre also »barock«?! Kombiniert man diese Auffassung
mit der vom lebensphilosophischen Boden entwickelten Lehre vom »Lebensstil«, dann
Stil in der Philosophie 81
kann man etwa folgendes sagen: Stil ist einmal die Eigenart der sprachlichen und künst-
lerischen Ausdrucksweise. Dann wird Stil das einheitliche Gepräge der Kunst und Kul-
turerzeugnisse eines Zeitalters, der Werke eines Meisters oder einer Gruppe heißen.
Endlich bezeichnet Stil auch die halb bewußt, halb unbewußt geprägte, alle Ausdrucks-
wesen und Lebensgewohnheiten durchziehende Form des persönlichen Lebens eines
Menschen oder einer Menschengruppe, wobei Denken und Erkennen nicht ausgespart
werden.
Der Ausdruck »Lebensstil« dient dann zur Bezeichnung der »Einheit siegreich vordrin-
gender und sich intensivierender geistiger Strömungen«, die einer Zeit das Gesicht
geben 88 • Den Ausgangspunkt bilden die genannten physiognomisch einheitlichen
»Volksgeister«, »Nationalcharaktere«, »Kulturen«, »Zeitgeister«, »epochalen Stile«,
»Kulturzeitalter« 89• Damit verbindet sich die Auffassung, daß das »Ganze einer histo-
rischen Kultur unzerlegt auf das Ganze eines Seelenturns oder Menschentums zurückzu-
führen ist«, welches sich in jenem ausdrückt 70, Grundschema ist dies, daß die verschie-
denen Epochen der Kultur als Ausdruck des sich wandelnden Menschen zu nehmen sind.
So spricht man vom »hellenischen Menschen« (Max Pohlenz), von der »agonalen Kul-
tur« als Ausdruck »des agonalen Menschen« (Jacob Burckhardt), so ergibt sich die Rede
vom »gotischen Menschen« (Wilhelm Worringer), vom »kontrapunktischen Menschen«
(Egon Friedell), so der Ausdruck »Daseinsproblematik des barocken Menschen« (Hans
Pyritz). So arbeitet man mit Begriffen wie »der mittelalterliche Mensch« in der Philo-
sophie (Hans Meyer), wie »der sentimentale Mensch« .in der Literatur (Max Wieser),
wie »der dritte oder der vierte Mensch« in der Soziologie (Alfred Weber). In der Ex-
tremform ist das Denken all dieser Menschen dann ebenso geprägt wie ihr Sein. Philo-
sophie wäre relativ. Im Beispielfall heißt das: es gibt Menschen, die wesensmäßig nach
der Form baroco denken.
6. Die Reduktion, die hier vorliegt, geht auf die Gewinnung einheitlicher hervorbrin-
gender Instanzen aus, deren Inneres (Eigentliches) äußere Manifestation und damit Do-
kument, faßbare, rückgewinnbare Objektivation wird. An die Stelle der Reduktion auf
Volksgeister (bei Herder), auf die germanisch-romanischen Nationen (bei Hegel) treten
im 19. Jahrhundert schon die romantischen Rückführungen auf »Völkergeister«
(Arndt, Görres), auf »Zeitgeister« (bei den Jungdeutschen), auf die »epochalen Ideen
der Völker und Staaten als Gedanken Gottes« (Ranke), dann im 20. Jahrhundert auf
»Kulturseelen« (Spengler, Frobenius) auf. Die Mannigfaltigkeit ist hier unübersehbar.
In der Geistesgeschichte ist sie thesauriert. Karl Lamprecht sieht die deutsche Geschichte
als Ausdruck »sozialpyschologischer Wandlungen«. Werner Sombart interpretiert die
Erscheinungen der modernen Wirtschaft als Ausdruck einer »Seele des Kapitalismus«.
R. v. Ihering reduziert die Rechtssatzungen auf einen »Geist des römischen Rechtes«.
Heinrich Wölfflin geht auf eine für die Seh-, Anschauungs- und Vorstellungsweisen
verantwortliche »neue Gesinnung« zurück; Alois Riegl auf ein jeweiliges besonderes
»Kunstwollen«. Carl Gustav Jung setzt »psychologische Typen« an. Max Weber ersetzt
die monokausalen ökonomischen Erklärungen durch Rückbeziehung auf »idealtypische
Wirtschaftsgesinnungen«. Daran schließt sich dann die Rede von den »Wirtschaftssti-
len« an; bei Spiethoff gestern, bei Müller-Armack heute. Weiter steht damit in Zusam-
82 Gerhard Funke
Heyde, dort der Fall, wo Gegenstand der Erkenntnis ausgerechnet etwas Relatives ist,
wie z. B. das Verhältnis zwischen Bevölkerungsdichte und Sterblichkeit. Dann ergibt
sich nämlich die bemerkenswerte Feststellung einer »Erkenntnis von Relativität«. Was
aber liegt dem oberflächlichen Denken näher, als diesen Sachverhalt »Relatives erken-
nen« einfach zu lesen als »relatives Erkennen« und so die »Erkenntnis der Relativität«
in »Relativität der Erkenntnis« zu verkehren. Auch wenn im gegenwärtigen Zusam-
menhang Barockes zu erkennen ist, erfolgt es nicht auf barocke Weise, sondern
objektiv. Man macht hier also die Relativität aus einem Merkmal des Erkannten zu
einem Merkmal des Erkennens, wenn man von »Relativität der Erkenntnis« spricht.
Hier liegt sie gewiß nicht vor.
Demgegenüber wird die Erkenntnis jedoch gewiß relativiert, wo subjektive Beeinflus-
sungen aus einer bestimmten Willensrichtung, aus einem Interesse, aus Neigungen, aus
seelischen besonderen Antrieben vorliegen. Wo aber »subjektive Erkenntnis« auf Mo-
mente dieser Art, und damit letztlich aufs Volk, auf die Rasse, auf die Klasse zurüd!:ge-
führt wird, ist ein unmittelbares Bedingtsein durch psychisch-somatische Faktoren be-
hauptet, die niemals »Uninteressiertheit«, die nie Objektivität zulassen. Eine von dort-
her etablierte Wissenschaft ist nicht vorurteilslos, sondern gerade mit emotionalen, voli-
tiven, affektiven Wertungen vorbefrachtet. Wo aber etwa seitens des erkennenden Sub-
jekts Voraussetzungen gemacht werden, die durch bluts-, art-oder klassenmäßige Vor-
urteile bestimmt sind, da ist überhaupt keine Erkenntnis gegeben 91 • Sie wird auch nicht
dadurch erreicht, daß man ihr den Zusatz »subjektiv« gibt. Erkenntnis ist allgemein.
Was sie besagt, ist gültig; unbeschadet, ob jeder zu ihr gelangen wird. Die in der Er-
kenntnis eingefangenen Sachverhalte bestehen oder bestehen nicht. Es ist sinnlos zu
sagen, sie bestehen für den einen oder für den anderen. Der eine mag sie sehen, der
andere nicht. An ihrem Bestande ändert dies nichts.
Wenn also daran festgehalten wird, daß es eine »Barod!:philosophie« gibt, und wenn
dies nicht heißen soll, daß die Philosophie nur im Zeitalter des Barock ausgebildet wor-
den ist, oder wenn es nicht besagen will, daß es eine Philosophie über das Phänomen des
Barocken sei, dann wird bei solcher Rede von der »Barockphilosophie« tatsächlich
»barock« aus einem Merkmal des Erkannten zu einem Merkmal des Erkennens ge-
macht. Ein in solchem Sinne »barockes Denken und Erkennen« wird aber überhaupt
nichts Objektives, Verbindliches über sich selbst und über sein Zustandekommen aussa-
gen können, denn es vermag sich ja über sich selbst und seine Bestimmung als eben
»barock« nicht zu erheben. Barockes Erkennen ist relatives Erkennen, und relatives Er-
kennen ist hölzernes Eisen, da Erkennen, wenn es wirklich vorliegt, absolut ist und rela-
tiven Bestand von sich weist und ausschließt. In diesem Sinne wird es eine Barockphilo-
sophie, die mit dem Anspruch, Wahrheit vermitteln zu wollen, auftritt, nicht geben
können.
8. Endlich muß man sich noch mit der Frage befassen, die Hegel in der Vorrede zur
Rechtsphilosophie (1821) entwickelt: die Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken
erfaßt« 92 • Wenn dies Wort nun heißen soll, es sei der Auftrag des Philosophen, »das
Weltbild, die Ideale und die Zwecke, die seine Zeit erfüllen, in deutliches ... Bewußt-
sein zu erheben« - wenn dies bedeutet, »jede Lösung der philosophischen Probleme
86 Gerhard Funke
gehört, geschichtlich gesehen, einer Gegenwart und einer Lage in ihr an« -und wenn
dies endlich besagen will, das Klima, die Rassen, die durch Geschichte und Staatsbildung
bestimmten Nationen, die zeitlich bedingten Abgrenzungen nach Epochen und Zeital-
tern, in denen die Nationen zusammentreffen, verbinden sich zu den speziellen Bedin-
gungen, die auf die Entstehung der Mannigfaltigkeit in den Weltanschauungen wir-
ken«- wenn, wie gesagt, alldies gemeint sein soll, dann befindet man sich auf der Linie
Herder-Dilthey-Spengler. Hegel will aber mit seinem Satz, die Philosophie sei ihre Zeit
in Gedanken erfaßt, etwas grundlegend anderes zur Geltung bringen. Es kommt ihm
nicht auf den Ausdruck eine >>typischen Seelenverfassung<<, überhaupt nicht auf einen
bestimmten »Typus Mensch<< an, der sich in einerWeltanschauungausspricht 93 •
Hegel bezieht sich nicht auf ein »unmittelbares, intuitives Wissen<<, wie es die Weltan-
schauungsphilosophen mit ihrem Zirkelverstehen ansetzen. Litt hat hierauf mit unüber-
bietbarer Deutlichkeit hingewiesen: Allen diesen Formen eines vorgeblich »unmittel-
baren Wissens<< stellt Hegel folgende Erkenntnis entgegen: zwar ist im Unmittelbaren
die Substanz des Menschen und der Zeit beschlossen, aber so wie dies Unmittelbare sich
darbietet, enthält es in buntem Gemenge auch alles das, was zufällig momentan, will-
kürlich, »partikular.r ist. Ob man nun auf der Seite des Subjekts die Regungen des Ge-
mütes- ob man auf der Objektseite die Bilder der Welt ins Auge faßt: hier wie dort be-
deutet das >>unmittelbare« nur einen Rohstoff, der so, wie er ist, in der Tat durchaus der
Zeit, dem Augenblick, der Vergänglichkeit verhaftet ist. Wer dies Unmittelbare in phi-
losophischer Form >>auszudrücken<< sich begnügt, der darf sich allerdings nicht wundern,
wenn seine Philosophie in Bälde einer neuen >>Kombination« von Lebenserfahrungen,
Stimmungen und Gedanken« den Platz räumen muß. Denn warum sollte eine andere,
ebenso zufällige Konstellation dieses Unmittelbaren nicht den gleichen Anspruch auf
philosophische Ausprägung erheben 94 ?
Hegel verwirft also diese Philosophie des Unmittelbaren deshalb, weil es ihr an einem
Kriterium gebricht, das sie in den Stand setzte, innerhalb der Masse des Gegebenen das
Wesentliche vom Zufälligen, das Substantielle vom Kußerlichen und Vergänglichen zu
scheiden. Diese Philosophie ist selbst ein Zufälliges, weil sie in Ermangelung des ge-
nannten Kriteriums am Zufälligen so gut wie am Wesentlichen hängen bleiben kann.
Gewiß ist es möglich, daß in der unreflektierten Unmittelbarkeit unserer Gefühle etwas
zum Durchbruch gelangt, was in der Tat dem substantiellen Lebensgrunde der Zeit und
der Gemeinschaft entspringt- aber dasselbe Gefühl kann auch mit nicht geringerer Zu-
versicht für das Irrtümliche, das Abwegige, das bloß Momentane votieren. Die Zustim-
mung des Herzens genügt nicht, um einem Lebensgehalt eine den Augenblick überdau-
ernde Bedeutung zu verbürgen. Wo die Philosophie des Unmittelbaren sich bereits am
Ziele glaubt, da setzt nach Hegels Überzeugung erst die eigentliche Aufgabe des wahr-
haft philosophischen Denkens ein. Seiner »Vermittelnden.r Tätigkeit bedarf es, damit
uns im Unmittelbaren ein» Wahres« faßbar werde. Jetzt heißt es, die Zeit in Gedanken
erfassen. Erst in dieser Arbeit des Gedankens tritt aus dem bunten Vielerlei des Gegebe-
nen der tragende Grund, der substantielle Gehalt, die >>Idee« hervor.
Diese Philosophie ist rational. Sie geht auf die Sache. Sie will das Allgemeine, das ihr in
Gestalt der »unvergänglichen Sachprobleme ihres Bereichs anvertraut ist<<. Mag sie
akzessorisch noch Ausdruck von irgendetwas sein; der Intention nach ist sie Kritik, Klä-
Stil in der Philosophie 87
Anmerkungen
1 Helmuth Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Aesthesiologie des Geistes
(Bonn 1923}, S. 141; vorher Werner Weisbach, Stilbegriffe und Stilphänomene (Wien,
Mümhen 1957}, darin: Die klassische Ideologie, S. 87 ff. (zuerst Deutsche Vierteljahrsschrift
für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 11, 1933}; Renaissance als Stilbegriff,
S. 13 ff. (zuerst Historische Zeitschrift, Bd. 120, 1919}; Barock als Stilphänomen (zuerst
DVjLGG Bd. 2, 1924); Gegenreformation, Manierismus, Barock, S. 69 ff. (zuerst Reperto-
rium für Kunstwissenschaft, Bd. 49, 1928); das Zitat findet sich im Aufsatz »Barock als
Stilphänomen«, S. 41.
2 W. Weisbach, Barock als Stilphänomen, in: Stilbegriffe und Stilphänomene, S. 41, S. 66.
3 W .Weisbach, S. 41.
4 W. Weisbach, S. 42.
5 Helmuth Plessner, Die Einheit der Sinne, S. 149.
6 foseph Münzhuber über »Das Schöne und die Philosophie«, in: Einführung in die Philoso-
phie (Nürnberg 1948}, S. 275.
7 Vgl. L. Dittmann, Stil, Symbol, Struktur (1968}.
8 johannes Hof/meister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe (Leipzig 1944}, S. 127.
9 Brackhaus Bd. I (1952}, S. 629; Brackhaus Bd. II (1967}, S. 317.
10 Johann Eduard Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philosophie (Neuausgabe Berlin,
Zürich 1930}, S. 412,434,454.
11 Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie (1897ff.), Bd. 1: Descartes (1912 6),
Kap. V-VIII, S. 75--153.
12 Wilhelm Winde/band, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (Billige Ausg. 1935), Teil
IV und V, S. 292 ff. bzw. 367 ff.
13 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften (Berlin, Leipzig 1921 ff.) Bd. 111, S. 69.
14 6. Auflage 1905, dort S. 289, 388, 320.
15 Vgl. die Seiten 159, 180-259.
16 Kurt Schilling, Geschichte der Philosophie (München 1943, 1953 2), EinleitungS. 16 ff.
17 johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie (Freiburg i. Br. 1949/1952), Bd. II, bes.
s. 88, s. 189, s. 240 ff.
18 Geschichte der abendländischen Weltanschauung (Paderborn 1947 /1949}, bes. Bd. III,
S.180.
19 Vgl. Bd. II (Paris 1934}, S. 10, 37, 46, 130, 145, 159, 202,232,276,300, 309 usw.
20 Ausgabe London 1946, S. 511 ff. ·
21 Deutsche Ausgabe Berlin 1959 ff., bes. Bd. I, S. 268/271 ff.; S. 337 ff.; S. 314 ff.
22 Vgl. Barocco Bd. I (Venedig, Rom 1952}, Sp. 578/9; Empirismo Bd. I, Sp. 1878 ff.;
Illuminismo Bd. III, Sp. 1242 ff.; Razionalismo Bd. 111, Sp. 1870 ff., Rinascimento Bd. VI,
Sp. 134 ff.
23 Vgl. die 3. Aufl. (Buenos Aires 1951}, S. 372.
24 Bd. I (Barcelona 1937}, S. 137.
25 Vgl. ihren Beginn im 17. Jahrhundert mit facob Thomasius, Schediasma historieuro quo
omnia discutiuntur ad historiam turn philosophicam turn ecclesiasticam pertinentia (Leip-
zig 1655); Thomas Stanley, The History of Philosophy (London 1655); Jacob Thomasius
(hrsg. v. Chr. Thomasius}, Origines historiae philosophicae et ecclesiasticae (Halle 1699);
Andre Franfois Deslandes, Histoire critique de la philosophie (Amsterdam 1730 u. 1756);
johann facob Brucker, Infinita falsae philosophiae exempla (1747), welch letzterer jede
andere als die leibnizische Philosophie als •Sectas« bezeichnet.
26 Vgl. Nicolai Hartmann, Der philosophische Gedanke und seine Geschichte, in: Abhandl. d.
Preuss. Ak. d. Wissenschaften, Berlin 1936, S. 3.
Stil in der Philosophie 89
49 Vom westlichen und östlichen Auffassen bzw. Denken als »Stilunterschieden« spricht Her-
mann Graf Keyserling (Reisetagebuch eines Philosophen, 2 Bde., 1919), ebenso Betty
Heimann (Indian and Western Philosophy, A Study in Contrasts, 1937).
50 fohannes Erich Heyde, Relativität der Wahrheit, in: Grundwissenschaft Bd. 12 (1933),
S. 47-89; auch in: Wege zur Klarheit (1960), S. 153-175, hat die Formeln »relatives Erken-
nen« und »Relatives erkennen« einander gegenübergestellt.
51 Ober solche »typologischen« und »Stilmäßigen« Erschließungsweisen der Wirklichkeit ist
seit Otto Weiningers »Geschlecht und Charakter« (1903) in zunehmend wissenschaftlicher
Weise gearbeitet worden, vor allem unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg; vgl. C. G. jung
(1920), K. Jaspers (1921), 0. Rutz (1921), E. Kretschmer (1921), L. F. Clauss (1923), E.
faensch, (1925) usw.
52 »Proletarische Wissenschaft«, »bourgeoise Bildung« stellen freilich sprachliche Mißbildun-
gen nach der Art von »Reitende Artillerie-Kaserne« dar; gemeint ist trotzdem meist nur
Wissenschaft bei Proletariern, Bildung von Bourgeois usw.; wo das nicht der Fall ist, liegt
das logische Problem der besonderen »Denkformen« vor (Hans Leisegang 1928).
53 So W. Kayser, Das sprachliche Kunstwerk (Bern/München 1948/59), S. 272.
54 Nach H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, 2 Bde., hier Bd. I,
s. 8.
55 H. Lausberg, HandbuchS. 8.
56 Vgl. »Recueil al'Academie (1753), S. 337. Nicht, wie der Stil so der Charakter, sondern:
der Mensch ist sein Stil, wäre Buffons Auffassung.
57 W. Dilthey, Ges. Schriften, Bd. V, S. 318; Bd. VIII, S. 146; vgl. dazu Martin Heidegger,
Sein und Zeit (1927), S. 152 ff.
58 L. Pfandl (1929), S. 215.
59 E. R. Curtius (1948), S. 297, Anm. 4.
60 Vgl. die von Oskar Walzel im Anschluß an eine Anregung Fritz Strichs aus dem Jahre 1916
aufgeworfene Frage nach der »Wechselseitigen Erhellung der Künste«, die bei ihm (1917)
den Untertitel trägt: Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe (in: Philos.
Vorträge der Kant-Gesellschaft, Berlin 1917).
61 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik (Zürich 1959), bes. S. 13, S. 83, S. 143; vgl. dazu
Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, S. 271. Eine Erklärung wird bei Käte Ham-
burger, Die Logik der Dichtung (1957), versucht.
62 E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, S. 71/2.
63 Vgl. hierzu die Herleitung des Barockbegriffs von Barucca ( = schiefe, unregelmäßige
Perle) bei W erner Weisbach (Stilbegriffe und Stilphänomene, dort: Barock als Stilphäno-
men, S. 43 ff.) bzw. von der logischen Schlußfigur baroco bei Kurt Borinski. (Die Antike in
Poetik und Kunsttheorie, I, Leipzig 1914, S. 199) sowie bei Benedetto Croce (Der Begriff
des Barock. Die Gegenreformation. Zürich 1925, und in: La Critica, 20. November 1925,
s. 366).
64 Vgl. den Sammelband: Die Kunstformen des Barockzeitalters (Bern 1956), S. 14 ff.
65 Es genügt dabei, einen »Grundriß der Logik« (z. B. von Kurt Joachim Grau, in: Aus Natur
und Geisteswelt, Bd. 637, Leipzig, Berlin 1918) zu befragen (S. 72 ff.).
66 Eine entsprechende Kurzerklärung findet sich bei Theodor Elsenhans, Psychologie und
Logik (1904), Die Schlüsse, S. 85-123, bes. S. 103, S. 107 ff.
67 Siehe Th. Elsenhans, S. 107.
68 E. Rothacker, Probleme der Kulturanthropologie, S. 147.
69 E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, S. 55.
70 E. Rothacker, Geschichtsphilosophie, S. 120.
71 Dabei ist der »Geist eines Zeitalters« (= Diapason) durch verschiedene Stilarten wie •Sym-
bolismus«, "Typismus«, »Konventionalismus«, »Individualismus«, »Subjektivismus« usw.
geprägt. Vgl. K. Lamprecht, Deutsche Geschichte der jüngsten Vergangenheit und Gegen-
wart (1912), Alte und neue Richtungen der Geschichtswissenschaft (1896); Was ist Kul-
turgeschichte? (1897); - W. Sombart, Der moderne Kapitalismus, 3 Bde. (1902); - Die
Stil in der Philosophie 91
Zukunft des Kapitalismus (1932);- Rudolf von Ihering, Der Geist des römisdlen Redlts
auf den versdliedenen Stufen seiner Entwicklung, 4 Bde. (1852-1865, 1878);- H. Wölff-
lin, Renaissance und Barock (1888); Kunstgesdlidltlidle Grundbegriffe (1915);- A. Riegl,
Die Entstehung der Barockkunst in Rom (1908); - C. C. Jung, Psydlologische Typen
(1920);- M. Weber, Wirtsdlaft und Gesellschaft (1921); Ges. Aufsätze zur Wissensdlafts-
lehre (1921);- M. Scheler, Die Formen des Wissens und die Bildung (1925); Die Wissens-
form und die Gesellsdlaft (1926); - P. Yorck von Wartenburg, Bewußtseinsstellung und
Gesdlidlte, hrsg. von I. Fetsdler (1956);- E. Troeltsch, Ges. Aufsätze zur Geistesgesdlichte
und Religionssoziologie (1925); - G. Misch, Gesdlidlte der Autobiographie, Bd. I-III
(1907-1962);- E. Spranger, Lebensformen (Festsdlrift für A. Riehl, 1914, erweitert 1921);
- G. Schmidt-Rohr, Die Sprache als Bildnerinder Völker (1932);- W. Dilthey, Die Typen
der Weltansdlauung (1911; in: Ges. Sdlriften, Bd. VIII).
72 K. Marx, F. Engels, Das Kommunistisdle Manifest (1848) - V. Pareto, Compendio di
Sociologia Generale (1920)- G. Sorel, Reflexions de la violence (1908)- L. F. Clauss, Die
nordisdle Seele (1923) - H. F. K. Günther, Der nordisdle Gedanke bei den Indogermanen
Asiens (1934)- A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930).
73 In einer »Weitgehend desorientierten und desintegrierten Gesellsdlaft«, wie etwa der
Deutsdllands im 20. Jahrhundert, ist der Boden für »dezisionistische« Lösungen (Ernst
Jünger, Carl Sdlmitt, Martin Heidegger) bereitet. Vgl. Christian Graf von Krockow, Die
Entscheidung (1958), bes. S. 5.
74 Carl Schmitt (in: Der Begriff des Politisdlen, 1927, 1933 3); »Die eigentlidle politische Un-
terscheidung ist die Untersdleidung von Freund und Feind. Sie gibt mensdllidlen Hand-
lungen ihren politisdlen Sinn, auf sie führen sdlließlidl alle politischen Handlungen und
Motive zurück. Der politisdle Feind braucht nidlt moralisdl böse, er braudlt nidlt ästhe-
tisch häßlich zu sein; er muß nidlt als wirtsdlaftlidler Konkurrent auftreten, und es kann
vielleimt sogar vorteilhaft und rentabel scheinen, mit ihm Gesdläfte zu machen. Er bleibt
aber ein Anderer, ein Fremder« (S. 6/7).
75 G. Mosca, Eiementa di scienza politica (1895, dt. Die herrsdlende Klasse, 1950); W. f.
Lenin, Der Imperialismus als hödlste Stufe des Kapitalismus (1915).
76 Im Leninismus geht die Lehre von der Partei-Elite und von der Diktatur Hand in Hand
mit der Auffassung, es sei »Freiheit« ein »Bürgerlidles Vorurteil« und »Radikalismus«
müsse die Konsequenz des Kommunismus sein. Vgl. W. I. Lenin, Die Kinderkrankheiten des
»Radikalismus« im Kommunismus (hrs. v. Maslow 1925).
77 Vgl. Constantin Brunner (= Leo Wertheimer), Die Lehre von dem Geistigen und vom
Volke (1908, 19623). Die »interesselosen Betradlter« dieser Position, wie etwa Hans Leise-
gang, stellen die historisdlen Befunde zusammen.
78 H. Leisegang, Deutsche Philosophie im XX. Jahrhundert (1928), S. 81 ff.
79 Heinrich Wölfflin, Kunstgesdlidltliche Grundbegriffe (1915, Darmstadt 1957), bes. S. 31;
91; 145; 179; 227 usw.: vgl. Reinassance und Barock (1888, Darmstadt 1961), bes. S. 1 ff.;
15 ff.; 24 ff.; 30 ff.; 45 ff.
80 Laokoon (1766), Nr. XVI.
81 Heranzuziehen ist: F. Strich, Der logisdle Stil des 17. Jahrhunderts (in: Festsdlrift
für Muncker, 1916).
82 F. Strich, Die Übertragung des Barockbegriffs von der bildenden Kunst auf die Didltung,
in: Die Kunstformen des Barockzeitalters (1956), S. 262.
83 Berlin 1921; verteidigt in dem Aufsatz: Gegenreformation, Manierismus, Barock; vgl. Stil-
begriffe und Stilphänomene, S. 69-85, bes. 71 ff.
84 Festschrift Srbik (1938).
85 In: The Journal of Aesthetics (1955), S. 156 ff.
86 Harnburg 1921.
87 in: Peters-Jahrbudl (1919), Nr. 26.
92 Gerhard Funke
Es pflegt manchem seltsam und lämerlid1 aufzufallen, wenn die Musiker von den Gedanken in
ihren Kompositionen reden; und oft mag es auch .so geschehen, daß man wahrnimmt, sie haben
mehr Gedanken in ihrer Musik als über dieselbe. Wer aber Sinn für die wunderbaren Affinitä-
ten aller Künste und Wissenschaften hat, wird die Same wenigstens nicht aus dem platten Ge-
sichtspunkt der sogenannten Natürlichkeit betrachten, nach welcher die Musik nur die Sprache
der Empfindung sein soll, und eine gewisse Tendenz aller reinen Instrumentalmusik zur Philo-
sophie an sich nicht unmöglich finden. Muß die reine Instrumentalmusik sich nicht selbst einen
Text erschaffen? und wird das Thema in ihr nicht so entwickelt, bestätigt, variiert und kontra-
stiert, wie der Gegenstand der Meditation in einer philosophischen Ideenreihe? 1
On the appropriateness of his remarks about music I would not venture to comment;
but resemblance is a symmetrical relation. Let us turn this one around, and ask what it
teils us about philosophy. For my purpose it is the last sentence that matters. »Muß die
reine Instrumentalmusik sich nicht selbst einen Text erschaffen?« In the soberest tone of
contemporary German philosophy, far, indeed, from the Romantic strain, Günther
94 Marjorie Grene
Patzig maintains for the writing of philosophy essentially the claim that Schlegel
makes for musical composition. Celebrating Frege's genius, he writes:
Die Vorzüge der Argumentationsweise eines Denkers sind nicht etwa bloße literarische Vorzüge
seiner Schriften. Es handelt sich nicht um stilistische Ansprüche eines literarischen Genres, auch
nicht um die Frage, ob ein Autor neben der Fähigkeit zu wissenschaftlicher Einsicht auch noch
die Gabe besitzt, seine Forschungsergebnisse verständlich und ansprechend zu formulieren. Die
Forderungen an die Darstellung philosophischer Einsicht sind nichts, was der Philosophie selbst
äußerlich bleiben könnte. Denn die Philosophie ist nicht ein Bestand von wahren Sätzen, son-
dern ein Prozeß der Verdeutlichung. Und wenn dies gilt, so ist ein philosophischer Text nicht
mehr ein schnell zu durcheilender Weg zu gewissen wertvollen Einsichten, der nur aus pädago-
gischer Rücksicht der Formulierung dieser Einsichten beigegeben wird, sondern der philoso-
phische Text ist die Epiphanie der Pihlosophie selbst 2 •
Philosophy, too, in other words, must create its own text, and appears as philosophy
only in that self-creation, which is also the creation of something other than itself, the
text which expresses it, in whidt alone it can present itself.
Why is this so? Because a philosophical concept is at the same time a philosophical pro-
blem, a problern which contains potentially, not only a »Solution«, but the movement
toward a solution which again opens up the original problern in another direction. In a
colloquium delivered in 1935 to the philosophical faculty at Göttingen, and to whidt
Patzig refers in the context of the Statement just quoted, Joseph König contrasts the
factual statement »Mount Everest is the highest mountain on this planet« with
Aristotle's statement »Happiness is the highest good«: In cantrast with the former, he
points out:
Mit dem philosophischen Satz des Aristoteles steht es wesentlich anders. Denn die Eudaimonie ist
ihm nicht ein Gut neben anderen Gütern, d. h. sie ist nicht ein Gut wie diese anderen, von ihnen
bloß dadurch unterschieden, daß sie das höchste Gut wäre; vielmehr ist sie in einem strengen und
unemphatischen Sinn das Gut schlechthin oder das unbedingte Gut. Sagt man nun gleichwohl, sie
sei das höchste Gut oder das Gut schlechthin oder das unbedingte Gut, so spricht das zwar den
philosophischen Gedanken aus; allein diese Ausdrücke sind wesentlich nicht so unmittelbar ver-
ständlich und durchsichtig wie der sonst analoge Ausdruck in dem Satze über den Mount Everest.
Ihre Meinung, ihr Sinn ist vielmehr selber wieder ein philosophisches Problem, das mit den we-
nigen Bemerkungen, die ich soeben darüber machte, nur eben bezeichnet, nicht aber aufgelöst ist.
Und dieses Problem ist keineswegs nur eben ein weiteres Problem, d. h. ein Problem, das man
noch hinzunehmen, ebensogut aber auch beiseite lassen könnte. Denn diese Eudaimonie selber,
die Sache also, wird zugänglich nur in diesem Prädikat •.
We could »know about« Mount Everest without the additional information that it is
the highest mountain, and we could understand the concept »highest mountain« with-
out knowing what mountain it is. But we only know happiness by knowing that it
»means« the summu.m bonum and we only know the summum bonum by knowing that
it is happiness. Is philisophical truth then analytic? That was the view of some positi-
vists, but it is plainly mistaken. For the kind of »meaning« König is talking about is not
the »meaning« established by stipulative definitions and manipulable so as to produce
analytic Statements, as we might conceive the »meaning« and »truth« of »2 + 2 4«. =
Not that mathematical propositions are analytic either; my point is simply that philo-
"Immer noch Philosophie?" 95
sophical propositions, even philosophical definitions, clearly are not so. It takes the
whole of the Nicomachean Ethics to elicit the sense of the Statement »Happiness is the
highest good«.
The conclusion of our Smlegel fragment is apposite here: »Und wird das Thema in ihr
nicht so entwickelt, bestätigt, variiert und kontrastiert, wie der Gegenstand der Medita-
tion in einer philosophischen Ideenreihe?«. Although the series of verbs does not corres-
pond to any musical or philosophical vocabulary-nor even, exactly, to the rhetorical
usage from whitch it may well be borrowed (exponere, confirmare, refutare) 4-it
does fit the example before us. For in the Ethics the concepts of »happiness<< and of
»good«, and of happiness as good, are developed, and so confirmed, through the invest-
igation of moral virtues, and of the particular virtues, of voluntary action, of the
intellectual virtues, of moral weakness, of pleasure in relation to happiness, and so on.
The distinction between the morally good life and the contemplative life, moreover,
introduces into the ethical theme a variant-or a contrast?-not only in the sense of
good but even of »highest«. In Book Ten, finally, the argument is recapitulated with
the celebration of the contemplative life now seen as its triumphant issue, and the whole
argument is placed once more in the context of politics from whim it took its start.
Further, as Schlegel and König agree, it is typical of philosophical subject-matter, and
therefore of philosophical method, that the development of the thought is also the
development of the object of the thought. True, in a sense the text produced by the pro-
blem-in this case the Nicomachean Ethics-is not what the text is about. People have
lived good lives without reading Aristotle, and people have even read, and understood,
Aristotle without leading good lives. Yet the organization of the Ethics is not just the
expression of Aristotle's tidiness and skill in argument; it is the development of his
theme, which is »happiness as the highest good«. Short of idealism, or beyond it, we
must admit that in a philosophical text the relation between »fact« and »significance«,
»object« and »meaning«, is more intimate than in a geographical account of mountains,
high or low. lt is the »object of meditation« that is developed in a philosophical argu-
ment, not only the meditation itself: »Gott, die Welt«, König remarks,
die Seele, das Leben, das Sein, das Werden, die Vernunft, das Bewußtsein, das Schidisal, das
Glüdi, der Zufall, die Notwendigkeit, das Subjekt, das Objekt, die Natur, die Geschichte: alle
solche spezifisch philosophischen Titel oder Gegenstände sind gewiß zwar eben Gegenstände 5•
But they are »objects« of such a kind that »the expression«, the »Logos der Same«,
belongs to the problern itself. That is why philosophy is a process of elucidation, not a
road, short or long, to the establishment of mere facts.
Plessner's concept of »eccentric positionality« is an object in this sense. If he is correct,
as I believe he is, in his basic account of the human condition, then the words »eccentric
positionality« do indeed describe the maracteristic way in whim a human being relates
himself, and is related, to his bodily existence; but eccentric positionality is not a thing
to be pointed to, like a mountain. We discover what it means precisely through its
development, for example, in the concrete content of Lachen und Weinen, where
laughing and crying are seen to be what they are-really are-as varying expres-
96 Marjorie Grene
sions, not so much of the concept, as of the object which, in our reflection, the concept
illuminates for us. Laughing and crying, moreover, which philosophers generally
neglect, are here brought into the range of critical reflection, and as the theme of eccen-
tric positionality is thus »varied« and »contrasted<<, so also the mind-body problern it-
self is thereby subtly transformed. The fundamental concept itself both demands such
developments and is established by them. The uniqueness of a given philosopher's
treatment, in this case Plessner's approach to the mind-body problern through >>eccen-
tric positionality«, serves, as Professor Benjamin Nelson has suggested, toset the theme
as it werein a given key 6•
An analogy, however, must be imperfect. Granted that philosophy, as a process of
clarification, creates it own text, and that the philosophical text is inseparable from the
theme developed in it, the text once established can, it seems, itself speak to its reader,
while the musical text can address its hearer only through the mediation of a performer.
Nor does any given performance, or indeed, the interpretation of any given performer,
present the work as such. lt presents it under one aspect, as one monad mirrors the uni-
verse, while the universe itself is the infinite sum total of all monadic perspectives. At
first sight the relation of the philosophical reader to his text seems more direct than
this. But what about philosophical interpretation? Philosophical texts are not after all
so perspicuous as to need no interpretation. The readerhirnself is an interpreter; he has
his interpretation, which may change from reading to reading, as that of a musician
may develop from one performance to another of the same work. lndeed, the greatest
philosophical texts do in fact resemble great works of art in permitting, and even
demanding, an indefinite, and themselves developing, series of interpretations which
can never exhaust the work. The central books of the Metaphysics are an excellent
example of such a text. As Richard Rorty puts it, one can only take a given passage or
set of passages which one finds seminal and build one's interpretation around them 7,
Some other aspects of the argumentwill then be understressed, from the point of view
of another reader's interpretation, or of the same reader's interpretation at another
time. In Rorty's exegesis just referred to, for example, he has taken certain passages
which appear to equate genus and matter as fundamental to Aristotle's central theme,
while to me these appear relatively peripheral, and I would like to take the equation of
genus and matter as much more qualified, if not indeed metaphorical. Besides, the cul-
mination of the argument of Z-H seems to me to come, as it has been traditionally
believed to do, in Z 17, which Rorty has to bypass to place the finale where he wants it,
in H. The interpretation of the central books, moreover, depends in part on one's rea-
ding of Aristotle's interest in biology; here again the interpretation of the genus-mat-
ter identity depends on one's sense of the intent of Part. Anim I. and of the Gen. Anim.
Professor Montgomery Furth of U.C.L.A. has been developing a most thought-
provoking interpretation of the concept of the individual in Aristotle and therefore in-
directly of the argument on substance in the central books, an interpretation with
which I think both Rorty and I and any one eise must agree in its thesis that specifica-
tion, the development of the individual as a this-such, is the telos of Aristotelian
method and the process tobe founded and so explained in Aristotelian ontology s. But
I find Furth's use of crucial Gen. Anim. passages slanted (through reading what is
"Immer noch Philosophie?" 97
meant of »Soul« as meant of the form-matter compound-to put my point briefly and
crudely) toward the genus = matter thesis, while my view, which would partly accept
yet qualify this equation, would be, from his point of view, biased in another direc-
tion. Which of us is »right«? Both of us, I hope-for the depth and richness of
Aristotle's theme, the theme of the 'tL ijv dvm of each kindofthing and the definition
of substance, is open to an inexhaustible range of interpretations by an indefinite num-
ber of competent philosophical readers. Some readings of course are wrong, like the
excesses of some Jaeger disciples who worked at taking the textapart into bits without
the slightest effort to see (or hear, to follow our analogy a little further) its Leitmoti/
at all. But even within the range of authentic interpretations there is room for infinite
variety.
The first disanalogy I have suggested, then, is itself partial. But there are also, as Pless-
ner might put it, »Monopole der Philosophie« which make its self-creation very diffe-
rent from that of musical composition. A philosophical concept is implicitly a
philosophical theme which demands thematic development and so produces its own
text; but it doesn't stop there. Not only do some of the great texts permit or even need
renewed interpretation, but they issue in new variants of the same theme which either
the same philosopher »upon more mature reflection« or successive philosophers may
treat in new thematizations, which again produce new variants, and so on. And that is
because a philosophical concept expresses a philosophical problem, the kind of problern
which when resolved in one respect appears tobe reopened in another. True, every art
form too has its problems, which are resolved in ever new fashions both by the indivi-
dual artist as he develops and by a sequence of individuals within a given tradition.
The theme of a given composition, however, seems to be the theme of that work in a
way that does not hold for philosophical »themes«. It may be quoted or parodied, but
then it is understood, if not acknowledged, as a quotation or a parody. Something like
this may of course happen in philosophy too. Any one who uses the concept »eccentric
positionality« ought to acknowledge Plessner, just as any one in the tradition of sub-
stance metaphysics ought to have acknowledged Aristotle as its founder. But if for
example Plessner gives us with his central theme new light on the mind-body problem,
the latter as a philosophical theme belongs to no one in particular, not even to Plato or
Descartes. Even a treatment like Plessner's or Merleau-Ponty's, which endeavors to
show us why the mind-body relation is inherently ambiguous and so inherently
incapable of definitive Statement, leaves open by its very »Solution« a range of further
problems; indeed, it shows us why as embodied beings we are a problem. Or Iook at
Frege's dassie essays, of which Patzig is speaking in the passages quoted above. These
are relatively brief texts in which, as Patzig rightly claims, we are privileged to watch
the exquisite clarity of a great mind working through the implications of certain pro-
blems arising from his reflection on the basic conceptual tools of a given discipline, here
mathematics: the concept of a number or of a function. Butthis development, though
reached with irresistible logic, issues in some strange conclusions. Do sentences really
refer to one of two objects: the true or the false? Philosophers of logic need not only to
interpret Frege, but to go on to meditate themselves, in new »Ideenfolgen«, on his con-
cepts of »concept«, »thought«, »proposition« or »truth«.
98 Marjorie Grene
Some philosophical concepts, and therefore problems, doof course exhaust themselves
in the course of philosophical history. The problern of substance was finished, it seems
to me, with Spinoza's Ethics on the one hand and Hume's Treatise on the other, and
that's why Kant made such a terrible muddle of »substance<< in the first Critique. On
this concept there was no middle way between dogmatism and scepticism; even a rea-
list interpretation of Kant does not need to turn Dinge an sich back into substances.
Kant's Copernican revolution was the successor to substance metaphysic, not a
variant of it. But for the most part the great philosophical themes are perennial, not,
indeed, in having permanent solutions, but in that they are developing and redevelop-
ing themes from one work, one philosopher, one period to another.
This openness of philosophy, its »inconclusiveness«, from which I started, has at least
three reasons 9 • Patzig, in the essay I have been quoting, describes philosophy as »die
Wissenschaft des Selbstverständlichen.« ~0 It is the discipline which reflects systematical-
ly on what is otherwise taken for granted, whether in the practice of some art or science
or in some aspect or everyday life, like perception or moral choice. Such reflection is
inexhaustible, partly perhaps because of the inexhaustibility of its object, partly, howe-
ver, because of the self-proliferation of reflection itself. Sartre complains about the
possible infinite regress of thoughts about thoughts about thoughts and proposes to cut
off this danger with his pre-reflective cogito. Yet the possibility always remains-
unless the process can come to rest in what Sartre calls »pure reflection« (which I
believe his own premises forbid his achieving) or perhaps, as in Part V of Spinoza's
Ethics, in the intellectuallove of God. Spinoza and some mystics excepted, however,
reflection is always open. It contains the possibility of »going further« which prevents
the philosophical development of a fundamental concept from coming to a close as the
development of a musical theme might do. König describes the specific skill of philo-
sophy as di 'J...Eyetv in the sense of a legein which seeks its own perfection but has not
yet achieved it. This is so, one would suppose, because of the inexhaustibility, not only
of the interpretive work of philosophy, but of philosophical reflection itself.
Besides, philosophy is dialogue and one can never anticipate the novelty of one's inter-
locutor's answers. Western philosophy is a conversation that has gone on since Thales,
a conversation in which each philosophical thinker, however limited an underlabourer,
must take his place. No single interlude, however beautifully developed, can wholly
shut off further conversation. Take the example König used and which I discussed
briefly: Aristotle's account of happiness as the good life. Aristotle, in the harmony he
purports to find between the opinion of all (happiness is the highest good), of the many
(happiness is pleasure) and of the wisest (happiness is an activity of the rational part of
the soul in accordance with virtue throughout a lifetime) is in fact relying, I believe, on
the consensus of 4th C. Athenians as to the question who the wisest are, namely, the
men of practical wisdom. In our society this premise is missing, and Aristotelian ethic
as such, therefore, is not in any simple way acceptable to us. This insight teaches us
something both about Aristotle and about ourselves, and with respect to the problern of
happiness, of the highest good, of philosophical method, of basic social principles,
therefore, the dialogue continues. With the exception of some repetitive and anomalous
passages, the Nicomachean Ethics is indeed a most profound and beautifully organized
"Immer noch Philosophie?" 99
work o'f philosophy, yet its theme remains open and in a way »undeveloped«. As an
historian one might just Iisten and interpret, but as a philosophical student even of the
history of philosophy one needs, not just to understand and interpret, but to continue
the debate. What is happiness, what is the good life, what is the bearing of our social
structure on these judgments? Suchquestions must be answered ever again by each of us
but never once for all.
In recent times, finally, a further reason has emerged for the openess of philosophical
themes. Philosophy used to be equivalent to knowledge. As the special sciences split off
from the mother stem, however, the scope and role of philosophy as a unique and foun-
ding discipline became less clear. The separation of philosophy from science took, I
suppose one could say, two principal directions, in phenomenology on the continent of
Europe and in conceptual analysis in the Anglo-American tradition. But despite the
richness of some phenomenological description and some conceptual analysis, the loss of
content in philosophical inquiry has been a lamentable result. As the relations between
philosophical and empirical inquiry have again begun to flourish, at a more reflective,
and one hopes, more fruitfullevel, so that, as from Aristotle on it has partly done, phi-
losophy reflects on the fundamental conceptual problems of other disciplines and in
turn (in fashions more difficult to describe precisely) receives illumination for its own
problems (on mind, say, on perception, on the relation of moral Standards to society,
from new knowledge in empirical disciplines), philosophical reflection appears in a
new openness to the progress of knowledge in other fields. Whatever basic new know-
ledge is gained in empirical science, for instance the discovery of the genetic code and
therefore of the information-theoretical foundation of alllife process, or the investiga-
tion in empirical sociology of the nature of social roles and of their role in the constitu-
tion of the individual, philosophy itself appears in the role of mediator in an unending
negotiation as weil between one discipline and another (between, say, anthropology
and genetics) as between any one discipline and the conceptions of every day life (bet-
ween, say, sociology and morality). Thus philosophy comes to exist as the conversation
that relates eadt discipline to its own fundamental concepts, or each discipline, or each
area of everyday life, to any one other or to several others. Clearly, then, as knowledge
develops, so does philosophy and so does any given philosophical theme, such as the
mind-body problem, the theory of perception, or the theory of 1-other relations. It is in
this context, of course, that Plessner's philosophical writing most clearly illustrates the
uniqueness and the openness, and the unique openness, of philosophical thought. This
character of Plessner's work is beautifuily expounded and illustrated in Günter Dux's
»Nachwort« to Plessner's Philosophische Anthropologie; but I may perhaps add, in
conclusion, a reference to one particular recent essay, »Trieb und Leidenschaft«, u
whim weil illustrates-as many others would-this discipline-spanning quality of
Plessner's philosophizing. The context of the essay is political and therefore practical,
but it also takes into account 1) the biological nature of man and 2) the uniqueness of
man, even as animal, in cantrast to other »only« animals. And finally, in expounding
the concept of »Leidenschaft«, the transformation of animal drives into human pas-
sions, it issues in a tribute to poetry, which alone, Plessner maintains, in cantrast to
science, praxis or philosophical reflection, can present human passion in its true nature.
100 Marjorie Grene
This tension between many disciplines maracterizes not only the work of Plessner as
philosopher and sociologist, as historian of ideas and social critic, but the task of philo-
sophy in our timeandin the future: philosophy as mediator, engaged in a enterprise as
fundamental as it is essentially open and incomplete. Philosophy, like music, must
create its own text, but philosophy, unlike art-or unlike other arts--creates texts
whim, for all their coherent and rigorous development, always point beyond them-
selves to other texts to come 12 •
Anmerkungen
Daß zwischen Tier und Mensch ein Wesensunterschied besteht und nicht bloß ein gra-
dueller Unterschied, daß daher ein allmählicher Übergang zwischen Tier und Mensch
prinzipiell ausgeschlossen ist, wird heute weithin bezweifelt.
Es erscheint Evolutionisten der verschiedensten Art oder Verhaltensforschern wie
K. Lorenz oder W. Widder als eine Art Arroganz von seiten des Menschen, eine abso-
lute Sonderstellung den Tieren gegenüber behaupten zu wollen, es ist bei solchen For-
schern üblich geworden, tierisches Verhalten nicht nur mit denselben Kategorien zu fas-
sen, wie menschliches, sondern sogar zum Ausgangspunkt dafür zu machen, was auch
für den Menschen »natürlich« und daher auch sittlich zulässig sei 1 • Bekannt ist die
These Heberers, Hofcrs und Altners vom TMÜ (Tier-Mensch-übergangsfeld), der ge-
mäß die Menschenaffen sich. von den übrigen Tieren mehr unterscheiden als vom Men-
schen. Daher seien sowohl die Anthropoiden als auch die ersten »Mensch.en« eben in dem
TMÜ- zwischen Mensch und Tier.
Auch dort, wo ein prinzipiellerer, ein »qualitativer« Unterschied zwischen Mensch und
Tier anerkannt wird, wie im Dialektischen Materialismus, finden wir dennoch keine
volle Anerkennung eines Wesensuntersch.iedes zwischen Mensch und Tier. Zwar hat
Marx selber in der berühmten Stelle über den Unterschied zwischen dem primitivsten
menschlichen Architekten und der höchst entwickelten Bienen-Architektin im Tier-
reich, die eine Wabe in Wachs baut, ohne sie »Zuerst im Kopf zu bauen«, einen wesent-
lichen und graduell nicht überbrückbaren Unterschied zwischen Mensch und Tier aner-
kannt und mit ihm hat dasselbe die »Tradition« des Dialektischen Materialismus und
Marxismus getan. Aber dennoch wird auch dort insoferne kein eigentlicher Wesens-
unterschied zwischen Mensch und Tier anerkannt, als allmähliche quantitative - also
graduelle - Unterschiede dazu führen sollen, daß sich plötzlich der Übergang vom Tier
zum Menschen in Form eines qualitativen Sprunges vollzogen habe. lnsoferne hier also
die Ursachen und Quellen des menschlichen Seins in immanenten, graduellen Verände-
rungen im Tierreich gesehen werden, wird ein voller Wesensunterschied zwischen
Mensch und Tier im jetzt zu präzisierenden Sinn nicht anerkannt:
Ein solcher Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier würde einschließen, daß dieser
weder als ein gradueller Unterschied interpretiert werden (dies wird auch der Marxist
anerkennen), noch aber durch einen graduellen Übergang kausal herbeigeführt werden
kann, so wenig wie das physische »Licht« sich je graduell so verändern könnte, daß aus
ihm das analoge »Licht« der Erkenntnis oder Wahrheit werden könnte.
Diesen letzteren Punkt würde der Dialektische Materialist eben nicht zugeben, indem er
102 Josef Seifert
etwa mit Lenin behaupten müßte, das in der Materie vorfindbare Phänomen der »Wie-
derspiegelung« könnte sidl so transformieren, daß aus ihm das geistige Phänomen der
Erkenntnis werden könnte, das audl unter den allgemeinen Begriff der »Wiederspiege-
lung« falle. So könnte audl der Mensch aus dem Tierreim entstehen.
Es soll im folgenden der Versuch gemadlt werden, eben im Gegensatz zur herrsdlenden
Mode zu erweisen, daß zwisdlen Tier und Mensdl ein durch keine Entwicklung über-
brückbarer Wesensuntersmied im angegebenen Sinn besteht. Nom1971 hat H. Plessner
in seinem Beitrag über das Phänomen der Leidenschaft am Kongreß für Mündlener
Phänomenologie zum 100. Geburtstag A. Pfänders in witziger Weise an den Versuchen
der Lorenz-Schule Kritik geübt, diese Wesensunterschiede zwisdlen Mensch und Tier
»aufzulösen«. Wir wollen uns ihm anschließen, ja wir wollen im folgenden den Versuch
machen, eine heute sicherlich »allgemein« sdlockierende These einsichtig zu madlen 2 :
Zwisdlen Mensch und Tier besteht in einer Hinsidlt ein noch grundsätzlidlerer, wesent-
lidlerer Untersmied als zwisdlen einem Tier und einem Stein, ja als zwisdlen einer ma-
thematisdlen Gleidlung und einem Tier, zwisdlen denen niemals ein gradueller Ober-
gang, eine »Evolution« stattfinden kann. Denn zwisdlen Mensch und Tier besteht der
Unterschied zwischen Person und Nidlt-Person, welches der tiefgreifendste metaphy-
sische Untersmied ist außer dem in anderer Weise allertiefsten zwisdlen endlidlern und
unendlidlem Sein. Dom soll diese These hier nicht bloß aufgestellt, sondern mit rein
philosophistDen Mitteln und ohne fideistische Zuhilfenahme eines Glaubens begrün-
det werden. Wenn dieser Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier so häufig ver-
kannt wird, so scheint dies keineswegs in seiner mangelnden Evidenz zu gründen; dies
sdleint vielmehr an einer gewissen äußeren Analogie zwischen Mensdl und Tier zu lie-
gen, und an einer »behaviouristischen Tendenz«, die mit mangelnder Vertiefung in die
klar gegebene unermeßliche Verschiedenheit des geistig-personalen Lehens des Menschen
und irgendeines möglidlen tierischen Verhaltens und Erlebens verknüpft ist.
Wir können dies - bei aller geistigen Bereitschaft und bei allem geistigen »Auf-
sdlwung«, der sidler dafür nötig ist- klar erkennen, wenn wir uns in die einzelnen We-
sensunterschiede vertiefen, die zwischen Mensch und Tier bestehen 3 • Immer wieder
trifft man die These an, der einzige wesentlidle Untersmied zwisdlen Mensdl und Tier
bestehe in einem »gesteigerten« Selbstbewußtsein des Menschen im Vergleich zum
Tier 4 • Dies ist aber ein Irrtum. Denn zwisdlen menschlichem und tierisdlem »Bewußt-
sein« besteht ein so wesentlidler und tiefer qualitativer und ontologisdler Untersdlied,
daß man im Falle der Tiere überhaupt nidlt denselben Ausdruck »Bewußtsein« gebrau-
dlen sollte. Wenn man einmal diesen Untersmied audl nur in seinen gröbsten Umrissen
und Wesenszügen erfaßt hat, kann man nur mit Erstaunen und Bestürzung feststellen,
daß im Einflusse des Evolutionismus, Materialismus und anderer Strömungen der Un-
tersdlied zwischen Mensdl und Tier als ein bloß gradueller aufgefaßt wird.
Der erste und grundlegende Wesensuntersmied 5 zwisdlen Mensdl und Tier liegt darin,
daß das Tier keinerlei intentionale Akte im strengen Sinn 8 vollziehen kann, während
alle spezifisch personal-geistigen Akte und Erlebnisse des Menschen abgesehen von
ihren speziellen Differenzen das Grundmerkmal der Intentionalität aufweisen.
Wenn wir diese »Intentionalität« als das Grundmerkmal aller geistig-personalen Akte
des Menschen bezeichnen, so ist es klar, daß wir nicht mit Brentano sämtlidle »Seelischen
Wesensunterschiede zwischen Mensch und Tier 103
unterschied zwischen intentionalen Akten und Trieben bzw. Instinkten zuwenden: Der
»Sinn«, der »Grund«, durdt den intentionale Akte mit ihren Gegenständen verbunden
sind, liegt erstens »in ihnen selber« (das bewußte Erlebnis ist nidtt Mittel zu einem
außer ihm liegenden Zweck) und zweitens ist der »Sinn«, die »Vernünftigkeit« der
Beziehung zwischen intentionalen Akten und ihren Gegenständen dem Subjekt selbst
gegeben, bekannt- wenn auch auf eine vorphilosophisdte Weise. In den intentionalen
Akten liegt die vernünftige Beziehung des Subjekts dieser Akte zu Gegenständen be-
schlossen. Es ist unsere menschliche Vernunft, unsere ratio, die sich in unseren Erkennt-
nissen, Überzeugungen, Entschlüssen etc. aktualisiert.» Vernünftig« ist hier in allgemei-
nerem Sinn gemeint und trifft auch auf unvernünftige, bzw. dumme menschliche Ent-
schlüsse etc. zu.
Die Art, in der Triebe oder Instinkte »sinnvoll« auf Objekte zugeordnet sind, ist davon
gänzlich verschieden. Erstens liegt hier der »Sinn« der Beziehung zu einem Objekt nicht
im bewußten Erlebnis (dem Hungererlebnis und dem der »Stillung«) selber, sondern
außerhalb desselben - darin, daß der Organismus durch die Stoffe ernährt und erhalten
wird, die ihm zugeführt werden. Das Hungererlebnis und der Appetit erhalten den
Sinn ihres Gegenstandsbezugs »von außen« dadurch, daß sie im Dienst eines Zwecks
(des Organismus) stehen. Dieser »Sinn« liegt in einer finalen Beziehung, die sich auch
im apersonalen Seienden (einer Maschine) prinzipiell finden kann und sich wesenhaft
von der bewußten und zugleich sinnvollen Beziehung unterscheidet, durch die intentio-
nale Akte und ihre Gegenstände verbunden sind. Der »Sinn« (und die
»Vernünftigkeit«) der Triebe und Instinkte ist- im Gegensatz zu dem intentionaler
Akte - nicht wesenhaft dem Subjekt gegeben, bekannt. Es ist nicht die »Vernunft« des
Wesens, das Triebe und Instinkte hat, die sidt in denselben auswirkt, sondern es ist viel-
mehr eine objektiv in die Natur hineingelegte Vernünftigkeit, die uns hier entgegen-
tritt. Es ist durchaus sinnvoll zu fragen: warum bin ich eigentlich hungrig und durstig
und begehre Speise und Trank? Und dann erhalte ich »von außen« die Antwort: Hun-
ger und Durst drängen didt deshalb nadt Speise und Trank, damit diese dein Leben
erhalten. Es wäre hingegen bei einem intentionalen Erlebnis wie der Trauer über
schreckliche Leiden anderer Menschen durchaus widersinnig zu fragen: warum besteht
diese merkwürdige Beziehung der Trauer zu diesem Leiden anderer? 18 Denn hier liegt
das sinnvolle Band zum Gegenstand im Erlebnis selbst und ist uns auch im Erlebnis
bekannt, gegeben. Unsere eigene Vernunft bezieht sich hier sinnvoll auf einen Gegen-
stand.
In der klaren Herausarbeitung dieser intentionalen Beziehung liegt einer der entschei-
dendsten Beiträge zu einer philosophischen Anthropologie. Denn in diesem ersten
Grundmoment personaler Geistigkeit, der Intentionalität, liegt nicht nur ein entschei-
dendes Kriterium, um innerhalb des Menschen geistige von nicht-geistigen Formen des
Erlebens 19 zu unterscheiden, sondern auch ein grundsätzlicher Wesensunterschied zwi-
schen Mensch und Tier. Daß dies so ist- daß im Tier kein einziger intentionaler Akt in
dem präzisen Sinn dieses Terminus vorkommt oder auch nur möglicherweise vorkom-
men könnte -, werden wir leimt sehen, wenn wir die vernünftig-personale Beziehung
zu einem Gegenstand, die in den intentionalen Akten liegt, in ihren konkreten Formen
untersuchen und dann fragen, ob irgendein Akt aus der »Welt intentionaler Akte<< in
106 fosef Seifert
einem Tier vorkommen könnte. Wir müssen uns dabei hier mit einer skizzenhaften
Obersicht begnügen und können keine detaillierte Untersuchung der Unterschiede
innerhalb der intentionalen Akte durchführen.
Zunächst gibt es den weiten Bereich kognitiver Akte, die rezeptiv, wenn auch keines-
wegs passiv sind, und in denen sich uns das Seiende erschließt. Schon die menschliche
Wahrnehmung unterscheidet sich von der tierischen dadurch, daß nur sie diese intentio-
nale, bewußt-sinnvolle Beziehung zu Gegenständen enthält 20 • Doch wenn wir an Ken-
nen und Wissen aller Art, an Verstehen, Einsicht, Werterkenntnis, Reflexion und
andere kognitive Akte denken, so tritt der Weltenunterschied zwischen Mensch und
Tier klar hervor, besonders dadurch, daß die intentionalen Erkenntnisakte wesenhaft
mit der Möglichkeit verbunden sind, Namens- und Begriffsbildung zu gestatten, theo-
retische Antworten, wie Überzeugung, Zweifel, Glauben zu ermöglichen, in denen wir
zu dem Bestand dessen, was sich uns im kognitiven Akt erschlossen hat, Stellung neh-
men und schließlich Behauptungen, Urteilsbildung zu begründen. Damit sind ferner die
Fähigkeit zur Abstraktion, die Fähigkeit zu sprechen, wahre und falsche Urteile zu
fällen, »ich« sagen zu können 21. und viele andere wesenhaft personale Fähigkeiten des
Menschen verknüpft. Wer vermöchte die Welt zu übersehen, die schon innerhalb der
kognitiven intentionalen »Sphäre« zwischen Mensch und Tier liegt!
Ein Tier, das Wahrnehmung im Sinne einer intentionalen Beziehung zu Gegenständen
hätte, die ihm erlaubte, das Wahrgenommene mit einem Namen zu nennen, von den
wahrgenommenen Sachverhalten überzeugt zu sein, Allgemeinbegriffe zu bilden, in
denen es einen »Soseinstypus« oder eine Wesenheit »erfaßt« und durch die es auf ein
Seiendes abzielt, eine Einsicht in den Sachverhalt 2 + 2 = 4, oder gar eine philoso-
phische Einsicht zu gewinnen, ist ein »Unding«. Dies ist im strikten Sinn widersinnig!
Denken wir an ein Tier, das auch nur die Erkenntnis des einfachsten Sachverhaltes er-
langen, das etwa denken oder sagen könnte: heute habe ich schlecht geschlafen!
Diese minimale Erkenntnis, diese einfachen Begriffe, dieses primitive Urteil, diese
simple Reflexion, die Erkenntnis der banalen Wahrheit dieses Urteils-all dies enthält
schon die »neue Welt«» der Person und Scheler hatte vollkommen recht, wenn er wie-
derholt betonte: Wenn ich ein Tier sähe, das irgendeinen dieser Akte vollzöge, würde
ich eher denken, es sei ein verzauberter Prinz, als daß ich dächte, ein Tier könnte spre-
chen etc.
Denken wir ferner an die Erkenntnis nicht nur von »Sinn«, von allgemeinen »Soseins-
einheiten«, sondern von Bedeutsamkeit und vor allem von Wert 22 •
Schon in der klaren Erkenntnis dessen, was ihn subjektiv befriedigt, erst recht in der
Einsicht in das, was objektiv gut für ihn ist, vor allem aber in der Erkenntnis, daß
etwas in sich selber sich aus der Sphäre des Indifferenten heraushebt, daß es in sich
kostbar, in sich bedeutsam und wertvoll ist- unterscheidet sich der Mensch durch eine
»Welt« vom Tier. Denken wir zunächst an ein Tier, das erkennen könnte, daß eine
Speise ihm schmeckt und es subjektiv befriedigt, das etwa sagen könnte: dieser Kuchen
schmeckt mir doch noch besser als Körner. Hier wäre schon die erwähnte Absurdität zu
finden, daß ein Tier Erkenntnis, Intentionalität im charakteristischen Sinn 23 besäße.
Doch noch unmöglicher wäre es, daß ein Tier von der Erkenntnis dessen motiviert wäre,
was objektiv für es besser ist. Denken wir an ein Tier, das in irgendeiner Weise wahr-
Wesensunterschiede zwischen Mensch und Tier 107
nehmen und erkennen könnte, daß eine bestimmte Speise ihm schadet und es sie daher
nicht verzehren sollte, obwohl sie ihm »subjektiv« (durch Triebe und Instinkte) überaus
schmackhaft und anziehend ist! Eine solche Vorstellung wäre noch widersinniger als die
erste. Denn wenn das Tier auch nicht in einem intentionalen Erkenntnisakt erfassen
kann, daß etwas befriedigend für es ist, wenn es dies auch niemals in einem Urteil for-
mulieren, davon überzeugt sein kann, so wird es doch triebhaft und instinktmäßig von
dem angezogen, was sinnlich angenehm ist und es kann Lust als solche zweifellos erle-
ben, so verschieden auch das tierische und das menschliche Angezogensein von Lust ist.
Doch könnte ein Tier auch in einer »vorintentionalen« Weise kaum erleben, daß eine
Sache ihm zwar besser schmeckt, ihm aber objektiv schadet. Denn dies kann im eigent-
lichen Sinn auch nur von einem Wesen erlebt werden, das intentionale Akte vollziehen,
das ausdrücklich erkennen kann. Daher ist dem Tier der weite Bereich dessen, was der
Mensch als objektive Güter für die Person 24 erkennt und was sein Handeln zu motivie-
ren vermag, verschlossen.
Vor allem aber ist der Mensch fähig, eine Bedeutsamkeit, eine Kostbarkeit zu erkennen,
die einem Seienden in sich selber eigen ist, durch die es sich unabhängig und vor jeder
Motivation des Menschen aus dem Bereich des Indifferenten heraushebt. Viele Akte des
Menschen sind wesenhaft Stellungnahmen auf etwas, das als autonom bedeutsam vor
uns steht, das »von absolutem Wert ist«, wie Kant an der vielleicht tiefsten Stelle seiner
Ethik formuliert 25 • So können wir einen Menschen nur achten, wenn wir ihn nicht bloß
als angenehm und nützlich, sondern als gut und damit achtungswürdig betrachten; Ver-
ehrung, Bewunderung, Liebe, Empörung und andere Akte richten sich wesenhaft auf
etwas, was in sich wertvoll oder unwertig sein bzw. vom Menschen wenigstens dafür
gehalten werden muß 26 • Und zu einer solchen Werterkenntnis und Wertantwort ist nur
der Mensch, niemals das Tier fähig. Die eigenartige, grandiose »Sachlichkeit« 27, die
darin liegt, daß der Mensch auf etwas eingehen kann, weil es als in sich wertvoll, unab-
hängig von seinen Trieben und Instinkten bedeutsam vor ihm steht 28, unterscheidet nun
Mensch und Tier durch einen Abgrund, wie er größer kaum gedacht werden kann. Mit
dieser Werterkenntnis ist aber auch die Fähigkeit des Menschen verknüpft, sittlich gut
und böse, frei, verantwortlich zu sein, ein Gewissen zu haben, Gemeinschaft zu bilden 20
u. a.
Ein Tier, das Achtung erleben, einen Menschen oder ein Kunstwerk bewundern, ein
andet;es Wesen liebenswert finden und lieben könnte 30, über ein Unrecht empört, für
seine Handlungen verantwortlich gemacht werden, gerecht und ungerecht, wahrhaftig
oder verlogen, gütig oder hartherzig, rein oder unrein sein könnte - ein solches »Tier«
wäre eine Absurdität. Es wäre, um mit Scheler zu sprechen, kein Tier mehr, sondern
eine verzauberte Person.
Und welche »Welt« liegt in den hier nur kurz angedeuteten menschlich-personalen
Akten! Der Ernst und die Tiefe des Menschen, die in der Werterkenntnis, in Liebe, in
Gut und Böse liegen, heben den Menschen in einer Hinsicht noch mehr vom Tier ab als
dieses sich von einem Stein unterscheidet.
Diese verschiedenen Arten von Bedeutsamkeit zu erkennen, vor allem das in sich Be-
deutsame, den Wert, frei zu Gütern Stellung nehmen zu können, im Konfliktsfalle
zwischen der Verlockung von etwas illegitim subjektiv Befriedigendem und der Forde-
108 fosef Seifert
rung eines Wertes frei entscheiden zu können 31 - all dies charakterisiert den Menschen
als Person und unterscheidet ihn durch eine Welt vom Tier. Doch, wie wir schon am Bei-
spiel der Verehrung, Bewunderung, Achtung sehen, ist es nicht nur die freie Stellung-
nahme, das freie, unmittelbar erzeugte »Ja« und »Nein«, das den Menschen gleich wie
die Erkenntnis vom Tier abhebt, sondern auch die Fähigkeit, mit dem Herzen, mit
affektiven Stellungnahmen diese drei Arten der Bedeutsamkeit beantworten zu kön-
nen 32 • Intellekt, Wille und Herz schließen eine Fülle intentionaler, geistiger Akte ein 33.
Und die ganze »Welt« dieser Erlebnisse und Akte des Menschen setzt die Person vor-
aus; diese Akte gründen letztlich in der notwendigen und intelligiblen Wesenheit des
personalen Seins, in der all diese Momente sich gegenseitig fordern. Wir vermögen auch,
mit Gewißheit und als höchst intelligiblen Sachverhalt- aus dem Wesen des personalen
Seins, wie wir es im Menschen finden und aus dem Wesen des »Tieres«- einzusehen,
daß, ebenso wie der Mensch als Personall diese Fähigkeiten einschließt, das Tier als sol-
ches alle diese Fähigkeiten ausschließt. Hätte es auch nur eine einzige davon - wenn
auch nur in geringstem Maß - so wäre es auch schon Person und müßte prinzipiell auch
all die übrigen Fähigkeiten besitzen.
Eine weitere große Gruppe von typisch menschlichen Akten hat A. Reinach in ihrem
spezifischen Wesen herausgearbeitet, das vor allem darin besteht, daß diese Akte »ver-
nehmungsbedürftig« sind, das heißt, daß sie, um in ihrer eigentlichen Realität zustan-
dezukommen, voraussetzen, daß eine andere Person sie versteht und bewußt aufnimmt
bzw. vernimmt 34. Dazu gehören Versprechen, Fragen, Mitteilen, Befehlen, Bitten und
viele andere Akte. Sie setzen außer ihrer Intentionalität eben noch das spezifische
Merkmal der Vernehmungsbedürftigkeit voraus. Die rechtlichen Beziehungen gründen
weitgehend in solchen Akten, die etwa Verträgen und Kontrakten zugrundeliegen, aus
denen rechtliche Ansprüche und Verbindlichkeiten organisch erwachsen, wie Reinach
nachgewiesen hat. Aber auch der besondere »bestimmende Akt« eines positiven Gesetz-
gebers, durch den Gesetze erlassen werden, die u. U. auch die natürlich erwachsenden
Rechtsbeziehungen »modifizieren«, gehört zu den sozialen Akten.
In diesen »sozialen Akten« wurzelt somit weitgehend die Welt des Rechtes, durch die
der Mensch sich eindeutig vom Tier unterscheidet. Aber über die Rechtssphäre hinaus
begründen soziale Akte auch Gemeinschaft und spielen innerhalb derselben eine große
Rolle.
.Ein Hund, der etwas versprechen könnte, der bitten, fragen, befehlen, ein Gesetz erlas-
sen, Rechte beachten könnte- der Widersinn dessen zeigt uns klar, wie eindeutig auch
diese sozialen Akte den Menschen vom Tier unterscheiden. Dasselbe gilt für den eigen-
tümlichen Akt der Verlautbarung einer Stellungnahme, der von den sozialen Akten
verschieden ist 35 und auch bei der Begründung von Gemeinschaft eine große Rolle
spielt.
Gemeinschaft nun in ihren verschiedenen Formen und Wesenszügen hebt die Menschen-
welt von dem Tier grundsätzlich ab. Denn Gemeinschaft im eigentlichen Sinn setzt ein-
deutig Intentionalität und noch viele weitere Momente voraus, die sich bei den Tieren
in keiner Weise finden.
Die Sprache schließlich enthält die verschiedenen Momente in sich, die bisher besprochen
wurden. Sie entfaltet sich im Bilden der Begriffe, im ausdrücklichen Behaupten erkann-
WesensuntersdJiede zwischen Mensch und Tier 109
ter Sachverhalte durch das Medium von Urteilen, in ihrem Charakter des Mediums so-
zialer Akte, der Fragen, Befehle, des Versprechens, der Mitteilung und Verlautbarung.
Sie findet sich als eine personale Urfähigkeit des Menschen in allen Bereichen personalen
Lebens wieder.
überhaupt zu verstehen, daß etwas ein Zeichen, ein Anzeichen, ein Bild von etwas
anderem ist - oder gar, daß ein sprachlicher Ausdruck eine Bedeutung besitzt -, ist ein
Urmerkmal des Menschen 36.
Um ein Zeichen als Zeichen zu verstehen, muß man es ja nicht nur mit etwas anderem
»assoziieren können<<, was eine ausgesprochen nicht-intentionale, psychisch-kausale
Form des Zusammenhangs ist, die auch innerhalb der tierischen Wahrnehmungen und
Instinkte möglich ist, sondern man muß die Zeichenfunktion verstehen, die Husserl so
klar aufgewiesen und von der Bedeutungsfunktion der Sprache unterschieden hat. Ein
Tier kann nie Sprache haben, schon deshalb, weil es nie >>Bedeutungen<< verstehen oder
geben kann und sich damit vom Menschen nicht nur graduell, sondern wesenhaft unter-
scheidet.
Damit berühren wir einen weiteren Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier, die
schöpferischen Akte. Schon in der Arbeit 37 , in der Produktion von nützlichen Gütern,
im Bauen von Häusern, im Schreiben von Büchern, im Ausarbeiten wissenschaftlicher
oder philosophischer Werke, besonders auch in der künstlerischen Schöpfung offenbart
sich dieser Wesenszug des Menschen. Und niemals könnte irgendeiner diese Akte von
einem Tier vollzogen werden, könnte ein Hund ein Bild malen, eine Stadt planen 38
und bewußt-intentional bauen, ein Musikstück komponieren, ein Gedicht oder ein Buch
schreiben.
Außer der Fähigkeit, sittlich gut und böse zu sein, ist es aber wohl die Erkenntnis der
Begrenztheit und Kontingenz der Welt, die Erkenntnis der Existenz Gottes 39 und vor
allem die Religion, durch die sich der Mensch am tiefsten vom Tier unterscheidet. Seine
Ausrichtung auf das heilige, göttliche Sein, die der Mensch in Gebet, Anbetung, religiö-
sem Kult vollzieht- m. a. W. die Welt der Religion unterscheidet den Menschen radikal
vom Tier. Ein betendes Tier, das religiöse Handlungen vollzieht, ist eine noch wider-
sinnigere Vorstellung als ein rechtssprechendes, Verträge abschließendes Tier. Dasselbe
gilt auch vom Negativen, von Aberglaube und Blasphemie.
Eine von der »Tierseele<< ontologisch durch einen Abgrund getrennte personale Geist-
seele erschließt sich uns, wenn wir alle diese Wesensmerkmale des Menschen bedenken.
Und es könnte gezeigt werden, daß in diesem ganz spezifischen Wesen der menschlichen
Person Unsterblichkeit gründet. Dadurch würde der Abgrund, der die menschliche Per-
son vom »Tier« trennt, noch klarer werden.
Wenn wir dies alles bedenken, wenn wir uns die prinzipiell neue Art des Bewußtseins
klarmachen, die wir im Menschen finden, leuchtet uns die Wahrheit der zu Beginn die-
ses Artikels aufgestellten Behauptung ein, daß der Unterschied zwischen personalem
menschlichem und nicht-personalem tierischem Sein noch größer und tiefgreifender ist
als irgendein anderer metaphysischer Unterschied außer dem zwischen unendlichem und
endlichem Sein. Wir sind uns klar, daß es gewagt ist, ganz verschiedenartige metaphy-
sische Unterschiede miteinander hinsichtlich ihrer »Größe« zu vergleichen. Man müßte
hier viele weitere Differenzierungen durchführen, um dies zu rechtfertigen. Dennoch
110 fosef Seifert
mag der Sinn des hier Gemeinten aus einer einfachen Betrachtung des Gegebenen ver-
standen werden. Damit scheidet auch der Grundgedanke des materialistischen Evolu-
tionismus, daß sich der Mensch stufenweise aus dem tierischen Bewußtsein entwickelt
habe, als falsch aus. Denn erstens sind all die unerschöpflich vielen Merkmale der
menschlichen Person in so notwendiger und intelligibler Weise,verknüpft, daß man sie
entweder alle besitzt oder gar keines. Zweitens aber enthüllt sich das menschlich-perso-
nale Sein als ein grundsätzlich und abgrundtief vom tierischen verschiedenes Sein. Die
notwendigen und intelligiblen »Soseinseinheiten« des Menschen als Person und des Tie-
res haben uns einen ungeheuerlichen Unterschied zwischen beiden erschlossen, der uns
ohne weiteres erlaubt einzusehen: eine graduelle Höherentwicklung eines Tieres, eine
»Steigerung« seines Bewußtseins bis zum menschlichen scheidet absolut aus.
Der Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier könnte uns kaum eindeutiger gege-
ben sein. Wenn wir ihn auch nur in seinen gröbsten Umrissen betrachten, erscheint es
kaum verständlich, daß dieser Unterschied so weitgehend als bloß gradueller Unter-
schied aufgefaßt werden kann. Eine Hauptwurzel dieser falschen Auffassung liegt in
einem grundlegenden philosophischen Fehler: Man verwechselt ferne Analogien des
Personalen mit echten Merkmalen der Person 40, Wir finden im Tierreich- und zwar
seltsamerweise oft gerade bei jenen Tieren, die dem Menschen ferne stehen und weniger
»hoch« entwickelt 41 sind (etwa bei Ameisen viel mehr als bei Affen)- zahllose »Analo-
gien« zur Person, ja, sogar objektiv »Vernünftige« Verhaltensweisen, deren bewußt-
intentionale Beobachtung eine geradezu übermenschliche Intelligenz voraussetzen
würde. Man denke etwa an die »geniale« Konstruktion eines Bienenstaates, an die für
den Menschen schwierig erkennbaren physikalisch-mathematischen Gesetze, die Bienen
etwa bei ihren »Futtertänzen« beachten, an die phantastisch »menschenähnliche« Struk-
tur ihrer »Mitteilungen« und »kollektivartigen« Verteilung der Funktionen innerhalb
des »Staates« etc. oder an ähnliche Phänomene bei Ameisen. Im Vergleich dazu ist das
Verhalten von Hunden und Affen »primitiv«. Aber niemand kann im Ernst annehmen,
daß Bienenall diese Gesetze in intentionalen Akten »verstehen« oder »beantworten«.
Und so sind sietrotzder objektiven »Vernünftigkeit« ihres Verhaltens durch das Feh-
len eigener »subjektiver« bzw. personaler Vernünftigkeit durch einen Abgrund vom
Menschen geschieden. Diese beiden Arten der »Vernünftigkeit« zu verwechseln heißt in
eine »mythologische«, »märchenhafte« Phantasie zu verfallen und diese mit »wissen-
schaftlicher Erkenntnis« zu verwechseln.
Allerdings ist auch für jede Sinnhaftigkeit und Vernünftigkeit finaler Art innerhalb
der kontingentenWelteine personale Vernunft vorausgesetzt- aber nicht die der Tiere,
sondern die des göttlichen Urhebers der Natur, wie hier nur angedeutet sei.
All diese »Vernunft«, von der das Verhalten der Tiere Zeugnis ablegt, ist keineswegs
die Vernunft der Tiere selbst. Diese »Vernunft« ist keineswegs die ratio des bewußt-
sinnvollen, intentionalen Dialogs mit der Welt, den wir im Menschen finden. Es handelt
sich hier vielmehr um die der Instinkt- und Triebsphäre eigene, »über den Kopf« der
Tiere »weggehende« objektive, in die Natur hineingelegte »Vernunft«. In dem Augen-
blick, wo man- wider alle eindeutigen Beweise der Unzulässigkeit eines solchen Vor-
gehens 42 - voraussetzen würde, daß Tiere in irgendeiner Weise verstehen, was sie tun,
wären sie allerdings Personen. Aber diese Voraussetzung ist eben vollkommen falsch. Es
Wesensunterschiede zwischen Mensch und Tier 111
finden, ohne daß jemand annehmen könnte, die Bienen selbst seien »intelligenter<< als
Affen oder gar, sie besäßen menschliche Intelligenz und würden durch intentionale,
freie Akte ihre Staaten bilden. Wäre dies der Fall, müßten die Bienen ja Gesetze, die
ebenso schwierig zu verstehen sind, aber außerhalb ihrer »Instinktsphäre« und »Um-
welt« liegen, ebenso gut »verstehen« können, was offenbar nicht der Fall ist.
Doch außer der Verwechslung von Analogien zwischen menschlichem und tierischem
Verhalten mit einer »Artgleichheit« gibt es noch einen zweiten Grund, der zu dem ver-
heerenden Mißverständnis führt, zwischen Mensch und Tier bestehe nur ein gradueller
Unterschied. Man weist auf die physiologisch-biologische Entwicklung hin, die eindeu-
tig für die Entfaltung und Ausübung menschlicher Intelligenz vorausgesetzt ist. Die
Tatsache, daß weder ein Embryo intelligente Handlungen vollziehen kann, noch ein
voller Kretin sich vernünftiger verhält als ein Tier, scheint mit Macht darauf hinzudeu-
ten, daß zwischen Mensch und Tier kein Wesensunterschied besteht und daß die mensch-
liche »Seele« ebenso wie die »tierische« bloß ein »Epiphänomen« physiologischer Pro-
zesse sei. Ein solches biologistisches Mißverständnis ist weit verbreitet 44 •
Dagegen muß schon hier folgendes eingewendet werden: Für die seelische Entfaltung
der menschlichen Person, für die Ausübung seelischer Tätigkeiten und für das geistig-
seelische Erwachen des Menschen sind zweifellos physiologische Vorgänge und Entwick-
lungen die Voraussetzung. Voraussetzungen und Ursachen sind aber streng zu unter-
scheiden. In unserem Zusammenhang ist es jedoch nur wichtig, eine erste Antwort auf
die biologistische Auflösung der menschlichen Person zu verstehen. Alle geistig-persona-
len Vermögen der menschlichen Person müssen schon von ihrer Realisierung, Aktualisie-
rung und Ausübung real vorhanden sein 45 • Dies ist ein bei näherer Analyse ebenso ein-
sichtiger Zusammenhang wie der zwischen einem Erlebnis oder Akt und dem dafür not-
wendig vorausgesetzten Subjekt. Daher müssen sämtlid:J.e Akte und Fähigkeiten des
erwachsenen Menschen ihre real-ontologische Grundlage im Sein des Säuglings besitzen.
Auch wenn man in einem Säugling noch keinerlei Aktualisierung dieser Fähigkeiten
findet, so müssen in ihm die realen Vermögen zu solchen Akten bestehen, denn sonst
müßten ja auch Steine oder Pflanzen oder Tiere plötzlich Akte vollziehen können. In
Wirklichkeit kann jedoch einem Stein oder einer Pflanze keine Entwicklung der Welt
zur Aktualisierung von Fähigkeiten verhelfen, deren ontologisch primäres Vermögen
sie nicht besitzen. So wenig wie ein freier Akt ohne Träger auftreten kann - aus dem
Nichts- so wenig kann er in einem Wesen auftreten, das nicht von vornherein frei ist.
Wenn man daher die Entwicklung vom Embryo zum erwachsenen Menschen gegen den
Wesensunterschied zwischen tierischer und menschlicher Seele geltend machen will, dann
müssen wir entgegnen: Die Tatsache, daß wir in einem Embryo personale Eigenschaften
bzw. eine personale Geistseele nicht feststellen können, berechtigt uns in keiner Weise
zu der positiven Behauptung: Sie sind nicht vorhanden. Vielmehr sind wir umgekehrt
gezwungen, im Anschluß an Aristoteles anzuerkennen, daß schon im Säugling sämtliche
Vermögen zu den im erwachsenen Menschen entfalteten Fähigkeiten real bestehen,
wenn wir sehen, daß aus einem Säugling und Kind sich ein Erwad:J.sener entwickelt, der
die streng identische Individualität »hat«, die er schon als Kind »hatte«.
Umgekehrt können wir nicht (wenn wir nicht einem haltlosen Mythologismus verfallen
wollen) in Pflanzen oder Tieren irgendwelche reale personalmenschliche Vermögen ver-
Wesensunterschiede zwischen Mensch und Tier 113
muten, die sich nur noch nicht aktualisiert haben. Denn hier läßt sim eine solme An-
nahme nimt im mindesten rechtfertigen, da sim in keinem Tier ein personales Vermögen
namweisen läßt. Die überzeugung, daß Säuglinge oder Kretins »schlafende Personen«
sind, ist hingegen eine notwendige Konsequenz, sobald wir aus der Entwicklung des
Säuglings zum Erwamsenen rücksmließend dessen voll personale Seele mit ihren
menschlich-personalen Vermögen oder aus dem Obergang eines normalen Menschen in
einen Kretin auf Grund physiologischer Veränderungen wissen können, daß ein solcher
Kretin eine an ihrer Aktualisierung »verhinderte« Person ist.
Wenn wir diese mensmliche Person dann dort ins Auge fassen, wo sie sim in ihrem gan-
zen unerschöpflichen Reimturn in Gemeinschaft, Moral, Kultur und Religion entfaltet,
dann sehen wir unleugbar den Wesensunterschied, ja den Abgrund, der den Menschen
vom Tier trennt. Einen Versum in dieser Rimtung zu machen, war Aufgabe dieses Bei-
trags.
Anmerkungen
ist, worauf wir unten nom zurüdtkommen werden, arbeitet er von dort aus die einzigartige
Beziehung zum eigenen Leib heraus, die den Mensmen vom Tier abhebt: (a.a.O., S. 77 ff.).
Die ,.intelligente Bewegung« im Dienst der ,.samlimkeit«, die »Doppeldienlimkeit der
mensmlimen Glieder und Organe«, die außer ihrem biologismen Sinn nod!. geistige Funktio-
nen annehmen können (in diesem Zusammenhang sieht Hengstenberg mit Remt auch das,
was Plessner die •exzentrische Position des Mensmen« nennt) und smließlim das, was A.
Portmann die »normalisierte Frühgeburt« des Mensmen genannt hat.
6 In dem weiteren Sinne, in dem Brentano davon spram, der sämtlime psymismen Erlebnisse
für intentional hält, könnte man hierin keinerlei wesenhaften Unterschied zwismen Mensm
und Tier sehen. Busserl ging in der Herausarbeitung der Intentionalität weiter als Brentano,
aber, wie wir gleim zeigen werden, ist erst der ganz spezifisme Sinn, den D. v. Bildebrand
dem Terminus »intentional« gegeben hat, geeignet, um den fundamentalen Wesensunter-
sd!.ied zwischen Mensm und Tier zu bezeichnen. Man könnte sogar D. v. Bildebrand deshalb
mit viel mehr Remtals Brentano als den »Entdedter« der Intentionalität bezeimnen, wobei
wir hier den smolastismen Vorformen dieser Entdedtung nimt namgehen können.
7 Wenn die intentionalen Akte ein spezifisches Merkmal der personal-geistigen Akte des Men-
smen sind, so heißt dies weder, daß die nimt-intentionalen Erlebnisse des Mensmen nimt
personal und von denen der Tiere nimt versmieden wären, nom, daß die spezifism geistigen
Akte des Mensmen kein weiteres Merkmal außer der Intentionalität aufweisen.
8 Vgl. Logisme Untersumungen, II, V,§ 15.
9 Vgl. über das Herz, I, 2; Christlime Ethik, Kap. 17.
10 Dies haben smon Brentano und Busserl hervorgehoben.
11 Dies finden wir bei Busserl treffend ausgeführt; vgl. Logisme Untersumungen, II, V,§ 11.
12 Diese Art der ,. Ursämlimkeit« läßt sim in keine der vier aristotelismen Ursamen einreihen,
aum keineswegs im Limt einer Exemplarursame deuten, sondern stellt eine staunenswerte
neue metaphysisme Grundbeziehung (»causa«) dar, die sich jedod!. aussmließlim innerhalb
des Personalen findet.
13 Es gibt hier versmiedene Formen »intentionaler Ursäd!.limkeit«, wie die zwismen Erkennt-
nisgrund und Erkenntnis, zwismen bedeutsamem Samverhalt und Stellungnahme (Motiva-
tion) u. a. D. v. Hildebrand hat diese hochbedeutsame Erweiterung der 5 klassismen causae
um viele weitere in bisher unveröffentlimten Arbeiten über »Metaphysik« durmgeführt.
14 Dieses Kennenlernen, das ganz von der Müdigkeit selbst versmieden ist, gehört selbstver-
ständlim zu den intentionalen Akten.
15 Brentano hat weder die Zustände nom die Trieberlebnisse klar von den intentionalen Erleb-
nissen untersmieden.
16 Abgrenzung bzw. Untersmeidung bedeutet keineswegs, diese versmiedenen Erlebnisse seien
im Mensmen total getrennt oder könnten sim nimt organisch verbinden.
17 Aum wenn ein Instinkt durm einen wahrgenommenen Gegenstand ausgelöst wird, bleiben
die Ursamen des Instinktes vom Gegenstand versmieden und dieser tritt hömstens als
»Auslöser« und eben gerade nicht als intentionaler Gegenstand eines Instinktes auf.
18 Eine solme Frage hätte hier zumindest eine ganz andere Funktion: sim den »Sinne dieser
Beziehung ausdrüdtlim in seiner Eigenart bewußt zu mamen oder darauf hinzuweisen, daß
ein zweites »Sinnelement« geistiger Akte, auf das wir gleim zu spremen kommen werden,
hier vorliegt.
19 Dies wird innerhalb der affektiven Sphäre fast allgemein vernamlässigt. Vgl. dazu D. v.
Bildebrand: über das Herz, I, 2. D. v. Bildebrand: Die Metaphysik der Gemeinsmaft, I;
Christlime Ethik, Kap. 17.
20 Dies erhellt smon daraus, daß es zum Wesen des Mensmen gehört, Namen, Begriffe, Urteile
etc. den wahrgenommenen Gegenständen zuzuteilen. Die hierin liegende Geistigkeit und
Wamheit aber eignet smon der Wahrnehmung selbst.
Dies hat B. Plessner klar hervorgehoben. Die Mensmlichkeit unserer Sinneswahrnehmung
gegenüber Rationalismus und Sensualismus zu erweisen war ein Hauptthema von B. Pless-
ners Die Einheit der Sinne. Vgl. aum seine Anthropologie der Sinne in B. Plessner: Philoso-
Wesensunterschiede zwischen Mensch und Tier 115
phisehe Anthropologie, S. 189 ff., S. 194 ff. Plessner sieht das Wesentliche darin, daß sich
beim Tier die Funktion der Sinne in Information erschöpft, beim Menschen hingegen nicht
(S. 194 ff.). Daß auch schon in der Information selber bei Mensch und Tier ein entscheidender
Unterschied besteht, geht aus Plessners Beispiel vom Prüfen des Gewichtes auf einer Waage
(a.a.O., S. 197) hervor, da kein Tier je eine Information im Sinne eines solchen Wissens über
sein Gewicht aufnehmen könnte. Doch das hindert nicht die wichtige Erkenntnis Plessners,
die darin liegt, daß die über die Information hinausgehenden Funktionen der menschlichen
Wahrnehmung, z. B. das erkennende Verweilen bei einem Gegenstand, sein Betrachten etc.,
spezifisch menschlich sind. Dies zeigt sich besonders in den von Plessner betonten weiteren
Funktionen menschlicher Wahrnehmung, bzw. in den mit der menschlichen Wahrnehmung
verknüpften Akten: z. B. dem ,.malerischen Sehen«, dem Sehen theatralischer Darbietungen,
dem Wahrnehmen von Ausdrudtsphänomenen etc. (vgl. Plessner, a.a.O., S. 205 ff.). Die ganz
neue Qualität der Wahrnehmung des Menschen gegenüber der des Tieres erweist sich schließ-
lich auch in den Analogien aus dem Sehbereich in der Sphäre geistig-personaler Akte: so
etwa, wenn man vom klaren »Sehen« eines philosophischen Sachverhaltes, dem ,.Einsehen«
etc. spricht. Diese Analogien beziehen sich nämlich auf die menschliche, nicht auf die tierische
Wahrnehmung. Auch darauf weist Plessner (a.a.O., S. 201 ff.) höchst interessant hin. Schließ-
lich ist es auch die deutliche Zugehörigkeit zum menschlich-personalen »Ich«, worauf Plessner
hinweist, und die die menschliche Sinneswahrnehmung von der tierischen abhebt (a.a.O.,
S. 211 ff.). Wieder erweist sich dieser Unterschied etwa am Falle des menschlichen Hörens
(im Unterschied zum tierischen) dort am deutlichsten, wo das Hören in den Dienst anderer
Akte tritt, so beim Hören von Musik.
21 Auf die Fähigkeit der Reflexion als zum Wesen des Menschen gehörig hat Plessner wiederum
im Zusammenhang der Abgrenzung des Menschen vom Tier hingewiesen: »Als Ich, das die
volle Rüdtwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr
im Hier-Jetzt, sondern •hinter< ihm, hinter sich selbst, ortlose (vgl. die Stufen des Orga-
nischen und der Mensch, S. 292). ,.zu immer neuen Akten der Reflexion auf sich selber, zu
einem regressus ad infinitum des Selbstbewußtseins ist auf dieser äußersten Stufe des Lebens
der Grund gelegt.« (a.a.O., S. 290.)
In diesem Zusammenhang können die Untersuchungen nur erwähnt werden, die Plessner zu
dem Ergebnis einer »dreifachen Positionalität« führen, bzw. der »exzentrischen Positionali-
tät« des Menschen (a.a.O., S. 293), zur These von der »doppelten Distanz« des Menschen zu
sich selbst u. a. B. E. Bocevar hat neuerdings in seiner Arbeit Die Seinsstruktur der Pflanzen
die diesbezüglichen Ergebnisse Plessners, die z. T. auf schwierigen, hier nicht näher ausführ-
baren Gedankengängen beruhen, an Hand des »Übersprunggesetzes«, des »Reellisierungsge-
setzes« und des »Analogiegesetzes« ausgeführt (a.a.O., S. 59 ff.).
