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Untersuchungen zum
Wahrheitsbegriff der
Hermeneutik Gadamers
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In Auseinandersetzung mit dem Werk Gadamers rekonstruiert
Teichert die Geschichte der Hermeneutik, skizziert die wesentli-
chen Wandlungen dieser Disziplin und erörtert ihre zentralen Pro-
bleme. Aus der Darstellung der unterschiedlichen Formen der
Hermeneutik und der entscheidenden Wendepunkte ihrer Ge-
schichte wird deutlich, daß sie seit Heidegger zunehmend durch
einen Prozeß der Ontologisierung geprägt ist. Sie wendet sich vom
methodengestützten Interpretieren ab und begreift Verstehen als
ein unverfügbares Geschehen. Eine kritische Analyse der Grund-
begriffe der hermeneutischen Philosophie Gadamers und ihrer
Texttheorie zeigt, daß die gegenwärtige Hermeneutik entgegen ih-
res eigenen Selbstverständnisses weiterhin interpretationstheo-
retische und epistemologische Fragen stellen und beantworten
muß. Elementare Bausteine der hermeneutischen Theorie sind
das Spielmodell ästhetischer Erfahrung, der Begriff des herme-
neutischen Zirkels, das Konzept derWirkungsgeschichte, die Me-
tapher vom Horizont des Verstehens sowie die Logik von Frage
und Antwort. Auf der Basis einer Darstellung dieser hermeneu-
tischen Grundbegriffe wird der Wahrheitsbegriff der philosophi-
schen Hermeneutik expliziert. Er steht in kritischer Distanz zu
szientistisch verengten Konzepten der Geisteswissenschaften, er
revidiert aber eine im Zug der Ontologisierung der Hermeneutik
aufgekommene Wissenschaftsskepsis und akzentuiert die Be-
deutung methodengestützter Leistungen geisteswissenschaftli-
cher Interpretationsarbeit.
ISBN 3-476-00744-8
Erfahrung, Erinnerung; Erkenntnis
DIETER TEICHERT
Dieter Teichert:
Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis: Untersuchungen
zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Gadamers /
Dieter Teichert. - Stuttgart: Metzler, 1991
Zugl.: Konstanz, Univ., Diss., 1990 u.d.T.: Teichert, Dieter:
Ästhetik, Hermeneutik, Literaturwissenschaft
ISBN 3-476-00744-8
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
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Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Ver-
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Vorwort ..................................................................................IX
Einleitung ..............................................................................XI
Anmerkungen......................................................................................... 171
Literaturverzeichnis ...............................................................................200
Namenregister I Sachregister ................................................................208
Die Darlegung wird dann befriedigen, wenn sie
jenen Klarheitsgrad erreicht, den der gegebene
Stoff gestattet. Der Exaktheitsanspruch darf näm-
lich nicht bei allen wissenschaftlichen Problemen
in gleicher Weise erhoben werden, genausowenig
wie bei handwerklich-künstlerischer Produktion.
Aristoteles
vorstellungen an und lenkt den Blick auf eine Eigenständigkeit der Wer-
ke, die gleichwohl von den Aporien der Kunstautonomie frei ist (1.2.2.).
Das Spielmodell wird durch Überlegungen zum Begriff des Tragi-
schen konkretisiert. Hierbei versuche ich anhand eines Beispiels, der
Ödipus-Tragödie des Sophokles, zu klären, was Gadamers Rede von der
Wahrheit der Kunst auf einen einzelnen Fall bezogen besagt (1.2.3.).
Die Konsequenzen des am Beispiel des tragischen Schauspiels erläu-
terten Kunstbegriffs für andere Kunstgattungen werden anband von
Gadamers Überlegungen zur Porträtmalerei aufgezeigt (1.2.4.).
Der zweite Teil greift nach dem Durchgang durch die kunstphilos0-
phischen Partien von WM die Problematik der Hermeneutik und der
Theorie der Geisteswissenschaften auf. Am Anfang steht eine knappe
Charakterisierung der älteren Hermeneutik, die einige grundlegende
Unterscheidungen einführt und die historische Entwicklung skizziert, in
deren Verlauf sich die Hermeneutik von der Praxis des Interpretierens
und der Sammlung von Interpretationsregeln für bestimmte Textsorten zu
einer allgemeinen Auslegungstheorie verwandelt und in unmittelbare
Nähe zur Erkenntnistheorie und Theorie der Geisteswissenschaften rückt
(11.1.1.).
An diesen ersten Überblick schließt sich eine kritische Erörterung der
Gadamerschen These von der Psychologisierung der Hermeneutik durch
Schleiermacher an. Über die einschneidende Bedeutung der Arbeit
Schleiermachers in der Entwicklung der Hermeneutik herrscht ein breiter
Konsens. Für Gadamer ist die Öffnung der Hermeneutik zu einer allge-
meinen, wissenschaftlichen Theorie des Verstehens allerdings proble-
matisch, weil Schleiermacher angeblich die Position des Subjekts zu
stark betont.
Offensichtlich konstruiert Gadamer seine hermeneutikgeschichtlichen
Darstellungen parallel zu seine~ ästhetikgeschichtlichen Ausführungen:
während Kant für eine fragwürdige Subjektivierung der Kunst steht, wird
Schleiermacher für eine ebenso fragwürdige Subjektivierung der Herme-
neutik verantwortlich gemacht. Diese Konstruktion hat zwar den Vorteil
der Einfachheit, sie bildet gewissermaßen den roten Faden in WM, der
Kunstphilosophie und Hermeneutik verknüpft. Sie erweist sich aber bei
näherer Untersuchung als unhaltbar (11.1.2.).
Im folgenden Abschnitt wird auf die Bedeutung der sich formierenden
Geisteswissenschaften hingewiesen und die Funktion der Hermeneutik in
diesen Disziplinen beschrieben (11.1.3.), wobei am Beispiel Droysens die
Verwissenschaftlichung und Hermeneutisierung der Historie dargestellt
wird (11.1.3.1.).
Einleitung xv
Die zunehmende Bedeutung einer scheJllatischen Gegenüberstellung
von Natur-und Geisteswissenschaften ist kennzeichnend für die wissen-
schaftsgeschichtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert. Zwei erkenntnis-
theoretische Ansätze, die einflußreiche Vorschläge formulierten, werden
behandelt, um Aufschluß darüber zu gewinnen, inwieweit die damaligen
erkenntnistheoretischen Klärungsversuche in der Lage sind, Aufgaben-
steIlung und Verfahren der Geisteswissenschaften auf befriedigende Wei-
se zu formulieren (TI. 1.3.2).
Für eine Verständigung über Zielsetzungen und Methoden der Her-
meneutik und der Geisteswissenschaften stellen die von Dilthey for-
mulierten Konzeptionen des Verstehens einen wichtigen Bezugspunkt
dar. Aus diesem Grund werden zentrale Aspekte der umfangreichen und
vielschichtigen Arbeit Diltheys vergegenwärtigt. Auf der Grundlage die-
ses kurzen Überblicks wird die in WM formulierte Kritik diskutiert, die
Dilthey eine Verstrickung in die Aporien des Historismus zuschreibt.
Anders als dies Gadamers Selbsteinschätzung entspricht, wird eine be-
merkenswerte Übereinstimmung hinsichtlich der Einschätzung der Gei-
steswissenschaften bei Dilthey und Gadamer deutlich (TI.l.3.3.).
Eine Explikation des »existenzialen« Verstehensbegriffs Heideggers
bildet den Schlußpunkt des Überblicks über die Geschichte hermeneuti-
scher und geisteswissenschaftlicher Theoriebildung. Heidegger sprengt
die Enge eines auf die Problematik der Wissenschaften bezogenen Ver-
stehensbegriffs auf und legt die Ebene frei, auf der jedes Verstehen auf-
ruht. Die Hermeneutik wird nicht mehr als eine Praxis oder Theorie der
Textinterpretation gekennzeichnet, sie steht auch nicht vor der Aufgabe,
als Theorie des Verstehens eine Grundlegung der Geisteswissenschaften
zu leisten, sondern sie wird zu der Dimension einer »Existenzial-
ontologie«, in der das Sein des Daseins als verstehendes charakterisiert
wird (ll.1.3.4.).
Die hermeneutik- und ästhetikgeschichtlichen Passagen von WM
beschreiben zwei Gefahren, die das Verstehen überlieferter Texte und
Kunstwerke bedrohen: Einerseits wird das Verstehen in der jüngeren
Hermeneutik auf unzureichende Weise nach dem Schema einer Technik
oder Wissenschaft gedacht, die bestimmte Instrumente und Methoden
zum Einsatz bringt. Dieser Tendenz einer Verwissenschaftlichung soll
ein sich auf Heidegger berufender Verstehensbegriff gegensteuern.
Andererseits wird im Rahmen eines ästhetischen Subjektivismus und
einer Abgrenzung der Künste von der Lebenspraxis der Bedeutungsge-
halt der Kunstwerke und Texte zumindest partiell aufgelöst.
Gadamers eigener Entwurf einer philosophischen Hermeneutik ver-
XVI Einleitung
Gegenteil, die Moderne ist weitgehend durcJl eine selektive und reflexive
Aneignung der Überlieferung charakterisiert. Gadamer weist aber darauf
hin, daß eine schrankenlose Diskontinuität nicht denkbar ist, daß ein
Bruch mit der Vergangenheit stets ein partieller Bruch ist und daß auch
in nicht-traditionalen Zivilisationen die Überlieferung eine wertvolle
Quelle für die Orientierung in der Gegenwart ist (II.2.4.).
Die Betonung einer grundlegenden Traditionsbestimmtheit auch der
modernen Lebensformen ist der Anlaß, eine gegenwärtig oft diskutierte
Auffassung zu prüfen, die die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der
Vergegenwärtigung verlorener Traditionsbestände sieht. Die sogenannte
Kompensationstheorie schreibt den Geisteswissenschaften allerdings
nicht die Leistung zu, Traditionselemente in gegenwärtige Praxis zu inte-
grieren. Stattdessen befriedigen diese Wissenschaften eher ein Bedürfnis
nach musealer Aufbereitung abgestoßener Zivilisationselemente (II.2.5.).'
Daß Gadamer kein Plädoyer für eine verstärkte Pflege von Traditio-
nen im Sinn eines politischen Konservatismus formuliert, wird im Zu-
sammenhang mit der Explikation seines Begriffs der Wirkungsgeschichte
deutlich.
Gadamers Begriff der Wirkungs geschichte hat nichts zu tun mit der
gleichnamigen Hilfsdisziplin, die Wirkungen und Rezeptionen bestimm-
ter Werke erforscht und dokumentiert. Gadamer verfolgt nicht das Inter-
esse, eine bestimm~e - nämlich bewahrende - Form des Bezugs von Ver-
gangenheit und Gegenwart hervorzuheben, sondern eine allgemeingültige
Art der Einwirkung der Vergangenheit auf gegenwärtige Praxis zu be-
schreiben.
Das Prinzip der Wirkungs geschichte bildet den Kern der Gadamer-
sehen Hermeneutik. Es besagt, daß gegenwärtige Zustände auf eine von
der Reflexion nicht voll auszuschöpfende Weise durch die Tradition
geprägt sind. Die Idee der Wirkungs geschichte läßt die Gegenwart als
Produkt der Vergangenheit erscheinen, gleichviel ob die Agierenden die-
se Gegenwart als organische Fortführung vergangener Zustände begrei-
fen oder als radikalen Bruch und Neuanfang feiern (II.2.6.).
Die Implikationen des Begriffs der Wirkungs geschichte für ein ange-
messenes Verständnis der Aneignung einzelner Elemente der Über-
lieferung und für deren Verständnis werden durch die Horizontmetapho-
rik der Hermeneutik umschrieben. Durch die Unterscheidung eines
Gegenwartshorizonts, der das Wissen des Interpreten abdeckt, und eines
Vergangenheitshorizonts, der das im Interpretandum niedergelegte Wis-
sen umfaßt, wird es möglich, den Interpretationsprozeß als eine Ver-
schmelzung beider Horizonte zu bestimmen. Eine Voraussetzung der in
XYlIT Einleitung
Für Gadamer ist die Koexistenz von Wahrheit und Methode, von Er-
kenntnis und Wissenschaft eine fragwürdige Angelegenheit. Einige Leser
haben den Titel von Gadamers Buch verändert: »Wahrheit oder Metho-
de?«6, »Wahrheit ohne Methode«1 sind Formulierungen, die eine angeb-
lich methodenkritische oder methodenfeindliche Tendenz Gadamers zum
Gegenstand kritischer Überlegungen machen. Tatsächlich setzen Gada-
mers Ausführungen damit an, die angebliche Abhängigkeit der Geistes-
von den Naturwissenschaften und die vielfältigen Bemühungen um eine
Methodologie der Geisteswissenschaften zu kritisieren und deren Selbst-
verständnis durch eine Erinnerung an »humanistische Leitbegriffe« zu
korrigieren.
Um eine Korrektur handelt es sich nach Gadamer insofern, als eine
seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Auffassung der Kunst und ein
Modell der Geisteswissenschaften als )objektiver<, methodisch diszipli-
nierter Erforschung eines Sachgebiets mit den Konzepten »Bildung«,
»Gemeinsinn«, »Urteilskraft« und »Geschmack« konfrontiert werden.
ren und ihren Produkten leisten, mit Hilfe h,umanistischer Gedanken eine
überzeugende Alternative zu formulieren.
Als ersten »humanistischen Leitbegriff« hebt Gadamer den des »sen-
sus communis« hervor. Er verweist dabei zunächst auf G. Vico (1668-
1744).Jl Den Grundgedanken der von Gadamer in diesem Zusammen-
hangherangezogenen Abhandlung »De nostri temporis studiorum ratio-
ne«12 kann man knapp zusammenfassen: Leistungen und Ergebnisse
wissenschaftlicher Forschung sind unbestritten. Das >neue< Denken soll
aber keinen Monopolanspruch erheben. Wenn die Studien ausschließlich
die wissenschaftliche Methode im Sinn des Cartesianismus vermitteln
und deren Anwendung in eng begrenzten Bereichen lehren würden,
bestünde die Gefahr, daß die Ausgebildeten in der Lebenswirklichkeit
orientierungslos wären. Sie wären zwar in der Lage, theoretisches Wissen
zu gewinnen und wissenschaftliche Probleme zu bearbeiten, könnten aber
in verschiedenen Handlungszusammenhängen nicht - oder nicht rasch
genug - erkennen, worauf es ankomme und was zu tun sei.
Den Begriff des »sensus communis«, um den es Gadamer zu tun ist,
gebraucht Vico als Bezeichnung für die Klasse unreflektierter Urteile,
Ansichten und Meinungen bestimmter Bevölkerungsgruppen oder aller
Menschen. 13 Andererseits bezeichnet er mit diesem Ausdruck die Fähig-
keit, die Überzeugungen und Ansichten von Menschen richtig einzu-
schätzen und zu beeinflussen. 14 Der »sensus communis« und nicht der
Verstand ermöglicht es, erfolgreich zu handeln. Deshalb sollen die Diszi-
plinen, die ihn kultivieren, d.h. Rhetorik und Topik nicht vernachlässigt
werden.
Gadamer nobilitiert in seiner Interpretation der Gedanken Vicos den
»sensus communis«, indem er seinen pragmatischen, erfolgsorientierten
Charakter zurückstellt. So wird die praktische Klugheit zu der Fähigkeit,
das für die Allgemeinheit Zuträgliche und das Rechte zu erkennen:
»Für Vico (... ) ist der sensus communis ein Sinn für das Rechte und
das gemeine Wohl, der in allen Menschen It!bt, ja mehr noch ein Sinn,
der durch die Gemeinsamkeit des Lebens erworben, durch seine Ordnun-
gen und Zwecke bestimmt wird.«15
Für Gadamer ist von besonderem Interesse, daß die Disziplinen, die
sich der Ausbildung des »sensus communis« widmen, in Bedrängnis gera-
ten. Vor allem die Bedeutung der Rhetorik scheint durch die aufkommen-
de neuzeitliche Wissenschaftsauffassung zunehmend geringer zu werden.
Gadamers Ausführungen schildern eindeutige Verhältnisse: Die Krise
der Rhetorik wird durch den verstärkt in den Vordergrund tretenden
Begriff des methodisch zu gewinnenden Wissens ausgelöst. Mathematik
4 Kunst und Wahrheit
läßt erkennen, daß der Begriff des Geschmacks ursprünglich eher ein
moralischer als ein ästhetischer Begriff ist.«23
Gadamer verweist an dieser Stelle auf die antike, griechische Ethik, in
der die Fähigkeit, das Gute zu tun, mit.einer dem Geschmack verwandten
Fähigkeit des Treffens des Richtigen dargestellt wird. Zudem hebt Gada-
mer die Bedeutung des Geschmacks bei B. Gracian hervor, der den Ge-
schmack in umfassender Weise als Beurteilungsvermögen in Hinblick
auf Handlungen begreift: Der Geschmack ermöglicht die Unterscheidung
zwischen dem Tunlichen und nicht angemessenen Verhalten.
Die drei behandelten Begriffe - sensus communis, Urteilskraft, Ge-
schmack - machen eine parallele Entwicklung der Bedeutungsverengung
und Spezialisierung durch, die gleichzeitig zu einem Verlust ihrer
Erkenntnisrelevanz führt. Nach Gadamers Auffassung ist nicht allein der
Umstand von Bedeutung, daß die genannten Begriffe vorwiegend in
ästhetischen Zusammenhängen ihren neuen Ort haben und ihrer politi-
schen oder ethischen Bedeutung verlustig gehen, es ist vielmehr der
Sachverhalt, daß ihnen als ästhetischen Begriffen keine wesentliche Er-
kenntnisfunktion mehr zugebilligt wird, auf den es hier ankomme.
Der Täter heißt Kant. Seine »Kritik der Urteilskraft« entzieht, so
Gadamers These, dem Geschmacksbegriff, dem Bereich des Ästhetischen
und der Künste ethisch-praktische Bedeutsamkeit. Dies hat schwerwie-
gende Folgen für die im 19. Jahrhundert entstehenden Geisteswissen-
schaften. Doch bevor diese Konsequenzen analysiert werden können,
gilt es, die »Subjektivierung der Ästhetik« durch Kant und die Verwis-
senschaftlichung des Erkenntnisbegriffs zu verfolgen und damit die Vor-
aussetzungen zu schaffen, um Gadamers Versuch einer Rehabilitierung
der erkenntnis stiftenden Funktion der Künste beurteilen zu können.
nis zueinander stehen, empfindet das Subjekt ein Lustgefühl. Das Prädi-
kat »schön« sagt somit nichts über die Beschaffenheit von Gegenständen,
sondern es bezieht sich auf den Zustand der betrachtenden Subjekte.
In Hinblick auf Gadamers Interpretation ist es von besonderer Bedeu-
tung, daß Kant außerordentliches Gewicht auf die Allgemeingültigkeit
des Geschmacksurteils legt. Der Gebrauch des Prädikats »schön« wird
ausdrücklich abgehoben von der Verwendung der Ausdrücke »ange-
nehm« oder »reizend«. Letztere können eine bloß private, eventuell idio-
synkratische Vorliebe zum Ausdruck bringen. Derjenige, der ein Ge-
schmacksurteil fällt, sagt nicht nur, daß ihm der Gegenstand gefällt, er
fordert darüberhinaus die Zustimmung der anderen.
Gadamers Kritik setzt nun gerade bei der Subjektivierung des
Geschmacksurteils an. Er behauptet, daß Kant dem Geschmack ))jede
Erkenntnisbedeutung abspricht«26, wenn er ihn nicht mehr als Beurtei-
lungsvermögen der Beschaffenheit von Gegenständen bestimmt.
Gadamer scheint die Ansicht zu vertreten, Kant habe in seinen Erörte-
rungen dem Bereich der Ästhetik jede Erkenntnisrelevanz abgesprochen.
Dabei hat er insofern mit seiner Behauptung recht, als Kants Analytik des
Geschmacksurteils, wie gerade gezeigt wurde, ausdrücklich darlegt, daß
im Geschmacksurteil keine Aussage über die objektive Beschaffenheit
von Gegenständen gemacht wird. Die Frage ist allerdings, ob damit - mit
der Aufgabe einer auf Eigenschaften von Objekten bezogenen Erkennt-
nis - der Bereich der ästhetischen Urteilskraft jede Erkenntnisrelevanz
einbüßt.
Entgegen der Darstellung Gadamers läßt sich zeigen, daß die Zurück-
weisung eines objektiven Erkenntnisanspruchs keineswegs bedeutet, daß
dem Bereich der ästhetischen Urteilskraft jegliche Erkenntnisbedeutung
abgesprochen würde.
Das Geschmacksurteil erkennt die Zweckmäßigkeit eines Gegen-
stands für die Erkenntnisvermögen des Subjekts, es sagt also etwas über
das Verhältnis des Subjekts zu seiner Welt bzw. zu dem in ästhetischer
Einstellung wahrgenommenen Weltausschnitt und gibt dieses Weltver-
hältnis für andere zu erkennen. Indem das Subjekt Wahrgenommenes
nicht nur auf seinen Informationswert hin beurteilt, sondern fahig ist, sich
ästhetisch - unmittelbar praktische Interessen suspendierend - zu verhal-
ten, entdeckt es eine Perspektive, die absieht von unmittelbaren, prakti-
schen Bedürfnissen und fmdet eine Möglichkeit zwangloser Übereinstim-
mung mit den übrigen Gesellschaftsmitgliedern.
Gadamers Einschätzung der Subjektivierung der Ästhetik durch Kant
scheint mir problematisch zu sein. Selbstverständlich kann man von einer
Erkenntnis, Ästhetik, Kunst 11
Entscheidend ist nun die Frage, welche Bedeutung Kant den ästheti-
schen Ideen gibt und ob sein Vorschlag überzeugend ist.
Wichtig scheint der Umstand zu sein, daß im Fall der ästhetischen
Idee eine komplexe Fülle von Vorstellungen gegeben ist. Komplexe Vor-
stellungen sind solche, deren Einzelelemente nicht vollständig angegeben
werden können: beispielsweise die visuelle Vorstellung eines fließenden
'Bachs im Gegensatz zu der deutlichen (distinkten) Vorstellung eines
Dreiecks.
Der Vorstellungskomplex, der eine ästhetische Idee konstituiert, kann
nicht ohne Rest unter einen Begriff subsumiert werden. Dennoch steht
das Anschauungsmaterial in einer Beziehung zu Begriffen. Es handelt
sich nicht um ein völlig inkohärentes, chaotisches Sammelsurium von
nicht benennbaren Vorstellungen. Nur aufgrund der möglichen Verbin-
dung der verschiedenartigen Bilder und Vorstellungen zu Begriffen ent-
falten die ästhetischen Ideen ihr eigentümliches Erkenntnispotential. In-
dem in der ästhetischen Idee ein Begriff, beispielsweise der der Gerech-
tigkeit, mit einer prägnanten und reichhaltigen Klasse von Teilvorstel-
lungen verbunden wird, kann der Begriff selbst »auf unbegrenzte Art«
erweitert werden. Die Einbildungskraft bringt damit »das Vermögen der
intellektuellen Ideen (die Vernunft) in Bewegung (00.)«36
Wenn Kant explizit von der Einbildungskraft als produktivem Er-
kenntnisvermögen spricht und diese Produktivität von rigiden Bindungen
an den Verstand befreit, so ist dies nicht eine plötzliche irrationale An-
wandlung, sondern der gelungene Versuch, eine erkenntnisvermittelnde
Leistung von Kunstwerken auf den Begriff zu bringen. Der kognitive
Effekt gezielten metaphorischen Sprechens beispielsweise besteht darin,
daß bestimmte Aspekte von Gegenständen treffend und evozierend ver-
gegenwärtigt werden können. Kant stellt auch fest, daß Vernunftideen
durch Verknüpfung mit Bildern zwar nicht an begrifflicher Deutlichkeit
aber an Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit gewinnen. Der § 49 der KU
macht klar, daß Bedeutungsfülle und Vieldeutigkeit essentielle Merkmale
von Kunstwerken sind, die keineswegs als Makel undeutlichen Aus-
drucks abgetan werden können.
Gadamer sieht nun im Konzept der ästhetischen Ideen einen Primat
des begrifflichen Denkens enthalten, den er vorwiegend aus Kants Bei-
spielen herausliest3?, und übergeht daraufhin Kants Hinweis auf ästheti-
sche Erkenntnis.
Dies ist äußerst erstaunlich, da doch Kants Hinweis auf eine nicht
restlos in Begriffen zu reformulierende Bedeutungsfülle der Kunstwerke
einen willkommenen Ansatzpunkt für den Versuch der Entfaltung eines
Erkenntnis, Ästhetik, Kunst 17
Bei Kant wird die ästhetische Einstellung deutlich von anderen Verhal-
tensweisen unterschieden. Dennoch spricht Gadamer in Hinblick auf
Kant noch nicht von der Ausbildung eines ästhetischen Bewußtseins und
einer völlig autonomen Kunst. Das hängt mit der Rolle des Geschmacks
in der KU zusammen, der als Urteilsvermögen in vielfältigen und ganz
alltäglichen Situationen seine Funktion ausübt. So ist es die gerade bei
Kant berücksichtigte Nachbarschaft der ästhetischen Einstellung und
lebenspraktischer Gesichtspunkte, die eine Rede von einem ästhetischen
Bewußtsein noch nicht als angebracht erscheinen läßt. Als Beispiel für
die mögliche Mischform von Urteilen kann die Wertschätzung von
Gebrauchsgegenständen dienen: ich sage, daß ich einen Pullover gern
mag, weil er zweckmäßig wärmend ist (praktisches Interesse) und weil
mir Farbe und Muster gefallen (positives Geschmacksurteil).43 Von Kant
her gesehen ist der Sachverhalt, daß das positive Geschmacksurteil
Erkenntnis, Ästhetik, Kunst 21
gang ist aber dadurch möglich, daß der einzelne die Abstandnahme von
eigennützigen Interessen in der ästhetischen Einstellung als lustvoll
erlebt. Schiller akzentuiert das Moment der Interesselosigkeit des ästheti-
schen Wohlgefallens: die ästhetische Einstellung ist eine Einübung in
eine nicht von egozentrischen Interessen bestimmte Haltung. Wenn das
politische Problem der Einrichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung
überhaupt lösbar ist, dann, so der utopische Entwurf Schillers, dank der
Emanzipation der einzelnen durch ästhetische Erziehung.
Diese idealistische Vorstellung stellt eine wohl allzu schöne Alternati-
ve zu Kants nüchterner geschichtsphilosophischer Hypothese von der
Annäherung an eine gerechte Gesellschaftsordnung dank eines das
menschliche Zusammenleben prägenden Antagonismus' dar47, sie ist aber
nur die eine Hälfte der in den Briefen zur Darstellung kommenden
Kunstauffassung.
