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Originalveröffentlichung in: Beyer, Wilhelm R. u.a. (Hrsg.): Hegel-Jahrbuch 1974, Köln, 1975, S.

204-210

HEGEL-JAHRBUCH
1974

Herausgegeben von Wilhelm R. Beyer


im Auftrage der
Hegel-Gesellschaft e. V.

Pahl-Rugenstein Verlag Köln


UNIVERSITÄTS­
BIBLIOTHEK
HEIDELBERG

^Tis-a. ßr
l\
© 1975 by Pahl-Rugenstein Verlag, Köln.
Alle Rechte vorbehalten.
Herstellung: Peter Millard & Co. KG, Köln.
ISBN 3-7609-0204-9
Hans Friedrich Fulda, Heidelberg

These zur Dialektik als Darstellungsmethode


(im „Kapital" von Marx)

Die Umwandlung der Philosophie in kritische Theorie der Gesellschaft, wie sie
von Marx paradigmatisch unternommen und inzwischen immer wieder versucht
worden ist, trägt von ihrem Ursprung her ein Problem in sich, das sich bisher
nicht wirklich hat lösen lassen. Bereits der junge Marx hat es auf eine prägnante
Formel gebracht: „Wie halten wir es nun mit der Hegelschen Dialektik?"
(Karl Marx, Frühe Schriften, I. Band, hrsg. von H.­J. L ieber und P. Furth,
637. Im Folgenden zitiert als „FS".) Polemisch gegen die kritischen Theologen
der Hegelschule gewandt, nannte er dies die nur „scheinbar formelle, aber
wirklich wesentliche Frage" (ebenda 637). Zur Zeit der Ausarbeitung der
„Kritik der politischen Ökonomie" und des „Kapital" gab er zu erkennen, daß
er der Überzeugung war, eine Antwort auf diese Frage zu besitzen. Wenn er
die ökonomische L ast abgeschüttelt habe, so meint Marx 1868, werde er eine
„Dialektik" schreiben (Br. vom 9. 5. 1868). Er ließ keinen Zweifel daran, daß
eine solche „Dialektik" von der Methode, die Hegel entdeckt hatte, ein Moment
übernehmen könne, das rationell war, und daß er ihre Grundgedanken bereits
einzubringen glaubte in die Darstellung des Systems der bürgerlichen Ökono­
mie, deren L ast er schließlich doch nicht abzuschütteln vermochte. Man könnte
daher meinen, Marx' Antwort sei deutlich genug ausgefallen. Gleichwohl be­
steht bis heute nicht nur unter den Kritikern des Marxismus, sondern auch
unter denjenigen, die sich Marx' Programm verpflichtet fühlen, über Wert und
Charakter des von Marx angetretenen Dialektik­Erbes keine Einigkeit. H a n ­
delt es sich bei dieser Erbschaft um ein ansehnliches Kapital? Handelt es sich
um eine schwer auf den gesellschaftskritischen Unternehmen lastende Hypo­
thek, oder um einen noch ungehobenen Schatz? Kritik und Selbstkritik an der
marxistischen Orthodoxie haben in den letzten Jahrzehnten bei vielen dazu
geführt, das Erbe als drückend zu empfinden. Ich selbst möchte mich zu ihm
lieber wie zu etwas Unentdecktem verhalten. Am liebsten wüßte ich meine
Thesen als Anweisungen genommen, wie man den vermuteten Schatz auffinden
und heben kann.

1. These
Engels' Äußerungen zur materialistischen Dialektik führen nicht auf die rich­
tige Spur. Engels hat im Nachlaß von Marx vergeblich nach einem — von ihm
dort vermuteten — Abriß über Dialektik gefahndet. Die Zusammenhänge, in
denen er sich selbst daranmachte, zu Fragen der Dialektik Stellung zu neh­
men, waren andere als diejenigen, in denen Marx die Hegeische Dialektik als
„unbedingt das letzte Wort aller Philosophie" betrachtete (Br. 31. 5. 1858).