22 »Wert« darf hier ausschließlich in der präzisen Bedeutung dessen verstanden werden, was »in
sich selber bedeutsam« ist. So hat erst D. v. Bildebrand den Wertbegriff gefaßt.
23 Intentionalität in diesem Sinn hat vor allem nichts mit der welt-konstituierenden Funktion
zu tun, die E. Busserl später den intentionalen Akten- vor allem seit 1913- zugeschrieben
hat. Viele Autoren (vgl. etwa M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S.
14 ff.) stützen sich auf diesen Begriff der •Intentionalität«, der außer den schon erwähnten
Unklarheiten auch noch die These vom schöpferisch-konstituierenden Charakter intentio-
naler Akte enthält. Schon die wesenhafte Rezeptivität der (intentionalen) Erkenntnis wider-
legt diese These von der angeblichen konstitutiven Leistung aller intentionalen Akte. Vgl.
dazu mein Buch Erkenntnis objektiver Wahrheit.
24 Auch diesen Gesichtspunkt der Motivation, bzw. diese Kategorie der Bedeutsamkeit hat D. v.
Bildebrand herausgearbeitet. Schon das legitim Angenehme als erste Art des objektiven
Gutes vermag den Menschen unter diesem Gesichtspunkt zu motivieren, etwa, wenn er es in
Dankbarkeit empfängt, was dem Tier höchstens in ferner Analogie möglich ist. Erst recht
gilt dies für die elementaren Lebensgüter, wie Speise, Trank, Kleidung, die wir unter diesem
Gesichtspunkt, daß sie objektive Güter für uns oder andere Personen sind, anstreben oder
dafür dankbar sein können. Diejenigen objektiven Güter, die spezifisch glüdtsspendend sind
116 ]osef Seifert
oder jene, die darin gründen, daß wir Träger von Werten sind, setzen am allermeisten
menschliche Werterkenntnis und Personalität voraus (vgl. D. v. Hildebrand: Christliche
Ethik, Kap. 3, 7, 29). Wenn es in analoger Form die zwei niedrigeren Formen objektiver
Güter auch schon für das Tier geben kann, so kann dod!. nur die Person, die das Tier er-
kennt und liebt, niemals dieses selbst von dem »objektiven Gut« motiviert werden. Damit
bleibt hier der Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier ganz klar gezogen, abgesehen
davon, daß aum »Objektiv« (ohne also das Tier zu motivieren), nur die beiden niedrigsten
Formen »objektiver Güter«, und aum diese nur in einer ganz analogen Form, beim Tier
vorkommen.
25 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 65, 66. Vgl. aum Anm. 28.
26 Um aber ein Verhalten im Einzelfall irrtümlimerweise für wertvoll halten zu können, muß
man prinzipiell zu objektiver Werterkenntnis fähig sein.
Das Wesen und den weiteren Bereich der Wertantworten im mensmlimen Leben, sowie ihre
vielfältigen Wesensmerkmale hat D. v. Bildebrand erstmals philosophisch zu klarem
Bewußtsein gebramt und schon in Die Idee der sittlimen Handlung und vor allem in Christ-
liche Ethik, Kap. 17, herausgearbeitet. Auch hier ist ein ganz wesendimer Beitrag einer philo-
sophischen Anthropologie geleistet, dessen Bedeutung wir hier nicht würdigen, sondern nur
andeuten können. Der Mensm als »ein zur Wertantwort fähiges Wesen« ist eine »Defini-
tion«, die ein wimtiges Wesensmerkmal des Menschen angibt, durm das er sich vom Tier
unterscheidet.
27 Dieser Begriff, der im Zentrum der Philosophie H. E. Hengstenbergs steht, weist auf eine
ähnliche Gegebenheit hin, wenn er aum nom weiter gefaßt ist (vgl. Hengstenberg: Philo-
sophisme Anthropologie und Grundlegung der Ethik).
28 Dies hat Kant an einer Stelle in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten so formuliert:
»Alle Gegenstände der Neigungen haben nur einen bedingten Wert; denn, wenn die Neigun-
gen und darauf gegründete Bedürfnisse nicht wären, so würde ihr Gegenstand ohne Wert
sein.« Gäbe es nur diese »bedingten Werte«, so fährt Kant fort, könnte es keine Sittlichkeit
geben, weil ohne eine Wirklichkeit, die in sim selber Zweck, d. h. bedeutsam ist (Kant sieht
einen solmen »absoluten Zweck« in der Würde der Person, die mir verbietet, eine Person je
bloß als Mittel zu gebrauchen) »überall gar nichts von absolutem Werte würde angetroffen
werden.« (a.a.O., BA 64, 66.) Was wir im Anschluß an Bildebrand einfach Wert nennen und
was Kant hier absoluten Wert nennt, ist eben jene Bedeutsamkeit in sich selber, die einem
Seienden unabhängig von all unseren Bedürfnissen eignet. Hierin gründet aum, wie Kant mit
Recht an dieser Stelle betont und wie v. Bildebrand umfassend dargelegt hat, alle Sittlichkeit
(die allerdings noch weitere Voraussetzungen hat).
29 Angesimts dieser spezifisch menschlichen Fähigkeiten, vor allem der Sprache (die ihm unbe-
rechtigterweise das wesentlichste Merkmal des Menschen zu sein scheint) gibt sogar Tschumi
trotz seiner materialistischen Position zu (vgl.: Leben, Entwicklung und Seele im Limte
moderner Biologie, in: Seele, Entwicklung, Leben, S. 87), daß man wohl im Menschen etwas
einmalig Neues im Untersmied zum Tier antreffe. Diese Erkenntnis ist bei ihm aber in keiner
Weise mit seinen übrigen Behauptungen konfrontiert.
E. Rothacker führt in seinem Werk: Philosophische Anthropologie vor allem an, daß »dem
Tier alles eng und dicht auf dem Leibe sitze« (a.a.O., S. 122), während die Fähigkeit der
(räumlimen, zeitlichen, geistigen) Distanzierung von ihm als Grundmerkmal des Menschen
angeführt wird (a.a.O., S. 123 ff.), woraus dann von ihm die übrigen Fähigkeiten des Men-
smen (wie Sprame, Planen, Reisen, etc.) »abgeleitet« werden (a.a.O., S. 174 ff., bes. S. 199).
Vor allem das Bewußtsein der eigenen Endlimkeit und die Transzendenz im Bewußtsein des
Unendlimen werden von Rothacker mit Recht als entscheidende Wesensmerkmale des Men-
smen angeführt. Allerdings will uns scheinen, daß die Fähigkeit zur Distanzierung eher ein
Merkmal der intentionalen Akte des Mensmen ist als umgekehrt deren Ursprung. Jedenfalls
muß man mit Rothacker völlig darin übereinstimmen, daß in den von ihm genannten Merk-
malen der Mensch sich wesenhaft vom Tier untersmeidet und daß es sich hier niemals um
einen graduellen Unterschied handeln kann.
Wesensunterschiede zwischen Mensch und Tier 117
30 Es fehlt uns hier leider der Raum zu zeigen, wie allein darin, daß der Mensdt im Gegensatz
zum Tier fähig ist zu lieben, ein tiefer, wenn nidtt der tiefste Wesensuntersmied zwischen
Mensdt und Tier gründet. Vgl. fosef Pieper: über die Liebe, und D. v. Hildebrand: Das
Wesen der Liebe, wo diese den Mensdten vom Tier untersmeidende ,. Welt« meisterhaft
untersudtt wird. Aus soldien Untersudlungen ließen sidt unzählige weitere Wesensunter-
smiede zwisdten Mensdt und Tier aufweisen und entfalten.
31 Wir können hier nidtt eingehend die Freiheit behandeln, verweisen nur auf D. v.
Hildebrand: Christlidte Ethik, Kap. 20-26, wo eine umfassende und klare philosophisdte
Darlegung der Freiheit zu finden ist. In einem eigenen Kapitel (22) Freiheit und animalisdte
Spontaneität wird dort aum die tierisme Spontaneität von der mensmlidten Freiheit abge-
grenzt. Wir können hier nur die entsmeidenden Grunduntersmiede erwähnen: Erstens leitet
die tierisme Spontaneität im Gegensatz zur mensmlimen Freiheit nimt im strengen Sinne
eine neue Kausalkette ein, sondern verbleibt im Gesamtrahmen des kausal determinierten
Gesmehens. Zweitens setzt der Wille die Erkenntnis des gewollten Samverhaltes sowie seiner
Bedeutsamkeit voraus. Die »Wahrnehmung«, die für eine Tätigkeit des Tieres vorausgesetzt
ist, ist keineswegs eine Kenntnisnahme, die zu Überzeugungen und inneren Urteilen zu
führen vermag. über die Unfähigkeit des Tieres, die Bedeutsamkeit zu erkennen, haben wir
sdton gesprodten. Drittens kann der freie Wille Trieben und Instinkten zuwiderhandeln,
während das Tier nur dem jeweils stärkeren Instinkt oder Trieb nadtgeben kann. Vor allem
hat der mensmlidte Wille viertens den vollen Charakter einer bewußten, intentionalen Stel-
lungnahme und dieser Charakter fehlt dem tierismen Instinkt ganz und gar.
32 Vgl. dazu D. v. Hildebrand: über das Herz; Christlime Ethik, Kap. 17, 25. Dort wird aum
die innige Kooperation zwismen affektiven Antworten und Freiheit in der »mitwirkenden
Freiheit« des Mensmen behandelt.
33 In diesem skizzenhaften Überblilk können wir darauf nimt näher eingehen, obwohl hier eine
unermeßlime Fülle von spezielleren Wesensuntersmieden zwisdten Mensdt und Tier zu fin-
den ist. Idt mödtte hier aum nom auf weitere spezifisdt mensmlidte Fähigkeiten hinweisen,
die sim nimt so leimt einer der drei genannten Sphären (Intellekt, Wille, Herz) unmittelbar
unterordnen lassen, die aber dodt intentional sind und den Mensdten marakterisieren: dazu
gehören Gedächtnis und Erinnerung. Die Fähigkeit, Inhalte, die wir einmal kennengelernt
haben, zu konservieren, lange Zeit hindurm festzuhalten (Gedädttnis), die Fähigkeit, wil-
lentlidt in einer reproduktiven Fähigkeit diese Inhalte uns wieder aktuell vor Augen zu
führen, die Fähigkeit smließlim, durm die Zeit hindurm auf Vergangenes zurülkzugehen
und uns daran zu erinnern (Erinnerung) sind wunderbare, spezifisch personale Fähigkeiten,
insoferne sie Intentionalität und Freiheit einscltließen. Wenn wir deshalb von »Gedämtnis-
leistungen« der Tiere spreclten, so ist dies in einem ganz analogen Sinn zu verstehen, ähnliclt
wie tierisme »Wahrnehmung«. Denn wie könnte ein Tier eine Unzahl von Sacltverhalten,
Zahlen, Sclti!ksalen etc. im Gedäclttnis bewahren, wenn es diese nicltt einmal-erkennen kann?
Wie könnte ein Tier siclt ausdrü!kliclt erinnern, an etwas Vergangenes denken, von ihm spre-
clten, erzählen, smreiben? - All dies ist wahrhaft eine menscltliclt-personale Fähigkeit, von
der das Tier keine Spur besitzt. In dieser Fähigkeit gründet auclt die Fähigkeit des Mensclten,
Geschichte zu haben. Eine andere spezifisclt menscltlime Fähigkeit ist Ironie, Witz, Humor,
H. Bergsan hat in seinem Budt Le Rire das Ladten als eine einmalige Fähigkeit des Mensdten
hervorgehoben; mit vollem Redtt. Wenn er aber sagt, daß wir aum nur über den Mensmen
ladten könnten und über Tiere nur dann, wenn wir sie ,.anthropomorph« sehen, so ist dieser
Gedanke zweifellos sehr geistreim, aber wohl nidtt ganz riclttig. Aum Plessner hebt hervor,
daß sowohl Lachen wie Weinen ein Wesensmerkmal des Mensmen, niemals Eigensdtaft des
Tieres darstellen: »Der an den Anfang gestellte Satz, daß offenbar nur der Mensm über
Ladten und Weinen verfügt, nidtt aber das Tier, besagt keine Vermutung, die einmal durdt
Beobamtungen widerlegt werden kann, sondern eine Gewißheit.« (H. Plessner: Philoso-
phisme Anthropologie, S. 33). Ausgehend vom Ladten gelangt Plessner in sehr aufsdtluß-
reimer Weise zu weiteren Wesensbestimmungen des Mensdten: dem mensmlimen Spielen
(a.a.O., S. 84 ff.), vor allem dem Rollenspielen (a.a.O., S. 87), das die Erkenntnis des »Zwi-
118 ]osef Seifert
sehen Wirklichkeit und Scheine voraussetze und im eigentlichen Sinn menschlich ist. Ebenso
spricht Plessner vom Sehen des Komischen (a.a.O., S. 88 ff.), vom Witz (a.a.O., S. 101 ff.),
der mit Recht vom Komischen abgehoben wird, als von spezifisch menschlichen Fähigkeiten.
Auch Verlegenheit und Verzweiflung (a.a.O., S. 110 ff.) werden als rein menschlich vom
Lachen und vom Weinen ausgehend erwiesen. Auch in der Herausarbeitung des Weinens
(z. T. im Anschluß an die tiefe Schrift von Balduin Schwarz über das Weinen, a.a.O.,
S. 130 ff.) als typisch menschliches Phänomen leistet Plessner hervorragende Beiträge zur
philosophischen Anthropologie.
Was den oben erwähnten Gedanken Bergsans betrifft, daß der Mensch nicht nur ausschließ-
lich lachen könne, sondern man auch nur über den Menschen lachen könne, so ist daran sicher
richtig, daß Banalität, Geschmacklosigkeit, Affektiertheit, Gemeinheit, Einbildungen und
sittliche Fehler aller Art spezifisch menschliche Möglichkeiten sind, die ein Tier wesenhaft
nicht hat, die man am Tier höchstens ausdrudtsmäßig finden und lachen kann, wenn man es
dabei in bezugzum Menschen sieht. Und in den erwähnten Eigentümlichkeiten liegt sicher
eine Hauptquelle des Komischen und Grotesken, ein Hauptmotiv des Lachens.
Plessner behandelt eingehend Bergsans Thesen über das Lachen (a.a.O., S. 89 ff.) und gelangt
zu glänzend begründeten kritischen Resultaten bezüglich der These Bergsons, nur der Mensch
und das nach .1\hnlichkeit zu ihm Aufgefaßte könnte Gegenstand des Lachens werden
(S. 94 ff.). Die Frage ist für uns, ob die •Normwidrigkeit«, von der Plessner- übrigens in
großer .1\hnlichkeit zu Kierkegaards in der Unwissenschaftlichen Nachschrift enthaltenem
Versuch, das Komische aus dem ,. Widerspruch« zu erklären - zur Erfassung des Komischen
ausgeht, zur Erfassung des Phänomens des Komischen ausreicht, da es ja viele nicht komische
»Normwidrigkeiten« gibt.
34 Vgl. dazu A. Reinach: Zur Phänomenologie d. Rechts, S. 37 ff.
35 Eine Verlautbarung (einer Liebe z. B.) teilt mit den sozialen Akten das Moment der Verneh-
mungsbedürftigkeit, unterscheidet sich von ihnen aber durch die Tatsache, daß die andere
Person Gegenstand und Adressat dieses Aktes in einem sein muß, während diese bei sozialen
Akten verschieden sind. Dies hat D. v. Bildebrand in seinem Werk Die Metaphysik der
Gemeinschaft, Kap. 2, nachgewiesen.
36 Vgl. dazu die meisterhafte Analyse dieser Gegebenheiten im Abschnitt Ausdruck und
Bedeutung in E. Busserls Logischen Untersuchungen, II, 1.
37 Mit Recht sieht Marx in der Arbeit einen Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier. Wel-
che Einseitigkeit und Irrigkeit in dieser These enthalten ist und wie vor allem die marxisti-
sche Auffassung, daß durch die Arbeit die •Schöpfung« des Menschen aus dem Tier sich voll-
zogen habe, falsch ist, da ja umgekehrt schon die Arbeit den Menschen voraussetzt - dies hat
]ahn Crosby in seiner Arbeit: Zur Kritik der marxistischen Anthropologie, bes. S. 24 ff., mit
imponierender Klarheit gezeigt.
38 In vielen menschlichen Tätigkeiten wirkt sich ja auch die Fähigkeit des Menschen aus, ein
ganz von dem des Tieres verschiedenes Verhältnis zur Zeit einnehmen zu können. So zeigt
sich in allen schöpferischen Akten, aber auch in Sehnsucht, Hoffnung, Erwartung etc. das
intentional-erkennende Verhältnis zur Zukunft, das der Mensch gewinnen kann und das ihm
diese Akte ermöglicht. Vgl. dazu W. ]. Revers: Ideologische Horizonte der Psychologie,
S. 91 ff. In diesem Zusammenhang ist auch die Bestimmung des Menschen interessant, die A.
Gehlen in seiner anthropologischen Hauptschrift Der Mensch (S. 32 ff.) entwidtelt und die in
großem Gegensatz zur späteren Wendung Gehlens steht. Der Mensch wird dort 1. als »han-
delndes Wesen« charakterisiert, das 2. noch »nicht festgestellt« ist und daher sein unfertiges
Sein durch Zucht, Erziehung, etc. zu etwas machen muß. Schließlich wird 3. das Voraus-
schauen in Raum und Zeit als ein Grundmerkmal des Menschen aufgewiesen. So unterschei-
det sich der Mensch durch diese Fähigkeiten wesenhaft vom Tier, worin wir Gehlen durchaus
zustimmen. Allerdings können wir seine Auffassung, daß der gesamte Mensch ausschließlich
von der Handlung her verstanden werden müsse (a.a.O., S. 32, 33), in keiner Weise teilen.
Damit würden alle spezifischen Wesensmerkmale des Menschen, die sich in Erkenntnis und
Kontemplation, in sittlichen Haltungen und affektiven Antworten (Freude, Hoffnung,
Wesensunterschiede z~ischen Mensch und Tier 119
Schmerz), in dem zentralen Akt der Liebe aktualisieren, als bloße Handlungsdispositionen
mißverstanden (Vgl. dazu J. Crosby: Zur Kritik der marxistischen Anthropologie, II, und
die dort angegebene Literatur).
Immerhin sah Gehlen damals (a.a.O., S. 36) noch einen Wesensunterschied zwischen Mensch
und Tier, wie er ihn heute nicht mehr anerkennt. Doch rückt seine These vom Menschen als
»Mängelwesen« Gehlen von Anfang an einer biologistischen Mißinterpretation des Menschen
nahe, wie er sie heute vertritt: wonach z. B. die Rolle der menschlichen Sittlichkeitsimin der
Befolgung sozialer Tabus ersmöpft, die vom Menschen verlangen, aum im Einzelfall, wo bei
ihm (dem Mängelwesen) der Instinkt ausfällt, sim der allgemeinen Norm, der »Instinkt-
regele zu beugen. Vgl. GehJens Beitrag in Philosophisme Anthropologie heute, bes. S. 111.
Schon in seinem Buch Der Mensm rückt Gehlen sowohl die Handlung, von der her er den
ganzen Mensmen verstehen will, als aum die Sprame (a.a.O., S. 46 ff.) auf die Stufe des
Dienstes an dem, was die Tiere rein biologism von selbst tun (vgl. a.a.O., S. 72). Und hier
liegt bei Gehlen von Anfang an potentiell ein völliges Mißverständnis sowohl des Wesens des
Mensmen als aum der mensmlichen Leib-Seele-Beziehung.
39 Auf die Möglimkeit einer philosophismen Gotteserkenntnis und damit auf diese
entsmeidend den Menschen vom Tier untersmeidende Fähigkeit können wir hier nimt näher
eingehen.
40 Dies finden wir auf Smritt und Tritt bei Verhaltensforsmern wie K. Lorenz (vgl.: Das
sogenannte Böse), W. Wickler (vgl.: Sind wir Sünder?), Kinsey, A. Gehlen und vielen ande-
ren.
41 Dieser Begriff ist insoferne problematism, als etwa Ameisen und Affen jeweils innerhalb
ihrer »Gruppe« »Höhepunkte« darstellen. Man könnte mit v. Uexcüll den Begriff »höherer«
und »niedrigerer« Tiere mit dem Hinweis darauf ablehnen, daß die Angepaßtheit an die
jeweilige Umwelt dafür der einzige Maßstab sein kann und daß diese bei einer (einzelligen)
Amöbe ebensogroß ist wie bei einem Affen.
Wenn man jedom auf die Größe des Gehirnvolumens bzw. der Gehirnrinde, auf die Diffe-
renziertheit und »Mensmenähnlimkeit« des Körperbaues, auf die Eindeutigkeit, mit der man
in einem Tier »bewußte« Empfindungen feststellen kann, bzw. auf die Intensität derselben,
auf den Reimturn und die Vielfältigkeit der »Umwehe, auf die ein Tier bezogen ist, auf die
Variationsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit der Instinkte an versmiedene Situationen etc.
amtet, so ist es offenbar, daß ein Affe höher steht als eine Amöbe, ein Hund höher als eine
Zecke, eine Katze höher als eine Spinne mit der »Starrheit« ihres lnstinktsystems. Und die in
diesem Sinn »höherentwickelten« Tiere sind es, deren Verhalten oft mit »mensmlichem« Ver-
halten verwechselt wird. Vgl. dazu auch die glänzenden Ausführungen F. J. J. Buytendijks
in Mensm und Tier, S. 52 ff.
42 Diese Unzulässigkeit tritt erstens darin klar hervor, daß - wie etwa K. Lorenz selbst durch
unzählige Beispiele belegt - vom Tier (vor allem dem niedrigen) dieselben Instinkthandlun-
gen, die in seiner natürlichen Umwelt »vernünftige, aber in veränderter Umwelt völlig
unvernünftig sind, auch in veränderter Umwelt ausgeführt werden. Dabei genügt eine vage
.1thnlichkeit der Sinneseindrücke, um im Tier die nun sinnlos gewordenen Instinkthandlungen
»auszulösen« (dies ist ein klarer Beweis für die Unvernünftigkeit des Tieres, für das Fehlen
der intentional-sinnvollen Bezugnahme zur Welt). Zweitens tritt die radikale Unzulässigkeit
einer solchen "anthropomorphen« Betramtungsweise der Tiere (dies gilt genau so für die
höchst entwickelten Affen) darin hervor, daß wir, wie oben ausgeführt, keinen einzigen
intentionalen Akt und dessen spezifismen »Beweise im Tiere treffen. Könnten wir dies wirk-
lich, so würde es sim schon um eine »verzauberte Persone handeln.
43 Vgl. dazu die kritismen Ausführungen F. ]. ]. Buytendijks, in seinem Buch Mensm und Tier,
vor allem S. 102 ff., bes. S. 111. Zu einer kritischen Analyse dieses Buches, das so viel Aus-
gezeichnetes enthält, ist hier nicht der Ort.
44 Hier wäre es überaus wimtig, auf die versmiedenen Vitalistismen Konzeptionen von
Nietzsme, Klages, Freud, dem späten Scheler und anderen Denkern einzugehen. Es ist in
diesem Rahmen nicht möglich, über das Grundsätzlime hinaus auf diese einzelnen Denker
120 fosef Seifert
einzugehen. Im kann hier nur auf die brilliante Kritik hinweisen, die der von M. SeheZer in
seiner Spätsmrift Die Stellung des Mensmen im Kosmos vertretene Biologismus in Th.
Haeckers Buch Was ist der Mensch?, bes. S. 114 ff., gefunden hat. Dort wird z. B. die Wider-
sprüchlimkeit von Schelers Thesen über die •Ohnmamt des Geistes« glänzend erwiesen.
45 Den näheren Nachweis dieses einsichtigen Zusammenhanges führt in origineller Weise fohn
Crosby (Vgl.: Zur Kritik der marxistischen Anthropologie, bes. S. 37-49), indem er 11
Untersmiede zwismen Vermögen und Fähigkeiten (der realen Ausübung bzw. der aktuali-
sierten Fähigkeit) mamt. Marxens These, nach der in einem Tier simlangsam die Fähigkeit
zur Arbeit entwickelt und so der erste Mensch entstanden sei, wird von Crosby als eine
petitio principii entlarvt. Diese Fähigkeit und ihre Entwicklung setzt nämlich eindeutig schon
das spezifisdl mensmlim-personale Vermögen zu arbeiten voraus, das durch die Entwicklung
der Fähigkeit niemals erklärt werden, sondern vielmehr diese allein begründen kann.
Zum Unterschied zwischen Ursache und Bedingung vgl. J. Seifert: Leib und Seele, Kap. 2.
Zitierte Arbeiten
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Bergson, Benri: Le Rire. Essai sur la Signification du Comique. 82" edition. Paris 1947.
Buytendijk, F. ]. ].: Mensch und Tier. Harnburg 1958.
Crosby, fohn: Zur Kritik der Marxistismen Anthropologie (ungedr. Diss.) Salzburg 1970.
Bäcker, Theodor: Was ist der Mensch? Berlin 1959.
Bengstenberg, Bans-Eduard: Philosophisme Anthropologie. 3. Aufl. Stuttgart 1966. Evolution
und Smöpfung. Salzburg 1963. Grundlegung der Ethik. Stuttgart 1969.
Bildebrand, Dietrich von: Christliche Ethik. Düsseldorf 1959. über das Herz. Regensburg 1964.
Die Metaphysik der Gemeinschaft. 2. Aufl. Regensburg 1955. Das Wesen der Liebe. Regens-
burg 1971.
Bocevar, Beinz Emil: Die Seinsstruktur der Pflanzen (ungedr. Diss.) Salzburg 1972.
Busserl, Edmund: Logische Untersuchungen. 5. Aufl. Tübingen 1968.
Kant, lmmanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Berlin 1911. In: Kant's Gesammelte
Schriften (hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1-24. Berlin
1910 ff.), Bd. IV, S. 387-463.
Kierkegaard, Sören: Abschließende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen
Brocken, Erster und Zweiter Teil(= S. Kierkegaard: Gesammelte Werke, 16. Abteilung, 1 u.
2.) Düsseldorf/Köln 1957 und 1958.
Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Wien 1963.
Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung. übertr. v. R. Boehm, Berlin
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Plessner, Belmuth: Philosophisme Anthropologie, Hrsg. v. G. Dux, Frankfurt/M. 1970.
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Die Stufen des Organischen und der Mensch. 2. Aufl. Berlin 1965.
Reinach, Adolf: Zur Phänomenologie des Rechts. Die apriorischen Grundlagen des Bürgerlimen
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v. Görres-Gesellsmaft). Freiburg/B. 1961.
Wickler, Wolfgang: Sind wir Sünder? München 1969.
Ein Volk der Tellensöhne?
Christoph Dejung (Zürich)
Ich frage nach dem Wesen des Schweizers. Die Frage muß erlaubt sein. Will man sie
freilich prüfen an den puristischen Maßstäben zeitgemäßer Sprachanalytik, so wird sie
sich als illegitim erweisen. Und wer es einmal gelernt hat, jeder Frage auf die Schliche-
und zuvor - zu kommen mittels jener Prüfung, die nur Fragen zuläßt mit der beruhi-
genden Aussicht eindeutiger Beantwortbarkeit, der wird sich kaum verlocken lassen
durch das unbeglaubigte Versprechen andersgearteter Fragen, wie es die gesteH te eine
ist: nämlich zu einem denkwürdigen Problem allenfalls ermutigende Ideen zu zeitigen.
Ich gebe es vorweg zu; die Rede vom Wesen unseres Volkes kann nichts gelten vor
ernsthaften Sprachkritikern, denn niemals läßt sich sondern, was zur Wirklichkeit einer
derartigen großen Gruppe festzustellen wäre, von dem, was allein negativ anzumerken
wäre zum »Begriff<< des Schweizers, diesem Kind des platten Vorurteils.
Schweizer sind häufig entschiedene Feinde jeder Spekulation gewesen, erst recht der
» Volksgeister<<. So rechne ich mit dem vielstimmigen Einwand meiner Freunde, meiner
Landsleute, der weiter geht als das bloß sprachkritische Bedenken. Ist es nicht unrecht,
ein historisches Kollektiv zu behandeln, als wäre es ein Wesen? Positivistischer und
menschenfreundlicher Protest wird sich verwahren gegen die Urteile, die Subsumtionen,
die Kategorien, denen >>der Schweizer<< offensichtlich ausgeliefert werden soll. Zwar
sind die Eidgenossen selbst nicht zimperlich in der Beurteilung anderer Völker - ihre
Presse, vox populi diesbezüglich zweifellos, zeichnet sich jedenfalls durch geringe Hem-
mungen auf diesem Gebiet aus -, aber sie reagieren sehr empfindlich, sobald sie selbst
zum Gegenstand der Beurteilung werden. Unvergeßlich jene imaginären Scheiterhaufen
allgemeiner Empörung, die damals loderten, als ein englischer Lord die Sauberkeit der
Schweiz öffentlich bestritt ... Jede Entrüstung legt Betroffenheit bloß. Aber welche
Betroffenheit war die tiefere, diejenige über das verlorene Ansehen der Reinlichkeit
oder jene, die den Schmerz ausdrückte darüber, daß man das Opfer eines kollektiven
Urteils geworden war, gegen das jeder Widerspruch unmöglich, jeder Gegenbeweis
nutzlos war? Fast jeder Satz über >>die Schweizer<< kann richtig sein - und falsch zu-
gleich für den Einzelnen, der ihn doch allein lesen und beantworten kann.
Aber unbestreitbar denkt jeder Einzelne in Vorstellungen, von denen viele Kollektive
betreffen. Die persönliche Identität ist ein Produkt, in das solche Ideen eingehen. Kein
Schweizer heute, für den >>die Italiener<< nichts bedeuten. Ich meine, daß wir uns in An-
betracht dieser Tatsache sowohl mit der Form dieser Kollektivvorstellungen (Vorur-
teilsforschung) als auch mit ihrem Inhalt beschäftigen müssen. Man soll die Augen nicht
schließen vor Gegenständen, die sim durm so deutlime Wirkungen erkennen lassen.
Die Beschäftigung mit Smicksal und Selbstbewußtsein eines Volkes läßt aber noch aus
einem anderen Grunde kein stolzes Nimtwissen zu. Unkenntnis zwischen Völkern ist
nicht so wertfrei, wie es vielleicht den Anschein haben könnte. Man hat oft jene gegen-
seitige Ahnungslosigkeit bedauert, die zur verhängnisvollen Kriegsbegeisterung von
1914 so viel beigetragen hat. Will man aber wirklich das gegenseitige Verstehen durch
Kenntnisse fördern, so muß aum das Selbstbewußtsein der Völker zur Sprame kommen
und mit ihm der »Nationalcharakter«. Nur das Wissen voneinander, wozu viele unwis-
senschaftlime Verallgemeinerungen gehören, kann uns Hoffnung geben, daß jene un-
heilvolle nationale Begeisterung, jene kollektive Selbstaufgabe zugunsten der unreflek-
tierten kriegführenden »Gemeinsmaft« ein für allemal der Vergangenheit angehöre.
Jeder Nationalismus ist ein Kind des Unwissens.
übrigens darf in diesem Zusammenhang nebenbei bemerkt werden, daß aum der Bil-
dungswert des Reisens, im Zeitalter der Reisegesellsmaft gewiß nimt vergleimbar mit
dem von Goethe gerühmten, nimt leichtfertig dem Spott ausgesetzt werden sollte. Rei-
sen können, wenn sie Allgemeingut der Bevölkerung werden, zu einem wimtigen Ele-
ment der Aufklärung werden. Denn aufmerksames, ungehetztes Reisen lehrt jene
Untersmiede und Besonderheiten achten, die mit Remt oder Unrecht den einzelnen Na-
tionen zugeschrieben werden. In Anbetramt dessen, daß uns die Zukunft Europas mit
Sicherheit den Zwang zum engeren Zusammenleben bringen wird, ist nicht allein Tole-
ranz, sondern Anpassungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft zu lernen und zu üben.
Es sind das Tugenden, die gerade dem Smweizer von seinem Wesen her schwer fallen,
die aber jede Reise lehrt. Die Freundlichkeit der Menschen und insbesondere der furcht-
losen Kinder in südlichen Ländern ist mehr als ein überraschendes Erlebnis. Die Freiheit
des Gesprädts, das ohne weiteres politischen Sinn annimmt, ist mehr als nur beein-
druckender Kontrast zum smwierigen, verschlossenen, vom Besitz geprägten eigenen
Wesen. Es sind Züge einer europäismen Mensmlichkeit der Zukunft, die uns nom abge-
hen, Züge, die gelernt sein wollen, sollen die Visionen der verwalteten Welt nicht
Wirklichkeit werden. So dringend wie die Reform der Institutionen ist die Reform der
Sitten, welche Freiheit und Selbständigkeit der Person, Errungensmaften des protestan-
tischen Nordens, davor bewahren soll zum Klassenmerkmal der mämtigen Völker zu
werden, während den Smwamen und Benachteiligten das solidarische, offene Wesen
allein gehören würde. Falls die Generation der Jugendrevolte in ihrem weiteren Weg
dahin tendiert, dann behält sie ihren Sinn weit über das vulgärmarxistische Latein hin-
aus, in dem sie sim zunämst ausdrückte: Verlangen nam einer reicheren europäismen
Kultur.
Im Rahmen aber der Konfrontation versmiedenartiger Völker, der der Smweizer heute
in seiner Arbeitswelt wie auf Reisen nimt ausweimen kann, ist die Besinnung auf das
eigene Wesen ein unumgänglimes Erfordernis: Als Kritik des eigenen Selbstbewußt-
seins. Vaterländisdte Begeisterung, einst der Hauptzweck der Gesmimtswissensmaft,
sollte abgelöst werden von einerneuen Aufgabe: Der Arbeit an der »historia« im ur-
sprünglimsten, griechischen Sinn als der Krankengesmichte des eigenen Volkes.
Im will meine einleitenden Bemerkungen damit absmließen, daß im versuche, einen
Ein Volk der T ellensöhne 123
Grundriß für die Argumentationsweise zu geben, in der man sich mit Aussicht auf
Erfolg den gestellten Fragen annähern könnte. Vom »Wesen« eines Volkes zu handeln
heißt sicher, von seinen Mythen zu handeln. Wir treffen dabei auf innerlich verwandte,
aber sehr weit entfernte Phänomene: auf die alten, mit der Nation völlig verschmolze-
nen, unausrottbaren Mythen (glückliche Nationen haben über Jahrhunderte, unter
immer wieder sich wandelnden Voraussetzungen, die gleichen Heroen), und auf die
neuen, oft in der Sprache der Analyse, der Wissenschaft, auftretenden Mythen, die der
gegenwärtigen Politik, ja der Zukunft dienstbar sind. Natürlich muß die Untersuchung
den Mythen kritisch nachgehen in beide Begründungen hinein: Die historische Begrün-
dung, die die einstige Bedeutung des Mythos, seine »Ursachen« und Zusammenhänge
begreiflich macht, und die aktuelle Begründung, die den Mythos am Leben erhält. Bei
einem so kompakten Selbstverständnis wie demjenigen der Deutschschweizer führt
schon die Ergründung der Mythen zu einer aufregenden Analyse.
Neben der Betrachtung der Geschichte unter dem Gesichtswinkel des eigenen Staatsmy-
thos ist es aber auch notwendig, die jüngere Vergangenheit des Volkes nach jenen Ereig-
nissen abzusuchen, die es isoliert haben. Bei dieser Betrachtung kann plausibel werden,
was an Bildern eines »typischen« Schweizers etwa sich aufdrängt, wo Schweizer oder
Ausländer von diesem Volk reden. Wenn es damit möglich ist, nicht nur Recht und Un-
recht der mythischen Selbstdarstellung zu klären, sondern auch begreiflich zu machen,
aus welchen Quellen das Bild sich nährt, das »den Schweizer« begleitet, dann kann viel-
leicht herauskommen, aller sprachanalytischen Skepsis zum Trotz, was aufklärend
wirkt: Ein Ansatz zur Selbsterkenntnis.
II
Der zentrale Mythos der Deutschschweiz im Bundesstaat ist Schillers Tell. Mit ungebro-
chenem Stolz drückt es Gottfried Keller im grünen Heinrich aus, er sagt dort über das
Drama: »Das Buch ist den Leuten sehr geläufig, denn es drückt auf eine wunderbar
richtige Weise die schweizerische Gesinnung aus, und besonders der Charakter des Tell
entspricht ganz der Wahrheit und dem Leben, und wenn Börne darin nur ein selbstsüch-
tiges und philiströses Ungeheuer finden konnte, so scheint mir dies ein Beweis zu sein,
wie wenig die krankhafte Empfindsamkeit der Unterdrüdtten geeignet ist, die Art und
Weise unabhängiger Männer zu begreifen«. In Schillers Darstellung, wo Tell nicht einer
der Eidgenossen, sondern ein Einzelgänger ist, ist er zum Nationalhelden der bürger-
lichen Schweiz geworden. Mindestens bis zum zweiten Weltkrieg ist er auch ungebro-
chen wirksam: Das Stück hat im Bewußtsein der meisten die dahinter liegenden Versio-
nen verdeckt. Dabei waren die älteren Fassungen des Stoffes nicht unbekannt, und die
Wissenschaft hatte längst die langwierige »Zähmung« der Gestalt des Tell vom ruhm-
süchtigen Schützen der nomadischen Apfelschuß-Sage über die revolutionäre, gefähr-
liche Gestalt eines Tyrannenmörders aus privater Rache bis zur vollendeten Verkörpe-
rung des freien Mannes in Schillers Fassung aufgewiesen. Die Schule aber blieb bei
dieser letzten Fassung und hielt das Bild Teils im Volk aufrecht, so daß den Wissen-
schaftlern, die die Sage kritisch untersuchten, unglaubliche Widerstände und Schwierig-
keiten erwuchsen.
124 Christoph Dejung
So läßt sim die gegenwärtige Aktualität vielleimt von da her erklären, daß (außer den
Historikern natürlim) nom die meisten älteren Mensmen im Glauben an Tell, an den
Schillersmen Tell erzogen wurden. Selbstverständlim wird das nicht zugegeben. Man
erklärt die gewaltigen Verkaufserfolge Tell-kritischer Bücher für die Frucht eines phili-
strösen Bedürfnisses nach Nonkonformismus, während dom in Wahrheit jedermann seit
je gewußt habe, daß es sich hier um eine in die Befreiungssage eingearbeitete Wander-
sage handle. Dem widersprimt aber die Wirkungsweise der Bücher von Frism t und
Marchi 2 eindeutig. Sie wurden aufgenommen als echter Skandal. Das ist natürlim
überrasmend für den Historiker, läßt sich aber begründen.
Marchi hat in seinem Buch mit umfassender Vollständigkeit die ganze Gesmimte der
Teilenverehrung aufgezeimnet. Die Tatsame, daß Tell als Mythos des Landes der Frei-
heit und Demokratie diente, ist dabei viel weniger wirksam als die sorgfältige Auf-
zeichnung der Wandlungen dieses Bildes. Indem Marchi die Wirkungsgesmimte der
Teilensage so vollständig namzeichnete, ohne den Vorwurf der Plumpheit ZU fürchten,
gelang es ihm, beim größten Teil seiner Leser bewußt zu machen, wie weit sich zumeist
Wissenschaft und Schule voneinander entfernt hatten. Darin liegt die »ketzerisme«
Seite seines Buches, darin aum das ketzerische »Recht«, keinesfalls aber in seiner unbe-
kümmerten Darstellung der Forschung. Zweifel mußten aufkommen am Remt der
Schule, weiterhin unkritism den Mythos zu vermitteln, denn indem seine jeweiligen
politismen lmplikationen freigelegt werden, verschwindet natürlim das Argument, der
»harmlose« Mythos sei dem Alter des Volksschülers angemessen, und er werde bei kri-
tischer Darstellung um ein wesentliches literarisches Erlebnis betrogen. Wenn einmal der
Boden für eine Diskussion über die Stoffe und Ziele des Geschimtsunterrimts in der
Primarschule fruchtbar werden sollte, so hat Marmis doch remt naives Bum daran das
größte Verdienst.
Nom deutlimer läßt sim die Ernsthaftigkeit, mit der Tell als mythisches Identifikat
immer noch lebt, an der Wirkung von Max Frisms Tell-Erzählung ablesen. Dieses Buch
scheint in seiner Intention überhaupt nicht verstanden worden zu sein (wofür auch des
Dimters unwirsme Reaktion auf Kritik ein Zeimen ist). Wenn man Frischs Werk un-
voreingenommen liest, so stellt es sim ganz als das dar, was sein Titel besagt: Es enthält
genau das, was ein Lehrer seinen Volkssmülern als Mythos erzählen könnte, und was
sich in Gesprämen und Ergänzungen darum herum an Lehrstoff etwa erarbeiten ließe.
Man sollte diese Darstellung mit Schülern lesen und die - so ratlos aufgenommenen -
Anmerkungen im Unterrimt dazu variieren. Dann ergäbe sim wohl ein Mythos, der
unserer Zeit gemäß wäre.
Die Kritik hat Frisch aber, soweit im sehe, nirge.nds so aufgefaßt. Sie wollte ihn als
Entmythologisierer verstehen und bewies damit ihren eigenen Glauben an den Mythos.
Man erklärte das Ganze als Parodie, nur weil die Anmerkungen nimt als wissenschaft-
lime Anmerkungen für erwachsene Leser verständlich sind. Man nahm Frischs Büchlein
als witzige Demontage, statt es als den Versuch eines unmittelbaren, positiven Beitrages
zur Schulreform zu lesen. Dabei geriet die größte Tugend des Büchleins völlig außer
Simt: Daß es so unaufdringlim informativ ist.
Simtbar werden in alledem Namwirkungen einer regelremten Restauration, die übri-
gens, wie wir sehen werden, durchaus nicht nur auf diesem Gebiet stattgefunden hatte.
Ein Volk der Tellensöhne 125
Die bedrohte Nation hatte nach 1933 eben auch nam der Gestalt Teils gegriffen, um
ihre Identität, ihr Wesen zu verteidigen. Der Wissenschaft ist dabei der Vorwurf nicht
zu ersparen, daß sie ihr eigenes Geschäft, die Kritik, zuweilen so sehr verbrämte, daß
sie bis an den Rand der Zweideutigkeit geriet. Ähnlich wie die Bedrohung des Glaubens
manwen Theologen an der historischen Kritik irre werden ließ, kamen jetzt berechtigte
Einwände (daß das argurnenturn e silentio wenig beweiskräftig ist, daß ein ganz gerin-
ger Rest von Möglichkeit aum für die unwahrsmeinlichste Interpretation stets offen
bleibt, daß jedes historisme Resultat unsimer und vorläufig bleibt, etc.) plötzlim so zur
Sprame, daß man die Ergebnisse langer Forschung leimthin als völlig fragwürdig abtun
konnte. Und so smien plötzlim das letzte Wort der Wissenschaft zu sein, was in einem
erfolgreichen Film, der der geistigen Landesverteidigung galt, von einem Lehrer gesagt
wurde: Man sei jetzt zur Oberzeugung gekommen, daß sich bei der Gründung der Eid-
genossensmaft alles ganz gut so abgespielt haben könnte, wie es die Sagen erzählen ...
Damit ist der Mythos in einer ganz unzeitgemäßen Art wieder zum Gegenstand des
Glaubens geworden. Um das smweizerisme Selbstbewußtsein ZU retten, war eine ge-
fährlime Unwahrhaftigkeit in Kauf genommen.
III
Von diesem Punkt aus läßt sim vielleimt ein Grund nennen für die Krise des smweize-
rischen Selbstverständnisses, die aufmerksame Beobamter seit einigen Jahren feststellen.
Karl Schmid 3, der einflußreimste und wimtigste Beobachter dieser Krise, warnt zu
Recht davor, einen einzigen Grund nennen zu wollen, und wir glauben auch nur einen
kleinen Beitrag an die Frage nach den Ursprüngen der Krise geben zu können. Aber
unser Ansatz beleuchtet dom die von Karl Schmid festgestellte Konfliktlage von einer
wichtigen Seite. Er lehrt nämlim in seinem Vortrag, daß die Frage der Identifizierung
des Smweizers als Smweizer selbst fragwürdig ist - für die junge Generation. Und
genau darum geht es.
Der gegenwärtige Zustand der Schweiz ist gekennzeichnet durch eine - gewiß auch
anderswo festzustellende, aber wohl nirgends so unerwartete - Entfremdung der Gene-
rationen. Es handelt sich nicht um eine Spielart des Konflikts der Generationen, ja fast
ist es eine gemeinsame Unsicherheit von alt und jung. Vielleimt wäre es richtiger von
der Unmöglichkeit oder Schwierigkeit des Konfliktes zu reden. Man ist zu verschieden,
ohne es im Konflikt geworden zu sein. »Nur ein Narr verlangt von der Jugend Gerech-
tigkeit des historismen Urteils«, sagt Karl Schmid, und er betont damit die Oberzeu-
gung der älteren Generation, historisch gerechtfertigt zu sein. Vorgesmimte und Ver-
lauf des zweiten Weltkrieges hatten eine derart starke Identifikation mit der
nationalen Rolle zur Folge, daß das Glü&., das der nationalen Selbstbehauptung hold
war, nun auch den Partner des Generationenkonflikts so unangreifbar macht. Man
hatte remt, als man wieder an Wilhelm Tell und an das Wesen des freien Schweizers
glaubte. Was bei uns an Vergangenheit zu bewältigen wäre, betrifft nur das Versagen
einzelner Mensmen, läßt die nationale Tugend, die Bewährung des eingeschlagenen We-
ges nur um so deutlicher werden. Gewiß läßt sich das smre&.liche Argument der Ober-
126 Christoph Dejung
fremdung mit den sdtlimmsten Folgen in der dunklen Gesdtichte der Flüchtlingspolitik
aufspüren, dodt hatte das Volk, wie mutige Volksvertreter äußern konnten, das Argu-
ment damals nidtt gebilligt und audt nicht die Konsequenzen. Wirklich vorwerfen kann
man der damaligen Schweiz ihre starke nationale Haltung kaum: Wer sie damals kriti-
siert, angegriffen, negiert hätte, hätte dem von außen drohenden Feind in die Hände
gespielt. Natürlidt läßt sich zeigen, wie die oft beobadttete Ersdteinung, daß Gegner
Eigensdtaften tauschen, in die Propaganda der Sdtweiz Mißtöne bradtte. So läßt sich
audt das geradezu völkische Gesidtt der Landesausstellung, dieser wahren Selbstfeier
der Schweiz erklären. Aber zur Auseinandersetzung über den Graben der Generationen
hinweg genügt das nicht. Nur die Dummheit kann die Zwangsläufigkeit übersehen, mit
der die Schweiz, auf sidt selbst geworfen, dann und wann kleinlichem Geist erlag. Das
war immer noch besser als die Öffnung zum damaligen Zeitgeist. Und so läßt sich auch
die unkritische Wiederaneignung der Tellsage durdJ. die bedrohte Schweiz nicht wirklidJ.
als Vorwurf ausnützen. Mit einer überaus starken, aber wohl begründeten Selbstidenti-
fikation hat sidt der Sdtweizer behauptet. Nur: In diesem Schweizer kann sich der
junge Schweizer von 1972 nidtt mehr erkennen. Zur Kritik aber fehlt ihm, das fühlt er,
die Berechtigung.
Die Wiederverwendung des Sdtillersdten Dramas als vaterländisdter Liturgie, die Ver-
körperung der eigenen Nation in der Gestalt des Heros geschah dabei redJ.t unbedacht.
Im Weltbrand, der von ungehemmter Tyrannei entfesselt war, blieb das Verständnis
Tells im Horizont einer einzigen Bedeutung: Er war das Widerstandsredtt. Daß dieses
RedJ.t unverzidJ.tbar sei, ist nodJ. der Tenor der negativen Besprechungen, die Frisch und
Marchi erhielten. Was Tell außerdem mit seiner Sage und mit der Schillersehen Charak-
terisierung mit sidt bringt, wiegt dagegen wenig. Während des Krieges mußte jene Kri-
tik verstummen, die einst Gottfried Keller nicht hatte annehmen wollen, und die im
nachbürgerlidten Zeitalter auch in der Sdtweiz zu erwarten war. Ein Urbild eines knor-
rigen Menschen, hat Adorno den Schützen, durchaus nimt anerkennend, genannt. Sol-
che Kritik an Tell konnte erst dann wieder zum Wort kommen, als die Drohung des
Nationalsozialismus zerbrochen war.
Die Auseinandersetzung fand aber nicht statt, sondern die nationale Verkörperung
wurde von einer jungen Generation einfach nidtt übernommen. So lernen heute Schüler
in gleichen Sdtulhäusern nebeneinander bei einem Lehrer, der von der Historizität und
Bedeutung Tells völlig überzeugt ist, und bei einem Kollegen, dem Tell nichts bedeutet.
Dieser Zustand drückt die Krise des schweizerisdJ.en Selbstverständnisses heute aus.
IV
Was macht Wilhelm Tell so widttig für das sdJ.weizerisdte Selbstbewußtsein? Worin
trifft sich dieser Mythos mit modernen, den gegenwärtigen Staat tragenden politischen
Mythen? Warum kann eine Auseinandersetzung über Tell an den Grund des helve-
tisdten Konsensus rühren? Wir glauben fünf Deutungsmöglichkeiten gefunden zu
haben, die alle begreiflidJ. madten, daß die SdJ.weiz sich mitten im zwanzigsten Jahr-
hundert als Volk der Teilensöhne empfinden konnte.
Ein Volk der Tellensöhne 127
Erste Deutung. Die Nation zügelt und nutzt die Aggressionen ihrer Glieder. Sie erlaubt
aufgrund der verinnerlichten Zusammengehörigkeit den Verzicht auf schrankenlose
Auseinandersetzung im lnnern. Gleichzeitig bereitet sie aber auch das vor, was man in
der Schweiz noch immer den »Ernstfall« nennt: Zweck der Nation ist im Prinzip der
Krieg. Und so gehört zu aller nationalen Erziehung nicht nur die Bändigung des Egois-
mus und der gemeinschaftsgefährdenden Triebe, sondern ebenso sehr die Unter-
drückung jener Notfall-Bereitschaft, die Kriege vielleicht im letzten Moment verhin-
dern könnte. Die im Krieg offensichtlich notwendige Solidarität muß vorbereitet wer-
den. Sie kann im Augenblick des Kriegsausbruchs {noch ist 1914 nicht vergessen) autark
werden und alle Vernunft zeitweilig außer Funktion setzen. Die Bosheit des Nationa-
lismus liegt dabei in der Tatsache, daß er darauf spekuliert, daß Kriege gewöhnlich un-
übersichtlich ausbrechen. Die Schutzbehauptung ist dabei die, daß »wir« keinesfalls je-
mals Angreifer sein könnten.
Nationen haben aber nicht nur ihren Zweck im Krieg, sie ziehen auch ihr Selbstbewußt-
sein aus dieser prägnanten Existenzform. Der Krieg aber, aus dem die heutige Schweiz
ihr offizielles Selbstbewußtsein zieht, das ist der zweite Weltkrieg. Glücklich die Na-
tion, die sich aus einem Krieg versteht, den sie nicht führen mußte, möchte man sagen.
Dieser Krieg ist freilich, im Gegensatz zum oben gesagten, sehr übersidttlich ausgebro-
chen. Die Sdtweiz (und mit ihr viele andere Länder) war Objekt einer möglichen
Aggression. Man war- und fühlt sich noch heute- in der Defensive.
Das aber trifft sich mit der alten Absicht der Tellsage. Die Sagen um die Gründung der
Eidgenossenschaft sind zu einem Zeitpunkt in die heutige Gestalt getreten, als die
Schweiz ein aggressives, offensive Politik treibendes Staatswesen war. Damals erhielt
auch die Gründungsgeschichte eine kriegerisdte Gestalt, die wir in den Akten nicht nadt-
zuweisen vermögen. Aus den ersten Bündnissen - Landfriedensbündnissen ohne kämp-
ferische Tendenz- war ein gefährliches, eroberungslustiges Gemeinwesen sehr verschie-
dener, aber nirgends demokratischer Verfassungsgestalten geworden. Man mußte sich
rechtfertigen, brauchte eine Legitimation für die eigene politische Existenz, und zwar
darum nicht verlegen.
Die Eidgenossensdtaft sollte entstanden sein aus der berechtigten Abwehr herrschaft-
lidter übergriffe. Eine alte Sage behielt eine Erinnerung an einen Geheimbund, der sich
gegen die fremde (!) Herrschaft geridttet hatte. Das aber war für die Chronisten, die
fast überall untertänige Diener der ordentlidten Gewalt waren, eigentlim schon zuviel.
Und so integrierten sie gerne in die Befreiungssage die Erzählung von der ungeheuer-
lichen persönlichen Herausforderung des Meisterschützen und von seiner Rache. Solche
Rache, ohnehin noch häufiger Weg, das Recht zu finden, erschien viel plausibler und
legitimer als das politische Widerstandsrecht, das keiner der Erzähler seinen Mitbürgern
einzuräumen wagen konnte. Denn von dem, was die Neuzeit unter »Freiheit« versteht,
von der Befreiung aus bedrückender persönlicher Abhängigkeit, hatten die Bundes-
briefe sorgfältig Abstand genommen. So wurde Tell zum Archetypus des Schweizers,
der gegen den Fremden in der Defensive handelt. Und als dieser eignete er sich für die
Restauration des Mythos gerade in der Epoche des Faschismus.
Zweite Deutung. Tell ist aber nicht nur dem Rütli ferngeblieben, wie Schiller feststellt,
das genannte Deutungsmotiv verstärkend, sondern er hat noch eine Eigenschaft, die
128 Christoph Dejung
zum Wesen des Schweizers gehören muß: Er verkörpert die Tat. Nichts gilt hierzulande
weniger als der Denker, nichts mehr als praktische Tümtigkeit. Dieses Motiv hat insbe-
sondere die Deutschschweiz in ihrer jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit
Deutschland herausgebildet. Denken, reden, schreiben mußte man eigentlim in einer
Fremdsprache, und jeder Deutsche schien es besser zu können. Das Wort, das dem
andern so leicht zu Gebote steht, ist des Smweizers Sache nicht. Rhetorik ist ihm nicht
eigen. Schillers Tell redet für Schweizer Ohren noch zu leicht.
Verdacht und Reserve gegen das leicht sich findende Wort ist nun ebenfalls nom viel
größer geworden in der Zeit von 1933 an. Damit wird aum gleich klar, daß es sich bei
diesem schweizerischen Pragmatismus niemals um die Verehrung der gewissenlosen Tat,
noch weniger der Tatmenschen neoromantischer Bewunderer gehandelt hat. Vielmehr
setzte sich die Identifikation mit der grundsätzlichen Harzigkeit gerade gegen jene
wortreiche Verkündigung eines Zeitalters der Tat. Die Tat und Wahrheit, in der sich
die Liebe äußern muß, ist gemeint, wenn Tell verspricht: »Bedürft ihr meiner zu be-
stimmter Tat, dann ruft den Tell, es soll an mir nicht fehlen«. In diesem Pragmatismus
wollte sich die Generation verstehen, die unter der gefährlichen Bedrohung den tiefen
Graben zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft zuschütten mußte. Daß man stets in
Zeitaltern völliger Auflösung, aber auch ideologischen Krieges, eben dom zusammenge-
halten hatte, das schrieb man mit Recht der schweizerischen Skepsis gegen den gedank-
lich gefundenen »Standpunkt« zu.
Dritte Deutung: Beide Auffassungen, die wir eben entwickelten, kommen einer weite-
ren Forderung des »typischen Schweizers« entgegen: Er liebt die Freiheit und haßt die
Revolution. Das macht ihn und seine Presse auch oft so selbstgerecht anderen Völkern
gegenüber. Er meint, die Freiheit in seinem Staat verwirklicht zu haben, er findet nir-
gends einen Ansatzpunkt für revolutionäre Auflehnung. Schon immer soll die Schweiz
das Land der Volksrechte gewesen sein; wie viel in Wirklichkeit der französischen und
der amerikanischen Revolution davon zu verdanken ist, wird allgemein verdrängt.
Selbst die ersten Eidgenossen hätten, so stellt man sich das dreizehnte Jahrhundert vor,
nur ihre alte Freiheit verteidigt. Allerdings war damals der Sturz einer Ordnung not-
wendig, die sich wohl für legitim halten konnte. Und so kommt es zu verteilten Rollen:
Die Eidgenossen handeln ganz im Namen ihrer Rechte und Freiheiten, die sie verteidi-
gen, und den Sturz der Ordnung, die weichen muß, führt ein Außenseiter herbei. Mit
Tell muß sich der Schweizer nach dieser Deutung nimt mehr identifizieren. Er ist jetzt
der Einzelgänger, der für die Gemeinschaft das tun darf, was sie fast um jeden Preis zu
vermeiden trachtet. Das scheint der Sinn der verbreitetsten Tell-Auffassung zu sein, die,
wie wir sehen werden, aum psychologisch sehr dankbar ist: Die nationale Freiheit um
den Preis einer unumgänglichen privaten Fehde zu bekommen, oder: Die Befreiung
ohne den Preis der Revolution.
Vierte Deutung. Tell kommt aber auch jener Ideologie gut zustatten, die als Vorstel-
lung von der schweizerischen Gesellschaft die tiefste Revolutionsfeindlichkeit rechtfer-
tigt. Unser Land sei herrenlos, und Herrenlosigkeit das eigentliche Merkmal der Eid-
genossenschaft. Auch daran ist etwas historism Richtiges. Seit dem Durchbruch des Li-
beralismus in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist es tatsächlich kaum mehr in
Ansätzen zu aristokratischen Bildungen in der Gesellschaft gekommen. Bei aller Faszi-
Ein Volk der TelZensöhne 129
nation, die das wilhelminische Deutschland auf die Deutschschweizer ausgeübt hat, hat
sich in unserem Lande eine Auffassung von der Arbeit entwickeln können, die man im
gesellschaftlichen Sinn als egalitär bezeichnen darf. Daß sich dann nach dem ersten
Weltkrieg das Mundartliche, das Volkstümliche in jedem Sinne wieder verstärkt hat,
macht noch einmal von einer anderen Seite klar, daß Tells Renaissance kein Zufall war.
Der Tell kommt im expliziten Sinne aus dem Volk; noch bei Schiller ist deutlich, daß er
einen Übernamen trägt: >>wär' ich besonnen, hieß' ich nicht der Tell!«
Tell ist auch hierin wieder eine Gestalt, die dem wissenschaftlichen Bild vom schweize-
rischen Spätmittelalter - auch nach den Kenntnissen von 1930 - völlig widerspricht.
Tell wird ja wohl zuerst der Befreiungsheld der Kriegsknechte gewesen sein, Beispiele
sind bekannt, wonach er gar Vorbild und Schutzpatron revoltierender, wilder Knechts-
haufen gewesen ist. Seine Einbeziehung in die Befreiungssage verhalf damit nicht nur
Uri zu kämpferischen Verdiensten (die das einwandfrei reichsfreie Land nicht nötig
hatte), sondern galt wohl auch der Anerkennung der unterdrückten Klasse der Kriegs-
knechte. Daß deren schreckliches Schicksal während der ganzen mittelalterlichen
»Heldenzeit<< im Volk nicht bekannt wurde und noch heute kaum bekannt ist, zeigt ein
böses Versagen unserer Schule an. In der bedrohten Schweiz von 1940, in der der Klas-
senkampf ausdrücklich begraben war, durften Klassen nicht einmal in der alten Schweiz
vorkommen. Und so ist es zu erklären, daß sich kaum jemand ein Bild macht von der
Art und Weise, wie vornehme Familien die Kinder und Jugendlichen des eigenen
Volkes gegen guten Gewinn auf Europas Schlachtfelder verkaufte. Die Tell-Legende
hat hier ihre ablenkende Funktion gehabt, und es ist den Wissenschaftlern und den
Schülern der Nachkriegszeit nicht zu verdenken, wenn sie statt Behandlung der Befrei-
ungssage das Studium der altschweizerischen Gesellschaft fordern.
Alle bisher versuchten Deutungen machen das nationale Interesse der vom Hitlerreich
bedrohten Schweiz an der Teilensage deutlich. Der Hinweis auf den Außenseiter Tell
aber legt noch eine fünfte Deutung nahe, die das Haftende an der Geschichte erklären
soll. Der Mythos geht gerade deshalb tief, das ist meine These, weil sich der Schweizer
nicht mit Tell identifiziert, ihn als anderen noch in der Übertragung betrachtet. Zu
identifizieren ist der Schweizer, wie vielleicht Gotthelfs von mächtigem Erziehungswil-
len beseelte Erzählung >>Der Knabe des Tell<< deutlich macht, mit Tells Sohn. Die Frei-
heit ist unser Erbe, wenn auch um den Preis einer Geschichte, in der sich Gebotenes und
Verbotenes untrennbar vermengt haben. Nicht wie in der Wandersage und noch in den
älteren Quellen unserer Schützensage ist es Tells Prahlen, das die Geschichte in Bewe-
gung bringt: Bei Schiller prahlt Walter Tell, und unbekümmert fordert er den Vater
zum frevelhaften Schuß. Für das schweizerische Selbstbewußtsein wäre demnach Tell
nicht nur wichtig als Symbol des Widerstandsrechtes - vielmehr fürchtet der Schweizer
ja gerade das Revolutionäre, aber auch das Anarchische der privaten Rache, die der dem
Vogt ins Ausland nachgeeilte Vater übt. Tell ist ebenso sehr der Vater, der wie die Na-
tion überhaupt das doppelte Gesicht der Bändigung und der Entfesselung von Gewalt
hat. Und zu Tell so gut wie zur Nation scheint die vaterlose Generation der Nach-
kriegszeit nur noch eine kritisch-rationale Einstellung zu haben. Nichts Emotionelles
schwingt mehr mit, wo es um das Vaterland geht.
130 Christoph Dejung
V
Das Gegenteil von alledem, was der Mythos des Schützen besagt, hat in der jungen
Generation Platz gegriffen. Die Schweizer werden sehr bald kein Volk der Teilensöhne
mehr sein. Sogar das Stimmrecht der Frau haben sie gegen alle inneren Widerstände
eingeführt. Kein Gott wird uns vor dem Unschweizerischen schützen. Das sollte die Ge-
neration der heute Verantwortlichen in der Schweiz erkennen. Nicht das Widerstands-
recht ist obsolet geworden, wohl aber sind die Werte und Gefühle, die in der berühmten
Verkörperung dieses Menschenrechtes mitgesetzt waren, devaluiert. Freilich lebt ja auch
in den Jungen noch genug von dem knorrigen und fremdenfeindlichen Wesen der alten
Schweiz. Selbst wenn die Erziehung heute das Erbe, das sie nicht pflegen darf, mutig
vertut, bleibt die Schweiz noch lange, was sie immer gewesen: Jedenfalls ein schwieriges
Gastland.
Anmerkungen
Ein Bildnispaar, das über anderthalb Jahrhunderte immer wieder gemalt worden ist,
soll mir im folgenden helfen, die Brücke von der Kunstgeschichte zur Philosophie zu
schlagen. Mit Fug kann es meinem Versuche voranstehen, Helmuth Plessners philoso-
phische ErheBung des Lachens, Weinensund Lächelns kunsthistorisch zu illustrieren. Es
handelt sich um Demokrit und Heraklit, die einander als der lachende und der wei-
nende Philosoph gegenüberstehen 1 •
Was brachte den Atomisten aus Abdera und den Künder des Wechsels aus Ephesos,
deren Lebenszeiten doch nahezu ein Jahrhundert auseinanderlagen, zusammen? Wie
wurden sie zu den Verkörperungen solch gegensätzlichen Verhaltens zur Welt und zum
Leben?
Die Legenden, die sich schon in der Antike um ihre Lebensgeschichten rankten, leisteten
der Entstehung des concetto Vorschub. Heraklit, der Patrizier, soll sich von den poli-
tischen Verhältnissen in seiner Heimatstadt so angewidert gefühlt haben, daß er die
ihm offenstehende staatsmännische Karriere ausschlug, um in der Einsamkeit seine
Lehre auszuarbeiten. So haftete ihm von je her die Schmerzlichkeit des Menschen- und
Lebensverächters an. Die Stoiker erwählten ihn zu ihrem Vorbild. Seine dunkle, ver-
gänglichkeitsbewußte Lehre, die nur in wenigen kryptischen Fragmenten auf uns ge-
kommen ist, zieht bis heute dem Unergründlichen nachsinnende Pessimisten in ihren
Bann. In diesen Versen beschwört ihn Gottfried Benn:
Kosmogonien- Wesen
im Rauch des Hyoscyd,
Zerstäubungen, Synthesen
des Wechsels- Heraklit:
Es sind dieselben Flüsse,
doch nicht die Potamoi-
Betäubung, Regengüsse
dem Fluß, dem Ich vorbei. 2
Dem Demokrit hat es in seinem wechselvollen Leben, wie Diogenes Laertius a es dar-
gestellt hat, wahrlich nicht an Anlässen zum Lachen gefehlt. Seine Mitbürger, die Abde-
riten, standen - das hat sich noch Wieland in seinem Roman zunutzegemacht - im
Rufe besonderer Dummheit. Als Demokrit in den Besitz seines ansehnlichen Erbes kam,
nutzte er es, um Denker und Gelehrte in allen Teilen der damals bekannten Welt bis hin
nach Indien zu besuchen und von ihnen zu lernen. Zurückgekehrt, fand er sich im Besitz
132 Gert Schiff
umfassenden Wissens über Kosmologie, Mathematik, Physik und Musik, aber sein Ver-
mögen hatte er restlos aufgezehrt. Niemand nahm ihn ernst, und als er sidt nun ohne
Sdtam von seinem Bruder aushalten ließ, fiel er bei den eingesessenen Pfeffersäcken all-
gemeiner Verachtung anheim. Dodt bald wandte sidt das Blättchen. Durdt Wetterbeob-
achtung sah Demokrit die Vernichtung einer Olivenernte voraus. So kaufte er den Öl-
markt auf und sdtlug seine Verächter mit ihren eigenen Waffen. Sein Ansehen wudts,
und seine Mitbürger begriffen, daß sie von einem soldien Mann etwas lernen konnten.
Willig zahlten sie, um seine Vorlesungen über den großen und den kleinen Diakosmos
anzuhören. Sdtnell wurde Demokrit wieder reim und hochgeehrt. Er war audt ein
guter Mann. Als Ober-Hundertjähriger fühlte er sdtließlich sein Ende nahen. Er be-
redtnete mit der ihm eigenen Genauigkeit, daß sein Begräbnis mit einem Fest zusam-
menfallen würde, an dem seine Sdtwester teilzunehmen wünschte. Um ihr nicht die
Freude zu verderben, brachte er es fertig, drei Tage über den ihm von der Natur auser-
sehenen Sterbetermin hinauszuleben. Er wirkte dieses Wunder, indem er sidt von den
Dünsten erhitzten Brots und Honigs erhielt. Dann starb er, und bald schon erridtteten
die dümmlidt gerührten Abderiten ihm Statuen. Daß er von den Dingen des Lebens
schledtthin garnidtts ernstgenommen habe, steht sdton in dem apokryphen Brief des
Hippakrates an Damagetus zu lesen 4 • Hippakrates habe den Demokrit in einer Unter-
haltung zu überzeugen versudtt, daß es für den Menschen doch audt Dinge gibt, die sei-
nen Einsatz lohnten; aber Demokrit habe nur immer mehr gelacht und ihm sdtließlidt
erklärt, »daß sein ganzes Streben nur ein Selbstbetrug.« Seine auf die Euthymia ausge-
richtete Ethik bewog die Epikuräer, ihn zu ihrem Vorläufer zu erklären. Horaz, der
ihn in einer an Augustus geridtteten Epistel wiedererweckte, machte ihn überdies zum
SdJ.Utzpatron des Theaters: wie würde Demokrit lachen, wenn er heute lebte und die
Scharen von Zuschauern sähe, die eine Giraffe oder einen weißen Affen angaffen! Er
würde weniger die Vorstellung als die Zuschauer ansdtauen, da diese ihn mehr belusti-
gen würden als die Sdtauspieler 5 •
Die Gegenüberstellung von Demokrit als dem Philosophen, der über die Welt und die
Menschen lacht, und Heraklit als demjenigen, der über sie weint, findet sich am frühe-
sten bei Seneca, in seinen Schriften über die Gemütsruhe und über den Zorn, sowie in
den Satiren des Juvenal. Beide geben der Haltung des Demokrit den Vorzug. Lukian
hingegen in seinem berühmten Scherbengericht des Philosophenverkaufs verhökert den
Demokrit als leeren Spötter, den Heraklit als weltuntergangsbesessenen Wahnsinni-
gen 6 •
Von nun an hält sidt der concetto, untersdtwellig zunächst, über die Jahrhunderte am
Leben. Ein absurdes Zwisdtenspiel war es, als Isidor, der heiliggesprodtene Bisdtof von
Sevilla (t 636), den Atomisten zum Begründer der Magie stempelte! Demokrit als
Astrolog, Aldtemist, Nekromant- wie sehr hätte diese Entstellung Epikur, den Tod-
feind allen Aberglaubens, empört! 7
Als sidt die dtristlidten Schriftsteller des Philosophenpaares bemächtigten, neigten
mandie dazu, den Ladlenden zu verdammen, da ihnen das Lachen weltverhaftet, un-
fromm und somit nahezu sündhaft erschien. Nur im Weinen fand Fulgentius Metafora-
lis die wahre Nadtfolge Christi 8 • Aber es gab audt eine andere Tradition, bei Katho-
liken wie Protestanten. Cristoforo Landino identifizierte Demokrits Euthymia mit dem
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 133
christlichen Ideal des Friedens. Erasmus erklärte in der Einleitung zum Encomium
moriae, er wolle sich lieber wie der lachende Demokrit verhalten. Der französische Pre-
digerPierrede Besse schrieb einen Heraclite Chretien (1612), in dem er den weinenden
Philosophen als Urbild des peccator poenitens hinstellte, doch er ließ ihm drei Jahre
später einen Democrite Chretien folgen, in dem die Iadlende Haltung denn doch als die
»dlristlidlere« ersdlien 9• Khnlich ist in dem widltigsten protestantischen Allegorien-
budl, den Hieroglyphica des Romeyn de Hooghe (Amsterdam 1753), der rechtgläubige
als der Iadlende Mann dargestellt 10.
Michel de Montaigne gibt dem Demokrit den Vorzug vor Heraklit, weil man den Din-
gen, über die man weint, eben doch nodl einigen Wert beimesse; hingegen >>les dloses
dequoy on se moque, on les estime vaines et sans pris.« 11 Entsprechendes schreibt audl
Pierre Bayle in seinem Dictionnaire historique et critique, 1695-1697 12 • Die Skeptiker
wie die Frommen gehen in dieser, die Weltverachtung dem Weltschmerz vorziehenden
Einstellung auf Seneca zurück.
Selbstverständlidl sind im ursprünglichen, antiken Sinne beide, sowohl der Iadlende als
auch der weinende Philosoph, Pessimisten; und man könnte sehr wohl in der Haltung
des Demokrit, der trotz seiner bitteren Einsidlt nicht den Humor verliert, die größere
Leistung oder die bessere Erlebnisverarbeitung sehen.
Bildliehe Darstellung des gegensätzlidlen Paares begegnet zum nahezu ersten Male in
einem philosophiegeschichtlich interessanten Dokument: Marsilio Ficino beridltet in
seinem Epistolarium, man könne in seinem Gymnasium eine Weltsphäre (d. h. eine
sphärische Weltkarte) gemalt sehen und zu ihren Seiten Demokrit und Heraklit; der
eine sei ladlend, der andere weinend dargestellt 13• - Die Weltkarte ist als sphaera
mundi Symbol des menschlichen Lebens. Als Attribut des Philosophenpaares ist sie von
Ficino eingeführt worden. Die Maler sind ihm hierin gefolgt und haben sie später durch
die Weltkugel ersetzt. Wer das verlorene Fresko gemalt hat, ist unbekannt; man hat
Alberti, Botticelli und Pollaiuolo vorgeschlagen. Weitere Philosophen wie Aristoteles,
Epikur, Diogenes, Sokrates, Euklid u. a. waren gleichfalls auf den Wänden von Ficinos
Gymnasium abgebildet. Ficino hatte die Idee zu dieser Wanddekoration einem Brief
des Sidonius Apollinaris entnommen, in welchem der frühchristliche gallische Schrift-
steller darlegt, daß derartige Philosophenporträts (mit Einschluß des lachenden Demo-
krit und des weinenden Heraklit) den geläufigen Wandschmuck von »gymnasia ...
Areopagitica« bildeten 14.
Von nun an häuften sich Darstellungen unseres Paares, in Fresken und bald auch in Ta-
felbildern, in großbürgerlichen und fürstlichen Wohnstätten. Bernardo Luini malte
Demokrit und Heraklit für einen Edelmann in Mailand, Bramante malte sie an die
Wand eines Patrizierhauses in Bergamo. Raphael nahm sie in seine Schule von Athen
auf. Philipp li. schmückte seinen Audienz- und Wohnraum im Escorial mit einer Serie
von Philosophenporträts, darunter, wie Delphine Fitz Darby gezeigt hat, auch Demo-
krit und Heraklit. Darstellungen des lachenden und des weinenden Philosophen fanden
sidl in den Palästen der Christine von Schweden und des Philipp von Orleans. Eine
Hochflut soldler Bildnispaare ergoß sich nach 1600 über die Niederlande, beginnend in
Amsterdam und Haarlem, später vor allem in Utredlt. Das Motiv blieb das ganze sieb-
zehnte Jahrhundert hindurch außerordentlich beliebt in den Niederlanden: einerseits,
134 Gert Schiff
weil es den Malern Gelegenheit zur Darstellung heftiger Affekte bot, andererseits, weil
es sich der das Zeitgefühl durchwaltenden Vanitas-Stimmung einfügte. Jefferson hatte
in seinem drawing room in Monticello ein dem Ribera zugeschriebenes Gemälde von
»Heraklit und Demokrit, weinend und lachend und die Welt untereinander auftei-
lend«. Das späteste mir bekannte Beispiel in Europa ist Maulbertschs Alterswerk, das in
Ikonographie und Stil vom Geiste der Aufklärung geprägte De<kenfresko Allegorie der
Wissenschaften im Kloster Strahov bei Prag, 1794 15.
Ich habe für unseren Zusammenhang Beispiele von Rubens und Terbrugghen ausge-
wählt.
Rubens wurde im März 1603 von Vincenzo Gonzaga, Herzog von Mantua, mit einer
Gesandtschaft nach Spanien geschi<kt, um dem Herzog von Lerma, Premierminister des
Königs Philipp III., kostbare Gemälde und edle Pferde als Geschenke zu überbringen.
Während des Transportes gingen ein Kopf des Apostels Johannes von Raphael und eine
kleine Madonna verloren. Um den Verlust wettzumachen, malte Rubens ein Gemälde
von Demokrit und Heraklit, das im 17. Jahrhundert entzweigeschnitten wurde 16 • Die
beiden Hälften (Abbildungen 1 und 2) hängen heute gesondert im Prado. Solche Tren-
nungen einer ursprünglich kompositionellen Einheit gehen nicht ohne Gewaltsamkeit
ab: betrachtet man den weinenden Heraklit allein, so ist schwer auszumachen, worauf
er seinen rechten Ellbogen stützt. Höchstwahrscheinlich stützt er ihn auf die Weltkugel,
dieja-als symbolischer Anlaß für die Heiterkeit des einen und den Jammer des ande-
ren - beiden zugehört haben muß 17.
Die Darstellung des Rubens ist von großer, im Falle des Heraklit geradezu bestürzen-
der menschlicher Unmittelbarkeit. Die beiden Philosophen sind wie heilige Anachore-
ten, in Kutten gekleidet in einer Felsenhöhle wiedergegeben. Jede Einzelheit ihrer Hal-
tung bekundet ihre gegensätzliche Seelenlage. Demokrit sitzt gelassen mit gekreuzten
Beinen, leicht über den Globus geneigt, den er mit der Rechten umfaßt, während er mit
dem Zeigefinger der Linken auf ihn deutet. Die Gebärde der Rechten ist nicht eigentlich
besitzergreifend: so umfaßt man etwas, was einem schon gehört, auf dessen Besitz man
aber nicht einmal sonderlich Wert legt. Die deutende Geste scheint zusammen mit dem
Bli<k zu sagen: »Seht doch her, der ganze Schwindelliegt doch sonnenklar zutage!« Der
Kopf hat das gedunsene Fleisch des weinfrohen Epikuräers; schon früh haben sid!. Züge
der Sd!.ule, die ihn sich als Vorbild erkor, in das Bild des Philosophen gemischt. Die
Nase und die Lippen sind unerhört fleischig und sinnlich. Selbst das die kahle Stirn um-
rahmende Haar scheint irgendwie fröhlich-windbewegt. Aber die Augen lachen aus
unermeßlid!.er Tiefe des Wissens.
Die Haltung des Heraklit ist gequält. Schon die Beine und Füße winden sich unsicher,
wie haltsuchend, umeinander. Die Finger der Linken krampfen sich in die Ellenbeuge
des rechten Armes. Die Rechte preßt ein Taschentuch gegen die Wange, die sich dadurd!.
wulstig verzerrt; solcher Realismus mag grob ersd!.einen, aber die Bewegung der verzo-
genen Wange wird großartig von der Wallung des Bartes aufgenommen. Unaufhörlich
entquellen Tränen dem Auge. Dieses Gesicht ist von feinerer Bauart als dasjenige des
Demokrit. über den im Weinen hochgezogenen Brauen kündet das Lineament der Stirn
von jener Wehrlosigkeit, die schon Seneca als Grundzug von Heraklits Charakter aus-
gab. Zu widerstandslos ist solche Sensibilität allem auf sie eindringenden Elend geöff-
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 135
net; das nicht gepreßte, weitoffene linke Auge drückt ein ohnmächtiges Es-nicht-
glauben-Können, Es-nicht-glauben-Wollen aus.
Die Gemälde von Hendrick Terbrugghen sind fünfundzwanzig Jahre später entstan-
(Abbildungen 3 und 4) ts. Gegenüber dem Rubens fällt auf, daß Demokrit hier als ein
viel jüngerer Mann dargestellt ist. Diese Neuerung ist von den Holländern eingeführt
worden; in der Kunst wie im Leben wird ja Lachen gemeinhin mit Jugend assoziiert.
Im Rijksmuseum hängen sie anders, als sie hier abgebildet sind: Demokrit links, Hera-
klit rechts. Die Auffassung, daß sie einander den Rücken zukehrten, ist von Weisbach in
die Literatur eingeführt worden; Wind sowie Nicholson in seiner Terbrugghen-Mono-
graphie sind ihm gefolgt. Erst Blankert, der Verfasser der gründlichsten Studie über das
Philosophenpaar, hat in überzeugender Weise dargelegt, daß die beiden Bildnisse dia-
logisch aufeinander bezogen sind. Dies wird auch durch die beiden gemeinsame Licht-
führung bestätigt. Nur wenn wir sehen, wie Heraklit sich gerade eifernd dem Demokrit
zuwendet, während dieser sich beinahe hohnvoll von ihm abkehrt, wird der Gegensatz
der Weltanschauungen in den zusammengehörigen Bildern zum akuten persönlichen
Konflikt.
Heraklit stützt sich auf einen Erdglobus, Demokrit auf einen Himmelsglobus. Das
könnte man so auffassen, als hätte der lachende Philosoph sich von der Erdenschwere
gelöst und in eine freiere, heiterere Sphäre aufgeschwungen, während der weinende
eben durch sein Leiden an der Welt dieser verhaftet bliebe. Dann hätte der Maler deut-
lich dem Demokrit den Vorzug gegeben 19 • Allein Nicholson schreibt, das Terbrugghen
in seiner tiefverwurzelten Melancholie, ein Jahr vor seinem frühen Tod, sich aller
Wahrscheinlichkeit nach dem traurigen alten Mann tiefer verwandt gefühlt haben
müsse als dem unbekümmerten jungen 20 • Blankert bietet zwei andere Deutungsmög-
lichkeiten. Diogenes Laertius zufolge habe Heraklit nur über die Erde geschrieben, er
spreche nicht darüber, was der Luftraum oder der Himmel seien. Demokrit hingegen
habe die Meinung vertreten, daß das Universum unendlich sei, und er habe Bücher
geschrieben mit Titeln wie Der große (oder Der kleine) Diakosmos und Die Kosmo-
graphie. Schließlich weist Blankert auch darauf hin, daß die Erdkugel ein Attribut der
Melancholie sei: sie ist dem Saturn, dem Herrn der Melancholie, zugeordnet, der als
»agraricus<< die Erde messen muß.
Daß Heraklit mit der Rechten seinen Kopf stützt, ist eine sehr alte Symbolgebärde
sowohl für Traurigkeit als auch für schöpferische Versenkung; zwar ist sie dem moder-
nen Beschauer nicht unmittelbar einsichtig, doch war sie den Kunstfreunden des sieb-
zehnten Jahrhunderts ohne weiteres kenntlich und findet sich in der Tat in vielen Dar-
stellungen des Heraklit, wie ja auch in derjenigen des Rubens. Die Gebärde der Linken
ist von van Mander als Trauergestus beschrieben. Sie teilt sich in ihrem Gehalt unfehl-
bar mit: schlaff wird diese Hand im nächsten Augenblick niederfallen, im Ausdruck
völliger Mutlosigkeit, allumfassender Verneinung. Ein neuer Ausbruch des Weinens
wird folgen, um den offenen Mund zuckt es bereits, schmerzlich ziehen sich die Brauen
zusammen.
Soviel - in seiner Sicht - törichtes Schwernehmen, nutzloses Es-sich-Schwermachen ver-
trägt der jüngere Demokrit einfach nicht. Er verdreht die Augen, als wolle er einem un-
sichtbaren Zeugen (dem Beschauer) das ganze Ausmaß von des anderen Torheit andeu-
136 Gert Schiff
ten, und lacht lauthals auf. Seine Zeigegebärde bedeutet, wie Blankert erkannt hat,
amüsierte Geringschätzung- »es ist nicht wert, den Finger auszustrecken« -; sie ist ein
traditionelles Attribut der Spötter und findet sich im siebzehnten Jahrhundert vor-
nehmlich an Terrakottafiguren von Narren.
2. Lachen
Das Lachen bedeutet in Mythos und Ritual den Beginn oder Wiederbeginn des Lebens.
Göttergeburt und Weltschöpfung werden in orphischen Texten gelegentlich aus dem
Lachen der höchsten Gottheit hergeleitet (die Erschaffung des Menschen aus ihrem Wei-
nen). Bei der Frühlingsfeier der Dädalien in Platäa lacht die Priesterin, welche die Göt-
tin Hera vertritt, zum Zeichen der Erneuerung der Natur. Diejenigen, welche in das
unterirdische Orakel des Trophonios hinabgestiegen waren, lachten, wenn ihnen das
Bewußtsein wiederkehrte und zeigten so, daß sie den Schauder überwunden hatten.
Beim römischen Luperkalienfeste wurden zwei Jünglinge von den Priestern mit dem
blutigen Opfermesser an der Stirn berührt, also symbolisch geopfert; dann wurde ihnen
das Blut mit Milch, der Kindernahrung, abgewaschen, und sie mußten ihre »Wiederge-
burt« mit lautem Lachen besiegeln. Zoroaster soll schon im Augenblick seiner Geburt
gelacht haben 1 • Vergil ruft in seiner vierten Ekloge das göttliche Kind, welches Natur
und Menschenwelt zu ungeahnter Vollkommenheit führen soll, an, »mit Lachen die
Mutter zu kennen«: sein Lächeln ist der »Lichtstrahl ..., mit dem der erwachende Geist
die Welt begrüßt, der Glanz, der die Erscheinung des Menschlichen, das ein Bruder des
Himmlischen ist, anzeigt«. 2
Etwas von diesem Glanze finde ich auch in dem Lachen der Bambina ridente (Abb. 5),
einem Werk des italienischen Bildhauers Medardo Rosso. Dieser von des .i\.lteren Ruhm
verdunkelte Zeitgenosse Rodins hat die Bildhauerei, dem allgemeinen Urteil zufolge,
weit über die ihr gezogenen Grenzen hinausgeführt, oder sogar ihrem Wesen entfrem-
det. Er hat in seinem bevorzugten Material, dem Wachs, nicht gegen die Umwelt abge-
schlossene Standbilder und Büsten geschaffen, sondern atmosphäreumflossene Figuren,
Gestalten im Halbschatten, von einem Schleier verhüllte und verwischte Gesichtszüge,
Menschen im schon verwehenden Ausdruck einer flüchtig, wie im Vorbeigehen wahrge-
nommenen, momentanen Regung. Und hier ist es ihm gelungen, in einer nicht weniger
momentanen Ausdrucksstudie das Wesen des Kindesalters darzustellen. Was aus diesem
kleinen Mädchen hervorquillt, ist weit mehr als die durch jeden geringsten Anlaß ange-
stachelte kindliche Lachlust: es ist jenes unendliche Glück der Erwartung, jenes instink-
tive Vorausahnen, welches das ganze Leben traumhaft vor sich sieht, voller und beseli-
gender vielleicht, als es später je sein kann s.
Nur im Antlitz von Kindern oder in den Bildwerken früher Kulturen findet sich dieses
Lachen als Ausdruck eines ernsten beseligten Innewerdens des eigenen Ichs in einer noch
unbegrenzt verheißungsvollen Welt. Inmitten der düsteren, von Tod und Blutopfer ge-
prägten Kunst des alten Mexiko stehen als bezauberndes Einsprengsel die sogenannten
Lächelnden Figuren aus der am Golf von Mexiko gelegenen Region um das Dorf
Remojadas im heutigen Veracruz '·Sie sind erst in den Jahren nach 1950 aufgefunden
worden. Sie stammen aus der Zeit von 300 bis 900 n. Chr. Das Volk, das diese Figuren
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 137
in einem nie versiegenden Strom liebenswürdigster Erfindung geschaffen hat, war nicht
so bedeutungsvoll wie die Maya oder die ernsten und schwerblütigen Menschen der
Teotihuacan-Kultur, obgleich es von beiden mythologischen Anregungen aufgenommen
hat. Es hat keine Literatur, keine Tempel und keine von unerbittlichen Priestern be-
herrschte Religion geschaffen; nur diese Bildwerke als Ausdrudt eines allem Anschein
nach glüdtlich in seinen einfachen Konventionen verankerten Lebens. Das Lächeln -
eigentlich ist es ein Lachen - als Kennzeichnen dieser in verschiedensten Haltungen und
Kostümen wiedergegebenen Figuren hat zu mehreren Deutungen Anlaß gegeben.
Unser Beispiel aus der Sammlung des Museum of Primitive Art in New York (Abb. 6)
ist auf Grund der erhobenen Arme und der von der Linken gehaltenen Rassel als Bild
eines Tänzers aufzufassen. Von dem mexikanischen Archäologen Medellfn Zenil
stammt die Meinung, die Lächelnden Figuren seien Darstellungen des Xochipilli, des
Gottes des Tanzes, der Musik und der Freude. Einer anderen Ansicht zufolge stellen sie
die zum Opfertod bestimmten Männerund Frauen dar, welche im Ritual bestimmte
Götter verkörpern; da ihre freudige Todesbereitschaft, ihr Singen und Tanzen und La-
chen vor dem Blutaltar für die lebenserneuernde Opferhandlung entscheidend waren,
gab man ihnen Drogen, die sie in Euphorie versetzten s. So bestechend diese Deutung
auch sein mag, man bevorzugt doch die Auffassung eines der hingebungsvollsten
Sammlers und Erforschung dieser Figuren, William Spratling, der in ihnen nichts ande-
res sieht als Abbilder ihrer Schöpfer, dieser kindlichen, selbstgenügsamen, menschlich
warmen und glüdtlichen Geschöpfe; für Spratling sind diese Figuren frei von religiöser
Bedeutung, nur »Zum Hausgebrauch« bestimmt gewesen und einzig und allein aus der
Sphäre des Alltagslebens erwachsen. Ihr Lächeln oder besser Lachen erscheint in dieser
Deutung als Ausdrudt reiner Vitalität und Lebensfreude.
Wollte man Das Lachen, ein Hauptwerk des italienischen Futuristen Umberto Boccioni
aus dem Jahre 1911 (Abb. 7) rein inhaltlich beschreiben, so müßte man etwa sagen:
Man sieht in einem Nachtcafe fünf Personen, zwei Frauen und drei Männer, an einem
Tisch. Eine Blondine, welche dem Beschauer den Rüdten zukehrt, erzählt eine Geschich-
te, der die beiden Herren zu ihrer Rechten äußerst amüsiert zuhören, während sie den
Kahlköpfigen links eher zu verstimmen scheint. In der üppigen Rothaarigen, die ihr
gegenübersitzt, löst das Erzählte jedoch einen Lachanfall aus, dem das Bild seinen Na-
men verdankt. Sie wirft den Kopf zurüdt und verdreht selig, als ob sie »es« nicht glau-
ben könnte, die Augen. Im Hintergrund sieht man eine Reihe von weiteren, besetzten
und unbesetzten Tischen, über die eine große Zahl von Lampen ein scheinwerferartig
gleißendes Licht ergießt.
Doch eine solche Beschreibung trifft nicht das Wesen der Darstellung. Boccioni selbst
erklärt seine künstlerische Absicht in der unvermeidlich verklausulierten Sprache aller
Manifeste von jungen künstlerischen Bewegungen:
»Unser Technisches Manifest« (1910) sagte: »Der Gestus wird für uns nicht mehr ein
aus dem universalen Dynamismus herausgelöster Moment sein, sondern mit aller Ent-
schiedenheit die dynamische Empfindung, verewigt als solche.« ... Demnach (wollen
wir) die simultane Form geben, wie sie aus dem Drama zwischen dem Objekt und seiner
Umgebung entspringt. Auf diese Weise gelangen wir zur Zerstörung des Gegenstandes
und der ähnlichen Darstellung«. 6 Das hat für die Menschendarstellung im Futurismus
138 Gert Schiff
zur Folge, daß die Gestalten in jener »Gegenstandsbindung« wiedergegeben sind, »in
der nimt Subjekt und Objekt sim gegenüberstehen, sondern Mensm und Welt einander
durmdringen.« 7 Genau das hat Boccioni in unserem Bild zu verwirktimen gesumt.
Versumen wir also, das Dargestellte im Limte dieses formalen Prinzips genauer zu be-
schreiben. Das Zentrum oder das »Drama« ist hier der Dialog zwismen der animiert er-
zählenden Blonden und ihrem lachenden Gegenüber. Von der Erzählerin sehen wir
nimt das Gesimt, sondern nur das reiche, in Wellen über die Stuhllehne hinabquellende
Haar. Sie hat ihre beiden, aus plissierten Krmeln hinausragenden Unterarme auf die
Tismplatte gestützt. Die eleganten, mit funkelnden Brilliantringen besteckten Finger
besmreiben typische Erzählgesten. Dom an vielen Stellen ist die Kohärenz der Gestalt
durmbrodJ.en, die Integrität ihres Volumens zerstört. Die Tismkanten laufen durch sie
hindurm. Ein Compotier und kubistisch behandelte Gläser, die man sich als auf dem
Tisme befindlim vorstellen muß, dringen in sie ein. Unten links sind ihr Rücken und die
Stuhllehne keilhaftvon einem Fragment der männlimen Figur durmschnitten. Allein
am stärksten sind Kohärenz und Erkennbarkeit der Gestalt bedroht durch einen ihr
aufgelegten, smeinbar gegenstandsunabhängigen, geometrischen Überbau. Im Lot zur
Tismkante läuft eine Senkredite durch sie hindurm (sie entspricht der Mittelachse des
Bildes). An dieser sind zwei einander durmdringende Halbkreisformen aufgereiht,
welche blau in das Blond und Rot der Gestalt einschneiden. Das so entstehende Muster
wiederholt in größerem Maßstab die kubistische Stilisierung der Gläser mit ihren in die
Flädle geklappten, kreisförmigen Mündern und Füßen. Aum darin äußert sich das Be-
streben des Malers, die figuren und ihre Umgebung als dynamisch ineinander ver-
smränkte Einheit darzustellen. Der volle Sinn dieser geometrismen Figuraüon enthüllt
sim jedom erst, wenn wir erkennen, daß ihre blaue Farbe sich genau gleich am Kleid
der Lachenden findet - um ganz präzis zu sein, am Decollete, womit eine neue Bezie-
hung zwismen den blauen Halbkreisen und der Kugelform ihrer Brüste hergestellt ist.
