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Staat
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BEMERKUNGEN ZUM VERHÄLTNIS
VON STAAT UND RELIGION BEI HEGEL*
Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion galt lange
Zeit als abgetan und unerheblich. Der Staat erschien als selbsttragende
politische Einheit und Gemeinschaft, die ihre Grundlage im politischen
Einheitswillen und -bewußtsein der Nation hatte. Soweit es für ihn auf
eine über sein Vorhandensein hinausweisende Legitimation ankam, be-
zog er sie aus seinen weltlichen Aufgaben und Zwecken. In der „Allge-
meinen Staatslehre" und ihren repräsentativen Darstellungen war und
ist bis heute das Verhältnis von Staat und Religion kein eigenes The-
ma1: Der Staat, im Verhältnis zur Religion betrachtet, steht in sich
selbst; er läßt die Religion - als moderner, weltlicher Staat - zwar
zu, gewährleistet ihre Freiheit als eine Dimension der Freiheit der
Menschen, die er zur Einheit verbindet, aber er ist von der Religion
weder abhängig noch in seiner Politik an sie gebunden.
Solche Selbstgewißheit oder vielleicht auch: Unbekümmertheit steht
ganz im Gegensatz zu den klassischen Werken der politischen bzw.
Staatstheorie, die stets die Frage des Verhältnisses von Staat bzw.
politischer Ordnung und Religion als ein wichtiges, ja vielfach ent-
scheidendes Problem staatlich-politischer Existenz angesehen haben2.
Sie ist heute verflogen. Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und
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Religion hat neue Aktualität erlangt, seit und in dem Maße die national-
kulturelle Identität - nicht nur in Deutschland - angesichts eines sich
entfaltenden geistig-ethischen Pluralismus, einer dominant werdenden
technisch-industriellen Funktionalität und des Verlustes der Formkraft
des Nationalen zum Problem geworden ist3. Ist die Religion, wie man
jahrhundertelang meinte, die eigentlich tragende und formende Kraft,
die die Gesittung und Gesinnung verbürgt, aus der der Staat in seinen
Bürgern lebt, oder ist sie als solche ersetzbar oder entbehrlich? Eine
Frage, die gerade für den säkularisierten, religiös-weltanschaulich neu-
tralen Staat unserer Gegenwart ihre Bedeutung und Brisanz hat. Wenn
auch dieser Staat einen tragenden, ihn haltenden Grund im vorpoliti-
schen Bereich braucht, worin hat .und findet er ihn?
Im folgenden soll dieser Frage nach dem Verhältnis von Staat und
Religion anhand der Aussagen Hegels nachgegangen werden. Hegel ist
der letzte der großen Staatsdenker, der diese Frage im Rahmen einer
philosophischen Staatsbegründung und Staatslehre systematisch aufge-
nommen und erörtert hat. Und er hat dies nicht abstrakt-allgemein,
für das Verhältnis von politischer Ordnung .und Religion überhaupt,
sondern konkret-allgemein, für das Verhältnis des neuzeitlich-europäi-
8 Als ein Symptom dafür kann in der Bundesrepublik die 1976 begonnene
und seitdem andauernde Grundwerte-Debatte angesehen werden. Wesent-
liche Positionen bei G. Gorschenek (Hrsg.), Grundwerte in Staat und Gesell-
schaft, 1977; vgl. ferner A. Paus (Hrsg.), Werte, Rechte, Normen (Vorlesungen
der Salzburger Hochschulwochen 1978), 1979.
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 483
sehen Staates seiner Zeit zur christlichen Religion getan. Das hebt seine
Ausführungen von vornherein über einen nur historischen Beitrag zum
Problem hinaus. Das Kernstück der Aussagen Hegels zum Verhältnis
von Staat und Religion findet sich in der umfangreichen - und meist
wenig zur Kenntnis genommenen4 - Anmerkung zu § 270 der Rechts-
philosophie. Ergänzend sind die Einleitung zur Philosophie der Ge-
schichte .und der § 552 der Enzyklopädie, 3. Ausgabe 1830, heranzuzie-
hen. Die Einleitung enthält die systematischen Voraussetzungen für die
Ausführungen in der Rechtsphilosophie, im System werden die Aussa-
gen der Rechtsphilosophie in mancher Hinsicht näher fundiert oder auch
entfaltet, setzen diese aber als Grundlage voraus. Die drei Stücke zu-
sammen bilden gewissermaßen Hegels „Traktat" zum Verhältnis von
Staat und Religion5.
