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Transformationen der Antike
Herausgegeben von
Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath,
Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler,
Ulrich Schmitzer
Wissenschaftlicher Beirat:
Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow,
Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt
Band 8
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Walter de Gruyter · Berlin · New York
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앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm
über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020571-8
ISSN 1864-5208
쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin
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Printed in Germany
Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen
Logo „Transformationen der Antike“: Karsten Asshauer ⫺ SEQUENZ
Satz: Rhema, Tim Doherty, Münster
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen
Inhalt
Jan Stenger: Ich schäme mich, also bin ich – Scham und
Selbstbewußtsein in der griechischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Wolfgang Braungart: »Ich suche / Mich selbst, und finde mich
nicht mehr« – Das Selbst und die Tragödie unter den Bedingungen des
Christentums (Sophokles, Kleist, Corneille, Racine, Schiller) . . . . . . . . . 239
Horst-Jürgen Gerigk: Zerrissenheit – König Ödipus grenzt sich
ab gegen das romantische Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Karin Westerwelle: Die Darstellung von Subjekt und Affekt
in Giacomo Leopardis Ultimo canto di Saffo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Bisher war in erster Linie von Begriffen und Problemen die Rede, die wir
gewohnt sind, der Philosophie zuzurechnen, und in der Tat hat diese eine reiche
Tradition in der Behandlung sowohl des Gesamtbegriffes wie zahlreicher Unter-
aspekte der Vorstellungen von einem Selbst. Dieser Tradition weiß sich auch der
vorliegende Band verpflichtet. Gleichwohl legt er einen Schwerpunkt nicht nur auf
die Untersuchung von Selbstbildern und -konzepten in der griechisch-römischen
Antike und deren Transformationen, sondern auch auf die Auseinandersetzung mit
literarischen Texten, speziell der Dichtung. Daß das Interesse an Selbst- und Sub-
jektkonzepten im Rahmen der skizzierten Problemstellungen einen Schnittpunkt
zwischen Literaturwissenschaften und Philosophie markiert, mag dabei nicht nur
als Ausgangsthese verstanden werden, die die dem Band vorausgegangene Tagung
initiiert und die Zusammenstellung der Beiträge motiviert hat; vielmehr sollen die
versammelten Beiträge, jeder für sich und in vergleichender Lektüre, diese Gemein-
samkeit dokumentieren, ohne daß die fachlichen und methodischen Unterschiede
verwischt würden.
Die Möglichkeiten gegenseitiger Anregung sind angesichts der Überschneidun-
gen in den Gegenständen keineswegs auf zusätzliche Informationen zu interessan-
ten, aber eben doch disziplinär selbständigen Bereichen beschränkt. Wenn Charles
Taylor im oben genannten Werk zum Beispiel »die im neuzeitlichen Abendland
beheimateten Empfindungen der Innerlichkeit, der Freiheit, der Individualität und
des Eingebettetseins in die Natur« als wichtige Aspekte der von ihm untersuch-
ten neuzeitlichen Identität nennt und sich folgerichtig intensiv mit literarischen
Zeugnissen und ihren Theorien auseinandersetzt 3, dürften die Überschneidungen
in zentralen Themen unmittelbar deutlich werden. Aus der Sicht der Klassischen
Philologie ist die Verbindung von Literatur und Philosophie erst recht nichts Über-
raschendes, da sich griechische wie römische Texte in ihrer Gattungszugehörigkeit,
ihrer Themenwahl und -behandlung nicht nur selbstverständlich in beiden Berei-
chen bewegen, sondern auch das Verhältnis der jeweiligen Zugänge zu Fragen des
Selbst behandeln und nach ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden suchen.
Lehrdichtung, philosophischer Dialog, Lyrik, Elegie, Erzählungen von Helden,
Biographien oder Briefliteratur sind sämtlich Textsorten, in denen die Leser antiker
Literatur auf hochkomplexe Auseinandersetzungen mit den hier interessierenden
Problemen stoßen.
Und doch finden sich erst in jüngerer Zeit vereinzelte Arbeiten, die sich diesen
kaum beachteten Fundus zunutze machen, da die Dichtung Catulls oder Ovids, die
Reden Ciceros oder das Geschichtswerk des Livius eben nicht als relevant angese-
hen werden für die Suche nach Antworten auf Fragen nach dem Selbstverständnis,
nach der Auseinandersetzung mit dem Subjekt und seiner Handlungsfähigkeit,
nach der personalen Identität und ihren Begründungen. Die Ursachen für diese
3 Taylor (1994), 7.
Einleitung IX
Ausblendung sind vielfältig und eng verknüpft mit der Entwicklung der akademi-
schen Wissensdisziplinen seit dem 18. Jahrhundert. Im Bereich der antiken Lite-
raturen hat sich das Interesse an den philosophischen Entwürfen Platons und des
Aristoteles so übermächtig durchgesetzt, daß sie vielen als mit ›der Antike‹ gleich-
zusetzen erschienen und entsprechend manche Überblicksdarstellung (nicht nur
zu Fragen des Selbst) gleich von hier aus zum einflußreichen Werk des Augustinus
in die Spätantike und weiter in die Neuzeit eilt. Solchermaßen konstruierte Linien
haben den Vorteil, griffige Aussagen zu generieren, sicher aber den Nachteil, daß
diese um den Preis der Unzuverlässigkeit erkauft sind. Die fruchtbare Arbeit der
letzten Jahrzehnte an der Literatur des Hellenismus, in dem auch die römische
Dichtung und Kunstprosa des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zu verankern
ist, hat erste Schneisen in diese monolithischen Konstruktionen geschlagen, und
Christopher Gill (2006) ist das hohe Verdienst zuzurechnen, mit einer beeindru-
ckenden Synthese zu den hellenistischen Modellen des Selbst den Forschungsstand
neu formuliert zu haben. Der Befund des Historischen Wörterbuchs der Philosophie,
demzufolge es offenbleibe, ob »in der Antike« auch schon über Aspekte des
späteren Selbstbegriffes reflektiert wurde, dürfte angesichts dieser Forschungen
also als überholt gelten4.
Im römischen Bereich ist die Ausblendung weiter Teile der antiken Literatu-
ren aus der Forschung besonders deutlich. Gerade hier macht es sich bemerk-
bar, daß die noch im 19. Jahrhundert selbstverständliche, im 20. Jahrhundert in
Deutschland von wenigen Ausnahmen abgesehen verebbte Auseinandersetzung
mit den erkenntnistheoretischen, ethischen und ästhetischen Anliegen der eige-
nen wie benachbarter Disziplinen anderen Prioritäten gewichen ist. Dies ist um
so bedauerlicher, als es gerade die Diskussion mit römischen Texten gewesen
ist, die zahlreiche der in diesem Band ebenfalls vertretenen Autoren und Werke
späterer Literaturen geprägt hat. Vielleicht darf es als symptomatisch angesehen
werden, daß es nicht ein Klassischer Philologe war, der eine lebhafte Diskussion
über die Konzepte der Selbstsorge zum Beispiel in den Schriften Senecas und des
griechischen Schriftstellers Plutarchs ausgelöst hat, sondern Michel Foucault mit
dem zweiten Band seiner Histoire de la Sexualité. Weder Gattungszugehörigkeit
noch Sprechformen geben den Ausschlag dafür, ob ein Text zu unserer Kenntnis
verfügbarer Konzepte in einer Zeit oder Kultur beiträgt; und doch hat zweifel-
los die Auffassung, in der römischen Dichtung und Kunstprosa könne aufgrund
ihrer Form kein Ertrag für die Fragen nach dem Selbst zu erwarten sein, dazu
beigetragen, daß sie nicht in den Blick der an den Selbstkonzepten interessierten
4 Schrader/Schönpflug (1995), 292 »Dennoch muß die Frage offenbleiben, ob und in welchen
Termini auch schon in der Antike über das reflektiert wurde, was dann später im Begriff
›Selbst‹ konvergiert: die personale Identität und Individualität, die Einheit des Bewußtseins,
die Subjektivität.«
X Einleitung
Disziplinen gerückt sind. Es steht zu hoffen, daß eine Arbeit wie die jüngst von
Shadi Bartsch (2006) vorgelegte und auch der vorliegende Band mehr Latinisten
für dieses Forschungsgebiet gewinnen werden.
Ein weiteres Hindernis, das der Erforschung von literarischen Selbstkonzepten
in der Klassischen Philologie entgegenstand, ist spezifischerer Natur und läßt sich
daran ablesen, daß Vertreter der neueren Philologien, die sich erfreulicherweise für
antike Texte interessieren, im deutschsprachigen Raum nur wenige Publikationen
finden werden, die ihnen Anknüpfungspunkte bieten. Hier ist die Auseinander-
setzung zum Beispiel mit den Instanzen des Autors und Lesers, der Autonomie
literarischer Erkenntnis und den epistemologischen und methodologischen Her-
ausforderungen der letzten Jahrzehnte noch sehr jung, so daß nicht nur einschlägige
Texte noch nicht auf ihre Bedeutung im Kontext der Subjektsdiskussion untersucht
worden sind, sondern auch in manchen Publikationen der Eindruck erweckt wird,
die antiken Konzepte seien vor allem von antiquarischem Interesse. Der Befund
in der angelsächsischen oder italienischen Klassischen Philologie ist bereits ganz
verschieden davon. Wer etwa die Arbeiten zur römischen Intertextualität und Poe-
tologie liest, die von Gian Biagio Conte, Alessandro Barchiesi, Stephen Hinds
oder Philip Hardie, um nur wenige zu nennen, vorgelegt worden sind, wird einen
divergenten Forschungsstand vorfinden und wohl ungläubig den Kopf schütteln,
wenn er in einer neueren Anthologie zur poetologischen Lyrik liest, diese sei, nach
wenigen Vorläufern im 18. Jahrhundert, zur ersten Blüte gelangt.
Neben den Folgen, die die Ausdifferenzierung der Disziplinen, ihre jeweils
eigene Entwicklung und die Ausblendung vor allem poetischer Texte für die Dis-
kussion über Selbst- und Subjektmodelle in antiken Literaturen haben, soll schließ-
lich ein weiterer Grund genannt werden, der das von den vorliegenden Beiträgen
skizzierte Arbeitsfeld als wichtige Ergänzung und Modifizierung derzeitiger For-
schungen anzusehen erlaubt. Denn aus der Sicht der Romanistik, Anglistik, Ger-
manistik, Slawistik und anderer Literatur- bzw. Kulturwissenschaften sind einige
Fragen aus dem Gebiet der Theorie des Subjekts, der Subjektivität, der Autono-
mie, der Erkenntnisfähigkeit, der Macht oder Ohnmacht des Individuums bereits
gestellt, ist manches Problem schon einer Lösung zugeführt, zumal in den letzten
Jahrzehnten wichtige Forschungsbeiträge entstanden sind und wesentliche Begriffe
erarbeitet wurden, die in mehreren Beiträgen dieses Bandes aufgegriffen werden.
Nun verbindet aber die Untersuchungen zu Selbst- und Subjektvorstellungen in
neuzeitlichen Literaturen mit anderen Forschungszweigen ein großes Interesse an
der Historiographie von Begriffen und Konzepten. Das jeweilige Werk oder die
jeweilige Zeit wird auf ihren Beitrag zur Entwicklung der Konzepte hin unter-
sucht, und es scheint nicht wenige Forscher zu geben, denen der Wunsch, etwas
grundsätzlich Neues auszumachen, das erst hier (und nie zuvor) gedacht worden
sei, besonders am Herzen liegt. Daran ist nichts Falsches, allein es ist ein durchaus
ehrgeiziges Unterfangen, eine Aussage mit der Zeitangabe »zum ersten Mal« inter-
Einleitung XI
Form und eine Botschaft zu zerlegen und entsprechend nur in ihrer individuellen,
konkreten Gestalt dazu in der Lage, eine über die Information hinausreichende
Aussage zu formulieren. Ein komplementäres Interesse der Literatur gilt dem
Einzelnen und Partikulären, das sie im Hinblick auf das Universale betrachten
oder aber an dessen Stelle setzen kann. Der einzelne Held oder das private Ereig-
nis sind im literarischen Text gerade nicht das, was abgerechnet werden muß,
um zur Aussage über ein Selbstverständnis zu kommen – sie sind bereits Teil
dieser Aussage. (Vielleicht darf es als Verdienst der Literatur angesehen werden,
tatsächlich die empirische Wissenschaft entdeckt zu haben, indem sie ihre Texte
als Fallstudien in einer imaginierten Welt anlegte). Diese Perspektiven und Verfah-
ren können der Philosophie nicht geheuer sein, sie sind aber als erkenntnisleitend
wie erkenntnisschaffend der Literatur eigen und müssen entsprechend mit den
ihr gemäßen Mitteln erarbeitet werden. In narrativen und lyrischen Sprechweisen
setzen sich Texte mit (auto)biographischer Identität, mit der Autonomie des Han-
delns und ihrem Verlust auseinander, ein Brief oder ein episches Gedicht kann die
Feststellung, der Mensch zeichne sich durch seine Vernunftbegabung aus, zum
Ausgangspunkt einer Konfliktszene machen, in der Affekt, Zerbrechlichkeit, Ent-
scheidungslust oder Wahnsinn (furor) zu mächtigen Gegenspielern werden. Das
politische Selbstverständnis der einflußreichen Individuen wird in der Geschichts-
erzählung oder der Biographie gegen schicksalsgeleitete oder blinde Wirkkräfte
gestellt, die Beschwörung der Ordnung des Geistes nach dem Bild des Kosmos
mit dem Aufruhr im Inneren konfrontiert. In welcher Weise die erste Person Sin-
gular in der Lyrik und Elegie, aber auch in der Geschichtsschreibung, in Rede
und Brief Autorität und Authentizität erzeugt, ist dabei ebenso relevant für eine
Analyse der Vorstellungswelten von Lesern und Verfassern wie für die Frage nach
den ästhetischen Ansprüchen, die verwirklicht oder zurückgewiesen werden.
Vor diesem Hintergrund sind die Beiträge als komplementäre Untersuchun-
gen zu dem differenzierten Feld anzusehen, das sich begrifflich und konzeptuell
unter der Frage nach dem Selbstverständnis verankern läßt. Die einheitsstiftende
Instanz ist dabei neben dem beschriebenen Bezug zu den antiken Literaturen und
Philosophien vor allem ein methodisches und wissenschaftstheoretisches Interesse
an der detaillierten Analyse von literarischen Texten, die selbst als Fallstudien zu
Aspekten des Selbstverständnisses gelesen werden können. In der thematischen
statt chronologischen Gliederung darf ein Hinweis darauf gesehen werden, daß
wir den oben skizzierten Entwicklungsmodellen mit ihren Problemen möglichst
wenig folgen wollen und in der geduldigen Lektüre des einzelnen Textes in seinen
eigenen Zusammenhängen ein wichtiges Element zukünftiger Arbeit an den Fra-
gen zum Selbstverständnis (auch der Philologien) sehen. Während die anschauliche
Metaphorik der Rede vom ›Ende des Subjekts‹ und dem ›Tod des Autors‹ zwar
zu einer ertragreichen Debatte über Fachgrenzen hinweg beigetragen, aber eben
auch eine problematische Lust an der Sensation befördert hat, gelten die Interessen
Einleitung XIII
Oktober 2008
Münster Heidelberg
Alexander Arweiler Melanie Möller
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XIV Einleitung
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Sektion 1
Poetische Selbstkonzeptionen
Die erste Sektion umfasst vier Beiträge, die sich der Verhandlung mit dem Ich
und der Nutzung der Subjektskonzeptionen als poetischer Mittel in elegischen,
lyrischen und epischen Texten widmen. Alle behandelten Texte (Catull, Horaz,
Ovid) entstammen der römischen Literatur der Zeit zwischen ca. 65 v. Chr. und
17 n. Chr.
Im Ausgang von einer systematischen Analyse des poetischen Subjektivitätsbe-
griffes weist Melanie Möller (Heidelberg) in ihrem Beitrag »Subjekt riskiert
(sich): Catull, carmen 8« die konstitutive Bedeutung der Dialektik von Selbst- und
Fremdbestimmtheit für die Gestaltung des Textes und seiner Figuren nach. Die
Spaltung zwischen Wollen und Können des Ichs, zwischen Liebhaber und Gelieb-
ter erweist sich in einer präzisen Lektüre des grammatischen und semantischen
Gefüges als sprachästhetisches Mittel, als »aktives Werkzeug«, mithilfe dessen die
Schaffung des Selbst erst anvisiert und vollzogen wird. Gerade weil sich das Subjekt
über ein anderes zu bestimmen sucht, gelingt ihm die Wendung auf sich zurück
und damit der Entwurf eines für das Selbstverständnis des Dichters gleichermaßen
fundierenden wie umgreifenden Kosmos.
An die Stelle einer biographischen Lektüre von Horaz carm. 2,9 setzt Niklas
Holzberg (München) eine gattungsbezogene Rekonstruktion des Elegikers Val-
gius Rufus, mit dessen Maske eine poetologisch skizzierte persona des Horaz in
poetologischen Dialog über die Bedingungen epischer Produktion tritt (»A Sensi-
tive, Even Weak and Feeble Disposition? C. Valgius Rufus and his Elegiac Ego«).
Eine zentrale Rolle spielt in diesen Brechungen des poetischen Selbstverständnisses
die ironisch-ambivalente Nutzung des recusatio-Motivs, mit dem sich die Dichter
vorgeblichen Aufforderungen des Herrschers Augustus entziehen, seine Taten zu
besingen. Das komplexe Spiel des Horaz mit den Elementen der elegischen Selbst-
konstruktion des Valgius, der sich vielleicht intensiv auf die Weigerung und sein
gattungsimmanentes Ich bezieht, nutzt Holzberg für eine Neubestimmung der
erhaltenen Fragmente.
Ovids Erzählung von der Vergewaltigung der Procne durch ihren Schwager
und die Rache der Schwestern entfaltet Andrew Feldherr (Princeton) in seinem
2 Sektion 1: Poetische Selbstkonzeptionen
Beitrag »Intus habes quem poscis: Theatricality and the Borders of the Self in Ovid’s
Tereus Narrative« anhand der Auseinandersetzung des Textes mit den Möglichkei-
ten des Sehens im Theater und der Frage, welche Identitäten und Rollen Publikum,
Leser und Akteure annehmen, um ihr Selbstverständnis zu konstitutieren. Das
gesamte Erzählwerk der Metamorphosen gründet auf den Möglichkeiten einer lite-
rarischen Verhandlung mit den Fragen nach dem Selbst. Die Spannung zwischen
einer theatralisch-dramatischen Struktur der Erzählung einerseits, einer theatra-
lisch nicht darstellbaren Metamorphose als Abschluß andererseits nutzt Ovid, um
die Haltbarkeit von Selbstzuschreibungen durch eine beständige Kontamination
der Identitäten der handelnden Figuren zu unterlaufen und die fixe Organisa-
tion des Selbst mithilfe von Dichotomien wie barbarisch/römisch oder männlich/
weiblich aufzulösen. Differenzen zwischen griechischem und römischem Thea-
terverständnis erlauben eine Transposition der Identitätskonstitutionen auf die
Zuschauer, und in der Überblendung der imaginären mit realen Bildern, die die
Selbstverständnisse von Figuren und Zuschauern ausmachen, entsteht ein kom-
plexes Gefüge widerstrebender Identitäts- und Rollenkonstrukte.
Alexander Arweiler untersucht in seinem Beitrag Identity, identification,
and personae in Catull. 63 and other Roman texts Möglichkeiten und Grenzen eini-
ger literarischer Begriffe von personaler Identität. Akte der Identifikation erlauben
einen gesicherten Zugang zu poetischen Identitätsmodellen, wie am Beispiel von
Catullus 63 erläutert und im Hinblick auf die spezifische Bedeutung von Vor-
bildtexten für die poetische Identität beschrieben wird. Catull und Ovid in der
Exildichtung benutzen für die Analyse verlorener Identitäten die Kulturentste-
hungslehre des Lucrez als Kontrastmodell und lassen sich als Beispiele narrativer
Identitätskonstruktion beschreiben. Da Kategorien wie Authentizität, Wahrhaf-
tigkeit und Verlässlichkeit in der literarischen Analyse von Sprecheridentitäten
(personae) eine wichtige Rolle spielen, wird deren doppelte Bedeutung als Thema
literarischer Identifikation und als heuristische Erwartung von Lesern untersucht.
Subjekt riskiert (sich)
Catull, carmen 8
Miser Catulle, desinas ineptire – der Eingangsvers eines der berühmtesten Gedichte
Catulls hat maßgeblich zu seiner Vereinnahmung durch biographistisch-empa-
thische Deutungstradition beigetragen. So konnte carmen 8 als Dokument der
Enttäuschung eines unglücklich verliebten Dichters mißverstanden werden. Doch
ist die Verzweiflung bloße Attitüde: Das Gedicht bietet nicht weniger als die poe-
tische Entfaltung eines selbstreflexiven Subjekts, das in seiner Selbstzuwendung
und Erkenntnisfähigkeit modern, in seiner von äußeren Gegebenheiten bewirkten
Emanzipations- und Handlungsunfähigkeit beinahe postmodern anmutet.
Unter welchen Bedingungen aber kann ein antikes Selbst (post)moderne Züge
tragen? Längst haben wir uns gewöhnt, dem historischen Dogma Folge zu leisten,
wonach anachronistische Applikationen von Vorstellungen und Begrifflichkeiten
auf antike Texte einem unhintergehbaren Vorbehalt unterworfen sind. Vorsicht
scheint besonders im Falle des Subjekts geboten: Trotz zahlreicher Studien, die bei
aller historisch-methodischen Zurückhaltung zu vielversprechenden Ergebnissen
gekommen sind 2, ist die Zahl derer groß, die es für unmöglich halten, »an vor-
moderne Formen des Umgangs mit sich selbst, […], anzuknüpfen« 3. Während
antike (und daran anschließende) Modelle der Selbsteinschätzung an ein Allge-
mein-Menschliches gekoppelt blieben, sei die Suche nach dem davon unabhängi-
gen Wesen des (einzelnen) Menschen zur »uneinholbaren Leitfrage der Moderne«
Die Vorstellung von einem Subjekt, das sich im Spannungsfeld von Selbstbe-
wußtsein und Abhängigkeit bewegt, liegt, so meine These, auch Catulls carmen 8
zugrunde 8 – das damit verknüpfte Autonomieproblem in philosophisch-soziolo-
gischer und dichtungstheoretischer Perspektive bestimmt sogar Form und Thema
des Gedichts. Das im Text verhandelte Selbst durchlebt Phasen, die der Entwick-
lung des modernen Subjekts seit seiner vermeintlichen Entdeckung durchaus ver-
gleichbar sind; so gerät schon der Catull aus c. 8 in ein sprachliches Dilemma, das
doch erst der Postmoderne zum Problem geworden sein soll. Wenn die »Moderne
immer schon mit ihrer eigenen Postmoderne durchsetzt« ist 9, könnte auch Catulls
Subjekt ein modernetaugliches Konglomerat sein.
Perspektiven. Selbst(zer)gliederungen
8 Die in dieser Hinsicht exzeptionelle Bedeutung von c. 8 erkennt auch Johnson (1982),
122; jedoch behandelt er das Gedicht nur als Komplement des ihm für die Subjektfrage
bedeutender erscheinenden c. 76: So bleibe in c. 8 noch implizit, was in c. 76 sichtbar
gemacht werden soll: »a disease that has devoured the personality« (ebd.). Ähnlich vorläufig
formulierte Überlegungen finden sich bei Tschiedel (1998), 268, insoweit dieser die Funktion
einer Dichtung, wie wir sie in c. 8 vor uns sehen, in der »ständige[n] Selbstvergewisserung«
des Dichters sieht. – Am weitesten in Richtung der hier vorgeschlagenen Interpretation
geht indes die Analyse Fitzgeralds (1995), 120ff., der c. 8 als Schwellensituation deutet;
dabei orientiert sich Fitzgerald an Benedetto Croces (1941), 68 Konzept einer inszenierten
»naïveté«, das dieser in Catulls Dichtung grundsätzlich am Werke sieht.
9 Geyer (1997), 11. – Einen explizit postmodernen Interpretationsansatz in bezug auf Catulls
Lyrik wählt Wray (2001), 37: »[…], I may as well here explicitly characterize my project as
an attempt to approach a premodern and preromantic Catullus by reading a postmodern
Catullus«.
10 Syndikus (1984), 111. – Als Vorbilder kat+ ‚xoq†n für innere Auseinandersetzungen gelten
die tragischen Figuren des Euripides; seit dem Hellenismus gehört das Motiv des innerlich
zerrissenen Menschen zum festen Repertoire auch der Liebesdichtung.
6 Melanie Möller
Imperative (v. 9–11 u. 19). Eine Ausnahmestellung nimmt das Liebhaber und Ver-
mittler synthetisierende nobis in v. 5 ein, das an die Stelle eines eindimensionalen tibi
oder mihi getreten ist15. Der vernunftbemühte Sprecher differenziert im Übergang
von v. 11 zu v. 12/13, dem Kernstück des Gedichts, eine dritte Person gegen die
zweite aus; obwohl diese dritte Person denselben Namen trägt, wirkt der Wechsel
objektivierend16. Man darf wohl von einer internen Fokalisierung sprechen, da
der Sprecher, insoweit er auch Erzähler ist, über den gleichen Wissensstand zu
verfügen scheint wie der Liebhaber. Während also das Du durch die dritte Person
neutralisiert wird, bleibt das Ich verschwunden: Eine erste Person Singular kommt
im ganzen Gedicht nicht vor. Die namenlose puella wird zwar angesprochen und
als Auslöserin des Konflikts vorgeführt, ist aber als Referent(in) persönlich abwe-
send17; in umgekehrter Analogie zum Liebhaber werden ihr in v. 1–11 (bzw. 9)
die dritte Person und die entsprechenden Pronomina zugewiesen, ab v. 12 bis zum
Ende aber kann sie dem direkten Zugriff auf ihr Du nicht mehr entgehen: Nun
wird sie nur noch mit der zweiten Person assoziiert. Im letzten Vers verfällt der
Sprecher auf eine abschließende Selbstanrede zurück.
Dieser Sprecher nimmt von außen Sicht auf sich selbst; die versifizierte Spal-
tung im Inneren beschreibt ein Spannungsverhältnis von Innen (Befindlichkeit des
Selbst) und Außen (gegebene Umstände). Die Möglichkeit der Erkenntnis dieser
Spannung und ihrer Zuschreibung bleibt zunächst an die Ausdifferenzierung der
Perspektiven (2. gegen 3. Person) gebunden: Beide stehen in einem korrelativen
Verhältnis, das sich in der »negative[n] Bezugnahme« der einen auf die andere Per-
spektive manifestiert 18; so nivellieren sie die Absolutheit des Ich, das im Gedicht
in logischer Konsequenz nicht genannt wird. Ellen Greene hat zwar die Perso-
nen- und Stimmenwechsel in Catulls Gedichten als Resultat einer (schmerzvollen)
c. 109 25. Die personalen Wechselspiele und die vigilante Präsenz der 3. Person in c. 8
problematisieren einen Verlust des Selbst an das ›andere‹ – die puella; wollte man die
psychoanalytisch gewendeten, an Jacques Lacan anknüpfenden Analyseergebnisse
Paul Allan Millers weiterführen 26, so könnten wir bei Catull vielleicht sogar eine
je-est-un-autre-Transformation des Subjekts fassen, insoweit das ›eigene‹ Begehren
zu einem Begehren des Begehrens des anderen wird.
Wilhelm Kroll erschien der Aufbau des 8. Gedichtes wenig komplex, da es in seiner
Stimmungsgeladenheit »kaum irgendwo poetische Mittel« verwende; Kevin New-
man vergleicht es auch wegen seiner eher schlichten (Alltags-)Sprache mit einer
»Reportage« 27. Richard Thomas beobachtet an c. 8, wie emotionale Erregung zur
Kunst, mithin Künstlichkeit gerinnt 28; die formale Transparenz steht im Dienste
der mehrdimensionalen Entfaltung des poetisch transformierten Subjekts.
Im Hinblick auf die Sprachebene erinnert c. 8 an einen dramatischen Monolog
der Neuen (attischen) Komödie 29. Der auffällig appellative Ton des Gedichts wird
durch den harten, hinkjambischen Rhythmus und das Fehlen von enjambements
gestützt 30. Schon hierin wird die Dramaturgie des Emanzipationsprozesses greif-
bar. Dessen Vermittlung gelingt auch über den zeitlich-perspektivischen Aufbau: In
den Termini der Diskursanalyse gesprochen, ist das im Gedicht geschilderte Subjekt
als Kristallisationspunkt aus vergangenen Entwicklungen, gegenwärtigen Empfin-
dungen und zukünftigen Visionen konzipiert 31; so plausibilisiert es zunächst die
25 In c. 7 wird die Zahl der von der Geliebten geforderten Küsse mit dem sprichwörtlichen
libyschen Wüstensand ad absurdum geführt, in c. 109 imaginiert der Sprecher ein aeternum
foedus (v. 6).
26 Miller (2002). Zur Separation zwischen Dichter und persona und ihrer unterschiedlichen
psychologischen Zuschreibbarkeit vgl. auch Sarkissian (1983). Weder Miller noch Sarkissian
erwägen allerdings explizit die Affinität zum Konzept des »je est un autre«.
27 Kroll (1989), 16 und Newman (1990), 158: »Everything in 8 seems like simple reportage«.
28 Thomas (1984), 316: »It is quite simply that a poem, if it is to endure, will be a work of art,
not an emotional outburst. […] We may detect emotion behind it, and we may weep when
we read it; if so, that will merely be additional testimony to the poem’s artistry«.
29 Die literarischen Vorbilder für Selbstermahnungen sind zahlreich; Anklänge an Menander
sind im einzelnen herausgearbeitet von Thomas (1984), 325ff.: Dort wird auch auf die ähnliche
Gestaltung der Selbstermahnung des Greises Demeas in der Samia hingewiesen (v. 311). –
Zu inhaltlichen Parallelen zwischen c. 8 und der Komödie vgl. o. Anm. 14.
30 Vers 2 weist in für den Hinkjambus ungewöhlicher Manier die Zäsur im 4. statt im 3. Fuß
auf; vgl. dazu Kroll (1989), 17.
31 Nach Geyer (1997), 7f.
10 Melanie Möller
35 Für Catulls 11. Gedicht hat Miller (2004) nachgewiesen, daß es mit einer imaginativen Iden-
tität im Sinne Lacans bzw. Foucaults operiert (429f.): Catull hängt von der Beziehung zu
Lesbia, symbolisch von Rollen, Gesetzen, Codes, etc. ab; Lesbia herrscht über Catull, Cae-
sar über die Welt usw. Dieses Macht- und Herrschaftsverhältnis, ja die Selbsteinschätzung
des ego überhaupt werde in c. 11 einer gründlichen Revision unterzogen; Catull konstituiere
eine Subjekt-Position mit Hilfe der Dissoziation zwischen dem Imaginären und dem Sym-
bolischen. Dieser Interpretation Millers liegt Lacans Theorie zugrunde, nach der der Mensch
mit Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprache zum sozialen Subjekt wird – dann erst
sei eine solche symbolische Identität überhaupt möglich (vgl. ebd., 32). Im Wechselspiel der
Subjekt-Positionen zwischen Catull und Lesbia harmonierten die Kategorien des normativen
Subjekts und der personalen Identität nicht mehr; es komme zu einer Alternation zwischen
Gender- und Subjektpositionen (vgl. ebd., 48).
36 Vgl. z.B. c. 5; c. 37; c. 87.
12 Melanie Möller
nenden Agenten bezieht37. Die futurische Form greift der zweiten Gedichthälfte
vor und suggeriert ewige Dauer.
In v. 8, der den ›Vergangenheitsbericht‹ beschließt und den diesen Abschnitt
einleitenden Vers 3 variiert, ist quondam durch vere ersetzt, das hier zum einen als
Bekräftigung zu verstehen ist, zum anderen eine Wertung impliziert: Der ganze
Vers bezieht sich wieder nur auf tibi, also den eingangs apostrophierten Catull,
wobei das Gedächtnis des Sprechers als Zeuge des erinnernden Subjekts fungiert;
auf vergleichbare Weise referiert der Sprecher in c. 76 auf eine durch die memo-
ria vermittelte Vergangenheit38. Man könnte meinen, daß Catull die Subjektivität
zur Wahrheit werden läßt39. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß wir
in c. 8 überhaupt nichts über etwaige Gründe für den Sinneswandel der puella
erfahren, wie es in manch anderem Gedicht der Fall ist; man darf daraus auf ihre
Bedeutungslosigkeit schließen.
Ab Vers 9 kehrt der Blick mit einem nüchtern anmutenden nunc 40 abrupt in
die Gegenwart zurück, und wie im Gedichteingang wechselt der Tonfall auf die
Ebene negativer Prädikationen: Postmodern gesprochen, ist auch Catulls Arbeit am
Subjekt negativ, insoweit sie primär im »Abbau von Selbsttäuschungen« (Lacan)
besteht41. Dieser Abbau von Selbsttäuschungen wird im folgenden poetisch kon-
kretisiert, da nec in v. 10–13 zur Leitvokabel avanciert; er kulminiert in dem reziprok
auf beide fingierten Liebespartner bezogenen Wortspiel von velle und nolle (je v. 7,
9) 42: Eintracht und Zwietracht erscheinen als einander bedingende Willensakte,
wobei das velle auf seiten des Liebenden der Litotes im nec […] nolle der puella
zunächst einen eigentümlich passivischen oder indifferenten Aspekt beilegt; dieser
wird durch das schlichte wie eindeutige non volt (v. 9) postwendend aufgehoben 43.
37 Die Einzigartigkeit der Liebe wird auch in anderen Gedichten fokussiert, so z.B. in c. 37; c. 51;
c. 87; c. 107. – Diese Exzeptionalität hängt an einer nach außen gerichteten Orientierungsfä-
higkeit, mithin an einer »Anthropologie der Selbstüberschreitung« im Sinne Rousseaus (vgl.
dazu Geyer [1997], 269).
38 Auch in c. 76 steht am Beginn eine Referenz auf die Vergangenheit (v. 1: priora), die durch
die memoria (recordari) vermittelt wird.
39 Die Gleichsetzung von Subjektivität und Wahrheit vollzieht Kierkegaard in kritischer Aus-
einandersetzung mit Hegel: Vgl. dazu Hagenbüchle (1998), 51. – Eine ähnliche Verbindung
von Subjektivität und Wahrheit zeigt sich in c. 11, bes. v. 17–20.
40 Vergleichbar der Übergang von quondam (v. 1) zu nunc (v. 5) in c. 72.
41 Vgl. dazu Bürger (1998), 11.
42 Vgl. das resultative invitam in v. 13.
43 Es kann freilich nicht ausgeschlossen werden, daß einige der hier verwendeten Verben
– neben velle und nolle ist auch an rogare (v. 14) zu denken – nebenbei eine sexuelle
Botschaft transportieren (vgl. dazu Syndikus [1984], 109 mit Anm. 29 und Holzberg [2003],
89f.); dieser hübsche Nebeneffekt beeinträchtigt allerdings die selbstreflexive Substanz des
Gedichts überhaupt nicht.
Subjekt riskiert (sich): Catull, carmen 8 13
Der Bruch mit der scheinbar beseligenden Vergangenheit wird einer Bewäl-
tigungsstrategie zugeführt, die Gefühl und Verstand verbindet: Was sich schon
am ambivalenten Gebrauch von ducere gezeigt hatte (in v. 2 als Aufforderung zur
Reflexion, in v. 4 als Indikator blinden Nachfolgens), wird in obstinata mente per-
fer fortgeführt44. Die Dramatik des Konflikts kommt auch in der Steigerung von
der passiven Duldung (perfer) zu emotionaler Härte zum Ausdruck (in doppelter,
sich vielleicht gegenseitig nivellierender Opposition: obstinata […] obdura – beides
indes auch hapax legomena im corpus Catullianum); den Höhepunkt der Dramatik
stellt die Selbstapostrophierung als impotens dar 45 – doch wird diese Ohnmacht
im Moment ihrer Versprachlichung selbstreflexiv überwunden. Der Imperativ noli
(in V von Avantius ergänzt) unterstriche indes, daß ein Nicht-Wollen auch zum
Telos werden kann. Das geschilderte Subjekt scheint so wenigstens theoretisch in
der Lage zu sein, sich von seinen eigenen Gefühlen zu befreien. In c. 8 scheint
als Lösung im Beieinander von obstinata, mente und obdura kontrollierte Emo-
tionalität als mögliches Regulativ auf 46. Der Wille des im Gedicht verhandelten
Subjekts, vorgeführt als praktische Vernunft der ›Leidensfreiheit‹, ist von seiner
emotionalen Fundierung nicht zu trennen 47. Auch hier kreist die Selbstfindung um
eine Aussöhnung von Trieb und Vernunft. Bei Catull erscheint das Widersprüchli-
che als wesentlicher Teil der Imagination48. Auf dieser Ebene geht der Konflikt
einstweilen siegreich zugunsten der Vernunft aus, nimmt man das iam obdurat in
v. 12 ernst: Der Wechsel in die Perspektive der 3. Person wirkt dabei, wie gese-
hen, deskriptiv-objektivierend, das iam des Dichters (v. 12) holt das iam der puella
(v. 9) ein und überwältigt sie dadurch auch in der kurzen Spanne des Augenblicks:
Nicht einmal den Triumph eines kleinen Gegenwartssieges gesteht er ihr zu. Für
den gegenwärtigen Augenblick ist – Hegel das Wort zu reden – die »objektive Welt«
44 Zum Spannungsverhältnis von Gefühl und Verstand vgl. bes. die Gedichte 85 und 76: In
beiden wird innere Satisfaktion gegen Reflexion ausgepielt (85: nescio – sentire, v. 2; 76:
voluptas – cogitare, v. 1f.); auch Selbstquälerei und Standhaftigkeit werden dort verhandelt
(85,2 und 76,10f.). In c. 76 tritt jedoch der Wille der Götter (v. 12) als äußere Instanz auf
den Plan: Eine solche Externalisierung unterbleibt in c. 8, ebenso die z.B. in c. 76 aus
dramaturgischen Gründen einbezogene Todesfokussierung.
45 Bei impotens handelt es sich um eine Korrektur aus dem codex R; der Veronensis bietet das
sinnlose inpote (in X zu impote assimiliert).
46 Greene (1995), 83 deutet obdurare als Formel des geschlechtsspezifischen Subdiskurses im
Gedicht: Der in ›weiblicher‹ Weise leidende »Catull« rufe sich zu ›männlicher‹ Härte zurück.
– Zu Descartes und der Möglichkeit der Befreiung von der eigenen Emotionalität vgl. bes.
Geyer (1997), 54ff.
47 Insoweit ließen sich hier die Descartesschen Kategorien res cogitans – res extensa heranziehen.
48 Unter »widersprüchlich« soll hier auch das Irrationale verstanden werden, insoweit »der
Rationalisierungsprozeß […] eine Entfremdung des reflektierenden Subjekts von seinem
irrationalen Anderen [bedeutet]«: Zitat aus Geyers kritischer Wiedergabe der Descartes-
Deutungen von Foucault und Derrida ([1997], 46).
14 Melanie Möller
des Gedichts dem »subjektiven Gemüt« des Sprechers erfolgreich anverwandelt 49.
Daß es sich bei dem in c. 8 vermittelten Prozeß im Ganzen um den Vollzug eines
Lebensentwurfes handelt, legt schon der Imperativ (nec miser) vive nahe (v. 10).
Der Blick in die Zukunft setzt mit Vers 13 ein und ist durch einen weiteren
Perspektivwechsel sowie einen plötzlichen Umschlag der Stimmung gekennzeich-
net 50: Der einleitende Appell vale, puella verabschiedet das Mädchen endgültig in
die Welt der Bedeutungslosigkeit, und sie bleibt in ihrer Unbeugsamkeit (invitam,
v. 13), die doch eines Referenten bedürfte, ohne Bezugsperson.
Das den übernächsten Vers (15) einleitende scelesta, vae te variiert eine archa-
isch-religiöse Formel, um die abwesend Anwesende zu diskreditieren. Dieser neue
Ton verschiebt die Einzigartigkeitstopik aus v. 5 und führt in bewährter Emphase-
Strategie zu einer erneuten ›Negation‹ der puella: cum rogaberis nulla (v. 14).
Allerdings stellt sich nun heraus, daß er, der gedichtimmanente Catull, in Wahrheit
sie konstituiert: Für die puella soll ein Leben ohne ihn undenkbar sein. Identität
und Alterität fallen an dieser Stelle vollends ineins. Das Risiko, das das im Gedicht
entfaltete Subjekt eingegangen zu sein schien51, hat sich erst recht für die puella als
gefährlich erwiesen, insoweit sie sich Perspektiven unterwerfen, vergegenständli-
chen, objektivieren lassen mußte 52. Die Austauschbarkeit, mithin Belanglosigkeit
der Geliebten ohne Referenzfigur wird in aller Konsequenz durch die interroga-
tiv-indefinite Pronominalkette in v. 16–18 zur Schau gestellt. Der Hohn besteht
darin, daß dieses Austauschbare, unbestimmt Unpersönliche, ja Uneigentliche
durch alle Kasus gebeugt wird (mit Ausnahme des Ablativs, diesen letzten Schritt
zur Vergegenständlichung geht Catull nicht): quis, cuius, cui, quem. Einmal mehr
steht ein unausgesprochenes Ich im poetischen Raum, das an die Stelle dieses
49 Gemeint ist hier der genealogische Befund Hegels, wonach das Subjekt im Lyrischen »am
reinsten zum Ausdruck« komme; die in Hegels Sinne vollzogene Anverwandlung der objek-
tiven Welt durch das subjektive Gemüt hat Friedrich Theodor Vischer in der Ästhetik der
Wissenschaft des Schönen pointiert in die Formel des »punctuelle[n] Zünden[s] der Welt im
Subjecte« gebannt (§ 886).
50 In ähnlicher Weise werden in c. 76 die Dauer der Liebe und die Plötzlichkeit des Ablassens
von ihr in einem Vers kontrastiert (longum […] subito: v. 13).
51 Vgl. damit die Überlegungen Millers zu c. 11: Lesbia entpuppe sich dort als eine Art monstrum,
mithin als ein Risiko fürs ego (2004, 427).
52 Diese Strategie ist noch subtiler durchgeführt in c. 76: Die puella wird als schwache und
lernresistente, mithin wandlungsunfähige Persönlichkeit vorgeführt und steht damit in kras-
sem Gegensatz zum dortigen amator. Eine Verbesserung seiner Lage erscheint nur möglich
durch seine Reflexion auf sie: Schließlich stehen er und seine Besserungsperspektive am
Gedichtende (v. 25f.: ipse valere opto et taetrum hunc deponere morbum / o di, reddite mi hoc
pro pietate mea). – Im Grunde handelt es sich in beiden Fällen (c. 8 und 76) auch um eine
spezifische Art von »Womanufacture« im Sinne Sharrocks (1991), 49: »Love poetry creates
its own object, calls her Woman, and falls in love with her – or rather, with the artist’s own
act of creating her. This is womanufacture«.
Subjekt riskiert (sich): Catull, carmen 8 15
Unpersönlichen treten könnte – wenn es wollte 53. Die puella wird hier jeglicher
Entfaltungsmöglichkeit existentiell beraubt: Sie wird Kontaktverlust erleiden (quis
[…] adibit), sie wird ihrer subjektiv-ästhetischen Wirkmacht verlustig gehen (cui
videberis bella); sie wird nolens, volens ihre Emotionalität einbüßen (quem amabis)
und ohne soziale Zugehörigkeit bleiben (cuius esse diceris): Neben den Verlust ihrer
Individualität tritt der allen kollektiven Bezugs. In diceris scheint noch dazu der
Entzug der Sprache auf: Wenn sie »niemandes« genannt wird, spricht man auch
nicht von ihr – von ihrer eigenen Sprachmächtigkeit ist erst gar nicht die Rede.
Die mangelnde Zugehörigkeit der Küsse nimmt sich daneben zunächst belang-
los aus, doch da das Küssen und kokette Beißen das dichtungsimmanente Mark
ihrer Existenz ist und ihre Macht über ihn repräsentiert54, wirkt der Verlust umso
bedrohlicher: Der poeta ist ihr Schöpfer und kann sie – verschwinden lassen55;
so erklärt es sich auch, daß in c. 8 mehrere Wendungen aus anderen Gedichten
mit Bezug auf die (oder eine) puella begegnen, die sowohl in glücklich-preisenden
als auch in unglücklich-verfluchenden Kontexten zu finden sind56. Zugleich wirkt
die Zukunftsvision auch auf die im Gedicht erinnerte Vergangenheit zurück und
entzaubert die puella als Teil der fingierten Liebesbeziehung. Das ganze Gedicht ist
durch Übertragungsleistungen gekennzeichnet 57: Der Liebhaber überträgt seinen
eigenen inszenierten Schmerz auf die Geliebte. Wollte man unter dieser Prämisse
das ganze Gedicht noch einmal rückblickend betrachten und mit Lacans werk-
technischer Psychologie davon ausgehen, daß »die eigene Stimme identisch [ist]
mit der verdrängten Stimme des anderen« 58, so wäre auch der zuvor geschilderte
Schmerz des Liebhabers nichts anderes als der Schmerz der fingierten Geliebten59.
Die Selbstzuschreibungen jedenfalls werden in dieser Vision wieder korrigierbar:
53 Ähnlich Schmidts (1985), 114 Kommentar zur Stelle: Er diagnostiziert eine »Verschiebung
von niemand zu nicht ich«.
54 Das Verb mordere findet sich nur zweimal im corpus Catullianum, wobei es sich in c. 8 um
die erste Nennung zu handeln scheint (die zweite ist in c. 68, 127 zu lesen: mordenti); doch
finden sich analoge Formulierungen (z.B. acris solet incitare morsus, c. 2, 4).
55 Das gilt freilich auch für andere Figuren(konstellationen) innerhalb des corpus Catullianum;
so bemerkt Schwindt (2002), 82 zu dem ästhetisch-programmatischen c. 16: »Wo inter-
subjektiv (vom Sprecher an die Adressaten) verschobene Subjektsbeschreibung so auf die
subjektsabhängige schriftliche Ablösung bezogen bleibt, kann es keinen Gegenstand geben,
der von dieser auktorialen Subjektivität unabhängig wäre und also auch kein Thema jenseits
der Ausdrucksformen und Repräsentationsgelüste dieser vorherrschenden persona« (Mark.
v. J.P.S.).
56 Beispiele: miser: c. 51,5; perdere: c. 51,16; soles: c. 5,4; quantum amabitur nulla: c. 87,1f.; c. 37,12
(vgl. o. Anm. 36); vive: c. 5,1; basiare: c. 5, c. 7 u.ö.
57 Vgl. schon Syndikus (1984), 110.
58 Hagenbüchle (1998), 65.
59 Diesen Ansatz verfolgt Miller (2002), 48f. bei seiner Analyse der Beziehung ›Catull‹–›Lesbia‹,
ohne allerdings c. 8 genauer zu berücksichtigen.
16 Melanie Möller
Die puella war ein von ihm selbst entworfener Teil seiner selbst, doch hat er diesen
Teil als ›anderes‹ bestimmt und nachgerade als »Feind« erkannt, der die »Freiheit
nichtet« 60; es folgt dessen Züchtigung durch die Entfaltung der Möglichkeiten
seines poetisch überhöhten Schaffens.
Bleibt noch das eigentliche Ende, v. 19, das auf den ersten Blick wie eine Rück-
kehr zur Position aus v. 11 und also wie eine Resignation aussieht. Doch vollzieht
sich dieser vermeintliche Rückfall unter veränderten Vorzeichen: So ist es auch wie-
der ein anderer Catull, der hier angesprochen wird. Der Rückfall in die 2. Person
im letzten Vers dokumentiert eine veränderte Lage, insoweit die neutrale Perspek-
tive der 3. Person nach der gleichsam sprachhaptischen Überwältigung der puella
zur Taktik der Selbstanrede zurückkehrt. So kann der Catull des letzten Verses
– im Gestus der Reduktion der Oppositionshaltung (das Präfix ob- wird zu de-) –
als destinatus bezeichnet, der Vollzug der reflexiven und emotionalen Besinnung
bestätigt werden. Dieser Catull hat den leidenden Liebhaber der 2. Person, sein
objektiviertes Gegenstück, den Catull der 3. Person, und den um Emanzipation
bemühten Sprecher unter Einfluß der soeben skizzierten Vision in sich aufgesogen,
ohne die perspektivische Vielfalt preiszugeben: Denn die Perspektiven heben sich
nicht auf, sondern werden in einem »komplexen Satz von Zwischenbeziehungen
identifiziert« 61; die eine bleibt der anderen komplementär. Dadurch ist das Subjekt
weit genug von einem Intimität und Schwäche preisgebenden ego entfernt. Die
Erneuerung der Selbstanrede erfolgt in Form einer (durch das starke Adversa-
tivum at) gesteigerten, gleichsam manipulierten Wiederholung und setzt so den
Duktus des ganzen Gedichts fort, Verse, Versteile oder einzelne Begriffe in leich-
ter Variation zu reformulieren. Durch die über die inhaltliche Akzentverschiebung
hinausgehende Wiederholung und die exponierte Position am Gedichtende gerinnt
die Selbstanrede zur Form; sie umschließt den angekündigten Existenzschwund
der puella aus beiden zeitlichen Richtungen (von der Vergangenheit herkommend,
setzt sie sich formal noch hinter die Zukunft). So kann dieses Gedicht auch über
sich hinausweisen: Der in c. 8 zu einem vorläufigen Abschluß gebrachte Prozeß
hat ein offenes Ende im Hinblick auf weitere an die imaginäre Liebesbeziehung
60 Dies die radikale Formulierung Jean-Paul Sartres; in ähnlicher Weise deutet Lévinas das
subiectum im Wortsinne als dem (einem) anderen unterworfen. Vgl. dazu Schulz (1979), 32f.
und Hagenbüchle (1998), 12.
61 Greene (1995), 91: »Although Catullus does not reconcile those »many selves« in his poetry,
he identifies them in a complex set of interrelationships that defies reduction to any unitary
discursive practice or experience of the self« (Hervorhebungen von E.G.). Greene bewertet
diese Art von Liebe über c. 8 hinaus als taeter morbus und verkennt so den fundamentalen
metaphorischen Zug; gleiches gilt für Skinners Überlegungen zu c. 76 (1987).
Subjekt riskiert (sich): Catull, carmen 8 17
Auf den gesamten Komplex der Liebesdichtung besehen, gewinnt der Dichter
Catull seine poetische Identität gerade dadurch, daß er seine als autobiographi-
sches Material getarnte Liebe zur puella in Dichtung transformiert; c. 8 gehört
(neben c. 76) zu jenen Gedichten, in denen der Dichter sich von dieser scheinbar
identitätsstiftenden Substanz seiner Dichtung zu distanzieren versucht.
Mit c. 8 hat Catull ein Gedicht über innere Konflikte, Spannungen und vor allem
Spaltungen geschrieben. Wir beobachten einen reflexiven Prozeß ausgeprägter
Selbstzuwendung, der als autopoietisches Verfahren gestaltet ist: Der Konflikt
zwischen Verstand und Gefühl mündet in eine komplexe subjektive Instanz, die
ein explizites starkes Ich nicht (mehr) nötig hat, insoweit das für das Ich riskante
andere zersetzt worden ist. Die puella als das andere, das den ein diffuses Außen
repräsentierenden Teil seiner innerpoetischen Existenz ausmacht, ist in Konkur-
renz zur Spaltung des Selbst getreten; so erklärt es sich, daß das Subjekt sich auch
dort fokussiert, wo das andere betrachtet, beurteilt und angesprochen wird. Die
überwundene puella ist außerhalb seines sprachpoetischen Kosmos noch weniger
einer Bestimmung zugänglich als er selbst. Die Alterität kann nur im Gedicht zum
Teil der selbstentworfenen Welt des Subjekts werden. Das zeigt sich schließlich auch
daran, daß die puella in c. 8 noch ihres Pseudonyms, Lesbia, beraubt wird, während
der Dichter seine ›Selbsts‹ unter dem Namen Catull auftreten läßt. Vielleicht ist
die Liebe zur puella im gesamten corpus Catullianum überhaupt Metapher für die
62 Stoessl (1997), 103 datiert das Gedicht im Zuge seiner biographischen Methode in die »Zeit
dieses ersten Zerwürfnisses«.
63 So z.B. Fowler (1989), 99 in seiner gleichwohl subtilen Deutung von c. 8.
64 In diesem Sinne wohl auch Schmidt (1985), 114 zu c. 8: »Die Leidenschaft ist die Form des
Gedichts, und die Form ist die Leidenschaft«.
18 Melanie Möller
Bibliographie
Stoessl, Franz, C. Valerius Catullus. Mensch, Leben, Dichtung, Meisenheim a. Glan 1977.
Syndikus, Hans Peter, Catull. Eine Interpretation. 3 Bde, Darmstadt 1984–90, Bd. 1, Darm-
stadt 1984.
Thomas, Richard, »Menander and Catullus 8«, in: RhM 127 (1984), 308–316.
Tschiedel, Hans Jürgen, »Erwachendes, aufbegehrendes und verstörtes Ich. Manifestationen
des Subjektiven in der römischen Literatur«, in: Fetz et al. 1998, 255–283.
Williams, Gordon, Tradition and Originality in Roman Poetry, Oxford 1968.
Wray, David, Catullus and the Poetics of Roman Manhood, Cambridge 2001.
A Sensitive, Even Weak and Feeble Disposition?
C. Valgius Rufus and His Elegiac Ego
In his elegiac lament for Tibullus Ovid draws a vivid picture of the mournful
gathering around the funeral pyre, where the deceased’s mother and sister pay their
last respects in company with Delia and Nemesis (Am. 3.9.49–58). The animated
scene seems true to life, especially since we are reminded here of the hope once
placed in Delia by Tibullus’ persona (1.1.60) – te teneam moriens deficiente manu –
and at the same time told by Nemesis how this had in reality been fulfilled (58):
me tenuit moriens deficiente manu. Gerlinde Bretzigheimer quite rightly interprets
this scene as a literary prank: the lusor Ovid creates a semblance of authenticity
by ›emending‹ fiction1. This, of course, all but makes a nonsense of biographical
readings. When a poet talks about things connected with another poet’s life, it
appears to go without saying that the vita to which he alludes is not that of the
author in question, but of his poetic ego. This type of lusus – the earliest instance
in extant Augustan poetry is Virgil’s portrait of a plaintive Gallus in Eclogue 10 2 –
has not always been recognized as such, either in antiquity or in modern times.
The picture drawn by Horace of his friend and fellow poet C. Valgius Rufus in
c. 2.9 is no exception. Approaches to the ode have usually been of the conventional
biographic type, worse still, it has, since very little is otherwise known about
Valgius’ life and work, been consulted as a historical document on which to base
reconstructions of his vita. I hope to show in the following not only that, from
the first to the last verse of this ode, Horace’s allusions are exclusively, or at least
primarily to the persona adopted by Valgius in his elegiac poetry, but also that
reading c. 2.9 in this way opens up a new and, I feel, more insightful approach to
the surviving fragments of Valgius’ poems. My working assumption corresponds
to communis opinio: Horace’s Valgius is the elegist named by Servius and in the
Scholia Veronensia on Virgil 3.
The text of c. 2.9 reads:
Non semper imbres nubibus hispidos
manant in agros aut mare Caspium
uexant inaequales procellae
usque nec Armeniis in oris,
amice Valgi, stat glacies iners
mensis per omnis aut Aquilonibus
querqueta Gargani laborant
et foliis uiduantur orni:
tu semper urges flebilibus modis
Mysten ademptum nec tibi uespero
surgente decedunt amores
nec rapidum fugiente solem.
at non ter aeuo functus amabilem
plorauit omnis Antilochum senex
annos nec inpubem parentes
Troilon aut Phrygiae sorores
fleuere semper. desine mollium
tandem querellarum et potius noua
cantemus Augusti tropaea
Caesaris et rigidum Niphatem,
Medumque flumen gentibus additum
uictis minores uoluere uertices
intraque praescriptum Gelonos
exiguis equitare campis.
Not always does rain pour from the clouds upon / Bedraggled farmland, nor is the
Caspian Sea forever buffeted by gusting storm-winds, nor up on Armenia’s borders,
friend Valgius, does ice remain motionless for all the twelve months, or by the northern
blasts are the oakwoods of Garganus troubled and manna-ashes bereft of leafage, but
you in mournful measure continually bemoan the loss of Mystes; your passion won’t
give way when Hesperus is rising nor when he flees from the ravening Sun. Yet the
ancient who saw three generations out did not lament beloved Antilochus lifelong, nor
parents and his Phrygian sisters forever shed tears for Troilus the adolescent. Cease
your effeminate complaints at long last, and let us rather sing of Caesar Augustus’ most
3 Serv. Verg. Ecl. 7.22; Schol. Veron. Verg. Ecl. 7.22 = frg. 2 FPL; Serv. Dan. Verg. Aen.
11.457 = frg. 3 FPL. I read Horace’s flebilibus modis (9) amores mollium (13), and querellarum
(17) as unmistakeable allusions to elegiac poetry; cf. in each case Nisbet/Hubbard (1978), ad
loc.
A Sensitive, Even Weak and Feeble Disposition? 23
recent victory-trophies and stark Niphates and how the Parthian river, now added to
the conquered races, rolls more submissive crests, and how within fixed bounds Geloni
gallop their horses on undersized plains. (Guy Lee)
The article on Valgius in Pauly-Wissowa – compiled by Hermann Gundel and
Rudolf Hanslik, it offers a very useful catalogue and evaluation of the relevant
testimonia – ends with the following conclusion: »From his grief over the death
of Mystes we must infer that his was a very sensitive, even weak and feeble
disposition« 4 (276). Given that Gundel was writing in 1955, we can easily cut
him some slack, but Hans Peter Syndikus’ lapse in the »third and completely
revised edition« of his well-known commentary on the Odes seems less forgivable.
Publishing in 2001, he observes of the real Horace and Valgius: »The poet wants
to shake Valgius out of this weak-willed letting-himself-go, out of his subjective
ego-world. He therefore proposes that the other tackle something sound, vigorous,
and objective, just as elsewhere epics on war were seen as the very opposite of
elegies« 5 (389). Most readers of c. 2.9 – even those who take Mystes to be a fictional
character 6 – belong, like Syndikus, to the interminable line of scholars who will
have it that Horace himself was someone who disdainfully regarded writers of
erotic elegies as sentimental wimps7. Not many actually go so far as to suppose
that the proposed remedium against chronic plaintiveness is seriously meant as
a cure, but even those who do think that Horace is simply toying with elegiac
discourse here 8 seem reluctant to accept the logical consequence: that his Valgius
ode must be read as a humorous dialogue between a lyric and an elegiac persona,
and not as the account of a conversation that really took place.
The biographical approach is perhaps often considered to be the most obvious
one principally because the anonymous author of the Panegyricus Messallae remarks
that Valgius, a second Homer, is better equipped than himself to sing his patron’s
4 »Aus seiner Trauer um Mystes müssen wir schließen, daß er eine sehr feinfühlende, vielleicht
eine weiche Natur hatte«.
5 »Der Dichter will Valgius aus einem schwächlichen Sich-treiben-Lassen, aus seiner subjekti-
ven Ich-Welt herausrütteln. Darum stellt er ihm etwas Tüchtiges, Kraftvolles, Objektives als
Aufgabe vor Augen, wie ja auch sonst das Kriegsepos als der entschiedene Gegensatz der
Elegie angesehen wurde«.
6 Only Nisbet/Hubbard (1978), 136 actually say so.
7 Cf. e.g., Kießling-Heinze (1930), 194 (»der gesunde, aller schwächlichen Sentimentalität
abholde Sinn«); Otis (1945), 186; Quinn (1963), 158–162; Anderson (1968), 44 (»Horace
attacks the basic mood of elegy«); Quinn (1980), 213; Macleod (1981), 145 = (1983), 240 (»As
in Od. 1.33, Horace makes clear what he thinks of such weepy productions«); Syndikus
(1998), 376 and 395. Important for arguments against the old notion that Horace nursed a
particular antipathy to Propertius: Freis (1983).
8 Irony, parody, and Horace’s tongue in his cheek are noted by Anderson (1963), 36; Nisbet/
Hubbard (1978), 136 and 138; Quinn (1980), 214; Macleod (1981), 147 = (1983), 242; Armstrong
(1989); Putnam (1990), 221f.
24 Niklas Holzberg
praises ([Tib.] 3.7.177–180). The implication is that Valgius was without question
up to the task of composing an epic on Augustus, i.e. the very kind of poem which
Horace’s persona advises him to write. But the Panegyricus, as Hermann Tränkle’s
compelling arguments have established, was composed in the post-Ovidian era: as
tribute to a living person it is pure fiction9. This suggests that Ps.-Tibullus’ reference
to Valgius is more likely to be ›flesh‹ added to ›bones‹ found in Horace: to Sat.
1.10.81–87, where the addressee of c. 2.9 is clearly named alongside prominent
contemporaries on the literary scene (Varius, Virgil, Pollio, and Messalla) as the
kind of reader Horace would prefer, and to the final two stanzas of our ode.
The reference to Valgius as an epic poet in the Panegyricus Messallae also seems
fishy because none of the other ancient authors who know of Horace’s friend
mention any such literary production. That he wrote elegies is, by contrast, noted
a number of times 10, and it is certain that Valgius – who was consul suffectus of
the year 12 bc and probably did not die before ad 14 11 – composed epigrams 12
and prose works; there exist fragments of an epistolary treatise on grammar and
evidence of writings on rhetoric and botany (the last unfinished)13; he may also
have turned his hand to bucolics 14. So, when c. 2.9 tells us that Valgius is pestering
a certain Mystes, who has been taken away from him, with a constant stream
of tearful songs, these can reasonably be taken to mean elegiac verses in which a
first-person speaker reacts to his separation from a paÿc ‚r∏menoc named Mystes.
This could in theory indicate – and most scholars thinks that it does – that the boy’s
death has been the cause of their separation. Bearing in mind, however, that Valgius’
flebiles modi are labelled amores here, and that Horace is therefore very probably
alluding to an existing collection of his friend’s elegies with this same label as title 15,
we need to look at surviving texts from the same genre. Comparable themes there
show us that those critical readers who suggest that Mystes was »taken away«
from the poeta/amator by a rival (male or female) are more likely to be on the
right track 16. Admittedly, the examples taken from mythology in vv. 13–17 are
9 Tränkle (1990), 183 and 245; cf. also Holzberg (1998/99), 176 and 182.
10 Cf. note 3 above.
11 For what we know of Valgius’ life and work see esp. Schanz/Hosius (1935), 172–174 and
Gundel/Hanslik (1955). Cf. also the possible indication that Valgius was still alive around ad
14 in Plin. Nat. 25.4, where the treatise on botany is said to have been dedicated to diuus
Augustus: this could be a quotation from the title (Gundel/Hanslik [1955], 273f.).
12 Char. 138 B (108 K) = frg. 1 FPL; cf. Dahlmann (1982), 34f.
13 GRF 483–86 (edition of fragments from De rebus per epistulam quaesitis) and Schanz/Hosius
(1935), 174 (testimonia); on the botanical work see also Geymonat (1974).
14 Frg. 5 FPL; cf. Dahlmann (1982), 45f.
15 Nisbet/Hubbard (1978), 145 ad loc.; Nadeau (1980), 197.
16 Quinn (1963), 158–62; Anderson (1968), 35–45; Murgatroyd (1975); Santirocco (1986), 91.
Nisbet/Hubbard (1978), 136 and Putnam (1990), 217 n. 5 come to no clear decision one way
or the other, but tend more towards ademptum sc. morte.
A Sensitive, Even Weak and Feeble Disposition? 25
17 Even the allusion clearly intended in vv. 10–12 to Virgil’s lamenting Orpheus (cf. Georg.
4.464–466) – one which must also be read as a window reference to Cinna, Zmyrna frg.
6FLP (cf. Putnam [1990], 230; Davis [1991], 53f.; Lowrie [1993/94], 386f. = [1997], 83f.;
Labate [1994], 83f.) – does not necessarily imply that Mystes was ademptus morte. As Labate
loc.cit., based on G.B. Conte, rightly notes, Orpheus is »un archetipo elegiaco« and can
therefore simply stand quite generally for never-ending elegiac plaints. For further allusions
to Virgil see Esteve-Forriol (1962), 36f.; Syndikus (1972), 396 n. 18 = (2001), 389 n. 18; Nisbet/
Hubbard (1978), 137f.; Macleod (1981), 147 = (1983), 242; Putnam (1990), 230–235.
18 Sic first Quinn (1963), 160; cf., in addition to Anderson (1968), 40 (cited below), Murgatroyd
(1975), 65 and Nisbet/Hubbard (1978), 136.
26 Niklas Holzberg
elegiac persona is then said to indulge19. The imbres in v. 1 signal his mournful
tears, the orni bereft of their foliage the loneliness he feels after his ›bereavement‹.
Moreover, Horace writes that the land on which the imbres do not fall all the time
is hispidus. This is a word not used in extant texts before Horace, and one that
can also sometimes be taken to mean »bearded«20. With that in mind, one can
imagine the following scene: the tears of the poeta/amator talking in Valgius’ elegies
fell on the stubble that was Mystes’ first beard growth, being shed because the
moment had now come when a boy becomes a man and can therefore no longer
decently play the role of paÿc ‚r∏menoc: the relationship must end 21. This reading
seems tenable when one considers both that Troilus, whom Horace’s lyric persona
compares with Mystes, is called impubes, i.e. »beardless« (15), and that in c. 4.10
young Ligurinus, apparently the reluctant object of the same persona’s passion, is
warned what will happen to him when he reaches manhood and acquires a facies
hispida (5) 22. In Greek and Latin epigrams that are pederastic in content – let us
not forget that Valgius is known to have tried his hand at epigram writing – one
central conventional theme was, as Sonya Tarán and Hans Peter Obermayer have
established, the anxiety that overcomes the ‚rast†c at the thought of his puer
delicatus growing facial hair, or indeed any kind of manly fuzz23. Such hairiness
means that the beloved is now physically ready not only to take a wife and leave
the male-male relationship behind him, but also to go to war and prove his newly
acquired masculinity. This latter sign of maturity is the cause of particular concern,
for example, to Straton’s persona in AP 12.217, and it is possible that, in Valgius’
elegiac verse, Mystes was »taken away« from his ‚rast†c not only as a result of
his reaching manhood, but also by his participation in a military campaign. If this
was the case, that in itself would make the recommendation given by Horace’s
lyric persona to his plaintive amicus especially apt: he too should go to war, if only
in a literary sense, and sing together with his friend of Augustus’ latest victories in
the East24.
19 Buecheler (1882), 260f. (whom Esteve-Forriol [1962], 33 n. 1 tries to refute); Syndikus (1972),
394 = (2001), 387; Nisbet/Hubbard (1978), 135f. and 139–43 ad loc.; Nadeau (1980), 197;
Minadeo (1982), 140 (»The symbolic burden of the tree images, bolstered by the feminine
imagery of water and field earlier on, argue that love’s weather also changes« – the undertone
is conceivable); Santirocco (1986), 92; Putnam (1990), 220f.; Ancona (1994), 108.111.
20 Cf. below on c. 4.10.5.
21 Buecheler (1882), 260f. thoughts also turn here to the custom of mourners letting their hair
and beards grow; cf. Ancona (1994), 111.
22 Putnam (1990), 20f. notes the parallel too, but draws a different conclusion.
23 Tarán (1985); Obermayer (1998), 94ff.
24 Williams (1993/94), 404f. speculates about Valgius’ exploits »with the Roman legions in the
East«, specifically in Armenia, where the mountain Niphates lies. Nothing of this sort is
documented at all, but even if it were, this would support rather than shake any reading of
c. 2.9’s two last stanzas in terms of generic typology.
A Sensitive, Even Weak and Feeble Disposition? 27
This reading of the poem’s ending remains purely conjectural, yes, but whi-
chever of the explanations for ademptus hitherto proposed be correct, one thing
is certain: if we try not to think of c. 2.9 in biographical terms, then we can read
the words potius noua cantemus Augusti tropaea Caesaris […] as an appeal to the
elegiac poeta/amator that, in order to put his grief behind him, he flout, indeed
literally overturn one of the rules of the ›elegiac code‹ 25. The conventional refusal
in elegy to write epic verse, in particular the kind in which the praises of a princeps
are sung, is sometimes excused with the poeta/amator’s lack of opportunity: he
must of necessity devote his entire existence to the object of his elegiac love26. It
is not inconceivable that Valgius’ elegiac work also contained passages or entire
poems devoted to the motif recusatio 27, and Horace could be referring playfully to
such instances in c. 2.9. If this is so, then his suggestion that the other abandon his
notorious ›sorry, no time‹ stance on epic anticipates the fundamental idea on which
Ovid built his Remedia amoris. There, as was first shown by Gian Biagio Conte, the
›elegiac code‹ is systematically deconstructed, with the praeceptor recommending
that all its binding rules be disregarded 28.
Now, when Horace encourages Valgius (persona to persona, that is) to break the
recusatio rule, that in itself is – within the parameters of the genre – quite witty. The
humorous effect is heightened, however, when one considers that the lyric poeta
himself, who has so far also ›demurred‹ – with particular vehemence in c. 1.6 – is
now apparently willing, for friendship’s sake, to forget his own reluctance and sing
together with the elegiac poeta in praise of the emperor’s res gestae. But is he really
and truly willing and ready? Hardly. Already in c. 2.12 we have him announcing
recusatio again: here at the very latest, then, the proposal which we could perhaps
have taken seriously at the end of c. 2.9 – and which would have turned the lyric
and elegiac worlds upside-down – must raise a knowing smile 29. And no less so the
way in which Horace uses his play on elegiac discourse to celebrate the emperor
indirectly himself.
My interpretation of Horace’s Valgius ode makes it seem quite likely that the
motif recusatio played a significant role in the elegist’s poems. One further, albeit
very cautious assumption may therefore be made: Valgius offered his readers poetic
theory not only in connection with his refusal to try out epic writing, but also with
regard to other aspects. In addition, his verses are likely to have been implicitly
30 Cf. Schanz/Hosius (1935), 172 f.; Rostagni (1960), 807–833; Courtney (1993), 288 f.; Dahlmann
(1982), 37–42.
31 Dahlmann (1982), 40 with n. 66.
A Sensitive, Even Weak and Feeble Disposition? 29
between salty depths and the Castalian spring. As we all well know, Callimachus,
in his hymn to Apollo, uses pÏntoc and >Assur–ou potamoÿo mËgac ˚Ïoc on the
one hand, and p–dakoc ‚x …er®c Êl–gh libàc on the other as contrasting symbols
for grand and lesser poetry (105–12). His imagery exerted, as first established by
Walter Wimmel, considerable influence on the figurative language of metapoetics
introduced by several authors into Latin poetry 32. It could, then, very well be that
Valgius was implicitly contrasting the genus grande and the genus tenue in vv. 7f.
I am inclined to think that the eight verses of this fragment formed part of a
programmatic poem in which Valgius, in the role of poeta/amator, explained to his
youthful beloved the direct link between his favoured poetic style and his chosen
way of life.
Interestingly, frg. 3 FPL also shows us great and lesser waters side by side:
et placidam fossae qua iungunt ora Padusam
nauigat Alpini flumina magna Padi.
And there where the mouth of the channel unites gentle Padusa 〈with the Po〉, he/it
navigates the mighty waters of Alpine-born Po.
Someone or something (the poeta/amator’s boat33?), as Dahlmann perhaps rightly
considers most conceivable (43), has hitherto cruised along the southernmost
tributary of the Po, placida Padusa. These lines are widely thought to be the
remains of a travel-poem written in the tradition of Lucilius’ Iter Siculum. One
good reason for this assumption is the last of our fragments (4 FPL), in which
Valgius’ persona apparently refers to a journey 34:
hic mea me longo succedens prora remulco
laetantem gratis sistit in hospitiis.
Here my ship, following on at the end of a tow-rope, sets joyful me ashore at a welcome
inn.
Both of these two-line fragments could, of course, have belonged to an elegy
in which the persona genuinely described the events of a journey. Henri Bardon
believes that the »voyage en bateau« took place during a »séparation des amants«
(21), and this is not wholly implausible. But it still would not rule out the possibility
that metapoetics played a significant role in the poem. »Gentle« Padusa and the
»mighty waters« of the Po could stand for the lesser and the grander poetic genres.
The arrival at an inn could have stood at the end of a lengthy poem (or a book
of poems), marking simultaneously the end of the trip and of the corresponding
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Intus habes quem poscis
Theatricality and the Borders of the Self
in Ovid’s Tereus Narrative
Ovid’s Metamorphoses can be read as a sustained series of inquiries about the nature
of the self. Is there some internal self to be distinguished from outward form? Does
it survive material changes? Do we recognize another externally and objectively,
identifying her by what she seems to be, or subjectively by imagining her own
point of view looking out from her body? Ovid’s choice of topic inevitably raises
these questions every time »forms are changed into new bodies«. And any political
interpretation of the text will depend ultimately on the answers a reader gives to
them1. For instance, if Lycaon really is the wolf that his external form resembles,
we are more likely to assent to the authority of Jupiter when he demands further
punishment for human impiety. Similarly the consolatory conclusion to the story
of Daphne, as she seems to nod her boughs in approval to Apollo’s appropriation
of her form, requires our accepting that Daphne still abides as a human subject even
when she becomes a laurel. Thus there have been many attempts to discover some
philosophical theory of the self to clarify the rules of metamorphosis and so guide
the reader’s responses to them; most influentially, for example, Dörrie (1959) argued
that Ovid’s poem illustrates a stoic notion of identity whereby peculiarly qualified
individuals remain themselves despite changes to their appearance: Socrates is
still Socrates even if he gets fat. Rather than intervening in such a debate, this
paper will resist any appeals to external doctrine to explain the phenomenon of
metamorphosis on the grounds that they tend to oversimplify something the poem
makes complex. On the contrary, I will argue that the text’s internal ambiguities
1 Feldherr (2002), see also the comments of Hershkowitz (1999), 183f. On the effect of
metamorphosis on identity, see also, especially Sharrock (1996), and Bernsdorff’s (2000:
67–124) transferral of Fränkel’s concept of »wavering identity« from the psyche of Ovid’s
characters to the problems of recognition and identification raised by the phenomenon of
metamorphosis.
34 Andrew Feldherr
reflect, indeed complicate, the dynamic and open-ended process of defining identity
in other discourses.
My focus will be on an episode particularly rich, even for Ovid, in implica-
tions about the nature of the self: the story of Tereus’ rape of Philomela and the
vengeance Philomela and her sister Procne exact for it. This narrative investigates
many of the »ways of talking about the self« outlined in Christopher Gill’s paper:
in social and ethical terms, it offers the story of a civilized »us« interacting with
barbarian »them«, as each of the two princesses is taken from Athens to quintessen-
tially barbarian Thrace. »Psychologically«, even before the final metamorphosis,
many kinds of external barriers are interposed which interfere with the expression
or recognition of an internal subject. Thus on the one hand, we will see Tereus’
desires misread by the Athenian audience who assume that he is simply acting as
spokesman for his wife when he begs for Philomela to return with him to Thrace.
On the other, Philomela herself will be prevented from describing her experi-
ences or even making her own existence known by the brutal metamorphosis that
removes her ability to speak. Finally, and most interestingly, these two dimensions
of the self raise larger ontological questions about the stability of identity: does the
dramatic change in condition the two princesses undergo really reflect a change in
who they are? If so, what are the mechanisms by which selves change and what
significance might this have for what Ovid’s own audience experience as they
read his text? My guide through these issues will be taken not from philosoph-
ical accounts of the self, but from another discursive realm, theater, whence the
Romans perceived a simultaneous threat to their cultural distinctiveness and their
psychological well-being 2. It poses this threat, moreover, by tempting its Roman
viewers to recognize selves in the merely external representation of people who
fundamentally are not there.
Before moving on to develop these claims about Roman drama, let us begin
by looking at a short passage that addresses the complex dynamics of selfhood
in the episode without any of the sensational elements of rape, cannibalism, and
metamorphosis for which it is famous: Procne having just recovered her mutilated
sister Philomela deliberates on a course of revenge against the husband who raped
her. At this moment her son Itys arrives:
Peragit dum talia Procne,
ad matrem veniebat Itys; quid possit, ab illo
admonita est oculisque tuens inmitibus ›a! quam
es similis patri!‹ dixit nec plura locuta
triste parat facinus tacitaque exaestuat ira.
ut tamen accessit natus matrique salutem
2 Edwards (1993), 98–136 offers a thorough survey of the manifold aspects of Roman suspicion
of the theater in the late republic and early empire.
Intus habes quem poscis 35
Procne faces the familiar tragic dilemma of a Medea, which is literally to decide
who she is: whether at this decisive moment she will act as the daughter of Pandion
and sister of Philomela or as the mother of Itys. The first point to observe here
is the extreme density of references to vision in the passage. The conflict between
motherhood and sisterhood manifests itself outwardly in the expression of Procne’s
own eyes – alternately cruel and tearful. But more importantly, the motives for each
course of action come from different visual cues that she herself receives, and, I will
argue, from adopting fundamentally different modes of regarding what she sees.
36 Andrew Feldherr
The process of looking at both Itys and Philomela triggers a complex measuring
of likeness and difference 3. Itys is unlike Philomela because he can speak, but all
too like his father. And for Procne this visual similarity to Tereus occludes her own
connection with the child, aurally invoked when he calls her mater. Gazing at Itys
becomes a process of objectification, as she looks on him as increasingly alien to the
point where he comes to signify someone who is not there, Tereus, and loses his
own subjectivity in the form of his voice – the claim on her as a mother. Something
very different happens in the case of Philomela, who, because she has no voice
of her own, has to have her words supplied by Procne. In place of a gaze that
serves to distance viewer from viewed, and simultaneously to make Itys someone
different from who he really is, Procne’s language suggests not only a sympathy
for Philomela, but that she has so adopted Philomela’s imagined perspective as to
become almost indistinguishable from her. In the line where Procne recognizes her
husband in her son, the vocative »daughter of Pandion«, which seems to mark the
expression as a soliloquy, points out that her sister Philomela could be described
in precisely the same terms, and both have united sexually with Tereus. The two
sisters share a father, and now share a husband4; Procne’s role as mother of Itys is
the only one to distinguish her from her sister. In rejecting Itys as other, she thus
becomes more like Philomela, even as she looks as her sister would look on her
rejected child. It is a telling irony that the self Procne chooses here, to become a
daughter of the Athenian king Pandion, is so completely undercut by the narrator
in the next line, where a simile encourages the reader to see Procne as a »tiger of
the Ganges«. The final phrase »nec vultum vertit« provides a final affirmation of
the ruthless alienation from maternal feeling that allows her to look on her child
– instead of looking back and forth from son to sister – even as she slaughters him.
But the same words also underline the uncertainties about selfhood and identity
raised by the passage as a whole, for they can also mean »she did not change her
appearance«. The internal change in her sense of who she is, reflected in what she
sees, has – so far – not transformed the way others perceive her, except for the
poet’s audience. Yet the words also tease these readers, making them wait a little
longer for their metamorphosis and ›correcting‹ the preceding simile: »She was
like a tiger, but she didn’t actually turn into one«. Because of a gap between form
and identity that makes being a tigress compatible with looking like an Athenian
princess? Or because she always was a »tigress«?
3 Cf. Hardie (2002), 269: »Procne […] is strengthened by the differences that she perceives
between Itys and his aunt Philomela, the difference between speech and speechlessness […]«.
4 As Anderson (1972), 217f. points out, variants of the story survive that actually have Tereus
wed Philomela under the pretence that Procne has died (Apollodorus 3.14.8, Hyginus Fab.
45).
Intus habes quem poscis 37
Ovid’s emphasis on the power of vision in this passage to make you someone
other than you really are parallels the contagious effects of gazing seen earlier in
the poem, most strikingly at the moment when the Theban king Cadmus, staring
at the serpent he has just slain is warned that he too will be gazed at as a serpent5.
More generally, the contrasting visual strategies Procne adopts in relation to her
son and sister mirror alternative responses to the visual signs generated both by
the process of metamorphosis and by the text that records it, signs that raise the
question »Is the laurel tree Daphne, or the cow Io, to whom the viewer supplies a
voice?« But having signaled these ways in which Procne’s dilemma resembles the
reception of Ovid’s own work, I want now to turn to another more explicitly visual
medium, drama, to suggest what is at stake for Ovid in making this comparison
between reading and viewing.
There are of course many elements of the narrative that encourage one to
think about drama here. Not only does Procne’s situation recall that of Medea,
a character waiting in the wings to make her own entrance at the beginning of
book seven, but she was herself a famous tragic character, featuring in the Tereus of
Sophocles, as well as that of Accius. Indeed, the episode offers a virtual anthology
of Athenian tragedy – taking in the Oresteia, the Bacchae, and even the Oedipus
Tyrannus 6.
To understand the significance of the explicit theatricalization of this episode,
we must first examine a little more closely Roman conceptualizations of what
watching a play could do to its audience. Ruth Webb’s discussion of late antique
responses to the theater provides an especially suggestive summary of some of the
issues involved. Although she treats a later period in the history of the Roman
stage, the concerns she illustrates about the effects of dramatic performance draw
on ideas going back at least as far as Plato and amply demonstrated for early imperial
Rome. Webb sees in the early Christian polemic that paints the theater as a snare of
immorality haunted by pagan demons a reflection »of the experience of the theater
audience, an idea of the theatre as a domain outside normal experience where the
spectator is caught up in something Other a certain risk of alteration to him or
herself« (Webb [2005] 3). To understand the terms of this alteration, Webb goes
back to Platonic conceptions of mimesis developed in Republic 3 (esp. Rep. 3.393–
6). There Plato worries that (male) actors themselves are assimilated to what they
represent, becoming habituated to extreme and debilitating emotion by imitating
those who suffer from it. But the moral dangers of imitation apply not only to
the performers; Christian writers in particular express the fear that merely by
watching men portray women, the male members of the audience themselves will
5 Feldherr (1997).
6 See Feldherr forthcoming. On tragedy and Ovid, see esp. Gildenhard and Zissos (1999).
38 Andrew Feldherr
be effeminized7. Thus the situation of Procne, as she becomes different from herself,
enraged and »degenerate« in the act of looking, reproduces anxieties about the effect
of theatrical performance on its spectators. More dangerously still, Procne, at that
moment in which she is both spectator and visualized as a performer enacting
»Procne,« suggests the communicability of this effect to those who watch her even
as she herself crosses the barrier that ideally separates spectator from actor.
In Rome anxieties about the theater especially involved questions of gender and
ethnicity, as is revealed in Juvenal’s discussion of Greek actors’ ability to portray
women:
an melior cum Thaida sustinet aut cum
uxorem comoedus agit uel Dorida nullo
cultam palliolo? mulier nempe ipsa uidetur,
non persona, loqui: uacua et plana omnia dicas
infra uentriculum et tenui distantia rima (Sat. 3.93–97).
Is anyone better when he plays the part of Thais or when the actor takes the part of the
wife or of Doris, adorned with no cloak? The woman herself seems to speak, not an
actor. And you would say everything below the belly was smooth and void, parted by
a slender crack.
I introduce this passage in particular into the discussion because its description
of the moment when the audience accepts the fiction of the performance, when
the actor seems to become what he imitates, so vividly recalls the language of
Ovidian metamorphosis, with its catalogue of transformed body parts, and the
introduction of an imaginary spectator (even the rhythm of that final half-line, tenui
distantia rima, has an Ovidian flavor)8. For Juvenal, the excellence of the actor lies
in a mimesis so perfect that he appears actually to turn into what he plays. At
one level the ease with which Greek actors seem to lose their male genitalia can
be easily parsed as an attack on their masculinity – especially if one bears in mind
the Greek Plato’s fear that actors become like what they imitate. But Juvenal’s
explicit concern is a much more insidious danger to Roman society. Because the
7 Webb (2005), 6–9, citing especially Gregory Nazianzen, Carmina 2.2.8, 2.2.94–97, and the
counterarguments of Libanios to such a position, Orat. 64.70.
8 The phrase tenui rima itself has an Ovidian precedent at Met. 4.65, describing the crack in
the wall separating Pyramus and Thisbe, and Ovid four times in the Metamorphoses makes
up the second half of the hexameter with tenui + a tri- or quadrisyllabic adjective ending
in -a + the disyllabic noun modified by tenui (1.549, 3.161, 6.127, 11.735), a pattern whose
precedent perhaps occurs in Catullus 64.113: tenui vestigia filo. Vergil, by contrast, never
uses this pattern: his preferred position for tenui is at the start of the second half of the
second foot. Earlier in the passage as well, Greek skill at role-playing is likened specifically
to metamorphosis: »in summa non Maurus erat neque Sarmata nec Thrax / qui sumpsit pinnas,
mediis sed natus Athenis« (3.79f.). While the most obvious referent of the allusion is of course
Daedalus, the lines could indeed be read as the moral of the Procne and Philomela story.
Intus habes quem poscis 39
Greeks are such good mimics, they make excellent parasites, deceiving their hosts
through flattery and taking on a variety of deceptive roles not on the stage but in
actual social interactions. While Romans marvel at the Greeks’ ability to confuse
reality and illusion on stage, they miss their ability to transform the real space
of the Roman city into a world of play-acting that ultimately dissolves its ethnic
identity and creates a »Greek Rome« (3.61). Juvenal’s purpose here, then, is to
draw the curtain and expose the fraudulent illusionism that threatens Rome’s own
integrity – making you not believe in the fictions that the Greeks try so hard to
produce. As this invective reminds us, the Greeks do not lack male genitals; on the
contrary, their lust threatens every member of the Roman familia, the wife, the
virgin daughter, the son who was once chaste, even the old grandmother9.
The mechanism for Rome’s ethnic transformation as Juvenal describes it is
admittedly less direct than the one Webb finds in the fear that looking at someone
playing a woman effeminizes the spectator 10. This difference makes sense given
that the satirist here aims to alert his audience to the infiltration that is happening
offstage rather than on. But the result is similar, the spectator society loses its
ethnic distinctiveness, and at the same time its individual members are stripped of
the sexual roles that give them status as members of the freeborn community of
citizens. But Juvenal’s recreation of the theatrical experience here also helps point
out the other side of its socio-political potency. Of course dramatic performances
would never have played an important role in Roman public life if they posed such
a threat to the integrity of the populus Romanus. Because the theater itself was so
strongly marked off as Greek, it also allowed the Roman audience a wonderful
opportunity to remind themselves of how different they were both from the Greek
scenes that were set before them in both tragedy and comedy, and the actual Greek
actors who played them. The Roman theater, I suggest, offers a double potential
either for catalyzing an awareness of who the audience member really is or for
blurring the distinctness of that identity through recognition of a likeness to the
figures on stage – perhaps simply through acceding to the fictions produced there.
Far from enforcing a simple message about the nature of the audience’s Roman
identity, the theatrical experience derived its civic power from the dynamic tension
between these possible readings. Juvenal’s strategy 11 shows this process in action as
a perspective on the theater that stresses the reality of the performance as opposed
to the reality it imitates, showing that the Greek actors are not what they seem,
reminds his audience of the difference between Greece and Rome.
The alternative pulls between seeing likeness and seeing difference that inspire
Procne to become an Athenian as she simultaneously translates Philomela’s appear-
ance into a voice and fails to heed the speech of Itys12 thus mirror the potential
impact of the Roman theater on its audience’s identity. In the second half of this
paper I want to show how the tension between these modes of seeing, enhanced by
references to theatricality, play out over the entire course of Ovid’s narrative. Let
us begin with a look at another complicated moment of double gazing that again
draws attention to how one looks, and how particular strategies of looking affect
their audiences. This is the scene when Tereus, persuaded by his wife’s entreaties,
goes to Athens to fetch her sister Philomela. As the Thracian had begun to repeat
his wife’s request, Philomela herself enters. This scene, if it cannot yet be called
theatrical, certainly recreates the spectacle of her appearance in a way that allows
for an overlap between Tereus’ and the reader’s perspective:
ecce venit magno dives Philomela paratu,
divitior forma; quales audire solemus
naidas et dryadas mediis incedere silvis,
si modo des illis cultus similesque paratus (6.451–454).
Behold, Philomela comes, wealthy, with rich adornment, but richer in her own beauty
(forma), as we are accustomed to hear that the nymphs and dryads walk in the midst
of forests, if only you grant them finery and adornment like those.
Tereus’ reaction to this sight, in its objectification of Philomela and the possibility it
offers the audience of sharing his enjoyment, stands as a textbook example of the
»scopophilic« gaze made famous in film studies and well applied to this passage
by Segal (1994: 260). But two further observations help us place the scene within
the episode’s treatment of issues of theatricality and identity. First, like Procne in
response to Itys, Tereus is carried away by a point of view that reduces its object to
externals – Philomela’s adornment and forma trigger his infatuation. And, second,
such externalized viewing, with its focus on a display of wealth and costume that
perhaps recall the material opulence of theatrical performance so often castigated
by Roman moralists like Pliny the Elder 13, leads here too towards a regression
into barbarism, though of course barbarousness has a rather different relation to
identity for a Thracian than for an Athenian. Whereas for Procne seeing Itys as
other turned her into a being alien from herself, for Tereus this watching activates
12 In the process of silencing Itys by refusing to hear him, Procne also brings him closer to
a stage representation, for the child victims of a Medea or a Procne would not have had a
speaking role in a dramatic performance.
13 Cf. e.g. NH 36.113–15, with the discussion of Edwards (1993), 143.
Intus habes quem poscis 41
his own distinctive ethnic identity – at least from the perspective introduced by
the narrator 14. And in this respect his response to the sight of Grecian splendors
recalls a very distinctly Roman attitude 15. He sees the wealth of Greece as praeda
to be seized, and is captured (captus, 6.465) by captive Greece like the fierce victor
in Horace’s tag (Ep. 2.1.156). Indeed his nationalist response recalls in many ways
the Rape of the Sabine women, which Ovid himself set at a primitive theatrical
performance and uses as an exemplum to persuade present day Romans not to
miss out on the cultissimae women coming to the theater to be seen themselves
(Ars 1.97). After all Tereus, like Romulus, is a son of Mars (6.427).
But as we look back with our inner Roman to these foundational moments
in our own cultural history, another, different spectacle takes shape which elicits
quite a different response from another audience. For the captive king now himself
becomes a producer of images, both as an actor and a creator of fictions. »He
returns with lustful countenance to the orders of Procne and performs his own
vows with her as a pretext« 16. His desire generates a discrepancy between seeming
and reality in his own appearance, and the Athenian audience, with a theatrical
sophistication completely different from the barbarous Thracian, look past the
physical presence of the actor whose cupido ore actually reveals his own intentions,
to hear words and accept the fiction that the desires they express are those of the
absent Procne. Accustomed of course to seeing men play women on the stage,
they assume that is what is happening here. They need a Juvenal to remind them
of the sexual danger posed in real life by this barbarian actor. It goes without saying
that the sophisticated Romans of Ovid’s own day, who in the Ars Amatoria have
to be reminded of the primitive conditions in early Rome, might more naturally
identify their own perspective with the cultivated Athenians, and the narrator gives
them a further push in this direction by explicitly pointing out Tereus’ barbarity
even as he exposes his words as a performance.
The scene, then, anticipates Procne’s encounter with Itys by contrasting a man-
ner of viewing that »sees« only formae and seems to imagine a spectator »self«
distant from and in control of the object of his gaze with another that accepts
dramatic illusions, that hears voices, and so allows for the construction of a sub-
jectivity within what one sees. Here though, these two responses become strongly
associated with divergent ethnic identities, the first as »barbarian«, the second as
Greek. And while we have not yet identified the »subjectivizing« response as fem-
14 … sed et hunc innata libido / exstimulat, pronumque genus regionibus illis / in Venerem est:
flagrat vitio gentisque suoque (6.458–60).
15 Cf. especially the warning about the effects of the spolia from Syracuse in a speech Livy
composes for Cato the Elder, 34.4.3f.
16 Cupidoque revertitur ora / ad mandata Procnes et agit sua vota sub illa (6.467–8). On the
importance of theatricality in this scene, see Hardie (2002), 263f.
42 Andrew Feldherr
inine, we can certainly say that Tereus’ mode of seeing activates and is motivated
by a very masculine desire.
Ultimately both modes of viewing bear different threats to the spectators’ own
integrity, their ability to maintain a difference between self and other. Tereus, even
as he plots the rape of Philomela, is already captured, captus 17. And this initial
glimpse of Philomela begins a »plot« that will end in another act of viewing that
will teach the king all about the dangers of spectatorship. A key point in Tereus’
erotic combustion comes when Philomela embraces her father to persuade him
to assent to Tereus’ plea. »Beholding kisses and arms wrapped around necks, he
receives all these impressions as goads and torches and as food for his madness,
and as often as she embraces her father, he would wish to be that father, nor would
it be less impious« 18. The imagery of food and of fathers embracing their children
anticipates none too subtly the moment when Tereus will experience this metaphor
as reality by literally engulfing his son, Itys. Here the desire to become what he sees,
the father of Philomela, may seem to be an example of empathic watching, but as
the narrator’s ironic comment reminds us, it is nothing of the kind. When Tereus
wishes that he were Pandion, the desire shows his complete absorption in outward
signs; he wants to be doing physically what Pandion is doing; he certainly does not
want to be doing it as Pandion. So too when Tereus becomes a maker of fictions,
»fingit«, what his imagination creates is not a subjective Philomela, but simply a
more intimate exterior; he imagines what she looks like naked (qualia vult fingit
quae nondum vidit, 6.492). His own role as producer of fictions throughout the
episode continues the tendencies of this first scene: he uses lies, false appearances
like the »fictos gemitus« (6.565) with which he convinces Procne that her sister has
died, to impose a barrier to the expression of Philomela’s perspective. His lies, like
the inane sepulcrum he contrives (6.568), are intended to be mere signs that make it
impossible to recover a living presence within what they signify. Correspondingly
his physical transformation of Philomela herself, in ways that eerily anticipate her
17 One way of understanding the mechanism of this capture is suggested by Hardie (2002),
267f., where the desiring subjects become so obsessed with the fictions they have created that
they lose their own selves as their identity merges with the object of their desire/obsession.
Thus, as Hardie, citing Anderson (1972), 218 f., sees in line 6. 513, where Tereus, having made
off with Philomela is in possession of what he has prayed for (mecum mea vota feruntur ),
Tereus seems to become the desire he has created for himself, and conversely Philomela, at
the moment when she weaves the tapestry merges with the figure that she creates »poenaeque
in imagine tota est«, 6.586. This dissolution of the self into an external image, which the self
actually produces, is, though, an opposite process to the generation of genuine sympathy for
another subjectivity, whether present or represented. In the former the self moves outward;
in the latter, an other moves inward.
18 18 Osculaque et collo circumdata bracchia cernens / omnia pro stimulis facibusque ciboque furoris /
accipit, et quotiens amplectitur illa parentem, / esse parens vellet: neque enim minus inpius esset
(6.479–82).
Intus habes quem poscis 43
final metamorphosis, strip her of a voice and force her to rely on visual signs,
the woven carmen miserabile she sends to her sister, even as her tongue becomes
something to see rather than to hear 19.
Tereus’ plot, though, is countered by the consequent representations produced
by the two Athenian sisters, and is equally undone by the kind reception of images
Procne uses to »become« Philomela while rejecting Itys 20. Space prevents a fuller
analysis of how Procne responds to the written song her sister sends her by staging
a series of dramatic festivals – the Bacchic rites that mask her expedition to the
stables where her sister is imprisoned (6.588), and the patrii moris sacrum where
the corpse of Itys is fed to his unknowing father (6.648). But I want to make two
general suggestions about how this part of the narrative continues the opposed
19 Evolvit vestes saevi matrona tyranni / fortunaeque suae carmen miserabile legit (6.581–2). The
text of line 582, an important one for my argument, is not entirely certain. I follow throughout
the reading given by the oldest surviving manuscripts and printed in Anderson’s Teubner
edition. The language is doubly striking: first, a genitive is only very rarely used in Latin to
express the subject of a song (it much more commonly refers to its author, and occurs once
as a defining or appositional genitive, »the song of the Thebaid«), and, second, the word
carmen, »song«, seems at odds with the emphasis on the purely visual aspect of Philomela’s
tapestry. Readings attested in later manuscripts have offered solutions to both difficulties,
presenting germanae for fortunae and fatum for carmen. In the second case, I believe there are
strong literary reasons for retaining carmen. First the very strangeness of describing Procne
here as »reading a song« helps alert Ovid’s readers to the contrast between written and
aural which plays a thematically crucial role at the episode’s conclusion, where marks or
letters (notae) are substituted for song as the distinctive characteristic of the birds the sisters
become. Second, the expression carmen miserabile, already subtly anticipates the moment
of transformation that, I suggest, reveals its special significance. For the phrase miserabile
carmen is used precisely of the nightingale’s song by Vergil (Georg. 4.514). It is unlikely
that a copyist simply inserted a reminiscence of Vergil here for a number of reasons: the
phrase appears in reverse order and in a different metrical position, and, as yet, there are
no nightingales present in Ovid’s text. – The reading fortunae seems to me less certain, and
indeed the most recent edition, Tarrant’s OCT , opts for germanae. The genitive is odd, but
the syntactical oddness would correspond to the shock of its meaning – in reading Procne
is said to discover neither the story of what happened to Philomela, nor even the crime
of her husband, which is what Philomela wanted to show, but a revelation of her own
circumstances. Germanae, on the other hand, seems initially banal but does form a pointed
contrast, heightened by assonance and chiasmus, with the saevi tyranni whose wife Procne
also is. In the end, I prefer fortunae: it is certainly the lectio difficilior, and while unusual, not
difficult to understand, especially in the environment of a phrase like indicium sceleris, used
four lines previously to describe the very same tapestry. In both phrases what the object
shows appears in the same case, and this parallel in turn highlights the significant discrepancy
between the intentions of the author at the moment of the work’s creation – a revelation of
crime done to her – and the meaning it takes on for its reader at the moment of its reception
– a description of her own circumstances.
20 Segal (1994), 264 sees a similar opposition between the »mode(s) of narration« used by
Tereus and the sisters, but expresses it as speech vs. silence.
44 Andrew Feldherr
ways of viewing traced in this paper. Here my reading is rather at variance from
Hardie’s magisterial interpretation of the scene: where he stresses the similarity and
essential reciprocity of the two uses of fiction (2002: 269–72), I want to emphasize
rather the differences in the models of reception that balance female actresses
against male fictionalizers 21. First, Procne’s recognition of her sister through the
written signs she sends begins two contradictory processes that anticipate precisely
her later transformation into her sister. As the text becomes a song, a carmen, so
what Procne sees in it is a song about herself, the carmen suae fortunae. At the same
time that she sees herself in what she reads, though, we watch her from without
and see her transformed into Philomela precisely by losing the capacity to speak,
by becoming an image herself. So at the moment when she views Itys as Philomela
would, we see her from without in the very different form of an Indian tigress.
Second, Procne and Philomela’s own plot uses dramatic fictions fundamentally
to reveal what has been shut up inside rather than to conceal or imprison. From
the moment when she crafts her carmen miserabile, the person that Philomela
represents is herself. When she returns to the palace with her sister, she must, like
a performer in an imperial pantomime, act out what has happened to her through
gesture alone. Finally, her moment of triumph comes as she appears as herself
brandishing the head of Itys and so exposing rather than concealing her crime. The
kind of separation between appearance and reality generated by Tereus’ lies has no
place in her performance, in which, like an absorbed spectator at a drama, we see
only the character that she plays.
That final moment of recognition, Philomela’s emergence with Itys’ head,
brings to a climax the tension between these two modes of seeing and prepares for
a final transformation which lets us understand what is at stake for Ovid in the
contrasting responses he generates for his narrative. For Procne, this marks the end
of dissimulation (dissimulare nequit, 6.653), and the moment when Philomela wants
most to give voice to her own pleasures. And yet Ovid simultaneously heightens
the pressure on his audience to see both sisters as actors in a theatrical performance:
Procne wants to deliver a messenger speech (nuntia cladis, 654), the only way such
a scene could be presented in a tragedy. And Philomela, who had been dressed as a
bacchant to effect her escape from the stable (6.598f.), now continues performing
the Bacchae, as an Agave figure holding the head of a dismembered son. The
scene indeed alludes to a moment of meta-theatricality in that play, when the
actor playing Pentheus, having been dressed as a bacchant by Dionysus, returns
as Agave i.e. as a man dressed as a woman22. And if we continue to super-impose
a tragic performance onto Ovid’s scene, then the head of Itys becomes the mask
that would have represented the head of Pentheus. Imagining the scene literally
enacted in this way draws attention to those two alternative ways of seeing drama.
On the one hand we see a tragic character emerging inseparably as the performer,
Philomela as Agave, on the other the mask a mere theatrical sign, representing
someone, Itys, who no longer has a body and so can never be there. For Tereus
this is the ideal punishment for the time when he dreamed of playing the father
and fed his madness only with the costume and form of Philomela. In place of
being a foreign spectator, with the possibility of merely enjoying, appropriating and
manipulating the spectacle – a position that I would argue approximates an ideal
»Romanizing« view of the foreign theater – he is revealed as himself a character in
a drama, less an authentic son of Mars than a figure from the Greek stage.
But if the last step in this reading has seemed to suggest a »sympathetic«
Ovidian narrator participating with the wronged Philomela to punish any would-be
Tereuses in his own audience, it is important now to insist upon the obvious point
that the Metamorphoses is not a drama. Indeed, the tragic scene is itself transformed
by a phenomenon that could never be represented on the stage, a metamorphosis.
Through this device, as was hinted at before in the tiger simile, all of the characters
are clothed with forms that conceal human identities and, as opposed to the
sequential progression of the drama, freeze them in a final action destined to be
infinitely repeated. This transformation also in eerie ways continues the »fictions«
of the other, more Ovidian, author within the story, Tereus himself 23. As is well
known, the Greek Procne was identifiable by the song she sang, which was itself
the name of Itys. Ovid has »Romanized« them by taking away their voices, and
reducing their signifying means to visual signs – the letters, notae, that mark their
breasts.
In concluding, I want to offer a suggestion about how the interest Ovid has
shown in how selves relate to »others« through the medium of drama, elucidates
his own procedures in telling the tale and the effect of his narrative on its audience.
At first the externalizing, deliberately superficial aspects of the final metamorpho-
sis seems opposed to the sort of internal mutability that Procne experiences in
response to her sister’s carmen. Applying the models of dramatic reception devel-
oped through our reading of the Juvenal passage, we might say that recognition of
the protagonists of the story as what they have become through metamorphosis
goes together with a location of the Ovidian audience as the external spectators of a
securely demarcated dramatic spectacle, conscious above all of the barriers between
the watchers and what they see – a play and not reality. The loss of human form,
together with their imprisonment in textuality, as the letters on the page, especially
23 For a rich explication of the relationship between Tereus as internal author and the poet, see
Segal (1994), 263.