ßin beträchtlicher Teil von der blau gekleideten Körpermasse der Lachenden ist dem-
nach in den Leib ihres Gegenübers verschränkt. Man mag das Mittel grob finden, aber
es erfülltdomseinen Zweck, zu zeigen, wie diese beiden Frauen durch die gemeinsame
Heiterkeit geeint sind, wie ihre Sphären einander buchstäblich durchdringen. Aber das
ist nur eines und das am ehesten in die Augen springende Element der hier geschaffenen
futuristischen Simultaneität. Am Ende erkennt man, daß in dieser Komposition wirk-
lim alles mit allem in Beziehung steht. Die Lichtbahnen brechen in die Gestalten ein, am
gehäuftesten remts neben dem Kopf der Lachenden, wo das Gesicht des einen, befrack-
ten und belustigten Partners ersmeint; von denselben Strahlen durmteilt wie die
Frauen, ist auch er auf das sinnfälligste mit ihnen vereint. Wie verwackelte photogra-
phische Aufnahmen ersmeinen die Gestalten der Männer im Vordergrund. Der Remte,
der seinen Kopf aufstützt, scheint von den Strömen der alkoholisch angeheizten, von
Flirts und Intrigen schwirrenden Atmosphäre durmweht; dem Linken, der seinen Arm
von der Stuhllehne herabhängen läßt, smeinen Unmutsblasen aus dem Gehirn aufzu-
steigen. Aum sie·sind kompositionell mit den übrigen Figuren verbunden. Notieren wir
noch aus der Fülle der witzigen Gegenstandsverkoppelungen über dem Herrn auf der
remten Seite das Profil einer Frau, die ihre Zigarette an dem vom Finger der Erzählen-
den ausgehenden Brillantenfeuer anzuzünden smeint.
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 139
Gehirn. Nun, Hogarths drei griesgrämige Fagottspieler- verkörpern sie nicht in dem
Parallelismus ihrer erzwungenen Mimik genau jene Lebendigkeit, die zugleich den Ein-
druck eines gewissen Mechanismus macht? Das gleiche läßt sich von dem degoutierten
Kritiker in der hintersten Reihe sagen. Einzig die Kavaliere, die mit den Fruchtverkäu-
ferinnen flirten, sowie die Fruchtverkäuferin, die der Rivalin den Käufer abspenstig
machen will, verhalten sich flexibel und spontan.
Max Beckmanns jugendliches Selbstportrait, lachend von 1910 (Abb. 9) gemahnt uns
gleichfalls an eine Erfahrungsweise des Komischen, freilich in einem dem Bergsonschen
entgegengesetzten Sinn. »Komik gehört der Ebene an ..., in der sich der Mensch als sol-
cher und im Ganzen in der Welt und gegen die Welt behauptet.« 10 Der junge Maler, der
sich hier, sehr korrekt in dunkler Kleidung und Eckenkragen mit einer Zeitung präsen-
tiert, war damals schon recht bekannt: seit er mit den Jungen Männern am Meer von
1905 den Villa-Romana-Preis gewonnen hatte, galt er als eine der vielversprechendsten
Begabungen. Unaufhaltsam trieb es ihn aus den ausgefahrenen Bahnen des Realismus
oder des Impressionismus Corinth-Liebermannscher Prägung zur Expression und zum
Experiment. Hier lacht er natürlich über eine Kritik. Man könnte über diese Selbstdar-
stellung sagen, was Goncourt über Marie-Joseph Chenier gesagt hat: »Sarcastique plus
que mechant, montrant les dents pour mieux rire.« u Sicher ist dieses Selbstbildnis, wie
jede Demonstration künstlerischer Unabhängigkeit vom öffentlichen Urteil, nicht ganz
frei von Ostentation. Für die empfindliche Selbstkritik eines bedeutenden Künstlers be-
deutet jeder Einwand, jede seinem Kunstwollen entgegenlaufende Zeitströmung eine
Gefahr, vor allem, wenn er sich noch im Stadium des Suchens befindet. Allein
Beckmanns Tagebücher aus diesen Jahren machen deutlich, daß er die Kraft hatte, sol-
chen Gefahren gegenüber die Freiheit des Abstandes zu wahren und so dürfen wir ihm
glauben, daß er in diesem Fall das gedruckte Kunsturteil wirklich komisch fand.
Ich habe das Gemälde des flämisch beeinflußten Venezianers Niccolo Frangipane, Vier
Personen lachend beim Anblick einer Katze (Abb. 10), als Illustration der Freudschen
Theorie des Witzes ausgewählt. »Humor, Komik, Witz sind für Freud Lustquellen,
weil sie dem Menschen psychischen Aufwand ersparen. Für gewöhnlich legt unsere ge-
sellschaftliche Erziehung uns Hemmungen, Einengungen und Verdrängungen auf. Wer-
den sie uns erspart, so empfinden wir, daß eine Last von uns genommen ist.« »Der ob-
szöne Witz ruft wahre Ausbrüche befreit-befreienden Lachens hervor ... Er umgeht
die Hemmung und schafft die Möglichkeit, ... die Unanständigkeit, an die man nicht
rühren darf, verhüllt sichtbar zu machen.« 1a
Nun bezeichnet das Lachen der beiden lüsternen Paare beim Anblick der Katze sicher
keine besondere Höhe der »witzigen Technik der verschwiegenen Sinnverwandlung
und heimlichen Sinnüberschneidung«. 14 Die Gleichsetzung des Tieres mit dem unaus-
sprechlichen Zentrum der Lust ist Gemeingut vieler Sprachen. Aber sie wird eben doch
nur im Bereich der Sprache vollzogen; und selbstverständlich setzt die hier dargestellte
Szene eine unmittelbar vorher gefallene, derb-witzige Anspielung voraus. Diese wird
dem Beschauer nicht mitgeteilt, er kann sie auch nicht aus dem Dargestellten erraten.
Nur der unschuldige Gegenstand der Anspielung wird ihm vor Augen geführt und er-
laubt ihm den Schluß auf die Natur und Zielrichtung des Witzes. Die Darstellung
impliziert somit etwas, was Plessner unter die eigentlichen auslösenden Momente des
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 141
3. Weinen
Plessners Bemerkung, daß Lachen sich immer noch leichter hervorrufen lasse als Wei-
nen 1, erinnert mich an einige der inspiriertesten Seiten deutscher humoristischer Prosa,
einen Abschnitt aus dem ersten Kapitel von Jean Pauls Flegeljahren. Die Szene ist eine
Testamentseröffnung; der reiche, kinderlose Erblasser van der Kabel hat seinen sieben
weitläufig Verwandten, da er aus ihrem eigenen Mund wisse, daß sie seine geringe Per-
son lieber hätten als sein großes Vermögen, nichts vermacht, ausgenommen sein Haus,
das demjenigen »anfallen und zugehören soll, welcher in einer halben Stunde (von der
Vorlesung der Klausel aus gerechnet) früher als die übrigen sechs Nebenbuhler eine
oder ein paar Tränen über mich, seinen dahingegangenen Onkel, vergießen kann vor
einem löblichen Magistrate, der es protokolliert.«
Das folgende kommt einem Lehrgang in willkürlicher Erzeugung des Weinens gleich.
So durchgeht einer der Präsumptiverben, ein Buchhändler, »flüchtig alles Rührende,
was er teils im Verlage hatte, teils in Kommission.<< Ein anderer »suchte dadurch etwas
Passendes in die Augen zu treiben, daß er mit ihnen sehr starr und weit offen blickte.<<
Der einzige Ehrliche besieht lachend alle Ernsten und schwört, er sei nicht imstande, bei
einem solchen Spaß zu weinen. Das trägt ihm von Seiten eines Rivalen, einem Polizei-
inspektor, die Verdächtigung ein, er wolle arglistigerweise »durch Gelächter ... die
begehrten Tropfen erpressen<<; aber er versichert, er »lache nur zum Spaß, nicht aus ern-
142 Gert Schiff
sten Absidlten.« Ein •Kirchenrat, der seine Natur kannte aus Neujahrs- und Leichen-
predigten, und der gewiß wußte, daß er sich selber zuerst erweiche, sofern er nur an
andere Erweichungspredigten halte«, sagte Dinge wie: •Ü Kabel, mein Kabel ... einst,
wenn neben deine mit Erde bedeckte Brust voll Liebe auch die meinige zum Vermod«-
Doch der Frühprediger Flachs hat sich in der Eile »Kabels Wohltaten und die schlechten
Röcke und grauen Haare seiner Zuhörerinnen des Frühgottesdienstes, den Lazarus mit
seinen Hunden und seinen eigenen langen Sarg (vorgehalten), ferner das Köpfen so
mancher Menschen, Werthers Leiden, ein kleines Schlachtfeld und sich selber, wie er sich
da so erbärmlich um den Testamentsartikel in seinen jungen Jahren abquäle und ab-
ringe- noch drei Stöße hatt' er zu tun mit dem Pumpenstiefel, so hatte er sein Wasser
und Haus.«
Ein realeres und in gewissen Sinne ehrwürdigeres Beispiel für das willkürliche Hervor-
rufen des Weinens bieten die Klagefrauen. Weniger heuchlerisch und infolgedessen wir-
kungssicherer als die van der Kabelsehen Erben, haben sie mit diesen dennoch das Eine
gemein, daß sie sich vermutlich durch alles mögliche zum Weinen anreizen, nur nicht
durch Trauer um denjenigen, dessen Tod sie beweinen sollen. Der Verstorbene, zu des-
sen Bestattung sie als geschulte Virtuosen die Begleitmusik des Jammers beisteuern, geht
sie ja meistens gar nichts an. Bestenfalls haben sie ihn als guten Herrscher verehrt, als
große Persönlichkeit bewundert, oder als Bekannten geschätzt; aber selbst dann trifft
sein Tod sie doch nicht mit dem tief einschneidenden Schmerz eines persönlichen Ver-
lustes. Außerdem lamentieren sie ja genauso heftig bei der Bestattung von unbekann-
ten, unbedeutenden oder sogar unbeliebten Personen. Wenn es ihnen trotz alledem je-
desmal gelingt, im Verlauf der Zeremonie in wahre Paroxysmen des Schluchzens zu
fallen, so wird dies wahrscheinlich durch drei Faktoren ermöglicht: einmal durch das
aus allen Manifestationen von Massenhysterie bekannte infektiöse Moment, zum
anderen durch ein Gefühl der Erhobenheit durch die rituell geheiligte Aufgabe, schließ-
lich durch die Identifikation mit den wirklich Trauernden: daß, was den Anderen
schmerzt, einem selbst widerfahren könne, ist ja nach Freuds Vermutung vielleicht die
Quelle jeglichen »Mitleids«.
Die rituelle Totenklage ist wohl beinah so alt wie die Menschheit. In Ägypten wurde sie
seit frühesten Zeiten geübt, doch erst in der Grabkunst des Neuen Reiches finden wir sie
bildlich dargestellt. Betrachten wir zwei Ausschnitte aus einem der vornehmsten Bei-
spiele, den Wandmalereien im Grabe des Ramose, einem Wesir und Stadtgouverneur
von Theben aus der Zeit des Amenophis IV 2 • An der Südwand der prächtigen Grab-
halle ist in zwei übereinanderliegenden Streifen der Leichenzug in Richtung auf die Tür
zur Grabkammer wiedergegeben. Im unteren Streifen sehen wir eine Gruppe von kla-
genden Frauen (Abb. 12). Sie sind dem Sarg vorausgelaufen und haben sich umge-
wandt, um ihre Klagen an den Toten selbst zu richten; nur eine, die in der Masse fast
verschwindet, steht in der Richtung des Zuges. Die Frauen tragen lose herabhängende,
transparente Gewänder, die bei einigen Schultern und Brust freilassen; die meisten sind
jung, sogar ein Kind hat sich nackt unter die Klagenden gemischt. In die Gesichter jeder
einzelnen sind Tränen eingezeichnet, beinah zum ersten Mal in der ägyptischen, ja in
der Geschichte der Kunst überhaupt; nur in den Malereien eines etwas früheren Grabes
der gleichen thebanischen Nekropole finden sich ebenfalls Andeutungen von Tränen.
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 143
Aber die Klagegebärden sind eigentümlich stereotyp, fast oberflächlich, auch diejenigen
der schlaffbrüstigen älteren Frau, die von einem jungen Mädchen gehalten wird. Sie ist
offensichtlich die Witwe. Sollen wir mit Davies annehmen, sie wolle sich den Anschein
geben, als fürchte sie von ihrem Schmerz überwältigt und ohnmächtig zu werden? 3
Solch eine psychologisierende Deutung verkennt wohl den formalisierten Charakter
dieser Kunst. Die ritualistische Gleichförmigkeit der Klagegebärden macht vielmehr
deutlich, daß es sich bei der Mehrzahl der Dargestellten um Untergebene des Verstor-
benen handelt, die hier die Rolle gewerblicher Klageweiber übernehmen. Die Inschrift
über der Gruppe gibt den Text ihrer Klage wieder:
Seine Leute von seinem Gute,
sie sagen:
Der große Hirte ist dahingegangen,
vorbei zieht er an uns.
Komm, daß Du uns sehest! 4
Dem Verstorbenen wird also seine Fürsorge für das Wohl der Stadt bestätigt, und dies
soll von ihm bemerkt werden. Im ägyptischen Totenglauben diente die Klage um den
Toten seinem Wohlergehen im Jenseits, sie nährte, befriedigte und verklärte seine
Seele 5•
An einer anderen Stelle in diesem Streifen, näher an der Grabkammer, sehen wir die
gleichen Klagenden, vermehrt um weitere, in einer anderen Phase des Zeremoniells
(Abb. 13). Zuvorderst, vor den hochgeschichteten Grabbeigaben, stehen vier, die sich
mit den Fingern die Lippen schlagen, um einen bestimmten heulenden, rhythmisch-
langgezogenen Klagelaut hervorzubringen. Hinter ihnen vier Geschürzte, von denen
sich zwei die Brüste schlagen; die beiden anderen halten mit der Linken ein Gefäß, mit
der Rechten einen seltsamen Gegenstand, vielleicht ein Messer. Vertreten sie, nach der
Vermutung von Werbroulk 6, jene Frauen, die sich in einem viel älteren Ritual wirklich
das Fleisch aufschnitten und ihr Blut den Toten zum Opfer brachten?
In der umfangreichsten Mittelgruppe weinen nur die beiden vordersten Frauen mit
sichtbaren Tränen, die eine mit erhobenen Händen, die andere indem sie sich Asche aufs
Haupt streut. Die übrigen verharren in einer ristualistisch starren Haltung, die rechte
Hand auf den linken Oberarm gelegt. So werden Isis und Nephthys bei der Klage um
Osiris dargestellt 7 •
Hinter diesen sehen wir eine Fünfer- und eine Vierergruppe von Knieenden, die sich in
anmutsvoller Haltung Asche auf das üppige schwarze Haar streuen. Auch ihre Gesich-
ter sind tränenüberströmt. So zeigt dieser ganze Darstellungskomplex, wie sehr das
Ritual den Menschen zur willkürlichen Erzeugung von Tränen befähigt.
»Die erste Gruppe des gespannten Weinens« soll hier durch Picassos La femme qui
pleure von 1937 (Abb. 14) exemplifiziert werden. Das Thema der weinenden Frau ist
von Picasso im Zusammenhang der Vorstudien für Guernica in mühevollem Ringen
um äußerste Prägnanz und Schlagkraft des Ausdrulks immer wieder abgewandelt wor-
den. Auch unser Beispiel ist formal und inhaltlich aus dem Umkreis von Guernica er-
wachsen. Erkennen wir in diesem monumentalen Gemälde die stärkste Anklage des
Krieges und des durch ihn verschuldeten kollektiven Elends, so dürfen wir in dem klei-
144 Gert Schiff
nen Bild der weinenden Frau die erschütterndste Darstellung persönlichen Leids sehen.
Die Herkunft des Motivs aus dem Umkreis von Guernica deutet darauf hin, daß es sich
auch hier um die Verzweiflung über die Tötung engster Anverwandte handelt, um den
untröstlichen Schmerz der Frau über den Verlust von Mann, Sohn oder Kind. Dies be-
deutet mehr für unser Verstehen als die Tatsache, daß Picasso hier von der Erschei-
nung Dora Maars, seiner seelisch belasteten Gefährtin dieser Jahre, ausgegangen ist.
Mit welchen Mitteln erzielt Picasso diese schlechthin unübertreffliche Darstellung des
Weinens, das ,.gegen eine verkrampft gestaute Spannung ... gewaltsam ausgelöst wird
und als großer Ausbruch erfolgt?« s Er entwirft den Kopf einer Frau, welche die
Rechte gegen ihre rechte Wange preßt und mit der Linken das Taschentuch hält, in das
sie sich verbissen hat. Dabei schreibt er beide Hände mitsamt dem Taschentuch derge-
stalt in eine der bei ihm geläufigen Vereinigungen von Profil- und Frontalansicht ein,
daß Gesicht und Hände sowie deren stark deformierte Binnenformen sich zu einer
blockhaft geschlossenen Ausdruduhieroglyphe verbinden. Das Bild wirkt mit seinen
wuchtigen schwarzen Umrißlinien weniger malerisch als graphisch: holzschnitthaft.
Wenige Farben sind zu einem äußerst lauten, dissonanten Klang zusammengeschlossen:
Rot und Blau in dem Hut (der an Rilkes ,.billige Winterhüte des Schicksals« gemahnt),
Weiß mit blauschwarzen Konturen in der zentralen unteren Gesichtshälfte mit dem ins
Taschentuch beißenden Mund, Gelbgrün mit violetten Akzenten in den restlichen
Partien des Gesichts. Das Haar ist aus schwarzen, grünen und blau-violetten Strähnen
zusammengesetzt. Der Hintergrund ist orangefarben. In der Kombination von Profil
und Vorderansicht bedient Picasso sich jener Formel, bei welcher an eine korrekt im
Rechtsprofil wiedergegebene Kinn-Mundpartie eine von vorn gesehene, aber aperspek-
tivisch in die Fläche gebreitete Nase anschließt. Mitten auf der Trennungslinie, welche
die Nasenflügel mit den geometrisierten Nasenlöchern gegeneinander abgrenzt, plaziert
er das linke Auge; das rechte erscheint, wie gewöhnlich etwas tiefer, auf der Schläfe.
Die Einbuchtung unter der unanatomisch weit vorkragenden Nase wird durch die
Hand mit dem Taschentuch gefüllt, jene den Nasenrücken vertretende Trennungslinie
setzt sich geradewegs in den Umrissen von Fingern und Fingernägeln fort. Der
zuckende Mund, der die das Taschentuch zerbeißenden Zähne freilegt, wirkt als einzige
völlig realistische Partie doppelt stark. Die Vehemenz seines Ausdrucks läßt uns zu-
nächst übersehen, daß er mitten in eine quasikubistische, wechselseitige Durchdringung
von Kinnpartie und gegen die Wange gepreßter Hand eingeschrieben ist. Das gekerbte
Kinn vertritt dabei gleichsam die Ballen unter den Fingern.
Diese Hand ist ferner- Nachhall der kubistischen ,.Facetten«- von gegenstands-unab-
hängigen Geraden gerahmt und durchschnitten, welche den Rhythmus der getäfelten
Hintergrundswand aufnehmen. Drei solcherart gerahmte Finger stoßen so hart auf das
von Tränen überfließende Auge, daß man die Formen der Fingernägel in einer für
Picasso typischen Doppelbedeutung zugleich als Tränen lesen könnte; der Zackenrhyth-
mus, der zur linken Gesichtshälfte hinüberleitet, führt ja in der Tat zu einer gleicharti-
gen Form, die hier ausschließlich eine Träne darstellt. Mehr noch, unter völligem Ver-
gessen alles anatomischen Wissens ist man versucht zu glauben, diese gleichsam in das
Innere des Gesichts versetzten Finger wären in Wirklichkeit die ,.Kanäle«, welche den
unaufhörlichen Tränenfluß speisen. In der Behandlung der Augen erkenne ich den
1 Peter Paul Rubens: 2 Peter Paul Rubens:
Demokrit. 1603. Madrid, Prado. Heraklit. 1603. Madrid, Prado.
3 Hendrick Terbrugghen: Heraklit. 1628. Amsterdam, Rijksmuseum.
4 Hendrick Terbrugghen: Demokrit. 1628. Amstetdam, Rijksmuseum.
5 Medardo Rosso: Bambina ridente (Lachendes kleines Mädchen). Wachs über Gips.
(1890) Rom, Galleria Nazianale d'Arte Moderna.
6 Stehende Figur. Veracruz. Klassischer Veracruz-Stil (Nopiloa). Ton. Courtesy of The
Museum of Primitive Art, New York.
7 Umberto Boccioni: Das Lachen. 1911. Collection The Museum of Modern Art, New York.
Gift of Herbert and Nannette Rothschild.
8 William H ogarth: The Laughing Audience (Das lachende Publikum). Radierung. 1733.
Cambridge, Fitzwilliam Museum.
9 Max Beckmann: Selbstportrait, lachend. 1910. Murnau, Dr. Peter Beckmann.
10 Niccolo Frangipani: Vier Personen lachend beim Anblick einer Katze. Angers, Musee
des Beaux-Arts.
11 Paul Klee: Perseus (Der Witz hat über das Leid gesiegt). Radierung auf
Zink. 1904. Basel. Öffentliche Kunstsammlung, Kupferstichkabinett.
12 Die Witwe und Klagefrauen. Grab des Wesirs Ramose, Theben. Aegypten, XVIII. Dynastie. Aufnahme der
Aegypten-Expedition des Metropolitan Museum of Art, New Y ork.
13 Klagefrauen. Grab des Wesirs Ramose, Theben. Aegypten, XVIII. Dynastie. Aufnahme der Aegypten-Expe-
dition des Metropolitan Museum of Art, New Y ork.
14 Pablo Picasso : La femme qui pleure (Weinende Frau) . 1937. England, Privatbesitz.
15 Jan Sanders van Bemessen: Tröstungsszene (ca. 1540). Prag, Nationalgalerie.
16 Quentin Massys: Die Ruhe auf der Flucht nach Aegypten (ca. 1511- 1515). Worcester,
Massachusetts, Worcester Art Museum.
16a Quentin Massys: Die Ruhe auf der Flucht nach Aegypten. Detail, Kopf der Maria.
Worcester, Massachusetts, Worcester Art Museum,
17 Paul Klee: Blutige Tränen. Aquarell gefirnißt auf Gaze auf Karton. 1923. Bern, Kunstmuseum, Paul-Klee-Stiftung.
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 145
derbe Detailrealismus des Hemessen läßt es sich nidlt versagen, mit den hervorquellen-
den Tränen auch den aus der Nase rinnenden Schleim wiederzugeben. Der halbgeöff-
nete Mund ist dergestalt zur Grimasse verzogen, daß man meinen möchte, er wolle
schimpfen, sei aber durch die Gewalt des Weinens davon abgehalten. Der Blick der Frau
ist aus zusammengekniffenen Lidspalten auf den Alten gerichtet. Dessen Ausdruck und
Tun drücken nun genau so schlagend seine Überlegenheit, Distanz und Bestimmtheit
aus, wie das Gebaren der Frau ihre unter der Obermacht des Affekts verlorene Selbst-
beherrschung und Urteilsfähigkeit verrät. Sein Lächeln, daß die lückenhaften Zahnrei-
hen entblößt, ist zugleich derb und mild. Es bekundet ebensosehr nachsichtiges Mitleid
wie ein Wissen um das irgendwie Unangemessene und dadurch Lächerliche in dem hefti-
gen Schmerz seiner Partnerin. Begütigend legt er ihr die Hände um die Schulter. Seine
Rechte betastet den durch das Ringen der Hände gespannten Muskel, als wolle er den
Krampf lösen; die unter ihrer Achsel durchgreifende Linke bringt mit der zärtlichen
Berührung zugleich das unter dem lose angenieteten Krmel hervorgequollene Hemd in
Ordnung. Das ist eine in weiterem Sinne begütigende, die Weinende sacht zu sich hin-
ziehende Gebärde. Man bemerkt nun auch, daß die Frau sich ihm gegenüber in einem
Zwiespalt befindet. Die Heftigkeit ihres Schmerzes erlaubt ihr nicht, die in seiner Trö-
stung enthaltene Wahrheit und Verheißung anzuerkennen: darum das böse Glimmen
in ihrem dennoch auf ihn gerichteten Blick, darum der ohnmächtige Versuch, seinen
Zuspruch mit einem Schimpf abzuwehren. Aber je mehr seine Tröstung auf sie
einwirkt, um so heftiger wird sie von ihrem Weinen geschüttelt. »Die Tränen sind bitter
und befreien nicht von der Verletztheit im Gefühlsbereich, sie lockern nicht den
,Stachel im Gemüt'.« ~8 In dem Gesicht des Jungen, der ihr den Trunk reichen möchte,
malt sich neben gutmütiger Hilfs- und Trostbereitschaft vor allem völliges Unverständ-
nis der Situation. Er möchte das Geschehen aus dem Verhalten des Alten und aus seinen
wohl noch ungegenständlich begütigenden, wie geflüsterten Worten (»nun beruhige
dich doch, es ist doch gar nicht so schlimm!«) erraten. Leise spürt auch er den in dem
bitteren Kummer der Frau eingeschlossenen, der Stärke ihres Affektes unangemessenen,
komischen Kern. Er möchte gleichfalls lächeln; aber sein Unverständnis, Wohlerzogen-
heit und eine irgendwie begründete Scheu lassen den Anflug nicht zur Entfaltung kom-
men.
Damit haben wir die Elemente der Deutung in der Hand. Die Frau ist dem Alten als
Gattin oder Schicksalsgefährtin verbunden, aber sie hat sich in den Jungen verliebt. Bei
einem festlichen Anlaß hat sie ihm ihre Gefühle durch die »mänadische«, Jugend vor-
täuschende Aufmachung kundgeben und ihn so gewinnen wollen. Aber derber Spott
von Seiten Dritter hat ihr die Vergeblichkeit ihres Hoffens klargemacht, und die ge-
staute Gefühlserregung hat im Verein mit Enttäuschung und gekränkter Eigenliebe den
Ansturm des Weinens ausgelöst. Daß der Gegenstand ihrer enttäuschten Hoffnungen
sich, unschuldig wie Hippolytos, seiner Rolle nicht einmal bewußt ist, verleiht dem Ge-
schehen seine ironische Pointe. Der Alte vertritt in diesem tragikomischen Konflikt die
Einsicht, den überblick, das Leben, das eben doch recht behält. Begütigend hält er sie an
dem Platz, der ihr zukommt, an seiner Seite.
Die Ruhe auf der Flucht nach Kgypten wird im allgemeinen als ein idyllischer Vorgang
dargestellt. Die heiligen Personen sind der Fährnis entronnen, sie fühlen sich von über-
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 147
irdischen Mädlten beschützt und ruhen im Schatten von Bäumen. So ist es in der nieder-
ländisdJ.en Malerei bei Gerard David und Joos van Cleve, ferner bei Isenbrandt und
selbstverständlidJ. bei Dürer, aber auch noch bei Philipp Otto Runge und im Süden bei
Caravaggio, wo ein Engel den Rastenden etwas vorgeigt.
In unserem Zusammenhang kommt einer Darstellung dieser Szene von Quentin Massys
im Museum von Worcester, MassadJ.usetts, besonderes Interesse zu (Abb. 16) 14 • Dieses
das ursprünglidJ. einem in Lissabon aufbewahrten PolyptydJ.on des Marienlebens ange-
hörte, ist insofern einmalig, als es den Joseph kummervoll, die Madonna gar weinend
wiedergibt. Der erste und nachhaltigste Eindru~, den man vor aller inhaltlidJ.en Ana-
lyse empfängt, ist derjenige einer aus vielfältigen Gegensätzen gefügten Einheit. Die
Monumentalität der Figuren kontrastiert der Klein- und Vielteiligkeit der Landschaft.
Der ebene Fluß der Komposition kontrastiert der scharf bezirkhaften Gliederung des
Landschaftsraumes- darin nimmt Massys die widJ.tigste Neuerung seines späteren Mit-
arbeiters Patinir voraus -; die harschen Formen der unwirtlichen FelslandsdJ.aft mit
ihren urweltlidJ.en Höhlungen stehen im Gegensatz zu der Feingliedrigkeit der schwer-
losen ArdJ.itektur. Schließlich empfindet man auch einen Kontrast zwisdJ.en der tra-
gischen Grundhaltung und den lichten Farben mit ihrem fast porzellanhaft ebenen
Auftrag. Winzig und in der Reproduktion nicht mehr zu erkennen, tobt vor den Ge-
bäuden des Mittelgrundes nodJ. das Gemetzel des Kindermords. Dieses Motiv setzt den
Ton für die Darstellung. Maria und Joseph sind hier Flüchtlinge, mit knapper Not ent-
setzlidJ.en Greueln entronnen. Sie sind ermüdet von der beschwerlichen Reise und sehen
einer ungewissen Zukunft entgegen. Der Joseph kann sich nimt einmal zu einem
Lächeln zwingen, während er dem ahnungslosen Kind eine Frucht reiht. Die Maria
weint. Dom im Vergleim seines Grams mit ihrem Weinen erleben wir zum letzten Mal
jene das Bild bestimmende Einheit aus Gegensätzen. In ihrem zarten Gesicht malt sidJ.
nicht Josephs bange Sorge, sein kummervolles Erfassen der Situation, das mit der Erin-
nerung an die überstandene Gefahr die Vorahnung künftiger Nöte einschließt. Sie ist
gerührt: über das seiner selbst nodJ. unbewußte, kostbare und hoheitsvolle junge Leben,
das ihr anvertraut ist, über den zugleich erschreckenden und erhebenden Anspruch ihrer
Aufgabe. Ist dies nimt der »dritte Typus des vorwiegend gelösten Weinens«, zu dem
»Trauer, Schwermut, Wehmut, Sehnsucht und Mitleid mit sich selbst« führen? »Es ist
dem Menschen ergriffen zumute, und er erlebt seine Gestimmtheit in engerer Verfloch-
tenheit mit äußeren Geschehnissen. Auf dem Höhepunkt der Gefühlsbewegung über-
kommen ihn die Tränen, in denen er Beruhigung, Vertiefung, friedvolle Gelassenheit
findet.« 15
Ich möchte diesen Abschnitt besdJ.ließen mit der BespredJ.ung eines Werkes von Paul
Klee, Blutige Tränen (Abb. 17), das sidJ. in seiner Abstraktheit keiner der Plessnerschen
Klassifikationen zuordnen läßt. Es ist in überwiegend erdigen Tönen gemalt, aus denen
nur die drei Blutstropfen gleidJ.en Formen hervorleuchten, die dem Bild seinen Titel
gegeben haben. Vier Komplexe bilden die Darstellung. In der Mitte der Weinende,
eigentlich nur die innerhalb einer Farbbahn einem Kreis eingeschriebene Formel eines
Gesimts, das unmöglich auf Mann, Frau oder Kind festzulegen ist. Zu den Seiten der
Figur zwei Sterne, der eine aufsteigend, der andere sinkend. Oben eine Figuration, die
sich schwerlich anders denn als Metapher des Zeugungsvorgangs auffassen läßt. Ich
148 Gert Schiff
wage es, dieses kleine Werk als Allegorie des Lebens auszulegen. Zwischen den steigen-
den und den sinkenden Stern als Zeichen des Anfangs und Endes ist der Mensch einge-
spannt, auch er dem Ende zugeneigt. Sein Los ist Kümmernis; und die dem weiblichen
Organ entquellende »blutige Träne« scheint mir das auszudrücken, was Lautr~amont
in die Worte gekleidet hat: »Nous avons re~u la vie comme une blessure.«
4. Das Lächeln
Am Anfang seiner Arbeit sagt Plessner über das Lächeln: »Das umeinander Wissen der
Auguren und die verhaltene Tiefe des Buddha, die stereotype Maske archaischer Figu-
ren, die Rätselhaftigkeit der Gioconda, die süße Erlöstheit der Inconnue de la Seine, die
Skepsis des alten Voltaire und der Weltblick des alten Rembrandt haben aus diesem
seltsamen Lichte ihr unverwechselbares Leuchten.« 1
Im folgenden möchte ich einige von den Deutungen referieren, welche das Lächeln auf
den Gesichertern dieser Gestalten (mit Ausnahme des im Bild nicht greifbaren Auguren-
lächelns) gefunden hat.
Das archaische 'Lächeln. Auf den herrlichen Kouros von Tenea in der Münchner Glypto-
thek (Abb. 18) scheinen die folgenden Sätze von Peter Fingesten anwendbar: »Das
griechische archaische Lächeln ist ein konventioneller Ausdruck mit scharf umrissenen
Lippen, der die Mundwinkel entweder in einer starken Kurve oder in Form eines ,. V«
anhebt. In einigen Fällen grenzt es an das Groteske, und in der Tat erscheint ein stark
übertriebenes archaisches Lächeln an vielen archaischen Gorgonen und Grotesken. Das
griechische archaische Lächeln läßt nicht auf Introversion oder Tiefe des Denkens schlie-
ßen. Es gehört zu gut entwickelten nackten Männern, die mit Selbstvertrauen und erho-
benen Hauptes vorwärtsschreiten; es stellt eher körperliche als geistige Bewußtheit dar.
Die meisten sogenannten archaischen Apollos sind Kouroi (Jünglinge), olympische Sie-
ger, deren Tüchtigkeit hauptsächlich auf körperlichem Gebiet lag. Mit anderen Worten,
diese nackten, gesunden Naturkinder schreiten gleichsam vorwärts ins Leben, oder zu
einem anderen athletischen Wettkampf. Aus ihnen spricht nicht der Wunsch, dem Leben
zu entsagen, sondern es zu bejahen und zu bemeistern.« 2
Dies ist die weithin vertretene Meinung. Aber genügt diese Deutung? Selbst wenn es
stimmt, daß sich das Sein dieser Figuren in rein körperlichem Dasein erschöpfte, so wis-
sen wir doch, daß für die Griechen in voll entwickelter, schöner Lebendigkeit immer
auch Göttliches aufleuchtete 3• Außerdem teilen die Kouroi ihr Lächeln ja mit den Bil-
dern der griechischen Götter selbst. Auch in unserem Beispiel scheint das archaische Lä-
cheln, gerade auf Grund seiner Unbestimmtheit, Tieferes und Geheimnisvolleres aus-
zudrücken als die Selbstsicherheit des erfolgreichen Athleten.
Ich finde einen Hinweis auf den möglichen Sinn dieses Lächelns in dem schon zitierten
Aufsatz von Walter F. Otto, Das lächelnde Götterkind 4 • Dort wird ausgeführt, wie
Lächeln und Lachen oft einem Vorauswissen des Unbewußten entspringen, das die
Griechen mit dem im Menschengeist wirkenden, schicksalsbestimmenden Willen der
Götter gleichsetzten. Penelope begeht im 18. Gesang der Odyssee die unbegreifliche
Kühnheit, sich den Freiern zu zeigen, ihre Leidenschaft anzufachen, ihnen kostbare Ge-
schenke zu entlocken - und bricht, als sie den Entschluß faßt, in Lachen aus. Sie ahnt
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 149
nicht, daß Odysseus unerkannt bereits im Saale gegenwärtig ist, daß er die Freier er-
schlagen wird. >>Das alles wußte nur ihre Göttin Athene<<. Aber das Lachen der Pene-
lope >>hat seinen Grund in dem geheimen Vorauswissen des weiblichen Gemüts. Durch
diese Tiefe der Empfindung spricht die Göttin Athene zu Penelope. In ihr ist alles schon
erkannt und beschlossen, was der Augenblick fordert, und was kommen muß ... Und
aus ihr kommt das Lachen des wissenden Lebens, das sich seines Wissens noch nicht
bewußt geworden ist.<<
Walter F. Otto spricht es nicht aus, aber seine Schlußfolgerung ist doch klar: offensicht-
lich will er in dem Lächeln der archaischen Menschenbilder auch jenes unbewußte, uner-
klärlich beglückende Vorauswissen erkennen, in dem sich das Walten der Götter im
Inneren der Menschen anzeigt.
In einer grundlegenden Arbeit 5 hat Peter Fingesten den Ursprung und die Gründe für
das relativ späte Erscheinen des Lächelns an den Bildern des Buddha oder Bodhisattva
untersucht. Eigentlich ist dieses Lächeln mit der höchsten Erleuchtung, einem Zustand
jenseits aller Empfindungen und Gefühle, unvereinbar. So zeigten die ersten
anthropomorphen Bilder des Buddha (Gandhara, 1. Jahrhundert n. Chr.) auch nüch-
terne und ernste Mienen. Warum wird dann der Buddha vom 4. Jahrhundert an
lächelnd dargestellt? Menschliche Wärme oder Zuneigung können sich in seinem Lächeln
nicht ausdrücken, denn der Buddha begann ja seine Wahrheitssuche, indem er Vater,
Mutter, Weib und Sohn verließ. Angesichts seiner hohen Intelligenz und Willenskraft
scheiden auch Geisteskrankheiten oder Senilität als auslösende Momente aus. Eine Her-
leitung vom griechischen archaischen Lächeln ist gleichfalls zurückzuweisen, auch wenn
die Gandhara-Buddhas anderweitig in Haltung, Kleidung, Gebärden usw. griechischen
und römischen Vorbildern verpflichtet sind. 800 Jahre trennen die archaische Periode
der griechischen Kunst vom ersten Erscheinen des Lächelns an Buddha-Statuen. Die Ent-
wicklung der griechischen Plastik verlief von der Starre der Frühzeit zum lebensvollen,
dramatischen Realismus der hellenistischen Epoche; diejenige der Gandhara-Buddhas
von aufgelockerter Lebendigkeit zur Erstarrtheit der Formel. Das archaische Lächeln
gehört der Anfangs-, das Lächeln des Buddha der Spätphase der jeweiligen Entwicklun-
gen an. Als sich infolge des Alexanderzuges die ersten Kontakte zwischen Griechenland
und Indien herstellten, war das archaische Lächeln längst von den Zügen der griechi-
schen Statuen gewichen. Aber die buddhistische Weltverneinung äußert sich auch nicht
in den wilden Leidensgebärden der hellenistischen Plastik, sondern in der stillen Heiter-
keit des ganz in sich selbst versenkten Menschen. Als das Bedürfnis empfunden wurde,
dieses Ziel der Lehre des Buddha in unmittelbar verständlicher Weise zu veranschau-
lichen, besannen sich die Künstler auf eine den meisten Menschen vertraute Beobach-
tung. Wahrscheinlich ist das Lächeln des Buddha von jenem scheinbar völlig gelösten
und seligen Ausdruck hergeleitet, der sich manchmal auf den Gesichtern von Toten fin-
det. Es versinnlicht in idealer Form den Wunsch, für die Welt und das Leben zu sterben
und den Befreiungsweg zu beschreiten, der im Nirwana endet.
logisch in rascher Folge ablösen, um in der Starre des Stereotypen zu enden. Das
sublime Lächeln findet sich nur in China, im. Stile der Wei-Dynastie (6. Jahrhundert n.
Chr.) und in der Kunst Kambodschas um das 12. Jahrhundert n. Chr. (unser Beispiel,
Abb. 19). Mit den geschlossenen Augen und dem sehr ausgeprägten Lächeln, das die
Mundwinkel anhebt, drückt das Gesicht dieses Buddhas die höchste Seligkeit völliger
Überwindung der Welt und des Selbst aus.
Die Gioconda (Abb. 20) und ihr Lächeln haben bekanntlich zu mehr und wider-
sprüchlicheren Deutungen Anlaß gegeben als irgendein anderes Meisterwerk der abend-
ländischen Kunst. Man hat die rätselhafte Wirkung diesesLächelnsauf einen geometri-
schen Effekt zurüddühren wollen- der Umriß der Unterlippe sei einem Kreis einge-
schrieben, welcher auch die beiden Augenwinkel berühre 6 - ; man hat es physiologisch
erklärt als verursacht durch leichtes Schielen des rechten Auges: sie blicke nach links, um
die Abweichung nicht merken zu lassen. Da nun aber bei Schielenden wie Einäugigen
durchweg eine Gesichtshälfte weniger ausdrucksvoll werde, sei auch bei ihr das Lächeln
auf der rechten Seite viel weniger ausgeprägt: daher sein vieldeutiger und ungreifbarer
Ausdruck 7 •
übrigens ist die »Rätselhaftigkeit« der Gioconda eine moderne, genauer: eine roman-
tische Entdeckung. Sie findet sich im Schrifttum erst seit etwa 1830 8 • Was die älteren
Künstlerbiographen wie Vasari (der das Bild allerdings nie gesehen hat) oder Felibien
an ihm rühmenswert fanden, waren die vollkommene Naturtreue und Natürlichkeit,
die Grazie und der Liebreiz. Auf Vasaris freilich nur auf Hörensagen beruhenden Be-
richt geht auch zurück, was gemeinhin als biographischer Hintergrund des Gemäldes
angesehen wird. Lisa Gherardini, geboren 1479 in Florenz, habe 1495 sechzehnjährig
den fünfunddreißigjährigen Patrizier Francesco del Giocondo geheiratet. Dieser habe
(1501 oder 1503) bei Leonardo ihr Bildnis sowie das seine bestellt (von dem keine Spur
erhalten ist). »Obwohl Mona Lisa sehr schön war, brauchte Leonardo noch die Kunst,
daß, während er sie abmalte, immer jemand zugegen sein mußte, der sang, spielte und
Scherz trieb, damit sie fröhlich bleiben möchte, um das traurige Ansehen zu beheben,
das häufig die Malerei den Bildnissen gibt.« 9 Dieses Detail hat, zusammen mit der oft
beachteten Tatsache, daß die Dargestellte keinerlei Schmuck trägt, keinen Ring, kein
Armband, keine Brosche, kein Diadem, wohl aber einen dunklen Schleier, dem gelehr-
ten Salomon Reinach eine Hypothese eingegeben, welche das Lächeln der Mona Lisa
biographisch erklärt. Es ist überliefert, daß Lisa del Giocondo 1499 eine Tochter gebo-
ren hat, die noch im selben Jahr gestorben ist. Folglich habe sie noch zu der Zeit, als
Leonardo das Bildnis begann, um das verlorene Kind getrauert (die Schmucklosigkeit
galt als Zeichen der Trauer), und ihr Lächeln sei Ausdruck dieser tiefen Melancholie
und Resignation- oder auch einer ersten zaghaften Wiederkehr der Freude 10.
Doch es fehlt auch nicht an Versuchen, die Identität der Dargestellten und damit das
allgemein angenommene Entstehungsdatum des Bildes (c. 1501-1504) zu bestreiten.
Zitieren wir lediglich die besonders sorgfältig belegte Hypothese Carlo Pedrettis, es
handle sich um das Bildnis einer Geliebten des Giuliano de' Medici, Pacifica Brandano
(einer Witwe), und Leonardo habe sie kurz vor seinem Aufbruch nach Frankreich,
zwischen 1514 und 1516 in Florenz oder Rom gemalt, als er in den Diensten des
Mediciers stand 11.
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 151
In den Bereich der biographischen Spekulation gehören auch die unvermeidlichen Ver-
mutungen einer engen gefühlsmäßigen Beziehung zwischen Leonardo und der Mona
Lisa. Warum hat Leonardo das Bild zeitlebens bei sich behalten? Warum hat i.iberhaupt
er, den Fürstlichkeiten vergebens um ihr Portrait ersuchten, auf das Bildnis dieser ver-
gleichsweise geringen Persönlichkeit vier Jahre hindurch all seine Kunst verwandt?
Hippolyte Taine weist etwa darauf hin, daß der Gatte der Gioconda doch wesentlich
älter als sie, daß die Ehe mit ihr seine dritte gewesen sei, und daß er es an Faszination
mit Leonardo wohl kaum hätte aufnehmen können. Doch Heydenreich sagt mit Recht:
»Spricht allein schon alles, was wir sonst über das persönlichste Leben Leonardos wissen,
gegen eine solche Annahme, um wie viel mehr tut es das Werk selbst, das im höchsten
und vollkommensten Sinne unpersönlich ist.<< 12 Allein nicht nur ein Schöngeist wie
Arsene Houssaye 13, selbst ein so kühler und Leonardo als Maler keineswegs sehr hoch
einschätzender Kritiker wie Bernard Berenson haben angenommen, der Künstler habe
in der Gioconda ein zeitlebens gehegtes Traumbild, sein Frauenideal gefunden.
Nun zu den romantischen Deutungen. Alle stimmen überein im Preis ihrer Schönheit,
ihres berüdienden Reizes. Für manche, vor allem französische Schriftsteller des 19.
Jahrhunderts, ist Mona Lisa eine Wollüstige, eine Kurtisane. Einige teilen den Eindrudi
Theophile Gautiers, für den sie >>mit spöttischer Wollust ihre zahllosen Liebhaber anlä-
chelt<<, deren Leidenschaften sie doch verachte. Für die notorische Georges Sand ist sie
>>mit ihrer lächelnden Sanftheit genauso erschrediend wie die Medusa ... Manche Leute
finden ein Vorhaben von kalter Bosheit in dem Lächeln.<< Houssaye erscheint sie,
obzwar Leonards Ideal, doch auch grausam und »in gewissen Momenten<< sogar >>Sata-
nisch<<. Auch Peladan spricht von ihrer »aggressiven Subtilität<<; im übrigen findet er, in
der Gioconda verschmelze >>die zerebrale Autorität des Mannes von Genie mit der Wol-
lust der liebenswürdigen Frau<< zu »moralischem Androgynismus<<. 14 (Von da her ist es
nur ein Schritt zu der fragwürdigen These eines ebenso fragwürdigen heutigen Kriti-
kers, die Mona Lisa sei in Wirklichkeit ein junger Mann.) Die romantische Auffassung
der Gioconda: als femme fatale ist zusammengefaßt in einem berühmten Passus aus Wal-
ter Paters Studie über Leonardo: >> ... Es ist eine Schönheit, die von innen her auf das
Fleisch wirkt- die aus zahlreichen Einzelelementen bestehende Stätte seltsamer Gedan-
ken, phantastischer Träumereien und erlesener Leidenschaften. Stellt sie euch einen
Augenblick lang neben einer jener weißen griechischen Göttinnen oder neben jenen
schönen Frauen des Altertums vor. Wie würden sie über diese Schönheit erschredien, in
welche die Seele mitallihren Krankheiten eingegangen ist! Alle Gedanken und Erfah-
rungen der Welt haben sie gezeichnet und ihre Spuren an ihr hinterlassen ... der Ani-
malismus der Griechen, die Wollust der Römer, die Mystik des Mittelalters ..., die
Wiedergeburt der heidnischen Welt, die Sünden der Borgia. Sie ist älter als die Felsen,
in deren Mitte sie sitzt; gleich dem Vampir ist sie mehrmals tot gewesen und hat die Ge-
heimnisse des Grabes erfahren; ... als Leda war sie die Mutter der trojanischen Helden
und als St. Anna Marias Mutter ... << 15
Ein wenig annehmbarer alsalldies erscheint die Auffassung von F. X. Kraus, Leonardo
habe in dem Bildnis die Überlegenheit der genialen Frauen seiner Epoche verewigen
wollen, eine Überlegenheit, die sich letztlich in allumfassendem Pessimismus äußere.
(Demnach wäre ihr Lächeln also gleichsam als Abschwächung des Demokritischen
152 Gert Schiff
Lachens über die Welt zu verstehen.) Man mag auch die Deutung des Franzosen Bonna-
men zitieren, der in dem Lächeln der Mona Lisa nichts anderes als die Abgeklärtheit
der durch die sinnliche Erfahrung gereiften und weise gewordenen Frau sehen möchte.
Schließlich ist hier an Freuds berühmte psychoanalytische Studie Eine Kindheitserinne-
rung des Leonardo da Vinci (1910) zu erinnern, in welcher dem Lächeln der Mona Lisa
eine für die seelische Entwicklung des Meisters zentrale Bedeutung beigemessen wird.
Freud zeigt sich vor allem durch zwei Momente beeindruckt. Einmal erscheint das
vielerörterte Lächeln der Mona Lisa, der auch heute noch durchweg angenommenen
Chronologie zufolge, zum ersten Mal an ihrem Bildnis, um dann aber in allen von
Leonardo gemalten Frauen- und Jünglingsgesichtern wiederzukehren. Zum anderen -
und das haben ja die hier zusammengestellten Zitate ergeben -sprechen fast alle Inter-
preten diesem Lächeln etwas zugleich Liebreiches und Unheilvolles zu. Freuds Vermu-
tung ist, Leonardos Mutter habe >>das geheimnisvolle Lächeln besessen, das er verloren
hatte und das ihn so fesselte, als er es bei der Florentiner Dame wiederfand.<< 16 Die
Homoerotik des erwachsenen Leonardo hatte, Freuds durch klinische Erfahrung erhär-
teter Deutung zufolge, ihren Ursprung in bestimmten Erlebnissen des kleinen Knaben
mit seiner Mutter. Soweit wir sein Leben übersehen, ist ihm die Erfüllung eigentlichen
Liebesglücks versagt geblieben. »Wenn es Leonardo gelang, im Angesicht der Mona Lisa
den doppelten Sinn wiederzugeben, den dies Lächeln hatte, das Versprechen schranken-
loser Zärtlichkeit wie die unheilverkündende Drohung ..., so war er auch darin dem
Inhalt seiner frühesten Erinnerung treugeblieben.« 17
Freuds Studie hat zu einer langdauernden Kontroverse Anlaß gegeben, der das Buch
von K. L. Eissler, Leonardo da Vinci, Psychoanalytic Notes an the Enigma (London
1962) anscheinend ein Ende bereitet hat. Nach Ausmerzung aller durch unzureichende
Quellen sowie einen Übersetzungsfehler verursachten Irrtümer Freuds im einzelnen ist
es Eissler gelungen, die Richtigkeit seines Ansatzes im ganzen zu erweisen. Was die
Mona Lisa anlangt, so entfernt er sich in einem Exkurs 18 weit von Freuds Ausgangs-
punkt und entwickelt einen kunsthistorisch außerordentlich interessanten Gedanken. In
einer sehr ausführlichen Darlegung der Beziehungen zwischen dem Denken Leonardos
und der Philosophie des Nikolaus von Cusa legt er dar, wie Leonardo im Gegensatz
zum Platonismus der Florentiner Akademie auf dem Primat der Sinneserfahrung und
Naturbeobachtung beharrt und dennoch danach gestrebt habe, in seiner Malerei die
Schranke zu durchbrechen, welche die immanente von der transzendenten Welt trennt.
Es sei ihm, mit anderen Worten, darum gegangen, das Allgemeingültige ohne jede Ein-
buße an sinnlich greifbarer Naturnähe darzustellen. Die unsägliche Schwierigkeit dieser
Aufgabe sei der Grund für Leonardos angstvoll zögernde, die Fertigstellung immer wie-
der aufschiebende Arbeit an seinen Gemälden gewesen, von denen er ja kaum eines je
als vollendet angesehen. In der Mona Lisa und im ]ohannes habe Leonardo Werke ge-
schaffen, welche der von Cusanus in seiner Gottesschau entworfenen Vorstellung des
>>Gesichts aller Gesichter<< am nächsten kämen. Dort heißt es: >>So begreife ich denn, o
Herr, daß Dein Antlitz vor jedem sichtbaren Antlitz vorhergeht, daß es die Wahrheit
und das Musterbild aller Antlitze ist. Jegliches Gesicht, das in das Deine blickt, sieht
daher nichts von sich selber Verschiedenes, weil es seine eigene Wahrheit sieht.« 19
Damit stimmt die Vielfalt der Annäherungen an das »Geheimnis« überein. So viele
18
Kouros (Apoll)
von Tenea.
München, Staatliche
Antikensammlung
und Glyptothek.
19 Kopf eines jugendlichen Buddha. Holz, gelackt. Kambodscha, 12. Jahrhundert
n. Chr. New York, The Metropoliran Museum of Art. Rogers Fund, 1923.
20 Leonardo da Vinci: La Gioconda. (Detail). (ca. 1500- 1504). Paris, Louvre.
21
L'Inconnue de Ia Seine. Totenmaske.
Aufbewahrungsort unbekannt.
22
Jean-Antoine Houdon: Voltaire. Marmor.
1781. London, Victoria and Albert Museum.
23 Rembrandt: Selbstbildnis. (ca. 1663). Köln, Walraff-Richartz-Museum.
24 Lyonel Feininger: Das Kanalisationsloch I. 1908. New Y ork, Marlborough Gallery lnc.
25 Antoine Bourdelle: Violettes et Roses (Veilchen und Rosen). Biskuit-Porzellan.
(ca. 1890). New York, The Shepherd Gallery, Inc.
26 Gustave Courbet: L'homme blesse (Verwundeter Mann). 1844. Paris, Louvre.
Photo-Na,·hweise:
J. Evers (10) Hartwig Koppermann (18) 0. E. Nelson (24) Nathan Rabin (25) Rheinisches Bild-
archiv (23) Charles Uht (6).
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 153
Betrachter, so viele Deutungen; und in Wirklichkeit sind es sogar noch mehr, denn,
wie Berenson 20 bemerkt hat, wird das Bildnis noch jedem Betrachter zu verschiedenen
Zeiten und in verschiedenen Stimmungen anders erscheinen. Ein unsichtbarer Schleier
scheint hier wie in den übrigen Gemälden Leonardos zwischen uns und dem Dargestell-
ten ausgebreitet. Er ist das Ergebnis seiner unendlich feinen Sfumato-Malerei. »Leon-
ardos . . . Lehre vom ,Scheinbild' des Gegenstandes, das allein wir wahrnehmen, da
seine wirkliche Form sich durch den zwischen ihm und unserem Auge liegenden
Luftraum ständig verändert, diese Lehre bedeutet im übertragenen Sinne, daß jede op-
tische Wahrnehmung in gewissem Ausmaß eine >Erscheinung< ist, die von dem Bilde der
Wirklichkeit sehr verschieden ist. Diese >Erscheinung< des äußeren Sehens in eine
>Erscheinung< des inneren Sehens zu verwandeln, ist die hohe Kunst der Leonardo-
schen Malerei.« 21
Die Inconnue de Ia Seine (Abb. 21) ist zu Anfang dieses Jahrhundertsals Ertrunkene in
dem Flusse aufgefunden und in die Pariser Morgue verbracht worden. Dort hat ein
Bildhauer sie gesehen und, betroffen von ihrer Schönheit, ihre Totenmaske abgenom-
men. Der Aufbewahrungsort des Originals scheint unbekannt; 22 aber die Maske ist in
ungezählten Kopien und Reproduktionen in die Bürgerhäuser eingedrungen, fragwür-
diger Geschmack in Innenausstattung, Kolportage und Film hat sich ihrer bemächtigt;
so muß man wahrhaft von dieser verkitschenden Popularität absehen, um erneut für
ihre »süße Erlöstheit« empfänglich zu werden. Die ungeheure Beliebtheit dieses Bildes
erklärt sich wohl dadurch, daß es auf das Sinnfälligste einen Lieblingswunsch der
Menschheit zu bewahrheiten scheint: der Tod soll als ein letztes Glück über uns kom-
men, das Dasein nach dem Tode soll, frei von Pein, an Seligkeit alles dem Lebenden
Gewährte weit übertreffen. Die wissenschaftliche Einsicht, daß dieses »sardonische Lä-
cheln« in Wahrheit durch eine Kontraktion der Gesichtsmuskeln im Todeskampf
erzeugt wird, ist nie ins Allgemeinbewußtsein gedrungen.
Die hier abgebildete Büste Voltaires von Houdon (Abb. 22) ist eine Wiederholung des
Kopfes jener monumentalen Sitzstatue in der Comedie Fran~aise, mit der der Bild-
hauer das schlechthin gültige Bildnis des Philosophen geschaffen hat. So hat Voltaire im
Bewußtsein der Nachgeborenen weitergelebt, so lebt er in unser aller Bewußtsein fort.
Die Sitzstatue war ursprünglich für die Akademie bestimmt gewesen und ist nur durch
eine Laune der Auftraggeberin und Erbin Voltaires in das Theater gelangt. Sie hätte
also in einer »ehrfurdttgebietenden Weihestätte des Geistes« den Aufklärer und Kämp-
fer für das Recht, den erleuchtetsten Denker seiner Zeit als unsterblidten Herrsdter im
Reiche des Geistes verewigen sollen. Dieser Bestimmung diente an der Statue der weite
antike überwurf, von Houdon selbst als »Philosophenmantel« gekennzeichnet- unbe-
dingt mußte ein Streifen dieses Mantels audt an der Büste über der rechten Schulter er-
scheinen -; dem diente vor allem die über den frei erfundenen Lockenkranz gelegte
»Unsterblichkeitsbinde«. Man mag in Willibald Sauerländers sdtöner Monographie 23
nachlesen, wie Houdon Voltaires tatsächlidte Ersdteinung - der Gefeierte hatte ihm
noch kurz vor seinem Tode ein paar Sitzungen gewährt- in das heroisierte und zeitent-
hobene Denkmal umgewandelt hat, ohne auch nur das mindeste an Lebensechtheit und
Unmittelbarkeit aufzugeben. »In die sitzende, ja sozusagen feierlich thronende Figur
(ist) das Motiv einer momentanen Bewegung, genauer einer geistreich gesprädtigen
154 Gert Schiff
Wendung« aufgenommen. Das wird auch in der Kopfwendung unserer Büste unmittel-
bar deutlich. Noch im knappen Ausschnitt der Büste äußert sich die stählerne geistige
Spannung, welche die thronende Sitzstatue erfüllt. Das Lächeln, das in der ersten, nach
dem Leben geformten Büste tief pessimistisch, ja schmerzlich war, spiegelt hier bei allem
Sarkasmus einen letzten Triumph.
Rembrandts erschütterndes spätes Selbstbildnis in Köln (Abb. 23) ist von je her als
Zeugnis seiner heroischen Haltung gegenüber den tragischen Ereignissen verstanden
worden, die seine letzten Lebensjahre überschatteten. 1663 starb Hendrickje, 1668
Titus. Das Bild mag nach dem Tod der Frau, vielleicht auch nach dem Tod von Frau
und Sohn entstanden sein. Der Verlust der nächsten Menschen, Vereinsamung und Ver-
nachlässigung als Künstler, wirtschaftlicher Ruin, Lebensmüdigkeit-all das erklärt die
tiefe Melancholie dieser Selbstdarstellung. So lächelt man, wenn man alle Schmerzen
erlitten hat, wenn man Leiden als letzten Daseinsgrund erkannt hat, wenn einen kein
Schlag mehr wirklich treffen kann. Aber Rembrandt gibt sich bei alledem als Maler
wieder. Er berührt mit dem Malstock eine Leinwand mit einer schwer erkennbaren, vag
antik wirkenden Figur. Wie eine Röntgenaufnahme erkennen läßt, hatte Rembrandt in
einem früheren Stadium der Komposition noch zusätzlich die Brust der Figur mit einem
Pinsel berührt. Er wollte sich also ursprünglich bei der Arbeit zeigen und hat erst dann
entschieden, sich in der Kontemplation des fertigen Werkes darzustellen.
Kritiker des 19. Jahrhunderts deuteten sein Lächeln als Ausdruck seiner Befriedigung,
daß er trotz allem noch arbeiten könne. Späteren Interpretationen zufolge soll er sich
hier als lachender Demokrit dem schmerzlichen Heraklit gegenübergestellt haben 24 • Jan
Bialostocki hat eine Deutung gefunden, die besser als alle anderen Inhalt und Sinn des
Bildes trifft 25, Er erkannte in der Figur auf der Leinwand eine Herme, und zwar die
Darstellung des Gottes Terminus. Dieser war der einzige altrömische Gott, der dem
Jupiter nicht wich, sondern mit seinem Hermen-Standbild auf dem Kapitol verblieb. So
ging er mit der Maxime »Concedo nulli« in die Renaissance-Ikonologie ein. Erasmus
von Rotterdam erwählte den Terminus zu seinem persönlichen Emblem, indem er ihn
zum Sinnbild des keinem weichenden Todes umdeutete. Diese Bedeutung wurde Ge-
meingut der Emblematik des 16. und 17. Jahrhunderts. Bialostocki folgert, daß Rem-
brandt sie aufgegriffen und sich so im Angesicht des Todes dargestellt habe. »Er stellt
sich ihm inmitten seines Unglücks mit einem milden, abgeklärten Lächeln, Ausdruck
eines Sinnes, der für seine Bestimmung vorbereitet ist ... Es scheint, Rembrandt be-
gegne seinem Terminus mit heiterer Würde und Weisheit, aber seine Haltung zeigt
nichts von stoischem Stolz. Ich finde keine Spur von >Vanitas< in dem Kölner Selbst-
bildnis. Es ist durchglüht von dem goldenen Glanz des Spätnachmittagslichts.«
Im folgenden sollen noch drei Bildbeispiele besprochen werden, um einige extrem ver-
schiedene Arten des Lächelns zu illustrieren.
Lyonel Feiningers 1908 in Paris gemaltes Bild Das Kanalisationsloch I (Abb. 24) ist ein
Meisterwerk des schwarzen Humors. Das geheime Zentrum des Geschehens, die von der
Kindsmörderin in das Kanalisationsloch geworfene Kindesleiche, ist unter dem verzer-
renden Umriß des zutagegeförderten Bündels kaum zu ahnen; aber der Ausdruck auf
den Gesichtern der Beteiligten macht nur zu deutlich, worum es geht. In dem buchstäb-
lich grünen Gesicht der Delinquentin malt sich ihrSichdurchschaut-und Erkanntwissen,
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 155
zusammen mit der sie lähmenden Angst vor Anzeige und Strafe. Ihre äußerste Verle-
genheit 2& äußert sim in einem starren, gefrorenen Grinsen, das der Maler in dem derb-
karikaturistischen Stil seiner Frühzeit mit nur einem Strim unübertrefflim einfängt.
Der Kanalisationsarbeiter, der den fatalen Fund gemamt hat, lächelt schon bös genug;
pure Schadenfreude, Lust an der Entblößung des Mitmensmen in der Enthüllung seiner
nicht wieder gutzumamenden Missetat treibt ihm die gezwirbelten S<hnurrbartspitzen
in die Höhe. Dom er verhält sich passiv, rein beobamtend will er dem Geschehen seinen
unabwendbaren smlimmen Lauf lassen. Viel smlimmer ist die aktiv zum Eingreifen be-
reite Tücke im Lämeln des Strolches, der sim von hinten an die Unglücklime heran-
smleimt, in sadistismer Vorfreude auskostend, wie er sie in ihrer Wehrlosigkeit demü-
tigen, erpressen und mißbrauchen wird. Abgesmwächt klingt die die Situation beherr-
schende Malice noch in der Kopfwendung des Straßenfegers und im Glotzen des ande-
ren Strolches nam. In der Art, wie Feininger einen so grauenvollen sozialen Samverhalt
in witzige Groteske kleidet, smeint der Stil der bösesten Zeilen in der Dreigrosmen-
oper vorweggenommen.
Ein seltenes Frühwerk von Antoine Bourdelle, die Violettes et roses genannte Büste
einer jungen Frau (Abb. 25) 27, welme die Blumen mit der wohlgeformten Rechten
gegen ihre Brust preßt, lenkt uns auf ein Randphänomen: das irre und blöde Lächeln.
Die halbgesmlossenen Augen wirken eigentümlich erloschen, das »Lämeln« ist ein
bloßes grimassierendes Entblößen der Oberzähne und gemahnt uns an Plessners Bemer-
kung, solmes Lämeln beruhe »vielleicht auf rein physiologismen Mechanismen, die nur
noch einen ungewollten Ausdruckssinn mit sich führen.« 28 Soll man in diesem seltsam
bezwingenden, für die spätere Entwicklung des Bildhauers völlig uncharakteristischen
Werk eine Darstellung der wahnsinnigen Ophelia erkennen?
Zum Absmluß möchte im eine der sublimsten Erscheinungsweisen des Lächelns in Cour-
bets Selbstbildnis L'homme blesse (Abb. 26) zeigen. Der Maler stellt sich als sterbenden
romantischen Helden dar. Verwundet, in offenem Hemd und in einen Radmantel ge-
hüllt, dessen Falte die Linke noch ungewollt umklammert, liegt er am Fuße eines Bau-
mes, den bloßen Degen neben sich. Den Hintergrund bildet eine düster-drohende Land-
schaft mit Wald und Feld in smwelender Dämmerung. Das dramatische Helldunkel
mag von Ribera und Murillo hergeleitet sein, die Haltung von einem Heiligen Seba-
stian Delacroix' 29 • Vielleicht hat auch ein literarisches Motiv, etwa eine Szene aus
einem Roman von Georges Sand oder Dumas, den Maler zu dieser romantischen Selbst-
stilisierung angeregt. Aber die innere Wahrhaftigkeit von Courbets Kunst triumphiert
über den romantischen Ansatz. Die Wucht und Dichte seiner Volumen behauptet sich in
der Gestalt - man betrachte etwa die kräftig durchmodellierte Hand - gegen das ver-
schwimmende Sfumato der Umgebung. Der Ausdruck des Gesimts ist völlig frei von
sentimentaler Selbstbespiegelung. Die Entspanntheit der Brauenbögen über den ge-
schlossenen Lidern, das leimt die vollen Lippen umspielende Lächeln künden von fried-
licher Heiterkeit und Erlöstheit. »Seine Luzidität verrät seine Höhe, den Adel der
Menschheit.« so
156 Gert Schiff
Die folgenden Kollegen haben mir bei der Abfassung dieser Arbeit mit Auskünften und Hin-
weisen geholfen: Margaret Scolari Barr, E. H. Begemann, P. H. v. Blanckenhagen, B. V.
Bothmer, R. Dufet Bourdelle, R. Goldwater, M. Kan, G. Kopeke, W. Muensterberger,
L. Nochlin,B. Rifkin, P. Scull,L. Steinberg, B. Wallen.
Anmerkungen
1 Die erste grundlegende Bearbeitung dieses Themas stammt von W erner W eisbach, Der soge-
nannte Geograph von Velasquez und die Darstellungen des Demokrit und Heraklit, Jahr-
buch der preußischen Kunstsammlungen XLIX, 1928. Ich habe im folgenden vor allem zwei
spätere Arbeiten benutzt: Delphine Fitz Darby, Ribera and the Wise Men, The Art Bulletin
XLIV, 4, Dezember 1962, und A. Blankert, Heraclitus en Democritus in het bijzonder in de
Nederlandse kunst van des 17de eeuw, Nederlands kunsthistorisch Jaarboek 18, 1967.
2 Betäubung, in Gott/ried Benn, Gesammelte Gedichte, Wiesbaden und Zürich, 2. Aufl. 1957,
S.132.
3 Diogenes Laertius, Philisophengeschichte IX, 7, zusammengefaßt von Fritz Darby, S. 292.
4 Siehe Oeuvres completes d'Hippocrate, traduction nouvelle ... par E. Littre, IX, Paris
1861, S. 321-392; zitiert von Blankert, S. 72 f.
5 Epistulae II, I, 187 f., zitiert von Fritz Darby, S. 284. Die früheste Erwähnung des lachen-
den Demokrit bei Cicero, De Oratore II, 235.
6 Die Stellen bei Seneca und Juvenal im Wortlaut zitiert bei Blankert, S. 78 f. Lukian: Vita-
rum auctio, 15.
7 Fitz Darby, S. 287.
8 Fulgentius Metaforalis, 76-77, zitiert von Blankert, S. 67 f.
9 Siehe Edgar Wind, The Christian Democritus, Journal of the Warburg Institute I, 1937-
1938, s. 180-182.
10 Blankert, S. 67.
11 Essais, Livre I, chapitre 50, zitiert von Wind, op. cit. S. 180, Anm. 4.
12 Vgl. die gekürzte Wiedergabe von Bayles Artikel bei Fitz Darby, S. 291 f.
13 Marsilius Ficinus, Opera Omnia, Basel1576, S. 637; vgl. Blankert, S. 36 und passim.
14 Sidonius Apollinaris Lib. IX, epist. 9, im Wortlaut zitiert von Blankert, S. 19 Anm. 20.
15 Klara Garas, Pranz Anton Maulbertsch 1724-1796, Graz. o. J., Abb. 307.
16 G. Cruzada Villaamil, Rubens diplomatico espaiiol, Madrid 1874 S. 69-85, zusammengefaßt
von Fritz Darby, S. 287.
17 Beobachtung Blankerts, S. 92 f.
18 Vgl. Blankert, S. 99-102.
19 So Wind, op. cit. S. 181.
20 Benedict Nicholson, Hendridt Terbrugghen, Den Haag {1958), S. 46.
2. Lachen
1 Vgl. Salomon Reinach, Le Rire rituel, Revue de l'Universite de Bruxelles, Mai 1911,
s. 585-602.
2 Walter F. Otto, Das lächelnde Götterkind, in Das Wort der Antike, Stuttgart (1962),
s. 42-52.
3 Für eine andere Deutung vgl. Margaret Scolari Barr, Medardo Rosso, The Museum of
Modern Art, New York {1963), S. 33.
Lachen, Weinen und Lächeln in der Kunst 157
4 Vgl. William Spratling, More Human Than Divine, An Intimate Selfportrait in Clay of a
Smiling People from Ancient Vera Cruz; Universidad Nacional Aut6noma de Mexico, 1960.
5 Siehe Doris Heyden, A New Interpretation of the Smiling Figures, in Ancient Art of
Veracruz (Ausstellungskatalog), Los Angeles County Museum of Natural History, 23.
Februar bis 13. Juni 1971, S. 37 f.
6 Fondamento plastico della scultura e pittura futurista (1913). Übersetzung hier wie durch-
gehend vom Verfasser.
7 Lachen und Weinen (hier wie im folgenden zitiert nach Helmuth Plessner, Philosophische
Anthropologie, herausgegeben und mit einem Nachwort von Günter Dux, Frankfurt am
Main (1970), S. 138.
8 ebd. S. 88.
9 Vgl. die Auseinandersetzung mit Bergsans Theorie in Lachen und Weinen, S. 89-97.
10 ebd. S. 100.
11 La societe frans;aise pendant le Directoire, S. 203, zitiert von Reinach, Le Rire rituel, a.a.O.
12 Vgl. P. Bautier, Un peintre italien du XVI siede influence par nos »mahres dr&les«. Revue
beige d'archeologie et d'histoire de l'art, 27, 1958, S. 63-67.
13 Lachen und Weinen, S. 113.
14 ebd .S. 117.
15 ebd. S. 123.
16 ebd. S. 116.
17 Vgl. Eberhard Kornfeld, Verzeichnis des graphischen Werkes von Paul Klee. Bern 1963,
Nr.15.
3. Weinen
4. Das Lächeln
Wenn Hölderlin sich zunächst mit der Gegensatzlehre des Philosophen Heraklit ausein-
andersetzte, wenn er von Platons Reich der Schönheit spricht, das auf uns wartet, wenn
er sich von der Mimesislehre, also von der Nachahmungslehre des Aristoteles absetzte,
so tat er dies nicht allein als Philosoph. Denn die philosophischen Gedanken sollen >>dem
heiligen Bilde, das wir bilden<< 4 dienen. Der Begriff dient dem Bild, die philosophi-
schen Gedanken der Anschauungskraft des Dichters.
Wenn Hölderlin sich beim Abschied vom Tübinger Stift Spinozas Rede vom hen kai
pan ebenso als Parole zu eigen macht wie seine Studiengenossen Hegel und Schelling,
wenn er sich Fichtes Grundgedanken vom Factum Vernunft widersetzt und die Frage
stellt, wie denn das absolute Bewußtsein sich je zum Objekt werden könne, ohne sich
selbst determinieren zu müssen, wenn ihm Kants Lehre von der Selbsterkenntnis der
Vernunft zum Anlaß für die Entwicklung einer kritischen Poetik wird, und wenn er
schließlich Hegels Theorem vom großen Individuum dadurch einschränkt, daß er diese
160 Rudolph Berlinger
Selbsttätigkeit des Geistes auf die große Menschennatur bezieht, die sich weder selbst
erzeugen noch hervorbringen kann, so sind ihm diese philosophischen Positionen ein
Anlaß, seine Poetologie von Grund auf aus der Unterscheidung zu diesen Philosophen
zu entwickeln. Und schließlich wendet er Schellings Lehre von der Konstruktion der
Vernunft in den Gedanken der Reproduktivität des poetischen Geistes. Dem Philoso-
phen Hölderlin wird Dichtung nicht zu einer ars absoluta.
Denn die schöpferische Reflexion des Dichters ist ein individueller Akt, der nur Indivi-
duelles, d. h. Beschränktes und Eingegrenztes bilden kann, so viel er auch erfinden mag.
Der Methodenbegriff »Kritik« meint nicht Kritik an etwas, nicht kritische Stellung-
nahme zu etwas. Kritik heißt vielmehr Selbsterkenntnis der Vernunft, insofern es ihr
gelingt, im Bli&. auf sich selber sich durch sich zu unterscheiden. Die kritische Unter-
scheidung der Vernunft wird im Sinne Hölderlins herbeigeführt im Akt der Produk-
tivität des poetischen Geistes oder der »großen Selbstthätigkeit der Menschennatur« 9,
Der Begriff der Unterscheidung wird von Hölderlin allerdings dadurch weitergeführt,
daß er ihn in die Nähe der Gegensatzproblematik Heraklits bringt.
Wer ist es denn aber, der unterscheidet? Der Verstand oder die Vernunft. Hölderlin bil-
ligt keinem der beiden Vermögen, weder dem Verstand noch der Vernunft allein, die
Fähigkeit zu, den Grund anzugeben, weshalb irgendetwas unterschieden werden kann,
denn es heißt im »Hyperion« 10 : »Aber aus bloßem Verstand ist nie Verständiges, aus
bloßer Vernunft nie Vernünftiges gekommen.«
Und wir fahren fort: weil Verstand und Vernunft als zwei Momente des einen Grun-
des, also des Geistes, zu fassen sind, falls das Philosophieren ein begründetes Wissen und
die dichterische Hervorbringung ein Begründungsakt sein soll, denn die theoretische
Schrift, die zwischen der ersten und zweiten Fassung des Trauerspiels »Empedokles«
postiert ist, führt zwar den Titel: »Grund zum Empedokles«, wobei aber der Begriff
des Grundes inhaltlich bestimmt ist durch den der Bedeutung und Begründung.
Warum aber, so fragen wir zurüdt, kann aus bloßem Verstande keine Philosophie kom-
men?
Deshalb, weil Philosophie mehr ist denn »nur die beschränkte Erkenntnis des Vor-
handnen ..., [weil] Philosophie mehr ist denn blinde Forderung eines nie zu endigen-
den Fortschritts in Vereinigung und Unterscheidung eines möglichen Stoffes« 11. Auf
die Rezeptivität des Stoffes aber muß dem poetischen Geist alles ankommen, falls der
poetische Geist dem Bildungstrieb folgen will. Der Bildungstrieb aber ist ein Trieb zu
unterscheiden. Auf Hölderlins »V erfahrungsweise des poetischen Geistes« umgedacht,
aber heißt dies, daß dieser Trieb, zu Unterscheiden und zu Bilden, den Stoff, »das
Leben der Natur zu vervielfältigen zu beschleunigen, zu sondern, zu mischen, zu tren-
nen, zu binden« 12 hat. Das Geschäft des poetischen Geistes aber ist, im Reproduktions-
akt didtterisdten Schaffens den Stoff zu individualisieren, also das Kunstwerk so her-
vorzubringen, daß das eine vom anderen untersdtieden werden kann.
Wir sagten, daß das Wort »Grund« inhaltlich durch den Begriff des Begründens be-
stimmt sei. Dadurch wird das philosophisdte Element des Dichtens faßbar. Die poie-
tische Vernunft, dies heißt, die kreative Seinsdisposition des Geistes, will wissen, warum
das Ideal als der Grund von allem etwas fordert. Und so kann es zu Recht mit einem
Seitenbli&. auf Heraklit im »Hyperion« heißen:
»Leuchtet aber das Göttliche, hen diaferon, heauto«, also »das eine in sich selbst Unter-
schiedene«, dann fordert Philosophie nicht blind und das Ideal der Schönheit, der stre-
162 Rudolph Berlinger
benden Vernunft, »fodert nimt blind«, denn Smönheit weiß, warum sie fordert 13.
So allein kann das Gedimt zur Gestalt der Notwendigkeit einer Aussage werden.
Darum sind nun die Wesenszüge der kreativen Seinserfassung der Natur des Mensdten
herauszuarbeiten. Denn es muß gezeigt werden, warum die große Selbsttätigkeit der
Menschennatur, die das Sein des schaffenden Subjektes in sich verwahrt, dann einer
mechane, einem Kalkül, einer heredlenbaren Gesetzlimkeit, die sie ist, also einer poie-
tischen Notwendigkeit, zu folgen hat, wenn sie etwas, nämlich ihre eigenen dichteri-
smen Möglichkeiten im Gedicht anschaulim mamen soll.
Auf dieser Stufe der Reflexion kann Hölderlin eigentlim nimt mehr vom Bildungstrieb
spremen. Es muß nun heißen, das dimterische Schaffen ist nimt von einem Trieb be-
wegt, es entspringt der Spontaneität der Freiheit des Geistes. Die Logik, der es folgt, ist
nimt das blinde Gesetz der Natur, sondern des sim wissenden Geistes. Darum kann der
Reproduktionsakt poetischen Schaffens, den wir als ein »Bilden des Bildes« gefaßt
haben, ein vernünftiger Akt sein, der freilich im Sinngebilde Gedimt, Freiheit und Ver-
nunft anschaulim werden läßt.
In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn wir vom philosophischen Experiment des
Dichters Hölderlin sprechen. Es geht also nimt um ein Urexperiment, das ein Dichter
mit sim selber macht, sondern um den Versuch, herauszubringen, wie es denn anzustel-
len sei, die poetisme Urdisposition der Mensmennatur dadurm produktiv ZU mamen,
daß der Dimter in Endlichkeit reproduktiv tätig werden kann.
Damit hat neben die Frage nam dem Grund dieses Experimentes der Selbsttätigkeit der
Menschennatur die nach seinen Bedingungen zu treten. Es ist also zu fragen, wie der
Dichter mit seiner Natur, mit seiner dichterischen Disposition mit Erfolg experimentie-
ren kann. Wie kann es ihm gelingen, es einmal mit dem in ihm grundgelegten Prinzip
der Selbsttätigkeit zu versuchen. Wäre aber Hölderlin lediglim ein Epigone Hegels,
wäre diese Frage nam den Bedingungen für ihn akzidentell, was er aber gerade als
Dichter scheut.
Doch gehört zu diesen Akzidentien auch die Zeit und der Raum? Oder sind Zeit und
Raum gar die Bedingungen poetischen Schaffens, nicht minder als der Stoff?
Aus dem Schaffen hier und jetzt ist das Nacheinander der Zeit und das Nebeneinander
im Raume nicht zu eliminieren. Würde Hölderlin in der Sprache seines Studiengenossen
SeheHing reden, so müßte er jetzt formulieren: »Die Sphäre seines Producirens smaut
der Geist an als eine Größe im Raum, die Grenze dieses Producirens als eine Größe in
der Zeit« 14
Was also findet denn der Dimter Hölderlin bei seinem philosophismen Experiment? Er
findet einmal das Princip poetischen Smaffens, also die große Selbsttätigkeit der Men-
schennatur, und findet zum anderen die Bedingungen dieses Schaffens, nämlich Zeit
und Raum. Denn das Dichten ist eine Handlung im Verlauf der Zeit, die sich als Sinn-
gestalt des Geistes im Gedicht »lichtet«.
Darum ist die Dimension der Endlimkeit der Bereich, in weidlern der poetische Geist
etwas selbsttätig kreativ und erfinderism auszudrü<ken vermag. Zeitlichkeit und
Räumlichkeit aber sind zwei Momente der einen Endlichkeit.
Zwar folgt der Reproduktionsakt des poetischen Schaffens dem Gesetz der Logik des
poetischen Geistes oder der memane einer ars inveniendi, doch der poetisme Geist hat
hier und jetzt mit sich selbst reproduktiv zu verfahren. Darum ist er dazu verurteilt,
sich selbst zu begrenzen und einzuschränken.
Was in Endlichkeit geschieht, kann nur ein Reproduktionsakt sein, nicht aber ein Urakt.
Denn das Princip einer Same ist zwar frei von Raum und Zeit, mag auch das Handeln
164 Rudolph Berlinger
nach ihm raum- und zeitbedingt sein. Raum und Zeit aber sind Größen, deshalb
schränkt der Raum ein und die Zeit begrenzt. Der Zeitraum des Schaffens ist es, der
jedes Gebilde, das mit Endlichkeit behaftet ist, zum Individuum werden läßt. Dies aber
heißt, daß das Idealisieren dichterischen Schaffens ein Individualisieren bleibt. Ist aber
von der Zeit als Grenze und vom Raum als Beschränkung die Rede, dann ist das Pro-
blem der Negativität und des Nichts im Spiele.
Wer aber wäre vom Nichts betroffener als der Mensch?
Nach diesen vorbereitenden Überlegungen können wir nun Hölderlins Anweisung fol-
gen, die er im Zentrum seiner Schrift »Die Verfahrungsweise des poetischen Geistes«
gibt. Er tut dies in Gestalt eines Imperativs.
»Setze dich mit freier Wahl in harmonische Entgegensetzung mit einer äußeren Sphäre,
so wie du in dir selber in harmonischer Entgegensetzung bist, von Natur, aber uner-
kennbarerweise, solange du in dir selbst bleibst.« ts
Hölderlin nennt diesen Imperativ eine Regel. »Setze dich mit freier Wahl in harmo-
nische Entgegensetzung mit einer äußeren Sphäre«, also in Gegensatz mit einer gegebe-
nen Welt, mit einer vorhandenen Natur.
Entscheidend aber für die Interpretation dieser Stelle ist die Tatsache, in welche Analo-
gie Hölderlin diesen Imperativ setzt, was er zum Maßstab dieser Entgegensetzung
macht, oder wie er den Begriff der Negation einführt: »Setze dich mit freier Wahl in
harmonische Entgegensetzung mit einer äußeren Sphäre«, so wie du in dir selber in
harmonischer Entgegensetzung bist als Natur in der Natur, so wie du kraft deiner
poietischen Natur nicht ein Einerlei bist, sondern eine poetische Disposition, so wie du
von Natur aus ein poetisches Etwas bist und nicht nichts. Nun aber nimmt der Ge-
dankengang im Text eine Wende.
Es wird eine Entsprechung zwischen der Welt des Vorhandenen und der Sphäre des
poetischen Geistes hergestellt. Wäre der poetische Geist in sich nicht unterschieden, so
könnte er weder der Grund der Unterscheidung noch der Grund harmonischer Ent-
gegensetzung sein. Das Unterscheidungsprincip bestimmt ihn von Grund auf.
Beginnt aber die kritische Selbsterkenntnis des poetischen Geistes, tritt er durch eine
freie Tat aus sich heraus, dann weiß er, was er ist, was er kann und warum er dies kann.
Die Ursache, daß er sich erkennt und tätig wird, ist die Kraft der Unterscheidung, die
wir nun als Macht der Negation alles Vorhandenen oder Gegebenen fassen.
So hat also die notwendige Selbstentgegensetzung und Selbstnegation des poetischen
Geistes in der eigenen Vorhandenheit ihren Grund. Der poetische Geist kann im poe-
tischen Schaffen nicht bei sich selber bleiben, er muß sich entäußern, falls er reproduktiv
werden soll. Doch wie vermag er dies allein?
Durch Negation der Urproduktivität, deren positiver Name nun Reproduktivität
heißt. Der poetische Geist kann sim durm Selbsterkenntnis und Selbsttätigkeit nur
dann selbst unterscheiden und damit in der schöpferischen Tat freisetzen, wenn er sich
als der Andere seiner selbst begreifen lernt.
Das philosophische Experiment des Dichters Hölderlin 165
Wie aber kann dies gelingen? Dadurch, daß der poetische Geist das von ihm hervorge-
brachte Werk als eine Metapher seiner selbst erkennen lernt. Dies allerdings ist der
innere Grund, weshalb das Idealisieren, Reproduzieren, Konstruieren und Erfinden des
Gedichtes ein Metaphorisieren ist. Damit wird das Gedicht zur endlichen Gestalt des
poetisdten Geistes. Und so können wir das poetisdte Sdtaffen als einen Übertragungs-
akt fassen, wessen? Der kreativen Möglidtkeit, wohin? In die eingesdtränkte, also indi-
viduelle Gestalt einer didtterisdten Hervorbringung. Diese aber zeigt, daß dieser freige-
setzte poetisdte Geist sidJ. dem Jodt der Negativität oder der kritischen Unterscheidung
von Endlichkeit und Unendlichkeit nicht entziehen kann. Unter der Rücksicht des jetzt
Durdtdadtten verstehen wir die Fragen Hölderlins.
»Was ists denn, daß der MensdJ. so viel will ... was soll denn die Unendlidtkeit in
seiner Brust? Unendlidtkeit? wo ist sie denn? wer hat sie denn vernommen? Mehr will
er, als er kann! das möchte wahr sein!« 18
Das dichterische Sdtaffen bleibt in der Spannung »Zwisdten dem unendlidten Streben in
der Brust des Menschen« und dem Streben nadt Besdtränkung. Dieser Widerstreit ist
unaufhebbar 17•
Die Frage Hölderlins: »Warum sind wir ausgenommen vom schönen Kreislauf der Na-
tur? Oder gilt er audJ. für uns?« wird durdJ. ihn selbst negativ beantwortet. Solange die
Menschenbrust oder die poetologisdte Natur des Mensdten nodt nidtt durchschaut ist
und sich nodt nidtt freigesetzt hat, gilt der Einwand Hölderlins:,. Warum sind wir aus-
genommen vom schönen Kreislauf der Natur oder gilt er audt für uns?«
Ist dieser Wille zur Unendlichkeit eine Chimäre, ein Ideal, ein Idol oder ein Traum?
Oder muß der Schritt vom Reidt des Kindes ins Reidt der Schönheit getan werden? Dies
wäre eine fast platonisdte Lösung. Dodt der Widerstreit haftet dem Princip poetolo-
gischer Hervorbringung selbst an. Das NidJ.ts ist sein Gefährte und die Negation das
Sdticksal reproduktiven Sdtaffens. Darum können Götter und Menschen nur dem
Sdteine nach einander angenähert werden. Der SdJ.ein aber ist nur ansmeinende Einheit
von Göttern und Mensdten. Darum kann das Gedicht nur eine Metapher des poetischen
Geistes sein, und das künstlerische Schaffen ist der Vollzug dieses Widerstreites. Diese
Endlichkeit des reproduktiven Aktes ist ein Zeichen für den Verlust der seligen Einig-
keit des Wissens um das Sein im einzigen Sinne des Wortes.
Die Philosophie des Idealismus spridtt von einem »Sündenfall des Denkens«, den sie als
Voraussetzung des Philosophierens begreift. Kennt Hölderlins Philosophie der Kunst
einen Sündenfall künstlerischen Sdtaffens, und zwar einen Sündenfall, der nicht durch
freie Wahl herbeigeführt wurde, der vielmehr eine notwendige Voraussetzung für das
Schaffen der großen Menschennatur in einem geschidttlidt bedingten Subjekt ist? Es
heißt:
»Die selige Einigkeit, das Sein, im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und
wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erringen sollten. Wir reißen uns los vom
friedlichen hen kaipander Welt, um es herzustellen, durdt uns Selbst. Wir sind zerfal-
166 Rudolph Berlinger
len mit der Natur, und was einst, wie man glauben kann, Eins war, widerstreitet sic:h
jetzt, und Herrsc:haft und Knec:htsc:haft wemseit auf beiden Seiten. Oft ist uns, als wäre
die Welt Alles und wir Nic:hts, oft aber auc:h, als wären wir Alles und die Welt nic:hts.
Auc:h Hyperion teilte sic:h unter diese beiden Extreme.« ts
Die Aporie, von der wir sprec:hen, ist der theoretisc:he Ausdruck für den im Mensc:hen
grundgelegten Sündenfall künstlerischen Schaffens. Der Mensc:h ist verurteilt zum Wi-
derstreit zwisc:hen sic:h und ~em Sein im einzigen Sinne des Wortes. Die Negation, das
Nichts, der Zweifel, die philosophisc:he Sünde, die ihm von der Endlic:hkeit her zufällt,
Hißt ihn mit sic:h selbst in Widerstreit geraten, und zwar dann, wenn er die Erfah-
rung des Nichts an jenes Als-Ob kehrt, das er im kreativen Akt zu überwinden hat:
»Oft ist uns, als wäre die Welt Alles und wir Nichts«, als ob die Welt alles, und als ob
wir nic:hts wären.
Dies ist nämlich die ontologisc:he Urspannung, die jedem künstlerischen Sc:haffen zu-
grunde liegt. Zwischen diesen Extremen hat es die Selbsttätigkeit der Mensc:hennatur
ins Werk dadurc:h zu setzen, daß er das Bild als Metapher, als Schein dieser Einheit von
Alles und Nic:hts bildet. Hölderlin bestätigt diese aporetisc:he oder widerstrittige
Spanne der Extreme von Alles und Nic:hts, wenn er, unsere These bestätigend, sagt:
,.Aber weder unser Wissen noc:h unser Handeln gelangt in irgend einer Periode des Da-
seins dahin, wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist; die bestimmte Linie ver-
einiget sim mit der unbestimmten nur in unendlimer Annäherung.« 19
Die große Mensmennatur wird zwar von Hölderlin schließlim als der göttlime Mensm
begriffen, der Zwiespalt aber entsteht dadurch, daß er diese Göttlimkeit nur einge-
smränkt und begrenzt und darum nur dem Smeine nach im Gedimt als Vollkommen-
heit ersmeinen lassen kann. Der Schein der Einheit, die Aporie der Einheit von Alles
und Nichts, bleibt unaufhebbar.
In der Spanne zwisdlen Negation und Ideal aber kommt ein Erwartungshorizont in
seinen Bli<k. Hölderlin smeint diesen Erwartungshorizont durm eine platonisme
Wende anzudeuten, wenn er zwar vom Sein als unendlicher Vereinigung sagt, es sei als
Schönheit vorhanden. Dom wie ist Smönheit vorhanden? Als Erwartung!
,.Es wartet ... ein neues Reim auf uns, wo die Smönheit Königin ist.« 2o
Doch diese platonische Wende vollzieht sich im Obergang von der Antike zur Moderne,
denn Hölderlin denkt unter der Voraussetzung der kritizistismen Ästhetik. In dieses
Reich der Smönheit mit dem identism, was über den Sternen wohnte, mit dem, was
Hölderlin einst den Schöpfer des Himmels und der Erde nannte, also mit dem Idol
seiner Kindheit? 21 Oder ist dieser Akt der Annäherung ein Akt der Dürftigkeit, so daß
Welt außer ihr noch Einen sumen muß, jenseits dieses Vollzugs der Endlimkeit, um so
durmannähernde Vereinigung mit der unendlimen Vereinigung, dem Sein im einzigen
Sinne des Wortes, genügen zu können.
Ist der Sündenfall im Akt des Smaffens eliminierbar? Läßt die Negation als zerstöre-
risme Geisteskraft sich in eine reine Konstruktion verwandeln? Keineswegs. Denn es ist
das Gesmic:k, nam dem Gesetz, ja, nach der ontologischen Konstruktion des poetismen
Geistes allein reproduktiv, dies aber heißt, individuell und damit gesmichtlim einge-
smränkt verfahren ZU müssen.
Das philosophische Experiment des Dichters Hölderlin 167
Könnte das spinozistische hen kai pan überhaupt eine Zerstörerische Geisteskraft sein,
wenn die Natur des Menschen dieses ein und alles immer schon wäre, oder reißen wir
uns los vom >>friedlichen hen kaipander Welt, um es herzustellen durch uns Selbst« 22 •
Der Name dieser Kraft aber heißt Chaos, Endlichkeit, Negation, Nichts. Aus diesem
Grunde muß es heißen:
>>Ü ihr Armen, die ihr das fühlt, die ihr auch nicht sprechen mögt von menschlicher Be-
stimmung, die ihr auch so durch und durch ergriffen seid vom Nichts, das über uns
waltet, so gründlich einseht, daß wir geboren werden für Nichts, daß wir lieben ein
Nichts, glauben ans Nichts, uns abarbeiten für Nichts, um mählich überzugehen ins
Nichts- was kann ich dafür, daß euch die Knie brechen, wenn ihrs ernstlich bedenkt?
Bin ich doch auch schon manchmal hingesunken in diesen Gedanken, und habe gerufen,
was legst du die Axt mir an die Wurzel, grausamer Geist? Und bin noch da.« 23
Diese Stelle sagt aus, daß dem Princip der Kreativität, das hier und jetzt in Endlimkeit
versenkt ist, die Negation und das Nimts anhaftet. Die letzten drei Worte dieser Stelle
setzen allerdings gegen die Negation die apodiktische Behauptung: >>und bin noch da<<.
Dies ist eine weitere Aporie der Seinsverfassung des schaffenden Subjektes: nichts und
doch da zu sein.