Die nachfolgenden Bemerkungen, die sich auf eine schwerpunktmä-
ßige Darstellung und Interpretation, die am Text entlang geht, sodann
auf eine gegenwartsbezogene Problematisierung beschränken, sollen in
vier Schritten vorgetragen werden. Erster Schritt: Was bedeutet für
Hegel - im Zusammenhang des Themas - „Staat" und worin hat der
Staat seine Grundlage? Zweiter Schritt: Wie ist, von daher, das Verhält-
nis von Staat und Religion grundsätzlich und im Hinblick auf aktuelle
Erscheinungsformen beschaffen? Dritter Schritt: Welches ist das Recht
des (persönlichen) Gewissens im .und gegenüber dem Staat? Vierter
Schritt: Welche Bedeutung hat Hegels Bestimmung des Verhältnisses
von Staat und Religion für das Verhältnis von Staat und Religion heute?
I.
4 Selbst die profunde Darstellung von Hegels Werk bei Charles Taylor,
Hegel, 1975 (dt. Übersetzung Frankfurt 1978) widmet dem § 270 der Rechts-
philosophie und dem darin behandeltem Thema Staat und Religion nur
weniger als eine halbe Seite (S. 575).
5 Im folgenden werden zitiert die Rechtsphilosophie (i. d. R. nur mit An-
gabe der Paragraphen) nach der Ausgabe Glockner (Jubiläumsausgabe, Bd. 7),
3. Aufl., Stuttgart 1952, die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaf-
ten im Grundriß (1830) nach der Ausgabe von Nicolin und Pöggeler, Ham-
burg 1959, die Einleitung zur Philosophie der Geschichte nach der Ausgabe
Die Vernunft in der Geschichte, 5. Aufl., hrsg. von Johannes Hoffmeister,
Hamburg 1955.
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484 Ernst-Wolfgang Böckenförde
2. Der Begriff Staat meint bei Hegel mehr als die politische Organi-
sation einer Gesellschaft, das „politische System" oder den Inbegriff
der hoheitlich handelnden Ämter und Organe; auch mehr als bloße
Herrschaftsorganisation oder das „government" im Sinne der anglo-
amerikanischen politischen Theorie. Er umgreift das gemeine Wesen
eines Volkes insgesamt, das zentral politisches Gemeinwesen ist, aber
auch die geistige Kultur, Bildung und Wissen, die öffentlichen Lebens-
ordnungen und das allgemeine öffentliche Bewußtsein mit einbezieht.
„Das geistige Individuum, das Volk, insofern es in sich gegliedert, ein
organisches Ganzes ist, nennen wir den Staat. Diese Benennung ist da-
durch der Zweideutigkeit ausgesetzt, daß man mit Staat und Staats-
recht im Unterschiede von Religion, Wissenschaft und Kunst gewöhnlich
nur die politische Seite bezeichnet. Hier ist aber Staat in einem um-
fassenden Sinn genommen, so wie wir auch den Ausdruck Reich ge-
brauchen, wo wir die Erscheinung des Geistigen meinen7. In diesem
Sinn ist der Staat für Hegel „das sittliche Universum"8. Dabei verkennt
er nicht, daß der Staat auch in diesem Sinn kein Dasein für sich, un-
abhängig von den einzelnen hat, sondern nur die gegliederte Form dar-
stellt, in der ein Volk existiert. „Der Staat ist selbst ein Abstraktum,
das seine selbst nur allgemeine Realität in den Bürgern hat; aber er ist
wirklich und die nur allgemeine Existenz muß sich zu individuellen
Willen und Tätigkeit bestimmen." (Einl. S. 138).