Innerhalb der Briefsammlung findet eine Akzentverschiebung statt,
die die politische Funktion der ästhetischen Erfahrung abschwächt und
die Konzeption einer autonomen Kunst entwickelt. Durch die Hervorhe-
bung der Unabhängigkeit und Eigengesetzlichkeit der Kunst wird aber
ihre Verbindung zu anderen Kulturbereichen problematisch. Die Aus-
grenzung der Kunst vollzieht Schiller zunächst mit Hilfe der Kategorien
Spiel, Schein, Schönheit. Der Gegensatz zur Lebenswirklichkeit und
nicht die Funktion der Künste für und in der Praxis rücken in den Vorder-
grund.
Gadamer konzentriert sich auf diesen zweiten Aspekt der Schiller-
schen Abhandlung: die Autonomiethese begründe den »Standpunkt der
Kunst«, wer ihn einnehme, interessiere sich ausschließlich für ein Objekt
als Kunstwerk und klammere ethische, religiöse, ökonomische u.a.
Gesichtspunkte aus:
»Die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins vollbringt insofern
eine für es selbst positive Leistung. Sie läßt sehen und für sich sein,was
das reine Kunstwerk ist. Ich nenne diese seine Leistung die >ästhetische
Unterscheidung< ( ... )«48
»Ästhetisches Bewußtsein«, »ästhetische Unterscheidung« und »Au-
tonomie der Kunst« sind nun nicht nur Begriffe, die sich auf die Kunst-
theorie Schillers und seiner Nachfolger beziehen, sie bilden auch eine
historische Entwicklung ab. Gadamers Ausführungen sind hier äußerst
knapp gehalten, aber er verweist zumindest auf einen Sachverhalt, der als
Ausdifferenzierung eines Teilbereichs »Kunst« bezeichnet werden kann:
seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entstehen verschiedene Institutionen,
die einen neuen Umgang mit Kunstwerken ermöglichen.
Erkenntnis, Ästhetik, Kunst 23
betont die Mängel einer Haltung, in der der. Rezipient seine eigenen Maß-
stäbe außer Kraft setzt und sich in die Welt des Kunstwerks einfühlt,
anstatt die Bedeutung des Werks für sein eigenes Weltverständnis zu
erkennen. Das episodenhafte Leben in der Welt großer Werke verzichtet
auf ein angemessenes Verstehen und verfehlt in der scheinbaren Unmit-
telbarkeit des Kunstgenusses die wesentlichen Möglichkeiten der Kunst.
Seine Kritik an der als Erlebnisästhetik bezeichneten Auffassung
stützt Gadamer auf einen Exkurs zur Wort- und Begriffsgeschichte von
»Erlebnis«.61 Er zieht eine Verbindungslinie von der Kantischen Subjekti-
vierung der Ästhetik zu einem nachkantischen Geniebegriff, vor dessen
Hintergrund die Produktion eines Kunstwerks durch Erlebnisse des
Künstlers bestimmt erscheint, und zu erlebnis ästhetischen Vorstellungen
von der Rezeption als Erleben, als Nachvollzug der Erfahrungen des
Autors und Einfühlung in das Werk.
Hier wird deutlich, daß Gadamers Kant-Kritik durch die Einseitigkei-
ten und Schwächen späterer Positionen, die Kantische Überlegungen
weiterentwickeln und verändern, motiviert ist. So berechtigt die Lektüre
Kants mit Blick auf die Folgen auch sein mag, so bleiben Zweifel daran
bestehen, ob eine philosophische Theorie deshalb kritisiert werden muß,
weil sie durch Nachfolger in fragwürdiger Weise transformiert wurde. Es
scheint mir wichtig zu sein, gegen die Tendenz von Gadamers Darstel-
lung nochmals zu betonen, daß der Subjektivismus der KU von den sub-
jektzentrierten Ästhetiken des 19. Jahrhunderts abzuheben ist.
Gadamer möchte die Grenzen der Erlebnisästhetik aufzeigen. Im
Grunde genügt es, ein einziges Beispiel anzuführen, das nicht als Aus-
druck von Erlebnissen des Künstlers verstanden werden kann, um die
Begrenztheit dieses Ansatzes zu belegen. Aber Gadamer schlägt einen
anderen Weg ein. Er stellt die Behauptung auf, daß der Symbolbegriff
wie ihn J.W. Goethe in seinen Reflexionen formuliert hat, an die Erleb-
nisästhetik gekoppelt sei. 62 Gegen diese Allianz von Erlebnis und Symbol
führt Gadamer die Allegorie ins Feld, deren Bedeutung rehabilitiert wer-
den soll. Gadamer will also zeigen, daß die Allegorie nicht in den Be-
zugsrahmen der Erlebnisästhetik integriert werden kann und daß sie darü-
berhinaus eine wichtige Form künstlerischer Darstellung ist. Auf
diesem Weg sollen die Grenzen der Erlebnisästhetik dokumentiert wer-
den.
Die These von der Begrenztheit der Erlebnisästhetik ist nicht nur in
Hinblick auf populäre Vorstellungen über die Künste, sondern auch
bezüglich der großen Bedeutung, die diese Auffassung in den Literatur-
wissenschaften besaß, von Interesse. 63
26 Kunst und Wahrheit
gegebenen Beispiele ist es sicher auch keine glückliche Lösung, die Per-
sonifikation weiblicher Schönheit als »symbolische Allegorie« von der
»allegorischen Allegorie« der Gerechtigkeit abzusetzen. 74 Am plausibel-
sten scheint die Auffassung, daß die Allegorie und das Symbol unter-
schiedliche Möglichkeiten der Bedeutungszuordnung zu Zeichen oder
Zeichenkonfigurationen benennen: im Fall der Allegorie ist die Bedeu-
tung meist auf Grund eines bestimmten Codes festgelegt, das Symbol
hingegen verbirgt s.eine Zeichenhaftigkeit, intendiert eine unvermittelte
Präsenz der Bedeutung.15
Selbst wenn man, wie Gadamer, die Untersuchung auf einen relativ
eng begrenzten Zeitraum (»das Jahrhundert Goethes«76) einschränkt, blei-
ben die Verhältnisse verworren genug. Die Schwäche von Gadamers
Ausführungen besteht darin, daß er ausschließlich auf der Ebene der Poe-
tik, Kunsttheorie und Philosophie arbeitet, ohne die künstlerische Pro-
duktion selbst zu beachten. Dies wäre unproblematisch, wenn die theore-
tischen Diskurse die künstlerische Praxis lückenlos abdecken würden.
Davon kann man aber nicht ausgehen, da sie häufig in Widerspruch zu
den Werken der Künstler stehen.
Gadamer präpariert den Gegensatz von Allegorie und Symbol als
Spezifikum der Weimarer Klassik heraus. Er unterläßt es aber, zwischen
verschiedenen Formen der Allegorie und des Symbols in bildender Kunst
und Literatur zu unterscheiden und spricht vom Symbol als Einheit von
Bild und Bedeutung. 77 Sein Symbolbegriff bleibt damit trotz der um-
fangreichen begriffsgeschichtlichen Recherchen vage und lebt allein von
dem Kontrast zur Allegorie. Dieses Ergebnis ist unbefriedigend, zumal
die Dichotomie von Allegorie und Symbol- wie Gadamer selbst konsta-
tiert - durch einen uneinheitlichen Sprachgebrauch ständig unterlaufen
wird. Darüber hinaus machen verschiedene Zeitgenossen Goethes von
allegorischen Verfahren Gebrauch (Jean Paul, C.Brentano), und schließ-
lich wird Gadamers These von der Unvereinbarkeit der Allegorie und des
Symbols in der Weimarer Klassik durch die Tatsache erschüttert, daß
Goethe selbst allegorische Verfahren massiv einsetzt und zwar nicht in
peripheren Produkten, sondern im zweiten Teil des Faust,78 In einem
Gespräch sagt Goethe beispielsweise über eine Figur des zweiten Teils
des Faust-Dramas:
»Der Euphorion (... ) ist kein menschliches, sondern nur ein allegori-
sches Wesen. Es ist in ihm die Poesie personifiziert, die an keine Zeit, an
keinen Ort und an keine Person gebunden ist.«79
Daß solche allegorischen Darstellungen einen erheblichen Aufwand
an Entschlüsselungsarbeit vom Rezipienten verlangen, war Goethe
30 Kunst und Wahrheit
durchaus klar: »Ja (... ) die Philologen werden daran zu tun fmden.«80
Von einer Unvereinbarkeit des Symbols und der Allegorie kann zwar
hinsichtlich wesentlicher Stücke der Kunsttheorie der Weimarer Klassi-
ker mit guten Gründen gesprochen werden, die künstlerische Praxis hält
sich jedoch nicht an solche theoretischen Bestimmungen.
Die Überlegungen zum Begriff der Allegorie und des Symbols haben
weit weg von der Frage nach der Kritikwürdigkeit erlebnisästhetischer
Vorstellungen geführt. Dieser Umweg mußte eingeschlagen werden, um
die Schlüssigkeit von Gadamers Ausführungen beurteilen zu können.
Ausgehend vom Autonomiebegriff wurden Veränderungen des Kunstbe-
griffs und -betriebs seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dargelegt und die
Verbindung zwischen Gadamers Autonomiethese und seinem Konzept
der Erlebnisästhetik herausgearbeitet. Die Auseinandersetzung mit Gada-
mers Kritik der Erlebnisästhetik erwies sich als besonders mühsam, weil
Gadamer nicht direkt bestimmte Elemente der Erlebnisästhetik angreift,
sondern von einer Verbindung der Erlebnisästhetik und des Symbol-
begriffs ausgeht. Das Vorhaben, die Erlebnisästhetik über eine Kritik am
Symbolbegriff zu attackieren, scheitert an den Inkonsistenzen dieser
Begriffe und an der Unhaltbarkeit der postulierten Allianz von Erleb-
nisästhetik und symbolisierender Kunst. Die zur Gegeninstanz des Sym-
bols und der Erlebnisästhetik erhobene Allegorie kann sinnvollerweise
nicht als Gegensatz des Symbols, sondern als spezifische Form der
Bedeutungskonstitution von Zeichenkonfigurationen verstanden werden.
1.1.4. Zusammenfassung
Zunächst stellt Gadamer ein Modell des Spiels vor, das eine adäquate
Beschreibung der Erfahrung der Kunst ennöglichen soll. Die zentrale
These, die Gadamer bei seiner Wesensbestimmung des Spiels aufstellt,
ist die von einem »Primat des Spieles gegenüber dem Bewußtsein des
Spielenden«.83 Damit wird der Umstand hervorgehoben, daß ein Spielge-
schehen aus der Perspektive eines einzelnen Spielers mitunter nicht voll-
ständig zu erfassen ist. Die Spielordnung weist den Teilnehmern be-
stimmte Funktionen zu; die Spieler sind Elemente der Spielstruktur und
als solche von ihr detenniniert. Sie sind allerdings die konstitutiven Ele-
mente des Spiels insofern, als dieses selbst aus ihren Handlungen besteht.
Die Unterwerfung der Spieler unter die Spielordnung wird besonders
betont, da das Modell des Spiels die Aufgabe hat, den Ansatz beim Sub-
jekt, der - wie Gadamer zu zeigen versucht hat - seit Kant die Ästhetik
beherrscht, abzulösen und durch eine Ontologie des Kunstwerks zu erset-
zen. 84 Die Parallelen sind deutlich: Ebenso wie der Versuch, zu erfahren,
was das Wesen eines Spiels ist, erfolglos bleiben kann, wenn man Aus-
kunft nur von einem Spieler mit beschränktem Einblick in das Spiel-
geschehen erhält, ebenso kann der Versuch, das Wesen der Kunst zu
bestimmen, scheitern, wenn man sich etwa nur nach dem Kunstverständ-
nis bestimmter Rezipienten ausrichtet oder diese mit ihren affektiven
Reaktionen zum Zentrum des Kunstgeschehens deklariert. Gadamer will
zeigen, daß Spiele komplexe Gefüge sind, deren Struktur nicht durch die
bloße Berücksichtigung der Verhaltensweisen der Teilnehmer oder ihres
Selbstverständnisses erfaßt werden kann.
Ohne konkrete Fonnen des Spielens zu untersuchen, arbeitet Gadamer
verschiedene Aspekte des Spiels heraus, wobei man G. Warnke zustim-
men muß, die feststellt: »Gadamer's remarks on the similarity between
playing games and reading books or experiencing art works in general
are largely suggestive rather than conclusive«.85 Gadamer widmet seine
Aufmerksamkeit dem Sprechen über das Spiel im allgemeinen. Diese Re-
flexion über das »Wesen des Spieles«86, die sich nicht in Auseinanderset-
zung mit einzelnen Gegenständen entfaltet, greift zunächst auf Beobach-
tungen des Sprechens über Spiele zurück. Dabei geht Gadamer von der -
nicht weiter begründeten - Feststellung aus: »Der metaphorische
Gebrauch hat wie immer, so auch hier einen methodischen Vorrang.«87
Aus einigen Redewendungen (»Spiel des Lichts«, »Spiel der Wellen«)
folgert er, daß »( ... ) die Spielbewegung als solche ( ... ) gleichsam ohne
Substrat (ist). Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt - es ist
34 Kunst und Wahrheit
kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt ( ... ) Die Seinsweise des
Spieles ist also nicht von der Art, daß ein Subjekt da sein muß, das sich
spielend verhält ( ... ) Für die Sprache ist das eigentliche Subjekt des Spie-
les offenbar nicht die Subjektivität dessen, der unter anderen Betäti-
gungen auch spielt, sondern das Spiel selbst.«88
Die Wendung gegen einen subjektivistischen Standpunkt führt an die-
ser Stelle zu einer Liquidation der Subjekte. Allein aufgrund des vorher
aufgestellten Postulats eines Vorrangs metaphorischer Rede gewinnt
Gadamer sein Ergebnis. Der Hinweis darauf, daß die Umgangssprache
durchaus Subjekte des Spiels kennt (»Hans und Peter spielen Fußball«)
und nicht immer von einem selbständig ablaufenden Geschehen spricht,
stellt kein triftiges Argument gegen Gadamer dar, weil er gerade die
metaphorische Rede ausgezeichnet hat und davon ausgeht, daß durch sie
das Wesen der Sache zum Vorschein kommt. Auf die Fragwürdigkeit der
Annahme eines generellen Vorrangs metaphorischer Rede möchte ich
hier nicht weiter eingehen; der entscheidende Punkt der Überlegungen
Gadamers besteht darin, daß er sich gegen eine Überbewertung der Sub-
jektivität wendet .
Aus der Klasse menschlicher Spiele grenzt Gadamer einige Spiele aus,
die als Darstellungen zu begreifen sind. Zu dieser Gruppe gehören die
Spiele von Kindern, kultische Spiele und Darstellungen von Handlungen
und Ereignissen für Zuschauer.
Daß Gadamer kultische Spiele berücksichtigt, ist insofern relevant, als
er hierdurch auf eine elementare Funktion des Spiels hinweist und das
Spiel als eine Urform menschlichen Verhaltens belegt. Gleichzeitig trägt
er damit seiner Kritik an der neuzeitlichen Ausgrenzung eines eigen-
ständigen Bereichs der Künste Rechnung. Ein Grundzug des neuzeitli-
chen Kunstbegriffs soll überwunden und die Voraussetzungen geschaffen
werden, um beispielsweise ein Phänomen wie die griechische Tragödie
angemessen zu verstehen. Diese ist nach Gadamers Verständnis nicht als
reines Kunstwerk, im neuzeitlichen Sinn dieses Begriffs, zu begreifen.
Unter den als Darstellungen zu bezeichnenden Spielen kommt der
Darstellung von Handlungen und Ereignissen für Zuschauer eine beson-
dere Bedeutung zu. Bei diesen Spielen ist eine grundlegende Unterschei-
dung der Beteiligten in Akteure/Schauspieler und Zuschauer zu beobach-
ten. Die Instanz des Zuschauers ist dadurch festgelegt, daß er nicht aktiv
Gadamers Kunsttheorie 35
gewonnen werden, wobei allerdings nicht geklärt wird, wie denn der
Bedeutungsgehalt überhaupt zugänglich werden kann.
Bezüglich dieser Auffassung Gadarners sind zwei Einwände zu for-
mulieren:
1. Grundsätzlich muß gegenüber der Gadamerschen Skepsis an pro-
duktionstheoretischen Ansätzen daran erinnert werden, daß diese Positio-
nen keineswegs den Bedeutungsgehalt der Werke zu übersehen gezwun-
gen sind, wie das Beispiel der Aristotelischen »Poetik« eindrucksvoll
zeigt. Auf dem Weg einer Untersuchung der Prinzipien, die der Herstel-
lung eines Werks implizit oder explizit zu Grunde lagen, kann auch die
Bedeutung erhellt werden. 9J
Gadarners auf den Spielbegriff gestützter Begriff von Kunst wehrt
dagegen einen Zugang von der Produzenten- oder Rezipientenperspekti-
ve ab, weil entweder die Gefahr einer Verdinglichung des Kunstwerks
oder einer Auflösung des Bedeutungsgehalts in Erlebnisse des Künstlers
oder Betrachters drohe. Indem er ein Produktion und Rezeption übergrei-
fendes Bild der Kunsterfahrung entwirft, in dessen Fluchtpunkt die ideel-
le Bedeutung des Werks liegt, hofft Gadarner einer solchen einseitigen
Betrachtungsweise und ihren Gefahren zu entgehen.
2. Gadarner bemüht sich darum, produktions- und erlebnisästheti-
sche Verzerrungen zu vermeiden und hebt deshalb als entscheidendes
Moment der Kunsterfahrung den Bedeutungsgehalt oder die Wahrheit
des Kunstwerks hervor. Die entscheidende Frage ist aber doch gerade,
wie dieser Gehalt zugänglich wird und ob es überhaupt eine Möglichkeit
gibt, zwischen angemessenen und unangemessenen Bestimmungen des
Bedeutungsgehalts oder der »Wahrheit« des Kunstwerks zu unterschei-
den.
Um seinen Begriff des Kunstwerks genauer zu bestimmen, greift er
nochmals auf die Kennzeichnung des Kunstgeschehens als Darstellung
zurück. Er betont nachdrücklich, daß es einem verkürzten Kunstbegriff
entspricht, die Darstellungsleistung des Werks als bloße Abbildung eines
vorgegebenen Gegenstands aufzufassen. Ein solcher auf einer einfachen
Nachahmungsvorstellung basierender Darstellungsbegriff verfehlt die
eigentliche Leistung künstlerischer Vergegenwärtigung. Aber gerade die-
ser anscheinend zu einfache Nachahmungsbegriff ist ein wirkungsmäch-
tiger Bestandteil der Kunsttheorie, seitdem er im Rahmen einer Kritik an
Künstlern und Dichtem im zehnten Buch von Platons »Staat« formuliert
wurde. Gadarner muß also die Unangemessenheit dieses platonischen
Mimesiskonzepts deutlich machen. Er tut dies - wie so oft - nicht auf
dem Weg einer direkten Widerlegung oder expliziten Argumentation für
38 Kunst und Wahrheit
1.2.3. Tragödie
Jamml;r, d.h. Unlust erregt. Offenbar soll di.e Rede von der Katharsis die-
se Frage beantworten, indem darauf verwiesen wird, daß die Tragödie am
Ende den Zuschauer von dieser Unlust befreit entläßt. Es handelt sich
also um ein Verfahren, das durch Formeln wie >Beruhigung durch Erre-
gung< oder >Entlastung durch Belastung< in seiner komplexen Struktur
skizziert werden kann.
Mit dieser Beantwortung der Frage nach der Bedeutung der tragö-
dienspezifischen Katharsis geht Schadewaldt nicht auf einzelne inhaltli-
che Momente der Tragödien ein.
Gadamer behauptet nun, der von Jammer und Schauder ergriffene
Zuschauer erfahre eine »schmerzhafte Entzweiung«l1O und sträube sich
gegen das verhängnisvolle Geschehen auf der Bühne. Entscheidend sei
aber, daß diese Entzweiung durch die das Schauspiel beendende Kata-
strophe aufgelöst würde:
»Nicht nur von dem Banne ist man befreit, in den einen das Jammer-
volle und Schauerliche dieses einen Geschickes gebannt hielt, sondern in
eins damit ist man von allem frei, was einen mit dem, was ist, entzweit.
Die tragische Wehmut spiegelt also eine Art Affirmation (... )«111
Damit geht Gadamer deutlich über Schadewaldts Deutung der Kathar-
sis als psychohygienischer Stabilisierung hinaus. Die genauere Bestim-
mung der in eine Affirmation einmündenden Katharsis wird, wie Gada-
mer selbst feststellt, problematisch, weil man nicht generell behaupten
kann, daß der Zuschauer dem Untergang des Helden als gerechte Strafe
für dessen Verfehlungen zustimmt. Es ist gerade das dem Helden wider-
fahrende Übermaß an Leid und Unglück, das die Tragödie im allgemei-
nen auszeichnet. Gadamer konstatiert, daß durch den Zuschauer dieses
»Übermaß des tragischen Unheils«112 anerkannt wird:
»Der Zuschauer erkennt sich selbst und sein eigenes endliches Sein
angesichts der Macht des Schicksals ( ... ) Die Zustimmung der tragischen
Wehmut gilt nicht dem tragischen Verlauf als solchem oder der Gerech-
tigkeit des Geschicks, das den Helden erreicht, sondern meint eine meta-
physische Seinsordnung, die für alle gilt. Das >So ist es< ist eine Art
Selbsterkenntnis des Zuschauers, der von den Verblendungen, in denen
er wie ein jeder lebt, einsichtig zUTÜckkommt.«ll3
An dieser Stelle ensteht das Problem, Gadamers Rede von der
Erkenntnis einer nicht näher gekennzeichneten »metaphysischen Seins-
ordnung« und von einer »Selbsterkenntnis des Zuschauers« zu begreifen.
Ist es nicht abwegig, zu behaupten, auch noch ein Theaterbesucher unse-
rer Tage mache eine so zu qualifizierende Erfahrung? Muß man diese
These nicht auf die Antike einschränken, auf eine Epoche, in der der
44 Kunst und Wahrheit
Zeichen auf einen Gott oder Heiligen, dieser wird als in den verehrten
Werken anwesend vorgestellt. I2O Gadamer knüpft offensichtlich an eine
solche Auffassung an, wenn er sagt:
»Ein Kunstwerk hat immer etwas Sakrales an sich. Es ist zwar richtig,
daß ein religiöses Kunstwerk, das im Museum Aufstellung gefunden hat,
oder eine Denkmalstatue, die dort gezeigt wird, nicht mehr im selben
Sinne geschändet werden kann, wie ein an seinem ursprünglichen Platze
gebliebenes. Aber das bedeutet nur, daß es in Wahrheit schon verletzt ist,
sofern es ein Museumsstück geworden ist. Offenbar gilt das nicht für
religiöse Kunstwerke allein.«121
Um die Einseitigkeit eines auf der Grundlage der ästhetischen Unter-
scheidung sich seit der Hochrenaissance durchsetzenden Bildbegriffs l22
zu korrigieren, skizziert Gadamer unter Verwendung neuplatonischer
Ausdrücke eine Dialektik des Bildes, deren Hauptsatz lautet: »( ... ) das
Urbild wird erst vom Bilde her zum Bilde - und doch ist das Bild nichts
als die Erscheinung des Urbildes.«123
Auf den Fall des Herrscherporträts angewandt kann man diesem Satz
die Fassung geben, daß die als entscheidend angesehenen Eigenschaften
eines Regierenden in der bildlichen Darstellung deutlicher zum Ausdruck
kommen können als in seiner leibhaften Erscheinung. Gleichzeitig ist die
Bedeutung des Gemäldes aber dadurch mitbestimmt, daß es auf eine
bestimmte Person Bezug nimmt. Mit diesem Hinweis ist allerdings die
Bedeutung der Gadamerschen Dialektik des Bildes noch nicht erschöpft.
»Die Bedeutung des religiösen Bildes ist ( ... ) eine exemplarische. An
ihm wird zweifelsfrei klar, daß das Bild nicht Abbild eines abgebildeten
Seins ist, sondern mit dem Abgebildeten seinsmäßig kommuniziert. Von
seinem Beispiel her wird einsichtig, daß die Kunst überhaupt und in
einem universellen Sinn dem Sein einen Zuwachs an Bildhaftigkeit ein-
bringt. Wort und Bild sind nicht bloß nachfolgende Illustrationen, son-
dern lassen das, was sie dar~tellen, damit erst ganz sein, was es ist.«l24
Deutlich ist, daß Gadamer den religiösen Bildbegriff nicht nur als
Korrektiv gegen die Abbildungsvorstellung einsetzt, sondern als Alterna-
tive zu der neuzeitlichen Bildauffassung des ästhetischen Bewußtseins
profilieren will. Ebenso wie im Fall der Tragödie davon gesprochen wer-
den konnte, daß durch das Drama Einsichten in Grundstrukturen mensch-
lichen Lebens vermittelt werden, wird nun das Bildwerk als eine Darstel-
lung verstanden, die Wesenszüge ihres Gegenstands sichtbar macht. Die-
se Leistung bildender Kunst wird von Gadamer nicht nur als erkenntnis-
vermittelnde Funktion im Hinblick auf den Betrachter hervorgehoben,
sondern in einer ontologischen Wendung als »Seinszuwachs« des Gegen-
Gadamers Kunsttheorie 49
/.2.5. Zusammenfassung
Der zweite Teil von WM behandelt die Geschichte der Hermeneutik und
stellt danach die »Grundzüge einer Theorie der hermeneutischen Erfah-
rung« vor. Wie im vorangegangenen Kapitel folge ich Gadamers ge-
schichtlichen Ausführungen und rekonstruiere anschließend die Grund-
elemente seiner Theorie der hermeneutischen Erfahrung.
/1.1.1. »Vorgeschichte«
Schrift voraus, sondern geht weiter, indem er verlangt, der Gehalt des
Bibeltexts müsse in Übereinstimmung mit der orthodoxen Theologie
reformuliert werden. Damit wird verhindert, daß eine abweichende Auf-
fassung sich auf die Autorität der Heiligen Schrift beruft.
Dogmatisches Interpretieren impliziert also eine starke Gültigkeits-
voraussetzung, die nicht widerrufen werden kann und schränkt den Spiel-
raum des Interpreten radikal ein.
Zwischen dogmatischer Interpretation in diesem Sinn und einer freien
Interpretation, die die Geltungsansprüche der Texte ignoriert - indem
beispielsweise ein religiöser Text als sozialhistorisches Dokument ausge-
wertet wird - gibt es zahlreiche Zwischenformen. Der nicht-dogmatische
Interpret kann sich durchaus auf den Geltungsanspruch des Texts einlas-
sen, indem er eine Gültigkeitsunterstellung macht und mit der heuristi-
schen Maxime ansetzt, daß der Text ihm etwas zu sagen hat oder ihn
etwas lehren kann. Diese Gültigkeitsunterstellung kann sich aber - im
Gegensatz zu der strengen Gültigkeitsvoraussetzung des Dogmatikers -
als unbegründet erweisen. Der nicht-dogmatische Interpret kann am Ende
seiner Bemühungen feststellen, daß sein Text ihn nur partiell überzeugt
oder eine sachlich unangemessene Position vertritt.