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2. These
Auf die richtige S p u r f ü h r t das f o l g e n d e V o r g e h e n : M a n m u ß untersuchen, w i e
M a r x ' systematische, ökonomische Schriften das M a t e r i a l d e r bürgerlichen Ö k o ­
n o m i e seiner Zeit organisieren. D i e Gesichtspunkte, u n t e r denen diese U n t e r ­
suchung d u r c h z u f ü h r e n ist, ergeben sich, w e n n m a n M a r x d i r e k t e Ä u ß e r u n g e n
ü b e r D i a l e k t i k , wie sie sich im „ K a p i t a l " , in den „ G r u n d r i s s e n " u n d in den
gleichzeitigen Briefen f i n d e n , v e r b i n d e t m i t der K r i t i k an d e r Hegeischen D i a ­
l e k t i k , die M a r x in den vierziger J a h r e n v o r g e n o m m e n h a t .

3. These
O b w o h l M a r x M i t t e d e r vierziger J a h r e m i t d e m S t a n d p u n k t Feuerbachs ge­
brochen h a t , ist es möglich u n d sachgemäß, das spätere P r o g r a m m einer V e r ­
w a n d l u n g der s p e k u l a t i v e n D i a l e k t i k mit H i l f e d e r d e m „ B r u c h " v o r a u s ­
gehenden, f r ü h e n K r i t i k an der Hegeischen D i a l e k t i k zu i n t e r p r e t i e r e n . M e h r
noch: G e r a d e diese I n t e r p r e t a t i o n e r l a u b t es, in den K e r n s ä t z e n des V e r w a n d ­
l u n g s p r o g r a m m s einen bisher nicht beachteten Sinn zu entdecken. D i e v o r z u ­
n e h m e n d e I n t e r p r e t a t i o n macht insbesondere M a r x ' Bild v o n d e r Umstülpung
d e r Hegeischen D i a l e k t i k aufschlußreich. Sie e r l a u b t auch zu zeigen, d a ß mit
d e r V e r k e h r u n g der idealistischen D i a l e k t i k in eine materialistische, die deren
direktes Gegenteil sein soll, nicht n u r die S u b s t r a t e dialektischer B e h a n d l u n g
u n d S t r u k t u r ausgewechselt w e r d e n ; s o n d e r n d a ß d a m i t auch die F o r m der
D i a l e k t i k einer V e r ä n d e r u n g unterliegt, die einen neuen v o n H e g e l in vielen
P u n k t e n abweichenden D i a l e k t i k b e g r i f f entstehen l ä ß t .
Z u r B e g r ü n d u n g der d r i t t e n T h e s e :
1. M a r x ' f r ü h e u n d M a r x ' spätere Ä u ß e r u n g e n ü b e r H e g e l s D i a l e k t i k u n d
ü b e r deren a n z u s t r e b e n d e V e r w a n d l u n g stimmen in z e n t r a l e n P u n k t e n m i t e i n ­
a n d e r überein. Es sind mindestens die f o l g e n d e n : Hegels G r u n d f e h l e r , auch
hinsichtlich seiner D i a l e k t i k , sei der Idealismus. M a n müsse ihm eine m a t e r i a ­
listische A u f f a s s u n g v o n D i a l e k t i k entgegensetzen. Eine Folge des Idealismus
seien die M y s t i f i k a t i o n e n , die die D i a l e k t i k in Hegels H ä n d e n erleide. M a n
müsse sie kritisieren. U n g e a c h t e t ihrer M y s t i f i k a t i o n e n e n t h a l t e H e g e l s D i a l e k ­
tik aber einen rationellen K e r n , den es freizulegen gelte. E r soll aufs Engste
z u s a m m e n h ä n g e n m i t H e g e l s E i n s c h ä t z u n g der N e g a t i v i t ä t u n d d e r R olle des
Widerspruchs, die d e r D i a l e k t i k ihre kritische u n d r e v o l u t i o n ä r e F u n k t i o n
sichern.
2. Alle diese P u n k t e liegen auf einem Gebiet, das gegenüber der Einschätzung
des naturalistischen H u m a n i s m u s Feuerbachs n e u t r a l ist. M a n sollte auch nicht
unterschlagen, d a ß M a r x ursprünglich auf sie zu sprechen k a m im Z u s a m m e n ­
h a n g m i t Ü b e r l e g u n g e n , in denen er gegen Feuerbachs Insistieren auf d e r Posi­
t i v i t ä t des u n m i t t e l b a r Menschlichen vorsichtig H e g e l s Einsicht in die N o t ­
w e n d i g k e i t historischer V e r m i t t l u n g z u r G e l t u n g brachte. N i c h t als F e u e r ­
bachianer h a t M a r x der Hegeischen D i a l e k t i k ihre guten Seiten a b z u g e w i n n e n
versucht; s o n d e r n gerade als D e n k e r , d e r bereits im Begriff w a r , m i t H i l f e
d e r hegelischen A u f f a s s u n g v o n „ d e r D i a l e k t i k d e r N e g a t i v i t ä t als d e m be­
w e g e n d e n u n d e r z e u g e n d e n P r i n z i p " (FS 6 4 5 ; vergleiche 640) den S t a n d p u n k t