3. Inhaltlich ist der Staat, als entfalteter Begriff, der in seiner Zeit
zur Wirklichkeit kommt, die „Wirklichkeit der konkreten Freiheit"
(§ 260). Dies ist von Hegel nicht als abstrakte Hypos tasierung gemeint,
sondern konkret auf den Staat seiner Zeit bezogen. Der Staat ist Wirk-
lichkeit der konkreten Freiheit dadurch, daß er einerseits die Subjek-
6 Zur Bestimmung und zum Verhältnis von Begriff, Idee und Existenz
siehe Hegels - knappe - Darlegung in der Rechtsphilosophie, § 1 Anm.
7 Einleitung, S. 114. Ähnlich heißt es in der Rechtsphilosophie, daß „der
Staat, als Geist eines Volkes, zugleich das alle seine Verhältnisse durchdrin-
gende Gesetz, die Sitte und das Bewußtsein der Individuen ist" (§ 274).
8 Rechtsphilosophie, Vorrede, a. E. (S. 35).
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 485
4. Daß der Staatsbegriff in dieser Weise sich entfaltet und zur Wirk-
lichkeit kommt, ist ein Vorgang in der Geschichte und gehört, wie
Hegel betont, vornehmlich der modernen Welt an. Der Staat ist keines-
wegs immer in dieser Gestalt vorhanden gewesen und bestimmt wor-
den. Für Hegel ist darin ein echter Fortschritt in der Entfaltung des
Geistes am Werk. Er verläuft von dem unvollkommenen, nur substan-
tiellen Staat der Antike, in dem sich zwar die Allgemeinheit vorfindet,
aber als noch .ungetrennte substantielle Einheit, in der - wie im plato-
nischen Staat - „die subjektive Freiheit noch nichts" gilt, über den
Staat des Mittelalters, in dem das Prinzip der Allgemeinheit keine hin-
reichende Form in der Wirklichkeit findet, bis hin zu dem „neuen"
Staat, d. h. dem Staat seiner Zeit, dessen Wesen es ist, „daß das Allge-
meine verbunden sei mit der vollen Freiheit der Besonderheit und dem
Wohlergehen der Individuen", so daß „die Allgemeinheit des Zweckes
nicht ohne das eigene Wissen und Wollen der Besonderheit, die ihr
Recht behalten muß, fortschreiten kann"10. Es ist nicht zuletzt die Lei-
stung der neuzeitlichen Staatstheorie, ihre Arbeit am Staatsbegriff, die
Hegel darin würdigt und der er weltgeschichtliche Bedeutsamkeit ver-
leiht. Zugleich will er sie vor dem Auslaufen in bloße Subjektivität,
die das Allgemeine des Staates nur als (subjektiv) Gemeinsames sieht
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und dabei den Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt, be-
wahren.
b) Worin hat der so von Hegel gesehene und begriffene Staat seine
Grundlage? Steht er in sich1 selbst oder verdankt er sich einer ihm
vorausliegenden, ihn tragenden und konstituierenden Kraft?
2. Der Staat ist aber in dieser Weise nicht nur Verwirklichung und
ein Reich der Vernunft; er ist darin, als Verwirklichung der Vernunft,
für Hegel ein Gedanke Gottes und - konkret und geschichtlich - eine
Hervorbringung der Religion. Die Vernunft- Wahrheit, die Hegel in der
Geschichte sich entfalten und in konkreten Gestalten des Lebens sich
ausformen sieht, basiert nicht auf irgendeiner, aus selbstgesetzten Prä-
missen deduzierenden „autonomen" Vernunft, sie ist göttlich getragene,
vom göttlichen Geist her bestimmte Vernunft. „Es ist der Gang Gottes
in der Welt, daß der Staat ist; sein Grund ist die Gewalt der sich als
Wille verwirklichenden Vernunft." (§ 258 Zus.). Dieses Diktum, das
entgegen manchem Mißverständnis keineswegs eine Vergöttlichung des
Staates zum Inhalt hat, sondern den (entfalteten) Staat auf das Wirken
Gottes in der Geschichte zurückführt, findet eine nähere Erläuterung in
den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Dort heißt es:
„Der Staat hat mit der Religion dasselbe gemeinschaftliche Prinzip; sie