Diese Rede von nicht-dogmatischer Interpretation ist nicht allein auf
der Basis der anti-dogmatischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts
möglich. Noch vor der ersten großen Zäsur in Gadamers Hermeneutikge-
schichte, vor Schleiermachers Transformation der Hermeneutik, formu-
liert der Baumgarten-Schüler G.F. Meier (1718-1777) in seinem »Ver-
such einer allgemeinen Auslegungskunst« (1757) eine Maxime, die eine
Zwischenform zwischen den Extremen dogmatischer und freier Interpre-
tation belegt. Meier fordert vom Interpreten »hermeneutische Billigkeit«
und versteht darunter »( ... ) die Neigung eines Auslegers, diejenigen Be-
deutungen für hermeneutisch wahr zu halten, welche, mit der Vollkom-
menheit des Urhebers der Zeichen, am besten übereinstimmen, bis das
Gegenteil erwiesen wird.«I40
Meier rechnet also mit dem Fall, daß die Gültigkeitsunterstellung sich
als ungerechtfertigt erweisen kann, wodurch er sich vom dogmatischen
Hermeneuten distanziert.
Meiers kurze Abhandlung ist im Zusammenhang mit den von Gada-
mer behandelten Fragen aus zwei weiteren Gründen von Interesse.
Bei Meier findet sich bereits eine Ausweitung des Gegen-
standsbereichs der Hermeneutik über den Bereich von Schriftstücken
hinaus auf alle möglichen Arten von Zeichen (gesprochene Sprache,
Gesten u.a.). Damit vollzieht Meier einen Schritt, der im allgemeinen der
56 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
gleich, und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die
niederere und die psychologische die höhere nennen.«I46
In Gadamers Auseinandersetzung mit der romantischen Hermeneutik
werden schwerwiegende Bedenken in bezug auf Schleiermachers Positi-
on formuliert. Der zentrale Einwand betrifft den Umstand, daß bei
Schleiermacher »( ... ) die Texte unabhängig von ihrem Wahrheitsan-
spruch als reine Ausdrucksphänomene (... )«147 angesehen würden. Gada-
mer kommt zu dieser Feststellung aufgrund einer Sichtweise, die die Psy-
chologisierung des Verstehens als maßgeblichen Schritt Schleiermachers
wertet. Er schreibt: »Die Hermeneutik urnfaßt grammatische und psycho-
logische Auslegungskunst. Schleiermachers Eigenstes ist aber die psy-
chologische Interpretation. Sie ist letzten Endes ein divinatorisches Ver-
halten, ein Sichversetzen in die ganze Verfassung des Schriftstellers
(... )«.148
Demnach interessiere im Rahmen der Schleiermacherschen Herme-
neutik nicht die von einem Text behandelte Sache, sondern die Person
des Schreibers. Das Verstehen sei nicht primär dem Text zugewandt,
sondern auf das sich ausdrückende Individuum gerichtet. Gadamer hebt
hervor, daß die Hermeneutik nun »( ... ) die vom Sachverständnis ge~hrte
Kritik aus dem Bereich wissenschaftlicher Auslegung (... )«149 herausdrän-
ge.
Dies sind massive Vorwürfe, die nicht so sehr innerhalb des begrenz-
ten Bereichs der Schriften Schleiermachers über hermeneutische Proble-
me, sondern vom Gesamtwerk und der geistes geschichtlichen Wirkung
Schleiermachers her argumentieren. In der Tat war es ein psychologi-
scher Ansatz Schleiermachers, der als Innovation auffiel, so daß auch im
Bereich der Hermeneutik die psychologische Auslegung ins Zentrum der
Aufmerksamkeit rücken konnte. Dilthey, der in ausführlichen Untersu-
chungen Leben und Werk Schleiermachers behandelt, konstatiert bereits
eine »Einseitigkeit« des psychologischen Ansatzes. 150 Gadamer stimmt in
diesem Punkt mit Dilthey überein, er wertet allerdings die Psychologi-
sierung des Verstehens im Gegensatz zu Dilthey grundsätzlich negativ.
Die Psychologisierung scheint ihm sowohl das innovative Moment als
auch der schwächste Punkt bei Schleiermacher zu sein.
Gegen diese Auffassung wurde Einspruch erhoben. 151 Gadamers
Schleiermacherbild stimme mit der Rezeption der zweiten Hälfte des 19.
und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überein: Psychologisierung
und Subjektivierung würden als die entscheidenden Schritte angesehen.
»Gadamers eindrucksvolles Verdikt gegen die >romantische Herme-
neutik< - Titel, der als Kontrastfolie gute Dienste zur Profilierung des
Geschichte der Hermeneutik 59
An die Stelle eines direkten Zugriffs auf die Bedeutung des Texts, sei-
ne Argumente und die verhandelte Sache, tritt zunächst die Beschäfti-
gung mit der historischen Situation des Autors, seinem Leben und seiner
Gedankenwelt. Dies bedeutet noch nicht zwangsläufig, daß ein hem-
mungsloser Psychologismus durchbricht, der die Texte ausschließlich
zum Ausgangspunkt für eine Einfühlung in die Autoren und Genies der
Geistesgeschichte nimmt.
Sowohl in der Zielsetzung als auch in der Wahl der geeigneten Hilfs-
mittel können Unterschiede zwischen dem Verstehen von Objekten (Tex-
ten, Gemälden, Musikwerken) und dem Verstehen von einzelnen Perso-
nen bestehen. Man kann aber durchaus von einem Zusammenhang beider
Aufgaben sprechen, da beispielsweise die genaue Kenntnis der Absich-
ten, Überzeugungen und Handlungen eines Autors hilfreiche Hinweise
zum Verständnis seiner Werke liefern kann. Fragwürdig erscheint ledig-
lich eine Auffassung, die das Verstehen einzelner Personen in ihrer vor-
geblich einmaligen Individualität zum vorwiegenden Ziel der Beschäfti-
gung mit Texten und Kunstwerken erhebt.
Einer in angreifbarer Weise psychologisierenden Auffassung wären
Platons Dialoge nicht deshalb wichtig, weil wir von diesen Texten lernen
können, sondern weil wir durch sie einen Zugang zu der Welt und zum
Leben eines genialen Denkers erhalten.
Gerade am Beispiel Platons kann man überprüfen, ob Schleiermacher
tatsächlich diese Form psychologistischen Verstehens betreibt. In seiner
Theorie der Interpretation steht, so hatten wir gesehen, das psychologi-
sche Verstehen nicht im Vordergrund. Der Vorwurf, auf einseitige Weise
psychologische Gesichtspunkte bei der Interpretation zu beachten, könnte
sich aber auch auf Schleiermachers Interpretationspraxis beziehen. Im
folgenden soll geprüft werden, ob auf diesem Gebiet der Vorwurf des
Psychologismus mit größerer Berechtigung erhoben werden kann als im
Bereich der hermeneutischen Theorie.
Schleiermachers Arbeit als Platon-Interpret und Übersetzer gilt als
Markstein in der Geschichte der Platon-Rezeption und der klassischen
Philologie. 156 In der Einleitung zu seinem Unternehmen hat er seine
Absicht beschrieben, die Prinzipien seines Vorgehens benannt und die
bisherige Platon-Forschung kritisiert.
Bei seiner Übersetzung der Platonischen Schriften kommt es ihm dar-
auf an, aus der Unhaltbarkeit eines seinerzeit gängigen Verfahrens Kon-
sequenzen zu ziehen. Dieses Verfahren zerstörte die dialogische Ent-
wicklung des Gedankengangs, isolierte einzelne Thesen und fügte diese
zu einem System der Platonischen Philosophie zusammen. Vorausset-
Geschichte der Hermeneutik 61
zung für ein solches Verfahren ist die Beurteilung der Dialogform als
Verschleierung des Platonischen Systems:
»Die innige Verknüpfung des Dichterischen und Philosophischen in
Plato's Lehren, bei dem Mangel an streng systematischer Form, erschwert
das Verständnis seiner Philosophie (... )«157
Dieses Unverständnis für die literarische Form, deren Platon sich
bedient, geht Hand in Hand mit einem - teilweise naiven - Losstürzen
auf die Thesen der Platonischen Philosophie.1 58 Angesichts einer solchen
Auffassung betont Schleiermacher mit Nachdruck, daß in Platons Texten
»( ...) Form und Inhalt unzertrennlich (sind)«.159
Ein Extrakt verschiedener Thesen vermag zwar aufzulisten, welche
Behauptungen in den Dialogen aufgestellt, widerlegt oder akzeptiert wer-
den. Er kann aber nicht begreiflich machen, was die Dialoge dem Leser
zeigen, indem diese Thesen diskutiert werden. Schleiermacher hebt her-
vor, daß Platons Hauptabsicht darin bestehe, »( ... ) jede Untersuchung von
Anfang an so zu führen und darauf zu berechnen, dass der Leser entwe-
der zur eignen inneren Erzeugung der beabsichtigten Idee, oder dazu
gezwungen werde, dass er sich dem Gefühle nichts gefunden und nichts
verstanden zu haben, auf das allerbestimmteste übergeben muss.«I60
Die Dialoge vermitteln primär keine Information, sondern sie führen
den Leser zu der Einsicht, daß er (im Sokratischen Sinn) kein Wissen
besitzt und regen ihn zu selbständigem Denken an. Eine »zerlegende
Darstellung«161, die einzelne Theoreme der Lehre Platons mitteilt, ver-
fehlt, indem sie diesen Aspekt der Texte ignoriert, den eigentlichen
Gegenstand des Platonischen Philosophierens.
Die skizzierte Position Schleiermachers bietet wenige Anhaltspunkte,
um ihn als Psychologisten anzugreifen. Eine Einfühlung in den Men-
schen Platon scheint ihm fern zu liegen. Dabei ist bemerkenswert, daß er
der Biographie Platons keine Aufmerksamkeit schenkt, weil ihm die
Quellenlage unbefriedigend erscheint und er sich von den biographischen
Daten keine Unterstützung für ein Verständnis der Texte erhofft. 162
Zusammenfassend kann man festhalten, daß Schleiermacher in seinen
theoretischen Ausführungen zur Hermeneutik und in seiner Praxis als
Platon-Interpret keine Ansichten vertritt, die als psychologistisch zu kriti-
sieren wären. Die Einleitung zur Platon-Ausgabe suspendiert in keiner
Weise den Sachbezug des Verstehens zugunsten einer Einfühlungs-
hermeneutik. Zwar prägt Schleiermacher Formeln, die später von einer
psychologistischen Interpretationsrichtung aufgegriffen werden konn-
ten l6l, seine eigenen Erörterungen sind insgesamt jedoch keinesfalls als
psychologistisch zu etikettieren.
62 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
Droysen wird von Gadamer neben Ranke als zentraler Vertreter der
Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts behandelt. Mit seiner »Histo-
rik«172 hat Droysen eine Wissenschaftslehre der Historiographie geschaf-
fen, die »( ... ) zum klassischen wissenschaftstheoretischen Text der mo-
demen Geschichtswissenschaft (... )« wurde. I7l
Im Hinblick auf Droysens Geschichtsbegriff kommt Gadamer zu der
Auffassung, daß dieser »( ... ) am Ende die Aufgabe der Historie nur in
ästhetisch-hermeneutischen Kategorien zu denken ( ... )« vermöge174 und
daher mit Rankes Position weitgehend übereinstimme.
Diese These ist angesichts der beträchtlichen Unterschiede zwischen
Ranke und Droysen, die Gadamer selbst zumindest andeutet, überra-
schend. 175 Vor allem die Behauptung, Droysens Position sei durch ästheti-
sche Kategorien geprägt, läßt sich zunächst nicht verifizieren. Droysen
kritisiert explizit eine Ästhetisierung und Narrativisierung der Ge-
schichtsschreibung und steht zudem offen für eine engagierte, den
Gegenwartsbezug berücksichtigende Historie ein. Seine Kritik an einer
den wissenschaftlichen Charakter der Historiographie auflösenden Hal-
tung weist gleichzeitig auf die lediglich partielle Berechtigung psycholo-
gischer Interpretation hin:
»( ... ) nur zu sehr ist es in alter und neuer Zeit in Übung gewesen, daß
die Historiker erzählend ein möglichst lebhaftes Bild der handelnden Per-
sönlichkeiten zu geben suchten und aus deren Begabung, Charakter, Lei-
denschaft möglichst alles ableiteten, was geschehen ist. (... ) Wäre die
psychologische Interpretation die wesentliche Aufgabe des Historikers,
so würde Shakespeare der größte Historiker sein. Wie verfährt er? (... ) er
erklärt aus dem Inneren der Menschen ihre Schicksale (... )«176
Das primäre Interesse des Historikers gilt demgegenüber nicht der
Innenwelt des Individuums, sondern den vergangenen Ereignissen und
Geschichte der Hermeneutik 65
Ausgestaltungen ( ... )« zu liefem. 194 Ein Hinweis auf die Gründe für ein
starkes Interesse an der Wiederbelebung des Vergangenen wird nicht ge-
geben. Windelband spricht lediglich von der Aufgabe, »ein Gebilde der
Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung neu zu bele-
ben«.195
Die Vorstellung, daß die Historie und die Geisteswissenschaften sich
insgesamt mit einmaligen, individuellen Gegenständen befassen, war
äußerst wirkungsvoll. Sie ist als ein Reflex der oben dargestellten kon-
templativen Geschichtsauffassung und der psychologistischen Elemente
der romantischen Hermeneutik zu begreifen.
Windelbands Versuch, die Eigenart der bei den Wissenschaftstypen
durch den Gegensatz nomothetischen und idiographischen Wissens zu
erfassen, kann nicht als gelungen angesehen werden. Windelband selbst
muß zugestehen, daß es nicht möglich ist, die Unterscheidung von singu-
laren, assertorischen Sätzen als exemplarischer Aussageform der Geistes-
wissenschaften und generellen, apodiktischen Urteilen als charakteristi-
scher Aussageform der Naturwissenschaften strikt durchzuhalten.
In den Geisteswissenschaften, zum Beispiel in den Sprachwis-
senschaften, werden durchaus generelle Sätze gebildet und Gesetze for-
muliert. Das bedeutet: sie verfahren in einer Weise, die im Grunde, wenn
man Windelbands Unterscheidung streng durchführen wollte, den Natur-
wissenschaften vorbehalten bleiben müßte. Windelband wertet diesen
Sachverhalt nicht als grundsätzlichen Einwand gegen seinen Vorschlag.
Er behauptet vielmehr, daß der Sprachwissenschaftler zwar Gesetzmäßig-
keiten feststelle, dies jedoch nur in Hinblick auf eine historische Sprache
tue und diese stelle »( ... ) eine einmalige, vorübergehende Erscheinung im
Sprachleben (... )« dar. 196 Damit ist man wieder bei dem Einmaligkeits-
Topos angelangt, der eingesetzt wird, um die Eigentümlichkeit geistes-
wissenschaftlicher Gegenstände zu beschreiben. Daß es sich hierbei um
ein - womöglich undurchschautes - Ausweichmanöver handelt, wird
deutlich, wenn man bedenkt, daß in Disziplinen wie der Geologie, der
Astronomie oder der Zoologie an Gegenständen, die als einmalige und
vorübergehende Erscheinungen bezeichnet werden können, kein Mangel
herrscht.
diese Tatsachen physische oder geistige sein, mögen sie in der äußeren
oder in der inneren Erfahrung auftreten, sie werden durch dieselben
Denkakte und logischen Vorgänge miteinander verbunden. Vergleichen,
sonach Unterscheiden, Gleichfinden und Grade des Unterschiedes be-
stimmen, Verbinden, Trennen, Urteilen, Schließen sind in Naturwissen-
schaften und in Geisteswissenschaften gleichmäßig wirksam, die Ver-
hältnisse von Tatsachen zur Erkenntnis zu bringen.«2oo
Damit steuert Dilthey einer Überbewertung der Unterteilung in Natur-
und Geisteswissenschaften gegen und betont die Bedeutung einer die
Grenzen der Disziplinen überschreitenden wissenschaftlichen Rationa-
lität.
Bezeichnend für Diltheys Denken ist nun gerade, daß er zwar einer-
seits von einer einheitlichen wissenschaftlichen Rationalität spricht,
andererseits aber bei dem Versuch, die Eigenart der Geisteswissenschaf-
ten herauszuarbeiten, in einen strikten Wissenschaftsdualismus zurück-
fällt, der diese Einheit marginalisiert. Seine Gegenüberstellung von
Natur- und Geisteswissenschaften bezeichnet den Zusammenhang von
Leben, Ausdruck und Verstehen als Basis der Geisteswissenschaften. 201
Dilthey bemüht sich in einer ersten Phase um eine Fundierung der Gei-
steswissenschaften, indem er die Psychologie als Basiswissenschaft aus-
zuarbeiten versucht. Psychologie als Wissenschaft von den geistigen Tat-
sachen soll dieser Konzeption nach den Geisteswissenschaften die grund-
legenden Begriffe und Kategorien bereitstellen. Mit deren Hilfe sollen
die Geisteswissenschaften sich mit den Zeugnissen innerer Erfahrung der
Menschen befassen und als historische Disziplinen die Geschichte der
geistigen Welt schreiben. In seiner Diskussion der Arbeiten Diltheys
zeigt Gadamer, wie das texthermeneutische Schema von Teil und Gan-
zem auf das Gebiet der Psychologie als geisteswissenschaftlicher Basis-
disziplin übertragen wird. Dilthey expliziert seinen Begriff des Zusam-
menhangs des Seelenlebens durch eine Übernahme hermeneutischer Vor-
stellungen. Gadamer bestimmt diesen Vorgang folgendermaßen:
»Es ist deutlich, daß auch hier, wie bei Droysen, die Verfahrensweise
der romantischen Hermeneutik vorschwebt und nun eine universale Aus-
weitung erfährt. Wie der Zusammenhang eines Textes ist der Strukturzu-
sammenhang des Lebens durch ein Verhältnis von Ganzem und Teilen
bestimmt. Jeder Teil desselben drückt etwas vom Ganzen des Lebens
aus, hat also eine Bedeutung für das Ganze, wie seine eigene Bedeutung
von diesem Ganzen her bestimmt ist. Es ist das alte hermeneutische Prin-
zip der Textinterpretation, das deshalb auch für den Lebenszusammen-
Geschichte der Hermeneutik 73
hang gilt, weil in ihm in gleicher Weise die. Einheit einer Bedeutung vor-
ausgesetzt wird, die in allen seinen Teilen zum Ausdruck kommt. «202
Diese Übertragung mag nun zwar als Erläuterung des Begriffs eines
Lebenszusammenhangs hilfreich sein. Sie bietet aber, wie Gadamer kri-
tisch anmerkt, keine tragfähige Basis für die in den Geisteswissenschaf-
ten erforderliche Erfassung von Zusammenhängen (Epochen, langfristige
Prozesse), die den Rahmen eines Lebenszusammenhangs überschreiten.
»Der entscheidende Schritt, den Diltheys erkenntnistheoretische
Grundlegung der Geisteswissenschaften zu tun hat, ist nun der, daß von
dem Aufbau des Zusammenhangs in der Lebenserfahrung des einzelnen
der Übergang zu dem geschichtlichen Zusammenhang genommen wird,
der von keinem einzelnen mehr erlebt und erfahren wird.« 203
Gadamer meldet Zweifel daran an, ob Dilthey dies im Rahmen seiner
psychologischen Grundkonzeption gelingen kann und verweist darauf,
daß Dilthey beim Versuch der Erfassung übergreifender Zusammenhänge
in eine ungewollte und undurchschaute Nähe zum Idealismus gerät.
Nachdem Dilthey den Versuch aufgegeben hat, die Psychologie als
Metawissenschaft zu entwerfen, bemüht er sich um neue Möglichkeiten,
die geisteswissenschaftliche Arbeit zu begründen. Dabei wird das Modell
des Verstehens von Lebensäußerungen zum zentralen Bezugspunkt. Die
Explikationen des die Geisteswissenschaften charakterisierenden Verste-
hens erfolgt mit unterschiedlicher Akzentsetzung. Zunächst zeigt der
Verstehensbegriff Diltheys deutlich psychologistische Züge: Die Einfüh-
lung in eine andere Person und das Nacherleben einer bestimmten Situa-
tion werden als exemplarische Formen des Verstehens geschildert. Da-
durch entsteht der Eindruck, die eigentliche Leistung des Verstehens
bestünde darin, sich imaginativ und empathisch in das Innere einer Per-
son hineinzuversetzen und deren Gefühle, Willensregungen und Vorstel-
lungen nachzuerleben. Diese Konzeption des Verstehens wird in folgen-
den Äußerungen deutlich:
»(00') das Verstehen ist von dem Maß der Sympathie abhängig, und
ganz unsympathische Menschen verstehen wir überhaupt nicht mehr(oo.)«
- »Nie kann (00') Verstehen in rationales Begreifen aufgehoben wer-
den.«204
Die Gefahren dieser Auffassung hat Dilthey aber selbst gesehen:
»(00') die Literaturgeschichte und die Poetik haben nur zu tun mit dem
Bezug dieses sinnenfälligen Zusammenhangs von Worten (i.e. dem aus-
zulegenden Text) auf das, was durch sie ausgedrückt ist. Und nun ist ent-
scheidend: dieses sind nicht die inneren Vorgänge in dem Dichter (00.) So
ist der Gegenstand mit dem die Literaturgeschichte oder die Poetik
74 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
steht die Frage nach dem Ertrag des historischen Studiums für eine Ori-
entierung in der eigenen Gegenwart gegenüber. Der Versuch, eine Meta-
theorie der Geisteswissenschaften zu entwerfen, kollidiert mit eineI'Auf-
fassung des Verstehens als begrifflich nicht voll zu erfassender Leistung.
Für Dilthey stellt sich das Problem des Verstehens nicht mehr in der ein-
geschränkten Form der Frage nach der Verständlichkeit einer bestimmten
TextsteIle oder eines einzelnen Texts; diese elementaren Probleme sind
ihm keine Gegenstände theoretischer Überlegung. Auch die Polysemie
von Texten wird ihm kaum zum Problem, da er durch die über Schleier-
macher hinausgehende radikale Kontexterweiterung (Rekurs auf Biogra-
phie, Geist der Epoche und universalgeschichtliche Zusammenhänge)
starke Vorgaben für die Ermittlung der Textbedeutung macht. Dank der
scheinbaren Souveränität des einfühlenden und nacherlebenden Verste-
hens und der umfassenden historischen Bildung werden die Texte seman-
tisch homogenisiert.
Gadamer stellt als Grundzug der Arbeit Diltheys die Spannung zwi-
schen Verwissenschaftlichung und Erkenntnistheorie einerseits und
lebensphilosophischen Tendenzen andererseits heraus. Er hält das ganze
Unternehmen einer Kritik der historischen Vernunft für einen bewun-
dernswerten Schritt in die falsche Richtung. Bewundernswert, weil
Diltheys Kompetenz auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften, seine
Vertrautheit mit ihren vielfältigen Problemen und seine profunde Kennt-
nis einer unüberschaubaren Literatur außer Frage stehen. 220 In die falsche
Richtung führen die erkenntnistheoretischen Begründungsbemühungen,
weil Dilthey »( ... ) das wahre Vorbild, das die methodische Rechtferti-
gung ( ... ) tragen könnte, nicht wahrhaft angenommen hat, die Tradition
der >praktischen Philosophie< des Aristoteles (... )«.221
Gadamer ist der Ansicht, daß die Spannung zwischen Lebensphilo-
sophie und Erkenntnistheorie, zwischen hermeneutischer Erfahrung und
Verwissenschaftlichung bei Dilthey eindeutig zugunsten der Erkennt-
nistheorie und Verwissenschaftlic,hung entschieden sei. Zwar habe Dil-
they erkannt, daß die Geisteswissenschaften in direktem Kontakt zu. der
Lebenserfahrung der einzelnen stünden, aber seine Furcht vor dem Vor-
wurf des Relativismus habe ihn in die Arme des Methodendenkens ge-
trieben. 222
Mit Recht hat G. Warnke auf die fortdauernde Aktualität des für
Dilthey grundlegenden Konflikts hingewiesen und gleichzeitig Gadamers
Stellungnahme kritisiert. 223
Diltheys Suche nach Möglichkeiten, geisteswissenschaftliche Inter-
pretationen zu begründen und von Fehldeutungen zu unterscheiden,
Geschichte der Hermeneutik 79
scheint nach wie vor eine Aufgabe für seil).e Nachfolger darzustellen.
Gadamers Desinteresse an dieser Suche hat ihm den Vorwurf des Anti-
methodologismus und der Wissenschaftsfeindlichkeit eingebracht.
II.l.4. Zusammenfassung
Die Rede von einem Zirkel des Textverstehens thematisiert hier das
Verhältnis vom Ganzen und seinen Teilen als Verhältnis des »Geists des
gesammten Alterthums« zu den Werken eines Autors. Zwar hat die ältere
Hermeneutik das Verhältnis von Teil und Ganzem erörtert, aber sie hat
dabei nicht an die externe Relation zwischen einem Text und dem Geist
der Epoche gedacht, sondern auf das Verhältnis der Textsegmente zum
Textganzen Bezug genommen und die Frage gestellt, wie aus den Teilen
eines Texts die Bedeutung des Gesamttexts gewonnen werden kann,
wenn die Gesamtbedeutung nicht einfach als Summe der Elemente zu
bestimmen ist. Es ist eine die idealistischen Komponenten des aufkom-
menden Historismus charakterisierende Wendung, wenn bei Ast nicht
allein die Bedeutung einzelner Texte Gegenstand des Verstehens ist, son-
dern der Geist einer ganzen Epoche erkannt werden soll. Der Schwer-
punkt der Überlegungen wird verlagert: während die ältere Hermeneutik
primär die Bedeutung einzelner Texte klären wollte, wird nun der umfas-
sendere historische Kontext zu einer zentralen Bezugsebene der Interpre-
tation.
Der einzelne Text wird von Ast als »Offenbarung« des Geistes der
Epoche aufgefaßt. Im Rahmen seines spekulativen, identitätsphilosophi-
schen Ansatzes glaubt er, darauf verzichten zu können, eine detaillierte
Erklärung dafür zu geben, wie durch einen einzelnen Text die Gesamtheit
des epochenspezifischen Gedankenguts zugänglich werden soll. Ast for-
muliert zwar die Frage, wie eine angemessene Verortung einzelner Texte
in einem umfassenden Kontext möglich ist, er verhindert gleichzeitig
aber eine befriedigende Beantwortung, indem er vorschnell ein Wissen
um diesen allgemeinen Kontext - den Geist der Epoche - als unproble-
matisch gegeben ansieht. Obwohl Schleiermacher an Asts Fassung des
Zirkels deutlich Kritik übt'40, kehrt die Hermeneutik nicht mehr zu der
Ausgangsversion des Zirkels als Beschreibung des Interpretationsvor-
gangs zurück.
Bei Schleiermacher wird der Zirkel in zwei Versionen eingeführt.