46 Andrew Feldherr
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Identity, identification and personae in Catull. 63
and other Roman texts
In the Partisan Review of 1947 Paul Bowles published a story entitled A distant
episode 2: A professor of linguistics travels to a remote North African town to
make a survey of local dialects. Despite uneasy feelings he follows a stranger to a
dwelling outside the town where he is captured by nomads who beat him nearly to
death and cut off his tongue. The professor (not named throughout the story) falls
into a state of near unconsciousness, while the nomads carry him along on their
travels through the desert, make him sleep among the camels and after a while
start to train him to entertain people at festivities by dancing, covered with »belts
made of the bottoms of tin cans strung together«, and making »fearful growling
noises«. After more than a year of a beast-like existence he is sold to a new owner,
at whose house, at the sound of Arabic words he recognizes without recalling their
meaning, »pain began to stir again in his being«. Having been left alone, he senses
hunger and manages to escape from his prison, strays around the town, until a
French soldier shoots at him, reckoning him to be a sort of »holy maniac«:
»The soldier watched a while, smiling, as the cavorting figure grew smaller in the
oncoming evening darkness, and the rattling of the tin became a part of the great
silence out there beyond the gate. The wall of the garage as he leaned against it still gave
forth heat, left there by the sun, but even then the lunar chill was growing in the air.«
Some of the discomforting effects of Bowles’ story originate in the narrator’s
unwillingness to engage in his character’s possible feelings or to show sympathy.
He is detached from the tragedy he is telling, as is the professor from his own
fortune (acting as witness rather than subject), and as his tormentors are detached
from basic senses of humanity. The story shares many characteristics with Bowles’
other works (especially with The sheltering sky), and some of these may be (and have
been) associated with views on the subject and self held to be typically »modern«,
such as notions of alienation, fragmentation, disconnectedness, incoherence, and
contradiction. The Distant episode develops these notions with regard to another
well-established idea of literary and cultural studies and social sciences, namely the
individual’s fundamental dependence on his or her cultural environment, whose
deliberate abandonment or loss may lead to the collapse of the individual’s inner
constitution or, as a common usage suggests, of his or her identity.
To motivate my following discussion, I would like to point to three more texts,
first an observation by Anthony Long on Greek and Roman philosophies, then
two plots from Roman literary texts. Long stated:
»Actually, all the philosophies I have discussed were so sensitive to the effects the social
forces have on shaping human identity that they more or less anticipated today’s
anthropological datum that human beings are ›cultural artifacts‹. Their educational
ambitions […] were a critical and very deliberate reaction to it – a reaction to the
power of conventional ideologies to shape people’s values and motivations without
remainder.« 3
The two literary plots are: A young citizen of a Hellenistic polis travels to the
Phrygian shores, participates in orgiastic celebrations of the Great Goddess Cybele,
and emasculates himself in frenzy. Having regained reason, he returns to the beach
and desperately regrets what has been done until a lion chases him into the woods;
he never comes home again (Catull. 63). Finally: A poet is relegated to the margins
of the civilized empire where he is deprived from any company and exposed to a
hostile nature and beast-like inhabitants; little by little he loses his ability to speak
and is isolated and oppressed by fear; he never comes home again (Ovid’s Tristia).
If we had the impression that Bowles’ plot is typically modern, are the last
two less or equally modern? If Greek and Roman philosophies could think of
the human being as a cultural artifact, where do we have to put Roman literature
when constructing a history of literary concerns about the self? Which particular
features of concepts of the human being do we have to note that were not yet
available to ancient or that are not any more available to later poets or writers
of prose? Such historiographical concerns about notions of the self seem to have
no marginal impact on what scholars in literary studies think their task in dealing
with the self should be 4. Not few contemporary accounts deal with something
which is sometimes called ›history of the self, of subjectivity, of individuality‹, and
3 (2001), 31–32.
4 Which is perhaps different in the history of thought: The magisterial volumes of Gill (2006)
and Sorabji (2006) both present thoroughly grounded theses about historical development
(see notes below); see also the survey on Greek notions of the human person (covering
Identity, identification and personae in Catull. 63 51
try to pinpoint the birthplace of special or all related notions within an epoch,
a discourse, or even a single author. My following observations intend to show
some difficulties arising from a particularly reductionist historiographical approach
to literary texts, and doing so I will concentrate on notions of personal identity and
acts of identification in Roman poetry, considering these notions simultaneously
as subject-matter of texts and as relevant condition of everyday reading practices.
I won’t try to engage in a discussion of what Catullus, Ovid or Lucretius may
›already have seen‹, but I would like to call for a wider approach to the issues of
the self by including literary perspectives, and by paying attention to literature’s
own agenda concerning philosophical, social, or religious concepts of the self.
1. Preliminary remarks:
Personal identity and acts of identification
also identity, identification, and individuation) in Teichert (1999), 15–89 (with convincing
objections against Snell’s claims of discontinuity).
5 E.g. Searle (2004), 192–194 distinguishes three »families« of problems related to the self:
criteria of personal identity, the subject of attribution of psychological properties, and what
makes me the person I am, the last being related to character and personality while the first
two concern »the metaphysical problem of the existence and identity of a self across time«
(ibid. 194). On the distinction between logical notions of identity as relevant for persons
(numeric, qualitative, and diachronic) from the wide identity covering relations of someone
to himself, how one represents oneself, acts and lives in accordance with what is suitable and
wished for by an individual, see Teichert (1999), 4. A verdict on the loose notion of identity
in social sciences in contrast to philosophy is Henrich (1979), 133–137.
6 A short historical overview on related ideas and terms in Sorabji (2006), 32–53; a helpful list
of issues in modern and ancient discussions of personal identity is in Gill (2006), 72–73.
52 Alexander Arweiler
knowing that the terms thus circumscribed are provisional and ideally open to
later refinement 7.
Self and identity are collective terms that are constituted by a variable set of
aspects and ideas. For pragmatic reasons it seems legitimate to take the collec-
tive terms when referring to a previously established set of features, for example
coherence, continuity, autonomy, individuality, uniqueness, sameness or person-
hood. These features, interrelated with each other and constituting themselves
fields of inquiry, can be subordinated to self and identity, but they are not neces-
sarily included or explicit 8. We may single out some particularly unhelpful uses of
the collective terms that tend to obscure their meaning when referred to literary
texts: abbreviated expressions without previous specification (talking about ›the
self‹ instead of a particular concept of a particular aspect related to the self), expres-
sions lacking limitations in time, place, regard etc. (›the Roman/Greek/ancient self‹
instead of a concept of self documented by a specific text, tradition, author etc.),
unexplained complex terms (›subjective‹, ›individualistic‹), and references to more
than one person or individual involved (›collective self‹, ›cultural identity‹).
The last claim is connected with the first and second, but needs some explana-
tion, as it is common to talk of identities of nations, communities, and groups. A
shared interest in a specific property or pattern to describe one’s personal identity
is not conclusive for stating that the single descriptions of a similar type form one
description or involve a new entity such as a collective identity. Individual acts of
identification may be concordant or discordant, but the acts remain separate and do
not amount to one and the same act carried out by several people. The shortcut also
is misleading about the number of possible items, their selection and combination
according to changing circumstances, and it ignores the large area of evidence that
may be dealt with in a single case, but even then are rarely accessible to the observer
(attitudes, beliefs, mental states, psychic experiences, private notions, intentions,
experiences). Therefore I doubt that it is meaningful to talk about a Roman self or
a Roman identity to be recovered from Ciceronian speeches or Vergil’s Aeneid9.
Instead, we have single texts with specific contexts dealing with specific aspects of
the concepts of self or identity, and we may study the specific conditions, aims, and
7 On the idea of later refinement see Parsons (2000), 174: »We have in mind ideals of completely
precise concepts. When we use a word, it is to be taken as if it were expressing a precise
concept, one which is a refinement of the imprecise one we actually express«.
8 Specification within philosophical studies and schools reinforces this problem, see e.g. Sorabji
(2006), 157 on prominent approaches to identity: »I now move from the sort of subject
discussed by Derek Parfit to the sort treated in Charles Taylor’s Sources of the Self , from the
question of what constitutes personal identity and difference to the rather different idea of
possessing an identity in ethical contexts«.
9 Syed (2005) for example is quite difficult to understand for the generalizing, abbreviated
approach to the field that is not structured according to the texts and concepts involved.
Identity, identification and personae in Catull. 63 53
outcome which in literary texts is far from being easily transferred to another text
and even less so to one or more individual persons behind. Finally, a last discom-
fort concerns generalization of the historiographical type (mentioned above): The
single texts with specific contexts and dealing with specific aspects from the field of
self and identity cannot be pressed into the scheme of chronological development,
but form an array of different approaches in different times and places where the
first inventors of thoughts and concepts remain obscure. Recent scholarship in phi-
losophy has refuted many long-established opinions about the (modern, even late
modern) inventions in the thought about the self, and the lack of scholarly tradition
within literary studies advises avoiding the trap of historiographical reductionism10.
Having set these preliminaries, I would like to confine the following obser-
vations to a small part of the questions related to personal identity which is (as
announced above) the acts of identification. An act of identification may be under-
stood as a means to differentiate single entities from each other which belong to
the same species, as is the case with human beings and literary characters alike 11.
Performing this act goes along with an act of individuation (which person out
of a group?), and makes use of different categories and attributions that may be
ascribed to several persons but either allow for sufficient identification within a
confined group of possible candidates (the one named Aeneas, or if there are
two of this name: Aeneas who is sitting on the left to Anchises), or are applied
in a different sense (the wisdom of Socrates being different from the wisdom of
Plato) 12. Another type of acts of identification, and perhaps a more frequent one
in literary texts, is not so much referred to differentiating one from the other,
but simply to showing who one is, thus delivering information on name, status,
descent, preferences, behaviour and so on in order to make a character a character .
But the interest in literary acts of identification may begin earlier: Vergil’s
Aeneas famously introduces himself to Dido by saying Pius Aeneas sum, thus
identifying himself by a quality of his character he may assume to be especially
appealing to the queen. Whether this is meant to be a reliable account of what he is
or what he thinks about himself, is open to inquiry and depends on what we may
infer from the context (as it may also be a deceptive speech such as the one uttered
by Sinon in book 2 of the Aeneid). The sentence contains an element of persuasion
and exhortation not expressed by grammar: »Believe me, I am Aeneas and I am
pius«, or: »Identify me as Aeneas who is pius«. This element of exhortation is
easily recognized within a direct speech, but it is also present when the speaker or
10 E.g. See Sorabji (2006), 95–111 on John Locke’s return to ideas of memory in Epicurean and
Stoic texts, explicitly Lucretius (esp. Lucr. 3,843–64).
11 Teichert (1999), 47 (on Aristotle); on differentiating individuals within the Stoic tradition, see
Sorabji (2006), 144–151 (on distinctive qualities, place, and matter).
12 The example and some ideas are from Teichert (1999), 45 (on Aristotle).
54 Alexander Arweiler
narrator of a literary text utters a statement. Every sentence of the type ›The person
x is z‹ may be read as ›Believe me that x is z, Imagine that x is z‹. Once a reader
has agreed to dealing with literary texts, s/he will want to follow the proposals and
take them as literary facts, even if the fact is not the proposition, but the utterance
itself (›Imagine …!‹). Propositions within the text are meant to be measured against
other propositions and contexts (structure, composition, affiliation to a genre or
mode of speaking, mythographical traditions etc.).
Thus the texts may provide a successive series of proposals to identify a char-
acter (by name, qualities, behaviour, descent etc.), and it is up to the reader to
construct a unified or contradictory image, relate it to other images from litera-
ture (e. g. other characters named Ulysses) or historical and political record (e. g.
Caesar). Especially characters known from literary tradition and reappearing in
different texts pose interesting (and not solved) puzzles to the reader: How can we
think of Ariadne as being the same e. g. in Catullus and Ovid? What is her identity
that makes her the same despite all modifications?13 Many readers will take it for
granted that the proper name may be sufficient to relate the texts one to the other,
but presupposing an identical character with changing properties seems to draw a
conclusion before the arguments have been found 14. Debates about the results of
these and similar acts of identification are due to several factors, one surely being
that we are not confronted with (logical) cases of strict identity where (according
to a possible definition) every property of person A is equally present in person B,
but asked to fill gaps, argue in favour of or against a certain identification, compare
our own patterns with those applied in the text or by other readers 15.
Acts of identification may be displayed on the level of narrated events (charac-
ters being introduced or describing themselves or others, recognition or anagnorisis
or confusions of persons [e. g. as parts of plot arrangement, with doubles and mis-
takes of identities], discussion of relevant or irrelevant features of a person etc.),
they are carried out by characters describing others and narrators introducing and
13 As we will see later on, the selection (and awareness) of criteria is a subject-matter of poetic
texts as well as it should be of literary critics; Searle (2004) 196 proposes rightly to look at
those criteria »people employ in ordinary speech for deciding which person today is identical
with which person in the past«
14 Ariadne in Ovid and Catullus may be referred to as the same (character) in that sense that
we refer to other people’s beliefs (it is the same, but we have different images in mind, cf.
Henrich [1979], 156–158), but I would think it is a misleading homonymy.
15 Another one may be that we are dealing with a strange entity when referring to literary
characters, having biographies, families, and long literary lives, yet no substance we could
refer these properties to. Some may interpret divergence in results of identification as a
deficiency of the text or an inability of readers to do it »right«, but as it is probable that we
are confronted with deliberate distortions of common identification practices, the objection
may be dear especially to those whose beliefs in established patterns of identification is
challenged by the literary text.
Identity, identification and personae in Catull. 63 55
16 I have tried to show the complexities of the process that makes us perceive characters and
narrators as eminent elements of a text in Arweiler (2006), e.g. 4–8, 37–48, 52 (on Lucan).
17 Beard/North/Price (1998), vol. I, 165.
18 On symmetrical patterns in the monologues see Fedeli (1978), on Hellenistic composition
Fantuzzi/Hunter (2002), 550.
56 Alexander Arweiler
19 The best starting-point is Harder/Nauta (2005) where all articles have extensive bibliogra-
phies; against Wiseman’s idea that poem 63 was meant for ritual performance at the Megalesia
see Fantuzzi/Hunter (2002), 563 n. 74. On religious-historical aspects of the cult see esp.
Lane (1996); Nauta (2005), 109–116 has convincingly connected the Cybele cult in Catull 63
with the (re)new(ed) interest in Rome’s Trojan origins. Discussion of the proposed relation
to the Bithynian experience of the historical Catullus e.g. in Perutelli (1996), 264 (cf. the
convincing objections expressed ibid. 269).
20 Texts and English translations here and afterwards are Stephen Harrison’s, published in
Nauta/Harder (2005), 2–7.
21 Reydams-Schils (1998), 35 points to the Roman development of Stoic doctrine to bring out a
»self as a mediator between philosophical norms and the demands of society, ranging from
those of spouse, children and kin to those of the political community«.
Identity, identification and personae in Catull. 63 57
participants, while the latter’s existence ceases to have meaning when separated
from the »common thing«)22.
As to the exact questions she asks about her self, it is clear that individuality
or uniqueness of the experience are not prominent, and metaphysical interest is
probably small 23. Attis does not doubt the sameness of the agent before and after
the decisive change she has suffered, yet the text conveys the notion of a serious
conflict acted out in the stammering search for words to describe what happened
(e.g. 63,58–60). But this conflict bears rarely features of what to us seems the
familiar ›turn inwards‹ for inspection, not rarely connected with Hellenistic ideas
and with Catullus, too24. The text is explicit about the conditions that allow Attis
to perceive this conflict, and it indicates the properties the ego under review owns:
The me feels pain and remorse (63,73 dolet, paenitet), recollects through memory
what she has done (63,45 sua facta recoluit), observes rationally (63,46 liquidaque
mente vidit) and experiences passions such as grief and misery (63,49). The inner
connection of body and ›soul‹ is covered by mentions of the breast (our ›heart‹) as
place where the recollection of the deeds is located (63,45 pectore), of the mens in
connection with rational sight, the tears from her eyes (63,48 lacrimantibus oculis),
the voice, and twice the animus, once as experiencing the turmoil of passions (63,47
animo aestuante) and once as addressee of lament (63,61 miser a miser anime). This
Attis is having her moment as (perhaps Stoicizing) self that »is rational, unified and
subjective consciousness that is reflected in a discourse of explicit self-examination
and -assessment« 25, but as we will see later on, she has scarcely anything to say
about an inner conflict between passions and reason, or diverging passions 26. Her
problems seem to lie somewhere else.
22 E.g. in regard to morality Long (2001), 30 reminds us: »As construed by ancient philosophers,
morality is not obedience to God as distinct from following one’s own inclinations […]
What the ancient philosophers in general take morality to be is the self-imposed rule of
good reasoning – called orthos logos by Aristotle and the Stoics, and best translatable […] as
»correct ratio« or »correct proportion«.
23 The fact that Attis (in some traditions of the cult) was a name of all priests of Cybele may
strengthen the aetiological dimension of the narration and thus make of Attis an archetypical
figure. That the galli in the cult itself were no priests is stressed by Thomas (1984), 1526; cf.
ibid. 1527–28 on the difficult questions and sources; cf. Lancellotti (2002), 91 n. 157: »cultic
appointees« (following Razzano [cited ibid.]).
24 Cf. instead Sorabji (2006), 52: »[…] there will not so much have been an inward turn. rather,
from the beginning some philosophers, not all, will have been attracted by the idea that truth
lies within.«
25 Reydams-Schils (1998), 35.
26 Perutelli (1996), 261 is different: »L’individuo, e solo quello, si lacera per la sua unicità perduta,
dibattendosi in un turbinio di sentimenti non lontano da quello dei gesti rituali del culto di
Cibele.«
58 Alexander Arweiler
The narrator seems almost eager to assemble every feature that could com-
monly be held as distinctive of human beings: memory, rationality, language,
perhaps also sensing remorse and pain. This is the precondition for the speech
which accordingly does not show an entire collapse of the person or mind (and no
metaphysical crisis). Rationality provides the distance Attis takes to observe her
self, as it enables ethical observation famously theorized in the concept of the cura
sui, but she sees just what everybody else in her community could see (there are
no mental states besides remorse now, there are no questions about her intention
when leaving her home country). The self has not only survived the break of her
consciousness, but also retains the memory of the past, as she recounts her former
life in retrospect, carefully structured by civic categories and permitting to identify
the precise place within her former social community 27. What is enacted on the
poetic level is, I think, very similar to the observation made by Sorabji:
»The thicker descriptions we give of ourselves may be extremely important to us. We
come to feel that, in an everyday sense of identity […] we would lose our very identity
if the descriptions ceased to hold; if, for example, we changed our gender, profession,
nationality, and culture. But there is no suggestion that we would cease to exist without
them. And indeed we could come to see a new overarching identity and unity that
embraced the new characteristics along with the old.« 28
The last point, a new identity (in the loose sense), is not part of the speech or the
narrated events, but, as I will argue later, its omission may be due to the narrator’s
specific objectives. Nevertheless, the text’s grammar and style in the speech of Attis
are depicting the intensity of the experience, and the asyndetic structure produces
a disconnectedness of the words that repeats the separation of Attis from her
self. The idea is reinforced by the insistent repetition of ego (probably the highest
frequency of the pronoun in Latin literature). The reader follows Attis through the
list of properties and states of being that all once belonged to the ego, but now are
stripped off, and leave him with the question what may be this ego after all is gone
that could be said about it (as the new properties are described as alien to it). The
repetition furthermore seems to be self-assuring, hoping that the one called for is
really still there. An interesting shift is made after the recollection of social states
when, still not doubting the psychic continuity through the course of events, Attis
shortly mentions the physical change and immediately gives an outlook on the
(threatening) future.
27 Social orders (63,59 patria, bonis, amicis, genitoribus) are followed by civic (urban, Hellenistic)
institutions (63,60 foro, palaestra, stadio, guminasiis) and ritually defined stages of the civic
life (v. 63 ego adulescens, ego ephebus, ego puer), the latter in reverse order.
28 Sorabji (2006), 22; ibid. he explains »thicker descriptions« as those used in decision making
and reacting emotionally »as a person with a certain standing, past history, culture, and
aspiration«.
Identity, identification and personae in Catull. 63 59
Catull. 63,69–72 29
ego Maenas, ego mei pars, ego uir sterilis ero?
ego uiridis algida Idae niue amicta loca colam?
ego uitam agam sub altis Phrygiae columinibus,
ubi cerua siluicultrix, ubi aper nemoriuagus?
Shall I be a Maenad, a mere part of myself, a sterile man?
Shall I haunt the chilly regions of green Ida, clothed with snow?
Shall I spend my life under the lofty peaks of Phrygia,
Where the hind lives in the woods, where the boar wanders the grove?
We will come back to the outlook on life in the woods below 30. The sex change,
central to the perception of many modern readers, is described mainly in physical
terms as Attis fearfully asks how she can be herself while being just a part and a
man without procreative power (63,69). Measuring pars mei by the psycho-physical
holism amply documented for Hellenistic philosophical schools 31, we may infer
that the expression also indicates a mental dimension and Attis is actually referring
to her self as being reduced to a part. Another term of considerable interest is the
difficult genus figurae (63,62) which Attis employs to introduce the list of stages in
social and biological development she has gone through. In Lucretian philosophical
terminology figura is the form (of living beings or inanimate objects) which the
single semina bring forth by assembling and temporarily being a living being or
an inanimate object, and in another sense it denotes the way things and persons
appear to us physically as well as as being a person with characteristic attitudes or
behaviour. Both meanings point to a notion of inseparability so that appearance to
the others (outwards) and the self (inside) are neatly interwoven. Attis has no sense
of a contrast between me and an oppressive set of rules, norms, and constraints
imposed by the society, as the model she applies is based upon an interaction
between individual and community 32.
As indicated by the quotation given at the beginning of the chapter, this part
of the poem has appealed to many readers and has often been seen as depicting a
crisis of identity or a tragedy of the soul, but as my preliminary remarks probably
have already suggested, I would refrain from most of the terms involved in these
descriptions (especially ›subjectivity‹ or ›individuality‹), and I think the text points
into another direction. While the situation of Attis is definitely one that causes
sympathy, her monologue is not only less emotional than one may expect (as
we will see below, this is the narrator’s fault), it also displays no great interest in
29 Texts and English translations Stephen Harrison’s, published in Nauta/Harder (2005), 2–7.
30 On dancing in the woods in the cult of Cybele cf. Pachis (1996), 216–218.
31 A full account is given by Gill (2006), 3–73.
32 Famously, George Herbert Mead has analysed these interactions at detail, for a sketch of
consequences for historical studies (medieval in this case) see Von Moos (2004), 4–8.
60 Alexander Arweiler
33 We may refer to Sorabji (2006), 50 who distinguishes four aspects in the development of
ancient discussions about the self: »[1] the idea of a true self, [2] the interest in personal
identity over time, [3] the interest in individual differences in decision making, [4] and the
idea that one must look within oneself for the ultimate truths or realities.« (my numbering).
According to Sorabji (ibid.), 50–52 [1] goes back to Homer, [2] discussed in the 3rd century BC
or later, [3] at the beginning of the 1st cent. BC, [4] goes back (through Cicero and the Stoics)
to the Presocratics. Attis could be interested in all four, but if at all, only touches them, and
the absence of [4] is telling.
Identity, identification and personae in Catull. 63 61
34 On ancient discussion and some evidence that the puzzle was seen as partly parallel to
personal identity see Sorabji (2006), 62 with quotation of Plutarch, Life of Theseus 23; Searle
(2004), 194 dismisses the problem: »It seems to me there isn’t any further fact of the matter.
It is up to us to say which is the original ship«; extensive discussion in Parsons (2000), 1–5
(and throughout the book) and Gallois (1998), 16–25 (and throughout the book), again e.g.
190–91.
35 As is the case with the schematical employment of attributa personis (see below) this approach
fails for its inability to define how a self is different from the pile of isolated qualities; on
ancient and modern discussion of such »unique bundles of characteristics« see Sorabji (2006),
138–143.
36 Von Moos (2004), 13 (in regard to medieval studies) distinguishes common categories which
need to be combined to allow for an identification, and those that directly allow to individ-
ualize, such as the face, the voice, scars or our fingerprints; the first may be further divided
into collective and ›participative‹ features, the latter indicating for example social rank and
status (through haircut, clothing, name etc.).
62 Alexander Arweiler
prevail. But the interest Catullus has in his character’s situation is based upon the
narrative abilities needed to survive as a self, and this may be referred to what
Anthony Giddens (himself referring to Charles Taylor) stated about the role of
narrative within the construction of an identity: »A person’s identity is not to be
found in behaviour, nor – important though this is – in the reactions of others, but
in the capacity to keep a particular narrative going« 37. Before we have a closer look
at some of the implications of this approach to narrative identity, it may be noted
that celebrating memory and narrative as if they were an alternative to rational
analysis, the first being reliable, the latter deceptive, is a naivety definitely alien to
Roman writers, and not apt to distinguish a literary world view from a so-called
scientific or rationalistic one – narrative, as we will see later on, is a rational device
in itself and used in a highly artistic way to question the readers’ notion of reliable
and ›simple‹ telling one’s identity38.
The diachronic change is, according to this description, not a problem in itself,
but generates a problem only when the narrative patterns available to someone
cease to work. This may be the case, in narrative identity as well as in literary
narrative proper, when notions of coherence and continuity are too narrow to
cope with the range of possibilities. Both are expected to be coherent in order
to be reasonable and comprehensible to recipients and community, which in case
of literary narrative does not mean that a text has to be linear, or chronologically
ordered, or coherent in content and reference, as the expectations of a reader are
part of the subject-matter of literary texts, which in turn may be interested in
ruptures, time lapses, or other devices of reversing expectations. The meaning of
coherence would then not be confined to a particular aesthetic choice, but referred
to being coherent within literary conventions. The case with coherence in personal
identification outside of literary texts is at the same time quite similar and quite
distinct from that. A community displays particular interest in the reliability of
its members’ identifications, as an understanding of one’s behaviour and a certain
grade of predictability are indispensable for the other members. This is why in
37 Giddens (1991), 54. It is a special pleasure to quote this work as it is entirely devoted to
creating a distinct ›modern‹ self.
38 Cf. Sorabji (2006), 176 on Plutarch’s concerns with memory (first: bad memories obstruct
tranquillity, second: planning future projects is more important than having past memories):
»Third, there is the danger of self-falsification, if identity is allowed to depend on memory. In
fact, in its earliest version with Epicharmus in the 5th century BC, the Growing Argument’s
fragmentation of the self was designed to disclaim responsibility for what was done by selves
falsely deemed to be other. If the fragmentation is to be repaired by weaving a narrative, the
weaver must not be allowed to weave a narrative that equally falsifies by wrong inclusion
and exclusion of data.«
Identity, identification and personae in Catull. 63 63
everyday life people questioning their diachronic continuity are less welcome than
in philosophy or literature 39.
The failure of Attis to produce coherence in her own narrative is, as we have
seen, deeply linked to the demands her community uttered when providing the
standard scheme for an account of a citizen’s self, and the observation of this
general problem may have been an interesting starting point for Catullus to think
about a poem like 63. The obligation to have a coherent story of one’s own, and to
be able to give an account of it, is not confined to specific historical times, and the
texts of poets like Catull. or Ovid, or Cicero’s explorations of how an individual
narrative may successfully be adapted to standard narratives that were incompatible
with his own, show that incongruities were likely to promote and extend linguistic
patterns and literary conceptions. Amélie Oksenberg Rorty, when discussing the
use people can make of conceptions of personhood in order to serve their own
purposes, has convincingly drawn her conclusion in literary terms: »The emphasis
shifts: the person is first identified as the author of the story, then by the activity of
story construction, and then simply by the emergent content of the narrative« 40.
But coherence in regard to one’s identity narrative is open to redefinition as it
is with literary narratives. An interesting proposal is made by Manfred Frank in his
discussion of deconstructionist attacks on the notions of identity and subjectivity
as a whole 41. An individual, according to Frank, does not only ascribe differ-
ent predicates to himself, but also ascribes these predicates semantically changed,
accepting possibly different meanings from one time to another 42. The aporetic
view that the self is never able to be present to itself, because the necessary time
gap causes equally necessary misrepresentations and forbids a signifier to touch
the signified, becomes less attractive if we distinguish the continuous sequence of
transformations from the accompanying sequence of interpretative acts. These acts
do not rely on objective meaning (›sense‹), but on the participants’ acknowledge-
ment that their interpretation is based on the hypothetical judgement that and how
two successive states of being are linked one to another 43. The relation between
39 Teichert (1999), 76–86 gives a convenient survey of some problems concerning personal
identity as discussed in ancient philosophy, one of them from Plutarch, De sera numinis
vindicata (in: Lacy [ed. 1959], Moralia VII , 244–247) who paraphrases a scene from a
comedy of Epicharm: A debitor says as everything changes he is not the same man who
borrowed money, the debtee then punches him, excusing himself with the same argument.
40 Oksenberg Rorty (1990), 30 (with reference to J. Bruner, Actual minds, possible worlds,
Cambridge 1986).
41 Frank in id. (1988), esp. 22–28.
42 Frank (1988), 22: »Ein Individuum legt sich im Laufe seines Lebens nicht nur verschiedene
(semantisch invariante) Prädikate zu, sondern es legt sie sich auch auf verschiedene Weise,
nämlich in wechselnder Semantik, zu.«
43 Frank (1988), 26.
64 Alexander Arweiler
The acts of identification carried out by Attis have failed because she could not
apply the narrative patterns she was used to. In the following chapter, I would like
to propose that despite this failure on the level of the narrated events, there are
other acts of identification that succeed on the level of narration. One successful
identification is carried out by the narrator who uses the failure of Attis for his own
purposes, and another successful act takes place on an intertextual level, as poem
63 uses the account Lucretius gives of human development. Lucretius is brought
in as (reversed) subtext to invite the reader to further (literary) identifications, and
establishes a literary biography of Attis that is imbedded into her own retrospection.
Let us start with the latter contention.
In course of the narration Attis is isolated from her comrades and made to
do what tragic heroines used to do when left alone and in grief: She runs to the
shores and recites a monologue, preparing for her fellow-heroine Ariadne in poem
64 and enriching the scene of the lamenting female at the shores by a new variant.
The motifs of sea travel, reversal of past and present, the crossing of geographical,
social, and figurative borders are common to Catullus 62, 63, and 64 (among
44 Frank (1988), 27: »Auf diese Weise würde zwischen zwei aufeinander folgenden Stadien
des Selbstverständnisses der Person (…) sich eine Kontinuität einspielen« (…), »die keine im
evolutionären Sinne wäre, sondern eine von einander motivierenden abduktiven Schlüssen«.
45 Gallois (1998), 34 describes his understanding of occasional identity as »the view that an
identity can hold at some time without always holding«.
Identity, identification and personae in Catull. 63 65
others) 46. The indication of the galliambic metre in 63,2 (citato pede) 47 may well
be a marker of poetological concerns as it is in the later, well-known play on pede
in Ovid am. 1,1,3–4. The beginning is linked especially to the epicising elements
in Catull. 64 and 101, encouraging the reader to engage in generic discussion 48.
Even the act of emasculation is transformed through the metaphorical use of
pondera ili that describes the testicles cut off as the »hanging warp threads from a
finished loom«, as David Wray has convincingly argued49. Attis carries out an act
of reshaping herself (earlier material) into a work of art, and she thus takes part
in a Hellenistic metamorphosis, dear to many literary predecessors of Catullus 50.
When addressing her companions Attis compares them with exiled citizens (63,14–
16 aliena quae petentes uelut exules loca / sectam meam executae duce me mihi
comites / rapidum salum tulistis truculentaque pelagi). She is leader of a failed (epic?)
expedition and has turned from a dux of people (like Ulysses, Jason [Catull. 64],
Aeneas) who may have looked for a new home or wanted to fulfil some heroic
task, to a female leader of Maenades who aimlessly wander around (see 63,15; 32
Attis dux; v. 34 ducem).
But the most important datum of her literary past is given by Attis within her
speech while recollecting what she did (this time reaching back to the time before
the events of the poem): She was an eromenos of love poetry, courted by hopeful
lovers lingering at his door. A parallel reading of Catull 63,65–67 and Lucretius’
mockery of the exclusus amator allows for a complementary picture of the situation
seen from inside and outside the door:
Lucr. 4,1177–79
at lacrimans exclusus amator limina saepe
floribus et sertis operit postisque superbos
unguit amaracino et foribus miser oscula figit;
46 Fantuzzi/Hunter (2002), 557 underline that the galliambic metre as tetrameter ionicus catalec-
tic can take the same words and groups as the dactylic hexameter and may be read as a
provocative pendant to the latter, especially when confronted with Catull 64. The sea travel
may also be linked to the idea of the nefas argonauticum as discussed in Catullus 64 and inte-
grated into Lucretius’ account of the descendant elements in human cultural development
(5,1006 improba navigii ratio tum caeca iacebat).
47 Cf. Perutelli (1996), 262: »La propensione ossessiva per la velocità è presente nel ritmo del
rito riflesso nel metro del galliambo. […] personaggi, che si conformano alla velocità.«
48 On vectus (Catull 101,1 multas per gentes et multa per aequora vectus), the swift ship and other
elements (as in Catull. 64) see e.g. Perutelli (1996), 255 (referring the instances not to epic, but
carmina docta with personal notes). Another indication may be given by the iuvenis-theme
that despite differences in reference connects the openings of Catull. 62, 63 and 64 (see 62,1
iuvenes, consurgite; 64,4 lecti iuvenes). See Fantuzzi/Hunter (2002), 554–55 on parallels to the
epic narrative of Apollonios.
49 David Wray, »Attis’ groin weight«, in: CPh 96 (2001), 120–126.
50 Perutelli (1996), 260.
66 Alexander Arweiler
Catull. 63,65–67
mihi ianuae frequentes, mihi limina tepida,
mihi floridis corollis redimita domus erat,
linquendum ubi esset orto mihi Sole cubiculum.
My doors were crowded, my thresholds were warm,
My house was clad with flowery garlands,
When I came to leave my bedchamber at sunrise.
The reader of Catullus may have already been prepared for some love connection
when reading Attis’ repeated lament of being miser (see above, 63,51 und 61), itself
a coinage found since Lucretius 51. Both poets draw on the established tradition
of the motif, and it is not only probable that readers of Catullus were reminded
of the Lucretian passage, but also that they added Attis’ memory of having been
courted not to the list of social facts, but put it on their list of literary items.
Attis is furnished with a biographical fact drawn from her literary tradition, having
once been an eromenos of love poetry, and now being Cybele’s follower in a
Catullan poem 52. Attis, much as Ovid’s Ariadne in Stephen Hinds’ reading, is
a character referring to her own literary biography and reminding the reader of
her textual existence relevant to identifying her on her own, literary terms. The
poetic descent is included into the set of features that permit a description of the
self, so that at an important point within the character’s lament for having lost
the former framework, the poet offers a distinctive quality of poetic existence that
complements the memory of Attis by the memory of the readers 53. In accordance
to what we have lined out above (a literary act of identification being a proposal
to imagine things happened as narrated), the character’s biography is not confined
to the level of narrated events, but reaches beyond the level of narration: ›Imagine
that the character x has been a character y in another text‹. Attis as a narrated
character is given a past within other texts, and in order to remind readers of this
fact, the poet makes her witness to how her self is textually produced. We do not
need, as I will argue later, to worry about a loss of authenticity in accounts of the
self if we detect such artistic features, or conventional ones, linguistic formulae,
51 On Lucretius and miser as conventional attribute of the »lover whose will and reason have
been senselessly subjected to passion« see Selden (1992), 469.
52 Another hint towards love poetry (Catullan as well as traditional) can be detected in the use
of erotic language when Attis addresses the patria (see v. 56 cupit ipsa pupula ad te sibi dirigere
aciem and Morisi [1999] ad loc.).
53 The interaction with other characters is not far from social interaction as part of an identifica-
tion of one’s own or another one’s person, as the concepts of personhood have connections
with life on stage, cf. Oksenberg Rorty (1990) about the social function of identities (ibid.
28): »Social persons are identified by their mutual interactions, by the roles they enact in the
dynamic dramas of their shared lives«.
Identity, identification and personae in Catull. 63 67
quotations and adaptations of earlier writers (on the self or other topics), because
within Roman literary history the existing work of predecessors is seen as a regular
and authentic category where from an identity can be built.
Besides Attis and biography, there is a second character whom we have to
take into consideration when reading the acts of identification within the poem,
and we may try to identify him through his behaviour. According to the narrator,
Attis is not struck by frenzy when arriving at the exotic place, but has already been
in a state of haste and excitation before he landed54. The attention both Attis and
the narrator pay to constructing a hostile nature awaiting Attis, may convincingly
be explained by the well-known device of employing the ›subjective‹ perspective
of the character involved55. But we could also put this the other way round and
make the narrator, who reports the speech and arranges it according to his own
intentions, construct a balance between her (supposed) crime and the punishment
she deserves in his eyes (himself trying to see with Cybele’s eyes in order to please
her). The interaction between narrator and character, described by Perutelli 56, may
then be dependent on the leading voice of the poem that has been identified by
Richard Hunter with a Gallus 57. I am entirely convinced that this is the right
question to ask, but it seems safer to assume a narrator whose main aims are
expressed in the text: convincing the goddess to spare him, and trying to convince
her, as being the Roman imported version of Cybele 58, by stressing Attis’ treason
54 See 63,1 celeri rate and the grammar in v. 2, where citato cupide pede denotes circumstances
when »touching the Phrygian wood«. This is confirmed by her ignorance about where to
look for the geographical position of her patria (63,55 ubinam aut quibus locis te positam,
patria, reor ?), as in her clear moment we could expect her to remember from what direction
she was coming before landing (instead her memory seems to end with the circumstances in
the city and does not extend to the circumstances of the sea travel). Cf. the constant mentions
of haste (as opposed to rational thought): 4 furenti rabie, vagus animi; 8 citata cepit; 18 citatis
erroribus; 19 mora mente cedat; 23 capita vi iaciunt; 25 volitare vaga cohors; 26 citatis tripudiis;
30 citus properante pede chorus; 31 furibunda anhelans vaga; 34 rapidae properipedem; even
sleep is ›hasty‹ when leaving Attis (42 somnus fugiens citus abiit), yet its coming slowed down
motion and opened the path to rational reflection (63,19 mora tarda mente cedat; 35 lassulae;
36 somnum capiunt; 37 piger sopor, labante langore).
55 Perutelli (1996), 265–66.
56 Perutelli (1996), 266: »Non v’ è dubbio che il narratore tracci il suo percorso attraverso le
sensazioni di Attis […] il racconto sia condotto dal punto di vista del giovinetto e che quindi
vi sia un’interazione tra narratore e personaggio.«
57 Fantuzzi/Hunter (2002), 550–51.
58 The fate of Catull. 63 and Lucretius as supposedly documentary evidence for the cult of
Cybele is quite similar; helpful is Summers (1996), 337–338 about two basic assumptions
»1) Lucretius has taken his description in toto from Greek writers, […] 2) Lucretius can be
used as evidence for how the cult was practiced throughout the Mediterranean world at all
times. Both of these assumptions, I argue, are wrong. […]«; on the Romanness of Lucretius’
account ibid. 365.
68 Alexander Arweiler
of virile values. The narrator’s intentions are prepared for in his direct address of the
Great Goddess in v. 9 (tympanum tuom, Cybebe, tua, Mater, initia) and confirmed
by the final plea to spare himself and take others instead:
Catull. 63,91–93 59
dea magna, dea Cybebe, dea domina Dindymi,
procul a mea tuus sit furor omnis, era, domo:
alios age incitatos, alios age rabidos.
Goddess so great, goddess Cybele, lady goddess of Dindymum,
May all your madness stay far from my home, mistress:
Drive others in frantic speed, drive others to madness.
The contrast between undeserved freedom and imposed domination is stressed by
all characters alike, and it seems that Attis has the same knowledge as the narrator
when, despite framing her worries by a question, she views the final picture of her
future existence 60. The closure, not surprisingly an apopompe, makes the reader
look back for previous indications that the narrator deliberately selects and reports
facts that suit his particular objective, and indeed, we do find several indications that
help to convey the narrator’s intentions to side with the Goddess, to persuade her
of his submission, and to back up his final plea: »Take her, not me!«. The apotropaic
mode is used to structure the narration, focalizing the readers’ attention on the
legitimacy of Attis’ punishment, and the mode is enhanced by the employment
of conventional patterns of frenzy narratives: people do wrong, are punished by
divinely imposed frenzy, do even more wrong, are relieved from their frenzy
and ideally given the chance to re-establish former order by acts of purification.
As frenzy does not interrupt responsibility for one’s deeds, the confession of
guilt uttered by Attis (63,51–52 and 73) fits into the scheme, and the poem’s end
is impressive for cutting out the element of purification and restoration of the
previous order, leaving Attis with a cold »and lived unhappily ever after«.
Further indications may be detected in the narrator’s largely detached way of
speaking about Attis, making little use of devices to evoke pity and sympathy,
and by thoroughly constructing the allegations against Attis as being shared by all
characters alike. We will discuss the allegation of treason and the address of the
patria below (as probable allusions to Lucretius), and just note that the narrator’s
final plea is also neatly modelled on Attis’ address to her home country61. The
prevailing standards that are used by the characters to judge the behaviour of
59 Texts and English translations Stephen Harrison’s, published in Nauta/Harder (2005), 2–7.
60 Attis in 63,68 ministra, famula; Cybele (63,80) mea libere nimis qui fugere imperia cupit; the
narrator (v. 90, conspicuously detached and not revealing sympathy) ibi semper omne uitae
spatium famula fuit; cf. the verbal parallels in 63,70–72 and 89–90.
61 Cf. 50 patria o mei creatrix, patria o mea genetrix (…) and 91 dea, magna dea, Cybebe, dea
domina Dindymi (…).
Identity, identification and personae in Catull. 63 69
Attis are all related to the narrator’s interest of pleasing the Goddess, and this is
(curiously) carried out by using exclusively Roman elite patterns of evaluating its
members 62. The emasculation is decisive because it causes a loss of visibility, as
Attis has become invisible to the eyes of fertile free citizens who notoriously do not
see females, eunuchs, servants, and definitely not a combination of all three 63. Even
emasculation itself is deprivation only to Attis and her Roman narrator (the former
arguing from the standpoint of the latter), but obviously was not for adherers of
Cybele’s cult and many others 64.
As we have seen, the attempt of Attis to use narrative patterns of her former
community failed, but the narrator’s use of his own patterns succeeds: Attis is seen
as cast out, deserving to be chased into the woods, and having lost any adherence to
the civic community of free, fertile males. So we find another story of identification,
this time a successful one, on the level of narration, where the narrator is shown
to have firm intentions, acts consistently in order to achieve his aim and tries to
establish a safe relationship with the Goddess. While the narrative patterns of Attis
lose their value, the narrator’s patterns seem to continue to work, and he employs
devices from his own literary biography (e. g. Hellenistic beginning and end, direct
speeches, interest in emotional life of the protagonist etc.). The tension between a
failed and a successful attempt to narrate identity enriches our reading of Catullus
63: It is the narrator who is able to maintain his narrative patterns in order to tell
about someone who has lost his own patterns, thus pointing to the superiority of
literary narrative over social models of identification and covering the interruption
in Attis’ life who has passed from the domina patria to a domina dea.
In the following chapter I would like to argue that the narrative of Attis in Catullus
63 is imbued with echoes of Lucretius, whose account of human development
from beasts to civilization provides a constant backdrop 65. According to Lucretius
invention of metal working is the turning point in the relation between humans
and beasts, as the latter lose their role of hunters and become hunted, while before
men were not hunters, but the hunted prey (cf. Lucr. 5,984–85 eiectique domo
fugiebant saxea tecta / spumigeri suis adventu validique leonis), which is now the
fate of Attis (already hunted by a lion at the end of the poem). Attis’ fear of
a life in the woods where wild animals threaten her echoes the fearful cries of
early mankind (5,992 et nemora ac montis gemitu silvasque replebat). The repeated
mention of woods (in contrast to urban settlement) 66, the lack of shelter from
the weather 67, and constant wandering (esp. vagus) as opposed to having a stable
place to inhabit 68 converge so to embed the story of Attis into Lucretius’ pre-
civilized world69. Attis in her monologue twice devotes two verses to her future
being in company of wild animals and suffering from the hostile nature, both at
beginning and end of her speech (63,52–54 and 70–71, see above). This attention
to nature, beasts, and beast-like existence is astonishing, because the coincidence
with elements of the rituals and cult of the Great Goddess does not explain the
poetic decision to put so much weight to it. Attis seems to remember what we were
told by the narrator who described the orgiastic dances by pointing to the loss of
articulate language, comparing the worshippers’ utterances with noises of animals,
and explicitly terming the lot »the sheep of the Goddess«70. The combination of
65 Many features are documented for the cult of Cybele (see esp. on the religious-historical
evidence Pachis [1996], e.g. on music 212–213), but this seems not convincing motivation for
the composition of Catull. 63.
66 Cf. 63,2 Phrygium nemus; 3 opaca, silvis redimita loca; 12 alta Cybeles nemora; 20 Phrygia ad
nemora; 23 Maenades ederigerae; 30 viridem Idam; 32 opaca nemora; (41 umbras noctis); 52
nemora Idae; 58 in nemora; 79 reditum in nemora; 89 nemora fera. Contrast the lost domus
as organized household (63,58) and cubiculum denoting civilzed (erotic) privacy (63,67)
67 A humorous application of Lucretius may be the stress of the delicate nature of Attis, as
Lucr. 5,1014–16 states that the invention of fire and clothing made human beings less apt to
stand heat and cold; cf. 5,929.
68 Cf. vagus in v. 4, 13, 25, 31, 72 nemorivagus, 86 (Cybele’s lion) pede vago; the notion of flight
(fugit) is also connected with (civic) instability (see erifugae).
69 Cf. Lucr. 5,929 nec facile ex aestu nec frigore quod caperetur (sc. genus humanum); Lucr. 5,955
sed nemora atque cavos montis silvasque colebant; Lucr. 5,932 vulgivago vitam tractabant more
ferarum (see Catull’s vitam agere and nemorivagus); 5,948 vagi silvestria templa tenebant.
70 Cf. 63,8–9 typanum / typanum tuom, Cybebe; 10 quatiens terga cava taurei; 11 canere treme-
bunda; 21 cymbalum sonat vox, tympana reboant; 22 tibicen Phryx canit; 23 acutis ululatibus;
Identity, identification and personae in Catull. 63 71
landscape and imagery of savage beasts has little in common with the Roman
version of the cult presented in the poem, but finds its background in the Lucretian
landscape where it is not the existence of a priest, but the threatening life of early
humans that Attis awaits 71. The detailed description of the new daylight that marks
Attis’ return to reasoning (63,39–43) may be related to Lucretius’ idea that early
human beings suffered during the frightening nights when beasts threatened them
until the sunlight brought relief and they could leave their retreats (Lucr. 5,976 dum
rosea face sol inferret lumina caelo).
Another matter to consider is the deliberate use of archaistic words that are
mostly related to Cybele’s world of pre-civilization, present also in the account
of the developing human culture by Lucretius 72. The hapax erifugae is coined
in accordance with archaizing epic style, which sometimes meets with Lucretian
interest73. The stylistic features of Catull. 63 (including repetitions, vocabulary)
may reinforce the idea that as the narrative deals with relations to earlier stages of
human culture, the language may be one of the poetic past as well as of the early
stages of language development itself 74. We will come back to this relation between
the (individual) story of Attis and the (universal) development of human civilization
when showing how (probably) Ovid used the same subtext to frame his narration
of the exiled poet, who inhabits a world that synchronically offers all those features
which in the diachronic account of Lucretius were left behind step by step in order
to achieve civic organization, rationality, safety, control of violence, commerce,
and language. Before, I would like to point to another Lucretian text relevant
for Catullus 63, which has been variously noted (with different attitudes towards
priority), but perhaps not yet valued for its actual impact on the composition of
our poem.
All characters involved (Cybele, Attis, and the narrator) agree in accusing Attis
of treason. Attis seems to be her own fiercest persecutor when employing the image
of a fugitive servant who escaped his master (63,51–52 dominos ut erifugae / famuli
solent), while Cybele, somehow complementing the argument, does not draw
on the bonds of the household (domus), but applies a notion of wider political
organisation, being addressed by the narrator as domina and stating an undue
wish for freedom in Attis (63,80 libere). There may be a juridicial background here,
combining an allegation of private law with an allegation of public interest, violating
religious and statal order, but the interesting point is the attention given to charge
Attis of treason. This motif alleged by all characters alike can be, I think, linked to
the choice of the patria as addressee and both referred to a Lucretian idea, proposed
within his account of the cult of Cybele. Even if both texts may be independently
related to a common background, namely the eminent relevance attributed to
family, community, and the cult of one’s own city’s deities (a relevance stressed
by Fustel de Coulange in his eminent study Cité antique published in 1864)75, the
context makes it probable that Catullus was interested in the explanation Lucretius
gave: The Galli of Cybele were punished by emasculation for having betrayed
their home country and families 76. The ungratefulness towards their parentes (Lucr.
2,615 ingrati genitoribus) condemns them to remaining childless themselves, thus
suffering the same pain they caused in their parents 77.
75 This notion is also employed by Ovid who seems to frame his lament on the loss by an
accusation of the one who has denied him his natural right to worship his penates (trist.
5,11,18 nil nisi me patriis iussit abesse focis).
76 Lucr. 2,614–617 Gallos attribuunt, quia, numen qui violarint / Matris et ingrati genitoribus
inventi sint, / significare volunt indignos esse putandos, / vivam progeniem qui in oras luminis
edant. See Craca (2000), 51 on the connection of Lucr. 2,614–15 numen violarint with the first
of the Galli which is supposed to be Attis.
77 Sharples (1985) notes the rareness of Lucretius’ explanation and relates it to the theme of
parenthood developed in a previous passage on Ceres (2,652–660) and to (scarce) Greek
evidence of a custom that young man collected stones they devoted to the »mother of the
Gods«, thus trying to avoid »going astray because of impiety and remain loyal to their
Identity, identification and personae in Catull. 63 73
The idea of treason is not common at all and probably only in Lucretius 78, at
least within the texts available to us, and it permits to read Catull. 63 as a response
to the poetical decisions made by Lucretius, who explored the poetical quality
of the cult of Cybele by integrating it into a didactic mode, while Catull extracts
the general idea of treason into the narration of one Gallus who is persecuted
by a narrator himself applying the allegation of treason for its own persuasive
purposes. While the didactic poet discusses the false opinions of those who do
not accept nature as sole creatrix and genetrix (and does so not only by referring
to philosophical reason, but also in accusing religions as themselves being an act
of treason against the truth), the poet in Catull. 63 singles out one character and
makes him become victim to the incompatible demands of those who propose the
patria as creatrix and genetrix and those, who propose an exotic Goddess 79. There
are several notions within the narrator’s conception in Catull. 63 that may also be
related to Stoic or Stoicizing concepts of the human being as opposed to beasts by
reason, and to the social role granted to the self 80.
It seems that Catullus has artfully constructed a Lucretian background, draw-
ing on the two different passages that permit to contrast different notions of nature
and social community, both present in Lucretius but developed into a narrative
by Catullus. The single character’s fortune is embedded into and contrasted to
a poetic history of civilization, thus complementing a tale of humanization by a
tale of decay and reversal. Ovid, whom we turn to now, seems to have seen a
similar potential in the confrontation of a single character’s tale with the Lucretian
account, and the sketch of what Ovid does may shed light on our leading question
of how literary acts of identification may have been used by the poets. Within the
account of Lucretius in 5,925–1457 we may discern a part concerning the original
state of almost beast-like existence before the establishment of settlements and
communities (5,925–1018) and the time of development in civic life, based upon the
invention of housing, clothing, and fire (5,1018–457). The first concentrates on con-
fathers« (which in Catull 63 does not seem to fit into the narrative); on the pietas argument
being ›unique‹ see Craca (2000), 52 (citing the relevant literature).
78 On different allegorical readings of the Cybele cult and their publicity in Roman worlds,
see Summers (1996), 340–341 who mainly relies on archaeological evidence. On the galli in
Lucretius see Craca (2000), 49–54 (the discussion of the lack of parental pietas argument ibid.
51–54)
79 Cf. Lucr. 1,629 rerum natura creatrix; = 2,1117; 5,1362 primum natura creatrix / ; genetrix in
Lucr. 1,1 Aeneadum (= Venus); 2,599 Magna mater (= terra); again 2,708 (no more instances);
for Catullus see abouve (63,50 creatrix, genetrix).
80 On Stoic opinions of the relation between human nature and reason, grounded on the
distinction from beasts, see Reydams-Schils (1998), 39–41; see ibid., 44–50 on Stoic doctrines
on the relation between individual and community as based on »tension, involvement and
distance, the linking of an awareness of oneself with the need for self-improvement« (ibid.
50).
74 Alexander Arweiler
ditions mainly affecting all single human beings, the second on the communities,
and respectively we find more echoes of the first in Catullus and of the second in
Ovid.
As Attis has been cast into a foreign world, the exiled poet travelled the sea
to arrive in a country and faces a kind of existence entirely alien to his former
life: Not voluntarily (iussus) the poet faces foreign shores without civilized beauty
(deformia litora), he is besieged by hostile nature (gelido, frigore, gelu) and barbarian
inhabitants, captured within narrow walls (cinctus finitimo Marte, brevis murus), his
perception is overwhelmed by threatening instability (pacis fiducia numquam) and
constant pressure (10,69 cinctus premor) 81. As in trist. 5,10 the poet uses a spatial
structure to convey his perception, separating two synchronic worlds one from
the other, while tales of cultural development such as the Lucretian account rely
on chronological patterns to distinguish civilized and uncivilized forms of human
existence 82. In the Ovidian poet’s world the diachronic stages of history are present
at the same time and beset each other, so that in the imaginary Tomis of exile poetry
the borders between them are constantly under pressure and sometimes already
collapsed83. The fact that half-humans are direct neighbours of the poet, having
invaded the town and are riding down the streets, may be a direct reversal of
the treaties and friendships among neighbours that Lucretius saw as important
achievement (Lucr. 5,1019f. Tunc et amicitiem coeperunt iungere aventes / finitimi
inter se nec laedere nec violari; cf. Lucr. 5,1022–23 and 1028–32). Political and social
order as enacted through division of the public space and property are decisive for
the Lucretian account of civilization (5,1108–1112). Magistrates and laws are meant
to repress atrocity, hostility, and violence the human beings were exposed to when
cultivating their land, while the exile poet of Ovid is exposed to this violence
as contemporary (see Lucr. 5,1143–46 and 1152 circumretit enim vis atque iniuria
quemque).
The exiled poet turns the Lucretian picture of pre-civilized life into one of a
life not civilized any more. The people seem to him like the beasts that hunted
men before they invented iron and arms (e.g. 5,7,9–20 with fera and vulnera dare),
they are barely human and did not entirely cross the border separating human
beings from the beasts (vix hoc nomine digni). They are wolves (lupi) and even
worse (plus saevae feritatis), as they refuse to be bound by law and institution (non
metuunt leges) and let violence prevail over the just (v. 5,7,47 cedit viribus aequum,
a variation of cedit armis forum). The organisation of justice (iura) is defeated by
the sword (victa sub ense iacent), and consequently clothing and outlook further
assimilate these quasi-humans to the beasts, wrapped in furs and covered with
hair (pellibus; laxis bracis; ora horrida, longis comis). As the aper nemorivagus is the
new threatening companion of Attis, the exiled poet finds himself in company
of beast-like men whose appearance has just slightly passed the time when early
humans did not yet know how to use furs to cover their bodies (Lucr. 5,953–54
neque uti / pellibus et spoliis corpus vestire ferarum).
The lack of urban settlement and legal institution points back to the stage
before their invention marked a decisive progress (see Lucr. 5,1108–10 and 1143–46).
The stable exclusion of violence from civic community fails and rape, as standard
threat of early cultural stages, prevails (praeda, rapere). There was no respect of
the right to property, and humans (as Getans ›today‹) did not even know how
to use laws and morals to order civic life (Lucr. 5,958–59 nec commune bonum
poterant spectare neque ullis / moribus inter se scibant nec legibus uti; 5,960 quod
cuique obtulerat praedae fortuna). Violence outdoes laws, and it throws the poet
back into the time when human beings were lacking protection and felt trapped
by universal violence84. The exiled poet’s view that there is no culture within this
hostile nature is in accordance with Lucretius’ idea that mild nature taught men
their first steps into the fine arts and music (5,1379–87), which definitely cannot
be the case in a freezing Tomis85. The language of the inhabitants is not much
more refined than the animals’ way of communicating through different sounds at
different occasions (Lucr. 5,1081–82), and the poet himself has to draw on gesture
that in the beginning of human history paved the way towards language (Lucr.
5,1043f. cuncta notare / vocibus et varios sonitus emittere linguae). Inarticulate sound
and noise was, as we have seen, also linked in Catullus 63 with beasts and an
existence linked to early stages of human development.
According to historical standards, Ovid distorts the prosperous Hellenistic
city Tomis with Greek and Latin speaking inhabitants and an unfriendly, but not
desperately hostile climate (with exception of the latter a city quite similar to the
one Attis may have left), but within the biography of the poet who once identified
himself by his relation to love poetry and now constantly tries to adjust epic
material to his world of exile, the picture allows for yet another reading: Tomis
is conceived as the Lucretian landscape of a civilization »yet to come«, with the
84 Lucr. 5,1145f. Nam genus humanum, defessum vi colere aevum, / ex inimicitiis languebat; 5,1152
circumretit enim vis atque iniuria quemque.
85 On the softening effect of the arts themselves see Ovid, Pont. 1,6,7–8 with the commentary
of Gaertner (2005), ad loc. who quotes Lucr. 5,1014 as probable subtext to Ovid.
76 Alexander Arweiler
slight alteration that time is reversed and the poet falls back into a civilization »not
any more« 86. The exiled poet shares his narrative patterns with the poet of love,
as both build their identities upon the separation from social, political, and civic
patterns (one deliberately, one seemingly forced), which gives the poetry of exile
a similar perspective of playful resistance and opposition that the poetry of love
displayed from within the imagined community. The negation of civic existence
keeps it constantly in the reader’s mind.
To conclude the survey I would like to point to the poet’s perspective on
language as this is, as I have indicated above, a decisive means of assessing one’s
identity, enabling the individual as well as limiting in its constraints. In the last
chapter of this paper, I will extend this notion to the necessity of a poetic, or
larger: literary language that allows for modifying the standard narratives of the
self within a community. Language, as the account of Lucretius as well as other
ancient texts propose, constituted human beings as a community and distinct
from the beasts, but the refined language of poetry is (both to Attis and) to Ovid’s
exiled poet a necessary basis of their individual existence. Ovid imagines the exiled
poet witnessing an epic war between languages and sounds and suffering constant
attacks carried out on his own abilities to speak, think, and write (e.g. trist. 5,7,51–
64). The barbarian utterances (lingua) do not contain Latin (civil) words and voices
(vox), the Greek way of talking (loquela) is defeated (victa) by the Getan sound
(sonus). There are hardly traces of Greek language (vestigia linguae), and even these
have been made Barbarian (barbara facta) because of the Getic pronounciation
(Getico sono). As hardly anyone is able to repeat Latin words (reddere verba), the
former seer of Roman greatness (Romanus vates) is forced to surrender to the
Sarmatic way of communicating (Sarmatico more loqui), suffers from the fading
of his own abilities (desuetudine longa) and experiences trouble in finding the right
words (subeunt verba), all of which is the fault of his being out of place (culpa
loci). The poet integrates his own voice (mea vox) into the common sound that he
shares with the community (patrio sono), thus building a part of his being himself
upon being able to share the sound with an audience, whose loss leads to his falling
silent (muta). As language loses its function of establishing a social existence, the
poet turns to a dialogue with himself (trist. 5,7,63–64 mecum loquor), which is
complemented by his continued poetic endeavour that he is not able to stop (trist.
5,12,59–60) 87.
What both texts, Catullus’ poem on Attis and Ovid’s poetry of an exiled
poet, seem to envisage is the notion of irreversibility of culture and civilization,
and both link this notion to the fortunes of a single character who experiences
what happens if s/he is, despite all optimistic accounts of ascendance, deprived of
what he relies on to narrate his identity 88. With regard to the distinction between
a failed act of identification by Attis and a successful one of the narrator, we could
propose the same for the exiled poet whose narrated identity is built upon loss and
fragmentation, while the narration itself successfully constructs the poetic past and
engages the reader in its narrative puzzles. The personal identity of the characters
is not treated as an isolated problem – we could infer, not as the problem of an
individual whose main point of reference is his very identity –, but it is related to
two other narratives, one of the poet himself, in his relation to poetic past, and one
of the community that allows or denies the person suitable patterns for narrating
the self.
88 To be clear, Lucretius’ account is not at all simplistic in terms of optimism (in contrary, the
fatal descendance through weariness of nature’s creative power and moral decline prevail),
but his summary of cultural achievements provides a checklist for anybody who like the
exiled poet of Ovid wanted to picture the world after civilization (see Lucr. 5,1448–1453),
reversing its time structure and decomposing everything »little by little, step by step« (see
Lucr. 5,1453 paulatim […] pedetemptim).
78 Alexander Arweiler
enough to pop music 89. But the opposition between a true, authentic, and present
authorial self and one hiding behind false feelings and untrue statements is linked to
our questions about identification, and it may be seen as a neo-romantic distortion
of the aesthetic device Romanticism was interested in when putting up a contrast
between nature and originality on the one hand, art and deception on the other.
As the decision for a perspective is fundamental for writing, it is inevitable and
deliberate, but not irrevocable or stable, neither for one text nor for a corpus like
the collection of Catullan poems: Every text may be put into quotation marks,
and is meant to make the reader ask »Who is speaking?« 90. Catullus may be seen
as the same person in different stages of a biography, or in different moods, or
in different perspectives on himself, being a temporary or occasional self 91. The
persona’s biography then is one within the chosen genre, detectable in its affiliation
with or detachment from other personae, and it enables the reader to compare the
information he regularly employs to create an idea of a person’s identity with the
information given about the persona (including aims, method, motivation, beliefs,
emotional participation).
But this is not a game of hide-and-seek, as the identification through poetical
past and linguistic choice is a serious one, and the theatrical background of the
persona-metaphor may be one reason for some readers to fear that they lose the
immediacy of contact with the author, and makes them relate the acknowledgement
of a speaker not identical with the author to the (morally ambiguous) interest of
an actor in being hidden behind a misleading mask92. Probably Catullus or Cicero
would not have understood the problem, and this may be illustrated by pointing
to another notion of persona that exceeds the theatrical metaphor. The famous
account of the four personae, to be found in Cicero’s De officiis 93, describes a
citizen’s identity as constituted and accessible by ›dimensions of visibility‹ equally
89 (English quotation from Selden [1992], 476 [taken from Ariès/Duby, History of private life,
vol. 1, 231]): »No ancient, not even the poets, is capable of talking about himself. Nothing is
more misleading than the use of ›I‹ in Greco-Roman poetry. When an ancient poet says ›I
am jealous, I love, I hate‹, he sounds more like a modern pop singer … and makes no claim
that the public should be interested in his own personal [condition].«
90 This is the appropriate title of the first chapter in Niklas Holzberg, Catull. Der Dichter und
sein erotisches Werk, München 3 2002.
91 Cf. (from a different perspective) Diskin Clay and Roland Mayer.
92 It may be noted that some ideas about a mask and the author are quite simplistic in
comparison with the theatrical reality: If we put away a mask, we do not have an author,
but an actor out of charge, who in turn would be assigned a new role by the director, again
not the author (the director, in terms of ancient theatre practices often participating as an
actor himself). We can even push the idea further by considering the fact, that in ancient
performance the same actor could be assigned more than one role, changing his masks
according to scene and act.
93 Cf. Gill (1988), Möller (2004), 158–161; Reydams-Schils (1998) 51–53.
Identity, identification and personae in Catull. 63 79
conditioning the community’s point of view and the personal one. Cicero’s concern
is less with masks, but with the distinction of dimensions that allow the description
of a person by combining the different places she maintains in relation to these
orders of time, community, memory (personal as well as historical), experience or
physical existence. The model is formally concordant with approaching a person
through biographical and rhetorical topoi as ›places where arguments can be found‹,
where a list of qualities allows for denotation and characterization of a person and
which lead at least partially to the failure of Attis’ account of her self (see above),
but it differs in its attention to the relation between the various categories 94. The
personae come together not just to form layers of the person (with a secret self
hidden inside), but to constitute the social self as a position within various orders,
and permit to conceive it as being the crosspoint of different relations.
If we conceive perspectives of a text, and the persona in literature in general,
as another of these dimensions that permit the description of a person (as from
the inner perspective as from outside) by her relative position, the textual memory
of poetic texts may be seen as a distinct feature added by literature to the canon
of structuring acts of identification. We may further illustrate this with regard to
the above mentioned discussion on persona as being false inventions, and take as
an example the poetic engagement with supposed autobiographical data, which is
one of the prominent battlefields for issues in identification of person and persona.
Horace’s account of military experience in Philippi (carm. 2,7,9–14) is a well-
known case, as we may try to discern the elements referred to historical truth
and those referred to literary past 95. We may try to entangle the neatly woven
carpet of allusions to historical, perhaps biographical, and poetical traditions, but
the identity of the poet won’t become clearer from one than from the other areas.
The authenticity of the text is not guaranteed by historical verification, as it enacts
an identification of the poet through textual past, whether it be Archilochos (the
shield left behind) or an epic past of mythical figures being rescued by divine
intervention96. As with Attis or the exiled poet, the intertextual dimension (the
persona) serves to integrate the scattered elements which historical or social models
of identification provide, into an overarching identity (Sorabji’s term, see above)
that is able to make sense of the otherwise meaningless data (cf. Horace’s sensi) 97.
94 Gill (1988) discusses the lack of interest in possible contradictions between the four personae,
which may be caused by the protreptic interests of Cicero’s text.
95 Horace, carm. 2,7,9–14 tecum Philippos et celerem fugam / sensi relicta non bene parmula, /
cum fracta virtus et minaces / turpe solum tetigere mento; / sed me per hostis Mercurius celer /
denso paventem sustulit aere […].
96 Parallels are assembled in Nisbet/Hubbard ad loc., for epic past esp. their comments on
2,7,12–14.
97 What intertextual genealogies of characters and personae allow to think about identity may
be related to the interesting observation of Sorabji (2006), 240 on relevance of other persons
80 Alexander Arweiler
The extension of the canon of identity criteria in order to include poetic mem-
ory is, in contrast to some readers’ perception, not a step towards less credibility,
but extends the set of tools. A poetic statement such as the one that Attis has
a poetic past within former literary traditions and therefore relies on a particular
biography within texts, is meant to strengthen its reliability: The poetic act of iden-
tification claims to be entirely truthful and real. The social (philosophical, scientific,
religious) patterns available to her are not sufficient and fail to give an account of
her self, but the narrator’s perspective on literary tradition succeeds because his
is a wider canon of possible criteria and narrative strategies. The same is true for
such devices as lexical, metrical, or syntactical choices, which according to other
accounts of the self are to be neglected and excluded from having any impact on
the true proposition, while literary texts put considerable attention to these regions
of the language in order to test their potential for gaining, retaining, or testing
knowledge that may or may not hold in narratives of identification98. Finally, by
pointing to intertextual memory (and reality) characteristic of literary texts (in
the Roman period), we may already see, that the literary notion of individuality
and uniqueness is highly important for any text (indeed, every text cannot be but
individual), but contradicts most of the philosophical (or everyday) notions (not
the same place, time, characteristic features, matter etc.) 99.
While philosophical language developed its own standards of reliable language,
and still does, poets could only be serious about issues like the self and its prob-
lems, if it was conceived of in terms of the poetic project. If language is a »mode
of perception« (Donald Davidson) that is necessary to make data delivered by
the senses meaningful to us, the language of literature is a highly developed tool
for transforming otherwise unavailable notions and facts into meaningful expe-
rience. There are no authentic objects that are distorted by artistic language, but
meaningless objects made authentic through art and thus made relevant in acts
of identification 100. If we understand artistic language as a necessary mode of
perception of otherwise unavailable facts, we are not only able to overcome the
in thinking about a self: »Other persons may thus enter into one’s very identity, if we take
identity in the sense in which a persona or a woven narrative gives one an identity.«
98 E.g. on mutual interference of syntax, semantics, and content in Catullus, sometimes result-
ing in severe contradiction see Selden (1992), 466.
99 Möller (2004) has explored several aspects of the complex relation between ›man‹ and text
in ancient literature, with special attention to textual existence (being one’s style), see e.g.
on Ciceronian thought 137–165 and Roman satire 263–96.
100 While Romantic constructions partly revived Lucretian ideas of language and combined
originality with notions of natural, spontaneous (true) and emotional (see on Vico und
Rousseau Gera [2003], 45), it was not common in Greek and Roman texts (Gera ibid. 46).
This may be a starting point for searching the origins of some readers’ claim that simple
language is more reliable to provide truth and insight than the distorted poetic diction.
Identity, identification and personae in Catull. 63 81
standard interest in distinguishing real from fictitious elements in a text, but may
also embed the successful claims on truth, authority, and reliability put forward
by discourses other than literature, into an open framework that may or may not
contain promising narrative patterns that allow making personal identity a point
of reference in decision making and acting. The reality of poetic facts may be thus
grounded in its capacity to select, evaluate, and extend available criteria, and to
make available those experiences or truths within the social world that are not
covered by this world’s own criteria. This, I think, is one of the main points in
the above mentioned account of Ovid’s exiled poet who contradicts the narrated
effects of his exile by narrating them, and again we may look back to Lucretius who
refused to acknowledge one primus inventor of (poetic) language by employing a
clearly military imagery (as did Ovid with his epic war between sounds), and by
employing contemporary political language:
Lucr. 5,1050f.
Cogere item pluris unus victosque domare
non poterat, rerum ut perdiscere nomina vellent.
Obviously, language can not be usurped like conquered Gaul or imposed like
triumviral legislation, for the users of language, not the least the poets, saw the
freedom of choosing the right words for what was happening as the decisive fact
in their own narratives and as their own tool within the acts of identifying their
self.
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Sektion 2
Autobiographische Genesen des Selbst und
Erzählungen vom po(i)etischen Ich
Die zweite Sektion vereint Beiträge, in denen Erzählweisen des Ich und Konzepte
eines (literarischen) Selbst analysiert werden, das sich als Dichter oder Künstler
von seinem Werk absetzt und in dieses einschreibt. Von der aristotelischen Poetik
über hellenistisches, römisch-republikanisches und spätantikes Schreiben führt der
Weg bis in die epischen Erzählweisen vom Subjekt bei Ariost und Tasso. Die
untersuchten Texte lassen sich teils über die Nutzung der Prosaform komplementär
lesen, teils über das Interesse an narrativen Modi, wie sie insbesondere mit Blick
auf eine Genese des Selbst in autobiographisch lesbaren Textformen auftreten.
Thomas Schirren (Salzburg) untersucht unter dem Titel »›Techne liebt
Tyche und Tyche Techne‹ – Aspekte poetischer Kreativität im Denken des Ari-
stoteles« die zentrale Frage poetischer Subjektivität anhand der Überlegung des
Aristoteles zur Rolle der Techne im Schaffensprozess. Die neuzeitlichen Kreati-
vitätskonzepte haben insbesondere in den Geniemodellen entscheidend zur Auto-
nomiedebatte über das künstlerische Subjekt beigetragen, das sich über Selbst-
bestimmtheit konstituiert. Eine detaillierte Nachzeichnung der Faktoren, die den
Prozess künstlerischen Handelns nicht nur strukturieren, sondern in seiner Bedeu-
tung für die Theorie des handelnden Subjekts deutlich werden lassen, führt zur
aristotelischen Konzeption eines Telos der poetischen Gattungen, das sich sowohl
mit einer inkohärenten Entwicklung der poetischen Vollkommenheit wie einem
naturgegebenen Talent eines großen Dichters in Einklang befindet. Glückliches
Gelingen und regelgeleitetes Handeln lassen sich im Blick auf die Autonomie des
Künstlers nur als sein Selbst konstitutierende Faktoren verstehen, wenn der aristo-
telische Gedanke von einer Psyche der Gattung selbst berücksichtigt wird.
Vor dem Hintergrund einer umfassenden Neubestimmung der Funktionen
autobiographischer Schreibweisen liest Gyburg Radke-Uhlmann (Berlin) einen
der Schlüsseltexte der hellenistischen Literatur, den Aitienprolog des Kallimachos,
als eine originelle Erkundung der Aitiologien des Selbst als eines poetischen Sub-
jekts: »Aitiologien des Selbst – Moderne Konzepte und ihre Alternativen in antiken
autobiographischen Texten«. Die Forschungsdiskussionen über die mögliche Iden-
86 Sektion 2: Autobiographische Genesen des Selbst
tifikation der beteiligten Personen sind als Erfolg einer autobiographischen Strategie
deutbar, die sich über die Textkonstitution mit Traum- und Narrationslementen
vollzieht. Gegen die verbreitete Deutung in Legitimations- und Rechtfertigungska-
tegorien ist der Illusionscharakter der Situation auszumachen, der die Selbstwer-
dung des poetischen Ich befördert. Die Autarkie des poetischen Selbst, die absolute
Würdigung der literarischen phantasia und damit der Verzicht auf eine Aitiologie
im Sinne der platonischen Lehre von der Selbsterkenntnis erweisen Kallimachos’
Selbstkonstruktion als entscheidendes Zeugnis gegen entwicklungsgeschichtlich
gefasste Beschreibungen eines »(post)modernen« Selbst.
Die unausweichliche Verknüpfung zwischen politisch und literarisch konzi-
piertem Selbst weist Michèle Lowrie (New York) an einem gleichermaßen zen-
tralen wie kaum bearbeiteten Text nach, Ciceros Rednergeschichte mit dem Titel
Brutus (»Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus«). Die ciceroni-
sche Rhetorik der Unfähigkeit bleibt als einfache Bestätigung des Gegenteils unter-
bestimmt, insofern die Dialektik zwischen Macht und Ohnmacht des Redners/
Politikers als Teil einer komplexen Konzeption des Schreibens verstanden werden
kann, in der Stärke und Schwäche des Schriftstellers Cicero nur in Bezug auf die
Herausforderung des Selbstverständnisses durch Caesar einen Ort erhalten. Im
Konflikt mit dem exemplarischen Caesar werden der Stil und seine Komponenten
zum wichtigsten Katalysator der auktorialen Konzeption. Die Unauflöslichkeit der
Verbindungen zwischen personae politischer und literarischer Provenienz führen
zu einer Erweiterung des zu berücksichtigenden Belegfeldes auf die prinzipielle
Auflösung des traditionellen Systems von Möglichkeiten der Selbstbestimmung.
Darin wird Caesar gleichermaßen zum undenkbaren wie einzig denkbaren Ersatz
der Exemplarität, die die Selbstkonstitution in der Literatur in eine unauflösbare
Ambivalenz stellt.
Den einflußreichen spätantiken Dichter Sidonius Apollinaris stellt Rainer
Henke (Münster) ins Zentrum seiner Betrachtung des Eskapismus als eines glei-
chermaßen literaturgeschichtlich wie produktionsästhetisch relevanten Modus der
Selbstverständigung (»Eskapismus, poetische Aphasie und satirische Offensive:
Das Selbstverständnis des spätantiken Dichters Sidonius Apollinaris«). Die Vorstel-
lung von Epoche, Stellung und Werk des erst in jüngerer Zeit in seiner Bedeutung
erkannten Dichters bietet einen Zugang zur Lektüre der poetischen Verfahren, die
die Selbstkonstruktion des Sprechers bedingen. Literarisch wie identitätspolitisch
wirksame Motive der Exildichtung und der Fremd- und Selbststereotypen erfahren
im Werk des Sidonius gleichermaßen eine Aktualisierung wie eine Ästhetisierung,
die eine Suche nach dem Modus des Lebens in einer sich radikal transformierenden
kulturellen Landschaft abbildet. In der Selbstverkleinerung und der Unterordnung
unter gattungsimmanente Konventionen entstehen Bilder eines poetischen Selbst,
das sich in der kunstvollen Transformation der Sprechweisen und der Spannungen
zwischen Aussageinhalten und -formen konstitutiert und zugleich zurückzieht.
Sektion 2: Autobiographische Genesen des Selbst 87
Die Frage nach dem Unterschied zwischen historischer und dargestellter Wirk-
lichkeit führt Therese Fuhrer (Berlin) in ihrem Aufsatz »De-Konstruktion der
Ich-Identität in Augustins Confessiones« zu dem Vorschlag, einen der Schlüssel-
texte der Subjektsdiskussion, die Confessiones des Augustinus, mit Blick auf die
Erzählstrategien zu lesen, die die autobiographische Deutung durch die Leser zu
einem Teil der Überzeugungsarbeit des Textes machen und die Funktionalität der
Elemente einzubeziehen. Authentizität dient in einem religionspolitischen Kontext
der Bekräftigung der orthodoxen Lehre, deren Bekenntnis der Sprecher aus seiner
intellektuellen Entwicklung begründet. Selbst wenn Form und Thesen funktional
auf die Zeichnung einer dezidiert anti-manichäischen Position hingeordnet sind,
lässt sich dies nicht als Beweis gegen die Authentizität der Ich-Aussagen insgesamt
verwenden. In einer Gegenüberstellung mit Derridas Schrift Circonfession läßt sich
zeigen, daß die Kategorie der Selbstentblößung in beiden Texten nicht nur Mit-
tel, sondern auch Gegenstand der Darstellung ist. Fuhrer erkennt Parallelen in
der Skepsis gegenüber der grundsätzlichen Möglichkeit, Selbstaussagen zu tätigen,
zwischen Augustinus und Derrida, selbst wenn die Radikalität des letzteren nicht
gleichzusetzen ist mit der Schreibweise der Confessiones, in denen ein theologisches
Menschenbild illustriert werden soll.
Unter dem Titel »Wege in die Moderne. Von Ariost zu Tasso« führt Paul
Geyer (Bonn) die Analyse narrativer Subjektsentwürfe weiter zu den Erzähltech-
niken in Ariosts Orlando Furioso und Tassos Gerusalemme Liberata, in denen beiden
Verarbeitung von Transzendenzverlust und Suche nach neuen Subjektivitätskon-
zepten aufscheinen. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung des allegorisch-
exemplarischen vom parodistischen und personalen Erzählen erweist sich Ariosts
epische Dichtung als selbstreferentielle Parodie, aus der sich ein Weg zur späteren
subjekttheoretischen Reflexion ergibt. In einer transformierenden Lektüre Dantes
entwickelt Ariost einen poetologischen Ansatz, in dessen Sinnzentrum das Dich-
ter-Ich steht, und schafft die Voraussetzung für das stringent personale Erzählen
Tassos. In Tassos Verzicht auf die Zentralperspektive, aus der das Geschehen
entwickelt werden könnte, kommt ein erzählendes Subjekt zur Sprache, dessen
komplexe Innerlichkeit weder in einer inneren Mitte noch in einer erfolgreichen
Suche nach epischer Totalität aufgeht.
»Techne liebt Tyche und Tyche Techne«
Aspekte poetischer Kreativität im Denken des Aristoteles
In memoriam
Vincent Großkreutz (1983–2007)
Vorbemerkung
Die bekannteste Unterscheidung der Trias poieÿn, pràttein und jewreÿn findet sich
in einer Schrift, die der menschlichen praxis gewidmet ist, nämlich der Nikomachi-
schen Ethik 6, 4. Im sechsten Buch werden die dianoetischen Tugenden behandelt.
Nachdem in 6, 3 die fünf Wahrheitsvermögen der Seele benannt wurden, als da
sind: tËqnh, ‚pist†mh, frÏnhsic, sof–a, no‹c, wird der Bereich dessen, »was sich
immer auch anders verhalten kann« (tÄ ‚ndeqÏmena ällwc Íqein) von demjenigen
unterschieden, der immer gleich, notwendig so und ewig ist (t‰ ÇÚdion). Das ist
das Reich der Wissenschaft (‚pist†mh). Wo aber gehandelt und hergestellt wird, da
ist Kontingenz gegeben; dabei kann jedoch zwischen Herstellen und Handeln klar
unterschieden werden. Zwar sind beide Èxeic, die sich auf Rationalität (metÄ lÏgou
Çlhjo‹c) stützen, doch die eine ist eine handelnde, die andere eine herstellende
Èxic. Die herstellende Haltung bewegt sich im Bereich von Entstehen/Werden,
bedient sich der techne (teqnàzein) und stellt Betrachtungen an (jewreÿn). Also
ist herstellende Haltung diejenige, die für Entstehung im Bereich des Kontingen-
ten sorgt, und zwar für eine Entstehung, deren Ursprung nicht im Entstandenen
selbst liegt, sondern im Herstellenden, nämlich gemäß angewandter techne. Techne
gehört nur zur Herstellung, aber nicht zur praxis. Im Bereich der techne ist freilich
auch glückliches Gelingen möglich, nämlich tyche. Hierfür zitiert Aristoteles den
Tragödiendichter Agathon2:
tËqnh t‘qhn Ísterxe ka» t‘qh tËqhn
Techne liebt Tyche und Tyche liebt Techne.
Dieses Diktum eines Techniten ist insofern interessant, als Aristoteles in der Physik
verschiedentlich auf die Rolle des Zufalls zu sprechen kommt. Dort wird zwischen
t‘qh und aŒtÏmaton unterschieden: t‘qh ist Akzidenz im Bereich menschlichen
Handelns, aŒtÏmaton ist Akzidenz im Bereich von unbeseelten Prozessen. Das
Verhältnis von techne und tyche wäre im Kontext der EN so zu bestimmen, daß es
im Bereich herstellender Intentionalität (also dem Bereich, der in der praxis durch
proa–resic bestimmt ist) Ergebnisse gibt, die zwar nicht so gewollt sind, aber zu
einem glücklichen Resultat führen. Oder auch: Im Werkprozeß gibt es Momente,
bei denen sich Intentionalität nicht klar bestimmen läßt, da sie dem Herstellenden
2 Der Tragödiendichter Agathon, zu dessen Sieg das Symposium abgehalten wurde, von dem
Platon im gleichnamigen Dialog berichtet, lebte ungefähr von 455–401 v. Chr. Das Frg. 6
(Tragicorum Graecorum Fragmenta I p. 163 hrsg. v. Snell/Kannicht) zeigt den Gorgianischen
Einfluß (Paronomasie, Antithese), der auch in der fiktiven Rede (Smp. 194e–197e) deutlich ist.
In Platons Gorgias sagt Polos (448c): ‚mpeir–a m‡n gÄr poieÿ t‰n a ¿na ôm¿n pore‘esjai
katÄ tËqnhn, Çpeir–a de katÄ t‘qhn. Unter den gn¿mai monÏstiqoi des Menander
finden wir einen ähnlichen Spruch, der jedoch bezeichnenderweise kein reziprokes Verhältnis
behauptet: t‘qh tËqnhn ∫rjwsen, oŒ tËqnh t‘qhn (740 Jäkel).
»Techne liebt Tyche und Tyche Techne« 91
nicht aufgrund eines lÏgoc Çlhj†c gelingen. Hier verläßt poiesis also eigentlich
den Bereich strenger Rationalität. Aristoteles resümiert, techne sei nur Sache der
poiesis und nicht der praxis, und fährt fort: »Und in gewisser Weise bewegen sich
techne und tyche im gleichen Bereich« 3.
In Metaphysik Z wird die poiesis im Horizont der physis in ontologischer Hin-
sicht betrachtet: In den Kapiteln 7–9 wird die Frage nach der Entstehung materieller
ousiai gestellt. Hierbei wird natürliche von herstellender Einwirkung getrennt, aber
auch nach spontaner Entstehung (aŒtÏmatoc) gefragt. Was entsteht, entsteht aus
etwas und zwar durch eine Einwirkung. Also kann man Ík tinoc, ÕpÏ tinoc und
ti unterscheiden. Im Bereich natürlichen Entstehens haben wir daher die hyle,
eine natürliche Einwirkung (ein Lebewesen, das zeugt) und ein Lebewesen, das
entsteht. Bei der poiesis haben wir ein ähnliches Zusammenspiel, nur liegt im bes-
ten Falle eine vernünftige Planung durch den Herstellenden zu Grunde, in jedem
Falle aber eine Steuerung, die außerhalb des Entstehenden liegt. Wie sich poiesis im
einzelnen vollzieht, erklärt Aristoteles folgendermaßen:
Da Gesundheit dieser bestimmte Zustand ist, muß zur Herstellung des Gesunden
ein anderer bestimmter Zustand vorliegen, sagen wir das Gleichmaß. Wenn aber dies
erreicht werden soll, muß Wärme vorliegen. Und der Arzt denkt in dieser Weise immer
weiter, bis er die Reihe zu etwas hingeführt hat, das er schließlich selbst verwirklichen
kann. Die an diesem Punkt sich nunmehr anschließende Veränderung, die auf das
Gesundsein gerichtet ist, heißt Herstellung (po–hsic). (1032 b6–10, Übersetzung Frede/
Patzig)
Der Herstellende betrachtet also einerseits sein Ziel, nämlich das Produkt, das er
herstellen will, andererseits den nächsten Schritt seines Herstellens. Diese beiden
Aspekte unterscheidet Aristoteles in po–hsic, diànoia und nÏhsic:
Bei den Entstehungen und Veränderungen wird nun der eine Teil Überlegung, der
andere Herstellung genannt. Der Teil, der vom Anfang der Sache und von der Form
ausgeht, heißt Überlegung (nÏhsic), der Teil jedoch, der vom Endpunkt der Überlegung
3 Das unvermittelt eingeführte Thema t‘qh hat schon den mittelalterlichen Aristoteles-Kom-
mentator Eustratius (CAG 20, 301, 26–302, 19) verwundert; seiner Meinung nach verbindet
tyche und techne, daß beide von außen (Íxwjen) einen Prozeß beim Herzustellenden in
Gang setzen und ein Írgon hinterlassen, das über die Tätigkeit hinaus dauert, während die
praxis von innen her und zugleich mit der ‚nËrgeia endet. Wer nämlich etwas zufällig finde,
habe es eigentlich auf etwas anderes abgesehen und bewirke so etwas, das er nicht intendiert
habe, d.h. er bleibe dem Bewirkten gegenüber äußerlich. Techne und tyche unterschieden
sich freilich darin, daß die techne zumeist dasjenige erreiche, was sie vorhatte, während tyche
gegen die Absicht der Herstellung seltener etwas schaffe. Richtig an diesem Erklärungsver-
such scheint mir zu sein, daß sich die Verbindung von tyche und techne im Kontext EN
6, 4 nicht darauf beziehen kann, daß beide im Bereich der Kontingenz wirken, denn das
trifft ja nun auch für die prêxic zu; doch Aristoteles verbindet hier nur t‘qh und tËqnh
miteinander.
92 Thomas Schirren
ausgeht, heißt Herstellung (po–hsic). Auf entsprechende Weise entsteht auch jeder der
anderen Zustände, nämlich der Zwischenstadien. Was ich meine, ist dies: Wenn jemand
gesund werden soll, muß er einen Zustand des Gleichmaßes erreichen. Worin besteht
nun dieser Zustand des Gleichmaßes? Hierin; dieser Zustand aber wird dann eintreten,
wenn der Patient erwärmt wird. Worin aber besteht nun die Erwärmung? Darin. Das
aber ist schon der Möglichkeit nach vorhanden. Dies aber liegt bereits in der Macht des
Arztes. (Z 7 [1032 b15–22], Übersetzung Frede/Patzig)
Dianoia und poiesis sind zwei Perspektiven auf den Herstellungsprozeß: Entweder
man geht vom Ursprung des Prozesses in der Seele des Herstellenden aus, dann
ist das e⁄doc bzw. t‰ t– ™n e⁄nai die Steuerungsinstanz für den Prozeß; von
dieser Instanz muß aber ›zurückgegangen werden‹, indem der Herstellende den
nächsten konkreten Schritt der Herstellung überlegt 4. Dianoia und poiesis sind also
eng verbunden. Sinnvollerweise lassen sie sich auch gar nicht trennen: Wer etwas
»vorhat«, der plant einerseits die Ausführung, setzt aber in der Verwirklichung
beim zunächst Möglichen und zu Machenden an. Aristoteles trennt hier also
lediglich in der Reflexion zwei Aspekte des Herstellungsprozesses, die immer
schon zusammen die Herstellung ermöglichen.
Aristoteles verknüpft dies hier mit einem anderen Betrachtungsprinzip, näm-
lich dem von stËrhsic und e⁄doc 5. Denn man kann auch alles unter der Frage
betrachten, wie etwas aus etwas entstanden ist. Vom Ergebnis her betrachtet ist der
Ausgangspunkt ein Mangel, der dann im Ergebnis durch die zustande gekommene
Form behoben wird. Zunächst fehlt der Materie die Form, doch im Laufe der
Bewegung zum telos gewinnt das Entstehende diese zunächst fehlende Form. Also
beginnt der Herstellende beim Mangel, der stËrhsic, und behebt diesen Schritt für
Schritt, indem er das e⁄doc herstellt. In seinem Vorhaben orientiert er sich dabei
am ausgebildeten e⁄doc und zieht von diesem Schritt für Schritt ab, bis er dorthin
kommt, wo er den ersten Mangel beheben kann usw6.
Für die Frage von Herstellung überhaupt ist nun bemerkenswert, daß Ari-
stoteles Gesundheit hier und an anderen Stellen ganz selbstverständlich als einen
Prozeß durch Herstellung auffaßt. Das erklärt sich zunächst durch die Defini-
tion der Prozeßursache, die hier in einem anderen liegt als in dem, das entsteht,
nämlich dem wissenden Arzt (insofern ist eigentlich dessen techne Ursprung der
Bewegung). Nun ist aber der Arzt selbst im Falle einer möglichst mechanistischen
Auffassung von Gesundheit ein besonderer Hersteller, denn er kann Prozesse in
Gang setzen, die, einmal angestoßen, dann auch selbstläufig werden, während
andere Techniten, wie z. B. der Automechaniker gerade nicht auf solche Eigen-
prozesse des Hergestellten bauen können: Jeder Stillstand seiner Bewegung hält
auch den Werkprozeß an. Aristoteles geht auf dieses Problem noch einmal ein,
wenn er über das Zufällige (aŒtÏmaton) spricht. Das aŒtÏmaton, also Sponta-
neität, kann es in der Herstellung dann geben, wenn das dem poietischen Prozeß
Zugrundeliegende die Fähigkeit zur Eigenbewegung hat. Das ist beim menschli-
chen Körper und der Gesundheit möglich. Spontanheilung wäre dann ein Effekt,
der durch eine zufällige Erwärmung zustande gekommen ist 7. Nun ist das Produkt
Gesundheit natürlich ein besonderes, weil es nicht einen Gegenstand oder Ding
im engeren Sinne bezeichnet, sondern einen Zustand. Doch Aristoteles ist über
solche Differenzen offenbar unbekümmert 8; ganz parallel zur vom Arzt hergestell-
ten Gesundheit bringt er das Beispiel des Hauses, das vom Architekten hergestellt
wird9. Aristoteles kommt es darauf an, daß dasjenige, das entsteht, schon irgend-
wie vorhanden sein muß, entweder als e⁄doc in der Seele des Herstellenden oder
im Zugrundeliegenden, oder in beidem.
Man mag versucht sein, in der Poetik eine Theorie von Herstellung überhaupt zu
entdecken, obwohl es Aristoteles zunächst um die Dichtung (po–hsic) im engeren
Sinne geht. Man muß sich auch darüber im klaren sein, daß Aristoteles mit dieser
technischen Schrift zwischen präskriptiven, deskriptiven, aber auch theoretischen
Aspekten kommentarlos wechselt. Es wird daher sowohl eine Theorie der Dich-
tung überhaupt geboten, eine Entwicklungsgeschichte der Tragödie skizziert, und
es werden Regeln für die beste Tragödie bzw. das beste Epos gegeben. Herstellung
an sich thematisiert aber Aristoteles nicht eigens. Daher kann man diese Schrift
nur mit Einschränkung als Quelle für eine Theorie der poiesis in Entsprechung zu
den Pragmatien verstehen, die sich mit praxis (also den Ethiken und der Politik)
oder theoria (zum Beispiel die Metaphysik) beschäftigen. Wolfgang Wieland warnt
daher:
Trotz der Wertschätzung, die diese kleine, in ihrer Wirkungsgeschichte aber ungemein
einflußreiche Schrift mit gutem Recht genießt, wird man zögern, gerade sie und sogar
ausschließlich sie mit der Aufgabe zu belasten, gegenüber den vielfältig gegliederten
theoretischen und praktischen Disziplinen den dritten Grundtypus von Wissenschaft
zu repräsentieren 10.
Nun geht es mir in diesen Überlegungen nicht um eine Theorie der poiesis als
solcher, sondern um den poiht†c selbst als mögliches Subjekt der poiesis.
Vor dem Hintergrund der entfalteten Trias menschlichen Verhaltens ist es nun
zunächst auffallend, daß Aristoteles die Dichtung nur über den Umweg der mimesis
als poiesis im Sinne der Herstellung aufzufassen scheint. Aristoteles definiert jedoch
ganz allgemein die Dichtung (poiesis) als mimesis (Po. cap. 1, 1447 a13–18). Und die
mimesis wiederum ist eine mimesis von menschlicher Handlung, also von praxis.
Insofern stellt Dichtung einen Sonderfall von poiesis dar, da eine praxis ›hergestellt‹
wird. Diese hergestellte praxis wird nun durch drei Aspekte unterschieden, nämlich
das Medium der mimesis, den Gegenstand der mimesis und die Art und Weise der
mimesis. Diese differentiae specificae der Gattung mimesis sind nun nicht auf die
Dichtung beschränkt, sondern gelten auch für anderes, darstellendes poieÿn wie
Tanz und Malerei. Einen Oberbegriff indes scheint Aristoteles für diese mimeseis
nicht zu kennen oder zu vermissen (wie wir etwa von »schönen Künsten« spre-
chen). Und er interessiert sich bei mimesis beinahe ausschließlich für Darstellung
von praxis, nicht von Landschaft oder Gegenständen 11.
Nun fällt auf, daß bei der Definition derjenigen poiesis, die in der Poetik ganz
deutlich im Vordergrund steht, nämlich derder Tragödie, ein telos dieser Her-
stellung dahingehend formuliert wird, daß sie Íleoc und fÏboc (Jammer und
Schauder) hervorbringen soll. Das wird wiederholt (cap. 6, 50 a31; 13, 52 b29)
als das Írgon der Tragödie definiert. Das hieße, daß das Herstellen der Tragödie
den Zweck hat, über die hergestellte Tragödie hinaus eine bestimmte Reaktion
beim Rezipienten hervorzurufen, nämlich die durch Íleoc und fÏboc bewirkte
kàjarsic12. Wir haben also ein durch poiesis hergestelltes Írgon, das seinerseits
eine k–nhsic bewirken soll. Dies setzt natürlich voraus, daß man sich bewußt als
Rezipient auf dieses Írgon einläßt.
10 Wieland (1996), 484; vgl. auch Wieland (2003); Vollrath (1989); Neschke (1997).
11 Einschränkend immerhin in cap. 4, 1448 a17–19.
12 Zur Diskussion Schadewaldt (1955); Flashar (1989).
»Techne liebt Tyche und Tyche Techne« 95
Es fragt sich nun, wie das Subjekt solcher Herstellung zu fassen ist. Zunächst ist
wiederum auf die Leerstelle in der Poetik zu verweisen, in der eine Reflexion über
po–hsic qua po–hsic völlig zu fehlen scheint. Wenn wir aber nach den poio‹ntec
fragen, dann zeigt sich, daß sie sich zunächst an die präskriptiven Sätze über die
von Aristoteles definierte tragische mimesis zu halten hätten. So betrachtet wäre der
dichterischen Kreativität genau jene Autonomie genommen, die das neuzeitliche
dichterische Subjekt gerade auszeichnet.
Nun versieht Aristoteles aber seine Dichtungstheorie auch mit einer entwick-
lungsgeschichtlich-historischen Dimension; denn tatsächlich muß es im Interesse
des Philosophen liegen, auch einen anthropologischen Grund für das Phänomen
der Dichtung qua mimesis in der polis zu geben. Wichtige Bestimmungen finden
sich im 4. Kapitel der Poetik 13. Hier macht er fusika» a t–ai für das Entstehen der
Dichtung verantwortlich, nämlich einerseits die dem Menschen eigentümliche, also
natürliche Angelegtheit auf mimesis als Form des Lernens von anderen Menschen
(daher s‘mfuton ‚k pa–dwn 1448 b5–6) und andererseits die Freude an mime-
tischen Produkten. Näherhin sind es dann einzelne, besonders von der Natur
begünstigte Individuen (o… màlista pr‰c aŒtÄ pefukÏtec), die die Dichtung
aus Stegreifaktionen ›erzeugen‹ bzw. entstehen lassen. Aus diesen improvisierten
Anfängen wächst nun die spätere Dichtungsform hervor, indem die dafür beson-
ders Begabten gerade soviel weiterführen (proagÏntwn), wie jeweils die Natur
des späteren Produktes kenntlich wird. Nach einigen Wechseln (metabola–) findet
schließlich die Tragödie ihre eigene physis, auf die sie angelegt war. Betrachten wir
nun diese Produktion einmal unter der Perspektive der Vierursachenlehre, dann
wäre zu fragen, woher die Bewegung in die f‘sic der Tragödie eigentlich ihren
Anfang nahm (Ìjen ô k–nhsic). War das e⁄doc in der Seele der Begabten? Das wohl
nicht, denn diese trieben ja nur eben das hervor, was irgendwie schon sichtbar war.
In Metaphysik Z 7 1032 a27–30 läßt Aristoteles als causa movens der poiesis drei
Möglichkeiten gelten: tËqnh, d‘namic und diànoia. Neben einer klaren rationalen
Planung gibt es also auch noch andere Ursachen beim poiht†c: Mit Dynamis
ist eine gewisse Versiertheit bezeichnet, die zwar nicht über das diÄ t–, also den
Grund und die Ursache, verfügt, aber doch durch Erfahrung oft das Richtige
trifft und dadurch erfolgreich ist. Dianoia wird demgegenüber wohl eine partielle
Kenntnis der Zusammenhänge bezeichnen, vielleicht im Sinne eines kundigen
13 Die traditionelle Interpretation der ›Archäologie der Tragödie‹ (Phalloslied und Dithyram-
bos) umkehrend Leonhardt (1991).
96 Thomas Schirren
Laien, der den nächsten Schritt planen kann, ohne das ganze Vorhaben auch schon
technisch zu überblicken. Diese Unterscheidung ist hier insofern hilfreich, als wir
uns ja fragen müssen, was o… màlista pr‰c aŒtÄ pefukÏtec (die von der Natur
dafür besonders Begabten) eigentlich wußten, als sie die Tragödie entwickelten. Sie
konnten ja gerade nicht auf eine klare techne oder ein eidos zurückgreifen, das zu
verwirklichen wäre.
Nun spricht Aristoteles in diesem Kapitel eindeutig von einem Vorgang, der
an einen natürlichen erinnert. Sollte daran zu denken sein, daß ähnlich wie bei
der physischen Fortpflanzung das e⁄doc durch die Individuen weitergegeben wird,
ohne daß diese dies steuern könnten? Dann bediente sich die f‘sic der kon-
kreten Wesenheiten gewissermaßen als f‘sei Ónta, um eine ihr gemäße Form,
nämlich die der Tragödie hervorzubringen. Wäre die Tragödie dann eine oŒs–a,
hätte sie ein substantielles Sein? Diese Möglichkeit wird von manchen Aristoteles-
kennern ausgeschlossen14. Es sei nur eine metaphorische Redeweise. Freilich fehlt
ein sprachlicher Hinweis, der die uneigentliche Rede als solche kenntlich macht.
Außerdem übersieht eine solche Auffassung, daß Aristoteles ja ausdrücklich von
physischen Ursachen spricht, welche die Dichtkunst hervorgebracht haben. Wenn
das so ist, dann darf man sich fragen, wie weit das Wirken der Natur geht und
welche Funktion sie bei natürlichen Herstellungen von Lebewesen übernimmt.
Ein solcher Fall wird in Physik 2, 8 199 a20–32 erwähnt. Bauen die Spinnen ihre
Netze durch techne? Nein, sondern ›herstellende‹ Tiere unterliegen alle dem teleo-
logischen Wirken der Natur. Es gibt in der Natur (als Gesamtheit natürlicher
Prozesse) zwar kein Zweckbewußtsein wie beim platonischen Demiurgen, aber
doch Zweckhaftigkeit im Kosmos, die sich durch die morf† bzw. das e⁄doc, als
den Zielpunkt der Herstellung, definiert. Offenbar ist in der morf† der Spinne
auch bereits die Herstellung von zweckmäßigen Netzen zur Nahrungssicherung
vorgebildet, so wie auch die Pflanzen zur Nahrungsaufnahme ihre Wurzeln in die
Erde wachsen lassen.
Wie steht es aber mit einer Herstellung, die sich auf ein Produkt bezieht, das
durch das herstellende Individuum noch nicht gleich in sein telos kommt?
Diese Frage ist strukturell derjenigen ähnlich, die im ersten Buch der Politik, cap. 2
behandelt wird. Auch dort wird eine physische Notwendigkeit geltend gemacht,
die den Menschen zur Paarung und zur Einrichtung eines o⁄koc treibt. Und der
oikos führt dann über den k¿moc, das Dorf, zur Gründung einer polis, in der
die von der Natur geleitete Zusammenführung des Menschen zu Gemeinschaften
ihr telos erreicht. Dieses telos ist zugleich die physis, da die physis die Menschen
zu dieser Form (e⁄doc) des Zusammenlebens gebracht hat. Das begründet Ari-
stoteles mit der Analogie von Lebewesen und Artefakt: Dasjenige, was ist, wenn
es in seiner Entstehung abgeschlossen ist, ist zugleich die physis eines jeden Din-
ges 15. Der erwachsene Mensch ist so betrachtet die physis jedes Menschen, nämlich
als die Form, zu der sich der Heranwachsende entwickelt. Hier entspricht phy-
sis der oŒs–a als dem konkreten Gegenstand, der seine optimale Form gefunden
hat. Das bedeutet aber nun ontologisch, daß das Ík tinoc die Dörfer sind, aus
denen sich dann im Sinne der stËrhsic die »vollkommene polis« entwickelt. Aus
diesem natürlichen Prozeß kann Aristoteles dann schließen, daß der Mensch das-
jenige Lebewesen ist, das »von Natur«, f‘sei, auf eine strukturierte Gemeinschaft
gewissen Umfangs (pÏlic) hin angelegt ist und nur hier auch sein eigenes telos
entfalten kann. Denn nur die tËleioc pÏlic (nicht nur die vollkommene Stadt,
sondern auch die in ihr telos gekommene Entwicklung 16) sichert dem Menschen
das efi z®n. Und in diesem efi z®n verwirklicht sich der Mensch erst im eigentlichen
Sinne. Nun ist es aber trotz dieser Entwicklung vom o⁄koc zur pÏlic auch evident,
daß die Menschen in der Stadt nicht aufhören, in Hausgemeinschaften zu leben.
Vielmehr sind dies ausdrücklich Teile der polis –, aber doch so, daß sie allererst
im Ganzen die Bestimmung erfahren, die ihr Wesen ausmacht. Daher postuliert
Aristoteles gerade hier, daß das Ganze früher als die Teile ist und die Teile aufhören
zu sein, was sie sind, wenn sie nicht mehr Teile des Ganzen sind. Das gilt nun
zunächst für den Menschen als mËroc pÏlewc, wohl aber auch für die größeren
Einheiten der polis.
Auch hier in der Politik gehen die Meinungen darüber auseinander, welche
Rolle Aristoteles der physis zuschreiben will 17. Werden die Individuen zur polis
getrieben? Immerhin nennt Aristoteles einen pr¿toc sust†sac der polis, der sich
die allergrößten Verdienste erworben habe. Damit stellt sich aber auch in der Politik
die Frage nach dem Individuellen im physischen Prozeß.