kommt nicht von außen hinzu, um das Gebäude des Staates und das Be-
tragen der Individuen, ihr Verhältnis zu ihm, von innen heraus zu re-
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 487
gulieren, sondern sie ist die erste Innerlichkeit, die sich darin [im und
als Staat] bestimmt und betätigt . . . der Sinn ist, wie gesagt, der, daß
der Staat bereits aus einer bestimmten Religion hervorgegangen ist,
daß er mit der Religion dasselbe gemeinschaftliche Prinzip hat und daß
er das politische, künstlerische und wissenschaftliche Leben darum hat,
weil er die Religion hat." (Einl. S. 129). Der Staat wird hier in spezifi-
scher Weise als Hervorbringung der Religion vorgestellt. Er wird da-
bei nicht unmittelbar auf einen Schöpfungs- oder Stiftungsakt Gottes
zurückgeführt und dadurch göttlich legitimiert und unangreifbar ge-
stellt, er wird auch nicht wie „jede Obrigkeit" (Römer 13, 1) als „von
Gott" erklärt, vielmehr wird er als Ausdruck, Verwirklichung der Reli-
gion in die Welt hinein begriffen. Die Religion bestimmt und betätigt
ihre Innerlichkeit, den in ihr lebenden und bewußt werdenden Geist
der (geoffenbarten) Wahrheit darin, daß im Zusammenleben der Men-
schen Staat wirklich wird; sie setzt ihren Inhalt, der das Denken und
Handeln der Menschen bestimmt, eben durch dieses Denken .und Han-
deln so in die politische Sphäre hinein um, daß Haltungen und Gesittun-
gen, Zielorientierungen und Ordnungsideen hervorgerufen werden, die
die politische Ordnungsform „Staat" möglich machen, ja gewisserma-
ßen aus sich heraussetzen und dann tragen. „Die Religion also muß be-
trachtet werden als notwendig übergehend in Verfassung, weltliches
Regiment, weltliches Leben. Das allgemeine Prinzip ist in der Welt und
muß so auch in dieser realisiert werden; denn es weiß von der Welt."
Es bildet sich „hinein in die besonderen Sphären des Lebens, so daß
dieses als religiöses praktisches Bewußtsein von der Wahrheit durch-
drungen wird. Die Erscheinung der Wahrheit in der besonderen Sphäre
ist es dann, was so als politische Verfassung, als Rechtsverhältnis, als
Sittlichkeit überhaupt, als Kunst und Wissenschaft hervortritt." (Einl.
S. 130, 131).
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Welt hineinbringt, gewinnt der Staat seine Tiefe und konkrete Ver-
nünftigkeit, die ihn von früheren Gestalten politischer Ordnung unter-
scheidet und auch die alten Unterschiede der Staatsformen relativiert.
Allgemeinheit und Besonderheit sind in ihm verbunden, er läßt das
Prinzip der Subjektivität sich „zum selbständigen Extreme der persön-
lichen Besonderheit" entfalten, führt es aber zugleich in die „substan-
tielle Einheit", in dem diese in den einzelnen Existenz gewinnt, zu-
rück (§§ 273 Anm., 260). Die christliche Religion, als die „Religion der
Freiheit" (§ 270 Anm., S. 364)11, bringt den Staat als die Wirklichkeit
der Freiheit hervor.
II.
1. Das Verhältnis von Staat und (christlicher) Religion ist nicht das
eines Gegenüber zweier für sich bestehender, nach je eigenem Prinzip
lebender Kräfte (und daraus hervorgehender institutionell-organisatori-
scher Bildungen), die zunächst voneinander unabhängig sind, dann aber,
weil sie sich über den nämlichen Menschen erheben und auf sie bezie-
hen, miteinander in Beziehung treten, Wirkbereiche abgrenzen, Kon-
fliktf eider ausräumen und dadurch in ein so oder anders geartetes Ver-
hältnis der Gleichordnung oder der Über- und Unterordnung treten.
Diese Betrachtungsweise legt sich vom heutigen Verhältnis Staat - Re-
ligion bzw. Staat und Kirche nahe, aber darin ist bereits der neutrale,
von der Religion als seiner Grundlage abgetrennte Staat vorausgesetzt.