Zunächst wird in Anknüpfung an die Überlegungen Asts die Beziehung
zwischen Texten und der Epoche, in der sie entstanden, thematisiert:
»Der Sprachschatz und die Geschichte des Zeitalters eines Verfassers
verhalten sich wie das Ganze, aus welchem seine Schriften als das Ein-
zelne müssen verstanden werden, und jenes wieder aus ihm. (... ) Überall
ist das vollkommene Wissen in diesem scheinbaren Kreise, daß jedes
Besondere nur aus dem Allgemeinen, dessen Teil es ist, verstanden wer-
den kann und umgekehrt.«241
Schleiermacher sieht in dem angesprochenen Sachverhalt keine Apo-
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 89
rie des Textverstehens. Er vertritt nicht die Auffassung, daß das Ganze
(die Epoche) bereits vollständig verstanden sein muß, damit eines seiner
Elemente (der Text) verständlich zu werden vermag und daß gleichzeitig
das Ganze nur aufgrund der Erkenntnis sämtlicher Elemente begriffen
werden kann. Er diagnostiziert vielmehr eine wechselseitige und voran-
schreitende Ergänzung des Wissens. Dieser Erkenntniszuwachs erfolgt
einerseits ausgehend vom Wissen über die Epoche und vertieft das Text-
verständnis, andererseits führt sie in umgekehrter Richtung vom einzel-
nen Text ausgehend zu einem besseren Verständnis des umfassenderen
historischen Kontexts. Diese Interdependenz wird in keiner Weise als
ausweglose Aporie begriffen, sondern schlicht als Möglichkeit der Ver-
tiefung des Verständnisses gesehen:
»( ... ) kein Auszulegendes (kann) auf einmal verstanden werden (... )
jedes Lesen setzt uns erst, indem es (... ) Vorkenntnisse bereichert, zum
besseren Verstehen instand.«242
Die zweite Version des Zirkels bei Schleiermacher betrifft das intra-
textuelle Verhältnis von Teil und Ganzem:
»Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus
dem Ganzen verstanden werden, und es ( ... ) muß deshalb eine kursori-
sche Lesung, um einen Überblick des Ganzen zu erhalten, der genaueren
Auslegung vorangehen. Dies scheint ein Zirkel, allein zu diesem vorläufi-
gen Verstehen reicht diejenige Kenntnis des Einzelnen hin, welche aus
der allgemeinen Kenntnis der Sprache hervorgeht.«243
Schleiermacher sagt, daß eine vage Vorstellung von der Textbedeu-
tung am Ausgangspunkt der Interpretationsbemühungen steht. Eine sol-
che erste Vorstellung von der Bedeutung des Gesamttexts gewinnt der
Leser beispielsweise durch eine kursorische Lektüre oder durch Vorwor-
te, Übersichten, Inhaltsangaben. Im Lauf mehrerer Lektüredurchgänge
wird diese antizipierende Bedeutungszuschreibung bestätigt oder wider-
legt, präzisiert oder modifiziert. Der Umstand, daß die erste Lektüre mit
einer vagen Vorstellung - sei es auch nur die grobe Zuordnung zu einer
bestimmten Textsorte - ansetzt, ist kein Manko der Interpretation, weil
diese erste Annahme korrigiert werden kann. Um einen Zirkel im eigent-
lichen Sinn würde es sich nur dann handeln, wenn die Interpretation
zwangsläufig die antizipierte Textbedeutung bestätigen würde. Schleier-
macher spricht daher nur von einem »scheinbaren Kreise«. Er stellt also
nicht ein im strengen Sinn zirkuläres Vorgehen als Spezifikum der Inter-
pretation heraus, sondern gebraucht das Bild vom Zirkel als Kennzeich-
nung des Verlaufs der Interpretation. 244
Schleiermachers Reflexionen über den Zirkel haben demnach keines-
90 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
von dem Vorwissen des Interpreten ab, und.Dilthey sieht in dieser Ab-
hängigkeit eine schwerwiegende Belastung, weil sie auch die Möglich-
keiten geisteswissenschaftlicher Interpretationsarbeit begrenzt.
Diese Einschätzung verändert sich grundlegend bei Heidegger. Wäh-
rend Diltheys Ausführungen im wesentlichen durch das Streben nach
einer erkenntnistheoretischen und methodologischen Legitimation des
Verstehens geprägt sind und das Verstehen als charakteristische Erkennt-
nisweise der Geisteswissenschaften gegenüber der naturwissenschaftli-
chen Erklärung absetzen, bezieht sich Heideggers fundamentalontolo-
gischer Verstehensbegriff - wie bereits dargelegt - nicht mehr auf eine
bestimmte Erkenntnisform, sondern auf ein sämtliche Erkenntnisleistun-
gen begründendes, welterschließendes Faktum des Daseins. Während
Dilthey die Abhängigkeit des Geisteswissenschaftlers von seinem histo-
risch bedingten Vorverständnis und Vorwissen als Aporie begreift, erfaßt
Heidegger dieses Vorverständnis und das auf ihm gründende Faktum des
Verstehens als eine Bedingung der Möglichkeit auch geisteswissen-
schaftlicher Erkenntnis.
Der Heideggersche Verstehensbegriff wehrt damit auch eine szienti-
stische Selbstüberforderung der Geisteswissenschaften ab, die sich in
Diltheys Gedanken bemerkbar macht. Heidegger verläßt mit seinem oben
dargestellten Verstehensbegriff den Bereich der Epistemologie und eta-
bliert die Hermeneutik programmatisch als Ontologie.
Auf dieser neuen Ebene reformuliert er das Problem, das Dilthey in
immer neuen Anläufen zu lösen versuchte. 252 Nachdem er die erkenntnis-
theoretischen Grundlegungsbemühungen nicht ohne Ironie als irre-
führend charakterisiert hat, formuliert Heidegger seine Gegenposition:
»( ... ) in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau
halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkom-
menheit >empfinden<, heißt das Verstehen von Grund aus mißverstehen.
Nicht darum geht es, Verstehen und Auslegung einem bestimmten
Erkenntnisideal anzugleichen ( ... ) Die Erfüllung der Grundbedingungen
möglichen Auslegens liegt vielmehr darin, dieses nicht zuvor hinsichtlich
seiner wesenhaften Vollzugsbedingungen zu verkennen. Das Entschei-
dende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten
Weise hineinzukommen. Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis,
in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Aus-
druck der existenzialen Vor-Struktur des Daseins selbst.«253
Gadamer knüpft bei seiner Ausarbeitung zunächst an die von Heideg-
ger formulierte» Vorstruktur des Verstehens« an. Er will damit hervorhe-
ben, daß wir uns niemals ohne ein Vorverständnis in Situationen orientie-
92 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
I
ren und nur auf der Grundlage von Erfahrungen, Erwartungen und Vor-
meinungen fähig sind, die Bedeutung von Situationen, Ereignissen,
Handlungen oder bestimmten Gegenständen zu erfassen.
Man sieht, daß die Termini »circulus vitiosus« und »hermeneutischer
Zirkel« auf verschiedenartige Probleme Bezug nehmen. Während die
Rede vom »circulus vitiosus« einen Verstoß gegen Regeln argumentie-
render oder definierender Rede bezeichnet, soll die Rede vom »herme-
neutischen Zirkel« auf eine Grundbedingung alltagsweltlicher Orien-
tierung und sprachlicher Verständigung verweisen.
Die Thematisierung der Relevanz von Vorwissen, Vorverständnis
oder Erwartung ist aber nicht nur in Hinblick auf alltägliche Handlungs-
situationen von Interesse, sie ist ebenso für das spezielle Geschäft der
historischen Geisteswissenschaften oder der Textinterpretation von
Belang.
Schon bei Heidegger hat die Rede vom Zirkel einen kritischen
Akzent. Während in strengen Beweisführungen die Voraussetzung des zu
Beweisenden unzulässig ist, ist im Bereich der Textinterpretation und
historischer Arbeit einVorverständnis konstitutive Bedingung der hier zu
gewinnenden Erkenntnis.
Von Gadamers Ausführungen kann man Aufschluß darüber erwarten,
was es heißen soll, den Zirkel nicht zu vermeiden, sondern in ihn in der
rechten Weise einzutreten. Gadamer nennt als Bedingungen für ein gelin-
gendes Verstehen die Vermeidung willkürlicher Einfälle und die Kon-
zentration auf den thematischen Schwerpunkt eines Texts (»die Sachen
selbst«). Eine genauere Unterscheidung zwischen einer gelungenen und
einer mißlungenen Weise, den Zirkel zu vollziehen, unterbleibt. Diese
Vernachlässigung eines nicht unwesentlichen Details entspricht der allge-
meinen Skepsis Gadamers gegenüber erkenntnistheoretischen und
methodologischen Überlegungen.
Die Affirmation des Zirkels bei Gadamer ist ebenso wie bei Heideg-
ger mit der Kritik an einer Verwissenschaftlichung der Textinterpretation
verbunden, die von der Vorstellung geleitet ist, der Interpret habe >objek-
tiv<, voraussetzungslos und ohne Miteinbeziehung seines persönlichen
Vorverständnisses die Textbedeutung zu ermitteln. Wenn Gadamer die
Auffassung vertritt, daß der Interpretationsprozeß ohne das Vorverständ-
nis und die Erwartungen des Interpreten gar nicht in Gang käme, so ist
damit jedoch nicht gesagt, daß dieses erste Verständnis nicht revidiert
werden könne:
»Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Er
wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 93
Text zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum Rur, weil man den Text schon
mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im
Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem
her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt,
besteht das Verstehen dessen, was dasteht.«254
Das Vorverständnis ist demnach Ausgangspunkt jeder Interpretation,
wobei erst im Verlauf der Interpretation selbst die Haltbarkeit oder
Unhaltbarkeit dieses Vorverständnisses offensichtlich wird. Gadamer
gibt keine Legitimation beliebiger Vormeinungen, er weist nur auf die
wichtige Funktion für das Zustandekommen und den Ablauf des Inter-
pretationsprozesses hin: »Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch
Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst be-
währen. Die Ausarbeitung der rechten, sachangemessenen Entwürfe, die
als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich >an den Sachen< erst bestäti-
gen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens. Es gibt hier keine
andere >Objektivität< als die Bewährung, die eine Vormeinung durch ihre
Ausarbeitung findet. Was kennzeichnet die Beliebigkeit sachunangemes-
sener Vormeinungen anders, als daß sie in der Durchführung zunichte
werden?«255
Als notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Interpretation nennt
Gadamer des weiteren die »Offenheit für die Meinung des anderen oder
des Textes«.256 Die Bereitschaft, sich etwas sagen zu lassen, die Alterität
einer Auffassung nicht nur zu akzeptieren, sondern zu integrieren, kenn-
zeichnet die Einstellung des Interpreten zu seinem Text:
»Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit sich der
Text selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit
kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszu-
spielen. «257
Gadamers Analyse der Voraussetzungshaftigkeit des Verstehens kon-
zentriert sich zunächst auf eine Auseinandersetzung mit dem Postulat der
Vorurteilsfreiheit.
II.2.2. Vorurteile
»Wir müssen uns ( ... ) in acht nehmen, daß wir nicht alles dasjenige
verwerfen, was die Menschen durch ein Vorurtheil annehmen, und was
wir vielleicht selbst bisher bloß um eines Vorurtheils willen angenom-
men haben; denn das hiesse in der That durch ein neues Vorurtheil die
alten Vorurtheile vertreiben, und da würde man einen Teufel durch den
andem. austreiben. «U5
Meier sieht im Postulat eines rigorosen und universalen Vorurteilsver-
zichts eine Gefahr. Er vertritt die Auffassung, daß Vorurteile prinzipiell
zu meiden sind, weil es sich um fälschlicherweise für gewiß gehaltene
Urteile handelt. Meier spricht sich aber gegen eine totale Ächtung des
Vorurteils aus, weil die menschliche Vernunft überfordert wäre, wenn sie
insbesondere in außerwissenschaftlichen Zusammenhängen jedes einzel-
ne Urteil gründlich prüfen und begründen müßte. Meiers Konzeption der
Vorurteilsfreiheit wäre demnach nicht als ein Imperativ zu begreifen,
sondern als eine regulative Idee.
Daß es sich bei diesen Überlegungen Meiers nicht um isolierte
Gedanken eines Einzelgängers handelt, zeigt eine Bemerkung Kants aus
den 1770er Jahren, die mit Meiers Auffassung in vollem Einklang steht:
»Man hat sich dahero sehr wohl in Acht zu nehmen, nicht alle und
jede Vorurtheile so gleich gerade zu verwerfen, sonderen man muß sie
forderest prüfen, und wohl untersuchen, ob nicht etwa noch in ihnen
etwas Gutes anzutreffen seyn möge. man kann wircklich wiederum eine
Art von Vorurtheilen wieder die vorutheile antreffen, wenn man nemlich
so gleich geradezu alles dasjenige verwirft, was durch Vorurtheile ent-
standen ist.
/Auf diese Art kann man sehr öfters die allergrößten, und wichtigsten
Wahrheiten verwerfen ( ... )«266
Durch die Thematisierung eines Vorurteils gegen die Vorurteile
bremsen die Aufklärer eine Tendenz, strenge Rationalitätskonzeptionen
in unangemessener Weise auf die Lebenspraxis anzuwenden.
Gadamer erwähnt diese Abschwächungen der aufklärerischen Vorur-
teilsfeindschaftu 7, womit er größere historische Kenntnis und ein stärke-
res Differenzierungsvermögen als die Mehrzahl seiner Anhänger und
Kritiker beweist. Aber in seinen weiteren Ausführungen gibt er diese
nuancierte Einschätzung der Aufklärung wieder auf. Er vertritt die Auf-
fassung, daß die »Idee einer absoluten Selbstkonstruktion der Ver-
nunft«268 das aufklärerische Denken weitaus stärker prägt als die Einsicht
in die faktische Angewiesenheit auf Vorurteile in der Lebenspraxis. Die-
ser Idee und der mit ihr verbundenen Vorstellung eines voraussetzungslo-
sen Anfangs der Vernunft gilt die Kritik Gadamers.
96 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
I
Im Grunde gilt Gadamers Interesse aber überhaupt nicht in erster
Linie den speziellen Problemen der Vorurteilstheorien der Aufklärung, er
möchte vielmehr Heideggers Analyse der> Vor-Struktur< des Verstehens
durch Kontrastierung mit einer Position, die als eine Verdeckung der
grundlegenden Kontextabhängigkeit und Historizität menschlichen Er-
kennens charakterisiert wird, profilieren.
Allerdings sind Gadamers Erörterungen nicht nur dadurch belastet,
daß sein Bild der Aufklärung etwas einseitig wirkt. Sein Gebrauch des
Ausdrucks >Vorurteil< blendet den Bedeutungswandel aus, den der Vor-
urteilsbegriff seit der Aufklärung durchgemacht hat. Gadamer beachtet
den allgemeinen und sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch nicht,
wenn er das Vorurteil als ein lediglich antizipierendes, inhaltlich unbe-
stimmtes Urteil definiert:
>>> Vorurteil< heißt also durchaus nicht: falsches Urteil, sondern in sei-
nem Begriff liegt, daß es positiv und negativ gewertet werden kann.«269
Gebrauchte Gadamer in dem zitierten Satz den Imperfekt an Stelle
des Präsens, so würden keine Schwierigkeiten auftreten. In ihrer von
Gadamer vorgebrachten allgemeinen Fassung ist diese Aussage aller-
dings fragwürdig: Spätestens seitdem das Vorurteil in den 50er Jahren zu
einem Forschungsgegenstand der Psychologie und Soziologie geworden
ist, wird der Begriff des Vorurteils als eindeutig negativer Begriff ver-
wendet. 270 Als Vorurteil wird kaum noch eine antizipierende Beurteilung
bezeichnet, der Begriff bezieht sich primär auf Einstellungen, die der
Diskriminierung gesellschaftlicher Minderheiten (Ausländer, Farbige,
Homosexuelle, Juden) zugrunde liegen.
Vereinfachend kann man sagen, daß der Vorurteilsbegriff der Auf-
klärung seinen Ort im Rahmen erkenntnistheoretischer Überlegungen
hatte (Vorurteil als Problem der Urteilskraft), während gegenwärtig der
Begriff des Vorurteils zu einem Bestandteil der politischen und sozial-
wissenschaftlichen Sprache geworden ist (Vorurteile als politische,
soziologische und psychologische Probleme).
In den Sozialwissenschaften, die die Vorurteilsforschung vor allem in
den 1960er und 70er Jahren energisch vorangetrieben haben, herrscht ein
breiter Konsens darüber, daß Vorurteile als FehleinsteIlungen anzusehen
sind, die bekämpft werden sollen. Eine Rehabilitation von Vorurteilen
wäre von diesem Standpunkt aus mit der Aufforderung zu vergleichen,
das epidemische Auftreten von Krankheiten zu begrüßen. 271
Eine knappe Definition des sozialwissenschaftlichen Vorurteilsbe-
griffs, der in seinen Grundzügen bereits in einer 1950 publizierten Studie
formuliert warn, gibt E.E. Davis:
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 97
Klarer als dies im Fall der Revision des Vorurteilsbegriffs gelingt, kon-
kretisiert Gadamer den Begriff der> Vor-Struktur< des Verstehens anband
einer Diskussion der Begriffe >Autorität< und >Tradition<.
Mit seinen Bemerkungen zum Autoritätsbegriff bemüht er sich, einen
weiteren angeblich zu Unrecht in Mißkredit geratenen Begriff zu rehabi-
litieren. Auch in diesem Fall wird die Aufklärung kritisiert, weil sie »( ... )
schlechthin alle Autorität diffamierte.«27S
Im Gegenzug zu verbreiteten umgangssprachlichen Gebrauchsweisen
des Ausdrucks >Autorität< wird Autorität nun nicht als ein auf Herr-
schaftsverhältnisse bezogener Terminus vorgestellt, sondern auf die frei-
willige Anerkennung der Vorrangstellung einer Person oder Institution
bezogen. Nach Gadamer wird einer Person oder Institution insofern
Autorität zugebilligt, als sie ein spezielles Wissen oder Können besitzt
und aufgrund ihrer Kompetenz Auskünfte geben, Entscheidungen treffen
oder Direktiven formulieren kann, an denen sich die betroffenen Perso-
nen ausrichten.
»Die Autorität von Personen hat ( ... ) ihren letzten Grund nicht in
einem Akte der Unterwerfung und der Abdikation der Vernunft, sondern
in einem Akt der Anerkennung und der Erkenntnis - der Erkenntnis näm-
lich, daß der andere einem an Urteil und Einsicht überlegen ist (... )
(Autorität) beruht auf Anerkennung und insofern auf einer Handlung der
Vernunft selbst, die, ihrer Grenzen inne, anderen bessere Einsicht zutraut.
Mit blindem Kommandogehorsam hat dieser richtig verstandene Sinn
von Autorität nichts zu tun. Ja, unmittelbar hat Autorität überhaupt nichts
mit Gehorsam, sondern mit Erkenntnis zu tun.«276
Daß Autorität mißbraucht werden kann und daß der Autoritätsbegriff
gerade aufgrund seiner Verwendung als Instrument zur Apologie proble-
matischer Herrschaftsstrukturen in Verruf geraten ist, erscheint Gadamer
als ein sekundäres Problem.277 Er sieht die grundsätzliche Bedeutung
einer auf Einsicht, Wissen und Können gegründeten Autorität grund-
sätzlich nicht durch die Möglichkeit des Mißbrauchs beeinträchtigt.
An diesem Punkt ist es sinnvoll, eine ausführliche Analyse des Auto-
ritätsbegriffs heranzuziehen, die ganz auf Gadamers Linie liegt. J.M.
Bochenski'78 bestimmt Autorität als Relation zwischen einem Träger, ei-
nem Subjekt und einem Gebiet. 279 Die Beziehung zwischen den drei Ele-
menten wird dadurch charakterisiert, daß der Träger genau dann als Auto-
rität für das Subjekt in Hinblick auf ein Gebiet gilt, wenn das Subjekt die
Behauptungen des Trägers in bezug auf das betreffende Gebiet anerkennt.
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 99
Die Bindung der Autorität an ein Gebiet ist eine wichtige Bedingung.
Kein Mensch wird vernünftigerweise als absolute Autorität Anerkennung
finden, sondern nur als Autorität hinsichtlich begrenzter Gebiete angese-
hen.
Bochenskis Analyse und Beispiele machen deutlich, daß Autorität -
ganz im Sinn Gadarners - nicht ausschließlich als Bezeichnung von
Macht und in Zusammenhang mit Herrschaftsverhältnissen begriffen
werden muß. Der Autoritätsbegriff hat seinen Ort keineswegs nur in den
speziellen Bereichen militärischer Befehlsbefugnis, richterlicher Amtsge-
walt oder päpstlicher Unfehlbarkeit, sondern er ist vor allem deshalb von
Interesse, weil recht verstandene Autorität in alltäglichen Situationen
eine bedeutende Rolle spielt.
Unter den von Bochenski untersuchten Autoritätsbegriff fallen so
unterschiedliche Fälle wie die Bitte eines Kindes um Unterstützung durch
Erwachsene (»Bitte zeig mir, wie das geht!«), die Annahme der Zuver-
lässigkeit der Antworten eines Lehrers durch den Schüler, das Vertrauen
in die Verbindlichkeit des Wissens von Spezialisten (Ärzten, Rechtsan-
wälten, Ökologen).
Eine wesentliche Unterscheidung betrifft die Arten der Autorität.
Bochenski spricht von der Autorität des Wissenden als epistemischer
Autorität und von der Autorität des Vorgesetzten als deontischer Auto-
rität.
Wenn ich am Tag vor einer Wandertour in den Alpen bei einer Wet-
terwarte die Vorhersage für den nächsten Tag erfrage und mich auf die
Prognose verlasse, so sind die Meteorologen epistemische Autoritäten für
mich. Wenn ich vor Ort einen Einheimischen nach dem besten Weg nach
x frage und als Antwort zu hören bekomme, ich solle mir ein anderes
Ziel aussuchen, weil es noch zu früh im Jahr sei und derzeit die Wege
nach x alle noch nicht sicher wären, so ist der Einheimische eine deonti-
sche Autorität für mich: ich folge seinen Weisungen. Wichtig ist der
Zusammenhang beider Arten der Autorität:
»Es ist wünschenswert, daß der Träger der deontischen Autorität
gleichzeitig auch Träger der epistemischen Autorität in dem entsprechen-
den Gebiet ist. «280
Auf das Wanderer-Beispiel bezogen leuchtet dies unmittelbar ein. Ich
werde nur dann dem Rat folgen, wenn ich annehme, daß der Einheimi-
sche Bescheid weiß.
In vielen Fällen wird eine Person nur dann ihre deontische Autorität
aufrecht erhalten können, wenn ihre epistemische Kompetenz anerkannt
ist. So käme etwa ein Lehrer in größte Schwierigkeiten, wenn seine
100 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
Schüler ihm fachlich überlegen wären und seine Position als Vorgesetzter
nicht durch sein überlegenes Wissen motiviert wäre.
Die Explikation des Begriffs der epistemischen Autorität macht deut-
lich, daß zwischen wissenschaftlicher Rationalität und Autorität kein
Spannungsverhältnis bestehen muß. Epistemische Autorität ist nämlich
begründbar, wobei die »Anerkennung der größeren Kompetenz und der
Wahrhaftigkeit des Trägers ( ... ) eine notwendige Bedingung der Aner-
kennung ( ... )« ist. 28t Unfehlbar ist die Anerkennung epistemischer Auto-
rität aufgrund direkter Einsicht oder durch Schlußfolgerung allerdings
nicht. Es mag sein, daß die Auskunft des Einheimischen im Gebirge nicht
zuverlässig ist.
Die Vermeidung des Autoritätsbegriffs im gegenwärtigen Sprachge-
brauch hat mit der weit verbreiteten Auffassung zu tun, daß jemand, dem
Autorität zugeschrieben wird, diese wie ein unveräußerliches Gut besitzt.
Dies ist aber, wie aus den Ausführungen Bochenskis hervorgeht, nicht
der Fall. Autorität entsteht durch Anerkennung, sie geht vom Subjekt aus
und wird dem Träger zugebilligt, und sie kann prinzipiell auch wieder
entzogen werden. Bochenski geht ebensowenig wie Gadamer nicht auf
das Skepsis gegenüber dem Autoritätsprinzip motivierende Problem ein,
daß die Anerkennung von Autorität erzwungen werden kann oder im
Rahmen systematisch verzerrter Kommunikationsstrukturen erfolgt.
Ebenso wie die epistemische Autorität ist deontische Autorität prinzi-
piell auf die Anerkennung des Subjekts angewiesen. Dabei ist allerdings
zu beachten, daß hier oft andere Verhältnisse vorliegen als im Fall der
epistemischen Autorität. So besitzt ein Lehrer gegenüber einer Schul-
klasse von Amts wegen eine deontische Autorität, die ihm die Schüler
nicht direkt aberkennen können. Die Schüler können zwar bestimmte
Weisungen des Lehrers ignorieren, eine totale Verweigerung durch die
Schüler würde aber zu scharfen Sanktionen führen. Um diesen zu entge-
hen, werden die Schüler in der Regel die Autorität des Lehrers akzeptie-
ren. Grundsätzlich ist es aber möglich, daß dem Lehrer seine Autorität
förmlich aberkannt wird, etwa dann, wenn er seine Stellung mißbraucht
und die Fürsorgepflicht gegenüber den ihm anvertrauten Schülern ver-
letzt.
In Bochenskis Analyse erscheint der Träger der Autorität ebensowe-
nig wie bei Gadamer als autoritärer Charakter. Im Gegenteil: die Be-
schränkung der Autorität auf begrenzte Bereiche macht deutlich, daß Au-
torität recht verstanden nichts mit willkürlicher Machtausübung zu tun
hat.
»Wahre Autorität braucht nicht autoritär aufzutreten.«282
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 101
Man muß beide Ebenen des Begriffs, diejenige einer sich ohne
bewußte Affirmation durchhaltenden Tradition und diejenige der durch
ausdrückliche Zuwendung und Pflege bewahrten Tradition, trennen und
berücksichtigen, daß Gadamer mit beiden Versionen des Begriffs ope-
riert. Er zeichnet die zweite Fassung dadurch aus, daß er die Anknüpfung
an die Überlieferung als ein vernünftiges Verhalten darstellt: Die aktive
Bewahrung des Überlieferten ist nicht das »Gegenteil der freien Selbstbe-
stimmung«281, sie kann selbst ein Stück autonomen Handelns sein.
Eine Parallele zwischen dem hermeneutischen Konzept des Vorver-
ständnisses und der Tradition ist offensichtlich. Zwar stellt Gadamer die
Möglichkeiten der Anerkennung oder Ablehnung der Überlieferung dar
und berücksichtigt damit solche Fälle, in denen bestimmte Elemente der
Überlieferung als obsolet erscheinen. Er suggeriert aber dennoch, daß ein
grundsätzliches Vertrauen in die Überlieferung angebracht ist. Ebenso im
Fall des Vorverständnisses: Auch hier unterscheidet Gadamer ein richti-
ges, bestätigungsfähiges von einem falschen, durch spätere Erfahrung
widerlegtes Vorverständnis und plädiert gleichwohl für eine allgemeine
Aufwertung des Vorverständnisses.