Als Zwischenergebnis des kleinen Ausflugs in die Politik kann man aber immer-
hin festhalten, daß es auch hier klar benennbare physische Bewegungen gibt, die
dann auf eine bestimmte Form zulaufen, wobei es natürlich menschliche Indivi-
duen sind, die hier tätig sind. Doch ist fraglich, ob diese Tätigkeit ihren Ursprung
nur aus den Individuen nimmt. Indem es Prozesse gemäß der Natur sind, hat man
zu fragen, an welchem Prozeß diese Natur wirksam sein soll.
18 Anders faßt dies Sedley (2000), 332 auf: Die Sklaven handelten nur selten aus eigenem Antrieb
so, daß es dem Ganzen des oikos nütze: »He is speaking of the degree of their sharing or
participation in the households joint activity […] when the slave does the washing up, he
is doing ›what he chances to‹ not, I would suggest, in the sense that he slings the dishes
around at random, but in the sense that most of his own aims at best merely coincide with
the aims of the household, rather than being fully at one with them« (332). Das würde
voraussetzen, daß der Sklave überhaupt eine prohairesis ausbilden könne, was nach Pol. 1,
4–6 ausgeschlossen ist, da Sklaven nur auf den logos des Herren hören können, aber nicht
selbst einen haben (1254 b22–23).
19 Zu dieser Stelle die eingehende Interpretation von Sedley (1991) und (2000).
»Techne liebt Tyche und Tyche Techne« 99
Für die Frage nach der Entwicklung einer Gattung ist dieser Gedanke der
Allnatur aufschlußreich. Tatsächlich nämlich ließe sich so erklären, warum die
natürliche Ursache der mimesis im Menschen zur Herausbildung der Tragödie
führt. Die einzelnen proàgontec handeln hierbei vielfach ±c Ítuqe, und doch ist
alles irgendwie auf Eines hin geordnet; das heißt: So wie der Hausherr für die
Besorgung eines Geschäftes dem Sklaven Raum der Kontingenz läßt, so läßt die
physis als (All-)Natur dem einzelnen Künstler eine gewisse Kontingenz, doch führt
sie über die mimetische Anlage des Menschen schließlich die Entwicklung der Tra-
gödie zur vollkommenen Form. Auf diese Weise ist das Prinzip des Individuums
im Plan der Gesamtnatur aufgehoben.
Wenn etwa Aischylos die Zahl der Schauspieler von eins auf zwei vermehrt und
den Chor reduziert 20, dann deshalb, weil sich so die mimesis, auf die ja Dichtung
reduziert wird, besser performieren läßt. Sophokles erhöht dann die Schauspieler
auf drei, und damit scheint das Optimum dramatischer mimesis erreicht. Ebenso
wird der Stoffumfang vergrößert. Das iambische Metrum findet nicht ein einzelner
Dichter, sondern die f‘sic21. Und die beiden Zweige der dramatischen mimesis,
Tragödie und Komödie, werden durch die ihnen je entsprechenden Charaktere
entwickelt, die offenbar auf Dispositionen der physis beruhen.
In Kapitel 17 wird die Frage nach der Anlage von Dichtern ausführlicher diskutiert.
Dichtung sei Sache eines Manikos oder einer guten Anlage. Denn man müsse die
Stoffe in Übereinstimmung mit der lexis zusammenstellen und zwar so, daß man
(sich?) dabei die Sache evident mache. Man finde am ehesten das Angemessene
(prËpon 1455 a25), wenn man sich durch Imagination in den Situationen befinde,
und vermeide dessen Gegenteil (der Dichter muß sich also das, was er dichtet, bei
der Konzeption vorstellen). Man solle möglichst auch die sq†mata der Schauspie-
ler (1455 a29) einbeziehen; denn am glaubwürdigsten werde die Dichtung, wenn
man selbst in dem emotionalen Zustand sei, den man ausdrücken wolle. Am
überzeugendsten wütend sei der, der tatsächlich wütend ist.
Daher sei Dichtkunst eine Sache der guten Anlage (eŒfu†c 1455 a32) oder eines
manikÏc: Während der eine durch bewußte Imagination wandelbar ist, ist der
andere von außen erregbar. Hier haben wir zwar durchaus Aspekte individueller
Unterschiede, und man könnte daher versucht sein, darin bereits die Bedeutung
subjektiver Imaginationsleistung zu sehen. Doch ist andererseits auch die über-
subjektive physis zu erkennen, die sich hier des einzelnen bedient: Nicht umsonst
nennt Aristoteles den Begabten einen eŒfu†c. Es kommt also viel darauf an, wie
man diese physis auffaßt.
Auf die Bedeutung einer guten Anlage weist Aristoteles auch im Zusammen-
hang der lexis hin, als er die Königin der Tropen, die Metapher, behandelt. Ein
guter Metaphernbildner zu sein sei nicht jedermann gegeben, lasse sich nicht lernen
und sei Anzeichen von einer guten physis (eŒfuÚa 1459 a7). Denn gute Metaphern
bilden zu können bedeutet das Ähnliche betrachten zu können (t‰ Ìmoion jewreÿn
1459 a8). Diese Ähnlichkeit müsse in der Beziehung (‚piforà) zwischen ontolo-
gischen Kategorien aufgefunden werden, also indem man das e⁄doc für das gËnoc
verwende oder umgekehrt das gËnoc für das e⁄doc22; am gebräuchlichsten sei
aber die analogisch verfahrende Metapher. Daraus geht hervor, daß die Metapher
im wesentlichen eine Erkenntnisleistung erbringt, bzw. daß der Metaphernbild-
ner einen kognitiven Akt vollzieht, indem er Ähnlichkeiten erkennt und auf den
Begriff bringt23. Der Rezipient wundert sich über diese Beziehung und sagt sich:
»Wie wahr, ich aber war im Irrtum, diese Ähnlichkeit bisher nicht wahrgenom-
men zu haben«! (Rh. 1412 a20–21) Das entspricht aber auch einer philosophischen
Fähigkeit, die sich durch Dialektik schulen, aber nicht streng anleiten läßt.
Es ist zwar deutlich, daß Aristoteles individuelle Unterschiede poetischer
Fähigkeiten erkennt, aber alle dichterische Herstellung ist entweder rational nach-
vollziehbar oder entspricht, wenn sie gelungen ist, allgemeinen poetischen Regel-
systemen. Diese gehen ihrerseits indessen auf eine allgemeine (menschliche) Natur
zurück, die sich einen adäquaten Ausdruck verschafft und daher die ihr gemäßen
dichterischen Formen hervorgebracht hat. Die Leistung einzelner ist dadurch im
gesamten physischen Prozeß aufgehoben.
Sieht also Aristoteles nicht die Möglichkeit eines regelabweichenden und darum
genialischen Dichtens, wie die sich vom Klassizismus absetzenden Stürmer und
Dränger es konzipieren bzw. wie Pseudo-Longin es sich vorstellt?
Nun gibt es in der Poetik allerdings noch die Figur des großen Dichters, bei dem
Aristoteles nicht sicher ist, wie dieser es vermocht hat, alles richtig zu machen,
sogar da, wo er gegen seine eigenen Prinzipien zu verstoßen scheint.
1) So kritisiert Aristoteles in Po. 1451 a23, daß die Einheit der Handlung nicht
durch Konzentration auf einen Helden ermöglicht werde (per» Èna  m‹joc). Nur
Homer, der sich auch sonst von den anderen Dichtern unterscheidt, hat auch hier
das Richtige getroffen: sei es durch techne, sei es durch seine Natur (¢ toi diÄ
tËqnhn £ diÄ f‘sin). Hierüber räsonniert Nickau (2000):
Das scheint doch zu besagen, daß (nach der Vorstellung des Philosophen) Homer es
eben nicht so gemacht hat, wie die Tragiker, deren einige auf dem Wege von trial and
error herausgefunden haben, wie man die Fabeln bauen muß, sondern, ohne viel in
den Stoffen herumzusuchen, mit genialem Griff das einzig Richtige tat.
Das heißt, Homer hat Odyssee und Ilias per» m–an prêxin komponiert und nicht
alles das erzählt, was dem Odysseus zustieß. Aristoteles ist unsicher, wie er sich
diese Fähigkeit des Homer erklären soll. Aber es scheint klar, daß dies nicht durch
tËqnh im eigentlichen Sinne geschehen sein kann, da diese ja noch nicht gefunden
war; daher bietet sich Aristoteles die f‘sic als Erklärung an.
2) Die Einheit einer Handlung ist nicht durch Zeit gegeben, also dadurch, dass
etwas zu einer bestimmten Zeit geschieht, sondern durch die Einheit der Handlung.
Wieder ist Homer im Vergleich mit anderen am besten: »Wie wir schon sagten,
auch darin erscheint er als ein jespËsioc« 24.
3) In den Formen des Epos (cap. 24): einfach oder kompliziert, ethisch oder
pathetisch, erkennt Aristoteles dieselben Teile (mËrh, freilich außer melopoi–a und
Óyic, vgl. cap. 6), die auch für die Tragödie gelten, nämlich:
– Peripetien
– anagnorisis (beide Mythos)
– dianoia (Gesinnung der Akteure)
– lexis.
Die Unterschiede zur Tragödie bestehen in Versmaß und Handlungsgefüge (s‘sta-
sic); insbesondere kann man in der Epik durch Episoden verschiedene synchrone
Handlungen darstellen25.
Homer ist derjenige, der alle diese mËrh als erster und allein richtig gebraucht
hat. In dieser Engführung von Epos und Tragödie erweist sich auch, daß in den
Augen des Stagiriten die Tragödie die Weiterentwicklung des Epos ist und daher
in Homer bereits das tragische Potential des Epos verwirklicht war. Das belegt
deutlich, daß es Aristoteles nicht um die Dichtung als solche geht, sondern um einen
sich in und mit der Dichtung vollziehenden ›physischen‹ Prozeß, menschliche praxis
zur Anschauung zu bringen. Denn für das Epos fehlen eben jene Schlüsselaffekte,
die das ergon der Dichtung herstellen, Íleoc und fÏboc, während andererseits sogar
durch die bloße Lektüre, also unter Absehung von Óyic, der tragische Effekt, das
Írgon der Tragödie, beim Rezipienten ausgelöst werden kann.26
4) Homer, der auch in anderer Hinsicht lobenswert ist, ist der einzige Dichter,
der nicht in Unwissenheit darüber ist, was er [als Dichter] tun muß: nämlich selbst
möglichst wenig kommentieren, erzählen usw., sondern dies soll der Dichter den
Akteuren überlassen 27! Denn er ist nicht als Erzähler Mimet. Während andere
Epiker glauben, selbst über das ganze Epos hin im Wettkampf stehen zu müssen
(Çgwn–zesjai), hat Homer verstanden, daß er sich nur kurz im Prooimium zu
Wort melden muß, um sich dann durch Einführung redender Personen sogleich
zu verabschieden.
Wenden wir uns zur Ausgangsfrage zurück, dann ergibt sich folgendes: Der
Fall Homer beweist für Aristoteles, daß es in der Geschichte der Dichtung Figuren
gibt, für die das Liebesverhältnis von tyche und techne entscheidend ist. Homer hat
bereits alles richtig gemacht: ein jespËsioc Çn†r, der möglicherweise weniger als
Technit denn als Liebling der tyche (die dann freilich von der physis geleitet wäre)
zum Richtigen kam.
Dies offenbar deshalb, weil er alles korrekt gemacht hat, ohne daß es entspre-
chende Regeln gegeben hätte, an die er sich hätte halten können. Denn andernfalls
wäre er nicht der einzige gewesen. Er traf also vielleicht vielfach katÄ t‘qhn das
Richtige, und erst Aristoteles ist derjenige, der aufgrund seines Begriffsapparates
erklären kann, warum es (das diÄ t–) richtig war. Und erst aus dieser Perspek-
tive des diÄ t– wird eine klare Entwicklungsrichtung kenntlich. Homer tat das
poetisch Richtige nicht aus tËqnh, sondern aus d‘namic oder diànoia, wenn wir
die erwähnte aristotelische Unterscheidung noch einmal aufgreifen wollen. Die
scheinbare Disjunktion ¢toi diÄ tËqnhn £ diÄ f‘sin besagt dann wohl eine quasi
technisch agierende Natur, also eine Natur, in der das Regelsystem der techne
vollendet ist. Eine solche Verbindung verweist uns auf die enge Verbindung von
techne und physis im aristotelischen Denken. Techne setzt physis fort und umgekehrt
kann physis auch mit technischen Forderungen kongruieren28.
Gegenüber dem Platonischen Ion kann man das aristotelische Konzept als
einen Fortschritt ansehen, weil dort noch das alte Enthusiasmus-Konzept diskutiert
wird, das hier offenbar durch die physis abgelöst wird. Das eigentliche Subjekt der
Dichtung ist die physis, weil Dichtung als ein anthropologisches Phänomen gesehen
wird.
Damit hängt auch die Eigendynamik der Dichtung zusammen. Sie wurde
zuvor als göttlich und enthusiastisch gekennzeichnet, weil sie eine Wirkung entfal-
ten kann, die man dem Artefakt als bloß Gemachtem (ohne yuq†) nicht zutraute.
Nun hat aber die Tragödie »gleichsam eine yuq†«, nämlich den Plot (m‹joc 50
a38). Dieser ist es auch, von dem als s‘stasic pragmàtwn die spezifische Wirkung
ausgehen muß. Insofern stellt literarische mimesis einen Sonderfall der tËqn˘ Ónta
dar. Dichtung als hergestelltes Írgon muß ein weiteres Írgon erzeugen, nämlich
die kàjarsic.
4. Zusammenfassung
verknüpft auf diese Weise die Bewegungen der Lebewesen. Der Einzelne trägt
dazu bei, eine größere Gesamtbewegung ins Werk zu setzen.
Ganz verwandt wiederum mit dieser Problematik der Entwicklung einer lite-
rarischen Form ist diejenige, der sich Aristoteles in der Eudemischen Ethik 8,2 unter
dem Stichwort ›Glückspilz‹, also dem eŒtuq†c, widmet. Ist es reiner Zufall, daß
manche immer Glück haben, oder haben sie eine besondere Natur? Für Aristo-
teles ist klar, daß die Glückspilze nicht besonnen sind; denn auch dann, wenn
sie das Richtige taten, können sie keinen Grund dafür angeben. Von den drei in
Erwägung gezogenen Ursachen, nämlich Vernunft, göttlicher Beistand und Natur,
bleibt für Aristoteles nur die Natur übrig. Daher müßte der Glückspilz eigentlich
nicht eŒtuq†c heißen, sondern eŒfu†c; zum habituellen Glück paßt nicht die tyche,
sondern nur die Regelmäßigkeit der Natur. Das führt Aristoteles nun zum Ergeb-
nis, daß es zwei Formen von eutychia gibt: 1) aufgrund einer göttlichen Strebung,
die auch ohne Vernunft (und sogar besser ohne) im einzelnen als seine Naturanlage
funktioniert, und 2) ein allein durch äußere Zufälle herbeigeführtes Ergebnis. Aber
beide sind irrational.
Überträgt man diesen Gedankengang nun aus dem Bereich der praxis auf den
der poiesis, dann hätte in dem von der Natur begabten Dichter Homer (eŒfu†c)
eine göttliche Strebung gearbeitet, die ihn bereits in der Epik diejenigen Formen
anwenden ließ, die erst später in der Tragödie in ihr funktionales telos gelangen. Es
ist aber gerade diese göttliche Strebung, die als Subjekt der poetischen Kreativität
nicht das Individuum erkennen läßt, sondern eine Allnatur, die dem menschlichen
Zusammenleben durch die Tragödie einen systatischen Effekt verliehen hat. Die
Tragödie ist natürlich, weil sich in ihr ein natürlicher Trieb des Menschen eine Form
gebildet hat, sich auszuleben. Ähnlich wie die natürliche polis; hierbei ist nicht in
einem engen Sinne ein Naturding gezeugt worden, sondern der Mensch hat in
der techne ein Desiderat der Natur kompensiert29. Die techne setzt also fort, was
die physis begonnen hat und läßt dann das Ergebnis dieser technischen Herstel-
lung wieder in einen natürlichen Prozeß, nämlich die natürliche Polisgemeinschaft,
einbiegen. Beim Einzelnen geschieht dies in Form der Katharsis, die durch die
Erleichterung auch einen soziopolitischen Effekt hat.
Was also in der Entwicklung der Tragödie zunächst als Zufall erscheinen mag,
erweist sich in der diachronen Perspektive als geleiteter Prozeß, der trotz partieller
Aberrationen an sein telos kommt. In Homers natürlicher Begabung präfiguriert
sich also das technische telos einer Gattung.
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Aitiologien des Selbst
Moderne Konzepte und ihre Alternativen
in antiken autobiographischen Texten
I. Einleitung
Kallimachos’ Aitienprolog ist einer der bekanntesten Texte des Hellenismus. Er ist
außerdem einer der antiken Texte, die intensiv auf ihre reflexiven Züge und das
neue dichterische Selbstbewußtsein hin gelesen wurden. Von wenigen Texten der
Antike scheinen wir mit solcher Gewißheit sagen zu können, daß sie etwas mit
der Konstitution des (dichterischen) Selbst zu tun haben und dazu eine Aussage
formulieren. Kaum ein Text scheint daher weniger geeignet zu sein, um neue
Ansätze zur Subjektivitätsforschung und zur Archäologie des Selbst in antiker
Literatur zu entwickeln und vorzustellen.
Dieser Eindruck trügt aber. Die Sprengkraft der Modernität dieser Selbstinsze-
nierung des Erzählers der Aitien muß erst noch erarbeitet werden. Es ist – so meine
These – eine Aitiologie des Selbst, die autobiographisch im Sinne postmoderner
Autobiographietheorien gelesen werden muß, die gelesen werden muß als Neu-
erschaffung des poetischen Ich und seiner Geschichte im Akt des Schreibens, der
zugleich ein Akt des Träumens des erzählenden (Autor-)Ich ist.
Diese neue, auf die Erschaffung des Selbst konzentrierte Lektüre liefert zudem
Bausteine für etwas, das ich gerade in einem größeren Rahmen habe entstehen las-
sen: Sie liefert Bausteine für eine Revision traditioneller Epochenbeschreibungen
zum Hellenismus und zur hellenistischen Dichtung, die die Bewegung der Neuer-
schaffung der Vergangenheit als Literaturgeschichte in dem Akt des gegenwärtigen
Dichtens ernst nimmt und daraus eine innere Literaturgeschichte erarbeitet. 1
Die Verknüpfung mit der Entdeckung einer neuen Literaturgeschichte ist nicht
assoziativ, denn in dem Konzept der Aitiologie liegen die Potenzen einerseits einer
postmodernen Konstruktion des poetischen Selbst und andererseits einer Neuer-
1 Radke (2007).
108 Gyburg Radke-Uhlmann
schaffung der Literaturgeschichte von den – selbst entworfenen – Wurzeln und der
Vorgeschichte der Tradition her, die komplementär zu und jenseits gegenwärtiger
Intertextualitätsforschungen beschrieben werden muß.
An die Stelle der Suche nach den intertextuellen Referenzen und Folientexten
tritt in diesem Versuch die exemplarische Analyse alternativer, d. h. vorhellenisti-
scher Modelle der Archäologie des Selbst und autobiographischen Schreibens, die
für sich und nicht als Konstitutionselement des neuen Konzeptes, in dem sie als
sie selbst nicht mehr erkennbar sind, betrachtet werden.
2 Freilich trägt die Moderne selbst von Anfang an den Zweifel an dieser Möglichkeit in sich als
ein konstitutives Element ihres Selbstverhältnisses: vgl. Heine (1964), 447: »Die Abfassung
einer Selbstkritik wäre nicht bloß eine sehr verfängliche, sondern sogar eine unmögliche
Arbeit. Ich wäre ein eitler Geck, wenn ich hier das Gute, das ich von mir zu sagen wüßte,
drall hervorhübe, und ich wäre ein großer Narr, wenn ich die Gebrechen, derer ich mir
vielleicht ebenfalls bewußt bin, vor aller Welt zur Schau stelle. – Und dann, mit dem besten
Willen der Treuherzigkeit kann kein Mensch über sich selbst die Wahrheit sagen. Auch ist
dies niemandem bis jetzt gelungen, weder dem heiligen Augustin, dem frommen Bischof
von Hippo, noch dem Genfer Jean Jacques Rousseau, […]«.
Aitiologien des Selbst 109
3 Die Bedeutung des Identitätskonzepts (durch die verschiedenen Phasen des individuellen
Lebens hindurch) zeigt exemplarisch die Studie von Pascal (1965), z.B. 210. Ebenso auch
Dilthey (1942), 200.
4 Ein charakteristisches Beispiel für diese Position ist Aichinger (1970), 424: »Niemand als
der Autor selbst weiß über seine Erlebnisse, Gefühle und Empfindungen besser Bescheid,
keinem anderen sind sie so unmittelbar zugänglich; er allein kennt die inneren Zusammen-
hänge«.
5 Tugendhat (1994) und (1997).
6 Lejeune (1994); de Man (1984); Foucault (1988); Barthes (2000); Schabacher (2005); Cixous
(1997); Derrida (1985); Eakin (1985); Lejeune (1989); Finck (1999).
7 Michel Foucault (1980), 364: »… daß wir vor dem geringsten gesprochenen Wort bereits
durch die Sprache beherrscht und von ihr durchdrungen sind«. Zurecht weist Finck (1999),
28f. daruf hin, daß das Impliziertsein jedes Subjekts in Sprachspiele schon ein in der Roman-
tik bekannter Gedanke war. Sie verweist auf Novalis (1965), 672f.: »Es ist eigentlich um das
Sprechen und das Schreiben eine närrische Sache; das rechte Gespräch ist ein bloßes Wort-
spiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen
um der Dinge wegen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich
selbst bekümmert, weiß keiner«.
8 Sprinker (1980); De Man (1984); Derrida (1988); Jay (1982); id. (1984); id. (1987); Kennedy
(1981); Lang (1980); Sturrock (1977); Spengemann (1980).
110 Gyburg Radke-Uhlmann
9 Wir erleben im Gegenteil eine Renaissance der Autobiographie als fiktionalem Text in der
Postmoderne: In den USA gibt es z.B. drei Publikationsorgane, die ausschließlich Studien zur
Autobiographie veröffentlichen: Biography – Prose Studies – A/B: Autobiography Studies.
Außerdem haben seit 1978, seit dem Erscheinen eines Themenheftes der Modern Language
Notes zu Autobiography and the Problem of Subject fast alle wichtigen Literaturzeitschriften
spezielle Ausgaben dem Thema Autobiographie gewidmet (s. z.B. Jay [1982]).
10 Lejenune (1994).
11 De Man (1993), 132ff.
Aitiologien des Selbst 111
Der Name ›Aitiologien‹ verweist auf die Affinitäten zur hellenistischen Dich-
tung. Denn diese begreift ihr Erzählen explizit als Summen von Geschichten über
Ursprünge und Anfänge.
Moderne und postmoderne Autobiographietheorien sind aitiologisch. Sie
begreifen den individuellen Lebensweg eines Menschen als eine Geschichte, eine
große Erzählung, deren fiktionaler Komposition und deren historischen Quel-
len, den historischen a“tia, man vom Standpunkt der Gegenwart des Autor-Ich
aus nachgehen und deren Konstruktcharakter man – als Teil eines Sprachspiels –
aufdecken kann.
In diesen Diskursen verschwimmen also die Grenzen zwischen Fiktion und
Wirklichkeit, weil auch die Wirklichkeit des Selbst als subjektive Fiktion und litera-
risches Konstrukt erkannt wird. Die dichterische Phantasia gewinnt damit Gewalt
über den Entwurf des Selbst im autobiographischen Rückgriff und konstruiert
dabei aus der Perspektive der eigenen Gegenwart für diese Gegenwart sich selbst
als vergangenes und bis in die Gegenwart fortdauerndes (fiktives) Selbst12. Die
dichterische Phantasia erschafft die Vergangenheit als Aition für die Gegenwart
und tut dies in einem poetischen Raum, in dem sie nur den eigenen Gesetzen
unterworfen, d.h. absolut autonom ist13. So kann dieser poetische Raum zu einer
Traumwelt und durch diese als Produkt der Phantasia offenbar werden, denn
es ist der Traum, in dem es keine Unterscheidungskriterien zwischen wahr und
falsch, zwischen fiktiv und wirklich gibt, weil alles den Index des Vorgestellen, des
subjektiv Bildlichen an sich hat.
Auf der anderen Seite muß, weil die Illusion von Wirklichkeit von der Gattung
Autobiographie gefordert wird, eine Rahmenkonstruktion geschaffen werden, der
die Traumwelt, die für die absolute Herrschaft der Phantasia steht, von einer
illusionierten realen Gegenwart, in der das Autor-Ich sich als empirisches Ich
präsentiert, abgrenzt und als poetischen Raum konstituiert.
Es sind Strategien der absoluten Herrschaft poetischer Phantasia, die in die-
sen Bausteinen als Basis moderner und postmoderner Autobiographien formuliert
werden. (Mit dieser Beschreibung kann die Rede von der selbstreferentiellen Fik-
tionalisierung präzisiert und mit den diesen Kategorien vorausgehenden erkennt-
nistheoretischen Grundentscheidungen assoziiert werden.)
12 Sprinker (1980), 342 verweist auf das komplementäre Destruktionspotential der Phantasia.
13 Zu diesen Zusammenhängen s. Radke (2007).
112 Gyburg Radke-Uhlmann
Eben diese Strategien aber determinieren die poetische Anlage des Aitienprologs
des Alexandriners Kallimachos 14. Eine Analyse dieser Fiktionalisierungsformen bei
Kallimachos kann – jenseits und als Gegenbewegung gegen Droysens teleologi-
sche, entwicklungs- und bewußtseinsgeschichtliche Beschreibung des Hellenismus
als ›Moderne der Antike‹ – zur Aufdeckung der Affinitäten zwischen der alexan-
drinischen Dichtung und Poetologie und gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen
und literarischen Diskursen beitragen. Als Bollwerk gegen die Identifizierung die-
ser These mit Droysens wirkmächtigem Konzept wird es nötig sein, (unten) eine
vorhellenistische Praxis des Schreibens über das eigene Selbst als Alternative und
nicht als Vorläufer oder Vorbereitung der antiken Moderne vorzustellen (soweit
das in diesem Rahmen möglich ist).
Die Struktur von Kallimachos’ Prolog zu den ersten beiden Büchern seines
Hauptwerkes 15 bietet eine doppelte Rahmung, die die Postulate der eben skizzier-
ten gegenwärtigen Autobiographietheorien erfüllt 16. Sie erschafft einen poetischen
Möglichkeitsraum, in dem die dichterische Phantasia absolute Freiheit genießt, fügt
diesen aber ein in die Illusion gegenwärtiger Wirklichkeit, die ihre Legitimation aus
einer Bezugnahme auf ihre Ursprünge gewinnt, entwirft den poetischen Kosmos
also aitiologisch.
Der innere Rahmen ist das berühmte Somnium, in dem das Erzähler-Ich berich-
tet, es habe geträumt, wie es als junger Mann auf den Helikon versetzt worden
sei, wo es mit den Musen in ein Gespräch eintritt, in welchem er sie nach vielerlei
Kulten und deren Ursprüngen, deren Aitia fragt. Damit wird die Erzählung aller
folgenden Aitien-Geschichten motiviert. Sie alle finden also im Traum statt, sind
geträumte Wirklichkeit, und zwar die geträumte Wirklichkeit des sich im äuße-
ren Rahmen des Prologs als alter Mann präsentierenden Ich, das träumt, es sei
– wieder – ein junger Mann17.
Der äußere Rahmen inszeniert die Illusion der realen Gegenwart des Autor-
Ich und verweist sogar – als Illusion – auf das empirische Ich. Dies geschieht
auf zwei Weisen: Indem er den in der realen Zeit gealterten Autor im Konflikt
mit seinen – mythologisch anonymisierten – Kritikern vorstellt, und indem er
die gegenwärtige Dichteridentität dieses attackierten Autors auf deren Anfänge
in der Kindheit und ihre Legitimation durch Apoll zurückführt und von diesem
Initiationserlebnis aus entwirft.
Es ist ein Topos in Legionen von Interpretationen, die Kallimachos’ Einladung
zur Vernissage der Programmatik seiner Dichtung gefolgt sind, diesen äußeren
Rahmen als erstes Aition des Aitien-Werkes zu bezeichnen18. Als erstes Aition
fungiere es zugleich als Apologie des ganzen Werkes und des in den ersten Versen
formulierten und in der zeitgenössischen Diskussion im Raum stehenden Vorwurfs
der Kritiker, Kallimachos dichte »bloß wie ein Kind« (paÿc âte: Call. Aet. Fr. 1
[Pfeiffer] 6). Das Erzähler-Ich präsentiert tatsächlich ein erstes Aition. Doch ist es
notwendig, die Funktion der beiden Rahmenhandlungen und ihr wechselseitiges
Verhältnis genau zu bestimmen.
Das Autor-Ich will, insofern und weil es eine Autobiographie in Kurzform
entwirft, die Illusion der Verortung seiner (fiktiven) Selbstdarstellung in der rea-
len Gegenwart erzeugen. Diese Funktion erfüllt die Auseinandersetzung mit den
eigenen Kritikern meisterlich. Die Forschungsgeschichte hat gezeigt, wie meister-
lich. Denn noch bis heute halten sich Diskussionen und Erörterungen über die
Identität der Kritiker, mit denen das Erzähler-Ich sich selbst konfrontiert. Solche
Diskussionen sind – insgesamt und nicht nur in der Spielart der Konstruktion eines
Gegensatzes zwischen Kallimachos und Apollonios von Rhodos 19 – ein Zeichen,
daß die autobiographische Strategie erfolgreich war. Denn diese Interpretationen
geben dem äußeren Rahmen des Aitienprologs, d. h. einer konkreten poetischen
Komposition, einen Sitz im Leben des empirischen Autors und deuten das Anlie-
gen und die poetische Struktur von diesem außerliterarischen, realen Zentrum
aus.
17 Zur Interpretation und Rekonstruktion der Einfügung des Traumes des jungen Ich in die
Konstruktion des ›alten‹ Erzähler-Ich des Aitienprologs s. die Diskussion in Cameron (1995),
174–184.
18 Wimmel (1960), 101; Harder (2005), ad loc.; Asper (1997), 150; Goldhill (1986), 25–52, 30;
Ambühl (2005), 393.
19 Dieser Gegensatz ist schon viele Male philologiegeschichtlich aufgearbeitet und als Mythos
entlarvt worden. Er feiert dennoch fröhliche Urständ. Die Gründe für diese Renaissancen
müssen demnach tiefer gesucht werden, in einer Schicht jenseits einfacher philologiege-
schichtlicher Mißverständnisse. S. Radke (2007).
114 Gyburg Radke-Uhlmann
20 Herter (1937), 213–15. Polemisch gegen solche Tendenzen ist Lefkowitz (1981), 124. Asper
deutet den Telchinenvorwurf als Verzerrung einer ernsthaften und d.h. wohl: gegenwärtig
wirklichen Kritik: Asper (1997), 151 (allerdings schränkt er diese These in Anm. 83 gegen
Weber wieder ein, wenn er den Konstruktcharakter von Kallimachos aus zurecht hervor-
hebt); ebenso auch Cameron (1995), 4, 185–232. Ähnlich auch Hunter (1993), 190f.
21 Ergänzt werden kann diese Reihe durch die Ergebnisse der Untersuchungen der Quan-
titätsmetaphern durch Markus Asper, der zu dem Schluß kommt, daß Kallimachos gegen
keine konkrete Konzeption mit einem bestimmten theoretischen Profil polemisiert, sondern
gegen eine unscharfe, pointiert verzerrte allgemeine Vorstellung: Asper (1997), 223: »Wenn
sich aber die Polemik keinem theoretischen Hintergrund zuordnen läßt, dann auch schwer-
lich die Apologie. Kallimachos steht offensichtlich über der literarästhetischen Theorie seiner
Zeit, von ihm führt kein Weg zur Rekonstruktion zeitgenössischer Poetologie«.
22 Call. Hym. 4.31; Aet. 3. Fr. 75 (Pfeiffer), 64ff. Dazu auch Wimmel (1960), 72–74.
23 S. Sier (2002), 54–81; Ambühl (2004).
Aitiologien des Selbst 115
aus dem jungen, von Apoll erwählten Knaben, hat es etwas zu bedeuten, aus
welcher Zeitstufe des Mythos das Ich seinen Gegnern ihre Maskierung entnimmt.
Die Konfrontation der Telchinen als Inbegriff der Vorkindheit der mythischen lite-
rarischen Tradition mit der Kritik an der neuen Dichtung, die sich nicht an die
literarischen Vorbilder und deren Qualitätsvorgaben halte, verleiht dieser Kritik
eine neue Dimension.
Denn sie wird mit Figuren aus einer Zeit kostümiert, in der es diese Tra-
dition noch gar nicht gegeben hatte. Auf diese Weise bewegt sich die Abwehr
dieser Kritik im Bildlich-Phantastischen. Eine Auseinandersetzung mit Geistern
aus der mythischen Vorzeit führt man nicht mit rationalen Argumenten, son-
dern mit der poetischen Phantasia. Die Telchinen sind das namenlose Personal im
Mythos, das mit der Kosmogonie, mit der Erschaffung des Kosmos und der Be-
völkerung des Kosmos mit den olympischen Göttern assoziiert wird. Sie sind mit
Blick auf die illusionierten gegenwärtigen Kritiker nicht faßbar, sondern in ihrer
unbestimmten Anonymität in eine universale kosmogonische Vorvergangenheit
versetzt, wodurch die prekäre Situation des attackierten Dichters in eine Krise
von kosmischer Dimension verwandelt und mit ebensolcher Bedeutung angefüllt
wird24. Aus semantischer Unbestimmtheit wird bildliche Anschaulichkeit. Der
Dichter wird dieser brachialen Kosmogonie 25 eine andere Form der Welterschaf-
fung, die Erschaffung einer poetischen Welt – in den Aitien – entgegensetzen und
die Kritik auf dieser Ebene und indirekt aus den Angeln heben und dekonstruieren.
Nicht der äußere Rahmen der Abweisung der realen gegenwärtigen Kritiker
des Kallimachos ist also das Zentrum dessen, was das Autor-Ich in den Aitien
entwickeln und im Prolog entwerfen möchte 26; sondern das Zentrum ist der
innere Rahmen der Traumerzählung27.
Nach dem (verläßlichsten) Zeugnis der Florentiner Scholien28 folgte auf den
Prolog eine Traumerzählung, die den szenischen Rahmen für alle weiteren Aitia
bietet – aller Aitia der ersten beiden Aitien-Bücher, wie wir seit Parsons Rekon-
24 Zu der Beobachtung der Unbestimmtheit der Telchinen mit Blick auf die – der Suggestion
des Aitienprologs nach – gegenwärtigen Kritiker s. auch Asper (1997), 22 und 146: Über
Asper hinausgehend müßte man sagen, daß die Telchinen einer historischen Konkretisie-
rung nicht nur nicht bedürfen, sondern sich einer solchen grundsätzlichen entziehen. Die
Aufmerksamkeit wird bei diesem Bild der Urgeister daher in allererster Linie auf die Epi-
phanie dieser Urwesen in dem sich hoch reflektiert präsentierenden Prolog des Hauptwerks
des Kallimachos gelenkt.
25 S. die andere Intertextualitäten aufspürende Interpretation von Harder (2002).
26 Wie etwa Markus Asper meint ([1997], 149): »Im fiktiven Rückgriff der Apollonvision erzählt
Kallimachos von sich selbst als einem ABC-Schützen […]. Die gesamte Visionsszene ist nur
als Apologie des paÿc-âte-Vorwurfs der Telchinen zu verstehen«.
27 Nach AP 7.42 schloß sich eine Traumerzählung an.
28 Cameron (1995), 119–127.
116 Gyburg Radke-Uhlmann
struktionen wissen 29. Nicht real erlebte, sondern geträumte Wirklichkeit ist es, in
die wir in den Erzählungen eintauchen. Dieses Faktum bedarf einer konsequent
poetischen und auf die Poetologie dieser Dichtung reflektierenden Interpretation.
Denn in dieser geträumten Wirklichkeit des Somnium wird der Möglichkeits-
raum einer Welt aufgespannt, in dem die poetische Phantasia und nicht die Ratio die
alleinige Herrschaft hat und in der ihrer kosmogonischen Kreativität keine Gren-
zen gesetzt sind. Die Anspielungen auf die Theogonie im Somnium unterstreichen
den universalkreativen Anspruch dieses Unternehmens.
Diese poetische Welt ist nicht zufällig in ein Traumszenario eingebettet30, es
ist nicht nur deshalb in einen Traum integriert, weil Kallimachos ein gelehrtes
Spiel mit intertextuellen Bezügen spielt. Der Traum ist vielmehr für das Autor-
Ich eben der Raum, auf den der äußere Rahmen bereits hingesteuert hatte; es
ist der Raum, in dem an die Stelle der Illusion historischer Realität der fiktionale
Entwurf der wahren Identität des Dichters tritt. Diese wahre Identität ist keine
Wahrheit der Empirie, und auch keine Wahrheit des analysierenden Verstandes,
sondern es ist eine genuin poetische Wahrheit, die ihre Welt erschaffenden und
eigene Maßstäbe setzenden Potenzen entfaltet und dies durch das Vermögen der
dichterischen Phantasia vollzieht.
In dieser poetischen Traumwelt wiederum werden nicht einfach Vorstel-
lungsbilder entworfen, sondern es werden Aitia konstruiert. Aitia aber sind die
Begründungsformen der Phantasia im Unterschied zu den Formen der Begrün-
dung, mit denen der Verstand arbeitet. Denn es sind Begründungsformen, die
geschichtlich vorgehen, indem sie einen neuen Zeitrahmen, eine neue Geschichte
der Welt als Literaturgeschichte erschaffen, eine Welt, in die durch Sprache Bedeu-
tung hineinkommt, in der die Welt durch Namen und Ursprungserzählungen
als ein Raum erschlossen und konstruiert wird, der bedeutungsvoll ist und in
der das Ungeheure der bedrohlichen äußeren Welt in die Ungeheuerlichkeit und
Unendlichkeit der Möglichkeiten der Phantasia übersetzt ist. Die Suche nach den
geschichtlichen Ursprüngen von mythischen Geschichten bewegt sich in einem
Vorstellungsraum, der vom erzählenden und wiedererzählenden Subjekt selbst
geformt und angeeignet werden kann.
Man hat Kallimachos’ Somnium bislang vor allem als intertextuellen Dialog mit
Hesiods Dichterweihe gelesen. Diese Interpretationsmethode findet eine Stütze in
der Aufnahme der Figur ›Hesiod‹ in das Personal des Somnium, in der Lokalisie-
rung des Traumgeschehens auf dem Helikon und in den direkten Hinweisen auf
29 Parson (1977); Lloyd-Jones/Parson (1981), 254–269; Livrea (1979), bes. 37, id. (1980); weitere
Literatur: Lehnus (1989), 81–85.
30 Vgl. zum Motiv Möller (2007).
Aitiologien des Selbst 117
diesen Vortext aus der Theogonie und aus den Erga Hesiods 31. Hesiod erscheint
darin – auch – als mythisches Paradigma für das Autor-Ich (bzw. ›Kallimachos‹),
das mit seiner Musenweihe die Legitimation seines Dichtens durch den Verweis
auf göttliche Inspiration sowie auf die Tradition, in die er sich stellt, begründet.
›Mystische‹ Begründung in der Erzählung einer göttlichen Erfahrung und inter-
textueller Verweis auf die klassische Tradition gingen in dieser Traumerzählung
eine Synthese ein, die den besonderen Innovationscharakter der Kallimachischen
Dichtung spiegelten32.
Im Zuge dieser Interpretationsstrategie wurden auch Texte aus dem Corpus
Platonicum herangezogen, die die These intertextuell untermauern sollen, die
Rechtfertigungsstrategie des Autor-Ich gegenüber seinen Kritikern sei das wich-
tigste Verbindungsglied zwischen Aitienprolog und Somnium. Dabei wird auf das
Daimonion in Platons Apologie (Ap. 31c–e) verwiesen, das eine übersubjektive
Rechtfertigung für Sokrates’ Verhalten anbiete, so wie Apoll die Rechtfertigung für
die ›kindliche‹ Dichtung des Ich im Aitienprolog; außerdem auf den Zikadenmy-
thos im Phaidros (Phdr. 258e–259d) und den Schwanengesang im Phaidon (Phd.
84e–85b) 33.
Kallimachos’ Transformationen seiner Vorgänger (Hesiods, Platons usw.) wol-
len im Rahmen dieser autarken Welt der poetischen Phantasia des Dichters jedoch
nicht die ursprünglichen Kontexte dieser Bezugstexte evozieren und sich deren
Vorgaben unterwerfen, sondern sie sich einverleiben.
Es gibt Gründe dafür, daß ungeachtet einer differenzierten Terminologie, die
versucht, die verschiedenen möglichen Formen der Allusion zu unterscheiden 34,
die Neuorganisation des intertextuellen Materials bei Kallimachos und der Kon-
struktcharakter dieser Schöpfung vielfach nicht konsequent genug als solche zur
Kenntnis genommen wird. Der Ursprung dieser Zurückhaltung ist die Vorstel-
lung, daß die Gelehrsamkeit der alexandrinischen Dichtung die Durchsicht auf das
verwendete, gelehrte Material zu fordern scheint 35. Diese aus der Romantik ererbte
Charakterisierung der alexandrinischen Dichtung – als Dichtung, »nachdem die
Schönheit aufhörte das Ziel der Kunst zu sein« und »Alexandrien zu einem Sitz der
31 Vgl. v. 3 (Frg. 2, Pf.); v. 265 usw.; s. dazu auch die Studie zu Hesiod als Folie für Kallimachos’
Dichtung von Reinsch-Werner (1976); Livrea (1995), 7–15.
32 So z.B. Ambühl (2005), 401; Livrea (1995), 30; Fantuzzi/Hunter (2004).
33 Ambühl (2005), 402; Harder (2005), ad loc.; Harder (1993), 13; Andrews (1998), 16f.; Crane
(1986), 278; Hunter (1989); Massimilia (1996), 230 ad loc.
34 Abhängigkeit des Kallimachos von Hesiod: Reinsch-Werner (1976) und Cameron (1995),
380–386; zur Pindar-Rezeption: Fuhrer (1988); Conte (1986) entwickelt Kategorien der Unter-
scheidung zwischen Allusion und Emendatio; Thomas (1986) bringt eine weitere Steigerung
der terminologischen Differenzierung, die freilich auf die besondere Rezeptionskultur in
Rom (und besonders Vergil) abgestimmt ist.
35 Thomas (1986), 198.
118 Gyburg Radke-Uhlmann
Gelehrsamkeit und der Gelehrten überhaupt, und auch vorzüglich der Sitz dieser
neuen Poesie« 36 wurde – bestimmt als Prämisse die Suche nach der poetischen
Struktur der Kallimachischen Dichtung, die vor allem in einer Synthese und einer
Amalgamierung der Tradition bestehe.
Die Annahme, daß Gelehrsamkeit an die Stelle der Kunst und des Strebens
nach Schönheit trete, verwandelt die Analyse der eigenen poetischen Schöpfung des
modernen Dichters Kallimachos in eine Suche nach seinen gelehrten Steinbrüchen,
deren Kenntnis der Dichter evoziere, um den Rezipienten mit dieser Sekundärtu-
gend der Dichtung zu erfreuen. Die fast widerspruchslos akzeptierte 37 Intertextua-
litätsforschung zur hellenistischen Dichtung38 neigt dazu, das Gelehrsamkeitsvor-
urteil der romantischen Literaturgeschichtsschreibung in neuen Begrifflichkeiten
weiterzuschreiben 39 und die Radikalität der Neuerschaffung der Literaturgeschich-
te als Implement einer neuen Kunst durch die Alexandriner zu verharmlosen 40.
Welche Konflikte mit der Erschließung der eigentümlichen poetischen Struk-
tur und Bewegung aus der Suche nach dem intertextuellen Durchblick auf die
unterstellte Gelehrsamkeitsdemonstration entstehen, kann hier nur an einem Bei-
spiel betrachtet werden: Dieses Beispiel ist eine bestimmte, heute dominierende
Interpretation des Verhältnisses zwischen Prolog und Sominum im Gesamtaufbau
36 Schlegel (1794).
37 Annette M. Harder etwa beginnt einen Aufsatz zu Kallimachos’ Aitien folgendermaßen:
»It has long been noted that the character of Callimachus’ poetry is highly intertextual«
(Harder [2002], 189); paradigmatisch ist auch der Zugang von Fantuzzi/Hunter (2004) und
von Hunter (1996).
38 In der lateinischen Philologie gibt es vermehrte Anstrengungen, die Vereinnahmung der Vor-
bilder mit begrifflichen Instrumentarien zu analysieren, die die bewußtseinsgeschichtlichen
Prämissen zu vermeiden suchen: s. Thomas (1999); Hinds (1998).
39 Eine Ausnahme zu dieser Tendenz ist ein kurzer Aufsatz von Glenn W. Most (1981), 188f., der
mit Bezug auf die Dichtung des Kallimachos von einem »system of controlled deformations«
einer neu konstruierten literarischen Tradition spricht. Mosts methodische Konsequenz aus
dieser Einsicht ist die Verfeinerung der Analyse der Allusionspoetik des Kallimachos, bei
dem die Bezugnahmen auf die Vorgängertexte oft nicht klar, sondern eine fordernde Aufgabe
seien. Diese Verfeinerung der Intertextualität führe bei Kallimachos zu einer Vielschichtigkeit
in den Allusionen, die zwischen dem Original und der Imitation notwendig zu einer »dia-
chronic discrepancy« führe. Diese Strategie der Verfeinerung der Intertextualitätsforschung
und die Bereitschaft, subtile Anspielungen in ihrer Gelehrsamkeit zu würdigen, gibt es in
vielen neueren Beiträgen: s. z.B. Depew (1998). Deutlich wird die Communis opinio der
Forschung über die Bedeutung der Intertextualität am Beispiel des Delos-Hymnos in der
Dissertation von Ukleija (2005), z.B. 282: »Aus der Bezugnahme auf die frühere Literatur
entfaltet Kallimachos seine dichterische Kraft, die Neuerungen lassen sich nur auf dem Hin-
tergrund der literarischen Tradition, vor allem durch einen Vergleich mit dem (ganzen) hom.
Apollon-Hymnus und mit Pindar, in vollem Umfang einschätzen«.
40 S. dazu Radke (2007), bes. 86–112. S. zur Verlustbilanz bei der neuzeitlichen Konstitution
des radikal Neuen: Schmitt (2003), bes. 7–19.
Aitiologien des Selbst 119
der Aitien. Die Bezugnahme auf Hesiods Musenweihe im Sominum werde für den
Aitienprolog als Legitimationsstrategie eingesetzt. Sie bedeute eine Berufung auf
eine das Subjektive übersteigende Instanz.
Um so argumentieren zu können, müssen die ursprünglichen Kontexte be-
trachtet werden, nicht ihre Transformationen bei Kallimachos. Denn in dessen
Aitienprolog und Somnium ist eben diese Prämisse, daß es sich um Rechtferti-
gungsstrategien handelt, die über das subjektive Selbst hinausgehen und dessen
Autarkie damit einschränken, problematisch. Es käme einer Petitio principii gleich,
wollte man diese Strategie der Interpretation der intertextuellen Anspielungen
zugrundelegen.
Denn eine solche Prämisse impliziert bereits, daß das Somnium dem Aitienpro-
log untergeordnet ist und helfen soll, die im Prolog formulierte Kritik zurückzuwei-
sen. Kallimachos benutze nur deshalb den Topos der Hesiodeischen Musenweihe,
weil er damit seiner von den Telchinen attackierten Dichtung Rückendeckung
verschaffen wolle.
Die Beschreibung der autobiographischen Strategie bei Kallimachos hat aber
etwas anderes als Möglichkeit der Deutung aufgezeigt, nämlich daß die Traumwelt
des Somnium das Zentrum der Rahmenhandlung der Aitien ist und die eigentliche
Antwort auf die autobiographische Illusion der realen Wirklichkeit, die in dem
Kritikervorwurf inszeniert wird, formuliert.
Das Autor-Ich destruiert gerade die Möglichkeit selbständiger, die subjektive
Fiktionalisierung des Autor-Ich übersteigender göttlicher Legitimationen, indem
es diese in den autobiographischen Diskurs und die Traumwelt des poetischen Ich
integriert und als deren Produkt erweist. Schon Apolls Aufforderung an den Kna-
ben ›Kallimachos‹ ist ein solches subjektives Produkt des Autor-Ich, das sich eine
eigene poetische Vergangenheit und Identität konstruiert, die bis zu den Anfängen
der ersten Schreibübungen zurückgeht.
ka» gÄr Ìtwe pr v∏wtiston ‚moÿc ‚p» dËlton Íjhka
go‘nasiwn, >A[pÏ]llwn e⁄pen Ì moi L‘kioc;
›.......]... ÇoidË, t‰ m‡n j‘oc Ìtti pàqiston
........]n Mo‹san d+ ≤gaj‡ leptalËhn;
pr‰c dË se] ka» tÏd+ änwga, tÄ mò patËousin âmaxai
tÄ ste–bewin, ·tËrwn “qnia mò kaj+ Âmà
d–fron ‚l]ên mhd+ oŸmon ÇnÄ plat‘n, ÇllÄ kele‘jouc
Çtr–pto]uc, e ka» steviwnotËrhn ‚làseic.‹
tƒ pijÏmh]n 41
Denn als ich zum ersten Mal die Schreibtafel auf meine Knie legte,
sagte zu mir der Lykische Apoll:
… Sänger, das Opfer möglichst fett
Ein solcher modellhafter Vor-Text ist eine Passage aus dem Platonischen Phaidon,
die meines Wissens noch nie konsequent zur Erhellung des Autobiographischen
bei Kallimachos herangezogen wurde.
Dies ist umso erstaunlicher, als es sich ebenfalls um eine autobiographisch
inszenierte Ursachensuche handelt, die Platon als Lebenskrise des Protophiloso-
phen Sokrates stilisiert. Platon läßt seinen Dialogcharakter Sokrates rückblickend
davon erzählen, wie es ihm mit seinen Studien der Lehren der Naturphiloso-
phen ergangen sei und wie er aus Enttäuschung über diese zu seiner eigenen
philosophischen Auffassung gekommen sei. Er gibt damit also geradezu seinen
Rechenschaftsbericht als Philosoph und legt diesen Erlebnisbericht als eine Suche
49 Nach Asper wird diese Neuerschaffung als poetischer Heilsweg gedacht: Asper (1997),
100, Anm. 322: Der schmale Weg führe »zur Erleuchtung, zur Erlösung, zur ›richtigen‹
Dichtung«.
Aitiologien des Selbst 123
nach den Ursachen der Dinge und des Handelns, nach den Aitia, d.h als eine
Aitiologie, an 50 (Phd. 96a6–b1 51).
Die bestimmte Auffassung, von deren ›Entstehung‹ Sokrates berichtet, ist
natürlich Platons berühmte Ideenlehre 52. Sie ist die Antwort und das Ergebnis
seiner Aitiologie 53 (Phd. 98e3–99b5 und 99c8–e6). Sokrates erzählt von seinem
Leben und seiner Suche nach einer tragfähigen Begründung seines Erkennens
gerade in der Absicht und mit dem Zweck, die Annahme von Ideen zu begründen.
Er benutzt dazu nicht nur eine begriffliche Argumentation. Der Dialog Phaidon
insgesamt lotet ebenso wie Sokrates in seiner Autobiographie und Eidographie die
Potenzen der anschaulichen Vorstellung, der Phantasia aus, weist dieser aber ganz
bestimmte Grenzen zu54.
Daß der große philosophische Lehrmeister und stadtbekannte Wahrheitsfor-
scher par excellence zuerst andere Wege gegangen und anderen Lehrmeistern gefolgt
ist, daß er mit diesen aber in eine innere Sackgasse gekommen ist, aus der er sich nur
durch eine berühmte ›zweite Fahrt‹ (Phd. 99d1), dadurch, daß er Ideen annahm,
befreien konnte, veranschaulicht die begriffliche Notwendigkeit, die in diesem
Lebensweg als deren anschauliches Bild gespiegelt wird. Es erweist die begriffliche
Notwendigkeit, nicht nach einer empirischen Erklärung des Werdens und Verge-
50 Schmitt (1974), 132ff. hat diese begriffliche Aitiologie als konsequente Suche nach einer vor-
aussetzungslosen und unwiderlegbaren Erkenntnisfundierung in seiner Dissertation wieder
neu erschlossen. Ich baue im Folgenden auf seinen gründlich belegten Ergebnissen auf.
S. auch Schmitt (2003) passim (mit den Konsequenzen einer auf die Vorstellung als Er-
kenntnisvermögen konzentrierten Bewußtseinsphilosophie für das Platonverständnis und
die Möglichkeit der Würdigung dieser Aitiologie).
51 [SWK] óAkoue to–nun ±c ‚ro‹ntoc. ‚g∞ gÄr, Ífh, ¬ KËbhc, nËoc øn jaumast¿c ±c
‚pej‘mhsa ta‘thc t®c sof–ac õn dò kalo‹si per» f‘sewc …stor–an Õper†fanoc gàr moi
‚dÏkei e⁄nai, e dËnai tÄc a t–ac ·kàstou, diÄ t– g–gnetai Èkaston ka» diÄ t– ÇpÏllutai
ka» diÄ t– Ísti. ka» pollàkic ‚maut‰n änw kàtw metËballon skop¿n pr¿ton tÄ
toiàde …
52 Diese ist zugleich auch schon die Grundlage und das Prinzip des ganzen ethischen Pro-
gramms von den Tugenden des wahren Philosophen und seiner richtigen Haltung gegenüber
dem Körperlichen und der Seele, das im ersten Teil des Dialogs das Thema gewesen war.
53 Denn nur dann (s. dazu den Kommentar des Damaskios (Dam.in Phd. I, 458), wenn
die Unvergänglichkeit der Seele und ihre dimensionale Verschiedenheit und Überlegenheit
gegenüber der Körperwelt erwiesen werden kann, hat das philosophische ›Tugendpro-
gramm‹ der Übung in der Abwendung von der Körperwelt und Hinwendung zu dem
eigentlichen Wesen der Seele und dem, was eigentlich wirklich (d.h. wirklich ›real‹, wirklich
etwas von sich selbst her Bestimmtes) ist, seinen Sinn. Die Unsterblichkeit kann, wie der
Hauptteil des Phaidon zeigt, nur auf der Basis der Ideenlehre bewiesen werden. Also ergeben
das Tugendprogramm und die Anweisungen an den, der wahrhaft philosophisch leben will,
nur auf der Basis der Ideenlehre Sinn.
54 S. dazu auch Radke (2003a), bes. 498–500; 561–570.
124 Gyburg Radke-Uhlmann
hens zu suchen, sondern eine feste, unumstößliche Basis der Erkenntnis von etwas
überhaupt und sichere Kriterien für das eigene Handeln zu erschließen.
Sokrates’ Erfahrungsbericht veranschaulicht die unmittelbar lebenspraktische
Relevanz dieser begrifflichen Einsichten. Der vordergründige Eindruck des Man-
gels an ›Leben‹ der Flucht zu den Ideen (Phd. 99e4f.) 55 wird durch die Erzählstra-
tegie, die mehr als in anderen Dialogen mit den Mitteln anschaulicher Exempel und
konkreter Bildlichkeit arbeitet, korrigiert. Die Verknüpfung der zentralen Lehre
Platons mit dem individuellen Lebensverlauf des Vorbilds Platon dient der peij∏.
Sie dient der Vermittlung von etwas, das die Möglichkeit einer rein doxastischen
oder einer rein phänomenologischen Erkenntnisbegründung, die nur die Phanta-
sia als Erkenntnisvermögen bemüht, widerlegt. Eine wirkliche und lebenspraktisch
relevante Aitiologie, eine für das eigene Leben und die eigenen Individualität fun-
dierende Aitiologie könne nur die ratio und die Reflexion auf ihre begrifflichen
Kriterien leisten, nicht aber die phantasia (die nur notwendige Materieursachen
liefere, Phd. 98 e3–99b5) 56. Konsequent ist die phantasia daher im Phaidon als
didaktisches Mittel präsent, erfährt aber eben im Zuge dieser deutlichen Präsenz
eine begrifflich motivierte Einschränkung ihrer Autarkie.
Der autobiographische Bericht und seine Auswertung bietet aber nicht nur
eine Grenzziehung für die Freiheit und Wirkmacht der phantasia, sondern setzt
noch spezifischer eine Grenze in der Autarkie der phantasia in bezug auf die
Konstitution der individuellen Identität eines Menschen, wie sie das Konzept der
Aitien von einer anderen Perspektive aus inszeniert.
Platon entscheidet sich dafür, die wahre individuelle Identität seines Lehrers
Sokrates nicht durch eine Archäologie seiner Kindheit und seines ganzen philoso-
phischen Lebens in seinem Verlauf zu vermitteln, sondern durch die Herleitung
dessen, was er gedacht hat, warum er das gedacht hat und was dies für sein Leben
bedeutete.
Warum Platons Aitiologie also auch als Suche nach der individuellen Identität
des Sokrates eine begrifflich-theoretische Prinzipiensuche sein muß, hat wesent-
lich mit dieser Funktionsbestimmung der phantasia zu tun57. Man versteht Platons
Ansatz, wenn man den Dialog liest, in dem Platon eine umfassende Kritik an
– modernen – Selbstbewußtseinstheorien und Selbstreflexionstheorien vorgelegt
hat und in dem es auch um die Potenzen einer freigelassenen phantasia geht: wenn
man den Dialog Charmides zur Hand nimmt58. Dieser unterscheidet zwischen
einer von dem Vorstellungsvermögen geleiteten Selbstreflexion und einer rational
begrifflichen. Zu der selbstreflexiven Haltung nimmt der Dialog eindeutig Stellung
und kommt zu dem Ergebnis, daß diese sowohl theoretisch als auch praktisch nicht
fruchtbar sei. Für das Handeln in hohem Maß relevant sei hingegen die Konzen-
tration darauf, was man weiß, und die Beschäftigung mit diesen Wissensinhalten.
Nicht die Reflexion auf das eigene Leben, der rekonstruierende Nachvollzug
dieses Lebens in seinem Verlauf von der Kindheit angefangen oder das Bekenntnis
zu dieser Vielfalt von Ereignissen in ihrem zeitlichen Zusammenhang verschaffe
dem Menschen eine wirklich individuelle Identität, sondern allein die Suche nach
begrifflichen Maßstäben, über die man vor sich selbst und anderen Rechenschaft
abgeben kann und die als solche nicht zum Einsturz gebracht werden können.
Erst eine konsequente Orientierung an solchen allgemeinen Maßstäben verschaffe
einem Menschen so etwas wie eine in sich konsistente Identität – eine Identität,
die er in der disparaten Vielheit seiner Vorstellungen und Erlebnisse niemals finden
könne.
V. Schluß
Die Suche nach den begrifflichen Prinzipien ist im Kontext Platonischen Philo-
sophierens die Form der Aitiologie, die im höchsten Maß zur Erkenntnis von
Individualität und Identität führt.
Sie negiert daher die Absolutheit der Autarkie der phantasia als das das indi-
viduelle Selbst konstituierende Instrument, die für das autobiographische Projekt
des Aitienprologs gerade konstitutiv ist. Sie ist nicht modern. Kallimachos’ Selbst-
Erschaffung im Akt autobiographischen Schreibens hingegen ist modern und noch
mehr postmodern. Es ist keine Modernität im entwicklungsgeschichtlichen Sinn
Droysens, sondern eine Modernität, die sich selbst mit der Denkfigur des Neuen59
als autarkes Selbst entwirft.
58 Zum Wissensbegriff im Charmides s. Ebert (1974); Zehnpfennig (1987); Gloy (1986); Schmid
(1998).
59 Moog-Grünewald (2002).
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Cicero on Caesar or Exemplum and
Inability in the Brutus *
»Der wichtigste [sc.: Grund 1] ist vielleicht die Einheit von Caesars
Persönlichkeit […]. Demgegenüber ist Caesar die letzte Verkörpe-
rung der Lebensganzheit in der Antike«.
Hans Opperman 2
How to write in the face of power? How to express oneself under constraining
circumstances? Tacitus basically says that tyranny under Domitian shut intellectual
activity down; he only later began to use his voice in composition (uoce … com-
posuisse, Agr. 3.3) and it is clear that both the silence and breaking it came at some
personal cost. Asinius Pollio still had the liberty to quip at the future Augustus:
Pollio, cum fescenninos in eum Augustus scripsisset, ait: at ego taceo. non est enim facile in
eum scribere qui potest proscribere (Macrobius 2.4.21).
When Augustus had written fescinnine verse against him, Pollio said: »But I am silent.
For it is not easy to write against one who can proscribe«.
Pollio had political and personal resources unavailable to most. When Cicero
writes the Brutus, Julius Caesar was still consolidating power. Civil war may have
closed the doors for Cicero’s exercise of oratory, but rather than uttering an
oral protest like Pollio’s ironic proclamation of silence, he enters a period of
prolific writing. Public expression was central to the artistocratic self in the Roman
* An earlier version of this paper was given at the New York Classical Club. I owe thanks to
this audience, that in the conference at Münster, and to my students in a seminar on literary
history. Questions by Alexander Arweiler, Andrew Feldherr, Christopher Gill, Jim Zetzel,
and subsequent discussion with Phillip Mitsis have improved the paper.
1 Sc.: »Wenn es trotzdem zum Widerstand, zur Verschwörung und zum Mord kam, so hat
das bestimmte Gründe«.
2 Oppermann (1967) 497. A genealogy of citation is in Henderson (1996), 278 n. 49.
132 Michèle Lowrie
3 Richlin (1999), 200: »Roman texts persistently identify a man’s person with his writings and
his ability to speak«. She cites the elder Seneca on book burning: quid enim futurum fuit si
triumuiris libuisset et ingenium Ciceronis proscribere? (»for what would have happened if the
triumvirs had decided to proscribe Cicero’s talent as well?« 10 pref. 6; her translation 201).
4 My position is similar to that of Schwindt (2000), who presents Cicero as using a rhetoric
of silence as protest (120). He emphasizes the appellative nature of the dialogue in the call
to Brutus to carry on the tradition (101) and sees Cicero’s writing of literary history as a
symptom of a breakdown in literature itself – here oratory. He must step out of the genre to
write its history (99). Habinek (1998), 39 emphasizes Cicero’s strategic use of literary history.
The aesthetic teleology it chronicles is just as tendentious as the history of political decline:
both serve Cicero’s end of a conjoined defense of himself and the Republic. It would be
useful, but beyond the scope of this paper, to read the Brutus according to the criteria for
literary modernity outlined by de Man (1983) and according to the principles of the aesthetics
of reception articulated by Jauss (1982). Cicero’s critical principles would need analysis to
determine the contemporary value of the ancient works he assesses – i.e. the ›horizon of
expectation‹ operative in the text – and the Brutus’ own emergence as a classic with a history
of reception would also need treatment. The entire process of literary evaluation becomes
itself subject to reception. Ancient and modern accounts of literary history are surveyed in
Perkins (1992), Schwindt’s introduction, and Ebbeler (2003).
5 De Man (1983), 146, analyzes Nietzsche’s antithesis between ›history‹ and ›life‹ in his essay,
»Of the Use and Misuse of History for Life«, as follows: »›Life‹ is conceived not just
in biological but in temporal terms as the ability to forget whatever precedes a present
situation«. Cicero is brought back to the past in his attempt to move forward with his life.
Foucault (1984), 94–5 would in all likelihood categorize Cicero’s use of history according
to Nietzsche’s criteria as ›antiquarian‹ in that it ›seeks the continuities of soil, language,
and urban life in which our present is rooted‹, but, although Cicero might be open to the
accusation of blocking ›creativity‹ – especially Caesar’s – ›in support of the laws of fidelity‹,
his life-and-death struggle to maintain his identity as he conceived it would give this history
an urgency it would otherwise lack. For Nietzsche’s categories as they pertain to literary
history, see Perkins (1992), Chapter 8. Perkins remarks that identity politics leads groups
to ›turn to the past in search of identity, tradition, and self-understanding. Their histories
do not usually stress discontinuity but the opposite‹ (10). Although he emphasizes the
limits of historical contextualization for grasping texts as ›aesthetic designs‹, he would surely
appreciate the need for ›the social and literary matrix‹ (7) in a text like the Brutus, which has
such a pragmatic aim.
Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus 133
himself put his intellectual endeavors on par with active political engagement. 6 His
idea of what constitutes a whole and successful life – at least for him – is the life
of the orator, and this paradigm underlies the history he presents of Republican
oratory. Scholarship should enhance the active life, and to be restricted to the
former and cut out of the latter is castrating. Rhetoric was so important to Roman
society because it was the training ground for the public performance of the self.
Under the Republic, Roman identity was played out largely in the public sphere.
Elite men competed for honor and uirtus within certain canons of style, which
means that they both imitated one another and granted each other recognition.
This competition made them who they were and defined them in comparison to
others 7.
One figure in the Brutus manages to bring these various aspects of the fulfilled
aristocratic life together: C. Julius Caesar. Because the participants in the dialogue
voluntarily refrain from talking about the current political woes, Caesar comes
up not as their cause, but displaced, as an orator and stylist. That is, he is not
presented as the exemplum of self-fulfilment he in fact instantiates according to
Cicero’s criteria, but is dealt with only partially. His exemplum goes under erasure.
Why?
The available answers have consequences for our understanding of Cicero’s
identity as a politician and a writer. The psychological approach is tempting: Caesar
is a site of trauma for Cicero, who cannot contemplate him directly, but the full
story leaves traces in the text the reader reconstructs from the position of the
analyst. The reading presented in the rest of this paper is fully compatible with this
sort of narrative 8. I am not, however, sure this approach gives sufficient credit to
Cicero as a conscious agent. Are the fractures in Cicero’s narrative about Caesar
a sign that his rhetoric of inability is valid? In this case, Cicero is sufficiently
self-aware that he knows that Caesar is a threat – this is undisputed – but not in
complete control of the effects of his own vulnerability on his text. Or do these
fractures rather enact the double bind of the dialectic between ability and inability
6 Arweiler (2003), section 3, especially 3.1, 2, and 4, argues that writing is a fulfilling endeavor
for Cicero that enables him to make his mark in society. I see this as one half of the picture.
7 For honor, see Lendon (1997); for the stylistic vocabulary of self-fashioning in the Republic,
Krostenko (2001); for the performance of manhood under the Empire, Gleason (1995), and
the Republic, Gunderson (2000), Barton (2001), 38–43; for institutionalized competition,
Sinclair (1995), 106. Kraus (2005) analyzes the relation between Caesar’s personal self-pre-
sentation, his writing style, and his politics.
8 Gill (2006), 336 remarks: »The idea that we have direct and incorrigible access to all our
mental states is vulnerable to common-sense objections and scientific research«. His analysis
questions the Cartesian ›I‹ as the »unity locus of consciousness«. Arweiler (2003), 305 cautions
against psychoanalyzing Cicero without consideration of the codes of self-fashioning and
literary expression.
134 Michèle Lowrie
that is the lot of the writer, an intellectual with the power to define and hence
shape the world he lives in, but whose leisured activity (otium) removes him from
active participation (negotium)? Under this interpretation, Cicero would emerge as
a much stronger and more modern author than usually credited. This narrative is
also tempting, but if the unaware Cicero is perhaps too weak, the fully conscious
Cicero is likewise perhaps too strong.
The Brutus and the De officiis occupy the two ends of Cicero’s productive philo-
sophical period from 46–43 BCE 9, and by the time he reaches the latter work, he
has become aware that he uses his philosophical writing as therapy10. He articu-
lates that philosophy substitutes for politics in the De divinatione 2.7 11. This cuts
both ways: Cicero presents the equivalent of public speeches in his writings, but,
depending on whether we emphasize the success of the equivalence or the dis-
placement it entails, we will come up with a view of philosophy as either a fulfilling
public endeavor for Cicero or a pass-time for when he cannot engage in ›the real
thing‹. At the beginning of De officiis 3, however, the extended comparison he
makes between his own use of leisure to that of Scipio Africanus reveals that, at
least in his own self-presentation, he writes out of weakness. This is the rhetoric
of inability. Scipio is offered as a contrast to Cicero: the former was able to engage
in contemplation without leaving behind »monuments of his genius entrusted to
letters« (nulla enim eius ingenii monumenta mandata litteris, Off . 3.4), because his
dialogue with his mind meant that »he was never less at leisure than when at
leisure, never less alone than when alone«, according to the maxim Cicero cites
Cato as recording (numquam se minus otiosum esse, quam cum otiosus, nec minus
solum, quam cum solus esset, Off . 3.1).
9 These texts are on the useful time line at Griffin and Atkins (1991), xxxii–iii. For the dramatic
date of the Brutus, see Douglas (1966), ix. The other productive time for Cicero’s scholarship
was in the political lull following his return from exile in 57 BCE. To this period belongs the
De Oratore (55 BCE), Wilkins (1888), 2.
10 Griffin and Atkins (1991) xi call philosophy »distraction and comfort« and an »honourable
use of his leisure for the public good« right after saying that it had become »particularly
necessary after the death of his beloved daughter«.
11 Quod cum accidisset nostrae rei publicae, tum pristinis orbati muneribus haec studia renouare
coepimus, ut et animus molestiis hac potissimum re leuaretur et prodessemus ciuibus nostris, qua
re cumque possemus. In libris enim sententiam dicebamus, contionabamur, philosophiam nobis
pro rei publicae procuratione substitutam putabamus. Nunc quoniam de re publica consuli
coepti sumus, tribuenda est opera rei publicae, uel omnis potius in ea cogitatio et cura ponenda,
tantum huic studio relinquendum quantum uacabit a publico officio et munere.
Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus 135
Two things useful for the Brutus emerge from this passage. First, writing
offers a kind of dialogue solitary contemplation cannot. It is directed outward, and
though Cicero may be separated from his audience, whether contemporary or of
posterity, writing still affords him a way of connecting with others. He cannot keep
his self whole without some sort of audience. The second is related and will occupy
the rest of this paper, namely that Cicero defines himself not on his own, but in
comparison to others. The exemplum is an overdetermined device for constituting
the self. Scipio offers a model that Cicero can only partially imitate, much as he
would like to. Cicero says that he does not have Scipio’s strength of mind (nos
autem, qui non tantum roboris habemus, Off . 3.4). Furthermore, their external
circumstances are different. Cicero’s otium has been imposed by the extinction of
the senate and destruction of the law courts (extincto … senatu deletisque iudiciis,
Off . 3.2), and is not, like Scipio’s, the result of choice.
In the Brutus, Cicero likewise defines himself in relation to exempla, but these
are contemporary: Marcellus and Caesar. The time that has elapsed between the
De officiis and the Brutus means that Caesar has been murdered in the interval. His
death does not make him any easier to talk about, and reference to Caesar simmers
under the surface of the De officiis throughout – the difference is that both overt
and covert references to Caesar in the De officiis provide a political critique 12, but
in the Brutus, the threat Caesar poses to Cicero is more personal and raw.
Cicero’s assessment of Caesar’s style is a politically charged moment in the
Brutus. The famous judgment on the commentarii (262) needs to be read as the
culmination of a discussion begun a few pages earlier (248) in which Cicero weighs
the relative value of scholarship, oratory, and military accomplishments. These
together define the arenas for elite competition. The contrast between Caesar
and Cicero is implicit, but it could not be more stark. In Cicero’s conception,
scholarship and engagement in politics are both important activities, but his liter-
ary pursuits are subordinate to his activities as a statesman. Oratory participates
actively in the state even while it has a strong literary dimension, but he writes
philosophy and rhetoric, such as the Brutus itself, only when shut out of politics.
Caesar, however, manages to practice politics, scholarly, and literary activities at
the same time 13. For Cicero, Caesar occupies a site of ambivalence. Does he rep-
resent a desired ideal? Or does his ability to combine a high degree of mastery
in these different areas all at once sound the death knell for all other competitors
in the collapsing Republic? What should the relationship of literary excellence to
statesmanship be and what was it in fact at this time?
Several buffers keep Cicero from immediately coming to terms with Caesar:
Brutus and Atticus provide alternative voices and Marcellus an alternative exam-
ple. The section begins with Brutus asking Cicero to discuss two contemporaries,
Caesar and Marcellus (248). The latter is both explicitly and implicitly compared to
Cicero himself. He occupies an analogous position regarding the combination of
literarity and statesmanlike qualities, and discussion of him displaces a direct com-
parison of Caesar with Cicero. Brutus’ intervening voice softens the braggadocio
of the portrait’s compliment to Cicero 14. The explicit comparison concerns style,
habits of study, and intellectual interests; the implicit concerns life choices, particu-
larly the recourse to scholarship during a period of withdrawal from the state. The
portrait as a whole maps the same ground covered by Cicero himself. Between the
explicit comparisons comes one that is less overt. The remark about how Marcellus
occupies his time in the current political crisis seems tacked on by a -que as if it
were just an additional virtue (Brutus 250).
maximeque laudandus est, qui hoc tempore ipso, quod liceat in hoc communi nostro et
quasi fatali malo, consoletur se cum conscientia optimae mentis tum etiam usurpatione et
renouatione doctrinae.
And he is especially to be praised because, in this very time – as is allowed in this
common and nearly deathly evil of ours – he consoles himself with the self-knowledge
of a very good mind and by laying claim to and renewing his learning.
This virtue is directly relevant to Cicero’s own situation as he composes the Brutus.
The indirect comparison to Cicero matches a covert reference to Caesar, whose
role in the current political evils goes decorously, but conspicuously unstated.
Once we reach the assessment of Caesar, however, direct comparison to Cicero
goes underground. By leaving the comparison implied but unexpressed, Cicero
avoids both presumption on his own part, as he is by no means the principal player
in the state, and blame in his treatment of Caesar. The stakes for Cicero are high,
since he goes to great lengths to show Brutus denying Marcellus’ emasculation:
»For I saw the man recently on Mytilene and, as I said, I saw him fully a man« (uidi
enim Mytilenis nuper uirum atque, ut dixi, uidi plane uirum, Brutus 250). Literary
pursuits ennoble and are not in themselves unmanning, but, as the preferred leisure
activity of statesmen, when done in isolation from political engagement, they risk
reminding people of the statesman’s exclusion from the political realm. Devotion
to learning keeps up the good show, but it definitely means putting on a brave face.
The discussion of Caesar not only establishes an implicit contrast with Cicero,
but a number of elements that touch on sore points further go missing. These,
however, leave traces. After citing Caesar’s complimentary dedication to Cicero of
14 On techniques for softening self-praise recognized in antiquity, see Lowrie (2002), 241 n. 46.
Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus 137
his linguistic treatise De analogia 15, Cicero goes into an extended comparison of the
relative merits of military and intellectual glory. Brutus turns his own compliment
by setting the value of Caesar’s compliment as »higher than the triumphs of many«
(triumphis multorum antepono, 255), and Cicero picks up the thread with a repartee
in his own voice against an imaginary interlocutor who defends the importance
of generals over orators. Douglas suggests the tone here reflects Cicero’s disap-
pointment at not being granted a triumph for his minor military successes when
governor of Cilicia (1966 at 255.10), but Cicero is aware that military achievement
was not one of his strengths by any measure. The military victories Cicero argues
are less important than cultural achievement are negligible, and he is equally defen-
sive when he has Brutus mention the public thanksgiving (supplicatio) he received
for his suppression of the Catilinarian conspiracy. Cicero’s vulnerability shows the
most, particularly in light of Caesar’s stunning military accomplishments, in the
terms he uses to evaluate the different crafts’ relative utility (Brutus 257).
sed Atheneniensium quoque plus interfuit firma tecta in domiciliis habere quam Mineruae
signum ex ebore pulcherrimum; tamen ego me Phidiam esse mallem quam uel optimum
fabrum tignarium.
But it was also more useful for the Athenians to have firm roofs on their houses than the
most beautiful statue of Minerva of ivory. Nevertheless, I would prefer to be Phidias
than even the best carpenter.
While the analogy between oratory (or poetry) and the visual arts is conventional
– and frequent in the Brutus – the degradation of military achievement to the
equivalent of carpentry is tendentious.
The problem with the comparison of cultural and military victories is that no
matter how lavish the exaltation of the former at the expense of the latter, the
man of letters’ insufficiency in the military domain glimmers through. Pliny the
Elder reports that Caesar himself gave Cicero such a compliment, and it has been
attributed to the De analogia 16. Pliny apostrophizes Cicero (NH 7.117):
facundiae Latiarumque litterarum parens atque, ut dictator Caesar hostis quondam tuus de
te scripsit, omnium triumphorum lauream adepte maiorem, quanto plus est ingenii Romani
terminos in tantum promouisse quam imperii.
Father of eloquence and of Latium’s letters and as the dictator Caesar, once your enemy,
wrote about you, you have attained a laurel wreath greater than all triumphs to the
extent that it is a greater thing to have moved forward the boundaries of Roman genius
than to have moved forward those of empire.
On the one hand, Caesar praises Cicero to the skies; on the other, he reminds us
of what he has not done. The viciousness comes out on the reflection that Caesar
himself was able to extend the terrain of the Roman empire both intellectually
and militarily. Pliny perhaps unconsciously reflects Caesar’s dominant position by
calling him dictator . It is easy to forget it would not be necessary to compare these
two sorts of endeavors at all 17.
The discomfort of Cicero’s position emerges in the awkward relation of intel-
lectual and military endeavors 18. In the prologue leading up to the dialogue proper,
Brutus claims that no one can speak well without prudentia, and that he who
applies himself to eloquence, applies himself to prudentia, »a thing which not even
in the greatest wars can anyone lack with equanimity« (qua ne maximis quidem in
bellis aequo animo carere quisquam potest, Brutus 23). 19 Cicero is trying to make his
forte necessary for the military, but refuses to grant the converse: »I see that no one
has been made eloquent by victory« (eloquentem neminem uideo factum uictoria,
Brutus 24). We are a long way from Seneca the Elder’s ability to make ingenium
and imperium figurative equivalents: he regrets spending the civil wars in Cordoba
in his youth because he never got to know Cicero: »[Otherwise,] I could have got
to know that genius, the only possession of Rome to rival her empire« (potui adesse
illudque ingenium quod solum populus Romanus par imperio suo habuit cognoscere,
Contr. 1 pr 11). 20 Where the labor of scholarship beyond its use for oratory is an
alternative to political engagement for Cicero, Caesar appears to bring the two
together without struggle. He composed the De analogia while expanding the
frontiers of empire in Gaul. Fronto humorously perpetuates the myth of Caesar’s
omnicompetence when he describes him as writing about the declension of nouns
17 They are, however, often brought together: eodem animo dixisse quo bellauit (»he spoke
with the same spirit as he waged war«: Quint. inst. 10.1.114); Suet. Caes. 55.1: eloquentia
militarique re aut aequauit praestantissimorum gloriam aut excessit (»in eloquence and military
skill he either equaled or surpassed the glory of the most eminent«); Ebbeler (2003), 9; Kraus
(2005), 107 with references to other ancient and modern analyses. Henderson (1996) shows
both how deeply writing matters to Caesar’s Bellum ciuile (264f.) and how the person he
puts on display is »not the literate orator and man of writing-culture, but his giant maneuvers
athwart the empire« (266).
18 Arweiler (2003), 3.2.2 shows that Cicero had a »military deficit« and wanted to present his
intellectual endeavors as equivalent to military success.
19 Douglas analyzes what prudentia could mean in this context, since the military need for
»good judgment« does not quite square with the kind of prudentia deemed necessary for
eloquence, namely »philosophy« or the weaker »intellectual interests« (1966 ad loc.).
20 Kaster (1998), 255 emphasizes the kitsch aspect of the »sheer extravagance of the conceit«
that equals individual genius to empire.
Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus 139
among flying spears (inter tela uolantia de nominibus declinandis, De bello Parthico
9 21).
The peculiar weight that hangs over the dialogue because of the unspeakability
of the political situation is figured as a vacillation between memory and amnesia.
The transition from Marcellus to Caesar is one of the most overt statements of the
role of scholarship as an aid to forgetting about politics (Brutus 251):
Etsi, inquam de optimi uiri nobisque amicissimi laudibus libenter audio, tamen incurro in
memoriam communium miseriarum, quarum obliuionem quaerens hunc ipsum sermonem
produxi longius. Sed de Caesare cupio audire quid tandem Atticus iudicet.
Although, I said, I willingly hear the praises of an excellent man and very good friend
of mine [Marcellus], nevertheless, I run into the memory of shared miseries, which I
intended to forget in drawing out this very conversation at length. But I wish to hear
what Atticus thinks finally about Caesar.
It is symptomatic of trauma that the way to forget about Caesar the politician is
to displace the discussion to the topic of Caesar the orator, and so the discussion
passes to his oratorical and literary style. But his role in what the discussants aim
to forget is not so easily erased.
21 Sinclair (1995), 95 situates the treatise’s composition more precisely within its historical
context.
22 Sinclair (1995), 92: Cicero’s treatises on rhetoric in his mature years ›were motivated in part
by the political changes at Rome during Julius Caesar’s rise to power‹. Möller (2004), 163–5
argues that Cicero’s construction of the relation of the individual to society, particularly his
putting social needs first, develops in response to the contemporary political context.
23 Gill (1988), 195 entertains the idea that Panaetius »converted ethical theory into aesthetics«,
but revises it to make the lesser claim that he took into account the emphasis on style in
Greco-Roman daily life. Möller (2004), 160f. also emphasizes the performative aspect of
Cicero’s persona theory and the subordination of subjective personality to social convention.
140 Michèle Lowrie
what is individual in our personalities or animi, but the third and fourth are areas
which are not simply given: they depend respectively on external circumstances
and the choices we make about what sort of career to pursue (Off . 1.107, 115).
These determine roles to be played and a performative conception of the self
stresses the outward direction of stylistic choices. Although this is not specified,
style presumably permeates every persona and results from a combination of the
givens of our individual personalities with our choices, subjected to the constraints
of the circumstances governing our lives.
Cicero acknowledges that a substantial aspect of who we are is contingent
on circumstance (casus or tempus, Off . 1.107). It is up to us, however, to see the
potential conflict of externals with the achievement of one’s uoluntas (1.115) in
the fourth persona. It is not by accident that the exemplary areas of professional
accomplishment Cicero cites represent his own interests: philosophy, the law, and
oratory. What is particularly revealing about these professions is that Cicero was
currently practicing (philosophy) rather than the others (oratory and the law)
because of external circumstances, namely the current political crisis. Christopher
Gill analyzes the prevalence in the whole theory of a »highly social perspective«
(1988: 171), and shows that the concept of personhood focuses here on success in
a competitive society (180–185), on managing to align one’s choices and will with
external circumstances, or if one can, vice versa. It is exactly the fact that circum-
stances are not going according to Cicero’s will that threatens the constitution of
his identity. His analysis of Caesar’s style is a way of isolating one aspect of this
threat.
Simple, transparent language is effective 24. Many achieved power at Rome
without the stylistic beauty Cicero valorized – Sulla and Pompey come to mind.
The Brutus reveals a tension between Cicero’s desire to valorize his own more
ornate style and his recognition that Caesar’s way of speaking in his scholarship,
his oratory, and his commentaries has a force beyond his reach. We might be for-
given for assuming, against Cicero, that an absence of style would serve better for
success in politics, that style could unmake the man but not make him. What is so
infuriating about Caesar is that, in Cicero’s account at least, he shows verbal and
political mastery by appearing to divest himself of style, but this highly controlled
effect is the inverse of boorishness. An apparent transparency attaches to his schol-
arship, his oratory, and his commentarii alike. This is crucial for the relationship
of words to deeds, a relationship which itself figures that of the intellectual to the
political agent.
24 Hendrickson (1906), 103 comments on the difficulty of achieving such a style and collects
passages concerning how excessive care can in fact destroy rhetorical force.
Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus 141
Scholarship
Oratory
Similarly, the ornaments Atticus attributes to Caesar’s oratorical style are appro-
priate and do not detract from the elegant base (Brutus 261).
itaque cum ad hanc elegantiam uerborum Latinorum … adiungit illa oratoria ornamenta
dicendi, tum uidetur tamquam tabulas bene pictas conlocare in bono lumine.
And so he both joins to this elegance of Latin words … those oratorical ornaments,
and he seems to locate pictures, so to speak, that have been painted well in a good light.
On the one hand, the ornamentation is supplemental; on the other, the metaphor
makes it simply a matter of clear perception. The first description implies that the
ornaments could be subtracted without harm to the style, but the second makes
them the light itself that allows us to see the picture. The light imagery creates
an impression of appropriateness. Seeing a well-painted picture in good light does
not hide artifice – it is a painting after all – but the light makes it seem clear. The
craftsmanship is transparent. The second is more complex. It is not at all clear we
are to align the well-crafted painting with the elegant Latinity, and the good light
with ornamentation, but nor is it clear we should not. If we do, the light only
better reveals what is already well crafted. Even without light, craftsmanship still
remains. Some light, however, is necessary to see at all, and the light we might want
to align with ornamentation is specified as good, which, I take, is to be contrasted
not with no light, but with bad or insufficient light. If the ornamentation and the
good light are removed, the craftsmanship would be harder to perceive.
27 Sinclair (1995), 93 sees Caesar’s plain style in the commentarii as avoiding the »suspicion of
the author’s harbouring intellectual pretensions which might set him apart from the general
reading public« and furthermore attributes a »populist, ›democratising‹ grammatical agenda«
(96) to the De analogia on the grounds that anyone could learn rules, but that the linguistic
usage of the city of Rome would be opaque to those not from there. Henderson (1996), 277
n. 45 situates Caesar in a »cultural politics where normative logocentrism is worn as a badge
of semiotic power«.
Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus 143
Commentarii
With their style, Cicero finally intervenes in his own voice and ostensibly lets his
own many layers of artifice go (Brutus 262).
[Brutus] compluris autem legi atque etiam commentarios, quos idem scripsit rerum suarum.
[Marcus] ualde quidem, inquam, probandos; nudi enim sunt, recti et uenusti, omni ornatu
orationis tamquam ueste detracta.
[Brutus:]: »I, however, have read many of them [speeches] and also even journals, which
the same man wrote of his accomplishments«. [Marcus:] »Certainly very strongly are
they to be commended«, I said, »for they are nude, straight, and lovely, with every
ornament of oratory removed like clothing«.
The clothing imagery implies adornment can be removed from speech, but, if, as
John Dugan suggests, the image is of the heroic nude, it still entails the artistry
of statuary and furthermore even nudity on its own is, in Larissa Bonfante’s for-
mulation, a costume 28. Nudity has a kind of transparency. As Ovid recommends
for seduction, si latet ars, prodest (AA 2.313). Cicero makes explicit elsewhere that
lack of ornament is itself a form of ornamentation, notably in his comments on
Atticus’ (disappointing) writing up of his own consulship: sed tamen erant ornate
hoc ipso quod ornamenta neglexerunt (»but they were nevertheless ornamented in
the very fact of their neglecting ornament«, Att. 2.1.1) 29.
There are two results to Caesar’s ›transparent‹ style. There is a melding of form
and content, just as there is a melding of the roles of intellectual, statesman, and
general. Caesar’s style becomes most unornamented, according to Cicero, when
he recounts his own accomplishments. The recent section on the relative merit of
cultural and military accomplishments gave greater weight to the cultural, and this
is what is emphasized here, but everyone knew that these were matched by the
content of the journals, which were Caesar’s expansion of empire in Gaul and,
28 Bonfante (1989); though her article is largely about Greek nudity, the aspect Caesar would
have inherited is nudity’s indication of a »readiness to stand up and fight even though one
knew one was vulnerable«, an idea she associated with nudity’s transition from a religious to
a civic function in classical Athens (556). On ›style as a garment‹, see Douglas (1966), 274.12,
who remarks that such images probably derive from art rather than directly from clothing.
The heroic nude seems to have been adopted at Rome during the civil wars, though it is
uncertain whether Caesar himself was depicted in that guise; the earliest nude of this sort
found at Rome was of Octavian, but others have been found in Italy in the first century CE
and Roman nudes on Delos as early as the late 2nd century, Hallett (2005), 102–119, 156–158.
For an analysis of Caesar’s actual style in the bellum civile, see Batstone/Damon (2006)
especially chapters 1 and 5.
29 Eden (1962), 76. Rambaud (1987), 497–515 defends Cicero, that lover of ornament, against
apparent contradiction here by comparing his assessment of breuitas elsewhere in his rhetor-
ical writings.
144 Michèle Lowrie
eventually, the still ongoing civil wars. The political mastery matches the stylistic
mastery to produce an effect of untouchable sovereignty. All the elements come
together 30.
Or do they? Christina Kraus (2005) has analyzed paradoxes in Cicero’s account
of Caesar’s style. The disparity between the unadorned style Cicero seems to
present and other accounts of Caesar’s louche deportment become less pronounced
when Cicero’s word choice is examined more closely. Sexual overtones in Cicero’s
adjectives for Caesar’s commentarii evoke his personal dissolute style, so that nudi
… recti et uenusti (Brutus 262), usually interpreted as »unadorned, upright, and
lovely«, might better be translated »nude, erect, and sexy« (2005: 111 f.). As in the
other stylistic descriptions, the transparency initially attributed by Cicero to Caesar
appears murkier on closer inspection.
A further result is that Caesar’s style puts other intellectuals out of business.
The analogy is not made explicitly, but he leaves no room for others to write just
as his political mastery leaves no room for political rivals (Brutus 262) 31.
Sed dum uoluit alios habere parata, unde sumerent qui uellent scribere historiam, ineptis
gratum fortasse fecit, qui illa uolent calamistris inurere: sanos quidem homines a scribendo
deterruit; nihil est enim in historia pura et inlustri breuitate dulcius.
But while he wanted others to have material prepared from which those who wanted
to write history could take, he perhaps pleased the inept, who will wish to burn those
things with curling-irons; sane men he certainly deterred from writing. For there is
nothing sweeter in history than pure and lucid brevity.
Caesar’s style, no less than his politics, constitutes a crisis for the Republic. He has
put the historians out of business, and, even more serious, the orators as well, no
less by his actions than by his way of handling language. The result is that Caesar
gets the last word. If other historians do not rewrite his account, his interpretation
as well as his wording stays. His actions again accord with his words.
For orators, the political consequences of Caesar’s style can be measured by the
different degrees of power accorded rival styles, particularly Asianism and Atticism.
Hortensius, whose death anticipates that of the Republic, used an Asiatic style that
Cicero characterizes as suitable for young men. Its flaw is a lack of seriousness,
and Hortensius’ that his style did not mature with his age. The particular power
the Asiatic style lacks is auctoritas and grauitas (326f.). Cicero does not object to the
30 Lest we be seduced into divorcing writing from action, Henderson (1996) shows how
Caesar’s Bellum Ciuile is a »war of words« (265).
31 Cicero himself is not exempt from deterring others from rewriting his own initial versions.
Eden (1962), 75 calls attention to Att. 2.1.2 about Posidonius, whom Cicero asked to write
up his consulship: non solum non excitatum esse ad scribendum sed etiam plane deterritum
(»not only was he not aroused to write, but was even frankly scared off«).
Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus 145
Asianic style per se, but rather to the lack of fit between the style and the power
of the speaker. Hortensius’ style detracted from his actual power, when it should
enhance it. Clothing imagery occurs again (uestito illo orationis, 327): the style, like
clothing, does not fit.
The aesthetics of style is not isolated from its use in constituting an appropriate
persona 32. Excessive Atticism similarly falls short when it comes to swaying an
audience. This is important because it is not merely a question of winning a partic-
ular case, but of the interpellation between orator and audience – each constitutes
the other in the exchange. Cicero agrees with contemporary Atticists on the need
to imitate Demosthenes. He is more sceptical about their and his own ability to do
so (288). Contrary to Demosthenes, who attracted a crowd from all over Greece,
the extreme Roman Atticists are abandoned, when they speak, »not only by the
crowd, which is in itself pitiable, but even by the lawyers« (at cum isti Attici dicunt,
non modo a corona, quod est ipsum miserabile, sed etiam ab aduocatis relinquuntur ,
289). Cicero grants a positive valuation to a number of the code words of Atti-
cism 33. His provision is that the speakers who espouse these ideals be able to hold
an audience as their models Pericles, Hyperides, Aeschines, and Demosthenes did
(290), and this they plainly do not. The excessively plain style is ineffective.
There is, of course, a mean between the extremes of Atticism and Asianism,
and Cicero lets us know that this is his own style. When explaining his education
to Brutus, he lets drop that he studied oratory both in Attica and in Asia (315). If
this is the style that is effective, that Cicero embraces, the question then arises of
how Caesar’s style in the commentarii, which is presented as completely bare, can
be effective. First, we should distinguish between his oratorical style, described as
having appropriate ornamentation, and the style of his historical journals. History
does not need to hold an audience in court. The issue, however, cannot merely be
dismissed as a difference in prose genre and has to do with Caesar’s exceptional
political status. What Cicero presents as the ideal style has everything to do with
power and this in turn has to do with the identity of the man wielding it. The
implicit comparison of Cicero with Caesar can illustrate this problematic.
If Caesar’s masterful deeds uphold a style that needs no adornment, however
much nudity emerges as a style, what then of the fit between Cicero’s words
and deeds? Cicero ends the dialogue exhorting Brutus to take up the challenge
of being an effective orator in the next generation. The future is open to him,
32 Connolly (2007) emphasizes throughout the political value of affect and aesthetics.
33 anguste et exiliter (»concisely and plainly«, 289), prudens (»practical«), sincerum et solidum et
exsiccatum genus orationis (»a genuine and solid and dry kind of speech«), nec illo grauiore
ornatu oratorio utuntur (»and they do not use the heavier oratorical adornment«, 291).
146 Michèle Lowrie
while it is closed to Cicero. What will remain for Cicero, as he reminds us in his
conclusion, are his res gestae. What is remarkable is that Cicero presents his own
accomplishments as speaking for themselves, without reference to how they were
recorded (330).
Equidem etsi doleo me in uitam paulo serius tamquam in uiam ingressum, prius quam
confectum iter sit, in hanc rei publicae noctem incidisse, tamen ea consolatione sustentor
quam tu mihi, Brute, adhibuisti tuis suauissimis litteris, quibus me forti animo esse oportere
censebas, quod ea gessissem quae de me etiam me tacente ipsa loquerentur uiuerentque
mortuo; quae, si recte esset, salute rei publicae, sin secus, interitu ipso testimonium meorum
de re publica consiliorum darent.
Indeed although I grieve that I embarked on life as if on a road a little too late and have
fallen, before the journey is finished, into this night of the Republic, nevertheless I am
sustained by that consolation which you afforded me, Brutus, with your very sweet
letter, in which you gave the opinion that I ought to be of good courage, because I
had done things which would themselves speak of me even if I myself were silent and
would live while I am dead; which, if all be well, with the Republic’s safety, but if not,
with its very death, would give testimony of my advice about the state.
desperately for others to write him up, as his approaches to Archias, Lucceius,
Poseidonius, and Thyillos attest 34. When they did not, he did it himself. The
poem has not survived except in fragments, and of these, the longest are due to
Cicero’s self-quotation, in the mouth of his brother Quintus in the De diuinatione.
What we do know about it is that there are significant sections of high rhetorical
ornamentation: the ›O‹ in the line quoted above, the jingle of ›fortunatam natam‹,
the prosopopeias of Muses speaking to Cicero, and the verse form itself. The
contrast to Caesarian rhetorical nudity could not be greater. Cicero’s deeds do
not in fact speak for themselves, because they have Cicero to speak for them, in
a variety of styles at that. What he aims at in saying that they do is the kind of
transparency he attributes to Caesar but so signally does not himself have.
Style makes a representation against which a man can be tested, although
such tests may come infrequently – more for public figures in times of crisis. The
consequences of the different choices made by Cicero and Caesar become clear
only in retrospect. Who they are is not merely a factor of self-fashioning, but of
external circumstance, and in Cicero’s case in particular, Caesar was responsible
for the political changes that set obstacles in the way of his self-fulfillment. At the
end of the Brutus, many of the strands I have been tracing come together: Cicero’s
aims for self-development, that competition against rivals is an important aspect
of striving toward that goal, that circumstance can stand in the way of achieving
an ideal, and an odd omission. Hortensius is specified as Cicero’s rival and Caesar
is left out.
Cicero’s picture of the ideal orator shows what he aimed for throughout his
life and what he, to a large extent, actually achieved. He does not quite say he
matches his ideal – that would be boasting35 – but he does specify that anyone like
that was lacking when he was starting his career and beginning to rival Hortensius.
The ideal, in summary, is a man who has studied literature, philosophy, the law,
and history, whose style is concise in handling his adversary, but who can be more
expansive in entertaining his audience, who can leave behind the case at hand
to expound on general questions, and make other digressions for the audience’s
pleasure. Most important, he can manipulate the judge’s emotions (322). Learning,
persuasive power, a stylistic mixture of concision and expansion – who fits the
bill? We are invited to supply Cicero, but the description is as apt of Caesar. What
Cicero identifies as halting his and Hortensius’ competition toward this ideal is
external circumstances, namely arms (324):
34 Hall (1998) gives a positive evaluation of Cicero’s request to Lucceius as a piece of urbane
composition; he treats the results of the request to Posidonius (311) and Atticus’ verse account
of Cicero’s consulship (314). Also Adcock (1956), 11–12, Eden (1962), 75f.
35 I treat Cicero and self-praise in Lowrie (2007).
148 Michèle Lowrie
maxime uero perspecta est utriusque nostrum exercitatio paulo ante quam perterritum armis
hoc studium, Brute, nostrum conticuit subito et obmutuit.
But the practice of each of us was most greatly in public view shortly before this study
of ours, Brutus, terrified by arms, suddenly grew quiet and speechless.
He cites Pompey’s legislation in 52 curtailing the amount of time an orator could
speak. Although this moment was not the end of his political career, since he went
on to become governor of Cilicia, mention of this legislation is significant as a
threat to full self-expression. When Cicero does identify the end of his career as an
orator, he makes it commensurate with the end of the Republic (328).
Sic Q. Hortensi uox extincta fato suo est, nostra publico.
Thus Quintus Hortensius’ voice was extinguished by his own fate, mine by that of the
public.
Brutus goes on to specify that the public death is due to civil war and the cessation
of any hope for peace. It is not Hortensius’ death that symbolizes the end of the
Republic, but rather Cicero’s silence, that is, as an orator – in his writings such as
here, he quite vocally continues to protest his silence 36. He did not know at the
time that he would be writing the Philippics in only a few years, but these speeches
do not fully return him to the role of orator; although some were delivered, the
famous second Philippic was probably not and circulated rather in written form 37.
Writing again substitutes for performance before an audience as a second best,
but, if we harbor doubts about its power, many sources attribute Antony’s hatred
of Cicero and his putting him to death to these speeches 38.
By opening and closing the dialogue with a discussion of himself and Horten-
sius, Cicero creates the impression they were the only two orators of note during
recent years. Yet his description of Julius Caesar in the middle of the dialogue belies
this impression. Caesar, up in Gaul in the 50’s, was not pleading cases at Rome as
were Hortensius and Cicero, but the praise of his oratorical style shows that he
certainly could not be discounted in this domain. Yet he is. The younger Cato is
also held in esteem as a speaker, though he is discussed among the Stoics, whom
Cicero generally finds too dry and puts in a separate category (118f.). But there
is no reason to discount Caesar, except for his surfeit of power. He has moved
36 The link between a man and the state is made early in the dialogue: counsel, intelligence, and
authority – that is, speaking – are arms that befit both a preeminent citizen and a healthy state
(quaeque erant propria cum praestantis in re publica uiri tum bene moratae et bene constitutae
ciuitatis, Brutus 7).
37 Ramsey (2003), 9–10, 158 f.
38 Implied at Juvenal 10.123–6; Plutarch does not attribute the proscription itself to the compo-
sition of the Philippics, but rather the decision to cut off and display on the rostra Cicero’s
hands as well as his feet (Cic. 48.4). Richlin (1999) analyzes the relation of the man, his head,
and his writings particularly in the context of Cicero’s death.
Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus 149
over from oratorical to military pursuits, and his most recent literary endeavors
are records of his accomplishments.
Caesar bursts the bounds of Cicero’s categories. He is no Asianist and he
cannot be classified with the extreme Atticists despite the nudity of his style because
his is, as Cicero grants, an extremely successful medium of communication. He
could be put within the larger category of Attic which Cicero identifies rather with
the effective style he himself espouses. The problem, however, is that Caesar’s
style is so effective, it puts other writers out of business, as he has the military
competition, and the last living orator, Cicero himself. At the beginning of the
Brutus, Cicero remarks that if Hortensius were still living, he would grieve among
other things over the silence of the forum, which means, he would grieve over the
silence of Cicero himself (6):
… cum forum populi Romani, quod fuisset quasi theatrum illius ingeni, uoce erudita et
Romanis Graecisque auribus digna spoliatum atque orbatum uideret.
[…] when he saw the forum of the Roman people, which had been almost a theater
for his genius, despoiled and deprived of a voice educated and worthy of Roman and
Greek ears.
There is no room for anyone else but Caesar in the state and that makes him hard
to categorize and to deal with.
Authorial control?
The question that remains is how to describe Cicero’s reaction to the particular
pressure Caesar puts on his conception of himself. Is Cicero’s fragmentation of
Caesar’s portrait in the Brutus defensive and a proof of his inability or is it subtly
offensive, a mark of his ability to manipulate a code his contemporaries would
have understood?
Ideally, a Roman who has mastered self-control will bear up to adversity
without being broken by it. Cicero’s continuing to express himself through writing
is a vigorous attempt to keep his public persona, crafted over his entire career, in
alignment with his self-conception as an active and engaged man. The flip side
is the loss of social position he expends so much energy protesting. These are
two aspects of the persona theory mentioned above: the combination of external
circumstance and volition concerning activities contributes to the whole picture of
a man. Conflict between circumstances and volition would result in an identity
different from what could be achieved in a smoother situation. On this model,
Cicero writes to preserve his identity in the face of an external threat; the conflict
between his will and what he cannot control results in a strain in the representation
of Caesar, the source of the threat.
150 Michèle Lowrie
I argued a while back that Cicero himself leaves traces as a subtext in Horace’s
Epistle to Augustus, his own literary history, precisely because he provides a
model for the integration of intellectual, poetic, and political accomplishments
that can no longer obtain under Augustus (Lowrie 2002). In the Epistle, Augustus
occupies the role of the statesman, and Horace that of poet. Each belongs in
his own dichotomized sphere. What goes unstated is that each also failed in the
other’s realm – Augustus’ Ajax famously fell on the eraser, and Horace’s political
and military advancement alike were halted at Philippi. The traces of Cicero are
distorted versions of his poetry on his consulship, and many indirect allusions to
his thoughts on poetry’s role in society. Cicero, however, can only provide a failed
ideal of omnicompetence. Plutarch comments that he would have been recognized
as a better poet if it were not for the excellence of those who came after, and his
political career is marked by a tragic loyalty to a losing cause. Still, Cicero offers a
model to Horace at least of an attempt at an integrated life which current political
circumstances make impossible, and the reason he goes under erasure is similarly
the trauma arising from the impossibility of living according to this exemplum.
My analysis here of Cicero’s response to Caesar’s example in the Brutus has an
obvious affinity with my argument about Horace. The difference is that I am much
more inclined to attribute a canny self-knowledge to the poet than to the orator 39.
This set of assumptions would result in Horace’s full control of his text: he makes
allusive representations to a social reality that was uncomfortable, but of which he
was fully aware. Cicero, by contrast, would be so caught up in current politics that
he would make similar representations without full awareness of their implications.