Die Sicht Hegels ist anders. Für ihn handelt es sich um ein Verhältnis
der Parallelität . Staat und Religion (Kirche) sind unterschiedliche Wirk-
lichkeits- und Verwirklichungsformen der gleichen, und zwar einer
11 Die christliche Religion der Freiheit wird näher expliziert in den Vor-
lesungen zur Philosophie der Religion, Bd. 2, Ausg. Glockner, 3. Aufl., Stutt-
gart 1959, S. 207 f.; ferner in den Vorlesungen über die Philosophie der Ge-
schichte, Ausg. Glockner, 3. Aufl., Stuttgart 1949, S. 427 f.
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 489
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490 Ernst-Wolfgang Böckenförde
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 491
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492 Ernst-Wolfgang Böckenförde
19 Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 352. Weiter heißt es, ebd. S. 353: „Statt
sein Meinen mit der Arbeit des Studiums zu bezwingen und sein Wollen der
Zucht zu unterwerfen und es dadurch zum freien Gehorsam zu erheben, ist
es das Wohlfeilste, auf die Erkenntnis objektiver Wahrheit Verzicht zu tun,
ein Gefühl der Gedrücktheit und damit den Eigendünkel zu bewahren, und
an der Gottseligkeit bereits alle Erforderniß zu haben, um die Natur der
Gesetze und der Staatseinrichtungen zu durchschauen, über sie abzusprechen
und wie sie beschaffen sein sollten und müßten anzugeben, und zwar, als
solches aus einem frommen Herzen komme, auf eine unfehlbare und unan-
tastbare Weise." - Etwaige Parallelen in der Gegenwart, politisch engagierte
Pfarrer und Theologen nicht ausgenommen, sind rein zufällig.
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 493
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494 Ernst-Wolfgang Böckenförde
ein Bündnis von Thron und Altar, wie es von Vertretern der Restaura-
tion zum Teil erstrebt wurde. Eine solche Einheit läßt den hervorge-
tretenen Unterschied in der Form des Bewußtseins zwischen Religion
i. e. S. und Staat nicht zur besonderen Existenz kommen. Zwar vertritt
Hegel eine Einheit von (ausgebildetem) Staat und christlicher Religion
bzw. Kirche, die in der Wahrheit der sie bestimmenden Grundsätze und
Gesinnung liegt, aber gerade für diese Wahrheit ist es in der christlichen
Religion, die die Subjektivität mit zu ihrem Inhalt hat, wesentlich, daß
der Unterschied in der Form des Bewußtseins zwischen Kirche und
Staat auch zur besonderen Existenz kommt.
1. Der Staat hat seine Vernünftigkeit und die Sittlichkeit seines In-
halts nicht erst durch Übernahme von der Religion (Kirche), sondern in
sich, als eigenständige Form der Verwirklichung. Der Staat bezieht sich
dabei nur auf Äußeres; was er an Inhalt ausspricht, gehört dem be-
stimmten Gedanken an, und was er fordert, hat die Gestalt einer recht-
lichen Pflicht, greift auf die Gesinnung und die Sphäre der Innerlich-
keit, die als solche nicht sein Gebiet ausmacht, nicht zu (§ 270 Anm., S.
356, 359; Zus. S. 365)23. Gleichwohl ist er aber von der Innerlichkeit, die
das Feld der Religion i. e. S. ist, nicht einfach abgeschieden. Im han-
delnden Menschen geht die Innerlichkeit in Äußeres über, und die
christliche Religion, die sich nicht auf bloßen Kultus beschränkt, wirkt
notwendig über die Lehre, d. h. die kirchliche Lehre, die der Punkt
der Vermittlung und des Übergangs ist, auf das Äußere und damit in
den Bereich des Staates hinein. Diese Lehre hat zwar ihr Gebiet zu-
nächst im Gewissen, das sie bildet, aber „sie ist nicht bloß ein Inneres
des Gewissens, sondern als Lehre vielmehr Äußerung, und Äußerung
zugleich über einen Inhalt, der mit den sittlichen Grundsätzen und
Staatsgesetzen aufs innigste zusammenhängt oder sie unmittelbar
selbst betrifft". (§ 270 Anm., S. 356). Indem Staat und Kirche hier direkt
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 495
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496 Ernst-Wolfgang Böckenförde
Kann es so nicht zweierlei Gewissen geben, ein religiöses und ein da-
von inhaltlich unterschiedenes sittliches, so kommt doch - Hegel sagt
dies ausdrücklich - dem religiösen Inhalt als der an und für sich
seienden höchsten Wahrheit „die Sanktionierung der in empirischer
Wirklichkeit stehenden Sittlichkeit" zu. Die Religion ist so „die Basis
der Sittlichkeit und des Staates". (Enzyklopädie, § 552).