Mit beiden Konzepten, dem des Vorverständnisses und dem der Tra-
dition, führt Gadamer die Überlegungen Heideggers zur) Vor-Struktur<
des Verstehens weiter und konkretisiert diese in Hinblick auf die Proble-
matik der Hermeneutik, die auch die Arbeit der Geisteswissenschaften
durchreflektiert. Gerade im Zusammenhang mit dem Traditionsbegriff
geht Gadamer auf deren Selbstverständnis als Wissenschaften ein.
»Geisteswissenschaftliche Forschung kann sich zu der Weise, wie wir
als geschichtlich Lebende zur Vergangenheit uns verhalten, nicht in
einem schlechthinnigen Gegensatz denken. In unserem Verhalten zur
Vergangenheit, das wir ständig betätigen, ist jedenfalls nicht Abstand-
nahme und Freiheit vom Überlieferten das eigentliche Anliegen. Wir ste-
hen vielmehr ständig in Überlieferungen, und dieses Darinstehen ist kein
vergegenständlichendes Verhalten, so daß das, was die Überlieferung
sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre - es ist immer schon Eige-
nes, Vorbild und Abschreckung, ein Sichwiedererkennen, in dem für
unser späteres historisches Nachurteil kaum noch Erkennen, sondern
unbefangenste Anverwandlung der Überlieferung zu gewahren ist.«288
Nach Gadamer sind die Geisteswissenschaften der Ort, an dem sich
das Interesse an der Vergangenheit in privilegierter Weise Ausdruck ver-
schafft und an dem auch in den modernen Gesellschaften die Überliefe-
rung bewahrt wird. Aus seinem Traditionsbegriff folgert Gadamer, daß
die Geisteswissenschaften die Überlieferung nicht nur als ein For-
104 Verstehen, Interpretieren, Erkennen /
cher Arbeit unter das Etikett »Erzählen« ni~ht befriedigen kann, bleibt
die Möglichkeit, daß das Erzählen zwar nicht das einzige und auch nicht
das primäre, aber doch ein wichtiges Mittel der GeisteswissenschaftIer
ist, um Vergangenheit zu vergegenwärtigen.
Dabei sollte aber zumindest der Versuch einer Unterscheidung von
geisteswissenschaftlichem und literarisch-fiktionalem Erzählen gemacht
werden. Als zentrales Merkmal geisteswissenschaftlicher Texte kann
man ihren Behauptungscharakter anführen. Eine geisteswissenschaftliche
Darstellung will nicht in erster Linie eine gute, spannende und gelungene
Erzählung sein, sondern sie erhebt zunächst einen Anspruch auf Richtig-
keit oder Angemessenheit. Der fiktionale Text unterscheidet sich von der
wissenschaftlichen Abhandlung nicht dadurch, daß er keine Erkenntnis
vermitteln kann, sondern dadurch, daß an ihn nicht die Begrün-
dungsforderungen gestellt werden, denen wissenschaftliches Reden
gerecht werden sollte. 299 Der Autor eines historischen Romans kann zwar
verbürgtes Material in seinen Text integrieren, insgesamt ist sein Roman
aber nicht als behauptende Rede über vergangene Ereignisse zu verste-
hen.
Ein Historiker muß im Gegensatz zum Romanschriftsteller Gründe
anführen können, die zeigen, daß seine Darstellung richtig ist, und auch
ein LiteraturwissenschaftIer wird eine Begründung dafür geben können,
weshalb seine Interpretation zwar nicht die einzig richtige ist, aber doch
einen Beitrag zur Erhellung der Textbedeutung darstellt.
Gerade weil GeisteswissenschaftIer einer Begründungspflicht nach-
kommen müssen, bearbeiten sie meist eng begrenzte Probleme. Speziali-
sierung und Detailarbeit sind charakteristische Kennzeichen auch der gei-
steswissenschaftlichen Publikationen, die mit dem Marquardschen Stich-
wort des Erzählens nicht harmonieren.
Anlaß zu diesem Exkurs über die Kompensationstheorie war die Fest-
stellung, daß die Geisteswissenschaften auf der Basis von Gadamers Tra-
ditionsbegriff nicht so sehr als Wiederentdecker verlorener Traditionen,
denn als in Traditionen stehende Fächer begriffen werden. Aufgrund
ihrer Vermittlerrolle zwischen Vergangenheit und Gegenwart sollen sie
fähig sein, Orientierungen in der Gegenwart zu geben.3°O Auch die
Kompensationstheorie Marquards spricht von der Möglichkeit, daß durch
die Geisteswissenschaften Orientierungen vermittelt werden können:
»Die Modernisierung wirkt als Desorientierung; sie wird - modern-
kompensiert durch die Ermunterung von Traditionen, mit denen man sich
identifizieren kann; also etwa der Tradition des Christentums, der Tradi-
tion des Humanismus, der Tradition der Aufklärung usf.«301
110 Verstehen, lnterpretieren~ Erkennen
II.2.6. Wirkungsgeschichte
tion ist aber in jedem Falle eine Aufgabe von eigener Schwierigkeit. Der
Begriff der Situation ist ja dadurch charakterisiert, daß man sich nicht ihr
gegenüber befindet und daher kein gegenständliches Wissen von ihr
haben kann. Man steht in ihr, findet sich immer schon in einer Situation
vor, deren Erhellung die nie ganz zu vollendende Aufgabe ist. Das gilt
auch für die hermeneutische Situation, d.h. die Situation, in der wir uns
gegenüber der Überlieferung befinden, die wir zu verstehen haben. Auch
die Erhellung dieser Situation, d.h. die wirkungs geschichtliche Reflexion
ist nicht vollendbar, aber diese Unvollendbarkeit ist nicht ein Mangel an
Reflexion, sondern liegt im Wesen des geschichtlichen Seins, das wir
sind. Geschichtlichsein heißt, nie im Sichwissen aufgehen. Alles Sichwis-
sen erhebt sich aus geschichtlichen Vorgegebenheiten (... )«307
An dieser Stelle wird ein Grundmotiv der philosophischen Hermeneu-
tik Gadamers faßbar, das bereits in den kunsttheoretischen Überlegungen
von WM eine wichtige Rolle spielte. Die Wendung gegen die Subjekt-
philosophie schlägt sich hier als Akzentuierung der Abhängigkeit der
geschichtlichen Existenz des Menschen von unverfügbaren Vorausset-
zungen nieder.
In bezug auf die Kunsterfahrung wollte Gadamer nicht davon spre-
chen, daß ein Subjekt (Künstler oder Betrachter) die Wahrheit des Wer-
kes dank eigener Erkenntnisleistungen erkennt, sondern er bestimmte die
Kunst als ein Spiel, das den Künstler und die Betrachter in ein Wahr-
heitsgeschehen miteinbezieht. Analog dazu wird nun eine ontologische
Wendung des Geschichtsbegriffs vorgeschlagen: Die einzelnen Men-
schen sind weder als Handelnde noch als Erkennende Herren der Ge-
schichte, sondern sie sind in ein Geschehen verwickelt, in das sie zwar
punktuell eingreifen können, das aber auch die Möglichkeiten solcher
Eingriffe auf entscheidende Weise begrenzt,J°8 Die im Begriff der
Wirkungs geschichte vollzogene Ontologisierung der Geschichte impli-
ziert ein Umdenken weg von der Spontaneität der Subjekte hin zu der
fundamentalen Abhängigkeit des einzelnen von vorgegebenen Strukturen
und läßt sich als hermeneutisches Pendant zu Heideggers Seins geschichte
begreifen.
Erkenntnis wird nicht mehr so sehr als eine Handlung des Subjekts,
sondern als ein Geschehen gedacht, in das der einzelne involviert ist. Im
Rahmen dieses Geschehens vollzieht der einzelne durchaus selbständige
Erkenntnishandlungen, diese sind allerdings nur noch Elemente eines
umfassenden >Wahrheitsgeschehens<, das insgesamt von keinem Subjekt
mehr beherrscht wird.
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 113
über die vergangenen Epochen vennittelt wird oder daß bestimmte Nor-
men und Handlungsmuster in ungebrochener Form von den Vorfahren an
die Nachkommen weitergegeben werden. Im Begriff der Wirkungsge-
schichte und der komplementären Horizontmetaphorik denkt Gadamer
die Vermittlung von Einst und Jetzt in dialektischer Weise nicht nur im
Modus der manifesten Kontinuität, sondern ebenso im Modus der Ab-
weichung/Ablehnung und des EntzugsNergessens. Der Begriff der Wir-
kungsgeschichte bestimmt die Gegenwart nicht nur insofern als Produkt
der Geschichte, als sich Elemente des Vergangenheitshorizonts durchhal-
ten und den Gegenwartshorizont positiv mitgestalten. Auch als verdräng-
te, bewußt ausgelöschte oder bloß vergessene wirkt Geschichte auf die
Gegenwart ein: Dunkle Ränder und blinde Flecken bestimmen den Hori-
zont der Gegenwart ebenso wie die Zonen, in denen die Gegenstände
scharf und deutlich sichtbar sind. 313
Diese Struktur der Wirkungsgeschichte impliziert eine grundsätzliche
Einschränkung des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins, das zwar auf
die vielfältigen Voraussetzungen geschichtlicher Existenz reflektiert, die-
se aber insgesamt als uneinholbar erkennt. Das wirkungs geschichtliche
Bewußtsein erstellt kein transparentes Bild der Geschichte, sondern es
weiß sich selbst als beständig von der Arbeit der Geschichte abhängig. Es
»( ... ) ist das geschichtlich erfahrene Bewußtsein, das, indem es dem
Phantom einer völligen Aufklärung entsagt, eben damit für die Erfahrung
der Geschichte offen ist.«3!'
Die philosophische Hermeneutik begnügt sich als Ontologie mit dem
Hinweis auf die gekennzeichnete Geschichtlichkeit menschlichen
Lebens, ohne sich die Aufgabe zu stellen, eine Theorie bestimmter For-
men der Überlieferung und Rezeption von Texten und Kunstwerken aus-
zuarbeiten. Stattdessen erhebt sie einen Universalitätsanspruch und gibt
das Prinzip der Wirkungsgeschichte als allgemeingültig aus. Gadamer
will den umfassenden Rahmen abstecken, innerhalb dessen unterschiedli-
che Lebensformen ihre Geschichtlichkeit in vielfältiger Weise modellie-
ren.
Der Begriff der Wirkungs geschichte und der ihm korrespondierende
Begriff des wirkungs geschichtlichen Bewußtseins bilden die Grundlage
der hermeneutischen Philosophie Gadamers. Auf dieser Basis aufbauend
werden mehrere Erfahrungsformen und Bewußtseinsarten unterschieden:
hermeneutische Erfahrung/hermeneutisches Bewußtsein, ästhetische Er-
fahrung/ästhetisches Bewußtsein, historische Erfahrung/historisches Be-
wußtsein. Auch hier verzichtet Gadamer auf präzise Begriffsdefinitionen
und vertraut darauf, daß durch die Konfiguration der komplementären
116 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
1I.2.8. Sprache
Erfahrungen machen kann. Er erschließt sich die Welt und versteht sie im
Rahmen der in seiner Sprache sedimentierten Deutungsmuster. Der Vor-
gang des Primärspracherwerbs scheint gut geeignet zu sein, um die Rele-
vanz von Vorverständnis und Zugehörigkeit zu Traditionen zu unterstrei-
chen. Die Sprache, die nach Gadamers an Humboldt anknüpfender Auf-
fassung eine bestimmte WeItsicht impliziert, ist identisch mit einer
Lebensform, sie hält grundlegende Unterscheidungen und Orientierungen
bereit. Indem ein Kind sprechen lernt, wächst es in diese Lebensform
hinein und übernimmt die sprachgeprägte Weltansicht.
Gadamers Sprachbegriff versteht sich als Korrektiv einseitiger
Begriffsbildungen, die die Sprache als Kommunikationsinstrument dar-
stellen. Sprache ist nach Gadamer weit mehr als ein Mittel der Verständi-
gung zwischen Menschen, sie ist eine absolute Größe, die so etwas wie
einen Raum der Verständigung überhaupt erst konstituiert. Die Schlüssel-
stellung der Sprache umschreibt Gadamer wie folgt:
»( ... ) in der Sprache stellt sich die Welt selbst dar. Die sprachliche
WeIterfahrung ist >absolut<. ( ... ) Die Sprachlichkeit unserer Welterfah-
rung ist vorgängig gegenüber allem, das als seiend erkannt und angespro-
chen wird. Der Grundbezug von Sprache und Welt bedeutet daher nicht,
daß die Welt Gegenstand der Sprache werde. Was Gegenstand der
Erkenntnis und der Aussage ist, ist vielmehr immer schon von dem Welt-
horizont der Sprache umschlossen.«316
Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft zu sein, ist im Rahmen dieser
Konzeption gleichbedeutend mit der Zugehörigkeit zu einer Tradition,
die eine bestimmte Weltansicht vermittelt. Die Sprache selbst bietet ein
bestimmtes Vorverständnis der WeIt an, ein Verständnis, das ständig
weiter gebildet und modifiziert werden kann, das aber gegenüber einzel-
nen Akten der Distanzierung, Kritik oder Transformation einen absoluten
Vorrang beansprucht.
Der Begriff der Sprache ist ebensowenig wie derjenige der Geschich-
te, des Verstehens oder des Spiels einer Begründung im Sinn einer Ablei-
tung aus fundamentaleren Begriffen fahig. Diese Begriffe werden als
grundlegende Prinzipien einer Philosophie der Endlichkeit eingebracht,
die einen nicht überschreitbaren Horizont markieren sollen. Sie fixieren
diesen Horizont nicht, weil die Ziehung einer Grenzlinie einen wie auch
immer gearteten Bereich jenseits der Grenze voraussetzen würde. Dies
aber muß nach Gadamer eine sich selbst beim Wort nehmende Philoso-
phie der Geschichtlichkeit und Endlichkeit vermeiden. Sie kann den
Immanenzraum der menschlichen Erfahrung nur von innen her charakte-
risieren, auch wenn sie damit auf die Deutlichkeit wissenschaftlicher
118 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
II.2.9. Erfahrung
das Leben als Ganzes und das Selbstverst~dnis des Subjekts betreffen.
Wesentlich ist auch hier, daß das Subjekt selbst nicht über seine Erfah-
rungen verfügt. Auch im Zusammenhang mit dem Erfahrungsbegriff
akzentuiert Gadamer also die Unverfügbarkeit des Geschehens.
Frage und Antwort« soll den Begriff henneneutischer Erfahrung über die
bisher gegebenen Bestimmungen hinausgehend erläutern.
»Wir fragen (... ) nach der logischen Struktur der Offenheit, die das
henneneutische Bewußtsein kennzeichnet, und erinnern uns, welche
Bedeutung bei der Analyse der henneneutischen Situation dem B''egriff
der Frage zukam. Daß in aller Erfahrung die Struktur der Frage voraus-
gesetzt ist, liegt auf der Hand. Man macht keine Erfahrung ohne die Akti-
vität des Fragens. Die Erkenntnis, daß die Sache anders ist und nicht so,
wie man zuerst glaubte, setzt offenbar den Durchgang durch die Frage
voraus, ob es so oder so ist. Die Offenheit, die im Wesen der Erfahrung
liegt, ist logisch gesehen eben diese Offenheit des So oder So. Sie hat die
Struktur der Frage.«337
Eigentümlich ist der Umstand, daß Gadamer einer bestimmten Ein-
stellung, der Offenheit für neue Erfahrungen, eine sprachliche oder logi-
sche Struktur zuweist und dadurch die Ebenen der SprachelLogik und der
Dispositionen des Subjekts amalgamiert. In Hinblick auf die vorangegan-
genen Erörterungen des Erfahrungsbegriffs ist bemerkenswert, daß nun
im Gegensatz zu der vorherigen Akzentuierung der Unverfügbarkeit von
Erfahrungen eine Aktivität des Subjekts (»die Aktivität des Fragens«) als
entscheidendes Moment im Erfahrungsprozeß namhaft gemacht wird. In
ähnlicher Weise steht auch der Hinweis auf die Offenheit des henne-
neutischen Bewußtseins in einem spannungsvollen Verhältnis zu der
zuvor als entscheidend herausgehobenen Fixierung von Erwartungen und
deren Durchkreuzung. Die Darstellung des Erfahrungsprozesses als eines
wesentlich negativen, Erwartungen enttäuschenden Vorgangs wird nun
durch eine Beschreibung modifiziert, in der nicht so sehr die Erwartun-
gen des Subjekts relevant sind, sondern eine grundsätzliche Offenheit die
Haltung dessen prägt, der fähig ist, Erfahrungen zu machen.
Beide Aspekte - grundsätzliche Offenheit und eine gewisse Fixierung
der Erwartung - müssen sich nicht unbedingt ausschließen, allerdings ist
es nicht gerade ein Vorzug der Ausführungen Gadamers, daß sie die auf-
gezeigten Spannungen weder erwähnen noch lösen.
Das Schema von Frage und Antwort ordnet den beiden Teilnehmern
am henneneutischen Gespräch, dem Interpreten und dem Interpretandum,
nicht ausschließlich eine der beiden Sprechweisen des Fragens und Ant-
wortens zu. Im henneneutischen Gespräch realisiert sich vielmehr eine
»Dialektik von Frage und Antwort«. Das dialektische Moment der Bezie-
hung von Fragen und Antworten in der henneneutischen Erfahrung
besteht darin, daß Text und Interpret gleichennaßen Fragen zu stellen
und Antworten zu geben scheinen. Der dialektische Dialog der Henne-
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 125
Gadamers »Logik von Frage und Antwort« will mehr leisten als die
Abläufe des Interpretationsprozesses zu beschreiben. Im Hintergrund
der Rede von Frage und Antwort stehen unterschiedliche Positionen:
Erstens eine theologische Metaphysik des Fragens, die den Mepschen
als das von Gott in Frage gestellte/angesprochene Wesen und als den
nach Gott Fragenden bestimme42 ; zweitens die Auszeichnung des Fra-
gens und der Ausarbeitung von Fragen als Vollzugsform der Philoso-
phie und deren Distanzierung vom Modus der Aussage bei Heidegger343 ;
drittens der Impetus des Sokratischen Fragens und einer dialogischen
Dialektik, die in den Werken Platons ihren Niederschlag gefunden
hat. 344
Dem zuletzt genannten Moment kommt besondere Bedeutung für
Gadamers Hermeneutik zu. Gadamer selbst stellt seine »Logik von Frage
und Antwort« ausdrücklich in Verbindung zu der Dialektik Platons und
der in ihr bewahrten Insistenz des Sokratischen Fragens.
Platons Dialektik ist ein Vorbild für die philosophische Hermeneutik,
weil sie »( ... ) die Kunst des Fragens zu bewußter Handhabung erhoben
(... )«345 hat. Damit ist nicht gemeint, daß diese Kunst wie eine Technik
lehrbar ist:
»Die Dialektik als die Kunst des Fragens bewährt sich nur darin, daß
der, der zu fragen weiß, sein Fragen, und das heißt: die Richtung ins
Offene, festzuhalten vermag. Die Kunst des Fragens ist die Kunst des
Weiterfragens, d.h. aber sie ist die Kunst des Denkens.«346
Der fragende Sokrates personifiziert eine für die philosophische Her-
meneutik wesentliche Idee der Vernunft. Sein Vorgehen unterscheidet
sich von wissenschaftlicher Forschung, weil es nicht so sehr auf die For-
mulierung von Theorien und die Analyse gegebener Objekte gerichtet ist,
sondern in undogmatischer Offenheit gemeinsam mit seinen Gesprächs-
partnern nach Antworten auf Fragen sucht, die sich in der Lebenspraxis
stellen. Die Offenheit des Sokrates macht es möglich, scheinbar gesicher-
tes Wissen immer wieder auf seine Begründung hin zu befragen und
Scheinwissen zu entlarven.
Durch diese grundsätzliche Offenheit, durch die Bereitschaft, mögli-
che Entgegnungen, Einwände und Alternativen ernsthaft zu bedenken, ist
die Gestalt des Sokrates ein Vorbild für die hermeneutische Gesprächsbe-
reitschaft. Wenn Gadamer das hermeneutische Gespräch mit Hilfe einer
»Logik von Frage und Antwort« zu kennzeichnen versucht, so geht es
ihm vorrangig darum, zu zeigen, daß das Verstehen der Überlieferung
nicht ausschließlich als Analyse und Erforschung von Objekten zu
beschreiben ist, sondern als ein Prozeß gekennzeichnet werden muß, in
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 127
Das Prinzip der Wirkungsgeschichte und die auf ihm aufbauenden Kon-
zeptionen der Gadamerschen Hermeneutik weisen auf die Begrenztheit
der Tragweite von Handlungen einzelner Menschen und deren Abhängig-
keit von oftmals undurchschauten Voraussetzungen hin. Auch das herme-
neutische Gesprächsmodell, das sich als eine Übertragung des im Bereich
der Ästhetik angesiedelten Spielmodells auf das Feld der Textinterpreta-
tion verstehen läßt, geht ganz im Sinn dieser antisubjektivistischen, onto-
logischen Grundtendenz davon aus, daß der Interpret den Prozeß der
Interpretation nicht souverän beherrscht. Wie auch im Fall der Erfahrung
von Kunst versucht die philosophische Hermeneutik zu zeigen, daß Inter-
pretationen komplexe Geschehnisse sind, innerhalb derer die Handlungen
des Interpreten lediglich einen Faktor neben anderen wesentlichen
Momenten bilden. Die Handlungs- und Erkenntnismöglichkeiten des
Interpreten selbst erscheinen in starkem Ausmaß durch die Überlieferung
und die Situation des Verstehenden determiniert zu sein. Der Interpret
verfügt nur über einen eingeschränkten Spielraum und faßt seinen
Gegenstand zunächst nach Maßgabe seines Vorverständnisses auf.
Eine Perspektive, die die Interpretationsarbeit vorwiegend vom Stand-
punkt des Interpreten aus beschreibt, wird von Gadamer als oberflächlich
kritisiert, weil sie lediglich einen »Außenaspekt« des hermeneutischen
Prozesses erfaßt:
»Weder ist das Bewußtsein des Interpreten dessen Herr, was als Wort
der Überlieferung ihn erreicht, noch kann man, was da geschieht, ange-
messen beschreiben als die fortschreitende Erkenntnis dessen, was ist ( ... )
Vom Interpreten aus gesehen, bedeutet Geschehen, daß er nicht als
Erkennender sich seinen Gegenstand sucht, mit methodischen Mitteln
>herausbekommt<, was eigentlich gemeint ist und wie es eigentlich war,
wenn auch leicht behindert und getrübt durch die eigenen Vorurteile. Das
ist nur der Außenaspekt des eigentlichen hermeneutischen Geschehens.
Er motiviert die unentbehrliche methodische Disziplin, mit der man sich
gegen sich selbst verhält. Das eigentliche Geschehen ist dadurch aber nur
ermöglicht, nämlich daß das Wort, das als Überlieferung auf uns gekom-
128 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
men ist und auf das wir zu hören haben, uns wirklich trifft und so trifft,
als rede es uns an und meine uns selbst.(. .. ) auf der anderen Seite, von
seiten des >Gegenstandes<, bedeutet dieses Geschehen das Insspielkom-
men, das Sichausspielen des Überlieferungsgehaltes in seinen je neuen
(... ) Sinn- und Resonanzmöglichkeiten.«347
Entscheidend für das »eigentliche« hermeneutische Geschehen ist
demnach, daß der Leser von der Überlieferung »getroffen« wird. Analy-
sen der Textarbeit, in denen das Instrumentarium des Interpreten
beschrieben wird, und Versuche, die Frage zu beantworten, wie Interpre-
tationen erfolgreich durchgeführt werden können, sind im Rahmen dieses
Ansatzes nicht gegenstandslos. Aber sie stehen nicht im Zentrum. Nach
Gadamers Überzeugung können sie erst in Anschluß an eine Ausarbei-
tung der hermeneutischen Situation erörtert werden. Eine durch das Prin-
zip der Wirkungs geschichte belehrte Hermeneutik erkennt, daß Texte
nicht einfach als Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchung gegeben
sind und daß der Ursprung der Interpretation nicht mit dem Moment
identisch ist, in dem ein Leser einen Text als interpretationsbedürftigen
oder interpretationsfähigen Gegenstand mittels bestimmter exegetischer
Werkzeuge zu behandeln beginnt. Diese Situation selbst ist auf vielfälti-
ge Weise durch die Form der Überlieferung und den situativen Kontext
der Lektüre bedingt. Beide Momente determinieren, was einem Leser
überhaupt als fragwürdig und relevant erscheint.
Um die Abhängigkeit des Interpreten von vorgängigen Faktoren zu
verdeutlichen, kehrt Gadamer die übliche und naheliegende Vorstellung
vom Interpretationsprozeß um: Er wird nicht vom Interpreten initiiert,
sondern dadurch ausgelöst, daß der Text den Leser anspricht und betrof-
fen macht:
»Nur weil der Text es fordert, kommt es also zur Auslegung und nur
so, wie er es fordert. Der scheinbar thetische Beginn der Auslegung ist in
Wahrheit Antwort, und wie jede Antwort bestimmt sich auch der Sinn
einer Auslegung durch die Frage, die gestellt ist.«348
Die Rede vom fragenden oder den Leser ansprechenden Text bleibt
vieldeutig, da offensichtlich wesentliche Unterschiede zwischen einem
mündlichen Gespräch, bei dem sich die Beteiligten gegenüberstehen, und
dem >Gespräch< des Interpreten mit dem Text bestehen. Der Vergleich
der Interpretation mit einem Gespräch trifft eben nur gewisse Aspekte
der Interpretation. Gadamer weist selbst auf Unterschiede zwischen dem
mündlichen Gespräch und der Textauslegung hin:
»( ... ) die hermeneutische Situation gegenüber Texten (ist zu unter-
scheiden von) der zwischen zwei Gesprächspersonen (... ) Handelt es sich
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 129
1/.2.11.3. Bedeutungsvielfalt
Il.2.11.4. Gesprächskultur
1/.2.12. Klassisches
Der Begriff des Klassischen wird in WM nicht in bezug auf eine be-
stimmte Epoche, Stilrichtung oder Kunstgattung eingeführt. Stattdessen
gibt Gadamer einen Überblick über wichtige Etappen der Geschichte des
Begriffs. Er unterscheidet dabei einen normativen und einen historisch-
deskriptiven Gebrauch dieses Begriffs. Der normative Begriffdes Klassi-
schen billigt dem als klassisch bezeichneten Gegenstand eine uneinge-
schränkte Geltung zu. Sowohl hinsichtlich seines Bedeutungsgehalts, sei-
ner >Aussage<, als auch in bezug auf seine formale oder stilistische
Beschaffenheit wird das Objekt als verbindlich angesehen.