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Feuerbachs zu überwinden. Er hat denn auch Feuerbachs eigene dialogistische
Umdeutung der Hegeischen Dialektik nicht übernommen. Der Bruch mit dem
Feuerbachianismus, der den jungen Marx vom werdenden Ökonomiekritiker
abhebt, gibt daher keinen zureichenden Grund gegen den naheliegenden Ver­
such, das spätere Dialektikprogramm im Licht der frühen Auseinandersetzung
mit Hegel zu sehen.
3. Im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Buches des „Kapital" hat
Marx gesagt, die Dialektik stehe bei Hegel auf dem Kopf. Und er hat daran
sogleich die Forderung geknüpft, man müsse sie umstülpen, um den rationellen
Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. Der Ausdruck „Umstülpen" wird
meist so verstanden, als besage er an dieser Stelle nur soviel wie „Umkehren".
(Vgl. z. B. Louis Althusser, Für Marx. Frankfurt am Main 1968, 52 f.) Die Um­
kehrung soll, so scheint es, die Dialektik vom Kopf auf die Füße stellen, damit
der rationelle Kern aus der mystischen Hülle purzelt, wie das Kaninchen aus
dem Zylinder, den man etwa einem Zauberkünstler aus der H a n d nimmt und,
heftig schüttelnd, umkehrt.
Wenn man sich den genauen Sinn vergegenwärtigt, in dem Marx' Jugend­
schriften von Hegels Mystizismus sprechen, sieht man leicht, daß dieser simple
Gegentrick gegen den spekulativen Zauberer nicht gemeint ist. „Umstülpen"
bezeichnet vielmehr einen Vorgang, wie man ihn zum Beispiel an einem Hand­
schuh vornimmt. Auch dadurch kommt, was vorher — unter Umständen ver­
kehrterweise — oben war, nun nach unten. Zugleich aber kommt, was vorher
außen war, obwohl es unter Umständen nach innen gehört, nun tatsächlich
nach innen; und das, was in diesem Fall fälschlicherweise innen war, kommt
nach außen. War etwa im Handschuh ein Kern versteckt, so wird er bei die­
sem Umstülpverfahren ganz von selbst zum Vorschein kommen; seine Um­
hüllung wird „abgestreift". Aber das Bild vom Kern läßt sich nun ebenso gut
auch andersherum nehmen: Sollte am Handschuh, sofern er sich in verkehr­
ten Zustand befindet — zunächst also außen daran — etwas Kerniges sein,
so muß man den Handschuh umstülpen, um dies als seinen Kern in der Hülle
entdecken zu können. Erst die erforderliche Umstülpung macht den Kern zu
etwas Eingehülltem und macht ihn damit als Kern einer Schale begreiflich.
Genauso steht es mit der Beendigung des verkehrten Zustandes, in dem sich der
dialektische Handschuh und sein rationeller Kern bei Hegel befinden.
Die spekulative Dialektik, so meint Marx, ist eine Verkehrung der wirklichen
Verhältnisse insofern, als sie das Wirkliche und damit ins Innere unserer Dar­
stellung gehörige, zur bloß äußeren Erscheinung erklärt; und insofern sie be­
hauptet, es gäbe eine innere Seite der Dinge; diese Seite sei das Wesentliche;
und darin bilde alles Mannigfaltige, sich stoßende Wirkliche eine vollendete,
harmonische Einheit. Die Meinung, alles — mit Einschluß von uns selbst und
unseren wirklichen P roblemen — sei in diese Einheit zu versenken, macht die
mystische Form aus, in der sich die Dialektik bei Hegel befindet. Diese Dia­
lektik ist um den P reis der Verkehrung aller wirklichen Verhältnisse des Inne­
ren und Äußeren, des einen und vielen, der Erscheinung und des Wesens, des
Subjektes und P rädikats erkauft — oder vielmehr erschwindelt. Denn die Ver­