Diese Erkenntnis bleibt für Hegel nicht bei sich, er wirft sie in die
Waagschale der Zeit: „Es ist der ungeheure Irrtum unserer Zeiten ge-
wesen, diese Untrennbaren als voneinander Trennbares, ja selbst als
gleichgültig gegeneinander ansehen zu wollen." Zu diesem ungeheuren
Irrtum gehört, das Verhältnis der Religion zum Staat so zu betrachten,
„daß dieser für sich sonst schon und aus irgendeiner Macht und Gewalt
existiere, und das Religiöse als das Subjektive der Individuen nur zu
seiner Befestigung etwa als etwas Wünschenswertes hinzuzukommen
hätte, aber auch gleichgültig sei, und die Sittlichkeit des Staates, d. i.
vernünftiges Recht und Verfassung, für sich' auf ihrem eigenen Grunde
feststehe". (Enzyklopädie, § 552)24.
Der Staat hat (1.) der kirchlichen Gemeinde für ihre religiösen
Zwecke „allen Vorschub" zu tun und sie äußerlich zu schützen, wie
diese hinsichtlich ihres Eigentums, ihrer äußeren, ins Weltliche greifen-
den Handlungen und ihrer Bediensteten den staatlichen Gesetzen unter-
stellt ist. Der Staat tut damit nicht etwas Beliebiges, sondern erfüllt
für sich eine Pflicht. Es gehört (2.) zur „Natur der Sache", daß der Staat
von seinen Bürgern verlangt, sich zu einer Kirchengemeinde, nicht
einer bestimmten, aber irgendeiner, zu halten, da die Religion, genauer:
die christliche Religion „das ihn für das Tiefste der Gesinnung inte-
grierende Moment" ist (§ 270 Anm., S. 353). Die Neutralität, die der
Staat übt, ist (nur) eine innerchristlich-bekenntnismäßige, sie besteht
24 In der Enzyklopädie schließt daran eine scharfe Polemik gegen die katho-
lische Religion an, die - noch - eine unfreie Religion sei und keinen Staat
als Wirklichkeit der Freiheit hervorbringen und tragen könne, vgl. ebd.
S. 432 - 36. Gegenüber dieser Polemik ist - abgesehen von Hegels politischem
Protestantismus (s. o. FN 16) - einmal zu fragen, wie weit sie auf einer ver-
zerrten und unrichtigen Sicht der katholischen Religion beruht, zum andern,
wie weit ihre Anknüpfungspunkte zwar zum damaligen Erscheinungsbild
der katholischen Religion gehören, aber nicht mehr auf die katholische Reli-
gion, wie sie sich seither und insbes. seit dem 2. Vatikanischen Konzil dar-
stellt, zutreffen.
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 497
nicht gegenüber der christlichen Religion als solcher oder gegenüber der
Religion überhaupt25. Gegenüber Religionsgemeinschaften, die infolge
ihrer Religionsbegriffe die direkten Pflichten gegenüber dem Staat
nicht oder nur teilweise anerkennen - gemeint sind vornehmlich
Quäker, Wiedertäufer und andere Sekten - , übt der Staat (3.) Tole-
ranz, d. h. er übersieht die Anomalien und macht von seinem Recht,
sie von öffentlicher Betätigung auszuschließen, keinen Gebrauch. Es
ist für Hegel die Stärke des zu seinen Bestimmungen ausgebildeten
Staates, daß er sich hierin desto liberaler verhalten kann, als er sich
dabei auf die Macht der Sitten und die innere Vernünftigkeit seiner
Institutionen zu verlassen vermag. Die Mitglieder solcher Gemeinschaf-
ten können zwar, wegen der Zusammengehörigkeit von Rechten und
Pflichten, nicht volle Staatsmitglieder sein, aber sie leben in der bür-
gerlichen Gesellschaft als vollberechtigte Glieder unter deren Gesetzen.