Cicero was certainly aware of the disparity between his position and Caesar’s. Was
his vanity so strong, that he was blind to the extent of his powerlessness? His
suppression of Caesar’s military success, his defensiveness about his lack of similar
accomplishments, and his displacing Caesar from the role of significant orator
would then all result from a certain amount of unself-conscious self-protection.
He knew in his heart of hearts that Caesar had won – at least so far – but could not
face reality directly. Caesar consequently gets insufficient direct treatment due to
Cicero’s unconscious censorship of what is painful and in this way Caesar escapes
classification according to Cicero’s categories. An informed reader then puts the
pieces together to come to a knowledge of Cicero that escaped the author himself.
But attributing to the poet a greater degree of analytic awareness than to the
orator replays the split between the intellectual and the politician Caesar’s model
for Cicero and Cicero’s for Horace questions in the first place. Surely unconscious
motivation can also be traced in Horace’s text and it would be unfair to rob Cicero
of a canny control of his writings simply because of his whirlwind engagement
39 Schwindt (2000), 112f. emphasizes Cicero’s artistry in the ›speech about speech‹ that is the
Brutus.
Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus 151
with the world. Along these lines, one could argue that by side-stepping the threat
posed by Caesar’s example of an omnicompetent self Cicero offers a covert critique.
Cicero does not put together a complete picture of Caesar because to do so would
be to make clear to all the essential problem: one man is putting everyone else
out of business. Cicero would then be consciously avoiding what would appear
at the time as a dangerous suggestion. In the first interpretation, Cicero comes off
as a fool: a man whose self-esteem surpasses his self-awareness. In the other, he
displays a greater mastery than he is often given credit for. If history had played
out differently and his hands and neck had not, in Juvenal’s formulation, wet the
Rostra with his blood, we might be more generous in our assessment of Cicero 40.
Since he lost, he can easily be read as a buffoon.
The question of authorial consciousness – another version of authorial inten-
tion – cannot be resolved in the terms posed above. I would rather suspend my
prejudices about poets and orators to suggest that the texts of Cicero and Horace
alike instantiate the combined ability and inability of intellectual activity during
the transition between Republic and Empire. Writing the history of literature
intervenes in the world not by a dispassionate account of literature’s diachronic
development, but by defining the place of the poet or orator within current social
and political structures. Can this intervention change anything? No, if we mean
that writing would be able to restore the possibility of elite mastery in all fields
when social change has altered the playing field. Yes, if we mean that keeping
debate going participates in politics understood as an activity involving competing
representations.
By writing the Brutus, Cicero intervenes publicly in the construction of his
identity through social and literary response. The dialogue – itself a form that
embodies exchange – was written in response to a letter of Brutus, the De uirtute 41,
and to Atticus’ Liber annalis, both dedicated to Cicero (12, 13, 19). Each gave
him hope of different sorts and prompted him to pursue scholarly activities as
a consolation for changes in his public role. The Brutus’ antiquarianism answers
Atticus 42, and the presentation of literary and cultural accomplishments as manly
40 Our tradition of valorizing Cicero as an orator rather than a statesman goes back to reactions
shortly after his murder: Sinclair (1995), 105. Kaster (1998) and Roller (1997), 124 signal the role
of declamation in the transmission of representations of Cicero, though Kaster emphasizes
the declaimers’ focus on the impotent orator at the moment of his death (262 f.), while Roller
gives equal weight to the ›hero of the Republic‹.
41 Hendrickson (1939) identifies the letter as the De uirtute; Douglas (1966), xi; Dugan (2005),
236.
42 Schwindt (2000), 114; Dugan (2005), 191–196 analyzes Cicero’s response to Atticus in light
of their different conceptions of history.
152 Michèle Lowrie
pursuits that can occupy an unemployed statesman responds to Brutus 43. But
Caesar also dedicated a book to Cicero, the De analogia, and Cicero responds to
him as well 44 by defending a long tradition of oratory he understood civil war and
autocracy to be bringing to an end.
Cicero’s response poses a problem beyond the threat to his personal identity.
He and Caesar are instances that play out a general problem with the areas of
potential achievement in the new political formation. Caesar’s exemplum in the
Brutus is inimitable and this shuts the system of elite competition down. The point
of an exemplum is, in Livy’s famous formulation, to be imitated or avoided (Preface
10). As an instance of a man who brings together military, political, scholarly,
oratorical, and historiographical success, Caesar provides a positive model, but his
destruction of the state offers an example to be avoided. But here is the crux: no one
could even avoid his example once the state is destroyed, simply because there is
no further area in which action could be either imitated or avoided. The system as a
whole has broken down, and with it, any possibility for aristocratic self-definition
according to traditional norms. At least, that is the representation of the Brutus. In
point of fact, Julius Caesar was, in the manner of an exemplum, partially imitable.
Augustus eventually took over his autocracy and, at least in the Res gestae, his plain
style 45, though he also avoided Caesar’s mistakes and fashioned himself as the
restorer of the Republic. He did, however, let writing literature go. Others could
do that better, and it was not a bad idea to offer some area of achievement among
the elite. The generation after Cicero reformulated its ambitions, and, eventually,
under the Empire the cultivation of the self turned more inward.
43 Dugan (2005), 237: Brutus’ De uirtute and Atticus’ Liber annalis ›provide the basic codes that
animate the Brutus‹. He analyzes Cicero’s response to Brutus at 236–243.
44 Dugan (2005), 177. Hendrickson (1906), 97–98 suggests the De analogia itself responds to the
De oratore. Arweiler (2003), 3.6.6 cites the exchange of the Cato and Anticato and Caesar’s
De analogia as evidence that Cicero and Caesar’s intellectual competition was part and
parcel of their political competition. Schwindt (2000), 118 even calls attention to Cicero’s
self-stylization as a »Deutero-Caesar«. Moatti (1997), 165 situates the De analogia within a
larger concern in this period for rationality and systematization – a cooperative collective
effort.
45 Sinclair (1995), 96 notes that Augustus was brought up according to Julius Caesar’s principles
of style and that he »strove for a style that was freely accessible to his listener or reader«
(Diu. Aug. 86.1).
Cicero on Caesar or Exemplum and Inability in the Brutus 153
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Eskapismus, poetische Aphasie und
satirische Offensive
Das Selbstverständnis des spätantiken Dichters
Sidonius Apollinaris
»Die Gedanken sind frei« heißt es bekanntlich im Volkslied. Dahinter steht die
uralte Erkenntnis, daß sich der Mensch aus der realen Welt, ja sogar von sei-
ner somatischen Verhaftung lösen und in eine ideale, von ihm selbst geschaffene
Welt des Geistes hinübergehen, geradezu flüchten kann. Im Bereich von Sozio-
logie, Psychologie und Literatur spricht man in diesem Zusammenhang oft von
Eskapismus. Ein modernes Standardlexikon der Psychologie 1 definiert den Begriff
folgendermaßen: »Flucht vor der Wirklichkeit und den realen Anforderungen des
Lebens in eine imaginäre Scheinwirklichkeit«. Auf künstlerisch-literarischem Felde
versteht Gero von Wilpert2 den Eskapismus als »Flucht vor der widerspruchs-
vollen Wirklichkeit und (der) sozialen Verantwortung, insbesondere Flucht in die
Kunst und Literatur als problemlos erscheinende Ersatzwelt des schönen Scheins
gegenüber der unbewältigten Realität«. Harry Shaw 3 bietet in seinem Dictionary
of Literary Terms eine vor allem leser-, d. h. rezipientenorientierte Interpretation
von Escapism/Eskapismus: »The desire or tendency to avoid reality and to seek
entertainment and release in fantasy or imaginative situations […] Escape litera-
ture enables the reader to forget or put aside his troubles and to live vicariously
in another world«. Nehmen wir die Definitionen zusammen, können wir grob
sondernd feststellen, daß eine solche Welt- oder Realitätsflucht unter mehrfachen
Aspekten zu betrachten ist: Zuerst in der sozialen Realität, dann aber ganz beson-
ders in Kunst und Literatur. Auf dem Gebiet der Literatur wiederum können
zunächst der Autor selbst bzw. sein literarisches Ich, zweitens seine Figuren und
Protagonisten (etwa im Roman oder im Film) und drittens der Rezipient samt
seiner psychischen Bedürfnisse ins Auge gefaßt werden. Zumeist wird der Begriff
›Eskapismus‹ negativ gebraucht: Man unterstellt den Eskapisten, daß ihre Rea-
litätsflucht stets krankhaft sei und daß sie die von außen her drohenden Probleme
nicht direkt anzugehen, geschweige denn zu lösen versuchen, schlimmer noch,
daß das eskapistische Autor-Ich den Rezipienten unbewußt oder gar absichtlich
von sozialen Brennpunkten und einem diesbezüglich notwendigen Engagement
ablenke; dies ist gewiß nicht selten der Fall, vor allem im Bereich trivialer Literatur
sowie der Computer-, Fernseh- und Kinounterhaltung4.
Dem möchte ich jedoch einen positiven oder mindestens wertfreien Begriff von
›Eskapismus‹ entgegensetzen: Dank seiner schöpferischen Phantasie, aber auch
im Rückgriff auf tradierte Muster konstruiert der eskapistische Literat ein mehr
oder minder artifizielles Universum, um durch dessen Gestaltung seine je eigene
Lebenswelt, die er nur unvollständig oder mit einer seine psychischen Reserven
aufzehrenden Energie bewältigen kann, zu überschreiten, geistig zu verarbeiten
und zu kompensieren 5. Damit wirkt der Autor gleichsam als Seelentherapeut in
eigener Sache, aber auch im Interesse der Rezipienten, sofern sich diese als Mit-
wirkende, gewissermaßen als ›Mitarbeiter‹ der Autoren auf eine so verstandene
eskapistische ›Sinnstiftung‹ einlassen wollen. Mit meiner offenen Definition ent-
ziehe ich mich einer generalisierenden Wertung oder gar Abwertung eskapistischer
Prozesse, weil diese m. E. immer individuell beurteilt werden müssen.
Eine zweite Gefahr für den Interpreten liegt in der Annahme eines indiffe-
renten Paneskapismus. Deshalb erscheint mir z. B. folgende Unterscheidung sinn-
voll: 1. Stärkste Eskapismusbereitschaft (Zwangs-Eskapismus) unter der Pression
unerträglicher äußerer Zwänge (z. B. unter den oppositionellen, zum Altruismus
neigenden Stoikern in der Kaiserzeit); 2. Erhebliche Dissonanzen (Dissonanz-
Eskapismus) mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Zielen und Wertvor-
stellungen (z. B. Elegiker); 3. Literarische Sensibilität und Skepsis (Sensibilitäts-
Eskapismus) gegenüber systemstabilisierenden Auftragsgedichten (z. B. die sog.
Recusationes; Vergil, Properz, Horaz); 4. Totaler Transzendenz-Eskapismus durch
dauerhafte Weltflucht (z. B. Askese und Mönchtum in der christlichen Spätan-
tike). Alle Gruppen schließen nicht selten eine (mitunter heftige) Polemik gegen
das gesellschaftliche Establishment ein. Der relegierte Dichter Ovid beispielsweise,
der durch seine Verbannung schwer traumatisiert war, ist sicherlich der ersten
Gruppe zuzurechnen: In seinem Gedicht Tristien 4, 2 beschreibt er einen imagi-
nierten Triumphzug des Tiberius anläßlich eines nur vorgestellten Sieges über die
Germanen. Der Dichter bietet alle Kunst auf, um dem Leser ein lebensvolles, plas-
tisches Bild dieses Staats- und Volksfestes zu demonstrieren und auf diese Weise
klarzumachen, daß Geist und Genie nicht verbannt und im fernen Tomis festge-
halten werden können: In dem von ihm konstruierten Universum herrscht der
Triumphator Ovid über den Despoten Augustus. So beginnt mit Ovid zugleich
die besonders für das 20. Jahrhundert wichtige Richtung des Eskapismus in der
Exilantenliteratur 6.
B. Sidonius Apollinaris
1. Biographisches
Die Lebensspanne des Sidonius Apollinaris fällt hauptsächlich in den zweiten Teil
jenes unruhigen fünften Jahrhunderts, das dem weströmischen Kaisertum den
Todesstoß versetzte. Sidonius, typischer Vertreter einer stolzen und ehrgeizigen
Provinzialaristokratie, ist um 430 in Lyon geboren, war 468 unter dem Kaiser
Anthemius Stadtpräfekt von Rom, wurde um 470 Bischof von Clermont-Ferrand
und organisierte in diesem klerikalen Amt den heroischen, aber letztlich vergeb-
6 Siehe hierzu Schmidt (2003), zum Stichwort Eskapismus ebd. 21. 31. 45. 49f. 57. 166–177,
bes. 167. 207–213.
158 Rainer Henke
lichen Abwehrkampf der Auvergne gegen den westgotischen König Eurich, der
ihn gefangennahm und zwei Jahre (ca. 475–477) auf eine Festung verbannte, ihn
danach aber begnadigte und wieder als Bischof von Clermont einsetzte. Sidonius
ist zwischen 480 und 490 gestorben 7. Als Schwiegersohn des Kaisers Avitus war er
mit einem großen Teil der süd- und mittelgallischen Elite bekannt oder verwandt,
deren ›Corps- oder Kastengeist‹ ihn geprägt, aber auch zur verantwortlichen Über-
nahme von schwierigen politischen Aufgaben genötigt hat.
2. Werke
Sidonius hat uns eine Gedicht-Sammlung mit 24 carmina hinterlassen. Die ers-
ten acht Stücke dieser Edition (Nr. 1–8) enthalten drei umfangreiche Lobreden
zum Regierungsantritt der Kaiser Avitus, Maiorian und Anthemius samt deren
Begleitgedichten. Dazu treten sechzehn weitere Gedichte (Nr. 9–24), die als Car-
mina Minora 8 bezeichnet werden. Diese Carmina Minora zeichnen sich durch eine
beachtliche Vielfalt ihrer Themen aus. Wir finden: ein Widmungsgedicht, zwei
Hochzeitsgedichte mit poetischen Praefationes, ein verhindertes Hochzeitsgedicht
(c. 12), aus dem eine ›Satire‹ geworden ist (mit ihr werden wir uns sogleich beschäfti-
gen), eine Bittschrift an den Kaiser Maiorian, drei Dankschreiben, fünf Epigrammata
sowie ein abschließendes Propemptikon an den personifizierten Gedichtband, dem
Sidonius gute Ratschläge mit auf seinen Weg zu den Freunden gibt 9. Die 147 10 Epis-
teln im Brief-Corpus des Sidonius umfassen in ihrer letzten Edition neun Bücher,
eine deutliche Anlehnung an die Briefsammlung des Plinius, der ihm neben Cicero
und Symmachus auch im Inhaltlichen überragendes Vorbild gewesen ist; in diese
Briefe sind zuweilen Kurzgedichte eingelegt 11.
3. Geschichtliche Einordnung
Blicken wir auf eine politische Landkarte der sidonianischen Zeit12, so erkennen wir
sogleich den entscheidenden Grund für die existientiellen Ängste, die ein südgalli-
scher Romane damals hegen mußte. Die Provence und Gallien überhaupt sind zum
ohnmächtigen Spielball mächtiger rivalisierender Germanenstämme geworden, die
von allen Seiten die Reste römischer Provinzherrlichkeit bedrängen: Im Norden
drohen die Burgunder und nach ihnen die Franken, vom Süden und Westen her
die Westgoten, vom Osten und Norditalien aus die Ostgoten. Der fein gebildete
Aristokrat fühlt sich abgestoßen von den wilden, urwüchsigen Riesenkerlen der
Invasionsheere sowie von deren fremdartiger Sprache und Kultur 13. Als im Jahre
461 die Burgunder Lyon zum zweiten Mal besetzen, ist auch Sidonius von der
Einquartierung betroffen.
In seinem carmen 12 entschuldigt sich Sidonius bei dem Freund Catullinus dafür,
daß er ihm nicht das versprochene Epithalamium, also ein Hochzeitsgedicht, über-
senden kann14:
Quid me, etsi valeam, parare carmen Was bittest Du mich, obwohl in der Annah-
Fescenninicolae iubes Diones me 15, ich sei gesund, für Venus, die Freundin
inter crinigeras situm catervas der Fescenninen 16, ein Lied zu dichten, mich,
et Germanica verba sustinentem, der ich sitze unter langhaarigen Scharen und
5 laudantem tetrico subinde vultu germanische Worte aushalten muß, der ich
Vermächtnis des Sidonius (epist. 9,16 [Abschluß des Briefcorpus], § 3) sowie um einen
Panegyricus auf den Gotenkönig Eurich (epist. 8,9,5; dazu s. unten); die vorherrschenden
Versmaße in den Einlagen sind Hendekasyllabus und elegisches Distichon (näheres s. Klotz
[1923], 2234f.).
12 Siehe etwa die Karte bei von Padberg (2006), 14 (Das Frankenreich um 500).
13 Vgl. dazu das Kapitel »Die Germanen aus der Sicht des Sidonius« bei Kaufmann (1995),
79–219; ferner die Monographie von Botermann (2005), 382–404, bes. 399–404 (mit einer
Übersetzung bzw. Paraphrase des Briefes 2,9 an Donidius und einer Teilübersetzung des
Briefes 4,17 an den fränkischen Comes Arbogast, §§ 1f.).
14 Ich gebe den Text in der Übersetzung von Kaufmann (1995), 141f., von der ich allerdings an
einigen Stellen abweiche. Zur Interpretation des Gedichts s. Kaufmann (1995), 141–144, der
ebd. 142 f. Anm. 374 die verschiedenen Datierungsversuche referiert.
15 etsi valeam (v. 1) ist ironische Anspielung auf den formelhaften Abschiedsgruß im voraus-
zusetzenden Bittbrief des Adressaten Catullinus.
16 Fescenninicola (v. 2) ist ein von Sidonius selbst ad hoc geschmiedetes Nominalkompositum,
also ein Hapax legomenon, freilich in der Tradition der mit dem Suffix -cola zusammenge-
setzten Nomina (s. Otto Gradenwitz: Laterculi vocum Latinarum, Leipzig 1904, 293f.).
160 Rainer Henke
quod Burgundio cantat esculentus, mit finsterer Miene wiederholt loben muß, was
infundens acido comam butyro? der vollgefressene Burgunder singt, der mit ran-
Vis dicam tibi, quid poëma frangat? ziger Butter sein Haar beschmiert? Möchtest
Ex hoc barbaricis abacta plectris du, daß ich Dir sage, was das 17 Gedicht zer-
10 spernit senipedem stilum Thalia, bricht 18? Von den barbarischen Zupfinstru-
ex quo septipedes videt patronos. menten verscheucht, verschmäht Thalia das
Felices oculos tuos et aures sechsfüßige Versmaß, seitdem sie die sieben
felicemque libet vocare nasum, Fuß großen Schutzherren sieht. Glücklich kann
cui non allia sordidaeque caepae man Deine Augen und Deine Ohren, glücklich
15 ructant mane novo decem apparatus, kann man Deine Nase nennen, der nicht am
quem non ut vetulum patris parentem frühen Morgen schon zehn Kerle Knoblauch-
nutricisque virum die nec orto dünste und die Zutaten der häßlichen Zwiebel
tot tantique petunt simul gigantes, zurülpsen, der Du nicht den ganzen Tag über
quot vix Alcinoi culina ferret. und nicht nur morgens, wie ein alter Opa und
20 Sed iam Musa tacet tenetque habenas einer Amme Ehemann, durch eine Horde Rie-
paucis hendecasyllabis iocata, sen heimgesucht wirst, so viele und so große,
ne quisquam satiram vel hos vocaret. wie sie auch die Küche des Alcinous kaum
ernähren könnte. Aber schon schweigt meine
scherzende Muse und zieht straff die Zügel
nach nur wenigen Hendekasyllaben 19, damit
nicht einmal diese jemand eine Satire nennen
könnte 20.
17 poëma (v. 8) bezeichnet hier das Hochzeitsgedicht, das sich der Freund Catullinus von
Sidonius gewünscht hatte; prägnanter könnte auch: »mein Gedicht« übersetzt werden.
18 frangat (v. 8) muß stärker wiedergegeben werden als mit dem von Kaufmann gewählten
Ausdruck »behindert«.
19 Das Gedicht ist im stichischen Maß des phalaecaeischen Elfsilblers geschrieben; die Cäsur
ist meist nach der dritten Hebung gesetzt, einige Male (v. 4. 8. 14) nach den beiden Kürzen;
in v. 21 fehlt die Cäsur wegen des langen Wortes hendekasyllabis, aber m.E. auch, weil der
Dichter hiermit die Ermattung seiner Muse andeuten will.
20 Dazu Schetter (1994), 245 Anm. 32: »[…] Die Schlußverse […] spielen auf eine Affäre des
Jahres 461 an: In Arles kursierte in diesem Jahr eine anonyme beißende Satire, in der die
verspotteten hochgestellten Persönlichkeiten namentlich genannt wurden, unter ihnen Paeo-
nius, der Praefectus Praetorio Galliarum 456/7, […] Da Catullinus die bösartige Invektive
mit Lob überschüttete, geriet der eng mit ihm befreundete Sidonius in den Verdacht, sie ver-
faßt zu haben (epist. 1,11). So liegt die Annahme nahe, daß sich carm. 12, v. 22 […] auf diese
Vorgänge bezieht und daß diese dem Autor und dem Adressaten noch frisch in Erinnerung
waren. Das Gedicht ist vielleicht noch 461 oder jedenfalls bald danach entstanden«.
21 Zum Forschungsstand in bezug auf Ovids Relegation s. Anna Julia Martin (2004).
Eskapismus, poetische Aphasie und satirische Offensive 161
mehrfach betont, daß seine Romferne und damit verbunden seine neue getische
Umgebung und ihr barbarisches Sprachidiom seinen Stil verschlechtert hätten, ja
ihn seine Muttersprache vergessen machten22. Es ist dies ein Phänomen, das man
als die Sprachlosigkeit, die ›Aphasie‹ 23 der Exilanten bezeichnet hat, die sich nicht
nur mit ihrer räumlichen Entfremdung von ihrer Heimat, sondern auch mit einer
neuen Sprache und einer fremdartigen Kultur konfrontiert sehen, ein Problem,
das auch vielen deutschen Emigranten des 20. Jahrhunderts, von Bertolt Brecht
bis Thomas Mann, sehr zu schaffen machte 24. Freilich hat Ovid auch im Exil das
Dichten in seiner lateinischen Muttersprache nicht aufgegeben, auch hat sich die
Qualität seiner Poesie nicht vermindert25, ja Ovid hat sogar, wie er selbst bezeugt,
Gedichte in der getischen Landessprache verfaßt 26, eine Form der Anpassung,
die Sidonius – jedenfalls für sich selbst – ganz und gar verschmähte 27. Die Muse,
die ihm in Gestalt der Ars amatoria die Verbannung eingetragen haben soll, hilft
dem poetischen Ich durch ›trostbringendes‹ Dichten, die schwere Krise zu über-
stehen, seinem Unglück durch Kompensation wenigstens zeitweise zu enfliehen 28.
Ebensowenig darf man glauben, daß Sidonius nur unter dem schockierenden Ein-
22 Ov. trist. 3,14,43–52; vgl. Pont. 1,2,61 (cum video quam sint mea fata tenacia, frangor, / spesque
levis magno victa timore cadit); ferner trist. 1,11,7–10.17f. (Staunen darüber, daß er während
der Überfahrt nach Tomis durchs rauhe Meer Verse zustandebringen konnte). Ein zumindest
verwandtes Motiv ist die Sprachlosigkeit angesichts der Eintönigkeit des Stoffes, wie Ovid
selbst einräumt (Pont. 3, 7, 1f.): verba mihi desunt eadem tam saepe roganti / iamque pudet
vanas fine carere preces; dazu s. Fränkel (1970), 150f.
23 Zunächst versteht sich ›Aphasie‹ im medizinischen Sinne als »Verlust des Sprechvermögens
infolge einer Störung im Gehirn« (Wahrig Fremdwörterlexikon, München 2001 s.v.); dane-
ben umgreift der Ausdruck auch funktionale Sprachverluste, die auf ein seelisches Trauma
oder ein Schockerlebnis zurückgehen.
24 Siehe dazu Doblhofer (1987), 66–72 u. insbes. 114–136 (Die Sprachnot des Verbannten am
Beispiel Ovids).
25 Zu Recht betont von Holzberg (1998), 181.
26 Zu den durchaus erfolgreichen Versuchen Ovids im Getischen und Sarmatischen s. Fränkel
(1970), 174 (Pont. 4, 13, 19–21).
27 Dazu s. Sidon. epist. 5,5,3 an den Freund Syagrius, der das Burgundische, wie Sidonius iro-
nisch und süffisant bemerkt, so gut verstehe, daß sich »die Burgunder in seiner Anwesenheit
fürchteten, einen Barbarismus in ihrer eigenen Sprache zu begehen« (Kaufmann [1995], 144f.
mit Anm. 375 sowie 232 f.); von Speyer (2001), 883f. als »eitle[s] Wortspiel« verunglimpft;
zum Begriff barbarismus s. Speyer (ebd.), 882–884; zu den mannigfachen Versuchen der
alten Oberschicht und des katholischen Klerus, die ›barbarischen‹ Sprachen (das Germani-
sche oder Vandalische) zu erlernen, s. Speyer (ebd.), 867f. Umgekehrt gab es auch gebildete
Germanen, ja Barbaren-Könige, die dichteten oder sonstwie literarisch tätig waren (Speyer
ebd. 868).
28 Den Topos ›Selbst-Tröstung durch Dichten‹ hat zuletzt Martin (2004), 108–112 erörtert; sie
behandelt ebd. sechs diesbezügliche Forschungsansätze (Stroh; Chwalek; Nagle; Doblhofer;
Liebermann; Williams); vgl. außerdem Stroh (1981); zur Tröstung gehört auch das Moment
des Vergessens, das Martin (ebd.), 112–116 traktiert.
162 Rainer Henke
Wie Ovid leidet Sidonius aufgrund der täglichen Konfrontation mit den bur-
gundischen Besatzern, deren Erscheinungsbild er mit den üblichen Mitteln der
Satire, wie er am Ende selbst einräumt, übertreibt, überzeichnet und karikaturis-
tisch verzerrt32. »Die satirische Reduktion eines Menschen auf das entscheidende
Detail« liegt vor in der Schilderung abstoßender körperlicher Einzelheiten (but-
29 Freilich hat Sidonius bei seiner Übernahme des Bischofsamtes in Clermont die Absicht
bekundet, keine Gedichte mehr zu schreiben, da sich dies mit dem Episkopat nicht vertrage,
epist. 9, 12, 1: ab exordio religiosae professionis huic principaliter exercitio renuntiavi (»dieser
Tätigkeit, der ich hauptsächlich zu Übungszwecken nachging«); dazu s. Klotz (1923), 2234,
34–63, bes. 53–60: »Erst in dem letzten Buche finden sich größere Neuschöpfungen […]
es wird S. offenbar schwer, auf das Versemachen zu verzichten […] Jedenfalls hat er der
heidnischen Mythologie abgesagt, mit der er seine Panegyrici und Epithalamien geschmückt
hatte«; aber wie der von uns im folgenden behandelte ›Panegyricus‹ auf Eurich (epist. 8, 9,
5) beweist, ist Sidonius dieser Maxime nicht vollständig treu geblieben.
30 Einer anthropologisch konstanten Erfahrung des Kultur- und Sprachschocks von seiten
der Exilierten, so jedenfalls die These in den einschlägigen Arbeiten von Doblhofer, die
allerdings von Martin (2004), 20f. in Frage gestellt wird; dabei ist Martins Hinweis auf die
überwiegend männliche Exilerfahrung kaum überzeugend. Wenn auch Ovid die Situation
in Tomis, insbesondere die militärische Bedrohung von seiten einfallender Barbarenstämme,
übertrieben negativ darstellt und sein elegisches Ich hierbei literarische Reminiszenzen z.B.
an die Skythenbeschreibung Vergils einfließen läßt, sollte die Skepsis nicht so weit gehen,
sein Exil in Tomis und seine zumindest temporäre Niedergeschlagenheit grundsätzlich in
Zweifel zu ziehen.
31 Vergleichbar mit Sidonius ist das Eingeständnis des von berberischen Nomadenstämmen
bedrängten Epistolographen Synesios von Kyrene, im Moment die vom Freund Simplikios
ersehnten Gedichte nicht mehr produzieren zu können, da er unaufhörlich Wache schieben
müsse (der Briefschreiber flicht im Kontext einen eleganten Selbstvergleich mit Archilochos
ein) und nicht einmal Zeit finde, sich Bücher aus dem Schrank zu holen; zitiert von Speyer
(2001), 866: epist. 129 (PG 66, 1514 B, Z. 7–12); gewiß eine Übertreibung, doch ebenso gewiß
eine mit wahrem Kern.
32 Die im folgenden aufgeführten Mittel satirischer Sprechweise sind zitiert nach den Kategorien
im Inhaltsverzeichnis von Christine Schmitz (2000), IX–XII.
Eskapismus, poetische Aphasie und satirische Offensive 163
33 Der französische Dichter Arthur Rimbaud, der übrigens selbst auch lateinische Verse ver-
faßte, rezipiert im ersten Stück seines Gedichtzyklus »Une saison en enfer«, überschrieben
mit »Mauvais sang«, die sidonianische Wendung, indem er seine unbeholfene Wesensart
und seine barbarische Kleidung von seinen gallischen Vorfahren ableitet, aber mit der Ein-
schränkung: »Mais je ne beurre pas ma chevelure«: Löffler, Tauchmann (1992), 306 (ich
verdanke diesen Hinweis Karin Westerwelle, Münster).
34 Zum römischen Barbarenbild ausführlich (mit dem Versuch einer systematischen Struktu-
rierung und Funktionalisierung) Dauge (1981), 307–378 (»Barbarologie Historique: Septième
période, de 305 à la prise de Rome par Alaric [410]«), insbes. 375–378: »Le Christianisme et
la Barbarie«).
35 In der Auseinandersetzung mit Marianne Kah verteidigt Gnilka (2001), 469 allerdings zu
Recht eine Äußerung des Prudentius (c. Symm. 2, 816–819), deren Fehlinterpretation auf
einem Mißverständnis beruht; eine weitere umstrittene Stelle (Prud. apoth. 215f. semifer Scot-
tus) entschärft Gnilka (2000), 526–529 durch den Nachweis, daß dieses Zeilenpaar interpoliert
ist; jedoch weist Gnilka (ebd.), 528 Anm. 6 darauf hin, daß Prudentius selbst (ham. 784) die
Verbindung semiferi […] Goliae, also mit Bezug auf den Riesen Goliath, bietet.
36 Dazu s. die Belege bei Speyer (2001), 884–888, bes. 886 unter der Überschrift: »Die Barbaren
sind wie Tiere und leben wie Tiere«; vgl. Sidonius selbst in epist. 4, 1, 4 (dazu jetzt Amherdt
[2001], 67f. 84–89).
164 Rainer Henke
Zwar hat Sidonius als Geschenkgedicht für den Freund kein anakreontisch-hei-
teres Hochzeitsgedicht geschrieben (wie etwa Catull sein carmen 61 40 für den
Freund Manlius Torquatus 41), sich aber doch wenigstens Luft geschaffen durch
ein anspruchsvolles Erzeugnis in bitterbösen Elfsilblern 42, wie sie zu polemischem
Zweck derselbe Catull (etwa in carmen 42 43) oder auch der Epigrammatiker Mar-
44 Bei Martial ist der Elfsilbler nach dem elegischen Distichon das zweithäufigste Versmaß:
Barie/Schindler (2002), 1085 mit einer Übersicht über die Gedichte im Elfsilbenmetrum;
satirisch-polemisch ist z.B. Mart. 1, 27.
45 Carmen 62 unterscheidet sich von 61 vielfach, u.a. durch sein hexametrisches Versmaß. Siehe
dazu den Kommentar von Syndikus (2001), 50–75, ebd. 50; auch Ovid hat nach eigenem
Bekunden (Pont. 1,2,131f.) ein Hochzeitsgedicht für ein ihm befreundetes Paar geschrieben
(dazu Schmitzer [2001], 177).
46 Catull. 68, 19–23. 31f.: sed totum hoc studium luctu fraterna mihi mors / abstulit. O misero frater
adempte mihi, / tu mea tu moriens fregisti commoda, frater, / tecum una tota est nostra sepulta
domus, / omnia tecum una perierunt gaudia nostra / […] Ignosces igitur, si, quae mihi luctus
ademit, / haec tibi non tribuo munera, cum nequeo; vgl. dazu den Kommentar von Syndikus
(2001), 239f.; auch bei Catull ist vom ›Zerbrechen‹ die Rede (mea frangere commoda =
»meine Glücksgaben«). Diese Aphasie des Dichters Catull gehört zu dem umfassenderen
Komplex des Verstummens aufgrund übermächtiger Trauer; dazu s. Hillgruber (2002). Zum
Verstummen als einem Ausdruck der Unsagbarkeit s. Melanie Möller (2003).
47 Im harten Bild von der barbarischen Besatzung, die »sein Gedicht zerbricht«, wie Sidonius
in v. 8 klagt, wirkt zudem gewiß auch die alte Vorstellung inter arma silent Musae (»zwischen
Waffen schweigen die Musen«), die in v. 20 explizit ausgesprochen ist (iam Musa tacet); vgl.
Cic. Mil. 11: silent leges inter arma.
48 Dazu Klibansky/Panofsky/Saxl (1990), insbes. den Dritten Teil (»Poetische Melancholie«
und »Melancholia Generosa«: 319–394), Lambrecht (1994), Mehnert (1978), ferner Lepe-
nies (1969), 9–34 (zu Robert Burton, The Anatomy of Melancholy), 76–90 (Bürgerlicher
Eskapismus, Weltflucht, Gesellschaft und Einsamkeit).
166 Rainer Henke
Lampridius erinnere sich wohl nicht an jenen berühmten Vers des Satirikers Juve-
nal 52, mit dem dieser, auf die schlechte Lage der Dichter seiner Zeit anspielend,
sagen wollte: Ein Dichter läuft erst zur Höchstform auf, wenn er in gesicherten
Vermögensverhältnissen lebt. Wir gedenken dabei der Tatsache, daß Maecenas
dem Dichterfreund Horaz ein Landgütchen im Sabinerland schenkte, das Horaz
über alles liebte und oft beschrieben hat; das Beispiel ist also von Sidonius geschickt
ausgewählt. Er, Sidonius, wolle aber dem Wunsch des Lampridius nachkommen,
wenngleich dieser im Hinblick auf das poetische Produkt des Sidonius keine allzu
strengen Maßstäbe ansetzen dürfe.
52 Iuv. 7, 59b–62: […] neque enim cantare sub antro / Pierio thyrsumque potest contingere
maesta / paupertas atque aeris inops, quom nocte dieque / corpus eget: satur est, cum dicit Horatius
›Euhoe‹; zum Kontext (›Der arme Poet‹) s. Schmitz (2000), 95f.; zur horazischen Perspektive
(carm. 2, 19: Bacchum in remotis, 5–8) s. Kießling/Heinze 1, 240f. z. St. (»Der Anblick des
Gottes hat den Dichter zu seinem Thiasoten gemacht: er stimmt in den bakchischen Jubelruf
eŒoÿ ein er fühlt sich des Gottes voll«) sowie Nisbet/Hubbard II 314–331, insbes. 319f. Horaz
stellt sich bekanntlich des öfteren humorvoll, auch auf drastische Weise, als epikureischen
Genußmenschen dar, z.B. in epist. 1, 4 (an Tibull), v. 15f.: me pinguem et nitidum bene curata
cute vises, / cum ridere voles, Epicuri de grege porcum.
53 Vgl. Catull. 68, 22 (oben in Anm. 46 ausführlich zitiert): perierunt gaudia nostra.
54 Zum Bildkomplex Fisch, Netz, Schlinge s. Grinda (2002), 1205–1209, mit unserer Stelle auf
S. 1206.
55 Im Versmaß des phalaecaeischen Elfsilblers, der hier doppeldeutig als Metron des Lobge-
dichtes oder eines Schmähgedichtes interpretiert werden kann. Kaufmann (1995), 136 setzt
168 Rainer Henke
eines Panegyricus die Ausdehnung der Herrschaft des Königs Eurich preist, der in
v. 42 persönlich angeredet wird. Im Unterschied zu Frank-Michael Kaufmann56
und anderen glaube ich nicht, daß es sich lediglich um die üblichen – wenngleich hier
widerwillig abgefaßten – Schmeicheleien handelt, sondern um eine verstellte Rede,
wie sie die Rhetorik lehrte 57. Formal gestaltet Sidonius diese poetische Lobrede
als eine übertrieben lange Aufzählung der Gesandten aus aller Herren Länder, die
dem König botmäßig sind oder seinen Beistand auf der Grundlage eines Bündnis-
vertrages erflehen, wobei zuletzt sogar der Perserkönig höchstpersönlich auftritt,
der durch die Zahlung von Schutzgeldern (v. 47: foedere sub stipendiali) eine
Allianz der Westgoten mit Konstantinopel verhindern wolle – ein völlig phantas-
tischer Einfall, den nur ein plumper ›Barbar‹ wie Eurich als Lob auffassen wird,
so suggeriert uns Sidonius zwischen den Zeilen (v. 45–54). Um noch ein durch
die unmäßige Übertreibung satirisch wirkendes Element herauszugreifen: Für die
Schilderung der grimmigen Germanenhäuptlinge, die sich nach ihren Niederlagen
gegen Eurich zum Zeichen ihrer Unterwerfung die Köpfe kahl geschoren haben,
wendet Sidonius insgesamt acht Verse auf (v. 23–30). Jene bunte Masse von Bittstel-
lern58 zögert, wie Sidonius klagt, seinen Aufenthalt am Hofe weiter hinaus (v. 55).
Wichtig erscheint mir hier noch ein Punkt, der bisher scheinbar übersehen wor-
den ist: Indem Sidonius die übrigen Germanenvölker (bzw. die Ostgoten) als von
dem Westgoten Eurich Besiegte und demütig Flehende vor Augen stellt, denkt der
Leser/Hörer unwillkürlich an jenes berühmte Stoßgebet des Tacitus angesichts der
prekären Lage des Römischen Reichs, die Germanen möchten sich doch nur wei-
terhin im Bruderkrieg gegenseitig aufreiben (Germ. 33,2). In diesem oft verkannten
Pseudo-Panegyricus 59 apostrophiert Sidonius schließlich in Anspielung auf die erste
Ekloge Vergils den Adressaten Lampridius als Tityrus 60 (so heißt dort der Rinder-
hirt, hinter dessen Maske sich gemäß der Aussagen antiker Kommentatoren Vergil
verbirgt und dem »der göttliche Jüngling« Octavian sein Landgut zurückerstattet
hat) und bezeichnet sich selbst mit impliziter Spitze gegen den König Eurich als
Die zahlreichen Referenzen auf Catull, Vergil, Horaz, Ovid sowie Juvenal und
das mit diesen Allusionen verbundene Aufleuchten der buntesten Gattungsfarben
enthüllen die geistige Heimat dieses Dichterbischofs und Epistolographen, der sich
in der Fluchtburg seiner Poesie (man möchte sie Sidoniopolis nennen62) wesenhaft
als eine intertextuelle Persönlichkeit darstellt. Sidonius’ dichterisches Ich flüchtet
sich in die poetische Tradition der imperialen Goldzeit. Diese verknüpft er in seinen
großen Kaiserpanegyriken aufs engste mit dem idealisierten Bild einer »Roma Aurea
et Aeterna« 63. Freilich nahm Sidonius als Politiker und Kleriker durchaus wahr, daß
61 Neben die mitunter resignative Selbstdarstellung des Sidonius kann man die trübe Stimmung
eines Gedichts von Gottfried Benn stellen, das den Titel trägt »Verlorenes Ich«, insbes. dessen
zweite Strophe: »Verlorenes Ich […] Die Tage geh’n dir ohne Nacht und Morgen, / die Jahre
halten ohne Schnee und Frucht / bedrohend das Unendliche verborgen –, / die Welt als
Flucht« (Hillebrand [1990], 309); ein noch düstereres Bild der Epoche als Sidonius zeichnet
Salvian von Marseille (De gubernatione Dei), der die Lasterhaftigkeit seiner Zeit als Ursache
für das Unglück und die Leiden seiner Landsleute ansieht; zu den verschiedenen Theorien
bezüglich des Zerfalls des römischen Reiches s. Demandt (1984), insbes. 54f. (zur Reichsidee
des Sidonius) sowie dens. 1989, 470–492 (Kap. IV: Deutung).
62 Vgl. zur Metaphorik der Dichtung als einem möglichen ›Weltgebäude‹ J.J. Breitinger (Criti-
sche Dichtkunst [1740]), zitiert von Jeong-Taeg Lim (1988), 45f.: »[…] denn was ist Dichten
anders, als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale
nicht in der gegenwärtigen Welt der würcklichen Dinge, sondern in irgend einem andern
möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind. Ein jedes wohlerfundene Gedicht ist darum nicht
anders anzusehen, als eine Historie aus einer andern möglichen Welt: Und in dieser Absicht
kömmt auch dem Dichter alleine der Name […] eines Schöpfers, zu, weil er nicht alleine
durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mittheilet, sondern auch die Dinge,
die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in
den Stand der Würcklichkeit hinüberbringet, und ihnen also den Schein und den Nahmen
des Würcklichen mittheilt«.
63 Hierzu Günther (1982).
170 Rainer Henke
dieses Ideal in der Realität immer mehr erschüttert wurde64. Christliche Themen
spielen in seinem poetischen Werk65 jedoch nur eine Nebenrolle, weil er persönlich
zu einer Zeit, in der sich das Christentum (auch unter den sogenannten Barbaren)
längst zur Staatsreligion aufgeschwungen hatte 66, das überkommene Bildungs-
erbe, mit dessen Hilfe er sich als Individuum wesentlich definiert fühlte, als die
entscheidende Schnittstelle zwischen Kultur und Barbarei betrachtete. Eine noch
gesteigerte Rhetorik und Realitätsferne offenbart Sidonius in seinem manierierten,
bisweilen nicht ganz zu Unrecht kritisierten Prosa-Stil: Die teils mit Attributen
überladenen Junkturen und komplizierten Perioden, teils aber auch die ›zierliche‹
und ›preziöse‹ Sprache verrätseln die Prosa des Sidonius in einem bis dahin unge-
kannten Ausmaß. Hierdurch versucht Sidonius über einen bloßen Klassizismus
hinaus die alten Meister zu überbieten, verliert aber dabei weitgehend den Konnex
mit der real gesprochenen und geschriebenen Prosa seiner Zeit, mag auch dieser
›barockale‹ Spätstil insbesondere in Gallien unter dem Einfluß des Asianismus und
der Zweiten Sophistik sehr verbreitet gewesen sein67. Trotz aller Künstelei oder
vielleicht gerade deswegen gilt er seinen Zeitgenossen, aber auch in den folgenden
Jahrhunderten68, insbesondere seinen gallischen und französischen Dichternach-
fahren69, als großer Stilist und bedeutender Poet, offenbar weil seine Rezipienten
sich ebenso gerne und aus ähnlichen Gründen in seine Sidoniopolis flüchteten.
64 Zu dieser Spannung zwischen Realität und Rhetorik zuletzt Amherdt (2004), 387 (»Conclu-
sion«): »On présente des anti-modèles – qui n’ont peut-être jamais existé –, jusqu’à perdre
le contact avec une réalité dont le lecteur a de la peine à distinguer les contours«. Kaufmann
(1995), 104f. erkennt, daß Sidonius im Unterschied zum ungebrochenen Romoptimismus
eines Rutilius Namatianus sein Rombild »der jeweiligen aktuellen politischen Situation im
Reich« anpaßt.
65 Die Briefe dagegen enthalten etliche wertvolle Nachrichten über das kirchliche Leben in der
Provinz; s. dazu Delhey (2002).
66 Zwar waren die Goten Arianer und damit Häretiker, aber ausgerechnet bei den Burgun-
dern vollzog sich in der Zeit des Sidonius, ausgehend vom Königshaus, ein Wechsel des
Bekenntnisses vom Arianismus zum Katholizismus.
67 Dazu knapp, aber gut in Auseinandersetzung mit Loyen: Norbert Delhey (1993), 20–29.
68 Zum bedeutenden Einfluß, den Sidonius als Satiriker auf das Mittelalter ausgeübt hat s.
Blänsdorf (1993), mit Lit. auf S. 122 Anm. 1–4, aber mit einer für Sidonius ungünstigen
Gegenüberstellung zu Horaz auf S. 131.
69 So scheint etwa Verlaines Sonett Langueur die Endzeitstimmung und das Barbarenbild des
Sidonius zu revozieren (v. 1f.): »Je suis l’empire à la fin de la décadence, / qui regarde passer
les grands barbares blancs …« (s. dazu Ley [1984], 205); zu Rimbaud s. oben (Anm. 33).
Eskapismus, poetische Aphasie und satirische Offensive 171
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De-Konstruktion der Ich-Identität in
Augustins Confessiones
eigenen Fehler, der Eitelkeiten, des Ehrgeizes, der Willensschwäche, der sexuellen
Neigungen. Vergleichbares ist zumindest in der abendländischen Literatur vor
Augustin nicht bekannt, oder wie Karl Jaspers sagt: »Nie zuvor hat ein Mensch
so vor seiner eigenen Seele gestanden« 4. Dabei ist der Autor eben nicht irgendein
Mensch, sondern der Kirchenvater, der Heilige, der Bischof von Hippo Regius,
der Begründer des Augustinerordens, jedenfalls aber eine historisch fassbare und
äußerst wirkungsmächtige Persönlichkeit.
Ich möchte im Folgenden in einem ersten Teil eine kurze narratologische Ana-
lyse der Confessiones vornehmen; in einem zweiten Teil möchte ich der Funktion
der Selbstdarstellung und der Bekenntnishaltung dieses Texts nachgehen, und im
dritten und letzten Teil möchte ich die Frage stellen, wie authentisch »Bekennt-
nisse« eines schreibenden Ichs überhaupt sein können bzw. wie authentisch ein
Autor über sich selbst sprechen kann.
mengeführt8. Mit Buch 11 beginnt die Darstellung der Auseinandersetzung des Ichs
mit dem Text von Genesis 1 und 2, dem ersten Schöpfungsbericht, wobei auch hier
das Ich das eigene Tun – hier nun die Interpretationsversuche – ständig reflektiert
und klar als seine Lektüren neben mehreren möglichen verstanden wissen will9.
Auch die drei exegetischen Bücher der Confessiones (11–13) haben deutlich subjekti-
ven Charakter, auch wenn die subjektive Interpretation durch ihren Bezug auf die
göttliche Wahrheit, die hinter dem Bibeltext steht, immer wieder objektiviert wird.
Für uns moderne Augustin-LeserInnen ist es selbstverständlich, dass wir zwi-
schen dem historischen Autor und dem Ich im Text unterscheiden. Wir wissen um
den Konstruktcharakter sowohl des erzählten (oder: artikulierten) Ichs wie auch
des erzählenden (oder artikulierenden/sprechenden) Ichs. Wir hüten uns davor,
in die biographische Falle zu tappen und aufgrund autobiographischer Aussagen
ohne die gebotene Vorsicht – oder überhaupt – auf den historischen Autor und
seine Intention zu schließen.
Nun macht aber der Text der Confessiones an mehreren Stellen deutlich, dass er
als ein Selbstzeugnis des historischen Autors gelesen werden soll oder will, dass wir
das im Text dargestellte Ich mit dem Autor identifizieren sollen. Bereits der sicher
genuine Titel Confessiones, im Deutschen meist übersetzt mit »Bekenntnisse«,
der sowohl als Bekenntnisse zum Glauben an Gott wie auch als Bekenntnisse
(»Geständnisse«) der eigenen Fehlbarkeit verstanden werden kann10, verspricht
geradezu einen Einblick in das Leben und die Gedanken dieser Persönlichkeit und
eine Stellungnahme, ein Bekennen zu einem bestimmten So-Sein und So-Denken.
Da zum Wort Confessiones ein Genitivattribut fehlt, dürfte bereits der antike Leser
bzw. die Leserin aus dem Titel geschlossen haben, dass der Autor des Buches auch
das Subjekt des Bekenntnisberichts sein würde, dass die Confessiones die Selbst-
bekenntnisse und Selbstzeugnisse des Bischofs von Hippo seien 11. Auch im Text
selbst wird deutlich gemacht, dass das Ich im Text mit dem Bischof identifiziert wer-
den soll 12, und der ganze Duktus der Rede lässt auf eine große Unmittelbarkeit der
Aussagen schließen: Immer wieder wird die autobiographische Erzählung durch
auktoriale Kommentare unterbrochen, mit denen der Ich-Erzähler die Darstellung
seiner eigenen Lebensgeschichte in den Büchern 1–9 aus der Perspektive der eigenen
Gegenwart heraus kritisch reflektiert, meist in der Anrede an Gott. Der Text gene-
riert den Eindruck in uns Leserinnen und Lesern, dass die Ich-Erzählung ständig
auf mögliche Abweichungen von den tatsächlichen, nicht nur äußeren Ereignissen,
sondern auch dem inneren Geschehen, d.h. den Gedanken, Wünschen, Trieben,
Ängsten usw. hin überprüft würde und dass diese Abweichungen laufend korri-
giert würden. Dieser Effekt wird verstärkt durch die minutiöse Analyse der eigenen
Fehlbarkeit und der Schwächen. Der Text vermittelt tatsächlich den Eindruck, als
sei man als LeserIn ZeugIn eines sonst streng vertraulichen Beichtgesprächs.
Eine mit den Confessiones vergleichbare Form gibt es nicht in der antiken Lite-
ratur. Autobiographische Aussagen finden sich in literarischen Texten selten und in
unterschiedlichen Funktionen, etwa in der Dichtung in Form einer Sphragis oder in
Texten mit apologetischer Funktion. Offenbar ließen sich in der klassisch-antiken
Literatur Aussagen, die den Eindruck erwecken wollen, dass sie der historische
Autor oder Sprecher über sich selbst macht, nur in bestimmten Textsorten oder an
durch Konvention bestimmten Stellen in einem Text anbringen. Einen möglichen
Grund für diese Zurückhaltung bezüglich autobiographischer Aussagen finden
wir in den methodischen Äußerungen über die Form der Ich-Darstellung histo-
riographischer Texte. Da wird das Problem diskutiert, dass die Selbstdarstellung
dem Eindruck der Objektivität abträglich sei. So wollte beispielsweise Cicero, dass
andere Autoren seine Verdienste als Konsul in einem Geschichtswerk würdigen
sollten: Dies sei glaubwürdiger als ein Bericht in der Ich-Form; man könnte ihn
sonst der Selbstverherrlichung (oder auch zu großer Bescheidenheit) bezichtigen 13.
Caesar stellte seine militärischen Erfolge in seinen Commentarii in der Er-Form
dar, was als Objektivierungsstrategie verstanden werden kann14.
Dagegen wählt Augustin nun also die Ich-Form in einer ganze 13 Bücher
umfassenden Schrift und davon in 10 Büchern die autodiegetische Erzählform
(die Ich-Erzählung, in der das Ich die Hauptrolle spielt). Die Subjektivität der
Darstellung wird noch dadurch betont, dass auf keine Zeugen verwiesen wird,
die die Erzählung beglaubigen könnten, außer auf Gott, mit dem das Sprecher-
Ich immer wieder in Dialog tritt. Die Ich-Perspektive wird durchweg beibehalten:
Immer ist es das Ich, hinter dem der historische Augustin gesehen werden soll, das
spricht, denkt und handelt und das eigene Handeln kommentiert.
Ich denke, dass es sich bei dieser betont subjektiven Schreibweise um eine Authen-
tifizierungsstrategie handelt: Der augustinische Text will gerade dadurch objektiv
und authentisch wirken, dass nicht beliebige Ereignisse, sondern ganz persönliche,
teilweise intime Erfahrungen dargestellt werden, innere Kämpfe, persönliches Ver-
sagen, unlautere Handlungen, ein Diebstahl, sexuelle Erfahrungen und Wünsche.
Keine der Ich-Figuren dieser Darstellung, sei es das erzählte Ich, sei es der Erzähler,
sei es das reflektierende Ich, wird idealisiert, nie ist das Ich ein Held und schon gar
kein Heiliger. Der Text signalisiert ein ständiges Bemühen, die erzählten Handlun-
gen des Protagonisten (des Ichs) nicht zu beschönigen, sondern auf die wahren
Motive, Absichten und im Innersten verborgen wirkenden Triebe hin zu analysie-
ren.
Als berühmtes Beispiel sei die Episode des Birnendiebstahls genannt: Hier
deckt das Erzähler-Ich schonungslos auf, dass das erzählte Ich – ›Augustin‹ als halb-
wüchsiger Junge – die Birnen deswegen gestohlen habe, weil es im Wettbewerb mit
den Gleichaltrigen (der peer group) schlicht Böses tun wollte. Ein weiteres Beispiel:
Zu Beginn des zweiten Buches schildert das Erzähler-Ich, wie das erzählte Ich
durch seine Lust auf sexuelle Abenteuer sittlich verwildert sei (auch wenn von der
aktuellen Umsetzung der Lust gar nicht die Rede ist). Ein drittes Beispiel: In seiner
Selbstanalyse in Buch 10 legt das Erzähler-Ich Zeugnis ab von seinen nächtlichen
Phantasien und feuchten Träumen.
Man könnte – mit Bezug auf Morton Bloomfields Begriff des »authenticating
realism« – von einem »psychologischen Realismus« der Erzählung sprechen 15: Die
Erzählung erhebt den Anspruch, die Gedanken, Handlungsmotive, Gefühle und
Triebe realistisch zu beschreiben und einen realitätsnahen Einblick in die Tiefen
der Psyche des dargestellten Subjekts zu geben (eine Art Reality-TV).
Diese Intimisierung der Darstellung verstehe ich also als Authentifizierungs-
und damit Beglaubigungsstrategie. Ein ähnliches Phänomen lässt sich in der
Schreibweise von Memoiren prominenter lebender Persönlichkeiten wie beispiels-
weise François Mitterands oder Bill Clintons beobachten, deren Lebensführung in
der Öffentlichkeit wegen bestimmter Vorfälle bekannt und umstritten ist, deren
Ich-Inszenierung in der Folge nur dann glaubwürdig wirkt, wenn ihr Bericht auch
Bekenntnischarakter hat: Je ausgeprägter die Bekenntnishaltung, desto authen-
tischer und glaubwürdiger wirkt die Darstellung. Der Verdacht der fehlenden
Objektivität der Ich-Aussagen und der Beschönigung wird durch ein hohes Maß
15 Vgl. dazu Rothfield (1981), bes. 219. Vgl. auch Fludernik (2006), 66f. zu Ian Watts Begriff
des stilistischen und erzähltechnischen Realismus, mit dem im Leser/der Leserin die Illusion
evoziert wird, dass die Erzählung die Wirklichkeit abbilde.
180 Therese Fuhrer
an Intimität, die sich bis zur Selbstentblößung steigern kann, aufzuheben ver-
sucht. Die inszenierte punktuelle Ehrlichkeit macht uns Leserinnen und Leser
eher geneigt, die ganze Erzählung für glaubhaft zu halten.
Kommen wir zurück zu den Confessiones. Angesichts der massiven Authen-
tizitäts-Signale dieses Textes stellt sich nun eben die Frage nach seiner Funktion
im lebensweltlichen Kontext: Warum stellt der Bischof von Hippo mehr als ein
Jahrzehnt nach seiner Hinwendung zum katholischen Glauben seinen Weg bis zu
diesem (Zeit-)Punkt in einer Erzählung dar, die er mit den genannten Signalen
authentifiziert? Und warum gibt er sich – einige Jahre nach der Ernennung zum
Bischof – als schwacher, elender Sünder und als skrupulöser Interpret des Genesis-
Schöpfungsberichts zu erkennen? Warum publiziert und verbreitet der historische
Augustin eine solche Selbstdarstellung, die der zeitgenössischen Öffentlichkeit
einen Blick in die Biographie, die Gedankenwelt und die Triebstruktur des schrei-
benden Autors und amtierenden Bischofs gewährt oder zumindest zu gewähren
verspricht?
Ich denke, dass die Wahl dieser literarischen Form durch den religionspoliti-
schen Kontext zu erklären ist. Ich verstehe den Titel Confessiones in dem Sinn als
»Bekenntnisse«, dass der historische Autor Augustin sich zu einem System philo-
sophischer und theologischer Lehrsätze oder Axiome bekennt, zum orthodoxen
christlichen Lehrsystem, zur fides catholica, der Lehre, die in der Staatskirche ver-
treten wurde und aufgrund von Konzilsbeschlüssen definiert war. Dass er dies
nicht in Form eines theoretischen Traktats, sondern in einer in der antiken Litera-
turgeschichte einmaligen Form tut, lässt sich so erklären, dass dieses Lehrsystem
ausdrücklich als Resultat einer intellektuellen Entwicklung verstanden werden soll,
als Resultat intensiver Diskussionen, Verhandlungen, Selbstreflexionen, Zweifel
und wiederholter Bibellektüren.
Doch warum muss der Bischof von Hippo ein Bekenntnis zu dem Glauben,
den er ja ohnehin ex cathedra vertritt, in dieser so markiert subjektiven Form einer
Ich-Erzählung und Ich-Darstellung schriftlich publik machen?
Die Confessiones werden in der neueren Forschung gerne als Protreptikos
verstanden in dem Sinn, dass der Bischof mit der Darstellung seines geistigen
Werdegangs und seiner Bekehrung zum katholischen Glauben und zum mönchi-
schen Leben andere Leser zu demselben Schritt anleiten wollte 16. Allerdings ist
dieser Weg ja doch mit Tränen und Leid gepflastert, und der Text verspricht kein
geläutertes Leben im Frieden mit Gott und sich selbst, sondern eine ständige Aus-
einandersetzung mit der eigenen Fehlbarkeit, und an zentraler Stelle, am Ende von
Buch 10, steht das Eingeständnis der eigenen miseria. Ich denke deshalb vielmehr,
dass der augustinische Text auch eine dokumentarische Funktion zu erfüllen hat
und zwar gerade durch seine konsequent subjektive Färbung und die Betonung
der eigenen Schwachheit.
Der erste Teil der Erzählung (Bücher 1–9) enthält die Geschichte eines begabten
Kindes und jungen Mannes, der im Alter von achtzehn Jahren sein Leben ändern
will und auf der Suche nach der Wahrheit und Weisheit sich der manichäischen
Lehre anschließt. Die Gemeinschaft der Manichäer war nach strengen Krite-
rien, ähnlich einer Sekte organisiert17. Die manichäische Religion war insbeson-
dere für die gebildete Elite attraktiv, da sie sich zwar an der christlichen Lehre
orientierte, jedoch explizit einen höheren intellektuellen Anspruch erhob. Die
Manichäer stützten sich auf die Lehrschriften Manis und bestimmte Schriften
des Neuen Testaments; das Alte Testament lehnten sie ganz ab, insbesondere die
Schöpfungsgeschichte. Mit ihrer explizit dualistischen Theologie – der Annahme
zweier gegensätzlicher göttlicher Prinzipien – lieferten sie eine rational begründete
Antwort auf die alte Frage, wie die Existenz des Bösen in der Weltordnung zu
erklären sei, die der orthodoxen christlichen Lehre von einem einzigen, allmächti-
gen und nur guten Schöpfergott große Probleme bereitete. Die Elite der Manichäer
(die electi) lebten in strenger Diät und sexueller Askese, um sich von den Elemen-
ten des Reichs der Finsternis und des Bösen zu reinigen und zur Erkenntnis der
eigenen Göttlichkeit (Gnosis) gelangen zu können.
In der Fortsetzung wird beschrieben, wie der junge ›Augustin‹ diese Lehre
immer kritischer reflektiert und sich nach neun Jahren von ihr löst und sie aufs
Schärfste angreift, um sich schließlich mit Haut und Haar dem katholischen Glau-
ben zu verschreiben. Buch 10 zeichnet ihn als zwar asketisch lebenden, aber der
göttlichen Gnade bedingungslos unterworfenen Menschen – weit entfernt von dem
Zustand der gnostischen Erleuchtung, den die Manichäer ihren electi als Folge des
asketischen Lebens versprechen. Die Bücher 11–13 sind ein Bekenntnis zum Alten
Testament und zum allmächtigen Schöpfergott, also zu einer monistischen Theo-
logie, und markieren damit eine Gegenposition gegen den manichäischen theolo-
gischen Dualismus und die manichäische Kritik am biblischen Schöpfungsbericht.
Ich bezeichne die Confessiones also insofern als Text mit einer dokumentari-
schen Funktion, als hier in drei je unterschiedlichen Komplexen von Ich-Erzählun-
gen und Ich-Aussagen dokumentiert wird, welche Position das schreibende Ich,
der Bischof von Hippo, in theologisch-philosophischen, praktisch-ethischen und
biblisch-exegetischen Fragen vertritt bzw. wie – auf welchem Weg – er zu seiner
gegenwärtigen Position gelangt ist, und diese Position wird deutlich nicht nur als
katholisch, sondern auch als anti-manichäisch gekennzeichnet. Das schreibende
Ich, der Bischof von Hippo, soll eindeutig als von der manichäischen Religion zum
katholischen Glauben bekehrter Christ identifizierbar sein.
17 Die folgenden Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf Lieu (1992), 151–191; van Oort
(1994).
182 Therese Fuhrer
Die Manichäer waren am Ende des 4. und Anfang des 5. Jhs. eine prägende
Gruppe im öffentlichen Leben des westlichen Nordafrika. Als Augustin seine
kirchliche Ämterlaufbahn zunächst als Priester antrat und dann als Hilfsbischof
und schließlich als Bischof fortsetzte, gehörten sie neben den Donatisten zu den
stärksten Gegnern der Staatskirche, zumal ihre Exponenten, die sich auch Bischöfe
nannten, hoch gebildet waren, und ihre Lehre dementsprechend in der intellektu-
ellen Führungsschicht auf große Resonanz stieß.
Weder ihnen noch den Donatisten war entgangen, dass Augustin selbst jah-
relang – nach eigenen Angaben mindestens neun Jahre lang – manichäischer Laie
gewesen war, dass er mit führenden Mitgliedern dieser Gemeinschaft in Karthago,
Rom und Mailand enge Kontakte gepflegt hatte und mit einigen auch – weiterhin –
freundschaftlich verbunden war. Er hatte offenbar selbst auch missionierend für
diese Lehre gewirkt und Leute aus seinem Freundes- und Bekanntenkreis für sie
gewinnen können18.
Augustin hatte also eine Biographie, die ihm durchaus zum Vorwurf gemacht
werden konnte. Tatsächlich finden sich bereits in Augustins’ Schriften aus den ers-
ten Jahren seines Bischofsamts Hinweise, dass seine Gegner ihm die manichäische
Vergangenheit vorhielten. Der Primas der Kirchenprovinz Numidia wollte ihn des-
halb zuerst nicht einmal zum Priester weihen19. Die Donatisten bezichtigten ihn
auch noch, als er Bischof war, des Kryptomanichäismus 20. Manichaeus war im
religionspolitischen Diskurs des vierten und fünften Jahrhunderts. zu einem regel-
rechten Schimpfwort geworden, das immer dann vorgebracht wurde, wenn ein
Gegner einen zu strengen Askesebegriff vertrat oder einer dualistischen Erklärung
der Sünde oder des Bösen bezichtigt werden konnte21. Bereits Augustins’ Schrif-
ten aus den Jahren unmittelbar nach seiner Taufe hatten klar die Zielsetzung, seine
Position in Abgrenzung von den Manichäern neu zu definieren, und die Reihe
der antimanichäischen Traktate setzt sich fort bis ins erste Jahrzehnt des fünften
Jahrhunderts 22, bis noch fast zwanzig Jahre nach seiner Taufe und zehn Jahre nach
Antritt des Bischofsamts.
Der Bischof von Hippo musste sich also offenbar als Amtsträger der Staats-
kirche von seiner langen nicht-katholischen Vergangenheit distanzieren. In dieser
Situation scheint sich der rhetorisch brillante und schreibgewandte Bischof von
Hippo dazu entschlossen zu haben, neben den theoretischen polemischen Trakta-
18 So die Adresssaten von Contra Academicos und De vera religione. Manichäer ist auch der
Adressat von De utilitate credendi, Honoratus.
19 Contra litteras Petiliani 3,19; Contra Cresconium 3,92.
20 Dazu Courcelle (1968), 238–245.
21 Dazu van Oort (1991), 199–201. Das Schimpfwort »Manichäer« blieb das ganze Mittelalter
hindurch in Gebrauch, und noch Luther, Melanchthon und Calvin wurde vorgeworfen, ein
Manichaeus redivivus zu sein.
22 Sie schließt mit Contra Faustum Manichaeum (zwischen 404 und 406).
De-Konstruktion der Ich-Identität in Augustins Confessiones 183
Mit meiner Erklärung der Funktion des Texts, die notwendigerweise auch Speku-
lationen über die Intention des schreibenden Autors enthalten, ist allerdings nicht
bewiesen, dass die »Bekenntnisse« nicht doch authentisch sein können und die
Authentizität durch die subjektive und intime Darstellung nicht nur konstruiert
ist. Die Funktionalisierung von Selbstaussagen spricht ja nicht a priori gegen ihre
Objektivität. Warum sollte die Offenheit in der Erzählung bloß Mittel zum Zweck
sein und nicht doch ehrlich und authentisch? Warum sollte die ungewöhnliche
Form der schonungslosen Selbstanalyse nicht doch einen zwar nicht direkten,
aber doch im Rahmen der literarisierten Darstellung bestmöglichen Zugang zum
Denken und Fühlen des schreibenden Ichs – zum denkenden und schreibenden
Subjekt – geben können? Ist es vielleicht gerade mit der Form der Confessiones
23 Die antimanichäische Spitze der Confessiones betont auch van Oort (1994), 136f.
184 Therese Fuhrer
einem Autor gelungen, sich selbst so zu beschreiben, wie er denkt und fühlt, also
wirklich ist? Vielleicht geben die Confessiones also tatsächlich den »Fingerabdruck«
des historischen Augustin wieder und vermitteln dadurch einen unverstellten Ein-
blick in die Psyche des Kirchenvaters.
Die Frage, ob es nicht doch eine schriftliche oder überhaupt in weitestem Sinn
mediale Form gebe, mit der sich ein Subjekt so beschreiben bzw. medial darstellen
kann, wie es ›wirklich ist‹, lässt sich ja ganz allgemein stellen und wurde ins-
besondere von den Dekonstruktivisten intensiv diskutiert und natürlich verneint.
Gegenstand ihrer Diskussionen waren immer wieder auch Augustins’ Confessiones.
Niemand anderer als Jacques Derrida hat mit dem augustinischen Selbstdarstel-
lungsmodus experimentiert und ihn sozusagen an sich selbst getestet: in einem Text
mit dem Titel Circonfession, Paris 1991 (Circonfession, Chicago 1993 in der Über-
setzung von Geoffrey Bennington) 24. Der Text komplementiert den Versuch von
Derridas Freund Geoffrey Bennington, in einer Schrift mit dem Titel Derridabase
Derridas Gedanken systematisch (wie mit einem Computerprogramm) zu erfassen
und adäquat darzustellen 25. Derridas Text Circonfession ist eine von den Autoren
so genannte Periphrase zu Derridabase, die im Buch unten an der Seite gedruckt ist,
und in der Derrida sich selbst zum Gegenstand der Ausführungen macht: Hier ist
nun die Rede von seiner jüdischen Herkunft, von seiner Beschneidung (Circonfes-
sion soll an frz. »circoncision« bzw. engl. »circumcision« anklingen), von wichtigen
Momenten in seinem Leben, von seiner Kindheit in der Rue d’Augustin in Algier,
von seiner in Algerien im Sterben liegenden Mutter usw. Eingefügt sind auch einige
Bilder aus Derridas Kindheit und aus späteren Lebensabschnitten. Der Text der
Circonfession enthält somit sehr persönliche Selbstaussagen und ist auch in einem
intimen Ton gehalten, der, wie mit ständigen Verweisen auf Augustins’ Confessiones
deutlich gemacht wird, offensichtlich an den für diese charakteristischen Ton der
Beichte und des Bekenntnisses im Gespräch mit Gott erinnern soll26. Dadurch,
dass sich die Syntax immer wieder auflöst und die Selbstaussagen bisweilen wie ein
unverständliches Gestammel wirken, verstärkt sich der Eindruck der Unmittelbar-
keit. Derrida und Bennington selbst erklären dieses Nebeneinander von Benning-
tons systematischer und luzider Darstellung von Derridas theoretischem Denken
auf der einen Seite (bzw. im oberen Teil der Druckseite) und von Derridas selbst-
entblößendem Gestammel auf der anderen Seite (bzw. unten an der Druckseite)
wie folgt: Damit solle aufgezeigt werden, dass sich der Jacques Derrida in Derrida-
27 Auf die augustinischen Confessiones nehmen auch Derridas Schriften Glas oder L’otobiogra-
phie Bezug.
28 Vgl. dazu Caputo/Scanlon (2005), 5 bzw. Derridas eigene Äußerungen, zitiert in Caputo/
Scanlon (2005), 32 f. und 37f. (Confessions and Circumfession. A Roundtable Discussion with
Jacques Derrida, moderated by Richard Kenney); Greisch (2004) 170–172; Schramm (im
Druck). Zur Frage nach den Bedingungen für die »Authentizität« einer Darstellung vgl.
auch Strub (1997), 7–17; Hügel (1997), 43–58.
29 Eine vergleichbare Skepsis gegenüber dem ›geschriebenen‹ Selbst der Confessiones äußert
Jean-François Lyotard in dem unvollendet gebliebenen Werk La confession d’Augustin (Paris
1998); dazu Nagl-Docekal/Nagl (2003), 30–38. Vgl. auch Taylor (1994) zur ästhetischen
Konzeptualisierung des Selbst bei Foucault u.a.
30 Radermacher (1985).
186 Therese Fuhrer
erfahren, aber weniger durch die Erzählung seiner Erlebnisse und die Darstellung
seiner geistigen Entwicklung – nicht einmal durch die schonungslose Darstellung
der Schwächen, das Geständnis eines Diebstahls oder fleischlicher Begierden –,
als vielmehr durch die Art und Weise, wie er schreibt, wie er mit der Technik
der Selbstentblößung sein Lesepublikum lenkt, die Darstellung seiner Tränen und
Schwächen gezielt einsetzt, um zu illustrieren, welches Menschenbild seiner Theo-
logie zugrunde liegt.
Zum Abschluss sei noch darauf hingewiesen, dass Augustin selbst über den
Konstruktcharakter sprachlicher Äußerungen reflektiert hat. In den sprachtheore-
tischen Schriften (De dialectica, De magistro, De doctrina christiana), aber auch in
den hermeneutischen Reflexionen in conf . 12 und anderswo vertritt Augustin eine
Hermeneutik, die sich im Ansatz durchaus mit poststrukturalistischen Theorien
vergleichen lässt: Ein Text nach ist Augustin ein organisiertes Zeichensystem, das
für etwas steht, das aber nicht die Intention (sententia) des Autors abbilden kann31.
Augustin selbst würde also wohl – wie Jacques Derrida – das sprachliche
Konstrukt der Confessiones als Produkt menschlichen Unvermögens, sich selbst
adäquat darzustellen, bezeichnet haben. Selbst wenn man ihn fragen könnte, ob
gewisse Aussagen nicht doch der Wirklichkeit entsprechen würden, und wenn
er die Frage bejahen und sagen würde: »Ja, das bin ich, Augustin« – selbst dann
müssten wir entsprechend seinen eigenen sprachtheoretischen und hermeneuti-
schen Äußerungen skeptisch bleiben.
Literaturverzeichnis
31 Im Unterschied zu den Dekonstruktivisten geht aber Augustin davon aus, dass es Texte
bzw. Zeichensysteme gibt (wie den Bibeltext), die auf eine Wahrheit (die göttliche Wahrheit)
hinweisen können (weil der Bibeltext ja von göttlich inspirierten Autoren verfasst ist). Dazu
Clark (1981); Schildgen (1994); Young (2004); Fuhrer (2008), 371–376 und 381–383.
De-Konstruktion der Ich-Identität in Augustins Confessiones 187
Young, Frances M., »Augustine’s Hermeneutics and Postmodern Criticism«, in: Interpreta-
tion 58 (2004), 42–55.
Zimmermann, Bernhard, »Augustinus, Confessiones – eine Autobiographie? Überlegungen
zu einem Scheinproblem«, in: Michael Reichel (Hrsg.), Antike Autobiographien. Werke
– Epochen – Gattungen, Wien 2005, 237–249.
Wege in die Moderne
Von Ariost über Dante zu Tasso
Mit dem Begriff »Moderne« ist hier ein Selbst- und Weltverhältnis des menschlichen
Subjekts gemeint, das man in der Krise der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts begründet sehen könnte und dessen erste literarische Erscheinungs-
form entsprechend die Romantik wäre. Charakteristika moderner Subjektivität
sind unter anderen: der fortschreitende Verlust sinnstiftender Traditionsmächte;
die fortschreitende Einsicht in die radikale Kontingenz und Endlichkeit menschli-
cher Kulturleistungen sowie menschlicher Individualität; der Privatisierungs- und
Verinnerlichungsprozess des Einzelsubjekts; und zuletzt und damit verbunden:
der Verlust individueller Selbst-Gewissheiten, die in traditionalen Kulturen noch
durch die Identifikation des Einzelnen mit heteronomen Sinnsystemen garantiert
waren. Mit den kulturellen Selbstverständlichkeiten zerbricht auch die subjek-
tive Selbst-Gewissheit. Was die Postmodernisten als Moderne bezeichnet haben,
war das ideologische Zerrbild der Moderne: die Illusion vom autonomen, logo-
zentrischen Subjekt, das in freier Selbstbestimmung sich selbst verwirklicht und
am Fortschritt der Menschheit arbeitet, dabei aber der Dialektik der Aufklärung
anheimfällt. Etwas komplexere Denker und vor allem Dichter der Moderne haben
immer schon gesehen, dass das moderne Subjekt zu sich selbst kommt, indem
ihm seine Welt- und Selbstgewissheiten entgleiten.
Nun handelt es sich bei diesen Veränderungen im ›Aggregatzustand‹ mensch-
licher Subjektivität um sehr langfristige Entwicklungen, die zudem nicht alle Sub-
jekte in gleicher Weise ergreifen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist in
Europa ein qualitativer Sprung eingetreten, durch den die erwähnten Charakte-
ristika moderner Subjektivität theoriefähig werden1. Spuren solcher Subjektivität
finden sich in der konkret-mimetischen Sprache der Dichtung aber schon seit dem
Die Rezeptionsgeschichte des Orlando furioso hat gezeigt, dass dieser Text durch-
gehend allegorisch-exemplarisch gedeutet werden kann (vgl. Hempfer 1989). Und
dies ist auch der Grund, warum so viele Interpretationen hinter dem komisch-par-
odistischen Litteralsinn doch einen ernsten moralischen Sinn vermuten. Schon die
Haupthandlung kreist trotz allen Abschweifungen letztlich immer wieder um den
Abwehr- und schließlich siegreichen Angriffskampf Karls des Großen und seiner
Paladine gegen die sogenannten »Heiden«. Darüber hinaus wird das Werk gera-
dezu rhythmisiert durch Sentenzen und Maximen, die jeden Canto einleiten. Die
vielen eingelegten Novellen sind zumeist als »novelas ejemplares« konstruiert, die
besonders edles oder besonders unedles menschliches Verhalten beleuchten. Und
die zahlreichen magisch-fantastischen Elemente lassen sich ebenfalls in Sinnbilder
menschlicher Seelenkräfte und deren Konflikte übersetzen.
Ein Beispiel für solch allegorisch-exemplarisches Erzählen bietet die Bezie-
hung zwischen Ruggiero und Alcina bzw. zwischen Ruggiero und Logistilla. Der
zunächst heidnische, später christlich getaufte Held Ruggiero fliegt mit dem Hippo-
gryphen auf die verzauberte Insel der schönen und nymphomanischen Fee Alcina
und ihrer ebenso schönen, aber keuschen Halbschwester Logistilla. Beide Feen
führen Krieg gegeneinander, und Ruggiero will eigentlich der guten Fee helfen,
erliegt aber doch zunächst den Reizen Alcinas, ›ver-liggt‹ sich mit ihr, bis ihm eine
weitere Fee einen Ring an den Finger steckt, der jeden Zauber bricht. Ernüchtert
sieht er, dass seine zauberhafte Alcina in Wirklichkeit alt und hässlich ist, was nun
genauso ausführlich und topisch geschildert wird wie vorher ihre Schönheit.
Danach flieht Ruggiero zur Fee Logistilla, der vernunfttriefenden, wie ihr
Name, schon leicht ironisch unterlegt, sagt, und Ruggiero erkennt, als er in die
diamantenen Mauern ihrer Burg blickt, endlich sich selbst und seine Bestimmung
als vernunft- und tugendbegabtes Wesen:
Quel che piú fa che lor si inchina e cede Was diesem Stein vor jeglichem Juwele
ogn’altra gemma, è che, mirando in esse den Vorzug gibt, ist dieses: Wer ihm naht,
[le mura], durchschaut sich selbst bis mitten in die Seele,
l’uom sin in mezzo all’anima si vede; mit allem, was er Gutes, Schlimmes hat.
vede suoi vizii e sue virtudi espresse, Drum glaubt er nicht dem Schmeichler seiner
sí che a lusinghe poi di sé non crede, Fehle
né a chi dar biasmo a torto gli volesse: noch dem, der ihm durch Tadel Unrecht tat,
fassi, mirando allo specchio lucente und wird demnach, im Spiegel dieser Scherben
se stesso, conoscendosi, prudente. sich selbst erkennend, Klugheit sich erwerben:
(X, 59; Übersetzungen in Anlehnung an die in der Bibliographie aufgeführten Werke)
192 Paul Geyer
Wenn Ariost seine Allegorien, Sentenzen und Exempla ernst nähme, wäre der
Orlando furioso heute lange vergessen. Die Raffinesse des Werks besteht nun aber
darin, dass solche eindimensionalen Deutungsmuster immer wieder anzitiert und
dann ironisch dekonstruiert werden. Dementiert wird Ruggieros Bekehrung zu
Tugend und Vernunft sofort anschließend in der nächsten Episode. Auf seinem
Rückflug von Alcinas und Logistillas Insel kommt er ganz zufällig an dem Felsen
vorbei, an dem die schöne Angelica gefesselt und nackt einem Meerungeheuer
zum Opfer dargebracht werden soll. Ruggiero schlägt das Ungeheuer mit seinem
Zauberschild in die Flucht, lässt Angelica – nackt, wie sie ist – hinter sich aufs
Pferd steigen, erinnert sich unterwegs kurz an seine Verlobte Bradamante, lenkt
das Pferd an einen einsamen Lustort und schickt sich an, Angelica zu vergewalti-
gen. Der Versuch misslingt, weil Ruggiero nicht schnell genug aus seiner Rüstung
herauskommt und Angelica so die Gelegenheit findet, den Zauberring, den Rug-
giero ihr vorher zum Schutz gegen Verzauberung gegeben hat, in den Mund zu
stecken. Ruggiero hatte im Eifer des Gefechts nicht mehr daran gedacht, dass der
Ring unsichtbar macht, wenn man ihn in den Mund steckt, und Angelica kann
entkommen. Abschließend kommentiert der Erzähler das Geschehen mit einer
Sentenz:
Quantunque debil freno a mezzo il corso Ein schwacher Zaum vermag zwar oft zu wehren
animoso destrier spesso raccolga, im stärksten Lauf des Rosses wildem Mut;
raro è però che di ragione il morso doch der Vernunft Gebiss zwingt umzukehren
libidinosa furia a dietro volga, gar selten nur die lustentbrannte Wut,
quando il piacere ha in pronto; wenn das Vergnügen winkt.
(XI, 1)
Die Vernunftlehre, die als moralischer Anspruch aus der Logistilla-Episode zu zie-
hen war, wird durch diese Sentenz am Lustprinzip gemessen und für zu rigoristisch
befunden. In diesem Falle zerstört also eine Sentenz die allegorische Botschaft aus
der Alcina-Logistilla-Episode. Ich will am nächsten Beispiel zeigen, wie umgekehrt
eine Sentenz, die inhaltlich eine ähnliche Tendenz hat wie die eben zitierte, nun
ihrerseits durch den narrativen Zusammenhang, in dem sie steht, ironisch relati-
viert wird. Es handelt sich um den alten Topos, dass Liebe blind macht bzw. irreale
Illusionen erzeugt:
Quel che l’uom vede, Amor gli fa invisibile, Wenn wir verliebt sind, sehn wir Unsichtbares,
e l’invisibil fa vedere Amore. und was wir sehn, kommt unsichtbar uns vor.
wenn das Vergnügen winkt.
(I, 56)
Mit dieser Sentenz schließt der Erzähler eine der vielen Episoden vorläufig ab, die
sich um Angelicas Flucht kreuz und quer durch Europa vor den sie begehrenden
Rittern ranken. Angelica will in ihr Königreich Catai im Fernen Osten zurückkeh-
ren und sucht zu diesem Zwecke einen starken und verlässlichen Begleiter, der ihr
Wege in die Moderne 193
sexuell nicht zu nahe treten würde. Und da entscheidet sie sich nun für Sacripante,
den König des ebenfalls im Fernen Osten liegenden Circassien, der früher auch
schon vergeblich um sie geworben, sich dabei im Gegensatz zu anderen aber immer
respektvoll verhalten hatte. Sacripante, der sie immer noch liebt, ist allerdings etwas
argwöhnisch, was Angelicas Jungfräulichkeit betrifft, da sie inzwischen unter der
Obhut Orlandos und anderer durch die Kriegswirren dieser Welt gezogen war.
Angelica versichert ihm, dass da nichts gewesen sei mit den anderen, was der
Erzähler folgendermaßen kommentiert:
Forse era ver, ma non però credibile Dies konnte wahr sein, doch nicht glaublich war es
a chi del senso suo fosse signore. für jemand, der nicht den Verstand verlor.
(I, 56)
Sacripante glaubt Angelica aber, weil er ihr glauben will, und daran schließt Ariost
dann das vorletzte Zitat mit der Sentenz über die blind machende Liebe an. Die
Pointe der ganzen Episode setzt Ariost erst viel später in seinem Werk (XIX, 33),
wenn Angelica sich in Medoro verliebt, den sie auch heiratet und der, wie es dann
heißt, die Blüte ihrer Jungfräulichkeit pflücken darf. Damit wird im nachhinein
der Gemeinplatz von der blind machenden Liebe ironisch aufgehoben, da das
Unglaubliche, an das der liebestolle Sacripante glauben wollte, in diesem Falle doch
der Wahrheit entsprach, ihn die Liebe also nicht blind, sondern sehend machte.
Auf diese Weise verfährt Ariost mit allen Sentenzen, Allegorien und Exem-
peln im Orlando furioso, ja zuletzt, wie wir gleich sehen werden, sogar mit dem
höheren Sinn der Haupthandlung selbst: für jede verallgemeinernde Sentenz gibt
es einen Casus, der sie widerlegt, für jedes Exemplum gibt es ein Anti-Exemplum,
für jeden allegorischen Sinn einen Wider-Sinn. Frauenlob – das zwar überwiegt –
steht herbe Frauenschelte gegenüber. Eingefügte Novellen von treulosen Männern
und Frauen wechseln sich ab mit Novellen, in denen musterhafte Treue darge-
stellt wird. Fürchterliche Bösewichter stehen neben selbstlosen Verkörperungen
der Tugend. Hypertrophes Fürstenlob wird an einigen Stellen sehr deutlich von
Herrschertadel konterkariert. Allein schon die Tatsache, dass der nicht nur in Lie-
besdingen zweifelhafte Held Ruggiero zum Stammvater der Ferrareser Dynastie
der Este stilisiert wird, wirft ein ambivalentes Licht auf die Enkomiastik.
Aufgrund dieser ambivalenten Grundstruktur des Werks haben Albert Gier
und sinngemäß auch Klaus Hempfer (1989) den Orlando furioso »die Dichtung
des Sowohl – als auch« genannt. Da aber die Dichotomien keiner Aufhebung
zugeführt werden, sondern sich in einer einfachen wechselseitigen Negationsbe-
wegung erschöpfen, erscheint es mir eher angebracht, von einer Dichtung des
»Weder – noch« zu sprechen. Und dies gilt eben auch für den vordergründig noch
heilsgeschichtlich abgesicherten Sinn der Haupthandlung des Furioso. Der gat-
tungs- bzw. stofftypisch positive Ausgang der Haupthandlung vermag es nämlich
im nachhinein nicht mehr, die disparate Moral- und Lebenslehre der eingelegten
194 Paul Geyer
Erzählungen und Allegorien sowie die Irrungen und Wirrungen der Helden im
vordialektischen Sinne des Wortes »aufzuheben«.
Die Helden verfolgen subjektiv ihre eigenen Interessen und lassen sich nicht
mehr in höhere epische Gemeinschaftsunternehmungen einbinden. Sie duellie-
ren sich lieber, als sich der Disziplin offener Feldschlachten zu unterwerfen, und
Liebesangelegenheiten sind ihnen allemal wichtiger als Karls des Großen Abwehr-
kampf gegen die Mauren. Orlando findet seinen aus Liebe zu Angelica verlorenen
Verstand erst wieder, als der Kampf um Frankreich schon entschieden ist. Orlan-
dos Cousin Rinaldo, der in Britannien dringend benötigte Hilfstruppen für das
von den »Heiden« belagerte Paris werben soll, zieht es vor, zunächst einmal in
Schottlands Wäldern nach Aventiuren zu suchen. Orlandos Freund Brandimarte
eilt mitten aus der Entscheidungsschlacht weg, um andernorts einen ihm wichtiger
scheinenden Zweikampf zu bestehen. Der Paladin Astolfo fliegt lieber auf dem
Hippogryphen durch die Welt, um seine Neugier zu stillen, als zu Karls Heer zu
eilen. Ruggiero konvertiert erst im 41. von 46 Gesängen, und noch dazu quasi
unter Zwang, wie der ihn taufende Eremit zürnend hervorhebt, weil nur die Angst
vor dem Ertrinken bei einem Schiffbruch ihn dazu brachte, dem Christengott
als Gegenleistung für die Errettung die Taufe zu geloben. Und sein militärischer
Seitenwechsel kommt auch viel zu spät, um noch kriegsentscheidend wirken zu
können. Karl siegt zuletzt vor allem deswegen über die Heiden, weil deren Hel-
den genauso unzuverlässig sind wie seine eigenen. Karl siegt zufällig über die
Heiden.
Auf der Ebene der »Histoire« steigt der durch keinen providentiellen Hinter-
sinn mehr gebändigte Zufall zum obersten Organisationsprinzip des Werks auf.
Er regiert diese Welt, angefangen bei den Beziehungen einzelner bis zum nur
noch scheinbar eschatologischen Endkampf zwischen Christen und Heiden. Das
spiegelt sich auch darin, dass die epische Haupthandlung, der Kampf der Chris-
ten gegen die sogenannten Heiden, nurmehr scheinbar die Haupthandlung des
Orlando furioso ist. Weniger als 900 von den insgesamt ca. 5000 Strophen des
Werks sind dieser Haupthandlung gewidmet, die ursprüngliche Haupthandlung
des Epos ist hier nur mehr ein Handlungsstrang neben anderen, sie nimmt selbst
Episodencharakter an und wird reduziert auf die Funktion, die anderen Hand-
lungsstränge locker zusammenzuhalten.
So verlässt Orlando im Canto VIII in einer militärisch nahezu ausweglosen
Situation das belagerte Paris, um sich wieder einmal auf die Suche nach Angelica
zu machen, die ihm in einem Traum erschienen war und um Hilfe gerufen hatte.
Karl bleibt nichts übrig als hilflos zu lamentieren, während Orlando als Sarazene
verkleidet zunächst im Sarazenenheer, dann in ganz Frankreich und Europa nach
Angelica sucht. Erst im Canto XII kommen Orlando und der Erzähler ganz
zufällig einmal wieder vor dem besetzten Paris vorbei und treffen dabei auf eine
inzwischen eingetroffene sarazenische Eliteeinheit:
Wege in die Moderne 195
Orlando a caso ad incontrar si venne Zufällig stößt (wie ihr bereits erfahren)
(come io v’ho detto) in questa compagnia, Graf Roland nun auf dieses Heergeleit,
cercando pur colei, come egli era uso, indem er, wie er pflegt, der nachgegangen,
che nel carcer d’Amor lo tenea chiuso. die ihn im Liebeskerker hält gefangen.
(XII, 73)
Im Ur-Roland, der Chanson de Roland (um 1100) herrscht die christliche Provi-
denz, die die Weltgeschichte teleologisch zurichtet. Und in dieser durch göttliche
Vorsehung garantierten Sinnhaftigkeit der Welt fühlt sich auch das Einzelindi-
viduum aufgehoben. Der epische Held bestätigt durch seine Tathandlungen die
ihm vorausgehende Sinnhaltigkeit seiner Gemeinschaft. Noch in der Artusepik
bestätigt der Held den alten Sinn in der je neu von ihm zu bestehenden Aventiure.
Der Held sucht die Aventiure, in der er sich und die Werte seiner Gemeinschaft
beweisen kann, aber die Aventiure sucht auch den Helden, sie wird auf den Hel-
den zukommen (vulg.-lat. »adventura«), sie fällt ihm nicht »zufällig« zu. Aber im
Falle Orlandos klaffen die Sinnsuche des Einzelnen und der Sinn der Gemeinschaft
unheilbar auseinander.
Orlando befindet sich auf seiner sinnlosen Suche nach Angelica, die ihn nicht
will und die zudem »Heidin« ist und es bis zuletzt auch gerne bleiben wird.
Und auf dieser sinnlosen Suche stößt Orlando nun plötzlich und zufällig auf die
heidnische Eliteeinheit vor Paris. Was nun folgt wirkt genauso sinnlos, wie alles,
was Orlando tut. Er dringt unerkannt ins Heidenlager ein, um nach Angelica zu
suchen, und will sonst eigentlich überhaupt keinen Ärger. Aber da, ohne ihn als
Orlando zu erkennen, fordert ihn ein übermütiger junger sarazenischer Ritter zum
Duell, eher zum Spaß und als Mutprobe. Doch Orlando versteht überhaupt keinen
Spaß und tötet den Sarazenen kurzerhand. Im Anschluss bricht ein Tumult aus
im Sarazenenlager, alle fallen über Orlando her, er richtet ein Blutbad unter ihnen
an und hört nicht eher auf, sie niederzumetzeln, als bis er die ganze Eliteeinheit
aufgerieben hat.
Wenn Orlando und die anderen christlichen Helden immer so für Carlomagno
kämpften, wäre der Krieg bald gewonnen. Aber Orlando kämpft nur zufällig
so, weil er von jenem vorwitzigen Sarazenen gereizt wurde. Zwar fügt er den
Sarazenen hier schwere Verluste zu, aber das interessiert ihn eigentlich überhaupt
nicht. Er hat nur seine persönliche fixe Idee Angelica im Kopf und zieht gleich
danach wieder weiter und überlässt Paris und Karl ihrem Schicksal. Rolands und
der anderen Helden Abenteuer sind Anti-Aventiuren. Was die Figuren im Orlando
furioso suchen, finden sie nicht, und was sie nicht suchen, finden sie zufällig. Und
was sie suchen, hat auch keinen höheren Sinn mehr, erscheint arbiträr. Funktion
des klassischen Epos und der klassischen Metaphysiken war es, Kontingenz und
Arbitrarität zu domestizieren, zu eskamotieren, zu verdrängen. Nun aber tritt die
Kontingenz ihre Herrschaft über die Welt des modernen Menschen an. An die
Stelle der Providenz tritt der folgenlose Scherz des Schicksals:
196 Paul Geyer
Poi che Fortuna ebbe scherzato un pezzo, So scherzt das Glück zu Anfang beiderseitig,
dannosa ai Mori ritornò da sezzo. doch endlich wird’s den Mohren widerstreitig.
(XVI, 68)
Ersatz für den Verlust göttlicher Providenz auf der »Histoire«-Ebene aber leistet
die dichterische Vorsehung auf der Ebene des »Discours«. Die häufigen, abrupten
und willkürlichen Szenenwechsel und Schnittstellen zwischen den vielen Hand-
lungssträngen reproduzieren auf der »Discours«-Ebene die absolute Herrschaft
des Zufalls auf der Ebene der »Histoire«. An diesen Stellen gibt der Erzähler ande-
rerseits auch sehr deutlich zu erkennen, dass er die Fäden der Handlungen seiner
fiktiven Welt quasi-teleologisch in der Hand behält. Einen jener abrupten erzähle-
rischen Szenenwechsel motiviert er zum Beispiel wie folgt und nimmt dabei schon
die poetologische Konstruktion von Pirandellos Sei personaggi (1921) vorweg:
Di questo altrove io vo’ rendervi conto; Ein andermal sollt ihr davon erfahren;
ch’ad un gran duca è forza ch’io riguardi, denn ich muss jetzt nach einem Herzog sehn,
il qual mi grida, e di lontano accenna, der winkt und ruft, auf ihn doch auch zu passen
e priega ch’io nol lasci ne la penna. und in der Feder ihn nicht ganz zu lassen.
(XV, 9)
Hinter der Ironie tritt der Dichter als Demiurg hervor, der in seiner Dichtung Ersatz
schafft für die transzendental obdachlos werdende Welt. Die Frage ist allerdings,
ob der Orlando furioso diese Verheißung selbst schon erfüllt. Das allegorisch-exem-
plarische Dichten liquidiert sich im Hauptstrang der Handlung wie auch in den
eingelegten Aventiuren, Novellen und Sentenzen von selbst. Aber auf der Ebene
metafiktionaler Ironie und Parodie kann man als Dichter auf die Dauer nicht ste-
henbleiben. Auch hier herrscht die Struktur des »Weder – noch«: Weder kann
man offensichtlich zu Ariosts Zeiten noch allegorisch-exemplarisch erzählen, weil
das Erzählen sein Sinnzentrum und die Subjekte ihre personale Mitte verloren
haben, noch kann man vorläufig anders erzählen, als das allegorisch-exempla-
rische Erzählen ironisch-parodistisch zu umspielen. Ariost dreht sich im Kreis
von Rekonstruktion und parodistischer Dekonstruktion der traditionellen Sinn-
stiftungssysteme. Eine Parodie von sinnentleerten Erzählmustern aber muss auf die
Dauer steril wirken. Ariost fasst die paradoxe Selbstaufhebung des Parodistischen
selbst wieder in eine Allegorie.
Im 34. und 35. Gesang unternimmt Astolfo eine Jenseitswanderung, die unschwer
als Parodie auf Dantes Divina Commedia zu erkennen ist. Nun erfüllt ja auch
eine Parodie traditionellerweise die Funktion eines gattungstechnischen »Sowohl
Wege in die Moderne 197
– als auch«: Eine parodistische Umkehrung zerstört die parodierte Gattung nicht,
vielmehr koexistieren seit Beginn der Überlieferung ernste Gattungen und ihre
Parodien problemlos, ja man möchte fast sagen notwendigerweise neben- und
miteinander. Und deshalb müssen parodistische Ritterromane wie der Orlando
furioso das Ethos ernster Ritterepik keineswegs liquidieren, ja nicht einmal relati-
vieren. Aber in Bezug auf die Divina Commedia funktioniert solch traditionelle
Parodie nicht, weil dieses Werk keiner literarischen Gattung zugerechnet werden
kann. Als einzigartige summa christlich-mittelalterlicher Weltanschauung erträgt die
Divina Commedia weder Imitationen noch Parodien. Eine Parodie auf die Divina
Commedia verfällt der Weder-noch-Struktur, in der sich Parodie wie Parodiertes
wechselseitig zersetzen.
Sehen wir genauer hin: Im Gegensatz zu Dante ist Astolfo ohne Führer im
Inferno unterwegs und muss wegen des beißenden Rauchs schon bald umkehren.
Der erste und einzige Kreis der Hölle, den Astolfo betritt, ist als Parodie auf
Dantes »Cerchio die Lussuriosi« gestaltet, den Kreis derer, die wie Paolo und
Francesca wegen mangelhafter Beherrschung ihrer sexuellen Triebhaftigkeit dazu
verdammt sind, auf alle Ewigkeit in der Finsternis von einem Orkan durch die
Lüfte gewirbelt zu werden, der als »contrapasso« die ungebändigten sinnlichen
Triebe symbolisiert. Was Ariosts Astolfo zunächst im Inferno zu sehen bekommt
(und mehr wird er auch nicht zu sehen bekommen) ist ein weiblicher Kadaver,
der wie ein Gehenkter am Galgen oder ein Schinken im dichten Rauch hängt, –
so weit stimmt die Parallele zu Dante wenigstens noch ungefähr. Aber das ändert
sich sehr schnell, als die verdammte Seele erzählt, weswegen sie hier hängen muss:
E cominciò: »Signor, Lidia sono io, »Herr, ich bin Lydia«, spricht der Geist,
del re di Lidia in grande altezza nata, »entsprossen
qui dal giudicio altissimo di Dio vom Lydierkönig in erhabnem Stand,
al fumo eternamente condannata, auf ewig nun von diesem Rauch umschlossen,
per esser stata al fido amante mio, seit Gottes Strafgericht mich her gebannt,
mentre io vissi, spiacevole et ingrata. weil ich vordem, als ich des Lichts genossen,
D’altre infinite è questa grotta piena, dem treuen Freund undankbar widerstand.
poste per simil fallo in simil pena. Von andern voll ist dieser Ort der Qualen,
[…] die gleich’ Vergehn mit gleicher Marter zahlen.
Qui presso è Dafne, ch’or s’avvede quanto […]
errasse a fare Apollo correr tanto […]«. Auch Daphne muss hier ihre Schuld erkennen,
dass sie Apollo zwang, so weit zu rennen«.
(XXXIV, 11–12)
Bestraft werden also bei Ariost nicht diejenigen, die aus sexueller Lust gesündigt
haben, sondern ganz im Gegenteil diejenigen (Frauen, aber auch Männer), die
ihre Verehrer nicht erhört haben. Besonders krass wirkt dabei die Umwertung
des Daphne-Mythos: Bei Ovid konnte die Nymphe Daphne den Nachstellun-
gen des Gottes Apollo nur dadurch entkommen, dass sie von ihrem Vater, dem
198 Paul Geyer
Flussgott Peneios, als Apollo sie vergewaltigen wollte, in letzter Sekunde in einen
Lorbeerbaum verwandelt wurde. Und hier, bei Ariost, wird es ihr nun als Schuld
angerechnet, dass sie vor Apollo davonlief bzw. dass sie Apollo zwang, ohne Erfolg
hinter ihr herzulaufen.
Diese Episode aus Astolfos Jenseitswanderung hat noch die Struktur einer
traditionellen Parodie, einer Parodie mit Sowohl-als-auch-Struktur, die mit dem
Parodierten friedlich koexistiert. Dies kann in diesem Falle nur funktionieren, weil
sich die Parodie hier nicht in erster Linie gegen die Divina Commedia richtet,
sondern gegen die Petrarkistische Liebeslyrik. Damit ist die Voraussetzung einer
gelingenden Parodie gegeben, nämlich das Sich-Abarbeiten an den Normen einer
bestehenden Dichtungsgattung und nicht an einem in sich geschlossenen metaphy-
sischen Weltsystem. Auch dass Astolfo im Anschluss an sein Gespräch mit Lidia
fluchtartig das Inferno verlassen muss, weil er im dichten Rauch einfach keine
Luft mehr bekommt, und sich, draußen angekommen, in einer Quelle penibel
von Kopf bis Fuß den Ruß der Hölle abwäscht, ist als solch harmlose Variante
des Parodistischen anzusehen. Ariost wendet dabei eine Technik der Parodie-
rung an, die man realistische Konkretisierung des Allegorischen nennen könnte.
Dadurch wird das Allegorische seines höheren oder tieferen Sinnes beraubt und
auf sein konkret-bildliches Substrat reduziert. Dies ist eine der klassischen Ver-
fahrensweisen des Parodistischen, die den tieferen Sinn des Allegorischen gerade
nicht ernsthaft beschädigt, da er nur vorübergehend suspendiert wird und die Par-
odie ihren Unernst gleichsam ostentativ vor sich herträgt. Bei anderen Formen
unernster Distanzierung von ernsten Inhalten der Divina Commedia überschreitet
Ariost aber die Toleranzgrenzen traditioneller Parodie, weil er die Eckpfeiler des
Normsystems selbst angreift.
Nach seinem Kurzbesuch in der Hölle fliegt Astolfo auf seinem Flugpferd Ippo-
grifo am Purgatoriumsberg entlang in die Höhe – ohne die großen Mühen, die
Dante sein Aufstieg gekostet hat – direkt ins irdische Paradies. Dantes Aufenthalt im
Irdischen Paradies in den Gesängen 28 bis 33 des Purgatorio stellt den Höhepunkt,
die höchste Konzentration allegorischen Dichtens in der Divina Commedia über-
haupt dar. Im Zentrum der Darstellung des Irdischen Paradieses bei Dante steht
ein allegorischer Triumphzug (»trionfo«) der Kirche, der Heilsgeschichte und der
katholischen Orthodoxie. Und Dante findet den Triumphzug und das ganze Irdi-
sche Paradies so überirdisch schön, dass er mit Bitterkeit des Sündenfalls gedenken
muss, der die Menschheit und damit auch ihn selbst solcher Schönheiten beraubte:
sotto il qual se divota fosse stata, durchaus allein den Schleier lüften wollen.
avrei quelle ineffabili delizie Wenn sie ihm fromm sich unterworfen hätte,
sentite prima e più lunga fiata. so hätt ich jene unsagbaren Freuden
viel früher schon und lange Zeit erfahren.
(Purg. XXIX, 22–30)
Schon die Tatsache, dass Astolfo im Irdischen Paradies ein Gästezimmer zugewie-
sen und sein Ippogrifo reichlich Hafer bekommt, stellt eine grenzwertige Banali-
sierung der Danteschen Allegorie dar. Darüber hinaus aber isst Astolfo Früchte
aus dem Paradiesgarten, die ihm so gut schmecken, dass er nun den Tabubruch
Evas und Adams, als sie vom Baum der Erkenntnis aßen, in milderem Lichte sieht
(die Übersetzung von Gries verharmlost hier etwas). Was natürlich im Lichte der
christlichen Orthodoxie eine Ungeheuerlichkeit darstellt, weil Astolfo bzw. Ariost
damit die Erbsünde relativieren, auf der das gesamte christliche Heilsgeschehen auf-
baut. Hier hört der parodistische Spaß auf und schlägt in den Ernst umwertender
und neuwertender Zersetzung um. Davon kann aber auch die Parodie selbst nicht
unberührt bleiben. Die parodistische Energie hat sich im Laufe der Jenseitsreise
Astolfos gleichsam erschöpft und schlägt zuletzt in existenziellen Ernst um.