Kann daher die künstlerisme Hervorbringung nom behaupten, im Gedimt etwas aus
Nichts hervorgebracht zu haben? Muß die Frage jetzt nicht lauten: Ist das Ideal oder
der Grund von allem nichts? Kann das Sein im einzigen Sinne des Wortes eine unend-
lime Leere sein?- Das Sein kann ebensowenig wie das unendliche Streben in der Brust
des Menschen eine Leere sein, falls im Gedicht etwas und nicht nid:!ts reproduziert sein
soll, und sei es auch nur in der Gestalt des zwiespältigen Scheines, der uns vermeinen
läßt, daß Menschen und Götter identisch werden könnten. Wie könnte sonst von der
Kunst zwar als göttlimer Schönheit die Rede sein und es dennoch von diesem Repro-
duktionsakt heißen: in ihr verjünge und wiederhole sim der göttliche Mensch selbst 24 •
Als der Mensch sich noch unbekannt war, seine poetologische Kraft noch nicht durchre-
flektiert und ergriffen hatte, schien es, als ob der Mensch und die Götter eins seien.
Doch es ist die Frage zu stellen, gibt sich der Mensch in der Kunst nicht erst seine Göt-
ter? Fühlt er sich im Akt der Reproduktion nicht selber? Sind am Ende die Götter seine
Entwürfe oder gar seine Utopie? Ist er es, der im Entwurf der Dimension der Kunst sich
selber einen poetischen Erwartungshorizont entwirft?
Hölderlin lenkt die Frage ins Schweigen, wenn er sagt: >>Ich spreche Mysterien, aber sie
sind<< 2•. Geht es wirklich um Mysterien? Oder nid:!t vielmehr um eine Aporie, die uns zu
uns selbst zurückführt? »Ü du, zu dem ich rief, als wärst du über den Sternen, den ich
Schöpfer des Himmels nannte und der Erde, freundlich Idol meiner Kindheit, du wirst
nicht zürnen, daß ich deiner vergaß! -Warum ist die Welt nimt dürftig genug, um
außer ihr noch Einen zu suchen? ... Es ist, als säh ich, aber dann erschreck ich wieder,
als wär es meine eigne Gestalt, was ich gesehn, es ist, als fühlt ich ihn, den Geist der
Welt, wie eines Freundes warme Hand, aber ich erwache und meine, ich habe meine
eignen Finger gehalten« 26.
Sind diese Gedanken Hölderlins am Ende nicht doch wie im Traume gedacht, in einem
168 Rudolph Berlinger
Traume, aus welchem das denkende Subjekt nur zu sich selbst erwachen kann? Woran
hat sich das Subjekt in diesem Wachtraum des Denkens gehalten? »An seinem eigenen
Finger«!
Das Subjekt erwacht in dem Augenblick, als es »aber«, autem, gegen sich selbst sagt:
Mehr aber scheint das philosophische Experiment 27 des Dichters Hölderlin nicht zu
leisten*.
Anmerkungen
1 Dieser Text bildete die Grundlage eines Vortrages, der auf Einladung des Germanistismen
Seminars der Universität Lissabon im Februar 1971 gehalten wurde.- Zum Samproblem s.
aum die Abhandlung des Verf.: Hölderlins philosophisme Denkart. In: Euphorion 62
(1968). s. 1 ff.
2 Brief Nr. 202; VI 1, S. 380. Hier wie im folgenden werden die Briefe nam der großen Stutt-
garter Ausgabe zitiert.
3 Brief Nr. 167; VI 1, S. 289.
4 Brief Nr. 240; VI 1, S. 433.
5 Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologisme Erkenntnis, edit. suhrkamp, 1970,
S.97.
6 Große Stuttgarter Ausg., IV 1, S. 221.
7 Hölderlin, Aufsätze, S. 950, der einbändigen Insel-Ausgabe; im folgenden abgekürzt als SW.
8 Vgl. Brief Nr. 187; VI 1, S. 350.
9 Brief Nr. 172; VI 1, S. 304.
10 Hyperion, I 2, SW, S. 566.
11 Hyperion, I 2, SW S. 567.
12 Brief Nr. 179; VI 1, S. 328.
13 Hyperion, I 2, SW S. 565 und 567.
14 Schelling, Jubiläumsausgabe, Bd. I, S. 305.
15 SWS.980.
16 Hyperion, I 1, SW S. 524.
17 A.a.O., S. 501.
18 Hyperion, I 1, SW S. 717.
19 A.a.O., S. 717.
20 Hyperion, I 1, SW S. 718.
21 A.a.O., S. 495.
22 A.a.O., S. 717.
23 Hyperion, I 1, SW S. 529- Zum Problem des ,.Nimtsc s. Rudolph Berlinger: Das Nimts
und der Tod. Frankfurt 21972.
24 Hyperion, I 2, SW S. 563.
25 A.a.O., S. 563.
26 A.a.O., S. 495 f.
27 In diesem Umkreis ist vom Verf. zu nennen: Demiurgie als Ermämtigung zum Werk. In:
Philosophisme Perspektiven. Ein Jahrbum. Hrsg. v. Rudolph Berlinger und Eugen Fink. Bd.
I (1969). S. 52 ff. und ders.: Der musikalisme Weltentwurf. In: Philosophisd:te Perspektiven.
Bd. II (1970). S. 305 ff.
* Herrn Wolfgang von der Weppen M.A. danke im, daß er mim beim Absmluß des Manu-
skripts und beim Lesen der Korrektur unterstützt hat.
Hans Peter Dreitzel (Berlin)
* * *
170 Hans Peter Dreitzel
* * *
Liebe:
Im Orgasmus bin ich nur,
ich habe mich nicht mehr.
Der andere dagegen mag sich noch haben
-und hätte dann auch mich.
Haben und Sein 171
Tod:
Ich habe mich nicht mehr,
weil ich nicht mehr bin- gewiß.
Aber: vielleicht bin ich auch nicht mehr,
weil ich mich nicht mehr habe:
* * *
Ich bin, was ich bin:
eine Feststellung, die in sich selbst ruht.
Im habe, was ich habe:
Eine Feststellung, die auf Sand baut.
* * *
Bei uns wird man zum Sein verdammt,
nämlich: wenn einem die Habe genommen wird.
172 Hans Peter Dreitzel
* * *
Ich bin, aber ich habe MICH.
Das Haben hat SICH,
Das Sein IST einfach:
Erst im Haben ist Reflexivität.
* * *
* * *
* * *
174 Hans Peter Dreitzel
Heute:
Ich habe, aber ich bin nicht.
DARUM »werden wir erst«.
Nur auf dem Umweg über andere hat sich der Mensch.
Nur auf dem Umweg über sidt selbst ist der Mensdt.
Tei/2: Soziologie
I
Es ist oft genug darüber gestritten worden, ob die Soziologie sich mit dem gleichen
Recht als eine Wissenschaft bezeichnen dürfe wie andere anerkannte, ältere Disziplinen.
Je nach den angelegten Maßstäben hatte die Polemik verschiedene Akzente: Vertreter
etablierter Erfahrungswissenschaften äußerten Zweifel an der Präzision der empiri-
schen Methoden in der Soziologie, insbesondere an der häufig festzustellenden Mangel-
haftigkeit der Meßinstrumente und der quantitativen Auswertungsmethoden. Zugleich
wurde oft die Neigung zu spekulativen, sich der Überprüfung entziehenden gedank-
lichen Konstruktionen kritisiert. Andere Kritiker vermißten wieder theoretische Konsi-
stenz. Diese Kritik, oft auch von Soziologen selbst vorgetragen, wird nicht selten er-
gänzt durch Argumente, die selbst soziologische Elemente enthalten. Die theoretische
Uneinheitlichkeit und Sprachverwirrung werden in Verbindung mit der oft beklagten
Zerklüftung in verschiedene Schulen gebracht. Aufspaltung in eine Pluralität von Schu-
len wird als Symptom für den >>geringen Reifegrad<< einer Disziplin angesehen. Kon-
solidierte Wissenschaften haben- so meint man - diese Entwicklungsphase hinter sich:
gerade in deren Überwindung haben sie zu sich selbst gefunden und sind wirkliche Wis-
senschaften geworden.
Das Argument, Zerklüftung in Schulen sei ein Symptom eines >>geringen Reifegrades<<
einer Wissenschaft, gewinnt Plausibilität durch eine weitere Beobachtung: Die verschie-
denen einander heftig bekämpfenden >>Schulen<< vermögen sich oft nicht nur deshalb
nicht zusammenzuraufen, weil ihnen noch eine abgesicherte Terminologie, Einmütigkeit
über die Abgrenzung der Thematik und über die Gültigkeit der Verfahren fehlt, viel-
mehr dauern die Schulkämpfe auch deshalb an und führen nicht zu Synthesen, weil
hinter den verschiedenen Schulen ideologisierte Interessen-Positionen stehen, die ihrer-
seits gesellschaftlichen Gruppen zugeordnet sind. Es ist also die Macht außerwissen-
schaftlicher Einflüsse, die die innere Konsolidierung einer Wissenschaft verhindert.
>>Mangelnder Reifegrad<< heißt dann auch: die gemeinte Disziplin hat noch nicht so viel
Autonomie entwickelt, daß sie Einflüsse von außerhalb, welche fremdbestimmend und
störend in den internen Wissenschaftbetrieb eingreifen, erfolgreich abwehren kann.
Hier liegt natürlich auch eine bestimmte Auffassung über den Ort, den Wissenschaften
in der Gesellschaft einnehmen, vor: Die Wissenschaft, und dann wieder die einzelnen
Disziplinen bilden Subsysteme der Gesellschaft, die im Hinblick auf ihre zentrale Auf-
gabe, der Produktion und Weitergabe neuen Wissens autonom sind und die entspre-
chend eine eigenständige Teilkultur besitzen, aus der ihrerseits Kriterien dafür entste-
176 Hans Paul Bahrdt
hen, was als »fremd« zu gelten hat. Diese Position braucht nicht statisch konzipiert zu
sein: Sie kann beinhalten, daß die relative Autonomie des Subsystems und die Eigen-
ständigkeit der Teilkultur jeweils Ergebnisse eines geschichtlichen Prozesses sind. Aber
dieser Prozeß ist ein in einer bestimmten Richtung verlaufender Entwiddungsprozeß,
dessen Stadien eine Bewertung zulassen, kurz ein Reifungsprozeß. Am Ende steht die
>>Mündigkeit« einer Disziplin, die ihr die akademische Anerkennung sichert.
Nun kann diese Auffassung, die der Soziologe zwangsläufig einen bestenfalls >>puber-
tären« Zustand zubilligen kann, unter mancherlei Gesichtspunkten kritisiert werden.
Das Verhältnis einzelner Wissenschaften zu den übergreifenden gesellschaftlichen
Strukturen ist sehr viel komplizierter und weniger eindeutig. Relative Autonomie und
geistige Eigenständigkeit einer Disziplin können ebenso wie eine Einheitlichkeit hin-
sichtlich der Thematik, der Verfahren und der Sprache auf Sterilität deuten. Einflüsse
von außen, z. B. praxisbezogene, und deshalb komplexe Fragestellungen können ebenso
fruchtbare theoretische Impulse geben, wie ideologische Gedankengänge, auch wenn sie
in der Art, wie sie sich zunächst artikulieren, hinter einem bereits erreichten wissen-
schaftlichen Niveau zurückbleiben. Die Behauptung, eine als Wissenschaft anerkannte
Disziplin sei autonom, bzw. weil sie autonom sei, müsse sie auch anerkannt sein, kann
im übrigen eine ideologische Funktion haben: sie verschleiert oft verwickelte Formen
neuer und alter Abhängigkeit und dient der Selbsttäuschung der Wissenschaftler;
gleichzeitig dient sie der Begründung von Ansprüchen auf ökonomische Sicherheit und
Status und der Abwehr unliebsamer Einmischung, die u. U. auf das genaue Gegenteil
von Freiheitsberaubung zielt. Trotzdem wird man die Auffassung, Wissenschaften
müßten im Zuge ihrer Entwicklung die Tendenz haben, in ihrem Innern das Terrain zu
befrieden, die Verkehrs- und Kooperationsformen zu regulieren und eine schützende
Grenze zu errichten, um hierdurch zu verläßlicheren Leistungen zu kommen, nicht für
völlig unsinnig halten.
Die Geschichte der Soziologie scheint diese These durch ihr negatives Beispiel zu stützen,
zum mindesten auf den ersten Blick. Die Sprachverwirrung auf nationalen und interna-
tionalen Kongressen ist nahezu unerträglich. Scheinkontroversen sind ebenso häufig wie
echte Konflikte, bei denen der Versuch des Austrags mit wissenschaftlichem Vokabular
die wirkliche Natur des Konflikts nur verhüllt. Der Mangel an tragfähigen Kommuni-
kationsformen verhindert auch da, wo ein >>Gleichziehen« im Interesse aller liegen
müßte - z. B. in der Entwicklung von Forschungstechniken - die Erreichung eines ge-
meinsamen Niveaus 1• Neuentstehende Richtungen fangen nicht deshalb in mancher
Hinsicht neu bei Adam und Eva an, weil dies der neue Denkansatz erfordert, sondern
weil ihnen das in anderen Schulen bereits Erarbeitete schlicht unbekannt bleibt, oder
weil es wegen der Suspektheit des Gegners ignoriert wird. So sind Kontinuitätsbrüche,
Rückfälle hinter bereits Erreichtes und Unsicherheit darüber, »WO man steht« und >>Was
man weiß«, an der Tagesordnung. Daß für diesen Zustand zu einem großen Teil von
>>außen her<< eindringende ideologische Einflüsse und interessenbestimmte Rahmenbe-
dingungen mit verantwortlich sind, läßt sich kaum bestreiten.
Zu fragen wäre nur, warum der Zustand >>pubertärer Unausgeglichenheit<< so lange
andauert. Die Soziologie ist keine junge Wissenschaft mehr. Sie ist gute 100 Jahre alt 2 •
Hierfür lassen sich viele Entschuldigungsgründe anführen. Man wird zwar nicht
Kultivierung »vorwissenschaftlicher" Orientierungsformen 177
leugnen können, daß es in der Soziologie viel Selbstkritik auf hohem Reflexionsniveau
gegeben hat und daß viele Versuche unternommen wurden, endlich die gemeinsame
Ebene verbindlicher wissenschaftlicher Aussagen zu finden. Wenn diese Versuche ihr
Ziel nicht erreichten und mitunter die Schulzerklüftung nur beförderten, anstatt sie ab-
zubauen, so hat dies sehr viele Ursachen, die hier nicht im einzelnen abgehandelt wer-
den sollen. Wir wollen auf einige Ursachen eingehen, die struktureller Art sind und
deren Wirksamkeit in der Soziologie nicht zu beseitigen ist, es sei denn, man wolle aus
ihr eine ganz andere Wissenschaft machen.
Bei der Erörterung der Ursachen, die die Soziologie daran hindern, dem Ideal, das sich
die meisten Wissenschaftler gesetzt haben, und dem auch viele Soziologen nachstreben,
näherzukommen, geht es uns aber nicht nur um eine Apologie. Unsere These lautet viel-
mehr, daß ein gewisses asketisches und puritistisches Wissenschaftlichkeitspathos, oder
besser Verhaltensweisen, die wir als nicht spezifisch wissenschaftlich ansehen und in der
Tat im Wissenschaftsbetrieb stilfremd wirken, aus der Soziologie zu verbannen, diese
Wissenschaft in ihrem Kern, d. h. im Vollzug ihrer Forschungsarbeit schädigen müßte.
Außerdem würden die institutionellen Rahmenbedingungen des Forschungsbetriebs
und die Möglichkeiten der Soziologie, sich in der Außenwelt verständlich zu machen
und sich durchzusetzen, bedroht.
Die erwähnten strukturellen Gründe liegen erstens in der Natur der Thematik und in
der Art, wie die Soziologie ihr typischerweise begegnet. Zweitens in gewissen grund-
sätzlichen methodischen Komplikationen, die sich bei der Bearbeitung dieser Thematik
ergeben; drittens in den typischen sozialen Bedingungen, unter denen diese Thematik
typischerweise bearbeitet werden muß.
II
Die Soziologie befaßt sich primär mit sozialen Strukturen und Prozessen in modernen
Industriegesellschaften. Diese Beschränkung ist nicht strikt, sie ist auch nicht systema-
tisch zu begründen. Die Soziologie wirft auch einen Blick auf vergangene vorindu-
strielle Gesellschaftsformen, ferner auf heutige nichtindustrialisierte Gesellschaften mit
alter Kultur, wie auch auf die Sozialstrukturen in schriftlosen Kulturen. Sie tut dies
aber zumeist mit der Absicht, Kontrastmodelle zu den industriegesellschaftlichen Ver-
hältnissen zu finden, um letztere in ihrer Eigenart besser zu verstehen, und lebt bei der
Vergegenwärtigung von solchen Kontrastmodellen oft aus zweiter Hand: meist- nicht
immer - verläßt sie sich auf die Erkenntnisse von Historikern und Ethnologen, deren
.A"rbeitsergebnisse sie freilich auf ihre Art interpretiert. Dies hat sich u. a. auch aus dem
Zwang zur Arbeitsteilung ergeben, dertrotzder Bedeutung der jetzt nur noch interdis-
ziplinär zu bearbeitenden Grenzgebiete sich als zweckmäßig erwiesen hat.
Die thematische Priorität, die die industrialisierten Gegenwartsgesellschaften genießen,
ist sowohl historisch erklärbar als auch theoretisch nachvollziehbar.
Spezifisch für die Soziologie ist nicht der Gegenstand »Gesellschaft«, mit dem sich ja
auch andere Disziplinen befassen, auch nicht die Methode - die in der Soziologie ver-
wendeten Methoden werden ebenfalls auch in anderen Wissenschaften verwendet -,
sondern die Art des Fragens 3• In einer bestimmten geschichtlichen Situation kommt es
178 Hans Paul Bahrdt
zugleich zu einer Erweiterung und einer Zuspitzung des Fragens nach gesellschaftlichen
Zusammenhängen, weil diese in der damaligen Gegenwart in einer bestimmten Weise
fragwürdig wurden. Es war vielleicht nicht notwendig, aber doch wahrscheinlich, daß
in dem Augenbli~, in dem die industrielle Revolution auch bedrohliche soziale Ver-
änderungen hervorbrachte, die Unzulänglichkeit herkömmlicher Denkweisen über ge-
sellschaftliche Phänomene entde~t wurde und die Forderung nach einer besonderen
Wissenschaft von der Gesellschaft (primär der gegenwärtigen im Umbruch befindlichen
Gesellschaft) laut wurde.
Eine solche neue Gesellschaftswissensmaft fordert z. B. L. v. Stein, weil nach seiner An-
sicht die herkömmlichen Staatswissenschaften nicht in der Lage seien, ein so wichtiges
Phänomen der Gegenwart wie das moderne Proletariat, das kein Stand wie andere
Stände ist, zu verstehen 4 • Auch K. Marxist der Begründer einer Denkweise über die
Gesellschaft, die spezifisch soziologisch ist, obwohl sie zugleich in ihrem Anspruch die
Grenzen der späteren Soziologie übersmreitet. Weil die frühe bürgerliche Ökonomie
nur einen Aspekt wirtschaftlimen Geschehens, nämlich nur die Tauschprozesse, jedoch
nicht die sozialen Strukturen des Produzierens analysiert, und damit offenkundig Pro-
bleme, um die es in einer bestimmten geschichtlichen Situation geht, verfehlt, bzw. ver-
schleiert, erweitert Marx die ökonomische Frageweise zu einer sehr viel weiteren Frage-
stellung, in der Eigentum, Tausch, Produktion, Herrschaft und Bewußtsein als Teil-
aspekte eines umfassenden kohärenten Gesellschaftsprozesses sichtbar werden.
Es war vor allem das praktische politische Interesse an aktuellen gesellschaftlichen Pro-
blemen, welches zur Entstehung der Soziologie führte, zugleich paradoxerweise aber
auch das Versagen der herkömmlichen ausgesprochen praxisbezogenen und deshalb ein-
geengten Frageweisen (z. B. der ökonomischen oder juristischen).
Vielleicht läßt sich die spezifisch soziologische Erweiterung und Zuspitzung des Fragens
mit folgender Formel charakterisieren: Soziale Verhältnisse werden daraufhin befragt,
durch welche typischen sozialen Verhaltensweisen sie zustandekommen. Typische
soziale Verhaltensweisen werden im Hinbli~ auf ihre Bedingtheit durch soziale Ver-
hältnisse untersucht. Anders ausgedrü~t: Soziale Phänomene, die als objektiv gegeben
sind und den Anschein des »An-sich-Seins« haben, werden als Produkte menschlichen
Interagierens erklärt. Menschliches Handeln wird aber wiederum nicht primär in sei-
nem subjektiven Verlauf beschrieben und aus sich selbst gedeutet, sondern primär aus
seiner Bedingtheit durch objektive Gegebenheiten erklärt, d. h. durch Tatsachen, die
jenseits des Zugriffs der handelnden Subjekte liegen.
Auf die erkenntnistheoretischen Probleme, die dieser ständige Wechsel zwischen Objek-
tivation des Gegenstandes und verstehendem Eintauchen in seine Subjektivität mit sich
bringt, kann hier nicht eingegangen werden. Festzuhalten ist, daß diese doppelte Frage-
richtung in einer geschimtlichen Krisensituation naheliegt, in der »objektive Institutio-
nen und »objektiver Geist« fragwürdig werden, und in der Ethik im überlieferten
Sinn und Theologie die Subjektivität nimt mehr enträtseln können. Die Forschungsme-
thoden, mit denen der Rekurs von den Verhältnissen auf die Verhaltensweisen, und
von diesen wieder auf die hinter ihnen stehenden Verhältnisse konkret vollzogen wird,
lassen sich wiederum am ehesten in einer Gesellschaft anwenden, in der man selbst lebt,
und die - wie es moderne Gesellschaften tun - fast unbegrenzte Daten liefert, obwohl
Kultivierung »vorwissenschaftlicher« Orientierungsformen 179
Erlebnis ist nidtt nur ein vorgefundenes fertiges Material, das dann in wissenschaft-
lidter Weise zum Objekt gemacht wird, sondern das Erleben selbst muß audt gelernt
werden. Das gilt erst recht für das stellvertretende Miterleben, das sich »Hineinverset-
zen« in ein anderes Subjekt.
Uns interessiert jetzt nicht primär die erkenntnistheoretische Frage nach der Legitimität
und überprüfbarkeit des »Verstehens«, sondern die Tatsache, daß im Anfang der
soziologischen Arbeit und später immer wieder in Akten der Rü&.besinnung Verhal-
tensweisen vorkommen, die im allgemeinen nidtt für typisdt wissenschaftlich gehalten
werden. Selbstverständlidt muß jedes konkrete wissenschaftliche Tun damit rechnen,
daß es hinter die speziellen Rationalitätsnormen der Wissensdtaft zurückfallen kann.
Eine besondere Norm in der Wissensdtaft ist, solchen Anfedttungen zu widerstehen und
sie unter Kontrolle zu bringen. Hier aber zeigt sich etwas anderes: Die Forderung
lautet nicht, so schnell und radikal wie möglich ein faktisch auftretendes, nichtrationales
Verhalten zu überwinden, sondern gerade bei diesem zu verweilen, es zu verfeinern
und den ridttigen Zeitpunkt abzupassen, in dem die Objektivation des subjektiv Ver-
ansdtaulidtten oder Erlebten zu beginnen hat.
Blickt man jetzt auf die jeweils vorgestellten Inhalte, so bedeutet dies, daß das Denken
des Soziologen über lange Strecken sich in Vorstellungen bewegt und bewegen muß, die
nidtt die eigentlich soziologisdten sind. Dies liegt nicht nur daran, daß es z. B. einfadt
Mühe madtt, einer kompakten Institution den Sdtein des »An-sidt-Seins« zu rauben
und sie als einen sidt wandelnden Prozeß von Handlungen zu erkennen, oder daß es
einer Anstrengung bedarf, um in der einleudttenden individuellen Wunschvorstellung
eines Subjekts einen Ausfluß soziokultureller Medtanismen zu erkennen. Sondern ein
gewisses Zaudern in der Formulierung der spezifisdt soziologischen Fragestellung, das
Verweilen bei dem Angeschauten, der schweifende Blick, der die Bilder vervollständigt,
das Eintauchen in fremde Gemütszustände und das Ausreifenlassen eigener Empfin-
dungen verkörpern eine unentbehrlidte Tugend, so riskant soldtes Verhalten sein mag.
Das Risiko besteht darjn, daß gegebene Identifikationsneigungen sidt verfestigen, oder
daß ein persönlidtes oder gruppenspezifisdtes Problem der IdentitätsEindung zu einer
romantisdten Verklärung des Forschungsobjekts führt. Der linke Intellektuelle, der sich
in einer bürgerlidten Existenz nidtt wohlfühlt, glaubt etwa im Industriearbeiter ein
Symbol ungebrodtener seelischer und körperlicher Kraft des Volkes zu entdecken. Das
»Unbehagen in der Kultur« verführt den Ethnosoziologen zur Idealisierung einer Pri-
mitivkultur. Hieraus entsteht nidtt nur blinde Liebe sondern u. U. auch ein strukturell
falscher Denkansatz. Die fremde Situation wird - nur mit umgekehrten Vorzeidten -
spiegelbildlich in Analogie zur eigenen Situation strukturiert. Der Primitive wurde so
zum »edlen Wilden«, weil die eigene Gesellschaft als unedel und gekünstelt erlebt
wurde. Die Perspektivität der Begriffe »edel« und »wild« verhindert die Einsicht, daß
»Andersartigkeit« ja nicht unbedingt das »Gegenteil« bedeuten muß, bzw. daß das-
jenige, was als »Gegenteil« ersdteint, u. U. sehr nebensädtlich sein kann.
Aber das Risiko der »Übertragung« und der spiegelbildlidten Projektion muß einge-
gangen werden, weil die Umformung des thematisierten »sozialen Problems« in ein
»soziologisches Problem« ja stets audt Abstraktionsleistungen mit einschließt, d. h. audt
ein Ausklammern von Phänomenen und die Auslöschung von Nuancen, die möglicher-
Kultivierung »vorwissenschaftlicher« Orientierungsformen 181
weise bedeutsam sind. Die Reduktion des Phänomenbestandes durch Abstraktion ist
dann legitim, wenn man sich darüber klar ist, daß das Vernachlässigte zur Lösung des
Problems nichts beiträgt. Dies ist jedem geläufig, der bei der Auswertung empirischer
Daten zunächst vom Computer eine Vielzahl von Tabellen erstellen läßt und nach
kurzer Prüfung den größeren Teil als irrelevant beiseitelegt.
Im Grunde liegt aber eine ähnliche Situation schon vor, wenn Erhebung und Auswer-
tung in weiter Ferne liegen, ja sogar die verbale Problemformulierung und die anschlie-
ßende Operationalisierung noch gar nicht begonnen haben. Hier ist jedoch das ungehin-
derte Sammeln von Eindrücken, Bildern und Erlebnisbeständen vonnöten. Es bringt das
Spielmaterial sowohl für spätere theoretische Innovationen als auch für erfolgreiche
Oberprüfung von Ergebnissen. Vorzeitige Anstrengung des Begriffs schneidet den Pro-
zeß der Anreicherung des Phänomenbestandes ab und preßt mit großer Wahrschein-
lichkeit kohärente soziale Wirklichkeit in vorgegebene Klassifikationssysteme, die die
Phänomene deformieren müssen.
Will man diese Ietztenendes unvermeidliche >>Deformation<< gering halten, so bedarf es
hierzu gerade nicht spezifisch wissenschaftlicher Methoden, sondern es sind Verhaltens-
weisen nötig, die im Widerspruch zur gewohnten wissenschaftlichen Arbeitsdisziplin
stehen. Man muß abwarten, sich Zeitnehmen können, bereit sein, sich ablenken zu las-
sen.
Man kann nun beobachten, daß dieselben, dem wissenschaftlichen Habitus widerspre-
chenden, aber den wissenschaftlichen Erfolg mitgarantierenden Verhaltensweisen auch
später im Vollzug der Forschungsarbeit immer wieder gebraucht werden. Auch wenn
eine Forschung nach Plan abläuft, wird das Kanalsystem, in das sie eingebettet wurde,
immer wieder problematisch. In der Feldforschung fallen Interviewäußerungen an, die
in das vorgegebene Kategorienschema überhaupt nicht hineinpassen, oder die man erst
einordnen kann, wenn man ein Ohr für den lokalen Jargon bekommen hat.
Im übrigen darf man den hohen Informationswert der informellen Begegnungen und
Erlebnisse, die die Feldarbeit in einem dem Forscher fremden Milieu mit sich bringt,
nicht unterschätzen: die Gespräche in der Stehkneipe vor dem Werkstor, der Werks-
klatsch, die Atmosphäre des Ledigenheims, in dem man wohnt, die häuslichen Einla-
dungen in Familien aus anderen sozialen Schichten, die Art, wie zufällige Ereignisse aus
Sport oder Politik in dem Milieu diskutiert werden, das man untersucht, werden zu-
meist nicht in einem Untersuchungsplan vorgesehen werden können, sie bringen aber
häufig unbezahlbare Anregungen für die Hypothesen-Bildung.
H. Schelsky hat in einem Brief an den Verfasser einmal geäußert, jede empirische
Untersuchung habe ihr methodisches Schicksal. D. h. jede Untersuchung gerät durch me-
thodische Vorentscheidungen, trotz vorbereitenden Literaturstudiums und trotz der
Pretests in Situationen, auf die sie methodisch nicht vorbereitet ist: sie muß sich damit
abfinden, daß sie zu einem zu spät entdeckten Problem keine legitimen Aussagen mehr
machen kann. Das Mitleben im untersuchten Milieu, die aufmerksame Registrierung
von Eindrücken, Bildern und Redewendungen, wie sie die den Forschungsprozeß be-
gleitenden informellen Kontakte mit sich bringen, bereiten gewissermaßen ein Netz, in
das man fällt, wenn das spröde unelastische Seil der methodischen Planung reißt. Man
fällt wenigstens nicht ins Bodenlose und man versteht, warum man heruntergefallen ist.
182 Hans Paul Bahrdt
Man erkennt das Problem, an dem man vorläufig smeitert und entgeht der Gefahr, die
jede Software-Wissensmaft bedroht, nämlim einen Irrtum oder das Ausbleiben von
Ergehnissen namträglim doch nom irgendwie als ein sinnvolles Ergebnis zu interpretie-
ren.
Der Rückgriff auf vorwissensmaftlime Orientierungsformen ist aber in der Soziologie
aum deshalb erforderlich, weil der Forsmungsprozeß so gut wie immer ein sozialer
Prozeß ist, der sich nimt nur unter Famsoziologen abspielt. Das Objekt sind Subjekte,
die über sim spredlen können. Sie tun dies aber nidl.t nur in der Redeweise und der
Ruhrizierung, wie es etwa in einem Fragebogen vorgesehen ist. Sie antworten mehr und
anders als sie gefragt sind. Der Mensm ist das Wesen, das immer mehr und anders ant-
wortet, als es gefragt ist. (Mir sdl.eint dies eine der wenigen anthropologismen Konstan-
ten zu sein, die es gibt.) Sie wollen aum wissen, warum sie gefragt werden und sim z. B.
der künstlimen Gesprächssituation eines Interviews unterziehen sollen. Sie haben ein
Redlt auf Beantwortung dieser Frage.
Der Soziologe, gleimgültig ob er mit einem Interviewten, oder mit der Smlüsselperson
eines Betriebs, einer Gemeinde oder einer anderen Institution sprimt, ist also gezwun-
gen, das, was er vorhat, zu erklären. Er kann dies nimt durm Formulierungen, die sim
auf der Höhe seines augenbliddimen wissensmaftlimen Reflexions-Niveaus befinden.
Die anständigste, ehrlimste und zugleim erfolgreimste Form, sim zu erklären, ist der
Rückgriff auf jene vorwissenschaftlimen Formulierungen des sozialen Problems, von
denen er selbst seinerzeit ausgegangen ist, und mit denen er sim nom auf der Kommuni-
kationsebene einer breiteren tlffentlimkeit befand.
Bisher haben wir von sog. »Vorwissenschaftlimen« Verhaltensweisen gespromen, wie sie
unmittelbar heim Vollzug der Forsmungsarheit auftreten. Khnlimes gilt aber aum für
jene Situationen, in denen der Soziologe die Bedingungen seines wissensmaftlimen Tuns
in der sozialen Umwelt simern muß. Er steht vor einem vergleimbaren Kommunika-
tionsproblem, wenn er Auskünfte von Vertretern anderer Famdisziplinen erfragt,
wenn er die Hilfe nimtwissensdl.aftlimer Hilfskräfte benötigt, und wenn er zwismen-
durch mit der Presse und mit Finanzierungsinstanzen verhandelt. Es ist bekannt, daß
über die Finanzierung größerer Forsmungsobjekte stets Personen mitentsmeiden, die
auf dem zu erforsmenden Gebiet nimt Famleute sind, z. B. Ministerialbeamte oder
aum Wissensmaftler aus anderen Disziplinen, die aus oftmals guten Gründen einem
Entsmeidungsgremium angehören. Sie sind zumeist zwar Akademiker, in der Mehrheit
sind sie in der speziellen Wissensmaft, um die es geht, nimt zu Hause. Außerdem ist
inzwismen allgemein anerkannt, daß insbesondere soziologisme Forsmungsprojekte im
engen Kontakt mit Nambarwissensmaften betrieben werden sollen. Aber in welmer
Sprame und in welmen Argumentationsformen nun über die Grenzen der Famwissen-
schaft hinaus über fachliche Fragen gesprochen wird und gespromen werden soll, ist
kaum bekannt. Wahrsmeinlidl. wissen viele Soziologen selbst nidl.t, warum ihnen
Außenkontakte mandlmal gelingen, und warum mandlmal zu ihrem Leidwesen anein-
ander vorbeigeredet wird. Genaugenommen ist aber die Frage nam den Stufen und
Typen der legitimen und ebenso der illegitimen Popularisierung für ihn nimt nur ein
wimtiges praktismes Problem, sondern aum ein interessantes famsoziologismes Thema.
Wie sieht die halb- und viertelwissensmaftlime Kommunikation aus, von der wir erhof-
Kultivierung »vorwissenschaftlicher« Orientierungsformen 183
fen, daß sie den Kosmos der Wissenschaft zusammenhält? Ganz auseinandergefallen ist
er ja merkwürdigerweise noch nicht. Wie wird ein Forschungsantrag begründet, wenn
die Begründung über das Vorhaben einigermaßen informiert, zugleich aber schlüpfrig
genug ist, um auf dem Dienstweg durch die Kanäle der Bürokratie von Instanz zu
Instanz zu wandern?
Besitzt sein Thema aktuelle Bedeutung oder politische Brisanz, so ergeben sich schon
während der Untersuchung, auf jeden Fall aber nach ihrem Abschluß Auseinanderset-
zungen, in denen der Soziologe sein Vorgehen und seine Ergebnisse in einer Sprache
rechtfertigen muß, die nicht die soziologische Fachsprache ist. Nicht nur das Vokabular,
sondern auch die inhaltlichen Elemente und die Denkfiguren der Sätze, mit denen er
sich verteidigt, müssen Nichtsoziologen und Nichtwissenschaftlern so plausibel sein und
vertraut werden können, daß sie wenigstens einen Teil der neuartigen Gedanken ver-
stehen. Sicherlich wäre es wünschenswert, daß sich die Zahl kompetenter »Science-
Writer« vermehrt. Aber auf lange Zeit dürfte es empfehlenswert sein, wenn der Sozio-
loge in der Lage ist, sein eigener Journalist und der Initiator für die Umsetzung seiner
Befunde in die politische Praxis zu sein.
Aus all diesen Überlegungen ergibt sich nun, daß ein Soziologe, der sich bei seiner
Arbeit stets in den spezifischen sprachlichen Formen und den Denkweisen der sozio-
logischen Subkultur bewegt, zwangsläufig scheitern muß. Er würde vielleicht schon gar
nicht ein Thema von gesellschaftlicher Bedeutung entdecken; auf jeden Fall wird er sein
Thema verkürzt formulieren und damit den Wert der Arbeitsergebnisse gefährden. Er
wäre nicht in der Lage, während der Arbeit jene unspezifischen sozialen Kontakte her-
zustellen, die die Basis für den spezifischen Informationsfluß darstellen, den er metho-
disch erstrebt. Er besäße weniger Möglichkeiten, die Gefahren abzuwehren, die aus der
Unelastizität der Forschungstechniken und der Projektplanung jederzeit entstehen kön-
nen. Er kann sich nicht gegenüber Geldgebern, Öffentlichkeit, Wissenschaftlern aus
Nachbardisziplinen und Politikern in der Weise rechtfertigen, wie es nötig ist, um jene
partielle Unabhängigkeit zu bewahren, die er für seine Wissenschaft behaupten möchte,
und die er für die Durchsetzung eigener politischer Ansichten, welche auf seinen Ergeb-
nissen basieren, braucht. Er wäre ein »reiner« Wissenschaftler. Aber der Raum, in dem
er »reine« Wissenschaft betreibt, falls ihm ein solcher überhaupt zugebilligt wird, wäre
ein steriles Gefängnis.
In
Hoffentlich ist in den bisherigen Partien deutlich geworden, daß es uns nicht darum
ging, durch wissenschaftstheoretische Ausführungen nachzuweisen, worin die Wissen-
schaftlichkeit der Soziologie besteht. Wenn wissenschaftstheoretische Fragen anklangen,
dann wurde ihnen bewußt nirgends gründlich nachgegangen, weil sie von unserem
Thema abgeführt hätten. Vielmehr sollte pragmatisch aufgezeigt werden, daß die Ar-
beit des Soziologen nicht gelingen kann, wenn er in puristischer Weise sein berufliches
Gesamtverhalten zu verwissenschaftlichen sucht.
Nun könnte man freilich sagen: Dann muß man die Wissenschaft anders definieren.
184 lfans Paul Bahrdt
Dies wäre erwägenswert. Aber Ietztenendes läuft dies auf einen terminologischen Streit
hinaus. Jene von uns als »Vorwissenschaftlich« bezeichneten Verhaltensweisen könnten,
da sie notwendige Konstituentien der wissenschaftlichen Arbeit sind, auch »wissen-
schaftlich« genannt werden. Sicher sind sie aber nicht »spezifisch« wissenschaftlich. Die
inhaltliche Frage, wie sich in der Soziologie das Verhältnis der spezifisch wissenschaft-
lichen Verhaltensweisen zu anderen Verhaltenstypen, die wir auch und insbesondere in
anderen Lebensbereichen vorfinden, gestaltet, und ob Stilbrüche oder gar Widersprüche
auftreten, wäre mit der unsrigen Frage nach den »vorwissenschaftlichen« Attitüden
identi~ch.
Uns scheint diese Frage vor allem aus praktischen Gründen der Hochschuldidaktik be-
deutsam zu sein. Aus der Bedeutsamkeit für die Praxis ergibt sich sicher nicht, daß unser
Thema pragmatisch abgehandelt werden muß. Es verdient durchaus eine theoretische
Vertiefung. Freilich müßten wir dann so viel Verästelungen der Philosophiegeschichte,
der heutigen Wissenschaftstheorie und der Psychologie des Denkens und Lernens nach-
gehen, daß nur ein dickes Buch die zerfaserten Gedanken zusammenknoten könnte.
(Vielleicht entstünde ein »gordischer Knoten«.)
Das wichtigste didaktische Problem läßt sich aber schon jetzt formulieren. Zunächst:
Das didaktische Problem ist zugleich ein pädagogisches: Es ist eine Frage der Persönlich-
keitsentwicklungund der Bildung, ob es gelingt, junge Soziologen davon zu überzeugen
(bzw. dazu zu bringen, daß sie es selbst erfahren), wie nötig es ist, zu erkennen, welchen
Stellenwert wissenschaftliches Vorgehen überhaupt und soziologisches im Besonderen
im Rahmen der verschiedenen Orientierungsweisen über die Gesellschaft hat. Es ließe
sich auch theoretisch begründen, daß die Auffassung, wissenschaftliches soziologisches
Vorgehen bringe in jedem Fall zu jedem Zeitpunkt die bestmögliche Orientierung über
gesellschaftliche Zustände, eine höchst unsoziologische Denkweise ist. Wenn es wahr ist,
daß erst in einer bestimmten Phase der Geschichte Menschen in der Lage gewesen sind,
soziologisch zu denken, und die Gesellschaft sich in einem Zustand befand, daß sie sich
für eine spezifisch soziologische Fragestellung öffnete; wenn es weiterhin zutrifft, daß
Dichter, Propheten, Philosophen und Politiker auch vorher sich recht klug über die Ge-
sellschaft geäußert haben, so liegt doch die Frage nahe: Gibt es nicht auch heute Sozia-
les, das sich seiner Natur nach der spezifisch soziologischen Frageweise noch - oder
schon wieder- entzieht? Sind die heute üblichen Modelle und Methoden der Soziologie
wirklich für alle sozialen Phänomene geeignet? Wer läßt sich interviewen? Was läßt
sich zählen? Wo bleibt der elaborierte Code und die Grammatik der Volkssprache, die
zum großen Teil aus Gestik, Sprachmelodie, und vielsagenden Sprechpausen besteht,
wenn unsere Protokolle aus abendländisch verkürzter Lautschrift bestehen? (Im Viet-
namesischen verwendet man neben lateinischen Buchstaben zahlreiche Ergänzungszei-
chen, die den Tonfall charakterisieren. Dieser hat so wichtige grammatische und inhalt-
liche Bedeutung, daß ohne sie kein geschriebener Satz verständlich ist. Unsere Sprache
braucht angeblich solche Zeichen nicht. Es genügen 29 Buchstaben, Komma, Punkt,
Semikolon und Fragezeichen. Aber gilt dies nicht nur für jene Volksschichten, die nichts
sagen, was sie sich nicht auch in geschriebener Form vorstellen können? Wessen Code ist
eigentlich restringiert?)
Vorgängig oder begleitend zum Studium sollte der Soziologe eine »ästhetische Erzie-
Kultivierung »vorwissenschaftlicherc Orientierungsformen 185
hung« erfahren. Das Wort »ästhetisch« ist hier sowohl in der ursprünglichen als auch in
der heute üblichen Sprache gemeint. Er sollte einerseits lernen, genau wahrzunehmen
und zu empfinden, ohne Tendenz zu gestalthafter Vereinfachung und Harmonisierung.
(Die Dadaisten verurteilen die Kunst, weil sie die Welt »ordnend durchduftet«.) Frei-
lich benötigt er auch einen Sinn für gestalthafte Vereinfachungen und Verdichtungen,
für dramatische Szenen, die Widersprüche veranschaulichen, wenn er nicht in der Addi-
tion von Dthails ertrinken will.
Vielleicht sollte das Grundstudium außer Einführungen in empirische Sozialforschung,
Grundbegriffe, Statistik, auch Kurse im Zeichnen enthalten. Jedenfalls sollte der Sozio-
loge gut zu Fuß sein. Der schweifende, aber aufmerksame Blick beim Gang durch eine
fremde Stadt hat gewisse Ähnlichkeit mit dem des Pilzsuchers. Er ist geschärft für Auf-
fäHigkeiten des Geländes und Eindrücke, die auf Ungereimtes verweisen. Aber er ist
nicht gefesselt an einen Fragen-Katalog, der nur »Ja« und »Nein«-Antworten zuläßt.
Natürlich muß der Soziologe auch die Romane der Weltliteratur lesen. Oft sind es nicht
diejenigen der höchsten literarischen Qualität, aus denen er am meisten lernt. Fast noch
wichtiger ist es aber, die ästhetischen Gesetze der Volkssprache zu kennen, die Scham-
haftigkeit, die sich hinter deftigen Ausdrücken verbirgt, die Dramaturgie des Gesprächs
an der Theke, das mit vorsichtigem Abtasten beginnt, anekdotische und Streitphasen
durchläuft und u. U. mit der Offenlegung privatester Nöte endet.
Anmerkungen
Z. B. brauchte die neuerliche Kritik, die Marxisten und Anhänger der Kritischen Theorie an
den unleugbaren Schwächen, der empirischen »Bindestrich-Soziologienc üben, nicht so oft zur
Ignoranz gegenüber bewährten Forschungsmethoden zu führen.
2 Wann die Entstehung der Soziologie anzusetzen ist, wird vermutlich eine Streitfrage bleiben.
Aber es lassen sich gute Gründe dafür anführen, die Mitte des vorigen Jahrhunderts zu nen-
nen, jene Zeit, in der auch der Name »Soziologie« erfunden wurde. Es ist jene Zeit, in der
sich gleichzeitig jene besondere Weise des soziologischen Fragens entwickelt, von der später
die Rede ist.
3 Sicher ist es problematisch, die Art des Fragens von der Methode begrifflich zu trennen. Es
gibt ja auch »methodisches Fragen«. In unserem Zusammenhang ist es aber richtig, jene Ent-
wicklung von Fragestellungen, die der Wahl der Mittel, welche zu gesicherten Antworten füh-
ren, vorausgeht und letztere determinieren sollte, gesondert zu betrachten. Letztenendes
besteht natürlich eine Wechselbeziehung, sowohl eine legitime, die vor unfruchtbarer
Metaphysik bewahrt, als auch eine illegitime, in der die Problemstellungen unter das Diktat
forschungstechnischer Machbarkeit geraten.
4 Vgl. L. v. Stein: Die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Leipzig 1850, insbeson-
dere die Einleitung.
Gegenstand und Methode.
Am Beispiel der Wissenschaftslehre Max Webers
Günter Dux (Linz)
Rezeption und Bedeutung des Weber'schen Werkes weisen ein Kuriosum auf: aus-
gerechnet seine wissenschaftstheoretischen Aufsätze haben ein Maß an Aufmerksamkeit
zu erregen vermocht, hinter der die übrigen Arbeiten zurücktreten. An Bekanntheit
gleich sind ihnen am ehesten noch die religionssoziologischen, insbesondere »Die prote-
stantische Ethik und der Geist des Kapitalismus<<. Die jedoch sind ihrerseits durch ein
deutlich in den Vordergrund gerücktes wissenschaftstheoretisches Interesse bestimmt.
Niemand wäre über diese Verteilung der Wertschätzung verwunderter gewesen als
Weber. Denn Weber war kein Logiker und wollte keiner sein. Zeit seines Lebens hat er
sich als bloßer Dilettant auf diesem Gebiet gefühlt. Nur die Not der Verhältnisse ver-
anlaßte ihn, sich mit erkenntnistheoretischen Fragen zu befassen. Auch unter diesem
Zwang ging seine Absicht lediglich dahin, das in der Erkenntnistheorie absolut Selbst-
verständliche in der methodelogischen Diskussion der ihm vertrauten Disziplinen: der
Nationalökonomie, der Geschichte, Jurisprudenz und schließlich der Soziologie zur
Geltung zu bringen.
Die exzessive Beachtung gerade dieses Teils seiner Lehre ist gleichwohl nicht ohne
Grund. Wenn es richtig ist, daß der welthistorischen Entwicklung der Strukturwandel
einer explikativen Matrix zu Grunde liegt, dann wird ein Denken umso mehr auf
Beachtung rechnen können, je entschiedener es diesen Wandel in den eigenen Prämissen
hervorhebt. Eben das hat Weber getan. Er hat mit einer seltenen Klarheit den histo-
rischen Stand in der Entwicklung dieser Matrix zum Ausdruck gebracht und die daran
gebundenen Theoreme, die das Denken seiner Zeit bestimmten, herauszuarbeiten
gewußt. Es war sonderlich jenes dem Menschen an der Wende der Neuzeit zugewach-
sene Wissen, das für ihn den absoluten Primat beanspruchte: Die Wirklichkeit, so wie
sie sich für den Menschen darstellt, als dessen eigenen Entwurf auffassen zu müssen.
Wenig mehr als dies war der Gedanke, der ihn Kant verpflichtete. Es war allerdings
mehr als nur ein Gedanke. In ihm verdichtete sich, was man die >>relativ natürliche
Weltanschauung<< der Zeit nennen könnte. Deshalb auch bestimmte er weit mehr, als
nur den Ansatz der Weber'schen Erkenntnistheorie und Methodologie. Er durchsetzte
seine gesamte wissenschaftliche Arbeit und war für Webers praktisch-politische Tätig-
keit ebenso bestimmend wie für sein privates Leben. Selten ist ein erkenntnistheore-
tischer Satz mit einer derartigen Leidenschaft in die eigene Persönlichkeit integriert
worden wie dieser.
188 Günter Dux
Es ist dieses Theorem, Wirklimkeit nur als selbst gesetzten Entwurf zu haben, das un-
bedingt an den Anfang der Wissensmaftslehre Webers gehört. In jeder der Streitsmrif-
ten steht es an zentraler Stelle: Wir sind es, wir, die Betramter, die den Stoff zum indi-
viduellen Objekt formen; keinesfalls ist es das Objekt selbst, das sim uns in seiner
Eigenheit aufdrängt. Erst dadurm, daß wir es in den Blick fassen, formt es sim zu dem,
was es für uns ist. Erst der Blick des Feldherrn, Künstlers, religiösen Virtuosen mamt
die Landsmaft zu dem, als was sie ihm ersmeint. Wenn aber smon im alltäglimen Leben
sim die Dinge und Vorgänge jedem versmieden darstellen, je nam Individualität und
Standort, so erst redtt für ein im Vergleim zur natürlimen Lebenswelt erklärtermaßen
konstruktives Verfahren wie das der Wissensmaft. Auf der kategorialen Ebene war
längst selbstverständlim, daß der Grund für die Formung des Objekts im Subjekt zu
sumen ist. Wenn mit den kategorialen Formen allein nimt auszukommen ist, jedenfalls
nimt in allen Bereimen der mensmlimen Lebenswelt und nimt auf allen Ebenen ihrer
»denkenden Bewältigung«, so muß dom das Grundprinzip nimt minder aum für die
darüber hinausgehende Formgebung gelten. Aum sie kann nirgends anders als im Sub-
jekt selbst ihren Ursprung finden. Xußerlim nimmt sim deshalb die eigens für die
Kulturwissensmaften entworfene neukantianisme Wissensmaftslehre, der Weber an-
hing, wie eine formale Analogie zu der an den Naturwissensmaften entwickelten Er-
kenntniskritik Kants aus. So wie für Kant Natur überhaupt nur das war, was sim für
uns vermöge des methodologismen Zugangs nam allgemeinen Gesetzen darstellt, so
sind die Objekte der Sozialwissensmaften das, was durch den Wertbezug als Objekt
gebildet worden ist. Unterschiedlidt sind mithin nur die Konstruktionsformen: Gesetze
hier, Werte dort. Der Grund dieser analogen Betradttung liegt jedom nidtt, wie häufig
zu lesen, in einer wie immer begründeten formalen Analogie des Verfahrens. Der
Grund dieser analogen Betrachtung ist in der erkenntnistheoretischen Konstellation
der Zeit zu sumen, jener, der Wirklidtkeit nur als Entwurf verständlich wird. Dieses
Prinzip: die Vorlagerung des empirismen Subjekts vor die von ihm erst entworfene
Wirklimkeit muß notwendig für die Kulturwissenschaften nidtt anders als für die
Naturwissensdtaften gelten. Allein dadurch und nimt durm irgendeine schulmäßige
Affinität wird auch erklärt, weshalb Weber sim mit den Logikern seiner Zeit, Rickert
vor allem, einig wußte und vermeinte, nichts als das absolut Selbstverständlime zur
Geltung zu bringen.
Weber hat keine Gelegenheit ausgelassen, den Kulturwissensmaften dieses Prinzip zum
Bewußtsein zu bringen. Seine erkenntnistheoretismen Smriften sind Variationen dieses
einen Themas, nur verteilt auf die versmiedeneu Disziplinen. Smon in dem Aufsatz
über Rosmer und Knies radikalisiert er es derart, daß jede stoffliche Bestimmtheit aus-
gelöscht wird. Was zum »Stoff« eines Gegenstandes gemacht wird, bestimmt erst die
Entscheidung des Forsmers. Deshalb wendet er sich gegen die Simmel'sche Vorstellung,
der Historiker sei an den Stoff der Untersumung gebunden, in der Formung dieses
Objekts zur historismen Gestalt dagegen frei. Umgekehrt deucht Weber das Verhältnis
richtiger dargestellt zu sein: Erst die vom Forsmer getroffene Auswahl der leitenden
Gegenstand und Methode 189
Werte bringt das Material zusammen und schafft aus ihm das historische Individuum.
Erst der subjektive, vom Forscher selbst gesetzte Wertbezug schafft das, was überhaupt
Gegenstand der Forschung ist. Und eben darin ist der Forscher frei. Denn der Wertbezug
liegt der Betrachtung und wissenschaftlichen Formung des Objektes noch voraus. Was
für den Forscher Bedeutung erlangt, so heißt es in dem Aufsatz über die »Objektivität«
der sozialwissenschaftliehen Erkenntnis, »das ist natürlich durch keine >voraussetzungs-
lose< Untersuchung des empirisch Gegebenen zu erschließen, sondern seine Feststellung
ist Voraussetzung dafür, daß etwas Gegenstand der Untersuchung wird.« (WL 175 f.) 1
Der Stoff selbst gewinnt in dieser durch die Logik des erkenntnistheoretischen Ansatzes
hingerissenen Gedankenführung keinerlei Eigenwert. Ganz unzweideutig heißt es des-
halb in dem gleichen Aufsatz:
»Wenn immer wieder die Meinung auftritt, jene Gesichtspunkte könnten dem >Stoff selbst ent-
entnommen< werden, so entspricht das der naiven Selbsttäuschung des Fachgelehrten, der nicht
beachtet, daß er von vornherein Kraft der Wertideen, mit denen er unbewußt an den Stoff her-
angegangen ist, aus einer absoluten Unendlichkeit einen winzigen Bestandteil als das heraus-
gehoben hat, auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt.« (WL 181)
Nicht minder ausdrücklich weist er wenig später auch die Vorstellung zurück, die For-
mung des »historischen Individuums<< habe sich daran zu halten, was die historischen
Akteure ihrerseits an Wertbezügen subjektiv in dem jetzt zum Objekt der Forschung
gemachten Gegenstand investiert hätten. Daran ist manches richtig. Weber versteht sich
jedoch wiederum ausschließlich zur Antithese. Ohne seine Aussage irgend weiter abzu-
decken, einzuschränken und vor Mißverständnissen in Schutz nehmen zu wollen,
erklärt er es für allein entscheidend, was >>wir<< in dem Objekt an Werten finden
>>können<<, weil, so ist hinzuzufügen, wir es so sehen.
Es ist allemal die gleiche historische Konstellation, die das Prinzip zu Wort bringt:
Wirklichkeit ist nur als vom Menschen entworfene Wirklichkeit denkbar. An der abso-
luten Vorlagerung des Subjekts, die damit verbunden scheint, prallen alle anderen Ein-
wände ab. Wenn an ihnen überhaupt etwas richtig ist, dann müssen sie auf anderem
Wege berücksichtigt werden. An der absolutistischen Logik des Entwurfs selbst kann
es keinen Zweifel geben.
Die absolute Vorlagerung des empirischen Subjekts, der sich jedwede Wirklichkeit nur
als eigener Entwurf darstellt, hat ihr notwendiges Komplement in einer spezifischen
Auffassung jener Wirklichkeit, die es für den Betrachter, insbesondere den wissenschaft-
lichen, zu erfassen gilt. Denn >>irgend etwas« gilt es schließlich zu erfassen. Anders wäre
es überhaupt sinnlos, länger noch von Erkenntnis zu sprechen. Allein, was jene Wirk-
lichkeit darstellt, auf die sich das Erkennen richtet, ist nicht ohne weiteres zu sagen. Ist
die Formung des Objekts allemal erst das Werk des Subjekts, so bleibt nurmehr übrig,
sich die noch nicht durch dieses Filter gegangene Wirklichkeit als >>amorphen Stoff«
vorzustellen. Das ist nur eine andere, negativ gefaßte Ausdrucksweise, für die vom
Subjekt in Anspruch genommene Gestaltungsmacht. Auf der kategorialen Ebene war
damit auszukommen. Hier genügt es, den doch offenkundigen »naturalen input<< einer
unbestimmten Wirklichkeit zuzuschreiben, die sich in der chaotischen Reizüberflutung
zur Geltung brachte. Anders auf der methodologischen Ebene, jedenfalls der Sozial-
wissenschaften. Auf ihr muß bereits von einer kategorialen, insbesondere einer kausalen
Strukturierung der Wirklichkeit ausgegangen werden. Mehr freilich ist aus der Position
dessen, der sich der Entwurfslogik verschreibt, auch hier nicht auszumachen. Aus seiner
Position nimmt sich die soziale Wirklichkeit als amorphes Gefüge kausaler Beziehungen
aus. In einer unübersehbaren Fülle sind sie miteinander verflochten. Dabei waltet ein
eigenartiges Kausalverständnis ob. Es ist nicht jene Kausalität, die notwendig an den
Begriff des Gesetzes gebunden ist. Gewiß, auch sie spielt ihre Rolle in der Weber'schen
Wissenschaftslehre. Wenn es jedoch darum geht, die Wirklichkeit selbst als jenes unent-
wirrbare Knäuel kausaler Beziehungen darzustellen, so ist dabei jene Vorstellung lei-
tend, wie sie im alltäglichen Leben zu finden ist: ihr zufolge ist ein Ereignis kausal, das
ein anderes aus sich entstehen läßt. Weber selbst beruft sich mehrfach auf diese >>Sub-
jektskausalität des Alltags<<. (WL 107) In ihr wird einzelnes mit einzelnem verbunden.
Eben deshalb gebühren jenem vorwissenschaftliehen Stoff die Prädikate, durch und
Gegenstand und Methode 191
durch individuell und irrational zu sein. Rickert hat von jener Wirklichkeit als einem
Abyssus an Individualität gesprochen. »Wohin wir den Blick richten«, heißt es, »finden
wir eine ständige Andersartigkeit; und eine solche Vereinigung von Heterogenität und
Kontinuität ist es, die der Wirklichkeit jenes eigentümliche Gepräge der Irrationalität
aufdrückt« 2• Auch für Weber nimmt diese noch ungeformte Wirklidtkeit Züge einer
chaotischen Individualität an 3,
Für den, der der Logik des Weber'schen Denkens nicht unterworfen ist, mag es auf den
ersten Blick überraschend sein, daß ausgeredtnet Weber, der der Soziologie die Aufgabe
stellt, »soziales Handeln deutend zu verstehen«, die Wirklichkeit in ein derartiges Grau
in Grau gezeichnetes Einerlei kausaler Abläufe auflöste. Denn damit, so könnte es
scheinen, sei jedes sinnhafte Moment von vornherein eliminiert. Allein, so ist es nicht.
Weber wußte beides zu vereinen, glaubte es jedenfalls zu wissen. Sinnmomente figu-
rierten als causa der Handlung. Eben deshalb konnte er die angeführte Aufgabe der
Soziologie dahin ergänzen, durch das motivationaleVerstehen des Handeins es in sei-
nem kausalen Ablauf und seinen Wirkungen kausal zu erklären. (WiGes 1, 1, 1) 4 Daß
Menschen sinnhaft handelten, ihre Wirklichkeit in sinnhafter Weise organisierten, hin-
derte ihn nicht im geringsten, an der Vorstellung eines unentwirrbaren Stratums rein
kausaler Beziehungen als »Urstoff« der wissensdtaftlichen Berachtung festzuhalten. Im
Gegenteil! Gerade die sinnhafte Bestimmung menschlid:J.en Handeins bildete das Vorbild
jener »Subjektskausalität des Alltags«, die den Kausalverlauf in der individuierten
Beziehung zwischen Ursache und Wirkung sieht. Auf ganz die gleiche Weise gelang es
Weber, mit jenem Wissen fertig zu werden, an dem schließlid:J. keine Sozialwissenschaft
vorbeigehen kann: den in Normen institutionell verfestigten sozialen Verkehrsformen.
Natürlidt wußte auch Weber, daß die soziale Wirklichkeit normativ strukturiert ist,
das alltägliche Leben in relativ festen Formen abläuft. Dadurch schien ihm jedodt über
ihre methodisdte Behandlung noch nicht entschieden. Methodologisdt gaben Normen für
Weber die Motivation ab, zu bestimmten Verhaltensweisen und Verhaltenserwartun-
gen. Als Bestandteil der Motivation aber bildeten sie eine neben unzähligen anderen
Bedingungen sozialen Handelns. Daraus einen Einwand gegen die Annahme herleiten
zu wollen, daß erst die Bestimmung des Betradtters das wissensd:J.aftliche Objekt forme,
»die Wirklichkeit selbst« nidtts als ein Aggregat kausaler Beziehungen sei, war für
Weber unvorstellbar.
Begreift man die erkenntnistheoretisdten Theoreme als Ausdruck einer Iogismen Struk-
tur, die die interpretative Matrix der Wirklidtkeitsauffassung bildet, so wird nidtt nur
verständlich, weshalb der erkenntnistheoretisd:J.e Streit immer zugleich um das rechte
Verständnis der Wirklichke~t geht, sondern zugleich das Selbstverständnis des Mensdten
einbezieht. Wie immer der Zusammenhang beschaffen sein mag, der Mensd:J. kann sid:J.
nur aus jener Wirklidtkeit verstehen, innerhalb derer er agiert. Das aber heißt, daß er
sein Selbstverständnis mit der ihn umgebenden Wirklichkeit ändert. Er zieht seinem
eigenen Schaffen nach. Das hat auch Weber gewußt. Deshalb war für ihn die dezidierte
192 Günter Dux
Die entschiedene Vorrangstellung, die Weber der Subjektivität einräumte, führt, ver-
bunden mit der zu ihr gehörigen Wirklimkeitsauffassung, zu einer Konsequenz, die
smwerlich akzeptabel ist: Wenn sim die Wirklichkeit als nimts denn ein unendlimes
Chaos kausaler Beziehungen darstellt, wenn wirklich einzig und allein erst die durch
und durch subjektive Wertbestimmung des Betramters einzelne dieser Beziehungen
zu historischen Individuen zusammenfaßt und damit zu Gegenständen der sozial-
wissensmaftlichen Forsmung macht, dann ist es nicht nur sinnlos, von den Kultur-
wissenschaften irgendeine Objektivität zu erwarten, vielmehr wird der Begriff der Er-
kenntnis überhaupt ad absurdum geführt. Die Notwendigkeit des Verzichts auf jed-
wede Objektive zu demonstrieren, betramtet F. Tenbruck denn aum als das eigent-
liche Ziel der wichtigsten methodologismen Schrift Webers, eben des Aufsatzes über
»Die >Objektivität< sozialwissensmaftlimer und sozialpolitismer Erkenntnis.« Natür-
lim ist dann aum die weitere Konsequenz unvermeidlim, daß Webers Methodologie als
ganzes uns samlieh nimts, aber auch gar nichts mehr zu sagen hat 5 • Es ist mehr als
Gegenstand und Methode 193
Die Vorstellung, alle Wirklidtkeit sei vom Menschen selbst entworfen, gehört audt
gegenwärtig zum »gesidterten« Bestand der Erkenntnistheorie und im weitesten Sinne
der Weltanschauung unserer Zeit. Allein, das ist nur die eine Seite. Wir können es un-
möglidt bei ihr bewenden lassen. Denn auf der anderen gilt für jede Wissensdtaft, daß
sie darauf aus ist, ihren Gegenstand in den Griff zu bekommen. Worauf denn sonst?
Immer also ist intendiert, etwas über die Sadte selbst zu sagen, über das, was sie ist,
auch wenn sie dieses, was sie ist, im Filter unserer Anschauung bricht. Wir gehen nicht so
weit wie Rickert, der meinte, jede Erkenntnis, die Wahrheit für sidt in Anspruch nehme,
müsse ganz unabhängig davon gelten, ob jemand sie sich zu eigen mache 6 • Das ist eine
problematische Annahme. Aber daran halten wir fest, daß für jedwede Wissenschaft
und also auch für die Sozialwissenschaft der Gegenstand eine Eigenständigkeit bean-
sprucht, auf die sich das Erkenntnisinteresse richtet. Anders hätte es, wie gesagt, keinen
Sinn, überhaupt von Erkenntnis zu sprechen. Die Frage kann deshalb nur sein, wie das
Wissen darum, daß sich jede Wirklichkeit nur als zeit- und kulturgebundener Entwurf
des Menschen darstellt mit dem andern zu vereinen ist, daß in jedem Entwurf zugleich
eine Wirklichkeit faßbar wird, die gegen ihn abgehoben ist. Diese Frage ist das eigent-
liche Problem der Methodologie. Nichts anderes ist verlangt, als zu sadlhaltigen Aussa-
gen zu kommen. Sie stellt sich für die Naturwissensdlaften anders als für die Kultur-
resp. Sozial- und Geisteswissenschaften.
Für die Naturwissenschaften ist uns die Annahme, der Wirklichkeit die Konstrukte wie
ein Netz überzuwerfen und sie selbst dahinter zu verbergen, ganz selbstverständlich.
Wenn es dazu noch eines Beweises bedarf, die Diskrepanz, die zwischen dem besteht,
was uns in der alltäglidten Lebenswelt Natur ist und dem, was sich in den Naturwissen-
schaften als Natur darstellt, hat ihn uns geliefert. Hier wenigstens scheint der Primat
der Methode gewiß. Die schon erwähnte Bestimmung, wonadt Natur das ist, was sich
uns nach allgemeinen Gesetzen darstellt, ist nur ein anderer Ausdruck dafür. Wir wis-
sen nur das, was die Methode uns wissen läßt. Daran ist schwerlich zu rütteln. Fraglich
aber ist, ob damit auch schon erwiesen ist, daß die Methode vor aller Erkenntnis steht.
Jeder Versuch, gegen den Primat der Methode und die dahinter stehende Logik etwas
auszuridtten, setzt sich dem Mißverständnis aus, einmal mehr den längst als unsinnig
194 Günter Dux
In den Naturwissensdtaften ist die Annahme, das Procedere liege dem Gegenstand vor-
aus, bedeutungslos. Die Forschungspraxis bestimmt und belegt nicht nur den Inhalt des
Gegenstand und Methode 195
einzelnen Gesetzes, sondern damit zugleich die Form selbst. Das Objekt kann seine
Funktion, die Bedingung für inhaltliche Wahrheit oder Falschheit einer naturwissen-
schaftlichen Aussage darzustellen, nicht erfüllen, ohne zugleich die Wahrheit der For-
men, in die die Aussage gefaßt ist, mitzubestätigen oder zu verwerfen. In der For-
schungspraxis wird daher die Unterscheidung von Form und Inhalt hinfällig. Daß
Natur das ist, was in allgemeinen Gesetzen sich darstellt, gilt nicht oder jedenfalls nicht
allein deshalb, weil sich der Forscher von vornherein mit diesem Instrumentarium an
das Objekt heranmacht; oder weil er ein auf Herrschaft und also Wiederholbarkeit
gerichtetes Erkenntnisinteresse verfolgte. Das Interesse allein vermöchte ihm nicht zum
Erfolg zu verhelfen. Entscheidend ist, daß sich im Umgang mit der Wirklichkeit die
Möglichkeit erwiesen hat, den Gegenstand konstant zu setzen. Eben deshalb ist die
philosophische Vorstellung, die Form noch vor aller Erfahrung anzusiedeln, für den
Naturwissenschaftler rein spekulativ. Im Forschungsprozeß selbst darf und muß davon
ausgegangen werden, daß die Bedingung der Möglichkeit ebenso auf die Seite des Sub-
jekts wie des Objekts fällt.
Es fällt demnach nicht schwer, das zuvor schon erwähnte Mißverständnis, als gehe es
darum, sich in einer erkenntnistheoretisch naiven Weise zu vergewissern, im Besitz der
Sache zu sein, zu zerstören. Es geht einzig darum, auch in den Naturwissenschaften die
Dialektik des Erkenntnisprozesses, die nicht zu durchbrechende Vermittlung von
Subjekt und Objekt nicht zugunsten einer vermeintlich autonomen Entwurfslogik auf
die Seite zu setzen. Auch wenn es uns für die Naturwissenschaften gleichgültig sein
kann, für die Erkenntnistheorie insgesamt ist es von strategischer Bedeutung, bereits für
sie darauf zu beharren, den Gegenstand nicht als dem Konstrukt transzendent oder
auch nur verborgen zu denken. Was immer er sein mag, jedenfalls wird er in den Kon-
strukten faßbar. Das zu betonen ist in unserem Zusammenhang deshalb wichtig, weil in
den Sozialwissenschaften erst recht alles darauf ankommt, die Objektseite hervorzu-
kehren. Auch die Sozialwissenschaften sind mit eigenständigen Objekten befaßt, die
irgendwie in die Konstrukte, mit denen sie begriffen werden, eingehen müssen. Freilich
sind sie anderer Art. Auch das Problem, sie zu erfassen, stellt sich daher anders.
Die Soziologie hat es mit Artefakten zu tun, mit Formen, die sich als Resultat gesell-
schaftlicher Tätigkeit ergeben haben. Das gilt ebenso für die Formen der sozialen Or-
ganisation, wie für die Konstrukte der Theorie auf den verschiedenen Ebenen der Ab-
straktion. Wie immer der Unterschied methodologisch zu Buche schlagen mag, zunächst
einmal ist festzustellen, daß beide, Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften ihr
Erkenntnisinteresse auf unterschiedliche Objekte richten. Gewiß, auch die Naturwissen-
schaften haben es mit Konstrukten zu tun. Gerade an der Natur hat sich der Artefakt-
charakter der Wirklichkeit am frühesten erwiesen. Allein, anders als die Naturwissen-
schaft, deren Konstrukte dazu dienen, um ein anderes, dem Menschen Fremdes greifbar
zu machen, richten die Sozialwissenschaften ihr Interesse auf Objekte, die an sich schon
Artefakte sind. Ihre Gegenstände existieren in keinem denkbaren Sinne »von Natur
aus«. Eigenständigkeit in dem gleichen Sinne, wie wir sie den Objekten der Natur
196 Günter Dux
zusprechen, eignet ihnen deshalb nicht. Wir können von ihnen sinnvollerweise nicht
sagen, daß sie auch dann wären, wenn kein Mensch wäre und zu sagen vermöchte,
was sie sind. Die Gegenstände der Sozialwissenschaften werden vom Menschen ge-
schaffen und sind zu ihrer Dauer darauf angewiesen, daß es Menschen gibt, die sich
ihrer Sinnhaftigkeit zu vergegenwärtigen vermögen. Außerhalb dieser Aktualisierung
und Aktualisierungsmöglichkeiten existieren sie nicht. Diese Eigenart, nur in der Auf-
fassung derer zu existieren, die sie in ihrer Sinnhaftigkeit erfassen, verändert die er-
kenntnistheoretische Problematik.
Fehlt den Objekten der sozialwissenschaftliehen Erkenntnis jene Eigenständigkeit, wie
sie den naturalen Objekten zugesprochen werden muß, so auch die naturale Konstanz.
Soweit überhaupt gleichbleibende Formen auszumachen sind, sind sie eng an die Kör-
perzone gebunden und als Erkenntnisobjekt der Sozialwissenschaften nur von margi-
naler Bedeutung. Denn gerade jene Gruppe, die im Zentrum des sozialwissenschaft-
liehen Interesses steht, die normative Organisation, in der sic:h die Beziehungen der
Menschen untereinander kristallisieren, ändert sich in der Weise, in der die Menschen ihr
Dasein anders einrichten. Als Konstrukte sind sie dem Wandlungsprozeß ausgesetzt,
dem die Konstrukteure sie unterwerfen. Eben darin liegt die Historizität des Gegen-
standes. Sieht man genauer hin, läßt sic:h der Unterschied zu den Naturwissenschaften
leicht bestimmen: Insofern als die Natur jeweils nur das ist, als was sie uns in den Kon-
strukten erscheint, ist auch die Naturwissenschaft mit einem »historischen Gegen-
stand« befaßt. Gerade sie kann für sich in Anspruc:h nehmen, Entwicklung und Fort-
schritt aufzuweisen. Allein, es ist der Fortschritt der Verhandlung, nicht des Gegenstan-
des selbst. Im Gegenteil: aller Fortschritt in der Verhandlung beruht darauf, daß der
Gegenstand selbst als gleichbleibend gesetzt werden kann. Naturwissenschaftliche Theo-
rien lassen sich deshalb auf ein Tableau der Gleichzeitigkeit transponieren; wahr oder
falsch lassen sich entscheiden, als wäre eine jede zugleich mit der anderen entstanden.
Anders in den Sozialwissenschaften. Hier ist es der Gegenstand selbst, der sich ändert.
Die Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht deshalb unumgänglich darin, den Gegen-
stand in seiner historisch konkreten Form zu erfassen.
Natürlich ist diese Eigenart der sozialwissenschaftliehen Objekte jedem Soziologen
mehr oder minder deutlich bewußt; ebenso ist die Historizität der menschlichen Lebens-
welt unabhängig von Couleur und Schule anerkannt. Damit ist jedoch nicht entschie-
den, welc:hen Stellenwert sie im System der jeweiligen Wissensc:haftslehre und damit
auch der durchgeführten Wissenschaftspraxis einnehmen. Das aber ist in diesem Zusam-
menhang die einzig interessierende Frage. Erkenntnistheoretische Strukturen sind hart
und dauernd. Sie bringen es fertig, das Offenkundige zu verdecken und dem nahelie-
gendstenWissen nur unter den größten Schwierigkeiten Rechnung zu tragen. Auch
dafür ist Weber ein Musterbeispiel.
etwas über das antike Judentum oder die mittelalterliche Stadt zur Kenntnis bringen
und nicht über seine eigenen Vorstellungen von irgend etwas, das, man weiß nicht
wie, mit diesem Begriff in Zusammenhang gebracht wird. Immer wieder hat er als
entscheidend den empirischen Ausweis, der nach subjektivem Zuschnitt erfolgt~n Kon-
strukte bezeichnet. Und weshalb sollte er wie ein Besessener gegen den nicht ausrott-
baren Hang, subjektive Werturteile im wissenschaftlichen Gewande zu bieten, ge-
kämpft haben, wenn nicht, um eine trotz allem zu erreichende Objektivität der Wis-
senschaft zu sichern? Gewiß, für uns stellt sich die rigoros und rücksichtslos hervorge-
kehrte Logik, Wirklichkeit nur als Entwurf des Beobachters zu haben, als unvereinbar
mit der Behauptung einer Objektivität der Erkenntnis dar. Allein, eben in diesem Zu-
sammenhang bringt sich die Rolle in Erinnerung, die jenen Widersprüchen zugeschrie-
ben werden muß, die sich als Konsequenz der historischen Entwicklung herausbilden.
Sie sind Ausdruck des Widerstandes der das Denken bestimmenden Logik gegen ein
besseres Wissen, das in aller Regel schon der Autor erworben hat. Fast immer finden
sich deshalb die Einwände in nuce schon bei ihm selbst. Einen Text historisch interpre-
tieren heißt deshalb weder, ihn auf die eine der widersprüchlichen Erklärungen fest-
zulegen, noch durch Konkordanz aller möglichen Außerungen stimmig zu machen, was
im konkreten Zusammenhang unstimmig ist.
In seiner vorteilhaftesten Ausprägung besteht sie in dem Nachweis, daß der Autor
selbst immer schon klüger war, als die Zeit ihm zu sein erlaubte.
Offensichtlich schien Weber durch die Subjektivität der das Forschungsobjekt konsti-
tuierenden Wertungen und Wertbeziehungen die Objektivität der sozialwissenschaft-
liehen Erkenntnis nicht in Frage gestellt zu sein. Er sah sich deshalb durch das auf Objek-
tivität bedachte Erkenntnisziel jedweder Wissenschaft nicht im mindesten genötigt, von
der rigorosen Formulierung der Entwurfslogik Abstriche zu machen. Weber meinte,
was er sagte, wenn er auf der einen Seite die Subjektivität der sozialwissenschaftliehen
Erkenntnis hervorhob, auf der anderen jedoch für sie eine Objektivität reklamierte, die
der in den Naturwissenschaften prinzipiell nicht nachstehen sollte. Das Dictum ist be-
kannt, verdient aber in Erinnerung gerufen zu werden. Weber erklärt:
»Denn es ist und bleibt wahr, daß eine methodisch korrekte wissenschaftliche Beweisführung auf
dem Gebiete der Sozialwissenschaften, wenn sie ihren Zweck erreicht haben will, auch von einem
Chinesen als richtig anerkannt werden muß ... « (WL 155).
Notabene: hier ist von der Geltung sozialwissenschaftlicher Aussagen als Erfahrungs-
wahrheiten die Rede, also unzweideutig von etwas, das in der empirischen Wirklichkeit
selbst anzutreffen ist, an ihr erfahren werden kann. Daß Weber in der Tat von der
Faktizität des Objekts ganz ebenso ausging wie jeder andere, zeigt sich an jener schon
zu Webers Zeiten brisanten Problematik, eben der Historizität der sozialwissenschaft-
liehen Objekte einer- und der sozialwissenschaftliehen Erkenntnis andererseits. Weber
hat in dieser Frage eindeutig Stellung bezogen, und zwar geradezu wider alle Logik
seines erkenntnistheoretischen Ansatzes.
Weber befand sich mit seinen methodologischen Schriften in einem Zweifronten-Krieg.
Er selbst rechnete sich, insbesondere in der Nationalökonomie, zur historischen Schule.
Die aber stand in der Folge eines Denkens, das seit seinen ersten Anfängen, etwa bei
198 Günter Dux
G. Vico, Front gemacht hat gegen einen mathematischen Rationalismus. Die historische
Schule der Nationalökonomie insbesondere wandte sich gegen ein Wissenschaftsver-
ständnis, das unterschiedslos im Gesetzeswissen das Erklärungsziel suchte. Freilich
verbargen sich hinter der Absicht, die Wirklichkeit in Gesetzen faßbar machen zu wol-
len, die allerverschiedensten Vorstellungen. Insbesondere waren jene, die eine »Gesetz-
lichkeit« der Geschichte zum Inhalt hatten, von denen, die die Gesetzlichkeit der Natur
im Auge hatten, entweder überhaupt nicht oder in ganz unzulänglicher Weise unter-
schieden. Weber faßte sie, soweit es um die hier erörterte Front ging, unter dem Begriff
des Naturalismus zusammen und bezog insbesondere die marxistische Geschichtsphilo-
sophie in diese Klassifikation ein. Gegenüber diesem Naturalismus suchte er die Kul-
turwissenschaften in Schutz zu nehmen. Das Ansinnen, es sei ihre vornehmliehe Auf-
gabe, nach Gesetzen im Objektbereich ihres Interesses zu suchen, wies er entschieden
zurück. Er erklärte:
>>Immer wieder hat man geglaubt, das entscheidende Merkmal auch in den Kulturwissenschaften
in letzter Linie in der >gesetzmäßigen< Wiederkehr bestimmter ursächlicher Verknüpfungen fin-
den zu können. Das, was die >Gesetze<, die wir in den unübersehbar mannigfaltigen Ablauf der
Erscheinungen zu erkennen vermögen, in sich enthalten, muß - nach dieser Auffassung - das
allein wissenschaftlich Wesentliche an ihnen sein: sobald wir die >Gesetzlichkeit< einer ursäch-
lichen Verknüpfung, sei es mit den Mitteln umfassender historischer Induktion als ausnahmslos
geltend nachgewiesen, sei es für die innere Erfahrung zur unmittelbar anschaulichen Evidenz
gebracht haben, ordnet sich hier jeder so gefundenen Formen jede noch so groß gedachte Zahl
gleichartiger Fälle unter. Was nach dieser Heraushebung des >Gesetzmäßigen< jeweils von der
individuellen Wirklichkeit unbegriffen verbleibt, gilt entweder als wissenschaftlich noch unver-
arbeiteter Rückstand, der durch immer weitere Vervollkommnung des >Gesetzes<-Systems in dies
hineinzuarbeiten sei, oder aber es bleibt als >zufällig< und eben deshalb als wissenschaftlich
unwesentlich überhaupt beiseite, eben weil es nicht >gesetzlich begreifbar< ist, also nicht zum
>Typus< des Vorgangs gehört und nur Gegenstand >müßiger Neugier< sein kann.« (WL 171 f.).
3. Methodologische Konsequenzen
Wer wie Weber derart nachdrücklich die Aufgabe der Sozialwissenschaften in den Vor-
dergrund rückt, die durch und durch historische Wirklichkeit in ihrer jeweiligen Einzig-
artigkeit zu verstehen, die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen innerhalb
der gesamtgesellschaftlichen Beziehungen zu erfassen (WL 170 f.), der übernimmt die
Beweislast dafür, daß sich der Bedeutungszusammenhang überhaupt erschließen läßt.
Die alles entscheidende Frage ist auch hier die nach den Bedingungen dieser Möglich-
keit. Die Frage ist mit Bedacht in Analogie zu der Kantischen Erkenntniskritik formu-
liert. Denn gerade gegen die analoge Übertragung sind gravierende Bedenken geltend
gemacht worden. Eingedenk dessen, daß wir es in den Kulturwissenschaften mit Objek-
ten zu tun haben, die einzig und allein unserer eigenen Schöpfung entstammen, erklärt
H. Plessner, daß die transzendentale Frage nach der Möglichkeit nicht gestellt werden
könne, ohne die Objekte zu entfremden.
,. Was gegenüber den Erkenntnisoperationen an Dingen, die an sich unverständlich sind: Stein,
Farbe, Wasser, Blatt, gerechtfertigt ist, die transzendentale Frage nach ihrer Möglichkeit darf
nicht - auch nicht formal - auf Erkenntnisoperationen an Dingen, die an sich schon verständlich
sind: Buch, Inschrift, Satz, Wort, angewandt werden. Dann eben setzt man sie als das schon an,
was man gerade um jeden Preis von ihrem Wesen fernhalten will: als eine zweite Natur. Dann
hängt man auch sie zwischen zwei transzendentalen Polen auf und nimmt ihrer Beweglichkeit
und Lebendigkeit den entscheidenden Sinn.« 7
So berechtigt es ist, diesen Unterschied hervorzukehren, die implizite damit wie selbst-
verständlich in Anspruch genommene Erkenntnismöglichkeit droht, das Kernproblem
zu verdecken.
Die Annahme liegt nahe, sinnhafte Schöpfungen seien uns von Hause aus deshalb zu-
gänglich, weil wir selbst ebenfalls in einer sinnhaft geformten Wirklichkeit lebten. Daß
nichts Menschliches uns fremd ist, würde dann bedeuten, daß keine Kultur und keine
200 Günter Dux
Sinnschöpfung von der unseren so weit entfernt ist, daß wir uns nicht irgendwie den
Zugang zu ihr zu verschaffen wüßten. Es dürfte schwerfallen, diese Annahme gänzlich
abzuweisen. Allein, sie bleibt die Antwort auf die durch die Historizität aufgeworfene
Frage schuldig. Denn zunächst einmal ist festzustellen, daß durch sie die Entwurfslogik
nur noch bestätigt und radikalisiert worden ist. Jetzt nämlich ist die Frage zu beant-
worten, wie unter den Bedingungen einer erklärtermaßen einmaligen Kultur der Zu-
gang zu fremden Kulturen und damit zu fremden Sinnschöpfungen gefunden werden
kann. Setzt man den eigenen Standort absolut und läßt alle Wirklichkeit im Entwurf
auf ihn konvergieren, so scheint das Gelingen ganz und gar unmöglich.
Es ist gleichwohl richtig, darauf zu insistieren, daß die damit aufgeworfene Problema-
tik der transzendentalen Frage, wie die Erkenntnis der Natur als einer uns prinzipiell
fremden möglich sei, nicht gleichgesetzt werden kann. Nur drohen uns die Schöpfungen
früherer und anderer Kulturen vom Standpunkt der absoluten Entwurfslogik aus nicht
minder fremd zu werden. Wer sagt denn, daß wir uns wirklich mit der Kultur der
Inkas befassen und nicht nur mit unseren ganz absonderlichen Vorstellungen von ihr?
Ist es doch allemal unsere Logik, mit der wir sie betrachten, nicht die ihre 8 • Auch in
diesem Zusammenhang bestätigt sich danach, daß die methodologische Problematik der
Kulturwissenschaften sich zwar nicht einfach in formaler Analogie zu den Naturwis-
senschaften entwickelt, aber aus der gleichen erkenntnistheoretischen Konstellation re-
sultiert. Das jedenfalls kann nicht zweifelhaft sein: gerade weil die Kulturwissenschaf-
ten es mit vorkonstituierten Objekten zu tun haben, stellt sich auch für sie das Problem
des Zugangs zu ihnen. Es ist bis heute nicht gelöst worden.
Die neukantianische Wissenschaftslehre ist sich des erkenntnistheoretischen Dilemmas,
in das sie durch die Entwurfslogik versetzt wurde, nur langsam bewußt geworden. Sie
hat insbesondere gemeint, es durch die Unterscheidung zwischen Werturteilen und
Wertbeziehungen zu entschärfen. Ihr wurde von Weber ebenso wie von Rickert ent-
scheidende Bedeutung zugeschrieben.
Der Unterschied zwischen Werturteil und Wertbeziehung ist begrifflich einfach zu fas-
sen: Werturteile fordern eine eigene Stellungnahme dessen, der sie fällt. Sie sind
evaluativer Natur. Wertbeziehungen dagegen gehören in den Bereich des Kognitiven.
Man kann die Wertbezogenheit sozialer und kultureller Gegebenheiten feststellen, ohne
selbst dazu Stellung zu nehmen. Wertbeziehungen scheinen daher so recht geeignet, jene
temperierte Atmosphäre bloßer Feststellungsurteile zu liefern, die allgemein als Ideal
der Wissenschaft gelten. Die Wertbeziehungen vor allem scheinen es den Kulturwissen-
schaften zu ermöglichen, aus der Distanz der eigenen fremde Kulturen zu begreifen.
Rickert sieht denn auch nicht das Werturteil, sondern die Wertbeziehung als konstitutiv
für die Kulturwissenschaft an. Wertbeziehungen haften »am Objekt<< kulturwissen-
schaftlicher Forschung. Eben deshalb erlauben sie es, dem Forscher bei dem zu bleiben,
was ist und sich selbst der Wertung zu enthalten. Ober die Wertbeziehung wird mithin
das Objekt selbst in die Forschung eingeführt, sei es auch nur durch die Hintertür 9.
Gegenstand und Methode 201
Bezeichnenderweise nimmt sich die Rolle, die der Unterscheidung von Weber beigemes-
sen wird, weniger eindeutig aus. Vergegenwärtigt man sich den ureigensten Ansatz
Weber'schen Denkens, dann kann nicht zweifelhaft sein, daß das Werturteil und nicht
die Wertbeziehung als konstitutiv für das historische Objekt erachtet wird. Die oben
wiedergegebenen Äußerungen sprechen eine deutliche Sprache. Andernorts rückt frei-
lich auch Weber die Wertbeziehung in den Vordergrund. Man könnte meinen, die
verschiedene Akzentuierung sei leicht erklärlich: Insofern nämlich, als jede Wertbezie-
hung auf einer Auswahl beruht, enthält sie auch ein Werturteil. Andererseits ist, wie
schon erwähnt, nicht zweifelhaft, daß jede Erörterung, die mit Wertbeziehungen zu tun
hat, nicht deshalb schon impliziert, daß sich der Forscher die Wertungen auch zu eigen
macht. Daß Bismarck sich von nationalstaatliehen Erwägungen bestimmen ließ, werden
auch und gerade jene seiner Gegner hervorheben, denen eine Politik in internationaler,
weltbürgerlicher Absicht am Herzen liegt. So plausibel sich die Erklärung ausnimmt,
mit ihr ist das Problem noch gar nicht berührt. Das nämlich kommt erst in den Blick,
wenn man mit der bloßen Wertbeziehung mehr oder weniger deutlich die Vorstellung
verbindet, das historische Individuum selbst , in seiner eigenen präformierten Gestalt zu
erreichen. Diese Annahme steht nam wie vor quer ZU der Behauptung, daß erst wir, die
Betrachter, durm unsere Wertung das jeweilige historische Individuum als Objekt der
Forschung bilden. Dann nämlich ist nicht einzusehen, wie es möglich sein soll, von
»fremden Wertbeziehungen« und durch sie schon konstituierten Objekten überhaupt zu
reden. Immer und unentrinnbar sind es unsere eigenen Anschauungen und Werte, nicht
die der fremden. Das gilt ebenso für das Verstehen des anderen in der alltäglichen
Kommunikation wie für das Verstehen fremder Kulturen insgesamt. Weber hat für die
zuerst erwähnte Ebene ein anschauliches Beispiel genannt: Die Vorstellung eines Arti-
sten auf dem Seil erleben wir gewiß nur, wenn wir in der Lage sind, uns in den Artisten
selbst zu versetzen. Ebenso sicher ist jedoch, daß wir nicht das erleben, was der Artist
auf dem Seil erlebt. Die Diskrepanz gilt in ungleich stärkerem Maße für das Verstehen
von Objekten fremder Kulturen. Wirrekelmann sah die griechischen Statuen mit ande-
ren Augen als die Griechen selbst; wir sehen sie anders als Winckelmann. Offenkundi-
ger nom smeint der Umstand, daß alle derartigen Betrachtungen nichts als unsere
Konstrukte sind in den Fällen, in denen wir ganze Epochen, wie z. B. das Mittelalter
oder epochenübergreifende Kulturphänomene wie das Christentum oder Gebilde wie
das Deutsche Reich mit eben diesen Begriffen belegen. Weber hat gerade die letzteren
Beispiele als Bestätigung seiner Grundthese angesehen, daß nichts, was wir auffassen,
von sich aus ist, als was es uns erscheint. In der Tat: Jedes weist deutlich sichtbar Züge
unserer eigenen Zeit und der durch sie geformten Anschauung auf. Daran also kann gar
kein Zweifel bestehen: irgendein Abbildverhältnis werden wir nicht zustande
bringen 10 •
Und doch muß unser Sehen irgendwie einen Anhalt im Objekt finden, irgendwie muß
in ihm enthalten sein, was wir in ihm zu finden vermeinen. Trotz des eigenen Wertur-
teils muß deshalb ein Weg zu den Wertbeziehungen des Objekts selbst gefunden wer-
den. Auch Weber hat nicht gemeint, daß wir Beliebiges in beliebige Objekte hineinlesen
könnten. So heißt es in dem schon oben angeführten Zitat, ein historisches Individuum
als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung bilde sich dadurch, daß wir den gei-
202 Günter Dux
stigen Gehalt, »den >wir< in ihm >niedergelegt< finden«, bestimmen (WL 253). ObgleidJ.
der Zusammenhang unzweideutig die Betonung auf das »wir« legt,- finden im strikten
Sinn kann man nur, was sdJ.on vorhanden ist. Irgendwie muß danam die Wertung, mit
der wir an das Objekt herangehen und die Wertbeziehung, durm die wir seine gerade
ihm eigene Individualität zu erfassen suchen, in eine sinnvolle Beziehung gebramt wer-
den. Anders ist nimt einsichtig, daß überhaupt irgendeine Art sozialwissenschaftlimer
Kenntnis zu erreidJ.en ist.
Auch in der neukantianisdJ.en Schule ist die Aporie nimt verborgen geblieben. Mit umso
größerer EntsdJ.iedenheit hat man das Mittel ihrer Lösung propagiert. Es war genau
das, was allen theoretischen Explikationen von Anfang an stillschweigend zugrunde
lag: die Annahme objektiver, allgemeingültiger Werte.
Wir sahen bereits, daß Rickert Wertbeziehungen »an den Gütern der Kultur haften«
ließ. Wenn dabei zunämst im unklaren blieb, wer eigentlich ihr Stifter sei, der Betram-
ter oder die Akteure jener Epochen und Kulturen, auf die sidJ. die Betramtung rimtete,
so deshalb, weil die Diskrepanz für Rickert gar nicht bestand. Sobald sie in den Blick
trat, wurde die immer sdJ.on mitgedachte Prämisse aum expliziert: Betramter und
Gegenstand sind von vornherein von den gleichen allgemeinen Werten bestimmt. Des-
halb wird der Betrachter natürlidJ. nicht mit irgendwelchen Wertsetzungen operieren.
Das würde, wie Ricken erklärt, jedweder WissensdJ.aftlidJ.keit widerspredJ.en. Erst die
Anerkenntnis, daß Betrachter und die, an die er sidJ. wendet, von den gleichen und in die-
sem Sinn: objektiven Werten ausgehen, von denen aum die Objekte selbst bestimmt
sind, sidJ.ert den KulturwissensdJ.aften ihrerseits den unerläßlidJ.en AnsprudJ. auf Objek-
tivität der Erkenntnis. Ricken mamt sich Riehls Worte zu eigen: »es sind nimt alte
Werte, nicht neue Werte, es sind die Werte« 11 •
Es ist unschwer zu erkennen, daß mit dieser These der ureigenste Ansatz der
Weber'sdJ.en Lehre nimt weniger als preisgegeben würde. Weber hat denn audJ. jeden-
falls außerhalb eines explizit erkenntnistheoretisdJ.en Zusammenhangs Ricken in der
rückhaltlosen Anerkennung allgemeiner Werte die Gefolgschaft versagt. Daß es der-
artige Werte geben könnte, hat er zwar nicht ausgesdJ.lossen, aber dodJ. in die Nähe
eines nur allzu verständlidJ.en, vielleicht sogar praktisdJ. nun einmal unvermeidlidJ.en
Wunschdenkens gerückt. Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen, daß Weber zwi-
sdJ.en Wertungen, die die privativ verstandene Ethik abverlangte und Kulturwerten
unterschieden wissen wollte. Vorzüglich mit den letzteren aber war die Wissenschaft
befaßt. Für sie aber hielt Weber, jedenfalls innerhalb eines erkenntnistheoretisdJ.en
Kontextes, so gut wie Ricken an der Allgemeinheit fest. Denn nimt anders als Rickert
sicherte er durm sie die Objektivität der Erkenntnis. Das läßt sidJ. durch explizite 1\u-
ßerungen ebenso belegen wie durdJ. die Implikationen, die seiner Wissenschaftslehre
anhaften.