Es ist für Hegel gerade der Ausdruck der Allgemeinheit des Staates,
daß diese Menschen, und ebenso die Juden, in der bürgerlichen Gesell-
schaft als rechtliche Personen gelten und anerkannt sind26.
in.
Sind so der entfaltete Staat und die christliche Religion eng und un-
abtrennbar aufeinander bezogen, so erhält die Frage nach dem Recht
des Gewissen s im und gegenüber dem Staat besondere Bedeutung. In
ihr steckt die Gegen-Frage, wie die Anerkennung der Subjektivität
und Besonderheit des einzelnen in einem Staat, der seinen Grund in
der religiösen Wahrheit des Christentums hat und findet, sich konkret
darstellt und bewährt. Der Status des Gewissens, näherhin des abwei-
chenden, nicht-konformen Gewissens, ist dafür der zentrale Punkt.
1. Das Gewissen ist für Hegel Ausdruck und Form der entfalteten
Subjektivität. Es drückt „die absolute Berechtigung des subjektiven
Selbstbewußtseins aus, nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen,
was Recht und Pflicht ist, und nichts anzuerkennen, als was es so als
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das Gute weiß". (§ 137 Anm.). Diese Definition ist prägnant und trifft
den Kern. Im Gewissen wird die Entfaltung des (göttlichen) Geistes im
Menschen zum formellen Element seiner Subjektivität.
Die Heiligkeit und Unverletzlichkeit, die das Gewissen als sein Attri-
but geltend macht, hat es jedoch nicht bereits aus seinem Vorhanden-
sein, sondern aus der Idee des Gewissens, nämlich die Einheit des sub-
jektiven Wissens und des objektiven Inhalts (des an und für sich Guten)
zu sein (§ 137 Anm.). Ob aber das einzelne, besondere Gewissen dieser
Idee des Gewissens entspricht, ist zunächst offen und muß, wenn nicht
die bloß empirische Subjektivität als solche, ohne Rücksicht auf den
Inhalt, zur .unübersteigbaren Instanz werden soll, einem Urteil unter-
worfen bleiben. Hegel thematisiert hier voll die Spannung, die im
Gewissensbegriff liegt, und sucht sie auszutragen27. Beruft das Gewis-
sen sich nur auf sein (empirisches) Selbst, die bloße Uberzeugtheit und
Gewißheit, so ist es dem entgegen, was es - seinem Anspruch nach -
sein will, nämlich die Regel einer vernünftigen, an und für sich gülti-
gen Handlungsweise. Von daher muß es sich, aus sich selbst, dem Ur-
teil, ob es in seinem Inhalt auch wahrhaft, d. h. vernünftig sei, stellen.
Andererseits ist es gerade die Eigentümlichkeit des Gewissens, daß es
schon in seiner bloß formellen Gewißheit gerade die Gewißheit dieses
Subjekts und das allein für es Verpflichtende darstellt. Das führt zu
der berühmten „Zweideutigkeit" in Ansehung des Gewissens, die Hegel
in klassischer Prägnanz herausgestellt und formuliert hat. Sie liegt
darin, daß das Gewissen „in der Bedeutung jener Identität des sub-
jektiven Wissens und Wollens und des wahrhaften Guten vorausgesetzt,
und so als ein Heiliges behauptet und anerkannt wird, und ebenso als
die nur subjektive Reflexion des Selbstbewußtseins in sich, doch auf
die Berechtigung Anspruch macht, welche jener Identität selbst nur
vermöge ihres an und für sich gültigen vernünftigen Inhalts zukommt".
(§ 137 Anm.).