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kehrung ist nicht nur Mystik, sondern zugleich Mystifikation, irreführende
Geheimnistuerei. Daß es jenes mystische Innere gäbe — die einheitliche Idee
des Einen, auf deren philosophierenden Kopf die Dialektik gestellt ist — ist
nicht wahr. In Wahrheit gehören die Ideen des harmonischen Ganzen nach
außen, auf die S eite der gesellschaftlichen Erscheinungen. S ie sind S chein, der
zäh an diesen Erscheinungen haftet. Die Mystifikation hat Folgen — so gut
wie die Verwandlung der Dialektik in ein Verfahren, das S chluß mit den
Mystifikationen macht. Wo Unverträglichkeiten unter den Bestandteilen des
Wirklichen zwar registriert und als solche charakterisiert werden, aber nur in
der Absicht, sie alsbald in den S chein einer mystischen Einheit einzuhüllen und
darin fortbestehen zu lassen, da ist auch der Kritizismus, mit dessen Anspruch
die Dialektik auftritt, nur ein scheinbarer. In Wahrheit wird die Dialektik in
diesem Zustand unkritisch. Das Unerträgliche und die im Bestehenden herrschen­
den Widersprüche werden für erträglich, — ja, für das denkbar Beste, das
Vernünftige ausgegeben: Für dasjenige was mit allem Übrigen ein gediegenes
Ganzes ausmacht. H a t man dies einmal getan, so kann man nach Marx' Mei­
nung keine praktischen Konsequenzen mehr aus der Feststellung der Wider­
sprüche ziehen. Man kann nicht mehr darauf ausgehen, ihre Existenz zu be­
seitigen (vergleiche FS 365). Hegels Hauptfehler soll deshalb darin bestehen,
„daß er den Widerspruch der Erscheinung als Einheit im Wesen, in der Idee
f a ß t " (FS 377). Da Hegel auch die Negation der Negation in ihrer metho­
dischen Bedeutung als Widerspruch verstand, ist an ihr ein eng mit diesem
Hauptfehler verwandter Mangel zu rügen: S ie hat die Funktion der Bestäti­
gung des S cheinwesens und der Verwandlung dieses S cheinwesens in das S ub­
jekt (FS 655). Aufs S chärfste muß auch die absolute Vermittlung im Vernunft­
schluß zurückgewiesen werden, die die Verwandlung des S cheinwesens ins S ub­
jekt und damit die Funktion der Negation ausführen und nachvollziehbar
machen soll. (FS 367 ff.)
Verwandelt man dagegen die Hegeische Dialektik, in dem man sie umstülpt,
so kommt nicht nur die wesentliche Einheit auf die S eite des Äußerlichen und
des S cheins; sondern auch der Widerspruch erhält nun seinen richtigen Platz.
Er wird zum Inneren und wahrhaft Wesentlichen, oder wie Marx in „Kapital"
sagen wird: Zur „S pringquelle aller Dialektik" (Das Kapital, I. Band, Berlin
1953, 626). Das Wirkliche hat seine wesentliche Vernünftigkeit nicht in einer
angeblich bestehenden Einheit, sondern einzig im Widerspruch des vernünftigen
Ganzen und damit im Charakter des Bestehenden, unstabil und gegen sich
selbst gerichtet zu sein. Es hat diesen Charakter nicht zuletzt im Verhältnis
dessen, was das Bestehende ist, zu dem was es zu sein vorgibt. Es besitzt eine
„Wirklichkeit, die an allen Ecken das Gegenteil von dem ist, was sie aussagt,
und das Gegenteil von dem aussagt, was sie ist" (FS 339). Für die Dialektik
ergibt sich daraus, daß sie nicht mehr jeweils von einer unmittelbaren Einheit
fortschreiten darf zu einer tieferen Vermittlungseinheit; sondern sie wird je­
weils von einem unmittelbaren und verhältnismäßig oberflächlichen Wider­
spruch zu einem wesentlicheren Widerspruch führen, der einen größeren Be­
reich von Erscheinungen beherrscht und daher auch weitertragende Folgen hat