Den Abschluss von Astolfos Jenseitsreise bildet ein Besuch im Paradiso, wo er
auch wieder nur die erste Himmelssphäre, den Mondhimmel, besucht. Für seine
Mondfahrt erhält Astolfo dann sogar doch noch einen hochkarätigen Führer:
Johannes, »lo scrittor de l’oscura Apocalisse / den Verfasser der dunklen Apoka-
lypse« (XXXIV, 86, 2). Und dieser bietet Astolfo und dem Leser zunächst auch
noch eine Teleologie ex post für dessen Irrfahrten auf der Erde und im Universum
an, mit der er die Entfesselung der Kontingenz im Orlando Furioso noch einmal
rückgängig zu machen verheißt. Höherer Endzweck der Weltreise Astolfos sei es
gewesen, am Schluss auf dem Mond im Tal der verlorenen Dinge und enttäuschten
Hoffnungen Orlandos verlorenen Verstand, der dort in einer Flasche aufbewahrt
wird, zurückzuholen, damit Orlando im Endkampf gegen die Sarazenen kriegs-
200 Paul Geyer
entscheidend eingreifen könne. Astolfo packt dann auch die Flasche mit Orlandos
Verstand ein, allerdings haben wir ja schon gehört, dass später, als er Orlando
seinen Verstand tatsächlich wieder einflößt, der Krieg mit den Sarazenen schon
entschieden ist und damit die rekonstruierte Teleologie ins Leere läuft.
Aber auch schon auf dem Mond destruiert Ariost bzw. sein Sprachrohr Johan-
nes alle möglichen Teleologien a priori und a posteriori durch die Neudeutung der
Lethe-Fluss-Allegorie aus Dantes Irdischem Paradies. Und zwar destruiert Ariost
Dantes Lethe-Fluss-Allegorie hier mit den Mitteln einer ernstgemeinten Allego-
rie selbst, vor allem aber mit einer theoretisch-poetologischen Ausdeutung dieser
seiner eigenen Allegorie, durch die er die Grenzen des allegorischen Diskurses
überhaupt aufzeigt und den gemeinsamen normativen Boden mit Dante endgültig
verlässt.
In Dantes Irdischem Paradies durchschwimmen die im Purgatorio gereinigten
Seelen den Lethe-Fluss, und trinken in dessen köstlich-klarem Wasser das Verges-
sen ihrer Sünden. Ariost situiert Lethe nicht im Irdischen Paradies, sondern auf
dem Mond, aber das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist, dass bei Ariost
Lethe ein trüber, schlammiger Fluss ist, in den kleine Schildchen mit den Namen
der soeben Verstorbenen geworfen werden, manche aus Blech, manche aus Sil-
ber, manche aus Gold. Nicht die Seelen der Verstorbenen also durchschwimmen
Lethe, um das Vergessen ihrer Sünden zu trinken und dann ins ewige Leben ein-
zugehen, sondern nur ihre Namensschildchen werden hineingeworfen, von den
Seelen selbst ist gar nicht mehr die Rede. Die meisten dieser Namensschilder aber
versinken sofort und für immer im Schlamm »dell’eterno oblio / des ewigen Ver-
gessens« (XXXV, 19). Von hunderttausend schwimmt nur eines noch eine Weile
oben, und von diesen wenigen wiederum wird sehr selten eines, bevor es auch
untergeht, von Schwänen herausgefischt und in den Tempel der Unsterblichkeit
gebracht. Und Ariost lässt den Evangelisten Johannes dann die – scheinbar leicht
zu durchschauende – Allegorie auch selbst auflösen:
Ma come i cigni che cantando lieti Doch wie der Schwan zu jenen heil’gen Stätten
rendeno salve le medaglie al tempio, die Tafeln trägt mit fröhlichem Gesang
cosí gli uomini degni da’ poeti so werden würd’ge Menschen von Poeten
son tolti da l’oblio, piú che morte empio. entrissen des Vergessens hartem Zwang.
Oh bene accorti principi e discreti, O kluge Fürsten, die es wohl erspähten,
che seguite di Cesare l’esempio, die ihr befolgtet Cäsars weisen Gang
e gli scrittor vi fate amici, donde und machtet die Autoren euch gewogen,
non avete a temer di Lete l’onde! ihr brauchet nicht zu fürchten Lethes Wogen!
(XXXV, 22)
Cesare steht hier für Augustus, der sein Fortleben und seinen Nachruhm vor allem
Vergil zu verdanken habe. Funktion des Lethe-Flusses ist nicht mehr die Reinigung
der erlösten Seelen von der Erinnerung an ihre Sünden, sondern die restlose Tilgung
irdischer Memoria, die bereits als einzige Art des Fortlebens erscheint. Hier und
Wege in die Moderne 201
im folgenden geht nun aber des Evangelisten Johannes Ausdeutung der Allegorie
von Lethe, den Namensschildchen und dem Tempel der Unsterblichkeit über den
gleichsam materialen Gehalt der Allegorie hinaus und zeigt damit an, dass der
Diskurs des Allegorischen selbst sich erschöpft hat. Allein die Dichter, heißt es
in Vers 3 und 4 des letzten Zitats, verheißen Erlösung von der Auslöschung im
Vergessen, das schlimmer ist als der Tod, der damit indirekt für endgültig erklärt
wird (Gries übersetzt »piú che morte empio / schlimmer als der Tod« in Vers 4
nicht). Fürsten, die sich nicht als Kunstmäzene betätigen, bezeichnet Johannes als
»ignoranti«:
Credi che Dio questi ignoranti ha privi Gott selbst hat diesen des Verstandes Gabe
de lo’ntelletto, e loro offusca i lumi; geraubt und ihr Gesicht umhüllt mit Nacht
che de la poesia gli ha fatto schivi, und, dass der Tod sie ganz zu eigen habe,
acciò che morte il tutto ne consumi. der Dichtkunst Hass in ihnen angefacht.
Oltre che del sepolcro uscirian vivi, Sie würden lebend steigen aus dem Grabe,
ancor ch’avesser tutti i rei costumi, ward lastervoll ihr Leben auch verbracht;
pur che sapesson farsi amica Cirra, ja, machten sie zu Freunden sich die Barden,
piú grato odore avrían che nardo o mirra. anmut’ger wär ihr Duft als Myrrh und Narden.
(XXXV, 24)
Johannes reiht sich im zweiten Vers des Zitats unter die »scrittori« wie Vergil und
Homer ein, von denen im oben zitierten vorletzten Vers der Oktave 22 dieses
XXXV. Gesangs die Rede war. Und er fügt in diesem Zitat hier selbstsicher hinzu,
dass Christus ihm für seine Darstellung im Evangelium und in der Apokalypse
durchaus dankbar sein könne (die Übs. schwächt wieder etwas ab). Und wenn
Christus hier in eine Reihe mit Augustus, Aeneas und Achill gerückt wird, deren
202 Paul Geyer
Ruhm die Dichter stifteten, dann steigt zuletzt Johannes selbst und damit die
Dichtung auf zur Erlöserin vom Tode. Die Frohe Botschaft wird zur Botschaft der
Dichtung, der Dichter selbst setzt sich an die Stelle des Weltenrichters und schafft in
seinen Werken Ersatz für die leer werdende Transzendenz. Was als Parodie auf die
Divina Commedia begann, ist zu deren kaum mehr verhülltem, sehr ernsthaftem
poetischen und poetologischen Widerruf geworden. Sinnzentrum der Welt ist nicht
mehr der göttliche Heilsplan, sondern das schöpferische Dichter-Ich.
Die Parodie hat das parodierte Wertsystem zersetzt und damit selbst das Prin-
zip ihrer Wirksamkeit zerstört. Wie die Dichtung der Zukunft allerdings an den
dann rein irdischen Sinnstiftungsprozessen teilhaben wird, muss bei Ariost noch
offen bleiben, zumal seine allegorische Destruktion der Danteschen Lethe-Allego-
rie zuletzt auch die Defizite seines eigenen allegorischen Diskurses vorführt und in
den theoretisch-poetologischen Meta-Diskurs übergeht.
Ariost führt die Dichtung bis an die Schwelle, wo das Alte nicht mehr trägt,
aber das Neue noch kaum sichtbar ist. Er dreht sich im Kreis von Parodie, Selbstde-
struktion der Parodie, Rekonstruktion der Parodie und metapoetischen Passagen,
die eine neue Poetik und deren waltende Kraft beschwören, ohne diese schon rea-
lisieren zu können. Eine andere, neue Art des Erzählens zeichnet sich im Furioso
erst in Ansätzen ab. Ariost kündigt etwas an, was Tasso dann einlöst.
Tassos Gerusalemme liberata als Ganzes ist als Allegorie deutbar und gedeutet
worden, zuallererst von Tasso selbst; Luigi Derla trägt die verschiedenen Belege
zusammen. Es liegt nahe, ein Epos von der Eroberung Jerusalems im ersten Kreuz-
zug allegorisch zu deuten, womöglich sogar im vierfachen Schriftsinn mittelalter-
licher Allegorese. Erleichtert wird eine solche Deutung auch dadurch, dass Tasso
ein völlig unironischer Schriftsteller ist, der außerdem durch den poetologischen
Neo-Aristotelismus hindurchgegangen ist und einen einsträngigen, gut motivierten
Spannungsbogen aufbaut, in dem nicht mehr der Zufall, sondern das christliche
meraviglioso entscheidende Weichenstellungen bewirkt. Das fantastisch-magische
Element wird orthodox zurückgebunden in schwarze, diabolische, und weiße,
christlich akzeptierte Magie. Auch die moralischen Grenzen zwischen Christen
und Nicht-Christen sind wieder deutlicher gezogen als bei Ariost. Grenzüber-
schreitungen sind als heidnische Bekehrungen gestaltet oder als christliche Verir-
rungen, die Handlungsauslöser für ihre Überwindung sind.
Und dennoch kann eine allegorische Gesamtdeutung des Werkes nicht gelin-
gen. Die gegenreformatorische Orthodoxie hat in ihrer Kritik an der Gerusalemme
seinerzeit genau gesehen, dass die Durchführung des Werks im einzelnen eine
Wege in die Moderne 203
Le donne, i cavallier, l’arme, gli amori, Die Fraun, die Ritter, Waffen, Liebesbande,
le cortesie, l’audaci imprese io canto […]. die Zartheit sing ich, den verwegnen Mut […].
(Orlando furioso, I, 1)
Arma virumque cano, Troiae qui primus Kampf und den Helden besing’ ich, den einst von
ab oris den Ufern von Troja
Italiam fato profugus Laviniaque venit nach Italien flüchtig sein Los an Laviniums Küsten
litora, […]. trieb, […].
(Aeneis, I, 1)
Durch den selbstbewussten Einsatz des dichterischen Ichs signalisiert Tasso, dass
er seine neue Poetik gefunden hat und darüber im Werk nicht weiter reflektieren
wird. Im folgenden soll gezeigt werden, wie Tasso das allegorisch-exemplarische
Erzählen in personales Erzählen transformiert. Als Beispiel mag das Verhältnis von
Rinaldo und Armida dienen. Die schöne heidnische Magierin Armida lockt den
wichtigsten christlichen Helden Rinaldo in ihren Einflussbereich, will ihn zunächst
als gefährlichen Gegner töten, verliebt sich dann aber in ihn und entführt ihn durch
die Lüfte auf die Isole Fortunate, die Kanarischen Inseln, in deren ewigem Frühling
sie ihn durch ihre Liebe alle anderen Verpflichtungen vergessen lässt.
Die Figur Rinaldos ist analog zu Ruggiero im Orlando furioso konzipiert. Auch
Rinaldo ist Stammvater des Hauses Este und hat somit ebenso (gebrochen) enko-
miastische Funktion. Armida entspricht als Verführerin der schönen Fee Alcina bei
Ariost. Damit erschöpfen sich freilich die Analogien. Zu Alcina gab es im Furioso
die Kontrastfigur der Logistilla, und beide blieben Allegorien ohne persönliches
Relief, die die Psychomachie zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Sinnlichkeit
und Ratio im Bewusstsein Ruggieros versinnbildlichten. Die Armida der Geru-
204 Paul Geyer
salemme aber erscheint wie eine progressive Synthese aus Alcina und Logistilla.
Armida entwickelt sich von einer Allegorie zur Fiktion einer immer differenzierter
dargestellten realen Frau.
Diesen Vorgang gestaltet Tasso als Bewusstwerdungs- und Verinnerlichungs-
prozess zunehmend intensiv in personaler Erzählsituation. Gerhard Goebel (1978)
hat als erster und – wenn ich richtig sehe – bislang einziger auf die personale
Perspektivenführung in der Gerusalemme aufmerksam gemacht, dabei aber nur
Phänomene analysiert, die sich so auch schon bei Ariost erkennen lassen. Auch
letzterer erzählt manchmal aus der Perspektive seiner Figuren und arrangiert Per-
spektivenwechsel, zum Beispiel, um die Belagerung von Paris einmal aus der Sicht
der Eingeschlossenen und dann aus der Sicht der Angreifer zu schildern. Eine
ähnliche Erzählsituation inszeniert Ariost bei Ruggieros Libidoausbruch angesichts
der nackten Angelica. Der Erregungszustand von Ruggiero und das ängstliche
Abwehrverhalten von Angelica werden in einer dramatischen Szene mit mehrfa-
chen ›Kameraschwenks‹ auf die eine oder andere Figur vorgeführt. Freilich wird
hier die personale Optik mit ironischer Distanz auktorial gefiltert.
Funktion solcher personaler Erzählhaltung bei Ariost ist es, die Pluralität der
Perspektiven darzustellen, ohne dass diese im allgemeinen noch in sich differen-
ziert und vertieft werden. Ganz vereinzelt finden sich freilich auch bei Ariost
schon Ansätze zu den narrativen Vertextungsstrategien, die ich jetzt im folgenden
bei Tasso analysieren werde. Und in solchen Passagen, etwa beim Liebesverhältnis
Ruggieros und Bradamantes oder bei der Schilderung Orlandos kurz vor dem Aus-
bruch seiner follia, vergeht Ariost im übrigen auch völlig seine ironische Distanz.
Die Zentralperspektive des ironisch-auktorialen Erzählers überwiegt aber bei Ari-
ost bei weitem noch. Bei Tasso ändert sich dies.
Sehen wir uns die Liebesgeschichte, den Liebesroman von Armida und Rinaldo
etwas genauer an. Solange ihr Liebeszauber auf Rinaldo wirkt, bleibt Armida für
den Leser bloße, schöne Oberfläche. Dann aber dringen, zunächst unbemerkt
von Armida, zwei Gesandte des christlichen Heerführers Goffredo in ihr Reich
ein, die Rinaldo zur christlichen Räson zurückbringen sollen. Schon die heimliche
Annäherung der beiden Gesandten an den Lustort, an dem sich Armida und
Rinaldo vergnügen, ist in raffinierter personaler Perspektivenführung aus der Sicht
der beiden gestaltet:
Ecco tra fronde e fronde il guardo inante Und siehe! Zwischen Laub und Laub ihr Spähen
penetra e vede, o pargli di vedere, dringt durch und sieht und meint zu sehen, sieht
vede pur certo il vago e la diletta, nun
ch’egli è in grembo a la donna, essa a gewiss die Liebende und den Verliebten.
l’erbetta. Er ruht in ihrem Schoß, sie ruht im Grase.
(XVI, 17)
Wege in die Moderne 205
Zeitlich verlangsamt in drei Phasen (»penetra e vede, o pargli di vedere, vede pur
certo«) wird der Prozess des Erblicktwerdens des Liebespaares durch die beiden
zwischen Büschen heranschleichenden Gesandten wiedergegeben. Der Leser wird
quasi hineingezogen in die Dialektik des Blicks zwischen Subjekt und Objektkon-
stitution. Aus der Sicht der beiden Voyeure wird dann noch über acht Strophen
das Liebesspiel Armidas und Rinaldos geschildert, bevor Armida ihren Geliebten
vorübergehend allein zurücklässt. Diese Gelegenheit nutzen die beiden Gesand-
ten, um sich Rinaldo zu erkennen zu geben und ihn zur gemeinsamen Flucht zu
überreden. Noch sind ja Armidas Zauberkräfte zu fürchten. Doch im Schmerz
der verlassenen Liebenden hat Armida ihre magischen Kräfte verloren. Stattdessen
entfaltet sie von nun an ein seelisches Innenleben:
Volea gridar : »Dove, o crudel, me sola Sie wollte schrein: »So lässt du mich allein,
lasci?«, ma il varco al suon chiuse il dolore, Grausamer!« Doch der Schmerz verschloss die
sì che tornò la flebile parola Stimme,so, dass die Jammerrede, bittrer noch,
più amara indietro a rimbombar su ’l core. sich einwärts wandte und im Herzen tönte.
(XVI, 36)
Lui guarda e in lui s’affisa, e non favella, Sie sieht ihn, hält ihn fest im Blick und spricht nicht,
o che sdegna o che pensa o che non osa. sei’s in Gedanken, sei’s aus Zorn, aus Kleinmut.
Ei lei non mira; e se pur mira, il guardo Er sieht sie nicht an; sieht er doch, so wendet
furtivo volge e vergognoso e tardo. er den verstohlnen Blick, beschämt und zögernd.
(XVI, 42)
Bemerkenswert erscheint die zweite Zeile des Zitats, in der der Erzähler verschie-
dene mögliche Motive für das kurze Schweigen Armidas vor ihrer Rede angibt.
Auch Ariost greift des öfteren zu diesem Mittel der pluralen Motivierung von
Handlungen oder Nicht-Handlungen. Bei ihm jedoch ist dieses Mittel Teil des
ironischen Spiels mit der Erzählerrolle. Als zum Beispiel Angelica wieder einmal in
die Gefahr gerät, Opfer des männlichen Begehrens zu werden, diesmal des wahn-
sinnigen Orlando (XXIX, 62–66), und wieder ihren Ring in den Mund steckt,
um sich unsichtbar zu machen, fällt sie, schon in der Tarnung, vom Pferd, und
der Erzähler gibt vor, er wisse nicht genau, ob dies aus Angst geschehen sei oder
wegen der Ablenkung durch den Ring oder weil das Pferd gestrauchelt sei. Der
Erzähler resümiert ironisch: »che non posso affermar questo né quello / dass ich
weder dies noch jenes bestätigen kann« (Strophe 65, Vers 4).
Eine ganz andere Intention und Intensität der Bewusstseinsdarstellung vermit-
telt das letzte Tasso-Zitat. Armida fehlen zunächst angesichts ihres feige fliehenden
206 Paul Geyer
Geliebten die Worte, und der Erzähler bietet in der zweiten Zeile drei emotio-
nale Motive dafür an: Empörung oder Gedankenverlorenheit oder Kleinmut. Klar
wird, dass es sich hier nicht um emotionale Alternativen handelt, sondern um
einen äußerst ambivalenten Motivkomplex. Das dreifache »o … o … o …«, »sei
es dies, sei es das, sei es jenes«, wird gleichbedeutend mit einem dreifachen »e …
e … e …«, »sowohl dies, als auch das, als auch jenes«. Tasso, nicht Ariost, ist der
Dichter des »Sowohl – als auch«, der feinste Nuancen im emotionalen Haushalt
des modernen Subjekts darzustellen weiß.
Rinaldo lässt sich aber von Armida nicht erweichen und kehrt zum End-
kampf des christlichen Heeres um Jerusalem zurück. Als Armida sieht, dass ihr
Liebesflehen nichts genützt hat, reduziert sich ihr komplexer und ambivalenter
Gemütszustand auf Hass und Rachegefühle. Nun kehren auch ihre magischen
Kräfte zurück, sie fliegt auf ihrem Flugwagen nach Gaza und schließt sich dem
ägyptischen Heer an, das den eingeschlossenen moslemischen Glaubensbrüdern
in Jerusalem zu Hilfe eilt. Sie setzt sich selbst zum Preis für denjenigen aus, der
Rinaldo im Kampf töten wird. An der offenen Feldschlacht vor Jerusalem nimmt
Armida selbst als Bogenschützin teil. Sie schießt auf Rinaldo und trifft ihn, aber
nur leicht. Der Schuss und ihre emotionale Verfassung, während der Pfeil fliegt,
werden nun wieder in zeitdehnendem Erzählen, quasi in Zeitlupe geschildert:
Sorse amor contra l’ira, e fe’ palese Dem Zürnen widersetzte sich die Liebe
che vive il foco suo ch’ascoso tenne. und offenbarte die verborgnen Gluten.
La man tre volte a saettar distese, Dreimal erhob sie zielend ihre Hände,
tre volte essa inchinolla, e si ritenne. zog dreimal sie zurück und ließ sie sinken.
Pur vinse al fin lo sdegno, e l’arco tese Am Ende siegt der Zorn, sie spannt den Bogen
e fe’ volar del suo quadrel le penne. und lässt die Federn des Geschosses fliegen.
Lo stral volò, ma con lo strale un voto Wohl flog der Pfeil, doch mit dem Pfeil entfuhr ihr
sùbito uscì, che vada il colpo a vòto. der jähe Wunsch, dass er sein Ziel verfehle.
Torria ben ella che il quadrel pungente Sie zöge vor, dass des Geschosses Spitze
tornasse indietro, e le tornasse al core; sich wende und ihr selbst das Herz durchbohre.
tanto poteva in lei, benché perdente So viel vermochte noch, besiegt, in ihr
(or che potria vittorioso?), Amore. die Liebe (was vermöchte sie als Sieger?).
Ma di tal suo pensier poi si ripente, Doch dann bereute sie, was sie empfunden,
e nel discorde sen cresce il furore. und im entzweiten Herzen wuchs die Wut.
Così or paventa ed or desia che tocchi So fürchtet sie und wünscht sie, voll zu treffen,
a pieno il colpo, e ’l segue pur con gli und folgt dem Flug des Pfeils mit ihren Augen.
occhi.
(XX, 63–64)
Und erst in der folgenden Oktave 65 trifft der Pfeil dann endlich. Armidas innere
Zerrissenheit zwischen Mordgelüsten und Selbstbestrafungswünschen verlang-
samt in Tassos Darstellung gleichsam den Flug des Pfeils. Die Exaltation der
gegensätzlichen emotionalen Impulse mündet in besinnungslosen Furor (64. Ok-
tave, 6. Vers: »e nel discorde sen cresce il furore«). Die nächsten anderthalb Verse,
Wege in die Moderne 207
»or paventa ed or desia che tocchi / a pieno il colpo«, die Staiger vereinfachend aber
treffend mit »So fürchtet sie und wünscht sie, voll zu treffen« übersetzt, offenbaren
diese widersprüchliche Gemütshaltung.
Armidas Schuss verletzt Rinaldo nur leicht, die Heiden werden vernichtend
geschlagen. Armida flieht vom Schlachtfeld und will sich mit ihrem eigenen Pfeil
den Tod geben. Doch Rinaldo, der ihr heimlich gefolgt ist, fällt ihr in den Arm.
Sie wird ohnmächtig, er fängt sie auf, sie kommt wieder zu sich:
E con man languidetta il forte braccio, Und stieß mit matter Hand den starken Arm,
ch’era sostegno suo, schiva respinse; der ihre Stütze war, erzürnt beiseite.
tentò più volte e non uscì d’impaccio, Doch es gelang ihr nicht, das Band zu lösen.
ché via più stretta ei rilegolla e cinse. Nur enger wurde sie von ihm umschlungen.
Al fin raccolta entro quel caro laccio, Dann überließ sie sich der lieben Fessel
che le fu caro forse e se n’infinse, (ihr lieb vielleicht, obwohl sie es verhehlte).
parlando incominciò di spander fiumi, Und unter einem Strom von Tränen sprach sie,
senza mai dirizzargli al volto i lumi. doch ohne je den Blick auf ihn zu richten.
(XX, 130)
Erzählerisch raffiniert gestalten vor allem die Verse 5 und 6 Armidas emotionale
Verfassung. Die stützende Umarmung durch Rinaldo empfindet sie als »caro lac-
cio«, »liebe Umschlingung«, was jedoch mit einem »forse / vielleicht« relativiert
wird. Will der Erzähler sich unwissend stellen oder will er signalisieren, dass
Armida selbst es nicht so genau weiß? Er fügt hinzu »e se n’infinse«. Die semanti-
sche Konstruktion »se n’infinse« ist äußerst komplex: »infingere« heißt soviel wie
»hineinfingieren«, »hineinprojizieren«, »etwas vormachen«; »infinse« ist 3. Person
Perfekt; die reflexive Form »se infinse« mit Genitivus partitivus »se n[e] infinse«
meint, sie wollte sich davon nichts anmerken lassen, es schwingt semantisch aber
auch mit – und dies geht in der Übersetzung Staigers ein bisschen verloren –, dass
sie selbst es sich nicht eingestehen wollte.
Das Ende des Liebesromans von Armida und Rinaldo bleibt offen. Die Erotik
wird am Schluss der religiösen Thematik untergeordnet. Rinaldo, der mehr für
Armida empfindet, als er wahrhaben wollte, muss alles Weitere von ihrer Konver-
sion abhängig machen, die sie in Anklang an die Worte der Jungfrau Maria an den
Erzengel Gabriel (»Ecco l’ancilla tua / Siehe, ich bin deine Magd«, XX, 136, 7; vgl.
Lukas 1,38) in Aussicht stellt.
Die raffinierte Perspektivenführung und die differenzierte Darstellung des
Bewusstseinsinnenraums behält Tasso nicht den christlichen Figuren in seinem
Werk vor, wie schon hier bei Armida deutlich wird, die allerdings am Schluss
wohl Christin wird. Wenn ich eingangs dieses Kapitels erwähnte, dass die morali-
schen Grenzen zwischen Christen und Nicht-Christen bei Tasso wieder deutlicher
gezogen erscheinen als bei Ariost, so wird diese Tendenz relativiert durch die
gegenläufige Tendenz, auch den sogenannten Heiden, oder doch zumindest eini-
208 Paul Geyer
Tasso vollzieht die Kopernikanische Wende im Erzählen. Mit ihm setzt der nar-
rative Pluriperspektivismus ein, der die Welt von keiner Zentralperspektive mehr
geordnet, sondern als Konstrukt und Projektion von Bewusstseinsmonaden erken-
nen lässt. Und zugleich gestaltet Tasso die Labilität und Unzuverlässigkeit die-
ser Bewusstseinskonstrukte, indem er zeigt, wie anfällig sie für Täuschung und
Selbsttäuschung sind. In der Nacht wird Erminia von Albträumen heimgesucht,
die teilweise auch Wunschträumen gleichen. Der im Kampf verwundete Tancredi
erscheint ihr und bittet sie um Hilfe, da sie über Wissen um wundheilende Kräuter
verfügt. Nachdem sie aus dem Schlaf hochgeschreckt ist, schildert der Erzähler den
Bewusstseinsprozess, der dazu führt, dass Erminia zuletzt die Entscheidung trifft,
heimlich die Stadt zu verlassen und Tancredi im Feldlager der Christen aufzusu-
chen. Der Entscheidungsfindungsprozess wird zunächst noch durchaus traditionell
als allegorische Psychomachie zwischen den Personifikationen des Onore und des
Wege in die Moderne 209
Vorher hatte sich Erminia immer nur eingeredet, sie wolle dem großmütigen Tan-
credi, der sie in ihrer Gefangenschaft so zuvorkommend behandelt hatte, aus reiner
pietà helfen. Nun deckt aber Onore, ihr moralisches Über-Ich, noch ein weiteres,
stärkeres Motiv für ihre Hilfsbereitschaft auf, das sie gerne vor sich und der Welt
verborgen hätte. Und genau dieses sich ins Bewusstsein drängende Motiv wieder
zu verdrängen, unternimmt dann im folgenden der personifizierte Amor:
Da l’altra parte, il consiglier fallace Dagegen verlockt schmeichelnd sie der
con tai lusinghe al suo piacer l’alletta: trügerische Berater zu ihrer Lust:
»[…]. »[…].
Crudel sei tu, che con sì pigra voglia Grausam bist du, dass du so zögerst,
movi a portar salute al tuo fedele. deinem Getreuen das Heil zu bringen.
Langue, o fera ed ingrata, il pio Tancredi […]. Es schmachtet der gütige Tancredi, o du
Deh! ben fòra […] ufficio umano, grausam Undankbare […].
e ben n’avresti tu gioia e diletto, Ach, es wäre […] nur menschliche Pflicht
se la pietosa tua medica mano und brächte dir wohl Freude und Entzücken,
avicinassi al valoroso petto«. wenn Du deine erbarmungsvoll heilende Hand
der heldenhaften Brust nähern könntest«.
(VI, 73–76)
Der erotische Impuls verbirgt sich in Amors Worten hinter dem Motiv humanen
Erbarmens mit dem Verwundeten sowie hinter dem Appell an die moralische
Pflicht, demjenigen zu helfen, der auch ihr schon aus Lebensgefahr geholfen hat.
Undankbar, ja grausam müsse ihr Verhalten erscheinen, wenn sie jetzt nicht han-
dele. Das erotische Motiv ist zwar am Schluss des Zitats noch erkennbar hinter dem
angeblich rein wohltätigen »diletto«, ihre Hand der verwundeten Brust nähern zu
dürfen. Aber Amor oder das Lustprinzip behält zuletzt doch deshalb die Ober-
hand im inneren Motivkonflikt, da es geschickt sich selbst hinter vorgeschobenen
moralischen Motiven, die die Bedenken des Onore ausbalancieren, unsichtbar
macht.
Noch an einem letzten Beispiel will ich die Transformation allegorisch-exem-
plarischen Erzählens in personales Erzählen durch Tasso belegen. Es betrifft wie-
der einen Vertreter der sogenannten Heiden, den türkischen Sultan Soliman. Nach
einer verlorenen Schlacht vor den Toren Jerusalems schafft er es nicht, in die Stadt
zurückzukehren, bevor die Stadttore geschlossen werden, kann allein und ver-
wundet fliehen, und dann schildert der Erzähler über neun Strophen lang seine
Gemütsverfassung. Ich zitiere nur zwei besonders eindrückliche Stellen:
210 Paul Geyer
E rivolgendo in sé quel che far deggia, Und überlegt bei sich, was nun zu tun sei,
in gran tempesta di pensieri ondeggia. und schwimmt in großer Sturmflut von Gedanken.
[…]. […].
Ma d’ora in ora a lui si fa più crudo Doch immer schlimmer macht sich
sentire il duol de le ferite, ed anco der Schmerz seiner Wunden spürbar, und auch
roso gli è il petto e lacerato il core zernagen ihm die Brust und zerreißen ihm das Herz
da gli interni avoltoi, sdegno e dolore, seine inneren Geier: Wut und Schmerz.
(X, 3, 6)
Die Metapher einer Sturmflut der Gedanken im zweiten Vers des Zitats erinnert an
entsprechende Metaphern in Petrarcas Canzoniere zur Analyse von Gemütsregun-
gen und -verwirrungen des lyrischen Ichs. Man sieht, wie nun mit Tasso die in der
Lyrik schon wesentlich differenzierter entwickelten Instrumente der Bewusstseins-
analyse ins Epos bzw. eben in den Roman, zu dem Tassos Werk immer mehr wird,
einwandern. Und am Schluss des Zitats werden die allegorischen Geier oder Adler,
die zur Strafe für den Frevel des Feuerraubs an der Leber des Prometheus genagt
haben, verinnerlicht, psychologisiert, zur Metapher emotionaler Zerrissenheit.
Tasso findet an anderer Stelle in seiner Gerusalemme, im großen Trauermo-
nolog Tancredis, nachdem dieser unwissentlich im Kampf seine (Fern-)Geliebte
Clorinda getötet hat, ein Bild oder eine Umschreibung für die prozessuale und in
sich gebrochene Struktur des modernen Bewusstseins:
Temerò me medesmo; e da me stesso Ich werde mich selbst fürchten; und immer auf
sempre fuggendo, avrò me sempre appresso. der Flucht
vor mir selbst, werde ich immer in meiner
Nähe sein.
(XII, 77)
Hier findet Tasso als erster eine Formel für die moderne »différance«-Struktur des
Selbstbewusstseins, die prozessuale Struktur des Aufschubs, in dem das Ich sich
niemals selbst innewird und sich selbst immer auf der Spur bleibt.
4. Fazit
Schon im Orlando furioso schlägt das ironische Spiel mit dem allegorisch-exempla-
rischen Erzählen in den Ernst des drohenden Verlustes transzendenter Sinngebung
um. Radikale Kontingenz steigt zum obersten Weltprinzip auf, das nur noch im
dichterischen Artefakt kompensiert werden kann. Dieses Artefakt besteht aller-
dings vorläufig nur darin, die Auflösung der traditionellen Sinnstiftungssysteme
immer wieder ironisch zu umspielen.
Tasso geht in seiner Gerusalemme liberata einen Schritt weiter. Er zeigt, dass
das Zerbrechen des alten Sinnes eine neue Form von Subjektivität erzeugt. Er
(er)findet narrative Techniken, die die komplexe Innerlichkeit des modernen Sub-
Wege in die Moderne 211
jekts darzustellen erlauben, das mit seinen Sinnsystemen zugleich seine innere
Mitte verloren hat. Die künstliche Rekonstruktion epischer Totalität in der Geru-
salemme aber kann das sich ankündigende moderne Subjekt nicht mehr in sich
einbinden, sondern symbolisiert dessen hoffnungslose Suche nach Totalität.
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Id., Aeneis, übers. von Thassilo von Scheffer [zuerst 1943], hrsg. von Michael von Albrecht,
München 1979.
Wehle, Winfried, Torquato Tasso, Sprachritter, Frankfurt a.M. 1997 (= Frankfurter Stiftung
für deutsch-italienische Studien).
Zatti, Sergio, Il »Furioso« fra epos e romanzo, Lucca 1990.
Sektion 3
Zwischen Scham und Schuld.
›Affizierte‹ Subjekte in Tragödie und Lyrik
6 VND das Weib schawet an / das von dem Bawm gut zu essen were / vnd lieblich
anzusehen / das ein lüstiger Bawm were / weil er klug mechte / Vnd nam von der
Frucht / vnd ass / vnd gab jrem Man auch da von / Vnd er ass. 7 Da wurden jr
beider Augen auffgethan / vnd wurden gewar / das sie nacket waren / Vnd flochten
Feigenbletter zusamen / vnd machten jnen Schürtze. 8 VND sie höreten die stimme
Gottes des HERRN / der im Garten gieng / da der tag küle worden war. Vnd Adam
versteckt sich mit seinem Weibe / fur dem angesicht Gottes des HERRN vnter die
bewme im Garten. 9 Vnd Gott der HERR rieff Adam / vnd sprach zu jm / Wo bistu?
Vnd er sprach / 10 Jch hörete deine stimme im Garten / vnd furchte mich / Denn ich
bin nacket / darumb verstecket ich mich. 11 Vnd er sprach / Wer hat dirs gesagt / das
du nacket bist? Hastu nicht gessen von dem Bawm / da von ich dir gebot / Du soltest
nicht da von essen 1?
Am Beginn der Geschichte der Menschheit steht die Erfahrung der Scham. Dem
Alten Testament zufolge, dessen Luthersche Übersetzung hier zitiert ist, übertreten
die ersten Menschen im Garten Eden ein Gebot Gottes, worauf sie sich in ein und
demselben Augenblick selbst erkennen und schämen. Adam und Eva werden sich
der Bedeutung ihres Handelns, ihres Normverstoßes bewußt, der ihre Existenz
bloßlegt, wie es darin zum Ausdruck kommt, daß sie ihrer Nacktheit gewahr
werden. Aus Scham über seine körperliche und zugleich moralische Blöße, nämlich
den Fehltritt, versucht Adam sich vergeblich dem Blicke Gottes zu entziehen und
unsichtbar zu werden. Offenbar rechnet er damit, daß man ihm die Scham ohne
weiteres ansehen wird, und fühlt sich nicht in der Lage, diesem Blick standzuhalten.
Das zuvor unschuldig-unproblematische Dasein des ersten Menschenpaares wird
durch die Koinzidenz von Scham und Selbsterkenntnis schlagartig zur peinlichen,
schmerzlichen Tatsache 2.
3 Zu verschiedenen Aspekten der Scham in der Literatur vgl. die Beiträge in Pontzen und
Preußer (voraussichtlich 2007).
4 Dodds (1970 [1951]), 15–37.
5 Siehe etwa Adkins (1960), 48 f., 154–164 und Williams (2000), 91, 106f.; skeptisch Hooker
(1987).
6 Cairns (1993), passim, zur Kritik der Unterscheidung von shame-culture und guilt-culture
27–47. Siehe ferner Gill (1996), 65–67.
7 Cairns (1993). Siehe auch von Erffa (1937).
Ich schäme mich, also bin ich 219
daß es seit Homer 8 zu Begriffsentwicklungen kam und auch das Verhältnis zwi-
schen den Termini a d∏c und a sq‘nh keineswegs stabil blieb 9. Im vorliegenden
Zusammenhang soll von den vielfältigen Aspekten des griechischen a d∏c-Kon-
zeptes im wesentlichen ein Element herausgegriffen werden, das, von Vorstufen
abgesehen, erst mit der klassischen Zeit deutlicher in Erscheinung tritt: die retro-
spektive Scham. Während a d∏c einerseits im Sinne einer Scheu prohibitiv wirken
und damit Handlungen hemmen, aber ebenso Handlungen oder ein bestimmtes
Verhalten anmahnen kann10, ist sie andererseits ebenso geeignet, ein Verhalten
aus der Rückschau zu bewerten. Die retrospektive Scham bedeutet also das Sich-
Schämen für etwas, das man getan, gesagt oder auch unterlassen hat.
Wenn in der folgenden Untersuchung von ›Scham‹ die Rede ist, so wird damit
in der Regel diese retrospektive Scham bezeichnet11, die in den griechischen Texten
häufig, aber nicht immer mit den Wörtern a d∏c und a deÿsjai gekennzeichnet
wird. Anhand von literarischen Texten und theoretischen Erörterungen wird ver-
sucht, den insbesondere in der klassischen Zeit geführten Diskurs von Scham
und Selbstbewußtsein zu rekonstruieren. Es läßt sich zeigen, daß das beschrie-
bene Schamverhalten häufig mit Aspekten verknüpft ist, die man aus moderner
Perspektive mit dem Selbst und dem Selbstbewußtsein in Verbindung bringt. Auf
diese Assoziation führt auch eine nähere Bestimmung, worin das Phänomen der
retrospektiven Scham besteht.
Die retrospektive Scham kann als ein Gefühl des Unwohlseins bzw. ein mit
Unlust verbundenes Erleben einer Person begriffen werden, das sich darin äußert,
daß der Betroffene unwillkürlich errötet, wie Aristoteles konstatiert 12, und den
Blick senken muß, also anderen nicht ins Auge sehen kann13. Das Bedürfnis, sich
zu verhüllen oder am liebsten im Erdboden zu versinken, weist darauf hin, daß
Scham in der Regel auf andere, auf eine soziale Gruppe bezogen ist, deren Gegen-
8 Zur a d∏c bei Homer siehe neben von Erffa (1937), 4–43 und Cairns (1993), 48–146 auch
Yamagata (1994), 156–174 und Rademaker (2005), 50–54.
9 Im Unterschied zu a d∏c bezeichnet a sq‘nh sowohl im objektiven Sinne die Schande bzw.
die Beschämung als auch im subjektiven die Scham. In klassischer Zeit scheint a sq‘nh
das übliche Wort der Prosa gewesen zu sein, während a d∏c eher auf poetische Kontexte
beschränkt war. Vgl. Cairns (1993), 415.
10 Man denke nur an die Kampfparainese unter Berufung auf a d∏c in Hom. Il. 5, 529–532; 5,
787; 8, 228; 13, 95; 15, 502; 15, 561–564. Siehe von Erffa (1937), 4–6 und Rademaker (2005), 51.
11 Die Unterscheidung zwischen prospektiver und retrospektiver Scham ist freilich ohnehin
nicht als exklusiver Gegensatz aufzufassen, da die prospektive im Grunde nichts anderes ist
als eine in Gedanken vorweggenommene, theoretisch durchgespielte retrospektive Scham.
Weil man diese Scham vermeiden möchte, unterläßt man dann Handlungen, die sie nach
sich ziehen könnten.
12 Arist. EN 4,15, 1128b13.
13 Für Definitionen der Scham siehe auch Taylor (1985), 54–57, Landweer (1999), 125, Williams
(2000), 91f., 195–198.
220 Jan Stenger
wart von dem sich Schämenden als unangenehm empfunden wird. Literarisch ist
dieses Motiv etwa sehr deutlich in den Euripideischen Figuren des Herakles, des
Orest und der Phaidra zu greifen, ja die Geste des Verhüllens bzw. das Senken des
Auges scheint auf der Theaterbühne geradezu ein für das Publikum erkennbares
Signum der Scham zu sein14. Scham ist offenbar mit unfreiwilliger Selbstenthüllung
verbunden 15; man zeigt etwas von sich, was nicht an diesen Ort gehört. Was an
den jeweiligen Ort gehört und was nicht, bestimmen die Reaktionen der ande-
ren, genauer: das, was die sich schämende Person als die Reaktion der anderen
wahrnimmt oder antizipiert. Von zentraler Bedeutung für das Verständnis dieses
Gefühls ist der Verstoß gegen Normen, Regeln oder Konventionen 16. Wer Scham
empfindet, bekundet damit, Normen, die in der Gesellschaft oder Gruppe, der
er angehört, akzeptiert sind, außer acht gelassen zu haben. Und nicht nur dies,
er bekennt außerdem, daß er selbst ebenso wie die Gruppe diese Normen prin-
zipiell anerkennt und nur für einen Moment gegen sie verstoßen hat. Würde er
sie nämlich nicht als verbindlich erachten, schämte er sich nicht, sondern würde
es auch im nachhinein als unproblematisch bewerten, daß er sich über sie hin-
weggesetzt hat. Scham geht demnach auf einen konkreten Auslöser oder Anlaß
zurück, eben einen Fehltritt17, der ungewollt, nicht beabsichtigt geschieht. Die
Verletzung der Normen und die Scham dafür führen in dem Betroffenen zu dem
Eindruck, defizitär zu sein und an Wert eingebüßt zu haben18. Genügt er doch,
wie sein Verhalten demonstriert hat, nicht in vollem Umfang den Ansprüchen
der Gruppe und seinen eigenen an sich selbst. Der sich Schämende fällt also ein
ungünstiges Urteil über sich und nimmt an, daß andere ebenso über ihn denken,
selbst wenn sie realiter sich indifferent verhalten. An diesem Punkt zeigt sich, wie
eng das Gefühl der Scham mit dem Selbstbild der Person verknüpft ist. Wer sich
schämt, wird schlagartig gewahr, daß er gehandelt oder sich verhalten hat, wie es
seinem eigentlichen Selbstbild nicht entspricht. Man könnte, auch ohne psycho-
analytischen Ansätzen zu folgen19, von einem Verfehlen des Ich-Ideals sprechen,
14 Soph. OT 831–833, 1371–1390, 1409–1412; Eur. Hipp. 243–246, 300, 415–418, HF 1155–1162,
1198–1201, Or. 459–461, 467–469; Agathon fr. 22 TrGF (Çdikeÿn nom–zwn Óyin a do‹mai
f–lwn). Vgl. Plat. Smp. 178d–179a, 216b/c, Arist. Rh. 2,6, 1385a8–13, Xen. Cyr. 5, 5, 9, Plut.
de vitioso pudore 528c.
15 Daß Scham grundsätzlich visuell konzipiert ist, hebt Williams (2000), 104–106 hervor.
16 Die Bedeutung des Normverstoßes für die Scham betont besonders Landweer (1999), 37 u.
125.
17 Vgl. von Moos (2001), XIV–XVII.
18 Ein anschauliches Bild hat für diesen Sachverhalt Sophokles in der Tyro gefunden (fr. 659
TrGF). Dort vergleicht sich die Titelheldin mit einem Fohlen, dessen Mähne geschoren
wurde. Es erblickt im Wasser sein Spiegelbild und schämt sich für sein Aussehen.
19 Gerade in der Psychoanalyse hat das Phänomen der Scham seit einiger Zeit verstärkte
Aufmerksamkeit gefunden. Grundlegend dazu Wurmser (1990).
Ich schäme mich, also bin ich 221
insofern das Selbstbild aus einem Ensemble an Werten, Normen und Eigenschaften
besteht, die der einzelne sich selbst als Maßstab setzt und zu verwirklichen trachtet.
Exemplarisch mag für diesen Sachverhalt der Aias des Sophokles stehen, der, als
er aus dem Wahnsinn wieder zur Besinnung gelangt ist, erkennen muß, daß das
Abschlachten hilflosen Viehs mit seinem eigenen Status eines heldenhaften Krie-
gers unvereinbar ist, woraus sich für ihn ein eklatanter Selbstwertverlust ergibt 20.
Scham setzt mithin eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität voraus; sie
manifestiert sich hier in einem Konflikt zwischen dem handelnden Ich, das, wenn
auch ungewollt, den heroischen Ehrenkodex verletzt hat, und dem erkennenden
Ich, das retrospektiv diesen Normenverstoß als inakzeptabel bewertet. Explizit
wird diese Antinomie zwischen den gleichsam zwei Ichs im Philoktet zur Sprache
gebracht, wenn Neoptolemos gerade dadurch, daß er prospektive Scham im Sinne
einer Scheu empfindet, den Zwiespalt zwischen seinem eigentlichen Wesen, seiner
f‘sic, und dem von Odysseus geforderten Verhalten reflektiert 21. Nur weil er die
Scham und damit sein Selbstbild ablegt bzw. verleugnet, kann Neoptolemos sich
bereitfinden, Philoktet zu täuschen. Er nimmt nachgerade eine andere Identität an
und läßt sich von Odysseus zum Werkzeug machen. Wie an Aias und Neopto-
lemos abzulesen ist, setzt Scham eine gewisse Selbstachtung und einen Sinn für
Wert voraus, da es eines festen Maßstabes bedarf, damit die Diskrepanz zwischen
Anspruch und Realität wahrgenommen wird.
Den erwähnten Beispielen kann man entnehmen, daß Scham offensichtlich in
intrikater Weise mit dem Selbstbewußtsein des Betroffenen zusammenhängt, was
auch im Hinblick auf die Gegenwart von psychologischer und philosophischer
Warte aus beobachtet wurde22. Da es sich wie bei Aias um eine krisenhafte, kon-
fliktreiche Wahrnehmung des eigenen Ichs handelt, insofern das Ich zu Bewußtsein
kommt und sich gleichzeitig in Frage gestellt sieht, ist es adäquat, das Selbstbe-
wußtsein, das in der Scham zum Vorschein kommt, anhand solcher inhärenten
Spannungen, Ambivalenzen oder Paradoxien zu untersuchen.
Das erste Paradox ist das von Affekt und Reflexion. Scham äußert sich und
wird für andere sichtbar in erster Linie durch körperliche Phänomene oder eng
mit dem Körperlichen verbundene Verhaltensweisen. Sobald jemand die Scham in
sich aufsteigen fühlt, errötet er, wodurch er die Aufmerksamkeit der anderen, die
er eigentlich zu vermeiden sucht, gerade auf sich zieht. Darüber hinaus steht der
20 Soph. Aj. 364–367: Ârîc t‰n jras‘n, t‰n eŒkàrdion, t‰n ‚n daÒoic ätreston màqac, ‚n
ÇfÏboic me jhrs» dein‰n qËrac; o“moi gËlwtoc; oŸon Õbr–sjhn ära (Aias [zum Chor]:
»Siehst du den Kühnen, den Beherzten, den in hitzigen Schlachten Unerschütterten, mich,
gewaltig mit den Händen gegen ungefährliche Tiere? Weh mir über das Gespött, wie wurde
ich mit Schmach bedeckt«!).
21 Soph. Ph. 79–120, bes. 86–95.
22 Vgl. Blume (2003), ferner Agamben (2003), 76–118, dem zufolge Subjektivität im Innersten
Scham ist.
222 Jan Stenger
Gesichtssinn in enger Beziehung zur Scham, insofern der sich Schämende es nicht
vermag, sein Gegenüber geradeheraus anzublicken, sondern dem Blick ausweicht
und Augenkontakt vermeidet23. Orest etwa geht im gleichnamigen Drama des
Euripides dem Blick seines Großvaters Tyndareos aus dem Wege, da er sich vor ihm
wegen der Tötung Klytaimestras schämt24, und Phaidra wendet sich im Hippolytos
ab und senkt ihren Blick, als sich ihre unstatthaften Gefühle der Amme nicht
länger verheimlichen lassen25. Gemeinsam ist dem Erröten und dem Vermeiden des
Blickkontaktes, daß diese körperlichen Symptome der Scham überhaupt nicht oder
nur in äußerst geringem Maße steuerbar sind. Die Gesichtsröte stellt sich plötzlich,
unvermittelt ein; ebenso unwillkürlich muß der sich Schämende das Auge senken
und weicht dem Blick seiner Mitmenschen aus. Von den körperlichen Anzeichen
ausgehend, bestimmt deshalb auch Aristoteles in der Nikomachischen Ethik die
Scham als Affekt (pàjoc), nicht als Tugend, obgleich er sie andernorts durchaus
in die Nähe der Çret† rückt26. Der von ihm vorgetragenen Definition zufolge ist
sie nämlich eine Furcht vor Ansehensverlust (fÏboc tic Çdox–ac), die sich auch
ganz ähnlich wie die Furcht bei Gefahr manifestiere, nämlich in einer körperlichen
Reaktion 27. Allerdings handelt es sich für Aristoteles anscheinend nicht um ein rein
körperliches Phänomen; setzt doch die Scham voraus, daß in dem Betroffenen ein
Urteil vorhanden ist, ob ein Ereignis Anlaß für Scham ist oder nicht, mag diese
Bewertung in dem Moment auch nicht zu Bewußtsein kommen. Der Affekt birgt
demnach eine gewisse Erkenntnismöglichkeit28. Bereits bei Platon war die Scham
23 Den visuellen Aspekt der Scham bemerkt auch Aristoteles, wenn er feststellt, daß sich Scham
auf das offen Sichtbare bezieht, und das Sprichwort, daß die Scham in den Augen sitze, zitiert
(‚n Êfjalmoÿc e⁄nai a d¿). Man schäme sich mehr vor den jeweils Anwesenden (Arist.
Rh. 2,6, 1384a33–1384b1). Vgl. dazu Rapp (2002), Bd. 2, 638f.
24 Eur. Or. 461f., 467–469. Zu der Scham treten bei Orest außerdem noch Schuldbewußtsein
und Reue hinzu, wie er in v. 380–412 zeigt.
25 Eur. Hipp. 239–250, 300.
26 Arist. EN 4,15, 1128b10–15; EE 2,2, 1220b12–14; anders jedoch EN 3,11, 1116a28 f. und EE
2,3, 1221a1. Normalerweise können pàjh bei Aristoteles keine Mitte bilden, die a d∏c
jedoch wird als Mittleres definiert (EE 2,3, 1221a1 und 3,7, 1233b26–29; MM 1,29, 1193a1–10).
Außerdem kann man für ein pàjoc eigentlich nicht gelobt werden. Auch wenn sie keine
Çret† ist, scheint sie auch nicht einfach ein pàjoc zu sein. Zur a d∏c in der Aristotelischen
Ethik siehe Stark (1954), 64–86 und Cairns (1993), 393–431 (zur vorliegenden Frage 411–414).
27 Arist. EN 4,15, 1128b11f. (etwas anders Rh. 2,6, 1383b12–15). In Top. 4, 5, 126a6–12 hingegen
meint Aristoteles, Scham dürfe nicht mit Furcht verwechselt werden, weil Art und Gattung
nicht identisch seien. Die Scham sitze im denkenden Seelenteil, die Furcht aber im mutigen.
Auch in der Stoa scheint man a d∏c in die Nähe des fÏboc gerückt zu haben, vgl. Nemesios,
SVF 3, 416 (cap. 20).
28 Dies zeigt sich deutlich in Aristoteles’ Behandlung der Furcht in der Rhetorik. Wenn er
konstatiert, daß man sich nicht unterschiedslos vor allem fürchte und daß Furcht auch durch
bloße Anzeichen von Furchterregendem ausgelöst werden könne (2,5, 1382a20–32), folgt
daraus, daß dem eigentlichen Affekt der Furcht ein Urteil, ein unterscheidendes Achten
Ich schäme mich, also bin ich 223
vorangeht. Schmitt (1994), 331–336 sieht deshalb bei Aristoteles im Affekt Vernunft wirk-
sam. Es liege kein exklusiver Gegensatz von Affekt und Vernunft vor. Die kognitivistische
Auffassung von Emotionen bei Aristoteles wird jedoch relativiert von Rapp (2002), Bd. 2,
554–575, unter anderem mit dem Hinweis, daß für Aristoteles auch Tiere Emotionen haben.
29 In Euthphr. 12a–c meint Sokrates in Auseinandersetzung mit einem Dichterzitat (—na dËoc
Ínja ka» a d∏c: »Wo Furcht ist, dort ist Scham«), daß die Scham nur ein Teil der Furcht
sei. Wer eine Sache scheue bzw. sich ihrer schäme, fürchte den Ruf der ponhr–a. Auch
der Athener in Lg. 646e–647b setzt Furcht und Scham (a sq‘nh) gleich; vgl. ferner ebd.
700a–701d.
30 Vgl. Gill (1996), 66f.
31 Eur. Hipp. 405–407: t‰ d+ Írgon ¢idh tòn nÏson te duskleê, gun† te pr‰c toÿsd+
ofis+ ‚g–gnwskon kal¿c, m–shma pêsin (»Die Sache kannte ich und die Schmach meiner
Krankheit, und überdies erkannte ich sehr wohl, daß ich eine Frau bin, gehaßt von allen«).
32 Xen. Cyr. 6, 1, 31–41. Zur Dichotomie der Seele vgl. auch Xen. Mem. 1, 2, 23.
224 Jan Stenger
rational kontrollieren könne 33, widerlegt er sich selbst, als er der schönsten Frau
Asiens, Pantheia, verfällt und sie bedrängt. Das Bekanntwerden dieses Fehltritts
führt zu einer Schamreaktion des Araspas, die ihrerseits wiederum eine Reflexion
über das eigene Selbst nach sich zieht. Während er sich vorher im Gespräch mit
Kyros offensichtlich einer Selbsttäuschung hingegeben hat, erkennt er nun, wie
es in Wirklichkeit um das Verhältnis von Affekten und Vernunft in seiner Seele
bestellt ist. Erst das Erlebnis der Scham ermöglicht es ihm demnach, zu einer
realistischeren Selbsteinschätzung zu gelangen und sein bisheriges Selbstbild zu
korrigieren. Die der Scham folgende Erkenntnis 34 bezieht sich also auf das eigene
Ich, das gerade von dieser Scham betroffen ist, wobei es über den Konflikt zwi-
schen dem angestrebten Verhaltensideal, d. h. den verinnerlichten Normen, und
dem tatsächlichen Betragen reflektiert.
Zudem führt das Schamerlebnis dazu, daß die Personen sich der diachronen
Dimension ihrer Identität bewußt werden. Vor allem im Sophokleischen Aias spielt
der Gedanke eine wesentliche Rolle, worin Aias’ Identität vor der schändlichen Tat
bestand und inwiefern sie sich durch eben diese Tat verändert hat. Er hält sich vor
Augen, daß er bislang der zweitbeste griechische Kämpfer war, der bedingungslos
dem Ziel von Ehre und Ruhm folgte und von allen dafür geachtet wurde. Nun,
nach der Tötung des Beuteviehs, ist ihm genau dieser Mittelpunkt seiner Identität
abhanden gekommen, wie er selbst einsieht, nachdem er wieder zu Bewußtsein
gelangt ist35. In ähnlicher Weise, wenn auch mit entgegengesetztem Ergebnis, hält
am Ende des Euripideischen Herakles die Titelfigur ihr bisheriges Dasein der Exis-
tenz nach der Scham gegenüber. Herakles erkennt, daß er nicht mehr der auf
sich selbst gestellte, aktive Held sein kann, der er war, sondern daß er der Hilfe
anderer bedarf und sein Heldentum im Ertragen finden muß 36. Da die Scham
eben dadurch ausgelöst wird, daß man seinen eigentlichen Überzeugungen und
Normen zuwider handelt, erfordert sie geradezu zwangsläufig ein Nachdenken
darüber, ob sich angesichts dieses schwerwiegenden Fehltritts die eigene Identität
noch aufrechterhalten läßt oder sich wandeln muß. Die von Scham ergriffenen
Figuren schreiben sich also bestimmte Eigenschaften zu und entwickeln ein refle-
xives Selbstbewußtsein, das in dieser Form vor dem Erlebnis der Scham nicht
präsent war.
Das zweite Gegensatzpaar bilden das Ich und der andere. Wenn ich mich
schäme, so haben wir eben gesehen, löst dieser Affekt eine auf das Ich gerichtete
Erkenntnis aus. Das bedeutet, daß ich mir in diesem Augenblick, zuerst körperlich,
dann reflektierend, meiner Existenz bewußt werde und dessen, daß ich es bin, der
etwas getan oder unterlassen hat. Mit aller Deutlichkeit wird dies beleuchtet, wenn
Aias und Herakles nach ihren Taten aus dem gottgesandten Wahnsinn erwachen.
Bei ihnen geht der Scham unmittelbar die schrittweise gewonnene Erkenntnis
voraus, daß sie selbst tatsächlich Urheber der schändlichen bzw. schrecklichen
Tat sind. Und daß sie sich schämen, ist gerade diesem Umstand geschuldet: sie
selbst sind es und kein anderer, dem die Verantwortung für die Tat anzulasten
ist. Wäre noch ein anderer für das Geschehene verantwortlich, stünde das Ich
nicht dermaßen im Mittelpunkt, daß es – vermeintlich oder real – die Blicke aller
auf sich zieht. So scheint die Scham mit einer Konzentration auf das eigene Ich
einherzugehen37. Der Betroffene ist offenbar völlig in der Reflexion befangen, was
er selbst getan hat und welche Konsequenzen dies für seinen Status hat.
Dem erwähnten Motiv des Blickes läßt sich jedoch entnehmen, daß in das
Selbstbewußtsein der Scham andere als das Ich involviert sind. Die plötzlich zutage
tretende Erkenntnis der eigenen Existenz und der eigenen Verantwortlichkeit ist
nicht ohne die zumindest imaginierte Existenz eines anderen denkbar. In seinem
berühmten Selbstgespräch vor dem Kampf mit Achill verbinden sich retrospektive
und prospektive Scham Hektors untrennbar miteinander 38. Da er dem Rat des
Polydamas, sich in die Stadt zurückzuziehen, nicht Folge geleistet und damit
das Leben vieler Trojaner sinnlos geopfert hat, schämt sich Hektor ob seiner
Unbesonnenheit39 vor den anderen Trojanern und will, um sich nicht erneut
Vorwürfen auszusetzen, dem Zweikampf mit dem Peliden nicht länger aus dem
Wege gehen. Sein schambehaftetes Versagen besteht darin, seiner Aufgabe, die
Trojaner zu schützen, nicht genügt zu haben. Er ist damit einer zentralen Forderung
seines Selbstbildes nicht gerecht geworden.
N‹n d+ ‚pe» ∫lesa la‰n Çtasjal–hisin ‚m®isin,
a dËomai Tr¿ac ka» Trwiàdac ·lkesipËplouc,
m† potË tic e“phsi kak∏teroc älloc ‚meÿo,
ìEktwr ©fi b–hfi pij†sac ∫lese laÏn.
∑c ‚rËousin; ‚mo» d‡ tÏt ãn polà kËrdion e“h
änthn ¢+ >Aqil®a katakte–nanta nËesjai
¢Ë ken aŒt¿i ÊlËsjai ‚Ùkle–wc pr‰ pÏlhoc.
37 Demgegenüber zeichnet sich das Schuldgefühl dadurch aus, daß die Person viel stärker das
Objekt ihrer Tat in den Blick nimmt, indem sie darüber reflektiert, wem sie etwas angetan
hat und wie sie diese Schuld wieder kompensieren kann. Siehe dazu Landweer (1999) 46–50
und Williams (2000), 195–198.
38 Vgl. Gill (1996), 81–93.
39 Cairns (1993), 81f. hingegen sieht hier keine retrospektive Scham.
226 Jan Stenger
Nun aber, da ich das Volk verdarb durch meine Verblendung, schäme ich mich vor
den Troern und Troerinnen mit schleppendem Peplos, daß nicht einst ein anderer,
Schlechterer als ich sage: »Hektor verdarb im Vertrauen auf seine eigene Stärke das
Volk«. So werden sie reden. Für mich aber wäre es dann viel besser zurückzukehren,
nachdem ich vor aller Augen Achill getötet, oder ruhmvoll durch ihn vor der Stadt
zugrundezugehen (Hom. Il. 22, 104–110).
Bemerkenswert ist an dieser Stelle, daß Hektor explizit den Standpunkt eines
anderen einnimmt, um sein eigenes Verhalten zu bewerten. Zweimal wird die
Instanz des anderen in Erinnerung gerufen, einmal als Einzelperson, das andere
Mal als kollektiver Plural. Hektor tritt gleichsam aus sich selbst heraus und wen-
det sich von außen auf sein Ich zurück 40. Indem er den Tadel auf ein anonymes
Kollektiv projiziert, bekennt Hektor, daß er die Verhaltensmaßstäbe, die in der
Gruppe Gültigkeit haben, verinnerlicht hat und sich ihnen grundsätzlich unter-
wirft41. Er mißt sein Handeln an diesen für allgemein gültig gehaltenen Normen,
abstrahiert also nun von dem Standpunkt, den er selbst während des Geschehens
eingenommen hatte. Ohne diesen auch von der modernen Philosophie konsta-
tierten Perspektivenwechsel 42 käme es gar nicht zur Scham; denn erst er bringt es
zu Bewußtsein, daß das eigene Verhalten nicht mit den anerkannten Normen der
Gruppe und dem Anspruch an sich selbst in Einklang steht 43. Da es hier um die
moralische Bewertung von Handlungen geht, ist es allerdings nicht unerheblich,
wie beschaffen dieser andere ist. Während Hektor sich vorstellt, sogar von einem
Schlechteren getadelt zu werden, zeigt sich sonst eher, daß der sich Schämende
Rücksicht auf Leute nimmt, die in seinen Augen kompetent für eine Beurteilung
erscheinen. So fürchtet etwa Aias eindeutig die Kritik seiner Standesgenossen, also
derjenigen, die demselben Ideal nacheifern wie er. Insbesondere Aristoteles reflek-
tiert dann darüber, daß als diejenigen, vor denen man sich schämt, am ehesten
Menschen in Frage kommen, die auf Grund einer untadeligen Lebensweise selbst
über eine hohe Reputation verfügen 44.
40 Vgl. die ähnlichen Aussagen in Hom. Il. 6, 441–446 (ebenfalls Hektor) und Od. 21, 321–329
(die Freier der Penelope), wo zum Teil die gleichen Worte verwendet werden wie an der
vorliegenden Stelle.
41 Siehe auch Gill (1996), 83f.
42 Vgl. Taylor (1985), 57–60, Landweer (1999), 100–103 u.ö.
43 Dem Perspektivenwechsel liegt letztlich die Kritik zugrunde, die Hektor von Polydamas
gewärtigt (Hom. Il. 22, 99–103). Dieser eignet sich als Verkörperung einer anderen Perspektive
um so besser, als er so etwas wie das alter ego Hektors darstellt. Beide sind am selben Tage
geboren, und beider Fähigkeiten verhalten sich komplementär zueinander (ebd. 18, 249–252).
Daher liegt es nahe, daß sich Hektor nun Polydamas’ Standpunkt zu eigen macht.
44 Arist. Rh. 2,6, 1384a21–33, 1384b1f. Vgl. auch Plat. Cri. 46c–48a.
Ich schäme mich, also bin ich 227
Bei Hektor oder der Euripideischen Phaidra handelt es sich um einen in die-
ser Situation imaginierten, gleichwohl realen anderen45, bei anderen literarischen
Figuren, zum Beispiel Aias oder Araspas, sind es die tatsächlich gegenwärtigen
Standesgenossen, deren Hohn und Schadenfreude den Hintergrund für die Scham
bilden46. Hier erzwingt also die Präsenz von Kritikern den Perspektivenwechsel.
Die faktische Anwesenheit der anderen, von der dann auch Aristoteles ausgeht 47,
ist allerdings nicht unbedingt erforderlich, da sich der Betroffene, wie gerade das
Beispiel des Aias demonstriert, mindestens ebensosehr vor sich selbst schämen
kann wie vor den Angehörigen der Gruppe. Das setzt aber voraus, daß er den
imaginierten anderen geradezu internalisiert und zu einem Bestandteil seines Ichs
gemacht hat, da er sich ja in gewisser Weise von dem noch während der Tat selbst-
verständlichen, unproblematischen Handeln oder Unterlassen distanziert48. Die-
sem Faktor der Internalisierung scheint Demokrit Ausdruck verliehen zu haben,
sofern ein leider ohne Kontext bewahrtes Fragment diesen Schluß zuläßt 49:
mhdËn ti mêllon toÃc Çnjr∏pouc a deÿsjai ·wuto‹ mhdË ti mêllon ‚xergàzesjai
kakÏn, e mËllei mhde»c e d†sein £ o… pàntec änjrwpoi; Çll+ ·wut‰n màlista
a deÿsjai, ka» to‹ton nÏmon t¨ yuq¨ kajestànai, πste mhd‡n poieÿn Çnepit†deion.
Man soll sich vor den Menschen nicht mehr schämen als vor sich selbst und nicht
eher ein Unrecht begehen, wenn es niemand erfahren wird, als wenn es alle Menschen
erfahren. Vielmehr soll man sich vor sich selbst am meisten schämen, und das soll als
Gesetz für die Seele bestehen, so daß man nichts Unschickliches tut (Demokr. 68 B 264
DK).
Er löst die Scham gänzlich von möglichen Zeugen ab und empfiehlt statt dessen
das eigene Ich als moralische Richtschnur 50, die dazu dient, schändliches Tun zu
45 Phaidras Fehltritt ist ja bis dahin niemandem zu Ohren gekommen, da er sich noch rein in
ihrem Innern abspielt. Ähnlich verhält es sich auch mit Hektor im Gespräch mit Andro-
mache, wo er bekundet, sich vor den Trojanern zu schämen, falls er sich aus dem Kampf
zurückhalte (Hom. Il. 6, 441–446). Da Hektor diese Gedanken bislang noch niemandem
mitgeteilt hat, handelt sich hier auch um einen imaginierten anderen als Schamzeugen. Siehe
ferner Eur. HF 1289f. sowie Plat. Ep. 7, 328c–329b, wo Platon sich in einer imaginierten Rede
vorstellt, welche Vorwürfe ihm Dion machte, falls er nicht nach Syrakus führe.
46 Soph. Aj. 379–382, 454f.; Xen. Cyr. 6, 1, 37.
47 Arist. Rh. 2,6, 1383b11f., 1384a21–33, 1384b20–1385a13.
48 Die Kongruenz zwischen den Ansichten des Ichs und dem imaginierten anderen kommt in
Hektors Monolog etwa auch durch Übereinstimmungen in der Wortwahl zum Ausdruck
(vgl. Hom. Il. 22, 104 mit 107). Indem er sein eigenes Verhalten als Çtasjal–ai charakterisiert,
übernimmt Hektor den Standpunkt und das Urteil der anderen.
49 Siehe auch Cairns (1993), 363–370.
50 Der Gedanke findet sich bei Demokrit ebenso in B 84 und 244 wieder. Vgl. außerdem die
Äußerungen zur Pflicht in B 41 und 181, wo gleichermaßen äußere Sanktionen gegenüber
228 Jan Stenger
unterbinden51. Der Blick und der mögliche Tadel der anderen werden hier also
in das Innere der Person selbst verlegt, die ihre ethischen Maßstäbe dann nicht
mehr aus den Überzeugungen einer Gruppe ableitet und an externen Sanktionen
orientiert, sondern eine eigene Ethik entwickelt hat 52. Sei er real, sei er imaginiert:
Dieser im Perspektivenwechsel aufscheinende Blick des anderen53 macht das Ich
zum Objekt. Die Scham bringt mir nicht nur mein Selbst zu Bewußtsein, sondern
sie beraubt zugleich das Ich seiner zentralen Stellung. Denn der Betroffene ist in
der Scham dem Blick und dem Urteil der anderen ausgesetzt, ohne daß er sich
davon freimachen könnte.
Eng mit diesem Dualismus hängt das dritte Paradox zusammen, das in der
Koinzidenz von Subjekt und subiectum im Wortsinne besteht. Wir hatten bereits
gesehen, daß zu dem Selbstbewußtsein der Scham auch die Erkenntnis gehört,
selbst für die Tat bzw. das Verhalten verantwortlich zu sein, auch wenn man viel-
leicht wie Aias oder Herakles unter dem Einfluß des Wahns gehandelt hat. Wer sich
schämt, rechnet sich etwas an, was als ungehörig oder schändlich empfunden wird,
er nimmt dies als seine Aktivität wahr, mag es sich auch bislang etwa nur um ein
unstatthaftes erotisches Begehren handeln. Doch in der Scham schlägt diese Akti-
vität unvermittelt um in Passivität und in die Erfahrung, hilflos äußeren Einflüssen
ausgesetzt zu sein. Nach der Tötung Klytaimestras ist Orest bei Euripides mit der
Verachtung und Ablehnung der Bürger von Argos konfrontiert. Während er sich
für die Tat, die er mit dem Hinweis auf Apollons Verantwortung nicht vollends
zu rechtfertigen vermag, schämt, verhält er sich gänzlich passiv, ohne auch nur
den geringsten Einfluß auf das Geschehen nehmen zu können. Immer wieder von
krankhaften Zuständen befallen, ist er auf die Hilfe seiner Schwester Elektra ange-
wiesen. Selbständig eine Lösung seines Problems zu ersinnen, einen Ausweg zu
den internalisierten Normen des einzelnen abgewertet werden. Zur Vereinbarkeit von Moral
und Eigeninteresse in den ethischen Fragmenten Demokrits siehe Nill (1985), 75–91.
51 Eine Vorstufe zur gänzlichen Loslösung der Scham von realen Zeugen repräsentiert die
Aussage des Sokrates im Platonischen Gorgias, es sei egal, ob er sich vor vielen, vor wenigen
oder nur vor einem schäme, wenn er seinen eigenen Anspruch an sich selbst verfehle (522d).
52 Demokrit scheint sich damit an einer Diskussion zu beteiligen, ob man unbeobachtet genauso
handeln solle wie vor Zeugen. Die Phaidra des Euripides vertritt hier den Standpunkt, daß
es wesentlich darauf ankomme, bei Handlungen von einer Öffentlichkeit wahrgenommen
zu werden. Ihre swfros‘nh soll kommuniziert werden (Eur. Hipp. 403–430). Siehe auch
Antiph. 87 B 44, col. 2f. DK und Kritias’ Sisyphos-Fragment (TrGF 43 fr. 19). Vgl. Gill (1990),
92f.
53 Diesen Blick des anderen erhebt dann Jean-Paul Sartre zum wesentlichen Charakteristikum
der Scham: »[…] die Scham oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Andern und
mich selbst am Ziel dieses Blicks, sie lassen mich die Situation eines Erblickten erleben,
nicht erkennen. Die Scham aber ist […] Scham über sich, sie ist Anerkennung dessen, daß
ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt« (Sartre [1994], 471,
Hervorhebung im Original).
Ich schäme mich, also bin ich 229
finden vermag er nicht54. Erst die Initiativen seines Gefährten Pylades und schließ-
lich gerade die Überwindung oder besser gesagt die Verdrängung seiner Scham55
lassen ihn die Lähmung abschütteln. Gleichermaßen hilflos sehen wir auch Phai-
dra ihrer Scham und ihrer inneren Zerknirschung hingegeben. Sie erkennt zwar,
daß ihre Liebe ihrem Selbstbild widerspricht, doch erweist sie sich als unfähig,
diesen Widerspruch selbständig zu beseitigen oder irgendeine Initiative zu ergrei-
fen. Auch hier ist es erneut eine Vertraute, die Amme, die allein das Geschehen
beeinflussen kann. Nicht anders verhält es sich mit dem Euripideischen Herakles
oder Araspas, die in der Scham die eigene Machtlosigkeit erfahren. Auch sie sind
darauf angewiesen, daß jemand anderes für sie die Initiative ergreift und ihnen hilft,
die Scham wenn schon nicht auszulöschen, so doch zumindest zu ertragen 56. Die
Scham scheint also unauflöslich mit der Erfahrung von Passivität, Handlungshem-
mung, Macht- und Hilflosigkeit verbunden zu sein57. Während Selbst und Subjekt
gemeinhin mit dem Gegenteil, also Aktivität, Willen und Gestaltungsvermögen,
assoziiert werden, findet offenbar in der Scham gleichzeitig mit Selbsterkennt-
nis und Selbstbewußtsein eine Art Entsubjektivierung statt. Das sich schämende
Ich wird gänzlich auf seine körperliche Existenz und sein Erkenntnisvermögen
zurückgeworfen, wohingegen ihm Initiative und Wille fehlen.
Dies gilt selbst für Fälle, in denen die Scham mittelbar Handlungen auslöst.
Sofern nämlich jemand, weil er sich schämt, tätig wird, um die Scham zu über-
winden, handelt er nicht wirklich selbständig, sondern wird erst unter Zwang, der
auch seine Handlungsmöglichkeiten einschränkt, aktiv. Aias’ Selbstmord ist keine
im eigentlichen Sinne freie Entscheidung, sondern wird ihm von seiner Scham und
damit von seinem Ehrenkodex diktiert58, oder wenn Demosthenes die Scham für
die eigene Lage als Çnàgkh ansieht, folgt daraus, daß ein eventueller Entschluß
der Athener zum militärischen Vorgehen gegen Philipp nicht auf freier Entschei-
dung beruhte. Denn den ‚le‘jeroi verlangt die Scham auf Grund erniedrigender
Umstände ein Handeln ab, das den eigenen Wert und damit die Reputation wie-
derherstellt59. Wer sich durch sein früheres Verhalten einen bestimmten Ruf oder
54 Orests mangelnde Eigeninitiative zeigt sich weiterhin darin, daß er seine Hoffnungen auf
einen Ausweg allein auf eine eventuelle Hilfe des Menelaos oder des Tyndareos setzt.
55 Die Verdrängung der Scham im Orest wird durch den Kontrast im Verhalten des Protago-
nisten in den beiden Dramenhälften augenfällig. Siehe dazu Stenger (voraussichtlich 2008).
56 Dies wird sehr deutlich, wenn am Ende des Stücks Herakles sich in seiner Hilflosigkeit als
tapeinÏc empfindet und Theseus nur noch folgen kann (1413, 1423f.).
57 Siehe ferner Soph. Aj. 194, 305–325, 609–620; Xen. Cyr. 5, 5, 9.
58 Soph. Aj. 457–480. Vgl. auch Hektor in Hom. Il. 22, 99–130. Platon begründet seine zweite
Sizilienreise im Siebten Brief mit seiner Scham, wenn er nur Worte mache, ohne Taten
folgen zu lassen. Hinzu kommt, daß er sich durch die Gastfreundschaft zu Dion, also
gesellschaftliche Konventionen, verpflichtet fühlt (328c–329b).
59 Demosth. or. 4, 10. Zu bedenken ist hier natürlich, daß Demosthenes mit seiner Bemerkung
zur Scham als Zwang zum Handeln die Athener gerade dazu bewegen will, tätig zu wer-
230 Jan Stenger
Status erworben hat, ist also gezwungen, sofern er diesen nicht verlieren möchte,
in einer mit ihm übereinstimmenden Weise aktiv zu werden. Statt den freien Wil-
len eines autonomen Akteurs widerzuspiegeln, resultiert die Handlung eher aus
dem Zusammenspiel gegebener Faktoren, nämlich der sozialen Rolle der Person,
ihren bisherigen Handlungen bzw. Verhaltensweisen und den Ansprüchen oder
Erwartungen der Umwelt an sie.
Schlagartig erhellt die Hilflosigkeit und das Ausgeliefertsein in dem vergebli-
chen Drang der sich Schämenden, sich zu verbergen und zu fliehen. Wenn der
Blick des anderen, wie oben bemerkt, den sich Schämenden zum Objekt macht,
so impliziert dies eben auch, daß dieser dem Blick ausgeliefert ist und sich ihm
nicht entziehen kann. Das Ich wird in der Scham zum Zeugen seiner Hilflosigkeit
und seines Kontrollverlustes, ohne von sich selbst loszukommen.
Wenn Subjekt und Subjektivität als genuin moderne Konzepte aufgefaßt wer-
den, so sind damit Vorstellungen von der Individualität und Unverwechselbarkeit
des Subjekts impliziert. Teilweise wird auch die Autonomie als wesentliche Eigen-
schaft des Subjekts betont 60. Der vormoderne Mensch, so eine gängige Annahme,
habe sich demgegenüber noch nicht als Subjekt in diesem Sinne verstanden. Die
mit diesen Vorstellungen verknüpften Fragen werden m. E. auch von der Scham
und ihrer literarischen Repräsentation berührt. So besteht das vierte Paradox in
dem Gegensatz von Autonomie und Heteronomie 61. Wenn jemand sich für sein
Handeln schämt, hat er zumindest eine vage Vorstellung von der eigenen Willens-
freiheit und der Verantwortung für das eigene Tun. Wenn nämlich das menschliche
Handeln ausschließlich durch Schicksal und äußere Zwänge determiniert wäre,
entfiele jeglicher Grund für Scham, oder die Scham wäre zumindest deshalb abge-
schwächt, weil die Verantwortung für das Handeln außerhalb des eigenen Ichs läge.
Daß grundsätzlich auch die Griechen der archaischen und klassischen Zeit sich der
Zusammenhänge von Kausalität, Intention und Verantwortung bewußt waren 62,
zeigen zahlreiche Beispiele aus den Homerischen Epen, der Tragödie oder etwa
auch die Tetralogien des Antiphon, worauf noch einmal Bernard Williams auf-
merksam gemacht hat 63. Auch die Figuren des Dramas, die sich schämen, rechnen
sich ihr Handeln selbst an und übernehmen die Verantwortung dafür, selbst wenn
den. Er instrumentalisiert also das Schamkonzept und reflektiert nicht ohne Eigeninteresse
darüber.
60 Vgl. Hagenbüchle (1998), 6 (mit weiterer Literatur).
61 Auf die Beziehung von Scham und Autonomie in der griechischen Literatur geht auch
Williams (2000), 88–119 ein.
62 Zur Frage von menschlicher Freiheit, Intentionalität und Verantwortung in der griechischen
Literatur siehe beispielsweise Schmitt (1998) und Williams (2000).
63 Vgl. Williams (2000), 58–87.
Ich schäme mich, also bin ich 231
64 Wie bereits erwähnt wurde, schämt sich Orest für den Muttermord und empfindet Reue
(Eur. Or. 380–412, 460f.), gleichzeitig aber versucht er, Apollon die Verantwortung für die
Tat zuzuschieben (284–287, 414–418, 544–604). Phaidra beurteilt ihr eigenes Verhalten als
Fehler, sieht mithin eine Schuld bei sich selbst (Eur. Hipp. 323). Auch ihre Überlegungen
in v. 373–402 zeigen, daß sie sich die maßgebliche Verantwortung für ihr Handeln selbst
zuschreibt, insofern sie sich für eine unter mehreren Optionen entschieden hat.
65 Siehe z.B. Soph. Ai. 260–262; Eur. HF. 1281–1300.
66 Arist. EN 4,15, 1128b28f.
67 Siehe Soph. Aj. 646–692.
68 Soph. Ph. 79–120.
69 Dies geht auch aus Hom. Od. 21, 321–333 hervor, wo Penelope auf die Sorge der Freier,
es könnte Gerede im Volk über sie geben, entgegnet, daß jemand, der sich wie die Freier
232 Jan Stenger
An den Dramenfiguren läßt sich aber ebenso ablesen, wie problematisch diese
durch Alterität, durch die Distanz zu den anderen konstituierte Identität ist. Die
Scham bedeutet nämlich, daß man der Mißbilligung der anderen ausgesetzt ist,
weil man gegen allgemein akzeptierte Normen und Regeln verstoßen hat. Diese
Mißbilligung ist es aber gerade, was das eigene Selbstverständnis in Frage stellt.
Phaidra will das, was sie von den anderen unterscheidet, die Liebe zum Stiefsohn,
besiegen und überwinden, also eben nicht anders sein als ihre Mitmenschen, doch
gelingt ihr das nicht. Ihre Ethik ist eine abgeleitete, da sie darauf beruht, was die
anderen über sie denken (Eur. Hipp. 403f.). Phaidras Ziel bei ihren Handlungen
besteht darin, einer sozialen Rolle gerecht zu werden, die durch gesellschaftliche
Erwartungen determiniert wird70. Araspas würde sich viel lieber verhalten, wie
es Kyros und seine Standesgenossen von ihm erwartet haben; aber auch er hat
sich als zu schwach erwiesen. Das Ideal, das die sich schämenden Figuren verfehlt
haben, besteht mithin zu einem beträchtlichen Teil aus intersubjektiv ausgehan-
delten gesellschaftlichen Konventionen und Normen, die der Betroffene als gültig
anerkennt. Er hat solche Konventionen und die Erwartungen der anderen über-
nommen und internalisiert71, weshalb er sich für ihre Übertretung schämt. In der
Scham werden ihm die Normen und die allgemeine Auffassung von Schicklichem
und Schändlichem zu Bewußtsein gebracht. Als Bezugspunkt für die Scham fun-
giert, was Gabriele Taylor honour-group nennt 72, also die soziale Gruppe, deren
Werte man teilt und von der man anerkannt werden möchte. Daraus folgt aber,
daß das Ich und seine Identität etwas nicht unerheblich heteronom Bestimmtes
sind73. Obgleich die Scham einen freien Willen und Verantwortlichkeit voraus-
zusetzen scheint, macht ihr Auftreten unabweisbar deutlich, daß das Ich stets in
einen sozialen Kontext eingebunden ist und von diesem beeinflußt wird, woraus
die Bewertung der schändlichen Tat resultiert. Genau diese Furcht vor externen
verhalte, gar nicht in gutem Ruf stehen könne. Sie könnten es folglich nicht als Schande
betrachten, sollte der Bettler den Bogen zu spannen vermögen. Die Freier empfinden also
falsche Scham vor der öffentlichen Meinung, da sie von einem illusionären Selbstbild ausge-
hen, ihren eigenen Wert mithin verkennen.
70 Vgl. Gill (1990), 89f.
71 Auf den Prozeß dieser Aneignung von gesellschaftlichen Normen durch das Individuum
weist indirekt auch Aristoteles hin, wenn er die Scham insbesondere den jungen Menschen
zuweist (Arist. EN 4,15, 1128b15–21). Scham ist hier das Korrektiv, das den Heranwachsenden
an die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptierten heranführt.
72 Taylor (1985), 54–57, 79–82.
73 Als Furcht vor schlechtem Ruf ist a d∏c bei Aristoteles eng mit dem Urteil anderer Menschen
assoziiert. In der Rhetorik scheint immerhin die Möglichkeit gegeben, daß es um verinner-
lichte Normen geht und ein Publikum nicht unbedingt anwesend sein muß (2,6, 1383b11–18).
Die a d∏c umfaßt damit auch ein subjektives Bewußtsein des wahren Charakters der eigenen
Handlungen. Siehe Cairns (1993), 420–423.
Ich schäme mich, also bin ich 233
das, was er tun sollte, auch wirklich tut 80. Wenn man Gutes tut, verwirklicht man
demnach sein Selbst, da man in Übereinstimmung mit der Vernunft, dem Kern des
eigenen Selbst, handelt (EN 1168b31–1169a3). Wenn man etwas Schändliches tut,
ist man nicht wirklich Herr über sich selbst, man folgt nicht seinem Ich, sondern
niedrigen Regungen, Affekten.
Wer bei einem Verstoß gegen Normen Scham empfindet, hat zumindest den
Sinn dafür bewahrt, was das bedrohte Selbst schützt. Er hält an der Person, die er
war, fest und hat so – zumindest theoretisch – die Möglichkeit, seine alte Stellung
wiederzuerlangen. Die Scham bringt ihm seinen eigentlichen Wert zu Bewußtsein
und trägt den Appell in sich, diesen Wert zu restituieren und die Selbstachtung
wiederherzustellen 81. Sich selbst zu achten bedeutet also zu tun, was das Selbst vor
Zerstörung schützt. Scham ist mithin ein Gefühl des Selbstschutzes: sie kann im
prospektiven Sinne davon abhalten, sich in eine bestimmte Lage zu bringen, aus
der ein Reputationsverlust resultiert, oder im retrospektiven Sinne die Erkenntnis
bewirken, daß man nicht in der Lage sein sollte, in der man sich befindet82. Dieser
Aspekt der Zurückgewinnung der eigenen Identität zeigt sich in aller Deutlichkeit,
wenn Philoktet Neoptolemos entrüstet fragt, ob er sich für sein Verhalten, nämlich
List und Trug, nicht schäme, und ihn auffordert, zu sich selbst zurückzukehren 83.
Ebenso bezeugen den Mechanismus der Selbstvergewisserung Aias’ Rückblicke
auf seine Identität. Wenn er sich bewußt macht, wer er denn eigentlich ist bzw.
war, scheint zumindest die Möglichkeit auf, diese Identität zurückzugewinnen.
Falls jedoch diese Wiedergewinnung nicht gelingt, droht dem Ich die Vernich-
tung. Der gleichsam schizophrene Zwiespalt zwischen dem eigentlichen Ich und
dem entfremdeten, das die Tat begangen hat, wird für den Betroffenen so unerträg-
lich, daß er sich wünscht, von seinem Ich loszukommen. Aias, Herakles, Phaidra,
Orest auf der Theaterbühne und der Araspas der Kyrupädie wollen, sobald sie
sich ihres Problems bewußt sind, verschwinden, sich verhüllen, im Erdboden ver-
sinken. Sie versuchen, den Blicken anderer auszuweichen, und trachten danach,
einen leeren Raum zu hinterlassen. Das Verschwinden des Ichs erscheint ihnen als
die einzige Möglichkeit, das Versagen vor den eigenen Ansprüchen und denen der
Umwelt vergessen zu machen. Ins Extrem gesteigert wird das vergebliche Begeh-
ren, das in Frage gestellte Ich auszulöschen, durch den Wunsch, sich tatsächlich
physisch zu vernichten84. Wenn ein Leben in Selbstachtung nicht mehr möglich
80 Ebd. 1169a11–18. Aristoteles spricht hier davon, daß der Schlechte sich auf diese Weise selbst
schädigt.
81 Vgl. die Äußerungen des Atheners in Plat. Lg. 648d.
82 Vgl. Taylor (1985), 79–82.
83 Soph. Ph. 929, 950 (ÇllÄ n‹n Ít+ ‚n sauto‹ geno‹).
84 Zum Selbstmord aus Scham in der Literatur siehe Garrison (1995), 45–79 und Papadopoulou
(2005), 166–173.
Ich schäme mich, also bin ich 235
scheint, bleibt als gangbarer Ausweg nur die Selbsttötung, wie sie Aias und Phaidra
vollziehen, während sich Herakles von seinem Vorhaben abbringen läßt 85. Aias
hat durch die Tötung des Viehs den Kern seiner Identität, nämlich den heroischen
Ehrenkodex und seine tim†, dermaßen radikal verfehlt, daß ihre Wiederherstel-
lung zu Lebzeiten in seinen Augen unmöglich ist. Entweder schön, d. h. ehrenhaft,
leben oder schön tot sein geziemt dem edlen Mann: So lautet seine Überzeugung
(Soph. Aj. 479f.). Die physische Vernichtung soll ganz ähnlich wie bei Phaidra die
verlorene Selbstachtung und gleichzeitig die Ehre restituieren. Da das Ich künftig
unablösbar mit der Scham kontaminiert wäre, wie das Gegenbeispiel des Herakles
lehrt, läßt sich die Scham nicht anders tilgen als im Verbund zumindest mit der phy-
sischen Hülle, also dem sichtbaren Teil, des Ichs. Einerseits kann also die Scham als
Mechanismus des Selbstschutzes fungieren, andererseits ist in ihr die Möglichkeit
angelegt, daß das Ich verloren geht, da es problematisch, nämlich unauflöslich mit
Versagen und Machtlosigkeit verknüpft ist. Gelingt es nicht, die Kluft zwischen
dem Selbstbild und dem neuen Status zu vermitteln, ist das Ich grundlegend in
Frage gestellt.
Aus den erhaltenen Texten läßt sich ein literarischer Diskurs über den Zusam-
menhang von retrospektiver Scham, Ich und Selbstbewußtsein rekonstruieren, der
in der klassischen Zeit insbesondere von den Tragikern geführt wurde. In litera-
rischen Darstellungen wurde immer wieder aufgezeigt, welche Konsequenzen ein
Schamerlebnis für das Selbstverständnis des Betroffenen hat und inwiefern es seine
Identität transformiert. Daneben hat man sich, wie die Ausführungen Demokrits,
Platons und des Aristoteles erkennen lassen, auch theoretisch des Themas ange-
nommen. Gerade diese theoretischen Reflexionen lassen sichtbar werden, daß es
sich bei der Scham um ein im Kern soziales Gefühl handelt, insofern es immer das
Verhältnis des einzelnen zu einer Gruppe, zu einem anderen, und sei er auch nur
imaginiert, berührt. Wenn sich in der Scham das Ich seiner selbst bewußt wird, so
besteht dieses Ich niemals im luftleeren Raum, sondern ist stets ein relationales, das
wesentlich von den Beziehungen zu seiner Umwelt geprägt ist. Da das Ich in der
Scham darauf verwiesen ist, was es ist und welchen Wert es hat, ist von vornherein
sein sozialer Status involviert. Auch die Normen, deren Verletzung Auslöser der
Scham ist, verweisen darauf, daß das Ich zu einem beträchtlichen Teil heteronom
bestimmt ist, nämlich durch die intersubjektiv ausgehandelten ethischen Grund-
lagen der Gruppe, der es angehört. Insbesondere wenn die Scham praktische
Konsequenzen fordert – sei es den Selbstmord, sei es eine andere Handlung –, läßt
sich nicht verkennen, daß es sich weniger um die freie Entscheidung eines auto-
nom agierenden Subjekts handelt als vielmehr um das Resultat von Überlegungen,
welche die soziale Rolle der Person und die Erwartungen der anderen in Rechnung
stellen.
85 Soph. Aj. 361, 387–391; Eur. Hipp. 419–430, 599f., 723; HF 1146–1152, 1241, 1247, 1301f.
236 Jan Stenger
Neben der Sozialität des Ichs läßt die Verknüpfung von Scham und Selbst-
bewußtsein in der griechischen Literatur einen Aspekt hervortreten, der bei der
modernen Diskussion über das Subjekt als Angelpunkt gelten kann: die Konflikt-
bzw. Prozeßstruktur 86. Die Paradoxien oder Spannungen, die dem schambehaf-
teten Ich zugrunde liegen, können als Indikatoren für die innere Zerrissenheit des
Ichs gelten. Sie lenken die Aufmerksamkeit darauf, wie problematisch das Selbst ist.
Da es sich bei der Scham um das Selbstinnewerden einer Defizienz handelt, wird
das Ich als schmerzhaft empfunden. Denn das Gefühl der retrospektiven a d∏c
resultiert aus einem inneren Zwiespalt, dem Auseinandertreten des eigentlichen
Wollens und des tatsächlichen Handelns. Wie das Vermeiden des Blickkontakts
und der Wunsch, im Boden zu versinken, auch für die Außenstehenden sichtbar
machen, würde der Betroffene am liebsten von seinem Ich loskommen oder hinter
die Scham und die von ihr ausgelöste problematische Selbsterkenntnis zurückge-
hen. Das unangenehme Ich abzuschütteln gelingt jedoch nur um den Preis der
physischen Selbstvernichtung. Sobald infolge der Scham Subjektivität, Verant-
wortlichkeit, Autonomie und Selbsterhaltung auf dem Spiel stehen, sind diese
Kennzeichen des Ichs immer schon in Frage gestellt. Eben weil das Ich und seine
Identität auf Grund des schambehafteten Verhaltens nicht mehr selbstverständlich
sind, kommt es ja zu einer Reflexion darüber, wer man ist und warum das Verhalten
nicht mit dem eigenen Selbstbild in Einklang steht. Eine innere Krise kann mithin
als Auslöser für Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis betrachtet werden. Diese
Krise läßt aber die Identität nicht unberührt. Solange man in Übereinstimmung
mit seinem Selbstbild handelt, besteht kein Anlaß, eine Überprüfung der eigenen
Identität vorzunehmen. Wenn man jedoch eklatant gegen die akzeptierten Normen
verstößt und dadurch der Mißbilligung seiner Mitmenschen ausgesetzt ist, erhebt
sich die Frage, ob sich das Selbstbild noch aufrechterhalten läßt. Aias kann diese
Frage nur verneinen; Herakles vermag seine Identität neu zu bestimmen; Aras-
pas kann seine Identität nur dadurch restituieren, daß ihm ein anderer, Kyros, die
Möglichkeit dazu gewährt. In jedem Falle ist unverkennbar, wie prekär die Identität
eines Menschen ist. Sie ist alles andere als stabil, auch wenn der sich Schämende
sie zu behaupten versucht. Vielmehr verändert sie sich mit jeder Handlung, und
zwar selbst gegen die eigentlichen Intentionen des Betroffenen.
Gerade diese Zerrissenheit stellt auch der eingangs zitierte Abschnitt der Gene-
sis in den Mittelpunkt: Die Scham der ersten Menschen bietet ein Potential zur
Selbsterkenntnis; diese Selbsterkenntnis ist aber immer ein Eingeständnis der eige-
nen Defizienz, der Nacktheit.
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131).
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr«1
Das Selbst und die Tragödie unter den Bedingungen des
Christentums (Sophokles, Kleist, Corneille, Racine, Schiller)
I. Sophokles, Antigone
»Ich bin’s, der ihn getötet, ich! / Ich rede wahr. […] Ich bin am Ende, bin nichts
mehr!« 2 Im tiefsten Schmerz über den Tod seines Sohnes Haimon und über den
Tod Antigones: also über das, was er in seiner ›politisch‹ motivierten Strenge
angerichtet hat, sieht sich Kreon am Schluß von Sophokles’ Tragödie radikal auf
sich selbst zurückgeworfen: »Im Leid erkenn ich’s. Ah! Mich schlug / Ein Gott
aufs Haupt mit gewaltiger Wucht. / Warf auf wilde Pfade mich hin, / Trat mit
Füßen des Lebens Glück«. (v. 1271 ff.) »Kann größrer Schmerz noch sein als dieser
Schmerz?« (v. 1282) »Elender ich! Weh! Weh! / In Elends Jammer versunken«.
(v. 1310f.) »Letzter Tag! Auf! Laßt / Mich keinen Morgen mehr schauen«. (v. 1330f.)
»Ich Ärmster! Wo ist / Ein Weg? Wo schaue ich hin? / Es sinkt / Alles in meiner
Hand. Aufs Haupt / Bricht übergewaltiges Schicksal«. (v. 1340ff.)
Der Faszination dieser Verse kann man sich auch heute noch kaum entziehen.
Angesichts des übergroßen Leids, das den König Thebens trifft – freilich nicht ganz
ohne eigene ›Schuld‹; er forciert eine ›politische‹ Entscheidung, wo wirkliche Kom-
1 Racine (1980), 606; Hippolyte zu Aricie in Phèdre II/2; Hervorhebungen von mir. Ich zitiere
nach der großartigen Übersetzung Friedrich Schillers, die aus seinen letzten Lebensjahren
stammt und die einzige wirklich genaue Übersetzung ist, die er vorgenommen hat. Die
französische Schreibweise der Namen behalte ich auch für die deutsche Übersetzung bei. Im
Original: »Maintenant je me cherche, et ne me trouve plus«. Racine (1985), 767. – Melanie
Möller, Heidelberg, und Alexander Arweiler, Münster, danke ich herzlich für ihre Einladung
nach Münster und ihre Kritik, den Tagungsteilnehmern für ihre Anregungen. Hervorhebun-
gen durch Fettdruck in den Zitaten jeweils von mir; Kursivierungen sind Hervorhebungen
des Originals.
2 Sophokles (1944), 271; v. 1319ff. Die weiteren Nachweise im Text durch Angabe der Verse
in Klammern.
240 Wolfgang Braungart
munikation notwendig wäre 3 – erfassen auch den heutigen Leser oder Zuschauer
noch »Jammer und Schauder«. Die (aristotelische) Katharsis ist gewiß noch immer
eine grundlegende Dimension ästhetischer Erfahrung 4. Die Schläge des Schicksals
verweisen Kreon vollständig auf sich selbst. Jetzt, nach der Katastrophe, muß er
mit sich selbst zurechtkommen. Das ist bekanntlich oft das Schwierigste. Denn
was hat er nun? Weil er in seinem ›politisch‹, von den Interessen der Polis her
begründeten Handeln scheitert, fragt er nun radikal nach sich selbst5. Solange die-
ses politische Handeln gelang, mußte er sich noch nicht selbst wissen. Die Frage
nach sich selbst ist das Ergebnis der Tragödie: »Im Leid erkenn ich’s«.
Die theoretische Konzeption von Selbst und Subjekt tritt hier, bei Sopho-
kles, noch völlig zurück. Selbst-Erkenntnis und Subjekt-Bewußtsein gegenüber
dem »Schicksal« entstehen aus der Erfahrung. Im ästhetisch-poetischen »Diskurs
der Tragödie« 6 wird das Subjekt wahrlich unter größten Schmerzen geboren: im
Modus der hervorbrechenden, unabweisbaren und unbeantwortbaren Frage nach
dem Selbst: Wer bin ich in der Erfahrung dieses Schicksals? Wer bin ich über-
haupt? Das Subjekt muß in eine Auseinandersetzung mit sich selbst eintreten 7.
Freilich: Selbst-Erkenntnis und Subjekt-Bewußtsein sind nicht identisch mit Sub-
jektivität im Sinne sich selbst wissender Individualität. Es scheint mir müßig, ihre
›Entdeckung‹ dieser oder jener Epoche zuschreiben zu wollen (etwa der frühen
griechischen Liebeslyrik oder der Sophistik, wofür es gute Gründe gäbe), weil wir
für ihre Rekonstruktion eben nichts haben als sprachliche Zeugnisse. Und Sprache
ist nun einmal das ›individuelle Allgemeine‹ (M. Frank); mit ihr ist grundsätzlich
die Option auf subjektive Expressivität gegeben8.
Das Leiden individuiert. Leiden heißt, das Allein-Sein zu erfahren: so Kreon
hier, so Oedipus, so Philoktet9. Das scheint uns so bekannt, daß man schon fast
vom Klischee der Tragödie sprechen könnte. Die Frage der Tragödie ist die Frage
nach dem Selbst. Die Tragödie ist, sobald sie sich als Gattung erkennen läßt, nicht
mehr allein rituelles Kultspiel im Rahmen der großen Dionysien. Sie ist nicht nur
3 Genau dies werden Lessings Nathan und Goethes Iphigenie anders machen!
4 Ich wähle hier bewußt die Übersetzungsvariante Manfred Fuhrmanns. Zum ›Mitleid‹ als
Affekt und Effekt der Tragödie dann kurz unten, S. 210f., S. 221ff.
5 Ich kann damit das Problem der ›Individualität in der Antike‹ hier nur andeuten, das Arbogast
Schmitt (2004) ausführlich anspricht.
6 Lehmann (1991).
7 Nur hingewiesen sei hier auf die beiden großen Studien Christopher Gills (1996 und 2006).
8 Kritisch zu einem großzügigen Gebrauch des modernen Ehrenzeichens ›Subjektivität‹ Polke
(1999).
9 Ausführlicher hierzu: Verf. (2007c). – Die Studie von Eva Bartsch (2000) setzt m.E. eine
problematische Ausgangsthese, wenn sie behauptet, die griechische Tragödie stehe »als
unmittelbarer Ausdruck eines dramatischen Geschehens in der Dimension der Erlösung«
(8). Die Kategorie der Erlösung ist der griechischen Tragödie grundsätzlich nicht angemessen.
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« 241
sozial-integratives Spiel vor der Polis und für die Polis 10, sondern ebenso schon
ästhetisches Spiel des Subjekts11. Die Faszinationskraft der griechischen Tragödie
gerade auch noch für die ästhetische Moderne, die Werner Frick kürzlich so ein-
dringlich in Erinnerung gerufen hat, hängt genau mit dieser Frage nach dem Selbst
zusammen12. Sie ist auch anthropologisch zentral. (Selbst-)Bewußtsein ist evolu-
tionsgeschichtlich ein emergentes Phänomen. Für seine Entstehung gibt es keine
überzeugende Erklärung. Bewußtsein und ›Sprache‹, freilich in ihrem »intermedia-
len Zeichengebrauch« 13, machen den Menschen überlegen gegenüber allen anderen
Lebewesen. Sprache ist das Medium des Bewußtseins 14. Bewußtsein brockt dem
Menschen aber auch unlösbare Probleme ein. Die größten hat er mit der Liebe, mit
dem Leiden und dem Tod. Die Literatur redet seit jeher vor allem davon. Die ersten
Spuren religiösen und ästhetischen Bewußtseins, die sich in der frühen Geschichte
materieller Kultur finden, deuten an, daß die Spezies ›Mensch‹ ihre Position in
umfassender Weise bestimmen will 15. Selbst-Bewußtsein ist kein Privileg der Neu-
zeit, gar der Moderne. Angesichts der Differenziertheit der Argumentation, der
Tiefe und geschichtlichen Reichweite der anthropologischen Reflexion der plato-
nischen und der aristotelischen Philosophie (man denke nur an die aristotelische
Bestimmung der Freundschaft) scheint es vermessen, das Selbst-Bewußtsein der
griechischen Literatur von dem der Neuzeit und den Ausformulierungen der ästhe-
tischen Moderne allzu strikt unterscheiden zu wollen 16. Warum sollten Erfahrung
und Reflexion des Allein-Seins im übergroßen Leiden im 5. Jahrhundert v. Chr. so
grundsätzlich anders sein? Leid und Schmerz, ihre Intensität, die Bedeutung, die
man ihnen gesellschaftlich zubilligt: Sie mögen so subjektiv sein, wie sie wollen. Sie
sind dennoch von derart unbestreitbarer Evidenz, daß sich das Subjekt nicht vor
ihnen davonmachen kann. Leiden und Schmerz kann man sich, trotz ihrer ganz
subjektiven Abschattierungen, nicht wirklich einreden; und sie lassen sich nicht
beliebig zum Kreuz spiritualisieren. In Schmerz und Leiden herrscht der Grund-
ton des Authentischen. (Darum scheinen die Haltung der Zustimmung und die
Wahrnehmung und Anerkennung des Gelingenden oft auch so viel anstrengender
als die der Klage. Das gilt besonders für die Moderne.) An der Evidenz von Leid
und Schmerz zu zweifeln, wäre so unsinnig, wie wenn man bestreiten wollte, daß
man naß wird, wenn man vor das Haus in den Regen tritt – und natürlich naß
wird. So kulturell und individuell unterschiedlich sie sich ausprägen17: Leiden und
Schmerz sind keine bloß kulturellen ›Konstruktionen‹.
Ein Sprung in der Geschichte der Literatur um mehr als 2000 Jahre und von
Sophokles zum Werk Heinrich von Kleists, für den das Problem von ›Selbst‹
und ›Bewußtsein‹ bekanntlich zentral ist. Die Marquise von O., die Protagonis-
tin der gleichnamigen Erzählung (1807), wird durch die »schöne Anstrengung«
– die Lösung vom Vater, die Suche nach ihrem Vergewaltiger und Vater ihres
Kindes –, der sie sich unterziehen muß, »mit sich selbst bekannt gemacht«18. Sie
kommt wirklich zu Selbst-Bewußtsein: ihrer Familie, der Gesellschaft und sich
selbst gegenüber.