In seiner historisch-deskriptiven Bedeutung zeichnet der Begriff des
Klassischen einzelne Gegenstände als musterhafte Produkte einer be-
stimmten Epoche oder Gattung aus. Die historische Einordnung impli-
ziert, verglichen mit der normativen Begriffsversion, eine Distanzierung:
Der Geltungsanspruch wird auf bestimmte Epochen oder Gattungen
eingeschränkt und nicht generell erhoben.
Gadamer wendet sich dagegen, den normativen Begriff des Klassi-
schen aufzugeben, weil diesem nach seiner Überzeugung eine Priorität
zukommt. Allerdings will er das klassische Werk nicht zum Träger einer
zeitlosen, außer- oder übergeschichtlichen Bedeutung stilisieren, weil ein
solcher Ausstieg aus der Geschichte nicht mit der konsequenten Histo-
risierung und Kontextualisierung des Verstehens in WM zu vereinbaren
wäre.
»Das Klassische ist gerade dadurch eine wahrhaft geschichtliche
Kategorie, daß es mehr ist als ein Epochenbegriff oder ein historischer
Stilbegriff und daß es dennoch nicht ein übergeschichtlicher Wertgedan-
ke sein will. Es bezeichnet nicht eine Qualität, die bestimmten geschicht-
lichen Erscheinungen zuzusprechen ist, sondern eine ausgezeichnete
Weise des Geschichtlichseins selbst, den geschichtlichen Vollzug der
Bewahrung ( ... )«373
Fragt man danach, welchen Werken aus welchen Gründen die Aus-
zeichnung zuteil wird, vor dem Vergessen bewahrt und in den Rang eines
Klassikers erhoben überliefert zu werden, so antwortet Gadamer mit dem
Hinweis auf die Resistenz dieser Werke gegen Kritik, eine Resistenz, die
auf Macht und Herrschaft beruht:
»Klassisch ist, was der historischen Kritik gegenüber standhält, weil
seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich
überliefernden und bewahrenden Geltung aller historischen Reflexion
schon vorausliegt und sich in ihr durchhält.«374
Das klassische Werk ist eine Ausnahrneerscheinung. Es übertrifft
andere Werke nicht nur dadurch, daß es ein Meisterwerk im Sinn eines
138 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
schen selbst und meldet Zweifel an der von Gadamer präsentierten Versi-
on an. Jähnig führt aus, daß keineswegs unerschütterte Geltung und
ungebrochene Kontinuität die Rezeptionsgeschichte klassischer Werke
kennzeichnet, sondern daB im Gegenteil ein Grundzug der Diskontinuität
vorherrscht, der geradezu dazu berechtigt, von einer »historischen Wir-
kungslosigkeit«378 der klassischen Werke zu sprechen. Dabei bezieht sich
Jähnig auf den Umstand, daß die ausdrücklichen Zuwendungen zu Klas-
sikern in der Renaissance, bei Goethe, J. Burckhardt, Poussin oder Cezan-
ne gerade nur vor dem Hintergrund von Traditionsbrüchen zu begreifen
sind. Die Rezeption klassischer Werke steht nicht so sehr im Zeichen
kontinuierlicher Bewahrung, sie ist vielmehr als gegenwartskritische
Neuorientierung zu bestimmen: »( ... ) eine angemessene >Bewahrung< des
Klassischen (ist) stets verändernd (... )«.379
Damit verliert das klassische Werk aber die ihm von Gadamer zuge-
schriebene Fähigkeit, sich über den Abstand der Zeiten hinweg selbst
verständlich zu machen.
2.) Vom Standpunkt des Literaturwissenschaftiers aus beurteilt auch
H.R. JauB die Stellung des Klassischen bei Gadamer kritisch. 380 JauB steht
ähnlich wie Habermas auf Seiten Gadamers, solange die Aporien eines
historischen Objektivismus durch die hermeneutische Reflexion offenge-
legt werden. 381 Er kritisiert aber Gadamers Traditionalismus des Klassi-
schen und betont, daß sich dem klassischen Text gegenüber die Aufgabe
des Verstehens ebenso stellt wie angesichts anderer Gegenstände der
Literaturwissenschaft. Ebenso wie Jähnig weist JauB den Vorschlag
Gadamers zurück, die Stellung des klassischen Werks dadurch zu charak-
terisieren, daß ihm Zeitlosigkeit als Weise seines geschichtlichen Seins
zugeschrieben wird. Mit Recht fordert er eine Einbeziehung der klassi-
schen Werke in eine historische Betrachtungsweise, die die Spannung
zwischen Gegenwartshorizont des Rezipienten und Vergangenheitshori-
zont des Produzenten382 artikuliert und sie nicht im Namen einer vorgeb-
lich unmittelbar wirkenden »Sagkraft« des Klassischen ignoriert. Der
Interpret hat sich nach JauB die Entfaltung des Bedeutungsgehalts des
Texts in den unterschiedlichen Etappen seiner Rezeptionsgeschichte als
Prämissen der eigenen Interpretationsarbeit zu vergegenwärtigen. An die
Stelle einer unkontrollierten Horizontverschmelzung tritt die kontrollierte
Rekonstruktion und Abhebung der divergierenden Horizonte, in die der
Text im Lauf seiner Rezeptionsgeschichte einrückt.
Bei seinem Veto gegen Gadamers substanzialistischen Traditions-
begriff beruft sich JauB auf Gadamer selbst, nämlich auf das Prinzip der
Wirkungsgeschichte:
140 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
»Der von Hegel übernommene Begriff des Klassischen, das sich sel-
ber deutet, ( ... ) widerspricht dem Prinzip der Wirkungsgeschichte, daß
Verstehen >kein nur reproduktives, sondern auch ein produktives Verhal-
ten ist<.«383
\
Während Jauß sich in seinen eigenen Arbeiten ausdrücklich auf Gada-
mer bezieht und feststellt, daß die von ihm entwickelte rezeptionsästhetl-
sche Literaturtheorie ohne Gadamers Werk nicht denkbar gewesen wäre,
verschärft R. Waming die Kritik an Gadamers Begriff des Klassischen.
3.) Waming384 setzt mit der Diagnose eines eigentümlichen Span-
nungsverhältnisses ein, das zwischen dem dialogischen Charakter des
Verstehens (Gesprächsmodell, Frage-Antwort-Schema) und der überwäl-
tigenden monologischen »Sagkraft« des klassischen Werks besteht. Es
handelt sich hierbei nicht um eine unwesentliche Unklarheit innerhalb
der Gadamerschen Hermeneutik. Waming will zeigen, daß das Konzept
des klassischen Texts bei Gadamer eine wichtige Lücke füllt. Er sieht in
WM einen Antimethodologismus am Werk, der es unmöglich macht, die
Frage zu beantworten, worin der Maßstab der Angemessenheit einer
Interpretation besteht.
»Diese Absage an Methodik hat weitreichende Konsequenzen, z.B.
die, daß nicht mehr zu trennen ist zwischen Verstehen und Mißverstehen.
Eben daran möchte Gadamer gleichwohl festhalten (... ) wenn aber zwi-
schen wahr und falsch geschieden werden soll bei gleichzeitiger Zurück-
weisung einer Methode, dann entsteht eine Leerstelle in der gesamten
Konstruktion, und es wird absehbar, womit diese Leerstelle gefüllt wird:
mit dem Klassischen. Das Klassische ist von sich aus Garant angemesse-
nen Verstehens, es stiftet von sich aus Traditionen richtigen Verstehens,
in die man >einrückt<, kurz: die >Sagkraft< des Klassischen kompensiert
den Ausfall von Methode.«38s
Damit gewinnt die Kritik am Klassikbegriff Gadamers eine neue
Dimension. Waming kritisiert mit seiner Attacke auf das Konzept des
Klassischen die Hermeneutik Gadamers in toto, denn nach Warning zahlt
Gadamer für die Verdrängung des Methodenproblems einen zu hohen
Preis: Das hermeneutische Verstehen verliert den ihm von Gadamer
selbst zugewiesenen dialogischen Charakter:
»Gadamer selbst würde kaum bestreiten können, daß das von ihm so
genannte hermeneutische Gespräch allzeit beherrscht wird von einer fun-
damentalen Monologizität. Ausgangspunkt ist ihm die monologisch-auto-
ritäre >Sagkraft< einer Wahrheit, die der Interpret mit seiner Gegenwart
weniger zu vermitteln als vielmehr in seiner Gegenwart zur Geltung zu
bringen hat. «386
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 141
delns eine transzendente, ewige und unver~derliche Idee des Guten als
feste Nonn für die Bestimmung guten Handeins dienen könne. Aristote-
les zweifelt daran, daß eine allgemeine Vorstellung als Richtmaß in
höchst unterschiedlichen Handlungszusammenhängen dienen kann, und
er kritisiert eine Auffassung, derzufolge die Erkenntnis des Guten nicht
grundsätzlich von der Fonn der theoretischen Erkenntnis und der ihr
zukommenden Präzision unterschieden wird. In Reaktion ,auf die Platoni-
sche Ideenlehre führt Aristoteles aus, daß das praktische Wissen nicht mit
der Exaktheit des theoretischen Wissens konkurrieren kann, die paradig-
matisch in den mathematischen Wissenschaften verwirklicht ist.
2.) Nachdem Gadamer mit der Platon-Kritik des Aristoteles kurz den
einschlägigen philosophiegeschichtlichen Kontext umschrieben hat, zieht
er eine Parallele zwischen der Auseinandersetzung des Aristoteles mit
Platon und dem Kampf der philosophischen Henneneutik gegen die ein-
seitige Dominanz des historischen Objektivismus und der Verwissen-
schaftlichung der Beschäftigung mit der Überlieferung.
»Wir sprachen von der Zugehörigkeit des Interpreten zu der Überlie-
ferung, mit der er es zutun hat, und sahen in dem Verstehen selbst ein
Moment des Geschehens. Die Überfremdung mit den objektivierenden
Methoden der modernen Wissenschaft, die die Henneneutik und Historik
des 19, Jahrhunderts charakterisiert, erschien uns als die Folge einer
falschen Vergegenständlichung. Diese zu durchschauen und zu vennei-
den, ist das Beispiel der aristotelischen Ethik berufen. Denn das sittliche
Wissen, wie es Aristoteles beschreibt, ist offenkundig kein gegenständli-
ches Wissen, d.h. der Wissende steht nicht einem Sachverhalt gegenüber,
den er nur feststellt, sondern er ist von dem, was er erkennt, unmittelbar
betroffen. «393
Die Bestimmung der Eigenart des praktischen Wissens, die Aristote-
les in der EN mit Hilfe der Konzeption der >phronesis< durchführt, soll
für eine Abgrenzung der historischen von den exakten Wissenschaften
fruchtbar gemacht werden. TatsäcQ1ich kann sich Gadamer hier auf die
ausdrückliche Trennung praktischen Wissens und theoretischen Erken-
nens berufen, und er kann vpr allem auf eine Unterscheidung des Aristo-
teles zurückgreifen, die zwischen einem allgemeinen Begriff des Han-
delns (>praxis<) und einem Begriff des Herstellens (>poiesis<) unterschei-
det. 394 Unter >Poiesis< ist das durch ein Fachwissen (>techne<) geleitete
Produzieren eines Gegenstands zu verstehen, beispielsweise die hand-
werkliche Arbeit eines Schreiners oder Schusters. Während ein von dem
Herstellungsvorgang selbst ablösbares Produkt als Zweck der >poiesis<
erscheint, ist der allgemeine Begriff des Handelns nicht durch Verweis
144 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
der Situation, die das Rechte von mir verlangt, voll bestimmbar (... )«397
b) Während das >poietische< Wissen weitgehend als Wissen um die
Verfahren und Mittel zur Realisierung eines gegebenen Zwecks bestimmt
werden kann, ist das praktische Wissen nicht ausschließlich als ein Wis-
sen von Verfahren und Mitteln zu bestimmen. Häufig wird praktische
Klugheit sichtbar, wenn jemand Zwecke und Ziele des Handeins auf
überlegte Weise bestimmt und zeigt, daß er einen Blick für das Ganze
hat:
»Es ist also ganz gewiß nichtso, wie es manchmal bei Aristoteles den
Anschein hat, als hätte es die Phronesis nur mit den rechten Mitteln zum
vorgegebenen Zwecke zu tun. Sie bestimmt durch die Konkretion der
sittlichen Überlegung den >Zweck< selbst erst in seiner Konkretion, näm-
lich als den >tunlichen< ( ... )«398
c) Neben der Charakterisierung praktischer Klugheit durch die Unter-
formen der Verständigkeit (>synesis<), des verständnisvollen Wesens
(>gnome<) und der Nachsicht (>syggnome<), wird auch eine Erläuterung
durch das Gegenbild eines Menschen gegeben, der Situationen geschickt
ausnutzt und ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht ist. 399 Aristo-
teles macht deutlich, daß praktische Klugheit Geschicklichkeit erfordert,
sie aber gerade nicht bedenkenlos zum eigenen Vorteil einsetzt, sondern
das Gemeinwohl im Auge hat.
4.) Gadamer beschließt seine Aristoteles-Interpretation, indem er die
Analyse der >phronesis< auf den Bereich der Hermeneutik bezieht und sie
als ein »Modell der in der hermeneutischen Aufgabe gelegenen Pro-
bleme«400 auswertet.
Zwei Momente der Aristotelischen Ausführungen sind für Gadamer
bedeutsam: Zum einen übernimmt er die Abgrenzung des praktischen
Wissens gegenüber der theoretischen Erkenntnis und versucht, die Unab-
hängigkeit des praktischen Wissens für die hermeneutische Erfahrung zu
beanspruchen. Zum anderen soll das Moment der Situationsbezogenheit
praktischer Klugheit, die differenzierte Erfassung der Besonderheiten
konkreter Problemlagen, von der Analyse der >phronesis< auf eine
Beschreibung der Tätigkeit des Hermeneuten übertragen werden. Das
Verhältnis der Allgemeinheit ethischer Leitvorstellungen und der Beson-
derheit einzelner Handlungssituationen sowie die nicht einfach als Sub-
sumption beschreibbare Vermittlung beider durch die praktische Klugheit
hat nach Gadamer ein Analogon in der Beziehung zwischen der allge-
meinen Bedeutung eines Elements der Überlieferung in Absehung von
seiner Relevanz für mögliche Rezipienten und der erst durch den Bezug
auf den im Traditionszusarnmenhang stehenden Interpreten voll entfalte-
146 Verstehen, Interpretieren, Erkennen
haben, an die Gadamer mit guten Gründen erinnern kann. Die Revalori-
sierung der praktischen Klugheit und der Urteilskraft beansprucht nicht,
Patentlösungen globaler praktisch-politischer Probleme der Gegenwart
zu liefern. Vielmehr wird gerade im Gegenzug zu einer Vogelperspektive
auf die großen Probleme daran erinnert, daß die Lösungen gesellschaftli-
cher Fragen und Konflikte nicht einer Logik der Sachzwänge überlassen
werden müssen. Stattdessen können durch einen Austausch der Argu-
mente, durch einen Dialog die partikularen Interessen und das Gemein-
wohl im Sinn der >phronesis< miteinander vermittelt werden. Die Pointe
des Rückgriffs auf die >phronesis< besteht in einer Erinnerung daran, daß
die gesellschaftlich-politische Praxis nicht ohne gravierende Defizite auf
den Dialog der Beteiligten verzichten und sich der monologischen Ratio-
nalität der Technik oder der Irrationalität von Gewalt unterwerfen kann.408
Man hat Gadamer oft vorgeworfen, das faktische Vorkommen von
Konflikten, von Gewalt und Zwang zu verdrängen. Tatsächlich erweckt
sein hermeneutischer Optimismus über weite Strecken diesen Anschein.
Indes handelt es sich, wie jüngere Aufsätze erkennen lassen409 , eher dar-
um, angesichts offensichtlicher Probleme auf einen vernünftigen Weg
hinzuweisen, auf den Weg des offenen Dialogs und der Bereitschaft, das
bessere Argument anzuerkennen, auch wenn es nicht das eigene ist.
Die hermeneutische Erfahrung besitzt aus zwei Gründen eine prakti-
sche Bedeutung: Zum einen weist sie die Vollzugsform des Dialogs auf,
setzt die Offenheit für die Ansichten des anderen voraus, ist auf die Aus-
einandersetzung mit fremden Perspektiven spezialisiert, bricht stereotype
Wahrnehmungsmuster und schärft den Blick für den Facettenreichtum
konkreter Situationen. Dadurch trainiert sie die Urteilskraft und stellt
eine Vorbereitung auf den agonalen Dialog der gesellschaftlichen Praxis
dar.
Zum anderen ist die hermeneutische Erfahrung vor jeder bewußten
und kunstmäßigen Ausbildung des Verstehens immer schon ein Element
gesellschaftlicher Praxis. Diesen Aspekt der Vorgängigkeit des Verste-
hens betont Gadamer mit seinem Begriff der Wirkungs geschichte. Auf
ihn gründet der Traditionalismus der Hermeneutik von WM, der Diskon-
tinuität nicht vollständig ausblendet, aber doch die dauerhafte Bedeutung
solcher Kunstwerke, Texte und Institutionen in den Vordergrund stellt,
die über die Jahrhunderte hinweg eine nicht unbestrittene, aber praktisch
wirksame Geltung behalten haben. Diesen Elementen der Überlieferung,
die selbst keine invarianten Größen sind, sondern deren Bedeutung in der
Rezeption je unterschiedlich konkretisiert wird, traut Gadamer zu, daß sie
nach wie vor praktische Orientierungen zu geben vermögen. Sie tun dies
Grundelemente der Hermeneutik Gadamers 151
II.2.14. Zusammenfassung
gen kann sie allerdings einen indirekten ßeitrag zur Einordnung der
Bedeutung von Methodenreflexionen liefern.
Die Vorstellung, daß der Zirkel des Verstehens konkrete Schritte der
Interpretation beschreiben würde, wird allerdings von Gadamer selbst
dadurch erweckt, daß er wiederholt auf die Herkunft der Rede vom Zir-
kel des Verstehens aus der Erfassung der Interdependenz des Verständ-
nisses von Textsegmenten und Textganzem hinweist. Gadamer verfolgt
letztlich aber nicht ein auf die Beschreibung einzelner Etappen der Lek-
türe und Interpretation ausgerichtetes Interesse. Vor dem Hintergrund
seiner Erläuterungen des Prinzips der Wirkungs geschichte und der Trias
von Vorurteil, Autorität und Tradition wird klar erkennbar, daß Gada-
mers Rede vom Zirkel in erster Linie auf die im Begriff der Wirkungs ge-
schichte gedachte fundamentale Bedeutung des durch die Tradition ver-
mittelten kulturellen Wissens ausgerichtet ist.
Die Rede vom Zirkel des Verstehens bezieht sich demnach auf den
Sachverhalt, daß sich Leser und Interpreten immer schon im Rahmen
eines tradierten Wissens bewegen, wenn sie einzelne Elemente des Über-
lieferungs zusammenhangs ausdrücklich zum Gegenstand ihrer Verste-
hensbemühungen machen.
In hermeneutischer Sicht ist der Ausgangspunkt einer Interpretation
eines Texts das traditionsbestimmte Wissen des Interpreten. Dabei ist
nicht nur an eine linguistische oder philologische Kompetenz zu denken,
sondern an ein breites lebensweltliches, kulturelles Wissen, das zumin-
dest indirekt in die Lektüre oder Interpretation einfließt. Da die Überlie-
ferung kein homogenes Kontinuum ist, sondern ein vielschichtiges Gebil-
de mit divergierenden Teilbereichen darstellt, trifft der Leser oder Inter-
pret immer wieder auf einzelne Elemente des Überlieferungszusammen-
hangs, die ihm dunkel, unverständlich, nur teilweise sinnvoll oder gänz-
lich fremd erscheinen.
Die Lektüre als Versuch des Lesers, sich den Bedeutungsgehalt eines
Texts zu erschließen, führt im Extremfall zu einer Bestätigung des Vor-
verständnisses oder, auf dem Weg einer Veränderung oder Korrektur des
Vorverständnisses, zu einem Verständnisgewinn.
Falls die Lektüre das Vorverständnis des Lesers nur bestätigt, so ent-
hält der Text entweder kein Wissen, das nicht schon zum kulturellen
Wissen des Lesers gehört, oder die Alterität des Überlieferungsgegen-
stands ist für den Leser unüberwindlich, so daß keine Verbindung herzu-
stellen ist.
Wenn das Vorverständnis durch die Lektüre!Interpretation modifiziert
oder grundlegend revidiert wird, dann geschieht dies auf der Grundlage
156 Erkenntnis der Hermeneutik
einer Differenz zwischen dem Wissen des Rezipienten und dem im Inter-
pretandum niedergelegten Wissen. Dabei kann die Überwindung der
Kluft zwischen dem eigenen kulturellen Wissen und dem Interpretandum
zu einer Veränderung von Einstellungen, Wahrnehmungsmustern, Ver-
haltensweisen und einem neuen Selbstverständnis des Interpreten führen.
Schematisch läßt sich die Lektüre als Weg von A über die Stationen
B, C und D zurück zu A darstellen. Um eine regelrechte Zirkel- oder
Kreisbewegung handelt es sich genau dann, wenn die Lektüre zu keiner
Änderung des Vorverständnisses und des kulturellen Wissens des Lesers
führt (Ausgangspunkt Al ist identisch mit Endpunkt Al). In diesem Fall
hat die Lektüre entweder alle Erwartungen des Lesers erfüllt oder die
Verstehensbemühungen wurden ohne Resultat abgebrochen. Bruchlos
gelingende Lektüre und erfolglos abgebrochene Verstehensbemühungen
erscheinen im Hinblick auf den Verständnisgewinn und Wissenszuwachs
des Lesers gleichwertig. Wenn die Leseerfahrung das Vorverständnis
modifiziert oder revidiert, so kehrt der Leser nicht zu Al zurück: Durch
den Lemprozeß des Lesens verändert sich sein kulturelles Wissen (vor-
läufiger Endpunkt: A2).
Al
Die Überlieferung liefert das
kulturelle Wissen des Lesers
und determiniert sein Selbstver-
Konkrete Fragen des Vorgehens und der Methodik sind dabei aller-
dings überhaupt nicht berücksichtigt. Sie wären unter Punkt C zu erör-
tern, da sie die Mittel zur Lösung der Verständnisprobleme des Lesers
betreffen. Die Gadamersche Hermeneutik selbst bietet kein Inventar sol-
cher Strategien und Verfahren an, sondern sie begnügt sich mit den aus-
führlich untersuchten Konzeptionen des Gesprächsmodells, des Frage-
Antwort-Schemas und der Horizontmetaphorik.
Diese methodologische Abstinenz der philosophischen Hermeneuük
muß entgegen einer weitverbreiteten Tendenz nicht als Methodenfeind-
lichkeit begriffen werden. Im Gegenteil, der von der Hermeneutik abge-
steckte Rahmen schränkt die Anwendung unterschiedlicher Interpretati-
onsverfahren in keiner Weise ein.'I '
Man sollte allerdings nicht vergessen, daß zumindest bei einer Teil-
menge der Aussagen, die im Feld der Interpretation gemacht werden,
über Gültigkeit und Ungültigkeit unzweideutig entschieden werden
kann. 420 Gegenüber einer mitunter zu beobachtenden verächtlichen
Geringschätzung des philologischen Faktenwissens scheint es ange-
bracht, darauf hinzuweisen, daß Interpretation und hermeneutische Refle-
xion ohne die Grundlage philologischer Textarbeit und historischen Wis-
sens in Gefahr geraten, zu phantasievollen Rhapsodien zu verkommen.
Sicher entspricht es nicht Gadamers Absicht, die Bedeutung des philolo-
gischen Handwerkszeugs eines Interpreten zu bagatellisieren. Aber der
Duktus seiner Überlegungen übergeht - ganz im Bann des ontologischen
Geschehenscharakters des Verstehens stehend - die elementaren Leistun-
gen der Arbeit am Text.
Es ist deutlich geworden, daß sich auf der Basis der Gadamerschen
Hermeneutik keine Standardmodelle der Interpretation konstruieren las-
sen. Vielmehr ist mit Hilfe des Gesprächsmodells, des Schemas von Fra-
ge und Antwort sowie der Horizontmetaphorik deutlich zu machen, daß
das Gelingen von Interpretationen in maßgeblicher Weise von der Offen-
heit für die Alterität des Interpretandums, von der Bereitschaft, den eige-
nen Horizont zu erweitern, und von einer Einsicht in die geschichtliche
Bedingtheit des eigenen Wissens abhängt.
Mit Recht weist D.C. Hoy darauf hin, daß die hermeneutische Akzen-
tuierung der historischen Bedingtheit des Wissens keinen uneinge-
schränkten Relativismus propagiert. Die Hermeneutik legitimiert keine
subjektivistischen, auf idiosynkratische Präferenzen gegründeten Lek-
türen. Sie weiß, daß das Verständnis für einzelne Texte sich nur inner-
halb eines durch die Überlieferung mitgeprägten Kontexts bildet und daß
es keine wissenschaftliche Methodik gibt, die es möglich macht, die
Bedeutung des Interpretandums unter Absehung von dem Horizont der
Interpretation zu erfassen.421
162 Erkenntnis der Hermeneutik
besonderen, des individuellen Werkes, wie ~ant sich ausdrückt, >in An-
schlag gebracht werden< ( ... )«425
Mit dieser Revision der Ausführungen von WM berücksichtigt Gada-
mer nun auch künstlerische Produkte, die sich durch Prägnanz, Intensität,
Vieldeutigkeit, metaphorische Bedeutungsübertragungen auszeichnen
und deren Bedeutung nicht durch den Begriff erfaßt wird, sondern die
unsere Begriffe, wie Kant sagt, »auf unbegrenzte Art« erweitern.
Hermeneutische Wahrheit ist nicht als eine Eigenschaft von Sätzen
oder als fixierbare Relation von Zeichen und Bezeichnetem zu begreifen.
Hermeneutische Wahrheit kann zwar sprachlich vermittelt werden, sie ist
aber gerade nicht ausschließlich und eindeutig als propositionale Wahr-
heit bestimmt.
Am Paradigma der Tragödie wurde deutlich, daß die Wahrheit des
Kunstwerks weder auf ein Stück behauptender Rede im Text reduziert
werden kann, noch als Exemplifizierung einer vorgegebenen Erkenntnis
anzusehen ist, und schon gar nicht als Wahrhaftigkeit oder Authentizität
der Äußerung eines Autors zu verstehen ist.
Wenn die Wahrheit des tragischen Schauspiels als Vermittlung von
Einsichten in Grundbedingungen des Lebens gefaßt wurde, so ist vor
allem auf die eigentümliche Weise der Vermittlung zu achten. Einsichten
werden hier nicht so sehr dadurch vermittelt, daß sie explizit formuliert
und direkt mitgeteilt würden. Vielmehr wird der ZuschauerILeser veran-
Iaßt, den Erfahrungsprozeß der Protagonisten mitzuvollziehen und somit
selbst zu erkennen, was es bedeutet, eine bestimmte Erfahrung zu ma-
chen. Gadamer akzentuiert durch seine Rede von der »Kommunion des
Dabeiseins«426 die Leistung der Einbildungskraft des ZuschauersILesers.