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(vergleiche FS 377). Erst dieses V e r f a h r e n macht w a h r e K r i t i k möglich. Es
zeigt nicht n u r vereinzelt Widersprüche als bestehend a u f , s o n d e r n b r i n g t die
W i d e r s p r ü c h e in systematischen Z u s a m m e n h a n g , e r k l ä r t sie u n d begreift ihre
Genese, so w i e ihre N o t w e n d i g k e i t . „Sie f a ß t sie in ihrer eigentümlichen Be­
d e u t u n g " (FS 377) u n d unterscheidet sich d a m i t v o n der bei den J u n g h e g e l i a n e r n
beliebten dogmatischen K r i t i k , die mit ihrem G e g e n s t a n d noch k ä m p f t u n d
überall W i d e r s p r ü c h e f i n d e t . (Ebenda.)
Diese A u f f a s s u n g v o n N e g a t i v i t ä t als dem b e w e g e n d e n u n d erzeugenden P r i n ­
z i p ist das R a t i o n e l l e an der Hegeischen D i a l e k t i k . D a sie sich so, wie c h a r a k ­
terisiert, in Hegels D i a l e k t i k nicht f i n d e t , k a n n m a n sie metaphorisch als das­
jenige bezeichnen, das z u m Vorschein k o m m t , w e n n m a n die mystische H ü l l e
v o n d e r Hegelschen D i a l e k t i k a b s t r e i f t . M a n w i r d so reden, w e n n m a n be­
t o n e n möchte, d a ß es sich u m zwei verschiedene D i a l e k t i k e n h a n d e l t . Die eine
steckt als die richtige in der a n d e r e n wie der innere H a n d s c h u h im v e r k e h r t e n ,
d e n m a n durch U m s t ü l p e n v o n ihm abzieht. B e t o n t m a n dagegen, d a ß es sich
u m ein u n d dieselbe D i a l e k t i k in zwei verschiedenen F o r m e n h a n d e l t , so d a ß
die richtige G e s t a l t der D i a l e k t i k n u r das Ergebnis d e r V e r w a n d l u n g d e r v e r ­
k e h r t e n ist, so w i r d m a n auf e t w a s anderes den A k z e n t legen müssen: N u n gilt
es zu verdeutlichen, d a ß das R a t i o n e l l e an der D i a l e k t i k erst d a d u r c h z u m
K e r n gemacht w i r d , d a ß m a n den mystischen Bestandteil d e r Hegelschen D i a ­
lektik z u r ä u ß e r e n H ü l l e w e r d e n l ä ß t , — z u r H ü l l e , die die wirklichen V e r ­
hältnisse verschleiert.
4. Es k a n n hier nicht d a r u m gehen zu entscheiden, o b d e r Marxschen H e g e l ­
k r i t i k Recht zu geben ist. W o h l aber l ä ß t sich v o m jetzt erreichten I n t e r ­
p r e t a t i o n s e r g e b n i s aus in wenigen W o r t e n zeigen, i n w i e f e r n die so durch U m ­
stülpen e n t s t a n d e n e , kritische D i a l e k t i k sich ihrer Struktur nach v o n der H e g e l ­
schen unterscheidet. Ich z ä h l e n u r einige d e r wichtigsten Abweichungen a u f :
a) F ü r H e g e l w a r das Dialektische als das N e g a t i v ­ V e r n ü n f t i g e n u r eines v o n
m e h r e r e n M o m e n t e n d e r M e t h o d e , u n d nicht einmal das erste u n t e r ihnen.
I n d e m f ü r M a r x dagegen d e r W i d e r s p r u c h z u m I n n e r s t e n u n d z u r Springquelle
aller D i a l e k t i k w i r d , w i r d die D i a l e k t i k Ausdruck f ü r ein systematisches G a n ­
zes an M e t h o d e .
b) Allerdings ist diese M e t h o d e n u n nicht m e h r die sich selbst b e w e g e n d e F o r m
ihres a l l u m f a s s e n d e n begrifflichen I n h a l t s , dessen S u b j e k t sie zugleich ist. D a
nicht die E x i s t e n z eines absolut „ I d e n t i s c h e n " d. h. m i t sich Ü b e r e i n s t i m m e n d e n
b e h a u p t e t w e r d e n k a n n , k a n n m a n auch m i t dem Begriff d e r M e t h o d e nicht
zurück h i n t e r D i f f e r e n z i e r u n g e n wie diejenige zwischen D e n k e n , b z w . G e ­
d a n k e u n d G e g e n s t a n d ; o d e r h i n t e r die D i f f e r e n z zwischen allgemeinem Wesen,
b z w . Begriff u n d i n d i v i d u e l l e r Existenz (vergleiche G r u n d r i s s e d e r K r i t i k d e r
politischen Ö k o n o m i e . Berlin 1953, 22). D i a l e k t i k als M e t h o d e k a n n n u r noch
e t w a s sein, als das die „ M e t h o d e " bei H e g e l ein p a r a s i t ä r e s u n d ziemlich u n t e r ­
entwickeltes Dasein gefristet h a t t e : D i e v e r n ü n f t i g u n d dabei kritisch v e r ­
f a h r e n d e Form der Darstellung eines Stoffs, den die Einzelwissenschaften
v o r b e r e i t e t h a b e n u n d den sich d e r Forscher auf a n d e r e als dialektische Weise
angeeignet h a b e n m u ß . H e g e l h a t sich über diesen s u b j e k t i v e n M e t h o d e n ­