Gegenstand und Methode 203
Weber hat in dem, was uns als Kernproblem der sozialwissenschaftliehen Erkenntnis
erscheint: eben durch und durch historische und in diesem Sinn einmalige Konstellatio-
nen zu erfassen, keine prinzipielle und schon gar nicht eine unüberwindliche Schwierig-
keit gesehen. In ähnlichem Sinn wie Rickert erklärt er, jedwedes historisches Verstehen
sei gehalten, »die Vorgänge der Wirklichkeit- bewußt oderunbewußt-auf universelle
>Kulturwerte< zu beziehen und danach die Zusammenhänge herauszuheben, welche für
uns bedeutsam sind« (WL S. 181). Es kann zweifelhaft sein, wekhe Reichweite der Uni-
versalität Weber im Auge hatte, die einer besonderen Kultur und Epoche oder eine zeit-
übergreifende. Daß Weber sich von letzterer leiten ließ, wird über jeden Zweifel erha-
ben, wenn man hinter den wahrlich dunklen Sinn seiner Vorstellung von dem, was
Deutung und Interpretation heißt, zu kommen sich bemüht.
Weber erklärt, die Deutung der je spezifischen Kulturinhalte sei komparativer Natur.
Aufgabe sei es, wie die überaus charakteristische Wendung heißt: die »mögliche Wert-
beziehung«, die im Objekt zum Ausdruck komme, hervorzuheben und so der Kritik die
Gelegenheit zu geben, durch eine der möglichen die überhaupt möglichen Wertbezie-
hungen zu erfassen. Die Interpretation des »Kapital« besteht danach, soweit sie etwa
das Verständnis der Geschichte betrifft, darin, Marxens Ansicht so scharf wie irgend
möglich zu profilieren, um so die anderen ebenso gut möglichen Auffassungen dadurch
ebenfalls zum Vorschein zu bringen. Weber geht mithin davon aus, daß es zu einem
spezifischen Problem eine begrenzte Anzahl gleich denkbarer Problemlösungen gebe.
Prinzipiell sind danach sowohl Probleme wie Problemlösungen konstant gehalten.
Wenn Weber Front macht gegen die abstruse Vorstellung, es handle sich darum, in der
interpretativen Deutung das Allgemeine im Sinne der Gattungsmerkmale hervorzukeh-
ren, so doch lediglich in dem Sinne, daß er bestreitet, es komme den Kulturwissenschaf-
ten allerorts darauf an, nur das je Spezifische des Gattungsmäßigen hervorzukehren.
Nur gegen die Meinung, »man könne >die Wahrheit< in einem Satz aussprechen oder
>das Sittliche< in einer Handlung vollbringen oder >das Schöne< in einem Kunstwerk
verkörpern« richtet sich der Angriff 12• Daß aber allerwärts gleiche allgemeine, gat-
tungsmäßige Bezüge die Wertbeziehung begleiteten und damit den Hintergrund der
Konstitution der historischen Individuen als Objekte der sozialwissenschaftliehen For-
schung bildeten, galt nicht nur für jene spezifisch geisteswissenschaftlichen Universalien
wie Wahrheit, Sittlichkeit, Schönheit; es galt ebenso für die sozialwissenschaftliehen
Schlüsselbegriffe wie Gesellschaft, Gemeinschaft, Legitimität und andere mehr. Man
braucht nur einmal darauf zu achten, welchen z. T. abundanten Gebrauch Weber von
Begriffen wie Tausch und Kapitalismus macht. In allen diesen Fällen gibt das begriff-
lich Gattungsmäßige den Rahmen für das Einzigartige, den je historischen geistigen
Gehalt ab, der das Erkenntnisinteresse der Zeit bestimmt.
Die Vorstellung, die Weber von dem Verständnis geistiger Gehalte im allgemeinen und
der Ausdeutung einer je historischen Situation im besonderen hegte, erklärt die Unbe-
kümmertheit, mit der er die beiden uns so überaus problematisch erscheinenden Mo-
mente der sozialen Wirklichkeit: den Entwurfscharakter einerseits und den vorgegebe-
204 Günter Dux
Auch wer sich in der Deutung sinnhafter Aussagen und sinnhaft strukturierter histo-
rischer Konstellationen im Vorhinein immer schon zu Hause weiß, muß sich des
besonderen Inhalts erst noch vergewissern. Dazu bedarf es eines Verfahrens, das die je
besonderen Ausprägungen einer Kultur a) miteinander vergleichbar macht und sieb)
zugleich gegeneinander abhebt. Weber hat dafür ein Modell entwi<kelt, das er im
Umriß bereits der Nationalökonomie entnehmen konnte. Seine spezifische Verwendung
als Mittel, um sinnhaft strukturierte historische Konstellationen erfassen zu können,
wurde ihm allerdings erst von Weber zugeschrieben: eben das viel zitierte Konstrukt
des Idealtypus. Im Idealtypus sollten einzelne Momente der Wirklichkeit zu einer in
sich schlüssigen Einheit stilisiert werden, um dann als Modell zu dienen, an dem Kon-
Gegenstand und Methode 205
An dieser Erörterung wird deutlich, daß es gänzlich verfehlt ist zu meinen, die Bildung
des Idealtypus sei ein Mittel, um der von Weber konstatierten Irrationalität der Wirk-
lichkeit Herr zu werden. In Wahrheit wird nirgends als in der Konstruktion des Ideal-
typus deutlicher, daß Weber ganz selbstverständlich von einer vorgeformten Wirklich-
keit ausging. Das idealtypische Erkenntnisbemühen dreht sich um nichts anderes als
darum, eine schon in sich selbst strukturierte Wirklichkeit zu erfassen. An einer irratio-
nalen Wirklichkeit gibt es nichts, das über den Erfolg des idealtypischen Konstruktes
entscheiden könnte.
Der innere Widerspruch in der Anlage der Weber'schen Wissenschaftslehre ist eklatant.
Die These, alle Wirklichkeit forme sich erst aus einem amorphen Stoff im Entwurf des
Beobachters, verträgt sich nicht mit dem Wissen, immer schon mit einer eigenständig
strukturierten Sozialwelt befaßt zu sein. Es scheint angezeigt, den Ursprung dieses Wi-
derspruchs aufzudecken, um deutlich zu machen, daß unter dieser erkenntnistheore-
tischen Prämisse alle methodologischen Anstrengungen notwendig hinfällig werden
müssen.
206 Günter Dux
Objektive Widersprüche entstehen, daran ist zu erinnern, nicht durch subjektive Un-
achtsamkeit, sondern durch den Widerstand einer auf der semantismen Ebene ausfor-
mulierten Logik gegenüber einem neuerworbenen Wissen. Die Problematik der von
Weber an sim zu Red!.t in den Vordergrund gerückten Einsimt, alle Wirklichkeit nur
als vom Menschen selbst geschaffen aufzufassen, resultiert erst daraus, daß der Entwurf
absolut gesetzt und als smlemterdings nicht mehr hinterfragbare Smöpfung ausgegeben
wird. Dieses Verfahren kommt nimt von ungefähr. In ihm hält sich, wie versteckt auch
immer, ein Muster der Erklärung, das einst als Paradigma jeglimer Erklärung fungiert
hat. Ihm zufolge heißt erklären, etwas auf seinen hinter ihm gelegenen Ursprung
zurückzuführen.
Gemeinhin gilt diese Annahme als Ausdruck mittelalterlimer Metaphysik. Allein, es ist
angezeigt, das Verhältnis umgekehrt zu sehen: die Metaphysik ist ihrerseits Ausdruck
jener urwümsig entstandenen logischen Struktur. Logisme Strukturen aber sind, um es
zu wiederholen, hart und dauernd. Sie haben sich, wie versteckt aum immer, auch im
Obergang zur Neuzeit zu behaupten gewußt. Nimt nur Descartes ist mit der Frage
nach dem premier princip dem Ursprungssmema verhaftet geblieben. Nimt minder ist
es die kategorisme Logik Kants. Denn worauf beruht die Bestimmung, Kategorien
könnten nicht aus der Erfahrung stammen, weil sie Erfahrung allererst möglich mach-
ten? Einzig und allein auf dem schon vorausgesetzten Verfahren, das Explikans dem
Explikandum vorzulagem. Es ist deshalb auch nicht ein hermeneutischer Wirkungs-
zusammenhang, der es bis in die Neukantisme Wissenschaftslehre getragen hat, nicht die
Abhängigkeit von Kant. All das sind ganz unzulänglime geistesgesmimtliche Vorstel-
lungen. Es ist die Selbstbehauptung einer Iogismen Struktur, die an dem neugewonnenen
Herrschaftsbewußtsein der Epome ihre abermalige Bestätigung zu finden smien. Des-
halb sieht sim die Erkenntnistheorie veranlaßt, das Wissen um den Entwurfsmarakter
in den Absolutismus ihrer Iogismen Struktur zu vereinnahmen. Alles andere sind Wei-
terungen dieser absolutistischen Logik. Aus eben diesem Grunde aber hat es die Sozio-
logie mit nimt weniger als der herrsmenden Logik selbst zu tun. Sie muß sich ihrer ent-
ledigen, wenn sie zur Sache kommen will.
Die Analyse der Weber'schen Wissensmaftslehre hat den Widerspruch an einem strate-
gischen Punkt sichtbar gemacht: Der Absolutismus der Entwurfslogik bringt Weber
dazu, alle Wirklimkeit in ein maotismes Knäuel individueller rein kausaler Bezie-
hungen aufzulösen. Dieser von der Logik erzwungenen Annahme widerspricht der
tatsämlime Befund. Jene Wirklimkeit, mit der der Sozialwissenschaftler befaßt ist, ist
bereits in sich strukturiert. Sie ist in Gewohnheiten, Normen, Institutionen und Organi-
sationen geordnet. Auch wenn diese Ordnung abermals Gegenstand einer synthetisie-
renden Bearbeitung wird, sie kann in der Bearbeitung nimt einfad:t untergehen. Es ist
prinzipiell verfehlt, diesen Widersprud:t dacfurd:t zu mildern oder gar aus der Welt
schaffen zu wollen, daß man erklärt, es handle sid:t nur um eine analytisd:te Prozedur,
Gegenstand und Methode 207
ein »nur methodisches«, mithin bewußt irreales Verfahren. Nein, der ureigensten Lo-
gik zufolge kann es diesen Befund für uns gar nicht geben. Das zeigt sich auf Schritt
und Tritt in dem weiteren Verfolg des Zieles, sich dieser logisch nicht existenten, faktisch
aber überaus handfesten Wirklichkeit zu vergewissern. Es gelingt nämlich nicht. Je
nachdrüddicher Weber den Entwurfscharakter der Wirklichkeit hervorhebt, die Konsti-
tution ohne Vorbehalt dem Betrachter zuschreibt, um so eigenständigere Züge nimmt
jene Wirklichkeit an, die ihm schlechterdings vorgegeben ist. Sieht man genauer hin, so
sind beide Anweisungen, die Weber gibt, um sich der präformierten Sinngebilde zu ver-
sichern: die Allgemeinheit der Kulturwerte wie die Fabrikation eines Idealtypus un-
taugliche Mittel.
man sie als »staatlich« deklariert? Selbst wenn man annimmt, daß durch das allgemeine
Etikett auf immer gleiche Bedürfnisse verwiesen wird, ihr spezifismer Ausdruck in
dieser besonderen Kultur erschließt sich dadurm nimt. Aum die von Weber benützte
Formel, das Konkrete anhand der »überhaupt möglichen Deutungen« zu erschließen,
führt keinen Smritt weiter. Nehmen wir die von Weber angeführten Briefe Goethes an
Frau von Stein: Welme »überhaupt möglichen Deutungen« kommen in Betracht? Ge-
setzt, wir klassifizierten sie als »Liebesbriefe«. Was heißt dann, »eine der überhaupt
möglimen Ausdrucksformen« in ihnen zu sehen? Es ist nicht ersichtlich, wie durch diese
Anweisung irgendetwas für das Verständnis gerade dieser gewonnen werden könnte.
Darum aber geht es. Ganz ebenso steht es mit der Auslegung des »Kapitals«, dem Ver-
ständnis der implizierten Geschimtstheorie als einer der überhaupt möglichen. Die Vor-
stellung eines durch den Begriff selbst gezogenen Rahmens, die Weber hier ausspielt,
trägt nimts ein. Der steht nimt fest. Aus den gleimen Gründen smeitert aum die Anwei-
sung zum Gebrauch des Idealtypus. Aum hier überläßt Weber sim einer operationalen
Vorstellung, der nämlich, komparativer, kontrastierender Betrachtung, ohne die Bedin-
gung ihrer Wirkung erklären zu können. Gesetzt, wir bilden den Idealtypus einer »kal-
vinistismen Ethik«. Um daran die lutherische oder konfuzianisme einsimtig zu machen,
muß man sim ihres besonderen Sinngefüges vergewissern. Ihr Verständnis muß mithin
schon vorgängig und durm ganz andere Verfahren gesichert sein, ehe es überhaupt zu
der idealtypischen Darstellung kommen kann.
Kritiker werden einwenden, die Argumentation belege einmal mehr, daß es Weher gar
nicht um erkenntnistheoretische, sondern nur um methodologische Fragen zu tun gewe-
sen sei. Der Einwand verschlägt nimt. Erkenntnistheorie und Methodologie lassen sich
nimt derart auseinanderdividieren. Jede Methodologie hat die Aufgabe, Verfahren zu
bestimmen, die es erlauben, Aussagen ausweisbar zu machen. Dazu ist es notwendig, die
erkenntnistheoretischen Bedingungen mitzuerfassen. Weber hat das gewußt und auch
getan. Der Mangel der idealtypischen Konstruktion ist denn auch ebenso erkenntnis-
theoretischer wie methodologischer Art. Weber hat versucht, ihn durch ein kausales
Verifikationsverfahren wettzumamen. Vergeblim, wie sich zeigen wird.
Es ist das Verdienst Webers, dem methodologischen Ansatz zum Trotz das Wissen nicht
unterschlagen zu haben, mit in sich sinnhaft konstituierten Gegenständen befaßt zu
sein, die eben deshalb auch auf der Sinnebene erschlossen werden mußten. Allein, die
methodologische Frage, wie das zu geschehen hat, war, wie wir gesehen haben, unter
der Prämisse des erkenntnistheoretischen Ansatzes nicht zu beantworten. Weber ist die
methodologische Defizienz auf der Ebene sinnhafter Explikation nicht verborgen ge-
blieben. Er wußte sehr wohl, daß die zuvor erörterten Hilfsmittel die dom alles ent-
scheidende Frage, wodurch die so gewonnene Ansmauung verifiziert werden könnte,
Gegenstand und Methode 209
erst noch zu bestehen hatte. Und er hat nicht die geringsten Zweifel gehegt, wie die
Frage zu beantworten sei. Die Logik des Ansatzes forderte einmal mehr ihr Recht: Da
sich das Subjekt im Blidt auf die Wirklichkeit selbst im Wege steht, kann als belegt nur
gelten, was sich der blinden Probe des »Immer wenn- dann« fügt. Bewiesen werden
kann eine Behauptung einzig und allein durch ein kausales Erfahrungswissen, das sich
in angehbaren Regeln niedergeschlagen hat. Jene Erfahrungsregeln aber, von denen wir
»Zum Zwedt der Kontrolle der >Deutung< des menschlichen Handelns« und, so wäre
hinzufügen: zum Zwedte der Kontrolle der Deutung historischer Konstellationen
Gebrauch machen, sind, wie Weber erklärt,
»dabei nur dem alleroberflächlichsten Anschein nach von der gleichen Prozedur bei konkreten
>Naturvorgängen< geschieden. Dieser Anschein entsteht dadurch, daß wir infolge unserer an der
eigenen Alltagserkenntnis geschulten Phantasie, bei der >Deutung< menschlichen Handeins die
ausdrückliche Formulierung jenes Erfahrungsgehalts in >Regeln< im weiteren Umfang als
>unökonomischc unterlassen und also die Generalisierung >implicite< verwenden.« (WL 111 ff.)
Es ist entscheidend wichtig, sich klarzumachen, was diese Prozedur leisten soll. Weber
ist genötigt, auf zwei Vorstellungsebenen zu operieren. Solange er sich auf der Sinn-
ebene bewegt, ist er auf das deutende Verstehen verwiesen. Dabei kommt ihm die, wie
er sich gerne ausdrückt, logisch-begriffliche Analyse abstrakt reiner Typen zu Hilfe.
Sobald er sich genötigt sieht, sich dieser Begrifflichkeit zu vergewissern, bleibt ihm
nichts als die kausale Bestimmung. Ein nomologisches Wissen, und zwar ein nomolo-
gisches Wissen ganz der gleichen Art wie in den Naturwissenschaften auch, soll mithin
dazu dienen, die besonderen Verhältnisse und historischen Konstellationen zu erfassen.
Der einzige Unterschied zwischen den Natur- und Sozialwissenschaften soll darin beste-
hen, daß der ersteren die Errimtung von Gesetzen Selbstzweck, den letzteren nur Mittel
zum Zweck sei.
Bekanntlich wird auch gegenwärtig der Rückgriff auf das Gesetzesmodell naturwis-
senschaftlicher Provenienz als das probate Verfahren angesehen, um zu fundiertem
Wissen zu gelangen. Dabei wird jedoch nur selten die Aufgabe derart klar und deutlich
formuliert wie im Kontext der Weber'schen Wissenschaftslehre. Denn Weber besteht ja
darauf, die Historizität durch die Gesetzlichkeit des Verfahrens nicht in Frage gestellt
zu sehen. Im Gegenteil! Wenn Weber auf das Verfahren kausaler Beweisführung zu-
rückgreift, so gilt das: hic rhodos, hic salta. Entweder bewährt es sich in Anbetracht der
Historizität und das heißt der je einmaligen Konstellation jeder Epoche und jeder Kul-
tur oder überhaupt nicht. Sehen wir zu, wie es damit steht. Dabei ist als erstes das Pro-
blem schärfer zu fixieren.
Es ist keine Frage, daß auch die Sozialwissenschaften vom nomologischen Wissen Ge-
brauch machen und ungeamtet der Historizität der gesellschaftlimen Verhältnisse dar-
auf aus sind, nomologisches Wissen zu erwerben. Wenn wir, um ein Beispiel zu nennen,
feststellen, daß reine Angestelltengewerksmaften den Unterschied zwischen Arbeitern
und Angestellten zementieren, so berufen wir uns auf eine Erfahrung, für die Regelcha-
210 Günter Dux
rakter in Anspruch genommen wird. Und es kann nicht zweifelhaft sein, daß wir dieses
Regelwissen in Anspruch nehmen, wenn wir es mit einer der konkreten sei es britischen,
bundesrepublikanischen oder sonstigen Angestelltengewerkschaften zu tun haben.
Die Sozialwissenschaften sind allerdings nicht nur an einem derartigen in Regeln aus-
drückbaren Wissen interessiert. Das gilt auch für die Soziologie, die noch am ehesten
darauf erpimt ist. Eben darauf gründete Weber den Untersmied zu den Naturwissen-
schaften. Aber zur Diskussion steht gegenwärtig nicht, inwieweit sich die Sozialwissen-
schaften neben den Regeln auch noch für die konkrete Praxis interessieren, sondern die
Frage, ob sich die Sozialwissenschaften ganz ebenso wie die Naturwissenschaften zur
Erklärung mehr oder minder häufig vorkommender Ereignisse allgemeiner Regeln,
genauer: Gesetzen bedienen. Eben das wird von Gegnern des »covering-law-modells<<
verneint 14 • Sätze wie den, daß Ludwig XIV unbeliebt starb, weil er die Interessen des
Volkes verletzte, smeinen nicht als Ausdruck eines Gesetzes, sondern des Verständnis-
ses einer spezifischen Situation geformt zu sein.
Bei derartigen Antithesen ist Vorsicht geboten, um nicht vorzeitig Unterschiede festzu-
legen, deren nachherige Präzision nicht mehr gelingt. Zunächst einmal ist festzu-
stellen, daß auch dieser Satz gewiß nicht ohne nomologisches Wissen zustande gekom-
men ist. Da ein Satz jenes Allgemeinheitsgrades, der besagt: Immer wenn Herrscher die
Interessen ihres Volkes verletzen, sterben sie unbeliebt, offenkundig nicht zur Verfü-
gung steht, muß ein umfangreiches Wissen um die besonderen Verhältnisse, aus denen
die Unbeliebtheit resultierte, in Anspruch genommen werden. »Verhältnisse« aber be-
stehen in allererster Linie aus wiederkehrenden Verhaltensweisen und ihren institutio-
nellen Verfestigungen. Man muß deshalb sogar sehr viele der eingelebten Gewohnhei-
ten, motivationalen Stereotypen und normativen Regeln der Untertanen seiner Maje-
stät kennen, um diese Behauptung wagen und vor allem: belegen zu können. Außerdem
aber ist der Satz selbst nicht ohne Regelcharakter. Es müßte seltsam zugehen, wenn wir
in einem anderen im großen und ganzen gleichliegenden Fall etwa der gleichen Zeit die
umgekehrte Aussage mamen wollten, ohne ein differenzierendes Merkmal anzugeben.
Mehr als das: Der Satz nimmt im Kontext der historismen Erörterung eine Evidenz in
Anspruch, die in nichts anderem ihren Grund hat als der in der Aussage implizierten
Annahme, daß unter diesen Umständen dieses Ergebnis eintreten mußte. Er enthält
m. a. W. in sich einen Gesetzesanspruch. Für diesen Fall ist dies des Gesetzes Gesetz.
Daran also kann kein Zweifel sein, aum die Sozialwissenschaften bedienen sich des
nomologischen Wissens. Auch sie sind darauf angewiesen, jenes »Regelwissen« zu er-
werben, in denen die Verhältnisse sich darstellen und ohne die sie nicht faßbar werden.
Nicht ohne Grund hat Weber die eine Stoßrichtung seiner Argumentation gegen jene
Vorstellung der historischen Schule gerichtet, die meinte, im Interesse der Erfassung der
Wirklichkeit ohne eine ausgeprägte Begrifflichkeit und vor allem ohne den Gebrauch
und die Formulierung nomologischen Wissens auskommen zu können. Die Frage, die
einzig zur Diskussion steht, ist, welcher Art dieses nomologische Wissen ist, das wir zu
erfassen uns bemühen, und in welcher Weise wir es verwenden. Können wir behaupten,
die Regeln sozialwissenschaftlimer Forsmung seien die gleichen wie die Gesetze der
Naturwissenschaften? Und bedienen wir uns ihrer wirklich als Mittel der Erklärung, so
wie sim die Naturwissenschaften der Gesetze bedienen?
Gegenstand und Methode 211
Die Fragen haben gute Gründe. In den Sozialwissenschaften geben die Regeln, mit
denen die Wissenschaftler operieren, die Verhaltensweisen von Menschen wieder. Es
wäre reiner Dogmatismus, im vorhinein entscheiden zu wollen, daß das Instrumenta-
rium der Naturwissenschaften geeignet sei, sie zu erfassen.
Alle noch so sorgfältigen Vorkehrungen, nicht schon deshalb zu meinen, es handele sich
um die gleiche Prozedur, weil hier so gut wie dort nomologisches Wissen zur Diskussion
steht, und damit Gefahr zu laufen, einem erkenntnistheoretischen Vorverständnis auf-
zusitzen, pflegen in Anbetracht der überwältigend einfachen Formel, mit der die nor-
mativ-analytische Wissenschaftslehre arbeitet, zusammenzubrechen. Einen Vorgang er-
klären heißt ihr, einen Satz, der ihn beschreibt, aus Gesetzen und Randbedingungen
deduktiv ableiten 15 • Warum sollte nicht, das ist die Argumentation, ein derart forma-
les Instrumentarium geeignet sein, naturale Gesetzmäßigkeiten und soziale Regeln glei-
chermaßen zu erfassen? Es ist nicht nötig, so die Argumentation, ein monistisches Wirk-
lichkeitsbild zu entwerfen. Unterschiede im Objektbereich sind anzuerkennen. Nur
folgt daraus noch längst nicht, daß die gleiche Methode nicht mit beiden fertig zu wer-
den vermöchte.
Auch der Umstand, daß sich in den Regeln der Sozialwissenschaften die historischen Be-
sonderheiten des Objekts zum Ausdruck bringen, bereitet keine, jedenfalls keine prin-
zipiellen Schwierigkeiten. Das kompliziert die Verhältnisse, entzieht sie aber nicht
überhaupt dem Gesetzeswissen. Die zeit- und kulturspezifischen Momente gehen als Be-
dingungen in den Bedingungsset ein. Auf eben diese Weise scheint es möglich, die A-
Historizität der Gesetzesformel mit der Historizität der Verhältnisse zu versöhnen.
Logisch bereitet es in der Tat keine Schwierigkeiten, noch so singuläre Vorkommnisse in
Gesetzform zu überführen. Auch ein ganz einzigartiges Ereignis wie der Tod Ludwig
XIV geschieht unter Bedingungen, von denen man sich zumindest vorstellen kann, daß
sie mehrfach vorliegen. Formal ist damit der Gesetzesfassung Genüge getan 16, Es hat
logisch gesehen nichts Widersinniges zu sagen, daß immer dann, wenn jemand unter den
Bedingungen Ludwig des XIV lebte und regierte so wie Ludwig XIV lebte und
regierte, unbeliebt stirbt. Erst recht scheint sich die Vielzahl jener Ereignisse dieser For-
mel zu fügen, die ohnehin im Plural stehen und schon für sich genommen einer Regel
folgen.
Die Frage ist, ob das, was sich der formalen Logik zufolge mühelos in eine abstrakte
Gesetzesform überführen läßt, der materialen Logik nach nicht zu einem Leerlauf des
Erkenntnisverfahrens führt. Denn es erscheint problematisch, ob einem Gesetz
überhaupt noch eine explikative Rolle zugesprochen werden kann, wenn erst der kon-
krete Fall bestimmt, was des Gesetzes Gesetz ist. Die Frage wird als ein nur praktisches
Problem angesehen. Es wird bereitwillig zugestanden, daß aus praktischen Gründen die
Zahl der Fälle nicht derart gering werden darf, daß die Gesetzesform nur noch eine
Frage der sprachlichen Fassung ist. Nichts ist weniger richtig als diese Einlassung. Es ist
ein logisches Problem, das damit zur Diskussion steht. Denn zum einen bleibt gänzlich
212 Günter Dux
unverständlich, woher die Verbindlichkeit jener Aussagen rührt, die nicht die große
Zahl für sich ins Feld führen. Wir können sie weder aus der sozialen Wirklichkeit noch
aus der Logik der Sozialwissenschaften eskamotieren. Zum andern aber ist auch für die
große Zahl der Fälle problematisch, wie für sie die Regeln gewonnen werden. Denn
anders als in den Naturwissenschaften sind diese Regeln nicht ihrerseits in ein Regel-
system von übergreifender Allgemeinheit zu integrieren; jedenfalls nicht in eines, das
dem System der Naturwissenschaften gliche. Die logische Problematik, die mit dem
Versuch verbunden ist, die sozialen Verhältnisse ungeachtet ihrer Historizität auf eine
a-historische Formel bringen zu wollen, zeigt sich, wenn man der Anweisung folgt und
die »historischen Besonderheiten« tatsächlich in den Bedingungszusammenhang zu
überführen sucht. Dabei kann man auf zweifache Weise verfahren, einer mehr oder
minder direkten.
Auf dem Hintergrund einer Logik, der zufolge sich alle Wirklichkeit als eine chaotische
Vielfalt einzelner Geschehnisse darstellt, in die erst Blick und Verfahren des Betrachters
Ordnung bringt, liegt es nahe, für die Sozialwissenschaften nicht anders als für die
Naturwissenschaften nach den kleinsten Bewegungseinheiten zu fragen, um von ihnen
auszugehen. Eben das war die erklärte Absicht Webers. Er findet sie in der Handlung.
Von ihr aus sucht er, wie auf eindrucksvolle Weise in »Wirtschaft und Gesellschaft« zu
sehen ist, das gesamte System der sozialen Wirklichkeit aufzubauen. Die Frage ist aller-
dings, ob mit diesem Rekurs auf die Handlung als der vorgeblich kleinsten Bewegungs-
einheit wirklic:h etwas gewonnen ist. Denn Handlungen sind im Unterschied zum bloß
reaktiven Verhalten sinnhaft orientiert. Dieses sinnhafte Moment muß in Rechnung
gestellt werden, wenn man sie erfassen will. Das hat Weber in der schon angeführten
Bestimmung der Soziologie deutlic:h zum Ausdruck gebracht. Kausales Erklären nimmt
den Weg über ein motivationales Verstehen, das sim des Sinnes der Handlung verge-
wissert. Sinnbestimmungen lassen sich aber nur mit Rüc:ksimt auf Situationsdefinitio-
nen treffen, die festlegen, daß für Situationen dieser Art gerade diese Handlung ange-
zeigt ist. Das Sinnmoment der Handlung verweist mithin nicht auf irgendeine selbstän-
dige für sich gegebene Sinngröße. So allerdings stellte es sich Weber dar. Es verweist
vielmehr auf ein Gleichheitsmoment, das in einer Situationsbestimmung eine Hand-
lungsregel impliziert 17• Die Sinnhaftigkeit der einzelnen Handlungen läßt sich deshalb
auch nirgends anders als aus den spezifischen Verhaltensregeln der besonderen Epoche
und Kultur ermitteln. Es ist nicht nur so, daß jede Handlung formal auf eine allge-
meine Gleichung gebracht werden kann, zumindest jede bewußt sinnhafte Handlung
hebt sich im Sinnmoment tatsächlich auch dann noc:h ins Allgemeine, wenn sie nur für
sich und für diesen einen Fall gelten will. Deshalb aber ist es ganz nutzlos, sic:h den An-
schein naturwissenschafttimen Vorgehens zu geben und in der Handlung die kleinste
Bewegungseinheit zu sehen. Deren »Bewegungen« sind nic:hts anderes als die gesell-
schaftlic:h bestimmten Verkehrsformen. Damit kommt eine Eigenheit zum Vorschein,
die einzig sozial-wissensc:haftlic:hen Gegenständen eignet: die Regeln, nach denen so-
ziale Verhältnisse geordnet sind, lassen sich weder deduktiv aus allgemeineren Regeln
noc:h induktiv aus immer gleichen Daten herleiten. Sinnhaft sind sie insbesondere darin,
daß sie ein nach Zeit und Kultur versc:hiedenes eigenwilliges Moment der Verarbeitung
enthalten. Angewiesen, die historischen Besonderheiten als zusätzliche Bedingungen in
Gegenstand und Methode 213
den Gesetzeskontext einzuführen, kann man daher auch direkter verfahren: jene zeit-
und kulturspezifischen »Besonderheiten« sind nichts anderes als jene Regeln, nach
denen wir fragen. Das macht den Leerlauf des Verfahrens offenbar. Die Tatsache
nämlich, daß wir durch das Sinnmoment gezwungen sind, die Regel selbst in den Be-
dingungszusammenhang einführen, auf die linke Seite der Formel schreiben, erweist
das a-historisch angesetzte Erkenntnismodell als tautologisch. Denn nunmehr ist die
Allerweltsformel des »Immer wenn- dann« wie folgt zu lesen: Unter der Bedingung,
daß sich die Betreffenden in den nach Zeit und Gesellschaft näher spezifizierten Situa-
tionen in bestimmter Weise verhalten- verhalten sie sich so. In diesem Zusammenhang
zeigt sich, daß es in der Tat nicht richtig ist zu meinen, die Frage der Tautologie inner-
halb des »covering-law-modells« sei lediglich praktischer Natur, also davon abhängig,
wie weit die Bedingungen historisch spezifiziert würden. Das Umgekehrte ist richtig:
Logisch ist das Verfahren immer tautologisch. Praktisch dagegen wissen wir uns der
Tautologie dadurch zu entziehen, daß der a-historische Ansatz in Vergessenheit gerät.
Der Grund für den Leerlauf des methodologischen Ansatzes läßt sich präzise bestim-
men: Dray hat gemeint, ihn darin sehen zu müssen, daß in die Antezedenzbedingungen
einmalige Vorkommnisse aufgenommen werden müßten. Wir haben gesehen, daß dieses
Argument nicht durchschlägt. Auch einmalige Bedingungen lassen sich in Gesetzesform
bringen. Gleichwohl trifft die Intention des Arguments zu. Nur ist nicht die Einmalig-
keit entscheidend, sondern der Umstand, daß die Antezedenzbedingungen des Gesetzes
nicht neutral, d. h. unabhängig gerade von dieser ganz spezifischen Regel selbst formu-
liert werden können. Anders ausgedrückt: Die Antezedentien des für den besonderen
Fall als allgemein stilisierten Gesetzes sind nur in der regelhaften Verknüpfung, die
schließlich als Gesetz deklariert wird, angebbar.
Es ist unerläßlich, sorgfältig festzuhalten, wogegen sich der Nachweis der Tautologie
richtet: nicht dagegen, daß das sozialwissenschaftliche Erkenntnisinteresse, allem voran
das der Soziologie, darauf abzielt, nomologisches Wissen zu erwerben und von ihm
Gebrauch zu machen. Das ist zugestanden. Nicht zugestanden ist, daß dieses Wissen in
einem Verfahren gewonnen werden könnte, das prinzipiell a-historisch angesetzt ist. Es
ist nicht möglich, die Historizität der gesellschaftlichen Verhältnisse einfach als zusätz-
liche Bedingung auf die linke Seite der Formel des »Immer wenn - dann« zu rücken.
Der Nachweis der Tautologie wendet sich danach zunächst lediglich gegen das Selbst-
verständnis der Methode. Er bestreitet nicht, daß sozialwissenschaftliches Wissen über-
haupt in Regelwissen zum Ausdruck kommt, sondern lediglich, daß es sich dabei um ein
Verfahren naturwissenschaftlicher Provenienz handelt. Das zeigt sich vollends, wenn
man nicht nur die formal-logische Struktur der Argumentation ins Auge faßt, sondern
die Leistungsfähigkeit des Verfahrens im Blick auf die praktischen Probleme, derer die
Methode Herr werden soll, prüft.
wenn- dann« scheint auch die Aussageform des in den Sozialwissenschaften verwand-
ten Wissens zu sein. Die Tatsache, daß dabei von einem Vorwissen Gebrauch gemacht
werden muß, das die gesuchten Abhängigkeiten schon benennt, scheint nur dem ganz
normalen Fall der Hypothesenbildung zu entsprechen. Woher dieses Verständnis rührt,
wie man zu der Bildung der Hypothesen kommt, das ist, so heißt es, in den Sozialwis-
senschaften so wenig von Interesse wie in den Naturwissenschaften. Dafür interessieren
sich allenfalls und dann unter ganz anderem Aspekt Psychologen. Es gehört ins Vorfeld
der Untersuchung. In dieses Vorfeld fällt auch das spezifisch historische Verständnis der
sozialen Gegebenheiten. Für das Verfahren selbst ist allein entscheidend, derartige Deu-
tungen der Probe aufs Exempel zu unterwerfen. Eben das war, wie erinnerlich, auch die
Vorstellung, die Weber hegte. Man kann wählen, sortieren, behaupten, soviel man mag,
schließlich kommt alles darauf an, es der kausalen Bewährung auszusetzen. Anders als
in der zuvor erörterten Argumentation macht sich diese erst gar nicht die Mühe, die
Gesetzesformel prinzipiell die kulturellen Unterschiede umfassen zu lassen. Regel und
Gegenstand werden von vornherein in ihrer historischen Besonderheit aufgefaßt. Nichts
interessiert als die Frage, ob mit dieser zunächst nur hypothetischen Regel dieser beson-
dere Gegenstand faßbar wird. In dem die ganze Aufmerksamkeit beanspruchenden
Verfahren der Oberprüfung fungiert die nach Zeit und Kultur verschiedene Wirklich-
keit als Kosmos. In der Tat, gäbe es dieses Prüfungsverfahren, täte uns die so viel
bemühte Formel den Dienst, wir wären wohlberaten, alle Logeleien zu vergessen und
uns ihrer zu bedienen. Allein, die Formel versagt in den Sozialwissenschaften gerade da,
wo in den Naturwissenschaften ihre Hauptstärke liegt: in der Ausscheidung mangel-
hafter Hypothesen. Der eingangs dargelegte Unterschied im Objektbereich zwischen
beiden zeigt den Grund des Versagens.
Jede bessere Theorie ist es ja nur deshalb, weil sie ein schon überprüftes und jederzeit
überprüfbares Wissen zu einem noch besseren Kontext verhilft. Eben weil Theorien
nicht einfach Konstrukte sind, vielmehr Sachhaltigkeit implizieren, kann über ihre Be-
rechtigung durch den Rekurs »auf die Sache selbst« entschieden werden. Der »Dualis-
mus« von Theorie und Erfahrung läßt sich deshalb auch nicht »durch die Vorstellung
eines Pluralismus konkurrierender Theorien ersetzen (!)«. Denn noch der Pluralismus
verschiedener Theorien wendet sich an die gemeinsame Instanz, um zur Entscheidung
zukommen.
Auch die Sozialwissenschaften sind, wie wir gesehen haben, an eine »Tatsacheninstanz«
verwiesen. Ihre Besonderheit gegenüber der naturalen läßt jedoch Probleme entstehen,
die den Naturwissenschaften unbekannt sind.
Erinnern wir uns zunächst daran, daß die Objekte der sozialwissenschaftliehen Er-
kenntnis bereits in sich sinnhaftstrukturiert sind. Die Aufgabe der Sozialwissenschaften
ist es deshalb, ihren Gegenstand in seinen eigenen Strukturen zur Geltung zu bringen,
auch wenn diese Strukturen erst in der begrifflichen Synthese des Interpreten ihren
zeitgebundenen Ausdru&. finden. Apologeten einer monistischen Wissenschaftslehre
sind nicht ohne weiteres bereit, darin eine Besonderheit zu sehen. Gerade wenn man der
eingangs angeführten Argumentation folgt und hervorhebt, daß die Natur sich in den
Gesetzen zu erkennen gibt, scheint der Unterschied nicht eben groß. Im einen wie im
anderen Falle besteht die Aufgabe darin, sich ein irgendwie eigenständiges Objekt zu-
gänglich zu machen. Das allerdings ist eine zu großzügige Betrachtung. Sie übersieht
den entscheidenden Unterschied. Er liegt gerade dort, wo eine monistische Wissen-
schaftslehre ihn nicht haben will: nicht im Vorverfahren der Hypothesenbildung, son-
dern im Prüfungsverfahren. Uns fehlen bekanntlich die Möglichkeiten des naturwissen-
schaftlichen Experiments. Es ist ein Irrtum zu meinen, das sei ein bloß praktisches Pro-
blem, das durch die mehr oder minder raffinierten Techniken der Sozialforschung aus-
geglichen werden könne. Es ist ein logisches Problem. Denn daß das Experiment nicht in
gleicher Weise wie in den Naturwissenschaften zur Verfügung steht, hat seinen Grund
darin, daß dessen Voraussetzungen in den Sozialwissenschaften nicht gegeben sind: Der
Sozialwelt fehlt ganz einfach die immer gleiche Eigenständigkeit der Natur.
Betrachten wir Aussagen über irgendeine soziale Wirklichkeit als bloße Hypothese, so
stellt sich die Frage, woran sie überprüft werden. An einer Wirklichkeit, von der wir
216 Günter Dux
wie in den Naturwissensmaften »an sim« nimts wissen können, aum nimts zu wissen
braumen, außer, daß sie in Gesetzen faßbar ist? Mitnimten! Der Umstand, daß jede
soziale Wirklid:J.keit-nur das ist, was Menschen sie sein lassen, außerhalb der Auffassung
von ihr keine Realität hat, heißt, daß sie aum insoweit, als wir bemüht sind, sie gegen
unsere Hypothesen abzusetzen, sim nur in unserer Auffassung von ihr darstellt. Prinzi-
piell gilt, daß die Wirklimkeit, an der wir die Hypothesen überprüfen müssen, nam
ganz dem gleichen Muster geknüpft ist wie die Hypothesen auch. Gewiß, aum die
Naturwissenschaften arbeiten im Experiment immer mit einer smon in Begriffen und
Theorien eingefangenen Natur. Allein, sie wenden sim an eine uns fremde eigenstän-
dige Dynamik, der Red:J.nung getragen werden muß. Eben diese prinzipiell fremde
Eigenständigkeit des Objekts fehlt den Sozialwissensmaften. Man kann nimt ohne wei-
teres voraussetzen, daß uns unter diesen Umständen überhaupt eine gegen die Hypo-
thesenbildungabgesetzte Tatsachenebene zur Verfügung steht. Im Prüfungsverfahren
zeigt sich das ganze Gewicht dessen, daß die sozialen Gegenstände sinnhaft konstituiert
sind. Die Folge ist, daß wir auch die Kontrollinstanz in ihren Sinnbezügen erfassen
müssen, bevor wir sie überhaupt als gegenständig gegenüber unseren Hypothesen ver-
werten können.
Der Hinweis auf die Eigenheit sozialwissenschaftlimer Objekte und Erkenntnis soll
nimt heißen, es sei möglim, in den Sozialwissenschaften jede beliebige Annahme in jede
beliebige Wirklimkeit hineinlesen zu können und jedes beliebige Deutungssystem jeder
beliebigen Kultur zu supponieren. Ebensowenig soll behauptet werden, wir seien in den
Sozialwissensmaften überhaupt nicht in der Lage, Hypothesen zu überprüfen. Man muß
jedoch alle Probleme der Sozialforsmung vergessen, um nimt gewahr zu werden, daß
das Vorurteil vermöge der dargelegten Verhältnisse in den Sozialwissenschaften einen
grundsätzlich anderen Status hat. Nur dies ist deshalb gesagt: es ist nicht richtig zu
meinen, daß das Verfahren in der gleichen Weise abläuft wie in den Naturwissen-
smaften. Der Erfolg muß auf andere Weise gesichert werden.
Empirische Untersumungen, mit denen die Soziologie befaßt ist, rimten sim durmweg
auf Phänomene der gegenwärtigen Gesellsmaft. Für ihre Probleme nimmt sim die Vor-
stellung, der sozialen Wirklimkeit nimt die gleime Eigenständigkeit wie der naturalen
zuzugestehen, auch dann spekulativ aus, wenn man nicht leugnen will, daß sie durch
das selektive Filter unserer eigenen Anschauung geht. In der Tat: diese Wirklichkeit
besteht in handfesten Institutionen, Organisationen, Verhaltensregelungen, die sehr
wohl Gegenstand einer auf Objektivität bedachten Analyse werden können. Wir
wollen etwa wissen, wie es um die Aufstiegschance der Arbeiter im Betrieb steht oder
wie das Verkehrsrecht des nimt sorgeberemtigten Elternteils nach geschiedener Ehe
geregelt ist. Beides läßt sim durm eine relativ einfame Erhebung feststellen, die zeigt,
was hier und jetzt der Fall ist. Aber schon der nämste Smritt offenbart die Smwierig-
Gegenstand und Methode 217
keiten. Jede Wissenschaft nämlich sucht über das Stadium einer mehr vordergründigen
Deskription hinauszukommen und Erklärungen zu liefern. Dazu ist es unerläßlich, das
Explikandum in umfassendere Zusammenhänge einzuordnen. Die Methodologie der
empirischen Sozialforschung hat daraus längst die Konsequenz gezogen. Sie erklärt, sich
auf Erklärungen mittlerer Reichweite beschränken zu wollen. Eben weil die Methode
lediglich relativ simple Verknüpfungen zu erfassen in der Lage ist, wird der Anspruch,
darüber hinausreichende Beziehungszusammenhänge zu erfassen, als gegenwärtig oder
überhaupt uneinlösbar diskreditiert. Die Popper'schen Auslassungen gegen den »Holis-
mus« der Dialektik blmken keineswegs nur die Forderung ab, alles mit allem in Bezie-
hung zu setzen. Ihre eigentliche Funktion ist, die Forschung freizusetzen von dem An-
spruch, den real-existenten gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang als eigentliches
Explikans bestimmen zu sollen. Das nun ist ein ebenso verständliches wie problema-
tisches Verfahren. Verständlich deshalb, weil für dieses Ansinnen keine Methode zur
Verfügung steht. Je weiter der Funktionszusammenhang reicht, umso geringer wird die
Chance, ihn zu überprüfen. Und das keineswegs aus technischen Gründen, etwa der
Faktorenanalyse. Die vielbeschworene Kompliziertheit der sozialen Verhältnisse ist
kein Problem der großen Zahl; entscheidend ist vielmehr, daß die weitergehende i. e.
gesamtgesellschaftliche Verknüpfung das zuvor erörterte Problem auch praktisch rele-
vant werden läßt: Jenes Stratum, an dem die ineinander verschränkten Beziehungen
überprüft werden sollen, bringt sich nicht selbst zur Geltung. Es ist ein Konstrukt so gut
oder so schlecht wie die Hypothese auch. Anders als in den Naturwissenschaften läßt
sich die Aporie des Konstruktivismus, die Weber zu Recht in den Vordergrund rückte,
nicht durch den Appell an eine eigenständige Realität paralysieren. Dennoch ist die sich
bescheiden gebende Selbstbeschränkung der »Middle-range-theorie« problematisch.
Denn nicht nur wird der Erkenntnis der Einblick in den gesamtgesellschaftlichen
Zusammenhang verwehrt, vielmehr bleibt auf diese Weise selbst das Wenige, das die
faktorielle Verknüpfung liefert, mit dem Odium des Unbestimmten behaftet. Solange
der umfassendere Erklärungszusammenhang für faktorielle Verknüpfungen im Dun-
keln bleibt, kann man niemals sicher sein, daß nicht die vorgeblich nur begrenzte Reich-
weite in Wahrheit eine grandiose Verzerrung wiedergibt. Dafür gibt es zahlreiche Bei-
spiele.
Das Problem der Reichweite soziologischer Theorien bringt den Gegensatz der Sozial-
wissenschaften zu den Naturwissenschaften noch unter einem anderen Aspekt zum Be-
wußtsein. Auch in den Naturwissenschaften geht es darum, Theorien immer größerer
Reichweite zu entwickeln. Das geschieht dadurch, daß speziellere in allgemeineren
Gesetzen aufgehen, als deren Sonderfall erscheinen. In den Sozialwissenschaften han-
delt es sich um etwas ganz anderes. Das sinnbestimmende Moment eines partiellen
Gegenstandsbereiches läßt sich nur im Blick auf die anderen ausmachen. Die Kategorie
des Ganzen ist entgegen anders lautenden Versicherungen unverzichtbar. Das hat seinen
Grund nicht einfach in einer Methode, schon gar nicht in der Anhänglichkeit an eine
philosophische Tradition, sondern in der Sache: weil die soziale Wirklichkeit eine vom
218 Günter Dux
Menschen selbst geschaffene ist, kann er gar nicht anders, als sich so einzurichten, daß
damit der schon vorhandenen Rechnung getragen wird. Die Reichweite sozialwissen-
schaftlicher Theorien läßt sich deshalb keineswegs beliebig bestimmen. Sie ist ein Pro-
blem des sinnhaften Verarbeitungszusammenhangs. Ihn hatte Weber im Auge, wenn er
von der historischen Konstellation einer Epoche und Kultur sprach. Konsequenterweise
muß die Methodologie der Sozialwissenschaften darauf bedacht sein, sich der Logik
dieses Zusammenhangs zu vergewissern. Damit stellt sich jene Aufgabe, die in der ei-
nen oder anderen Version des >>covering-law-modells<< ins Vorverfahren verwiesen
wird: die sinnhafte Verknüpfung der gesellschaftlichen Zusammenhänge, als der eigent-
lich entscheidende Teil dar. Einzig die Einsicht in die Logik der nach Epoche und Kul-
tur spezifischen Wirklichkeitsbewältigung ist in der Lage, Ersatz für den Ausfall des
Prüfungsverfahrens naturwissenschaftlicher Provenienz zu bieten. Erst im Besitz der
inneren Logik des Systems kann die Soziologie darauf rechnen, sich den Strukturzu-
sammenhang der Wirklichkeit zu erschließen, also jene Vermittlung zwischen Sache
und Methode herzustellen, auf die die Soziologie nach allem, was wir bisher erörtert
haben, schlechterdings angewiesen ist.
Zusammenfassung
Die Wissenschaftslehre Max Webers ist in hervorragender Weise geeignet, eine Aporie
verständlich zu machen, mit der jedwede Erkenntnistheorie und Methodologie der
Sozialwissenschaft gegenwärtig befaßt ist: Sie weiß nicht, wie sie es anstellen soll, zur
Sache zu kommen. Weber rückt das Grundtheorem der neuzeitlichen Erkenntnistheorie,
das Wissen darum, daß alle Wirklichkeit so, wie sie sich für die Menschen darstellt, eine
von ihm selbst entworfene Wirklichkeit ist, in den Vordergrund. In der Tat hat gerade
die Soziologie Anlaß, sich dieses Wissens nicht zu entschlagen. Allein, in der neukanti-
schen Wissenschaftslehre erhält dieses Wissen seinen besonderen Sinn erst dadurch, daß
es an eine logische Struktur gebunden ist, die sich aus dem Mittelalter in die Neuzeit in
vielfältigen Modifikationen hinübergerettet hat. Sie läßt in ihrer reinen Form als
Erklärung nur gelten, was schließlich auf seinen letzthinnigen Ursprung als dessen Ema-
nation zurückgeführt ist. Deshalb gewinnen die Kategorien der Karrtischen Kritik einen
an das Subjekt gebundenen vor aller Erfahrung gelegenen und deshalb nicht mehr hin-
terfragbaren Status. Deshalb auch wird in der neukantischen Wissenschaftslehre das
Wissen um den Entwurfscharakter der Wirklichkeit absolut gesetzt: Der Entwurf selbst
ist nicht mehr auszuweisen.
Der logische Absolutismus hat gravierende Konsequenzen. Ebenso wie auf der katego-
rialen Ebene die Wirklichkeit zu einem Abyssus sensualer Eindrücke wird, löst sich auf
der angehobenen sozialen die Wirklichkeit auf in ein unübersehbares Gefüge kausaler
Beziehungen, in die erst der Betrachter kraft eigener Wertung Ordnung bringt. Der
Primat der Methode vor der Sache, wie er insbesondere in der Propagierung eines kau-
sal-analytischen Verfahrens naturwissenschaftlicher Provenienz zum Ausdruck kommt,
ist in letzter Instanz die Folge dieser erkenntnistheoretischen Konstellation. Einer
Lehre, der zufolge die soziale Wirklichkeit sich in ein Knäuel von kausalen Beziehun-
gen aufgelöst hat, bleibt keine andere Wahl.
Gegenstand und Methode 219
Die von der logischen Struktur abverlangten Konsequenzen lassen zugleich den Wider-
sprudJ. deutlich werden, der sich ihr zufolge zwisdJ.en Erkenntnistheorie und realem
Wissen bilden muß. Er betrifft Subjekt wie Objekt gleicherweise. Jedwedes soziolo-
gische Wissen beginnt mit dem Bewußtsein, daß das Subjekt dem Bedingungszusam-
menhang selbst angehört, den es zu erfassen bemüht ist. Es ist deshalb ein Unding, dem
Subjekt irgendeinen ursprünglichen Status zuzsudJ.reiben. Eklatanter noch nimmt sich
der WidersprudJ. auf der Seite des Objekts aus. Jeder Sozialwissenschaftler weiß,
daß jene Wirklichkeit, mit der er befaßt ist, ihre eigene Struktur in sich trägt. Nichts
anderes steht zur Diskussion, als sich dieser schon strukturierten Wirklichkeit zu verge-
wissern. Demgegenüber löst der Absolutismus des Entwurfs nicht nur den Anspruch auf
Objektivität auf; er destruiert den Erkenntnisbegriff.
Es kommt entscheidend darauf an, den WidersprudJ. als Ausdruck einer erkenntnistheo-
retischen Situation zu nehmen, die sich in der Folge einer weltgeschichtlichen Entwick-
lung eingestellt hat. Das macht verständlich, weshalb beide Pole des Widersprums in
einem einzigen Werk ungeniert nebeneinander stehen. Ja, man kann es geradezu als
Verdienst der Weber'schen Wissenschaftslehre ansehen, diesen Widerspruch manifest
gemacht zu haben. Weber war ungeachtet des erkenntnistheoretischen Vorverständnis-
ses realistisch genug, um daran festzuhalten, daß es schließlich und endlich darum geht,
reale präexistente Verhältnisse zu erfassen. Insbesondere sein Wissen um die Historizi-
tät der gesellschaftlich-kulturellen Wirklichkeit verpflimtete ihn darauf, sie in ihrer je
historischen Besonderheit zu begreifen.
Weber selbst wurde es leicht gemacht, den dezidierten Entwurfscharakter und die eigen-
ständige Strukturierung miteinander in Einklang zu bringen. Er ging davon aus, daß
die soziale Wirklichkeit zu allen Zeiten auf allgemeine Kulturwerte hin geordnet sei,
jede Beschäftigung mit ihr deshalb die Aufgabe habe, das konkrete historische Objekt
als Ausdruck einer der »überhaupt möglichen Stellungnahmen« innerhalb des augespro-
meneu Wertes anzusehen. Insgeheim lag diese Annahme auch dem Konstrukt des Ideal-
typus zugrunde. Es war diese Vorstellung, die ihn hinderte, den Widerspruch über-
haupt als solchen wahrzunehmen.- Weder die Annahme allgemeiner Kulturwerte noch
das Operieren mit einem Idealtypus sind geeignet, diesen Widerspruch zu überbrücken.
Denn die Kernfrage jeder wissenschaftlichen Operation, das konkrete Objekt in seiner
Besonderheit faßbar zu machen, wird weder durch das eine noch durch das andere
Mittel beantwortet. Die Wahrheit ist, daß Weber zwar bewußt war, daß die eigentliche
wissensdJ.aftliche Prozedur sich in den Sozialwissenschaften auf der Sinnebene abspielte,
daß ihm dafür aber so wenig wie irgend jemandem anders vor und nach ihm eine Me-
thode zur Verfügung stand. Unter der Geltung der absolutistischen Entwurfslogik
konnte es keine geben. Dennoch verlangte der AnsprudJ. auf Objektivität, der für jede
Wissenschaft schlechthin unverzichtbar ist, nadJ. ihr. Weber hat ihn mit den Mitteln ein-
zulösen gesucht, die der erkenntnistheoretische Ansatz ihm ließ: eine in kausale Bezie-
hungen aufgelöste Wirklichkeit war auch nur einer kausalen Analytik willfährig. Ob
historische Konstellationen das waren, was die Deutung behauptete, darüber sollte die
kausale Analyse entscheiden. Letzten Endes waren die Kulturwissenschaften deshalb so
gut wie die Naturwissenschaften auf ein kausales Gesetzeswissen angewiesen. Die Deu-
tung auf der Ebene des Sinnverstehens bleibt nicht mehr als Hypothese. Die Verifika-
220 Günter Dux
tion findet auf der niederen Ebene der Kausalität statt. Es ist diese Vorstellung, sinn-
haftes Handeln auf ein Gesetzeswissen naturwissenschaftlicher Provenienz abziehen zu
können, die bis heute gültig geblieben ist.
Der Versuch, historische Konstellationen mit einem prinzipiell a-historischen Gesetzes-
modell zu erfassen, muß scheitern. Zwar sind auch die Sozialwissenschaften auf ein
nomologisches Wissen verwiesen, um ihre Aussagen belegen zu können. Auch läßt sich
jede nomologische Aussage sozialwissenschaftlicher Provenienz in eine allgemeine Ge-
setzesform nach der Formel des »Immer wenn- dann« überführen. Nur ist das Verfah-
ren, in dem das von den Sozialwissenschaften begehrte Wissen gewonnen wird, anderer
Art und mit anderen Problemen belastet. Der naturwissenschaftliche Erfolg beruht dar-
auf, daß von der naturalen Wirklichkeit nicht mehr zu wissen begehrt wird, als was sich
der allgemeinen Gesetzesform fügt. Die logische Prämisse des Experimentes, das
schließlich und endlich über Annahme oder Ablehnung der Hypothesen entscheidet, ist
eine durch alle Konstrukte hindurch eigenständig aufgefaßte Wirklichkeit. Den Sozial-
wissenschaften steht ein gleicherweise eigenständiges Stratum, an dem sie ihre Hypothe-
sen überprüfen könnten, nicht zu Gebote. Ihr Erfolg beruht dagegen darauf, den jewei-
ligen historisch-spezifischen Deutungszusammenhang zu erfassen. Er nämlich bildet das
eigentliche Explikans des sinnhaft bestimmten Handelns. Die Bestimmung des Deu-
tungszusammenhangs ist keineswegs nur eine Frage der Bildung von Hypothesen, die
dem wissenschaftlichen Vorverfahren zugewiesen werden könnte. Jene Wirklichkeit, an
der die Hypothese auf ihre Richtigkeit überprüft werden soll, ist gar nicht anders als in
dem prinzipiell gleichen notwendig vorgefaßten Sinnverständnis sichtbar zu machen.
Es ist gleichwohl möglich, einzelne faktorielle Verknüpfungen zu überprüfen und vor-
gefaßte Meinungen zu revidieren. Allein, auch eine Vielzahl solcher Oberprüfungen
läßt den gesamtgesellsmaftlimen Zusammenhang nimt ohne weiteres simtbar werden.
Eben weil die einzelnen Handlungsabläufe, auch soweit sie Regelcharakter haben, nicht
in Regeln allgemeinerer Ordnung aufgehen, wie das bei den spezielleren Gesetzen der
Naturwissenschaften der Fall ist, ist damit für das Gesamtverständnis der sozialen
Wirklichkeit wenig gewonnen.
Die Konsequenz liegt auf der Hand: Die sozialwissenschaftliche Methodologie ist
smlemt beraten, solange sie ihr Prüfungsverfahren auf die Kontrolle faktorieller Ver-
knüpfungen beschränkt. Sie muß ein Verfahren entwickeln, das es ihr erlaubt, Einsicht
in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu gewinnen. Wie immer es beschaffen
sein mag, die Oberwindung der Aporie ist nicht auf der kausalen Ebene zu suchen, son-
dern auf der Ebene sinnhafter Deutung. Die Kernfrage ist, auf ihr die Aussagen derart
zu strukturieren, daß sie intersubjektiv prüfbar werden. Jedenfalls sind es diese Struk-
turen, die in einer historischen Abfolgeordnung stehen und das ausmachen, was in der je
konkreten gesellschaftlichen Organisation seinen Niederschlag findet.
Gegenstand und Methode 221
Anmerkungen
1 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 3 1968.
2 H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1928.
3 Weber verwendet den Begriff »chaotisch« mehrfach in dem hier erörterten Zusammenhang;
s. WL 177; natürlich ist er nicht im gleichen Sinne gebraucht wie bei Kant. Entscheidend ist
jedoch, daß er der gleichen erkenntnistheoretischen Konstellation: der absoluten Vorlagerung
des Subjekts entspringt.
4 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Köln 1964 (Studienausgabe).
5 F. Tenbruck, Die Genesis der Methodologie Max Webers, Köln. Ztschr. f. Soz. u. Sozpsych.
1956, s. 573 ff. (600 ff., 625).
6 H. Rickert, 1. c. S. 133.
7 H. Plessner, Macht und menschliche Natur, in: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Bern
1953, s. 226.
8 Vgl. P. Winch, Understarrding a Primitive Society, American Philosophical Quarterly 4,
1964, s. 307 ff.
9 Vgl. H. Rickert, 1. c. insbes. S. 78 ff.
10 Mehrfach weist M. Weber diese Vorstellung zurü<.X; WL 92, 110; ebenso Rickert, 1. c. 82).
11 Vgl. H. Rickert, 1. c. 95, 138, 142).
12 Vgl. insbesondere WL, S. 255 ff. (254).
13 Vgl. dazu die jüngst von Chr. v. Ferber wieder beigezogene Dissertation von Chr. Steding,
Politik und Wissenschaft bei Max Weber, Breslau 1932; sowie Chr. v. Ferber, Die Gewalt in
der Politik, Stuttgart 1970, S. 40 f.
14 W. Dray, Explanations in History, Oxford 3 1966.
15 K. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 2 1966, S. 31.
16 W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philoso-
phie, Band I, Berlin 1969, S. 102.
17 Vgl. dazu besonders P. Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft, Frankfurt 1966.
18 U. Beck, Soziologische Normativität, Köln. Zeitschr. f. Soz. und Sozpsych. 1972, S. 220 f.
Grenze und Übergang: Frage nach den Bestimmungen
einer cartesianischen Sozialwissenschaft
Richard Grathoff (Konstanz)
Ganz aussichtslos erscheint der Versuch, in der alltäglichen Erfahrung Soziales von Psy-
chischem scharf zu trennen. Eine Grenze hebt sich erst ab, wenn dieses oder jenes tra-
dierte Deutungsschema die Differenz in einem objektiven Sinnzusammenhang zeigt.
Einem Deutungsschema dieser Art gilt die gegenwärtige Studie. Es ist die auf Descartes
zurückgehende Konzeption von der Struktur und Grenze menschlichen Bewußtseins,
die als umfassendes Deutungsschema mit der Scheidung von Sozialem und Psychischem
auch die Grenze setzt zwischen den ihnen geltenden wissenschaftlichen Disziplinen,
zwischen der Soziologie und der Psychologie.
Alltägliche Erfahrung und tradierte Deutungsschemata, hier einander flüchtig gegen-
übergestellt, sind jedoch aufs engste miteinander verwoben ~. Einerseits gründen die
tradierten Grenzen der Sozialwissenschaften zwar in historisch vermittelten anthro-
pologischen Prämissen und diese sind als Deutungsschema kritisch feststellbar, aber sie
haben andererseits vor aller Kritik das lebensweltliche Erfahren und Beobachten und
damit auch das Selbstverständnis des in Alltag und Wissenschaft handelnden Menschen
bereits geformt. Die Grenze zwischen Soziologie und Psychologie ist ein alltäglicher
Tatbestand. Ihre Konturen scheiden strukturell Soziales von kognitiv Psychischem; sie
trennen »Amt« oder Rolle von »Person« oder eigentlichem Selbst; sie lassen die prote-
stantische Fehde gegen die Welt von Tod und Teufel im »Hier stehe ich« ihre stets
wieder neue Urständ feiern.
Das cartesianische Schema, im später folgenden schärfer zu bestimmen, ruht auf ein-
fachen, aber umso eindringlicheren Prämissen. Descartes hob das Bewußtsein (für ihn
notwendig: menschliches Bewußtsein) zum ersten Thema philosophischer Reflexion und
grenzte es, kurz gesagt, als Bereich der bewußten res cogitans von der äußeren Welt der
res extensa ab. Die Arbeitsfelder von Psychologie und Physik wurden damit aufs erste
sauber geschieden, die Wächterin Philosophie achtete sorgsam auf Einhaltung von
Grenzen und kleinen Grenzverkehr 2, bis mit der Thematisierung des Lebens als primä-
rem philosophischem Gegenstand die entscheidende Erweiterung des cartesianischen
Schemas einsetzte. Bergson, Dilthey, Freud, Husserl, Marx und Peirce sind hier vor
allem zu nennen, die den inzwischen vielschichtig sedimentierten Boden der naiven
Konzeption vom menschlichen Bewußtsein durchschlugen und neue Fundierungen such-
ten.
Mit diesem Gegenzug, und in einer hier nicht näher aufzudröselnden Wechselbeziehung
des Verstehens und Mißverstehens der verschiedensten anticartesianischen Kritiken
entwickelte die Soziologie ihr eigenes wissenschaftliches Selbstverständnis. Damit wird
224 Richard Grathoff
allerdings die bisher nur wissenssoziologisch interessante Frage nach dem Zusammen-
hang des cartesianisdlen Deutungssdlemas und unserer alltäglidlen Vorstellung von
mensdllichem Bewußtsein zu einem ganz zentralen Thema dieser Wissenschaft. Denn
entweder wurde das cartesianische Sdlema samt seiner methodologisdlen Implikate er-
setzt durdl - meist miteinander kaum vereinbare - lebensphilosophisdle, psychoanaly-
tisdle, phänomenologisdle, marxistische oder pragmatische Kritiken, entweder wan-
derte die Soziologie an den Rand eines philosophisdlen Residuums, oder aber, der
Soziologe erwehrte sidl dieser philosophischen Klammern und erarbeitete die »Eigen-
ständigkeit« seiner Wissenschaft in eifriger Rezeption und Variation der Arbeitsweisen
und Methodologien anderer Wissenschaften, ohne sich über deren cartesianischen Cha-
rakter hinreimende Redlensdlaft zu geben. Denn die cartesianischen Bewußtseinskorre-
late von Wahrnehmung, von Spradle, von Handeln und Wirken als Instrumentarium
der die Sozialwelt ausmessenden Rationalität und Normalität können in einer auf
Operationalisierbarkeit eingesdlworenen Soziologie nidlt mehr hinterfragt werden.
Es darf dahingestellt bleiben, ob der gegenwärtige Stand unserer Wissenschaft audl nur
in Punkten mit diesen Sätzen getroffen wurde. Gewiß wird es mandlem Leser auch
müßig erscheinen, einen methodologischen Streit wieder aufzunehmen, den er mit eini-
gem Recht für begraben hält. Darum geht es hier nicht. Es geht viel enger um die Frage,
ob der oben redlt vage formulierte Cartesianismus-Verdacht, in weldlem Maße der
neue Wein soziologisdlen Denkens in die alten Schläudle des cartesianischen Ansatzes
gefüllt wurde, sich präzis an hinreichenden und notwendigen Kriterien erhärten läßt.
Anders gewendet: Weldle Kriterien erlauben es uns, gewisse soziologische Theoreme
oder ganze Theorien als Bestimmungen einer cartesianisdlen Sozialwissensdlaft auszu-
weisen/
Auch diese Frage ist nicht neu. Auch sie fand bereits ihre verstreuten Antworten. Aber
hier ist es keineswegs müßig, sie erneut zu stellen, ihre Antworten aus dem Schatten
hervorzuzerren. Denn das cartesianische Deutungsschema von menschlichem Bewußtsein
hat einen außerordentlich überzeugenden Bundesgenossen in der alltäglichen Erfah-
rung: Die Vorstellungen von Struktur und Grenze mensdllichen Bewußtseins in tradier-
tem Deutungsschema einerseits und im Alltag andererseits haben sich weitgehend an-
geglichen 3 • Weder der Pragmatismus von Peirce bis Mead, noch die Husserlsche Phäno-
menologie, und erst recht nicht der Marxismus (auch nicht in der Sattreschen Variante)
haben es verhindern können, daß die naive und alltägliche Konzeption der Trennung
von Bewußtsein und Welt immer wieder zum Durchbruch gekommen ist.
Den ersten systematischen Angriff zur Bestimmung einer cartesianischen Sozialwissen-
schaft hat Helmuth Plessner geführt 4 • Sein »Cartesianischer Einwand« diente zur
methodologisdlen Klärung seines Zieles, mit den Grenzen des Lebendigen und seiner
Obergänge die vitalen Ordnungsstrukturen sozialer Existenz neu zu bestimmen. Dieser
Gedankengang wird daher als erstes skizziert. Dabei soll deutlich werden, an welchen
Punkten eine weitere Verschärfung des cartesianischen Einwandes nötig erscheint, ins-
besondere durch Rückgriffe auf Peirce und auf Husserl, deren diesbezügliche Arbeiten
erst später bekannt geworden sind.
In diesen eher rezeptiven Teil des Aufsatzes sind seine Hauptthesen bereits eingearbei-
tet worden: Die cartesianische Konzeption des Bewußtseins ist eine der wichtigsten
Grenze und Obergang 225
lung des cartesianischen Prinzips und dessen Fundamentalisierung, sowie in den wesent-
lichsten Folgeprinzipien dieser Fundamentalisierung, die nun skizziert werden müssen.
Nach Plessner hat der Cartesianismus auf zwei Ebenen die Scheidung von Physischem
und Psychischem fundamentalisiert. Einmal, wie schon erwähnt, werden res extensa (als
Bereich der ausgedehnten Natur) und res cogitans (als Bereich der Innerlichkeit} ein-
ander entgegengesetzt. Zum anderen wird als ausschließlicher Erkenntnisstil der ersten
Sphäre, also im Bereich der ausgedehnten Natur, die mathematisch-mechanische Dar-
stellung bzw. die Messung als verläßlich bekannt zugelassen. Genauer gesagt, es werden
in dieser Sphäre Körperlichkeit und Ausdehnung identisch, Ausdehnung und Meßbar-
keit äquivalent gesetzt. Da aber in eben denselben Schritten jeder ausgedehnte Körper
über die cartesianische Konzeption von Punkt und Zahl meßbar wird, wird hier in eins
eine Fundamentalisierung der mathematischen Naturwissenschaft geleistet. Mit anderen
Worten: Ist das Alternativprinzip der disjunkt entgegengesetzten Sphären erst etabliert
und wird die Äquivalenz von Ausdehnung und Meßbarkeit angenommen, so genügt
bereits die positive Bestimmung einer (z. B. der äußeren) Gegensphäre samt ihres
methodischen Zuganges, um den Aufbau des ganzen Weltbildes festzulegen 7 •
Wird die Natur somit ausschließlich dem ausmessenden Erkennen zugänglich, so müssen
alle nicht-ausgedehnten Qualitäten der belebten Natur entweder mechanisch aufgefaßt
und in Meßdaten überführt werden, oder aber sie zählen als Inhalte von Cogitationen
zum Bereich der Innerlichkeit. Daraus folgt, da ich als Ich ja zur Innerlichkeit gehöre,
die Subjektivierung aller nichtausgedehnten Natur. Damit aber nicht genug: Erkennt-
nistheoretische überlegungen führen mit der Forderung nach apodiktischer Evidenz in
beiden Sphären dazu, daß Innerlichkeit als nur zu meinem Ich gehörig erkannt wird,
daß die res cogitans auf den Umfang des Ichs eingeschränkt wird. Denn was die natur-
wissenschaftliche exakte Messung auf der einen Seite leistet, beantwortet das absolute
Zweifelpostulat des cogito sum auf der anderen.
Diese Einengung der res cogitans auf den Umfang des Ichs führt dazu, daß nur die Zu-
wendung auf das Ich den Zugang zu dieser Sphäre sichert. Es wird ein auf einen selbst
zugeengter Wahrnehmungsstil verlangt, die innere Wahrnehmung: »Andere Iche, in
einer nicht ausschließlich einem jeden selbst möglichen Wahrnehmungsweise anzutref-
fen, sind daher vor Anzweiflung nicht geschützt.« (S. 40) Das cartesianische Alternativ-
prinzip führt also zu dieser Fassung des oben bereits erwähnten Problems der Intersub-
jektivität aufgrund der zwingenden Verkehrung vom »Ich als Innerlichkeit« zur
»Innerlichkeit als Ich«.
Fassen wir kurz zusammen: Als zentralen Einwand gegen den Cartesianismus stellt
Plessner die »Fundamentalisierung des cartesianischen Prinzips« heraus. Danach über-
nimmt das Bewußtsein, das eigene Ich die Verantwortung für alle nicht-meßbaren Phä-
nomene der Natur, gestützt auf die Gedankenhaftigkeit, die Innerlichkeit des Ichseins.
Die Instanz der res cogitans rettet sozusagen die Qualitäten vor ihrer restlosen Mecha-
nisierung. Aber nunmehr haben zwei nicht ineinander überführbare Erfahrungsstile
Urteilskompetenz erhalten: Die innere Erfahrung stützt sich auf das Selbstzeugnis, auf
die Erkenntnis des Ichs, und gründet das Feld der Psychologie; die äußere Erfahrung ist
das Fremdzeugnis der Körpererkenntnis in der Physik. In Plessners Worten:» Wogegen
Grenze und Obergang 227
sich eine anticartesianische Bewegung richten muß, ist die Identifizierung von Körper-
lichkeit und Ausdehnung, physismem Dasein und Meßbarkeit, die es versmuldet hat,
daß wir für die meßfremden Eigenschaften der körperlichen Natur blind geworden
sind. So daß wir so weit gehen konnten, die Naturwissensmaften nimt nur für die
einzig mögliche Erkenntnisweise der Natur, sondern die Natur geradezu für das Er-
gebnis der Naturwissenschaft, für ihr Methodenprodukt zu halten- eine Anschauung
des Neukantianismus jüngst vergangener Zeit.« (S. 42)
Aber Plessners Einwand gewinnt noch an weiterer Smärfe. In der Folge dieser Funda-
mentalisierung, der Grundvorstellung disjunkter Sphären der Innerlimkeit und des
Ausgedehnten, müssen eine Reihe von Paradoxien überwunden werden, die der Kritik
besonders am Phänomen der belebten Körperlichkeit und ihrer Obergänge handfest
werden. Der cartesianische Ansatz stützt sich dabei auf vier Folgeprinzipien, die zu
weiteren Bestimmungen einer cartesianismen Sozialwissenschaft werden.
Das Prinzip der Vorgelagertheit der Innerlichkeit nimmt an, daß die res extensa nie »in
ihrer Naduheit«, sondern stets im »Mantel der Erscheinung« auftritt (S. 44). Denn da
die meßfremden, qualitativen Eigensmaften der Körper nimt zur ausdehnungshaften
Körperlimkeit rechnen, müssen sie zur Innerlimkeit gehören und werden zu Nur-Er-
smeinungen, zu Empfindungen umgedeutet. Andererseits ist aber der Körper als Ge-
genstand in der Ersmeinung Qualitätensystem und quantifizierbarer Gegenstand. Um
diesen doppelten Aspekt der Körperlichkeit um der Identität willen zu halten, wird die
Ersmeinung als dem Dasein äußerlich und nimt notwendig, aber die Qualitäthaftigkeit
des Ersmeinens aus der Situation der Erscheinung, aus dem Zusammensein mit der res
cogitans hergeleitet. Der Körper ist also für eine InnerlidJ.keit gegeben und stellt sim im
Aussehen qualitativ dar. In der Ersmeinung, die situativ auf ihren qualitativen Bezug
zur Innerlimkeit befragt werden kann, ist die res cogitans der res extensa vorgelagert.
Im verhüllenden Mantel der Ersmeinung verbirgt sim die ausgedehnte Natur.
Das Prinzip der Immanenz folgt nun zwangsläufig, wenn die bereits eingangs
erwähnte Einengung des Bereims der Innerlimkeit auf den Umfang des eigenen Ims
beachtet wird. Die Gegebenheit eines Dings in der Erscheinung heißt nun sein aus-
smließlim mir selbst gegeben sein. Damit werde ich selbst zur Bedingung, daß Dinge
überhaupt gegenständlich ersmeinen können: »Was also ersmeint, ist Inhalt meines
Selbst, Bewußtseinsinhalt, Vorstellung« (S. 46). Was mein Bewußtsein in der Ersmei-
nung zu fassen vermag, ist bereits durch mich selbst modifiziertes Wesen. über mim
und meine Sphäre greife im als Subjekt nicht hinaus: Was mir gegeben ist, ist in mir
gegeben; meine Gegenwart setzt den Bezugspunkt für das Ersmeinende.
Ein weiteres Folgeprinzip, die Binnenlokalisation der Innerlichkeit im eigenen Körper,
ist damit bereits angedeutet: Die res cogitans als Feld bewußter Innerlimkeit wird erst
im Umfang des Ichs, dann im Körper als Peripherie der Innerlimkeit, und endlim in
Kopf und Großhirn eingeschlossen, als hypothetisches »unräumlimes Pendant zum
räumlimen Gehirn, das mit diesem immerhin die Binnenexistenz im Kopf hinter den
Sinnesorganen gemeinsam hat« (S. 67). Zu dieser Binnenlokalisation, die man aum
kurz das Prinzip des cartesianischen Käfigs nennen kann, kommt es aufgrund der
Eigenstellung des Körpers als Bezugspunkt alles Erscheinenden. Mein Körper ist vor
allen anderen, in angehbaren Raumpunkten befindlimen Körpern ausgezeimnet, da
228 Richard Grathoff
auf ihn hin alles Emheinende konvergiert. Dieser »Hier-Charakter des Ichsubjekts«
(S. 53) ist ein sein Wesen konstituierendes Moment und führt zur Anschauung einer vom
Körper räumlich umschlossenen und verhüllten Innenwelt, und endlich zur Weltgliede-
rung in Innen- und Außenwelt.
Diese disjunkte Gliederung führt nun zum voll ausgeprägten System des cartesianischen
Dualismus. Die Außenwelt gibt nur körperliche Daten, die Innenwelt besteht nur aus
seelischen Phänomenen. Da jedoch nach dem Prinzip der Immanenz die körperlichen
Daten nicht unmittelbar und originär gegeben sind, sondern stets im Mantel der
Erscheinung auftreten, dagegen aber psychische Daten als Bewußtseinsinhalte originär
sind, muß das Prinzip der Repräsentation die Vermittlung leisten: »Jedes Element der
(dadurch in ihrem Eigenbestand problematisch werdenden) Außenwelt ist infolgedessen
psychisch-bewußtseinsmäßig vermittelt, hat Bewußtseinsinhalte zu seinen Repräsentan-
ten« (S. 57).
Fassen wir zusammen: Die Fundamentalisierung des cartesianischen Prinzips geschieht
in zwei Schritten, in der alternativen Entgegensetzung von Sphären der Innerlichkeit
und der Körperlichkeit einerseits und der Identifizierung von Körperlichem mit Aus-
gedehntem, dem Xquivalentsetzen von Ausgedehntem mit Meßbarem andererseits.
Diese Fundamentalisierung ist Ausgang und Ursprung der pekuliären Probleme, die
mit den Folgeprinzipien (Vorgelagertheit, Immanenz, Käfig, Repräsentation) auftre-
ten.
Inwiefern sind damit Bestimmungen einer cartesianischen Sozialwissenschaft bereits
erbracht worden? Man kann erwarten, daß in der soziologischen Theorie die Funda-
mentalisierung des cartesianischen Prinzips meist in stillschweigender Setzung erfolgt.
Darauf angesprochen, wird man sich solcher ,. Unterstellung« wehren und den Kritiker
rasch in die eigenen Folgeprobleme zu verwids.eln versuchen, und damit vertuschen, daß
diese erst auf dem Hintergrund jener Fundamentalisierung überhaupt ihren Problem-
charakter erhielten, also Scheinprobleme sind 8 • Das gilt es nun kurz an einem Beispiel
zu verdeutlichen, um den Beitrag der Plessnerschen Analysen für unsere Fragestellung
zu erhärten.
Eine Entwicklung der Rollentheorie geht davon aus, daß Systeme oder Positionsmuster
in spezifischen Weisen jeden jeweils vorliegenden sozialen Untersuchungsraum
aufspannen. Jede Position (z. B. eines Berufes) steht im Verbund mit anderen Positio-
nen, in der wechselseitigen Beziehung tradierter Rechte und Pflichten, die jede Position
in etwa in den Horizont eines Ethos stellen. Wird dieser normative Erwartungshori-
zont der Position im Grenzfall totaler Angepaßtheit den Handlungsablauf eines Posi-
tionsnehmers völlig bestimmen, so nennt man diese Handlungsweisen idealer Einstim-
mung mit dem normativen »Skript« eine Rolle. Diesem theoretischen Konstrukt, mit
nur geringer Chance tatsächlicher Realisierung, wird ein empirisches zugeordnet: Die
Rolle im normativen Sinn wird von der tatsächlichen Aktivität eines Positionsnehmers
in alltäglicher Interaktion geschieden, die man Rollen-Performanz genannt hat. Unsere
Frage: Begründet dieser Ansatz bereits eine cartesianische Rollentheorie?
Grenze und Obergang 229
Zunächst mag man einwenden, daß nirgends eine explizite Aussage über die Grenzen
menschlichen Bewußtseins gemacht wird. Aber dieser Einwand erweist sich vor den bis-
herigen Bestimmungen bereits als leer: Die Fundamentalisierung des cartesianischen
Prinzips und die explizite Bestimmung einer Sphäre reichen hin, um diese Grenzen im-
plizite festzulegen.
So darf weiter gefragt werden, ob eine Fundamentalisierung vorliegt. Die Antwort
liegt auf der Hand: Die Vorstellung eines Systems oder Musters von Positionen beruht
auf der Annahme von darstellbaren und in ihren verschiedenen Dimensionen ausmeß-
baren Systemstrukturen. Jede traditionelle Messung (z. B. von Status oder von Mobili-
tät) steht auf diesem Grund. Die Äquivalenz von ausgedehnter Struktur von Posi-
tionsmustern und ihrer Meßbarkeit wird in jeder diesbezüglichen methodologischen
Diskussion zwar problematisiert, aber gerade damit auch forciert. Sie dient der expli-
ziten Bestimmung des äußeren Systembereichs. - Das Alternativprinzip andererseits,
diese zweite Stütze der Fundamentalisierung des cartesianischen Prinzips, wird durch
den Begriff der Rolle selbst eingeführt, und damit auch alle von Plessner aufgeführten
Folgeprinzipien.
Denn die Rolle wird als ausgesprochenes Konstrukt, als Grenzbegriff positionaler Akti-
vität in totaler Angepaßtheit verstanden. Sie vermittelt zwischen dem Bereich des Han-
deins und dem System von Positionen, zwischen der handelnden Person und dem nor-
mativen Anspruch des positionalen Ethos. Die Rolle ist der »Mantel« des Übergangs
zwischen den disjunkt gesetzten alternativen Sphären; in der Rolle >>erscheint« das nor-
mative Netz der Positionsmuster; aber die Qualitätshaftigkeit des Erscheinens (sprich:
die tatsächliche Interaktion und Präsentation) wird erst aus der Situation des Erschei-
nens, im Zusammensein mit dem sich präsentierenden Selbst hergeleitet. Dieses Phäno-
men - das oben als »Prinzip des Vorgelagertseins« behandelt wurde- wird mit der
Rollenperformanz von der Rollentheorie getroffen. Immanenz und Binnenlokalisation
(und damit durchgehende Gültigkeit und Übertragbarkeit aller Sozialisationstheorien
aus psychologistischer Feder) sind nun unmittelbare Konsequenz: Geschlechtsrollen-
identifikation und Rollendistanz- um zwei geläufige Themen zu nennen - sind spezi-
fische Problemkreise im Anschluß an die cartesianische Fassung des Rollenbegriffs.
Während in der Rolle das normative Netz der Positionsmuster erscheint, muß nun im
einmal gesetzten cartesianischen Käfig die Spanne zwischen Selbstfindung und Identi-
tät auf der inneren, von manifester und latenter Funktionalität auf der äußeren Seite
gehalten werden. Das Vokabular (Rollenkonflikt, »commitment<< oder >>attachment<<,
usf.) und die Unternehmungen in dieser Hinsicht sind bekannt.
Letztendlich noch ein Hinweis zum Prinzip der Repräsentation, das den cartesianischen
Charakter dieser Konzeption völlig erhärtet. Die traditionelle Rollentheorie ist mit der
Übernahme vieler Metaphern aus dem Bereich des Theaters 10 geradezu zum Prototyp
sozialer Darstellungstheorie geworden. Jedes Element der Außenwelt (sprich: einer
historisch vermittelten Sozialwelt samt tradierter Normen und Werte) wird durch die
Rolle psychisch-bewußtseinsmäßig vermittelt und hat Bewußtseinsinhalte zu seinen Re-
präsentanten. Der Hiatus von Person und Rolle, das geworfene Geschick des homo
sociologicus hat hier seinen echten, oder auch, wenn man so will, seinen nur scheinbaren
Grund.
230 Richard Grathoff
Erste Ergebnisse
Eine kurze Besinnung auf die Ziele dieses Aufsatzes ersmeint angebramt, um nimt
durm unvermeidlim verkürzte oder gar polemische Wortwahl in falsme Gesellsmaft zu
geraten 11 • Die Rede von der cartesianismen Sozialwissensmaft soll lediglim auf die
Nimt-Problematisierung der aum im Alltag nicht problematisierten Grenzen des Be-
wußtseins hinweisen. Für eine solche »enthaltsame« Einstellung können gute Gründe
angeführt werden, die hier im einzelnen nimt behandelt werden müssen. Es besteht also
gar kein Anlaß zur polemismen Absetzung von cartesianischen Disziplinen, wie zum
Beispiel den gesamtgesellsmaftlimen Theorien rational-ökonomischen Verhaltens, die
sim auf die mathematische Spieltheorie stützen und keine Bestätigung ihrer Legitimität
braumen. Die cartesianische Sozialwissenschaft hat ihren Gültigkeitsbereich. Ihn abzu-
stedten, seine Grenzen zu bestimmen, das ist die vorliegende Aufgabe.
Plessners »cartesianismer Einwand« hat gezeigt, daß die Fundamentalisierung des car-
tesianismen Prinzips in ihren Folgenprinzipien einer unbeschwerten Obernahme der
Prämissen des cartesianismen Käfigs gleimkommt. Man kann dieses, anders gewen-
det, an einer Metapher nommals verdeutlichen: Der Doppelaspekt von Innerlimkeit
und Kußerlimkeit darf ebensowenig fundamentalisiert werden, wie der Doppelaspekt
von Innen und Außen seit Entdedtung des Moebius'smen Bandes nicht mehr wie selbst-
verständlim mit der angehtimen »Zwei-Seitigkeit« räumlimer Flächen begründet wer-
den darf 12•
Aber zeigt Plessners Einwand bereits hinreichende Kriterien zur Bestimmung einer car-
tesianismen Sozialwissenschaft auf? Oder kann sein Einwand an diesem oder jenem
Punkt verschärft werden? In diesem Fall müßten sich Gründe finden, die trotz Pless-
ners erklärter Intention rüdtläufig sind und ihn neuerlime cartesianisme Positionen
halten läßt. Im meine, dies ist in der Tat der Fall. Das deutet sim bereits in der ein-
geschränkten Absimtserklärung an: »Nicht auf die Oberwindung des Doppelaspekts als
eines (unwiderspremlimen) Phänomens, sondern auf die Beseitigung seiner Fundamen-
talisierung, seines Einflusses auf die Fragestellung ist es im folgenden abgesehen«
(S. 70). Hält sim Plessner aber unter dieser Einschränkung frei von der Gefahr einer
erneuten Fundamentalisierung?
Zweifelsohne hat der Doppelaspekt jede sozialwissensmaftlime Fragestellung und alle
methodismen Zugänge in die psychologisierenden Selbstanalysen der Bewußtseinswis-
senschaften und der an Systemdimensionen, an Maß und Zahl orientierten empirischen
Sozialwissenschaften auseinandergerissen. Plessner versumte nun, in Reflexion über
den Charakter von Grenzen und ihrer Obergänge im Bereim des Lebendigen eine Neu-
bestimmung der Wesensmerkmale des Lebendigen zu begründen. Aber in welmer
Strenge kann dieses geschehen? Führt eine »apriorisme Theorie der organismen Wesens-
merkmale«, eine Theorie der »organischen Modale«, zu diesem Ziel? (S. 107) Plessners
Arbeiterreimt ihren Abschluß mit der Entwidtlung »anthropologismer Grundgesetze«
der natürlimen Künstlimkeit, der vermittelten Unmittelbarkeit und des utopismen
Standorts (Kap. 7), die als Kategorien der Besmreibung sozialer Wesensmerkmale zwar
Vortrefflimes leisten, aber als fundamentale Ordnungsprinzipien einer apriorischen
Grenze und Obergang 231
Fundamentalisierung sehr nahe kommen und somit im Sinne des cartesianischen Ansat-
zes als rückläufig erscheinen.
Diese Vermutung soll in zwei Richtungen geprüft werden und so zu weiteren Bestim-
mungen einer cartesianischen Sozialwissenschaft führen. Einerseits hat Wolfgang Köh-
ler in einer frühen Arbeit auf die verstellenden Konstanz-Hypothesen erster wissen-
schaftlicher Ordnungsprinzipien hingewiesen, zum anderen hat Charles Peirce den car-
tesianischen Charakter derartiger Prinzipien erarbeitet. Dieses »Paradigma des An-
fangs« 13, das in der äußeren Erfahrung des maßnehmenden Operationalisierens als
Konstanz erster Ansätze und als Axiomatik, in der inneren Erfahrung als Bestimmung
von Identität und Ursprung auftritt, und in dieser Gegenstellung bereits seine cartesia-
nische Herkunft verrät, gilt es nun näher zu bestimmen.
Jede originäre wissenschaftliche Leistung ist in gewissem Sinne ein Anfang, von dem her
bestimmte erste Ansätze verallgemeinernd konstant gesetzt, von dem bis dahin lediglich
hypothetische Ordnungsprinzipien bereits zu Gesetzen erhoben werden. Köhlers fol-
gende Ausgangsfrage stellt sich heute im Rahmen einer Forschungslogik, sie richtet sich
damit auch auf die Beiträge von Plessner und von Köhler selbst, und selbstverständlich
auch auf Descartes: »Jede junge Wissenschaft ist bemüht, gegenüber dem ungeheuren
Reichtum an Material Gesichtspunkte zu finden, von denen aus die zunächst unver-
ständliche Vielheit des Gegebenen sich irgendwie zu ordnen beginnt, und gewisse Ord-
nungsprinzipien als erste Gesetze, als das erste Feste, erste Konstante sichtbar werden«
(S. 51). Das Paradigma des Anfangs ist also nach Köhler eine immanente Charakte-
ristik des Forschungsprozesses selbst. Wie kommt es aber dazu, daß die Konstanz von
Ordnungsprinzipien auch dort angenommen und »begründet« verfochten wird, wo ihre
Gültigkeit schwerlich oder überhaupt nicht empirisch erwiesen werden kann?
Köhler führt diese Möglid:tkeit auf drei Hypothesen zurück, die empirisd:t zwar ganz
und gar unbegründet, aber gerade darum aud:t empirisch nicht widerlegbar, den Gültig-
keitshereich von Empfindungen und Urteilen über den Rand des Bemerkbaren und
Feststellbaren hinausschiebt. Mit ihnen wird jede Diskrepanz zwischen tatsächlicher
Beobachtung und theoretischer Forschungserwartung ausgeräumt, und jede Empirie
letztlich zur Farce. Kurz gefaßt sind es diese drei Hypothesen:
1. Bewußtes kann nicht nur bemerkt, sondern auch unbemerkt auftreten. Es entzieht
sich dann zwar direkter Beobachtung, kann also nur erschlossen werden, büßt aber da-
durch nicht an psychischer Realität ein und gründet unser Empfinden und Urteilen
ebenso, sei es nun bemerkt worden, unbemerkt geblieben, oder ganz und gar unbemerk-
bar.
2. Empfindungen und Wahrnehmungen, ob bemerkt oder unbemerkt, sind von den an
sie anschließenden Urteilen theoretisch scharf zu trennen. Urteilstäuschungen über
wirklich vorliegende Empfindungen können also auf diesen- oder aber auf vermeint-
lichen, aber unbemerkten- Empfindungen beruhen.
232 Richard Grathoff
3. Folglich gibt es neben den unbemerkten Empfindungen auch unbemerkte Urteile, die
für Urteilstäuschungen verantwortlich sind. Ein solches Urteil wird von einer unbe-
merkten Empfindung hervorgerufen, über die dann etwas Falsches ausgesagt wird.