Im zentralen 15. Auftritt von Kleists Tragödie Penthesilea (1808) fragt die Ama-
zonenkönigin Achill, diesen herrlichen Helden, zunächst scheinbar unverfänglich
und offen: »Sprich, wer den Größesten der Priamiden / Vor Trojas Mauern fällte,
warst das du?« 19 Das Heroische, das das Selbst vom Politischen und vom großen
öffentlichen Auftritt her definiert, soll hier noch Achills Identität ausmachen. Mit
dem Heroischen steht auch ein grundsätzliches Problem der Poetik der Tragödie
zur Debatte: die Dramaturgie des Erhabenen und der Bewunderung, die schon
Lessing so heftig kritisiert hatte 20. Penthesilea ruft Achills grausames Heldentum
in Erinnerung, um dann aber insistierender auf dessen Selbst hin weiterzufragen:
»Sprich! Rede! Was bewegt dich so? Was fehlt dir?« (15, v. 1798). Aus dem thea-
tralisch sich inszenierenden Heroischen in seiner ›objektiven‹, kriegspolitischen
Funktionalität ist nun, in der sich anbahnenden Beziehung der Liebe, keine wirk-
liche Identität mehr zu gewinnen. Das Heroische reicht nicht an das Selbst in der
Erfahrung der Liebe heran. Achill antwortet mit den Worten, mit denen Jesus bei
seinem letzten Verhör antwortet: »Ich bins« (vgl. Mk 14,62; Lk 22,70). Wie kann
er das sagen? Und was sagt er damit? Vor dem Hohenpriester steht dieser Jesus,
der sich selbst als König der Juden bezeichnen läßt, als ›nackter Mensch‹ in seiner
völligen ›Eigenschaftslosigkeit‹. Das Erhabene eines politischen Königtums zählt
hier nichts mehr; allenfalls zählt es noch zu seiner Verhöhnung. Sein wirkliches
Königtum kommt nämlich aus seiner Gottessohnschaft allein. Jesus löst in seiner
Nacktheit und Schutzlosigkeit die zentrale anthropologische Aussage der Bibel,
der Mensch sei ›imago Dei‹, exemplarisch, ganz und gar ein. Er braucht darum
nichts als sein nacktes Dasein. Es gilt völlig. Was für ein Selbst-Entwurf! Auf ihn
muß ich noch zurückkommen.
Zählt aber das Heroische noch für Achill selbst? Penthesilea echot:
Nun denn, so grüß ich dich mit diesem Kuß [!],
Unbändigster der Menschen, mein! Ich bins,
Du junger Kriegsgott, der du angehörst;
Wenn man im Volk dich fragt, so nennst du mich.
(15, v. 1805 ff.)
Achill soll sich ganz durch seinen Bezug auf Penthesilea definieren. Das trägt
sie ihm auf; das fordert sie geradezu von ihm. Der ›Unbändigste‹ wird allein
durch sie ›gebunden‹. Die Ambivalenz dieses Kusses wird sich allerdings, wie
schon im Judas-Kuß, bald zeigen. Kleist will das Objektiv-Pronomen ›mich‹ betont
wissen. Die heroische Bestimmung Achills durch den Krieg (also durch seine
Polis) wird durch den Anspruch Penthesileas abgelöst, sich ihrer Liebesordnung
zu unterwerfen. Aber kann dies gelingen, wo sich Penthesilea selbst doch mit ihren
Amazonen für die ›männliche‹, heroisch-erhabene Lebensform entschieden hat?
Achill sakralisiert sie genau darin seinerseits:
O du, die eine Glanzerscheinung mir,
Als hätte sich das Ätherreich eröffnet,
Herabsteigst, Unbegreifliche, wer bist du?
Wie nenn ich dich, wenn meine eigne Seele
Sich, die entzückte, fragt, wem sie gehört?
(15, v. 1809ff.)
»Wer bist du?« Die graeco-mariologische Anspielung wiederholt sich wenig später:
»Was ists, du wunderbares Weib, daß du, / Athene gleich, an eines Kriegsheers
Spitze, / Wie aus den Wolken nieder […] fällst?« (15, v. 1877–1880) Biblisch-mario-
logische Anspielungen sind bei Kleist – und in der Literatur um 1800 überhaupt –
nicht gerade selten 21.
»Wer bist du?« Deutlicher geht es nicht. Wer wüßte darauf schon eine Antwort!
Und doch spitzt große Literatur immer auf diese Frage zu, die einen förmlich
21 Die Marquise von O. wird von ihrer Mutter mit mariologischen Attributen belegt; vgl.
auch Kleists Erzählung Das Erdbeben von Chili: Als Jeronimo nach dem Erdbeben Josephe
wiederfindet, ruft er aus: »O Mutter Gottes, du Heilige!« Die Familienszene in paradiesischer
Landschaft evoziert die Heilige Familie. Die Familie beschließt, »nach La Conception zu
gehen«. – Kleist (1977), 148 und 150.
244 Wolfgang Braungart
anfällt: »Wer bin Ich und wer bist Du?« Das ist die Kernfrage der Literatur 22. –
»Wer bist du?« Ganz ähnlich wird Schillers Johanna, »ein Weib«, das sich ebenfalls
»mit kriegerischem Erz / Umgeben«, von Lionel gefragt 23. Auch Johanna ist
»die Wunderbare«, »das wunderbare Mädchen«. Sie vollbringt und an ihr selbst
vollziehen sich »Wunder«. Das größte und eigentliche ist das der Subjektwerdung.
Johanna gegenüber Raimond: »Doch in der Öde lernt ich mich erkennen« (V/4,
v. 3170). Zu Sorel sagt sie: »Mir zeigt der Geist nur große Weltgeschicke, / Dein
Schicksal ruht in deiner eignen Brust!« (III/4, v. 2133f.) Kleists Tragödie läßt
sich auch als Antwort auf Schiller verstehen. In Jungfrau Johannas Untergang
triumphiert nämlich zuletzt doch die Idee der Versöhnung von christlich geprägtem
Mitleid und Liebe und Politik, also des individuellen und des allgemeinen Interesses.
Das ist Subjektwerdung für Schiller. Die Jungfrau von Orleans ist letztlich keine
Tragödie mehr, sondern ein modernes Versöhnungsdrama. Versöhnungsdramen
waren schon Philoktet des Sophokles und Alkestis des Euripides. Dort aber besteht
das versöhnende Wunder im Eingriff des Gottes; hier ist es das Wunder der
Subjektwerdung in der entschiedenen Selbstrelativierung 24. Darauf werde ich am
Ende dieses Aufsatzes noch einmal eingehen.
Direkter, als Kleist es tut, kann man die Frage nach dem Selbst kaum stellen.
Die Gattung der Tragödie stellt sie fortwährend. Wer bist du? Derjenige, der der
Ordnung der Griechen oder derjenigen der Amazonen angehört? Beides sind,
sozusagen, Polis-Ordnungen und beides Ordnungen des Krieges. Die Polis defi-
niert sich genau dadurch, daß sie im Krieg liegt mit einer andern (Carl Schmitt).
Achill will Penthesilea zu seinen Griechen führen und sie ihn nach Themiscyra zum
Rosenfest der Amazonen, dem rituellen Unterwerfungsfest der Männer unter die
archaische Ordnung der »ersten Mütter« (15, v. 1909). Er hält dieses Ritual der
Amazonen für »ein Gesetz, / Unweiblich, du vergibst mir, unnatürlich«, »[d]em
übrigen Geschlecht der Menschen fremd« (15, v. 1902–1904). Solange diese Antago-
nismen so sind, gibt es nur »Versehen« und reimen sich in der Tat »Küsse, Bisse«
(24, v. 2981). Selbst-Werdung müßte aber bedeuten, sich einer Liebe zu öffnen,
die nur in der wirklichen ›Anerkennung‹25 des anderen auch sich selbst finden
kann, nicht in den Repräsentanzen der Polis-Ordnungen, aus denen die beiden
Liebenden kommen. Im Tod begreifen sie das beide. Hier ›gleiten‹ keine Signi-
fikanten, wie dekonstruktive Deutungen dies gerne hätten. Penthesilea ist keine
›Tragödie‹ der (Sprach-)Ordnung als solcher, sondern eine Tragödie des Selbsts,
22 Gadamer (1986).
23 Schiller (1981), 180; III/4, 2255f. Die weiteren Nachweise mit Angabe von Akt, Szene, Vers im
Text. Eine ausführlichere Interpretation zu dieser Frage des Christlichen in Schillers Jungfrau
von Orleans in: Verf. (2007b); in anderem Kontext: Verf. (2007a).
24 Zum Typus und Verständnis des Versöhnungsdramas vgl. auch Hösle (1984).
25 Vgl. Honneth (1998); Ricœur (2006).
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« 245
welches das, was ihm Lessing in seinem Nathan und Goethe in der Iphigenie, bei-
des Tragödienvermeidungsdramen26, zu leisten auftragen, nicht zu leisten vermag:
»Denn jetzt steig ich in meinen Busen nieder, / Gleich einem Schacht, und
grabe, kalt wie Erz, / Mir ein vernichtendes Gefühl hervor«. Im Tod, so Penthesi-
lea, ›sage ich‹ »vom Gesetz der Fraun mich los / Und folge diesem Jüngling hier«
(24, v. 3013ff.). Im Tod! Jetzt begreift sie, daß sie zuerst sich, ihrem »Gefühl« und
ihm gehört und nicht dem vor-subjektiven »Gesetz der Fraun«.
Lessings Komödie Minna von Barnhelm (1767) ist mit ihrem Komödienschluß,
sozusagen, das antizipierte Gegenstück zu Kleists Penthesilea. Hier gelingt unter
größten Mühen, was dort scheitert: die Annahme der Person in den lebenswelt-
lichen Ordnungen, aus denen sie kommen. Minna lernt, daß es das Selbst ›pur‹
nicht gibt, sondern immer nur in sozial-kommunikativen Zusammenhängen, also
letztlich: in der Anerkennung des andern und in dem Anerkanntwerden durch den
andern. Sie will ihren Tellheim zunächst gleichsam ›nur‹ als Menschen haben, jen-
seits seiner ganzen männlichen Ordnung der Ehre und des Krieges und seiner über
sich selbst unaufgeklärten Vernunft. Am Ende begreift und akzeptiert sie, daß es
nur konkrete Individuen gibt, die die Ordnungen, in denen sie stehen, nicht nach
Belieben verlassen können. Und Tellheim begreift, daß er zu einer subjektiven Indi-
vidualität kommen muß – und ihretwegen geliebt wird! –, zu einer Individualität,
die sich nicht nur aus den gesellschaftlichen und politischen Ordnungen definiert,
in denen er steht.
Die Literaturwissenschaft ist als hermeneutische Disziplin für die Aufhellung der
Prozesse literarisch-ästhetischer Sinnkonstitution zuständig. Auch die Frage nach
dem Selbst ist letztlich die Frage nach dem ›Sinn‹ der Kunst in ihrer spezifischen
Ästhetizität. Wohl für keine Gattung sonst ist die Frage nach dem Selbst so kon-
stitutiv wie für die Tragödie, weil für keine andere Gattung Leid und Schmerz so
sehr konstitutiv sind (die Subjektivität der Lyrik nötigt das Subjekt nicht ähnlich
zwingend ins selbst-bewußte Subjekt-Sein). Das Subjekt-Sein wird den Protago-
nisten der griechischen Tragödie aufgezwungen. Die Protagonisten nennen diesen
Zwang ›Schicksal‹. Erst das Neue Testament denkt ein Subjekt, das etwas sein soll
jenseits solcher Hinsichten und Hinblicke, jenseits der sozialen Verfügungen und
sozialen Verfügbarkeiten, auch jenseits seiner Funktion in der ›Polis‹. So sehr das
Neue Testament gerade den Blick auf das Soziale richtet und das Karitative betont
und fordert, so denkt es das Subjekt doch als ein Unverwechselbares: »in der ersten
Person Singular« (F. Vouga). Es läßt dem Subjekt all seine Eigenarten und Eigen-
27 Vgl. Vouga (1998), bes. 38–40; id. (2000) und id. (2004); zur geschichtlich-theologischen
Entfaltung des Subjekt-Gedankens vgl. Müller (1994).
28 Dazu gibt es natürlich eine reiche Forschung; vgl. nur Feichtinger/Seng (2004).
29 Ich konzentriere mich auf diesen einen Aspekt; umfassender und differenziert: Reinmuth
(2006).
30 Vgl. bes. Girard (1988). Zu Girards Konzeption vgl. Palaver (2003). – Das Problem des
Opfers/Selbstopfers hat in den letzten Jahren – wohl auch aus Gründen seiner schrecklichen
Aktualität – neues Interesse hervorgerufen. Vgl. Janowski/Welker (2000); Malsch (2007).
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« 247
Sinne auch Ethik und Ästhetik. Freiheit, die sich im ästhetischen Spiel ereignet,
ist die Freiheit des Menschen, in der das Subjekt ganz es selbst sein kann: Indi-
viduum und Gattungswesen zugleich. Mit dem versöhnenden Selbstopfer Jesu
kommt die ›Polis‹, die soziale Gemeinschaft wieder ins Spiel, aber jetzt eben auf
der Basis eines neuen Subjekt-Begriffs. Ich betone also diese neutestamentliche
Konzeption des ›autonomen‹ Subjekts, nicht den Gedanken der Heilsgeschichte,
der dafür natürlich die theologische Grundlage bildet. Subjekttheoretisch ist der
Gedanke der Heilsgeschichte jedoch eher zweitrangig. Darauf kommt es mir also
an: auf diese Verbindung von Selbst-Bewußtsein, das Schuld-Bewußtsein ist und
Selbst-Reflexion verlangt, und Anerkennung des Subjekts in seiner ›Eigenschafts-
losigkeit‹. Dies ist der entscheidende Schritt des Neuen Testamentes, durch den es
über die bloße ›cura sui‹ hinauskommt.
Die Poetik der neuzeitlichen Tragödie hat auf diese neutestamentlichen Vor-
gaben vor allem drei Antworten gegeben. Eine kommunikativ-ethische, die das
Subjekt in seiner ganzen sozialen Kraft herausfordert. Sie heißt ›Poetik des Mit-
leids‹ und wird, wirkungsmächtig mindestens bis Brecht, erstmals von Lessing
wirklich ausformuliert. Eine subjekt- und freiheitstheoretisch modellierte, und sie
stammt vor allem von Schiller. Und eine der objektiven Logik des geschichtlichen
Prozesses, in dem das Leiden des tragischen Subjekts seinen notwendigen Ort
erhält: so Hegel 31.
In seiner Theorie des Homo sacer hat Giorgio Agamben das ›nackte Selbst‹ aus
der Perspektive der Macht zu bestimmen versucht 32. Es ist bezeichnend, daß er
dabei die Anthropologie des Neuen Testamentes außer acht läßt. Dagegen betone ich
mit Bezug auf das Neue Testament Selbst-Wert, Selbst- Gefühl 33, Selbst-Definition
und Selbst-Bewußtsein (ein Begriff, der erst im 18. Jahrhundert als Übersetzung
aus dem Lateinischen aufkommt). Die sozial Deklassierten werden zum himm-
lischen Hochzeitsmahl geladen. Die Armen, Mühseligen und Beladenen werden
die wahrhaft Seligen sein. Die Hure, der betrügerische Zöllner, der nichtsnutzige
Herumtreiber, der das väterliche Erbe verpraßt, die Säufer und Fresser: Sie zählen
mindestens so viel wie die Tüchtigen. Unter einer Bedingung: Sie müssen sich
ihrer selbst bewußt werden und bereit sein zur conversio; sie müssen zur vollen
Einsicht in sich selbst kommen, in ihr verfehltes Leben, also in ihre Schuld. Sie
müssen ein Gewissen entwickeln, an dem sie sich selbst messen. Maßstab und
Reflexionsinstanz liegen im Innern des Subjekts selbst. Und sie müssen sich dann
ganz darauf verlassen, daß sie gerade in diesem ihrem ›nackten‹ Selbst-Sein zählen.
Der am Kreuz hat es vorgelebt und vorgesprochen: Mein Gott, mein Gott, warum
hast du mich verlassen? Also: Was bin ich jetzt noch im größten Leiden und als
sozial Ausgestoßener? Das Selbst, das dieser Mann am Kreuz konstituiert, kommt,
ich folge hier ebenfalls dem Neutestamentler François Vouga, aus dem Geist der
›Umsonstheit‹ der größten Liebesgabe Gottes, die er durch das Selbstopfer Jesu
Christi spendet34. Der verlorene Sohn (Lk 15,11–32) hat sein ganzes Erbe durch ein
»zügelloses Leben […] durchgebracht« (Lk 15,13f.). Als er das sieht und begreift,
daß er so sein Leben radikal verfehlt, kehrt er um und bittet seinen Vater um
Verzeihung. Er wird vom Vater wieder angenommen und wird in seinem Wert
und seiner Würde wieder anerkannt. Es braucht dazu nichts als die völlige Einsicht
in sich selbst.
Solange nun die Frage nach dem Selbst gewissermaßen ganz und vollständig in
das heilsgeschichtlich begründete rituelle Opfer-Spiel der Passionsgeschichte einge-
lassen ist und von dorther gelöst wird, braucht es keine Tragödie und kann es keine
geben. Das Selbst ist gleichsam im Ritual geborgen und verborgen. Das mittelalter-
liche Passionsspiel ist rituelle und theatrale Performanz der Heilsgeschichte; es ist
wichtiger Bestandteil des ästhetisch-religiösen Gesamtsystems Liturgie35, geht aber
im Liturgischen nicht auf 36. Die Gattung der Tragödie schweigt gleichsam bis in die
Frühe Neuzeit hinein. Ich behaupte damit nicht, daß es im Rahmen des religiös-
rituellen Passionsspiels grundsätzlich keine Spielräume gegeben habe, die aus dem
Ästhetischen selbst kommen, ja daß das Ritual überhaupt nur ein Handlungs-
typ hochgradiger Normiertheit und Starrheit sei. Insbesondere die Forschungen
Gerd Althoffs haben deutlich machen können, daß das Ritual im Mittelalter als ein
spezifischer Typus symbolischer Kommunikation mit spezifischen Handlungsop-
tionen verstanden werden muß37. Ich sage nur, daß das Passionsspiel, anders als
die Tragödie, die Frage nach dem Selbst nicht stellen muß; sie ist von vornherein
heilsgeschichtlich beantwortet.
Michael Lurje hat vor kurzem an der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte
des König Oedipus gezeigt, wie die antike Tragödie in der Frühen Neuzeit neue Auf-
merksamkeit findet, wenn das Problem von Schuld und Reinigung vom reforma-
tionstheologischen, humanistisch-philosophischen und -poetologischen Diskurs
aufgegriffen und jeweils ›situationsangemessen‹ neu interpretiert wird 38. Unter
den Bedingungen des reflexivwerdenden Christentums der Frühen Neuzeit muß
die Frage nach der Schuld gestellt werden, die für die aristotelische Tragödienpoetik
noch keine subjekttheoretisch und individuell moralisch relevante Frage war. In
der Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit hat man sich lange Zeit besonders
39 ›Kunst‹ ist in dieser Perspektive nicht das Telos des Passionsspiels; anders Quast (2005).
40 Vgl. Geyer (1997). Auf die grundlegenden Studien Dieter Henrichs und Manfred Franks sei
nur summarisch hingewiesen.
41 Vgl. hierzu Verf. (2005). Vgl. auch Frevert (2003).
250 Wolfgang Braungart
ist 42. Das macht für Schiller die Erhabenheit der Tragödie aus. Die subjekttheore-
tischen Implikationen der Durchsetzung des Christentums sind selbst bei Lessing
noch nicht völlig erkannt. Das Problem reflektiert erst Schiller konsequent.
Das ist meine These, die ich nun noch etwas weiter zunächst an Corneille
und Racine skizzieren will. Dann komme ich abschließend noch einmal kurz auf
Schiller zurück.
42 Weil die Tragödie der eigentliche ästhetische Gestaltungs- und Erfahrungsraum von Freiheit
ist – das Glück ist keine Herausforderung für das moralische Subjekt (und das Moralische
ist der Kern des Subjektes) –, ist auch die Geschichte für Schiller nicht an sich tragisch,
sondern erst in der Auswahl des Stoffes und in der Deutung durch den tragischen Dichter.
Vgl. Söring (1982), 320.
43 Zu diesem Problem auch Chihaia (2002); dort die einschlägige Literatur zur ›tragédie classi-
que‹.
44 Meier (1988).
45 Mayer (2005), 231; zur Querelle du Cid, 235ff.
46 Auf François Hédelin, Abbé d’Aubignac (La Pratique du Théâtre des Franzosen d’Aubignac,
Paris 1657) antwortet Corneille 1660 in seinen Trois Discours sur le Poème Dramatique. Diese
drei Abhandlungen über die Kunst des Theaters sind außerordentlich wirkungsvoll gewor-
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« 251
den; sie verschaffen gegenüber den starren Regeln d’Aubignacs einen gewissen Spielraum,
bleiben aber der Regelhaftigkeit verpflichtet.
47 Vgl. dazu van Dülmen (1997).
48 Assmann (1991), 24.
49 Unter dem Gesichtspunkt des Opfers, aber mit anderen Akzenten, untersucht Chihaia
(2002) die ›haute tragédie‹.
252 Wolfgang Braungart
50 Corneille (1968), 192. Im Original: »Quoi, la nécessité des vertus, et des vices / D’un Astre
impérieux doit suivre les caprices, / Et Delphes malgré nous conduit nos actions / Au plus
bizarre effet de ses predictions? / L’âme est donc tout esclave, une loi souveraine / Vers le
bien, ou le mal incessamment l’entraîne, / Et nous ne recevons, ni crainte, ni désir / De cette
liberté qui n’a rien à choisir, / Attachés sans relâche à cet ordre sublime, / Vertueux sans
mérite, et vicieux sans crime […] / N’enfonçons toutefois, ni votre œil, ni le mien / Dans ce
profond abîme, où nous ne voyons rien«; Corneille (1987), 62f.
51 Man sieht von hier aus schon die Verschiebung in der Liebeskonzeption bei Lucile am
Ende von Büchners Dantons Tod (1835): Bewahrung der Liebe um den Preis des durch den
Ausruf »Es lebe der König« provozierten Todes; Opfer an die Liebe, nicht Opfer an die
Gemeinschaft.
52 Wolfgang Theile hat darauf hingewiesen, daß die Bearbeitung des Oedipus-Stoffes durch
Corneille im Unterschied zu der durch Sophokles das Schuld-Problem von Beginn an
in den zwischenmenschlichen Bereich verlagert; aus einer vertikalen Struktur (Oedipus
und das Orakel, Oedipus und die Götter) wird eine horizontale. So wird die Tragödie
zum Diskursort dessen, was politische Macht ist, wie sie ihre Ansprüche artikuliert und
wie sie sich durchsetzt. Der Konflikt zwischen Oedipus und Dircé referiert unübersehbar
auf die zeitgenössische politische Debatte im Anschluß an Machiavelli und Bodin. Diese
Beobachtung nimmt der Kritik an Corneilles Drama, es falle in eine Liebeshandlung und in
eine Oedipus-Handlung auseinander, ein wenig von der Schärfe, erledigt sie aber nicht. –
Theile (1975), bes. 40.
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« 253
bis in die Lebenspraxis hinein, das ist die Befürchtung, die die religiös motivierte
Kritik der Frühen Neuzeit auch dem Roman entgegenbringt53.
Die letzte Szene von Corneilles Oedipe bringt, gemäß dem Mythos, den Bericht
über die Selbstblendung Oedipes, die nun wirklich als Opfer für den Staat gedeutet
wird und so auch die Versöhnung zwischen Staat und Familie eröffnet:
In diesen Mauern breitet plötzlich sich Gesundheit wieder aus,
Und alles glaubt an Wunder, preist mit hocherhobener Stimme
Die Güte unserer Götter ob solch raschem Wandel 54.
Indem die Tragödie zum Mythos zurückfindet, relativiert sie den Autonomiean-
spruch des selbst-opferbereiten Paares Dircé und Thésée. Das Opfer Oedipes erhält
dabei christologisch-postfigurative, martyrologische Züge: »Nur seinem Blut ver-
danken wir den öffentlichen Jubel«. Aus seinem Blut entsteht »den Thebanern
neues Leben […] kaum hat dieses kostbar Blut den Boden nur berührt« 55. Das
Opfer Oedipes erscheint weniger grausam und sowohl gegenüber der archaischen
Monumentalität bei Sophokles als auch gegenüber der Drastik bei Seneca deutlich
gemildert. Mit dem »Wunder« wird die sichtbare Wirkung des Opfer-Rituals
betont. Es muß seinen sozialen Effekt dabei zeigen. Das ist, sozusagen, eine
katholische Variante der Tragödie. Sie begnügt sich nicht, wie im protestantischen
Märtyrerdrama, mit der Emblematisierung des geschundenen Körpers allein 56. Das
»Wunder« beglaubigt die Leistung des Opfer-Rituals, das freilich die Handschrift
des sich selbst zum Opfer bestimmenden Subjekts schon trägt. Das Selbstopfer
Oedipes und das daraus entstehende Wunder konstituieren eine »neue Ordnung«.
Der Fluchtpunkt des Rituals ist, wie Dircé sagt, diese »neue Ordnung«, die »der
morgige Tag uns bringen« mag 57. Diese neue Ordnung stabilisiert die Polis. Auf
der Ordnung liegt der Akzent. Auch dies ist ›katholisch‹. Sie hat zwar den ›Erlöser‹
Oedipe als ihren Begründer, kommt aber nun ohne ihn aus. Sie wird nun weiterhin
auf dynastischer Planung beruhen, wie dies von Thésée und Dircé repräsentiert
wird und wie es sich für frühneuzeitliche Herrschaftsrationalität gehört.
Hier zeichnet sich eine merkwürdige Spannung ab, deren Problem sich in Cor-
neilles berühmter fünfaktiger Märtyrer-Tragödie Polyeucte Martyr, uraufgeführt
53 Eine der interessantesten und deutlichsten kritischen Stellungnahmen stammt von dem
calvinistischen Pfarrer Gotthard Heidegger (1611–1711): id. (1969).
54 Corneille (1968), 214. Im Original: »La santé dans ces murs tout d’un coup répandue / Fait
crier au miracle, et bénir hautement / La bonté de nos Dieux d’un si promt changement«.
Corneille (1987), 91.
55 Corneille (1968), 215. Im Original: »On ne doit qu’à son sang la publique allégresse […]
Là ses yeux arrachés par ses barbares mains / Font distiller un sang qui rend l’âme aux
Thébains. Ce sang si précieux touche à peine la terre …«: Corneille (1987), 92f.
56 Vgl. Benjamin (1928). Die jüngste Deutung stammt von Bettine Menke (2006).
57 Corneille (1968), 216. Im Original: »Un autre ordre demain peut nous être donné«. Corneille
(1987), 93.
254 Wolfgang Braungart
1642/43, noch einmal verschärft. Einerseits betont Corneille hier noch sehr viel
stärker dieses Moment des Wunders. Andererseits wird gerade so, durch das Wun-
der, der säkulare Staat vorbereitet. Sévère ist keineswegs nur ›severus‹. Beeindruckt
durch die Standhaftigkeit, mit der Polyeucte das Martyrium erleidet, bekehren sich
sowohl Pauline als auch ihr Vater. Der Repräsentant der römischen Zentralgewalt
Sévère ist ebenfalls äußerst beeindruckt. Er räumt nun individuelle Religionsfreiheit
ein. Staat und Religion treten, vorangetrieben gerade durch das Wunder, auseinan-
der. Die Politik wird gewissermaßen liberal. Das kultische Ritual (das heißt nicht:
jedes Ritual) kann und muß sie nicht mehr wirklich fundieren. Das kultische Ritual
ist nur initial für den modernen Staat. Beide, der Kaiser und Gott, dürfen nun
Verehrung beanspruchen. Damit daraus kein Konflikt entsteht, braucht es aber das
Band der Liebe und des Vertrauens zwischen Herrscher und Untertan:
Unterdessen will ich [Sévère]
Gestatten, daß ein jeder seinen Göttern
Auf seine Weise dient, und ohne Furcht
Vor Strafe. Seid ihr Christen, fürchtet nichts
Von meinem Haß, ich liebe sie, ich will
Ihr Schützer ferner sein, nicht ihr Verfolger.
Behalte deine [Felix’] Macht, nimm sie zurück,
Verehre deinen Gott und deinen Kaiser.
Du wirst die Grausamkeiten enden sehen,
Wenn ich des Kaisers Liebe mir erhalte,
Der ungerechte Haß bringt ihm nur Schande 58.
Schon der für den französischen und überhaupt den europäischen Absolutismus
zentrale Staatsphilosoph Jean Bodin, mit Niccolò Machiavelli Begründer einer
rationalen und pragmatisch orientierten politischen Theorie in der Frühen Neu-
zeit, fordert, daß zwischen den Untertanen und seinem Souverän ein Verhältnis
der Liebe und des Vertrauens bestehen müsse, ohne das keine stabile politische
Ordnung sein könne. Wie die Polis so darf auch der Staat nicht einfach eine
abstrakte Größe sein, sondern bedarf affektiver Verbundenheit seiner Bürger mit
dem Souverän. In der Zweiten Abhandlung über die Regierung (1690) wird John
Locke genau diese Kategorie des Vertrauens besonders betonen. Vertrauen aber
58 Corneille (1962), 65. Im Original: »J’approuve cependant que chacun ait ses Dieux, / Qu’il
les serve à sa mode, et sans peur de la peine. / Si vous êtes Chrétien, ne craignez plus
ma haine, / Je les aime, Félix, et de leur protecteur / Je n’en veux pas sur vous faire un
persécuteur. / Gardez votre pouvoir, reprenez-en la marque, / Servez bien votre Dieu, servez
notre Monarque, / Je perdrai mon crédit envers sa Majesté, / Ou vous verrez finir cette
sévérité, / Par cette injuste haine il se fait trop d’outrage«. Corneille (1980), 1049. – Man
kann sich hier schon, wenn »ein jeder seinen Göttern / Auf seine Weise dient«, an Lessings
Ringparabel erinnert fühlen. Lessing hat Corneille bestens gekannt; vgl. Golawski-Braungart
(2005).
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« 255
59 Besonders gravierend ist, wie der Schluß von Lessings Drama relativiert. Das Drama ist näm-
lich als ganzes selbst eine Art Märchen. Plötzlich sind alle mit allen verwandt. Ein großes
allegorisches Tableau der Menschheitsfamilie inszeniert sich da auf der Bühne, aber um den
Preis waghalsiger und verworrener Konstruktionen von Verwandtschaft. Und bei Goethe
wird mit einem hermeneutischen Trick gearbeitet: Denn das ›Bild‹ der Göttin, das Orest und
Pylades bei den Tauren suchen, soll Iphigenie selbst sein. Man deutet den Mythos einfach
um! Dieser Trick spielt dabei auf die jüdisch-christliche Anthropologie an; die Gottebenbild-
lichkeit des Menschen ist die zentrale anthropologische Aussage der Bibel.
60 Ich habe dieses Problem zu umreißen versucht in: Verf. (2005).
61 Racine (1980), 606. Im Original: »Maintenant je me cherche, et ne me trouve plus«. Racine
(1985), 767.
62 Racine (1980), 623. Im Original: »Je ne sais où je vais, je ne sais où je suis«. Racine (1985),
782.
256 Wolfgang Braungart
wer ich bin« 63. Zwar ist das zunächst so gemeint, daß Hippolyt seinen Vater an
seinen eigenen sozialen und familialen Stand erinnert. Und doch läßt sich diese
Formulierung durchaus doppeldeutig und grundsätzlicher verstehen: Hier wird
nach dem Subjekt selbst gefragt. Man darf wohl die Neubelebung der Mystik im
17. Jahrhundert auch so verstehen, daß sie bereits auf diese frühmoderne Frage
nach dem Subjekt antwortet. Bei Angelus Silesius (Johannes Scheffler) heißt es
z.B. in dem bis heute gesungenen Kirchenlied Ich will dich lieben, meine Stärke
(1657): »Ich lief verirrt und war verblendet, / Ich suchte dich und fand dich nicht, /
Ich hatte mich von dir gewendet / Und liebte das geschaffne Licht«64. In dem
ebenfalls bis heute noch gebräuchlichen Lied Mir nach, spricht Christus, unser Held
(1668) heißt es in der fünften Strophe: »Wer seine Seel zu finden meint, / Wird sie
ohn mich verlieren, / Wer sie um mich verlieren scheint, / Wird sie nach Hause
führen« 65.
Wenn das Subjekt erst einmal – im äußersten Affekt der Liebe – in sich
selbst hinabgestiegen ist, dann gibt es keinen Weg mehr heraus. Racine wählt
die höchste Stilebene, den gereimten Alexandriner, die erhabenste Sprache, das
höchste Pathos (vgl. etwa die große Rede Phèdres in II/5). Das mußte Schiller
anziehen. Sein fünfhebiger Jambus ist ebenfalls äußerst pathetisch und doch nie
trivial; er kippt nie ins Lächerliche, wie es mit den Sturm-und-Drang-Dramen
häufiger geschieht. Der hohe Stil trägt das hohe Pathos, auch wenn die Geschichte
fast trivial scheint. Die Liebe als der erschütternde Affekt, als der Affekt, der
die Person ganz besetzt, von dem aus die Person sich ganz ergriffen sieht: Das
ist das zentrale Thema. Phèdre: »Ins Labyrinth stieg ich hinab mit dir, / Mit
dir [Hippolyte] war ich gerettet oder verloren«66. Zwar steht Racines Phèdre in
der Tradition der Vorstellungsgeschichte von der Liebe als Krankheit; das Drama
erinnert immer wieder an den medizinischen Diskurs. Und doch ist die Liebe hier
vor allem Medium des Ausdrucks und der Darstellung eines äußersten seelischen
Konfliktes des Subjekts. Aricie und Phèdre konkurrieren auch in der Liebe67. In
der Liebe als der größten Leidenschaft wird zugleich die Tugend als der größte
moralische Anspruch des Subjekts sichtbar. Auch dieses Problem mußte Schiller
interessieren. Hinzu kommt das Heroische, das Hippolyt repräsentiert68. Wozu
63 Racine (1980), 625. Im Original: »Approuvez le respect qui me ferme la bouche; / Et sans
vouloir vous-même augmenter vos ennuis, / Examinez ma vie, et songez que je suis«. Racine
(1985), 785.
64 Angelus Silesius (1949), 47.
65 Angelus Silesius (1949), 311.
66 Racine (1980), 611. Im Original: »Et Phèdre au Labyrinthe avec vous descendue / Se serait
avec vous retrouvée, ou perdue«. Racine (1985), 771.
67 So z.B. in der langen Rede Aricies: Racine (1980), 602 ff. und 616. Vgl. das Original: Racine
(1985), 763f. und 776.
68 So Racine (1980), 604ff. Vgl. das Original: Racine (1985), 764f.
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« 257
soll der große Affekt gut sein? Das ist für Schiller die entscheidende Frage: Welche
Form der Katharsis provoziert der Affekt? In welche Richtung geht die seelische
Erregung, die der Zuschauer erlebt, wenn er dem Geschehen auf der Bühne folgt?
Ist seelische Erregung an sich gut? Wo bleibt der Fluchtpunkt – die Polis, der Staat,
die Gemeinschaft? Das Drama beantwortet diese Frage nicht. Es stellt den großen
Affekt als ästhetische und seelische Herausforderung vor Augen, ohne ihn noch
wirklich moralisch oder sozialethisch durch eine implizite Theorie der Katharsis
aufzufangen.
Freilich ist der Schluß von Racines Tragödie dann äußerst interessant. Jetzt wird
der Selbstmord durch Gift auch dramaturgisch legitimiert. Er gibt Phèdre Zeit, ihre
Schuld zu gestehen. Ihr Geständnis führt Thésée ebenfalls zur Einsicht. Durch das
Geständnis der Schuld entsühnt sich Phèdre, sie erhält die Absolution. Jetzt klingt
auch sogar in diesem Drama ein postfiguratives, christologisches Moment an:
Thésée wünscht, daß sich die Tränen der Rührung über das Schlußtableau nun
»mit dem Blut / Des lieben Sohnes […] mischen!« Seine »teuren Reste« (V/7,
1793) werden nun doch zu einer Art Reliquie, zu einem Opfer uminterpretiert, das
integrative Kraft haben soll: für die Gesellschaft wie für das Subjekt selbst. Die
Perspektive des Dramas ist jetzt ganz die des sich selbst wissenden und im Tod
selbst-behauptenden Subjekts. Dies macht den Schluß mit dem Bekenntnis der
individuellen Schuld Phèdres auch plausibel. In der Annahme ihrer Schuld hat sie
sich doch gefunden.
V. Schiller
Wenn man Racines Phèdre so versteht, wird nachvollziehbar, warum Lessing mit
seinem Konstruktionsprinzip von ›Furcht‹ und ›Mitleid‹ die Katharsis konsequent
christianisieren und moralisch kanalisieren mußte 69. Lessing antwortet auf genau
dieses Problem, das sich auftun mußte, als im Prozeß der am Ende des 18. Jahr-
hunderts heftig beklagten Ausdifferenzierung von Staat und Gesellschaft 70 der
Ort der Tragödie in der ›Polis‹ nicht mehr wirklich klar anzugeben war, weil sich
69 Weil das ›eigenschaftslose‹, ›nackte‹ Selbst, das sich im späteren 18. Jh. z.B. in der Idee
der Menschenrechte oder in der Moralphilosophie Kants wiederfindet, grundlegend neue
Voraussetzungen auch für poetologische Konzepte des ›Mitleids‹ schafft, scheint es mir
nicht sinnvoll, mit dem Mitleidsbegriff zu großzügig schon in der griechischen Tragödie
zu operieren; vgl. Radke (2003), bes. 46ff. Dieses ›neue‹ Mitleid ist etwas ganz anderes als
die bloße ›Sympathie‹ mit dem Helden oder das bloße ›Mit-Bangen‹, das ›Etwas-für-den-
Helden-Wollen‹ (ebd., 50): nämlich die volle Anerkennung des anderen. Es geht, zunächst,
um den Subjektbegriff und dann erst (und daraus hervorgehend) um den Literaturbegriff.
70 Grundlegendes Dokument dieser Diagnose: das sog. Älteste Systemprogramm des deutschen
Idealismus (Hölderlin, Schelling, Hegel).
258 Wolfgang Braungart
von Miss Sara Sampson zeigt dies ganz deutlich. Am Ende von Lessings Werk steht
denn auch das Versöhnungsdrama Nathan der Weise, das ein Tragödienvermei-
dungsdrama ist: Tragödienvermeidung durch unablässige, beharrliche Kommuni-
kation.
Ich komme nun noch einmal kurz zu Schiller, der beide Hypotheken des
christlichen Subjekt-Begriffs zu tragen hat: Mitleid und Freiheit. Die Freiheit ist
ihm dabei wichtiger; das Mitleid wird ihr untergeordnet. Ästhetisch ist Schiller
damit das Erhabene viel näher als das Empfindsame. Man sieht dies besonders gut
an seinen Tragödien aus der Zeit um 1800: Maria Stuart, Die Jungfrau von Orleans
und Die Braut von Messina.
Schillers Tragödientheorie ist in ihrem Kern eine Theorie des Erhabenen, die
auch das Mitleid daraufhin ausrichtet. Das Mitleid ist bei Schiller zwar auch ein
zentraler, gleichwohl nicht bloß habitualisierter, ›automatisch‹ wirksamer Affekt
wie bei Lessing. 1793 schreibt Schiller die Abhandlung Über das Erhabene, schon
Anfang 1790 Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Alle
Bestimmungen dieser Abhandlungen laufen immer darauf hinaus: Die moralische
Zweckmäßigkeit muß die »Oberhand« behalten, »nur dann erweist sich die ganze
Macht des Sittengesetzes, wenn es mit allen übrigen Naturkräften im Streit gezeigt
wird und alle neben ihm ihre Gewalt über ein menschliches Herz verlieren. Unter
diesen Naturkräften ist alles begriffen, was nicht moralisch ist, alles, was nicht
unter der höchsten Gesetzgebung der Vernunft stehet«. Und weiter: »Diejenige
Dichtungsart also, welche uns die moralische Lust in vorzüglichem Grade gewährt,
muß sich eben deswegen der gemischten Empfindungen bedienen und uns durch
den Schmerz ergötzen. Dies tut vorzugsweise die Tragödie, und ihr Gebiet umfaßt
alle möglichen Fälle, in denen irgendeine Naturzweckmäßigkeit einer moralischen
oder auch eine moralische Zweckmäßigkeit der andern, die höher ist, aufgeop-
fert wird« 77. Die Idee, der Geist, das Sittengesetz – kurz: das Nicht-Sinnliche,
das Nicht-Naturhafte ist der eigentliche Ort der Freiheit, weil wir das Sittenge-
setz besitzen und weil wir uns ihm unterwerfen. In diesem Reich der Freiheit
triumphieren wir über unsere sinnliche Abhängigkeit.
Den Plan, sich intensiver mit dem Stoff der Maria Stuart zu befassen, hatte
Schiller schon 1783 gefaßt. Die Tragödie wird 1799 begonnen, im Juni 1800 abge-
schlossen. Gleich darauf, im Juli 1800 beginnt Schiller mit der ›romantischen
Tragödie‹ Die Jungfrau von Orleans, die 1801 abgeschlossen wird, und sofort folgt
1802 die Tragödie Die Braut von Messina, die Schiller schon im Mai 1801 plant. Es
lohnt sich, diese drei Dramen insgesamt und in dieser Reihenfolge ihrer Entste-
hung kurz zu überblicken, weil sich hier die Bezüge auf die antike Tragödie wie
auf das christliche Erbe in signifikanter Weise ausfalten 78. Maria Stuart und Die
Jungfrau von Orleans suchen christliche Lösungen der tragischen Konstellationen
und lösen die Erhabenheit des Tragischen damit tendenziell auf; Die Braut von
Messina beruft sich dagegen wieder explizit auf die griechische Tragödie, nimmt
aber das Christliche zurück.
Am Ende der Maria Stuart schwingt sich Maria geradezu zu einer Postfiguration
Jesu auf, ohne für sich in Anspruch zu nehmen, wirklich schuldlos gelebt zu haben.
Aber zum Tode wird sie ungerechtfertigterweise verurteilt: »Gott würdigt mich,
durch diesen unverdienten Tod / Die frühe schwere Blutschuld abzubüßen« (V/7,
v. 3735f.). Melvil, der Haushofmeister, interpretiert Marias Tod als versöhnendes
Opfer: »So gehe hin, und sterbend büße sie [die Blutschuld]! / Sink ein ergebenes
Opfer am Altare, / Blut kann versöhnen, was das Blut verbrach« (V/7, v. 3737ff.).
Er reicht Maria die heilige Kommunion. Die Sprache folgt ganz eng der Sakral-
sprache und richtet sich doch völlig an das Subjekt allein; der personale »Gott« –
›dein Gott‹ – weitet sich aber zum »Göttlichen«:
Ich aber künde dir, Kraft der Gewalt,
Die mir verliehen ist, zu lösen und zu binden,
Erlassung an von allen deinen Sünden!
Wie du geglaubet, so geschehe dir!
[…]
Nimm hin den Leib, er ist für dich geopfert!
[…]
Nimm hin das Blut, es ist für dich vergossen!
Nimm hin! Der Papst er zeigt dir diese Gunst!
Im Tode noch sollst du das höchste Recht
Der Könige, das Priesterliche, üben!
[…]
Und wie du jetzt dich in dem irdschen Leib
Geheimnisvoll mit deinem Gott verbunden,
So wirst du dort in seinem Freudenreich,
Wo keine Schuld mehr sein wird, und kein Weinen,
78 Die beiden Dramen Wallenstein (1800) und Wilhelm Tell (1804) lasse ich beiseite, weil sie sehr
viel mehr eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Geschichte als mit dem der Tragödie
darstellen. Sie thematisieren den geschichtlichen Prozeß in seinen ›erhabenen‹ Protagonisten,
ohne den Mitleidsdiskurs aufnehmen zu müssen. Wallenstein kann man zudem als Schillers
Antwort auf Goethes Faust deuten. – Die besten neueren Forschungsüberblicke bieten
Zymner (2002) und Luserke-Jaqui (2005). Gesamtdarstellungen zu Leben und Werk geben
die großartige Monographie von Peter-André Alt (2000) und, knapper, Oellers (2005). Zu
Schillers Verhältnis zur Geschichte jetzt Hofmann/Rüsen/Springer (2006), mit einer Studie
Ingo Breuers zum Wallenstein (209–225).
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« 261
79 Vgl. zum schwierigen Verhältnis Schillers zur Romantik und vor allem umgekehrt: der
Romantik zu Schiller Oesterle (2007); außerdem Schneider (2002) und Wilm (2003).
262 Wolfgang Braungart
auch um die Kunst selbst gehen, weil sie, als der eigentliche Selbst-Ausdruck des
freien Menschen, wie dieser nicht nur Mittel sein darf, sondern immer auch Zweck
an sich selbst sein muss: »Es ergibt sich daraus von selbst, daß der Künstler kein
einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet, daß sein
Werk in allen seinen Teilen ideell sein muß, wenn es als ein Ganzes Realität haben
und mit der Natur übereinstimmen soll. // Was von Poesie und Kunst im Ganzen
wahr ist, gilt auch von allen Gattungen derselben« 84, also auch von der Tragödie.
Schiller nimmt für sich in Anspruch, als erster den Chor wieder eingeführt
zu haben, aber, wie der Chor des griechischen Theaters, »als eine einzige ideale
Person, die die ganze Handlung trägt und begleitet« 85. Darum wird der Chor bei
Schiller auch zu einer beweglichen Instanz, die sich nicht einfach deuten läßt. So
fügt sie sich in den Kunstcharakter des ganzen Stückes. Schiller unternimmt diesen
Versuch, dem (antiken) Chor eine Renaissance zu verschaffen, nur hier:
Ich habe die christliche Religion und die griechische Götterlehre vermischt ange-
wendet, ja, selbst an den maurischen Aberglauben erinnert. Aber der Schauplatz der
Handlung ist Messina, wo diese drei Religionen teils lebendig, teils in Denkmälern fort-
wirkten und zu den Sinnen sprachen. Und dann halte ich es für ein Recht der Poesie,
die verschiedenen Religionen als ein kollektives Ganze [!] für die Einbildungskraft zu
behandeln […]. Unter der Hülle aller Religionen liegt die Religion selbst, die Idee eines
Göttlichen, und es muß dem Dichter erlaubt sein, dieses auszusprechen, in welcher
Form er jedesmal am bequemsten und am treffendsten findet 86.
Die »christliche Religion und die griechische Götterlehre«: ihr Verhältnis zueinan-
der ist für Schiller (und die Epoche) bekanntlich ein Grundproblem, fast begrifflich-
abstrakt auf den Punkt gebracht im philosophischen Lehrgedicht Die Götter Grie-
chenlands (erste Fassung 1788, zweite 1800). Man kann wohl in diesem Zitat noch
Lessing durchhören (»diese drei Religionen«). Aber ging es Lessing am Ende des
Nathan doch um das Glück der Menschheitsfamilie in ihrer rechten Auffassung
von Religion als Konkurrenz um die rechte soziale Praxis, so geht es Schiller
um die Kunst als dem wahren Ausdruck und Organ menschlicher Freiheit und
Selbstbestimmung.
Es gibt in der Tragödie Die Braut von Messina viele Belege dafür, wie sich
antikisch-politischer Diskurs und christlicher Diskurs überlagern: »So spracht ihr
rauhen Männer, mitleidlos / Für euch nur sorgend und für eure Stadt, / Und
wälztet noch die öffentliche Not / Auf dieses Herz, das von der Mutter Angst /
Und Sorgen schwer genug belastet war« (v. 75ff.). Und etwas später: »Verderblich
diesem Land, und ihnen selbst / Verderben bringend war der Söhne Streit; / Ver-
söhnt, vereinigt, sind sie mächtig genug, / Euch zu beschützen gegen eine Welt, /
84 Ebd. 818.
85 Ebd. 823.
86 Ebd. 823.
264 Wolfgang Braungart
Und Recht sich zu verschaffen – gegen euch!« (v. 96ff.) Im selben langen Monolog
Isabellas wird also das skizzierte Problem intensiv entwickelt.
Am Schluß des Dramas kommentiert der Chor den Selbstmord Don Cesars
mit sprichwörtlich gewordenen Versen:
Erschüttert steh ich, weiß nicht, ob ich ihn
Bejammern oder preisen soll sein Los.
Dies eine fühl ich und erkenn es klar,
Das Leben ist der Güter höchstes nicht,
Der Übel Größtes aber ist die Schuld.
(v. 2835 ff.)
Das wirkt wie Idealismus in Reinform. Die Schuld erscheint aus der Perspektive
des Chores als Verstoß gegen die sittliche Weltordnung und ist für ihn schlim-
mer als der Verlust des Lebens. Der Tod Don Cesars soll nicht primär die Polis
versöhnen, sondern die Brüder im Tode miteinander (man hört vielleicht auch den
französischen Nachhall: fraternité!), und soll die Schuld aus der Welt schaffen, die
Don Cesar durch die Ermordung seines Bruders auf sich geladen hat. Aber ist der
Selbstmord wirklich sittliche Tat des Subjekts, das zunächst sich entsühnt und
damit dann die sittliche Weltordnung wieder ausgleicht? Staat, Gesellschaft, Fami-
lie – sie alle können nicht gelingen, wenn die sittliche Weltordnung durch die Tat
des Subjekts aus den Fugen ist. Im – aus der Sicht einer christlichen Ethik höchst
fragwürdigen – Selbstmord Don Cesars formuliert sich sein Anspruch auf radikale
Freiheit. Im Unterschied dazu muß man die Selbstblendung des Ödipus am Ende
des Oedipus Rex zunächst deuten als eine Tat aus der Verzweiflung heraus über die
Einsicht in das Grauen, das Ödipus selbst bewirkt hat und in das er unentrinnbar
verstrickt ist. Diese Tat wirkt für die Polis entsühnend; die Pest verschwindet.
Corneille deutet, wie skizziert, dieses Motiv noch stärker als Sophokles aus.
Schillers Isabella schlägt in diesen Schlußszenen ihrem Sohn Don Cesar die
christlich-naive Lösung der Entsühnung vor:
Reich ist die Christenheit an Gnadenbildern,
Zu denen wallend ein gequältes Herz
Kann Ruhe finden. Manche schwere Bürde
Ward abgeworfen in Lorettos Haus,
Und segensvolle Himmelskraft umweht
Das heilge Grab, das alle Welt entsündigt.
Vielfältig auch ist das Gebet der Frommen,
Sie haben reichen Vorrat an Verdienst,
Und auf der Stelle, wo ein Mord geschah,
Kann sich ein Tempel reinigend erheben.
(v. 2708 ff.)
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« 265
Auf diese Analyse des Subjekts kommt es Schiller entscheidend an, selbst in die-
ser schrecklichen Erhabenheit des Selbstmords. Das Subjekt mit seinem Anspruch
an und auf sich selbst ist nicht mehr hintergehbar. Es kann dabei aber nicht völlig
im Mitleid, in der christlichen Demut und in einem christlichen Erlösungs- und
Versöhnungskonzept aufgehen. Daß dies so scharf gesehen werden kann, hat das
christliche Konzept zwar notwendig zur Voraussetzung. Es winkt hier jedoch,
sozusagen, nur noch romantisch-sentimentalisch von ferne 88. In der Faszinations-
kraft und erhabenen Größe dieses Selbstmords beginnt sich, auch bei Schiller,
ganz gegen seine eigene Intention, und dann charakteristisch für die Ästhetik des
Schreckens und des Erhabenen in der Moderne, das Ästhetische vom Ethischen
zu lösen. Dieser Prozeß findet sich nicht schon in der Antike und ist mit dem
Erhabenen dort allenfalls strukturell vergleichbar 89, weil er bei Schiller die Durch-
setzung des Christentums zur geschichtlichen Voraussetzung hat. Es geht mir also
nicht um eine weitere Einzigartigkeitserklärung der Moderne 90, sondern um eine
geschichtlich reflektierte Hermeneutik.
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90 Kritisch dazu Verf. (2007a), mit weiterer Literatur.
»Ich suche / Mich selbst, und finde mich nicht mehr« 267
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Zerrissenheit
König Ödipus grenzt sich ab gegen das romantische Ich
Zwei literarische Texte stehen an zum Vergleich: König Ödipus von Sophokles und
Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde von E.T.A. Hoffmann. Vergleichsgrund-
lage ist die den Texten jeweils zugrunde liegende anthropologische Prämisse. Die
Welt eines jeden literarischen Kunstwerks ist jeweils durch eine bestimmte anthro-
pologische Prämisse gekennzeichnet. Anthropologische Prämissen sind Definitio-
nen des Wesens des Menschen1. Sie legen fest, von welchen Faktoren die mensch-
liche Situation bestimmt wird. Dies kann explizit zum Ausdruck gebracht werden
oder implizit bleiben. In der Komödie zum Beispiel sind es andere Faktoren als in
der Tragödie, in Voltaires Candide andere als in Schillers Die Kraniche des Ibykus.
Die Selbstverständlichkeiten im Verhalten der Charaktere sind als implizite Axiome
präsent. Der Anfang und das Ende der Geschichte, die erzählt wird, erhalten durch
die anthropologische Prämisse ihre Exemplarik.
Man könnte sagen, die anthropologische Prämisse ist ein vom Autor jeweils
gewählter Denkraum, worin Charaktere und Handlung auf ihre Verallgemeine-
rung entworfen und fixiert werden. So hat etwa in Dostojewskis Roman Die
Brüder Karamasow ein Mörder nach dem Vollzug seiner Tat aufgrund des Sitten-
gesetzes, das hier die Wirklichkeit bestimmt, drei Möglichkeiten des Verhaltens:
Er kann durch Annahme der gesetzlich vorgesehenen Strafe in die menschliche
Gemeinschaft zurückkehren, die er durch sein Verbrechen verlassen hat. Oder er
kann ins Ausland entfliehen, für Dostojewski der Ort der Unsittlichkeit. Oder
er kann Selbstmord begehen. Und weil Dostojewskis anthropologische Prämisse
den Menschen als moralische Person, als »intelligiblen Charakter« (im Sinne Kants)
definiert, sind für ihn Naturkatastrophen oder etwa Seuchen nicht darstellbar. Es
kann immer nur um das Böse gehen, das Menschen einander antun, weil sie
es wünschen und deshalb für ihr Tun verantwortlich sind. Verantwortlichkeit ist
die Folge des Freiheitsbegriffs, den Dostojewski wirklichkeitsschaffend wirksam
werden lässt.
Es ist leicht einzusehen, dass die anthropologische Prämisse einer hermeneu-
tischen Verpflichtung des Lesers gleichkommt. Er hat diese Prämisse zu durch-
schauen, um den Text, dessen Welt von ihr geprägt ist, adäquat zu verstehen.
Grundsätzlich sei vermerkt: Der Dichter ist der Hermeneut. Nicht wir! Der Dich-
ter hat verstandene Welt in seiner Dichtung für uns hinterlegt. Deshalb ist es
die erste Aufgabe aller »Interpretation«, zunächst einmal nachzuzeichnen, was als
bereits verstandene Welt vorliegt 2. Wer die anthropologische Prämisse verfehlt,
verfehlt die vom Text erschlossene Welt. Für unseren Zusammenhang ist wichtig,
dass die anthropologische Prämisse auch darüber entscheidet, ob den Gestalten
der Fiktion ihre eigene Stellung in der Welt zu vollem Bewusstsein kommen kann
oder nicht. In den Dramen Schillers und in den großen Romanen Dostojewskis
gelangen die Gestalten in ausgezeichneten Augenblicken zu uneingeschränkter
Selbstreflexion, nicht aber in Gogols Revisor oder in Tschechows Drei Schwestern.
Der Grund dafür liegt im Unterschied der anthropologischen Prämissen, die die
Möglichkeiten des Selbstverhältnisses der Subjekte jeweils fixieren.
Anthropologische Prämissen mögen geschichtlich vermittelt sein, in einem
literarischen Kunstwerk festgehalten können sie aber jederzeit vom Leser als
Möglichkeiten des Weltverständnisses erfahren werden. Dazu bedarf es allerdings
eines geschulten hermeneutischen Bewusstseins, um nicht die eigene geschichtli-
che Situation, die Selbstverständlichkeiten hier und jetzt, in die jeweils literarisch
hinterlegte und erschlossene Welt hineinzutragen.
Die beiden von mir sogleich exponierten Texte liegen weit auseinander: König
Ödipus stammt aus dem fünften Jahrhundert vor Christi Geburt (Uraufführung
nach 430), Die Geschichte vom verlornen Spiegelbilde aus dem Anfang des 19.
Jahrhunderts: zuerst 1815. Aber auch der jüngere der beiden Texte, Hoffmanns
Erzählung, ist von den impliziten Axiomen unserer Gegenwart weit entfernt. Und
doch wird niemand leugnen wollen, dass beide Texte im literarischen Bewusstsein
unserer Zeit feste Größen sind. Sophokles wird durch Sigmund Freuds Termi-
nus ›Ödipuskomplex‹ zur gemeinsprachlichen Realität, und die Giulietta aus der
Geschichte vom verlornen Spiegelbilde liefert in Hoffmanns Erzählungen (Les Con-
tes d’Hoffmann, 1881) von Jacques Offenbach als Hauptgestalt des dritten Akts
mit ihrer Barcarole eine Perle gehobener Unterhaltungsmusik in Wunschkonzer-
ten: »Schöne Nacht, du Liebesnacht, / o stille das Verlangen« (Belle nuit, ô nuit
d’amour / souris à nos ivresses) 3.
Kurzum: die hier zur Analyse anstehenden Texte von Sophokles und E.T.A.
Hoffmann sind jeweils auf spezielle Weise populär geworden. Mit der Psycholo-
gie und Soziologie solcher Wirkung möchte ich mich aber im heutigen Zusam-
menhang gar nicht abgeben. Symptomatisch für diese Popularität erscheint, dass
beidemal eine sexuelle Komponente im Vordergrund steht.
Fragestellung
Und damit komme ich zur leitenden Frage: Wie sieht jeweils die anthropologische
Prämisse im König Ödipus und in der Geschichte vom verlornen Spiegelbilde aus?
Die Antwort leitet sich aus der Knüpfung und Lösung der zentral gestalteten
Problemsituation her. Anders gefragt: Wie wird jeweils Zerrissenheit dargestellt?
Wird sie als Sachverhalt der Außenwelt in ein festes Verhältnis zur Innenwelt des
Protagonisten gestellt? Oder wird die geschilderte Außenwelt als Seelenlandschaft
des zentralen Bewusstseins eingebracht? Wahrigs Deutsches Wörterbuch definiert
Zerrissenheit als »Zustand des Zerrissenseins (auch politisch); innerer Zwiespalt,
Uneinigkeit mit sich selbst« 4.
Mit solcher Definition vor Augen, fällt sofort auf: König Ödipus gerät in den
Zustand der Zerrissenheit, weil er etwas getan hat, was er nicht wollte; Hoffmanns
Erasmus Spikher hingegen, weil er getan hat, was er wollte. Des Weiteren fällt auf:
Das Lebenselement des Königs Ödipus ist die Öffentlichkeit, das des Erasmus
Spikher die Innerlichkeit. Ein antikes Ich steht einem romantischen Ich gegenüber.
Solche Exemplarik sei nun erläutert.
In beiden Texten liegt der Handlungskern fern aller Empirie. Wer ermordet schon
seinen Vater und heiratet seine eigene Mutter! Und das, ohne zu wissen, dass. Und
wer verliert schon sein eigenes Spiegelbild! Der eine kann sich nicht mehr sehen
lassen und blendet sich selbst, der andere sieht sich selbst nicht mehr und lässt
deshalb alle Spiegel verhängen. In solchen Voraussetzungen steckt der Aufruf, die
Allegorie zu suchen und zu sehen, die übertragene Bedeutung des buchstäblichen
Sinnes: Allegorie als ›andere Lesart‹, die im Text selber fest verankert ist, ihm gleich-
sam eingewebt, und uns über die Zeiten hinweg direkt anspricht. Die Spannung
in poetologischer Sicht, nicht die äußere Spannung, die darauf abzielt, das Ende
der Geschichte zu verzögern und vorzubereiten, die poetologische Spannung also,
besteht in beiden Texten in der Diskrepanz zwischen der realistischen Psycholo-
gie der Oberfläche und der sie tragenden radikal anti-realistischen Konstruktion.
Es kommt darauf an, diese Spannung als prinzipiell, das heißt: als eine poetolo-
gische zu erkennen. Aus der realistischen Psychologie der Oberfläche gewinnen
beide Texte ihre Eingängigkeit, die leicht über die Eigenart der zugrunde liegenden
anthropologischen Prämisse hinwegtäuschen kann.
König Ödipus
Sehen wir uns den ersten Dialog zwischen König Ödipus und Kreon daraufhin an:
König Ödipus reagiert ›realistisch‹ auf den vollkommen unrealistischen Vorwurf
und lässt damit für uns, die Zuschauer, die impliziten Axiome der innerfiktionalen
Realität erkennen.
Ödipus, von Kreon beschuldigt, seinen Vater erschlagen, seine Mutter gehei-
ratet und mit ihr Kinder gezeugt zu haben, wundert sich ganz und gar nicht über
die Absurdität des Sachverhalts, sondern erwidert nur: Das könne nicht stimmen.
Das habe er nicht getan. Die Anschuldigung sei eine Intrige, um ihn vom Thron
zu stürzen. Kreon wolle König sein. Und es setzt ein völlig realistischer Dialog
über einen als solchen völlig unrealistischen Sachverhalt ein, zu dem ja auch die
unbezweifelte Voraussetzung gehört, die Pest herrsche in der Stadt Theben, weil
der Mörder des Laios noch nicht gefunden sei. ›Realistisch‹ bedeutet in diesem
Zusammenhang, dass durchgehend psychologisch plausible Reaktionen präsen-
tiert werden, und das im Bannkreis zutiefst unrealistischer Rahmenbedingungen 5.
Das heißt: Alle Beteiligten sind in das Koordinatennetz der impliziten Axiome
verspannt, die die anthropologische Prämisse ausmachen. Zu diesen Axiomen
gehört, dass göttliche Weissagung unter allen Umständen ihre Erfüllung findet.
Hieraus resultiert ein ganz bestimmter Subjekt-Begriff, der seinen bestätigenden
Kommentar in den Äußerungen des Chores findet.
In seinen Vorlesungen über die Ästhetik nimmt Hegel zu diesem Subjekt-Begriff
folgendermaßen Stellung:
Ödip hat den Vater erschlagen, die Mutter geheiratet, im blutschänderischen Ehebette
Kinder gezeugt und dennoch ist er, ohne es zu wissen und zu wollen, in diesen ärgsten
Frevel verwickelt worden. Das Recht unseres heutigen, tieferen Bewusstseins würde
darin bestehen, diese Verbrechen, da sie weder im eigenen Wissen noch im eigenen
Willen gelegen haben, auch nicht als die Taten des eigenen Selbst anzuerkennen; der
plastische Grieche aber steht ein für das, was er als Individuum vollbracht hat, und
zerscheidet sich nicht in die formelle Subjektivität des Selbstbewusstseins und in das,
was die objektive Sache ist 6.
Man sieht: Hegel scheut sich nicht, das griechische Bewusstsein, wie es uns im
König Ödipus entgegen tritt, als weniger tief zu kennzeichnen. Weniger tief als
sein damals ›heutiges‹. Das ist zweifellos eine poetologische Ungerechtigkeit. »Die
Kunst« ist »überall am Ziel« – sagt Schopenhauer, der absolute Hegelfeind:
Während die Wissenschaft dem rast- und bestandlosen Strohm vielfach gestalteter
Gründe und Folgen nachgehend, bei jedem erreichten Ziel immer wieder weiter gewie-
sen wird und nie ein letztes Ziel, noch völlige Befriedigung finden kann, so wenig als
man durch Laufen den Punkt erreicht, wo die Wolken den Horizont berühren; so ist
dagegen die Kunst überall am Ziel 7.
Überall am Ziel – das heißt für uns: Wir haben der Einspurung in die Welt des
König Ödipus Folge zu leisten. Diese wird durch die dem Verhalten der Charaktere
impliziten Selbstverständlichkeiten veranlasst. Aus diesen Selbstverständlichkeiten
erwächst ein spezieller Subjekt-Begriff. Dieser profiliert sich in den dramatischen
Dialogen voll realistischer Psychologie, die die impliziten Axiome transportieren.
Für diese Überlegung ist, ich erwähnte es schon, der erste Dialog zwischen
Ödipus und Kreon exemplarisch. Die psychologische Pointe dieses Dialogs besteht
darin, dass Ödipus Kreon vorwirft, dieser habe, zusammen mit Teresias, seinen
Sturz geplant. Kreon selbst wolle auf den Königsthron und Teresias habe sich
diesem Komplott angeschlossen. Orakel und Sehersprüche würden missbraucht,
um ihn, Ödipus, und sein Volk zu täuschen. Ein Intrigant und ein Krüppel, der
nicht sehen kann, haben sich zusammen getan, so Ödipus.
Im Grundsätzlichen bedeutet das: Göttliche Voraussage kann als Hinterbrin-
gung in Frage gestellt werden, und der Seher steht in der Möglichkeit, sich beste-
chen zu lassen. Das Ich des Ödipus wehrt sich zu Recht gegen die Macht des
Geschicks, hat darin sein Profil, ist darin lebendiges Subjekt. In diesem Fall zutiefst
paradox: Denn Ödipus besteht ja gerade darauf, niemals das sein zu können, was
ihm vorgeworfen wird. Seine lebhaft verbalisierten Grundsätze bekräftigen nur
im Voraus seine Verurteilung durch sich selbst nach der Strenge des Rechts. Und
darin gründet am Ende seine Zerrissenheit. Das delphische Orakel als Sender
des Schicksalsspruchs wird hier in die äußerste Möglichkeit gebracht, Recht zu
behalten.
Im Bewusstsein gelebter Tugend als Herrscher seines Volkes ist Ödipus selbst-
bewusstes Ich. Er weiß sich selber als untadelig, hat er doch seine Eltern verlassen,
um nicht als Vollstrecker des Orakels ein Frevler zu werden. Dass es seine Pflege-
eltern waren, konnte er nicht wissen.
Der Sturz der sich ihrer selbst gewissen Tugend in den von außen bewiesenen
Frevel darf nun weder christlich als Strafe für superbia missdeutet werden noch
aufklärerisch als Folge des insgeheimen aber verdrängten Strebens nach Inzest und
Mord. Solcher Sturz ist im autonomen Walten der Götter angelegt, das sich mit
dem, was geschieht, selbst beglaubigt. Kleinheit und Größe des Subjekts werden
eins.
Unsere hermeneutische Wachsamkeit gegenüber dem Text hat also gegenüber
dem, was sich christlich oder modern als Interpretament anbietet, abweisend zu
sein.
Die ›Zerrissenheit‹ des Königs Ödipus besteht in der Paradoxie seines Lebens-
weges: Er will den Freveltaten, die ihm vorherbestimmt sind, ausweichen und
begeht, gerade deswegen, die Freveltaten, die ihm vorherbestimmt sind. Die Zer-
rissenheit steckt in der Eigentümlichkeit der gelebten Sache: Er selber ist sowohl
mit sich als tugendhaftem König als auch mit sich in der Selbstverstoßung und
Selbstblendung identisch. Immer ist die Öffentlichkeit der wahre Spiegel seiner
Aufrichtigkeit in der Einheit seiner Erlebnisgegenwart: Den Klartext des König
Ödipus könnte man mit Karl Reinhardt, wie es Heidegger getan hat, als »Tragödie
des Scheins« benennen 8.
Ich gehe jetzt auf die Darstellung von Zerrissenheit in E.T.A. Hoffmanns Geschichte
vom verlornen Spiegelbilde ein und kehre danach in einem kurzen Schlusswort
zum König Ödipus zurück. Hoffmanns Erzählung gehört in die literarische Reihe
der Doppelgänger-Geschichten, die in der Romantik eine besondere Ausprägung,
ja Zuspitzung erhalten. Das Wort »Doppeltgänger« (mit t) ist eine Prägung Jean
Pauls, dessen Definition in einer Fußnote zu seinem Roman Siebenkäs (1795) lautet:
»Doppeltgänger« – »So heißen Leute, die sich selber sehen« 9.
Wie René Wellek vermerkt hat, ist der Doppelgänger aus der Zwillingskomödie
hervorgegangen10. Und er nennt Plautus’ Menaechmi (um 206 v. Chr.) und Shake-
speares Comedy of Errors (um 1592/93) als prominente Exempel. Bei Shakespeare
sind es gleich zwei Zwillingspaare, die Verwirrung stiften. Mit der Romantik aber
wandelt sich die komische Doppelung zum Bild tiefster Ich-Spaltung, die dann im
19. und 20. Jahrhundert zum signum moderner Subjektivität wird. Man denke an
Poe, Dostojewskij, Stevenson, Pirandello und Nabokov. Solche Erinnerung mag
die Relevanz der Geschichte vom verlornen Spiegelbilde für unsere Fragestellung
Seine Antwort:
Muss ich denn fort von dir? – muss ich fort, so soll mein Spiegelbild dein bleiben auf
ewig und immerdar. Keine Macht – der Teufel soll es dir nicht entreißen, bis du mich
selbst hast mit Seele und Leib.
Nachdem Giulietta ihn losgelassen, streckt sie sehnsuchtsvoll die Arme nach dem
Spiegel aus:
Erasmus sah, wie sein Bild unabhängig von seinen Bewegungen hervortrat, wie es in
Giuliettas Arme glitt, wie es mit ihr im seltsamen Duft verschwand.
Die unrealistische Unterstellung, dass jemand sein Spiegelbild verlieren kann, wird
nun von E.T.A. Hoffmann mit »realistischer« Psychologie entfaltet: An einer
Wirtstafel in »einer großen Stadt« bemerkt ein »Satan von Kellner«, dass Erasmus
Zerrissenheit 279
kein Spiegelbild hat. Die anwesende Gesellschaft schreit: »ein mauvais sujet, ein
homo nefas, werft ihn zur Tür hinaus«. Ja, man droht ihm »von Polizei wegen« an,
dass er »binnen einer Stunde mit seinem vollständigen, völlig ähnlichen Spiegelbilde
vor der Obrigkeit erscheinen oder die Stadt verlassen müsse«. Und er verlässt die
Stadt, vom Pöbel und den Straßenjungen verfolgt: »da reitet er hin, der dem Teufel
sein Spiegelbild verkauft hat, da reitet er hin«!
Das Ende der Geschichte: Erasmus kehrt zu Frau und Kind zurück. Sie aber
sieht plötzlich, dass er kein Spiegelbild hat und stößt ihn mit Abscheu von sich: »Du
bist es nicht, du bist nicht mein Mann, – nein – ein höllischer Geist bist du, der mich
um meine Seligkeit bringen, der mich verderben will. – Fort, verlasse mich, du hast
keine Macht über mich, Verdammter«! – Er stürzt aus dem Haus und begegnet
im Park vor der Stadt dem Signor Dapertutto, der ihm versichert, Giulietta werde
ihm sein Spiegelbild »glatt und unversehrt, dankbarlichst« zurückgeben, wenn er
zuvor Frau und Kind vergifte.
Erasmus lehnt ab, und Giulietta und Dapertutto verschwinden im »dicken
stinkenden Dampf, der wie aus den Wänden quoll, die Lichter verschlingend«.
Er kehrt zu seiner Frau zurück, die ihm »milde und sanftmütig« die Hand reicht,
ihn vor den Spiegel stellt, der leer bleibt und ihm sagt: »Wandre also nur noch
ein bisschen in der Welt herum und suche gelegentlich dem Teufel dein Spiegelbild
abzujagen. Hast du’s wieder, so sollst du mir recht herzlich willkommen sein.
Küsse mich (Spikher tat es) und nun – glückliche Reise«! Spikher geht »in die
weite Welt«. Der letzte Satz lautet: »Er traf auf einen gewissen Peter Schlemihl,
der hatte seinen Schlagschatten verkauft; beide wollten Kompanie gehen, so daß
Erasmus Spikher den nötigen Schlagschatten werfen, Peter Schlemihl dagegen das
gehörige Spiegelbild reflektieren sollte; es wurde aber nichts daraus«.
Man sieht: Der Doppelgänger des Helden als dessen lebendig gewordenes
Spiegelbild hat zwar kein eigenes Sein, kann aber doch, solange er existiert, das
Ich des Helden traumatisieren. Der Doppelgänger nimmt dem Helden die Würde
seiner bürgerlichen Lebensform. Solches Resultat wird als Werk des Teufels imagi-
niert. Hinter solcher Zerrissenheit tauchen Faust und Mephisto als repräsentative
Gestalten auf. Die impliziten Axiome der zugrunde liegenden anthropologischen
Prämisse setzen das Verbotene als Verlockung an. Zerrissenheit ist hier Selbst-
entzweiung, die vom Gewissen bestraft wird als etwas, das nicht dem Menschen
entspricht, weil es »des Teufels« ist. Der Teufel aber kommt nur, wenn er gerufen
wird. Die anthropologische Prämisse des König Ödipus kennt bezeichnenderweise
keine Verführung durch den Teufel.
Innerhalb der literarischen Reihe der Doppelgängergeschichten hat E.T.A.
Hoffmann mit dieser Erzählung zweifellos eine einzigartige Variante geschaffen:
Der Doppelgänger wird als Spiegelbild veranschaulicht und in dieser ja durchaus
realistischen Erscheinungsform unsichtbar gemacht. Aber in solcher Unsichtbar-
keit als verlorenes Spiegelbild ist er paradoxerweise sichtbar, denn alle Spiegel
280 Horst-Jürgen Gerigk
müssen ja verhängt werden, damit das Fehlen des Spiegelbildes nicht bemerkt
wird. Das »schimmernde Traum-Ich« hat also kein eigenes Sein. Zerrissenheit ist
ganz Sache des Subjekts, ganz Sache seiner Innerlichkeit.
Schlusswort
König Ödipus grenzt sich ab gegen das romantische Ich. Die gestaltete anthropo-
logische Prämisse kennt im König Ödipus keine christliche Kodierung. Die Selbst-
verstoßung ist per definitionem nicht empfangene Strafe, sondern Anerkennung
des delphischen Orakels, das kein Heilsgeschehen kennt, sondern nur den Lauf
der Dinge, der als Sache der Götter keine angebbare Regel hat: »Zerrissenheit« als
Resultat des delphischen Imperativs »Erkenne dich selbst«! Selbstblendung auf-
grund von plötzlicher Klarsicht. Das Subjekt übernimmt sein Schicksal, ohne es
zu hinterfragen. Völlig anders Hiob oder auch die »Helden« des französischen
Existentialismus eines Sartre oder eines Camus. Delphische Voraussage ist onto-
logisch nichts anderes als vorweggenommene Rechtfertigung dessen, was dann als
unglückliche Verkettung vorliegt. Die Dichtung erhebt diese falsche Reihenfolge
zum Erklärungsmodell: zu einer Metapher für das, was einen schlimmsten Falls
wider alle Erwartung ereilen kann. Das Ergebnis ist die Geschichte des Königs
Ödipus.
Das romantische Ich, wie es bei E.T.A. Hoffmann zur Veranschaulichung
gelangt, wird dagegen dem objektiven Lauf der Dinge entzogen. Erklärt wird das
Funktionieren des »Traum-Ichs« innerhalb der reinen Innerlichkeit. Aus der Kolli-
sion der Seele mit einer Außenwelt, die als Alltäglichkeit erfahren wird, bezieht das
romantische Ich sein Profil. »Zerrissenheit« ist Dauerzustand solcher Kollision:
von Angst durchsetzte Sehnsucht nach dem Ideal, die ewige Zwangslage des gesit-
teten Bürgers. Der Schluss der Geschichte skizziert die schlechte Unendlichkeit
unmöglicher Selbstreflexion.
Bei Sophokles sprengt der psychologische Scharfsinn der Dialoge die naiv-
starre Prämisse der impliziten Axiome; bei E.T.A. Hoffmann ist dem Konflikt
der Hauptgestalt die Parodie inhärent. »So träumen alle«, könnte man roman-
tisch sagen. Beide Autoren treten also jeweils aus dem Horizont der dargestellten,
anthropologischen Prämisse heraus: durch demonstrierten »Geist«. Und nur des-
halb können sie mit uns hier und jetzt unmittelbar kommunizieren. Es kommt
darauf an, die gestalteten anthropologischen Prämissen nicht mit den Prämissen
des gelebten Lebens ihrer Autoren zu verwechseln. Literatur stellt, zu künstleri-
schen Zwecken, Laboratoriumsbedingungen her, unter denen uns der Mensch in
Grenzsituationen vorgeführt wird. Zur Beobachtung.
Zerrissenheit 281
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Die Darstellung von Subjekt und Affekt in
Giacomo Leopardis Ultimo canto di Saffo
In einem berühmten Brief hat sich Leopardi gegen eine Gleichsetzung des poe-
tisch-gedanklichen Konstrukts, der »philosophie désespérante«, mit seiner eigenen
Person und biographischen Lebenssituation gewehrt 1. Die biographische Lesart
pathologisiert den Dichter und führt zu einem diskursiven Ausschluss, der das
Sagbare auf ein normatives Maß zu begrenzen trachtet. Schmerz, Desillusion,
Negativität und Nihilismus bestimmen die fiktionale Sprechersitutation in den
Gedichten und Prosatexten; sie charakterisieren die Entwürfe von reflexiver Sub-
jektivität, die im Horizont von anthropologischen und historischen Bedingungen
sowie dichterischer Tradition zur Darstellung kommt. Die in ihrer Phänomenalität
wahrgenommene Natur, die Deutung der Bedingungen des zivilisiert städtischen
und gesellschaftlichen Lebens begründen ein subjektives Bewußtsein, das sich in
emotionaler Reaktion auf die diagnostizierte Entzweiung von Sein und Schein
äußert und diese reflektiert.
Gegen die romantische Ästhetik und ihr Ziel, Affekte direkt in Ich-Aussagen
zum Ausdruck zu bringen, betont Leopardi, dass diese nur mittels gegenständli-
cher oder szenischer Gestaltung mitteilbar sind. Die elegische Klage angesichts der
Unvergänglichkeit und Unendlichkeit der Natur, der der Mensch ausgegrenzt
gegenübersteht, veranschaulicht seine Dichtung in diversen Rollenentwürfen.
Dazu gehört neben der romantischen Tasso-Figur 2 die imaginierte Figur der Sap-
1 In einem Brief vom 24. Mai 1832 an Luigi de Sinner kritisiert Leopardi die biographisie-
rende Lesart als analytische Schwäche: »on a voulu considérer mes opinions philosophiques
comme le résultat de mes souffrances particulières, et […] l’on s’obstine à attribuer à mes
circonstances matérielles ce qu’on ne doit qu’à mon entendement.« L. de Sinner war ein
langjähriger Freund, Gelehrter und Lehrer in Paris, dem Leopardi philologische Manuskripte
überließ. Leopardi (1997), 1417. Zur »philosophie désespérante«: ib., S. 1416.
2 Der Status des Dichters als unglücklicher Außenseiter in der modernen Gesellschaft wird in
dem Gedicht Ad Angelo Mai über die romantische Bezugsfigur Torquato Tasso entworfen.
In der rinascimentalen Dichterfigur stellt Leopardi hohe Geistigkeit und schönen Gesang auf
der einen Seite und subjektiv tragisches Schicksal auf der anderen gegenüber: Tassos Gesang
284 Karin Westerwelle
pho im Ultimo Canto di Saffo. Saffo spricht hier aus einer zweifach inszenierten
Distanz. Sie ist eine Spiegelfigur aktueller Konzepte und rückt diese doch als antike
Gestalt und weibliche Autorin in eine Perspektive entrückter Unmittelbarkeit. Mit
diesem Darstellungsmodus ist das Problem einer Romantisierung der Antike ver-
bunden, oder anders gesagt, die bloß subsumierende Betrachtung der Antike unter
der condicio der Modernen. Sowohl die philologischen Betrachtungen zur Kan-
zone als auch die stilistisch-semantischen Elemente des Gedichtes weisen darauf
hin, dass Leopardi den Inszenierungscharakter und damit auch den Bruch mit der
antiken Figur mitgedacht hat.
Die condicio des sich als vereinzelt bestimmenden Sprechersubjekts soll im
Folgenden erläutert werden. Sie zu verstehen, ist die Voraussetzung, um Leopardis
Entwürfe von Subjektivität in der Zusammenschau unterschiedlicher Gedichte zu
begreifen.
ist den Menschen Geschenk, den Sänger aber vermag er in Schmerz und Verlassenheit nicht
zu trösten. Insofern sind die Affekte und das ihnen verbundene subjektive Bewußtsein
eine negative Größe, die der Gesang nur partiell zu transzendieren vermag. Vgl. zum
romantischen Thema: Moog-Grünewald (1986), 113–132.
3 Leopardi (1991), I, 79 [§ 87 Die in Klammern gestellten Paragraphen verweisen auf die von
Leopardi angebrachten Seitenangaben].
4 Vgl. zum springenden Punkt der Gegenüberstellung von Homer und Fortschritt: Most
(1991), 144–168.
5 Leopardi (1991), I, 163 [§ 163].
Subjekt und Affekt in Leopardis Ultimo canto di Saffo 285
Moderne. Diese Differenzen betreffen auch den Status des Dichters und die Funk-
tion von Literatur 6. Das Bewusstsein, sich von antiken Lebensbedingungen ent-
fernt zu haben, setzt nach Leopardi nicht erst in Neuzeit und Aufklärung ein. Im
fiktiven Dialog zwischen Plotin und Porphyrius in den Operette morali, gilt den bei-
den Protagonisten der Spätantike »[q]uella natura primitiva degli uomini antichi«7
nicht mehr als die ihrige. Damit integriert sich das Antike-Moderne-Paradigma
dem historischen Prozess 8.
In einer frühen autobiographischen Selbstbestimmung im Jahr 1819, zur Zeit
einer gesundheitlichen Krise, als der zwanzigjährige Dichter zu erblinden drohte,
erfasste er seine individuell-persönliche Entwicklung in der Parallele eines welthis-
torischen Entwicklungsschemas: »Nella carriera poetica il mio spirito ha percorso
lo stesso stadio che lo spirito umano in generale« 9. Durch Krankheit an der Lektüre
gehindert und nicht mehr von sich selbst abgelenkt, tritt das neue Ich aus einer
negativen Metamorphose, der »mutazione totale« 10, mit folgenden, auch universal
geltenden Ergebnissen hervor. Erstens ist das Unglücklichsein nunmehr ein Modus
des Fühlens, der dem Ich distanzlos nahe rückt, nicht mehr lediglich ein Stoff des
Erkennens. Zweitens geht die Hoffnung, d. h. die Projektion von glücklicher Zeit
in das zukünftige Erleben, verloren. Drittens ändert sich der Status des intellektuell
Schaffenden kategorial: Der Dichter wird zum Philosophen, denn die modernen
Dichter sind nicht mehr der natura und der imaginatio, sondern dem Wahren und
der Vernunft verpflichtet. Ihre Dichtung ist sentimentalische Dichtung. Die beson-
dere körperliche Schwäche als Krisensituation initiiert eine Selbstinterpretation des
Subjekts, das sich auf sich selbst zurückverwiesen sieht. Die antike Literatur und
die antiken Autoren bilden das Paradigma, um sowohl die eigene aktuelle als auch
die gesellschaftliche Situation zu bestimmen. Der Sprecher situiert sich nunmehr
im Abstand zu den Antiken und in der Nähe der Modernen. Wichtigste Kriterien
der paradigmatischen Gegenüberstellung und der autobiographischen Analyse des
Selbst sind die erkenntnistheoretischen Entwürfe von Welt über ratio respektive
imaginatio.
Der junge Leopardi, der uns auf den ersten Seiten des Zibaldone begegnet, ist
hochgebildet und in der Kenntnis der Antike bereits äußerst bewandert. Er hat die
Grenzen seines Geburtsortes Recanati, unweit von Ancona, zu dieser Zeit noch
nicht überschritten, sich aber durch sein Selbststudium, »sette anni di studio matto
e disperatissimo« 11, große Kenntnisse in den antiken Sprachen und den Schriften
6 Vgl. zum Verhältnis Antike und Moderne bei Leopardi die ergiebige Darstellung von Rigoni
(1985).
7 Leopardi (1997), II, 203.
8 Zum Verhältnis von Antike und Moderne vgl. Jauß (1970), 11–66.
9 Leopardi (1991), I, 146 [§ 143].
10 Ibd. 147 [§ 144].
11 Leopardi (1983), 78 (Brief vom 2. März 1818 an Pietro Giordani).
286 Karin Westerwelle
des Altertums erworben. Sein philologisches Können und sein Interesse an antiken
Schriften sind in der italienischen Tradition nur denen des Humanisten Francesco
Petrarca 12 vergleichbar.
Das literarische Werk Leopardis ist relativ schmal: Es besteht aus den Canti,
die in unterschiedlichen Ausgaben und Erweiterungen seit 1824, dann 1831 und
schließlich in der letzten Edition zu Lebzeiten des Dichters in Neapel 1835 erschie-
nen sind. Zu den Canti zählen die frühen Idilli (darunter L’Infinito) und die Gruppe
der längeren Gedichte, wie der 1822 entstandene Ultimo canto di Saffo, der thema-
tisch und zeitlich im Zusammenhang mit den Langgedichten Bruto minore, Alla
Primavera, o delle favole antiche und dem Inno ai Patriarchi, o de’ principii del genere
umano steht. Außerdem gehören zum literarischen Werk die in Prosa verfassten
Operette morali, die sich ebenso wie die Dichtung durch häufige Bezüge zu anti-
ken Texten auszeichnen, und der Zibaldone, der von 1817 bis 1832 als Reflexions-,
Aufzeichungs- und Tagebuch entstanden ist. Zudem hat Leopardi eine Reihe von
z.T. erst postum publizierten kulturkritischen Prosatexten verfasst, zu denen die
Reden über die Romantik (Discorso di un Italiano intorno alla poesia romantica)
und über die Sitten und Gebräuche der Italiener (Discorso sopra lo stato presente dei
costumi degl’Italiani) zählen.
Bevor er Dichter wurde, hat sich Leopardi über lange Zeit als Philologe und
Übersetzer beschäftigt. Zu den frühen Übertragungen von vor 1818 zählen der erste
Gesang der Odyssee von Homer, der zweite Gesang der Aeneis von Vergil sowie der
Froschmäusekrieg; Leopardi hat Fragmente des Bukolikers Moschos ins Italienische
übersetzt, Aufsätze über die Gattung der Idylle (den Discorso sopra Mosco) oder
den Ruhm des Horaz (Sopra la fama di Orazio) verfasst. Er hat u. a. Vergil, Horaz,
Lukian, Cicero und Platon gelesen, ein später an ihn herangetragenes Projekt der
Gesamtübertragung Platons lehnte er ab 13.
Leopardis Kritik an der Moderne ist Rationalismuskritik. Im Prozess der
Moderne, der unterschiedliche Etappen der europäischen Kulturgeschichte wie
den Aufstieg des Christentums oder die französische Aufklärung und Revolution
umfasst, hat sich ein Defizit, ein Mangel, ein »nulla« eingestellt. Wie erklärt sich
das Defizit der Modernen? Gegenüber der antiken, von der Imagination bewirkten
Illusionsbildung hat sich im Zivilisationsprozess ein Wandel vollzogen. Die in der
antiken Literatur entworfenen Bilder und Vorstellungen sind in ihrem fiktionalen
Status unbeschädigt. Es handelt sich um »felici errori« (»glückselige Irrtümer«), wie
es in der Kanzone Ad Angelo Mai 14 heißt, deren Scheindimension nicht hinterfragt
wird. Ihre Anschaulichkeit präsentiert die Welt, ohne dass das Nichts (»nulla«) auf-
12 Vgl. zum Philologen Petrarca: Pfeiffer (1982); die kritische Beschäftigung Leopardis mit
antiken Texten haben Timpanaro (1955) und Scheel (1992) erforscht.
13 Eine detaillierte Lebens- und Werkdarstellung gibt Tellini (1998), 727–830.
14 Leopardi (1987), I, 19, v. 110.
Subjekt und Affekt in Leopardis Ultimo canto di Saffo 287
bricht. Form und Gehalt situieren sich deshalb innerhalb des Scheins, hinter dem
schönen Schein gibt es nichts zu suchen, Hässlichkeit als ästhetisches Phänomen
ist nicht vorstellbar. Im Zuge der rationalistischen Aufklärung – der illuminismo
des Settecento bildet davon nur eine Phase –, sind das Schöne und das Wahre
in Widerstreit getreten. Das Schöne, die schöne Illusion, wird auf ihren Grund
hin befragt. Die rationalistische Erschließung von Welt verzichtet auf die sinnliche
Dimension und den schönen Schein der Erfahrung. Sie erkundet die Innerlichkeit
und den unsichtbaren Geist, vernachlässigt aber die Dimension des Körpers und
den irrationalen Impuls als Motiv für tugendhaftes Handeln. Deswegen behauptet
Leopardi – einschlägig hierfür sind der Discorso di un Italiano intorno alla poe-
sia romantica und die im Zibaldone beschriebene »mutazione totale« –, dass die
moderne Poesie auf dem kritischen Geist und philosophischer Erkenntnis beruhe
und sentimentalisch sei, während die antike Dichtung als eine Schöpfung aus
der »immaginazione« zu verstehen sei. Sentimentalisch heißt, dass die Illusion
immer nur reflexiv erzeugt werden kann; das Bewusstsein hat immer schon den
Riss der gebrochenen Illusion durchschaut. Die Antike bildet für die theoretische
und poetologische Reflexion den idealen Referenzpunkt der modernen Kunst und
Gesellschaft, weil sie den schönen Schein und die Illusion als Dimensionen der
Erfahrbarkeit von Welt bestärkt und damit für die Modernen in der Produktion
des Scheins ein vorbildhaftes Modell bietet. In der Beschäftigung mit der anti-
ken Literatur wird auch klar, wie es Leopardi in seiner kritischen Besprechung
romantischer Dichtung formuliert, dass die bloße Aussprache des Ich und des
subjektiven Empfindens nicht ausreicht, um mit dem Leser zu kommunizieren
oder ihn emotional zu rühren. Stil und hohe Kunstfertigkeit sind für die Darstel-
lung des Sentimentalischen sowie des Selbst unverzichtbar. Diese Abhängigkeit des
Stoffs vom Modus der Darstellung erfasst Leopardi in der pointierten Formel: »la
minor arte è minor natura« 15, d. h. ein weniger an Kunst bewirkt ein weniger an
Natur(darstellung).
Wie verträgt sich die Gegenüberstellung von antiker und moderner Kultur, die
alle Vorbildhaftigkeit auf Seiten der Antike sieht, mit dem Ultimo canto di Saffo?
Wie ist sein Thema der »sventura« mit einer im Namen Sapphos verbürgten Antike,
d. h. dem von Leopardi vertretenen Antikekonzept in Einklang zu bringen?
15 Leopardi (1991), I, 27 [§ 21]. Die Natur-Kunst-Formel bildet den Abschluss der langen
Auseinandersetzung Leopardis mit der Romantikdebatte; die gesamte Passage, ib., 19–27
[§§ 15–21], hebt mit dem Satz an: »Finisco in questo punto di leggere nello Spettatore n. 91.
le Osservazioni di Lodovico di Breme«.
288 Karin Westerwelle
Als Giacomo Leopardi 1824 in Bologna seine Canzoni publiziert, ist er sich des
Neuigkeitsanspruchs seiner Lyrik gewiss. In den Annotazioni schreibt er: »Sono
dieci Canzoni, e più di dieci stravaganze. […] di dieci Canzoni nè pur una amo-
rosa.« / »Es sind zehn Kanzonen, und mehr als zehn Extravaganzen. […] unter
zehn Kanzonen nicht eine Liebeskanzone« 16. Mit den »stravaganze« bezeichnet
Leopardi sein Heraustreten aus der dichterischen Tradition; er führt eine Reihe
von Brüchen an, die allesamt die Lesererwartung herausfordern. Liebeslyrik, wie
sie der Kanzone eigen ist, darf der Leser nicht erwarten. Die für sie typische, die
präsentische innamoramento-Situation, also die Begegnung des lyrischen Ich mit
der Schönheit der geliebten Dame, findet sich in Leopardis Dichtung nicht. Der
besondere Augenblick der Liebesvision gehört immer schon der Vergangenheit an,
die Zukunft als mögliche Zeit ist ihm als Ereignis verschlossen. Die Potenz, sich der
Liebe zu öffnen, begrenzt Leopardi auf das Erwachen der jugendlichen illusions-
vollen Öffnung zur Welt. Aber die enttäuschende Dimension des Realen verkürzt
jene hoffnungsvolle Phase auf einen kaum fassbaren Ereignispunkt. Angesichts der
Diskrepanz von Wunsch und Welt ist die Liebesbegegnung eine nicht realisierbare,
eine immer schon enttäuschte, sie ist nie gegenwärtig, sondern jeweils bereits in
die Erinnerung verschoben.
Die Canzoni, so erläutert Leopardi in einer Ankündigung, im Annuncio delle
canzoni im Mailänder Nuovo Ricoglitore von 1825, sind nicht im petrarkistischen
Stil geschrieben, sie ähneln der bisherigen italienischen Lyrik nicht (»in somma non
si rassomigliano a nessuna poesia italiana«), der Stoff der Kanzonen ist nicht aus
ihren Titeln zu erraten (»nessun potrebbe indovinare i soggetti delle Canzoni dai
titoli« 17). Zwischen dem Titel und dem evozierten Vorstellungshorizont besteht
auch in der Saffo-Kanzone eine Abweichung. Anspruch und Stoff der Saffo-
Kanzone (die in der Ausgabe 1824 den Untertitel Canzone ottava trägt18) erfasst
die Vorankündigung folgendermaßen:
Una, ch’è intitolata Ultimo canto di Saffo, intende di rappresentare la infelicità di un
animo delicato, tenero, sensitivo, nobile e caldo, posto in un corpo brutto e giovane:
soggetto così difficile, che io non mi so ricordare nè tra gli antichi nè tra i moderni
nessuno scrittor famoso che abbia ardito di trattarlo, eccetto solamente la signora di
Staël, che lo tratta in una lettera in principio della Delfina, ma in tutt’altro modo 19.
Nicht die Darstellung von Glückseligkeit, sondern die »infelicità« der edlen Seele,
die in einem hässlichen und zugleich jungen Körper gefangen ist, bildet das Thema
des Canto. Weder ein antiker noch ein moderner Dichter hat sich bislang erkühnt, es
anzugehen (»ardito di trattarlo«). Ungewöhnlich und schwierig ist der Gegenstand
aufgrund der Nichtentsprechung von Innen und Außen, von Inhalt und Form:
Innere, unsichtbare Seelengröße (Empfindsamkeit, Feinheit, Adel der Seele) zeigt
sich nicht in einer schönen Gestalt, sondern steht äußerer Hässlichkeit gegenüber.
Innere und äußere Welt korrespondieren einander nicht, ebenso stehen auf der
stilistischen Ebene Titel des Gedichtes und Inhalt, wie Leopardi behauptet, in
einer überraschenden Wendung zueinander. Im Bezug zur französischen Autorin
Madame de Staël hat die Forschungsliteratur für den Ultimo canto vor allem den
Einfluss des Romans Corinne ou l’Italie (1807) und sein letztes Kapitel »Dernier
chant de Corinne« hervorgehoben. Dort nimmt die sterbende Protagonistin in
unerfüllter Liebe feierlich Abschied, indem sie den Schmerz (das »souffrir«) als das
ihr eigene Vermögen ihres Lebens bezeichnet und sich nunmehr dem christlichen
Mysterium des Todes überantwortet20.
In unveröffentlicht gebliebenen Manuskriptergänzungen 21 der Saffo-Kanzone
erläutert Leopardi das Verhältnis von Hässlichkeit und Interesse am Gegenstand
noch ausführlicher. Seine Quellen sind die Heroides von Ovid, fiktive Briefe von
berühmten Frauenfiguren wie Dido, Helena oder Penelope an ihre Geliebten.
Aus dem 15. Brief der Sappho an Phaon zitiert Leopardi den Vers, in dem die
Schreiberin in einer Litotes über ihre mangelnde Schönheit spricht (»Il fondamento
di questa canzone sono i versi che Ovidio scrive in persona di Saffo, epist. 15.
v. 31 segg. Si mihi difficilis formam natura negavit etc« 22). Auch hier unterstreicht
Leopardi noch einmal das schwierige Unterfangen, den Leser für das Hässliche
zu interessieren23. Den Themen Hässlichkeit und dem unglücklichen Leben als
Gegenstand von Kanzonendichtung kommt der Wert des Neuen zu, weil sie mit
der Erwartungshaltung brechen, die in der Lyrik die Entsprechung von hoher
Form und hohem Gegenstand sucht. In Bezug auf die von Leopardi im Zibaldone
und in anderen kunstkritischen Schriften vertretene Gegenüberstellung von Antike
20 Madame de Staël (1985), 582 ff. Vgl. zur Rezeption von Madame de Staël durch Leopardi und
in Italien: Schöning (2003), 203–227, und Damiani (1993), 538–561. Das nach dem Tod der
Autorin entstandene Gemälde des Baron François Gérard (1770–1836) Corinne au cap Misène
(1822, auch als Madame de Staël en Corinne au cap Misène bekannt) zeigt in dramatischer
Küstenszenerie mit der Leier in der Hand eine Dichterinnenfigur, die in Analogie zu Sappho
und dem Leukadischen Felsen dargestellt ist. Vgl. DeJean (1989), 180f.
21 Leopardi (1978) 347 (nach dem neapolitanischen Manuskript). Auch in Leopardi (1987), I,
681.
22 Ibd. und Ovid, Heroides, Sappho Phaoni, XV, v. 31 (»Wenn die neidische Natur mir die
Schönheit versagte«, meine Übersetzung).
23 »La cosa più difficile del mondo, e quasi impossibile, si è d’interessare per una persona
brutta; […] di commuovere i Lettori sopra la sventura della bruttezza«, Leopardi (1978), 347
(nach dem neapolitanischen Manuskript). Auch in Leopardi (1987), I, 681.
290 Karin Westerwelle
und Moderne ergibt sich dabei ein tiefgreifendes Problem: Titel und Stoff des
Gedichtes fügen sich nicht dem theoretischen Konzept. Der Name der antiken
Dichterin Sappho erweckt für den Leser zunächst die Vorstellung der antiken
Welt und Literatur. Aber die Inszenierung der Figur in ihrer »bruttezza« und
Entfremdung von der Natur scheint nicht der Stilisierung einer antiken Idealfigur
der dichterischen Rede zu gehorchen, wie es die poetologische und philosophische
Kritik Leopardis vorsieht.
Leopardis Ultimo canto di Saffo situiert sich nicht nur im unmittelbaren Rückgriff
auf die Antike, sondern ordnet sich der rezeptionsgeschichtlichen Aneignung der
antiken Dichterin und Frauenfigur in der modernen Literatur ein.
In den späteren Notaten zu den 1831 nunmehr unter dem Titel Canti publi-
zierten Kanzonen weist Leopardi auf die philologische Auslegungstradition hin,
zwei Sappho-Figuren zu unterscheiden: die legendarische Figur der Phaon-Liebe
und die Dichterin. Er führt aus:
nel nono Canto si seguita la tradizione volgare intorno agli amori infelici di Saffo
poetessa, benchè il Visconti ed altri critici moderni distinguano due Saffo; l’una famosa
per la sua lira, e l’altra per l’amore sfortunato di Faone; quella contemporanea d’Alceo,
e questa più moderna 24.
Leopardi folgt nicht der neueren Auslegung, die zwischen der antiken Dichterin zu
Zeiten des Alkaios (»famosa per la sua lira«) und der legendarischen, unglücklich
Liebenden, die Ovid erfunden hat – der zeitlich moderneren Sappho, wie Leopardi
sagt – unterscheidet. Ennio Quirino Viscontis (1751–1818) Iconographie grecque von
1808, wurde von den Göttinger Gelehrten Anzeigen positiv besprochen. Deren
Rezensent lobte Viscontis kritische Feststellung, das Altertum habe beide Sappho-
gestalten verwechselt25. Leopardi kennt folglich die philologische Kritik, vereint
aber in den legendarischen Elementen beide Sapphogestalten in einer Figur. In sei-
nem Gedicht spricht er von der Dichterin, die zugleich die unglücklich Liebende
ist.
Leopardi hat die antike Dichterin Sappho hoch geschätzt, deren Liebeslyrik in
der Antike gerühmt wurde und die Platon als zehnte Muse apostrophierte. Über
Sappho hat er nicht zusammenhängend geschrieben, während von ihm ein kleiner
Beitrag zur bukolischen Dichtungstradition mit Rückbezug auf die moderne und
zeitgenössische Editionslage und – kritik vorliegt. In der väterlichen Bibliothek in
Recanati standen dem jungen Autor die Sappho-Übersetzungen des häuslichen
Beraters und Hellenisten Saverio Broglio d’Aiano zur Verfügung 26. Als 14-jähriger
übersetzt er in den Scherzi epigrammatici, tradotti dal greco unter dem Titel La
Impazienza. Ode di Saffo das Fragment einer Sappho-Ode »Es tauchte der Mond
schon unter«27; in seinem Horaz-Essay, Della fama di Orazio presso gli antichi
von 1816, erwähnt er »die große Herrin Sappho« und bedauert die schlechte
Überlieferungssituation: »quella gran donna di Saffo di cui abbiamo poco più che
niente« 28. Sicherlich hat Leopardi auch die weiteren Urteile des Horaz zur Kenntnis
genommen, die traditionell zitiert werden, wenn die Dichterin Sappho vorgestellt
wird, so z. B. im ausführlichen Artikel von Pierre Bayle im Dictionnaire historique
et critique (1697). Wegen ihrer hohen Dichtkunst spricht Horaz in seinen Briefen
von der »männlichen Sappho«; im vierten Buch der Carmina, Ode 9, lobt er ihre
unvergängliche Kunst und spricht ihren Versen über die Liebe Leben zu. In der
Unterwelt lässt er die Toten in andächtigem Schweigen den Gesängen Sapphos
lauschen, ihre Klagen seien »des heiligen Schweigens würdig« 29.
In einer sehr schönen Eintragung im Zibaldone vom 16. September 1823 ver-
gleicht Leopardi mit Verweis auf Pseudo-Longinus einen Vers der Sappho mit
einem Petrarca-Vers 30. Sapphos Dichtung ist nur fragmentarisch auf uns gekom-
men, sie ist über Catull in der Schrift von Pseudo-Longinus Über das Erhabene
(Perì Hypsous) überliefert 31. Die Verse weisen Sappho als Dichterin aus, die das
Bittersüße der Liebe besingt und das epiphane Moment mit der Grenze des Todes
in Verbindung setzt. An der genannten Stelle sind Sapphos Verse über das liebrei-
che Lächeln zitiert, das »das Herz in der Brust zum Erzittern bringt« 32. Zu diesen
Versen rückt Petrarca in den Vergleich, der in der Canzone Chiare fresche e dolci
acque vom Schrecken, dem »spavento« 33, angesichts der paradiesischen Laura-
Erscheinung spricht. Den Erscheinungsschrecken bei Petrarca und das Zittern des
26 Muscetta (1976), 51. Nach Maurer (2000), 227, hat Saverio Broglio d’Aiano die bis zur
Mitte des 19. Jahrhunderts »vollständigste italienische Wiedergabe der erhaltenen Sappho-
Fragmente« erstellt. Maurer verweist auf den Rückblick von G. Bustelli, Vita e frammenti
di Saffo da Mitilene. Discorso e versione (prima intera), Bologna 1863, 56.