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begriff n u r in v o r b e r e i t e n d e n B e m e r k u n g e n — insbesondere zu Beginn der
E n z y k l o p ä d i e u n d der N a t u r p h i l o s o p h i e — ausgelassen. M a r x dagegen macht
ihn z u m hen kai pan der D i a l e k t i k .
c) E t w a s gänzlich N e u e s gegenüber H e g e l ist diese A u f f a s s u n g v o n D a r s t e l ­
l u n g s m e t h o d e allerdings gerade nicht. Aber der Zweck der „ M e t h o d e des Be­
a r b e i t e n s " o d e r „ E n t w i c k l u n g s m e t h o d e " , wie M a r x sie auch n e n n t (Br 16. 1.
1858; 6. 3. 1868), ist demjenigen der hegelschen „ D a r s t e l l u n g der I d e e " (Enc.
§ 18) n u n genau entgegengesetzt. D a s e r l a u b t M a r x zu sagen, seine dialektische
M e t h o d e sei v o n d e r Hegelschen nicht n u r unterschieden, sondern ihr direktes
Gegenteil. S ie dient nicht mehr dem höheren B e d ü r f n i s des Denkens, im speku­
l a t i v e n G e d a n k e n die A u f l ö s u n g seiner Widersprüche zu vollbringen (Enc.
§ 11); sondern dem p r o f a n e n Ziel, Z u s t ä n d e , T e n d e n z e n u n d Meinungen, die es
gibt, die aber m i t e i n a n d e r unverträglich u n d in diesem S inne widersprüchlich
sind, a n f a n g e n d beim Einfachsten und a m leichtesten Durchschaubaren zurück­
z u f ü h r e n auf w e i t e r reichende u n d tiefer liegende Widersprüche. S ie entwickelt
nicht ein S ystem v o n Einheit eines sich f o r t b i l d e n d e n G e d a n k e n s bis zu einem
P u n k t , an dem eine u m f a s s e n d e Einheit alle V o r a u s s e t z u n g e n eingeholt h a t
u n d d e r A n f a n g in irgendeiner Weise „ a b g e l e i t e t " ist; s o n d e r n sie entwickelt
ein S ystem v o n Widersprüchen bis zu dem P u n k t , an dem alle diese W i d e r ­
sprüche „ z u m P r o z e ß k o m m e n " (Grundrisse 139), der das S ystem als G a n z e s
einem durchgreifenden, in der Zeit v o n s t a t t e n gehenden W a n d e l u n t e r w i r f t .
S ie ist nicht M e t h o d e einer T h e o r i e systematischer Einheit, s o n d e r n D a r s t e l ­
l u n g s f o r m einer K a t a s t r o p h e n t h e o r i e . D a s ist die eine v o n zwei P o i n t e n , die
das Ergebnis unserer I n t e r p r e t a t i o n der „ U m s t ü l p u n g " h a t .
d) O b w o h l „ S p r i n g q u e l l e aller D i a l e k t i k " ist jedoch auch bei M a r x der W i d e r ­
spruch nicht das erste im G a n g der D a r s t e l l u n g . V e r b u n d e n mit d e r Gleich­
s e t z u n g v o n D i a l e k t i k u n d D a r s t e l l u n g s m e t h o d e macht dies den Ausdruck
„ D i a l e k t i k " bei M a r x z w e i d e u t i g : E r k a n n e n t w e d e r — in seinem engeren
S inne — die K o n s e q u e n z e n bezeichnen, die aus dem aufgedeckten Widerspruch
gezogen w e r d e n müssen; o d e r aber die ganze, den W e g z u r A u f d e c k u n g des
Widerspruchs einschließende D a r s t e l l u n g s b e w e g u n g . W o r i n besteht dieser G a n g
z u r A u f d e c k u n g des Widerspruchs? U n s hierauf eine A n t w o r t zu verschaffen
ist die zweite Pointe, die in der obigen I n t e r p r e t a t i o n der „ U m s t ü l p u n g " liegt:
W e r d e n die Widersprüche z u m I n n e r e n , die harmonischen Einheiten dagegen
z u m Ä u ß e r e n , die Widersprüche verdeckenden S chein an den Erscheinungen, so
m u ß d e r G a n g , der z u m jeweiligen Widerspruch f ü h r t , jeweils in der A u f ­
deckung u n d N e g a t i o n des S cheinwesens bestehen, das den Widerspruch v e r ­
deckte (vergleiche F S 655). W e i t gefehlt also, d a ß M a r x durch seine V e r ­
w a n d l u n g d e r Hegelschen D i a l e k t i k deren „ M y s t i k " einfach wie ein störendes
Beiwerk e n t f e r n t hätte, h a t er vielmehr das Abstreifen der mystischen Ver­
h ü l l u n g e n , die den zu untersuchenden Erscheinungen wesentlich zugehören,
z u m integralen Bestandteil der D a r s t e l l u n g s m e t h o d e selber gemacht. D i e K a t e ­
gorien „ E r s c h e i n u n g " , „ W e s e n " u n d „ S c h e i n " w e r d e n so f ü r die v e r t i k a l e
S t r u k t u r des ganzen D a r s t e l l u n g s u n t e r n c h m e n s t r a g e n d u n d in dessen G a n g
k o m m t ein durchgängig phänomenologischer Zug. A b e r auch in dieser e n t ­