In einem frühen Vorlesungsskriptum von Peirce findet sich eine leidenschaftlich anti-
cartesianische Passage, die man als ein Leitmotiv für seine späteren Arbeiten verstehen
kann. Peirce fragt:
»Worin besteht denn die Identität des Menschen und wo ist der Sitz seiner Seele? Mir scheint,
daß diese Fragen in der Regel eine sehr enge Antwort finden. Wir mußten sogar lesen, die Seele
residiere in einem Teilorgan des Hirns nicht größer als ein Stecknadelkopf! ... Aber sind wir
eingeschlossen in einen Kasten von Fleisch und Blut? Wenn ich meine Gedanken und meine Ge-
fühle einem Freund mitteile, dem ich in voller Sympathie verbunden bin, so daß meine Gefühle
in ihn übergehen und ich mir bewußt bin, was er fühlt, lebe ich dann nicht in seinem Hirn ebenso
wie in meinem- und das im wörtlichsten Sinn ... ? Es gibt diese erbärmlich materielle und bar-
barische Vorstellung, nach der ein Mensch nicht an zwei Orten zugleich sein kann; als wäre er ein
Ding! ... Jeder Mensch hat eine Identität, die weit seine animalische Natur transzendiert;- ein
Wesen, einen Sinn, wie flüchtig auch immer. Nur kann er selbst seine eigene wesentliche Bedeu-
tung nicht kennen; seinem Auge ist dies ein Balken. Das Faktum der Sympathie, nämlich das
Gefühl der Verbundenheit mit allen uneigennützigen Interessen und allem, was wir als absoluten
Wert eines Menschen empfinden, findet seinen wahren und exakten Ausdruck darin, daß der
Mensch wahrhaftig diese hinausreichende Identität hat ... « 17
In ersten, kräftigen Strichen hat Peirce hier die ganze spätere Entwicklung der Sozial-
psychologie von W. James, über Ch. H. Cooley zu G. H. Mead skizziert, eine pragma-
tistische Tradition, in der die Sozialwissenschaft zum ersten Mal einen explizit nicht-
cartesianischen Ansatz gehabt hat. Hier führt die Kritik am cartesianischen Käfig nicht
nur primär zu einer Neubesinnung über den Doppelaspekt von Innerlichkeit und
.Äußerlichkeit, sondern sie stellt noch radikalere Fragen in den Vordergrund: ob der
Grenze und Obergang 233
Doppelaspekt nicht ein soziales Phänomen sei; ob Identität und Selbstbewußtsein nicht
aus der Sozialität des Anderen her bestimmt werden müsse; ob das Ich (und auch jede
Psychologie) nicht von der Vorgegebenheit sozialer Fakten gezeichnet sei 18.
Aber wir sind in Gefahr, über das gegenwärtige Ziel dieses Aufsatzes hinauszuschießen.
Uns beschäftigt hier nur ein Teilaspekt, nämlich die Cartesianismus-Kritik von Peirce,
die aus seinen logisch-mathematischen Studien hervorgehend das erkenntnistheoretische
Selbstverständnis der tradierten Logik zum Ausgangspunkt nimmt. Peirce entwickelt
seine Position aus einer Reihe scheinbar alltäglicher Annahmen über menschliches Beob-
achtungsvermögen, die sich bei näherem Zusehen als Prämissen einer cartesianischen
Konzeption menschlichen Bewußtseins entpuppen. Er fragt der Reihe nach und in gro-
ßer AusführlichKeit: ob wir intuitiv und ohne Vermittlung von Zeichen den unmittel-
baren Bezug einer Erkenntnis (cognition) auf ihren Gegenstand feststellen können; ob
wir ein intuitives Selbstbewußtsein haben; ob wir intuitiv die Erkenntnisweisen des
Träumens, Phantasierens, Glaubens usf. voneinander scheiden können; ob ein Zeichen
für etwas absolut Unerkennbares überhaupt einen Sinn hat; und endlich: ob es eine Er-
kenntnis gibt, die nicht durch eine vorhergehende Erkenntnis bereits bestimmt ist. Alle
sieben Fragen werden verneint. Peirce wirft dem Cartesianismus vor, in diesen Fragen
unhaltbare Positionen der Neuerung gegenüber dem scholastischen Denken des Mittel-
alters bezogen zu haben, indem das cartesianische Gefolge ungeprüft Descartes' Thesen
des universalen Zweifels, der apodiktischen Gewißheit individuellen Bewußtseins, der
»einspurigen Schlußweise« (a single thread of inference) mathematisch-deduktiven
Denkens und der »veritatis dei« als letzter Stütze unerkennbarer Fakten repetierte.
Diese breit angelegte Kritik faßt Peirce in die ,. Vier Unvermögen des Cartesianismus«
zusammen, die im folgenden kurz skizziert werden müssen.
1. Wir haben kein Vermögen der Introspektion, der unmittelbaren Wahrnehmung jener
Fakten, die man zur Welt der Innerlichkeit zählen will. Introspektion soll dabei jedes
Wissen von der inneren Welt sein, das nicht von äußerer Beobachtung abgeleitet ist. So-
wohl unser Selbstbewußtsein und Wissen um die eigene Wesenhaftigkeit, als auch
unsere etwaige Einsicht in unser eigenes Verrückt-Sein, ist durch Mitmenschen vermit-
teltes Wissen. Selbst Empfindungen {etwa einer Farbtönung) oder Emotionen (etwa des
Zorns), die zweifellos an Innerlichkeit gebunden sind, werden stets nur situativ ver-
standen in Beziehung auf konkrete äußere Gegenstände und haben ihre erst situativ
verständliche Prädikation. Ist jemand zornig, zum Beispiel, so gibt es ein konkretes
Etwas, das ihn zornig macht, und die selbstbewußte Feststellung »Ich bin zornig« ist
bereits eine im Nachhinein reflektive Vertiefung der Prädikation. In diesem Sinn will
Peirce verstanden sein, wenn er das Unvermögen der Introspektion feststellt, aber alles
Wissen von der »inneren Welt« als »hypothetisch« vom Wissen »äußerer Tatsachen«
abgeleitet begreift. Diese Ableitung in »hypothetical« oder »abductive reasoning«, wie
er es später nennt, ist eine vertiefende Explikation der Prädikation einer gegenständ-
lichen Wahrnehmung. Der zornerregende Anlaß führt über die Prädikation zu einer
Setzung von »inneren« Glaubensprämissen, aus denen die Situation plausibel und etwa
folgendes Handeln konsequent erscheint:» Wenn jemand dahin gebracht wird, von den
Prämissen überzeugt zu sein, so daß er von ihnen her handeln und sagen wird, daß sie
234 Richard Grathoff
wahr sind, so wird er unter günstigen Bedingungen auch bereit sein, nach der Konklu-
sion aus ihnen zu handeln und zu sagen, daß sie wahr ist.« 19
2. Wir haben kein Vermögen der Intuition, der Einsicht in die unmittelbare Beziehung
einer Erkenntnis (cognition) auf ihren Gegenstand außerhalb des Bewußtseins, denn
jede Erkenntnis ist bestimmt durch vorhergehende Erkenntnisse, eine zumindest vage
Kenntnis des Gegenstandes. Fehlt das Vermögen der Intuition, so können wir auch
nicht intuitiv, also in unmittelbarer Anschauung eines Erkenntnisgegenstandes, ent-
scheiden, ob wir ihn sehen, ihn erinnern, ihn phantasieren oder bloß vorstellen. Insbe-
sondere gibt es keine scharfe Trennung zwischen dem Wahrgenommenen (percept) und
dem nah Antizipierten (Peirce nennt es »antecept«) und zwischen dem »percept« und
dem »ponecept«, dem unmittelbar Erinnerten, das er von der ferneren und schon frag-
würdigeren Erinnerung unterscheidet. In diesem Sinne ist jedes Erkennen und jedes
Wahrnehmen ein zeitlicher Prozeß, der Zukünftiges und V ergangenes in die Einheit des
Gegenwärtigen zieht. Peirce sucht in diesem Prozeß nach kognitiv-logischen Regel-
mäßigkeiten, insbesondere nach »hypothetischen oder abduktiven« Figuren, die- wie
die Logik insgesamt - ihre Wurzeln im Sozialen haben. In diesem Sinne wird es ver-
ständlich, daß wir kein Vermögen der Intuition haben, sondern daß »jede Erkenntnis
von vorhergehenden Erkenntnissen logisch bestimmt« ist 20 •
3. Wir haben kein Vermögen, ohne Zeichen zu denken, obgleich wir sehr wohl denken
können, bevor wir ein entwickeltes Selbstbewußtsein haben. Mit dieser Zeichenhaftig-
keit des Denkens, Peirce spricht von »thought signs«, wird dreierlei erfaßt: 1. Das Den-
ken ist ein Handlungssystem des ordnenden Ineinandergreifens von gerade Vergange-
nem, Zukünftigem und Gegenwärtigem, vergleichbar einer Melodie, die als Abfolge
dennoch in jedem Moment präsent ist. 2. Jeder Gedanke steht mit anderen Gedanken in
einer Beziehung wechselseitiger Determination und Abhängigkeit, und jede derartige
Beziehung ist zeichenhaft. 3. Zeichen sind für Peirce solme »Repräsentationen« oder
»mittelbaren Bewußtseinselemente«, deren gegenständliche Verweise nicht bloße über-
einstimmende Khnlimkeiten festhalten, sondern eine Korrespondenz der harten Tat-
samen (correspondence of facts) sind. Zeidlenhaftig ist das Denken gebunden in diese
nidlt beliebig manipulierbare (oder universal bezweifelbare) Korrespondenz von erfah-
rendem Bewußtsein und tatsädllicher Wirklichkeit, in der selbst der Mensdl als Zeichen
verstanden wird. Wir finden hier Passagen, die auch von Sartre stammen könnten:
»Das Wort, das der Mensch braucht, ist der Mensch.... So ist meine Sprache die Ge-
samtsumme meiner selbst, denn der Mensch ist das Denken.« 21
4. Das vierte Unvermögen besteht darin, daß wir von etwas absolut Unerkennbarem
keine begriffliche Vorstellung (conception) haben können. Anders gefaßt: Gäbe es et-
was, von dem wir absolut nichts wissen könnten, so ist dieses überhaupt nicht wirklich.
Denn jedes Erkennen steht vermöge der Zeichenhaftigkeit des Denkens im Verbund mit
dem Erkennbaren, also auch mit dem Noch-Nicht-Erkannten, und sei es auch nur in der
Beziehung von Ignoranz oder Irrtum. Denn hätten wir eine begriffliche Vorstellung
vom absolut Unerkennbaren, so wäre es aufgrund dieses zeichenhaften Verbundes eben
Grenze und Obergang 235
doch erkennbar.- Peirce entwickelt gegen einen der Hauptsätze des cartesianischen An-
satzes, nach dem die letzte Wirklichkeit der Dinge nie auch nur im geringsten erkannt
werden kann - obgleich die Metaphysik sie auf den Begriff bringen will - gegen dieses
Wirklichkeitsverständnis des »is« entwickelt er die pragmatistisme Vorstellung virtuel-
ler Wirklichkeiten des »would-be«, die in seiner bekannten Sinn- und Handlungstheo-
rie gipfeln. Wirklimkeiten sind als prinzipiell erkennbare Wirklichkeiten immer bereits
im virtuellen Bezug auf erkennendes Bewußtsein. Hier, allerdings, darf Peirce in der
Naminterpretation nicht wieder eine cartesianische Vorstellung unterschoben werden,
wie es häufig geschehen ist 22• Ausführliche logisme und zeimentheoretische Überlegun-
gen führen Peirce immer wieder zu demselben Smluß, daß der einzelne Mensch, inso-
fern er unabhängig von Anderen überhaupt etwas ist, in dieser separaten Existenz eine
Manifestation von Ignoranz und Irrtum ist. Denn die Wirklimkeit, und mit ihr alle
Zeimensysteme, jede Sprache und die Logik, sind sozial fundiert: »The real, then, is
that which, sooner or later, information and reasoning would finally result in, and
which is therefore independent of the vagaries of me and you. Thus, the very origin of
the conception of reality shows that this conception essentially involves the notion of a
COMMUNITY, without definite limits, and capable of a definite increase in know-
ledge.« 23
Kurz muß hier die Fülle unerledigter Anschlußprobleme angesprochen werden, die sich
aus diesen Peirce'smen Oberlegungen ergibt. Seine Cartesianismus-Kritik mündet un-
mittelbar, wie im letzten Absmnitt ersimtlich, in die Wirklimkeits- und Wissenstheo-
rien des Pragmatismus, ohne daß dies von der gegenwärtigen Wissenssoziologie hinrei-
chend zur Kenntnis genommen würde. Der Rekurs auf Peirce wird selten explizit, aber
ohne ihn geraten zentrale sozialwissenschaftliche Theoriestücke, z. B. der sogenannte
»Symbolische lnteraktionismus«, in den Verdamt novellistismer Anfängerübungen. So
wird man die bestechende Stigma-Theorie von Erving Goffman, in der Stigma als
eigenartige Diskrepanz zwischen aktualer und virtualer sozialer Identität gefaßt wird,
erst in der pragmatistischen Differenz von Wirklichkeiten des »is« und des »would-be«
richtig erfassen, und als Versuch eines nidJ.t-cartesianischen Ansatzes zu einer Theorie
sozialer Normalität beurteilen müssen 24 •
Blickt man auf die von Peirce formulierten ,. Vier Unvermögen« zurück, so erkennt
man bereits den in seinen späteren Arbeiten noch weiter geklärten Verbund unseres le-
bensweltlimen Wissens mit dessen zeimenhaft-sprachlicher Durchdringung in einer stets
sozialfundierten Wirklichkeit, die zwischen Ignoranz, Alltag und Wissenschaft ihren
Weg sucht, welcher mit jeder tatsächlichen Aussage des »iS« den Einfällen und Zufällen
des Einzelnen anheimfallen kann und daher erst in der Virtualität des »would-be«, in
dem sozialen Prinzip der Hoffnung, seinen Lauf findet.
Aber zwingen wir uns zurück in den engeren Rahmen des vorliegenden Themas: Inwie-
weit sind mit den Kritiken von Plessner, Köhler und Peirce hinreimende Kriterien einer
cartesianischen Sozialwissensmaft genannt worden?
Die Behauptung, mit Peirce die Köhlersmen Konstanz-Hypothesen stützen zu können,
ist bereits eingelöst und unmittelbar einsichtig. Die drei Hypothesen über unbemerkte
und unbemerkbare Empfindungen und Urteile, in denen Köhler die Konstanz erster
Ordnungsprinzipien, das wissensmaftliche Paradigma ursprünglimer Anfänge gegrün-
236 Richard Grathoff
det sah, werden von Peirce in seinen vier Unvermögen des Cartesianismus erfaßt. Emp-
findungen und Erkenntnisse stehen immer in unmittelbarem Verbund mit Früherem;
ein Erstes hat stets noch ein Anderes, das ihm voraus ist; werden unbemerkte Urteile
auf unbemerkbaren Empfindungen gegründet, so verlangt dies eine begriffliche Fas-
sung des Unerkennbaren, zum Beispiel durch introspektiven Zugang einer hypothe-
tischen Innerlichkeit: Das ist der harte Kern einer cartesianischen Konzeption sozialer
Wirklichkeit. Das Paradigma des Anfangs, die Konstanz erster Ordnungsprinzipien,
der fundamentalisierte Gegensatz von Innen und Außen, die Vorstellung von einer
begrifflichem Erkennen absolut unzugänglichen Wirklichkeit: diese Kriterien eines car-
tesianischen Ansatzes können im folgenden Exkurs weiter verdeutlicht werden.
entziehen. Es handelt sich dabei nicht nur, obgleich am klarsten, um alle Ereignisse der
frühen Kindheit, die an psychischer Realität nichts einzubüßen scheinen, obgleich sie
nur folgernd aus den Berichten Anderer erschlossen werden können. Es sind dieses sozial
vermittelte Phasen des Lebenslaufs, die im Sinne einer cartesianisdt geordneten Biogra-
phie zur »Eigentlichkeit« rekonstruiert, zeitlich angeordnet, und in ihrer die Innerlich-
keit prägenden Kraft den bemerkten und reflektiv unmittelbar erfaßbaren Erlebnissen
gleichgestellt werden. Was aber nur erschlossen ist, kann natürlich auch falsch sein: So
wird das Urteil über ein biographisdtes Erlebnis vom ursprünglichen Erleben radikal
getrennt; für Täuschungen sind unbemerkte Urteile verantwortlich, deren Grund in
unbemerkten, sozial vermittelten, nicht-authentischen Empfindungen zu sudten ist. Die
Sozialität gerät hier in den Verdacht, Grund jeder Urteilstäuschung bis hin zum fal-
schen Bewußtsein zu sein.
Es ist kaum möglich, den Gegensatz zur Peirce'schen Konzeption der Sozialität deut-
licher zu machen. Die vier cartesianischen Unvermögen werden alle von dieser Biogra-
phie-Theorie vorausgesetzt: Introspektion, ein unmittelbares Wissen von meiner Inner-
lichkeit, in eins mit der Intuition, dem unmittelbaren Bezug meiner Erkenntnis auf
ihren Gegenstand, erlauben mir den rekonstruktiven Rückgriff auf >>Daten<< meiner Le-
bensgeschichte, in simpler Zuwendung, also ohne Rekurs auf die Sozialität kommunika-
tiven Handelns. Sie führen aber andererseits zur begrifflichen Vorstellung einer Bio-
graphie als eines >>eigentlich<< Unerkennbaren. Denn insofern die biographische Analyse
Daten einer Lebensgeschichte veräußerlicht, werden sie zu meßbaren Gegenständen und
so ein Teil der äußeren Struktur; der personale Intimkern (in diesem Zusammenhang
ein Konstrukt des cartesianischen Ansatzes) bleibt als residuales, doch eigentlich Wirk-
liches, aber nie auf den Begriff zu bringendes Unerkennbares der Person. Die >>Einzig-
artigkeit<< der Person entzieht sidt der regelhaften Analyse aufgrund einer unhaltbaren
Fundamentalisierung; die >>Eigentlichkeit<< der Person wird durch die cartesianische
Konzeption der Biographie erst gesetzt.
Die gegenwärtige Studie galt jenem tradierten Deutungsschema, das aufgrundder car-
tesianischen Konzeption menschlichen Bewußtseins eine überaus sdtarfe Grenze zwi-
schen psychischer Innerlidtkeit und sozialer Äußerlichkeit zieht und damit Strukturen
des Bewußtseins einerseits und der Sozialität andererseits zu miteinander nicht verträg-
lichen Gebilden verzerrt. Die »erbärmlich materielle und barbarische Vorstellung<< einer
dinghaften und ortsgebundenen Identität, mit der Peirce dieses Deutungsschema ange-
griffen hat, könnte er hinter dem Mantel der sich als Übergangsdisziplin verstehenden
>>Sozialpsychologie<< heute noch häufig antreffen. Ein weiterer begründeter Exkurs ist
aber zu diesem Punkt kaum nötig, da die abschließend zusammengefaßten Kriterien
zur Bestimmung einer cartesianisdten Sozialwissenschaft ihn hinreichend verdeutlichen
werden 27 :
238 Richard Grathoff
Hiermit ist eine Grenze des vorliegenden Themas erreidlt. Sie ist zwar gelegentlidl, ins-
besondere in dem Abschnitt über Peirce, bereits überschritten worden. Aber eine syste-
matische Untersuchung über eine nidlt-cartesianische Sozialwissenschaft bringt noCh
sehr erhebliche Schwierigkeiten. Peirce hat diese bereits angedeutet:
»Es sdleint unbestreitbar, daß menschliches Bewußtsein der Erfassung der Welt außer-
ordentlich angepaßt ist. . .. Wie sollen wir aber diese Anpassung erklären? ... Wir
müssen eingestehen, daß (unsere obige Hypothese) wohl nicht hinreicht, um die außer-
ordentliche Trefflidlkeit zu beschreiben, mit der die Vorstellungen (unseres Bewußt-
seins) auf die Phänomene der Natur passen. Wahrscheinlich gibt es hier irgendein
Geheimnis, das noch entdeckt werden will.« 28
Drei Jahrzehnte später hat Edmund Husserl in den »Ideen« umfassend seine Theorie
der Intentionalität des Bewußtseins vorgelegt und damit eine Antwort auf die
Peirce'sche Frage gegeben 29 • Zweifellos hat Husserl damit die bedeutendste Erweite-
rung und Oberwindung der cartesianischen Konzeption des Bewußtseins gefunden.
Das cartesianische Problem der »Anpassung« oder »Verknüpfung« von Erlebnissen der
res cogitans mit ihren realen Gegenständen der res extensa wird von Husserl als eine
Problemverstellung zurückgewiesen. Jedes Erleben ist immer bereits »Bewußtsein von
etwas« und hat seinen Erlebnisgegenstand mit dem Akt des Erlebens stets in eins.
Bewußt sein, jeder Akt des erlebenden Zuwendens, hat stets etwas Bewußtes, das diesen
Akt am konkret Identisdlen des Erlebten hält: Der cartesianische Käfig wird gesprengt
durdl den Übergang von der Abgesdllossenheit individuellen Bewußtseins zur Mannig-
faltigkeit der intentionalen Erlebnisse.
Grenze und Obergang 239
Hier wird eine Fundierungsschicht für die Akte des Erfassens, des Wahrnehmens, des
Erfahrens und Urteilens erkannt, auf der die Konstitution von Gegenständen und
Objektivitäten behandelt werden kann.
Für den Sozialwissenschaftler, dem die Rede ernst ist, daß sich die Gegenstände seiner
Wissenschaft erst im sinnhaften Kontext kommunikativen Handeins bilden, eröffnet
sich hier neben den Ansätzen von Peirce, Mead und Plessner, eine außerordentlich
fruchtbare Perspektive. Die Tatsache, daß der von Busserl vorgeschlagene Weg von
Cartesianismen nicht frei ist 30, daß er zu einigen Lösungen führte, die unhaltbar sind 31,
weist lediglich auf die großen Schwierigkeiten, die eine nicht-cartesianische Konzeption
des Bewußtseins für den Sozialwissenschaftler bereithält. Aber Vielfalt und Komplexi-
tät alltäglichen Handeins und Erlebens müssen ja nicht in jedem Fall in einfallsloses
Grau, etwa einer Rollentheorie, wechseln, wenn sich der Soziologe erst ihrer annimmt.
Es sei denn, es kümmert ihn nicht, daß er die soziale Wirklichkeit durch den Mantel
seiner Konstrukte nicht begreift.
Anmerkungen
9 Erving Golfman hat seiner Entwicklung des Rollenbegriffs eine gute, knappe Skizze des
»klassischen Rollenkonzepts« vorangestellt, um sich von ihr absetzen zu können: »Role
Distance« in: »Encounters«, New York 1961, S. 85-91. Ich selbst folge hier Goffmans Vor-
lage, unter ganz anderen Gesichtspunkten.
10 Vgl. die Konstanzer Dissertation (1971) von Uri Rapp: »Handeln und Zuschauen: Unter-
suchungen über den theatersoziologischen Aspekt in der menschlichen Interaktion«.
11 Ein Vergleich der »logischen Typen« (Bertrand Russell), die in cartesianischen Handlungs-
theorien auftreten, mit »sozialen Typen« nicht-cartesianischer Prägung, etwa bei Edmund
Busserl, würde diese Grenzziehung jedes polemischen Verdachts entheben. Dieser Vergleich
kann jetzt noch nicht vorgelegt werden. Er wird verdeutlichen, daß unsere Überlegungen mit
dem polemischen, ja ätzenden Anticartesianismus etwa von Gilbert Ryle (» The Concept of
Mind«, New York 1949) nichts gemeinsam haben.
12 Der Leser vergegenwärtigt sich die Existenz von »einseitigen Flächen« am besten selbst,
indem er zwei lange, rechteckige Streifen Papier an den Stirnseiten, den ersten »normal«,
aber den anderen Streifen einmal »verdreht« zusammenheftet. Der »normale« Streifen gibt
einen flachen Zylinder mit Innen- und Außenwand, der »Verdrehte« ein Moebius-Band, auf
dem jede beliebige zwei Punkte durch eine ununterbrochene Linie - also ohne Sprung von
»innen« nach »außen«- verbunden werden können.
13 Günter Dux hat das cartesianische Deutungsschema besonders unter diesem Aspekt unter-
sucht. Vgl. seine Interpretation der Plessnerschen Arbeiten in seinem Nachwort zu: Helmuth
Plessner, »Philosophische Anthropologie«, Frankfurt 1970, insbes. S. 279-285. Von seiner
Meinung, Plessners Ansatz bedürfe »überhaupt keines Anfangs mehr; erlaubt ihn auch
nicht ... « (S. 285), weiche ich hier ab.
14 Am bekanntesten sind die tierpsychologischen Studien von Wolfgang Köhler über das Intelli-
genzverhalten der Menschenaffen. Vor diesen Arbeiten veröffentlichte er »Über unbemerkte
Empfindungen und Urteilstäuschungen« (Zeitschrift für Psychologie, 66, 1913, S. 55-81),
eine Kritik der cartesianischen Empfindungstheorie, die von Plessner zwar nicht zitiert
wurde, aber in der späteren Kritik an der behavioristischen Stimulus-Response-Theorie einen
zentralen Platz bekam. Vgl. dazu Aron Gurwitsch, »The Field of Consciousness«, Pittsburgh
1964, ·s. 87 ff. und M. Merleau-Ponty, »Phenomenology of Perception«, New York 1962,
S. 7 ff. Diese Arbeit Köhlers wird hier referiert.
15 ,. Wer weiß, welcher Bruchteil derjenigen neuen Tatsachen, die unsere Wissenschaft in den
nächsten Jahrzehnten finden wird, an sich schon heute entdeckt sein könnte, ... weil ... die
gewohnten Gesetze solche Tatsachen nicht erwarten lassen.... Jede Wissenschaft hat eine Art
Rumpelkammer, in welche die Dinge fast automatisch geschoben werden, die man vorläufig
nicht brauchen kann ... .«Köhler," Unbemerkte Empfindungen«, S. 68.
16 Insbesondere an drei Orten finden sich die wichtigsten frühen Arbeiten von Peirce über den
Cartesianismus: 1. Die Vorlesungen am Lowell Institute von 1866, teilweise in den
»Collected Papers« publiziert; 2. die Aufsätze von 1867 in »Proc. of the Americ. Acad. of
Artsand Sciences«; 3. die Essay-Reihe von 1868/69 im »Journal of Speculative Philosophy«,
die unter den Titeln: »Fragen hinsichtlich gewisser Vermögen, die man für den Menschen in
Anspruch nimmt«; »Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen«; »Die Grundlagen der Gül-
tigkeit der Gesetze der Logik: weitere Konsequenzen aus vier Unvermögen« von K. 0. Apel
(übersetzt von G. Wartenberg) herausgegeben wurde (Charles S. Peirce, »Schriften 1«,
Frankfurt 1967). Ich beziehe mich durchgehend auf die ursprüngliche Ausgabe der
»Collected Papers« (8 Bände, Harvard Univ. Press, 1931-1958), wobei zur weiteren Orien-
tierung der Cross-Reference-lndex und die Bibliographie am Schluß des achten Bandes uner-
läßlich sind, da in den »Collected Papers« alle Arbeiten aus ihrem ursprünglichen Zusam-
menhang geschnitten und unter recht fragwürdigen Gesichtspunkten über alle Bände ver-
streut »geordnete wurden.
17 Coll. Pap., Band 7, Par. 591. Die übliche Ziderweise (7.591) wird hier beibehalten.
18 Vgl. dazu die frühe Arbeit von G. H. Mead, »What Social Objects must Psychology
Presuppose?« Journal of Philosophy, 7, 1910, S. 174-180. Eine Untersuchung des Einflusses
Grenze und Obergang 241
von Peirce auf Mead steht ebenso noch aus, wie etwa ein Vergleich mit den wissenssoziolo-
gischen Arbeiten von Max Scheler, der sich unter dem Titel »Faktum der Sympathie« im
obigen Peirce-Zitat geradezu aufdrängt. Einem solchen Thema steht natürlich die horrende
Fehlrezeption des Pragmatismus bei Scheler etwas im Wege. Vgl. die Studie »Erkenntnis und
Arbeit«, in: »Die Wissensformen und die Gesellschaft«, Bern-München 1960, S. 191 ff.
19 Dieses Zitat- in ihm wird das sogenannte »Thomas Axiom« bereits skizziert- aus Coll. Pap.
5.268. Sonstige Verweise: 5.244-5.247, 5.265-5.268, 7.581. Weitere Verweise zu abduktiven
Prozessen siehe »Structure of Social Inconsistencies«, op. cit., S. 34-44.
20 Dieses Zitat in 5.265, sonstige Stellen 5.213, 5.238, 7.648.- Auffällig sind die Berührungs-
punkte mit der Husserlschen Theorie der Erfahrung, einerseits dem Horizontcharakter aller
Erfahrung, nach dem alles Erkennen in einem Horizont typischer lebensweltlicher Vertraut-
heit geschieht, zum anderen der Zeitstruktur der Erfahrung im protentiv-retentiven Verbund
alles Wahrnehmens. Vgl. E. Busserl, »Erfahrung und Urteil«, Harnburg 1964.
21 Dieses Zitat aus 5.314 (zu dessen Interpretation vgl. Peirce' Scheidung von »is« und
»would-be«). Weiterhin zu diesem Abschnitt 1.558, 1.588, 5.250-253, 5.309, 5.395-5.400.
22 So bei C. Wright Mills; folgenschwerer allerdings noch in der Linguistik. Vgl. meine Rezen-
sion in Social Research, 34, 1967, S. 387 ff.
23 Diese berühmte Stelle aus 5.311 bereitet der Übersetzung außerordentliche Schwierigkeiten,
solange es keine gefestigte Rezeption des Pragmatismus gibt, die auch die Differenz von »is«
und »would-be« deutlich hält. (Vgl. in ähnlichem Sinn Apels Einführung zu »Schriften I«,
op. cit., S. 145). Ferner zu diesem Abschnitt: 5.254-258, 5.310-317, 6.419; umfassender auch
noch: Richard f. Bernstein, »Perspectives on Peirce«, Yale Univ. Press, 1965.
24 E. Goffman, »Stigma«, Englewood Cliffs 1963, S. 2 f. - Ähnlich in seiner Definition von
»role distance« in: »Encounters«, op. cit., S. 107.
25 Vgl. /an Szczepanski »Die biographische Methode« in: Handbuch der empirischen Sozialfor-
schung, R. König (Hrsg.), 1. Bd., Stuttgart 1962, S. 551-569, dessen kurze und vorzügliche
Darstellung hier herangezogen werden kann.
26 Ausführlicher in »Structure of Social Inconsistencies«, S. 105.
27 Eine interessante Studie, da weniger unmittelbar einsichtig, bieten die Cartesianismen der
Alltagssprache, auf denen sich das obige Deutungsschema stützt und die es letztendlich auch
legitimieren. Dazu gehören Redeweisen wie: »Betrachten wir nun einmal die andere Seite der
Medaille«; »Von diesem Standpunkt aus gesehen ... «; »Man muß das festmachen ... «;
»Subjektiv trifft das zu, aber objektiv betrachtet ... «; usf. Zum wissenssoziologischen Zu-
sammenhang derartiger Legitimationsschemata vgl. Berger und Luckmann, op. cit., S. 85-96.
28 Coll. Pap., op. cit., 6.417-418 (1877).
29 1913 erschien der erste Band der »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenolo·
gischen Philosophie«, Den Haag 1950. Siehe unter »Intentionalität« das Sachregister von
Band 1. - Ferner die Aufsätze von Gurwitsch, Kackeimans und Cairns zu diesem Thema in
dem Reader: »Phenomenology, The Philosophy of Edmund Husserl and its Interpretation«,
hrsg. von J. ]. Kockelmans, New York 1967 (Doubleday Paperback). - Vgl. auch Alfred
Schütz, »Einige Grundbegriffe der Phänomenologie«, in: »Gesammelte Aufsätze«, Bd. 1,
insbes. S. 116-119.
30 Vgl. fames Street Fulton, »The Cartesianism of Phenomenology«, Philosophical Review,
49, 1940, und die Rezension von A. Gurwitsch dazu in: Philosophy and Phenomenological
Research, 2, 1940/41, S. 557 f. -Den in unserem Zusammenhang wichtigsten Nachweis des
Husserlschen Cartesianismus führte A. Gurwitsch, als er Busserl die Übernahme der Köhler-
sehen Konstanzhypothesen nachwies: Siehe »The Field of Consciousness«, op. cit., S. 90.
31 Insbesondere in seinen »Cartesianischen Meditationen«; vgl. dazu die obige Fußnote 5.
The Disembodiment of Human Action by Social Scientists
J. F. Glastra van Loon (Den Haag)
There is apredominant trend in the social sciences to study human behavior in terms of
systems of analytically defined variables. In so doing the social sciences emulate the
method of inquiry of the physical sciences. In this paper I do not irrtend to question the
possibility of studying human behavior in this way or to question the validity of the
knowledge that is thus obtained. This is not to say, however, that I see no limits or
restrictions as to what can thus be analysed and explained. What I am here concerned
with is to show how this prevailing method of analysing and systematising social
phenomena affects our understanding of society and of ourselves as human agents, and
to indicate how these effects can be remedied.
Social systemes are not patterns of relations between real entities, social events, or
human individuals or groups. They are, rather, theoretical constructs of relations
between analytically defined variables. Variablesare not the things which you or I or
any human observer experiences. They are elements of some language system which are
defined relative to one another and which refer to classes of things which arenot them-
selves observable but which share some directly or indirectly observable characteristics.
Social systems, in other words, are not societies but systems of signs which are
constructed by social scientists as a means for detecting and revealing orderliness in
social phenomena 1• This is not to say, of course, that social phenomena reveal
orderliness only to the social scientist and only through the systems of signs in terms of
which he defines them. There could, in fact, be no social order if the individual agents
in societies did not each possess an at least partially adequate understanding of the rela-
tionships and interactions in which they take part. The point is rather that social scien-
tists claim that their method of inquiry provides them with knowledge which has a
higher degree of objectivity and greater explanatory power than knowledge obtained
in other ways.
However, even if we grant these claims - and to some extent, I think, they must be
granted - the question remains what it is that the social scientist who proceeds by the
method just indicated has knowledge about, and what it is that his knowledge can
explain.
With the exception of the extreme behaviorists, all schools of social science agree thatin
244 j. F. Glastra van Loon
order to be social, action must posses meaning to the agents involved. The meanings of
their acts, moreover, must be reciprocally and sufficiently generally defined in order
that orderly ongoing processes of interaction may take place. Sofar there is a broad area
of agreement. Within this area, however, there are some issues which keep the minds
divided. Unfortunately, these issues are usually defined in such a way that they are
obscured rather than clarified.
The real issue, I would say, is the selection of a frame of reference in terms of which the
meaningfulness of actionwill be defined. This issue is obscured in the following ways.
First of all, it is confused with the distinction between, on the one hand, the subjective
understanding of their environments and their own activities by individual agents and,
on the other hand, the definition of the meanings of actions by social scientists in terms
of their frames of reference. The distinction itself, of course, is correct but it does not
do to oppose the two modes of understanding as two mutually exclusive ones of which
one only will provide true understanding of social reality. For some purposes the social
scientist will have to take the subjective understanding of the agents whose behaviour
is studying into account; for some purposes these agents may use the definitions of the
scientist and the Statements into which they have been incorporated as a means for
organizing their behaviour (and/or that of others). In each case, however, both modes of
understanding must come into play. The social scientist will have to relate the agents'
subjective meanings to those defined by his frame of reference; the agents desiring to
organize their behaviour in accordance with the precepts which can be derived from
social science will have to interpret the terms of social theory into those of their subjec-
tive understanding in order to be able to act accordingly in the context of the
particular situations in which they find themselves.
Another way in which the issue of the selection of a frame of reference gets confused is
by equating it with the choice of a Ievel of abstraction. This way of looking at the mat-
ter is based on the false assumption that meanings and the frames of reference in terms
of which they are defined vary along a linear scale according to the number of things
which are left out of consideration with the implication that there are some, namely
those retained at the most abstract Ievel, that are common to all of them. In point of
fact, frames of reference differ not only, and certainly not most significantly, by the
number but especially by the kinds of things which they leave out or include, and by
the ways in which they interrelate those which are included in them.
It is these latter differences which determine the various specializations and disciplines
in science. It is only on the basis of the recognition of these differences, moreover, that
an adequate analysis of the relations between various frames of reference and the cor-
responding disciplines can take place as well as of the consequences of the differences
between them for the understanding of meaningful action.
The majority of social scientists nowadays conducts its inquiries on the basis and in
terms of an interaction frame of reference.
The most important distinctive characteristic which these inquiries have in common is
that they take their starting point in interaction as an ongoing process. The »ongoing-
ness« of interaction, is a basic principle of this frame of reference not unlike the prin-
ciple of inertia of Newtonian dynamics 2 • For that reason it might be labeled the
The Disembodiment of Human Action by Social Scientisis 245
principle of social inertia. The frame of reference itself is developed by first analysing
interaction in terms of abstract and (at least in principle) implicitly defined concepts
such as »actor« and »environment«, »ego« and »alter«, »Status« and »role«, »act« and
(»physical« and »social«) »object«, »purpose«, »means« and »condition«, and so forth.
Finally, the interaction process is reconstructed in terms of the »preconditions« or
»functional prerequisites« that must be fulfilled in order that interaction may be ex-
plained as an ongoing process, i. e., as a system in a state of stable equilibrium.
It is important to note that, just as its elements, the »social system« is not a reality but a
theoretical construct. lt is a conceptual instrument used by the social scientist for the
detection of order in social phenomena. Asking oneself, therefore, which are the neces-
sary conditions or functional prerequisites of ongoing interaction is not asking a ques-
tion about real societies or real social events but, rather, a specification of the basic
principle of »social intertia« in terms of the analytic concepts of the social system.
The basic principle and its specifications serve as guidelines for theoretical and
empirical social scientific research. By its structural characteristics the social system, the
action framework as a whole, indicates the sorts of relationships that will be taken into
account in that research. At the same time, of course, it also blocks certain lines of ques-
tioning and excludes certain kinds of relations from research. The question is not how
to prevent or stop this for these are the very functions which theories and frames of
reference are supposed to perform. The thing to be clone, rather, is to make the restric-
tions which the conceptual construct imposes explicit and to construct alternative ones
insofar as there is a need or a desire togooutside these self-imposed Iimits. It is at these
tasks that I shall now try my band.
The most fundamental restriction imposed by the interaction frame of reference out-
lined above is that it precludes the question how it is possible that interaction processes
come into existence in a wide variety of forms and in the contexts of significantly
different patterns of intersubjective meaningfulness. Furthermore, along the same line
of questioning, how it is possible that intersubjective meaningfulness undergoes
changes, gradual as weil as sudden radical ones, partial as weil as comprehensive chan-
ges. And, finally, which are the conditions under which such changes are and are not
likel y to occur.
What I mean now is not an archaeological and historical investigation into the actual
phases through which mankind has gone establishing ever more integrated forms of
society- from hunting and gathering nomads through settled primitive agriculturalists,
centrally ruled empires and city states, to bureaucratically administered nation states,
say. What I have in mind is, indeed, again a systematic analysis and the construction of
a frame of reference as an instrument for further research. Such an analysis and the
construction of an explicit frame of reference should in any case precede comparative
historical research.
This analysis and this conceptual construction, however, should not start by assuming
the »ongoingness« of interaction and it should not just posit the intersubjective mean-
ingfulness of action as a necessary condition. It should not just assign a (conceptual)
basis for intersubjective meaningfulness in an already intersubjectively defined
cultural system and thus restriet itself to such questions as how this intersubjectivity
246 ]. F. Glastra van Loon
turned into or made part of them. They constitute belief patterns which include one's
view and understanding of himself, of his position in reality as whole, and the mean-
ing of his experience. There is not anything, therefore, over and against which these
assumptions could be placed as validly, objectively or even merely successfully repre-
senting or explaining it.
If, therefore, we want to introduce checks on our basic assumptions, then it should not
be in order to verify them or to establish their explanatory power or their applicability
for some theoretical or practical purposes. The purpose of imposing such checks on our
basic beliefs can only be to examine their cultural bias, their relative cultural deter-
minacy, and thereby to gain a vantage point, which is relatively independent of such
biases, especially of those implied in the belief patterns of the social scientist himself.
The latter are of two kinds. First, those implied in the belief pattern of the culture to
which he belongs; second, those implied in the belief pattern which served as the more
specific underpinning of his discipline. These two, obviously, are interrelated. It is
nevertheless important that they be distinguished. The fact that our culture is charac-
terized by the inclusion of specialized, more or less autonomously developing scientific
disciplines is one of the most important things to be accounted for in a comparative
study of belief patterns.
A critical examination of basic beliefs and assumptions can only be carried out syste-
matically if it is clone comparatively. This creates its own problems. The study of belief
patterns, first of all, requires understanding of them (and of the languages, the sym-
bols, and the behavior in which they manifest themselves) from the viewpoint of those
whose beliefs they are. A comparative study, however, requires understanding of belief
patterns not only in their own terms but also from a point of view which is outside each
and everyone of them. A systematic comparative study of belief patterns requires the
construction of a meta-viewpoint which is more general than any of those implied by
particular belief patterns and yet capable of accounting for their variety and variabili-
ty. It will have tobe the viewpoint of an outsider to particular cultures who not only
sees them and their variety as it were from a distance but who is also capable of adopt-
ing the viewpoint of an insider and who generalizes this capability into that of man as
the author of culture.
What this amounts to is the construction of a general theory of man. The basis and the
elements of such a theory will have to be found in human behaviour-but not in
human behaviour alone!
One of the most serious restrictions imposed by the interaction frame of reference is
that it precludes the raising in a systematic manner of questions about how the
meaningfulness of human action, and the changes and varieties of that meaningfulness,
are related to circumstances and conditions that are not themselves meaningful in inter-
action. All relations which are considered in the context of this frame of reference are
assumed to be ordered and meaningful. The human environment is by definition a
meaningfully structured one. It is ordered in terms of identifiable objects which
provide orientation for action as either social or physical objects 3• The former are
related to actors in terms of reciprocal role expectations, the latter as conditions or
means to specific purposes. The possibility for and the ability of human agents to orient
248 ]. F. Glastra van Loon
themselves in their environment is taken for granted. With regard to the possibility to
orient oneself in his environment, the enquiry is entirely focused on problems of
maintenance and of trans/er of the norms and values 4 to which the orderliness and
meaningfulness of the relations between actor and environment are attributed.
The immediate effect of this extreme onesideness of the interaction frame of reference
isthat all interaction is reduced to a disembodied form of signaling or »symboling« in
an equally dematerialized environment whiclt serves as a mere field of orientation. lt is
as if, in their debate with adherents of the possibly even more onesided physicalist-
behaviorist view of human behaviour, social scientists have been pushed into the
opposite extreme where this behaviour is seen as nothing but the manifestations of an
objective social spirit. Interaction is cleared of its »physical« impurities and turned
into an organization of expectations based on culture as the purified system of norms
and values. Behaviour, as it has been aptly put, is studiedas a system of behaviouremes
analogaus to the study of languages as systems of phonemes 5 • Whatever is not
meaningful as defined by the system can only be accounted for as »noise«.
The point now is that in order to overcome these limitations and this onesidedness
human behaviour will have to be restored in its full phenomenal appearance as a
bodily activity of an organism of a specific kind whiclt interacts with other organisms
of its kind in ways that are significantly different from the modes of interaction of
other bodies and organisms o. In ordertobe able to do so one will have to construct a
frame of reference in terms of which human behaviour can be systematically compared
with nonhuman behaviour and to study the variety of relationships between different
sorts of entities and their environments. The differentiation of sorts of entities - as
indeed any categorization of experience- will have tobe based on but it cannot be
dictated by empirical data. lt will have tobe in the nature of a typology and the divi-
sions of the typology must be cltosen in view of the problern at issue.
The problern at issue now is how to account for the cultural and historical variability
of human behaviour patterns and to develop a theory whiclt can explain how those
various patterns are related to non-behavioral conditions. The foundations for suclt a
typology and suclt a theory have been laid, I submit, in the work of Helmuth Plessner.
It is on these foundations that we can now continue with the construction of the
conceptual framework which is needed for comparative cultural and historical studies
of human behaviour as weil as for the integration of the sciences of human behaviour
generally which for la<k of a solid core presently tend to fly off in many directions.
11
Biologically human beings can be dassified as members of the species Homo sapiens, a
sub-dass of the genus of the vertebrates. This classification is based on anatomical char-
acteristics. However, when we compare human behaviour with that of other animals
we are faced with suclt marked differences that the inclusion of men in one dass with
other organic species no Ionger appears acceptable. The main reason for this is that
human in cantrast to animal behaviour shows a significantly higher degree of
The Disembodiment of Human Action by Social Scientisis 249
variability than that of other organisms which, moreover, is independent from environ-
mental conditions to a degree not even approximated by the behaviour of members of
other organic species. This variability manifests itself synchronically, if we compare
various societies coexisting in history, as well as diachronically, when we attend to the
development of a particular society. lt manifests itself between societies but also
between individual members of the same society. If not in all societies to the same
degree: in some societies there is greater congruence of behaviour between members
than in others. This is itself an instance of the cultural variability of human behaviour.
In some societies, moreover, the variations in the behaviour of individuals in a life span
are geater, in some they are more predictable on the basis of their social position at
birth than in others. And these differences too are instances of the cultural variability
of human behaviour.
This is not to say that there is no biological basis for man's cultural variability. Com-
parative study of the human and other species of animals, on the contrary, reveals a
number of features which can serve as a partial explanation of the behavioral varia-
bility of the human relative to the other species of the animal kingdom.
A brief summary indicating some of the main characteristics that are relevant to my
present concern must suffice here.
First of all, anatomically, Homo sapiens is comparatively speaking extremely poorly
equiped to survive in any natural environment. Secondly, man's faculties of sense per-
ception are neither particularly highly developed nor particularly specialized. Thirdly,
man is a remarkably underdeveloped creature in terms of the instinctive determination
of his behavioural responses to environmental stimuli. Thus, on the one hand, his sense
argans in their unspecificity expose him to environmental impressions over exception-
ally wide ranges of variation; on the other hand, his underdeveloped and unselective
instinct mechanism provides him with exceptionally few and unspecific >>marching
orders.« The upshot of it is that man is comparatively speaking constantly over-
burdened with decision making tasks of a higher order of complexity than he can
handle instinctively. Seen from a different angle we can say that human beings by
nature have to face potentially chaotic, at any rate exceedingly indeterminate environ-
ments and must, therefore, introduce order and determinacy in the relations between
themselves and their environments so as to be able to orient themselves and to organize
their behaviour relative to their environments.
The possibility of introducing such order and determinacy is based on the same condi-
tions that require this form of self-regulation of behaviour. The same conditions which
determine the potentially chaotic nature of his relations to his environment also enable
the human organism to selectively detach certain elements from his experience from the
rest of them and to regulate his responses to them in accordance with self-imposed
behaviour patterns.
I shall have to restriet myself here to a demonstration of this human capability by
offering an analysis of how detachment of elements of experience from their experi-
enced relations can establish meaningful oderliness in man's interactions with his
environment. In doing so I shall define meaning in such a wide sense that it includes all
regularities of behaviour or organisms relative to their environments. This is in accord-
250 ]. F. Glastra van Loon
ance with the precepts of the previous part of this paper in which I argued that the
disembodiment of action fatally prejudges the analysis of meaningful behaviour.
Human organisms (but not they alone) have the ability to direct their bodily move-
ments relative to distinguishable elements of their environment in such ways as to either
incorporate them in their activities (e. g., by grasping them) or to avoid contact with
them (e. g., by running around instead of into a tree, etc.). To the extent that they are
capable of doing this, such elements of their environment possess orientational signific-
ance to these organisms. This orientational significance is entirely bound up with the
totality of relations that are experienced during the activity, and with the egocentric-
ally determined »perspective<< in which they appear. It is as much determined, say, by
sensations of muscular tensions and other proprioceptive experiences as by the
apparent size, distance, etc. of the significant object in relation to other elements as
experienced by the organism in the execution of the particular activity.
There are elements in our environments which possess a more detached sort of meaning
as weil as and on top of their orientational significance. Many (but not all) of these
have been artificially introduced by ourselves. Traffic lights, frontdoor and telephone
bells, whistles, marks and signposts, all of these signs and signals possess indicative
significance in that they indicate typified responses to themselves which are not deter-
mined by their orientational significance, yet dependent upon the latter in their
meaning as weil as in their execution. The ringing of a frontdoor bell indicates a typical
response; it does so relative to the time, place, etc. at which it is heard; the characteris-
tics of the response that are typically related to the ringing of the bell, however, arenot
determined by this time, place, etc., although the execution here and now is dependent
upon them and the form of the actual execution is determined by the entire set of
egocentrically structured experiences of the occasion.
There are also elements in our environment whose meanings are distinctly different
from the ones already mentioned in that they neither provide orientation to our move-
ments nor indicate typified activities relative to themselves but signify operations
which are only defined by their relations to one another. The often quoted chessmen
and the symbols of logic and mathematics fall in this category. A chessman on a board
signifies activities only and exclusively in relation to those signified by the other chess-
men on the board. None outside it and none relative to any other activities or Opera-
tions. Similarly a mathematical symbol has meaning only in terms of operations which
can be performed relative to the operations signified by the other symbols of the
system. These relations, although they can be symbolically represented in observable
forms, cannot themselves be observed or experienced in any other way than by the per-
formance relative to each other of the operations which they jointly signify. It is
neither the symbols that count nor the operations performed with them but the rela-
tions between those operations.
The purpose of this analysis is not to clarify the meanings of various kinds of
significant objects but to demonstrate how meanings can differ in degree of detachment
from experienced relations. lt is just as important to note, however, that this detach-
ment is not acquired by the elimination or suppression of bodily activity and the
orientational significance of the environment which is needed for such activity but that,
The Disembodiment of Human Action by Social Scientisis 251
on the contrary, it is based on the latter. However trivial the observation may be in
itself, it is of crucial importance for the analysis and understanding of meaningful
social interaction to emphasize that even the meaning of the most abstract mathemati-
cal symbols can only be realised, exist or occur in intersubjective experience by bodily
performing certain operations with these symbols. Although their meanings in no way
coincide with these activities nor with the orientational and indicative significance
required for their performance they are nevertheless dependent upon the possibility of
that performance.
The interconnectedness between the intersubjective determination of meaning and the
bodily performance of an activity from which that meaning is entirely detached can
only be understood in terms of the excentric positionality of man as expounded by
Plessner. Neither an idealist nor a realist, neither a rationalist nor an empirieist view
can put the house in which man lives in order. That house should be neither spirited
away into transeendental subjectivity nor reduced to mere facticity; that order should
be neither raised beyond sense experience nor fragmented into mere objects of observa-
tion.
None of these provides an acceptable basis for the categorization of experience.
The order which man needs in his house must be established by a conjuring trick which
combines »nature« and »art<< in a way of which only man is capable. What has thus
been put together by man must not be severed by either dernon or god - or even by a
social scientist.
Anmerkungen
1. Macht, Aggression und Gewalt haben in der Geschichte der menschlichen Beziehun-
gen tiefe Spuren zurückgelassen. Grund für die Annahme, daß eine vorhersehbare Zu-
kunft in diese Sachlage fundamentale und endgültige Knderungen herbeiführen wird,
gibt es nicht. Der Wissenschaftler oder Philosoph, der sich, statt sie zu scheuen, mit
diesen Gegebenheiten einläßt, wird deren Realitätscharakter anzuerkennen haben. Ihre
Verharmlosung als Schein oder Vorläufigkeit und die Erwartung ihres definitiven Ver-
schwindens verursachen utopischen Kurzschluß.
Macht als ein für die Kenntnis zwischenmenschlicher Verhältnisse zentraler Begriff
braucht nicht erst noch entdeckt zu werden - auch wenn sie, wie ein amerikanischer
Soziologe noch kürzlich feststellte, »the least studied and least understood- yet most
fundamental - process in social life« sein dürfte (Marvine Olsen, Power in Societies
1970 S. 2). Max Weber nannte sie »soziologisch amorph«. Damit ist gemeint, daß der
Begriff auf einen beim ersten Anblick formlosen oder disparaten Haufen von Erschei-
nungen, Prozessen oder Tatsachen hinweist, womit wir durch Erfahrung mehr oder
weniger vertraut sind. Diese größere oder geringere, mehr explizite oder implizite
Vertrautheit fungiert als Hintergrund aller Machtdefinitionen der wissenschaftlichen
Literatur. Wir würden gar nicht imstande sein über Macht wissenschaftlich oder philo-
sophisch etwas auszusagen, wüßten wir »vorwissenschaftlich« und »vorphilosophisch«
nicht schon wo wir sie zu suchen haben. Das liefert den Anstoß zur Bildung von Begrif-
fen. Wissenschaftliche Begriffe erheischen Definitionen, damit sie für Argumentatio-
nen und Untersuchungen nutzbar werden. Zu ihrer Operationalisierung müssen in
unserem Falle Brücken geschlagen werden zwischen Macht als theoretischem Konzept
und der Wahrnehmung zugänglichen Machtphänomenen. Dieser Brückenbau wirft
wissenschaftstheoretisch und -methodologisch äußerst smwierige Fragen auf. Von einer
wissenschaftlichen Theorie kann jedenfalls nicht die Rede sein im Falle der Unmöglich-
keit irgendwelcher Ableitungen, die auf irgendeine Weise empirisch nachprüfbar sind.
Das theoretische Skelett bleibt dann fleisch- und muskellos. Die fundamentalen
Begriffe und Voraussetzungen einer Theorie »sagen« in direktem Sinne nichts über die
Wirklichkeit »aus«, liefern vielmehr Formen oder Schemata solcher Aussagen.
Wenn Macht als ein theoretischer Begriff für eine umfassende Sammlung durch »Fami-
lienähnlichkeit« (Wittgenstein) ausgezeidJ.nete Phänomene aufgefaßt wird, folgt dar-
aus, daß sie »als solche« nicht unmittelbar wahrnehmbar ist. Der Wahrnehmung zu-
gänglich sind spezifische oder konkrete Kußerungen oder Manifestationen dessen, was
theoretisch unter Macht verstanden wird. Daraus müssen für empirische Untersuchun-
254 R. F. Beerling
gen methodisdl.e Direktive abgeleitet werden können. Die Theorie hat m. a. W. ihre
Ridl.tung(en) anzugeben, weil sonst das Sudl.en in Improvisationen und Irrgängen
stecken bleibt. Das Konfliktmodell zeigt andere »Vorfahrtsstraßen« als das Koopera-
tions- oder Konsensusmodell, die Kupplung des Madl.tbegriffs an personale Eigensdl.af-
ten oder Verhaltenseigentümlidl.keiten dirigiert die Untersudl.ung in andere Ridl.tungen
als die Interpretation von Madl.t als Positions- oder SystemmerkmaL Soldl.e
Alternativen sind methodologisdl. und wissenschaftstheoretisdl. argumentierbar. Aber
»Unterhalb« oder »hinter« solchen Argumentationen lassen sidl. tiefere Ansätze und
Oberzeugungen vermuten, als deren Ausarbeitungen und Artikulierungen sie auf-
gefaßt werden dürfen- »background« und »domain assumptions«, wie Gouldner sie
nennt. Kommt es in der sozialen Wirklichkeit letzten Endes auf das Tun und Treiben
von Individuen in konkreten Situationen an oder läßt sich dieses Tun und Treiben
ableiten, d. h. verständlidl. und erklärbar madl.en aus dem gesellsdl.aftlichen System
oder der soziokulturellen Struktur, die bestimmte Handlungsalternative zulassen,
andere aber ausschließen und mit Sanktionen belegen? Soll man »anaskopisch« oder
»kataskopism« (Geiger) verfahren?
Madl.tdefinitionen sind zwar »relativ«, aber deshalb nidl.t ganz willkürlidl.. Auch die
abstraktesten enthalten noch einen indirekten Hinweis auf das, was diesbezüglich aus
Alltagserfahrung bekannt und in der Alltagsspradl.e niedergeschlagen ist. In wissen-
schaftlicher und philosophisdl.er Terminologie ließe sidl. wohl sChwerlidJ. eine Bedeutung
mit Madl.t verbinden, die nidl.t mehr oder weniger empirisch wiedererkennbar wäre.
Diese empirisdl.e Wiedererkennbarkeit läßt sich wohl am besten auf dem Mikroniveau,
das Experimente unter Laboratoriumbedingungen zuläßt, herbeiführen. Die relative
Abstraktheit soldl.er Experimente ist Folge der Aussdl.altung des realen gesellschaft-
lichen Kontextes. Die Abstraktheit der gegenwärtigen Systemtheorie ist Folge der Aus-
klammerung der konkreten Handlungs- und Entscheidungssituationen zum Zweck
einer kybernetisdl.en Analyse hodl.komplexer Systeme unter dem Gesidl.tspunkt von
Stabilisierungs- und Selbstregulierungsprozessen. Audl. dem Madl.ttheoretiker steht eine
heikle Fahrt zwisdl.en den Abstraktionsfelsen Scylla und Charybdis bevor.
2. Daß Madl.t ein Relationsbegriff ist, wird kaum bestritten. Es ist ein »Zweistelliges
Prädikat«. Das sdl.ließt ein, daß niemand und nidl.ts, keine Person und kein System, als
»an sich«, sondern nur »in bezugauf ... «als mächtig qualifizierbar ist. Wenn wir einen
Staat mädl.tig nennen, so bedeutet das eine Schätzung seines ganzen Potentials im Ver-
gleidl. mit dem anderer Staaten. Macht setzt eine Partei und eine Gegenpartei, ego und
alter, Subjekt und Objekt (Adressat oder »Gegensubjekt«) voraus. Dieses Moment fehlt
weder in Handlungs- nodl. in systemtheoretischen Formulierungen. Was Max Weber
über die »Chance« zur Durdl.setzung des eigenen Willens in einer sozialen Beziehung
gegen möglidl.en Widerstand hervorhebt, läßt sidl. nodl. zurückfinden bei Karl Deutsch,
wenn er Macht umschreibt als »the ability of an individual or an Organisation to impose
extrapolations or projections of their inner structure upon their environment« - was,
etwas einfadl.er ausgedrückt, soviel heißen soll wie »not to have to give in, and to force
the environment or the other person to do so«.
Es muß, Macht einmal als Relationsbegriff aufgefaßt, hinzugefügt werden, daß es sidl.
Unheilige Dreifaltigkeit: Macht, Aggression, Gewalt 255
um den Begriff einer dynamischen Relation handelt. Macht ist Macht-in-Bewegung und
kann nur begriffen werden anband eines Flußmodells. Zu ihrem Sitz, wovon sie aus-
strömt, fließt zugleich etwas zu ihr zurück, das auf dem Kontinuum Mitwirkung-Ge-
genwirkung, Anerkennung-Unterwerfung, Bejahung-Verneinung auffindbar ist. Hin-
sichttim ihrer Effektivität und Stabilität ist Machtausübung oder Machtgebrauch
immer auf eine Abschätzung und Berechnung von countarvailing power angewiesen.
Obzwar Macht durch die unter ihrem Bereich Fallenden positiv (also als »wohltätig«,
»segenreich«, usw.) gewertet werden kann, ist der Begriff von Assoziationen wie
Zwang, Aufbürdung und Durchsetzung gegen mögliche Opposition schwertim lösbar.
Umschreibungen wie »Beherrschung durch Androhung negativer Sanktionen« in allerlei
Abschattungen und Variationen sind Bestandteil zahlreicher Machtdefinitionen.
lmpositional ist ein in der betreffenden amerikanischen Literatur bisweilen benutztes
Adjektiv. Der Inhaber und Ausüber von Macht verfügt dem Machtadressaten gegen-
über über ein gewisses Surplus, das er übrigens nicht immer tatsächlich oder voll-
ständig zu mobilisieren braucht, sondern hinter der Hand halten kann. Daher das
Merkmal der Asymmetrie von Machtverhältnissen, worüber in der Literatur eine ge-
wisse (wenn auch bei weitem keine vollständige) Obereinstimmung herrscht.
Was zu den »Pflichten und Rechten« von personalen Rollen wie Vater, Richter, Direk-
tor, Befehlshaber usw. gehört, ist leichter fa~bar als das, was als Macht oder Kompe-
tenz unpersönlicher Systeme begriffen wird. Die Schwierigkeiten sind am größten,
wenn nicht von der Macht eines Systems bezüglich spezifischen Individuen oder Grup-
pen innerhalb eines solchen Systems die Rede ist, sondern von der Macht des Systems
»an und über sich selbst«. In diesem Falle läßt es sim kaum vermeiden, ein solches
System als ein »Subjekt-im-Großen« und als zielstrebig, lern- und erinnerungsfähig, mit
Bewußtsein, Wille oder Intelligenz begabt, auf Informationsverarbeitung und Rück-
kopplung angelegt, einzuführen und darzustellen. Eine Gefahr steckt darin aber nur,
falls auf das figürliche Element solcher Sprechweisen und die Möglichkeit falscher
Ontologisierung und Hypostasierung ungenügend geachtet wird. Im Prinzip ist Macht-
analyse auf Systemniveau vereinbar mit der Strenge des Reduktionsgebotes, das Her-
leitbarkeit sozialer Phänomene aus Handlungen, Entscheidungen und Sinndeutungen
konkreter Individuen in realen Situationen erheischt.
Macht wird meistens und zurecht zu den knappen Gütern gerechnet. Knappe Güter
repräsentieren Werte, die für alle, die sie beanspruchen oder erstreben, nicht gleich-
mäßig zugänglich sind. Knappe Güter sind Objekte von Wetteifer, Streit zwischen grö-
ßeren und kleineren »Aktieninhabern«. Schlüsselpositionen in Bezug auf ein bestimmtes
knappes Gut können Türen zu anderen knappen Gütern eröffnen, geschlossen halten
oder anlehnen, d. h. den Zugang zu ihnen unter gewisse Bedingungen stellen. Pensions-
kassen, Versicherungsgesellschaften, usw. investieren ihr Kapital in Wohnblocks, die
durch Verwaltungsgesellsmaften exploitiert werden. Bei Wohnungsknappheit entsteht
Machtungleichheit zwischen Mietern und Vermietern. Die ersten unterzeichnen einen
ihnen von den zweiten vorgelegten Kontrakt, der letzteren das Recht vorenthält, ihn
»nach Belieben« zu ändern. Falls der Richter eine solche Klausel für unverbindlich er-
klärt, steht den Besitzern die Möglichkeit der Manipulation mit Servicekosten u. d. m.
noch offen. Macht ist ein unentbehrlicher Hebel zur Mobilisierung, Lenkung und Be-
256 R. F. Beerling
herrschung sozialer Energien. »Under most circumstances, societal goals and decisions
not supported by at least some degree of some kind of power will not be implemented«
(Etzioni). Im allgemeinen könnte deshalb unter Macht das Vermögen zur Beherrschung
sozialer Prozesse verstanden werden. Environment, wovon bei Deutsch die Rede ist,
muß nachdrüddich als menschliches Handlungs- und Interaktionsfeld aufgefaßt
werden. In den Weisen, in denen der Mensch die Natur »anpa<kt«, spielen zwar Macht-
elemente mit, das Verhältnis Mensch-Natur, wie es z. B. in der Ausrodung eines
Waldes, der Kanalisierung eines Flusses oder dem Bau einer Verkehrsstraße zum Aus-
druck kommt, wird damit noch nicht zu einer Machtbeziehung. Die hier genannten Bei-
spiele stimmen zwar mit Russell's Definition von Macht als »the production of in-
tended effects« überein, diese Definition selbst aber ist wegen des Fehlens der sozialen
Dimension unzureichend. Daß vom Menschen nicht erwartete, berechnete oder beherr-
schte Naturereignisse die Einschaltung von Machtmitteln entscheidend beeinflussen
können, soll damit selbstverständlich nicht bestritten werden. Yahja Khan hätte mög-
licherweise sein Heer in Ostpakistan nicht eingreifen lassen, hätte nicht zuvor die Natur
in Form eines vernichtenden Wirbelsturms eingegriffen. Dessen katastrophale Folgen
brachten die ostpakistanischen Parteirivalitäten zum Verschwinden und verhalfen der
Agwami League bei den Wahlen zur absoluten Majorität. Hätte Yahja Khan dieses
Naturereignis in seine politischen Berechnungen aufnehmen können, dann hätte er nie
zu Wahlen auf der Basis des one-man-one-vote Systems entschieden, es sei denn, daß er
politischen Selbstmord im Sinne hatte. Makrosoziologisch reicht es nicht aus, nur die
Machtpositionen bestimmter Individuen in Betracht zu ziehen. Es handelt sich um
Funktionen, Positionen und Befugnisse innerhalb bestimmter Organisationen oder Ver-
bände. Diese wiederum sind Elemente gewisser institutioneller Netzwerke (»social
decision-making apparatusses«, wie Stinchcomhe sagt), deren Entscheidungsprozesse
prozedurell kanalisiert sind. »Power ist not in a man. Wealth does not center in the
person of the wealthy. Celebrity is not inherent in any personality. Tobe celebrated, to
be wealthy, or have power requires access to major institutions« (C. Wright Mills). Die
Richtigkeit dieser Einsicht darf jedoch nicht vergessen mamen, daß Apparate, Systeme,
Organisationen und Institutionen, deren »Sein« und deren »Macht« uns fesseln und
einschüchtern, schließlich von konkreten Menschen bemannt und gelenkt werden. Diese
Einsimt bleibt jedoch wiederum abstrakt, wenn nicht eingesehen und hinzugefügt wird,
daß in diesem Zusammenhang von unbeschränkter Freiheit keinerlei Rede sein kann,
weil Beherrschung und Steuerung von Apparaten, Organisationen, usw. deren Ziele
und Werte voraussetzt und diesen zugeordnet ist. Die »Supra-membership dimension«
der Mamt als eine »generalized capacity« (Lehman) manifestiert sich in allen Größen-
ordnungen im Kontinuum der Gruppen bis hin zu Makrosystemen. Durch Ausschaltung
dieser Dimension wird die Sicht auf Mamt als ein gesellschaftliches und historisches
Phänomen verstellt und nur der Versuch übrig gelassen, mit psychologischen Analysen
und Erklärungen auszukommen. Die Schwierigkeit ist, daß Macht einerseits nicht als
selbständig und unabhängig vom mensmlichen Handeln vorgestellt werden darf, wäh-
rend sie andererseits nicht als eindeutig und restlos auf individuelle Strebungen und
Entscheidungen zurü<kführbar aufgefaßt werden kann. Wenn von Machtverhältnissen,
Mamtkonstellationen, Mamtkonzentrationen, Machtverschiebungen usw. als »Gegeben-
Unheilige Dreifaltigkeit: Macht, Aggression, Gewalt 257
heiten« oder »Tatsachen<< die Rede ist, so meinen wir jedenfalls Macht als Struktur-
merkmal menschlicher, d. h. von Menschen initiierte und eingerichtete Gesellschaften.
Werden Menschen mit solchen Faktizitäten >>wider ihren Willen« konfrontiert (Dahren-
dorf's »ärgerliche Tatsache<<), so müssen sie ihnen nichtsdestoweniger zugerechnet wer-
den. Abwälzung auf >>andere« oder »höhere<< Mächte ergibt keine Entlastung oder Ent-
schuldigung. Wird die Macht des >>Systems<< ihnen zu mächtig, dann müssen sie ver-
suchen, sich aus dem Strang ihrer eigenen Objektivationen womit sie sich zu erhängen
drohen, zu befreien.
Deshalb kommt es, wenn von Macht die Rede ist, schließlich immer auf den Menschen
an. Das enthält eine Warnung vor einem gewissen entfremdenden Sprachgebrauch, der
über Macht >>als solche<< oder >>an sich« handelt unter Abzug derjenigen Wesen, die sie in
die Welt setzen und dort aufrechterhalten. Sie mögen deren Gefangene sein, können sich
aber nicht auf ihre Machtlosigkeit berufen, weil sie zugleich als ihre eigenen Wärter
fungieren. Der Mensch ist zwar ein Tier, aber keins, das sich ohne weiteres zu den übri-
gen hinlegt. Er ist das >>absichtlich absichtliche<< Tier und ein Ausdenker von Mitteln zur
Realisierung von Plänen und Zielen. Er hegt Absichten, weil er seine Existenz durch
Einführung und Befolgung von in Institutionen und Organisationen verkörperten
Regeln zu befestigen und sicherzustellen hat (Plessner's >>exzentrische Position<<).
Unterschreibung solcher Regeln gibt ein Maß ab für die Stabilität eines sozialen Sy-
stems, deren Korrektur für seine Dynamik, deren Verletzung und Mißachtung für
seinen Verfall. Wenn wir der Natur keine oder höchstens im übertragenen Sinne Macht
zuschreiben, so hängt das mit der Unanwendbarkeit von Begriffen wie Wille, Absicht
oder Vorhaben auf sie zusammen. Diese gehören zur Domäne des Strebens und der
Berechnung, die vom Menschen - als Schöpfer seiner eigenen Situationen - als ihm
zugehörig beansprucht wird. Parsons bringt Hobbes' bekannte Definition von Macht
als »a man's present means to any future good<< in Erinnerung, fügt jedoch hinzu:
>>that such means constitute his power, so far as these means are dependent on his rela-
tions to other actors<<. Das ist im Einklang mit dem zugleich relationalen und relativen
Charakter der unter Menschen verteilten Macht, die sich umschreiben ließe als die Ver-
fügung über Mittel zur Erreichung von Absichten durch Ausschaltung, übergehung
oder Aufschiebung anderer- und Anderer.
gisehe Antriebe; andere weisen auf soziale oder psychologische Konditionierungen hin,
die Aufstauungen von Energien bewerkstelligen und deren Ausbruch unter bestimmten
Umständen stimulieren. Einer Auffassung zufolge sind im ganzen Tierreich einschließ-
lich des Menschen die gleichen Mechanismen als Verursacher oder Auslöser von Aggres-
sion und Gewalt wirksam. Eine andere rückt das Spezifische des Menschen als »Produ-
zenten und Produkt der Kultur« in die Mitte, achtet also eher auf nurture als auf
nature, um durch Untersuchungen ungenügend betätigte oder gestützte »ethologische
Obereilungen« mit einem großen Fragezeichen zu versehen.
Unsere Kenntnisse der artspezifischen Verhaltenssysteme von Tieren sind als Ver-
gleichsmaterial unentbehrlich für unsere Erkenntnis des Menschen. Jeder Vergleich aber
hinkt gewissermaßen. Beim Menschen wie bei den übrigen Tieren handelt es sich um
Kombinationen von in den Genen aufgeschlagenen und aus Erfahrung erworbenen
Verhaltenskomponenten. Die Annahme einer gemeinschaftlichen basalen Organi-
sationsstruktur macht die Frage des Unterscheidenden artspezifischer menschlicher
Verhaltensstrukturen nicht überflüssig. Vielleicht ist größere Komplexität (Entwick-
lung des Großhirns, Sprache, Lernvermögen) im Spiel, vielleicht ist das Verhältnis zwi-
schen den verschiedenen Verhaltenskomponenten der totalen Organisationsstruktur
beim Menschen durch die Entwicklung seiner sogenannten höheren Kapazitäten (Ver-
hältnis Hirnstamm-Hirnrinde) einigermaßen oder sogar beträchtlich verzogen und
abhanden gekommen. An Theorien im Sinne von systematisch organisierten Ideen fehlt
es gewiß nicht, nur ist von den betreffenden Disziplinen in Richtung ihrer Bewährung
noch nicht allzuviel geleistet worden.
Aggressives Verhalten ist im allgemeinen auf Bemächtigung und/oder Beschädigung
dessen gerichtet, was »entgegensteht«. Es manifestiert sich als direkt oder indirekt
objektgerichtet, nach außen oder nach innen (»Selbstaggression«) gewendet. Es kann
unmittelbar und ungehemmt ausgelebt oder umgeleitet, kanalisiert und ritualisiert
werden. Im letzten Fall tritt »Verharmlosung« (Gehlen} ein. Das direkte An- oder Zu-
greifen wird umgesetzt in eine bedeutende oder symbolische Gebärde. Hemmung und
Einhaltung haben positive Funktionen. Denn Aggression ist sowohl artschützend wie
potentiell- beim Fehlen jeder Einkürzung- artbedrohend.
4. In der ethologischen Literatur wird zur Beantwortung der Frage der »Absicht« von
Aggression für das Gruppen- oder Artleben auf die Verteidigung des Territoriums, die
Verteilung der Population über das Territorium und die Aufrechterhaltung einer
Rangordnung oder Platzbestimmung innerhalb des Territoriums hingewiesen. Unsere
diesbezüglichen Kenntnisse gestatten die Annahme gewisser allgemeiner, für das ganze
Tierreich gültigen Gesetzmäßigkeiten. Das den Menschen Auszeichnende wäre dann
seine aggressive Haltung der Natur und das mörderische Benehmen seinen Artgenossen
gegenüber. Die erste gilt aber nicht allgemein und wäre eher als eine moderne, von
der Technologie inspirierte Abzweigung oder Abweichung aufzufassen. Der englische
Ecologe John Black interpretiert sie in The Dominion of Man (1970) als eine Art Per-
version, jedenfalls eine Vereinseitigung des Genesisgebots zur Unterwerfung der Natur,
das jüngeren Datums sei als die frühere, s. g. Yahweh-Version, worin vielmehr von Ver-
antwortlichkeit, Verwalterturn und Diensteigentum die Rede ist. Jedenfalls kann die
Unheilige Dreifaltigkeit: Macht, Aggression, Gewalt 259
an die des Verstands, der Güte und der Wahrheit. Er führt zugleich aus, daß Aggression
die biologisc:he Erhaltung der Spezies fördert und daß aus der Natur die Förderung
ableitbar ist, alle Mensc:hen ohne Ansehen der Person zu lieben und jede tatsäc:hliche
Aggression zu unterlassen. Die letzte Aufforderung ist ebenso sc:hwierig einzulösen wie
die Hypothese der angeborenen Aggressivität beweisbar ist.
Auc:h wenn die letztere Hypothese wissensc:haftlic:h weniger umstritten wäre, bliebe
noch die Frage der Übertragbarkeit der Qualifikation »Aggressivität« auf Völker,
Staaten oder Nationen. Daß der gewöhnliche Sprac:hgebrauch davor nicht zurückfährt,
liefert selbstverständlic:h kein Argument. Der Zusammenhang Aggressivität (angeboren
oder nic:ht)- organisierte Kriegführung ist vollständig unklar. Zu sagen, daß Staaten
Kriege anfangen, um ihre Aggression auszuleben, klärt nichts auf. Zu sagen, daß sie es
tun (aber im buc:hstäblichen Sinne können Staaten gar nichts »tUn«) zur Sicherstellung
oder Erreic:hung bestimmter Interessen oder Ziele, klärt etwas, aber noc:h lange nicht
genug auf. Zu sagen, daß der Gebrauc:h von Abstandwaffen die Aggressionsimpulse
»entbremst«, stimmt nic:ht, weil die letzten und die tec:hnische Bedienung der ersten
gerade losgekoppelt werden, so daß man Callan beistimmen muß, wenn sie feststellt,
daß »muc:h modern warfare is controlled and executed on a totally unaggressive basis«.
Das Entscheidende der technologisc:hen Kriegführung ist eben, daß niemand mehr mit
den Folgen seines Tuns direkt konfrontiert wird und daß das durc:h Eindrücken eines
Knopfes Entfesselte seine Leistungskapazität als einzelnen tausendfac:h übertrifft. Die
fragmentation bombs, die er abwirft sind fruchtförmig, fruc:htfarbig und fruc:htnamig
(oranges, pineapples, guevas) und ihre stählernen Kerne bleiben tief im mensc:hlic:hen
Körper stecken. Der Abwerfer hat diese unheimlic:hen Erfrischungen nicht ausgedac:ht,
sie kommen auf Rec:hnung des »Systems«, des großen, anonymen und erfinderisc:hen
Lieferanten, der sich unerschöpflich zeigt in der Ausbreitung und Verfeinerung seines
Assortiments.
5. Wäre »der« Mensc:h von Natur, instinktiv oder angeboren, kriegerisch, dann wäre es
überflüssig, ihn mit sog. Kriegstugenden zu indoktrinieren, - es sei denn, daß man den
Standpunkt einnimmt, daß der relative Erfolg solcher Indoktrination auf die Präsenz
eines tiefen Untergrunds, der durch allerhand sozial-kulturelle Vegetation nur allmäh-
lich überwuc:hert worden ist, sc:hließen läßt. Daß diese Vegetation weggeschnitten wer-
den könnte oder müßte, um ans Tageslicht zu bringen, was der Mensc:h »eigentlic:h« sei,
beruht auf der Auslegung der Kultur als eines menschlic:hen Ungemac:hs und auf dem
Mißverständnis, daß wir uns zur Besic:htigung unserer biologisc:hen Verfassung kultu-
rell farbloser Augengläser bedienen können. Unsere sozial-kulturelle Oberhaut und
unsere biologisc:he Unterhaut bilden keine klar gesc:hiedenen Sc:hichten und das Abkrat-
zen der ersten, als Obergipsung oder Patina aufgefaßt, bringt keinen »ursprünglichen«
oder »anfänglic:hen« Naturzustand zum Vorsc:hein, dessen Unschuld später verloren
gegangen wäre. Dieser Naturzustand ist eine Idee, die nur und immer nur von einer
soziokulturellen Position aus entworfen werden kann, nic:ht aber auf etwas hinweist,
das schon als mensc:hlic:h qualifizierbar wäre. Wird er nic:ht als paradiesisch, sondern als
anfänglic:her Kriegszustand aufgefaßt, der durc:h Bildung von Gemeinschaften und
Staaten beendet werden mußte, dann gilt immer noc:h, daß dieses Mittel erfolglos
Unheilige Dreifaltigkeit: Macht, Aggression, Gewalt 261
geblieben ist und daß »Naturzustand« in diesem Zusammenhang nur ein Wort für ein
permanentes, vielleicht unheilbares übel ist. Der theoretisch fruchtbare Kern der sozia-
len Vertragslehre ist, daß der Mensch sich selbst Gemeinschaftsbande anlegt, um dem
Fluch seiner wechselseitigen Feindseligkeit zu entrinnen. Jede Gesellschaft ist ein diszi-
plinäres System mit variablen Freiheits- oder Toleranzgraden, das vom Menschen er-
wartet, daß er sich bis zu einem gewissen Grade »beherrscht«. Die Frage ist warum er
dennoch periodisch ausbricht.
Befriedigende wissenschaftliche Beantwortungen dieser Frage stehen noch aus. Die be-
treffenden multidisziplinären Untersuchungen stecken eigentlich noch in den Anfängen.
Zu unseren Vorteilen gehört, daß durch die sog. Eskalation von Aggression und Gewalt
in der gegenwärtigen Welt alle idealistischen Ausfalls- und Fluchtwege mit ihrer ehe-
mals so großen Verkehrsdichte abgeschnitten sind. Ohne eine gewisse Spitzfindigkeit ist
zu einer definitorischen Unterscheidung von Aggression und Gewalt übrigens wohl
nicht zu gelangen. Der gewöhnliche Sprachgebrauch beachtet sie kaum. Nicht jede Ge-
walttätigkeit aber ist aggressiv motiviert und nicht jede Form von Aggression ist
gewalttätig im strikten Sinn. In bezugauf ihre direkte Absicht ist Gewalt im Vergleich
mit Macht kurzsichtig und negativ. Dies gilt nicht (immer) für die Ziele, die für ihre
Entfesselung in Anspruch genommen werden. Staat oder Obrigkeit als offizielle Mono-
polisten von Gewaltmitteln halten diese bereit zur Aufrechterhaltung von »Ruhe und
Ordnung« innerhalb der eigenen Grenzen oder zur Sicherung oder Ausbreitung ihrer
Machtposition in größeren Zusammenhängen, also jenseits der eigenen Grenzen. Die
äußerste Motivierung interner (»inoffizieller«) Gewaltanwendung ist die prinzipielle
Verwerflichkeit aller bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Unter Hinweis
darauf kann sie angepriesen und verherrlicht werden als extremstes physisches Zwangs-
mittel gegen ein System, dessen Beiseiteschaffung als Fortschritts- oder Freiheitsbedin-
gung angesehen wird. Die einer alles hinwegraffenden Naturkraft ähnliche Brutalität
der Gewalt wird rhetorisch zu Kreativität sublimiert und bekommt als Mittel etwas
von der Heiligkeit des Zieles mit, wofür sie in Anspruch genommen wird - Gewalt als
»Inkarnation absoluter Praxis« (Fanon), als endgültige Beendigung aller Unter-
drückung (Sorel). Gewaltloser Widerstand zielt auf Enthüllung der »eingebauten
Gewalttätigkeit« und Hypokrisie des angefochtenen Systems, zum Beweise, daß eine
Gesellschaft, die Gewalt offiziell verurteilt, selber auf strukturell-gewalttätigen
Grundlagen beruht. So können Abscheu und Verurteilung von Gewalt bloßgelegt wer-
den als Bestandteile einer auf Aufrechterhaltung des status quo berechneten Ideologie.
Oder, wie es von einem amerikanischen Politologen (Marvin E. Wolfgang) formuliert
wurde: »The social system may generate violence by the Iabels of virtue it attaches to
legitimized violence in efforts, to maintain social control«.
In der Gesellschaft als ein kompliziertes Geflecht von indirekten Beziehungen erscheint
Gewalt als Unmittelbarkeit. Der in einer relativ jungen Vergangenheit noch herr-
schende Konzensus betreffs ihrer prinzipiellen Unzulässigkeit oder ihrer Annehmbar-
keit nur als äußerstes Mittel ist im Begriff abzubröckeln. Auf unvermutete Weise wird
uns gelehrt, uns mit der Gewalt vertraut zu machen und »mir ihr zu leben«. Die Glaub-
würdigkeit des totalen gesellschaftlichen Systems steht auf dem Spiel. Je weniger Off-
nungen sie gestattet, desto mehr scheint Gewalt zu einer passion inutile verurteilt, zu-
262 R. F. Beerling
6. Unter gewissen Umständen kann der Gewalt eine bestimmte soziale Funktionalität
in der Tat nicht abgestritten werden. »Als solche« oder »an sich« wird sie dadurch aber
noch nicht zu einer sozialen Kategorie. Wegen ihrer Unberechenbarkeit, der Unvorher-
sagbarkeit ihrer Auswirkungen und der Negativität ihrer augenblicklichen Absichten
ist sie mit dem Begriff der sozialen Ordnung schlechthin unvereinbar. Sie mag als die
ultima ratio der (politischen) Macht angesehen werden, ist jedoch zugleich ihr tödliches
Risiko. Daß Gewalt, wie Hannah Arendt (On Violence, 1970) behauptet, keine
einzelne Sache fördert, weder Geschichte nom Revolution, weder Fortschritt noch
Reaktion, ist unhaltbar. Auch ihrer eigenen Meinung nam, weil sie anderenorts betont,
daß Gewalt in gewissen Umständen das einzige Mittel ist, um die Waage des Rechts
wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Man muß ihr zustimmen, wenn sie sagt, daß nichts
so allgemein vorkommt wie die Kombination von Gewalt und Macht und daß wir
nichts seltener antreffen als Gewalt und Macht in ihren reinen, d. h. extremen Formen.
Als Gegensätze sind sie also nur begrifflich zu betramten. Es ist vorzuziehen, sie als
konträre Begriffe auf einem Kontinuum aufzufassen und die Beziehung der Sachen,
Unheilige Dreifaltigkeit: Macht, Aggression, Gewalt 263
worauf sie hinweisen, als komplementär oder dialektisch zu bezeichnen. Normlose Ge-
walt und gewaltlose Macht vertreten auf. diesem Kontinuum idealtypische Extreme,
wovon die Wirklichkeit immer nur Mischformen aufzeigt.
Jede soziale Ordnung schränkt menschliche Handlungsfreiheit gewissermaßen ein. Geht
sie darin zu weit, so steht im äußersten Falle die Gewalt bereit, sie wieder zurückzufor-
dern. Arendt ist der Auffassung, daß die Anziehungskraft der Gewalt und die Büro-
kratisierung des öffentlichen Lebens gleichen Tritt halten. Eine empirisch bewährte Tat-
sache ist das selbstverständlich nicht, eher eine Implikation ihres anthropologischen
Gesichtspunkts, wonach der Mensch auf die Tatsache seiner Geburt durch Handeln zu
antworten hat. Dazu ist er berufen und imstande. Kein menschliches Vermögen sei aber
durch den Fortschritt der modernen Zeit dermaßen angegriffen wie dieses. Die gängige
Verherrlichung der Gewalt sei großenteils verursacht durch die ernste Frustration des
menschlichen Handlungsvermögens in der gegenwärtigen Welt. Ob die Hypothese, daß
die Zunahme der Gewalt der Bürokratisierung des öffentlichen Lebens zuzuschreiben
sei, zutrifft, ist freilich eine offene Frage. Die Russells (Claire und W. M. S., Violence,
Monkeys, and Man) führen wie bekannt crowding und Spannungen auslösende Ein-
schränkung des sozialen Raums als Ursache der vermehrten menschlichen Aggressivität
an. Auf das für menschliche soziale Verhältnisse entscheidende, auf der Reziprozität der
Perspektiven beruhende Moment der Distanz ist schon viel eher von Plessner hinge-
wiesen worden (Zur Frage der Vergleichbarkeit tierischen und menschlichen Verhaltens,
in Diesseits der Utopie 181-189). Die Tiere stünden demgegenüber (was so im allgemei-
nen jedoch ebenfalls bezweifelbar wäre) unter dem Gesetz der Nähe. Das sagt über tie-
rische Aggressivität aber noch nichts Näheres aus. Die diesbezüglichen älteren Auffas-
sungen haben seit dem zweiten Weltkrieg, namentlich durch Beobachtungen an Prima-
ten, auffallende Wandlungen erfahren und zur Einsicht geführt, daß Aggressivität
unter diesen Tieren eher Ausnahme als Regel ist. Sie wird durch außergewöhnliche Um-
stände ausgelöst, wie an Affen, die in Tiergärten versetzt worden sind, gezeigt werden
konnte. Die gegenwärtige affluent society sei in gewissen Hinsichten solchen »Tiergar-
tensituationen« vergleichbar und mache die vermehrte Gewalttätigkeit als bedingte
Reaktion verständlich. Auch diese Theorie könnte als ein Versuch angesehen werden
zur Beantwortung der Frage, warum der Mensch periodisch »ausbricht«, während
die Gesellschaft als disziplinäres System von ihm verlangt, daß er sich Beschränkungen
auferlegt. Gewalt wäre dann im allgemeinen aufzufassen als ein Indiz für das kritische
Moment der latenten Spannungsverhältnisse zwischen menschlichen Bedürfnissen und
Aspirationen einerseits und gesellschaftlichen Systemen, die als »Reduktionen von
Komplexität« (N. Luhmann) immer nur bestimmte Sinnhorizonte konstituieren und
offen halten andererseits. Ein System, dem es gelänge, alle nur möglichen Sinnhorizonte
zugleich offen zu halten, wäre als Utopie charakterisierbar.
Unterschätzung des Gewaltfaktors und die Erwartung seines schließliehen Verschwin-
dens sind inspirative Bestandteile eines illusorischen, sich als solches noch nicht durch-
schauenden Kulturbewußtseins. Es vergißt, daß in den Boden der Kultur Blut und
Geist nebeneinander ausgesät sind und daß das Ethos des Wortes sich immer auf das des
Schwertes berufen hat. Die Mahabharata, die Ilias, die Edda, die Nibelungen, der Cid
sind Stück für Stück blutige Gewaltdokumente. Als Erzählung wird die Gewalt gleich-
264 R. F. Beerling
7. Es ist darauf hingewiesen worden, daß die Soziologie der Gewalt ein undurch-
forschtes Gebiet ist und daß auch in der neuen Edition der Encyclopaedia of the Social
Seiences ein spezieller Beitrag darüber fehlt. Man könnte auch sagen, daß Gewalt in der
bisherigen Soziologie der Macht, des Konflikt$ und der Politik als Seitenthema eine
gewisse Rolle gespielt hat, ohne sich noch von ihnen zu emanzipieren. Entsprechendes
gilt für die Philosophie der Gewalt. Die Bedeutung der Gewalt als philosophischer Be-
griff ist, soweit meine Kenntnisse reichen, weder historisch noch systematisch je Thema
einer speziellen Untersuchung gewesen. In philosophischen Wörterbüchern und Enzy-
klopädien wird man ihn nicht oder kaum antreffen. Auf den ersten Blick ließen sich
vielleicht Spuren einer wenigsten indirekten Gewaltapologie in vitalistisch, irrationa-
listisch und dynamisch orientierten Philosophien vermuten. Auch in gewissen aktivisti-
schen Varianten des Idealismus wären solche Spuren vielleicht durchaus auffindbar
(Russell hat darauf in seiner bekannten Schrift über Macht hingewiesen). Es wäre an
Hege! zu denken, der die Idee einführt als dialektisch »handelndes« Subjekt, das ~ich in
der Geschichte und als Geschichte zum Ausdruck bringt, realisiert, erarbeitet. Das for-
dert in bezug auf alles, was sich in der Geschichte an Gewalttätigkeit abspielt, eine
stoische Gelassenheit, wodurch übrigens außer Hegel auch der serene Spinoza sich aus-
zeichnet. Es ist Ingredient einer jeden Philosophie, der es nicht um moralisierende Beur-
teilung, sondern um den Begriff menschlicher und weltgeschichtlicher Geschäfte zu tun
ist. Bei Hegel fällt auf die Negation unter dem Gesichtspunkt der Selbstrealisierung der
Idee ein positives Licht, was einen Kenner seiner Philosophie unter Hinweis auf seine
Haltung der französischen Revolution gegenüber veranlaßt hat festzustellen: »Hegel
exalte la violence positive«.
Weiter wäre zu vermuten, daß der an der direkten oder indirekten Rolle der Gewalt in
der Philosophie Interessierte dafür Anknüpfungen finden würde (oder finden zu kön-
nen meinte) in der Subjektivität und Intentionalität des eventuell als transzendental
qualifizierten Bewußtseins, dessen überragende Bedeutung für das neuzeitliche Denken
als unumstritten gelten darf. Es hängen damit Konzepte wie Überschreitung, Bemächti-
Unheilige Dreifaltigkeit: Macht, Aggression, Gewalt 265
gung und Konstituierung zusammen, die ohne Einsicht in die Bedürftigkeit und Inkom-
plettheit (»dauerndes Insuffizienzbewußtsein<<, wie Plessner es einmal genannt hat) der
condition humaine vielleicht nicht verstehbar sind. Begriff und Tat sind die beiden
Richtungen, wohin diese Kräfte tendieren, unterscheidbare, aber auf einander zu bezie-
hende gnoseologische und praktische Pole. Deren Anziehungskraft stellt respektive
absolute Kenntnis des Absoluten und dessen tatsächliche Verwirklichung in Aussicht.
Philosophisch wäre Gewalt unter diesem Gesichtspunkt aufzufassen als exzessive Äuße-
rung des menschlichen Bedürfnisses, das Absolute zu be-greifen, in-den-Griff-zu-be-
kommen und festzuhalten. Als die Etudes philosophiques 1968 dem Thema >>Philo-
sophie et Violence<< eine Sondernummer widmeten, unternahm einer der Mitarbeiter
den Versuch einer dionysischen Philosophie des Verlangens, woraus die interne Dyna-
mik sowohl des Begriffs wie des Eros und der Gewalt ableitbar wäre.
li
Unter Herrschaft soll ein soziales Verhältnis verstanden werden, das zwischen Personen
oder Gruppen besteht, von denen der eine Teil Entscheidungen treffen kann und darf,
denen sich der andere Teil fügt oder fügen muß. Ob es sich dabei auf der einen Seite
immer um »letztinstanzliche, weisungsrelevante Entscheidungspositionen« handeln
muß, wie Strzelewicz vorschlägt 7, mag hier unentschieden bleiben.
Mit Herrschaft sind in der Regel Kontrollmöglichkeiten verbunden, die es ermöglichen
zu prüfen, ob den von der Herrschaftsseite getroffenen Entscheidungen Folge geleistet
wird oder nicht. Es besteht in der Regel auch die Möglichkeit, Sanktionen gegen diejeni-
gen zu verhängen, die den Entscheidungen nicht entsprochen haben.
In der Regel mißt man Herrschaftsverhältnissen eine relative Dauerhaftigkeit zu, die
durch Institutionalisierung oder durch andere sozial wirksame Dauerfaktoren (etwa
wirtschaftliche Macht) bewirkt sein kann. Es sind auf jeden Fall strukturelle Momente
des jeweiligen sozialen Systems, welche die hier gemeinte Dauerhaftigkeit bewirken.
Außer solchen dauerhaften Herrschaftsverhältnissen gibt es situationsbedingte und
temporäre Dominanzverhältnisse, die das wichtigste Merkmal von Herrschaft, nämlim
die Trennung von Entsmeidenden und der Entsmeidung Unterworfenen, tragen. Von
ihnen ist in der Psychologie, kaum aber in der soziologismen Diskussion die Rede. Sie
werden bei unseren Überlegungen noch eine Rolle spielen, weil wir meinen, daß mit
dem Abbau institutionalisierter Herrschaftsverhältnisse Umfang und Bedeutung tem-
porärer Dominanzverhältnisse wachsen, und daß es dringlim wird, nam den Konse-
quenzen einer solmen Versmiebung zu fragen. Die Frage, ob es sinnvoll ist, schon von
Herrschaftslosigkeit zu sprechen, wenn es keine dauerhaften Herrschaftsbeziehungen
gibt 8 , mag dann nur von untergeordneter Bedeutung sein.