27 Sappho (1978), 77.
28 Leopardi (1997), II, 921.
29 Horaz, Carmina IV, 9, v. 10–12, und id., Epistulae I, 19, 28.
30 Leopardi (1991), II, 1800 [§§ 3443–44].
31 Vgl. zur italienischen Übersetzung, die sich in Leopardis Bibliothek befand, und zur Rezep-
tion von Pseudo-Longinus: Macchioni Jodi (1982).
32 Sappho (1978), 17.
33 Petrarca (2006), 589, v. 54.
292 Karin Westerwelle
Herzens bei Sappho lobt Leopardi als gelungene Darstellungen der sinnlichen
Wirkung, die die Schönheit auslöst. Der Sappho-Vers ist jenem verwandt, der in
dem berühmten Gedicht L’Infinito den beinahe eintretenden Schrecken des Her-
zens angesichts unendlicher Räume charakterisiert. Im Ultimo canto di Saffo ist
gerade diese emphatische und entrückende Liebesimagination, das Moment einer
Projektion der Wahrnehmung des Schönen, ausgeblendet.
Von besonderer Bewandtnis in der Rezeptionsgeschichte Sapphos und Gegen-
stand des kulturhistorischen Forschungsinteresses ist die homoerotische Liebe, die
Sappho in ihren Gedichten besingt, folglich die Frage, wie die Dichterin zu den
anderen Frauen in ihrem Mädchenkreis stand 34. Man nimmt an, dass Sappho eine
erzieherische und kultische Rolle ausübte und die Homoerotik vermutlich ebenso
zur Bildung junger Frauen und ihrer Initiation in gesellschaftliche Aufgaben gehörte
wie zur Bildung junger Männer. In der Rezeptionsgeschichte hat man auf der einen
Seite der Dichterin die unkeuschen, skandalösen Liebespraktiken angelastet, auf
der anderen Seite versuchten Autoren wie Madame Dacier im 17. Jahrhundert oder
Friedrich Gottlieb Welcker mit seiner Schrift aus dem Jahr 1816, Sappho von einem
herrschenden Vorurteil befreit, Sappho von der moralisch anstößigen Sexualität zu
trennen 35.
Leopardi reflektiert im Zibaldone in der Eintragung vom 4. Oktober 1821 auch
im Bezug auf Sappho das kulturgeschichtliche Phänomen der Homosexualität. Er
erläutert die »pederastia« als ein im antiken Griechenland allgegenwärtiges hohes
Kulturphänomen, das in der gegenwärtigen Zivilisation, selbst im hochzivilisierten
Frankreich, Anstoß erregen würde, und zwar auch dann, wenn literarisch in Peri-
phrase von der homoerotischen Liebe die Rede wäre. In seinen Überlegungen zu
den Regeln von Norm und Ausschluss stellt er fest, dass die zivilisierteste Kultur
der Welt, das antike Griechenland, die Homosexualität sowohl in die Mythologie
eingeführt als auch in der Poesie dargestellt hat. Es verhielte sich nämlich so, dass
sowohl Platon im Symposion als auch Anakreon und Sappho die gleichgeschlecht-
liche Liebe meinten. Die Liebe zu den Frauen sei zu vulgär, zu banal, »appunto
perchè troppo naturale« erschienen 36. Sappho singe mit Zartheit von der Liebe zu
einer Frau: »E Saffo con tanta tenerezza canta la sua innamorata« 37, sie besinge
die Liebe zwischen Frauen:
Tutti i sentimenti nobili che l’amore inspirava ai greci, tutto il sentimentale loro in amore,
sia nel fatto sia negli scritti, non appartiene ad altro che alla pederastia, e negli scritti di
donne (come nella famosa ode o frammento di Saffo phaínetai ec.) all’amor di donna
verso donna 38.
Wenn die Ansicht von Sapphos Homosexualität vor dem 20. Jahrhundert wenig
verbreitet war, so hat sie Leopardi vertreten 39.
Die gleichgeschlechtliche Liebe spielt in Leopardis Ultimo canto di Saffo keine
Rolle. Sie gewinnt erst bei einem anderen Dichter der Moderne Bedeutung – bei
Charles Baudelaire. Der zunächst geplante Titel (1845–47) für die 1857 erschienenen
Fleurs du mal war Les Lesbiennes; die Gedichte Lesbos, bereits 1850 zum ersten Mal
publiziert, und die Femmes damnées evozieren Formen der gleichgeschlechtlichen
Liebe, d.h. eine Normüberschreitung und dichterische Suche, deren Anliegen es
ist, moderne Kunstanschauung in ihrer besonderen Vermittlung von Welt und Ich
zu fixieren. Die legendarische und die dichterische Sappho sind in der Apostro-
phe »la mâle Sapho, l’amante et le poète« 40 aufgerufen. Sappho ist für Baudelaire
eine poetologische Figur, die Leidenschaftlichkeit und Sterilität vereint. Die unter
sich seienden Frauen, die Spiegelbeziehung der blicklosen Augen (»filles aux yeux
creux« 41) weisen auf die Sterilität der Liebesbeziehung, die den Venuskult, anders
als oberflächlich suggeriert, nur in negativer Lust überbietet. In dem Gedicht »Les-
bos« hat das lyrische Ich in Sterilität, Nichttransparenz und Dunkelheit Anteil an
den Mysterien, in die es eingeweiht ist, und hofft zugleich, auf dem Wächterposten
des Leukadischen Felsens der Situation der Moderne, die sich nach den »voluptés
grecques« und den »jeux latins« 42 eröffnet, zu entrinnen. Auch Leopardis Gedicht
zeigt den modernen Grenzfall des Menschen zur Natur und die neue Repräsen-
tation der Liebe, nur bei Baudelaire liegt sie aber in der Kodierung homosexueller
Attraktivität.
Einen wichtigen Traditionsstrang bildet die legendarische Version, die Ovids
Heroides begründen. Die Geschichte der unglücklichen Liebe zu Phaon und der
Sprung vom Leukadischen Felsen in der Ovidischen Inszenierung der Frauenfigur
war rezeptionsgeschichtlich äußerst wirksam, ist aber frei erfunden43. In einem
fiktiven Brief klagt Sappho gegenüber Phaon, dass er sie verlassen hat. Sie brennt
vor Liebe zu ihm; ihre Gefährtinnen, die einst ihren Augen gefielen, haben ange-
sichts der schönen Erscheinung des Phaon alle Attraktivität eingebüßt. Sappho sagt
von sich, dass ihr die Natur nicht Schönheit gewährt habe, sie aber durch ihren
ingeniösen Geist diesen Mangel ausgleiche. Auf den Vers: »Si mihi difficilis for-
mam natura negavit / Ingenio formae damna rependo meae […]. Candida si non
sum […]« 44 bezieht sich Leopardi in den Annotationen zu seinem Gedicht. Von
einer Naijade bekommt Sappho den Rat, vom Leukadischen Felsen zu springen,
um sich in einem kultischen Akt von ihrer Liebe zu befreien.
Der Sprung vom Leukadischen Felsen und die unerfüllte Liebe zu Phaon sind
die legendarischen Elemente, die in der Rezeption Sapphos auch in der italieni-
schen Literatur weite Verbreitung erfahren haben. Schon Boccaccio berichtet in De
claris mulieribus (Die großen Frauen) 45 von der unerfüllten Liebe Sapphos zu einem
Mann; für die romantische Epoche ist vor allem Alessandro Verri zu nennen, der in
seinem Roman Le Avventure di Saffo poetessa di Mitilene die legendarische Leiden-
schaft der Sappho zu Phaon ausgeschmückt hat. Der 1782 veröffentlichte Roman
fand in zwölf Auflagen, darunter drei französischen Übersetzungen, Verbreitung 46.
Leopardi, der Verris Roman kennt, erwähnt ihn in seinen Anmerkungen zu den
Canti nicht, ebenso wenig finden sich im Zibaldone Kommentare zum Roman
Verris; allerdings hat er Ausschnitte in seine Crestomazia della prosa aufgenom-
men.
Die Rezeptionsgeschichte Sapphos zeichnet sich durch das Fehlen von positi-
vem Belegmaterial aus. Gerade diese Lücke erlaubte es, Projektionen und Fiktionen
auf die Sappho-Figur zu werfen. Solche Entwürfe sagen jeweils mehr über den
jeweiligen Erfinder und seine Epoche aus als über die reale Sappho. Leopardi nennt
die zeitliche Ferne als günstige Bedingung, die poetische Imagination anzuregen,
d. h. er entdeckt und spricht über das Potential, das die fragmentarische Überliefe-
rung birgt 47. Auch in der Gestaltung Leopardis ist Sappho eine Projektionsfigur, die
im Gedichtablauf zunehmend antikische Formen der Rede ablegen und in neuen
Bildkonzepten eine radikale Negativität der Moderne veranschaulichen wird.
Die auf die Sappho-Figur projizierten Bilder illustriert besonders gut eine
Lithographie des französischen Karikaturisten Honoré Daumier [Abb. 1]. Das
Blatt gehört zur Serie der Histoire ancienne, die in der Satirezeitschrift Charivari
von Dezember 1841 bis Januar 1843 erschienen ist. Daumier karikiert antike und
mythologische Bildthemen und beleuchtet spöttisch die Rezeption antiker Stoffe
und Formen, die die neoklassizistische Kunst entwirft und die bürgerliche Welt
goutiert. Eine der insgesamt 50 Lithographien zeigt die Sappho-Figur48.
Die Szene spielt nach der legendarischen Vorgabe auf der Anhöhe eines Felsvor-
sprungs. Man sieht eine widerstrebende Sappho, die in abwehrender Gestik ihres
gesamten Körpers, ihrer übergroßen Hand, ihrer sich aufstemmenden Beine und
Füße, dargestellt ist. Ihre groben Gesichtszüge, v. a. die dicke gebogene Nase,
stechen besonders hervor und weisen sie – ähnlich der Serie der Bas-bleus – als
gelehrtes Frauenzimmer aus. Sie soll, von einem Amor-Knaben mit besonders bös-
artigen Gesichtszügen gestoßen und gedrängt, von einem Felsen springen, so wie
es ihre Rolle verlangt. Daumiers antike Karikaturen haben zumeist zeitgenössische
Gemälde zur Vorlage 49, vor ihrem Hintergrund gewinnt die verzerrende Dar-
stellung stärkere Kontur. Hier ist es ein Bild des romantischen Malers Antoine
Jean Gros (1771–1835), der 1801 eine Sappho mit der Leier in der Hand auf dem
Leukadischen Felsen gemalt hat. Daumier verabschiedet die sentimentalisierende
Projektion, seine Karikatur bringt Skepsis gegenüber der Inanspruchnahme der
legendarischen Form zum Ausdruck, die Sappho in eine Rolle drängt, die ihr nicht
mehr zukommt und die sie selbst abwehrt.
Der Ultimo canto di Saffo wurde von Leopardi im Mai 1822 verfasst, er besteht
aus vier Strophen mit jeweils 18 Versen. Versform ist der reimlose Elfsilber (ende-
casillabo sciolto) mit Ausnahme des jeweils vorletzten Verses, der als Siebensilber
(settenario) mit dem abschließenden Vers einen Paarreim bildet. Die charakteristi-
Subjekt und Affekt in Leopardis Ultimo canto di Saffo 297
Es bleibt zu Beginn des Gedichts für den Leser zunächst ungewiss, in welcher
Zeit und in welchem Raum die Ich-Rede anzusiedeln ist. Zwar ist auf den Felsen
(»su la rupe«, v. 3) angespielt, aber die direkte Ortsbenennung »leukadisch« unter-
bleibt. Die täuschende Überblendung zwischen Einst und Jetzt, zwischen in die
Antike versetzter Szene und moderner Sprecherposition wird durch das Thema
der Mondlandschaft unterstrichen, die ein Motiv sowohl der sapphischen als auch
der leopardischen Mondapostrophen, z. B. in La Sera del dì di festa oder Alla Luna
ist. In wiederkehrend antithetischer Gestaltung sind in den genannten Gedich-
ten die schönen und leuchtenden Mondbilder der schmerzvollen Innenansicht der
lyrischen Ichrede verbunden, die zumeist Verzweiflung, Einsamkeit, Zeitverlust,
Desillusion thematisiert. Hier aber präsentiert sich Saffo in dieser Zerissenheit. Sie
52 Leopardi (1987), I 40–42; dt. (mit Veränderungen von K.W.) nach Leopardi (1990), 74–78.
Subjekt und Affekt in Leopardis Ultimo canto di Saffo 299
rückt mittels ihrer Rede in eine Wiederholungsstruktur ein, die sie zur Maske, zur
persona, des lyrischen Ich der anderen Gedichte macht.
Die einst schönen und entzückenden Erscheinungsbilder der Natur zeichnen
sich durch Ruhe und unberührte Reinheit aus. Für die Protagonistin sind sie durch
die Erfahrung des eigenen Schicksals entzaubert. Der Grund für die Entzaube-
rung wird nur verallgemeinernd mit den mythologischen Instanzen Erinnyen und
Fatum angegeben; ebenso wenig sind die »verzweifelten Leidenschaften« (v. 7),
denen das entzückende und teure Schauspiel fern gerückt ist, personalisiert, das
Possessivpronomen ist also ausgespart. Große Freude, »gaudio« (v. 8), wie sie das
alte Wort der Dichtungssprache benennt, taucht nur in der Ausnahmesituation der
Gewitterlandschaft auf. Aber auch diese gehört der Vergangenheit an. Dann sind
Luft und Felder durch die Winde in die fließende und umstürzende Bewegung
des »flutto« (v. 10) versetzt; der Donnergott Jupiter mit seinem Wagen zerschnei-
det – Leopardi übernimmt hier variierend ein mythologisches Vorstellungsbild des
Horaz 53 – die schwarze Luft, das Himmelsdunkel ist mithin durch Blitze zerfurcht.
Nicht mehr in die idyllische Landschaft, sondern nur noch in den locus terribilis, in
die sublime Landschaft des Aufruhrs, vermag sich die Sprechende ekstatisch und
in der Pluralform »noi« (v. 8, 14, 15) zu integrieren: Für Saffo, die sich der Bewe-
gung des Windes hingibt, werden steile Hänge und tiefe Täler zu Meereswogen,
zu Wellenbergen und -tälern, die die Sprechende durchschwimmt; der Anblick der
ausbrechenden Herden gefällt ihr im Moment des Schreckens (»greggi sbigottiti«,
v. 16) und der weiten fliehenden Bewegung (»vasta / Fuga«, v. 15–16), ebenso wird
sie vom Dröhnen der Wellen des reißenden Stromes wieder zum Leben erweckt.
Die zweite Strophe setzt wiederum mit der Evokation und erneuten Affir-
mation von Schönheit ein, die nunmehr in der »[i]nfinita beltà« (v. 21) göttlichen
Himmel und taubenetzte Erde umfasst.
II
19 Bello il tuo manto, o divo cielo, e bella Schön ist dein Kleid, o göttlicher Himmel, und
schön
20 Sei tu, rorida terra. Ahi di cotesta bist du, taufeuchte Erde. Ach, an dieser
21 Infinita beltà parte nessuna unendlichen Schönheit gaben der unseligen
Sappho
22 Alla misera Saffo i numi e l’empia die Schicksalsmächte und das gottlose
23 Sorte non fenno. A’ tuoi superbi regni Geschick keinen Anteil. Deinen stolzen
Reichen
24 Vile, o natura, e grave ospite addetta, schändlicher, oh Natur, und traurig
zugewiesener Gast
25 E dispregiata amante, alle vezzose und verschmähte Liebende, deinen
26 Tue forme il core e le pupille invano schönen Formen wende ich Herz und Pupillen
53 Die Kommentare verweisen auf Horaz, carm. 1, 34, 5–9, und 1, 12, 58.
300 Karin Westerwelle
27 Supplichevole intendo. A me non ride flehentlich bittend zu. Mir lächelt nicht
28 L’aprico margo, e dall’eterea porta der frühlingshelle Saum, und von der luftigen
Pforte
29 Il mattutino albor; me non il canto die morgendliche Helle; mich begrüßt nicht
30 De’ colorati augelli, e non de’ faggi der Gesang der farbigen Vögel, nicht der
Buchen
31 Il murmure saluta: e dove all’ombra leises Murmeln: und wo im Schatten
32 Degl’inchinati salici dispiega der gebeugten Weiden der keusche Bach
33 Candido rivo il puro seno, al mio den reinen Schoß ausdehnt, da entzieht er
34 Lubrico piè le flessuose linfe meinem gleitenden Fuß das geschmeidige Nass
35 Disdegnando sottragge, voller Verachtung
36 E preme in fuga l’odorate spiagge. und drängt im Entfliehen die duftenden Ufer.
Aus der unendlichen Schönheit von Himmel und Erde ist die Sprechende ausge-
schlossen, die göttlichen Mächte (»i numi«, v. 22) und das unfromme, gottlose
Schicksal (»l’empia / Sorte«, v. 22–23) haben Saffo daran keinen Anteil gege-
ben. Sie fällt aus der Ordnung der Natur sowohl als unwürdiger Gast als auch
als verschmähte Geliebte heraus (»vile […] e grave ospite addetta«, »dispregiata
amante«, v. 24–25). Hier verhält es sich aber nun so, dass die Zurückweisung nicht
die unerwiderte Liebe des Phaon meint, vielmehr spricht Saffo grundsätzlicher als
unerwidert Liebende der schönen Natur. Herz und Auge richtet sie flehentlich auf
die »schönen Formen« (v. 25–26) der Natur; in einer langen Aufzählung (v. 27–36)
vergegenwärtigen konkrete Vorstellungsbilder ihren Ausschluss aus der Natur. In
der jeweils wiederholten Negation (»non«, v. 27, 29, 30) und im nunmehr anapho-
risch unterstrichenen Ichbezug (»A me«, v. 27, »me non«, v. 29, »al mio«, 33), der
dem mit der aufgewühlten Natur vereinenden »noi« (v. 14, 15) zu Beginn und dem
mit allgemein menschlicher condicio verbindenden »nostra età« (v. 66) am Ende
gegenübersteht, ist das Glücksversprechen der Natur neu erinnert und zugleich
als untauglich distanziert54. Die aufgezählten Bildelemente sind solche des kanoni-
schen Frühlingseingangs, d.h. des Erwachens der Natur, die den Menschen beim
Eintritt in die Welt begrüßt und die der Dichter besingt. Saffo vergegenwärtigt und
benennt folglich potentielle Möglichkeiten der Integration in die Natur, an denen sie
aber nicht teilhat. Gerade die physische Annäherung an die wiederum als rein und
keusch vorgestellte, anthropomorphisierte Schönheit der Natur, so ist in Vers 33 die
Rede vom »candido rivo« und dem »puro seno«, misslingt. Integration und Genuss
sind verwehrt55. Nähert sich Saffos Fuß dem flüssigen Element, flieht es in jenem
Schein, der sinnliches Glück versprach (»E preme in fuga l’odorate spiagge«, v. 36).
Wie für das moderne Bewusstsein ist für die von Leopardi inszenierte Saffo-
Figur der unmittelbare Zugang zur Natur, und d. h. der schöne Schein, gebrochen.
54 Zur Opposition von »io« und »noi« vgl. auch Blasucci (1989), 78ff.
55 Vgl. zu den weiblichen Elementen der Evokation Blasucci (1989), 86f.
Subjekt und Affekt in Leopardis Ultimo canto di Saffo 301
III
37 Qual fallo mai, qual sì nefando eccesso Welches Vergehen denn, welch derart
verruchtes Verbrechen
38 Macchiommi anzi il natale, onde sì torvo besudelte mich vor meiner Geburt, dass so
finster
39 Il ciel mi fosse e di fortuna il volto? Mir Himmel und Fortuna ihr Antlitz zeigten?
40 In che peccai bambina, allor che ignara Worin sündigte ich in Kindheit, wo Untat
41 Di misfatto è la vita, onde poi scemo dem Leben noch unbekannt ist, dass dann um
die
42 Di giovanezza, e disfiorato, al fuso Jugend verkürzt, und verblüht, um die Spindel
43 Dell’indomita Parca si volvesse der unerbittlichen Parze sich mein
44 Il ferrigno mio stame? Incaute voci eherner Faden spann? Unbedachte Töne
45 Spande il tuo labbro: i destinati eventi verbreitet dein Mund: Vorbestimmtes
Geschehen
56 Traditionell wird folgender Passus aus dem Zibaldone (1991), I 459 [§ 718], vom 5. März
1821, herangezogen, um die Rolle Saffos im Zusammenhang der Naturentfremdung zu
situieren: »L’uomo d’immaginazione di sentimento e di entusiasmo, privo della bellezza del
corpo, è verso la natura appresso a poco quello ch’è verso l’amata un amante ardentissimo
e sincerissimo, non corrisposto nell’amore«.
302 Karin Westerwelle
46 Move arcano consiglio. Arcano è tutto, leitet dunkler Ratschluss. Dunkel ist alles,
47 Fuor che il nostro dolor. Negletta prole außer unserem Schmerz. Ein vernachlässigtes
48 Nascemmo al pianto, e la ragione in Geschlecht, zum Weinen geboren, und im
grembo Schoß
49 De’ celesti si posa. Oh cure, oh speme der Himmlischen ruht alle Erklärung.
O Sorgen und
50 De’ più verd’anni! Alle sembianze il Hoffen der blühenden Jahre! Den Bildern,
Padre,
51 Alle amene sembianze eterno regno schenkte Gottvater, den anmutigen Bildern
ewige Herrschaft
52 Diè nelle genti; e per virili imprese, unter den Völkern, und für mannhafte Taten,
53 Per dotta lira o canto, für gelehrte Leier oder Lied
54 Virtù non luce in disadorno ammanto. glänzt Tugend nicht im schmucklosen Kleid.
Die Strophe schließt mit der Wiederaufnahme der Scheinproblematik vom Ge-
dichtanfang. Hier ist sowohl das Wort »sembianze« (v. 50, 51) als auch die epana-
leptische Rhetorik erneut aufgenommen: Der zu Anfang über das Naturgeschehen
bestimmende kosmologische Gott (»il carro, / Grave carro di Giove« [v. 11–12]) ist
nun der über die Abbilder verfügende Gottvater: »Alle sembianze, il Padre, / alle
amene sembianze eterno regno / diè« (v. 50–51). Während das Vorstellungsbild zu
Beginn des Gedichtes den paganen Gott Jupiter repräsentiert, mit dem, verstärkt
durch den Horazbezug des wagenfahrenden Diespiter, antike Welterklärungsmo-
delle aufgerufen sind, beziehen sich die Anrede »il Padre«, die Vorstellung des
»eterno regno« (v. 51) und vor allem die Scheinproblematik (»amene sembianze«,
v. 51) auf christliche Konzepte der Weltdeutung, die zugleich überschritten werden.
Während in christlicher Vorstellung die eitle Scheinhaftigkeit, die vanitas der Welt
in der göttlichen Ewigkeit transzendiert wird, ist den »sembianze« hier von einem
Gott, der außerhalb ihrer und jenseits der Ewigkeit steht, »eterno regno« verlie-
hen. Die Entleerung der Welt geht folglich über christliche Auffassung hinaus, da
sie – in der Redeweise Saffos – in aller Ewigkeit unerlöst bleibt. Ebenso wie die
Leidensbestimmung des Menschen (»Nascemmo al pianto«, v. 48), von der bereits
Rüdiger als »Zug der Leidensseligkeit, der der Griechin weniger ansteht als der
Christin« spricht57, zeigt die Scheinproblematik in ihrer stilistischen Parallele zum
Kanzonenanfang, dass Saffo nunmehr in einem gänzlich anderen Zeithorizont zu
situieren ist. Wenn sie in affektiver Nähe gerade jenen, ihr nicht gewogenen Gott
als »il Padre« apostrophiert, der die Welt derart eingerichtet hat, dass Tugend und
gelehrte Lyrik ohne den schönen Schein wertlos bleiben und damit Saffo selbst
in der schönen Erscheinungsqualität der Natur keinen Platz eingeräumt hat, ist
ihre Rede im höchsten Maß scheinhaft, weil ironisch gebrochen. Jene Infragestel-
lung, die Saffo hier vornimmt, ist gemäß Leopardis theoretischen Aussagen dem
antiken Menschen fremd. Der Rückbezug zu Ovids Sappho und der Bruch mit
ihrer Darstellung sind hier besonders deutlich: Auch Leopardis Frauenfigur ist
eine Verkörperung des »disadorno ammanto« (v. 54), denn obgleich in ihr die
edle Seele (der »dotta lira o canto«, v. 53) wohnt, strahlt diese Schönheit nicht in
ihren Körper. Wiederum verhält es sich so, dass der Einzelfall zu einem allgemei-
nen Erklärungsmodell von Welt transformiert ist und keinesfalls eine individuelle
Ausnahme bildet.
Aus der Erkenntnisdarlegung folgt in der vierten Strophe der Todesgedanke:
IV
55 Morremo. Il velo indegno a terra sparto, Sterben wir. Die unwürdige Hülle auf der Erde
ausgebreitet,
56 Rifuggirà l’ignudo animo a Dite, wird nackt ins Reich des Dis fliehen die Seele.
57 E il crudo fallo emenderà del cieco Und auslöschen wird sie den grausamen
Fehlgriff
58 Dispensator de’ casi. E tu cui lungo des Himmels, der blind die Lose verteilt. Und
du,
59 Amore indarno, e lunga fede, e vano an den lange, vergebliche Liebe, lange Treue
und leerer
60 D’implacato desio furor mi strinse, Furor des ungestillten Verlangens mich fesselten,
61 Vivi felice, se felice in terra lebe glückselig, wenn glückselig auf Erden
62 Visse nato mortal. Me non asperse je ein Sterblicher lebte. Mich benetzte nicht
63 Del soave licor del doglio avaro mit süßem Nektar aus geizigem Kruge
64 Giove, poi che perìr gl’inganni e il sogno Zeus, da die trügerischen Bilder und die
Träume
65 Della mia fanciullezza. Ogni più lieto meiner Kindheit untergingen. Jeder frohere
66 Giorno di nostra età primo s’invola. Tag unseres Lebens verfliegt zuerst.
67 Sottentra il morbo, e la vecchiezza, e Vordrängen sich Krankheit und Alter l’ombra
und der
68 Della gelida morte. Ecco di tante Schatten des eisigen Todes. Siehe, von so viel
69 Sperate palme e dilettosi errori, erhofften Palmenzweigen und entzückenden
Irrtümern
70 Il Tartaro m’avanza; e il prode ingegno bleibt mir der Tartarus; und dem hohen Geist
71 Han la tenaria Diva, gebieten die unterirdische Gottheit,
72 E l’atra notte, e la silente riva. die schwarze Nacht und die schweigenden
Gestade.
Saffo zieht aus der Einsicht in die Fehlbarkeit der Götter den Entschluss, zu
sterben. Die stilistische Formel »Morremo« vergegenwärtigt im intertextuellen
Verweis auf den Liebestod der Vergilischen Dido58 das grausame Schicksal der
Königin Karthagos, die bloßes Opfer in der Intrige der Götter und für Aeneas’
58 Vgl. zum intertextuellen Bezug zu Vergil und zum elegischen Ton der Kanzone: La Penna
(1980), v.a. 172–175.
304 Karin Westerwelle
Gründungstat ohne Bedeutung ist. Ebenso wie Dido hat Saffo keinen Platz in der
Ordnung der Götter, mit dem Unterschied, dass in der Saffo-Figur das partikular
Weibliche zum Allgemein-Menschlichen hin überschritten wird. Mit ihrem Tod legt
Saffo die körperlich unwürdige Hülle ab, so dass der nackte Geist in die Unterwelt
fahren kann; damit ist der Fehlgriff des Schicksals, die falsche Verteilung des
schönen Scheins – ähnlich der Emendation eines schriftlichen Textes (»emenderà«,
v. 57) – gelöscht. Erst am Ende des Gedichtes richtet sich Saffo erneut an ein »tu«,
erstmals nun an den namentlich nicht genannten Phaon. Die Affektbestimmtheit
der Saffo ist wiederum stilistisch in der Wendung vom »vano / D’implacato desio
furor« (v. 59–60) unterstrichen. Hier ist die menschliche Liebessituation und ihre
Nichterfüllung ein Spiegel jener Saffo der »disperati affetti« (v. 7), die von der
Natur als Liebende nicht erhört wird. Der Liebesfuror verwandelt sich durch das
Epitheton »vano« in eine negative energetische Größe, die in ihrer Potenz gerade
durch das unbezähmbare Begehren (»D’implacato desio«, v. 60) weiter gesteigert
wird. Der Abschied von Phaon strebt keine Versöhnung an; er möge glückselig
leben, so heißt es, wenn es denn den Sterblichen möglich ist, glücklich auf Erden
zu sein. Auch hier ist wiederum die besondere Lebenssituation nur ein Spiegel des
Allgemeinen.
Von allen Versprechungen und Erwartungen, die Saffo einst hegte, bleibt ihr
nur der Gang in die Unterwelt, der als Vollendung aller irdischen Wünsche ausge-
geben wird. Im bildlichen Spiegelbezug von Ende und Anfang – die »atra notte«
(v. 72) antwortet der am Auftakt stehenden »[p]lacida notte« (v. 1) – endet der
Canto in einer zyklischen Form. Thematisch-bildlich ist die Idyllensituation des
Beginns im Jetzt des Todes aufgehoben. Im Durchgang durch das Gedicht ist der
Schein enthüllt.
Folgende Ergebnisse lassen sich abschließend für das Verhältnis von Antike
und Moderne sowie die Selbstdefinition des Sprechersujekts festhalten. Während
die Fülle der mythologischen Anspielungen auf Vorstellungsbilder der Antike
zurückverweist und selbst die syntaktischen Satzgefüge lateinische Bauprinzipien
nachahmen, um damit in der Suggestion des Antikischen Distanzeffekte zum
zeitgenössischen Kontext aufzubauen, zeigen andere Verfahren die rezeptionsge-
schichtliche Synthese und damit die Konstruktion einer fiktionalen Frauenfigur
klar an, die gerade nicht intendiert, die Antike zu romantisieren. Zu diesen dichte-
rischen Mitteln zählt die überblendende Sprechsituation am Anfang des Gedichts,
die zunächst offen lässt, ob die Rede aus der Gegenwart oder einer antiken Zeit
erfolgt; dazu gehören auch die neue Gestaltung einer Saffo-Figur, die die grie-
chische Autorin mit der legendarischen Sappho zu einer neuen Sprecherposition
vereint, und die religionsgeschichtliche Perspektive, die sich vom antiken Götter-
horizont in den christlichen verlagert. Saffo ist somit eine Projektionsfigur, die im
Verlaufe des Gedichts zunehmend die moderne Situation des Menschen enthüllt,
nicht aber antike Welt in ihrer Rede abbildet.
Subjekt und Affekt in Leopardis Ultimo canto di Saffo 305
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Sektion 4
Selbsterkenntnis und Selbstsorge
in philosophischer Literatur
Subjektivität bezeichnet die Potenz, die dem einzelnen Menschen konkret »in für
ihn charakteristischen Formen« (»optimal« im Sinne seiner Tugend/Bestheit) zur
Verfügung steht und die er verwirklichen muss (kraft seines Unterscheidungs-
vermögens): So »wird aus einer allen gleich zu Gebote stehenden Subjektivität
Individualität«. Auch die Selbstidentität bleibe dabei gewahrt, insoweit Platon und
Aristoteles bei allen internen Differenzierungen an der Einheit und Selbstbestimmt-
heit der Person festgehalten hätten.
Nach den »spezifischen Vermögen oder Leistungen der Seele«, die die »Perso-
nalität eines Menschen ausmachen«, fragt auch Christian Pietsch (Münster)
in seinem Beitrag »›Im Blick auf Gott erkennen wir uns selbst.‹ Zu Platons
Verständnis von Personalität im Alcibiades maior«. Hier tritt das Verhältnis von
Person(alität)-Individuum-Selbst in den Blickpunkt. Anhand des für platonisch
befundenen Alcibiades maior untersucht Pietsch die Rolle des Einzelnen in der
Gemeinschaft, gründe doch epimeleia immer auch auf der Erkenntnis des eige-
nen Ortes im ›System‹. Als spezifischer Bestandteil des »Personsein[s]« umfasst
Selbsterkenntnis hier nicht die »Summe des Erlebten«, nicht das »Ich-Bewußt-
sein«, sondern ein »bestimmtes Verhältnis« der »verschiedenen rationalen und
nicht-rationalen Aspekte der menschlichen Seele« zueinander« – dies steht im
Einklang mit Schmitts Beobachtungen zur energeia. Pietsch differenziert zwischen
verschiedenen Wirklichkeitsebenen, entsprechend dem »mehrschichtigen« Selbst-
begriff Platons, der von einer Hierarchie zwischen Seele, Körper und Intellekt
ausgeht; vom Körper elementar verschieden, figuriere die Seele als Selbst und der
»Intellekt als Selbst der Seele«. Die Seele bedarf der Spiegelung, um sich selbst
sehen und erkennen zu können. In Form der Anamnesis muss sich das wahre
Selbst sukzessive (wieder) enthüllen. Für die intelligiblen Ideen ergibt sich indes
höchste Individualität, insoweit sie denkbar spezifisch hinsichtlich ihrer Bestim-
mungsmerkmale sind. Der Weg zu diesen Ideen führt bekanntlich nach oben,
und so wird der Mensch denn auch um so ›persönlicher‹, je höher er steigt. Die
Voraussetzung bildet die unhintergehbare theologische Anerkenntnis Gottes »als
höchste[r] Form von ›Selbst‹ und als Ziel des Menschen«.
Einen differenzierten Blick auf die Frage nach der Applizierbarkeit moderner
Subjektvorstellungen auf antike Selbstbilder wirft Christopher Gill (Exeter)
in seinem Aufsatz »The Self and Hellenistic-Roman Philosophical Therapy«. Gill
warnt vor allem davor, antike Begriffe von Selbst und Personalität im modernen
Sinne mit Subjektivität und Individualität aufzuladen: Die antike Bewusstseinsphi-
losophie äußere sich eher in objektiver Terminologie als in ›Ich‹-zentriertem Selbst-
bewusstsein oder Subjektivität; leitender Maßstab für Selbstkonstruktion und
Selbstbewertung sei der Grad der Partizipation an der Gemeinschaft. Gill arbeitet
eine »subjektiv-individualistische« Perspektive (Moderne) gegen eine Perspektive
»objektiver Teilhabe« (Antike) heraus; letztere finde sich indes auch in moderner
Bewusstseinsphilosophie, Epistemologie und Ethik wieder. Zwei Verfahrenswei-
Sektion 4: Selbsterkenntnis und Selbstsorge 311
the assumption that the subject (hypokeimenon = sub-jectum) is that »of which
everything else is predicated, while it is itself not predicated of anything else« 3. But
then he shows that if we conceive the subject as an invariable and identical basis
to all possible modifications which can occur to it or not, we do not arrive at a
sufficient determination of the subject. The subject, being vehicle of all its possible
qualities or predicates, must be different from all those qualities or predicates:
it has to be something invariable amidst all changes. According to Aristotle, the
unchangeable cannot be thought of as having a distinct definition any more, but is
most indeterminate with respect to all its determinate qualities, and most abstract.
He calls it ›matter‹: either the determined matter of a particular thing, e. g. the
stones of a house, or the matter of all possible things, atoms in the modern
sense of the word. Anyone who finds out that the stones of a house survive its
development without changes does not know anything, from this discovery, about
this (particular) unique house, since the unchanged stones could just as well be
elements of a church, a bridge, etc. The same is true, even more so, of atoms.
Precisely when we accept that everything is a nuclear cloud, we do not gain any
knowledge from this about the uniqueness of any certain thing.
This is why one has to look, according to Aristotle, for the real identity of
something within the eidos, i.e. that »what it is said to be propter se« (to ti en einai) 4.
This eidos, in its turn, will be recognized when one recognizes the certain energeia
of something, its action (work). A house, for instance, has a certain work, to protect
its inhabitants against the weather, to serve for living, etc. This eidos is actualised
through the single stones, and this actualisation is the individualisation of the eidos
(not in the strong sense of the word, i.e. as precondition for the possibility that
something general can be realized in a particular thing 5). The Aristotelian notion of
individuality, however, should not be confused with the modern one: The stones
as matter are not the reason for individuality as the unique form (eidos) of a house.
This appearance is a result of its enérgeia, its work, to serve as accommodation,
for the requirements of status, and so on. The stones effect the actualisation of this
work here and now 6.
Stones and timber are ›principles of individualisation‹ only in the ›material‹
sense. They offer the mere possibility to accept a certain eidos (this is why Aristotle
and Plato designate the matter also hypodoché, Lat. receptaculum). Eidos is the
principle of the ever singular structure into which the matter can be brought.
The matter, therefore, is the ›principle of individualisation‹ according to possibility
at the same time asserted itself with corresponding emphasis, man became a spiritual
individual, recognized himself as such 8.
When Jacob Burckhardt wrote Die Kultur der Renaissance in Italien, the idea of the
Renaissance discovery of the individual already was common knowledge among
experts. Burckhardt rephrases the idea, reworking it with a lot of historical facts
and concise formulations. It was to gain so much influence, not least through
Burckhardt’s reputation, that it has been repeated time and again up to the latest
publications, though more recent research 9 has demonstrated on the basis of an
enormous amount of material that the conception of history which is required for
this idea can be shown to be an untenable cliché 10.
The pattern is always the same: the Middle Ages are described as a time of
belief in authorities in which everyone is tied down by general rules and orders,
whereas modernity is seen as a time when one delivers oneself from those ties,
in a revolutionary turn towards oneself, and finds in this way a new, reflexive
relationship to oneself and to a world of actual particular things surrounding
oneself.
The obstinacy with which the idea that modernity is the epoch in which
humankind liberates itself towards itself and towards the world (sc. of particular
things) persists throughout all times and arguments, is, on the one hand, not only
astonishing for an expert who knows about the many counterarguments, but also,
on the other, barely to be reconciled with the common and generally approved
judgements about the particular problems of modernity.
It is, in fact, not only Foucault’s discourse analysis or Derrida’s deconstruc-
tionism which would teach us that modernity has not at all succeeded in freeing
the human being from general discourses – by which it is, so to speak, dragged
along – towards an individual subjectivity. In his Dialektik der Aufklärung, Adorno
and Horkheimer already claimed in 1944, by theoretical analysis as well as on the
basis of a large amount of empirical material from the ›new world‹, that the ›indi-
viduals‹ of modern mass culture are not individuals, but »merely centers where the
11 See Horkheimer/Adorno (1969), 163f. Cf. the still fundamental studies, ed. by Hans Ebeling
(1996), for how important the concepts of self-preservation are for the construction of
modernity (and of antiquity too, esp. for the Hellenistic philosophers); in two influential
papers, Dieter Henrich has demonstrated that not only the basic structure of the modern
philosophy but also the modern consciousness of history (and evolution) is prefigured by
the idea that the subject has a natural instinct for self-preservation which it can and should
appropriate (following the Stoic oikeiosis-doctrine) by conscious reflection. See id. (1996a;
1996b). That the very same concepts in which the offspring of modern subjectivity is detected
can and must be regarded as offspring of its decline – according to well considered reasons,
which are offered e.g. by Adorno and Horkheimer –, is a reason to watch this complex
pattern carefully in a critical way. In the following, I only can elaborate on a limited number
of central aspects; for a more detailed study, see my Die Moderne und Platon, passim.
12 Kablitz (1998).
13 Lobsien (1998). How the subject doubts the self-experience of itself and founds the security
of the world’s experience on this doubt (and only on it) are two questions which guide
the many subtle analyses by Verena Lobsien, who shows the dependence of the early
modern discourses on those questions in: Skeptische Phantasie. Eine andere Geschichte der
frühneuzeitlichen Literatur , München 1999, esp. 9–48.
14 See the replies by Gassendi to Descartes’ Meditationes de prima philosophia (Descartes [1982]).
318 Arbogast Schmitt
with the object, it is independent, it searches for the purely mechanical order of the
world in order to exploit its powers, discovered in this way, for its own purposes 19.
The ›modern‹ incapacity to keep the individual ›I‹ away from declining into a
general ›everyone‹ is regarded by Bürger as simply being one of the constitutive
conditions of the new discovery. It does not bring about any historically critical
reflection.
Let us now change the perspective. Let us behold the Middle Ages and the
antiquity from the heights of the modern ›discovery‹ of the individual, and let
us ask the experts when exactly the veil which covered both, self-consciousness
and the world, was lifted for the first time, and when man severed himself from
the bias of general ties to become a self-conscious individual. Doing so we learn
– depending on the epoch and the author we turn to – that this revolutionary act
of deliverance has happened dozens of times since the transition from Homer’s
Iliad to the Odyssey, and also up to the 21st century. We find collections of essays,
in which the different papers, one directly following the other, and each written
by reputable experts, tell us about the ever new stages, at which subjectivity and
individuality were ›discovered‹ for ›the first time‹: by Augustine, by St. Francis of
Assisi, by Thomas Aquinas, by Dante, by Petrarch, by Giotto, by Montaigne, by
the Spanish mystics of the 16th century, by Shakespeare, etc.20.
There is good reason to assume that those hypotheses are often the results of
careful and trustworthy analysis of texts, of works of art, or of other historical
sources. What one here must conclude is that those hypotheses cannot be reached
entirely by mistake. This is to say that the criteria »Is there indeed a recognition of
the self?« and »Is there indeed a severance from generality?« etc. seem obviously
to be answered however correctly. But this also means that, clearly, in order to
meet those criteria it is not enough to accept or reject that an epoch or a single
work betrays individuality. A fundamentally critical treatment of the criteria by
which one measures when and under which circumstances individuality could have
emerged for ›the first time‹ is needed and justified. The perspective on Homer and
Plato will serve the purpose of widening the horizon within which the question is to
be treated and to increase the awareness of the following point: in my opinion, the
pathos of deliverance and freedom – by which one conceives the severance from
any kind of subordination under something general as a precondition for making
the birth of individuality possible – has narrowed the discussion. Evidently, it is
not enough to regard the deliverance from generalities as the cause of individuality.
In this case, being an individual would only be possible if one lived, without
exception, by oneself, determined exclusively by oneself and in no way by rules,
19 Ibid. 219.
20 See the collection of papers on history and prehistory of the modern subjectivity ed. by
Fetz/Hagenbüchle/Schulz (1998), passim.
320 Arbogast Schmitt
23 In the Scotism and Occamism of the late Middle Ages, there is indeed a turn taking place
in epistemology and a re-foundation of cognition and knowledge, the basis of which is an
evident ›well-determination‹, a ›harmony‹ of the particular things. This includes a radical
acknowledgement of the particular things (see Schmitt [1998], 17–34; see now also Radke
[2007/8]). The concept of individuality, which is dominant throughout the modern history
of mind and today regarded as the only valid concept of individuality, is directly dependant
on this turn. There was also however a theory concerning the possibility of cognition of
particular things which was directly derived from an epistemology before Scotism, and
which in its turn was also the foundation for the Scotism. I go more into detail on p. 14ff.
24 Frank (1991), 69.
25 Hegel (1976), 39.
322 Arbogast Schmitt
– and after Hegel, there are few who still believe in an intellectual intuition (of
the inmost essence of a thing or person) – one has to look for individuality as a
kind of role model by which all manifestations of someone are characteristically
formed: one’s principal decisions as well as everything unimportant, one’s soundly
reflected, well considered actions as well as everything possible and contingent that
happens to someone, the way one laughs, one moves, one clears one’s throat, one
stumbles, i. e. a form, in which one feels, though mostly surely unconsciously, as
oneself 26.
Manfred Frank is certainly right in regarding the versions of this conception of
individuality by Schleiermacher and Humboldt as the ones which have had most
influence to the present day. This concept, however, is to be found much earlier
(unfortunately, I cannot elaborate on this now): It was established in the modern
period – due to an enormous work of reception of the Stoa in early modernity –
as a concept which claimed to be science, or even philosophy.
Christoph Martin Wieland’s novel Agathon may serve as an arbitrarily chosen
literary example. Wieland makes the sophist Hippias claim (in the Gespräch im
Elysium of 1800) that we all have our specific nature, »our own way of imagination,
a specific strength, mixture and direction of our drives, our very specific way to
act«. Everyone having different things inscribed and a different story would thus
follow a different purpose in life 27.
According to this view, there is no other possibility of showing Agathon’s
individuality and of grasping it than to go through his whole story with all its
fissures and contingencies in order to recognize through it that Agathon was all
of what the story told and, at the same time, nothing. The narrator Wieland adds
that Agathon leaves behind successively the impressions of being »a devotional
enthusiast, a Platonist, a republican, a hero, a stoic, a voluptuary«, but that he »was
none of those«. Who he »really was, in which respects he indeed did not change
and remained invariably identical under all those guises«, this is what the reader
must find out for himself 28.
The singularity of this modern understanding of individuality is made especially
clear by the fact that the picaro, the rogue, capable of all changes, whose specific
nature is this capacity to change, is seen as the incarnation of a character of modern
fiction.
Investigating ancient texts and documents of the times from Homer to Plato
and Aristotle, one will notice that the modern understanding of individuality (as
explained in the last section) is not represented or analysed – or, at least, that it is
impossible to prove it as a predominant form.
This neither means that there was no interest in individual people in antiquity,
in their specific distinctiveness from society, nor, if anything, that individual people
served only as members of the so-called conventional communities and that they
merged with the roles allotted to them by the society29. But it does mean, as
opposed to a well-established prejudice, that the aspects which are seen as essential
conditions of individuality in modern times were not regarded to be sufficient
in antiquity, either in the literary presentation of individuality or in philosophical
analysis.
This is the reason for the apparent contradiction that many scholars already
discover the features which we regard as typical for individuality in ancient texts,
but that they nevertheless – in contrast to modern literature and philosophy – do
not find the problem of how to explain and to experience individuality, under the
condition of an unutterable, non-determinable and non-deducible uniqueness of
existence, being discussed directly.
We have to ask ourselves: is it all about the distinction of an individual from
the community, about one’s interest in oneself or in others only for the sake of
oneself, and not having any conventional relationship to them? Or is it about the
will of individual people to live their own lives according to personal desires and
rules, without regard for common standards and commands of society or religion?
For the second point, for this subjective and private deviation from generalities,
there are many instances in ancient texts!
The scope of representation in Iliad and Odyssey is, in fact, already almost
completely oriented to individual aims: the subject of the Iliad is not the story of
a common army moving to Troy, but of Achilles’ rage: a rage which is caused by
Agamemnon, who – himself prefering the daughter of a priest of Apollo (Chryseis)
to his own wife – takes away a girl from Achilles whom he loves tenderly (Briseis).
And the actual subject of the Odyssey is an uncommon, exceptional, unequalled
character, his homecoming to a wife, who shows an exceptional character too,
similar to his beyond every usual measure 30.
29 Such a hypothesis – and with the claim to be universal – is, in contrast to my opinion, still
held e.g. by Jauss (1988).
30 Cf. here also Schmitt (2001), 9–52.
324 Arbogast Schmitt
does not go back into his tent and console himself further by playing the kithara,
but watches the others from the deck of his ship, staring, and sends Patroclus to
them when their woe seems to him to have grown too great.
Contrary to the opinion of many philologists 40 that in Homer’s Achilles no
interior determination could be found, that the changes of his behaviour were
always initiated by exterior causes, for instance by Athena, or by the death of
Patroclus, I claim that there is a consequent and psychologically subtly differen-
tiated representation of inner developments in Homer. Homer shows with won-
derful precision that Achilles, despite his different, and on the surface completely
contradicting actions, never reacts arbitrarily to external factors but decides every
time and with every thing by the inmost of his nature. First, of course, it seems
as if the Achilles who cares about the disaster of the army, about the worries of
Calchas, the plight of his comrades, even about the sufferings of Priam, would be
a person entirely different from the one who rages in an unrelenting and obdu-
rate manner against Agamemnon and drags Hector around Troy for many days
etc. But, secondly, if one accepts with Aristotle the fact that Homer makes his
men prefer and avoid particular things and that this is a concrete expression and a
consequence of their ethos, of their general character tendencies, then it is easy to
recognize that Achilles is a constant character, that he remains true to himself in
every thing he does. He is always the first one who commits himself – worrying
with strong emotions – to giving everyone just what he deserves to get; when
Agamemnon denies this to the army, to the priest and finally also to himself, he
is outraged; when Hector commits an injustice against his Patroclus, he punishes
him; on Priam, not unlike his own father, having been deprived of all his happiness
about his sons, he takes pity, etc.
Interesting as it would be, we cannot follow this aspect any further and clarify
the reasons Homer gives for the fact that the reasonable Achilles is still driven to
irrationality, to actions and deeds out of excessive emotions. But we can at this
stage, however, come to the conclusion that the consistency of a character and his
individual determination is (also) represented by the continual development of his
tendencies for action, i. e. the way he reacts to and behaves towards certain external
conditions. Homer depicts a richly differentiated and yet unified and consistent
portrait of a persona by showing in detail how Achilles hardens in his wrath and
how it is possible for him to gradually free himself from it. Doing this, Homer
draws a type of persona that escapes the disjunction ›abstract–general–typical‹ or
›absolute–individual–ineffable‹. He shapes a persona, which is to be understood
by means of reason – but without being merely an abstract scheme.
Therefore, Aristotle is not wrong in referring to Homer when claiming that poetry
is capable of making one see the general tendencies of a character (its generality)
through someone’s action and speech41. In Aristotle, this generality has nothing
to do with the relationship between an abstract type and its concrete actualisation.
The question, essential for modernity, whether someone acts typically, as king,
as soldier, citizen, lover, etc., or just out of himself, is circumvented here in a
very interesting way. The generality, as conceived by Aristotle, lies in the unity of
someone’s interior tendencies of action. In contrast to someone’s particular, single
actions, this generality is the means by which one recognizes those single actions
as manifestations of just one character. Furthermore, this generality is not abstract
or empty. It is not the nucleus of a personality consistent throughout all changes
but completely indeterminate by itself. It is in fact a range of general tendencies,
named exactly and described in all their inner features and outlines. It is a range of
tendencies to act in a certain way, to be inclined, e. g., to help, to be courageous,
persistent, brave, fair, sympathetic, etc.
In trying to grasp how those general character traits can at the same time also
be individual, one has to consider different aspects. First, it is important to see
that the generality of which Aristotle speaks is a generality in the dimension of
individuality. He is concerned with the general tendencies of human behaviour as
different from each single action which is shaped by those tendencies, i. e. by that
which someone prefers or avoids. From this perspective, one can say that Aristotle
defines the task of poetry as the representation of individuality: Poetry should
focus – contrarily to reality, where whatever someone does is determined partly
not by himself but also by external reasons – exclusively on actions of which the
individual himself is, as Aristotle says 42, the source and principle of his decisions.
In the means which serve to fulfil this demand, we find the proper cause
affording individuality. When enquiring whether it is justified to apply notions like
individuality and subjectivity (which is even more fundamental for modernity) to
ancient texts, we have to postulate the following:
There has to be an autonomous principle, a principle of which (and of whose
criteria) man has knowledge and which he possesses through the powers of his
reason.
What is to be said about this demand? We do find explanations of how
to accomplish it in ancient theoretical texts, e. g. in Plato and Aristotle, as well
as in texts of the modern period. Yet to investigate the ›preconditions for the
41 Aristotle, Poetica, chapt. 9, 1451b5–10 and cf. also chapt. 24, 1460a5–10.
42 Aristotle, Nicomachian Ethics, III, 1 passim (esp. 1100b1–5) and 3, esp. 1111a22–24.
330 Arbogast Schmitt
ent (in a quantitatively gradual sense) by being applied to different things and thus
is turned into cognition, imagination, perception or will 45. In all respects, however,
man would stay a unity through doing whatever he does with imagination, or, in
modern terms, with consciousness.
This radical postulation of unity has put the ancient Stoa as well as the mod-
ern philosophy of consciousness and self-consciousness on the spot: There are
too many things in man which happen without, or indeed, against his conscious
thought. In order to explain how it is possible that we can sense irrationally gener-
ated affects or follow the drives of our will against better knowledge, Poseidonius
(in the first century B.C.) already believed that he had to turn back to a putative Pla-
tonic division of the soul 46. For the same reasons, and also because of observations
concerning judgements of taste by which we often detect that which is morally or
aesthetically right before any conscious formation of a concept, the modern period
too admitted, beside the so-called higher cognitive faculty, a lower one with its
own, especially aesthetic autonomy. Tetens and finally Kant, in the last third of the
18th century, differentiated radically between this lower faculty and the conscious
cognition and assigned it to an irrational and unconscious part of the soul. Again
they claimed that the soul was divided into three parts, a conscious cognitive fac-
ulty (faculty of knowledge), and an unconscious sensitive faculty of feelings of
lust and reluctance on the one hand (faculty of pleasure and displeasure) and of
desires or will on the other (faculty of desire). Those faculties are supposed to be
in permanent interaction with each other, but at the same time to be autonomous,
and each to have its derivative form. When contemporary psychology distances
itself from this ›out-dated‹ doctrine of faculties, they often ignore the fundamental
commonalties: For example, the very idea of an »emotional intelligence« is heir to
the doctrine of faculties, originating in the Age of Enlightenment, culminating in
the 18th century. This doctrine has its roots in the intensive discussions of the 17th
century about capacities like taste, common sense, criticism, (and their French and
German correspondent notions: sens commune, bon sens, Geschmack, Gemeinsinn,
Urteilskraft, etc.). Their common work had been seen in their capacity to grasp
something adequate to a notion, i. e., something intellectual, before conceptual
rational thinking took place. In fact, one had really believed them to be capable
of possessing a higher intelligence than rational cognition for particular rational
45 See René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, Regula I, 1 und Regula XII, 10; cf. id.
(1991).
46 On the Stoic explanations of the problem of the unity of a variously determinate soul
see Maximilian Forschner (1995), 58–60. On a judgement concerning the Stoic positions
from a Platonic perspective and by means of a comparison to the Platonic concept which
distinguishes between several capacities of the soul see Schmitt (2003), 305–316 (part II,
chapter IV: »Die Seele in bewußtseinsphilosophischer und unterscheidungsphilosophischer
Analyse«).
332 Arbogast Schmitt
actions, e. g., for the experience and evaluation of aesthetical or ethical matters.
Moreover, those faculties were never imagined to be isolated systems, but always
as something continually interrelated, as entities – in the ideal case – interacting
with each other just as in a harmonious game (Kant, Schiller)47.
With a view to those widely held opinions, prevalent to this day, i. e., with a
view to the hypothetical existence of such quasi-autonomous, interacting control
systems in us, it is not clear to me why we claim that for Plato (as Wolfgang
Kersting 48 has recently done), »the idea of the subject unity and the personal
identity« – »most important for the philosophy of the modern period« – was
entirely foreign, and that he supposed »instead of one acting soul […] a triad of
distinctive parts of the soul«,«which interact as autonomous dramatis personae
under strain«.
Those autonomous »dramatis personae« are especially characteristic for the
modern doctrine of reason, will and emotion, regarded as the psychic principles
of human action. But they are not characteristic for the Platonic parts of the soul,
which only interact independently if someone has not yet reached his autonomous
individuality, or has lost it again, or deviates in a certain situation, because of certain
reasons, from his intellectual nature, from his actual individuality.
To go more into detail, I have now to treat something which has been called the
fundamental faculty of the soul (Grundkraft) up to Kant. The early modern period,
as also many contemporary philosophical and psychological positions, believed
consciousness to be that which characterises the human being as human being.
The un- or non-conscious acts in us are also believed to get their specifically human
hue by virtue of consciousness, i. e., because of the possibility that we can become
conscious of them. Our notion of individuality, again, depends fundamentally on
this hue, on how we are conscious of ourselves in everything we do or sense.
Plato and Aristotle, however, do not conceive those fundamental faculties of
the soul as consciousness or imagination; for them, in fact, that which makes the
human being a human being is noûs or dianoia, that is, intellect or reason. And
again, they are believed to be also the cause of someone’s individuality. It is without
any doubt, according to Aristotle49, that noûs is – at least predominantly – the
cause of the specific being of a person.
We now therefore have to look closer at noûs and dianoia. What are they?
47 Though psychology no longer uses the terminology of faculty psychology, we have all the
same retained the radical distinction between consciousness and unconsciousness. Instead
of faculties, we now speak of e.g. systems, of a perception system, which controls our
perceptions, and of a limbic system that controls our feelings and so on.
48 Kersting (1999), 162.
49 Aristotle, e.g. Nicomachean Ethics 1168b34ff.
Subjectivity as Presupposition of Individuality 333
Both Plato and Aristotle describe their principle activity as the voluntary and
accomplished performance of a distinction (krinein). Whether it is possible at all to
recognize something which can be distinguished and conceived of for itself, which
is not, at once, itself and another, different thing than itself. This is a principle
requirement for thought, since human thought cannot think anything to which it
cannot come back as the same thing.
Plato reflects on this axiom of reasoning most intensively in the dialogues
Politeia (books V–VII), Parmenides and Sophistes, and demonstrates that human
thought possesses in itself many criteria by means of which it proves whether
and in what sense something is actually something. It is not possible to regard
something as something if it cannot be conceived as unity, as entity, as identical
with itself, as different from other things, as a whole made from parts, sc. as having
beginning, middle and end, as a synthesis of a manifold (sc. of parts) in order to
get a unity, i. e. as number.
These criteria must be applied in every act of distinction and therefore form
the dimension of purely rational notions. Anyone who knows them and applies
them correctly (because of this knowledge) is thinking ›rationally‹ in the proper
sense of the word.
One distinguishes not only in the case one knows what one is doing as well
as the conceptual criteria, towards which each act of distinction must be oriented,
but one also distinguishes in every cognitive action, in fact, in every action at all.
Anyone who wants no more than to perceive a single sound must be capable of
distinguishing this sound (from all other sounds) as a certain one. He does not
have the capacity of doing so if he does not perceive the beginning and the end
of the sound while distinguishing a certain wave from another as an identical one
(with itself) and being aware of the equality of the waves’ frequency throughout
the whole the time, etc. 50.
Although one may know these criteria in themselves, one nevertheless also
uses categories like unity, identity, entireness, part, equality, beginning, number,
symmetry etc. in a simple act such as the act of perception. This act of distinction
can be performed more or less rationally, e.g., one either can focus on the identity
of a sound over a certain time or simply grasp a rough outline of it approximately.
However rational these acts of hearing are, rationality in the proper sense is solely
the sovereign cognition of the cognitive criteria itself, a knowledge which is neither
restricted to several concrete applications nor bound to such.
50 See Boethius, Institutio musica I, 9 und V, 2; Augustinus, De Musica, VI, 8, 21. On the
importance of general and conceptual criteria and principles of cognition and music as well
as perception in general see Schmitt (1990b), 221–237.
334 Arbogast Schmitt
From the philosophical perspective on the basis of distinctions (I call this per-
spective unterscheidungsphilosophisch), we see on the one hand a clear distinction
between rational reasoning in the proper sense and non-rational acts (e.g. per-
ception). On the other hand we recognize that the non-rational acts are kinds of
distinction which grasp the essence of something more or less precisely, i. e. more
or less rationally. The latter case, however, is concerned with cognitive subjects,
which contain fewer differences and therefore require also a lesser level of dis-
tinction. This is why human recognition starts not, in fact, from cognitive acts
but from acts of perception and imagination. Both distinguish – as recognition –
»something«. But both are different from recognition, since they are not capable
simply of conceiving a difference, conceivable in itself; in fact, they always have
to be related to empirical things at hand, from which they simply read off, so to
speak, a certain distinction.
In this conception of Plato and Aristotle, human rationality and irrationality
are distinguished from each other – according to certain methodically clear criteria –
but they are not separated from each other radically and incommensurately.
Concerning the question of how someone shapes his potentiality of diverse
actions into a unified identity, it is most important that this conception does not
oppose conscious rationality to emotionality. On the contrary, Aristotle demon-
strates in impressive analyses that the feeling of pleasure or displeasure is not a
separate system of the soul, but a phenomenon that accompanies each kind of
action directly so that it might be as diverse as the mind’s possible actions are
different 51. Saying that someone is living a life of lust, for instance, is – according
to Aristotle – only speaking approximately. The life one is speaking of in this case
is one which searches for the pleasures that depend on certain sensory experiences.
Pleasure, however, is not solely the effect of sensory perceptions, but also of mere
bodily movements, and again – in a higher and purer manner – of intellectual
activities in the proper sense 52. To the higher, i. e. more complex activities of dis-
tinction correspond therefore the higher more differentiated experiences of lust.
In the same way, as the human being begins in childhood with merely simple and
undifferentiated activities of distinction, he begins also with undetermined, i.e.
relatively low and unspecific experiences of pleasure (a fact which can become the
51 For more details concerning this Aristotelian conception of the relationship between the
feelings (of lust and reluctance) and several kinds of cognition, which Aristotle develops esp.
in the tenth book of the Nicomachian Ethics, (and also on the distinction of this concept
from contemporary theories of emotionality) see Schmitt (2003), 368–372 und ff.
52 See Aristotle, Nicomachian Ethics X, 7, 1177a12ff.
Subjectivity as Presupposition of Individuality 335
the optimal pleasure. He will not be inclined to drink further so that he becomes
unable to perceive.
Plato calls this situation of voluntary agreement with the rational part of the
human being sôphrosynê 56.
Sôphrosynê is the basic aretê of the human being, and aretê is the best form
of human reasoning, i. e. the result of rational insights in general under the guid-
ance of reasoning. Sôphrosynê means the state of accomplished evolvement and
development of all human psychic faculties that are related to sensory perception.
For this kind of autonomy, however, an already complete and well-founded
knowledge and the education of the higher faculties are, in fact, preconditions.
According to Plato, this can be afforded only via recognition and education. The
moderation, i. e. the accomplished formation and activity of the senses and the
subordination of the sensory faculties to the insight of reason, is for Plato, as for
Aristotle too (at first), a virtue of the faculty of perception, i. e. a virtue of something
which is not capable by itself of conceptual, rational cognition. Insofar, one could
speak of this kind of sôphrosynê as a virtue of the sensory faculties or one could call
it a principle virtue of all creatures in general. When anyone is capable of cultivating
– in the course of his development – his capacity of perception as far as he can
sense the highest possible pleasure while tasting or seeing etc., then we also call
this an achievement. Yet, no one has created himself as person or as certain human
individual through this achievement. It is only by development and achievement
of his higher faculties, especially of the faculty of conceptual cognition and critical
reflection on his own cognitive activities, that someone can determine himself, in
the proper sense, to be an individual, since it is only by such ›dispositions‹ and
actions of the soul that he differs from animals and also from other human beings.
This is because if individuality is that which is the cause of the identity of
something (and its guarantee), it must be that by which something is distinguishable
from anything else; what it does not share with anything else. But everybody does
many things which are similar to those done by others. It is necessary, therefore,
if we wish to come to know something about the uniqueness and individuality of
someone, to differentiate those common actions from those which are specific for
someone, which are caused by his special character, since it is not by any action
that someone ›reveals‹ himself in his individual singularity. In some actions one
expresses oneself only as a living being, in others as a social being related to a
community, in others again as a rational being, and only in most particular actions
as this determinate, certain, individual rational being.
56 Moderation is a word for the psychic situation in which the rather bound and unfree human
faculties of distinction are settled in agreement of opinion (homodoxia; Plato, Politeia 442d1)
with the general cognitive faculty of man, which is free, knows itself and, this given, governs
of itself.
Subjectivity as Presupposition of Individuality 337
57 Cf. the position of Philoponos in his commentary on the Aristotelian Physics: Ioannis Philo-
poni in Aristotelis Physicorum libros tres priores commentaria, (Commentaria in Aristotelem
Graeca (= CAG) XVI), ed. Hermann Vitelli, Berlin 1887, 14, 5–12.
338 Arbogast Schmitt
to the possibilities towards which the human gifts have to be developed. Anyone
who wishes to develop his capacities of listening cannot expose himself and his
ears to any environmental noises, but must address himself to that which makes
listening s. o. possible at all: to the capacity to grasp the particular distinctiveness
of sounds and notes caused by the constancy of different waves.
Let us turn back to generalisation:
An appropriate formation of the human gifts cannot differ according to occa-
sions or needs, but must correspond to that which the human being as human
being is capable of doing. According to Plato and Aristotle, this is the faculty of
establishing the activities of distinction (i. e. thinking and feeling) by reflection – in
a self-determined and voluntary manner.
Therefore, to find finally the clue for the cause of autonomy and of achievement
of real individuality, we only have to look for the cognitive faculty of distinction:
this is the only entity which really knows what it is doing and which is therefore
able to dispose of itself voluntarily in any case. Anyone who distinguishes by
means of the eye or the tongue is bound to the possibilities of perception those
organs possess. The eye only sees and never tastes or hears, it never imagines or
has opinions. It will always see the sun as something small. The tongue, again,
will always like the sweet, regardless of any teaching by reason. The education can
only come to someone who is capable of doing all of his different things. This is
the case for man solely due to his faculty of distinction.
The faculty of distinction, to conclude, is the cause for the actual free autonomy
of man, by which he appropriates everything that he acquires as himself and not
in the service of someone else.
This appropriation is always oriented towards something general. There is no
ability, nor reason for man to free himself of it. The generalities will be taken
in by the appropriation in the way which is the most agreeable and pleasure-full
for man, i. e. the appropriation will be independently, voluntarily and individually
self-dependent.
With a view to Plato, it is especially clear that what he believes to be aretaî are
not models or general rules, given by history and society. The moderate person is,
according to Plato, not supposed to live in a dignified measured peace all the time 58,
the righteous person does not always have to give back what was lent to him 59, the
brave one does not always have resist enemies 60, namely not when those generally
accepted ideas of virtue do not serve the special aim they should, to contribute, in
fact, to that which really is agreeable and good for a certain person now and here,
in this particular situation.
Kant contrasted this Platonic ethics of lust with a neo-Stoical ethics of virtue,
believing lust to be sensory lust (in a neo-Epicurean tradition); Popper thought to
have to accuse Plato of totalitarianism because of the subordination of the lower
faculties of the soul to reason which Plato demanded; most of the scholars who
interpret Plato and are oriented to history, believe him – because of the very same
subordination – only to have pre-shaped modern subjectivity and individuality.
That the subordination of the lesser pleasure to the higher one is really the
proper seal of human freedom; that Plato explained this freedom to be deeply
rooted in human rationality; that he developed a critical concept of the problem
of individual human autonomy without reducing this rationality to an abstract
consciousness – to offer some arguments for these hypotheses, albeit in a neces-
sarily brief form, has been the aim of my lecture. The fact that we find an opinion,
familiar to that of Plato and Aristotle, in Homer can lead us to the assumption
that the ancient conception of individuality, which I have tried to present, is not
alienated from reality, but, on the contrary, based upon empirical analyses of the
human being.
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»Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst«
Zu Platons Verständnis von Personalität im Alcibiades maior 1
Die Frage, was ein menschliches Individuum eigentlich zur Person oder, um es
mit dem antiken Begriff auszudrücken, zum Selbst2 macht, wird nicht erst seit
der Moderne gestellt. Von Sokrates war bekanntlich, wie Cicero formuliert, die
Philosophie nach einer Phase vorrangiger Naturbetrachtung vom Himmel in die
Häuser der Menschen geholt worden3, d. h. der Mensch wurde selbst zum Ziel
des Philosophierens. Alles nach außen gerichtete Interesse, vor allem aber alles
politisch-soziale Handeln konnte nur sinnvoll sein, wenn das Prinzip des Han-
delns selbst in gutem Zustand war. Die Blickrichtung hatte sich also zunächst von
außen weg auf die eigene Seele zu richten4. Sie bildete das eigentliche Selbst, auf
1 Der in der älteren Forschung meist nicht Platon zugeschriebene Dialog wird inzwischen
überwiegend für echt gehalten; vgl. Allen (1962), 189f.; Annas (1985), 112–115; Goldin (1999),
2 f.; Johnson (1999), 1f.; Denyer (2001), 14–26. Auch die folgenden Ausführungen sehen
die Autorschaft Platons als sehr wahrscheinlich an, erweist sich doch der Alc. m. in seinen
inhaltlichen Aussagen als eng mit anderen Dialogen verknüpft. Entsprechend wurde die
Autorschaft Platons in der gesamten Antike nicht bezweifelt, während sie in der mod-
ernen Philologie primär gar nicht aus inhaltlichen, sondern formalen Gründen wie etwa
der fehlenden dramatischen Gestaltung oder wegen sprachlicher Eigentümlichkeiten abge-
sprochen wurde, so zuerst Schleiermacher (1861), 203–208; weitere Lit. bei Goldin (1999), 1,
A. 2.
2 Neben dem Begriff des ›Selbst‹ (aŒtÏ) findet sich in der antiken Terminologie auch noch
›Ich‹ (‚g∏), z.B. Olymp. 3,12; 197,13 Westerink.
3 Cic. Tusc. V 10: Socrates … primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit et
in domus etiam introduxit et coegit de vita et moribus rebusque bonis et malis quaerere.
4 Dieser Grundcharakteristik seines Philosophierens gibt Platon an mehreren Stellen Aus-
druck: Alc. m. 132c1–6: SW. yuq®c ‚pimelhtËon ka» e c to‹to bleptËon. – AL. d®lon.
– SW. swmàtwn d‡ ka» qrhmàtwn tòn ‚pimËleian ·tËroic paradotËon. – AL. t– m†n;
Sokrates: »Man muß sich um die Seele kümmern und darauf schauen«. – Alkibiades: »Klar«.
– Sokrates: »Die Sorge um Körper und Sachen aber muß man anderen überlassen?« – Alki-
biades: »Was sonst?« Phdr. 229e5–230a3: oŒ d‘nama– pw katÄ t‰ Delfik‰n gràmma
gn¿nai ‚mautÏn; geloÿon d† moi fa–netai to‹to Íti Çgnoo‹nta tÄ ÇllÏtria skopeÿn.
344 Christian Pietsch
dem das Handeln der leiblichen Erscheinung des Menschen beruhte. Man phi-
losophierte seitdem für den optimalen Zustand des eigenen Inneren, der in der
Vervollkommnung aller persönlichen Fähigkeiten bestand, der kognitiven ebenso
wie der sozialen. Die volle Entfaltung der eigenen Möglichkeiten bedeutete für den
Philosophierenden die beste und beglückendste Lebensform.
Dieses Verständnis von ›Person‹ oder ›Selbst‹ meint also, sofern man an der
physischen und sozialen Existenz des Menschen ansetzt, die seelische Ebene. Zu
Recht ist gerade in den letzten Jahrzehnten, etwa von Pierre Hadot, herausgear-
beitet worden, wie sehr diese Bemühung um das eigene ›Selbst‹, die cura sui oder
‚pimËleia aÕto‹, als zentrale Aufgabe des nachsokratischen Philosophierens ange-
sehen wurde 5. Wenn man nun darüber hinaus fragt, welche spezifischen Vermögen
oder Leistungen der Seele es sind, die die seelisch begründete Personalität eines
Menschen ausmachen, kann man ebenfalls bereits auf einer Reihe wichtiger Ergeb-
nisse von Forschern wie Schmitt, Annas oder Gill aufbauen6. Demnach vertrat
die Antike zwar nicht das moderne Verständnis von Person. Das heißt, sie sah
das eigentlich Personale ebensowenig in der mehr oder weniger zufälligen Summe
des individuell Erlebten, Gefühlten oder Gedachten wie in dem Ich-Bewußtsein,
das in der Reflexion auf das alle individuellen psychischen Akte gleichermaßen
begleitende Moment gründet. Sie entwickelte aber sehr wohl eine eigenständige
Konzeption davon, durch welche seelischen Akte Personalität konstituiert wird.
Das Personsein besteht nach antikem Verständnis darin, daß die verschiedenen
rationalen und nicht-rationalen Aspekte der menschlichen Seele in ein bestimmtes
Verhältnis zueinander gebracht und so ein der jeweiligen Lebenssituation ange-
messenes individuelles und situationsgerechtes Verhalten begründet werden soll.
Je mehr es dem Individuum gelingt, den eigenen Platz im Leben zu erkennen,
die ihm im Rahmen einer Gemeinschaft vorgegebene Rolle auszufüllen und seine
Intentionen der Lebenssituation und deren Anforderungen anzupassen, um so
mehr wird der Mensch zu innerer Geschlossenheit finden, um so mehr wird er er
selbst sein.
Unter den Platonischen Dialogen hat der Alcibiades maior für die vorliegende
Frage besondere Bedeutung7. Mit seiner Hilfe soll im folgenden die Platonische
Ìjen dò qa–rein ‚àsac ta‹ta, peijÏmenoc d‡ tƒ nomizomËn˙ per» aŒt¿n, Á nundò Ílegon,
skop¿ oŒ ta‹ta Çll+ ‚mautÏn … (»Ich bin noch nicht in der Lage, mich der delphischen
Inschrift entsprechend selbst zu erkennen. Da kommt es mir doch lächerlich vor, obwohl
ich das noch nicht weiß, auf die fremden Dinge zu schauen. Daher lasse ich diese Dinge sein
und mich von dem überzeugen, was der Brauch darüber für richtig hält, und betrachte, wie
ich gerade sagte, nicht diese Dinge, sondern mich selbst«).
5 Hadot (1991).
6 Annas (1985), 121f.; Schmitt (1990); (2003); Gill (1996); (2006), 325–433. Von ähnlicher Grund-
tendenz, aber in der Durchführung undifferenzierter Oehler (1998).
7 Die Thematik der Betrachtung des Selbst findet sich auch im Charm. 164c ff.
»Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst« 345
Der Gedankengang des Alc. m. ist zweigeteilt. Der Dialog verfährt zunächst elenk-
tisch, d. h. mit negativem Beweisziel (106c4–127d8). Der junge Alkibiades wird von
Sokrates zu der Einsicht gebracht, daß er in doppelter Hinsicht unwissend ist. Er
weiß nichts über richtiges politisches Handeln und er weiß nicht, daß er darüber
nichts weiß. Am Ende dieses ersten Teils ist zumindest das zweite Unwissen in
Wissen verwandelt: Alkibiades weiß nun, daß er nichts weiß (127d6–8). Doch
der Alc. m. beläßt es nicht bei dieser negativen Beweisführung. Im zweiten Teil
(127d9ff.) versucht er, positiv den Weg zu wirklicher Erkenntnis und zu einer auf
ihr gründenden Lebensführung aufzuweisen. Dieser Weg wird nach der Beseiti-
gung der falschen Meinung über sich selbst beschritten durch die Entdeckung von
Alkibiades’ wahrem Selbst8. Doch wie kommt Platon darauf, daß man differenzie-
ren muß zwischen dem eigentlichen Selbst eines Menschen und anderen Aspekten
am Menschen, die zu dem, was er eigentlich ist, offenbar nicht gehören?
Das menschliche Individuum erweist sich bei genauerem Hinsehen als kom-
plex. Dabei besitzen nicht alle Aspekte, die es in sich vereint, denselben Rang. Es
gibt einen Unterschied zwischen dem, was etwas selbst ist, und dem, was sich
zwar an diesem Selbst befindet, aber kein Bestandteil dieses Selbst ist, ihm also nur
äußerlich angehört. Wenn etwa, um ein Beispiel aus dem Text zu bringen, der Fuß
die Sache selbst ist, sind die Schuhe etwas am Fuß und gehören nur in sekundärer
Weise zu ihm. Ebenso ist der Ring etwas am Finger, aber nicht Teil des Fingers
selbst (128a5ff.). Aber nicht nur die wesentlichen und unwesentlichen Aspekte an
einer Sache unterscheiden sich, sondern auch die Methoden, damit umzugehen.
Um den Fuß kümmert man sich mittels der Gymnastik, um die Schuhe, in denen
er steckt, mittels der Schusterkunst.
Es kommt also darauf an, innerhalb des zunächst einheitlich erscheinenden
Ganzen, des beschuhten Fußes, zu differenzieren und primäre und sekundäre
Elemente voneinander zu unterscheiden. Nur so läßt sich erreichen, daß die
Bemühung sich auf die Sache selbst richten kann. Analog zu diesem Beispiel
weist auch der Mensch Elemente primärer und sekundärer Wertigkeit auf. Nur
wer beide Bereiche zu unterscheiden versteht, kann das wirkliche Selbst erfassen
und im Blick hierauf dann auch das Leben des empirischen Menschen formen
(128e10f.).
Wie sich diese Differenzierung methodisch leisten läßt, wird ebenfalls zunächst
an einfachen Beispielen demonstriert. Am Handwerker und an dem von ihm
benutzten Werkzeug wird deutlich gemacht, daß der spezifische Unterschied zwi-
schen beiden in der Fähigkeit zu gezieltem, planvollem Gebrauch (qr®sjai) einer-
seits und der passiven Verfügbarkeit zu bestimmten Zwecken (≈ qr®tai) anderer-
seits liegt (129b1 ff.). Es ist das auch sonst für Platon zentrale Widerspruchsaxiom,
das hierbei die erkenntnisleitende Funktion besitzt9. Denn die Beobachtung eines
mit Werkzeugen arbeitenden Handwerkers zeigt, daß einer scheinbar einheitli-
chen Sache zwei gegensätzliche Merkmale zugewiesen werden müssen, die allem
Anschein nach zugleich und in derselben Hinsicht gültig sind. Da aber a priori
sicher ist, daß Gegensätzliches nicht zugleich und in derselben Hinsicht gelten
kann, da also die gegensätzlichen Merkmale Gebrauchen und Gebrauchtwerden
zwar wohl zugleich, aber nicht in derselben Hinsicht gültig sein können, müssen
sie verteilt werden auf unterschiedliche Instanzen, auf Handwerker und Werkzeug
– eine Differenzierung, die zunächst übersehen worden war.
Übertragen auf das menschliche Individuum führt diese Differenzierung ana-
log auf den Unterschied zwischen Seele und Körper. Auch hier lassen sich gebrau-
Damit hat der Gedankengang eine neue Ebene erreicht. Nach der Einsicht, daß die
Seele vom Körper zu unterscheiden und daß sie das Selbst des leiblichen Menschen
ist, ist klar, daß Selbsterkenntnis und Sorge um das Selbst sich auf die eigene Seele
10 Olympiodor formuliert daher zurecht die von Platon intendierte Definition des empirisch-
leiblichen Menschen so, daß sie beide Elemente sichtbar macht: »logische Seele, die sich des
Körpers als Werkzeug bedient« (208.8–9: Âr–zetai t‰n änjrwpon yuqòn logikòn Êrgàn˙
qrwmËnhn tƒ s∏mati).
11 Alc. m. 130c2f.: le–petai mhd‡n ällo t‰n änjrwpon sumba–nein ô yuq†n.
348 Christian Pietsch
richten müssen (132b6ff.). Doch wie läßt sich eine solche Reflexion leisten? Auch
diesmal bereitet Platon die Lösung durch ein einfaches Beispiel vor. Will man sich
selbst sehen, schaut man auf eine reflektierende Fläche. In einem Spiegel oder in
der Pupille, d. h. im besten Teil eines fremden Auges, spiegelt sich das eigene Auge
oder das eigene Gesicht. Man sieht das andere und sich selbst. Oder besser: Man
sieht im anderen sich selbst.
Mit der Selbsterkenntnis der Seele verhält es sich analog. Um sich selbst ›sehen‹
zu können, muß sie sich in etwas spiegeln. Wie das Auge sich in einem Auge sieht,
so die Seele in einer Seele. Und wie das Auge sich im besten Teil des Auges, in
der Pupille, sieht, so auch die Seele im besten Teil der Seele. »Wenn die Seele sich
selbst erkennen soll, muß sie in eine Seele schauen, und ganz besonders in diejenige
Stelle von ihr, in der sich der beste Teil (Çret†) der Seele befindet, die Weisheit
(sof–a), und in etwas anderes, das ihr ähnlich ist« (133b7–10). Diese Stelle erbringt
nicht nur die Methode, mit der die Seele sich selbst erkennen kann. Sie erbringt
auch noch eine weitere Differenzierung bei der Suche nach dem wahren Selbst.
Denn Selbsterkenntnis wird offenkundig nicht durch die Betrachtung einer Seele
als ganzer geleistet. Der Blick auf die andere, spiegelnde Seele zeigt der Seele ihren
eigenen besten, ursächlichen Teil, der im Verhältnis zum Rest der Seele wie ein
Gott ist. Es ergibt sich also eine weitere Differenzierung zwischen der den Körper
gebrauchenden Seele als sozusagen unmittelbarem Selbst (aŒtÏ) des empirischen
Menschen und einem noch eigentlicheren Selbst, das von Platon das Selbst selbst
(aŒt‰ t‰ aŒtÏ, 129b1; 130d4) 12 genannt wird. Dieses Selbst selbst bildet gleichsam
den kausalen Kern der Seele 13.
Platon beschreibt diesen besten Teil mit sof–a und frÏnhsic (133b10; c5). Diese
Begriffe bezeichnen das Wissen von den (Handlungs)prinzipien (sof–a) und von
der Fähigkeit zu ihrer Applikation auf den jeweiligen Einzelfall (frÏnhsic). Sie
benennen also den Bestzustand eines Erkenntnisvermögens, genauer: den Bestzu-
stand des höchsten seelischen und zugleich bereits über die Seele hinausführenden
Teils im Menschen, des Intellekts. Er gründet in der Erkenntnis intellegiblen Seins 14.
12 Zum nominalen Verständnis von t‰ aŒtÏ s. Allen (1962), 187–189. Gill (2006), 349–353 macht
darauf aufmerksam, daß der Begriff des ›Selbst‹ deutlich von den modernen Implikationen
dieses wirkungsgeschichtlich für den modernen Leser hochbelasteten Begriffs ferngehalten
werden muß. Er wählt daher – wie vor ihm bereits Denyer (2001), 211f. – mit ›the itself itself‹
auch eine terminologisch gezielt von dem (im Englischen) sonst Üblichen (›the self itself‹)
abweichende Übersetzung. Dem entspricht meine eigene deutsche Übersetzung ›das Selbst
selbst‹.
13 Gill (2006), 349.
14 Für die Bewertung des Intellekts als besten Teil der Seele finden sich etliche Parallelstellen
bei Platon. So wird in Pol. IV 437b7ff. in der Lehre von den drei Seelenteilen zunächst der
vernunfthafte Teil der Seele (logistikÏn), dessen Vollendung in sof–a besteht, von den
nicht-vernünftigen Teilen (‚pijumhtikÏn und jumikÏn), deren Vollendung in swfros‘nh
»Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst« 349
Von dort her entfalten sich wie aus einem Prinzip heraus die Vollkommenheiten
auch der übrigen Seelenteile, die für die Ausübung des praktischen, sozialen Lebens
eines Menschen zuständig sind, wie Besonnenheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit
(134c9–11) 15.
Das menschliche Selbst umfaßt also drei unterschiedliche Intensitätsgrade, die
sich am ehesten mit immer näher um einen Mittelpunkt konzentrierten Kreisen
vergleichen lassen:
1. die leibliche Existenz: sie bildet die unterste, werthaft niedrigste Ausformung
des Selbst. Sie gründet in und ist zurückführbar auf
2. die Seele: sie fungiert als das Organisationsprinzip des Körpers und der mit
seiner Hilfe durchgeführten Handlungen. Sie wiederum ist zurückführbar auf
und Çndre–a besteht, abgegrenzt und wird den beiden anderen werthaft übergeordnet. In
Pol. 509d6ff. zeigt das Liniengleichnis darüber hinaus, daß der vernunfthafte Teil in sich selbst
noch eine weitere Differenz aufweist, nämlich zwischen dem diskursiven Denken (diànoia)
und dem werthaft übergeordneten, intuitiven Erfassen der Prinzipien des diskursiven Den-
kens (nÏhsic). Man kann also sagen, daß in einem weiteren Sinne der vernunfthafte Seelenteil
überhaupt, in einem engeren, spezifischeren Sinne nur der Intellekt (no‹c) den besten Teil
der Seele bildet. Korrekt erklären auch die neuplatonischen Kommentare des Alc. m. das
aŒt‰ t‰ aŒtÏ: Die Aussage des Proklos, es sei damit der vernunfthafte Seelenteil insge-
samt (ô logikò yuq†) gemeint, wird differenzierend eingeschränkt von Olympiodor, die
von dem kathartisch-theoretischen bzw. von dem vernunfthaften Teil der Seele sprechen,
sofern er sich nicht des Körpers bedient, d.h. in der Kontemplation des Seienden begriffen
ist (204.14f.: tòn kajartikòn ka» tòn jewrhtik†n 〈yuqòn〉, °tic oŒd‡ Êrgàn˙ qr®tai
tƒ s∏mati; 209.24f.: logikòn yuqòn tòn mò qrwmËnhn Êrgàn˙ tƒ s∏mati). In Phdr.
247c7f. erscheint der Intellekt als Steuermann der Seele (yuq®c kubern†thc), der allein zur
Schau des Intellegiblen fähig ist und das Geschaute dann – in adäquater Form – als Nahrung
an die Seele weitergibt. Aufgrund dieser klaren kausalen Überordnung des Intellekts über
die Seele sind daher Deutungen abzulehnen, die aŒt‰ t‰ aŒtÏ als Seele (Bluck [1953], 46;
Clark [1955], 231), als Verallgemeinerungen der Seele (Allen [1962], 189; Annas [1985], 131f.)
oder als Form im Sinne der allen individuellen Personen gemeinsamen Züge (Denyer [2001],
211f.) verstehen. Denn so würden jeweils auch die nicht-vernunfthaften Seelenteile umfaßt,
von denen Platon doch den besten Teil der Seele durch Zuweisung von sof–a und frÏnhsic
gerade klar abgrenzt (so zu Recht schon Dönt [1964], 40). Das Verständnis als »form of the
Self […] which will be responsible for any thing’s being the very thing it is« (Goldin [1999],
9–13; so auch schon Allen [1962], 188f.) kommt zwar dem angemessenen Verständnis bereits
erheblich näher, weil mit ›Form‹ eine oberhalb der Seele liegende Instanz bezeichnet wird.
Allerdings darf diese kausale Instanz nicht als apersonal und unindividuell angesehen werden.
Nach platonischem Verständnis ist das kausal Höherstehende immer das die umfassendere
und implikationenreichere Verwirklichung eines bestimmten Sachverhaltes und mithin auch
das gegenüber den Kausaten Individuellere (s.u. S. 9 ff). Um die modernen Konnotationen
von ›Form‹ zu umgehen, sollte mit Gill (2006), 349 von »the core or essential features of ›the
itself‹« gesprochen werden.
15 Olympiodor 214.7 ergänzt zu Recht die im Text nicht ausdrücklich genannte Tapferkeit
(Çndre–a) als vierte Kardinaltugend.
350 Christian Pietsch
3. den Intellekt: als ›göttlichster Teil der Seele‹ oder als ›Gott‹ charakterisiert (133c1.
c5), transzendiert er die Seele als ihr Erkenntnis- und Handlungsprinzip.
Der Intellekt ist also das eigentliche und primäre Selbst. Und wie sich zuvor die
Seele als das individuelle Prinzip eines belebten Körpers erwiesen hat, so ist es
auch beim Intellekt: der Text zeigt klar, daß mit ihm keine Instanz gemeint ist, die
die einzelmenschliche Individualität bereits völlig hinter sich läßt. Gemeint ist hier
durchaus der Intellekt, sofern die individuelle Seele über ihn verfügt. Denn die sich
im besten Teil einer anderen Seele spiegelnde Seele – und d.h. konkret: die Seele
des Alkibiades als des Geliebten, die sich in der des Sokrates als des Liebenden
spiegelt 16 – sieht sich selbst über den Umweg der Seele des anderen. Der Blick in die
andere Seele hat eine vermittelnde, helfende, sokratisch gesprochen ›maieutische‹
Funktion. Er zeigt der betrachtenden Seele, was sie selbst ihrem Wesen nach sein
kann, aber noch nicht ist, und aktualisiert sie gleichsam zu sich selbst hin 17. Wir
haben es also tatsächlich zunächst mit zwei verschiedenen ›besten Teilen‹ zu tun:
mit dem der betrachtenden und mit dem der betrachteten Seele. Jede individuelle
Seele hat also ihren besten Teil. Und doch ist ihnen eines gemeinsam, nämlich
der für alle identische Inhalt intellektiven Erkennens, sof–a und frÏnhsic. In der
Bezogenheit hierauf treffen sich alle individuellen Intellekte. Denn individuell sind
sie lediglich dadurch, daß sich die Wirksamkeit des noetischen Wissens, d.h. die
Weise, in der es sich gleichsam nach unten in die Seele entfalten und aktual werden
kann, von Mensch zu Mensch unterscheidet 18.
Dieses wahre Selbst hat nun eine bemerkenswerte Eigenschaft: Es muß – zu-
mindest in gewisser Weise – nicht erst erworben werden. Das wirkt zunächst
verwunderlich, war doch die sokratische Forderung nach Selbsterkenntnis mit der
Fürsorge um sich selbst verbunden, d. h. es sollte aus dem noch unwissenden Alki-
16 Die Konstellation des liebenden Sokrates, in dessen Seele der geliebte Alkibiades sich spiegelt,
gilt nach Phdr. 255d5f. für das Verhältnis des Liebenden zum Geliebten überhaupt.
17 Vgl. Gill (2006), 357: »The image […] is […] that of recognizing (through another) what
you are, essentially, and what you could become«. In Alc. m. 105d2–106a1 erhebt Sokrates,
der einzige wirkliche Liebhaber des Alkibiades (vgl. 131e1–4), den Anspruch, nur er allein
könne Alkibiades zu dessen Ziel führen, ein wirklich guter Politiker zu werden. Aber
diese noch am Anfang des Dialogs genannte Zielsetzung ist noch nicht das letzte Ziel, zu
dem der wahrhaft Liebende seinen Geliebten zu führen versucht. Nach Phdr. 252d5–253c2
versucht jeder Liebende, den Geliebten möglichst gottähnlich zu machen. Dieses Ziel stimmt
wiederum mit der Aufforderung des Sokrates im Alc. m. 133c4–6 überein, Alkibiades (als
der Geliebte) solle im Auge des anderen (d.h. des liebenden Sokrates) den göttlichen Teil
erkennen und zugleich in ihm sich selbst, wie auch mit der Aufforderung zur »Angleichung
an Gott« als generelle Zielsetzung alles Philosophierens im Tht. 176b1.
18 Daß der Intellekt sich unterschiedlich durchsetzen kann, dafür gibt es individuelle Gründe:
Geburt, Begabung (Seelenmetall): Pol. III 415a4–7; Lebenslauf (intelligenter, aber durch
Schmeichelei verdorbener junger Mann): Pol. VI 490e2–496a10.
»Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst« 351
biades ein wissender werden. Wie kann dann das Selbst des Alkibiades bereits über
sof–a verfügen? Der Text gibt darauf eine differenzierte Antwort. Denn er sagt
einerseits, daß die Erkenntnis dieses göttlichen Teils swfros‘nh bedeute (133c18f.).
Der Blick auf den Intellekt bewirkt also eine ethische Qualität, die vorher offenbar
noch nicht vorhanden war. Aber der Intellekt, dieses eigentliche Selbst, das die cha-
rakterliche Vervollkommnung bewirkt, scheint im Moment seiner ›Entdeckung‹
bereits vollkommen zu sein. Der Intellekt ist kein formales Vermögen, das erst
noch mit Inhalten zu füllen wäre. Die differenzierende Reflexionsbewegung führt
also auf etwas, das Alkibiades, wenn auch noch nicht in aktualisierter Form, schon
längst und eigentlich ist.
Offenbar können sich – und dafür legen Dialoge wie der Phaidros oder der
Menon Zeugnis ab – sof–a und frÏnhsic, die den Gegenstand des Intellektes
bilden, in den menschlichen Individuen nicht immer ungehindert in die nachge-
ordneten Bereiche entfalten. Es muß unterschieden werden zwischen dem, was die
vom Intellekt genährte Seele von ihrer pränatalen Existenz her prinzipiell weiß 19,
und dem Unvermögen, dies im leiblichen Dasein aus eigener Kraft zu aktualisieren.
Die inkorporierte Seele kann – und wird häufig – im Widerspruch zum eigentli-
chen Selbst leben, da sie die leibliche Existenz für das Selbst hält (133c21–d7). Das
wahre Selbst und seine Çret† müssen erst wieder entdeckt werden. Der Prozeß
der sukzessiven Enthüllung fällt dabei unter das, was Platon als Wiedererinnerung
(Çnàmnhsic) bezeichnet 20.
Aus dem Gesagten ergibt sich aber möglicherweise ein Problem. Nach unserem
Verständnis hat Personalität etwas mit Individualität zu tun. Nun scheint die Indi-
vidualität des je individuellen besten Teils der Seele in dem je unterschiedlichen
Grad der Aktualisierung von sof–a und frÏnhsic zu bestehen, d. h. also in dem
Abweichen bzw. dem Defekt gegenüber den für alle gleichen Erkenntnis- und
Handlungsprinzipien. Ein vollentfalteter Intellekt scheint dagegen über einen für
alle identischen Inhalt zu verfügen und daher auch für alle identisch zu sein. Dem-
nach wäre Individualität – und damit Personalität – kein positiv besetzter Begriff
und wäre Platons Ziel gerade die Überwindung von Personalität auf ein apersonales
Allgemeines hin.
19 Nach Phdr. 247d1–5 gilt für die menschlichen Seelen im Zustand der Lösung vom Körper
prinzipiell dasselbe wie für die Seelen der kosmischen Götter: Sie stehen in direktem Kontakt
mit dem Intellekt oder können dies zumindest tun.
20 Men. 81c5–d5.
352 Christian Pietsch
Sehen wir uns einmal an, worin die sof–a als Vollendung des Intellekts besteht
und woher er sie hat. Bekanntlich unterscheidet Platon einen Bereich reinen,
unvergänglichen Seins und einen Bereich des Werdens (Tim. 27d5–28 a4). Der
Bereich reinen Seins wird abermals unterschieden in Prinzipien bzw. Ideen (e“dh)
und in deren diskursive Entfaltung (diànoia) (Pol. 510a5–511e5). Die Prinzipien bzw.
Ideen bilden den Gegenstand der Erkenntnistätigkeit (nÏhsic) des Intellekts 21. Pla-
ton beschreibt den Ideenbereich metaphorisch als vollkommenes Lebewesen (pan-
tel‡c zƒon), das alle intellegiblen Inhalte in sich umschließt (Tim. 30c2–31b3), oder
als Ort jenseits des (irdischen) Himmels ohne sinnlich wahrnehmbare Qualitäten
(Phdr. 247c3). Kein Intellekt gestaltet also seine Inhalte individuell. Der Ideenbe-
reich, auf den er bezogen ist, ist nur einer und für alle Betrachter derselbe, denn
jedes wahrhaft Seiende ist immer nur ein eines.
In der Tat scheint dieser Befund widersprüchlich. Denn einerseits sollte die
analytische Suche das eigentliche Selbst des jeweiligen menschlichen Individuums
offenlegen. Andererseits besteht die Leistung dieses Selbst aber gerade darin, intel-
legible Inhalte zu betrachten, die für alle dieselben sind. Dort also, wo angeblich
besondere Individualität vorliegen soll, ist zugleich ein nicht mehr überbietbarer
Grad an Allgemeinheit erreicht. Entweder ist Platon dieser Widerspruch nicht
aufgefallen, oder es war in seinen Augen keiner.
Betrachten wir zwei Beispiele, die verdeutlichen können, wie Platon Allge-
meinheit und individuelle Personalität möglicherweise zusammengedacht hat:
1. In der bekannten Beschreibung des Aufstiegs zum Schönen im Symposion
(210a4–212a7) wird eine Stufenfolge beschrieben, die den Personalitätsebenen
im Alc. m. entspricht. Auf der Suche nach dem Schönen geht man zunächst
von den Körpern aus. Dann entdeckt man die Schönheit der Seelen (t‰ ‚n taÿc
yuqaÿc kàlloc). Dabei trifft man erst auf das im Handlungs- und Charakter-
bereich, also auf das im Bereich der vita activa Schöne (t‰ ‚n toÿc ‚pithde‘masi
ka» toÿc nÏmoic kalÏn), dann auf das Schöne im Bereich der diskursiven Wis-
senschaften, also der vita contemplativa (‚pisthm¿n kàlloc). Doch auch die
Ebene der Seele wird noch überstiegen. Man stößt auf einen Bereich reinen
Seins, auf das Schöne selbst, das nicht mehr nur in einer Hinsicht schön, in
anderer aber nicht schön ist. Vielmehr ist es erstens immer und nur das, was
21 Die Bedeutung der Platonischen Termini liegt oft nicht genau fest. So kann nÏhsic in einem
weiteren Sinn die Erkenntnis des reinen Seins zusammen mit ihrer diskursiven Entfaltung
meinen (Tim. 28a1: nÏhsic metÄ lÏgou) und entsprechend kann der Inhalt noetischer
Erkenntnis, das nohtÏn, ein reines Seiendes bzw. Seinsprinzip, aber auch dessen diskursive
Entfaltung bezeichnen (Pol. VI 510a5ff.). Es können aber sowohl nÏhsic (Pol. VI 511d8)
wie auch nohtÏn (Tim. 30c7) auch in einem engeren, spezifischeren Sinn nur auf das im
eigentlichen Sinne intellektive Begreifen eines Intellegiblen, d.h. eines Seinsprinzips bzw.
einer Idee verwendet werden.
»Im Blick auf den Gott erkennen wir uns selbst« 353
es ist, nämlich schön, und zweitens besitzt es diese Qualität von sich selbst her
und nicht etwa nur, wie die vielen schönen Dinge, gleichsam leihweise durch
Teilhabe. Wie hat man sich dieses Schöne selbst im Unterschied zu dem vie-
len und offenbar unvollkommen Schönen zu denken? Hier kann das zweite
Beispiel weiterhelfen.
2. Auch der aporetische Dialog Hipp. m. hat das Schöne zum Thema. Sokra-
tes hatte seinen Gesprächspartner, den Sophisten Hippias, um eine Definition
des Schönen gebeten, und zwar nicht um die Definition dieses oder jenes
Schönen, sondern des Schönen selbst (aŒt‰ t‰ kalÏn, 286d8). Hippias kommt
dieser Bitte durch eine Reihe von Definitionsversuchen nach: Das Schöne ist
›ein schönes Mädchen‹ (287e4), ›Gold‹ (289e3), ›ein schöner Tod nach einem
glücklichen Leben‹ (291d9–e2) – mit solchen Definitionen versucht Hippias das
immer gültige Wesen der Sache zu fassen. Doch die Versuche scheitern jedesmal.
Denn das schöne Mädchen reicht nicht aus, um die Schönheit schlechthin und
in jedem Fall erklären zu können, findet sie sich doch auch an anderen Dingen,
die keine Mädchen sind, etwa an schönen Pferden, an schönen Gefäßen usw.
Ja, das schöne Mädchen ist nicht einmal selbst nur und in jeder Hinsicht schön,
sondern sogar häßlich, wenn man es etwa mit einer schönen Göttin vergleicht.
Die Schönheit, die das Mädchen hat, ist nur in einer Hinsicht schön, in ande-
rer Hinsicht wiederum nicht. Und so ergeht es Hippias auch bei den übrigen
Versuchen. Sie alle sind von dem jeweils benannten Sachbereich her weitaus
zu schmal und sie sind selbst in der Schönheit, die sie tatsächlich haben, nur
in einem relativen Sinn, aber nicht schlechthin schön. Hippias benennt immer
nur konkrete, einzelne Instanzen, wie etwas in einem partikulären Sinn und
festgelegt auf eine mögliche Ausdrucksweise schön sein kann. Aber er benennt
nie das, was immer und nur gilt, wenn irgendetwas schön sein soll, d.h. die
notwendigen und hinreichenden Bestimmungsmomente des Schönseins, wie
es doch eigentlich Hippias’ Absicht entsprochen hatte (291d1–3). Wäre Hippias
dagegen eine solche Bestimmung des ursächlich Schönen gelungen, hätte er
eine Ebene erreicht, die jede partikuläre Ausformung des Schönen übersteigt
und die daher selbst auch keinerlei Merkmale partikulärer, etwa körperlicher
Schönheit aufweisen darf, wie im Symposion ausdrücklich angemerkt wird (Smp.
210e6–211b5). Dieses ursächliche Schöne ist ein nur geistig begreifbarer, intelle-
gibler und immer gleicher, mit sich identischer Sachverhalt. Allein sein Begreifen
macht verstehbar, was das viele, einzelne Schöne, das als Mädchen, Pferd usw.
über ganz unterschiedliche Sachmerkmale verfügt, trotzdem zu einem jeweils
Schönen macht.
Was diese Beispiele für die vorliegende Frage nach Individualität und Allgemeinheit
einer Person bzw. des Selbst erbringen, ist dies: Der in diesem Aufstieg gefundene,
eine geistige Sachverhalt ist zwar allgemein, da er die Bedingungen und Möglichkei-
354 Christian Pietsch
ten allen partikulären Schönseins in sich umfaßt. Aber er ist eben deswegen nicht
im Sinne einer Abstraktion allgemein. Eine Abstraktion reduziert die Fülle der
Merkmale auf das allen Gemeinsame. Sie ist eine nur im abstrahierenden Subjekt
existente, nachträgliche Verdünnung gegenüber der Fülle der Phänomene. Dage-
gen hat das hier gemeinte Allgemeine ursächlichen Charakter. Es wird von allen
partikulären Weisen des Schönseins vorausgesetzt, weil es die Ermöglichungsbe-
dingungen jedweden Schönseins in sich enthält. Ein derartiges Schönes ist als die
Sache selbst in weitaus höherem Maße wirklich als alle empirischen Instanzen.
Damit ist dieses ideenhafte Seiende aber nach Platons Auffassung zugleich
auch individueller als seine partikulären Instanzen. Denn Individualität besitzt
etwas dadurch, daß es über spezifische Merkmale verfügt. Je charakteristischer
aber die Merkmale sind und je klarer sich etwas von etwas anderem unterscheidet,
um so individueller ist es. Daraus folgt, daß die intellegiblen Ideen ein Höchstmaß
an Individualität besitzen müssen. Denn sie besitzen ihre Merkmale, also etwa
die Bestimmungsmomente des Schönen, des Gerechten usw., in höchstem Maße
und aus sich heraus. Sie sind die Sache selbst und nur sie selbst. Sie haben ihr
Schön-Sein, Gerecht-Sein usw. nicht nur durch Teilhabe als ein Merkmal neben
anderen an sich, und sie haben es nicht nur in bestimmter Hinsicht, sondern
sie sind ausschließlich und ohne Einschränkung dieser eine Sachverhalt. Daher
impliziert eben dieses ihr Sein die vollständige Abgrenzung gegenüber allen anderen
Sachverhalten. Das Intellegible, das der Intellekt in seiner sof–a besitzt, ist in der Tat
in einem ursächlichen und primären Sinn allgemein und zugleich und eben dadurch
in einer alle leiblich-empirische Wirklichkeit übersteigenden Weise individuell.
Was das für das menschliche Selbst bedeutet, ist nun leicht zu sehen. Je mehr
es sich auf seine höheren, ursächlichen Ebenen zurückzieht und je mehr es sich
von deren Inhalten bzw. Wirklichkeiten bestimmen läßt, um so mehr nimmt es
selbst deren Qualität an. Je mehr es sich dem Intellegiblen öffnet, um so mehr
gewinnt es Anteil auch an dessen Individualität. Der Aufstieg über den leiblichen
Bereich führt nicht zu einem abstrakt-apersonalen Allgemeinen 22. Er führt zu
immer wirklicherem, individuellerem Sein, in dem die raumzeitliche Individualität
in kausaler Weise gleichsam aufgehoben ist. Dadurch findet das menschliche Selbst
in der sof–a seines Intellekts sein ursprüngliches und eigentliches Sein.