Durch sie ist es möglich, eine durch den Fiktionscharakter des Werks
bedingte ästhetische Distanz zu überwinden und im Spiel der Kunst die
Wahrheit einer Erfahrung zu erkennen. Der Rezipient erweitert seinen
eigenen Horizont durch die Partizipation an einem Geschehen, das im
Modus des ästhetischen Scheins eine Welt erschließt, die Erfahrung von
Alterität ermöglicht und gleichzeitig auf die Einstellung zur eigenen
Lebenssituation zurückwirkt.
Die ästhetische Erfahrung läßt sich also als eine spezifische Weise der
Erfahrung begreifen, durch die der Rezipient unter partieller Suspendie-
rung der lebensweltlichen Orientierungen einen sekundären Kontext auf-
baut. Innerhalb dieser Welt des Kunstwerks kann er sich entlastet von
Erwartungen und Zwängen der Lebenswelt Perspektiven und Erfahrungs-
formen, deren Matrix ihm das Kunstwerk vorgibt, experimentierend zu
eigen machen.
166 Erkenntnis der Hermeneutik
Werks, Bereitschaft zur Übernahme der Apssage des Werks), als auch
um Bedingungen, die sich seiner Verfügung entziehen (Überlieferung des
Werks, Abschattung einzelner Aspekte durch den Kontext der Rezep-
tion).
Nur im Zusammenspiel von Werk und Re,zipient konstituiert sich her-
meneutische Wahrheit. Ohne Bezugnahme auf den Prozeß der Konkreti-
sierurig des Bedeutungsgehalts eines Werks in der Rezeption erscheint es
überhaupt nicht angebracht, von der Wahrheit des Werks zu sprechen. 430
Die Wahrheit der Hermeneutik verdankt sich der Realisierung einer
Bedeutung des überlieferten Gegenstands durch den Betrachter. Sie ist
somit keine außergeschichtliche Größe, sondern Resultat des historischen
Prozesses der Überlieferung des Werks und seiner Interpretationen. Die
hermeneutische Wahrheit ist eine Wahrheit der Erfahrung, sie wird durch
einen Verständigungsprozeß gewonnen, der das Wissen und den Hori-
zont des einzelnen verändert und bereichert.
Der hermeneutische Wahrheitsbegriff erscheint damit weitgehend
kongruent mit dem Begriff des Verstehens. Hermeneutische Wahrheit
»ereignet sich« nicht nur in ausgezeichneten Fällen des Verstehens.
Gadamer vermeidet mitunter eine Unterscheidung von mehr oder weni-
ger gelingenden Weisen des Verstehens ebenso wie eine Korrelation von
Wahrheit und gelungenem Verstehen. Demzufolge entfällt eine mögliche
Opposition von hermeneutischer Wahrheit und hertneneutischer Falsch-
heit. Wenn ein Werk überhaupt verstanden wird, wenn es als Bedeu-
tungsträger erkannt wird, wenn sein Bedeutungspotential im Rezeptions-
kontext aktualisiert wird, spricht Gadamer vom »Ereignis« der Wahrheit.
Diese Weite des hermeneutischen Wahrheitsbegriffs kann Gadamer
aber nur hinnehmen, weil er das Verstehen immer innerhalb des Bezugs-
rahmens eines Überlieferungsgeschehens sieht. Dieser Rahmen schließt
durch seine Vorgaben verzerrendes Mißverstehen der Werke aus. Zudem
schafft die stärkere Version der ontologischen Wende der Hermeneutik
ein zusätzliches Gegengewicht gegen ein Mißverstehen der Werke:
Indem sich deren »Sagkraft« auch gegen Widerstände behauptet, bringen
sie ihre Wahrheit in einer Weise zur Geltung, die dem Betroffenen kaum
eine Möglichkeit läßt, nicht zu verstehen.
Damit blendet die Ontologisierung des Verstehens in ihrer starken
Version den Beitrag des Rezipienten zugunsten eines Wahrheitsgesche-
hens aus und stellt Wahrheit als Effekt einer übermächtigen Sinnge-
schichte dar. In dieser Perspektive dominiert nicht die Selbständigkeit
des einzelnen, der durch einen Erfahrungsprozeß eine Erkenntnis gewinnt
(Wahrheit der Erfahrung), sondern eine seiner Verfügung entzogene
168 Erkenntnis der Hermeneutik
Wahrheit, die sich in seiner Erfahrung Geltung verschafft und der er als
:ein seinem Wollen und seiner Planung entzogenes Faktum ausgesetzt ist
(Erfahrung der Wahrheit).
Die zuletzt genannte Auffassung führt zu einer autonomen Sinnge-
schichte, deren Verlauf sich letztlich menschlicher Vernunft entzieht und
als hermeneutisches Analogon zu Heideggers Seins geschichte erscheint.
Für eine die Arbeit der Wissenschaften berücksichtigende Hermeneutik
stellt diese starke Fassung der ontologischen Wendung mit ihrem Aus-
schluß der Epistemologie keine befriedigende Lösung dar, weil sie ele-
mentare Fragen der Interpretation nicht behandeln kann. Aus diesem
Grund wird hier mit Blick auf die Arbeit der Geisteswissenschaften eine
Fassung des hermeneutischen Wahrheitsbegriffs vorgeschlagen, die auf
die zweite Perspektive (Erfahrung der Wahrheit) verzichtet. Hermeneuti-
sche Wahrheit läßt sich als Erkenntnis auffassen, die der Rezipient auf-
grund der Erfahrung gewinnt, die er im Umgang mit einern Gegenstand
der Überlieferung oder einern Kunstwerk macht, einer Erfahrung, deren
Zustandekommen in entscheidender Weise von seiner Aufmerksamkeit,
seinem Vorwissen und seiner Offenheit abhängt.
Durch die bewußte Integration der Überlieferung in die eigene Praxis
vollendet sich hermeneutische Erfahrung. Der in ihr vollzogene Vergan-
genheitsbezug ist nicht als objektive Erkenntnis, als Informationsspeiche-
rung oder Datenwissen zu bestimmen, sondern als Erinnerung, in der das
Gewesene auf der Grundlage einer Verbindung zur Gegenwart überhaupt
erst seine eigentliche Bedeutung gewinnt.
Gadamer verwahrt sich dagegen, daß solches Eingedenken als Anhäu-
fung von Bildungsballast abgetan wird. Er hält es für einen verhängnis-
vollen Irrtum zu glauben, daß das Wissen der Überlieferung insgesamt
einern raschen Alterungsprozeß unterworfen sei, durch den es unbrauch-
bar wird. Eine solche Meinung wäre fixiert auf einen zu engen Begriff
des Wissens als Information. Gadarner hält einer Skepsis an der Bedeu-
tung der Überlieferung den umfassenden Wahrheitsbegriff der Herme-
neutik entgegen, der sich auf die »Wahrheit des Erinnerns«431 stützt.
Unter Erinnerung ist, im Gegensatz zum Gedächtnis, nicht ein aus-
schließlich reproduktives, psychisches Vermögen zu verstehen. Die Un-
terscheidung von Erinnerung und Gedächtnis wiederholt unter veränder-
ten Bedingungen diejenige zwischen der Platonischen >anarnnesis< und
der Aristotelischen >rnneme<.432 Erinnerung als Anknüpfung an die Über-
lieferung verfährt selektiv und kombinatorisch, es handelt sich um eine
Leistung, die über eine bloß akkumulierende Speicherung von Wissen
hinausgeht. Erinnerung greift die Elemente des individuellen oder kollek-
Hermeneutische Wahrheit 169
ständigung. Wie oben gezeigt wurde, kritisiert Gadamer, daß diese zwei-
te Dimension der Praxis durch zeitgenössische Entwicklungen zuneh-
mend eingeengt wird. Er setzt sich dafür ein, daß der Begriff der Praxis
nicht eindimensional auf die Anwendung technischen Wissens und die
Realisierung definierter Zwecke reduziert wird. Wenn Praxis die Erörte-
rungen der Beteiligten über Zwecke und Zielsetzungen einschließt, wenn
Debatten über Orientierungen, Präferenzen, Nonnen und Fragen der
Lebensführung als konstitutive Elemente der Praxis gesehen werden,
dann bereitet es auch keine Schwierigkeiten, den Beitrag der Künste, der
Literaturen und der sie erforschenden Wissenschaften zur Praxis wahrzu-
nehmen und anzuerkennen.
Die Erfahrung der Überlieferung und des in ihr sedimentierten Wis-
sens ist von grundlegender Bedeutung: Sie tangiert die Situationsdefini-
tionen sowie das Selbstverständnis der Handelnden, sie bereichert deren
Welt durch die Konfrontation mit nonnativen Orientierungen, Vorstel-
lungswelten, Handlungsweisen und stellt einen wesentlichen Beitrag zur
Standortbestimmung und Erkenntnis der Gegenwartssituation dar.
ANMERKUNGEN
§ 49, B 197.
35 Kant, 1.: Kritik der reinen Vernunft. 2 Bde. Frankfurt/ Main, 1977, A 51,
B 76f.
36 KU,B 194.
37 WM,49.
38 KU 49, B 194. Vgl. zur Bedeutung der Konzeption der ästhetischen Idee:
Scheer, B.: Zur Begründung von Kants Ästhetik und ihrem Korrektiv in
der ästhetischen Idee. Frankfurt/Main, 1971 und Lüthe, R.: Kants Lehre
von den ästhetischen Ideen. In: Kant-Studien 75 (1984), 65-74.
39 Kleist, H.v.: Michael Kohlhaas. In: ders.: Werke in einem Band. Mün-
chen, 1978,587 - 657.
40 Vgl. auch die Kritik G. Kohlers in: Kohler, G.: Geschmacksurteil und
ästhetische Erfahrung. Berlin - New York, 1980,369-372.
41 Hierauf weist B. Scheer am Ende ihres Aufsatzes nachdrücklich hin. Vgl.
Scheer, B. (1971), 25.
42 In diesem Sinn meldet auch Grondin, J.: Hermeneutische Wahrheit?
Königstein, 1982, 110 Zweifel an der Stichhaltigkeit der Gadamerschen
These an.
43 Tatsächlich wird das Wohlgefallen wohl eher selten ausgesprochen wer-
den; an die Stelle von Worten treten Taten: ich ziehe den Pullover häufig
an.
44 Schiller, F.: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe
von Briefen. In: Schillers Werke - Nationalausgabe Bd. XXII. Weimar,
1962,309-412.
45 Als Kontrastfolie zu Schillers utopischem Entwurf ist die Erfahrung der
Französischen Revolution zu beachten, die den Ausgangspunkt der Briefe
bildet. Vgl. Bolten, J. (Hg.): Schillers Briefe über die ästhetische Erzie-
hung. Frankfurt/Main, 1984.
46 Schiller, F.: a.a.O., 312.
47 »Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwicklung aller ihrer
Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonismus derselben in der
Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßi-
gen Ordnung derselben wird (...)«
Kant, 1.: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher
Absicht. In: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichte, Politik und
Pädagogik I. Frankfurt! Main, 1977,37.
48 WM,81.
49 Institutionen, die kulturell wertvolle Objekte aufbewahren und ausstellen,
gab es natürlich bereits lange vor dem Ende des 18. Jahrhunderts. Aber
das Museum erlebt nun einen ungeheuren Boom. Es werden nicht nur die
wichtigsten europäischen Museen gegründet oder der Allgemeinheit
zugänglich gemacht (British Museum, Musee du Louvre), sondern eine
Vielzahl kleinerer Museen nimmt den Betrieb auf.
Vgl. hierzu; Plagemann, V.: Das deutsche Kunstmuseum 1790-1870.
München, 1967.
50 Für diesen Vorgang ist die Säkularisierung des Kirchenbesitzes durch den
Reichsdeputationshauptschluß von 1803 von entscheidender Bedeutung.
51 Vgl. Bracken, C.P.: Antikenjagd in Griechenland. 1800-1830. München,
1977.
52 WM,83.
174 Anmerkungen
mitteilen läßt, so habe ich seit langem das Mittel gewählt, durch einander
gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde
den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren. Da alles, was
von mir mitgeteilt worden, auf Lebenserfahrung beruht, so darf ich wohl
andeuten und hoffen, daß man meine Dichtungen auch wieder erleben
wolle und werde.«
Goethe, J.W.: Brief an Karl J.L. Iken vom 23. September 1827. In:
Goethe, J.W.: Gedenkausgabe Bd. 21. Zürich-Stuttgart, 1965,762.
V gl. auch die bekannte Äußerung, die· die publizierten Schriften als
»Bruchstücke einer großen Konfession« bezeichnet.
Goethe, J.W.: Dichtung und Wahrheit. Gedenkausgabe Bd. 10. Zürich-
Stuttgart, 1962, 312.
63 Diltheys Aufsatzsammlung »Das Erlebnis und die Dichtung« stand am
Anfang dieser Richtung und wurde wegweisend. Vgl. WM, 54.
Die Erlebnisästhetik hat seit der ersten Auflage von WM viel von ihrem
Einfluß eingebüßt. In den gegenwärtigen Literaturwissenschaften haben
Auffassungen, die der Erlebnisästhetik zuzurechnen sind, Seltenheitswert.
Im Hinblick auf die Kunst der Modeme fallen die Schwächen dieses
Zugangs, der die Gegenstände als Ausdruck von Erfahrungen des Künst-
lers begreift, sofort auf: angesichts eines abstrakten Gemäldes (B. New-
man), einer seriellen Komposition (A. Berg) oder eines modemen
Romans (C. Simon) versagen diese Kategorien.
Das Verdienst von Gadamers Überlegungen liegt darin, die Begrenztheit
der Erlebnisästhetik zu einer Zeit betont zu haben, in der diese noch ein-
flußreich war.
64 WM,72.
65 Brief an F. Schiller vom 16. August 1797. In: Goethe, J.W.: Gedenkaus-
gabe Bd. 20. Zürich-Stuttgart, 1964, 395.
66 A.a.O., 396.
67 Vgl. hierzu die eingehende Interpretation in Schlaffer, H.: Faust Zweiter
Teil- Die Allegorie des 19. Jahrhunderts. Stuttgart, 1981, 13-28.
68 Brief an F. Schiller vom 24. August 1797. In: Goethe, J.W.: Gedenkaus-
gabe Bd. 20. Zürich-Stuttgart, 1964,405.
69 Vgl. Soerensen, B.A.: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen
Theorien des 18.Jahrhunderts und der deutschen Romantik. Kopenhagen,
1963,86-132.
70 WM,75.
71 Vgl. Henkel, A. und Schöne, A.: Emblemata. Handbuch zur Sinnbild-
kunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Stuttgart, 1976.
72 WM,73.
73 Auf den ersten Blick mag es abwegig erscheinen zu behaupten, ein kul-
turspezifisches Wissen sei erforderlich, um einen Gegenstand als schöne
Frau oder Darstellung einer schönen Frau zu klassifizieren. Die Konfron-
tation mit fremden Kulturen oder bestimmten vergangenen Schönheits-
idealen beweist, daß der erste Blick hier irrt. V gl. in diesem Zusammen-
hang die Widerlegung des Dogmas von der reinen Wahrnehmung bei
Gombrich, E.H.: Art and lliusion. Oxford, 1983.
74 In anderem Zusammenhang gebraucht H. Schlaffer tatsächlich das Oxy-
moron »symbolische Allegorie«. Mir scheint ein solcher Sprachgebrauch
nicht sinnvoll, da er bestehende Begriffsverwirrungen kaum abbaut. V gl.
176 Anmerkungen
H. Schlaffer (1981),169.
75 Mit Hilfe der Terminologie N. Goodmans kann man das Symbol ver-
suchsweise dadurch von der Allegorie unterscheiden, daß man auf die
dominante Funktion der Exemplifikation bei symbolisierenden Darstel-
lungen hinweist. Vgl. Goodman, N.: Languages of Art. Indianapolis,
1976,52-67.
76 WM,67.
77 WM, 73 und 146.
78 Vgl. H. Schlaffer (1981).
79 Goethe, I.W.: Gespräch mit Eckermann (20.12.1829). Zitiert nach Ge-
denkausgabe Bd. 5, Zürich-Stuttgart, 1962,657.
80 A.a.O., 645.
81 WM,97-161.
82 Vgl. beispielsweise Bodammer, T.: Philosophie der Geisteswissenschaf-
ten. Freiburg - München, 1987, 11.
83 WM,100.
84 Vgl. I. Grondin (1982), 103ff. Grondin hebt hervor, daß Gadamer nicht
nur den Subjektivismus in der Ästhetik, sondern generell die »Herrschaft
der Subjektivität« durchbrechen will.
85 Warnke, G.: Gadamer: Hermeneutics, Tradition and Reason. Cambridge,
1987,48.
86 WM,98.
87 WM,98.
88 WM, 99. (Zusatz in Klammern von mir)
89 WM, 105-115.
90 WM, 106. (Zusatz in Klammern von mir)
91 Die Berechtigung produktionsästhetischer Überlegungen macht auch
Wittgenstein in seiner Vorlesung und den Bemerkungen zur Ästhetik
deutlich. Vgl. Wittgenstein, L.: Vorlesungen und Gespräche über Ästhe-
tik, Psychologie und Religion. Göttingen, 1968.
92 WM, 108. Bei der herangezogenen Arbeit handelt es sich um Koller, H.:
Die Mimesis in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck. Bern,
1954.
93 Platon selbst ist diese Verbindung der Darstellungsleistung des Kunst-
werks und der Anamnesis fremd. Gadamer modifiziert in einer eleganten
Wendung die Struktur der platonischen Anamnesis. Die Wiedererinne-
rung ist nicht auf transzendente Ideen gerichtet, die als Urbilder der ver-
gänglichen Dinge verstanden werden können. An die Stelle der Ideen tritt
das Kunstwerk. Durch die Betrachtung des Kunstwerks erkennt der
Betrachter die Wirklichkeit: »( ... ) die sogenannte Wirklichkeit (bestimmt
sich) als das Unverwandelte und die Kunst als die Aufhebung dieser
Wirklichkeit in ihre Wahrheit (... )« - »Das >Bekannte< kommt erst in
sein wahres Sein und zeigt sich als das, was es ist, durch seine Wiederer-
kennung. Als Wiedererkanntes ist es das in seinem Wesen Festgehaltene,
aus der Zufälligkeit seiner Aspekte Gelöste.«
WM, 108 und 109 (Zusatz in Klammern von mir)
94 WM,109.
95 WM,lllf.
96 WM,112.
97 Zu den reproduzierenden Künsten zählen Theater, Musik, Ballett und
Anmerkungen 177
Kunst und ist eine Frage des Aufwandes.« Aristoteles (1976), 69.
Weinsheirner (1985) übersieht in seiner paraphrasierenden Darlegung die-
se Differenz zwischen Aristoteles und Gadamer. Vgl. a.a.O., 116.
107 Schadewaldt, W.: Furcht und Mitleid? Zur Deutung des Aristotelischen
Tragödiensatzes. In: ders.: Hellas und Hesperien. Bd. I, Zürich - Stutt-
gart, 1970, 194-236.Gadamer erwähnt Schadewaldt lediglich in einer
Anmerkung (WM, 124). In Anbetracht der Deutlichkeit und Schlüssigkeit
der Ausführungen Schadewaldts berücksichtige ich seine Studie ausführ-
licher.
108 »Was Aristoteles im Auge hat, wenn er in seiner Deutung der Wirkung
der Tragödie das Wort cp6ßo~ (... ) gebraucht, ist (...) ein aufrührender Ele-
mentaraffekt (... ) von unmittelbarer Gewalt, hervorgerufen durch die Vor-
stellung der unmittelbar bevorstehenden Bedrohung durch ein schweres
Leid oder die Vernichtung.« - »(... ) unser >Mitleid< (hat) mit dem 'EA.eo~
des Aristoteles (... ) weder in bezug auf die Wortstruktur (... ), noch viel
weniger aber in bezug auf den Bedeutungsgehalt (... ) das Geringste zu tun
(... ) >Mitleid< als Übersetzung des aristotelischen 'tA.eo~ ist deswegen im
höchsten Grade irreführend, und es wäre wohl an der Zeit, dieses Wort
aus unseren Wiedergaben des aristotelischen Tragödiensatzes ebenso wie
aus unsern darauf gerichteten Gedanken verschwinden zu lassen.«
Schadewaldt, W.: a.a.O., 197 und 200.
109 A.a.O., 223f.
110 WM,124.
111 WM, 125. Bedauerlicherweise nimmt Gadamer nicht ausdrücklich zu der
Hegeischen Tragödienkonzeption Stellung. Insbesondere seine Rede von
einer Affirmation bei der näheren Charakterisierung der Katharsis drängt
einen Vergleich mit der Deutung Hegels auf, in dessen Ästhetik-Vorle-
sungen der Ausgang der Tragödie wie folgt kommentiert wird: »Über der
bloßen Furcht und tragischen Sympathie steht (.. ) das Gefühl der Versöh-
nung, das die Tragödie durch den Anblick der ewigen Gerechtigkeit
gewährt, welche in ihrem absoluten Walten durch die relative Berechti-
gung einseitiger Zwecke und Leidenschaften hindurchgreift, weil sie
nicht dulden kann, daß der Konflikt und Widerspruch der ihrem Begriffe
nach einigen sittlichen Mächte in der wahrhaften Wirklichkeit sich sieg-
reich durchsetze und Bestand erhalte.«
Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik. Bd. III. Frankfurt/Main,
1970,526.
Hegel hat als Paradigma der Tragödie die »Antigone« des Sophokles vor
Augen. Im Hinblick auf die in diesem Drama als Aufhebung einseitiger
Ansprüche vollzogene Versöhnung sagt Hegel: »Von allem Herrlichen
der alten und modemen Welt - ich kenne so ziemlich alles, und man soll
es und kann es kennen - erscheint mir (... ) die Antigone als das vortreff-
lichste, befriedigendste Kunstwerk.«
A.a.O., 550.
Die spekulative Interpretation der Tragödie durch Hegel bildet einen
Gegenpol zu der Deutung der Katharsis, die Schadewaldt vorschlägt.
Gadamer scheint auch hier eine Zwischenstellung einzunehmen: Er depo-
tenziert die Hegelsche Versöhnung durch Verzicht auf eine sich in der
Tragödie manifestierende »ewige Gerechtigkeit« zu einer Affirmation,
hält aber gegenüber Schadewaldts Ansatz an einer ideellen Bestimmung
Anmerkungen 179
177 Aa.O.,185.
178 Aa.O., 338.
179 WM,205.
180 I.G. Droysen (1960),180-187 und 202-264.
181 Ein prägnantes Beispiel solcher Interpretation gibt Droysen a.a.O., 183.
182 Die Analyse und Legitimierung der perspektivischen Brechung histori-
scher Darstellungen geht zurück auf I.M. Chladenius: Einleitung zur rich-
tigen Auslegung vernünftiger Reden und SchrifteIl. Leipzig, 1742
(Reprint: Düsseldorf, 1969). Vgl. hierzu den Artikel »Geschichte, Histo-
rie« in: O. Brunner (1975), 696-698.
183 I.G. Droysen (1960), 287.
184 Aa.O., 275.
185 A.a.O., 328.
186 Vgl. I. Rüsen: Begriffene Geschichte - Genesis und Begründung der
Geschichtstheorie I.G. Droysens. Paderborn, 1969, 110.
187 I. Rüsen (1969), 149.
188 HeImholtz, H.v.: Ueber das Verhältniss der Naturwissenschaften zur
Gesammtheit der Wissenschaft. In: ders.: Abhandlungen zu Philosophie
und Naturwissenschaft. Darmstadt, 1966,7-35.
189 »Wer soll noch das Ganze übersehen, wer die Fäden des Zusammenhan-
ges in der Hand behalten und sich zurecht fmden?«
A.a.O., 12.
190 A.a.O.,21.
191 A.a.O., 22.
192 Windelband, W.: Geschichte und Naturwissenschaft. In: ders.: Präludien
11. Tübingen, 1919, 136-160.
193 Aa.O., 145.
194 Aa.O., 151.
195 Aa.O., 150.
196 Aa.O., 146.
197 A.a.O., 150.
198 Vgl. den allgemeinen Überblick über Diltheys Werk in: RiedeI, M: Ein-
leitung zu W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Gei-
steswissenschaften. Frankfurt/Main, 1970, 9-80 und Ermarth, M.: Wil-
helm Dilthey: The Critique of Historical Reason. Chicago - London,
1978.
199 GS V, 256ff.
200 A.a.O., 260f.
201 »Hier erst erreichen wir ein ganz klares Merkmal, durch welches die
Abgrenzung der Geisteswissenschaften definitiv vollzogen werden kann.
Eine Wissenschaft gehört nur dann den Geisteswissenschaften an, wenn
ihr Gegenstand uns durch das Verhalten zugänglich wird, das im
Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen fundiert ist (...)
Alle leitenden Begriffe, mit welchen diese Gruppe von Wissenschaften
operiert, sind von den entsprechenden im Gebiete des Naturwissens ver-
schieden. «
Aa.O., 87. (Unwesentliche Veränderung der Schreibweise durch mich)
202 WM,21O.
203 Aa.O., 210.
204 GS V, 277f.
184 Anmerkungen
ken eine neue Orientierung geben (wollte); er wollte uns dazu anleiten,
die historische Erkenntnis dem ontologischen Verstehen unterzuordnen
wie eine abgeleitete Form einer ursprünglichen. Aber er gibt uns nicht
den geringsten konkreten Hinweis, in welchem Sinne das reine histori-
sche Verstehen von diesem ursprünglichen abgeleitet wird (...)«
Ricoeur, P.: Hermeneutik und Strukturalismus. München, 1973, 19.
(Zusatz in Klammem von mir)
237 Vgl. den Artikel »Circulus vitiosus« in: HWbPh I, 1018f.
238 Ast, F.: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik. Landshut,
1808.
239 A.a.O., 178ff.
240 »(... ) so wird wohl niemand leugnen, daß wenn dergleichen Formeln nicht
ein bloßes Spiel sind (... ) sie eben nur der verderblichen Nebelei und
Schwebelei angehören können.«
HuK,342.
241 HuK,95.
242 HuK, 95. (Zusatz in Klammem von mir)
243 HuK,97.
244 Vgl. Birus, H. (1982), 34f.
245 Diesen irreführenden Eindruck erweckt W. Stegmüller in zwei Aufsätzen.
Vgl. Stegmüller, W.: Der sogenannte Zirkel des Verstehens. In: K. Hüb-
ner (Hg.): Natur und Geschichte. Hamburg, 1973,21-46 und Stegmüller,
W.: Walther von der Vogelweides Lied von der Traurnliebe und Quasar 3
C 273. In: ders.: Rationale Rekonstruktion von Wissenschaft und ihrem
Wandel. Stuttgart, 1979,27-86.