In allen denkbaren Gesellschaften sind Entsmeidungen erforderlich, die entweder alle
oder einen größeren Teil ihrer Mitglieder betreffen. In allen Gesellschaften sind Kon-
trollverfahren nötig, welche die Einhaltung von Verhaltenserwartungen sichern, in
allen Gesellsmaften gibt es Sanktionsformen, welche den Abweichler treffen. Auf den
ersten Blick mag es so scheinen, als ob der Entscheidungszwang in verschiedenen gesell-
schaftlichen Systemen unterschiedlich häufig auftritt, seltener in traditionsbestimmten
Gesellschaften mit relativ stabilen Norm- und Wertsystemen, häufiger in mobilen Ge-
sellschaften, die sich kurzfristiger auf neue Situationen einstellen müssen. Für Entsmei-
dungen, die auf Innovationen abzielen, trifft das smon per definitionen sicher zu. Im
übrigen aber wird man davon ausgehen müssen, daß auch in statischen Gesellschaften
sich die Interpretation von sozialen Situationen, die Auslegung geltender Normen, die
Beurteilung der Normgerechtigkeit von Verhalten, die Festlegung und Bemessung von
Sanktionen usw. nicht von selbst ergeben sondern sich zwangsläufig innerhalb eines
größeren Ermessensspielraumes bewegen, der einen ständigen Entsmeidungszwang
impliziert. Ohne ihn ist etwa die von Dahrendorf formulierte Aufgabe jeder Gesell-
Herrschaft und Entscheidungszwang in sozialen Systemen 269
schaft, »sozialen Normen die bindende Kraft der Geltung zu verleihen« 9 , nicht zu
lösen.
Die Frage, der wir uns jetzt zuwenden wollen, müßte demnach lauten: Gibt es Gesell-
schaften oder sind Gesellschaften möglich, in denen die genannten existenzbegründen-
den Funktionen gesichert werden können, ohne daß es zu einer Trennung von Entschei-
denden und der Entscheidung Unterworfenen, von Kontrollierenden und Kontrollier-
ten, von Sanktionsberechtigten und -nichtberechtigten kommt? Lassen sich die Bedin-
gungen nennen, unter denen das möglich bzw. unmöglich ist? Läßt sich angeben, wenn
eine solche Trennung schon nicht vollständig vermeidbar ist, bis zu welchem Grade und
in welchen Bereichen sie abgebaut oder vermieden werden kann? Die bisher geführte
umfangreiche Diskussion zu diesen Fragen hat sich in der Soziologie so gut wie aus-
schließlich mit der Vermeidbarkeit bzw. Notwendigkeit institutionalisierter Herr-
schaftsverhältnisse befaßt, während die temporären Dominanzverhältnisse meist völlig
außer acht gelassen werden. Sie werden jedoch, wie schon angedeutet, bei der Frage
nach den sozialen Konsequenzen des Abbaus von institutionalisierten Herrschaftsver-
hältnissen im Auge behalten werden müssen.
III
Die gewichtigsten Argumente gegen die Vermeidbarkeit von Herrschaft beziehen sich
auf Großgesellschaften, wobei es in diesem Zusammenhang offen bleiben kann, von
welcher Größenordnung ab man von Großgesellschaften sprechen will.
1. In Großgesellschaften lassen sich Entscheidungen, die für das gesamte System oder
für größere Teile gelten sollen, nicht unter Mitwirkung aller Betroffenen herbeiführen.
Irgendeine Form von Delegation ist unvermeidlich. Ebenso unvermeidlich ist dann aber
auch, daß die zur Entscheidung Delegierten gegenüber allen übrigen in eine
privilegierte Stellung geraten.
2. Großgesellsdtaften mit hoher Produktivität sind auf sehr weit getriebene Arbeits-
teilung angewiesen. Damit werden die Mitglieder einer Gesellsdtaft unterschiedlidt
sachverständig für Entsdteidungen, die zwar nur Teilprobleme betreffen, aber für alle
gültig sein müssen. Auch in diesem Fall gerät eine Teilgruppe, die »Sachverständigen«,
in eine privilegierte Position gegenüber allen anderen.
3. In Großgesellsdtaften sind besondere Organisationen (z. B. Verwaltungsstäbe) not-
wendig, um die Durchführung besdtlossener Maßnahmen zu sichern und zu kontrollie-
ren. Angehörige solcher Organisationen befinden sich in Positionen, die ihnen zumin-
dest partielle Entscheidungsbefugnisse verleihen.
Der im zweiten und dritten Argument angeführte Sachverhalt dient, wie bekannt,
häufig als Beleg für die Möglichkeit des Abbaus von Herrschaft. Er führt, wie beson-
ders Helmut Schelsky betont hat, zu »Sachzwängen«, die einen Entscheidungsspielraum
- ob in einem herrschaftlichen Verhältnis oder nicht - gar nicht mehr zulassen. Ohne die
Kritik dieser These auch nur annähernd rekapitulieren zu wollen, sei dazu gesagt, daß
270 Martin Schwanke
ein Sad:J.zwang, der keinen Entsd:J.eidungsspielraum mehr läßt, nur dann gegeben ist,
wenn das zu erreichende Ziel eindeutig feststeht und von allen Betroffenen akzeptiert
wird, wenn es für die Realisierung des Zieles nur einen einzigen gangbaren Weg gibt,
wenn alle Beteiligten das auch wissen und bereit sind, nach dieser Erkenntnis zu han-
deln. Diese Bedingungen sind zugleich nie gegeben und können z. T. erst durch Ent-
scheidungen {etwa zur Bestimmung des Zieles) hergestellt werden. Die Einsicht in sach-
lich-technische Zusammenhänge beschränkt den Entsd:J.eidungszwang eher in geringerem
Maße als die stabilen Wert- und Normsysteme in traditionsbestimmten Gesellschaften,
die immerhin den Spielraum möglicher Zielbestimmungen einengen.
Trotz dieser Einwände ist die Vorstellung, bei sogenannten »sachlichen« Entscheidun-
gen gäbe es kein Dominanzverhältnis von Mensd:J.en über Menschen, weit verbreitet
ebenso wie die Abneigung, in solchen Zusammenhängen den Begriff »Herrschaft« zu
gebraud:ten. Direkte interpersonale Dominanz tritt hier nicht auf - diejenige Domi-
nanz, die das unmittelbare Erlebnis persönlid:J.er Abhängigkeit und Unterordnung ver-
mittelt.
Außer den Argumenten gegen die Vermeidbarkeit von Herrschaft, die nur auf Groß-
gesellschaften zutreffen, gibt es andere, die sich grundsätzlid:J. auf alle Gesellschaften
beziehen:
Gegen diese Beweisführung lassen sich die Untersuchungen von Christian Sigrist
anführen, die er in seinem bereits zitierten Buch vorgelegt hat. Er weist darauf hin, daß
in segmentären Gesellschaften ohne Zentralinstanz mit einem »Erzwingungsstab«, d. h.
ohne besondere Schutz- und Sicherungsinstitution, sich das im wesentlichen gleichbe-
rechtigte Nebeneinander von Gruppen durch »Reziprozitätsmechanismen<< erhält.
Sigrist beschreibt ausführlich die Praktiken, mit denen unerwünschte Ungleichheiten
und Dominanzen abgebaut werden 1°. So konnte es jahrzehntelang bei begrenzten tem-
porären Dominanzverhältnissen bleiben 11 •
Prozesse sozialer Selbstregulierung ohne die Existenz institutionalisierter Entschei-
dungsinstanzen lassen sich auch innerhalb von Großgesellschaften nachweisen, deren
Ergebnis freilich selten die Aufrechterhaltung der Gleichrangigkeit der Beteiligten ist.
Einen solchen Ausnahmefall finden wir in der traditionell verfaßten Universität. Die
Ordinarien stellten innerhalb ihres eigenen Kompetenzbereiches zwar ohne Zweifel die
Spitze eines hierarchisch gestuften Herrschaftssystems dar, untereinander jedoch wahr-
ten sie entschieden das Prinzip der Gleichrangigkeit. Die Positionen des Rektors und des
Dekans besaßen kaum Entscheidungsbefugnisse gegenüber den Ordinarien und deren
Kompetenzbereich. Die kurze Amtsdauer sorgte außerdem dafür, daß sich auch nicht
informell eine übergeordnete Zentralinstanz bildete. Auch die Praktiken des »do ut
des«, von denen Sigrist aus den segmentären Gesellschaften berichtet, hatten sich an der
Universität bei allen Fragen, bei denen die Mithilfe von Kollegen erforderlich waren,
eingespielt 12•
Die Analogie zu den segmentären Gesellschaften erstrecken sich sowohl auf die Bedin-
gungen für eine sich selbst regulierende Gleichheit als auch auf deren Folgen. Sigrist
272 Martin Schwanke
berichtet von dem ausgeprägten Traditionalismus in allen von ihm untersuchten seg-
mentären Gesellschaften ta. Zwar sind, wie er nachweist, unter bestimmten Bedingungen
auch Innovationen möglich, tendenziell jedoch wird man von dem Bestreben nach Be-
wahrung der bestehenden Verhältnisse reden können. Eine solche Veränderungen
zumindest stark erschwerende Tendenz ergibt sich m. E. zwangsläufig aus sozialen Ver-
hältnissen, in denen jedes soziale Subjekt bestrebt ist, Eingriffe in den eigenen Kompe-
tenzbereich abzuwehren und zu verhindern, daß sich an Rang und Kompetenz der
anderen sozialen Subjekte Wesentliches ändert. Jeder Neuerer muß zunächst als
Außenseiter erscheinen, der das erstrebte Gleichgewicht stört, jede strukturelle Ände-
rung bedroht den Zustand der Gleichheit der sozialen Subjekte 14.
In Großgesellschaften, besonders in technologisch entwickelten Industriegesellschaften
lassen sich solche Strukturen nur in Teilbereichen einrichten oder erhalten. Insgesamt
kann auf die Einrichtung von Entscheidungs- und Leitungspositionen nicht verzichtet
werden. Die »Minimierung von Herrschaft«, die man sich deshalb zum Ziele setzt, ver-
sucht man auf verschiedenen Ebenen zu erreichen.
Zunächst wird man versuchen, »funktionslose« Herrschaftsverhältnisse abzubauen,
d. h. Abhängigkeits- und Dominanzverhältnisse, die nicht dem Erhalt oder der Fortent-
wick.lung der Gesellschaft dienen. Die Frage, auf welche Weise man zu Kriterien
kommt, nach denen man die Funktionalität oder Funktionslosigkeit von Herrschaft
feststellt, muß hier unbeantwortet bleiben.
Eine zweite Ebene der Minimierung von Herrschaft bezieht sich auf die Modalitäten
der Besetzung von Entscheidungs-, Leitungs- und Kontrollpositionen. Es geht dabei um
die »Aufhebung der Monopolisierung bei der Besetzung« solcher Positionen »durch ent-
sprechende Prozeduren der Beauftragung, der Auswechselung, der Mitbeteiligung aller
Gruppen an den Entscheidungen und der Aufkündigung der Befolgungsbereitschaft
gegenüber jenen leitenden Personenkreisen« 10 • Da die Ungleichheit der Positionen nicht
vermeidbar ist, soll die Ungleichheit der Personen, die diese Positionen besetzen, nicht
von Dauer sein- sie können oder müssen sogar regelmäßig ausgewechselt werden- und
die Besetzungsbefugnis soll nicht faktisch das Monopol von Teilgruppen der Gesell-
schaft sein.
Die Kontrolle der Inhaber von Leitungspositionen und ihrer Entscheidungen ist die
dritte Ebene, auf der Minimierung von Herrschaft angestrebt wird. Die Verfassungen
und die Praxis demokratischer Gesellschaften zeigen, in wie unterschiedlicher Form
solche Kontrollen institutionalisiert worden und in wie unterschiedlicher Weise sie
wirksam sind. Alle Kontrollen haben zum Ziel, die Kompetenz von Personen mit
Herrschaftsfunktionen insofern einzuengen, daß ihre Entscheidungen erst dann ver-
bindlich sind, wenn sie kontrolliert, d. h. mit den gültigen Normen in Übereinstimmung
befindlich befunden worden sind.
Es kann hier nicht im einzelnen untersucht werden, in welchem Umfang gegenwärtig
die Möglichkeiten der Minimierung von Herrschaft genutzt worden sind, in welchem
Umfang funktionslose Herrschaft beseitigt wurde, in welchem Umfang die Monopoli-
sierung der Besetzung von Leitungs-, Entscheidungs- und Kontrollpositionen gebrochen
werden konnte, in weldJ.em Umfang wirksame Kontrollen existieren, in weldJ.em Um-
fang in Teilbereichen die soziale Selbstregulierung gleichrangiger sozialer Subjekte.
Herrschaft und Entscheidungszwang in sozialen Systemen 273
funktioniert. Sicher ist, daß sich die Situation jedes einzelnen Mitglieds einer Gesell-
schaft in dem Maße verändert, in dem die Minimierungsbestrebungen Erfolg haben.
IV
Heinrich Popitz hat in seiner Schrift »Prozesse der Machtbildung« 17 an einem extre-
men, den Zusammenhang aber gut verdeutlichenden Beispiel gezeigt, daß der Schwä-
chere in einem sozialen System auch dann noch Vorteile von einer dauerhaften Rege-
lung der Unterordnung hat, wenn diese Regelung eindeutigen Unterdrüdmngs- und
Ausbeutungscharakter besitzt. Dieses bei Popitz beschriebene, festen Regeln folgende
Unterdrückungssystem innerhalb einer Gruppe männlicher Jugendlicher in einer Erzie-
hungsanstalt stellte übrigens das Ergebnis eines Prozesses sozialer Selbstregulierung
dar, an dessen Beginn formale Gleichheit aller Gruppenmitglieder bestanden hatte. Der
Vorteil dieses Systems für die in starker Abhängigkeit gehaltenen schwächsten Mitglie-
der bestand darin, daß diese Abhängigkeit überschaubar und berechenbar erschien. Die
Unterdrückten wußten, wer unangenehme Entscheidungen und Sanktionen verhängen
konnte und wie man sich verhalten mußte, um solche Unannehmlichkeiten zu vermei-
den.
Eindeutig lokalisierbare Entscheidungskompetenz, feste Verhaltensregeln und potente
Instanzen, welche die Einhaltung der Verhaltensregeln und Normen sichern und er-
zwingen können, geben also den selber Machtlosen die Sicherheit, die mehr oder weni-
ger bescheidenen Möglichkeiten, die ihnen das jeweilige soziale System bietet, auch
wirklich ungefährdet wahrnehmen zu können 18• Alle diejenigen, die sich- zu Recht
oder zu Unrecht - nicht zutrauen, sich aus eigener Kraft gegenüber anderen zu behaup-
ten bzw. ihre Interessen wahrzunehmen oder zu schützen, werden eindeutig festgelegte
und mit ausreichenden Durchsetzungsmöglichkeiten ausgestattete Entscheidungsinstan-
zen und feste und gesicherte Regeln einem Zustand vorziehen, der ihnen zwar formale
Gleichrangigkeit bescheren mag, sie aber mit unkoutrollierten und unberechenbaren
Abhängigkeiten bedroht und damit Unsicherheit und Angst bringen wird. Diese in
allen sozialen Systemen vorhandene, in der gegenwärtigen sozialen Situation wahr-
scheinlich besonders große Gruppe von Mensche~ ist es, die als »schweigende Mehrheit«
den Ruf nach der »Starken Hand«, nach »Law and Order« trägt. Wem immer diese
Parolen sonst noch nützen mögen, sie drücken zunächst und zuallererst das durchaus
begründbare Interesse dieser »schweigenden Mehrheit« aus, die zum weit überwiegen-
den Teil eben nicht aus Mächtigen besteht, die ihre gehobene Position verteidigen wol-
len, sondern aus solchen, die sich für zu schwach halten, aus eigener Kraft ihre Rechte
und Interessen wahrzunehmen und zu schützen. Die Furcht, der Abbau von institutio-
nalisierten Herrschaftspositionen und die Herstellung formaler Gleichrangigkeit
könnte ihre Situation eher verschlechtern, ist, das versuchten wir zu zeigen, nicht unbe-
gründet.
Anmerkungen
1 Arnold Gehlen, Probleme einer soziologisd:Ien Handlungslehre, zuerst 1952, in: Studien zur
Anthropologie und Soziologie, Neuwied 1963, S. 209.
2 Max Lange, Politisd:Ie Soziologie, Berlin 1961,4. Aufl. 1970, S. 28.
3 Ralf Dahrendorf: ,.Id:J. habe nid:It die Absid:It, an der These von der Universalität von Herr-
sd:Iaft, wie im sie selber formuliert habe, uneingesd:Iränkt festzuhalten« in: Spätkapitalismus
oder Industriegesellsd:Iaft, Stuttgart 1969, S. 97.
4 Christian Sigrist, in: Spätkapitalismus u. Ind. Gesellsd:I., S. 107.
5 Werner Hofmann, Grundelemente der Wirtsd:Iaftsgesellsd:Iaft, Harnburg 1969, S. 30.
6 So formuliert Ernst Lichtenstein: ,.Das Autoritätsverhältnis ist alles andere als ein privile-
giertes Mad:Itverhältnis, also seinem Wesen nad:I kein institutioneller oder red:Itlid:Ier
Begriff.... Autorität wirkt nur durd:I die tatsäd:Ilid:Ie Überlegenheit und Maßgeblid:Ikeit auf
Grund des Gewid:Its des Mensd:Ien, zu dem man »aufsd:Iauen« muß, dem man sid:I freiwllig
unterordnet.... Sie ist ein Führungsverhältnis, aber kein Herrsd:Iaftsverhältnis.... Im Herr-
Herrschaft und Entscheidungszwang in sozialen Systemen 277
Ebenso wie die Buchdruckerkunst und die Dampfmaschine ist auch die Utopie erfunden
worden und zwar von Thomas More (1478-1535); und genauso wie andere Erfindun-
gen hat auch More's Utopie ihre Vorgeschichte.
Diese Vorgeschichte umfaßt Namen wie Luzian, Platon und Amerigo Vespucci, aber
auch Reiseberichte und Beschreibungen des Paradieses. Und die Namen von Platon und
Vespucci werden sogar im Text erwähnt.
Obwohl Utopia also nicht aus der Luft fällt und viele historische Einflüsse darin zu fin-
den sind, stellt das Buch trotzdem eine wunderbare Einheit dar. Es ist ebenso leicht zu
lesen wie schwierig zu interpretieren. Utopia ist teilweise als Reisebericht verfaßt und
macht dabei einen solchen realitätsgerechten Eindruck, daß sich ein Zeitgenosse More's
sogar auf den Weg machte, die Utopier zu suchen.
Seitdem haben viele sich darüber den Kopf zerbrochen, was es mit den Utopiern auf
sich hat, und mancher hat dabei vergessen, daß More's Geschichte den Leser nicht nur
belehren sondern auch unterhalten will. More ist in Anbetracht seiner harten Kritik an
den Ausbeutern seiner Zeit nicht nur ein Vorgänger von Marx, er antizipiert auch Ber-
tolt Brecht, sogar Verfremdungseffekte findet man in seiner Erzählung. Die Nacht-
töpfe und die Ketten der Sklaven sind in Utopia, wo Gold und Silber keinen
Seltenheitswert haben, von Gold. Gesandte, die von auswärts kommen und Gold und
Juwelen tragen, werden ausgelacht und machen in Utopia einen komischen Eindruck.
Unterhaltung und Belehrung vertrugen sich übrigens für den Gelehrten der Renais-
sance, der More auch war, ohne weiteres miteinander. Erasmus schrieb sogar >>Laus
Stultitiae<< teilweise in England, im Hause seines Freundes More. Es bedurfte wahr-
scheinlich erst noch eines weitergehenden Verbürgerlichungsprozesses, bevor Belehrung
und Unterhaltung sich voneinander trennten und man darf also >>Utopia<< als eine hu-
moristische Erzählung bezeichnen, falls man bereit ist, den Humor More's ernstzuneh-
men.
>>Utopia<< besteht aus zwei Teilen. Der zweite Teil enthält den eigentlichen Reisebericht
von Raphael Hythlodaeus über die Halbinsel Utopia. Der erste Teil, den More erst
nach dem zweiten geschrieben hat, introduziert Raphael für den Leser, erzählt wie
More ihn bei seinem Freund Peter Gilles in Antwerpen kennenlernte und beschreibt ein
ausführliches Gespräch zwischen Raphael einerseits und Gilles und More andrerseits.
In diesem Gespräch werden drei wichtige Themen erörtert. Erstens kritisiert Raphael es,
daß in England Diebe und Räuber einfach gehängt werden. Er meint, modern genug,
man solle die gesellschaftlichen Umstände ändern, die die Leute zwingen zu stehlen und
280 Lalle Nauta
die Diebe selber zu harter Arbeit verurteilen. Zweitens wird ausführlich die Frage dis-
kutiert, ob ein Philosoph- denn Raphael Hythlodaeus wird als Philosoph bezeichnet-
sich in den Dienst des Königs begeben soll. More, der in seinem eigenen Leben dem
König gegenüber lieber seine Selbständigkeit behielt, sagt in dem Dialog, nur so könne
sich Raphael mit seinen vielen Erfahrungen nützlich machen. Raphael dagegen meint,
ein Philosoph, der die Wahrheit liebt, hätte am Hofe nichts zu suchen, weil der König
nie auf ihn hören würde. Allerdings handelt es sich bei Raphael ja auch um einen Philo-
sophen, der radikale Meinungen vertritt; die dritte von Raphael verteidigte These, die
diskutiert wird, betrifft nämlich die Abschaffung des Privatbesitzes. Wenn man den
Privatbesitz nicht eliminiert, so behauptet er, wird man die Ausbeutung nie beseitigen
können. More dagegen spielt wieder den »advocatus diaboli«. Er meint, ohne Privat-
besitz gäbe es nur Faulheit und überhaupt keinen Anreiz zum Arbeiten mehr.
Damit ist der Übergang zum zweiten Teil vollzogen, der über einen Staat berichtet, in
dem der Privatbesitz abgeschafft worden ist. Der Bewohner von Utopia kann sich in
den Läden seiner Städte holen, was er zum Leben braucht; Unterricht, Krankenpflege
usw. bekommt er auch kostenlos, und seine einzige Gegenleistung besteht darin, daß er
sechs Stunden pro Tag für den Staat arbeitet. Sogar die Wohnung, die er zugewiesen
bekommt, stellt keinen Privatbesitz dar, denn jeder kann ein- und ausgehen und sie
wird außerdem regelmäßig gewechselt.
Die Utopier führen ein glückliches Leben und sind sehr sozial. Ihre Mahlzeiten nehmen
sie meistens gemeinsam in bestimmten Vierteln ein. Sie wohnen zwar in Städten, aber
jeder von ihnen arbeitet zwei Jahre seines Lebens auf dem Lande. Daneben lernt jeder
ein Handwerk, sowohl Männer als auch Frauen.
Viele Utopier lieben es, sich in ihrer Freizeit mit Kunst und Wissenschaft zu beschäfti-
gen, und manche arbeiten übrigens sogar mehr als es vorgeschrieben ist.
Die politische Struktur des Landes ist relativ einfach. Je dreißig Familien wählen sich
jährlich einen sog. »styward« und die stywards wählen wiederum das Oberhaupt. Zwi-
schen den Stywards und dem Oberhaupt gibt es dann noch die von den ersten gewähl-
ten >>Bencheaters<<, mit denen zusammen das Oberhaupt, immer in Anwesenheit einiger
Stywards, die Regierungsbeschlüsse faßt. Alle Ämter sind befristet außer dem Amt des
Oberhauptes. Dieser wird nur abgesetzt, wenn er im Verdacht diktatorialer Neigungen
steht. Interessant ist noch, daß es den Utopiern verboten ist, untereinander öffentliche
Probleme zu diskutieren. Dies darf nur in der Volksversammlung oder im Parlament
der »Bencheaters« geschehen.
Auch in ihrer Religion sind die Utopier redlich. Sie glauben an Gott und die Unsterb-
lichkeit und überlassen es im übrigen jedermann, darüber hinaus zu glauben, was er
möchte. Nur Eifer und Hetze werden nicht geschätzt; Toleranz ist in Utopia eine Tu-
gend.
Was bei den Utopiern weniger fortschrittlich scheint, ist das Halten von Sklaven. Dabei
soll man aber bedenken, daß diese Sklaven teilweise zum Tode Verurteilte aus anderen
Ländern sind, die als billige Arbeitskräfte importiert werden, teilweise aber sind es auch
Sträflinge aus dem eigenen Lande, denn in Utopia verurteilt man nur Rezidivisten zum
Tode. Hinzu kommt, daß gutes Verhalten belohnt wird und dadurch Sklaven wieder
freie Bürger werden können.
Die realisierte Utopie 281
Was das Familienleben angeht, ist Thomas More Platon nidtt gefolgt. Nur der Besitz ist
kommunal; es herrsdten monogame Sitten. Ehebrudt wird streng bestraft und vor-ehe-
lidten sexuellen Verkehr soll es nidtt geben. Die Frau gehordtt dem Manne und die
Kinder den Eltern.
Es ist merkwürdig, daß man in »Utopia« sdton Euthanasie kennt. Unheilbaren Kran-
ken wird empfohlen, freiwillig aus dem Leben zu sdteiden. Tun sie es nicht, so werden
sie weiterhin ebenso sorgsam gepflegt. Tun sie es, so bedeutet das ein ehrenvolles Ende
ihres Lebens.
Wohlfahrt bedeutet audt in Utopia Bevölkerungswadtstum, ein Problem, das More
genauso löst, wie die europäischen Nationen nach ihm. Die Utopier kolonisieren, wenn
es ihnen an Land mangelt. Dabei besetzen sie aber nur fremdes Gebiet, das dodt nidtt
genügend bearbeitet wird; die einheimisdte Bevölkerung wird von ihnen nicht unter-
drückt. Wer bereit ist, sidt an die Spielregeln der Utopier zu halten, kann alle Bürger-
redtte erlangen.
Die Utopier sehen auch in dem Sinne den späteren Europäern ähnlich, daß sie den Krieg
nidtt lieben, aber trotzdem ab und zu gezwungen sind, ihn zu führen. Aber audt hierbei
ist ihr Verhalten nicht dumm. Sie versudten nämlidt, immer erst eine blutige Auseinan-
dersetzung dadurdt zu vermeiden, daß sie sidt Freunde im feindlidten Lager erkaufen.
Wenn es aber zum Kampf kommt, lassen sie am liebsten gut bezahlte Söldner für sidt
kämpfen; wenn sie aber selber kämpfen müssen, verlieren sie auch dabei nidtt die Ver-
nunft. Sie kämpfen schlau und vorsidttig, und nadt dem Sieg madten sie keineswegs
alles nieder. »Einen mit den Feinden gesdtlossenen Waffenstillstand halten sie heilig«
und »Städte die sidt ergeben, verschonen sie« 1•
So sind die Utopier im Grunde doch ein friedlidtes Volk, das in einer Gesellschaft lebt,
der man gewisse idyllisdte Züge nicht abspredten kann. Utopisdt ist die Erzählung audt
in dem Sinne, daß über bestimmte Probleme nidtt oder kaum gesprochen wird. über
das Problem der Entstehung dieses Staates z. B. geht More mit einigen Iapidären Mit-
teilungen hinweg; Utopia liegt außerhalb der Zeit. Inwieweit sidt in Utopia selbst,
z. B. durdt bestimmte Erfindungen, nodt etwas ändert, auch darüber wird geschwiegen:
Utopia kennt keine Geschichte; sozialer Wandel fehlt völlig.
Wie soll man diese Geschichte interpretieren? Darüber gehen die Meinungen ausein-
ander; und es gibt mehrere einander heftig bekämpfende Richtungen innerhalb der
More-Interpretation. Manche sehen More als einen Vorläufer des Imperialismus und
heben die von den Utopiern geführten Kriege und die von ihnen betriebene Kolonisa-
tion hervor. Andere dagegen betonen die Rolle der Religion in Utopia und im Leben
von More selber, der ja später von der Katholischen Kirdte heiliggesprodten wurde.
Mit Recht nimmt meiner Meinung nadt audt die sozialistisdte Tradition More mit sei-
ner Kritik am Privatbesitz für sidt in Anspruch. Karl Kautsky's Buch über Utopia ist
hier ein Wegweiser gewesen 2 •
Das Merkwürdige aber ist, daß die Gesdtidtte von More gewisse paradoxe Züge auf-
zeigt, die bis heute weder von der einen nodt von der anderen Interpretationsridttung
aufgeklärt worden sind. Ein Beispiel bildet More's Haltung gegenüber der Askese.
Einerseits wird in Utopia abwertend über Askese geurteilt, andererseits aber findet
man im selben Utopia Sekten, in denen Askese betrieben wird. Die Frage, wie sidt
282 Lalle Nauta
Die Ethik der Utopier kann als eine utilistische bezeichnet werden. More ist ein Vorläu-
fer von Bentham und Mill. Alle tugendhaften Handlungen bezwecken schließlich die
Lust; und unter Lust verstehen die Utopier >>jede Regung und jeden Zustand des Leibes
und der Seele, die naturgemäß auszukosten Genuß verschafft<< 3 •
Utilismus ist nicht dasselbe wie Hedonismus. Eine Handlung, die als lustvoll empfun-
den wird, aber unangenehme Folgen nach sich zieht, ist verwerflich; oder in der Sprache
More's ausgedrückt: sie ist nicht naturgemäß. In einem solchen Fall steht im Grunde
eine geringere Lust einer größeren im Wege, und es ist vernünftig, der größeren Folge
zu leisten. Wer z. B. sehr viel ißt und trinkt und dadurch seiner Gesundheit schadet,
handelt weder natürlich noch vernünftig. More ist in seiner Ethik bestimmt von Epikur
beeinflußt, der sich bekanntlich unter Berufung auf das Lustprinzip auf Wasser und
Brot beschränkte.
So weit gehen die Utopier in der Askese zwar nicht, aber sie halten trotzdem eine be-
stimmte Rangordnung inne, die ihnen genau vorschreibt, was als eine höhere Lust zu
gelten hat. Auch in dem Sinne unterscheiden sie sich nicht von den späteren Utilisten,
die ihre Kalkulationen von Lust und Unlust ebenfalls ganz bestimmten Kriterien
unterwerfen.
Seelische Freuden werden von den Utopiern, die in der Beziehung also alles andere als
Hedonisten sind, am meisten geschätzt. Ausübung der Tugend ist selber eine Tugend,
Die realisierte Utopie 283
und das Bewußtsein eines guten Lebenswandels eine Lust. Hinzu kommt noch, daß die
Tugendlehre der Utopier in der Religion fundiert ist. Der Glaube an Gott und an die
Unsterblichkeit garantiert, daß die Utopier nicht umsonst auf dem schmalen Pfad der
Tugend wandeln.
Nach den seelischen Freuden gibt es die körperlichen Lustempfindungen, die in zwei
Arten aufgeteilt werden. Zu der ersten gehören z. B. das Essen und die Sexualität, die
nach More's Meinung als >>input<< und >>Output<< von Energie verstanden werden kön-
nen. Die zweite und höhere Art der körperlichen Lust ist die ruhige Verfassung eines
ausgeglichenen Körpers, d. h. die durch nichts beeinträchtigte, menschliche Gesundheit.
Zwei Dinge werden in der Sittenlehre von Utopia noch ausführlich besprochen. Erstens
wird dargelegt, wie gut es ist, natürliche Talente zu entwickeln und wie angenehm kör-
perliche Schönheit sein kann. Zweitens werden die sogenannten illusorischen Vergnü-
gungen ausführlich geschildert. Dazu gehören in diesem Staat ohne Privatbesitz das
Anhäufen von Schätzen und auch das Prahlen mit Kleidung und Schmuck. Daneben
werden z. B. das Würfelspiel und die Jagd als törichte Vergnügen charakterisiert.
Welche implizite Normen stecken hinter diesem expliziten Moralsystem? Die Utopier
versuchen ein Leben zu führen, das maximalen Nutzen abwirft. Sie sind der Meinung,
daß man eigentlich keine einzige Minute müßig verbringen soll. Dazu bedarf es einer
starken seelischen Anstrengung, um jene Neigungen zu unterdrücken, die einem keinen
Nutzen bringen. Seelische Freuden genießen ja die höchste Priorität, und zu diesen
Freuden gehört in besonderem Maße, so heißt es in Utopia, >>das angenehme Bewußt-
sein eines anständig verbrachten Lebens und die gewisse Hoffnung auf künftiges
Heil<< 4 •
Was man unter einem anständigen Leben zu verstehen hat, wird nodJ. deutlicher, wenn
man nach dem Sinn der körperlichen Lustempfindungen fragt. Der Sinn des Essens
besteht darin, daß man die Stoffe erneuert, die von der uns innewohnenden Wärme
verbraucht werden: Essen und Trinken gewähren einem erneute Energie. Eine zweite
und höhere Art der körperlichen Lust besteht, wie gesagt, darin, daß man einen aus-
geglichenen, gesunden Körper hat. Das Pflegen der Gesundheit ist der wichtigste kör-
perliche Genuß der Utopier, denn, so sagen sie, eine gute Gesundheit ist >>die Grundlage
und Voraussetzung aller Freuden<< 5 •
Wer geneigt ist, diese letzte Meinung als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten, ver-
gißt leicht ihren spezifischen Kontext. Wer nicht gesund ist, ist nid!.t imstande, nützliche
Dinge zu tun. Die Freuden von denen im Zitat gesprochen wird, sind nicht beliebige
Lustempfindungen, die durch mangelnde Gesundheit unmöglidJ. gemacht werden, son-
dern vielmehr die sogenannten Freuden der Pflicht.
Nützlich madJ.t man sich in Utopia besonders dadurdJ., daß man arbeitet. Das ist bis
jetzt fast von allen Kennern von Utopia übersehen worden, weil es ja explizit heißt,
daß die Utopier dies nur sechs Stunden pro Tag tun. Den Rest seiner Zeit darf er zwar
>>nach seinem Gutdünken verwenden<<, es ist ihm jedoch untersagt, diese Stunden >>mit
Ausschweifungen und Faulenzerei zu vergeuden<< 6• Die meisten Utopier benützen
diese Zeit für ihre geistige Weiterbildung und hören sich z. B. öffentliche Vorlesungen
an. Diejenigen, die dazu nicht imstande sind, gehen ihrem Handwerk nach; sie arbeiten
also einfach weiter.
284 Lolle Nauta
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang also auch die Position der sog. »Stywards«.
Sie brauchen gesetzlich. nich.t zu arbeiten, arbeiten aber trotzdem, »um durch ihr Bei-
spiel die übrigen um so mehr zur Arbeit anzuspornen«. Freigestellt von der körper-
lichen Arbeit sind weiter diejenigen, die auf Empfehlung der Priester die Wissenschaf-
ten studieren und also geistige Arbeit leisten.
Hinter der expliziten Lustmoral der Utopier steckt also eine implizite Arbeitsmoral, die
übrigens auch eine deutliche, gesellschaftskritische Pointe hat. More bemerkt, daß es in
seiner utopisch.en Gesellschaft keine Faulenzer gibt, wie z. B. Reiche, die von der Arbeit
anderer leben, oder sogenannte Geistliche, die ja meistens auch nichts tun. Hinzu
kommt, daß in Utopia auch die Frauen ein Handwerk lernen, so daß es dem Staat nicht
an Arbeitskräften mangelt. Manchmal kann die Regierung es sich sogar leisten, den Be-
wohnern zusätzliche Freizeit zu erlauben, so daß sie für Bildung und Wissenschaft
noch mehr Zeit übrig haben.
Ist es nun aber richtig, zu sagen, daß die Arbeitsmoral in Utopia implizit bleibt? More
schreibt doch selber ausdrüddich über das Arbeiten in Utopia; er widmet den Arbeits-
verhältnissen in seinem Buch mehrere Seiten; außerdem kann man in diesem Zusam-
menhang noch. an das erste Buch. denken, in dem die Ausbeutung und die Arbeitslosig-
keit der englischen Gesellschaft ausdrücklich beklagt werden. Implizit bleibt also nicht
die Notwendigkeit der Arbeit selbst, es sind lediglich ihre moralischen Rückwirkungen
die nicht reflektiert werden. In der Sittenlehre Utopias wird nicht über das Arbeiten
gesprochen; und in dem Kapitel über die Arbeitsverhältnisse werden die utilistischen
Moralprinzipien nicht erwähnt. Es handelt sich. hier für More um zwei versch.iedene
Sachen, deren innerer Zusammenhang von ihm nicht erkannt wird.
Damit Zusammenhänge im Dunkeln bleiben, braucht es Selbstverständlichkeiten. Und
selbstverständlich ist in Utopia gerade dasjenige, was Max Weber als besonders charak-
teristisch für den Kalvinismus beschrieben hat, nämlich die innerweltliche Askese. More
schweigt bei der Arbeit über die Moral und bei der Moral über die Arbeit, aber in bei-
den Kapiteln finden wir die Askese wieder. Im Arbeitskapitel z. B. da, wo mitgeteilt
wird, daß die Utopier ihre Zeit nicht vergeuden, und im Moralkapitel da, wo auf die
Nichtigkeit illusorischer Vergnügungen hingewiesen wird. In der Selbstverständlichkeit
einer asketischen Lebenshaltung verbirgt sich der Zusammenhang zwischen den mora-
lisch.en und den wirtschaftlich.en Leitsätzen Utopias. Oder anders formuliert, das Men-
schenbild, von dem More sich bei der Schilderung von Utopia leiten läßt, ist durch. die
Regeln einer asketischen Lebensführung geprägt.
Mit Hilfe des Webersehen Begriffs der innerweltlich.en Askese kann man die sogenann-
ten widersprüch.lichen Mitteilungen über Askese, die man im Text findet, völlig erklä-
ren. Zwei Argumente werden in Utopia gegen die Askese ins Feld geführt. Erstens wird
festgestellt, daß derjenige, der mit sich selbst sehr streng ist, meistens anderen hilft und
somit das lustvolle Leben anderer nicht verurteilt. Zweitens heißt es, daß es nutzlos ist,
sich selbst zu peinigen »nur um des nichtigen Sch.eines der Tugend willen oder um künf-
tige Beschwerden leichter ertragen zu können«. Das erste Argument hat einen mehr
oder weniger logischen Charakter, während das zweite sich gezielt gegen die nutzlose
Selbstpeinigung richtet. Es folgt daraus, daß es auch eine nützliche »Selbstpeinigung«
gibt. Tatsächlich. wird eine Ausnahme für diejenigen gemacht, die ihren eigenen Vorteil
Die realisierte Utopie 285
vernachlässigen »um desto eifriger dem anderen oder dem des Staates zu dienen« 7• Mit
anderen Worten, Thomas More polemisiert hier gegen die vielen Formen der außer-
weltlichen Askese, die zu nichts nützen und die im Gegensatz zu der von ihm implizit
vertretenen Arbeitsmoral stehen. Gegen innerweltliche Askese, d. h. gegen ein Verhal-
ten, das sich bestimmte Beschränkungen auferlegt, um in der Welt zu Gottes Ehren bes-
ser zu wirken, hat der Autor nichts einzuwenden; im Gegenteil.
Der Beweis dieser letzten These wird von den zwei Sekten in Utopia geliefert. Daß
man deren Existenz bis j~tzt kaum zu erklären vermochte, liegt daran, daß übersehen
wurde, daß hier die Askese völlig im Dienste der Arbeit steht. Beide Sekten bestehen
aus Menschen, die aus religiösen Gründen wissenschaftliche Arbeit und Forschung
ablehnen und nur arbeiten. »Denn was es irgendwo an harter, schwieriger und schmut-
ziger Arbeit gibt, von der die meisten Anstrengung, Widerwille und Aussichtslosigkeit
abschrecken, das nehmen jene willig und freudig alles auf sich; den anderen verschaffen
sie Muße, sie selbst sind unermüdlich am Werke und an der Arbeit« 8 • Dabei besteht der
Unterschied zwischen den beiden Sekten lediglich darin, daß die Mitglieder der einen
Sekte nicht heiraten, während die anderen kein Vergnügen meiden, »das sie nicht in der
Arbeit hemmt« 9 • Askese ist in Utopia eine Tugend, falls sie anspornt zur Arbeit.
Die Arbeitsmoral ist nicht das einzige, was die Utopier mit den späteren Kalvinisten
verbindet. Das Verbot des Würfeins ist schon erwähnt worden; dementsprechend findet
man in Utopia auch keine Bierschenken oder Freudenhäuser. Eine Frau wird in Utopia
nie Schminke gebrauchen, sondern empfiehlt sich ihrem Mann durch »Rechtschaffenheit
und Zurückhaltung«. Asketisch ist auch die Religion der Utopier, die zwar Priester
kennen, aber keine Gottesbilder. Und so wie der Kalvinist nur zum Abendmahl geht,
wenn sein Gewissen rein ist, so darf auch der Bewohner von Utopia die Kirche erst
betreten, wenn er Schwierigkeiten mit seinen Nachbarn oder seiner Familie bereinigt
hat. Max Weber und nach ihm Robert Merton haben ausführlich dargelegt, wie dieLe-
benshaltung der innerweltlichen Askese ein günstiges Klima für die Pflege der Wissen-
schaften bildet. Das gilt auch für Utopia. Die Utopier sind sehr lernbegierig, wie dies
auch Raphael während seines Besuches erfährt. Und es ist interessant, daß besonders die
geistige Arbeit religiös motiviert wird. Das Studium der Wissenschaften und die Erfor-
schung der Natur, die eifrigen Utopier tun dies alles »ad maiorem gloriam Dei«. Wäh-
rend im Gegensatz zum Kloster mit nur wenigen Ausnahmen alle Bewohner von Uto-
pia körperliche Arbeit leisten, bleibt der klösterliche Gegensatz zwischen geistiger und
körperlicher Arbeit bestehen. Es sieht so aus, als ob die erstere höher als die zweite be-
wertet wird. Auf jeden Fall werden beid,e als grundverschieden angesehen. Die zweite
wird nicht mal als Arbeit bezeichnet. Es wird noch einige Jahrhunderte dauern, bevor
man in Utopia die Wissenschaft als Quelle wirtschaftlichen Wachstums entdeckt.
Es gibt also guten Grund, die Bewohner von Utopia wegen ihrer asketischen Lebenshal-
tung als eine Art Kalvinisten zu identifizieren. Es fehlt zwar der Glaube an die Präde-
stination; und es kann in diesem Staat, wo der Privatbesitz abgeschafft wurde, und
Geld nicht gebraucht wird, auch nicht von den individuellen Bürgern gespart werden,
aber im übrigen ist fast alles dasselbe. Es sieht so aus, als ob der Kalvinist sein Geschäft
einer höheren Instanz übertragen hat, aber weiterhin seine spezifische Lebensführung
beibehält. Man kann also auf Utopia ohne weiteres die berühmt gewordenen Worte
286 Lalle Nauta
anwenden, womit Max Weber das Kapitel über die religiösen Grundlagen der inner-
weltlichen Askese beschließt: »Die christliche Askese, anfangs aus der Welt in die Ein-
samkeit flüchtend, hatte bereits aus dem Kloster heraus, indem sie der Welt entsagte,
die Welt kirchlich beherrscht. Aber dabei hatte sie im ganzen dem weltlichen Alltags-
leben seinen natürlichen unbefangenen Charakter gelassen. Jetzt trat sie auf den Markt
des Lebens, schlug die Tür des Klosters hinter sich zu und unternahm es, gerade das
weltliche Alltagsleben mit ihrer Methodik zu durchtränken, es zu einem rationalen
Leben in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder für diese Welt umzugestal-
ten<< 10• Die rationale Gestaltung des weltlichen Lebens ist ja gerade bezeichnend für
Utopia, wo besonders die Arbeitsverhältnisse der irrationalen Willkür entzogen sind.
Auch Verwaltung und Regierung sind rational organisiert und gegen diktatorische
Willkür abgesichert, so daß man von einer gewissen Demokratisierung sprechen könnte.
Des weiteren ist auch die methodische Gestaltung des Alltaglebens in Utopia mühelos
wiederzufinden. Hier braucht man nicht nur an die schon besprochene Selbstbeherr-
schung der Utopier zu denken; auch die starke soziale Kontrolle sowie die strenge Ta-
geseinteilung können erwähnt werden. Trotz des relativ demokratischen Charakters
von Utopia ist das Privatleben der Utopier streng reglementiert. Außer Kalvinisten
sind dieUtopierauch Methodisten avant la lettre.
Daß die Arbeitsmoral der Utopier klösterlicher Herkunft ist, ergibt sich nicht nur aus
der strukturellen Ähnlichkeit zwischen der innerweltlichen Askese und ihrer außerwelt-
lichen Variante. Man kann es den Utopiern noch ansehen, daß sie aus dem Kloster
gekommen sind. Sie sind zwar auf den Markt des Lebens getreten, aber die Tür hinter
ihnen ist noch nicht ganz zu. Das Interessante an Utopia ist, daß man hier, anno 1516,
den Übergang von der außerweltlichen zur innerweltlichen Askese in Reinkultur
studieren kann.
Kurz vor dem Erscheinen von Utopia schreibt More am 4. 12. 1516 in einem Brief an
Erasmus, daß er in seinen Tagesträumen von den Utopiern als König gewählt wurde.
>>I can seemyself now marehing along, crowned with a diadem of wheat, very striking
in my Franciscan frock, carrying a handful of wheat as my sacred scepter, ... giving
audience to foreign ambassadors and sovereigns; wretched creatures they are, in com-
parison with us, as they stupidly pride themselves on appearing in childish garb and
feminine finery, laced with that despicable gold, and ludicrous in their purple and
jewels and other empty baubles<< 11 . More schreibt seinem Freund weiter, er werde ihn
auch als König nie vergessen, lädt ihn ein, mal nach Utopia zu kommen und verspricht
ihm, dann als Freund des Königs geehrt zu werden.
Es ist ein Mönch, der sich hier vor den verzierten Gesandten hinstellt. Er hat sich nur
mit Getreide geschmückt - Symbol des Ländlichen und Einfachen - und trägt überdies
eine Franziskaner Kutte. Selbstverständlich ist die Briefstelle ironisch; More steht ruhig
hinter seinem weltlichen Schreibpult, während er sich als Mönch darstellt. Ernst gemeint
ist aber ohne Zweifel seine Kritik am Prunk und Reichtum der Besucher. Es ist nicht die
äußerliche Rolle des Mönches, sondern die aus ihr sich ergebende asketische Verpflich-
tung, womit der Briefschreiber sich identifiziert.
More gibt mit dieser Stelle einen Hinweis, wo wir den Ursprung der Kleidung der Uto-
pier zu suchen haben, die alle dasselbe tragen Es gibt zwar einige kleine Variationen,
Die realisierte Utopie 287
Wenn More hinsichtlich der gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit schreibt: »I can per-
ceive nothing but a certain conspiracy of rim men procuring their own commodities
under the name and title of the common wealth«, - so ist das keine Rhetorik oder
Frömmigkeit, sondern harte Sozialkritik, Negation des Bestehenden. Der Hinw:eis der
konservativen Interpreten auf die ironische Behandlung dieses Themas, das ja im
Text-Dialog sowohl verteidigt wie angegriffen wird, zeigt nur ihre eigene gesellschaft-
liche Naivität. Wer solme heiklen Themen behandelte, tat in jener Zeit gut daran, sich
vor der Inquisition zu schützen. Außer More's Kommunismus war auch seine Ironie
ernst gemeint.
Wie schwierig es ist, More's Stellung in der Gesellsmaft seiner Zeit richtig zu deuten,
zeigt sogar die Interpretation von Hexter. Sein hervorragendes Buch 16 kam mir erst
unter die Augen, nachdem im meine Untersuchungen von Utopia abgeschlossen und die
hier dargelegten Thesen entwi<kelt hatte. Hexter ist der einzige mir bekannte Autor,
der das Element der innerweltlichen Askese in Utopia gesehen hat; er stellt auch fest,
daß der Einfluß des Klosterlebens auf Utopia keine Verherrlichung des Klosters bedeu-
tet; er hebt überdies die Arbeitsmoral der Utopier hervor und zieht sogar eine Parallele
zwischen Utopia von Thomas More und dem Genf von Johannes Kalvin. Man muß
also feststellen, daßHextereinen Teil der hier vorgetragenen These vorweggenommen
hat.
Trotzdem zieht er aus seiner Einsicht keine Konsequenzen hinsichtlim der Interpreta-
tion von Utopia. Die diesbezüglichen Bemerkungen spielen in seinem Buch eine relativ
untergeordnete Rolle. Das ist vielleicht aum der Grund, warum manche Untersuchun-
gen, die nach ihm kommen, diese Seite seines Bumes überhaupt nicht erwähnen, ge-
schweige daß sie diesen Ansatz zu einer Interpretation weiter entwickelt hätten.
Für Hexter ist More's Absicht nämlich letzten Endes eine moralische. Er weist darauf
hin, daß in Utopia der Stolz als die größte Sünde angeprangert wird und meint, damit
nun die wahren Absichten des Autors enträtselt zu haben. Obwohl er seine Verwunde-
rung darüber ausspricht, daß More den Stolz nur ein paar Mal erwähnt, meint er doch:
»In its fundamental structure the Utopian commonwealth is a great social instrument
for the subjugation of pride« 11.
Sieht man sich jedom diese Stellen näher an, so geht daraus hervor, daß More den Stolz
nur herbeizitiert, um den Hang nach Reichtum und die Sucht nach Besitz in der eng-
lischen Gesellschaft zu erklären. Nur um zu prunken und sich besser zu dünken, als sie
sind, beutet die Minderheit die Mehrheit aus; die Stellen über den Stolz bilden also das
psychologische Kapitel der Moresehen Gesellschaftskritik. In Utopia ist dieser Stolz
zwar zugleim mit dem Privatgesetz abgeschafft worden, aber dies ist nur ein Neben-
effekt. Nicht der Stolz, sondern die Eitelkeit, d. h. das Nichtstun gilt in Utopia als die
größte Sünde und stolzes Benehmen wird sogar als »illusory pleasure« bezeichnet 18.
Hexter tut gewissermaßen dasselbe wie More. Wenn er über die Arbeit schreibt, spricht
er nicht über die Moral und wenn er über die Moral schreibt, stellt er nicht das von ihm
an anderer Stelle diagnostizierte Arbeitsethos in Rechnung. Er sieht nicht, wie in der
Askese Arbeit und Moral miteinander verbunden werden, und berücksichtigt aus
diesem Grunde ebensowenig den Unterschied zwischen dem impliziten Arbeitsethos
More's und dessen expliziten moralischen llußerungen.
Die realisierte Utopie 289
Der Unterschied zwischen implizitem und explizitem Inhalt, der es verbietet, die Ab-
sichten des Autors für die Interpretation des Textes verantwortlich zu machen, ist auch
noch in einer anderen Hinsicht fundamental. Explizite gesehen ist More Kommunist.
Keine Interpretationskunst hilft darüber hinweg, daß er den Privatbesitz als die Wur-
zel des Bösen betrachtet, wobei er übrigens weiter geht als die Kommunisten, die sich ja
auf die Enteignung der Produktionsmittel beschränken. Implizite gesehen aber findet
man in Utopia nicht nur das Arbeitsethos der kalvinistischen Protestanten, sondern
auch deren kapitalistischen Geist wieder. Die Utopier wirtschaften gut; sie beschränken
ihr Tun und Lassen so sehr auf das Nützliche, daß sie es sich leisten können, einen be-
trächtlichen Teil ihrer Produkte zu exportieren. Diese bringen den Utopiern, so wird
ausdrücklim im Text gesagt, viel Geld ein. In Ihren Schatzkammern werden Gold und
Silber mengenweise angehäuft, aber ihr kapitalistismer Geist verrät sim besonders
darin, daß sie gerne ihren Käufern Kredit geben. Sie gestalten ihre Finanzwirtschaft ra-
tional. »... they don't much care whether they sell for cash or for credit, and nearly
all their trade is of the second kind. However, when giving credit, they're not content
with private securities, but insist on having a legal contract signed, sealed and delivered
by the local authority of the importing area« 19 • Die Utopier hassen Gold und Geld,
und diese an Selbsthaß grenzende Askese bringt ihnen ihr Kapital ein. Während der
Kalvinist seinen Gewinn individuell zustandebringt, sparen sie sozusagen kollektiv.
Dabei behandeln sie ihre Schuldner human, und auch die Armen in den verschuldeten
Ländern werden von ihnen nicht vergessen. Der Zweck dieser rationalen Wirtschaft
aber ist die Finanzierung einer kostspieligen Kriegführung. Im Falle eines Krieges for-
dern die Utopier ihr Geld zurück, um damit ihre Söldner zu bezahlen und sich Freunde
im feindlichen Lager zu kaufen. Die kapitalistisme Wirtsmaft dient letzten Endes den
imperialistismen Zwecken der Utopier, die ja, wie schon bemerkt wurde, auch eifrig
kolonisieren. Das Argument von Chambers, der meint, man könne hier nimt von
»Imperialismus« sprechen, weil die Utopier nur Gebiete besetzen würden, die unbe-
nutzt bleiben, ist eine petitio principii. Es setzt genau dasselbe Arbeitsethos voraus, das
wir bei More wiedergefunden haben und das seitdem in Europa eine Selbstverständlich-
keit geworden ist.
Einerseits ist zu erwarten, daß man in Utopia den Geist des Frühkapitalismus findet.
More ist ein Kind seiner Zeit. Die Idee für sein Buch entstand, während er sich mit
einem gesmäftlichen Auftrag der »City Merchants« von London in Antwerpen und
Brugge befand, wichtige Zentren des Handels und einer beginnenden Industrie. Andrer-
seits aber ist es kein Wunder, daß viele diese Seite von Utopia übersehen haben.
Weder der Kommunist, der ja den Geist des Kapitalismus abgeschworen zu haben
glaubt, noch der Katholik, der sich dem Kapitalismus gegenüber nicht gerade kritisch
verhält, ist imstande, diese Seite von More ins Licht zu rücken. Dabei muß man übri-
gens für das interessante Bum Kautsky's eine Ausnahme machen, der deutlich sieht,
wie More in bestimmten Zügen seines Denkens dem kapitalistismen Geist verhaftet
bleibt. Kautsky aber hat, wie gesagt, das asketisme Element bei More nicht richtig be-
wertet und das in Utopia dargestellte Arbeitsethos, das Kommunismus und Kapitalis-
mus gerade miteinander verbindet, völlig übersehen. Auch in seiner Auffassung schil-
dert More eine Utopie und keine Realität.
290 Lalle Nauta
Was die Abschaffung des Privatbesitzes angeht, ist Kautsky im Recht. Die zunehmende
Monopolbildung in der westlichen Welt und die wachsende Macht des militär-indu-
striellen Komplexes in einem Land wie Amerika können nicht gerade als eine Weiterbil-
dung der Ideen von More betrachtet werden. Wer Gesellschaftskritik betreibt und hier
nichts ändern möchte, kuriert bloß an den Symptomen herum, ohne nach den Ursachen
zu fragen.
Andrerseits aber ist zu bedenken, daß die politische Macht der reichen Länder der Welt
einen wichtigen Stützpunkt im Arbeitsethos findet, das in >>Utopia« zum Ausdruck
kommt. Bei More fungiert dieses Ethos noch als eine gesellschaftskritische Instanz. Wir
aber brauchen keine Franziskaner Kutten mehr zu tragen, weil uns dieses Ethos ins
Fleisch und Blut übergegangen ist und besonders unser politisches Verhalten bestimmt.
Es ist noch nicht lange her, daß Nixon erklärte, es gäbe zwei Arten von Menschen.
Einerseits diejenigen, die tüchtig arbeiten und alle andren Lebensziele diesem Arbeits-
ethos unterordnen; andererseits die Parasiten; diejenigen, denen dieses Ethos egal ist
und die damit jedes Recht zur KritikamBestehenden verspielen. Unser politisches Ver-
halten wird so sehr vom Arbeitsethos bestimmt, daß es uns sehr oft nicht mal möglich
ist, den politischen Verbrecher vom politisch verantwortungsvollen Bürger zu unter-
scheiden, solange jener tüchtig ist und seine Pflicht tut. Er sieht uns selber in diesen Fäl-
len so sehr ähnlich, daß wir kaum in der Lage sind, ihn zu entlarven. Die Utopie ist
realisiert und hat sich damit in ihr Gegenteil verkehrt. Anstatt das Bestehende zu kriti-
sieren, vermag sie es nur noch zu rechtfertigen.
Anmerkungen
Für diese Studie habe ich die englische Übersetzung benutzt von Paul Turner: Thomas More,
Utopia, Penguin Books 1965. Die deutsche Übersetzung der Zitate ist von Klaus Heinrich
(Der utopische Staat, Morus-Campanelle-Bacon, Rowohlt, Harnburg 1960, S. 95).
2 Karl Kautsky, Thomas More und seine Utopie, Stuttgart 1888.
3 0. c., S. 72.
4 0. c., S. 75.
5 0. c. s. 75.
6 0. c., s. 55.
7 0. c., s. 77.
8 0. c., s. 100.
9 0. c., s. 101.
10 Max Weber, Die protestantische Ethik, herausgeg. v. J. Wimkelmann, München und Harn-
burg 1969, S. 165.
11 St. Thomas More: Selected Letters, ed. Rogers, Yale Univ. '61, p. 85.
12 R. W. Chambers, Thornas More, London 1935, p. 136-138.
13 Chambers, p. 109.
14 Kautsky, S. 290.
15 Germain Marc'hadour, Thomas More's Spirituality, in: St. Thomas More: Action and Con-
templation, ed. by R. S. Sylvester, Y ale University Press 1972, p. 146.
16 f. H. Hexter, More's Utopia, The biography of an idea, Princeton University Press 1952.
17 Hexter, p. 80.
18 Utopia, ed. Turner, p. 43.
19 Utopia, ed. Turner, p. 85.
Zum Schicksal der deutschen Universität
im Ausgang ihrer bürgerlichen Epoche1
Dietrich Goldschmidt (Berlin)
»Indem die Wissenschaft das gesellschaftliche Leben be-
herrscht, wird sie selbst mehr und mehr zu einer In-
dustrie.« H. Plessner, 1924
»In diesem beschleunigten Vorgang der Vergesellschaf-
tung des Wissens und der Wissenschaft wurzeln aber zu
einem wesentlichen Teil die Probleme, vor welche heute
der Staat ebenso wie die Hochschulen gestellt sind, Pro.:
bleme rechtlicher, wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und
menschlicher Natur.« H. Plessner, 1956
In Fortführung von Erörterungen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts liefen, hat Hel-
muth Plessner 1924 Perspektiven der Entwicklung der Wissenschaft in der modernen
Gesellschaft aufgewiesen, die sich inzwischen durchgesetzt haben. Der Prozeß der Indu-
strialisierung, der Durchsetzung arbeitsteiliger, betrieblicher Organisation hat die wis-
senschaftliche Forschung - die Produktivkraft Wissenschaft, marxistisch gesprochen -
ebenso ergriffen wie die Produktion von Wirtschaftsgütern. Plessner sah in Tradition
und Ideologie der deutschen Universität besonders» forschungsdienliche Eigenschaften«,
und so betonte er die Notwendigkeit von deren Erhaltung als »Ferment der Weiterent-
wick.lung und allmählichen Umbildung des industriellen Mechanismus in einen neuen
Zustand« (1/132). Er arbeitete dazu den Idealtypus der bürgerlichen deutschen Uni-
versität nach Konzept und Struktur heraus.
Es sei hier die These vertreten, daß Forschung und Lehre, nachdem inzwischen fast 50
Jahre verstrichen sind, wohl weitgehend industrialisiert sind, daß die deutsche Univer-
sität dabei in das Ende ihrer bürgerlichen Epoche eingetreten ist und daß dennoch dieses
nicht notwendig das Ende des emanzipatorischen Bildungsanspruchs der deutschen Uni-
versität darstellen muß.
Die sich abzeichnende neue, demokratische Hochschule ist nicht nur Ausdruck gestei-
gerter Industrialisierung, sie kann vielmehr auch Chancen für eine Bildung bieten, die
über die Grenzen des Bürgertums hinaus der Humanisierung gesellschaftlichen Lebens
dienen kann.
Im folgenden sei zunächst die Plessner'sche Position etwas eingehender dargestellt.
Sodann soll die gegenwärtige Auflösung der bürgerlichen Universität skizziert werden.
Und schließlich sei die Preisgabe oder Einlösung des idealistischen Emanzipationsan-
spruchs akademischer Bildung unter diesen Bedingungen erörtert.
sich in doppelter Gestalt aus: als Industrialisierung der Wissenschaft und als Rationali-
sierung des sozialen Lebens« (I/130).
So meint Plessner »das seltsame Aufeinanderabgestimmtsein von objektiver Weltan-
sicht und Geschäftsmaxime ... als sinngesetzliche Korrelation zweier selbständiger
Interessenrichtungen« (I/125) begreifen zu können. Beiden sind das gleiche Arbeits-
ethos, Rechenhaftigkeit, Beherrschungswille, Spezialisierung, Vertretbarkeit der Indi-
viduen u. a. eigen. Doch ungeachtet aller Parallelitäten und »ihrer Verflechtung und
Verkettung in den industriellen Mechanismus« sei >>die autonome, voraussetzungslose
Wissenschaft Träger und Motor der Rationalisierung der Gesellschaft<< (I/132).
Aus dieser Position sieht Plessner es als unerläßlich an, daß die Universität in ihrer
Organisationsstruktur bestimmte, nur ihr eigene, überlieferte Konzepte, Institutionen
und forschungsdienliche Verfahren beibehalten müsse, um ihre vorwärts weisende
Funktion weiterhin erfüllen zu können und sich selbst nicht aufgeben zu müssen. Mit
dem Bild der bis dahin- gemessen an heutigen Größen- kleinen deutschen Universitä-
ten, quasi elitären Professorenrepubliken-vorAugen hebt er vor allem hervor
die Verbindung von Forschung und Lehre (>>Der deutsche Student soll Forschungsstu-
dent sein<< (I/133)),
die Bildungsbedeutung der Wissenschaft (»Sie gehört zum Wesen der deutschen Uni-
versitätsideewie Forschung und Lehre<< (I/134 ))
und
die Betonung von Methodik und Problemstellung gegenüber dem festen Wissensbesitz,
der es wiederum entspricht, daß Hochschulunterricht sich in die Sphäre der akade-
mischen Freiheit erhebt (»Für den Studenten ist sie nach außen gleichbedeutend mit
Beseitigung des Kollegzwangs und dauernder Kontrolle durch den Lehrer, Freizügig-
keit und Mitbestimmungsrecht an der Gesamtverwaltung seiner Universität, nach innen
in seinem Studiengang mit Freiheit in der Wahl seiner Fächer und in der Bearbeitung
einer tunliehst selbst gestellten Frage.<< (I/134-135)).
Diese Freiheit setzt nach Plessners Erachten Unabhängigkeit und Selbständigkeit der
Gelehrten und Forscher voraus; sie wird durch die relativ autonome Stellung der Uni-
versität gegenüber dem Staat und durch die innere Verfassung der Universität mit Rek-
torat und Fakultäten institutionell gesichert. Entscheidendes Element der Struktur ist
das Ordinariat mit den Vorzügen einer hohen Staatsstellung ohne die Nachteile eng
begrenzter Dienstpflichten: »Es gibt das große Ansehen wissenschaftlicher Bedeutung
und gestattet, seinen tiefsten Neigungen ebenso zu leben als ihnen Geltung zu verschaf-
fen« (1/136). Plessner verweist hier auf eine der »forschungsdienlichen Eigenschaften
der deutschen Universität<< (I/132), der besondere Bedeutung zu einer Zeit zukam, in
der der wissenschaftliche Fortschritt vor allem von den materiell relativ wenig aufwen-
digen, individuellen Leistungen vieler Einzelner abhing, die Universitäten jede für sich
und als Gesamtheit noch von relativ beschränkter Größe waren und zugleich seit 1850
Zum Schicksal der deutschen Universität 293
hier nur als prinzipielles. In dem harten Weg der Askese liegt nach Plessners Überzeu-
gung eine Garantie für die Erhaltung des besonderen Ethos, das die deutsche Universi-
tät als solche gerade auch in ihrer Autonomie erst möglich macht: Die idealistische Hin-
gabe des einzelnen Gelehrten an die Wissenschaft um ihrer selbst willen. Er schreibt:
»Der moderne Forscher arbeitet zwar unter Einsatz aller Kräfte, aber unter Ausschal-
tung seiner Persönlichkeit und ist im Sinne dieser Ausschaltung in der Zucht einer
unpersönlichen Fragestellung<< (1/132). So soll der Dozent immer zugleich Forscher
sein und bildend auf den akademischen Nachwuchs wirken.
Die Frage ist, wie weit alte, individualistische und aristokratische Prinzipien heute For-
schung und Bildung noch voranbringen können. Kann die Universität weiterhin gerade
durch konkurrierende individuelle Leistungen am besten die Erkenntnis vorantreiben
und ihren Bildungsauftrag erfüllen? Vermag sie gerade auf diese Weise ihre intellek-
tuelle Unabhängigkeit zu behaupten und in die gegenwärtig dominanten Tendenzen
der Vergesellschaftung ihren emanzipatorischen Anspruch einzubringen?
Derartige Zweifel führen zurück zu der zentralen Frage, unter welchen Bedingungen
»Einheit der UniversitaS<< möglich ist. An ihr dürfte sich das Schicksal der Universität
letztlich entscheiden. Plessner hatte das Fehlen einer Einheit bereits 1924 gesehen, ohne
allerdings die darin liegenden Gefahren schon erkannt zu haben. 1956 vermerkt er nur
kurz, daß wir die Einheit >>heute so schmerzlich vermissen<< (111/18).
In seinen Groninger Vorträgen von 1934 und 1935, in denen er die geistigen Ursachen
der damaligen Ereignisse in Deutschland aufzuspüren suchte, war er dagegen dem Ver-
lust übergreifender Einheit im Funktionsverlust der Philosophie ausführlich nachge-
gangen: »Von dem Fachspezialismus der modernen Zivilisation und von den gegen
diese Zivilisation gerichteten Kräften<< (II/155) 2 sieht er sie doppelt bedroht. >>Die
Folge dieser ... Neutralisierung der Philosophie ist die Übergabe der geistigen Ent-
scheidung an die Kirche, den Staat oder die Wirtschaft. Verzichtet die Wissenschaft auf
ihren philosophischen Beruf, durch Erkenntnis das menschliche Leben im ganzen zu be-
stimmen, wird ihr dieser Verzicht von der eigenen inneren Geschichte und von der äuße-
ren Lage aufgezwungen, so schalten sich andere lebensbestimmende Mächte dafür ein,
welche den Glauben und auch den Mut haben, darüber zu entscheiden, was gut und
böse ist<< (11/157). Hierin manifestiert sich für Plessner »das Schicksal deutschen Geistes
im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche.<<
Konfrontiert mit den jüngsten Auseinandersetzungen an den deutschen Universitäten
dürfte er sich in seiner alten Analyse wahrscheinlich erneut bestätigt fühlen. In einer
eigenartigen Springprozession verbinden sich die Gedanken von 1924 mit denen von
1956 und die von 1935 mit denen von 1972. Doch die Situation von 1972- die deutsche
Universität im Ausgang ihrer bürgerlichen Epoche -läßt auch neue, positive Perspekti-
ven erkennen s.
Zum Schicksal der deutschen Universität 295
II
Der Prozeß der Industrialisierung und betrieblichen Organisation von Forschung hat
Idee und Organisation der deutschen bürgerlichen Universität endgültig gesprengt. Die
Universität steht angesichts von Herausforderungen, wie sie in vielen Ländern heute an
die Universitäten herangetragen werden, in einem tiefen Wandlungsprozeß. Dieser
Prozeß beginnt, auch hier die Universitäten vor ähnliche Strukturprobleme zu stellen
wie in allen westlichen Industriegesellschaften. Äußerlich ist die Veränderung der Uni-
versität gekennzeichnet durch:
Der Prozeß quantitativer und qualitativer Ausdehnung der Wissenschaft bei Zunahme
ihrer gesellschaftlichen Relevanz führt zu Veränderungen der Arbeitsformen im Bereich
von Forschung und Lehre. Der Veränderung wissenschaftlicher Disziplinen durch
zunehmende Spezialisierung und Differenzierung begegnet eine gegenläufige Tendenz:
Zur Lösung praktischer Probleme, das heißt zur Einlösung der gesellschaftlichen Rele-
vanz von Forschung, wird zunehmend die Integration von Ergebnissen einzelwissen-
schaftlicher Forschung erforderlich. Vollzieht sich im Bereich naturwissenschaftlicher
Forschung diese Integration vorwiegend auf der Ebene einzelwissenschaftlicher Koope-
ration, so zeichnet sich für die Lösung praktischer gesellschaftlicher Probleme die Not-
wendigkeit eines jeweiligen Konsens über eine Theorie gesamtgesellschaftlicher Ent-
wicklung als Bezugsrahmen einzelwissenschaftlicher Fragestellungen und Integration
296 Dietrich Goldschmidt
ab. Mit der Ausdehnung der Wissenschaft nehmen Differenzierung und Spezialisierung
weiterhin zu, zugleich entwickelt sich jedoch immer stärker die Notwendigkeit zur
Kooperation, um komplexe wissenschaftliche, technische und lebenspraktische Probleme
zu lösen. Je mehr es gerade im Prozeß der Spezialisierung und Ausdehnung der Wissen-
schaften gelingt, allgemeine Prinzipien zu finden, umso mehr wird arbeitsteilige
Kooperation der Spezialisten erleichtert und wird die praktische Relevanz erhöht.
Plessner läßt in der Darstellung der Industrialisierung der Forschung gewisse Elemente,
die zu einem solchen historischen Prozeß gehören, vermissen. Er nennt Verdrängung des
Handwerklichen, Rationalisierung, Bereitstellung von Produktionsmitteln und Ar-
beitsteilung. Doch dann nennt er nur noch eine überlieferte, vorindustrielle Form der
Kooperation und spricht nicht von übergeordneter Planung und Organisation, die jeder
Industrialisierung eigen sind. So ist es möglich, daß seiner Auffassung nach auch in der
Industrialisierung der wissenschaftliche Fortschritt an die autonome Leistung der ein-
zelnen Forscher gebunden bleibt. Nun gibt es gewiß Solistenturn an der Universität-
vor allem in den Geisteswissenschaften- bis zum heutigen Tage, und es wird sicher auch
weiterhin seinen Platz haben. Einzelne Forscher werden wie eh und je unerwartete und
möglicherweise zunächst abseitig erscheinende Forschungsergebnisse auf höchst indivi-
duelle Weise erzielen können. Doch gerade für ihre Leistung wird die Industrialisierung
der Forschung in der Regel am wenigsten konstitutiv sein. Insgesamt ist diese Art von
Forschung, die der wissenschaftlichen Entwicklung des 19. Jahrhunderts besonders
angemessen war und die noch heute an den Universitäten verbreitet ist, dennoch immer
weniger bezeichnend für das gegenwärtige und künftige Gesamtsystem Wissenschaft
innerhalb und außerhalb der Universität, in dem auf zunehmend gezielte Weise die
Forschungsfelder strukturiert, die jeweiligen Forschungsaufgaben definiert und in
Kooperation innovative Lösungen gefunden werden. Dieses System sei daher vor allem
zum Gegenstand der folgenden Erörterungen gemacht.
Kooperation wurde von Plessner noch als quasi handwerkliche verstanden, bei der
Lehrlinge und Gesellen unter Anleitung des Meisters in die Forschung eingeführt wur-
den und sich sukzessive einarbeiteten. Diesem Modellliegt die Vorstellung der umfas-
senden Beherrschung eines Forschungsgebietes durch den Meister (den Ordina~ius und
Institutsdirektor) zugrunde; seine wissenschaftliche Kompetenz nimmt mit seinem
Alter zu. Diese Annahmen sind im modernen Forschungsprozeß weithin problematisch
geworden. Forschung ist im allgemeinen zu einem so spezialisierten Prozeß geworden,
daß - ebenso wie in der industriellen Arbeit und zunehmend auch in der Verwaltung
von Institutionen- das Modell handwerklicher Arbeitsorganisation, in der die Quali-
fikation der Lehrlinge und Gesellen in der Qualifikation des Meisters aufgeht, immer
weniger zutrifft. Arbeitsteilung findet weniger in der hierarchischen Stufung Lehrling,
Geselle, Meister statt, als vor allem in der Spezialisierung auf unterschiedliche Quali-
fikationen. Es wird immer schwieriger, die für kooperative Arbeitsprozesse erforder-
lichen Qualifikationen individuell zu vereinen. Im Bereich industrieller Arbeit hat
Zum Schicksal der deutschen Universität 297
ist die Aufgabe der Beschaffung, Verwaltung und Kontrolle von Ressourcen übertra-
gen, es gerät dadunh in die Rolle eines Unternehmers, der abhängige Wissenschaftler
beschäftigt.
Die mit dieser Organisation von Forschung gegebene relativ kurzfristige Orientierung
auf praktische Aufträge wird häufig als dem Interesse des Fortschritts der Wissenschaft
entgegengesetzt kritisiert. Wissenschaft braucht, wie auch Plessner feststellt, einen ge-
wissen Vorlauf und eine gewisse Autonomie zur Entwicklung neuer Lösungen. In der
Auftragsforschung wird dagegen die Reflexion der Forschungsziele durch die Wissen-
schaftler selbst weitgehend ausgeschlossen; damit werden die Offenheit, das kritische
Potential und das emanzipatorische Engagement der Wissenschaft prinzipiell in Frage
gestellt. Selbst systemimmanent können die unmittelbare Funktionalisierung für
fremdgesetzte Ziele und die Einbindung in einen fremdgesteuerten Arbeitsprozeß dis-
funktional werden, da sie die Motivation sowie die Kreativität der Wissenschaftler ein-
zuschränken und damit die gewünschte Qualität der Ergebnisse zu gefährden drohen.
In beiden Organisationsmodellen von Forschung, in dem patriarchalisch-autoritären
und in dem technokratisch-administrativen, werden die nicht etablierten, im For-
schungsprozeß selbst am stärksten engagierten Wissenschaftler weitgehend von konsti-
tuierenden Entscheidungen über den Forschungsprozeß ausgeschlossen; ihre Qualifika-
tionen werden von der Institutsleitung oder vom Management beurteilt und eingesetzt.
Zwar werden die abhängigen Forscher von Einflußmöglichkeiten nicht ganz ausge-
schlossen, in traditionellen Instituten finden beispielsweise Forschungsseminare und Be-
ratungen statt, in technokratisch verwalteten Forschungseinrichtungen werden brain-
storming sessions organisiert und Arbeitsbesprechungen abgehalten. Doch ist die Kom-
munikation bei beiden Formen in Reichweite und Intensität beschränkt; sie hält sich im
Rahmen der bestehenden Strukturen. Im Falle traditioneller hierarchischer Forschungs-
institute wird der Rahmen durch Meinung, im allgemeinen auch durch Diskussionslei-
tung und Sanktions- und Belohnungsgewalt des Institutsdirektors gesetzt; er wird von
den Wissenschaftlern in ihrem eigenen Interesse nicht überschritten. Im Falle der tech-
nokratisch verwalteten Forschungsorganisation wird er durch die etablierten Kommu-
nikationsregeln und das System der Arbeitsorganisation gesetzt, in dem jedem Beschäf-
tigten sein Teilgebiet zugewiesen wird und in dem die übergreifenden Ziele und Zwecke
sich von diesem nur schwer durchschauen und bestimmen lassen.
Mit wachsender Komplexität der Aufgaben und Spezialisierung der Qualifikationen
wird der Ausschluß der Wissenschaftler von Entscheidungsprozessen zunehmend kriti-
siert und eine Demokratisierung der Forschungsorganisation gefordert. Die Fremd-
bestimmung des eigenen Arbeitsprozesses läuft nicht nur den persönlichen Interessen
der Mitarbeiter an Mitbestimmung über die eigene Arbeitssituation zuwider, sondern
sie schränkt auch allgemein die Effektivität und Produktivität der Forschung ein. Ver-
antwortliche Beteiligung an der Organisation des Arbeitsprozesses erlaubt einerseits die
umfassendere Berücksichtigung spezieller Kompetenzen im Forschungsprozeß, anderer-
seits erweitert sie die speziellen Kompetenzen funktional um allgemeine Kompetenzen.
Diese Erweiterung wirkt dequalifizierender Spezialisierung entgegen und kommt da-
mit dem Entscheidungs- und dem Forschungsprozeß zugute.
Die idealistische Forderung nach einer Gemeinschaft der Gelehrten (Lehrende und Ler-
Zum Schicksal der deutschen Universität 299
nende), die von der arbeitsteiligen Forschung mit ihrer Entwicklung zu Hierarchie und
Administration scheinbar überholt ist, wird gegenwärtig innerhalb und außerhalb der
Universität zu einer funktionalen Notwendigkeit, um der Komplexität des Forschungs-
prozesses gerecht zu werden. Die unbeschränkte Konzentration prinzipieller Entschei-
dungsbefugnisse bei Direktoren und Managern ist als der Entwicklung der Wissenschaf-
ten hinderlich zu kritisieren.
Die Stabilisierung traditioneller Strukturen wird bei patriarchalisch-autoritärer For-
schungsorganisation durch die professionelle Sozialisation einer gesellschaftlichen Elite
gefördert. Bei technokratisch-administrativer Forschungsorganisation wird sie durch die
Ideologie scheinbarer Sachzwänge und durch Techniken des Systemmanagements gesi-
chert. Widersprüche und Konflikte, die sich aufgrund mehr oder weniger ausgeprägter
Deprivation der Wissenschaftler von der Entscheidung über eigene kooperative Ar-
beitsprojekte ergeben, werden in beiden Fällen weitgehend individualisiert und ver-
drängt. Sie werden nicht auf ihre objektiven gesellschaftlichen und institutionellen Ur-
sachen hin untersucht, sondern in der Regel primär auf persönliches Versagen zurückge-
führt.
zeß setzt sich zudem eine erweiterte Kooperation mit sog. nichtwissenschaftliehen Mit-
arbeitern durch. Immer weniger ist im fertigen Arbeitsergebnis der individuelle Beitrag
zu erkennen.
Da wissenschaftliche Arbeitsergebnisse über den Rahmen der Kooperation im For-
schungsbetrieb hinaus in immer höherem Maße von Ressourcen abhängig sind, die ge-
sellschaftlich erarbeitet und bereitgestellt worden sind, stellen der gesellschaftliche Be-
zug und die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft nicht nur eine abstrakte
idealistische Maxime dar, sondern sie materialisieren sich unmittelbar in der Forschung.
Die Industrialisierung von Forschung steht - entgegen Plessners Darlegungen - eher in
Widerspruch zu dem Konzept der individuellen Kreativität des Forschers und der
Autonomie der Forschung als Konstituanten des wissenschaftlichen Fortschritts. In der
Konfrontation mit der veränderten Forschungsrealität wird diese Auffassung zur Ideo-
logie, die ständische Interessen und Privilegien der Wissenschaftler zu rechtfertigen
sucht und die Verpflichtung zum Ausweis der gesellschaftlichen Relevanz von For-
schung abwehren will.
Initiativen zur Gründung privater Homsmulen sind als Versume zu sehen, zwar öf-
fentlime Ressourcen zu erhalten, aber zugleim bestimmte, private Kontrolle der
Remtsträger über die zu gründenden Institutionen zu erreichen. Diese Gründungen
sollen von Prestige und Status der Universitäten profitieren, ohne deren traditionelle
Autonomie und Selbstverwaltung zu übernehmen. So lange solche Pläne an öffentlicher
Kritik und öffentlimem Widerstand scheitern, bleibt Auftragsforsmung für partiku-
lare Interessen in starkem Maße auf staatliche und industrielle Forschungsinstitute
außerhalb der Universität angewiesen. Sie stehen in engerem Praxisbezug und sind
stärker entsprechend modernen forschungsorganisatorismen Gesimtspunkten organi-
siert. Ihre unmittelbare Bindung an fremdgesetzte Ziele und staatliche oder industrielle
Aufträge lassen jedoch in ihnen weniger Spielraum für prinzipielle Diskussion und Be-
teiligung an Entscheidungen als in universitären Forschungsinstituten.
Insgesamt besteht ein bezeichnender Zusammenhang zwischen dem Grad und der Ver-
bindlichkeit externer Zielvorgabe und dem Zugeständnis interner Mitbestimmung im
Forschungsprozeß. Je verbindlicher die Ziele von außen gesetzt sind, desto mehr förm-
liche Mitbestimmung kann intern zugestanden werden. Je weniger umgekehrt For-
schungsziele von außen bestimmt werden können, desto schärfer wird die interne Aus-
einandersetzung um die Kontrolle der Forschung, die gegenwärtig an den Universitäten
und in der außeruniversitären GrundlagenforsdlUng unter den genannten Stichworten
Demokratisierung und Mitbestimmung zu beobachten ist 7 • Dieser Kampf wird im
übrigen umso entschiedener geführt, je mehr die jeweiligen Kontrahenten sich wechsel-
seitig beschuldigen, daß die eine Seite die bisherige Organisationsstruktur um der tradi-
tionellen Privilegien hierarchisch hoher Stellungen willen nicht preisgeben wolle bezie-
hungsweise daß die andere Seite letztlich über die Mitbestimmung die wissenschaft-
lichen Institutionen - mit Plessner zu sprechen - für den »weltrevolutionären ökono-
mischen Sozialismus« (11/154) zu erobern suche. Kann dagegen Polarisation vermieden
oder überwunden werden, so kann sich die Mitwirkung - nach welchem Paritäten-
schlüssel für die einzelnen Gruppen auch immer - sehr wohl als effizient erweisen und
zwar umso mehr, je mehr der auch in der Tradition der Universität, vor allem der
naturwissenschaftlichen Forschung, liegenden Maxime der Verbindung wissenschaft-
lichen Engagements mit kooperativer Orientierung der Beteiligten Geltung eingeräumt
wird.
Die traditionelle bürgerliche Universität bildete vorwiegend für Staatsdienst und freie
Berufe aus. Entsprechend dem Leitbild der idealistischen Universität - repräsentiert
durch die Philosophische Fakultät- war dies jedoch nicht überwiegend fachliche Ausbil-
dung für bestimmte Berufe, sondern Gelehrtenbildung, das heißt Einführung in die
Wissenschaft und ihre Methoden, die Vermittlung einer ethisch akzentuierten Bildung,
die den Zugang zur Geisteselite der Akademiker öffnete, jenen herausgehobenen Teil
der Gesellsmaft, den Hans Weil »einmal scherzhaft als das Neben-Oben bezeichnet«
hat s.
302 Dietrich Goldschmidt
fahr, daß staatlime Instanzen und private Arbeitgeber das Studium an die Berufs-
praxis völlig anzupassen sudJ.en und damit Beiträge zur progressiven Veränderung der
Berufspraxis verhindern.
rung des Gesellsmaftsbezugs der Wissenschaft heraus. Auf der Seite der betroffenen
Personen provozieren individuelle Frustrationen, Enttäuschung individueller Auf-
stiegshoffnungen und Dequalifikation im Arbeitsprozeß diese Auseinandersetzung.
Studienplanung
Die Freiheit der Lehrenden und Lernenden sowie der akademisme Diskurs waren kon-
stitutive Elemente der relativ kleinen, nimt sonderlich zahlreimen traditionellen Uni-
versitäten des 19. Jahrhunderts. Je stärker die möglimen Studieninhalte sich ausweite-
ten, je mehr die Zahl der Studenten wums und je ungünstiger die Zahlenrelation zwi-
smen Homsmullehrern und Studenten wurde, um so smwieriger wurden sinnvolle Pla-
nung und Strukturierung des Studiums. Unmäßige Verlängerung der Studienzeiten
und eine wachsende Zahl von Abgängern ohne Absmluß waren und sind die Folgen.
Studienberatung und Planung des Studiengangs sollen dazu beitragen, die übersimt
über die komplexen Wissensgebiete zu erleimtern und die beruflime Relevanz des Stu-
diums zu simern.
Je größer die Zahl der Studenten aufgrundökonomisch-beruflichen Bedarfs und auf-
grund individueller und schichtenspezifischer Aufstiegstendenzen wird, um so stärker
setzen sich jedoch aum betriebliche Tendenzen der Planung und Rationalisierung des
Studienverlaufs durch. So wimtig es ist, das individuelle Sumen und Finden abzukür-
zen, so wichtig Transparenz, Strukturierung, Berufspraxisbezug, Studien- und Zeit-
ökonomie sind, so deutlich zeichnet sim hier auch die Tendenz zur Rationalisierung des
Studiums entsprechend partiellen Interessen im Dienste einer Stabilisierung des beste-
henden kapitalistisch bestimmten Gesellschaftssystems ab. Konkurrenz, Hierarchie und
Statusorientierung entfremdeter Arbeit prägen häufig schon das Studium. Es droht die
Gefahr, daß mit Hilfe von Unterteilung in Kurz- und Langstudiengänge, durm strikte
Studienreglementierung, durch Übermaß selektiver Leistungsnachweise selbständiges,
forschendes und problemorientiertes Lernen gerade aus dem Grundstudium verdrängt
wird und nur einer smmalen Elite von Studenten im Aufbaustudium reserviert bleibt,
so daß die Masse der Studenten begrenztes, unmittelbar funktionalisierbares technisches
Wissen erwirbt, wie es traditionell etwa die Ingenieurschulen vermittelt haben, die
jedom ihrerseits mit ihrer Anhebung zu Fachhochsmulen gerade dieses Konzept zum
Mißfallen weiter Industriekreise hinter sich lassen möchten.
Die Konzentration des Studiums auf individuell anzueignende Lernziele und Lernele-
mente vernachlässigt zudem das Studium als kollektiven, lebensgeschimtlichen Lern-
und Emanzipationsprozeß. Wird etwa nam den temnokratismen Studienreformplänen
einiger Länder selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Studium nur einer kleinen
Gruppe von Elitestudenten in abgesmirmten Studienphasen oder -institutionen vorbe-
halten, so muß im Sinne eines emanzipatorismen Studiums, wie es gerade von der Stu-
dentenbewegung laut verlangt wurde, ein berufs- und gesellschaftsorientiertes Studium
auch für die Masse der Studenten unter deren verantwortlicher Beteiligung an der Or-
ganisation mit hinreimenden Möglimkeiten der Selbstgestaltung gefordert werden. Die
gegenwärtige Krise der Liberal Arts Colleges in den USA, für die die hohen drop-out-
306 Dietrich Goldschmidt
Raten kennzeichnend sind und die man durch die Liberalisierung, z. T. sogar durch Ab-
schaffung der traditionellen strengen Kursplanung zu lösen sucht, stellt eine deutliche
Warnung vor einer- eventuell straffen - Planung »von oben« dar. Studienplanung
Hodmhuldidaktik, Studienziele, deren genauere Bestimmung gesellschaftlich möglich
geworden ist, brauchen nicht zur Fremdbestimmung des Studiums funktionalisiert zu
werden, sondern ermöglichen im Gegenteil ein rationales und selbstbestimmtes Stu-
dium. Hier werden alte, idealistische Forderungen wieder aufgenommen. Allerdings
wird ein solches Studium weder von Studenten noch von Hochschullehrern individuell
aufgrund von Appellen und aus persönlichem Engagement verwirklicht werden kön-
nen. Es macht gesellschaftliche Anstrengungen in größerem Rahmen im Sinne der
Demokratisierung und der hinreichenden materiellen Ausstattung der Hochschulen er-
forderlich.
III
Zieht man das Fazit aus der skizzierten Entwicklung, so ist festzustellen, daß der idea-
listische Anspruch autonomer, emanzipatorischer Forschung und Bildung in der Reali-
tät weithin nicht mehr einzulösen ist, er ist von der Entwicklung überholt. Die entspre-
chenden Organisationsstrukturen der traditionellen Universität, von denen Plessner
hoffte, daß in ihnen der idealistische Anspruch aufgehoben bliebe, erweisen sich ange-
sichts der gewandelten Aufgaben in Forschung und Lehre als diesen in der Regel hin-
derlich. Schon die Restauration der fünfzigerJahrewurde weder konzeptuell nod!. in-
stitutionell den Geschehnissen von 1933 bis 1945, der veränderten Zeitlage im Vergleich
zu den Jahren vor 1933 gerecht 9 • Die rasme Ausdehnung des Hochsmulwesens in den
sechzigerund siebziger Jahren und damit die ungewöhnliche Vermehrung der Hoch-
schullehrersmaft in allen Rängen insgesamt wie an jeder einzelnen Romschule sowie die
gesetzlimen Hochschulreformen- mehr Folge als Anlaß oder gar Ursache des Obsolet-
werdens der bisherigen Universitätsstruktur- tun ein übriges, die alte aristokratisme
Verfassung der Universitäten der Vergangenheit zuzuweisen. Bedeuten das ideolo-
gisme und das organisatorische Ende der bürgerlichen Universität auch die Kapitula-
tion ihres Ansprums? Muß der emanzipatorische Anspruch akademismer Bildung als
Illusion begraben werden? Die Studentenbewegung hatte in der Bundesrepublik
Deutsmland vor allem gegen die Diskrepanz zwismen dem idealistismen Bildungsan-
spruch der Universität einerseits und der Realität von Universität und Gesellschaft
andererseits protestiert. Die Auflösung der Studentenbewegung bestätigt scheinbar,
daß der emanzipatorisme Anspruch überholt ist. Ihr Impetus ist von technokratischen
Rationalisierungs- und Reformstrategien einerseits und marxistischen Strategien der
Gesellschaftsveränderung andererseits aufgenommen worden. So ist Plessner.s Warnung
zu prüfen: Muß die Universität nunmehr »dem Famspezialismus der modernen
Zivilisation und den gegen diese Zivilisation gerichteten Kräften« (11/155) anheimfal-
len? Läßt sich- unter Bezug auf den Untertitel des Buches über die ,. Verspätete Na-
Zum Schicksal der deutschen Universität 307
tion« - der Geist bürgedimer Wissenschaft endgültig verführen, oder kann er durm
einen neuen gesellschaftlichen Bezug der Wissenschaft legitim abgelöst werden?
Würden die technokratismen Reformstrategien bruchlos aufgehen, so würde sich die
Frage nam dem emanzipatorischen Potential akademischer Bildung erübrigen. Die Wi-
dersprüche in der Universität selbst und in der Verwendung von Wissensmaft provo-
zieren jedoch die Frage, ob der Emanzipationsansprum womöglich nimt zugunsten
individueller Resignation, temnokratischer Anpassung oder politischem Aktionismus
aufgegeben zu werden braucht, sondern ob er sich unter Umständen in veränderter
Form, in veränderten Institutionen und unter veränderten gesellschaftlichen Bedingun-
gen auf qualitativ neuer Stufe einlösen läßt.
Die Entwicklung der Universität in Forsmung und Lehre stellt einen Prozeß zuneh-
mender Vergesellschaftung dar. Das Prinzip der Autonomie der traditionellen Uni-
versität erscheint damit endgültig überholt. Sie ist nicht mehr einer Insel fern dem
gesellschaftlichen Gesmehen vergleimbar, denn der besondere Freiraum, der ihr als Pri-
vileg zugestanden wurde, weil Forschung und Wissenschaft nicht planbar ersmienen
und weil die Freisetzung einer kleinen Elite von staatlicher Kontrolle letztlich den
Interessen von Staat und Gesellschaft am besten zu dienen verspram, löst sich auf. Mit
der Entwicklung zunehmender gesellschafdimer Relevanz von Wissenschaft und der
parallel zu sehenden Entwicklung von einer Eliten- zur Massenuniversität verschwindet
der Inselcharakter der traditionellen Universität.
Die stärkere Abhängigkeit der Universität von der Gesellschaft beruht paradoxerweise
auf dem entwickelten Potential der Wissenschaft, die Praxis zu verändern. Gerade die
materiale Einlösung des idealistischen Ansprums der Herrschaft der Wissenschaft
scheint die Universität nur um so stärker externen Interessen und Tendenzen zur Kon-
trolle auszusetzen. Die relative Freiheit der idealistischen Universität war eben nur auf
der Basis ihrer relativ begrenzten unmittelbar materiellen Bedeutung zu verstehen. Da
die Entwicklung zu zunehmender gesellsmaftlicher Relevanz der Wissenschaft nicht
umzukehren ist, wird auch die weitgehende institutionelle Autonomie der traditionel-
len Universität kaum aufrechtzuerhalten sein. Diese Entwicklung ist u. E. nicht unbe-
dingt zu bedauern.
Die wachsende Integration der Universität in die Gesellschaft ist ambivalent: Der
gesellschaftliche Einfluß, aber auch die Abhängigkeit der Universität nehmen zu. Wie
weit kann trotzdem der emanzipatorische Anspruch der Autonomie- in veränderter
Form - aufrechterhalten werden? Je mehr Wissenschaft zur Produktivkraft wurde,
d. h. Produktions- und Lebenspraxis rationalisierend veränderte, um so stärker ist sie
auf praktische Bezüge angewiesen. In zunehmendem Maße bedarf sie zu ihrer Fortent-
wicklung der Anregung durch praktische Probleme.