2. Die Lösung kann für Hegel nicht darin bestehen, daß der Staat
jedes Gewissen als bloß subjektives Wissen, in seiner nur formellen
Gewißheit als für sich verbindlich anzuerkennen hat. Da der Staat -
als entfalteter Staat - seinerseits seinen objektiven Inhalt vertritt,
in seiner Ausgestaltung und seinen - als sittlich-vernünftig vorausge-
setzen - Gesetzen die zur Wirklichkeit gekommene Vernunft ist, gibt
es kein Recht des abweichenden Gewissens ihm gegenüber. In dieser
Position wird von Hegel nicht nur das Recht der Vernunft und der zur
äußeren Wirklichkeit gewordenen Wahrheit betont, es wird auch das
Problem der Gewissensbildung aufgenommen28, das die moderne Dis-
27 Siehe dazu Rechtsphilosophie §§ 137 und 138, jeweils mit Anmerkungen;
danach auch die folgenden Darlegungen.
28 Insbes, in § 138 Anm. und Zusatz.
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 499
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500 Ernst-Wolfgang Böckenförde
noch einmal betont - den Staat zur Voraussetzung, der auf und in der
christlichen Religion gegründet ist. Sie sind nicht entwickelt und gelten
nicht für den Not- und Verstandesstaat, der die substantiellen, insbes.
religiösen Inhalte außer sich läßt, sich zu ihnen nicht als zu einer
eigenen Verbindlichkeit verhält. In ihm kann die Beziehung eine andere
sein und das subjektive Gewissen gegebenenfalls auch zum Asyl der
Vernünftigkeit gegenüber einer substantiell leeren Wirklichkeit des
Staates werden.
IV.
Dieser Versuch ist, bezogen auf die weitere Entwicklung, Versuch ge-
blieben, und er warf schon zu seiner Zeit ebensoviele Probleme auf als
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 501
er löste31. Aber der Geist Hegels war in ihm, wenn auch bereits ver-
ebbend, noch einmal gegenwärtig32.
2. Der heutige Staat, auch und gerade der Staat des Grundgesetzes,
ist in seiner Verfaßtheit und Substanz hiervon abgerückt. Er ist reli-
giös-weltanschaulich neutraler Staat33, in dem die Religion im doppelten
Sinn, den dieses Wort hat, freigegeben ist. Sie ist freigegeben zur Be-
tätigung durch die einzelnen und im Bereich der Gesellschaft, damit
auch zu gesellschaftlich-politischer Wirksamkeit und Bedeutsamkeit.
Sie ist aber zugleich auch in dem Sinn freigegeben, daß der Staat selbst
keine Religion mehr hat .und vertritt, sich nicht zu einer bestimmten
Religion als seiner Grundlage verhält und folglich die Religion bzw.
eine bestimmte Religion keine notwendig-institutionelle Teilhabe am
Allgemeinen des Staates hat. „Die Religion ist nicht mehr Geist des
Staates ... sie ist zum Geist der bürgerlichen Gesellschaft geworden . . .
sie ist nicht mehr das Wesen der Gemeinschaft, sondern das Wesen des
Unterschieds34." Die Allgemeinheit des Staates, das was ihn geistig
formt und das gemeinsam Verbindliche für die in ihm zur Einheit ver-
bundenen Menschen begründet, bestimmt sich nicht aus einer bestimm-
ten Religion, sondern, davon abgelöst, aus gegenüber der Religion
autonom bestimmten weltlich-politischen Zwecken. Diese mögen zwar
wegen des kulturellen Erbes und der überkommenen gesellschaftlichen
und politischen Kultur in etlichen Fällen mit Vorstellungen, die in der
(christlichen) Religion begründet sind, konvergieren, aber vom Bau-
prinzip des Staates her ist das zufällig, nicht notwendig. Die Religion
bzw. eine bestimmte Religion als solche hat keinen normativen Status
im und für den Staat.
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502 Ernst-Wolfgang Böckenförde
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Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel 503
86 Siehe dazu jetzt G. Luf, Zur Problematik des Wertbegriffs in der Rechts-
philosophie, in: Jus Humanita tis. Festschrift zum 90. Geburtstag von Alfred
Verdroß, 1981, S. 127 - 46; früher schon Carl Schmitt , Die Tyrannei der
Werte, in: Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien, 1967, S. 37 - 62.
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