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fernten Verwandtschaft mit der Hegeischen Phänomenologie ist, was das Dar­
stellungsverfahren anbetrifft, der Kontrast das Vorherrschende. Denn an der­
jenigen systematischen Stelle, an der bei Hegel die Behauptung einer jeweiligen
spekulativen Einheit steht, steht bei Marx das Gegenteil: Die Destruktion einer
jeweiligen scheinbaren Einheit. Hingegen ergibt sich die jeweils neue Erschei­
nungsform, in der die Widersprüche der vorigen sich bewegen können, nach
anderen P rinzipien als Hegels Konstruktion einer neuen Bewußtseinsgestalt,
e) Alle erwähnten Spezifika der marxschen Auffassung der Dialektik lassen
sich gewinnen, wenn man — mit einer gewissen Kenntnis des „Kapital" aus­
gestattet — die programmatischen Äußerungen zur Umstülpung der Hegel­
schen Dialektik interpretiert im Licht der frühen Auseinandersetzung, die Marx
noch als Feuerbachianer mit Hegel vornahm. Nicht so steht es allerdings mit
einem weiteren Spezifikum. Es ist zu berücksichtigen in einer weiteren These,
mit der ich schließen will.

4. These
Für den Feuerbachianer Marx war an Hegels Dialektik noch nicht wichtig, daß
diese sich in verwandelter Gestalt als Form systematisch­kritischer Darstellung
von Forschungsergebnissen der Einzelwissenschaften gebrauchen ließ (vgl. FS
506 ff.); sondern, daß mit ihr ein Ausdruck für die Bewegung der Geschichte
gefunden schien, die erst Entstehungsgeschichte des Menschen ist (vgl. FS 640).
Als „Methode des Bearbeitens" der bürgerlichen Ökonomie hingegen wurde die
Dialektik sogleich von historischer Betrachtung und Darstellung ihrer Gegen­
stände unterschieden (vgl. Grundrisse 217; 364; 405; 862). Doch im Unter­
schied zur Hegelschen Methode soll sie das Historische nicht zur bloßen An­
merkung herabsetzen. Der Zusammenhang von Erscheinung und Wesen, den
die Entwicklungsmethode aufdeckt, soll vielmehr zugleich die P unkte fixierbar
machen, an denen die systematische Exposition durch historische Betrachtung
abgelöst werden muß (vgl. Grundrisse 364) und an denen der Anschein zu
korrigieren ist, es handle sich nur um Begriffsentwicklungen (vgl. Grundrisse
69). Obwohl Dialektik für Marx im Unterschied zu Hegel ein Ganzes an
Methode ist, ist sie doch nicht die ganze Darstellungsmethode des „Kapital".

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