IV. Gott als höchste Form von ›Selbst‹ und als Ziel des Menschen
Es versteht sich, daß diese Bewegung der Rückführung des zweitrangig Komple-
xen auf das höherwertige Primäre erst dort Halt macht, wo keine Möglichkeit des
Überstiegs mehr gegeben ist. Daher ist nach Platons Auffassung sogar mit der
Rückführung auf den Intellekt noch nicht das oberste Ende der kausalen bzw. per-
sonalen Stufenleiter erreicht. Nach Alc. m. 133c8–17 wird selbst der beste Teil der
Seele noch transzendiert 23. Mit dem Gott erreicht die Aufstiegsbewegung einen
letzten, unhintergehbaren Punkt, über die bisher durch Differenzierung gewonne-
nen drei Ebenen hinaus eine vierte. Sie bildet gleichsam das Zentrum, um das die
drei anderen wie Kreise geordnet sind.
Dieser Gott ist in keiner Weise mehr Teil unserer Seele (133c10f.). Was für die
Seele im Verhältnis zum Körper galt und für den Intellekt im Verhältnis zur Seele,
muß nun auch für Gott im Verhältnis zum Intellekt gelten. Als erster Ursprung
aller Dinge bedeutet er eine letzte Steigerung zu überseiender Wirklichkeit und
Individualität. Indem der Mensch seinen Aufstieg bis dorthin leistet, stößt er vor
auf den letzten, unhintergehbaren Grund aller Wirklichkeit. »Im Blick auf ihn«, sagt
Sokrates (133c13–16), »sehen und erkennen wir am allermeisten uns selbst«, denn
Gott ist »der schönste Spiegel«. In ihm sehen wir zugleich den eigenen Grund. Der
Mensch erreicht in scheinbarer Paradoxie gerade dort seine höchste Individualität
und Selbsterkenntnis, wo er völlig über sich selbst hinausgeht. Platon hat dieses
letzte Ziel menschlicher Bemühungen mit der Rede von der »Angleichung an
Gott« (Âmo–wsic jeƒ) in eine prägnante Formulierung gebracht (Tht. 176b1).
V. Schluß
23 Dieses nur bei Eusebios und Stobaios überlieferte Textstück wurde in der älteren Forschung
in der Regel athetiert. Friedländer (1964), 334, A. 13 vermutet eine neuplatonische Interpo-
lation. Linguiti (1981) und Fortuna (1992) halten die Interpolation für christlich. Dagegen
hat Goldin (1999), 12, A. 30 eine Reihe überzeugender Gegenargumente zusammenge-
stellt, die unabhängig vom Inhalt operieren. Am entscheidendsten ist jedoch die inhaltliche
Verknüpfung erstens dialogintern mit den angrenzenden, sicher echten Passagen, v.a. 133c4–
6 und 134d1–6 (Wiggers [1932], 700–702; Johnson [1999], 10–14) und zweitens mit anderen
Dialogen. So ist außer dem Aufstieg zum Guten (z.B. Pol. VII 517a8–c5) noch Phdr. 247c3–e6
zu nennen. Dort wird, ohne daß der Begriff des Spiegels fällt, berichtet, daß die Seele durch
Vermittlung des Intellekts bei der Betrachtung des überhimmlischen, intellegiblen Ortes u.a.
Gerechtigkeit (dikaios‘nh) und Beherrschtheit (swfros‘nh) sieht, Qualitäten, die eigentlich
ja seelische Çreta– sind. Auch hier ist es der Sache nach so, daß der Mensch/die individuelle
Seele durch seinen/ihren Intellekt im Göttlichen das sieht, was er/sie selbst werden soll bzw.
wozu er/sie durch die Betrachtung wird. Er/sie spiegelt sich selbst im Göttlichen. Wenn daher
der bei Eusebios und Stobaios überlieferte Text die in Alc. m. 133c18ff. genannten seelischen
Qualitäten swfros‘nh (133c18) und dikaios‘nh (134c10) im Anschluß an eine Spiegelung
ihres menschlichen Trägers im Gott auftreten läßt, ist die Nähe zum Phdr. offenkundig.
356 Christian Pietsch
tenz hinaus. Entsprechend ist der Begriff der Personalität für Platon mehrschichtig,
gewinnt ein menschliches Individuum an Personalität in eben dem Maße, in dem
ihm dieser Aufstieg gelingt. Denn erstens wird in der Bindung der Seele an den
Körper die Fülle des prinzipiell Möglichen auf nur eine Möglichkeit beschränkt.
Zweitens wird das empirische Individuum durch eine Vielzahl akzidenteller Bestim-
mungen mit Merkmalen versehen, die für sein eigentliches Selbst unspezifisch sind.
Dieser mindere Grad an Selbstsein oder Personalität wird schrittweise überwunden
durch den Rückgang auf das jeweils ursächliche Moment bis hin zu einer obersten
Konzentration von Wirklichkeit im göttlichen Prinzip. Wirklichkeitsfülle, Indivi-
dualität und Personsein – all dies ist dort in einer sich jeder Eingrenzung entzie-
henden Weise gesteigert. Wer diese höchste Form des Selbst gewinnen will, muß
– und will – zugleich sein eingeschränktes Selbst verlieren.
Mit dem Aufkommen der hellenistischen Philosophie verschwand diese Auf-
fassung von Personalität zunächst. Doch der in der Kaiserzeit wieder neu zum
Leben erwachende Platonismus griff die Lehren des Meisters auch in diesem Punkt
wieder auf. Die Sorge um sich selbst in der Form, die Platon ihr vor allem im Alc. m.
gegeben hatte, wurde zum beherrschenden Lebensziel, das die gesamte platonisch
geprägte spätantike Gesellschaft, Heiden und Christen gleichermaßen, formte 24.
Die leibliche Existenz des Menschen mußte so gestaltet werden, daß der Aufstieg
vom Körper zur Seele, zum Intellekt und zu Gott möglich wurde. Askese und
Mystik, d.h. die Zurücknahme der leiblichen Interessen und das Streben nach der
Gottesschau, in der sich das eigene Selbst vollendete, wurden bis zum Ende des
Mittelalters zu Leitbildern der persönlichen Lebensführung 25.
Literatur
Allen, Reginald E., »Note on Alcibiades I 129b1«, in: AJPh 83 (1962), 187–190.
Annas, Julia, »Self-Knowledge in Early Plato«, in: D.J. O’Meara (Hg.), Platonic Investiga-
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Beierwaltes, Werner, Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen,
Frankfurt a.M. 2001.
Bluck, Richard S., »The Origin of the Greater Alcibiades«, in: CQ 47 (1953), 46–52.
Clark, Pamela M., »The Greater Alcibiades«, in: CQ 45 (1955), 231–240.
Denyer, Nicholas, Plato. Alcibiades, Cambridge 2001.
Dönt, Eugen, »Vorneuplatonisches im Großen Alkibiades«, in: WS 77 (1964), 37–51.
Fetz, Reto Luzius, »Dialektik der Subjektivität. Die Bestimmung des Selbst aus der Differenz
von Ich und Mein, Sein und Haben: Alkibiades I, Epiktet, Meister Eckhart«, in: Fetz/
Hagenbüchle/Schulz 1998, 177–203.
Introduction
* A French translation of this chapter (›Le moi et la thérapie dans la pensée hellénistique et
romaine‹) will appear in Le moi et l’interiorité dans la pensée antique, eds. G. Aubry and I.
Ildefonse, Paris: Vrin 2008, 85–108.
360 Christopher Gill
1 See further Gill (1996), especially Introduction and ch. 6, (2006), especially ch. 6. On the
relationship between ancient and modern concepts of ›person‹ (as a normative idea), see
Gill (1990 and 1991). For a different view, stressing similarities between ancient and modern
concepts of self, see Sorabji (2006).
2 On the modern revival of virtue-ethics and on the relationship between ancient and modern
ethical thought, see Gill (2005), esp. Introduction. MacIntyre (1985), a major stimulus to
this revival, advocated what I am describing as an ›objective-participant‹ approach to ethical
theory.
3 See e.g. Bryant (1996), 400–467; for a (partly critical) review of this kind of idea, see Foucault
(1990) 41–43.
The Self and Hellenistic-Roman Philosophical Therapy 361
Cartesian sense) than earlier ancient thought 4. Taken together, these two points
might suggest that the Hellenistic and Roman eras saw a significant cultural and
philosophical shift towards a more subjective-individualist view of self. However,
I have argued in Gill (2006) that the case for seeing a shift towards ›I‹-centred
subjectivity in Hellenistic philosophy is much weaker than it seems at first sight 5.
The question whether there is a shift towards greater individualism in Hellenistic
and Roman culture is a very complex one. But some recent work has underlined
the continuing importance of social and political ›identity‹, as it is often termed, in
Hellenistic Greece and under the Roman Empire 6. Some scholars have also argued
that certain types of social and communal participation remain very important in
Stoic and, indeed, Epicurean thought 7. So I think there are good reasons to doubt
the claim that there is a significant move towards a more subjective-individualist
sense of self in Hellenistic-Roman thought and culture.
However, the question whether there is or is not a shift of this type remains
very much a matter of debate 8. This makes it worthwhile to consider here the
two features of Hellenistic-Roman thought noted earlier – the turn towards the
self or introspection and the idea of philosophy as therapy – and to assess their
implications for this question. As will become clear, I want to suggest that there
are indeed some significant changes in thinking about the self in some Hellenistic-
Roman theories, and that these explain the emphasis on these two features. But, as
I will also argue, these changes do not mark a shift from an objective-participant to
a subjective-individualist conception of self but modification within the objective-
participant framework of thinking.
4 See e.g. Long (1996), 266, discussed in text to nn. 34, 36f. below. See also Engberg-Pedersen
(1986, 1990a), and (1990b), 64–100, on this view of Cicero’s presentation of the Stoic theory of
oikeiôsis. Fine (2003) claims that we find a subjective approach to knowledge in the Cyrenaics
and in the Sceptic thinker Sextus Empiricus.
5 See Gill (2006), 375–377, responding to Long, Gill (2006), 359–370, responding to Engberg-
Pedersen, and Gill (2006), 391–407, responding to Fine.
6 Bulloch et al. (1993) brings out the continuing importance of communal forms of life in
Hellenistic culture. On ›identity‹, defined in social terms, in the Second Sophistic, see
Whitmarsh (2005), 32–37.
7 On Stoic thought on involvement in family and community, see Reydams-Schils (2005). On
Epicurean interpersonal and social ethics, see references in nn. 75f. below.
8 See e.g. the partly contrasting views on this question in two recent essays (centred on
Seneca), Inwood (2005) and Long (2006), 360–376.
362 Christopher Gill
What reason do we have for seeing introspection or the turn towards the self as
important recurrent features of Hellenistic-Roman thought? The most obvious
illustrations of this theme come in works of practical ethics, especially in Stoic
writings in the early Roman Empire. For instance, Seneca often presents retreat-
ing or retiring ›into oneself‹ as the best response to immediate crises, while his
report of his own nightly (private) self-examination has become rather famous 9.
In Epictetus’ teachings, as reported by Arrian, we find a repeated call to ›examine
your impressions‹ (phantasiai), and to treat your capacity for rational or moral
agency (prohairesis) as what you really are and as a foundation for living a good
life 10. Marcus Aurelius, the second-century AD emperor, actually wrote a kind of
philosophical diary to and for himself, in which he also reminds himself that he is
(in a crucial sense) his ›mind‹ or rational agency (hêgemonikon) 11. These features of
Hellenistic and Roman practical ethics have been much examined in recent years
and seen as the expression of a kind of self-concern that is characteristic of the
period. Pierre Hadot has seen here the emergence of specific forms of ›spiritual
exercise‹ 12 and Michel Foucault the expression of a much more culturally pervasive
›care for the self‹ 13. Some scholars, quoted later, find in these features the expres-
sion of a new kind of subjective or individualistic conception of self – though I
shall shortly suggest a quite different way of interpreting their importance.
What about the second feature of Hellenistic-Roman thought, the presentation
of philosophy as a kind of therapy or quasi-medical treatment? This idea, like
much else in Hellenistic thought, goes back to Plato’s Socrates 14; but it becomes
a very central idea in Stoicism and Epicureanism and pervades Hellenistic-Roman
thought more generally15. Here, for instance, are some typical expressions of this
view taken from the second-century AD Epicurean Diogenes of Oenoanda, on the
9 See Seneca Epistles 3.36.1–3 on his nightly self-examination; see further Edwards (1997),
25–29, Sellars (2003), 148.
10 See text to nn. 31–41 below.
11 See e.g. Marcus Aurelius, Meditations 2.2, 5.26. On the form of his work and the significance
of this form, see Rutherford (1989), Hadot (1998).
12 See Hadot (1995), 79–144; also Sellars (2003), chs. 5–7.
13 Foucault (1990), 42, sees in the Hellenistic-Roman period a greater »intensity of the relations
to self, that is, of the forms by which one is called upon to take oneself as an object of
knowledge and a field of action, so as to transform, correct, and purify oneself, and find
salvation«. On Foucault’s approach to this topic, see Gill (2006), 330, 334f.
14 See e.g. Plato, Charmides 156b–157c, Gorgias 505b–c. On Socrates as a powerful influence
on Hellenistic thought in general, see Long (1999), 617–641; on Socrates as an influence on
Stoic practical ethics, see Sellars (2003), part 1.
15 See Nussbaum (1994) on this theme in Stoicism and Epicureanism, and, on the idea of the
›care of the self‹ more broadly in Hellenistic-Roman culture see Foucault (1990).
The Self and Hellenistic-Roman Philosophical Therapy 363
one hand, and from the great Stoic theorist, Chrysippus, on the other. Epicurean
and Stoic expressions of this idea:
[…] most people are sick all together, as in the plague, of false opinion concerning
things, and since they are becoming more numerous – for because of their reciprocal
emulation, they get the disease from one another, like sheep […] I have decided, using
this stoa, to put out in public for all the drugs that will save them 16.
It is not true that, whereas there is an art, called medicine, concerned with the diseased
body, there is no art concerned with the diseased soul […] just as the physician of the
body must be ›inside‹, as they say, the affections that befall the body and the proper
cure of each, so it is incumbent on the physician of the soul [i.e. the philosopher] to
be ›inside‹ both of these things in the best possible way 17.
There are in fact two versions of this idea. One is that therapy, along with encour-
agement (protreptic) and advice, is one of the functions of practical ethical dis-
course 18. For instance, the Stoic theorist Chrysippus concluded his four-book
treatise on the passions with a ›therapeutic‹ book, summing up key features of his
theory for the management of emotions 19. Essays on the therapy of the passions
or on one particular passion remained a standard feature of Hellenistic and Roman
thought until at least the end of the second century AD 20. The other idea is that
philosophy as a whole (the combination of all three branches of philosophy, logic,
physics and ethics) can function as a type of therapy of the psyche 21. How does this
very distinctive feature of Hellenistic-Roman thought relate to the other feature
(the turn towards the self) and the larger question posed here, whether or not there
is a shift from an objective-participant to a subjective-individualist conception of
self? Some scholars (for instance, Martha Nussbaum and Richard Sorabji) have
linked the therapy-theme with the emergence of a strongly practical conception
of philosophy (especially ethical philosophy), which is designed to respond in a
specific and diversified way to the needs and concerns of different individuals 22.
However, I am less convinced that this feature of Hellenistic-Roman philosophy
is linked with a new focus on individuality or subjectivity. On the contrary, the
use of the medical metaphor in this connection implies that there is objective eth-
ical knowledge and that the philosophical doctor’s perspective is, in principle at
least, objectively better or truer than the patient’s23. So it is far from obvious that
the prominence of this idea points to a shift to a more subjective-individualist
conception of self.
Before pursuing this question, however, I want to take up another topic – though
one that sheds light on the conception of self that is implied by Hellenistic-Roman
introspection and therapy. I want to suggest that both these themes are closely
linked with certain very central and distinctive features of Stoic and Epicurean
thought, which mark a significant difference from earlier (especially Platonic and
Aristotelian) thought. They express partial changes in the conception of the self –
though these modifications remain within an objective-participant framework of
thinking. I have in view two well-marked innovative features of Stoic and Epi-
curean thought, one relating to ethical development and the other to the structure
of the human psyche. In some Platonic works, especially the Republic and Laws,
and in Aristotle (the ethical writings), we find the view that development towards
virtue depends on a combination of (1) (the right kind of) inborn nature, (2) eth-
ical habituation in (the right kind of) community and (3) reflective or dialectical
enquiry based on the first two factors. This view is also linked with a conception
of the psyche as subdivided into rational and non-rational parts (roughly, reason
and emotion or desire). The full development of virtue depends on the innate
possession of a psyche that is first, amenable to habituation in the right patterns
of emotions and desire and, second, capable of reflective enquiry based on the
foundation of emotional habituation 24. By contrast, Stoics and Epicureans, despite
other important differences, maintain that (as the Stoics put it) ›all human beings
have the starting-points of virtue‹ 25, regardless of their specific inborn nature or
localized social/political context. This claim is supported by the shared Stoic-Epi-
curean beliefs that everyone is constitutively capable of forming ›preconceptions‹
(prolêpseis) of core ethical ideas, such as good or god 26. It is also supported by the
belief, held in different forms by both theories, that there are no irrational parts
of the psyche that need to be habituated (and can be irredeemably corrupted) by
upbringing and social influence. Stoics and Epicureans hold a unified or holistic
view of human psychology, in which emotions and desires are directly depen-
dent on beliefs and reasoning and do not constitute separate parts or independent
sources of motivation. Hence, changes in belief (for instance, about the nature of
happiness or the good) necessarily bring about changes in patterns of motivation
or desire. For similar reasons, ethical change and development are seen as possible
at any point in people’s lives, whatever their age or situation27.
These innovative features of Stoic and Epicurean thought are well-marked
aspects of these theories; and the points of difference from Platonic-Aristotelian
thought (and from later ancient thought in a Platonic-Aristotelian style) are increas-
ingly recognized in the first and second centuries AD28. These features are also
closely linked with some absolutely central and innovative features of Stoic and
Epicurean theory. In Stoicism, they are linked with the idea of development as
oikeiôsis (familiarization), a core theme of Stoic ethics. The main relevant idea here
is that all human beings are naturally capable, as rational animals, of two related
forms of development. One is that of developing to the point of recognizing that
virtue is the only good and of feeling and acting in line with this belief. The other
texts include Plato, Republic 400–2, 485a–496d, Aristotle, Nicomachean Ethics 1.3f., 1.13, 2.1,
10.9.
25 Stobaeus 2.65.8 (= LS 61 L).
26 See Gill (2006), 132–134, 180f., referring to Diogenes Laertius 7.53 (= LS 60 C), Plu. Mor .
1070 C–D, 1041E (= LS 60 B), Cicero de Finibus (Fin.) 1.31, 3.33f. (= LS 60 D). See also Asmis
(1999), 276–283, Frede (1999b), 318–321.
27 See Gill (2006), 75–81 (also LS 65 A–J), Gill (2006), 101, 113–117 (on psychological holism
in Stoicism and Epicureanism); Gill (2006), 103–106, 130–133, 137–144, 178–182 (on Stoic-
Epicurean ideas about ethical development and the life-long possibility of achieving virtue).
As suggested in Gill (2006), ch. 2, these features of Stoic and Epicurean thought reflect, in
different ways, the influence of Socratic ideas (as distinct from the kind of Platonic thought
outlined in text to n. 24 above.)
28 On the gradual emergence of the debate about competing psychological models (as an explicit
subject of controversy), see Gill (2006), 207–219. The most important later discussions of
this topic are Plutarch’s On Ethical Virtue and Galen’s PHP, esp. Books 4–5; see Gill (2006),
219–228, 244–290. The contrast between views of ethical development is less explicit, even
in the later period, but is indicated in Plu. Mor . 443C–D, and Galen, Quod Animi Mores,
ch. 11 (815–821 Kühn).
366 Christopher Gill
is developing to the point of recognizing all other human beings as, in principle,
objects of moral concern, as members of a cosmic community or brotherhood of
humankind 29. In Epicureanism, the main relevant idea (found in some important
extracts from Epicurus’ work On Nature) is that our existence as atomic com-
pounds is wholly compatible with the exercise of independent agency and the
rational pursuit of happiness. As complex atomic psychophysical structures, we
are naturally capable of shaping our own development by the way we choose to
respond to our social environment 30. An implication of these central Stoic and
Epicurean ideas is that the capacity for ethical development – indeed development
towards human perfection or wisdom – is inbuilt in human nature and does not
depend on special innate gifts or on upbringing in a specific family or social con-
texts. This is linked, as suggested earlier, with a picture of human psychology in
which there are no non-rational parts, so that ethical development can shape or
reshape the whole personality and can do so at any point of a person’s life.
I think these fundamental themes of Stoic and Epicurean theory underlie and
explain the recurrent motifs in Hellenistic-Roman thought noted earlier: the idea
of a turn towards the self and the idea of philosophy as therapy. Exploring these
links can also enable us to define the kind of conception of personality expressed
in these theories and in these features of Hellenistic-Roman thought. The stress on
turning towards the self in Stoic practical ethics reflects the idea that we all have,
within our nature as rational animals, the capacity to develop towards wisdom,
regardless of our social or political situation. The ›self‹ towards which we turn is our
innate or constitutional capacity, as human beings (or rational animals) to develop
in this way, and not a private or uniquely individual self. We can also explain in
this way the importance of the idea of philosophy as therapy in both Stoic and
Epicurean thought. Philosophical therapy is designed to enable us to criticize and
remove mistaken ideas (about the good or the nature of happiness, for instance)
that we have acquired from our family or social context. The metaphor of therapy
implies that we can, in principle, be cured of errors and passions. By contrast with
the Platonic-Aristotelian pattern of thinking about ethical development, ethical
progress is not confined to those with special inborn qualities or the right family or
communal context. Nor is the possibility of cure ruled out by defective habituation
of non-rational parts of the psyche – since there are no such parts. Philosophical
therapy can cure, in principle, anyone at any point in her life. Thus, the ideas of
turning to the self and philosophy as therapy presuppose a common set of Stoic
29 Key sources include Cic. Fin. 3.17, 20–22 (= LS 59 D), 3.62–68 (= LS 57 F). See LS 57, 59, as
a whole, and Gill (2006), 129–166, on the first (rational) aspect.
30 See LS 20; also Gill (2006), 56–66, 183–197, on recent scholarly debate about the significance
of these texts.
The Self and Hellenistic-Roman Philosophical Therapy 367
and Epicurean ideas (shared in spite of other differences) that were, and were
recognized as, central and distinctive themes in those theories.
The linkage with these core Stoic and Epicurean themes can also help us to define
more precisely the type of conception of self that is involved. In examining this
question, I take two examples, one Stoic and one Epicurean, beginning with
Epictetus’ Discourses, which are discussed in conjunction with certain Stoic ideas
found in Cicero. In the Discourses, there are several recurrent features which we can
associate with the idea of a ›turn towards the self‹ or introspection. As Epictetus
puts it, we all have – or are, in a certain sense – prohairesis or rational agency; we
all have the innate capacity to form a correct understanding of core ideas such as
good. We need to turn inwards and examine our impressions (phantasiai) with a
view to ensuring that our impressions match – or live up to – our preconceptions
(prolêpseis), that is, innate ideas or rather innate capacities for understanding key
ideas. This set of interconnected themes is illustrated by these quotations.
You have prohairesis, man (human being, anthrôpos), which is incapable of being
restrained or compelled (1.17.21).
»Then I will fetter you«. – »What are you saying, man? Fetter me? You will fetter my
leg; but not even Zeus can get the better of my prohairesis« (1.1.23).
Just as Socrates used to say that we should not lead an unexamined life, so we should
not accept an unexamined impression, but should say: »Wait, let me see who you are
and where you are coming from […] Do you have your guarantee from nature (para tês
phuseôs sumbolon), which every impression which should be accepted should have?«
(3.12.15).
Preconceptions (prolêpseis) are common to all people, and one preconception does not
conflict with another. For which of us does not take it that a good thing is advantageous
and choiceworthy, and something to be sought and pursued in every circumstance?
Which of us does not take it that justice is something honourable and fitting? Where
then does conflict occur? In the application of preconceptions to particular instances
[…] (1.22.1–2) 31.
These features are widely recognised by scholars as striking and distinctive features
of Epictetus’ teachings, as presented by Arrian32. What conception of the self do
31 Translations by Robin Hard, in Gill (1995), for 1.17.21, 1.1.23, slightly modified; by Long
(2002), 85, 81, for 3.12.15, 1.22.1f.
32 See further, on distinctive features of Epictetus’ conceptual vocabulary, Inwood (1985), 115–
125, 240–242, Long (2002), esp. chs. 3, 7–9.
368 Christopher Gill
they express? These features of Epictetus’ Discourses, like other expressions of the
idea of the ›turn towards the self‹, have sometimes been interpreted as indications
of a shift towards a more subjective-individualist conception of self, as is illustrated
in these comments by Charles Kahn and Anthony A. Long.
In Epictetus, prohairesis, choice or rational agency, is presented not only as the decisive
factor in practical existence but as the inner man, the ›I‹ of personal identity […] This
shift is a momentous one for the evolution of person and selfhood. For theoretical reason
is essentially impersonal, and the Platonic-Aristotelian identification of the person
with his intellect offers no basis for a metaphysics of the self in any individual sense.
Epictetus, on the other hand, identifies himself with something essentially personal
and individualized: not with reason as such but with the practical application of reason
in selecting his commitments, in keeping his emotional balance, his serenity, by not
extending himself to goals and values that lie beyond his control 33.
[The stress on phantasia (»impression«, »appearance«) in Stoic psychology] is best
interpreted as a new focus on consciousness, on the individuality of the perceiving
subject […] [in so far as phantasiai] are appearances to this individual, they have an
irreducible particularity – they are mental affections of this and only this person […]
what it is for [a given] person to assent to [a given phantasia] will remain something
unique.
Long also comments that Epictetus’ emphasis on the theme of examining impres-
sions »might suggest that he is feeling his way towards ›the view of the person
as the ›I‹ of reflective consciousness, owner and disowner of its experiences‹ as
influenced by the development of philosophy and culture since Descartes« 34.
These comments present Epictetus as prefiguring the modern, post-Cartesian
self, centred on ›I‹-centred self-consciousness and subjectivity 35. However, I do
not think that this is the most plausible way of interpreting these features. Let us
look at these comments more carefully. Kahn’s view, for a start, amounts to the
claim that Epictetus identifies himself with his prohairesis (his capacity for rational
agency), and suggests that this capacity is conceived in a psychologically unified
way not found in Plato and Aristotle. These are perfectly valid points as regards
Epictetus’ distinctive vocabulary and Stoic psychology in general; but it is far
from clear that this implies that »Epictetus […] identifies himself with something
essentially personal and individualized« – at least if this is taken to imply unique
36 Kahn (1988), 253, invites a link with this type of modern idea in describing Epictetus’
»intense preoccupation with inner life, the late Stoic parallel to a Cartesian cogito or focus
on consciousness«.
37 On the relationship between ancient psychological vocabulary, esp. that of phainesthai
(»being appeared to«) and the modern idea of subjectivity, see Gill (2006), 391–407.
38 For a more detailed response to the comments by Kahn and Long, see Gill (2006), 373–377.
39 See Long (2002), 74–86, referring especially to Epict. 1.11, also 2.11.1–8.
40 On the linkage between conceptions of self and styles of discourse (private and inner
contrasted with public and interpersonal), see Gill (1996), 14–15, 126–129.
41 See Epict. 2.19.29–34, also 3.9.12–13 (dialogue as mutual examination of judgements); on the
significance of ›freedom‹ (eleutheria) in Epictetus, see Bobzien (1998), 341–343. For some
370 Christopher Gill
the typical form of Epictetus’ Discourses, and the teachings they represent, imply
the same point. Although Epictetus addresses a wide range of interlocutors, with
different characters and social backgrounds, the message conveyed is essentially
the same; it centres on urging us to use correctly and fully the capacity for rational
agency that is our common human quality.
However, it might be argued that Epictetus’ approach in the Discourses, like
Stoic (and Epicurean) therapy in general, is individualistic in one sense. Stoic and
Epicurean thought about development, by contrast with the Platonic-Aristotelian
ideas outlined earlier (and, in a different way, with conventional ancient thought),
does not assume that habituation in the attitudes and values of one’s family or
community forms an indispensable foundation for ethical development 42. On
the contrary, the assumption underlying both Epicurean and Stoic philosophical
therapy is that the tendency is for one’s community to communicate errors that
need to be eradicated (or ›cured‹) to enable progress towards greater understanding
and happiness 43. Also, the advice in Hellenistic and Roman philosophical therapy
to turn towards oneself (that is, to draw on one’s natural cognitive or ethical
resources) might also seem to imply a kind of individualism. Thus, in so far as
Epictetus’ Discourses reflect this type of therapeutic project, they might seem to be
individualistic in this sense. In fact, Epictetus’ teachings are not explicitly presented
as ›therapeutic‹; and may be better understood as a fusion of three standard
genres of ancient practical ethics, namely protreptic (encouragement), therapy and
advice 44. But Epictetus’ discourses share with works explicitly presented as therapy
a strongly critical attitude to many received and conventional ideas presupposed
by his listeners; and to this extent, his teachings raise the question whether or not
this kind of individualism is implied.
How far do Epictetus’ Discourses, considered more closely, confirm or correct
this impression? In fact, we find here, powerfully expressed, several ideas that figure
prominently in Stoic social ethics more generally. One is that the standard – or at
least desirable – outcome of ethical development is to enable people to participate
fully (and virtuously) in the normal patterns of family and community life 45. For
instance, the second topic in Epictetus’ three-point programme of practical ethics
is that »I should maintain my natural and acquired relationships, as a religious
person, as a son, a brother, a father, and a citizen«, a theme reflected in his
stress elsewhere on playing appropriately the ›roles‹ (prosôpa) in which we find
ourselves 46. A second important theme in Stoic social ethics is that we should
develop to the point of acting virtuously in any communal or political context – an
idea which underlies Stoic thinking about cosmopolitanism and the brotherhood
of humankind 47. In Epictetus, this idea is exemplified in the ideal of living an
itinerant life as a Cynic teacher 48. Thirdly, there is the idea that expressing fully
one’s specific social role (and also exercising one’s prohairesis or rational agency
in a complete way) may make extreme ethical demands on us, and indeed may
cost us our life, under certain circumstances. The last idea is conveyed in this vivid
extract:
Helvidius Priscus saw this too, and acted accordingly: for when Vespasian had sent
word to him not to attend the Senate, he answered, »It is in your power not to allow
me to be a senator; but as long as I am one, I must attend«. – »Well, then, if you do
attend, at least be silent«. – »Do not ask for my opinion, and I will be silent«. – »But I
must ask it«. – »And I must say what seems right to me«. – »But if you do, I will put
you to death«. – »Did I ever tell you that I was immortal? You will do your part and I
mine: it is yours to kill, and mine to die without trembling; yours to banish me, mine
to depart without grieving« (1.2.19–21) 49.
This might seem to be an extreme example of fulfilling the ethical demands of one’s
social role, which is, in Helvidius’ case, that of a senator. But, as Epictetus stresses, it
can also be seen as a matter of fulfilling one’s own ›role‹ (prosôpon) as a human being
capable of making a supremely virtuous response (1.2.30–2), and also of exercising
– and not selling short – your rational agency (prohairesis, 1.2.33). In other words,
Epictetus sees as wholly compatible ›self-realization‹ (acting according to one’s
natural ›role‹ (prosôpon) and ›choice‹, prohairesis) and engagement with a social
role 50. Clearly, the relationship between these three different strands of Epictetus’
thought about social engagement is quite complex, though Epictetus does see them
as essentially compatible 51. But, when we take these aspects of his thought into
45 For this feature of Stoic ethics (which is sometimes overlooked), see e.g. Cic. Fin. 3.62, 68,
Plu. Mor . 1038B; also Reydams-Schils (2005), passim.
46 Epict. 3.2.4, also 1.2 and 2.10.
47 See e.g. Cic. Fin. 6.63–5, Stobaeus 4.671.7–673.11 (= LS 57 G).
48 See Epict 3.22, 4.1.114–116, 156–158.
49 Translation by Hard in Gill (1995).
50 See further Gill (1988), 187–190.
51 See Gill (2000), 607–611, Long (2002), 232–244.
372 Christopher Gill
account, to characterize his approach (and that of Stoic social ethics more generally)
as ›individualistic‹ would be quite misleading. In so far as Epictetus’ discourses serve
a therapeutic function, it is a therapy which presupposes a ›participant‹ approach,
more precisely an ›objective-participant‹ one, in that it presupposes that social
engagement should be grounded, in principle, on an objective understanding of
ethical truth. As is indicated in the imagined exchange between Helvidius Priscus
and Vespasian, the Stoic approach to social ethics might well lead to conflict with
one’s own community (or at least with the emperor)52, but this conflict does not
emerge from an approach that is appropriately characterized as ›individualism‹.
It is worth noting in this connection a related treatment of Stoic social ethics
which also implies a similar (objective-participant) conception of self, namely
Cicero’s presentation of the theory of the four roles (personae) in De officiis (Off .)
1.105–121. This theory, which seems to be based on the ideas of the second-century
BC Stoic thinker Panaetius, presents leading a virtuous life as a matter of achieving
consistency between four related ›roles‹ that serve as normative reference-points.
These are (1) our shared human nature as rational agents capable of achieving
virtue, (2) our distinctive talents and inclinations, (3) our given family and social
context, and (4) our chosen way of life or profession 53. There are two features of
this theory that can usefully be accentuated here. The theory is relatively unusual,
in Stoic (or, indeed, ancient) ethics in presenting our own personal qualities and
inclinations as a normative factor 54, and this feature is sometimes seen as marking a
typically Hellenistic-Roman move towards a more individualistic approach. There
is, indeed, at least one place where Cicero, presumably like Panaetius, stresses
that difference of character may entail difference in the kind of response we are
obligated to make in a given situation55. On the other hand, Cicero also stresses,
again presumably following Panaetius, that the priority is not just fulfilling our
own character but, rather, achieving consistency between all four roles 56. He also
makes it plain that, if there is a conflict between them, the first (universal, human)
role must have priority over the individual one 57. As I have suggested elsewhere,
there is a significant difference in the way that the theory of roles is presented
52 Hence the (mistaken) idea that there was a ›Stoic opposition‹, uniformly opposed to Imperial
rule; see Griffin (1976 [1992]), 363–366.
53 Cic. Off . 1.107–110, 115.
54 On pre-Ciceronian versions of the idea of the importance of ›being yourself‹ (in Democritus,
Epicurus and Panaetius) and post-Ciceronian versions, see Gill (1994).
55 Cic. Off . 1.112 f.; this aspect is stressed by Sorabji (2006), 158 f.
56 The stress falls on the idea of achieving consistency (aequabilitas/constantia); see Cic. Off.
1.98, 110f., 114, 119f., 125.
57 The individual features must be »not defective« (non vitiosa), and »least of all to be criticized«
(minime vituperandorum), Cic. Off . 1.109f., to ensure that we do not act against »universal
nature«.
The Self and Hellenistic-Roman Philosophical Therapy 373
forcefully and vividly by Epictetus in his treatment of the theory of roles 65. On this
interpretation, although Panaetius is often taken to be introducing a new focus on
personal individuality, in line with a supposed trend in Hellenistic thought, he may
actually be responding to an existing emphasis on this factor (in the form of dis-
tinctive inborn nature) in earlier thinkers. Where Panaetius innovates, arguably, is
in accommodating reference to this dimension in a thoroughly Stoic version of the
theory of ethical development, which subordinates personal nature to our univer-
sal natural capacity for virtue. As so understood, Cicero’s (Panaetian) presentation
of the theory of roles, like that of Epictetus, expresses an ›objective-participant‹
conception of person or self, rather than a ›subjective-individualist‹ one.
I conclude with an Epicurean example which also brings together the idea of
philosophy as therapy and that of the turn ›towards the self‹, namely Book 3 of
Lucretius’ On the Nature of the Universe (De rerum natura). This book can be seen
as a sustained example of Epicurean therapy. Lucretius begins by identifying the
fear of death as one that underlies the belief-set and emotional state of most human
beings and thus disables the search for happiness (31–93)66. He offers as a cure for
this state a proper understanding of our real nature, namely as a psychophysical
unit which consists in a temporary atomic compound which did not exist before
our life-span and will be dispersed at death. He offers thirty-three arguments for
this claim (94–829), leading to the conclusion that ›death is nothing to us‹ (830).
More precisely, death is nothing to us, because our identity is that of this temporary
psychophysical compound, which does not survive death just as it did not pre-exist
our life-span (831–893). In Epicurus’ own terms, the key argument is this:
Therefore, that most frightful of evils, death, is nothing to us, seeing that the former
do not have it and the latter no longer exist. Thus it is nothing to either the living or the
dead, seeing that the former do not have it and the latter no longer exist 67.
Lucretius expresses the claim in these terms:
For if there is going to be unhappiness and suffering, the person must also exist at that
same time, for the evil to be able to befall him. Since death robs him of this, preventing
the existence of the person for the evils to be heaped upon, you can tell that there is
nothing for us to fear in death, that he who does not exist cannot be unhappy, and that
when immortal death snatches away a mortal life it is no different from never having
been born 68.
The book concludes in a more rhetorical or satirical mode, urging us to revise our
normal attitudes towards our own death and that of others and thus secure a better
basis for the search of happiness (894–1095).
This book (which can be taken alongside comparable discussions in Epicu-
rus and Philodemus) 69 matches the typical form of Epicurean (and Stoic) therapy
in aiming to cure its readers of socially induced errors and the emotional sick-
nesses that these induce. It involves a turn ›to the self‹ in so far as the argument
demonstrates our real nature or who we really are, namely a temporary atomic
psychophysical compound70. A proper understanding of our selfhood or identity
will, it is claimed, cure us of the fear of death. As in the case of Stoic therapy,
exemplified here by Epictetus, the selfhood or identity involved is a common or
universal one, our nature as human beings (who are also complex atomic com-
pounds), and not as unique individuals or bearers of ›I‹-centred subjectivity. The
passages of Epicurus and Lucretius cited earlier are typical in this respect. Admit-
tedly, there is one place where Lucretius does refer to unique personal identity,
when he considers the possibility that at some point in the infinite past or future
our individual atomic compound might be – or might have been – reconstituted.
Or supposing after our death the passage of time will bring our matter back together
and reconstitute it in its present arrangement 71, and the light of life will be restored to
us, even that eventuality would be of no concern to us (nec … pertineat … ad nos),
once our self-recollection (repetentia nostri) was interrupted. Nor do our selves which
existed in the past (ante / qui fuimus) concern us now; we feel no anguish about them 72.
This passage is, in fact, one of the rare cases in ancient thought that seem to pre-
figure the modern concern with the question of the continuity of unique personal
identity over time. However, by contrast with most modern discussions, in which
it is presumed that the existence or non-existence of our unique identity is a mat-
ter of considerable importance 73, Lucretius’ point is, precisely, that our possible
existence at another time is unimportant – because we cannot remember (or antic-
ipate) this other existence 74. So the passage, despite its apparent closeness to the
modern concern with unique personal identity, serves to underline the difference
in conceptual framework.
In effect, the idea of the unique individual self is given no ethical or metaphysical
weight in the argument. The kind of ›self‹ that matters for the argument is quite
general, indeed universal – our identity as a temporary atomic compound; and it
is recognition of this kind of self that is presented as curing us from the fear of
death75.
In this respect, Lucretius’ Book 3, while advocating a kind of ›turn towards
the self‹, does so in a way that does not involve a focus on unique individuality.
But is the argument individualistic in another sense, in urging us to abandon the
practice of grieving, which is normally seen as an expression of our attachment
to other people? Indeed, Epicureanism has often been seen as expressing an ego-
istic or a-social attitude towards other people, as well as towards communities,
though some recent accounts have counteracted this rather crude reading of their
theory76. Rather, the crucial thought, for Epicureanism as also for Stoicism, is that
our interpersonal and communal lives should be lived in the light of (what the
theories present as) objective truth about human nature and happiness. This will
necessarily involve some radical challenges to conventional thought, which is based
on misguided assumptions; hence, the need for therapeutic arguments to eliminate
these assumptions. But this does not mean that engagement with other people is
unimportant, in interpersonal relationships or in groups 77. What is important is
that friendship or group-membership is lived in the light of the truths (as they see
it) embodied in Epicurus’ philosophy78. Hence, as Epicurus puts it: »Let us feel for
73 See e.g. Parfit (1984) part 3, a classic modern study of personal identity, which also (like
Lucretius here) uses ›thought-experiments‹ to define our identity. In fact, Parfit sets out to
challenge the idea that unique personal identity is fundamentally important, but his challenge
brings out how powerful this assumption is in modern thought.
74 Lucretius has sometimes been taken, in his reference to memory, to be prefiguring the modern
(e.g. Lockean) definition of personal identity by (first-personal) memory: see Alberti (1990),
197f. But Warren (2001), 503–507, argues, convincingly, that memory plays a quite different
role in the argument: the lack of memory (or anticipation) makes the possible existence of
our other selves unimportant.
75 On personal identity, including this Lucretian passage, and on differences between ancient
and modern thinking on this topic, see Gill (2006), 66–73, Warren (2006), 22–24, 77–81.
76 See e.g. Mitsis (1988), ch. 3, Annas (1993), 236–244, Alberti (1995).
77 The importance of Epicurean group identity and of mutual encouragement to lead an
Epicurean life is brought out vividly in the fragments of Philodemus’ On Frank Criticism
(peri parrhêsias). See Konstan et al. (1998), esp. Introduction, and Nussbaum (1994), 122–128.
78 See further Gill (1996), 393f., Warren (2004) 161–212, Long (2006), 178–201.
The Self and Hellenistic-Roman Philosophical Therapy 377
our friends (sumpathômen tois philois) not by mourning of them but by thinking
of them« 79. In Lucretius’ words, designed to counter conventional views:
»Unhappy man«, they say, »unhappily robbed by a single hateful day of all those
rewards of life«. What they fail to add is: »Nor does any yearning for those things
remain in you«. If they properly saw this with their mind, and followed it up in their
words, they would unshackle themselves of great mental anguish and fear 80.
In effect, Lucretius maintains that the conventional social practice of grieving for the
dead is mistaken because, if properly understood, death is not a bad thing either for
the person concerned or for the survivors 81. As so understood, Epicurean therapy,
as exemplified here by Lucretius’ argument, is not individualistic in the sense of
detaching the individual from other people, any more than that it is individualistic
in placing value on unique personal identity. Thus interpreted, the conception of
the self implied in Lucretius 3, in its therapeutic objectives and in its presentation
of our identity, is both objectivist and participant, like the conception presupposed
by Stoic teachers such as Epictetus.
In this discussion, I have argued against the rather common view that Hel-
lenistic and Roman thought embodies a cultural and conceptual shift away from an
objective-participant conception of self and towards a subjective-individualist one.
My claim has been, essentially, a historical one, arguing for a specific interpretation
of certain types of ancient philosophical writings and ideas. But as indicated at the
start, I think that such enquiries can also be valuable for us moderns, in leading
us to re-assess what we mean by ›self‹ and ›person‹ and what weight these ideas
have for us in ethical or psychological discourse. An earlier study of mine on this
topic took its starting point from modern thinkers such as Alasdair MacIntyre
and Donald Davidson who maintained that we would give a better account of
ethics and the philosophy of mind by adopting ourselves a more ›objective‹ or
›participant‹ conception of self 82.This is a view I would still accept; and study of
Hellenistic and Roman as well as Classical Greek ideas can, I think, help us to
adopt this type of conception 83.
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Selbsterhaltung
Ein stoisches Korrektiv spätmoderner Kritik
am modernen Subjektgedanken
1. Bewegtes Szenario
Der philosophische Begriff der Selbsterhaltung reicht bis in die Zeit der griechi-
schen Klassik zurück 3. In der beginnenden Neuzeit erlebte er eine Renaissance, die
ihn wegen der Verflechtung von Selbsterhaltung mit dem Gedanken der Selbstliebe
phasenweise in eine antitheologische Drift zieht. Noch später – mit Thomas Hob-
bes (1588–1679) – rückt er in den Rang eines »Begründungsbegriff[s]«4 ein, was ihn
zu einem Kerngedanken der Moderne avancieren lässt. Seit bald 40 Jahren wird der
Begriff darum diskutiert und in Gebrauch genommen als ein diagnostisches Instru-
ment, mit dessen Hilfe das spezifische Profil der Moderne zur Geltung gebracht
werden kann. Dabei kommt es nicht nur zu aufschlussreichen Verknüpfungen
von Perspektiven, die ansonsten als eher unabhängig voneinander gelten, sondern
auch zu Kontroversen um den Anspruch und das Recht der Moderne gegenüber
demjenigen Denken, gegen das diese sich kritisch ausgebildet hat5. Das alles soll
hier nur in äußerster Kürze angerissen werden, um den Begriff der Selbsterhaltung
so plastisch vor Augen zu bekommen, dass er für unseren eigentlichen systemati-
schen Zweck herangezogen werden kann. Das Phänomen selbst erschließt sich am
besten dadurch, dass wir der begrifflichen Verfassung in den angegebenen Grenzen
etwas nachgehen:
Von Aristoteles her ist in den Begriff der Selbsterhaltung das Moment des
Erhalts der Gattung eingegangen, seitens der stoischen Philosophie die Idee der
Erhaltung des Einzelnen sowie der Verknüpfung mit dem Selbstbezug 6. Dioge-
nes Laertius schreibt in seinem Kompendium Leben und Meinungen berühmter
Philosophen:
Der erste Trieb, so sagen sie [die Stoiker; K.M.], der sich in einem lebenden Wesen
regt, sei der der Selbsterhaltung; dies sei eine Mitgabe der Natur von Anbeginn an,
wie Chrysipp im ersten Buch über die Endziele sagt mit den Worten: für jedes lebende
Wesen sei seine erste ihm von selbst zugewiesene Angelegenheit sein eigenes Bestehen
sowie das Bewußtsein davon. Denn es war doch nicht zu erwarten, daß die Natur das
lebende Wesen sich selbst entfremde, oder auch, daß sie, nachdem sie das Geschöpf
einmal hervorgebracht, sich weder die Selbstentfremdung noch die Selbstbefreundung
habe angelegen sein lassen. Es bleibt also nur übrig zu sagen, daß sie nach vollzogener
Schöpfung es mit sich selbst befreundet habe 7.
In diesem Kurzreferat des Diogenes Laertius fallen zwei Stichworte, die auch
schon einen ersten Wink auf Kontinuität und Differenz zwischen diesem alten
Die teleologische Interpretation der Natur war, nach dem Worte Bacons, geopfert
worden als gottgeweihte Jungfrau, die nichts gebiert. An die Stelle der dynamisch-
teleologischen Struktur, kraft deren alles, was ist, auf eine ihm gemäße Tätigkeit, diese
Selbsterhaltung 385
Tätigkeit aber ihrerseits auf die Realisierung eines spezifischen bonum ausgerichtet ist,
tritt nun eine Inversion der Teleologie: das Sein steigert sich nicht zum Tätigsein, sondern
die Tätigkeit ihrerseits hat zum alleinigen Ziel die Erhaltung dessen, was ohnehin schon
ist 8.
Diese Einschätzung hat mehrfach Kritik erfahren: Zum einen durch Hans Blu-
menberg (1920–1996), zum anderen durch Günther Buck. Blumenberg hat nach-
gewiesen, dass der gesamte neuzeitliche Komplex der Selbsterhaltung weit mehr
als vom Gedanken der aktiven Selbsterhaltung des Wesens von demjenigen seines
Beharrens im Sinn der physikalischen Trägheitskraft, also von intransitiver Selbs-
terhaltung durchherrscht war. In dieser Form sei Selbsterhaltung das Prinzip der
Rationalität der Neuzeit geworden, und von ihr her müsste dann auch verstan-
den werden, was an transitiven Selbsterhaltungsprozessen auftrete 9. Günther Buck
wiederum hält Spaemanns These entgegen, sie verkenne, dass auch in der moder-
nen Selbsterhaltung ein Moment der Zielgerichtetheit präsent bleibe, nämlich in
Gestalt der Selbststeigerung 10.
Ich erwähne diese Positionen und Namen nicht zuletzt deshalb, weil sie
zugleich symbolisch für eine Diskussionslage stehen, in der sich bis heute grundle-
gende Fragen der Neuzeitinterpretation mit gesellschaftlich-kulturellen Verständi-
gungsprozessen der Gegenwart unmittelbar verweben (ohne dass das momentan
einer größeren Öffentlichkeit so richtig bewusst wäre). Noch mehr als die bis-
her Genannten macht ebendies der letzte der an diesen Diskussionen Beteiligten
kenntlich, dessen Name darum hier noch fallen muss: Hans Ebeling (*1939). Ebe-
ling faltet das Prinzip Selbsterhaltung systematisch in die Perspektiven aus, die
in der Phase seines neuzeitlichen Aufkommens noch gar nicht thematisch waren
bzw. sein konnten oder aber auch von den anderen Trägern des Diskurses außer
Acht gelassen wurden. In diesem Sinn erinnert Ebeling daran, dass Selbsterhal-
tung systematisch gesehen in ein Perspektivennetz aus Gegen- und Folgebegriffen
eingebunden ist 11:
– (1) Selbsterhaltung steht nicht nur der Fremderhaltung gegenüber, sondern
gleichsam überkreuz damit
– (2) auch in Bezug zu Selbstvernichtung wie zu Fremdvernichtung oder einer
Kombination aus beidem.
– (3) Es gibt Selbsterhaltungsformen, die sich an so genannten natürlichen Zügen
des Menschen orientieren, in Wirklichkeit aber »naturalistische Regressionen«
sind – so etwa eine Selbsterhaltung, für die eine Lenkung durch Vernunft als
überflüssig erklärt wird, oder die – während der letzten Jahre vor allem in der
Neurophilosophie – virulent gewordene Rückschneidung des Menschen auf
allein biologische Kategorien. Wird demgegenüber eine Vernunftgeleitetheit von
Selbsterhaltung festgehalten, so impliziert diese notwendigerweise bestimmte
kommunikationstheoretische und -praktische Unterstellungen, wie sie heute in
der Diskurstheorie entfaltet werden. Dazu gehört etwa die Unhintergehbarkeit
einer kommunikativen Ebene mit dem ihr spezifischen Geflecht von Rechten
und Pflichten, ebenso die Unterstellung, dass die Kommunizierenden an der
Kontinuität ihres Daseins interessiert sind.
Dass zu unserer anthropologischen Situation gehört, konstitutiv mit anderen ver-
netzt zu sein, fällt ja bereits in die Reichweite der Selbsterhaltung im alten aristo-
telischen Sinn: Wir sind vor allem zu Beginn und meist auch am Ende unseres
Lebens auf Gedeih und Verderb auf andere angewiesen. Weitaus brisanter ist, dass
am Leitfaden des Themas »Gesellschaft« neuzeitlich das Problem der Selbsterhal-
tung erstmals wirklich reflektiert wurde. Das geschah in der politischen Theorie
Thomas Hobbes’ 12. Der Staat ist für ihn Ausdruck des Willens aller Bürger:
Die Absicht und Ursache, warum die Menschen bei all ihrem natürlichen Hang zur
Freiheit und Herrschaft sich dennoch entschließen konnten, sich gewissen Anordnun-
gen, welche die bürgerliche Gesellschaft trifft, zu unterwerfen, lag in dem Verlangen,
sich selbst zu erhalten und ein bequemeres Leben zu führen; oder mit anderen Worten,
aus dem elenden Zustande eines Krieges aller gegen alle gerettet zu werden. Dieser
Zustand ist aber notwendig wegen der menschlichen Leidenschaften mit der natürli-
chen Freiheit so lange verbunden, als keine Gewalt da ist, welche die Leidenschaften
durch Furcht vor Strafe gehörig einschränken kann und auf die Haltung der natürlichen
Gesetze und Verträge dringt 13.
Verwirklichen lässt sich dieses Ziel für Hobbes nur folgendermaßen:
[…] jeder muß alle seine Macht oder Kraft einem oder mehreren Menschen übertragen,
wodurch der Wille aller gleichsam auf einen Punkt vereinigt wird, so daß dieser eine
Mensch oder diese eine Gesellschaft eines jeden einzelnen Stellvertreter werde, und
einer jeder die Handlungen jener so betrachte, als habe er sie selbst getan, weil sie sich
dem Willen und Urteil jener freiwillig unterworfen haben. Dies faßt aber noch etwas
mehr in sich als Übereinstimmung und Eintracht; denn es ist eine wahre Vereinigung
in einer Person und beruht auf dem Vertrage eines jeden mit einem jeden […]. Auf
diese Weise werden alle einzelnen eine Person und heißen Staat oder Gemeinwesen. So
entsteht der große Leviathan oder, wenn man lieber will, der sterbliche Gott, dem wir
unter dem ewigen Gott allein Frieden und Schutz verdanken 14.
12 Vgl. zu Hobbes jüngst die vorzügliche Studie von Sellmann (2005), Kap. 3.
13 Hobbes (1978), 151.
14 Hobbes (1978), 155.
Selbsterhaltung 387
Als Ausdruck des Willens der Bürger ist der Staat weder nur ein Instrument,
mit dessen Hilfe eine Gruppe von Menschen ein bestimmtes Ziel zu erreichen
sucht; denn dann dürfte es keine staatliche Gewaltausübung im Namen der Bürger
gegen den Willen eines oder mehrerer von ihnen geben. Noch dient der Staat der
Realisierung einer Weltordnung; dann würde der Staat nur als Forderung an die
Bürger begegnen können, nicht aber Ausdruck ihres Willens sein. Im Willen eines
jeden Einzelnen wird so die Korrespondenz zwischen dem Individuum und seiner
Freiheit einerseits, der Institution und dem Gesetz andererseits verankert. Dieser
Staatsbegriff ergibt sich für Hobbes aus seiner Anthropologie, genauer aus dem
Bedarf der Selbsterhaltung, den diese impliziert. Der Mensch ist Individuum, jeder
ist sich selbst der Nächste und des anderen Wolf. Jeder strebt nach Lustbefriedi-
gung, alle wollen die gleichen Güter, und zwar nicht um eines Zieles willen, das
nach seinem Erreichtsein genossen werden könnte, sondern um das Gewinnen
von Gütern als solchen geht es, um das Begehren; Begehren macht das Dasein aus.
Jedoch sind die Güter knapp. Folglich kommt es zu Konflikten. Diese sind aber
keineswegs etwas, das Hobbes am besten vermieden sähe. Im Gegenteil kommt
erst in konfligierenden Situationen das Phänomen der Macht im Sinn der Durchset-
zung eigener Ansprüche auf, und genau das ist es, was die größte Lustbefriedigung
gewährt. Sofern dabei aber selbst der Stärkste vom Schwächsten etwa durch List
vernichtet werden kann, fürchten alle den Tod (darin sind sich alle gleich) – und
wollen, um der Zerstörung zu entgehen und sich selbst zu erhalten, eine Macht, die
größer ist als jede mögliche individuelle Machtausübung: den Staat, den Hobbes
schnörkellos »Leviathan« tauft, also mit dem Namen, den die Bibel dem Untier
aus der Meerestiefe, der unter der Oberfläche des Kosmos, also der »Ordnung«
schlummernden Vernichtungsmacht gibt. Das war ein starkes Votum gegen jeg-
liche Art geistlich-kirchlich-klerikaler Gewalt, die ja auch als politische Anspruch
über die Gewissen der Menschen erhob. Die staatliche Vergemeinschaftung hat für
Hobbes nicht die Funktion, ihre Glieder zu einem bestimmten Ziel zu bringen,
sondern dient der Selbsterhaltung individueller, autonomer, begehrender Subjekte
unter der Bedingung der Sozialität. Der Staat und seine Gewaltausübung sichern
den Fortgang des Begehrenkönnens aller – eben unter Umständen durch gewalt-
same Einschränkung der Ansprüche Einzelner, weil solche Grenzüberschreitung
für die anderen wie für den Betroffenen selbst desaströs enden könnte: conservatio
sui, Selbsterhaltung zweiten Grades – zweiten Grades deshalb, weil der Mensch ja
bereits aus Gründen der Selbsterhaltung zu Beginn seines Lebens in jenen Verbund
mit anderen gezwungen wird, der ihm dann den Willen zum Staat als Instrument
der Selbsterhaltung innerhalb dieses Verbundes abnötigt.
Die antitheologische Spitze der Rede vom Staat als »Leviathan« darf nicht
davon ablenken, dass sie einen für unsere Fragestellung nach der Struktur der
Selbsterhaltung wichtigen Hinweis impliziert, der direkt auf das zurückführt, was
sich bei den Analysen der anderen Weisen der Selbsterhaltung jeweils als Konse-
388 Klaus Müller
quenz ihrer inneren Logik herausstellte. In der vorhin zitierten Passage bemerkt
Hobbes – auf den ersten Blick etwas rätselhaft, statt »Leviathan« zu sagen, könne
man auch vom »sterblichen Gott« sprechen, dem ein ewiger Gott gegenübersteht.
»Sterblicher Gott« kann somit nur eine Chiffre sein für das komplexe Phänomen
eines unbedingten Machtanspruchs, der nur in beschränkter Weise zur Durchset-
zung kommen kann. Das Eingehen von Vergesellschaftungsformen zur Erhaltung
des eigenen Daseins ist unbedingt nötig, muss aber an internen Grenzen enden,
damit das Eigensein des Daseins und damit dieses selbst tatsächlich erhalten blei-
ben.
3. Spätmoderne Subjekt-Dezentrierung
radikalen Neuansatz leitet Heidegger darum mit einer Vertreibung des Subjekts aus
seiner vermeintlichen Zentralstellung ein – »Dezentrierung« sagen manche später.
Statt von »Subjekt« spricht er von »Dasein«, anstelle von »Bewusstsein« steht
»Sorge« 16. Das Dasein als in die Welt geworfenes Sein-zum-Tode verfüge so wenig
über sich selbst wie über das Sein. In dem Vortrag Die Zeit des Weltbildes von 1938
heißt es:
Der Mensch als Vernunftwesen der Aufklärungszeit ist nicht weniger Subjekt als der
Mensch, der sich als Nation begreift, als Volk will, als Rasse sich züchtet und schließ-
lich zum Herrn des Erdkreises sich ermächtigt […]. Im planetarischen Imperialismus
des technisch organisierten Menschen erreicht der Subjektivismus des Menschen seine
höchste Spitze, von der er sich in die Ebene der organisierten Gleichförmigkeit nieder-
lassen und dort sich einrichten wird. Diese Gleichförmigkeit wird das sicherste Instru-
ment der vollständigen, nämlich technischen Herrschaft über die Erde. Die neuzeitliche
Freiheit der Subjektivität geht vollständig in der ihr gemäßen Objektivität auf 17.
Das ist die Kontrastfolie, gegen die Heidegger seinen existenzialontologischen
Gegenentwurf zum okzidentalen Herrschaftssubjekt zeichnet. Hans-Georg Gada-
mer ist diesbezüglich in seiner hermeneutischen Philosophie seinem Lehrer ohne
Abstrich gefolgt. Was Subjekt-Dezentrierung bedeutet, kommt in seiner Kon-
zeption des Verstehensprozesses vielleicht noch drastischer zur Geltung als bei
Heidegger selbst, wenn es in Wahrheit und Methode etwa heißt, der Fokus der Sub-
jektivität sei ein Zerrspiegel, und bei der Selbstbesinnung des Individuums handle
es sich lediglich um ein »Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen
Lebens« 18.
Weit radikaler als Gadamers Dezentrierung des Subjekts freilich nimmt sich
die Kritik eines anderen aus, der wie Gadamer zunächst von Heidegger her dachte,
dann aber gegen ihn und weit über ihn hinaus aus noch ganz anderen Quellen und
Erfahrungen das abendländische Denken in Frage zu stellen sich gezwungen sah.
Ich spreche von Emmanuel Lévinas. Lévinas’ Denken ist in den letzten Jahren bei
uns zu einer erstaunlichen Bekanntheit gelangt. Gerade seitens der katholischen
Theologie hat es eine lebhafte – und ich meine: ausgesprochen problematische –
Rezeption erfahren. Es gibt in Teilen so etwas wie eine theologische Lévinas-
Jüngerschaft, die dazu tendiert, den für Lévinas zentralen Gedanken radikaler
Alterität in einen christlichen Transzendenzgedanken umzulesen und im gleichen
Zug daraus eine theologische Moderne- und Subjektkritik abzuleiten19. Werfen
wir darum zunächst einen Blick auf Lévinas’ originäre Subjektkritik, ihr Motiv
und ihre Konsequenzen20!
Bei Lévinas muss unweigerlich einer direkten biographischen Dimension sei-
nes Denkens Rechnung getragen werden. Ein großer Teil seiner Verwandtschaft
kommt in den KZ’s um. Der Schock über die Bestialitäten, deren Menschen aus-
weislich des Krieges und vor allem der Judenvernichtung offenkundig fähig sind,
lassen ihn nicht mehr los. In sein zweites Hauptwerk Jenseits des Seins oder anders
als Sein geschieht schreibt er als Widmung:
Dem Gedenken der nächsten Angehörigen unter den sechs Millionen der von den
Nationalsozialisten Ermordeten, neben den Millionen und Abermillionen von Men-
schen aller Konfessionen und aller Nationen, Opfer desselben Hasses auf den anderen
Menschen, desselben Antisemitismus 21.
Philosophie kann nach Auschwitz nicht mehr genauso betrieben werden wie vor-
her (Theologie ebenso wenig). Von daher rührt auch der Eindruck der Fremdheit,
den Lévinas’ Opus erweckt. Verstärkt wird er für die durchschnittlichen Leser
von heute dadurch, dass Lévinas’ Philosophieren stark durch Motive der biblisch-
jüdischen Tradition, zumal das prophetische Einklagen der Menschlichkeit und
Anklagen allen Unrechts geprägt wird. Zwar achtete Lévinas darauf, Religion und
Philosophie nicht zu vermengen. Die Auslegungen zum Talmud, die er veröffent-
lichte, ließ er immer in anderen Verlagen erscheinen als seine philosophischen
Werke. Dennoch leitet sein Denken unverkennbar die Absicht, jüdische Weis-
heit in griechische Sprache, d. h. in Kategorien des westlichen Denkens zu fassen.
Biblische Texte werden dabei nicht zur Illustration okzidentaler philosophischer
Positionen herangezogen, sondern als philosophische Texte eigenen Rechts und
Ranges gelesen.
Die Erfahrung der Shoa hat Lévinas gewiss gemacht, dass mit dem abendländi-
schen Denken, das sich so viel auf seine Leistung zugute hält, schon im Ansatz
etwas nicht stimmen kann. Dieser Ansatz besteht für ihn darin, dass alles, was es
gibt, immer als das Andere des Subjekts gefasst wird. Alles, was es gibt, auch die
anderen, sind Objekt für mich, Entgegengesetztes, das ich – ICH! – von meinem
Punkt aus identifiziere, klassifiziere, in meine Verfügung zu nehmen versuche. Das
andere als anderes – also sein Eigentliches, seine Andersheit im Vergleich zu mir –
spielt dabei überhaupt keine Rolle. Sie wird ignoriert, annulliert, gegebenenfalls
mit Gewalt aufgehoben, damit das andere in meine Koordinaten passt. Geht es
dabei nicht um das andere, sondern und den oder die anderen, fällt solcher Zugriff
nicht schwer. Menschen sind verletzbar. Umso leichter können sie der objektivie-
renden Subjekt-Perspektive unterworfen werden. Und das geschieht auch, weil
20 Vgl. Zum Folgenden auch Lesch (1992), 1–28 und Menke (1995), 111–115.
21 Lévinas (1992).
Selbsterhaltung 391
das Subjekt nichts ihm Fremdes dulden will. Nach Lévinas geht es der klassi-
schen abendländischen Weltbeschreibung primär um Macht und Herrschaft. Den
Grund dafür macht er in einer konstitutionellen Überheblichkeit des Subjekts aus.
Jedenfalls ergibt sich aus Lévinas’ Sicht der abendländischen Philosophie logisch
zwingend der Ausgangspunkt für ein alternatives Denken, das gegen den Verfall
und die Folgen des Subjektdenkens von seinem Ansatz her gefeit ist: Es kann sich
nur um ein Denken handeln, das von der uneinholbaren Andersheit des Anderen,
also einer fundamentalen Alterität ausgeht.
In dieser Perspektive begegnet der andere nicht mehr als jemand, über den oder
die ich verfügen könnte. Allein sein Anblick, sein Angesicht nimmt mich bereits
in Pflicht, für ihn Verantwortung zu tragen. Dem Du wird ein unhintergehbarer
Primat vor dem Ich zugeschrieben. Das geschieht so unbedingt, dass dieser Primat
nicht einmal von der Frage »Wer ist mein Nächster?« angemessen zur Geltung
gebracht wird. Das ist erst dann der Fall, wenn ich frage: »Wem bin ich der
Nächste?« Es reicht schon, dem anderen als solchen zu begegnen, um unbedingt
in Anspruch genommen zu sein:
Warum betrifft mich der Andere? […] Bin ich der Hüter meines Bruders? – diese
Fragen haben nur Sinn, wenn man bereits zur Voraussetzung gemacht hat, daß das
Ich sich nur um sich sorgt, nur Sorge ist um sich selbst. Unter dieser Annahme bleibt
es in der Tat unverständlich, daß das absolute Außerhalb-meiner – der Andere – mich
betrifft. Doch hat in der »Vorgeschichte« des für sich gesetzten Ich eine Verantwortung
das Wort. Das Sich ist von Grund auf Geisel, früher als es Ego ist, schon vor den
ersten Ursachen. Es geht für das Sich, in seinem Sein, nicht darum zu sein. Jenseits von
Egoismus und Altruismus geht es um die Religiosität des Sich.
Die Condicio der Geiselschaft ist der Grund dafür, daß in der Welt Mitleid, Anteilnahme,
Verzeihen und Nähe möglich sind … Die Unbedingung der Geisel ist nicht der Grenzfall
der Solidarität, sondern die Bedingung jeglicher Solidarität 22.
Moralisch handle ich nur, wenn ich mich vom anderen als unbedingt anderen als
Geisel nehmen lasse und so meinen Lebensgang der Störung durch den anderen
aussetze. Zwischen dem Ich und dem anderen waltet eine Asymmetrie zugunsten
des letzteren.
Je näher mir eine oder ein anderer ist, desto unbedingter habe ich die Anders-
heit, ihre bzw. seine Fremdheit anzuerkennen – und praktisch auszuhalten. Der
Wucht dieses ethischen Impetus ist zunächst – gerade auf der Folie seiner Genese –
jeglicher Respekt zu zollen. Trotzdem dispensiert das nicht von der Frage nach
der Konsistenz der Rekonstruktion des modernen Subjekts, im Gegenzug zu der
dieser Impetus freigesetzt wird. Dieter Henrich hat das in einem Interview einmal
präzise begründet:
Die Erkenntnis der Geltung eines Imperativs oder Wertes kann unterlaufen und ins
Schwanken gebracht werden, wenn diese Erkenntnis nicht von einer Weltbeschreibung
komplettiert werden kann, innerhalb deren verständlich wird, daß etwas unbedingte
Geltung, und zwar für mich, haben kann. Diese Weltbeschreibung kann auch nicht ein-
fach nur um der Norm willen angenommen werden. Sie muß schon für sich einleuchten
können 23.
Genau dem aber mangelt es in Lévinas Behandlung des Subjektgedankens, weil in
dessen von ihm behaupteter Verfassung der konstitutive Zug der Selbsterhaltung
keinen Platz finden kann.
4. Korrektiv »Selbsterhaltung«
Gewiss wird durch den modernen Gedanken der Selbsterhaltung – auf zum Teil
durchaus polemische Weise – die Idee der Erhaltung durch Fremdes, nament-
lich durch einen Gott, abgewiesen. Aber eben daraus resultiert in keiner Weise
die Proklamation einer triumphierenden Selbstgenügsamkeit, aus der das Sub-
jekt dann Herrschaftsansprüche ableitete. Im Gegenteil: Sich selbst erhalten und
seiner Bedürftigkeit, sich erhalten zu müssen, inne sein kann und muss nur ein
Wesen, das sich sein Dasein und seine Verfassung weder selbst geben noch sie
aus eigener Kraft garantieren kann. Virulent zu werden vermochte der Selbsterhal-
tungsgedanke auf die faktisch gegebene Weise einzig deshalb, weil – ausgerechnet –
die selbstbewusste Subjektivität der Moderne am radikalsten gewahr wurde, dass
sie nicht in sich selbst gründet, weil sie in der Perspektive der Selbstbeziehung
gleichsam aus unverfüglichem Grund aufkommend zu sich erwacht und in der
Perspektive ihrer Weltbeziehung durch ihre Marginalität und Kondizioniertheit auf
ihre radikale Kontingenz gestoßen wird.
Ohne an dieser Stelle auch nur ansatzweise auf das ganze damit in Blick
genommene Perspektivenbündel einzugehen, lässt sich gleichwohl das systema-
tische Resümee ziehen: Der Begriff der Selbsterhaltung ist philosophisch fun-
damental genug angesiedelt, um als Steuerungsinstrument eines systematischen
anthropologischen Diskurses fungieren zu können. Er ist außerdem so konstitutiv
mit normativen Dimensionen verknüpft, dass er aus sich den Verdacht entkräften
kann, selbsterhaltende Akte seien notwendig Äußerungen des sich zum alle und
alles beherrschenden Souverän aufschwingenden neuzeitlichen Subjekts. Gerade
im Raum der katholisch-theologischen Abwehr der Neuzeit, aber auch etwa von
Martin Heidegger wurde bzw. Lévinas wird dieses Verdikt über das selbstbewusste
Subjekt der Moderne gesprochen. Damit wird aber unterschlagen, dass sich not-
wendigerweise nur dasjenige Wesen selbst erhalten muss, das gerade nicht souverän
über allem steht und nicht einmal über sein eigenes Auftreten und Beharren verfügt.
Dieter Henrich bringt das auf den Nenner:
Selbstbewußtsein kommt überhaupt nur in einem Kontext zustande, der sich aus seiner
Macht und Aktivität gar nicht verstehen läßt. Und es kommt in ihm so zustande, daß
es von dieser Dependenz ursprünglich weiß. Deshalb hat es sich aus der Notwendigkeit
der Selbsterhaltung zu verstehen 24.
Dass es im Gange selbsterhaltender Prozesse zu einer Verselbständigung der
sie unterhaltenden Dynamik kommen kann, die destruktive oder selbst auto-
destruktive Konsequenzen freisetzt, steht dabei auf einem ganz anderen Blatt.
Das Phänomen selbst ist uns Heutigen mehr als bekannt: Die »globalen Heraus-
forderungen«, etwa die (national gesehen äußerst asymmetrische) Bevölkerungs-
entwicklung oder die ökologischen Desaster, sind seine bekanntesten Indizien.
Philosophisch ist schon seit mehr als einem halben Jahrhundert von der »Dia-
lektik der Aufklärung« die Rede, so auch der Titel des berühmten Werkes von
Adorno und Horkheimer 1947 25. Bereits sechs Jahre zuvor hatte Horkheimer sei-
nen Beitrag zu einer Benjamin-Festschrift mit Vernunft und Selbsterhaltung über-
schrieben26. Und schon dort lautete die Kernthese: Selbsterhaltung habe sich in
blindwütiger Verabsolutierung der technisch-instrumentellen Vernunft zu Formen
totaler Beherrschung von Natur und Gesellschaft pervertiert. Den entmensch-
lichenden Konsequenzen dieses Vorgangs könne nur noch eine Aufklärung der
Aufklärung, also eine radikale Selbstkritik der Vernunft etwas entgegensetzen.
Denn:
Wenn die atomisierten und zerfallenden Menschen fähig werden, ohne Eigentum, ohne
Ort, ohne Zeit, ohne Volk zu leben, so haben sie sich auch des Ichs entschlagen, in
welchem wie alle Klugheit auch die Dummheit der historischen Vernunft und all ihr
Einverständnis mit der Herrschaft bestand. Am Ende des Fortschritts der sich selbst
aufhebenden Vernunft bleibt ihr nichts mehr übrig, als der Rückfall in Barbarei oder
der Anfang der Geschichte 27 –
so endet Horkheimers 41er Essay. Mir scheint es alles andere als ein Zufall, dass in
dem damit umschriebenen apokalyptischen Szenario in dem Stakkato »ohne Ort,
ohne Eigentum, ohne Zeit, ohne Volk« eine Art Gegenbild dessen evoziert wird,
wofür in der Tradition der Stoa der Titel der o ke–wsic steht, der gemäß weitrei-
chendem Konsens – »[…] einen Grundpfeiler der stoischen Ethik« 28 bezeichnet
und sich auf die geordnete Zueignung von Dingen an Personen bezieht. Dem
schließt sich die Überlegung an,
dass der Ursprung der Oikeiosis als das Entstehen der Differenz von Eigenem und
Fremdem gewissermaßen die Initialzündung der Subjektivität bedeutet 29.
Dann aber liegt auch unmittelbar auf der Hand, warum und wie das stoische
Motiv der Selbsterhaltung, das ausweislich etwa Ciceros Zeugnis engstens mit der
o ke–wsic verknüpft ist30, als Vergegenwärtigung einer apriorisch-konstitutiven
ethischen Prägung des Subjektbegriffs in Anspruch genommen werden kann, wo
dem modernen Subjekt unterstellt wird, genetisch an einem blinden Fleck in ethicis
zu leiden.
Bibliographie
Hobbes, Thomas, Leviathan. Erster und zweiter Teil, in: J. P. Mayer, Nachwort v. M.
Diesselhorst, Stuttgart 1978.
Horkheimer, Max, »Vernunft und Selbsterhaltung«, in: Ebeling 1996b, 41–75.
Lepenies, Wolf, Briefe aus dem 20. Jahrhundert. XV: Gehlen an Adorno, in: Süddeutsche
Zeitung, Nr. 86, 12./13.04.2003, S. 19.
Lesch, Walter, Religiöse Ethik, in: Annemarie Pieper (Hrsg.): Geschichte der neueren Ethik,
Bd. 2: Gegenwart, Tübingen u. Basel 1992, 1–28.
Lévinas, Emmanuel, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1992
(= Alber-Reihe Philosophie).
Menke, Karl-Heinz, Die Einzigkeit Jesu Christi im Horizont der Sinnfrage, Einsiedeln 1995
(= Kriterien 94).
Müller, Klaus, Wenn ich »ich« sage. Studien zur fundamentaltheologischen Relevanz selbstbe-
wußter Subjektivität, Frankfurt a.M. u.a. 1994 (= Regensburger Studien zur Theologie;
Bd. 46).
Mulsow, Martin, Art. »Selbsterhaltung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9.
Darmstadt 1996, Sp. 393–406.
Nietzsche, Friedrich, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, in: id., Sämtliche Werke. Kritische
Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 11, Berlin/New York
1988.
Sellmann, Matthias, Religion und soziale Ordnung. Gesellschaftstheoretische Analysen, Frank-
furt/Main 2007.
Sellmer, Sven, Formen der Subjektivität. Studien zur indischen und griechischen Philosophie,
Freiburg/München 2005 (= Neue Phänomenologie 6).
Spaemann, Robert, »Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie«, in: Ebeling
1996b, 76–96.
Zu den Autoren
er befaßt sich intensiv mit erkenntniskritischen Fragestellungen vor allem bei Pla-
ton, Aristoteles und Plotin, unter besonderer Berücksichtigung ihrer spätantiken
Rezeption (z.B. in der Kommentartradition).
Gyburg Radke-Uhlmann ist Professorin für Klassische Philologie (Gräzistik) an
der Freien Universität Berlin; sie beschäftigt sich mit philosophischen (Erkennt-
nistheorie) gleichermaßen wie mit literaturwissenschaftlichen Themen (Poetik,
Erzählformen). Umfangreiche Studien zum antiken Platonismus und seiner Rezep-
tion, vor allem in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Dimension, belegen
die Vielseitigkeit ihrer Interessen, für die sie 2006 mit dem Leibnizpreis belohnt
wurde.
Thomas Schirren ist Professor für Klassische Philologie (Gräzistik) an der Uni-
versität Salzburg. In seinen Forschungen gelingt ihm der Spagat zwischen antiker
Philosophie, Rhetorik und Kunsttheorie, ohne die Moderne als Bezugsgröße aus
dem Blick zu verlieren. Er hat vielbeachtete Studien zur vorplatonischen Wahr-
nehmungstheorie und zur antiken Biographie vorgelegt.
Arbogast Schmitt ist Professor für Klassische Philologie (Gräzistik) an der Uni-
versität Marburg. Seine Forschungen zur platonisch-aristotelischen Erkenntnis-
theorie in ihrer Spannung zum neuzeitlichen Selbstverständnis sind wegweisend;
einen besonderen Schwerpunkt legt er – weit über die Philosophie hinaus – auf Fra-
gen der Selbstwahrnehmung, Selbsterkenntnis und Charakterologie im Hinblick
auf mögliche Paradigmenwechsel zwischen Antike und Moderne.
Jan Stenger ist Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Klassische Philologie
(Gräzistik) an der Universität Kiel. Er befaßt sich mit poetologischen (narratolo-
gischen) und anthropologischen Fragestellungen in antiker und spätantiker Litera-
tur. Dabei hat er besonders literarische Kleinformen und Gattungsmischungen im
Blick, vor allem die Gnomik.
Karin Westerwelle ist Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der
Universität Münster. Sie hat umfassende Studien zur Imagination und Interaktion
von Text und Bild im 19. Jahrhundert in Frankreich vorgelegt; im Mittelpunkt
stehen Baudelaire und Montaigne, stets mit besonderer Aufmerksamkeit auf die
Rezeption der Antike bzw. die querelle-Situationen zwischen Antike und Moderne.
Register
Livrea, Enrico 116 Fn. 57, 317 Fn. 13 Novalis 109 Fn. 7
Livius, Titus 41 Fn. 15, 152, 218 Nussbaum, Martha 362 Fn. 15, 363, 364
Lobsien, Verena 124 Fn. 57, 317 Fn. 13 Fn. 22, 372 Fn. 66, 376 Fn. 77
Locke, John 53 Fn. 10, 254, 376 Fn. 74
Lohenstein, Daniel Caspar von 249 William von Occam 321
Long, Anthony A. 49 Fn. 1, 50, 57 Fn. 22, 361 Octavian 143 Fn. 28, 168
Fn. 4, 362 Fn. 14, 367–369, 371 Fn. 51, 376 Odysseus 101, 163, 221, 323, 327
Fn. 78 Oedipus 37, 240, 248, 251–253, 264
Lucceius 147 Offenbach, Jacques 272
Lucilius 29 Olympiodor 343 Fn. 2, 347 Fn. 10, 349
Lucretius, Lukrez 51, 59, 64–68, 70–77, 80 Fn. 14–15
Fn. 100, 81, 375–377 Orest, Orestes 220, 222, 228–229, 231, 234, 255
Lukács, Georg 190 Fn. 59
Lukasevangelium Orpheus 25 Fn. 17
– Luk. 1, 38 207 Ovid 21, 33–46, 50, 51, 63, 73–77, 81, 143, 146,
Luther, Martin 182 Fn. 21, 217 157, 161, 289, 290, 293, 296, 363
Lyotard, Jean-François 185 Fn. 29 – Metamorphosen 34–35, 38–41, 43–44, 46
– Tristia 72–76, 161 Fn. 22, 146, 157
Machiavelli, Niccolò 252 Fn. 52, 254 – Remedia amoris 27
MacIntyre, Alisdair 360 Fn. 2, 377 – Epistuale (Heroides) 289 Fn. 22, 293,
Macrobius 294
– sat. 2.4.21 131
Madame de Staël 284, 288–289 Panaitios 193 Fn. 23, 372–372
– Corinne ou l’Italie 289 Parfit, Derek 52 Fn. 8, 376 Fn. 73
Maiorian 158 Patroklos 324, 326, 328
Mani, Manichäer 181–182 Penelope 226 Fn. 40, 231 Fn. 69, 289
Manlius Torquatus 164 Perikles 145, 325
Marcellus 135–136, 139 Petrarca, Francesco 210, 286, 291, 317, 319
Marcus Aurelius 362 Phaon 288–289, 293–294, 296, 300, 304
Martial 30, 165 Fn. 44 Philagrius 164 Fn. 39
Medea 35, 37, 40 Philippi 79, 250
Meliboeus 169 Pirandello, Luigi 196, 276
Menander 9 Fn. 29, 90 Fn. 2 Platon 37–38, 53, 96, 117, 122–124, 222, 233, 235,
Mendelssohn, Moses 258 286, 290, 314, 317, 319, 323, 327, 329, 331–338,
Mephisto 279 364–366, 369, 370
Messalla, Panegyricus Messallae 23–24, 168 – Alcibiades maior 343–356
Fn. 59 – Apologie 117
Misch, Georg 112 Fn. 14 – Critias 226 Fn. 44, 233 Fn. 78
Montaigne 318, 319 – Gorgias 90 Fn. 2, 228 Fn. 51, 362 Fn. 14
Moschos 286 – Hippias m. 353
Mystes 22–28 – Laches 338 Fn. 60
– Phaidros 117, 343, 349 Fn. 14, 350 Fn. 16–17,
Nabokov 276 352, 355 Fn. 23
Rutilius Namatianus 170 Fn. 64 – Symposium 292, 352, 253
Nemesios 222 Fn. 27 – Theaitet 327 Fn. 39, 350 Fn. 17, 355
Nemesis 21 – Politeia 327, 330, 335 Fn. 54, 338 Fn. 59, 364,
Neoptolemus 221, 231, 234 373
Nietzsche, Friedrich 132 Fn. 5, 382, 388 Plautus 276
Register 405
Sachen
Autor, author, Autorität X, 18, 107, 110–111, coherence 50, 52, 61–64
119, 121, 156, 175–178, 183–184, 213 comedy 39, 63 Fn. 39, 276
– authorial consciousness 151 communication 75–76, 149, 318
– authorial control 149–152 competition 133, 135, 140, 147, 149, 152, 364
autodiegetisch 176, 178 Fn. 23
Autopoiesis, autopoietisch 17 comparison (to others) 133, 135
autoreflexiv, Autoreflexivität (des Vorstellens) condicio (sine qua non) 337
4 conscious(ness) 10 Fn. 34, 45, 49, 57–58, 133–
Autorität, authority XII, 33, 81, 146, 148, 316 134, 138, 141, 150–151, 315–319, 322, 330–334,
Axiome, implizite 271–275, 279–280 339, 359–360, 368–369
contemplation 134–135
Bekenntnis(se), circum-fessio 87, 125, 170 continuity 51–52, 62–63, 132 Fn. 5, 149, 375
Fn. 66, 175–186, 257, 305, conversatio sui, conversation 23, 139, 370
Bewusstwerdung 204 Fn. 43
Bewußtsein (Bewusstsein) VII, IX Fn. 4, 96, conversio 247
112, 118 Fn. 38, 203, 205, 207–210, 214–215, corpus, Körper, Körperlichkeit, body VII, 4,
221–228, 232–234, 240–242, 247, 272–275, 33, 38, 45, 57, 69 Fn. 63, 75, 93, 123 Fn. 52 u.
278, 283–287, 300, 305, 310, 344, 383–384, 53, 131, 146, 162–164, 167 Fn. 52, 193, 213,
389, 398 215, 217, 220–226, 229, 246, 253, 285, 287–
– Ästhetisches Bewußtsein 241 288, 295, 303–305, 310, 337, 343 Fn. 4, 346–
– Bewußtseinsanalyse 209–210 356, 363, 375 Fn. 70, 397
– Bewußtseinsmonaden 208 creatio 89
– Bewußtseinsphilosophie 123 Fn. 50, 249,
310, 331 Fn. 46 daimonion 117
Beziehung(en) 11 Fn. 35, 15, 16, 100, 191, 194, Dandy, Dandyismus 18
235, 242, 293, 311, 382, 384, 392 Dasein 217, 224, 243, 351, 384, 387–392
biblisch 181, 243, 245, 255 Fn. 59, 390 – Daseinskontinuität 386
Bildlichkeit XII, 124, 215, 296–297 death 23–25, 132 Fn. 5, 134–136, 144–148, 151
Biographie, biographisch, biography, -ical Fn. 40, 328, 371, 374–377
VIII, XII, 17 Fn. 62, 21, 23, 25, 27, 56, 60– De(kon)struktion, De-konstruktion, dekon-
61, 64–69, 75, 78–80, 175, 177, 180, 182, 283, struktiv 63, 87, 184, 190, 196, 316, 318, 382
311, 382, 390, 399 determination of the subject 314
Blickpunkt, subjektiver 4 Dialog, dialogue VIII, 1, 6, 23, 76, 90 Fn. 2,
Bürger, Citizen 2, 39, 50, 63, 65, 69, 78, 148 116, 121–125, 132 Fn. 4, 133–134, 138–139, 145,
Fn. 36, 164 Fn. 39, 228, 254, 277, 279–280, 148, 151, 166 Fn. 50, 178, 233, 274, 275, 280,
295, 317, 329, 371, 386, 387; civic 39, 58, 60, 285, 333, 343–345, 350–355, 369
69, 70 Fn. 68, 72–76, 143 Fn. 28; civil 76 dianoia, dianoetisch 90
différance 210
Charakter, character 44, 51 Fn. 5, 53–54, 61, 67, Diskurs, discours, discourse 7 Fn. 17, 13
99, 231, 317, 323, 325–329, 336, 351–352, 372 Fn. 46, 23, 27, 34, 51, 57, 81, 108–112, 119,
– intelligibler Charakter 271 176, 182, 196, 200–202, 215, 219, 235, 240,
– tragic character 37, 45 248–252, 256, 258, 260, 263, 283, 311, 316–
Christentum, christlich, christologisch 170, 317, 321, 349 Fn. 14, 352, 363, 367–372, 377,
214, 239–266, 280, 286, 289, 302, 305, 311, 385–386, 392
384, 389 Diskursanalyse 9
circumstances 43 Fn. 19, 52, 55, 67 Fn. 54, 131, Disposition, disposition 1, 4, 6, 21, 23, 99, 313,
135, 140, 147–150, 319, 371 315, 336–337
cognition, cognitive 318, 321, 330–338, 370 Doppelgänger, Doppeltgänger 276, 279
408 Register
Drama 2, 6, 9–10, 13 Fn. 44, 34, 37, 39, 40–46, ethos, Ethisch, ethical IX, 34, 52 Fn. 8, 58, 90,
66 Fn. 53, 99, 204, 215, 222, 230, 240 Fn. 9, 93, 101, 104, 123 Fn. 52, 139 Fn. 23, 181, 197,
242, 244, 250 Fn. 46, 252–264, 275, 289 201, 214, 216, 222, 228, 231–232, 235, 246–
Fn. 20, 343 Fn. 1, 397 247, 257–258, 261, 264, 266, 310–312, 315
– dramatis personae 332 Fn. 7, 328–335, 339, 351, 359–380, 391, 393–
ego 1, 11 Fn. 35, 14 Fn. 51, 16, 21–32, 57–58, 226 394, 398
Fn. 43, 391 – ethical development 364–367, 370, 373–374
exemplum 41, 86, 131–154, 193, 305
Ehrenkodex, heroischer 221, 229, 235 Existenz VII, 2, 15–17, 27, 34, 49, 51 Fn. 5, 55–
Eigenschaftslosigkeit 242, 246–247, 257– 58, 66–76, 79–80, 120 Fn. 43, 159, 175, 181,
258 197–198, 213–214, 217–218, 224–225, 229,
Einheit IX Fn. 4, XII, 4, 97, 100–101, 112 279–280, 320–323, 337, 344, 351, 366, 368,
Fn. 16, 120 Fn. 43, 124 Fn. 55, 131, 203, 276, 374–376, 389
310, 346, 347, 382 – leibliche Existenz 345–351, 355–356
Einzelner 3, 8, 95, 98–100, 104, 109, 189, 194– Existenzialontologie, -isch 389
195, 218, 221, 228 Fn. 50, 235, 309–310, 345, express(ion of) oneself 131, 148–149, 240, 336,
383, 386–387 362, 371
Einzigartigkeitserklärung 266
Elegie, elegisch 1, 21–30, 162 Fn. 30, 165, 283, familiarization 365
303 felici errori 286
Emanzipation, Emazipationsversuch(e) 3, 9, Fiktion(en), Fiktionalität, Fiction 18, 21–24,
11, 16–18 38–39, 41–46, 81, 90 Fn. 2, 108, 110–116, 119–
Emotion, emotion 9–16, 37, 58–59, 69, 78, 80 122, 196, 204, 215, 272, 274, 283, 285–296,
Fn. 100, 99, 147, 206–210, 223 Fn. 28, 255, 304, 317, 322, 397–398
283, 287, 328, 331–334, 363–368, 374–375 first-person-speaker, first-personal-viewpoint
enjambement 9 24, 359, 369, 376 Fn. 74
Entfremdung 13 Fn. 48, 50, 110, 161, 234, 290, Fokalisierung, interne 7, 68
301 Fn. 56, 383 Freiheit, frei, free, eleuteroi VIII, XI, 16, 39,
Entsubjektivierung 229 68–69, 72, 81, 98, 112, 124, 132, 155, 215, 229,
Erinnerung, memoir, mémoire, memory 12, 235, 250 Fn. 42, 259, 262, 264, 272, 319, 336
15, 25, 53 Fn. 10, 57–58, 61–62, 66–67, 79– Fn. 56, 338–339, 369, 386
80, 139, 160 Fn. 20, 167, 179, 200, 262–265, – unfrei 336 Fn. 56
276, 288, 300, 351, 376 Fn. 74 – Willensfreiheit 214, 230, 232
Erkennen, Erkenntnis IX, X, XII, 3–4, 7, 18, – Religionsfreiheit 254
86, 100, 111, 123, 124–125, 175, 181, 183, 191, – Befreiung, befreien 13 Fn. 46, 123, 262
195, 197, 199, 205, 214, 217, 221–229, 234, – Freiheit des Subjekts 246–247, 262–263,
236, 240, 244 284–287, 303, 305, 309–396 265, 305, 387, 389
– Erkenntnissubjekt 4 – freie Selbstbestimmung 189, 263
– Erkenne dich selbst 280 fremd XI, 2, 4, 7–8, 86, 159, 161, 163, 244, 297,
Erwartung(en), expectation 62, 132 Fn. 4, 230, 303, 312, 344 Fn. 4, 348
232, 235, 280, 288–289, 304, 345 – Fremdes 391–392, 394,
Erzähler, narrator, Erzählen, Erzählung, – Fremdheit 390–391,
narrativ 40–43, 49, 54–55, 58, 60–64, 77, – Fremde 179
80–81, 85–87, 102, 110–113, 116, 124, 176–179, – Fremdbestimmtheit 1, 8
190, 208–209, 297 – Fremdstereotyp 162–164
– Erzähler-Ich 112–113, 176, 179 – Fremderhaltung 384–385
– Personales Erzählen 87, 190, 202–210 – Fremdvernichtung 385
Eskapismus 86, 155–174 furor XII, 74 Fn. 82, 206, 296, 304–305
Register 409
Geist XII, 6 Fn. 14, 155, 157, 164, 167, 169, 175, histoire 194, 196
258–259, 262, 265, 280, 287, 293, 317 homo, Mensch XII, 97, 104, 108 Fn. 2, 155,
Gesellschaft, community, Gruppe, Gemein- 175–176, 185, 223, 230–231, 241–243, 246, 251,
schaft, Gemeinwesen 4, 10, 39, 56, 58–63, 280, 283, 310, 343–347, 350, 355, 386–387,
69, 72–79, 96–97, 104, 157, 165 Fn. 48, 181– 389
182, 190, 194–195, 213–214, 218–220, 223, homo nefas 279
226–229, 232, 235, 241–242, 245–247, 250– homo sacer 247
252, 257–258, 264, 271, 277, 279, 283–287, Homoerotik 292
292, 305, 309–310, 323, 326, 336, 344, 356,
360–361, 364, 366, 370–372, 385–387, 393 Ich, I, moi/je
Gnosis 181 – Ich-Aussage(n) 87, 179, 181, 185, 283
Gott 13 Fn. 44, 50, 57 Fn. 22, 67–73, 115, 121 – Ich-Identität 175–188
Fn. 48, 167 Fn. 52, 175, 177–178, 180, 183– – Ich-Perspektive 178
184, 194, 198, 201, 217, 239, 243–248, 252– – Absolutheit des Ich 7
255, 260–265, 276, 280, 296–297, 299–305, – autonomes Ich 4
309–310, 343–358, 365, 369, 386, 388, 392 – Dichter-Ich, schöpferisches 87, 122, 202
– Gotteserfahrungen 183 – einheitliches Ich 4
– Göttlichkeit 121 Fn. 48, 181 – Lyrisches Ich 4, 210, 216, 288, 293, 297–299
– Schöpfergott 181 – poetisches Ich 86, 107, 119, 161, 166
– Göttliche Schöpfung 177, 180–181, 296, 305, – Romantische(s) Ich 215, 271–282
384 – selbstbewußtes (-bewusstes) Ich 275
– Traum-Ich 277–278, 280
habit(uation), (ethical) 141, 364, 366, 370, – »I«-centred self-consciousness 360, 368
373 – je est un autre 9
Handlung, handeln, prattein, praxis 8, 10, 85, Identifikation 8, 53–54, 77–79, 189, 382
90, 94, 98–101, 113, 119, 124–125, 177–179, – Reidentifikation 8
193–196, 202, 205, 214, 218–219, 223, 226– Identität, identity, 2, 14, 33–34, 36, 39–40, 46,
236, 240, 248, 251–252, 255, 258, 262–263, 139–140, 149, 224, 231
271, 273, 287, 309, 313, 343–345, 349, 352, – ethnische I. 41
386 – personale I. VII–VIII, 152, 375–377
– Handlungs(un)fähigkeit VIII, 3, 17–18, 216, – poetische I. 113–125
229 – neuzeitliche I. VIII–IX
– Handlungsprinzipien 348–351 – narrative I. 61–63, 69, 77
Häßlichkeit (-ss-), bruttezza 191, 215, 288–290, – Konzepte 51–55, 58–60, 313–322, 327, 330,
353 332–333, 369
Hermeneutik, hermeneutisch 186, 245, 255 – puzzles 61
Fn. 59, 266, 272, 276, 315–322, 389 – imaginäre I. 11
– hermeneutisches Bewusstsein 215, 272 – identitätsstiftend 17
Herrschaft, Herrscher 1, 111, 116, 121, 164 – identical basis 314
Fn. 39, 168, 193, 195–196, 251, 253–254, 275, illuminismo 287
301–302, 311, 386, 388–391, 393 Illusion, illusionism 39, 41, 86, 110–116, 119–
– Herrschaftsanspruch 382, 388, 392 121, 179, 189, 192, 232, 287–288
– Herrschersubjekt 382 Desillusion 283, 298
– Herrschaftsverhältnis 11 Illusionsbildung 215, 286
Herstellungsprozesse 92 Imagination, imaginatio, immaginazione 13,
Heteronomie, heteronomy; Heterogenität 42, 46, 99, 215, 285–287, 292, 294, 301
189, 214, 230, 232, 235, 324, 382 Fn. 56, 322, 330–334
Hinkjambus 9 imago dei 243
410 Register
– Vernunftbegabung XII, 55, 164, 385–386, Rolle, role(s) 2, 11, 25–26, 29, 36, 38–40, 42, 62,
389, 393 66 Fn. 53, 70, 78 Fn. 92, 85, 90, 96–99, 139–
– rational animals 365–366 140, 143, 148, 150, 176, 178, 283, 292, 295, 301
– Rationalismuskritik 215, 286 Fn. 56, 322, 325–326, 344, 371–374
Realität 114, 116, 156, 162, 170, 179, 185, 221, – sexual role 39
263, 272, 274, 277, 397–398 – soziale Rolle, social role 73, 151, 230, 232,
– Realitätsflucht 156 235, 310, 323–324, 344, 371, 373
recognition 33–34, 36, 39, 44–45, 54, 133, 140– – theory of the four roles (personae) 78–79,
141, 150, 314, 316, 319–320, 324–329, 333–334, 139–140, 372–374
336–337, 350 Fn. 17, 367, 376 Romantik, romanticism (Epoche) 5 Fn. 9, 10
recusatio 1, 25, 27, 30, 157, 169 Fn. 33, 18, 78, 80 Fn. 100, 108–109, 117–118,
Referenz, Referent 7, 8, 10, 12 Fn. 38, 14, 24, 189, 215, 249, 259, 261, 266, 271–287, 294–
25, 30, 35, 38 Fn. 8, 40, 52, 62, 65 Fn. 48, 77, 295, 309, 321
81, 108, 135–136, 146, 160–162, 164–165, 215, – Romantisierung 284, 304 (s. auch romanti-
284, 287, 296–297, 372–374 sches Ich)
– Selbstreferenz 87, 111, 167–169, 201
Reflexion, reflexiv IX, 3–4, 13–18, 37, 67 Scham, Schamkultur, shame-culture 205, 217–
Fn. 54, 87, 92, 95, 107, 110, 115–116, 120, 124– 236
125, 175–177, 179, 181, 186, 214, 221–225, 231– Schein
236, 241, 247–249, 262, 283, 287, 296, 305, – S. und Sein 283, 287
316–319, 322, 336, 338, 344, 348, 351, 364, 368 – schöner S. 296, 300, 302, 304–305
– Autoreflexivität 4 Schicksal 195, 230, 239–240, 245, 252, 275, 280,
– poetologische Reflexion 287 299–301, 305
Regelkonformismus 89 Schönes, Schönheit 74, 288–289, 293, 300,
Relationship (im weitesten Sinne inter- 353–354
personal) (s. auch Beziehung) 16 Fn. 61, 26, – S. der Seelen 352
45 Fn. 23, 69, 140, 316, 323, 371, 376 – stilistische S. 140
Religion, religiös, religious, Religiosität XI, Schuld, Schuldkultur 198, 213–216, 239, 248–
14, 51, 55–56, 69–73, 80, 87, 121 Fn. 48, 143 249, 264
Fn. 28, 170, 180–182, 201, 207, 241, 248–249, – tragische Schuld 301
253–255, 263, 304, 323–324, 371, 390–391 – Schuldkultur 218, 233
remedium 23 – Schuldgefühl 225 Fn. 37
Renaissance (Epoche) 309, 316, 320, 326, 398 – Schuldbewusstsein 222, 247
representation, Repräsentation 6, 15–18, 34, – schuldlos 260
40, 42–46, 51 Fn. 5, 63, 135, 147, 149–152, – Schulderkenntnis 305
169, 244, 256, 279, 293, 320, 323–229, 368 Seele 175–176, 191, 224, 280, 344–345, 350, 352
Fn. 34 – Wahrheitsvermögen der S. 90
– Repräsentation von Macht 15, 254 – S. des Begabten 95
– literarische Repräsentation 55, 230 – verdammte S. 197
Reputation, Reputationsverlust 141, 218, 226, – S. der Verstorbenen 200
229, 233–234, 319 – Seelenteil 222–223, 349
Rhetoric, Rhetorik 4, 10, 24, 61, 79, 86, 132– – Seelengröße 289
133, 135, 139–140, 143 Fn. 29, 147, 166, 168, – S. und Leib 309–310
170, 182, 302, 375, 397–399 – als Selbst 345–347
– rhetoric of inability 86, 133 Sein 354, 385, 388–389, 391
Risiko, riskant 1, 14, 17–18, 37, 136, 214, – substantielles S. 96
Ritual, rituell, rite 43, 55–58, 70, 121 Fn. 48, – eigenes S. 279–280
240, 244, 248–255, 296 – Selbst-S. 247
Register 413
Selbst, Self, selfhood passim style and self 29, 58, 133, 136, 139–141, 144–145,
Selbstbewußtsein 4–5, 18, 107, 124, 210, 213– 147, 149, 152, 369
214, 217, 219, 221, 223–225, 228–229, 235– Subjekt, Subjektivität, subject, subjektiv(is-
236, 241, 247, 310, 382, 384, 393 tisch), subiectum, sub-jectum 17–18, 55, 85–
Selbstreflexion, Selbst-Reflexion, selbstrefle- 86, 228–229
xiv, self-reflection 3, 12 Fn. 43, 13, 124–125, – ontologisches S. 4, 313
180, 223–224, 247, 272, 280, 296 – kreatives S. 95, 104
sentimental 23, 25, 305 – poetisches S. 95, 104, 110, 116, 177, 183–184,
sentimentalische Dichtung 285, 287 245, 296–297, 325
Singular, singularity XII, 7, 245, 314–315, 336 – moralisches S. 250
Sinn 382 – erzählendes S.
– moralischer S. 191 – subjektive Individualität 251
– allegorischer S. 193, 202 – christliches S. 258–259
– sinnhaftig 195 – handlungsfähiges bzw. autonomes S. 109,
– sinnliche Wahrnehmung 49, 66, 175, 203, 189, 265, 311, 313–314
222, 259, 262, 287, 331, 335–336, 352 – Subjekt-Konzept(e) 4, 230, 240, 246–247,
– Sinneswandel 12 280, 311, 313–328, 382, 388–389, 391, 359–
– Sinnstiftung(ssysteme) 156, 189, 196, 202, 361
210 – erkennendes Subjekt 214, 368
– Gemeinsinn 133 Fn. 8, 331 – modernes Subjekt 5, 8, 12, 189, 211, 392–
somnium 86, 111–112, 116, 119, 122, 194, 215, 394
280 – inneres S. 34, 50
– Alptraum 208 – personales S. 315
Sophistik, sophistisch 170, 240, 322, 361 Fn. 6 Substanz, substance 54 Fn. 15, 313, 315, 322
sozial 15, 79, 139 Fn. 22–23, 140, 218, 343, 387
– s. determiniert 4 Teleologie, teleologisch 96, 103, 112, 132 Fn. 4,
– s. Reaktion 8 195–196, 200, 384–385
– s. Bedingungen 34, 46, 51, 59, 73, 230, 232, Testament, Altes und Neues 181, 217, 245–247,
235, 245–246, 249, 258, 336, 344, 365–366, 258
370–373, 377 Theater 2, 33–34, 37–41, 46, 251, 263
– s. Realität 156, 336 – T. und Person 78–79, 139
– s. Interaktion 39 – T. und Scham 220, 234
– s. Ordnung 55–56, 74 – Jesuiten-T. 249
– s. Funktion 66 Fn. 53 – meta-theatricality 44
– s. Wirklichkeit 150–151 therapy, therapeutic 134, 156, 310, 360–361,
Spiegel, Spiegelbild 40, 123, 191, 273–280, 284, 363–366, 372–377
293, 304, 355 Totalität 211, 293
– Spiegelmodell 250, 348, 350 Tragödie, Tragisches 39, 44, 49, 59, 74 Fn. 82,
– S. der Gefühlswelt 8 95, 101, 216, 250–251, 255, 258, 260, 262, 283
– Zerrspiegel 389 Fn. 2, 301
– in der Autobiographie 110 – tragisches Subjekt 247
Sprache, Sprachlichkeit, language 11 Fn. 35, 15, Transzendenz(gedanke) 87, 190, 196, 202, 210,
29, 38, 58, 60, 70–71, 71 Fn. 74, 75–76, 80– 296, 302, 317, 350, 382, 389
81, 110, 140–141, 159, 161, 185–186, 189, 241, Traum, s. somnium
287 Tugend s. virtus
Sprecher 10, 12, 18, 64, 78, 145, 176, 284–285,
296–297, 304–305 unconscious 150, 322, 331–332
Staat 251, 253–254, 257, 264, 386–387 unity 54, 57–58, 61, 327–334, 365, 368
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