Der tatsämliche Bezug der Wissenschaft zur Praxis bleibt allerdings häufig hinter den
objektiven Möglimkeiten zur Lösung praktischer Probleme zurück. Gesellschafdime
Praxis ist weitgehend staats-oder privatkapitalistische Praxis, die unter dem Imperativ
308 Dietrich Goldschmidt
Es klingt paradox: Die Universität wird um so eher als eigene Kraft fortzubestehen
vermögen, je mehr sie das Konzept, Wissenschaft forsche und bilde frei von gesellschaft-
lichen Interessen und Bindungen, aufgibt und sich selbst als gesellschaftliche Kraft ver-
steht, dem Fortschritt des Wissens, der Emanzipation des Menschen und der Humanisie-
rung des gesellschaftlichen Lebens in gleicher Weise verpflichtet. Doch die gegenwärti-
gen Veränderungen im Hochschulwesen wie in der außeruniversitären Forschung der
Bundesrepublik Deutschland erlauben noch nicht, bereits von gesicherten Perspektiven
zu sprechen, daß das Ziel auch erreicht werden kann.
310 Dietrich Goldschmidt
Anmerkungen
In vorliegendem Aufsatz wird auf folgende Arbeiten von H. Plessner Bezug genommen:
I ,,zur Soziologie der modernen Forschung und ihrer Organisation in der deutschen
Universität<<, in: M. Scheler (Hrg.): Versuche zu einer Soziologie des Wissens,
München-Leipzig 1924. Wieder abgedruckt in: »Untersuchungen zur Lage der deutschen
Hochschullehrer•, 1. Bd., Göttingen 1956, sowie in: »Diesseits der Utopie, ausgewählte Bei-
träge zur Kultursoziologie<<, S. 121-142, Düsseldorf-Köln 1966. Zitate nach dem letzt-
genannten Abdruck.
II »Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche«, Bern 1935.
Wieder veröffentlicht mit einer besonderen Einführung unter dem Titel »Die verspätete
Nation, über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes<<, Stuttgart 1959, 5. Auf!.
1969. Zitate nach der letztgenannten Veröffentlichung.
III H. Plessner (Hrg.): »Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer«, 3 Bde.,
Göttingen 1956. Zitiert wird aus dem Vorwort zum ersten Band.
Der Kürze wegen wird jeweils nur »I<<, »II« oder »III« mit Angabe der Seitenzahl zitiert.
Die vorweg zitierten Stellen sind I/131 und III/10 entnommen.
2 Hinsichtlich der »gegen diese Zivilisation gerichteten Kräfte« heißt es: »Gegen die Aus-
kunftsmittel des romantisch geprägten Humanismus und Bildungsidealismus der versinken-
den bürgerlichen Welt wirken drei Radikalismen, ... : der weltrevolutionäre Sozialismus, die
Radikalisierung der Theologie ... in Richtung auf die Offenbarung und gegen alle liberale
Ersatzformen, schließlich der auf unmittelbare Aktion drängende jede Diskussion verdrän-
gende >>Fascismus<< und Dezisionismus ... « (II/154).
3 Die folgenden Erörterungen sind auf die gegenwärtige gesellschaftliche Situation und Rolle
der Universitäten gerichtet. Plessner hat sich in seiner historischen Analyse über »die verspä-
tete Nation<< vor allem auch mit der verhängnisvollen Rolle des romantischen Begriffs des
Volkes als einer politischen Idee befaßt. Zum fatalen Niederschlag dieser Idee im Begriff der
deutschen Bildung an den Universitäten vgl.: D. Goldschmidt, S. Hübner: Begriff und Wirk-
lichkeit der Universität in einer sich wandelnden Gesellschaft am Beispiel westdeutscher
Hochschulreform; veröffentlicht in Übersetzung: Changing Concepts of the University in
Society; The West German Case. In: B. Holmes (ed.): The World Year Book of Education,
1971, London 1971.
4 Die folgenden Ausführungen sind Ergebnis enger Kooperation und intensiver Diskussion
mit Christa Händle. Sie nehmen vielfach Beobachtungen und Gedanken der gegenwärtigen
Hochschuldiskussion auf, ohne zugleich ein Kompendium der einschlägigen Publikationen
darstellen zu wollen. Es wird daher auf Literaturverweise, die im Rahmen eines relativ kur-
zen Essays ohnehin etwas willkürlich ausfallen müßten, verzichtet.
5 Claus Offe, »Leistungsprinzip und industrielle Arbeit•, Frankfurt/M. 1970, S. 23 ff.
6 Norman Kaplan, »Research Administration and the Administrator: U. S. S. R. and U. S.,
in: Norman Kaplan (ed.) »Science and Society<<, Chicago 1965, S. 229-246.
7 Ein Vergleich zwischen den »Leitlinien zu Grundsatz-, Struktur- und Organisationsfragen
von rechtlich selbständigen Forschungseinrichtungen<< des Bundesministeriums für Bildung
und Wissenschaft von 1970 und den 1972 beschlossenen Regelungen für die Organe und
Institute der Max-Planck-Gesellschaft zeigt dies deutlich. In Max-Planck-Instituten haben
sich patriarchalisch-autoritäre Züge stärker erhalten als - nach den Leitlinien - in staatlichen
Forschungsinstituten. Dieser Unterschied kann auf die stärker patriarchalische Tradition der
Max-Planck-Gesellschaft im Vergleich zu der mehr technokratischen Orientierung des gegen-
wärtigen Staates zurückgeführt werden; doch dürfte sie vor allem in der unterschiedlichen
Verbindlichkeit der Zieldefinition begründet liegen. In staatlichen Forschungsinstituten sind
die Ziele relativ verbindlich formuliert, deswegen kann eine demokratische Forschungsorga-
nisation eingeräumt werden. Man erreicht damit auch eine höhere Effektivität der For-
schung. Da in der Max-Planck-Gesellschaft die Forschungsziele in geringerem Maße von
außen gesetzt werden, liegt es nahe, daß Kontrolle stärker in den internen Entscheidungen
312 Dietrich Goldschmidt
Vorbemerkung
Der nachfolgende Aufsatz entstand im Kontext der Vorstudien zum Projekt »Berufs-
pädagogik<<, das ich zusammen mit Reinhard Franzke vor einiger Zeit am Berliner
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Angriff genommen habe. In unserem
Projekt soll versucht werden, politökonomische, soziologische und sozialpsychologische
Theorie-Fragmente zum Zwecke einer kohärenten Analyse verfügbarer Daten über
Funktionen und Strukturen des beruflichen Bildungswesens der Bundesrepublik mitein-
ander zu verknüpfen und diese Analyse soweit auszuführen, daß Prioritäten künftiger
Reformen und Forschungen rational begründbar werden, die sich gegenwärtig nur
mehr oder minder willkürlich festlegen lassen, weil hierfür geeignete systematische und
zugleich hinreichend konkrete Konzeptionen vorläufig fehlen.
Nützliche Anregungen für den Entwurf und für die Überarbeitung des Manuskripts
lieferten mir- außer Reinhard Franzke- besonders Uta Gerhardt, Hans Joas, Lothar
Krappmann und Wilke Thomssen. Ihnen möchte ich herzlich danken.
Kritische Wissenschaft zielt auf menschliche Emanzipation, auf den Abbau der
Beschränkungen, die die jeweiligen Formen der Beherrschung äußerer und innerer
Natur für die Artikulation und Befriedigung unserer Bedürfnisse darstellen. Kritische
Sozialwissenschaft analysiert eine spezifische Quelle bewußten und unbewußten Lei-
dens, die Ungleichheit der Chancen und Fähigkeiten verschiedener Menschen zur Be-
dürfnisbefriedigung und Bedürfnisartikulation, und versucht, deren historische und
biographische Genese im Zusammenhang zu begreifen, um daraus Strategien zur Beein-
flussung gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen und individueller Lebensläufe im
Interesse verminderten Leidens, vermehrten Glückes der Benachteiligten abzuleiten.
Die Befunde, zu denen derartige Bemühungen bisher geführt haben, sind nicht sehr
ermutigend, gleichwohl auch nicht gänzlich negativ: Zwar überwanden die Menschen
weitgehend ihre Abhängigkeit von der Natur, gleichzeitig aber unterwarfen sie sich
neuen Restriktionen. Die Zwänge der äußeren Natur vertauschten sie mit denen sozia-
ler Institutionen, die der inneren mit denen des persönlichen Gewissens, und die gesell-
314 Wolfgang Lempert
smaftlim verursamte Ungleimheit nahm fast immer nur zu, nimt ab. Der besondere
Zwangsmarakter dieser zweiten Natur beruht auf ihrer Verhärtungstendenz. Daß
Gesellsmafts- und Persönlimkeitsstrukturen ihre Ursprungssituationen, denen sie ange-
messen sein mögen, überdauern, dafür sorgt besonders ihre Tradierung in der Genera-
tionenfolge, im Prozeß der Sozialisation. Durm sie werden Sozial- und Verhaltensfor-
men, die ursprünglim nur vorläufige Lösungen sim wandelnder Problem- und Kon-
fliktlagen darstellten, unter maßgeblimer Beteiligung ihrer Nutznießer zu absolut ge-
remtfertigten Ordnungen und Tugenden umstilisiert und damit tendenziell der Verfü-
gung der Majorität entzogen. Beruht die Mamt der bestehenden Verhältnisse wesent-
lim auf dem Vergessen ihrer Genese, dann könnte deren Reflexion dem Fortsmritt zu
einer Gesellsmaft von Freien und Gleimen förderlim sein. Dann allerdings müßte die
Sozialisation ihre herkömmlime Funktion radikal verändern 2 •
Das Zentrum verhärteter Herrsmaftsverhältnisse liegt im System der gesellsmaftlim
organisierten Arbeit, im Besmäftigungssystem. Wird unter beruflimer Sozialisation
jeglime Prägung von Individuen für und durm Tätigkeiten im Besmäftigungssystem
verstanden, dann erfüllt sie eine Smlüsselfunktion sowohl für die Erhaltung als aum
für die Aufhebung sozialstruktureHer Zwänge und Disparitäten. Ihr hätte kritisme
Sozialwissensmaft sim deshalb bevorzugt zuzuwenden und insbesondere die berufs-
bezogenen Lernprozesse jener Mehrheit zu untersumen, die nam den Kriterien der
Mamt, des Wissens, des Einkommens und des sozialen Ansehens benamteiligt ist, und
zu der die meisten Lehrlinge und Lehrabsolventen gehören.
Der Forsmungsstand spiegelt getreutim die herrsmenden Interessen: Sind Studien zur
beruftimen Sozialisation ohnehin rar, so wurde die der unteren Besmäftigungsgruppen
bisher geradezu sträflim vernamlässigt 3 • So fehlen nimt nur viele wimtige Informa-
tionen, auch der kategoriale Rahmen ist vorerst defizitär, zumindest kontrovers. Das
gilt gerade für jenen Begriff, mit dem mehrere Wissensmaftszweige, die bei der Unter-
sumung beruflimer Sozialisationsprozesse miteinander verknüpft werden müssen -
Arbeits-, Berufs-, Betriebs- und Organisationssoziologie einerseits, Sozialisationsfor-
smung andererseits - vielfam operieren, und der deshalb als Bindeglied zwismen den
relevanten Kategoriensystemen besonders geeignet ersmeint: für den Begriff der
»sozialen Rolle«. Können wir den Rollenbegriff für die kritisme Analyse der beruf-
timen Sozialisation benamteiligter Gruppen überhaupt gebraumen, und, wenn ja: wie
wäre er zu diesem Zwe<ke zu definieren und mit anderen Kategorien zu verbinden?
Die zweite Frage überzeugend beantworten heißt zugleim die erste klären helfen,
gleimwohl wird auf die erste zunämst gesondert eingegangen, denn dadurm läßt sim
die Zielsetzung des Artikels präzisieren (2.). Es folgt eine Explikation von sems Krite-
rien, die der Rollenbegriff erfüllen muß, wenn er in dem geforderten Sinne frumtbar
werden soll (3.). In den weiteren Absmnitten wird versumt, Möglimkeiten einer Erfül-
lung dieser Kriterien zu skizzieren (4. bis 9.).
Daß dabei im Hinblick auf die behandelten Probleme und die berücksimtigten Quellen
-ich stütze mich vorwiegend auf neuere deutsche Arbeiten - eklektisch zu verfahren ist,
ergibt sim aus dem Umfang des Themas und aus der Fülle der vorliegenden Literatur 4 •
Soziale Rolle und berufliche Sozialisation 315
Die Verwendung des Rollenbegriffs für die Analyse beruflichen Handeins und Lernens
wäre unbedenklich, ja nur zum Preise bedenklicher Realitätsverkürzung vermeidbar,
wäre die Rollenhaftigkeit eine anthropologische Konstante, das Postulat einer rollen-
losen Gesellschaft also eine sd:tlechte Utopie. Genau dies hat Helmuth Plesser vor über
einem Jahrzehnt behauptet. Auf der Grundlage seiner philosophisd:ten Kennzeichnung
menschlichen Wesens als »exzentrisd:te Positionalität« (»natürliche Künstlichkeit«,
»vermittelte Unmittelbarkeit«, »Utopischer Standort«) 5, in Anknüpfung an eine frü-
here Arbeit »Zur Anthropologie des Schauspielers« 6 und provoziert durd:t Dahren-
dorfs Gleichsetzung von sozialem Rollenspiel und Fremdbestimmung 7, stellte Plessner
der »Marxschen Lehre von der Selbstentfremdung ... den Gedanken vom Doppelgän-
gerturn des Menschen entgegen« s. Dieser Gedanke besagt zweierlei, erstens daß der
Mensch »sich nur im Umweg über andere ... als ein Jemand hat« 9 und sid:t folglid:t
allein »kraft der Verdoppelung in einer Rollenfigur« zu verwirklid:ten vermag, »mit
der er sich zu identifizieren versud:tt« 10, und zweitens, daß die erstrebte Identifizierung
niemals völlig gelingt, daß also der Mensch sid:t letztlid:t »nie einholt« 11 •
Begreifen wir Rolle vorläufig als ein Bündel von Regeln symbolisch vermittelter Inter-
aktionen, dann hat diese Konzeption viel für sid:t, nicht erst unter dem Aspekt der
Selbstverwirklichung, sondern schon unter dem der bloßen Selbsterhaltung. Wie anders
sollen wir instinktlosen Wesen dem lähmenden Zwang zu fortwährenden Entscheidun-
gen und den dissoziierenden Folgen permanenter Mißverständnisse entrinnen und
erfolgreich miteinander verhandeln und handeln als dadurd:t, daß wir uns an Rollen
halten, wie anders die Erfahrung der Unzulänglichkeit aller konkreten Regelungen
aktiv verarbeiten als dadurd:t, daß wir uns von unseren Rollen immer wieder distanzie-
ren, sie zu wechseln und zu verändern trachten? Was ist der historisd:te Prozeß der Ar-
beitsteilung, der die Struktur der Gesellschaft wesentlich bestimmt, anderes als die Aus-
differenzierung sozialer Rollen und Rollensysteme, was der biographisd:te Vorgang der
Sozialisation, der dem einzelnen seine spezifische Prägung vermittelt, anderes als seine
Verkörperung in Sequenzen von Rollenkombinationen?
der Bedingtheit des Denkens (also auch ihrer eigenen Überlegungen) durch die gesell-
schaftlichen Verhältnisse mit schwer zu entkräftenden Begründungen insistieren.
Aus alledem folgt: Wer zur Klärung von Problemen der beruflichen Emanzipation hier
und heute benachteiligter Gruppen beitragen möchte, kommt- zumindest an dem
Thema, auf das der Rollenbegriff sich bezieht, kaum vorbei- ganz gleich, mit welchem
Wort er das Gemeinte benennt. Andere Autoren mögen andere Ausdrücke gebrauchen,
künftige neue Kategorien definieren; ich will es hier mit dem Wort und Begriff »Rolle«
versuchen, freilich im Zusammenhang mit einer Reihe weiterer Kategorien, die gemein-
sam erst den analytischen Rahmen für die Untersuchung beruflicher Sozialisationsvor-
gänge und Bildungsprozesse ausmachen 14 • Denn die Fruchtbarkeit des Rollenbegriffs
beruht vor allem auf seiner Verknüpfungsfunktion, und erst in der Verknüpfung mit
anderen Begriffen gewinnt er selbst seine historische und biographische Präzision.
Verknüpfen soll der Rollenbegriff vor allem jene Dimensionen der Realität, die im
beruflichen Handeln und Lernen miteinander vermittelt werden: soziale und indivi-
duelle Strukturen und Entwicklungsprozesse- erstes Desiderat.
Wenn die geforderte Rollenanalyse zur Erhellung nicht nur von gesellschaftlichen
Strukturen, sondern auch von sozialen Veränderungsprozessen beitragen soll, dann
muß sie instrumentelles und kommunikatives Handeln (Technik und »Praxis«, »Ar-
beit« und »Interaktion«) 15 sowie die zugehörigen Qualifikationen, Motivationen und
Lernprozesse gleichermaßen und differenzierend berü<ksichtigen - zweites Desiderat.
Ist kritische Sozialwissenschaft wesentlich an solchen sozialstruktureilen Veränderun-
gen interessiert, die als Verringerung von Minderprivilegierung aufgefaßt werden kön-
nen, dann muß ihr Rollenbegriff die Stellung des einzelnen im System gesellschaftlicher
Ungleichheit, in sozialen Schichtordnungen, Herrschaftsverhältnissen und Klassen-
strukturen erkennen lassen- drittes Desiderat.
Kann der Abbau gesellschaftlicher Benachteiligung, kann die soziale und berufliche
Emanzipation allein an interpretierten Bedürfnissen gemessen werden, dann sind Ver-
änderungen von Rollenstrukturen und darauf bezogenen Handlungstypen, Sozialcha-
rakteren und Sozialisationsformen unter den Gesichtspunkten ermöglichter, verwirk-
lichter, erschwerter und verhinderter Interpretation und Befriedigung von Bedürfnissen
zu thematisieren- viertes Desiderat.
Methodisch folgt aus den vier vorgenannten Kriterien die Notwendigkeit einer spezifi-
schen Verbindung empirischer und hermeneutischer Verfahren: Es müßte versucht wer-
den, die sinnlich erfahrbare Seite relevanter Interaktionen (Handlungsfelder, Hand-
lungsabläufe, Strukturen und Sequenzen der zugehörigen symbolischen ihßerungen)
exakt abzubilden, deren offenbare und verborgene Bedeutung interpretierend aufzu-
finden, die ermittelten Bedeutungsaspekte einander gegenüberzustellen und Wider-
sprüche zwischen ihnen auf Defekte der sozialen Realität und/oder des sozialen
Bewußtseins- fünftes Desiderat.
Soziale Rolle und berufliche Sozialisation 317
Der Rollenbegriff-so lautete das erste Desiderat- soll zwischen sozialen und indivi-
duellen Strukturen und Prozessen vermitteln. Seine zweckgerechte Definition und die
Nachprüfung ihrer Brauchbarkeit setzen bestimmte Begriffe von Gesellschaft und Indi-
viduum voraus.
>>Gesellschaft<< wäre nach der bisherigen Geschichte wohl am ehesten als eine Zwangs-
assoziation von Individuen zu charakterisieren, die durch die Notwendigkeit gemein-
samer materieller Reproduktion faktisch und durch legitimierende Traditionen ideo-
logisch zusammengehalten und durch ihre inneren Widersprüche in ihrer Entwicklung
vorangetrieben wird. Die zugehörigen individuellen Persönlichkeitsstrukturen sind
demgemäß durch weitgehende Unterdrückung besonders sexueller, auch (primärer
und/oder sekundärer?) aggressiver Triebregungen aufgrund externer, vor allem aber
internalisierter sozialer Forderungen, Verheißungen und Drohungen geprägt.
Behandeln die Soziologie als kritische Theorie der Gesellschaft und die Psychologie als
kritische Theorie des Subjekts 16 insofern nur zwei Seiten derselben >>Sache<<, als Sozial-
und Persönlichkeitsstrukturen voneinander abhängen 17 , dann müssen ihre Begriffe sich
miteinander vermitteln lassen. Die Auskunft, dies gelinge durch eine Analyse der von
den Interaktionspartnern verwendeten Sprachspiele - von ihnen könne sowohl der
historische Stand der gesellschaftlichen Beherrschung äußerer Natur als auch der bio-
graphische der individuellen Beherrschung innerer Natur abgelesen werden -, befrie-
digt nur unter der Bedingung einer Einbeziehung der extraverbalen Interaktionen, ja
der gesamten Szenerie 18. Damit aber werden Sprachspiele als Momente von Rollenspie-
len aufgefaßt, wird Sprachanalyse zur Rollenanalyse erweitert.
Spiele folgen Regeln. Regeln regeln Interaktionen, indem sie Rechte und Pflichten der
Beteiligten festlegen. Die Erfüllung der Rollenpflichten durch die Rollenspieler wird
von deren Bezugspersonen und/oder Bezugsgruppen erwartet (>>Rollenerwartungen<<)
und oft belohnt, ihre Verletzung häufig bestraft. Indem die Angehörigen der Bezugs-
gruppen das Verhalten der Rollenspieler (positiv oder negativ) sanktionieren, kommen
sie ihren eigenen Pflichten nach, so wie das (pflichtgemäße) Verhalten der Rollenspieler
für deren Interaktionspartner Sanktionen impliziert. Sanktionen beziehen sich auf
318 Wolfgang Lempert
Erinnern wir uns nun an unser zweites Desiderat: Sollen Rollen selbst den Rahmen ge-
sellschaftlicher Veränderungen abgeben, dann darf das Handeln und Lernen in sozialen
Rollen nicht nur als instrumentelle Aktivität, das heißt als Optimierung des Mittelge-
brauchs und Qualifikationserwerbs in Ausrichtung auf feststehende Ziele, Zwecke und
Standards, also letztlich in der Dimension der Befriedigung oder Repression bereits
artikulierter Bedürfnisse begriffen werden; es ist auch als kommunikative Betätigung
aufzufassen, die das Erstrebenswerte immer neu definiert und sich damit auf die
Dimension der Bedürfnisartikulation resp. ihrer Verhinderung bezieht.
Nach einem weit verbreiteten Verständnis des Rollenbegriffs, dem hierzvlande beson-
ders Dahrendorf Vorschub geleistet hat, bedeuten Rollen als Rollen das und nur das,
was dem einzelnen von der GesellsdJ.aft als Verhaltensvorschrift unbeeinflußbar vorge-
geben ist. Rollenhandeln wäre demnach deren Befolgung, Rollenlernen die erforder-
liche Vorbereitung, Spontaneität nur außerhalb sozialer Rollen vorstellbar.
Der nach dem Bisherigen naheliegende Einwand, daß Spontaneität ja insofern zu
sozialen Rollen gehört, als die Bewältigung vieler Rollen die früher angeführten krea-
tiven Eigenleistungen der Rollenspieler verlangt, greift zu kurz, weil diese Eigenlei-
stungen zur Erfüllung und nimt zur Veränderung von Rollenerwartungen beitragen
sollen. Veränderungen von Rollenregeln durch rollenkonformes Verhalten werden erst
erfaßbar, wenn man zwisdJ.en Dialogrollen und Vertragsrollen resp. dialogischen und
vertraglichen Momenten sozialer Rollen unterscheidet und ihre Beziehungen zuein-
ander analysiert 25 • Dialogrollen dienen dem Austausch von Argumenten und damit der
Kommunikation, Vertragsrollen dem AustausdJ. von Leistungen, die die Mitteloptimie-
rung implizieren. Durch das kommunikative Handeln in Dialogrollen werden dem
instrumentellen in Vertragsrollen die Ziele, durch letzteres ersterem die Bedingungen
gesetzt. Selbstbestimmung der eigenen Rollen findet in dem Maße statt, in dem sich die
Inhaber aufeinander bezogener Dialog- und Vertragsrollen aus demselben Personen-
kreis rekrutieren.
Habermas hat instrumentelles Handeln audJ. »Arbeit« genannt, kommunikatives audJ.
»Interaktion«. Diese Bezeichnungen dürfen nicht dazu verleiten, konkrete Arbeitspro-
zesse prinzipiell als das aufzufassen, was die Erwerbstätigkeiten der Mehrheit bisher
faktisch weitgehend sind, als zweckrationale Operationen, deren Wert nur nadJ. Krite-
rien der Effizienz und nimt der Wünschbarkeit bemessen werden kann; vielmehr ist auf
der fraglichen Unterscheidung gerade deshalb zu insistieren, :weil beide Aspekte mensch-
lichen Handeins in einer emanzipativen Praxis zu ihrem RedJ.t kommen müssen, also
auch kommunikatives Handeln in der Arbeitssphäre 26 • Enthält schon die Teamarbeit,
bei der die Rollen der Beteiligten nicht von vornherein und auch nicht auf Dauer fest-
liegen 21, ein kommunikatives Moment, so würde dieses erst in der selbstorganisierten
Tätigkeit soweit entfaltet, wie es im BesdJ.äftigungssystem überhaupt sinnvoll
erscheint 2s. Als berufliche Sozialisation ist folglidJ. die Soziogenese nidJ.t nur des
Arbeitsvermögen im engeren Sinne tedJ.nisch-instrumenteller Qualifikationen, sondern
audJ. in dem weiteren der Fähigkeiten zu berufsrelevanten Interaktionen, nidJ.t nur
Qualifizierung, sondern audJ. Politisierung aufzufassen 29 •
320 Wolfgang Lempert
Die Rechte der Inhaber beruflicher Rollen können als legitimierte Ansprüche auf und
damit als gesicherte Verfügung über die Sanktionsmedien
- Einkommen,
-Ansehen,
- Information und
- Herrschaft
eingestuft werden 32• Die Überschneidungen zwischen den beiden Katalogen wären vor
deren kombinierter Verwendung zur empirischen Analyse der Restriktivität beruflicher
Rollen zu beseitigen. Die Feststellung von »Gesamtrestriktivitäten« beruflicher Rollen
erscheint schwierig, weil weder für die Teilrestriktivitäten der Pflichten und Rechte
noch für das Verhältnis von Pflichten zu Rechten ein einleuchtender Generalnenner
gefunden werden kann; man muß es wohl bei der Ermittlung von »Restriktivitätspro-
filen« bewenden lassen. Aber auch dieses bescheidene Verfahren dürfte ausreichen, um
zwischen privilegierten und minderprivilegierten Berufsrollen wenigstens grob zu dif-
ferenzieren, denn deren Restriktivitätsgrade variieren stark, und soweit sie starke
Differenzen in mehreren Dimensionen aufweisen, sind diese in der Regel gleichsinnig
Soziale Rolle und berufliche Sozialisation 321
Soll die Kommunikation zwischen Forschern und Erforschten, die sowohl für die Pra-
xisrelevanz der Wissenschaft als auch für die Wissenschaftsorientierung der Praxis not-
wendig wäre, als wechselseitiger emanzipativer Lernprozeß gelingen, dann müssen die
Wissenschaftler sich ihren Gesprächspartnern verständlich machen. Hierfür dürfte der
Rollenbegriff, wie er in dieser Abhandlung verwendet wurde, eher hilfreich als hinder-
lich sein: Im Unterschied zu vielen anderen soziologischen Konzepten ist er nicht nur
eine soziologische, sondern auch eine soziale Kategorie 46; und der Ausdruck »Rolle«
wird in der deutschen Umgangssprache zur Bezeichnung sozialer Phänomene nicht nur
überhaupt gebraucht, sondern so, daß er geeignet erscheint, auch als Instrument soziolo-
gischer Aufklärung und sozialer Selbstreflexion im Rahmen beruflicher und politischer
Bildungsprozesse zu fungieren. Auch minderprivilegierte Jugendliche und Erwachsene
vermögen ihr Verhalten als Rollenverhalten zu begreifen, in dem sie zugleich sie selbst
sind und fremden Vorschriften gehorchen, spontan handeln und regelhaft reagieren;
auch ihnen sind soziale Rollen nicht nur als Zwangskorsetts bekannt, sondern- weil
von Rollen auch im Kontext von Sport und Spiel gesprochen wird - auch als Elemente
von Ordnungen vertraut, die die Interaktionen freier und gleichberechtigter Indivi-
duen regeln und von den Beteiligten durch Vereinbarungen geändert werden können.
An dieses umgangssprachliche Verständnis von sozialem Handeln als Rollenspiel hätte
der Berufspädagoge anzuknüpfen. Er hätte den Berufsanwärtern und Berufstätigen die
bestimmenden Kräfte sowohl ihrer künftigen oder derzeitigen Berufsrolle als auch ihrer
bisherigen Karriere, also Kapitalverwertungsinteressen, bürokratische Herrschaft und
Soziale Rolle und berufliche Sozialisation 325
technische Entwicklung und deren Widerspruch zu den Bedürfnissen der Mehrheit sicht-
bar zu machen und ihnen handlungsorientierende Alternativmodelle gerechterer Ord-
nungen beruflicher Rollen vorzustellen.
So verwendet, erfüllte der Rollenbegriff eine Art Gelenkfunktion innerhalb jener so-
ziologisch begründeten Neukonzeption exemplarischen Lernens, die NEGT vor einigen
Jahren für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit entwickelt hat 47 • Er könnte den Ler-
nenden helfen, individuell-biographische und sozialhistorische Fakten im Lichte legiti-
mer Interessen als miteinander vermittelt zu begreifen und dieser Erkenntnis gemäß zu
handeln 48 - wenn ihnen ihre Bedürfnisse als solche und im Maße ihrer Benachteiligung
als legitime Ansprüche bewußt wären. Das trifft jedoch allenfalls teilweise zu4U: Soziale
Benachteiligung beginnt nicht erst mit der Verhinderung von Bedürfnisbefriedigung in
beruflichen Rollen, sondern bereits mit der Unterbindung von Bedürfnisartikulation in
Sozialisationsrollen; letztere wäre also zunächst nachzuholen 50.
Hierfür kommen einige gruppenpsychologische Verfahren in Betracht - nicht zuletzt
Rollenspiele, in denen die Beteiligten die Austragung typischer Familien-, Schul- und
Betriebskonflikte von Rolle zu Rolle rotierend simulieren. Im Wechsel von Spiel und
gemeinsamer Reflexion könnten versäumte Selbsterfahrungen nachgeholt, verdrängte
Motive vergegenwärtigt, erstarrte Verhaltensmuster aufgelockert und unangemessene
Identifikationen und Distanzierungen durch angemessene ersetzt werden 51 • Institutio-
nelle Erfolgsbedingung aller derartigen Veranstaltungen ist der weitgehende Verzicht
auf äußere Sanktionen, das heißt die Vorwegnahme der erstrebten gesellschaftlichen
Verhältnisse in den Bildungseinrichtungen 52• Nur in einem Milieu, in dem die Indivi-
duen relativ angstfrei miteinander kommunizieren können, vermögen sie ihre verborge-
nen Wünsche sich selbst und anderen soweit einzugestehen, daß es sinnvoll wird, nach
deren sozialer Berechtigung, den Ursachen ihrer illegitimen Unterdrückung und den
Wegen zu ihrer Erfüllung zu fragen.
Der Gefahr einer Manipulation der Lernenden kann nur durch die sorgfältige wissen-
schaftliche Kontrolle ihres Lernprozesses begegnet werden, die sich letztlich an der kom-
munikativen Erfahrung verminderten Leidens orientiert Ga, Die zentrale Frage dieser
partizipierenden und engagierten Erforschung berufsrelevanter Sozialisation und kom-
pensatorischer Politisierung wäre die: Welches sind die Bedingungen, unter denen sich
Fehlentwicklungen von Persönlichkeitsstrukturen, die auf mangelnde Anregungen und
hemmende oder sogar deformierende Einflüsse von Elternhaus, Schule und/oder Betrieb
zurü~zuführen sind, reflexiv korrigieren lassen? 54
Schlußbemerkung
Vieles Weitere wäre zu klären; insbesondere müßte das Verhältnis der Rollentheorie
zum Marxismus einerseits und zur Psychoanalyse andererseits bzw. das Verhältnis ihrer
Gegenstände zueinander noch gründlich erörtert werden. Eines aber ist wohl jetzt schon
evident: daß der Rollenbegriff für die theoretische und empirische Analyse beruflichen
Handeins und Lernens sowie in der berufspädagogischen Praxis im Interesse einer Ver-
ringerung gesellschaftlicher Rangunterschiede verwendet werden kann. Weiterhin:
326 Wolfgang Lempert
Wenn die vorgetragenen Argumente zutreffen, dann vermögen wir einer klassenlosen
Gesellschaft oder- mit einem Wort von Adorno- einer Gesellschaft »ohne Status und
Übervorteilung« 55 immerhin näherzukommen; eine rollenlose Gesellschaft dagegen er-
scheint gar nicht erstrebenswert. Denn sie bedeutete den totalen Verlust entweder der
sozialen Distanz oder aber der sozialen Orientierung - beides beklemmende Alterna-
tiven.
Anmerkungen
1 Helmuth Plessner: ,.soziale Rolle und menschliche Natur«. In: Erkenntnis und Verantwor-
tung. Festschrift für Theodor Litt. Düsseldorf 1960, S. 115.
2 Vgl. bes. M. Horkheimer und Tb. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1947.
- P. L. Berger und Tb. Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the
Sociology of Knowledge. Garden Cii:y/New York 1966.- H. Dahmer: •Wilhelm Reichs
Stellung zu Marx und Freude. In: Psyche, Bd. 26 (1972), H. 3.
3 Vgl. Kurt Lüscher: Der Prozeß der beruflichen Sozialisation. Stuttgart 1968, S. 84.- Als eine
der wenigen Ausnahmen sei hier genannt: C. Möller: Die Einfügung der ungelernten Jung-
arbeiterin in den industriellen Arbeitsprozeß. Meisenheim/Glan 1966.
4 Vgl. u. a. die Bibliographien in: B. j. Biddle und E. j. Thomas: Role Theory. Concepts and
Research. New York 1966. - j. j. Preiss und H. j. Ehrlich: An Examination of Role
Theory. The Case of the State Policy. Nebrasca/Lincoln 1966.
5 H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin 1965 2• Siebentes Kapitel.
6 In: Ders.: Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Bern 1953.
7 R. Dahrendorf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der
Kategorie der sozialen Rolle, Vierte, erweiterte Auflage. Köln und Opladen 1964.
8 H. Plessner: Soziale Rolle und menschliche Natur, a.a.O., S. 112. - Vgl. auch: Ders.: Das
Problem der öffendichkeit und die Nähe der Entfremdung. Göttingen 1960.
9 Ders.: Conditio Humana. Pfullingen 1964, S. 53.
10 Soziale Rolle und menschliche Natur, a.a.O., S. 115; vgl. auch S. 109 und 113.
11 Soziale Rolle und menschliche Natur, a.a.O., S. 112. - Das Konzept des Doppelgängers ist
bereits in Plessners früher Schrift: Grenzen der Gemeinschaft (Eine Kritik des sozialen Radi-
kalismus. Bonn 1924) angedeutet. Hier heißt es aufS. 58: »In der Definition gewinnt es (das
seelische Leben; WL) Gestalt, büßt aber an Möglichkeit ein«.
12 Vgl. bes. P. Furth: »Nachträgliche Warnung vor dem Rollenbegriff«. In: Das Argument,
Bd. 13 (1971), H. 6/7. - F. Haug: Kritik der Rollentheorie und ihrer Anwendung in der
bürgerlichen deutschen Soziologie. Frankfurt/Main 1972.
13 Siehe H. P. Dreitzel: »Soziale Rolle und politische Emanzipation. Sechs Thesen gegen Peter
Furths melancholische Kritik am Rollenbegriff«. In: Das Argument, Bd. 14 (1972), H. 1/2.-
F. Haug: Eine Rollentheorie im revolutionären Kostüm. Erwiderung auf H. P. Dreitzel,
a.a.O.
14 Vgl. W. Lempert:,. Vorüberlegungen zum theoretischen Rahmen wissenschaftlicher Analysen
beruflicher Bildungsprozesse«. In: Die deutsche Berufs- und Fachschule, Bd. 68 (1972), H. 8.
15 Vgl. j. Habermas: Technik und Wissenschaft als »Ideologie«. Frankfurt/Main 1968.
16 Vgl. K. Horn: »Psychoanalyse - Anpassungslehre oder kritische Theorie des Subjekts.
Aspekte der Genese des antipsychologischen Affektes der Marx-Epigonen«. In: Marxismus,
Psymoanalyse, SexpoL Bd. 2. Aktuelle Diskussion. Hg. H. P. Gente. Frankfurt/Main 1972.
17 Vgl. Dahmer, a.a.O., S. 238.
18 Vgl. A. Lorenzer: »Symbol, Interaktion und Praxis«. In: A. Lorenzer u. a.: Psychoanalyse
als Sozialwissenschaft, Frankfurt/Main 1971.
Soziale Rolle und berufliche Sozialisation 327
19 Bei diesen definitorischen Umschreibungen des Rollenbegriffs habe ich mich vor allem an den
Vorschlägen zweier Autoren orientiert: Dahrendorf, a.a.O., S. 26 und 31. - U. Gerhardt:
Rollenanalyse als kritische Soziologie. Ein konzeptueller Rahmen zur empirischen und
methodologischen Begründung einer Theorie der Vergesellschaftung. Neuwied und Berlin
1971, S. 226-281.- Eine Zusammenfassung der gemeinsamen Merkmale älterer Versuche zur
Definition des Rollenbegriffs geben N. Gross u. a. in ihrem Buch: Explorations in Role
Analysis. Studies of the School Superintendency Role. New York 1958, S. 17. Danach bezie-
hen sich nahezu alle Rollendefinitionen auf soziale Orte, Verhalten und Erwartungen.
20 Diese Formel stammt von N. Elias. Vgl. Chr. v. Ferber: »Zum Begriff der gesellschaftlichen
Konzentration. Kritische Bemerkungen zur soziologischen Begriffsbildung«. In: Argumenta-
tionen. Festschrift für J. König. Hg. H. Delius und G. Patzig. Göttingen 1964, S. 85.
21 Vgl. bes. C. Offe: Leistungsprinzip und industrielle Arbeit. Mechanismen der Statusvertei-
lung in Arbeitsorganisationen der industriellen »Leistungsgesellschaft«. Frankfurt/Main
1970.
22 Vgl. bes. L. Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingun-
gen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen. Stuttgart 1971.-
Ders.: »Neuere Rollenkonzepte als Erklärungsmöglichkeit für Sozialisationsprozesse<<. In:
betrifft: erziehung, Bd. 4 (1971), H. 3.
23 Vgl. Lüscher, a.a.O., S. 46/47.
24 Vgl.]. Habermas: Thesen zur Theorie der Sozialisation. Stichworte und Literatur zur Vorle-
sung im Sommersemester 1968, o. 0., o. J.
25 Von >>Dialogrollen« im hier gemeinten Sinne spricht]. Habermas in seinen »Vorbereitenden
Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz«. In: ]. Habermas und N.
Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemfor-
schung? Frankfurt/Main 1971, S. 137.- Den Terminus »Vertragsrolle« habe ich von Dr.
Claessens übernommen, seinen Gebrauch jedoch einerseits auf die Dimension instrumentellen
Handeins eingeengt und andererseits bis zu den Extremen völlig symmetrischer und total
asymmetrischer Beziehungen zwischen den Rollenpartnern erweitert. Vgl. D. Claessens:
Rolle und Macht. München 1968, S. 145 und 147.
26 Vgl. Habermas: Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, a.a.O., bes. S. 32/33 und 46/47.
27 Zum Begriff der Teamarbeit: H. Popitz u. a.: Technik und Industriearbeit. Tübingen1957,
S.66/67.
28 Vgl. G. Hillmann: Die Befreiung der Arbeit. Die Entwicklung kooperativer Selbstorgani-
sation und die Auflösung bürokratisch-hierarchischer Herrschaft. Reinbek 1970.- H. ]oas:
Zur gegenwärtigen Lage der soziologischen Rollentheorie. Berlin (Soziologisches Institut der
Freien Universität) 1971 (hektographiert), S. 39.
29 Zur Funktion und Genese relevanter sprachlicher Fertigkeiten vgl. W. Lempert: Leistungs-
prinzip und Emanzipation. Frankfurt/Main 1971, S. 199-220.
30 Furth, a.a.O., S. 521.
31 C. Oppelt u. a.: Gelernte Maschinenschlosser im industriellen Produktionsprozeß. Deter-
minanten beruflicher Autonomie an Arbeitsplätzen von Facharbeitern und technischen Ange-
stellten in der Westberliner Industrie. Berlin (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung)
1972.
32 Vgl. Gerhardt, a.a.O., S. 242-244.
33 Vgl. H. P. Dreitzel: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vor-
studien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens. Stuttgart 1968, S. 194.
34 Zu deren Dimensionierung vgl. Habermas: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der
kommunikativen Kompetenz, a.a.O., S. 136-141, bes. S. 139.
35 Vgl. ]oas, a.a.O., S. 37/38.
36 Claessens spricht in diesem Zusammenhang von »Machtrollen«, a.a.O., S. 128; vgl. auch
s. 139/140.
328 Wolfgang Lempert
37 Vgl. H. jung: »Zur Diskussion um den Inhalt des Begriffs »Arbeiterklasse« und zu Struk-
turveränderungen in der westdeutschen Arbeiterklasse«. In: Das Argument, Bd. 12 (1970),
H. 61/62.
38 Vgl. bes. C. Offe: »Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapita-
listischer Gesellsdtaftssysteme«. In: Politikwissensdtaft. Eine Einführung in ihre Probleme.
Hg. G. Kress und D. Senghaas. Frankfurt/Main 1969.
39 Vgl. Habermas, a.a.O., S. 139.
40 Vgl. Habermas, a.a.O., S. 123-136.- ]oas, a.a.O., S. 24, 29, 41 und 49/50.
41 Hierzu gehören unter anderem die Zunahme psydtischer Erkrankungen, die Rauschgiftwelle
und die wamsende Kriminalität.
42 Vgl. Dreitzel, a.a.O., S. 252-304 und 317-380.- Lorenzer, a.a.O., S. 32-55.
43 Vgl. G. Brandt u. a.: Normative Bestimmungen des Arbeiterbewußtseins, o. 0., o. J.,
(1971; hektographiertes Manuskript), S. 11-16.
44 Vgl. bes. D. R. Millerund G. E. Swanson: Inner Conflict and Defense. New York 1966.-
W. B. Miller: »Lower Class Culture as a Generating Milieu of Gang Delinquency«. In:
Journal of Social Issues, Bd. 3 (1958), H. 1.- Gerhardt, a.a.O., S. 73,86/87,90-98, 105-123,
169 und 314 ff.
45 Vgl. W. Thomssen: »Zum Verhältnis Wissenschaft, Verwaltung und t:Hfentlichkeit«. In:
Blätter für deutsche und internationale Politik, Bd. 16 (1971), H. 8.
46 Vgl. bes. Gerhardt, a.a.O., S. 39, 43, 48, 159 und 166.
47 0. Negt: Soziologische Phantasie und exemplarisdtes Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbil-
dung. Frankfurt/Main 1968.- Vgl. auch H. Dibbern: Studiengang »Wirtschaftslehre« in der
Ausbildung von Fachlehrern für den Unterrichtsbreidt »Arbeitslehre«. In: Die deutsche Be-
rufs- und FadJ.sdJ.ule, Bd. 68 (1972), H. 6, S. 463 ff.
48 Vgl. Negt, a.a.O., S. 17/18.
49 Was unter anderem am Widerstand vieler Berufsschulklassen gegen »kritischen Unterridtt<<
abgelesen werden kann.
50 Vgl. G. Neumann: Entwicklung einer didaktischen Konzeption der Arbeitslehre. Ein Beitrag
zur fachdidaktisch orientierten Curriculum-Forschung und zur Bestimmung von Zielen und
Inhalten der Berufsgrundbildung in der Sekundarstufe li. Problemanalyse im Auftrag des
Bundesinstituts für Berufsbildungsforschung. Berlin (Institut für Wirtsdtaftspädagogik an
der Freien Universität) 1971 (hektographiert; Veröffentlichung vorgesehen), S. 45.
51 Eine weitere Funktion des Rollenspiels in der Berufspädagogik wäre die experimentelle
Antizipation beruflicher und politischer Erfahrungen. - Als Standardwerk über das Rollen-
spiel in der Pädagogik sei genannt: F. R. und G. Shaftel: Role Playing für Social Values:
Decision Making in the Social Studies. Englewood Cliffs/N.]. 1967.- Zum emanzipieren-
den Rollenspiels. L. Krappmann: Lernen durch Rollenspiel. In: Kindertheater und Inter-
aktionspädagogik. Stuttgart 1972, bes. S. 52-54.- Auf praktischen Versuchen fußende Vor-
schläge zur Verwendung des Rollenspiels in der politisdten Jugendarbeit finden sich in
folgenden Publikationen: H. Kentler: Soziale Konflikte als pädagogisches Problem. Berlin
(PädagogisdJ.es Zentrum) 1970, S. 18 ff.
H. Deppe-Wolfinger: »GewerksdJ.aftlidJ.e Jugendbildung und politisdJ.es Bewußtsein<<. In: F.
Deppe: Das Bewußtsein der Arbeiter. Zur politischen Soziologie des Arbeiterbewußtseins.
Köln 1971, S. 345 ff.- U. Lüers u. a.: Selbsterfahrung und Klassenlage. München 1971, S.
169 ff. - Zu anderen gruppenpädagogisdten Verfahren: T. Brocher: Gruppendynamik und
Erwachsenenbildung. Zum Problem der Entwicklung von Konformismus oder Autonomie in
Arbeitsgruppen. Braunschweig 1967. - K. Spangenberg: Chancen der Gruppenpädagogik.
Gruppendynamische Modelle für Erziehung und Unterricht. Weinheim 1969.- H. E. Rich-
ter: »Die Gruppe« -Hoffnung auf einen anderen Weg, sidJ. selbst und andere zu befreien.
Psydtoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen. Reinbek 1972 (bes. S. 31-35).- K.
Horn: >>Politische und methodologisdte Aspekte gruppendynamisdter Verfahren<<. In: Das
Argument, Bd. 11 (1969), H. 50, bes. S. 272-280.
Soziale Rolle und berufliche Sozialisation 329
», .. Denn keine Macht ist imstande, den alten Dualismus von Körper und Geist zu
widerlegen und die alte Kerkertheorie des Körpers oder, in gemilderter Form, die Ko-
stümthese des menschlichen Leibes zu entkräften, wenn Subjekt und Mittel des Denkens
für nichtentstandene, nichthistorische vielmehr absolut vorgegebene Bezugsrahmen
unserer menschlichen Stellung in der Welt gehalten werden.« 1 Die Geschichtlichkeit
menschlicher Erfahrung, auch in der Gestalt der Wissenschaft, also in der institutionali-
sierten Form sich selbst vergewissernder Bearbeitung, erhebt Helmuth Plessner in seiner
Einleitung in die Prophyläen-Weltgeschichte zum methodischen Prinzip der Philoso-
phischen Anthropologie. Den Prüfstein dieses Prinzips bildet die wissenschaftliche Bear-
beitung der leiblichen Erfahrung. Der menschliche Körper, seine Zuständlichkeiten,
Befindlichkeiten, Krankheit und Gesundheit machen den Gegenstand einer Fortschrei-
bung des cartesianischen Dualismus in unserem Wissenschaftssystem aus. Die großen
bahnbrechenden Erfolge einer deutungsunabhängigen, naturwissenschaftlich begründe-
ten Medizin haben eine personale Auffassung der leiblichen Existenz in die vor- und
außerwissenschaftliche Erfahrung abgedrängt 2 • Psychologie und Soziologie in der
Medizin spielen eine randständige, auf einen hilfswissenschaftliehen Methodenbeitrag
beschränkte Rolle. Sie werden sich aus dieser Festschreibung nur befreien, wenn sie den
cartesianischen Dualismus überwinden, wenn es ihnen gelingt, die naturhistorischen
Kategorien der Medizin in den historisch-gesellschaftlichen Prozeß zurückzuholen. Psy-
chologie und Soziologie werden ihr wissenschaftstheoretisches Potential in die Grund-
lagendiskussion in der Medizin einbringen müssen, die gegenwärtig vornehmlich in der
Epidemiologie und Sozialmedizin und nicht zufällig um die traditionellen naturwis-
senschaftlichen Grundbegriffe geführt wird.
Die Achillesferse der Epidemiologie ist die Sicherung kausaler Beziehungen, die zwi-
schen Krankheit und ihren Ursachen bzw. zwischen der Erhaltung der Gesundheit und
ihren Bedingungen bestehen. Diesem Thema wird in der theoretischen Diskussion brei-
ter Raum gegeben. Der Hilflosigkeit entspricht eine Vielfalt an Vorstellungen. So be-
steht ein reiches Angebot zum Thema »Ursache«. Es wird z. B. unterschieden zwischen
Endursache und hinzutretenden ursächlichen Bedingungen, die näher am Ereignis lie-
gen. Der strenge Kausalnexus wird aufgelöst in das bewegliche Geflecht multifaktoriel-
ler Genese s. Die strenge Determination wird aufgeweicht in stochastische Zusammen-
hänge; hier dient die statistische Erhärtung einer Beziehung zwischen zwei Merkmalen
der Stützung einer anderweitig noch unbewiesenen Vermutung. Die mangelnde Über-
einstimmung über die Struktur kausaler Beziehungen bringt alte wissenschaftstheore-
332 Christian von Ferber
Die Epidemiologie wird- wie Kisker s zu Recht hervorgehoben hat- zu einer beherr-
schenden Methode in der Medizin unter einmaligen Bedingungen der Sozialgeschichte
der Krankheiten und ihrer Bekämpfung mit wissenschaftlich begründeten Methoden.
Der Panoramawandel der Krankheiten, vor den sich die Medizin durch die gesellschaft-
liche Entwicklung in diesem Jahrhundert gestellt sieht, hat eine einmalige Situation ge-
schaffen 9 • Hoffnungen, die zu Beginn dieses Jahrhunderts auf die diagnostischen und
therapeutischen Fortschritte der Medizin, ebenso wie auf die Steigerung des Pro-Kopf-
Einkommens gesetzt wurden, haben sich nicht erfüllt. Die Paradoxien des gesellschaft-
lichen Fortschritts haben auch in der Bilanz von Gesundheit und Krankheit die Abwen-
dung von Gefahren mit neuen, bis dahin unbekannten Gefährdungen verbunden. Die
Der epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens 333
wenden; denn hier liegt eine Quelle vieler Mißverständnisse in der Epidemiologie und
der Soziologie aus der Perspektive der Mediziner.
Die These: das Auftreten, die Verbreitung und das Erscheinungsbild von Krankheit
hängen von gesellschaftlichen Bedingungen ab, behauptet zunächst nur: die Zivilisa-
tion, die auf der Grundlage der Industrialisierung sich durchgesetzt hat und die wir
global mit Georges Friedmann 11 als milieu technique von einem vorindustriellen Zu-
stand des milieu naturel terminologisch abgrenzen, bringt ein ihr spezifisches Krank-
heitsspektrum hervor. Die Menschen im milieu technique leiden vorwiegend an den
Krankheiten, die wir zusammenfassend Zivilisationskrankheiten nennen. Aus dieser
These folgt bereits: eine Veränderung des milieu technique kann dieses Krankheitsspek-
trum beeinflussen. Unter Hinweis auf die Auswirkungen, die nach naturwissenschaft-
lich begründeter Ansicht die zivilisatorischen Veränderungen auf die Lebenserwartung
geäußert haben, stellt z. B. Manfred Pflanz fest: »Man kann ohne Übertreibung sagen,
daß die Einschränkung des Rauchens und die Rückkehr zu normaler Ernährung und
normaler körperlicher Aktivität die beiden Maßnahmen der primären Prävention sind,
die bei Menschen im mittleren und höheren Lebensalter die höchste gesundheitliche
Dividende bringen könnten. Im Vergleich hierzu spielen alle anderen präventiven
Maßnahmen und alle Vorsorgeuntersuchungen vermutlich eine untergeordnete Rol-
le.« 12 Wir wissen, daß die epidemiologisch erwünschten Verhaltensveränderungen nicht
auf moralischem Wege zu erreichen sind, sondern nur im Zuge gesellschaftlicher Verän-
derungen eintreten werden - vermutlich müssen wir die komplementären Bedingungen
dieser Verhaltensweisen wandeln. Unabhängig von der zu erwartenden Lösung des
Problems gilt aber, daß von den Wandlungen im milieu technique durchgreifendere
gesundheitliche Erfolge von den Epidemiologen erwartet werden, als von den im Be-
reich der Medizin gegenwärtig liegenden therapeutischen Maßnahmen (Prävention,
Vorsorgeuntersuchungen).
Und es folgt außerdem: Die Zivilisationskrankheiten entstehen nicht aus der biolo-
gischen Natur des Menschen, sondern sind die Folge seiner eigenen geschichtlich-gesell-
schaftlichen Produktion - die industrielle Vergesellschaftung ist die geschichtlich erste
von Menschen produzierte Lebensform (milieu technique). Die Normen, über die wir
die Krankheitsbilder abgrenzen, werden daher notwendigerweise auch der gesellschaft-
lichen Lebenssphäre entnommen, nicht allein einem vorgesellschaftlich bestimmbaren
biologischen Funktionsbereich. Das gilt für die Krankheiten, deren somatischer Befund
im biologischen Normbereich liegt- die funktionellen 13 oder psychovegetativen a Syn-
drome-per definitionem, das gilt für die psychosomatischen oder chronisch somatischen
Erkrankungen im Hinblick auf die sozialen Folgen der Krankheiten 15 • Denn die medi-
zinische Behandlung dieser Erkrankungen in eine »Resozialisation« einmünden zu las-
sen, wäre überflüssig, könnten wir den Krankheitsverlauf in einem vor- und außerge-
sellschaftlichen Bereich in Quarantäne nehmen.
Schon auf dieser abstrakten Ebene der Betrachtung durchstoßen wir also den Rahmen
naturgesetzlicher Determination und geraten auf das Feld normativer Bestimmungen.
Denn um die Zivilisationskrankheiten in ihrem Auftreten, in ihrer Verbreitung und in
ihrem Erscheinungsbild zu verändern, bedarf es nicht in jedem Fall eines technischen
überspielens naturgesetzlich bestimmter Verläufe, sondern wir müssen gesellschaftliche
Der epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens 335
Normen, soziale Verhältnisse wandeln. Die industrielle Zivilisation als eine zweite
Natur des Menschen, als seine übernatur, zu deuten, wie es beispielsweise von Gehlen 16
und Schelsky 17 versucht worden ist, ändert an der Sachlage wenig. Denn- um ein Bei-
spiel zu geben - wer die psychovegetative Belastung unserer Sozialverhältnisse ver-
ringern will, kann dies nicht mit Valium, Librium oder anderen Psychodepressiva errei-
chen, sondern muß gesellschaftliche Normen, soziale Verhältnisse ändern.
Was folgt aus dieser These für die epidemiologische Modellbildung? Welche Konse-
quenzen ergeben sich für den Begriff der Ursache, wenn gesellschaftliche Normen und
von ihnen abgeleitete Verhältnisse als Bedingungen belastet werden?
Potentials an Apparaturen und manpower vor. Eine Entscheidung sollte aber doch
wohl unter dem Gesichtspunkt getroffen werden, aus welchem Erklärungsmodellleiten
sich voraussichttim die erfolgreichsten therapeutischen Strategien ab. Bei einer Beurtei-
lung der therapeutischen Konsequenzen können wir wissenschaftstheoretische Konflikte
allerdings kaum vermeiden. Denn ob ich das Rauchen in seinen unerwünschten Folgen
technisch umgehen will, indem ich seine Wirkungen neutralisiere (die karzinogenfreie
Zigarette auf den Markt bringe oder die Lunge biochemisch reinige oder schütze), oder
ob ich das Rauchbedürfnis zu substituieren versuche, oder ob ich den Rauchzwang
sozialer Verhältnisse (den Sozialzwang des Rauchens) aufzuheben trachte, ist nicht
allein eine Frage an einen Forschungscomputer, der die Forschungspläne von Biochemi-
kern, Psychologen und Soziologen mit ihren Erfolgswahrscheinlichkeiten gewichtet und
vergleicht, sondern wirft eine gesellschaftspolitische Frage auf. Welches der möglichen
Forschungsergebnisse bzw. welche therapeutischen Strategien halten wir unter den ge-
schichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen wir leben, für die angemessene-
ren? Welche stellen für die Qualität dieses Lebens insgesamt die günstigeren Vorausset-
zungen? Denn wir dürfen nicht übersehen, daß jedes Forschungsergebnis, das Nerven-
punkte der Zivilisation betrifft, nicht nur in sich selbst beurteilt wird, sondern paradig-
matische Bedeutung gewinnt 19 • Das lehrt die Geschichte unserer wissenschaftlichen
Zivilisation nur zu deutlich.
3. Für die Kausalbeziehungen, die die Epidemiologie erforschen will, ergibt sich eine
voluntaristische Einbettung in den Forschungsentwurf. Denn mit der Festlegung des
epidemiologischen Modells erfolgt zugleich eine Entscheidung über die als wesentlim
vermuteten Ursachen. Die Entscheidung zwischen diesen verschiedenen Modellen führt
-und darin liegt eine wichtige Modifizierung unserer Vorstellungen über Kausalität-
eine Strukturierung der Kausalbeziehungen herbei. Der Entscheidungsakt des Forschers
bzw. die Absichten des Forschungsprogramms legen die Beziehungen zwischen Ursachen
und Wirkungen fest. Sie konstituieren ein Kausalverhältnis.
Die Fixierung einer Kausalbeziehung durch das Forschungsprogramm stellt insofern
wissenschaftstheoretisch kein Novum dar, als auch die systemisolierende Methode der
experimentellen Naturwissenschaften auf dem Prinzip beruht, Wirkungszusammen-
hänge aus dem Realzusammenhang nach Maßgabe theoretischer Modelle - also
voluntaristisch- herauszuschneiden. Die Zufälligkeit, die dem Programm der Natur-
wissenschaften im Hinblick auf die Wirklichkeit eigen ist, gehört heute zum Allgemein-
platz wissenschaftstheoretischer Überlegungen. Jedoch verbinden wir herkömmlicher-
weise mit der Methode der experimentellen Naturwissenschaften die Vorstellung einer
Entsprechung zwischen Naturgesetz und einer unabhängig davon gedachten
Determination der realen Welt. Wir machen für gewöhnlich keinen Unterschied zwi-
schen dem determinierten Ablauf des uns umgebenden Realgeschehens und unseren
naturwissenschaftlichen Vorstellungen von diesem Geschehen. Die Epidemiologie stößt
an die Grenze dieser naiven Vorentscheidung. Denn für sie existiert nicht allein das
Problem, für wissenschaftliche Theorien eine Bestätigung im Realgeschehen zu ent-
decken, sondern für Realzusammenhänge Theorien zu finden, auf deren Grundlage
eine bestimmte medizinische Therapie, die Prävention, erfolgreich sein kann. Sie muß
Der epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens 337
Versuchen wir an dieser Stelle eine Zwischenbilanz zu ziehen. Wir haben zunächst gese-
hen, daß die Epidemiologie ihre gegenwärtige Bedeutung an einer sozialgeschichtlichen
Wende im Krankheitsgeschehen und einer daraus folgenden Aufgabenstellung der
Medizin gewinnt. Die ökonomische und gesellschaftliche Grundlage, die das Auftreten,
die Verbreitung und das Erscheinungsbild der Krankheiten im milieu technique prägt,
erweitert den Bezugsrahmen ätiologischer Vorstellungen und therapeutischer Aufgaben
und führt zur Einbeziehung ökonomischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge. Das
Angebot an Erklärungen für diese kausalen Beziehungen, die zwischen dem milieu tech-
nique und den Zivilisationskrankheiten bestehen, verteilt sich auf das Spektrum mehre-
rer Wissenschaftsdomänen: Naturwissenschaften, Ökonomie, Psychologie und Soziolo-
gie. Jedes dieser Angebote verspricht eine Erklärung der kausalen Beziehungen im Rah-
men wissenschaftlicher Modellbildung, also immer unter der Einschränkung, daß sich
die globale Realdetermination z. B. milieu technique -+ Rauchen -+ Bronchialkarzinom
als ein »biochemisches« oder als ein »ökonomisches« oder als ein »psychologisches« oder
als ein »soziologisches« Problem zureichend definieren lasse. In dieser Hinsicht sind die
Angebote einander gleichwertig, gleichrangig. Wir können mit wissenschaftlichen Argu-
menten nicht behaupten, nur die »biochemische« oder nur die »soziologische« Problem-
stellung sei die einzig vertretbare. Die Entscheidung unter den Erklärungsmodellen
muß unter praktischen, gesundheitspolitischen Gesichtspunkten gefällt werden. Welches
der Modelle bietet die größte Chance einer erfolgreichen Umsetzung in die Realität?
Welches Modell ist also am geeignetsten, die globale Realdetermination milieu
technique -+ Rauchen -+ Bronchialkarzinom zu durchbrechen? Und ferner: Welches
Modell verspricht paradigmatische Bedeutung für eine generelle Lösung des Problems
der Zivilisationskrankheiten? Denn gesucht wird ja nicht eine Lösung für das Bron-
chialkarzinom oder für die psychosomatischen Erkrankungen je für sich, sondern ge-
sucht wird eine allgemeine wissenschaftlich begründete Strategie gegen die Krank-
heiten, deren Auftreten, Verbreitung und Erscheinungsbild durch das milieu technique
determiniert sind.
Wir haben bei unseren bisherigen Überlegungen die Probleme, die das Sozialverhalten
und die gesellschaftlichen Verhältnisse der Epidemiologie aufgehen, im Zusammenhang
wissenschaftstheoretischer Überlegungen erörtert. Der normative Aspekt des Sozialver-
338 Christian von Ferber
haltens zeigte sich dabei in zweierlei Hinsicht. Die Hoffnung, über einen Wandel des
Sozialverhaltens oder sozialer Verhältnisse Zivilisationskrankheiten beeinflussen zu
können, setzt als Eingriffschance voraus, daß soziale Normen, daß die Wert- und
Steuerungskriterien des Sozialverhaltens anders gesetzt werden können. Wer seine
Hoffnungen auf die geplante Veränderung sozialer Verhältnisse setzt, rechnet mit dem
normativen Aspekt des Verhaltens. Zum andern zeigte sich dieser Aspekt in der Ent-
scheidung zwischen alternativen Erklärungsmodellen. Wenn diese Entscheidung keine
wissenschaftliche Entscheidung zwischen möglichen Hypothesen, sondern - wie wir es
hier vertreten - eine Entscheidung nach gesundheitspolitisd1en Erfolgskriterien ist,
nämlich bei welchem Erklärungsmodell die größere Wahrscheinlichkeit für die
erwünschte Veränderung des Sozialverhaltens besteht, dann stellen wir den normativen
Aspekt des Sozialverhaltens auch wissenschaftstheoretisch in Rechnung. Denn wir set-
zen dann - ausgehend von der Umsetzung der Forschungsergebnisse - einen hypothe-
tischen Kausalzusammenhang als die wesentliche Kasualbeziehung und erhoffen die
Bestätigung für die Richtigkeit dieser Entscheidung aus der erwarteten Umsetzung der
Forschungsergebnisse.
Welche Struktur des Sozialverhaltens und der gesellschaftlichen Verhältnisse, mit denen
die Epidemiologie der Zivilisationskrankheiten rechnen muß, geht dabei in unsere
Überlegungen ein? Wie haben wir uns den Zugriff auf die geplante Veränderung sozia-
ler Normen vorzustellen, von der wir die Entscheidung über die Erklärungsmodelle
abhängig machen wollen? Der Beantwortung dieser Fragen müssen wir uns jetzt zu-
wenden.
Die Verhaltensweisen, mit denen eine Epidemiologie der Zivilisationskrankheiten kon-
frontiert wird, zeichnen sich durch zwei Eigentümlichkeiten aus: sie sind leibnah, und
sie waren im Industrialisierungsprozeß durchgreifenden Veränderungen ausgesetzt. Als
leibnah wollen wir die Verhaltensweisen bezeichnen, die unmittelbar die leibliche
Reproduktion beeinflussen, wie sich ernähren, sich erholen, arbeiten. Diese elementaren
Verhaltensweisen sind soziokulturell variabel angelegt, wir treffen zu verschiedenen
geschichtlichen Epochen und in verschiedenen Kulturräumen auf unterschiedliche Aus-
prägungen, auf Verhaltensstile, die sehr verschieden gesellschaftlich und kulturell
motiviert werden. Ungeachtet ihrer Leibnähe gehören diese Verhaltensweisen zum
Bereich der soziokulturellen Plastizität des Menschen. Obwohl diese Verhaltens-
weisen die leibliche Reproduktion des Menschen unmittelbar beeinflussen, also den
Vitalwert der biologischen Selbsterhaltung betreffen, sind sie variabler kultureller
Gestaltung fähig. Ihre sozio-kulturelle Ausprägung kann durchaus in Konkurrenz, ja
in Konflikt zu den Forderungen treten, die sich aus dem Vitalwert biologischer Selbst-
erhaltung herleiten. Bis in unsere Zeit, also bis in die Epoche einer wissenschaftlich
angeleiteten Zivilisation, bildete die einzige Quelle für eine Realitätsprüfung der sozio-
kulturellen Normierung die Alltagserfahrung. Ob und inwieweit ein Ernährungs- oder
Erholungsregime die biologische Selbsterhaltung förderte oder beeinträchtigte, welche
Wirkungen die Arbeit auf die leibliche Reproduktion der Menschen ausübte, war der
naiven Alltagsbeobachtung bzw. religiösen Deutungen anheim gegeben. Erst die
wissenschaftliche Beschäftigung mit der Arbeit, mit der Ernährung und mit der Erho-
lung hat diese Urteilsgrundlage erweitert und Kriterien für eine Beurteilung soziokul-
Der epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens 339
1. Die Handlungsketten haben sich verlängert 21 • Zwischen Erzeugung und Verzehr hat
sich die arbeitsteilige Organisation der erwerbsorientierten Verkehrswirtschaft ein-
geschoben. Die Ernährungsgewohnheiten wurden aus überkommenen Verhaltensse-
quenzen, sie wurden aus der Selbstversorgung der Haushalte bzw. dem jahreszeitlichen
Angebot an Nahrungsmitteln herausgelöst 22 • Sie wurden aus der Verbindung mit dem
Arbeitsrhythmus, mit der jahreszeitlichen Festtagsfolge, mit dem religiösen Verhaltens-
kodex entlassen, schrittweise ausgegliedert und freigesetzt. Selbst die Einkommens- und
Preisregulierung hat mit der Realeinkommenssteigerung stark an Bedeutung einge-
büßt 23 • Das Verhalten hat sich geöffnet für einen weiten Spielraum alternativer Stili-
sierung. Es können bei dem erreichten Zustand sehr verschiedenartige Ernährungsstile
verwirklicht werden. Nicht der Mangel an Alternativen, sondern die Wahl zwischen
einer Vielzahl an Ernährungsstilen macht die Ernährungsweise problematisch. Nicht
der Ausgleich eines technischen oder ökonomischen Defizits wirft die epidemiologisch
bedeutsamen Fragen auf, sondern die mangelnde Transparenz gegebener Ernährungs-
stile und ihre Bewertung im Lichte der Erhaltung und Förderung der Gesundheit. Wir
sind also nicht mit einem faktischen, durch den Zwang der Versorgungslage determi-
nierten Ernährungsverhalten konfrontiert, sondern mit seinem normativen Aspekt. Das
Wahlverhalten in einer aus den naturwüchsigen Zwängen der Versorgung entlassenen
Gesellschaft stellt uns die Fragen nach den prognostischen Kriterien, die eine Bewertung
von Ernährungsstilen ermöglichen.
Eine Analyse der Arbeit unter den Bedingungen hochindustrialisierter Gesellschaften
340 Christian von Ferber
führt zu dem gleichen Ergebnis. Die Sicherung der materiellen Existenz, die durch die
tägliche Arbeit erreicht wird, geht den komplizierten Weg der Einkommenssicherung:
Geldeinkommen, das in abgestufter Weise zur Verfügung steht. Die Veränderungen des
Geldwertes bestimmen die jeweilige Versorgungslage. Das Nettoeinkommen gestattet
die Befriedigung der wiederkehrenden Bedürfnisse. Die Sozialabgaben dienen der pau-
schalen Abdedtung der Bedürfnisse, die aus der gewählten Organisationsform der
Arbeit erwachsen: Ablösung der Haushalte der arbeitenden Bevölkerung vom Produk-
tionsmittelvermögen. Die Vermögenslosigkeit der Arbeitenden zwingt zur Befriedi-
gung ihrer Bedürfnisse aus Sozialhaushalten für den Fall der Arbeitslosigkeit infolge
Mangel der Beschäftigungsangelegenheit, für Krankheit, Unfall, Alter und - für
die unterhaltsberechtigten Angehörigen - Tod. Die Steuern dienen u. a. der Erhal-
tung und dem Ausbau der Infrastruktur, die in der modernen Form eines Naturalein-
kommens die spezifischen Bedürfnisse befriedigt, die sich einer privatwirtschaftliehen
Organisierung entziehen: Dienst- und Nutzleistungen im Bereich von Bildung, Gesund-
heit, Erholung, Kommunikation, räumliche Mobilität. Vermittelt und gespalten durch
die gesellschaftliche Organisation präsentiert sich das Ergebnis der Arbeit: die mate-
rielle Existenzsicherung, die den Mitgliedern der erwerbstätigen Bevölkerung als
Gegenwert in Gestalt des Nettoeinkommens, der Sozialabgaben und Steuern zuteil
wird.
Entsprechendes gilt für die Arbeits- und Berufseignung, die zur Aufnahme in die er-
werbstätige und einkommenerzielende Bevölkerung führt. Schulische und berufliche
Sozialisationsprozesse sind der Berufsarbeit vorgeschaltet; Fort- und Weiterbildung,
Arbeitsplatzwechsel und Umschulung, die den Erfahrungshintergrund der Alltagsarbeit
verändern, begleiten die Berufsausübung, die mit dem ökonomischen und technischen
Wandel risikoreicher geworden ist. Die Qualitäten, die den gesellschaftlichen
Individuen die Teilnahme am arbeitsteiligen Produktionsprozeß garantieren - wir
wollen sie in Anknüpfung an Max Weber Arbeits- und Berufseignung nennen 24 -
werden über zeitlich ausgedehnte gesellschaftliche Prozesse erworben sowie gegenüber
Umweltänderungen erhalten und durchgesetzt. Sie können als Eigenschaften von Per-
sonen nur über die ständige Auseinandersetzung mit der Umwelt, also prozeßhaft,
stabilisiert werden. Arbeits- und Berufseignung stellen umweltbezogene und gesell-
schaftlich abhängige persönliche Eigenschaften dar, da sie die Mitgliedschaftsvorausset-
zungen für eine einkommen- und sozialstatusvermittelnde Teilhabe am gesellschaft-
lichen Produktionsprozeß enthalten. Der Doppelaspekt, Eigenschaft von Personen und
zugleich Mitgliedsmaftsbedingungen der arbeitsteiligen Sozialorganisation zu sein,
macht sie mehr oder weniger planvoller gesellschaftlicher Gestaltung fähig und
erzwingt bei den Individuen eine mehr oder weniger systematische Anpassung, nämlich
Lernen.
In diesem Doppelverhältnis: variabler gesellschaftlicher Gestaltung und als Lernprozeß
angelegter individueller Aneignung, kommt die Struktur sich verlängernder Hand-
lungsketten in der menschlichen Arbeit zum Vorschein. Die geläufige Interpretation
stellt die Veränderungen der menschlichen Arbeit im Zuge des Industrialisierungs-
prozesses als ein Auseinanderrücken von Arbeitsaufwand und Arbeitsertrag dar,
das die arbeitsteilige Tauschwirtschaft hervorbringt. Dabei wird der Wandel der
Der epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens 341
befriedigen, ja, spezifische Bedürfnisse freisetzen würde. Aber eine solche Erfahrung
könnte an dem geschilderten historischen Ergebnis nicht vorübergehen, daß ein nach
sozial-liberalen Grundsätzen, also auf Wirtschafts- und Rechtswissenschaften vornehm-
lich abgestütztes System Sozialer Sicherheit 31 zu einer ähnlichen Entwicklung bereits
geführt hat.
Wir stoßen mit dieser Überlegung auf ein dialektisches Verhältnis der Denksysteme, die
zur Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit verwendet werden. Die grundlegenden
Prinzipien der Wissenschaften stehen ihrerseits nicht in einem harmonischen System-
zusammenhang, sondern enthalten unausgetragene Widersprüche. Letztere verwandeln
sich in soziale Konflikte, wenn Wissenschaften soziale Geltung erlangen, wenn ihre
Grundsätze zu konstitutiven Prinzipien gesellschaftlicher Institutionen werden. Daher
ist es zwingend, die institutionelle Vermittlung einerseits auf ihre soziogenetischen Be-
dingungen (soziale Bewegungen, Denksysteme), andererseits auf die Verlängerung der
Handlungsketten individuellen Handeins zurückbeziehen. Erst aus dieser doppelten
Perspektive ergibt sich die Möglichkeit, ihre anscheinende Wandlungsunfähigkeit und
ihre scheinbare Systemnotwendigkeit kritisch zu überwinden. Oder anders gewendet:
die institutionellen Vermittlungen, auf die die Zweckverfolgung der Individuen im
milieu technique angewiesen ist, über die der einzelne seine Daseinszwecke realisieren
kann, lassen sich ihrerseits nicht aus einer höheren gesellschaftlichen oder menschlichen
Vernunft begründen. Sie wirken so vernünftig oder unvernünftig, wie die bei ihrer
Entstehung beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen unter den seitdem gewandelten
Verhältnissen wirken können. Daher ist es für jede Analyse zwingend, die institutio-
nellen Vermittlungen individuellen gesellschaftlichen Handeins als historische Elemente
der Sozialstruktur in die soziologische Bearbeitung einzubeziehen, d. h. im einzelnen
ihre Soziogenese nachzuvollziehen, ihre strukturleitenden wissenschaftlichen Prinzi-
pien offenzulegen, die latenten Gegenprinz:pien zu ermitteln, um aus ihnen die freige-
setzten Bedürfnisse manifest zu machen. In diesem Sinne betrachtet, erscheint uns eine
dialektische Methode die einzig adäquate Vorgehensweise.
Was folgt nun aber aus der dargelegten Struktur der elementaren Verhaltensweisen,
aus der Verlängerung der Handlungsketten und aus der institutionellen Vermittlung
individuellen Sozialen Handeins für die Theorie der Epidemiologie? Welche Konse-
quenzen ergeben sich für die erkenntnisleitende Absicht, Zusammenhänge aufzudecken,
die eine erfolgreiche Prävention gestatten?
Anmerkungen
1 Helmuth Plessner, Conditio Humana, Einleitung in die Propyläen Weltgeschichte, Bd. I,
Berlin 1961, S. 47.
2 Fritz Hartmann, Krankheitsgeschichte und Krankengeschichte. Naturhistorische und perso-
nale Krankheitsauffassung. In: Marburger Sitzungsberichte. Bd. 87 (1966) Heft 2, S. 17-32.
3 Hans J. Bochnik, Multifaktorielle statistische Analysen, Verbundforschung und Klinikor-
ganisation. In: Der Nervenarzt, 34. Jg. 1963, S. 430-437.
ders. und H. Legewe, Multifaktorielle Klinische Forschung. Stuttgart (Enke) 1964.
4 Hans Schaefer und Maria Blohmke, Sozialmedizin. Stuttgart (Georg Thieme-Verlag) 1972,
s. 107.
5 ebda S. 107/108.
Der epidemiologische Doppelaspekt des Sozialverhaltens 345
26 Hans Achinger, Soziologie und Sozialreform. In: Soziologie und moderne Gesellschaft, Ver-
handlungen des 14. Deutschen Soziologentages, Stuttgart (Enke) 1959, S. 39 ff.
27 Walter Bogs, Hans Achinger, Helmut Meinhold, Ludwig Neundorfer, Wilfried Schreiber:
Sozialenquete, Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Bericht der Sozial-
enquete-Kommission. Stuttgart o. J. (1966).
28 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, Bd. 53, 1937.
ders. Urmensch und Spätkultur, Frankfurt/Main (Athenäum) 1964 2•
29 Helmut Schelsky, über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. In: Jahr-
buch für Sozialwissenschaft, Bd. III, 1952.
ders. Systemfunktionaler, anthropologischer und person-funktionaler Ansatz der Rechts-
soziologie. In: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 11970, S. 39-89.
30 K. P. Kisker, Psychiatrie ohne Bett. über eine zweijährige paliklinische Arbeit der Heidel-
berger Klinik. In: Der Nervenarzt, 38. Jg., Heft 1, 1967.
31 C. v. Ferber, Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Harnburg 1967.
32 Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1972, Zfr. 346, Deutscher Bundestag 6. Wahl-
periode, Drudisache VI/3080.
33 Betriebsverfassungsgesetz von 1972, § 87 Abs. 1. Zfr. 7.
34 Anm.18.
Zur didaktischen Dimension der Medizin
Wolfgang Schulenberg (Oldenburg)
»Es ist also nicht weit her mit der menschlichen Natürlidtkeit oder, genauer gesagt, zu
weit her, um ihr mit biologischen Begriffen gerecht zu werden. Menschliche Natürlich-
keit ist künstlich, eine überkommene, gelehrte und gelernte, sorgsam gehütete, unter
Umständen zäh verteidigte ... « 1
Auf der künstlidten Natürlichkeit des Mensdten gründet die Medizin. Wie steht es mit
der Frage, ob sie ihrem Grunde nodt gerecht wird? - Da die folgenden Bemerkungen
zur didaktischen Dimension der Medizin sich nicht primär an Erziehungswissenschaftler
wenden, erscheint es notwendig, ihnen zunächst einige Erläuterungen zum Begriff der
Didaktik voranzuschicken. Für unsere Zwecke läßt sich vereinfacht sagen, daß Didak-
tik die wissensdtaftliche Erforschung und Besdtreibung von Lehr- und Lernprozessen
und die Anwendung der Resultate unter den folgenden drei Fragen umfaßt: Warum
lehren und lernen wir etwas? Was lehren und lernen wir? Wie lehren und lernen wir?
Oder anders ausgedrückt befaßt sidt die Didaktik mit der Analyse und Bestimmung der
Ziele, der Inhalte und der Methoden von Lehr- und Lernprozessen.
In der älteren pädagogisdten Diskussion herrsdtte eine Neigung, die Didaktik auf das
Arbeitsfeld zu beschränken, das durdt die mittlere Frage nadt der Auswahl der Inhalte
beschrieben ist. Die Frage nach der richtigen Methode hielt man ohnehin für unterge-
ordnet, weil sie von der Wahl der Inhalte abhängig sei. Vor allem aber blieb die Frage
nach den Zielen der Lehr- und Lernprozesse ausgeklammert. Man ging davon aus, daß
die Ziele- etwa des Schulunterrichts- durch kulturelle Traditionen oder politische Ent-
scheidungen vorgegeben seien, die allesamt nicht in den Dispositionsbereich der Didak-
tik fielen. Die Didaktik hatte danach nur für vorgegebene Ziele die geeigneten Inhalte
als Lehrstoffe auszuwählen, aus denen sich dann wiederum die günstigsten Lehr- und
Lernmethoden ableiten ließen. So galt es zum Beispiel seit jeher als selbstverständlich,
daß in unseren Schulen Musikunterricht stattfinde. Wenn dieses Fach seit dem Mittel-
alter eine bis vor kurzem unangefodttene Stellung in den Lehrplänen einnahm, so gab
es dafür gute Gründe, aber sicher ist, daß sidt audt für andere Samgebiete wie etwa für
Psychologie oder Ökonomie ebenso viele gute Gründe finden ließen und auch früher
hätten finden lassen. Und in dem traditionellen Biologieunterridtt nimmt die Botanik
bis hin zur ausführlidten Behandlung der Gräser, Algen und Fledtten einen größeren
Raum ein als die Behandlung des Mensdten, obgleich dieser Gegenstand evident am
nächsten liegen sollte. Hinter diesen Vorentsdteidungen werden kulturelle, gesellsdtaft-
liche und nicht zuletzt politisdte Zusammenhänge deutlidt, auf die wir an dieser Stelle
348 Wolfgang Schulenberg
nicht eingehen können 2 • Es mag aber einsichtig geworden sein, warum die neuere
didaktische Diskussion sich gerade mit Entschiedenheit um die Fragen nach Herkunft
und Sinn dieser übergeordneten Vorentscheidungen und um ihre Revision bemüht. Die
folgenden Überlegungen stehen in Beziehung zu dieser Diskussion, in der es im Grunde
um das Problem der Vermittlung in einer wissenschaftsorientierten Kultur unter demo-
kratischem Anspruch geht 3• Nicht minder aber stellen die folgenden Ansätze einen
Versuch dar, die heutige Funktion der Medizin von außen her mitzubestimmen; solche
Versuche erweisen sich immer mehr als wahrhaft lebenswichtige Unterfangen 4 •
Mit Didaktik der Medizin ist hier freilich nicht die Hochschul-Didaktik gemeint. Die
Beobachtung, daß im Bereich der Medizin der Begriff Didaktik ausschließlich für den
Hochschulunterricht, für Hochschullehre und Hochschulstudium reserviert scheint, ist
der Sache nach schon bezeichnend. Im folgenden stehen jedoch Lehren und Lernen im
Bereich der Medizin für Nichtmediziner oder konkret für den allgemeinen Schulunter-
richt und für die allgemeine Erwachsenenbildung zur Diskussion.
Spätestens an dieser Stelle wird manchem Leser (besonders unter den Medizinern) der
Gedanke kommen, es gehe also um Fragen der sogenannten Gesundheitserziehung.
Aber gerade dagegen läßt sich jetzt unsere These beschreiben: Die gegenwärtig prakti-
zierte Gesundheitserziehung fußt nicht auf einer Didaktik der Medizin, weil es diese
noch nicht gibt. Es ist vielmehr dringend nötig, endlich zu einer entfalteten Didaktik
der Medizin zu kommen, beziehungsweise das, was sich heute noch gelegentlich Didak-
tik der Gesundheitserziehung nennt, durch eine genuine Didaktik der Medizin zu erset-
zen. Das Ziel ist eine medizinische Grundbildung als Teil einer humanen Allgemeinbil-
dung.
Wenn es auf den ersten Blick auch so scheinen mag, als ob die derzeitige Gesundheits-
erziehung, wie sie von öffentlichen und privaten Institutionen durch Verbreitung von
Broschüren, durch Werbung in den Massenmedien, durch Veranstaltung von Gesund-
heitswochen, durch Vorträge und auch im Schulunterricht wahrgenommen wird, die
didaktische Dimension der Medizin doch bereits repräsentiere, so läßt sich bei genaue-
rem Zusehen feststellen, daß die so etablierte Gesundheitserziehung tatsächlich nur eine
neben der wissenschaftlichen Medizin stehende sekundäre Agentur darstellt, die es mit
ihren Diensten überhaupt erst ermöglicht, daß die Medizin selbst ihre didaktische
Dimension so radikal verleugnen kann, wie das bis heute geschieht.
Zur Verdeutlichung mag als Gegenbeispiel eine alte Disziplin wie die Geschichtswissen-
schaft dienen, die sich ihrer didaktischen Dimension in hohem Grade bewußt war und
ist. Die bedeutendsten Historiker haben zu allen Zeiten gewußt, daß der Sinn des
geschichtswissenschaftliehen Forschens letzten Endes die allgemeine Einsicht und das
bessere Verständnis des Menschen - nicht nur des Historikers - in seine Existenz und
deren historische Wurzeln sein muß. Geschichtsbewußtsein als Teil allgemeiner Bildung
ist das Ziel der Geschichtswissenschaft, wie gut oder schlecht es auch immer erreicht wird
und wie sehr es auch immer wieder mißbraucht worden ist. Wenn der Fachhistoriker
darüber hinaus selbstverständlich seine zusätzliche wissenschaftliche Ausbildung und
Erfahrung haben muß, so hat das keineswegs dazu geführt, daß man in der Disziplin
die Produktion dieses Fachwissens allein für die eigene Zunft gerechtfertigt sah. Wenn
übrigens ein Historiker aus Patriotismus oder Opportunismus heraus einen bestimmten
Zur didaktischen Dimension der Medizin 349
Sachverhalt der Öffentlichkeit vorenthalten will, so geschieht das zumeist durch Um-
deuten, Verzerren oder Ablenken, also durch Darstellen und nicht durch Verschweigen,
- noch darin beweist sich der didaktische Grundzug der Historiographie.
Man könnte nun einwenden, diese didaktische Neigung eigne der Geschichtswissen-
schaft vor allem als einer der ausdrucksfreudigen Geisteswissenschaften, bei den Natur-
wissenschaften lägen die Dinge eben anders. Dieser Einwand sticht nicht. Unter den
Naturwissenschaften findet sich mit der Geographie ein fast noch besseres Beispiel für
eine didaktisch orientierte Disziplin. Hier läßt sich sogar die These vertreten, daß erst
bewußte didaktische Bedürfnisse die Geographie als Fach überhaupt hervorgebracht
haben und daß es didaktische Funktionen sind, die dieses Fach heute noch fast aus-
schließlich tragen.
Verglichen mit Geschichtswissenschaft und Geographie ist der Grundcharakter der
Medizin als einer ursprünglichen Geheimlehre immer noch unbestreitbar. Allein schon
die quasi-lateinische Terminologie, sprachlich inzwischen ein Greuel, erfüllt die Funk-
tion des Ausschlusses aller Zunftfremden heute noch besser als im lateinischen Mittel-
alter. Aber auch alle anderen Merkmale der Arbeit dieser Disziplin, sei es bei der
Gewinnung, sei es bei der Anwendung ihrer Erkenntnisse, sind geprägt von einer her-
metischen Grenze zwischen Medizinern und denen, die sie Krankengut nennen. Mag
auch jeder Mediziner diese Grenze gelegentlich durchbrechen, mag es auch einzelne Me-
diziner geben, die sich bemühen, diese Grenze generell zu überwinden, alle diese Ver-
suche bestätigen indirekt nur die grundsätzliche Exclusivität. Dabei liegt es auf der
Hand, daß aus Ziel und Gegenstand der Medizin sich die Bestimmung für ihre Erkennt-
nisse, Gemeinbesitz aller zu sein, nicht weniger ergibt als bei Geschichte und Geogra-
phie. Die historischen und gegenwärtigen Motive der Exclusivität der Medizin sollen
hier nicht behandelt werden, sie sind bekannt oder einsichtig. Zu fragen ist allerdings,
wie sich die Abschirmung heute noch aufrechterhalten läßt.
Aus dem Blickwinkel der kurativen Medizin wird die geheimwissenschaftliche Strategie
mit den zunächst plausibel wirkenden Hinweisen auf die Gefahr der sonst drohenden
Kurpfuscherei, der sich sonst ausbreitenden Hypochondrie und Hysterie begründet.
Allein es wäre leicht nachzuweisen, daß - wenn diese Begründungen je stichhaltig
waren- heute Kurpfuscherei und Hypochondrie gerade auf dem Boden der Unwissen-
heit durch die Verweigerung medizinischer Bildung blühen. Die Volksmedizin, der die
neuere Schulmedizin einen ungleich schärferen Kampf geliefert hat und stets noch zu
liefern bereit ist als der medizinischen Unwissenheit, hat die Partizipation des Leiden-
den am Prozeß der Oberwindung seines Leidens noch auf ihre Weise eingeschlossen.
Inzwischen beginnen auch einige moderne Mediziner differenzierter über die Wirkun-
gen solcher Heilkunden zu urteilen, die doch etwas von der »Verschränkung von Kör-
per-Sein und Körper-Haben« 5 des Menschen ahnen lassen gegenüber der kruden
Reduktion auf das instrumentelle Körperverständnis einer rein naturwissenschaftlichen
Medizin. »Unsere Gesellschaft ist in Wirklichkeit viel reicher und effektiver in der Stei-
gerung und Bewahrung der leiblichen und seelischen Kräfte aller Bürger, als ihre gegen-
wärtigen Anstrengungen auf diesem Gebiet es uns zeigen. Wir können es auch so sagen:
Die Organisation unserer Gesundheitsdienste beschneidet diese Möglichkeit. Die medi-
zinische Wissenschaft und das System ärztlicher Versorgung sind aus einsichtigen histo-
350 Wolfgang Schulenberg
rischen Gründen in einer \Yfeise organisiert, daß sie die Existenzbedürfnisse, die die Bür-
ger in diesem Lebensbereich entfalten könnten, verdrängen und beschneiden.<< 6
Die Drohung, mit der Ausbreitung medizinischer Kenntnisse unter Laien - man spricht
schnell von medizinischer Halbbildung- werde die Zahl der Fälle steigen, in denen ein-
gebildete Kranke unberechtigte Heilbehandlung in Anspruch nähmen und eingebildete
Gesunde eine nötige Heilbehandlung unterließen, verfehlt ihre Wirkung immer noch
nicht. Dabei ist dieser Einwand in einem System des Gesundheitsdienstes, das streng
dem >>Prinzip der Patientensteuerung<< 7 huldigt, fast zynisch. Wenn in unserem System
ohnehin nur der die Dienste der Medizin erfährt, der subjektiv einen Grund sieht,
von sich aus zum Arzt zu gehen, warum soll dann ausgerechnet eine bessere
medizinische Allgemeinbildung die Folgen dieses Systems verschlimmern?
Mag sich die kurative Medizin immerhin noch mit dergleichen Argumenten von ihrer
didaktischen Funktion freisprechen, so ist in der medizinischen Prophylaxe die Infor-
mation der Bevölkerung unumgänglich. Und es liegt nun durchaus in der historischen
Logik der Sache, daß eine Medizin, die einerseits - aus welchen Gründen auch immer-
an ihrem exclusiven Wissenschaftscharakter festhalten will, die aber andererseits gegen-
über den Forderungen nach Gesundheitsvorsorge ihre Informationspflicht nicht abstrei-
ten kann, auf das uralte Muster der autoritären Gebote zurückgreift: Sport ist gesund!
Tierische Fette soll man meiden! Obst vor dem Verzehr abwaschen! - Ziel ist die
direkte Verhaltenssteuerung, nicht die indirekte Einsicht, oder anders gesagt: Ziel ist
Gesundheitserziehung und nicht medizinische Bildung 8 • Hier wird die Gesundheits-
erziehung von der Medizin geschieden. Sie wird eine sekundäre Popularisierungsagen-
tur der weiterhin hermetisch zünftlerischen Medizin. Sie arbeitet mit einem verdinglich-
ten Gesundheitsbegriff, der nicht rückfragbar ist, sie kennt nicht das natürliche Krank-
sein und das künstliche Gesundbleiben. Das alles gilt selbstverständlich nicht für jeden
einzelnen Mitarbeiter der Gesundheitserziehung, unter denen sich viele verantwor-
tungsbewußte .Arzte befinden, die dem konventionellen Medizinbetrieb selbst kritisch
gegenüberstehen. Es geht hier an keiner Stelle um eine Herabsetzung der konkreten
Leistungen, die die Gesundheitserziehung in den Grenzen ihres Grundansatzes zweifel-
los erbracht hat. Zu prüfen ist allerdings, ob die Forderung nach Erarbeitung einer
genuinen Didaktik der Medizin nicht den ursprünglichen Zielen der Gesundheitserzie-
hung gerechter wird als mancherlei wohlwollender Zuspruch.
Die Gesundheitserziehung ist, solange sie als Popularisierungsagentur einer Medizin
arbeitet, die der Frage nach ihrer didaktischen Dimension auf diese Weise entgeht,
zwangsläufig einer Verdinglichung ihres Gesundheitsbegriffes ausgeliefert. Wenn man
mit einem qualifizierten Mediziner die Frage zu erörtern beginnt, ob Sport wirklich so
schlankerdings gesund sei, so wird er sofort abwehrend viele Einschränkungen vorbrin-
gen. Diese Relativierungen sind aus einer differenzierten übersieht über den kompli-
zierten Regulationscharakter der Lebensvorgänge des Menschen abgeleitet, oder mit
anderen Worten: Sie stammen aus einer profunden medizinischen Bildung. Die Ge-
sundheitserziehung jedoch, nicht selbst der Kontrolle über die von ihr verbreiteten Ge-
bote mächtig, könnte einer solchen Differenzierung nur durch Vermehrung dieser Ge-
bote nachhasten: Sport ist gesund, wenn ... , wenn ... , wenn ... Das wiederum hebt
die Wirkung solcher Gebote auf. Die Merksätze der Gesundheitserziehung müssen
Zur didaktischen Dimension der Medizin 351
Die didaktische Dimension muß der Medizin nicht als etwas Neues hinzugefügt
werden, sondern sie ist ihr von jeher immanent als die originäre Qualität aller medizi-
nischen Einsichten, in Bildung umsetzbar zu sein. Diese Qualität ist jahrhundertelang
unbewußt mißachtet oder bewußt geleugnet worden. Ihre Erforschung und Darstellung
ist eine vorrangige wissenschaftliche Aufgabe der Disziplin selbst. Die Medizin mag
einst aus der Verleugnung ihrer didaktischen Dimension Gewinn gezogen haben, heute
erwachsen ihr daraus Zweifel an ihrer wissenschaftlichen Dignität.