246 GS V, 330 und 334.
247 A.a.O., 343f. und GS XI, 258.
248 GS vm, 16Of.
249 GS Vll, 152 und 262.
250 GS vm, 179.
251 Einen interessanten Fall des Scheiterns von Interpretationsbemühungen
aufgrund divergierender historischer und kultureller Kontexte behandelt
eine Erzählung von J.L. Borges. Vgl. Borges, J.L.: Averroes auf der
Suche. In: ders.: Blaue Tiger und andere Geschichten. München, 1988,
174-183.
252 »Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muß schon das Auszule-
gende verstanden haben (... ) Wenn aber Auslegung sich je schon im Ver-
standenen bewegen und aus ihm her sich nähren muß, wie soll sie dann
wissenschaftliche Resultate zeitigen, ohne sich in einem Zirkel zu bewe-
gen, zumal wenn das vorausgesetzte Verständnis überdies noch in der
gemeinen Menschen- und Weltkenntnis sich bewegt? Der Zirkel aber ist
nach den elementarsten Regeln der Logik circulus vitiosus. Damit aber
bleibt das Geschäft der historischen Auslegung apriori aus dem Bezirk
strenger Erkenntnis verbannt. Sofern man dieses Faktum des Zirkels im
Verstehen nicht wegbringt, muß sich die Historie mit weniger strengen
Erkenntnismöglichkeiten abfmden. Man erlaubt ihr, diesen Mangel durch
die >geistige Bedeutung< ihrer >Gegenstände< einigermaßen zu ersetzen.
Idealer wäie es freilich auch nach Meinung der Historiker selbst, wenn
der Zirkel vermieden werden könnte und Hoffnung bestünde, einmal
eine Historie zu schaffen, die vom Standort des Betrachters so unabhän-
Anmerkungen 187
Symptom einer schweren und nicht zu. überwindenden Krise der Trias
von Autorität, Tradition und Religion als Fundament der politischen
Organisation der westlichen Gesellschaften.
Vgl. Arendt, H.: Was ist Autorität? In: H. Arendt: Fragwürdige Traditi-
onsbestände im politischen Denken der Gegenwart. FrankfurtJMain,
1957,117-168. Vgl. auch den Artikel >Autorität< in: HWbPh 1,724-733,
der auf die Bedeutung des Autoritätsbegriffs für den Faschismus auf-
merksam macht.
278 Bochenski, J.M.: Autorität, Freiheit, Glaube. München/Wien, 1988.
279 Aa.O., 20.
280 A.a.0.,46. (Im Original kursiv)
281 Aa.O., 50. (Im Original kursiv)
282 WM,264.
283 Vgl. Habermas,J.: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. In:
R.Bubner u.a.(Hg.): Hermeneutik und Dialektik I. Tübingen, 1970, 73-
103 sowie Derksen, L.D.: On Universal Hermeneutics - A Study of the
Philosophy of Hans-Georg Gadamer. Amsterdam, 1983,211-222 und G.
Warnke (1987), 107-l38.
284 »Veränderung von Bestehendem ist nicht minder eine Form des An-
schlusses an die Tradition wie die Verteidigung von Bestehendem.«
Gadamer, H.-G.: Replik. In: K.-O. Apel (1973), 203-317; hier: 307.
285 »Selbst wo das Leben sich sturmgleich verändert, wie in revolutionären
Zeiten, bewahrt sich im vermeintlichen Wandel aller Dinge weit mehr
vom Alten, als irgendeiner weiß (... )« WM, 266.
286 WM, 265f.
287 WM,265.
288 WM, 266. (Hervorhebung von mir)
289 Ritter, J.: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen
Gesellschaft. In: ders.: Subjektivität. Frankfurt/Main, 104 -140.
290 Marquard, 0.: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. In:
ders.: Apologie des Zufilligen. Stuttgart, 1986, 98-116.
H. Lübbe verteidigt in verschiedenen Aufsätzen die gleiche Position. Vgl.
Lübbe, H.: Geschichtsinteresse und Nationalkultur - Kulturelle und poli-
tische Funktionen der historischen Geisteswissenschaften. In: ders.:
Wissenschaftspolitik: Planung, Politisierung, Relevanz. Zürich, 1977,
30-53; ders.: Erfahrungsverluste und Kompensationen. Zum philosophi-
schen Problem der Erfahrung in der gegenwärtigen Welt. In: ders. (Hg.):
Der Mensch als Orientierungswaise? Freiburg, 1982, 145-168; ders.: Der
Fortschritt und das Museum - Über den Grund unseres Vergnügens an
historischen Gegenständen. London, 1982; ders.: Die Wissenschaften
und ihre kulturellen Folgen. Opladen, 1987.
291 Marquard (1986),98.
292 Aa.O., 104.
293 Aa.O., 104.
294 Aa.O., 104.
295 Aa.O., 102f.
296 Aa.O., 105.
297 Vor allem H. Lübbe widmet diesen beiden Bereichen seine Aufmerksam-
keit. Vgl. H. Lübbe: Der Fortschritt und das Museum. London, 1982.
298 In diese Richtung zielt die Kritik von J. Mittelstraß, der der Kompensati-
190 Anmerkungen
onstheorie vorhält, sie verdränge das Argumentative aus dem Bereich der
Geisteswissenschaften.
Vgl. Mittelstraß, J.: Wissenschaft als Kultur. In: Heidelberger Jahrbücher
30 (1986), 51-71; hier: 64f. und ders.: Geistes- und Sozialwissenschaften
im System der Wissenschaft. In: Mitteilungen der TU Braunschweig,
Jahrgang XXIII, Heft II/1988, 20-29.
299 Vgl. Gabriel, G.: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der
Literatur. Stuttgart - Bad Cannstatt, 1975.
300 Diesen Punkt betont J. Mittelstraß in einer kritischen Anmerkung zur
Kompensationstheorie, wenn er feststellt, daß es »( ... ) um mehr als um
bloße geschichtliche Vergegenwärtigung gehen (... )« muß: »Die geistes-
wissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Vernunft sagt nicht nur,
wie die Gesellschaft war, sondern auch, wie die modeme Gesellschaft ist
- im Unterschied zur technischen Vernunft, die sagt, was eine modeme
Gesellschaft kann. Ohne ein Bewußtsein davon, was sie sind, können
modeme Gesellschaften gerade in ihrem eigentümlichen (technischen)
Können orientierungslos werden.«
Mittelstraß (1988), 28.
301 Marquard (1986), 106.
302 H. Lübbe wehrt die Vorstellung ab, das historische Interesse könne
dadurch charakterisiert werden, daß wir für die eigene Praxis durch die
Kenntnis der Vergangenheit etwas lernen: »Es ist also unangemessen,
unser Interesse an historischen Gegenständen und damit die historischen
Disziplinen, über die wir dieses Interesse kultivieren, als ein praktisches
Erkenntnisinteresse interpretieren zu wollen.«
H. Lübbe (1977), 51.
303 Vgl. Grondin (1982), 143-149.
304 WM, 284f.:«Wenn wir aus der (... ) historischen Distanz eine historische
Erscheinung zu verstehen suchen, unterliegen wir immer bereits den Wir-
kungen der Wirkungsgeschichte. Sie bestimmt im voraus, was sich uns
als fragwürdig und als Gegenstand der Erforschung zeigt, und wir verges-
sen gleichsam die Hälfte dessen, was wirklich ist, ja mehr noch: wir ver-
gessen die ganze Wahrheit dieser Erscheinung, wenn wir die unmittelba-
re Erscheinung selber als die ganze Wahrheit nehmen. (... ) Der histori-
sche Objektivismus, indem er sich auf seine kritische Methodik beruft,
verdeckt die wirkungsgeschichtliche Verflechtung, in der das historische
Bewußtsein selber steht. Er entzieht zwar der Willkür (... ) durch die
Methode seiner Kritik den Boden, aber er schafft sich selbst damit das
gute Gewissen, die unwillkürlichen und nicht beliebigen, sondern alles
tragenden Voraussetzungen, die sein eigenes Verstehen leiten, zu ver-
leugnen und damit die Wahrheit zu verfehlen, die bei aller Endlichkeit
unseres Verstehens erreichbar wäre.«
305 Vgl. WM, 324-329 und die konzisen Ausführungen über das Verhältnis
der philosophischen Henneneutik zu Hegel bei Schulz, W.: Anmerkun-
gen zur Henneneutik Gadamers. In: Bubner (1970),305-316.
306 WM,285.
307 WM, 285f.
308 WM, 261: »In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir
gehören ihr.«
309 WM,288.
Anmerkungen 191
310 WM, 290. Vgl. hierzu Bubner (1972), 1~8 und Hogan, J.: Gadarner and
the Hermeneutical Experience. In: Philosophy Today 20 (1976), 3-12;
hier: 7.
311 Die theoretische Formulierung des Konzepts >Erwartungshorizont< findet
sich bei Jauß, H.R.: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwis-
senschaft. In: ders.: Literaturgeschichte als Provokation. FrankfurtlMain,
1970, 144-207.
312 Grondin (1982), 146.
313 Vgl. KS I, 160.
314 WM,359.
315 Lorenz, K. und Mittelstraß, J.: Die Hintergehbarkeit der Sprache. In: Kant
Studien 58 (1967), 187-208; hier: 197.
316 WM,426.
317 W. Schulz in: Bubner (1970),311. (hn Original kursiv)
318 Die Kritik der Hermeneutik arn Code-Modell der Sprache behandelt
Frank, M.: Die Grenzen der Beherrschbarkeit der Sprache. In: P. Forget
(Hg.): Text und Interpretation. München, 1984, 181-213.
319 Auf die Triftigkeit dieser Vorwürfe gehe ich im einzelnen nicht ein.
Zweifellos lassen sich in den Arbeiten kluger Linguisten Gegenargumen-
te finden. So thematisiert beispielsweise die strukturelle Semantik E.
Coserius ausdrücklich ihr Verhältnis zu den natürlichen Sprachen.
Vgl. Coseriu, E.: Probleme der strukturellen Semantik. Tübingen, 1973,
38-41.
320 WM, 450. (hn Original kursiv)
321 Sicher spricht Gadamer auch von der Möglichkeit des Mißverständnisses
und des Scheitems der Verständigung, aber dies scheinen doch eher Aus-
nahmeerscheinungen zu sein. hn folgenden Zitat kommt die kritisierte
Ausblendung des Scheitems von Verständigungsbemühungen exempla-
risch zum Ausdruck: »Die Sprache ist die Mitte, in der sich die Verstän-
digung der Partner und das Einverständnis über die Sache vollzieht.«
(WM, 361) Hinzuzufügen wäre, daß die Sprache der Ort ist, an dem
gegenseitiges Unverständnis und Uneinigkeit über die Sache aufbrechen.
322 WM, XXIII.
323 Vgl. hierzu die Artikel »Erfahrung« in: EPhW I, 568-571 und HWbPh 11,
609-617.
324 WM,329.
325 WM,338.
326 Bormann geht auf die Problematik des Rekurses auf den Hegeischen
Erfahrungsbegriff in WM näher ein. Vgl. Bormann in Apel u.a. (1973),
99-101. Gadamer räumt angesichts dieser Kritik ein, daß seine »( ... ) Aus-
einandersetzung mit Hegel in >Wahrheit und Methode< sicherlich recht
unbefriedigend ist.« Vgl. H.-G. Gadamer: Replik. In: K.-O. Apel u.a.
(1973),311.
327 WM,338.
328 WM, 339f. Die Übereinstimmung dieser Ausführungen und der Bestim-
mung des Wesens der Tragödie ist offensichtlich: Die Tragödie zeigt
nach Gadarner, was es heißt, Erfahrungen zu machen. Vgl. oben 1.2.3.
329 WM,340.
330 »Nur für den fragenden Menschen wird der Text zur Frage; er ist das
nicht von sich aus.« Pannenberg, W.: Hermeneutik und Universalge-
192 Anmerkungen
vgJ.: Arthur, C.E.: Gadamer and Hirsc.h: The canonical work and the
interpreter's intention. In: Cultural Hermeneutics 4 (1967/1977), 183-
197; Hoy, D.C.: The Critical Circ1e. Berkeley - Los Angeles - London,
1978, 11-40; Madison, G.B.: Eine Kritik an Hirschs Begriff der >Richtig-
keit<. In: H.-G. Gadamer, G. Boehrn (Hgs.): Seminar: Die Hermeneutik
und die Wissenschaften. FrankfurtlMain, 1978,393-425; Meiland, I.W.:
Interpretation as a cognitive discipline. In: Philosophy and Literature 2
(1978),23-45; Palmer (1969), 60-65; G. Warnke (1987), 43-48.
353 Hirsch (1972), 20f.
354 G. Warnke schreibt in der Tradition der bereits kritisierten Schleierma-
cher-Deutung von WM: »In equating textual meaning with an author's
intention, Hirsch does not follow Schleiermacher in identifying that mea-
ning with the mental acts and experiences that occurred in the author's
mind at the time the text was written.« Warnke (1987), 43.
355 Hirsch (1972), 51.
356 Hoy (1978), 29.
357 VgJ. Graeser, A.: Über »Sinn« und »Bedeutung« bei Gadamer. In: Zeit-
schrift für philosophischen Forschung 38 (1984), 436-445.
»Sinn ist ein vieldeutiger Ausdruck. H.-G. Gadamers Erörterungen leben
von dieser Vieldeutigkeit. Sie scheinen die verschiedenen, ja radikal ver-
schiedenen Bedeutungen auszuspielen und sie andererseits wieder brenn-
punktartig einzufangen. Dieses intuitive Fluktuieren macht die rationale
Beurteilung seiner Position schwierig.«
A.a.O., 442.
358 Zur Abgrenzung fIktionaler Texte vgl. Gabriel (1975).
359 WM,280.
360 »Eine richtige Auslegung an sich wäre ein gedankenloses Ideal, das das
Wesen der Überlieferung verkennte.« WM,375.
361 »Situationsgebundenheit bedeutet keineswegs, daß sich der Anspruch auf
Richtigkeit, den jede Interpretation erheben muß, ins Subjektive oder
Okkasionelle auflöste.« WM, 375.
362 WM,375.
363 Auch die Rede von »der Sache« des Texts als identischem Wesen, das in
verschiedenen historischen Horizonten unterschiedlich erscheint, hilft
nicht weiter, da ja das Wesen unabhängig von seinen Erscheinungen nie
greifbar ist.
364 »The >ontological turn< of hermeneutics is a bias because it makes it
appear as if there were no continuurn between hermeneutical reflection
and other forms of epistemological, logical or methodological reflection,
as if in fact, hermeneutical reflection might not frequently be developed
in the context of the latter.«
Misgeld, D.: On Gadarner's hermeneutics. In: R. Hollinger (Hg.): Herme-
neutics and praxis. Notre Dame, 1985, 143-170; hier: 156.
365 Rorty, R.: Der Spiegel der Natur. Frankfurt/Main, 1984,343-427.
366 »Bei mir steht >Hermeneutik< weder für eine Disziplin noch für eine
Methode (...) noch für ein Forschungsprograrnrn. Im Gegenteil, Herme-
neutik ist Ausdruck der Hoffnung, die kulturelle Leerstelle werde nach
dem Abgang der Erkenntnistheorie gerade nicht neubesetzt - unsere Kul-
tur werde zu einer Kultur, in der das Bedürfnis nach Einschränkung und
Konfrontation nicht mehr verspürt wird.«
194 Anmerkungen
A.a.O., 343.
367 A.a.O., 346.
368 A.a.O., 398f.
369 »Große systematische Philosophen bauen wie große Wissenschaftler für
die Ewigkeit. Große bildende Philosophien zertrümmern um ihrer eige- .
nen Generation willen. Systematische Philosophen möchten ihr Fach auf
den sicheren Pfad einer Wissenschaft führen. Bildende Philosophen wol-
len dem Staunen seinen Platz erhalten wissen, das die Dichter manchmal
hervorrufen können (...)«
A.a.O., 400.
370 »( ... ) die kulturelle Rolle des bildenden Philosophen (besteht) darin ( ... ),
uns zu helfen, die Selbsttäuschung zu vermeiden, der wir verfallen, wenn
wir unsere Selbsterkenntnis durch die Erkennmis objektiver Tatsachen zu
erzielen glauben.«
A.a.O., 404.
371 A.a.O., 389.
372 Rorty spricht davon, »( ...) daß nichmormale und >existenzielle< Diskurse
immer parasitär gegenüber normalen Diskursen sind (...), daß sich also
die Möglichkeit einer Hermeneutik immer auf der Möglichkeit einer
Erkennmistheorie gründet (...)« A.a.O., 396.
373 WM,271.
374 WM,271.
375 WM,274.
376 Jähnig, D.: Klassik und Historie. In: M. Gosebruch, L. Dittmann (Hgs.):
Argo - Festschrift für Kurt Badt. Köln, 1970,35-45.
377 A.a.O., 40.
378 A.a.O., 118.
379 A.a.O., 120. (Zusatz in Klammern von mir)
380 JauB, H.R.: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft.
In: Jauß (1970),144-207.
381 Seine Zustimmung zu Gadamers Unternehmen formuliert JauB allerdings
auf eine merkwürdige Weise, wenn er sagt, Gadamer habe »( ...) das Prin-
zip der Wirkungsgeschichte (...) als eine Anwendung der Logik von Fra-
ge und Antwort auf die geschichtliche Überlieferung beschrieben.«
A.a.O., 185.
Jauß scheint die Stellung und Bedeutung des Prinzips der Wirkungsge-
schichte zu verkennen. Bei Gadamer ist Wirkungsgeschichte das herme-
neutische Grundprinzip schlechthin, das nicht etwa durch eine Anwen-
dung der »Logik von Frage und Antwort« auf die Überlieferung gewon-
nen wird, sondern den Begriff der Überlieferung und die »Logik von Fra-
ge und Antwort« begründet.
382 Vgl. in diesem Zusammenhang die Einführung des Ausdrucks >Erwar-
tungshorizont< a.a.O., 173f.
383 A.a.O., 187.
384 Warning (1987). Mit dieser Arbeit führt Warning eine Argumentation
aus, deren Grundzüge bereits in der Einleitung zu einem Sammelband
über die Rezeptionsästhetik enthalten waren. Vgl. Warning, R.:Rezepti-
onstheorie als literaturwissenschaftliche Pragmatik. In: ders. (Hg.):
Rezeptionsästhetik. München, 1975,9-41.
385 A.a.O., 85f.
Anmerkungen 195
394 EN VI 1140a H., 1140a 11-14: »Was sich so und anders verhalten kann,
ist teils Gegenstand des Hervorbringens, teils Gegenstand des Handeins.
( ...) Jede Kunst (techne) betrifft ein Entstehen und ist das Erproben und
Betrachten, wie etwas Bestimmtes im Bereich dessen, was sein oder nicht
sein kann, zu entstehen vermag; und zwar ist der Ursprung im Hervor-
bringenden und nicht im Hervorgebrachten.«
(Zusatz in Klammem von mir)
395 WM,299.
396 EN VI 1140a 24-28, 1140b 8-10.
397 WM,300.
398 Gadamer, H.-G.: Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik. In:
ders.: Neuere Philosophie II - Gesammelte Werke IV. Tübingen, 1987,
175-188; hier: 184.
399 EN VI 1144a 23-30.
400 WM,307.
401 Gadamers Aristoteles-Interpretation stellt einen eigenständigen Beitrag
dar, der sich von Heideggers Integration des Phronesis-Begriffs in die
>monologische< Fundamentalontologie deutlich unterscheidet. Vgl. zu
diesem Zusammenhang die ausgezeichneten Ausführungen von Tami-
niaux, J.: La re appropriation de I'Ethique cl Nicomaque. In: ders.: Lectu-
res de l'ontologie fondamentale. Grenoble, 1989, 147-189. (Unterstriche-
nes im Original kursiv)
402 Vgl. auch Gadamer, H.-G.: Hermeneutik als praktische Philosophie. In:
Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Frankfurt/Main, 1976,78-109.
403 Daß entgegen Gadamers Auffassung auch die Hermeneutik des 19. Jahr-
hunderts einen Gegenwartsbezug der geisteswissenschaftlichen Arbeit
sah und forderte, konnte bei den Ausführungen über Droysen und Dilthey
gezeigt werden.
404 Selbstverständlich kann keine Rede davon sein, daß jedes Kunstwerk in
der skizzierten Weise in direkte Verbindung zur Praxis gebracht werden
kann. Denkt man an Werke der Architektur, absoluter Musik oder
abstrakter Malerei, so fällt auf, daß hier die von Gadamers Kunsttheorie
gegebenen Bestimmungen wenig hilfreich sind.
405 »Man nennt unser gegenwärtiges Zeitalter (...) nicht umsonst ein Zeitalter
der Wissenschaften. Es sind vor allem zwei Gründe, die diese Aussage
rechtfertigen. Einmal hat die wissenschaftlich-technische Beherrschung
der Natur erst jetzt Ausmaße angenommen, die unser Jahrhundert quali-
tativ von früheren Jahrhunderten unterscheiden. (...) Heute (...) ist (...) die
künstliche Umgestaltung unserer Umwelt so planvoll und umfassend
geworden, daß ihre Folgen den natürlichen Kreislauf der Dinge gefahrden
und irreversible Entwicklungen im großen einleiten. Das Problem des
Umweltschutzes ist der sichtbare Ausdruck der Totalisierung der techni-
schen Zivilisation.( ... ) Heute sind die Sozialwissenschaften im Begriff,
die durch Traditionen und Institutionen geprägte Praxis des menschlichen
Zusammenlebens grundlegend zu verändern. Die Wissenschaft erhebt den
Anspruch, und sie tut das auf der Grundlage des technischen Zivilisati-
onsstandes von heute, auch das gesellschaftliche Leben auf rationale
Grundlagen zu stellen und die fraglose Autorität des Althergebrachten zu
enttabuieren.«
Gadamer, H.-G.: Theorie, Technik, Praxis. In: GW IV. Tübingen, 1987,
Anmerkungen 197
und -verfahren. Vgl. Bolten, J.: Die henneneutische Spirale. In: Poetica
17 (1985), 355-371.
415 Vgl. oben 11.2.11.2. und 11.2.11.3.
416 WM,280.
417 WM,515.
418 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die folgende Äußerung: »Wie jeder
andere zu verstehende Text muß ein jegliches Kunstwerk - nicht nur das
literarische - verstanden werden, und solches Verstehen will gekonnt
sein.«
WM,157.
419 In diesem Sinn weist G. Gabriel darauf hin, daß literaturwissen-
schaftlichen Aussagen häufig nicht der Status von Behauptungen zuge-
schrieben werden kann, sondern daß sie als Hinweise aufzufassen sind.
Vgl. Gabriel, G.: Wie klar und deutlich soll eine literaturwissenschaftli-
che Tenninologie sein? In: C. Wagenknecht (Hg.): Zur Tenninologie der
Literaturwissenschaft. Stuttgart, 1989,24-34.
420 Diesen Umstand scheint J. Grondin aus den Augen zu verlieren, wenn er
ohne Rücksicht auf die Praxis der philologischen Interpretationsarbeit
darzulegen versucht, »( ... ) weshalb auf ein Wahrheitskriterium Verzicht
geleistet werden muß.«
Grondin (1982),176.
421 (According to contextualism) »( ... ) the interpretation is dependent upon,
or >relative to<, the circumstances in which it occurs - that is, to its con-
text (particular frameworks or sets of interpretative concepts, including
methods). For contextualism, rational reflection and dispute do not stop
with the interpreter's personal preferences.«
D.C. Hoy (1978), 69.
422 »Truth is not only basic for the entire project of philosophical henneneu-
tics, but it turns out to be one of the most elusive concepts in Gadamer.
(...) It might seem curious (although I do not think it is accidental) that in
a work entitled Truth anti Method, the topic of truth never becomes fully
thematic and is discussed only briefly toward the very end of the book.
(... ) What is (...) problematic and revealing is that if we closely examine
the way in which Gadamer appeals to >truth<, he is employing a concept
of truth that he never fully makes explicit.«
Bernstein (1982), 834ff.
»Der Titel Wahrheit und Methode erweckt die Erwartung, daß in diesem
Buch ausführlich über Wahrheit diskutiert wird. Diese Hoffnung bleibt
aber unerfüllt.«
Grondin, J.: Zur Entfaltung eines henneneutischen Wahrheitsbegriffs. In:
Philosophisches Jahrbuch 90 (1983),145-153; hier: 146.
»Gadamer's work (... ) is inconclusive when one considers the state of
social science. Partially this is due to his undifferentiated concept of
scientific method, his analytically inadequate notion of truth and to simi-
lar deficiencies in his account of tradition. (...) He does not clearly distin-
guish theoretical from >practical< truths, that is, he does not examine the
logic of different types of discourse in which these claims might occur.«
Misgeld (1985), 161.
423 WM,93.
424 Gadamer, H.-G.: Die Aktualität des Schönen. Stuttgart, 1977. Auf ähnli-
Anmerkungen 199
I. Nachschlagewerke:
Brunner, O. u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Stuttgart, 1972ff.
Diderot, D. und d' Alembert, I. (Hgs.): Encyc1opedie, ou Dictionnaire raisonne des
sciences, des arts et des metiers I-XXXV. Paris, 1751 - 1780 (Reprint: Stutt-
gart - Bad Cannstatt, 1966-1967)
Gal1ing, K.(Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Tübingen, 1957-
1962 (Abgekürzt: RGG)
Krause, G. und Müller, G.(Hgs.): Theologische Realenzyklopädie. Berlin, 1977ff.
(Abgekürzt: TRE)
Mittelstraß, I.(Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Mann-
heim- Wien-Zürich, 1980ff. (Abgekürzt: EPhW)
Ritter, I.(Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel, 1971ff. (Abge-
kürzt: HWbPh)
Lexikon des Mittelalters. München, 1980ff.
Zedler, I.H.: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon. Leipzig-Halle, 1732-1754
(Reprint: Graz, 1961)
Historismus 62f., 65, 88, 105 Offenheit 122, 124, 126, 150
Historizität s. Geschichtlichkeit Ontologie, Ontologisierung XII, 91,
Horizont, Horizontmetaphorik 113- 112,115,141,153,166
117, 125, 131, 165 Ontologie des Kunstwerks XIII, 32-
Humanismus 1-7, 30f., 109 51
Idee 13, 15f., 61, 65, 67, 95, 163 Philosophie, praktische XIX, 31,142-
Idee, ästhetische 15-20, 164 151
idiographisch 69f. Pluralismus 159
Individuum 58, 64 Polysemie 19,78,118,131-134
Intentionalismus 130 Psychologisierung, Psychologismus
Interpretieren, Interpretation XI, XIV, 56--61,77,82
XIX, 39f., 53--61, 72, 74, 87- 93,
108,127-136, 145f., 154-161 Rationalität 108, 134
Interpretationsschema s. Deutungsmu- Reflexion 112, 148
ster Relativismus 159, 161
Wahrheit 44ff., 51, 67, 77, 80, 112, Zeichen 17, 28ff., 47-50, 55, 74,
162-170 129f., 165
Wahrheit der Kunst XIIff., 12f., 20, Zirkel, hemeneutischer 86-93, 97,
37,46, 162ff., 166 104, 154-158